Clayton, Donna Nicht so stuermisch Hannah

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Nicht so stürmisch Hannah

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Nicht so stürmisch

Hannah!

Donna Clayton

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PROLOG

„Was heißt das, ich soll allein nach Little Haven fahren?"
Hannah Cavanaugh starrte ihre Mutter, die an ihrem

massiven Teakholzschreibtisch saß, an. Sie schien mit einem
Dutzend verschiedener Arbeiten zu beschäftigt, so dass sie dem
aktuellen Thema keine rechte Aufmerksamkeit widmen konnte.
Aber das kannte Hannah schon.

„Nun, ich kann jedenfalls nicht fahren", antwortete Hillary

Cavanaugh, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Tochter an-
zublicken. „Du weißt, wie beschäftigt ich bin. Wenn ich eine
Vernissage, ein Fernsehinterview oder auch nur einen albernen
Foto-Termin versäume, nehmen meine Kunden das ganz schnell
zum Anlass, sich von ihrer Werbemanagerin zu trennen. Ich
muss immer präsent sein und ihnen alle Unannehmlichkeiten
aus dem Weg räumen."

Für jeden anderen hätte der klagende Unterton, der Hillarys

Worte begleitete, perfekt ein Leiden zum Ausdruck gebracht,
durch das man die Sympathie des Zuhörers gewinnt.

Hannah hörte diesen leeren, von ihrer Mutter häufig geb-

rauchten Ton sehr wohl, reagierte jedoch nicht.

„In dieser Branche gibt es eben keine Nebensaison."
Wie viele Male hatte Hannah diese Bemerkung schon gehört?

Wie viele Male hatte ihre Mutter diese Entschuldigung in den
vergangenen Jahren als Alibi benutzt, um allen wichtigen
Ereignissen in Hannahs Leben fernzubleiben?

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Stopp, ermahnte sich Hannah, Mutter arbeitet hart. Die

Menschen, für die sie arbeitet, liegen ihr am Herzen. Ihr liegt et-
was an dir, und sie hat dir ihr Bestes gegeben.

Und dann fiel ihr außerdem ein, dass Hillary immerhin der El-

ternteil war, der sie hatte haben wollen.

Ein längeres Schweigen folgte, und Hannah hatte Mühe, einen

tiefen Seufzer zu unterdrücken. „Aber Mutter, dein Ehemann ist
gestorben", versuchte sie es schließlich noch einmal. „Meinst du
nicht, du solltest hinfahren und ihm die letzte Ehre erweisen?"

„Mein Exehemann", verbesserte Hillary Hannah mit Bestim-

mtheit. „Und keiner von uns beiden hat den Mann seit zwanzig
Jahren gesehen. Außerdem ist er schon beinahe einen Monat
tot. Ich bin sicher, die Beisetzung hat bereits stattge funden. Es
sei denn, die Hinterwäldler dieser kleinen Stadt pflegen ein
Trauerritual, das sich über Wochen erstreckt." Sie blickte kurz
auf. „Was mich allerdings kaum wundern würde", fügte sie ar-
rogant hinzu.

Der selbstgefällige Ton ihrer Mutter ärgerte Hannah. „Aber

Mutter", begann Hannah,

„wäre es nicht das Beste, wenn du ..."
Der rügende Blick ihrer Mutter aus zusammengekniffenen Au-

gen ließ Hannah verstummen.

„Ich verlasse die Stadt auf keinen Fall. Ich habe Kunden, die

mich brauchen." Hillary lächelte kühl. „Du wirst nicht viel Zeit
brauchen, um die Angelegenheiten deines Vaters zu ordnen. Ehe
du dich versiehst, bist du wieder im Krankenhaus und kämpfst
um deine Beförderung in deiner Krankenschwestern-Karriere.
Das ist es doch, was du willst, oder?"

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Hannah war erstaunt. Ihre Mutter zeigte sich heute erstaun-

lich verständnisvoll.

Meistens klang Hillarys Stimme viel spöttischer, sobald das

Thema auf Hannahs Karriere kam. Aber heute war es anders.
Vermutlich liegt das daran, überlegte Hannah, dass Mutter et-
was von mir will. Nicht, dass Hillary ihre Tochter tatsächlich um
einen Gefallen gebeten hätte - keine Spur. Aber das war von ihr-
er Mutter ohnehin niemals zu erwarten.

Hannah kam zu dem Schluss, dass diese Reise offensichtlich

nicht zu umgehen war. „In Ordnung", räumte sie ein. „Dann
muss ich rasch alles Notwendige in die Wege leiten.

Diese Be förderung bedeutet mir sehr viel. Ich kann mir auf

keinen Fall erlauben, länger als eine Woche - höchstens zwei -
fort zu sein."

„Es wird sicher nicht so lange dauern, das Mobiliar zu

verkaufen, das sich noch in dem Haus befindet", meinte Hillary
gelassen. „Nimm Verbindung zu einem Auktionator auf. Selbst
in einem solchen Kaff wie da unten muss es Nachlassversteiger-
ungen geben.

Und anschließend überlässt du das
Haus einfach einem Immobilienmakler. Du brauchst nicht in

Little Haven zu bleiben, bis sich ein Käufer findet."

Plötzlich wurde Hannah nachdenklich. Eine Frage, die ihr auf

der Zunge brannte, musste noch gestellt werden. Auch wenn sie
nicht gerade erpicht darauf war, das unerwünschte Thema
anzusprechen.

Genau zwei Male in ihrem Leben hatte Hannah dieses

Tabuthema angesprochen. Das erste Mal, als sie noch sehr jung
war, ungefähr zehn Jahre alt, wenn ihre Erinnerung sie nicht

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täuschte. Damals hatte ihre Mutter die Frage absichtlich über-
hört. Beim zweiten Mal kam es zwischen Hannah und ihrer Mut-
ter zu einem furchtbaren Streitgespräch, das in dem längsten
Schweigen in der Geschichte ihrer Mutter-Tochter-Beziehung
geendet hatte.

Hannah war nicht gerade erpicht darauf, diese Erfahrung zu

wiederholen.

Sie nahm all ihren Mut zusammen. In ihrem Herzen wusste

sie, dass diese Frage keinesfalls umgangen werden durfte. „Was
ist mit Tammy?"

Hillarys Miene veränderte sich kaum merklich, aber Hannah

war sicher, dass ihre Mutter größte Mühe hatte, nicht die Fas-
sung zu verlieren. Ein langes Schweigen folgte.

Ohne aufzublicken, antwortete Hillary schließlich doch. „Du

wirst selbst herausfinden müssen, wo sie lebt. Frag in der näch-
stgelegenen staatlichen Einrichtung nach. Finde heraus, ob der
Staat für ihren Unterhalt aufkommt. Ich bin überzeugt, das ist
der Fall, denn dein Vater konnte einen Job nie länger als einen
Monat am Stück halten."

Dein Vater. Hannah überlief eine Gänsehaut.
Hillary benutzte ihrer Tochter gegenüber nur selten die

Bezeichnung „dein Vater" für ihren Exmann. Bei den höchst
seltenen Gelegenheiten, bei denen sie über ihn sprachen, geb-
rauchten sie normalerweise seinen vollen Namen.

Und genau das hatte Hillary getan, als sie Hannah die

Neuigkeit vom Tode ihres Vaters mitteilte. „Bobby Ray
Cavanaugh ist gestorben", hatte sie berichtet.

Was für Gefühle hatte diese Mitteilung in Hannah ausgelöst?

Hannah konnte es nicht sagen. Sie hatte sich nicht erlaubt,

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darauf = zu reagieren. Stattdessen verdrängte sie die Realität
dieser Nachricht und schaltete sozusagen auf Automatik. Es
wäre unklug gewesen, vor ihrer Mutter Gefühle zu zeigen, das
liebte Hillary nicht. Außerdem wusste Hannah, dass ihre Mutter
die Gedanken und Gefühle anderer Menschen zu einem späteren
Zeitpunkt durchaus gegen diese zu verwenden verstand.

Deshalb unterdrückte Hannah die aufflammenden Empfind-

ungen, die diese unerwartete Nachricht hervorgerufen hatte. Sie
konzentrierte sich auf das, was getan werden musste. Mit ihren
Gefühlen wollte sie sich später auseinander setzen.

„Wenn der Hausverkauf erledigt ist", fuhr Hillary fort, „kannst

du eine Art Girokonto für das Mädchen einrichten."

Das Mädchen. Das Mädchen! Hannah schluckte den Zorn hin-

unter, der sie langsam packte, aber sie ließ sich noch immer
nichts anmerken.

Vielleicht kann sie nichts für ihre Gleichgültigkeit, versuchte

Hannah ihre Mutter im Stillen zu verteidigen. Mutters Art, mit
gewissen Situationen fertig zu werden, hatte schon immer darin
bestanden, sich vollkommen von ihnen zu distanzieren. Den-
noch, der Tod von Bobby Ray bedeutete, dass Gleichgültigkeit
und Abstand halten nicht länger funktionierten.

Die Gedanken an Tammy ließen Hannah nicht mehr los. Und

zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte Hannah eine Spur von ...
etwas in sich lebendig werden. War es Aufregung?

Freude? Sie konnte es nicht sagen. Im Moment wusste sie nur,

sie musste das Büro ihrer Mutter verlassen, bevor diese begann,
ihr noch weitere, detaillierte Aufgaben zu übertragen, die
Tammy betrafen.

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„Ich fahre nach Little Haven", erklärte Hannah plötzlich über-

stürzt, während sie bereits zur Tür ging. „Ich kümmere mich um
alles. Keine Sorge."

„Nun, ..."
Hannah wartete nicht, bis Hillary ihren Satz beendete, und

drehte sich um.

„ ... solltest du Schwierigkeiten bekommen, ruf mich an."
Hillarys Worte ärgerten Hannah. Ihre Mutter pflegte ihre

Sorge immer mit der Floskel

„solltest du Schwierigkeiten bekommen" einzuleiten. Was

Hannah jedoch diesen Worten entnahm, war: „Belästige mich
nicht, außer, wenn es absolut erforderlich ist."

Wie auch immer, eigentlich war Hannah ihrer Mutter dankbar

für das distanzierte Verhalten. Genau dieser Erziehungsmethode
verdankte sie es nämlich, dass sie sich zu der unabhängigen Frau
entwickelt hatte, die sie heute war.

„Und Hannah, ich will nicht, dass du ..."
„Ich sagte, ich kümmere mich um alles", rief Hannah über ihre

Schulter zurück. Und da sie sehr gut wusste, was ihre Mutter
noch hinzufügen wollte, ließ sie die Tür nicht zu leise hinter sich
ins Schloss fallen.

Auf dem Weg über den Flur zum Lift fühlte Hannah, wie die

zuvor nur leichte Erregung in ihr wuchs. Tammy! Sie würde
nach Little Haven fahren und nach Tammy suchen. Und wenn
überhaupt eine Möglichkeit bestand, wollte sie sich Zeit nehmen
für einen netten, ausgedehnten Besuch.

Hillary würde entsetzt sein, wenn sie das herausfand. Hannah

war überzeugt, dass ihre Mutter ihr noch hatte verbieten wollen,

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Tammy zu besuchen. Dennoch, sie wusste, sich noch länger
blind zu stellen, war keine Lösung. Tammy brauchte jemanden,
denn Bobby Ray war nicht mehr für sie da.

Komme, was da wolle, Hannah war entschlossen, Tammy neu

kennen zu lernen. Und wenn möglich, wollte sie selbst der
Mensch sein, auf den sich ihre Schwester in der Zukunft ver-
lassen würde.

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1. KAPITEL

Laut ratternd und ächzend holperte Hannahs Wagen durch

die Schlaglöcher der staubigen Straße, die zu ihrem Elternhaus
führte. Die dichte Vegetation schützte das Haus vor dem
Sonnenlicht und spendete Kühle. Hannah verspürte ein flaues
Gefühl im Magen.

Es war ihr unmöglich, die Vielzahl der Empfindungen zu bes-

chreiben, die sie in diesem Augenblick aufwühlten. Ihre Erinner-
ungen an das große Haus inmitten mächtiger Bäume am Ende
der Straße waren so verschwommen wie unscharfe Fotos.

Wenn Hannah an Bobby Ray - ihren Vater - dachte, sah sie

nur schattenhafte Bilder vor dem inneren Auge. Eine große,
vornehme Gestalt, ein breites, herzliches Lächeln. Ein Lachen,
das warm und strahlend wie ein sonniger Sonntagnachmittag
wirkte. Jedenfalls glaubte sie, sich an ein warmes Lachen zu
erinnern. Trotz größter Anstrengung konnte sie sich im Moment
aber weder an den Klang noch an den begleitenden Gesichtsaus-
druck erinnern.

Die Liebe, die sie ihrem Vater als Kind entgegenbrachte, war

tief und in ihrer Intensität absolut beglückend gewesen. Aber
Hannah wusste, dass die Erinnerung an ihre Liebe zu Bobby Ray
geschwächt war durch den Schmerz, den der Fortgang von Little
Haven und damit die Trennung von ihrem geliebten Daddy aus-
gelöst hatte.

Hör auf, Hannah, verlangte eine Stimme in ihrem Inneren,

schließ die Tür hinter deiner traurigen Vergangenheit. Dein

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Selbstmitleid frisst dich noch auf, wenn du dich zu sehr darin
verlierst. Es gibt so viel zu tun.

„Denk an das Haus." Hannah flüsterte die Worte, während sie

mit ihrem Wagen erneut durch ein Schlagloch rumpelte.

Sie verdrängte die verwirrenden Gefühle, die durch die Erin-

nerungen an ihren Vater wieder lebendig geworden waren.
Lächelnd versuchte sie, sich ihr Elternhaus vorzustellen, das mit
seiner umlaufenden Veranda und dem überladenen Schmuck-
werk in ihrer Erinnerung einem riesigen Puppenhaus ähnelte. In
den letzten Jahren hatte sie es nur selten zugelassen, Gedanken
an dieses Haus zu verlieren. Wenn sie es aber doch tat, war ihr
jedes Mal ganz warm ums Herz geworden.

Während ihrer einsamen Kindheit, die Hannah ohne ihren

Vater erleben musste, hatte sie Zuflucht gesucht in der Erinner-
ung an die Zeiten, die sie zusammen mit ihrem Daddy daheim in
diesem geräumigen Haus verbracht hatte. Das Haus, das sie vor
ihrem inneren Auge sah, war beeindruckend in seiner Schönheit
und wartete nur darauf, sie zu empfangen...

In diesem Moment erreichte Hannah eine Lichtung, und das

Haus kam in Sicht.

Vor Schreck blieb Hannah beinahe die Luft weg. Ihre Augen

weiteten sich, als sie den Wagen zum Stehen brachte.

Sie blinzelte mehrmals, dann starrte sie nur noch hin. Das

wunderschöne Haus ihrer Erinnerung war jetzt nur noch ein
schäbiges Gebäude, dessen Farbe von den Wänden abblätterte.
Das Buschwerk wucherte so hoch, dass es die Fenster des ersten
Stockes verdeckte. Eine Seite der Veranda hatte sich deutlich
gesenkt. Das Haus, im viktorianischen Stil erbaut, wirkte armse-
lig und war vollkommen verfallen.

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Hannah lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Offensichtlich hatte

ihr Vater über die Jahre keinen Finger gerührt, um das Haus in
Stand zu halten. Wie hatte er es nur zulassen können, dass sein
Heim in einen solchen Zustand geriet? Hannah seufzte. Sie
wusste, eine Antwort auf diese Frage würde sie niemals
bekommen.

Büschel von Gras blieben an den Absätzen ihrer Schuhe hän-

gen, nachdem sie aus dem Wagen gestiegen war. Sie schloss die
Tür und wurde als Erstes von dem fettesten Kater begrüßt, den
sie jemals gesehen hatte.

„Hallo", murmelte Hannah. Mit seinem orangefarbenen Fell

strich er um ihre Beine, aber bevor sie ihn streicheln konnte,
verschwand er in den Büschen. Hannah richtete sich wieder auf
und schaute zu dem Haus hinüber.

Auf einmal wurde ihr bewusst, wie merkwürdig dieses große

viktorianische Haus mitten im Wald wirkte. Man könnte mein-
en, dass hier ein Blockhaus oder ein Haus mit weit herabgezo-
genem Dach besser gepasst hätte. Aber wie auch immer ...

Als Hannah in der Nähe Hammerschläge hö rte, blieb sie

stehen und neigte den Kopf. Sie runzelte die Stirn. Woher
mochte das Geräusch kommen? Immerhin war sie mindestens
eine Meile auf der Hauptstraße gefahren, ohne ein anderes Haus
zu sehen. Aber vielleicht verbargen sich noch weitere Häuser
hinter den alten Bäumen, genau wie das ihres Vaters.

Für einen Moment verstummte das Hämmern, aber dann war

es doch wieder zu hören. Nun kam das Geräusch aus geringerer
Entfernung. Ja, es schien ganz nahe.

Mit den hohen Absätzen durch das hohe Gras zu gehen war

nicht einfach. Aber schließlich gelangte Hannah zur Rückseite

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des Hauses. Erneut war das Hämmern verstummt. Hannah
blickte sich um, schaute zu den Bäumen am Rand des Waldes.

Als ihr Blick zum Haus zurückschweifte, weckte eine Bewe-

gung ihre Aufmerksamkeit.

Sie schaute zum Dach hinauf.
Ein breiter muskulöser Rücken - nackt und männlich - glänzte

dort im Sonnenschein.

Das Gewicht des Mannes ruhte auf einem Bein. Mit dem an-

deren hielt er sein Gleichgewicht, indem er es auf höher gelegene
Ziegel stützte. Er griff in seine Arbeitsschürze, wohl um Nägel
herauszunehmen. Dann beugte der Mann sich vor, setzte einen
Nagel auf einen Dachziegel und trieb ihn mit eleganten, schwun-
gvollen Hammerschlägen ein. Bei jedem Schlag spannten und
streckten sich Arm-, Schulterund Rückenmuskeln. Die Bewe-
gungen wirkten präzise und stark, und die Haltung des Mannes
brachte sein in knappen Jeans sitzendes Hinterteil perfekt zur
Geltung.

Die Krankenschwester in Hannah weigerte sich, in der knacki-

gen Rundung mehr zu sehen als dessen anatomische Funktion -
eben ein Gesäß. Aber gleichzeitig gestand sie sich ein, dass dies
das perfekteste männliche Hinterteil war, das sie je gesehen
hatte.

Bei dem Gedanken atmete sie einmal tief durch, wandte aber

den Blick keinen Moment von dem Mann dort oben auf dem
Dach. Was war los mit ihr?

Erneut legte der Mann eine Pause ein. Dieses Mal legte er den

Hammer nieder und langte in seine rückwärtige Tasche. Mit
einem weißen Taschentuch wischte er sich über die Stirn, und
Hannah stöhnte innerlich, während sie das Muskelspiel seines

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kräftigen Oberkörpers im warmen Sonnenlicht beobachtete, das
über die Baumwipfel einfiel.

Erst jetzt fielen ihr seine Hände auf. Von all der Arbeit müssen

sie voller Schwielen sein, überlegte sie und stellte sich insgeheim
vor, wie sich die rauen Fingerspitzen wohl auf der samtenen
Haut einer Frau anfühlten...

Der Gedanke erregte Hannah, und ihr Puls begann schneller

zu schlagen.

Sie schluckte und versuchte vergebens, den Blick von dem

Mann auf dem Dach abzuwenden.

Unbewusst machte sie einen Schritt vorwärts, wobei sich ein

Absatz ihrer Schuhe in dem hohen Gras verfing. Hannah stolp-
erte. Erschrocken schrie sie auf, konnte sich aber noch rechtzeit-
ig fangen.

Als sie danach sofort wieder zum Dach hinauf schaute, blickte

der Mann auch zu ihr.

Plötzlich war Hannah unheimlich dankbar, dass sie gestolpert

war. Es wäre doch zu peinlich, wenn der Handwerker bemerkt
hätte, dass sie ihn anstarrte.

„Hallo", begrüßte er sie. Dabei lächelte er, auf seinen Wangen

bildeten sich kleine Grübchen, und seine Augen blickten Han-
nah voller Wärme an.

Der Anblick seines attraktiven Gesichts und seines char-

manten Lächelns verwirrte Hannah zunehmend. Der Grund für
ihre Reise war ihr plötzlich vollkommen entfallen.

Glücklicherweise war es gerade jetzt nicht erforderlich zu

sprechen, denn der Mann nahm seinen Hammer wieder in die
Hand, steckte ihn in eine Schlaufe an seinem Arbeitsgürtel und
kletterte die Leiter hinunter, die an der Seite des Hauses lehnte.

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Es dauerte eine Weile, bis er unten ankam - wertvolle Minuten,
die Hannah dazu benutzte, ihr Herzflattern und das Zittern ihrer
Hände zu beruhigen sowie ihre höchst unpassenden Gedanken
unter Kontrolle zu bringen.

Einfach albern, sagte sie sich. Ihre Arbeit als Krankenschwest-

er brachte sie beinahe täglich in Kontakt mit nackten Körpern.
Schließlich konnte man Patienten nicht bekleidet versorgen.
Warum also richtete der Anblick dieses bloßen Oberkörpers sol-
ch ein Durcheinander in ihr an und weckte so erregende
Gedanken?

Doch noch bevor sie Zeit hatte, eine Antwort zu finden, stand

der Mann vor ihr.

Von nahem war er noch attraktiver. Das verwirrende Blaugrau

seiner Augen strahlte unter dichten dunklen Wimpern.

Schwarze Augenbrauen betonten die hohe Stirn mit den fein-

en Linien, die Hannah verrieten, dass der Fremde etwa fünfund-
dreißig bis vierzig Jahre alt sein musste. Das tiefschwarze Haar
schimmerte feucht am Ansatz von der Arbeit auf dem Dach und
glänzte im Nacken sowie auf seiner sonnengebräunten, mit
Staub bedeckten Brust.

Unbewusst fuhr sich Hannah mit der Zunge über ihre trocken-

en Lippen. Sie blinzelte mehrmals und zwang sich dann, den
Blick wieder auf sein Gesicht zu richten.

Das belustigte Aufleuchten in seinen Augen ließ keinen

Zweifel, dass er Hannahs Bewunderung sehr wohl bemerkt
hatte. Sie fühlte, wie ihr Gesicht zu glühen begann.

„Entschuldigen Sie mich noch einen Moment", bat der Mann

und ging an Hannah vorbei. Er nahm das Ende des grünen
Gartenschlauchs vom Boden auf, drehte am Wasserhahn, beugte

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sich ein wenig vor und duschte seinen Oberkörper ab. Dabei
fuhr er sich mit der freien Hand über Brust, Schultern, Nacken
und Gesicht und kämmte sich mit den Fingern durchs Haar.

Hannah verspürte den unwiderstehlichen Drang in sich, selbst

den Schlauch in die Hand zu nehmen und das Wasser über die
Brust dieses Unbekannten zu spritzen, dabei aber sacht mit den
Fingern seine breiten Schultern zu massieren...

Der Wunsch war so groß, dass sie nicht mehr klar zwischen

Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden vermochte. Und
gleichzeitig fand sie ihre Haltung so schockierend, dass sie die
Augen schloss. „Ich werde noch wahnsinnig", murmelte sie.

„Bitte?"
Der Mann hatte das Wasser abgestellt und den Schlauch bei-

seite gelegt. Mit seinem Taschentuch trocknete er sich das
Gesicht und hob dann ein T-Shirt auf, das zusammengeknüllt
auf dem Rasen lag.

Sag was, ermahnte sich Hannah insgeheim. Sprich übers Wet-

ter, über irgendetwas, nur sag irgendetwas, das dem Mann be-
weist, dass du kein Vollidiot bist.

„Ich sagte, was für herrliches Wetter wir heute haben."
Hannah konnte seinem Gesicht ansehen, dass ihn ihre Verle

genheit belustigte. Sehr sogar.

Was um Himmels willen war los mit ihr? Normalerweise war

sie eine überlegte, vernünftig denkende Person. Eine Frau, die
einen Mann niemals und unter gar keinen Umständen anzustar-
ren pflegte.

Aber es ist nicht allein meine Schuld, überlegte sie. Wenn er

sich nicht so zur Schau gestellt, stattdessen aber seine nackte

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Haut bedeckt hätte, dann wäre ich auch in der Lage gewesen,
meine Gedanken wichtigeren Dingen zuzuwenden.

Wie zum Beispiel der Frage, wer er war. Wie kam er über-

haupt dazu, hier auf dem Haus ihres Vaters zu arbeiten, und wer
hatte ihm die Erlaubnis gegeben?

Bei so vielen Fragen, die Hannah durch den Kopf wirbelten,

konnte sie nicht länger schweigen. „Wer sind Sie?" fragte sie
schließlich. „Was tun Sie hier?"

Adam konnte sich das Lachen kaum verkneifen. Die Frau ver-

suchte offensichtlich, mit ihrer abweisenden Haltung von den
bewundernden Blicken abzulenken, die sie ihm zuvor geschenkt
hatte. Während er sich bemühte, seine Belustigung zu verber-
gen, steckte er die Arme in die Ärmel seines T-Shirts und streifte
es sich über den Kopf.

Es war ihm zweifellos richtig durch und durch gegangen, wie

die schöne Rotblonde seinen Körper mit ihren strahlend grünen
Augen angestarrt hatte. Die erregenden Impulse, die von ihr zu
ihm übersprangen, erinnerten ihn an ein Sommergewitter, und
es war lange her, dass er Ähnliches verspürt hatte.

„Ich bin Adam", erklärte er Hannah. „Adam Roth. Und ich war

da oben auf dem Dach, um es zu reparieren."

Hannah stemmte eine Hand in ihre schmale Taille. „Nun, das

habe ich gesehen. Aber warum?"

Jetzt konnte Adam sein Grinsen nicht mehr unterdrücken,

während er höflich Auskunft gab. „Weil es undicht war."

Als daraufhin ihre schönen, wie zum Küssen gemachten Lip-

pen irritiert zitterten, hätte Adam am liebsten laut aufgelacht.
Aber er hielt das nicht für klug.

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Immerhin gelingt es ihr jetzt, wenn auch mit Mühe, ihren

Blick auf mein Gesicht zu konzentrieren, stellte Adam fest. Den-
noch war ihm vollkommen klar, dass sie viel lieber seinen gan-
zen Körper von oben bis unten gemustert hätte.

Aufrichtig gesagt, Adam empfand Hannahs deutliche Be-

geisterung für ihn vorsichtig ausgedrückt - als sehr angenehm
für sein Selbstwertgefühl.

Seine banale Antwort auf ihre etwas dumme Frage hatte ihre

grünen Augen zornig funkeln lassen, und Adam fand, dass sie in
ihrer erregten Stimmung noch viel reizvoller aussah.

„Entschuldigen Sie bitte", sagte sie, während sie sich zwang,

ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. „Ich habe mich of-
fensichtlich nicht verständlich ausgedrückt. Ich wollte wissen,
wer Sie beauftragt hat, das Dach zu reparieren."

Was soll das denn sein, überlegte Adam, ein Verhör? Beim

Klang ihrer misstrauischen Stimme verging ihm das Lachen. Ja,
ihr Ton ging ihm ziemlich auf die Nerven.

„Bevor ich Ihre Frage beantworte", begann Adam, verlagerte

sein Gewicht und kreuzte die Arme vor der Brust, „möchte ich
gerne wissen, wer diese Frage stellt."

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2. KAPITEL

Der Mann brachte Hannah noch zur Raserei. Für wen hielt

sich dieser Zimmermann, dieser Handwerker eigentlich? Wie
kam er dazu, ihr Recht in Frage zu stellen, sich nach seiner Iden-
tität und seiner Arbeit an dem Haus ihres Vaters zu erkundigen?
Wirklich, der Kerl war einfach unmöglich.

„Sehen Sie", sagte Hannah, „ich weiß nicht, wer Sie sind, aber

..."

„Ich sagte schon, wer ich bin", entgegnete Adam ruhig. „Und

nun versuche ich herauszufinden, wer Sie sind."

Aus irgendeinem ihr selbst unerfindlichen Grund wollte Han-

nah dem Unbekannten nur ungern etwas über sich selbst erzäh-
len. Dennoch zweifelte sie, dass er sich zufrieden geben würde,
bevor sie ihm nicht irgendetwas über den Anlass ihrer Anwesen-
heit hier in Little Haven mitteilte.

„Ich komme aus New York." Ihre Stimme klang gepresst. „Ich

will den Verkauf des Hauses und seines Mobiliars in die Wege
leiten. Wenn Sie also nichts dagegen haben, möchte ich gern er-
fahren, wer Ihnen den Auftrag gegeben hat, das Haus zu renov-
ieren, und wie hoch die von Ihnen erwartete Bezahlung ist."

Adam kniff die Augen zusammen, während Hannah sprach.

„Was haben Sie gesagt?"

Hannah beobachtete den Mann und überlegte, was wohl die

plötzliche Änderung seiner Haltung bewirkt hatte. Sie war sich-
er, ihn störte die Tatsache, dass sie das Thema „Lohn"

angesprochen hatte.

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„Bevor ich der Bezahlung zustimmen kann, ist es, glaube ich,

nur fair, wenn ich erfahre, wie viel mich das kosten wird. Meinen
Sie nicht auch?"

Adam schien verwundert. „Ich erwarte keine Bezahlung",

erklärte er.

Unbewusst zog Hannah einen Schmollmund. Doch bevor sie
einen Zweifel äußern konnte, fuhr Adam fort: „Sie dürfen das

Haus nicht verkaufen."

Aha, dachte Hannah, das hat ihn also so aufgebracht.
„Was wird aus Tammy? Was geschieht..."
Dass er ihre Schwester erwähnte, steigerte Hannahs Aufre-

gung - eine Aufregung, die sie nicht zu unterdrücken vermochte.
„Sie kennen meine Schwester? Sie wissen, wo sie sich aufhält?"

„Ihre Schwester?"
„Sie wissen, wo ich Tammy finden kann?", wiederholte sie ihre

Frage.

„Sie sind also Hannah? Hannah Cavanaugh?"
„Können Sie mir sagen, wo Tammy wohnt?"
„Sie sind Bobby Rays älteste Tochter?"
Keiner von beiden hörte dem anderen richtig zu. Sie waren zu

sehr damit beschäftigt, aus den verwirrenden Fakten dieser Situ-
ation schlau zu werden.

„Warten Sie", rief Hannah schließlich und hob eine Hand.

„Aufhören."

Ihr war auf einmal klar, dass sie keine nützliche Information

aus diesem Mann herausbringen würde, wenn sie nicht bereit

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war, ihm verständlich zu machen, wer sie war und warum sie
gekommen war.

Sie seufzte. Sie musste ihre übermächtige Neugier in Bezug

auf Tammy zähmen.

Zumindest für den Augenblick.
„Ja", bestätigte sie seine Vermutung. „Ich bin Hannah Cava

naugh. Bobby Ray war mein Vater. Ich komme aus New York,
um seine persönlichen Angelegenheiten zu ordnen. Ich werde
die Möbel und das Haus verkaufen und den Erlös anlegen, um
Tammys Versorgung zu sichern."

„Was meinen Sie mit, Tammys Versorgung sichern'? Warum

sollte sie überhaupt fortzie hen?"

„Oh, ich hatte nicht geplant, ihr eine neue Unterkunft zu

suchen", versicherte Hannah.

„Sie kann bleiben, wo sie ist. Ich möchte nichts tun, was sie in

Aufregung versetzen könnte."

„Nun, aber das werden Sie." Adams Stimme wurde scharf.

„Und Sie werden ihr auf jeden Fall eine neue Wohnung suchen
müssen, wenn Sie das Haus verkaufen."

Bei dieser überraschenden Eröffnung fiel Hannah aus allen

Wolken. „Tammy wohnt hier?"

Der Handwerker nickte kurz.
„A...aber", stotterte Hannah, „ich hatte vermutet, sie ... Man

sagte mir, ich sollte sie suchen." Sie hob den Blick zu den
Baumkronen, um ihre Fassung Zurückzugewinnen. Gleich da-
rauf sah sie Adam Roth wieder an. „Tammy lebte hier bei
meinem Vater?"

„Solange ich die beiden kenne."

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Hannah sollte nicht eifersüchtig sein, nein, es gab keinen

Grund eifersüchtig zu sein. Sie hatte eine perfekte, geordnete
Kindheit gehabt. Sie war von einer verantwortungsbewussten
Mutter erzogen worden. Von einer Mutter, die ihr Kind gewollt
hatte. Hannah war körperlich und geistig gesund, und sie
wusste, schon deshalb ging es ihr weit besser als ihrer
Schwester.

Dennoch verwirrte es Hannah, als sie jetzt erfuhr, dass ihr

Vater Tammy nicht in eine Anstalt gegeben hatte, wie man es ihr
erzählt hatte, und dass er seiner jüngeren Tochter - im Ge-
gensatz zu seiner älteren - gestattet hatte, zu Hause zu leben.

Aus welchem Grunde? Wie konnte ein Vater die eine Tochter

der anderen vorziehen?

Tränen brannten in Hannahs Augen. Sie würde nicht weinen.

Nicht vor diesem Fremden. Entschlossen atmete sie tief durch
und verdrängte die chaotischen Gefühle.

„Wer ist seit Bobby Rays Tod bei Tammy?" Hannah hörte, wie

leise und unsicher ihre Stimme klang, und diese Schwäche war
ihr äußerst unangenehm.

„Niemand."
Adams Antwort schockierte Hannah. „Das ist doch nicht mög-

lich. Meine Schwester ist ... nicht wie andere. Sie ist ..." Hannah
zögerte, zwang sich dann aber, sich deutlicher auszudrücken.
„Sie ist zurückgeblieben."

Vorwurfsvoll sah Adam Hannah aus seinen grauen Augen an.

„Ich glaube, die korrekte Bezeichnung heutzutage wäre, geistig
behindert'."

Hannah fehlte, wie tiefe Röte ihr ins Gesicht stieg. „Nun, wie

auch immer man das bezeichnen mag, Tammy sollte hier nicht

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allein leben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie in der Lage
ist, für sich selbst zu sorgen."

„Tammy hat viele Freunde", erklärte Adam. „Die Menschen

hier kümmern sich um sie." Er neigte den Kopf zu einer Seite.
„Ich glaube, Sie sollten sich ein wenig Zeit nehmen und Ihre
Schwester erst kennen lernen, bevor Sie beginnen, wichtige
Entscheidungen für das zukünftige Leben von Tammy zu
treffen."

Hannah straffte sich. Wenn sie einen Rat von Mr. Adam Roth

wünschte, dann würde sie ihn schon darum bitten.

„Zeit habe ich nur in sehr begrenztem Maße", erklärte sie steif.

„Ich muss schnellstmöglich wieder nach New York zurück. Ich
bin Krankenschwester, und mit größter Wahrscheinlichkeit
werde ich demnächst zur jüngsten Stationsschwester in meinem
Krankenhaus befördert." Auf einmal war es ihr jedoch peinlich,
dass sie diesem Fremden gegenüber so viel über sich selbst, ihre
Hoffnungen und ihre Träume preisgab. Aber er musste es wis-
sen. Entschlossen hob sie das Kinn. „Vielleicht meinen Sie, das
sei nicht so wichtig", fuhr sie fort. „Für mich ist es das jedoch.
Sehr wichtig sogar. Ich erzähle Ihnen das nur, damit Sie ver-
stehen, warum meine Zeit so knapp bemessen ist. Ich habe viel
zu tun und sehr wenig Z..."

„Nun, Sie hatten offensichtlich gerade Zeit genug, mich zu be-

trachten, als wäre ich ein hervorragendes Stück Roastbeef und
Sie der Chefkoch."

Hannah rang nach Luft. Ihre Augen weiteten sich. „So etwas

würde ich nie tun!"

„Miss Cavanaugh", unterbrach Adam sie erneut, „bitte gestat-

ten Sie mir eine Frage. Wo ist Tammys Mutter? Sollte nicht sie

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diejenige sein, die Entscheidungen wegen des Hauses fällte? Im-
merhin haben wir die Briefe an sie adressiert."

Hannah runzelte die Stirn. Sie fühlte sich von Adams direkter

Ausdrucksweise angegriffen. Aber was er da gerade andeutete,
erstaunte sie und ließ sie alle Peinlichkeit vergessen. „Briefe? Sie
meinen, mehr als einer?"

„Drei, um genau zu sein", erklärte Adam. „Seit Bobby Rays

Tod haben wir alle acht bis zehn Tage einen geschickt. Hank Til-
lis und ich dachten schon ..."

„Tillis." Hannah flüsterte den Namen vor sich hin, während sie

über den vertrauten Klang grübelte. „Sie meinen den Anwalt
Henry Tillis?"

„Genau den meine ich. Für seine Freunde ist er einfach Hank."
„Meine Mutter zeigte mir eine n Brief von ihm. Das Datum

war vom letzten Montag."

„Das muss Brief Nummer drei gewesen sein." Erneut blickte er

Hannah vorwurfsvoll an.

Meine Mutter erhält nacheinander drei Briefe, ohne etwas zu

unternehmen? Hannah konnte es nicht glauben. Auf der ander-
en Seite schien es aber doch recht gut möglich...

„Sehen Sie", begann Hannah, „meine Mutter ist eine sehr

beschäftigte Frau. Sie ist Werbemanagerin. In New York City.
Ihre Klienten brauchen sie. Sie rechnen mit ihr. Und sie lassen
ihr keine Ruhe. Ihre Arbeit macht es ihr sehr schwer, die Stadt
zu verlassen."

In diesem Moment fühlte sich Hannah plötzlich in ihre Kind-

heit zurückversetzt. Sie erinnerte sich an unendlich viele pein-
liche Momente, in denen sie gezwungen war, ihren Lehrern,

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Chorleitern, Leitern der Pfadfindergruppe und sogar den Eltern
ihrer Freunde die Abwesenheit ihrer Mutter zu erklären.

Du bist jetzt dreißig Jahre alt, Hannah, ermahnte sie sich

scharf. Hör auf zu glauben, du müsstest dich für andere
entschuldigen. Und schon gar nicht Adam Roth gegenüber.

„Sehen Sie", begann Hannah, während sie versuchte, bestim-

mt, aber nicht übermäßig scharf zu antworten. „Ich bin hier, um
mich um alles zu kümmern. Jetzt bin ich für Tammy da. Und ich
habe einen vernünftigen Plan. Vielen Dank für Ihre Hilfe, aber
meine Schwester wird sie nicht länger benötigen." Sie wusste,
ihr liebenswürdiges Lächeln wirkte ziemlich gekünstelt. „Das
heißt selbstverständlich, dann, wenn Sie mit dem Reparieren des
Daches fertig sind."

Adam warf Hannah einen vernichtenden Blick zu. „Die un-

dichte Stelle ist repariert."

„Gut." Hannah lächelte noch freundlicher. „Dann können Sie

mir die Rechnung gern zuschicken. Sie muss aber direkt an mich
gehen. Ich glaube nicht, dass ich mich lange in Little Haven auf-
halten werde." Mit diesen Worten hoffte sie, ihn zu entlassen.

„So leicht werden Sie mich nicht los", entgegnete Adam. „Die

Menschen in dieser Stadt werden nicht zulassen, dass Sie nach
Little Haven kommen und Tammys Welt aus den Angeln heben.
Bitte gehen Sie sehr vorsichtig vor. Sie versetzen das Kind sonst
in Panik."

Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte durch das hohe

Gras davon.

Hannah hätte ihn zurückrufen können. Sie hätte ihm sagen

können, sie brauche seine Ermahnungen nicht und er habe hier

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ohnehin keine Rechte. Aber sie unterließ es. Sie war nur froh,
Adam Roth nicht mehr zu sehen.

Adam löste seinen Arbeitsgürtel, warf ihn auf den abgenutzten

Sitz seines alten, verbeulten Pick-Ups und glitt hinter das
Steuer. Er kochte vor Wut. Er fühlte sich wie ein Grizzlybär,

den man gereizt hatte.
Endlich hatte Bobby Kays Familie auf die Briefe reagiert, die

sie ihr geschickt hatten.

Und Hannah Cavanaugh war in die Stadt gekommen...
Trotz seines Zorns stand ihm Hannahs Anblick lebhaft vor Au-

gen.

Er

hatte

auf

dem

Dach

gestanden,

als

seine

Aufmerksamkeit von einem Geräusch unten im Garten abgelen-
kt wurde. Auf den ersten Blick hatte er die Frau mit Tammy ver-
wechselt. Er hatte jedoch schnell erkannt, dass er sich getäuscht
hatte.

Für den Rest seines Lebens würde ihm das Bild von Hannah

Cavanaugh auf dem Rasen hinter dem Haus unvergessen
bleiben. Wie zauberhaft ihr kupferrotes Haar in der Mittags-
sonne glänzte. Das himmelblaue Kleid passte gut zu ihrer
milchig weißen Haut und betonte ihre schlanke Figur Die
Schuhe mit den hohen Absätzen brachten die wohl geformten
Beine hervorragend zur Geltung. Wirklich, ein umwerfender
Anblick.

Dennoch, die Tatsache, dass sie eine tolle Frau war, machte

die Angelegenheit nicht weniger verwirrend.

Er konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich beabsichtigte,

einfach so in Little Haven aufzutauchen und Tammys Existenza-
ufs Spiel zu setzen. Zugegeben, Tammy war kein Kind.

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Jedenfalls nicht nach dem Gesetz. Sie war eine Frau von vierund
zwanzig Jahren.

Das bewies nicht zuletzt ihre Figur. Aber imGeist war sie jung

und kindlich. Extrem naiv.

Sie brauchte Schutz.
Hannah Cavanaugh hatte gesagt, ihre Schwester sei nicht „wie

die anderen", und das war eine passende Bezeichnung für
Tammy. Man würde es Adam niemals verzeihen, wenn er
zuließe, dass Bobby Rays älteste Tochter oder seine Exfrau
dieses junge Wesen verletzten.

Er hatte Bobby Ray ein Versprechen ge geben, und das wollte

er halten.

Adam sah jetzt, dass Kampf angesagt war. Er hatte keine lega-

len Rechte. Hank hatte ihn gewarnt. Mehrmals. Aber Adam
hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Er hatte Bobby Ray
sein Wort gegeben. Und Adam war der Meinung, ein Mann wäre
nur so gut wie sein Wort und sein Ruf.

Während er die holprige Straße entlangfuhr, die ihn zur

Hauptstraße brachte, waren seine Gedanken wieder bei Hannah
Cavanaugh. Er war dieser Frau zwar nie zuvor begegnet, aber
dennoch durchschaute er sie sofort. Er kannte viele Frauen
dieser Art. Das sind diese überheblichen Feministinnen,
erinnerte

er sich, die ständig erpicht darauf sind, alle Situationen zu re-

geln, und sich nicht einmal die Zeit lassen hinzuschauen, ob es
überhaupt etwas zu regeln gibt.

Adam hatte mehr als genug dieser tyrannischen und ego-

istischen Frauen im College und später während seiner polit-
ischen Karriere in Philadelphia kennen gelernt. Ja, er war sogar

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einmal mit einer von ihnen verheiratet gewesen. Sie glücklich zu
ma chen, war ein unmögliches Unterfangen. Das hatte er bald ge
merkt. Manche Frauen waren so vom Erfolg und ihrem Beruf
besessen, so darauf konzentriert, ihr Umfeld auszunutzen, dass
sie nicht sahen, was um sie herum wirklich vor sich ging.

Hannah Cavanaugh hatte ihm anvertraut, sie müsste nach

New York zurück, wo sie eine wichtige Karriere anstrebte. Er
zweifelte, dass sie einen Ehemann hatte. Oder Kinder.

Nein, niemals. Dafür war sie viel zu sehr mit sich selbst

beschäftigt.

In Ordnung. Adam hatte Neuigkeiten für die bezaubernde

Hannah, das schwor er sich.

Auf irgendeine Weise würde es ihm gelingen, ihr die Sache,

die sie „Plan" nannte, zu verderben.

Einen Plan? Habe ich Adam Roth gegenüber tatsächlich von

einem vernünftigen Plan gesprochen, überlegte Hannah?

Nun, bevor sie nach Little Haven kam, hatte sie sich eine ge

wisse Strategie zurechtgelegt. Sie wollte Haus und Mobiliar
verkaufen und Tammy eine langfristige Unterkunft besorgen.
Als ihr jedoch klar wurde, dass ihre Schwester nicht in einem
Heim wohnte, sondern dieses Haus selbst bewohnte, müsste sie
ihre Pläne ändern.

Während Hannah auf Tammy wartete, wanderte sie in der

Küche auf dem abgetretenen Linoleum hin und her. An der Flie
gentür hatte ein Zettel geklebt, den ihre Schwester offensicht
lich zur Information irgendwelcher Besucher geschrieben hatte.
Sie sei „Angeln gegangen" und würde „bald zurück" sein. Sig-
niert hatte sie mit ihrem vollen Namen.

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Ein Lächeln umspielte Hannahs Mund, als sie die sorgfältig, in

Druckbuchstaben geschriebenen Worte las. Sie freute sich, weil
sie dieser Information entnahm, dass Tammy schreiben ge lernt
hatte. Und wenn sie schreiben konnte, konnte sie sicherlich auch
lesen. Zumindest das Notwendigste.

Dieser Zettel war es, der Hannah zeigte, wie wenig sie über

ihre Schwester wusste. Sie besaß nur gewisse Vorstellungen, die
sie sich aus kleinsten Informationen gebildet hatte. Das eine

Mal, als sie ihre Mutter gezwungen hatte, über Tammy zu re-

den, war Hannah verwirrt von dem, was sie erfuhr. Und was sie
erfuhr, war wenig genug, bevor der furchtbare Streit zwischen
ihr und ihrer Mutter ausbrach.

Also war Tammy eine Fremde für sie. Und Hannah hatte nur

eine Woche Zeit, höchstens zwei, um das Vertrauen ihrer Sch-
wester zu gewinnen.

Der Gedanke erschreckte Hannah.
„Gehen Sie vorsichtig vor, Sie versetzen das Kind sonst in

Panik." Adam Roths Worte hallten in ihrem Kopf wider.

Was wusste denn dieser Mann? Gar nichts. Hannah war

gekommen, um Tammy zu helfen.

Und sie würde es nicht zulassen, dass Adam Roth oder irgend-

jemand sonst sie von diesem Vorhaben abbrachte.

Die Nachmittagssonne schien durch das schmutzige Fenster.

Staubkörner tanzten in der heißen trockenen Luft. Die vergilb-
ten Vorhänge starrten vor Dreck.

Dieses Haus bedurfte dringend der Reinigung, und da Hannah

ohnehin gezwungen war, über einen neuen Plan nachzudenken,
machte sie sich gleich an die Arbeit. Sie begann mit dem

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Abwaschen einiger Teller und Tassen und säuberte anschließend
die Arbeitsflächen.

Eine volle halbe Stunde benötigte sie für den Herd. Das Gerät

war ein uraltes Mons ter.

Hannah vermutete, dass er zu den allerersten Gasherden ge-

hörte, die jemals hergestellt wurden.

Während sie ihn von den Fettresten befreite, dachte sie

darüber nach, wie sie mit der neuen Situation fertig werden soll-
te. Sie wollte Tammy mit dem Verkauf des Hauses nicht beun-
ruhigen. Aber sie sah auch keinen Weg, dies zu umgehen. Sie
konnte ihre Schwester doch nicht gut allein hier in Little Haven
zurücklassen.

Zu erfahren, dass Tammy seit Bobby Rays Tod allein in

diesem Haus lebte, verursachte Hannah schreckliche Schuldge-
fühle. Nicht zu fassen, dass ihre Mutter tatsächlich drei Briefe
mit der Nachricht vom Tod ihres Exmannes erhalten hatte und
erst auf den letzten reagierte. Hannah schüttelte den Kopf. Aber
sie wusste zumindest, dass ihre Mutter glaubte, Tammy sei in
einer staatlichen Einrichtung untergebracht.

Auf der rückwärtigen Veranda schüttelte Hannah die

Vorhänge aus, putzte die Fenster und hing die Vorhänge wieder
auf. Und während sie den Fußboden schrubbte, überle gte sie
weiter,

was sie wegen des Hauses ihres Vaters und der Unterbringung

ihrer Schwester unternehmen sollte. Vielleicht konnte ihre Mut
ter ihr einen Rat geben.

Nein, antwortete eine klare innere Stimme, das bekommst du

selbstverständlich allein in den Griff. Außerdem hast du es jedes
Mal bereut, wenn du sie um ihre Hilfe gebeten hast.

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Die Sonne warf lange Strahlen über den Fußboden. Das Lino-

leum war zwar zu alt, um zu glänzen, >aber Hannah wusste, es
war jetzt sauber.

Wo bleibt Tammy nur? Überlegte sie.
Hannah schaute aus dem Fenster. Ihre Haut brannte von all

dem Staub und Schmutz.

Sie ging in den vorderen Teil des Hauses zur Treppe und

suchte das Badezimmer.

Irgendwie war ihr noch im Gedächtnis, dass es unten keines

gab.

Als sie den Flur im ersten Stock betrat, verlor sie beinahe die

Fassung beim Anblick der drei offenen Schlafzimmertüren. Erin-
nerungen überwältigten sie.

Plötzlich hörte sie das Lachen eines kleinen Mädchens, wie es

in dem stillen Haus widerhallte. Glückliches Kindergeschrei
umgab sie. Und wie aus Geistermund ertönte Gekicher aus dem
Elternschlafzimmer zu dem Raum hinüber, den Hannah als
ihren eigenen wieder erkannte.

Dieses Erlebnis erschreckte Hannah keineswegs. Ihr war klar,

was sie hörte, waren Geräusche, die sie sich nur einbildete. Erin-
nerungen aus glücklichen Tagen mit ihrem Vater, als sie noch
ein kleines Mädchen war.

Unvergessen waren sie ihr geblieben, diese zauberhaften Mo-

mente mit der Person, die sie mehr geliebt hatte als alle anderen.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, stieß sie die Tür zum El-

ternschlafzimmer ganz auf.

Sie trat ein und machte ein paar zögernde Schritte vorwärts.

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Noch immer stand dasselbe schmiedeeiserne Bett an der einen

Wand des überfüllten Raums, während sich an der ge genüber-
liegenden Wand die schwere Ankleidekommode aus Walnuss- :
holz befand.

Hannah musste lächeln, als sie daran dachte, wie fröhlich ihr

Vater damals lachte, wenn sie auf dem Bett herumsprang, dass
die Federn quietschten. Aber sobald die Schritte ihrer Mutter auf
der Treppe zu hören waren, verscheuchte er sie von der Matratze
und schickte sie aus seinem Zimmer in ihr eigenes zurück,

wo er die Decke um sie schmiegte und ihr ein Schlaflied sang.
„O Daddy!" Kaum hörbar brachte Hannah diese Worte hervor.

Heiße Tränen brannten in ihren Augen und verschleierten ihren
Blick. Warum hatte er sie nicht bei sich behalten?

Warum hatte er sie mit ihrer Mutter gehen lassen, obwohl sie

doch so glücklich war bei ihm?

Als Hannah sich in Gedanken verloren eine lose Haarsträhne

hinters

Ohr

steckte,

weckte

eine

Bewegung

ihre

Aufmerksamkeit. Ein Blick nach links zeigte ihr Spiegelbild im
Spiegel.

Was ist eigentlich mit mir los, schalt sie sich. Ich bin nicht

mehr das kleine Mädchen von damals. Und auf ihre Fragen
würde sie ohnehin keine Antworten mehr bekommen.

Diese Chance war mit dem Tod ihres Vaters begraben.
Mit beiden Händen wischte sie die Tränen fort. Sie musste den

Kummer verdrängen.

Sicher kam Tammy bald nach Hause. Wie würde das arme

Ding wohl reagieren, wenn sie eine in Tränen aufgelöste Frau in
ihrem Haus fand?

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„Wasch dich erst mal", befahl sie ihrem Spiegelbild mit

bestimmter Stimme. „Du willst doch bereit sein, wenn deine
Schwester kommt."

Sie ging ins Badezimmer hinüber und erfrischte Gesicht und

Arme mit kaltem Wasser.

Auf einem Bord lag ein Waschlappen, mit dem sie sich Staub

und Schweiß von der Haut wusch. Als sie den Waschlappen
gerade wieder zum Trocknen aufhängen wollte, hörte sie die
Fliegentür gehen und gleich darauf mit lautem Knall wieder
zufallen.

Hannah trat auf den Flur und schlich leise zur Treppe, wo sie

klopfenden Herzens mit einer Hand auf dem Pfosten des
Geländers stehen blieb. Obwohl sie keine Ahnung hatte, was sie
wegen der geistigen Behinderung ihrer Schwester erwartete, war
sie unheimlich gespannt, Tammy wieder zu sehen.

Ein Gefühl der Angst stieg in ihr auf. Wie sollte sie reagieren,

wenn Tammy sie nicht mochte?

Hör auf, ermahnte sie sich, sie wird dich mögen. Sie ist deine

Schwester.

Auf einmal machte noch ein Gedanke ihr große Angst:

Zweifellos musste Tammy sich erschrecken, wenn sie eine
vollkommen Fremde in ihrem Haus vorfand.

So leise wie möglich schlich Hannah die Treppe hinunter. Sie

hörte ihre Schwester in der Küche herumgehen. Auf einmal
begann Tammy zu singen. Sie hatte eine helle, klare Stimme, die

Hannahs Herz mit Freude erfüllte. In der Mitte des Wohnzim-

mers blieb sie stehen und lauschte.

Hannah erkannte die Melodie wieder. Es war ein altes

Kirchenlied.

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Ein Lächeln umspielte Hannahs Mund, gleichzeitig kämpfte

sie mit ihrer Unentschlossenheit. Sie wollte ihre Schwester un-
terbrechen, wollte aber auch bleiben, wo sie war, und dem wun-
dervollen Gesang zuhören. Nach kurzer Zeit siegte dann aber
doch ihr Verlangen, Tammy zu begrüßen.

„Tammy?" sagte sie leise und betrat zögernd die Küche.
Die junge Frau vor dem Spülbecken wirbelte herum. Ihre fröh-

lich leuchtenden, grünen Augen veränderten sich keine Spur
beim Anblick der Fremden.

„Hallo." Tammys Stimme war keine Furcht, nur freudige

Überraschung anzumerken.

Hannah atmete tief durch. Wie entzückend ihre Schwester

aussah. Ja, einfach zauberhaft. Diese junge Frau hatte etwas
Überirdisches, beinahe Ätherisches an sich.

Tammy hatte nicht Hannahs kupferfarbene Haare. Ihre dichte

Haarpracht leuchtete in der Farbe von hellem Flachs und fiel in
goldenen Wellen über ihre Schultern bis weit über den Rücken
hinab. Als Hannah genauer hinsah, meinte sie zu erkennen, dass
die Zartheit, die ihr als Erstes an ihrer Schwester aufgefallen
war, sich in ihrem unschuldigen Blick widerspiegelte und die
Reinheit des Herzens bewies.

„Hallo." Hannahs Stimme zitterte vor Aufregung. Die Erinner-

ungen an die Zeit, als sie Tammy als Baby im Arm gehalten
hatte, schienen sie zu überwältigen. Die einzigen Erinnerungen,
die sie noch an ihre Schwester hatte.

„Ich war Angeln."
Hannah nickte. „Ich weiß. Ich habe deine Nachricht gelesen."

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„Ah", meinte Tammy nur. „Ich habe viele Forellen gefangen",

sagte sie dann. „Genug fürs Dinner." Ihr Gesicht nahm einen
verträumten Ausdruck an. „Forellen sind meine Schwäche."

Ihre Miene hellte sich auf, als ihr etwas einzufallen schien.

„Ich hatte sogar genug gefangen, um Mrs. Blake ein paar für ihr
Dinner abzugeben." Tammy lächelte. „Sie war dankbar, als ich
ihr welche brachte. Aber bis zu ihrem Haus ist es ein weiter
Weg."

Tammy war so erfreut über ihre gute Tat, dass Hannah inner-

lich lächeln musste. „Es war wirklich sehr nett von dir, ihr etwas
von deinem Fang abzugeben."

Plötzlich runzelte Tammy die Stirn. „Mrs. Blake ist blind."
„Oh, das ist aber traurig."
Die junge Frau hob belehrend den Zeigefinger. „Aber hilf ihr ja

nicht zu viel. Sonst reißt sie dir nämlich den Kopf ab." Tammy
kannte sich aus. Sie nickte. „Mrs. Blake ist sehr selbstständig.
Am Besten, du wartest, bis sie dich selbst um etwas bittet."

Da Hannah nicht recht sicher war, was sie antworten sollte,

sagte sie nur: „Verstehe. Ich werde es mir merken."

Plötzlich wurde Hannah bewusst, dass Tammy absolut nicht

daran interessiert war zu erfahren, wer sie eigentlich war. Ihre
Schwester tat, als wäre es vollkommen normal, eine Fremde im
Haus zu sehen. Offensichtlich fehlt ihr der so überaus wichtige
Selbstschutz-Instinkt, dachte Hannah besorgt.

„Tammy", fragte sie leise, „weißt du, wer ich bin?"
Die junge Frau reagierte zunächst mit einem schiefen Lächeln.

„Unsinn", sagte sie dann, „woher soll ich das wissen. Wir haben
uns doch gerade erst kennen gelernt?" Ohne Hannahs Antwort

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abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich bin hungrig. Und wie sieht es mit
dir aus?"

„Beunruhigt es dich denn nicht, wenn du nach Hause kommst

und dort eine fremde Person vorfindest?" wollte Hannah wissen.

Tammy zuckte die Schultern. „Immerhin hast du wirklich

prima sauber gemacht. Die Küche glänzt geradezu", lobte sie.
„Und ich hasse putzen." Sie lächelte. „Ich dachte, da sollte ich
freundlich zu dir sein."

Hannah fand diese Begründung recht kindlich. „Woher weißt

du, dass ich die Küche sauber gemacht habe?"

Ihre Schwester zwinkerte ihr mit ihren grünen Augen zu. „Du

warst es doch, oder?" fragte sie nach kurzem Zögern.

Hannah resignierte. „Das stimmt. Aber das ist nicht der

Punkt. Du solltest vorsichtiger sein. Ich hätte dich berauben
oder dir etwas antun können. Du konntest es ja nicht wissen."

„Ach so. Nun, ich wusste es eben", versicherte Tammy ihr.

Dann blickte sie über die Schulter, wo die Fischfilets auf der
Arbeitsplatte lagen. „Bist du nicht hungrig? Ich kann es kaum
noch ertragen."

„Na gut. Setz dich einfach hin. Ich bereite den Fisch zu."
Sie scheuchte Tammy vom Arbeitstresen fort und blickte un-

sicher auf die schneeweißen Filets. Da sie oft sogar mehr als fün-
fzig Stunden in der Woche im Krankenhaus arbeitete, blieb

ihr wenig Zeit zum Kochen. Es kann doch nicht so schwierig

sein, überlegte sie, diese Forellen zuzubereiten.

„Ich esse gern gebackene Bohnen zu meiner Forelle", unter-

brach Tammy ihre Gedanken.

„Wie Schweinefleisch mit Bohnen? Aus einer Dose?"

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Tammy nickte und deutete auf den Schrank neben dem Herd.

Hannah zog die Tür auf.

Aus einer Vielzahl von Konserven wählte sie eine Dose

Bohnen.

„Und du magst deinen Fisch gebraten?"
„Ja", sagte Tammy und fügte dann bedeutungsvoll hinzu:

„Forellen sind meine einzige Schwäche."

Hannah konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. „Ich weiß",

erwiderte sie leise, „das hast du mir schon verraten."

Nachdem sie Mehl, Salz und Pfeffer für den Fisch sowie einen

Büchsenö ffner gefunden hatte, machte Hannah sich an die
Arbeit. Doch nun kreisten ihre Überlegungen wieder um die
Frage, wie sie Tammy ihre Identität und den Grund ihres Kom-
mens erklären sollte.

Schließlich hielt sie es für die beste Lösung, ohne langes Her-

umreden zur Sache zu kommen.

„Weißt du, Tammy, ich bin aus New York gekommen, um dich

wieder zu sehen."

„Ich war noch nie in der Stadt New York. Wo liegt die über-

haupt? Weit weg von hier?"

„Oh ja, ziemlich weit", erklärte Hannah. „Mit dem Auto

braucht man schon ein paar Stunden."

„Oh."
Während die Eisenpfanne heiß wurde, wälzte Hannah die Fi-

lets in Mehl und würzte sie mit Salz und Pfeffer. Sobald die But-
ter zu sieden begann, legte Hannah den Fisch in die Pfanne.

„Ich bin Hannah", verkündete sie schließlich, „deine große

Schwester. Wusstest du, dass du eine Schwester hast?"

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Sie versuchte, ihr Kleid nicht mit den Mehlbestäubten Fingern

zu berühren, und schaute zu Tammy hinüber. Sie war gespannt,
wie diese auf die Neuigkeit reagieren würde.

Aber Tammy schien gar nicht auf Hannahs Worte geachtet zu

haben. Sie konzentrierte sich ganz auf Hannahs Arbeit.

„Willst du die Bohnen nicht noch ein bisschen verbessern?"

fragte Tammy zögernd.

Hannah sah, wie ihre Schwester besorgt die Stirn runzelte.
„Verbessern?" Hannah verstand nicht ganz.
„Mit etwas braunem Zucker und einen Löffel gelbem Senf",

schlug Tammy vor. „Ein bisschen mit Mehl anschwitzen würde
auch nicht schaden."

„Das lässt sich machen." Hannah säuberte ihre Finger und

schaute erneut in den Schrank, um die erforderlichen Zutaten
herauszuholen.

Offensichtlich war Tammy jetzt ein wenig beruhigt, was die

Zubereitung des Essens betraf, denn plötzlich stellte sie mit
kesser Stimme fest: „Du kannst nicht Hannah sein.

Meine Schwester ist noch ein kleines Mädchen. Sie ist sechs."
„Nun ..." Einen Moment verschlug es Hannah die Sprache.

„Ich bin inzwischen erwachsen", erklärte sie dann. „Ich bin
dreißig Jahre alt."

Tammys Ausdruck verriet, dass sie meinte, genau das sei der

Beweis für ihr eigenes Argument.

„Ich habe Hannah. Ich kann sie dir zeigen."
„Was heißt das, du hast Han..."

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Doch bevor Hannah ihre Frage beenden konnte, rannte

Tammy bereits ins Wohnzimmer.

Und gleich darauf waren ihre Schritte auf der Treppe zu

hören.

Wie soll ich es ihr nur erklären, überlegte Hannah. Wie bes-

chreibt man jemandem, der über das Denkvermögen eines klein-
en Kindes verfügt, den Vorgang des Erwachsenwerdens?

Sie ging zum Kühlschrank und suchte in den Vorräten nach

einem Glas Senf.

„Oh. Oh. Oh."
Die Panik in Tammys Stimme ließ Hannah vor dem Kühls-

chrank herumwirbeln. Dichte schwarze Rauchschwaden stiegen
aus der Pfanne auf dem Gasherd.

„Ach du meine Güte", rief Hannah aus, nahm einen Topflap-

pen vom Haken neben dem Herd, ergriff die heiße Pfanne und
stellte sie im Spülbecken ab. Dann drehte sie den Wasserhahn
weit auf. Explosionsartig verdampfte das Wasser, als es auf das
glühend heiße Metall traf. Schäumend brodelte es in der Pfanne.
Der scharfe Rauch trieb Hannah die Tränen in die Augen, und es
stank entsetzlich nach verbranntem Fisch.

„O weh. Hat hier jemand das Dinner verdorben?"
Hannah versuchte, durch den Rauch etwas zu sehen, und

musste feststellen, dass der verwirrende Adam Roth zurück-
gekehrt war.

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3. KAPITEL

„Hallo, Adam", antwortete Tammy. Sie stemmte die Hände in

die Hüften. „Hannah hat den Fisch verbrannt", platzte sie in
bekümmertem Ton heraus.

Hannahs Wangen glühten. Sie war verlegen und fühlte sich

schuldig.

„Das konnte man schon\ riechen." Hannah sah Adam an, dass

er Tammys Kummer teilte. Aber dann grinste er spitzbübisch.
„Sie sind wohl keine besonders gute Köchin, was?"

Hannah warf Adam einen wütenden Blick zu. Innerlich kochte

sie.

Obwohl die meisten Küchenfenster offen standen, ging Adam

von einem Fenster zum anderen und öffnete auch noch die
Klappen.

„Hilf mir, Tammy", bat er. „Wir müssen auch die Eingangstür

und die Hintertür aufmachen, damit der Rauch ganz abziehen
kann."

Tammy lachte und freute sich, he lfen zu können. Sie eilte ins

Wohnzimmer und öffnete die Fenster auf der Frontseite des
Hauses. Der Schmerz über den verbrannten Fisch schien für den
Augenblick vergessen.

Hannah seufzte tief auf in ihrem Ärger über ihre eigene Un-

achtsamkeit. Dabei atmete sie aber so viel Rauch ein, dass sie
von einer Hustenattacke geschüttelt wurde.

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„Kommen Sie", forderte Adam sie auf und nahm ihren Arm.

„Gehen wir auf die Veranda."

„Ich habe nur zwei Filets verbrannt", stammelte Hannah unter

Husten. „Es ist noch genügend Fisch übrig. Wir brauchen also
nicht verhungern."

„Nun, es ist ja schön, wenn noch so viel Fisch übrig ist",

meinte Adam. „Wenn er aber wieder verbrennt, müssen Sie eben
doch verhungern."

Hannah wollte das spitzbübische Lächeln in seinen

graublauen Augen nicht sehen.

Ebenso wenig wie sie das verführerische Lachen hören wollte,

das ihn schüttelte. Ihr Herz klopfte laut, und ihre Handflächen
fühlten sich feucht an. Was war nur los mit ihr?

Sie kniff die Augen zusammen und blickte Adam so zornig an,

wie es ihr nur möglich war. Verflixter Kerl. Niemals würde sie
diesem Mann zeigen, wie attraktiv sie ihn fand.

Was hatte er bloß an sich, dass er ihr derart den Kopf

verdrehte?

„Warum hat Tammy eigentlich nicht selbst den Fisch geb-

raten, den sie gefangen hat?"

Adams Ton klang vorwurfsvoll.
Hannah ließ einen missbilligenden Laut vernehmen, um ihren

Zorn über diese Frage auszudrücken. Doch bevor sie ihre Mein-
ung sagen konnte, kam Tammy auf die Veranda gelaufen. Of-
fensichtlich hatte die junge Frau Adams Frage mitbekommen.

„Sie bestimmt gern", gab Tammy Auskunft. „Sie sagte, ich

solle mich an den Tisch setzen, während sie kocht." Tammy
zuckte die Schultern. „Das habe ich befolgt." Dann wechselte sie

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das Thema. „Ich glaube, ich hole mir meinen Fächer aus dem
Schlafzimmer. Vielleicht kann ich mir damit frische Luft
zufächeln."

Hannah sah, wie ihre Schwester Adam erwartungsvoll

anblickte.

Adam lächelte. „Eine großartige Idee, Tammy. Mach das."
Als Hannah mit Adam wieder allein war, sah er sie fragend an.

Dieser Blick galt mit Sicherheit der Frage, warum Tammy nicht
das Essen zubereitet hatte.

Hannah war wütend. „Haben Sie das Monster von Gasherd in

der Küche gesehen?", beklagte sie sich. „Ich musste den Brenner
mit einem Streichholz anzünden. Das Ding ist mindestens hun-
dert Jahre alt. Und es ist gefährlich. Tammy darf nicht darauf
kochen. Es ist einfach nicht sicher."

„Solange ich Tammy kenne, kocht sie auf diesem Monster."

Adam hob eine Augenbraue.

„Mit ist jetzt völlig klar, dass sie sich vor Ihnen in Acht neh-

men muss."

Tief verletzt stand Hannah da. Ihr fielen alle möglichen

Entschuldigungen ein. Sie war eine Karrierefrau, eine erfol-
greiche Krankenschwester in einer Großstadtklinik. Wen küm-
merte es da, ob sie kochen konnte? Ihre Patienten sicher nicht.
Es interessierte weder ihren Chef noch ihre Kollegen. Und

glücklicherweise verdiente sie auch genügend Geld, um aus-

wärts essen zu können.

Sie sprach jedoch keinen dieser Gedanken aus. Zu sehr fühlte

sie sich von Adams Vorwurf betroffen.

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„Ich sage es noch ein letztes Mal." Jetzt hatte er die Stimme

gesenkt. „Sie sollten sich lieber Zeit lassen, Tammy kennen zu
lernen, bevor Sie hier herumrennen und alles ändern wollen."

Nur mit Mühe gelang es Hannah, nicht zu sagen, was ihr auf

der Zunge lag.

„Was für ein Bild trägt Tammy da mit sich herum?", wollte

Adam dann wissen.

Jetzt fiel ihr das Dilemma wieder ein, in dem sie sich befunden

hatte, als sie ihrer Schwester ihre Identität zu erklären versucht
hatte. Ob Adam ihr nicht helfen konnte?

Sie fand die Vorstellung schrecklich, ihn um Rat zu bitten,

aber der Mann kannte Tammy. Zumindest das musste Hannah
ihm zugestehen.

„Es ist ein Foto von mir", erklärte sie. „Ich bin darauf sechs

Jahre alt. Ich habe das Gefühl, Tammy hat nicht richtig ver-
standen, wer ich bin."

„Ich sagte Tammy, ich sei ihre ältere Schwester", fuhr sie fort,

als sie seine erstaunte Miene sah. „Aber sie war überzeugt, ich
könnte nicht Hannah sein. Ihre Schwester sei erst sechs. Dann
rannte sie hinaus, um das Foto als Beweis zu ho len. Ich wollte
ihr gerade das Älterwerden erklären, als ..." Sie verstummte.
„Nun, Sie wissen ja, was dann hier los war."

„Sie verdarben den ganzen wundervollen Fisch."
„Nicht alles ist ..." Hannah fand, sie brauchte sich diesem

Mann gegenüber nicht zu verteidigen. Sie nahm sich die Zeit, tief
durchzuatmen. „Sehen Sie, wenn sie mir im Umgang mit Tammy
helfen könnten, damit sie mich versteht ..."

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In diesem Moment trat Tammy zu ihnen. Leicht fuhr sie sich

mit der Hand durch ihr zauberhaftes goldenes Haar. „Man kann
ja schon wieder klar sehen", stellte sie vergnügt fest.

„Das ist gut", meinte Adam. „Ist dir Moppet schon über den

Weg gelaufen?"

„Nein", antwortete Tammy. „Und ich wette, er ist sehr

hungrig".

Sie wandte sich um und lockte den Kater mit zärtlichen

Lauten an. „Moppet. Komm zu mir, Moppet."

Ein orangefarbener Kater mit flauschigem Fell sprang wild
miauend hinter den Bäumen hervor. Hannah fiel ein, dass er

sie schon begrüßt hatte.

Flehend sah sie Adam an. Sie hatte so gehofft, er würde ihr

helfen, ihrer Schwester zu erklären, wer sie sei. Aber stattdessen
ermahnte er Tammy nur, den Kater zu füttern.

Geduld, schienen seine grauen Augen zu sagen. Und auf ein-

mal fühlte sich Hannah vollkommen ruhig. Seltsam, er verstand
es, ihr mit einem Blick alle Zweifel und Ängste zu nehmen.

Pass auf, Hannah, mahnte eine kleine Stimme in ihrem Inner-

en. Du schätzt diesen Mann höher ein, als er es verdient.

„Braver Junge", sang Tammy leise und streichelte dem Kater

über das weiche Fell.

Dann holte sie aus einer Tüte in der Küche eine Tasse voll

Katzen-Trockenfutter. „Jetzt bist du an der Reihe, mein kleiner
Moppet."

Als Adam neben Tammy in die Hocke ging, bemerkte Hannah

seine muskulösen Oberschenkel, die sich unter den Jeans
abzeichneten. Energisch rief sie sich zur Vernunft und zwang

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sich, den Blick auf sein Gesicht zu richten. Doch auch seine
stahlblauen Augen ließen ihren Puls rasen. Verflixt. Sie musste
auf jeden Fall ihre unsinnige Zuneigung zu diesem Mann in den
Griff bekommen.

„Kannst du dich daran erinnern, wie ich dir eines Tages Mop-

pet ins Haus brachte?"

fragte Adam Tammy.
„O ja", flüsterte Tammy lächelnd. „Damals war er noch so

klein. Er zitterte immer, und ich wickelte ihn in ein Tuch."

„Richtig", stimmte Adam ihr zu. „Du hast dich gut um ihn

gekümmert. Du hast ihn gefüttert und ihm Wärme gegeben.
Außerdem einen trockenen Platz zum Schlafen. Du hast ihm viel
Liebe geschenkt."

„Ich vergesse nie, Moppet zu versorgen", betonte Tammy

stolz.

„Inzwischen ist er ein schöner fetter Kater geworden", fuhr

Adam fort. „Findest du nicht auch?"

Tammy nickte, ohne den Blick von ihrem geliebten Moppet zu

nehmen.

Ganz vorsichtig nahm Adam ihr das Foto aus der Hand. „Han-

nah war auch einmal ein niedliches kleines Mädchen", sprach
Adam leise weiter.

Tammy blickte erst ihn, dann das Foto an.
„Und sie ist auch groß geworden", fügte Adam hinzu.
Einen Moment lang wirkte die junge Frau verwirrt. Dann
holte sie Luft, und ihr Blick flog zu ihrer Schwester. „Du bist

wirklich Hannah."

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Hannah nickte und lächelte zögernd.
„Adam!" Plötzlich klang Tammy erregt. „Meine Schwester ist

nach Hause gekommen."

Dann warf Tammy sich Hannah in die Arme, und der Kater

sauste erschrocken davon.

Lachend drückte Hannah ihre Schwester fest an sich.
„Ich bin so froh, dass du da bist", jubelte Tammy,
„Ich bin auch froh, dass ich hier bin", murmelte Hannah.
„Es ist ja so lange her."
Hannah nickte. Sie war erleichtert, dass Tammy nun endlich

verstanden hatte, wer sie war.

„Ich liebe dich!" Tammys Augen leuchteten vor Glück. „Oh

Hannah, ich habe dich schon immer geliebt."

Dieser hemmungslose und offene Gefühlsausbruch machte

Hannah ein wenig verlegen. Sie wusste nicht, was sie sagen soll-
te. Sie wünschte, sie fände Worte, um Tammys reine, aufrichtige
Gefühle zu erwidern.

Aber seit Hannah ihre kleine Schwester das letzte Mal gesehen

hatte, waren Jahre vergangen. Unendlich viele Jahre, in denen
es ihr nicht einmal erlaubt gewesen war, an Tammy zu denken,
geschweige denn von ihr zu sprechen. Wie konnte sie jemandem
ihre Liebe erklären, der buchstäblich ein Fremder für sie war?
Unmöglich. Zumindest nicht so überschwänglich wie Tammy.
Also schwieg Hannah einfach.

„Ich bin hungrig", rief Tammy plötzlich. „Habt ihr auch

Hunger?"

„Ehrlich gesagt, ja", gestand Hannah.

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„Warum bereitest du nicht den Rest der Forellen zu?" schlug

Adam Tammy vor.

„Bleibst du zum Essen?", fragte Tammy ihn. „Ich möchte

meine gefüllten Brötchen zubereiten."

Hannah fühlte Adams fragenden Blick auf sich ruhen. Sie

nickte langsam. Der Gedanke, dass Adam zum Dinner blieb, ge-
fiel ihr nicht. Offensichtlich empfand er aber echte Zuneigung
für Tammy, und so hoffte Hannah, durch ihn mehr über ihre
Schwester zu erfahren.

„Ich würde gern mit euch essen", sagte er zu Tammy.
„Dann fange ich jetzt lieber sofort mit der Arbeit an", meinte

Tammy.

„Besser war's. Oh ..." Adam rief Tammy zurück. „Beinahe hätte

ich es vergessen." Er langte in seine Tasche. „Ich habe dir etwas
mitgebracht." Er reichte ihr eine Süßigkeit.

Tammy bedankte sich und seufzte mit einem Blick zu Hannah:

„Schokolade. Das ist meine einzige Schwäche."

Während Tammy damit beschäftigt war, das Essen zuzubereit-

en, spazierten Hannah und Adam Seite an Seite den kleinen Weg
entlang.

„Ich verstehe nicht, warum Tammy mich nicht einfach aus der

Küche geschickt hat", sagte Hannah. „Warum ließ sie mich - eine
völlig Fremde - drinnen einfach das Kommando übernehmen?"

Adams Kichern klang so warm und herzlich, dass Hannahs

Haut unwillkürlich zu prickeln begann.

Hannah versuchte, sich auf das Singen der Vögel in den Bäu-

men und die fantastischen, malvenfarbenen Wolken am
Abendhimmel zu konzentrieren. Aber es gelang ihr nicht.

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Sie konnte Adam Roths faszinierende Ausstrahlung einfach

nicht ignorieren und reagierte viel stärker auf diesen Mann, als
ihr lieb war.

„Ich weiß nicht, ob es Ihnen schon einmal jemand gesagt hat",

murmelte Adam schließlich, „aber Sie besitzen eine dominante
Persönlichkeit."

Im ersten Moment wollte Hannah protestieren. Aber dann sah

sie ein, dass er Recht hatte. Und sie durfte ihm auch nicht verü-
beln, dass er die Wahrheit sagte.

„Ich tue, was ich tun muss", war alles, was sie erwiderte.
„Das ist mir klar."
Hannah überlegte, was das nun wieder bedeuten sollte. War

diese kleine Bemerkung als Kompliment oder als Kritik zu ver-
stehen? Auch wenn sie diesen Mann heute erst kennen gelernt
hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass ein gewisser Vorwurf in
seinen Worten lag.

„Aber es sieht Tammy eigentlich nicht ähnlich, absolut gar

nichts zu sagen", fügte er dann hinzu.

Diese Feststellung klang herausfordernd, und Hannah über-

legte noch einmal, was in der Küche geschehen war, bevor Adam
kam. „Sie sagte jedenfalls kein Wort davon, dass sie selbst
kochen wollte", versuchte sie, die Situation zu rekonstruieren.
„Sie betonte nur, dass sie hungrig sei, und fragte, ob

ich auch Hunger habe. Das passierte sogar zweimal, bevor ich

beschloss, das Dinner zu kochen."

„Aha." Adam nickte.
„Aha?" Hanna zog eine Braue hoch. „Sie scheinen Tammys

Haltung zu verstehen."

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Adam nickte erneut. „Ja. Sehen Sie, Tammy begreift, dass sie

vom Leben manchmal gefordert wird. Meistens, genauer
gesagt."

Der zärtliche Ton seiner Stimme rührte Hannah. Vielleicht

wirkte er ja auf sie irritierend, aber mit Tammy ging er äußerst
zartfühlend um.

„Sie weiß", fuhr er fort, „dass sie von den Menschen in ihrer

Nähe ein wenig Unterstützung benötigt. Und das ist es, was sie
sucht."

Hannah runzelte die Stirn, während sie einige der Puzzleteile

zusammenfügte. „So, wie sie Ihre Bestätigung wegen des Fächers
erwartete? Ich hatte vermutet, sie würde Sie um Erlaubnis bit-
ten, ihn aus dem Schlafzimmer holen zu dürfen."

Adam schüttelte den Kopf. „Nein. Um meine Erlaubnis ging es

ihr nicht. Sie weiß recht gut, was getan werden muss. Meistens
jedenfalls." Er seufzte. „Sie will nur hören, dass die anderen ihr
zustimmen. Sie braucht die Bestätigung." Er zuckte die Schulter.

„Führung eben."
Meistens. Das Wort war nur unbedeutendes Beiwerk, aber es

beunruhigte Hannah dennoch.

„Sie ist wie ein Kind", stellte sie fest.
„Tammy ist reizend. Sie ist herzlich und freundlich. Sie küm-

mert sich um die Menschen in ihrer Nähe. Und wir kümmern
uns um sie."

Meistens. Noch immer arbeitete das Wort in Hannahs Kopf.

„Was geschieht, wenn sie eine Situation falsch einschätzt", fragte
Hannah, „und wenn dann niemand da ist, der ihr hilft?"

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Eine Weile gingen sie schweigend den Weg am Wald entlang,

bevor Adam antwortete.

„Irgendwie wird sie schon damit fertig. Jedenfalls ist ihr das

bis jetzt gelungen. Ich möchte, dass Sie wissen, dass ich großes
Vertrauen in Tammy habe. Ich glaube, sie kann recht gut allein
für sich sorgen."

Doch. Hannah entging nicht, die leichte Sorge hinter seinen

Worten. „Solange sie von anderen unterstützt wird." Hannah
fühlte sich gezwungen zu sagen, was Adam ihrer Meinung
nachgedacht, aber nicht ausgesprochen hatte.

„Sehen Sie", er hob die Stimme, „Sie müssen doch zugeben,

dass Sie Tammys Bedürfnisse und Wünsche in Ihre Überlegun-
gen mit einbeziehen müssen, bevor Sie Entscheidungen treffen
und ihr Heim verkaufen. Sie hat ihr ganzes Leben hier gewohnt.

Es wäre einfach nicht richtig, wenn Sie hier auftauchen und

ihr Little Haven wegnehmen."

Offensichtlich war er auf Streit aus. Aber Hannah hatte keine

Lust, darauf einzugehen.

„Ich bin ganz Ihrer Meinung", pflichtete sie ihm deshalb bei.
Er schien offensichtlich erleichtert, denn seine Augen blickten

freundlicher. „Vielen Dank", murmelte er.

Die Intensität seines Blickes und der warme Ton seiner

Stimme hatten eine unglaubliche Wirkung auf Hannah. Auf ein-
mal vermochte sie kaum mehr zu atmen, und ihr Puls schlug wie
wild. Ihre Beine schienen unter ihr nachgeben zu wollen.

Unbewusst berührte sie nach Halt suchend Adams Arm. Doch

der Hautkontakt verstärkte die Reaktionen ihres Körpers nur
noch.

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Sie wollte Adam sagen, dass ihre Zustimmung keine

grundsätzliche Änderung ihrer Pläne bedeutete. Sie hatte nur die
Absicht, den Verkauf des Hauses und die Suche nach einer
sicheren Unterkunft für Tammy ein wenig aufzuschieben, um
zuvor noch etwas mehr Zeit mit ihrer Schwester zu verbringen.
Aber Hannah fand einfach nicht die richtigen Worte.

„Ist Ihnen nicht gut?" Adam runzelte besorgt die Stirn. „Sie

zittern ja."

Als er ihr einen Arm um die Taille legte, spürte er nicht, dass

diese Geste die Situation für Hannah noch verschlimmerte. In
seiner Nähe hatte sie das Gefühl, als würde ihr Körper in Flam-
men stehen.

„Es ge... geht mir gut", stammelte sie und versuchte, sich ein

wenig seiner Nähe zu entziehen.

„Haben Sie heute schon etwas gegessen?" wollte Adam wissen.
„Nein." Hannah brachte die Worte nur im Flüsterton hervor.

„Jedenfalls nichts seit dem Frühstück.

„Wie kann man nur so dumm sein."
Als er sie dann auf seine Arme hob, wollte sie protestieren.

Aber er hörte nicht auf sie und eilte mit ihr zum Haus zurück.

„Lassen Sie mich runter", befahl Hannah. Sie ärgerte sich über

das Zittern in ihrer Stimme. Lieber wäre sie auf allen

Vieren zurückgekrochen als zuzulassen, dass er sie trug.
„Am besten, Sie halten einfach den Mund", forderte Adam sie

auf. „Einmal in Ihrem Leben werden Sie sich ergeben müssen
und es einem anderen überlassen, die Situation zu meistern."

Am folgenden Morgen erwachte Hannah durch ungewohnte

Geräusche und Gerüche.

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Die Vögel in den Bäumen vor ihrem Schlafzimmerfenster

schienen eine Familienfehde auszutragen, so laut sangen sie.
Nicht, dass Hannah Vogelgesang fremd gewesen wäre.

Aber ihr Apartment in New York City lag im zwanzigsten

Stock, zu hoch über den Bäumen, um das Gezwitscher der
Stadtvögel zu hören.

Daher war das Aufwachen für sie mit dem lauten Gezwitscher

ein so großartiges Erlebnis, dass sie lächeln musste und sich
genüsslich streckte.

Ihr Lächeln wurde noch breiter, als sie den Duft von frisch

gebrühtem Kaffee wahrnahm.

Tammy war also schon auf.
Dann bemerkte sie, dass ihr Nachthemd zerzaust war und an

ihrem Körper klebte. Sie runzelte die Stirn. Auch dem zerknitter-
ten Laken konnte man ansehen, dass sie eine unruhige Nacht ge-
habt hatte.

Sie stützte sich auf einen Arm und fuhr sich mit der freien

Hand durch die zerzausten Haare. Langsam kehrte die Erinner-
ung an ihre unglaublich erotischen Träume zurück.

Verschwommene Bilder von Haut an Haut, Lippen, Küssen,

liebkosende Hände, Herzklopfen - und Adam Roths stahlblaue
Augen, die ihren Körper voll Begehren musterten

... „Hör auf!" Laut schimpfend warf Hannah die Bettdecke

zurück und sprang aus dem Bett.

Dieser Mann reizte sie schon bei Tage, und nun machte er ihr

auch noch die Nächte zur Hölle.

Das hatte sie schon am Vortag vermutet, als er seine Bedenken

wegen Tammy äußerte. Und diese Vermutung wurde noch

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bekräftigt durch sein herrisches Verhalten, als er Hannah ein-
fach ins Haus zurücktrug. Aber wo er nun auch ihre Träume be-
herrschte, war ihr klar, dass er lediglich ein Ärgernis für sie
bedeuten konnte.

Am Abend zuvor, als sie buchstäblich in seinen Armen lag,

spielte sich ein Kampf in ihrer Brust ab. Sie hatte den Moment

nicht genießen wollen, als ihr Kopf an seiner muskulösen

Brust lag. Und sie hatte sich auch dagegen gewehrt, seinen Duft
zu mögen. Und doch hatte sie es genossen. Sie musste sich regel-
recht in kräftigen Zorn hineinsteigern, um die Glücksgefühle zu
unterdrücken, die seine Nähe ihr bereitete.

Glücklicherweise schien Adam nichts von alldem bemerkt zu

haben. Er hatte sie ins Haus getragen, sie auf dem Küchenstuhl
abgesetzt und energisch damit begonnen, sie und Tammy her-
umzukommandieren. Er schien sich erst zu beruhigen, nachdem
Hannah gegessen und ihm versichert hatte, dass sie sich besser
fühlte.

. Hannah war froh, dass Adam ihren Schwächeanfall auf zu

wenig Essen zurückführte.

Es wäre ihr höchst peinlich gewesen, hätte er erkannt, dass es

ihre Reaktion auf ihn war.

Der Mann war einfach unbeschreiblich attraktiv. Hannah kon-

nte solche Komplikationen in ihrem Leben nicht gebrauchen.
Nicht, wenn so viel Arbeit bevorstand und so viele Ent scheidun-
gen wegen ihrer Schwester und wegen des Hausverkaufs zu tref-
fen waren.

Sie musste Adam aus dem Weg gehen, während sie sich in

Little Haven aufhielt, mehr war da nicht zu machen.

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4. KAPITEL

„Was meinen Sie damit, der einzige Mensch dieser Stadt, der

mir helfen könnte, sei Adam Roth?" Hannah schaute den Bes-
itzer des Haushaltswarenladens von Little Haven enttäuscht an.

Der untersetzte Mann zuckte die Schultern. „Tut mir Leid.

Aber dies ist eine kleine Stadt. Wir haben nicht viel zu bieten an
professionellen Handwerkern."

„Ich brauche keinen Zimmermann", erklärte Hannah weiter.

„Es handelt sich nur um einige Malerarbeiten." Sie geriet förm-
lich in Panik. Sie wollte nicht, dass Adam ihr half, wollte ihm
nirgendwo begegnen. Und der Gedanke, ihn täglich wieder zu
sehen, brachte sie vollkommen durcheinander.

Erneut zuckte der Ladenbesitzer seine Schultern. „Adam ist

Ihr Mann. Er wird das fabelhaft erledigen. Außerdem kostet es
Sie fast nichts."

Gab es denn keine Möglichkeit, diesem Mann zu entkommen?
Beim Frühstück hatte sie den Entschluss gefasst, das Haus

einer gründlichen Reinigung zu unterziehen und ihm einen
neuen Außenanstrich zu verpassen. Was immer sie in der näch-
sten Woche wegen Tammy und der Immobilie ihres Vaters un-
ternehmen wollte, sie wusste, sie musste dafür sorgen, dass das
Haus bewohnbarer wurde. Es ließe sich dann leichter verkaufen.
Denn irgendwie war ihr klar, dass sie das Haus am Ende doch
nicht behalten konnte.

Der Gedanke, Adam um Hilfe zu bitten, war zwar unerträglich,

aber es gab keine Möglichkeit, diese Arbeiten allein auszuführen.

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„Gibt es hier denn keine Teenager, die scharf auf leicht

verdientes Taschengeld sind?"

Es musste einfach noch jemand anderen als Adam geben, der

mit einem Malerpinsel umzugehen verstand.

Der Mann schüttelte den Kopf. „Ich kenne niemanden, den ich

empfehlen könnte. Aber Sie sollten Adam so bald wie möglich,
aufsuchen. Bitten Sie ihn, Sie auf seine Liste zu setzen."

„Liste?"
„Adam führt eine Liste aller Arbeiten, die er für andere

Menschen hier in der Gegend erledigen will. Ich bin sicher, er
wird die Malerarbeiten für Sie in Angriff nehmen, sobald er
kann."

„Oh. Großartig", murmelte Hannah. Wenn sie das Haus Ihres

Vaters streichen lassen wollte, musste sie also nicht nur Adams
Anwesenheit ertragen, es schien auch von ihm abzuhängen,
wann diese Arbeiten erledigt wurden.

Hannah seufzte tief auf und bezahlte den Farbeimer, die Pin-

sel und verschiedene andere Dinge. Und als sie dabei war, alles
im Kofferraum ihres Wagens zu verstauen, tauchte Adam in
seinem Pick-Up auf.

„Guten Morgen", rief Adam ihr vergnügt aus dem Wagen zu.
Hannah versuchte, das Glücksgefühl zu unterdrücken, das sie

beim Klang seiner Stimme ergriff. Was zum Teufel war mit ihr
los? Und was hatte dieser Mann, dass sie so heftig auf ihn re-
agierte? „Wir haben schon Nachmittag", verbesserte Hannah ihn
und hoffte, ihre freudige Erregung hinter dem schnippischen
Ton zu verbergen.

„Da haben Sie Recht", stimmte er mit jungenhaftem Grinsen

zu.

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Hannah warf die Kofferraumklappe zu und drehte sich zu

Adam um. „Mein Haus muss gestrichen werden", erklärte sie.
„Ich hörte, Sie seien der einzige Mann in der Stadt, der mir even-
tuell dabei helfen könnte."

„Oh, ich bin sicher, dass ich Ihnen helfen kann."
War in seiner Antwort eine versteckte Anzüglichkeit zu

erkennen? Hannah richtete sich auf und straffte die Schultern.

Doch bevor sie dazu kam, eine eiskalte Antwort zu geben,

sagte Adam: „Ich werde Ihnen gern beim Streichen des Hauses
helfen. Aber heute kann ich nicht zu Ihnen herauskommen. Ich
bin auf dem Weg, Mr. Andrews zu seiner Tochter zu bringen.
Das mache ich jeden Freitagnachmittag."

„Verstehe." Hannah strich sich das Haar zurück und schützte

die Augen vor dem Sonnenlicht. „Wie wäre es mit morgen?"

„Am Wochenende arbeite ich nicht."
„Wieso überrascht mich das überhaupt nicht?", konterte sie

knapp.

Adams verführerisches Lachen ließ Hannahs Herz schneller

schlagen. Auf einmal vermochte sie weder zu denken noch etwas
zu sagen.

„Aber ich hatte gehofft", meinte er leichthin, „Sie hätten viel-

leicht Lust, mit mir und Tammy Angeln zu gehen. Wir würden
bestimmt Spaß haben."

Während Adam sprach, hatte Hannah Zeit, ihre Gedanken zu

sammeln. Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Die Würmer und
Haken haben etwas an sich, das mir sagt, Angeln ist nicht der
richtige Sport für mich." Hannah hoffte, dass ihre Bemerkung
heiter klang. „Außerdem möchte ich mit dem Malen beginnen.
Das Haus ist ein einziges Chaos. Innen und außen. Außerdem

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muss ich auch noch die Kleidung sowie die persönlichen Dinge
meines Vaters durchsehen.

Adam zuckte die Schultern. „Sehr langweilig."
„Da ich keine Zeit habe, muss ich leider langweilig sein." Sie

konnte sich ihre Bemerkung nicht verkneifen.

Adam schenkte ihr ein weiteres charmantes Lächeln.

„Hauptsache, Sie geben mir später nicht die Schuld, wenn Sie
eine alte Frau sind und bedauern, niemals die Freude genossen
zu haben, friedlich am Ufer eines Sees zu sitzen. Besonders,
wenn einem dann noch ein perfekter Wurf mit der Angel gelingt.
Nirgendwo sonst kann man so gut abschalten." Er lächelte breit.
„Oder seinen Bauch füllen."

Hannah versuchte, die Wirkung zu ignorieren, die seine Ein-

ladung bei ihr auslöste.

„Tammy hat heute Morgen das Haus verlassen und ist nicht

zum Lunch zurückgekommen. Sie wis sen doch sicher, wo ich sie
finden kann, oder?"

Adam wich einen Moment Hannahs Blick aus. „Wieso? Nein.

Ich habe keine Ahnung.

Aber es wird ihr nicht gleich schaden, wenn sie eine Malzeit

auslässt."

Bilde ich es mir ein, überlegte Hannah, oder hat Adam tat-

sächlich seine Stimme beachtlich gehoben? Sprach er nicht aus-
gesprochen hastig? Beinahe, als müsse er sich verteidigen?

„Ich mache mir keine Sorgen, weil sie eine Mahlzeit auslässt",

erklärte sie. „Ich erwähnte heute Morgen beim Frühstück nur,
dass ich sauber machen muss. Das Haus ist praktisch unbe-
wohnbar." Hannah musste gegen ihren Willen lachen. „Gestern
sagte Tammy, sie hasse das Putzen, aber es würde ihr nicht

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wehtun, ein wenig zu helfen. Außerdem würde ich gern etwas
mehr Zeit mit ihr verbringen. Wir haben ja sehr viele Jahre
nachzuholen."

Adam nickte. Er schien Hannahs Überlegungen folgen zu

können. „Wenn ich Tammy sehe, sage ich ihr, dass Sie sie
suchen."

„Danke."
„Oh, ich muss mich beeilen", meinte er dann. „Bis dann."
„Warten Sie", rief ihm Hannah hinterher. Aber alles, was sie

noch sah, waren die Rücklichter seines Wagens.

Sie ließ die Schultern hängen. Adam hatte gesagt, er würde am

Wochenende nicht arbeiten. Aber er hatte auch nicht gesagt,
wann er mit dem Job beginnen konnte. Sie seufzte.

Erst am späten Nachmittag sah Hannah Tammy wieder.
Im Wohnzimmer blinkte alles vor Sauberkeit, Hannah dage

gen fühlte sich staubig und müde. Und sie war hungrig.

„Ich habe mir Sorgen gemacht", begrüßte sie Tammy. Sie riss

sich das Baumwolltuch vom Kopf und wischte sich damit über
die Stirn.

„Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen, Han-

nah", beruhigte Tammy sie und legte einen Arm voll Gemüse ins
Spülbecken. „Ich kann auf mich aufpassen."

„Liebes, das wollte ich damit nicht sagen." Das ist zumindest

nur eine kleine Lüge, dachte Hanna h. „Es wäre nur nett zu wis-
sen, wo du bist."

Tammy schien beleidigt. „Ich bin erwachsen."
Hannah sah ihre Schwester an. Sie durfte nicht vergessen,

dass Tammy schon vierundzwanzig Jahre alt war. Aber dennoch,

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auch wenn sie erwachsen aussah, hatte sie doch den Verstand
eines Kindes. Und das war der Grund für Hannahs Sorge. Ihre
Schwester brauchte jemanden, der auf sie aufpasste -ständig -
ganz gleich, was Adam Roth darüber dachte.

„In Ordnung", meinte Hannah. „Es ist nur, dass ..." Der

Gedanke blieb unausgesprochen. Woran lag es nur, dass sie so
große Probleme hatte, ihre Gefühle auszusprechen?

„Siehst du", versuchte Hannah es noch ein weiteres Mal, „es

ist nur, weil ich dich vermisst habe. Ich hatte gehofft, heute mit
dir zusammen zu sein" Sie befeuchtete sich die Lippen mit der
Zunge. „Es ist nur, weil... weil ich dich lieb habe. Deshalb
möchte ich wissen, wohin du gehst. Und was du tust."

Tammys grüne Augen strahlten vor Freude. „Ich habe dich

auch lieb, Hannah."

Freude erfüllte Hannahs Herz, und ihr wurde ganz warm.
„Du siehst irgendwie erhitzt aus", stellte Tammy fest. „Ein

kühles Bad ist vielleicht genau das Richtige für dich."

Dieses Mal überhörte Hannah das kurze Zögern in der Stimme

ihrer Schwester nicht.

Sie erinnerte sich an das, was Adam ihr über Tammys Bedür-

fnis nach Zustimmung gesagt hatte, und lächelte.

„Weißt du, ich glaube, das ist eine tolle Idee."
Tammy strahlte erneut. „Ich bin hungrig. Bist du auch hun-

grig, Hannah?"

Wieder wusste Hannah, was Tammy mit der Frage wollte. „Ja,

das bin ich. Und ich hoffe, du wirst etwas Großartiges aus dem
Gemüse zaubern."

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„O ja. Ich werde es mit ein wenig Butter und Zitronensaft dün-

sten." Auf einmal blickte Tammy Hannah wie von Panik ergrif-
fen an. „Oder soll ich lieber einen Gemüseauflauf machen?"

Hannah berührte sacht Tammys Arm. „Du machst es so, wie

du es am liebsten magst", riet sie. „Wie immer du dich
entscheidest, ich werde von allem begeistert sein."

„Bist du sicher?"
Hannah nickte. „Vollkommen. Jetzt gehe ich erst mal nach

oben und nehme ein Bad, wie du es mir vorgeschlagen hast."

Tammy lächelte stolz und machte sich mit dem Gemüse im

Spülbecken zu schaffen.

Tammy hatte Recht. Ein kühles Bad war genau das Richtige

für Hannah. Erfrischt band sie den Gürtel ihres Morgenrocks zu
und ging hinunter, um nachzusehen, ob das Essen bald fertig
war. Sie war hungrig wie ein Wolf.

Adam saß am Küchentisch und schenkte ihr als Begrüßung

nur ein zögerndes Lächeln

- ein zögerndes verführerisches Lächeln allerdings. Mit seinen

kühlen blauen Augen sah er sie bewundernd von oben bis unten
an.

Hannah spürte, wie ihr ganzer Körper augenblicklich re-

agierte. So lässig wie möglich kreuzte sie die Arme vor der Brust.
Ihre Brustspitzen richteten sich auf, ihre Haut prickelte. Sie war
froh, dass sie gebadet hatte und Adam sie nicht schmutzig
antraf.

Obwohl sie kein Wort wechselten, hatte Hannah das Gefühl,

sich in einem intimen kleinen Tete-a-tete mit Adam zu befinden.
Unwillkürlich musste sie lächeln.

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In plötzlicher Befangenheit schaute sie dann jedoch zu Tammy

hinüber, die am Herd beschäftigt war. „Wann ist das Essen fer-
tig?", fragte sie ihre Schwester. „Ich sterbe vor Hunger.

„Der Reis ist in fünf Minuten fertig." Tammy deutete auf den

Tisch. „Adam ist gekommen", verkündete sie.

„Habe ich gesehen", entgegnete Hannah leise. „Hallo."
„Hallo", erwiderte Adam, als hätten sie sich nicht bereits sch-

weigend begrüßt.

Hannahs Verlegenheit steigerte sich, als sie sich ihrer bloßen

Beine und Füße bewusst wurde. In ihrem dünnen, seidenen
Morgenmantel fühlte sie sich fast nackt.

„Habt ihr was?", fragte Tammy. „Ihr seid doch nicht böse au-

feinander, oder?"

Die Bemerkung ihrer Schwester machte Hannah noch verle

gener. Verwirrt lachte sie auf. „Selbstverständlich sind wir uns
nicht böse. Wie kommst du denn darauf?"

„Ihr seid so komisch ruhig."
Wieder brachte Tammys feiner Spürsinn Hannah aus der Fas-

sung. Flirtete sie tatsächlich mit Adam? Dabei kannte sie ihn
doch erst seit knapp vierundzwanzig Stunden und versuchte
ständig, sich einzureden, dass sie weder Zeit noch Neigung
hatte, sich mit ihm einzulassen.

„Ich bin nur überrascht, dass er da ist", antwortete Hannah

und überlegte, was sie sagen konnte, um das schweigende Hin
und Her der Blicke zwischen ihr und Adam zu beenden. „Als ich
ihm heute in der Stadt begegnete, sagte er, er sei zu beschäftigt,
mir beim Streichen zu helfen. Er wollte seine Zeit nicht
vergeuden, obwohl er mit dem Job Geld verdienen konnte."

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Adam stand vom Tisch auf. „Erfolg und Geld sind nicht alles,

Hannah. Manchmal gehen Menschen eben vor."

Er sprach so leise, dass Hannah sich zu ihm neigen musste,

um zu verstehen, was er sagte. Er schien jedoch nicht verletzt
oder zornig über ihre Bemerkung. Nur ein wenig traurig.

„Ich bin nur kurz vorbeigekommen", erklärte er, „um zu se-

hen, ob Tammy sicher zu Hause eingetroffen ist." Sein Blick ging
zu Tammy. „Du solltest Hannah morgen früh ein wenig

bei der Hausarbeit helfen", verlangte er, „bevor du ... einen Be-

such machst."

Tammy sah ihn einen Moment an, dann senkte sie den Kopf.

„Okay, Adam. Das werde ich tun."

Irgendwie drängte sich Hannah jetzt der Gedanke auf, dass

zwischen Adam und ihrer Schwester etwas vor sich ging, eine
Art wortlose Kommunikation, in die sie selbst nicht einge weiht
war. Aber wie auch immer, sie fühlte sich von Adams Vorwurf zu
tief verletzt, um darüber nachzudenken.

„Manchmal gehen Menschen eben vor." Der sanfte Ton seiner

Rüge machte die Kritik noch stärker.

Denkt Adam vielleicht, ich sei zu sehr auf Erfolg und Geld aus,

überlegte Hannah.

Meint er, das sei mir wic htiger als die Sorge um andere

Menschen? Lächerlich. Sie war Krankenschwester von Beruf.
Tag für Tag kümmerte sie sich um ihre Mitmenschen.

Aber selbstverständlich tat es auch nicht weh, wenn sie dafür

bezahlt wurde.

„Ich meinte nur ...", begann sie, doch Adam unterbrach sie.
„Ich weiß genau, was Sie meinten."

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Wieder bemerkte sie eine Spur von Traurigkeit in seiner

Stimme. Seine Enttäuschung war nicht zu überhören.

Er ging zur Tür und lächelte Tammy an. „Für heute verab-

schiede ich mich. Wenn du mich brauchst, Tammy, weißt du ja,
wo ich zu finden bin."

„Na klar, Adam", sagte Tammy. „Gute Nacht."
Nachdem er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen hatte,

fühlte sich Hannah vollkommen leer.

„Warum hast du geschwindelt?", fragte Tammy direkt.
Überrascht hob Hannah die Brauen. „Geschwindelt?"
„Du sagtest, du seiest nicht böse auf Adam." Tammy wischte

sich die Finger an einem Handtuch trocken. Ihrem Blick sah
Hannah an, wie aufgewühlt sie war. „Du warst gemein zu ihm.
Du hast seine Gefühle verletzt."

Hannah seufzte. „Ich wollte nicht gemein sein. Vermutlich war

ich nur erstaunt, weil er sich geweigert hat, mir heute beim
Streichen des Hauses zu helfen. Ich verstand nicht, warum er es
vorzog, einen Mann zu seiner Tochter zu fahren, statt ein paar
Dollar zu verdienen. Ich meine, warum kann die Tochter nicht
ihren Vater besuchen?"

Hannah erwartete eigentlich keine Antwort auf ihre Frage. Sie

hatte das nur so dahin gesagt. In Wirklichkeit versuchte

sie, die Tatsache zu verbergen, dass es Adams Anwesenheit

war, die sie irritierte, und nicht seine Weigerung, ihr zu helfen.

„Dummchen. Mr. Andrews Tochter kann ihn doch nicht be-

suchen", erklärte Tammy.

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„Adam bringt Mr. Andrews zum Friedhof, damit er das Famili-

engrab pflegen kann. Sie liegt auf demselben Friedhof wie
Daddy."

Bestürzt ließ Hannah die Arme sinken. Verzweifelt wünschte

sie, Adam nachzulaufen und sich zu entschuldigen. Sie wollte
ihm sagen, dass sie ihre Äußerung bedauerte und dass ihr der
Hintergrund der Fahrt mit Mr. Andrews nicht bekannt gewesen
war.

Kommt nicht in Frage, rief sie sich zur Ordnung. Hannah,

nimm wieder Vernunft an.

Du bewegst dich keinen Schritt von hier fort. Soll er doch von

dir denken, was er will.

Was macht es dir aus? Wenn er dich für eine lieblose Person

hält, unterbleibt sicher auch das heimliche Flirten zwischen
euch.

Eine kluge Überlegung, die Hannah jedoch nicht davon

zurückhielt, aus der Küche zu rennen.

„Adam", rief sie, noch bevor sie die Veranda erreicht hatte.
Adam wollte gerade in seinen Pick-Up steigen. Er hielt inne

und drehte sich zu Hannah um.

Verflixt, er sah so unglaublich attraktiv aus, wie er da in der

Abenddämmerung stand.

Er strahlte Stärke, Sicherheit und Geborgenheit aus.
Bisher hatte Hannah das alles in ihrem Leben nicht gebraucht.

Sie hatte sich immer ganz auf ihre eigenen Fähigkeiten ver-
lassen. Erneut fragte sie sich, warum sie sich so zu Adam
hingezogen fühlte.

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Das Gras unter ihren bloßen Füßen fühlte sich kühl an, als sie

über den Rasen lief. Sie erwartete, gleich wieder in Panik zu ger-
aten, und fürchtete, nicht zu wissen, wie sie Adam ihr Verhalten
erklären sollte. Aber nichts dergleichen geschah.

„Es tut mir Leid." Diese schlichten Worte erschienen ihr

passend.

Adam zog die Stirn kraus. „Sie müssen sich nicht entschuldi-

gen, Hannah."

„Aber es ist mir wichtig. Ich kannte die Geschichte ja nicht,

wusste nicht, dass Sie Mr.

Andrews unterstützen, indem sie ihn zum Friedhof fahren.

Tammy hat es mir gerade erzählt. Ich habe vorschnell geurteilt.
Ich finde es hervorragend und außerordentlich fürsorglich, was
Sie für den alten Mann tun.

Ich hatte kein Recht, Ihre freundliche Hilfe zu kritisieren."
Adam schloss die Wagentür, ohne den Blick von Hannahs

Gesicht zu wenden. Er hob eine Hand und strich sich damit über
das Kinn. Einmal, zweimal, dreimal. Dabei schien er zu überle-
gen, was er antworten sollte.

„Sie überraschen mich, Hannah Cavanaugh", sagte er

schließlich.

Die Abendluft war kühl und angenehm ruhig. Hannah wartete

gespannt auf seine Erklärung.

Nun rieb Adam sich den Nacken und ließ dann die Arme

sinken. „Ich dachte, ich würde Sie kennen." Er sprach mit ausge-
sprochen sanfter Stimme. „Ich ha tte Sie als eine dieser Frauen
abgestempelt, die nur darauf konzentriert sind, das zu bekom-
men, was sie sich in den Kopf setzen. Und zwar so schnell, dass
sie nichts von dem mitbekommen, was um sie herum passiert."

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Eine Weile schwiegen beide. Hannah wusste nicht, was zwis-

chen ihr und Adam vorging. Sie berührten sich nicht. Sie sprac-
hen nicht. Dennoch fühlte sie sich ihm umso näher. Dieser
Mann, den sie kaum kannte, war auf einmal wichtig für sie ge-
worden. Für ihr Leben. Warum das so war, konnte sie sich nicht
erklären.

Plötzlich lächelte Adam, und Hannahs Herz begann wie wild

zu klopfen. „Ich muss gestehen, dass ich Sie falsch eingeschätzt
habe, Hannah."

Er stieg in seinen Wagen, startete den Motor und fuhr nach

einem langen, eindringlichen Blick davon.

Hannah hatte vergessen, dass sie Hunger hatte. Sie schaute

ihm nach, bis die Rücklichter zwischen den Bäumen verschwun-
den waren. Schließlich hörte sie nur noch die Geräusche der
Nacht, das Zirpen der Grillen, das Quaken der Frösche. Wie an-
gewurzelt verharrte sie auf der Stelle und blickte den schmalen
staubigen Weg hinunter, der zur Hauptstraße führte.

Was war mit ihr geschehen? Wie war diese erregende Anzie

hungskraft zu erklären, die sie jedes Mal spürte, sobald Adam in
ihrer Nähe war? Sobald sie nur an ihn dachte?

Sie kannte die Antwort nicht.
Das Wochenende ging zu Ende. Hannah benutzte die Tage,

um den Rest des Hauses von Grund auf zu reinigen. Sie wusch
die Vorhänge, klopfte die Teppiche aus, schrubbte die Fußböden

und putzte die Fenster. Tammy half ihr bei der Arbeit. Nicht

gerade bereitwillig und voller Freude, wie Hannah sich lächelnd
erinnerte, aber ihre Schwester hatte ihr geholfen.

Am Sonntagabend sah sie in Gegenwart von Tammy die

Kleidung ihres Vaters durch.

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Gemeinsam packten sie die wenigen Hosen und Hemden,

Gürtel und Schuhe zusammen und steckten sie in große
Plastiktaschen, um sie zu einem Obdachlosenheim bringen zu
können. Tammy verhielt sich sehr ruhig, aber nachdem es Han-
nah gelungen war, sie liebevoll zu beschwatzen, erzählte Tammy
von dem Vater, mit dem sie ihr ganzes Leben zusammen gelebt
hatte.

Tammy hatte nur Gutes von Bobby Ray zu berichten. Er war

zärtlich und großzügig.

Zweifellos war ihr bewusst, dass ihr Daddy sie beschützte und

liebte, ganz gleich, mit welcher Art von „Problemen" sie auf die
Welt gekommen war.

Adam hatte Hannah zwar gesagt, dass Tammy über ihre Be

hinderung Bescheid wusste, aber mit diesem Geständnis über-
raschte sie Hannah und wies sie zum ersten Mal auf die Heraus-
forderungen hin, mit denen sie Tag für Tag zu kämpfen hatte.

Als Hannah sich nach Bobby Rays Arbeit erkundigte, antwor-

tete Tammy ziemlich vage. Anscheinend war er mal hier, mal da
beschäftigt. Schließlich nahm Hannah kein Blatt mehr vor den
Mund und fragte, womit ihr Vater die Rechnungen für die anfal-
lenden Kosten wie Elektrizität, Telefon, Gas zum Kochen und
Heizen, bezahlt habe. Auf diese Frage ging Tammy sehr lebhaft
ein.

„Oh, du brauchst dir deswegen keine Sorgen zu machen. Un-

sere Schecks vom Staat reichen für die Rechnungen aus."

„Schecks?", fragte Hannah nach. „Du bekommst Schecks?"
„Ich bekomme einen", hatte Tammy geantwortet. „Und Daddy

bekommt einen." Sie zögerte. „Nun, er bekam immer einen",
verbesserte sie sich dann traurig.

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Hannah erfuhr auf diese Weise, dass für sie noch einiges mit

den Behörden zu regeln war, die offensichtlich Unterstützung
für ihre Schwester und ihren Vater zahlten.

Traurig musste Hannah eingestehen, dass ihre Mutter Recht

hatte mit ihren Klagen über Bobby Ray: Er besäße wenig Ehr
geiz, und Erfolg sei ihm nicht wichtig.

Dennoch hätte Hannah gern die Möglichkeit gehabt, ihn

kennen zu lernen. Immerhin war er ihr Vater gewesen.

Inzwischen war es Montagnachmittag, und Hannah war

bereits seit drei Stunden damit beschäftigt, bröckelige Farb-
stücke von der Hauswand zu kratzen. Die Arbeit tat ihrem Rück-
en nicht gut, musste aber gemacht werden, bevor sie dem Haus
einen frischen weißen Anstrich geben konnte.

Hannah musste lachen, als sie an die kleine Meinungsver-

schiedenheit mit Tammy wegen der Farbauswahl dachte.
Tammy wollte einen rosa Anstrich und beklagte sich bitter, weil
sie vor dem Einkauf der Farbe nicht gefragt worden war. Han-
nah hatte sie jedoch beruhigt und ihr erklärt, dass Weiß eine viel
bessere Farbe für ein Haus im viktorianischen Stil wie das ihre
sei. Tammy hatte mürrisch zugestimmt. Selbstverständlich
wusste Hannah, dass das Haus mit einem neutralen Anstrich für
einen eventuellen Käufer attraktiver wurde.

Wie angekündigt ging Adam mit Tammy über das Wochen-

ende Angeln. Er hatte Hannah allerdings sehr glücklich ge
macht mit seinem Versprechen, irgendwann Anfang der Woche
zu kommen und mit dem Anstreichen des Hauses zu beginnen.
Jetzt bemühte sich Hannah, die letzten Vorbereitungen
abzuschließen, damit, sobald Adam da war, mit der Hauptarbeit
begonnen werden konnte.

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Als Hannah Adam am Wochenende wieder gesehen hatte, war

erneut dieses erregende Knistern zwischen ihnen zu spüren
gewesen. Sie hatte ihn fortwährend anstarren müssen, und er
hatte sie wieder und wieder mit seinem verführerischen Lächeln
beglückt. Ja, ihr ganzer Körper war zum Leben erwacht.

Wenn sie nur an ihn dachte, wurde ihr vor Verlangen ganz

heiß.

Verlangen?
Ja, das war es, was sie für diesen Mann empfand. Eine Sehn-

sucht, die tief aus ihrem Innern kam, die ihr beinahe den Atem
nahm und ihren Puls rasen ließ. Es hatte ziemlich lange
gedauert, bis sie herausgefunden hatte, was mit ihr geschehen
war, seit sie Adam kennen gelernt hatte. Nun wusste sie es.

Sie war nicht sicher, was sie davon halten sollte. Eigentlich

wollte sie gar nicht darüber nachdenken, doch die Gedanken an
Adam ließen sic h nicht ohne weiteres abstellen. Seine Hände
waren so stark, zugleich aber auch sanft. Das wusste Hannah aus
Erfahrung. Sie konnte nicht vergessen, wie er sie auf seinen Ar-
men getragen hatte.

In diesem Moment kam Tammy ganz verstohlen und leise um

die Ecke des Hauses geschlichen. Hannah hätte sie fast nicht be-
merkt, wenn sie nicht aus den Augenwinkeln einen Zipfel des
gelben Kleides ihrer Schwester erspäht hätte.

„Tammy", rief Hannah und kletterte ein paar Stufen von der

wackeligen Leiter herunter.

„Ich bin bald wieder da, Hannah", rief Tammy und rannte

davon.

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„Eine Sekunde, Liebes. Ich möchte dir noch etwas sagen." Als

ihre Schwester jedoch keine Anstalten machte, ihren Schritt zu
verlangsamen, rief Hannah mit scharfer Stimme: „Tammy!"

Mit enttäuschtem Gesichtsausdruck drehte Tammy sich um

und kehrte zur Veranda zurück. „Hannah, ich habe mein Bett
gemacht und das Geschirr abgewaschen, so wie du es gesagt
hast. Ich möchte in die Stadt gehen."

„Na gut", willigte Hannah ein. Sie stieg von der Leiter und

zupfte sich kleine Farbreste aus den Haaren und von den
Kleidern. „Aber vorher habe ich noch etwas mit dir zu
besprechen."

Als Tammy daraufhin die Schultern hängen ließ, musste Han-

nah beinahe lachen. Es war deutlich, dass ihre Schwester
fürchtete,

sie

musste

noch

weitere

dieser

verhassten

Hausarbeiten erledigen.

„Ich möchte gern wissen, was mit diesem Auto ist", erklärte

Hannah. Sie warf einen Blick zu dem verrosteten Wagen
hinüber, der am äußersten Ende des Gartens stand.

Tammy trat langsam einen Schritt näher und runzelte die

Stirn. „Was soll mit dem Auto sein?"

„Ich meine, ich sollte es im Lokalblatt zum Verkauf anbieten.

Wahrscheinlich ist es keine hundert Dollar Wert. Aber da Dad
nicht mehr da ist, brauchen wir es wirklich nicht mehr."

„Im Lokalblatt anbieten?" Tammy schaute Hannah verwirrt

an.

„Ja. Die Rostlaube muss aus dem Garten verschwinden. Find-

est du nicht auch?"

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Allmählich begriff Tammy, und ihre Augen weiteten sich

entsetzt. Noch bevor Hannah ein Wort sagen konnte, eilte ihre
Schwester an ihr vorbei und die Treppe hinauf ins Haus.

Und ehe sie es sich versah, war Tammy auch schon mit den

Wagenschlüsseln in der Hand zurück. Ihre Augen funkelten vor
Zorn.

„Von mir aus darfst du hier hereinplatzen und alles überneh-

men, wie es dir gefällt", schrie Tammy. „Du kannst alle Forellen
verbrennen, die ich fange. Du kannst die Sachen von meinem
Daddy zusammenpacken und weggeben. Es ist mir gleich, mit
welch langweiliger Farbe du das Haus anstreichst, aber ich lasse
nicht zu", Tammy stampfte wie ein kleines Kind mit dem Fuß
auf, „dass du mir mein Vergnügen wegnimmst."

Tammy lief die Treppe hinunter und rannte durch den Garten

zu dem Wagen.

„Warte!", rief Hannah erstaunt und voller Angst. Sie fühlte

sich schuldig, weil sie Tammy in eine solche Aufregung versetzt
hatte. „Tammy, warte doch."

Aber Tammy hörte nicht. Sie riss die Wagentür auf, stieg ein

und ließ den Motor aufheulen. Unfähig, sich von der Stelle zu
rühren, starrte Hannah auf das rostige Fahrzeug. Schon legte
Tammy den Gang ein, und der Wagen setzte sich stotternd in
Bewegung.

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5. KAPITEL

Hannah geriet in Panik. Sie blickte dem blauen Qualm, der

aus dem Auspuff kam, nach, bis der Wagen hinter den Bäumen
verschwunden war. Ihre Gedanken kreisten wild durcheinander,
und es war ihr vollkommen unmöglich, in Ruhe einen vernünfti-
gen Entschluss zu fassen, geschweige denn, irgendetwas zu
unternehmen.

„Stopp", murmelte sie und versuchte, das Chaos ihrer

Gedanken zu bezwingen.

Das Gefühl, hilflos zu sein, war ihr völlig fremd. Immerhin

arbeitete sie in einem medizinischen Beruf. Im Krankenhaus
wurde sie beinahe täglich mit lebensbedrohlichen Notfällen kon-
frontiert. Aber hier ging es um Tammy, die gerade in zwei
Tonnen rostigen Stahls losgefahren war. Es war ihre kleine Sch-
wester, die sich in höchster Gefahr befand.

Sollte sie Tammy folgen? Hannah blickte zu ihrem kleinen

Personenwagen hinüber und dann wieder zu dem staubigen
Weg, der sich in den Bäumen verlor. Sie schüttelte den Kopf. Ihr
eigener Wagen würde eine Fahrt durch den Wald nicht
überleben.

Polizei? Feuerwehr? Hannah überlegte, ob sie den Notruf an-

rufen sollte, ließ den Gedanken aber gleich wieder fallen. So ge-
fährlich wird es schon nicht sein, sagte sie sich.

Und es war ja auch niemand verletzt.
Bis jetzt nicht.

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Die drei kleinen Worte brachten Hannah erneut in Panik. Sie

musste hinterher. Hannah rannte ins Haus, um ihre Wa-
genschlüssel zu holen.

Aber was sie gebraucht hätte, wäre ein Geländewagen. Oder

ein Pick-Up.

Adam.
Sie brauchte Adam!
Klingelnd fielen die Schlüssel auf den Küchenboden, als sie

den Telefonhörer abhob.

Adam drückte das Gaspedal durch, als er die kurze Strecke zu

Bobby Rays Haus fuhr.

Mit einem Kopfschütteln verbesserte er sich: Das Haus gehört

jetzt Tammy - Tammy und Hannah.

Hannah war am Telefon so aufgeregt gewesen, dass er kaum

ein Wort verstanden hatte von dem, was sie sagte. Alles, was er
begriffen hatte, war, dass Tammy fort war und dass er kommen
sollte. Sofort.

Sein Herz schlug schneller vor Sorge.
Die Reifen quietschten, als er auf den staubigen Weg bog, der

zum Haus der Familie Cavanaugh führte.

Der Weg, der zu Hannah führte ...
Als ihm bewusst wurde, dass ihn dieser eine Gedanke nicht

mehr loslassen wollte, begann er erstaunt zu grübeln.

Woher kam dieser Gedanke?
Seit Bobby Rays Tod vor einigen Wochen, hatte Adam alles

ihm Mögliche für Tammy getan. Er hatte sie täglich besucht und
sich vergewissert, dass alles in Ordnung war. Bisher war es ihm

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gelungen, dies auf eine Weise zu tun, die Tammy nicht belei-
digte. Er hatte sich darum gekümmert, dass die Schecks von den
Behörden weiterhin eintrafen. Und gleich nach Bobby Rays
Beerdigung hatte er sich mit dem einzigen Anwalt von Little
Haven zus ammengetan, um Tammys nächste Verwandte zu
benachrichtigen.

Wie kam es dann, dass, obwohl möglicherweise Tammy in Ge-

fahr war, sein erster Gedanke Hannah galt? Hannah, dieser
überheblichen, arroganten Frau, die ihm seit ihrer ersten Be
gegnung auf die Nerven ging?

Das ist eine Lüge, Adam, meldete sich eine kleine Stimme in

seinem Hinterkopf, eine dreiste Lüge. Sie geht dir nicht auf die
Nerven, sie fordert dich heraus. Mit ihren rotblonden Haaren
und den strahlenden grünen Augen. Und wie sie dich heraus-
fordert. Das ist es, was dich irritiert.

„Ach, hör schon auf", murmelte Adam und brachte den Wagen

zum Stehen.

Hannah war schon aus der Tür und eilte die Verandatreppe

hinunter, bevor Adam Zeit hatte, die Wagentür zu schließen.

„Steigen Sie wieder ein. Wir müssen ihr nachfahren."
Der zauberhafte Glanz ihrer strahlend grünen Augen weckte
in Adam den Wunsch, Hannah zu beruhigen. Er nahm ihren

Arm und sagte leise: „Warten Sie."

Hannah schüttelte seine Hand ab. „Sie fährt selbst. Ich meine,

sie fährt dieses Auto. Sie wird sich verletzten. Wir müssen hin-
terher. Sofort."

Adam fühlte mit der aufgewühlten Hannah mit. „Ich sagte, Sie

sollen warten", wiederholte er jedoch und fasste sie erneut beim

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Arm. Sein Griff zeigte so viel Entschlossenheit, dass er Hannah
damit zum Zuhören brachte.

Adam blickte sie eindringlich an, als sei nur sie wichtig. „Sie

müssen sich beruhigen, Hannah, und mir erst mal erzählen, was
passiert ist."

Unendlich viele Gedanken kreisten auf einmal in Hannahs

Kopf. Das konnte Adam sehen. Und er wusste, sie würde für
Tammy keine große Hilfe sein, bevor sie sich nicht wieder unter
Kontrolle hatte.

„Ich war damit beschäftigt, auf der vorderen Veranda alte

Farbe von der Wand zu kratzen", begann Hannah schließlich zu
erzählen, „als ich Tammy das Haus verlassen sah.

Wie jeden Tag. Aber ich rief sie zurück. Als ich sie nach

Daddys Auto fragte und meinte, wir sollten die Rostlaube
verkaufen, drehte sie durch. Sie holte die Schlüssel aus dem
Haus und hielt mir eine Standpauke über meine dominante Ver-
haltensweise. Zum Schluss erklärte sie, sie würde nicht zulassen,
dass ich ihr den Wagen wegnehme. Nein, sie sagte, ihr Vergnü-
gen'. Danach raste sie zu dem Wagen, stieg ein und fuhr davon.
Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen."

Hannah wirkte so verletzlich und sah ihn so ängstlich an, dass

Adam sie am liebsten in die Arme geschlossen hätte.

„Ich wollte ihr nachfahren", berichtete sie weiter. „Aber ich

fürchtete, mein Wagen würde diese Fahrt nicht überleben. Dann
dachte ich an Sie."

Adam hörte voller Freude, dass er derjenige war, an den Han-

nah in dieser problematischen Situation gedacht hatte. Nach,
dem ersten Eindruck hatte er diese Frau als über alle Maßen
selbständig eingeschätzt. Aber mit jedem Tag wurde ihm jetzt

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klarer, dass er sich getäuscht hatte. Sie war sanft und
liebebedürftig, ganz so, wie er sich eine Frau vorstellte...

„Ich habe an Ihren Pick-Up gedacht", ergänzte Hannah noch.

Das ist genau, was man braucht, um Tammy auf diesem holpri-
gen Waldweg zu folgen."

„Wir müssen ihr wirklich nachfahren", sagte Adam, aber nur,

um Hannah zu beruhigen.

Einige Sekunden vergingen. „Kommen Sie, Adam", forderte

Hannah ihn dann auf.

Er gab Hannahs Arm nicht frei. „Sie ist nicht in Gefahr", ver-

suchte er, sie zu beruhigen.

Hannahs grüne Augen funkelten zornig. „Wie können Sie das

behaupten? Sie ist mit Daddys Wagen losgefahren. Sie kurvt
gerade um Büsche und Bäume herum, rumpelt durch Sch-
laglöcher und was sonst noch alles. Wir müssen sie finden.
Müssen sie aus diesem Wagen herausholen."

„Sie ist nicht in Gefahr", wiederholte Adam mit Bestimmtheit

Hannah sah ihn fragend an.

„Der Wagen gehört ihr", fuhr er fort. „Nicht Bobby Ray."
„Was heißt das? Das ist doch unmöglich. Von offizieller Stelle

würde sie niemals einen Führerschein erhalten."

„Da haben Sie Recht. Aber der Wagen ist auch nicht für die

Straßenbenutzung zugelassen. Er gehört zur Farm-Ausrüstung.
Wird sozusagen als fahrbarer Rasenmäher geführt. Dafür
braucht sie keinen Führerschein, solange sie auf dem
Grundstück bleibt.

Und daran hält sie sich."

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Einen Moment schwieg Hannah und dachte über alles nach.

„Und für Bobby Ray war das total in Ordnung?", fragte sie
schließlich. „Und für Sie auch?"

„Sicher. Warum nicht?"
Hannah kniff die Augen zusammen. „Weil ein fahrbarer

Rasenmäher nicht die Geschwindigkeit von sechzig oder siebzig
Meilen pro Stunde erreichen kann. Tammy ist nicht sicher in
diesem Wagen."

Adam presste die Lippen aufeinander. Jetzt wurde auch er

zornig. „Hannah, ich habe Ihnen wiederholt gesagt, wie außeror-
dentlich geschickt Tammy ist. Aber Sie weigern sich, mir
zuzuhören. Seit Jahren schon fährt Tammy diesen Wagen - und
genießt ihr Vergnügen. Seit Jahren. Hören Sie? Sollte sich das
ändern, nur weil Sie in die Stadt gekommen sind?" Er zögerte
einen Moment in der Hoffnung, Hannah würde begreifen.

„Bisher hat Tammy keinen einzigen Unfall verursacht. Sie hat

nicht ein einziges Mal den Weg verlassen. Sie ist absolut in der
Lage, diesen Wagen zu fahren."

Er runzelte die Stirn. „Tammy verdient ein Leben, das ihre
Kräfte herausfordert und ihr ihre Grenzen aufzeigt. Ein Leben

voller Freude, voller Aufgaben und voller Vergnügen." Nachden-
klich schüttelte er den Kopf. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass
Sie ihr Leben einengen möchten."

Plötzlich ließ Hannah die Schultern hängen. Sie sah zu dem

Wäldchen hinüber.

„Versprechen Sie, dass ihr nichts zustößt?", flüsterte sie.
Adam spürte Hannahs aufrichtige Sorge um Tammy und kon-

nte nicht länger böse auf sie sein. „Ich verspreche es." Er
lächelte. „Sie wird bald zurück sein. Sie werden es sehen."

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Hannah atmete tief durch. „Tammy war ziemlich böse auf

mich. Sie beschuldigte mich, hier alles zu übernehmen. Ich weiß,
sie hat Recht. Ich habe mich ihrem Leben wirklich aufgedrängt."

Als Adam sie so leise und verunsichert sprechen hörte, wün-

schte er nichts mehr, als sie zu trösten. Aber er rührte sich nicht,
sondern hörte nur weiter zu.

„Aber das habe ich nur getan, weil ich dachte, sie braucht

mich", verteidigte Hannah sich. „Ich wollte doch nur helfen."

Adam sah es ihr an, dass sie sich schuldig fühlte. Mitleid er-

griff ihn, und er streichelte ihr sanft über die Wange.

Seufzend blickte Hannah ihn an. „Danke, dass Sie so schnell

gekommen sind. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte."
Sie lächelte und senkte den Blick. „Ich wäre vermutlich wahnsin-
nig geworden", murmelte sie.

Dann hob sie den Blick wieder und schaute ihm in die Augen.

„Danke Adam", sagte sie.

„Ich meine es wirklich ernst."
„Schon in Ordnung."
Adam hatte nicht beabsichtigt, mit ihr zu flirten. Doch die

kleine Bemerkung schien wie ein Funke zwischen ihnen zu
wirken. Die Atmosphäre kam ihm plötzlich gespannter vor als
kurz zuvor. „Ich meine es auch ernst."

Der Funke wurde zu einer Flamme. Zu einer heißen Flamme.
Ihre Blicke begegneten sich, hielten sich gefangen, und Adam

hatte das Gefühl, als wären er und Hannah ganz allein auf der
Welt. Auch Hannah fühlte diese erotische Stimmung, das las
Adam in ihren Augen. Als er den Kopf senkte, hob sich Hannah

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auf Zehenspitzen, und ihre Lippen trafen sich in einem heißen
KUSS.

Hannah schmeckte herrlich. Frisch und weich und aufregend.

Ihr Duft steigerte Adams Verlangen. Mit den Fingern fuhr er

durch ihr dichtes, seidenweiches Haar und zog sie fest an sich.
Er fühlte Hannahs Fingerspitzen auf seiner Haut, seinem

Kinn, den Wangen und dem Nacken, während sie sich fest an
ihn schmiegte. Es war, als seien sie beide ausgehungert nach
diesem leidenschaftlichen KUSS. Als hätten sie beide ihr ganzes
Leben darauf gewartet.

Die unsichtbare Kraft, die sie zueinander hinzog, verwirrte

Adam und ließ ihn alles um sich herum vergessen. Aber ihm ge-
fiel das. Er genoss es. Er wollte sich in diesem Gefühl verlieren.

Mit seinen Lippen wanderte er von ihrem Mund zu ihren

Wangen, zu ihrem Ohr, ihrem Nacken. Sie schmeckte so warm
und weich. Sein Herz flatterte, als sie aufstöhnte, und tief in
seinem Innern fühlte er heißes Verlangen brennen, bis auch er
es nicht länger zu ertragen vermochte und tief Luft holte.

Er flüsterte Hannahs Namen und hob ein wenig den Kopf, um

ihr in die von Leidenschaft erfüllten Augen zu sehen.

„Was ist das?", murmelte Hannah. „Was passiert mit uns?"
„Ich weiß es nicht", entgegnete er ganz leise. „Aber ich fühle

es, seit wir uns das erste Mal begegnet sind."

Unvergleichlich das Gefühl, als sie ihm zärtlich mit dem

Finger über den Nacken strich und ihm ein Schauer über den
Rücken lief. Himmlisch das Entzücken, als sie ihm dann mit
sanftem Druck über das Kinn streichelte.

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Er wollte sie sagen hören, dass sie sich ebenso zu ihm hingezo-

gen fühlte. Dass auch sie das Knistern zwischen ihnen spürte,
sobald sie einander nahe waren.

„Ich kann das nicht", sagte Hannah. „Ich kann es einfach

nicht." Aber noch während sie die Worte aussprach, zog sie
Adam wieder näher zu sich. Und Adam ließ es geschehen.

Ihr Mund war heiß, und fordernd presste sie ihn auf seinen.

Adam schloss die Augen und genoss die stürmische
Inbesitznahme.

Als sie erneut aufstöhnte und Adam ihren heißen Atem auf

seiner Haut spürte, glaubte er, das Verlangen nicht länger ertra-
gen zu können.

„Ich kann das nicht", flüsterte sie erneut und presste die Lip-

pen fest auf seinen Mund.

Da er fürchtete, sie könnte sich tatsächlich von ihm lösen,

schloss er seine Arme noch fester um sie.

Herrlich, sie so nahe zu fühlen, wenn sie ihre vollen Brüste an

ihn presste und seinen Körper erwärmte. Adam wollte sie
niemals wieder gehen lassen.

Als sie sich ein wenig zurücklehnte, sah Adam ihre feucht

glänzenden Lippen. Dieser Anblick brachte ihn beinahe aus der
Fassung.

„Ich kann das nicht", hörte er sie erneut flüstern. „Ich will es,

aber ich kann es nicht."

Adam konnte Hannah einfach nicht nach dem Warum fragen.

Er wollte sich jetzt nicht mit Komplikationen befassen. Er wollte
fortfahren, sie zu küssen, sie zu berühren, ihre Haut auf seiner
zu spüren und das alles zu genießen.

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In der nächsten heftigen Umarmung bemerkte Hannah dann

Adams heißes Verlangen.

Ihr stockte der Atem, und sie sah ihn mit großen Augen an.

Plötzlich bewegte sie sich nicht länger. Sie legte die Hände auf
seine Schultern und trat einen Schritt von ihm zurück.

„Ich muss dies beenden, Adam. Es tut mir Leid, aber es muss

sein." Sie schluckte.

Adam fuhr sich mit den Fingern durchs Haar.
Panik schwang in ihrer Stimme mit, als sie sagte: „Ich darf

nicht zulassen, dass das noch einmal geschieht. Ich darf mich
nicht einlassen auf ... auf ..." Ihre Stimme versagte, als ihr das
Wort nicht einfiel für die Beschreibung des Erlebten. „Ich habe
zu viel zu tun. Für so etwas habe ich nicht genügend Zeit. Ich
kann einfach keine Beziehung eingehen."

Adam lehnte sich gegen einen Kotflügel seines Wagens,

während er all seine Energien dazu benutzte, sein Verlangen zu
verdrängen und sich wieder unter Kontrolle zu bringen.

Er wollte diese Frau. Und sie wollte ihn. Dessen war er sich

absolut sicher.

Dennoch, wenn sie sich ihren Gefühlen nicht hingeben wollte,

wenn sie es sich verbot, sich dem Verlangen zu stellen, das sie
zweifellos empfand, dann gab es absolut nichts, was er tun
konnte.

Nichts.
Sie brauchte ihm nicht zu erklären, warum sie sich weigerte,

ihre Gefühle auszuleben. Er kannte die Gründe.

Ihre Karriere. Ihr großartiger, wichtiger Job in diesem bedeu-

tenden Krankenhaus in New York. Sie hatte bereits ein Leben,

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eines, in dem kein Platz war für ihn oder irgendetwas, das er ihr
vielleicht bieten konnte.

Sie war aus beruflichen Gründen entschlossen, ihn zurückzu-

weisen. Sie war bereit, auf alles, was sie verband, zu verzichten,
um ihr perfektes Leben nicht ändern zu müssen. Ebenso, wie sie
entschlossen war, Tammy alles wegzunehmen, was ihr vertraut
war, sie allen Menschen zu entfremden, die sie liebten.

Und das alles nur aus egoistischen Gründen, in dem

Bestreben, die einmal gesetzten Ziele zu erreichen.

Vielleicht war sie doch genau wie die anderen Frauen, denen

er bisher begegnet war.

Tammy kam erst nach über zwanzig langen, quälenden

Minuten zurück. Und während all dieser Zeit war Hannah un-
fähig, Adam in die Augen zu sehen, geschweige denn, mit ihm zu
sprechen.

Warum um alles in der Welt hatte sie sich gestattet, so voreilig

zu reagieren? So leichtsinnig? So schamlos?

Die letzte Frage ließ sie vor Scham tief erröten, und sie ent-

fernte sich einige Schritte von Adam - von dem peinlichen Sch-
weigen, das zwischen ihnen herrschte.

Schließlich kam das Motorengeräusch des Wagens vom Wald

her näher. Hannah hörte auf, hin und her zu gehen. Dann
tauchte Tammy zwischen den Bäumen auf, und Hannah sah das
strahlende Lächeln ihrer Schwester durch die Windschutz-
scheibe. Sie seufzte erleichtert auf, dass Tammy heil und gesund
wieder da war.

Hannah hatte nicht vergessen, dass Adam sich für Tammys

Sicherheit verbürgt hatte, und sie war ihm für seine tröstenden

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Worte sehr dankbar. Dennoch gab es jetzt nichts Schöneres für
sie, als ihre Schwester unverletzt wieder zu sehen.

Tammy parkte den Wagen genau an der Stelle, wo er zuvor

gestanden hatte. Mit breitem, sorglosem Lächeln kam sie Han-
nah und Adam entgegen.

„Mit dem Auto herumzufahren macht mir so viel Spaß", rief

sie begeistert und grinste Hannah an. „Es ist meine einzige Sch-
wäche." Dann sah sie zu Adam hinüber. „Ich kann gar nicht
genug davon bekommen."

Hannah staunte über das Fehlen jeglicher Bosheit in Tammys

Wesen. Es war, als hätte ihr Streit niemals stattgefunden. Den-
noch, nur weil Tammy sich von allen belastenden Gefühlen be-
freit hatte, hieß das nicht, dass Hannah sich nicht mit ihnen aus-
einandersetzen sollte.

„Tammy", begann Hannah, „ich möchte mich entschuldigen."
Die junge Frau richtete ihren unschuldigen Blick auf Hannah,

und ihr Lächeln schwand.

Hannah wusste, Tammy verstand, wovon sie redete.
„Ich wusste nicht, dass der Wagen dir gehört", fuhr Hannah

fort. „Und auch nicht, dass du diejenige bist, die ihn fährt.
Entschuldige, wenn ich unterstellt habe, dass das Auto Bobby",
sie verbesserte sich, „ich meine, unserem Dad gehörte."

Tammys Miene hellte sich auf. „Das ist schon okay, Hannah.

Jeder macht ab und zu einen Fehler." Sie sah Adam an. „Stimmt
doch, nicht wahr, Adam?"

Er nickte. „Stimmt genau."
„Wir werden den Wagen nicht verkaufen", versicherte Hannah

ihrer Schwester.

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„Jedenfalls nicht jetzt. Wir werden warten."
Bis wir nach New York fahren, dachte sie insgeheim. Aber et-

was hielt sie davon ab, es auszusprechen.

Tammy reagierte auf diese Nachricht mit kindlicher Freude.
Warum zögere ich, Tammy die volle Wahrheit zu sagen, über-

legte Hannah.

Was hinderte sie, ihre Pläne aufzudecken, die den Verkauf des

Hauses und des Grundstückes betrafen? Ihre Absicht, eine neue
Unterkunft für ihre Schwester in ihrer Nähe zu suchen?

Nicht, dass ich es Tammy nicht sagen dürfte, überlegte Han-

nah, nur, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Nicht,
nachdem sich Tammy so sehr wegen des Wagens aufgeregt
hatte. Sie würde warten müssen und den Moment sorgfältig
wählen.

Auf einmal fühlte sie Tammys Arme zärtlich um ihren Hals.

„Ich bin so glücklich, Hannah. Komm, lass uns ausfahren. Gleich
jetzt. Du und ich." Tammy wandte sich zu Adam um. „Zusam-
men mit Adam. Kommst du mit?"

Aber Hannah schüttelte den Kopf. „Ach, ich glaube nicht."
„Mit Vergnügen."
Hannah warf Adam einen vernichtenden Blick zu.
„Komm schon, Hannah", redete Adam ihr zu. „Das macht

doch Spaß."

Diese leise gesprochenen Worte waren die ersten, die er an

Hannah richtete, seit sie sich so leidenscha ftlich geküsst hatten.
Allein der Klang seiner Stimme genügte, ihr einen Schauer der
Erregung über den Rücken zu senden.

Tammy sprang freudestrahlend von einem Bein aufs andere.

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Wie konnte Hannah sich da weigern? Sie lächelte ihre Sch-

wester an und hob die Hände.

„In Ordnung", willigte sie ein. „Auf geht's."
Als Tammy lachend zu ihrem Auto lief, musste Hannah in ihre

Fröhlichkeit einfach mit einstimmen. Und Adam schien es nicht
anders zu gehen.

Mit seinem Lächeln hätte er Steine erweichen können. „Du

wirst es nicht bereuen", versprach er ihr.

„Ich erspare mir meinen Kommentar lieber", erwiderte Han-

nah, „bis ich mit heilen Knochen wieder aus dem Auto gestie gen
bin."

Adam kicherte. „Oh, uns passiert schon nichts."
Hannah merkte sehr wohl, dass durch ihre Zustimmung zu

dieser Vergnügungsfahrt die Atmosphäre zwischen ihr und
Adam wieder deutlich entspannter wurde.

Sie nahm auf dem Beifahrersitz Platz und war überrascht, als

Adam sich direkt neben sie setzte. Obwohl sie ganz nahe an ihre
Schwester heran rutschte, fühlte sie die Wärme von Adams
Körper an Hüfte und Schulter.

Tammys Sicherheitsgurt klickte ein, was Hannah und Adam

veranlasste, gleichzeitig nach dem Gurt an ihrer Seite zu greifen.

Adam lächelte sie an. „Halt dich fest. Los ge ht's."
Der Motor heulte auf, als Tammy aufs Gaspedal trat. Kaum

schoss der Wagen vorwärts, griff Hannah automatisch nach Halt
suchend zum Armaturenbrett.

Die Zweige der Bäume streiften das Dach, Buschwerk kratzte

an den Türen, während sie dem holprigen, sich durch den Wald
schlängelnden Pfad bis zu einer Lichtung folgten.

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Tammy fährt keineswegs schnell, dachte Hannah. Im äußer-

sten Fall zwanzig oder fünfundzwanzig Meilen pro Stunde. Den-
noch, in jeder Kurve fühlte sie sich gegen Adam geworfen, bis er
ihr schließlich einen Arm um die Schultern legte, um sie bei der
wilden Fahrt zu stützen.

„Das ist ein tolles Vergnügen", lachte Adam.
Endlich verlor auch Hannah ihre Angst und stimmte in sein

Lachen mit ein. Sie konnte sich nicht dagege n wehren, aber es
machte ihr tatsächlich Spaß.

„Das sagte Daddy auch immer", rief Tammy glücklich.
Hannah wurde warm ums Herz. Jetzt wusste sie, was ihre Sch-

wester gemeint hatte, als sie dagegen protestierte, dass Hannah
ihr, ihr „Vergnügen" wegnehmen wollte.

Sie schaute Adam an, und das Glitzern in seinen Augen verriet

ihr, dass er Tammy zuliebe mit voller Absicht Bobby Rays Worte
wiederholt hatte. Dieser Mann liebte ihre Schwester wirklich.
Das zeigte seine Art, mit ihr umzugehen und mit ihr zu
sprechen. In allem, was er für sie tat, war das zu erkennen.

Hannah kannte sich in dem Chaos ihrer Gefühle für Adam

Roth nicht mehr aus.

In diesem Augenblick hörte sie, wie Adam Tammy ermutigte,

auf einen großen kreisförmigen Platz zuzusteuern. Und dann
drehten sie Runden, eine nach der anderen.

Die Zentrifugalkraft schleuderte Hannah gegen Adams

muskulösen Oberkörper. Sein tiefes, attraktives Lachen klang
unglaublich verführerisch an Hannahs Ohr.

Die Welt drehte sich im Kreis, und nun brach auch Hannah in

sorgloses Lachen aus.

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Wieder schoss der Wagen unter den Bäumen dahin, und bevor

Hannah es sich versah, parkten sie schon in der Nähe ihres
Hauses.

Hannah lächelte ihre Schwester an. „So ein tolles Vergnügen

habe ich mein ganzes Leben lang nicht erlebt." Und als sie
darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass dies absolut der
Wahrheit entsprach.

„Es macht Spaß, nicht wahr?" Tammy zog den Schlüssel ab

und stieg aus.

Nachdem Hannah ihren Gurt gelöst hatte, wollte auch sie aus-

steigen, aber Adam versperrte ihr den Weg. Er schien
keineswegs daran interessiert zu sein, sofort auszusteigen.

Mit seinen graublauen Augen sah er sie eindringlich an. Und

während er ihr sanft über die Wange streichelte, flüsterte er: „Du
solltest wirklich mehr Dinge zu deinem Vergnügen tun."

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6. KAPITEL

Während Hannah durch das kleine Little Haven fuhr, um-

fasste sie das Steuerrad so fest, dass ihre Knöchel weiß hervor-
traten. Sie war wütend, und sobald sie Adam gegenüberstand,
wollte sie ihm sagen, was sie von ihm und seinen heimlichen
Machenschaften hielt.

Seit ihrer lustigen Autofahrt mit Tammy vor drei Tagen schien

sich die Beziehung zwischen ihr und Adam auf irgendeine Weise
verändert zu haben. Die Atmosphäre zwischen ihnen blieb
gespannt. Es knisterte und funkte, und sie befand sich ständig in
einem Zustand der Erregung, sobald sie in der Nähe dieses
Mannes war.

Seit dieser verflixten Autofahrt ...
Wem glaubst du, kannst du etwas vormachen? höhnte eine

kleine innere Stimme. Was zwischen dir und Adam passiert ist,
hat überhaupt nichts mit der Fahrt in Tammys Auto zu tun. Der
KUSS ...

Sie hatte Adam gegenüber die Kontrolle verloren, und sie är-

gerte sich noch immer über ihr Verhalten.

Schon meldete sich die spöttische Stimme wieder. Dein

Schuldgefühl wegen dieses Kusses ist es, was deine Wut auf
Adam immer aufs Neue schürt.

„Falsch", sagte Hannah laut in ihrem Wagen vor sich hin. „Der

Mann hat Tammy dazu aufgefordert, mich anzulügen. Er hat sie
ermutigt, mich zu betrügen, und ich habe es erst heute Morgen
herausgefunden. Er verdient meinen Zorn. Und nicht zu knapp."

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Als sie Tammy antraf mit...
Hannah zitterte vor Wut, versuchte jedoch, die Erinnerung an

das Erlebte zu verdrängen. Sie wollte nicht weiter über die
Geschichte nachdenken. Sie wollte sich ihre Wut für den auf-
heben, der schuldig war. Adam. Wie konnte er über so etwas ein-
fach hinwegsehen?

Hannah hatte sich in dem Cafe in der Hauptstraße erkundigt,

wo sie Adam eventuell antreffen konnte. Die Frau hinter dem
Kuchenbüfett hatte sie zu dem Eisenwarenladen geschickt. Dort
erfuhr Hannah, dass Adam manchmal Arbeiten für eine Dame in
der Walter Street erledigte.

Während sie in die dreispurige Straße bog, sah sie bereits

seinen Pick-Up vor einem kleinen Bungalow parken. Hannah
brachte ihren Wagen hinter seinem zum Stehen und stieg aus.

Noch bevor sie auf dem Bürgersteig stand, sah sie Adam im

Garten hinter dem Haus arbeiten.

„Adam", rief sie vom Zaun aus.
Adam schaute zu ihr auf.
„Ich möchte mit dir sprechen", erklärte Hannah, noch ehe er

etwas sagen konnte. Sie richtete die Worte mit schneidender
Stimme an ihn. Er sollte von vornherein wissen, dass dies kein
freundschaftlicher Besuch war.

Adam richtete sich auf und schlug sich den Schmutz von der

Hose. Eine Spur Resignation lag um seinen Mund, als er dann
auf sie zuging.

Oh nein, dachte Hannah, während sie beobachtete, wie er

über den Rasen kam, er sieht so verflixt attraktiv aus. Seine
graublauen Augen bildeten einen starken Kontrast zu den

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schwarzen Haaren und der sonnengebräunten Haut. Er war
wirklich ein umwerfend gut aussehender Mann.

Stopp! Wie er aussah, war völlig uninteressant. Er hatte sich

mit Tammy verschworen und Pläne geschmiedet, um sie zu be-
trügen. Und das würde Hannah nicht dulden.

„Guten Tag, Hannah", begrüßte Adam sie.
„Ich sehe nichts Gutes an diesem Nachmittag."
Adam klickte das Tor auf. Statt sie jedoch in den Garten zu bit-

ten, wie Hannah es erwartet hatte, trat Adam auf den Bür ger-
steig, nahm ihren Arm und führte sie ein Stück die Straße
hinunter.

Schon seine Berührung genügte, um Hannah völlig aus der

Fassung zu bringen. „Was machst du? Wohin gehen wir?", fragte
sie, nachdem sie ein paar Schritte gegangen waren.

„Dich scheint doch etwas zu bedrücken." Adam senkte die

Stimme. „Etwas, worüber du mit mir reden willst. Ich halte es
für besser, wenn wir uns einen Ort suchen, wo wir ungestört
sind."

Als Hannah über die Schulter zurückblickte, sah sie eine ältere

Frau auf der Terrasse des kleinen Bungalows sitzen. Ihre dunkel
gefärbte Brille und der rotweiß gestreifte Stock wiesen darauf
hin, dass sie blind war.

„Ich bin bald wieder zurück, Mrs. Blake", rief Adam der Frau

zu, die ihm mit einem Winken antwortete.

Hannah und Adam schlenderten noch einige Schritte weiter,

und als Adam überzeugt war, dass sie außer Hörweite waren,
sagte er: „Die Frau weiß alles über jeden Menschen in dieser
Stadt. Und dafür gibt es einen guten Grund."

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Stirnrunzelnd wartet Hannah auf seine Erklärung.
„Klatsch", sagte Adam nur. Aber dann lächelte er. „Nicht, dass

Klatsch immer etwas Negatives sein müsste. Für Mrs. Blake zum
Beispiel bedeutet er einen gewissen Zeitvertreib. Und informiert
zu sein, hat sich sogar für mich schon ein oder zwei Male positiv
ausgewirkt. Dennoch, mir liegt nichts daran, Gesprächsthema
Nummer eins für Little Haven zu sein. Und ich kann mir kaum
vorstellen, dass es dir anders geht."

Hannah blieb einfach stumm, während sie die Straße weiter

entlanggingen.

Adam kicherte. „Obwohl Mrs. Blake sicher gespannt ist und

sich ihre Gedanken macht, warum die Frau, die erst seit kurzem
in der Stadt ist, so scharf darauf ist, mich von der Arbeit
abzuhalten." Seine Worte klangen herausfordernd, und der ver-
führerische Ton ließ Hannahs Atem stocken.

„So etwas würde sie doch niemals denken", entgegnete sie

entsetzt. „Oder?"

Adam zuckte die Schultern. „Ich bin eben der beliebteste

Junggeselle in der Stadt."

„Aber sie kann doch gar nicht sehen. Woher will sie wissen,

dass ich hier bin?"

„Oh, sie wird schon herausfinden, wer mich vom Unkrautjäten

in ihrem Garten wegholt."

Als Hannah ihn jetzt anblickte, sah sie das spitzbübische

Funkeln in seinen Augen. Sie merkte, dass er sie nur neckte und
sich auf ihre Kosten lustig machte. Plötzlich hatte sie eine Idee.

„Du weißt, dass ich wütend bin", sagte sie. „Und du scherzt

mit mir herum und versuchst, alles unter den Teppich zu
kehren. Aber das funktioniert nicht." Sie entzog ihm ihren Arm,

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und obwohl sie weiter an seiner Seite blieb, vergrößerte sie den
Abstand zwischen ihnen. Sie hoffte, so ein wenig klarer

denken zu können.
Ohne ihn anzuschauen, beschuldigte sie ihn in scharfem Ton:

„Du schwindelst mich an."

„Ach ja?"
„Und was noch schlimmer ist", fuhr sie fort, „du ermutigst

auch Tammy zum Schwindeln."

Einen Moment verlangsamte Adam den Schritt, verdrehte die

Augen und schob das Kinn vor. Für Hannah war dies Beweis ge
nug: Adam wusste, dass sie es herausgefunden hatte.

„Du weißt über Brian Bescheid", stellte er knapp fest.
„Womit du verdammt Recht hast." Ihr Zorn flammte auf bei

dem Gedanken, dass sie Tammy am Morgen in Begleitung dieses
jungen Mannes angetroffen hatte. „Vor ein paar Tagen fragte ich
dich, wohin meine Schwester jeden Tag geht, wenn sie das Haus
verlässt.

Du sagtest, du wüsstest es nicht. Aber das war gelogen. Du

wüsstest es ganz genau. Und du hast sie sogar noch ermutigt,
sich mit diesem Jungen außerhalb des Hauses zu treffen, und ihr
geraten ..." Hannah vermochte kaum, auszusprechen, was sie
belastete, „ihre Beziehung mit diesem Jungen vor mir zu
verheimlichen."

„Sieh mal, Hannah, Brian ist vielleicht ein bisschen langsam,

aber er ist kein Junge mehr.

Er ist ein Mann. Ein junger Mann. Ein verantwortungsvoller

junger Mann."

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Hannah wollte etwas sagen, aber Adam schnitt ihr das Wort

mit einer kurzen Handbewegung ab.

„Stimmt. Ich schlug Tammy und Brian vor, für eine Weile

nichts von ihrer Freundschaft zu verraten und dir gegenüber so
zu tun, als wäre nichts."

„So zu tun, als wäre nichts?" Hannah hob die Stimme. „Ist dir

klar, dass du ihr beibringst zu lügen, indem sie etwas
verschweigt."

„Okay, okay, vielleicht war das nicht ganz in Ordnung. Aber

ich tat es nur, weil ich sicher war, dass du mit der Situation nicht
umgehen kannst." Er räusperte sich. „Und ich sehe ja, wie Recht
ich damit hatte", setzte er leise hinzu.

„Mit gar nichts hast du Recht."
„Meinst du? Wenn ich so Unrecht habe, warum stehst du dann

da und schreist mich in aller Öffentlichkeit an?"

Der plötzlich leise Ton seiner Frage veranlasste sie, sich

umzuschauen. Tatsächlich waren mehrere Menschen auf der
Straße stehen geblieben und starrten zu ihnen hin.

„Komm", sagte Adam, „kürzen wir den Weg durch den Park

ab."

Schweigend überquerten sie die Hauptstraße und gingen im

Schatten der Bäume zu einer Bank in der Nähe einer mächtigen
Kiefer.

Adam blickte Hannah traurig an. „Tammy und Brian sind ver-

liebt. Aber du musst wissen, dass ihre Zuneigung füreinander
sehr ... sehr unschuldig ist."

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„Das kann doch nicht dein Ernst sein." Hannah mied Adams

Blick. Das Einzige, was sie Adams Worten entnommen hatte,
warf sie beinahe um.

Verliebt!
„Sag mir jetzt bloß nicht, dass du die Vorstellung meiner Sch-

wester unterstützt, sich auf eine ernsthafte Bezie hung
einzulassen."

Adams Schweigen beantwortete Hannahs Frage.
„Adam ..." Sie wusste nicht mehr, was sie dazu sagen wollte,

und schüttelte den Kopf.

Sie versuchte es noch ein weiteres Mal. „Meine Schwester ist

zwar vierundzwanzig, aber sie ist geistig nicht einmal auf der
Ebene eines Teenagers. Du selbst hast zugegeben, dass der junge
Mann, von dem du annimmst, er sei in Tammy verliebt, unter
leichten Behinderungen leidet. Du kannst doch nicht glauben ..."
Sie biss sich, auf die Lippen. „Sie sind einfach nicht fähig,
richtige Entscheidungen zu treffen. Was, wenn?"

Panik ergriff sie, während sie an all die Probleme und Komp-

likationen dachte, die solch eine Verbindung mit sich bringen
konnte.

„Wir können nicht erlauben, dass das so weiter geht."
Adam lehnte sich gegen die Rücklehne der Bank und stützte

nachdenklich das Kinn zwischen Zeigefinger und Daumen. Die
Gedanken kreisten in seinem Kopf.

„Versuchst du, mir zu sagen", fragte er, „dass zwei mensch-

liche Wesen, die leider ein wenig geistig behindert sind, es nicht
verdienen, die Liebe kennen zu lernen?"

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Eine höchst problematische Frage, die Hannah nicht zu disku-

tieren beabsichtigte. Ihr einziges Bestreben war es, das zu tun,
was ihr für Tammy das Beste schien.

„Dieses Problem", begann sie, „ist viel komplizierter als ..."
„Oder könnte es vielleicht sein", fuhr Adam fort, indem er

Hannah einfach unterbrach,

„deine Abneigung gegen Tammys
romantische Beziehung mit Brian hat weniger mit dem geisti-

gen Status deiner Schwester zu tun, als mit der Tatsache, dass
deine Schwester einen Mann in ihrem Leben gefunden hat?"

„Wovon sprichst du überhaupt?", fuhr Hannah ihn an und

richtete sich empört auf.

„Du mit deinem so wichtigen Job da oben im Norden", höhnte

Adam. „Du bist eine unabhängige Frau und hegst einen Groll ge-
genüber allen weiblichen Wesen, die gern von einem Mann ab-
hängig sein wollen."

„Das ist ja lächerlich."
Aber dann ging Hannah plötzlich in sich. Was er gesagt hatte,

klang nicht ganz abwegig. Warum soll ich mir die Wahrheit
nicht eingestehen, überlegte sie. Er ist aber auf jeden Fall auf
dem Holzweg, wenn er meint, ich ärgere mich über diese
Frauen.

Sie war allerdings immer stolz auf sich gewesen, weil sie eine

unabhängige Frau war, und da war es doch sicher richtig, wenn
sie sich dasselbe auch für ihre Schwester wünschte. Nur, warum
empörte seine Bemerkung sie so? Und warum ließ sie sich über-
haupt dadurch provozieren?

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Weil es Adam gelungen war, Hannahs Prinzipien lächerlich zu

machen, obwohl er diese eigentlich teilte. Als wäre etwas falsch
an ihrer Lebensauffassung.

Sie sprang von der Bank auf. „Ich werde hier nicht länger

sitzen und zusehen, wie du dich wie ein Psychologe verhältst. Du
bist der Letzte, dem ich Einlass in meine Gefühlswelt gestatte."

Hannah fühlte die weichen Tannennadeln unter ihren Füßen,

als sie sich zum Gehen wandte. Aber sie drehte sich noch einmal
um. „Wann zum Teufel kommst du und streichst mein Haus?",
fragte sie. „Du hast versprochen, Anfang der Woche damit zu be-
ginnen. Jetzt haben wir bereits Donnerstag. Wo ich herkomme,
liegt Donnerstag am Ende der Woche."

Adam blickte sie eiskalt an. Als Hannah seinen Blick er-

widerte, fand sie, es tat ihr gut, ihn darauf aufmerksam zu
machen, dass er sein Wort gebrochen und sie im Stich gelassen
hatte.

„Mrs. Blakes Garten ist der letzte Job auf meiner Liste",

erklärte Adam scharf. „Ich kann morgen zu dir kommen."

„Gut. Ich warte dann gleich morgen früh auf dich."
„Der Vormittag ist besetzt", informierte Adam sie gelassen.

„Ich komme am, Nachmittag."

Hannah hätte am liebsten erneut protestiert, drehte sich al-

lerdings nur auf dem Absatz um und ging zu ihrem Wagen.

Seit dem letzten Gespräch mit Adam, waren Nervosität und

Besorgnis Hannahs ständige Begleiter. Hat er Recht, überlegte
sie.

War

irgendetwas

falsch

an

ihrem

Streben

nach

Unabhängigkeit?

Nein, wiederholte sie sich jedes Mal. Selbstverständlich war

daran nichts falsch.

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Tammy und Brian saßen am Küchentisch und unterhielten

sich. Hannah arbeitete an der Wand der vorderen Veranda, von
wo aus sie den jungen Mann durch das Fenster sehen konnte.
Jetzt, nachdem sie über Tammys Freund informiert war, hielt es
ihre Schwester nicht mehr für erforderlich, ihre Zusammenkün-
fte mit Brian zu verheimlichen.

Obgleich Hannah sich wünschte, den Freund ihrer Schwester

nicht zu mögen, musste sie zugeben, dass sie Brian für einen gut
erzogenen, wenn auch ein wenig schüchternen jungen Mann
hielt. Und er ging erstaunlich sanft mit Tammy um.

Hannah hatte die letzte halbe Stunde damit verbracht,

Farbreste von dem Verandaboden aufzuwischen und die beiden
jungen Leute dabei heimlich zu beobachten. Sie war erstaunt
von der tiefen Zuneigung, die sie inzwischen für Tammy
empfand.

Sie war nach Little Haven gekommen, um für eine Schwester,

die sie nicht kannte, das Bestmögliche zu tun. Und nun ent wick-
elte sie neue, komplizierte Gefühle, die man schon beinahe müt-
terlich nennen konnte.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr zeigte ihr, dass sie noch eine

Stunde auf Adams Kommen warten musste. Innerlich kochte sie
vor Wut, wenn sie darüber nachdachte, wie lässig er seine Arbeit
betrachtete. Dem Mann schien es an Ehrgeiz zu fehlen. Wie
wollte er im Leben vorwärts kommen?

Sie ärgerte sich über ihn, weil er das Streichen ihres Hauses

ans Ende seiner Liste gestellt hatte. Und sie nahm es sich übel,
dass sie sich zu solch einem ... Faulpelz hingezogen fühlte.

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„Ich habe lange genug gewartet", murmelte sie vor sich hin.

Sie war nicht einmal sicher, ob er - wie versprochen - am Nach-
mittag aufkreuzen würde.

Hannah ging ums Haus herum zu dem Schuppen und fand

dort die alte wackelige Leiter, die sie schon beim Abkratzen der
Farbreste auf der vorderen Veranda benutzt hatte. Dann holte

sie Farbeimer, Pinsel und Roller, die sie in der Stadt gekauft

hatte. Warum auf Adam warten, wenn sie den Job auch selbst
bewältigen konnte?

Der klare Menschenverstand riet ihr, mit dem Streichen oben

anzufangen und sich nach unten zu arbeiten. Deshalb stellte sie
die Leiter an einer Ecke der Hauswand auf und stieg hinauf, um
sich zuerst die Decke der Veranda vorzunehmen. Erst, als ihr
bereits weiße Farbe den Arm hinunterrann, und ein dicker Trop-
fen ihr Kinn zierte, wurde ihr klar, dass sie den Pinsel zu tief in
die Farbe getaucht hatte. Sie streifte ihn am Farbeimer ab, wobei
wiederum Farbe an ihren Händen hängen blieb. Macht nichts,
sagte sie sich, waschen kann ich mich später.

Alle zehn Minuten kletterte sie von der Leiter und warf einen

Blick durch das Fenster, um zu sehen, ob Brian noch am
Küchentisch saß. Wahrscheinlich war es übertrieben, sich wegen
Tammys Freundschaft mit Brian zu große Sorgen zu machen,
aber sie wurde einfach der rätselhaften Angst nicht Herr, die sie
quälte.

Sie sind verliebt, hatte Adam ihr gesagt.
Nun, es ist nicht unmöglich, dass eines Tages etwas passiert,

das die beiden auseinander bringt, sorgte sich Hannah. Viel-
leicht enttäuschte Brian Tammy. Hannah wusste nicht, wie ihre

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empfindsame Schwester eine so schmerzvolle Zurückweisung
verkraften würde.

Andererseits konnte diese Beziehung auch zu etwas Tieferem,

Intimeren führen...

Der Gedanke veranlasste Hannah, sofort wieder von der Leiter

zu steigen. Dabei rutschte ihr der Pinsel aus der Hand, und bei
dem Versuch, ihn wieder aufzufangen, schätzte sie den Abstand
zwischen den beiden unteren Sprossen falsch ein, und die Leiter
begann bedrohlich hin und her zu schwanken.

Mit einem Aufschrei versuchte Hannah, den Farbeimer zu

umklammern. Doch sie war nicht schnell genug. Er krachte zu
Boden, und die weiße Farbe ergoss sich über die Holzdielen. In
aller Eile wollte Hannah den Eimer wieder aufstellen, um nicht
noch mehr Unheil anzurichten. Dabei trat sie auf den nassen
Pinsel, verlor endgültig die Balance und saß schließlich inmitten
einer

Pfütze

aus

weißer

Farbe

auf

dem

Fußboden.

Ausgezeichnet!

Schlimmer hätte es gar nicht kommen können.
Aufgeschreckt von dem Tumult, kamen Tammy und Brian an-

gelaufen. „Haben Sie sich verletzt?", fragte der junge Mann.

„Mir ist nichts passiert." Hannah verzog das Gesicht. Sie

fühlte, wie die Farbe in ihre Shorts sickerte.

„Ich dachte, Adam würde das Anstreichen übernehmen", sagte

Tammy.

„Nun. Er ist nicht da." Ärgerlich schnippte Hannah mit den

Fingern. „Ich kann mich auf sein Versprechen leider nicht
verlassen.“

„Aber es ist doch erst Mittag", wandte Tammy ein.

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Mit irritierender Pünktlichkeit fuhr Adam in genau diesen

Moment vor dem Haus vor. Warum zum Teufel musste der
Mann gerade heute rechtzeitig kommen?

Verzweifelt sprang Hannah auf. Sie musste verhindern, dass

Adam sie in dieser abscheulichen Farbpfütze antraf, für die sie
auch noch selbst verantwortlich war.

Dass ihr dabei die Farbe an den Beinen hinunterrann, machte

die Sache noch schlimmer.

Adam blieb auf der ersten Stufe der Verandatreppe stehen. In

seinen Augen blitzte es belustigt auf.

Wenn er auch nur eine einzige anzügliche Bemerkung macht,

dann werfe ich ihm den Pinsel an den Kopf, schwor sich
Hannah.

„Hallo, Tammy, hi Brian." Offensichtlich wollte Adam sich

seine Belustigung nicht anmerken lassen.

Dann räusperte er sich, bevor er sich Hannah zuwandte. „Mir

scheint, du hast schon ohne mich angefangen."

„Richtig."
Er sah hoch zur Decke. „Sieht gut aus."
Sein Kompliment freute Hannah, dennoch, ihre Freude hielt

sich in Grenzen. „Bitte entschuldige mich einen Moment", sagte
Hannah. „Ich komme gleich zurück. Dann können wir die Decke
zu Ende streichen."

Hannah stürzte an Adam vorbei ums Haus herum, wo sie, wie

sie wusste, den Gartenschlauch finden würde.

Offensichtlich war der Anblick von Hannahs farbverschmier-

ten Hinterteil zu viel.

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Kaum war sie um die Hausecke verschwunden, brach Adam in

schallendes Gelächter aus.

Die Renovierung des Hauses schreitet gut voran, dachte Han-

nah. Selbstverständlich hatte Adam darauf bestanden, am Sam-
stag und Sonntag blau zu machen und mit Tammy Angeln zu ge-
hen, Freunde zu besuchen, und was immer er an den Wochen-
enden zu unternehmen pflegte. Meditation und Erholung nannte
Adam das, wie er Hannah erklärt hatte. Hannah hielt das für
eine beachtliche Zeitverschwendung.

Diese Überzeugung war es auch, die sie dazu trieb, mit der

Arbeit am Haus fortzufahren, nachdem Adam mit Tammy und
Brian zum Angeln an den See gefahren war.

Am Montag gegen Mittag kam Adam dann wieder. Bis Mit-

twoch war beinahe der gesamte Außenanstrich des Hauses vol-
lendet. Und während der gemeinsamen Arbeit erfuhr Hannah
eine Menge über Adam.

Er war ein harter Arbeiter - wenn er erst einmal angefangen

hatte. Allerdings weigerte er sich weiterhin, vor Mittag bei ihr
aufzutauchen, und Hannah hatte keine Ahnung, wie er seine
Vormittage verbrachte. Zu gern hätte sie ihre Neugier befriedigt
und ihn danach gefragt. Aber diese Wissbegierde sollte er ihr
doch nicht anmerken. Es geht mich auch wirklich nichts an,
sagte sie sich.

Adam schien die Freundschaft zwischen Tammy und Brian

korrekt eingeschätzt zu haben. Je länger Hannah die beiden
zusammen sah, je besser verstand sie, was Adam meinte, als er
von einer unschuldigen Zuneigung gesprochen hatte. Die jungen
Leute schienen eine harmlose Freundschaft zu bewahren.

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Hannah erfuhr mehr über Adams Liebe zu Little Haven und

den Menschen, die in dieser Stadt lebten. Er erzählte ihr, dass er
ein College in Philadelphia besucht und sich für eine Weile dort
niedergelassen hatte. Aber er war nach Little Haven zurück-
gekehrt, weil er hier glücklicher war als an allen anderen Orten
der Welt.

Hannah vermutete noch andere Gründe hinter Adams Rück-

kehr in diese kleine Stadt. Sie wollte ihn jedoch nicht mit Fragen
bedrängen. Wie auch immer, mit jedem Tag fühlte sie sich mehr
aufgerüttelt von Adams Vorwürfen, die ihre selbstständige
Lebensführung betrafen. Bis jetzt hielt sie lieber den Mund aus
Angst, einen Streit zu entfachen, wenn sie versuchte, ihm ihr
Bedürfnis nach Unabhängigkeit verständlich zu machen. Aber
da der Renovierungsjob beinahe beendet war, blieb ihr dazu
nicht mehr viel Zeit.

Warum es ihr so viel bedeutete, sich Adam gegenüber zu

rechtfertigen, wusste Hannah nicht. Es war eben so. Und dieser
Wunsch schien jeden Tag stärker zu werden.

„Nun", Adam stieg von der Leiter, „das war's heute für mich."
Aber uns bleiben noch mehrere Stunden Tageslicht, wollte

Hannah protestieren. Ihnen blieb noch Zeit, zusammen zu
arbeiten - zusammen zu sein.

Der Gedanke erschreckte sie. Ein Glück, dass sie ihn nicht laut

ausgesprochen hatte.

Was war nur los mit ihr? Wichtig war, dass das Haus fertig

gestrichen war, und nicht, dass sie Zeit mit Adam verbrachte.
Aber das aufgeregte Gefühl in ihrem Bauch sagte ihr, dass sie
sich dessen nicht mehr so ganz sicher war.

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Adam legte den Pinsel beiseite und ergriff einen Eimer. Nach-

dem er ihn mit Wasser gefüllt hatte, tauchte er den Pinsel mehr
mals hinein.

„Weißt du", begann Hannah zögernd, „du hattest neulich doch

Recht."

Er hob die Brauen und sah sie an. Die Überraschung, die seine

Miene widerspiegelte, freute Hannah, und sie lächelte.

„Ich spreche von meinem Bedürfnis nach Unabhängigkeit",

erklärte Hannah.

Adam nickte. Er hatte ihre Diskussion im Park vor einer

Woche nicht vergessen.

„Für mich war es immer sehr wichtig, nicht abhängig zu sein

von ... von ..."

„Von einem Mann?", half Adam mit leiser Stimme aus.
„Von irgendjemandem", verbesserte Hannah.
Eine Weile fuhr Adam mit dem Reinigen seiner Malutensilien

fort, ließ Hannah dabei jedoch nicht aus den Augen. Das In-
teresse, das er schweigend bekundete, überzeugte sie, mit ihrer
Erklärung fortzufahren.

„Adam, ich war noch nicht sieben Jahre alt, als meine Mutter

mich von Little Haven wegholte. Sie ging aus der Stadt, weil sie
hier keine Perspektive für sich sah. Sie verließ ihren Ehemann,
der nicht den Ehrgeiz besaß, etwas aus sich zu machen. Sie
musste gehen. Wäre sie geblieben, hätte sie ein Leben voller Ar-
mut ertragen müssen. Bobby Ray hätte ihr alle Energie
genommen."

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Hannah blickte zu den grünen Kronen der Bäume, dann sah

sie wieder Adam an. „Sie zog nach New York, arbeitete schwer
und machte eine Karriere."

„Deine Mutter wurde selbstständig."
„Genau", stimmte Hannah ihm zu.
Adam seufzte. Er schlug das Wasser aus dem Pinsel, den er

gerade säuberte. Dann deutete er auf Hannahs Pinsel, der neben
einem Farbeimer lag, und streckte ihr die geöffnete Hand ent ge-
gen mit der stummen Bitte, ihm den Pinsel zu geben. Hannah
brachte ihn zu ihm.

„Du misst den Erfahrungen deiner Mutter unglaublich viel

Bedeutung bei", bemerkte er und tauchte den Pinsel in den
Wassereimer. „So viel, dass du dein Leben vollkommen an ihr
orientiert hast. Hältst du das für klug? Vor allem, wenn du dabei
immer nur die eine Seite der Geschichte siehst?"

„Sieh mal", verteidigte Hannah sich nach kurzem Überlegen.

„Meine Mutter zog mich auf, so gut sie konnte. Sie sorgte dafür,
dass ich eine Ausbildung erhielt..."

„Sie schickte dich aufs College, nicht wahr?"
„Das nicht gerade. Ich bezahlte meine Schule selbst." Hannah

wäre lieber gestorben, als Adam zu erzählen, dass ihre Mutter
mit ihrer Wahl, Krankenschwester zu werden, nicht einver-
standen war. „Aber was ich erreichte, verdankte ich immer dem
Drängen meiner Mutter, erfolgreich zu sein."

„Und unabhängig." Adam zog den Pinsel durch das milchig

trübe Wasser.

Hannah nickte. Doch dann runzelte sie die Stirn, als sie daran

dachte, wie sie ihrer Mutter das Geld, das sie so mühsam beim

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Babysitten verdient hatte, als Beitrag zum Lebensunterhalt aus-
händigen musste.

Deine Mutter brachte dir damit nur bei, Verantwortung zu

übernehmen, meldete sich eine kleine Stimme.

„Und unabhängig", wiederholte Hannah Adams Worte. Einen

Moment herrschte peinliches Schweigen. Dann fuhr Hannah
fort: „Ich erzähle dir das nur, weil... weil ich will, dass du mich
verstehst."

Adam schüttelte das Wasser aus dem zweiten Pinsel und

trocknete ihn mit einem alten Lappen. „Nun verstehe ich",
meinte er abschließend.

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7. KAPITEL

„Könntest du kommen?"
Hannah erschrak, als sie Adams sorgenvolles, bleiches Gesicht

sah. Er hatte nach kaum hörbarem Klopfen die Küche durch die
Hintertür betreten. Es war noch sehr früh, und Hannah hatte
noch nicht einmal Zeit gefunden, sich anzuziehen.

„Selbstverständlich." Hannah setzte automatisch ihre Kaffee-

tasse ab. „Was ist passiert?"

„Es geht um Mrs. Blake. Sie ist krank."
Hannah sprang sofort auf. „Lass mich nur eben etwas

überziehen."

Während der Fahrt in die Stadt erfuhr Hannah, das Little

Haven sich einen Arzt mit zwei anderen nahe gelegenen Ge-
meinden teilte und dass das nächste Krankenhaus ungefähr eine
Stunde entfernt war.

Hannah hörte voller Staunen, dass es tatsächlich noch Orte

gab - wie die kleine Stadt Little Haven -, die über keine aus-
reichende medizinische Versorgung verfügten.

„Wenn ich nur endlich die Klinik aufmachen und in Gang

bringen könnte", murmelte Adam.

Hannahs Interesse war erwacht, sodass die neugierige Frage

nicht mehr zurückzuhalten war. „Klinik?"

„Ja", antwortete Adam nachdenklich, während er sich auf die

kurvenreiche Straße konzentrierte. „Ich habe das passende Ge-
bäude bereits gefunden, und man hat mir sogar schon die

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Unterstützung von der Behörde zugesagt. Ich brauche nur noch
jemanden zu finden, der bereit ist, die Klinik zu leiten. Je-
manden, der qualifiziert ist."

Mit den letzten Worten schien er Klarheit in seine Gedanken

gebracht zu haben, denn er wandte den Kopf zur Seite und
schaute Hannah erwartungsvoll an.

Oh nein, dachte sie, vielen Dank. Ich habe schon einen Job.

Einen guten Job. In einem großen Krankenhaus, das jährlich
Zehntausende von Kranken versorgt.

Doch bevor einer von beiden äußern konnte, was er dachte,

kam das Haus von Mrs. Blake in Sicht.

Sie fanden die ältere Frau hoch fiebernd in ihrem Sessel im

Wohnzimmer.

„Als ich sie neulich auf der Terrasse sah, wirkte sie gar nicht

krank", flüsterte Hannah.

„Sie war gerade auf dem Wege der Besserung nach einer

starken Bronchitis", erklärte Adam.

Hannah nickte und prüfte den flatternden Puls der älteren

Frau. „Sie scheint einen Rückfall zu haben." Hannah wünschte,
sie hätte ihr Stethoskop zur Hand, um Mrs.

Blakes Lungen abzuhören und sich ein Bild über die Schwere

der Krankheit zu machen. Aber dann sah sie Adam scharf an.
„Nicht, dass ich eine Diagnose stellen möchte. Das darf ich
nicht."

„Ich wollte dich nur bitten, ihr zu helfen", sagte Adam.
Hannah musterte Mrs. Blakes blasse Haut, die von tiefen Lini-

en gezeichnet war. „Aber ich könnte das Fieber ein wenig sen-
ken. Mit einem kalten feuchten Tuch."

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„Das besorge ich dir."
„Warte, Adam. Weißt du, wo sie ihre Medikamente aufbe-

wahrt? Viele Menschen brauchen die Antibiotika, die ihnen ihr
Arzt verschreibt, nicht bis zu Ende auf. Sieh nach, ob in Mrs.
Blakes Medizinschrank noch eine angebrochene Packung steht."

„ Selbstverständlich."
Adam verschwand im hinteren Teil des Hauses und kehrte

bald darauf mit einem feuchten Leinentuch und einer Schachtel
Antibiotika zurück.

„Du hast Recht", sagte er. „Sie hat die Packung nicht aufgeb-

raucht, wie der Arzt es ihr verschrieben hat."

Er reichte Hannah die Schachtel. Sie zögerte.
„Vielleicht sollte Mrs. Blake vorher einen Arzt befragen. Viel-

leicht würde der Doktor ihr jetzt ein anderes Medikament vers-
chreiben. Ihre Bronchitis könnte sich zu einer Lungen-
entzündung verschlimmert haben." Besorgt zog Hannah die
Stirn kraus. „Im Staat Delaware bin ich nicht registriert, Adam."

„Wir sind hier nicht in New York, Hannah. Du brauchst keine

Anzeige zu befürchten.

Wir sind alle Nachbarn hier, Freunde, die alle ihr Bestes füre-

inander tun."

Hannah zweifelte, dass diese kleine Stadt tatsächlich das

Paradies war, zu dem Adam es machen wollte. Dennoch, seine
Zuneigung und Besorgnis für die ältere Frau war aufrichtig.

Sie blieb den ganzen Tag bei der kranken Frau. Als Tammy

kam, konnte Hannah die Ängste ihrer Schwester zerstreuen. Sie
versicherte, dass Mrs. Blake bald wieder gesund werden würde.
Zunächst brauche sie aber jemanden, der eine Weile bei ihr saß

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und ihr Gesellschaft leistete, bis mit Hilfe der Antibiotika eine
Besserung eintrat.

Am Nachmittag hatte der Arzt angerufen, um mitzuteilen, er

könnte nicht vor dem nächsten Vormittag in Little Haven sein.
Er hatte eine Patientin zu betreuen, die in der kommenden
Nacht ein Baby erwartete.

Hannah versicherte dem Arzt, sie sei in der Lage, mit der

Krankheit von Mrs. Blake umzugehen. Nachdem sie den Hörer
aufgelegt hatte, wunderte sie sich dennoch, dass es heutzutage
noch Menschen gab, die eine Hausgeburt wünschten, statt sich
in

einem

Krankenhaus

der

modernen

Technologie

anzuvertrauen.

Sie teilte ihre Meinung sogleich Tammy mit. „Oh. Ich bin sich-

er, Penny würde gern ins Krankenhaus gehen", kam prompt die
Antwort. „Aber ihr Mann hat seinen Job verloren.

Sie sind nicht krankenversichert".
„Aber, Tammy", versuchte Hannah zu erklären, „ein Kranken-

haus darf dich nicht abweisen, weil du nicht bezahlen kannst."

Ihre Schwester zuckte nur die Schultern. „Aber weil Penny

nicht bezahlen kann, würde sie nicht hingehen."

In diesem Moment kam Adam und brachte ihnen eine warme

Mahlzeit und eine Dose Suppe für Mrs. Blake. Die Kranke hatte
jedoch keinen Appetit. Sie wollte lieber zu Bett gebracht werden,
und diesen Wunsch erfüllte Tammy ihr.

Hannah versicherte Adam, dass Ruhe das Wichtigste für Mrs.

Blake sei.

„Kannst du etwas länger bleiben?", fragte Adam. „Der Kühls-

chrank in der Kirchenküche funktioniert nicht richtig. Ich

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dachte, ich fahre kurz rüber und sehe mir das mal an. Sie planen
ein Essen mit Hühnchen und Klößen.

Adam wirkte unentschlossen, als wollte er in der Kirche

helfen, gleichzeitig aber auch hier bei Mrs. Blake bleiben. Han-
nah fand seine große Besorgnis ausgesprochen liebenswert.

„Ich habe beschlossen, die Nacht hier zu verbringen", erklärte

Hannah. Als sie seine erleichterte und dankbare Miene sah,
wurde ihr ganz warm ums Herz. Obgleich sie nur ihre
Fähigkeiten als Krankenschwester nutzte und sich um eine
kranke fremde Frau kümmerte, hatte sie das Gefühl, etwas
Gutes zu tun.

„Toll, Hannah", flüsterte Adam und fuhr sich mit der Hand

durchs Haar. „Großartig. Zu wissen, dass du hier bist, befreit
mich von einer großen Sorge."

Ihr war ganz schwindelig vor Freude bei dem Gedanken,

Adam eine große Sorge abzunehmen.

„Ist das kein Problem für dich?", erkundigte er sich besorgt.
Hannah wehrte ab. „Tammy will auch bleiben. Sie ist den gan-

zen Nachmittag nicht von Mrs. Blakes Seite gewichen. Sie war es
sogar, die vorschlug, dass wir die Nacht hier bleiben sollten."

Ein Schatten verdüsterte Adams Miene, aber er war so schnell

wieder verflogen, dass Hannah sich fragte, ob sie sich vielleicht
getäuscht hatte.

„Fahr ruhig zur Kirche, Adam. Es ist auch nicht erforderlich,

heute Nacht noch einmal vorbeizukommen. Du siehst reichlich
abgespannt aus und solltest dich zu Hause ausruhen."

„Es war ein schrecklicher Tag." Adam blieb vor der Haustür

stehen. „Es tut mir Leid, dass wir heute nicht weiter an deinem
Haus arbeiten konnten."

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„Das macht nichts", beschwichtigte ihn Hannah. „Dies ist jetzt

wichtiger." Bevor sie Zeit hatte nachzudenken, erklärte sie ganz
spontan: „Morgen werde ich im Krankenhaus anrufen und
meiner Chefin sagen, dass ich länger hier bleiben muss."

Adam schaute sie an, als wüsste er nicht, was er sagen sollte.

Hannah war selbst höchst überrascht. Bis zu diesem Augenblick
war es ihr gar nicht in den Sinn gekommen, länger in Little
Haven zu bleiben.

So standen sie an diesem ruhigen Sommerabend eine Weile

vor Mrs. Blakes Haustür, als erwarteten sie, dass gleich irgendet-
was passieren sollte. Aber dann schenkte Adam Hannah ein um-
werfendes Lächeln und verschwand in der Dunkelheit.

Adam stand auf der Leiter, den Pinsel in der Hand, und

schaute sich um. Er genoss den Anblick von Hannahs kupfernen
Haaren, die auf ihre sonnengebräunten Schultern fielen.

Seit sie miteinander am Haus arbeiteten, hatte er sie immer

wieder ermahnt, eine Sonnencreme zu benutzen, um die em-
pfindliche Haut zu schützen. Hannah blieb ihm ein Rätsel. Ein
Wunder, über das er ständig

grübelte. Und wenn er meinte, sie durchschaut zu haben, sagte

oder tat sie etwas, das sein Bild von ihr wieder veränderte.

Ihr Angebot, zum Beispiel, bei Mrs. Blake zu bleiben: Ihre

großzügige Einstellung hatte ihn völlig überrascht. Hannah fuhr
seit jenem Tag täglich in die Stadt, um die ältere Frau zu
besuchen.

Selbstverständlich war er ein wenig enttäuscht gewesen, als er

hörte, Tammy habe den Vorschlag gemacht, über Nacht bei der
Kranken zu bleiben. Aber Hannah war geblieben, und Adam
fand, das war die Hauptsache.

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Er hatte nicht beabsichtigt, Hannah seinen Traum von der

Klinik zu offenbaren.

Schließlich war er noch nicht ganz sicher, ob sie die Person

war, in die er so viel Vertäuen setzen konnte. Die Klinik war ein
Projekt, an dem er schon seit langem arbeitete. Nur die Sorge
um Mrs. Blake hatte bewirkt, dass er seine Überlegung so
vorschnell geäußert hatte.

Nachdem er Hannah nun mal von der Klinik erzählt hatte,

dachte er, dass sie die Richtige war, um seinen Traum zu realis-
ieren. Aber so plötzlich dieser Einfall gekommen war, so schnell
verwarf er ihn auch wieder. Hannah würde eine solche Stellung
niemals in Betracht ziehen. Ihre Arbeit in New York war ihr ein-
fach zu wichtig. Das hatte sie deutlich genug gemacht.

Hannah spürte seine Blicke. Sie hörte auf zu malen und

schaute zu ihm auf.

Es hätte ihm peinlich sein müssen, dass sie ihn beim Starren

ertappte. Aber Adam lächelte nur. Sie war die zauberhafteste
Frau, die er je gesehen hatte.

„Adam?"
„Hm?" Eigentlich wollte er sofort mit seiner Arbeit fortfahren,

aber er schien absolut unfähig, sich zu bewegen. Er konnte den
Blick nicht von Hannah wenden, so versunken war er in den An-
blick ihres Gesichts, der feinen Linien ihres vollen Mundes, so
gebannt starrte er auf den Fleck, wo das kleine Grübchen er-
scheinen würde, wenn es ihm gelang, sie zum lächeln zu
bringen.

„I...ich wollte dich etwas fragen."
Ihre offensichtliche Aufregung beunruhigte ihn. Rasch stieg er

von der Leiter und legte den Pinsel beiseite. Aus seiner

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Hosentasche holte er einen Lappen, an dem er sich die Hände
säuberte.

„Es geht... also ...", begann sie stockend, „es geht um das kom-

mende Wochenende."

Adam beobachtete, wie sie sich einige Haarsträhnen aus dem
Gesicht strich. Farbtupfer zierten nun ihre Wangen und ließen

sie noch reizvoller aussehen.

„Tammy nervt mich schon eine ganze Weile", fuhr sie fort.

„Wie ich hörte, findet im Gemeindezentrum eine Tanzveranstal-
tung statt, an der sie teilnehmen möchte. Ich glaube, sie hat Bri-
an dazu aufgefordert, und nun planen sie, zusammen hinzuge-
hen. Ich halte es für richtig, wenn ich sie begleite und ein bis-
schen im Auge behalte. Was meinst du?"

Adam unterdrückte ein Grinsen. Er wusste natürlich von dem

Tanz am Samstagabend. Es war eine Veranstaltung, an dem die
Frauen die Initiative übernahmen und ihren Traummann ein-
luden. Er hätte nicht gedacht, dass Hannah ihn bitten würde, sie
zu begleiten.

Aber wieder einmal schob Hannah ihre Schwester vor. Das

enttäuschte ihn, und aus diesem Grunde wollte er es ihr auch
nicht zu leicht machen.

„Ich finde, du solltest mitgehen", pflichtete er ihr bei. „Nicht,

dass Tammy und Brian einen Babysitter brauchten. Aber ein
netter Abend könnte auch dir gut tun."

Vor Verlegenheit färbten sich Hannahs Wangen glühend rot.

Sie ist hinreißend, dachte Adam.

„N...nun", stammelte sie. „Ich habe gedacht, ob du mich viel-

leicht begleiten würdest, wenn du nicht gerade zu beschäftigt
bist."

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Ohne seine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich weiß, nor-

malerweise gehört das nicht zu deinen Gepflogenheiten. Zu
meinen auch nicht. Aber ... es könnte lustig werden.

Vielleicht..."
Warum fällt es ihr so schwer, die Zuneigung, die wir fürein-

ander empfinden, einzugestehen, überlegte Adam. Was hat sie
erlebt, das sie daran hindert, frei über ihre Gefühle zu sprechen?

„Weißt du", gestand Hannah, „Tammy wird keine Ruhe geben,

bis ich ihr sage, dass ich dich gefragt habe."

Der KUSS, den sie getauscht hatten, hatte Adam total aus der

Fassung gebracht. Hannahs wilde Leidenschaft hatte sein Ver-
langen geweckt. In sehnsuchtsvollen, erotischen Träumen be-
wahrte er die Erinnerung an ihre süßen Lippen und strahlend
grünen Augen.

Seine Vernunft riet ihm, sich von Hannah fern zu halten, aber

dazu war er nicht fähig, und er wusste auch, warum nicht. Er
begehrte Hannah. So, wie sie ihn offensichtlich auch begehrte.

Dabei hatte sie ihm doch gesagt, dass sie ihn wollte. Und

diesem Geständnis ließ sie wiederum die Erklärung folgen, dass
sie sich nicht auf eine Beziehung mit ihm einlassen durfte. Ihr
Leben zu Hause in New York sei wichtiger.

War sie möglicherweise im Begriff, ihre Meinung zu ändern?
Aber wenn dem so war, warum schob sie dann noch immer

Tammy als Ausrede vor?

Hannah befeuchtete sich die Lippen mit der Zunge. „Wenn du

nicht willst, habe ich natürlich Verständnis dafür."

Einen Moment musterte Adam sie. Hannah war schon recht

kompliziert. Ein Rätsel eben. Aber wenn ein Mann die Chance

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erhielt, dieses Rätsel zu lösen, erhielt er möglicherweise eine
wunderbare Belohnung für seine Mühe...

Oder er zerbricht daran, mahnte ihn eine leise Stimme.
„Ich komme mit."
Hannah fühlte sich wie ein Schulmädchen. Sie stand vor dem

Spiegel und musterte ihr Spiegelbild.

Warum habe ich mich nur so von Tammys Aufregung ansteck-

en lassen, überlegte sie.

Warum hatte sie zugestimmt, sich von ihrer Schwester dieses

verführerische Sommerkleid zu leihen? Tammy war am Nach-
mittag ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie zusammen die
Kleider auswählten, die sie zu dem Tanzvergnügen tragen woll-
ten. Als Tammy sie überglücklich umarmte und sagte, es gäbe
nichts Schöneres, als eine Schwester zu haben, mit der man
seine Kleider tauschen konnte, waren Hannah beinahe die Trän-
en gekommen.

Dennoch, musste dieses Kleid unbedingt so viel Haut zeigen?

Hannah schob den Spaghettiträger wieder auf die Schulter.

Normalerweise wäre ein so freizügiges Kleid nicht Hanna hs

Stil. Aber es war nicht zu übersehen, dass ihr die Arbeit der ver-
gangenen zwei Wochen in der Sonne gut getan hatte.

Ihre Haut glänzte golden, und es war bestimmt keine Ein-

bildung, dass ihre Muskeln sich gefestigt hatten. Sie fand selbst,
dass sie gut aussah, auch wenn es sich nicht schickte, so etwas
von sich selbst zu denken.

Sie fuhr sich mit der Bürste durchs Haar und überlegte, ob

Adam sie wohl auch attraktiv fand.

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Dabei ist das doch völlig unwichtig, tadelte sie sich. Du gehst

heute Abend zu diesem Tanzvergnügen, um auf Tammy und Bri-
an aufzupassen, nicht, um Adam den Kopf zu verdrehen.

Dennoch wäre es nicht übel, wenn er ein wenig Notiz von mir

nähme, gestand sie sich ein.

Wehmütig lächelnd warf Hannah die Bürste auf den Schreibt-

isch. Oh, er nimmt Notiz von dir. Das ist dir seit eurer ersten
Begegnung bewusst. Dein größtes Problem ist doch gerade, die
Aufmerksamkeit zu ignorieren, die er dir schenkt.

„Oh, hör endlich auf damit", flüsterte sie ins Leere. War es

denn so schlimm, dem Rat ihrer Schwester zu folgen und einmal
im Leben ein bisschen Spaß zu haben?

Entschlossen nahm Hannah ihre Handtasche. Für heute woll-

te sie die kleine innere Stimme nicht mehr beachten und
stattdessen den Abend genießen.

„Wir kommen zu spät", rief Tammy von unten.
Hannah eilte die Treppe hinunter. „Dann sollten wir uns jetzt

schleunigst auf den Weg machen."

Arm in Arm und fröhlich lachend verließen die Schwestern

das Haus. Hannah war, als hätte sie sich niemals unbeschwerter
gefühlt.

Der große Saal des Gemeindezentrums war mit Hunderten

von bunten Luftballons geschmückt. Luftschlangen schwebten
über den Köpfen der Gäste von einem Dachbalken zum ändern.
Künstliche Pflanzen schmückten die Wände. Ihre Zweige waren
mit glitzernden weißen Kerzen geschmückt und tauchten den
Saal in fantastisches, romantisches Licht.

Ein Mann stand auf der Bühne, beinahe verborgen hinter

riesigen Lautsprechern. Man konnte ihn nicht direkt einen

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Diskjockey nennen, da er kein Wort von sic h gab, sondern nur
die Platten wechselte. Das schien die Gäste jedoch nicht zu
stören. Hauptsache, die Musik spielte.

Hannah musste schmunzeln, als Tammy Brian um einen weit-

eren Tanz bat, aber ihr Lächeln schwand, als sie sich umdrehte
und sah, dass Adam sie beobachtete.

Allein ihn anzusehen machte ihr Herzklopfen. Er sah so at-

traktiv aus in seinem anthrazitfarbenen Jackett. • Sie war froh,
das sie Tammys Sommerkleid gewählt hatte und nicht das form-
ale Blauseidene, das sie mit nach Little Haven gebracht hatte.

Wenn Adam doch bloß etwas sagte. Aber bis jetzt schien er zu-

frieden damit, die Tänzer zu beobachten und die Leute unter den
Gästen zu begrüßen, die er kannte. Und er schien beinahe jeden
zu kennen.

Hannah saß ruhig da. Im Moment genügte es ihr noch, Adams

gut geschnittenes Profil zu beobachten.

Mit seiner sonnengebräunten Haut strahlte er Gesundheit aus.

Wenn er lächelte, schlössen sich seine Augen in den Winkeln,
und die kleinen Linien um seine Mund waren Beweis dafür, dass
er sehr oft lächelte.

Durch ihre Arbeit im Krankenhaus hatte sie jeden Tag Kontakt

mit Männern - Ärzten, Verwaltungsbeamten, Patienten. Einige
von ihnen waren ausgesprochen attraktiv. Warum aber fühlte sie
sich zu jenen Männern nicht so hingezogen wie zu Adam? War-
um reagierte sie auf ihn mit solch heftigem Herzklopfen und
Pulsrasen?

In diesem Moment drehte Adam sich zu ihr um und sah sie an.

Beide fühlten die wachsende Verlegenheit. Schließlich brach
Adam das Schweigen.

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„Habe ich dir schon gesagt, dass Sonnenblumen dir sehr gut

stehen?"

Er sprach mit leiser, unendlich verführerischer Stimme. Han-

nah rang nach Atem. Einen Moment glaubte sie, kein Wort her-
vorbringen zu können. Sie blickte auf ihr Kleid, auf die großen,
gelben Sonnenblumen, die das Muster bildeten.

„Es gehört Tammy."
„Du siehst entzückend darin aus."
Hannahs Verlegenheit ließ sich nicht mehr überspielen. Sie

versuchte zu lächeln, was ihr aber absolut nicht gelingen wollte.

„Danke, Adam."
„Also", flüsterte er ihr zu. „Wie lange muss ich noch warten?"
Fragend hob Hannah eine Augenbraue. „Warten?" Dann

blickte sie zu den tanzenden Männern und Frauen.

„Ich... ich wollte dich zum Tanzen auffordern, aber ..." Sie biss

sich auf die Lippe. Es war ein schreckliches Gefühl, verlegen zu
sein. „Aber ich habe mich noch nicht getraut."

Als sie Adams umwerfendes Lächeln sah, begann sie, innerlich

zu zittern.

„Endlich ist das Eis gebrochen", meinte er gelassen. „Glaubst

du, du könntest dich jetzt zu einem Antrag durchringen?"

Antrag? Mit ihm zu Tanzen, natürlich, höhnte eine innere

Stimme, Sie nickte, um ihren Ärger zu verbergen. Endlich nahm
sie ihren Mut zusammen.

„Können wir ..." Sie unterbrach sich. „Was hältst du von ...?"

Sie runzelte die Stirn und versuchte es

noch einmal. „Ist es okay ...? Möchtest du, dass wir ...?"

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Schließlich musste Adam lachen. Er nahm Hannah bei der

Hand und zog sie vom Stuhl.

„Komm schon. Wenn wir warten, bis du die Einladung zum

Tanzen aussprichst, sind wir uralt, bevor wir die Tanzfläche
auch nur erreicht haben."

Sein Lachen wirkte ansteckend, und Hannah ließ sich zu den

tanzenden Paaren führen.

Adams Bewegungen zum schnellen Rhythmus des Tanzes

wirkten geschmeidig und elegant. Ihm schien die Musik zu ge
fallen, denn er sang die Worte leise mit.

Glücklicherweise kannte auch Hannah den Song. Und bald

sangen sie gemeinsam, unterbrachen sich aber immer wieder
kichernd und glucksend, sobald einer einen falschen Schritt
machte.

Die Spannung wich. Ein neuer Song erklang. Ein langsamer,

intimer Tanz. Die Paare auf der Tanzfläche kamen sich näher.

Adam legte Hannah eine Hand auf den Rücken und umfasste

mit der anderen ihre Hand.

Er roch so gut, so erdig und männlich. Hannah schloss die Au-

gen und atmete seinen Duft tief ein. Im Saal war es heiß, und
Adams Nähe ließ Hannah die Hitze noch mehr spüren.

„Ich habe eine Idee", flüsterte er. Mit leichtem Händedruck

forderte er sie auf, ihm zu folgen. Obwohl sie ein wenig über die
Unterbrechung ihres langsamen Tanzes enttäuscht war, gab sie
nach. Und als er eine Seitentür des Saals aufstieß, spürte sie die
leichte Brise auf ihrer Haut.

„Besser?", fragte er.
„Viel besser."

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Hannah hatte erwartet, ihr Tanz sei nun zu Ende, doch Adam

wollte nur, dass sie einen Moment draußen standen und sich ab-
kühlten. Die Musik spielte weiter, aber hier draußen im Dunkeln
klang sie leiser und viel zarter.

Allein mit ihm fühlte Hannah sich wie elektrisiert. Ihr war, als

würde sie plötzlich aus tiefem Schlaf erweckt. Heiße, erregende
Wellen durchfluteten ihren Körper, so dass all ihre Sinne zum
Leben erwachten.

Sie begehrte diesen Mann. Von ganzem Herzen. Und in genau

diesem Moment beschloss sie, ihn irgendwann an diesem za-
uberhaften Abend wissen zu lassen, was sie fühlte.

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8. KAPITEL

Wein stärkt den Mut, und Hannah nutzte ihn reichlich. Sie

lachte, flirtete und tanzte mit ihrem fantastisch aussehenden
Begleiter. Und Adam flirtete und tanzte mit ihr. Sie wünschte,
die Nacht würde niemals zu Ende gehen. Aber irgendwann war
es dann doch soweit.

Als Adam ihr die Schlüssel aus der Hand nahm und behutsam

vorschlug, ihm das Fahren zu überlassen, widersprach sie nicht.
Er setzte erst Brian ab und fuhr Hannah und Tammy dann nach
Hause.

„Gute Nacht, Adam", verabschiedete sich Tammy, rannte

schon die Verandatreppe hinauf und verschwand gleich darauf
im Haus.

Hannah war berauscht von der Hitze der Nacht und dem

Wein. „Du brauchst nicht gleich zu gehen, oder?" Sie lächelte
und begann, unterdrückt zu kichern.

„Nein." Adams Stimme klang sanft und äußerst ruhig. „Ich

brauche nicht zu gehen."

„Oh. Wundervoll." Diesmal kicherte sie unbeschwert drauf los.

Und sie fand ihr Kichern weder kindisch noch irgendwie albern.
In ihren Ohren klang es einfach gelöst. Und sie fühlte sich sehr
gelöst. Das Schwindelgefühl wirkte geradezu befreiend und ließ
sie sagen und tun, was ihr gefiel.

„Komm, wir setzen uns auf die Veranda." Hannah wollte die

Treppe hinaufgehen, stolperte aber bereits auf der ersten Stufe.

„Lieber Himmel." Adam und fing sie in seinen Armen auf.

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Auf seltsame Weise schien der Wein die Koordination zwis-

chen Augen und Händen zu beeinflussen. Aber Hannah war
nicht beunruhigt. Sie wusste ja, dass er ihren Zustand sonst
nicht beeinträchtigte. Ihre Urteilskraft war ungemindert.

Sie schmiegte sich an Adams Brust und blickte zu ihm auf.
„Du hast mich gerettet", flüsterte sie. „Du bist mein Held."
Adam gluckste vor unterdrücktem Lachen. „Komm", sagte er

dann. „Setzen wir uns, bevor du hinfällst."

Hannah ahnte zwar, dass Adam über sie lachte, konnte sich

aber nicht vorstellen, warum. Es war ihr auch wirklich
gleichgültig. Sie fühlte sich so gut, so herrlich entspannt.

Langsam stiegen sie die Treppe zur Veranda hinauf und nah-

men dann auf der hölzernen Schaukel Platz.

„Es ist so friedlich hier, Adam", murmelte Hannah und

schmiegte sich an ihn. Er roch so gut. Fühlte sich so gut an. Sie
konnte ihm gar nicht nahe genug sein.

.„Friedlich' ist das richtige Wort, um Little Haven zu

beschreiben."

Adam ließ es geschehen, dass sie sich an ihn schmiegte. Ja, er

legte sogar noch beschützend einen Arm um ihre Schultern. Sein
Herz klopfte schneller unter ihrer Hand.

Das fühlte sie durch sein Hemd hindurch. Ihre Gedanken ver-

wirrten sich auf wunderbare Weise, und sie lächelte Adam
kokett an. Und als er ihr Lächeln erwiderte, erwachte in Hannah
eine tiefe Sehnsucht.

„Küss mich", flüsterte sie und drängte sich noch fester in seine

Arme.

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Heiß und fordernd presste er seine Lippen auf ihren Mund.

Oder war es doch eher ihr Mund, der sich heiß und fordernd auf
seinen drückte? Diese Frage brachte Hannah einen Moment aus
der Fassung. Aber sie verdrängte den störenden Gedanken, und
gleich danach auch alle anderen. Sie wollte jetzt nicht denken.
Sie wollte nur fühlen.

Wie aus der Ferne wurde ihr bewusst, dass Adams Atem stoß-

weise ging. Und dieses Bewusstsein schürte noch das Feuer ihrer
Leidenschaft. Wieder meinte sie, Adam gar nicht nahe ge nug
sein zu können. Sie umklammerte seine Schultern und rutschte
auf seinen Schoss.

Plötzlich hatte sie das Gefühl, er berühre sie überall. Auf ihren

Armen, ihrem Rücken, ihrer Taille. Dann tastete er wieder weit-
er aufwärts, umfasste und massierte sanft Hannahs Brüste. Den
dünnen Baumwollstoff ihres Sommerkleides stellte kaum ein
Hindernis dar.

Aber hindern wollte sie ihn ohnehin nicht. Das war das Letzte,

woran sie dachte.

Im Gegenteil. Alle ihre Sinne waren wach und warteten nur

darauf, Adams Liebkosungen auf ihrem Körper zu spüren. Sie

sehnte sich danach, seine Hände überall zu fühlen, auch dort,

wo sie noch nie ein Mann berührt hatte...

Das leise Geräusch beim Öffnen des Reißverschlusses weckte

Adam aus seinem Taumel der Leidenschaft. Ohne nachzuden-
ken, legte er eine Hand auf Hannahs Finger „Warte!", verlangte
er mit unsicherer, ein wenig harter Stimme.

Er musste sie aufhalten. Selbstverständlich wollte er sie ber-

ühren, ihren vom Mond beschienenen Körper sehen und ihre

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heiße, verführerische Haut schmecken. Oh ja, wie er sich danach
sehnte.

Aber er wusste, Hannah war nicht fähig, klar zu denken. Sie

hatte zu viel getrunken.

Ganz gleich, wie sehr er es sich wünschte, er wollte diese Situ-

ation nicht ausnutzen.

„Was ist? Willst du nicht...?"
An ihrer Frage erkannte er, dass seine Reaktion sie verwirrte.

Wie sollte er sein Verhalten erklären, ohne sie zu verletzen?

„Lass uns langsamer vorgehen", bat er. „Ich brauche ein bis-

schen Zeit."

„Ach so. Ich bin wohl zu rasant für dich, was?" Mit ihrem

aufreizenden Kichern brachte Hannah Adam beinahe um den
Verstand. Einen Moment überlegte er, ob er sie nicht selbst aus-
ziehen sollte. Aber dann löste sie die Finger von dem Verschluss,
ließ die Hände sinken und barg den Kopf an seiner Schulter.

„Heute Nacht", flüsterte Hannah an seiner Brust, „hatte ich

das Gefühl, endlich meinen ersten Schulball nachzuholen."

Adams unabsichtliches Stöhnen verriet seine Überraschung.

Ihr erster Schulball?

„Oh, es gab mehrere Gelegenheiten auf der High School und
später bei studentischen Zusammenkünften", fuhr Hannah
fort. „Aber ich war immer zu beschäftigt mit Jobs, um Ein-

ladungen zu solchen Veranstaltung anzunehmen".

Es ist eigentlich nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Teen-

ager während seiner High

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School - Zeit Freizeit Jobs nachgeht, dachte Adam. Er selbst

hatte als Schüler in einer Autowerkstatt gearbeitet. Dabei hatte
er genügend Geld verdient, um Benzinkosten und Autover-
sicherung zu bestreiten, was zu den wichtigsten: Pflichten eines
männlichen High - School - Schülers gehörte.

Dennoch, Hannahs Bemerkung, sie hätte keine Zeit gehabt, an

den Tanzvergnügen in der Schule teilzunehmen, machte keinen
Sinn. Arbeitgeber und Eltern hatten schließlich Verständ nis für
das Bedürfnis der Schüler „dazuzugehören".

Adam schwieg. Insgeheim hoffte er, Hannah würde mehr

erzählen.

„Meinen ersten Job als Babysitter hatte ich mit zehn." Hannah

seufzte leise, während sie sich in Adams Arme kuschelte.
„Während meiner Zeit auf der Mittelschule sorgte ich jeden Tag
für diese Kinder, bis ihre Mutter von der Arbeit nach Hause
kam. Meine eigene Mutter verlangte von mir, frühzeitig mit dem
Sparen für das College zu beginnen. Sie wusste, mein Dad würde
mich bei meiner Ausbildung nicht unterstützen. Deshalb erwar-
tete sie, dass ich allein für die Kosten aufkam. Dadurch trainiere
man das Gefühl für Verantwortung, meinte sie."

Erneut seufzte Hannah auf. „Ich glaube, sie hatte Recht damit.

Aber ich muss zugeben, dass ich darunter litt, nicht zum
Volleyball-Team meiner Schule zu gehören."

Schon mit zehn Jahren hatte sie als Babysitter gejobbt? Aber

mit zehn war Hannah ja selbst noch ein Kind gewesen. Adam
legte beruhigend eine Hand auf ihre Hüfte. Das ständige Hin
und Her auf seinem Schoß mit ihrem sanft gerundeten Hinter-
teil ließ ihn Qualen ausstehen.

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„Sobald ich mit der High School begann, beschloss meine

Mutter, es sei Zeit, dass ich mir meine Kleidung von meinem
selbst verdienten Geld kaufte und meinen Teil zum Lebensun-
terhalt beitrug." Hannahs Stimme klang schläfrig. „Um einen
Vollzeitjob zu finden, musste ich schwindeln und mich älter
machen."

Hannah war damals bestimmt nicht älter als fünfzehn, über-

legte Adam. Vierzig Stunden in der Woche? Kinderarbeit war
ungesetzlich, oder? Aber wie auch immer, es klang, als hätte ihre
Mutter ihren Segen dazu gegeben.

„Also sparte ich fürs College und zahlte meine Rechnungen",

erzählte Hannah. „Sobald ich konnte, suchte ich mir eine eige ne
Wohnung. Ich war unabhängig. Ich war immer unabhängig. Ich
bin sicher, meine Mutter ist sehr stolz auf mich."

Adam spürte Hannahs Atem an seinem Ohr. Er wusste, ihre

Augen waren grün, aber im Dunkel der Nacht vermochte er die
Farbe nicht zu erkennen. Ihre Stimme schien erfüllt von Trauer,
aber Adam war sich nicht sicher, ob sie sich dieser Trauer be-
wusst war.

Er fand, Hannahs Mutter hatte sich nicht gerade als gute
Mutter erwiesen. Sie hatte ihre jüngere Tochter im Stich

gelassen und ihre ältere Tochter viel zu früh aus dem Nest ge-
worfen. Auch wenn Bobby Ray vielleicht nicht fähig war, für den
Unterhalt von Tammy aufzukommen, so hatte Adam doch den
Eindruck, dass die jüngere Cavanaugh - Schwester das bessere
Los gezogen hatte.

„Himmel noch mal, du riechst so gut", flüsterte Hannah, und

„Ich bin müde", fügte sie im selben Atemzug hinzu.

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Zärtlich streichelte Adam ihr über die Wange. „Das kann ich

mir vorstellen. Du musst ins Haus gehen und dich ordentlich
ausschlafen."

Hannah lächelte. „So müde bin ich nun auch wieder nicht.

Komm mit hinein. Geh mit mir ins Bett."

Oh ja, er begehrte sie noch immer. Aber während sie plaud-

erte, hatte er die Zeit genutzt, seine leidenschaftlichen Gefühle
wieder unter Kontrolle zu bekommen. Daher zögerte er nur eine
Sekunde und sagte: „Nicht heute Nacht, Hannah. Nicht heute
Nacht."

Wenn sie sich liebten - und Adam war sicher, dass das eines

Tages geschehen würde, sollte Hannah einen klaren Kopf haben.
Dieses Erlebnis sollte nicht durch Alkohol und dunkle Erinner-
ungen an ihre Kindheit beeinträchtigt sein. Nein, er wünschte
sich, dass ihr Herz dann nur von einem einzigen Gedanken er-
füllt war: von ihm. Adam!

Hannah konnte selbst kaum glauben, dass sie an einem Son-

ntagmorgen so früh durch den Wald streifte. Sie hatte sich beim
Aufwachen erstaunlich frisch und wohl gefühlt. Ihre Erinner-
ungen an die vergangene Nacht waren verschwommen, aber
eines war ihr doch im Gedächtnis geblieben: Adam hatte die
Situation nicht ausgenutzt.

Nur vage war ihr bewusst, dass sie sich Adam angeboten hatte,

und der Gedanke an ihr dreistes Verhalten trieb ihr die Scha
mesröte ins Gesicht. Aber sie war entschlossen gewesen, ihm zu
sagen, was sie für ihn empfand, und wenn ihr Erinnerungsver-
mögen sie nicht im Stich ließ, hatte sie genau das getan.

Wie auch immer, Adam hatte sich wie ein Ritter in glänzender

Rüstung verhalten. Ihr Ritter ...

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Kaum hatte sie die Augen geöffnet, war ihr völlig klar, dass

Adam ihr Angebot abgelehnt hatte, weil sie zu viel getrunken
hatte.

Vor Glück schien ihr Körper zu schweben, und ihr Herz stim-

mte mit ein in den Gesang der Vögel. Fühlt man sich so, wenn
man liebt? überlegte sie.

Hannah blieb stehen. Diese aufregende Frage ließ ihre Knie so

weich werden, dass sie sich gegen einen Baum lehnen musste.

Liebe? Liebte sie Adam etwa?
Der Gedanke war einfach zu erschreckend, um jetzt darüber

nachzudenken. Sie war nicht darauf vorbereitet, war nicht
bereit, ihre Gefühle so genau zu überprüfen.

Endlich kam das Haus in Sicht. Von Tammy wusste sie, dass

Adam nicht weit entfernt von ihnen wohnte. Glücklicherweise
stand sein Pick-Up am Straßenrand.

Hannah begann zu laufen.
Sie wusste nicht, ob sie zu Adam gehen sollte, der ihr Herz mit

seiner wundervollen Art angesprochen hatte, oder ob sie vor der
Liebe fliehen sollte, die ihr Angst machte.

Der Gedanke war verwirrend. Zu verwirrend. Also verdrängte

sie ihn, und, nachdem sie den Plattenweg der Einfahrt überquert
hatte, eilte sie - immer zwei Stufen auf einmal nehmend - die
Verandatreppe hinauf.

Eine Weile verging, bevor Adam mit nacktem Oberkörper und

knapp sitzenden Jeans die Tür öffnete. „Hannah", rief er er-
staunt, „was ist passiert?"

„Muss etwas Schlimmes passieren, wenn ich dich besuchen

komme?" Sie drängte sich an ihm vorbei. Dabei versuchte sie,

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nicht zu zeigen, wie atemlos und aufgeregt sie war. Es fiel ihr
schwer, nicht auf Adams breite Brust zu starren. Sie riss sich
zusammen und nahm stattdessen sein gemütliches Holzhaus in
Augenschein. „Du wohnst sehr schön hier", bemerkte sie
schließlich.

Adam dankte und schloss die Tür. „Es ist zwar nicht groß, aber

ein richtiges Heim."

Wohnraum, Küche und Essecke bildeten einen offenen Raum.

Die großen Fenster ließen viel Licht herein. Hinter einer offenen
Tür am Ende des kleinen Flurs erspähte Hannah sein zerwühltes
Bett. Sie lächelte insgeheim. Das war der Ort, an dem sie sein
wollte - mit Adam, vorausgesetzt ihre Hoffnungen erfüllten sich
mit diesem Besuch.

Sie wirbelte herum und warf Adam ein strahlendes Lächeln

zu. Beim Anblick seines zerzausten Haars und seiner bloßen
Füße hätte sie beinahe laut aufgelacht.

„Sieht so aus, als hätte ich dich geweckt", stellte sie fröhlich

fest.

Adam schüttelte den Kopf. „Keineswegs. Mann müsste ja

zuerst schlafen, bevor man aufgeweckt werden kann." Er ging
zur Kochnische. „Möchtest du einen Kaffee?"

Hannah hatte sich niemals zuvor gewünscht, verführerisch zu

wirken. Jedenfalls nicht vor dem gestrigen Abend. Da gab der
Wein, den sie praktisch in sich hinein gegossen hatte, ihrem
Selbstvertrauen einen riesigen Auftrieb. Wie reagiert eine Ver-
führerin, wenn ihr eine Tasse Kaffee angeboten wird, fragte sie
sich. Als ihr keine Antwort einfiel, sagte sie: „Sicher, gerne."

Von Vorteil wäre es gewesen, wenn sie etwas von der

Lässigkeit der vergangenen Nacht aufleben lassen könnte. Sie

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mochte es noch immer nicht glauben, dass sie Adam aufge-
fordert hatte, mit ihr ins Bett zu gehen. Schämen sollte sie sich
wegen ihres Verhaltens. Stattdessen empfand sie jedoch nur eine
tiefe Dankbarkeit, weil er die Situation nicht ausgenutzt hatte.
Und aus diesem Grund gefiel Adam ihr noch viel mehr.

„Ich bin gekommen, um dir zu danken."
Adam schwieg. Er stand am Spülbecken und füllte die Kaf-

feekanne mit heißem Wasser. Neugierig forschend sah er Han-
nah an.

„Ich war gestern Abend ein bisschen ... beschwipst", begann

Hannah. „Und du sollst wissen, ich rechne es dir hoch an, dass
..." Sie fühlte, wie sie rot wurde und ihre Stimme zu zittern
begann. „ ... dass du auf mich Acht gegeben hast."

Hannah zögerte einen Moment. Eigentlich hätte sie das, was

sie gerade gesagt hatte, umwerfen müssen. Aber sie war viel zu
sehr damit beschäftigt, Adam zu umwerben, um diesem
Gedanken mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

„Du hättest mich ... haben können, letzte Nacht." Ihre Stimme

klang atemlos.

„Vielleicht", murmelte Adam. „Aber ich möchte, dass eine

Frau dabei einen klaren Kopf hat, damit sie weiß, was sie tut."

Nur wenige Schritte, und schon war Hannah an seiner Seite.

Herausfordernd lehnte sie sich mit der Hüfte gegen den Arbeit-
stresen, nur einen Zentimeter entfernt von der Stelle, wo Adam
die Kante des Tresens umfasste. Sie neigte den Kopf ein wenig
und blickte ihn mit kokettem Augenaufschlag an. „Also, wenn
das so ist, heute Morgen bin ich vollkommen nüchtern."

Vergessen war die Kaffeekanne auf dem Tresen. Mit fragen—
dem Blick sah Adam Hannah an.

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Gut, dachte sie. Jedenfalls beginnt er jetzt zu begreifen. „Ich

bin gekommen ..." Mit einer kaum wahrnehmbaren Handbewe-
gung öffnete sie den obersten Knopf ihrer Bluse.

„ ... um dir zu zeigen, wie sehr ich dein galantes Verhalten von

gestern Abend zu schätzen weiß."

In seinen blauen Augen flammte das Verlangen auf. Als Han-

nah langsam den zweiten Knopf öffnete, senkte er den Blick auf
den Ausschnitt ihrer Bluse. Mehr Haut wurde sichtbar, mehr
Brustansatz...

Die Luft in dem hellen Raum schien sich aufzuheizen, die er-

regende Vorfreude ließ Hannahs Puls schneller schlagen.

Adams Blick glitt zu Hannahs Gesicht. „Sieh mal", begann er,

verstummte jedoch gleich wieder. Er fuhr sich mit der Zunge
über die Lippen, atmete langsam und tief durch, als denke er
über etwas nach, um die eine oder andere Entscheidung zu
treffen.

Schließlich fuhr er fort: „Du schuldest mir keinen Dank. Für

jeden wäre klar gewesen, dass du ein bisschen ... angesäuselt
warst."

Hannah lachte spontan auf. „Ich war betrunken wie ein

Seemann.“

Adam zog eine Braue hoch und wandte sich von ihr ab, um

einen Filter vom Bord zu nehmen, den er in den Behälter der
Kaffeemaschine legte. Dann füllte er den Filter mit Kaffee.

„Hannah." Wieder verstummte er und schien seine ganze

Aufmerksamkeit der Aufgabe zu widmen, die Wasserkammer
der Kaffeemaschine mit Wasser zu füllen.

Vage nahm Hannah die Tatsache zur Kenntnis, dass er über

ihre Bemerkung nicht gelacht hatte. Diese Feststellung

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verunsicherte sie. Irgendetwas lief falsch. Was war zwischen
gestern Abend und heute Morgen passiert? Er hatte sie begehrt.
Darauf würde sie ihre Seele verwetten. Also, wieso ...?

Adam stellte die Kaffeemaschine an. „Ich möchte dich mit

dem, was ich zu sagen habe, nicht beleidigen", begann er.

Sein Ton klang ruhig und kontrolliert. Außerordentlich

bedächtig. Hannah biss sich auf die Lippe. Diese Worte, genauso
oder ähnlich, hatte sie schon viele Male gehört.

Von ihrer Mutter. Und jedes Mal folgte darauf etwas, was sie

verletzte.

„Ich bin nicht an Gelegenheitssex interessiert."
Bis jetzt hatte sie mit der Knopfleiste ihrer Bluse gespielt. Als

Hannah Adams so abweisende und entschiedene Äußerung
hörte, hielt sie sofort inne. Seine Zurückweisung schmerzte wie
ein Stich ins Herz, dort, wo sie am verwundbarsten war. Auf ein-
mal war ihr der Hals wie zugeschnürt, und ihr Körper glühte vor
Scham.

Sie hatte sich ihm angeboten, und er hatte sie zurückgewiesen.

Einfach so.

Letzte Nacht hatte er ihre Küsse erwidert, sie auf eine Weise

berührt, die sie glauben machte, dass er sie wollte. Warum jetzt
dieser Rückzug?

„Ich m...muss jetzt gehen." Hannah trat einen Schritt zurück.
„Warte eine Minute!" Adam sah, wie verzweifelt sie war, und

streckte ihr die Hände entgegen. „Bitte!"

Aber Hannah schüttelte den Kopf. „Es ist schon in Ordnung.

Wirklich." Und dann hielt sie es für das Beste, dieser

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unmöglichen Situation ein wenig Normalität aufzuzwingen. „Es
tut mir Leid, dass ich nicht zum Kaffee bleiben kann."

„Geh nicht so, Hannah."
„Es ist wirklich okay so", wiederholte Hannah. Sie riss die Tür

auf und stolperte hinaus.

Sie rannte durch den Wald zurück, ohne die Vögel zu beacht-

en, die in den Bäumen sangen, ohne die Umgebung wahrzuneh-
men, die im hellen Sonnenschein lag.

Aber obgleich alles in ihr in Aufruhr war, sagte ihr eine innere

Stimme, dass sie diese Demütigung und Peinlichkeit überleben
würde. Alles würde wieder gut werden.

Tränen brannten in Hannahs Augen, blendeten ihre Sicht und

ließen den sonnenbeschienenen Weg in Regenbogenfarben glän-
zen wie durch ein Glasprisma.

Sie wollte nicht weinen wegen dieses Mannes. Sie war eine

starke, eine unabhängige Frau. Entschlossen wischte sie sich die
Augen und sagte sich noch einmal, dass alles in Ordnung war.
Adam hatte sie das bereits versichert. Nun musste sie sich das
selbst nur noch oft genug einreden. Sich selbst davon
überzeugen.

Alles war in Ordnung. Wirklich.
Aber zum ersten Mal in ihrem Leben wurde ihr klar, dass et-

was nicht in Ordnung war.

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9. KAPITEL

„Also, habt ihr es getan? Du und Adam?"
Hannah war zu beschäftigt, sich in Selbstmitleid zu ergehen,

um der Frage ihrer Schwester größere Aufmerksamkeit zu
schenken. „Was haben wir getan?" fragte sie, während sie das
Unkraut bearbeitete, das so üppig auf dem Blumenbeet
wucherte.

Den ganzen Vormittag hatte sie damit verbracht, diesen

Dschungel - genannt Rasen vom Unkraut zu befreien. Das Gras
war an manchen Stellen so hoch gewachsen, dass der alte Rasen-
mäher ständig blockierte und mehrmals sogar ganz den Dienst
versagt hatte.

Eine entnervende Arbeit, die noch dazu dem Rücken schadete.

Aber es war genau das, was sie brauchte.

Die Zeit, die sie in der heißen Sonne zubrachte, war nach Han-

nahs Meinung eine verdiente Strafe, weil sie Adam gegenüber
ihre Reserve aufgegeben hatte. Die Zeit und natürlich auch ihre
Mutter hatten sie gelehrt, was sie von den Männern zu halten
hatte: Das andere Geschlecht nutzte die Frauen nur aus.

Und schon war sie wieder verloren im Grübeln...
„Du weißt doch ..." Erneut unterbrach Tammy ihre Gedanken.

„Es. Ich dachte, das sei der Grund, warum du Adam heute Mor-
gen besuchen wolltest."

Hannah richtete sich auf. Für einen Moment war Adam ver-

gessen. Panik ergriff sie bei der Überlegung, was Tammy wohl
meinen könnte. Sie würde doch nicht denken, dass sie...

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„Es?" fragte sie. „Was meinst du mit ,es'?"
„Oh. Du weißt schon." Ihre Schwester errötete. „Es."
Kaum zu glauben. Tammy sprach tatsächlich davon. Hannahs

Augen weiteten sich, ihr Puls begann zu flattern. Sie hatte bisher
niemals über intime Dinge sprechen müssen.

Mit niemandem. Und schon gar nicht mit einer jungen Frau,

die geistig ein wenig behindert war. Sie hielt es für notwendig,

sehr behutsam vorzugehen.
„Liebes, was weißt du über ..." Hannah hielt inne. Sie war

nicht sicher, welches Wort sie wählen sollte.

„Es?" Tammy lachte. „Schon vor langer Zeit erzählte mir

Daddy ein wenig über Vögel und Bienen. Ich glaube, er wollte
sichergehen, dass mir niemand wehtat. Und Adam hat auch mit
mir darüber gesprochen."

„Was?", fragte Hannah. „Was hat Adam dir gesagt?"
„Als Brian und ich Freunde wurden", erklärte Tammy,

„erzählte mir Adam, woher die Babys kommen." Tammy neigte
den Kopf und sah Hannah aus den Augenwinkeln an.

„Also, habt ihr es nun getan?"
„Haben wir es getan?" Hannah hatte die Eingangsfrage ver-

gessen. Das Thema brachte sie vollkommen aus der Fassung.
„Oh." Sie kaute auf ihrer Unterlippe und nahm sich Zeit, die
Antwort zu überlegen.

Eine ausweichende Antwort war sicherlich die beste Lösung.
„Tammy, wie kommst du darauf, ich sei aus diesem Grunde zu

Adam gegangen?"

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Ein unbeschwertes Lächeln trat auf Tammys Gesicht. „Beim

Verlassen des Hauses hattest du diesen gewissen Blick in den
Augen."

Den gewissen Blick? Was hatte ihre Schwester da heute Mor-

gen in ihren Gesichtsausdruck hineininterpretiert?

„Ich fand, du sahst aus wie diese Frauen in den Fernsehserien.

Die so gierig gucken."

Hannahs Stimme war kaum noch zu verstehen. „Gierig?"
Nichts Anzügliches schwang in Tammys Stimme mit, als sie

erklärte: „Gierig auf einen Mann."

Hannah war vollkommen verblüfft. Man könnte meinen, ich

sei von uns beiden die Naive, dachte sie.

Adam hatte ihr gesagt, dass Tammy und Brians Beziehung un-

schuldig war. Daher hatte Hannah schlichtweg angenommen,
dass ihre Schwester völlig arglos war und nichts über die Intim-
itäten zwischen Mann und Frau wusste. Aber da saß Tammy und
sprach auf eine Weise über dieses Thema, die man nur freimütig
nennen konnte. Zu frei.- Zu persönlich.

Jedenfalls für ihren Geschmack.
Zumindest erspare ich es mir damit, von dem demütigenden

Erlebnis in Adams Haus erzählen zu müssen, dachte Hannah
erleichtert.

„Tammy", begann sie, „findest du nicht, dass diese Unterhal-

tung sehr intim ist? Ich meine, wir können doch über genügend
andere Dinge sprechen. Wir müssen nicht über ..."

Der Satz endete abrupt, als Hannah erneut nach dem richtigen

Wort für das Thema suchte, über das sie sprachen. Aus ihrer
Ausbildung als Krankenschwester erinnerte sie sich an Be griffe

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wie: Verkehr, Sex, Vereinigung. Aber keiner erschien ihr zart
genug, ihn in einem Gespräch mit einer jungen, unerfahrenen
Frau zu gebrauchen.

„Du meine Güte, Hannah." In Tammys Stimme schwang Ent-

täuschung mit. „Wir sind Schwestern. Wir sollten über alles
sprechen können. Ich würde es dir jedenfalls erzählen, wenn
Brian und ich es täten."

Nein, sträubte sich in Hannah alles, das möchte ich lieber gar

nicht wissen.

Aber dann fiel ihr ein, dass sie nur nach Little Haven gekom-

men war, um für Tammy zu sorgen. Wie sollte ihr das gelingen,
wenn sie schon vor dem ersten wichtigen Gespräch
zurückschreckte?

Erst in diesen Moment begriff sie, was Tammy ihr mitteilen

wollte. Tammy würde es Hannah erzählen, und damit ließ sie
Hannah wissen, was sie sich für ihre Zukunft vorstellte. Das
bedeutete aber auch, dass Tammy und Brian „es" noch nicht ge
tan hatten.

Erleichtert ließ Hannah die Schultern sinken. Endlich meldete

sich auch die Krankenschwester in ihr wieder zu Wort, und sie
überlegte, was sie Tammy alles sagen wollte, angefangen bei der
Verantwortung, die die Geburtenkontrolle betraf. Denn wenn sie
es auch nicht ganz wahrhaben wollte, sie sprach mit einer er-
wachsenen Frau. Mit einer Frau, die durchaus sexuelle Wünsche
hatte und diese auch auszukosten gedachte.

„Du hast Recht, Liebes." Hannah rieb sich die schmutzigen

Hände. „Wir sollten tatsächlich über alles reden können."

Tammys Augen strahlten erwartungsfroh. „Also, hast du und

Adam es getan?"

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Mach keine große Sache draus, bleib aufrichtig, sagte sich

Hannah. Und bitte, bitte, lieber Himmel, sorge dafür, dass
Tammy nicht zu sehr ins Detail geht. Sie würde es wohl kaum
überleben, wenn sie ausführlich von diesem peinlichen Besuch
berichten müsste. Sie war nicht darauf vorbereitet, jetzt von ihr-
er Demütigung zu erzählen.

„Nein", antwortete sie schließlich, „wir haben es nicht ge tan."
Tammy warf den Kopf zurück und begann so laut zu lachen,

dass Hannah erschrocken aufschaute.

„Ich habe mir doch gedacht, dass Adam es nicht tun wird",

meinte Tammy. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Hannah fühlte, wie sie innerlich vor Empörung kochte. Wie

kam Tammy darauf?

Konnte Adam eine Bemerkung gemacht haben, aus der

Tammy schloss, er sei nicht bereit, mit Hannah intim zu wer-
den? Ohne sich dessen bewusst zu sein, begann sie zu überlegen,
ob etwas mit ihr nicht in Ordnung war, weil Adam sie zurück-
gewiesen hatte. Vielleicht mochte er ihre rotblonden Haare
nicht. Vielleicht waren ihm ihre Hüften ein wenig zu breit?

Auf keinen Fall wollte Hannah zeigen, wie interessiert sie war

zu erfahren, was Adam von ihr hielt. Eigentlich sollte es ihr ja
ganz egal sein. Wenn er sie aber aus irgendeinem Grund nicht
anziehend fand, hatte er kein Recht, sich mit Tammy über seine
Gefühle zu unterhalten. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihre
Neugier zu bremsen, das überwältigende Bedürfnis, genau Bes-
cheid zu wissen, brachte sie beinahe um den Verstand.

„Wieso sagst du das?", fragte sie schließlich so lässig wie mög-

lich. „Hat Adam etwas gesagt, woraus du schließt, dass er mich
nicht attraktiv findet?"

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„O nein. Über dich hat er gar nichts gesagt. Aber er erzählte

mir und Bria n einmal, dass er an die Liebe glaubt. An die Ehe.
Und was noch wichtiger ist, er glaubt an eine lebenslange
Verpflichtung."

Tammy erklärte weiter, dass Adam extra hervorgehoben hätte,

wie wichtig es wäre, dass zwei Menschen sich erst einmal sehr
gut kenne n lernten, bevor sie sich der körperlichen Liebe
zuwandten - bevor sie „es tun", wie Tammy sich ausdrückte.
Hannah erkannte, dass die Diskussion über Sexualität Adams
Beitrag war, die beiden vor etwas zu bewahren, zu dem sie noch
nicht reif genug waren.

Tammys Worte gaben gleichzeitig auch Aufschluss über

Adam. Und wieder einmal fühlte sich Hannah gezwungen, ihm
insgeheim ihre Anerkennung einzugestehen. Er hatte sich nicht
gescheut, die Verantwortung zu übernehmen und Tammy und
Brian aufzuklären. Ihr wurde ganz warm ums Herz.

Adam war ein ganz besonderer Mensch. Wenn sie daran

dachte, was er alles für Tammy getan hatte, musste sie an-
erkennen, dass er ein Mann war, der sich seinen Mitmenschen
tief verpflichtet fühlte. Ein Mann, den sie lieben gelernt hatte.

Mehr, als sie zugeben mochte.
Noch heute Morgen auf dem Weg zu Adams Haus, hatte sie

die Liebe als etwas Beängstigendes empfunden und hatte die
Gedanken daran verdrängt. Aber jetzt musste sie sich endlich die
Wahrheit eingestehen: Sie liebte Adam. Sie liebte ihn heiß.

Nach dieser Erkenntnis hätte ihr Herz eigentlich höher schla-

gen sollen, aber sie fühlte sich nur vollkommen leer. Es war eben
ihr Pech, dass sie sich über ihre Gefühle erst klar wurde,
nachdem sie seine Zurückweisung hatte hinnehmen müssen.

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„Da Adam wollte, dass Brian und ich warten, bis wir überzeugt

sind, unser ganzes Leben zusammenzubleiben", fuhr Tammy
fort, „wird er das für sich selbst sicherlich auch fordern."

Tammy hatte die einzelnen Puzzleteilchen zusammengelegt.

Hannah lächelte. Ihre geistig ein wenig zurückgebliebene kleine
Schwester war weiser, als Hannah es ihr zugetraut hatte.

Doch Hannahs Lächeln schwand rasch wieder. Auf einmal

kam ihr eine weitere Erkenntnis: Adam hatte sie gar nicht ganz
zurückgewiesen. Er hatte nur gesagt, er sei nicht an „Gelegen-
heitssex" interessiert.

Er fühlte sich zu ihr hingezogen. Das Knistern in der Luft,

wenn sie zusammen waren, war nicht zu leugnen. Und wenn sie
sich küssten, hatte Adams leidenschaftlich und voller Verlangen
reagiert.

Hitze durchströmte ihren Körper. Auf einmal war ihr alles

ganz klar: Adam hatte sie nicht zurückgewiesen, weil er nicht in-
teressiert war. Er hatte ihr verführerisches Angebot nur abge
lehnt, weil er mehr wollte als Sex.

Adam suchte eine lebenslange Verbindung. Laut Tammy

glaubte er an die Ehe.

Schon setzten Hannahs Gefühle zum nächsten Sturzflug an.

Wieder einmal musste sie erkennen, dass die Lehren ihrer Mut-
ter stimmten: „Männer pflegen immer mehr zu wollen, als die
Frauen zu bieten bereit sind. Ein Mann nimmt unaufhörlich, bis
die Frau vollkommen leer ist", hatte Hillary Cavanaugh stets
gepredigt.

Eine Verbindung mit Adam würde bedeuten, dass sie zu viel

aufgeben musste. Aber Hannah war auf ihrem Weg, auf einem

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Weg, den sie selbst gewählt hatte. Ihre Ziele waren greifbar

nah. Ziele, für die sie ihr ganzes Leben hart gearbeitet hatte. War
es denn fair, sie zu zwingen, ihren Weg und ihre Ziele aus Liebe
zu einem Mann zu verlassen?

Am Wochenende besuchte Adam Tammy nicht und rief auch

nicht an, um sich nach ihr zu erkundigen. Am Montagnachmit-
tag

erreichte

Hannahs

Bitterkeit

einen

erschreckenden

Höhepunkt. Für wen hielt Adam sich eigentlich, wenn er ver-
langte, sie sollte ihr Leben seinetwegen ändern?

Selbstverständlich hatte er das nicht gesagt. Aber ebenso wie

Tammy war auch Hannah in der Lage, die kleinen Puzzleteile
zusammenzufügen.

Mehrmals hatte Adam betont, es sei falsch, Tammy mit nach

New York zu nehmen.

Hannah sollte aus Liebe zu ihrer Schwester in Little Haven

bleiben. Sein unausgesprochener, deutlicher Hinweis, Hannah
sei die richtige Person, die von ihm geplante Klinik zu organis-
ieren und zu leiten, war ein weiterer Trick, sie zu bewegen, nach
Little Haven zu ziehen.

Sicherlich waren dies alles Gründe für Adam, um das Beste für

Tammy zu erreichen.

Doch inzwischen hatte sich die Situation verändert. Hannah

fühlte sich persönlich betroffen, seit sie sich Adam angeboten
und er sie zurückgewiesen hatte.

Auch wenn sie jetzt vollkommen davon überzeugt war, dass

der Grund dafür nicht mangelndes Interesse war, so empfand sie
die

Erinnerung

an

den

Samstagmorgen

noch

immer

beschämend.

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Da Hannah seitdem nichts von Adam gesehen oder gehört

hatte, kam sie zu dem Schluss, dass er sich nicht mehr sehen
lassen würde, um mit ihr die Arbeiten an ihrem Haus zu
beenden. Umso größer war ihre Überraschung am Montag, als er
ge gen Mittag zur gewohnten Zeit wieder auftauchte.

„Tag", begrüßte er Hannah ernst.
Hannah nickte, ohne zu lächeln, aber ihr Herz hämmerte bis

zum Hals hinauf.

Oh nein, sie würde sich nicht erlauben, eine Reaktion zu zei-

gen. Auf keinen Fall.

Ohne ein weiteres Wort verschwand Adam hinter dem Haus.

Als Hannah ihm wenige Minuten später folgte, sah sie, dass er
keine Zeit verschwendet und sofort mit der Arbeit angefangen
hatte. Er stand bereits mit dem Farbeimer in der Hand auf der
Leiter.

Na fabelhaft, dachte Hannah, auf diese Weise beenden wir

diesen Job heute, und ich brauche seine Nähe nicht länger zu
ertragen.

So arbeiteten sie schweigend länger als eine Stunde. Zweimal

stieg Adam von der Leiter und versetzte sie.

Schweigend zu arbeiten ist eigentlich nichts Neues für uns,

dachte Hannah. Aber dieses Mal war es anders. Vor jener Demü-
tigung fühlten sie sich verbunden, auch wenn sie nicht mitein-
ander redeten. Wie Kameraden. Heute schien die Atmosphäre
abgekühlt. Das Schweigen machte sie verlegen. Es zerrte an
Hannahs Nerven.

Als Adam das dritte Mal hinunterkletterte, war Hannah sicher,

dass er die Leiter an die Ecke der Hauswand stellen würde, um

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noch den letzten Teil zu streichen. Aber es kam anders. Adam
stellte den Eimer auf den Boden und sah Hannah kühl an.

Hannah unterbrach ihre Arbeit nicht. Sie sah nicht einmal in

Adams Richtung. Aber sie fühlte seine Blicke, die ihren Körper
zu durchbohren schienen.

„Lächerlich", murmelte er.
Obgleich er im Flüsterton gesprochen hatte, fuhr Hannah auf.

Dieses eine Wort entfachte in ihr eine Kettenreaktion der Ge-
fühle. Sie merkte, dass ihre Hände zitterten und ihr Mund trock-
en wurde. Plötzlich schlug ihr Herz wie wild. Schlimmer noch,
sie spürte tief in ihrem Innersten, wie heißes Verlangen in ihr
erwachte.

Sie begehrte ihn, ja, sie wollte ihn von ganzem Herzen.
Dennoch war sie entschlossen, dieses unerwartete Verlangen

nicht zu zeigen. Sie drehte sich zu ihm um und warf ihm einen
raschen Blick zu. „Sagtest du etwas?" fragte sie so lässig wie
möglich.

Dabei hatte sie nicht beabsichtigt, mit Worten auf seine Be-

merkung einzugehen. Das Schweigen war peinlich gewesen, aber
eigentlich zog Hannah es dem Sprechen vor.

„Ich sagte", er hob die Stimme, wobei er jedes Wort einzeln

betonte, „es ist lächerlich."

Mit ihrer ausdruckslosen Miene wollte Hannah ihm zeigen,

dass sie keine Ahnung hatte, wovon er sprach.

„Oh, tu doch nicht so, als hättest du es nicht bemerkt", explod-

ierte Adam jetzt. „Die gespannte Atmosphäre ..."

Wieder sah Hannah ihn nur kurz an. „Ich weiß nicht, was du

meinst."

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„Du lügst."
Dieser Vorwurf zwang sie, ihre Arbeit zu unterbrechen. Sie

straffte die Schultern.

„Was willst du eigentlich von mir, Adam?", fragte sie ganz

direkt.

Ein Schatten verdunkelte Adams Gesicht. Hannah schien ge

nauso erstaunt wie er über ihre Frage, die ihr völlig spontan über
die Lippen gekommen war. Er zog die Stirn kraus. Erst jetzt
überlegte sie, nicht ohne Furcht, ob sie nicht mehr preisgegeben
hatte, als es ihre Absicht gewesen war.

Ohne direkt auf ihre Frage einzugehen, sagte Adam leise: „Ich

wollte deine Gefühle gestern nicht verletzen, Hannah."

„Gefühle verletzen?" Hannah lachte bitter auf. Aber damit

konnte sie niemanden irreführen. Am wenigsten Adam. Den-
noch fügte sie hinzu: „Du hast mich nicht verletzt.

Ich sagte ja, es war in Ordnung. Und das stimmt. Es geht mir

gut. Alles ist okay."

Adam sah Hannah an. „Nein, ist es nicht. Du weiß t, dass es

nicht wahr ist." Dann seufzte er und trat einen Schritt auf Han-
nah zu. „Nicht, dass ich dich nicht will. Ich begehre dich. Du
weißt, ich fühle mich zu dir hingezogen, schon seit ..."

„Hör auf." Hannah hob abwehrend eine Hand. Er durfte ihr

nicht zu nahe kommen.

Wenn er sie berührte, würde sie es nicht ertragen.
Nicht ertragen? fragte eine eigensinnige kleine Stimme. Ich

lasse mich von ihm unterkriegen?

Kommt nicht infrage, antwortete eine andere Stimme

energisch.

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Dennoch, eine aufkommende Hochstimmung bekämpfte Han-

nahs schwelenden Zorn und ihre Bitterkeit. Zu hören, dass
Adam sie gern hatte und begehrte, ließ ihr Herz vor Freude
jubeln.

Bist du wahnsinnig? grollte erneut eine innere Stimme. Dieser

Mann erwartet, dass du seinetwegen deine Träume aufgibst.
Schon hatte ihr Zorn wieder Oberhand.

„Glaubst du, ich weiß nicht, was du willst?" Missbilligend

schaute sie Adam an. „Du bist nicht bereit, Kompromisse zu
schließen, oder dich mit dem zufrieden zu geben, was sich dir bi-
etet. Ich bin klug genug zu sehen, dass du nicht anders bist als
andere Männer.

Du willst alles."
Adam schwieg. „Ich kann nicht für andere Männer sprechen."

Er nickte. „Du hast Recht.

Ich lasse mich nicht auf halbe Dinge
ein. Einmal habe ich es versucht, aber es hat nicht funk-

tioniert. Ich war mit einer Frau verheiratet, die egoistisch und
nur an ihrer Karriere interessiert war."

Genau wie du, schien er ihr mit seinem vorwurfsvollen Ton

sagen zu wollen.

„Obwohl ich mir Mühe gab", fuhr Adam fort, „klappte es nicht.

Ich musste gehen. Aus diesem Grund will ich alles. Und zwar
von einer Frau, die keine Angst hat, alles zu geben."

Hannah fühlte, wie ihr Ärger übermächtig wurde. „Du unter-

stellst mir Angst?" Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe vor gar
nichts Angst. Ich werde dir nicht alles geben, weil ich mich
weigere, es zu tun."

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„Ein Mann nimmt und nimmt." Die Klage ihrer Mutter ging

ihr nicht aus dem Kopf und stärkte noch ihre Entschlossenheit.

„Es ist nicht fair, wenn der Mann alles nimmt", behauptete sie.

„Meine Mutter verließ Little Haven, weil sie nicht mit Bobby
Rays Bedürftigkeit untergehen wollte. Sie wollte nicht an seiner
Faulheit, an seinem Mangel an Ehrgeiz zerbrechen. Er weigerte
sich, für sie zu sorgen, deshalb musste sie das selbst tun."

„Du sprichst von deiner Mutter, als sei sie eine aufopfernde

Frau gewesen." Eine Strähne fiel ihm ins Gesicht, als er ungläu-
big den Kopf schüttelte. „Nun, ich würde sagen, sie ist verdammt
egoistisch. In einem Maße, das sie weglief und ihren Mann und
ihre kleine Tochter ihrem Schicksal überließ."

Hannah verschlug es förmlich die Sprache.
„Siehst du", sagte Adam und straffte die Schultern. „Jetzt

spreche ich es aus. Schon seit unserer ersten Begegnung bin ich
dieser Meinung. Nun kennst du meine Gefühle."

„Du weißt ja nicht, wovon du sprichst", widersprach Hannah

heftig. „Meine Mutter ging damals fort, um für sich ein besseres
Leben zu schaffen." Erst jetzt begriff Hannah den Sinn ihrer
Worte und versuchte, sich zu korrigieren. „Um für uns beide ein
besseres Leben zu schaffen."

„Das glaubst du doch selber nicht."
Diese Bemerkung reizte Hannah nur noch mehr. „Du irrst

dich gewaltig, Adam."

„Dann sag mir, warum du nach Little Haven gekommen bist."
„Du weißt, warum."
„Ich möchte es von dir hören."

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Sie durfte ihm eigentlich nicht erlauben, sie zu quälen. Den-

noch ging sie auf das Spiel ein. „Ich wollte mich um Tammy
kümmern."

„Aber für Tammy ist gesorgt. Sie kennt hier viele Menschen,

die sie lieben und die auf sie aufpassen."

„Adam, mein Vater ist gestorben. Tammy braucht hier je-

manden, der bei ihr ist. Der sie unterstützt. Der auf sie
aufpasst."

„Bobby Ray war schon einen Monat tot, bevor du kamst.

Tammy hatte sich mit dem Tod ihres Vaters einigermaßen abge
funden. Also, warum bist du gekommen?"

Sein starrsinniges Beharren auf ein und derselben Frage är-

gerte Hannah. „Das habe ich bereits beantwortet."

„Nicht vollständig."
Hannah stemmte die Hände in die Hüften und sagte in

herausforderndem Ton: „Du scheinst die Gründe offensichtlich
besser zu kennen als ich. Warum verrätst du sie mir dann
nicht?"

„Das will ich gerne tun. Du kamst, um dich um Tammy zu

kümmern."

„Habe ich das nicht gesagt?"
„Aber du kamst, weil du herausfinden wolltest, ob es je-

manden gab, der für sie sorgte. Ob sich während der letzten
Jahre jemand um sie gekümmert hatte." Er zögerte einen Mo-
ment, bevor er mit ausdrucksloser Stimme schloss: „Weil du es
nämlich nicht getan hast."

Hannah schüttelte verwirrt den Kopf. Was er damit sagen

wollte, leuchtete ihr nicht sofort ein.

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„Du wolltest wissen, ob Bobby Ray deine Schwester Tammy

liebte und ob er für sie sorgte", erklärte Adam. „Du wolltest dich
vergewissern, dass Tammys Leben nicht so hart war ... wie
deines."

„Was?" Dieses eine Wort ließ Hannahs Fassungslosigkeit

erkennen.

„Dich hat nämlich niemals jemand liebevoll umsorgt, Han-

nah." Adam sprach jetzt im Flüsterton, aber Hannah entging
kein einziges Wort. „Man zwang dich viel zu früh, für dich selbst
Verantwortung zu übernehmen. Deine Mutter warf dich aus dem
Nest, bevor dir Flügel gewachsen waren."

„Das ist doch absurd!", protestierte sie.
Adam schüttelte den Kopf. „Nein, das ist es nicht."
„Meine Mutter tat, was für mich das Beste war."
„Deine Mutter tat, was für sie von Vorteil war. Nur zu ihrem

eigenen Besten tischte sie dir Lügen auf, wenn sie dir die Gründe
für ihr Fortgehen vor vielen Jahren nannte. Allein aus Selbst-
sucht lehrte sie dich, Prioritäten zu setzen, die dir weder heute
noch in Zukunft gut tun werden."

„Gegen meine Prioritäten gibt es nichts einzuwenden."
„Deine Prioritäten sind absolut unsinnig."
Seine kritische Haltung brachte Hannah vollends auf die

Palme. „Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Ich muss mir
das nicht länger anhören."

„Oh doch, ich glaube, das musst du."
Etwas in seiner Miene zwang Hannah, sich nicht von der Stelle

zu rühren. Sie kreuzte die Arme vor der Brust. In Ordnung,

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vielleicht musste sie zuhören, das hieß aber noch lange nicht,
dass sie akzeptieren musste, was er sagte.

„Das ganze Gerede von Unabhängigkeit und Selbstverant wor-

tung ist schön und gut", fuhr Adam fort. „Aber ein Mensch
braucht andere Menschen in seinem Leben. Ein Mensch muss
sich auf andere verlassen können, so, wie sich die anderen auch
auf ihn verlassen." Er schob eine Hand in die Hosentasche. „Du
sagtest, deine Mutter erzog dich zur Unabhängigkeit, weil sie
wollte, dass du fähig bist, auf eigenen Füßen zu stehen. Nun, ich
sage dir, sie zwang dir deine Unabhängigkeit auf, sie traktierte
dich damit. Nicht zu deinem eigenen Besten, sondern um,
sobald wie möglich, selber frei von allen Pflichten zu sein.

Hannah presste die Lippen zusammen. Er ist ein kompletter

Idiot, dachte sie bei sich.

„Wenn du über das, was ich gesagt habe, nachdenkst", fuhr er

fort, „wirst du mir sicherlich zustimmen."

„Niemals!"
Hannah glaubte, Adam würde sich über ihren Widerspruch är-

gern, aber sie täuschte sich. Er schien immer ruhiger zu werden.

„Dann lass uns noch einmal über den Grund sprechen, aus

dem du nach Little Haven gekommen bist. Reden wir über deine
Besessenheit, dich um Tammy zu kümmern ..."

„B...Besessenheit?", stotterte Hannah zutiefst beleidigt.
Adam ignorierte Hannahs Einwurf. Seine Stimme blieb

vollkommen gelassen. „Besser noch, nennen wir die Gründe, die
dich daran hindern, deiner Schwester zu erzählen, dass du sie
mit nach New York nehmen willst."

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Der plötzliche Wunsch, sich zu verteidigen, ließ Hannah

auffahren. Aber sie merkte, dass sie nicht fähig war, auch nur ein
Wort hervorzubringen.

„Selbst mit deinem ganzen Gerede über deine fabelhafte Be

förderung", fuhr Adam fort, ohne Hannahs Antwort abzuwarten,
„selbst mit all deinem Bestreben, vollkommen unabhängig zu
sein, weißt du tief in deinem Herzen, dass es ein Riesenfehler
wäre, Tammy aus Little Haven fortzuholen, wo sie Menschen
hat, die sie lieben.

In Hannahs Kopf drehten sich die Gedanken wild im Kreis.

„Ich werde nicht ..." Sie hielt inne, schluckte. „Ich möchte nichts
mehr davon hören." Aber dann meinte sie doch noch, protestier-
en zu müssen. „Das ist nicht wahr, Adam. Nichts von alledem ist
wahr."

„Das ist ja noch gar nicht alles, Hannah."
Hannah drehte sich um und wollte ins Haus gehen.
„Du solltest noch einiges mehr wissen", rief Adam ihr

hinterher.

Die Stufen der Verandatreppe knarrten unter ihren Schritten.
„Missverständnisse, die deinen Vater betreffen. Du kannst

jeden in dieser Stadt fragen."

Hannah hielt sich die Ohren zu. Was Adam sagte, riss ihr den

Boden unter den Füßen fort, zerstörte die Basis all dessen,
worauf sie ihr Leben aufgebaut hatte. Warum versuchte er, sie so
zu beschämen? Warum wollte er sie so verletzen? Hannah be-
griff es nicht.

Bald darauf hörte sie Adams Wagen anspringen. Schnell verlor

sich das Motorengeräusch in der Ferne.

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Hannah atmete tief durch. Der Mensch braucht die Wahrheit

nicht zu fürchten, sie macht ihn nur stärker, sagte sie sich.

Wenn es tatsächlich Lügen waren, mit denen sie aufgewachsen

war, so musste sie Genaueres erfahren. Aber war sie stark genug,
sich mit der Wahrheit auseinander zu setzen?

Hannah seufzte. Sie musste einfach wissen, was damals

passiert war. Und sie kannte sogar die Person, die ihr helfen
konnte, die Wahrheit herauszufinden.

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10. KAPITEL

„Kommen Sie, Liebes!" Beruhigend streichelte Mrs. Blake

Hannahs Hände. „Ich hole Ihnen jetzt eine schöne Tasse Eistee.
Ich sehe ja, wie aufgewühlt Sie sind. Ich hatte wirklich nicht die
Absicht, Sie so aufzuregen."

„Es ist nicht Ihre Schuld", versicherte Hannah matt. Was Mrs.

Blake ihr erzählt hatte, brachte sie vollkommen aus der Fassung.
„Ich wollte es hören. Ich musste es wissen."

Die Stuhlbeine des altmodischen Küchenstuhls schrammten

über den Linoleumboden, als Mrs. Blake sich erhob, um Gläser
aus dem Schrank zu holen. Trotz ihrer Blindheit bewegte sie sich
völlig sicher.

Hannah wollte die Fakten auf jeden Fall noch einmal durchs-

prechen. „Mein Vater hat also nicht von der Sozialhilfe gelebt."

Er war nicht arbeitsscheu gewesen. Es mangelte ihm nicht an

Ehrgeiz. Himmel, wie hatte sie ihren Vater nur so falsch einsch-
ätzen können?

„Nein. Die Schecks, die er erhielt, kamen nicht von der Für-

sorge. Das Geld kam von der Krankenversicherung, wo er wegen
seiner Behinderung versichert war."

„Er hatte sich verletzt, als er vom Dach unseres Hauses

stürzte?", fragte Hannah noch einmal nach.

„Ganz früher sprach Ihre Mutter von nichts anderem als von

ihrem Traum, dieses Haus zu kaufen." Die Eisstücke knisterten,
als Mrs. Blake Tee aus einem Krug in die Gläser füllte. „Und Ihr
Vater hat jeden Nagel in diesem Haus selbst eingeschlagen.

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Noch bevor es ganz fertig gestellt war, zogen Ihre Eltern hier mit
Ihnen ein. Damals erwartete Ihre Mutter gerade Tammy."

Mrs. Blake trug die Gläser zum Tisch und stellte eines direkt

vor Hannah.

„Nach dem Unfall Ihres Vaters", fuhr Mrs. Blake fort, „ging es

bergab. Jedermann hatte gehofft, dass sich die Situation wieder

bessern würde, wenn das Baby erst einmal auf der Welt sein

würde. Aber die Hoffnung erfüllte sich nicht. Tammy war kaum
ein paar Monate auf der Welt, als die Ärzte Ihrer Mutter
schlechte Neuigkeiten brachten."

Mrs. Blake umfasste das Glas mit ihren braunen, faltigen

Fingern, hob es jedoch noch nicht an die Lippen. Stattdessen
fuhr sie fort: „Eines Tages besuchte mich Ihre Mutter sogar. Sie
sagte, sie hätte nicht die Kraft, hier zu leben. Es sei zu viel für
sie, einen Mann zu versorgen, der nicht in der Lage war zu
arbeiten, eine Tochter, die niemals erwachsen werden würde.
Damals war mir klar, dass sie fortgehen würde. Aber ich muss
zugeben, ich wunderte mich sehr, dass Ihre Mutter Sie
mitnahm."

„Oh?"
Der Kopf der alten Frau zitterte. „Ich war sicher, sie würde

sich von Ihnen allen befreien und einfach davongehen."

Wie sehr wünschte ich, sie hätte das getan, dachte Hannah.
„Es war so offensichtlich, dass sie vor der Verantwortung fort-

lief. Alle in Little Haven waren überrascht, als Ihre Mutter Sie
dann mitnahm." Mrs. Blake zögerte einen Moment und nahm
jetzt einen Schluck Tee. Dann lächelte sie Hannah an.

„Schuldgefühle. Das war der Grund, glaubte ich. Wahrschein-

lich hätte sie mit der Schuld, alle verlassen zu haben, nicht leben

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können. Deshalb nahm sie eine Tochter mit. Diejenige, die ihrer
Mutter am wenigsten zur Last fallen würde."

„Dann war es gar nicht Bobby Rays Entscheidung, dass

Tammy bei ihm blieb und nicht ich?"

Die alte Dame kicherte. „Er hatte überhaupt keine Wahl." Sie

schüttelte den Kopf.

„Sie haben wohl die ganze Zeit geglaubt, er hätte Tammy

Ihnen vorgezogen?"

„Nun ..."
Dieser Gedanke hatte tatsächlich manchmal in Hannahs Hin-

terkopf herumgespukt, sie hätte ihn aber niemals auszusprechen
gewagt.

„Bobby Ray liebte Sie." Mrs. Blakes Ton war sehr eindeutig.
„Ich war zwar immer ein wenig eifersüchtig, aber im Grunde

war ich froh, dass es Tammy war, die bleiben durfte", gestand
Hannah. Sie staunte, wie offen sie dieser Frau gegenüber ihre
Gedanken und Gefühle mitzuteilen vermochte. „Daddy war ...

sanfter. Jedenfalls, soweit ich mich erinnere. Er war

liebevoller als meine Mutter. Und selbst wenn er Tammy in die
Obhut eines Heims hätte geben müssen, hätte er sie bestimmt
oft besucht und

ihr gezeigt, dass er sie liebte." Ihre Stimme war kaum noch

hörbar, als sie sagte: „Ja, er war viel warmherziger, viel entge-
genkommender als meine Mutter."

Mrs. Blake lachte auf. „Diese Feststellung überrascht mich

nicht. Wie ich schon sagte, er liebte Sie, mein Kind. Er ver-
suchte, so gut es ging, sich ständig über die wichtigen Ereignisse
Ihres Lebens Informationen zu beschaffen."

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Hannah nickte. Sie war zutiefst verwundert über die Tatsache,

dass ihr Vater jahrelang treu die kleine Staten Island Zeitung
abonnierte, die über das persönliche und berufliche Leben der
Bürger berichtete. Nur wenige Male war ihr Name darin auf-
getaucht. Zu erfahren, dass ihr Vater tatsächlich Nachforschun-
gen in Bezug auf sie angestellt hatte, wärmte ihr das Herz und
gab ihr das Gefühl, geliebt worden zu sein.

„Sobald ich zu Hause bin, suche ich die Artikel heraus", ver-

sprach Hannah. Als ihr bewusst wurde, wie spät es bereits war,
erhob sie sich. „Ich muss jetzt wirklich gehen."

„Aber sie haben Ihren Tee nicht einmal probiert."
Mrs. Blake war zwar blind, ihr schien aber dennoch nichts zu

entgehen.

„Es tut mir Leid", entschuldigte sich Hannah. „Aber es ist

schon beinahe Abendbrotszeit. Tammy wird sich fragen, ob mir
etwas zugestoßen ist."

„Dann machen Sie sich lieber gleich auf den Weg", pflichtete

Mrs. Blake ihr bei.

„Aber bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen noch einmal für Ihre

Hilfe danken, ohne die ich ganz verloren gewesen wäre."

„Sie haben mir genug gedankt, Mrs. Blake. Wie ich schon

sagte, ich war wirklich gern bei Ihnen."

Und während Hannah diese Worte aussprach, wurde ihr klar,

dass sie es vollkommen ernst meinte.

Zu Hause ging Hannah sofort auf die Suche nach den Zeitung-

sartikeln, die ihr Vater aufbewahrt haben sollte. In den
Schubladen der Beistelltische im Wohnzimmer befanden sich
nur eine Reihe Bleistifte, ein oder zwei Füllhalter und anderer

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Kleinkram. Hannah durchsuchte den kleinen Sekretär und fand
nichts als alte Quittungen und Büroklammern.

Eigentlich war es Hannah gar nicht so wichtig, diese Zeitung-

sartikel zu finden. Sie glaubte Mrs. Blake. Aber die Abschnitte zu
sehen und tatsächlich in der Hand zu halten, würde

ihr die Realität noch näher bringen. Es würde ihr helfen, sich

ihren Vater vorzustellen, wie er sich hinsetzte und die Zeitung
las, wie er die „Staten Island News" nach Informationsfetzen
durchstöberte, die ihm etwas über das Leben seiner älteren
Tochter verraten sollten.

Sie schüttelte den Kopf, während sie das fürchterliche

Durcheinander im Bücherregal betrachtete. Inzwischen hatte sie
zwar alles abgestaubt, aber dabei war es auch geblieben.

Immerhin war sie damit beschäftigt gewesen, das Äußere des

Hauses in einen ansehnlichen Zustand zu bringen. Sie lächelte,
als sie wieder an Tammys Abneigung gegen die Hausarbeit
dachte. Werde ich wohl jemals mit dem Renovieren fertig wer-
den, damit ich das Haus verkaufen kann?, überlegte sie.

Seit sie allerdings wusste, dass ihr Vater das Haus im Sch-

weiße seines Angesichts mit den eigenen Händen erbaut hatte,
begann sie plötzlich zu zweifeln. Wollte sie es denn wirklich
verkaufen?

Die sentimentale Frage blieb unbeantwortet. Als Hannah ein

altes Fotoalbum öffnete, stockte ihr auf einmal der Atem. Da la-
gen sie, die Zeitungsartikel! Ihr Vater hatte tatsächlich versucht,
seine ältere Tochter aus der Ferne zu begleiten. Genau wie Mrs.
Blake es gesagt hatte. Liebevoll hatte er die kleinen Artikel aus-
geschnitten, von denen zwei sogar ein Foto von Hannah zeigten.

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Tränen brannten ihr in den Augen. Einen Moment lang kon-

nte sie noch nicht einmal die Worte auf dem vergilbten Zeitung-
spapier lesen. Warum hatte er ihr nicht geschrieben.

Warum hatte er sie nicht angerufen? Niemals mehr würde sie

eine Antwort auf ihre Fragen erhalten.

Sie runzelte die Stirn. Möglicherweise hatte er aber doch ver-

sucht, Kontakt zu ihr aufzunehmen, und ihre Mutter hatte dafür
gesorgt, dass seine Bemühungen erfolglos blieben. Da Hannah
ihre Mutter kannte, glaubte sie, dass sie die ganze Wahrheit
wahrscheinlich niemals herausfinden würde. Schuldgefühle
legten sich wie eine schwere Last auf Hannahs Schultern.

Warum habe ich ihm bloß nie geschrieben, überlegte sie sich.

Warum habe ich nicht den Hörer in die Hand genommen und
versucht, ihn zu erreichen?

Weil ich so mit mir selbst beschäftigt war, darum, gab sie sich

stumm die Antwort.

Sie drückte die Artikel fest an ihre Brust und seufzte tief auf.

Die Chance, ihren Vater kennen zu lernen, hatte sie verpasst.

Das würde ihr ein Leben lang Leid tun.
Hannah horchte auf und schaute sich um, als sie plötzlich ihre

Schwester schluchzen hörte. Sie hörte Ta mmy kommen, noch
bevor diese die Fliegentür der Veranda öffnete.

Rasch legte Hannah die Artikel ins Album zurück, sprang auf

und eilte in die Küche.

„Was ist geschehen, Liebes?" Hannah umfasste Tammys

Schultern. „Was ist los? Bist du verletzt?"

„Mein Geld." Tammy zitterte am ganzen Körper. „Mein Geld

ist weg."

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Erstaunt zog Hannah die Augenbrauen zusammen. „Was für

Geld, mein Schatz? Wovon sprichst du?"

Statt zu antworten, stöhnte Tammy nur auf und bedeckte ihr

Gesicht mit beiden Händen.

Hannah führte sie zum Küchentisch und drängte sie, sich zu

setzen. „Beruhige dich erst mal, Liebes. Ich kann dir nicht
helfen, wenn ich nicht weiß, was los ist." Sie legte ihrer Schwest-
er die Hände auf die Schultern.

„Du wirst mit mir schelten."
Hannah schüttelte den Kopf. „Nein, das werde ich nicht. Ich

verspreche es. Aber jetzt musst du mir alles erzählen." Als
Tammy sich weigerte aufzublicken, bat Hannah: „Bitte, Tammy,
lass mich dir helfen."

Schließlich sah Tammy ihre Schwester mit einem so traurigen,

verzweifelten Blick an, dass Hannah das Herz blutete.

„Mein Geld kam heute", brachte Tammy mit ihrer zarten

Stimme hervor. „Immer, wenn mein Geld kommt, gehe ich zur
Bank. So wie Daddy und Adam es mir aufgetragen haben."

„Aha." Nun wusste Hannah, wovon ihre Schwester sprach. Ihr

monatlicher Scheck war eingetroffen.

Große Tränen standen in Tammys Augen und rollten über ihre

Wangen. „Aber nun ist es fort."

„Hast du es verloren?"
Tammy schüttelte den Kopf. Dann zog sie die Brauen zusam-

men und senkte den Blick.

Sanft hob Hannah Tammys Kinn an und zwang sie, ihr in die

Augen zu sehen. „Erzähl es mir."

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„Er hat es genommen", berichtete Tammy tonlos. „Der Mann

nahm mir das ganze Geld weg."

Hannah klopfte das Herz. „Wer, Liebes? Hat dich jemand be-

raubt oder verletzt? Bist du in Ordnung?" Die Fragen sprudelten

nur so aus ihr hervor, während sie ihre kleine Schwester

eindringlich musterte. •

Aber sie konnte weder blaue Flecke noch Kratzer auf der fein-

en Haut ihrer Schwester feststellen. Dennoch stieg Panik in ihr
auf. Als Tammy zu lange schwieg, konnte Hannah es vor Sorge
nicht länger aushalten. „Bitte, Tammy", drängte sie, „erzähl mir,
wer dein Geld genommen hat." Ihre Stimme klang bestimmter,
als sie es selbst erwartet hatte.

„Ich wusste doch, du würdest wütend werden", sagte Tammy.
„Ich bin nicht wütend. Ich bin nur besorgt."
Tammy schluckte. „Er nahm es nicht wirklich. I...ich gab es

ihm."

„Du hast ihm dein Geld gegeben?" wiederholte Hannah ver-

ständnislos. „Wer war der Mann, Tammy?" Sie begriff das alles
nicht.

Das Schulterzucken der jungen Frau war kaum wahrnehmbar.

„Ich weiß es nicht", gestand sie mit leiser Stimme. „Ich habe ihn
nie zuvor gesehen."

Jemand, der nicht in der Stadt wohnte, überlegte Hannah.
„Er sagte, er brauchte Geld", fuhr Tammy fort. „Er sagte, er sei

hungrig. Seine Kinder hätten nichts zu Essen. Er fragte, wen er
um Hilfe bitten könnte. Ich sagte ihm, ich hätte etwas Geld. Ich
wollte ihm helfen." Sie seufzte. „Ich sah ihn fortfahren. Ich war
so froh.

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Und so glücklich. Ich hatte dem Mann geholfen."
Aber dann runzelte sie die Stirn. „Plötzlich fiel mir allerdings

ein, dass ich mein Geld selbst brauche. Damit ich Essen
einkaufen und meine Stromrechnung bezahlen kann." Ihr Kinn
zitterte. „Ich wünschte, ich hätte etwas zurückbehalten. Aber
nun ist alles weg. Ich bin jetzt genauso arm wie der Mann. Ich
brauche Geld. Ich brauche Hilfe."

Völlig verzweifelt und verunsichert schaute Tammy ihre Sch-

wester an. Hannah empfand tiefes Mitgefühl mit ihr, sie bekam
aber kein Wort heraus.

Wie konnte etwas so Schreckliches geschehen, fragte sich

Hannah. Wann war es passiert? Während sie mit Adam stritt?
Während sie, nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, ganz
egoistisch mit Mrs. Blake über ihre Vergangenheit sprach?
Wann immer Tammys Missgeschick passiert war, wann immer
der Mann ihr den Scheck abgeschwatzt hatte, Hannah war nicht
dort gewesen, wo sie hätte sein müssen. Sie hatte nicht auf ihre
Schwester aufgepasst.

Es war ihre Schuld, das wusste Hannah. Sie hatte für ihre Sch-

wester sorgen wollen, ihren Job, ihr ganzes Leben dafür geben,
dass es Tammy gut ging. Aber nun musste sie feststellen, dass
sie versagt hatte. Gründlich.

Die Erkenntnis, ihrem Vater Unrecht getan zu haben, belast-

ete Hannah sehr. Unter der Last dieser neuen Schuld fühlte sie
sich nun noch schlechter. Es war zu viel. Die Aufgabe, für
Tammy zu sorgen, überforderte sie. Sie war einfach nicht fähig,
sie zu erfüllen. Sie brauchte Hilfe.

In diesem Moment festigte sich Hannahs Überzeugung: Ihre

Idee, Tammy mit nach New York zu nehmen und dort in ein

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Heim zu geben, wo sie sicher und beschützt war vor Menschen,
die ihr weh tun konnten, war die einzige Lösung dieses Prob-
lems. In einer solchen Einrichtung stünde Tammy unter dem
Schutz von einem ganzen Team staatlicher Helfer, die ausgebil-
det waren, die Aufgabe zu erfüllen, mit der Hannah ganz of-
fensichtlich nicht fertig wurde.

Eigentlich war Hannah kein Mensch, der schnell aufgab. Aber

sie hatte keine Wahl. Nicht, wenn Tammys Sicherheit auf dem
Spiel stand. Sie hätte von diesem Mann verletzt werden können,
zum Krüppel geschlagen oder schlimmer ... Böse Menschen
ließen sich wegen ein paar Dollar auf alle Verbrechen ein.

Sie bebte innerlich vor Angst. Sie würde nicht zulassen, dass

jemand ihrer Schwester Schaden zufügte. Niemals!

Ich muss mit einem Anwalt sprechen. Und zwar sofort.
Hannah warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. Es war bei-

nahe sechs. Sicher war der Anwalt... aber wie hieß er doch noch?
Angestrengt überlegte sie. Ja, der Anwalt, der ihre Mutter über
den Tod von Bobby Ray informiert hatte ... Henry Tillis. Endlich
fiel es ihr ein.

Er war sicherlich schon nach Hause gegangen. Und wenn

nicht? Wenn er vielleicht doch noch arbeitete?

„Alles wird wieder gut", versicherte Hannah ihrer Schwester.

Und dann eilte sie aus der Küche und holte das Telefonbuch, um
die Nummer dieses Anwalts herauszusuchen.

„Bleib hier sitzen", forderte Hannah ihre Schwester auf und

achtete darauf, dass sich Tammy auf einen der Polstersessel in
dem kleinen Warteraum setzte. „Ich gehe jetzt hinein und
spreche mit Mr. Tillis. Es wird nicht lange dauern."

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Hannah wusste, sie hatte großes Glück gehabt, dass sie Henry

Tillis noch in seinem Büro angetroffen hatte, als sie dort anrief.

Auf ihre dringende Bitte, sie noch heute Abend zu empfangen,

hatte er sie sofort zu sich gebeten. Es war ihre erste Begegnung
mit dem Mann, von dem sie bereits einiges gehört hatte.

Da die Sekretärin des Anwalts offensichtlich schon nach

Hause gegangen war, klopfte Hannah an die Bürotür, um sich
anzukündigen. Und als sie dazu aufgefordert wurde, trat sie ein.

„Miss Cavanaugh." Der Anwalt erhob sich und reichte Hannah

zur Begrüßung die Hand.

„Guten Abend, Mr. Tillis. Wie freundlich von Ihnen, mich so

kurzfristig zu empfangen."

„Gern geschehen. Aber ich muss darauf bestehen, dass Sie

mich Hank nennen."

Hannah schätzte sein Alter auf Mitte vierzig. Er hatte ein

nettes Lächeln. Seine leicht herab hängenden Wangen und die
tief heruntergezogenen Augenbrauen erinnerte sie an einen Jagd
hund, treu und intelligent.

Sie lächelte. „Ich nenne Sie Hank, gerne, wenn Sie Hannah zu

mir sagen."

Hank forderte Hannah auf, Platz zu nehmen. „Was kann ich

für Sie tun, Hannah."

„Nun ..."
Das kleine Wort war kaum ausgesprochen, als hinter ihr die

Tür aufging.

„Tammy, Liebes", sagte sie über die Schulter, „ich bat dich zu

warten."

„Es ist nicht Tammy."

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Adams tiefe Stimme ließ Hannah auffahren. Sie wirbelte her-

um und schaute ihn an.

„Hallo, Hank." Adam begrüßte den Anwalt, dann richtete er

den Blick seiner kühlen blauen Augen auf Hannah.

Was will er wohl hier, überlegte Hannah, sprach den

Gedanken aber nicht aus.

„Was willst du hier, Hannah?"
Das war ja geradezu Gedankenübertragung. Hannah verlor

beinahe die Fassung, als sie Adam ihre eigene Frage stellen
hörte.

„Ich wüsste nicht, dass es dich etwas anginge." Hannah war

klar, dass Adam auf ihre Antwort nicht freundlich reagieren
würde. „Aber ich habe Mr. Tillis aufgesucht, damit ich als Vor-
mund für Tammy eingesetzt werde. Ich will, dass der Scheck für
ihren Unterhalt an mich gesandt wird. Irgendetwas muss unter-
nommen werden. Sobald wie möglich."

„Das kannst du nicht tun", protestierte Adam. „Nicht, ohne

Tammy vorher entmündigen zu lassen."

Der Blick, den Hannah Adam schenkte, zeigte ihm, dass sie

genau das zu tun beabsichtigte.

Er blickte über die Schulter. Offensichtlich zu Tammy,

obgleich Hannah von der Stelle, wo sie saß, ihre Schwester nicht
sehen konnte. Dann betrat Adam den Raum ganz und schloss
die Tür leise hinter sich. Seine Augen funkelten eiskalt, als er
Hannah ansah.

„Ich werde das nicht zulassen. Ich habe Bobby Ray das Ver-

sprechen gegeben, mich um Tammy zu kümmern. Ich werde
mein Wort nicht brechen." Der ruhige Ton, in dem er sprach,
unterstrich seine Entschlossenheit noch.

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Zorn packte Hannah. Warum konnte Adam nicht einsehen,

dass sie das alles nur für Tammy tat? Sie presste die Lippen au-
feinander. „Sie ist meine Schwester. Ich trage die Verantwortung
für sie."

Adams Ärger stand Hannahs in nichts nach. Das war nicht zu

übersehen. Hannah war nicht der Ansicht, ihm irgendwelche
Erklärungen zu schulden. Aber sie wusste - sie hatte es in den
letzten Wochen beobachtet - dass er Tammy wirklich liebte. Nur
aus diesem Grund beschloss sie, ihm ihre Handlungsweise noch
etwas deutlicher zu erklären.

„Adam", begann sie, wobei sie versuchte, sachlich zu bleiben.

„Tammy hat ihren Scheck verloren. Das Einkommen eines Mon-
ats ist dahin." Sie schnippte mit den Fingern. „Einfach so."

Adam hob das Kinn. „Wirklich? Viele Menschen können nicht

mit Geld umgehen. Das heißt nicht, sie ist unmündig. Schreck-
liche Dinge kommen vor. In jedermanns Leben. Tammy bildet
keine Ausnahme."

Hannah schüttelte den Kopf und macht auf diese Weise deut-

lich, dass sie seine Ansicht absolut nicht teilte. An Adams Wange
spannte sich ein Muskel. Sein ganzer Körper wirkt verkrampft in
seiner Verstocktheit, dachte Hannah wütend.

„Ich werde es nicht zulassen", wiederholte Adam.
„Und wie willst du mich daran hindern?", gab Hannah hitzig

zurück. „Wer hört schon auf einen heruntergekommenen Hand
werker? Was kannst du schon tun gegen ..."

„So denkst du von mir?"
Eine tiefe Furche bildete sich auf Hannahs Stirn. Im selben

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Augenblick schämte sie sich, weil sie ihn beleidigt hatte. Sie

nahm jedoch ihre Bemerkung nicht zurück. Das konnte sie nicht.
Tammys Wohlergehen stand auf dem Spiel.

„Glaubst du ernsthaft", fragte Adam schließlich, „das Gericht

würde einer Rechtsbrecherin die Vormundschaft für Tammy
übertragen?"

„Was?", brachte Hannah hervor und schnappte nach Luft.
Adam sah Hank an. „Sie hat gegen das Gesetz gehandelt. Sie

hat eine Kranke behandelt, ohne die Zulassung zu besitzen."

Hannah konnte es nicht fassen. „Wie kannst du es wagen, das

gegen mich zu verwenden. Du wolltest, dass ich mich um Mrs.
Blake kümmere. Du hast mich geradezu angefleht, es zu tun."

In diesem Augenblick, der sicherlich der schlimmste Augen-

blick war, an den Hannah sich in ihrem Leben erinnern konnte,
fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Es hatte ihr gefallen, die
alte Dame zu pflegen! Diese Arbeit hatte ihr mehr Zufriedenheit
geschenkt, als alle Aufgaben, die sie in den letzten Jahren in
New York ausgeführt hatte.

Und dafür gab es Gründe. Tammy liebte Mrs. Blake und

sprach immer mit großer Zuneigung von ihr. Und die blinde alte
Dame liebte Tammy. Vor allem jedoch erkannte sie nun, wo her
dieses große Glücksgefühl kam. Sie hatte Adam die Sorge um die
kranke Frau abnehmen können.

Adam hob die dunklen Brauen. „Glaubst du nicht, dass .flehen'

ein wenig übertrieben klingt? Du erweckst damit den Anschein,
ich hätte auf Knien gelegen und ..."

„Genug." Hank erhob sich hinter seinem Schreibtisch. „Ber-

uhigen wir uns doch erst einmal."

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Hannahs Gedanken kreisten wild durcheinander. Sie wusste

nicht, ob sie dem Anwalt ihre Sicht der frechen Beschuldigungen
erklären sollte oder ob sie sich weiter mit Adam streiten sollte.
Der Mann war unmöglich.

Hank bemühte sich um ein beschwichtigendes Lächeln. Dann

räusperte er sich und zupfte an den Aufschlägen seines Sport-
jacketts. Offensichtlich versuchte er, Zeit zu gewinnen. Hannah
schämte sich furchtbar, weil sie sich dermaßen hatte gehen
lassen und sich in dem Büro des Anwalts auf einen Streit mit
Adam eingelassen hatte.

„Nun", ermahnte sie Hank, „wir befinden uns hier nicht vor

Gericht, und ich bin auch kein Richter. Wenn wir uns anschreien
und mit Fingern auf unsere Fehler hinweisen, werden wir

keines Ihrer Probleme lösen."
Hannah versuchte ihre Würde zu bewahren und widerstand

dem Wunsch, ihren Blick zu senken. Wie hatte sie sich nur so
kindisch aufführen können? Weil Adam sie dazu gezwungen
hatte, deshalb. Sie warf ihm einen zornigen Blick zu. Als der An-
walt sich jetzt ihr zuwandte, hörte sie ihm höflich zu.

„Unmündigkeit lässt sich nicht so leicht beweisen", erklärte er.

„Aber wenn Sie dazu entschlossen sind, dies zu tun, werde ich
die erforderlichen Schritte einleiten. Dennoch, ich muss Sie
warnen. Bei einer solchen Anhörung haben die Aussagen der
Zeugen großes Gewicht. Und als Bürgermeister von Little Haven
wird Adam einen herausragenden Zeugen abgeben. Seine
Aussage ..."

Den Rest der Belehrung hörte Hannah nicht mehr. Sie drehte

sich zu Adam um. „Du bist der ..." Sie neigte ein wenig den Kopf.
„Warum hast du mir das nie erzählt?"

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Adam schien Hannahs Verwirrung zu genießen. Er zuckte nur

die Schultern. „Das war doch niemals ein Thema."

Die vielen Vormittage, an denen er sich geweigert hatte, ihr

beim Streichen zu helfen!

Jetzt begriff sie endlich.
„Du verbringst deine Vormittage ..."
„Jawohl, mit der Erfüllung meiner Pflichten als Bürger-

meister", ergänzte Adam.

„Nachmittags habe ich dann meistens Zeit, mich meinen Fre-

unden zu widmen und ihnen unentgeltlich zu helfen."

Hannah lachte verächtlich. „Mir hast du beim Streichen des

Hauses nicht unentgeltlich geholfen", warf sie ihm vor.

Wieder zuckte Adam die Schultern. „Du hast mir die

Bezahlung angeboten. Du kannst allerdings sicher sein, dass ich
jeden Penny der Methodisten-Suppenküche gespendet habe."

„Jetzt hören Sie mir beide Mal zu." Der Anwalt trat zwischen

sie. „Mit Streiten erreichen Sie vor Gericht gar nichts. Warum
nehmen Sie sich nicht die Zeit und reden erst einmal mitein-
ander über Tammys Situation? Wenn es Ihnen recht ist, Han-
nah, lade ich Ihre Schwester inzwischen drüben zu einem Ham-
burger ein. Sie und Adam können dann später nachkommen."

Er schloss die Bürotür hinter sich und ließ Hannah und Adam

allein.

Einige Sekunden vergingen. Die Atmosphäre war unerträglich

gespannt. Schließlich konnte Hannah das Schweigen nicht
länger aushalten.

„Du hast Hecht. Zufrieden?" fragte sie scharf. Sie war nicht

fähig, ihre Stimme zu kontrollieren. „Du hast Recht mit allem,

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was du heute Nachmittag sagtest. Wolltest du das von mir
hören? Nun, ich sage es jetzt. Macht dich das glücklich?"

„Es ging mir nicht darum, Recht zu haben", antworte Adam

vollkommen ruhig.

Aber Hannah war zu erregt, ihm das zu glauben.
„Meine Mutter verließ Little Haven, weil sie nicht von Bobby

Ray ins Unglück gezogen werden wollte." Hannah wischte sich
nervös eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Oder von Tammy. Mrs. Blake sagte, sie sei sicher, dass meine

Mutter mich nur deshalb mitnahm, weil sie nie mit der Schuld
hätte leben können, die ganze Familie zurückgelassen zu haben."
Hannah schlug sich an die Brust. „Mich hat sie ausgewählt.

Mich, das gesunde Kind. Die Tochter, die am wenigsten

Zuwendung benötigte; die ihr Leben allein meistern konnte.
Ganz gleich, ob sie dazu fähig war oder nicht."

Sie war so verzweifelt, dass sie nach Atem ringen musste, als

sie endlich ihren Zorn und ihre Verbitterung ihrer Mutter ge-
genüber zur Kenntnis nahm.

„Du hast gesagt, ich musste noch eine Menge über meinen

Vater erfahren", fuhr sie fort. „Du hattest Recht damit. Bobby
Ray war kein fauler Nichtsnutz. Er war ein liebevoller Mann. Er
war zärtlich. Er war freundlich. Das hätte man mir allerdings
nicht erst zu erzählen brauchen. Daran kann ich mich selbst
noch erinnern, wenn auch schwach. Aber diese Erinnerungen
verdrängte ich, weil sie zu sehr schmerzten."

Sie unterbrach sich nur einen Moment, um sich mit der Zunge

über ihre trockenen Lippen zu fahren. „Ich war froh, dass es
Tammy war, die bei ihm bleiben durfte", gestand sie. „Tammy
brauchte

Liebe.

Sie

brauchte

seine

Zärtlichkeit

und

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Freundlichkeit. Bei meiner Mutter hätte sie nicht überlebt. Es
wäre die absolute Hölle für sie gewesen."

Hannahs Lachen klang bitter und hatte nichts Fröhliches an

sich. Sie ging im Büro auf und ab. Zuerst weg von Adam, dann
wieder zu ihm zurück. „Es war furchtbar."

Plötzlich hatte sie das Gefühl, durch das Sprechen über ihre

Vergangenheit in ihre eigene kleine Welt zurückversetzt worden
zu sein. „Mein Leben war so verdammt hart.

Ich musste immer nur arbeiten. Und ihr das meiste von

meinem Geld geben. Dabei versuchte ich, regelmäßig in die
Schule zu gehen, kämpfte ums Überleben. Niemals bekam ich ir-
gendwelche Anleitung oder Hilfe. Stattdessen kritisierte sie alles,
was ich tat."

„Hannah!"
Aber Hannah hörte seine beruhigende Stimme nicht einmal.

Sie ließ die Schultern hängen und schaute zu ihm auf. „Du hast
auch richtig erkannt, warum ich nach Little Haven gekommen
bin. Ich wollte mich um Tammy kümmern, weil sich niemals je-
mand um mich gekümmert hat."

Hannah fühlte, wie ihr Mund trocken wurde, aber sie ver-

suchte, das zu ignorieren. Sie hatte noch mehr zu sagen. Und sie
musste alles aussprechen, bevor sie zusammenbrechen und
weinen würde.

„Aber heute habe Nachmittag ich noch etwas gelernt, Adam",

fuhr sie fort. „So geschickt ich auch sein mag, so unabhängig und
so selbstständig ich immer erscheinen musste, ich halte mich
nicht für kompetent genug, Tammy das zu geben, was sie
braucht."

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„Oh. Liebes", widersprach Adam leise, „selbstverständlich bist

du das."

„Siehst du, hier täuschst du dich, Adam. Und zwar total." Han-

nahs Zorn war verflogen. Nur Traurigkeit erfüllte sie. Eine tiefe
schwere Traurigkeit. Sie seufzte. „Ich kann nicht vierund zwan-
zig Stunden am Tag bei meiner Schwester sein. Und das wäre
notwendig." Hannah hob entschlossen das Kinn. „Diese
Zuwendung kann Tammy nur in einer darauf spezialisierten
Einrichtung bekommen."

Adam schüttelte den Kopf. Aber Hannah war es leid, mit ihm

zu streiten und schwieg.

„Glaubst du, sie würde dort glücklich sein?", fragte er. Ohne

ihre Antwort abzuwarten, fuhr er fort: „Hannah, Tammy hat bei-
nahe fünfundzwanzig Jahre ohne Rund-um- die-Uhr-Betreuung
überlebt. Sie ist ein Freigeist. Ein bewundernswerter Freigeist.
Und alles wird zerstört, wenn du sie in eine ..."

Was er noch sagen wollte, verschluckte er. Hannah hatte das

sichere Gefühl, dass ihre Idee, Tammy in eine Anstalt für
Menschen mit besonderem Pflegebedarf zu bringen, so entsetz-
lich für ihn klang, dass er sich nicht überwinden konnte, diesen
Gedanken auszusprechen.

„Vor einiger Zeit habe ich dich gefragt", begann Adam jetzt mit

merkwürdig kontrollierter Stimme, „warum du dich dagegen
wehrst, dass Tammy ein erfülltes Leben hat. Ein reiches Leben,
in dem sie sich mit der Liebe und mit den Beziehungen zu an-
deren Menschen auseinander setzt. Ich weiß, ich gehöre nicht zu
eurer Familie. Aber ich will wirklich nur das Allerbeste für deine
Schwester. Ich wünsche ihr, dass sie alles ausprobieren darf.
Dass sie Schmerzen zu ertragen lernt, dass sie Anteil hat an allen
problematischen Erfahrungen, die das Leben zu bieten hat."

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Adam sah Hannah an. Er konnte seine Enttäuschung nicht ver-
bergen. „Welchen Sinn hätte ihr Leben sonst?"

Adam meinte es gut, das wusste Hannah. Und sie konnte ihm

seine Meinung auch nicht übel nehmen. Die gute Absicht
änderte jedoch nichts daran, dass er auf dem falschen Wege war.

„Du verstehst es nicht", sagte sie. „Tammy wurde heute von

einem fremden Mann angesprochen. Er hat ihr das ganze Geld
weggenommen." Hannah schüttelte den Kopf und verbesserte
sich. „Tammy hat ihm von sich aus jeden Penny gegeben, den sie
bei sich hatte. Stell dir das mal vor! Ein Wunder, dass sie nicht
verletzt, wurde, Adam. Sie hätte vergewaltigt werden können, er-
mordet ..." Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken.
„Wirklich, wir müssen dankbar sein, dass ihr sonst nichts
passiert ist."

Sie seufzte. Was sie noch zu sagen hatte - die Wahrheit, die sie

Adam verständlich machen musste - lastete ihr schwer auf der
Seele.

„Ich bin nicht in der Lage, mich um Tammy zu kümmern. Und

du auch nicht. Wir können nicht ständig und immerzu in ihrer
Nähe sein. Das ist einfach unmöglich. Und das Erlebnis mit
diesem Fremden beweist meine Meinung hundertprozentig."

Adam zog einen kleinen Zettel aus der Hosentasche. Seine

Miene hellte sich auf vor offensichtlicher Freude. „Wir suchen
den Mann."

„Suchen? Ja, wisst ihr denn, wer er ist? Tammy sagte, er sei

nicht von hier."

Adam warf einen Blick auf den Zettel in seiner Hand. Dann

schaute er Hannah an.

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„James Welford, der Postbote von Little Haven, sah heute

Nachmittag, wie Tammy mit einem Mann sprach. Mit jeman-
dem, den er nie zuvor gesehen hatte. Obwohl er nicht besonders
beunruhigt war, schrieb er sich auf Verdacht die Nummer seines
Wagens auf."

„Dann kennen wir also das Kraftfahrzeugkennzeichen?"
Adams Mundwinkel verzogen sich zu einem verführerischen

Lächeln. „James erwähnte dieses Erlebnis ganz zufällig, als er

mit Tom aus dem Eisenwarenladen plauderte. Als Tom wenig

später Tammy weinend an seinem Laden vorbeilaufen sah, rief
er mich an. Ich war schon auf dem Weg zu dir, sah dann aber
deinen Wagen vor Hanks Büro parken."

Die fürsorgliche Teilnahme, die die Menschen in Little Haven

Tammy entgegenbrachten, erfüllte Hannah mit großer Dank-
barkeit. Aber ihr Lächeln schwand rasch wieder. „Bitte halte
mich nicht für undankbar, Adam, aber die Tatsache, dass wir vi-
elleicht - und ich betone das Wort .vielleicht' - Tammys Scheck
zurückerhalten, ändert gar nichts. Die Aufgabe, für sie zu sorgen
und über sie zu wachen, ist zu groß für mich. Ich kann sie nicht
allein bewältigen."

Adams graublaue Augen verdunkelten sich. Er war offensicht-

lich verletzt. „Du bist nicht allein. Alle Menschen dieser Stadt
stehen hinter dir." Er hob den Zettel in die Höhe, den er ihr zu-
vor gezeigt hatte. „Wenn das kein Beweis für dich ist, dann weiß
ich wirklich nicht mehr, wie ich dir helfen soll."

Verzweifelt atmete Hannah tief durch. „Ich habe nur gelernt,

das Leben zu meistern, wie es sich aus meiner Sicht zeigt." Sie
zögerte einen Moment und kaute auf ihrer Unterlippe, während
sie gedankenverloren den Blick durch den Raum wandern ließ.

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„Ich musste mich jeder Herausforderung, jedem Problem, jedem
Erfolg allein stellen."

„Erfolg", murmelte Adam verächtlich. „Jetzt begreife ich.

Diese verdammte Beförderung da oben in New York ist für dich
wichtiger als ..."

„Nein!" Hannah warf ihm einen wütenden Blick zu. „Mein

Leben in New York hat absolut nichts mit meinem Besuch hier
bei Hank zu tun. Nur Tammys Wohlergehen ist von Bedeutung."

Aber ihr Zorn schwand so schnell, wie er aufgeflammt war.

Traurig schüttelte sie den Kopf. „Ich muss dir allerdings etwas
sagen, Adam. Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, hier zu
bleiben. Ich bin auf dem Weg zu einem Ziel. Ein Ziel, das ich mir
selbst gesetzt habe.

Ein Ziel, für das ich hart gearbeitet habe.
„Aber du hattest diesen Weg gewählt, bevor du Tammy

kennen lerntest", gab Adam zu bedenken.

Hannah zögerte nur kurz, bevor sie zustimmend nickte. Auch

damit hatte er Recht.

„Also", fuhr Adam fort, „verlass deinen Weg. Wechsle die

Richtung. Schlag einen neuen Weg ein. Einen Weg, der dich zu
Tammy führt." Auf einmal leuchteten seine Augen in einem war-
men Glanz. „Einen Weg, der dich zu mir führt."

Eine freudige Erregung ergriff Hannah. Auf einmal fühlte sie

ihre Knie weich werden und ihren Puls schneller schlagen. Aber
ein Leben, das geprägt war von Misstrauen und totaler Unab-
hängigkeit, erlaubte ihr in diesem Moment nicht, auf Adam
zuzugehen oder etwas zu erwidern.

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„Ich will dich, Hannah." Zärtlich sah er sie an. „Ich liebe dich",

fügte er leise hinzu Adam war die größte Versuchung für Han-
nah, die sich ihr in ihrem Leben gestellt hatte.

Sie wollte ihn doch auch. Und, ja, sie liebte ihn.
Aber ...
„Ich habe Angst." Das war die Wahrheit. „Ich will mich nicht

verlieren in einer ..."

„Beziehung", beendete Adam den Satz für sie.
Sie blickten sich an, dann schob Adam enttäuscht das Kinn

vor. „Hannah, ich habe auf verschiedenste Weise versucht, dir zu
zeigen, was im Leben wichtig ist. Von Anfang an habe ich dich
gedrängt, zunächst einmal deine Schwester kennen zu lernen.
Ich bat dich, Mrs. Blake zu pflegen, als sie krank war. Ich wollte,
dass du die Bekanntschaft mit Tammys Freund machst. Ich be-
mühte mich, dir näher zu kommen."

Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein auf das andere.

„Das tat ich, weil auch du verstehen solltest, was ich bereits
erkannt habe: Dass das menschliche Miteinander das Wichtigste
im Leben ist."

Im Licht der Deckenbeleuchtung glänzte Adams Haar, als er

den Kopf schüttelte. „Ich meine, ein Mensch kann beruflich Er-
folg haben, Ansehen und Reichtum erwerben, aber ohne andere
Menschen, ohne eine Liebesbeziehung wäre sein Leben leer."

Endlich fand Hannah ihre Sprache wieder. „Inzwischen ist mir

das klar geworden. Ich verstehe, was du sagst." Sie atmete tief
durch. „Ich habe keine Angst, Tammy zu lieben.

Oder Mrs. Blake. Oder Brian. Aber ich habe Angst, dich zu

lieben."

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Nichts änderte jedoch etwas an der Tatsache, dass sie ihn

leidenschaftlich liebte.

Dennoch meinte sie, ihre Besorgnis mit ihm teilen zu müssen.
Adams Stimme klang so zärtlich wie eine Liebkosung. „Du

scheinst zu glauben, eine Verbindung mit mir würde dich einen
Teil deiner Selbstständigkeit kosten."

Hannah wusste, Adam konnte ihr diese tief sitzende Furcht
ansehen und wartete hoffnungsvoll auf seine nächsten Worte.
„Liebung, eine Liebesbeziehung soll dich nicht verändern. Sie

soll dich ermutigen und dich zu einem besseren Menschen
machen." Adam lächelte. „Jedenfalls glaube ich, dass ich zu
einem besseren Menschen geworden bin, seit ich mich in dich
verliebt habe."

Hannah zögerte noch immer.
„Du scheinst zu befürchten, abhängig zu werden, nicht wahr?",

sagte Adam dann.

„Ich kann dir nicht versprechen, dass das nicht passieren wird.

In der Tat, ich wünsche es mir sogar. Ich möchte, dass du von
mir abhängig wirst. So wie ich mir vorstelle, auch von dir ab-
hängig zu sein."

Adams Vorstellung von der Liebe erschien Hannah so fremd.

So verschieden von dem Verständnis des Lebens, zu dem sie
selbst erzogen worden war. Und so herzerfrischend.

Sie wollte ihm glauben, wollte ihm vertrauen. Und sie konnte

buchstäblich fühlen, wie all ihre Ängste und Hemmungen stück-
weise von ihr abfielen, und stattdessen eine zauberhafte
Leichtigkeit aufkam.

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Ihr war deutlich anzusehen, dass sie sich ergab. Adam lächelte

sein breites liebevolles Lächeln, das allein schon eine Änderung
ihrer Vorstellung von einer intimen Beziehung bewirkt hätte.
Endlich gingen sie aufeinander zu und fielen sich in die Arme.

„Ich liebe dich, Adam", flüsterte Hannah ihm leidenschaftlich

ins Ohr.

„Ich liebe dich auch."
Hannah lehnte sich in seinen Armen ein wenig zurück und

schenkte ihm einen neckischen Blick. „Warum hast du vorhin ei-
gentlich versucht, mich in Schwierigkeiten zu bringen? Warum
hast du Hank verraten, dass ich Mrs. Blake gepflegt habe?"

„Nun ..." Seine Stimme klang aufrichtig und ernst. „Du hast es

getan."

Hannah holte tief Luft und schaute ihn böse an, aber als Adam

daraufhin loslachte, schmiegte sie sich in seine Arme und genoss
die Nähe zu ihm.

„Außerdem", meinte er leichthin, „siehst du so bezaubernd

aus, wenn du dich ärgerst und deine Augen vor Zorn funkeln."

Adam zog Hannah an sich, und sie ließ es geschehen, barg ihr

Gesicht an seinem Hals und umarmte ihn fest. Sie fühlte sich so
leicht, so heiter, so glücklich. Dabei war ihr auf einmal bewusst,
das ihr nichts Besseres hätte passieren können, als sich von ihrer
Selbstständigkeit und der schweren Last der totalen Selbstver-
antwortung zu befreien.

Mit Adam an ihrer Seite, der ihr mit seiner Liebe Mut machte

und sie unterstützte, fühlte Hannah, dass sie ganz sicher jedes
Hindernis überwinden und jedes Problem lösen konnte, ganz
gleich, ob es ihre tief sitzenden Ängste in Bezug auf die Liebe
oder die Sorge um ihre Schwester betraf.

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„Wir werden mit allem fertig, nicht wahr?" flüsterte sie und

umschmiegte sein Gesicht mit beiden Händen. „Zusammen."

Adam nickte. Er sah Hannah voll Zärtlichkeit an. „Zusammen

können wir das."

Dann küsste er sie auf den Mund. Es war ein langer KUSS, der

Treue und eine Welt voller Hoffnung versprach. Eine Liebe, die
das ganze Leben dauern sollte.

- ENDE

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