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Blaulicht
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Horst Ansorge
Verwischte Fährten
Kriminalerzählung
Verlag Das Neue Berlin
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1 Auflage
© Verlag Das Neue Berlin Berlin 1984
Lizenz Nr 409 160/115/84 LSV 7004
Umschlagentwurf Erhard Grüttner
Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin
622 612 8
00045
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I.
Heut kam es ihm besonders ruhig vor – obwohl sich
nachts hier draußen nie viel bewegte, weder auf den
Straßen noch in den Häusern, die Fenster alle finster,
kaum mal ein spätes Auto, meist eine eilige Taxe, selten
Fußgänger. Von den Straßenlaternen brannte nur jede
zweite. Sparmaßnahmen. Das Licht reichte auch aus.
Zwar nicht zum Lesen – aber zum Laufen.
Ein Hund bellte. Aber weit weg. Hinten auf einem der
Gartengrundstücke.
Silke wollte einen Hund. Aber wie mochte so einem
Vierbeiner in einer Stadtwohnung im dritten Stock
zumute sein?
Tierquälerei, dachte er. Aber Silke schien es ernst zu
meinen mit dem Wunsch, einen Hund zu besitzen. Und
auch mit ihrer Liebe zu ihm. Dabei kannten sie sich erst
seit vier Wochen. Liebe auf den ersten Blick? Fast hatte er
so etwas wie Enttäuschung empfunden, als das so schnell
ging mit der schlanken Blondine. Gleich am ersten Abend
blieb er für die Nacht. Aber dann merkte er, daß dieses
Mädchen gar nicht so erfahren war, wie sie getan hatte.
Also auch bei ihr – Liebe auf den ersten Blick? Jedenfalls,
sie gefiel ihm, und das nicht nur im Bett, auch so – wie sie
redete und was sie sagte. Bloß ihre Arbeit – Serviererin –,
die schmeckte ihm ganz und gar nicht. Darüber war es
zum ersten Krach gekommen. “Eine ehrliche Arbeit”,
hatte sie erst erstaunt und später wütend betont. “Und
schwer dazu…” Das mochte alles sein. Aber das
Kneipenmilieu…
“Speisegaststätte bitte”, hatte sie ihn korrigiert.
Meinetwegen, dachte er und grinste.
Jedenfalls wollte er sie seiner Mutter vorstellen. Wie das
klang. Bißchen altmodisch. Aber immerhin ein Angebot.
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Bisher hatte er das nur mit einem seiner Mädchen
gemacht, sie mit zu Muttern genommen. Mit Sabine,
seiner großen Jugendliebe. Das lag schon über drei Jahre
zurück. Serviererin… Aber vielleicht schuf gerade diese
Tätigkeit bei Silke das Verständnis für seinen
“Schichtdienst” rund um die Uhr, Woche und Sonntag
immer bereit sein. Ein Scheißspiel – daran waren einige
von ihm ernstgemeinte Liebschaften gescheitert. Die eine
wollte grundsätzlich keinen “Bullen”, wie sie betonte.
Eine Urlaubsbekanntschaft, und als die seinen Beruf
mitbekam, war er sie auch schon los. Und ein, zwei
andere, die stießen sich dann an seiner Dienstzeit. Und
der Bereitschaft.
Aber Silke verstand das. Und das gab ihm in der Sache
den entscheidenden Ruck. Er hatte sie nach Hause
eingeladen. Zu Sonntag, in die Kleingartenanlage in
Bindigs Familienlaube.
Vor ihm in der Gundlachstraße wendete ein Auto. Das
Scheinwerferlicht huschte über die Fassaden der drei- und
vierstöckigen Altbauten. In der Seibtstraße lief ein
Pärchen. Haben die es aber eilig! Da schien noch ein
Dritter im Spiel. Ein Eifersüchtiger, der die beiden
verfolgte? Er griente.
Vielleicht sollte er Silke doch noch nicht zu Mutter
mitnehmen? Unwillkürlich beschleunigte er seine Gangart.
Dann hörte er jemanden hinter sich, eilig wie ein
Dauerläufer, mit Turnschuhen. Also ein junger Bursche.
Die Dinger waren ja Mode. Sie trugen sich wahrscheinlich
bequemer als sein Schuhwerk.
Als er an der Laterne vorüber war, drehte er sich um
und blieb stehen. Tatsächlich – ein junger Mann, fast im
Laufschritt und im dunklen Trainingsanzug. Ein
sonderbarer Vogel – machte der nachts seinen
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Gesundheitslauf? Wachtmeister Bindig tat noch einen
Schritt zur Straßenmitte…
Er spürte einen brennenden Schmerz in der Brust,
dachte: Das ist doch nicht möglich! Dann sackte er
langsam zu Boden, mühte sich zu schreien – stöhnte aber
nur röchelnd. Er wollte das Geschehen nicht wahrhaben,
dachte immer wieder:… aber das gibt es doch nicht.
In der sonst nächtlich stillen Gundlachstraße fuhren
Autos, hasteten Männer in Zivil und Uniform. Der
Rettungswagen rollte mit Blaulicht und schnell
zunehmender Geschwindigkeit ins Stadtinnere.
“Hier hat er gelegen”, meldete der ABV dem kleinen,
dicken Hauptmann Siebert. Der nickte nur und schaute
sich um. Zu viele Leute. “Spuren sichern. Sie wissen ja.”
Er winkte seinen Leuten zu. Hempel würde alles machen.
Der verwöhnte ihn sowieso. Immer bekam er einen
zweiten Mann, der geschickt und eifrig war. Auch hier bei
dieser neuen Arbeit fand er in Hempel einen fast idealen
Stellvertreter. “Der zweite macht die Arbeit – der erste
repräsentiert”, hatte Hempel schnoddrig dahergeredet, als
Siebert seinen Fleiß und Eifer erwähnte.
Der Hauptmann schnaufte. Mit fünfzig und seinen zehn
Kilo Übergewicht ging es eben nicht mehr so wie mit
dreißig. Er griff den ABV am Arm und zog ihn mit zum
grauen Dienstwagen. “Gibt es Zeugen?”
“Herr Lespe fand den – Genossen Bindig.”
“Holen Sie ihn.”
Lespe war ein alter Herr aus dem Haus Nummer
vierzehn.
“Ich schlafe immer bei offenem Fenster. Und da bin ich
wach geworden. Man hat im Alter einen leichten Schlaf.”
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Er hob entschuldigend die Schulter. “Jemand stöhnte und
röchelte. Ich bin zum Fenster und sah den Polizisten
liegen. Hinterher ist mir erst aufgefallen, daß da jemand
weglief. So wie ein Sportler, im Dauerlauf. Ich glaub'
sogar, im Trainingsanzug. Aber da bin ich mir nicht
sicher, ob ich mir's bloß einbilde.” Wieder hob der Mann
verlegen die Schulter. “Er lief doch schon da hinten.” Er
wies auf die Wallnerstraße. “Und ich hab's auch bloß mit
halbem Blick mitgekriegt. Ich bin doch zu dem, der da lag.
Aber gemacht hab' ich nichts. Ich sah den Einstich in der
Uniform. Hab' gleich telefoniert.”
Der Hauptmann senkte verstehend den Kopf. Der
Mann gefiel ihm. Sachlich, bescheiden, solche Zeugen
waren selten. Bloß, allzuviel wußte der auch nicht.
“Hat der Genosse Bindig noch etwas gesagt?”
Der alte Herr sah den Kriminalisten verständnislos an.
“Ich frage, ob der niedergestochene Volkspolizist Ihnen
noch etwas mitgeteilt hat?”
“Ach so – nee, Herr…”
“Siebert”, erinnerte der Hauptmann.
“Nee, das konnte der nicht. Hat nur jämmerlich
gestöhnt, und Blut lief ihm…”
Lespe deutete auf seinen rechten Mundwinkel.
“Schon gut. Und den Läufer – haben Sie ihn nicht
gerufen?”
Lespe schüttelte den Kopf. “Mir ist das hinterher
bewußt geworden, daß der dazu gehören könnte, aber als
ich rauskam, da war der schon um die Ecke.”
Der Hauptmann knöpfte seine Anzugjacke auf. Einen
Seufzer unterdrückte er. Schlimm, so ein Überfall auf
einen Streifenpolizisten hier in der Stadt. Waffenraub. Die
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Dienstpistole und zwei Magazine hatten den Besitzer
gewechselt. Offenbar ein geplanter Überfall. Sehr brutal
angelegt. Ob es der sportliche Läufer gewesen war?
Höchst wahrscheinlich. Abgebrüht und Menschenleben
verachtend… Wer wohnte hier in der Stadt mit so einer
Einstellung? Was hatte der Mann vor? Einen großen
Raub? Einen Mord? Oder einen Anschlag auf die
Staatsgrenze? Aus Eigeninitiative oder ferngesteuert?
Vieles war möglich.
Vielleicht kam Bindig durch und konnte Genaueres
aussagen, vielleicht. Oder der Hund brachte eine Spur.
Das Wetter war günstig und die Spur noch keine Stunde
alt. Zwar hätte er lieber einen erfahrenen Hundeführer
dabei gehabt – aber der Diensthabende hatte Krell
geschickt. Mit einem bewährten Hund. Wittig, der alte
Fuchs, arbeitete einen jungen Hund ein. Der sollte gut
sein – aber eben noch neu. Vielleicht doch besser, daß
Krell… aber ganz wohl fühlte er sich nicht dabei. Der VP-
Meister Krell schien selber nicht besonders glücklich über
seinen Einsatz.
Da war Krell ja schon zurück. Siebert blickte den
Uniformierten an. Der schüttelte den Kopf, klopfte dabei
den Hundehals. “Er lief in den Torbogen da hinten in der
Wallnerstraße. Ganz zügig. Aber dort ist er ausgestiegen.”
Krell blickte bekümmert auf den Hund.
“Vielleicht ein Fluchtwagen. Oder ein Fahrrad?”
Krell wehrte ab. “Möglich. Es kann auch was anderes
gewesen sein.”
“Einen Hubschrauber hat er aber nicht gehabt…”
Das war der schnoddrige Hempel. Der meldete den
Abschluß aller ortsgebundenen Aktivitäten.
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“Morgen bei Tageslicht schauen wir noch mal alles
genau an. Ein Posten bleibt hier.”
“… ich geh' noch mal mit Benno.” Krell ließ den Hund
erneut die Spur aufnehmen.
Der junge Hundeführer wußte, daß der Hund gut war.
Aber er selber arbeitete erst seit sechs Wochen als
Hundeführer. Und dies hier war seine erste große Sache.
Der Hund spürte die Spannung bei seinem Betreuer.
Hoffentlich machte ihn das nicht unsicher. Irgendwas war
mit der Spur passiert – dort im Torbogen.
Der im nächtlichen Dunkel tiefschwarz schimmernde
Fährtenhund zog wieder zielbewußt die Spur entlang zu
jenem Durchgang. Krell bremste ihn etwas. “Langsam.
Aufpassen, Benno…”, murmelte er leise. Im Torbogen
zog der Hund wieder im Kreise, wurde langsamer. Noch
behielt er die Nase unten. Aber dann gab er auf. Er lief
einige Male hin und her. Unkonzentriert. Schließlich setzte
er sich an der Hauswand. Schluß.
Krell klopfte dem Hund beruhigend den Rücken…
Fehlanzeige.
Siebert saß schon seit sechs hinter dem Schreibtisch im
engen Dienstzimmer. Schrank, Schreibtisch, davor zwei
Stühle, eine Blumenbank neben dem Fenster. An der
Wand hinter seinem Stuhl das Bild des
Staatsratsvorsitzenden. Siebert war vom Tatort gleich ins
Dienstgebäude gefahren. Zu Hause herrschte morgens
immer Trubel. Die beiden Jungen und die Frau mußten
früh aus dem Haus. Da fand er keine Ruhe, um noch ein,
zwei Stunden zu schlafen.
Er sichtete die spärlichen Unterlagen zum Fall Bindig.
Meist waren es seine eigenen Notizen. In Kürze würde
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das Telefon klingeln, die Chefs würden Berichte
verlangen. Überfall auf einen Volkspolizisten. Die
Meldung ging bis nach ganz oben. Aus dem Krankenhaus
gab es nichts Neues. Der Wachtmeister lag in tiefer
Bewußtlosigkeit. Sein Leben hing an einem seidenen
Faden. Und die Ärzte mühten sich, den Tod abzuwehren.
Wachtmeister Bindig, einundzwanzig Jahre – brutal
niedergestochen. Mit einem fast nadelartigen Dolch oder
Degen. Und er – Siebert – mußte den Täter finden. Der
Hauptmann nahm Blatt »für Blatt, überflog einige, andere
studierte er Wort für Wort. Auf den Bogen daneben
notierte er seine Stichpunkte für den ersten Bericht.
Immer wieder dachte er an den jungen Streifenpolizisten.
Er schniefte durch die Nase, zog aus der Hosentasche
eine kleine Blechbüchse mit buntem Aufdruck hervor,
öffnete sie, griff mit zwei Fingern eine Prise und
schnupfte kennerhaft. Tief atmete er durch, spürte ein
leicht brennendes Kitzeln in der Nase. Ganz oben fing es
an, wurde stärker und löste sich schließlich in heftigem
mehrmaligem Niesen auf. Tat das gut!
Das Rauchen hatte er sich vor Jahren abgewöhnt und
an die fünfundzwanzig Pfund zugenommen. Jetzt
schnupfte er. Aber nur selten und wenn er allein war. Er
genierte sich. Also schnupfte er heimlich – obwohl es alle
wußten und gar nichts dabei fanden, sich höchstens über
seine Genierlichkeit mokierten. Nur Saenger hatte anfangs
gespottet. Doch der Leutnant rauchte wie ein Schlot,
wollte sich's immer abgewöhnen, hatte es aber nie länger
als zwei Tage durchgehalten.
Nachdenklich und etwas enttäuscht hielt der korpulente
Hauptmann Krells Mitteilung über den zweiten
vergeblichen Versuch in der Hand, mit Hilfe des Hundes
den Täter aufzuspüren. Da klingelte das Telefon. Siebert
seufzte. Aber es war
nicht der Oberst.
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“Genosse Hempel ist gekommen…”
“Lassen Sie ihn 'rein.”
Der Oberleutnant brachte die Tagesberichte. Den
ganzen Lagefilm, einschließlich der Nacht. Der Mann ist
Gold wert! Grade wollte ich den Kram anfordern, dachte
Siebert* da bringt Hempel bereits alles. Und schon
geordnet.
“… eine Sache ist von Bedeutung. Ein dickes Ding für
die Konkurrenz. Einbruch im Juwelierladen
Siegfriedstraße. Der Inhaber meldet einen Schaden von
über zweihunderttausend Mark.”
“Bargeld dabei?”
“Nein. Schmuck, Gold, Uhren aus dem
vorschriftsmäßig gesicherten Tresor.”
Hempel staunte, wie schnell der Dicke auf den Beinen
war, um den Tisch herumkam und die Karte an der Wand
musterte. Er fand die Siegfriedstraße, spreizte Daumen
und Zeigefinger, zirkelte bis zur Gundlachstraße.
“Höchstens fünfhundert Meter…”
“Luftlinie! Auf dem Boden sind es ein paar mehr.”
“Schon, schon… Aber es könnte – erst mal theoretisch
-etwas mit dem Überfall auf Bindig zu tun haben. Gibt es
Spuren? Andere Ergebnisse?”
“Wenig.”
“Also – nichts?”
“Ganz so schlimm ist es nicht. Die Art und Weise
deutet darauf hin, daß schon zwei ähnliche Sachen
vorliegen aus dem letzten Jahr. Nur in der Ausbeute
wesentlich geringer. Und – ein älteres Ehepaar kam von
der Straßenbahnhaltestelle. Die haben ein Pärchen
gesehen. Ein junges, sagt er, und sie behauptet, daß die
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beiden schon älter gewesen wären. Vielleicht hat er die
Dame und sie den Kavalier betrachtet?” schob Hempel
seinen Kommentar dazwischen. “Ein junger Mann wäre
den beiden nachgelaufen. Im Trainingsanzug und im
Laufschritt. Über den Dritten waren sich die beiden
wieder einig. Nur, ob er dazu gehörte, zu dem Pärchen, da
meinte sie, nein, und er vermutete, ja.”
“Um welche Zeit?”
“Kurz vor halb vier.”
Siebert überlegte. Kurz nach drei sah der alte Lespe den
sportlichen Typ in die Wallnerstraße laufen.
“Vor halb vier? Viel vor halb?”
Hempel blätterte, suchte. “Jedenfalls waren sie um drei
Viertel vier schon in der Wohnung. Und von dort ist es
eine viertel Stunde zu Fuß. Etwa. Also zwischen Viertel
und halb vier. Das könnte – rein von der Zeit und der
Entfernung her – derselbe Läufer gewesen sein. Auch die
Richtung stimmt.”
Siebert nickte, aber sehr zögernd. Es könnte derselbe,
aber genausogut könnten es zwei gewesen sein. Beides
wäre drin. Hempel spürte die Skepsis seines Chefs. Er
meinte: “Es wird doch dort keinen Massenlauf gegeben
haben? So als verfrühten Frühsport?”
Siebert blickte mißbilligend. “Spekulationen nutzen
nichts. Wir kennen weder den oder die Läufer noch das
Pärchen.”
Wieder das Telefon. Siebert meldete sich mürrisch. Die
Sekretärin kündigte den Hundeführer Wittig an. Er hätte
eine wichtige Meldung für den Genossen Hauptmann.
Das erstaunte Siebert ebenso wie den Oberleutnant.
Der VP-Obermeister trat ins Zimmer. Ein Mann über
vierzig, groß, hager, etwas gebückt gehend. Obwohl in
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Uniform, wirkte er irgendwie zivil. Wittig lebte mit seinen
Hunden und für seine Hunde. Er und Siebert kannten
sich annähernd zwanzig Jahre. Beide gehörten sie zu den
alten Hasen dieser Dienststelle. Nur daß der eine von
Anfang an mit Hunden zu tun hatte und auch dabei
geblieben war -während Siebert mal da, mal dort
eingesetzt war, sich qualifizierte und schließlich diesen
Bereich übernommen hatte.
Wittig warf Hempel einen überraschten Blick zu und
meldete dem Hauptmann: “Auf Weisung des
Diensthabenden war ich gegen Morgen noch mit meinem
Hund auf der Fährte…”
Siebert war ganz Ohr. “… und?”
Wittig blinzelte aufgeregt und legte ein paar blauweiße
Turnschuhe auf den Schreibtisch. Mann, waren die
dreckig. Und der linke hinten aufgerissen. Ein Glück, daß
Wittig die Dinger in den Effektenbeutel aus Klarsichtfolie
gesteckt hatte. Enttäuscht wandte der Hauptmann den
Blick wieder dem Obermeister zu.
“Meine ‚Donna‘ nahm eine aus jener Toreinfahrt
herauskommende Spur auf, verfolgte sie mehrere
Straßenzüge weit und führte uns zu denen da.” Er wies
auf die Schuhe.
“Und wem gehören die?”
Der Hundeführer hob die Schultern. “Das weiß ich
nicht. Sie lagen in einer Mülltonne am Anfang der
Kippstraße.”
So sehen sie auch aus, dachte Siebert. “Sie sind sicher,
daß die Schuhe zur Spur gehören?”
“Absolut. Das Verhalten des Hundes war eindeutig.”
“Und wo blieb der, der die Schuhe an den Füßen
hatte?”
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“Die Spur endete dort.”
Siebert musterte den Hundeführer auffordernd.
“Na ja – er muß dort in ein Fahrzeug gestiegen sein.”
Wittig wiegte den Kopf. Er hätte gern mehr
mitgebracht. “Es war auch schon Betrieb im
Morgengrauen. Fußgänger, Radfahrer, erste Autos…”
Also blieben nur diese beschmutzten Turnschuhe. Wer
soll bloß den Eigentümer dieser – Gurken in der großen
Stadt ermitteln? Das ist ja schlimmer als die berühmte
Nadel im Heuhaufen… so dachte Siebert. Aber er sprach
es nicht aus, wollte den erfahrenen Volkspolizisten nicht
kränken – schon gar nicht vor Hempel. Der trug seine
nichtssagende Miene zur Schau. Und er redete nicht –
trotz Sieberts auffordernder Blicke.
Na ja, zumindest bildeten die Schuhe einen ersten,
wenn auch kümmerlichen Anhaltspunkt. Wittig fingerte
an dem Klarsichtbeutel herum, bog die Innenseite des
linken Turnschuhes nach außen. Siebert beugte sich vor.
Er erkannte auf der blauen Leinwand, winzig klein, aber
lesbar, die mit Kugelschreiber gemalten Buchstaben “F.
W.”.
“Und Sie meinen, der Täter liefert uns – nachdem er so
gekonnt seine Fährte verwischt hat – die Schuhe mit
seinen Initialen wie auf dem Tablett?”
Das war Hempel.
“Vielleicht der Fehler, der eben wie so manches Mal
dem Täter zum Verhängnis wird?” verteidigte Siebert
plötzlich den Fund.
“Oder meine Donna hat eben – Glück gehabt. Sie stieß
auf die Mülltonne, die sie mit Bestimmtheit gar nicht
finden sollte?”
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So bescheiden, der Wittig. In Wirklichkeit meint der
doch, sein Hund käme jedem Verbrecher auf die Spur.
Mit solch einer Hundenase und so einem Hundeführer
hätte der eben nicht gerechnet…
Siebert griente. “Die Dinger hier – ab ins Labor.” Und
zu seinem Oberleutnant: “Und wir suchen nach einem
jungen Mann – so zwischen siebzehn und
siebenundzwanzig Jahren, dessen Name mit den
Buchstaben F und W beginnt.”
II.
Am nächsten Morgen saß Siebert wieder kurz vor sechs
am Schreibtisch. Der gestrige Tag und die Nacht waren
vergangen mit Arbeit und Hektik. Auf dem Tisch häuften
sich die Papiere. Daran – zumindest – merkte man, daß
einiges passiert war. Siebert murmelt: “Viel Rauch und
wenig Feuer…” Die Ergebnisse blieben mager bisher,
obwohl alle verfügbaren Kräfte mobilisiert waren. Mehr,
als Siebert erwartet hatte. Der “lange Arm” wurde
spürbar, die Ressourcen zweier Ministerien. Der Anschlag
auf einen Volkspolizisten – brutal und hinterhältig
ausgeführt – verlangte schnelle Aufklärung. Im Interesse
der Sicherheit der Bürger. Und der Ordnung im Staate.
Der Oberst leitete die Operation selber. Major Klemm
mit seinen Spezialisten rollte die Sache vom Einbruch her
auf. Die Routineaufgaben, die viel Kleinarbeit bedeuteten,
waren angelaufen. Die Läden für An- und Verkauf,
Optiker, Juweliere und einschlägige Geschäfte waren
informiert, die Fühler wurden an diesem und jenem Ort
ausgestreckt, Informationen gesammelt…
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Er, Siebert, suchte mit großem Aufwand jenen “F. W.”,
dem die Turnschuhe gehörten. Sie hatten grünes Licht für
eine Pressemitteilung bekommen. Wer kann
zweckdienliche Informationen geben? Es ging um die
Turnschuhe, um jene Nacht, um den Läufer, das Pärchen
und sonstige Angaben in jenem Gebiet zur fraglichen
Zeit…
Es war gar nicht so einfach, die in Frage kommenden
jungen Männer mit den Initialen “F. W.” herauszufinden.
Ein Eifriger im Team wollte auch die weiblichen
Bewohner mit “F. W.” einbeziehen. Und ernsthaft
diskutierten sie darüber, wie ungewiß es sei, daß der erste
Buchstabe den Vornamen und der zweite den
Familiennamen bezeichne -und demzufolge müsse man…
Aber Siebert hatte einen rigorosen Schlußstrich
gezogen. “Wir suchen einen jungen Mann und keine Frau.
Und wir gehen davon aus, daß die Anfangsbuchstaben des
Namens in der in diesem Lande üblichen Reihenfolge
geschrieben sind.”
Die Zahl der Burschen mit “F. W.” war so schon groß
genug. Dabei war sich Siebert gar nicht sicher, daß die
Meldekartei auf aktuellem Stand war. Aber diese Sorge
behielt er für sich. Der Verantwortliche würde schon den
nötigen Druck erzeugen, um Rückstände aufzuarbeiten.
Jedenfalls ließ er alle neu ankommenden Meldespäne
sofort in die Überprüfung einbeziehen. Der Computer
spuckte Namen und Adressen aus. Sieberts Leute
überprüften Personen und Papiere. Begonnen hatten sie
bei ihrer “Ahnengalerie”, wie Hempel die Täterkartei
nannte. Sie waren auch schnell fündig geworden.
Fritz Wilms, dreiundzwanzig Jahre, vorbestraft wegen
Einbruch und Rowdytum. Aber so schnell, wie entdeckt,
wurde er wieder ausgeschieden. Hatte seinen Geburtstag
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gefeiert, bis früh um fünfe. Im Kreise seiner
Bekanntschaft.
Als sie Wilms – einen blonden, mageren Burschen mit
krausem Bart und Schopf – aus seinem
Ausnüchterungsschlaf geweckt hatten, war der ganz schön
wütend gewesen. Später zeigte er sich hilfsbereiter. Er
kostete die Gewißheit aus, daß sich in diesem Falle seine
Unschuld schnell herausstellen würde. Sein Alibi für die
Nacht stand dann ja auch unanfechtbar. Dazu kam, daß
weder die Hunde noch das Labor eine Verbindung
zwischen ihm und den Turnschuhen herstellen konnten.
Nachmittags stürzte Saenger in Sieberts Zimmer. Ohne
Anmeldung. “Wir haben ihn!” sprudelte der Leutnant sehr
unkonventionell schon an der Tür. “… Die Schuhe
gehören einem Schüler. Er hat sie sofort als die seinen
erkannt, behauptet, er hätte sie irgendwo verloren, so vor
drei, vier Monaten. Beim Sport. Und seine jetzigen
Turnschuhe hatten die gleichen Initialen an der gleichen
Stelle…”
“Genug!” unterbrach der Hauptmann den Redefluß und
erhob sich, lief kurz hin und her. “Daß der Junge die
Schuhe als sein Eigentum anerkannte, spricht für ihn…”
“Vielleicht. Aber da seine Turnschuhe alle auf die
gleiche Weise signiert sind, hätten wir das sowieso
nachgewiesen.”
“Wir müssen dort ansetzen, wo der Junge seine Schuhe
verloren hat.”
“Aber eben dazu kann er keine Angaben machen. Oder
er will es nicht.”
Siebert dachte nach, schließlich fragte er: “Was ist das
überhaupt für ein Schüler?”
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“Frank Weber, zwölfte Klasse der EOS…”
“Ach”, entfuhr es Siebert.
“… wirkt nicht unsympathisch. Aber kann ganz schön
giftig reagieren.”
Siebert nickte.
“… und die ganze Familie – Vater, Mutter, der Junge –
schwört Stein und Bein, daß Frank Weber nach
zweiundzwanzig Uhr die elterliche Wohnung nicht mehr
verlassen hat.”
Enttäuscht setzte sich Siebert.
“Aber, Genosse Hauptmann, die Wohnung liegt
parterre und das Zimmer des Jungen auf der Hofseite.”
“Also wäre es theoretisch möglich, daß er ohne Wissen
der Eltern unterwegs war?”
Bestätigend nickte Saenger.
“Und was sind das für Leute, die Webers?”
“Der Vater ist Meister im Maschinenbau, die Mutter
Lehrerin, scheinen tüchtige Leute zu sein…”
Siebert überlegte kurz. Jedenfalls war das eine Spur.
Eine heiße. Er rief ins Vorzimmer: “Ist Hempel im
Hause?”
Die ältliche Sekretärin bediente das Telefon, redete kurz
und leise, gab dann laut Antwort: “Eben gekommen.”
“Soll sofort zu mir. Und eine Verbindung zur
Staatsanwaltschaft. Und… na, Sie wissen schon, alles der
Reihe nach…”
Frau Mehltau nickte. Sie kannte das, was jetzt kam.
Siebert legte den Hörer auf die Gabel. Er hatte zu Hause
Bescheid gesagt. Das tat er immer, seine Frau wußte
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meist, wo er war, wenn er später kam. Vor Jahren, als die
Jungs noch kleiner waren, verbanden sich solche
ununterbrochenen Einsatzzeiten mit Enttäuschungen
über nicht realisierte Unternehmungen zu viert. Der
Fünfzigjährige erinnerte sich, wie sich die Aufklärung
eines Sexualverbrechens über Wochen hinzog und damit
der geplante Besuch der Modelleisenbahnausstellung Tag
um Tag verschoben wurde. Und als sie den Verbrecher
endlich dingfest gemacht hatten – da war die Ausstellung
abgebaut. Seine beiden Jungs hatten ihm das lange
verübelt… Heute lief das alles ruhiger,
selbstverständlicher. Manchmal bedauerte er das
irgendwie. Vielleicht, wenn es Enkel gäbe, daß sich da
wieder einiges neu beleben könnte?
Er schob das Telefon an den Rand der
Schreibtischplatte. Jetzt würde wohl niemand mehr
anrufen. Die Stille der beginnenden Nacht verlockte zu
einem vorläufigen gedanklichen Resümee. Er blätterte in
den Papieren.
Die Durchsuchung der Wohnung der Familie Weber
hatte nichts gebracht. Familie Weber zeigte sich weiterhin
kooperativ. Nur Frank, der Sohn, wurde ab und zu spitz
oder grob. Jedenfalls geachtete Leute, die Webers. Sowohl
auf ihren Arbeitsstellen als auch im Haus und
Wohngebiet. Nur Frank erschien zwielichtig, wenn man es
so auslegen wollte.
Siebert nahm das Protokoll der Vernehmung zur Hand.
“Sie behaupten, daß Sie die ganze Nacht Ihr Zimmer
nicht verlassen haben?”
“Wenn Sie die Nacht vom Vierundzwanzigsten zum
Fünfundzwanzigsten meinen, dann behaupte ich, daß ich
die ganze Nacht mein Zimmer nicht verlassen habe…
Zeugen habe ich keine. Ich schlafe allein. Meine Eltern
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sind tolerant. Zumindest kann man es aushalten. Aber so
tolerant sind sie auch wieder nicht.”
Siebert erinnerte sich, wie der Junge das gesagt hatte.
Betont sicher; den Satzbau exakt bildend, mit einem
Schuß Zynismus. Und doch irgendwie gespielt. Die Ruhe.
Vielleicht auch das Zynische. Oder war das einfach bloß
altersspezifisch? Ein intellektueller Typ. Sah nicht schlecht
aus. Die Haare etwas lang und auch etwas unordentlich.
Aber nach dem Äußeren ging es nicht. Wollte
Germanistik oder Publizistik studieren – aber auf keinen
Fall Lehrer werden. Mutters Beispiel schreckte ihn ab.
“… eine tüchtige Frau, meine Mutter. Wir haben's gut
getroffen, Vater und ich. Aber ihre Arbeit – von Montag
bis Sonnabend und immer angespannt. Es ist ja nicht nur
der Unterricht. Mathelehrerin. Das ginge ja noch. Aber –
als Klassenleiter dies und das und die Berichte und
Versammlungen und Konferenzen und Elternbesuche, die
FDJ-Gruppe… Und dabei liebt meine Mutter ihren Beruf.
Wahrscheinlich gewinnt jeder, der seine Tätigkeit
erfolgreich gestaltet und sie immer besser bewältigen will
– und wenn sie noch so beschissen ist –, seine Arbeit
irgendwie gern…”
Das las sich gut. Aber es hatte unpassend geklungen,
erinnerte sich der Hauptmann. Altklug. Der Junge wollte
beeindrucken.
Siebert schniefte, griff nach seinem Döschen und zog
den Schnupftabak behutsam und genießerisch in beide
Nasenlöcher. Erst ins linke, dann ins rechte.
Wenn der den Polizisten überfallen hat – dann ist das
der abgebrühteste Kerl, der mir bisher über den Weg
gelaufen ist, sinnierte er.
Der Schuldirektor, ein Dr. Müller, hatte sich
zurückhaltend geäußert. Aber doch so, daß dabei ziemlich
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deutlich wurde, die Schule legte nicht die Hand für Frank
Weber ins Feuer.
“Seine Studienbewerbung wurde abgelehnt. Alles
überlaufen. Seither ist er – aufsässig geworden. Unbequem
gab er sich schon immer. Aber in den letzten Monaten
wurde es schlimm…”
Das galt es, näher zu erkunden, bei Lehrern und
Schulkameraden. Auch bei den Nachbarn, der Freundin.
Oder gab es keine Freundin?
Einer der Nachbarn wurde bereits befragt. Zu dem ging
Frank Weber ab und zu, um fernzusehen. Die Sendungen,
die nicht über Webers Bildschirm flimmerten. Herr Weber
hatte da seine Ansichten und seinen Geschmack. Er
bestimmte, welcher Kanal gewählt wurde. Also ging der
junge Weber zum Nachbarn Bliese. Ein Fensterputzer
und geschieden, Ende Zwanzig, und wortkarg. Zumindest
beim Gespräch wirkte er zurückhaltend, reagierte
vorsichtig. Offenbar erschreckte ihn der Verdacht, der
gegen Frank Weber bestand. Überfall auf einen Polizisten.
Dabei ging es um Kopf und Kragen.
Er betonte, er wäre ein kritischer DDR-Bürger, “…
treu, aber kritisch.” Egal, was das nun bedeuten sollte.
“Unsere Meinungen haben wir ausgetauscht. Auf manches
geschimpft…”
“Worauf?”
Der Fensterputzer hatte gedruckst. “Auf dies und das.
Die Bullen. Daß mehr Freiheit sein sollte. Und mehr
Reisen… Dabei konnte der ganz schön auf den Putz
hauen. Aber was sagt man nicht alles in der Erregung.”
Auf die direkte Frage, ob er dem jungen Weber den
Anschlag auf einen Polizisten zutraue, hatte der
Fensterputzer jedoch eindeutig mit Nein geantwortet.
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Also – reinreiten wollte der seinen jungen Nachbarn
nicht. Offenbar gedachte er sich vorsichtig abzugrenzen.
Falls es was Ernstes gegen diesen Frank Weber geben
würde – dann wollte er sich distanziert haben. Zumindest
konnte man das so interpretieren. Vielleicht war es
zweckmäßig, sich diesen Fensterputzer und sein Umfeld
mal etwas näher zu betrachten?
Siebert schmiß die Papierbögen auf den Tisch. Das war
doch alles belangloses Zeug. Er schniefte, griff nach seiner
Schnupftabakdose – ließ sie aber dann doch in der
Tasche. Er grapschte die Protokollseiten wieder
zusammen. Es könnte ja auch eine winzige Spitze eines
beachtlichen Eisberges sein. Denn einige Seiten weiter –
da stand, daß Frank Weber mit seinem Vater Krach hatte.
Ab und an über die Einordnung des Heranwachsenden in
den Familienalltag, seine Rechte und Pflichten. Gar
manches wollte der Sohn sich herausnehmen. Nur vor
Verpflichtungen im Haushalt und gegenüber Vater und
Mutter – davor drückte er sich. Mutter mußte alles
machen, und Vater platzte der Kragen. Hin und wieder.
Aber solche Dinge gehörten zum Leben. Da gab es
anderswo ernstere Konflikte mit jungen Leuten.
Sicher – auch über politische Fragen stritt man in der
Familie Weber. Weniger über die großen. Ab und zu über
die “kleinen”. Wenn Vaters Trabant Monate vor sich hin
rostete – ein erst zwei Jahre alter Wagen –, weil die
Kurbelwelle nach 20 000 km hinüber war und er keine
neue bekam. Zumindest nicht sofort. “Scheißwirtschaft!”
war da noch ein toleranter Ausdruck. So hatte der Vater
das dargestellt.
“… mit anderen führe ich härtere Diskussionen. Aber
mit dem eigenen Sohn fällt mir das schwer. Und über den
Erfolg bin ich mir meist nicht sicher. Dabei finde ich
solche - Ausbrüche in bestimmten Situationen nicht
-23-
außergewöhnlich. Mich hat die Pleite mit dem Auto
genauso gewurmt. Nur beherrsche ich mich. Ich sehe das
Ganze eben – nüchterner.” Und nach einer Weile: “Mehr
mit dem Bedauern, daß wir in unserem Lande bei all dem
schon Erreichten eben dies und jenes noch nicht
beherrschen…” Und dann lächelnd: “… und daß es grade
mein Auto erwischen mußte!”
Also – Probleme gab es schon, aber daß und wie der
Vater darüber mit den Kriminalisten redete, das zeugte
nicht nur von Vertrauen, sondern auch von Sicherheit –
was den Wert und guten Kern des Sohnes betraf. Daran
ließen weder Vater noch Mutter irgendeinen Zweifel.
Wenn sich der Bursche bloß nicht so kaltschnäuzig
gäbe. Das mit den Schuhen ließ ihn beispielsweise völlig
unberührt.
Na ja, es wären seine Schuhe. Aber wo und wie sie ihm
abhanden gekommen waren, das wisse er nicht. “Ich bin
viel unterwegs.” Er zählte verschiedene Turnhallen auf,
nannte zwei Sportplätze. “Volleyball spiele ich, treibe
Leichtathletik.”
Das traf zu. Frank Weber trieb viel Sport. Nicht nur mit
der Schulsportgemeinschaft, auch mit diesen und jenen
Kumpeln aus der Schule und auch von außerhalb.
“Aber Sie müssen doch wissen, seit wann Sie die neuen
Turnschuhe benutzen?”
“So ungefähr…” Dabei schien ihm das Gespräch
peinlich zu werden. “Aber ich hab' immer mehrere Paare
im Gebrauch. Zu oft verbummle ich welche. Meist
schleppe ich zwei Paar mit mir herum. Und in meinem
Zimmer stehen noch mal welche. Für alle Fälle.”
-24-
Die Familie und die Schulkameraden bestätigten die
Angaben. Auch die über oft verlorene Turnschuhe und
daß er meist mehrere Paare zur Verfügung hatte.
Das klang alles glaubwürdig. Aber es könnte auch ganz
anders sein, wie Hempel immer bemerkte.
III.
Letzte Nacht war Bindig gestorben. Zwar hatten alle
damit gerechnet, aber jetzt traf es sie doch wie ein Schlag.
Die einen reagierten mit wütender Verbissenheit, andere
wirkten niedergeschlagen, alle fühlten sich betroffen.
Siebert arbeitete eng mit Major Klemm zusammen.
Auch die neu zugeführten Kräfte ordneten sich ohne
größere Reibereien ein. Die Hektik jedoch wuchs. Der
Oberst holte sie Öfter zum Rapport. Der Papierkram
nahm zu. Siebert fluchte. Zu viele Berichte, Rapporte,
Abstimmungen. Er spürte, wie er langsam nervös wurde.
Das passierte ihm selten. Aber hier hing zuviel daran. Und
jetzt war Bindigs Leben endgültig ausgelöscht. Tagelang
hing es an einem seidenen Fädchen. In der Nacht war das
Fädchen gerissen. Und der Mörder lebte unentdeckt in
der Stadt. Im Besitz einer Waffe. Und kaum eine
brauchbare Spur. Der Oberst drängte. Und der General
wartete. Dann trafen die ersten Informationen aus der
Bevölkerung ein. Mindestens zehn Läufer an
verschiedenen Orten – aber zu weit weg vom Tatort –
mußten unterwegs gewesen sein. Und Pärchen erst.
Sieberts Männer kamen ins Rotieren. Weitere Verstärkung
wurde ihm zugeführt, um alle Angaben schnell zu prüfen.
Einiges schälte sich heraus. Aber das schien mehr zum
Einbruch zu gehören. Zwei, drei Angaben deuteten auf
ein Pärchen hin: ein Mann mit Hut um die Vierzig und
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eine Frau, wesentlich jünger, blond. Und die Meldung
über einen Škoda. Die einen sahen ihn nach der Tatzeit
am Ende der Kippstraße. Mit mindestens zwei –
möglicherweise drei – Insassen. Darunter eine Blondine.
Neben dem Fahrer. Allerdings blieb die Farbe des Wagens
im Ungewissen. Kein ganz dunkler, aber auch kein sehr
heller. Nachts sind eben alle Katzen grau, dachte Siebert.
Und ein Škoda war gestohlen worden. Ein grauer. Und
wiedergefunden. In der Südstadt. Am anderen Ende der
Stadt. Unbefugte Benutzung. Der Tank halbvoll – alles in
Ordnung, die Türen sogar abgeschlossen. Klemms Leute
untersuchten den Wagen, nahmen Schmutzproben.
Fingerabdrücke gab es. Aber der letzte Fahrer hatte
Handschuhe getragen. Die verwertbaren Informationen
blieben spärlich. Da kam ihnen der Zufall zu Hilfe.
Heute würde sie es ihnen aber mal zeigen. So frühzeitig
erschien sie sonst nie in der Schule. Im Gegenteil. Sie
gehörte zu den wenigen, die öfter mal zu spät kamen.
Abends nicht ins Bett und früh nicht 'raus, schimpfte die
Mutter. Das stimmte schon. Aber Mutters Räsonieren
nutzte wenig. Was verstand die schon. Hatte selber nicht
viel vom Leben bei aller Plackerei. So ohne Mann. Das
heißt – Männer waren da schon bei Mutter, doch nichts
Festes mehr seit der Scheidung damals. Aber ohne Mann
ging's eben nicht. Das lag in der Familie. So sah sie das
mit ihren sechzehneinhalb Jahren – die Kerstin Balke,
1,70 in groß, schlang und biegsam, hübsch von allen
Seiten, etwas zuwenig Brust. So meinte sie und litt
darunter. Aber nicht viel. Denn die meisten Männer waren
ganz zufrieden – auch mit ihren Brüsten. Sie konnte es
nicht begreifen, bei keinem, was die Männer an ihr
eigentlich fanden. Es gab Hübschere in ihrer zehnten
Klasse. Vielleicht lag es an den Männern, die sie sich
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bisher angelacht hatte. Nicht die Bubis aus der Schule.
Auch nicht die aus ihrer Straße. Ein richtiger Mann sollte
es schon sein. Sie hatte mit Verwunderung erlebt, daß, je
älter ihre Verehrer waren, sie von ihnen um so ernster
genommen wurde. Das gefiel ihr. Auch die Geschenke
und Zärtlichkeiten. Die Gleichaltrigen, die Siebzehn-,
Achtzehnjährigen, die Lehrer an der Schule, zu Hause die
Mutter und die älteren Brüder, keiner von ihnen beachtete
sie gebührend. So empfand sie das zumindest. Dabei hing
sie gerade an Erwin, ihrem Bruder. Obwohl der zweimal
verurteilt wurde. Das erste Mal auf Bewährung, aber das
zweite Mal bekam er eineinhalb Jahre. Einbruch. Aber das
schien alles vorüber und vergessen. Seit mehr als zwei
Jahren lebte er unbescholten, arbeitete als Schlosser und
verdiente Geld. Gutes Geld. Was der seiner Freundin alles
schenkte! Die Mädchen rannten ihm auch nach. Weil er
gut aussah und weil er was springen ließ. Vielleicht rührte
daher ihre Vorliebe für erfahrene Männer so um dreißig
oder noch älter. Aber Erwin war ihr gegenüber genau wie
die anderen.
Alle meckerten bloß mit ihr und behandelten sie wie…
na eben, wie sie schon lange nicht mehr behandelt werden
wollte. Und so reagierte sie eben ab und zu mit
verblüffendem Auftreten vor ihrer Umwelt. Auch heute.
Sie griff sich an die Ohrläppchen. Ja, beide Klunkern
hingen noch. Richtige glitzernde Bucker waren das.
Supergroß und sahen aus wie echt. Zumindest stellte sie
sich echten Schmuck in der Art vor. Feine Fassungen wie
mattes Gold. Und schwer. Erst wollte sie nur ein Gehänge
für ein Ohr. Das war so Mode. Aber dann konnte sie
nicht widerstehen. Alles nahm sie aus dem Hohlraum im
Kachelofen. Sie wußte schon lange, daß die eine Kachel
locker war und Erwin dort ab und zu was versteckte.
Meist Geld. Noch nie hatte sie was genommen. Nur
-27-
gestern abend borgte sie sich beide Ohrgehänge und die
dazugehörige Kette. Ein Geschenk für Erwins neue
Flamme. Eine Studentin und rassig. Ob die solch
auffälliges Talmi überhaupt mochte? Kerstin bezweifelte
das. Jedenfalls würde es Erwins Freundin keinen Abbruch
tun, wenn sie das Zeug heute mal vorführte.
In der Schule. Sie kam sich vor wie eine Prinzessin im
Film. Nur die Karottenhose und der enge Pulli paßten
nicht dazu. Die Hose behielt sie an, den Pulli zog sie aber
aus und nahm dafür die weiße, dünne Bluse mit dem
Ausschnitt und den Rüschen. Zwar fühlte sie sich so
bekleidet etwas unsicher – aber das ertrug sie, des Effektes
wegen. Über die Bluse zog sie die Jeansjacke, knöpfte sie
zu – bis oben hin.
In der Klasse schlüpfte sie aus der Jacke. Ihre Bluse
erregte Aufsehen bei den Jungen. Der Schmuck weniger.
Die Mädchen hielten sich zurück, schnitten sie wie immer.
Dafür reagierte Herr Clemens, der Klassenleiter, der in
Mathe und Physik unterrichtete. Kerstin war eines seiner
Sorgenkinder. Heute registrierte er ihr pünktliches
Erscheinen. Dann schmunzelte er verhalten über Kerstins
Bluse und was sie so gucken ließ. Aber da war er in den
neunten und zehnten Klasse einiges gewohnt, an
Natürlichkeit und auch an Raffinesse. Der glitzernde
Schmuck verunsicherte ihn.
Sicher war es Talmi, Theaterschmuck. Aber gut
gemacht. Und – das Zeug gehörte nicht in den Unterricht.
Herr Clemens stellte die ersten Aufgaben. Kerstin bat er
nach vorn und redete leiste mit ihr, besah sich die
Ohrgehänge und den Halsschmuck von nahem.
Zwar verstand der normale Bürger in diesem Lande
wenig von Gold und Brillanten. Aber er als Physiklehrer
und als Ehemann, der seiner Frau auch Schmuck schenkte
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oder zumindest geschenkt hatte – bis zur letzten
Goldpreiserhöhung… Über Steine wußte er wenig –
etwas mehr aber über Metalle, auch Edelmetalle. Und
diese Fassungen, gekonnte Filigranarbeit und zugleich
gediegen, schienen aus Gold zu sein. Aber dann mußten
die Steine auch echt sein…
Kerstin erregte mit ihrem Auftreten mehr Aufsehen, als
sie erwartet hatte und ihr lieb war.
Nachdem heraus war, woher sie den Schmuck hatte,
wurde die Polizei verständigt.
Ein Haus im Grünen. Oder fast im Grünen. Zumindest
ringsum Gras und Blumen, Silbertannen, eine mächtige
Fichte. Major Klemm schaute aus dem Küchenfenster.
Hinten 'raus Gemüsebeete, Erdbeeren. So würde er auch
gern wohnen. Obwohl seine Altbaubleibe im
vierstöckigen Mietshaus recht wohnlich hergerichtet war.
So ein Haus machte Arbeit, selbst wenn es nur klein war
wie das der Balkes. Alles wirkte gepflegt. Das war das
Werk der Mutter.
“Kerstin kann lieb sein, wenn sie will. Normalerweise ist
sie faul. Sie hört nur noch auf Erwin. Und den holen Sie ja
nun wieder.” Frau Balke stellte es mit bedauernder
Sachlichkeit fest. Sicher hatte sie gehofft, daß ihr Sohn
nach der letzten Strafe normal leben würde.
“Aber der gab zuviel Geld aus. Auch ein gutes Kostgeld
zahlte er…” Sie schien es befürchtet zu haben, daß das
nicht mit rechten Dingen zuging.
“Obwohl er in der PGH an den Autos gut verdiente.
Auch mal was nebenbei…”
Major Klemm war mit einer ganzen Mannschaft
angerückt. Sie durchsuchten das Haus, den Schuppen und
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warteten auf Erwin Balke. Die Durchsuchung ergab
nichts. Wenn man von dem gediegenen und auffallend
vielgestaltigen Schlosserwerkzeug absah. Aber das an sich
war nicht strafbar. Schließlich war das Schlossern Balkes
Beruf, in dem er regelmäßig, d.h. ohne Fehlschichten und
mit Erfolg arbeitete. Die PGH war zufrieden mit diesem
Schlosser. Qualifizierung hatten sie ihm angeboten. Der
Vorsitzende und der Meister der Motorenabteilung
wirkten verblüfft, als die Polizei kurz nach Mittag
aufgetaucht war und nach Balke forschte. Der hatte
jedoch pünktlich Feierabend gemacht nach seiner
Frühschicht. Bloß zu Hause war er nicht angekommen.
Nach zwei Stunden wurde Klemm unruhig. Er starrte auf
den Vorgarten und fluchte. Aber nur leise. Das brauchte
keiner zu hören. Dabei war es, wie Frau Balke erwähnte,
gar nicht ungewöhnlich, daß Erwin Balke nach der
Schicht irgendwo unterwegs war. Bei Bekannten, bei
Freundinnen. Nur wollte keiner in diesem Hause und auf
der Arbeiterstelle solche Bekannte kennen. Die Mutter
schien wirklich nichts zu wissen.
“Holt mir das Mädchen!” befahl der Major.
Sie schniefte verheult, als der ältere VP-Meister sie in
die Küche dirigierte. Die Wimperntusche war zerlaufen.
Klemm zog die Augenbrauen hoch. So ein junges Ding,
wozu die sich schminkt, und dann sieht das so aus.
“Haben Sie mal in den Spiegel gesehen?”
Sie hörte auf zu schluchzen, wischte sich die Nase, sah
sich kurz um. “Is ja keiner hier.”
“Lemke!” rief Klemm.
Der räumte gerade im Flur die Schuhe zusammen,
murmelte: “Drei Leute im Haus – und so eine Menge
Treter.” Er stellte sie in die Regale, wie sie ihm unter die
Finger kamen. Bei denen in den Beuteln stutzte er. Dann
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erinnerte er sich. Die waren alle in dem halbhohen
Schränkchen gestapelt gewesen. Jedes Paar für sich in
einem ordentlich verschnürten Folienbeutel. Dabei waren
die ziemlich ausgelatscht. Wozu so ein Aufwand? Er
schmiß die Beutel in den Schrank.
Klemm wiederholte seinen Ruf. Lemke meldete sich.
“Na endlich. Bringen Sie einen Spiegel.”
Lemke hatte sich schon lange abgewöhnt, über die
manchmal ungewöhnlichen Befehle seiner Vorgesetzten
lange zu grübeln. Er griff vom Garderobentisch einen
Handspiegel.
Das Mädchen besah sich kurz. “Darf ich?” Sie deutete
zum Wasserhahn über der Spüle.
“Bitte.”
Sie wusch das Gesicht, tupfte sich mit dem Handtuch
trocken, setzte sich wieder an den Küchentisch.
“Wo könnte Ihr Bruder sein?”
Sie wollte die Schulter zucken, als der Major
weiterredete: “… helfen Sie uns. Je schneller Ihr Bruder
gefunden wird, um so besser ist das auch für ihn selber.
Ist er bewaffnet?”
Hastig schüttelte sie den Kopf. “Nein.” Aber gleich
präzisierte sie: “Nicht, daß ich wüßte…”
Klemm nahm das auch nicht an. Zumindest auf der
Arbeit würde er kaum mit einer Schußwaffe
umherspazieren. Wenn er es gewesen war, der dem
ermordeten Wachtmeister die Waffe abgenommen hatte.
Aber wenn Balke die Fahndung spitzgekriegt hatte, würde
er vielleicht die Pistole aus einem Versteck holen, um
Widerstand zu leisten.
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Klemm verdeutlichte dem Mädchen seine
Befürchtungen. Den Mord erwähnte er jedoch nicht.
Betonte nur, wie schlimm das für Erwin Balke würde,
wenn er flüchtete und sich bewaffnet verteidigte…
Kerstin hing an ihrem Bruder. Ihre Erschütterung
rührte weniger aus der Tatsache, daß Erwin Balke erneut
kriminell geworden war; vor allem warf sie sich vor, ihren
Bruder – ungewollt – ans Messer geliefert zu haben. Sie
war völlig durcheinander. Helfen wollte sie ihrem Bruder.
Und darauf spekulierte der Major. Er redete ihr zu, das,
was sie wisse, mitzuteilen.
Aber sie war sich nicht sicher, was sie tun sollte.
Schließlich nannte sie einen Namen: “Ingrid Süße.” Und
eine Adresse: “Grabbeallee 27.” Das war die Studentin,
Balkes Freundin seit einigen Monaten.
“Was Ernstes…”, erklärte Kerstin Balke widerwillig.
Eifersucht klang da mit. “Bei ihr wird er sein,” Und nach
einer Weile: “Ist er ja meistens.”
Zwei Genossen in Uniform brachten Balke.
“Es sieht schlimm aus für Sie”, bemerkte Klemm
nachdenklich.
Der junge Mann musterte nur seine Schwester. Die
heulte ins Taschentuch. Schließlich schüttelte Balke den
Kopf, wandte sich ab. “Immer diese Weiber”, murmelte
er. “Klappt's mal mit einer im Bett – dann reitet einen die
eigene Schwester völlig unschuldig in den Dreck.”
Saenger klingelte an der Tür. Drinnen blieb alles still. Das
Flurlicht verlosch. Der Leutnant drückte den Knopf,
vergewisserte sich erneut am Namensschild, “Fritz Briese”
stand drauf. Schwarz auf weißem Plaststreifen.
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Hinter der Tür rumorte jemand, öffnete.
“Guten Abend, entschuldigen Sie, ich muß Sie
nochmals stören…”
“Ach, Sie…” Briese nickte und ließ Saenger herein.
Bierdunst wehte dem Kriminalisten entgegen. In der
Wohnstube stand Berliner Pils auf dem Tisch, der
Fernseher lief. Briese eilte, um den Apparat auszuschalten,
und wies auf einen der beiden Kunstledersessel.
“Bier?”
“Danke, nein.”
“Oder eine Brause?” Der Fensterputzer gab sich
freundlich. Dabei hatte der einiges auf dem Kerbholz.
Körperverletzung und Rowdytum. Aber das lag Jahre
zurück. Später nichts mehr. “Nur ab und zu ausfallend zu
Vorgesetzten und Kollegen”, hatte der Brigadier im
Dienstleistungsbetrieb bei der Befragung gemeint. “Und
wenn er mal seine Sauftour hat, da sehen wir ihn die ganze
Woche nicht.”
“Kommt das öfter vor?”
“Nein, höchstens ein-, zweimal im Jahr. Sonst ist er
zuverlässig und tüchtig”, hatte der Brigadier lobend
ergänzt.
Saenger stellte seine Fragen über den Nachbarssohn
Frank Weber.
“Aber ich hab' doch schon alles gesagt”, äußerte Bliese
ablehnend, beantwortete dann jedoch die Fragen knapp.
Der Leutnant versuchte im Gespräch über Briese selber
mehr zu erfahren. Der blieb aber wortkarg.
Schließlich fragte Saenger direkt. “Und wie lebt es sich
hier?” Er drehte den Kopf. “Es ist eine
Zweiraumwohnung?”
-33-
“Nur das Zimmer und Küche und Bad.”
Also schlief er auf der Liege am Fenster.
“Und Frank Weber ist Ihr einziger… Bekannter?”
Briese schwieg, dann zog er den linken Mundwinkel
leicht nach oben, deutete ein Lächeln an.
“Was heißt einziger? Ich kenne manche Leute. Im
Betrieb, im Haus. Oder wenn ich auf Tour gehe.”
“Auf Tour?”
“Na ja, nach der Schicht mach' ich Feierabendarbeit.
Hab' einen Škoda bestellt. Bis ich dran bin – vielleicht
gibt's dann wieder welche…” Jetzt grinste er.
“Hat sich Frank Weber Geld bei Ihnen geborgt?”
“Wozu sollte er? Die Webers haben doch Kies genug.”
Saenger nickte verstehend.
“Sie wollen mehr über mich rauskriegen”, stellte Briese
plötzlich fest. Der untersetzte Mann mit dem fettigen
Blondhaar stand auf. Er holte eine neue Flasche aus der
Küche, biß den Kronenkorken vom Flaschenhals. Saenger
glaubte den Zahnschmelz knirschen zu hören. Briese
trank glucksend, setzte die Flasche ab, wischte sich über
den Mund.
“Eine Freundin hab' ich. Das weiß hier kaum jemand.
Auch keiner im Betrieb. Gabi Monk, Birkengasse
dreiundzwanzig. Sonst gibt's wenig zu sagen. Arbeit,
Fußball ab und an, Fernsehen, Kneipe auch und eben
Gabi…” Wieder gluckste das Bier.
“Zufrieden?”
Das war Saenger nicht. Aber genug hatte er. Briese hatte
den Spieß einfach umgedreht, die Initiative ergriffen. Man
durfte ihn nicht unterschätzen. Zumal das Umfeld bisher
-34-
kaum Anhaltspunkte geboten hatte. Ob das für den
Fensterputzer sprach oder nur von seiner Umsicht zeugte?
“Und Frank Weber – er kommt hin und wieder. Wir
reden über dies und das. Sie verdächtigen ihn wegen des
Mordes?” Briese schüttelte den Kopf. “Sie irren sich.
Vielleicht hat er wegen irgendwas Dreck am Stecken.
Eventuell auch nur eine heimliche Freundin – so wie ich?”
Saenger verabschiedete sich. Briese grinste. Mehr
freundlich als gehässig. So empfand es zumindest der
Kriminalist. Unzufrieden war er mit sich selber. Greif hier
mal hin, greif da mal hin… so geht es nicht. Zuwenig
gezielt. Zu breit gefächert, das Abtasten. Dabei hatte der
Fensterputzer sich wenigstens klar geäußert, zu sich selber
und zu Frank Weber. Vielleicht, um Weber aus der
Schußlinie zu bringen, damit er – Briese – nicht selber
irgendwie und irgendwo zu genau ins Blickfeld geriet?
Am Nachmittag in der Schule – da war eigentlich alles
in der Schwebe geblieben. Nicht mal eine klare Auskunft
konnte Saenger bekommen, ob Frank Weber nun eine
feste Freundin hatte oder nicht.
“… in der elften Klasse, da gab es eine Liebschaft mit
Sonja aus der zehnten. Aber die letzten Monate? Mit
Sonja ist es jedenfalls lange aus, und eine andere ist mir
nicht bekannt…” Das war der Klassenleiter gewesen.
Entschuldigend hatte er ergänzt: “Außerdem – ich
interessiere mich nicht für die Freundschaften der Jungs
und Mädchen. Es ist ihre Sache. Nur wenn es
Komplikationen gibt und Liebeskummer, Leistungsabfall.
Sie verstehen? Dann melden sich meist die Eltern. Oder
die Fachlehrer. Aber ich erfahre natürlich vieles. Zumal
daraus kein Geheimnis gemacht wird…”
Vor allem wollte Saenger jedoch Näheres über Frank
Webers Verhalten in der Schule erfahren. Denn Webers
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Auftreten im Schulalltag sollte ja in den letzten Monaten
“schlimmer” geworden sein. Davon hatte der Direktor
Dr. Müller jedenfalls geredet bei der ersten kurzen
Unterhaltung.
Aber so schlimm war dann Saenger das Verhalten Frank
Webers gar nicht vorgekommen. Lediglich unbequemer
war der junge Mann geworden. Hatte nicht mehr so
unbesehen den Stoff geschluckt, nein, auch mal bohrende
Fragen gestellt. Nach den Beweisen. Auch in den
Unterrichtsstunden, die der Direktor erteilte. Und nicht
jede Antwort hatte ihn überzeugt. Was ihn wohl zu
bissigen Kommentaren veranlaßt hatte. Sicher nicht
immer auf die feine Art. Den Lehrern hatte es nicht
gefallen. Verständlich war das. Sowohl was die Lehrer
betraf als auch den Schüler. Aber dennoch stimmte was
nicht bei Frank Weber. Der war nicht nur widerspenstig,
sondern hatte etwas zu verbergen. “Oder ich muß meine
Psychologiekenntnisse über Bord schmeißen.” Saenger
suchte nach der Bushaltestelle. Es war spät geworden.
IV.
Erwin Balke wurde ganz schön in die Mangel genommen,
seine Umgebung durchforstet. Den Einbruch in der
Siegfriedstraße hatten mindestens zwei Täter verübt,
wahrscheinlich sogar drei.
Balke stritt alles ab. Und die Ohrgehänge und die
dazugehörige Kette blieben die einzigen Stücke des
gestohlenen Schmuckes.
“Gefunden. Hinten bei den Kleingärten”, behauptete
er. Sogar die Stelle gab er genau an. “Dachte, es wäre
-36-
Talmi…” Er wollte es seiner Schwester oder der Freundin
anbieten. Davon ging er nicht ab.
“Und warum im Ofen versteckt?”
Das wäre doch kein Versteck gewesen. Wo doch seine
Schwester das Zeug gegrapscht hätte… Und die hatte ja
tatsächlich angenommen, daß es sich um unechten
Schmuck handelte. Sonst wäre sie wohl kaum damit in die
Schule marschiert. Wenn das auf die Schwester zutraf -
wer wollte dem Bruder die Lüge nachweisen?
“Der gibt nur zu, was ihm unumstößlich nachgewiesen
wird”, knurrte Klemm. Er ärgerte sich. Da dachte man,
die Aufklärung des Einbruches in der Tasche zu haben –
und jetzt so was! Aber zumindest stand fest, daß Erwin
Balke in der Tatnacht unterwegs war. Zu Hause hatte er
sich nicht aufgehalten.
“… und bei mir auch nicht”, behauptete Ingrid Süße.
“Ich mußte anderen Tags in die Prüfung. Politische
Ökonomie, das ist nicht auf die leichte Schulter zu
nehmen.”
Die Studentin antwortete bereitwillig auf alle Fragen.
Auch ehrlich, so meinte Klemm. Allerdings – an Balkes
Schuld schien sie nicht zu glauben.
“Ich wußte natürlich über sein Vorleben Bescheid. Aber
warum sollte aus einem Saulus kein Paulus werden?”
Zumal unter den hiesigen Bedingungen. Ohne
Arbeitslosigkeit. Ohne Diskriminierung. Dafür viel Hilfe
bei der Wiedereingliederung in die Gesellschaft. “Seine
Mutter tut alles, um ihn im normalen Leben heimisch
werden zu lassen.”
“Dazu eine Freundin wie Sie…”, warf Klemm ein.
“Wie soll ich das auffassen?”
“Wie es gesagt ist. Positiv.”
-37-
Wie konnte dieses Mädchen nur an den Balke geraten
sein und hängenbleiben!
Ingrid Süße studierte Germanistik im dritten
Studienjahr. Was man damit nach dem Abschluß
beginnen konnte, wußte Klemm nicht genau.
Wahrscheinlich Lehrer oder so was, vermutete er. Fragen
wollte er nicht. Was sie bloß an Balke gefunden hatte?
“Erwin? Er sieht gut aus, ist kameradschaftlich.”
Manchmal auch leichtsinnig und brutal. Aber das dachte
sie nur. “Er liebt mich. Und respektiert mich.” Meistens,
fügte sie in Gedanken dazu. “Das finde ich schön.”
“Gab er nicht sehr viel Geld aus?”
“Knausrig war er nicht, wenn Sie das meinen. Als
Autoschlosser verdient man schönes Geld.”
“Und das imponierte Ihnen?”
Darauf erwiderte sie nichts. Sie schüttelte nur leicht den
Kopf. Klemm war mit sich selber unzufrieden. Was sollte
das Mädchen auch darauf antworten? Balkes Ausgaben
waren – nach der bisherigen Übersicht – in Grenzen
geblieben. Nur seiner Mutter kamen sie ungewöhnlich
vor. Vielleicht, weil sie andere Maßstäbe legte? Oder sie
hatte einen vollständigeren Überblick über des Sohnes
Ausgaben?
So ging die Prüfung des Personenkreises um Balke weiter.
Mit Tempo und Behutsamkeit. Der Autoschlosser besaß,
vor allem durch die Werkstatt, aber auch durch die
Studentin, eine beachtliche Anzahl Bekannter. Aber so
viele auch geprüft wurden, auf den Richtigen schienen sie
bislang nicht gestoßen zu sein. Entweder wiesen sie ein
Alibi für die Tatzeit nach oder paßten anderweitig nicht
ins Täterbild. Mit Vorbestraften schien Balke überhaupt
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keinen Kontakt mehr zu haben. Das irritierte Klemm.
Und Balke stritt bei jeder Vernehmung mit ruhiger
Gelassenheit alles ab.
“Wo waren Sie in jener Nacht?”
“Bin spazierengegangen. Wollte zu Ingrid – aber die
mußte sich ja für ihre komische Prüfung vorbereiten.
Deshalb verzichtete ich auf den Besuch bei ihr. Nach
Hause wollte ich auch nicht. Die Kneipen hatten schon
zu…”
“Und da sind Sie einfach so umhergelaufen?”
“Weshalb nicht. Die Nacht war wunderschön.” Saenger
und Hempel beschäftigten sich mit Frank Weber. Jeder
auf seine Art. Hempel, bei aller Schnoddrigkeit, streng an
den Fakten haftend, Saenger mehr komplex, schneller
verallgemeinernd. Anfangs vermutete er in Frank Weber
den Mörder. Je genauer er jedoch die Familie Weber
kennenlernte, das Leben dieses Oberschülers ergründete,
um so skeptischer wurde er, und über den Fensterputzer
Briese – Frank Webers Fernsehfreund – konnte er nichts
ermitteln, was auf strafbares Tun hindeutete. Aber
Saenger glaubte nach wie vor, bei Frank Weber etwas
Verborgenes zu spüren. Manchmal tat ihm Webers
Verhalten richtig weh. Der Zynismus, die Überheblichkeit.
Aber als Mörder konnte er sich diesen Jungen immer
weniger vorstellen. Auch das vermutete Motiv schrumpfte
zusehends.
Hempel suchte und ordnete Fakten, setzte Steinchen an
Steinchen, schwarze und weiße. Er machte das gekonnt.
Ein schönes Mosaik entstand. Aber ohne klare Aussage.
“Alles ist möglich”, antwortete er auf Hauptmann
Sieberts Fragen. “Balke, Weber oder ein ganz anderer
kann es gewesen sein…”
-39-
Major Klemms Leute tasteten sich durch Balkes
Bekanntenkreis.
Sie suchten vor allem nach einem männlichen
Komplizen. Der Bruch am Safe – das war Männersache
gewesen. Und es kam kein Anfänger in Frage. Deshalb
nahmen sie auch nicht an, daß Balke – obwohl er
Schlosser war -selbst am Stahlschrank gewesen war. Also
– wenn es zwei Täter waren, müßten es zwei Männer sein.
So mutmaßten sie. War es eine Dreiergruppe – so konnte
der Dritte sowohl männlichen als auch weiblichen
Geschlechts sein. Am liebsten wäre ihnen gewesen, eine
Verbindung zwischen Balke und Weber zu finden. Aber
die gab es nicht.
Obwohl sie alles auf den Kopf stellten – wie sich
Hempel bei der letzten Auswertung ausgedrückt hatte.
Frau Balke, Balkes Schwester und auch Ingrid Süße,
Balkes Freundin, behielt man im Auge. Sie alle hatte man
verpflichtet, jede Wahrnehmung, die zur Erhellung des
Tatbestandes beitragen könnte, der Polizei mitzuteilen.
Fast täglich suchte einer der Genossen sowohl die Balkes
als auch die Studentin auf. Zwar war die
Wahrscheinlichkeit gering, daß einer der Komplizen
auftauchen würde – aber man durfte keine Möglichkeit
außer acht lassen. Die Beobachtung der Studentin erwies
sich als kompliziert. Wen die alles so im Laufe des Tages
traf… Und ob die von sich aus die Polizei informieren
würde? Klemm glaubte es nicht. Weil sie den Balke liebte
– und ihn für unschuldig hielt. Um so erstaunter war er,
als ihm Ingrid Süße als Besucherin gemeldet wurde.
“Heut bekam ich Besuch. In der Mensa erkundigte sich
eine Bekannte Erwins bei mir nach seinem Befinden. Sie
gab sich als Kommilitonin aus. Das glaub' ich der aber
nicht. Einmal hat Erwin keine alte Bekannte unter
-40-
Studenten; die er kennt, hat er durch mich getroffen; und
außerdem war die Dame zu – simpel.” Nach einer Weile:
“Fast ordinär.”
“Nannte sie ihren Namen?”
“Sie hat was gemurmelt. Richtig verstanden habe ich
nur den Vornamen. Sonja. Der Nachname klang nach
sonstwas. Ich hab' sie daraufhin angesprochen – aber sie
meinte, ‚sagen Sie ruhig Sonja zu mir‘.”
Also Sonja. Wenn der Vorname überhaupt stimmt. Sie
quetschten aus der Studentin alles heraus über diese Sonja,
wie sie ausgesehen, geredet, sich benommen hatte. Dann
zeigten sie ihr Bilder. Es dauerte lange, bis die Richtige
gefunden wurde. Sonja Gebauer, neunundzwanzig Jahre,
mit einer zweijährigen Tochter, unverheiratet.
Unterschiedliche Herrenbekanntschaften, auch mit
Kriminellen, meist jedoch waren es ältere Männer mit
Geld. Ein Jahr Gefängnis vor Jahren. Prostitution und
Diebstahl.
Hab' ich mich getäuscht in der Studentin, dachte
Klemm. Diesmal freute ihn sein Irrtum. An Ingrid Süße
waren die Argumente des Majors nicht spurlos
vorbeigerauscht. Die bei Balke gefundenen
Schmuckstücke hatten sie mißtrauischer gestimmt, als sie
sich anmerken ließ. Sie wollte Klarheit. Und wenn Erwin
Balke rückfällig geworden war, würde sie ihm keine Träne
nachweinen. Außerdem vermutete sie, daß die Polizei sie
beobachtete. Sie wollte sich bei dieser Sache sauber
verhalten. Wenn Erwin Balke in der Sache drinsteckte –
und das konnte durchaus sein –, da würde es in der
Fachrichtung genug Gerede geben. Zwar galten die
Germanisten bei manchen als etwas lebensfremd, aber
solche Sachen berührten auch die Dozenten und
Kommilitonen dieser Fakultät.
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Frau Gebauer wurde beschattet. Sie arbeitete in einem
Postkiosk, halbtags, des Kindes wegen. Vormittags zwei,
nachmittags zweieinhalb Stunden.
“Auf gar keinen Fall darf die Gebauer merken, daß sie
beobachtet wird!” schärfte Klemm seinen Leuten ein. Die
verhielten sich befehlsgemäß. Das wiederum brachte
ihnen die wütende Kritik ihres Vorgesetzten ein.
“Lassen die Dame ins Haus, stundenlang bleibt sie
drinnen, und meine Genossen sind nicht in der Lage
festzustellen, bei wem sie war…”
Die Sache war spätnachmittags passiert. In einem
Neubaublock. Die Gebauer fuhr im Fahrstuhl nach oben.
Ihr Verfolger spurtete die Treppe hoch. Im vierten Stock
fand er den leeren Fahrstuhl. Sonja Gebauer jedoch war
verschwunden, zu Fuß in eine Wohnung der oberen
Geschosse. Bei wem – das war in der Eile und vor allem
nicht auf unauffällige Art feststellbar gewesen. Dafür
wurden sie jetzt runtergeputzt.
Einer murmelte tröstend: “Und wenn wir die Dame mit
Krawall aufgespürt hätten – bekämen wir genau so eine
Abreibung…”
“Nehmen wir sie doch einfach fest. Sie wird schon
reden”, empfahl einer, der neu in der Kommission war.
Der Major schlug mit der Hand wütend auf den Tisch.
“Und wenn sie nicht redet? Und überhaupt – mit welcher
Begründung sollte denn Ihrer Meinung nach die
Festnahme erfolgen?”
Alle schwiegen erschrocken. Sonst blieb der hagere
Major im Umgang mit seinen Leuten die Ruhe selber.
Aber sie begannen wohl alle etwas kribbelig zu werden.
Die Zeit lief davon. Die Ergebnisse blieben dürftig. Also –
Geduld und die Gebauer weiter beobachten. Auch der
eine und der andere aus Balkes Umfeld blieb im Blickfeld.
-42-
Anderen Tages schien endlich Bewegung in die Sache
zu kommen. Vormittags besuchte die Gebauer den
Südfriedhof. Lange pusselte sie an einer Grabstelle, zupfte
Gräser, grub mit einem Schaufelchen im Boden, versetzte
die Blumentöpfe. Schließlich goß sie mit einer kleinen
Gummigießkanne die Gewächse und verließ den Friedhof.
Da es sich um das Urnengrab der Mutter Sonja Gebauers
handelte, schien alles seine Richtigkeit zu haben. Aber
durch die Mißerfolge vom Vortage und den Angriff des
Majors irgendwie erbittert, wollten die Genossen auch
nicht die geringste Unterlassung riskieren. Sie
untersuchten die Grabstelle. Vorsichtig hoben sie die
Blumentöpfe heraus, gruben mit den Fingern im lockeren
Boden unter den Töpfen. Und sie fanden den Schmuck.
Nicht den ganzen, wie sie bald darauf feststellten. Wohl
aber einen beachtlichen Teil. Das war schon was. Und um
das Ergebnis richtig rund zu machen, fanden sie auch den
gestrigen Anlaufpunkt der Gebauer im Neubaublock.
Oben im 7. Stock wohnte er. Kurt Niegall, 36 Jahre,
alleinstehend, vorbestraft wegen Einbruchs. Im Hause
Sonja Gebauers zeigten die Genossen Niegalls Foto.
Einige erkannten den Freund der Gebauer darauf.
Klemm strahlte. Endlich stellten sich Erfolge ein. Der
Oberst würde freundlicher schauen. Die drei Einbrecher –
Balke, Niegall und Sonja Gebauer – waren gefaßt, ein Teil
des Diebesgutes sichergestellt. Und durch die
Beobachtung des Grabes auf dem Südfriedhof kamen sie
auch an die restlichen gestohlenen Wertsachen. Ein
Uhrmacher – bisher unbescholten – suchte dort nach dem
versteckten Schmuck. Er war der Hehler und hatte auch
den Tip gegeben. Als Stammkunde an Sonja Gebauers
Kiosk wußte er von ihrem neuen Freund. Und er kannte
dessen Vorstrafen. Über Telefon und den toten
Briefkasten im Urnengrab gab er die Informationen, den
-43-
Auftrag, holte den ersten Teil der Schmucksachen,
hinterlegte die Bezahlung… So blieb er den Einbrechern
unbekannt. Als er den zweiten Teil der Beute holen
wollte, wurde er erwischt.
Siebert saß mit seiner Frau beim Abendessen. Das erste
Mal seit dem Mord, daß er so früh zu Hause war. Er
stocherte im Aufschnitt. Alles appetitlich garniert mit
Tomate und Petersilie. Aber er blieb beim Käse auf
Pumpernickel. Mit den Gedanken war er nicht beim
Essen. Die Frau spürte das und ließ ihn in Ruhe. Das
würde so gehen, bis diese scheußliche Sache
abgeschlossen war. Sie war schon froh, daß er überhaupt
zum Essen nach Hause gekommen war.
Siebert ließen die Sorgen nicht los. Zwar war der
Einbruch aufgeklärt – aber in der Mordsache traten sie auf
der Stelle. Die drei Einbrecher hatten mit dem Überfall
auf den VP-Wachtmeister nichts zu tun. Zumindest
lauteten ihre Aussagen so. Und es gab auch keine Lücke,
wo man hätte einhaken können. Ihr Fluchtweg hatte die
Gundlachstraße nicht berührt. Durch ihre Erklärungen
deckten sich die drei gegenseitig. Auch fremde Zeugen
gab es, die die drei miteinander gesichtet hatten, ein
ganzes Stück weg vom Tatort. Rein rechnerisch war zwar
immer noch einiges drin an Möglichkeiten – aber das blieb
Spekulation. Bisher. Der Niegall war nicht gut zu
sprechen auf Balke, weil der die verräterischen
Ohrgehänge und die Kette eigenmächtig abgezweigt hatte
und dadurch die ganze Sache aufgeflogen war, Niegall
schien auf Balke große Stücke gehalten zu haben. Und
jetzt war er von ihm enttäuscht. Und deprimiert.
Vielleicht, daß sich hieraus was machen ließ. Aber viel
Hoffnung knüpfte Siebert nicht daran. Die Einbrecher
redeten zwar – jetzt, da die wesentlichen Tatbestände
-44-
unbestreitbar offen lagen – über ihr Verbrechen. Alle drei,
als hätten sie sich abgesprochen. Sogar die beiden anderen
kleineren Einbrüche hatten sie zugegeben. Obwohl die
Beweise dürftig waren. Ebenso einhellig waren ihre
Aussagen, was den Überfall auf Bindig betraf. Sie hatten
damit nichts zu tun. Nur ihre Beredsamkeit bei der
Ermittlung der Einbrüche hielt Sieberts Mißtrauen wach.
Die drei wollten das alles schnell hinter sich bringen.
Weshalb diese Eile?
Frau Siebert goß Tee nach, als das Telefon läutete.
Saenger war am Apparat. Seine Stimme klang nervös.
Sicher nicht deshalb, weil er seinen Vorgesetzten beim
Abendbrot störte.
“Genosse Hauptmann, es gibt neue Informationen…”
“Welche?”
“Ich möchte nicht am Telefon…”
Das akzeptierte Siebert. “Schon überprüft?”
“Ja. Eine Festnahme wird notwendig.”
“Ich komme sofort.”
Die Überprüfung der eingehenden Hinweise aus der
Bevölkerung verursachte beträchtlichen Arbeitsaufwand.
Jede Information zeugte vom Willen zu helfen,
Gesetzesverstöße aufzuhellen, zu ahnden. Potentiell bot
jeder Hinweis die Möglichkeit, eine große Entdeckung
oder gerade das Detail zu enthalten, das jetzt oder später
zum entscheidenden Glied einer Beweiskette werden
konnte… Also wurde jeder Information nachgegangen.
Weder Höflichkeit noch Aufmerksamkeit durften
nachlassen. Auch wenn es schwerfiel. Zu unterschiedlich
waren die Informationen und der Inhalt der Mitteilungen.
Am zweiten Tag nach der Veröffentlichung in der Presse
waren die Anrufe am häufigsten gekommen. Dann
-45-
verringerten sie sich. Die Besuche hörten ganz auf. Ein
anonymer Brief traf noch ein. Aber der erwies sich – nach
behutsamer Überprüfung – als pure Gehässigkeit. Auch
so etwas gab es. Und heut am Nachmittag war dann dieser
Anruf gekommen.
“Wir möchte eine Meldung erstatten, betreffs des
Überfalls auf den Genossen Volkspolizisten…”
Saenger, der das Telefonat führte, blieb skeptisch.
Reichlich spät überlegt. “Ich höre.”
“Wir haben einen jungen Mann gesehen in der
betreffenden Nacht. In der Zeit zwischen drei und vier
Uhr.”
“Und wo?”
Es wurde eine Straße in der Nähe des Tatortes genannt.
Jetzt hatte es Saenger plötzlich eilig.
“Ich komme sofort zu Ihnen.”
Als erstes erkundigte sich Saenger, weswegen sie sich so
spät gemeldet hätten.
“Wir sind erst heut zurückgekommen, wir weilten in
Stralsund bei meiner Mutter”, erklärte Herr Rittner. “Heut
auf der Arbeit – ich bin in der Sparkasse tätig – redeten
die Kolleginnen über den Mord. Da habe ich mich kundig
gemacht…”
Saenger nahm erstaunt die Ausdrucksweise dieses
Zeugen wahr. Aber sie paßte irgendwie zu dem kleinen,
untersetzten Mann und seiner zurückhaltenden
Freundlichkeit.
“Ich rief erst meine Frau auf ihrer Dienstelle an. Wir
verständigen uns nämlich immer über unsere
Vorhaben…”
-46-
Und dann folgte der eigentliche Bericht. Wie das
Ehepaar Rittner mit seinem Trabant noch in der
Morgenfrische am 25. den Hauptteil des Weges nach der
Küstenstadt zurücklegen wollte und deshalb schon kurz
nach halb vier aus dem Haus kam. Dabei war es dann
passiert. Mit Beuteln und Taschen beladen, waren Rittners
aus der Tür getreten – da fegte ein junger Bursche im
Trainingsanzug um die Ecke, stieß mit Frau Rittner
zusammen. Ihre prall gefüllte Reisetasche schlug zu Boden
und platzte auseinander. Wäsche, Schachteln, Päckchen
lagen auf dem Gehweg.
Ehe Rittner reagieren konnte, entschuldigte sich der
Schadenverursacher… Er half alles einzusammeln und
den Schaden zu reparieren. Der Reißverschluß der Tasche
war allerdings defekt.
“Die Tasche war wohl zu voll gestopft…” Frau Rittner
nickte ernsthaft zur letzten Bemerkung ihres Gatten und
ergänzte: “Ein netter junger Mann. Er schien mehr als wir
wegen des Zwischenfalls betroffen.”
Saenger legte dem Ehepaar die Fotos vor: Balke,
Niegall, Weber. Bei Frank Webers Bild riefen beide
gleichzeitig: “Das ist er!”
Siebert traf in der Dienststelle ein und ließ sich berichten.
Dann verständigte er den Oberst und den Staatsanwalt.
Kurz nach 22 Uhr fuhren sie los, zu Frank Weber.
Herr Weber ließ sie ins Haus und in die Wohnung,
fragte mürrisch: “Jetzt noch?”
“Entschuldigen Sie. Wir müssen mit Ihrem Sohn
sprechen.”
Weber kratzte sich am Kopf. Er ließ es sich kaum
anmerken, aber sauer war er. Seine Schicht begann um
-47-
sechs Uhr. Das hieße gegen vier Uhr dreißig aufstehen.
Und der Junge stand im Abitur.
“Kommen Sie herein. Frank ist in seinem Zimmer.”
Der Vater ging voran, klopfte an die Zimmertür.
Drinnen blieb es still. Weber pochte ungeduldiger, rief
“Frank!” und dann unwillig: “Frank, komm schon 'raus.
Die Genossen der Polizei wollen mit dir reden.”
Aber es meldete sich kein Frank. Sie traten ins Zimmer.
Unberührt das Bett, das Fenster nur angelehnt, nicht
verriegelt.
Das verschlug Weber die Sprache, Frau Weber, die
dazukam, schaute verstört.
Siebert meinte: “Auch in der Mordnacht war Ihr Sohn
unterwegs. Zeugen haben ihn erkannt. Eindeutig.”
Noch in der Nacht begann die Fahndung nach Frank
Weber. Mit ersten Maßnahmen. Am Morgen, da würde es
richtig losgehen. Siebert übernahm die Leitung. Er rief
seine Frau an und sagte Bescheid. Er blieb in der
Dienststelle.
V.
“Genosse Hauptmann…”
Siebert schreckte von der Liege hoch. Sein erster Blick
galt der Armbanduhr. 6.10 Uhr.
“Genosse Hauptmann…”, dazu behutsames Klopfen.
“Ja, was gibt's?”
“Obermeister Lemke… Genosse Hauptmann, ich habe
hier den – den Frank Weber…”
-48-
Siebert sprang zur Tür, griff sich dabei das Jackett vom
Stuhl. Er hatte in Hemd und Hose geschlafen.
“Gleich!” rief er und zog sich die Halbschuhe an.
Als er öffnete, erblickte er Frank Weber neben dem
grauhaarigen Obermeister. Und ein junges Mädchen.
Lemke musterte den Hauptmann unsicher. “Ich hab' sie
gleich raufgebracht.”
“In Ordnung, Genosse Lemke.” Und zu dem Pärchen:
“Bitte. Treten Sie ein.” Siebert fuhr sich mit der Hand
über die wirren Haare. “Entschuldigen Sie meine
Aufmachung.” Er ärgerte sich über seine Eile. Wenn
Lemke was von der jungen Dame gesagt hätte…
“Bleiben Sie mit den beiden hier. Ich komme gleich
wieder.”
Siebert verschwand in den Waschraum. Als er
zurückkam, sah er wieder wie ein Offizier der
Kriminalpolizei aus. Nur die Rasur fehlte.
Die jungen Leute saßen nebeneinander. Er hielt mit
beiden Händen die linke Hand des Mädchens. Bei
Sieberts, Wiederkehr erhoben sie sich. So brav, der Frank
Weber, wunderte sich der Hauptmann, meinte: “Bleiben
Sie sitzen.”
Und zu Lemke: “Ich höre.” Dabei betrachtete er Frank
Webers Partnerin. Schlank, langes schwarzes Haar, apart
frisiert. Hellhäutig, aber nicht blaß. Gesunde Frische
strahlte sie aus, wirkte keineswegs übernächtig – im
Gegensatz zu dem jungen Mann.
Aber so war das fast immer, erinnerte sich Siebert. Den
Mädchen sah man es meist nicht an, wenn sie sich eine
Nacht um die Ohren geschlagen hatten. Weiß der Teufel,
woran das lag.
-49-
Aber vielleicht hatte sie auch gut geschlafen und war
tatsächlich ausgeruht.
Der VP-Obermeister meldete: “Die Bürger Frank
Weber und Rosalie…” Lemke zögerte, artikulierte dann:
“… Incarbi erschienen um sechs Uhr fünf heutigen Tages
und wünschten den verantwortlichen Offizier zu
sprechen…”
Eine exotische Schönheit also. Arabisch oder spanisch -
portugiesischer Sprachraum, vermutete er und tippte auf
Mittel- oder Südamerika. Und mit Kopfneigen zu der
jungen Dame: “Hauptmann Siebert.”
Weber setzte zum Reden an.
“Moment!” stoppte ihn Siebert. “Genosse Lemke, sagen
Sie dem Diensthabenden Bescheid: Fahndung abbrechen.
Außerdem soll er den Oberst informieren.”
Lemke verschwand, und der Junge redete: “Ich wußte,
daß das rauskommt. Hab' mich gewundert, daß das so
lange dauerte, denn über die älteren Herrschaften mit dem
Trabant mußten Sie ja auf mich stoßen. Aber mein
Ausflug in jener Nacht hatte nichts mit dem Mord zu
tun…”
Bei seiner Freundin Rosalie wäre Weber gewesen. Aber
die lebte in einem streng gehüteten Elternhause. Alte
spanische Sitten, vornehm und katholisch. Zur Schule
durfte die Tochter, aber der Umgang mit jungen Männern
sonst - nur streng zensiert. Also wurde es eine heimliche
Liebe. Und die beiden hatten ihre Zuneigung tatsächlich
verborgen gehalten vor allen. Bis heute. Eigentlich eine
Seltenheit. Die meisten der jungen Paare verbergen ihre
Gefühle nicht. Manche stellen ihre Partnerschaft sogar
provokant zur Schau. Und diese beiden hier spielten das
heimliche Paar, damit sie ihr Gesicht wahren konnte im
Kreise der Familie.
-50-
Rosalie bestätigte alles, was ihr Frank sagte. Sie hatte ihn
mit auf ihr Zimmer genommen in jener Nacht. Und auch
diese Nacht.
Sie blickte mit großen schwarzen Augen unter langen
Wimpern fragend auf Siebert. Brombeeraugen, dachte der.
Das Mädchen gefiel ihm. Nicht nur wegen der Augen.
Vielleicht erwischten seine Jungs auch mal so eine
Freundin. Die brauchte ja gar nicht so exotisch zu sein.
Dem Hauptmann imponierte ihre Haltung. Daß sie hier
mit Weber aufgekreuzt war. Ihren Frank wollte sie
raushauen. Also bekannte sie sich zu ihm. Sie würde es zu
Hause sicher nicht leicht haben, hoffentlich respektierten
die Eltern diese Haltung…
Siebert wandte sich dem jungen Manne zu. “Und da
schwindeln Sie uns tagelang an, zwingen uns zu
aufwendigen Maßnahmen…”
Der Hauptmann unterbrach sich. Er spürte, wie er sich
selber in Wut redete. Das jedoch wollte er vermeiden.
“Es ging um einen Mord an einem Volkspolizisten,
Herr Weber!”
“Aber damit habe ich wirklich nichts zu tun…”
“Das wußten Sie. Aber wir doch nicht.” Siebert zwang
sich erneut eine Pause auf. “Außerdem hängen Sie doch
drin. Zumindest mit Ihren komischen Turnschuhen. Und
die Aussagen der jungen Dame müssen erst überprüft
werden.”
Weber holte tief Luft. Siebert, entschuldigend, zu
Rosalie Incarbi: “Wir müssen mit Ihren Angehörigen
reden. Bitte, verstehen Sie das…”
Dabei war sich der Hauptmann fast sicher, daß alles
stimmte. Frank Weber war damit aus der Schußlinie. Hat
Saenger doch den richtigen Riecher gehabt. Der wird mal
-51-
ein guter Kriminalist. Einiges nur muß ich ihm noch
abgewöhnen. Und eine Menge beibringen.
“Wir machen das Protokoll.”
Unwillkürlich lächelte Siebert. Er freute sich, daß Frank
Weber kein Mörder war, sondern einfach ein junger
Mensch dieses Landes, der lebte, lernte und liebte. Und
geliebt wurde. Möge sie dauern – diese Liebe. Und Glück
bringen. Sind ja beide noch jung, haben viel vor sich. Und
nicht nur Geebnetes und Gestreicheltes.
“Damit dürfte dann – das hoffen wir – für Sie die Sache
erledigt sein.”
Die Schuhe fielen ihm ein. Der Mörder hatte sie
benutzt. Wie war er an die Schuhe gekommen?
“Vielleicht, daß wir Sie noch mal um Hilfe bitten. Sie
wissen, wegen Ihrer Turnschuhe.”
Als Siebert seine Trockenrasur beendet hatte, klopfte es
an die Tür.
“Bitte.”
Lemke trat zögernd ein. “Gestatten Sie, Genosse
Hauptmann?”
“Was gibt es?”
“Wegen der Schuhe…”
Siebert horchte auf.
Lemke spürte des Hauptmanns Interesse.
“Bei Balke war ich doch bei der Haussuchung dabei.
Nur im Flur und so. Aber wo Sie vorhin von
Turnschuhen sprachen – dort im Schuhschrank, da gab es
eine ganze Sammlung von Turnschuhen. Die meisten
ziemlich abgelaufen. Wunderte mich, wozu die
aufgehoben werden, dachte dann, für die Gartenarbeit…”
-52-
Lemke hob die Schultern. “Aber sonderbar schien's mir
doch. Vergammelte Latschen und die Paare einzeln in
Folienbeuteln. Und als Sie heute wieder die Turnschuhe
erwähnten, da dachte ich, ich müßte es Ihnen sagen…”
Siebert nickte. “Im Protokoll haben Sie es nicht
vermerkt?”
“Nein. Deshalb komme ich ja jetzt, weil es vielleicht
doch Bedeutung besitzt.”
“Zumindest schauen wir uns die Dinger mal an. Richtig,
daß Sie gekommen sind. Und wegen des Protokolls – es
ist immer ein Risiko mit dem Weglassen. Aber lange
Protokolle sind mir ein Greuel…”
Lemke grüßte und verließ das Zimmer.
Der Hauptmann sah zur Uhr. In einer Stunde würde
Hempel kommen.
Hempel war gerade dabei, alles herauszusuchen, was über
Webers Turnschuhe bisher ermittelt worden war, als
Siebert eintrat.
“Was haben Sie gefunden?”
“Nichts Neues. Nur das, was im Zusammenhang mit
dem Hundeführer ermittelt wurde und Frank Weber und
seine Angehörigen dazu geäußert haben.” Er hob einen
Bogen hoch: “Den Laborbericht können wir vergessen.”
Siebert nahm ihn, überflog den Text, legte ihn in die
Mappe zurück, dann informierte er Hempel über die
Mitteilung des Obermeisters Lemke.
“Also – holen Sie den Hausdurchsuchungsbefehl, und
dann besuchen Sie die Balkes. Am besten, Sie nehmen
Lemke mit. Der kennt sich dort schon aus.”
-53-
Gestern beim Rapport hatte Major Klemm vorgefühlt, ob
die ganze Einbruchgeschichte nicht abgesondert und für
die Verhandlung vorbereitet werden könnte. Dem
hakennasigen, hageren Mann ging das zu langsam. Er
verstand es, persönlich immer an der entscheidenden
Stelle zu sein, seine Leute effektiv einzusetzen, und er
liebte zügiges Tempo bei der Arbeit. Um so bedächtiger
steuerte er seinen Pkw, wenn er selber fuhr. Auch seine
Bemerkung gestern hatte er wohl durchdacht und ganz
diplomatisch eingeflochten. Nicht als Vorschlag, der den
Chef zur Entscheidung zwang. Prompt hatte ihn auch der
Oberst überhört. Besser als ein glattes Nein hatte Klemm
gemeint. Heute kam der Oberst auf die Sache zurück.
“Keine Extrawurst für die Täter von der Siegfriedstraße.
Sie bleiben unsere Nummer eins. Die Zeit stimmt, auch
der Ort. Und wenn wir annehmen, daß Genosse Bindig
etwas vom Einbruch bemerkt hatte, hätten sie auch ein
handfestes Motiv.”
Siebert schüttelte fast unmerklich den Kopf. Bindig
hatte eben keinen Verdacht geschöpft. Er war ganz
normal seine Streife gegangen, ohne den Tatort des
Einbruchs zu berühren.
In Gedanken ging Siebert noch mal den letzten
Streifenweg des Ermordeten. So wie er den Straßenplan
und den Patrouillenweg im Gedächtnis hatte. Was im
Raum rapportiert wurde, hörte er gar nicht mehr. Richtig
kribblig wurde er.
An Ort und Stelle müßte er sich das ansehen; beim
Abbiegen von der Feldstraße in die Seibtstraße – da
könnte der Juwelierladen ins Blickfeld geraten sein…
Verdammt, das dauerte heute wieder! Siebert wollte
weg, sich die Sache draußen beschauen.
-54-
Klemm sagte gerade: “… Niegall und Balke gaben nur
zu, was bewiesen wurde. Das stimmt. Aber nur bis zu
einer gewissen Grenze. Als das Wesentliche des
Einbruchs auf der Hand lag – da redeten sie auch. Was die
Mordsache betrifft, sind ihre und der Gebauer Aussagen
eindeutig. Und die wenigen Zeugenaussagen
widersprechen dem nicht.” Er drückte sich vorsichtig aus.
“Was folgern Sie daraus?” fragte der Oberst.
“Daß sie mit dem Mord nichts zu tun haben. Wir
müssen von vorn beginnen, alles von neuem durchgehen
und die richtige Spur entdecken.” Da war was dran. Aber
diese Wühlerei!
Hempel seufzte laut. Alle drehten sich nach ihm um.
Das war ihm peinlich.
Der Oberst bemerkte trocken: “Oberleutnant, Sie
haben uns aus dem Herzen geseufzt.”
Einige grienten. Aber keiner lachte. Wegen Bindig und
weil die Lage zu allem Möglichen, bloß nicht zur
Heiterkeit animierte.
Siebert schüttelte den Kopf.
Klemm irrte sich, was die Einbrecher betraf. Sie hatten
geredet. Aber Einbruch ist Einbruch. Wenn auch in
diesem Fall ein schwerer. Mord an einem Volkspolizisten
jedoch ist etwas ganz anderes. Da droht die Höchststrafe.
Er dachte wieder an die Ecke Feldstraße/Seibtstraße.
Vielleicht hat Bindig doch was gesehen? Und Balke, der
Schmiere stand, ist dem Volkspolizisten hinterher…
Siebert sprang plötzlich auf, setzte sich aber sofort
wieder hin, als der Oberst irritiert in seine Richtung sah.
Der redete grade seine abschließenden Worte: “… wir
folgen also Major Klemms Vorschlag insoweit, daß wir die
Hauptkräfte auf ein erneutes Durcharbeiten allen
-55-
Materials konzentrieren, nochmals notwendige
Befragungen, Recherchen und so weiter durchführen.
Verantwortlich dafür ist Major Klemm. Zweitens:
Hauptmann…”, er wandte sich Siebert zu, “Sie gehen mit
Ihrer Mannschaft an die Juwelendiebe 'ran. Balke und
Niegall bleiben die Hauptverdächtigen.”
Siebert bemühte sich, nicht zu Klemm rüberzuschielen.
Diese Entscheidung wird Klemm nicht recht sein.
Hoffentlich schmeißt er mir keine Knüppel zwischen die
Beine. Ich muß doch mit seinen Leuten kooperieren…
Die Haussuchungserlaubnis hatte sich Hempel sofort
besorgt. Mit Lemke fuhr er zum Haus der Balkes. Frau
Balke behandelte sie wie gute, aber lästige Bekannte. Sie
mußte noch den Garten sprengen. Wenn es nur um die
Schuhe ging, würde es wohl nicht lange dauern. Lemke
steuerte zielstrebig auf das Schränkchen zu. Das war leer
bis auf ein paar schmalriemige, zierliche weiße Sandaletten
mit hohem Absatz.
“Kerstin”, rief Frau Balke wütend. Nach einem
Weilchen erschien die Tochter.
Sie befürchtete wohl, zur Gartenarbeit herangezogen zu
werden.
“Wo sind Erwins Schuhe?”
Das Mädchen versuchte, die unerwartete Sachlage zu
erfassen, blickte von Hempel zum Schuhschrank. Dann
meinte sie erstaunt: “Die alten Dinger liegen im
Müllcontainer. Dort gehören sie auch hin.” Und zur
Mutter: “Das hast du selber oft genug gesagt.”
Die beiden Volkspolizisten stürzten zu den Containern,
die übervoll waren. Sie fanden die Beutel mit den
-56-
Schuhen. Lemke kratzte den Dreck mit einer
Kehrschaufel wieder zusammen.
“Hab' immer gemeckert, daß die Müllkutscher nur
einmal in der Woche die Behälter leeren. Heut war's unser
Glück.”
Mit der Ladung Schuhe fuhren sie zur Dienststelle
zurück. Der Obermeister besah sich den Haufen auf dem
Rücksitz.
“Der Balke hat sie gesammelt”, stellte er fest.
Stimmt, dachte Hempel. Geklaut, gefunden, gehortet
hat Balke alle möglichen Schuhe. Auch die von Frank
Weber.
Und benutzt hat er sie, um seine Fährte zu verwischen.
Bloß zugeben wird er es nicht. Und wir können es nicht
beweisen. Noch nicht.
Siebert wiederholte den Streifengang des Wachtmeisters.
An der Seibt-, Ecke Feldstraße probierte er alle möglichen
Wege. Rechter und linker Bürgersteig, Straßenmitte. Er
hatte sich nicht getäuscht: In jedem Fall war ein Stück
vom Juweliergeschäft Siegfriedstraße zu sehen. Die Tür.
Aber nichts vom Schaufenster. Und der Eingang war
stabil. Zwar viel Glas und Chrom, aber dahinter
blechverkleidetes Holz, nichts zum Durchgucken. Also
konnte Bindig doch nichts gesehen haben. Sogar, wenn er
in der Seibtstraße -abweichend vom Patrouillenweg –
noch ein Stück auf die Siegfriedstraße zugegangen wäre,
selbst dann blieb immer, nur die Tür im Blick. Siebert
prüfte und überlegte. Schade. Wo hatte sich Balke
eigentlich – nach seinen eigenen Angaben – aufgehalten,
konkret? An der Tür? Dann vor dem Schaufenster. Eine
Zigarette hatte er sich angezündet und war dann
-57-
gegenüber zur Ecke Seibtstraße gegangen, um von dort
aus den Laden und die Siegfriedstraße zu beobachten. Er
wird sicher nicht rückwärts gegangen sein. Also hatte er in
die Seibtstraße geblickt, die ganze Straße im Blickfeld
gehabt…
Siebert musterte die Hauswände, die Straßenlaternen,
ihre Abstände, schätzte, wie weit man nachts da wohl was
erkennen könnte. Beispielsweise einen uniformierten
Polizisten, der da unten aus der Feld- in die Seibtstraße
einbog oder die Seibtstraße hinunterging…
Er murmelte: “… muß ich mir nachts ansehen.”
Plötzlich blieb er stehen, schlug sich mit der flachen Hand
an die Stirn. Bindig brauchte in jener Nacht gar nichts
bemerkt zu haben. Es genügte, wenn Balke den
Volkspolizisten entdeckt hatte und annahm, der hätte was
mitgekriegt von dem Einbruch und wäre unterwegs zum
Meldepunkt, um Verstärkung herbeizutelefonieren…!
Als es dunkelte, fuhr der Hauptmann erneut in die
Seibtstraße, nahm Saenger mit. Der mußte den
Streifenweg abschreiten. Und Siebert beobachtete vom
Juwelierladen aus. So wie in jener Nacht Balke agiert hatte.
Saenger bemühte sich, Bindigs Streifenweg in
langsamem Tempo abzuschreiten. Damit der Hauptmann
ihn auch erkennen konnte. Denn viel machten die
Laternen hier nicht her, und vor allem – es war noch
Betrieb auf der Straße.
Siebert sah genug. Die Beleuchtung war zwar nur
nebenstraßenmäßig – aber ausreichend. Auch ohne
Mondschein. Und in stiller Nacht morgens gegen drei Uhr
mußte einem Beobachter der Streifenpolizist aufgefallen
sein. Unbedingt.
-58-
Seit mehr als einer Stunde mühten sich Siebert und Frank
Weber, um einen Berührungspunkt zu finden zwischen
Erwin Balke und Frank Webers Turnschuhen.
Die Sekretärin brachte Kaffee für beide. “Ich geh' dann,
Genosse Hauptmann.”
“Schönen Dank, Genossin Mehltau. Es hat sehr
geholfen, daß Sie so lange mitgemacht haben.”
Der Hauptmann hatte sich richtig in diese Sache
verbissen, seit Hempel mit Balkes Schuhkollektion
eingetroffen war.
Auch der Abiturient gab sich alle Mühe. Er wirkte jetzt,
nachdem er wegen seines nächtlichen Ausfluges reinen
Tisch gemacht hatte, viel entkrampfter.
Sie gingen nochmals alle Turnhallen durch, in denen
Weber gespielt hatte im Winter. Der Stadtplan lag auf dem
Tisch. Frank Weber hatte sein Notizbuch. An der Seite lag
ein Kalender. “Schluß. Fehlmeldung. In Halle fünfzehn
hab' ich nie gespielt.”
Frank Weber schmiß sein Notizbuch auf den Tisch.
“Tut mir leid.” Und das sah man ihm an.
“Wieso sind Sie sich eigentlich so sicher?”
“Meine Aufzeichnungen, keine Halle fünfzehn drin.” Er
tippte auf das braune Büchlein. “Und außerdem – hier in
den Hallen vierzehn, fünfzehn und sechzehn im
Neubaugebiet…”, er deckte das Territorium auf dem
Stadtplan mit der Hand ab, “hier haben wir nie gespielt.
Wir sind in die Hallen im Neubauviertel nicht
reingekommen. Das hängt mit der Einteilung der
Sektionen und Sportgemeinschaften zusammen.”
“Moment”, unterbrach ihn Siebert, “wieso reden Sie
von Neubauviertel? Die Halle fünfzehn liegt hier unten.”
-59-
Siebert zeigte auf den unteren Teil des Stadtplanes. “In
der Südvorstadt.”
Siebert blätterte in seinen Unterlagen. “Hier die
Adresse: Villenstraße siebzehn!”
Er suchte und fand die Straße auf dem Plan.
Frank Weber war um die Tischplatte herumgekommen.
Er schluckte: “Das ist ein Ding”, blätterte in seinem Buch,
“sechzehnten Februar habe ich in der Südvorstadt
gespielt. 'Halle des VEB Maschinenbau' steht hier.”
Verdattert sah er den Hauptmann an.
“Ich dachte, die Halle hat keine Nummer – weil es eine
betriebliche ist, und war der Ansicht, die Vierzehn,
Fünfzehn, Sechzehn sind die drei Neubauhallen…”
Siebert raffte hastig die Papiere zusammen. Man kann
eben nicht alles idiotensicher genug durchgehen. Hätten
wir mal gleich die Nummer der Halle und die Adresse und
das am besten am Stadtplan durchexerziert…
Jedenfalls kannten sie jetzt einen möglichen
Begegnungspunkt, an dem Balke an Frank Webers
Turnschuhe geraten sein konnte. Denn ob er – Frank
Weber – die verdammten Schuhe gerade in jener Halle
hatte liegenlassen, das wußte der nicht. Leider.
Die drei Einbrecher mit ihren Begleitern begegneten sich
in der Treppenhalle. Balke sollte wissen, daß etwas
Ungewöhnliches im Gange war. Siebert hatte mit seinen
Genossen eine neue Vernehmung vorbereitet. Das
Material war gesichtet und neu geordnet. Auch das
“Spielmaterial”. Darüber hatte Hempel allerdings den
Kopf geschüttelt. Für ihn galten nur Fakten. Und das mit
der Waffe war ihm “fauler Zauber”, wie er sich
ausdrückte.
-60-
Jeder der drei wurde gesondert verhört. Balke saß
Siebert gegenüber. Hempel und Saenger lehnten an der
Seitenwand, hinter dem Tisch mit den Utensilien.
Protokoll führte Genossin Mehltau.
Großer Bahnhof, stellte Balke fest. Er gab sich lässig,
überlegen.
Siebert schilderte den Tatvorgang, wie er sich abgespielt
haben müßte.
“… und da erblickten Sie – Balke – den sich
entfernenden Volkspolizisten in der Seibtstraße. Sie
nahmen an, daß der etwas vom Einbruch bemerkt hatte,
und verfolgten ihn. Sie hatten wenig Zeit, mußten sich
schnell entscheiden. In der Gundlachstraße stachen Sie
den Streifenpolizisten nieder und flüchteten in die
Wallnerstraße…”
Saenger zitierte die entsprechende Zeugenaussage des
Rentners Lespe.
“Sie trugen in jener Nacht einen schwarzen
Trainingsanzug, Balke!”
Dann folgten die Ergebnisse der Spurensuche mit den
beiden Hunden, das Auffinden der Turnschuhe und
zugleich der Nachweis, daß Frank Weber nicht der Täter
gewesen war.
“Wohl aber ist erwiesen, daß Frank Weber diese
Turnschuhe vor vier Monaten verlor. Er spielte im
Februar in der Halle fünfzehn. Sie – Balke – trainierten
regelmäßig in dieser Turnhalle. Auch im Februar.”
Die Kollektion der Schuhe aus Balkes Schrank in den
Folienbeuteln wurde vorgeführt, mit Laborgutachten.
Größenunterschiede bis zu zweieinhalb Nummern.
Nachweislich von unterschiedlichen Eigentümern, und es
handelte sich um nicht von Balke getragene Schuhe.
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“Sie benutzten diese fremden Schuhe bei Ihren
Verbrechen, um die eigne Fährte für suchende Hunde zu
verwischen. Im Falle des Mordes in der Gundlachstraße
blieb jedoch einer der Hunde auf der Spur. Er führte uns
zu den Turnschuhen, die Sie in die Mülltonne geworfen
hatten.”
Balke grinste. Lemke brachte die Dienstwaffe von
hinten und legte sie vor Balke auf den Tisch. Der
Obermeister trug die Waffe behutsam auf einem Tablett.
Sie lag verpackt in durchsichtiger Folie. Zwei Karteikarten
hingen daran.
Dazu legte Lemke eine maschinengeschriebene Seite.
Ein Gutachten.
Lemkes Auftauchen kam für Balke überraschend. Den
hatte er in der Ecke vorher nicht bemerkt.
“Kommen wir zur entwendeten Waffe.” Siebert hob
mit einer zierlichen Flachzange den Beutel mit der Pistole
hoch. Balke streifte die Waffe mit einem flüchtigen Blick,
sah dann völlig gelassen Siebert an.
“Die Fingerabdrücke sind… das heißt, genau gesagt ist
es ein Abdruck, der ist eindeutig…”
Um Balkes Mundwinkel zuckte ein angedeutetes
Grinsen.
Fehlschlag, dachte Hempel und warf plötzlich halblaut
in die kurze Stille, wie beiläufig, die Bemerkung: “Die
Waffe war sauber abgewischt, Balke. Aber der Beutel…”
Nur kurz schien Balkes rechtes Augenlid zu zucken.
Vielleicht bildete sich das Hempel auch nur ein.
Es blieb still.
Siebert hielt immer noch die Waffe hoch. Hempel kam
um den Tisch herum, ging auf Balke zu. “Der Beutel hat
Sie verraten, Balke, schlimm für Sie.”
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“Ihr… ihr Schweine!” keuchte da Balke. Er packte den
Tisch, wollte ihn umwerfen. Sie drückten den Tobenden
auf den Stuhl zurück. Balke erschlaffte plötzlich. Und
dann gab er auf. Mit zynischer Genauigkeit schilderte er
den Tatvorgang. Er hatte tatsächlich angenommen, daß
der Streife gehende Wachtmeister den Einbruch bemerkt
hätte. “Deshalb mußte ich den Bullen zum Schweigen
bringen.” In der Kippstraße war er dann in den
vorbeifahrenden Wagen gestiegen. “Niegall wußte
Bescheid, wo er mich bei Komplikationen mit dem Škoda
aufnehmen mußte.”
Die Gebauer hatte erst bei den Verhören von dem
Mord erfahren.
Nach Balkes Angaben fanden sie die Mordwaffe, einen
selbstgefertigten nadelspitzen Vierkantdolch, in einem
Gully. Und die echte Dienstwaffe Bindings auf der
Mülldeponie. Sie lag, fein säuberlich abgewischt, in einem
Folienbeutel. Auf dem Beutel waren keine brauchbaren
Fingerabdrücke zu entdecken. Für Plasttüten schien der
Überführte eine Vorliebe zu haben.