Charmed 26 Hexen in Hollywood Marc Hillefeld

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Charmed 26

Zauberhafte Schwestern

Hexen in Hollywood

Roman von Marc Hillefeld

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Klappentext:

San Francisco stöhnt unter der gewaltigsten Hitzewelle seit

Menschengedenken. Auch bei Phoebe Halliwell geht es heiß her – in

jeder Beziehung. Als sie mitten in der Stadt gegen eine lebende Mumie

kämpft, stellt sie fest, dass sie plötzlich auf den Set eines Horrorfilms

geraten ist. Schon bald darauf fängt sie mit ihrer Schwester Paige

beim Film an: als Beraterin für okkulte Fragen. Ein Traum wird wahr

– und dann ist da auch noch Andy, der junge, gut aussehende

Regisseur, auf den ganz besonders Paige ein Auge geworfen hat …

Zur gleichen Zeit hält eine geheimnisvolle Mordserie die Stadt in

Atem. Offensichtlich steckt ein verrückter Serienkiller hinter den

bizarren Taten. Aber dann kommt den drei Zauberhaften ein

schrecklicher Verdacht: Könnten die Dreharbeiten von Sream X-

Treme etwas mit der Mordserie zu tun haben? Piper, Phoebe und

Paige nehmen die Spur auf – und entdecken zu ihrem Entsetzen, dass

die Wirklichkeit unheimlicher sein kann als der furchtbarste

Horrorfilm …

Dieses eBook ist nicht zum Verkauf

bestimmt.

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Hexen in

Hollywood« von Marc Hillefeld entstand nach einer Idee von Torsten

Dewi und auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Spelling

Television, ausgestrahlt bei ProSieben.

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der

ProSieben Television GmbH

® & © 2003 Spelling Television Inc. All Rights Reserved.

1. Auflage 2003

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Ilke Vehling

Produktion: Wolfgang Arntz

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003

Satz: Kalle Giese, Overath

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 5-8025-5214-7

Besuchen Sie unsere Homepage im WWW:

www.vgs.de

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Prolog

P

HOEBE HALLIWELL WISCHTE SICH eine Haarsträhne aus

der Stirn und nahm noch einen Schluck aus der Wasserflasche.
Obwohl die Sonne schon bald hinter den Wolkenkratzern versinken
würde, war die Luft immer noch stickig und heiß. »Der kälteste
Winter, den ich je erlebt habe, war der Sommer in San Francisco«,
hatte Mark Twain einst gesagt. Aber der hatte wohl noch nichts vom
Treibhauseffekt geahnt, dachte Phoebe. Es stimmte schon,
normalerweise wehte immer ein kühler Seewind durch die Stadt, aber
von dieser erfrischenden Brise war im Augenblick nichts zu spüren.
Seit Tagen schon schien sich die Luft über der Stadt nicht mehr zu
bewegen, und die andauernde Hitze machte allen zu schaffen.

Die sonst eher gelassenen Bürger von San Francisco litten sehr

unter diesen Temperaturen. Die Kriminalitätsrate, so hatte Phoebe
gehört, war wie immer bei einer Hitzewelle gestiegen und die
allgemeine Stimmung war gereizt. Das hatte sie auch heute in der
Redaktion zu spüren bekommen. Nicht nur die Interviewpartner, auch
ihre Kollegen waren den ganzen Tag schlecht gelaunt gewesen, und
dass die Klimaanlage des Redaktionsgebäudes unter dem Ansturm der
Hitze zusammengebrochen war, hatte auch nicht gerade zu einer
Verbesserung beigetragen. Der Arbeitstag in einem Büro, das sich von
Stunde zu Stunde immer mehr aufheizte, forderte seinen Tribut.

Phoebe war fix und fertig. Um sich etwas zu entspannen und

vielleicht eine kühle Abendbrise genießen zu können, hatte sie sich
entschlossen, heute einmal zu Fuß nach Hause zu gehen. Das alte
Halliwell-Haus lag zwar einen ordentlichen Fußmarsch von ihrem
Arbeitsplatz entfernt, aber etwas frische Luft würde ihr gut tun.

Zumindest hatte Phoebe das gedacht. Nun bereute sie ihren

Entschluss gleich doppelt: Die Luft war schwül und alles andere als
frisch. Und die Route, die sie sich ausgesucht hatte, führte sie immer
weiter fort von den glitzernden Wolkenkratzern in die Altstadt San
Franciscos. Eigentlich eine malerische Gegend, die noch viel vom
Flair der alten Küstenstadt bewahrt hatte. Doch es gab auch einen
Grund, warum die meisten Stadtführer ihren Lesern rieten, diesen Teil
der Stadt bei Dunkelheit besser zu meiden.

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Die romantischen, zum Teil Jahrhunderte alten Fassaden der

Häuser ringsum ließen einen leicht vergessen, dass man sich hier in
den Außenbezirken einer amerikanischen Großstadt befand. Und das
war immer ein gefährliches Pflaster, egal an welcher Küste des
Kontinents man sich aufhielt.

Während die Sonne immer tiefer sank, blickte Phoebe sich um.

Dies war zwar nicht Los Angeles, aber die Gegend wurde ihr
zunehmend unheimlicher. Aus einem der heruntergekommenen
Häuser dröhnte harte Hip-Hop-Musik herüber, und von irgendwo
drangen zwei Stimmen zu ihr, die einem sich streitenden Ehepaar
gehörten. Die stickige Hitze schürte die Aggressionen, machte reizbar
und gewalttätig.

Nun beruhige dich mal, ermahnte sich Phoebe. Immerhin war sie

eine der drei Zauberhaften und hatte als solche schon gegen Dämonen
gekämpft, die jenseits der Vorstellungskraft anderer Menschen lagen.
Neben ihren Hexenkräften verfügte sie außerdem über eine
jahrelange, intensive Ausbildung in allen Kampfsportarten –
wenigstens dafür hatte Cole, ihr ehemaliger, dämonischer Liebhaber
gesorgt.

Trotzdem fühlte Phoebe sich nicht wohl in ihrer Haut. Ihre Kräfte

gegen Dämonen einzusetzen, war einfach. Dabei konnte sie alles
geben, ohne Rücksicht auf Verluste was die Gegner betraf. Gegen
Menschen zu kämpfen, war etwas ganz anderes. Als Zauberhafte war
es ihre Aufgabe, Menschen zu schützen, also durfte sie, wenn
möglich, auch keine verletzten. In einem direkten Kampf war sie
deshalb immer ein wenig im Nachteil, weil sie ihre Kräfte
zurückhalten musste, um ihren Gegner nicht ernsthaft zu gefährden.

Phoebe erschrak, als eine dunkle Gestalt aus einem Hauseingang

trat.

»Haben Sie sich verlaufen, Miss?«

Ein hagerer, aber sehnig-muskulöser Typ in einem

durchgeschwitzten Feinripp-Unterhemd trat ins Licht der
Abendsonne. Er blickte Phoebe grinsend an. Seine Frage klang dabei
alles andere als hilfsbereit, eher wie eine Herausforderung. Im
Mundwinkel des Mannes glomm eine Zigarettenkippe, in einer Hand
hielt er eine Flasche Bier.

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Alkohol und Hitze – das war keine besonders gute Mischung,

dachte Phoebe. Ihr fiel auf, wie deplatziert sie in dieser Umgebung
wirken musste. Im Gegensatz zu vielen Kolleginnen aus der
Redaktion war sie zwar nicht aufgebrezelt, aber für diese
heruntergekommene Gegend war sie eindeutig overdressed. Ihr
einfaches Kostüm mit dem aufgestickten Blumenmuster musste für
die Einwohner dieses Viertels wie eine Provokation wirken.

»Ich komme schon zurecht, vielen Dank!«, rief Phoebe dem Mann

zu. Sie versuchte, so viel Selbstvertrauen wie möglich in ihre Stimme
zu legen und blickte den Mann dabei direkt in die Augen.

Die Zigarette im Mundwinkel des Fremden hob sich in die Luft, als

er ein breites Grinsen aufsetzte. »Sie sollten auf sich aufpassen, Miss.
Das hier ist eine gefährliche Gegend.«

Eine berechtigte Warnung, ausgesprochen mit dem Tonfall einer

Drohung.

Phoebe nickte nur flüchtig mit dem Kopf, als der Mann im

Unterhemd wieder im Schatten des Hauseinganges verschwand. Es
war wirklich keine besonders gute Idee gewesen, diese Gegend zu Fuß
durchqueren zu wollen.

Die junge Hexe wischte sich ein paar Schweißtropfen von der

Stirn. Es war nicht mehr allein die Hitze, die sie zum Schwitzen
brachte.

Die Gegend wurde immer finsterer und im wahrsten Sinne des

Wortes dunkler. Die Sonne war mittlerweile noch tiefer gesunken, und
die aus Holz gebauten Häuser warfen lange Schatten, in deren Schutz
sich alles Mögliche verbergen konnte. Ein paar Mülltonnen, die
offenbar seit Tagen nicht mehr geleert worden waren, verbreiteten
einen süßlichen Gestank. Und da, zwischen einem Haufen achtlos auf
den Bürgersteig geworfener Müllsäcke, wühlte tatsächlich eine fette
Ratte nach ihrem Abendessen.

Das reicht jetzt, dachte Phoebe und griff nach ihrem Handy. Auch

wenn es ihrem schmalen Geldbeutel bestimmt nicht gut tat, würde sie
sich jetzt ein Taxi rufen. Zum Glück war die Nummer der
Taxizentrale eingespeichert. Sie hatte gerade das elektronische
Telefonbuch ihres Handys aktiviert, als sie den Schrei hörte.

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Innerhalb einer Sekunde war die Sorge um ihre eigene Sicherheit

vergessen. Phoebe blickte sich um. Irgendwo hier in der Nähe war ein
Mensch in Gefahr – der Tonlage zufolge eine Frau. Über Phoebes
Kopf wurde ein Fenster zugeschlagen. Die Anwohner dieser Gegend
ahnten offenbar, dass dies nur Ärger bedeutete und beschlossen
deshalb, sich rauszuhalten. Ein Verhalten, das nicht nur für diese
Umgebung typisch war. Obwohl sie sich darüber ärgerte, verdrängte
Phoebe diese Gedanken. Irgendwo hier in der Nähe schrie eine Frau in
Todesangst. Sie musste helfen.

Wenn sie sich nicht getäuscht hatte, war der Schrei aus einer

schmalen, dunklen Gasse gekommen, die links von ihr abzweigte.

Ausgerechnet.

In dieser düsteren Gegend konnte sie bestimmt nicht mit

hilfreichen Passanten rechnen. Aber das durfte sie nicht abhalten.
Phoebe stürmte los und setzte zu einem beeindruckenden Sprung über
eine umgestürzte Mülltonne an. Ein paar Ratten, die sich bei ihrem
Abendessen gestört fühlten, protestierten quietschend, aber Phoebe
war schon verschwunden.

Die junge Hexe blieb kurz stehen, um sich zu orientieren. Der

Gestank von Tage altem Müll war auf der Hauptstraße schon
unangenehm gewesen, hier war er beinahe unerträglich. Phoebe
wusste nicht, ob sie auf der richtigen Spur war. Doch eine Sekunde
später bestand kein Zweifel mehr daran. Ein neuer Schrei, diesmal in
höchster Todesangst, hallte durch die Gasse. Phoebe stürmte vorwärts.

Innerlich bereitete sie sich darauf vor, hinter der nächsten Biegung

auf eine Straßengang zu stoßen, die eine Passantin bedrängte.
Bestenfalls auf ein paar Betrunkene, die immerhin leichte Gegner sein
würden.

Doch als die junge Hexe um die Kurve rannte, verschlug es ihr den

Atem.

Es war einfach zu bizarr.

Etwa zehn Meter vor ihr lag eine junge, blonde Frau auf dem

schmutzigen Asphalt. Offensichtlich war sie bei der Flucht gestürzt
und hatte sich dabei verletzt, denn sie hatte das linke Bein angezogen
und hielt sich den Fußknöchel. Noch hatte die Frau Phoebe nicht

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bemerkt. Ihr Gesicht war vor Schmerz und Angst verzerrt, und sie
blickte auf ihren Angreifer.

Mit schwankenden, aber zielstrebigen Schritten näherte sich die

Gestalt ihrem Opfer. Von ihren Armen, die nach vorne gestreckt
waren, hingen schmutzige Stofffetzen herab. Auch der Rest des
Körpers war von Kopf bis Fuß mit Bandagen bedeckt. Dort, wo
normalerweise die Augen hätten sein sollen, klafften nur zwei dunkle
Löcher, von denen ein rötliches Schimmern ausging. So unfassbares
war – die hilflose Frau wurde von einer ägyptischen Mumie bedrängt.

Aber der Angreifer war gerade mal dreißig Zentimeter groß!

Phoebe traute ihren Augen nicht. Obwohl die Frau am Boden einen

weiteren Schrei in höchster Todesangst ausstieß, blieb sie
unwillkürlich stehen. Ihr Verstand brauchte einfach ein paar
Sekunden, um dieses absurde Bild zu verarbeiten. Phoebe hatte schon
viel gesehen und gegen die ungewöhnlichsten Kreaturen gekämpft –
aber ein ägyptischer Mumien-Zombie in Puppengröße mitten in San
Francisco?

»Immer, wenn du glaubst, du hättest schon alles gesehen …«,

murmelte sie kopfschüttelnd. Dann hatte sie ihre Überraschung
überwunden. Egal, wie ungewöhnlich die Gefahr auch sein mochte –
sie war real. Und die Mini-Mumie hatte ihr hilfloses Opfer fast
erreicht.

»Hey, dich haben sie wohl zu eng gewickelt!«, rief Phoebe der

Mumie zu. »Lass die Frau in Ruhe!«

Die Mumie reagierte gar nicht und wankte weiter auf ihr Opfer zu.

Nur die Frau am Boden blickte erstaunt auf. Ihrem Gesichtsausdruck
nach war sie über Phoebes Auftauchen irritierter als über ihren
eigentlichen Angreifer.

Seltsam, dachte Phoebe noch, aber zum Nachdenken blieb jetzt

keine Zeit mehr. Die junge Hexe machte einen Satz über das am
Boden liegende Opfer und setzte noch im Sprung zu einem Power-
Kick an. Bei diesem winzigen Gegner würde es wahrscheinlich gar
nicht nötig sein, ihre Hexenkräfte einzusetzen. Ein einfacher Karate-
Tritt sollte genügen. Umso besser, das ersparte ihr nachher
umständliche Erklärungen.

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Wie ein Racheengel sauste Phoebe durch die Luft. Der Absatz

ihres vorgestreckten rechten Fußes traf die Mini-Mumie mit voller
Wucht am Brustkorb. Es gab ein seltsam metallisches Geräusch, als
der eingewickelte Zombie in hohem Bogen durch die Luft
geschleudert wurde und mit lautem Scheppern gegen eine Mülltonne
prallte. Dann schlug er auf dem Asphalt auf und blieb bewegungslos
liegen.

Der ist bedient, dachte Phoebe und wendete sich dem Opfer zu.

Die junge Frau lag immer noch am Boden und blickte Phoebe an.
Aber der erstaunte Blick in ihren Augen war einem bösen Funkeln
gewichen.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief eine Stimme aus dem

Schatten. »CUT! CUT! Die Szene ist im Eimer!«

Phoebe schluckte. Was zum Teufel wurde hier gespielt?

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1

»

N

ICHT MAL EIN KLEINES BISSCHEN?«

»Nein!«

»Einen winzigen Zauber?«

»Keine Chance!«

»Eine ganz kurze Mini-Beschwörung? Bitte!«

»Nein, Paige, vergiss es! Es ist gegen die Regeln, die Magie aus

dem Buch der Schatten zum eigenen Vorteil zu nutzen. Basta!«

Paige verdrehte die Augen. Seit einer halben Stunde quengelte sie

nun schon herum, aber Piper blieb unerbittlich. Dabei war die Hitze
im alten Halliwell-Haus nicht mehr auszuhalten. Die beiden
Schwestern hatten bereits sämtliche Fenster aufgerissen, selbst die
Haustür stand sperrangelweit offen. Trotzdem wehte nicht einmal die
Andeutung eines erfrischenden Lufthauches durch das Haus. Paige
würde bei dieser Hitze heute Nacht kein Auge schließen können, so
viel war klar.

»Piper, was kann denn daran so schlimm sein?« Paige startete

einen letzten Versuch. »Ich bin sicher, im Buch der Schatten gibt es
irgendeinen Spruch, der … ich weiß nicht, die Windgeister beschwört
und ein bisschen auf Trab bringt. Ich gehe ein bei der Hitze!«

Piper Halliwell schüttelte noch einmal den Kopf und öffnete die

Kühlschranktür. »Wenn du eine Erfrischung willst, nimm dir eine
Limonade. Wie alle anderen Menschen auch.«

»Alle anderen Menschen haben aber auch eine Klimaanlage«,

jammerte Paige und nahm trotzdem dankbar die Cola-Dose entgegen,
die Piper ihr hinhielt. Anstatt sie zu öffnen, drückte sie sich die Dose
an die Stirn und genoss die kühlende Wirkung – wenn diese auch nur
Sekunden anhielt.

Piper konnte ihre Schwester ja verstehen. So schön es auch war, in

einem alten Familienanwesen zu leben – im Sommer glich es einem
Treibhaus. Als es im vorletzten Jahrhundert erbaut wurde, hatten die
Menschen von einer Klimaanlage bestimmt noch nichts gehört.
Natürlich wäre es leicht gewesen, im Buch der Schatten nach einem

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Zauber zu suchen, der sie mit etwas Kühlung versorgt hätte, aber das
verstieß gegen die Regeln.

»Die Gefahr ist einfach zu groß«, erklärte Piper ihrer jüngeren

Halbschwester. »Erst beginnt man damit, sich kleine
Annehmlichkeiten herbeizuzaubern, und dann kommt man auf den
Geschmack und will immer mehr. Und irgendwann …«

Paige winkte ab. »Und irgendwann verfällt man der dunklen Seite

der Macht«, sagte sie mit einem theatralisch überzogenen Keuchen.
»Ich habe auch ›Star Wars‹ gesehen, ich weiß Bescheid. Trotzdem ist
es unfair. Wir nehmen so viel auf uns, um die Welt vor irgendwelchen
dämonischen Finsterlingen zu schützen und dürfen uns dafür nicht
mal die kleinsten Freiheiten herausnehmen.«

Eingeschnappt öffnete Paige ihre Cola-Dose und saugte

geräuschvoll den bräunlichen Schaum ab, der ihr entgegenströmte. Sie
konnte Pipers Argumente ja verstehen, aber fair war es trotzdem nicht.

»Sag mal, wo bleibt eigentlich Phoebe?«, fragte Piper, um das

Thema zu wechseln. »Es ist schon nach sechs, sie müsste doch längst
hier sein.«

»Vielleicht macht sie ja Überstunden. In ihrem schönen, modernen,

vollklimatisierten Büro. Langsam bereue ich es, meinen Job beim
Sozialbüro gekündigt zu haben. Die hatten wenigstens eine
Klimaanlage.«

»Ich rufe sie besser mal auf ihrem Handy an«, entschied Piper und

ignorierte den vorwurfsvollen Ton ihrer Halbschwester. Sie ging zum
Telefon an der Küchenwand und tippte Phoebes Nummer ein.

»Hoffentlich steckt sie nicht in Schwierigkeiten«, sagte sie mit

sorgenvollem Gesicht.

Phoebe blickte auf die wütenden Gestalten, die sie in der engen

Gasse umringten.

»Piper, das ist jetzt gerade ein ungünstiger Moment«, sprach

Phoebe in ihr Handy und steckte es wieder ein. Sie hatte keine
Ahnung, in was sie da geraten war, aber diese fünf jungen Männer und
Frauen, die plötzlich aus dem Dunkel eines Hauseingangs aufgetaucht
waren, sahen nicht besonders freundlich aus.

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»Du dämliche Schlampe«, rief die Frau, die von Phoebe gerade vor

der Mini-Mumie gerettet worden war. »Du hast meine ganze Szene
vermasselt!«

Phoebe schluckte. Sie hatte nicht erwartet, dass die Frau ihr vor

Dankbarkeit um den Hals fallen würde, aber ein paar nette Worte
wären schon angebracht gewesen.

Dann erst begriff Phoebe.

Szene?

Natürlich. Die junge Hexe blickte sich um. Die Gruppe, die aus

dem Hauseingang herausgestürmt war, musste ein Filmteam sein. In
ihrer Verwirrung bemerkte Phoebe erst jetzt, dass einer der Männer –
ein untersetzter Typ mit Vollbart -eine professionelle Videokamera
unter dem Arm trug. Ein anderer, offensichtlich sein Kollege, hielt
etwas in der Hand, das wie eine Angel aussah, an dem ein pelziges
Mikrofon baumelte. Die bunt gemischte Filmcrew blickte Phoebe
böse an.

Abwehrend hob sie die Hände. »Okay, Leute«, begann sie, »könnte

mir netterweise jemand erklären, was hier eigentlich los ist?«

»Was los ist?!«, keifte das blonde ›Opfer‹ neben ihr. »Das kann ich

dir sagen! Du hast die ganze Szene ruiniert! Meinst du etwa, es macht
mir Spaß, den halben Tag auf dieser schmuddeligen Straße
herumzuliegen?«

Erst jetzt hatte Phoebe Zeit, die blonde Frau etwas näher zu

betrachten. Die Schrammen und Kratzer, die ihr ansonsten makelloses
Gesicht verunstalteten, waren nur das Werk eines geschickten Make­
up-Künstlers. Auch bei den zerzausten, goldblonden Haaren hatte
jemand mit einer kräftigen Dosis Haarspray nachgeholfen. Unter
dieser Aufmachung verbarg sich, das musste Phoebe eingestehen, eine
sehr attraktive Frau – auch wenn ihr Gesicht jetzt durch einen
hasserfüllten Blick verzerrt war.

Und der war echt.

Phoebe hatte schon Angst, die Schauspielerin würde auf sie

losgehen, als eine ruhige Stimme ertönte.

»Beruhige dich, Virginia. Wir drehen die Szene einfach noch

einmal. Ist doch kein Beinbruch.«

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Phoebe blickte an der Schauspielerin – Virginia – vorbei auf den

jungen Mann, der lächelnd hinter ihr stand. Er konnte nicht älter sein
als Ende zwanzig. Das modische Grunge-Bärtchen, das sein Kinn
umgab, sollte ihn wohl etwas älter aussehen lassen, doch die
blitzenden, braunen Augen machten diese Wirkung mit Leichtigkeit
wieder zunichte.

Etwas verlegen, fast so als ob er etwas falsch gemacht hätte, strich

er sich eine braune Haarlocke aus der Stirn und lächelte Phoebe an.

»Es tut mir Leid, wenn wir Sie erschreckt haben, Miss. Mein Name

ist Andy Stewart. Wir drehen hier gerade eine Szene für meinen neuen
Film. ›Scream X-Treme‹. Na ja, streng genommen ist es auch unser
erster Film.«

»Dein erster Film vielleicht, Andy«, knurrte Virginia. »Ich habe

schon in einigen Produktionen mitgewirkt, vergiss das nicht immer.«

Im Hintergrund lachte der Kameramann auf. »Ja, in einer Werbung

für Hundefutter, in der der Pudel dich dann auch noch an die Wand
gespielt hat.«

Prustend stieß der Mann mit der Mikrofon-Angel seinem Kollegen

mit der Kamera den Ellbogen in die Rippen.

»Der war nicht schlecht, Pete.«

»Ihr könnt mich mal!«, rief die blonde Schauspielerin. »Ich habe

die Nase voll! Ich will nach Hause! SOFORT!«

Wütend stapfte Virginia davon.

Andy Stewart, der Regisseur, seufzte. »Für heute können wir den

Dreh wohl abschreiben.« Dann blickte er nach oben. Die Sonne war
bereits untergegangen, und die Schatten in der engen Gasse wurden
immer länger. »Was soll's. Es ist sowieso zu dunkel.«

Phoebe blickte den jungen Filmemacher an. Obwohl er sich betont

ruhig gab, schien ihm der geplatzte Dreh alles andere als gleichgültig
zu sein. »Es tut mir wirklich Leid, wenn ich Ihre Aufnahmen
durcheinander gebracht habe. Aber ich hörte diesen Schrei und dachte,
es wäre irgendetwas passiert. Ich konnte ja nicht ahnen, dass alles nur
eine Filmszene ist. Wird denn so ein Filmset normalerweise nicht
abgesperrt?«

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Andy räusperte sich verlegen. »Nun ja, sagen wir mal, ›Scream X-

Treme‹ ist eine extreme Independent-Produktion. Wir drehen mit
einem minimalen Budget, für ein winziges Hinterhof-Studio. Wir
haben überhaupt nicht das Geld, um bei der Stadt Genehmigungen
einzuholen und eine Straße absperren zu lassen. Was wir hier machen,
ist sozusagen ›Guerilla-Filmen‹.« Der junge Regisseur grinste
verschmitzt.

»›Guerilla-Filmen‹?«

»Tja, wir suchen uns eine passende Location – also einen Drehort –

filmen die Szene, die wir brauchen und verschwinden wieder. Im
besten Fall, bevor jemand überhaupt etwas mitbekommt oder Fragen
stellt. Nicht ganz legal, aber unser minimales Budget reicht für alles
andere nicht aus. Das Geld, das wir für unseren gesamten Film zur
Verfügung haben, ist weniger als das, was ein Kabelträger bei einer
großen Hollywood-Produktion verdient«, seufzte Andy.

So war das also. Denn als Einwohnerin von San Francisco war

Phoebe schon des Öfteren an Dreharbeiten vorbeigekommen und
wusste, dass normalerweise ganze Straßenzüge unter
Polizeibewachung abgesperrt wurden. Die Filmleute brachten eine
ganze Armee von Technikern, Assistenten und anderen Hilfskräften
mit. Aber dies hier – dieses ›Guerilla-Filmen‹ – hatte einen ganz
anderen Flair, fand sie. Es klang fast nach einem Abenteuer. Und sie
hatte die Arbeit eines ganzen Tages ruiniert. Trotzdem atmete Phoebe
innerlich auf. Nur gut, dass sie ihre Kräfte nicht eingesetzt hatte.

»Es tut mir echt Leid«, wiederholte sie, »dass ich euren Dreh

ruiniert habe. Aber ich dachte wirklich, jemand wäre in Todesgefahr.«

»Und du hast sicher nicht schlecht gestaunt, als du unsere Mini-

Mumie gesehen hast, was?«, fragte Andy, indem er zwanglos zum Du
überging.

Wenn du wüsstest, dachte Phoebe, was ich schon für Kreaturen

gesehen habe. Sie musste sich ein Lächeln verkneifen.

»Ah, ja, das war schon ein ganz schöner Schock«, antwortet sie.

»Ich dachte schon, ich hätte einen Hitzschlag, oder so etwas.«

»Das kann ich mir vorstellen. Tut mir Leid, wenn wir dich

geschockt haben. Unsere Mumie sieht ganz schön echt aus, was?«

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»Allerdings«, sagte Phoebe und blickte sich um. Was war

eigentlich mit diesem komischen Mini-Monster geschehen?

Sie und Andy blickten zu der Stelle, wo die Mumie gelandet war.

Ein hagerer junger Mann in einem schwarzen T-Shirt kniete
kopfschüttelnd vor der kleinen Monster-Puppe, die mit weit von sich
gestreckten Gliedern im Staub der Straße lag. Der Mann drehte
Phoebe den Rücken zu, aber seine Schultern zuckten, als kämpfe er
mit den Tränen. Dann drehte er sich um. Langes, leicht fettiges
schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn. Er war blass im Gesicht, was bei
dem augenblicklichen Sommerwetter nur bedeuten konnte, dass er
nicht viel Zeit an der frischen Luft verbrachte. Aus dunklen, fast
schwarzen Augen blickte er Phoebe an. Sie schluckte, als sie erkannte,
dass der junge Mann nicht aus Verzweiflung zitterte. Sondern aus
Wut.

»Meine Mumie!«, rief er vorwurfsvoll und nahm die Figur in die

Arme wie ein krankes Kind. »Du hast sie kaputtgemacht, verdammt!«

»Oh, nein«, flüsterte Phoebe. »Das … das wollte ich nicht. Ich

wollte doch nur helfen, wirklich!«

Andy, der Regisseur, legte Phoebe aufmunternd eine Hand auf die

Schulter. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er und ging dann zu dem
Mann im schwarzen T-Shirt.

»Es war nicht ihre Schuld, Tim. Sie hat es nur gut gemeint. Kriegst

du das wieder hin? Bis morgen?«

Der junge Mann warf noch einen letzten bösen Blick auf Phoebe,

dann lachte er bitter auf.

»Bis morgen? Verdammt, Andy, das hier ist eine komplizierte

›Animatronic‹-Figur! Ein ferngesteuertes, kleines Kunstwerk. Und
kein Spielzeugroboter aus dem Kaufhaus!«

»Ich weiß, Tim. Aber du hast sie doch auch konstruiert. Wenn

einer das wieder hinkriegt, dann du.«

Phoebe beobachtete schuldbewusst und gleichzeitig fasziniert, wie

dieser Tim sich langsam wieder beruhigte. Zu den Fähigkeiten eines
Regisseurs, dachte sie anerkennend, gehörte wohl mehr, als nur die
Vision eines Films zu entwickeln. Es war scheinbar ebenso wichtig,
das Team zusammenzuhalten, das diesen Film drehte. Und Andy

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verströmte eine gewisse freundliche Autorität, die ihre Wirkung nicht
verfehlte. Sie mochte den jungen Filmemacher schon jetzt.

»Na schön, ich versuche es«, knurrte Tim. Dann hob er die Puppe

vorsichtig auf und ging damit an Phoebe vorbei, ohne sie auch nur
eines Blickes zu würdigen.

Die anderen Mitglieder des Teams waren bereits dabei, ihre

Ausrüstungsgegenstände zu verpacken, als ein paar Blocks weiter das
Echo einer Polizeisirene durch die Straßen hallte.

»Mist!«, rief Andy und scheuchte sein Team auf. »Die Cops. Packt

euren Kram zusammen und dann nichts wie weg. Ich will nicht schon
wieder den Abend auf dem Revier verbringen. Und noch ein Bußgeld
können wir uns nicht leisten, sonst müssen wir den Rest des Films mit
Handpuppen drehen!«

Wie von der Tarantel gestochen stopfte die Crew ihre Ausrüstung

zusammen. In Sekundenschnelle verschwanden Kamera, Ton-
Ausrüstung und Mini-Generatoren in bereitgestellten Sporttaschen.

»Tut mir Leid«, sagte Andy bedauernd zu Phoebe. »Aber wir

müssen sehen, dass wir Land gewinnen. Filmarbeiten ohne
Drehgenehmigung sind eine Ordnungswidrigkeit.«

Der junge Regisseur blickte sich hektisch um. Nichts deutete mehr

darauf hin, dass hier vor wenigen Minuten noch ein Filmteam an der
Arbeit gewesen war.

»Unser Kleintransporter steht an der nächsten Straßenecke. Sollen

wir dich ein Stück mitnehmen?«, fragte er.

Phoebe lächelte und schüttelte dabei den Kopf. »Nein, danke. Ich

bin zu müde, um heute noch Bullitt nachzuspielen.«

Andy lächelte die junge Hexe staunend an. Bullitt war ein alter,

berühmter Action-Film mit Steve McQueen, der in einer schon
klassischen Auto-Verfolgungsjagd durch San Francisco gipfelte. Und
es war einer von Phoebes Lieblingsfilmen. »Du kennst dich ja
wirklich aus«, stellte der Regisseur voller Bewunderung fest.

Die Polizeisirene wurde lauter.

»Hey, Andy!«, rief Pete, der Kameramann. »Was ist jetzt? Die

Cops sind gleich hier – und du hast die Wagenschlüssel!«

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»Ich komme!«, antwortete Andy und drehte sich noch einmal zu

Phoebe um. »Sag mal, wir drehen morgen Abend wieder. Unten am
Pier 17. Möchtest du nicht vorbeikommen? Ich meine nur, wenn es
dich interessiert?«

Phoebe brauchte gar nicht lange nachzudenken. »Aber gern. Ich

komme vorbei. Aber du solltest jetzt besser verschwinden.«

Andy nickte und spurtete seinen Kollegen hinterher.

»Übrigens, ich heiße Phoebe!«, rief Phoebe ihm noch hinterher.

»Bis morgen!«

Andy verschwand als Letzter hinter der Straßenecke. Mit schnellen

Schritten ging auch Phoebe aus der Gasse hinaus zurück auf die
Hauptstraße. Sie war gerade ein paar Meter weit gekommen, als ein
Polizeiwagen mit Blaulicht neben ihr hielt.

Der Polizist auf der Fahrerseite schob seine Sonnenbrille auf die

Nasenspitze und blickte Phoebe an. Er sah nicht gerade aus wie Steve
McQueen.

»Wir suchen nach einem illegalen Filmteam, Miss. Haben Sie hier

irgendetwas Ungewöhnliches gesehen?«

Aber sicher, dachte Phoebe. Eine elektronische Mini-Mumie, eine

zickige Möchtegern-Diva und einen süßen Nachwuchsregisseur. Dann
kreuzte sie die Finger hinter dem Rücken.

»Etwas Ungewöhnliches? Nein, tut mir Leid, Officer.«

Der Polizist blickte Phoebe misstrauisch an, dann fuhr der Wagen

wieder an. »Sie sollten sich nicht allein in dieser Gegend
herumtreiben«, sagte der Polizist noch durchs offene Fenster. »Man
kann nie wissen, was einem hier alles passiert!«

»Da haben Sie allerdings Recht«, murmelte Phoebe und lächelte.

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2

D

IE SONNE WAR SCHON UNTERGEGANGEN, als Piper eine

Hand voll Kräuter in den Topf warf. Ein kurzes Zischen, dann stieg
eine aromatische Wolke auf und erfüllte die Küche des Halliwell-
Hauses mit ihrem Duft. Ausnahmsweise war es kein Zauberelixier,
das Piper da zusammenmixte. Sie probierte nur ein paar neue Rezepte
für das P3.

Piper war ständig bemüht, die Gäste ihres Lokals bei Laune zu

halten – nicht nur mit guter Musik und Live-Auftritten kleinerer,
aufstrebender Bands, sondern auch mit immer neuen, kulinarischen
Kreationen. Normalerweise machte es ihr einen großen Spaß, neue
Rezepte auszuprobieren, und ihre beiden Schwestern als Testesser
einzuspannen. Paige beschwerte sich bereits, dass sie mindestens zwei
Kilo zugenommen hätte, seit sie zu ihren Schwestern gezogen war.
Aber heute war Piper eher lustlos. Es war einfach zu heiß. Vergeblich
hatten sie und Paige – wie der Rest der Stadt – auf einen kühlen
Abendhauch gewartet. Immer noch waren alle Fenster des Hauses
weit aufgerissen, aber kein Lüftchen regte sich. Stattdessen gaben die
alten Holzfassaden die Hitze, die sie tagsüber gespeichert hatten, nun
wieder ab.

Piper seufzte und schaltete die Gasflamme des Herdes aus, als sie

ein Geräusch an der Haustür hörte.

Es war Phoebe.

»Hey, Leute!«, rief sie erschöpft, aber fröhlich. »Ich bin wieder da!

Ihr ratet nie, was mir passiert ist!«

»Hast du dich mal wieder in einen Dämon verliebt?«

Paiges Stimme kam aus dem Wohnzimmer. Sie saß schon seit

Stunden auf dem Sofa und schaute sich irgendwelche alten Filme auf
dem Kabelkanal an.

»Sehr witzig«, antwortete Phoebe nur und warf ihre Schlüssel auf

die Kommode neben der Tür.

Piper wischte sich ihre Hände an der Schürze ab und trat in den

Flur. »Phoebe, wo kommst du denn jetzt her? Und warum warst du
vorhin am Telefon so komisch?«

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»Das wollte ich euch ja gerade erzählen. Aber erst brauche ich

etwas zu trinken. Ich komme um vor Durst.«

»Bring mir eine Diät-Cola mit!«, rief Paige vom Wohnzimmer aus.

Ein wölfisches Knurren ertönte aus den Lautsprechern des Fernsehers.

»Geht klar, Miss Couch-Potatoe.« Phoebe öffnete die

Kühlschranktür und nahm zwei Dosen Cola heraus. »Möchtest du
auch eine, Piper?«

Piper schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Bei dieser Hitze ist es

besser, etwas Warmes zu trinken. Das erfrischt mehr.«

»Das möchte ich bezweifeln.« Es gab ein lautes Zischen, als

Phoebe die Dose öffnete und sie mit ein paar hastigen Zügen fast bis
zur Hälfte leerte.

»Ich auch!«, rief Paige vom Wohnzimmer aus.

»Zu spät! Piper kocht dir gerade eine heiße Milch mit Honig!«, rief

Phoebe fröhlich.

Ein gespieltes Würgegeräusch aus dem Wohnzimmer ließ die

beiden Schwestern auflachen. »Paige, also bitte!«, rief Piper, dann
gingen die beiden Schwestern ins angrenzende Wohnzimmer hinüber.

Paige saß in Pyjama-Shorts und einem schlabberigen T-Shirt auf

dem Sofa. Sie blickte kaum auf, als Phoebe ihr die Cola-Dose zuwarf.
Gebannt starrte Paige auf den Bildschirm, auf dem eine Frau gerade
von einem Werwolf durch eine Landschaft gejagt wurde – in schwarz­
weiß.

»Nanu, sind uns die Farben ausgegangen?«, fragte Phoebe

grinsend.

Ohne aufzuschauen, öffnete Paige die Dose. Die braune Brause

spritzte heraus.

»Paige, mach mir ja keine Cola-Flecken auf den Sofa-Bezug. Die

kriege ich nie wieder raus!«, ermahnte sie Piper.

Die beiden jüngeren Schwestern verdrehten die Augen. Paige

wandte sogar ihren Blick kurz vom Fernseher ab. Seit Piper die älteste
der Halliwell-Schwestern war, übertrieb sie es mit ihrer Aufpasser-
Rolle manchmal ein wenig. Dabei meinte sie es eigentlich nur gut.

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»Könntet ihr jetzt mal etwas ruhig sein?«, fragte Paige genervt.

»Ich möchte diesen Film zu Ende schauen. Das ist einer meiner
Lieblings-Horrorfilme, ein echter Klassiker, falls es euch interessiert!«

»Ich hasse Horrorfilme«, stöhnte Piper.

»Klar, du prügelst dich ja auch lieber mit echten Monstern,

stimmt's?«, fragte Phoebe schnippisch. »Aber das wollte ich euch ja
gerade erzählen …«

»Was, du hast gegen ein Monster kämpfen müssen?« Sofort klang

echte Besorgnis aus Pipers Stimme.

Phoebe winkte lächelnd ab. »Ach, Quatsch. Ich bin zu Fuß nach

Hause gegangen und bin dabei prompt auf einem Filmset gelandet.
Das Set eines Horrorfilms, genauer gesagt.«

Sofort hatte Paige den Film vergessen. »Was denn? Echt? Und,

hast du einen berühmten Star getroffen? George Clooney? Brad Pitt?«

Phoebe lachte auf. »Nein, leider nicht. Obwohl der Regisseur auch

ganz süß war …«

Phoebe ignorierte Paiges bedeutungsvolles Grinsen und berichtete

von ihrem kleinen Abenteuer mit der Mini-Mumie. Paige war sofort
fasziniert, nur Piper runzelte die Stirn. »Gut, dass du deine Kräfte
nicht eingesetzt hast. Es wäre schwer gewesen, das jemandem zu
erklären – besonders, wenn auf einem Video zu sehen wäre, wie du
durch die Gegend schwebst und Monster vermöbelst.«

Paige griff nach der Fernbedienung. Auf dem Bildschirm wurde

der Werwolf gerade vom Helden der Geschichte mit einer silbernen
Kugel getötet. Sein tödlich verwundetes Aufheulen verstummte
abrupt, als Paige die ›Stumm‹-Taste drückte.

»Aber jetzt erzähl doch mal von den Film, Phoebe. Und von der

Filmcrew. Der Regisseur war süß, sagtest du?«

Phoebe zuckte mit den Schultern. »Ja, ziemlich. Dafür war der Star

des Films eine ziemliche Zicke. Virginia Soundso … ehrlich gesagt
habe ich von der Frau noch nie etwas gehört. Und viel Zeit, um die
Leute kennen zu lernen, hatte ich auch nicht. Denn plötzlich kam die
Polizei, und sie mussten vom Set flüchten.«

»Die Polizei?« Piper schüttelte missbilligend den Kopf. »Phoebe,

auf was hast du dich da wieder eingelassen? Ich habe echt keine Lust,

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dich gegen Kaution aus dem Gefängnis zu holen, nur weil du dich mit
irgendwelchen Filmleuten herumtreibst.«

»Hör mal, ich treibe mich nicht mit denen herum. Ich kenne die

Typen doch gar nicht. Andererseits …«

»Was?«, fragte Paige.

»Andererseits hat mich Andy, der Regisseur, dazu eingeladen,

morgen Abend am Drehort vorbeizukommen. Unten, am Pier.«

»Wirklich?« Paige klatschte begeistert in die Hände. »Nimmst du

mich mit? Bittebittebitte! Ich möchte so gern mal bei richtigen
Dreharbeiten dabei sein!«

»Also, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, gab Piper mit

einem Stirnrunzeln zu bedenken.

»Dich hat ja auch keiner gefragt«, knurrte Paige. Allmählich ging

ihr Pipers ablehnende Haltung auf die Nerven. Wann hatte man schon
mal die Chance, ein paar echte Leute vom Film kennen zu lernen?

Phoebe zögerte. Die Einladung hatte eigentlich nur ihr gegolten,

aber sie konnte Paiges Begeisterung verstehen.

Sie selber war schon ganz aufgeregt, wenn sie daran dachte. Und

sie fragte sich insgeheim, ob dieser junge Regisseur etwas damit zu
tun haben könnte.

»Ich weiß nicht«, antwortete sie schließlich und blickte auf Piper,

»ist es für dich okay, wenn wir hingehen? Ist doch keine große
Sache.«

Piper winkte ab. »Geht nur, wenn ihr wollt. Ich finde es ehrlich

gesagt nur etwas überflüssig, mit Leuten herumzuhängen, die Filme
über Monster und Dämonen drehen. Wir haben doch jeden Tag mit so
etwas zu tun. Also, mir reicht das eigentlich.«

»Schon klar«, nickte Phoebe. »Das verstehe ich. Aber so ein

Filmset ist schon etwas Aufregendes. Auch wenn es nur so eine kleine
Low-Budget-Produktion ist. Andererseits: Denkt mal an Blair Witch
Project.
Das hat auch nur ein paar tausend Dollar gekostet und war
überall auf der Welt ein Kassenschlager.«

»Ein tolles Beispiel«, lachte Piper trocken, obwohl sie nicht

besonders amüsiert klang. »Ein Film über eine böse Hexe, die ein paar

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Jugendliche um die Ecke bringt. Nicht gerade eine gute Werbung für
unsere Zunft, wenn ihr mich fragt.«

»Also was ist jetzt?«, fragte Paige ungeduldig und ignorierte ihre

älteste Schwester. »Nimmst du mich mit, Phoebe?«

Phoebe zuckte mit den Achseln. »Klar, warum nicht. Zwei Hexen

in Hollywood – das wird bestimmt ein Riesenspaß.«

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3

D

ER NÄCHSTE TAG VERGING quälend langsam. San

Francisco stöhnte noch immer unter der Hitzewelle. Die
Radionachrichten warnten wegen der hohen Ozonkonzentration in der
Luft vor zu großer körperlicher Anstrengung im Freien, und die
Stadtverwaltung dachte darüber nach, die Benutzung von
Rasensprinklern einzuschränken, um Trinkwasser zu sparen.
Offensichtlich rechnete niemand damit, dass die Hitzewelle schnell
wieder vorüber sein würde.

Aber nicht nur die Temperaturen, auch die Vorfreude auf den

aufregenden Abend ließ die Stunden für Phoebe und Paige endlos
werden.

Als es endlich fünf Uhr nachmittags war – wieder einmal brachte

der Abend keine nennenswerte Kühlung mit sich – räumte Phoebe
eilig ihren Arbeitsplatz und raste mit ihrem Wagen nach Hause. Zum
Glück hatte die Stadtverwaltung die Benutzung von Privatwagen noch
nicht eingeschränkt, dennoch hielt der übliche Feierabendverkehr sich
diesmal in Grenzen.

Als Phoebe ihren Pick-up in die Einfahrt des Halliwell-Hauses

steuerte, wartete Paige schon ungeduldig an der Tür.

»Da bist du ja endlich«, rief sie Phoebe entgegen, noch bevor diese

ausgestiegen war. »Können wir gleich los?«

Phoebe winkte ab. »Lass mich erst einmal schnell unter die Dusche

springen, okay? Ich bin völlig durchgeschwitzt.«

»Wenn's sein muss«, murrte Paige und ließ ihre Halbschwester

durch die Tür. »Aber beeil dich!«

Phoebe steuerte als erstes den Kühlschrank an, um sich eine kalte

Cola zu gönnen. Piper stand wieder in der Küche und schnippelte
einen Salat zusammen.

»Hey, Phoebe«, begrüßte sie ihre Schwester. »Ihr wollt heute

dieses Filmset besuchen, oder?«

Phoebe öffnete eine Dose, nahm einen tiefen Zug und nickte. »Ja,

und?«

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Piper zuckte mit den Schultern. »Es wäre mir lieb, wenn ihr

trotzdem eure Handys eingeschaltet lasst.«

Phoebe runzelte die Stirn. »Wieso? Ist irgendetwas?«

»Nein, nichts Konkretes. Ich habe nur den ganzen Tag bei der

Arbeit Radio gehört. Irgendein Polizeisprecher meinte, dass die
Verbrechensrate seit Beginn der Hitzewelle um fast zwanzig Prozent
gestiegen ist.«

Phoebe nickte. Immerhin hatte sie ein paar Semester Psychologie

studiert und war deshalb mit dieser Theorie vertraut. Menschen
tendierten dazu, bei großer Hitze aggressiv und gereizt zu reagieren.
Besonders Gewaltverbrechen nahmen bei einer Hitzewelle
überproportional zu. Und es gab nicht viel, was man dagegen
unternehmen konnte. Außer vielleicht um Regen beten.

»Und du meinst, diese Hitze könnte sich auch auf Dämonen

auswirken?«

Piper legte das Salatmesser zur Seite und zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Aber Dämonen fühlen sich von menschlicher
Aggression angezogen. Sie genießen das irgendwie.«

»Stimmt, das ist wie bei ›Predator‹ …«

»Predator?« Piper zog fragend die Augenbrauen zusammen.

»Na ja, dieser Action-Film mit Arnold Schwarzenegger. Darin gibt

es auch ein Monster, das sich von Hitze und Aggression angezogen
fühlt. Du solltest dir mehr Filme ansehen, Piper. Das bildet.«

Phoebe nahm sich ein Salatblatt aus der Schüssel und biss

geräuschvoll hinein. Dann verließ sie gut gelaunt die Küche.

Piper blickte ihr nach und schüttelte den Kopf. Was zum Teufel

fanden die beiden nur an Horrorfilmen so interessant?

Der Fahrtwind wehte durch die geöffneten Fenster von Phoebes

Pick-up und brachte ein wenig Abkühlung. Die Fahrt zum
Hafengebiet war problemlos verlaufen, aber jetzt steuerte Phoebe
ihren Wagen etwas hilflos hin und her. Das Gebiet war riesig, und
eine Lagerhalle sah aus wie die andere.

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Auf dem Beifahrersitz hielt Paige angestrengt Ausschau nach

einem Schild oder einem Wegweiser. »Wo ist denn nun dieser
verflixte Pier 17?«, fragte sie.

»Keine Ahnung, aber irgendwo hier muss er ja sein.«

Die Dämmerung war bereits hereingebrochen und kein Mensch in

der Nähe, den sie hätten fragen können.

»Man sollte doch meinen, dass diese Typen bei einer

Filmproduktion mal ein paar Schilder aufstellen, oder?«

Phoebe schüttelte den Kopf und steuerte den Wagen vorsichtig um

ein Schlagloch herum. »Ich habe dir doch gesagt, dass Andy und sein
Team den Film heimlich drehen, weil sie kein Geld für
Drehgenehmigungen haben. Also werden sie wohl kaum Schilder
aufstellen, um auch noch die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.«

»Auch wieder wahr«, nickte Paige. Dann schrie sie auf und deutete

wie wild auf eine Wand, auf der eine große schwarze Zahl zu lesen
war.

»Da! Pier 17! Das muss es sein.«

Phoebe steuerte den Pick-up durch eine Toreinfahrt, direkt auf eine

große, heruntergekommene Lagerhalle zu. Sie schaltete den Motor aus
und stieg aus. Paige ging um den Wagen herum und blickte skeptisch
auf die Halle.

»Etwas glamouröser hatte ich mir das schon vorgestellt.«

»Warte erst einmal ab, wie es im Innern aussieht.« Die beiden

Hexen gingen vorsichtig auf die alte Halle zu. Die große Schiebetür an
der Frontseite stand einen Spalt breit offen. Phoebe wollte gerade den
Griff packen, um sie weiter aufzuziehen, als ein grimmiges Augenpaar
durch den Spalt blickte.

Unwillkürlich zuckten die beiden Schwestern zurück. Im selben

Augenblick wurde die Tür von innen aufgezogen. Ein Mann mit
Vollbart funkelte Phoebe und Paige an. »Was wollt ihr hier?«, fragte
er barsch.

Phoebe brauchte eine Sekunde, bis sie das Gesicht des Mannes

einordnen konnte. Es war der Kameramann des Teams. Soweit sie
sich daran erinnern konnte, war sein Name Pete.

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»Ich bin Phoebe Halliwell. Ich, äh … bin die Frau, die gestern eure

Mumie vermöbelt hat. Andy hat mich eingeladen, heute bei den
Dreharbeiten zuzuschauen.« Dann deutete sie auf Paige. »Und das ist
übrigens Paige, meine Schwester.«

Pete ließ seine Blicke über die beiden Frauen gleiten. Dann

zeichnete sich unter seinem buschigen Vollbart ein Lächeln ab.

»Verstehe. Du hast also Verstärkung mitgebracht, damit ihr euch

heute den Rest unserer Monster vorknöpfen könnt, was? Tim wird
sich freuen.«

Tim … Phoebe musste kurz nachdenken. Richtig, der

unsympathische Typ, der die Monster-Puppen baute. Nach
Möglichkeit wollte sie diesem schrägen Vogel heute aus dem Weg
gehen.

Pete, der Kameramann, schob die Tür weiter auf und deutete eine

Verbeugung an. »Dann mal hereinspaziert. Andy ist schon am Set.
Wir haben noch ein paar Minuten, bis zum ersten Take. Ich wollte mir
gerade draußen eine Zigarette anzünden.«

Phoebe und Paige traten ins Innere der Halle. Durch die dicken

Wände des alten Gemäuers war es hier erfrischend kühl. Die beiden
Hexen brauchten ein paar Sekunden, bis sich ihre Augen an das
dämmrige Licht gewöhnt hatten.

Eine hagere Gestalt tauchte aus dem Halbdunkel auf. Soweit

Phoebe sich erinnerte, war das der Typ mit der Tonangel gewesen. Er
nickte den beiden Schwestern kurz zu – nicht, ohne vorher einen Blick
auf ihre Shorts zu werfen – und wandte sich dann an den
Kameramann.

»Du willst eine rauchen gehen? Hast du eine Kippe für mich übrig,

Kumpel?«

»Du hast dir doch erst vor einer halben Stunde eine geschnorrt.

Kauf dir deine eigenen, Mann.«

»Komm schon, Rauchen ist schlecht für die Gesundheit. Ich tue dir

ja nur einen Gefallen, wenn ich einen Sargnagel vernichte.«

Streitend wie ein altes Ehepaar verließen der Kameramann und

sein Ton-Assistent die Lagerhalle. Paige blickte ihnen kopfschüttelnd
hinterher. »Ich wiederhole mich ja nur ungern, aber sehr

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beeindruckend ist das hier alles nicht. Da war mein Job beim
Sozialamt ja noch glamouröser.«

»Paige, das hier ist eine kleine Independent-Produktion. Diese

Leute sind Film-Freaks, die aus Liebe zum Kino hier arbeiten. Nicht
für Geld und Ruhm.«

Phoebe zog ihre Halbschwester an der Schulter hinter sich her. Ein

Stapel alter Kisten versperrte die Sicht zum Mittelteil der Halle, und
die beiden umrundeten sie.

Staunend blieben sie stehen.

»Wow«, sagte Paige. »Das trifft es schon eher.«

Vor ihnen herrschte ein aufgeregtes Treiben. Ein halbes Dutzend

Mitarbeiter waren damit beschäftigt, Lampen auszurichten, Requisiten
zurechtzurücken und mit kleinen, seltsamen Geräten irgendwelche
Messungen vorzunehmen. Auf den ersten Blick wirkten diese
Aktivitäten planlos, aber je länger man die Filmcrew beobachtete,
desto größer wurde der Eindruck, dass diese Leute genau wussten,
was sie taten. Und sie taten es mit solcher Routine, dass sie dabei
kaum redeten oder andere Geräusche verursachten.

»Schon faszinierend, was?«

Phoebe und Paige wirbelten herum.

Ohne dass sie es bemerkt hatten, war Andy, der junge Regisseur,

an ihre Seite getreten. Er rieb sich amüsiert das kleine Kinnbärtchen
und lächelte die beiden Schwestern an.

»Kaum zu glauben, dass aus diesem Durcheinander irgendwann

mal ein fertiger Film wird. Na, zumindest hoffe ich das.«

»Andy«, strahlte Phoebe und blickte den Filmemacher an. »Ich

hoffe, es ist okay, dass ich meine Schwester mitgebracht habe. Paige,
das ist Andy Stewart, der Regisseur des Films. Andy, das ist meine
Schwester Paige.«

»Freut mich, dich kennen zu lernen, Paige.« »Ganz meinerseits,

Andy. Ich war noch nie auf einem Filmset und finde das hier ziemlich
aufregend.«

»Oh, das geht mir auch so. Jedes Mal«, lächelte der Regisseur und

blickte Paige tief in die Augen.

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Hey, dachte Phoebe, ich bin auch noch da, als Andy ihre

Halbschwester vorsichtig am Ellbogen nahm und mit ihr auf das Set
zuging. »Wir haben noch ein paar Minuten Zeit bis zum ersten Take
des Abends. Ich führe dich ein bisschen herum. Phoebe, kommst du
mit?«

»Klar«, murmelte Phoebe und schlurfte hinter den beiden her.

Mit stolzen, weit ausholenden Gesten deutete Andy auf das Set –

die eigentliche Bühne, auf der die Dreharbeiten stattfanden. Soweit
Phoebe das beurteilen konnte, hatten sie hier in der Lagerhalle das
Bühnenbild einer Lagerhalle aufgebaut. Ein paar schwere
Scheinwerfer beleuchteten alte Kisten und rostige Metallfässer, die
dekorativ im Hintergrund aufgebaut waren. Auf dem Boden war
außerdem noch künstlicher Staub verteilt worden. Alles in allem sah
die künstliche Lagerhalle echter aus, als die reale um sie herum.

Phoebe stutzte, als sie das große Hexen-Pentagramm bemerkte, das

mit Kreide auf den Hallenboden aufgemalt worden war. Bevor sie
danach fragen konnte, fuhr Andy mit seinen Erklärungen fort.

»Wir konnten diese Lagerhalle billig mieten und haben deshalb ein

richtiges kleines Set aufbauen können – ohne zu befürchten, jeden
Augenblick vor der Polizei fliehen zu müssen.«

Phoebe nickte. »Verstehe. Aber um was genau geht es in eurem

Film überhaupt? Und wozu dieses Pentagramm?«

»Oh, ›Scream X-Treme‹ ist ein Horrorfilm über, na ja, die Figuren

aus diversen, klassischen Horrorfilmen, die durch einen Fluch
plötzlich lebendig werden. In der Szene, die wir heute drehen, hat sich
unsere Heldin in eine alte Lagerhalle geflüchtet und versucht, den
Fluch mit einer Geisterbeschwörung rückgängig zu machen.«

»Na, so wird das aber nichts.«

Andy und Phoebe blickten Paige erstaunt an. Paige kniete auf dem

Boden und deutete auf eine der sechs Spitzen des Pentagramms.
»Hier, die Spitze ist nicht ganz geschlossen.«

Tatsächlich klaffte eine kleine, daumenbreite Lücke zwischen den

spitz aufeinander zulaufenden Kreidestrichen.

»Ja, und?«, fragte Andy erstaunt.

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»So würde die Beschwörung niemals funktionieren. Wenn das

Pentagramm nicht richtig geschlossen ist, bietet es keinen
ausreichenden Schutz vor den herbeigerufenen Geistern. Eure Heldin
wäre den Geistern hilflos ausgeliefert.«

Phoebe, die hinter Andy stand, blickte ihre Schwester mit

gerunzelter Stirn an und schüttelte den Kopf. Es war sicherlich keine
gute Idee, wenn Paige hier ihr Hexenwissen preisgab.

Aber Paige bemerkte das stille Zeichen ihrer Schwester gar nicht.

Sie hatte nur Augen für Andy, der offensichtlich beeindruckt war.
»Wow, das hatte ich gar nicht gewusst.«

Er nahm ein Stück Kreide vom Boden auf und kniete sich neben

Paige. Paige nahm seine Hand und führte sie über den Boden, um das
Pentagramm zu schließen.

»So, das wäre erledigt«, sagte sie.

»Woher kennst du dich mit solchen Dingen aus?«, fragte der

Regisseur.

Paige strahlte ihn an. »Oh, ich bin, äh …«

»Sie studiert Volkskunde und hat ein Seminar über traditionellen

Aberglauben belegt. Stimmt's, Paige?!«

»Äh, ja, sicher. Ein unglaublich … vielschichtiges Thema.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Andy. Dann schnippte er mit den

Fingern. »Weißt du was, Paige? Wenn du magst, bist du engagiert.
Als Beraterin für okkulte Fragen. Ich kann dir zwar nur ein Mini-
Honorar zahlen, aber dafür wird dein Name im Abspann genannt.«

Paige strahlte. »Wirklich? Oh, das wäre ja großartig! Und ich kann

bei den ganzen Dreharbeiten dabei sein?«

»Na, ich bitte darum«, lächelte Andy.

Unbemerkt verdrehte Phoebe die Augen. Die beiden schienen sich

ja glänzend zu verstehen. Na, was soll's, dachte sie. Schließlich war
sie ja nicht hier, um mit dem Regisseur zu flirten, sondern um etwas
über das Filmemachen zu erfahren. Zumindest in erster Linie.

Phoebe seufzte und blickte sich um. Die Crew schien mit ihren

Vorbereitungen fast fertig zu sein. Auch Pete, der Kameramann und
sein Ton-Assistent waren wieder an ihren Plätzen. Eine blonde Frau

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kam aus einem Nebenraum herangestapft. Phoebe blickte überrascht
auf.

Das ohnehin schon sommerliche Kleid der Frau war am Dekollete

und an den Oberschenkeln aufgerissen und bot noch tiefere Einblicke
auf die perfekte, sonnengebräunte Haut. Offensichtlich hatte hier
jemand mit Nadel und Faden dafür gesorgt, dass ihr Kleid genau an
den richtigen Stellen in Fetzen hing, ohne allzu viel zu zeigen.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein!«, rief die Blondine und

blickte Phoebe mit funkelnden Augen an. »Was macht die denn schon
wieder hier?«

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4

V

IRGINIA FONTAINE, DER BLONDE STAR des Films baute

sich vor Phoebe und Paige auf. Der Rest des Filmteams warf nervöse
Seitenblicke auf die Szene und ging dann angestrengt seiner Arbeit
nach. Offensichtlich waren sie es schon gewohnt, dass der Star ihres
Films solche Allüren machte. Virginia liebte dramatische Auftritte,
auch wenn die Kamera nicht lief.

Das Starlet warf den beiden Schwestern missbilligende Blicke zu.

Wegen der Hitzewelle trugen die beiden Hexen kurze Shorts und
luftige Tops, was ihre durchtrainierten Körper gut zur Geltung
brachte. Sie konnten es durchaus mit dem Starlet aufnehmen, was
Virginia überhaupt nicht zu gefallen schien.

»Willst du schon wieder meine Szene ruinieren?«, fragte sie bissig

und funkelte Phoebe an. »Und wer ist die Kleine?«

»Virginia, es tut mir Leid, wenn wir gestern einen schlechten Start

hatten. Aber ich dachte, Sie wären in Gefahr und …«

»Sieh es doch mal so«, mischte sich Andy ein und trat zwischen

Virginia und die beiden Hexen. »Du hast deine Rolle gestern so
überzeugend gespielt, dass Phoebe gar nicht anders konnte, als die
Mumie für echt zu halten.«

Aber Virginia ließ sich nicht so leicht besänftigen. Im Gegenteil.

»Natürlich habe ich meine Rolle überzeugend gespielt. Meinst du, ich
wäre schauspielerisch schon damit überfordert, die Hauptrolle in so
einem kleinen, billigen Horrorstreifen auszufüllen?«

»Nein, so habe ich das natürlich nicht gemeint, Virginia. Wir sind

alle froh, dass wir dich dabei haben, und –«

»Das will ich hoffen«, schnappte Virginia. »Können wir langsam

mal anfangen? Ich habe heute Abend noch eine Verabredung und will
nicht die halbe Nacht in dieser schmutzigen Lagerhalle verbringen.«

Phoebe und Paige zogen die Augenbrauen hoch und tauschten

einen viel sagenden Blick. Was für eine eingebildete Ziege. Phoebe
stellte zu ihrer Überraschung fest, dass Andys natürliche Autorität als
Regisseur an Virginias Star-Gehabe abzuperlen schien.

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Andy atmete tief durch und klatschte in die Hände. »Okay, Leute,

wir fangen an. Virginia, du kniest dich bitte in die Mitte des
Pentagramms.« Dann blickte er fragend auf Paige. »Paige, ist das so
okay? Man würde sich bei so einer Beschwörung doch hinknien
oder?«

Bevor Paige antworten konnte, keifte Virginia von der Mitte der

Bühne aus los. »Was hat die Kleine denn damit zu tun, wenn ich
fragen darf?«

Andy schluckte. »Paige ist unsere neue Beraterin für okkulte

Fragen. Sie achtet darauf, dass alles authentisch wirkt.«

Virginia verdrehte die Augen. »Das wird ja immer schöner! Jetzt

darf mir schon jedes hergelaufene Schulmädchen sagen, wie ich meine
Rolle zu spielen habe? Darüber reden wir noch, Andy!«

Virginia funkelte den Regisseur an, ohne Paige auch nur eines

Blickes zu würdigen. Andy seufzte leise.

Paige und Piper beobachteten, wie ein Assistent sechs schwarze

Kerzen an die Spitzen des Pentagramms stellte und anzündete.

»Schwarze Kerzen?«, flüsterte Paige ihrer Schwester ins Ohr, »das

wäre aber im wirklichen Leben keine gute Idee, oder?«

Phoebe schüttelte den Kopf und flüsterte zurück. »Auf keinen Fall.

Schwarze Kerzen und ein Pentagramm würden böse Geister anlocken,
von denen man sich besser fern hält.«

»Soll ich es ihnen sagen?«

Phoebe schüttelte erneut den Kopf. »Besser nicht. Du solltest nicht

zu viel von deinem Wissen offenbaren. Sonst kommt noch jemand auf
die Idee, dass du mehr sein könntest als nur eine Studentin der
Volkskunde.«

Paige wollte etwas erwidern, aber ein lauter Ruf von Andy kam ihr

zuvor.

»Ton ab!«

»Ton läuft!«, antwortete der Tonassistent. Er hielt sein Mikrofon

an einer langen Angel direkt über Virginias Kopf.

»Kamera ab!«

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»Kamera läuft!«, antwortete Pete, der Kameramann.

»Uuuund … ACTION!«

Phoebe bekam eine Gänsehaut. Wie oft hatte sie diesen letzten Satz

schon gehört. Aber sie war noch nie dabei gewesen, wenn er
tatsächlich einmal auf einem Filmset ausgerufen wurde.

Im Hintergrund begann eine kleine Nebelmaschine leise zu

zischen. Kleine Nebelwolken aus Trockeneis waberten über die
Bühne. Ein paar gedämpfte Scheinwerfer sorgten für stimmungsvolles
Licht.

In der Mitte des Pentagramms senkte Virginia den Kopf und

begann, eine Beschwörung zu murmeln.

»Ihr Geister, Euch will ich beschwören,
ich bitte Euch, mein Flehen zu erhören.«

Phoebe und Paige mussten ein Kichern unterdrücken. Diese

Geisterbeschwörung hatte rein gar nichts mit der Realität einer Hexe
zu tun.

Aber woher sollte das Filmteam auch wissen, wie eine echte

Beschwörung aussah? Schließlich gab es keine Hollywood-Fassung
vom Buch der Schatten.

Die beiden Schwestern folgten gebannt der Handlung auf der

kleinen Bühne, obwohl es dort eigentlich nicht viel zu sehen gab.

Andy, der dicht neben ihnen stand, schien ihre Gedanken zu

erraten. »Enttäuscht?«, flüsterte er, ohne dabei die Augen von der
Bühne zu nehmen. »Ihr müsst euch das natürlich aus der Perspektive
der Kamera vorstellen. Pete ist ein Meister seines Faches. Und im
fertigen Film läuft dazu natürlich noch eine gruselige Musik. Und wir
bauen mit dem Computer noch ein paar Spezialeffekte ein. Ihr werdet
euch wundern, wie –«

»Stopp!«, rief eine Stimme. Es war Pete, der Kameramann. Das

gesamte Team blickte ihn an.

»Das Mikrofon war im Bild«, sagte Pete nur und spuckte ein

Kaugummi aus. »Lou, ich habe dir schon tausend Mal gesagt, du sollst
mit deinem verdammten Mikrofon nicht so nah dran gehen. Es sind
nicht alle so taub wie du!«

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»Mein Mikrofon war genau an der richtigen Stelle!«, schnauzte

Lou, der Tonmann, unbeeindruckt zurück. »Was kann ich dafür, wenn
du mit deinen zittrigen Fingern die Kamera nicht ruhig halten
kannst?«

»Ich werde hier noch wahnsinnig!«, rief Virginia aus der Mitte des

Pentagramms. »Bin ich denn nur von Idioten umgeben?!«

Andy trat vor und hob beschwichtigend die Arme. »Schon gut

Leute, ist doch keine große Sache. Bleibt auf euren Plätzen, wir
drehen gleich noch mal. Pete, lass die Kamera laufen.«

»Kamera läuft«, antwortete Pete. Lou, der Ton-Assistent, richtete

sein Mikrofon wieder auf Virginia. Ihr Streit war genauso schnell
wieder vergessen, wie er begonnen hatte.

Virginia kniete sich erneut hin, um ihren Text zu sprechen.

Ein plötzlicher Knall ließ Phoebe und Paige zusammenzucken.

Dem Rest des Teams erging es nicht anders. Die Nebelmaschine
pustete noch eine letzte Trockeneis-Wolke aus, dann verstummte sie.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«, rief Andy. Allmählich schien

auch er genervt zu sein.

Ein Assistent kniete neben der altersschwachen Maschine und

schraubte das Gehäuse auf. Der Gestank von verschmorten Kabeln
hing in der Luft. »Ein Kurzschluss, wie es aussieht. Das alte
Schätzchen hier ist einfach ein bisschen überlastet.« Liebevoll klopfte
er auf das Blechgehäuse der Nebelmaschine.

»Brauchst du lange, um das Ding zu reparieren?« Andys Stimme

klang besorgt, aber der Assistent munterte ihn auf.

»Nö, gib mir ein Viertelstündchen, dann sollte sie wieder

funktionieren.«

»Das hast du auch gesagt, als du damals den Kamerakran repariert

hast«, lachte Pete hinter seiner Kamera. »Ich humple heute noch, seit
das Ding unter mir zusammengebrochen ist.«

Das Team lachte auf. Auch Paige und Phoebe konnten sich ein

Lächeln nicht verkneifen.

»Geht das an einem Filmset immer so chaotisch zu?«, wollte Paige

wissen.

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Andy lächelte sie an. »Könnte man sagen. Ich glaube, Murphys

Gesetz wurde eigens für Filmproduktionen geschrieben. Du weißt ja:
›Wenn etwas schief gehen kann …‹«

»›… dann geht es auch schief‹«, beendete Paige den Satz.

Die beiden grinsten sich an.

Phoebe kam sich etwas überflüssig vor. Ihre Schwester und der

Regisseur schienen sich glänzend zu verstehen. Na ja, dachte Phoebe,
es sei ihnen gegönnt. Andy war zwar süß, aber sie war eigentlich nicht
hier, um Männer kennen zu lernen, sondern um etwas über die
Filmbranche zu erfahren. Ihr Job bei der Redaktion machte ihr zwar
Spaß, aber sie hatte nicht das Gefühl, ihre Berufung gefunden zu
haben – mal abgesehen von ihrem zweiten ›Job‹ als Hexe, natürlich.
Vielleicht bot sich ihr hier ja eine Zukunftsperspektive.

»Andy«, fragte Phoebe, »hast du etwas dagegen, wenn ich mich

ein bisschen umsehe? Ich würde gern etwas mehr über so ein Filmset
erfahren.«

Paige lächelte ihre Halbschwester dankbar an. Wahrscheinlich

glaubte sie, Phoebe wolle sich verdrücken, um ihr und Andy die
Möglichkeit zu geben, etwas Zeit miteinander zu verbringen.

»Nein, absolut nicht«, antwortete der Regisseur. »Schau dich nur

um. Für unsere Verhältnisse haben wir hier ein ziemlich aufwändiges
Set aufgebaut. Und vor einer Viertelstunde läuft hier sowieso nichts.«

Phoebe nickte und ließ Andy und Paige stehen. Mit neugierigen

Blicken umrundete Phoebe das Set und schaute sich um.

Sie merkte nicht, dass sie dabei selber von einem dunklen

Augenpaar beobachtet wurde.

Piper Halliwell öffnete die Kühlschranktür und nahm die Karaffe

mit dem Eistee heraus. Es war trotz der fortgeschrittenen Abendstunde
immer noch so warm, dass das Glas der Kanne augenblicklich
beschlug. Kleine Kondenstropfen rannen wie Schweißperlen herunter.

Piper blickte auf die Gardinen, die nebenan schlaff vor dem

geöffneten Wohnzimmerfenster hingen.

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Kein Lufthauch bewegte sie. Die junge Hexe konnte sich nicht

daran erinnern, wann es jemals eine solche Hitzewelle gegeben hatte.
Piper nahm einen Schluck eiskalten Tee. Warme Getränke mochten
bei dieser Hitze vielleicht gesünder sein, aber das Gefühl, das die kalte
Flüssigkeit hinterließ, als sie ihre Kehle hinunterrann, war einfach
unbeschreiblich.

Leider hielt es nur ein paar Sekunden an.

Piper überlegte, ob sie noch eine kalte Dusche nehmen sollte, aber

das wäre dann schon die dritte an diesem Tag. Wenn sie so
weitermachte, würden ihr noch Schwimmhäute wachsen. Leo, der
Wächter des Lichts und ihr Ehemann, wäre davon bestimmt nicht
begeistert gewesen. Seufzend schaltete Piper den Fernseher ein. Dann
ließ sie sich auf das Sofa plumpsen und zappte sich durch die Kanäle.
Wie in jedem Sommer wurden auf allen Kanälen fast nur
Wiederholungen gezeigt. Lustlos schaltete Piper von einem Programm
zum nächsten. Auf dem lokalen Nachrichtensender hielt sie kurz inne.
Eine Sprecherin der Polizei bat die Bevölkerung von San Francisco,
die Polizei und die Feuerwehr nicht zu unnötigen Einsätzen zu rufen.
»Die augenblickliche Hitzewelle über der Stadt«, erklärte die
uniformierte Frau, »hat eine saisonbedingte Steigerung der
Kriminalitätsrate zufolge, die im Augenblick unsere gesamten Kräfte
erfordert.«

Mit gerunzelter Stirn schaltete Piper den Fernseher aus. Sie hatte

ein ungutes Gefühl bei der Sache. Natürlich waren die drei
Zauberhaften nicht für die Verbrechensbekämpfung zuständig. Dafür
gab es Experten, wie etwa Detective Darryl Morris, den Freund der
drei Schwestern, der bei der Polizei von San Francisco arbeitete.

Und trotzdem …

Piper konnte sich nicht vorstellen, dass so viel Gewalt und

Aggression die Dämonenwelt kalt ließen. Nachdenklich stand Piper
wieder auf, holte die große Karte von San Francisco aus dem
Bücherregal und breitete sie auf dem Wohnzimmertisch aus. Dann zog
sie ein kleines, silbernes Pendel aus der Schublade einer alten
Holzkommode und nahm das Ende der Kette vorsichtig zwischen
Daumen und Zeigefinger. Sie führte das Pendel mit einer langsamen
Bewegung quer über die ausgebreitete Karte.

Nichts. Das Pendel blieb absolut ruhig.

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»Komm schon«, murmelte Piper zu sich selbst, »ich kann mir nicht

vorstellen, dass die Dämonen sich hitzefrei genommen haben …«

Konzentriert führte sie das Pendel weiter über die Karte. Nach ein

paar Minuten begannen die Muskeln in ihrem Unterarm zu schmerzen.
Seufzend ließ Piper ihre Hand auf die Karte fallen, ohne das
Silberkettchen des Pendels loszulassen.

Die junge Hexe blickte sich um. Wo hatte sie nur das Glas mit dem

Eistee hingestellt? Ah, es stand noch auf der Kommode, aus der sie
das Pendel geholt hatte.

Piper wollte gerade aufstehen, um sich das Glas zu holen, als sie

einen starken Ruck an ihrer rechten Hand spürte. Die Silberkette des
Pendels war plötzlich straff gespannt, und der Anhänger zitterte.

Piper runzelte die Stirn. Bevor sie reagieren konnte, gab es einen

weiteren Ruck. Diesmal war er so stark, dass er ihren ganzen
Oberkörper mitriss und schmerzhaft gegen die Tischkante drückte.
Aber Piper achtete gar nicht darauf. Wie ein Hund an der Leine zog
das Pendel ihre Hand weiter über die Stadtkarte, bis es schließlich
vibrierend zum Stehen kam. Über einem großen Industriegebiet in der
Hafengegend.

Phoebe und Paige müssen ganz in der Nähe sein, dachte Piper

noch, dann erstarrte sie.

Direkt unter dem Pendel bildete sich plötzlich wie von selbst ein

Brandloch in der Karte. Als hätte jemand eine Zigarette darauf
ausgedrückt. Eine kleine, schwarze Rauchwolke stieg auf.

»Ach, du meine Güte«, murmelte Piper.

Dann sprang sie auf und rannte zum Telefon.

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5

I

M HINTERGRUND HÄMMERTE der technische Assistent

immer noch an der Nebelmaschine herum. Ab und zu wurde das
Dröhnen von einem saftigen Fluch unterbrochen.

Die anderen Mitglieder des Filmteams schienen solche

Unterbrechungen gewohnt zu sein. Entweder standen sie plaudernd in
kleinen Grüppchen zusammen oder waren nach draußen gegangen,
um eine Zigarette zu rauchen. Phoebe hatte nichts dagegen. Auf diese
Weise konnte sie sich in Ruhe umsehen. Das Filmset war diesmal
wirklich beeindruckender als der improvisierte Dreh gestern auf der
Straße.

Phoebe, die mit großen Augen alles in sich aufnahm, wäre fast

über eine Metallschiene gestolpert, die an der Bühne entlang lief.

»Hey, fall langsam!« Phoebe wäre Pete, dem Kameramann,

beinahe in die Arme gestürzt. Er sah nicht aus, als hätte er etwas
dagegen gehabt, aber Phoebe konnte einen Zusammenprall gerade
noch verhindern.

»Ups, Entschuldigung«, sagte sie und deutete auf die

Metallschienen. »Wozu ist das denn gut?«

»Das sind die Schienen für Dolly«, antwortete Pete lächelnd.

»›Dolly‹? Wer ist das denn schon wieder?«

»Nicht wer, sondern was. Dolly – so nennt man eine Vorrichtung,

mit der die Kamera durch die Gegend bewegt wird. Du weißt schon,
Schienen für Kamerafahrten und so. Diese Schienen lassen sich wie
bei einer Modelleisenbahn in jeder beliebigen Form
zusammenstecken, je nachdem welche Kamerafahrten um ein Objekt
oder einen Schauspieler herum gebraucht werden. Wenn es sein muss,
kann man diese Schienen zu einer Strecke von hundert Metern oder
mehr zusammenstecken.«

Phoebe hörte den Stolz in Petes Stimme heraus. »Aber ist so etwas

nicht ziemlich teuer?«

Pete lachte auf. »Allerdings. Normalerweise könnten wir uns für

›Scream X-Treme‹ gar keine Dolly leisten. Aber weißt du …«, Pete

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sah sich verschwörerisch um, »ich arbeite tagsüber bei einer ziemlich
großen Produktionsfirma. Und ich habe einen Schlüssel zum
Geräteraum. Solange ich die Ausrüstung rechtzeitig wieder
zurückbringe, merkt das niemand, dass sie während der Nacht von
jemand anderem benutzt wird. Deshalb hoffe ich auch, dass unser
Schraubendreher da vorn die Nebelmaschine wieder hinkriegt. Sonst
habe ich ein echtes Problem.«

»Wenn sie dich feuern, kannst du ja wieder Werbespots für

Hundefutter drehen. Zusammen mit Virginia Superstar«, lachte Lou.
Der Ton-Assistent hielt eine unangezündete Zigarette in der Hand, die
er wohl gerade bei irgendjemand geschnorrt hatte.

»Nur das nicht«, stöhnte Pete. »Kommst du mit, eine rauchen?«

Phoebe lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich rauche

nicht. Ich sehe mich hier lieber noch etwas um.«

»Okay«, nickte Pete. Zusammen mit seinem Ton-Assistenten

schlurfte er auf den Ausgang zu. Sie waren kaum fünf Meter weit
gekommen, als sie sich schon wieder über irgendetwas stritten.

Phoebe nutzte die Zeit und spazierte noch etwas zwischen den

aufgebauten Gerätschaften herum. Unglaublich, was für ein Aufwand
damit verbunden war, so eine einfache Szene zu drehen. Dabei war
›Scream X-Treme‹ ja noch ein kleiner Independent-Film. Mit Grausen
dachte Phoebe, an die Monumentalfilme, die sie schon im Kino
gesehen hatte. Es musste ein wahrer Alptraum sein, ein Filmset mit
hunderten von Statisten zu koordinieren.

Eine kleine Tür an der gegenüberliegenden Seite der Halle weckte

Phoebes Aufmerksamkeit. Die Tür stand einen Spalt breit offen,
dahinter brannte ein trübes Licht. Neugierig trat sie darauf zu.

Ein dunkles Augenpaar, versteckt hinter ein paar Kisten, funkelte

böse auf, als Phoebe die Tür vorsichtig öffnete.

Die junge Hexe trat in einen Raum, der früher einmal als Putzraum

gedient haben musste. In der Ecke standen noch ein paar Eimer und
Putzlappen, die seit Jahren keinen Tropfen Wasser mehr gesehen
hatten. Aber viel interessanter waren fünf längliche, kleine Holzkisten,
die in der Mitte des Raumes auf dem Boden lagen.

Phoebe konnte ein Schaudern nicht unterdrücken. Die geöffneten

Kisten wirkten wie kleine Särge.

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Sie musste schlucken, als sie näher herantrat. Tatsächlich lag in

jeder der fünf mit Holzwolle ausgefüllten Kisten eine kleine, leblose
Gestalt.

Und was für welche! Phoebe hatte genug Filme gesehen, um sie

alle wieder zu erkennen: Die erste Puppe war ein leichenblasser Mann
mit eleganter, aber altmodischer Kleidung und Umhang. Winzige,
aber nadelspitze Zähne ragten aus seinen grinsenden Mundwinkeln
heraus. Kein Zweifel, das war Dracula. Obwohl er die Hände vor
seiner Brust gefaltet hatte, blickte er Phoebe aus kleinen, schwarz
funkelnden Augen an. In der Kiste neben dem Fürsten der Nacht lag
eine scheußliche Kreatur, halb Mensch, halb Reptil. Schwimmhäute
spannten sich zwischen ihren Krallen, und die schuppige Haut glänzte,
als ob es gerade erst einem Sumpf entstiegen wäre. Das Monster aus
der versunkenen Lagune. Phoebe erinnerte sich noch gut daran, wie
sie sich als Kind immer gegruselt hatte, wenn im Fernsehen eine
Wiederholung dieses alten Schwarz-Weiß-Klassikers lief.

Phoebe brauchte ein paar Sekunden, um die Puppe in der nächsten

Kiste zu erkennen. Auch diese Gestalt war in altmodische Kleidung
gehüllt und trug einen dunklen Hut mit breiter Krempe. Ein etwa fünf
Zentimeter langes, sehr scharf aussehendes Messer in der Hand der
Gestalt gab Phoebe schließlich den entscheidenden Anhaltspunkt. Das
musste Jack the Ripper sein, der verrückte Mörder, der im London des
späten 19. Jahrhunderts sein Unwesen getrieben hatte.

»Da hat sich aber jemand Mühe gegeben«, murmelte Phoebe. Die

Figur sah absolut lebensecht aus, selbst die Klinge in ihrer Hand
bestand scheinbar aus scharfem, chirurgischem Stahl.

Die Puppe in der nächsten Kiste zu identifizieren, war nicht

besonders schwer. Ein Mensch mit dem Kopf eines Wolfes, dessen
ganzer Körper mit dichtem, dunkelbraunem Fell überzogen war. Ein
Werwolf.

Phoebe schluckte. An Kreaturen wie diese verbanden sie einige

unangenehme Erinnerungen.

Mit der Figur in Kiste Nummer fünf hatte Phoebe bereits

Bekanntschaft gemacht. Es war die halb verweste und in Bandagen
gewickelte Mumie, die sie am Vorabend durch die Gasse gekickt
hatte. Tim, der Konstrukteur dieser Puppen, hatte sie scheinbar in
Rekordzeit wieder repariert.

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»Was zum Teufel hast du hier zu suchen?«, zischte eine Stimme

hinter Phoebe. Die junge Hexe wirbelte erschrocken herum.

Wenn man vom Teufel sprich t…

In der Tür stand Tim Sorvino, der Special-Effects-Experte des

kleinen Filmteams. Er trug wieder ein schwarzes T-Shirt und funkelte
Phoebe böse an. »Willst du noch ein paar meiner Puppen zerstören?«

Phoebe hob die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Nein,

natürlich nicht. Sorry, wenn ich hier einfach so reingeplatzt bin. Aber
die Tür stand auf, und ich war einfach neugierig.«

Sie deutete auf die Puppen in ihren kleinen Holzsärgen. »Die

Figuren sind wirklich klasse. So unglaublich … lebensecht.« Phoebe
wollte Tim damit beruhigen, aber so leicht ließ sich der junge Mann
nicht um den Finger wickeln.

»Natürlich sind sie lebensecht. Ich habe monatelang daran

gearbeitet. Sie sind kleine Kunstwerke. Meine … Schöpfungen!«

Wie ein wildes Tier, das seine Jungen schützen will, strich Sorvino

um Phoebe herum und stellte sich zwischen sie und seine Puppen.
»Sie sind kleine Meisterwerke. Wenn dieser Film erst einmal
abgedreht ist, werden sich die großen Studios um meine Animations-
Technik reißen. Das heißt, wenn nicht vorher wieder jemand kommt
und sie in den Mülleimer tritt!«

Phoebe schluckte. Es war wohl besser, das Feld zu räumen. Sie

hatte sich mittlerweile nun wahrlich oft genug bei Sorvino
entschuldigt.

»Okay«, sagte sie, »vergiss einfach, dass ich hier gewesen bin. Ich

habe auch nichts angerührt.«

Mit schnellen Schritten verließ Phoebe den kleinen Raum und trat

zurück in die Halle. Auf der Türschwelle drehte sie sich noch einmal
um. Sorvino hatte sich über die Holzkisten gebeugt und hielt die
Mumie im Arm.

Wie ein kleines Baby.

Eigentlich ein ziemlich lächerlicher Anblick, aber Phoebe bekam

trotzdem eine Gänsehaut. Sorvino schien seine ferngesteuerten
Geschöpfe wirklich zu lieben. Und Phoebe konnte nicht vergessen,

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wie die kleinen Monster sie aus ihren toten Knopfaugen angestarrt
hatten.

Phoebes Gänsehaut ließ sie so sehr erzittern, dass sie das Vibrieren

ihres Handys in der Tasche ihrer Shorts im ersten Augenblick gar
nicht bemerkte. Dann zog sie es erstaunt heraus und blickte auf das
Display.

Es war der Festanschluss des Halliwell-Hauses. Das musste Piper

sein.

»Piper, was gibt's denn?«, fragte Phoebe in den Hörer. Sie war

froh, dass sie ihr Handy auf stummen Alarm gestellt hatte. Ein
piependes Handy auf einem Filmset hätte ihr garantiert eine Menge
böser Blicke eingebrockt.

»Hi, Phoebe«, tönte es aus dem Hörer. Es war tatsächlich Pipers

Stimme. Und sie klang aufgeregt. »Ich fürchte, euer Ausflug zum
Film ist für heute beendet. Wenn ich dem Pendel glauben darf, treibt
sich ganz in eurer Nähe ein Dämon herum. Ein sehr seltsamer
anscheinend.«

»Wie meinst du das?«, fragte Phoebe erstaunt. Sie war bereits in

einen leichten Laufschritt verfallen, um so schnell wie möglich Paige
zu informieren. Dieses Filmset – und sein Regisseur – mochten noch
so interessant sein, aber ihre Pflichten als Hexen gingen vor.

»Na ja, als ich den Erscheinungsort des Dämons ausgependelt

habe«, fuhr Piper am anderen Ende fort, »ist erst die Karte verbrannt
und dann hat das Pendel angefangen zu glühen. Ich habe so etwas
noch nie erlebt.«

»Sehr seltsam«, sagte Phoebe. Sie konnte Paige bereits sehen. Sie

stand immer noch am Rand der Bühne und redete mit Andy. »Wo
genau ist der Dämon denn aufgetaucht?«

»Der Karte nach ganz in eurer Nähe. Im Industriegebiet im

Hafenviertel. Irgendwo auf dem Gelände einer alten Fabrik. Ich
konnte den Namen auf der angeschmorten Karte nicht genau lesen.
Aber es ist nur ein paar Straßen vom Pier 17 entfernt. Da treibt ihr
euch doch herum, oder? Ich steige jetzt ins Auto und wir treffen uns
da. Bis gleich!«, rief Piper in den Hörer.

»Bis gleich!«, antwortete Phoebe, aber Piper hatte bereits

aufgelegt.

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Auf dem Set hatten die Dreharbeiten wieder begonnen. Die

Nebelmaschine sprühte ein paar Rauchschwaden auf die Bühne. Die
Kamera surrte, während Virginia in dem Pentagramm kniete und ihre
alberne Beschwörung sprach. Aber Phoebe achtete jetzt gar nicht
darauf.

»Paige«, flüsterte sie ihrer Schwester ins Ohr, um die Aufnahme

nicht zu stören. »Wir müssen gehen. Piper hat einen Dämon geortet.
Ganz in der Nähe.«

»Oh, nein!«, Paige verdrehte die Augen. Dann zögerte sie einen

Augenblick und tippte Andy auf die Schulter. »Tut mir Leid, Andy.
Wir müssen los. Ein, äh, Notfall in der Familie.«

Andy wandte seinen Blick nur kurz von der Bühne ab. Aber in

seiner Stimme schwang echtes Bedauern mit. »Wirklich? Wir sehen
uns doch morgen wieder, oder?«

»Klar!« Paige lächelte den Regisseur an, während Phoebe sie

bereits am Arm zog. »Ich habe ja schließlich einen Job, oder?«

Bevor Andy antworten konnte, hatte Phoebe ihre jüngere

Halbschwester bereits durch die halbe Halle geschleift.

»Was soll denn die Eile?«, protestierte Paige. »Was genau ist denn

eigentlich los?«

»Piper hat irgendeinen Dämon entdeckt. Ganz in der Nähe. Hab ich

doch gesagt!«

»Ja, aber wo genau treibt sich diese höllische Nervensäge denn nun

rum?«

Phoebe zog die große Tür der Lagerhalle auf. Draußen war es

bereits dunkel. Ein Schwall warmer Luft quoll den beiden Hexen
entgegen. »Sie konnte es leider nicht mehr genau feststellen«,
antwortete Phoebe.

»Na, toll. Dann können wir ja ewig suchen, oder?«

Phoebe riss die Augen auf. »Das glaube ich weniger.«

Sie deutete über den Vorplatz der Halle hinweg.

Ein paar Meter entfernt erhellte ein rötliches Glühen die Nacht.

»Ach, du liebes bisschen«, murmelte Paige.

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6

P

IPER RASTE MIT EINEM mörderischen Tempo durch das

Industriegebiet. Zum Glück waren die Straßen und Zufahrtswege um
diese späte Stunde menschenleer. Die Federung des Wagens
quietschte protestierend, als das Fahrzeug über ein Schlagloch raste,
ein paar Zentimeter durch die Luft segelte und krachend wieder auf
dem Asphalt aufschlug. Pipers Hände krampften sich so fest um das
Lenkrad, dass ihre Knöchel weiß heraustraten.

Schon aus einiger Entfernung hatte sie das rote Glühen am

Horizont bemerkt. Es sah bedrohlich aus, so als hätte jemand
vergessen, eine überdimensionale Herdplatte auszuschalten. Immerhin
ersparte ihr dieses Phänomen die Suche nach dem Aufenthaltsort des
Dämons.

Natürlich hätte sich Piper diese Rallye durch das verlassene

Industriegebiet sparen können, wenn sie sich mit Leo einfach an den
Ort des Geschehens georbt hätte. Aber da sie keine Ahnung hatte, was
sie dort erwartete, hielt sie es für besser, den traditionellen Weg zu
wählen.

Schließlich hatte sie keine Lust, in einem Mini-Vulkan zu

materialisieren oder eine ähnlich tödliche Überraschung zu erleben.

Mit quietschenden Reifen steuerte sie den Wagen um eine Kurve.

Noch verdeckte eine große Halle die Sicht auf die Ursache des
Glühens. Piper hatte das unangenehme Gefühl, dass die Hitze zunahm.
Oder war das nur Einbildung? Ihre Frage beantwortete sich von selbst.
Die junge Hexe riss die Augen auf, als sie an der Halle vorbeifuhr und
auf ein weiteres Industriegebäude zujagte.

Es stand in hellen Flammen.

Feuerzungen loderten aus den zerborstenen Fenstern des Gebäudes.

Rauch quoll ins Freie, und der Flammenschein verwandelte die
Dunkelheit der Nacht in rötliches Licht. Piper steuerte den Wagen auf
den großen Parkplatz vor dem Gebäude. Von hier aus konnte sie ein
Schild über dem Haupteingang erkennen: »AmSteel Stahlgießerei«.

Den Namen hatte Piper schon einmal irgendwo gehört, soweit sie

sich erinnerte, wurden hier Stahlplatten für den Schiffsbau gegossen.

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Etwa zwanzig Meter vor dem Industriegebäude stoppte Piper den

Wagen und sprang heraus. Eine Welle aus heißer Luft schlug ihr
entgegen und raubte ihr im ersten Augenblick den Atem.

Ihr erster Impuls war es, zum Handy zu greifen und die Feuerwehr

zu informieren. Doch dann besann sie sich eines Besseren. Wenn
dieses Feuer tatsächlich magische Ursachen hatte – und davon musste
sie ausgehen – dann war es sinnvoller, die Lage erst einmal allein zu
erkunden.

Die Feuerwehrmänner von San Francisco wussten wahrscheinlich

am besten, was bei einem Industriefeuer zu tun war, aber gegen einen
Dämon würden ihre Wasserschläuche wahrscheinlich wenig
ausrichten können.

Piper fuhr herum, als sie hinter sich ein Hupen hörte. Ein alter

Pick-up näherte sich. Am Steuer saß Phoebe. Paige klammerte sich
auf dem Beifahrersitz an ihren Sicherheitsgurt. Offensichtlich hatte
Phoebe auf ihrer Fahrt hierher auch ein paar Verkehrsregeln
übertreten.

Der Pick-up stoppte neben Piper. Phoebe und Paige sprangen

heraus. Fasziniert blickten sie auf die Flammen, die immer wütender
aus den Fenstern hochschlugen.

»Ach, du liebe Güte!«, rief Paige und blickte hinauf. »Diese

trockene Hitze ist gar nicht gut für meine Haut. Hast du schon die
Feuerwehr gerufen, Piper?«

Piper schüttelte den Kopf. Die Schwestern mussten schreien, um

das Prasseln der Flammen zu übertönen.

»Nein, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis sie hier eintrifft.

Wahrscheinlich werden auch andere die Flammen bemerken. Wir
sollten die Zeit nutzen und uns erst einmal umsehen. Wenn hinter
diesem Feuer ein Dämon steckt, dann müssen wir ihn vernichten,
bevor die Feuerwehr hier eintrifft.«

Die drei Schwestern blickten sich an. Es war ihnen anzusehen, dass

sie sich nicht wohl fühlten in ihrer Haut. Schließlich war mit so einem
Feuer nicht zu spaßen. Selbst ohne eine dämonische Bedrohung würde
es lebensgefährlich sein, das Gebäude zu betreten.

»Na schön«, sagte Phoebe schließlich. »Gehen wir rein!«

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Vorsichtig näherten sich die drei Hexen dem Haupteingang. Die

Flammen loderten aus dem hinteren Teil des Gebäudes, also schien es
– zumindest vorläufig – relativ sicher zu sein, es von vorn zu betreten.

Die Glastür mit dem Logo der Stahlgießerei war unverschlossen.

Vorsichtig drückte Piper sie auf.

Die drei Hexen zuckten zusammen, als ein Luftzug an ihnen

vorbeizischte und wie eine plötzliche Sturmböe von außen ins Innere
der Eingangshalle fegte.

»Was war das denn?«, rief Paige erschrocken auf.

Phoebe hustete und schnappte dann nach Luft. »Die Hitze im

hinteren Teil muss einen großen Teil des Sauerstoffs aus dem Rest des
Gebäudes angesaugt haben. Und da die Tür zu war, konnte kein neuer
Sauerstoff von außen nachströmen. Bis jetzt.«

»Wow.« Piper nickte anerkennend. »Woher weißt du so etwas,

Phoebe?«

Phoebe zuckte mit den Schultern. »Aus einem Feuerwehr-Film.

Backdraft, mit Robert DeNiro.«

Vielleicht sollte ich doch öfter mal ins Kino gehen, dachte Piper.

Dann sah sie die zusammengesunkene Gestalt am hinteren Ende der
Einganshalle, die leblos hinter dem Empfangspult lag. »Da ist
jemand!«, rief sie, und die drei Hexen stürmten los.

Sekunden später hatten sie die Gestalt erreicht. Es war ein alter

Mann in Nachtwächteruniform. Sein Gesicht war aschfahl. Piper
konnte nicht erkennen, ob er noch atmete. Seine Hand ruhte auf einem
kleinen Schaltpult, auf dem auch ein Knopf für den Feueralarm
angebracht war. Offensichtlich musste der Nachtwächter ohnmächtig
zusammengebrochen sein, bevor er den Alarm auslösen konnte.

»Sieht aus, als hätte der Sauerstoffmangel ihn ohnmächtig werden

lassen«, sagte Phoebe wie zur Bestätigung. Dann fühlte die mittlere
Halliwell-Schwester den Puls des alten Mannes. »Aber er lebt noch.
Paige, kannst du ihn bitte raus an die frische Luft tragen? Wir sehen
uns mal an, was dieses Feuer ausgelöst hat.«

»Geht klar.« Paige nickte und sprang mit einem Satz über das

Empfangspult, um den alten Nachtwächter hinauszuziehen. »Wie
finde ich euch denn wieder?«

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Piper deutete auf eine Durchgangstür, die offensichtlich vom

repräsentativen Eingangsbereich der Fabrik zu den eigentlichen
Produktionshallen führte.

»Immer der Hitze nach.«

Während Paige den alten Mann schnaufend mit einem

Rettungsgriff Richtung Ausgang schleppte, rannten Piper und Phoebe
auf die Tür der Produktionshallen zu.

Piper war etwas schneller und griff nach der Klinke. Im selben

Augenblick zuckte ihre Hand zurück.

»Autsch, die Tür ist ganz heiß!«

Dann zog sie den Stoff ihrer Bluse lang, um ihn wie einen

improvisierten Topflappen um die Klinke zu wickeln.

»So geht's«, rief sie zufrieden und drückte die Klinke herunter.

Phoebe stand neben ihrer Schwester und stutzte.

Die Tür war heiß?

Sie musste wieder an Backdraft denken, den Film, den sie gerade

erwähnt hatte.

Irgendetwas war da doch …

Dann fiel es ihr wieder ein!

»Nicht öffnen!«, schrie Phoebe, aber es war zu spät. Piper hatte die

Klinke bereits heruntergedrückt.

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7

P

IPER SAH AUS DEN AUGENWINKELN ETWAS auf sich

zustürmen.

Es war Phoebe.

Bevor Piper reagieren konnte, spürte sie einen harten Stoß an der

Schulter. Ihre Schwester hatte sie mit enormer Wucht zu Boden
gerissen.

»Hey!«, rief Piper erstaunt auf. Es gab einen schmerzhaften

Aufprall, diesmal mit der anderen Schulter. Im selben Augenblick
fegte etwas unglaublich Heißes über die Köpfe der beiden Schwestern
hinweg.

Eine orange-rote Flammenzunge. Sie loderte ein paar Augenblicke

lang in den Eingangssaal hinein, dann zog sie sich zischend – fast wie
ein lebendes Wesen – in die Werkshalle zurück.

»W-Was war denn das?«, fragte Piper erstaunt. Die beiden

Halliwell-Schwestern lagen jetzt einen knappen Meter neben der
geöffneten Tür und rappelten sich wieder auf. Phoebe reichte ihrer
Schwester die Hand und half ihr beim Aufstehen.

»Ein so genannter ›Backdraft‹«, keuchte Phoebe, noch etwas außer

Atem. »Durch das Offnen der Tür erhält das Feuer dahinter neuen
Sauerstoff und lodert mit einer Stichflamme auf.«

»Ich bin echt froh, dass du so oft ins Kino gehst, Phoebe«, seufzte

Piper und klopfte ihrer Schwester anerkennend auf die Schulter.
»Sonst hätte es jetzt eine ›Heiße Hexe‹ gegeben.«

Gleichzeitig ärgerte sich Piper über sich selbst. Irgendwo hatte sie

mal gelesen, dass man bei einem Feuer niemals eine Tür öffnen
durfte, die sich heiß anfühlte. Daran hätte sie sich auch ein paar
Sekunden eher erinnern können. Zum Glück war das Ganze noch
einmal gut gegangen.

Vorsichtig blickten die beiden Schwestern in die Halle. Der Raum

war tatsächlich riesig, überall standen gewaltige Maschinen, die zum
Schmelzen und Verarbeiten des Stahls gebraucht wurden.

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Einige davon standen in Flammen. Dicker, schwarzer Rauch quoll

aus ihnen hervor, wahrscheinlich von den Stromkabeln, die im Innern
der Maschinen verschmorten. Vorsichtig gingen Piper und Phoebe ein
paar Schritte hinein.

Die Hitze war unerträglich.

»Bist du sicher, dass dies das Werk eines Dämons ist, Piper?«,

fragte Phoebe.

Piper blickte sich um. Irgendetwas in dem Flammenmeer vor ihnen

erweckte ihre Aufmerksamkeit. Es dauerte einen Moment, bis ihre
Augen in den lodernden Flammen einen Umriss erkennen konnten.

»Ganz sicher, Phoebe«, sagte Piper und schluckte. »Schau mal da

vorn!«

Phoebe blickte auf die von ihrer Schwester bezeichnete Stelle. Und

sie traute ihren Augen nicht.

Inmitten der Flammen stand eine menschenähnliche Gestalt. Das

Feuer schien ihr nichts auszumachen. Im Gegenteil, wer – oder was –
das auch war, genoss die lodernden Flamenzungen.

Kein Wunder. Die Gestalt – daran, dass es ein Dämon war, bestand

nun kein Zweifel mehr – bestand selbst aus Flammen.

»Das gibt's doch nicht!«, keuchte Phoebe.

Im selben Augenblick entdeckte der Flammen-Mann die beiden

Hexen. Ohne zu zögern trat er auf sie zu. Das Wesen besaß tatsächlich
eine menschenähnliche Gestalt, schien aber aus reinem Feuer zu
bestehen.

»Wow, das wäre ein großartiger Spezialeffekt für einen Film«,

sagte Phoebe.

Fassungslos beobachtete Piper, wie ihre jüngere Schwester die

Finger ihrer beiden Hände zu einer improvisierten Kameralinse formte
und die Feuer-Kreatur dadurch betrachtete. »Oscarreif, würde ich
sagen.«

»Ähm, Phoebe, könntest du dein Spielfilm-Debüt vielleicht später

planen? Dieses Ding sieht mir nicht danach aus, als würde es deinen
Regieanweisungen folgen.«

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Wie zur Bestätigung stieß der Flammen-Mann ein zischendes

Fauchen aus und hob den Arm wie ein Baseballspieler, der einen Ball
werfen will.

Doch die Kreatur schleuderte keinen Ball, sondern eine lodernde

Feuerkugel.

»Achtung!«, rief Phoebe. Beide Hexen sprangen nach links und

rechts in Deckung.

Die Feuerkugel zischte über sie hinweg und prallte mit einem

Auflodern gegen die Wand hinter ihnen.

»Das wäre eine tolle Szene für den Werbetrailer gewesen«, keuchte

Phoebe, als sie wieder auf die Beine sprang.

»Phoebe, verflixt noch mal!« Piper verlor allmählich die Geduld.

»Das hier ist kein Film. Dieser Feuer-Dämon ist verdammt real. Wir
müssen ihn vernichten.«

Phoebe nickte. »Ja, du hast ja Recht. Frier ihn doch einfach ein,

dann können wir uns in Ruhe überlegen, wie wir ihn kaltstellen.«

Piper nickte, hob die Hände und konzentrierte sich kurz.

Nichts passierte. Abgesehen davon, dass der Flammen-Dämon mit

einem Grollen auf sie zupreschte.

»Du meine Güte! Zur Seite!«, rief Phoebe.

Das Flammen-Monster raste auf die beiden Schwestern zu, die

gerade noch ausweichen konnten. Piper hatte so etwas fast befürchtet.
Dieses Wesen bestand tatsächlich nur aus Flammen – einer Substanz,
die sie nicht mit einem Erstarrungszauber belegen konnte.

Wütend, dass es seine Opfer schon wieder verfehlt hatte, blieb der

Flammen-Dämon stehen. Erneut hob er seine Hand, um einen neuen
Flammenball auf die hilflosen Hexen zu schleudern.

»Ich glaube, über das Drehbuch müssen wir noch einmal reden«,

schluckte Phoebe.

Nach dem letzten Hechtsprung waren Piper und sie in einer Ecke

der Halle gelandet. Viel Raum, um den tödlichen Flammenkugeln
auszuweichen, hatten sie nicht mehr. Hinter ihnen war nur noch die
Wand, vor ihnen stand der Dämon und der einzige Fluchtweg führte
weiter in das Innere der Halle hinein. Doch die brannte bereits

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lichterloh. Der Flammen-Mann gab ein triumphierendes Fauchen von
sich. In seiner Hand bildete sich eine neue Flammenkugel.

»Und nun?«, keuchte Phoebe.

»Und nun wird es Zeit für eine Abkühlung!«

Überrascht blickten Piper und Phoebe an dem Flammen-Monster

vorbei. Auch der Dämon schaute sich überrascht um.

Hinter ihm stand Paige, die Dritte im Bunde.

Sie hatte den alten Nachtwächter sicher auf dem Hof vor der

Fabrik abgesetzt und war dann zurück in das Gebäude gelaufen.

Und in ihrer Hand hielt sie einen Feuerlöscher.

Bevor der Dämon reagieren konnte, presste Paige den Hebel

herunter. Ein Strahl aus weißem Schaum schoss auf den Dämon zu.
Als der Schaum seinen Körper berührte, gab es ein lautes Zischen. Die
Kreatur bäumte sich auf. Der Löschschaum schien ihr Schmerzen zu
bereiten, aber reichte nicht aus, um sie zu vernichten.

Immerhin gelang es Paige, die Kreatur von ihren Schwestern

wegzuscheuchen, indem sie sie mit gezielten Löschstrahlen durch die
Halle trieb.

»Sehr gut, Paige!«, rief Phoebe. »Du hast die Hauptrolle!«

Aber Paiges siegesbewusstes Grinsen dauerte nicht lange an. Der

herausspritzende Schaumstrahl wurde von mal zu mal kleiner und
schwächer. Der Feuerlöscher war fast leer.

»Äh, Schwestern?«, rief Paige, »wie geht es jetzt weiter?«

Das Gesicht des Flammen-Dämons verzerrte sich zu einem

Grinsen. Noch ein paar letzte Schaumspritzer, dann würden die drei
Schwestern wieder so hilflos sein wie zuvor.

Aber Piper hatte eine Idee. Sie sah vielleicht nicht so viele Filme

wie Phoebe, dafür war sie aber ein großer Fan von Fernseh-
Dokumentationen. Und erst letzte Woche hatte sie einen Bericht über
die Löscharbeiten an Großfeuern gelesen. Wenn gar nichts mehr ging,
griffen professionelle Feuerwehrleute zum letzten Mittel: Dynamit.
Die Druckwelle einer Explosion war so gewaltig, dass sie selbst einen
lodernden Großbrand ausblasen konnte.

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Und Explosionen waren nun auch zufällig ihr zweites Fachgebiet.

»Paige, Phoebe! Runter!«

Die beiden Schwestern kannten Pipers Kräfte und ahnten, was jetzt

kam. Ohne es ihnen zweimal sagen zu müssen, warfen sie sich zu
Boden. Paige hielt sich sogar die Ohren zu.

»Hey, Feuerkopf!«, rief Piper. »Es ist schon ohne dich heiß genug.

Zeit, dass du dahin zurückgehst, wo du hergekommen bist. Zur
Hölle!«

Der Flammen-Dämon starrte Piper hasserfüllt an. Doch bevor er

etwas unternehmen konnte, riss Piper die Arme hoch.

Sie musste sich nur vorstellen, dass dieses Monster explodierte und

– im selben Augenblick erschütterte eine Explosion die Fabrikhalle.

Der Dämon brüllte auf.

Wie ein Feuerwerkskörper zerbarst er. Hunderte von kleinen

Feuerballen, einige so groß wie eine Faust, einige so klein wie
Streichholzflammen, zischten durch die Luft.

Dort, wo sie auf die Wände und Maschinen trafen, entstanden

sofort neue, kleine Feuerherde. Aber darauf kam es jetzt auch nicht
mehr an. Die Fabrikhalle war sowieso nicht mehr zu retten.

Dichter Rauch erfüllte jetzt die gesamte Halle.

»Großartig gemacht, Schwesterherz«, hustete Paige.

»Danke für die Blumen. Du warst auch nicht schlecht. Aber wir

sollten jetzt erst einmal sehen, dass wir Land gewinnen. Ich fürchte,
hier wird gleich alles zusammenkrachen.«

Piper scheuchte ihre beiden jüngeren Schwestern zur Tür hinaus.

Durch die Eingangshalle hindurch gelangten sie rasch ins Freie.

Die Nachtluft war zwar noch immer schwül und stickig, aber

verglichen mit der verqualmten Hitze in der Fabrik war sie die reinste
Frühlingsbrise.

Gierig sogen die drei Hexen die Luft in ihre Lungen. Ein paar

Straßen weiter ertönten Feuerwehrsirenen. Sekunden später war auch
das Aufblitzen der ersten Signallichter zu sehen.

Piper wischte sich über die mit Ruß verschmierte Stirn.

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»Wir sollten jetzt besser verschwinden und die Feuerwehr ihren

Job machen lassen. Ich habe heute Nacht keine Lust mehr, Fragen zu
beantworten. Paige, wie geht es dem Nachtwächter?«

Die jüngste der drei Schwestern kniete neben dem alten Mann, der

auf dem Asphalt des Parkplatzes lag, in sicherer Entfernung von dem
Flammenmeer. Er atmete wieder tief und ruhig durch. Seine Augen
blinzelten bereits wieder.

»Der ist okay, Piper. Sieht aus, als würde er in ein paar Minuten

wieder zu sich kommen.«

»Okay. Dann nichts wie weg. Ich glaube, ich habe noch nie im

Leben so dringend eine Dusche gebraucht, wie jetzt.«

Phoebe und Paige liefen zum Pick-up, Piper rannte zu ihrem

eigenen Wagen.

Bevor sie einstiegen, blieben sie noch einmal stehen und grinsten

sich an. Dann hoben sie ihre Hände und ließen die Handflächen
zusammenklatschen.

»Auf die Hexen-Feuerwehr!«

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8

»

M

USS DAS SEIN?«, fragte Piper etwas genervt.

Die drei Schwestern hatten das Fabrikgelände verlassen, kurz

bevor die Feuerwehr eingetroffen war. Auf dem Heimweg hatte
Phoebe ihrer Schwester vom Pick-up aus ein Handzeichen gegeben.
Sie wollte noch einmal am Pier 17 vorbei und Andy besuchen.

Eigentlich war es Paige gewesen, die auf dem Beifahrersitz so

lange gequengelt hatte, bis Phoebe endlich nachgab. Piper folgte den
beiden in ihrem eigenen Wagen. Nun standen beide Autos direkt vor
dem Tor der alten Lagerhalle.

»Ich möchte mich nur kurz verabschieden«, sagte Paige mit einem

entschuldigenden Schulterzucken. »Immerhin bin ich jetzt ein festes
Mitglied der Filmcrew.«

»Ach ja?« Piper runzelte die Stirn. »Wie kommt das? Jetzt sag

nicht, du spielst auch eine Rolle in diesem Streifen.«

»Nur hinter der Kamera«, grinste Paige. »Ich bin jetzt die

technische Beraterin für Hexenfragen.«

Mit diesen Worten zog Paige die große Schiebetür auf und

schlüpfte hindurch.

Piper blieb fassungslos zurück. »Könnte mir das bitte mal jemand

erklären?«

Phoebe seufzte. Da sonst niemand da war, war mit ›jemand‹ wohl

sie gemeint. Piper würde nicht gerade begeistert sein zu erfahren, dass
Paige ihr Hexenwissen jetzt einer Filmproduktion zur Verfügung
stellte.

Unterdessen durchquerte Paige die Halle mit schnellen Schritten.

Auf der kleinen Bühne herrschte noch buntes Treiben, aber es sah fast
so aus, als würde die Crew ihre Ausrüstung schon wieder
zusammenpacken.

Andy stand mit Pete, dem Kameramann in einer Ecke und

diskutierte. Der junge Regisseur lächelte, als er Paige sah. Dann
stutzte er.

»Paige! Wie siehst du denn aus?«

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»Hm? Was meinst du …?«

Im ersten Augenblick wusste Paige nicht, worauf Andy anspielte.

Dann fiel ihr ein, dass ihr Gesicht von dem Kampf mit dem Flammen-
Dämon noch ganz mit Ruß verschmiert sein musste.

»Oh, äh, das …«, lachte sie verlegen und wischte sich über die

Stirn. »Unser, äh, Wagen ist unterwegs liegen geblieben und ich
musste ein bisschen am Motor rumschrauben.«

Andy und Pete nickten anerkennend. »Jetzt sag nicht, du verstehst

neben dem Okkultismus auch noch etwas von Technik«, grinste Andy.
»Dann kannst du ja demnächst die Nebelmaschine reparieren.«

Bloß nicht, dachte Paige. Ich verstehe von Technik etwa so viel

wie du von Magie.

»Ja, äh, mal sehen. Aber sag mal, seid ihr etwa schon fertig?«

»Für heute schon. Wir hatten nur diese eine Szene auf dem

Drehplan. Und ehrlich gesagt, sind wir etwas nervös geworden, als
wir ganz in der Nähe die Sirenen gehört haben. Wir sind zwar heute
völlig legal hier, aber es ist uns wohl schon in Fleisch und Blut
übergegangen, wegzulaufen, wenn wir Polizeisirenen hören.«

Das war doch nur die Feuerwehr, wollte Paige gerade sagen, biss

sich aber dann auf die Lippen. Andy war kein Dummkopf, und er
würde in Anbetracht ihres verschmierten Gesichts vielleicht erraten
können, dass sie irgendetwas mit dem Feuer zu tun hatte.

»Dreht ihr denn morgen wieder?«, fragte Paige stattdessen.

»Klar. Die nächsten zwei Wochen noch. Wir haben ja gerade erst

angefangen. Bist du dabei? Wir sind morgen wieder hier. Um die
gleiche Zeit.«

Paige strahlte übers ganze Gesicht. »Klar bin ich wieder mit dabei.

Bis Morgen, Andy. Ciao, Pete.«

Die beiden jungen Männer nickten Paige zu und steckten dann

wieder die Köpfe in den Drehplan, den Andy in der Hand hielt.
Erschöpft, aber gut gelaunt, durchquerte Paige die Halle und schritt
durch das Tor ins Freie. Ihre beiden Schwestern warteten schon. Piper
blickte sie streng an. Dann fiel ihr Blick, nicht weniger streng, auf
Phoebe.

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»Paige, Phoebe, ich glaube, wenn wir zu Hause sind, müssen wir

mal über euren neuen Film-Tick reden.«

Ja, Mami, dachte Paige und stieg seufzend zu Phoebe ins Auto.

Kaum waren die drei Hexen vom Parkplatz der Halle

verschwunden, löste sich eine Gestalt aus dem Schatten. In der
Dunkelheit war er mit seinem schwarzen T-Shirt fast unsichtbar
gewesen.

Tim Sorvino, der Puppenbauer, blickte den davonfahrenden Autos

finster hinterher.

»Können Sie mir schon etwas sagen?«

Darryl Morris, Detective des Police Department von San

Francisco, blickte den Gerichtsmediziner erwartungsvoll an. Die
Nachtluft hier im Golden Gate Park war noch schwüler als in der
Stadt. Darryl wischte sich mit einem Taschentuch über die
schweißnasse Stirn. Die Hitzewelle hatte ihn den ganzen Tag lang auf
Trab gehalten. Und jetzt auch noch das.

Doktor Nyang, der Gerichtsmediziner, blickte von der Leiche auf,

die abseits des Hauptweges hinter einem Busch lag.

»Nun ja, die Frau ist tot. So viel kann ich mit Sicherheit schon

einmal sagen.« •

»Sehr witzig«, murmelte Darryl. »Darauf wäre ich auch selbst

gekommen, Doc. Todesursache und Zeit des Todes?«

»Ich kann auch nicht hexen, Detective. Genaueres kann ich Ihnen

erst nach einer Laboruntersuchung sagen.«

Natürlich, dachte der Polizist. Das war der Standard-Satz jedes

Gerichtsmediziners. Wenn es nach den Ärzten ging, würden sie am
liebsten erst dann irgendwelche Aussagen treffen, wenn sie
wochenlange Untersuchungen an den Opfern durchgeführt hatten.
Aber er als Ermittler hatte ganz andere Prioritäten. Der Statistik – und
seiner Erfahrung – zufolge, wurden die meisten Gewaltverbrechen
innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden aufgeklärt. Danach
sanken die Chancen, den Täter zu fassen, beinahe stündlich.

Die Zeit drängte also, wie üblich.

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»Kommen Sie, Doc. Geben Sie mir irgendetwas, womit ich

arbeiten kann.«

Doktor Nyang seufzte. Das aufblitzende Licht der umstehenden

Polizeiwagen spiegelte sich in den Gläsern seiner Brille wider.

»Also schön«, antwortete er fast widerwillig und wandte sich der

Leiche zu. »Das Mordopfer ist weiblich, etwa vierzig Jahre alt, weiß.
Ich würde vermuten, dass der Tod vor etwa, na ja, sagen wir zwanzig
Stunden eingetreten ist. Also irgendwann letzte Nacht. Die große
Hitze der letzten Tage macht eine genauere Bestimmung natürlich
schwierig. Ich muss mich da zunächst mal auf die Hinweise meiner
kleinen Helfer verlassen.«

»Kleine Helfer?«, fragte Darryl erstaunt. Von was zum Teufel

redete der Mann?

»Nun ja, bereits wenige Minuten nach dem Tod eines Menschen

werden eine Vielzahl kleinerer Insekten von der Leiche angelockt.
Besonders im Freien. Einige davon benutzen unsere sterblichen
Überreste, um ihre Eier darin abzulegen. An der Art des
Insektenbefalls lässt sich der Todeszeitpunkt relativ präzise ablesen.
Diese kleinen Racker sind wahre Präzisionsarbeiter. Schauen Sie hier
– da haben sich bereits ein paar Larven der –«

Detective Morris winkte ab. Mehr wollte er gar nicht wissen.

»Doc, bitte ersparen Sie mir diese Details. Die Frau ist also etwa

seit zwanzig Stunden tot?«

»So sieht's aus.«

Darryl machte sich ein paar Notizen in einen Block. Na großartig.

Damit war die Vierundzwanzig-Stunden-Frist beinahe abgelaufen.
»Und was ist mit Todesursache und Tatwaffe?«

Doktor Nyang zögerte. Und das machte Darryl stutzig. Der

Detective ahnte nichts Gutes.

»Tja, das ist ein wenig seltsam, Detective«, antwortete der

Leichenbeschauer schließlich und deutete auf die Füße der toten Frau,
die mit dem Bauch auf dem Boden lag. »Sehen Sie diese kleinen
Einstiche im Bereich der Füße und Unterschenkel?«

Darryl blickte genauer hin. Der Tatort wurde von den

Scheinwerfern der umstehenden Polizeiwagen beleuchtet. Das flach

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einfallende Licht warf lange Schatten auf den Boden und das
Mordopfer. Der Detective hatte diese seltsamen, kleinen Verletzungen
tatsächlich noch nicht bemerkt.

»Ja, jetzt, wo Sie's sagen. Was ist denn das?«

Doktor Nyang kratzte sich am Hinterkopf. »Ich würde meinen, es

handelt sich dabei um kleine Einstiche, die mit einem sehr scharfen
Präzisionswerkzeug verursacht wurden. Möglicherweise einem
Skalpell oder so etwas.«

Darryl schüttelte den Kopf. »Und warum an den Füßen?«

»Wie es aussieht, hat der Angreifer gezielt auf die Beine

eingestochen, um ein paar Sehnen und Muskeln zu verletzen. So
lange, bis das Opfer nicht mehr in der Lage war, wegzulaufen.«

»Mein Gott«, murmelte Darryl. Wie grausam.

Nyang fuhr fort und deutete auf den Rücken der toten Frau. »Und

nachdem sie erst einmal bewegungsunfähig war, hat der Mörder ihr
mit demselben, kleinen Instrument den Rest gegeben. Ich zähle hier
mindestens zwanzig bis dreißig kleine Einstiche, durch die diverse
innere Organe verletzt wurden. Und das ziemlich gezielt. Der Mörder
kannte sich mit der menschlichen Anatomie scheinbar gut aus und
wusste, was er tat.«

Die arme Frau, dachte Darryl. In seiner Karriere als Polizist hatte

er schon einige Mordopfer gesehen, aber der Fund einer Leiche ging
ihm jedes Mal unter die Haut. Besonders, wenn das Opfer unter so
grausamen Umständen ums Leben gekommen war wie in diesem Fall.

»Aber warum so viele kleine Einstiche, Doc?«, fragte Darryl

schließlich. »Wäre ein großes, normales Messer nicht viel einfacher
gewesen?«

Nyang zuckte mit den Schultern. Dann stand er wieder auf und

nickte einem seiner Assistenten zu. Der junge Mann warf ein weißes
Tuch über die Leiche.

»Natürlich, Detective. Aber vielleicht hatte der Täter kein anderes

Mordwerkzeug zur Hand. Obwohl ich es für unwahrscheinlich halte,
dass jemand mit einem Skalpell in der Tasche durch den nächtlichen
Park läuft. Es sei denn, er hat auch vor, es zu benutzen. Wenn Sie
mich fragen … ein Ritualmord.«

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Darryl Morris stöhnte innerlich auf. Auch das noch. Der Alptraum

jedes Polizisten. Ritualmörderwaren schwer zu fassen, da ihnen ein
normales Motiv wie Eifersucht oder Habgier fehlte. Und außerdem
war so etwas ein gefundenes Fressen für die Presse. Gerade in der
sommerlichen Saure-Gurken-Zeit, in der sonst nichts passierte. Der
Polizeichef würde ihm die Hölle heiß machen, wenn das hier
tatsächlich das Werk eines verrückten Ritualmörders war. Sein
verlängertes Wochenende und den geplanten Segeltörn würde er wohl
vergessen können.

Mit einem schnappenden Geräusch zog sich Doktor Nyang die

Gummihandschuhe aus. Dann reichte er Darryl die Hand.

»Viel Glück, Detective. Sie werden es brauchen können. Sobald

ich weitere Ergebnisse habe, lasse ich es Sie wissen. Gute Nacht.«

»Gute Nacht, Doktor Nyang«, erwiderte Darryl.

Vor allem würde es eine lange Nacht werden.

Piper saß todmüde hinter dem Steuer und passierte gerade den

Golden Gate Park, als ihr das blaue Aufblitzen auffiel. Ein paar
Polizeiwagen rollten gerade mit Schrittgeschwindigkeit aus dem Park
und folgten dem großen Wagen des städtischen Leichenbeschauers.

»Oh-Oh«, murmelte Piper zu sich selbst. »Sieht aus, als hätte es

hier ein Verbrechen gegeben.«

Als sie eine Gestalt sah, die müde und mit hängenden Schultern

über den Bürgersteig schlurfte, verringerte sie ihr Tempo.

Das war Darryl Morris, ihr Freund vom Polizeipräsidium. Er war

wohl gerade auf dem Weg zu seinem Privatwagen, der am Rande des
Parks abgestellt war.

Piper setzte den Blinker und fuhr an den Straßenrand. Im

Rückspiegel konnte sie sehen, dass der Pick-up mit Phoebe und Paige
ihr folgte. Dann kurbelte sie das Seitenfenster herunter.

»Darryl, hallo!«, rief sie und schaltete den Motor aus. »Was

machst du denn noch hier?«

Darryl blickte überrascht auf. Als er Piper erkannte, huschte der

Anflug eines Lächelns über sein Gesicht. »Hallo Piper!« Dann fiel

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sein Blick auf den Pick-up, aus dem Phoebe und Paige gerade
ausstiegen.

»Ist ja wirklich zauberhaft, euch zu treffen. Aber eigentlich sollte

ich euch verhaften. Drei Personen in zwei Autos – wir haben Smog-
Alarm der Stufe zwei, falls ihr es noch nicht bemerkt habt«, sagte er
zum Scherz.

Dann stutzte er, als er die immer noch rußverschmierten Gesichter

der drei Hexen bemerkte. »Aber dass der Smog schon so schlimm ist,
war selbst mir nicht klar …«

»Oh, das«, grinste Piper und wischte sich etwas Ruß aus dem

Gesicht. »Das ist nur ein kleines Andenken an eine kleine
Fabrikbesichtigung. War eine heiße Nacht.«

Darryl nickte nur. Er wusste vom geheimen Hexen-Job der drei

jungen Frauen, auch wenn er es manchmal gar nicht so recht glauben
konnte. Es war besser, nicht nachzufragen, gegen welche Kreaturen
die drei Zauberhaften jetzt schon wieder gekämpft hatten.

Aber dann kam ihm eine Idee.

»Hört mal, ich habe es gerade offensichtlich mit einem verrückten

Ritualmörder zu tun. Er hat gestern Nacht eine Frau mit ein paar
Dutzend winzigen Messerstichen getötet, direkt hier im Park.« Darryl
deutete mit einer Handbewegung über seine Schulter.

»Oh, Gott, wie entsetzlich«, sagte Paige. »Die Arme!«

Darryl nickte. »Allerdings. Ich frage mich, ob ihr mir vielleicht

helfen könntet. Wenn es ein Ritualmord war, dann gibt es vielleicht
auch okkulte Hintergründe. Und das fällt ja in euer Fachgebiet.«

»Verstehe«, nickte Piper ernst. »Du möchtest, dass wir mal im

Buch der Schatten nachsehen. Können wir gerne machen, Darryl.«

»Danke, das ist nett von euch. Obwohl das Ganze wahrscheinlich

nur das Werk eines Irren ist. Aber ich will alle Möglichkeiten
ausschöpfen, um diesen Fall zu klären. So schnell wie möglich.«

»Meinst du, der Kerl schlägt noch mal zu?«, fragte Phoebe.

»Der Kerl oder die Frau«, nickte der Detective. »Ich will es nicht

hoffen, aber möglich ist es. Diese Hitze macht die Leute verrückt.
Offensichtlich im wahrsten Sinne des Wortes.«

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»Wir befragen das Buch der Schatten gleich morgen früh und

lassen dich wissen, wenn wir etwas herausgefunden haben, Darryl.«

Piper reichte dem Detective die Hand. Die anderen beiden

verabschiedeten sich mit einem Winken und stiegen wieder in den
Pick-up.

»Danke, ich weiß das zu schätzen«, rief Darryl den Hexen

hinterher. »Und denkt dran – teilt euch demnächst ein Auto, wenn es
geht.«

Kaum zwanzig Minuten später erreichten die drei Hexen das

Halliwell-Haus. Nach einer kleinen Auseinandersetzung darüber, wer
zuerst die Dusche benutzen durfte, fielen sie kurz darauf in ihre
Betten.

Trotz der schwülen Nachtluft schliefen Piper, Phoebe und Paige

fast augenblicklich ein.

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9

A

LS PAIGE AM NÄCHSTEN MORGEN die Küche des

Halliwell-Hauses betrat, durchzog bereits der Duft von frischem
Kaffee das Haus. Obwohl die Sonne noch tief am Morgenhimmel
stand, musste die Temperatur bereits wieder niemals fünfundzwanzig
Grad betragen.

»Guten Morgen, Paige«, sagte Phoebe und kaute weiter an ihrem

Obstsalat.

Paige blickte mit großen Augen auf die Schüssel und setzte sich

neben ihre Halbschwester an den Küchentisch. Sekunden später
schaufelte sie sich bereits ein paar Löffel von dem Obstsalat in eine
Dessertschale. »Bei diesem Wetter geht doch nichts über frisches
Obst.«

»Stimmt«, schmatzte Phoebe. »Piper hat ihn gemacht. Wir haben

echt Glück, dass unsere Schwester so eine Frühaufsteherin ist.«

Paige nickte und probierte einen Löffel von dem Salat. Er war –

wie zu erwarten – köstlich.

»Wo steckt Piper eigentlich?«, fragte sie zwischen zwei Bissen.

Phoebe deutete mit einer Handbewegung Richtung Flur. »Oben,

auf dem Dachboden. Sie schaut im Buch der Schatten nach, ob sie
irgendetwas über diesen seltsamen Mord herausfinden kann. Wie sie
es Darryl versprochen hat.«

»Scheußliche Sache«, murmelte Paige, ohne dass die Erinnerung

an Darryls Bericht ihr den Appetit zu rauben schien. »Hoffentlich
findet sie eine Spur und …«

Phoebe hob eine Hand. »Sei mal kurz ruhig, bitte«, sagte sie und

blickte auf das kleine Küchenradio über der Spüle. »Da laufen gerade
Nachrichten.«

Tatsächlich verlas der Nachrichtensprecher eines lokalen Senders

gerade die neuesten Meldungen aus der Bay Area.

»… handelt es sich bei der ermordeten Frau um Cynthia Rosswell,

eine Bürgerin von San Francisco. Die Polizei hat offenbar noch keine
heiße Spur, was Tatmotiv oder Täter angeht. Ebenfalls ungeklärt ist

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auch die Ursache eines Großbrandes in einer Stahlgießerei am
Hafenviertel. Das Gebäude brannte fast völlig nieder. Ein
Nachtwächter, der bei dem Feuer leicht verletzt wurde, ist heute
Morgen bereits wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden …«

»Gott sei Dank«, murmelte Paige zufrieden.

»… und heiß hergeht es auch am Wochenende, Leute!«

Der Radiosprecher hatte seinen seriösen Tonfall wieder abgelegt

und schwatzte nun wieder mit professioneller guter Laune ins
Mikrofon.

»Unsere Wetterfrösche melden, dass die Hitze an diesem

Wochenende voraussichtlich ein neues Rekordhoch erreichen wird.
Eine Abkühlung ist vorerst nicht in Sicht. Deshalb wenigsten von
unserer Seite eine kleine Abkühlung von ›Cool and the Gang‹ mit …«

Phoebe stand auf und drehte das Radio leiser. Auf dem Rückweg

zum Küchentisch griff sie nach der Kaffeekanne und schenkte Paige
dann eine Tasse voll ein.

»Meinst du, dass Piper da oben etwas über diesen Mord

herausfindet?«, fragte Paige.

»Keine Ahnung«, antwortete Phoebe mit einem Schulterzucken.

»Warten wir es ab.«

Piper Halliwell schnaufte. Hier oben auf dem Dachboden hatte sich

die Hitze der vergangenen Tage aufgestaut wie in einer Sauna. Und
genauso kam sie sich auch vor. Seit einer halben Stunde blätterte sie
nun schon im Buch der Schatten – bislang ohne Ergebnis.

Natürlich gab es eine Menge Eintragungen über okkulte

Ritualmorde. Piper bekam trotz der Hitze eine Gänsehaut, wenn sie
las, was Menschen ihren Mitmenschen alles antaten, um die Mächte
des Bösen zu beschwören. Dabei ging dieser Schuss in den
allermeisten Fällen nach hinten los.

Trotzdem hatte sie nichts über einen Ritualmord gefunden, der zu

dem Tathergang des Mordes im Park passte.

Wahrscheinlich hatte Darryl mit seiner Vermutung Recht: Das

Ganze war nur das Werk eines Irren gewesen.

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Obwohl das natürlich schlimm genug war, spürte Piper doch eine

gewisse Erleichterung. Zumindest lief da draußen wahrscheinlich kein
verblendeter Wahnsinniger umher, der andere Menschen tötete, um
einen Dämon zu beschwören.

Piper wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn und

klappte das Buch der Schatten zu. Sie konnte hören, wie ihre beiden
Schwestern sich in der Küche unterhielten. Wenn sie sich nicht
beeilte, würden die beiden den Fruchtsalat alleine vertilgen.

Mit einem Grinsen im Gesicht schloss sie die Dachbodentür hinter

sich zu und ging die Treppe hinunter. Mit jeder Stufe wurde es ein
wenig kühler. Unten im Flur war die Temperatur auszuhalten, aber das
würde sich ändern, wenn erst einmal die Mittagssonne auf das Haus
knallte.

Piper hatte sich vorgenommen, an diesem Samstag das Haus ein

wenig herauszuputzen. Also sollte sie möglichst bald damit anfangen,
bevor die Hitze wieder unerträglich wurde. Mit der Hilfe ihrer
Schwestern würde sie wahrscheinlich nicht rechnen können. Aber es
gab ja da noch einen gewissen Wächter des Lichts, der
praktischerweise auch noch ihr Ehemann war. Zum Glück ahnte er
noch nicht, dass Piper ihn heute als Putzmann eingeteilt hatte.

»Guten Morgen, Mädels«, grüßte Piper, als sie die Küche betrat.

Phoebe und Paige blickten kauend auf. »Hi, Piper«, riefen sie wie

aus einem Mund.

Piper blickte mit einer hochgezogenen Augenbraue auf die

Schüssel mit dem Obstsalat. Viel war tatsächlich nicht mehr darin. Die
älteste der Halliwell-Schwestern nahm sich eine Dessertschale und
schaufelte sich den Rest des Obstsalates hinein. Wie immer hatten ihre
beiden Schwestern die delikatesten Obststückchen – die Kiwi-,
Mango- und Pfirsich-Scheiben – gezielt herausgefischt.

»Hast du im Buch der Schatten etwas herausgefunden?«, fragte

Phoebe interessiert.

»Nein, leider nicht.« Piper schüttelte den Kopf. »Ich werde gleich

Darryl anrufen und ihm Bescheid geben. Aber sagt mal, ihr habt nicht
zufällig Lust, mir beim Hausputz zu helfen, oder?«

Paige verschluckte sich vor Schreck an ihrem Obstsalat. »Um

Gottes willen … äh, ich meine, tut mir Leid, Piper. Ich muss dringend

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noch ein paar Sachen im Internet recherchieren. Wegen meinem neuen
Job als Beraterin für ›Scream X-Treme‹, weißt du?«

»Und ich wollte gleich in die Stadtbibliothek. Ich möchte mir ein

bisschen Literatur über das Filmemachen besorgen. Ich finde das
Ganze wahnsinnig interessant.«

Piper kaute auf ihrem Obstsalat und blickte ihre Schwestern dann

streng an. »Darüber wollte ich sowieso noch mit euch reden. Es ist ja
schön, dass ihr ein neues Hobby entdeckt habt, aber ich glaube, die
ganze Filmerei ist euch ein wenig zu Kopf gestiegen.«

»Besonders ein gewisser, süßer Regisseur, stimmt's, Paige?«,

fragte Phoebe dazwischen und grinste ihre jüngere Halbschwester
schnippisch an.

»Nur kein Neid«, gab Paige zurück. Sie benutzte ihren

Dessertlöffel als Katapult und schoss einen Kirschkern in Phoebes
Richtung.

Bevor Phoebe darauf angemessen reagieren konnte, hob Piper die

Hände.

»Im Ernst, ihr Zwei. Denkt daran, dass unsere Aufgaben als Hexen

in jedem Fall wichtiger sind. Ich möchte nicht, dass der nächste
Dämon die halbe Stadt in Schutt und Asche legt, nur weil ihr euch
gerade auf einem Filmset herumtreibt und nicht erreichbar seid,
okay?«

»Alles klar«, erwiderte Phoebe. »Die Dreharbeiten zu ›Scream X-

Treme‹ dauern ja nur noch zwei Wochen. Und wenn wir auf dem Set
sind, lassen wir unsere Handys auf jeden Fall eingeschaltet.«

»Versprochen«, stimmte Paige zu.

Piper leerte erleichtert ihre Dessertschale. »Okay. Aber vergesst es

bitte nicht. Und jetzt verschwindet ihr besser. Es wird Zeit für meinen
Hausputz!«

Lachend sprangen Paige und Phoebe auf und verließen fluchtartig

die Küche.

»Lauft! Lauft!«, rief Paige übertrieben theatralisch. »Die

Staubhexe ist hinter uns her.«

»Hoffentlich hat sie ihren Zauberbesen dabei«, lachte Phoebe.

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Piper blickte ihren beiden Schwestern grinsend hinterher.

Zauberbesen?, dachte sie. Da habe ich etwas viel Besseres …

»Leo!«

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10

D

IE KLIMAANLAGE DER STADTBIBLIOTHEK in der

Larkin Street arbeitete auf Hochtouren. Trotzdem konnte sie nicht viel
mehr tun, als die warme Luft im Inneren der ehrwürdigen Hallen
umzuwälzen. Besonders hier, im Computerraum der Bibliothek, war
die Luft stickig und trocken. Die Wärme der Rechner und ihrer
Bildschirme heizte sie zusätzlich auf.

Paige und Phoebe waren gemeinsam zur Bibliothek gefahren.

Während Phoebe irgendwo nebenan die Kataloge nach Büchern über
das Filmemachen durchwühlte, stellte Paige über das Internet ihre
eigenen Recherchen an. Dank dem Netz der Netze war es heute zum
Glück kein Problem mehr, etwas über Filme und Filmschaffende zu
erfahren. Ein einfacher Suchbefehl bei www.imdb.com, der »Internet
Movie Database« hatte Paige zu einer kompletten Film-Biografie von
Andy Stewart geführt. Der süße Regisseur von ›Scream X-Treme‹
hatte noch nicht allzu viel gedreht, dieser Film war wohl tatsächlich
seine erste, größere Produktion. Zuvor hatte er nur bei ein paar
Studentenfilmen und Werbespots Regie geführt.

Pikanterweise war einer dieser Spots eine Werbung für

»Smootchie-Hundekuchen« gewesen. Und neben einem Königspudel
war der menschliche ›Star‹ dieser kleinen Produktion eine gewisse
›Maggie Pilfinger‹ gewesen, die sich kurz darauf in ›Virginia
Fontaine‹ umbenannt hatte. Die Hauptdarstellerin von ›Scream X-
Treme‹.

Paige musste schmunzeln. Wenn diese aufgeblasene Pute das

nächste Mal wieder mit ihren Star-Allüren nervte, würde sie Miss
Pilfinger an ihre wenig ruhmreiche Vergangenheit erinnern.

Aber noch erstaunlicher war, dass irgendein fleißiger Film-Freak

schon ein paar Informationen über ›Scream X-Treme‹ in der Internet-
Datenbank gepostet hatte. Die Namen der meisten Schauspieler neben
Virginia alias Maggie sagten Paige gar nichts, nur der Name Gustav
Landreau ließ irgendwelche Glöckchen in ihrem Kopf läuten.
Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.

Die Tastatur klackerte, als Paige diesen Namen in das Suchfenster

des Internet-Browsers eingab. Sekunden später wurden ihr gleich ein

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paar Dutzend Webseiten angezeigt, die sich mit Mister Landreau
beschäftigten.

Kein Wunder – nachdem Paige das erste Bild dieses Mannes sah,

wusste sie auch warum. Das digitalisierte Foto zeigte einen gut
aussehenden, dunkelhaarigen Mann mit einem typischen 40er-Jahre-
Gesicht, der neben einer altmodischen Kamera stand und einem
Schauspieler im Werwolf-Kostüm irgendwelche Anweisungen gab.

Natürlich! Gustav Landreau war einer der berühmtesten Grusel-

Regisseure des alten Hollywood gewesen. Erst neulich hatte Paige
einen seiner Werwolf-Filme im Fernsehen gesehen. Mit der
Computermaus ließ Paige die Seite über den Bildschirm gleiten. Im
unteren Teil waren alle Filme von Landreau aufgeführt. Es mussten
Dutzende sein. Und den Titeln nach waren alle gängigen Filmmonster
vertreten: Dracula, Werwölfe, Frankenstein, die Mumie und noch
einige andere. Der abgedruckten Biografie zufolge war Landreau
Mitte der 30er Jahre – wie viele andere Regisseure auch – vor den
Nazis aus Europa geflohen und hatte seine Karriere in Hollywood
fortgesetzt. Bis in die 60er Jahre hinein hatte er scheinbar jedes Jahr
zwei oder mehr Filme gedreht. Danach wurde die Liste der Filme
kürzer. Wahrscheinlich, so dachte Paige, war Landreau wie viele
seiner Kollegen ein Opfer des Fernsehens geworden.

Und nun spielte er eine Gastrolle in Andy Stewards ›Scream X-

Treme‹. Was für eine schöne Idee: Eine Legende des Gruselfilms trat
im Erstlingswerk eines hoffnungsvollen Jungregisseurs auf – der dazu
noch von den lebendig gewordenen Horror-Kreaturen des Altmeisters
handelte.

Paige klickte auf das ›Drucken‹-Symbol des Web-Browsers. Sie

musste Phoebe unbedingt zeigen, was sie herausgefunden hatte.

Im selben Augenblick streckte Phoebe im Freihandmagazin der

Bibliothek die Hand nach einem Buch aus, das ganz oben im Regal
einsortiert worden war. Vergeblich. Es stand einfach zu hoch.
Vorsichtig blickte sie sich um. Konnte sie es wagen, ihre Kräfte
einzusetzen, um einen kleinen Luftsprung zu machen?

In diesem Augenblick bog ein junger Mann um das Regal, vor dem

sie stand. Er lächelte Phoebe an.

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»Warte, ich helfe dir.«

Der junge Mann war mindestens zwei Köpfe größer als Phoebe

und zog das Buch mit Leichtigkeit aus dem Regal. Er musste sich
dazu nicht mal auf die Zehenspitzen stellen. Dann warf er einen Blick
auf den Titel, bevor er es an Phoebe weiterreichte.

»Oh, ›100 Wege zum perfekten Hollywood-Script‹. Bist du

Drehbuch-Autorin?«

Phoebe errötete ein wenig. »Ah, nein. Aber ich interessiere mich

sehr dafür. Und ich habe selbst eine Menge Dinge erlebt, aus denen
man bestimmt einen guten Film machen könnte.«

Der junge Mann lächelte Phoebe immer noch an. Seine dunklen

Haare waren kurz geschnitten, und er trug ein gut sitzendes Karo-
Hemd, unter dem sich ein muskulöser Oberkörper abzeichnete.

»Das ist gut. Man sollte immer über Dinge schreiben, die man

kennt«, erwiderte er.

Na toll, dachte Phoebe. Dann ist mir ja eine Karriere als Autorin

von Horrorfilmen sicher.

Der nette junge Mann hielt Phoebe lächelnd die Hand hin. »Ich

heiße übrigens Thomas. Ich bin selber Filmstudent.«

»Ach, wirklich?«, fragte Phoebe ehrlich interessiert. »Vielleicht

kannst du mir bei Gelegenheit ja mal ein paar Tipps geben.«

»Nur zu gern«, erwiderte Thomas. Phoebe wollte ihn gerade

fragen, ob er schon an irgendwelchen Produktionen mitgewirkt hatte,
als Paige um die Ecke bog. In ihrer Hand hielt sie einen
Computerausdruck.

»Hey, Phoebe«, rief sie. Dass sie sich in einer öffentlichen

Bibliothek befand, schien sie nicht weiter zu stören. »Sieh mal, was
ich hier gefunden habe …«

Paige stutzte einen Augenblick, als sie Thomas an Phoebes Seite

sah. »Oh, hallo. Ich bin Paige, Phoebes Schwester. Äh, ich störe doch
nicht, oder?«

Phoebe und Thomas schüttelten hastig den Kopf.

»Nein, gar nicht.«

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»Na, dann ist ja gut.« Paige hielt ihrer Schwester den

Computerausdruck hin.

»Was ist denn das?«, fragte Phoebe und blickte auf das Blatt.

»Ein paar Informationen, die ich über Andys Film gefunden habe.

Er hat als Gaststar einen alten Regisseur angeheuert, Gustav
Landreau.«

Phoebe sagte der Name gar nichts, aber Thomas blickte erstaunt

auf. »Landreau? Meine Güte, ich wusste gar nicht, dass der Mann
noch lebt. Der muss ja mittlerweile steinalt sein.«

Der junge Filmstudent schüttelte amüsiert den Kopf. Dann stutzte

er, als er auf den Zettel blickte, den inzwischen Phoebe in der Hand
hielt. »Ach, ist das der Film von Andy Stewart? Dann hat er ja
tatsächlich genug Geld zusammengeschnorrt, um endlich sein Projekt
zu realisieren.«

Phoebe blickte den Studenten erstaunt an. »Du kennst Andy?«

»Na ja, ›kennen‹ ist zu viel gesagt. Wir haben früher an der

Filmhochschule ein paar Regiekurse zusammen besucht. Und uns eine
Zeit lang in denselben Kneipen herumgetrieben und über Filme
diskutiert. Aber irgendwann hat er angefangen, sich komisch zu
benehmen und dann habe ich ihn aus den Augen verloren.«

Paige blickte Thomas enttäuscht an. Sie hatte schon gehofft, durch

ihn vielleicht ein bisschen mehr über Andy zu erfahren. Aber was
meinte er mit ›er hat angefangen, sich komisch zu benehmen‹? Bevor
sie nachfragen konnte, blickte Phoebe auf ihre Armbanduhr.

»Mensch, Paige, wir müssen langsam los. Ich würde mich auf dem

Set von ›Scream X-Treme‹ gerne noch etwas umsehen, bevor die
Dreharbeiten beginnen.«

»Na, dann grüßt Andy mal schön von mir«, sagte Thomas. Dann

schrieb er etwas auf einen Zettel und reichte ihn Phoebe.

»Hier, meine Telefonnummer. Wenn du magst, kannst du mich ja

mal anrufen, wenn du Fragen zum Thema Filmemachen hast.«

Thomas lächelte Phoebe noch einmal an und verabschiedete sich

dann. Ein paar Sekunden später war er schon wieder irgendwo
zwischen den Reihen der Bücherregale verschwunden.

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»Netter Junge«, sagte Paige und knuffte ihrer Schwester den

Ellbogen in die Rippen. »An deiner Stelle würde ich ihn gleich
nächste Woche mal anrufen.«

Phoebe grinste und machte ein paar Schritte zu einem Tisch, auf

dem ein großer Stapel Bücher lag. Ihre Ausbeute. Sie nahm ein paar
davon und drückte sie Paige in die Arme.

»An deiner Stelle würde ich erst mal ein paar hiervon zur

Ausgabestelle tragen, Schwesterherz.«

Leo seufzte und stellte den Wischmob in die Ecke. »Wie wäre es

mit einer Pause, Piper?«, fragte er erschöpft.

Piper Halliwell grinste. Sie hatte gar nicht gewusst, dass ein

Wächter des Lichts so schwitzen konnte. Na gut, zugegeben, sie waren
jetzt auch schon seit Stunden dabei, das Haus zu putzen und die Sonne
stand mittlerweile hoch am Himmel. Sie selbst konnte langsam eine
Pause gebrauchen. »Aber erst noch den Flur wischen, Leo«, sagte sie
und lächelte ihren Ehemann mit Unschuldsmiene an. »Du wirst doch
nicht schon schlapp machen, du großer starker Wächter des Lichts?«
Dann deutete sie auf den Wischeimer, der schon im Flur bereitstand.

Leo seufzte. »›Oh, du Ausgeburt der Hölle!‹«, zitierte er aus

Goethes ›Zauberlehrling‹.« »›Soll das ganze Haus ersaufen? Seh ich
über jede Schwelle doch schon Wasserströme laufen.‹«

»Sehr witzig«, grinste Piper und reichte ihrem erschöpften

Ehemann ein Glas Eistee. »Ich mache dir einen Vorschlag, du
Putzteufel – du schrubbst noch den Flur hier unten, ich staube auf dem
Dachboden ab und dann treffen wir uns auf halbem Weg in meinem
Zimmer und …«

Piper flüsterte ihrem Ehemann etwas ins Ohr. Leo riss die Augen

auf. Dann schnappte er sich den Wischmob und begann, wie besessen
damit, das Parkett zu schrubben. »Worauf wartest du noch?«, fragte er
augenzwinkernd. »Ab an die Arbeit, damit wir fertig sind, bevor deine
Schwestern wieder zurück sind.«

Piper blickte vom Treppenabsatz noch einmal zurück. »Keine

Sorge, Leo. Die beiden fahren nachher noch auf das Set von diesem
albernen Film und sind vor heute Abend nicht zurück.«

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Sie lächelte Leo verführerisch an.

»Wir haben also den ganzen Tag für uns.«

Paige steckte den Kopf aus dem Fenster des Pick-ups, um sich

durch den Fahrtwind etwas Abkühlung zu verschaffen. Der
Radiomoderator hatte heute Morgen Recht gehabt. Es war tatsächlich
noch heißer geworden.

Phoebe kannte mittlerweile den Weg zum Pier 17 und steuerte den

Wagen auf den Platz der alten Lagerhalle. Ein paar andere Autos
standen bereits auf dem Parkplatz. Es waren ausschließlich ältere
Modelle mit diversen Kratzern und Rostbeulen. Hollywood-
Limousinen wie man sie vom Fernsehen her kannte, suchte man am
Set von ›Scream X-Treme‹ vergeblich. Bis auf eine Ausnahme.

»Schau mal da«, sagte Phoebe verwundert und deutete auf einen

schwarzen Mercedes, der zwischen den ausgebeulten Klapperkisten
stand. Der Luxuswagen war so auf Hochglanz poliert, dass sein
makelloser, schwarzer Lack die Sonnenstrahlen reflektierte.

»Du meine Güte«, staunte nun auch Paige. »Hat da jemand im

Lotto gewonnen? Die Kiste hat ja bestimmt mehr gekostet als die
ganzen Dreharbeiten. Wem der wohl gehört?«

»Keine Ahnung«, antwortete Phoebe, als die beiden Schwestern

ausstiegen. Die wenigen Parkplätze im Schatten des Gebäudes waren
leider alle schon belegt gewesen. Der Pick-up stand in der prallen
Sonne und würde in ein paar Stunden der reinste Backofen sein.
»Aber wir werden es sicher herausfinden.«

Phoebe und Paige schritten auf die Lagerhalle zu. Im Inneren

würde es hoffentlich wieder etwas kühler sein. Mit einem Ruck zog
Phoebe das Schiebetor auf.

Im nächsten Augenblick zuckten die beiden Schwestern

erschrocken zusammen.

Eine hagere, runzlige Gestalt stand auf der anderen Seite der Tür

und blickte sie aus schwarzen Augen an. Mit seinen grauen Haaren
und dem strengen, schwarzen Anzug sah der Mann aus wie ein
Totengräber.

»Kann ich Ihnen helfen, Ladies?«, fragte der Fremde und grinste.

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11

P

HOEBE UND PAIGE BLICKTEN die seltsame Gestalt

erschrocken an. Eine Sekunde lang wussten sie nicht, was sie sagen
sollten.

Dann erkannte Paige den Mann wieder. Sie hatte gerade erst sein

Bild in der Hand gehabt. Das war …

»Mister Landreau!«, rief eine Stimme aus dem Inneren der Halle.

»Da sind Sie ja. Und Sie haben Paige und Phoebe bereits kennen
gelernt.«

Es war Andy Stewart, der da angelaufen kam. Überschwänglich

stellte er die beiden Hexen und den alten Mann einander vor. »Mister
Landreau ist der Gaststar der heutigen Szene. Ich weiß nicht, ob ihr
ihn kennt. Er ist ein berühmter …«

»… Regisseur von Horrorfilmen, ich weiß«, antwortete Paige und

schüttelte die Hand des alten Mannes. Seine Haut fühlte sich rau und
trocken an, wie uraltes Pergament. »Freut mich, Sie kennen zu lernen,
Mister Landreau.«

Auch Phoebe schüttelte die Hand des alten Mannes. »Wie geht es

Ihnen, Sir?«

Landreau winkte ab. »Ach, die Hitze macht mir natürlich zu

schaffen. Und wenn es nicht die Hitze ist, dann ist es die Kälte. Oder
der Regen. Aber solange wir alten Leute etwas zu klagen haben,
können wir nicht klagen.«

Die Mundwinkel des alten Mannes verzogen sich zu einem

Grinsen. Einen Augenblick lang fürchtete Paige, dass seine
Pergamenthaut dabei reißen könnte.

»Kommt mit, Leute, wir wollen anfangen. Wir haben heute eine

Menge vor.« Überschwänglich ging Andy zurück zum Set und
bedeutete den anderen, ihm zu folgen.

»Dein Andy ist ja ganz aufgedreht«, flüsterte Phoebe ihrer

Schwester zu und grinste.

»Er ist nicht ›mein‹ Andy. Na ja, zumindest noch nicht. Aber du

hast Recht, er ist wirklich ganz aufgekratzt. Warum auch nicht?

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Schließlich hat man auch nicht jeden Tag eine lebende Legende zu
Gast.«

Die beiden Schwestern folgten Andy und Landreau, die schon ein

Stück vorgegangen waren. »Obwohl ich zugeben muss, dass mir
dieser alte Knacker irgendwie unheimlich ist«, flüsterte Paige im
Gehen.

Phoebe nickte stumm. Ihr ging es ganz ähnlich. Und etwas war

seltsam gewesen. Neben ihrer Hexenkraft, die es ihr ermöglichte, zu
schweben, verfügte sie auch über die Gabe, Visionen zu empfangen.
Normalerweise konnte sie damit einen kurzen Blick auf eine mögliche
Zukunft werfen. Aber es gab noch einen anderen Effekt, über den sie
nie groß geredet hatte. Wann immer sie einen Menschen zum ersten
Mal berührte, spürte sie so etwas wie die Vibration seiner Seele. Es
war wie ein winziger, nicht unangenehmer Stromstoß, ein sanftes
Kribbeln, das bei jedem anders und unverwechselbar war.

Bei Landreau hatte sie gar nichts gespürt.

Mmh, murmelte sie vor sich hin. Wahrscheinlich hatte das gar

nichts zu bedeuten. Trotzdem spürte Phoebe ein leichtes Frösteln, das
nicht nur von der kühlen Luft hier in der Lagerhalle herrührte.

Am Rand der kleinen Bühne war bereits alles für den Dreh

vorbereitet. Gustav Landreau stand mit einem Drehbuch in der Hand
neben Andy und nickte. Wahrscheinlich erklärte der Regisseur ihm
gerade noch einmal seine Rolle.

»… und Sie treten dann auf diesen Altar zu und erwecken die

Werwolf-Puppe mit einem Zauber zum Leben. Alles klar, Mister
Landreau?«, hörten die beiden Schwestern, als sie näher traten.

Der alte Mann nickte. Dann fiel sein Blick auf eine winzige

Gestalt, die sich von der Seite der Bühne näherte.

Es war ein Miniatur-Werwolf.

»Ah, da kommt ja auch der eigentliche Star dieser Szene!«, rief

Landreau begeistert. Sekunden spätertauchte ein junger, blasser Mann
in einem schwarzen T-Shirt auf. Tim Sorvino. Er hielt eine kleine
Fernbedienung in der Hand, mit der er die Figur des Werwolfs
steuerte.

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Paige schluckte. »Meine Güte, Phoebe – kein Wunder, dass du

diese Mumie neulich für echt gehalten hast. Schau dir nur an, wie sich
der Kleine bewegt. Das sieht absolut realistisch aus.«

Wie auf Kommando blieb der kleine Werwolf stehen, drehte den

Kopf und knurrte Phoebe mit einer Grimasse an. Es klang wie das
Knurren eines Hundes. Eines sehr bösartigen, kleinen Hundes.

Instinktiv machten die beiden Schwestern einen Satz zurück. Tim

Sorvino, der diese Aktion des Werwolfs mit seiner Fernbedienung
gesteuert hatte, lächelte zufrieden. Er hatte offensichtlich gehofft, dass
die beiden jungen Frauen so reagierten.

»Sehr witzig«, knurrte Phoebe.

Im selben Augenblick kniete sich Landreau mit knirschenden

Knochen vor der Werwolf-Figur hin und strich ihr bewundernd über
das Fell. »Wirklich ganz großartig«, lobte er Sorvino. »Wenn ich mir
vorstelle, was wir damals für Filme hätten drehen können, wenn wir
schon so eine Technik zur Verfügung gehabt hätten! Meinen
Glückwunsch, junger Mann, zu dieser einzigartigen Schöpfung.«

Sorvino errötete. Es war das erste Mal, dass Phoebe überhaupt

einen Anflug von Farbe im blassen Gesicht des jungen Mannes sah.

»Ach, das ist doch nichts gegen das, was Sie früher mit Ihren

Mitteln geleistet haben«, gab Sorvino zurück und blickte fast
schüchtern zu Boden.

Was für ein Schleimer, dachte Phoebe nur. Sie wollte Paige etwas

zuflüstern, aber ihre Halbschwester war schon nicht mehr an ihrer
Seite. Paige stand bereits neben Andy und deutete auf die Bühne, wo
ein großer, von Rotlicht angestrahlter Holzaltar stand. Die Vorderseite
war mit einer Teufelsfratze verziert.

»Andy, entschuldige bitte«, begann Paige und nahm den Regisseur

zur Seite, »aber soll das etwa ein Voodoo-Altar sein?«

Andy zuckte mit den Schultern. »Etwa nicht?«

»Na ja,«, antwortete Paige. »In der Voodoo- oder Macumba-

Religion würde man wohl kaum den christlichen Teufel auf einem
Altar abbilden. Eher schon Ogun, den Kriegsgott. Zumindest, wenn
der Zauber der Schwarzen Magie dient …«

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Phoebe staunte. Ihre Schwester hatte in Pipers privatem

Hexenunterricht doch etwas gelernt. Gib bloß nicht zu viel Wissen
preis, dachte sie. Mit Voodoo war nicht zu spaßen.

Aber Paige war noch nicht fertig. Sie schien ganz in ihrer Rolle als

magische Beraterin aufzugehen. Aufgeregt sprang sie auf die kleine
Bühne in der Mitte der Lagerhalle. Ein Halbkreis aus Kerzen war um
den Altar herum aufgebaut worden. Paige zählte die Kerzen durch.
»Und was haben wir hier … vier … fünf … sieben … acht Kerzen.
Bei einem Voodoo-Fluch würde man auf jeden Fall eine ungerade
Zahl verwenden. Eine gerade Zahl nimmt man nur bei einem
Liebeszauber. Ihr müsst also noch eine dazu stellen oder eine
wegnehmen.«

Paige stutzte, als sie merkte, wie die Blicke des Teams auf sie

gerichtet waren. Alle waren beeindruckt von Paiges Fachwissen. Nur
Phoebe stand mit verschränkten Armen im Hintergrund und runzelte
missbilligend die Stirn.

»Erstaunlich, junge Dame. Ganz erstaunlich. Ihr Wissen um die

schwarzen Mächte ist absolut beeindruckend.« Gustav Landreau
deutete eine Verbeugung an. »Jemanden wie Sie hätte ich zu meiner
Zeit auch gebrauchen können.«

Paige spürte ein inneres Erschaudern, als sie in das lächelnde

Gesicht des alten Regisseurs blickte. Nach außen hin hatte er ihr ein
nettes Kompliment erteilt, aber sein Lächeln schien oberhalb der
Mundwinkel Halt zu machen. Landreaus Augen blickten die junge
Hexe prüfend an. Paige hatte den Eindruck, dass der alte Mann bis auf
den Grund ihrer Seele blicken konnte.

»Ich hoffe, ihr haltet mich jetzt nicht alle für eine Besserwisserin«,

sagte sie kleinlaut.

Andy klatschte in die Hände. »Aber im Gegenteil, Paige. Dafür

bist du ja hier. Tim, kannst du diesen albernen Teufelskopf irgendwie
tarnen?«

Tim Sorvino, der Mann für die Spezialeffekte, schien nicht gerade

begeistert zu sein. »Ich habe eine halbe Nacht an dem Teufelskopf
geschnitzt. Aber wenn du meinst … ich kann ihn einfach wieder
abnehmen.«

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Mit einem Seufzen legte er die Fernbedienung des Werwolfs zur

Seite und trat auf die Bühne. Dann zog er an der Teufelsfratze des
Altars. Offensichtlich bestand sie nur aus Styropor, denn sie ließ sich
ohne weiteres abnehmen.

Oh-Oh, dachte Phoebe. Wenn Paige so weitermacht, wird sie mich

noch von Platz eins auf Sorvinos Hass-Liste verdrängen.

Mit einem leisen Knurren warf Sorvino den Teufelskopf in eine

Ecke. Gleichzeitig nahm sich Gustav Landreau eine neue Kerze aus
einer Requisitenkiste und stieg damit auf die Bühne. Er stellte sie zu
den übrigen acht, die schon um den Altar herum aufgestellt worden
waren.

»Fügen wir doch noch eine weitere Kerze dazu«, sagte er, »dann

kommen wir auf neun – eine ungerade Zahl. Und wenn ich mich nicht
irre, war die Neun schon für Pythagoras eine heilige Zahl. Sie stand
für die neun kosmischen Wände, durch die das Universum in acht
heilige Sphären geteilt wird. Und außerdem ist die Neun die Potenz
der Drei … eine ganz besondere Zahl, wie ihr vielleicht wisst.«

Paige schluckte. War es ein Zufall, dass Landreau sie bei dieser

Bemerkung aus seinen milchig-blauen Augen so durchdringend
ansah? Wusste er etwa etwas über die Macht der Drei?

Nein, das war völlig unmöglich. Und wenn doch, dann ließ er es

sich zumindest nicht anmerken.

»Wunderbar!«, rief Andy. »Können wir dann anfangen? Wir haben

heute noch eine Menge Arbeit vor uns. Und Mister Landreau hat
sicherlich auch noch andere Dinge zu tun.«

»Ach, was«, winkte der alte Regisseur ab und wischte sich eine

graue Haarsträhne aus der faltigen Stirn. »Ich bin ein alter Mann. Ich
habe alle Zeit der Welt. Auf mich wartet nur der Tod.«

Paige und Phoebe blickten sich an.

Dieser Typ war wirklich unheimlich.

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12

»

K

AMERA LÄUFT!«, RIEF PETE. Das leise Summen einer

Filmkamera erfüllte die Lagerhalle. Dann wurde es vom Zischen des
Trockeneisnebels übertönt. Gebannt beobachteten Paige und Phoebe,
wie der alte Gustav Landreau hinter dem Altar stand und beschwörend
die knochigen Arme hob. Von unten einfallendes Scheinwerferlicht
ließ seine Wangenknochen dunkel hervortreten. Seine Augen wirkten
wie zwei schwarze Höhlen.

Vor Landreau auf dem Altar lag die Werwolf-Figur. Der alte

Regisseur murmelte ein paar Beschwörungsformeln in einer
fremdartigen Sprache. Soweit Paige das beurteilen konnte, waren
diese seltsamen Worte nur ein Fantasieprodukt des Drehbuchautors,
aber die Szene war trotzdem unheimlich. Wie würde sie wohl erst im
fertigen Film wirken?

Auch Phoebe lief ein Schaudern über den Rücken. Sie musste

daran denken, wie unecht und gestellt dagegen die
Beschwörungsszene mit Virginia Fontaine gewirkt hatte, die gestern
hier gedreht wurde.

Dieser Landreau war ein echtes Naturtalent, nicht nur als Grusel-

Regisseur, sondern auch als Horror-Darsteller.

Die Puppe des Werwolfs zuckte auf. Landreaus

Beschwörungsformeln erweckten sie zum Leben. Phoebe warf einen
vorsichtigen Seitenblick auf Tim Sorvino, der mit seiner
Fernbedienung neben der Kamera stand und die Figur von dort aus
steuerte. Paige dagegen schlich zu Andy und flüsterte ihm ins Ohr.
»Mann, das sieht wirklich verdammt echt aus – im wahrsten Sinne des
Wortes, Andy.«

Doch der junge Regisseur reagierte kaum. Sein Blick war starr auf

die Geschehnisse auf der kleinen Bühne gerichtet.

Obwohl es in der Lagerhalle relativ kühl war, bildeten sich winzige

Schweißtropfen auf seiner Stirn.

»Nicht jetzt, Paige«, hauchte er nur. Seine Stimme schien dabei

regelrecht zu zittern.

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Paige hob die Augenbrauen und machte einen Schritt zurück. Klar,

dass Andy als Regisseur ganz auf die Szene konzentriert war.
Schließlich war das sein Job. Allerdings hatte er gestern bei den
Dreharbeiten auch die Zeit gefunden, ein paar Worte mit Paige zu
wechseln.

Was soll's, dachte die junge Hexe, wahrscheinlich war Andy nur so

abweisend, weil da vorne auf der Bühne sein großes Regie-Vorbild
agierte. Und das verdammt überzeugend.

Paige trat wieder an die Seite ihrer Schwester. Gebannt

beobachteten die beiden, wie der kleine Werwolf sich langsam erhob,
den Kopf drehte, um sich umzuschauen, und dann vom Altar sprang.

Landreau lachte laut und dämonisch auf.

»Schnitt!«, rief Andy.

Im selben Augenblick flammten die Hauptscheinwerfer wieder auf,

und die Nebelmaschine stellte ihre Arbeit ein.

Landreau räusperte sich und trat von der Bühne herunter. »Na, wie

war ich? Sind Sie zufrieden, Maestro?«, fragte er den jungen
Regisseur lächelnd.

»Sie waren großartig. Vielen Dank, Mister Landreau. Diese Szene

wird ein absoluter Höhepunkt meines Films. Ich kann Ihnen gar nicht
sagen, wie …«

Aber Landreau hatte Andy bereits wieder den Rücken zugekehrt.

Aus seinen milchig-blauen Augen blickte er Paige an.

»Und wie hat es Ihnen gefallen, junge Dame? War ich für Sie

überzeugend genug?«

Paige schluckte. Sie hatte das Gefühl, als könnte Landreau mit

seinen unheimlichen Augen bis auf den Grund ihrer Seele schauen.
»Mehr als überzeugend«, sagte sie schließlich und musste dazu mit
einem Kloß im Hals kämpfen.

Landreau grinste. »Tja, das macht wohl meine Erfahrung. Ich

meine, immerhin habe ich mich sechzig Jahre lang mit Schwarzer
Magie befasst – hinter der Kamera. ›Semper aliquid haeret‹, wie der
Lateiner sagt. ›Etwas bleibt immer hängen‹.« Gustav Landreau lachte
heiser auf. Paige und Phoebe waren nicht die Einzigen, denen dabei
ein Schauer über den Rücken lief.

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Landreau selber blieben die Reaktionen auf seinen Auftritt nicht

verborgen – und er genoss es sichtlich. Der alte Regisseur wandte sich
wieder an Andy. Es schien den jungen Mann nicht zu stören, dass
Landreau ihm vorher einfach den Rücken zugekehrt hatte. »Wenn Sie
mich dann entschuldigen, Mister Stewart«, sagte Landreau zu ihm,
»ich denke, meine Aufgabe hier ist beendet. Für heute. Sie wissen ja,
wo Sie mich finden. Guten Abend.«

»Guten Abend, Sir«, erwiderte Andy hastig. »Und vielen Dank.

Für alles.«

Meine Güte, dachte Phoebe. Dass er vor dem alten Sack nicht auf

die Knie geht, ist aber auch alles.

Dann wandte sich Landreau wieder den beiden Schwestern zu und

deutete eine Verbeugung an.

»Es war wirklich zauberhaft, Sie beide kennen zu lernen. Meine

besten Empfehlungen an Ihre Schwester.«

Mit einem Grinsen reichte Landreau Paige und Phoebe die Hand.

Dann schritt er durch die Halle auf den Ausgang zu.

Phoebe konnte sich täuschen, aber sie hatte das Gefühl, dass ein

allgemeines Aufatmen durch die Filmcrew ging, als Landreau das Tor
aufzog und die Halle schließlich verließ.

»Was für ein gruseliger Kerl«, sagte Paige halblaut.

»Allerdings.« Phoebe nickte zustimmend. »Wahrscheinlich hat er

Recht – es färbt wohl irgendwann ab, wenn man sich sein ganzes
Leben lang nur mit Monstern und Ungeheuern beschäftigt.«

»Na, das sind ja tolle Aussichten«, grinste Paige.

Eine Sekunde später trat Andy auf die beiden zu. Er wirkte jetzt

wieder freundlich und entspannt, die Schweißtropfen auf seiner Stirn
waren verschwunden. »Na, wie hat euch Mister Landreau gefallen?
Ein einzigartiger Mann, was?«

»Einzigartig. So könnte man das wohl nennen«, nickte Paige.

»Ja, ich bin wirklich froh, dass ich ihn für eine Gastrolle in

›Scream X-Treme‹ gewinnen konnte.« Andy schien den Unterton in
Paiges Stimme gar nicht bemerkt zu haben.

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In diesem Moment tauchte Tim Sorvino hinter Andy auf. In seinen

Armen hielt er die nun wieder leblose Werwolf-Puppe. »Wenn du
mich und meine Figuren nicht mehr brauchst, packe ich sie wieder in
ihre Kisten und verschwinde für heute, okay?«, fragte er. Er tat, als ob
Phoebe und Paige gar nicht da wären.

»Alles klar, Tim«, antwortete Andy. »Du hast auch wirklich

großartige Arbeit geleistet. Vielen Dank.«

Tim Sorvino blickte seinen Regisseur einen Augenblick lang

schweigend an. »Ja, danke«, sagte er dann nur und verschwand mit
seiner pelzigen Puppe.

»Wisst ihr was?«, fragte Phoebe und blickte sich demonstrativ in

der Halle umher. »Ich schaue mich noch ein wenig um. Vielleicht
kann ich hier noch etwas lernen.«

»Ja, mach das, Phoebe«, sagte Paige dankbar. Die Filmcrew packte

ihre Ausrüstung bereits wieder zusammen, und viel zu sehen würde es
heute sicherlich nicht mehr geben. Phoebe tat das nur, damit sie und
Andy noch ein paar Minuten allein sein konnten.

Dafür schulde ich ihr etwas, dachte Paige. Dann lächelte sie Andy

an. »Wie bist du eigentlich an diese gruselige alte Vogelscheuche
gekommen?«, fragte sie den jungen Regisseur.

»An Mister Landreau? Oh, ich war schon immer ein Fan seiner

Filme. Ich bin mit den Wiederholungen der alten Streifen im
Kabelfernsehen aufgewachsen. Streng genommen ist Landreau der
Grund, warum ich damals mein Jura-Studium geschmissen habe.«

Paige blickte Andy erstaunt an. »Du hast mal Jura studiert?«

Andy nickte und blickte zu Boden, als ob ihm das peinlich wäre.

»Na ja, das war der Wunsch meiner Eltern. Mein Vater besitzt eine
gut laufende Kanzlei in L.A., und die sollte ich eines Tages
übernehmen. Aber meine Liebe galt schon immer dem Film. Also
habe ich nach zwei Semestern Jura aufgegeben und mich an der
Filmhochschule eingeschrieben. Du hättest mal erleben müssen, wie
meine Eltern getobt haben.«

Paige runzelte die Stirn. »Aber als Regisseur kann man doch auch

eine Menge Geld verdienen?«

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»Das schon. Na ja, wenn man Glück hat. Aber meine Eltern sind

da sehr altmodisch. Für sie sind Filmemacher immer noch fahrendes
Volk, das durch die Provinz tingelt und in Spelunken billige Filme
vorführt. Zumindest haben sie sich für ihren einzigen Sohn eine
andere Karriere vorgestellt. Und mich kurzerhand enterbt.«

»Das gibt's doch nicht«, sagte Paige fassungslos. »Ich dachte, so

etwas gibt es nur noch, na ja, im Film.«

»Leider nicht.« Andy lachte freudlos auf. »Man könnte sagen, ich

habe eine Menge aufgegeben, um meinen Traum zu verwirklichen.
Eine ganze Menge. Aber ›Scream X-Treme‹ wird mein großer
Durchbruch. Gruselfilme stehen gerade wieder hoch im Kurs. Auch
bei einem breiteren Publikum. Nur eins macht mir noch Sorgen …«

»Wirklich?«, fragte Paige. »Was denn?«

»Die große Schlussszene des Films soll in einer Disko spielen. Die

Heldin – gespielt von Virginia – tritt dann gegen die zum Leben
erwachten Monster-Figuren an und vernichtet sie.«

»Und wo ist das Problem?«

»Tja, ein paar einfache Locations können wir hier in der Halle

nachbauen. Und die verbleibenden Straßenszenen drehen wir einfach
wieder ohne Genehmigung irgendwo in San Francisco. Aber wo
kriege ich das Set für eine Disko her? Ich könnte es mir niemals
leisten, ein Lokal anzumieten. Unser Budget ist jetzt schon am Ende.«

Paige grinste den Jungregisseur schelmisch an.

»Mach dir darüber mal keine Sorgen«, erwiderte sie nur.

»Du hast was?«, fragte Phoebe entgeistert, als sie neben ihrer

Schwester die Einfahrt des Halliwell-Hauses hinaufging.

»Ich habe Andy gesagt, dass er das Finale des Films im P3 drehen

kann«, erwiderte Paige und versuchte, dabei so unschuldig wie
möglich zu wirken. »Was ist denn schon dabei?«

»Oh, nichts weiter«, antwortete Phoebe. Deshalb also war Paige

die ganze Fahrt über so seltsam ruhig gewesen. »Piper wird dir den
Kopf abreißen. Du weißt doch, was sie von Filmleuten hält!«

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»Ach, so schlimm wird es schon nicht werden. Es ist doch nur für

einen Abend.«

»Tja, ich weiß nur, dass ich nicht in der Nähe sein werde, wenn du

sie fragst.«

Mit diesen Worten steckte Phoebe den Schlüssel in die Tür und

drückte sie auf. Obwohl die Sonne schon fast hinter dem Horizont
verschwunden war, blitzte der Flur noch im letzten Licht ihrer
Strahlen auf. Ein frühlingsfrischer, wenn auch leicht synthetischer
Duft schlug den beiden Schwestern entgegen. Jemand hatte sich
mächtig Mühe gegeben.

»Wow«, rief Paige in das Haus hinein. »Hat hierein Putzteufel

gewütet?«

»Eher ein Putzdämon«, antwortete eine erschöpfte Stimme. Es war

Leo, der mit ein paar Schweißtropfen auf der Stirn gerade dabei war,
die letzten Flaschen mit Bohnerwachs im Putzschrank zu verstauen.
»Lieber kämpfe ich gegen ein ganzes Rudel Höllenhunde, als noch
einmal eurer Schwester beim Hausputz zu helfen. Die Frau ist
wirklich gnadenlos.«

»Redet da jemand schlecht über mich?«

Piper steckte ihren Kopf durch die Küchentür und grinste breit. Sie

wirkte frisch wie der junge Morgen. »Putzt euch die Schuhe ab, bevor
ihr reinkommt«, sagte sie dann streng.

Phoebe machte einen schuldbewussten Satz in die Luft und

schwebte dann ein paar Zentimeter zurück auf die Fußmatte vor der
Haustür.

»Phoebe«, tadelte Leo sie, »wenn dich jemand sieht.«

»Lieber erkläre ich öffentlich, dass ich eine Hexe bin, als dass ich

Pipers Zorn auf mich ziehe. Ach, übrigens …«, Phoebe warf einen
Seitenblick auf ihre jüngere Schwester, die hinter ihr stand, »wolltest
du Piper nicht etwas fragen, Paige?«

»Ach, das hat Zeit bis später«, wich Paige ihr aus.

Die beiden Schwestern zogen vorsichtshalber die Schuhe aus,

bevor sie den auf Hochglanz polierten Flur betraten und die Tür hinter
sich zuzogen.

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»So ist's brav«, sagte Piper zufrieden. »Ihr kommt gerade

rechtzeitig. Ich habe uns eine Fruchtkaltschale gemacht. Statt eines
Abendessens. Das ist auch eine Stärkung für abgekämpfte Wächter
des Lichts,
die fast zusammenbrechen, wenn sie mal ein wenig
Hausarbeit erledigen müssen.«

Piper grinste Leo an, der nur die Augen verdrehte. »Ein wenig?

Piper, wir haben den ganzen Tag damit verbracht, das Haus zu
schrubben. Und so ein Sommertag ist verdammt lang.«

Paige und Phoebe kicherten, als sie sich an Leo vorbei in die

Küche drängten. Piper war gerade dabei, die Fruchtkaltschale in
kleine Schüsseln zu füllen.

»Und, wie war euer Tag beim Film?«, fragte sie.

»Oh, ganz großartig«, antwortete Phoebe. »Wir haben eine

Legende des Gruselfilms kennen gelernt. Gustav Landreau.«

Leo strich sich ein paar verschwitzte Haarsträhnen zurück, als er

die Küche betrat. »Wirklich? Den Regisseur von Jagd auf den
Wolfsmann
und Das Ding aus der Lagune des Todes?«

Piper blickte erstaunt auf. »Was denn, Leo, du kennst solche

Filme?«

Leo setzte sich an den Küchentisch und nahm eine Schüssel mit

der Kaltschale entgegen. »Aber klar. Das sind doch echte Klassiker.
Selbst Wächter des Lichts gruseln sich ab und an ganz gern.
Zumindest vor dem Fernseher.«

Piper schüttelte irritiert den Kopf. »Ich scheine ja langsam die

Einzige zu sein, der der Horror, den wir haben, völlig ausreicht. Ist
irgendwas, Paige?«, fragte sie dann. »Du isst ja gar nichts.«

Tatsächlich hatte Paige ihre Schüssel mit der köstlichen Obstcreme

noch nicht angerührt. Irgendetwas schien sie zu beschäftigen.

»Äh, ja, ich wollte dich etwas fragen, Piper …«, druckste sie

herum.

»Ach ja? Was denn?«

Phoebe griff nach ihrer Schüssel und stand von ihrem Stuhl auf.

»Ich, äh, würde mir gern die Nachrichten ansehen, wenn ihr nichts
dagegen habt. Ich esse drüben im Wohnzimmer weiter.«

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Mit eiligen Schritten verließ Phoebe die Küche. Wie sie schon

gesagt hatte – sie wollte nicht in der Nähe sein, wenn Paige ihre Frage
stellte.

Vorsichtig setzte Phoebe die Dessertschale auf dem

Wohnzimmertisch ab. Wenn ich etwas verschütte, bringt Piper mich
als Nächste um, dachte sie. Dann schaltete sie den Fernseher ein.

»DU HAST WAS?!«, tönte es Sekunden später aus der Küche.

»Paige, wie konntest du das tun?!«

Phoebe grinste. Das sollte ihre Halbschwester allein ausbaden. Die

junge Hexe zappte durch die Kanäle, bis sie bei einem lokalen
Nachrichtenkanal angelangt war. Dann verging ihr das Grinsen.

Ein etwas hilflos wirkender Darryl Morris blickte in die Kamera

und gab ein Statement ab. Im Hintergrund blitzten die Signallampen
einiger Polizeiwagen auf.

»Nein, es tut mir Leid, wir haben noch keine Hinweise auf den

Mörder«, sprach Darryl in die Kamera. »Und bis jetzt können wir
auch noch nicht sagen, ob es zwischen den beiden Verbrechen einen
Zusammenhang gibt.«

Phoebe schluckte. »Piper? Leo? Paige? Kommt mal rüber – das

solltet ihr euch ansehen.«

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13

W

ÜRDEN SIE JETZT BITTE den Tatort räumen?«, sagte Darryl

und hielt seine Hand vor das Objektiv. Die Reporterin neben dem
Kameramann protestierte. »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf
Informationen, Detective!«

»Die Öffentlichkeit hat auch ein Recht darauf, dass die Polizei ihre

Arbeit erledigen kann, um weitere Morde zu verhindern, Miss.
Würden Sie jetzt bitte den Tatort räumen?«

Der gereizte Tonfall in Darryls Stimme war trotz seiner

freundlichen Worte nicht zu überhören. Die Reporterin tippte ihrem
Kameramann auf die Schulter. »Los komm, hier kriegen wir heute
nichts mehr raus.«

Frustriert ging das Team zurück zu dem Kleintransporter mit dem

Logo eines lokalen TV-Senders von San Francisco auf der
Seitenfläche. Darryl Morris blickte ihnen einen Augenblick nach, wie
um sicher zu gehen, dass sie auch tatsächlich einstiegen.

Der Bürgermeister saß ihm wegen dieses zweiten Mordes

innerhalb von zwei Tagen ohnehin schon im Nacken. Das Letzte, was
er jetzt brauchte, war, vorlaufenden Kameras zuzugeben, dass er als
leitender Ermittler völlig im Dunkeln tappte. Die beiden
Gewaltverbrechen standen, soweit das bisher festzustellen war, in
keinerlei Zusammenhang. Das Mordopfer vom Vortag war eine allein
stehende Frau gewesen, der Tote der heutigen Nacht ein
Geschäftsmann aus San Francisco.

Nun ja, ›Geschäftsmann‹ war etwas übertrieben – der Ermordete,

ein gewisser Tom Haber, war der Besitzer eines Comic-Shops
gewesen. So viel wenigstens hatten sie anhand seiner Personalien
schon feststellen können.

Aber wenigstens eine Gemeinsamkeit hatten beide Mordopfer

doch, dachte Darryl seufzend und schlurfte auf den Parkplatz zurück.

Die Todesumstände waren ebenso bizarr wie rätselhaft.

Auf dem Parkplatz am Rande der Stadt stand nur ein einziges,

zerbeultes Auto, ein uralter VW Käfer – abgesehen von den

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Einsatzwagen der Polizei. Und dem umgebauten Krankenwagen des
Leichenbeschauers, Doktor Nyang.

Darryl wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Können Sie mir

schon etwas sagen, Doc?«, fragte er. »Ich meine, mal abgesehen
davon, dass der Mann tot ist?«

Darryl war heute Nacht wirklich nicht nach Scherzen zu Mute.

Auch die Stimmung des Leichenbeschauers ließ zu wünschen übrig.
Bei dieser Hitze machte niemand gerne Überstunden.

Außer dem Mörder.

Doktor Nyang hatte gerade den Kopf durch das Seitenfenster des

Käfers gesteckt und zog ihn nun heraus, um den Detective anzusehen
und mit den Schultern zu zucken.

Ein schlechtes Zeichen.

»Unser Freund hier ist noch nicht lange tot. Höchstens ein paar

Stunden. Aber Sie wissen …«

»… Sie können mir das erst nach der Laboruntersuchung sagen,

schon klar. Und ansonsten? Die Mordwaffe? Wieder ein Skalpell?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Nein, diesmal nicht. Aber das

macht die Sache nicht weniger ungewöhnlich. Schauen Sie mal hier!«

Doktor Nyang trat zur Seite. Widerwillig beugte sich Darryl zum

Autofenster hinunter. Die Spurensicherung stand noch ganz am
Anfang, also durften der Gerichtsmediziner und seine Assistenten die
Leiche noch nicht aus dem Wagen herausholen. Der Tote war ein
untersetzter Mann um die vierzig. Die Kinnpartie war mit einem
fransigen Bart bedeckt. Eine dicke Hornbrille war ihm auf die
Nasenspitze gerutscht. Darryl schauderte, als er sah, wie die dicken
Gläser den Blick der vor Todesangst aufgerissenen Augen noch
verstärkten.

Wie immer der Mann ums Leben gekommen war, es war kein

schöner Tod.

»Sehen Sie sich seinen Hals an«, sagte der Leichenbeschauer aus

dem Hintergrund.

Darryl beugte sich noch etwas tiefer durch das Fenster. Tatsächlich

– jetzt sah der Detective, was Doktor Nyang meinte. Eine feine rot­

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blaue Linie zog sich einmal um den Hals des Mannes. Irgendetwas
hatte sich tief in die Haut eingeschnürt.

Das Opfer wurde erwürgt, daran bestand wohl kaum ein Zweifel.

Darryl zog seinen Kopf wieder aus dem Wagen.

»So viel zur Todesursache«, sagte er. Aber der Leichenbeschauer

blickte den Detective herausfordernd an. »Natürlich, der Mann ist
erwürgt worden. Den Würgemalen nach zu urteilen mit einer Art
Band oder einer Kordel, die etwa einen Zentimeter breit gewesen sein
muss. Das allein wäre schon ungewöhnlich genug.«

Darryl atmete geräuschvoll aus. Er war heute Abend nicht in der

Stimmung für Ratespielchen. »Also raus mit der Sprache, Doc. Was
meinen Sie?«

Doktor Nyang deutete auf den Rücksitz des Wagens. Der

Innenraum des kleinen VW Käfers war bis oben hin gefüllt mit Kisten
und Pappkartons. Soweit Darryl das durch die Seitenfenster sehen
konnte, waren diese Kisten gefüllt mit Comic-Heften und Magazinen.
Ein paar Action-Figuren lagen lose herum.

»Na schön, Mister Haber hat seinen VW Käfer also auch als

Lieferwagen benutzt. Na und? Das entspricht zwar nicht den
Sicherheitsvorschriften, und der Wagen ist hoffnungslos überladen,
aber …«

Doktor Nyang schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht,

Detective. Schauen Sie, den Würgemalen zufolge ist der Mann ganz
eindeutig von hinten erwürgt worden. Wahrscheinlich hat sich jemand
auf dem Rücksitz versteckt und auf einen günstigen Moment gewartet.
Aber …«

Darryl nickte. Es war gar nicht nötig, dass der Leichenbeschauer

weitersprach.

Der Rücksitz des Wagens war mit Kartons voll gestellt. Wie hätte

sich da noch jemand zwischen Kisten und Rückenlehne des
Vordersitzes verstecken sollen?

»Das gibt's doch nicht«, murmelte Darryl. Er spürte, wie sein Kopf

zu schmerzen begann.

»Und das ist noch nicht alles«, lächelte Doktor Nyang. Der

Detective bekam langsam den Eindruck, dass der Leichenbeschauer

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ein perverses Vergnügen daran fand, den Fall noch komplizierter zu
machen, als er ohnehin schon war. Kunststück – als Leichenbeschauer
musste er ja auch nicht dem Mörder hinterherlaufen. Und dem Doktor
saß auch nicht der Bürgermeister im Nacken.

Nyang zog einen kleinen, durchsichtigen Plastikbeutel aus seinem

Kittel hervor. Er hielt ihm dem Detective vor die Nase. In dem Beutel
konnte Darryl mit Mühe und Not etwas feinen, weißen Staub
erkennen. »Das hier habe ich auf den Schultern des Mordopfers
gefunden.«

Darryl runzelte die Stirn. »Der Mann hatte also Schuppen – na

und? Oder stammt das etwa von dem Mörder?«

Jetzt war es an Doktor Nyang, mit den Schultern zu zucken. »Das

herauszufinden, ist wohl eher ihre Aufgabe, Detective. Das hier ist
Staub. Und wenn mich meine erste Einschätzung nicht täuscht, sehr,
sehr alter Staub.«

Darryl Morris stöhnte auf und rieb sich die schmerzenden

Schläfen. Was zum Teufel hatte das alles zu bedeuten?

»Ist Ihnen nicht gut, Detective?«, fragte Doktor Nyang

scheinheilig. »Soll ich Ihnen ein paar Kopfschmerztabletten geben?«

Detective Darryl Morris schüttelte den Kopf.

»Was ich jetzt brauche, ist kein Aspirin, sondern ein

Wundermittel.«

Dann ging er zurück zu seinem Wagen und zog dabei sein Handy

aus der Tasche.

»Ich kann das immer noch nicht glauben«, sagte Piper und ging

aufgeregt in der Küche auf und ab. Phoebe hatte sich auf ihr Zimmer
zurückgezogen, und Paige saß kleinlaut vor dem Fernseher im
Wohnzimmer.

»Nun beruhige dich doch erst mal«, sagte Leo. Es machte ihn ganz

nervös, wenn seine Ehefrau so auf und ab ging.

»Ich will mich aber nicht beruhigen«, knurrte Piper. »Wie konnte

Paige einfach so über das P3 bestimmen und es für diese Filmcrew
freigeben? Ich gehe doch auch nicht hin und vermiete ihr Zimmer an
eine Catering-Agentur, oder?«

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»So schlimm wird es schon nicht werden, Piper«, sagte Leo

beschwichtigend.

»Das sagst du so! Ich habe schon wahre Horror-Storys über

Filmteams gehört, die wie ein Heuschreckenschwarm über ihren
Drehort eingefallen sind. Und ich glaube nicht, dass diese Billig-
Filmer, die Paige da angeschleppt hat, das Wort
›Haftpflichtversicherung‹ überhaupt schon einmal gehört haben.«

Leo musste grinsen. »Ach, komm schon, Piper. So schlimm wird

es schon nicht werden. Nach dem, was Paige und Phoebe so erzählt
haben, sind die Jungs ganz in Ordnung. Und außerdem hast du etwas
ganz Entscheidendes vergessen.«

Piper blieb stehen und blickte ihren Ehemann fragend an.

»Ach ja? Und das wäre?«

»Wenn der Film in die Kinos kommt, werden im wahrsten Sinne

des Wortes Hunderttausende von Menschen das P3 auf der Leinwand
sehen.« Leo grinste wie ein Staubsaugervertreter. »Kannst du dir eine
bessere Werbung vorstellen? Dazu noch völlig umsonst?«

Piper runzelte nachdenklich die Stirn. »Du meinst vielleicht zum

Preis eines verwüsteten Lokals? Aber du hast Recht – daran habe ich
noch gar nicht gedacht.«

Leo nickte. »Siehst du?«

»Ich hätte nicht geglaubt, dass mein Ehemann ein Marketing-

Experte ist«, sagte Piper und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Leo
einen Kuss zu geben.

Leo hatte nichts dagegen. »Ach was, als Wächter des Lichts ist es

nur meine Aufgabe, für Frieden zu sorgen. Auch unter euch
Schwestern.«

»Was hältst du davon«, gurrte Piper, »wenn wir zwei diesen Abend

ganz friedlich beenden? Oben, in meinem Zimmer?«

Leo wollte gerade etwas antworten, als das Telefon schrillte.

Piper seufzte. Ein Anruf so spät am Abend konnte nur Ärger

bedeuten.

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Eine Viertelstunde später standen Piper, Phoebe, Paige und Leo auf

dem Dachboden des Halliwell-Hauses. Draußen war die Sonne längst
untergegangen, aber die Hitze auf dem Dachboden war noch immer
unerträglich. Dass Piper um das Buch der Schatten herum Kerzen
angezündet hatte, sorgte auch nicht gerade für eine Abkühlung.

»Piper, ich finde es echt großartig, dass du Andy und seinem Team

das P3 zur Verfügung stellst. Du wirst es bestimmt nicht bereuen«,
sagte Paige.

Aber Piper schüttelte nur den Kopf. »Das will ich hoffen. Aber

darüber können wir später noch reden.«

Die Älteste der drei Hexenschwestern blätterte weiter im Buch der

Schatten. Paiges alberner Film musste warten. Vorhin hatte Darryl
Morris angerufen und ihr von dem zweiten Mord erzählt, mit all
seinen mysteriösen Begleitumständen. Piper hatte dem ratlosen
Detective versprochen, noch einmal im Buch der Schatten nach
irgendwelchen möglichen magischen Hintergründen zu suchen.
Natürlich hatte sie das schon nach dem ersten Mord getan, aber
vielleicht sahen acht Augen ja mehr als zwei.

»Meinst du wirklich, wir finden im Buch der Schatten einen

Hinweis auf die Morde?«, fragte Phoebe stirnrunzelnd. Für sie waren
diese beiden Gewaltverbrechen das Werk eines möglicherweise
gestörten Serienmörders. Schlimm genug, aber das fiel ganz sicher
nicht in den Zuständigkeitsbereich der drei Zauberhaften.

»Keine Ahnung«, antwortete Piper schulterzuckend. »Aber es kann

nicht schaden, noch einmal nachzusehen.«

Die nächsten Minuten verbrachten die drei Schwestern –

unterstützt durch den Wächter des Lichts – beinahe schweigend. Wie
immer schien das Buch der Schatten zu spüren, was die drei
Zauberhaften
suchten. Piper brauchte nur eine Seite nach der anderen
umzublättern, um neue Informationen über die verschiedensten Arten
von Ritualverbrechen zu erhalten.

Nichts, was sie lasen, passte auch nur im Entferntesten auf das

Profil der beiden Morde. Es fehlte einfach das magische Motiv. Wenn
ein Dämon oder auch ein Besessener hinter den beiden
Gewaltverbrechen stecken würde, dann hätte er etwas bezwecken
wollen – eine Bedrohung ausschalten vielleicht oder seine Macht
vergrößern.

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Aber die beiden Todesopfer hatten ganz sicherlich nichts mit

schwarzer Magie zu tun. Eine Hausfrau und ein Comic-Händler waren
in keinster Weise mit den Mächten der Magie verbunden.

Piper klappte das Buch schließlich zu.

»Ich fürchte, das ist sinnlos. Das Buch der Schatten bringt uns hier

auch nicht weiter. Diesen Fall wird Darryl wohl ohne unsere Hilfe
lösen müssen.«

Paige seufzte erleichtert auf. Sie war nur froh, diesen stickigen

Dachboden endlich verlassen zu können. »Gott sei Dank. Ah, ich
meine, so ein Pech für Darryl. Können wir jetzt vielleicht noch einmal
über die Dreharbeiten sprechen, Piper? Andy würde sich sicher
freuen, wenn ich ihm schon einen Termin für die Dreharbeiten nennen
könnte.«

Piper stöhnte auf. Sie hatte den Gedanken, dass ein Filmteam wie

ein Heuschreckenschwarm über ihr Lokal einfallen würde, schon
wieder ganz verdrängt.

»Das besprechen wir besser unten«, erwiderte sie. »Und sag mal,

hat dein Star-Regisseur überhaupt eine Haftpflichtversicherung?«

»Wir werden nichts unversucht lassen, um diesen Mörder

festzunehmen und seiner gerechten Strafe zuzuführen«, sprach der
Bürgermeister in die Fernsehkamera. »Seine Ergreifung ist nur noch
eine Frage der Zeit!«

Das glaube ich weniger, dachte Gustav Landreau und griff nach

der Fernbedienung, um seinen Breitwand-Fernseher auszuschalten.
Dann erhob er sich schwerfällig aus seinem Ledersessel. Mit einen
breiten Grinsen hatte er die Berichterstattung über den zweiten Mord
auf dem Lokalsender verfolgt.

Der Junge verlor wirklich keine Zeit, Kompliment.

Mit langsamen, schlurfenden Schritten durchquerte der alte

Regisseur sein Penthouse über den Dächern der Stadt. Man hätte
vermuten können, dass jemand wie er in einem finsteren Landhaus
irgendwo am Stadtrand lebte, aber Landreau liebte den Luxus. Und er
liebte es, auf seine Mitmenschen herabsehen zu können. Sein

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Penthouse war sicherlich eines der teuersten und modernsten der
ganzen Stadt, aber er konnte es sich leisten.

Sechzig Jahre lang hatte er Filme gedreht, und selbst als das

Fernsehen seinen Siegeszug angetreten hatte und eine schwere Zeit für
das Kino anbrach, hatte er profitiert. Als einer der wenigen
Hollywood-Leute hatte er damals, in den späten fünfziger Jahren, die
Bedeutung des Fernsehens erkannt und spezielle Verträge
ausgehandelt. Seitdem bekam er jedes Mal, wenn einer seiner alten
Filme auf irgendeinem Kabelkanal ausgestrahlt wurde, einen kleinen,
aber nicht zu verachtenden Betrag an Tantiemen. Und irgendwo auf
der Welt lief fast täglich eines seiner alten Werke im Fernsehen. Im
Laufe der Jahrzehnte hatte er allein dadurch ein beachtliches
Vermögen angehäuft.

Andererseits hatte er für seinen Erfolg auch einen hohen Preis

bezahlt und etwas sehr Wertvolles dafür aufgegeben. Aber so, wie es
aussah, würde er sich dieses kostbare Gut am Ende seines Lebens
doch noch zurückholen können. Gerade rechtzeitig, bevor der letzte
Vorhang fiel.

Landreau lachte auf und drehte an einem kleinen Regler für die

Klimaanlage, der in die Marmorwand vor ihm eingelassen war. Die in
der Wohnung versteckten Luftumwälzer summten noch etwas lauter
auf und stießen einen neuen Schwall kalter Luft in das Apartment.

Schon jetzt war es hier drinnen so kalt wie in einer Gruft, aber

Landreau fühlte sich dabei wohl. Die Hitze da draußen war Gift für
sein altes Herz.

Landreau trat an eines der großen Panoramafenster und blickte

hinab auf die Stadt. Seine hagere Gestalt warf ein durchscheinendes
Spiegelbild auf das Glas. Es sah fast aus, als sei Landreau selbst ein
gigantisches Monster, das über die Straßen einer winzigen Stadt
blickte. So gefiel es ihm. Landreau lachte auf, bis er einen stechenden
Schmerz in der Brust spürte.

Schlurfend durchschritt der alte Regisseur sein Penthouse und

öffnete schließlich ein verspiegeltes Kabinett. Eine gut sortierte
Hausbar kam dahinter zum Vorschein. Landreau zog ein silbernes
Kästchen aus der Innentasche seines schwarzen Sakkos. Er klappte es
auf und nahm eine kleine, weiße Tablette heraus, die er sich in den
Mund steckte.

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Dann zögerte er einen Augenblick, bevor er sich ein Glas gold­

braunen und sehr alten Whisky eingoss. Die Herztabletten mit
Alkohol herunterzuspülen war zwar nicht gerade das, was der Arzt
ihm verordnet hatte, aber darauf kam es jetzt auch nicht mehr an.

Diese Tabletten zögerten nur das Unvermeidliche hinaus. Aber das

war in Ordnung. Gustav Landreau hatte sein Leben gelebt, und es war
ein gutes Leben gewesen.

Für ihn zumindest.

Das wohlige Brennen des Alkohols in seiner Kehle war kaum

verklungen, als die Türglocke lautete. Landreau stellte sein Glas ab
und schlurfte zur Tür seines Penthouses.

Obwohl er dazu lange brauchte, klingelte der Besucher kein

zweites Mal. Wer immer da vor der Tür stand, er wusste, dass
Landreau nicht mehr so gut zu Fuß war. Oder sein Respekt verbot es
ihm, noch einmal zu läuten.

Endlich erreichte Landreau die Tür und zog sie auf. Anders als die

meisten Apartments der Stadt war die Tür nicht durch zusätzliche
Riegel gesichert. Wer in diesem Apartmenthaus wohnte, brauchte
keine Angst vor ungebetenen Besuchern zu haben. Dafür sorgte ein
teuer bezahlter Wachdienst rund um die Uhr. Und selbst, wenn es
jemand schaffen würde, sich an den Wachleuten im Erdgeschoss
vorbeizuschmuggeln, würde er später sein blaues Wunder erleben.
Dafür hatte der alte Mann schon gesorgt.

Vor der Tür stand ein junger Mann in einem schwarzen T-Shirt.

»Guten Abend, Mister Landreau«, sagte der Besucher respektvoll.

»Ich hoffe, Sie haben nichts gegen diese späte Störung, Sir.«

Landreau erlaubte sich ein charmantes Lächeln und schüttelte

väterlich den Kopf.

»Aber ganz und gar nicht. Nur herein mit Ihnen, mein junger

Freund. Wir haben eine Menge zu besprechen.«

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14

N

ACH DEM STRESS DER VERGANGENEN TAGE hatten

sich die drei Halliwell-Schwestern auf ein ruhiges Wochenende
gefreut.

Aber es wurde die Hölle.

Die Hitze über der Stadt schien von Stunde zu Stunde

zuzunehmen, als wollten die Temperaturen ihre eigenen Rekordwerte
übertreffen. Die Sprecherin! Radio und Fernsehen redeten bereits von
einer Jahrhundert-Hitzewelle, und die weiteren Aussichten
versprachen keine Besserung.

Liebend gern hätten Piper, Phoebe und Paige das Wochenende am

Strand oder zumindest im Schwimmbad verbracht, aber das Schicksal
hatte andere Pläne.

Die Verbrechensrate in der Stadt erreichte parallel zur Hitze einen

neuen Wochenendrekord. Glaubte man den Meldungen in den
Massenmedien, dann war die Polizei von San Francisco rund um die
Uhr damit beschäftigt, Familienstreitigkeiten zu schlichten,
Kneipenschlägereien zu beenden oder ein Eskalieren von
Bandenkriegen auf offener Straße zu verhindern.

Und als ob das noch nicht genug gewesen wäre, schwitzte

Detective Darryl Morris noch immer über den spärlichen Spuren der
beiden Mordfälle.

Doch die Halliwell-Schwestern hatten ihre eigenen Probleme. Es

begann früh am Sonntagmorgen. Die ersten Sonnenstrahlen drangen
gerade durchs Fenster und kitzelten Phoebes Nase. Die mittlere
Halliwell-Schwester drehte sich noch einmal um und vergrub ihr
Gesicht in ihrem Kissen. Sie hatte in der Nacht nicht besonders gut
geschlafen, dafür hatte die schwüle Hitze und die Polizeisirenen
gesorgt. Die halbe Nacht lang waren Polizeiwagen auf dem Weg zu
ihrem Einsatz am alten Anwesen vorbeigejagt. Phoebe gab ein leises
Geräusch von sich, das wie eine Mischung aus Schnurren und
Grunzen klang. Sie war gerade wieder eingenickt, als eine Stimme an
ihr Ohr drang.

»Phoebe, steh auf! Wir müssen los!«

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Phoebe brauchte ein paar Sekunden, bis sie merkte, dass sie nicht

träumte. Die Stimme gehörte Piper. Mühsam schlug Phoebe die
Augen auf. Ihre Schwester stand – straßenfertig angezogen – auf der
Schwelle zu ihrem Schlafzimmer.

Piper war dafür bekannt, eine Frühaufsteherin zu sein, aber das

ging nun wirklich zu weit, dachte Phoebe, noch im Halbschlaf. Es
konnte höchstens fünf Uhr morgens sein.

»Für mich nur einen Kaffee, bitte«, murmelte Phoebe. »Später.«

Sie wollte sich schon wieder herumdrehen, als Piper ein paar

rasche Schritte nach vorn machte und ihre Schwester an der Schulter
rüttelte. »Phoebe, raus aus den Federn«, sagte sie. Ihre Stimme klang
sanft, aber bestimmt. »Ich habe einen Dämon geortet. Im Stadtpark.
Wir müssen ihn vernichten, bevor er die ersten Jogger zum Frühstück
verspeist!«

Phoebe blinzelte ihre Schwester an. »Jogger? Dämon? Frühstück?«

»Ja, genau.« Piper schien schon gar nicht mehr hinzuhören, was

ihre kleine Schwester da vor sich hin murmelte. »Zieh dich an. Ich
wecke Paige. Wir treffen uns unten.«

Bevor Phoebe etwas erwidern konnte, war Piper schon wieder aus

dem Zimmer gelaufen. Sekunden später hörte Phoebe, wie Piper an
Paiges Zimmertür Sturm klopfte.

Knapp zehn Minuten später saßen die drei Schwestern bereits in

Pipers Wagen. Es war tatsächlich erst kurz nach fünf am
Sonntagmorgen, und die Straßen waren noch menschenleer. Ein
Glück, denn so konnte Piper im Spitzentempo einige Verkehrsregeln
brechen, ohne dass jemand dabei gefährdet wurde.

Außer den drei Schwestern, versteht sich.

Paige schrie auf, als Piper ohne sich groß umzublicken über eine

Kreuzung raste.

»Piper, du hast gerade eine rote Ampel überfahren.«

»Tut mir Leid. Ich hoffe, sie wird es überleben.«

Piper hielt das Steuer fest umklammert und blickte stur geradeaus.

»Sehr witzig, Schwesterherz«, meldete sich nun Phoebe vom

Rücksitz zu Wort. »Aber könntest du uns mal langsam verraten, was

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eigentlich los ist? Ich würde schon gern wissen, warum ich gleich in
die Unfallstatistik eingehen werde. Und pass auf, da vorne ist rechts
vor links!«

Piper warf nur einen kurzen Blick nach rechts. Zum Glück kam

gerade kein anderes Auto. Bei diesem Tempo wäre es für Piper
ohnehin zu spät gewesen, noch zu reagieren.

»Ich habe es euch doch gesagt. Ich habe routinemäßig die

Stadtkarte von San Francisco ausgependelt und dabei einen neuen
Dämon entdeckt.«

Paige zog eine Augenbraue auf. »Moment mal …›routinemäßig‹?

Willst du uns ernsthaft erzählen, dass du am Sonntag im
Morgengrauen aufstehst, um mit dem Pendel herumzuspielen?«,
fragte sie fassungslos.

»Das ist kein Spiel, Paige. Außerdem konnte ich nicht schlafen. Ihr

wisst doch, ich hatte immer befürchtet, dass die Hitzewelle und die
gestiegene Kriminalität auch Dämonen anlocken könnten.«

»Du meinst also wirklich, diese hässlichen Vögel nutzen die

Hitzewelle aus, um hier auf der Erde, ich weiß nicht, die
Sommerfrische zu genießen?«, fragte Paige und kniff dann die Augen
zusammen, als Piper ein weiteres Stopp-Schild ignorierte.

»Mehr oder weniger«, antwortete Piper. »Dämonen sind immer

darauf aus, ihre Macht zu vergrößern, indem sie mit Menschen einen
Pakt schließen. Die Stadt gleicht unter dieser Hitzewelle langsam
einem Hexenkessel und …«

»Hey! Vorsicht mit solchen Vergleichen!«, rief Phoebe vom

Rücksitz aus.

»Und vielleicht hoffen sie, dass die hohe Aggressivität in der Stadt

die Menschen hier empfänglicher für dämonische Deals macht.
Wundern würde es mich wenigstens nicht.«

Paige nickte. Piper war schon viel länger im magischen Geschäft

als sie selbst, und wenn ihre Halbschwester so eine Theorie vertrat,
dann konnte das durchaus sein.

»Hat dir dein schlaues Pendel denn auch verraten, mit was für

einem Dämon wir es zu tun haben werden?«, fragte Paige, nachdem
sie eine Sekunde lang nachgedacht hatte.

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Piper zuckte, ohne das Steuer loszulassen mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Lassen wir uns überraschen.«

»Das wird eine Überraschung für das dumme Spießerpack«,

murmelte Andre Brightson und schüttelte grinsend die Farbspraydose
in seiner Hand.

Er liebte dieses klackende Geräusch, das das Sprühventil im oberen

Ende der Dose verursachte. Für ihn war das die reinste Sphärenmusik.

Andre war – ganz gegen seine eigentliche Natur – extra früh

aufgestanden, um das anhaltend gute Wetter zu nutzen. Auch ein
Graffiti-Sprayer war auf trockenes Wetter angewiesen. Mit einem
gekonnten Bogen sprühte Andre die Grundform seiner Figur auf die
kahle Betonmauer.

Um diese Zeit war noch kein Mensch unterwegs, und die frühen

Jogger würden die Ersten sein, die sein neuestes Kunstwerk bestaunen
durften.

Doch wenn sie, frühestens in einer Stunde, schätzte er, den

Parkweg entlang gehechelt kamen, würde er schon längst wieder zu
Hause sein. Natürlich nicht, ohne sein neuestes Meisterwerk mit
seiner Digitalkamera vorher abgelichtet zu haben.

Für einen Graffiti-Sprayer war es immer ein Risiko, seine eigenen

Werke auch noch zu fotografieren. Sollte man von der Polizei
geschnappt werden, dann lieferte man ihnen damit schließlich das
Beweismittel für die eigene Schuld noch frei Haus.

Aber der Sprayer machte sich heute keine großen Sorgen wegen

der Polizei. Auch er hatte die Berichterstattungen in den Medien
mitbekommen. Bei der derzeitigen Verbrechenswelle würden die
uniformierten Jungs etwas anderes zu tun haben, als einem harmlosen
Sprayer nachzujagen.

Nein, heute war er ganz sicher und ungestört.

Andre hatte mit der silbernen Sprühdose die Umrisse einer üppigen

Frau auf die Mauer gesprüht und griff nach der Dose mit dem
schwarzen Sprühlack, um einige erste Schattierungen aufzuzeichnen,
als er hinter sich ein raschelndes Geräusch hörte.

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Der junge Graffiti-Sprüher wirbelte herum. Hatten sich etwa

irgendwelche Zivilfahnder im Busch versteckt? Zuzutrauen war den
Cops alles. Andererseits würden die ihren Beamtenhintern doch nie so
früh am Sonntagmorgen aus dem Bett bekommen.

Misstrauisch tastete er das dichte Buschwerk hinter ihm mit den

Augen ab.

Da war nichts.

Schulterzuckend widmete sich Andre wieder seiner Arbeit. Die

Spraydose klackerte, und Sekunden später zischte ein feiner Strahl
schwarzer Farbe auf die Mauer. Die Schöpfung des jungen
Freilichtkünstlers nahm langsam Gestalt an.

Ein erneutes Rascheln ließ ihn innehalten.

Diesmal war es lauter. Und näher.

Andre stellte die Sprühdose ab und blickte sich noch einmal um. Er

konnte zwar niemanden erkennen, aber er konnte deutlich sehen, wie
sich das grüne Buschwerk auf der anderen Seite des Weges bewegte.

Aber irgendetwas stimmte nicht.

Es sah nicht aus so, als würden sich die einzelnen Aste bewegen –

sondern eher so, als ob sich ein Teil des Busches selber bewegte. Als
hätte jemand ein extrem lebensechtes Dia von einem Busch dorthin
projiziert. Ein faszinierender Effekt – aber gleichzeitig das
Unheimlichste, was Andre je gesehen hatte.

Jedenfalls bis zur nächsten Sekunde.

Andre riss die Augen auf, als ein Teil des Buschs plötzlich

menschliche Formen annahm und sich auf ihn zubewegte !

Es gab eine Art saugendes Geräusch. Die frischen Grün- und

Brauntöne lösten sich auf und gaben den Blick auf eine schuppige,
ockerfarbene Haut frei. Eine Gestalt von der Form eines Menschen,
aber mit dem Kopf einer hässlichen Riesenechse kam Andy entgegen.
Der Rücken der Gestalt endete in einem reptilienartigen Schwanz, der
zuckend über den Boden schleifte.

Das Echsen-Monster blickte den Sprayer aus kalten, gelben Augen

an. Zwei senkrechte, schwarze Schlitze prangten auf den Augäpfeln
der Kreatur.

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»Du … Menschzz!«, zischelte die Kreatur. Das Sprechen schien

ihr schwer zu fallen. Eine schmale Zunge wie bei einer Schlange
bewegte sich bei jeder Silbe zwischen den Reißzähnen des Monsters
hin und her. »Willzzt du Macht … jenseitzzz deiner
Vorztellungzzkraft? Ich kann sie dir geben … für einen kleinen
Preiszzz!«

Die Kreatur blickte Andre erwartungsvoll an. Doch der Graffiti-

Künstler brachte nicht einmal ein Japsen hervor. Mit weit
aufgerissenen Augen starrte er das bizarre Wesen an.

Verzweifelt versuchte der Verstand des jungen Mannes, diese

Szene zu verarbeiten. Die Dämpfe der Sprühfarbe! Das musste es
sein! Er hatte in der heißen Sommerluft einfach zu viele Lackdämpfe
eingeatmet. Berufsrisiko. Und jetzt hatte er Halluzinationen. Wie bei
einem schlechten Drogentrip, das war alles.

Ein Teil von Andre wusste, dass dies nur der verzweifelte Versuch

einer Erklärung war, aber für seinen Fluchtinstinkt reichte es aus.

Halluzination oder nicht – er musste versuchen, Land zu gewinnen

und so viel Abstand wie möglich zwischen sich und dieses Monster zu
bringen.

Später, wenn er erst einmal in Sicherheit war, würde er noch genug

Zeit haben, um sich über die Natur dieser Begegnung Gedanken zu
machen.

Einen Augenblick lang versuchte Andre vergeblich, Kontrolle über

seine zitternden Beine zu bekommen. Doch als die Echsen-Kreatur
noch einen Schritt auf ihn zu machte, rannte er los, ohne weiter
darüber nachzudenken.

»Halt!«, rief die Kreatur und hob eine Pranke. »Ich will dir doch

nur ein Geschzäft vorschzzlagenn«

Aber Andre hörte schon gar nicht mehr hin. Für ihn wirkten die

unbeholfen ausgestoßenen Worte der Kreatur nur wie ein bedrohliches
Zischen.

Wie von Furien gehetzt, rannte er den Parkweg entlang. Er wollte

nur weg. Der Sprayer bog um eine Ecke und machte nicht einmal
Halt, als ihm drei junge Frauen entgegenkamen.

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Ohne es zu wollen, aber auch ohne es überhaupt zu merken,

rempelte er die mittlere, eine dunkelhaarige Schönheit, an der Schulter
an.

»Hey!«, rief Piper Halliwell. »Pass doch auf, wohin du rennst!«

Diese Jogger wurden auch immer unverschämter.

»Lauft weg!«, rief der junge Mann nur. »Ein Monster!«

Piper, Phoebe und Paige blickten dem Mann ein paar Augenblicke

lang hinterher. Hatte er gerade ›Monster‹ gesagt?

Piper klatschte in die Hände.

»Dann wollen wir mal, Mädels!«

Die drei Hexen liefen in die Richtung, aus der ihnen der junge

Mann entgegengekommen war.

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15

A

LS DIE DREI Zauberhaften um die Ecke bogen, sahen sie

zunächst einmal gar nichts. Zumindest nichts Außergewöhnliches.

Eine etwa zwei Meter hohe Betonmauer trennte den Rand des

Parks von der Straße, die jenseits der Bäume verlief. Der Park selbst
lag ruhig vor ihnen. Die frühe Morgensonne strahlte durch die Zweige
und verwandelte den ganzen Park in eine Naturidylle.

Piper, Phoebe und Paige hatten schon lange nichts so Friedliches

mehr gesehen. Wenn es nicht viel zu früh am Morgen gewesen wäre,
dann hätten sie diesen Ausflug in den Stadtpark sogar genossen.

Phoebe war die Erste, die etwas bemerkte. »Schön hier«, sagte sie

und blickte sich wachsam um. »Und schön ruhig.«

Sie blickte ihre Schwestern an. Selbst Piper, die eher selten ins

Kino ging, kannte den Satz, der in so einer Situation immer folgte:
»Zu ruhig«, ergänzten die beiden Schwestern wie aus einem Mund.

Und tatsächlich: Trotz des wunderbaren Wetters und der

strahlenden Sonne fehlte etwas. Das Zwitschern der Vögel.

Der ganze Park war in Totenstille getaucht. Offensichtlich hatten

alle Vögel das Gebiet fluchtartig verlassen.

Ohne darüber nachzudenken, stellten die drei Zauberhaften sich

Rücken an Rücken auf. Sie hatten schon genug Kämpfe hinter sich,
um instinktiv diese Verteidigungsposition einzunehmen. So hatten sie
alle Richtungen im Blick, und niemand konnte sich von hinten
anschleichen.

Es sei denn, es war ein Dämon mit ungewöhnlichen Kräften.

»Das gibt's ja nicht«, keuchte Paige, als ihr Blick auf die Mauer

fiel. Ein Teil der Betonfläche war mit einer unvollendeten Figur
besprüht worden. Die Sprühdosen selbst lagen noch auf dem
Waldboden. Wahrscheinlich war dies das Werk des jungen Mannes,
der ihnen vorhin entgegengerannt gekommen war.

Aber was Paige irritierte, war nicht die eher mittelmäßige Graffiti-

Kunst, sondern der noch unbesprühte Teil der Wand. Die junge Hexe
traute ihren Sinnen nicht, als sich das Grau des Betons plötzlich

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bewegte. Ihre Augen brauchten ein paar Sekunden, um in dieser
Bewegung die Umrisse einer menschenähnlichen Gestalt zu erkennen.

Ihre Schwestern drehten sich überrascht zu ihr um. »Was ist denn,

Paige?«, fragte Piper. Dann weiteten sich ihre Augen, als auch sie das
Unglaubliche sah.

Ein Teil der Mauer schien sich zu bewegen. Dann änderte sich das

Bild. Als ob jemand einen Wasserschlauch daraufgerichtet hätte,
verschwand die graue Farbe.

Übrig blieb ein ockerfarbenes Echsen-Monster, das die drei

Schwestern böse anzischte.

»Ein Dämon!«, rief Piper.

Dann war es auch schon zu spät.

Mit einem Aufschrei stürzte sich der Echsen-Mann auf die

Schwestern. »Die drei ZzZauberhaftenn Wasszz für eine günszztige
Gelegenheit, euch zu töten!«

Im letzten Augenblick konnte Phoebe der heruntersausenden

Krallenpranke des Dämons ausweichen.

Auch ihre beiden Schwestern stoben zur Seite.

Phoebe stellte sich dem Angreifer als Erste. »Eine günstige

Gelegenheit für dich wäre es eher, mal beim Zahnarzt
vorbeizuschauen, Schuppengesicht! Hat dir schon mal jemand gesagt,
dass du lispelst?«

Aus dem Stand heraus machte Phoebe einen gewaltigen Satz und

ließ ihr linkes Bein vorschnellen – genau in Richtung Dämonenkopf.
Doch bevor sie ihr Ziel traf, war der Echsen-Mann schon
verschwunden. Jedenfalls schien es so.

Mit ihrem eigenen Schwung wirbelte Phoebe durch die Luft und

schlug schließlich unsanft auf dem Boden auf. Nur mit einer
geschickten Rolle konnte sie verhindern, sich bei ihrer eigenen,
missglückten Attacke zu verletzen.

»Phoebe, sei vorsichtig!«, rief Piper. »Ich habe von diesen

Dämonen im Buch der Schatten gelesen! Das ist ein Grru'Ar – eine
Art menschliches Chamäleon!«

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»Gut aufgepasszzt!«, zischte es in diesem Augenblick hinter Piper

auf. Die älteste der drei Halliwell-Schwestern wirbelte herum. Einen
Sekundenbruchteil lang konnte sie den schemenhaften Umriss des
Dämons erkennen, der die Farben des Strauches angenommen hatte,
vor dem er jetzt stand.

Dann traf sie die Pranke des Monsters. Der Echsen-Mann hatte

Piper einen Kinnhaken verpasst, der sie benommen zu Boden sacken
ließ.

Piper spürte den Geschmack von Blut auf ihrer Zunge. Und sie

spürte, wie Wut in ihr aufstieg. Sie hob die Hände, um den Dämon mit
einer magischen Explosion in Stücke zu reißen.

Im gleichen Augenblick änderte das Echsen-Monster erneut seine

Farbe. Vor den Augen der erstaunten Schwestern nahmen seine
Schuppen jetzt die Farbe der grünen Wiese an, die sich hinter seinem
Rücken erstreckte. Eine Sekunde lang waren seine Umrisse noch zu
erkennen, dann war der Dämon verschwunden.

Piper stieß einen nicht besonders damenhaften Fluch aus. Sie

konnte ihren Gegner weder explodieren lassen noch in der Zeit
einfrieren – wenn sie ihn nicht sah!

Während die drei Zauberhaften sich noch verzweifelt nach ihm

umsahen, bereitete das Monster bereits seinen nächsten Angriff vor.
Phoebe hörte hinter sich ein scharfes Zischen – so, als ob etwas
Scharfes die Luft durchschneiden würde. Instinktiv duckte sie sich.
Fast im gleichen Augenblick fegten die Krallen des Dämons über
ihren Kopf hinweg. Hätte sie sich nicht geduckt, wäre sie jetzt einen
Kopf kürzer.

Phoebe rollte sich auf dem Boden ab und brachte sich damit in

Sicherheit. Vorerst.

»So wird das nichts!«, rief Piper, während sie sich wachsam nach

allen Seiten umblickte. »Solange wir diesen hässlichen Vogel nicht
sehen, können wir nichts gegen ihn ausrichten!«

Ein zischendes Lachen ertönte. Es schien von überall zu kommen.

Zu sehen war nichts.

Phoebe rappelte sich auf. Jeden Moment konnte der Dämon eine

neue Attacke starten. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte zurück,
bis ihr Rücken fast gegen die Steinmauer stieß. Auf diese Weise

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konnte sie wenigstens sicher sein, dass das Echsen-Monster nicht von
hinten angriff.

Plötzlich spürte Phoebe, wie etwas gegen die Ferse ihres

Turnschuhes stieß. Sie blickte hinunter. Zu ihren Füßen lagen die
Farbdosen des Graffiti-Sprühers, die dieser in seiner Panik
zurückgelassen hatte.

Die junge Hexe hatte eine Idee …

Paige Halliwell, die Schwester mit der geringsten Kampferfahrung,

blickte sich währenddessen ängstlich um. Es war einfach verrückt – da
stand sie nun, mitten in einem idyllischen, geradezu paradiesischen
Park … und musste damit rechnen, jeden Augenblick von einem
unsichtbaren Echsen-Dämon in Stücke gerissen zu werden. Und für
diesen Job als Hexe hatte sie ihre Stelle beim Sozialamt aufgegeben?

»Paige, pass auf!«, rief Piper erschrocken.

Die jüngste Hexenschwester wirbelte herum. Aus den

Augenwinkeln sah sie, wie ein Teil der Landschaft auf sie zujagte.
Zumindest sah es so aus. In Wirklichkeit war es das Echsen-Monster,
das mit seinen messerscharfen Krallen zu einem Todesstoß ausholte.

Ohne groß darüber nachzudenken, setzte Paige ihre

Teleportationskräfte ein. Sie schimmerte kurz auf und war dann
verschwunden.

Sekundenbruchteile später materialisierte sie wieder, ein paar

Meter entfernt. Sie sah gerade noch, wie der Schlag des Echsen-
Wesens ins Leere ging und die Kreatur wütend aufzischte. Für seinen
verpatzten Todesstoß hatte der Dämon seine Position verändern und
dafür seine Tarnung aufgeben müssen. Seine Haut trug jetzt immer
noch die Färbung des Strauchwerks, obwohl er auf dem ockerfarbenen
Gehweg stand. Eine Sekunde lang wirkte es so, als hätte jemand ein
Stück der Landschaft herausgeschnitten und an einer falschen Stelle
wieder eingefügt.

Doch schon begann das Echsen-Monster wieder, seine

Hautfärbung der Umgebung anzupassen. Einen Moment noch, und es
würde wieder unsichtbar sein.

Das reichte Phoebe.

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Mit einem Kampfschrei auf den Lippen wirbelte sie durch die Luft

und landete direkt vor dem Dämon. Bevor die Bestie reagieren konnte,
richtete Phoebe eine der Farbsprühdosen auf ihn. Es gab ein
zischendes Geräusch und ein scharfer Strahl aus knallroter Lackfarbe
schoss dem Dämon gegen die schuppige Brust.

Der Echsen-Mann fauchte wütend auf. Dann versuchte er, seine

Verwandlung zu vollenden und wieder mit der Umgebung zu
verschmelzen.

Vergeblich.

Obwohl seine Konturen im nächsten Augenblick wieder

verschwammen und nicht mehr vom Hintergrund zu unterscheiden
waren, prangte immer noch ein knallroter Farbfleck in der Luft.

»Sehr gut, Phoebe!«, rief Piper, die ein Stück weit entfernt stand.

Der Dämon gab ein erneutes, wütendes Fauchen von sich.

»Verdammte Hexxze!«, zischte und versuchte ebenso verzweifelt wie
vergeblich, mit seiner Umgebung zu verschmelzen. Der rote Punkt
blieb.

Piper blickte sich kurz um und hob dann einen spitzen, etwa

unterarmlangen Ast auf, der unter einem der Bäume lag.

Es wurde Zeit, diesen Kampf zu beenden, bevor die ersten Jogger

und Spaziergänger eintrafen.

»Paige, würdest du bitte …?«, fragte die älteste Halliwell-

Schwester und warf den Ast senkrecht in die Höhe.

Paige blickte ihre Schwester einen Sekundenbruchteil fragend an,

dann verstand sie, was Piper wollte.

Der Ast fiel bereits zurück zu Boden, als Paige mit ihrer

telekinetischen Kraft nach ihm griff. Gegen alle Gesetze der
Schwerkraft änderte er plötzlich seine Richtung und sauste nun
horizontal weiter.

Genau auf den roten Punkt zu, der mitten in der Luft zu schweben

schien.

Phoebes Zielmarkierung.

Der Echsen-Dämon schrie auf. »NEINNNN!«

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Doch es war zu spät. Mit einem dumpfen Geräusch bohrte sich die

spitze Seite des Astes genau in die Brust des Monsters. Der Dämon
bäumte sich auf und nahm im Augenblick seines Todes wieder seine
normale, ockerfarbene Hautfärbung an.

Einen Moment lang konnten die drei Hexen ihren Gegner noch

einmal in seiner vollen Hässlichkeit bewundern.

Dann zerplatzte er mit einem Ekel erregenden Geräusch. Zurück

blieb nur eine schwarze, schleimige Substanz auf dem Gehweg.

»Argh!«, sagte Paige mit einem angewiderten Gesichtsausdruck.

»Hoffentlich passen die Jogger heute auf, wo sie hintreten.«

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16

»

D

AS IST DER SAUBERSTE TATORT, den ich je gesehen

habe«, sagte Doktor Nyang und zog sich seine Gummihandschuhe
aus, »und ich meine das nicht als Kompliment für die Putzfrau.«

Darryl Morris verdrehte die Augen. Dann blickte er in den großen

Spiegel, der über dem Waschbecken angebracht war. Das Gesicht, das
ihm entgegenblickte, sah müde und erschöpft aus. Kein Wunder. Es
war zehn Uhr am Sonntagmorgen, und der Anruf der Einsatzzentrale
hatte ihn bereits vor einer Stunde aus dem Bett geklingelt. Bis weit in
die letzte Nacht hinein hatte er am Schreibtisch gesessen und die
spärlichen Spuren der beiden vorangegangenen Morde wieder und
wieder analysiert. Vergeblich. Es gab keine Gemeinsamkeit zwischen
den Opfern, keine Hinweise auf den Täter – nicht einmal ein Indiz
dafür, wie die beiden Morde überhaupt begangen worden waren.

Und nun das.

Ein dritter Mord. Der dritte in ebenso vielen Tagen.

Darryl stand hinter Doktor Nyang in der weiß gekachelten

Damentoilette eines großen Kinopalastes der Stadt. Vor dem
Waschbecken lag die Leiche einer jungen Frau.

Darryl war auch gerade erst gekommen und wusste noch nicht

allzu viel über das, was geschehen war. Die junge Dame, eine gewisse
Elisabeth Bergson, hatte gestern Abend mit ein paar Freundinnen das
Kino für eine Spätvorstellung besucht. Nach dem Ende des Films war
Elisabeth noch schnell auf die Toilette gegangen und hatte mit ihren
Freundinnen ausgemacht, sich mit ihnen auf dem Parkplatz zu treffen.

Als sie nach einer halben Stunde noch nicht zurück war, waren ihre

Begleiterinnen davon ausgegangen, sie verpasst zu haben und fuhren
ohne sie nach Hause.

Zu diesem Zeitpunkt war Elisabeth Bergson wahrscheinlich schon

tot. Irgendjemand hatte ihr in der Toilette aufgelauert und sie
ermordet.

»Was meinen Sie mit ›sauberer Tatort‹, Doc?«, fragte Darryl

gereizt.

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Der Leichenbeschauer grinste den Detective an. Die frühe

Morgenstunde schien ihm nicht das Geringste auszumachen. »Nun ja,
Detective, der Mörder – oder die Mörderin, ich möchte keine
voreiligen Schlussfolgerungen treffen – hat das Opfer mit äußerster
Präzision getötet. Sie werden feststellen, dass Sie hier auch nicht den
kleinsten Blutstropfen finden werden.«

Darryl zuckte mit den Schultern. »Na und? Die gesamte Toilette ist

gekachelt. Es sollte für den Mörder doch kein Problem sein,
eventuelle Blutstropfen wegzuwischen, bevor er sich aus dem Staub
macht.«

Nyang schüttelte nur lächelnd den Kopf. »Ganz so einfach ist das

nicht, Detective«, entgegnete er. Seine Stimme klang fast nachsichtig,
als müsste er einem kleinen Kind die Welt erklären.

Darryl überlegte kurz, ob er wohl mildernde Umstände

zugesprochen bekäme, wenn er dem Gerichtsmediziner jetzt den Hals
umdrehen würde.

Mit einem triumphierenden Grinsen griff Doktor Nyang in seine

Arzttasche und zog ein seltsames Gerät hervor, das an ein
aufschnallbares Nachtsichtgerät erinnerte. Nyang reichte es an den
Detective weiter. »Hier setzen Sie das mal auf und aktivieren Sie es.
Der Schalter ist an der linken Seite.«

Zögernd zog sich Darryl das Gerät über den Kopf und befestigte es

mit einem Riemen am Hinterkopf. Die zwei Linsen ließen sich wie
eine Brille über die Augen ziehen.

Noch waren sie undurchsichtig. Darryl ertastete den

Einschaltknopf, und eine Sekunde später summten die elektronischen
Linsen auf, und Darryl konnte wieder etwas sehen Der ganze
Toilettenraum erschien durch das Gerät in grünes Licht getaucht. Als
sein Blick auf seine Reflexion im Spiegel fiel, kam sich Darryl eine
Sekunde lang vor wie ein Marsmensch. Beeindruckend, aber was
sollte das Ganze?

Das fragte Darryl auch Doktor Nyang. Der Gerichtsmediziner

lachte mit grasgrünen Zähnen auf und machte eine ausholende Geste.
»Ich habe den Raum mit einem speziellern Enzym eingesprüht.«

Nyang schwenkte eine kleine Spraydose, auf deren Etikett eine

rätselhafte chemische Bezeichnung geschrieben stand. »Es reagiert

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mit menschlichem Blut und löst damit eine chemische Reaktion aus.
Die elektronischen Sicht linsen, die Sie da tragen, Detective, enthalten
ein Spektrometer, das diese Reaktion sichtbar macht. Wenn es hie
irgendwo Blutspuren gibt – auch nur die geringsten Mengen – dann
müssten sie durch die Linsen knallgrün aufglühen. Und wie Sie sehen
– Sie sehen nichts!«

Darryl nickte. Der ganze Toilettenraum leuchtete in einem matten

Grün, aber nirgendwo hoben sich hellere Flecken ab. Darryl probierte
etwas aus. Er nahm Doktor Nyang das kleine Fläschchen aus der Hand
und sprühte damit vorsichtig auf den Zeigefinger seiner linken Hand
Gestern hatte er sich dort beim Durchwälzen der Akten an einer
Papierseite geschnitten.

Tatsächlich. Der winzig kleine, schon fast verheilte Schnitt

leuchtete durch die Sichtgläser strahlend grün auf Dieses seltsame
Gerat funktionierte also.

»Ich sehe schon«, grinste Nyang, als Darryl das Hightech Gerät

wieder von seinem Kopf zog, »Sie trauen meiner Ausrüstung nicht.
Aber seien Sie versichert: Im gesamten Toilettenraum befindet sich
kein einziger Blutstropfen.«

Darryl nickte. »Das mag ja sein, Doc – aber warum ist das so

ungewöhnlich? Es gibt leider Gottes viele Arten, einen Menschen zu
töten – und eine Menge davon kommen ganz ohne Blutvergießen
aus.«

»Das schon, Detective, und glauben Sie mir, ich habe sie alle schon

gesehen. Aber was mich ehrlich gesagt vor ein Rätsel stellt: Wie
hinterlässt man eine fast blutleere Leiche, ohne dass am Tatort auch
nur ein einziger Blutstropfen zurückbleibt. Können Sie mir das
erklären?«

Der Detective traute seinen Ohren nicht. »Wollen Sie damit sagen,

dass …«

»… unsere arme Miss Bergson keinen Tropfen Blut mehr im Leib

hat.« Doktor Nyang deutete auf die Leiche der jungen Frau. Erst jetzt
fiel Darryl auf, dass ihr Gesicht tatsächlich wachsbleich aussah.
Leichen waren ja nicht gerade für rosige Bäckchen bekannt, aber diese
fast schon bläuliche Einfärbung der Haut war in der Tat
ungewöhnlich.

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Darryl spürte, wie sein Kopf wieder zu schmerzen begann. Er

stöhnte gequält auf. Wie sollte er das dem Bürgermeister erklären?

»Sie sehen aber auch etwas blass aus, Detective«, sagte Nyang

kopfschüttelnd. »Dabei wissen Sie ja noch nicht einmal alles …«

Oh, nein, dachte Darryl entsetzt. Nicht noch mehr Rätsel. Aber

Nyang war gnadenlos. Wie bei einer chinesischen Wasserfolter ließ er
eine bruchstückhafte Information nach der anderen auf den Detective
niedertropfen. Wahrscheinlich genoss er dieses Spielchen.

»Schauen Sie hier«, fuhr Nyang fort und kniete sich wieder neben

die Leiche. Er deutete auf den Hals der Toten. »Zwei winzige
Einstiche im Bereich der Halsschlagader. Ich vermute, dass sie vom
Täter stammen, der seinem Opfer auf diese Weise das Blut ausgesaugt
hat. Wahrscheinlich mit einer Art Unterdruck-Mechanismus. Sehr
raffiniert.«

»Aber warum?«, fragte Darryl entsetzt. Er war froh, dass er noch

nicht die Zeit gefunden hatte, um etwas zu frühstücken.

Nyang zuckte nur mit den Schultern. »Aber da ist noch etwas, das

mir Rätsel aufgibt, Detective …«

Na großartig, dachte Darryl. Was denn jetzt noch?

Doktor Nyang deutete mit einem viel sagenden Lächeln auf den

großen Spiegel über dem Waschbecken.

»Anhand der Einstichstellen lässt sich schon jetzt mit ziemlicher

Sicherheit sagen, dass das Opfer von hinten angegriffen wurde, als es
gerade vor dem Waschbecken stand …«

»Ja, und?«

»Sagen Sie mir, Detective, warum Sie den Mörder dann nicht im

Spiegel gesehen hat und weggelaufen ist!«

Darryl runzelte die Stirn und betrachtete sein eigenes Spiegelbild.

Der Doktor hatte Recht – es war einfach unmöglich, sich unbemerkt
von hinten anzuschleichen, ohne dass das Opfer etwas merkte.

Dafür gab es nur eine Erklärung – der Täter hatte kein Spiegelbild.

Darryl seufzte. Waren etwa doch übernatürliche Mächte am Werk?

Er würde seine informellen Mitarbeiterinnen – die drei Halliwell-
Schwestern – noch einmal zurate ziehen müssen.

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Aber das würde er dem Doktor ganz bestimmt nicht auf die Nase

binden.

»Vielen Dank, Doktor Nyang«, sagte er stattdessen. Darryl wollte

dem Gerichtsmediziner noch einen schönen Sonntag wünschen, als
etwas in seiner Brusttasche vibrierte. Sein Handy.

Erstaunt drückte Darryl auf eine Taste und hielt sich das winzige

Mobiltelefon ans Ohr.

Kurz darauf wurde seine Gesichtsfarbe noch ungesunder.

»Oh, guten Morgen Herr Bürgermeister …«

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17

A

LS PIPER, PHOEBE UND PAIGE zu Hause ankamen, waren

sie alle in Schweiß gebadet. »Ich gehe als Erste duschen«, rief Paige
und stürmte durch die Haustür hinauf in den ersten Stock, wo sich das
Badezimmer befand.

Phoebe und Piper waren zu erschöpft, um sich mit Paige um dieses

Privileg noch streiten zu können. Obwohl die alte Standuhr im
Wohnzimmer in genau diesem Augenblick erst zehn Uhr morgens
schlug, war es bereits wieder unerträglich heiß.

Die Hitzewelle schwoll wieder einmal an.

»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Piper erschöpft.

Phoebe überlegte kurz, dann schüttelte sie den Kopf. Einen kleinen

Wachmacher hätte sie schon gut gebrauchen können, aber für ein
heißes Getränk war ihr viel zu warm. »Lieber einen O-Saft«,
antwortete sie. »Lass nur, ich hole ihn mir schon selber.«

Erschöpft schlurfte Phoebe in die Küche und öffnete die

Kühlschranktür. Ein paar Sekunden lang genoss sie die eisige Kälte,
die ihr entgegenschlug.

»Du hast es gut«, sagte sie zu dem lächelnden Orangen-Männchen,

das auf der Saftpackung abgebildet war.

Piper hatte inzwischen zwei Gläser geholt und auf den Küchentisch

gestellt. Oben, im ersten Stock, begann die Dusche zu rauschen.

»Wenn Paige fertig ist, springe ich auch unter die Dusche und lege

mich noch eine Runde aufs Ohr«, sagte Phoebe, während sie den Saft
eingoss. »Vielleicht blase ich sogar unsere alte Luftmatratze auf und
ziehe in den Keller.«

»Keine schlechte Idee«, erwiderte Piper, bevor sie ihr Glas mit ein

paar hastigen Schlucken fast leerte. Es war ihr mittlerweile egal, wie
ungesund das angeblich war. Sie genoss es einfach, wie die kalte
Flüssigkeit ihre Kehle hinunterlief.

»Lass uns mal den Fernseher einschalten«, sagte Phoebe und nahm

ihr Glas in die Hand. »Vielleicht erwischen wir ja eine

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Wettervorhersage. Diese Hitzewelle kann doch nicht ewig so
weitergehen.«

Piper nickte und folgte ihrer jüngeren Schwester ins Wohnzimmer.

»Ich hoffe, du hast Recht. Denn wenn die Dämonen in dieser
Häufigkeit weiter von der Hitze angezogen werden, mache ich bald
schlapp.«

Phoebe hatte bereits das Wohnzimmer erreicht und nickte. »Ja, von

hitzefrei haben die in der Hölle wohl noch nie etwas gehört …«

Piper blickte sich um. Wo hatte Paige denn schon wieder die

Fernbedienung hingelegt? Erst nach einer intensiven Suche fanden die
beiden Halliwell-Schwestern sie unter einem der Sofakissen.

»Das ist mal wieder typisch für Paige«, knurrte Piper.

Phoebe grinste nur. »Sei nicht so streng mit ihr. Immerhin hat sie

sich heute Morgen gut geschlagen.«

»Das stimmt allerdings«, musste Piper anerkennen. »So langsam

hat sie wirklich den Bogen raus. Ich bin froh, dass wir sie haben.«

»Auch wenn sie bald mal mit dem Duschen fertig werden könnte«,

murmelte Phoebe. Das Wasser im ersten Stock rauschte immer noch.

Piper schaltete den Fernseher ein.

»Das gibt's ja nicht!«, rief Phoebe erstaunt auf, als das Bild

aufflammte. »Da ist ja Darryl!«

Phoebe hatte Recht. Zufällig hatte Piper auf einen der Lokalsender

geschaltet, auf dem offensichtlich gerade eine Pressekonferenz
abgehalten wurde. Piper erkannte den Bürgermeister von San
Francisco, der auf einer Rednerbühne stand und gerade aufgeregt mit
Darryl diskutierte.

Der Bürgermeister redete mit zornesrotem Gesicht auf den

Detective ein, der immer kleiner zu werden schien.

Und offensichtlich hatte der Bürgermeister noch nicht bemerkt,

dass die Kameras bereits liefen. Der Tadel, den er seinem
Untergebenen da verpasste, war bestimmt nicht für die Öffentlichkeit
gedacht.

»… von Inkompetenz umgeben. Das sage ich Ihnen, Morris, wenn

Sie diesen Verrückten nicht innerhalb der nächsten drei Tage

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geschnappt haben, können Sie wieder den Verkehr regeln, ist das
klar?!«

Bevor der arme Darryl etwas entgegnen konnte, bemerkte der

Bürgermeister seinen Fehler. Sofort schaltete er sein Kamera-Gesicht
ein und lächelte in die auf ihn gerichteten Objektive.

»Sehr verehrte Damen und Herren von der Presse, wie Sie ja

bereits wissen, hat es bedauerlicherweise in der letzten Nacht einen
neuen Mordfall gegeben. Die Ermittlungen laufen bereits auf
Hochtouren. Einer meiner besten Männer, Detective Darryl Morris,
leitet das Untersuchungsteam, das bereits eine heiße Spur verfolgt …«

Phoebe und Piper konnten am Bildschirm sehen, wie Darryl im

Hintergrund verlegen lächelte und dabei Blut und Wasser schwitzte.
Er machte nicht den Eindruck, als würde er irgendeine Spur verfolgen.

»Der Ärmste«, sagte Piper mitleidig. »Wenn er nicht bald ein paar

Ergebnisse vorweisen kann, wird der Bürgermeister ihn grillen. Von
der Presse ganz zu schweigen …«

Phoebe wollte gerade etwas erwidern, als ein markerschütternder

Schrei durch das Haus hallte.

Das war Paige.

Ohne eine Sekunde zu zögern sprangen die beiden anderen

Halliwell-Schwestern auf. Ein paar Sekunden später hatten sie schon
den Treppenabsatz des ersten Stockwerkes erreicht.

In diesem Augenblick wurde die Tür des Badezimmers

aufgestoßen. Paige kam herausgestürzt. Sie hatte sich nur notdürftig
ein Badehandtuch umgeschlungen und deutete auf die offene
Badezimmertür.

»Wie lange wurde eigentlich der Ausguss vom Waschbecken nicht

mehr gereinigt?«, rief sie aufgeregt.

»Wieso, was ist denn?«, fragte Piper. Wenn das ein Scherz sein

sollte, dann …

Aber Paige deutete nur mit einer Kopfbewegung in das

Badezimmer. »Sieh selbst!«

Vorsichtig steckten Piper und Phoebe ihre Köpfe durch die Tür.

Sie trauten ihren Augen nicht.

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Mit einem gurgelnden Geräusch schoss eine Fontäne aus

bräunlichem Schlamm aus dem Waschbecken heraus. Aber anstatt
sich in alle Richtungen zu verteilen, spritzte der Schlamm auf eine
bestimmte Stelle auf dem Boden und schien sich dort aufzutürmen.

Die Fontäne nahm kein Ende mehr. Der Schlammhügel war jetzt

schon fast zwei Meter hoch und nahm langsam Gestalt an.

Die Gestalt eines Dämons.

Und er stank abscheulich.

»Igitt!«, rief Phoebe und hielt sich die Nase zu. »Das ist ja

entsetzlich!«

Tatsächlich stank das Badezimmer, als hätte es jemand in ein

Sumpfgebiet verwandelt. Die Fontäne endete abrupt und das
Schlamm-Monster bäumte sich noch einmal auf, bevor es endgültig
eine menschenähnliche Gestalt annahm. Sein Gesicht wirkte wie eine
zerschmolzene Maske, die entfernt an die eines Menschen erinnerte.

Dann öffnete das Wesen sein Maul und brüllte die drei

Zauberhaften an. Phoebe, Piper und Paige wichen zurück. Es war
weniger das Brüllen, das sie die Flucht ergreifen ließ, als der
bestialische Gestank aus dem Maul der Schlamm-Bestie.

Entsetzt liefen sie die Treppe hinunter, wobei Paige Mühe hatte, ihr

Badetuch festzuhalten.

»Das darf doch wohl nicht wahr sein«, rief Piper. »Andere Leute

haben im Sommer ein Mückenproblem – und wir eine Dämonenplage.
Ich habe langsam keine Lust mehr.«

Im Flur angekommen, machten die drei Schwestern Halt und

blickten zurück.

Der Schlamm-Dämon war ihnen dicht auf den Fersen. Anstatt die

Treppe hinunterzulaufen, floss er einfach von Stufe zu Stufe.
Allerdings nicht, ohne eine breite Schlammschicht auf dem Parkett zu
hinterlassen. Piper heulte wütend auf.

»Spinnst du?!«, schrie sie den Dämon an, »ich habe hier frisch

geputzt, verdammt noch mal!«

Der Dämon zögerte. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass

man ihn anschrie.

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»Grrööörgggl?!«, grunzte er blubbernd.

»Ich gebe dir gleich ›Grööggll‹!«, rief Piper nur und hob die

Hände.

»Ah, Piper, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, rief Phoebe

noch dazwischen, aber es war schon zu spät.

Die älteste Halliwell-Schwester schloss kurz die Augen und

konzentrierte sich.

Einen Sekundenbruchteil später explodierte der Dämon mit einem

lauten Knall. Das nächste Geräusch, das die drei Schwestern hörten,
war ein platschendes Geräusch. Eine wahre Flutwelle aus feuchtem
Schlamm traf sie von oben bis unten.

Fassungslos blickten Piper, Phoebe und Paige sich an.

»Na, großartig«, knurrte Phoebe und wischte sich eine Ladung

Dreck aus dem Gesicht. »Danke für die Schlammpackung, Piper. Es
soll ja nichts Besseres für die Hautgeben.«

»Ich gehe zuerst duschen!«, rief Paige und rannte die Stufen zum

Badezimmer hinauf. Sekunden später war erneut das Rauschen der
Dusche zu hören.

Piper blickte sich um. Der schöne, frisch geputzte Hausflur – von

oben bis unten mit stinkendem, dämonischem Schlamm bedeckt. Sie
würde Stunden brauchen, um das alles wieder sauber zu bekommen.

Aber sie würde nicht allein schrubben, so viel war sicher.

»Leo!«, rief sie.

Gustav Landreau rieb sich die schmerzende Brust. Die Stiche in

seinem Herzen waren jetzt heftiger und kamen in immer kürzeren
Abständen. Stöhnend griff der alte Mann nach der Pillendose auf dem
Kaffeetisch und nahm zwei der Tabletten heraus. Diesmal spülte er sie
nicht mit Alkohol, sondern mit Wasser hinunter. Er hatte zwar keine
Angst vor dem Tod, aber er wollte den Lauf der Dinge auch nicht
unnötig beschleunigen.

Immerhin gab es noch etwas zu regeln.

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Wie immer dauerte es eine Minute, bis die Herztabletten ihre

Wirkung entfalteten. Das Stechen in der Brust klang langsam ab, dann
war es verschwunden. Aber Landreau wusste, dass seine
Medikamente die Schmerzen nur kurzzeitig vertreiben konnten. Sie
lauerten noch immer in seiner Brust, bereit, wieder zuzuschlagen …
und ihm irgendwann den Rest zu geben.

Die Zeit drängte langsam, aber die Dinge standen gut. Voller

Befriedigung hatte Landreau die Pressekonferenz im Fernsehen
verfolgt. In der letzten Nacht hatte es einen dritten Mord gegeben und
die Polizei tappte offensichtlich noch immer im Dunkeln.

Und das würde so bleiben – auch nach dem vierten Mord, der

sicher sehr bald folgen würde. Gustav Landreau lachte auf. Er hatte
sich seinen jungen Schüler sehr gut ausgesucht.

Für kurze Zeit war er etwas beunruhigt gewesen, als plötzlich diese

beiden Hexen am Set von ›Scream X-Treme‹ aufgetaucht waren.
Landreau hatte in den vergangenen vierzig Jahren Erfahrungen mit
den übersinnlichen Mächten sammeln können – nicht nur als
Regisseur von Horrorfilmen, wohlgemerkt. Es war für ihn nicht
schwer gewesen zu durchschauen, dass die beiden Schwestern zu den
Zauberhaften gehörten. Aber diese jungen Dinger waren ahnungslos
und konnten ihm und seinen Plänen nicht gefährlich werden. Im
Gegenteil – sie brachten vielleicht etwas frischen Wind und eine
zusätzliche Herausforderung in das Spiel.

Landreau lachte triumphierend auf. Diesmal verursachte das

Gelächter keine Schmerzen in seiner Brust. Im Gegenteil, er fühlte
sich dadurch verjüngt.

Allem besseren Wissen zum Trotz schenkte er sich nun doch ein

Glas Whisky ein. Dann trat Gustav Landreau vor einen großen
Wandspiegel und prostete sich zu.

In diesem Moment begann der große Breitwand-Fernseher zu

rauschen. Landreau blickte sich um. Ohne Überraschung nahm er
wahr, wie sich das Fernsehbild langsam verzerrte. Aus einem weißen
Rauschen bildete sich ein Gewirr, das aus tausend schwarz-weißen
Ameisen zu bestehen schien, und schließlich den Umriss einer Gestalt
zum Vorschein brachte. Es war nicht mehr als ein schemenhaftes,
dunkles Bild, aber Landreau erkannte seinen unheimlichen Besucher
sofort. Dass er über den Fernseher Kontakt zu ihm aufnahm, war zwar

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neu – aber warum sollten nicht auch Dämonen allmählich mit der Zeit
gehen?

»Gustav, du siehst blass aus«, dröhnte es aus den Lautsprechern

des Fernsehers. »Deine Zeit läuft ab. Ich hoffe, du vergisst unsere
kleine Abmachung nicht?«

Landreau lächelte und schüttelte den Kopf. »Wie könnte ich das.

Ich habe alles in die Wege geleitet. Das Spiel hat längst begonnen.
Mach dir keine Sorgen.«

Die Gestalt auf dem Fernsehbildschirm lachte auf. »Oh, ich mache

mir keine Sorgen. Warum auch. Ich gewinne immer.«

Es gab ein letztes statisches Knistern, dann verschwand die Gestalt

wieder. Einzig das weiße Rauschen des Fernsehers blieb zurück.

Gustav Landreau nahm noch einen Schluck Whisky und schaltete

dann den Fernseher ab.

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18

»

H

AST DU DEIN HANDY AUCH AN?«, fragte Phoebe.

»Klar, keine Sorge, es steht auf Vibrations-Alarm«, beruhigte

Paige ihre Halbschwester. »Falls wieder irgendwelche Dämonen
auftauchen, kann Piper uns einfach anrufen. Aber ich hoffe, wir
bleiben heute davon verschont. Das Wochenende hat mir gereicht.«

Phoebe nickte. Sie erinnerte sich mit Schaudern an den gestrigen

Tag. Nach dem Angriff des Schlamm-Dämons hatten sie gerade mal
ein paar Stunden Ruhe gehabt. Denn schon kurz nach Einbruch der
Dämmerung – Piper und Leo waren gerade erst mit der Beseitigung
der Schlammspuren fertig geworden – waren die drei Schwestern
durch ein flatterndes Geräusch aufgeschreckt worden. Die drei
Zauberhaften und Leo waren nach draußen gestürmt, wo schon ein
mannsgroßer Fledermaus-Dämon auf sie gelauert hatte. Die drei
Schwestern und Leo konnten den scharfen Krallen des Dämons nur
entgehen, indem sie sich auf den Boden warfen. Während das
Fledermaus-Monster wie ein Jagdbomber zu einem zweiten
Luftangriff ansetzte, hatte Piper zum Glück schon die Arme gehoben
und fror den Angreifer kurzerhand mitten in der Luft ein. Phoebe
erinnerte sich noch gut daran, wie die ledernen Flügel des Dämons
plötzlich erstarrten – und die Schwerkraft ihren Tribut forderte.
Krachend war der Fledermaus-Dämon in einem Gebüsch im Garten
des Hauses gelandet. Im selben Augenblick, indem er sich das Genick
gebrochen hatte, war der Angreifer auch schon zu Staub zerfallen.
Zum Glück – darüber waren sich die drei Zauberhaften und Leo einig
gewesen – lockte diese Hitzewelle nicht gerade die intelligentesten
Dämonen an. Trotzdem war es kein Vergnügen, fast das ganze
Wochenende gegen eine Dämonenplage kämpfen zu müssen.

Aber fürs Erste war der Stress der letzten Tage vergessen. Phoebe

und Paige spazierten durch das Tenderloin-Viertel, die etwas
schmuddlige Amüsiermeile der Stadt. Normalerweise wimmelte es
hier von Touristen, die die etwas verruchtere Seite San Franciscos
kennen lernen wollten. Aber die Hitzewelle legte selbst den
Touristenstrom lahm. Die Straßen waren zwar nicht gerade
ausgestorben, aber erheblich leerer als sonst.

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Umso besser. Andy, der Regisseur von ›Scream X-Treme‹ hatte

gestern, am Sonntagabend, noch einmal angerufen und den beiden
Schwestern den Drehort für die nächsten Aufnahmen mitgeteilt.

Diesmal war wieder ein Außendreh an der Reihe, und wie immer

in solchen Fällen würde er ohne Genehmigung auf offener Straße
stattfinden. Guerilla-Filmen eben! Phoebe erinnerte sich grinsend an
ihre erste Begegnung mit dem Filmteam, als sie bei einer ähnlichen
Aktion die ferngesteuerte Mumie zertrümmert hatte.

Die Mumie …

Phoebe stutzte. Etwas in ihrem Unterbewusstsein machte Klick.

Aber die junge Hexe kam nicht darauf, was es war. Irgendetwas hatte
mit der unheimlichen Mordserie zu tun, mit der ihr Freund Darryl
Morris betreut war. Aber was?

Paige riss ihre Halbschwester aus den Gedanken. »Hey, da vorne

ist Andy!«

Phoebe blickte auf. Tatsächlich. In einem dunklen Hauseingang

stand der Regisseur von › Scream X-Treme‹, blickte sich misstrauisch
nach allen Seiten um und winkte die beiden Schwestern dann heran.

Er trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem der Schriftzug ›Scream X-

Treme‹ in blutigen Lettern aufgedruckt war. »Paige, Phoebe, da seid
ihr ja«, begrüßte er sie und grinste. »Wir legen gleich los.«

Paige deutete auf das T-Shirt. »Cooles Teil, Andy.«

»Was? Oh, das T-Shirt. Ja, wir haben einen Sponsor gefunden, der

uns die Dinger bezahlt. Solche T-Shirts für die Crew sind normal bei
Filmproduktionen. Ich habe für euch auch noch welche. Ich gebe sie
euch nachher – und hebt sie gut auf. Die Dinger können einen
ziemlich hohen Sammlerwert unter den Fans erzielen.«

»Oh, ich werde mich von meinem niemals trennen«, gurrte Paige.

»Vorausgesetzt, der Regisseur des Films verewigt sich darauf mit
einem Autogramm.«

»Darüber lässt sich reden«, grinste Andy.

Phoebe verdrehte die Augen. War sie auch so peinlich beim

Flirten?

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»Wolltet ihr nicht mit dem Dreh anfangen, Andy?«, fragte sie

schließlich.

Der Jungregisseur räusperte sich. »Oh, sicher. Wir warten nur noch

ein paar Minuten auf das richtige Licht der Abendsonne. Kommt mit,
wir drehen wieder in einer Seitengasse.«

Andy bedeutete den beiden Schwestern, ihm zu folgen. Die drei

bogen in eine kleine Nebenstraße ein, in der der Rest des Teams schon
versammelt war. Tatsächlich trugen sie alle stolz die schwarzen T-
Shirts mit dem ›Scream X-Treme‹- Aufdruck.

Pete, der etwas füllige Kameramann, sah darin ein wenig wie eine

Presswurst aus. »Hey, XXL gab es leider nicht«, grinste Pete, als er
die amüsierten Blicke der beiden Schwestern bemerkte. »Aber mir ist
es lieber, das Shirt spannt sich ein bisschen über meinem Astralkörper,
als das es so herumschlottert wie an dieser Bohnenstange hier.«

Mit einem breiten Grinsen deutete er auf seinen hageren Ton-

Assistenten, dem sein persönliches T-Shirt tatsächlich ein paar
Nummern zu weit war.

Eine scharfe Stimme durchschnitt plötzlich die Luft.

»Ist das hier eine Modenschau, oder können wir endlich mal

anfangen? Im Gegensatz zu euch habe ich nämlich auch noch ein
Privatleben.«

Phoebe und Paige blickten sich um.

Hinter ihnen stand Virginia Fontaine, geborene Pilfinger, und

blickte sich abschätzig um. »Schon wieder eine schmutzige Gasse.
Gott, bin ich froh, wenn ich diesen Alptraum-Job hinter mir habe.«

»Virginia. Schön, dass du auch noch kommst«, grüßte Andy und

blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr.

Die Schauspielerin gab ein missbilligendes ›Pfft‹ von sich.

»Wieso? Hättest du meine Rolle sonst an eine dieser beiden …
Schulmädchen vergeben?«, fragte sie und blickte die beiden
Halliwell-Schwestern dabei an. Ihr Blick war genauso abfällig wie ihr
Tonfall.

»Rede keinen Unsinn, Virginia«, antwortete Andy nur. »Du bist

unser Star, keine Frage.«

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»Allerdings«, zischte die Schauspielerin. »Und vergiss nicht, dass

mein Verlobter auch der Hauptsponsor für deinen kleinen Film ist,
Andy«, fügte sie hinzu. Die Drohung in diesem Satz war nicht zu
überhören.

Andy ging nicht darauf ein, sondern blickte nur nach oben. »Das

Licht ist jetzt genau richtig, würde ich sagen. Pete, was meinst du?«

Der Kameramann antwortete nur mit einer Geste: Perfekt.

»Schön, dann lasst uns anfangen, bevor die Anwohner wieder die

Polizei informieren. Virginia, du weißt, was du zu tun hast. Tim, bist
du auch so weit?«

Tim Sorvino, der Mann für die Spezialeffekte, trat aus dem

Schatten einer Hauswand. Phoebe und Paige hatten ihn bis zu diesem
Moment gar nicht bemerkt. In seinen Armen hielt er die Puppe des
kleinen Werwolfs.

»Von mir aus kann es losgehen«, erwiderte Tim. Dann warf er

noch einen bösen Blick auf Phoebe. »Und denk daran«, sagte er zu
ihr, »das hier ist eine Puppe. Eine sehr teure Puppe, in der eine Menge
Arbeit steckt. Es wäre nett, wenn du sie diesmal nicht zertrümmern
würdest.«

»Keine Sorge«, antwortete Phoebe mit einem gespielten Lächeln.

»Diesmal weiß ich ja Bescheid.«

»Okay, Leute, dann mal los.« Andy stellte sich auf einen kleinen

Treppenaufsatz, von dem aus er einen besseren Überblick über die
ganze Szene hatte. »Virginia, du läufst einfach die Gasse hinunter und
wirst dabei von dem kleinen Werwolf verfolgt. Tim, deine Puppe läuft
hinter Virginia her, und wenn sie etwa da drüben an den Mülltonnen
angekommen ist, lässt du deinen kleinen Liebling sie anspringen,
okay?«

»Kein Problem«, antwortete Sorvino.

»Gut. Und Virginia – denk bitte daran, dass du in dieser Szene am

Fuß verletzt bist und nicht mehr schnell laufen kannst. Sonst hat die
Puppe überhaupt keine Chance, dich einzuholen.«

»Andy, rede nicht mit mir, als wäre ich eine Idiotin«, zischte

Virginia. »Ich bin ein Profi, okay?«

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Pete, der Kameramann, grunzte auf. »Eine Professionelle vielleicht

…«

Bevor sich die Schauspielerin und der Kameramann wieder in die

Haare bekommen konnten, gab Andy das Signal zum Start.

»Ton ab!«

»Ton läuft!«

»Kamera ab!«

»Kamera läuft!«

»Uuuund … Action!«

Gebannt beobachteten Phoebe und Paige, wie Virginia humpelnd

losrannte, direkt auf die Mülltonnen am Ende der Gasse zu. Hinter ihr
flitzte die Werwolf-Puppe mit erstaunlich schnellen Schritten über den
Asphalt.

Irgendetwas an dieser Szene ließ es in Phoebes Hirn wieder Klick

machen. Wenn sie nur darauf käme, an was sie das Ganze erinnerte.

Paige blickte in diesem Augenblick auf Tim Sorvino. Der blasse

junge Mann stand ein paar Schritte neben Andy und steuerte die
Puppe mit einer umgehängten Fernbedienung.

Der Regisseur selber stand auf dem Treppenabsatz und beobachtete

die Szene. Sein Blick spiegelte Konzentration wider, doch gleichzeitig
schien er auch weggetreten zu sein. Paige fand es faszinierend, wie
sehr Andy offensichtlich in seiner Aufgabe aufging. Der junge Mann
wirkte, als habe er die ganze Welt um sich herum vergessen.
Wahrscheinlich machte gerade diese Hingabe einen guten Regisseur
aus.

Paige fuhr erschrocken herum, als aus dem Ende der Gasse ein

Schrei ertönte. Sie sah gerade noch, wie Virginia Fontaine zu Boden
ging. Der Sturz sah echt aus. Zu echt für Paiges Geschmack – und für
Virginias Schauspielkunst.

Die beiden Schwestern rannten los.

Andy erwachte aus seiner Erstarrung. Paige konnte hören, wie

seine Schritte direkt hinter ihr über den Asphalt hallten.

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»Virginia, alles in Ordnung bei Ihnen?«, rief Phoebe, noch bevor

sie die Schauspielerin erreicht hatte.

»Gar nichts ist in Ordnung«, zischte Virginia Fontaine und presste

die Hand auf die linke Wade.

»Was ist denn passiert?«, fragte Andy besorgt und hielt der

Schauspielerin die Hand hin, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

Virginia schlug seine Hand nur barsch weg. »Lass mich in Ruhe,

verdammt. Diese blöde Puppe hat mich gekratzt!«

»Was? Lass doch mal sehen«, erwiderte Andy kopfschüttelnd.

Einen halben Meter hinter Virginia stand immer noch die

Werwolf-Puppe und ließ ihre Klauen in einer monotonen,
mechanischen Bewegung durch die Luft sausen. Offenbar hatte sie
einen Kurzschluss. Seltsam, dachte Phoebe, vor ein paar Sekunden
hatte sich diese Puppe doch noch so lebensecht bewegt.

Widerstrebend nahm Virginia ihre Hand vom Wadenbein. Ein

kleiner, kaum blutender Kratzer kam darunter zum Vorschein. Selbst
ein Schulkind würde diese Mini-Verletzung mit einem Schulterzucken
wegstecken, aber Virginia stellte sich an, als hätte ihr die Puppe das
halbe Bein weggesäbelt.

»Wenn auch nur die kleinste Narbe zurückbleibt, werde ich euch

verklagen, darauf könnt ihr Gift nehmen!«, keifte die Schauspielerin.
Mühsam stand sie auf und verzog das Gesicht wie jemand, der große
Schmerzen hat.

Es gelang ihr nicht besonders gut. Ihr größtes Talent trägt sie eben

in der Bluse, dachte Paige.

In diesem Augenblick kam Tim Sorvino angelaufen. Er hielt noch

immer die Fernbedienung in der Hand.

»Was war denn los?«, fragte er.

»Das fragst du noch, du Idiot?« Virginia war außer sich. »Deine

dämliche Puppe hat mich verletzt! Das war los! Wenn sich das
herumspricht, kannst du dir einen neuen Job suchen und Pappmaché-
Monster für eine Geisterbahn zusammenklatschen!«

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Sorvino schüttelte den Kopf. »Ich … ich habe keine Ahnung, wie

das passieren konnte«, stotterte er. Der junge Mann schien noch
blasser zu sein als sonst.

»Jetzt schalte erst mal diese dämliche Puppe ab!«, rief Andy. Auch

er schien mittlerweile kurz vor dem Explodieren zu sein.

Sorvino schluckte und legte einen Hebel auf der Fernsteuerung um.

Im nächsten Augenblick erstarrte die Puppe mitten in der Bewegung.
Wie zum Schutz, griff Sorvino nach der Puppe und nahm sie in den
Arm.

»Verdammt, tut das weh«, jammerte Virginia nicht sehr

überzeugend. »Ruft mir sofort ein Taxi! Ich will nach Hause! Und
eins sage ich dir, Andy: Mein Verlobter wird nicht sehr erfreut
darüber sein, dass er Dreharbeiten finanziert, bei denen ich wegen
eurer Unfähigkeit verunstaltet werde! Passt nur auf, dass er euch den
Geldhahn nicht zudreht!«

»Soll das eine Drohung sein?«, fragte Andy mit

zusammengekniffenen Augen.

»Nein, ein Versprechen!«, knurrte Virginia. Dann humpelte sie

übertrieben theatralisch Richtung Hauptstraße. »Und ruft mir endlich
das verdammte Taxi!«

Andy seufzte auf. »Das hätte nicht passieren dürfen«, murmelte er.

»Halb so wild«, schniefte Pete, der Kameramann, als Virginia

außer Hörweite war. »Ich habe alles auf Film und ich kann dir
versichern, dass Virginia noch nie so gut gespielt hat wie in diesem
Augenblick. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, als Tims kleines
Monster sie tatsächlich angefallen hat. Man hätte meinen können, sie
wäre eine echte Schauspielerin. Außerdem haben wir doch eh fast
alles abgedreht. Und für die große Kampfszene in der Disko brauchen
wir im Grunde nur das Stunt-Double.«

Andy nickte. »Stimmt, da hast du Recht. Zum Glück drehen wir

nicht chronologisch.«

»Chronologisch?«, fragte Paige interessiert nach.

Pete antwortete an Andys Stelle. Der Kameramann schien der

Einzige zu sein, an dem Virginias Launen einfach so abperlten. »Na
ja, kaum ein Film wird in der Reihenfolge gedreht, in der man in

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nachher auf der Leinwand sieht. Meistens dreht man den Mittelteil
sogar zuerst, weil da die Aufmerksamkeit des Publikums
erfahrungsgemäß am geringsten ist.«

»Das verstehe ich nicht«, erwiderte Paige. »Warum das?«

»Weil auch die Schauspieler immer ein paar Tage brauchen, um in

ihre Rollen hineinzufinden. Und das Team braucht auch etwas Zeit,
bis das Zusammenspiel aller Beteiligten stimmt. Und wenn das Ganze
zunächst noch etwas holprig ist …«

»… fällt es dem Publikum im Mittelteil des Films am wenigsten

auf, weil dann sowieso keiner mehr so genau hinsieht.«

»Exakt.« Pete nickte zufrieden und grinste Paige an, wie ein Lehrer

seine Musterschülerin. »Du hast es erfasst.«

Dann fuhr er mit seiner Erklärung fort und blickte dabei auch auf

Andy. »Selbst wenn Virginia-Superstar ihre Rolle schmeißt, können
wir die Kampfszene im Nachtclub auch mit dem Stand-Double
drehen. Zur Not kopieren wir ihr Gesicht digital hinein.«

Andy nickte.

»Wirklich? Das geht?«

Pete zuckte mit den Schultern. »Klar, das ist heutzutage kein

Problem mehr. »Bei Gladiator haben sie das auch so gemacht, als
Oliver Reed während der Dreharbeiten gestorben ist. Oder schon Jahre
früher, bei The Crow – ihr wisst schon, als Brandon Lee, der
Hauptdarsteller, während einer Kampfszene versehentlich mit einer
echten Pistole erschossen wurde?«

»Ja, solche Dinge passieren«, murmelte Andy und nickte.

»Wow, hast du das gehört?«, fragte Paige und blickte sich nach

ihrer Schwester um. Phoebe stand ein paar Schritte weiter entfernt und
rieb sich nachdenklich das Kinn.

Paige kannte ihre Halbschwester lange genug, um zu erkennen,

dass Phoebe irgendetwas ausbrütete.

»Entschuldigt mich einen Moment«, sagte sie zu Andy und Pete

und ging zu ihrer Schwester herüber.

»Phoebe, alles in Ordnung bei dir? Was ist denn los?«, flüsterte

Paige.

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Phoebe blickte ihre Schwester an. »Mir spukte die ganze Zeit

schon irgendetwas im Kopf herum«, erwiderte Phoebe leise. »Und
nach Virginias kleinem Auftritt gerade bin ich endlich dahinter
gekommen, was es ist.«

»Ach, ja? Was denn?«

»Ich glaube, Paige«, sagte Phoebe mit einem unauffälligen

Seitenblick auf Tim Sorvino, »ich weiß jetzt, wie die drei Morde der
letzten Tage begangen wurden.«

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19

P

IPER HALLIWELL STAND AUF der Bühne des P3 und

seufzte. Von hier oben hatte man den besten Blick auf das Lokal.
Montag war Ruhetag im P3 und der große Raum deshalb
menschenleer – ein ungewöhnlicher Anblick, denn normalerweise war
der Club immer gut gefüllt.

»Auf was habe ich mich da nur eingelassen?«, murmelte sie und

schüttelte den Kopf.

Leo stand neben ihr und unterdrückte mühsam sein Grinsen. »Denk

immer an die Promotion, Piper. Und du tust deiner kleinen Schwester
damit einen riesigen Gefallen. Sie war ja ganz wild darauf, ein paar
Pluspunkte bei diesem Jungregisseur zu sammeln.«

»Das mag ja sein, aber bei mir wird sie Minuspunkte sammeln,

wenn sich dieses Filmteam hier nicht anständig benimmt.«

Piper machte eine weit ausholende Geste. »Leo, du glaubst ja gar

nicht, wie viel Arbeit es mich gekostet hat, mit diesem Club Erfolg zu
haben. Den Gästen sitzt das Geld nicht so locker in der Tasche. Man
muss sich schon etwas einfallen lassen, um sie regelmäßig hierher zu
locken. Gutes Essen, coole Drinks, gute Live-Bands … und ein
stimmungsvolles Ambiente. Schau dich nur um – die neue Einrichtung
ist noch längst nicht abbezahlt. Ich habe einfach Angst, dass dieses
Filmteam hier ein Chaos zurücklässt. Was nützt es mir, wenn das P3
durch den Kinofilm weltbekannt wird – und davon nur noch ein
Trümmerhaufen übrig bleibt?«

Leo trat noch einen Schritt näher an seine Frau heran und legte ihr

einen Arm um die Schulter. Trotz aller Sorgen war nicht zu
überhören, wie stolz sie auf das P3 war. Und das zu recht. Trotz der
angespannten Wirtschaftslage florierte der Club wie kaum ein anderer
in der Stadt. Und das, obwohl Piper als inoffizielles neues Oberhaupt
der drei Zauberhaften sich auch noch um andere Dinge kümmern
musste. Manchmal fragte Leo sich, wie Piper diese Doppelbelastung
überhaupt bewältigte. Dann merkte er, wie stolz auch er auf seine Frau
war.

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»Was meinst du, Leo«, fragte Piper, »sollte ich die Aschenbecher

vielleicht auf den Tischen festkleben, bevor die Dreharbeiten
beginnen? Vorsichtshalber?«

Leo lachte auf. »Na, ich glaube, jetzt übertreibst du aber, Piper. So

schlimm wird es schon nicht werden.«

»Na, das sagst du. Ich habe einfach Angst, dass das Ganze in einer

Katastrophe endet. Erinnerst du dich noch an diese Boy-Band, die
Phoebe damals angeschleppt hat?«

Leo erschauerte. »Die ›Nature Sons‹? Wie könnte ich die

vergessen!«

Piper hatte nicht Unrecht. Erst vor ein paar Wochen war eine

dämonische Pop-Band im P3 aufgetreten und hatte die Zuschauer erst
hypnotisiert und ihnen dann die Lebensenergie ausgesogen. Eine
gruselige Geschichte, das musste Leo zugeben.

»Ich will nur nicht, dass mir jetzt auch noch Paige irgendwelche

Dämonen ins Haus holt.«

Leo zuckte mit den Schultern. »Na ja, gleiches Recht für alle …«

Piper gab ihrem Ehemann einen sanften Stoß in die Rippen. »Sehr

witzig. Aber mach dir eins klar, mein Lieber: Wenn hier irgendjemand
im P3 randaliert, dann weißt du ja, wen ich für die
Aufräumungsarbeiten in die Pflicht nehmen werde.«

»Nicht schon wieder!«, stöhnte Leo.

»Machen Sie bald mal Feierabend, Detective«, sagte Rita, die

Schreibkraft des Morddezernates, und lächelte Darryl Morris von der
Türschwelle aus an.

Darryl zwang sich, von seinen Aktenunterlagen aufzuschauen und

Rita ebenfalls ein Lächeln zu schenken.

»Das mache ich, Rita. Schönen Abend!«

Die beiden wussten, dass dies eine glatte Lüge war. Darryl würde

noch bis spät in die Nacht über den Berichten der drei Morde
schwitzen.

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»Danke, Detective«, erwiderte die junge Frau trotzdem und verließ

das Büro. Vom wachhabenden Officer der Nachtschicht einmal
abgesehen, war Darryl jetzt der letzte Mann im Polizeipräsidium.
Trotz der schwülen Abendhitze goss er sich noch eine Tasse Kaffee
ein. In den letzten drei Nächten hatte er kaum geschlafen. Und selbst
wenn er einmal die Zeit und die Ruhe gefunden hatte, kurz die Augen
zu schließen, hatte er von den Morden geträumt. Und von Doktor
Nyang, der ihm immer wieder neue Rätsel aufgab. In seinen
Alpträumen nahm Nyang die Gestalt eines dämonischen Dr. Fu-
Manchus an, der am Ende nur noch in Rätseln sprach.

Darryl schreckte aus seinen Gedanken hoch, als das Telefon auf

seinem Schreibtisch klingelte. Ein Anruf zu dieser Stunde – das
konnte nur zweierlei bedeuten: Einen neuen Mord oder eine neue
Drohung des Bürgermeisters.

Darryl wusste nicht, was schlimmer war.

Er räusperte sich, holte tief Luft und hob dann den Hörer ab.

»Detective Morris, Mordkommission?«

Es dauerte ein paar Augenblicke, bis Darryl die Stimme am

anderen Ende der Leitung erkannte. Es war Phoebe Halliwell.

»Phoebe!«, sagte der Detective erleichtert. Er war froh, dass seine

Befürchtungen nicht bestätigt wurden. Und dann keimte neue
Hoffnung in ihm auf. Vielleicht hatten die drei Zauberhaften in ihrem
mysteriösen Buch der Schatten ja doch einen Hinweis auf den Mörder
gefunden.

»Was gibt's denn?«, fragte Darryl. »Habt ihr etwas

herausgefunden? Sagt mir nicht, dass irgendein Dämon hinter den
Morden steckt …«

Am anderen Ende der Leitung druckste Phoebe herum. »Na ja,

nicht direkt ein Dämon – eher ein Monster. Oder genauer gesagt, drei
Monster. Aber auch keine richtigen, sondern …«

Obwohl Phoebe es durch das Telefon natürlich nicht sehen konnte,

hob Darryl abwehrend die freie Hand. »Phoebe, nun mal langsam. Ich
verstehe gar nichts mehr. Wie war's, wenn du mal von Anfang an
beginnen würdest?«

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Darryl hörte geduldig zu, wie Phoebe ihm von ihrer Begegnung

mit dem Filmteam erzählte. Hier und da meldete sich Paige mit
Zwischenrufen aus dem Hintergrund zu Wort.

Zwei Minuten später war Darryl im Bilde – zumindest, was die

Geschichte mit dem Filmteam betraf.

»Okay, Phoebe«, sagte er in den Hörer, »über die Sache mit dem

Drehen ohne Genehmigung solltest du mir vielleicht nicht zu viel
erzählen. Aber was hat das Ganze mit den Morden zu tun?«

»Na, zähl doch mal eins und eins zusammen, Darryl«, erwiderte

Phoebe. »Das erste Mordopfer wurde doch erstochen, oder? Mit
einem Skalpell, wie ihr vermutet.«

Darryl nickte. »Mmh«, bestätigte er.

»Und das zweite wurde in seinem Wagen erwürgt. Und ihr wisst

nicht, wie der Täter sich im Auto verstecken konnte, oder?«

»Auch richtig«, murmelte Darryl. Er hatte noch nicht ganz

herausgefunden, auf was Phoebe hinauswollte, aber er konnte fast
spüren, wie die Rädchen in seinem Gehirn zu rotieren begannen.
Irgendetwas fing an, sich zusammenzufügen …

»Und die ermordete Frau von gestern – du hast uns am Telefon

davon erzählt … sie wurde völlig blutleer aufgefunden. Direkt vor
diesem Spiegel, in dem sie den Täter eigentlich hätte sehen müssen
…«

»Wieder richtig«, nickte Darryl.

Dann traf es ihn wie ein Hammerschlag.

Natürlich kannte auch er die Geschichten und Legenden von

Vampiren, die kein Spiegelbild warfen. Aber in diesem Fall ging es
nicht um einen echten Vampir. Der Täter hatte sich bei seinem dritten
Mord nicht deshalb unbemerkt an sein Opfer heranschleichen können,
weil er kein Spiegelbild besaß – sondern weil er zu klein war!

Wie eine Vampir-Puppe!

»Warte mal, Phoebe, du meinst … diese Morde wurden mit den

Puppen der Filmmonster begangen? Das ist nicht dein Ernst, oder?!«

»Warum denn nicht, Darryl? Das sind keine einfachen Puppen,

sondern … wie war der Name doch gleich? ›Animatronics‹, eine Art

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ferngesteuerte Roboter. Wir haben diese Dinger bei den Dreharbeiten
in Aktion gesehen. Du würdest nicht glauben, wie lebensecht sich
diese kleinen Ungeheuer bewegen. Und alles passt perfekt, überleg
doch mal … der erste Mord im Park wurde nicht mit einem Skalpell
begangen, sondern mit den kleinen Messern der Ripper-Figur …«

»… und der Mord an dem Comic-Händler mit der Mumien-Figur.

Deshalb konnte sich der Täter auch in dem voll bepackten Auto
verstecken. Wahrscheinlich hat die Mumie den armen Kerl mit einer
ihrer eigenen Bandagen erwürgt. Das erklärt auch den Staub, der in
dem Auto gefunden wurde. Laut Laborbericht besteht er aus einer
künstlichen Substanz, wie sie im Theater verwendet wird. Oder beim
Film.«

»Genau. Und der jüngste Mord wurde mit der Dracula-Figur

begangen. Ich vermute, Sorvino hat eine Art kleines Pumpsystem in
die Zähne des Vampirs eingebaut.«

»Wer zum Teufel ist Sorvino?«, fragte Darryl in den Hörer.

»Tim Sorvino. Der Konstrukteur der Figuren. Und unser

Hauptverdächtiger, würde ich sagen.«

»Wie kommst du darauf?«

»Na ja, er hat diese kleinen Monster gebaut. Und ich vermute mal,

dass keiner sie so gut steuern kann, wie er.«

Darryl dachte kurz nach. »Das ist aber nur ein Verdacht, Phoebe«,

antwortete er dann. »Selbst wenn diese Puppen tatsächlich als
Mordwerkzeuge benutzt wurden, dürfte es schwer sein, diesem
Sorvino etwas nachzuweisen. Ohne Motiv.«

»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte Phoebe etwas enttäuscht.

»Ich sage euch was«, erwiderte Darryl. »Ich versuche

herauszufinden, ob Sorvino in irgendeiner Beziehung zu den
Mordopfern steht, und dann sehen wir weite r. Und tut mir einen
Gefallen – behaltet eure Theorie bitte vorerst für euch. Ich fürchte, der
Bürgermeister reißt mir den Kopf ab, wenn ich behaupte, dass der
Ripper, die Mumie und Klein-Dracula die Morde begangen haben.
Das glaubt mir doch kein Mensch.«

»Schon klar, Darryl«, lachte Phoebe auf. »Ich würde es auch nicht

glauben, wenn ich es nicht gesehen hätte, wie die durchgedrehte

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Werwolf-Puppe sich heute auf Virginia Fontaine gestürzt hat.
Dadurch bin ich ja überhaupt erst auf die ganze Sache gekommen.«

»Sehr schön«, sagte Darryl, »vielen Dank für deine Hilfe, Phoebe.

Ich melde mich, sobald ich mehr weiß. Und noch etwas …«

»Was denn, Darryl?«

»Unternehmt bitte nichts auf eigene Faust, bis ich etwas über

diesen Sorvino herausgefunden habe, okay?«

Phoebe grinste.

»Aber Darryl, das würden wir doch niemals tun«, sprach sie in den

Hörer. Dann drückte sie den ›Aus‹-Schalter ihres Handys.

»Und nun?«, fragte Paige und blickte ihre Schwester mit großen

Augen an. »Was machen wir jetzt?«

»Jetzt nehmen wir Tim Sorvino unter die Lupe!«

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20

G

LAUBST DU, DASS DAS WIRKLICH eine gute Idee ist?«,

fragte Paige etwas ängstlich. Das alte Lagerhaus am Pier 17 leuchtete
im bleichen Licht des Vollmondes.

»Klar, – was soll schon passieren?«, erwiderte Phoebe und steuerte

ihren Pick-up um die Lagerhalle herum. Das gesamte Gelände war
zwar um diese Uhrzeit menschenleer, aber es wäre vielleicht doch
etwas zu auffällig gewesen, den Wagen direkt vor dem Eingang zu
parken.

»Wir gehen einfach kurz rein, sehen uns Sorvinos Bastelstube an

und versuchen, etwas herauszubekommen.«

Paige nickte, aber ganz so überzeugt wirkte sie noch nicht. Phoebe

dagegen war zuversichtlich: Sie wusste, dass Sorvino seine Puppen im
Abstellraum des Lagerhauses aufbewahrte. Schließlich hatte sie die
fünf kleinen Monster erst neulich in ihren kleinen Holzsärgen dort
liegen sehen.

Damals war sie von Sorvino überrascht worden, aber heute würde

das ganz sicher nicht passieren.

»Ich glaube nicht, dass Darryl mit dem einverstanden ist, was wir

hier machen«, startete Paige einen letzten Versuch.

»Was der Detective nicht weiß, macht ihn nicht heiß«, antwortete

Phoebe nur und stoppte den Wagen.

Hier im Industriegebiet war es totenstill. Irgendwo, draußen auf

dem Meer, ertönte das Klagen einer Schiffsirene, das war alles.

Paige blickte nervös auf die alte Lagerhalle. Das silberne

Mondlicht hatte sie in ein Licht getaucht, das Paige aus den alten
Schwarzweißfilmen kannte. Wäre das Gebäude vor ihr ein altes
Schloss gewesen – hätte es nicht unheimlicher wirken können. Und
die Vorstellung, dass da drinnen ein paar puppengroße Filmmonster in
ihren Holzkisten lagen, machte die ganze Sache auch nicht einfacher.
Immerhin waren diese Figuren wahrscheinlich als Mordwaffe benutzt
worden!

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Phoebe spürte, dass ihrer Schwester nicht wohl zu Mute war. »Nun

mach dir mal nicht ins Hemd, Paige, würde Bart Simpson jetzt sagen.
Wir orben nur kurz rein, sehen uns etwas um und verschwinden
wieder. Im Handumdrehen ist die Sache erledigt.«

»Ich weiß nicht, Phoebe«, antwortete Paige und sah sich nervös

um. »Das sind genau die Sätze, die exakt von denen im Horrorfilm
gesagt werden, die kurz danach sterben.«

Phoebe lachte auf. Aber sie musste zugeben, dass ihre Schwester

sie langsam nervös machte. Am besten, sie brachten die ganze
Geschichte hinter sich, bevor sie selbst der Mut verließ.

Gemeinsam traten die beiden Schwestern an die Lagerhalle heran.

Phoebe griff nach Paiges Hand – nicht nur, um ihr Mut zu machen,
sondern auch, damit Paige sie gemeinsam in das Gebäude
teleportieren konnte.

»Bist du so weit?«, fragte Phoebe.

»Von mir aus kann's losgehen – wenn's unbedingt sein muss.«

Paige schloss kurz die Augen und konzentrierte sich. Eine Sekunde

später schimmerten die beiden Hexen kurz auf – dann waren sie
verschwunden.

Danach tauchten sie im Inneren der Halle wieder auf. Für ein oder

zwei Sekunden waren Phoebe und Paige orientierungslos. Draußen
war es durch das Mondlicht relativ hell gewesen, jetzt brauchten ihre
Augen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Zum Glück brannten über Haupteingang und Notausgang zwei

Glühbirnen als Notbeleuchtung. Sie tauchten das Innere der Halle in
ein fahles, blutrotes Licht.

Auf der kleinen Bühne in der Mitte der Halle stand noch immer der

Voodoo-Altar vom Vortag. Für einen kurzen Moment kamen sich
Phoebe und Paige vor, als wären sie in eine dem Bösen geweihte
Kirche eingedrungen. Unabhängig voneinander mussten sich beide
innerlich daran erinnern, dass dies hier nur ein Filmset war.

»Gruselig«, hauchte Paige schließlich. »So verlassen, wie es jetzt

ist, wirkt das Set noch viel echter als gestern.«

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»Das liegt nur daran, dass wir jetzt allein hier sind«, flüsterte

Phoebe. Eigentlich gab es keinen Grund, so leise zu sprechen, aber
hier drinnen ergab sich das von selbst.

Die beiden jungen Hexen mussten sich an dem falschen Altar

vorbeischleichen, um zu dem Lagerraum zu gelangen, in dem
hoffentlich die Puppen aufbewahrt wurden.

Schaudernd erinnerte sich Phoebe daran, wie dieser alte

Filmregisseur – Gustav Landreau – gestern hinter dem Altar
gestanden und ein paar Beschwörungsformeln gemurmelt hatte. Sogar
die halb abgebrannten Kerzen standen noch auf der Bühne.

Neun Stück – sie wunderte sich noch jetzt darüber, warum

Landreau sich so gut mit der Magie der Zahlen auskannte. Die meisten
Leute hatten so etwas wie eine ganz persönliche Glückszahl, aber
kaum ein Normalsterblicher ahnte, welche magische Macht den
Zahlen tatsächlich innewohnte. Nicht umsonst waren sie und ihre
Schwestern mit der Macht der Drei ausgestattet. Aber Landreau
wusste anscheinend sehr genau über diese spezielle Art der Magie
Bescheid. Phoebe fragte sich, welche Geheimnisse dem alten Mann
noch bekannt waren.

Paiges Stimme riss Phoebe aus ihren Gedanken. »Wo ist denn nun

dieser Abstellraum?«, fragte sie leise.

Phoebe deutete auf eine kleine Tür am hinteren Ende der Halle.

»Da vorn.«

Nach ein paar Schritten hatten die beiden Schwestern die Tür

erreicht. Zum Glück war sie nicht abgeschlossen. Vorsichtig trat
Phoebe ein. Paige folgte ihr zögernd.

Das Licht der Notbeleuchtung aus der Haupthalle drang nur

schwach in diesen Raum. Trotzdem konnte Phoebe in der Mitte des
Abstellraumes fünf kleine, rechteckige Kisten erkennen.

Die Holzkisten mit den Monster-Puppen.

Im dämmrigen Rotlicht sahen die kleinen Holzboxen noch

unheimlicher aus als beim ersten Mal.

Phoebe hörte, wie auch Paige hinter ihr aufkeuchte. »Das ist ja echt

makaber«, flüsterte sie. »Die Dinger sehen ja aus wie kleine Särge.«

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Phoebe nickte nur. Genau dasselbe hatte sie auch gedacht, als sie

die Kisten zum ersten Mal gesehen hatte. Doch diesmal waren die
Boxen verschlossen. An den Seiten war jeweils ein kleines
Vorhängeschloss angebracht. Natürlich wäre es leicht gewesen, die
Schlösser zu knacken, Paiges telekinetische Kräfte hätten dafür sicher
ausgereicht. Doch Sorvino musste ja nicht unbedingt wissen, dass man
ihm auf der Spur war.

Also nahm Phoebe die erste Kiste hoch und rüttelte vorsichtig

daran.

»Was machst du denn da?«, fragte Paige erstaunt.

»Ich will nur wissen, ob alle Puppen in ihren Kisten sind«,

antwortete Phoebe. »Bis jetzt hat es in jeder Nacht einen Mord
gegeben, an dem jeweils eine der Puppen beteiligt war.«

Paige schluckte. »Du meinst, dieser Verrückte steuert heute wieder

eine seiner Kreaturen durch die Nacht und sucht nach einem neuen
Opfer?«

»Ich will es nicht hoffen, Paige. Aber das lässt sich relativ leicht

herausbekommen. Wenn die Püppchen alle in ihrem kleinen Zuhause
sind, kann heute Nacht nicht viel passieren. Wenn eine fehlt …«

»Verstehe«, murmelte Paige. »Warte, ich helfe dir.«

Einen Augenblick später knieten beide Hexen auf dem Boden und

rüttelten an den Kisten wie an überdimensionalen Überraschungseiern.
Ein leichtes Klackern verriet ihnen, ob eine Figur in ihrer Kiste war
oder nicht. Bis jetzt schien keine Figur zu fehlen.

»Oh-Oh«, sagte Phoebe, als sie an der vorletzten Box angekommen

waren. Sie rüttelte vorsichtig an der Box, aber es war nichts zu hören.
»Bingo!«, flüsterte sie dann. »Die hier ist leer!«

»Oh, je«, sagte Paige. Sie wusste, was das bedeutete. »Wenn wir

nur wüssten, welche das ist …«

Phoebe zuckte mit den Schultern. Leider war das nicht so einfach

herauszubekommen. Die Kisten waren allesamt verschlossen, auch die
leere, die Phoebe noch immer in der Hand hielt.

»Das lässt sich wohl nicht herausfinden, ohne die Kisten zu öffnen

– und uns damit zu verraten.«

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»Aber wir müssen doch irgendetwas …«

Paige kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden. Ein rostiges

Quietschen hallte durch das alte Lagerhaus.

Jemand zog die Schiebetür des Haupteinganges auf.

»Was jetzt? Soll ich uns hinausteleportieren?«, flüsterte Paige.

Phoebe dachte fieberhaft nach. Wenn Paige ihre

Teleportationskräfte einsetzte, brachte sie die Luft um sich herum zum
Glühen, bevor sie sich vollständig auflöste. In dem dämmrigen Licht
der Notbeleuchtung würde der Neuankömmling diesen Lichtblitz
sicherlich bemerken – auch wenn er nur aus dem Nebenraum kam.
Eine Teleportation würde die beiden zwar in Sicherheit bringen, aber
den Fremden gleichzeitig warnen.

Sie blickte sich um. In der Ecke des Raumes standen zwei

Metallspinde, in der früher sicherlich einmal die Privatsachen der
Lagerarbeiter aufbewahrt wurden.

»Ich bin dafür, es erst einmal auf die altmodische Art zu

versuchen«, flüsterte Phoebe und deutete auf die beiden Schränke.
»Los, beeil dich!«

Paige nickte. Wohl war ihr nicht in ihrer Haut, aber wenn es

brenzlig wurde, konnte sie sich und Phoebe ja immer noch in
Sicherheit teleportieren.

Wie zwei Schatten huschten Phoebe und Paige in die Spinde.

Die beiden Stahlschränke waren zwar sehr eng, aber zum Glück

hoch genug. Und noch immer gut geölt. Die beiden Hexen schafften
es, die Türen vorsichtig zuzuziehen, ohne dass die Scharniere
quietschten.

Keine Sekunde zu früh.

Kaum hatte Phoebe die Metalltür geschlossen, hörte sie, wie

jemand den Raum betrat und dann stehen blieb.

Ein Nachteil hatte dieses Versteck – sie konnte nicht sehen, was

um sie herum passierte. Phoebe wagte es nicht, die Tür auch nur einen
Spalt breit zu öffnen. In dem kleinen Raum war die Gefahr, entdeckt
zu werden, einfach zu groß.

Also musste sie sich auf ihre anderen Sinne verlassen.

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Phoebe hörte, wie der Fremde stehen blieb. Wahrscheinlich

brauchte auch er ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit in dem
kleinen Raum zu gewöhnen. Dann hörte Phoebe ein metallisches,
helles Geräusch.

Ein Schlüsselbund.

Sekunden später ertönte ein leises Knirschen und dann das

Geräusch eines aufschnappenden Schlosses. Wer immer der Fremde
im Raum war, er hatte offensichtlich einen Schlüssel für die
Holzkisten, in denen die Monster-Puppen lagen.

War es Sorvino?

Phoebe schluckte leise. Das Geräusch der sich öffnenden Schlösser

wiederholte sich. Zweimal … dreimal … viermal … dann keuchte der
Fremde auf.

Er musste an der leeren Box angelangt sein. Scheinbar war er über

irgendetwas erstaunt.

»Das geht zu weit«, zischte der Unbekannte zu sich selbst. »Dieser

verdammte Idiot … er hat keine Ahnung, was er da tut!«

Phoebe zuckte zusammen, als der Fremde den Deckel der leeren

Holzkiste wieder zuschlug. Das Geräusch hallte wie ein
Pistolenschuss durch das alte Lagerhaus.

Dann gab es ein wiederholtes Knirschen. Der Fremde verschloss

die Kisten wieder. Ein paar Sekunden später entfernten sich seine
Schritte.

Phoebe wartete, bis sie das Quietschen des Haupttores hörte. Dann

öffnete sie vorsichtig die Tür des Metallspindes und lugte hinaus.

Die Luft war wieder rein.

Vor ihr lagen die fünf Holzkisten auf dem Boden, als wenn nichts

geschehen wäre.

»Ist alles okay?«, flüsterte Paige und öffnete die Tür des Spindes,

in dem sie sich versteckt hatte.

Phoebe nickte. »Ja, er ist weg. Du kannst rauskommen. Sag mal,

hast du gesehen, wer der Typ war?«

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Paige zuckte nur mit den Schultern. »Leider nicht. Ich habe auch

seine Stimme nicht erkannt. Meinst du, das war Sorvino?« Nun war es
an Phoebe, mit den Schultern zu zucken. Auch sie hatte das Flüstern
des Fremden nicht erkennen können. Dazu war es einfach zu leise
gewesen und war durch die Metallwände des Spindes noch zusätzlich
gedämpft worden.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand sie. »Es hätte jeder sein können.

Aber wer immer es auch war – er schien nicht begeistert darüber zu
sein, dass eine der Puppen fehlte.«

»Ja, den Eindruck hatte ich auch. Und was machen wir jetzt?«

Phoebe dachte kurz nach. Eine der Puppen fehlte. Das war ein

schlechtes Zeichen. »Ich würde vorschlagen, wir fahren erst einmal
zurück nach Hause und beraten uns mit Piper«, entschied sie. »Es
kann nichts schaden, die Macht der Drei zu sammeln. Ich habe so das
Gefühl, dass wir heute Nacht noch gebraucht werden!«

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21

D

ARRYL MORRIS BEDANKTE SICH bei der Frau von der

Auskunft und legte auf. Manchmal waren die einfachsten Tricks noch
die besten.

Seit Phoebe Halliwells Anruf war der Detective damit beschäftigt

gewesen, Informationen über diesen Tim Sorvino zusammenzutragen.
Zumindest zu einem der Mordopfer, dem erwürgten Comic-Shop-
Besitzer, gab es eine lockere Verbindung. Bei der Suche nach einem
möglichen Tatmotiv hatten die Beamten der Mordkommission auch
die Geschäftsbücher des Comic-Händlers beschlagnahmt. Ein
gewisser ›T. Sorvino‹ war offenbar seit ein paar Jahren Stammkunde
im Laden des Ermordeten gewesen. Den – sehr schlampig geführten –
Geschäftsbüchern zufolge hatte Sorvino jeden Monat für eine
beträchtliche Summe Comics, Magazine und irgendwelche Action-
Figuren gekauft.

An sich nichts Ungewöhnliches, aber in den letzten Monaten hatte

es Sorvino mit der Bezahlung der Ware offensichtlich nicht mehr so
genau genommen. Sein Name war in den Auflistungen des Händlers
immer häufiger mit Rotstift eingekringelt worden – offenbar hatte
Sorvino nur noch auf Pump gekauft und seine Schulden nicht bezahlt.

Gut, die Beträge waren vergleichsweise gering – alles in allem kam

Darryl auf etwa vierhundert Dollar- aber es sind schon Menschen für
weitaus weniger Geld ermordet worden. Als Detective der
Mordkommission wusste Darryl das besser als die meisten anderen.

Vor allem die Art und Weise, wie Tom Haber, der Besitzer des

Ladens, Sorvinos Namen auf der Liste eingekringelt hatte, sprach
Bände. Von Monat zu Monat war der rote Kringel kräftiger und mit
mehr Schwung ausgeführt worden. Hinter der Eintragung des letzten
Monats standen sogar drei fette Ausrufungszeichen. Es brauchte nicht
viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Haber auf seinen
Stammkunden wütend war.

Hatten die beiden sich gestritten – und hatte das Zerwürfnis

schließlich zu dem Mord geführt?

Darryl seufzte. Das war zwar ein Anhaltspunkt, aber noch längst

kein Beweis.

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Also weiter im Text. Der Detective blickte auf den Zettel mit

Sorvinos Adresse, die ihm gerade die Dame von der Telefonauskunft
durchgegeben hatte. Darryl kannte die Gegend, ein einfaches, aber
solides Viertel von San Francisco. Dort gab es eine Menge
Mietshäuser mit halbwegs günstigen Wohnungen. Cynthia Rosswell,
das erste Mordopfer aus dem Park, hatte eine dieser Wohnungen
besessen und vermietet. Anhand von Darryls Unterlagen war es nicht
besonders schwer herauszubekommen, wer dieser Mieter war: Tim
Sorvino!

»Zwei von drei«, murmelte Darryl mit einem Anflug von

Zuversicht. Was er sich hier zusammenreimte, war zwar immer noch
ein Ausflug auf dünnem Eis, aber es war die erste Spur überhaupt.

Blieb noch das dritte Opfer – die ermordete junge Frau aus dem

Kino. Darryl schauderte immer noch, wenn er an das Bild der
ausgesaugten Leiche vor dem Toilettenspiegel dachte.

Ob zwischen diesem dritten Opfer und Sorvino ebenfalls eine

Verbindung bestand, war nicht ganz so leicht herauszubekommen,
aber Darryl hatte schon eine Idee. Auf seinem Schreibtisch herrschte
zwar mittlerweile ein ziemliches Chaos aus Aktenordnern,
Zeugenaussagen und anderen Unterlagen, aber nachdem er etwas
Papier umgeschichtet hatte, fand der Detective das, was ersuchte. Die
Zeugenaussagen der beiden Freundinnen, mit denen das ermordete
Mädchen zusammen die Vorstellung besucht hatte.

Darryl blickte auf seine Armbanduhr. Der Abend war zwar schon

fortgeschritten, aber bei dieser Hitze ging bestimmt niemand früh
schlafen. Außerdem drängte die Zeit.

Der Detective warf noch einmal einen Blick auf die Unterlagen

und wählte dann die Nummer von einer der Freundinnen.

Kaum fünf Minuten später hatte er die letzte Information, die er

brauchte.

»Sieh mal einer an, die verlorenen Schwestern kehren heim«, sagte

Piper, als Phoebe und Paige das Wohnzimmer des alten Halliwell-
Hauses betraten. Die Älteste der drei Schwestern hatte es sich mit
ihrem Ehemann auf dem Sofa bequem gemacht. Aus dem

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Lautsprecher des Fernsehers hallte das Konserven-Gelächter einer
Sitcom.

»Wo habt ihr zwei euch denn herumgetrieben?«, fragte Leo. »Wir

hatten schon angefangen, uns Sorgen zu machen. Immerhin haben wir
es mit einer Dämonenplage zu tun.«

»Und mit einer Mordserie«, erwiderte Phoebe. »Hübsche Shorts,

übrigens«, stellte sie fest und grinste Leo an. »Die stehen dir.«

Tatsächlich war ein Wächter des Lichts in kurzen Hosen ein

ungewöhnlicher Anblick. Aber diese Hitzewelle trieb eben seltsame
Blüten.

»Meiner!«, sagte Piper nur und zog Leo grinsend an sich heran.

»Aber jetzt sagt schon«, wollte sie wissen, »wo habt ihr den ganzen
Abend gesteckt? Haben die Filmarbeiten so lange gedauert?«

Schnaufend ließen sich Phoebe und Paige auf das Sofa fallen.

Dann berichtete Phoebe von ihrem Verdacht gegenüber Tim Sorvino
und dem kleinen Ausflug in das alte Lagerhaus.

Als sie mit ihrer Erzählung fertig war, schüttelte Leo tadelnd den

Kopf. »Ihr hättet auf Darryl hören sollen. Das war ziemlich gefährlich,
in das Lagerhaus zu schleichen. Was, wenn dieser Unbekannte euch
entdeckt hätte?«

Phoebe winkte ab. »Ach, wir können uns schon ganz gut wehren.

Aber die Frage ist – was sollen wir jetzt tun? Wir haben keine
Ahnung, ob es tatsächlich Sorvino war, der nach uns ins Lagerhaus
gekommen ist. Und außerdem fehlte eine der Puppen. Vielleicht wird
sie heute Nacht wieder als Mordwerkzeug benutzt?«

Leo runzelte die Stirn und nickte. Als Wächter des Lichts machte

ihm die Vorstellung, dass in diesem Augenblick irgendjemand in
Lebensgefahr schwebte, sichtlich zu schaffen. Seine Aufgabe war es,
Leben zu schützen – und jetzt saß er hilflos auf einem Sofa des
Halliwell-Hauses.

»Solange wir nicht wissen, wer das nächste Mordopfer ist, können

wir herzlich wenig unternehmen, fürchte ich. San Francisco hat fast
800 000 Einwohner – wir können schlecht auf jeden Einzelnen
aufpassen. Vielleicht sollten wir einfach Darryl Morris anrufen. Dann
könnt ihr –«

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In diesem Augenblick klingelte das Telefon.

Piper sprang auf. »Ich gehe schon.«

Ein paar Sekunden später kam sie mit dem schnurlosen Telefon

zurück ins Wohnzimmer. »Für dich, Phoebe. Es ist Darryl.«

Phoebe lachte auf und nahm den Hörer entgegen. »In einem Film

würde uns das jetzt kein Mensch glauben. Darryl? Wir haben gerade
über dich gesprochen!«

»Hoffentlich nur Gutes«, sagte Darryl.

»Sicher. Warte, ich schalte den Lautsprecher ein«, antwortete

Phoebe und drückte eine Taste auf der Vorderseite des Telefons. Im
selben Augenblick schnarrte Darryls Stimme blechern aus dem
Apparat. Leo machte den Fernseher aus, um die dünne
Lautsprecherstimme besser verstehen zu können.

»Phoebe, an eurem Verdacht gegen diesen Sorvino scheint etwas

dran zu sein. Er war ein Mieter der ersten ermordeten Frau. Ich weiß
noch nichts Genaues, aber möglicherweise gab es irgendwelche
Streitereien zwischen den beiden. Ich werde meine Leute morgen
darauf ansetzen. Doch das ist noch nicht alles: Sorvino war auch ein
Stammkunde des ermordeten Comic-Laden-Besitzers. Offenbar hat er
ein paar Monate lang seine Schulden nicht bezahlt.«

»Wow«, sprach Phoebe in den Hörer. »Das alles spricht ja nicht

gerade für Sorvino, was?«

»Kann man wohl sagen. Und es geht noch weiter: Ich habe gerade

mit einer Freundin des Mädchens telefoniert, das gestern in dem Kino
ermordet wurde. Haltet euch fest – die Tote war die Exfreundin von
Sorvino. Nach dem, was ich erfahren habe, muss es zwischen den
beiden einen heftigen Krach gegeben haben.«

Phoebe nickte. »Was mich fast noch mehr erstaunt, ist, dass so ein

seltsamer Kauz wie Sorvino überhaupt eine Freundin hatte. Aber sag
mal – das macht ihn doch zu einem Haupttatverdächtigen, oder?
Kannst du ihn nicht festnehmen lassen?«

Am anderen Ende der Leitung lachte Darryl bitter auf. »Oh, das

würde ich gerne. Aber selbst wenn einige Indizien gegen Sorvino
sprechen – das reicht für den Staatsanwalt noch nicht aus, um Anklage
gegen ihn zu erheben. Und außerdem … der Bürgermeister würde

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mich in der Luft zerreißen, wenn ich ihm verklickern würde, dass die
drei Mordopfer durch Mini-Monster getötet wurden. Wenn ich ihm
damit komme, schickt er mich nicht nur zurück auf Streife, sondern
gleich in die geschlossene Abteilung vom Arkham-Irrenhaus. Nein,
ich brauche einfach noch mehr Beweise.«

Phoebe nickte. »Verstehe. Aber die können wir dir leider auch

nicht liefern.« Dann druckste sie ein wenig herum.

Ȁh, wir haben uns vorhin einmal in dem Lagerhaus umgesehen,

in dem ein Teil der Dreharbeiten stattfindet und in dem auch die
Monsterpuppen aufbewahrt werden …«

»Was? Phoebe, ich hatte euch doch gebeten, nichts auf eigene

Faust zu unternehmen!«

»Ja, ich weiß. Tut uns Leid. Aber auf jeden Fall haben wir

festgestellt, dass eine der Puppen fehlte – ich weiß nur nicht welche.«

Am anderen Ende stöhnte Darryl laut auf. »Oh, nein. Ihr meint, der

verrückte Puppen-Killer ist wieder unterwegs?«

»Könnte sein«, gab Phoebe kleinlaut zurück.

»Okay, danke für die Warnung. Ich werde die Jungs und Mädels

vom Streifendienst anweisen, die Augen aufzuhalten, nach …
ungewöhnlichen Vorfällen. Denn wenn ich denen sage, dass sie nach
Mini-Monstern Ausschau halten sollen, nehmen die mich nicht mehr
ernst.«

Phoebe lachte auf. »Das glaube ich allerdings auch. Wir bleiben

auf jeden Fall am Ball.«

»Aber geht kein unnötiges Risiko ein, okay?«, mahnte der

Detective noch einmal.

»Aber Darryl, du kennst uns doch.«

»Ja, genau deswegen. Gute Nacht, Phoebe.«

Phoebe verabschiedete sich von Darryl und drückte dann die

›Auflegen‹-Taste.

Die anderen hatten das Gespräch aufmerksam verfolgt. »Und was

nun?«, fragte Piper.

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Phoebe wollte gerade mit den Schultern zucken, als Paige mit den

Fingern schnipste. »Wartet mal, ich habe eine Idee!«, rief sie.

Phoebe, Piper und Leo blickten sie erwartungsvoll an. »Was denn,

Paige?«, fragte Leo.

»Ich glaube, ich weiß, wer das nächste Opfer sein wird!«

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22

V

IRGINIA FONTAINE SASS auf einem Hocker in ihrem

Badezimmer und betrachtete die kleine Schnittwunde an ihrem
Unterschenkel.

»Dieser kleine Mistkerl«, murmelte sie und war sich selbst nicht

ganz sicher, ob sie damit die Werwolf-Puppe oder Tim Sorvino
meinte. Eigentlich war das ja auch egal, sie war auf jeden Fall das
Opfer von Inkompetenz geworden.

Glücklicherweise war die Verletzung wirklich nur ein Kratzer und

würde in ein paar Tagen nicht mehr zu sehen sein. Gott sei Dank. Sie
wusste genau, was die anderen Mitglieder der Filmcrew von ihr
hielten, besonders Pete, der Kameramann. Aber sie selbst wusste, dass
sie eine talentierte Schauspielerin war, egal, was dieser fette Typ
hinter ihrem Rücken tuschelte. Und zu einem Teil ihres Talentes
gehörte es eben auch, makellos auszusehen. Sie konnte es sich einfach
nicht leisten, mit aufgekratzten Beinen in der Gegend herumzurennen,
wie irgendein Mädchen von der Straße.

Hatten diese Idioten überhaupt eine Ahnung, wie viel Zeit und

Mühe es kostete, so auszusehen, wie sie es tat? Nun ja, von den
kleinen chirurgischen Korrekturen einmal abgesehen. Aber die zahlte
ja zum Glück ihr Verlobter, ein Geschäftsmann aus San Francisco.
Ebenso wie dieses teure Apartment – und das wollen wir mal nicht
vergessen – auch einen Großteil der Produktionskosten von ›Scream
X-Treme‹.

So sah es nämlich aus: Ohne sie, Virginia Fontaine, konnten diese

Idioten sich ihren Film in die Haare schmieren. Sie hatte also alles
Recht der Welt, sich darüber aufzuregen, wenn sie auf dem Filmset
verletzt wurde.

Von einer besseren Stoffpuppe, das musste man sich mal

vorstellen!

Virginia schüttelte den Kopf und betrachtete noch einmal ihr

Gesicht im Schminkspiegel. Es war einer dieser Spiegel, wie man sie
aus Hollywood-Filmen kannte, mit einer Reihe Glühbirnen, die rund
um den Rahmen verteilt waren. So wurde das Gesicht von allen Seiten
gleichmäßig ausgeleuchtet.

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Und ihr Gesicht war makellos, daran bestand kein Zweifel.

Virginia nickte ihrem Spiegelbild zufrieden zu und ging dann

hinüber zur Badewanne. Sie hatte sich bereits ein kühles Schaumbad
einlaufen lassen und prüfte mit dem Finger noch einmal die
Temperatur.

Perfekt.

Dann öffnete sie ein Badezimmerschränkchen. Mit dem

Zeigefinger strich sie an den kleinen Fläschchen entlang, die dort fein
säuberlich aufgereiht standen. Schließlich entschied sich Virginia für
einen entspannenden Lavendel-Zusatz und öffnete den
Drehverschluss. Ein paar Sekunden lang genoss sie das blumige
Aroma, dann goss sie einen Teil von dem Inhalt in die Badewanne.
Das Wasser nahm einen bläulichen Schimmer an.

Mit einer gekonnten Handbewegung öffnete Virginia den Gürtel

ihres Bademantels und ließ den Seidenstoff über ihre nackten
Schultern gleiten. Dann stieg sie langsam in die Badewanne.

Ein paar Sekunden später hatte Virginia Fontaine die Aufregung

des Tages vergessen. Wohlig rekelte sie sich in dem lauwarmen
Wasser und schloss entspannt die Augen.

Sie bemerkte das andere, schwarze Augenpaar nicht, das sie die

ganze Zeit über angestarrt hatte.

»Bist du sicher, dass diese Virginia das nächste Opfer ist?«, fragte

Phoebe. Die drei Schwestern saßen in Pipers Wagen. Obwohl sie es
wieder so eilig hatten wie am Sonntagmorgen, kamen sie diesmal
nicht so schnell voran. Trotz der späten Stunde herrschte noch relativ
viel Verkehr auf den Straßen. Das lag wohl daran, dass die Einwohner
von San Francisco ihre Aktivitäten auf die Abendstunden verlegt
hatten. Denn um diese Zeit war die Hitze wenigstens einigermaßen
erträglich.

»Na, sicher bin ich mir nicht«, antwortete Paige. »Aber die ersten

drei Opfer waren doch alles Leute, mit denen Sorvino offensichtlich
Stress gehabt hatte. Was sie dann auch mit ihrem Leben bezahlt
haben.«

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Phoebe nickte nachdenklich. Sie wusste, worauf Paige

hinauswollte. »Das stimmt. Und unsere liebe Miss Fontaine hat sich
heute am Set übel mit Sorvino gefetzt. Und ihm sogar gedroht.«

Jetzt warf Piper einen kurzen Seitenblick auf ihre Schwester auf

dem Beifahrersitz. »Aber wartet mal, ich war zwar nicht dabei, aber –
wäre es nicht verkehrt, die Hauptdarstellerin des Films umzubringen,
bevor der Film abgedreht ist? Ich meine, damit würde er sich doch ins
eigene Fleisch schneiden, oder?«

»Nicht unbedingt. Pete, der Kameramann hat uns erklärt, wie leicht

es heutzutage ist, das Gesicht eines Schauspielers digital zu kopieren.
Und der größte Teil von ›Scream X-Treme‹ ist ohnehin schon
abgedreht.«

»Dann hoffen wir mal, dass wir nicht zu spät kommen. Oder dass

ihr euch täuscht. Da vorne, das rote Backsteinhaus – das müsste es
sein.«

Phoebe blickte auf die Hausnummer, während Piper den Wagen

am Straßenrand stoppte. Dass sie dabei im Parkverbot stand, spielte
jetzt keine Rolle.

Zum Glück war Virginia noch nicht der Filmstar, der sie gerne

wäre, und so war es für die drei Schwestern kein besonders großes
Problem gewesen, ihre Adresse herauszubekommen. Unter ihrem
bürgerlichen Namen, Pilfinger, war sie noch immer im Telefonbuch
von San Francisco registriert.

Die drei Schwestern hetzten über den Bürgersteig zum

Hauseingang. Ein paar Passanten blickten sie erstaunt an. Phoebe,
Piper und Paige waren sicher die Einzigen, die sich bei dieser Hitze
im Laufschritt fortbewegten.

Paige blickte auf das Klingelschild und ließ ihren Finger über die

Namenschildchen gleiten.

»Hier ist es. V. Fontaine. Vierter Stock!«

Phoebe drückte gegen die Haustür. Sie war unverschlossen. In den

Hausflur zu gelangen, war schon mal kein Problem. Die drei
Schwestern stürmten hinein.

»Was jetzt?«, fragte Paige aufgeregt. »Soll ich uns in ihr

Apartment teleportieren?«

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Piper winkte ab. »Bloß nicht. Wir wissen ja nicht mal, ob sie

wirklich in Gefahr ist. Wie sollten wir es erklären, wenn wir uns
plötzlich auf ihren Wohnzimmertisch materialisieren? Ich bin dafür,
wir versuchen es erst mal auf die konventionelle Art.«

Phoebe und Paige nickten. »Also zu Fuß.«

»Jeder Gang macht schlank«, rief Paige und stürmte ins

Treppenhaus. Mit großen Schritten nahmen die drei Hexen mehrere
Stufen auf einmal. Eigentlich war es für die durchtrainierten jungen
Frauen kein Problem, ein paar Treppen hinaufzurennen, aber als Piper,
Phoebe und Paige im vierten Stock ankamen, waren sie in Schweiß
gebadet.

»Hier ist es«, keuchte Phoebe und deutete auf eine Tür mit einem

Namensschild darauf. »Virginia Fontaine.«

»Mädels, schaut mal«, schluckte Paige. »So wie es aussieht, sind

wir nicht die ersten Besucher heute Abend.«

Piper und Phoebe ahnten nichts Gutes, als sie dem Blick ihrer

Schwester folgten. Vor der Tür zu Virginias Apartment glänzte eine
Wasserlache.

»Das sieht aus wie Salzwasser, vermischt mit irgendeinem

Schleim«, flüsterte Piper.

Phoebe dachte kurz nach. »Ich fürchte, wir sind auf der richtigen

Spur – Salzwasser und Schleim … das klingt für mich nach dem
›Monster aus der Schwarzen Lagune‹!«

»Die fünfte Monster-Puppe!«, rief Paige.

»Keine Ahnung, wer dieses Viech aus der Schwarzen Lagune ist,

aber wir sollten es uns vornehmen. Seht mal, die Tür ist nur
angelehnt!«

Piper drückte vorsichtig gegen die massive Tür des Apartments. In

einer amerikanischen Großstadt wie San Francisco ließ man seine
Türen nicht einfach aufstehen. Das war kein gutes Zeichen.

Die drei Schwestern schlüpften hinein. Der Flur war mit einem

edel aussehenden Teppich ausgelegt. Auf seinem orientalischen
Muster prangte jetzt eine Spur feuchter Krallenabdrücke.

»Virginia?«, rief Phoebe durch den Flur. »Sind Sie hier?«

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Aus dem Badezimmer am Ende des Flurs ertönte ein platschendes

Geräusch.

Dann schrie eine Frauenstimme markerschütternd auf.

Virginia Fontaine seufzte wohlig auf. Sie spürte, wie das lauwarme

Wasser ihre angespannten Glieder langsam beruhigte. Die
Schauspielerin rutschte noch etwas tiefer in die Badewanne hinein, bis
ihr das Wasser bis zum Kinn reichte. Sie konnte jetzt hören, wie
tausende von kleinen Schaumblasen leise zerplatzten. Gab es etwas
Beruhigenderes, als ein Schaumbad am Abend?

Virginia schloss die Augen. Sie hatte gelesen, dass Cleopatra in

Eselsmilch gebadet hatte, um ihre Haut noch zarter und geschmeidiger
zu machen. Vielleicht sollte sie das auch mal ausprobieren.
Andererseits hatte sie, Virginia Fontaine, das nun wirklich nicht nötig.
Ihre Haut war perfekt, so wie sie war. Bis auf diesen kleinen Kratzer,
den dieser Idiot Sorvino ihr mit seiner albernen Puppe zugefügt hatte.
Aber auch der würde bald verschwunden sein, und dann …

Sie kam nicht mehr dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken.

Irgendetwas platschte ins Wasser. Im ersten Augenblick dachte
Virginia, eine Flasche Schaumbad wäre vom Wannenrand ins Wasser
geplumpst.

Doch im nächsten Augenblick spürte sie, wie etwas nach ihren

Fußknöcheln griff. Etwas Glitschiges!

Virginia schrie erschrocken auf. Dann zerrte etwas an ihren

nackten Beinen und zog ihren Kopf unter Wasser. Der Schrei wurde
von einem Blubbern erstickt.

Ohne noch einen klaren Gedanken fassen zu können, zappelte

Virginia panisch mit Armen und Beinen umher. Dass sie sich dabei
schmerzhaft den Ellbogen am Wannenrand stieß, nahm sie gar nicht
richtig wahr. Irgendetwas schloss sich um ihre Knöchel und zog sie
unter Wasser. Das Trommeln ihrer Arme gegen den Wannenrand
drang unter Wasser dumpf an ihre Ohren.

Immerhin gelang es ihr, das Etwas an ihren Füßen für einen

Moment abzuschütteln. Wie von Sinnen zappelte sie mit ihren Beinen
umher. Etwas Aalglattes streifte dabei ihr Knie. Voller Panik gelang
es Virginia, den Kopf aus dem Wasser zu heben. Gierig schnappte sie

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nach Luft. Die Seife brannte in ihren Augen und sie konnte nur die
dunkle Silhouette eines vielleicht unterarmgroßen Wesens erkennen,
das unter Wasser erneut nach ihrem Bein greifen wollte.

In diesem Augenblick wurde die Badezimmertür aufgestoßen.

Virginia fuhr herum. Ihre Augen tränten, aber soweit sie sehen konnte,
stürmten drei Frauen in ihr Badezimmer hinein. Sie wusste nicht, wer
die drei waren, aber das spielte jetzt auch keine Rolle mehr. »Hilfe!«,
schrie Virginia.

Wie auf Kommando sprang irgendetwas zu ihren Füßen aus dem

Badewasser. Wenn sie doch nur was erkennen könnte.

Die drei Frauen schienen genauso erschrocken zu sein, wie sie

selbst.

»Das gibt's ja nicht!«, rief eine der Frauen. »Schnapp es dir,

Paige!«

Virginias Unterbewusstsein arbeitete fieberhaft. Paige – war das

nicht diese kleine dumme Kuh, die Andy schöne Augen machte?

Virginia sah durch den Tränenschleier vor ihren Augen, wie die

Frau – Paige – einen Satz nach vorn machte und nach dem Wesen
griff, das da aus ihrer Wanne gesprungen war.

Doch das Ding war schneller.

»Verflixt! Es ist mir entwischt!«

»Warte, ich versuche, es einzufrieren!«, rief eine der anderen

Frauen. Ihre Stimme klang fremd in Virginias Ohren. Und was sollte
das bedeuten … ›einfrieren‹?

»Ich schaffe es nicht! Es ist zu schnell! Phoebe! Es rennt auf die

Toilette zu! Schneide ihm den Weg ab!«

Die dritte Frau, offensichtlich war es diese Phoebe, machte einen

erstaunlichen Satz quer durch das Badezimmer. Dann keuchte sie. »Zu
spät! Es ist weg! Das gibt's doch nicht! Es ist einfach in die Toilette
gesprungen!«

Ein paar Sekunden lang gaben die drei Frauen in Virginias

Badezimmer frustrierte Laute von sich. Währenddessen wischte sich
Virginia das Schaumwasser aus dem Gesicht. Ihre Augen brannten

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noch immer von der Seife, aber allmählich konnte sie wieder etwas
erkennen.

»Könnte mir mal jemand verraten, was hier los ist?«, fragte sie mit

noch immer zitternder Stimme.

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23

D

IE DREI HALLIWELL-SCHWESTERN blickten sich etwas

verlegen an. Das war eine gute Frage, die Virginia Fontaine da stellte.

Phoebe druckste herum. »Ja, äh, hallo, Virginia. Also, da war …«

»Eine Ratte!«, rief Paige dazwischen. »Wir standen gerade vor

deiner Wohnungstür, als wir dich schreien hörten. Wir sind sofort
hereingerannt und dann sahen wir …«

»… wie diese fiese, fette Ratte gerade aus der Badewanne sprang!«

»Genau«, pflichtete Piper jetzt bei. »Wir wollten sie uns

schnappen, doch das Mistvieh ist durch die Toilette entwischt.
Wahrscheinlich ist sie auch von dort gekommen!«

Virginia Fontaine schlug sich angewidert die Hände vor den Mund.

»Eine Ratte?!«, stotterte sie. »Bei mir im Badewasser? Das ist ja …
Ekel erregend!«

»Na ja, vielleicht war es eine … Wasserratte!«, sagte Phoebe.

Paige musste grinsen.

Voller Entsetzen sprang die junge Schauspielerin aus der Wanne.

Dann griff sie nach einem Handtuch und schwang es sich um den
Körper.

»Ich werde den Hausbesitzer verklagen. So etwas Widerliches ist

mir ja noch nie passiert!«, keifte Virginia. Dann stutzte sie.
Allmählich schien sie sich wieder zu beruhigen. »Apropos: Was zum
Teufel habt ihr eigentlich hier zu suchen? Wie seid ihr
reingekommen?«

Noch so ein paar gute Fragen. Diesmal hatte Phoebe den rettenden

Einfall. »Nun ja, die Wohnungstür stand auf – wahrscheinlich hast du
sie nicht richtig zugezogen. Und wir sind hier, weil wir uns, äh, bei dir
entschuldigen wollten …«

Paige blickte ihre Schwester fassungslos an. Sie schien mit dieser

Erklärung ganz und gar nicht einverstanden zu sein.

Virginia stemmte die Arme in die Hüften. »Entschuldigen?

Wofür?«, fragte sie misstrauisch.

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»Na ja, wir, äh, hatten das Gefühl, dass wir durch unsere

Anwesenheit auf dem Set ein wenig Unruhe gestiftet haben. Ich
meine, Dreharbeiten sind für eine Künstlerin schon anstrengend
genug. Und wenn dann noch zwei Laien in der Nähe sind, die dumme
Fragen stellen …«

Virginia nickte zustimmend mit dem Kopf. Der Schock ihres

ekligen Erlebnisses schien bereits wieder abgeklungen zu sein. »Da
hast du allerdings Recht. Na gut, Entschuldigung akzeptiert. Wenn ihr
zwei euch für den Rest der Dreharbeiten etwas zurückhaltet!«

»Versprochen …«, nickte Phoebe kleinlaut.

Paige biss nur die Zähne zusammen und sagte gar nichts mehr.

»Schön, wenn das geklärt ist, können wir jetzt ja endlich

verschwinden, oder?«, fragte Piper ungeduldig.

»Wer zum Teufel bist du eigentlich?«, zischte Virginia und blickte

die älteste der drei Schwestern misstrauisch an.

»Oh, äh, das ist unsere Schwester Piper«, stotterte Phoebe. »Sie …

wollte auch mal einen echten Filmstar kennen lernen, deshalb konnten
wir es ihr nicht ausreden, mitzukommen. Stimmt's, Piper?«

»Ja, ganz genau, Phoebe.« Piper reichte Virginia die Hand. »Hallo,

Miss, äh …«

»Fontaine«, flüsterte Phoebe.

»Hallo, Miss Fontaine. Freut mich, Sie kennen zu lernen.«

Paige verdrehte die Augen. Virginia Fontaine gab Piper ihre

schaumnasse Hand. »Ja, ja, schön. Aber ich gebe keine Autogramme.
Und jetzt raus! Ich brauche etwas Ruhe nach diesem Schock!«

»Das können wir uns gut vorstellen, Virginia«, nickte Piper eifrig.

Dann scheuchte sie ihre Schwestern hinaus, die sich das nicht zweimal
sagen ließen. »So, Mädels, wir sollten jetzt gehen!«

Ein paar Sekunden später standen die drei Schwestern wieder im

Flur des Apartmenthauses und zogen die Tür hinter sich zu.

»Musste dieses Geschleime sein?«, fragte Paige mit einem

ärgerlichen Blick auf Phoebe.

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»Was hätte ich denn sonst sagen sollen?«, entgegnete Phoebe mit

einem Schulterzucken. »Ich musste ihr ja irgendeinen Grund für unser
plötzliches Auftauchen nennen. Das mit der Ratte war übrigens eine
gute Idee, Paige.«

Piper stimmte ihrer Schwester zu. »Ja, finde ich auch. Gut reagiert,

Schwesterherz. Wir konnten ihr ja schlecht sagen, dass sie von einem
ihrer Filmmonster angegriffen wurde. Die hätte uns ja gleich für
verrückt erklärt.«

Phoebe, Piper und Paige machten sich wieder daran, die Treppen

hinunterzusteigen. »Und, was hältst du von unserem Superstar?«,
fragte Phoebe.

Piper zog ein grimmiges Gesicht. »Ich weiß schon, warum ich

Filmleute nicht mag«, knurrte sie.

Die dunkle Gestalt blickte vom gegenüberliegenden Dach herunter

und sah, wie die drei jungen Frauen das rote Backsteinhaus verließen.
In ihren Armen hielt der junge Mann die feuchtnasse Figur des
Lagunen-Monsters. Mittlerweile hatte er seine Kreaturen so gut unter
Kontrolle, dass er ihnen einen eigenen Willen verleihen konnte. Die
fünf Monster waren jetzt in der Lage, selbstständig zu handeln, ohne
dass er jeden ihrer Schritte mit seiner eigenen Willenskraft
kontrollieren musste. Er hatte das zum ersten Mal gemerkt, als die
Werwolf-Puppe am Set diese dumme Schnepfe Virginia angesprungen
hatte.

Allerdings brachte diese neue Form der Macht auch einen Nachteil

mit sich – die Kreaturen handelten zwar selbstständig, aber er konnte
jetzt nicht mehr durch ihre Augen sehen. Deshalb wusste der junge
Mann in dem schwarzen T-Shirt auch nicht, was in dem Apartment
geschehen \var. Eigentlich hätte das Lagunen-Monster Virginia
Fontaine töten sollen, aber wie er von seiner Position aus erkennen
konnte, stand die Schauspielerin in diesem Augenblick am Fenster
und zog mit einem Ruck die Vorhänge zu.

Irgendetwas war also schief gelaufen. Und es war offensichtlich,

dass die drei jungen Frauen damit zu tun hatten. Waren sie ihm etwa
auf die Spur gekommen?

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Der junge Mann grinste und streichelte sanft über den Kopf seiner

Monster-Puppe. Umso besser. Um seinen Teil der Abmachung zu
erfüllen, brauchte er ohnehin noch drei Opfer.

Drei offene Morde – drei Schwestern.

Eine einfache Rechnung.

Das Lachen des jungen Mannes hallte über das Hausdach durch die

Nacht. Wie um ihren Meister zu bestätigen, stieß die kleine Monster-
Puppe in seinem Arm ein bösartiges Zischen aus.

Ein paar Tauben flatterten – aus ihrem Schlaf gerissen –

erschrocken auf und stoben in den Nachthimmel hinein.

Dann wurde es wieder still. Wie ein Schatten verschwand der

junge Mann.

Zurück blieb nur eine kleine, schleimige Pfütze, die in der

schwülen Nachthitze schnell verdunstete.

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24

P

IPER HATTE MÜHE, SICH NOCH auf die Straße zu

konzentrieren. Die Anstrengungen der letzten Tage forderten ihren
Tribut. Die älteste der drei Schwestern kurbelte das Fenster ihres
Wagens hoch. Der Fahrtwind brachte ein wenig Abkühlung, und die
frische Luft wirkte belebend auf ihre Sinne.

»Meine Güte, bin ich müde«, gähnte sie.

Wie immer war Gähnen ansteckend, und Sekunden später gähnten

auch ihre Schwestern, während sie dabei nickten.

»Und ich erst«, sagte Paige. »Ich könnte, so wie ich bin, ins Bett

fallen. Wie weit ist es denn noch?«

Piper verdrehte die Augen. Manchmal benahm sich Paige wirklich

wie ein kleines Kind. »Wir sind ja gleich da«, grummelte sie. »Und
diesmal gehe ich zuerst duschen, klar?«

»Wenn's sein muss«, murmelte Paige. »Hauptsache, ich kann bald

in mein Bettchen fallen. Ich glaube, ich kann heute Nacht trotz der
Hitze prima schlafen.«

Piper wollte gerade etwas antworten, als sie den Mann auf der

Straße bemerkte. Zumindest hielt sie die Gestalt im ersten Augenblick
für einen Mann.

Erschrocken trat sie auf die Bremse. Die Reifen quietschten auf

dem Asphalt, dann kam der Wagen zum Stehen.

Nur wenige Zentimeter vor der Gestalt, die wie angewurzelt auf

der Straße stand. Es schien ihr nicht viel auszumachen, dass sie um
Haaresbreite überfahren worden wäre.

Im Gegenteil. Sie grinste im Licht der Scheinwerfer. Und dabei

wurden die nackten Wangenknochen sichtbar.

Eine Sekunde lang starrten die drei Schwestern die unheimliche

Gestalt an. Sie trug ein zerlumptes Hawaii-Hemd mit einem wirklich
grausamen Muster. Doch das war nichts im Vergleich zu dem Gesicht
des Mannes. Unter den filzigen Rasta-Locken hingen ein paar
Hautfetzen herab. Die Augen lagen tief eingesunken in den

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Schädelhöhlen und sahen aus, als könnten sie jeden Augenblick
herausfallen.

»Ein Dämon!«, rief Piper, die ihren Schreck als Erste überwand.

Das war das Kommando. Blitzschnell rissen die drei Halliwell-

Schwestern die Autotüren auf und sprangen hinaus.

»Die drei Zauberhaften«, grollte der Angreifer. Sein Grinsen

wurde noch breiter. Angeekelt beobachtete Phoebe, wie die
Pergamenthaut über seinen Wangenknochen dabei noch weiter einriss.

»Vorwärts, meine Freunde des Grabes«, lachte der Dämon,

»schnappt sie euch und nehmt sie in eure Reihen auf!«

»Mit wem redet der Kerl?«, fragte Paige verwundert. Im nächsten

Augenblick wurde ihre Frage beantwortet. Ein paar Mülltonnen am
Straßenrand schepperten auf, als sie mit brachialer Gewalt
umgestoßen wurden.

»Was sind das denn für Typen?«, schluckte Phoebe. Ein halbes

Dutzend zerlumpter Gestalten wankte auf die Schwestern zu. Sie
trugen zerschlissene Anzüge in dunkel gehaltenen Farben.
Leichenkleider.

»Zombies«, keuchte Piper. »Und unser Freund im

geschmackvollen Hawaii-Hemd muss so eine Art Zombie-Dämon
sein.«

»Diese Hitzewelle lockt wirklich die bescheuertsten Dämonen an«,

stellte Phoebe fest und schüttelte den Kopf. »Du hättest den Typen
über den Haufen fahren sollen, Piper.«

»Nachher ist man immer schlauer«, antwortete Piper nur.

Die Zombies waren inzwischen auf die drei Schwestern zugewankt

und versuchten sie einzukreisen. Zum Glück schlurften sie nur sehr
langsam auf sie zu.

»Was haben die vor?«, fragte Phoebe. »Warten, bis wir selbst an

Altersschwäche gestorben sind?«

Dann wirbelte sie einmal um die eigene Achse und versetzte dem

Untoten, der ihr am nächsten stand, einen Tritt in die Magengegend.

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Grunzend wurde der Zombie nach hinten katapultiert. Dann schlug

er mit einem ziemlich ekligen Geräusch auf dem Asphalt auf, blieb
eine Sekunde lang liegen und rappelte sich dann wieder hoch.

»Die sind scheinbar zu blöd, um einfach liegen zu bleiben«, sagte

Phoebe kopfschüttelnd. Aber so kamen sie nicht weiter. Einen
Angreifer, der bereits tot war, konnte man nicht mehr verletzen. Diese
untoten Kreaturen würden wieder und wieder angreifen.

»Versteht ihr jetzt, warum ich keine Horrorfilme mag?«, fragte

Piper. »Mir reicht es, dass ich mich im wirklichen Leben mit so einem
Unsinn herumprügeln muss.«

Eine weitere lebende Leiche streckte ihre verwesten Finger nach

Paige aus.

»Igitt!«, schrie die jüngste der Schwestern nur. »Nimm deine

Finger weg!« Im nächsten Augenblick löste Paige sich mit einem
Lichtblitz auf und materialisierte sich drei Meter neben ihrem
Angreifer. Der Zombie blickte sich verwirrt um.

Piper überlegte kurz. Diese Kreaturen einzufrieren, würde nicht

viel Sinn machen. Und irgendwie brachte sie es nicht fertig, die
Untoten einfach explodieren zu lassen. Es waren schließlich nur
seelenlose Hüllen, denen der Dämon die Ruhe des Grabes gestohlen
hatte. Am besten würde es sein, das Problem an der Wurzel zu
packen.

»Phoebe! Schnapp dir diesen Rasta-Mann!«, rief Piper.

Diese nickte nur kurz. Dann machte sie einen gewaltigen

Luftsprung über einen der angreifenden Zombies hinweg und landete
direkt hinter dem grinsenden Voodoo-Dämon.

Im nächsten Augenblick verging ihm das Grinsen. Phoebe griff zu,

drehte dem Dämon mit einer Hand den Arm auf den Rücken und legte
ihren anderen Arm um seinen Hals. Der Dämon krächzte auf. »Uuurk!
Hey, Baby, nicht so grob. Können wir nicht noch mal darüber reden?
Bei einem guten Joint vielleicht?«

»Zunächst mal rufst du deine Freunde zurück«, knurrte Piper und

blickte dem Dämon in die Augen. Dann richtete sie ihre Hand auf ihn.
»Oder ich sprenge dich in tausend Stücke!«

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»Igitt! Tu, was sie sagt«, keuchte Phoebe angewidert. »Ich habe

keine Lust, dass mir deine Einzelteile um die Ohren fliegen.«

»Okay, okay«, antwortete der Dämon hektisch. Dann stieß er ein

paar Laute in einer fremdartigen Sprache aus. Augenblicklich blieben
die Zombie stehen.

»Gut so«, nickte Piper. »Und jetzt wirst du ihnen befehlen,

schnurstracks in ihre Gräber zurückzukehren!«

Zum Glück war der Friedhof, aus dessen Ruhe der Dämon seine

Gehilfen gerissen hatte, nur einen Block weit entfernt. Außerdem war
es unwahrscheinlich, dass zu dieser Zeit noch eine lebende Seele auf
der Straße unterwegs war, der sie hätten begegnen können. Und selbst
wenn, dann waren diese Kreaturen jetzt harmlos. Sie wollten nur noch
in ihre Gräber zurück.

»Oh, Mann«, seufzte der Dämon. »Na schon, Schwester, du bist

der Boss!«

Widerwillig murmelte er noch eine weitere Formel, diesmal eine

etwas längere. Augenblicklich setzten sich die Untoten in Bewegung
und schlurften Richtung Friedhof.

»Bitte sehr«, grummelte der Dämon. »Sonst noch was? Könnte

deine Schwester mich vielleicht mal loslassen? Meine Knochen sind
schon etwas morsch, wisst ihr?«

»Ja, bitte«, stimmte Phoebe ein. »Der Typ stinkt wie eine tote

Ratte!«

Piper nickte. »Na schön, aber keine dummen Tricks, Dämon. Oder

ich puste dich zurück in die Hölle!«

Von Phoebes Griff befreit, hob der Dämon abwehrend die Hände.

»Okay, Baby, nichts für ungut. Nehmt's nicht persönlich, okay? Aber
ich dachte, ich könnte mich auch mal an den Zauberhaften versuchen.
Punkte sammeln in der Unterwelt, versteht ihr?«

»Schon klar«, nickte Piper grimmig. »Gut, ich mache dir einen

Vorschlag. Ich werde dir jetzt ein paar Fragen stellen, und du wirst sie
mir beantworten! Dann lasse ich dich gehen, wenn du schwörst, dich
hier nie wieder blicken zu lassen. Alles klar?«

Der Dämon nickte so heftig, dass seine Rasta-Locken wild

durcheinander flogen.

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»Alles klar, Schwester. Schieß los. Habe ich auch einen Telefon-

Joker?«

Phoebe und Paige blickten sich ratlos an. Was hatte ihre Schwester

vor?

Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Die meisten anderen

Menschen wären über das plötzliche Klingeln zu dieser Stunde
erschrocken oder zumindest verärgert gewesen. Nicht so Gustav
Landreau. Er hatte keine Verwandten oder Freunde mehr – welche
Hiobsbotschaften konnte der Anrufer am anderen Ende der Leitung
also schon verkünden? Und schlafen konnte Landreau ohnehin kaum
noch. Wie in den meisten anderen Nächten hatte er vor dem
Breitwand-Fernseher gesessen und sich ein paar seiner alten Filme auf
DVD angesehen. Diese Silberscheiben waren schon eine großartige
Erfindung. Die Bildqualität war unglaublich. Er hatte zuvor noch nie
so gute Kopien seiner alten Werke sehen können. Und das Beste war,
dass er an diesen Veröffentlichungen auf DVD noch einmal einen
ordentlichen Batzen Geld dazu verdiente.

Nicht, dass er es nötig gehabt hätte, aber Geld konnte man nie

genug haben. Auch wenn man es – wie es hieß – nicht mit ins Grab
nehmen konnte.

Diese Gedanken gingen Landreau durch den Kopf, während er sich

langsam und ohne Eile zum Telefon bewegte. Wenn jemand mitten in
der Nacht anrief, dann war es ihm schließlich wichtig genug , dass er
es auch länger klingeln ließ. Außerdem ahnte er ohnehin schon, wer
am anderen Ende der Leitung war.

Landreau nahm den Hörer ab und lauschte, ohne sich zu melden.

»Mister Landreau?«, meldete sich eine fast schüchterne Stimme

am anderen Ende.

»Mein lieber junger Freund«, antwortet der alte Regisseur. »War

Ihr kleiner nächtlicher Ausflug von Erfolg gekrönt?«

Die Stimme druckste etwas herum. »Nun ja, leider nicht. Mir sind

diese drei Schwestern in die Quere gekommen, vor denen Sie mich
schon gewarnt hatten.«

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Landreau nickte vor sich hin. Das war beinahe zu erwarten

gewesen. Die drei Zauberhaften stellten zwar keine wirkliche
Bedrohung für ihn dar, aber zu unterschätzen waren sie auch nicht.
Landreau hatte durch seine ›Kontakte‹ zur dämonischen Unterwelt
schon viel über diese drei Hexen gehört.

»Das ist bedauerlich«, entgegnete er nach einem kurzen

Schweigen, »aber nicht wirklich eine Katastrophe. Vergessen Sie nur
nicht, dass die Zeit langsam drängt, mein Freund. Noch fehlen drei
Opfer – ich schlage vor, für dieses Ziel die drei Schwestern ins Auge
zu fassen.«

»Ja, genau das habe ich mir auch gedacht, Sir«, antwortete die

Stimme eiligst. »Ich werde mich darum kümmern.«

»Oh, deshalb mache ich mir keine Sorgen, junger Freund. Ich habe

vollstes Vertrauen.«

Dann legte Landreau den Hörer auf und grinste. Er hatte

tatsächlich volles Vertrauen darin, dass sein junger Schüler die ihm
gestellte Aufgabe erfüllte.

Schließlich war auf die Dummheit der Menschen immer Verlass.

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25

S

ELBST DIE STIMME DES ANSONSTEN immer überdrehten

Radiomoderators wirkte matt und erschöpft. Seit über einer Woche
hielt die Hitzewelle nun schon an, und die ganze Stadt war langsam
am Ende ihrer Kräfte angelangt.

Als Paige die Küche des Halliwell-Hauses betrat, blickten ihre

beiden Schwestern erstaunt auf.

»Wenn du noch weniger anziehst«, erklärte Piper mit einem

Stirnrunzeln, »werden sie dich wegen Erregung öffentlichen
Ärgernisses noch verhaften, Paige.«

Die jüngste der Zauberhaften zuckte nur mit der nackten Schulter.

Sie trug ein trägerloses, knallrotes Top und dazu passende Shorts. Das
bedeutete, dass sie extrem viel Haut zeigte.

»Ach, was. Es ist schließlich unerträglich heiß draußen. Meinst du,

ich will auf dem Set einen Hitzschlag kriegen?«

Phoebe schmunzelte. »Könnte es sein, dass auch ein gewisser

Jungregisseur mit dieser Art der Kleiderwahl zu tun hat?«

Paige zog ihrer Schwester eine Grimasse und öffnete den

Kühlschrank, um eine Dose Cola herauszunehmen.

»Können wir dann bald mal los, Phoebe?«, fragte sie. »Es ist schon

gleich vier.«

Andy Stewart hatte heute Morgen angerufen und Paige und Phoebe

zu ein paar ›Establishing-Shots‹ eingeladen – was immer das auch
bedeuten mochte. Ausnahmsweise fanden die Dreharbeiten heute
schon am Nachmittag statt. Phoebe hatte sich extra ein paar Stunden
freigenommen, um den Dreh nicht zu verpassen. In der Redaktion
arbeitete bei der Hitze im Augenblick ohnehin niemand so richtig, und
deshalb hatte es beim Abmelden auch keine Schwierigkeiten gegeben.

»Seid bloß vorsichtig«, ermahnte Piper ihre beiden kleinen

Schwestern noch einmal. »Wir wissen jetzt, dass es auf dem Set nicht
mit rechten Dingen zugeht.«

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Phoebe kratzte sich am Hinterkopf. »Meinst du wirklich, dass diese

mörderischen Puppen mit schwarzer Magie zum Leben erweckt
worden sind?«

Piper nickte ernst. »Ich fürchte schon. Ich hatte gleich den

Verdacht, als ich gesehen habe, wie schnell sich dieses Sumpf-
Monster durch das Badezimmer dieser eingebildeten Pute bewegt hat.
So geschickt würde sich kein ferngesteuerter Roboter bewegen
können. Und das, was ich aus diesem albernen Voodoo-Priester
herausgequetscht habe, hat meinen Verdacht bestätigt.«

Phoebe nickte zustimmend. Sie und Paige waren mit den Monster-

Puppen schon so vertraut gewesen, dass ihnen gar nicht mehr
aufgefallen war, wie menschlich sich diese Kreaturen mittlerweile
bewegten. Durch den Voodoo-Priester hatten sie alles über das
›Beseelen‹ von leblosen Figuren erfahren. Für jemanden, der die
schwarze Magie beherrschte, war es offensichtlich kein großes
Problem, einen Teil seiner eigenen Seele in den Gastkörper einer
Puppe zu übertragen und ihr so eigenes Leben einzuhauchen.

Was für eine gruselige Vorstellung. Trotz der Hitze lief der jungen

Hexe ein kurzer Schauer über den Rücken.

Auch Paige machte ein ernstes Gesicht, als sie an die Begegnung

von letzter Nacht denken musste. »Glaubst du, dieser Rasta-Dämon
hält sein Versprechen und schadet nie wieder einem menschlichen
Wesen?«

Piper grinste. »Natürlich. Sonst hätte ich ihn doch nie gehen lassen.

Außerdem bleibt ihm nach unserem Zauberbann gar nichts anderes
übrig, als Wort zu halten.«

Mit einem Lächeln erinnerte sich Piper an den kleinen Spruch, den

die drei Schwestern dem Dämon noch mit auf den Weg gegeben
hatten, bevor sie ihm erlaubten, sich in seine Dimension
zurückzuziehen:

»Solltest du jemals wieder einem Menschen schaden,
musst in dämonischer Höllenglut du baden!«

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»Nein, der wird sich hüten. Ich wünschte nur, es gäbe einen so

einfachen Trick, um diese Monster-Puppen unschädlich zu machen.
Wir können sie leider nicht einfach zerstören, bevor wir nicht wissen,
wer ihr Meister ist. Sonst wird er früher oder später erneut
zuschlagen.«

»Stimmt«, nickte Phoebe. »Und bis jetzt können wir die Monster

wenigstens im Auge behalten.«

»Ich tippe ja immer noch auf Sorvino«, sagte Paige. »Es spricht

doch alles gegen ihn, oder?«

»Sicher«, antwortete Piper, »aber beweisen können wir ihm noch

gar nichts. Und wir können ja schlecht hingehen und ihn ganz
beiläufig fragen, ob er sich zufällig mit den Mächten des Bösen
eingelassen hat.«

»Nein«, murmelte Paige, »wenigstens nicht so direkt.«

»Mmh? Was hast du gesagt?«, fragte Phoebe und packte noch ein

paar Äpfel als Proviant in die Tasche.

»Nichts. Jetzt lass uns endlich gehen.«

Die beiden Schwestern verabschiedeten sich von Piper und traten

durch die Haustür.

»Haltet die Augen auf!«, rief Piper ihnen hinterher. »Tut nichts

Unüberlegtes! Und strengt euch nicht so an bei der Hitze!«

»Nein, Mami!«, rief Paige, bevor sie mit Phoebe zusammen in

ihren VW New Beetle stieg.

Piper blickte ihren beiden jüngeren Schwestern noch hinterher, bis

der schwarze Wagen um die Ecke gebogen war. Ein paar Sekunden
später materialisierte sich Leo im Flur des Halliwell-Hauses.

»Ich dachte schon, die gehen gar nicht mehr«, sagte er und gab

Piper einen Kuss. Doch seine Ehefrau schien nicht ganz bei der Sache
zu sein.

»Machst du dir Sorgen um die beiden?«, fragte Leo. »Solltest du

nicht. Phoebe und Paige können ganz gut auf sich allein aufpassen.
Und am helllichten Tag werden diese Mord-Puppen bestimmt nicht
zuschlagen.«

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Piper schüttelte den Kopf. »Nein, ich musste gerade an etwas ganz

anderes denken. Morgen soll doch im P3 diese große Kampfszene
gedreht – werden. Und jetzt erfahre ich, dass ich mir neben einem
chaotischen Filmteam auch noch ein paar randalierende Monster-
Puppen ins Haus geholt habe. Ich hoffe mal, das geht gut.«

Leo schluckte. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen,

seine Ehefrau zu diesem Dreh zu überreden.

Paige und Phoebe schafften es, gerade noch vor der Welle des

Feierabendverkehrs ihr Ziel zu erreichen. Allmählich füllten sich die
Straßen, und am Horizont färbte eine graue Smog-Glocke den
Himmel. Die wenigsten Einwohner waren offensichtlich dem Appell
der Stadtverwaltung, möglichst öffentliche Verkehrsmittel zu
benutzen, solange sich die Wetterlage nicht besserte, nachgekommen.

Auch Paige kämpfte mit einem schlechten Gewissen, das aber

schnell verflog, als sie Pete und Lou am Straßenrand sah. Wie immer
schleppte Pete eine große Kamera mit sich herum.

Sie befanden sich jetzt mitten im Financial District, dem Banken-

Viertel der Stadt. Ein paar Bankangestellte, die trotz der großen Hitze
überaus korrekt gekleidet waren, blickten den beiden Filmleuten
erstaunt hinterher. Pete und Lou trugen die Crew-T-Shirts mit dem
›Scream X-Treme‹-Logo und passten überhaupt nicht in diese
elegante Gegend.

»Hi, Paige! Hi, Phoebe!«, rief Pete. Dem fülligen Kameramann lief

der Schweiß von der Stirn, was seiner Laune aber nicht abträglich zu
sein schien. »Da vorne habe ich noch ein paar freie Parkplätze
gesehen. Wir sind gleich da drüben, auf dem Platz vor der
Transamerica Pyramid!«

Der Kameramann deutete erst in die eine, dann in die andere

Richtung, um Paige den Weg zu zeigen. Die junge Hexe winkte
dankend zurück und steuerte den Wagen kurz darauf in eine
Parklücke. Zum Glück machten auch die Banker bei dieser Hitze
früher Feierabend, und die Parkplatzsituation war heute nicht ganz so
dramatisch wie sonst.

»Ganz schön feine Gegend«, murmelte Phoebe, als die beiden

Schwestern ausstiegen. Der Banken-Bezirk, auch ›Wallstreet des

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Westens‹ genannt, befand sich östlich vom bekannten Market Square
und war tatsächlich eine der teuersten und elegantesten Gegenden der
Stadt. Erst in den 70er Jahren hatte die Stadtverwaltung von San
Francisco den Bau von Hochhäusern erlaubt. Man wollte das
historische Stadtbild nicht zerstören. Zudem erinnerte sich die
Bevölkerung noch sehr gut an das große Erdbeben von 1906, das
einen großen Teil der Stadt zerstört hatte. Wenn wieder einmal die
Erde bebte, wollte sich sicherlich niemand im obersten Stockwerk
eines Wolkenkratzers befinden. Allerdings galten moderne
Hochhäuser mittlerweile als erdbebensicher, und die Architekten
hatten sich wirklich Mühe gegeben, ihre Kolosse dem eleganten
Stadtbild von San Francisco anzupassen.

»Ich bin immer wieder fasziniert von diesem Teil«, sagte Paige

und deutete auf die Transamerica Pyramid, einen eleganten
Wolkenkratzer, der sich nach oben hin immer mehr verjüngte, sodass
er wie eine extrem lang gezogene Pyramide wirkte.

Phoebe nickte. »Ich frage mich nur, weshalb Andy dieses Gebäude

für seinen Film braucht.«

Paige deutete mit einer Kopfbewegung auf ein paar Gestalten in

schwarzen T-Shirts, die auf dem Vorplatz des Wolkenkratzers damit
beschäftigt waren, ein paar Ausrüstungsgegenstände aufzubauen.

»Du kannst ihn ja selbst fragen. Da drüben steht die ganze Bande.«

Ein wenig abseits von der Crew entdeckte Phoebe zwei junge

Männer, die offensichtlich in ein hitziges Gespräch vertieft waren.
Zumindest fuchtelten sie heftig mit den Armen in der Luft herum. Es
waren Andy und Tim Sorvino.

»Na, die scheinen sich heute ja gar nicht gut zu verstehen«,

bemerkte Paige.

»Vielleicht kriegen wir ja mit, um was es geht«, erwiderte Phoebe

und beschleunigte ihre Schritte.

Obwohl die beiden Schwestern sich beeilten, hörten sie nur noch

ein paar Fetzen der Unterhaltung.

»… es sind deine Puppen, das ist dir jawohl klar«, sagte Andy und

blickte seinen Special-Effects-Experten böse an. Dann entdeckte er
Paige und Phoebe. Sofort machte sich ein Lächeln auf seinem Gesicht
breit. »Hallo, Paige. Hi, Phoebe! Da seid ihr ja!«

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Tim Sorvino wandte sich ab, ohne die beiden Schwestern zu

begrüßen. Er stemmte die Hände in die Taschen seiner schwarzen
Jeans und schlenderte missmutig auf den Rest des Teams zu.

»Was war denn hier los?«, fragte Phoebe scheinheilig mit einem

Seitenblick auf Sorvino.

Andy winkte ab. »Ach, nur ein paar künstlerische Differenzen. Das

gibt sich wieder. Schön, dass ihr noch kommen konntet. Und ein tolles
Outfit, Paige!«

»Findest du?«, fragte Paige errötend zurück. »Oh, danke …«

Gut abgelenkt, dachte Phoebe. Der junge Regisseur hatte ihre

Schwester schon wieder um den Finger gewickelt. Sie konnte die
beiden jetzt ebenso gut allein lassen.

»Ich gehe mal zu den anderen rüber«, sagte Phoebe und deutete auf

Pete, der ein paar Meter weiter gerade seine Kamera auf ein Stativ
schraubte.

»Ist gut. Bis gleich«, rief Paige über ihre Schulter.

Phoebe schlurfte auf den Kameramann zu.

»Hi, Phoebe«, sagte Pete und blickte dann durch sein Objektiv.

»Habt ihr einen Parkplatz gefunden?«

»Ja, ja, war kein Problem. Sag mal, was war denn gerade zwischen

Andy und Tim Sorvino los? Als wir ankamen, sah es aus, als würden
die beiden sich streiten.«

»Mmh, schon möglich. Ich höre schon gar nicht mehr hin. Früher

waren die beiden unzertrennlich, aber seit ein paar Tagen fetzen sie
sich fast täglich. Apropos fetzen – wo steckt denn mein unfähiger
Ton-Assi? Lou?!«

Pete blickte sich um und rief den Namen seines Tonmannes.

Vergeblich.

»Sie streiten sich öfter? Hast du eine Ahnung, warum?«, hakte

Phoebe nach.

»Nö, keine Ahnung. Ich vermute mal, das kommt vom Stress

während der Dreharbeiten. Für die beiden steht viel auf dem Spiel,
weißt du? Ich meine, wenn ›Scream X-Treme‹ ein Flop wird, ist Andy
als Regisseur unten durch. Die Medien erwarten doch heute schon,

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dass sich jeder Jungregisseur mit seinem Erstlingswerk als
Wunderkind entpuppt. Ich nenne das den ›Spielberg-Effekt‹.
Heutzutage hast du als Regieanfänger kaum noch die Chance, aus
deinen Fehlern zu lernen – weil du nie mehr einen zweiten Job
bekommst. Ah, da ist ja die Knalltüte!«

Pete blickte auf und winkte Lou zu sich heran, der seelenruhig aus

dem Haupteingang des Hochhauses geschlendert kam.

»Mann, Junge, ich habe dich schon gerufen! Warum muss ich

gerade mit dem einzigen tauben Tonmann der Filmgeschichte
geschlagen sein?«

»Reg dich ab, Mann. Ich war da drin nur mal kurz auf dem Klo.

Der blöde Portier wollte mich erst nicht reinlassen.«

»Ja, ja.« Pete winkte ab, ohne zuzuhören. »Könntest du jetzt mal

ein bisschen Atmo ziehen, wenn's recht ist? Ich möchte nicht den
halben Tag für ein paar blöde Establishing-Shots vertrödeln.«

Während Lou wenig beeindruckt seine Ton-Ausrüstung

zusammensteckte, stellte Phoebe ein paar interessierte Fragen.
Immerhin war sie überhaupt nur deshalb auf das Set von ›Scream X-
Treme‹ gekommen, weil sie etwas über das Filmemachen lernen
wollte.

»Was ist denn eigentlich ein ›Establishing-Shot‹«, fragte sie, »und

was meinst du mit ›Atmo ziehen‹?«

»Eine Sekunde bitte«, entgegnete Pete nur. Dann blickte er durch

das Objektiv seiner Kamera und schwenkte sie einmal von unten nach
oben über den Wolkenkratzer vor ihnen.

»Das war's eigentlich schon, Phoebe«, sagte er dann und lachte, als

er Phoebes fragendes Gesicht sah. »Bei einem Establishing-Shot
etabliert man – wie der Name schon sagt – einen bestimmten
Handlungsort. In unserem Fall spielt ein Teil von ›Scream X-Treme‹
in diesem Hochhaus. Der Charakter, den Virginia spielt, arbeitet dort
als Sekretärin, bevor sie durch Zufall mit den Monster-Puppen in
Berührung kommt. Natürlich haben wir die Szenen, die in dem Büro
spielen, ganz woanders gedreht. Aber wenn man im fertigen Film kurz
den gedachten Handlungsort im Bild sieht, glaubt man automatisch,
die folgenden Szenen würden auch dort spielen.«

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»Verstehe«, nickte Phoebe. Wenn sie darüber nachdachte, fiel ihr

auf, dass sie solche kurzen Bilder von Außengebäuden in fast jedem
Spielfilm zu sehen bekam. »Und was ist dieses ›Atmo ziehen‹?«

Jetzt meldete sich Lou mit einer Erklärung zu Wort. »›Atmo‹ steht

für Atmosphäre. Gemeint ist einfach die natürliche Geräuschkulisse
eines Ortes. Ohne die würde so eine Aufnahme von einem Gebäude
ziemlich nackt wirken.«

»Natürlich ist das Bild trotzdem wichtiger als der Ton«, warf Pete

sofort ein. »Für den Zuschauer ist das, was er sieht, natürlich am
wichtigsten. Deshalb sagt der liebe Gott in der Bibel ja auch zuerst ›Es
werde Licht‹!«

»Ja, aber er musste es eben erst sagen!«, entgegnete Lou sofort.

Phoebe lachte auf. Die beiden waren wirklich unbezahlbar.

»Habe ich was verpasst?«, fragte Paige. »Worüber lacht ihr?«

Phoebe hatte gar nicht gemerkt, dass ihre Schwester an sie

herangetreten war. »Ach, Pete und Lou weihen mich nur in die
Geheimnisse der Filmkunst ein. Verbunden mit einer kleinen
Bibelstunde.«

Paige blickte Phoebe nur verständnislos an und zog sie dann ein

Stück zur Seite. »Hör mal, Phoebe, Andy meint, der Dreh hier dauert
nur noch ein paar Minuten – dann will er mit den Jungs vom Team
noch in ein Gartencafé gehen.«

»Und?«, fragte Phoebe. »Du willst natürlich mit, oder?«

»Im Prinzip schon«, antwortete die jüngste Halliwell-Schwester

mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber ich dachte, wir nutzen die
Gelegenheit und sehen uns einmal in Sorvinos Wohnung um.«

Phoebe schluckte. »Ich weiß nicht, Paige. Hältst du das für eine

gute Idee? Sollten wir nicht erst Piper fragen? Oder das Darryl
überlassen?«

»Ach was, da kann doch nicht viel passieren. Und Darryl würde

doch nie einen Hausdurchsuchungsbefehl für Sorvinos Wohnung
bekommen, solange die Beweise so dürftig sind. So eine Chance
bekommen wir nicht wieder.«

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Phoebe dachte kurz nach, dann klopfte sie ihrer Schwester auf die

Schulter. »Also los. Worauf warten wir?«

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26

U

NTER EINEM VORWAND HATTEN Phoebe und Piper sich

vom Filmteam getrennt und saßen wieder in Paiges Beetle. Phoebe
hatte ganz beiläufig und unter einem Vorwand nach der Adresse von
Tim Sorvino gefragt. Der Kameramann war zu gutmütig, um bei
dieser Frage Verdacht zu schöpfen.

Als die beiden Schwestern das Wohngebiet erreichten, in dem auch

Sorvinos Apartment lag, war die Sonne schon ein riesiger, orange
glühender Ball, der dicht über der Skyline San Franciscos schwebte.

Doch wie schon in den vergangenen Tagen brachte der

Sonnenuntergang kaum Abkühlung. Am Abend wälzte sich die
schwülwarme Luft vom Meer durch die Straßen der Stadt, und Phoebe
wusste nicht, was schlimmer war – die stechende Hitze des Tages oder
die feuchte Umklammerung der Nachtluft. Selbst die Klimaanlage von
Paiges Beetle kam kaum gegen die Hitze an und pustete nur lauwarme
Luft ins Wageninnere.

Phoebe ließ gerade das Autofenster heruntergleiten, als Paige auf

ein Mietshaus am Straßenrand deutete. »Nummer dreiundzwanzig.
Das müsste es sein.«

Phoebe ließ ihren Blick von unten nach oben über das alte

Gebäude gleiten. Sie musste grinsen. Ganz unbewusst hatte sie damit
einen Establishing-Shot nachvollzogen.

»Habe ich etwas verpasst?«, fragte Paige, die das Lächeln ihrer

Schwester bemerkte.

»Establishing Shot: Altes Mietshaus. Schnitt auf: Paige schaltet

den Motor aus. Schnitt: Die beiden Schwestern verlassen den
Wagen.«

Paige schüttelte lachend den Kopf. »Das Filmfieber hat dich ja

noch schlimmer erwischt als mich. Ich meine – ich habe immer noch
einen hübschen Jungregisseur als Ausrede. Und du?«

»Tja, vielleicht werde ich ja selber mal eine hübsche

Jungregisseurin«, erwiderte Phoebe. Dann stiegen die beiden
Schwestern endlich aus dem Wagen.

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Paige erreichte das Klingelbrett als Erste. Anders als bei dem edlen

Backsteingebäude, in dem Virginia Fontaine wohnte, war das
Klingelbrett hier ein Chaos aus aufgeklebten, überklebten und dann
wieder durchgestrichenen Namen. In diesem Haus schien eine rege
Fluktuation von Mietern zu herrschen. Paige glitt mit dem Zeigefinger
über die Namen. Sie atmete tief aus, als sie endlich auf ›T. Sorvino‹
stieß. Im obersten Stock.

Hoffentlich gab es hier wenigstens einen Aufzug.

Phoebe öffnete die Tür. Ein typischer Mietshaus-Geruch schlug ihr

entgegen, nicht unangenehm, aber sehr intensiv. Mehrere Mieter
schienen gerade das Abendessen vorzubereiten. Phoebe schätzte, dass
vom klassischen Hamburger bis hin zu Hühnchen-Curry alles dabei
war.

Paige zog ihre Nase kraus. »Mmhh, ich weiß nicht, ob ich Hunger

kriegen oder ob mir schlecht werden soll«, sagte sie skeptisch.

Phoebe deutete auf eine Fahrstuhltür. »Ich finde, es riecht

interessant«, antwortete sie. »Lass uns den Fahrstuhl nehmen.«

Paige nickte und wollte gerade den Knopf drücken, als sich die

Fahrstuhltür öffnete. Eine lateinamerikanisch aussehende Dame
drückte sich aus dem Aufzug heraus. In den Armen hielt sie jeweils
eine Tüte mit Papiermüll.

»Halte mal bitte die Tür auf, Schätzchen«, sagte sie ganz

selbstverständlich. Phoebe griff nach der Fahrstuhltür, damit die Dame
heraustreten konnte. »Danke, mein Kind.« Dann blieb sie kurz stehen
und musterte die beiden Schwestern. »Ihr wohnt hier aber nicht,
oder?«

»Ah, nein«, antwortete Phoebe schnell. »Wir wollen einen, äh,

Freund von uns besuchen. Tim Sorvino.«

»Na, da schau an«, sagte die Frau. »Da wird er sich aber freuen.

Ich glaube unser junger Mister Sorvino bekommt nicht oft Besuch.
Schon gar nicht von so hübschen jungen Damen. Dann versucht mal
euer Glück. Aber ich glaube, er ist nicht zu Hause.«

»Wirklich?«, fragte Paige und tat enttäuscht. »Was soll's, wir

versuchen es trotzdem mal. Schönen Abend noch.«

»Bei der Hitze? Na, ich weiß nicht. Trotzdem danke, Schätzchen.«

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Die Dame watschelte mit ihren Müllsäcken davon. An den Füßen

trug sie Badelatschen. Dann drehte sie sich noch einmal um und
blickte über ihre Schulter. »Und schickt mir den Aufzug wieder
herunter, wenn ihr oben angekommen seid, ja? Das alte Ding braucht
ewig, bis es wieder unten ist.«

»Machen wir!«, rief Phoebe zurück und schlüpfte mit ihrer

Schwester zusammen in die Kabine.

Die Tür glitt zu, und die beiden Hexen mussten feststellen, dass die

alte Dame Recht gehabt hatte. Es schien tatsächlich eine Ewigkeit zu
dauern, bis der Fahrstuhl mit einem ›Fing‹ den obersten Stock
erreichte. Ruckelnd öffnete sich die Tür.

Die Hitze des Tages hatte sich im obersten Stockwerk aufgestaut

und schlug Phoebe und Paige wie ein Hammerschlag entgegen. Paige
versuchte vergeblich, sich mit der Hand frische Luft zuzufächeln.
»Irgendwann kriege ich noch mal einen Hitzschlag«, stöhnte sie. Dann
deutete sie auf eine Tür, auf deren Namensschild mit krakeliger
Schrift ›T. Sorvino‹ geschrieben stand. »Hier. Die Höhle des Löwen.«

Phoebe blickte sich um. Außer ihnen war niemand in dem Gang.

»Scotty, wir sind bereit zum Beamen«, grinste sie dann.

Paige nickte nur und nahm die Hand ihrer Schwester. Im nächsten

Augenblick schimmerten die beiden Hexen auf und verschwanden …

… um kurz darauf im Apartment von Sorvino wieder zu

materialisieren.

Obwohl die beiden Hexen das magische Teleportieren gewohnt

waren, stellte es immer wieder eine Herausforderung dar. Phoebe und
Paige waren schließlich auch nur Menschen, und der menschliche
Verstand hatte einfach Probleme damit, sich plötzlich an einem
anderen Ort wieder zu finden, ohne sich körperlich von der Stelle
bewegt zu haben. Bei ihren ersten Versuchen war Paige jedes Mal
regelrecht schlecht geworden. Zum Glück hatte sich inzwischen etwas
Gewohnheit eingestellt.

Phoebe schaute sich um und schnalzte mit der Zunge.

»Der Mann ist ein Freak, so viel ist klar.«

Paige nickte nur und blickte sich um. Sorvinos Apartment war

klein und schäbig. Die Vorhänge waren zugezogen worden, um die

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Sonnenstrahlen ein bisschen abzuhalten. Genutzt hatte es nicht viel,
die Bude war heiß und stickig.

Und überladen mit Comic-Heften, die sich nicht nur in den

Regalen und auf dem kleinen Schreibtisch, sondern auch auf dem
Fußboden türmten. Spider-Man, Superman, Captain America –
Sorvino schien keine Heftserie auszulassen – und das seit Jahren.

»Du meine Güte«, murmelte Paige. »Die müssen ein Vermögen

wert sein. Hey, ›Batman gegen Frankenstein‹ – das kenne ich noch gar
nicht.«

Paige stürzte sich auf das Comic-Heft und blätterte es begeistert

durch. Phoebe trat vor einen Schrank, in dem sich eine umfassende
Sammlung von Superhelden- und Monster-Figuren befand. Kleine,
detailgetreu nachmodellierte Statuen aus Plastik. Paige hatte Recht:
Phoebe erinnerte sich daran, dass sie in der Redaktion einmal Geld
zusammengelegt hatten, um dem Büroboten – auch einem großen
Comic-Fan – eine dieser Figuren zum Geburtstag zu schenken. Die
Dinger sahen zwar cool aus, waren aber auch unverschämt teuer.

Sorvino musste wirklich ein Vermögen für seine Sammlung

ausgegeben haben. Und sein Comic-Händler hatte ein Vermögen an
ihm verdient – vorausgesetzt Sorvino hätte seine Rechnungen bezahlt.

Während Paige noch immer begeistert in dem Comic blätterte, sah

sich Phoebe weiter um. Sorvinos Apartment war eine typische
Junggesellenbude und ganz sicher nicht dafür eingerichtet, Besuch zu
empfangen. Die Fläche der kleinen Wohnung, die nicht von Comics
und Magazinen in Beschlag genommen wurde, war mit
Feinwerkzeugen, Plastilin-Fläschchen und elektronischen Kleinteilen
bedeckt. Wie es aussah, baute Sorvino hier auch seine Monster-
Puppen. Phoebe erschauderte, als sie auf dem Schreibtisch die Gestalt
eines vielleicht fünfzig Zentimeter großen Gorillas entdeckte.

Das war King Kong, keine Frage. Ein weiteres, berühmtes Monster

der Filmgeschichte. Der Riesenaffe war erst halb fertig, was ihn noch
unheimlicher machte. Drähte und kleine Seilzüge schauten aus seinem
Kunstfell hervor. Das Gesicht des Monsters war erst zur Hälfte
ausmoduliert. In der linken Hälfte des Gesichtes lag der Plastik-
Augapfel noch in seinem Sockel aus blankem Metall. Das Monster
wirkte, als wäre es bereits halb verwest und starrte Phoebe aus seinen
toten Augen an.

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Gruselig.

Phoebe stutzte, als sie die Zeitungsausschnitte bemerkte, die über

den Schreibtisch an einer Pinnwand befestigt waren. Sorvino schien
wirklich ein Freak zu sein, der seine Sammelleidenschaft nicht unter
Kontrolle hatte. An der Pinnwand hingen mindestens drei Dutzend
Ausrisse aus diversen Filmzeitschriften und Zeitungen. Als Phoebe
genauer hinsah, bemerkte sie, dass viele davon nur Kopien waren –
Kopien von Artikeln, die zum Teil Jahrzehnte alt waren.

1972, 1965, 1945

Und alle hatten eines gemeinsam.

Sie handelten von Gustav Landreau.

»Paige, komm doch mal bitte her«, flüsterte Phoebe, ohne ihren

Blick von den körnigen alten Fotos abwenden zu können.

»Moment, ich hab's gleich«, erwiderte Paige. »Ha, Batman

gewinnt immer!« Sie schlug das Heft zu, legte es wieder auf den
Stapel, von dem sie es genommen hatte, und trat dann neben ihre
Schwester.

»Was gibt's denn?«

Phoebe deutete auf die Zeitungsschnipsel. »Sieh mal hier. Unser

Freund Sorvino sammelt offensichtlich auch alte Artikel aus
Filmzeitschriften. Allerdings nur, wenn sie von Mister Gustav
Landreau handeln.«

»Dem alten Gruselfilm-Regisseur? Zeig mal!«

Paige machte noch einen Schritt auf die Pinnwand zu. Eigentlich

brauchte sie eine Lesebrille, aber Paige war viel zu eitel dafür.

»Tatsächlich«, sagte sie, nachdem sie einige der Artikel überflogen

hatte. »Aber er ist dabei ziemlich wählerisch. Es geht darin nicht
gerade um den üblichen Film-Tratsch.«

Phoebe nickte. Sie hatte die Überschriften ebenfalls überflogen:

»Rätselhafter Todesfall am Set von ›Der Werwolf kehrt zurück!‹ –

Variety, 12.3.1947

»Hollywood trauert um Rita Haystack – Filmstar stirbt unter

ungeklärten Umständen!« – Hollywood Reporter, 4.12.1954

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»Gustav Landreau – Hollywoods Monstermacher mit Pechsträhne:

geschiedene Frau des Regisseurs ermordet aufgefunden« – Los
Angeles Times, 6.8.1959

»Grausamer Verdacht: Wurde Landreaus geschiedene Frau Opfer

eines streunenden Hundes?« – Inside Hollywood, 12.8.1959

»Scheint, als würde es kein Glück bringen, für Landreau zu

arbeiten«, sagte Paige.

»Oder sich mit ihm anzulegen«, nickte Phoebe.

Vorsichtig zog sie die Pinnnadel aus der Wand, mit der der letzte

Artikel befestigt war. Dann las sie laut den kurzen Text vor.

»Hollywood, eigener Bericht: Die Polizei verfolgt im rätselhaften

Mordfall an Genoveve Landreau, Exfrau des ›Monstermachers‹
Gustav Landreau, eine neue Spur. In der Villa des Opfers wurden
nahe der Leiche mehrere grau-braune Haare gefunden, die nach
ersten Untersuchungen der Gerichtsmediziner von einem Hund oder
einem ähnlichen Tier stammen könnten. Die Verletzungen, an denen
Misses Landreau erlag, deuten ebenfalls auf das Werk eines wilden
Tieres hin. Noch ungeklärt ist dagegen, wie die Bestie in die Villa der
Schauspielerin gelangt sein könnte. Nach Angaben der Polizei waren
zur Tatzeit alle Türen und Fenster verschlossen. Misses Landreau, die
nach dem Scheidungskrieg mit ihrem Mann, dem bekannten Regisseur
Gustav Landreau allein lebte, verbrachte die letzten Wochen ihres
Lebens offenbar in großer Angst und geistiger Verwirrung. Freunde
der Verstorbenen berichteten unserem Reporter von einem
Alkoholproblem und dem Wahn, von den Kreaturen ihres Mannes
verfolgt zu werden. Die Polizei hat alle Ermittlungen gegen Gustav
Landreau inzwischen eingestellt.«

»Meinst du, Landreau hatte etwas mit diesen ungeklärten

Todesfällen zu tun?«, fragte Paige.

»Schwer zu sagen. Aber es scheint mir kein Zufall zu sein, dass so

viele Menschen in Landreaus Nähe unter mysteriösen Umständen ums
Leben gekommen sind. Vielleicht war Landreaus Exfrau gar nicht so
verrückt. Ich meine, diese angeblichen Hundehaare könnten doch auch
von einem Werwolf stammen. Oder zumindest von dem Modell eines
Werwolfs? Und heute, Jahrzehnte später, kommen drei Leute ums
Leben, mit denen Tim Sorvino sich überworfen hat. Durch die Puppen
seiner Filmmonster. Unter ebenso unheimlichen Umständen. Und

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dann finden wir auch noch heraus, dass Sorvino fanatisch alte
Zeitungsausschnitte sammelt, die alle etwas mit Landreau zu tun
haben. Bisschen viel für einen bloßen Zufall, findest du nicht?«

»Vielleicht ist er einfach ein nur Fan von Landreau«, erwiderte

Paige achselzuckend.

»Oder ein Fan von Landreaus Methode, ungeliebte Zeitgenossen

zu beseitigen.«

Paige runzelte die Stirn. »Stimmt. Da könnte was dran sein.

Vielleicht sollten wir uns Landreau auch mal unter die Lupe nehmen.
Es macht wahrscheinlich wenig Sinn, nur Sorvino auszuschalten,
wenn der alte Mann der Drahtzieher hinter der Bühne ist.«

»Gut mitgedacht, Schwesterherz. Ich weiß auch schon, wer für

diesen kleinen Spionage-Auftrag optimal geeignet ist. Aber erst
einmal sollten wir …«

Phoebe unterbrach sich selbst mitten im Satz. Die Wände und die

Tür des Apartments waren ziemlich dünn und so konnten die beiden
Hexen hören, wie sich vom Flur aus Schritte näherten.

»Oh, nein«, keuchte Paige leise. »Ist das etwa Sorvino?«

»Hört sich ganz so an. Hätte mir denken können, dass so ein

Eigenbrötler wie der nicht mit seinen Kollegen ausgeht.«

Paige blickte sich hektisch um. »Was machen wir denn jetzt?«

Anders als neulich in der Lagerhalle gab es in dem kleinen

Apartment keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Der einzige
Schrank, der dazu halbwegs groß genug gewesen wäre, war leider mit
Comic-Heften zugestopft.

Phoebe dachte fieberhaft nach. »Schnell, zur Tür!« flüsterte sie.

Paige blickte ihre Schwester fassungslos an. »Warum denn
ausgerechnet zur Tür?«

»Frag nicht, komm endlich«, zischte Phoebe, packte ihre

Schwester an der Schulter und zerrte sie unsanft in den Flur.

»Du musst uns in dem Augenblick hinausteleportieren, in dem

Sorvino die Tür öffnet. Dann haben wir eine Chance, dass er uns nicht
beim Orben sieht. Schaffst du das?«

Paige nickte etwas unsicher. »Klar. Hoffe ich!«

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Die jüngste Halliwell-Schwester nahm Phoebe an der Hand und

konzentrierte sich darauf, genau den richtigen Augenblick abzupassen.
Mit einem leisen Knirschen schob sich – nur durch die dünne Tür
getrennt und kaum einen Meter entfernt – ein Schlüssel ins Schloss.

»Oh, nein«, keuchte Phoebe. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie noch

immer den Zeitungsausschnitt in der Hand hielt. Sie wollte gerade
zurücklaufen, um das Stück Papier wieder an die Pinnwand zu heften,
als Paige sie zurückhielt.

Mit einem ›Klack‹ sprang das Schloss der Apartmenttür auf.

»Das schaffst du nicht mehr«, keuchte Paige. »Lass mich das

machen!«

Phoebe zuckte erschrocken auf, als ihr der Zeitungsartikel samt der

Pinnadel von einer unsichtbaren Kraft aus der Hand gerissen wurde.
Eine Sekunde lang schwebte beides in der Luft, dann sauste die Nadel
mit dem Papier wie ein Mini-Dartpfeil davon.

Die Klinke der Haustür wurde heruntergedrückt.

Im selben Augenblick bohrte sich der Pinn in die Korkplatte über

dem Schreibtisch.

Die Tür öffnete sich.

Paige griff nach der Hand ihrer Schwester und schloss die Augen.

Tim Sorvino öffnete die Tür und trat ein. Er blickte erstaunt auf,

als die Luft direkt vor ihm leise aufzischte. Der junge Mann zuckte
mit den Schultern. Wahrscheinlich nur ein Luftzug. Vielleicht kam ja
langsam etwas Bewegung in das Wetter da draußen.

Ohne hinzusehen, zog Sorvino die Tür hinter sich zu.

Im selben Augenblick – das Schnapp-Geräusch des Schlosses war

kaum verklungen – materialisierten Paige und Phoebe im Flur, auf der
anderen Seite der Tür.

Phoebe atmete tief aus. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt

geworden.

»Gut gemacht, Paige«, keuchte sie.

»Ja, ich bin auch ganz zufrieden«, strahlte Paige. »Allmählich habe

ich den Bogen raus, was?«

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»Kann man wohl sagen, Schwesterherz.«

Die beiden Hexen gingen leise hinüber zum Fahrstuhl, dessen Tür

noch offen stand. Sie schlüpften hinein und drückten auf den Knopf
fürs Erdgeschoss. Eine halbe Ewigkeit später öffneten sich die Türen
wieder. Davor wartete schon die lateinamerikanische Frau von vorhin,
diesmal ohne Mülltüten.

»Ah, da seid ihr ja wieder«, lächelte sie. »Und, habt ihr Mister

Sorvino getroffen?«

»Leider nicht«, erwiderte Phoebe mit Unschuldsmiene. »Er war

wohl tatsächlich nicht da.«

Die nette Dame zuckte nur mit den Schultern. »Tja, vielleicht

erwischt ihr ihn ja ein anderes Mal.«

Darauf kannst du wetten, dachte Phoebe, als die beiden Schwestern

das Mietshaus wieder verließen.

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27

D

ER ANRUF KAM, ALS Phoebe und Paige gerade auf halbem

Weg nach Hause waren.

»Gehst du mal dran?«, fragte Paige und nahm kurz die Hände vom

Steuer, um über die Schulter auf ihre Handtasche zu deuten, die auf
dem Rücksitz lag.

Das Handy darin dudelte den Refrain des letzten Michael-Jackson-

Hits.

»Uargh«, spottete Phoebe und verrenkte sich in ihrem Gurt, um an

die Handtasche zu kommen. »Du solltest mal deinen Musikgeschmack
überdenken, Paige.«

Mit einiger Mühe gelang es ihr, das Handy herauszufischen. Ein

kurzer Rück auf das Display sagte Phoebe, dass ihre Schwester Piper
am anderen Ende der Leitung war.

»Hallo, Piper, was gibt's denn?«, rief Phoebe in den Hörer, um das

Fahrgeräusch zu übertönen.

Ein seltsames Summen tönte aus dem kleinen Lautsprecher.

Bestimmt eine statische Störung, dachte Phoebe.

»Erkläre ich dir später«, rief Piper aufgeregt in den Hörer. »Kommt

bitte sofort nach Hause. Aber haltet bitte vorher noch an einer
Drogerie und bringt so viel Anti-Mücken-Spray mit, wie ihr tragen
könnt!«

»Was? Wozu das denn?«, fragte Phoebe erstaunt zurück.

»Keine Zeit für Erklärungen! Beeilt euch einfach! Aua!«

Das Summen am anderen Ende wurde lauter, dann unterbrach

Piper die Verbindung.

»Was war denn los?«, fragte Paige und warf einen kurzen

Seitenblick auf ihre Schwester.

»Keine Ahnung.« Phoebe deutete auf einen großen Drogerie-Markt

auf der anderen Straßenseite. »Aber fahr mal da rüber. Wir müssen
etwas einkaufen!«

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Knapp zwanzig Minuten später steuerte Paige ihren New Beetle in

die Einfahrt des Halliwell-Hauses. Die beiden Schwestern rissen die
Türen auf und griffen nach einer Hand voll Sprühdosen, die auf dem
Rücksitz lagen. Auf allen war eine große, rot durchgekreuzte
Stechmücke abgebildet.

»Warum zum Teufel braucht Piper so viel Insektenspray?«, fragte

Paige, während die beiden zur Haustür liefen.

Phoebe hätte gern mit den Schultern gezuckt, aber dafür war sie zu

schwer beladen. »Ich fürchte, wir werden es gleich herausfinden.«

Direkt vor der Haustür stutzte sie. »Was ist denn das für ein

Summen?«

Phoebe und Paige zuckten zurück, als Piper die Tür aufriss. Paige

ließ vor Schreck ein paar Sprühdosen fallen.

Piper bückte sich danach. »Da seid ihr ja endlich. Gott sei Dank!«

Phoebe riss die Augen auf. »Was ist denn mit deinem Gesicht

passiert?«, fragte sie. Ein halbes Dutzend kleiner, roter Punkte
prangten auf Pipers ansonsten makelloser Gesichtshaut. Wie kleine
Pickel – oder Insektenstiche.

»Kommt rein, dann werdet ihr es sehen!«, erwiderte Piper nur und

zog die Haustür hinter ihren beiden Schwestern zu.

Hier drinnen im Haus war das Summen allgegenwärtig. Es schien

aus dem Wohnzimmer zu kommen.

An der Tür zum Wohnzimmer stand Leo und blickte unsicher

durch das Buntglasfenster in den Raum hinein.

Phoebe bemerkte, dass die Türritzen und das Schlüsselloch mit

Klebeband versiegelt worden waren. Offenbar in großer Eile.

»Was zum Teufel ist denn hier los?«, wollte Phoebe wissen. Sie

musste ihre Stimme erheben, um sich über das Summen hinweg
verständlich zu machen.

»Sieh selbst«, sagte Leo und deutete auf das Glasfenster.

Phoebe stellte die Sprühdosen auf der Flurkommode ab und ging

zur Wohnzimmertür hinüber. Dann stellte sie sich auf die
Zehenspitzen, um durch das Buntglasfenster der Tür blicken zu
können.

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Im selben Augenblick zuckte sie erschrocken zurück.

Eine furchtbare, entfernt menschenähnliche Grimasse raste auf sie

zu, prallte dann gegen die Scheibe und schien in tausend Richtungen
gleichzeitig zu zerfließen. Kleine, herumsurrende Punkte kreisten ein
paar Augenblicke lang in chaotischen Zirkeln in der Luft herum und
setzten sich dann zu einem neuen Gesicht zusammen, das Phoebe böse
anblickte.

Phoebe spürte, wie ihr Herz klopfte.

»Ist das … ein neuer Dämon?«, fragte sie keuchend. »Mann, habe

ich mich erschrocken!«

»Tja, das ging uns genauso«, sagte Piper und griff grimmig nach

einer der Sprühdosen. Sie schüttelte sie, um den Inhalt sprühfertig zu
machen. »Leo und ich wollten es uns gerade im Garten gemütlich
machen, als plötzlich diese Stechmücken auftauchten. Erst waren es
nur ein paar und wir haben uns nichts dabei gedacht. Aber dann
kamen plötzlich immer mehr aus allen Richtungen herangeschwirrt
und setzten sich zu diesem Dämon zusammen. Ich kann euch sagen,
dieses Ding ist blutgieriger als Dracula persönlich.«

Piper deutete mit dem Zeigefinger auf die kleinen Einstiche in

ihrem Gesicht. »Zum Glück ist es uns gelungen, das Biest ins
Wohnzimmer zu locken. Besonders helle ist es Gott sei Dank nicht.
Auch eine Million Mückengehirne ergeben zusammengesetzt
offensichtlich nur ein großes Mückengehirn.«

Leo nickte. »Wir haben ihn im Wohnzimmer eingesperrt und alle

Öffnungen mit Klebeband versiegelt. Aber eine Dauerlösung ist das
auch nicht.«

»Verstehe«, sagte Phoebe und warf Leo und Paige je eine der

Sprühdosen zu. »Also hilft nur die chemische Keule.«

»Ich fürchte schon«, nickte Piper. »Aber wenn wir die Tür jetzt

öffnen, entwischt uns der Dämon. Wie gehen wir wohl am besten
vor?«

Leo überlegte kurz. Dann hatte er eine Idee. »Ich empfehle eine

Guerilla-Taktik. Paige und ich könnten uns kurz und abwechselnd in
das Wohnzimmer hineinorben, einen Sprühstoß auf den Dämon
abgeben und wieder verschwinden, bevor er uns selbst angreifen
kann.«

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»Das müsste gehen«, murmelte Piper.

»Immer ich«, seufzte Paige.

Aber es half nichts. Die Vier besprachen noch kurz ihre Taktik,

dann orbte sich Leo als Erster hinein. Durch das Glasfenster
beobachtete Paige, wie der Wächter des Lichts im Inneren des
Wohnzimmers wieder materialisierte. Mit einem wütenden Summen
stürzte sich der Mücken-Dämon sofort auf ihn. Doch Leo war
schneller. Er sprühte einen Strahl Insektenspray auf die Kreatur und
Paige sah fasziniert zu, wie sich an der getroffenen Stelle sofort eine
Lücke im Mücken-Leib des Dämons bildete. Hunderte von toten
Insekten stürzten zu Boden. Der Dämon heulte wütend auf. Seine
Pranken schienen sich in die Länge zu ziehen und wollten nach Leo
greifen. Doch der Wächter des Lichts orbte sich im selben Augenblick
wieder hinaus.

Die Krallen des Dämons griffen ins Leere. Leo materialisierte

hinter Paige im Hausflur.

»Es funktioniert, Paige«, sagte Leo triumphierend. »Jetzt du!«

Paige seufzte, schüttelte die Dose in ihrer Hand noch einmal gut

durch und teleportierte sich ins Wohnzimmer.

Sofort jagte der Dämon auf sie zu.

Paige presste den Sprühknopf der Dose und teleportierte sich

wieder in den Flur zurück, wo ihre Schwestern schon mit frisch
geschüttelten Sprühdosen auf sie warteten …

Dieses Spiel wiederholte sich innerhalb der nächsten halben Stunde

noch ein paar Mal, und nach jeder Attacke wurde der Mücken-Dämon
ein Stückchen kleiner. Schließlich waren nicht mehr genug lebende
Mücken übrig, um noch einen menschlichen Umriss zu formen. Nun
wagten es die drei Hexen und Leo, die Wohnzimmertür zu öffnen. Ein
wütender, kleiner Schwarm aus Stechmücken surrte ihnen entgegen.

Leo, Piper, Phoebe und Paige kassierten zwar ein paar

Mückenstiche, aber gefährlich waren diese kleinen Quälgeister nicht
mehr. Mit ein paar gezielten Sprühstößen gaben die drei Hexen und
der Wächter des Lichts ihnen den Rest.

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Die letzten paar Mücken flüchteten schließlich durch das Fenster,

das Piper inzwischen wieder geöffnet hatte.

Die Vier seufzten erleichtert auf. Besonders Paige war in Schweiß

gebadet. Das Teleportieren war immer auch mit einer gehörigen,
körperlichen Anstrengung verbunden. Sie hatte keine Ahnung, wie
genau das funktionierte, aber auch magische Aktivitäten verbrauchten
offensichtlich eine Menge Kalorien.

Wenn sie allerdings auf den Teppich im Wohnzimmer blickte,

verging ihr jeder Appetit. Tausende von toten Mücken lagen wie
dicke, schwarze Staubkrümel auf dem Boden.

»Igitt«, sagte Phoebe. »Wer macht diese Sauerei jetzt wieder

weg?«

Piper legte lächelnd einen Arm um Leo, dem ebenfalls der

Schweiß auf der Stirn stand.

»Oh, ich bin sicher, mein Herzallerliebster wird mir dabei zur

Hand gehen, nicht wahr, Leo?«

Der Wächter des Lichts verdrehte die Augen und stöhnte auf.

»Nicht schon wieder!«

Da meldete sich Phoebe zu Wort. Ȁhm, vielleicht solltest du Leo

nicht zu sehr beanspruchen, Piper!«, sagte sie.

Leo nickte eifrig mit dem Kopf. »Ja, das finde ich auch!«

»Denn wir brauchen ihn noch für einen ganz besonderen Einsatz«,

fuhr Phoebe fort.

Leo schwante nichts Gutes. »Was habt ihr denn jetzt wieder

ausgeheckt?«, fragte er und ließ sich in einen mückenfreien Sessel
fallen.

»Trinken wir erst mal etwas«, stöhnte Paige und schlurfte hinüber

in die Küche. Ein paar Minuten später saßen die drei Schwestern am
Küchentisch und genossen den kühlen Orangensaft. Phoebe und Paige
berichteten von ihrem kleinen Ausflug in Sorvinos Wohnung – und
von den Zeitungsausschnitten, die sie dort gefunden hatten.

»Mmh, dieser Sorvino scheint von dem alten Regisseur ja ganz

besessen zu sein«, nickte Piper, als ihre beiden jüngeren Schwestern

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ihren Bericht beendet hatten. »Irgendwie scheint dieser alte Mann in
die Sache verwickelt zu sein«, murmelte sie.

Leo nickte. »Stimmt. Die Parallelen zwischen den Morden in den

50er Jahren und den Verbrechen der letzten Tage sind einfach zu groß
für einen Zufall.«

»Ganz genau«, strahlte Phoebe. »Und deshalb dachten wir uns, du

könntest diesem Landreau mal einen kleinen Besuch abstatten.«

»Ja«, stimmte auch Paige ein. »Und er muss das ja nicht unbedingt

mitkriegen.«

Leo gab einen gequälten Laut von sich. Lieber hätte er den Rest

des Abends tote Mücken vom Teppich gesaugt.

»Also, ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, antwortete er

schließlich mit zögernder Stimme.

»Ach, komm schon, die beiden haben Recht!« Piper klopfte ihrem

Ehemann aufmunternd auf die Schulter. »Wenn Landreau etwas mit
der Sache zu tun hat, dann müssen wir mehr über ihn herausfinden.
Und außerdem – was soll schon groß passieren?«

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28

»

N

A, ES KANN EINE MENGE PASSIEREN«, Sagte Leo Und

blickte an dem Apartment-Gebäude hoch, das sich vor ihn und den
drei Hexen in den Nachthimmel streckte. »Zum Beispiel könnte mich
Landreau da oben erwischen und mich wegen Hausfriedensbruch
anzeigen. Dann werde ich der erste Wächter des Lichts sein, der im
Gefängnis landet.«

Piper verdrehte die Augen. Während der ganzen Fahrt hierher hatte

Leo schon mit seinen Einwänden herumgequengelt. Dabei war er als
Wächter des Lichts am besten dazu geeignet, einen kurzen Blick in
Gustav Landreaus Apartment zu werfen.

Auch die drei Hexen betrachteten die Fassade des Hochhauses, das

sich schlank und elegant in die Höhe reckte. Gegen dieses Gebäude
konnte selbst das edle Eckhaus nicht mithalten, in dem Virginia
Fontaine wohnte. Dieses Haus war kein Wohnturm, sondern eine
Residenz.

Piper hatte ihren Wagen in gebührender Entfernung geparkt und

blickte auf die Eingangshalle des Gebäudes. Große Panoramafenster
gaben den Blick auf weiße Marmorwände frei. Hinter einem Pult, das
so groß zu sein schien wie die Küche des Halliwell-Hauses, saß –
nein, thronte – ein Nachtportier. Er würde die drei Schwestern nicht
einmal bis zum Aufzug der Lobby kommen lassen. Jedenfalls nicht
ohne ausdrückliche Einladung von einem der Mieter.

Also musste Leo ran. Als Wächter des Lichts beherrschte er das

Orben am besten. Für ihn sollte es kein Problem sein, ins Penthouse
einzudringen, ohne gleich einen Großeinsatz der Polizei auszulösen.

Und scheinbar hatten sie Glück, denn in der obersten Etage des

Hochhauses brannte kein Licht. Gustav Landreau schien nicht daheim
zu sein.

Es war kein Problem gewesen, die Adresse des alten Mannes

herauszubekommen. Gustav Landreau hatte viele Fans und
Bewunderer, die ihm eine eigene Website gewidmet hatten. Auf einer
der Internetseiten war Paige auch auf die Adresse des alten Regisseurs
gestoßen.

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Warum auch nicht – wer in einer solchen Festung wohnte, der

brauchte daraus kein Geheimnis zu machen. Dort oben kam kein
ungebetener Gast hinein.

Es sei denn, er war zufällig ein Wächter des Lichts.

Piper klopfte ihrem Mann noch einmal aufmunternd auf die

Schulter. »Stell dich nicht so an, Leo. Du orbst einfach rein und
schaust dich ein wenig um. Vielleicht findest du ja irgendwelche
Hinweise darauf, dass Landreau in die Mordserie verwickelt ist.«

»Oder mit Sorvino unter einer Decke steckt!«, sagte Paige

dazwischen.

Leo winkte ab. »Schon gut, ich habe schon verstanden, um was es

geht. Mir ist zwar nicht wohl in meiner Haut, aber ihr gebt ja sonst
keine Ruhe. Ist die Luft rein?«

Die drei Schwestern blickten sich um. Es ging bereits auf

Mitternacht zu, und die Straßen waren menschenleer. Niemand war in
der Nähe, der sich darüber hätte wundern können, dass der männliche
Begleiter der drei jungen Frauen plötzlich blau aufschimmerte und
verschwand.

Warme Luft strömte in das Vakuum, das Leo hinterlassen hatte.

Dann deutete nichts mehr darauf hin, dass gerade noch eine vierte
Person auf dem Bürgersteig gestanden hatte.

»Viel Glück, Leo«, murmelte Piper.

Sie ahnte nicht, wie sehr ihr Ehemann das gebrauchen konnte …

Gustav Landreau saß in dem kleinen Schnittstudio und blickte

gutmütig lächelnd auf den kleinen Monitor. Sein Lächeln machte kurz
über den Mundwinkeln Halt. Die Augen des alten Regisseurs blickten
kalt und unnahbar wie immer. Aber das schien den jungen Mann nicht
zu stören.

Voller Begeisterung kommentierte er die Szenen auf dem Monitor,

einzelne Sequenzen von ›Scream X-Treme‹, die jetzt noch in einer
völlig chaotischen Reihenfolge abliefen.

»Und jetzt kommt Ihr Auftritt, Sir! Die Szene am Voodoo-Altar,

die wir in der Lagerhalle gedreht haben.«

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Der junge Mann hatte Landreau mitten in der Nacht angerufen, und

ihn gefragt, ob ersieh nicht die fertigen Szenen des Films ansehen
wolle. Landreau hatte zugestimmt. Warum auch nicht? Der Schlaf
kam immer seltener, und viele Stunden auf Erden blieben ihm ohnehin
nicht mehr. Warum sie also im Bett verbringen? Außerdem konnte er
die Begeisterung des Jungen verstehen – als er, Gustav Landreau,
seinen ersten Film gedreht hatte, war er ähnlich aufgeregt gewesen.

Der junge Mann drückte die ›Play‹-Taste des Schnittgeräts. Der

Monitor flammte auf, und ein paar Augenblicke später flimmerte die
Altar-Szene über den Bildschirm. Landreau sah sich selbst hinter dem
Altar aus Pappmache. Künstlicher Rauch wallte auf und brachte die
Kerzen zum Flackern.

»Nicht schlecht, mein Freund«, lobte Landreau. »Hervorragend

inszeniert, das muss ich sagen.«

»Finden Sie wirklich?« Der junge Mann errötete. »Oh, vielen

Dank. Aus Ihrem Mund bedeutet mir das sehr viel, Sir.«

Landreau lächelte in sich hinein, als er sah und hörte, wie sein

Film-Ich eine alberne Beschwörungsformel murmelte. Er hatte in
seinem Leben genug echte Beschwörungen dunkler Mächte
durchgeführt, um zu wissen, wie so ein Ritual tatsächlich aussah. Er
konnte sich nur zu gut an den kühlen Luftzug erinnern, der bei einer
solchen Gelegenheit durch den Raum kroch. An das Knistern der Luft,
das einem die Haare zu Berge stehen ließ. Und an das erschreckende
und doch berauschende Gefühl, eine verbotene Grenze überschritten
zu haben.

Landreau war etwa im Alter des jungen Mannes neben ihm

gewesen, als er zum ersten Mal Kontakt mit den Mächten der
Unterwelt aufgenommen hatte. Damals war er vor diesen Barbaren
aus Nazi-Deutschland nach Hollywood geflüchtet, um seine Karriere
hier fortzusetzen. Doch anfangs hatte es nicht gut ausgesehen. Sein
Englisch war schlecht, und er war bei weitem nicht der einzige
Regisseur, der aus Europa nach Hollywood geflüchtet war.
Verzweifelt hatte er nach Aufträgen gesucht und war von den
Studiobossen immer wieder vertröstet worden. Doch als Regisseur
von Gruselfilmen hatte er sich schon immer mit den okkulten Mächten
beschäftigt, sodass er eines Tages auf die Idee gekommen war, diese
tatsächlich einmal um Hilfe anzuflehen.

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Es hatte nicht lange gedauert, bis ein mächtiger Dämon auf seine

Rufe reagiert hatte.

Der Namenlose. Der Sammler.

Der Regisseur hatte ihm seine Seele versprochen, im Tausch dafür,

dass Landreau die echtesten Filmmonster seiner Zeit erschaffen
würde. Besiegelt hatte er den Pakt mit Blut – nicht mit seinem
eigenen, natürlich. Nein, es kostete sechs Menschenopfer, um den
Handel perfekt zu machen.

Und in den folgenden Jahren – Landreau war inzwischen zu einer

Berühmtheit geworden – hatte er diese Opfer geschickt ausgewählt.
Warum sollte er auch nicht das Nötige mit dem Nützlichen verbinden?
Sechs Feinde und Widersacher, darunter seine erste Frau, hatte er auf
magische Weise – mit beseelten Filmmonstern – getötet.

Landreau lächelte – und diesmal zog sich das Grinsen tatsächlich

über sein ganzes Gesicht. Er erinnerte sich gern daran, wie er seine
Feinde, einen nach dem anderen, ausgeschaltet hatte.

»… finden Sie nicht auch, Mister Landreau?«

Der alte Regisseur war so in seine Erinnerungen vertieft gewesen,

dass er die Frage des jungen Mannes gar nicht mitbekommen hatte.
»Ja, sicher«, antwortete er einfach. Es schien die Antwort zu sein, die
sein junger Schüler erwartet hatte. Der Junge lächelte glücklich.

Landreau spürte einen leisen Stich im Herzen und massierte seine

Brust. Der junge Mann bemerkte es.

»Geht es Ihnen nicht gut, Sir?«, fragte er besorgt.

Landreau winkte ab. »Schon gut, es ist nichts weiter. Aber ich

fürchte, meine Zeit läuft langsam ab. Sie wissen schon, junger Freund,
dass noch drei Opfer fehlen, bis unser kleiner Handel abgeschlossen
ist?«

Der junge Mann nickte. »Aber natürlich, Sir. Morgen Abend

drehen wir das Finale im P3. Danach werden die drei Schwestern auf
mysteriöse Weise ums Leben kommen. Und der Vertrag ist erfüllt.«

»Sehr schön, mein Freund«, lächelte Landreau und lehnte sich in

seinem Stuhl zurück.

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Die Zeit lief langsam aus. Kurz vor dem Ende seines Lebens hatte

Landreau begonnen, sich Sorgen um seine unsterbliche Seele zu
machen. Doch wie es sich erwiesen hatte, war diese Sorge
unbegründet gewesen. Der Namenlose war nur allzu bereit, sich auf
einen neuen Deal einzulassen. Wenn Landreau dem Dämon eine neue,
frische Seele verschaffte, bekam er seine eigene zurück. Gerade
rechtzeitig vor seinem Tod.

Ja, alles lief genau nach Plan. Und der willfährige junge

›Seelenspender‹ saß genau neben ihm und faselte über seinen albernen
Film.

Landreau hörte schon gar nicht mehr hin, als er auf seiner Brust

plötzlich etwas Warmes spürte. Diesmal war es nicht sein Herz. Ohne
dass der junge Mann es überhaupt bemerkte, zog Landreau einen
kleinen Anhänger hervor, der an einer Silberkette baumelte. Das
kleine magische Amulett erinnerte an einen stilisierten Teufelskopf.
Und es schimmerte grünlich auf.

Landreaus kleine, magische Alarmanlage.

Das Glühen bedeutete, dass in diesem Augenblick jemand, der

selbst über magische Kräfte verfügte, in sein Penthouse eindrang.
Aber der alte Regisseur war für solche Fälle gewappnet. Seit sechzig
Jahren beschäftigte er sich jetzt mit schwarzer Magie und hatte dabei
den einen oder anderen Trick gelernt.

Landreau lehnte sich entspannt zurück.

Nur zu, mein ungebetener Gast, dachte er. Du wirst dein blaues

Wunder erleben.

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29

L

EO MATERIALISIERTE IM PENTHOUSE VON Gustav

Landreau. Die Luft schimmerte vor seinen Augen blau auf, dann
konnte er wieder etwas sehen.

Der Wächter des Lichts keuchte auf. Erblickte genau in das

schuppige Gesicht eines Monsters. Weit aufgerissene Glubschaugen
sahen ihn an, und im Maul des Monsters schimmerten spitze, gelblich
gefärbte Zähne. Instinktiv ging Leo in Kampfstellung und bereitete
sich darauf vor, wieder zu verschwinden.

Doch im nächsten Augenblick atmete er wieder erleichtert auf.

Was er im ersten Moment für ein Monster gehalten hatte, war nur das
Modell einer Filmfigur gewesen. Sie stand in einem Regal und glotzte
Leo teilnahmslos an.

Der Wächter des Lichts war kein Film-Experte, aber das musste

das Monster aus der Todeslagune sein, oder wie immer dieser Film
auch hieß. Eines von Landreaus frühen Werken.

Das Wasser-Monster stand nicht allein im Regal. Wie in einer

Trophäensammlung waren daneben weitere Souvenirs aus anderen
Filmen ausgestellt: Die Fellkralle eines Werwolfs, die sich
wahrscheinlich wie ein Handschuh überstreifen ließ, das künstliche
Gebiss eines Vampirs, die Strahlenwaffe eines Außerirdischen, ein mit
Kunstblut beschmiertes Messer und vieles mehr.

Diese Requisiten mussten für Sammler einen enormen

Liebhaberwert haben, aber für Landreau waren sie wahrscheinlich
noch kostbarer. Es waren die Andenken an ein langes Leben als
Hollywood-Regisseur. Leo fragte sich, warum die sterblichen
Menschen so gerne ins Kino gingen, um sich dort zu gruseln.
Wahrscheinlich ahnten sie im Unterbewusstsein, dass es Mächte gab,
die jenseits ihrer Vorstellungskraft wirkten. Und der künstliche
Schrecken im Kino war vielleicht eine Methode, diese unbewusste,
aber reale Furcht abzubauen.

Leo atmete tief aus. Das war jetzt kaum der richtige Zeitpunkt für

philosophische Betrachtungen. Der Wächter des Lichts fühlte sich
unwohl in seiner Haut. Immerhin war er wie ein Dieb in der Nacht in
eine fremde Wohnung eingedrungen. Und bis jetzt gab es noch keinen

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Beweis dafür, dass Gustav Landreau tatsächlich in die Morde
verwickelt war.

Aber um das herauszufinden, war er ja hier.

Leo blickte sich um. Der Mond schien durch die gewaltigen

Panoramafenster und tauchte das Innere des Apartments in silbriges
Licht. Die Einrichtung wirkte dadurch noch kühler und unnahbarer,
als sie es bei Tageslicht wahrscheinlich schon war. Das Penthouse war
sehr minimalistisch mit modernen Designermöbeln eingerichtet, von
denen jedes einzelne Stück wahrscheinlich mehr kostete als die
komplette Wohnzimmereinrichtung im Halliwell-Haus. Obwohl
niemand zu Hause war, arbeitete die Klimaanlage auf Hochtouren.
Eiskalte Luft strömte aus versteckten Düsen in die Wohnung und
verstärkte noch Leos Eindruck, in eine luxuriös eingerichtete
Eiskammer geraten zu sein.

Wenn man aus der Wohnungseinrichtung eines Menschen

tatsächlich auf seinen Charakter schließen konnte, dann musste dieser
Landreau ein ziemlich kalter Hund sein.

Aber das war ja noch kein Verbrechen.

Leo brauchte Beweise – oder zumindest ein paar Hinweise auf

magische Aktivitäten. Mit leisen Schritten ging der Wächter des
Lichts
zum Bücherregal. Fein säuberlich standen hier Dutzende von
Büchern aufgereiht, hauptsächlich Bücher über die Geschichte des
Films und das Filmemachen. Ein paar der Prachtbände standen ein
Stück weit über die Kante der Einlegebretter hinaus. Anhand der Titel
konnte Leo sehen, dass einige der Bücher sogar von Landreau und
seinen Filmen selbst handelten. Sie sahen nicht aus, als wäre viel darin
gelesen worden.

Wie dem auch sei, Bücher über Magie konnte Leo nicht entdecken.

Erließ seine Blicke weiter umherschweifen. Nichts deutete darauf

hin, dass Landreau hier irgendwelche magischen Rituale abhielt. Leo
atmete tief aus und bereitete sich darauf vor, wieder zurückzuorben.
Der Wächter des Lichts ging zum Fenster und blickte hinunter. Am
Ende des Blocks konnte er drei winzige Gestalten erkennen, die neben
einem schwarz schimmernden Auto auf der Straße standen. Piper und
ihre beiden Schwestern. Die drei Hexen würden enttäuscht sein, wenn
er ohne irgendwelche Beweise oder auch nur Anhaltspunkte
zurückkam.

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Aber was sollte er machen?

Leo blickte sich noch ein letztes Mal um.

Irgendetwas irritierte ihn.

Der Wächter des Lichts runzelte die Stirn. Was passte hier nicht?

Der Breitwand-Fernseher, die Designermöbel, das tiefe Bücherregal,
die Vitrine mit den Souvenirs …

Sein Kopf fuhr zurück. Das Bücherregal.

Das schwere Designer-Stück war mindestens einen halben Meter

tief – trotzdem standen einige der größeren Bildbände über den Rand.

Mit gerunzelter Stirn ging Leo noch einmal zu dem Regal und

untersuchte es genauer. Der Wächter des Lichts zog einen der
überstehenden Prachtbände heraus und hielt ihn dann von außen
gegen die Seitenwand.

Tatsächlich – das Regal war so tief, dass der Bildband eigentlich

komplett hineinpassen müsste. Was er aber nicht tat.

Das ließ eigentlich nur einen Schluss zu: Im Regal befand sich eine

zweite Wand, die von außen nicht sichtbar war.

Leo stellte das Buch zurück und drückte vorsichtig von der Seite

gegen das Regal. Es bewegte sich keinen Millimeter. Auch
irgendwelche Ritzen oder Scharniere waren nicht zu sehen. Trotzdem
war sich Leo sicher, dass sich hinter dem Regal eine Art Geheimtür
befinden musste.

Fieberhaft suchte er nach irgendwelchen Spuren. Vergeblich. Doch

so leicht gab der Wächter des Lichts nicht auf. Wenn sich hinter dem
Regal tatsächlich eine Geheimtür verbarg, dann musste es doch
irgendeinen versteckten Mechanismus geben, der sie öffnete.

Noch einmal ließ Leo seinen Blick über die Bücher im Regal

gleiten. Ein paar Dutzend Bände standen vor ihm, alle nagelneu,
einige sogar noch in Folie verschweißt. Ein großer Leser schien
Landreau ja nicht gerade zu sein.

Dann entdeckte Leo etwas Seltsames: Mitten zwischen den

druckfrischen Prachtbänden stand ein dickes Buch, dessen Rücken rau
und abgegriffen wirkte. ›Edgar Allan Poe – Erzählungen‹.

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Offensichtlich war dies das einzige Buch, das Mister Landreau

öfter zur Hand nahm.

Oder das einen anderen Zweck erfüllte.

Leo griff nach dem Buch und zog es heraus, bis er einen

Widerstand spürte. Das Buch klappte nach unten weg, als ob es mit
einem Scharnier befestigt worden wäre. Tatsächlich hatte der Wächter
des Lichts
den Geheim-Mechanismus entdeckt.

Erschrocken machte Leo einen Schritt zurück, als ein versteckter

Elektromotor aufsummte und das Buchregal sanft zur Seite glitt.

Dahinter kam eine Stahltür zum Vorschein, die in die Wand

eingelassen worden war. Als der Elektromotor verstummte, machte
Leo ein paar Schritte nach vorn Und drückte die Tür auf.

Im selben Augenblick brach die Hölle los.

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30

P

IPER, PHOEBE UND PAIGE standen auf der Straße und

blickten auf das Gebäude.

Piper trommelte nervös mit den Fingern auf das Wagendach.

»Verflixt, wo bleibt er bloß?«, fragte sie.

Phoebe blickte auf ihre Uhr. »Er ist schon fast eine Viertelstunde

da oben«, murmelte sie. »Allmählich mache ich mir auch Sorgen. Er
sollte doch nur mal kurz reinspringen und sich etwas umsehen. Das
kann doch nicht so lange dauern …«

»Ihm wird doch nichts passiert sein«, sagte Paige und sprach damit

aus, was ihre Schwestern befürchteten.

»Ach, Unsinn.« Phoebe winkte ab. Ihre Stimme klang dabei nicht

so überzeugend, wie sie es sich gewünscht hätte. Phoebe konnte sich
noch gut an die Begegnung mit Gustav Landreau erinnern, neulich in
der Lagerhalle. Der alte Mann war ihr definitiv nicht geheuer. Und er
schien genau gewusst zu haben, dass die drei Schwestern die
Zauberhaften waren. Landreau war also kein unbeschriebenes Blatt,
was Magie und Zauberei anging. Vielleicht hatte er in seiner
Wohnung wirklich etwas zu verbergen … und hatte gewisse
Vorsichtsmaßnahmen gegen unerwünschte Besucher getroffen.

Phoebe biss sich auf die Lippen. Sie hätte mit Leo und Piper vorher

über diesen Verdacht reden sollen. Sie würde es sich nie verzeihen,
wenn Leo etwas zustoßen sollte. Und Piper würde ihr das noch viel
weniger verzeihen.

Phoebe wischte sich einen Schweißtropfen von der Stirn und legte

ihrer älteren Schwester aufmunternd eine Hand auf die Schulter.

»Keine Sorge, Piper. Leo kommt bestimmt gleich zurück.

Vielleicht hat er da oben etwas Interessantes gefunden und geht

jetzt den Spuren nach. Wir sollten –«

Ein Aufschrei von Paige unterbrach Phoebe mitten im Satz. »Seht

euch das an!«

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Piper und Phoebe blickten erschrocken nach oben. Die

Panoramafenster des Penthouses blitzten grünlich auf, wie bei einem
unheimlichen Wetterleuchten.

»Oh, nein«, keuchte Piper.

Leo stieß die Tür zu dem geheimen Raum auf und erstarrte. Das

versteckte Zimmer war größer, als er vermutet hatte. Auf dem Boden
war mit schwarzer Kreide ein großes Pentagramm aufgezeichnet. An
den sechs Spitzen standen schwarze, halb abgebrannte Kerzen. Der
Geruch von Rauch lag noch in der Luft, also war hier vor gar nicht
allzu langer Zeit ein magisches Ritual abgehalten worden.

Fast noch erschreckender als das unheilige Pentagramm am Boden

waren die Wände des Geheimzimmers, die über und über mit
magischen Schriftzeichen und Runen bedeckt waren. Leo war kein
Experte für schwarze Magie, aber auf den ersten Blick erkannte er
gleich mehrere verbotene Schriftzeichen, die zur Beschwörung böser
Geister und Dämonen dienten.

Eins stand fest: Gustav Landreau hatte sich in den vergangenen

Jahrzehnten nicht nur hinter der Kamera mit Okkultismus beschäftigt.
Die Studien der Verbotenen Schriftzeichen – so viel wusste Leo –
waren überaus kompliziert, da die dahinter verborgene Sprache keiner
menschlichen Sprache glich. Wer in der Lage war, ganze Wände mit
diesen Runen zu beschriften, musste sich lange, sehr lange, damit
beschäftigt haben.

Leo spürte ein seltsames Kribbeln in seinem Bauch.

Wahrscheinlich war das der Schock über seine Entdeckung.
Vorsichtig näherte er sich einer der Wände. In einer Sprache, die Leo
erkannte – in Latein – war dort eine weitere Beschwörungsformel
aufgekritzelt worden. Die Buchstaben schimmerten schwarz-braun,
und Leo musste nicht lange herumrätseln, um zu erkennen, dass sie
vor langer Zeit mit Blut geschrieben worden waren. Mühsam
entzifferte der Wächter des Lichts die uralte Formel.

Er erkannte sie wieder: Dies war eine Beschwörung, um einen

namenlosen Schatten-Dämon herbeizurufen, einen Seelensammler! Es
gehörte nicht viel dazu, sich zusammenzureimen, dass Landreau
tatsächlich seine Seele verkauft hatte!

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Leo erschauderte und das Kribbeln in seinem Bauch wurde stärker.

Unangenehm.

Er blickte sich um. Dann wurde er schlagartig bleich.

Die Wände um ihn herum waren so eng mit Runen und

Schriftzeichen bekritzelt worden, dass er das Symbol am anderen
Ende der Wand zunächst gar nicht bemerkt hatte.

Drei ineinander geschobene Dreiecke bildeten das stilisierte Abbild

einer Teufelsfratze, mit spitz zulaufendem Kinn und Hörnern zu
beiden Seiten.

Ein Dämonenbanner!

Eine Art Todesfalle für Wesen der weißen Magie.

Daher also das Kribbeln in seinem Bauch. Leo keuchte auf und

wollte sich in Sicherheit orben. Doch plötzlich spürte er, wie sein
ganzer Körper und damit auch seine Seele von dem Symbol an der
Wand angezogen wurden. Das Dämonenbanner glomm grünlich auf
und übte eine regelrechte Anziehungskraft auf den Wächter des Lichts
aus. Als ob ihn eine gewaltige Pranke gepackt hätte, raste Leo durch
den Raum und prallte mit der Brust auf das Abbild der Teufelsfratze.

Grüne Blitze flammten auf, als der Aufprall die Luft aus Leos

Lungen presste. Dem Wächter des Lichts wurde schwarz vor Augen.
Der Aufprall gegen die Wand allein hatte ihm fast schon das
Bewusstsein geraubt. Aber das war nicht das Schlimmste. Leo spürte,
wie sich das magische Symbol in seine Brust brannte. Sein T-Shirt
verschmorte, und die ineinander geschobenen Dreiecke auf der Wand
versengten seine Haut.

Gleichzeitig spürte Leo, wie das Teufelssymbol auch einen

unheilvollen Einfluss auf seine Seele ausübte. Der Dämonenbanner
bemächtigte sich der Seele eines Lichtwesens, um sie aus dieser Welt
zu reißen.

Für immer.

Zurückbleiben würde von ihm nur eine seelenlose Hülle.

Leo bäumte sich auf. Mit aller Gewalt stemmte er sich gegen die

Wand und versuchte, von dem Symbol wegzukommen.

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Vergeblich. Die Macht, die von der stilisierten Satansfratze

ausging, war einfach zu stark.

Leo spürte, wie ihn die Energie verließ. Um ihn herum blitzten

grüne Funken auf. Er sah Sterne vor seinen Augen, und dahinter
lauerte eine tiefe, alles verschlingende Dunkelheit. Der Wächter des
Lichts
spürte, wie sich sein Bewusstsein immer mehr von der
Situation zu entfernen schien. Schon kam es ihm vor, als würde er sein
eigenes Ende nur noch als unbeteiligter Beobachter betrachten.

NEIN!, rief eine innere Stimme. Du darfst nicht aufgeben! Du hast

eine Verantwortung! Als Wächter des Lichts! Und als Ehemann von
Piper! Du darfst sie nicht im Stich lassen!

Piper! Mehr als alles andere half der Gedanke an seine Frau dem

Wächter des Lichts, sich ein letztes Mal aufzubäumen. Irgendwo da
unten wartete Piper darauf, dass er wieder zu ihr zurückkehrte. Und
auch er sehnte sich nach ihr! Piper … er musste zurück zu Piper!

Leo sammelte ein letztes Mal alle Kräfte und konzentrierte sich.

Dann wurde es schwarz um ihn herum.

»LEO!«, rief Piper entsetzt auf.

Die drei Schwestern waren erschrocken zusammengezuckt, als die

Luft vor dem geparkten Wagen plötzlich blau aufgeleuchtet war.
Einen Sekundenbruchteil später materialisierte Leo.

Der Wächter des Lichts sah furchtbar aus. Sein Hemd war zerfetzt,

und ein seltsames Symbol, das entfernt an eine Satansfratze erinnerte,
hatte sich in seine Brust eingebrannt. Leo hatte nur kurz Pipers Namen
gestöhnt und war dann ohnmächtig zusammengebrochen.

Piper und Phoebe hatten ihn gerade noch auffangen können.

»Leo, bist du in Ordnung? Was ist da oben passiert?!«, fragte Piper

halb wahnsinnig vor Sorge.

Aber der Wächter des Lichts antwortete nicht. Was immer da oben

auch auf ihn gelauert hatte, er hatte sein letztes Quäntchen Energie
gebraucht, um sich in Sicherheit zu bringen.

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Piper presste ihre Hand auf Leos Brust. Die geschundene Haut

schien zu glühen. »Sein Herz schlägt«, keuchte sie. »Er lebt! Gott sei
Dank!«

»Wir müssen ihn nach Hause bringen!«, rief Paige und riss die

Fahrertür auf. »Los beeilt euch! Bringt ihn rein!«

Sekunden später hatten Piper und Phoebe den bewusstlosen

Wächter des Lichts auf den Rücksitz gezwängt. Leo ließ es willenlos
mit sich geschehen, er war in eine tiefe Ohnmacht gefallen.

Ein paar Sekunden später brauste Paige los. Mit quietschenden

Reifen raste sie zurück zum Halliwell-Haus.

Gut zwanzig Minuten später quietschten die Reifen des New

Beetles erneut, als Paige ihren Wagen in der Einfahrt des Hauses
abbremste. Leos Zustand hatte sich während der Fahrt nicht gebessert.
Im Gegenteil, der Wächter des Lichts war noch immer bewusstlos,
und seine Haut war von Minute zu Minute bleicher geworden. Es war,
als hätte irgendetwas seine gesamte Energie abgesaugt.

Piper und Phoebe zogen Leo aus dem Wagen. Um diese Zeit waren

keine neugierigen Nachbarsblicke mehr zu befürchten, also packte
Paige mit ihren telekinetischen Kräften mit an. Zu dritt schafften sie
den Wächter des Lichts in Rekordzeit ins Haus.

»Legt ihn auf die Couch im Wohnzimmer!«, rief Piper, kaum dass

sie das Anwesen betreten hatten.

»Was hast du vor?«, fragte Phoebe. Sie selbst hatte keine Ahnung,

was sie jetzt tun sollten. Was immer dem Wächter des Lichts
zugestoßen war – Kamillentee und kühle Wickel würden ganz sicher
nicht helfen.

Piper stürmte schon die Treppe zum Dachboden hinauf. »Ich hole

das Buch der Schatten! Vielleicht gibt es irgendeinen Heilzauber, der
ihm helfen kann!«

»Okay! Gute Idee!«, rief Phoebe noch, aber Piper hörte sie schon

gar nicht mehr. Atemlos hetzte sie die Stufen hinauf.

Die Luft auf dem Dachboden war durch die Hitze der letzten Tage

unerträglich geworden, aber Piper merkte das gar nicht. Sie riss das
magische Ruch von seinem Podest und stürmte damit wieder hinunter.
Normalerweise entfernte sie das Buch der Schatten nur ungern von

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seinem angestammten Platz, aber das hier war ein Notfall. Sie würde
wahnsinnig werden, wenn Leo irgendetwas zustieß. Sie hatte vor ein
paar Monaten erst Prue, ihre älteste Schwester verloren, und wollte
das nicht noch einmal durchmachen.

Mit dem Buch unter dem Arm rannte Piper ins Wohnzimmer. Leo

lag regungslos auf der Couch. Ihre beiden Schwestern standen hilflos
daneben. »Ich fürchte, er wird immer schwächer«, flüsterte Paige.

Piper warf das Buch der Schatten auf den Wohnzimmertisch und

schlug es auf. Sie durften keine Zeit verlieren. Das Buch spürte stets
auf eine geheimnisvolle Art, nach was die Schwestern suchten. Seine
ganz spezielle Magie bestand darin, immer genau die Informationen
bereitzustellen, die die drei Zauberhaften brauchten. Unser ›magisches
Internet‹ hatte Paige das Buch einmal genannt, und wahrscheinlich lag
sie mit diesem Vergleich gar nicht so falsch. Hoffentlich funktionierte
es auch diesmal.

»Komm schon, Buch«, zischte Piper und blätterte hektisch die

vergilbten Seiten durch. Paige sah ihr dabei neugierig über die
Schulter. Piper blätterte so schnell um, dass die jüngste Halliwell-
Hexe zu erkennen glaubte, wie sich die Buchstaben immer erst in dem
Augenblick bildeten, wenn eine Seite aufgeschlagen wurde.

Piper murmelte die Überschriften laut mit. »Heidnische Riten,

Heidekraut, Heilpflanzen, hier ist es … Heilschlaf! Los Mädels, beeilt
euch!«

Die beiden jüngeren Hexen traten näher an ihre Schwester heran

und griffen nach ihren Händen. Gemeinsam zitierten sie die
Zauberformel, die in großen Lettern auf der aufgeschlagenen Seite zu
sehen war:

»Opfer, den der Bannstrahl traf,
fall noch tiefer in den Schlaf!
Das wird den Fluch bald niederringen,
und zur Genesung dich schnell bringen!«

Kaum hatten die drei Schwestern ihren magischen Singsang

beendet, stöhnte Leo auf der Couch auf. Aber es war kein
schmerzhaftes, sondern ein aufatmendes Stöhnen. Seine Gesichtszüge

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entspannten sich. Fast augenblicklich kehrte ein wenig Farbe in das
Gesicht zurück. Leos Brust hob und senkte sich in regelmäßigen
Atemzügen.

Sogar das eingebrannte Abbild des Dämonenbanners begann zu

verblassen.

Auch Piper und ihre Schwestern atmeten auf. »Ich glaube, das war

ganz schön knapp«, flüsterte Phoebe.

Piper nickte. »Allerdings. Was immer da oben passiert ist, es hat

ihm übel mitgespielt. Aber du brauchst nicht zu flüstern, Phoebe. Hier
im Buch der Schatten steht, dass Leo schlafen wird, bis er wieder ganz
bei Kräften ist und bis dahin wird ihn nicht mal ein Kanonenschlag
aufwecken.«

Phoebe und Paige beobachteten lächelnd, wie sich ihre ältere

Schwester schließlich neben Leo kniete und dem Wächter des Lichts
durch die zerrauften Haare strich.

»Nicht wahr, mein Schatz, du wirst schön schlafen, bis es dir

wieder gut geht.«

Leo, immer noch bewusstlos, antwortete mit einem herzhaften

Schnarchen.

Die drei Schwestern lachten auf. »Steht im Buch der Schatten

vielleicht auch ein guter Anti-Schnarch-Zauber?«, fragte Paige
grinsend.

Die Zauberhaften zogen sich in die Küche zurück. Leo war über

den Berg. Und was immer ihm zugestoßen war – sie konnten davon
ausgehen, dass der alte Landreau irgendetwas zu verbergen hatte. Nur
eine magische Falle konnte dem Wächter des Lichts so zugesetzt
haben.

Phoebe holte ein paar Gläser aus dem Regal und goss ihren

Schwestern dann Orangensaft ein. »Was tun wir denn jetzt?«, fragte
sie dabei.

Piper überlegte kurz. Es hatte bereits drei Tote gegeben, und ihr

Ehemann wäre beinahe das vierte Opfer geworden. Allmählich reichte
es ihr. Sie nahm einen Schluck aus dem Saftglas und blickte ihre
beiden Schwestern dann ernst an.

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»Wenn ich das richtig sehe, findet doch morgen der Dreh im P3

statt, oder?«

Paige nickte vorsichtig. »Ah, eigentlich schon. Möchtest du ihn

etwa absagen, Piper?«

Piper lächelte grimmig. »Aber ganz und gar nicht. Das ist eine gute

Gelegenheit, um die ganzen Akteure dieses teuflischen Spiels noch
einmal zu versammeln, bevor sie wieder verschwinden.«

»Das stimmt«, nickte Phoebe. »Soweit ich weiß, sind bis auf die

große Kampfszene im Nachtclub alle anderen Szenen bereits
abgedreht.«

»Sehr gut«, erwiderte Piper und stellte ihr Glas geräuschvoll ab.

»Es wird Zeit, diesem Spuk ein Ende zu bereiten!«

Im Wohnzimmer nebenan schnarchte Leo zustimmend.

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31

D

ER GROSSE TAG DES Abschlussdrehs verlief ohne besondere

Vorkommnisse. Leo lag noch immer im Tiefschlaf, aber seine
Hautfarbe war schon wieder rosig und gesund. Auch das Teufelsmal
auf seiner Brust war vollständig verschwunden. Piper schätzte, dass er
innerhalb der nächsten paar Stunden aufwachen würde.

Das Filmteam fand sich gegen acht Uhr abends vor dem P3 ein.

Als die beiden kleinen Lieferwagen auf dem Parkplatz vorfuhren,
stand die Abendsonne noch wie ein rot glühendes Auge am Himmel.
Die Hitze hatte an diesem Tag wieder einen Rekord erreicht, und die
Radiostationen meldeten Jahrhundertwerte. Aber es war ein Ende in
Sicht. Die Meteorologen versprachen eine Wetteränderung, vielleicht
noch für diese Nacht.

Piper, Phoebe, Paige und Detective Morris standen am

Hintereingang des P3 und winkten dem ankommenden Filmteam zu.

Phoebe deutete auf eine winzige Wolke, die im Sonnenuntergang

rot aufleuchtete. »Sieht nach Regen aus«, sagte sie optimistisch.

»Für mich sieht das eher nach Ärger aus«, knurrte Piper und

meinte damit das Filmteam, dass mit seiner Ausrüstung auf den
Hintereingang zudrängte. »Ich hoffe immer noch, dass ich es nicht
bereue, das P3 für diesen Unsinn zur Verfügung gestellt zu haben.«

»Ach, was«, erwiderte Paige mit gespieltem Optimismus. »Da

passiert schon nichts.«

»Warum wolltet ihr mich eigentlich dabei haben?«, fragte Darryl

Morris. Phoebe hatte ihn heute Morgen von der Redaktion aus
angerufen und ihn gebeten, zu den Dreharbeiten zu kommen. ›

»Weil es sein könnte, dass wir heute den Puppenmörder stellen,

Darryl. Möglicherweise hat der Fall ja auch eine nicht-magische Seite,
für die wir einen, äh, konventionellen Ermittler brauchen können.«

»Schön, zu wissen, dass ihr mich ab und zu überhaupt noch

braucht, Piper«, erwiderte Darryl und lächelte gequält. Er mochte die
drei Schwestern sehr gern, aber ihre magischen Einsätze waren nur
schwer mit einem Dienstprotokoll in Einklang zu bringen.

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»Ach, Darryl«, lächelte Piper, »du weißt doch, wie sehr wir deine

Hilfe schätzen. Und denk dran – für das Filmteam bist du ein Reporter
von ›Variety‹ und willst über den Abschluss der Dreharbeiten von
›Scream X-Treme‹ berichten.«

»Alles klar«, nickte Darryl. Dann stand auch schon Andy Stewart,

der Regisseur, vor ihnen. Er grinste aufgeregt wie ein Schuljunge und
reichte Piper die Hand.

»Piper, ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie uns Ihren Club als

Drehort zur Verfügung stellen. Ich muss sagen, ich bin selbst schon
etwas nervös. Man schließt nicht jeden Tag seine erste Regiearbeit
ab!«

»Kein Problem«, erwiderte Piper mit ihrem freundlichsten Grinsen.

»Hauptsache, ihr zerlegt mir die Bude nicht.«

»Das würden wir doch nie machen, Miss«, grinste Pete, der

Kameramann, der direkt hinter Andy stand. »Wir wissen schließlich,
was sich gehört.« Dann warf er einen Blick über die Schulter. »Also
benimm dich diesmal, Lou«, mahnte er seinen Tonmann, »nicht, dass
wieder so etwas passiert wie damals in Pasadena.«

»Kommt nicht wieder vor«, murmelte Lou nur und trabte hinter

Lou ins Innere des Clubs hinein.

»Hey, Moment mal«, rief Piper den beiden hinterher. »Was war

denn damals in Pasadena?!«

»Ach nichts, Miss Halliwell«, rief Pete hinaus. »Sie haben doch

eine Feuerversicherung, oder?«

»Feuerversicherung?«, wiederholte Piper fassungslos. »Was zum

Teufel meint er damit?«

Paige grinste. »Ach, nichts. Der macht nur Spaß. Wie immer!«

Hoffte sie jedenfalls.

Die kleine Prozession, die an den drei Schwestern und Darryl

vorbei ins Innere des P3 trabte, schien kein Ende zu nehmen. Immer
wieder trugen Assistenten diverse Ausrüstungsgegenstände an ihnen
vorbei.

»Ich hätte die Aschenbecher vielleicht doch festkleben sollen«,

murmelte Piper.

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Dann trat eine junge Frau mit langen blonden Haaren auf die Vier

zu. Im ersten Augenblick dachten die drei Halliwell-Schwestern, es
sei Virginia Fontaine, doch dann sahen sie die Muskeln, die sich unter
dem T-Shirt der jungen Dame spannten.

»Hallo«, sagte sie freundlich und lächelte die drei Schwestern an.

»Ich bin Emma, das Stunt-Girl. Ich werde die Kampfszenen für Miss
Fontaine drehen.«

»Junge, Junge«, murmelte Darryl, als Emma im Inneren des

Nachtclubs verschwunden war. »Mit der möchte ich mich aber auch
nicht anlegen.«

»Mit der da aber auch nicht«, murmelte Phoebe und deutete auf die

echte Virginia Fontaine, die in diesem Augenblick aus einem Taxi
stieg.

Mit hoch erhobenem Kopf schritt Virginia auf die drei Schwestern

zu.

»Hi, Virginia«, sagte Paige freundlich. »Hast du dich wieder von

deinem kleinen Schreck erholt?«

»Natürlich. Ich bin schließlich ein Profi.« Die Schauspielerin

blickte misstrauisch durch die Hintertür ins P3 hinein. »Na, dann bin
ich ja mal gespannt auf die Location. Ich habe schon vom P3 gehört.
Soll ja ganz nett sein, der Laden«, sagte sie dann und ließ die drei
Schwestern stehen.

»Eingebildete Pute«, grummelte Piper. Dann näherte sich noch

eine Gestalt. Sie trug ein schwarzes T-Shirt und hielt zwei Holzkisten
unter dem Arm.

Tim Sorvino und seine Monster.

»Das ist unser Hauptverdächtiger«, zischte Phoebe, bevor Sorvino

in Hörweite war.

»Hallo, Tim«, begrüßte Paige den jungen Mann freundlich.

Sorvino blickte sie nur abschätzig an. »Das hier ist Mister Darryl
Morris, von ›Variety‹. Er ist schon sehr gespannt auf deine Puppen.«

»Das sind keine Puppen, das sind ›Animatronics‹«, erwiderte

Sorvino kühl. Dann musterte er Darryl mit einem lauernden Blick und
folgte dem Rest des Teams ins Innere des P3.

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»Reizender Zeitgenosse«, murmelte Darryl.

Die kleine Prozession schien beendet zu sein.

Piper holte noch einmal tief Luft und betrat dann das Gebäude,

gefolgt von Darryl und ihren beiden Schwestern.

»Na dann – auf zum Finale!«

Kaum eine halbe Stunde später hatte die Crew um Andy ihr Set

komplett aufgebaut. Sie hatten das Innere des P3 zu Pipers
Erleichterung nicht groß umgebaut. Ein paar der Tische und Stühle
aus der Originalausstattung waren durch ›Props‹ ersetzt worden –
nachgebaute Möbelstücke, die vor laufender Kamera zertrümmert
werden sollten.

Na, hoffentlich brachten die Leutchen da nichts durcheinander,

dachte Piper. Doch alles in allem war sie angenehm überrascht, wie
freundlich und professionell sich das Team benahm. Offensichtlich
hatte die Crew Respekt vor dem Eigentum anderer.

Und Piper musste zugeben, dass sie selbst schon ein wenig

gespannt auf die eigentlichen Dreharbeiten war.

Immerhin konnte man nicht jeden Tag einem echten Filmteam über

die Schulter gucken.

Trotzdem ließ die Älteste keine Sekunde lang den

Hauptverdächtigen – Tim Sorvino – aus den Augen. Der junge Mann
stand etwas abseits vom Geschehen und präparierte seine
mechanischen Puppen für ihren großen Auftritt. Oder tat er nur so, um
den Schein zu wahren? Die drei Schwestern wussten, dass die
Monster-Figuren längst in der Lage waren, sich selbstständig zu
bewegen.

»Schaut mal, wie scheinheilig er an seinen kleinen Monstern

herumschraubt«, zischte Phoebe ihren Schwestern zu.

»Das wird ihm nicht viel nützen«, erwiderte Paige mit grimmigem

Blick. »Sobald er irgendeinen Unsinn versucht, nehmen wir ihn
hops!«

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In diesem Augenblick trat Andy an die drei Schwestern heran. Er

grinste aufgeregt über das ganze Gesicht. »Wir wären dann so weit«,
sagte er. »Alles klar für den großen Schlusskampf!«

Piper schluckte. Ganz wohl war ihr bei der Sache immer noch

nicht. ›Schlusskampf‹ – das klang, als könnte dabei eine Menge
kaputtgehen.

»Was genau wird denn dabei passieren?«, fragte sie so beiläufig

wie möglich.

Aber Andy schien ihre Sorge zu spüren. »Keine Angst«, erwiderte

er, »das ist alles genau choreografiert. Wir drehen am Anfang eine
Szene, in der Virginia durch die Tür da vorn ins nächtliche P3 kommt.
Dann geht sie etwa bis zur Mitte des Saales, wo sie von den ersten
Monstern angegriffen wird.« Andy verdeutlichte seine Erklärungen,
indem er auf die verschiedenen Stellen des Raumes zeigte. »Dann gibt
es einen Schnitt, und Emma, unser Stunt-Girl, springt für Virginia ein.
Sie ist eine perfekte Kung-Fu-Kämpferin und knöpft sich die Monster
vor. Natürlich nur zum Schein, Tim würde mich sonst umbringen,
wenn seinen kleinen Lieblingen etwas zustößt.«

»Oh, ja, da ist er sensibel«, erwiderte Phoebe und erinnerte sich

dabei an ihr erstes Zusammentreffen mit Sorvino und seiner Monster-
Mumie. »Aber sag mal, Andy, fällt es denn nicht auf, wenn mitten in
der Szene ein Double für Virginia einspringt?«

Andy lächelte verschmitzt. »Nicht, wenn man es geschickt filmt

und nachher ebenso geschickt schneidet. Oder habt ihr bei ›Buffy‹
etwa irgendwann mal den Verdacht gehabt, dass Sarah Michelle ihre
Kampfszenen nicht alle selber dreht?«

Paige war verblüfft. »Ach, das tut sie nicht? So was, das ist mir

tatsächlich nie aufgefallen.«

Eine scharfe Stimme unterbrach das Gespräch zwischen Andy und

den drei Schwestern. Es war Virginia Fontaine. »Können wir
vielleicht mal bald anfangen?«, zischte sie. »Ich habe noch etwas
anderes zu tun. Mein Verlobter gibt heute Abend noch einen
Wohltätigkeitsball!«

Andy verdrehte die Augen so, dass Virginia es nicht sehen konnte.

»Mann, bin ich froh, wenn ich diese Hexe los bin«, flüsterte er. »Aber
sie hat Recht, wir sollten langsam mal loslegen. Viel Spaß!«

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Andy sagte ein paar Schmeicheleien zu Virginia und sprang dann

auf die kleine Bühne, wo auch die Kamera aufgebaut worden war.

»Diese Frau als Hexe zu bezeichnen ist wirklich eine

Beleidigung«, flüsterte Piper. »Allerdings nur für uns!«

Wie auf Kommando stellte sich in diesem Augenblick Darryl

Morris zu ihnen. Seufzend deutete er auf Virginia Fontaine, die sich
gerade in Positur begab. »Was für eine nervende Person«, seufzte er.
»Kaum hat sie erfahren, dass ich angeblich von › Variety‹ bin, hat sie
mir ein Interview aufgedrängt. Das nächste Mal gebt ihr mich einfach
als Kabelträger aus, okay?«

Die drei Hexen lachten leise auf. Darryl sah wirklich genervt aus.

In diesem Moment gab Andy das Kommando.

»Ton ab!«

»Ton läuft!«

»Kamera ab!«

»Kamera läuft!«

»Uuuund … Action!«

Virginia Fontaine betrat den Hauptsaal des P3. Sie machte ein paar

zögerliche Schritte, verfolgt vom Zyklopenauge der Kamera. Dann
blieb sie in der Mitte des Raumes wieder stehen, riss erschrocken die
Augen auf und – »CUT!«, rief Andy. »Wunderbar! Das nehmen wir!«

»Was denn«, flüsterte Piper ihren Schwestern zu, »das war alles?

Na, das hätte ich auch noch gekonnt.«

»Okay, Pete, lass die Kamera gleich laufen, wir machen nahtlos

weiter. Emma – dein Einsatz!« Andy gab dem Stunt-Double ein
Zeichen.

Die junge Frau trug jetzt dieselbe Bluse wie Virginia, sodass man

ihre stattlichen Muskeln darunter kaum noch erkennen konnte. Beim
ersten Hinsehen hätte man sie tatsächlich mit der Schauspielerin
verwechseln können. Emma nahm genau Virginias Position ein.

»Ich war dann so weit«, rief sie.

»Und bitte!«, sagte Andy und blickte auf Tim Sorvino. Der junge

Mann stand neben dem Regisseur und hatte sich seine Fernbedienung

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umgehängt. Sekunden später stakste die Mini-Mumie unter einem
Tisch hervor und griff das Stunt-Double an.

Emma wich der Mörder-Puppe mit einem geschickten Sprung zur

Seite aus und versetzte ihr einen Fußtritt. Anders als Phoebe damals
bremste sie ihren Tritt jedoch kurz vor dem Kontakt ab, um die Puppe
nicht zu beschädigen.

»Hattet ihr nicht gesagt, diese Dinger würden sich absolut

lebensecht bewegen?«, fragte Darryl leise. Der Detective klang etwas
enttäuscht.

Phoebe nickte. Für eine ferngesteuerte Puppe bewegte sich die

Mini-Mumie zwar relativ flüssig, aber das war kein Vergleich zu der
Geschicklichkeit, mit der sich zum Beispiel das Lagunen-Monster in
Virginias Wohnung bewegt hatte.

»Wahrscheinlich halt sich Sorvino absichtlich zurück, um keinen

Verdacht zu erregen«, vermutete Phoebe.

Darryl nickte. Sehr überzeugt sah er nicht aus.

In der Mitte des Raumes tobte inzwischen ein wilder Kampf.

Tapfer und mit genau choreografierten Bewegungen verteidigte sich
Emma gegen immer neue Angriffe der Monster. Mittlerweile musste
sie es mit allen fünf Kreaturen gleichzeitig aufnehmen.

Phoebe nickte anerkennend. Sie selbst war die Kampfsport-

Expertin der drei Hexen, aber von Emma konnte sie sich noch den
einen oder anderen Trick abschauen.

Schließlich war es so weit. Das Stunt-Girl beförderte die letzte der

Figuren, den zotteligen Mini-Werwolf, mit einem gezielten Tritt ins
Abseits.

»CUT!« rief Andy. Und dann »GESTORBEN!«

»Gestorben?«, fragte Piper erstaunt. »Was meint er damit?«

Phoebe grinste. In den letzten Tagen hatte sie sich einiges Wissen

über das Filmemachen angelesen. »Das heißt, dass die letzte
Aufnahme im Kasten ist. Das war's!«

Tatsächlich blickte das gesamte Team auf Andy und begann zu

applaudieren. Ein paar ›Glückwunsch‹-Rufe hallten durch den Raum.
Einige der Crew-Mitglieder umarmten sich freundschaftlich oder

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klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Von einer Sekunde zur
anderen verwandelte sich die angespannte Stimmung am Set in Party-
Laune.

Nur zwei Personen standen abseits und schienen sich von der

allgemeinen Hochstimmung nicht anstecken zu lassen: Virginia
Fontaine und Tim Sorvino.

Virginia blickte nur genervt auf ihre Uhr und verschwand dann

durch die Tür zum Vorraum. Wahrscheinlich wollte sie ihren
Verlobten mit seinem Wohltätigkeitsball nicht länger warten lassen.
Tim Sorvino dagegen ging durch den Raum und sammelte seine
Monster-Puppen ein.

Auch Phoebe und besonders Paige ließen es sich nicht nehmen,

Andy zu gratulieren. Während Phoebe dem Jungregisseur nur die
Hand schüttelte, wurde er von Paige überschwänglich umarmt und mit
einem Kuss auf die Wange bedacht.

»Meinen Glückwunsch, Andy!«, lachte sie. »Wie fühlst du dich,

jetzt wo die Dreharbeiten beendet sind?«

»Erleichtert«, strahlte Andy zurück. »Aber die Arbeit ist ja noch

lange nicht fertig. Jetzt ist für die nächsten paar Wochen das Ackern
im Schnittraum angesagt, damit aus den ganzen Einzelteilen auch ein
richtiger Film wird.«

»Oh, nein«, sagte eine Stimme neben dem Regisseur. Es war Pete,

der Kameramann. Er klappte die Kamera auf und blickte totenbleich
hinein. »Ich habe vergessen, einen Film einzulegen!«

»Waaas?!« Andy riss die Augen auf und starrte Pete an.

Der Kameramann hielt seine Pose noch einen Augenblick aufrecht,

dann zog er eine Filmrolle hinter dem Rücken hervor.

»Kleiner Scherz!«

Lou, der Tonmann, lachte wiehernd auf. »Den macht er jedes Mal.

Und es ist jedes Mal ein Volltreffer!«

Andy schüttelte den Kopf. »Schämt euch, mich so zu

erschrecken!« Dann stimmte auch er in das allgemeine Gelächter ein.

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»Kommt ihr noch mit?«, fragte der Regisseur darin und wischte

sich ein paar Lachtränen aus den Augen. »Wir gehen alle zusammen
noch irgendwo einen trinken. Das muss schließlich gefeiert werden.«

»Oh, sehr gern!«, strahlte Paige. Dann blickte sie sich um, als Piper

ihr auf die Schulter tippte. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf
Tim Sorvino, der sich – unbeachtet vom Rest der Crew – heimlich aus
dem Hinterausgang schlich.

Paige seufzte. »Ich fürchte, ich komme erst später nach, Andy.

Meine Schwestern und ich, wir haben noch jemand … etwas zu
erledigen.«

Andy Stewart zuckte bedauernd mit den Schultern. »Schade, Paige.

Da kann man nichts machen.«

»Wir sehen uns«, fügte er dann noch hinzu.

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32

»

S

IEHT AUS, ALS WÜRDE ER nach Hause fahren«, sagte

Phoebe. Sie saß auf dem Beifahrersitz von Darryls Wagen und ließ
das Taxi vor sich nicht aus den Augen. Die drei Schwestern und der
Detective hatten das P3 unauffällig verlassen und waren gerade noch
rechtzeitig auf den Hof getreten, um zu sehen, wie Tim Sorvino ein
Taxi heranwinkte.

»Stimmt, hier waren wir schon mal«, sagte Paige vom Rücksitz

aus. »Schon ziemlich komisch, dass unser junger Mister Sorvino nicht
mit dem Rest der Crew feiern will, oder?«

Darryl nickte und folgte dem Taxi, das in eine Straßenkreuzung

einbog. »Komisch vielleicht, aber noch kein Verbrechen. Vielleicht ist
er einfach nicht der gesellige Typ.«

Piper saß neben Paige auf dem Rücksitz und runzelte nachdenklich

die Stirn. »Wisst ihr, was ich vor allem komisch finde?«, fragte sie.
»Dass Sorvino seine fiesen kleinen Puppen im P3 zurückgelassen hat.
Wenn die Dreharbeiten jetzt vorüber sind, dann werden sie doch nicht
mehr gebraucht, oder? Man sollte doch meinen, dass er sie dann mit
nach Hause nimmt. Schließlich sind sie doch so etwas wie sein
Lebenswerk, oder?«

Phoebe nickte zustimmend. »Das ist allerdings seltsam, da hast du

Recht.«

Etwa zwanzig Meter vor ihnen hielt das Taxi vor dem Mietshaus,

in dem Sorvino wohnte. »Du kannst hier schon parken, Darryl«, sagte
Phoebe. »Wir wissen ja, wo er hin will. So fällt es nicht so auf, wenn
wir ihn verfolgen.«

Darryl stimmte zu und steuerte den Wagen an den Straßenrand.

Auch wenn er in seinem eigenen Wagen unterwegs war, brauchte er
keine Angst vor Knöllchen zu haben. Schließlich war dies ja ein
dienstlicher Einsatz.

Der Detective und die drei Hexen stiegen aus. Dichte Wolken

hatten sich über dem abendlichen Himmel zusammengezogen. Zum
ersten Mal seit Tagen wehte so etwas wie eine Brise durch die
Straßen. Der Lufthauch war zwar immer noch warm, aber allein die

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Tatsache, dass etwas Bewegung in die aufgeheizten Luftmassen kam,
war eine Erleichterung.

»Sieht aus, als hätten wir es bald überstanden«, sagte Piper und

blickte hinauf in den Himmel.

»Meinst du die Hitzewelle oder diesen Fall?«, fragte Phoebe mit

einem grimmigen Lächeln.

»Ich hoffe, beides«, erwiderte Darryl anstelle von Piper. »Wenn

ich nicht bald irgendein Ergebnis vorweise, kann ich mir meine
Pension wohl abschminken. Wenn mir der Bürgermeister nicht
sowieso den Kopf abreißt.«

Die vier betraten das Mietshaus. Wieder umfing sie eine bunte

Geruchsmischung, aber jetzt, wo die Hitze nicht mehr ganz so
drückend war, war das Duft-Chaos auszuhalten. Mit gewohnter
Langsamkeit beförderte der Fahrstuhl die drei Hexen und den
Ermittler in das oberste Stockwerk. Darryl stieg als Erster aus. In alter
Gewohnheit warf er zuerst einen Blick nach links und rechts durch
den Flur, um sich zu vergewissern, dass dort niemand auf ihn oder die
drei Schwestern lauerte.

Paige zeigte auf die Tür am Ende des Ganges. »Da drüben wohnt

er. Seid ihr bereit?«

Ihre beiden Schwestern nickten entschlossen.

Detective Darryl Morris hob die Hände. »Woah, langsam, Mädels!

Ich wäre euch dankbar, wenn ihr nicht gleich irgendwelche magischen
Attacken startet. Immerhin wissen wir noch nicht hundertprozentig,
dass dieser Sorvino etwas mit den Morden zu tun hat. Und ob er
überhaupt mit irgendwelchen dunklen Mächten unter einer Decke
steckt.«

Paige gab nur ein skeptisches Knurren von sich. Die Morde mit

den Mini-Monstern, die Zeitungsschnipsel über Gustav Landreau, der
seinerseits mit Dämonen paktierte … das alles sprach ja nicht gerade
für die Unschuld Sorvinos.

Immerhin versprachen die drei Hexen dem Detective, nichts

Unüberlegtes zu unternehmen. Erst dann trat Darryl vor die
Apartmenttür und klopfte laut dagegen.

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»Mister Sorvino?! Mein Name ist Darryl Morris. Detective Darryl

Morris von der San Francisco Mordkommission. Ich würde Ihnen gern
ein paar Fragen stellen. Bitte öffnen Sie die Tür.«

Darryl machte das offensichtlich nicht zum ersten Mal. Seine

Stimme klang nicht so, als würde sie Widerstand dulden.

Stille.

»Der stellt sich tot!«, zischte Paige.

Darryl klopfte noch einmal gegen die Tür, diesmal lauter. »Mister

Sorvino! Wir wissen, dass Sie da drin sind!«

»Das ist mir jetzt zu blöd«, sagte Paige und breitete kurzerhand

ihre Arme aus, um sie über die Schultern von Darryl und ihren
Schwestern zu legen.

»Hey, was soll denn das …«

»… jetzt?!«, fragte Darryl erstaunt, als ersieh im Inneren der

Wohnung wieder materialisierte. Paige hatte ihn und ihre Schwestern
einfach hineinteleportiert.

Der Detective schüttelte verärgert den Kopf. »Paige, das ist

Hausfriedensbruch. Ohne Durchsuchungsbefehl darf ich nicht einfach
in eine fremde Wohnung eindringen. Außerdem wird mir von dieser
Teleportiererei immer schlecht.«

Tatsächlich sah der Detective etwas grün um die Nase aus.

»Tut mir Leid«, sagte Paige kleinlaut. »Ich dachte, ich tue uns

einen Gefallen damit.«

»Ihr?!«, rief in diesem Augenblick eine entsetzte Stimme. »Wie …

wie habt ihr das gemacht? Was wollt ihr von mir? Steckt ihr unter
einer Decke … mit ihm?!«

Vor ihnen stand Tim Sorvino, der in seinem Schreck noch blasser

aussah als sonst. Der junge Mann stand inmitten halb gepackter
Koffer.

»Sieh mal an«, sagte Phoebe grimmig. »Wohin wolltest du denn so

plötzlich verreisen, Timmy-Boy?«

»Phoebe«, knurrte Darryl streng. »Überlass die Fragen bitte mir,

okay?«

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»Entschuldigung!«, murmelte Phoebe.

»Also«, fuhr Darryl fort. »Die Frage bleibt: Wohin wollen Sie

verreisen? Oder besser: Warum wollen Sie so plötzlich hier weg? Hat
das zufällig etwas mit den Morden der letzten Tage zu tun?«

Sorvino schüttelte hektisch den Kopf. Unwillkürlich wich er ein

paar Schritte zurück. »N-Nein. Hat er Ihnen das erzählt? Er lügt! Bitte
… Sie müssen mir glauben! Er ist völlig wahnsinnig! Er hat die
Morde begangen!«

»Nun mal schön der Reihe nach, mein Freund«, erwiderte Darryl

mit ruhiger Stimme. »Wer ist wahnsinnig? Wer hat die Morde
begangen?«

»Na, wer schon«, fragte Tim Sorvino zurück und schluckte. »Er –

Andy Stewart!«

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33

P

AIGE KONNTE ES IMMER noch nicht fassen. Während der

ganzen Fahrt zurück zum P3 schüttelte sie nur den Kopf.

»Ich glaube dem Kerl kein Wort«, sagte sie nur und funkelte Tim

Sorvino böse an. Der arme Monsterbauer hatte das Pech, genau
zwischen Paige und Phoebe auf dem Rücksitz eingeklemmt sitzen zu
müssen.

»Aber wenn ich es doch sage«, schluckte Sorvino.

Piper saß auf dem Vordersitz und blickte Sorvino durch den

Rückspiegel an. Ihr tat der Kerl fast Leid. Er schien wirklich Angst zu
haben und war den Tränen nahe.

»Andy und ich«, fuhr Sorvino stockend fort, »wir waren immer die

besten Freunde. Die ganze Zeit, auf der Filmhochschule, haben wir
uns unsere Zukunft ausgemalt. Er als ein zweiter Steven Spielberg und
ich als sein Mann für die Spezialeffekte. Doch dann hatte er die Idee,
in ›Scream X-Treme‹ einen Gastauftritt von Gustav Landreau
einzubauen …«

Jetzt, wo ihm keine Wahl mehr blieb, sprudelte es aus Tim Sorvino

nur so heraus. Der sonst so zurückhaltende junge Mann schien froh zu
sein, sich alles von der Seele reden zu können.

»Zuerst war ich ja auch begeistert. Schließlich war Landreau auch

mein Idol. Ich bin mit seinen alten Filmen im Fernsehen
aufgewachsen. Aber als ich den alten Mann dann kennen lernte, war
er mir sofort unheimlich. Irgendetwas … Kaltes ging von ihm aus. Er
lobte mich zwar wegen meiner Monster-Puppen, aber ich versuchte
immer, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber Andy … Andy war ganz
hingerissen von Landreau. Er redete von nichts anderem mehr.«

»Und dann?«, fragte Piper.

»Ich fing an, Informationen über Landreau zusammenzutragen. Ich

wollte Andy davon überzeugen, dass dieser Kerl keine gute
Gesellschaft für ihn ist. Denn irgendwie fing Landreaus Art an, auf
Andy abzufärben …«

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»Deshalb auch die Zeitungsausschnitte über Ihrem Schreibtisch?«,

fragte Darryl, ohne bei dem hohen Tempo die Augen von der Straße
zu lassen.

Tim nickte. »Genau. Ich habe sie auch Andy gezeigt, aber der hat

mich nur ausgelacht. Ich glaube, er wusste zu diesem Zeitpunkt
bereits, dass Landreau vor Jahrzehnten in diese Mordfälle verwickelt
gewesen war. Und ich glaube, er wusste noch mehr über ihn.«

Zum Beispiel, dass Landreau einen Pakt mit irgendwelchen

dunklen Mächten geschlossen hatte, dachte Piper. Aber sie schwieg,
um den jungen Mann nicht noch mehr zu verängstigen.

»Und dann begannen die Morde. Zuerst dachte ich mir nicht viel

dabei, als meine Vermieterin tot aufgefunden wurde. Ich hatte mich
zwar erst kurz vorher mit ihr wegen einer Mieterhöhung gestritten,
aber das war nichts Dramatisches. Wir bekamen uns öfter in die
Haare. Ich hielt das Ganze für einen Zufall. Bis dann Tom Haber
ermordet wurde.«

»Dein Comic-Händler«, ergänzte Paige. Mittlerweile war ihr

Tonfall gegenüber Sorvino nicht mehr so ruppig. Sie begann, dem
Jungen zu glauben. So sehr es ihr auch widerstrebte.

»Genau. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja noch gehofft, dass auch

das ein Zufall war. Aber dann sprach Andy mich darauf an. Ich solle
doch besser das Schnüffeln in Gustav Landreaus Vergangenheit sein
lassen, meinte er. Sonst könnte es ganz schnell passieren, dass die
Polizei mich verdächtigt. Ich hielt das Ganze noch für eine leere
Drohung, bis meine Exfreundin in diesem Kino ermordet wurde.

Mit einer meiner Puppen – wie schon bei den beiden anderen

Morden davor.«

»Warum sind Sie nicht gleich zur Polizei gegangen?«, fragte

Darryl von vorn. »Sie hätten wenigstens die beiden letzten Morde
verhindern können, Mann!«

Tim schluchzte fast auf. »Hätten Sie mir denn geglaubt, wenn ich

Ihnen gesagt hätte, dass die Morde mit meinen Puppen begangen
wurden? Und dass ich nichts damit zu tun habe, obwohl ich in allen
Fällen ein Motiv gehabt hätte?«

»Okay, ein Punkt für Sie«, musste Darryl eingestehen. Er erinnerte

sich nur zu gut daran, dass er es selber nicht gewagt hatte, dem

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Bürgermeister die Theorie von dem Puppenmord zu präsentieren. Das
Ganze klang einfach zu fantastisch. Andererseits war Darryl es
langsam gewöhnt, mit dem Außergewöhnlichen zu rechnen, wenn die
drei Halliwell-Schwestern in einen Fall verwickelt waren.

Phoebe dachte über das nach, was Tim Sorvino ihnen gebeichtet

hatte. Wenn das alles stimmte – und der verängstigte junge Mann
zwischen ihnen machte nicht den Eindruck, als ob er lügen würde –
dann waren sie die ganze Zeit über auf der falschen Fährte gewesen.
So unangenehm es auch war: Es sah aus, als wäre Andy Stewart für
die Morde verantwortlich. Phoebe konnte es immer noch nicht fassen.
Und wenn sie in Paiges enttäuschtes Gesicht blickte, dann konnte sie
sehen, dass es ihrer jüngeren Schwester noch viel schwerer fiel, sich
mit der Wahrheit anzufreunden.

»Meinst du, Andy Stewart ist noch im P3?«, fragte Piper den

Detective.

»Keine Ahnung«, erwiderte Darryl. »Aber vielleicht sind er und

das Team ja noch mit den Abbau-Arbeiten beschäftigt. Es wäre mir
lieber, ihn direkt zu schnappen, als eine Fahndung herausgeben zu
müssen. Die Beamten der Stadt sind wegen der Hitzewelle immer
noch im Dauereinsatz – und außerdem … ich wäre froh, wenn ihr bei
der Festnahme dabei seid. Ich würde nur ungern meine Leute auf
einen Mörder ansetzen, der sich mit irgendwelchen dunklen Mächten
verbündet hat.«

»Das kann ich verstehen«, nickte Piper. Auch wenn das bedeutete,

dass sie und ihre Schwestern wieder das Eisen aus dem Feuer holen
mussten.

»Das mit der Hitzewelle scheint sich aber langsam zu erledigen«,

sagte Paige, als Darryl seinen Wagen in einem Mordstempo auf den
Parkplatz des P3 steuerte. Tatsächlich – der blaue Himmel war einem
Gebirge aus dunklen Wolken gewichen. Die Luft war immer noch
stickig, aber als die drei Hexen die Autotüren aufstießen, wehte ihnen
eine kühle Brise entgegen. Ein fahles, stummes Gewitterleuchten
huschte über den Himmel. Es war, als wäre die ganze Welt in Ocker
getaucht.

Darryl beugte sich noch einmal über den Rücksitz und fesselte

Sorvinos Hände mit Handschellen. »Das muss leider sein, bis wir Ihre
Schuld oder Unschuld an diesen Morden endgültig geklärt haben,

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Tim«, sagte er fast bedauernd. Auch er schien nicht mehr an die
Schuld des jungen Mannes zu glauben, aber Vorschrift war Vorschrift.
»Ich rate Ihnen, sich auf den Rücksitz zu legen und sich ruhig zu
verhalten.«

Tim schluckte und nickte dem Polizisten zu. »Ist gut, Detective.

Falls Andy noch da drin ist … seien sie vorsichtig. Er ist nicht mehr
der Andy, den ich mal kannte. Das ist alles nur noch Fassade!«

Darryl nickte. Phoebe beobachtete, wie Paige, die diese Worte

gehört hatte, die Fäuste ballte. Auch sie wusste nur zu gut, wie es sich
anfühlte, in den Falschen verliebt zu sein. Sie war schließlich
monatelang in Cole verliebt gewesen, bevor sie herausgefunden hatte,
dass er ein Halb-Dämon war. Und auf gewisse Weise hatte es Paige
noch schlimmer getroffen. Cole war schließlich als Halb-Dämon
geboren worden, in ihm stritten sich ständig die menschliche und die
dämonische Hälfte um die Vorherrschaft. Aber Andy war ein Mensch,
der sich bewusst an die dunklen Mächte verkauft hatte.

»Kopf hoch, Paige«, sagte Phoebe mitfühlend und legte ihrer

Schwester eine Hand auf die Schulter. »Du hast nicht wissen können,
auf was du dich da einlässt. Wir haben uns alle von Andy täuschen
lassen.«

Paige nickte traurig. »Stimmt, der Kerl hätte besser Schauspieler

werden sollen, statt Regisseur. Gibt es eigentlich keine normalen
Männer mehr?«

»Nicht in diesem Job«, erwiderte Phoebe und lächelte traurig.

Darryl Morris hatte sich inzwischen dem Vordereingang des P3

genähert. »Ich unterbreche eure Gesprächstherapie nur sehr ungern,
aber seid ihr so weit? Wenn unser Mister Stewart noch da drin ist,
möchte ich den Fall gern zu Ende bringen.«

Die drei Hexen blickten sich entschlossen an. Dann nickten sie sich

zu.

»Okay, Darryl«, sagte Piper schließlich. »Von uns aus kann es

losgehen.«

»Okay. Ich gehe vor. Ihr bleibt hinter mir und unternehmt nichts

Unüberlegtes. Wenn Sorvino nicht gelogen hat, dann hat Stewart
bereits drei Menschen ermordet. Ich möchte nicht, dass es noch mehr
werden!«

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Piper, Paige und Phoebe nickten.

Darryl Morris zog seine Dienstwaffe und stieß die Tür zum P3 auf.

Vom Ozean her rollte ein grollender Donner über das Land.

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34

D

AS P3 WAR LEER.

Nur ein paar verrückte Tische und einige wenige Reste von

Verpackungsmaterial deuteten daraufhin, dass hier vor kurzem noch
ein Filmteam gearbeitet hatte. Piper, die direkt hinter Darryl Morris
ihr Lokal betrat, staunte nicht schlecht. »Wow. Die haben wirklich
kein bisschen Unordnung gemacht«, sagte sie.

»Hab ich doch gesagt«, lächelte Paige. »Du hast dir ganz umsonst

Sorgen gemacht.«

»Psst«, zischte Darryl. Er machte ein paar weitere, vorsichtige

Schritte in das Lokal hinein und blickte sich misstrauisch nach allen
Seiten um.

»Die Luft scheint rein zu sein«, sagte er schließlich, nachdem er

sich vergewissert hatte, dass hinter und unter den Tischen kein
Mensch versteckt war. »Aber es sieht aus, als hätte sich unser feiner
Mister Stewart ebenfalls verdrückt. Ich werde wohl doch eine
Fahndung nach ihm herausgeben müssen.«

Darryl griff nach seinem Handy und wollte eben die Zentrale

informieren, als er seinen Fehler bemerkte. Er hatte sich zwar
vergewissert, dass sich kein Mensch

mehr hinter den

Einrichtungsgegenständen des P3 versteckte, aber er hatte nicht mit
Angreifern gerechnet, die klein genug waren, um sich in den Schatten
der Möbel verkriechen zu können.

Paige war die Erste, die diesen Fehler zu spüren bekam.

Ein dunkler Schatten stürzte sich von der Decke auf sie hinunter.

Etwas feucht-glitschiges landete auf ihrer Schulter und griff sofort
nach ihrem Hals.

Die jüngste der Zauberhaften schrie erschrocken auf. Im nächsten

Augenblick schlossen sich zwei Pranken mit Schwimmhäuten um
ihren Hals. Ihr Schrei verwandelte sich in ein ersticktes Gurgeln.

»Paige!«, rief Piper und wirbelte herum. Die Mini-Ausgabe des

Sumpf-Monsters klammerte sich um den Hals ihrer Halbschwester.
Instinktiv wollte Piper die Killer-Puppe einfrieren, als sie einen

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stechenden, feinen Schmerz in ihrem Wadenbein spürte. Eine
hässliche Puppe, gekleidet im Stil des ausgehenden 19. Jahrhunderts,
hatte ein Miniaturmesser in ihr Bein gebohrt. Die Klinge war zu klein,
um sie ernsthaft zu verletzen, aber die Kreatur holte bereits zu einem
zweiten Hieb aus. Mit einem Aufschrei versuchte Piper, die Ripper-
Puppe abzuschütteln.

Vergeblich. Mit ihrer freien Puppenhand klammerte sich die

Kreatur an Pipers Bein fest.

»Au! Du verflixtes Mistvieh!«, rief Piper und ging in die Knie, um

die Killer-Puppe am Hals zu packen und wegzuzerren. Ein böser
Fehler. Kaum hockte die älteste Halliwell-Schwester vor der Puppe,
fand der Ripper ein besseres Ziel, das jetzt in der Reichweite seiner
Klinge war – Pipers Hals!

»Pass auf, Piper!«

Phoebe machte einen Satz querdurch den Raum und trat mit dem

Absatz gegen den Kopf der Mörder-Puppe. Mit einem wütenden
Zischen auf den toten Lippen wirbelte der Mini-Ripper durch den
Raum, prallte gegen ein Stuhlbein … und rappelte sich im nächsten
Augenblick wieder auf. Als ob nichts geschehen sei, trippelte der
Mini-Messerstecher wieder auf sein Opfer zu.

»Das gibt's doch nicht!«, keuchte Darryl, der das Ganze beobachtet

hatte. In diesem Moment spürte auch er einen scharfen Schmerz an
seinem Knie. Unbemerkt hatte sich der Mini-Werwolf an den
Polizisten herangeschlichen und zerfetzte jetzt mit einem Krallenhieb
das Hosenbein des Detectives.

Darryl heulte auf, mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Ohne

darüber nachzudenken, richtete er seine Pistole auf den pelzigen
Angreifer.

Ein Schuss hallte durch das P3.

Der Werwolf war zwar nur so lang wie der Unterarm eines

Erwachsenen, aber auf diese kurze Entfernung war er trotzdem nicht
zu verfehlen. Die Kugel traf die Werwolf-Puppe in der Schulter und
zerfetzte sie. Versengte Pelzbüschel spritzten umher und die Kreatur
heulte auf wie ein verwundetes Tier. Doch Sekundenbruchteile später
geschah etwas Unfassbares. Der Mini-Werwolf bäumte sich auf – und
seine zerfetzte Schulter begann, vor den Augen des fassungslosen

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Polizisten wieder zu heilen. Es dauerte nicht mehr als ein paar
Augenblicke, bis der Werwolf seine Attacke erneut fortsetzte.

Auch Phoebe hatte dieses makabere Schauspiel atemlos

beobachtet. Und es gab dafür nur eine Erklärung, die ihr jetzt durch
den Kopf schoss: Die Kreaturen hatten die Eigenschaften ihrer
magischen Vorbilder angenommen. Dies waren nicht mehr länger
mechanische Puppen, die durch den Funken der schwarzen Magie
angetrieben wurden – dies waren Duplikate der großen Vorbilder!
Real existierende Monster, deren kleine Gehirne nur Raum für einen
einzigen Gedanken hatten: Töten!

Plötzlich spürte Phoebe, wie ihr die Füße unter dem

Körperweggerissen wurden. Die mittlere Halliwell-Schwester hatte
gerade noch Zeit, um die Ursache dafür zu erkennen, dann schlug sie
unsanft auf dem Boden auf.

Die Mini-Mumie, ein alter Bekannter von ihr, hatte eine seiner

Bandagen um ihre Füße gewickelt und sie so zu Fall gebracht. Und als
ob das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, sah Phoebe jetzt
einen weiteren Schatten auf sie zurasen – es war die Puppe des Mini-
Draculas.

Seine winzigen, nadelspitzen Zähne blitzten im Licht der

Deckenbeleuchtung hell auf.

Die Puppenversion des Fürsten der Nacht machte ein paar

trippelnde Schritte auf Phoebe zu. Die mittlere Halliwell-Schwester
versuchte aufzuspringen, aber die Füße der Hexe waren von der Mini-
Mumie inzwischen geschickt zusammengeschnürt worden.

»Lass mich in Ruhe, du hässlicher Blutsauger«, rief Phoebe. Sie

versuchte, sich den Vampir mit ein paar gezielten Faustschlägen vom
Leib zu halten. Aber die mörderische Kreatur hatte Blut gewittert. Sie
steckte die Treffer von Phoebes Fäusten mit einem Fauchen ein und
setzte ihren Angriff unbeirrt fort.

Phoebe zappelte verzweifelt auf dem Boden herum und überlegte

fieberhaft nach einem Ausweg. Die Kreatur wich ihrem erneuten
Fausthieb aus und trippelte näher an sie heran. Der Blick des Mini-
Monsters war bereits gierig auf die pulsierende Halsschlagader der
jungen Hexe gerichtet.

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Aber was sollte Phoebe tun? Auf die Hilfe ihrer Schwestern konnte

sie nicht hoffen – den Kampfgeräuschen zufolge waren die mit ihren
eigenen, monströsen Angreifern beschäftigt. Darryl feuerte
inzwischen einen weiteren Schuss auf den Werwolf ab. Den Flüchen
des Polizisten nach zu urteilen vergeblich.

Phoebe blickte sich um. Um sie herum standen nur ein paar

Holztische und Stühle. Nichts, was sie als Waffe einsetzen konnte.
Außer – natürlich!

Als der Vampir nur noch ein paar Zentimeter entfernt war, zog

Phoebe die Beine an und ließ sie dann wieder zurückschnellen. Die
Mumie, die sich bislang an ihren Füßen festgeklammert hatte, wurde
quer durch den Raum katapultiert. Sie überstand den Aufprall zwar
unbeschadet, aber dieser Befreiungsstoß verschaffte Phoebe ein paar
Sekunden Luft. Sie rollte sich einmal um die eigene Achse, bis sie mit
der Schulter an einen Stuhl stieß.

Die Dracula-Puppe folgte ihr fauchend.

»Ja, komm nur!«, zischte Phoebe zurück. Sie griff nach einem der

Holzstühle. Dann wartete sie, bis der Mini-Vampir nur noch eine
Armeslänge entfernt war. Als Klein-Dracula sich gerade auf die
Halsschlagader der Hexe stürzen wollte, griff Phoebe nach einem der
Stuhlbeine, hob den Stuhl an und schmetterte ihn mit voller Wucht
zurück auf den Boden. Es gab ein lautes Krachen, als das Holz
zersplitterte. In ihrer Hand hielt Phoebe jetzt ein hölzernes Stuhlbein,
dessen oberes Ende abgesplittert war.

Die Dracula-Puppe machte einen letzten Satz auf Phoebes Hals zu.

Im gleichen Augenblick erkannte sie, was die junge Hexe vorhatte.

Zu spät.

Es gab nur drei Dinge, die einen Vampir vernichten konnten:

Sonnenlicht, ein Kreuz oder ein Holzpfahl!

Letzteren hielt Phoebe jetzt in der Hand. Oder besser gesagt –

rammte sie mit voller Wucht in die Brust des Vampirs. Mitten im
Sprung bohrte sich das zersplitterte Ende des hölzernen Stuhlbeins tief
in den Puppenkörper. Der Mini-Vampir schrie schrill auf und riss
seine untoten Puppenaugen auf.

Dann explodierte er.

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Schaumstoff, elektrische Drähte und eine stinkende, schwarze

Masse surrten durch die Luft – die natürlichen und übernatürlichen
Bestandteile der Monster-Puppe.

Phoebe hatte die Schwachpunkte der Monster-Figuren erkannt –

sie hatten sich ihren großen Vorbildern bereits so sehr angepasst, dass
sie auch deren Achillesfersen mit ihnen teilten.

»Leute«, rief Phoebe in den Kampflärm hinein. »Ihr müsst die

Puppen so bekämpfen wie die realen Filmmonster!«

»Was zum Teufel meinst du damit?«, rief Darryl keuchend. Er

befand sich immer noch im Clinch mit dem Werwolf. Eine frische
Schramme verlief inzwischen quer über die Wange des Detectives.
Dort hatte ihn die Puppe augenscheinlich schon mit ihren Krallen
verletzt.

Statt zu antworten zog Phoebe ihre Beine erneut an und sprang

dann mühsam auf die Beine. Die Bandage, die ihr die Mumie um die
Knöchel geknotet hatte, hielt, aber die Hexe konnte sich zumindest
hüpfend fortbewegen.

Und sie hatte es nicht weit. Nur wenige Meter entfernt befand sich

eine kleine Anrichte. Phoebe hatte oft genug aushilfsweise im P3
gekellnert, um zu wissen, dass sich dort auch eine Schublade mit
Besteck befand. Und ein paar Feuerzeuge für die Kerzen auf den
Tischen.

Sie hatte die Anrichte gerade erreicht, als ein stechender Schmerz

ihre gefesselten Beine durchzuckte.

»Au! Na warte, du kleines Biest«, zischte Phoebe, als sie sah, dass

die Mumie sich in ihre Wade verbissen hatte. Hektisch durchwühlte
sie die Schublade und fand schließlich, was sie suchte.

Phoebe zog das Feuerzeug hervor und knipste es an. Bevor die

Mumie reagieren konnte, bückte sich Phoebe zu ihr herunter und hielt
die Flamme an die staubtrockenen Bandagen des Mini-Monsters.

Sie fingen sofort Feuer.

Sekunden später lief die lichterloh brennende Mini-Mumie durch

das P3. Sie kam nur ein paar Meter weit, bevor sie zusammenbrach
und verbrannte.

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Phoebe hatte sich die Zeit genommen, um das Ende der Mumie

genüsslich mit zu verfolgen. Dann griff sie wieder in die Schublade
und zog ein Steakmesser hervor. Ein silbernes Steakmesser.

Zunächst bückte sie sich erneut und durchtrennte vorsichtig die

Bandagen, mit der ihre Füße noch immer zusammengebunden waren.
Dann stürmte sie auf Darryl zu, der noch immer mit der Werwolf-
Puppe rang. Trotz ihrer überschaubaren Größe schien die Monster-
Figur über beachtliche Kräfte zu verfügen, während Darryls Kräfte
langsam nachzulassen schienen.

»Vorsicht, Phoebe!«, keuchte der Polizist, als er aus den

Augenwinkeln sah, wie Phoebe sich näherte. »Das Biest ist
gefährlich!«

»Das bin ich auch!«, erwiderte Phoebe und ließ das Messer durch

die Luft sausen.

Es bohrte sich tief in die Brust des Werwolfs.

Die Puppe riss erstaunt die Augen auf.

»Das ist Silber, du Zottel«, knurrte Phoebe. »Soweit ich weiß, seid

ihr Werwölfe allergisch dagegen!«

Wie auf Kommando heulte die Bestie auf. Ein Zittern durchlief

ihren pelzigen Körper. Dann zerplatzte sie wie zuvor der Vampir.

Darryl atmete erleichtert auf. »Danke, Phoebe!«

Phoebe nickte nur und deutete auf ihre beiden Schwestern. Paige

versuchte noch immer, das Sumpf-Monster von ihrem Hals
wegzustoßen. Das Gesicht der jüngsten Halliwell-Schwester war
bereits blau angelaufen. »Gern geschehen, Darryl. Aber wir müssen
den beiden helfen. Schnapp du dir das Sumpf-Ding. Ich habe den Film
damals gesehen – am Ende wird die Kreatur durch einen Polizisten
erschossen …!«

»Na, das passt ja«, rief Darryl und stürmte los.

Ein paar Augenblicke später hatte er Paige erreicht. Mit vereinten

Kräften schafften es der Polizist und Paige, das Monster wegzuzerren.
Als genug Abstand zwischen der Sumpf-Kreatur und der jungen Frau
bestand, setzte Darryl seine Dienstwaffe an den Kopf der zappelnden
Kreatur und drückte ab.

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Noch bevor das Echo des Schusses verhallt war, begann die nun

kopflose Kreatur, sich in einen Haufen stinkenden Schleim
aufzulösen. Paige und Darryl atmeten erleichtert auf.

»Au!«, rief Piper. »Könnte mir bitte auch mal jemand helfen?!«

Sie lag noch immer auf dem Boden und kämpfte mit der Figur des

Rippers. Bis jetzt hatte sie die meisten Messerhiebe der Puppe
abwehren können, aber ihre Kräfte ließen langsam nach.

»Ich komme, Piper!«, antwortete Phoebe grimmig. »Halte durch!«

Dann nahm sie die Bandage in die Hand, mit der die Mumie sie

gefesselt hatte. Mit ein paar schnellen Bewegungen knotete sie ein
Ende der Bandage zu einer Schlinge zusammen. Dann lief sie zu ihrer
Schwester. »Weißt du, wie ›Scotland Yard jagt den Ripper‹ ausgeht,
du mieser Messerstecher?«, rief sie.

Die Ripper-Puppe fauchte sie nur böse an und wollte dann weiter

auf Piper einstechen.

»Ich verrate es dir, Freundchen«, fuhr Phoebe fort und warf die

Schlinge um den Hals der Puppe. »Der Mistkerl wird aufgeknüpft!«

Mit diesen Worten zog die junge Hexe am anderen Ende der

Bandage. Die Schlinge schloss sich um den Hals der Puppe. Der
Ripper krächzte überrascht auf, und Phoebe zog die Schlinge mit
einem Ruck weiter zu. Verzweifelt versuchte die Puppe, sich die
Bandage vom Hals zu zerren.

Vergeblich. Ein letztes Zucken, dann hatte der Ripper sein Leben

ausgehaucht.

Phoebe atmete auf und reichte ihrer Schwester die Hand. Piper

hatte ein paar hässliche kleine Fleischwunden abbekommen, aber die
würden schnell verheilt sein.

Die Monster-Puppen dagegen waren für immer vernichtet.

»Phoebe, du hast uns allen den Hintern gerettet!«, sagte Darryl

anerkennend und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Tja«, erwiderte die mittlere der drei Schwestern. »Es zahlt sich

eben aus, öfter mal ins Kino zu gehen. Da lernt man was fürs Leben.
Und zum Überleben …«

Die Vier lachten erleichtert auf. Dann zog Piper die Stirn in Falten.

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»Aber die Sache ist noch nicht erledigt«, sagte sie und blickte

Phoebe, Paige und Darryl ernst an. »Die kleinen Monster sind
vernichtet, aber ihr Drahtzieher ist noch immer auf freiem Fuß.«

Phoebe nickte. »Stimmt. Andy kann sich jederzeit wieder ein neues

Werkzeug suchen und weiter morden. Und wir wissen immer noch
nicht, welche Rolle dieser Landreau dabei spielt.«

»Und was sollen wir jetzt machen?«, fragte Paige.

Phoebe runzelte die Stirn. Dann machte sich ein grimmiges

Lächeln auf ihrem Gesicht breit. »Ich vermute mal, dass Andy
zurückkommen wird, um sich zu vergewissern, dass seine Puppen
ganze Arbeit geleistet haben, oder?«

Darryl zuckte mit den Schultern. »Es ist in der Tat nicht

ungewöhnlich, dass es einen Mörder an den Ort seines Verbrechens
zurückzieht. Besonders, wenn er nicht leibhaftig dabei war.«

»Tja«, sagte Phoebe, »dann wollen wir ihn mal nicht enttäuschen!«

Die anderen blickten sie fragend an.

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35

A

NDY STEWART ÖFFNETE VORSICHTIG die Tür des P3.

Inzwischen war die Sonne untergegangen und die schweren
Gewitterwolken hingen tief über der Stadt. Das Grollen des Donners
wurde immer lauter. Ein Wetterleuchten erhellte die Wolken und
tauchte ihre Konturen in ein bizarres Schattenspiel.

Der junge Regisseur warf einen Blick ins Innere des P3.

Es war ein Schlachtfeld. Der Hauptsaal war ein chaotisches

Durcheinander aus zersplitterten Tischen und Stühlen. Und im Raum
verteilt lagen dunkle Schatten, die im trüben Licht der Notbeleuchtung
aussahen wie Lumpenbündel.

Andy lächelte grausam und hielt seinem Begleiter die Tür auf.

»Kommen Sie herein, Mister Landreau. Die Luft ist rein. Hier lebt
keine Menschenseele mehr.«

Ein erneutes Wetterleuchten erhellte den Himmel und erleuchtete

einen Moment lang das faltige Gesicht von Gustav Landreau.

Der alte Mann lächelte zufrieden. »Damit wären wir ja genau beim

Thema, junger Freund.«

Mit gemessenen Schritten betrat Landreau das P3 und blickte sich

um. Vier Leichen lagen auf dem Boden, zum Teil entstellt mit
furchtbaren Wunden. Eine der jungen Hexen lag mit dem Bauch in
einer glänzenden Blutlache. Die Kehle des Detectives, den Landreau
aus dem Fernsehen kannte, war zerfetzt.

Der alte Regisseur empfand beim Anblick der Leichen kein

Entsetzen, sondern nur tiefe Befriedigung. Sein junger Schüler hatte
seine Aufgabe erfüllt.

»Schade«, sagte Andy und stieß mit dem Fuß den leblosen

Puppenkörper des Rippers zur Seite. »Sieht aus, als hatten sie es doch
noch geschafft, die Puppen zu vernichten, bevor sie selbst daran
glauben mussten.«

Landreau lächelte. »Nur keine Sorge, Andy. Die Puppen sind

ersetzbar. Du kannst jederzeit neue bauen lassen und sie mit der
Macht beseelen, die ich dir verliehen habe. Wichtiger ist, dass du

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deinen Teil der Aufgabe erfüllt hast. Wie ich sehe, hast du sogar mehr
getan als das … drei Opfer hatten nur gefehlt – du hast vier erbracht.«

»Lieber zu viel als zu wenig, was?«, erwiderte Andy kühl. Auch

ihm schien der Anblick der vier Toten nichts auszumachen, obwohl er
sie selbst auf dem Gewissen hatte. »Schade nur um das Mädchen!«,
fügte er dann bedauernd hinzu. »Die hätte mir schon gefallen
können.«

Landreau winkte ab. »Ach was, auch da werden neue kommen.

Und jetzt schweig, ich werde den Dämon beschwören, damit er deine
Seele nimmt und ich meine wiederbekomme. Knie dich neben mich.«

Andy zuckte mit den Schultern. »Klar. Was kümmert mich meine

Seele, solange ich Ruhm und Geld dafür bekomme. Und wenn es so
weit ist, dass ich den Löffel abgeben muss, finde ich bestimmt
jemanden, der mit mir den gleichen Tausch macht wie ich mit Ihnen.«

Aber Landreau antwortete nicht. Der alte Mann war auf die Knie

gesunken und murmelte eine Beschwörungsformel.

Ein paar Sekunden lang passierte gar nichts. Dann plötzlich wehte

ein eisiger Luftzug durch das P3. Es wurde so kalt, dass sogar kleine
Atemwölkchen von Landreaus Mund aufstiegen.

Ein schattenhaftes Wesen, dessen Umrisse entfernt an einen

Menschen erinnerten, materialisierte auf der Tanzfläche.

»Danke, dass du meinen Ruf erhört hast«, murmelte Landreau und

lächelte den Schatten-Dämon an. »Ich möchte unseren Handel
rückgängig machen und meine Seele wieder erlangen. Dieser junge
Mann hier hat sieben Morde begangen, damit du seine Seele anstatt
meiner zu dir nimmst!«

Der Dämon blickte Landreau an. Dann hallte ein dröhnendes

Gelächter durch das Lokal, das von überall herzukommen schien. Der
Dämon schien sich köstlich zu amüsieren.

»Gustav Landreau, du bist ein alter Narr. Ich werde eine Seele mit

mir nehmen – aber es wird deine sein.«

Landreau riss die Augen auf. »A-Aber … wir hatten eine

Abmachung! Der junge Idiot hier hat sieben Menschen getötet, damit
du seine Seele statt meiner nimmst! Das kannst du nicht machen!
Geschäft ist Geschäft!«

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Das Lachen des Dämons verstummte. »Stimmt, Gustav, mein alter

Freund. Ich könnte nichts dagegen machen, wenn dein armseliger
Schüler seinen Teil des Handels eingehalten hätte.«

»W-Was meinst du damit?«, stotterte Andy. Er war bis zur

gegenüberliegenden Wand zurückgewichen und starrte den Dämon
voller Todesangst an.

»Sieh selbst, du Narr!«, höhnte der Dämon und deutete mit einer

schattenhaften Hand auf die Leiche von Paige – die jedoch keine
Leiche mehr war.

Paige Halliwell richtete sich auf und wischte sich etwas Blut aus

dem Gesicht. »Ich hatte dich wirklich gemocht, Andy«, sagte sie
traurig. »Und du hättest das Zeug gehabt, ein großer Regisseur zu
werden. Auch ohne die beiden!« Sie deutete gleichzeitig auf Gustav
Landreau und den Schatten-Dämon.

Andy und Landreau rissen ungläubig die Augen auf. »Aber … ihr

seid doch tot!«, rief Andy entsetzt.

»Offensichtlich nicht«, knurrte Phoebe. Auch Piper und Darryl

erhoben sich.

»Du vergisst, dass wir mit Tim Sorvino einen erstklassigen Mann

für Spezialeffekte bei uns hatten. Er hat wirklich großartige Arbeit
geleistet – und das alles nur mit ein bisschen Ketchup und ein paar
anderen Zutaten aus der Speisekammer«, sagte Piper und deutete auf
die Küchentür. »Er ist übrigens im Nebenraum. Wir wollten ihm den
Anblick des Dämons ersparen.«

Darryl wischte sich etwas Ketchup aus dem Gesicht und zog dann

das rohe Fleischstück von seinem Hals, mit dem Sorvino die tödliche
Wunde modelliert hatte. »Und ich wünschte, ich wäre jetzt auch bei
Tim«, schluckte er und warf einen ängstlichen Blick auf den Dämon.
Er war als Freund der drei Hexen zwar einiges gewohnt, aber
Begegnungen mit solchen Wesen gingen doch weit über seinen
normalen Horizont hinaus.

Der Schatten-Dämon lachte auf. Ihn schien dieses Spielchen zu

amüsieren. Kein Wunder, er hatte ja auch nichts zu verlieren.

»Nicht schlecht, ihr Zauberhaften. Ich sehe schon, ihr verdient

euren Ruf zu Recht. Aber nun wird es Zeit, diese Farce zu beenden.«

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Der Dämon huschte wie ein lebendiger Schatten auf Landreau zu.

Der alte Regisseur riss die Augen auf, als der Schatten durch ihn
hindurchglitt und dabei seine Seele mit sich fortriss.

»Nein!«, röchelte der alte Regisseur noch. Dann sank er leblos zu

Boden.

Doktor Nyang, der Gerichtsmediziner, würde später nur noch ein

Herzversagen feststellen können, hervorgerufen durch einen extremen
Stresszustand. Landreau war bereits tot, bevor sein Körper den Boden
berührte.

Der schattenhafte Dämon glitt weiter durch den Baum. Kurz vor

Andy machte er Halt. Der junge Mann war in die letzte Ecke des
Baumes zurückgewichen und schlotterte vor Angst.

»Lass ihn in Ruhe!«, rief Paige.

Der Dämon schüttelte nur den Kopf. »Oh, es liegt nicht in meiner

Macht, ihm etwas anzutun, Hexe. Ich habe nur Macht über Menschen,
die freiwillig zu mir kommen. Aber dieser junge Welpe hier hat schon
einen großen Teil des Weges zurückgelegt.«

Der Seelensammler lachte auf. Dann wendete ersieh ein letztes Mal

den drei Hexen zu. »Wir werden uns ganz sicher auch wieder sehen,
Hexen. Und dann wird euer Tod keine Täuschung sein!«

»Wenn das eine Drohung sein soll, du –«, rief Piper wütend, aber

der Dämon lachte nur auf. Schließlich verblasste er wie ein Alptraum
bei Tageslicht. Ein paar Augenblicke später war er verschwunden.

Zurück blieb nur Andy Stewart, der mit leerem Blick ins Nichts

starrte und zitterte. »Meine Seele«, stammelte der junge Mann nur,
»meine Seele …«

Darryl, Piper, Paige und Phoebe gingen auf Andy zu. Er schien sie

nicht zu bemerken und starrte durch sie hindurch.

»Ich fürchte, er hat den Verstand verloren«, murmelte Darryl fast

mitleidig. »Und wenn dieser Dämon noch ein paar Minuten länger
geblieben wäre, würde es mir – wahrscheinlich genauso ergehen. Wie
haltet ihr es nur aus, ständig mit … so etwas konfrontiert zu werden?«

»Alles Gewöhnungssache«, sagte Paige traurig und strich Andy

über die Stirn. Sie fühlte sich heiß und fiebrig an. »Alles
Gewöhnungssache …«

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Eine Viertelstunde später gingen die drei Hexen über den Parkplatz

des P3. Darryl hatte seine Kollegen gerufen, die bald hier eintreffen
würden. Der Rest war Sache der Polizei, die Aufgabe der
Zauberhaften war erledigt.

Das Gewitter hatte die schwüle Luft der letzten Tage vertrieben.

Die drei Hexen waren auf dem Weg zu ihrem Wagen, als vor ihnen
plötzlich eine kleine Sandwolke aufwirbelte.

Sie hielten dieses Phänomen zuerst für etwas Sand, der von der

Küste hierher geweht worden war. Doch dann wirbelte immer mehr
Sand auf und nahm schließlich eine menschliche Gestalt an.

Ein Dämon. Eine Kreatur aus Sand.

»Oh, nein!«, stöhnte Phoebe. »Hört das denn nie auf?«

Piper, Paige und Phoebe gingen in Abwehrstellung.

»Die drei Zauberhaften!«, grollte die Sand-Kreatur mit

knirschender Stimme. »Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um
euch zu vernichten. Ich werde euch …«

Der Dämon kam nicht dazu, seine Drohung zu beenden. Ein

erneuter Blitz zuckte über den Himmel. Mit dem Donner folgten auch
die ersten Regentropfen. Als hätte der Himmel alle Schleusen auf
einmal geöffnet, prasselte ein kühler Platzregen hinunter. Die drei
Zauberhaften und der Dämon blickten hinauf.

An den Stellen, an denen die Tropfen auf den Dämon trafen, schien

er sich sofort aufzulösen.

»Ach, verdammt«, rief die Sand-Kreatur enttäuscht auf. »Ich habe

aber auch immer Pech!« Er hob noch einmal die Faust und hielt sie
den drei Hexen entgegen. »Wir sehen uns nächsten Sommer wieder!«,
drohte er und begann damit, sich in einem erneuten Sandwirbel
aufzulösen.

»Wie auch immer«, murmelte Piper.

Die Hitzewelle war vorbei, und damit auch die Dämonenplage.

Die drei Zauberhaften machten keine Anstalten, sich vor dem

Regen in Sicherheit zu bringen. Die prasselnden Wassertropfen waren
einfach zu erfrischend.

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»Und was machen wir jetzt?«, fragte Paige lachend. »Einen

kleinen Regentanz vielleicht?«

Piper schmunzelte und strich sich eine regennasse Haarsträhne aus

der Stirn. »Nicht so voreilig, Mädels. Ihr vergesst, dass meine
Befürchtungen doch noch wahr geworden sind … im P3 sieht es aus
wie auf einem Schlachtfeld. Eigentlich sollte ich euch die
Aufräumarbeiten allein überlassen, aber ich will mal nicht so sein. Ich
weiß auch schon, wer uns dabei helfen wird …«

Phoebe, Paige und Piper lachten. Dann riefen sie gemeinsam einen

Namen in den prasselnden Regen hinein.

»Leo!«

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Epilog

A

US DEM SAN FRANCISCO CHRONICLE:

Geheimnisvolle Mordserie aufgeklärt – geistesgestörter Regisseur

war der »Puppenmörder«

Eine der merkwürdigsten Mordserien der letzten Jahre fand gestern

ihr Ende: Detective Darryl Morris verkündete in einer
Pressekonferenz, dass der Jungregisseur Andrew S. für die drei Morde
verantwortlich war, die während der Hitzewelle die Stadt in Atem
hielten. Nach Angaben des Detectives verübte der junge Regisseur die
Morde mit Hilfe ferngesteuerter Puppen. Über die Motive dieser
Verbrechen ist bislang noch nichts bekannt. Nach Angaben der Polizei
ist der mutmaßliche Täter nicht ansprechbar und befindet sich in
psychiatrischer Behandlung.

Detective Morris erhielt für die Aufklärung der ›Puppenmorde‹

eine Auszeichnung aus der Hand des Bürgermeisters [Fortsetzung S.
5]

Aus ›Variety‹:

Gustav Landreau, einst bekannt als ›Monstermacher von

Hollywood‹ erlag gestern im Alter von sechsundachtzig Jahren einem
Herzinfarkt. Gerüchte, wonach Landreau in die so genannten
›Puppenmorde‹ verwickelt sein soll, wurden bislang von der Polizei
nicht bestätigt.

Aus dem ›Hollywood Reporter‹.:

Makabere Werbung für ›Scream X-Treme‹

Selten hat ein Film schon vor seiner Fertigstellung so für Furore

gesorgt, wie ›Scream X-Treme‹, das erste Regiewerk des
Nachwuchstalents Andrew Andy

Stewart, der zurzeit als

Hauptverdächtiger der ›Puppenmorde‹ in der geschlossenen
Psychiatrie einsitzt. Eine bessere Werbung konnte sich dieser
Independent-Film jedoch nicht wünschen, die großen Verleihfirmen
überbieten sich bereits, um sich die Verleihrechte des Films zu
sichern.

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Peter Costello, der Kameramann von ›Scream X-Treme‹, hat die

Fertigstellung des Films als neuer Regisseur übernommen. Besonders
gespannt sein darf man auf die Monster-Effekte von Tim Sorvino, die
an Realität alles bisher Gesehene in den Schatten stellen sollen …


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