Faber, Merle Ausgerechnet Paul!

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IMPRESSUM

Ausgerechnet Paul erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/60 09 09-361
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Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Cheflektorat:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Lektorat/Textredaktion:

Veronika Matousek

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn,
Marina Grothues (Foto)

Erste Neuauflage by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg,
in der Reihe: Digital Edition

© 2007 by Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY LIEBEN & LACHEN
Band 35 - 2007 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Umschlagsmotive: kieferpix, amiloslava / Thinkstock

E-Book-Produktion:

GGP Media GmbH

, Pößneck

ISBN 9787373380243

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten
mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY

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1. KAPITEL

Die oberste der fünf rosa Hutschachteln unters Kinn geklemmt, die Arme fest um die vier anderen,
blickte Mira auf das Schild über dem alten Backsteintor. FILMGELÄNDE BABELSBERG TOR 7
stand dort in großen Lettern. Heute hatte sie den Parkplatz ohne Umwege gefunden. Beim ersten
Mal war sie natürlich vor einer Schranke neben einem leeren Wachhäuschen gelandet und hatte
zwanzig Minuten lang versucht, mit dem Handy jemanden herbeizuklingeln, der sie auf das
Filmgelände ließ. Fast vermisste Mira das Gefühl von Hektik, das sie sonst empfand, wenn sie
ihre neuen Hutkreationen vorstellte.

Sie ließ den Blick über die Firmenschilder an der rechten Torseite gleiten. Dort hing ein Stück

Papier, das in einer Plastikfolie steckte. Ein dicker roter Pfeil wies nach links. Dahinter stand in
krakeliger Schrift: Sophienbad. Immer links abbiegen, hatte der Wachmann ihr das letzte Mal
gesagt.

Doch obwohl sie immer links abgebogen war, wusste sie schon hinter der zweiten Studiohalle

nicht mehr weiter. Auf der einen Seite standen Kulissen, die aussahen, als hätte man ein
schottisches Schloss mit einer bayerischen Alm gekreuzt. Mira schüttelte unwillkürlich den Kopf,
und ihre aufgestapelte Pyramide aus Hutschachteln wackelte bedenklich in ihren Armen. Dabei
hatte sie bei Mrs. Cory in London gelernt, wie man selbst mit einer Größe von eins
sechsundfünfzig zehn Schachteln gleichzeitig sicher über die Regent Street bugsierte. Your daily
workout, darling
, hatte Mrs. Cory immer gesagt.

Glück gehabt, in der nächsten Halle schob gerade jemand einen Springbrunnen mit einem

Gabelstapler durch ein offenes Tor. Von dieser Seite war sie noch nie hereingekommen. Doch das
konnte nur die Ausstattung für die erste Staffel der Serie Sophienbad – die Society-Klinik sein.

Plötzlich packte Mira wieder die Aufregung, die sie immer beschlich, wenn sie sich dem Set

näherte. Sie, Mira Zimm, arbeitete für das Fernsehen! Ohne den Auftrag für das Filmstudio hätte
sie ihren neuen Laden nie anmieten können. Zwei Tage und zwei Nächte hatte sie praktisch
durchgearbeitet und fünf Hüte zur Auswahl geschaffen. Groß, klein, bunt, einfarbig, damit einer
auf jeden Fall genommen wurde.

In der Mitte der Halle wurden gerade mehrere Stellwände aufgebaut. Eine Massagebank stand

auf einer durch grün-weißen Kachelboden markierten Fläche, daneben befand sich ein Rollwagen
aus Alu, auf dem bunte Glasfläschchen und ein Stapel grüner Handtücher lagen. Mira hatte keine
Ahnung, was in der nächsten Episode passieren würde. Für die Filmleute war alles, was mit dem
Sophienbad zusammenhing, immer top secret. Aber irgendwo musste sie jetzt die Schachteln
loswerden, sonst würden ihr auch Mrs. Corys Tricks nicht mehr helfen.

„Vorsicht, Kabel!“
„Oops.“ Mira hob das linke Bein und balancierte vorsichtig auf dem rechten, dann lugte sie über

die Hutschachteln nach vorne. Ein Blick aus grauen Augen traf sie. Strahlende Augen, über die ein
paar freche dunkle Strähnen fielen. Der Hutschachtel-Turm wackelte, und Mira schob schnell den
rechten Arm höher, damit die oberste Schachtel nicht ins Rutschen geriet. Drei Schritte vor ihr
hielt ein wahnsinnig gut aussehender Mann ein schweres Kabel in der Hand, das er offenbar bis
eben über den Boden geschleift hatte. Jetzt gerade zog der Mann jedoch nicht mehr, sondern

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starrte sie an. Mira hatte das ungute Gefühl, dass ihr britischer Minirock durch die Tragerei
hochgerutscht war. Sie blinzelte in Richtung des wirklich atemberaubenden Kabelmannes. So halb
vorgebeugt, wie er stand, traten starke, braun gebrannte Armmuskeln unter dem T-Shirt hervor.
Mira versuchte, das Logo auf dem Shirt zu entziffern, doch der wohlgeformte Oberkörper, der von
dem Stoff nur knapp verhüllt wurde, lenkte sie zu sehr ab. Dann traf sie wieder ein Blick aus
diesen grauen Augen. Mira hätte geschworen, dass die Haare des Mannes genauso dunkelbraun
wie ihre waren. Nur nicht so lang. Sein Nacken war ausrasiert, aber vorn tanzten ihm lange
Strähnen über das Gesicht mit der geraden Nase. Ein bunter Lichtfleck spiegelte sich auf seinem
Ohr. Mira wollte sich umdrehen und der Ursache der Spiegelung auf den Grund gehen, nur
faszinierte sie das Ohr zu sehr. Sie spürte den Impuls, an der perfekten Rundung zu knabbern. Und
hatte gleichzeitig die Vision, dass auf diesem Kopf eine Robin-Hood-Mütze mit einer langen
grünen Feder sitzen müsste.

Dann deutete der Mann mit einem Nicken auf ihren Fuß. Mira stellte ihn vorsichtig wieder hin.

Kein Kabel. „Wo geht es denn hier zu den Garderoben? Ich meine, der Garderobe von Svenja?“

Der Mann sagte kein Wort, sondern musterte sie nur aus diesen grauen Augen.
„Svenja Angerholt. Der Star vom Sophienbad.“
Mit einer Bewegung, die Mira nur als hochgradig sexy bezeichnen konnte, ließ der Typ das

Kabel zu Boden fallen und bot ihr mit einer stummen Geste an, die Schachteln zu tragen.

„Lieber nicht.“ Sonst fielen ihr noch die Schachteln in den Sägestaub von den Aufbauarbeiten.
Allerdings drehte der schöne Mann jetzt nur langsam den Kopf. Irgendwie war er ein bisschen

begriffsstutzig.

„Wo ist denn nun die Garderobe?“
Er trat einen Schritt auf sie zu. Seine Schultern waren noch breiter, als sie gedacht hatte, jetzt

wo er sich richtig aufrichtete. Ein bisschen musste Mira nach Luft schnappen. Wow!

„Da.“ Er streckte den rechten Arm aus und wies zu einer Tür, die halb hinter einer Blue Screen

verborgen war. Ein paar Streifen Staub zeichneten sich auf seinen sehnigen Unterarmen ab. Mira
strahlte ihn an und überlegte, ob er wohl einmal mit ihr Kaffee trinken gehen würde. Da fiel ihr
Blick auf das Ende des Arms.

Ein rosa-grün-gelb geflochtenes Freundschaftsbändchen schmückte das kräftige Handgelenk.

Die Farben waren verblasst, die Fäden leicht fransig, die Haut darunter heller, als ob die Sonne sie
nie erreicht hätte. Goodness, diese Dinger gab es tatsächlich noch.

Mira setzte sich in Bewegung, einen halben Blick auf den Boden geheftet, einen halben auf den

Mann, der sich immer noch nicht rührte.

Solche Bändchen hatte sie früher auch geflochten, aber da war sie fünfzehn gewesen und hatte

in einem langweiligen Vorort von Berlin gehockt. Mira verdrängte Erinnerungen an
Lagerfeuerromantik und die blonden Locken von … Der Hutturm geriet ins Wanken. Nein, sie
hatte sich geschworen, diesen Namen endgültig aus ihrem Leben zu streichen.

Graue Augen hin oder her, so ein Typ trug so ein Bändchen nur, wenn er es von seiner Freundin

aufgedrängt bekommen hatte. Und die Mädchen, die solche Dinger flochten, standen auf Outdoor-
Typen, Zelten und Blasen an den Füßen nach stundenlangen Wanderungen im Regen. Mira zuckte
mit den Schultern und wandte sich um. Schade um den Körper und diese süße Strähnen, aber ein

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Naturbursche war nichts für sie.

Es zischte. Vor ihr öffnete sich automatisch eine Tür. Sie blickte in einen Flur mit Aluboden,

der von bläulichem Neonlicht erleuchtet war. Das sah schon eher nach Filmproduktion aus. Aber
wo war denn nun die Garderobe?

„Warte mal!“

Paul blickte der dunkelhaarigen Erscheinung nach, die mit ihrem Schachtelturm in den Gang zu

den Garderoben verschwinden wollte. Langsam drehte sich die Frau um, wobei sie die schlanken
Beine unter dem kurzen blauen Karorock wie eine Tänzerin bewegte. Egal, wer sie war, er musste
etwas zu ihr sagen.

„Stell dich mal vor die Wand da.“
Mein Gott, sie musste ihn für einen Idioten halten. Paul hörte den scharfen Befehlston in seiner

Stimme. Dass ihm in solchen Situationen nie etwas Gutes einfiel! Und dabei standen die
Scheinwerfer für die Lichtprobe noch nicht einmal alle. Neugierig blickte sie ihn an. Dieses
zierliche Gesicht, diese schlanke Figur, oder zumindest das, was man hinter den Schachteln davon
erkennen konnte – ihm wurde ganz flau im Magen. Wer war sie? Und was war in diesen seltsamen
Schachteln?

„Wo soll ich mich hinstellen?“ Mit einer schnellen Bewegung bugsierte sie die Schachteln auf

den Boden. Paul blinzelte kurz. Wie hatte sie das nun wieder gemacht? Der pyramidenförmige
Turm hatte kaum gewackelt, dabei war er fast genauso hoch wie sie selbst.

„Äh, natürlich nur, wenn Sie … ja, wenn du kurz Zeit …“ Doch da war sie schon mit schnellen

Schritten vor die Blue Screen gelaufen. Sie trug flache schwarze Schuhe, die mit einem schmalen
Riemen geschlossen waren. Er mochte einfache Schuhe an Frauen. Und er hasste Stöckelschuhe,
vor allem knallrote.

„So?“, fragte sie und grinste ihn an.
„Also, ja, das ist gut.“ Die Scheinwerfer! Wo hatte Bastian das Augenlicht wieder hingestellt?

Drüben bei den Kulissen für das Set „Schlafzimmer Caren“ standen die großen Scheinwerfer.
Hastig holte Paul sie heran. Heute wurde im „Massageraum“ gedreht, da sollte das Licht weich
und intim sein. Oben im Gestänge hingen die Scheinwerfer noch auf der falschen Seite. Gut, die
zuerst. Er stellte das Kantenlicht hinter das Set und schob die Leiter darunter.

„Welche Szene wird denn heute gedreht?“, fragte die Erscheinung im Minirock und stellte sich

neben die Massagebank. „Wird Svenja heute massiert?“ Sie lächelte zu ihm hoch, und beinah wäre
er dabei von der Leiter gefallen.

„Hm, also, nee, ich glaube, der andere … also, der Mann … der Schauspieler …“
„Ja, ja, ich weiß schon, Tobias, der Chefarzt, der sie anbetet.“
Den Tobias spielte der Felix Scholl, genau. Fast hätte Paul die Hand von der Leiter genommen,

um sich auf die Stirn zu schlagen, und sicher wäre er dann heruntergefallen und genau vor den
Füßen dieser schönen Frau gelandet. Ins Sophienbad hätte so etwas wunderbar gepasst, nur dass
Felix, dieser aufgeblasene Angeber, so eine Szene nie spielen würde. Paul brummte vor sich hin,
während er die Scheinwerfer ausrichtete. Immer wieder blickte er hinunter zu der Dunkelhaarigen,
die sich die Requisiten anschaute. Einmal trafen sich ihre Blicke, und sie winkte ihm mit einer
schmalen Hand. Für einen Moment hatte Paul das Gefühl, dass es ihr ganz egal wäre, ob er die

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Leiter hinunterfiel oder ordentlich hinunterkletterte, wenn er nur endlich hinunter zu ihr kommen
würde. Er musste sich am Gestänge festhalten und tief Luft holen, bevor er weitermachen konnte.

„Leuchtest du die Szene schon ein?“, rief da eine bemüht lässige Jungenstimme vom Eingang

der Halle.

Bastian! Sein Kabelträger-Praktikant hatte ihm gerade noch gefehlt. Schnell drehte Paul den

letzten Spot zurecht und kletterte hinunter.

„Ich hänge nur das Massage-Set. Sie, äh, also die Frau da kam grad vorbei, und ich dachte, sie

ist ein gutes Lichtdouble, da brauchen wir nicht auf die Diva zu warten.“ Paul wand sich innerlich.
Besonders eindrucksvoll klang das ja nun wieder nicht. Aber als er hinter das Lichtpult trat,
lächelte ihn die Dunkelhaarige freundlich an. Vielleicht hatte er doch das Richtige gesagt.

„Was soll ich jetzt machen?“, fragte sie.
„Beweg dich einfach ganz natürlich. Lauf herum, stell dich vor die Wand mit dem Fenster, und

dann leg dich auf die Bank. Svenja wird nachher natürlich viel weniger anhaben“, sagte Bastian.

Sie lachte in der Kulisse, setzte sich auf die Bank und schlug betont langsam die Beine

übereinander. „Hättest du wohl gern“, erwiderte sie mit einem Grinsen.

Paul drehte sich zu dem Jungen um. Da saß er, auf dem breiten Regiestuhl, von wo aus der

Regisseur Mogengruber die Anweisungen gab, wenn er sich denn einmal am Set blicken ließ.
„Halt die Klappe, Bastian“, brummte Paul.

Sie schaute zu ihm herüber und setzte sich aufrecht. Ihre tolle Figur kam unter dem eng

anliegenden T-Shirt voll zur Geltung. Paul wurde abwechselnd heiß und kalt. Licht, Licht, er war
der Beleuchter. Er zwang sich, die unbeleuchtete Kulisse vollkommen neutral zu mustern. Die
Aufhellung runter, das Führungslicht direkt auf die Massagebank, auf der diese wunderschöne
Frau saß. Gut, das war gut. Paul lächelte. Na denn, Spot an.

Mira hätte nie gedacht, dass Studioscheinwerfer so grell sein könnten. Sie blinzelte in Richtung
Lichtpult.

„Den Kopf ein kleines bisschen höher.“
Die Stimme war angenehm dunkel und männlich, nicht so hektisch wie die des blonden Jungen,

der sie vom Regiestuhl aus beobachtete. Die Stimme des Kabelmannes kletterte tiefer in ihren
Körper und brachte die Schmetterlinge durcheinander, die dort schon viel zu lange Winterschlaf
hielten. Mira blinzelte ins Licht. Von dem Beleuchter hinter dem Pult sah sie nur einen vagen
Schatten, der kaum erahnen ließ, wie gut der dazugehörige Mann aussah. Mira mochte es, wenn
Männer in den Hüften nicht allzu schmal waren. Ihre Fingerspitzen kribbelten, als sie an die
runde, feste Hinterseite des Kabelmannes dachte. So wie der dort oben zwischen den Stangen
herumgeturnt war, war er super durchtrainiert. Kein Ansatz von Bierbauch, aber auch keine
aufgeblasenen Muskeln wie die Typen aus den Bodybuilding-Studios.

„Steh auf und geh drei Schritte nach links.“
Mira erhob sich von der Massagebank und machte drei vorsichtige Schritte. Sie blinzelte in

dem hellen Licht, als sie versuchte, mehr von dem Kabelmann zu erkennen.

„Nicht blinzeln“, sagte die dunkle Stimme. Er klang vollkommen ruhig. „Schau auf einen Punkt

innerhalb des Sets, nicht in die Scheinwerfer.“

Mira zwang sich, den Stopfen einer der Glasflaschen auf dem Tischchen zu fixieren.

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„Gut so, das ist sehr schön.“ Ein weiches Licht ging an und glitt über ihr Gesicht.
„Jetzt dreh dich zu mir.“
Langsam wandte Mira sich um. Diesmal blendete das Licht sie nicht, aber sie konnte nur einen

Schatten hinter dem Pult erkennen, wo kleine rote und gelbe Lichtpunkte brannten. Wie
Autolichter sah das aus, wenn man von sehr weit weg eine Straße am Horizont ahnte.

„Das ist toll“, kam es leise aus der Dunkelheit, und Mira hatte für einen kurzen Moment das

Gefühl, dass die Stimme des Kabelmannes zitterte. Sie schaute zu ihm hinüber, und die dunkle
Gestalt bewegte sich schnell … wie ein Gentleman-Verbrecher über den Dächern von Nizza, dem
sie in einem schwarzen Catsuit auf der Spur war und von Dach zu Dach bis zu den Juwelen der
Maharani verfolgte …

„Okay!“, sagte die Stimme laut und knapp. Das Licht erlosch. Mira war für einen Moment wie

blind. Dann ging die Hallenbeleuchtung an, und sie kniff die Augen zusammen.

„Danke. Das war echt gut.“ Der Kabelmann grinste sie an, und die Schmetterlinge in Miras

Bauch schlugen Purzelbäume. Im nächsten Moment machte er sich konzentriert an dem Monitor
zu schaffen. Mira starrte auf seine Hände, und da sah sie es wieder, das rosa-grün-gelbe
Freundschaftsbändchen. Es war eine Warnung, sie sollte auf ihre innere Stimme hören. Diese
Dinger hatten ihr noch nie Glück gebracht. Der Beleuchter schien sie nicht mehr zu beachten. Na
gut, sie musste jetzt sowieso dringend die Hüte zu Svenja bringen.

Paul schaute vom Kontrollmonitor hoch und beobachtete, wie die Unbekannte vom Set ging. Sie
war wirklich wunderschön, so elegant und doch natürlich. Er hatte noch nie so eine Frau näher
kennengelernt. Aber was hieß schon kennengelernt? Er hatte keine Ahnung, wer sie war und ob er
sie wiedersehen würde. Rasch trat er um das Pult herum.

„Hast du vielleicht gesehen, wo ich die oberste Schachtel hingestellt habe?“, fragte sie ihn, als

er näher kam. Sie stand vor dem Turm und schien sehr besorgt.

„Du … hm, du hast sie alle hier hingestellt.“
„Ich hab eine genommen“, kam da Bastians Stimme vom anderen Ende der Halle. „Zum

Draufsitzen, der Stuhl war so unbequem.“ Er winkte in Richtung des Regiestuhls, und jetzt sah
Paul, dass daneben eine zerknautschte rosa Schachtel stand.

„Nein!“ Die Frau stürzte auf die Schachtel zu. „Das sind speziell angefertigte Hüte!“
Sie klang so entsetzt, dass Paul sie am liebsten auf der Stelle in die Arme genommen hätte. „Du

machst Hüte?“

Sie nickte und öffnete vorsichtig die eingedellte Schachtel. Paul sah einen grünen Stoff mit

roten Seidenbändern daraus hervorblitzen.

„Vielleicht kannst du ja noch was retten.“ Etwas anderes fiel ihm nicht ein, als er auf das

zerdrückte Etwas starrte, in dem er nie im Leben eine Kopfbedeckung erkannt hätte. Doch sie
nahm die Kreation mit geschickten Fingern aus der Schachtel, formte und zog und hielt
schließlich einen Hut in den Händen, der offensichtlich einmal über drei scharfe grünsamtene
Spitzen verfügt hatte.

„Ein venezianischer Dreispitz. Nach einem Originalmodell aus dem achtzehnten Jahrhundert.“

Der Stolz war ihrer Stimme anzuhören. Dann sagte sie traurig: „Unrettbar, den krieg ich nicht

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mehr hin.“

Paul fuhr über den Stoff, der sich weich und gleichzeitig rau anfühlte. Fast hätte er der Frau

über den Arm gestrichen, aber das traute er sich nicht. „Bastian! Du Idiot.“ Paul wollte sich
umdrehen, doch im selben Moment bewegte sich auch die Frau, und sie stießen so ungeschickt
aneinander, dass ihr der wertvolle Hut aus der Hand fiel. Paul bückte sich sofort, um ihn wieder
aufzuheben, doch sie hielt ihn mit einem scharfen „Das mach ich schon! Bleibt mal lieber bei
euren Kabeln“ zurück. Vorsichtig fasste sie den Hut bei der Krempe und legte ihn in die
Hutschachtel.

„Soll ich dir noch tragen helfen?“
Sie schüttelte den Kopf, seufzte und marschierte zu ihrem Turm. Dort stellte sie die

Hutschachtel ab, nahm die gesamte Pyramide wieder mit einer so schnellen Bewegung auf, dass
Paul nicht erkennen konnte, wie sie es gemacht hatte. Dann verschwand sie im Gang zur
Garderobe. Paul wollte ihr noch einmal „Danke“ nachrufen, aber da war sie schon weg. Die
automatische Tür ächzte, dann zischte es, und die beiden Flügel glitten lautlos wieder zu. Und er
hatte sie noch nicht einmal nach ihrem Namen gefragt.

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2. KAPITEL

Mira bugsierte ihre Schachteln durch den Flur. Diese Techniker ruinierten ihr einfach die Arbeit
einer ganzen Nacht und entschuldigten sich nicht einmal. Da waren ihr die Jungs aus der
Kastanienallee doch lieber. Aber wenn sie ehrlich war, erzählten die zwar auf den Afterwork-
Partys im „Café Säulenmeer“ herrlich verrückte Geschichten von durchgeknallten Kunden, aber
sonst hingen sie auch nur stundenlang in Chatrooms herum und sahen danach aus wie der alte Filz
in ihrem Atelier. Tom zum Beispiel. Vor vier Monaten hatte Mira den blonden Typen mit den
grünen Augen endgültig aus ihrem Leben entsorgt.

Aber dank des Auftrags fürs Sophienbad würde sie jetzt erst mal ihr Hutatelier in Schwung

bringen, da konnte sie keine Kreativitätskrisen wegen eines Beleuchters brauchen, egal wie
erotisch diese dunkle Stimme …

Frischer Kaffee. Eindeutig. Mira schnupperte sich in den Gang zu ihrer Linken. Die blitzende

Espresso-Maschine auf dem Tisch erkannte sie sofort. Endlich war sie im richtigen Flur gelandet.
Eigentlich hätte sie sich denken können, dass Svenjas Garderobe nicht weit entfernt von der Halle
sein konnte. Schließlich spielte Svenja Angerholt die Hauptrolle in Sophienbad – Die Society-
Klinik.

Svenja hatte schon immer einen sehr exklusiven Geschmack bei ihren Hüten gehabt, und weil

sie ein Star war, hatte sie bei der Produktionsfirma durchgesetzt, dass sie auch als Caren im
Sophienbad extravagante Hüte tragen würde.

Mira kannte Svenja schon seit ihrer Kindheit, und sie hatte immer gewusst, dass es ihre

Freundin einmal weit bringen würde. Svenja hatte den perfekten rosigen Teint, echt weißblondes,
samtweiches Haar, opalblaue Augen und dazu eine unverwechselbare, ein klein wenig rauchige
Stimme. Dabei hasste Svenja Zigarettenqualm, und warum die Espressomaschine gerade vor ihrer
Garderobe stand, war Mira ein Rätsel. Svenja trank beim Dreh grundsätzlich nur Champagner oder
stilles Mineralwasser.

Als Teenager hatten sie zusammen in einer Parfümerie am Kurfürstendamm gejobbt, und

Svenja war sozusagen Miras erste Kundin geworden. Sie liebten beide die fantasievoll-schrägen
Kopfbekleidungen, die Mira schon ihr ganzes Leben lang entwarf und anfertigte. Dann hatte Mira
einen der begehrten Ausbildungsplätze als Modistin bei Mrs. Cory in London bekommen, und
Svenja war zur Schauspielschule nach München gegangen.

Nach zwei Jahren zurück in Berlin hatte Mira ihre alte Freundin gleich am ersten Tag in einem

Club getroffen. Vom ersten Augenblick an war zwischen ihnen alles wieder wie früher gewesen.
Ohne Svenjas Fürsprache hätte Mira die Ladenwohnung an der Kastanienallee nie mieten können.
Aber welcher Vermieter sagte schon Nein, wenn ihn Svenja Angerholt, das neue Gesicht der
Fernsehnation, um einen Gefallen bat. Zumal die gerade das riesige Loft-Apartment im
ausgebauten Dachgeschoss angemietet hatte.

Svenja war unkompliziert und blieb nett, auch seit sie als Fernsehschauspielerin mega-

erfolgreich geworden war. Sogar Miras Mutter, die nie Serien gucke, wusste genau Bescheid, wo
Svenja überall mitspielte. Und über Svenja war Mira dann auch beim Sophienbad, der neuen
glamourösen Vorabend-Arztserie, gelandet.

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Mira klemmte die Schachteln fest unters Kinn, dann warf sie sich mit der linken Hüfte gegen

die Tür, an der mit Klebestreifen ein handgeschriebener Zettel mit dem Namen SVENJA befestigt
war.

Die Tür flog auf, und Mira stolperte rückwärts in die Garderobe. Sie ruderte, balancierte mit

allen Tricks von Mrs. Cory, während Svenja lachend vom Sessel aufsprang. Puder staubte vom
Schminklatz, Haarklemmen fielen zu Boden. Vorsichtig nahm sie Mira die obersten beiden
Schachteln ab.

„Gleich fünf? Ich kann‘s kaum erwarten, zu sehen, was du wieder fabriziert hast.“
Mira stellte die restlichen Hutschachteln von Miras Kopfkleider auf den Boden und starrte

Svenja bewundernd an. Das weiche Haar ihrer Freundin floss geradezu über ihre Schultern, ihre
Augen strahlten. Verlegen strich sich Mira durch ihre eigenen, leider völlig unbezähmbaren
Haare. „Du siehst super aus.“

Doch Svenja schüttelte nur den Kopf. „Das ist ja gerade das Problem.“
„Das ist ein Problem?“ Mira stellte sich vor den Schminktisch, und Svenja deutete in den

großen Spiegel.

„Ich bin sechsundzwanzig, Mira. Und ich soll eine ausgebrannte Managerin spielen, die

zweiunddreißig ist. Das Alter ginge ja noch. Aber ich seh einfach nicht fertig genug aus.“

„Das ist die Story? Ich kenn die Serie ja noch gar nicht richtig.“
Svenja nickte. „Caren, die ein riesiges Parfümerie-Imperium leitet, wird in die Promi-Klinik

Sophienbad eingeliefert, weil sie total überarbeitet ist. So fängt die Serie an. Und jetzt sei mal
ehrlich, Mira: Sehe ich so aus, als leide ich am Burnout-Syndrom?“

„Eher wie frisch erholt aus Ibiza.“ Svenja war erst vor zwei Wochen von der Insel

zurückgekommen, wo sie eine heftige Affäre mit einem glutäugigen Spanier gehabt hatte. Mira
hatte Fotos gesehen. Das war doch etwas ganz anderes als Tom, der Dauerchatter.

„Terry hat mich schon seit einer Stunde am Wickel.“ Svenja deutete mit einem vielsagenden

Blick über die Schulter in Richtung der Waschnische.

Jetzt erst bemerkte Mira die Maskenbildnerin, die betont cool am Waschbecken lehnte und so

tat, als wäre ihr gar nicht aufgefallen, dass Mira sie glatt übersehen hatte. Terry McGilles, die
rothaarige Irin mit den Sommersprossen, hatte nicht viele Freunde. Mira wich den grünen Augen
aus, die sie abschätzig ansahen. Alle im Team wussten, dass Terry rasend gern Schauspielerin
geworden wäre. Aber Sommersprossen genügten eben nicht.

„Hi, Mira. Das sind ja tolle rosa Schachteln. Stellst du die mal bitte aus dem Weg? Wir sind

noch nicht fertig.“ Terry spitzte die Lippen, als hätte ihr jemand die Lieblingspuppe geklaut. Die
Masche vom süßen kleinen Mädel konnte sie sich wirklich schenken. Mira schob die Schachteln
unter den Schminktisch, und Svenja setzte sich sofort. Disziplin war ihre große Stärke.

Terry griff in Tiegelchen und zu Tübchen und pinselte und malte in Svenjas Gesicht herum.

Nach einer halben Stunde sah Svenja zwar älter aus, aber mehr als eine leichte Müdigkeit
zauberten die Schminkkünste Terrys nicht auf den natürlich-frischen Teint.

Als Terry zum x-ten Mal Silbermatt auf ihre Wangen pinseln wollte, hatte Svenja genug. „Das

wird doch nichts“, sagte sie und schob Terry weg. Trotz der geschminkten Augenringe wirkte sie,
als hätte sie gerade erst ein paar Stunden auf einer ausgelassenen Party verbracht und die Nacht

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noch vor sich.

Terry sammelte beleidigt ihre Pinsel ein. „Ich hol mir jetzt einen Espresso.“
Kaum war die Garderobentür ins Schloss gefallen, stöhnte Svenja auf. „Das nächste Mal lass

ich mir in den Vertrag schreiben, dass ich einen Mann als Maskenbildner bekomme. Diese Terry
ist furchtbar. Ständig malt sie mir Farben ins Gesicht, die überhaupt nicht passen.“ Sie richtete
sich auf. „Du kennst dich doch mit den Briten aus. Haben die denn gar keinen Geschmack?“

„Die haben schon ein anderes Farbgefühl. Aber Terry ist Irin. Das ist was ganz anderes.“ Mira

zog die zerknautschte Hutschachtel vor. „Ich hab da eine Idee. Pass mal auf.“

Svenjas überraschte Augen folgten Mira, die den venezianischen Hut mit der zerdrückten

Krempe aus der Schachtel hob. Sie zog die Stirn kraus und wollte abwinken. „Der geht doch nicht,
der ist ja kaputt …“

„Doch, doch. Setz ihn mal auf, nur ganz kurz. Komm schon.“ Mira drückte Svenja den Dreispitz

aufs blonde Haar und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. Dann drehte sie den Hut einen Tick
weiter nach links, sodass die zerdrückte Brokatbordüre direkt über Svenjas linker Schläfe hing.

Svenja blickte in den Spiegel und kniff die Augen zusammen. Dann schloss sie die bräunlich-

grau geschminkten Lider und seufzte matt: „Ach, Herr Assistenzarzt, ich weiß nicht, diese Pillen,
sie wirken so schnell …“ Wie eingeschlafen lehnte sie sich in dem Schminksessel zurück. Mira
musste lachen, der Hut betonte wunderbar die dunklen Ringe um Svenjas Augen. Sie sah mit
einem Mal echt fertig aus.

Da blitzten sie Svenjas blauen Augen schon wieder an. „Großartig!“ Svenja sprang auf und

starrte in den Spiegel. „Ich sehe aus wie nach einem Langstreckenflug in der Touristenklasse, mit
vier Babys, die die ganze Nacht durchgeheult haben. Du bist genial!“ Svenja drückte Mira einen
Kuss auf die Wange und fiel zurück in den Stuhl. „Ich brauche Ruhe. Einfach nur Ruhe. Ach,
warum lässt man mich denn nicht einfach allein?“ Die schleppende Stimme passte perfekt zu den
faltigen Wangen. Genauso stellte sich Mira einen Burnout im Endstadium vor.

Die Tür ging auf, Espressoduft strömte von Terrys Pappbecher herein.
Im Spiegel konnte Mira die Enttäuschung in Terrys Miene sehen. Mit einem Schlag kapierte sie

es: Terry wollte gar nicht, dass Svenja wie eine fertige Caren aussah, sie wollte, dass Svenja an
der Rolle scheiterte. Doch sofort zog die Irin die Mundwinkel wieder hoch und lächelte sanft. „Die
Maschine ist wieder kaputt, es hat ewig gedauert mit dem Espresso …“ Sie blieb stehen. „Der Hut
ist aber toll. Der passt ja genau zu meinem fertigen Make-up.“

Mira biss die Lippen zusammen. Terry war eine verdammte Bitch.

Mira saß am Set ganz außen. Sie wollte dabei sein, wenn Svenja zum ersten Mal mit ihrer
Hutkreation drehte. Und vielleicht könnte sie, wenn sie schon noch auf dem Filmgelände war,
diesen Beleuchter nach seinem Namen fragen. Da war schließlich nichts dabei, sie würden sich in
Zukunft sicher öfter über den Weg laufen.

Svenja fasste ihre Rolle für den Drehtag zusammen. „Dann kommt Caren in die Massage. Sie

ist perfekt angezogen, aufrechte Haltung, ganz die Frau von Welt. Sie braucht bestimmt keine Kur
zum Aufpäppeln, das ist nur was für Loser. Der Chefarzt hat ihr Massagen verordnet, und sie sieht
das Sophienbad als Wellness-Urlaub an …“

„Wer ist das?“, fragte Mira leise. Mitten auf dem hell ausgeleuchteten Set stand eine Frau im

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fuchsienroten Kostüm, das ihre üppige Figur gut zur Geltung brachte. Mira schwebte sofort ein
Hütchen mit zartrosa Flamingofedern vor, das wunderbar zu dem dunkelbraunen Haar der Frau
passen würde.

„Das ist Vivi. Unsere Line-Producerin“, flüsterte Svenja ihr ins Ohr. „Mogengruber lässt sich

hier eh kaum blicken.“

„Was hat er mit Vivi zu tun?“, fragte Mira.
Svenja stöhnte. „Mogengruber ist unser Regisseur. Total desinteressiert, deshalb machen Vivi

und manchmal sogar Leon die Regie. Ich hab mit Mogengruber mal einen Tatort gedreht, na, der
ist wirklich ausgebrannt. Jetzt wickelt er in der Halle gegenüber eine Telenovela für RTL ab,
deshalb hat er kaum Zeit für Sophienbad.“

Unauffällig blickte Mira zum Lichtpult, doch da war niemand. Sie schaute sich in der Halle um.

Ah, da stand ihr Kabelmann, abseits vom Set, mit vor der Brust verschränkten Armen. Er schien
ganz in die Anweisungen der fuchsienroten Vivi vertieft und sah dabei einfach umwerfend aus.

„Okay, wir gehen die Szene kurz durch, dann filmen wir. Svenja …“ Vivi drehte sich zu ihnen.

„Caren will nicht wahrhaben, dass sie zwangseingewiesen wurde. Das musst du rüber…“ Sie brach
erstaunt ab, als Svenja mit müden Schritten in die Kulissen trat. Auch die anderen in der Runde
starrten auf ihren Serienstar. Einem dunkelhaarigen Mann im weißen Arztkittel blieb fast der
Mund offen stehen.

„Wow, das ist echt gut, Svenja“, sagte Vivi. Dann grinste sie. „Wirklich, du siehst total

beschissen aus. Und dieser Hut … ein venezianischer Dreispitz, nicht? Ist der von der neuen
Ausstatterin?“

Mira trat einen Schritt vor. „Ja“, sagte sie, auch wenn sie eigentlich eine Hutmacherin war.

Doch jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Feinheiten.

Vivi warf ihr einen anerkennenden Blick zu. „Toll. Der Hut macht Svenja gleich Jahre älter.

Wenn ich mir das Ding so anschaue, verleiht er Caren genau die Mischung aus Eleganz und
Starrsinn, die wir jetzt in der Figur brauchen.“

Ein jüngerer, nervöser Mann im grünen Designer-Shirt sagte leise etwas zu Vivi, und die Line-

Producerin nickte. „Also, Kinder, nur ein Probedurchlauf, dann drehen wir.“ Sie trat vom Set.
Auch der Beleuchter war verschwunden, doch das Licht wurde weicher, und am Lichtpult erkannte
Mira die Silhouette ihres Kabelmannes. Vor ihm setzte sich Vivi auf einen orangefarbenen
Plastikstuhl, daneben auf dem Boden hockte der blonde Kabelträger. Der Stuhl des Regisseurs
blieb leer.

Der Mann im Arztkittel stellte sich hinter die Massagebank. Seine Gesichtszüge waren

maskulin und dabei weich, ein Typ, den Schwiegermütter vergötterten. Das musste Felix Scholl
sein, der semi-berühmte Darsteller aus etlichen Heimatfilmen. Wie Miras Mutter schon gesagt
hatte: Wer sonst hätte Svenjas männlichen Gegenpart, den Chefarzt Tobias, im Sophienbad
verkörpern können?

„Geht‘s heute noch los?“, fragte der Schauspieler und strich sich durch das volle Haar. „Ich

warte schon seit Stunden. Zeit ist Geld, Leute. Wozu brauchen wir denn einen Probedurchlauf?“

Svenja hatte Mira schon ausgiebig von den Star-Allüren von Felix Scholl berichtet. Allerdings

ließ Vivi sich nicht aus der Ruhe bringen.

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„Szene Massageraum, alles auf Anfang“, sagte sie kühl an, dann fiel ein Spot auf die Tür in der

pfirsichfarben gestrichenen Kulissenwand. Svenja trat ein, der Scheinwerfer erfasste sie und ließ
die aufgeschminkten Falten noch tiefer wirken. Fast hätte Mira ihre beste Freundin nicht erkannt.
Sie sah aus wie eine nicht gerade in Würde alternde Filmdiva.

Svenja und Felix spielten die Szene durch. Aus dem Augenwinkel beobachtete Mira ihren

geheimnisvollen Kabelmann. Er bewegte sich geschmeidig zwischen Lichtpult und
Kontrollmonitor, was sehr viel spannender war als alles, das vorne am Set vor sich ging. Einmal
erwischte sie ihn, wie er zu ihr herüberschaute, und Mira hatte das Gefühl, er würde ihr zulächeln.

„Chefarzt Tobias beschließt, Caren selbst zu massieren. Er greift nach dem Massageöl.

Großaufnahme Kokos-Massageöl der Marke Beautyline?“, las Vivi plötzlich aus dem Drehbuch
vor. „Was soll denn dieser Quatsch? Stand das schon immer da?“ Sie schaute hoch und schüttelte
dabei die braunen Locken. Mira hatte es gleich gewusst, Vivi war genau die Art von Frau, die
Flamingofedern tragen konnte.

„Das ist das Produkt des neuen Sponsors, Vivi. Wir haben das doch gestern mit der Redaktion

in Köln besprochen.“ Der Mann im grünen Designer-Shirt rief Felix zu: „Halt das Fläschchen bitte
mal hoch. Es steht auf dem Wagen neben der Massagebank.“

„Hier ist kein Öl.“
„Wie bitte?“
Mira blickte zum Set, wo Svenja inzwischen ohne Hut in ein langes Badetuch gewickelt auf

dem Massagetisch lag.

„Hier steht keine Flasche mit Massageöl“, sagte Felix Scholl sichtlich genervt. „Kann ich was

dafür, wenn bei dieser Serie die Requisiten nie da sind?“

„Es steht auf dem Rollwagen, Felix.“ Die Stimme des Mannes in dem grünen Shirt klang

angespannt. Mira blickte zu Svenja, doch die lag ganz in ihre Rolle versunken mit geschlossenen
Augen da.

„Leon, da ist kein Fläschchen. Da liegen nur Handtücher.“
Der Mann im grünen Shirt trat vor und schob Felix beiseite. Er starrte auf die wenigen

Requisiten und murmelte: „Das gibt es einfach nicht.“

Svenja stöhnte. „Sag jetzt nicht, dass schon wieder etwas fehlt, Leon.“
„Du bist dafür zuständig, dass die Requisiten am Set sind.“ Felix, der Liebling aller

Schwiegermütter, fixierte den armen Leon. „Ich hab die ganze Zeit noch kein Ölfläschchen
gesehen.“

„Aber ich!“ Mira sprang auf. Ganz deutlich erinnerte sie sich an die bunte Glasflasche auf dem

Rollwagen, als der Kabelmann den großen Scheinwerfer auf sie gerichtet hatte.

„Du?“ Svenja setzte sich auf, das grüne Badetuch knapp über dem Brustansatz, und ließ die

schlanken nackten Beine baumeln. So sah sie natürlich schon wieder viel zu gut aus.

„Als ich gekommen bin, habe ich schnell beim Einleuchten der Kulissen geholfen. Und da stand

ganz sicher eine Glasflasche auf dem Rollwagen.“

Leon im grünen Shirt drehte sich zum Lichtpult. „Paul, hast du das Öl auch gesehen?“
Paul hieß er also. Mira ließ sich den Namen in Gedanken auf der Zunge zergehen. Mist. Sie

hatte schon immer gefunden, dass Paul ein hübscher Name war.

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„Ich bin nur fürs Licht zuständig“, brummte Paul, der Kabelmann. „Aber ich glaube, da hat

wirklich was auf dem Wagen geblitzt.“

Vivi musterte Mira, dann wand sie sich an Leon: „Wir haben sicher noch mehr Massageöl,

wenn das unser neues Werbeprodukt ist.“

Doch Leon schüttelte den Kopf. „Es gibt vorerst nur die eine Flasche. Der Vertrag wurde erst

gestern unterschrieben. Der Sponsor hat die Produktprobe mit Express-Kurier geschickt. Vivi, ich
versteh das nicht. Ich war keine fünf Minuten vor Drehbeginn hier und hab noch mal gecheckt, ob
das Öl da ist.“ Er blickte sich immer noch in den Kulissen um, als würde das Öl vielleicht doch
noch in einer Ecke oder unter einem Handtuch auftauchen. „Ich kapier das einfach nicht.“ Leon tat
Mira richtig leid.

„Mir reicht‘s.“ Felix knöpfte den Arztkittel auf und warf ihn in einer zweifellos lange

einstudierten, dramatischen Geste über den Rollwagen. „Das ist jetzt das dritte Mal, dass just in
dem Moment, wenn wir endlich drehen wollen, eine wichtige Requisite fehlt. So was hab ich noch
nie bei einer Produktion erlebt.“ Er rauschte durch die Tür und verschwand im Gang zu den
Garderoben.

Aus dem Augenwinkel sah Mira, dass der Beleuchter Paul sie wieder beobachtete, sie blickte

ihn fragend an. Doch er zuckte nur mit den Schultern und lächelte richtig süß schüchtern.

Vivi beratschlagte leise mit Leon, wobei sie ihm die Hand auf den Unterarm legte. Dann wandte

sie sich zum Team. „Okay, kurze Pause. Leon geht zu Felix. Hoffen wir mal, dass er wieder eine
seiner grandiosen Ideen hat, wie wir die Szene retten können. In genau zwanzig Minuten will ich
euch alle wieder am Set sehen.“ Sie wollte schon weggehen, da sah sie Svenja, die noch immer
mit nackten Beinen auf der Massagebank saß. „Drehpause, Svenja. Zieh dir was über.“ Aber
Svenja rührte sich nicht von der Stelle, sondern blickte Vivi mit runden opalblauen Augen an.
Dabei grinste sie spitzbübisch, und Mira wusste genau, was das bei ihrer Freundin bedeutete.

„Und ich krieg jetzt gar keine Massage?“, fragte Svenja und legte so eine unverschämt sexy

Naivität in ihre rauchige Stimme, dass selbst Marilyn Monroe vor Neid erblasst wäre.

Vivi rollte die Augen, aber Mira grinste. Caren, die ausgebrannte Managerin, war spurlos

verschwunden. Selbst mit dem ganzen Make-up sah Svenja Angerholt ohne Miras Hut einfach wie
das blühende Leben aus.

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3. KAPITEL

Der Fahrtwind pfiff Paul ins Gesicht, als er mit offenem Verdeck über die Stadtautobahn brauste.
Mit der DS waren es knapp vierzig Minuten von Babelsberg in den Prenzlauer Berg.

Der Drehtag war wieder einmal von diesem arroganten Felix Scholl gerettet worden, der statt

einer Massage eine sanfte Shiatsu-Behandlung an Svenja alias Caren vorschlug und sich offenbar
auch mit den richtigen Druckpunkten auskannte. Leon hatte zähneknirschend das Product-
Placement auf eine andere Szene verschieben müssen, aber Vivi war begeistert. Mit Svenjas
samtenem Rücken ließ sich auch lichtmäßig viel mehr machen, wenn Felix einzelne Stellen
drückte und nicht Öl darauf verschmierte, das im Licht immer zu sehr glänzte. Und dann hatte
Paul glücklicherweise mitgekriegt, wie Vivi nach dem Dreh die kleine Hutmacherin leise nach der
Adresse ihres Ateliers gefragt hatte. Mira hieß sie …

In der Kastanienallee parkte Paul seine schwarzsilberne DS 21 vor dem Schaufenster von Miras

Kopfkleider. Auf dem Bürgersteig blinzelte er durch die Scheibe. Die Auslage hatte etwas von
einem altmodischen Ladenfenster mit der tapezierten, halbhohen Rückwand und den lebensgroßen
Puppenköpfen, die auf Haltestäben wie aufgespießt aussahen. Vier breitrandige, helle Sommerhüte
saßen auf den Köpfen. Paul versuchte, an einem mit Stoffrosen bestückten Hut vorbei ins dunkle
Innere zu lugen.

Als er sich schon fast die Nase an der Scheibe platt drückte, sah er Bewegung im Inneren.

Jemand lief mit schnellen Schritten hin und her, dann war wieder Ruhe. Dafür spürte er plötzlich,
wie ihm jemand ein Loch in den Rücken starrte. Rasch richtete Paul sich auf und drehte sich um.

Eine hochgewachsene, ungefähr vierzigjährige Frau in einem schicken Hosenanzug stand vor

ihm. Ihre glänzenden schwarzen Haare waren kurz geschnitten, die dunklen Gesichtszüge kamen
ihm leicht asiatisch vor.

„Sie scheinen zwar einen Hut kaufen zu wollen, aber vielleicht brauchen Sie doch eher eine

Brille.“ Mit einer Handbewegung deutete die Frau zu dem Geschäft neben dem Hutatelier, in
dessen Schaufensterauslage Brillengestelle auf bunten Holzwürfeln drapiert waren.

Paul spürte, wie er rot wurde. „Ich, also, ich wollte zu der Hutmacherin …“
„Zu Mira?“ Die Frau musterte ihn von Kopf bis Fuß.
„Hi! Was machst du denn hier?“
Paul fuhr herum. Die leicht amüsierte Stimme gehörte zu Mira, die mit einem Stück schwarzen

Satin und einer Nadel in der Hand in der geöffneten Tür ihres Ateliers stand. „Das ist der
Beleuchter von der Serie, für die ich arbeite, Masoumée. Sophienbad, jeden Abend Viertel vor
sieben.“ Die Hutmacherin grinste ihn an. „Du heißt Paul, nicht?“

„Paul Thormann.“ Vor lauter Verlegenheit hätte er Mira fast die Hand hingehalten.
„Na, wenn er eine Brille braucht, dann schick ihn rüber zu mir. Ich hätte da was ganz

Besonderes für ihn.“ Die Frau im Hosenanzug zwinkerte Mira zu und warf einen skeptischen Blick
auf Pauls rechtes Handgelenk. Hatte er Motorenöl abgekriegt? Aber er hatte doch nicht mal
getankt.

„Mach ich.“ Mira winkte ihn in den Laden. Paul stieg die zwei Treppenstufen hoch und betrat

den Raum mit der hohen weißen Stuckdecke. Es roch nach altem Samt, Klebstoff und der

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Andeutung eines frischen, blumigen Parfüms. Dunkle Regale bedeckten die Wände auf der einen
Seite, auf den Brettern reihte sich ein Hut an den anderen. Sie waren nach Sommer- und
Winterhüten, nach Tag- und Abend-, nach Hochzeitshüten und nach Damen- und Herrenhüten
geordnet. Ein Regal in der hinteren Ecke war einer ganzen Serie von kleinen Hütchen gewidmet,
die Paul an alte Schwarz-Weiß-Filme erinnerten.

Mira war seinem Blick gefolgt. „Das ist meine Miss-Marple-Kollektion“, sagte sie. Ihr Blick

glitt fast zärtlich über die Hüte, sodass Paul am liebsten das gesamte Regal leer gekauft hätte.
Aber wahrscheinlich hing die Hutmacherin viel zu sehr an diesen Hüten, als dass er ihr damit eine
Freude gemacht hätte.

„Na, was hat dich denn in die Gegend geführt?“, fragte Mira.
„Ich wollte mir mal ansehen, wo Svenja ihre genialen neuen Kopfbedeckungen her hat.“ Und

die schöne Hutmacherin zum Essen einladen. Aber das wollte Paul erst später fragen.

Sie blinzelte ihm zu. „Die Hüte gefallen dir wirklich?“
„Den Dreispitz heute, also, den fand ich wirklich toll.“
Mira verzog das Gesicht. „Den hast du ja nun nicht gerade in Bestform gesehen.“
„Tut mir echt leid, dass Bastian sich auf den Hut gesetzt hat. Manchmal denkt er nicht für drei

Cent.“

„Schon okay.“ Sie wandte sich zur anderen Seite des Raumes. Halb hinter einem Vorhang

verborgen, stand ein riesiger Tisch, auf dem eine Nähmaschine, noch mehr Puppenköpfe und jede
Menge Stoffe, Filze, Lederreste, Bordüren, eine hohe Vase voller bunter Federn, ein ganzer
Regenbogen gefärbter Strohhalme und etliche Scheren und Werkzeuge herumlagen, die Paul nicht
kannte. Hier entstanden also Miras Hüte. Paul pfiff durch die Zähne angesichts des kreativen
Chaos.

Da merkte er, dass Mira ihn mit einem seltsam verschmitzten Lächeln ansah. Er beschloss, dass

der richtige Moment gekommen war. „Ich möchte dich eigentlich …“

„Willst du was Bestimmtes?“, unterbrach sie ihn. „Ich habe noch wahnsinnig viel Arbeit.“
„Also, ich wollte dich fragen …“
„Vivi war vorhin auch schon hier. Sie hat dich nicht noch mal geschickt, um Änderungen

nachzureichen?“ Mira blickte auf den Satin in ihrer Hand, und Paul sah ihre helle Haut, die durch
zwei schmale schwarze Schlitze im Stoff durchschimmerte.

„Vivi? Nein. Ich bin hier, weil ich …“
„Sie will sich einen Hut von mir machen lassen, privat.“ Mira strahlte. „Wir haben uns auf

etwas mit rosa Flamingofedern geeinigt.“ Dann drehte sie sich um. „Und Vivi will für die
Ballszene morgen venezianische Masken. Das ist verdammt viel Arbeit. Die müssen ja alle
unterschiedlich sein.“ Sie griff nach einer Schere und beugte sich dabei weit über den
Arbeitstisch, sodass Paul nichts anderes übrig blieb, als ihren perfekt geformten Po zu bewundern.
Er räusperte sich, und Mira drehte sich um. Dabei fiel ihr Blick auf etwas hinter Paul, und ihre
braunen Augen weiteten sich.

„Ist das dein Wagen?“ Paul meinte, echte Bewunderung aus ihrer Stimme herauszuhören.
Er nickte. „Ein alter Citroën DS 21.“ Kurz blickte er zu seiner geliebten DS. „Meine Göttin. Ich

hab sie selbst umgespritzt.“

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Mira trat zur Tür. „Schwarzsilber. Wow! Die sieht super aus.“ Sie legte die Hand an den

altmodischen Türknauf, und Paul hätte ihr zu gerne sein Auto vorgeführt. Offenbar verstand sie
etwas von der Materie: Sie wusste sogar, dass der Kosename dieses französischen Klassikers
„Göttin“ lautete – mehr als einmal hatte Paul nämlich merkwürdige Blicke geerntet, wenn er
seinen Wagen so bezeichnete. Vielleicht könnten sie vor dem Essen noch eine Runde durch den
Prenzlauer Berg drehen. Doch Mira stoppte mitten in der Bewegung und seufzte. „Die Masken
…“, murmelte sie, dann blickte sie zu ihm. „Wie stehst du eigentlich zu Rennfahrerkappen? Diese
alten aus Leder und Wolle, mit einer dicken Schutzbrille drüber?“

„Genau so eine hab ich daheim, die ist noch aus den Zwanzigern …“ Mira schaute ihn schräg

von unten an, und da kapierte Paul, worauf sie hinauswollte. „Na, wenn ich‘s mir recht überlege,
ist die schon ganz schön abgeranzt.“

„So, so“, machte Mira und suchte auf dem Arbeitstisch, bis sie eine Spule mit schwarzen Garn

gefunden hatte. „Was wolltest du noch mal?“, sagte sie, und Paul hatte das Gefühl, dass sie sich
über ihn amüsierte. Und ihn gleichzeitig irgendwie sympathisch fand. Na denn …

„Eigentlich wollte ich dich … ach, egal. Sag mal, wenn du für Vivi einen Hut anfertigst, könnte

ich dann bei dir eine zünftige Rennfahrerkappe in Auftrag geben? Schwarzes Leder?“

„Sicher, supergern.“ Sie lächelte ihn an und schien innerlich zu tanzen. „Ich mach dir auch

einen Spezialpreis. Ich hab deinen Wagen gesehen und gleich gewusst, dass zu dir nur eine
Roadrunner – Kappe passen kann.“

Es machte Paul glücklich, die Begeisterung in Miras braunen Augen zu sehen. Der Auftrag für

die Kappe war ein Geniestreich. Er würde zum Abmessen, zur ersten Anprobe, zur zweiten
Anprobe und zum Abholen herkommen, und dabei würde sich ganz sicher eine Gelegenheit
ergeben, Mira zum Essen und mit der Maschine auszuführen. Und dann, wenn alles klappte …

„Du, ich muss jetzt echt arbeiten. Was wolltest du also?“ Ihr zierliches Gesicht war wieder ernst

und konzentriert, und sie griff nach dem Satin.

„Na, einen Hut“, meinte Paul schnell. „Wegen der Kappe, also … wir sehen uns ja morgen bei

der Produktion, wenn du die Masken bringst.“

Sie nickte. „Na dann. Tschüss, Paul.“
Es kam Paul so vor, als ob es wenig bedauernd klang. Aber er konnte sich irren. Bei so einer

Frau standen die Männer, die bei ihr landen wollten, sicher Schlange. Paul öffnete die Tür, und als
er auf die Kastanienallee trat, hörte er das leise Glöckchen, das Besucher ankündigte.

Neben der DS musste er erst mal tief durchatmen.
„War nichts mit dem Date, was?“, hörte er da eine Frauenstimme hinter sich.
Die Optikerin im Hosenanzug rauchte eine Zigarette vor ihrem Laden. Für einen Moment kam

sich Paul wie in einem Werbespot aus den Sechzigerjahren vor.

„Keine Sorge, ich komme wieder“, grinste er, stieg ein und brauste schneller, als es die Polizei

erlaubte, die Kastanienallee hinunter.

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4. KAPITEL

Mira schlüpfte mit dem Hut in der Hand an Leon vorbei. Seine Waden unter den knielangen
Armeehosen wirkten im grellen Scheinwerferlicht fast weiß.

„Mira, wo bleibst du denn?“ Svenja saß auf einer aus Styropor geformten Steinbank. „Ohne den

Hut können wir nicht drehen.“

„Bin schon da.“ Mira setzte ihrer Freundin den venezianischen Dreispitz auf und zog eine Dose

aus ihrer Hüfttasche. „Ich habe nur noch das hier aus deiner Garderobe geholt.“ Sie schüttelte die
Sprühdose, die kleine Kugel im Innern klackte.

„Hört sich an wie Autolack“, sagte eine dunkle Stimme hinter ihnen.
Svenja und Mira drehten die Köpfe. Paul stand hinter dem Lichtpult. Heute trug er enge Jeans

und ein rotes T-Shirt, in dem er super aussah.

„Lack? Von wegen.“ Mira riss sich von Pauls Anblick los und wandte sich dem Hut zu. „Das ist

ein sauteures Staubspray. Die Dose habe ich mir aus Italien schicken lassen, extra für Svenjas
Burnout-Look.“ Sie drückte auf die Düse. Ein feiner grauer Nebel legte sich auf den grünen Stoff.
„Damit sieht neuer Samt so abgeschabt aus, als hätte ihn ein alter Gondoliere jahrelang getragen.“

Svenja stupste sie an. „Guck mal. Waschbrett klingt eigentlich viel zu doof dafür, findest du

nicht?“, flüsterte sie.

Mira blickte in die Richtung, in die Svenjas Ellenbogen deutete. Paul streckte sich, um einen

Scheinwerfer im Gestänge zu richten, und dabei war sein T-Shirt hochgerutscht. Mira konnte
perfekte, feste Bauchmuskeln und einen haarlosen Nabel erkennen. Sie seufzte betont sehnsüchtig
und wusste selbst nicht genau, ob sie das nur ironisch meinte. Da wurde plötzlich das Licht um sie
herum heller.

„Ich gebe euch ein bisschen mehr Goldschimmer auf den Tisch.“ Paul sprang aufs Set, und Mira

spürte ganz kurz, wie seine Hände sie sanft an den Hüften berührten und von Svenja wegschoben.
„Bleib immer hinter der Lichtgrenze, Mira. Du wirfst gerade Schatten auf die venezianischen
Gläser.“

Svenja grinste, während Paul schon wieder am Lichtpult herumhantierte. Über ihnen drehten

sich bunte Scheiben vor den Scheinwerfern an der Lichtbrücke. Das Licht wurde gelber, dann
bekam es einen Hauch von Orange. Die Glaskaraffe und die beiden antiken Kelche leuchteten
golden auf, im nächsten Moment schaltete Paul noch das Backlight dazu. Das Kristall glitzerte
atemberaubend.

„Toll.“ Mira wollte Paul zulächeln, aber Leon hatte sich vor dem Beleuchter aufgebaut.
„Wir wollen hier drehen, Paul, und kein Museumsstück beleuchten.“
„Na, so alt sehe ich sogar mit Miras Hut nicht aus.“ Svenja setzte sich aufrecht und richtete die

Falten ihres Hausmantels.

„Wollen wir nun ein professionelles Product-Placement, oder nicht?“ Paul drehte Leon die

Schultern zu.

„Wir wollen vor allem die nächste Szene in den Kasten kriegen.“ Leons Ton wurde schärfer.

„Und zwar in“, er blickte rasch auf seine Armbanduhr, „knapp zwanzig Minuten. Ich brauche wohl
kaum zu erwähnen, dass wir nach Vivis Kalkulation heute noch vier Szenen abdrehen müssen.“

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Der Requisiteur ließ Paul stehen und wandte sich ihnen zu. „Und du, Mira“, meinte er, „du
verschwindest jetzt und lässt Svenja und Paul in Ruhe das Licht einrichten.“

„Okay, okay, ich geh ja schon. Tschüss, Svenja. Montag bringe ich wieder was Schönes mit.“
Doch Svenja antwortete nicht. Sie sah schräg an der Kamera vorbei zu Leon. Dann hörte Mira

ihre Freundin mit dem Kristall hantieren. Das Glas klirrte, während der Star intonierte:
„Eigentlich ist ja Champagner mein Lebenselixir …“

Mira ging auf Zehenspitzen am Lichtpult vorbei. Paul blickte starr auf den Kontrollmonitor.

Gut, dass sie schon vorhin mit ihm über die Roadrunner – Kappe gesprochen hatte.

„Setzen Sie sich doch.“ Felix spielte den fürsorglichen Oberarzt Tobias. Die Szene sollte
eigentlich im Freien spielen, doch für Außendrehs gab es kein Geld beim Sophienbad. Paul blickte
unablässig auf den Monitor, vor dem Vivi und Leon saßen. Durch das künstliche Sonnenlicht
wirkte die Szene am Styropor-Trinkbrunnen tatsächlich, als wären Felix und Svenja wirklich im
Park der Society-Klinik.

Svenja ließ sich auf der steinernen Bank nieder. Der lichte Schatten einer Weide fiel über ihr

Gesicht. Stundenlang hatte Paul getüftelt, bis die Illusion stimmte. Felix setzte sich neben sie.

„Alle sind so freundlich hier im Sophienbad …“ Svenja lehnte sich mit geschlossenen Augen

zurück, wobei ihr langer weißer Hals sichtbar wurde.

Felix tat so, als ob er zum ersten Mal die weiblichen Rundungen unter dem Hausmantel seiner

Patientin entdeckte.

„Das … das ist unser Job“, sagte er mit der härteren Stimme des Oberarztes Tobias.
Svenja ließ ihre opalblauen Augen blitzen. „Herr Doktor, ich weiß, wie es aussieht, wenn

jemand seinen Job macht.“ Die Schauspielerin beugte sich vor zu Felix. „So, wie Sie sich um mich
kümmern, das ist mehr als ein Job, das ist Berufung, das ist …“

„Leidenschaft“, flüsterte Felix. Die beiden näherten sich auf der Bank, bis sie sich fast

berührten.

Da sprang Felix auf, und Svenja zuckte ganz nach Drehbuch zusammen. „Was ist?“, hauchte

sie.

„Entschuldigen Sie, ich … ich wollte Sie nicht erschrecken. Doch mir ist gerade eingefallen,

warum ich Sie überhaupt hier herausgebracht habe.“

Felix ging zu dem Trinkbrunnen, der von bunten Blumen umgeben war. Ein puttenförmiger

Amor hielt eine große Amphore, aus der das Wasser der Heilquelle ins Becken plätscherte. Die
Jungs von der Technik hatten ganze Arbeit geleistet, denn von der Wasserpumpe war nichts zu
hören.

„Kommen Sie, Caren, trinken Sie. Es ist das Wasser des Lebens.“
Svenja sah toll aus in dem wallenden Hausmantel. Zu toll, wurde Paul plötzlich bewusst.

Vielleicht hätte er das Augenlicht doch nicht in Svenjas Gesicht richten sollten. Sie sah zwar
verliebt, aber auch vollkommen gesund aus.

In diesem Moment griff Felix zum Rand des Trinkbrunnens. Er tastete das Styropor ab. Wo

waren denn die Gläser? Paul blickte vom Monitor hoch zum Set, da brüllte Felix auch schon völlig
außer der Rolle: „Wo, verdammt noch mal, ist das bescheuerte Glas?“

„Cut!“, rief Vivi, dann fuhr sie den Requisiteur an: „Wo ist der Trinkkelch, Leon?“

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Der starrte mit offenem Mund auf den Brunnenrand. Paul setzte sich ans Lichtpult und

deaktivierte das rote Licht über den Halleneingängen. Der Dreh war unterbrochen: Die Suche nach
der fehlenden Requisite würde sicher wieder ewig dauern. Mist, hoffentlich konnten sie
wenigstens den Anfang der Szene verwenden. Das Schattenspiel der nicht vorhandenen Weide auf
Svenjas Gesicht war super geworden. Es war die Frage, ob er das so realistisch noch einmal
hinkriegen würde.

„Felix, bist du ganz sicher, dass das Glas nirgends steht? Ist es runtergefallen?“, fragte Leon mit

unsicherer Stimme.

„Dann wäre das Ding doch in tausend Stücke zersprungen.“ Vivi marschierte wie eine Pantherin

vor dem Set auf und ab und schaute dabei alle drei Sekunden auf ihre Uhr.

„Nada, niente, nüscht“, sagte Svenja, die auf allen vieren um den Brunnen herumkroch. Felix

stand mit vor der Brust verschränkten Armen und eisiger Miene daneben.

„Aber es war da!“ Leon trat aufs Set und schaute sich um. Nur der Trinkbrunnen und die

Steinbank standen vor der Blue Screen, ein Glas würde man sofort sehen. Trotzdem ging Leon
alles ab, schaute hinter die Wände und suchte den Boden ab. „Ich kapier‘s einfach nicht. Svenja,
du warst doch da, als das Kristallservice aus dem Serienfundus gebracht wurde. Du und die
Hutmacherin, ihr könnt bezeugen, dass alles da war.“

„Wir glauben dir ja, Leon.“ Vivi sah aus, als hätte sie gerne eine Zigarette. „Aber was machen

wir jetzt? Das Glas hat sich in Luft aufgelöst, wie alles bei diesem verdammten Dreh.“

Bei den letzten vermasselten Takes hatte ausgerechnet Felix immer den Tag gerettet. Auch jetzt

sah er so aus, als brüte er eine neue Script-Idee aus. Plötzlich schwiegen alle. Paul dimmte das
Licht. Das schien ihm angesichts der erneuten Katastrophe angemessen.

„Und?“ Vivi biss sich auf die Unterlippe. Vorn an der großen Hallentür stand Kerstin, eine der

Redakteurinnen des Senders. So wie Paul sie kannte – und er kannte sie schon seit ihrer Schulzeit
– würde sie sofort nachfragen, warum der Dreh schon wieder unterbrochen war. Zeit war Geld,
und sie waren schon etliche Szenen im Verzug.

„Wie wär‘s …?“, begann Felix und drehte sich zum Springbrunnen. „Ja, das müsste gehen.

Svenja, fangen wir noch mal an, wenn du von der Bank aufstehst. Du stellst dich einfach neben
mich, und dann lass mich mal machen.“

„Was hast du vor?“ Svenjas Stimme klang nicht gerade zuversichtlich. „Ich möchte schon

genau wissen, was ich spielen soll.“

Felix grinste. „Du bist doch ein Naturtalent, sei einfach spontan.“
„Aber …“
Vivi winkte nur in Richtung der Bank. Svenja rollte die Augen, allerdings so, dass es nur Paul

mitkriegen konnte. Er verstand Svenja gut: Felix war ein arroganter Angeber, aber er hatte bis
jetzt immer geniale Ideen gehabt, wenn wieder etwas schiefgegangen war.

Paul schaltete das rote Licht über den Türen wieder an.
„Okay, bitte Ruhe.“ Vivi setzte sich auf ihren orangefarbenen Stuhl. „Wir drehen.“ Sie blickte

zum Kameramann.

„Kamera läuft!“
Paul schaute über Vivis Schultern auf den Monitor. Silbern glitzern sollte das Wasser, aber

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keine Lichtreflexe werfen, die im Film wie Supernovas aussehen würden.

„Szene 38, Trinkbrunnen – die Zweite“, sagte Leon und ließ die Klappe fallen.
Felix trat neben den Brunnen. „Kommen Sie, Caren, trinken Sie. Es ist das Wasser des Lebens.“
Er griff in den Strahl, den der Amor in das Becken schüttete. Wie Diamanten glitzerten die

Tropfen, die von seiner Haut abperlten. Dann fingen seine kräftigen Hände das Wasser auf.
„Trinken Sie.“

Svenja zögerte einen Moment, dann nahm sie einen Schluck von dem kostbaren Nass. Langsam

fuhr sie mit der Zunge über ihre Lippen. „Es schmeckt so frisch und süß. Und da ist ein Hauch …“
Svenja schaute zu Felix hoch, der sie unentwegt anschaute. Fast könnte man meinen, er sei
wirklich ein bisschen verliebt in seine Partnerin. „Ja, von, ich weiß nicht …“

„Orangen“, flüsterte Felix und nahm Svenjas Gesicht in seine Hände. Zärtlich küsste er seine

Serien-Patientin auf die Lippen.

„Cut!“
„Licht an!“
„Szene im Kasten. Perfekt.“
Paul schaltete auf Hallenbeleuchtung um. Kerstin an der Tür gab ihm Daumen-hoch-Zeichen.

Das Team stand versammelt auf der Bühne um Svenja und Felix und gratulierte ihnen.

„Was für eine Intensität!“
„Orangen, einfach super.“
Vivi klopfte Felix lächelnd auf die Schulter. Felix Scholl war zwar ein Angeber, aber sie

verdankten es ihm, dass der Drehplan irgendwie eingehalten werden konnte. Und was die
Beleuchtung betraf, das Wasser glitzerte sogar noch besser als das Kristallglas, mit dem sie die
Szene eingeleuchtet hatten. Paul stellte sich einen Moment lang Mira vor, wie sie lachend unter
einer Fontäne stand und die Tropfen in ihrem dunklen Haar in der Sonne blitzten. Da winkte Vivi
zur Besprechung. Paul trat vor das Lichtpult, doch ganz konnte er das glückliche Gefühl nicht zur
Seite schieben. Er musste diese Frau einfach wiedersehen.

Leon stand ein wenig abseits, er schien sich immer noch nach dem Trinkglas umzuschauen.

Paul winkte ihm zu. Seltsam war es schon, wie viele Requisiten auf diesem Dreh wegkamen.

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5. KAPITEL

In der Kastanienallee stieg Mira aus der Straßenbahn aus und ließ den Blick über die bunte
Mischung aus Studenten, Menschen mit Supermarkttüten, japanischen Touristen und Omas mit
karierten Rollwägelchen schweifen. Sie seufzte. Bisher hatte sie schon auf der S-Bahn-Fahrt
hundert Ideen für die nächsten Hutkreationen gehabt, die sie für Svenja machen wollte. Aber
heute? Sie hätte lieber die Fahrgäste beobachtet, statt von Paul zu träumen, der in ihren Gedanken
irgendwie zum Edgar-Wallace-Detektiv geworden war. Aber nicht in Schwarz-Weiß, wie in den
alten Filmen. Nein, Paul war in voller Farbe durch die Berliner Hinterhöfe geschlichen.

Am besten holte sie sich noch etwas Schokolade in dem neuen Kakao-Spezialitätengeschäft.

Der Geschmack von süßem Nugat inspirierte sie immer aufs Neue.

Auf den Bänken vor den Cafés saß noch niemand, die Sonne schien auf die andere Straßenseite.

Mira schmunzelte. Ihr strahlend weißes Ladenschild blitzte vor dem abgebröckelten Putz der
Ladenfront. Miras Kopfkleider … zusammen mit Svenja hatte sie sich den Namen ausgedacht.

Neben dem Hutatelier trat eine schlanke Gestalt auf den Bürgersteig. Mira winkte, ihre

Nachbarin hingegen bemerkte sie nicht. Masoumée Zaradi betrachtete angestrengt das
Schaufenster ihres Brillengeschäfts. Die Optikerin war zwar in Teheran geboren, hatte jedoch die
meiste Zeit ihres Lebens in Berlin verbracht. Ein wenig streng schaute sie immer aus ihren
dunklen Brombeeraugen, aber Masoumée lachte viel und gerne, allerdings nur, wenn keine
Kunden im Laden waren.

Was war das denn? Mira blieb vor dem Brillenladen stehen. „Du hast ja umdekoriert!“ Aus dem

Schaufenster war eine Art persischer Privatsalon geworden. „Das ist fantastisch. Wieso hast du die
bunten Holzwürfel entsorgt?“

Masoumée steckte sich eine Zigarette an. „Weil das inzwischen jeder dritte Laden so macht.

Alle haben Deko in Orange, Grün und Gelb.“

Mira wollte antworten, aber das Schaufenster ließ sie nicht los. Lebensgroße Figuren in

traditionellen Kleidern standen zwischen bunten Teppichen und mattgold glänzendem Geschirr.
„Das ist ja wie in einem Palast. Die Teppiche sind der Wahnsinn.“

„Nain.“
„Nein? Aber ich sehe doch sogar die Fransen.“
Masoumée lachte und stippte die Asche neben die Tür. „Nain ist der iranische Name für eine

bestimmte Art von Teppich. Sie sind meistens rund und haben ein geometrisches, verschlungenes
Muster. Der da lag bei meiner Großmutter im Tee-Salon.“

Mira hatte noch nicht herausgefunden, wie reich Masoumées Familie gewesen war, nur wenn

sie jetzt die schweren Teppiche betrachtete … Ihr Blick fiel auf zwei Puppen, die auf Knien
kauernd braune Holztablette hielten, auf denen Masoumée die neue Brillen-Kollektion drapiert
hatte. Das ultramoderne Brillendesign gab einen genialen Kontrast zu den traditionellen Stoffen.
„Die Kleider sind original? Hat das deine Großmutter angehabt?“

„Du glaubst doch nicht, dass eine Zaradi wie ein Bauernweib bunte Röcke und

perlengeschmückte Kopftücher getragen hätte. Nein, meine Großmutter hat sich nur in Paris
eingekleidet.“ Masoumée schnippte die Zigarette weg. „Mein Vater hat solche Kleider manchmal

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von seinen Geschäftsreisen in der Provinz mitgebracht. Wenn die Leute kein Geld hatten und
getauscht haben.“

„Irre!“ Dann erblickte Mira eine seltsame Kopfbedeckung auf dem Kopf einer männlichen

Figur. „Was ist das? So einen Hut habe ich noch nie gesehen.“

„Komm rein.“
Von innen löste Masoumée den Hut vom Kopf der Puppe. „Das ist ein Pakol“, erklärte sie.

„Man trägt ihn heute noch in den östlichen Provinzen Irans.“

Miras Hutmacherinnen-Herz wollte sofort ergründen, wie der Hut wohl gebaut war. Auf eine

fünfzehn Zentimeter lange Röhre aus Wolle war ein Deckel aufgesetzt. Die Wolle war an
mehreren Stellen gefaltet und vernäht, wodurch eine schöne Verzierung entstand. An der
Unterseite des Deckels war ein satinartiger Stoff angebracht, der dem Pakol Stabilität verlieh und
verhinderte, dass die raue Wolle direkt auf der Haut auflag. „Genial.“ Mira strich über den Hut.
Eine andere Farbe und vielleicht nur Seide, ein wenig edler in der Anmutung … Plötzlich wusste
sie genau, was für einen Hut sie für Svenja machen würde. „Darf ich den Hut behalten?“

„Na ja … eigentlich nicht.“
„Oh.“ Mira drehte den Hut in ihren Händen. „Sorry, ich meine natürlich nicht geschenkt. Ich

würde mir gerne anschauen, wie er gemacht ist.“

Die Optikerin schaute Mira direkt in die Augen. „Es ist ein Erbstück. Ich konnte nur wenige der

Dinge meines Vaters retten. Der Pakol ist sehr alt, und ich würde ungern …“ Ihre großen Hände
wiesen auf das Fenster. „Ich wollte die ganzen alten Sachen einfach mal wieder sehen, statt immer
nur an sie zu denken.“

Mira nickte, während sie eine aufgegangene Naht an dem Pakol befühlte. „Das verstehe ich.

Diese Sachen sind auch wirklich … anders. Richtig faszinierend.“ Ihr Blick fiel auf den runden
Nain-Teppich. Das Muster aus Dreiecken und Kreisen passte genau zu Svenja. Rosa- und
Blautöne, dazu ein wenig Silberfaden …

„Schau mal, hier.“ Sie hielt Masoumée den Hut hin. „Die Nähte gehen auf, weil der Faden

brüchig ist. Ich restauriere dir den Hut umsonst, wenn ich ihn dafür ein paar Tage mitnehmen
darf.“

„Du bist wirklich scharf auf den alten Deckel, was?“ Masoumée grinste und schaute Mira dabei

neugierig an. „Na gut, nimm den Hut mit. Die Restaurierung bezahl ich aber. So weit kommt‘s
noch, dass du umsonst arbeitest.“

„Danke, Masoumée, das ist toll!“
Zwei Kunden traten ein, und sofort schaltete Masoumée ihr Lachen ab und wurde zur

ernsthaften Optikerin.

Mira zwinkerte ihr zu und ging rüber zu ihrem Hutladen. Sie drehte das Schild in der

Eingangstür auf „Come in, we‘re open“ und betrachtete dabei den Wollhut in ihren Händen.
Iranisches Flair für das Sophienbad und ein neuer Seidenpakol für Svenja, na also.

Wütend warf Vivi das Script auf den Beifahrersitz ihres neuen zitronengelben Porsche Cayman.
Gestern das fehlende Massageöl, heute der verschwundene Trinkkelch. Als ihre beiden Stars dann
aber bei der letzten Szene aneinandergeraten waren, hatte Vivi genug gehabt. Bei TV-
Produktionen hatte sie schon eine Menge komischer Sachen erlebt, nur das hier hatte System. Das

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Team des Sophienbad tanzte ihr auf der Nase herum. Sie legte den Gang ein und wollte gerade den
Zündschlüssel drehen, da winkte Leon ihr von der Studiotür aus hektisch zu. Neben ihm standen
Felix, Svenja und Paul. Und Kerstin von der Redaktion, die ihr wahrscheinlich die Ausfallkosten
vorrechnen wollte.

Leon hatte den Porsche als Erster erreicht. „Warte doch mal, Vivi.“
Also gut. Sie stieg wieder aus und wandte sich an die Runde, die sich um den Porsche aufbaute.

„So läuft das nicht. Ihr reißt euch jetzt zusammen. Diese Drehverzögerungen holt ihr auf, egal
wie.“

„Wer verzögert denn hier? Wir hatten doch alles wunderbar im Griff, bis du einfach aus dem

Studio gerannt bist.“ Felix gestikulierte in Oberlehrermanier in seinem weißen Arztkittel und
rempelte dabei fast Kerstin um.

„Pass doch gefälligst auf, du stehst ihr schon auf dem Fuß.“ Vivi schüttelte die Haare. Jetzt

würde sie sich erst einmal diesen aufgeblasenen Heimatdarsteller vornehmen.

Aber Felix ließ sie gar nicht zu Wort kommen. „Wie sollen wir denn richtig arbeiten, wenn die

Produktion uns nicht mal die Requisiten bereitstellen kann, die ihr uns ins Drehbuch schreibt?“

Svenja zog Felix zur Seite. Im Sonnenlicht sah man die aufgeschminkten Falten in ihrem

Gesicht. „Felix, lass gut sein … Tut mir leid, Vivi, wegen gerade eben. Gib uns noch mal ‚ne
Chance. Ich versprech dir, wir bringen die letzte Szene jetzt problemlos über die Bühne.“ Sie
drehte sich zu den anderen. Paul, der Beleuchter, brummte zustimmend, obwohl der ja gar nichts
verbockt hatte. Kerstin nickte eifrig – klar, wenn sie heute die Szenen noch in den Kasten
bekamen, sparte das wieder einige Tausender. Selbst Felix bemühte sich um einen positiven
Gesichtsausdruck.

Leon legte sanft die Hand auf ihren Unterarm. „Okay?“
Vivi senkte die Stimme, damit das Team nicht mitkriegte, wie sauer sie war. „Du kennst die

Zahlen so gut wie ich.“ Doch dann konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Sie legte die Hand auf
das Dach des Porsches. „Es ist eure verdammte, vertraglich festgeschriebene Pflicht, täglich die
vorgegebene Anzahl von Szenen abzudrehen. Mit oder ohne mich!“

„Aber das wollen wir doch! Nur, wenn du jetzt nicht die Regie machst, schaffen wir es nie.“

Svenja schaute sie bittend an.

„Das Sophienbad läuft doch super, Vivi“, sagte Leon. „Der Sender verhandelt schon die nächste

Staffel.“

„Und morgen kommt der neue Sponsor“, fügte Kerstin dazu.
Vivi holte tief Luft. „Okay, wenn ihr total powert, dann holen wir den Rückstand auf. Aber nur

dann. Drehbeginn ist sechs Uhr dreißig.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Und damit
meine ich sechs Uhr morgens.“

„Das geht nicht“, sagte Felix, „da schlafe ich noch.“
Die anderen stöhnten laut, und Vivi funkelte Felix an. „Wenn du nicht Punkt sechs Uhr dreißig

am Set stehst, lasse ich dich aus der Serie rausschreiben. Das geht schneller, als du denkst.“

Felix trat einen Schritt zurück. „So lass ich mich doch nicht behandeln!“
Jetzt war Schluss mit lustig. Das war das Problem am Sophienbad, dass andauernd jemand die

Extrawurst spielen musste. Vivi setzte erneut zum Sprechen an, doch da hob Kerstin die Hand.

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„So lösen wir das Problem nicht, Leute. Ich sage es ja nicht gern, aber es ist doch offensichtlich.

Am Set wird gestohlen, da klaut jemand mit Absicht wichtige Requisiten. Da kann nur jemand aus
dem Team dahinterstecken.“

Vivis Wut war mit einem Mal wie weggeblasen. „Kerstin hat recht. Jetzt begreife ich das erst.

Hier wird nicht bloß geschlampt, hier wird gestohlen. Natürlich!“

Leon rieb sich die Nase und wirkte noch dünner als sonst. Die Anspannung war ihm anzusehen.

Seine wie ihre Karriere hingen vom Erfolg der Serie Sophienbad ab. „Es kann kein Zufall sein,
dass immer die wichtigste Requisite für die nächste Szene verloren geht“, sagte er leise.

„Das ist doch Quatsch.“ Felix‘ Lachen klang künstlich. „Das Zeug ist schließlich nichts wert.“
Vivi hatte schon etliche Intrigen zwischen Produktionsfirmen erlebt. Die anderen neideten

ihnen sicher den Erfolg der neuen Serie, aber würde deshalb jemand Requisiten stehlen? „Uns
kostet es jedenfalls zu viel.“

Leon fuhr sich über den Nacken. „Die venezianischen Gläser haben dieser Mira gut gefallen.“
„Die Hutmacherin?“ Vivi erinnerte sich an ihren Besuch gestern in dem Hutatelier. Mira hatte

einen ausgefallenen Geschmack, das hatte sie dort gesehen.

„Lass meine Freundin aus dem Spiel.“ Svenjas Stimme schnitt kalt durch den Kreis. „Die stiehlt

nicht. Was soll sie überhaupt mit irgendwelchen Requisiten?“

„Sie in ihrem Laden ausstellen oder verkaufen, was weiß ich?“ Leon hob die Schultern. „Ist

doch seltsam, dass immer etwas verschwindet, wenn Mira vorher da war.“

„Mit den Requisiten kann Mira überhaupt nichts anfangen. Eine Ölflasche wird sie wohl kaum

in einem Hut verarbeiten können. Und wie ein verrückter Serienfan kommt sie mir auch nicht
vor.“

Vivi starrte Paul an. So viele Worte am Stück hatte sie noch nie von ihm gehört.
„Mir reicht‘s!“ Felix warf Vivi den Arztkittel vor die Füße. „Sich in so einer Billigproduktion

auch noch des Diebstahls bezichtigen lassen zu müssen ist einfach die Höhe. Ich gehe jetzt. Und
ob ich morgen früh um sechs am Set bin, das entscheidet mein Agent.“ Felix drehte sich auf dem
Absatz um und ging.

„Was für eine Diva.“ Svenja atmete aus. Kerstin blickte nachdenklich Felix hinterher, Leon

rollte die Augen. Paul dagegen hatte den Blick starr auf Vivi gerichtet. Sie trommelte mit den
Fingern auf der Windschutzscheibe. „Schluss jetzt. Ich nehm mir Mira persönlich vor.“

„Die Kleine hat nichts damit zu tun!“ Pauls Faust landete auf dem Dach des Porsche Cayman.
Der Schlag war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. „Hands off, Paul!“, brüllte

Vivi. Sie hielt nicht viel vom Führungsstil eines Mogengrubers, der alle und jeden
zusammenschrie, aber jetzt tat es ihr richtig gut, einmal laut zu werden.

„Alle weg vom Porsche. Morgen ist erst Schluss, wenn die nächsten vier Szenen im Kasten

sind. Und ich will keinen Mucks hören.“ Sie riss die Tür ihres Wagens auf, dann setzte sie nach:
„Und beim nächsten Diebstahl hole ich die Polizei ins Studio. Verlasst euch drauf.“

Vivi genoss das Aufheulen des Motors. Die würden sie alle noch kennenlernen. Und diese Mira

Zimm erst recht.

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6. KAPITEL

Paul schnupperte, doch er roch keinen Staub, nur den leichten, blumigen Duft, der immer um Mira
herum in der Luft lag. Die Hutmacherin saß an dem großen Werkstatttisch und arbeitete mit
fliegenden Fingern an einem rosafarbenen, irgendwie länglichen … Strohding. Beim besten
Willen konnte Paul keinen Hut darin erkennen. Mira hatte gelächelt, als er vor einer halben Stunde
in der Tür des Hutateliers gestanden hatte, aber zu einer Spritztour mit der DS hatte er sie wieder
nicht überreden können. Immerhin hatte sie ihn nicht gleich wieder hinausgeworfen.

„Magst du eigentlich Kokos?“ Die Frage war schon von seinen Lippen, bevor Paul richtig

überlegt hatte. Er hätte sich auf die Zunge beißen mögen. Mira hatte das Kokos-Massageöl vom
Set bestimmt nicht geklaut.

„Kokos?“ Mira blickte ihn erstaunt an. Dann zählte sie an den Fingern ab. „Ich mag Kokoseis.

Bounty. Batida de Coco. Piña Colada. Weißer Engel und Kokosflip.“ Sie grinste. „Und Coco
Chanel.“

„Und als Geruch, im Shampoo oder … na ja, als Parfüm?“ Was musste er hier auch den

heimlichen Ermittler spielen? Himmel, bestimmt dachte sie jetzt, er wolle ihr ein Parfüm
schenken.

„Hm, auf Kokosduft stehe ich nicht.“ Sie blitzte ihn aus ihren braunen Augen an. „Als Kind

musste ich mal ins Krankenhaus, weil ich Grüner-Apfel-Shampoo getrunken habe. Ich bin total
drauf abgefahren. Ich mag alles Frische, Blumen, Gräser. Und ein bisschen Leder darf auch gerne
dabei sein.“ Dabei ließ sie einen bewundernden Blick über seine schwarzledernen Hosen gleiten.
Paul lehnte sich zurück an den Türrahmen, wobei er nicht ganz unabsichtlich seine Hüften nach
vorn schob. Noch einen Versuch war es wert. „Also … Die Göttin steht draußen und wartet.“

Miras Finger ruhten kurz auf dem rosa Strohdings. „Keine Zeit, leider. Ich habe zu viel zu tun.“
„An was arbeitest du denn?“, fragte er und hatte Mühe, seine Stimme in den Griff zu kriegen.
„Nun …“ Mit der einen Hand hielt Mira das rosafarbene Ding fest, in der anderen hatte sie eine

große Nadel, von der ein silberner Faden auf den Tisch hing. Sie wandte sich wieder ihrer
Kreation zu. „Ich probiere gerade was aus. Wenn es etwas wird, dann bekommt Svenja eine
geniale neue Hutkollektion für ihre Rolle.“

Sie deutete auf eine Reihe bunt gemusterter Kopfbedeckungen, die auf der einen Seite des

Tisches lagen. Sie waren höher, niedriger, breiter und dünner als das Ding, das Mira vor sich hatte,
aber alle bestanden aus einem mit Seide überzogenen Unterteil und einem röhrenförmigen
Oberteil. Von der Form her erinnerten die Hüte Paul an die Kopfbedeckungen von traditionell
gekleideten Türken auf alten Werbeplakaten. Allerdings waren das hier eindeutig Damenhüte –
Mira hatte helle, strahlende Farben verwendet, und die Seide verlieh allen eine Eleganz, die Paul
noch an keinem Fez gesehen hatte. Der hellblaue Hut ganz links passte wunderbar zu Svenjas
Augen, und wenn Paul bei der Aufnahme das Kantenlicht nur ein wenig drehte, dann würden ihre
Haare darunter wie Gold schimmern.

„Sind das venezianische Modelle?“, fragte er. Unauffällig schaute Paul sich im Hutatelier um.

Auf einem Schränkchen standen eine Karaffe und Tassen aus goldenem Metall, aber sonst konnte
er nur einen Becher mit kaltem Kaffee entdecken.

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„Venezianisch? Nein, wie kommst du da drauf? Ich habe mich von persischen Kleidern, Stoffen

und Hüten inspirieren lassen. Masoumée hat ihr Schaufenster nebenan damit dekoriert. Es ist
toll!“

Sie nähte weiter an der Röhre, und allmählich erkannte Paul rosa Dreiecke, die sich mit

zartblauen Quadraten überlappten und unter Miras Fingern Form gewannen. Persisch also. Aber es
war ja sowieso klar gewesen, dass Mira kein Interesse an irgendwelchen imitierten venezianischen
Gläsern hatte. Sie war keine Diebin. Aber wer dann? Verschlungene silberne Muster entstanden
auf dem weichen Stoff. Irgendwo weit hinten im Haus war leise Musik zu hören, und Paul schaute
in den Raum, an dessen Tür er lehnte.

„Das ist mein Lager“, erklärte Mira ohne aufzublicken.
Im Dunkel konnte Paul Stoffe erkennen, die in verschiedenen Farben aufeinandergestapelt

waren. An der einen Wand zog sich ein hohes Regal bis an die Decke, das vollgestopft mit Hüten
war.

„Die Filzmatten sind ziemlich bequem“, sagte Mira. „Wenn ich viel arbeiten muss und den

Laden nicht allein lassen kann, leg ich mich da manchmal für zehn Minuten hin.“ Sie grinste, als
ob sie Pauls Gedanken erraten hatte, der sich in dem dunklen Lager mit Mira alles, nur kein Zehn-
Minuten-Nickerchen vorstellen konnte.

Da ertönte plötzlich eine altmodische Melodie, die Paul bekannt vorkam, auch wenn sie

gedämpft und seltsam verzerrt klang. Mira legte vorsichtig den Hut auf den Tisch, dann wühlte sie
in ihrer Handtasche und zog ein Handy heraus. Jetzt erkannte Paul das Lied – es war der Titelsong
der alten Miss-Marple-Filme.

„Hutatelier Zimm, Miras Kopfkleider“, meldete sich Mira, dann entspannte sich ihr Gesicht.

„Ach, du bist‘s. Du errätst nicht, wer …“ Mira lächelte Paul mit dem Handy am Ohr an, dann
wurde sie schlagartig ernst und stand auf. „Wieso denn ich? Wie kommt Vivi …?“

Es musste Svenja sein, die Mira von dem Streit auf dem Parkplatz erzählte.
„Aber das gibt‘s doch nicht! Diebstahl? Ich würde doch nie …“ Miras braune Locken flogen,

während sie heftig den Kopf schüttelte. „Gut, ja, komm runter … Stören? Wenn ich aus dem
Sophienbad rausfliege, brauch ich die persischen Hüte eh nicht mehr.“ Sie warf das Handy auf den
Tisch, dann drehte sie sich zu Paul. „Bist du deshalb gekommen? Wolltest du mal sehen, ob du
hier nicht irgendwo die Sachen herumstehen siehst, die am Set geklaut wurden?“ Ihre Augen
blitzten.

Paul hob beschwichtigend die Arme. „Nein, wirklich Mira, ich weiß genau, dass du damit nichts

zu tun hast …“

„Kokos! Deshalb die Frage nach Kokos“, unterbrach sie ihn. „Du wolltest wissen, ob ich auf das

verschwundene Massageöl stehe, habe ich recht? Und dann hast du Masoumées Goldkaraffe so
seltsam angeschaut. Ich sammle keine historischen Gläser, nur damit das klar ist!“ Sie trat an den
Tisch und holte aus. In diesem Moment wurde Paul klar, dass sie ihre Hutkreation vom Tisch
fegen wollte. Schnell fasste er sie am Handgelenk.

„Das weiß ich doch.“ Paul konnte sehen, dass Mira den Tränen nahe war.
„Warum bist du denn überhaupt vorbeigekommen?“, fragte sie leise.
„Ich wollte mal nachschauen, was die Roadrunner – Kappe macht.“

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„Du hast sie doch erst gestern bestellt, Paul.“ Trotz der Tränen musste Mira jetzt lächeln.
Paul zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich dachte, vielleicht hast du Lust auf ‚ne Spritztour.“ Er

holte tief Luft. Seine Finger lagen immer noch um Miras Handgelenk, und sie stand so nah vor
ihm, dass ihre Körper sich fast berührten. „Ich … also, wenn ich schon hier war, wollte ich
Beweise sammeln. Für deine Unschuld.“

Sie blickte ihn ernst an. „Beweise sammeln. Hm, keine schlechte Idee.“ Sie machte sich aus

seinem Griff frei und fuhr ihm sanft über den Unterarm. Paul verschlug es den Atem, aber Mira
war schon zur Tür des Ateliers getreten.

„Svenja kommt gleich runter.“
„Ich hau lieber ab. Wir fangen morgen schon um halb sieben an.“
Mira nickte. Dann seufzte sie. „Und was mach ich jetzt mit meinen persischen Hüten?“
Paul blickte zu den glänzenden Hutkreationen, die wie eine verzauberte Gruppe aus

Tausendundeiner Nacht auf dem Tisch warteten. „Was hältst du davon, wenn ich einfach schon ein
paar mit ins Studio nehme? Wenn Vivi die sieht, verschwendet die doch keinen Gedanken mehr an
irgendwelche verschwundenen Gläser oder Kokosöl.“

Mira tippte mit der Fingerspitze gegen ihre Lippen. „Weißt du was, Paul? Du hast recht. So ein

Hutangriff ist meine beste Verteidigung.“

Kaum verklang das Glöckchen in der Ladentür, als Mira im Gang, der das Atelier mit ihrer
Erdgeschosswohnung verband, Klopfen an der Tür zum Treppenhaus hörte. Die Klingel war schon
kaputt, seit sie eingezogen war. Mira warf noch einen schnellen Blick durch das Fenster hinaus zu
Paul, der vorsichtig ihre rosa Hutschachteln im Kofferraum des alten Citroëns verstaute.

„Mira, ich bin‘s“, rief Svenja von der Tür und klopfte heftiger.
„Ich komm gleich.“ Mit schnellen Schritten lief sie zum Gang. Dabei kam sie an dem Miss-

Marple-Regal vorbei. „Genau das brauch ich jetzt“, murmelte sie und schnappte sich ein Hütchen
mit einem gepunkteten Schleier. Im Gang richtete sie das Hütchen schnell vor dem Spiegel, dann
öffnete sie die Tür.

„Sorry, ich hatte noch Frederico an der Strippe. Er will mich unbedingt als Comtessa Männer

morden sehen.“ Svenja schwenkte eine Flasche Averna. Aus Italien hatte sie eine besondere
Vorliebe für den italienischen Kräuterlikör mitgebracht. Aber dann schaute sie Mira an. „Oh. Du
bist ja eher auf Earl Grey und Scones eingestellt.“

Svenja sah selbst in ihren Fitness-Jogginghosen und dem bonbonfarbenen Top wahnsinnig gut

aus. Mira schaute an ihrem T-Shirt hinunter, auf dem Fäden und Filzfussel hingen. Sie hob das
Kinn, wie sie es Margaret Rutherford in jedem Miss-Marple-Film hatte machen sehen. „Ich denke,
wir genehmigen uns einen Earl Grey mit einem Schuss Averna. Komm schon rein.“

Wenig später saßen die beiden Freundinnen an Miras altem Küchentisch vor zwei dampfenden

Teetassen und dem Averna in italienischen Gläsern.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Vivi mit diesen Verdächtigungen ernst ist“, meinte Mira.
Svenja nippte an dem Likör. „Sie ist mit den Nerven fertig. Wenn sie einmal ruhig drüber

nachdenkt, wird ihr sofort klar, dass du nicht die Diebin sein kannst. Wenn es überhaupt einen
Dieb gibt.“

„Paul war vorhin da …“

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Svenja zwinkerte ihr zu. „Er steht auf dich. Hab ich doch gesagt.“
Mira bewegte den Kopf, sodass das Hütchen zu kippen drohte. Irgendwo hier in der Küche

musste sie noch eine Hutnadel haben. „Kann schon sein. Aber er ist nicht mein Typ. Zu
schweigsam.“

„Nun ja, wenigstens kriegt er einen Satz raus, den er nicht auf einer Tastatur in einem Chat

tippt.“

„Tom hat mir tolle E-Mails geschrieben.“ Mira legte mit einem schmachtenden Blick die

Hände um das Averna-Glas.

„Dabei wohnt dieser virtuelle Tom um die Ecke, Mira. Und Paul ist deinetwegen jetzt schon

zweimal den ganzen Weg von Babelsberg nach Berlin reingefahren.“

Mira stand auf und ging zum Küchenregal. Wo war bloß das Kästchen mit den Hutnadeln?

„Paul hat mich gerade auf eine Idee gebracht.“

„Ich dachte, dich stört nur dieses schreckliche Freundschaftsband. Hast du es ihm

abgeschwatzt?“

„Nein, so weit sind wir noch nicht.“ Mira öffnete eine Schublade nach der anderen. „Er hat

gesagt, er wolle Beweise für meine Unschuld sammeln.“

„Ein wahrer Gentleman, wusst ich‘s doch.“
Mira drehte sich zu Svenja und tippte sich mit dem Finger an die Stirn. „Du spinnst.

Wahrscheinlich verdächtigt er mich insgeheim doch. Ah, da sind sie ja.“ In der untersten
Schublade steckte die Metallschachtel. Mira öffnete sie und zog eine lange Hutnadel mit
Perlmuttknopf heraus. Sie befestigte das Hütchen und drehte sich zu Svenja um. „Na, wie findest
du es?“

„Miss Marple in jungen Jahren. Perfetto.“
„Genau“, sagte Mira. „Ich denke, wir sollten die Frage dieser auf seltsame Weise

verschwindenden Requisiten wie Miss Marple angehen. Wir suchen nicht nach Beweisen für
meine Unschuld, sondern nach Spuren des wirklichen Täters.“

„Oder der Täterin.“
„Richtig. Glaubst du, Terry hat was damit zu tun?“

Vivi wusste genau, dass der Inhalt dieser Schachtel Gift für ihre Figur war. Aber die
Telefonkonferenz mit der Redaktion des Senders hatte ihr den Rest gegeben. Der Boxenstopp am
Süßen Leben war für ihre Nerven überlebensnotwendig. Ohne Nugat hielt sie dieses Chaos nicht
länger aus. „Hast du die Tabelle endlich fertig?“, fragte sie Leon, der neben ihr auf dem
Beifahrersitz des gelben Porsches saß und Eintragungen auf einem Bogen Papier machte.

Leon zupfte an einer Haarspitze. „Moment.“ Er fuhr mit einem grünen Marker eine

Tabellenzeile entlang. „Ich habe oben die Anwesenheiten der verschiedenen Leute am Set
eingetragen, so wie sie im Produktionsbuch stehen. Für die Externen wie Mira habe ich mir die
Parkkarten vom Pförtner geholt.“

„Erspare mir die Details. Ich will nur wissen, wann dieses Mädchen am Set war und wann

nicht.“ Vivi dachte nicht daran, Leon eine von den Nugat-Tranquilizern anzubieten. Sie brauchte
sie alle. Und wenn er sie noch so sehr mit seinem Hundeblick anschaute. Obwohl er eigentlich

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etwas anderes verdient hatte. Wie brachte er es nur fertig, immer noch wie achtundzwanzig
auszusehen?

Vivi beugte sich zu Leon und stierte auf das Blatt Papier auf seinen Knien. „Nur in der einen

Spalte gibt es Kreuzchen für jeden Dreh, bei dem etwas weggekommen ist? Bist du sicher?“

Leon nickte. „Ganz sicher. Die Einzige, die bei jedem Diebstahl am Set war und Gelegenheit

hatte, eine Requisite mitgehen zu lassen, ist Mira.“

„Dachte ich mir‘s doch.“ Diese jungen Mädels führten doch alle was im Schilde.

Wahrscheinlich würde die Hutmacherin ihr Atelier mit Requisiten aus dem Sophienbad
ausstaffieren oder sonst irgendeinen Blödsinn damit machen, der als kreativ durchging. Vivi
seufzte. Und am Ende musste sie sogar den Auftrag für diese entzückende rosa Hutkreation
zurücknehmen. Sie griff zum Handy, das Leon ihr reichte. Er hatte die Nummer schon gewählt,
und Vivi wartete, bis jemand am anderen Ende abnahm. Dann sagte sie: „Hier ist Yvette Dupré.
Spreche ich mit Mira Zimm?“

Mira sortierte die Hutnadeln auf dem Tisch und betrachtete nachdenklich eine rötlich gefärbte mit
einer blauen Glaskugel. „Hinter den Diebstählen kann nur ein Insider stecken. Jemand, der genau
weiß, welche Szene gedreht wird und welche Requisiten dafür unbedingt gebraucht werden.“

„Leon ist für die Requisite verantwortlich. Und er hat den Drehplan immer genauestens im

Kopf.“ Svenjas Wangen glühten im Detektivfieber.

„Leon hat kein Motiv. Auf ihn fällt es als Ersten zurück, wenn etwas mit den Requisiten

schiefgeht.“

„Okay.“ Svenja strich Leons Name auf dem Zettel durch. Die Avernaflasche war zur Hälfte

geleert. „Leon ist freigesprochen. Dann bleibt …“ Sie ging die Liste durch. „Felix, mein
Lieblingskollege.“ Sie seufzte.

„Arrogant, aber harmlos.“
„Sagst du! Mich nervt der Typ zu Tode. Wenn ich nur an diese Shiatsu-Massage denke.“ Svenja

schauderte.

„Er hat kein Motiv.“
„Stimmt. Leider. Und so wie er sich heute auf dem Parkplatz aufgeführt hat, will er das

Sophienbad nur möglichst schnell abdrehen und fertig.“

„Streich ihn.“
Wie ein überaus penibler Buchhalter feuchtete Svenja den Stift mit der Zungenspitze an. „Felix

Scholl – freigesprochen.“

„Wer noch?“
„Paul?“
Mira setzte sich aufrecht. „Paul? Du spinnst.“
„Na, er kommt hier vorbei, fragt dich nach deinem Lieblingsgeruch aus …“ Svenja grinste.

„Eine Miss Marple würde da schon Verdachtsmomente sehen.“

„Motiv, Mr. Stringer?“
Svenja legte den Kopf schief und schaute Mira aus ihren unschuldigen blauen Augen an. „Er ist

von der Konkurrenz gekauft und soll uns die Serie vermasseln.“

„Aber …“ Mira holte tief Luft. „Okay, Paul ist der Einzige, der nichts zu verlieren hat, wenn

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das Sophienbad absäuft. Aber würde er sich dann so viel Mühe mit dem Licht geben? Erinnere
dich an den Goldschimmer.“

„Und an die Trinkbrunnenszenen. Ich werde als Caren super aussehen. Licht und Schatten in

den Zügen der melancholischen Schönheit. Schade, dass wir nur eine Soap und nicht französisches
Autorenkino drehen.“ Svenja setzte den Stift an. „Dann fliegt Paul also auch von der Liste?“

„Nein, warte noch. Er macht ja nur seinen Job. Das heißt noch lange nicht, dass er nichts mit

den Diebstählen zu tun hat. Andererseits … Wenn er wirklich gekauft ist, will er ja nicht
auffallen.“

„Auch wieder richtig. Ist uns denn sonst …“
In diesem Moment klingelte Miras Handy im Atelier. Sie ging nach vorn und nahm ab. Das

Gespräch dauerte keine zwei Minuten. Mira sagte nur zweimal „Ja“, dann dreimal heftig „Nein!“.

„Was ist denn?“ Svenja war aufgestanden, als Mira zurück in die Küche kam.
Mira spürte, dass ihr die Farbe aus dem Gesicht gewichen war. „Es war Vivi.“ Ganz langsam

legte sie das Handy neben die Avernaflasche, dann setzte sie das Miss-Marple-Hütchen ab. „Sie
sagt, sie kann sich keine Verzögerungen in der Produktion mehr leisten. Deshalb wird sie die
Polizei nicht einschalten.“

„Und?“
„Sie hat mich gefeuert.“

„Das war ja kurz und schmerzlos.“ Leons bewundernder Blick lag auf Vivi. Er hielt ihr die Tür zu
ihrem Büro auf.

Sie nahm sich die vorvorletzte Nugatpraline und steckte sie genüsslich in den Mund. „Für mich

zumindest. Morgen früh gehe ich hier mit dem Superstaubsauger durch. Bei dieser Produktion
wird bald Zucht und Ordnung herrschen.“

Leon legte das Papier mit den grünen Kreuzchen auf Vivis Ablage und holte einen blauen

Ordner aus dem Regal. „Angeblich legt der neue Sponsor auch viel Wert auf Ordnung.“

Für einen Moment hatte Vivi keine Ahnung, was Leon meinte. Der azurblaue Ordner und Leons

brauner Hundeblick verschwammen mit der leichten Übelkeit, die zu viele Nugatpralinen
hinterlassen hatten.

„Morgen kommt doch der Typ von diesem Sanitäreinrichtungshaus. Unser neuer Sponsor,

hoffentlich. Die Sauna, die Becken des Sophienbads, Svenjas – quatsch, Carens – persönlicher
Whirlpool. Alles ist von TausendundeinBad und muss in jeder Episode mindestens fünf Mal ins
Bild.“

Vivi kannte die Verträge so gut wie Leon. „Wie heißt der Mensch noch mal? Kenn ich den?“

Sie ließ sich in den Sessel fallen.

„Du hast ihn vor zwei Wochen bei der Besprechung kennengelernt. Ein Herr Lauffer.“ Leon

stand auf und schob ihr den blauen Ordner hin. „Ich hole dir erst mal einen Espresso.“

Vivi lächelte ihn an. Niemand wusste so gut wie Leon, was sie jetzt brauchte.
Die Unterlagen von TausendundeinBad zeigten Porzellan und Keramik in allen Varianten, vom

Klo zum Swimmingpool bis zum übermannshohen Springbrunnen all‘italiana.

Leon stand in der Tür, der Espressoduft weckte Vivis Lebensgeister.
„Vorsicht!“ Leon konnte gerade noch zurücktreten, als Kerstin fast in ihn hineingerannt wäre.

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Der Espresso schwappte auf den kleinen Unterteller.

„Herr Lauffer kommt morgen schon um neun.“ Kerstin wedelte hektisch mit einem Fax.

Offenbar hatte sie gar nicht bemerkt, dass sie Leon beinah umgerempelt hätte. Vivi blickte auf die
hochgeschlossene Bluse der Redakteurin und fragte sich, ob es bei der Handelskammer einen
obligatorischen Kurs Adrette-Bürokleidung-aus-den-Sechzigern gab.

„Aber ihr könnt doch in der Redaktion nicht einfach einen Termin ausmachen.“ Leon stellte

vorsichtig den Espresso ab und schüttelte den Kopf.

„Was soll ich denn machen, wenn weder du noch Vivi erreichbar sind, obwohl wir offiziell

drehen. Ich kann schließlich nicht unserem Hauptsponsor einen Terminwunsch abschlagen. Wenn
der abspringt, müssen wir …“

„… müssen wir hier zumachen. Das geht schon klar mit dem Termin, Kerstin. Wir beginnen ja

jetzt eh früher mit dem Drehen.“ Vor der Redaktion würde Vivi sich auf keinen Fall eine Blöße
geben. „Was hast du da noch?“ Sie deutete auf das zweite Blatt in Kerstins Hand.

„Die Nachkalkulation für‘s Sophienbad wegen der Drehausfälle.“
Vivi seufzte, die Kleine war wirklich ehrgeizig. „Ich habe um nichts dergleichen gebeten.“
„Aber ich.“ Leon klang kleinlaut.
Vivi drehte sich zu ihm um. „Was?“
Kerstin legte das Blatt vor Vivi und Leon. „Die veranschlagten Budgets für Ausstattung,

Personal und so weiter sind fast alle ausgeschöpft. Wir sind auf die Sponsorengelder von
TausendundeinBad angewiesen. Der Termin mit Herrn Lauffer morgen …“ Sie brach ab und
deutete noch einmal auf das Blatt Papier.

Vivi winkte ab. Ein Blick auf die Kalkulation genügte ihr. Sie würde morgen für den Sponsor

Charme-Stufe zehn einschalten. Egal wie.

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7. KAPITEL

In der Produktionshalle war es menschenleer, das Set lag im schummrigen Halblicht. Paul stand
mit einer Cola im Eingang und fragte sich, wohin denn die Crew gegangen war. Gerade noch
hatten sie die erste, wenig freundschaftliche Begegnung von Chefarzt Tobias mit dem
karrieregeilen Serienkollegen von Caren abgedreht. Auch zwischen den beiden Schauspielern
waren gleich Animositäten hochgekocht. Der Scholl konnte einfach keinen jüngeren männlichen
Darsteller neben sich ertragen. Als endlich alles im Kasten war, verschwand Felix mit düsterer
Miene, und Leon hatte eine Pause angesagt.

Im gegenüberliegenden Eingang der Halle erschien eine Gruppe dunkler Anzugträger,

dazwischen blitzte das waldgrüne Jackett von Kerstin. Stimmt, der Sanitäreinrichtungstyp wollte
sich ja heute das Sophienbad anschauen wegen eines möglichen Sponsorings. Paul stellte die
Coladose auf dem Lichtpult ab. Dann konnte er ja so lange Miras neue Hüte aus dem Oldtimer
holen. Er entdeckte Vivi und Leon in der Gruppe, und wenn er sich nicht täuschte, stand da sogar
Mogengruber. Das konnte noch Stunden dauern.

Draußen stapelte Paul die fünf rosa Schachteln auf die Sackkarre, die er beim Pförtner

ausgeliehen hatte. Dann rollte er sie zurück in die Halle. Am besten stellte er sie hinter die
Kulissen für „Schlafzimmer Caren“, dann konnte Mira sie dem Team gleich zeigen, wenn heute
Nachmittag dort gedreht wurde. Wo blieb Mira eigentlich? Normalerweise war sie immer bei den
Drehs dabei, und Paul hatte sich schon fast an ihre Anwesenheit gewöhnt.

Er wollte gerade den kürzesten Weg quer durch die Halle einschlagen, als ein kleiner,

dunkelhäutiger Mann ihm ein Zeichen machte anzuhalten. An seinem Handgelenk blitzte eine
auffallende goldene Uhr. Als er mit schnellen Schritten näher kam, erkannte Paul den Anzug von
Hugo Boss und die dicken Ringe an den Fingern des Mannes.

„Gehört das zum Sophienbad?“, fragte der Mann und blickte neugierig auf die Hutschachteln.
„Ja“, brummte Paul. „Kann man so sagen. Die neuste Lieferung unserer Hutmacherin.“
„Ah, Sie beschäftigen eine Modistin? Interessant.“ Der Mann blitzte Paul aus erstaunlich blauen

Augen an. „Hüte sind etwas Exquisites. Darf ich sie mir anschauen?“

„Klar doch.“ Mira hatte bestimmt nichts dagegen, wenn er ihre neusten Kreationen einem der

Sponsoren zeigte. Paul hob die oberste Hutschachtel von der Sackkarre. Der Mann öffnete sie
vorsichtig, in weißem Seidenpapier ruhte eine karminrote Hutkreation, auf der in Schwarz und
Gold verschlungene Muster aufgestickt waren. Die Hutröhre war oben mit schwarzer Seide
überzogen, von der eine goldene Kordel hing. Paul drehte sich um, da sah er, dass der Sponsor
Miras Hut mit offenem Mund anstarrte.

„Ein Pakol!“ Der Man nahm den Hut vorsichtig heraus und begutachtete ihn von allen Seiten.

„Traditionelles Design, edle Seide mit zeitgenössischen Akzenten. Dieses Posament …“ Er ließ
die gedrehten Goldfäden durch seine Finger gleiten. „Bei den iranischen Frauen würden diese
Hüte sehr gut ankommen.“ Er bückte sich und stellte den Hut auf der Schachtel ab. „Kann ich mir
die anderen auch ansehen?“

Gemeinsam packten sie Miras Kreationen aus. In verschiedenen Größen und Farben standen die

Hüte schließlich in einer Reihe auf den Schachteln. Paul sah aus dem Augenwinkel, wie Vivi ihm

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heimlich irgendwelche Zeichen machte. Er zuckte mit den Schultern, schließlich war nichts dabei,
wenn er dem Sponsor Miras Hüte zeigte. Dieser schritt immer wieder um die Kreationen herum,
ging vor jeder in die Knie und betastete fast zärtlich den blauen Hut, der so gut zu Svenjas Augen
passte. Schließlich nickte der Mann mit der Golduhr Paul zu. „Packen Sie die Hüte bitte noch
nicht wieder weg, ich möchte sie meinem Chefdesigner zeigen.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er den anderen Sponsoren. Die Gruppe kam näher, und

bald standen die gesamten Anzugträger um Miras rosa Hutschachteln.

Vivi zischte Paul ins Ohr: „Was machst du denn da? Was sind das für Dinger?“
„Das sind Miras neue Hüte fürs Sophienbad.“
Die Producerin warf einen Blick auf die Hüte. „Nicht schlecht, die haben was. Damit könnten

wir …“

Leon, der natürlich auch dabei war, stupste sie wortlos in die Seite.
„Zu spät“, meinte Vivi. „Mist. Mira ist gefeuert, Paul. Wir nehmen keine Hüte mehr von ihr.“

Sie klang, als ob sie die Entscheidung schon bedauerte.

„Ihr habt … Mira ist rausgeflogen?“ Paul sprach lauter als beabsichtigt, und die neben ihm

stehenden Herren drehten sich erstaunt um. „Doch nicht wegen der paar Requisiten? Das ist nicht
dein Ernst, Vivi.“

Vivi nickte, und Paul drehte sich zu Kerstin. „Weißt du davon?“
Kerstin zuckte mit den Schultern und wollte gerade etwas sagen, als der Mann mit der Golduhr

zu Vivi trat.

„Sie haben eine wunderbar talentierte Modistin in Ihrem Team, Frau Dupré.“ Er lächelte in die

Runde, und Vivi verzog das Gesicht ein wenig.

„Ich hätte da eine Idee, wie wir vielleicht doch noch geschäftlich zusammenkommen.“ Der

Mann nahm Vivi am Arm und führte sie zu den Hüten.

Paul starrte den beiden nach. „Wer ist das?“, fragte er Kerstin.
„Dr. Lauffer, der Besitzer von TausendundeinBad. Du kannst dir nicht vorstellen, wie furchtbar

es bis jetzt gelaufen ist. Der Mann hasst so ziemlich alles, was mit dem Sophienbad zu tun hat, vor
allem Felix. Den hat er echt gefressen.“ Kerstin grinste kurz, wurde aber sofort wieder ernst.
„Aber das Hauptproblem ist, dass er eine Vorabendserie für zu trashig für seine edlen
Luxusbadausstattungen hält. Wir haben ihm alles gezeigt, die teuren Settings, die aufwendige
Ausstattung – keine Reaktion. Bei Miras Hüten hat er zum ersten Mal gelächelt. Hoffentlich
überzeugen sie ihn.“

„Ich glaube, die Hüte erinnern ihn an den Iran“, meinte Paul. Dr. Lauffer mit der Golduhr redete

ohne Unterlass auf die irritierte Vivi ein.

Kerstin nickte. „Seine Mutter kommt aus einer bedeutenden iranischen Familie. Wir brauchen

ihn als Sponsor, Paul, sonst können wir Sophienbad bald zumachen. Und wenn es Miras Hüte sind,
die ihn von der Serie überzeugen, dann brauchen wir eben auch ihre Hüte.“ Sie zwinkerte ihm zu,
und Paul fragte sich zum ersten Mal, ob Kerstin wohl Mira leiden konnte. Mit Kerstin war er
zusammen auf die Schule gegangen. Wenn er es sich recht überlegte, war sie seine beste Freundin.
Und natürlich hatte Kerstin gleich mitgekriegt, dass die neue Hutmacherin mehr als eine Frau sein
könnte, der er mal hinterherschaute.

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Da war plötzlich eine dunkle Stimme zu hören. „Wunderbar, fantastisch. Diese Hüte verkörpern

genau das, was wir mit unserer neuen Bad-Kollektion ‚Arabische Träume‘ ausdrücken wollen –
die Verschmelzung von Tradition mit Moderne, eine schlichte Form mit der Eleganz
ausdrucksstarker Details.“ Der blonde Mann musste Dr. Lauffers Chefdesigner sein.

„Bis jetzt gab es im Sophienbad aber keine Sauna, und laut Drehbuch spielen nur wenige

Szenen im Wellness-Bereich“, warf Leon ein.

Dr. Lauffer antwortete ruhig: „Dann ändern Sie das Drehbuch eben entsprechend. Das wird bei

einer Vorabendserie ja nicht so schwer sein. Wir liefern Ihnen die komplette Bad- und
Saunaausstattung ‚Arabische Träume‘. Dafür verlegen Sie ein paar entscheidende Szenen in den
Wellness-Bereich, sodass unsere neue Produktreihe gut zur Geltung kommt. Und diese blonde
Schauspielerin … wie heißt sie noch?“

„Svenja Angerholt“, sagte Leon.
„Genau die. Sie wird diese persischen Hüte tragen, wann immer Sie in der Serie dazu

Gelegenheit finden. Die Höhe meiner Sponsorengelder wird davon abhängen, wie oft Svenja
Angerholt im Fernsehen diese Hüte zur Schau stellen wird.“ Dr. Lauffer blickte zur
Redaktionsleiterin, die sich leise mit Mogengruber unterhielt. Sie sah sofort hoch und nickte.
Dann deutete sie Vivi und Leon mit einer Geste an, dass die Begehung zu Ende war. Die
Anzugsträger setzte sich Richtung Ausgang in Bewegung.

Vivi sah ziemlich blass um die Nase herum aus, als sie mit Leon den Sponsoren Richtung

Bürotrakt folgte.

Kerstin knuffte Paul in die Seite. „Na, so schnell lässt sich deine neue Flamme wohl nicht

unterkriegen.“

„Mira ist nicht meine neue Flamme“, brummte Paul, während er die Hüte wieder sorgfältig in

die Schachteln legte.

„Sicher“, erwiderte Kerstin mit einem frechen Grinsen. „Hier geht es nur um dich und deinen

Hutfetisch. Mit der Frau, die die Hüte macht, hat das gar nichts zu tun.“

Paul warf Kerstin ein Knäuel aus Seidenpapier nach, aber da war die Redakteurin schon hinter

den Kulissen verschwunden.

Leon sank auf die Kante der Wanne. Er war richtig durchgeschwitzt von dem Stress. Einen
Moment lang starrte er ins schwarze Nichts der Studiodecke. „Das gibt es doch alles gar nicht.“
Gott, Vivi stolperte ja in ihren Pumps. Er wollte schon aufspringen, aber da ließ sie sich mit einem
lauten Seufzer in den Regiestuhl von Mogengruber fallen.

„Am liebsten würde ich Mira mit ihren verdammten Hüten auf einem fliegenden Teppich in die

Wüste schicken.“ Vivi fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und warf sie dann mit einem
Ruck aus dem Gesicht. „Leon, womit habe ich das verdient? Dass eine hergelaufene Ausstatterin
mir die gesamte Produktionsplanung samt Skript umwirft, wegen irgendwelcher bunter
Seidenhüte!“

Vivi schlug ihre schönen Beine übereinander und legte die Fingerspitzen an die Schläfen.

Wahrscheinlich hatte sie Kopfschmerzen. Leon merkte selbst, wie verspannt er war.

Da fing sie Leons Blick auf. „Schau mich bitte nicht so mitleidig an.“
Es war Zeit, dass er sie wieder zur Vernunft brachte. „Ich schau nicht mitleidig. Ich warte

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darauf, dass du begreifst, was für eine Chance uns da in den Schoß gefallen ist.“

Vivi winkte matt ab. „Die Kleine wieder an Bord zu holen? Tolle Chance, Leon. Nur über meine

Leiche.“

„Nun aber halblang, Vivi. Vergiss mal kurz Mira. Lass lieber auf dich wirken, dass wir auf

diese Weise einen Hauptsponsor für die ganze Staffel an Bord geholt haben. Damit hätte gestern
noch niemand gerechnet.“ Leon drückte sich vom Rand der Badewanne ab und schnappte sich ein
Handtuch mit dem Aufdruck „Sophienbad“. Er tauchte es ins Wasser des Dekobeckens und rieb
sich mit einem Zipfel über das Gesicht. „Und dass die Skriptschreiber nun Nachtschichten
schieben müssen, weil einige Szenen gekippt werden, kann uns erst einmal egal sein.“ Leon
seufzte leise, Vivis Beine waren einfach toll.

Die Line-Producerin streckte sich. „Du hast recht, so viel zusätzliches Product-Placement bringt

viel ein. Die Mehrkosten durch die Drehverzögerungen allemal.“

„Na also, so gefällst du mir. Du schaust nicht mehr so verkniffen.“
„Verkniffen? Ich?“ Vivi schüttelte sich. „Davon kriegt man nur Falten. Think positive. Das

kann ich. Sonst hätte mich dieses Business schon längst umgebracht.“

Leon warf das Handtuch vors Dekobecken. „Aber die Hüte von Mira brauchen wir. Dr. Lauffer

ist auf dieses spezielle Design abgefahren.“

Vivi sprang aus dem Regiestuhl. „Du hast Nerven, Leon. Ich kann die Frau nicht wieder ans Set

lassen. Ich verliere damit alle Glaubwürdigkeit.“

Leon lehnte sich gegen das Waschbecken und beobachtete Vivi. Wahrscheinlich wusste sie

nicht mal, was für einen tollen Gang sie hatte. „So hundertprozentig wissen wir ja nicht, dass sie
die Diebin ist“, murmelte er.

Vivi blieb direkt vor ihm stehen. „Ach, auf einmal. Und deine Tabelle mit den grünen

Kreuzchen gilt jetzt nicht mehr?“

„Doch, schon. Aber die Tabelle beweist nur, dass Mira zum Zeitpunkt der Diebstähle am Set

war. Wir haben keinen Beweis, dass sie wirklich die Requisiten gestohlen hat. Und wenn ich es
mir recht überlege, hätte Mira es als Diebin schlauer angestellt. Das Mädchen ist nämlich nicht
dumm.“

Vivi legte den Kopf schräg, wie sie es immer machte, wenn sie bereit war, sich überzeugen zu

lassen. „Dumm ist die nicht, das stimmt. Immerhin war sie raffiniert und hat diese Hüte noch von
Paul herbringen lassen. Sie muss gewusst haben, dass der Sponsor heute kommt.“

Leon hob die Schultern. „Ich verspreche dir, dass ich sie genau im Auge behalten werde, wenn

sie sich am Set rumtreibt. Ruf Mira an. Wir brauchen eine ganze Kollektion von diesen Ethno-
Hüten. Schließlich müssen wir fünf verschiedene Orient-Dekors aus ‚Arabische Träume‘
unterbringen. Und wie ich Svenja kenne, wird sie für jede neue Episode mindestens einen neuen
Hut haben wollen.“

„Laut Vertrag hat sie freie Entscheidungsgewalt, was ihre Hüte betrifft.“ Vivi ließ sich wieder

in den Regiestuhl fallen. „Ich hätte mich nie auf diese Produktion einlassen sollen.“ Dann seufzte
sie. „Okay, wir stellen Mira wieder ein.“

Leon senkte Blick, damit Vivi nicht merkte, dass er grinste. Er war der Einzige, der dem

Dickschädel von Yvette Dupré gewachsen war. Und sie hörte auf ihn, zumindest wenn es um ihre

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gemeinsamen Projekte ging.

Auf der Ablagefläche hinter der Wanne standen sieben Fläschchen mit dem Massageöl.

„Wenigstens ist die Nachlieferung von Beautyline für die nächste Szene schon da.“ Leon ließ den
Blick von den bunten Fläschchen zu Vivi gleiten, die unglücklich auf ihr Handy starrte. Vivi liebte
Kokoseis, wahrscheinlich stand sie auch auf Kokosöl. Und vielleicht … „Vivi, ruf einfach an. Und
danach hast du dir eine Massage mit dem neuen Öl verdient. Ein Masseur hat mir mal eine tolle
Schultermassage gezeigt.“ Er nahm eine der Flaschen und hielt sie in die Höhe.

Vivi schaute hoch. „Keine schlechte Idee.“ Sie drückte eine Taste auf dem Handy und hielt es

ans Ohr.

Ein flirrendes Gefühl erfüllte Leon, so als ob er wie ein Luftballon fliegen könnte. Vivi hatte Ja

gesagt. Er trat einen Schritt vor, am besten massierte er sie in dem bequemen Regiestuhl. Da
stolperte er über ein Stück der gelben Lichtgrenze, die sich auf dem Set gelöst hatte. Die Flasche
glitt aus seinen Fingern, er haschte mit der freien Hand danach, doch er griff daneben. Das Glas
knallte auf den gekachelten Boden und zersprang in tausend grüne Scherben. Sofort breitete sich
ein überwältigender Geruch von Kokos über dem Set aus. „Scheiße!“

„Alles okay?“ Vivi war aufgesprungen, das Handy hatte sie auf den Regiestuhl geworfen. Sie

kam auf ihn zu und legte ihm die Hand auf den Arm. „Ach, ist halb so schlimm, Leon. Ich ruf
gleich im Centro Delphino an und schau mal, ob mein Masseur frei ist. Sonst killst du mich noch
mit dem Kokoszeug.“ Sie klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. „Schau nicht so
unglücklich, es wird ja eh ein neues Bad eingebaut. Lass die Scherben einfach liegen, Leon, ich
glaube, du brauchst den Feierabend genauso wie ich.“ Sie deutete auf seine Kleider, mit der
anderen Hand schnappte sie sich das Handy.

Leon sah an sich herunter. Die Leinenhose konnte er in den Müll werfen. Er nahm sich das

Handtuch und tupfte an den Spritzern herum, die sein Jackett abgekriegt hatte.

„Leon“, sagte Vivi leise. Sie hielt sich das Handy ans Ohr und machte ihm lautlos Zeichen, dass

sie Mira am Apparat hatte. Dann sagte sie mit ihrer dunklen Producerinnenstimme: „Hallo Mira.
Hier ist noch einmal Yvette Dupré. Also, wegen gestern …“

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8. KAPITEL

Mira stand vor den Kulissen von „Schlafzimmer Caren“. Die Sisalteppiche waren durch luxuriöse
Perser ersetzt worden, das schlichte Einzelbett einem breiten Diwan mit einer schier
unüberschaubaren Menge bunter Seidenkissen gewichen. Mira seufzte. In der Produktion galt sie
seit ihrer Wiedereinstellung als Expertin für das neue Design. Heute Morgen hatte Vivi ihr den
verantwortungsvollen Job aufgetragen, dafür zu sorgen, dass auch „Garderobe Caren“ den
arabischen Touch ausstrahlte.

Mira wandte sich zu dem doppeltürigen Kleiderschrank. Natürlich waren die Kleider, die

Svenja in der Serie trug, in ihrer Garderobe untergebracht. Doch sollten die Zuschauer, wenn
Caren morgens ihren Schrank öffnete, einen Eindruck von ihrer teuren Kleidung bekommen. Mira
suchte nach den Modellen aus einem Historienfilm, die die Ausstatterin in Carens Schrank
gehängt hatte. Schnell ordnete sie die Kleider neu, sodass alle samtenen und reich bestickten
Modelle weiter vorne hingen.

Seit ihrem kurzfristigen Rauswurf hatte Mira begonnen, sich unauffällig umzuhorchen. Dass sie

als Miss Marple heimlich ermittelte, war natürlich ein Spiel, aber irgendjemand aus den Drehteam
musste hinter den seltsamen Diebstählen stecken. Und Mira hatte ein Händchen, wenn es darum
ging, durch geschickte Fragen das aus den Menschen herauszukitzeln, was sie eigentlich
niemandem verraten wollten. So hatte sie von der Köchin erfahren, dass die vegetarischen Suppen
in der Kantine auf Fleischbasis gekocht wurden, und die Putzfrauen hatten ihr brühwarm erzählt,
dass die Bargeldkasse in der untersten Schublade von Leons Schreibtisch verborgen war.

Mira hatte sogar Felix ausgehorcht, der sie behandelte, als gehöre sie zu der kleinen Schar

weiblicher Teenager, die ihn manchmal am Eingang um ein Autogramm baten und dann fast in
Ohnmacht fielen, wenn er mit einem strahlenden Lächeln ihrem Wunsch nachkam. Von ihm hatte
sie erfahren, dass er einmal mit einem der minderjährigen Girls im Ritz die Nacht durchgemacht
hatte und sich ansonsten beim Sophienbad als wenig geschätzt und extrem unterbezahlt empfand.

Mira stutzte. Beim Umräumen der Kleider war ihr ein taillierter blauer Hausmantel mit

aufgestickten silbernen Monden und Sternen in die Hände gekommen. Sie fuhr leicht über den
weichen Stoff. Morgen stand eine Szene auf dem neuen Drehplan, in der Svenja erst ein zartes
Schleiergewand trug, um dann von Felix in einen Mantel gehüllt zu werden. Der hier war perfekt
dafür.

Sie drehte sich um und legte den Mantel auf den Diwan, um ihn Svenja zu zeigen. In diesem

Moment erblickte sie Leon, der offensichtlich auf dem Weg in die Kantine war. Mira schaute kurz
auf die Uhr, es war halb drei, und Leon ging immer Punkt halb drei in die Kantine, um Suppe und
Salat zu essen.

Schnell schloss sie die Schranktüren und ging Leon nach. Am Eingang des gemütlichen Raumes

sah sie ihn, wie er sich aus einem Eisenkessel mit der Aufschrift „Selleriesuppe“ einen Teller voll
schöpfte. Der abgepackte Salat stand schon auf dem Tablett neben ihm. Mira stellte sich wie
zufällig neben ihn und nahm sich einen Schokokeks. Die Köchin grinste sie an, und Mira bestellte
einen Café Latte.

„Kommt sofort“, meinte die Köchin und machte sich an der Espressomaschine zu schaffen.

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„Machst du Mittag?“, fragte Mira, der im Moment keine nichtssagendere Floskel einfiel, um

ein Gespräch mit Leon anzufangen. Plötzlich wurde ihr klar, dass sie noch nie allein mit Leon
gesprochen hatte, immer waren entweder das gesamte Team oder zumindest Svenja oder Vivi
dabei gewesen. Sie fragte sich, wie alt Leon wohl war. Er sah gut aus. Vielleicht ein bisschen zu
jungenhaft für sie, aber er hatte eine netten Mund und einen prächtigen Knackarsch. Nicht mit
Pauls Po zu vergleichen, aber interessant. Ob Leon wohl in Vivi verliebt war? Er benahm sich
immer so komisch in ihrer Gegenwart. Jetzt drehte er sich um und starrte sie an, als hätte er
gerade erst bemerkt, dass die Hutmacherin neben ihm stand.

„Es ist halb drei“, murmelte er. „Ich mach immer um halb drei Mittag.“
„Ich weiß.“ Mira grinste ihn an, und Leon warf ihr ein scheues Lächeln zu. Wirklich süß. „Ich

brauch meinen Latte. Hast du was dagegen, wenn ich dir Gesellschaft leiste?“

Sie wählten einen kleinen Tisch an der Fensterfront. Eine Grünlilie stand auf der Fensterbank,

und kaum hatten sie sich gesetzt, da zupfte Leon die vertrockneten Blätter ab. Sorgsam legte er sie
in den leeren Aschenbecher. Auf einmal schaute er ihr so direkt ins Gesicht, dass Mira den Löffel,
mit dem sie in dem heißen Latte gerührt hatte, sinken ließ.

„Es tut mir leid“, sagte Leon, „dass wir dich verdächtigt haben. Ich hab nie wirklich geglaubt,

dass du die Diebin bist. Aber nach den Parkkarten warst du bei allen Diebstählen am Set …“ Seine
Stimme klang leise aus.

„Ist schon okay, Leon.“ Mira überlegte, wie sie das Thema für ihre Ermittlungen nutzen konnte,

jetzt, wo Leon es selbst angeschnitten hatte. „Was meinst du denn, wer hinter den Diebstählen
steckt?“ Die Erfahrung und Miss Marple hatten Mira gelehrt, dass eine direkte Frage manchmal
die besten Antworten erbrachte.

Leon schob mit dem Löffel die winzige Lammbulette in der Selleriesuppe herum. „Keine

Ahnung. Ein Spinner.“ Er knallte mit dem Löffel an den Rand des Tellers. „Nur ein Verrückter
würde genau diese Requisiten klauen.“

„Es muss jemand sein, der den Drehplan genau kennt“, meinte Mira.
Leon schaute hoch. Offenbar war er erstaunt, dass sie sich solche Gedanken machte. Sie musste

vorsichtig sein, damit sie ihr Glück nicht überstrapazierte. Natürlich war ihr klar, dass Vivi sie nur
wieder eingestellt hatte, weil sie ihre persischen Hüte brauchte, nicht, weil sie von Miras
Unschuld restlos überzeugt war.

„Na ja, es fehlen immer genau die wichtigsten Requisiten.“ Das hatten inzwischen sogar die

Leute von der Redaktion kapiert, die nichts weiter wollten, als dass endlich der Zeitplan
eingehalten wurde.

„Ein Verrückter, der den Drehplan genau kennt.“ Leon seufzte. „Bei dieser Produktion sind ja

genug schräge Vögel dabei, aber ein Dieb …“

„Schräge Vögel?“ Mira nahm einen Schluck von ihrem Latte und tat so, als wolle sie Smalltalk

halten.

„Klar. Kerstin zum Beispiel vercheckt Fanartikel aus dem Sophienbad über eBay.“ Leon schob

die Suppe weg und angelte sich ein Stück Schafskäse aus dem Salat.

„Kerstin von der Redaktion? Auf eBay?“ Ehrlich gesagt hatte Mira bis zu diesem Moment

gedacht, dass Kerstin Computer für bessere Rechenmaschinen hielt und das Internet allein für ihre

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Banküberweisungen nutzte.

„Doch, doch. Sie hat da sogar einen Powershop eingerichtet. Ihr neuster Artikel sind die

orientalischen Badfliesen aus der Episode, die letzten Donnerstag ausgestrahlt wurde.“

„Aber woher hat sie denn das ganze Zeug?“ Mira verschluckte sich fast an dem bröseligen

Keks.

„Wir dulden das“, sagte Leon in dem offiziellen Ton, den er immer anschlug, wenn er

Entscheidungen verkündete, die er und Vivi zusammen getroffen hatten. „Es bindet die Fans an
die Serie. Und Kerstin nimmt nur Dinge, die sonst eh auf der Müllkippe landen würden.“

„Aber dann ist doch klar, wer die Diebin ist. Kerstin hat das Massageöl und den venezianischen

Kelch genommen, um damit auf eBay groß Kohle zu scheffeln.“ Mira war empört. Da hätte sie um
ein Haar ihren Job beim Sophienbad verloren, dabei wussten Vivi und Leon die ganze Zeit schon,
wer für die Diebstähle verantwortlich war. Ihr fiel wieder ein, wie vertraulich Paul mit Kerstin
geredet hatte. Der Verdacht durchzuckte sie, dass die beiden vielleicht gemeinsame Sache
machten und Pauls Besuche in ihrem Atelier nur ein Vorwand waren, um sie … Nein, das konnte
nicht sein. So konnte sie sich nicht in Paul täuschen.

Leon aß die Schafskäsewürfel und Rucolablättchen aus dem Salat. Dann sagte er: „Denk mal

scharf nach, Mira. Requisiten, die gar nicht in der Serie auftauchen, weil sie beim Dreh plötzlich
abhanden kommen, kann Kerstin doch gar nicht verkaufen. Für die Fans ist eine Requisite nur
dann interessant, wenn die Lippen von Svenja Angerholt sie berührt haben. Oder die Hände von
Felix Scholl.“ Er spießte einen halbreifen Tomatenschnitz auf und betrachtete ihn eingehend.
„Nein, Kerstin ist es nicht. Und ich habe keine Ahnung, wer es wirklich sein könnte.“

In Gedanken nahm Mira ihr virtuelles Ermittlerinnen-Hütchen ab. Miss Marple hätte natürlich

sofort durchschaut, dass Kerstin nicht die Diebin war. Allerdings würde Miss Marple sich auch
nur für Pauls mögliche Diebstahlmotive interessieren und nicht dafür, was er mit der hübschen
Redakteurin zu tuscheln hatte. Mit einem Mal wurde Mira klar, dass das leise nagende Gefühl in
ihrem Magen die ersten Vorboten einer massiven Eifersuchtswelle waren. Das hatte ihr noch
gefehlt: Sie hatte sich tatsächlich und trotz Freundschaftsbändchen in Paul verliebt.

Mira blickte stolz über das neu gestaltete Schlafzimmer-Set. Die Motivkacheln an der Wand
hinter dem Bett zeigten fantastische bunte Rankenornamente. Vivi hatte sie persönlich für diese
Dekoidee gelobt. Wunderbar, dann haben wir ein Product-Placement abgehakt. Dabei lag es nur
auf der Hand. Im Orient verwendete man ja auch in Schlafräumen Kacheln zur Kühlung. Der neue
Auftrag für die persischen Hüte machte sie richtig glücklich.

„Achtung! Szene 54 Mondlicht – die Dritte.“ Leon schlug die Klappe. Mira hatte sich ganz

ruhig neben ihn gestellt, weil sie von hier das Farbenspiel wunderbar studieren und ab und zu mal
einen Blick auf Pauls kräftige Unterarme werfen konnte. Der stand konzentriert und völlig
unansprechbar hinter dem Lichtpult. Ein überzeugendes Mondlicht für die Balkonszene
hinzukriegen, sei total schwierig, hatte er ihr mit kargen Worten erklärt. Den Garten und die
Fassade neben dem Balkon ersetzte im Studio die Blue Screen. Das würde später digital
einmontiert.

Svenja war in ein hauchzartes Schleiergewand gehüllt und trat ihrer Rolle entsprechend durch

die Tür des Schlafzimmers zum Balkon. Die Scriptwriter hatten sich ein altes Gartenpalais auf

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dem Gelände des Sophienbads ausgedacht, das für First-Class-Wellness-Patienten eröffnet worden
war. Laut Drehbuch von einem Fürsten Albrecht im Jahr 1842 erbaut, konnten hier die meisten
Elemente der Bad-Kollektion „Arabische Träume“ eingebaut werden.

Paul hatte den Balkon mit den geschnitzten arabischen Fenstergittern in ein märchenhaftes

Mondlicht getaucht, Svenja sah darin aus wie eine Prinzessin. Nun kam Felix aus dem
Schlafzimmer hinterher. Der schlichte weiße Arztkittel wirkte steril und nüchtern, der Kontrast
zwischen den beiden Hauptdarstellern hätte nicht größer sein können. Vom Kameramann kam ein
bewundernder Blick, und Leon neben Mira flüsterte: „Es funktioniert.“

Felix trug ein Glas mit einer roten Flüssigkeit und reichte es Svenja. „Hier, unser berühmter

Rotsaft. Johannisbeeren, Rote Beete und Karotten. Der wird Sie wieder zu Kräften bringen.“
Svenja nahm einen vorsichtigen Schluck von der Mixtur, während Felix auf den imaginären
Garten zeigte. „Die Zutaten kommen alle aus diesem Paradies.“

Svenja legte die Hände auf die Brüstung, und das silbrig bestickte Schleiergewand rutschte von

ihren hellen Armen. Ihre Wangen schimmerten faltenlos in dem Mondlicht – sie sah aus wie die
Göttin der Jugend persönlich. Terry hatte bei der Maske nicht bedacht, dass sie bei weichem Licht
Gesicht und Arme viel stärker schminken musste.

Schläfrig murmelte Svenja mit Carens Stimme: „Säfte, ist das Ihre einzige Therapie? Mir ist so

kalt, Herr Doktor, trotz der lauen Luft. Diese Sterne sind doch kein Schnee.“ Svenja zeigte auf ein
Band aus Kacheln, auf denen in weißen Linien gemalten Sterne auf blauem Grund strahlten.

Felix wollte schon wärmend den Arm um Svenja legen, doch sie kam ihm zuvor. „Warten Sie,

ich hole meinen Morgenmantel.“ Sie glitt ins Schlafzimmer, und das rote Licht ging über der
zweiten Kamera an. Svenja zog den Schrank von Carens Schlafzimmer auf. Langsam durchsuchte
sie die Kleider. Dann stutzte sie und begann hektischer in dem Schrank zu wühlen.

Mira schaute zu Paul, der zum Set starrte und die Augenbrauen zusammenzog. Svenja drehte

sich um. „Tut mir leid, Leute, hier …“ Das war die normale, kräftige Stimme ihrer Freundin.

„Cut!“, schrie Leon so laut, dass Mira zusammenzuckte. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
„Hier ist kein Mantel.“ Svenja hob die Schultern.
Felix knallte die Faust gegen die geschnitzte Wand des Balkons, sodass die gesamte Kulisse

wackelte. „Diese Produktion macht mich wahnsinnig.“

Svenja machte ein paar Schritte weg vom Schrank, ihr Schleierkleid wehte. „Der Mantel ist

weg! Du kannst gern selbst nachschauen, Felix.“

Aus dem Dunkel tauchte Kerstin auf. Die Redakteurin hatte wie immer ihr Clipchart auf dem

Arm und machte Notizen. Dabei tauschte sie mit Paul vielsagende Blicke aus. Mira fiel zum
ersten Mal auf, was für eine perfekte Nase Kerstin hatte. Klassisch geschwungen, weder zu klein
noch zu groß. Ihre eigene Nase fand sie zu spitz und vorwitzig, stupsig hatte ihr Vater immer
gesagt.

„Ist etwa schon wieder etwas gestohlen worden?“, fragte Kerstin, und Mira meinte einen

ironischen Unterton in ihrer Stimme zu hören. „Das wird jetzt aber echt teuer.“

„Nun mal keine Panik.“ Leon hob die Hände. „Ihr bleibt alle genau da stehen, wo ihr seid. Und

ich gehe durch die gesamte Halle und suche den Mantel. Irgendwo muss er ja stecken. Keiner
bewegt sich.“

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„Der hat Nerven“, flüsterte Mira Paul zu, der sich neben sie gestellt hatte. Paul schüttelte nur

den Kopf, doch das galt nicht ihr, sondern Kerstin, die mit einem Stift hinter sich Richtung Vivis
Büro deutete.

Felix lehnte an der Tür zum Balkon, er rieb sich die Schläfen. Dabei atmete er schwer. „Leon,

warte mal.“ Seine Stimme klang unerwartet ruhig und gefasst. „Wir wollen doch alle, dass es
weitergeht. Vergiss den Mantel. Wir spielen die Szene anders.“

Svenja rollte mit den Augen. „Das geht nicht, wir brauchen den Mantel. Er ist wichtig, auch

wegen der neuen Szene, die wir morgen drehen. Und er steht im Script.“

„Weiß ich auch.“ Felix hatte noch immer die Hände an die Schläfen gepresst. Kerstin tippte

irgendetwas in einen Taschenrechner, den sie an das Clipchart geklemmt hatte. Paul beobachtete
alles vollkommen ruhig. Mira roch sein würziges Aftershave.

„Ich hab‘s!“ Felix trat schnell auf Kerstin zu, die von ihren Notizen hochschreckte. „Gib mir

mal ein Blatt Papier.“ Er nahm ihr den Stift aus der Hand. Auf dem Rand der Marmorbank notierte
er etwas. Dann wedelte er mit dem Blatt. „Leon, Svenja. Wir sprechen einfach diesen Text.“

Leon warf einen Blick auf das Blatt, seine Augen glitten von links nach rechts. „Das könnte

sogar gehen. Versuchen wir es.“

Miras Magen krampfte sich zusammen. Irgendwann hatte es ja mal so weit kommen müssen.

Die arme Svenja. Seit Jahren hielt sie geheim, dass sie an einer leichten Leseschwäche litt. Sie
brauchte einfach viermal so viel Zeit für einen Satz wie normale Leute. Dafür hatte sie ein
geniales Gedächtnis. Was sie einmal gehört hatte, vergaß Svenja nie wieder. Mira hatte es damals
in der Parfümerie mitgekriegt, als Svenja immer endlos mit dem Papierkram brauchte. Gestern
Abend waren sie noch zusammen den Text für die Szene heute durchgegangen.

Svenja nahm das Blatt und lächelte hilflos. Mira fing ihren Blick auf und griff sich unauffällig

mit den Händen an den Rock.

Svenjas Gesicht hellte sich auf. „Mira, irgendetwas stimmt mit meinem Kleid nicht. Könntest

du mal … ich komme kurz runter. Leon, Felix, wir können gleich weitermachen.“

Mira ging ein paar Schritte von Paul weg, sodass sie halb hinter den Kulissen stand.
Svenja stellte sich vor sie und drückte ihr das Blatt in die Hand. „Schnell, was steht da?“,

flüsterte sie.

Mira zog das schmale Nadelset aus ihrer Hosentasche, das sie immer dabei hatte, und tat so, als

raffe sie eine Falte von Svenjas Schleierkleid. Natürlich saß es perfekt. Während sie las, zupfte sie
an den glitzernden Stofffalten herum.

„Also, Felix sagt. Nehmen Sie doch meinen Mantel, er zieht den Arztkittel aus und legt ihn dir

um die Schultern. Du sagst: Es ist wie im Märchen, wie ein Traum. Ich hätte nie gedacht, dass ich
mich so weit weg von meiner Arbeit so wohl fühlen könnte. Das verdanke ich nur Ihnen.
Tobias
nimmt Caren in den Arm. Dann sagt Felix, Denken Sie nicht …“ Mira brach ab. Kerstin war an
Paul herangetreten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dabei legte sie ihre Hand an seine Hüfte, und
er ließ es sich widerspruchslos gefallen. Mira traute ihren Augen nicht.

„Was sagt Felix? Mira? Komm schon!“ Svenjas Stimme hatte einen leicht hysterischen

Unterton. Mira riss sich zusammen, ihre Freundin stand total unter Stress. So schnell sie konnte,
las sie den Rest des kurzen Textes vor. Svenja wisperte alles nach, dann nickte sie.

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„Okay, das müsste gehen. Danke, Mira.“ Schnell drückte Svenja ihr einen Kuss auf die Wange.
„Seid ihr endlich so weit?“, rief Leon vom Set.
Mira schob Svenja vor die Blue Screen, den Zettel behielt sie in der Hand. An der Balkontür

wartete Felix ungeduldig und starrte dabei Mira an, bis Svenja ihre Startposition an der Brüstung
wieder eingenommen hatte. Vivi nickte zu Ton und Kamera.

Mira starrte zu Kerstin, die eng neben Paul stand und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Die beiden

schauten sich kurz an, und mit einem Mal wurde Mira klar, was ihr schon seit Tagen im Kopf
herumspukte. Paul und Kerstin gingen so selbstverständlich freundschaftlich miteinander um, als
wären sie zusammen. Oder als wären sie zumindest schon einmal zusammen gewesen. Oder auf
dem besten Weg, wieder zusammen zu kommen. Kerstin hatte offenbar etwas Witziges gesagt,
denn Paul hob amüsiert die Mundwinkel. Wenn Kerstin den großen Schweiger zum Lachen
bringen konnte, musste sie ihn ja wirklich sehr gut kennen.

„Achtung! Szene 54 Mondlicht – die Vierte.“ Leon schlug die Klappe. Mira stellte sich neben

ihn und bemühte sich, nicht zu Paul und Kerstin hinüberzulinsen. Mit ihrer Ruhe war es vorbei.

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9. KAPITEL

Selbst als die Szene endlich abgedreht war, fand Mira keine Ruhe. Svenja stürmte wortlos von der
Balkonbrüstung und wäre dabei fast in die Blue Screen hineingelaufen. Sie packte ihre Jacke und
murmelte: „Mein Gott, war ich mies.“ In der nächsten Sekunde war sie schon durch die
automatische Tür verschwunden.

Mira drehte sich zu Paul um, doch der redete wieder mit Kerstin. Auch gut, jetzt brauchte

Svenja sie. Im Gang fand Mira erst den einen orientalischen Schuh, den Svenja in der Szene
getragen hatte, dann den anderen. Sobald sie um die Ecke zu den Garderoben trat, sah sie Svenja
wie ein Häufchen Elend barfuß an der Wand kauern.

„Ich will nur noch nach Hause.“
„Du hast es doch prima gemacht, Svenja.“ Mira ging vor ihrer Freundin in die Hocke und strich

ihr übers Haar. „Komm doch einfach heute Abend zu mir, dann können wir uns Agatha Christies
Wachsblumenstrauß anschauen. Ruf mich an, wenn du Lust hast, was zu machen, okay?“

Svenja wischte sich die Tränen weg, dann stand sie auf und verschwand in ihrer Garderobe.

Mira hörte, wie sie den Schlüssel im Schloss umdrehte. Einen Moment lang stand Mira zögernd
im Gang und wusste nicht, was sie machen sollte. Sie kannte dieses Verhalten von Svenja, wenn es
wirklich Stress gab, wollte ihre Freundin lieber für sich sein. Mira schaute zur Espressomaschine,
die ausgeschaltet war, dann ging sie langsam den Gang entlang.

Die Tür zu Leons Büro stand offen. Mira blickte sich rasch um, doch niemand außer ihr war im

Gang. Das war die Gelegenheit, wieder mal Miss Marple zu spielen und ihre Ermittlungen
fortzusetzen. Sie huschte schnell in den Raum.

Leons Büro war viel ordentlicher als das von Vivi. Sorgsam beschriftete Aktenordner standen

farblich sortiert in einem hohen Regal, der Schreibtisch war aufgeräumt, in der Mitte lag eine
dicke Unterschriftenmappe, in den Eingangs- und Ausgangsschüben stapelten sich Papiere.

Wo würde ein Mann wie Leon wohl etwas verstecken? Falls es wirklich vorstellbar wäre, dass

Leon irgendetwas mit den Diebstählen zu tun hatte. Mira trat hinter den Schreibtisch und zog
vorsichtig an der obersten Schublade. Mist. Sie probierte sie durch, auch die unterste, aber alle
waren abgeschlossen. Offenbar war Leon wegen der Diebstähle besonders vorsichtig geworden.

Das hörte sie plötzlich draußen im Gang Stimmen. Mira schaute sich hektisch um. Die Stimmen

näherten sich. Mira stürzte zu der Couch und wollte sich schon in den engen Spalt zwischen Wand
und Lehne pressen, als sie die Stimmen von Terry und Kerstin erkannte. Die beiden gingen an dem
Büro vorbei, und Mira atmete erleichtert aus. Seltsam, was hatte Kerstin plötzlich mit der
Maskenbildnerin zu schaffen?

Nichts wie weg hier, sonst wurde es noch peinlich. Mira lief rasch den Gang zurück zum Studio.

Aus Felix‘ Garderobe war Elektro-Pop zu hören. Hm, die Pages of Sound and Vision, so einen
ausgewählten Geschmack hatte sie dem Herrn Scholl gar nicht zugetraut. Eine
Charakterunstimmigkeit, die Miss Marple bestimmt aufgefallen wäre. Vielleicht sollte sie sich
Felix doch noch einmal vornehmen.

Völlig in Gedanken versunken bog Mira um die Ecke und wäre fast in jemanden hineingelaufen

– Paul. Auch das noch. Sie prallte gegen seinen Unterarm, den er gerade noch rechtzeitig

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schützend vor ein kleines Schnapsglas halten konnte. „Vorsicht!“

„Sorry.“
Bewundernswert, wie Paul es schaffte, das fast randvolle Glas vor dem Überschwappen zu

bewahren. Mira starrte auf die Hand mit dem Freundschaftsbändchen, und auch Paul blickte sie
nur an. Es kam Mira fast wie eine kleine Ewigkeit vor, als sie so schweigend voreinanderstanden.

„Willst du den?“, brach Paul schließlich das Schweigen. „Die Jungs von der Technik verteilen

Klappenschnaps. Ich … ich kann mir noch einen holen.“

Mira schüttelte den Kopf. „Danke, das ist nett, aber ich will eigentlich nach Hause. Das war

ziemlich stressig heute.“

„Ich kann dich fahren“, sagte Paul unvermittelt. In einem Zug stürzte er den klaren Schnaps

hinunter und stellte das Glas einfach auf den Boden. Er berührte Mira ganz kurz an der Schulter
und machte einen Schritt zur automatischen Tür.

„Also“, antwortete Mira und spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihrem Magen ausbreitete,

„klar.“

Paul fuhr sich verlegen durchs dunkle Haar, und als er so in der automatischen Tür stand, war

Mira einfach nur glücklich.

„Dieses Schwebegefühl ist wirklich toll.“ Sie saßen in Pauls Citroën. Die alten, überwucherten
Villen von Babelsberg rollten an ihnen vorbei.

„Die Hydrauliktechnik der DS ist selbst heute noch etwas Besonderes. Aber verliebt habe ich

mich in den Wagen, als ich ihn mal auf einer Automesse ausleuchten durfte.“ Paul griff zu einem
Hebel. „Es geht noch gefederter. Soll ich?“

Mira nickte und blickte auf Pauls kräftigen Arm. Er hatte wirklich schöne Hände. „Geht‘s nach

Berlin nicht da lang?“ Mira deutete an der Kreuzung nach rechts.

„Über die Havelchaussee am Wannsee entlang ist es schöner.“
„Aber das ist ein Umweg, nicht?“
Konzentriert schaute Paul nach vorn auf die Straße, aber Mira konnte sehen, dass er lächelte.

„Eher eine kleine Spritztour. Ich wollte dich ja schon letzte Woche einladen.“ Er blinzelte kurz zu
ihr herüber. „Aber da kam irgendwie die Idee mit der Roadrunner – Kappe dazwischen.“

Mira lachte übermütig. Der Fahrtwind blies ihr die Locken ins Gesicht, und sie fuhren direkt

auf den roten Sonnenball zu, der über den Häusern unterging. Es war so viel schöner als das
Mondlicht auf dem Balkon des Sophienbads.

Sie schwebten in der DS über die Glienicker Brücke, und Paul wurde langsamer, damit sie die

glitzernde Seeoberfläche bestaunen konnten. Dann brausten sie die Königstraße entlang in den
Berliner Stadtwald.

„Diese vielen verschiedenen Grüntöne, wenn ein Schatten auf das Laub fällt oder die Sonne

durch die Äste scheint. Ich fand das als Kind schon super.“ Paul deutete in den Wald, der im
Abendrot violett erstrahlte. „Ist doch verrückt, wie ein bisschen Licht die ganze Welt verändern
kann.“

Einen Moment blickte er auf den Tacho, dann verlangsamte er das Tempo. Irgendwie schien er

in Gedanken nicht beim Autofahren zu sein.

„Mir geht es mit den Hüten genauso“, meinte Mira. „Die Menschen verändern sich durch einen

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Hut total. Und für jeden gibt es richtige und falsche Hüte.“

„Wie richtiges und falsches Licht! Weißt du, dass deine Sachen für Svenja immer eine

Herausforderung für mich sind?“ Paul sah sie an. „Die Hüte betonen jedes Mal eine andere Facette
von Svenjas Rolle. Und du liegst nie falsch. Ich überlege dann immer, was du dir dabei wohl
gedacht hast. Wenn du statt roter Seide so ein mattes Braun oder Pelz nimmst für einen Hut. Und
nie im Leben Goldlamé, obwohl Svenja blond ist.“ Er grinste sie an. „Dafür bin ich dir echt
dankbar, das Glitzerzeug ist kaum einzufangen – zu dominant.“

„So was fällt dir auf?“ Mira war total erstaunt. Es war offensichtlich, dass Paul sich ihre Hüte

ganz genau anschaute, sicher genauer, als ein anderer Beleuchter das machen würde. Und wie sie
selbst merkte er anscheinend auch, dass die Hüte ein Eigenleben hatten. Ob er sie auch so genau
anschaute? Unwillkürlich fuhr sich Mira durch ihre Locken und fing einen fragenden Blick von
Paul auf. „Na, ich dachte, ihr Beleuchter konzentriert euch nur auf die Gesichter der Schauspieler
und so.“

„Nein, nein.“ Paul schüttelte den Kopf. „Alles ist wichtig, die Garderobe, die Requisiten.“ Er

schaltete und sagte dann: „Und die Hüte. Und besonders so außergewöhnlich schöne Hüte wie
deine.“ Dabei schaute er sie mit diesen strahlenden grauen Augen an, und Mira lächelte. Selbst
wenn Paul ganz sicher schon tollere Hüte als ihre gesehen hatte, war es doch ein sehr nettes
Kompliment.

Die ersten Häuser von Berlin-Wannsee glitten an ihnen vorbei, und Paul bog zur Havelchaussee

ab.

„Mich interessieren nicht nur Details. Für mich ist immer die ganze Person wichtig. Im Job und

auch privat.“ Er blickte zu ihren Knien, und für einen Moment hatte Mira das Gefühl, als überlege
er, wie er den britischen Minirock mit ihren Hutkreationen zusammenbringen konnte. „Du bringst
mich ganz schön zum Tüfteln“, sagte er leise und blickte dabei wieder vor sich auf die Straße.

Mira schmunzelte. „Bei Vivis Hut habe ich auch ziemlich lange überlegt, ob sechs rosa

Flamingofedern reichen oder ob ich eine siebte aufstecken soll. Sie ist eine Power-Frau, aber eben
nicht over the top.“

„Findest du?“ Paul lehnte sich in den Fahrersitz zurück und streckte die muskulösen Arme aus.

Mira musste sich zusammenreißen, damit sie nicht immer hinstarrte. „Ich finde, Viv ist ziemlich
over the top. Du hast sie ja nicht erlebt, als sie wie eine Furie ihren Porsche verteidigt hat, nur
weil ich ein bisschen das Dach gestreichelt habe.“

„Wann war das denn?“ Natürlich wusste Mira genau, wovon Paul sprach: die Aussprache auf

dem Parkplatz, bei der zum ersten Mal der Verdacht aufgekommen war, dass sie die seltsame
Diebin sein könnte. Svenja hatte ihr in allen Einzelheiten erzählt, wie Paul für sie gekämpft hatte.

„Äh …“ Er schaltete wieder, und sie hatte eine sehr starke Miss-Marple-Intuition, dass er

grundlos vom dritten in den vierten oder vom vierten in den dritten Gang schaltete, wenn er
verlegen wurde. „Vor‘n paar Tagen.“

Mira konnte nicht anders: Sie legte die Hand auf Pauls Oberarm und sagte leise: „Das war echt

total nett, wie du dich für mich eingesetzt hast, Paul. Vielen Dank.“

„Svenja?“, fragte er nur und verzog den Mund zu einem schwachen Grinsen.
„Klar, sie hat mir alles brühwarm erzählt. Für was ist eine beste Freundin sonst da?“ Sie zog die

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Hand wieder weg, obwohl Pauls Muskeln vibrierten wie der Motor unter der Kühlerhaube der DS.

Hinter den Bäumen blitzte immer wieder der Wannsee auf, und der Citroën verlangsamte das

Tempo. „Hast du noch Zeit?“, fragte Paul.

„Ein bisschen. Ich habe Svenja versprochen, dass wir heute Abend was zusammen machen. Sie

ist echt fertig wegen des Drehs heute.“

Paul nickte und bog schweigend in einen Waldweg ein. Dann hielt er an.
„Das hier ist mein Lieblingsplatz am Seeufer“, sagte Paul. „Das Große Fenster. Man kann

endlos weit übers Wasser gucken von hier, fast wie am Meer.“

Das schilfbewachsene Ufer neigte sich bis zum Wannsee, der wie flüssiges Kupfer in der

Abendsonne glänzte. Hinter ihnen war das entfernte Rauschen der vorbeifahrenden Autos zu
hören, vor ihnen zirpten Grillen. Paul hatte die Hände auf das große Lenkrad gelegt und sich leicht
vorgebeugt. Am liebsten hätte Mira sich jetzt an ihn gelehnt und sich von ihm in die Arme
nehmen lassen. Da fiel ihr Blick auf das rosa-grün-gelb geflochtene Freundschaftsbändchen.

„Was ist das eigentlich für ein Ding?“ Die Frage rutschte Mira einfach so raus, und sie hätte

sich sofort auf die Zunge beißen können.

„Das?“ Paul strich mit dem Zeigefinger über das Band. „Seltsam, dass du gerade danach fragst.

Das Band hat sogar hier mit dem Großen Fenster zu tun.“ Er deutete mit ausgestrecktem Arm nach
links. „Die niedrigen Hütten an der Brücke da drüben, das war früher mein Ruderclub.“

„Du hast gerudert? Mit den reichen Kids hier?“ In der Dämmerung konnte Mira nur vage

Umrisse im Schilf erkennen.

„Ach, in den Ruderclubs am Wannsee sind Leute aus der ganzen Stadt. Wir haben mal die

Juniorenmeisterschaft im Vierer gewonnen, und die Bändchen waren an den Medaillen dran. Ich
hätte es schon längst mal abmachen sollen, aber es erinnert mich an die Zeiten damals.“

Vom Rudern kamen also dieses Prachtkreuz und die breiten Schultern. „Ruderst du noch?“
„Schon lange nicht mehr. Achim ist an den Bodensee gezogen und Profi geworden. Jo hatte

einen Unfall mit dem Motorrad. Vielleicht habe ich deshalb aufgehört und mich danach auf alte
Autos verlegt.“

In Sportvereinen gab es immer Verliebtheiten zwischen den Jungs- und den Mädchenteams.

Und wenn Mira sich nicht täuschte, dann hatte Kerstin auch ganz schön breite Schultern. „Kennst
du Kerstin vom Rudern?“, fragte sie, weil sie es jetzt einfach wissen musste. Mira hatte als
Vierzehnjährige selbst ewig einen Basketballer aus der B-Jugend angeschwärmt.

„Kerstin?“ Paul drehte sich verwundert zu ihr um. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na, ihr kennt euch wohl schon länger.“
Paul lehnte sich langsam zurück und blickte durch die Seitenscheibe auf das Wasser. „So? Hat

sie das gesagt?“

Hatte sie zwar nicht, aber Mira fand es ziemlich offensichtlich, so vertraut wie die beiden

miteinander umgingen – und wie sie zusammen lachten.

„Kerstin und ich haben … die Zeit war für uns beide nicht so toll.“ Paul setzte sich auf. „Woll‘n

wir weiter?“

Mira nickte, und sofort startete Paul die DS. Beim Rückwärtsfahren legte er den Arm auf die

Lehne von Miras Sitz, wobei er ihren Nacken berührte. Dann rangierte er den Wagen Richtung

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fester Straße. Die Hydraulik hob sie über einen niedrigen Graben, der Sitz schwankte, und Pauls
Arm rutschte dabei auf ihre Schulter. Er kurbelte das Lenkrad mit einer Hand zurück, doch den
Arm nahm er nicht weg. Erst als der Wagen noch einmal heftig über einer Furche im Waldbogen
schwankte, zog Paul den Arm zurück und lenkte wieder mit beiden Händen. Kaum waren sie in die
Havelchaussee eingebogen, sagte er: „Und ab!“

Die Räder griffen den Asphalt, als Paul aufs Gaspedal trat. Er überholte ziemlich rasant gleich

zwei Autos und hatte es offenbar plötzlich sehr eilig, nach Berlin zu kommen.

Mira war sich sicher, dass die Geschichte zwischen Paul und Kerstin noch nicht ausgestanden

war. So riskant, wie Paul jetzt Auto fuhr, war sie zumindest für ihn noch nicht zu Ende.
Wahrscheinlich war er immer noch in Kerstin verliebt und spielte den abgeklärten Kumpel, damit
er wenigstens mit ihr befreundet sein konnte. Männer kamen ja auf solche Ideen.

Mira drehte sich um, der See blieb hinter ihnen zurück. Zu gern wäre sie jetzt in Pauls Arm

gekuschelt einfach weiter in die Nacht gefahren.

„Ich nehme vom Funkturm aus die Stadtautobahn“, meinte Paul. Den Rest der Fahrt machten

sie nur noch Smalltalk, und Mira fragte sich ernsthaft, ob sie jemals so ungezwungen wie Kerstin
mit Paul lachen würde.

Mit quietschenden Reifen kamen sie in zweiter Reihe vor dem Hutatelier zum Stehen. Paul

schaute an Mira vorbei zum Geschäft. „Gut, dass du das Schild auch tags beleuchtest. Kann man
gut lesen.“

Mira blickte hoch zu ihrem Schild, auf dem in altmodischen Lettern Miras Kopfkleider stand.

„Ja, stimmt“, sagte sie. Ihr fiel nichts Intelligentes ein, das sie hätte erwidern können.

Paul rieb mit dem Daumen über das Lenkrad, dann starrte er kurz auf den Tacho.
Am liebsten hätte Mira ihn noch ins „Café Säulenmeer“ auf einen Afterwork-Drink eingeladen.

Nur ertönte da leider die Miss-Marple-Melodie von ihrem Handy. Sie nestelte das Ding rasch aus
der Tasche. Auf dem Display sah sie Svenjas Namen. „Ja? Ich komme gleich mit der DVD hoch.
Ja, okay.“

Paul beobachtete im Rückspiegel den Verkehr in der Kastanienallee.
„Svenja“, erklärte Mira. „Ihr geht‘s wirklich nicht so gut … Na, auf jeden Fall vielen Dank fürs

Fahren, Paul. Das war wirklich schön am Wannsee.“ Sie öffnete die Beifahrertür und setzte einen
Fuß hinaus. „Das nächste Mal kommst du aber noch mit auf einen Drink, ja?“

„Ja, klar. Gern.“ Paul startete den Motor, und irgendwie hatte Mira das Gefühl, dass er sich

genauso sehr auf das nächste Mal freute wie sie. Als sie ausgestiegen war, winkte Paul ihr zu und
sagte: „Dann bis morgen.“

„Ja, bis morgen.“ Mira drückte die Tür ins Schloss, Paul winkte noch einmal, dann wendete er

die DS und sauste davon.

Mira schaute dem Citroën nach und kriegte kaum mit, dass eine Straßenbahn kam. Sie klingelte

so schrill, dass Mira vor Schreck fast ihr Handy hätte fallen lassen. Während sie auf den
Bürgersteig sprang, machte ihr Herz immer noch kleine, wilde Hüpfer, selbst dann noch, als sie im
Schein der Schildbeleuchtung die Tür zum Atelier aufschloss.

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10. KAPITEL

Das arabische Bad im Wellness-Bereich nahm allmählich Gestalt an. Schon konnte Mira die
hufeisenförmigen Nischen mit den gekachelten Ruhebänken erkennen. Eine ganze Ladung
goldener Armaturen und Wasserbecken aus feinädrigem jadegrünem Marmor waren am Morgen
geliefert worden. Die Jungs von der Technik machten Überstunden, damit auch noch die Sauna
stand, wenn morgen früh die nächste Szene gedreht wurde. Als kleinen Anreiz hatte Vivi mit der
Küche verabredet, dass Promi-Catering für die Aufbauer aufgefahren wurde. Die Arbeiter von
TausendundeinBad waren nicht wirklich begeistert, als statt deftiger Wurstplatten geräucherte
Forelle, Minizucchini-Salat und Wraps aufgetischt wurden, doch die Technik-Crew ließ es sich
schmecken.

„Wird ja ganz hübsch“, sagte die Köchin, die über den dampfenden Kesseln mit Lachs- und

Kürbissuppe wachte.

„Es sieht jetzt schon toll aus. Sophienbad wird Preise für die beste Ausstattung kriegen.“

Begeistert blickte Mira zu den handbemalten Kacheln, die ein Handwerker als Mosaik auf den
Kulissenwänden aufsetzte.

„Na, wenn du meinst.“ Die Köchin rührte in der Kürbissuppe. „Also, bei mir daheim kann ich

mir das nicht vorstellen. Möchtest du noch eine Portion?“

Mira schüttelte den Kopf. Paul schleppte gerade mit einem der Techniker schwere Balken in die

Halle. Er hatte seine Jacke ausgezogen, und unter dem eng anliegenden T-Shirt zeichnete sich sein
flacher Bauch ab. Mira wurde heiß bei dem Anblick.

„Wenn diese Irin nur Svenja nicht immer so furchtbar schminken würde. Das Mädel sieht ja

richtig fertig aus.“

„Aber das ist doch Absicht“, mischte sich Bastian ein und hielt der Köchin seinen leeren Teller

hin. „Als Caren soll Svenja doch total fertig aussehen. Und wir unterstützen das noch durch das
Licht.“

„Wirklich?“ Die Köchin schöpfte dem Jungen den Teller randvoll. „Dann hättet ihr ja auch

gleich mich casten können. Ich seh immer fertig aus.“ Sie klopfte sich mit der Hand auf eine
Wange, wie um ihre Augenringe noch besser zur Geltung zu bringen.

Bastian rollte die Augen und ging zurück zu den Kulissen. Mira grinste die Köchin an, dann

schaute sie Bastian nach. Mit einem Mal blieb ihr die Luft weg. War das … Paul? Der Beleuchter
hatte das T-Shirt ausgezogen und stand mit nacktem Oberkörper neben den Wannen. Seine Haare
wirkten feucht, als ob er frisch aus der Dusche käme. Mira hatte Mühe, nicht allzu auffällig zu
starren. Sie hatte ja schon geahnt, dass Paul einen unglaublichen Körper unter seinen langweiligen
T-Shirts verbarg. Aber das hier war … Wahnsinn!

„Diese Terry ist ein ganz durchtriebenes Luder“, hörte sie da die Köchin sagen.
Mira fuhr herum. „Was?“ Sie durfte ihre Ermittlungen nicht schleifen lassen, schon gar nicht

wegen Paul. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie ihm wirklich trauen konnte.

„Ist vornerum supernett zu den Kollegen am Set, aber hintenrum erzählt sie uns die

schlimmsten Geschichten. Den Felix Scholl zum Beispiel, den kann Terry auf den Tod nicht
ausstehen. Vor ein paar Tagen hat sie mit Kerstin in der Kantine gesessen und erzählt, dass er in

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dieser amerikanischen Serie angeblich nur einen einzigen Gastauftritt hatte. Wo er doch immer so
stolz die ‚tragende Nebenrolle‘ betont.“ Die Köchin intonierte die beiden Worte genau in dem
tiefen Brustton der Überzeugung, den Mira schon etliche Male von Felix gehört hatte.

„Sie sollten dich wirklich mal casten“, grinste sie. „Du klingst exakt wie Felix.“
„Ach ja? Dann krieg ich ja bloß die Rollen von Felix.“
Mira lachte und blickte dabei wieder zur Sauna. Paul winkte ihr zu, sie solle herkommen. „Du,

ich geh mal zu Paul. Da ist was mit dem Licht …“

„Klar, das Licht kenn ich“, brummte die Köchin, doch da war Mira schon aufgesprungen.
„Hast du Lust, dir die arabische Sauna anzuschauen?“, wollte Paul wissen, als sie neben ihm

stand.

Mira brachte keinen Ton heraus. Pauls Lederhose saß ihm knapp auf den schlanken Hüften, ein

feiner dunkler Flaum bedeckte seinen durchtrainierten Bauch. Am liebsten hätte Mira Paul überall
berührt, um zu erfahren, ob dieser tolle Body sich auch so gut anfühlte, wie er aussah. Sie zwang
sich, hoch in sein Gesicht zu blicken. Ein fragender, scheuer Blick traf sie aus grauen Augen. „Ja,
klar.“ Natürlich wollte sie sich von Paul alles zeigen lassen.

Er führte sie hinter die Kulissen des Bades, wo vor einer Stunde noch einzelne Teile einer

Fertigsauna gestanden hatten. Inzwischen war schon zu erkennen, wo der Dampfstein hinkam, wo
die breiten Liegen, wo das Oberlicht, das den Raum in verschiedene Farben tauchen würde. Paul
nahm sie bei der Hand. „Komm, ich zeig dir den arabischen Teil.“

Er trat durch einen noch rohen Durchgang neben dem Aufgussbecken, dann standen sie beide

plötzlich in einem weichen Dämmerlicht. Kleine sternförmige Öffnungen waren in die Wände
gesägt, und nach ein paar Sekunden erkannte Mira das bläulich schimmernde, runde Becken.

„Echte Lapislazuli-Kacheln“, flüsterte Paul. Er stand direkt hinter ihr und hatte die eine Hand

wie beiläufig auf ihre Hüfte gelegt.

Es war still in dem Raum, das Hämmern und die Stimmen der Handwerker waren wie aus

weiter Ferne zu hören. Mira flüsterte: „Es ist wunderschön.“

„Siehst du den Goldbelag an den Wänden?“ Paul zog sie für einen kurzen Moment enger zu

sich. Mira wagte nicht, sich zu bewegen. Durch den Stoff ihres T-Shirts hindurch spürte sie Pauls
Wärme. Am hinteren Ende des Raums glitzerte es golden. „Alles Holz ist mit Blattgold
überzogen“, raunte die dunkle Stimme an ihrem Ohr.

Paul trat ein wenig zurück, doch da löste sich Mira endlich aus ihrer Erstarrung.
„Ich dachte, du kannst Goldglitzer nicht leiden“, flüsterte sie. „Zu dominant, hast du gesagt.“
Sie lehnte sich gegen Pauls Oberkörper, und er schloss sie in die Arme. „Kommt immer drauf

an“, meinte er nur und zog sie fest an sich.

Mira atmete den leichten Geruch nach frischem Männerschweiß ein, und diese spezielle

Mischung aus Leder und Aftershave, an der sie Paul mittlerweile überall erkannt hätte. Langsam
drehte sie sich in Pauls Armen um und ließ ihre Hände über seine nackte Brust gleiten. Er beugte
sich zu ihr, suchte ihren Mund. Ihre Lippen trafen sich, und Mira spürte nur noch, wie weich und
zärtlich er war. Sie küssten sich erst vorsichtig, dann presste Mira sich enger an Paul, und der
Kuss wurde leidenschaftlicher. Paul strich ihr vom Nacken hoch durch das Haar, während ihre
Hände seinen muskulösen Rücken ertasteten. Irgendwann ging ihnen die Luft aus, und sie standen

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heftig atmend in dem schummrigen Licht. Paul drückte feuchte Küsse auf Miras Hals, sie biss ihm
zärtlich ins Ohrläppchen. Noch nie hatte sie einen Mann kennengelernt, der so gut küssen konnte.
Und so gut roch. Und so wahnsinnig gut gebaut war. Sogar das ausgewaschene
Freundschaftsbändchen war ihr egal. Sie wollte nur noch nackt in das Lapislazuli-Becken tauchen
und Paul dort stundenlang lieben.

„Paul“, flüsterte sie, da spürte sie wieder seine Lippen auf ihrem Mund.
Plötzlich tauchte ein Schatten in der Türöffnung auf. „Bist du da drin, Paul? Sie brauchen dich

für die …“ Kerstin! Der helle Strahl einer Taschenlampe traf Mira direkt in die Augen. Paul löste
sich sofort aus der Umarmung und trat an die Wand zurück.

„Ach … also, ich wollte ja nicht stören.“ Kerstins Stimme klang spöttisch. Sie blickte kurz zu

Paul. „Die Aufbauer haben keinen Plan. Sorry, die brauchen dich wirklich draußen.“ Rasch war sie
weg.

Mira fuhr Paul zärtlich über die Wangen. Kerstin hatte das Feld geräumt. Doch Paul drehte das

Gesicht weg, sodass Miras Finger ins Leere glitten.

„Die Jungs warten.“
Er drückte ihr noch einen züchtigen Kuss auf die Wange, der wunderbar zu dem

Freundschaftsbändchen passte, das Mira jetzt an seinem Handgelenk sah. Die Jungs, klar. Für
Mira sah das eher danach aus, als ob da eine Frau auf Paul wartete, von der er nicht loskam.

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11. KAPITEL

Heavens, dass diese Deutschen nie pünktlich sein konnten. Terry McGilles lief vor dem mobilen
Schminktisch auf und ab. Nicht einmal Espresso gab es hier, sie hatte mit einem dünnen
Filterkaffee vorliebnehmen müssen. Für die Aufnahmen der Gesellschafterversammlung hatte das
Sophienbad extra den Konferenzraum von RTL im Nachbarstudio angemietet. Nach und nach
trudelten die Statisten ein, alles Männer, die in graue Anzüge gesteckt worden waren. Wenn man
nicht gerade durch die getönten Fenster schaute, konnte man wirklich das Gefühl bekommen, als
säße man auf einer Aktionärssitzung. Terry wartete schon seit einer Viertelstunde auf Svenja
Angerholt, denn heute mussten alle Szenen, die in der Serie bei der Versammlung spielten, im
Konferenzraum abgedreht werden. Vivi hatte den Drehbeginn auf sieben Uhr gesetzt.

Terry starrte auf die Uhr an der Wand. 7 Uhr 20. Heute sollte ein großer Tag für das Team des

Sophienbads werden. Und es würde auch ein großer Tag für sie, denn endlich durfte sie dem
Blondchen ein richtiges Star-Make-up verpassen. Endlich sollte Svenja als Caren einmal nicht
ausgebrannt und fertig, sondern gesund und strahlend wirken, denn laut Skript musste der
Zusammenbruch der Konzernchefin vor den Aktionären geheim gehalten werden. Es war Terrys
Chance, einmal zu zeigen, was sie als Visagistin draufhatte. Ihrer Meinung nach fehlte es Svenja
einfach an der erotischen Ausstrahlung, die eine Powerfrau wie Caren unbedingt haben musste.
Terry erwischte sich immer wieder, wie sie Svenjas Text vor sich hinsprach – was hätte sie nicht
aus dieser Rolle alles herausgeholt.

Svenja dagegen, fand Terry, überspielte ihren mangelnden Sex-Appeal mit diesen lächerlichen

Hüten. Zusammen mit Mira hatte die Angerholt sich strikt geweigert, das vereinbarte Product-
Placement durchzuführen. Caren würde zur Gesellschafterversammlung keinen der persischen
Hüte tragen. Svenja argumentierte, dass keine Geschäftsfrau eine so gewagte Kreation zu einem
Businesstermin tragen würde, Sponsor hin, Sponsor her. Nach endlosen Debatten hatte sie Vivi
schließlich überzeugt. Allerdings war bis gestern Abend in Carens Garderobe kein Businesshut
aufgetaucht, der zu dem schwarzen Kostüm passte, das Svenja heute tragen sollte. Terry zerknüllte
wütend den leeren Kaffeebecher. Wahrscheinlich bastelte Mira noch an irgendeiner
durchgeknallten Hutkreation, während ihr die Zeit für das perfekte Make-up davonlief.

Zwei Stunden später saß Svenja fertig geschminkt vor dem provisorischen Make-up-Tisch und
starrte kritisch ihr Spiegelbild an.

„Dass du immer so Herbstfarben auflegen musst, Terry. Das sieht doch jeder, dass ich ein

Wintertyp bin.“ Der Star schüttelte die blonden Locken.

„Das ist klassischer Business-Look, Svenja. Du siehst genau richtig aus. Und ein paar Jährchen

musste ich dich schon älter machen, sorry. Das ist deine Rolle. Caren ist ja keine sechsundzwanzig
mehr.“

Svenja warf Terry einen schneidenden Blick zu, als würde sie die Gedanken der Visagistin

erraten. Aber heute war Terry alles egal: Selbst Blondchen musste zugeben, dass sie nur deshalb
so gut aussah, weil Terry sie perfekt gestylt hatte. Wenn da bloß nicht dieser Hut wäre, den Svenja
mitgebracht hatte, als sie endlich – über eine halbe Stunde verspätet – angerauscht war. Ein

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schwarzes Ding im Stil der Zwanzigerjahre mit einem seitlichen Fächer aus glänzenden
blauschwarzen Federn. Terry hätte heulen können. Unter dem Hut war Svenjas Gesicht kaum mehr
zu sehen. Und dann war da noch die schmale Reihe kleiner schneeweißer Federn, die sich mit den
warmen Farben ihres Make-ups bissen. Sie schaute sich um, wo war der Hut denn? Leon hatte
schon Zeichen gegeben, die erste Szene begann in fünf Minuten.

„Wo hast du den Hut hingelegt, Svenja?“, fragte sie.
„Ach. Bei meiner Tasche hinten in der provisorischen Garderobe – in der Hutschachtel.“ Svenja

war viel zu sehr mit den Tagesänderungen im Drehbuch beschäftigt, die Leon ihr vor einer halben
Stunde gereicht hatte. Sie saß im Kostüm, die Beine auf dem Schminktisch, und las den neuen
Text langsam Wort für Wort halblaut vom Blatt ab.

Die Leute von RTL hatten für den heutigen Drehtag einen Abstellraum leer geräumt, den die

Schauspieler zum Aufbewahren ihrer Sachen nutzen konnten. Innerlich schimpfend ging Terry los,
jetzt war sie auch noch für Blondchens Garderobe zuständig! Als sie das Licht in dem langen
Gang anknipste, sah sie eine Gestalt, die am anderen Ende um die Ecke huschte. Ein Mensch in
schwarzen Jeans und einem türkisfarbenen T-Shirt. Während sie nachdenklich zu der Kammer
ging, bemerkte sie, dass die Tür nur angelehnt war. Dabei hatte Leon strikte Anweisungen
gegeben, dass dieser Raum immer verschlossen sein sollte. Terry steckte den Schlüssel wieder ein
und machte das Licht an. Hier drin sah sonst alles so aus, wie sie es vor zwei Stunden verlassen
hatte, als Svenja ihr den neuen Hut gezeigt hatte. Svenjas brauner Ledermantel hing auf dem
Bügel, darunter stand ihre Handtasche und die kleine rosa Hutschachtel.

„Er ist weg.“ Noch im Gang hatte Terry die Schachtel geöffnet, aber darin lag nur eine schwarze
Feder.

„Was soll das heißen, er ist weg?“ Svenja warf die Skriptseiten auf den Schminktisch, und ein

paar segelten auf den Boden. „Da steckt doch ein Perverser dahinter, der es auf meine Garderobe
abgesehen hat. Erst der Mantel, jetzt mein Hut!“

„Der Hut passt sowieso nicht zu dem orientalischen Mantel“, murmelte Terry, und Svenja warf

ihr einen bitterbösen Blick zu. Terry konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. Die Angerholt
würde ohne Hut vor die Kamera gehen – und ihr Make-up würde voll zur Geltung kommen.

„Der Abstellraum war offen, als ich hineingehen wollte.“ Terry stellte die leere Schachtel unter

den Schminktisch. Leon hatte offensichtlich mitgekriegt, dass etwas nicht stimmte, und kam mit
großen Schritten auf sie zu. Vivi erfasste die Lage mit einem Blick und erhob sich von ihrem
orangefarbenen Klappstuhl. Sekunden später sah sich Terry einem eingehenden Verhör ausgesetzt.

Während Leon und Vivi lautstark miteinander diskutierten, wer alles einen Schlüssel zu der

Kammer hatte, bemerkte Terry, dass Svenja telefonierte. Bestimmt rief sie Mira an, aber schon
nach ein paar Sekunden steckte sie das Handy mit einem Seufzer wieder ein.

„Ich kriege nur den AB. Mist, Mira ist nicht da. Ich hatte so gehofft, dass sie vielleicht noch ein

anderes Modell in Reserve hat.“

Svenja schien überrascht zu sein, sie holte das Handy noch einmal heraus und versuchte ein

zweites Mal, Mira zu erreichen. „Sie hat doch gesagt, sie müsste noch einen Auftrag für einen
Kunden erledigen. Ich versteh das nicht“, sagte Svenja leise zu sich selbst. In diesem Augenblick
merkte sie wohl, dass Terry ihr zuhörte, und riss sich zusammen. „Okay, dann muss es eben ohne

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Hut gehen.“ Sie setzte ihr Profi-Schauspieler-Lächeln auf und marschierte vor die Kameras, die
zwischen den Stuhlreihen mit den Statisten platziert waren.

Während sie Svenja nachschaute und sich freute, wie elegant diese als Caren mit ihrem Make-

up nun ganz ohne Hut vor die Aktionäre trat, wurde Terry plötzlich klar, wer die Gestalt im
türkisfarbenen T-Shirt gewesen sein musste, die den Hut aus der Kammer gestohlen hatte.

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12. KAPITEL

Vivi war froh, dass sie am Morgen die bequemsten Schuhe aus dem Kleiderschrank gezogen hatte.
Irgendetwas sagte ihr, dass sie die heute brauchen würde. Sie hatte ja schon einiges beim
Fernsehen erlebt, aber bei dieser Diebstahlserie halfen ihr weder Routine noch Erfahrung. Sie
würde jetzt ihre Bürotür aufschließen wie jeden Morgen, das kleine Schild „Sie wollen wirklich
stören?“ mit dem aufgemalten Bömbchen an die Klinke hängen und einfach mal eine halbe Stunde
in Ruhe über alles nachdenken. Zielstrebig ging sie durch die automatische Tür von der Halle zum
Bürotrakt.

„Du gehst nicht zu ihr.“
Vivi blieb vor der Ecke, an der der Gang zu den Garderoben abzweigte, stehen. Das war doch

Svenjas Stimme, so aufgeregt hatte sie die ja noch nie erlebt. Sie strich sich die Locken vom
rechten Ohr.

„Doch. Leon und Vivi müssen erfahren, was ich gesehen habe. Lass mich los!“
Terrys irischer Akzent war unverkennbar. Vivi schoss um die Ecke. Svenja hielt die

Maskenbildnerin mit beiden Armen fest, allerdings hatte die sich schon halb ihrem Griff
entwunden.

„Was sollen Leon und ich erfahren?“
Svenja schrie vor Schreck auf und ließ Terry los. Die taumelte gegen die Wand. Svenja blickte

kurz zu ihrer offenen Garderobentür, blieb aber stehen. Terry zog sich das Sweatshirt mit dem
dunkelgrünen Enya – Aufdruck zurecht. Dann strich sie sich die wirren Haare aus dem Gesicht.

„Es war Mira. Ich hab sie gestern drüben nach dem Diebstahl im Gang gesehen. Ich bin ganz

sicher. Ich wollte es erst nicht sagen, weil ich es erst nicht glauben konnte. Aber dann ist mir
eingefallen, dass Mira genau so ein türkisfarbenes T-Shirt hat. Sie muss es gewesen sein.“

Vivi war so überrascht, dass sie nur ein lahmes „Ach“ ausstoßen konnte. Dann spürte sie eine

Wutwelle in sich aufsteigen. „Warum sagst du das erst jetzt, Terry? Ich hab mit Leon gestern
Abend die gesamten Räume auf den Kopf gestellt.“

Die Finger der Irin verhakten sich vor ihrem Enya – Sweatshirt. „Ich … ich war den ganzen Tag

so mit der Maske beschäftigt, da konnte ich gar nicht richtig nachdenken. Erst gestern Abend ist
es mir wieder in den Sinn gekommen.“

„Das ist so ein Quatsch!“ Allein durch ihre Stimme erreichte Svenja, dass sie größer wirkte als

Terry, die sich ängstlich gegen die Wand drückte. „Mira würde nie, nie, nie einen Hut stehlen, den
sie für mich gemacht hat. Total idiotisch. Sie ist meine beste Freundin.“

Vivi stellte sich vorsichtshalber zwischen die beiden. Ihr Star war kurz davor auszuflippen. Da

hörte sie die automatische Tür. Leon bog um die Ecke und hatte Kerstin im Schlepptau. Die
beiden wunderten sich offensichtlich über den Auflauf, Leon warf ihr einen fragenden Blick zu.

Vivi riss sich zusammen. Sie war hier die Vertretung des Senders. „Guten Morgen. Gut, dass ihr

schon kommt. Terry behauptet, dass Mira gestern den Hut gestohlen hat.“ Vivi hob die Hand, und
Svenja, die schon etwas sagen wollte, machte den Mund wieder zu.

„Aber Mira war gestern gar nicht am Set.“ Leon blickte skeptisch von Svenja zu Terry. Kerstin

blinzelte verschlafen, sie hielt einen Kaffeebecher in der Hand.

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„Doch, ich habe sie gesehen.“ Terry kniff die Lippen zusammen.
„Du lügst.“ Svenjas ausgebildete Stimme hallte im Gang wider.
„Es war Mira. Sie muss heimlich auf das Gelände gekommen sein. In ihrem Hutgeschäft war sie

nämlich nicht.“ Terry taxierte Svenja von der Seite. „Oder, Svenja? Du hast sie nicht erreicht, als
du dort angerufen hast. Und auf Handy hast du sie auch nicht gekriegt. Stimmt doch, oder?“

Vivi tauschte einen besorgten Blick mit Leon. „Stimmt das, Svenja?“, fragte sie.
„Ich hab Mira nicht erreicht. Aber das heißt schließlich gar nichts. Vielleicht war sie bei ihrer

Nachbarin. Oder frühstücken. Sie hat nämlich noch die ganze Nacht an dem Hut gearbeitet. Da
wäre sie doch völlig blöd, wenn sie den sofort danach klaut.“

„Wenn Mira wirklich da war, dann ist sie am Pförtner vorbei. Ich geh zum Eingang und frag

nach.“

Leon wollte sich schon umdrehen, als Kerstin leise sagte: „Den Pförtner hat Mira doch auch

schon um den Finger gewickelt.“

„Was?“, riefen Vivi und Leon gleichzeitig, während die Schauspielerin mit blitzenden Augen

auf die Redakteurin zuging. „Du bist doch wirklich das Letz…“ Sie kam nicht weiter, weil Leon
sie an den Schultern packte und zurückhielt.

Paul parkte die DS und rannte über den Studioparkplatz, der leer im Morgenlicht lag. Wenn er
Glück hatte, war noch niemand da, und er kam unbemerkt in den Technikraum.

Doch schon am Hintereingang begegnete ihm die Kantinenköchin, die volle Müllsäcke im

Container von RTL entsorgte.

„So früh schon auf?“, rief sie ihm zu und stopfte ohne mit der Wimper zu zucken die Säcke in

die überquellenden Container der Konkurrenz.

Paul bemühte sich, so zu tun, als gäbe es tausend gute Gründe, warum er schon um halb sieben

auf dem Gelände war. „Muss vor dem Dreh noch was checken“, sagte er und wollte weitergehen.

Die Köchin nickte. „Die Gesellschaftsversammlung, nicht? Ich hab gehört, es ist schon wieder

was verschwunden. Selbst bei RTL geht also die Klauitis um.“

Für einen Moment kam es Paul so vor, als würde sie ihm verschwörerisch zuzwinkern. Nein,

niemand konnte ahnen, dass ausgerechnet er etwas mit dem verschwundenen Hut zu tun hatte.
„Ein Verrückter am Set. Es nervt“, brummte er.

„Die Filmleute spinnen doch alle.“ Da, die Köchin zwinkerte ihm schon wieder zu.
Sie wusste etwas! Paul verlangsamte seine Schritte, dann blieb er neben den Containern stehen.

Er musste irgendwie herauskriegen, was die Köchin mitbekommen hatte. Nur blieb sein Blick auf
den Flecken auf ihrem weißen Kochschurz haften, er wusste einfach nicht, was er sagen sollte.

Da kam die Köchin schon auf ihn zu und puffte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite. „Bleibt

unser kleines Geheimnis, das mit dem Müll, ja?“ Sie grinste ihn an, und Paul hätte vor
Erleichterung fast einen Luftsprung gemacht.

„Klar. Ich hab nichts gesehen. Blind wie ein Ochsenfrosch.“
Die Köchin ging kichernd über die Straße zurück zu den Produktionsgebäuden der Öffentlichen,

wo die Kantine untergebracht war.

Paul holte tief Luft, bevor er die schwere Metalltür mit dem kantigen Universalschlüssel

öffnete, den er sich von seinem Beleuchterkumpel von RTL ausgeliehen hatte. Der Gang war

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menschenleer, eine dumpfe Stille umfing ihn. Den ganzen Weg zum Technikraum pfiff er eine
leise Melodie, um sich zu beruhigen. Auch hier war noch niemand. Paul schloss die Tür hinter
sich und drehte den Universalschlüssel zweimal im Schloss um. Er wollte auf keinen Fall gestört
werden.

Mit schnellen Schritten trat er zu den ausrangierten Lautsprecherboxen, hinter denen er den

schwarzen Hut mit den Federn versteckt hatte. Es war kein gutes Versteck, aber er hatte die
zierliche Kreation nicht dadurch beschädigen wollen, dass er sie schnell in eine der zerbeulten
Filmdosen stopfte, die überall auf den rostigen Regalen lagen. Ein paar der weißen Federn hatten
sich leider schon gelöst.

Sorgsam legte Paul den Hut in die breite Sporttasche, die er extra dafür mitgebracht hatte. Seit

gestern Morgen malte er sich aus, wie er Mira in einigen Jahren, wenn sich niemand mehr an
Sophienbad erinnerte, den Hutdiebstahl beichten würde. Sie würde ihn verstehen. Nicht jetzt, aber
irgendwann, wenn das hier alles vorbei war.

Von Kerstin hatte Paul erfahren, dass der Verdacht gegen Mira noch lange nicht vom Tisch war.

Vivi hatte sie nur wieder eingestellt, weil sie ihre Hüte brauchten. Und Leon sollte ein scharfes
Auge auf sie haben. Aber Mira war nicht die Diebin, dafür würde Paul seine Hand ins Feuer legen.
Wie sie sich angefühlt hatte, als sie sich in der arabischen Sauna geküsst hatten! Zärtlich und
trotzdem fordernd. Seither konnte er kaum mehr an etwas anderes denken.

Gestern war Mira nicht im Studio gewesen, und trotzdem war eine Requisite gestohlen worden,

noch dazu ihre eigene Hutkreation. Nun konnten Vivi und Leon sie nicht mehr verdächtigen. Paul
hatte einen eindeutigen Beweis ihrer Unschuld geliefert. Er strich zärtlich über die schwarzen
Federn, die so weich waren wie Miras dunkle Locken.

Paul packte den Hut in die Tasche und drehte leise den Schlüssel. Vorsichtig zog er die Tür

einen kleinen Spalt weit auf und schaute in den Gang. Da war niemand. Er trat hinaus, schloss
wieder ab und machte sich so schnell er konnte auf den Weg hinüber zum Sophienbad – Set.

Die ganze Nacht hatte er sich den Kopf zerbrochen, wo er den Hut sicher verstecken könnte.

Morgens um fünf war ihm schließlich die verstaubte Kulissenwand eingefallen, die seit Jahren
hinter ausrangierten Scheinwerfern und schweren Kabeltrommeln im Beleuchterraum stand.
Niemand wusste, wie die Wand da hingekommen war, und niemand hatte je danach gefragt. Das
Besondere an der Wand war der kleine Tresor, der hinter einem Bild des Wörlitzer Parks
verborgen war. Er hatte ziemlich genau die Größe von Miras Hut – es war das perfekte Versteck.

Paul pfiff lauter. Das mulmige Gefühl, das ihn die ganze Nacht nicht hatte schlafen lassen, wich

allmählich dieser Mischung aus Aufregung und Vorfreude, die ihn jeden Morgen erfasste, seit
Mira zum Sophienbad gekommen war. Heute war sie sicher wieder da. Und vielleicht schafften sie
es ja, einmal pünktlich den Drehplan einzuhalten. Dann konnte er heute Abend in die
Kastanienallee fahren und Mira in ihrem Atelier besuchen.

Abrupt hörte Paul auf zu pfeifen. Im Gang zu den Garderoben waren laute Stimmen zu hören.

Das waren doch Vivi und Terry. Im nächsten Moment hörte er auch Kerstins Stimme. „Den
Pförtner hat Mira doch auch schon um den Finger gewickelt.“

Paul beschleunigte seine Schritte. Irgendetwas an seinem Plan war schiefgegangen.

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„Ihr reißt euch jetzt alle zusammen!“, brüllte Vivi und hob die Hände. Da bemerkte sie Paul, der
blass wie ein Leintuch an der Ecke stand. Was war denn mit dem los? Oh Gott, hoffentlich nichts
mit dem Licht! Aber erst einmal musste sie hier die Gemüter wieder beruhigen. „Okay, Kerstin,
warum glaubst du, dass Mira ihren eigenen Hut gestohlen hat?“

Kerstin zählte an ihren Fingern ab. „Erstens ist es ein Hut für eine Büroszene, zweitens hast du

ihr den Vertrag nur für die orientalische Staffel verlängert. Drittens will sie vielleicht erreichen,
dass du nicht vergisst, dass du sie auch dann noch als Svenjas Modistin brauchst, wenn Caren in
Staffel zwei wieder im Büro sitzt.“

Svenja fixierte Kerstin mit einem eisigen Blick. „Was hat dir Mira eigentlich getan, dass du sie

so in den Dreck ziehst? Wenn du je gesehen hättest, wie liebevoll Mira ihre Hüte kreiert, mit wie
viel Feuer sie dahintersteht, würdest du keinen solchen Schwachsinn verbraten.“ Ihre Hände hatten
sich zu Fäusten geballt.

Kerstin wurde rot. „Ich … ich bin nur logisch. Ich hab gar nichts gegen Mira. Und wir sollten

jetzt anfangen …“ Ihre Stimme verebbte, als Paul sich neben sie stellte. Der Beleuchter sagte kein
Wort, nicht mal ein Guten Morgen.

Vivi spürte Leons Hand an ihrem Ellenbogen, und sie drehte sich zu ihm um. Svenja hatte recht.

Sie hatte selbst gesehen, mit welcher Leidenschaft Mira diesen rosa Traum von Flamingofedern-
Hut für sie entworfen hatte. Die Kleine lebte für ihre Hüte.

Leon sagte: „Ich kläre das mit dem Pförtner. Und ihr …“, sein Blick schweifte von Svenja und

Terry zu Kerstin und Paul, „… geht jetzt an die Arbeit.“

„Ich glaube nicht, dass ich mich heute von Terry schminken lasse.“ Svenja wandte sich in

Richtung ihrer Garderobe.

Vivi hätte den Dieb am liebsten erwürgt, wer immer es war. Aber das Sophienbad musste

produziert werden, sie hinkten immer noch dem Drehplan hinterher. Na gut, wenn sie wieder mal
den Holzhammer brauchten. „Svenja, von mir aus kannst du dich von Madonna oder vom Heiligen
Geist schminken lassen. Aber ich erwarte dich in perfekter Maske in zwanzig Minuten am Set. Du
möchtest doch sicher nicht für eine Drehverzögerung verantwortlich sein?“

Terrys Grinsen war unübersehbar, als Svenja wortlos die Garderobentür hinter sich zuknallte.

Vivi drehte sich zu der Irin. „Und wenn sich rausstellt, dass Mira gestern nicht auf dem Gelände
war, dann erwarte ich von dir eine offizielle Entschuldigung. Und sieh zu, dass Svenja sich von dir
schminken lässt, ist mir egal, wie. Das ist verdammt noch mal dein Job hier, Terry.“

Die Maskenbildnerin öffnete den Mund, klappte ihn dann aber wieder zu. Vivi schaute in die

Runde. „Hat noch jemand was auf dem Herzen?“ Sie blickte zu Paul, der auf seine Schuhe starrte.
Niemand sagte ein Wort. Gut so.

Vivi ließ Leon den Vortritt zu ihrem Büro, bevor sie die Tür hinter sich schloss. Leon stand vor
dem Stapel Skriptfassungen auf dem Ablagetisch beim Fenster.

„Wie oft wir wohl noch Szenen ändern müssen, weil irgendwas fehlt“, seufzte sie.
Er drehte sich zu ihr. „Die übernächste Folge heißt ‚Der Heilige im Sophienbad‘. Aber ich muss

dich enttäuschen, Vivi. Es wird in dieser Serie kein Wunder geschehen.“

Es war eine von Leons typischen ironischen Bemerkungen, die sie so an ihm mochte, aber seine

Stimme klang überhaupt nicht witzig.

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Vivi ließ sich auf ihren Chefsessel fallen. „Glaubst du, was Terry sagt?“
„Wahrscheinlich hat sie wirklich den Dieb gesehen, aber Mira war es bestimmt nicht.“
„Wieso bist du so sicher?“ Sie kannte den begnadeten Requisiteur lange genug und wusste

genau, dass Leon nie etwas mit einer solchen Entschiedenheit behaupten würde, wenn er nicht
hundertprozentige Beweise dafür hatte.

„Weil ich gestern Nachmittag mit ihr telefoniert habe“, sagte er.
„Sie könnte das Gespräch von ihrem Atelier aufs Handy umgeleitet haben.“
Leon setzte sich auf die Schreibtischkante. „Lass dich nicht von der Hysterie am Set anstecken.

Ich hab Mira wegen der Dekostoffe für den neuen Wellness-Bereich nach Hamburg geschickt. Wir
brauchen die Stoffe quasi heute, und sie kennt sich aus. Ich hab ihr gesagt, sie soll anrufen, wenn
es um den Preisnachlass geht. Mit Petersen hab ich am Telefon verhandelt, er hat uns die üblichen
dreißig Prozent gegeben. Sein Fax mit der Bestätigung der Bestellung ist auch gleich gekommen.
Willst du es sehen?“

Vivi winkte ab. „Leg es einfach Kerstin auf den Schreibtisch. Also hat Mira nie gestohlen?“
Leon schüttelte den Kopf. „Ich habe sie die ganze Zeit im Auge behalten. Sie treibt sich im

Team herum, redet mit allen. Neulich hat sie in meinem Büro angeblich nach Aspirin gesucht.
Eine Weile lang hab ich fast geglaubt, sie ist es doch. Aber jetzt haben wir den Beweis.“

Vivi seufzte und legte die Arme vor sich auf die Schreibtischfläche. „Nur wer, verdammt, steckt

dann dahinter?“

„Erst dachte ich, jemand von der Ausstattung, der Mira nicht leiden kann. Nicht jeder findet

ihre Hüte so toll – oder den ganzen orientalischen Goldrausch da draußen.“ Leon deutete über die
Schulter zum Studio.

Vivi griff zu ihrem Radiergummi. „Du meinst, Terry oder Kerstin schwärzen sie an? Die beiden

scheinen ja nicht gerade Freundinnen von Mira zu sein.“

Leon sagte nichts, sondern starrte weiter aus dem Fenster.
„Die beiden also auch nicht. Warum nicht?“
„Es gibt kein Motiv, die Diebstähle sind zu systematisch. Es könnte praktisch jeder gewesen

sein, der am Sophienbad beteiligt ist.“

„Kommt jetzt wieder eine Tabelle mit grünen Kreuzchen, die hinterher doch nicht so ernst

gemeint sind?“ Die Spitze konnte Vivi sich nicht verkneifen.

Leon drehte sich um und grinste schwach. „Nein. Ich meine etwas anderes. Wir rennen immer

hier rum und suchen nach Requisiten, die nie wieder auftauchen. Aber es werden ja nicht
irgendwelche Sachen gestohlen. Da geht jemand nach einem exakten Plan vor.“

Vivi warf den Radiergummi auf den Schreibtisch. „Du könntest recht haben. Also doch die

Konkurrenz, die uns den Erfolg nicht gönnt und einen kleinen Praktikanten bestochen hat?“

Leon zuckte mit den Schultern. „Klingt mir irgendwie zu paranoid. Die Diebstähle sind zwar

ärgerlich, aber keine erfolgreiche Sabotage. Wir drehen ja weiter. Das ergibt alles keinen Sinn.“

„Du sagst es.“ Vivi richtete sich auf. „Trotzdem kostet der Dieb uns wertvolle Drehzeit und

Geld. Halten wir also Augen und Ohren offen. Suchen wir nach Anhaltspunkten. Wofür auch
immer.“ Sie stand auf. „Und jetzt an die Arbeit.“

Sie öffnete die Tür. „Manchmal würde ich diesen ganzen Zirkus am liebsten in die Luft

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sprengen.“

„Wart ein paar Wochen mit dem Dynamitlegen, Vivi. Wir brauchen das Studio noch für die

nächste Staffel Sophienbad mit Svenja Angerholt und Felix Scholl.“ Leon lächelte und drehte sich
um. „Bis gleich.“

Vivi sah ihm nach, wie er mit federndem Schritt den Gang entlangschritt. Wenigstens konnte

sie sich auf Leon verlassen.

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13. KAPITEL

Mira stand auf der Leiter im Atelier und begutachtete die Verpackungen im Regal. Keine passte so
richtig für die Roadrunner-Kappe. Die Kappe aus dunkelbraunem Glacé-Leder mit den
angesetzten Passen und dem Kinnband aus Ziegenleder gehörte einfach nicht in eine silberne
Pappschachtel. Für Paul brauchte sie etwas Besonderes. Paul war etwas Besonderes. Ein Mann, der
so küssen konnte … Mira stieg die Leiter lieber hinab, sie war so neben der Spur, sie verlor
vielleicht noch das Gleichgewicht.

Vorhin hatte sie das Schild mit der Aufschrift „Sorry, we‘re closed“ in die Tür gehängt. Heute

kam sowieso kein Kunde mehr. Aus unerfindlichen Gründen war Dienstag immer der Tag, an dem
am wenigsten los war.

Mira setzte sich an den Arbeitstisch. Aber irgendwie hatte sie keine Lust, an dem weißen

Turban aus gedrehten Stoffbändern mit Kunstperlen zu arbeiten, ein neues Design, das ihr heute
Mittag im Café über einem Stück Kirschtorte eingefallen war.

Es klopfte vorne an der Ateliertür. Mira sprang auf und ging durch den Laden. Paul!
„Hallo, Mira. Ich konnte nicht früher weg.“
„Komm rein.“ Ihr Herz hüpfte, doch Paul stand irgendwie zu aufrecht vor ihr, als dass sie ihm

hätte einen Begrüßungskuss geben können. Er sah sie an. Einfach so, mit seinen grauen Augen und
diesem scheuen Lächeln.

Mira musste etwas tun, irgendwas, sonst würde sie Paul das Shirt vom Oberkörper reißen. „Ich

habe im Laden alles dicht gemacht. Und deine Kappe ist fertig. Willst du sie sehen?“

Er kniff ein Auge zusammen. „Klar.“
Mira griff nach Pauls Hand, und sie spürte gleich den kräftigen Gegendruck, als sie ihn hinter

den Vorhang zu ihrem Arbeitstisch zog. Dort gab eine Röhre hinter dem Garnregal weiches,
indirektes Licht. „Voilà.“ Sie deutete auf die runde Halterung, auf der die Kappe ruhte.

Paul beugte sich vor, seine Jeans saß wie eine zweite Haut auf seinem Po. Mira sah ihm zu, wie

er die Kappe von ganz nahe betrachtete. Er hätte mit der Zungenspitze das Leder berühren können.

„Sie ist toll. Genau so etwas wollte ich. Eigentlich ist sie noch viel toller, als ich mir das hätte

vorstellen können. Sie erinnert an die Zwanzigerjahre und trotzdem ist sie total cool. Oder
vielleicht gerade deshalb. Darf ich sie aufsetzen?“

Mira war von Pauls Wortschwall völlig überrascht. „A… aber klar, sicher … Sie gehört dir

doch.“

Pauls graue Augen glitzerten wie Kiesel in einem Bach. „Setz du mir dein Meisterwerk bitte

auf. Das kannst du besser.“

Mira nahm die weiche Lederkappe vom Halter und trat vor Paul. Er schloss die Augen wie ein

Kind, dem man die Haare wäscht, als sie die Kappe über seinen Kopf streifte. Dann strich sie die
runde Form glatt, drehte sie ein wenig nach links. Ihre Finger berührten seine Ohren. Als sie den
Kinnriemen festmachte, spürte sie die Stoppeln an seinem Kinn. Vorsichtig drückte sie den
Metallknopf fest. „So! Der Spiegel ist hinter dir.“

Die Lederkappe saß wie angegossen und unterstrich perfekt Pauls schmale Kopfform. Er sah

wirklich wie ein Held der Landstraße aus. Doch er drehte sich nicht zum Spiegel, sondern legte ihr

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die Arme um die Taille. Er hob sie einfach hoch. Dann erst blickte er in den Spiegel. Oder
eigentlich schauten sie beide in den Spiegel. Wie auf einem alten Foto sahen sie aus. Mira hatte
ihren Rock mit den Rüschen an, die über Pauls Arm fielen. Ganz kurz lehnte sie sich an ihn.

Wow. Die ist echt cool.“ Er setzte sie sanft auf dem Arbeitstisch ab.
„Danke.“ Im nächsten Moment spürte sie seine Hände auf ihrem Rücken, er drückte sie an sich.

Ihre Lippen berührten sich, ganz sanft küsste er sie. Mira vergaß die Stoffreste und das Lineal, auf
dem sie saß.

Sie spürte seine heiße Haut mit den Bartstoppeln und das kühle Glacé-Leder der Kappe auf

ihren Wangen. Er hatte sie so fest umschlungen, dass sie kaum atmen konnte. Aber atmen war
nicht wichtig, solange sie nur Paul überall berühren konnte.

Er gab sie kurz frei und blinzelte.
„Komm.“ Sie drückte ihn sanft weg. Diesmal nahm er ihre Hand von selbst. Sie zog ihn zur

Kammer, wo die Filzbahnen für die Winterkollektion lagen. „Komm.“

Ihre Hände fanden den Weg unter sein Sweatshirt, seine Haut erregte sie, alles, was sie anfasste,

war fest und doch weich. Mit den Fingerspitzen strich er so zärtlich über ihre Brust, dass sie
aufstöhnte. Mira packte Paul an den Armen, die Härchen darauf knisterten, als wären sie
elektrisch aufgeladen. Er schob die Kleider von ihrem Körper wie Licht, das er abschaltete. Wie
konnte ein Mann nur so leicht Ösen und Haken lösen? Beinahe wäre sie an den Knöpfen seiner
Jeans gescheitert, aber er führte ihre Finger so geschickt, dass die Hose wie von selbst zu Boden
glitt. Hartes Begehren reckte sich ihr entgegen. Pauls warme Hände schienen sie überall zu
erkunden und zu liebkosen. Ihre Lippen fanden seinen Mund, und sie küssten sich heftig. Minuten
später lag Mira auf Paul, unter ihr der staubige Boden der Kammer, über ihr eine Bahn der teuren
blauen Cantonseide, die sich irgendwie über sie gelegt hatte. Pauls sehniger Körper fühlte sich
göttlich an. Sie konnte ihn zwischen ihren Beinen spüren und drückte sich fester an seine Brust.

„Wie kommen wir denn hierher?“, fragte Paul leise und strich ihr sanft eine Locke aus dem

Gesicht.

„Ich weiß nicht“, sagte Mira. Im Dämmerlicht konnte sie seine Gesichtszüge kaum erkennen.

Dafür sah sie, dass er immer noch die Kappe auf dem Kopf hatte.

„Ich glaube, die brauchst du nicht mehr“, grinste sie.
Paul fuhr sich mit der Hand an den Kopf. „Habe ich die etwa die ganze Zeit angehabt?“
Mira zog am Knopf des Kinnbandes und löste die Kappe von Pauls Schopf. „Da siehst du mal,

wie bequem so eine Roadrunner – Kappe sein kann“, flüsterte sie.

„Wie geschaffen für eine Spritztour mit meiner Göttin.“ Paul küsste Mira auf die Nasenspitze,

dann ließ er langsam die Hände über ihre Seiten gleiten und packte sie um die Taille. Ganz sanft
schob er sie beide wieder auf die weichen Filzmatten und legte sich auf sie. Er küsste ihre Brüste,
ihren Hals, seine Hüften bewegten sich in einem fordernden Rhythmus. Sie spürte sein Gewicht, er
war schwerer, als sie erwartet hatte. Wie gut er sich anfühlte! Sie bekam kaum noch Luft, doch es
war wunderbar, ihm so nah zu sein. Paul stöhnte laut, und Mira hatte noch nie einen erregenderen
Laut gehört. Sie bäumte sich ihm entgegen, drängte sich an ihn.

„Paul“, flüsterte sie, „ich will dich …“ Da hörte sie Pauls dunkle Stimme an ihrem Ohr: „…

will dich so sehr, Mira, so sehr.“

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Sie liebten sich, bis sie schweißgebadet auf den Filzmatten einschliefen. Die Roadrunner

Kappe war unterdessen neben eine braun-gold gestreifte Hutschachtel gerutscht, die perfekt zu ihr
passte.

Paul sang tatsächlich unter der Dusche. Durch die geschlossene Badezimmertür konnte Mira
Melodiefetzen hören. Sie grinste und sammelte in der Kammer die Klamotten auf, die sie vorhin
so rasant schnell abgelegt hatten. Nun sortierte sie ihre aus und legte Pauls ordentlich zusammen.
Als sie die Hose aufhob, fiel ein flaumiges, dunkles Etwas von dem schwarzen Leder.

Was war denn das? Mira griff das winzige Ding und hielt es gegen das Licht. Sie erkannte die

Fiederung sofort. Das war eine der blauschwarz gefärbten Fasanenfedern, die sie in dem Hut
verarbeitet hatte, der am Set verschwunden war. Sie hatte Svenja noch von Hamburg aus anrufen
wollen, als sie ihre aufgeregten Anrufe auf der Mailbox gehört hatte, aber immer war etwas
dazwischengekommen. Die riesige Stoffhandlung, Herr Petersen, der Hamburger Kaufmann, der
sie noch ausgeführt hatte, Svenjas anscheinend superstressiger Drehplan heute und dann Paul.
Paul. Mira lächelte, dabei fiel ihr die Feder aus den Fingern. Mit einem Mal zog sich ihr Magen
zusammen. Aber … dann war ja Paul der Dieb!

Das Singen im Bad hatte aufgehört, das Wasserrauschen auch.
„Na?“
Mira fuhr herum. Paul rubbelte sich die Haare trocken, Wassertropfen rannen über seinen

nackten Oberkörper. Doch Mira hatte keinen Blick mehr dafür. Wütend trat sie einen Schritt auf
ihn zu. „Du hast den schwarzen Federhut verschwinden lassen, nicht wahr?“

Ganz langsam ließ Paul die Arme sinken, und sein Gesicht tauchte unter dem weißen Handtuch

auf. Doch er schaute sie nicht an. Er band sich das Frotteetuch um die Hüften und ging einen
Schritt auf sie zu. Mira wich vor ihm zurück.

„Mira … ich“, stammelte Paul, „ich wollte nur den Verdacht ablenken.“
Paul hätte sie mit den Fingerspitzen seiner ausgestreckten Hand berühren können, aber noch nie

hatte sie sich so weit weg von ihm gefühlt. „Du meinst, ich hätte es nötig, dass jemand den
Verdacht von mir ablenkt?“

Er nickte. Die Wassertropfen bildeten eine kleine Lache an seinen Füßen.
„Das glaub ich jetzt nicht. Du traust mir wirklich zu, dass ich bei Sophienbad diese wertlosen

Requisiten klaue?“

„Ich wollte nur … Du warst gestern nicht auf dem Gelände. Den ganzen Tag nicht. Das wird

alle überzeugen, dass du nicht für die Diebstähle verantwortlich sein kannst.“ Er lächelte und
zuckte mit den Schultern. Mira hielt es nicht mehr aus. So lächelten sie immer. Hinterher.

Mira deutete auf Pauls Socken und seine Boxershorts. „Pack deine Klamotten. Du hast wohl

gedacht, mit so einer beschissenen Aktion kannst du bei mir alles erreichen.“ Sie war unglaublich
verletzt und wütend. Der sollte sie kennenlernen. „Raus.“

Paul stand stumm vor ihr, er rührte sich nicht.
„Raus!“, sagte Mira noch einmal.
Paul griff sich seine Kleider, er bückte sich und schlüpfte in seine Lederhose. Noch immer sagte

er nichts.

„Du wolltest mich doch nur rumkriegen. Spritztour an den Wannsee, Knutschen in der Sauna,

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hast du dir ja alles toll ausgedacht.“

Paul hob ganz langsam den Kopf. „Was?“ Er schüttelte die feuchten Haare. „Mira, ich wollte

dir bloß helfen, weil …“

Mira schob ihn durch das Atelier. Paul ging widerstandslos zur Tür.
„Und jetzt raus“, sagte Mira. Sie konnte es nicht mehr ertragen, wie er sie anschwieg. Nicht mal

eine Entschuldigung kriegte er zustande.

Er blickte sie nicht an, wandte nicht den Kopf, als er das Atelier verließ. Mit einem Schlag fiel

die Ladentür ins Schloss. Das leise Gebimmel der Glocke kam Mira wie Hohngelächter vor.
Unfassbar, dass sie sich so von diesem Typen hatte einwickeln lassen! Wie konnte er sie nur für
eine Diebin halten?

Ratlos stand Paul auf der Straße. Er rieb sich die Augen, sein Mund war wie ausgetrocknet. Er
versuchte, irgendwie Luft zu kriegen, sonst würde er hier mitten auf der Kastanienallee
durchdrehen. Er wusste doch, dass Mira nichts mit den Diebstählen zu tun hatte. Deshalb hatte er
ihr schließlich helfen wollen.

Unter seinen Fußsohlen spürte er den unebenen Belag des Bürgersteigs. Halb nackt stand er hier

nur mit Socken an den Füßen auf der Straße. Rasch zog Paul das Shirt über. Dann fasste er in seine
Hosentasche, aber die war leer. Der Schlüssel von der DS musste irgendwo in der Kammer
rausgerutscht sein. Als er mit Mira geschlafen hatte. Mit Mira.

Paul blickte zum Hutatelier. Aber er konnte jetzt nicht klopfen. Mira hatte ihn rausgeworfen. Da

konnte er schlecht zurückkommen und nach Autoschlüsseln fragen.

Gegenüber von dem Hutatelier war eine Straßenbahnhaltestelle, eine Kneipe machte gerade zu.

Paul ging los. Der Besitzer starrte ihn an, da kam ein Mann in Socken nachts über die
Straßenbahnschienen gelaufen. Sollte er doch denken, was er wollte, Paul war es egal. In Berlin
gab es genug Verrückte. Und Mira gehörte definitiv dazu.

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14. KAPITEL

Seit Stunden turnte Mira zwischen den Kulissen von „Speisezimmer Caren“ herum. Gestern früh
waren die Stoffe aus Hamburg gekommen und sofort auf die Wandkulissen gespannt worden. Mira
hätte gerne einmal in so einem Gebäude wie dem echten Fürst-Albrecht-Pavillon gewohnt. Der
Set-Designer hatte ihr die Skizzen und Pläne gezeigt, von denen er sich hatte inspirieren lassen,
als von oben der Schnellauftrag kam, das Sophienbad im orientalischen Stil umzubauen.

Eigentlich wäre Mira gerade überall lieber gewesen als hier im Studio. Jedes Mal, wenn sie das

Geräusch der automatischen Tür hörte, zuckte sie zusammen, aus Angst, dass es Paul sein könnte.
Glücklicherweise war er den ganzen Morgen noch nicht aufgetaucht. Mira hatte die ganze Nacht
kein Auge zugetan und war mit einer der ersten S-Bahnen nach Babelsberg rausgefahren. Nach
dem schrecklichen Streit mit Paul hatte sie Svenja angerufen, die sofort runter in den Laden kam
und sie einmal mehr liebevoll mit Averna tröstete, sich aber auch keinen Reim auf Pauls
komisches Verhalten machen konnte. Mira verstand diesen Mann einfach nicht. Wie konnte er nur
denken, dass sie diese blöden Requisiten gestohlen hatte?

Sie fuhr über die Rückenlehnen der persischen Stühle, Leihgaben eines Berliner

Antiquitätenhändlers an das Sophienbad. Das Holz fühlte sich warm an, die wertvollen
Schnitzereien in den Rückenlehnen wirkten so lebendig. Der dunkle Goldton des Stuhlbezugs
erinnerte Mira unweigerlich an Pauls braungebrannte Haut, die in dem schwachen Licht in ihrem
Stofflager wirklich wie Gold geschimmert hatte. Himmel, sie liebte alles an diesem Mann. Seine
Hände, die sie überall berührten, diese dunkelbraunen Haare, die zum Anfassen einluden. Als sie
sich geliebt hatten, war ihr Paul trotz seiner Kraft so verletzlich erschienen. Sie hatte ihm die
ganze Zeit ins Gesicht geschaut, und als er in sie eindrang, hatte er die Augen geöffnet und ihren
Namen geflüstert. Der raue Klang seiner Stimme war alles, was sie dann noch gebraucht hatte.

„Vergiss ihn“, ermahnte sich Mira laut, sodass ihre Stimme überall in der Halle zu hören war.

Selbst wenn Paul wirklich den Hut nur gestohlen hatte, um den Verdacht von ihr abzulenken, dann
war das Ganze wieder so ein Macho-Manöver. Und es gab bloß Stress, wenn ein Mann sich zum
Beschützer aufspielte. Sie hatte die ganze Sache in allen Einzelheiten mit Svenja
durchgesprochen. Was hinter Pauls Verhalten stecken konnte, ob es ihm mit Mira ernst war oder
ob er nur eine schnuckelige kleine Hutmacherin ins Bett kriegen wollte, ob …

Na ja, seinen Spaß hatte er jedenfalls gehabt. Die Wut von gestern Abend stieg wieder in ihr

hoch. Mira trat vor den bodenlangen Spiegel, der gegenüber der blinden Fensterfront an einer
Wand hing. Aus dem fein ziselierten Goldrahmen blickte ihr eine Frau mit wirren Haaren und
dunklen Augenringen entgegen. Mira fuhr sich durch die Locken. Erst mal brauchte sie einen
Kamm. Und dann einen starken Kaffee.

Nur Kerstin saß in der Kantine, als Mira sich frisch frisiert einen doppelten Espresso bestellte. Mit
einer gewissen Befriedigung nahm sie zur Kenntnis, dass die Redakteurin auch nicht gerade frisch
aussah. Sie rührte gedankenverloren in ihrem Latte, dabei blickte sie immer wieder zu Mira
hinüber. Svenja hatte Mira genau erzählt, was Kerstin alles Fieses über sie gesagt hatte. Der würde
sie bestimmt nicht beim Kaffeetrinken Gesellschaft leisten. Mira wollte gerade einen Tisch am

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entgegengesetzten Ende der Kantine ansteuern, als Kerstin leise ihren Namen rief.

„Kann ich mal mit dir reden?“, fragte sie und war auch schon aufgestanden.
Mira nickte. Na gut, immerhin stand Kerstin noch auf ihrer Miss-Marple-Ermittlungsliste. Und

sie war mit Paul befreundet. Vielleicht konnte Mira aus ihr irgendetwas herauskitzeln, um diesen
Mann zu verstehen.

„Ich möchte mich bei dir entschuldigen“, sagte Kerstin, kaum hatten sie sich gesetzt. „Du hast

es ja sicher schon gehört.“ Sie blickte Mira zum ersten Mal in die Augen, das Kaffeeglas in ihrer
Hand zitterte. Mira nickte stumm.

„Es tut mir wirklich leid. Ich, also …“ Dann holte sie tief Luft. „Weißt du, ich stehe auf Logik.

Sudokus, Krimis, all so was. Logisches Denken macht mir wirklich Spaß.“

„Wie Spock“, meinte Mira.
Kerstin lächelte überrascht. „Genau.“ Sie schwieg, dann fragte sie: „Du guckst auch Star Trek?“
„Manchmal.“
Kerstin hielt sich an dem Glas fest. „Ich mag Mathematik. Und Zahlen. Zahlen verhalten sich

immer logisch. Na ja, meistens.“ Sie lachte, und Mira fand, dass es ein wirklich nettes Lachen
war. „Nicht bei dieser Produktion. Hier ist nichts logisch.“ Ihr Gesicht wurde wieder ernst. „Und
das ist das Problem. Ich verrenne mich manchmal. Dann seh ich nur noch Fakten, Fakten, Fakten
und gar nicht mehr die Menschen dahinter. Vor allem, wenn …“, sie hob die Schultern, „… wenn
es um Paul geht.“

„Du kennst Paul schon ziemlich lange, nicht?“
„Ja, schon ewig.“ Kerstin fuhr mit dem Finger am Rande des Glases entlang, dann blickte sie

Mira direkt ins Gesicht. „Er hat dich ziemlich gern.“

Mira dachte an die letzte Nacht zurück. Ja, trotz allem hatte sie das Gefühl, dass Paul sie

wirklich mochte.

„Ich sollte mich nicht in seine Beziehungen einmischen.“ Kerstin lehnte sich zurück.
Mira war echt überrascht. „Seid ihr mal zusammen gewesen?“
„Paul und ich?“ Kerstin lachte wieder dieses sympathische Lachen und zuckte dabei

unbestimmt mit den Schultern. „Paul und ich sind fast gleich alt. Wir sind zusammen zur Schule
gegangen. Wenn sein Vater mal wieder nicht daheim war, dann hat er halt bei uns was gegessen
und so.“ Sie grinste. „Wir sind fünf Geschwister gewesen, da kam es auf ein Kind mehr nicht an.“

„Wie ist Paul denn aufgewachsen?“
„Seine Mutter ist bald nach seiner Geburt gestorben, und sein Vater hat ihn allein aufgezogen.

Paul war ein richtiges Schlüsselkind und total schüchtern. Als er in unsere Klasse gekommen ist,
hat er wochenlang keinen Ton gesagt.“

„Na, daran hat sich ja bis heute nicht viel geändert.“
Sie lachten beide. „Warte, bis du ihn näher kennst“, sagte Kerstin. „Paul kann reden wie ein

Wasserfall.“

„So möchte ich ihn gerne mal erleben“, meinte Mira. Und dann erzählte sie Kerstin alles. Von

Pauls erstem Besuch in ihrem Atelier, von der Roadrunner – Kappe, sogar von ihrer Liebesnacht
auf den Filzmatten. Nur, dass sie Paul danach rausgeschmissen hatte, davon sagte Mira lieber
nichts.

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„Ich habe mich schon über ihn gewundert“, meinte Kerstin, als Mira ihr berichtete, dass Paul

den Business-Hut gestohlen hatte. „Das klingt nach einer typischen Paul-Aktion. Er glaubt nicht,
dass man durch Reden etwas erreichen kann. Nur durch Handeln. Wäre nicht das erste Mal, dass er
dadurch in Schwierigkeiten kommt.“ Kerstin seufzte leise und trank den letzten Schluck ihres
Lattes.

Mira schaute die Redakteurin lange an. Sie hatte das Gefühl, dass sie Kerstin vertrauen konnte.

Sie redete offen und hatte ihr sehr Persönliches über sich und Paul anvertraut. Kerstin war okay,
das sagte Mira ihre Menschenkenntnis. Bei Paul war sie sich nicht so sicher. Er mochte sie, liebte
sie vielleicht sogar, aber Liebe macht blind. Und sie hatte sich Hals über Kopf in Paul verliebt,
vom ersten Moment an. Das war Mira gestern Nacht klar geworden. Aber was war mit den
Diebstählen? Alles, was Kerstin erzählte, bestärkte nur ihren Verdacht, dass Paul ein klassischer
Einzelgänger war. Mira spürte das virtuelle Miss-Marple-Hütchen auf ihrem Kopf. Handeln statt
zu reden … Wenn Paul wirklich der Dieb war, auf was wollte er dann mit den seltsamen
Diebstählen aufmerksam machen?

Mira schüttelte kaum merklich den Kopf, das Miss-Marple-Hütchen löste sich auf. „Sag mal“,

meinte sie zu Kerstin, die in das leere Glas starrte. „Darf ich dich noch zu einem Croissant und
Espresso einladen? Ich hab heute gar nicht gefrühstückt. Und ich hätte da einen geschäftlichen
Vorschlag, was deinen Sophienbad – Powershop bei eBay betrifft.“

Eine halbe Stunde später flogen die Piccolo-Korken, der Deal war perfekt. Miras Hutmodelle

würden von nun an bei eBay käuflich zu erwerben sein. Und Mira hatte eine neue Freundin am
Sophienbad gefunden.

Ein paar Tage später saß Mira auf einem Hocker vor dem großen Schminkspiegel in Svenjas
Garderobe. Einmal mehr tauschte sie einen genervten Blick mit ihrer Freundin aus.

„Wie viele Stunden willst du mich noch an diesen blöden Sessel fesseln, Terry? So eine

Hochsteckfrisur kann bestimmt nicht ewig dauern.“

„Was kann ich dafür, dass Leon deinen Hals frei haben will, und gleichzeitig sollen dir wirre

Haarsträhnen ins Gesicht hängen? Ist doch nicht meine Schuld.“

Ein Blick in Svenjas Gesicht genügte, sie dachten genau dasselbe: Natürlich war es Terrys

Schuld. Die Maskenbildnerin wusste nicht mal, wie man einen Haarkamm richtig steckte. Mira
hatte schon alles getan, um Svenja aufzuheitern. Gummibärchen hatte sie aus der Kantine geholt
und stilles Wasser mit Limettengeschmack. Aber Svenja fand diese ganze Episode aus Sophienbad
einfach nur bescheuert. Vor allem den Mordanschlag auf Caren, der mit einer übergroßen
Todesspritze ausgeführt werden sollte.

Vorhin war Leon vorbeigekommen und hatte ihnen begeistert die Spezialanfertigung

vorgeführt. Es war der einzig gute Moment heute gewesen, als Leon die Spritze an der sich
sträubenden Terry ausprobierte. Mit angehaltenem Atem hatten Svenja und Mira darauf gewartet,
dass Terry zumindest einen Pieks abkriegte. Aber natürlich glitt die Nadel in die Spritze zurück,
statt in die Haut des Opfers zu stechen. Svenja schien ein wenig blass um die Nase, nachdem Leon
endlich mit seiner Riesenspritze abgezogen war. Mira wollte nichts sagen, aber sie hatte den
Verdacht, dass irgendeine traumatische Impfaktion in Svenjas Kinderzeit noch nicht richtig
verarbeitet war.

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„Au! Kannst du nicht aufpassen?“ Svenja bewegte abrupt ihren Kopf, dabei rutschte Terrys

Pinsel mit dem Wetgel ab. Nun hatte Svenja eine nasse Strähne flach am Ohr. „Auch das noch!“
Svenja schloss die Augen.

Terry griff wortlos zum Abtupfer. Miras Anwesenheit ignorierte sie konsequent. Gestern Abend

waren Mira und Svenja stundenlang die Drehbuchänderungen Wort für Wort durchgegangen. Mira
war nicht gerade erpicht darauf, nachher Felix in einer Doppelrolle als verrückten Patienten des
Sophienbads zu sehen. Felix trug als Chefarzt schon dick genug auf. Aber als irrer Mörder? Wenn
er wenigstens ein passabler Schauspieler wäre.

Es klopfte, und Kerstin steckte den Kopf herein. „Bad news, girls.“
Svenja drehte sich um, und Terry sprühte Haarlack ins Nichts. „Schlechte Nachrichten will ich

nicht hören.“

Aber Kerstin stand schon mit einigen Blättern in der Hand in der Garderobe. „Schon wieder

Textänderungen?“, rutschte es Mira raus.

Svenja schluckte nur. Terrys Gesicht war eine starre Maske, die pure Anklage an Svenja.
Kerstin nickte. „Die Dialoge bleiben zwar …“
Svenja atmete hörbar aus. „Das ist ja schon mal was. Toll.“
„… aber Felix kommt jetzt nicht von vorn, sondern er sticht dir von hinten direkt in den

Nacken.“

Terry warf die Sprühflasche auf den Tisch. „Dann kann ich ja wieder von vorne anfangen.“
„Als ob du schon fertig wärst.“ Svenja zupfte an ihrem steifen Haar herum.
„Die Strähnen müssen jetzt genau in die andere Richtung fallen“, sagte Terry. „Aber an die

Maske denkt ja keiner von den Skriptschreibern.“

Es dauerte. Gel, Spray, Nadeln und Klemmen, selbst Silikonröllchen halfen nichts. Svenjas Haare
rutschten irgendwohin, nur nicht dahin, wo sie hin sollten. Als Schlampenlook oder Punk wäre
Svenjas Frisur vielleicht noch durchgegangen, aber Caren aus dem Sophienbad konnte auf keinen
Fall so aussehen.

„Wir müssen alles wieder rauswaschen, trocknen und dann neu aufbauen.“ Terrys vierter

Versuch, die Haare umzulegen und mit Gel zu festigen, war soeben gescheitert.

„Geht nicht. In einer halben Stunde wird gedreht.“ Kerstin saß in der Ecke in einem Korbsessel

und betrachtete alles seelenruhig.

Svenja hob die Hände schützend über den Kopf. „Okay, Terry, das war‘s. Finger weg von

meinen Haaren. Das wird nichts mehr. Mira, sei so lieb und stecke mir einen von deinen Hüten
irgendwie so auf diesen Mopp, dass man nichts mehr davon sieht. Und von Leon will ich kein
Wort hören. Meinen Nacken hat er dann ja frei für seine Wahnsinnsspritze.“

Mira holte die Hüte für die drei nächsten Szenen aus den Hutschachteln. „Der gelbe Sommerhut

ist zu groß, dann kommt Felix gar nicht an deinen Hals. Und der da …“, Mira hielt den weißen
Turbanhut mit den Perlen hoch, „… hält die Haare zwar zusammen, aber dann ist er ruiniert.“

„Geht nicht, wir haben in unserem Budget kein Geld für einen Ersatzhut. Sorry.“ Kerstins

Stimme war freundlich, aber entschieden.

„Also bleibt der kleine Hut, den du eigentlich zur Dinner-Szene tragen sollst. Das Bordeauxrot

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können wir verantworten.“

Terry sortierte lautstark ihre Schminkutensilien. Mira hatte Hutnadeln zwischen den Zähnen

und steckte den Hut fest. Svenja war den Tränen nahe.

„Er ist zu klein“, kam Kerstins Kommentar aus der Ecke.
„Mist!“ Kerstin hatte recht. „Ich könnte noch einen Schleier annähen, aber dann kann Felix

nicht zustechen.“

„Ich will eh nicht, dass mich jemand sticht. Diese ganze Episode ist eh totaler Quatsch.“

Svenjas Stimme zitterte, und Mira strich ihr leicht über die verklebten Haare. Leise sagte Svenja:
„Gibt es denn keinen vernünftigen Friseur in dieser Stadt?“

„Ich bin eine ausgebildete Friseurin“, kam es von Terry aus der Ecke.
„Ein Friseur …“ Kerstin sprang aus dem Sessel und zog ihr Handy raus. „Das ist es. Ich habe

einen Freund, der im Grunewald die High-Society-Damen frisurtechnisch auf Vorderfrau bringt.
Der hat bestimmt eine Idee.“

Mira packte den roten Hut wieder weg, während Svenja immer noch unglücklich in den Spiegel

starrte.

„Da ist nichts mit Styling zu machen? Bist du sicher?“ Kerstin zog Grimassen und lauschte

angestrengt. „Aha. Wir finden hier schon so etwas in der Richtung. – Stimmt, das verstehe ich. –
Okay, genau. Danke. Ich schicke dir ein special welcome der Produktion. Ciao.“ Sie drückte auf
die Austaste und steckte das Handy weg. Ihre Augen blitzten.

„Und?“, fragten Mira und Svenja gleichzeitig.
„Ronny sagt, da hilft nur eine Deko mit etwas Schnurartigem. Etwas, das die Haare

zusammenhält und gleichzeitig verbirgt.“ Kerstins Blick schweifte durch die Garderobe und blieb
an der gegenüberliegenden Wand hängen.

„Das ist nicht dein Ernst …“ Svenjas Stimme erstarb.
„Wir haben keine Alternative, Schätzchen.“ Kerstin griff zu der Minilampenkette, die Svenja

nach einem orientalischen Gelage von der Szenendeko gerettet hatte.

„Mit meinen Hutnadeln könnte es halten.“ Mira half Kerstin, die Strähnen um die Lampenkette

zu winden und die Birnchen strategisch in Svenjas gelackten Locken zu verteilen.

Kerstin drehte sich zu Terry um, die alles mit bitterböser Miene verfolgte. „Terry, geh schon

mal zu Paul und sage ihm, dass wir eine Batterie für die Lämpchen brauchen. Irgendwas, das wir
in Svenjas Kostüm unterbringen können.“

Alle drei schauten sie in den Spiegel, der Terry zeigte, wie sie wütend ihren Schminkkasten

zuklappte. Aber die Irin war klug genug, Kerstins Auftrag sofort nachzukommen.

„Ich sehe aus wie eine italienische Kitsch-Madonna.“ Svenja klang nicht überzeugt. Aus dem

Spiegel blickte ihr eine gekrönte Caren mit Sturmfrisur entgegen.

„Aber dein Schwanenhals könnte nicht besser zur Geltung kommen.“ Mira strich ihr sanft über

die weiße Haut. „Nur Mut, Schätzchen.“

Wie immer lag ein Duft von Espresso in der Luft, als Mira den Gang nach vorn zum
Requisitenraum rannte. Koffein würde ihnen jetzt allerdings auch nicht weiterhelfen. Aber die
Idee von Kerstins Friseur-Freund war spitze. Sie brauchten nur noch die langen Hutnadeln, mit
denen sonst Sommerhüte mit breiten Rändern festgesteckt wurden. Mira hatte schon in Svenjas

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Garderobe gesucht, aber wahrscheinlich hatte sie die Nadeln in der Requisite mit den
Hutschachteln verstaut.

Der Requisitenraum lag vorne, fast direkt vor der automatischen Tür zur Produktionshalle.

Früher, als hier auf dem Gelände die legendären UFA-Filme gedreht wurden, war der Raum sicher
bloß für Putzsachen genutzt worden. Beim Film kümmerte sich ein Team um die Requisite, beim
Fernsehen musste sogar die Hutmacherin mit anpacken. Mira seufzte, dann stand sie vor der grau
gestrichenen Tür. Fast wäre sie in den Raum hineingeplatzt, aber in dem Augenblick hörte sie, wie
innen etwas dumpf auf den Boden fiel, dann einen leisen Fluch. Da drinnen machte sich doch
jemand an ihren Hutschachteln zu schaffen! Schon wollte Mira erbost die Klinke drücken, doch
plötzlich hatte sie eine Vision von Miss Marple, wie sie in 16.50 ab Paddington hinter einem
Schrank stand. Sie erstarrte in der Bewegung. Der Dieb! Wer immer sich hier heimlich im
Requisitenraum zu schaffen machte, musste der Dieb sein.

Auf Zehenspitzen trat sie von der Tür zurück. Okay, vielleicht gab es auch eine andere

Erklärung, aber sie musste herausfinden, was der Kerl da drin machte. Direkt neben der
automatischen Tür waren drei Lichtschalter. Das helle Neonlicht im Gang wurde eigentlich nie
gelöscht, trotzdem war einer der Schalter sicher dafür. Mira überlegte nicht lange, sie betätigte
den mittleren Schalter. Nichts tat sich. Als Nächstes probierte sie den untersten, das Licht zuckte,
dann war es stockdunkel im Gang. Mira drückte die Klinke, so leise sie konnte, und schlüpfte in
die Requisitenkammer.

Ihre Hutschachteln waren an der hinteren Wand aufgestapelt, und von dort kam auch ein

bläulicher Schein, der die rosa Schachteln fast weiß erscheinen ließ. Jemand leuchtete mit einem
Handy den Boden ab. Mira sah, wie das schwache Licht auf ihren Rucksack fiel, den sie hier mit
Nähzeug und eben den gewünschten langen Hutnadeln abgestellt hatte, falls sie auf die Schnelle
einmal etwas reparieren musste. Aber wer machte sich da in ihren Sachen zu schaffen? Sie reckte
den Hals, um mehr zu erkennen.

Die Gestalt hielt in der einen Hand das Handy, in der anderen ein seltsam aussehendes Ding, das

im Lichtschein aufblitzte. Ansonsten konnte Mira nur die Strähnen sehen, die diesem Jemand in
die Stirn fielen, als er sich über ihre Tasche beugte.

„Au!“, entfuhr es der Gestalt leise. Ha, da hatte wohl jemand unvorsichtig in die Hutnadeln

gegriffen. Die waren spitz wie geschliffene Diamanten, ein Mordwerkzeug in den falschen
Händen. Und mit einem Mal wurde Mira klar, was die Gestalt da jetzt in ihrem Rucksack
verstaute: die Spritze! Der Dieb hatte doch glatt Leon seine Riesen-Horrorspritze entwendet und
steckte sie nun in ihren Rucksack! Mira hielt es nicht mehr aus. Sie glitt, so leise sie konnte, an
der Wand entlang, um die Gestalt von der Seite zu sehen. Da ging das Handy aus. Mira kam es so
vor, als wäre ihr Atmen das lauteste Geräusch im Raum, und sie hielt ein paar Sekunden lang die
Luft an. Währenddessen hörte sie, wie der Reißverschluss an ihrem Rucksack zugezogen wurde,
bevor vorne wieder Bewegung zu spüren war. Unwillkürlich drückte sich Mira enger an das Regal,
hinter dem sie sich halb verborgen hatte.

Das Handylicht leuchtete erneut auf, die Gestalt hatte sich umgedreht. Felix! Mit starrer Miene

schritt er durch die Kammer, er kam dicht an ihr vorbei, doch der kleine Lichtkreis des Handys
erwischte sie nicht. Dieser verdammte, aufgeblasene Schmierenkomödiant! Mira hätte sich fast

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durch ein Geräusch verraten, so wütend war sie. Jetzt kapierte sie gar nichts mehr. Warum ließ
Felix Scholl in seiner eigenen Serie Requisiten verschwinden? Der Typ hatte Geld, Anerkennung,
er musste nicht um Rollen kämpfen wie Svenja bisher. Nur war es offensichtlich: Felix war ihr
geheimnisvoller Langfinger! Und er versuchte gerade schon wieder, den Verdacht auf sie zu
lenken.

Felix war bei der Tür angelangt, und für einen langen schrecklichen Moment war sich Mira

sicher, dass er nun das Licht in der Kammer anknipsen und sie entdecken würde. Zum Glück
öffnete er nur die Tür und trat hinaus.

„Was ist denn hier los?“, war seine Stimme aus dem dunklen Gang zu hören.
„Irgendein Idiot hat das Licht abgeschaltet.“ Paul klang weit entfernt, als sei er hinten auf dem

Weg zur Kantine. „Felix, der Schalter ist vorne an der Tür, der untere. Mach das Licht wieder an.“

Sekunden später flammte im Gang das weiße Neonlicht auf, dann wurde von außen die Tür

zugezogen. Mira wartete. Sie wartete eine kleine Ewigkeit, bis sie absolut sicher war, dass Felix
weg war. Schließlich knipste sie das Licht an und holte die Hutnadeln aus ihrem Rucksack. Die
Spritze ließ sie vorerst liegen. Später, wenn beim Drehen im Sophienbad erneut auf unerklärliche
Weise die wichtigste Requisite abhanden gekommen war, würde sie sie ganz zufällig „finden“. Sie
wollte doch mal sehen, was Felix vorhatte. Und dann würde sie diesen Angeber drankriegen. Aber
erst mal musste Svenjas Frisur gerettet werden.

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15. KAPITEL

Eigentlich war es klar, dass es so hatte kommen müssen. Die Riesenspritze war eine zu
auffallende Requisite, als dass der Dieb sie sich entgehen lassen konnte. Aber sie waren alle so
mit Svenjas Frisur beschäftigt, dass es Vivi nicht in den Sinn gekommen war, sich Sorgen um die
Spritze zu machen. Außerdem passte Leon auf das Ding auf. Und der hatte geschworen, sie wie
seinen Augapfel zu hüten.

Es war alles so schnell gegangen. Vivi war begeistert von der unglaublichen Lampenfrisur, die

Kerstin und Mira gezaubert hatten, die Techniker klatschten sogar Beifall, als die Lämpchen
aufblinkten. Der Dreh begann problemlos, der Anfang der Mordszene folgte perfekt dem Skript.
Dann griff Felix alias „der irre Patient“ in die extra vergrößerte Tasche des Arztkittels – und zog
die Hand leer wieder heraus. Die Spritze, die den ganzen Tag über darin gesteckt hatte, war
verschwunden.

Svenja stürzte wortlos vom Set, Mira rannte ihr nach. Felix stand einfach nur da und murmelte

wie ein aufgezogener Roboter immer wieder: „Die Spritze kann doch nicht einfach weg sein, sie
kann doch nicht …“

Vivi legte die Hand auf ihren Magen und versuchte Pressatmung. Sie hätte schreien mögen.
Plötzlich schrie tatsächlich jemand. Leon stieß einen Klagelaut aus, als hätte ihm gerade

jemand die Spritze in den Nacken gerammt. „Das ist zu viel, das ist einfach zu viel. Ich habe
dieses Scheißding von einem Spezialhersteller in Kalifornien besorgt. Ist euch das klar? Die
Spritze hat uns ein Vermögen gekostet.“

„Exakt 1138 Dollar und 24 Cent“, sagte Kerstin trocken. „Wir haben noch Glück, dass der Euro

so gut steht.“

Vivi machte der Redakteurin Zeichen, den Mund zu halten. Offenbar sah die nicht, dass Leon

kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.

Der starrte Kerstin drei Sekunden lang an, dann brüllte er: „Sind denn in dieser Produktion nur

Idioten versammelt?“ Mitten auf dem Set drehte Leon sich um die eigene Achse und ballte die
Faust gegen die Dunkelheit hinter den ausgeleuchteten Kulissen. Vivi wusste nicht mehr, was sie
tun sollte. Sie konnten davon ausgehen, dass der Dieb hier in der Halle war, zum Team gehörte.
Dass er oder sie ihnen jetzt zuhörte und die ganze Aufregung ihm einen Riesenkick verschaffte.
Denn wer braucht schon eine Riesen-Horrorfilm-Spritze? Wer?

Aber Leon durfte nicht ausfallen. Allein schaffte sie es nicht, den Laden zusammenzuhalten. Er

trampelte nach wie vor ziellos auf dem Set herum. Vivi ging zu ihm und berührte ihren
Requisiteur am Oberarm. „Leon“, sagte sie leise.

Er stierte sie an, dann nahm er sie in die Arme und drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft

wegblieb. Er flüsterte: „Vivi, was sollen wir nur tun?“

Am Set waren alle in heller Aufregung, aber das war Paul egal. Er musste mit Mira sprechen.
Rasch lief er zur Tür und stürzte in den Gang, wo Svenja und Mira gerade verschwunden waren.
Sie waren sicher in Svenjas Garderobe. Alle im Team hatten mitgekriegt, was für ein Aufstand die
Frisur ihrer Serienheldin gewesen war. Deshalb waren ja auch alle so begeistert, als Svenja mit

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einem strahlenden Lächeln wie eine schwedische Lucia beim Lichterfest auf das Set getreten war.
Paul hatte nicht verhindern können, dass er in diesem Moment Mira ansah, doch sie hatte schnell
weggeschaut, bevor sich ihre Blicke treffen konnten. Kerstin hatte ihm gesagt, er müsste mit Mira
reden. Dabei wusste Kerstin ganz genau, wie schwer es Paul fiel, darüber zu reden, wie glücklich
es ihn machte, wenn er nur an Miras kleine Grübchen dachte. Oder an ihre sexy Knie. Oder daran,
wie sich ihr Körper an ihn gedrängt hatte, als sie sich auf den Filzmatten geliebt hatten. In der
Nacht in ihrem Laden.

Über Oldtimer, das perfekte Kantenlicht oder alte Filme könnte er Mira ganze Nächte lang

Vorträge halten. Wenn sie schon die Zeit mit Reden verschwenden mussten, anstatt einen neuen
Weltrekord im Dauer-Sex aufzustellen. Bloß wahrscheinlich wollte ihn Mira sowieso nicht mehr.
Er hatte es vermasselt. Aber lieber wollte er nächtelang mit Mira reden, als sie gar nicht mehr
sehen. Kerstin hatte recht, sie mussten darüber reden.

Er wollte gerade um die Ecke zu der Garderobe biegen, da hörte er ihre Stimme. „Ich sage dir,

das klappt. Ich hole das Ding jetzt schnell, und dann drehen wir die Szene noch einmal. Und zwar
strikt nach Drehbuch. Felix wird sein blaues Wunder erleben.“

Eine Tür fiel ins Schloss, dann hörte Paul Miras leichte Schritte in seine Richtung kommen. Das

war seine Chance, ein paar Minuten mit ihr alleine zu sprechen. Doch Paul blieb stehen. Felix
wird sein blaues Wunder erleben.
Was ging hier vor?

Er drehte sich auf dem Absatz um und hastete den Gang zurück zur Halle. Gegenüber vom

Requisitenraum verschwand er in der Männertoilette und wartete drinnen hinter der angelehnten
Tür. Mira kam nur wenige Sekunden nach ihm vorbei. Sie wollte anscheinend zurück in die Halle,
aber dann hielt sie direkt vor der Toilette an. Ob sie ihn gesehen hatte? Paul lugte durch den Spalt
in den Gang. Mira stand aufrecht im Gang und blickte sich nach allen Seiten um. Verstohlen
schlüpfte sie in den Requisitenraum. Dort waren Miras Hüte untergebracht, vielleicht hatte Svenja
sich ja doch anders entschieden und wollte statt der Lichterkette einen Hut tragen. Schade
eigentlich. Paul überlegte, ob er an der Tür zum Requisitenraum klopfen und dort mit Mira reden
sollte. Er schob die Tür weiter auf und wollte gerade in den Gang treten, als Mira auf der
gegenüberliegenden Seite wieder herauskam. Paul erstarrte, die Klotür schwenkte von selbst
wieder zu. Aber er hatte genau gesehen, was Mira in der Hand wegtrug: die verschwundene
Riesenspritze. Das Ding war ein Einzelstück, es gab keinen Zweifel. Paul verstand die Welt nicht
mehr. Mira war doch die Diebin!

Leon flüsterte: „Vivi, was sollen wir nur tun?“

„Irgendwie die Szene retten.“ Vorsichtig strich sie Leon über den Rücken. Angenehm feste

Muskeln. „Wir machen Pause“, brüllte Vivi in die Runde. Wie aufs Stichwort gingen die
Scheinwerfer aus, und das Set lag in der schummrigen Notbeleuchtung.

Sie löste sich aus Leons Umarmung und hatte dabei das Gefühl, dass er sie ungern gehen ließ.

Darüber musste sie später noch einmal nachdenken. Vorerst nahm sie ihn am Arm und wollte ihn
vom Set führen. Doch Felix trat ihr in den Weg. Seine Augäpfel strahlten weiß aus den dunkel
geschminkten Schatten, die Terry ihm unter die Augen gelegt hatte.

„Ich habe eine spontane Idee.“ Der Schauspieler lächelte geheimnisvoll wie eine männliche

Mona Lisa.

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„Ich höre.“ Vivi schob Leon vom Set. Er war im Moment nicht in der Lage, sich auf Felix‘ gute

Ideen einzulassen.

„Wir könnten einfach statt der Spritze ein Seidentuch verwenden. Svenjas schöner Hals schreit

geradezu nach einer Strangulation. Ich komme also wie geplant von hinten an sie heran, zücke
aber nicht die Spritze, sondern winde in der Luft ein Seidentuch. Und dann – hepp.“ Felix gab ein
gurgelndes Geräusch von sich. Irgendwie schien ihm das Ganze auch noch Spaß zu machen.

Leons Miene hellte sich auf. Vivi überlegte. Irgendwie kam ihr das mit dem Würgen von hinten

bekannt vor. Aber egal. Felix‘ Idee war durchführbar, und die Hauptsache war, dass sie
weiterdrehen konnten. „Okay, probieren wir es aus. Ich hole Svenja. Leon?“

Ihr Requisiteur drehte sich zu ihr. „Ja?“
„Kannst du bei den Ausstattern nachfragen, ob sie in zwei Minuten ein passendes Halstuch aus

Seide auftreiben können?“

„Nicht nötig. Wir nehmen einfach das hier.“ Felix hielt ein zusammengefaltetes Stück Stoff in

der ausgestreckten Hand. Dann ließ er das Tuch auseinanderfallen. Die Seide bewegte sich, das
Rot changierte ins Rosé, exakt wie die Wandbespannung im „Speisezimmer Caren“.

Vivi blickte auf den Stoff und fragte sich, ob Felix allen Ernstes immer ein zum Set passendes

Seidentuch mit sich trug. Vielleicht war das sein Glücksmaskottchen oder so was. Sie schüttelte
den Kopf.

Leon schien allmählich wieder zu sich zu finden. „Das Tuch passt perfekt“, sagte er. „Felix, du

bist ein Genie.“

„Wir drehen sofort.“ Vivi schritt mit langen Schritten durch die Halle. „Ich hole Svenja.“
Aber schon an der automatischen Tür zu den Garderoben beschlich sie ein unangenehmes

Gefühl. Wann immer in ihrem Leben etwas perfekt schien, war hundertprozentig etwas faul daran.

„Alle auf Anfang.“ Leons Stimme klang mit neuer Energie durch das Studio.

Am Set „Schlafzimmer Caren“ stellte Mira sich gerade so neben den Regiestuhl, dass die

großen Scheinwerferständer zwischen ihr und dem Beleuchterpult aufragten. So hatte sie Paul
nicht vor Augen, und er konnte auch keinen Blickkontakt mit ihr aufnehmen.

Innerlich musste Mira immer noch grinsen. Vor einer Viertelstunde hatte sie Leon mit einem

zuckersüßen Lächeln die Riesenspritze überreicht. Das gesamte Team hatte sie umringt und
fassungslos auf das Ding gestarrt.

„Ich hab sie im Requisitenraum hinter den Kleiderständern gefunden. Vielleicht ist sie aus dem

Arztkittel gerutscht.“ Mira hatte bloß die Schultern gezuckt, als Felix mit einem ziemlich
seltsamen Blick auf die Spritze murmelte: „Aber … aber der Kittel war die ganze Zeit in meiner
Garderobe.“

Ungeduldig hatte Vivi alle Spekulationen über den zwischenzeitlichen Verbleib der Spritze

abgebrochen und statt Felix‘ ausgeklügelter Strangulationsszene doch wieder „Mord mit Spritze“
angeordnet. Minuten hatte es gedauert, bis Felix bereit war, die Spritze in die Tasche seines
Kittels zu stecken und erneut mit der Mordszene zu beginnen. Es schien fast so, als wolle er das
Riesending nicht mehr anfassen.

„Auf Anfang, Felix, das gilt auch für dich.“ Leons Stimme klang genervt.
Mira lehnte sich ein wenig zurück, sodass sie an dem großen Scheinwerfer vorbei nun doch Paul

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sehen konnte. Wie er sie vorhin angestarrt hatte, als sie mit der Spritze gekommen war. Dabei
musste ihm spätestens in diesem Moment klar geworden sein, dass sie nicht die Diebin sein
konnte. Am liebsten hätte Mira vor hilfloser Wut mit dem Fuß aufgestampft, bloß würde Leon sie
danach wahrscheinlich in der Luft zerreißen. So seufzte sie nur ganz leise. In den letzten beiden
Tagen waren immer wieder Erinnerungen an die Nacht mit Paul durch ihre Gedanken gefunkt.
Wie einfühlsam er sie geliebt hatte, wie wild und zärtlich!

Beim Aufräumen in der Kammer hatte sie seinen Citroën-Schlüssel gefunden. Sie wusste, dass

ihm der Wagen sehr viel bedeutete, er hatte wohl aus Stolz nicht geklingelt und den Schlüssel
geholt. Mira hatte aber auch ihren Stolz. So hatte sie am nächsten Morgen als Erstes einen
Kurierdienst angerufen und Paul den Schlüssel an die Adresse geschickt, die im
Schlüsselmäppchen steckte.

„Szene Nr. 113 Mord – die Zweite!“ Vivi gab das Zeichen, vom Kameramann kam das „Kamera

läuft“.

Seit die Spritze wieder aufgetaucht war, strahlte die Line-Producerin vor guter Laune. Kein

Wunder, dass sie die Regiearbeit heute nicht an Leon delegierte. Mogengruber, dessen Name
immer groß im Abspann des Sophienbads auftauchte, hatte Mira seit Tagen nicht mehr am Set
gesehen. Fernsehen war schon ein seltsames Business.

Das meerblaue Chiffon-Kleid war bis zur Hüfte eng auf Svenjas schlanke Figur geschnitten und

weitete sich dann in fließenden Falten wie ein Blütenkelch. Die winzigen, blinkenden Lichter, die
ihre Frisur überstrahlten, wirkten im Filmlicht wie schimmernde Perlen. In der Szene kam sie als
Caren aus dem Speisesaal des Sophienbads zurück, ein opulentes Edel-Restaurant. Die Notlösung
mit der hypergestylen Frisur passte wunderbar zu Carens Abendkleid.

„Ein Geschenk?“ Svenja stutzte und trat näher an den Diwan. Dort lag eine längliche Schatulle

aus glänzend rotem Email. Sie setzte sich und legte skriptgemäß ein Kissen beiseite.

Felix in seiner Doppelrolle als verrückter Patient trat nun zu ihr. Laut Drehbuch hatte ein

schizophrener Patient seine auffallende Ähnlichkeit mit dem Chefarzt genutzt und sich als Tobias
verkleidet. „Ja, ein Geschenk.“

Caren öffnete die Schatulle und schaute erwartungsvoll zum vermeintlichen Arzt. Danach sah

sie wieder in die geöffnete Box – und wartete und wartete. Da stimmte doch etwas nicht. Mira
runzelte die Stirn. Die Spritze war da, sie wusste, dass Felix der Dieb war, und sie würde ihn
überführen. Aber erst einmal mussten sie diese Szene in den Kasten kriegen.

„Cut!“, rief Vivi. „Felix! Worauf wartest du denn?“
„Wie?“ Er blinzelte gegen das Licht, als ob er unter dem Make-up nichts sehen könnte.
„Wie soll Svenja denn weitermachen, wenn du ihr nicht das Stichwort gibst?“ Vivi klopfte auf

das Skript, das wie immer auf ihren Knien lag.

Leon trat zum Set. „Du kommst vom Vorhang her und sagst zu Caren, Ein Geschenk für die

schönste Frau der Welt. Ist doch nicht schwer zu merken.“

„Ja, klar. Sorry.“ Felix sprang zurück zur Anfangsposition.
„Mord – die Dritte!“
Sie wiederholten den Anfang dreimal, und nie brachte Felix seinen Text zu Ende. Er musste

verdammt nervös sein. Mira tat er allerdings kein bisschen leid. Dieses Mal hatte sein fieser

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Diebstahl eben nicht geklappt. Als sie Felix beobachtete, dem in der Rolle des irren Patienten die
Haare auf wild frisiert waren und die Augen fiebrig glänzten, wurde ihr auf einmal ein wenig
mulmig zumute. Was, wenn Felix ahnte, dass sie die Spritze nicht aus Zufall gefunden hatte? Was,
wenn er herausbekam, dass sie wusste, dass er der Dieb war?

Mira hörte kaum zu, sie kannte den Dialog eh auswendig, weil sie ihn so oft mit Svenja

durchgegangen war. Bei Klappe fünf kamen sie immerhin bis zum dem Punkt, wo Svenja ausrufen
sollte: Aber ich kann nicht nur dir allein gehören, mein Unternehmen braucht mich! Felix hätte sie
nun ein letztes Mal mit dem Diamantcollier aus der Schatulle ablenken und dann die Spritze
ansetzen sollen, während er seine letzte Textzeile sprach. Aber von ihm kaum nur ein stummer,
irgendwie staunender Blick auf die falschen Diamanten in seiner Hand.

„Cut!“ Vivi sprang auf. „Herrje, jetzt haben wir mal alle Requisiten beisammen, und dann kann

der Herr seinen Text nicht.“

Mira verkniff sich ein Grinsen. Miss Marple hätte sich über ihre Nachfolgerin gefreut. Es war

kein Wunder, dass Felix den Text nicht kannte, offenbar hatte er sich vor dem Diebstahl schon
eine neue Drehbuchvariante à la Indisches Tuch von Edgar Wallace ausgedacht. Nur leider konnte
er jetzt nichts Dramatisches von sich geben und kein Seidentuch um Svenjas Hals legen.
Vielleicht war es ja das! Vielleicht war Felix mit dem Drehbuch unzufrieden und wollte seine
selbst geschriebenen Dialoge in die Serie bringen.

Leon hielt Felix das Skript unter die Nase. „Lies. Hier steht Dein Unternehmen? Was ist das

schon gegen die Ewigkeit, die ich dir schenke. Danach setzt du die Spritze an und drückst ab.
Kapiert?“

Felix nickte.
Mira sah durch die Scheinwerferständer, wie Paul und Kerstin nur die Köpfe schüttelten. Die

Redakteurin notierte irgendetwas auf ihrem obligatorischen Clipboard.

„Mord – die Siebte.“ Leon trat zu Vivi auf ihrem orangefarbenen Hocker, die im Rhythmus der

Worte, die auf dem Set gesprochen wurden, mit der Fußspitze wippte.

Wie durch ein Wunder klappte diesmal alles. Der Verrückte schenkte der Unternehmerin Caren

die Ewigkeit. Mira fand zwar, dass Felix zu sehr stotterte und auch die Pausen selbst für
Kunstpausen ein wenig zu lang waren, aber immerhin setzte er die Spritze Svenja so geschickt ins
Genick, dass man ihren Schwanenhals wunderbar sah.

„Um mich herum dreht sich alles. Was haben Sie mit mir gemacht?“, hauchte Svenja als Caren

dem Mann entgegen, den sie für ihren geliebten Chefarzt Tobias hielt. Dann starb sie skriptgemäß
grandiose eineinhalb Minuten lang, in denen sie nach und nach schwächer wurde und sich auf den
Diwan sinken ließ, bis sie wie eine aufgebahrte Königin zwischen den bunten Seidenkissen lag
und die Augen für immer schloss. Nun ja, Mira kannte das Drehbuch. In der nächsten Szene kam
natürlich der echte Chefarzt hereingestürzt, rettete die Prinzessin in einer dramatischen Aktion
und küsste sie heftig zurück ins Leben.

„Cut!“, rief Vivi.
„Perfekt“, meinte Leon und sah zum ersten Mal seit Wochen wieder rundum zufrieden aus.
„Ganz toll, Svenja. Ganz toll!“, rief Vivi. „Heute haben wir uns echt einen Schnaps verdient.“
Paul und Kerstin klatschten, und die Jungs von der Technik johlten.

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Svenja sprang vom Diwan und fiel Mira um den Hals.
„Du warst großartig.“ Trotzdem hatte Mira noch einen Blick für Felix übrig, der sich vom Set

schlich. Er hielt tatsächlich noch die Spritze in der Hand. Sie sollte ihm wohl besser nicht auf dem
Weg zur Garderobe begegnen. Und Paul wollte sie auf keinen Fall in die Arme laufen.

„Komm, Svenja, lass uns gehen. Du siehst super aus in dem Outfit. Genau richtig, um deinen

großen Auftritt zu feiern.“

An der Tankstelle wollte Mira noch zwei Flaschen Averna besorgen. Und dann, wenn sie beim

Kräuterschnaps auf Svenjas Karriere anstießen, würde sie den Überraschungsknüller steigen
lassen.

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16. KAPITEL

„Halt, halt“, brüllte Kerstin ihnen hinterher, als Svenja und Mira gerade in den dunklen Mercedes
vom Fahrservice stiegen. „Nehmt ihr mich mit nach Berlin?“

„Aber sicher doch.“ Svenja schwang die breite Wagentür noch einmal auf, und Kerstin setzte

sich neben sie.

Es wurde eine sehr lustige Fahrt in den Prenzlauer Berg. Mira bat Ben, den senegalesischen

Fahrer, nicht über die Autobahn, sondern einen Umweg über die Glienicker Brücke zu fahren. Ben
war gleich so begeistert über die Abwechslung, dass er ihnen verriet, wie sich die in die Rücksitze
eingelassene Minibar mit den Spirituosen öffnen ließ. Er selbst lehnte ab, als Svenja ihm auch
einen Campari Orange im Plastikglas nach vorne reichen wollte.

Mira schaute hinüber zu Kerstin. Irgendetwas hatte die doch heute mit Paul zu besprechen

gehabt. Und Mira war sich sicher, dass dieses „Irgendetwas“ mit ihr zu tun hatte. Als Kerstin ihren
Wodka Tonic in der Hand hatte und Svenja mit dem Wodka Lemon für Mira beschäftigt war,
sagte Kerstin leise: „Wir müssen mal reden, Mira.“

„Hast du Lust mitzukommen? Wir wollen nur ein bisschen feiern, bevor der Star des Abends

abgeschminkt und mit den Skriptänderungen von morgen ins Bett geschickt wird.“

Svenja stöhnte so laut, dass Ben sich besorgt umdrehte.
„Du hast doch nichts dagegen, wenn wir zu dritt auf deinen vollendeten Tod anstoßen?“, fragte

Mira schnell, aber Svenja winkte ab.

„Klar kommst du mit, Kerstin. Ich hab daheim noch ein paar Dinge, die wollte ich dir schon

lange für deinen Sophienbad – Shop in Kommission geben.“

Kerstin verdrehte die Augen. „Inzwischen wissen es wohl alle im Team. Dabei sollte es doch

mein kleines, gut gehütetes Geheimnis sein.“

„Ach was, du bist schließlich unser bester Kontakt zu den Fans.“ Mit einer schwungvollen

Bewegung drückte Svenja den Wodka Lemon in Miras Hand, wobei sie es schaffte, dass nicht ein
Tropfen über den Rand des Plastikbechers spritzte. Dann lehnte sie sich in die weichen Polster
zurück. „Du hättest den Dreh morgen nicht erwähnen dürfen, Mira. Noch bin ich nicht so weit,
dass ich meinen Hightech-Lorbeer schon wieder ablege.“ Sie griff sich an die immer noch
blinkende Lichterkette und schwenkte die Mini-Champagnerflasche mit dem orangefarbenen
Edel-Label. „Jetzt könnten wir den verschwundenen Trinkkelch gut gebrauchen. Aber wir sind
eben beim Fernsehen und nicht beim Film. Noch nicht“, fügte sie hinzu und genehmigte sich einen
Schluck.

Mira fragte sich, wie ihre Freundin es machte, dass sie selbst wenn sie Champagner aus der

Flasche trank elegant aussah und nicht einfach bescheuert wie Mira, die sich schon mit Wodka
Lemon im Plastikglas idiotisch vorkam. Kerstin blickte ebenfalls bewundernd auf Svenja. Sie war
eben doch ihr Star.

Die Häuser am rechten Straßenrand verschwanden, sie blickten auf den See.
„Glienicker Brücke coming up“, rief Ben von vorn und verlangsamte das Tempo.
„Können Sie bitte auf der Brücke kurz anhalten?“ Mira genoss die fragenden Blicke, die Kerstin

und Svenja ihr zuwarfen. Svenja war ihr Star, aber heute war Mira die Top-Ermittlerin beim

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Sophienbad. „Ich weiß, wer der Dieb ist“, sagte sie, als das Auto zum Stillstand gekommen war.

„Was?“, rief Kerstin, und Svenja hätte sich fast am Champagner verschluckt.
„Und ich hab auch schon einen Plan, wie wir ihn überführen werden.“
Während hinter ihnen die Glienicker Brücke in der Dämmerung verschwand, erzählte Mira in

allen Einzelheiten, wie sie Felix auf die Schliche gekommen war. „Aber ich habe keine Ahnung,
warum er es macht. Was soll ein Felix Scholl mit diesem Massageöl anfangen?“ Mira kapierte es
noch immer nicht.

Auch Svenja schüttelte den Kopf. „Felix hat so viel Geld, der kann sich locker ein ganzes Fass

mit Kokosöl in die Wohnung stellen lassen.“ Dann grinste sie plötzlich. „Und könnt ihr euch
Herrn Scholl in diesem blauen orientalischen Mantel vorstellen?“

„Können schon. Er würde sogar ganz reizend in dem Fummel aussehen“, meinte Kerstin. „Aber

ich hab ihn damit noch nie in der türkischen Schwulendisco gesehen. Und er wäre mir aufgefallen,
auch wenn ich sonst mehr auf die Frau stehe, die da die Platten auflegt.“ Sie blickte ein bisschen
unsicher zu Mira hinüber. Die war damit beschäftigt, zu verstehen, was Kerstin gerade gesagt
hatte. Sie stand auf Frauen? Aber was war dann mit Paul?

„Nee, Felix würd‘ste nicht mal als Leiche in so einem Outfit zu Gesicht kriegen“, brummte

Svenja und warf einen besorgten Blick in die fast leere Champagnerflasche.

Mira boxte ihre Freundin in die Seite. „Du hast gewusst, dass Kerstin lesbisch ist?“
Svenja zuckte mit den Schultern. „Ja. Wir haben uns gleich am ersten Drehtag über die besten

Fitness-Studios nur für Frauen in Berlin unterhalten. Ich will mich ja nicht auch noch beim
Workout mit irgendwelchen Knilchen herumschlagen, die mir an die Wäsche wollen. Oder
womöglich den Mann meines Lebens treffen, während ich verschwitzt auf der Streckmaschine
liege.“ Svenja lachte, und Mira rollte die Augen. Das war einfach nicht zu fassen.

„Ich …“ Kerstin räusperte sich. „Also, Paul und ich sind wirklich nur beste Freunde. Ich wüsste

nicht, was ich ohne ihn machen sollte, aber mit seinem Liebesleben hat das nichts zu tun. Und mit
meinem auch nicht.“

Mira starrte in ihren Longdrink. Wahrscheinlich hatten es alle die ganze Zeit gewusst, nur sie

nicht.

„Alles okay?“, fragte Svenja und schaute ihr tief in die Augen.
„Ja. Aber du hättest es mir schon sagen können.“
Svenja zeigte mit der Champagnerflasche auf ihre Freundin. „Ich halte nichts von Outing“,

grinste sie. „Und ich wusste, dass du von selbst draufkommst.“

Mira seufzte leise. Aber in ihrem Bauch fingen die Schmetterlinge mit einem Mal einen wilden

Tanz an. Es war definitiv nichts zwischen Paul und Kerstin, Paul war die ganze Zeit in sie verliebt
gewesen. Warum zum Teufel …

„Warum zum Teufel hat Paul meinen Hut gestohlen?“, fragte sie laut.
„Er wollte wirklich nur den Verdacht von dir ablenken. Es tut ihm total leid, Mira.“ Kerstin

stellte das leere Wodkaglas ab. „Und außerdem ist er voll neben der Spur. Als du mit der Spritze
ankamst, ist er fast ausgeflippt. Was hast du mit ihm angestellt, Mira?“

„Ich?“ Mira fuhr hoch. „Ich hab den besten Sex meines Lebens mit ihm gehabt. Und da war er

ja wohl nicht ganz unschuldig dran. Keine Ahnung, was er jetzt schon wieder hat.“

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Die Reifen quietschten, und der Wagen hielt. Die drei Frauen blickten hoch, sie hatten gar nicht

gemerkt, dass sie schon in der Kastanienallee waren.

„Alles aussteigen.“ Ben hielt galant die Tür zum Bürgersteig auf. „Und ich verabschiede mich

sofort, hier ist Halteverbot.“ Er wandte sich an Svenja. „Morgen früh um sieben?“

„O je, Sie haben recht. Ich glaube mich zu erinnern, dass Vivi acht als Drehbeginn angesetzt

hat.“ Mit der leeren Flasche in der Hand drehte Svenja eine Pirouette auf ihren orientalischen
Slippern. Ben blickte mit einem seltsamen Leuchten in den Augen auf die tanzende Gestalt mit
den Sternen im Haar. Dann verabschiedete er sich höflich von Kerstin und Mira und fuhr davon.

„Offensichtlich ein Fan“, kam da eine dunkle Stimme von Masoumées Brillengeschäft. Wie

gewöhnlich saß die Optikerin auf den Stufen und rauchte ihre Abendzigarette.

„Ach, hallo, Masoumée.“ Mira sah Svenja nach, die auf Zehenspitzen vor dem Hutgeschäft auf

und ab tänzelte. „Kommst du mit hoch? Wir feiern Svenjas rauschenden Erfolg …“

„Nicht zu übersehen.“ Masoumée stieß eine Rauchwolke aus, doch sie beobachtete nicht Svenja,

sondern blickte zu Kerstin, die auf dem Bürgersteig wartete.

„… und die Tatsache, dass wir morgen dem Dieb des Sophienbads sein Handwerk legen

werden.“

Die orientalischen Kulissen waren verschwunden, kein Goldglanz oder farbenprächtige Opulenz
störte am Set „Krankenzimmer“ die sterile Atmosphäre. Svenja lag, mit langen durchsichtigen
Schläuchen an einen leise fiepsenden Monitor angeschlossen, im Krankenbett. Terry hatte sich für
das Make-up dieser Szene selbst übertroffen: Svenja war leichenblass und sah wirklich aus wie
eine Patientin, die gerade knapp dem Tode entronnen war. Felix saß mit zerzausten Haaren an
ihrem Bett, das perfekte Bild eines Mannes, der fast die geliebte Frau verloren hätte.

Doch Mira hatte heute keinen Kopf für die rasant auf den Höhepunkt zusteuernde erste Staffel

von Sophienbad. Sie musste mit Paul reden. Irgendwie. Er stand am Kontrollmonitor, wie immer
voll konzentriert auf das, was auf dem Set passierte.

„Lass es nicht zu sehr wie eine Leichenhalle aussehen“, flüsterte Mira ihm von hinten ins Ohr.

„Svenja ist ja schon ganz grün im Gesicht.“

Paul schreckte zusammen und stieß einen unterdrückten Laut aus. Alle drehten sich um. Leon

warf ihnen einen Blick zu, der Bände sprach: Diese Szene würde er sich durch nichts verderben
lassen, nicht durch fehlende Requisiten, nicht durch schlecht vorbereitete Hauptdarsteller und
schon gar nicht durch dumpfe Laute aus dem Off.

„Sorry“, flüsterte Mira und legte Paul die Hand auf den Oberarm. Es war eine spontane

Berührung, weil sie Paul beruhigen wollte. Doch er reagierte vollkommen unerwartet. Mit einer
schnellen Bewegung legte er seine Hand auf ihre Finger, sodass sie nicht mehr wegkonnte, selbst
wenn sie gewollt hätte. Aber Mira wollte nicht weg von Paul, und so wartete sie, bis er mit dem
Bild zufrieden war, und Svenjas Gesicht auf dem Monitor weicher und nicht mehr wie eine
Totenmaske wirkte. Dann winkte er den erstaunten Bastian heran.

„Du übernimmst“, sagte Paul in einem Ton, der keine Widerrede duldete. Bastian brachte nur

ein geflüstertes „Aber …“ zustande, da hatte Paul ihn schon hinter den Monitor geschoben. Paul
zog Mira weg vom Set, hinüber zur vorderen Tür, über der das rote Licht brannte, das anzeigte,
dass gedreht wurde. Mira ließ sich ziehen und amüsierte sich dabei über die entsetzten Blicke, die

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sie verfolgten. Paul hatte noch nie während eines Drehs das Set verlassen. Kaum waren sie
draußen, nahm er sie in die Arme und drückte sie eng an sich.

„Ich habe dich so sehr vermisst“, flüsterte er in Miras Locken.
„Ich dich auch.“ Geträumt hatte sie von diesem Moment, wenn sie ihn wieder spüren konnte,

die letzten Tage waren ihr vorgekommen wie eine Ewigkeit. Sie schwiegen beide, dann löste sich
Paul und trat verlegen einen kleinen Schritt zurück. Ganz gehen ließ er sie nicht, er hatte die
Hände leicht auf ihren Hüften. Und Miras Arme lagen immer noch um seinen Hals, sie würde ihn
auf keinen Fall wieder einfach loslassen.

„Danke für den Schlüssel“, sagte Paul leise. „Der Kurier hat ihn gleich um acht gebracht.“
Sie nickte. „Wie bist du heimgekommen?“
„In Socken.“
Mira lachte auf. „Echt? Den ganzen Weg?“
Pauls Hände rutschten tiefer, er streichelte über ihren Po. „Ich wollte nicht noch mal rein in

deinen Laden, nachdem …, also … Er brach ab und zog sie näher. Leise flüsterte er in ihr Ohr:
„Ich dachte, du bist sauer.“

„Oh, ich war sauer!“ Mira drückte ihre Wange an Pauls Kinn und spürte die rauen Bartstoppeln.

Wie gut sich das anfühlte! „Kerstin hat gemeint, du bist einer, der handelt und nicht redet.“

Paul schaute sie aus seinen grauen Augen an. „Das war nett ausgedrückt. Sie hätte auch sagen

können, ich denke nicht für drei Cent nach, sondern schlage ohne Sinn und Verstand los, wenn ich
mir was in den Kopf gesetzt habe. Ich war ein Idiot, Mira.“

„Aber ein netter Idiot.“ Mira stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Paul so zärtlich sie

konnte. Als sich ihre Lippen berührten, waren die Erinnerungen an ihre Nacht sofort wieder da.
Paul presste sie an sich. Ihm ging es genauso, das konnte Mira ganz deutlich spüren. Es dauerte
lange, bis sie einander wieder losließen.

„Ich muss dir noch was sagen, Paul. Wegen der Diebstähle. Es ist nämlich so, dass …“
Paul legte ihr schnell einen Finger auf den Mund. „Psst. Ich will es nicht wissen. Es ist mir egal,

warum du die Spritze wieder hast auftauchen lassen. Du wirst deine Gründe haben für das, was du
tust.“

Im ersten Moment wollte Mira ihren Ohren nicht trauen. Paul dachte anscheinend immer noch,

sie habe die Spritze gestohlen. Dann glaubte er also auch, dass sie … Es war wirklich nicht zu
fassen: Er hielt sie immer noch für die Diebin! Eigentlich hatte Mira ihn gerade in den Plan
einweihen wollen, den sie, Svenja, Masoumée und Kerstin gestern Nacht ausgetüftelt hatten, aber
nun schwieg sie. Der nächste Dreh würde nicht nur für Felix eine Riesenüberraschung werden.

„Ich muss wieder rein.“ Paul klang, als ob er sich am liebsten gleich mit Mira davongeschlichen

hätte, aber er war der Beleuchtermeister, und beim Set stand ein unerfahrener Lehrling am
Lichtpult.

„Ja“, sagte Mira. „Bastian hat inzwischen sicher die ganze Szene in rotes Licht getaucht.“
Paul schreckte hoch. „Wie kommst du denn darauf?“
„Na“, Mira blinzelte Paul an, „vorhin hat er mit dem roten Filter herumgespielt.“
„Was?“ Paul drehte sich halb um und zog sie mit zur Hallentür. Bevor er in die Lichtschranke

trat, nahm er Miras Hand und drückte sie kurz an sein Herz, dann ließ er sie los. „Kommst du

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nachher mit auf eine Spitztour zum Schloss Babelsberg?“, fragte er, den Blick schon auf die Halle
gerichtet.

„Klar“, antwortete Mira und ging einen Schritt vorwärts. Die automatische Tür öffnete sich mit

einem leisen Ächzen. Rotes Dämmerlicht empfing sie. Dann hörten sie die kratzige Stimme von
Mogengruber.

„Oh nein“, murmelte Paul. „Ausgerechnet heute muss der hier auftauchen.“
Doch der Regisseur klang überhaupt nicht so, als ob er gleich ausflippen würde. „Ein genialer

Einfall. Dieses rote Licht – emotionales Drama, die Farbe des Blutes, die Farbe der Liebe, zwei
flammende Herzen, die endlich zueinanderfinden. Das ist spitze!“

Zwei flammende Herzen! Mira hätte fast laut gelacht, und gleichzeitig spürte sie Tränen in den

Augen. Vielleicht würde Paul nie lernen, ihr voll und ganz zu vertrauen, aber sie hatte ihre große
Liebe gefunden.

In der Produktion war alles für den finalen Höhepunkt der ersten Staffel von Sophienbad, den
Heiratsantrag des Chefarztes Tobias an die von ihrem Burnout-Syndrom geheilte Caren,
vorbereitet. Ein Gärtner verteilte gerade noch echte Blumen um den von einer runden Sitzbank
umgebenen Kurbrunnen des Sophienbads. Es roch leicht nach Rosen und frisch geschnittenem
Gras in der Halle.

Mira beeilte sich, zur automatischen Tür zu kommen. Felix würde jeden Moment aus seiner

Garderobe auftauchen. Rechts neben der Tür kauerte Bastian hinter riesigen Leitern, mit denen
man fast bis an die Decke der Halle steigen konnte. Mira zwinkerte ihm unauffällig zu, dann
wischte sie sich die feuchten Hände an ihrem dunkelblauen Rock ab.

Die Tür zischte, Felix kam fertig geschminkt heraus. Für diese Szene trug er statt des weißen

Arztkittels einen edlen Anzug. Es war ziemlich schwierig gewesen, auf die Schnelle einen zweiten
zu finden, der genauso aussah. Masoumée hatte ihn sich schließlich von einem reichen Freund
ausgeliehen, bei dem eine ganze Auswahl von Armani-Anzügen im Schrank hing. Mira trat einen
Schritt vor, sie hielt Felix am Arm fest.

„Moment, warte mal“, sagte sie. Gleichzeitig schob sie ihn nach links in die abgestellten

Kulissen. Hoffentlich war Bastian nicht zu vorschnell, sondern wartete, bis sie Felix für eine halbe
Minute beschäftigt hatte. „Du hast da was, Felix.“

„Lass, ich muss zum Dreh!“ Felix wollte sich frei machen, aber Mira drehte ihn zu sich herum,

damit er nicht zum Set schauen konnte.

„Da ist Puder direkt an deinem Unterarm. Ich klopfe das rasch aus. So kannst du nicht vor die

Kamera.“ Felix blieb tatsächlich stehen und ließ zu, dass sie sich am Ärmel seines Anzugs zu
schaffen machte.

Wie aufs Stichwort löste sich in Felix‘ Rücken ein zweiter Mann im dunklen Anzug aus dem

Halbdunkel und ging auf Leon zu. Der hatte wie immer nur Augen für das Set. Bastian war sofort
Feuer und Flamme gewesen, als sie ihn in ihren Plan eingeweiht hatten. Der junge Kabelträger
hatte zwar nicht Felix‘ breite Schultern, aber er war etwa genauso groß wie er. Im Anzug, mit
Perücke und viel Schminke konnte man im ersten Moment den Eindruck haben, Felix stehe vor
einem. Sie hatten mit Bastian den immer leicht genervten Ton von Felix geübt. Wenn Leon jetzt
noch so hektisch war wie immer …

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„Das reicht aber jetzt. Da ist kein Puder mehr.“
„Doch.“ Mira schlug den Ton der Erzieherin im Kinderladen drei Häuser weiter von ihrem

Hutatelier an. „Stell dich nicht so an, tut schließlich nicht weh, Kleiner.“

Zu ihrer Überraschung lachte Felix und warf ihr einen strahlenden Blick aus seinen blauen

Augen zu. „Du wirst sicher mal ‚ne gute Mutter.“

„Wie bitte?“ Auch das noch. Mira lächelte schief und blickte an Felix‘ Kopf vorbei zum Set.

Bastian trat von hinten an Leon heran. Jetzt würde er ihn gleich nach dem Ring fragen. Das war
ein echter 7,5-Karäter und von einem Juwelier aus der Fasanenstraße geliehen. Leon hatte laut
verkündet, dass er diesen Ring immer in der Brusttasche über seinem Herzen tragen und nur für
die Heiratsantragsszene herausrücken würde. Nun griff Leon in eben diese Brusttasche und holte
eine kleine Box heraus.

„Jetzt lass mich aber mal gehen. Mira!“ Felix nahm ihr die Sicht. Mist.
„So“, sagte sie und warf einen letzten prüfenden Blick auf den perfekt sauberen Jackenärmel,

„alles weg. Toi, toi, toi, Felix.“ Mira nickte ihm aufmunternd zu, während die dunkle Gestalt sich
hinter seinem Rücken wieder hinter den abgestellten Leitern verbarg. Sie schaute Felix noch nach,
bis er im gleißenden Scheinwerferlicht neben dem Kurbrunnen stand.

Dann eilte sie zu Bastian. Der hatte schon die Anzugjacke ausgezogen und hielt ihr die

Ringschatulle hin. „Mann, das war knapp. Leon wollte sich gerade zu mir umdrehen. Aber da hat
ihn Gott sei Dank Kerstin abgelenkt. Uff, ich nehm mir jetzt die Schminke vom Gesicht. Ganz
pünktlich schaff ich es bestimmt nicht. Paul wird einen Aufstand machen.“

Mira warf einen Blick in die Schatulle. Wow, was für ein Brillant, klassisch in Gold gefasst. Die

7,5 Karat funkelten im Halbdunkel. „Das bügeln wir schon aus, keine Sorge.“ Sie hauchte Bastian
ein Küsschen auf die Wange. „Danke!“

„Alles auf Anfang.“ Vivis Stimme klang wie die Stimme eines Ausbilders bei der Bundeswehr.
Mira zwang sich, nicht an ihren Nägeln zu kauen, und erinnerte sich an die vielen Miss-Marple-
Romane, die sie verschlungen hatte. Die britische Ermittlerin war immer die Ruhe selbst, wenn sie
den Täter überführte. Mira richtete sich unwillkürlich auf.

Im Set saß Svenja strahlend frisch im blauen Frühlingskostüm auf der Bank und hielt die Nase

an den getopften Rosenbusch, den der Gärtner neben den Brunnen gestellt hatte. „Was für ein
herrlicher Tag!“

Chefarzt Tobias kam näher und fiel vor seiner Angebeteten auf die Knie. „Caren, es kann keinen

schöneren Tag geben für die Frage, die ich dir heute stellen möchte.“

„Cut!“, rief Vivi. „Das Kästchen, Felix? Du sollst die Schatulle doch schon in der Hand haben.“
Felix stützte sich mit der Hand an der Bank ab. „Welche Schatulle, ich habe nichts. Leon wollte

mir den Ring erst im letzten Moment geben.“

„Das hab ich doch auch.“ Leons Stimme klang gefährlich hoch. „Keine zwei Minuten ist das

her.“

Felix schaute verdutzt von Leon zu Vivi, dann blieb sein Blick an Svenja vor ihm hängen, die

mit einer kecken Geste den schwarzen Federhut aufsetzte, der bis jetzt neben ihr auf der Bank
gelegen hatte. Paul hatte Mira den leicht zerknautschten Hut sofort ausgehändigt, als sie ihn
danach gefragt hatte. Die aufgesetzten weißen Federn schimmerten im Licht. Svenja rückte den

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Hut auf ihren blonden Locken zurecht, als ginge sie die neuerliche Katastrophe überhaupt nichts
an. Felix wandte den Blick zögerlich zu Leon. „Ich … also, ich habe den Ring nicht.“

„Das darf jetzt nicht wahr sein.“ Leon warf das Skript auf den Boden und stapfte auf das Set.

„Der Ring ist vierzigtausend Euro wert. Wo ist das Ding, Felix?“ Er baute sich vor dem knienden
Schauspieler auf.

Mira konnte sich ein Lachen kaum verkneifen, dann sah sie, dass auch Svenja Mühe hatte, ihr

Gesicht unter Kontrolle zu halten.

„Leon.“ Vivis Stimme klang scharf.
Felix richtete sich auf. „Ich habe keinen Ring bekommen. Ich hab das Ding noch nicht mal

gesehen.“ Trotzig verschränkte er die Arme vor der Brust.

Leon bekam einen hochroten Kopf. „Ich habe ihn dir gerade eben gegeben!“
„Nein, das hast du nicht. Wann denn? Mira hat mir noch einen Puderrest vom Arm geklopft,

und dann war ich sofort am Set.“ Felix war aufgebracht.

„Stimmt das, Mira?“, fragte Vivi mit eisiger Stimme.
„Ja, genau. So hätte er nicht vor die Kamera gekonnt, deshalb …“
„Danke!“ Vivi warf Leon einen vernichtenden Blick zu. „Wir wollen hier mal nicht

durchknallen. Jetzt wird gedreht, basta. Haben wir etwas anderes als diesen Ring, was Tobias
Caren für den Heiratsantrag überreichen könnte?“

Keiner wagte, einen Ton zu sagen. Es war schon gefährlich genug, Vivi in so einer Laune

überhaupt anzusprechen. Irgendeinen Vorschlag zu machen, den sie sofort abschmettern würde,
war Selbstmord. Leon war der Einzige, der dann noch mit ihr reden konnte. Doch der stand völlig
verdattert zwischen Felix und Svenja neben dem Brunnen.

Aber plötzlich zog er etwas aus seinem Jackett. „Vielleicht geht ja das hier“, sagte er und hielt

Vivi einen Umschlag entgegen. „Das sind zwei Flugtickets nach Paris.“

Alle starrten auf den Umschlag, auf dem das Logo eines hochpreisigen Reiseunternehmens

prangte.

Mit leiser Stimme fragte Vivi. „Zwei Tickets?“
„Na ja …“ Leons Hand mit dem Umschlag zitterte. „Paris ist schließlich die Stadt der Liebe,

und da kann man … na, da kann man einfach nicht alleine hinfahren, Vivi.“ Sein Blick hätte
Steine erweichen können, und wenn sich Mira nicht täuschte, dann huschte da tatsächlich ein
Lächeln über Vivis Gesicht. Mira wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Himmel, was war
Leon für ein Romantiker!

„Also gut.“ Vivi wischte sich über das linke Auge, dann riss sie Leon den Umschlag aus der

Hand und winkte Felix vom Set. „Hier. Dann eben Flitterwochen statt Ring. Wo der nun ist, klären
wir später. First things first. Und nun alle auf Anfang. Verdammt noch mal!“

Felix und Svenja spielten die Antragsszene knapp bis zum Ende durch. Alles lief wunderbar, nur
ab und zu starrte Felix einen Moment zu lange auf Svenjas Hut. Mira überprüfte, ob Kerstin und
Bastian an den vereinbarten Plätzen standen. Felix durfte ihnen nachher nicht entwischen. Aber
alle denkbaren Fluchtrichtungen waren gesichert. Bastian stand mit einem Stolperkabel in der
Hand vor der automatischen Tür. Kerstin versperrte die Richtung zum vorderen Ausgang. Und

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Mira selbst verstellte den Weg in die Kulissen zum Hinterausgang.

Am Kurbrunnen sank Felix gerade wieder vor Svenja auf die Knie und improvisierte. „Caren,

kein Tag könnte besser sein für meine Frage.“ Er zückte die Tickets. „Willst du mit mir in die
Stadt der Liebe fliegen?“

Jetzt lächelte Svenja und zog dabei das Kissen hervor, auf dem sie die ganze Zeit gesessen

hatte. Dort hatte sie ihn versteckt! Das Kissen fiel auseinander und wurde zu einem blauen
Hausmantel, der dem verschwundenen wie ein Ei dem anderen glich. Kerstin hatte auf eBay
Stunden mit der Suche nach einem ähnlichen Modell zugebracht und ihn per Eilkurier kommen
lassen. „In diesem Zaubermantel fliege ich mit dir, wohin du willst.“ Svenja enthüllte den Mantel,
sodass das silberne Muster zu erkennen war.

Felix stand der Mund offen. Er tastete mit ausgestreckten Händen nach dem Stoff.
Von der Regie kam ein gurgelndes Geräusch, aber Vivi hielt Leon den Mund zu. Sie machte

Zeichen, alles weiterlaufen zu lassen.

„Bloß zuerst, mein Lieber, möchte ich dir gerne den Nacken massieren. Vielleicht mit diesem

Öl?“ Svenjas schlanke Hand zog ein Fläschchen aus der Blumendeko. Gott sei Dank hatte
Beautyline ja inzwischen nachgeliefert.

Leon wollte aufs Set stürzen, Vivi hielt ihn jedoch fest.
„Ich … ich …“ Felix schluckte sichtbar, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und schaute zu

Svenja auf, die nun in das Becken des Kurbrunnens griff. Wasser perlte von ihrer Hand ab, als sie
mit einem venezianischen Glaskelch wieder auftauchte. Es war Masoumées Fundstück, das sie
einer Freundin verdankte, die sich im Antiquitätenhandel auskannte.

Svenja reichte dem bleichen Felix den gefüllten Kelch. „Mein Armer, was hast du denn?

Brauchst du eine Stärkung? Trink einen Schluck von dem Heilwasser des Sophienbads.“ Sie
reichte dem noch immer knienden Felix den Kelch.

Aus Felix‘ Mund kam ein Geräusch, das sich wie das Knurren eines Hundes anhörte. Mit einer

raschen Bewegung schlug er Svenja den Kelch aus der Hand. Er schepperte über den Boden,
Wasser spritzte, doch wie ein Wunder blieb das Glas heil.

Svenja ließ sich nicht irritieren, und in diesem Moment bewunderte Mira sie. Ihre Freundin

griff Felix in die Seitentasche und zog wie eine gute Fee die Ringschatulle hervor. „Was haben wir
denn da?“

Jemand schnaubte erleichtert. Es musste Leon sein, dem Vivi immer noch mit eisernem Griff

den Mund zuhielt.

Der 7,5-Karäter funkelte im Scheinwerferlicht, das Paul exakt auf den Ring ausrichtete. Svenja

legte Felix die Arme um den Nacken, wie es wohl die frisch verliebte, glückliche Caren bei ihrem
Tobias tun würde. Leise, doch so, dass es alle hören konnte, sagte sie: „Felix, bist du uns nicht
eine Erklärung schuldig?“

Dann brach das Chaos aus.
Vivi schrie, Leon riss sich los und schrie auch. Felix fuhr in die Höhe und schüttelte Svenja ab,

die ihn zurückhalten wollte. Er stieß sie ziemlich unsanft nach hinten, und um ein Haar wäre sie
statt auf die Brunnenbank ins Becken gefallen. Im nächsten Augenblick stürzte er los Richtung
Garderobe. Bastian spannte das Kabel, und Felix drehte sich um und lief Richtung Ausgang.

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Kerstin hatte sich Paul zu Hilfe geholt. Sie standen beide wie Leibwächter vor der Tür. Felix
schreckte zurück und rannte quer übers Set auf Mira zu.

Mira sah den großen Mann auf sich zukommen, seine Bewegungen waren hektisch, er war

eindeutig von Panik erfüllt. Und wütend. Verdammt wütend.

„Cut“, ertönte da Vivis schneidende Stimme.
Felix blieb wie angewurzelt stehen. Paul tauchte hinter Felix auf, warf sich auf ihn, und

gemeinsam gingen sie zu Boden. Kurz wehrte der Schauspieler sich noch, dann ließ er sich in den
Polizeigriff nehmen.

„Ich konnte einfach nicht anders“, brüllte er. „Wenn ihr wüsstet, wie das ist, immer vor der

Kamera zu stehen. Und ich muss immer der Beste sein, muss die Szenen retten, denn sonst kann
hier ja keiner was. Diese bescheuerten Scriptwriter. Und diese Sternchen, die noch nicht mal einen
ganzen Satz richtig sprechen können. Ihr habt doch keine Ahnung, keine Ahnung habt ihr …“

„Klappe“, sagte Vivi, die an Felix herangetreten war. Der Schauspieler verstummte.
Vivi gab Leon und Bastian ein Zeichen. „Bringt ihn in seine Garderobe, bis die Polizei da ist.

Und Leon …“ Der Requisiteur drehte sich um. „Den Schlüssel zu Felix‘ Garderobe bewahre ich
auf.“

Leon machte ein verdutztes Gesicht, dann fingen alle an zu lachen, erst leise, schließlich immer

lauter. Die Anspannung löste sich. Mira blickte zum Set. Da saß Svenja am Brunnen und betrachte
versonnen den Ring, den sie sich an den Mittelfinger gesteckt hatte. Vielleicht spürte sie Miras
Blick, auf jeden Fall schaute sie auf und lächelte zurück.

Paul sah Felix hinterher, der von Bastian und Leon durch die automatische Tür geschoben wurde.
Felix war der Dieb! Kein Wunder, dass hier alle verrückt wurden. Und Mira hatte es gewusst, sie
hatte das Rätsel der verschwundenen Requisiten geknackt. Diese Frau war nicht nur schön, sie war
auch klug und hatte einfach Klasse. Wie hatte er sie nur auch nur eine Sekunde verdächtigen
können?

Paul aktivierte die Textprojektion, die schräg über dem Set an einem Lichtbalken hing. Ein

schwaches rotes Licht leuchtete auf, das in dem ganzen Chaos niemandem auffiel. Paul tippte ein
paar Worte in die Steuerungstastatur. Wichtige Worte. Genau die richtigen Worte. Da war er sich
sicher. Dann richtete er den Projektor aus.

Der große Scheinwerfer irrte suchend in der Halle umher, dann fokussierte er auf Mira, die

zwischen Vivi und Kerstin stand. Das Frontallicht wurde weicher, der Rest der Halle versank im
Dunkel. Als ob sie es mit Paul verabredet hätten, traten Kerstin und Vivi sofort aus dem
Lichtkreis, in dem nun nur noch Mira stand und verwundert in die Dunkelheit blickte.

Dann schaltete Paul das Textband zu. Hinter Mira liefen rote Buchstaben durch die Dunkelheit.

Sie konnte sie selbst nicht sehen. Noch nicht.

Als Erste klatschte Svenja, dann Vivi und Kerstin. Bastian und Leon kamen zurück, und sein

junger Lehrling schrie: „Yeah, Paul, go!“

Mira drehte sich auf der Stelle. Jetzt sah sie die flirrenden Buchstaben. Paul trat in das

Scheinwerferlicht neben sie. Mira schaute ihn von der Seite an, dann nahm sie ihn an der Hand.
Über ihnen bewegte sich knirschend der Lichtbalken. Die Buchstaben leuchteten in kräftigem Rot
auf Miras Gesicht, dann erfassten sie auch ihn. MIRA, ICH LIEBE DICH – PAUL, stand da

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geschrieben.

Alle klatschten und johlten, und Paul war die ganze Aktion mit einem Mal unendlich peinlich.

Mira schaute hoch zu ihm. Ah, sie lächelte. Wie er es liebte, wenn sie sich vor ihm auf die
Zehenspitzen stellte. Ganz sanft küsste sie ihn.

Was das Publikum ihnen zurief, kriegte Paul gar nicht mehr mit. Mira wollte ihn, das spürte er

an ihrem Kuss. Und das war genug für ihn. Für immer.

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EPILOG

Das Glöckchen über Miras Ladentür bimmelte, und Vivi trat heraus auf den Bürgersteig. Sie sah
einfach hinreißend aus mit dem rosa Hut aus Flamingofedern. Leon fand das offenbar auch, denn
er starrte sie mit offenem Mund an.

„Ich würde dir glatt noch mal einen Antrag machen, Vivi, wenn wir nicht schon verheiratet

wären“, sagte er.

Vivi winkte auf ihre übliche barsche Art ab. „Einmal genügt mir, Schatz. Das Outfit hier werde

ich bei der Premiere von Blutspur durch Paris: Die Bartholomäusnacht tragen.“

„Ja“, nickte Leon, „dieses orange angehauchte Rosa der Federn hat denselben Ton wie das Kleid

der Heldin, kurz bevor sie hingerichtet wird.“

„Ihr heimst sicher wieder alle Preise ein.“ Mira schaute die Kastanienallee entlang. Wo blieb

Paul?

„Habt ihr das gesehen!“ Svenja kam im knallengen Minirock von dem Kiosk an der anderen

Straßenseite herübergestöckelt und wedelte mit der Zeitung. KLAUEN IST WIE KOKS in
Riesenlettern auf der ersten Seite.

Sie rief ihnen den Text zu. „‘Felix Scholl, 34, gesteht sein heimliches Leiden. Klauen gibt dir

einen Riesenkick, enthüllt der berühmte Heimatdarsteller und Held der Arztserie Sophienbad. Sein
volles Geständnis auf Seite 18‘.“ Svenja blätterte im Gehen um, und eine Windbö wehte ihr ein
paar Seiten aus der Hand. Kerstin, die mit Masoumée Kisten aus dem Brillengeschäft schleppte,
fing sie auf.

„Seine verdammte Autobiografie steht auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste!“ Kerstin rollte

mit den Augen und schlug dann die Zeitungsseiten auf. „Aber die wirklichen Neuigkeiten sind das
hier.“ Sie deutete triumphierend auf eine ganzseitige Anzeige in Farbe.

Mira, Vivi und Leon beugten sich über die Zeitung. „Das neue Gesicht von Beautyline?“ Leon

drehte sich um. „Wow, Svenja – du hast es geschafft. Herzlichen Glückwunsch!“

Vivi klopfte ihrem Star auf die Schulter. „Ich hab ja schon immer gewusst, dass du es noch weit

bringen wirst.“

„Na ja, die Kampagne geht erst mal für ein Jahr. Danach sieht man weiter.“
Mira grinste nur. Ihre Freundin war jetzt ein Topmodell wie Naomi Campbell und Claudia

Schiffer. Nur dass Svenja Angerholt zehn Jahre jünger war. Gerade hatte sie das Angebot
bekommen, in einem Kinofilm die Hauptrolle zu spielen – eine blinde Passagierin auf einem
Schiff, das vor den Nazis nach Amerika floh. Alle waren überzeugt, dass der Film an der
Kinokasse alle Rekorde brechen würde.

„Was verdienst du denn so, damit Beautyline an dein Gesicht ran darf?“ Masoumée stellte

ächzend eine offene Kiste auf den Bürgersteig. Der lange, gebogene Hals einer Goldkaraffe
schaute heraus.

Svenja grinste. „Ein Bruchteil der Schätze, die du und Kerstin für die Ausstellung

zusammengetragen habt. Gold und Filz in der iranischen Alltagskunst. Ich bin wirklich gespannt.“
Sie strich sich eine unsichtbare Haarsträhne aus der Stirn. „Und natürlich wird nie ein Tröpfchen
von Beautyline an meine Haut kommen. Was glaubst du, was es kostet, so einen makellosen Teint

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instand zu halten? Mit Beautyline kommst du da nicht weit. Nein, für die anderthalb Millionen
kriegen die meinen Namen und ein paar Fototermine, aber mehr nicht.“

„Apropos Millionen“, meinte Kerstin. „Seht ihr die Frau da vorn? Ich wusste gar nicht, dass die

hier in der Gegend wohnt. Das ist doch …“ Sie verstummte, und auch die anderen schwiegen
andächtig.

Mira grinste. Die alte Dame des deutschen Films war schon mehrmals bei ihr im Laden

gewesen, und gemeinsam hatten sie eine ganz besondere Hutkollektion für sie zusammengestellt.

„Irgendwie kommt mir ihr Hut bekannt vor“, meinte Leon.
Svenja knuffte Mira in die Seite. „Das ist ja einer von deinen. Hey, du hast mir gar nicht

erzählt, dass die … wow, dass die …“ Sie verstummte in erneuter Ehrfurcht.

„Sie ist wirklich nett“, sagte Mira. „Und sie kennt alle Miss-Marple-Romane praktisch

auswendig.“

Mira dachte an gestern Abend, als sie Paul aus dem Orientexpress vorgelesen hatte. Nach fünf

Minuten war er eingeschlafen. Seit er bei Vivis und Leons Historien-Produktionen Chef-
Beleuchter war, kam er oft todmüde nach Hause. Über eine Stunde hatte Mira diesem
wunderbaren Mann einfach beim Schlafen zugesehen.

Als das Apartment gegenüber von Svenjas Loft überraschend frei wurde, waren sie zusammen

eingezogen. Allein hätte sich Mira eine Dachgeschoss-Wohnung in dieser Gegend nicht leisten
können, selbst wenn sie sich seit dem Erfolg von Sophienbad vor Hutaufträgen kaum noch retten
konnte.

Irgendwann öffnete Paul seine grauen Augen und zog sie zu sich. „Wollen wir runtergehen?“,

flüsterte er, und schon allein der Klang seiner Stimme ließ Miras ganzen Körper vibrieren. Sie
liebten sich auf den Filzmatten in der Kammer so leidenschaftlich wie beim ersten Mal.

Als der Morgen dämmerte, fragte Mira: „Werden wir immer noch hier unten Sex haben, wenn

wir erst einmal verheiratet sind?“

Paul küsste sie. „Wir werden immer hier sein, wenn wir Sex haben, Mira, egal wo wir sind. Das

ist unser magischer Ort.“

Sie liebte ihn dafür, dass er so etwas Schönes sagen konnte. Wie von selbst hatten ihre Körper

noch einmal zueinandergefunden, als draußen auf der Kastanienallee schon die erste Straßenbahn
vorbeigerattert war.

Extra für ihren großen Tag hatte Mira sich eine eigene Roadrunner – Kappe angefertigt, ähnlich

wie die von Paul, nur aus rosa gefärbtem Gazellenleder. Die Farbe passte besser zu ihrem weißen
Kleid, das über und über mit Rosen bestickt war.

Sie schaute angestrengt die Straße entlang. Vorne sah sie den schwarzen Benz des Studios um

die Ecke biegen, Ben holte die Hochzeitsgesellschaft ab. Aber wo war Paul?

Er kommt nicht!, schoss es ihr durch den Kopf. Paul hatte Muffensausen gekriegt, oder er hatte

eine andere Frau gefunden, oder er wollte doch Kerstin, obwohl Kerstin auf Masoumée stand.
Oder jemand hatte die Ringe gestohlen! Genau. „Bestimmt hat wieder jemand die Ringe
gestohlen“, schrie Mira so laut, dass alle um sie herum zusammenzuckten und sie anstarrten.

„Kleines, wie kommst du denn darauf?“ Svenja stöckelte an ihre Seite und nahm sie in den

Arm.

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Mira hatte einen Kloß im Hals. „Wo bleibt er denn?“
„Er kommt doch schon“, flüsterte Svenja. „Schau mal, wer da hinter Ben herangerast kommt?“
Paul! Das Verdeck der DS war aufgeklappt und der Wagen über und über von Blumen bedeckt.

Ein Rosengesteck lag auf dem Kühler, Rosengirlanden hingen an den Seiten, der Rücksitz war ein
Meer aus weißen, rosa und roten Rosenblüten.

„Ich hab die Ringe nicht gefunden.“ Paul blickte verlegen in die Runde. „Sorry.“
„Aber jetzt hast du sie?“, fragte Mira. „Nicht, dass wir nachher vor dem Standesbeamten stehen,

und die wichtigste Requisite fehlt.“

Paul grinste und klatschte auf die Pottasche seiner Lederhose. „Ich hab sie. Komm, steig ein.“

Mira kam sich wie eine Prinzessin vor, als sie sich in der Blütenpracht niederließ. Paul schaute sie
kurz an, dann setzte er sich ans Steuer und zündete. Ein seltsames Lächeln umspielte seine Lippen.

„Was ist?“, frage Mira leise.
Paul blickte sie an. „Du machst mich glücklich“, sagte er. Dann drückte er das Gaspedal und

brauste die Kastanienallee hinunter, schneller als es die Polizei erlaubt.

– ENDE –


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