Charmed 21 Gallagher, Diana G Dunkle Vergeltung

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C

harmed

Zauberhafte

Schwestern

Dunkle Vergeltung

Roman von

Diana G. Gallagher

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Klappentext:

Die drei Halliwell-Schwestern geraten in den Bann urzeitlicher

Magie. Der Krieg zweier Clans, der Dor'chacht und der Sol'agath, ist

nicht bloß eine Stammesfehde, sondern der Kampf des Bösen gegen

das Gute. Durch einen Trick des Magiers Shen'arch gab es vor langer

Zeit in der alles entscheidenden Schlacht weder Sieger noch Besiegte.

Doch nun ist die Zeit gekommen, um das Kräftemessen wieder

aufzunehmen. Eigentlich eine Kleinigkeit für die Zauberhaften, wenn

nicht plötzliche ihre magischen Energien schwächer würden. Alle drei

leiden auf einmal unter merkwürdigen Krankheiten. Piper bekommt

unkontrollierte Weinkrämpfe, Phoebe kann sich in zunehmenden

Maße an nichts mehr erinnern und Paige kämpft gegen

Dauermüdigkeit. Wie sie in diesem Zustand gegen die Dor'chacht

antreten sollen ist ihnen ein Rätsel.

Dieses eBook ist nicht zum Verkauf

bestimmt.

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Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Erstveröffentlichung bei Simon & Schuster, New York 2002 Titel der

amerikanischen Originalausgabe: Dark Vengeance von Diana G.

Gallagher

Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern. Dunkle Vergeltung«

von Diana G. Gallagher entstand auf der Basis der gleichnamigen

Fernsehserie von Spelling Television, ausgestrahlt bei ProSieben.

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der

ProSieben Television GmbH

® und © 2003 Spelling Television Inc. All Rights Reserved.

1. Auflage 2003

© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft

mbH

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat: Ilke Vehling

Produktion: Wolfgang Arntz

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2003

Satz: Kalle Giese, Overath

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 3-8023-2996-0

Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: www.vgs.de

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In Liebe für John Alan Streb;

Freund, Schwiegersohn und ein rundherum toller Typ.

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»

D

IE SOCKEN PASSEN NICHT ZUSAMMEN.«

Phoebe saß

auf dem Bett und sah Cole beim Packen zu.

Wie üblich hatte sie nicht den geringsten Schimmer, wohin er zu

gehen beabsichtigte oder wie lange er fortzubleiben gedachte. Und
ebenfalls wie üblich verzichtete sie darauf, ihn deswegen mit Fragen
zu löchern. Sie hatte sich schon fast daran gewöhnt, dass er ab und zu
mit unbekanntem Ziel von der Bildfläche verschwand. Aber eine
Beziehung mit einem Partner, der den Tod seiner dämonischen Hälfte
überlebt hatte, funktionierte wohl kaum nach den Regeln und
Gepflogenheiten anderer Pärchen.

»Tatsächlich?« Cole starrte verständnislos auf die beiden Socken in

seiner Hand – die eine dunkelblau, die andere hellbraun –, als wäre die
Übereinstimmung der Farbe völlig irrelevant.

Und das war es im Grunde genommen auch, dachte Phoebe.

Zumindest für jemanden, der das Trauma überwinden musste, aus
einer Dämonenexistenz gerissen worden zu sein und nun als ganz
normaler Mensch leben zu müssen. Das Sortieren von Socken
rangierte für Cole auf der Skala von Dingen, mit denen man im Leben
zu kämpfen hatte, vermutlich noch weit unterhalb der Marke
»Kinkerlitzchen«.

Phoebe ließ sich auf die Seite fallen und legte ihre Hände unters

Kinn. Eines jedenfalls wusste sie: Sollte auch sie irgendwann einmal
ihre magischen Kräfte verlieren, wäre sie wohl ebenfalls kaum in der
Lage, diese Tatsache einfach so wegzustecken. Sie würde sich nutzlos
und unvollkommen fühlen – und um etwas betrogen, das kostbar und
einmalig war.

Ihr stand es am allerwenigsten zu, sich darüber zu beklagen, dass

Cole Zeit für sich brauchte. Sie selbst war es schließlich gewesen, die
den Trank zusammengemixt hatte, mit dem Emma, eine junge Frau,
die Rache wollte für den Tod ihres Ehemanns, Balthasar getötet hatte.
Obwohl Cole ihr versichert hatte, dass er nicht ihr die Schuld gab,
fühlte Phoebe sich immer noch verantwortlich für das, was geschehen
war.

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Cole zuckte mit den Schultern und warf das zusammengeknäulte

Paar ungleicher Socken in seinen Matchsack. »Dort, wo ich hingehe,
spielt es ohnehin keine Rolle.«

»Ach ja?«, fragte Phoebe, ein wenig überrascht über diese

unerwartete Möglichkeit, etwas über den Tabubereich zu erfahren. In
Anbetracht von Coles schwerer Identitätskrise hatte sie bislang stets
sein Recht auf Privatsphäre respektiert. Diesmal jedoch entschied sie,
einen Vorstoß zu wagen. »Und wieso nicht?«

Cole zögerte. Dann trat ein schalkhaftes Grinsen in sein Gesicht.

»Soweit ich weiß, sind Forellen farbenblind.«

»Du gehst Angeln?« Phoebe setzte sich ruckartig wieder auf.

Bei all den letzten Exkursionen Coles hatte sie das Bild von einem

gebrochenen Mann vor Augen gehabt, der sich in irgendeinem
heruntergekommen, billigen Motel verkroch, um dort hinter den
zugezogenen Vorhängen seines miefigen Zimmers »zu sich selbst zu
finden«. Sie war davon ausgegangen, dass diese Phasen einsamer
Betrachtung ausschließlich von seelischen Nöten geprägt waren, in
denen sich das Hadern über den Verlust der eigenen magischen Kräfte
und die schweren Gewissensbisse ob der bösen und teuflischen Taten
Balthasars die Waage hielten. Nie im Leben wäre sie auf den
Gedanken gekommen, dass er bei der Bewältigung seines Schicksals
Spaß haben könnte.

»Gut möglich.« Cole stopfte ein weiteres aus einem blauen und

einem braunen Socken bestehendes Paar Strümpfe in seine Tasche
und zog den Reißverschluss zu. »Ich hab gehört, dass in einem kleinen
Bötchen zu sitzen und einen von einem Haken durchbohrten Wurm zu
ertränken, mit der Aussicht auf das perverse Vergnügen, damit einen
hungrigen Fisch in den sicheren Erstickungstod zu locken, den Leuten
dabei helfen soll nachzudenken.«

»Eine etwas abartige, aber zutreffende Beschreibung eines weithin

populären Zeitvertreibs.« Phoebe verzog das Gesicht.

»Sorry. Müssen wohl noch irgendwelche dämonischen Reste in

mir stecken.« Lächelnd drückte Cole ihr einen Kuss auf die Stirn.

Phoebe versetzte ihm einen Knuff auf den Arm und zog spöttisch

eine Augenbraue hoch. »Gib's zu, es fehlt dir, die Welt als

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gefährlicher dämonischer Oberschurke in Angst und Schrecken zu
versetzen, stimmt's?«

»Könnte schon sein«, räumte Cole ein, »aber ich arbeite dran.«

»Ich mach mir da keine Sorgen«, erwiderte Phoebe. »Keine

Kreatur des Bösen würde jemals blaue und hellbraune Socken
zusammen tragen.«

»Wie lange beabsichtigst du mir diesen geschmacklichen Fauxpas

vorzuhalten?« Cole runzelte die Stirn. »Nur damit ich mich darauf
einstellen kann.«

»Schon vergessen.« Phoebe hob die Hand, als wollte sie einen

feierlichen Eid ablegen. »Ich werd's nie mehr erwähnen. Hauptsache
ist, du kommst gesund und vor allem bald zurück.«

»Worauf du dich verlassen kannst.« Wieder lächelte Cole, strich

ihr mit der Hand sanft über die Wange. »Ich muss los.«

Phoebe nickte und folgte ihm die Treppe hinab. Trotz seiner

Beteuerung wurde sie das Gefühl nicht los, dass er irgendetwas vor ihr
verbarg. Doch wie auch immer, sie hatte nicht die Absicht, sich
deswegen in wilde Fantastereien hineinzusteigern. Möglicherweise
stellte sich am Ende heraus, dass sein kleines Geheimnis in so etwas
Banalem bestand wie einer leichten Abneigung gegen den Duft ihres
Haarshampoos – oder auch nicht.

»Wann fängt eigentlich dein Computerkurs an der Abendschule

an?« Cole blieb in der Tür stehen und zog seine Autoschlüssel hervor.

»Heute Abend.« Angenehm überrascht, dass er sich noch an den

Kurs in Webdesign erinnerte, für den sie sich vor einigen Wochen
angemeldet hatte, strahlte Phoebe ihn an.

»Obwohl ich zugeben muss, dass ich ein wenig nervös bin«, fügte

sie hinzu. »Meine Computerkenntnisse sind ziemlich bescheiden.«

»Hast du dich deshalb für den Kurs eingeschrieben?«, fragte Cole.

»Um sie aufzubessern?«

»Und meine Finanzen«, erwiderte Phoebe. »Mit etwas Glück.«

Ein amüsiertes Funkeln blitzte in Coles braunen Augen auf. »Jede

Wette, du wirst im Nu zu diesen XYZ.com-Millionären gehören.«

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»Ganz sicher nicht!«, rief Phoebe in gespieltem Entsetzen aus.

»Diese Dot-Com-Millionäre sind inzwischen so selten, dass man sie
beinahe schon als ausgestorben bezeichnen könnte.«

»Aussterben lassen wollen wir dich natürlich auf gar keinen Fall.«

Cole beugte sich zu Phoebe hinab und gab ihr einen langen,
leidenschaftlichen Abschiedskuss. »In ein paar Tagen bin ich wieder
zurück.«

»Ich werde auf dich warten.« Lächelnd sah Phoebe dem Mann

ihres Herzens hinterher, der in sein Auto stieg und davonfuhr.

Als sie die Haustür schloss, kam ihr Halliwell Manor mit einem

Male leer und verlassen vor.

»Kommt Cole auch zum Frühstück runter?«, fragte Piper, als

Phoebe die Küche betrat.

»Nein, er ist gerade weg gefahren.« Phoebe griff sich ein Glas und

öffnete die Kühlschranktür.

»Schon wieder?« Paige blickte von der Morgenzeitung auf.

»Brauchst du den Sportteil noch?«, fragte Leo sie über den Rand

seiner Kaffeetasse hinweg.

Piper warf ihrer jüngsten Schwester einen warnenden Blick zu,

doch deren Aufmerksamkeit blieb, während sie Leo achtlos die Seiten
mit den Sportnachrichten zuschob, unverwandt auf Phoebe gerichtet,
sodass ihr Pipers stumme Botschaft entging.

»Und? Wo ist er diesmal hin?«, fragte Paige mit ahnungsloser

Neugier.

Seufzend klappte Piper Leos Omelett zusammen. Paige war weder

herzlos noch niederträchtig. Sie war schlicht und ergreifend ebenso
unerfahren im Umgang mit Geschwistern, wie es neu für sie war, eine
Hexe zu sein. Aufgewachsen als Einzelkind, hatte Paige nie gelernt
einzuschätzen, wann es angebracht war, familiäre Probleme
anzusprechen oder dies besser zu vermeiden.

So wie jetzt, dachte Piper, während sie die Pfanne vom Herd zog

und einen Teller aus dem Küchenschrank nahm. Fünf Minuten

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nachdem Cole mit unbekanntem Ziel verschwunden war, war definitiv
kein günstiger Zeitpunkt, um sein Verhalten zu diskutieren.

Ganz in ihre Gedanken versunken, ließ Piper aus Versehen das

heiße Omelett auf ihren Daumen gleiten. »Autsch.«

Sofort riss sich Leo von den Ergebnissen des letzten Spieltages los

und wandte sich seiner Frau zu. »Alles okay?«

Nickend schob Piper die Pfanne wieder auf den Herd, stellte den

Teller auf der Anrichte ab und steckte sich den gequälten Daumen in
den Mund. Mit spitzen Fingern nahm sie die fertig gerösteten
Weißbrotscheiben aus dem Toaster und ließ sie auffallend rasch in das
bereitgestellte Brotkörbchen fallen.

»Cole ist zum Angeln«, beantwortete Phoebe Paiges Frage,

während sie ihr Glas mit Orangensaft füllte.

»Ernsthaft?« Vor Verblüffung sackte Paige die Kinnlade herab.

»Cole wirkte auf mich nie wie der typische Angler. Es ist so …
statisch.«

Piper entging nicht der sarkastische Unterton in der Stimme der um

einige Jahre jüngeren Frau. Seit Paige herausgefunden hatte, dass Cole
das vergangene Jahrhundert damit zugebracht hatte, als Dämon ein
Doppelleben zu führen, war ihr Verhältnis zu ihm von ständigem
Misstrauen geprägt. Offenbar war ihr nicht klar, wie sehr ihr
mangelnder Glaube an seine Läuterung Phoebe verletzen musste.
Doch wie dem auch sein mochte, um des häuslichen Friedens willen
ging Phoebe auf die kleinen Spitzen ihrer Schwester nicht ein.

»Was macht mein Omelett, Piper?«, fragte Leo plötzlich. »Ich

komme um vor Hunger.«

»Keine gute Idee, die Küchenchefin zur Eile anzutreiben, Leo.«

Verärgert bestrich Piper seinen Toast mit Butter. Dann erst wurde ihr
bewusst, dass ihr Mann, seines Zeichens Wächter des Lichts, lediglich
versuchte, das Gespräch auf ein weniger brisantes Thema zu lenken.

Unglücklicherweise wusste Paige seinen Fingerzeig nicht zu

deuten. Wie ein Politikexperte im Fernsehen zur besten Sendezeit war
sie durch nichts zu bremsen und einzig auf die Punkte fixiert, die auf
ihrer eigenen, persönlichen Tagesordnung ganz oben standen.

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»Ich meine, wie öde ist doch Fischen im Vergleich mit Skilaufen,

Bergsteigen oder Rafting«, knüpfte Paige an das Gesagte an.

Piper stellte den Teller mit Leos Frühstück auf den Tisch. »Besser,

du gewöhnst dich nicht zu sehr daran, Mr. Wyatt. Meine Gourmet-
Omeletts fallen unter die Rubrik ›Gelegentliches Verwöhnen des
Ehemanns‹, und nicht etwa unter ›Notwendige hausfrauliche
Pflichten‹.«

»Aha.« Nicht ganz sicher, ob er Pipers Bemerkung als Spaß

auffassen sollte, runzelte Leo die Stirn. »Ist das dein Ernst?«

»Absolut.« Piper schnappte sich ihren Kaffeebecher von der

Anrichte, ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah Paige mit
strafendem Blick an.

Genervt ob solcher Penetranz zog Paige die Stirn in Falten. »Was

ist los mit dir heute Morgen, Piper?«

»Das übliche Montag-Morgen-Gerangel? Offensichtlich sind wir

alle ein wenig gereizt«, bemerkte Leo.

»Nichts, was sich nicht durch eine vierzehntägige Kreuzfahrt in der

Karibik wieder in Ordnung bringen ließe«, beantwortete Piper
säuerlich grinsend Paiges Frage. Sie wandte sich zu Phoebe um.
»Wonach will Cole denn angeln? Hat er es auf etwas Bestimmtes
abgesehen?«

Piper hoffte, dass sie lediglich interessiert und nicht etwa

argwöhnisch klang. Phoebe hatte ihre Lektion gelernt, als sie
hinsichtlich des Todes von Cole – alias Balthasar – trotz seiner
wahren Identität gelogen hatte. Sie würde nicht noch einmal einen
Verrat an ihren Schwestern begehen, um ihn zu schützen. Sollte es
irgendetwas geben, was mit seiner Person zusammenhing und eine
potenzielle Gefahr für ihre Sicherheit oder ihre Mission als die
Zauberhaften darstellte, würde sie nicht zögern, den Schwestern
davon zu erzählen.

»Vielleicht solltest du schon mal deine Forellenrezepte

rauskramen.« Phoebe stellte den Orangensaftkarton wieder ins
Getränkefach und warf die Kühlschranktür zu. »Nur für den Fall, dass
er tatsächlich was fängt.«

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»Werd ich machen.« Piper legte die Hände um den dampfenden

Kaffeebecher und ließ einige Sekunden verstreichen. »Wie lange wird
er fortbleiben?«, fragte sie schließlich.

»Weiß nicht genau«, sagte Phoebe und setzte sich ebenfalls an den

Tisch. »Vielleicht ein paar Tage.«

Piper atmete erleichtert auf. »Gut, ich hab nämlich heute viel zu

viel zu tun, um mich auch noch mit dem Ausnehmen von Fischen
herumzuschlagen.«

»Ist mir auch lieber so«, sagte Phoebe. Als alle sie fragend

anblickten, fügte sie hinzu: »Dass Cole heute Abend nicht hier ist,
meine ich.«

»Was könnte wohl wichtiger sein, als den Abend mit der

unbegreiflichen, geheimnistuerischen und sich ständig aus dem Staub
machenden großen Liebe seines Lebens zu verbringen?«, fragte Paige.

»Nichts«, gab Phoebe trocken zurück. »Ich muss nur um sieben zu

meinem Webdesign-Kurs. Er fängt heute an.«

»Ach ja, richtig. Hatte ich ganz vergessen.« Piper streckte eine

Hand mit zwei überkreuzten Fingern in die Höhe. »Hoffentlich kommt
was dabei rum.«

Weil Piper und ihre Schwestern nie wussten, wann wieder einmal

die Macht der Drei benötigt wurde, um eine unschuldige Seele vor
irgendwelchen grauenhaften und übernatürlichen Mächten der
Finsternis zu retten, war an einen regelmäßigen Acht-Stunden-Job, bei
dem sie werktags von neun bis fünf keine Zeit für Dämonen hätten,
nicht zu denken.

Als Besitzerin des P3 musste sich Piper darüber keine Gedanken

machen. Sie hatte zwar diverse Aufgaben zu erledigen, die mit der
Geschäftsführung eines Clubs zusammenhingen, doch war sie, was
ihre Zeiteinteilung anbelangte, niemandem Rechenschaft schuldig.

Und Bob Cowan, Paiges Boss beim South-Bay-Sozialdienst, murrte

zwar hin und wieder, doch in der Regel konnte auch Paige kommen
und gehen, wann sie wollte – beziehungsweise wie es ihre
anderweitigen Verpflichtungen als eine der Zauberhaften erforderlich
machten –, solange sie am Ende gute Arbeit ablieferte. Die

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Wahrscheinlichkeit, dass Phoebe einen Job fand, der sich neben
äußerst flexiblen Arbeitszeiten zudem durch einen mit Engelsgeduld
gesegneten und verständnisvollen Chef auszeichnete, tendierte
praktisch gegen null.

»Eine freischaffende Tätigkeit als Webdesignerin klingt nach der

idealen Karriere für eine Hexe, die nebenher einen Vierundzwanzig-
Stunden-Notservice für dämonengeplagte Mitbürger betreibt«, stellte
Paige fest.

»Sieht fast so aus, als könnte ich mir meinen Abschluss in

Psychologie in die Haare schmieren.« Phoebe seufzte.

»Ein paar Extraeinnahmen könnten wir jedenfalls ziemlich gut

gebrauchen.« Piper warf einen flüchtigen Blick auf den Stapel
unbezahlter Rechnungen, der sich in dem eigens dafür vorgesehenen
Ablagekasten angesammelt hatte. Egal, was dieser Tag auch für sie
bereithalten mochte – eine Invasion blutrünstiger Unholde, ein
Hinterhalt geifernder Kobolde oder irgendein heimtückischer
Schimmelpilz mit Weltherrschaftsambitionen –, sie würde sich
dringend um die Haushaltsfinanzen kümmern müssen. Die für die
laufenden Kosten vorgesehenen monatlichen Rücklagen waren knapp
bemessen, und sie wollte sich nicht auch noch zusätzliche
Mahngebühren aufhalsen, die dann den Etat endgültig sprengten.

»Ganz meine Meinung.« Paige hob ihre Handtasche vom Boden

auf. Das Leder um den Metallverschluss herum war völlig
abgegriffen. »Der ohnehin schon dürftige Fundus in meinem
Kleiderschrank wird von Tag zu Tag kleiner. Man sollte nicht
glauben, was diese Dämonen so alles an Schaden anrichten.«

»Warten wir erst mal ab, ob ich diesen Kurs überhaupt schaffe,

okay?« Phoebe stieß vernehmlich die Luft aus. »Der Umgang mit
technischen Dingen fällt mir nicht ganz so leicht wie der mit Magie.«

»Ich bin sicher, du wirst den Kurs mit Bravour absolvieren«, sagte

Paige. »Und wer weiß? Vielleicht löst Phoebe's Web Enterprises ja
einen neuen Boom in Sachen Internet-Präsentation aus.«

»Sollte mich wundern, aber vielen Dank für dein Vertrauen.«

Phoebe seufzte einmal mehr. »Wie auch immer, jedenfalls wird es mir
wesentlich leichter fallen, mich auf die ersten Lektionen zu
konzentrieren, wenn Cole nicht andauernd um mich
herumscharwenzelt und mich ablenkt.«

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»Da wir gerade von Ablenken sprechen …« Leo schob seinen

leeren Teller beiseite und lehnte sich zu Piper hinüber. »Ich dachte, es
würde dir vielleicht gefallen –«

»Nein!« Pipers Tonfall war schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Sie

fühlte sich in der Tat ein wenig schuldig, weil sie Leo in letzter Zeit
über Gebühr vernachlässigt hatte, aber auf gar keinen Fall wollte sie
dieses Thema hier vor ihren Schwestern ausbreiten. »Keine Zeit heute
für Spaß und Spiel, Leo.«

»So beschäftigt kannst du doch gar nicht sein«, frotzelte Paige.

»Nein?« Piper zählte die einzelnen Punkte des zu bewältigenden

Pensums an ihren Fingern ab: »Ich muss die Rechnungen bezahlen,
Leos Hemden bügeln, den Einkauf machen und mir eine neue Band
für das kommende Wochenende anhören, nachdem Rock Bottom so
freundlich waren, mich hängen zu lassen. Außerdem bekommen wir
im P3 heute Nachmittag eine riesige Warenlieferung, die verstaut sein
sollte, bevor die ersten Gäste kommen.«

»Siehst du, aus diesem Grunde dachte ich, es würde dir vielleicht

gefallen, wenn dir jemand etwas Arbeit abnähme«, meinte Leo. »Ich
könnte beispielsweise den Einkauf übernehmen und –«

Piper brachte ihn mit einem Blick Marke ›Du-machst-wohl-Witze‹

jäh zum Schweigen. »Das letzte Mal, als ich dich zum Einkaufen
geschickt habe, kamst du mit einem Kohlkopf statt mit Eisbergsalat
zurück.«

Frustriert warf Leo seine Arme in die Höhe. »Ich hatte es eilig.«

»Und in Anbetracht dessen, dass wir sechs Monate später immer

noch davon sprechen«, mischte sich Phoebe ein, »dürfte wohl davon
auszugehen sein, dass er diesen Fehler nicht noch einmal macht.«

»Kann sein, aber ich bin hier die Küchenchefin, und

Küchenchefinnen sind nun mal ziemlich eigen in Hinblick auf die
Qualität der Lebensmittel.« Piper schien ganz und gar nicht in
gnädiger Stimmung zu sein. Möglicherweise gab es Menschen, die an
Shrimps auf frischen Kohlblättern keinerlei Anstoß nahmen, aber
diese Leute setzten ganz gewiss andere Maßstäbe als die kulinarisch
auf höchstem Niveau arbeitende Piper. »Besonders bei
Agrarprodukten.«

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»Für mich klingt das so, als hättest du etwas Spaß und Spiel

dringend nötig, Piper.« Paige kippte den Rest ihres Kaffees hinunter
und stand auf, um sich frischen einzuschenken. »Du solltest die Dinge
etwas gelassener angehen, sonst fängst du dir am Ende noch ein
Magengeschwür ein, ganz abgesehen davon, dass du uns alle in den
Wahnsinn treibst.«

»Dieser ganze Kram erledigt sich nicht von selbst!«, fuhr Piper

ihre Schwester an. Im gleichen Moment bereute sie ihren Ausbruch
auch schon, eingedenk dessen, dass sie gerade noch Leos Angebot, ihr
zu helfen, zurückgewiesen hatte. Seit wann war ausgerechnet sie so
reizbar und nervös? Vielleicht mutete sie sich tatsächlich zu viel zu.

»Aber wo steht geschrieben, dass du dich um alles kümmern

musst, Piper?« Ein Anflug von Sorge trat in Phoebes braune Augen.
»Wir sollten alle mithelfen. Wir haben Zeit, und wir sind nicht blöd.«

»Bei Blattsalat wär ich mir da nicht so sicher«, wandte Paige ein.

Sie zog den Kopf ein, als Leo mit der zusammengerollten Zeitung
nach ihr schlug. »'Tschuldigung. Ist mir so rausgerutscht.«

»Ich find das nicht witzig.« Piper nahm einen kräftigen Schluck

von ihrem Kaffee. Sie verzog das Gesicht, als die mittlerweile bitter
und kalt gewordene Brühe ihre Kehle hinabrann, und knallte den
Becher angewidert auf den Tisch. Hässliche Kaffeespritzer
verunzierten das blütenweiße Tischtuch. »Jetzt seht euch an, was ich
gemacht hab!«

»Ist doch nur 'ne Tischdecke.« Paige reichte Piper eine Hand voll

Servietten. »Nimm's locker, okay?«

»Wirklich, Piper.« Indem sie sich weit zu ihr herüberbeugte, zwang

Phoebe ihre verwirrte Schwester, ihr in die Augen zu sehen. »Du regst
dich dermaßen über jede Kleinigkeit auf, dass ich mich ernsthaft zu
fragen beginne, was geschehen wird, wenn es mal wieder richtige
Probleme gibt.«

Piper wollte bereits protestieren, doch dann nickte sie bloß. Phoebe

hatte Recht. Gegen die Mächte des Bösen zu bestehen war schon
schwierig genug, wenn sie sich alle in Hochform befanden. Brach eine
von ihnen jedoch zusammen, konnte das sehr schnell fatale Folgen
haben.

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»Also, ich sag dir, was wir machen werden«, fuhr Phoebe fort.

»Ich mach mich jetzt daran, Leos Hemden zu bügeln, während du dich
um die Rechnungen kümmerst.«

»Und ich helfe dir im P3 beim Auspacken und Einräumen der

gelieferten Waren«, sagte Leo.

»Okay.« Lächelnd nickte Piper. Sie wünschte, sie hätte der

Dankbarkeit, die sie in diesem Moment empfand, besser Ausdruck
verleihen können, aber sie war noch nie ein Mensch großer Worte
gewesen. Ein paar selbst gebackene Schokoladenkekse mussten wohl
reichen, doch sie war sicher, dass die anderen die Botschaft verstehen
würden.

»Die Sache mit der Band fürs Wochenende wirst du wohl selbst in

die Hand nehmen müssen, aber vielleicht kann Paige, wenn sie von
der Arbeit kommt, noch eben schnell in den Supermarkt
reinspringen.« Phoebe warf einen Blick über ihre Schulter.

Sprachlos erwiderte Paige Phoebes fragenden Blick und starrte sie

einfach nur an. Sie konnte nicht glauben, dass sie Piper ausgerechnet
an einem Tag eine Gefälligkeit erweisen sollte, an dem es ihr völlig
unmöglich war, dem schwesterlichen Ansinnen nachzukommen.

»Ist das ein Problem für dich?«, hakte Phoebe nach.

Piper hob ihre rechte Hand. »Ich schwöre, dass ich dich auch nicht

in den Keller sperre, wenn die Tomaten zermatscht sind.«

»Nein, das ist es nicht … ich meine, ich würde ja gerne, wenn ich

könnte …« Paige geriet ins Stottern und räusperte sich. »… aber ich
kann nicht.«

»Ein heißes Date?«, fragte Piper.

»Schön war's, aber leider nein.« Paige seufzte. »Mein privater

Terminkalender besteht praktisch aus lauter deprimierend leeren
Seiten.«

»Irgendwas Böses, von dem wir wissen sollten?« Phoebe runzelte

die Stirn.

»Nur, wenn du Armut mit dazu zählst.« Paige stellte die

Kaffeekanne wieder auf die Warmhalteplatte zurück. Der Zeitpunkt
für eine häusliche Krise hätte ungünstiger nicht sein können. Trotz des
unglücklichen Beginns ihrer Beziehung waren sie und ihre beiden

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Schwestern sich in der kurzen Zeit ausgesprochen nahe gekommen.
Sie hasste es, nicht zur Stelle sein zu können, wenn Piper sie brauchte.
»Ich arbeite heute Abend im Obdachlosenheim in der Fünften Straße.«

»Hast du das nicht schon letzte Woche gemacht?«, fragte Leo.

Paige nickte. »Ja, aber Doug hat diese Woche ebenfalls kaum

Leute.«

»Also hast du dich wieder freiwillig gemeldet.« Piper stopfte die

mit Kaffee vollgesogenen Papierservietten in ihren halb vollen
Becher. »Offensichtlich bin ich nicht der einzige Workaholic in der
Familie.«

»Vielleicht tätest du gut daran, deine eigenen Ratschläge zu

befolgen, Paige«, sagte Phoebe. »Meinst du nicht, dass du mit einem
Fulltimejob und dem Eliminieren von Dämonen genug ausgelastet
bist?«

»Ist ja nur noch für eine Woche«, beschwichtigte Paige. »Doug hat

schon ein paar neue Helfer gefunden, aber er braucht jemand mit
Erfahrung, der ihnen zeigt, worauf sie zu achten haben.«

»Ich bin sicher, Doug Wilson kennt jede Menge Ehrenamtliche, die

wissen, was in einem Obdachlosenheim zu tun ist, Paige«, sagte Piper.
»Du bist die einzige regelmäßige Aushilfe in der Fünften Straße, die
nebenbei auch noch andauernd Kopf und Kragen dabei riskiert, die
Welt vom mit magischen Kräften ausgestatteten Abschaum des Bösen
zu befreien.«

»Ich weiß, aber das kann ich Doug ja wohl kaum sagen«, hielt

Paige dagegen. Sie hatte sich dafür entschieden, Sozialarbeiterin zu
werden, weil sie anderen helfen wollte; Familien, die in Not geraten
waren, körperlich oder geistig Behinderten, die allein nicht zurecht
kamen, und denen, die in ihrem Leben einfach nur mehr Pech hatten
als andere. Die ständige Konfrontation mit den abscheulichen
Mächten der Finsternis und mit dem Entsetzen, das diese über die
Welt zu bringen versuchten, hatte sie nur noch empfänglicher werden
lassen für die kleinen Tragödien des Alltags. Sie konnte den vom
Schicksal weniger Begünstigten einfach nicht den Rücken kehren,
wenn sie die Möglichkeit besaß, ihr Elend ein wenig zu mildern.

Phoebe sah Paige mit ernstem Blick an. »Ebenso wenig kannst du

allein die Unglücklichen dieser Welt retten.«

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»Mag sein, aber ich kann es wenigstens versuchen.« Und mit dem

armen, alten Stanley Addison fange ich an, dachte Paige, schnappte
sich ihre Handtasche und eilte hinaus.

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»

W

O BLEIBST DU, LEO?«

Piper klemmte sich den

Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter und schaute auf die Uhr
unter dem Tresen, während sie gleichzeitig einen großen Bierkrug
abtrocknete. »Der Lieferwagen kann jeden Moment hier vor der Tür
stehen.«

»Tut mir Leid, aber die Toilette im ersten Stock ist übergelaufen«,

erklärte Leo.

»Wie ist das denn passiert?«, fragte Piper, doch sie konnte es sich

bereits denken. Paiges enormer Verschleiß an Toilettenpapier war
allseits bekannt. Sie benutzte es einfach für alles, ob zum Naseputzen
oder dazu, sich den Lippenstift abzuwischen. Anschließend warf sie es
dann in die Toilettenschüssel und betätigte die Spülung erst, wenn
eine ansehnliche Menge an aufgeweichter Zellstoffpampe
zusammengekommen war – Paiges Beitrag, den Wasserverbrauch zu
senken. Eine Sparmaßnahme, die durchaus löblich war, nur leider
waren die völlig veralteten Abflüsse des Hauses dem nicht gewachsen.
Immer wieder hatte Piper versucht, ihr das Problem darzulegen, doch
bislang hatte sich Paige diese Unsitte nicht abgewöhnen können.

»Keine Ahnung, aber es war 'ne ziemliche Sauerei.« Leos Stimme

klang so genervt, wie Piper sich fühlte. »Noch vor wenigen Minuten
stand das Wasser bis in den Flur.«

Piper stöhnte auf. Sie wandte sich mit dem Rücken zur Bühne, wo

soeben die Band damit beschäftigt war, das Equipment auszupacken,
und fragte mit gesenkter Stimme: »Was meinst du, wie viel das kosten
wird?«

»Gar nichts«, beruhigte sie Leo. »Ich hab die Verstopfung mit der

Gummisaugglocke beseitigen können. Sobald ich mit dem
Aufwischen fertig bin, komme ich zu dir.«

»Bitte keinen dramatischen Auftritt«, warnte ihn Piper und spielte

damit auf das Orben an, die bevorzugte Fortbewegungsart des
Wächters des Lichts. »With A Vengeance machen sich gerade auf der
Bühne fürs Vorspielen bereit.« Obwohl Leo in aller Regel ein Gespür
dafür besaß, wann die Luft rein war zum Orben, hatten sie eine Art
Geheimcode entwickelt, um im Zweifelsfall auf »Nummer Sicher« zu

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gehen. Einige Dinge ließen sich normalen Sterblichen nur äußerst
schwer erklären. Aus dem Nichts heraus in einem Wirbel aus hell
gleißendem Licht auftauchende Ehemänner zählten definitiv dazu.

»Was ist nur aus Bandnamen wie Star Lighters geworden?«,

meinte Leo »Was für eine Art Musik machen sie?«

»Laut Mason Hobbs ein Art alternativen Celtic-Rock«, sagte Piper.

»Was immer das auch heißen mag.«

Piper klatschte den nassen Geschirrlappen ins Spülbecken und warf

einen Blick auf die Bühne. Sie arbeitete mit Mason zusammen, seit sie
den Club eröffnet hatte, und bislang hatte der Künstleragent sie noch
niemals enttäuscht. Sie hoffte, dass es diesmal nicht anders sein
würde.

With A Vengeance waren in San Francisco noch ein völlig

unbeschriebenes Blatt, daher spielte für sie die Gage angesichts der
Möglichkeit, in dieser Stadt überhaupt einen Fuß in die Tür zu
bekommen, eine eher untergeordnete Rolle, was wiederum Pipers Etat
für Liveacts sehr entgegenkam. Außerdem waren sie sofort bereit
gewesen, kurzfristig für Rock Bottom einzuspringen. Mit den drei
wirklich gut aussehenden jungen Männern und einer ausgesprochen
hübschen und nicht minder jungen Frau schien die Band zumindest
ihrem äußeren Erscheinungsbild nach heiß genug, um bei der Klientel
des P3 Anklang zu finden. Wenn sich zu der Musik, die sie spielten,
außerdem noch tanzen ließ, würde Piper sie sofort für das komplette
Wochenende engagieren.

Karen Ashley, eine grazile Blondine mit blauen Augen und zartem,

makellosen Teint, nahm eine primitiv anmutende Rundtrommel zur
Hand. Mit einem knapp zwanzig Zentimeter langen und an beiden
Enden abgerundeten Schlägel begann sie, indem sie ihr Handgelenk in
schnellen, doch unglaublich leicht wirkenden Bewegungen auf- und
niedersausen ließ, zu trommeln. Abwechselnd schlugen die beiden
Seiten des Stockes gegen das Fell und erzeugten einen rollenden,
hypnotisierenden Rhythmus, der Bilder von Kriegern, die in den
Kampf ziehen, aufsteigen ließ.

Karen spannte das Fell der Trommel nach und platzierte das

Instrument auf einem hölzernen Gestell. Während sie den Schlägel in
die Gesäßtasche ihrer Hose schob, fiel ihr Blick auf Piper. »Das ist
eine Bodhran«, klärte sie die Clubbesitzerin lächelnd auf.

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»Oh.« Piper rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. Karens kleine

Demonstration war beeindruckend gewesen, doch irgendwie konnte
sich Piper kaum vorstellen, dass sich die coolen Gäste ihres Clubs von
solch einem archaischen Rhythmus packen ließen. Selbst diejenigen
nicht, die nicht schon nach dem dritten Set gegangen waren.

»In ein paar Minuten sind wir so weit«, sagte Karen.

»Nur keine Hektik. Fangt einfach an, wenn ihr fertig seid. Ich

werd's schon mitkriegen.« Pipers Lächeln erstarb, während sie der
Bühne wieder den Rücken zukehrte. »Ich hab das dumpfe Gefühl, bei
mir hier bahnt sich ebenfalls eine Katastrophe an, Leo«, flüsterte sie
ins Telefon. »Könntest du dich bitte beeilen?«

»Ich brauch noch etwa fünfzehn Minuten«, sagte Leo. »Allenfalls

eine halbe Stunde. Bleib ganz ruhig, okay?«

»Zieh am Draht, Leo.« Piper legte den Hörer auf, schloss die

Augen und atmete einige Male tief durch.

Wie zum Teufel sollte man ruhig bleiben, wenn Tag für Tag

irgendetwas schief ging? Nachdem sie es versäumt hatte, sich neue
Scheckvordrucke zusenden zu lassen, hatte sie alle
Überweisungsaufträge von Hand ausfüllen müssen. Der Weg zur
Bank, um die Überweisungen abzugeben, hatte ihre Ankunft im P3
nochmals verzögert. Obwohl sie es geschafft hatte, noch vor der Band
am Club zu sein, war sogleich der nächste Rückschlag gekommen, der
darin bestand, dass an der Theke jede Menge Arbeit auf sie wartete.
Normalerweise wurden die Gläser nach Feierabend gespült, aber
Dixie, der Barmann, der gestern hier gejobt hatte, war allem Anschein
nach nur wenige Minuten nach dem letzten Gast zur Tür
herausspaziert und hatte den Laden einfach dicht gemacht. Immerhin
hatte er eine Nachricht hinterlassen, auf der er sich für das
hinterlassene Chaos entschuldigte, mit der Begründung, dass die
einzige Babysitterin, die er für den Abend bekommen konnte, ein
Mädchen von der Highschool war mit strikten Auflagen, was den
Zeitpunkt ihres Nachhausekommens anbelangte.

Bei dem Glück, was ich habe, ist Dixies ständiger Babysitter auch

heute Abend verhindert, dachte Piper, während sie das letzte Sektglas
in die über der Theke angebrachte Halterung hängte. Zumindest hatte
Dixie überhaupt eine Vertretung gefunden, die sich, wenn auch
zeitlich eingeschränkt, um seinen Nachwuchs kümmerte, sodass damit

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zu rechnen war, dass er wie gewohnt pünktlich seinen Dienst antrat.
Insgesamt gesehen und in Anbetracht von Pipers derzeitiger
Pechsträhne wog das beinahe schon so viel wie eine ganze
Wagenladung voller Glück.

»Bist du sicher, dass du dich nicht irgendwo hinsetzen willst,

Piper?«, fragte Karen. Der leichte irische Akzent, der in ihrer leisen,
aber angenehmen Stimme durchklang, war mehr zu ahnen als
tatsächlich zu hören. »Wir können loslegen.«

»Das nenne ich perfektes Timing.« Piper wischte sich die nassen

Hände an ihrer Jeans ab. Die Arbeit an der Bar war getan und der
Lieferservice kam ganz offensichtlich zu spät. Mehr Argumente, um
es sich mit einem kühlen Drink auf einer der gepolsterten
Sitzgelegenheiten des Clubs gemütlich zu machen, brauchte es nicht.

»Du wirst uns lieben.« Daniel Knowles stellte das Mikrostativ an

seinem Keyboard auf die richtige Höhe ein. Von Größe eher
durchschnittlich und nicht sonderlich muskulös, konnte der
schwarzgelockte Jüngling mit einem ausgesprochen sonnigen Lächeln
und zwei funkelnden tiefbraunen Augen aufwarten, die vermutlich
mehr versprachen, als er tatsächlich zu halten in der Lage war. »Jedem
geht es so.«

Den weiblichen Gästen bestimmt, dachte Piper, während sie ihr

Glas mit Eiswürfeln füllte und Ginger Ale nachgoss. Aus irgendeinem
unerfindlichen Grund kamen gut aussehende Musiker mit der
arroganten Tour bei der Damenwelt immer noch erstaunlich gut an.

»Wo seid ihr aufgetreten, bevor es euch nach San Francisco

verschlagen hat?« Piper setzte sich und stemmte die Füße gegen einen
der überall herumstehenden schmalen, zylinderförmigen Tische.

»In Kenny's –« Der Bassist, ein düsterer, beinahe dumpf wirkender

Typ namens Lancer, verzog säuerlich das Gesicht, als der
Schlagzeuger ihm ins Wort fiel.

»Kennebunkport.« Mit einer ruckartigen Kopfbewegung warf

Brodie Sparks seinen roten Haarschopf zurück, der ihm andauernd in
die Augen fiel. Ein Lächeln umspielte seinen sinnlichen Mund. »Und
in noch ein paar anderen Hafenstädten, die ganze Nordostküste rauf
und runter.«

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»Ihr seid hier ziemlich weit weg von Maine«, stellte Piper fest, die

nicht ein Wort von dem glaubte, was der Drummer ihr weiszumachen
versuchte. Möglicherweise war »Kenny's« der Name einer Kneipe
hier irgendwo in der Nähe, vielleicht auch der einer Autowerkstatt, sie
hatte keine Ahnung. Aber wenn die Band gut war, sollte es ihr egal
sein.

»Das ist wahr«, sagte Lancer. Er ließ die Finger über die dicken

Saiten seines Basses gleiten, wobei ein bemerkenswert virtuoses Riff
herauskam, und trat, als Karen sich zum Mikro in der Mitte der Bühne
begab, einige Schritte zurück.

Auch Brodie und Daniel schenkten der blonden Schönheit nun ihre

ungeteilte Aufmerksamkeit. Es war unschwer zu erraten, wer in dieser
Band das Sagen hatte.

»Könntest du mir bitte die Flöte rüberreichen, Piper?« Karen wies

auf eine längliche hölzerne Schatulle, die auf dem wenige Meter von
der Bühne stehenden Tischchen lag.

»Sicher.« Wenig begeistert stand Piper wieder auf. Falls sie With A

Vengeance tatsächlich engagieren sollte, wäre das Erste, was sie
miteinander zu klären hätten, die Tatsache, dass sie, Piper, nicht ihr
Laufbursche war.

Piper nahm die Holzflöte aus der mit Samt ausgeschlagenen

Schatulle und registrierte nicht ohne Verwunderung, dass es sich bei
dem Instrument offenbar um ein echt antikes Stück handelte. Rund um
die Grifflöcher war das polierte Holz mit feinen, kunstvollen
Schnitzereien versehen, welche die Öffnungen selbst in ein
übergeordnetes Muster mit einbezogen. Das kleine Kunstwerk, das sie
in Händen hielt, zeugte von allerhöchstem handwerklichen Können.

»Danke.« Lächelnd beugte sich Karen zu Piper hinab und schloss

ihre Finger um die wertvolle Flöte.

Wie aus heiterem Himmel fühlte Piper sich plötzlich von

Schwindel erfasst. Sofort ließ sie das Instrument los, um sich an der
Bühnenkante festzuhalten. Doch ebenso schnell, wie er gekommen
war, war der leichte Schwächeanfall wieder vorüber. Während sie
wieder zurück zu ihrem Platz ging, wurde ihr bewusst, dass sie außer
einer Scheibe Toast zum Frühstück den ganzen Tag noch nichts
gegessen hatte. Eine Hand voll Erdnüsse aus dem Spender an der Bar
würde das Problem sicher lösen.

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In diesem Moment begann Karen hinter ihr auf der Flöte einen

langen, tiefen und klagenden Ton zu spielen. Sie setzte sich wieder
hin, und noch in derselben Sekunde war der Gedanke an Essen aus
ihrem Kopf verschwunden.

Der schwermütige Flötenklang schien bis in das Innerste ihrer

Seele vorzudringen, rief die unendlich tiefe Trauer wieder wach, die
sie empfunden hatte, als Prue von ihnen gegangen war. Das Gefühl
von Verzweiflung, das sie zu übermannen drohte, war jedoch in dem
Moment, als die Flöte in die ausgelassene Melodie eines irischen
Tanzes überwechselte, im wahrsten Sinne des Wortes wie
weggeblasen.

»Schon besser.« Piper hob ihr Glas, prostete der Band zu und

lehnte sich zufrieden zurück. Stillvergnügt lachte sie in sich hinein
und fragte sich, wie sie es nur zulassen konnte, dass so viele
belanglose Dinge ihr die Freude am Leben vergällten. Phoebe, Paige
und Leo hatten vollkommen Recht: Der ganze Stress, den sie sich
selbst auferlegte, war nicht nur gefährlich, sondern darüber hinaus in
höchstem Maße kontraproduktiv. Außerdem war das Leben viel zu
kurz, um seine Zeit mit unnötigen Sorgen zu vergeuden.

Obwohl die Folknummer für einen Laden wie das P3 unpassender

kaum sein konnte, schien die schwungvolle Melodie Pipers
einigermaßen maroden Lebensgeistern neuen Auftrieb zu verleihen.
Lächelnd und mit dem Fuß im Takt wippend, beschloss sie, bis zum
Ende der Darbietung höflich sitzen zu bleiben und anschließend
Mason anzurufen, damit er ihr eine andere Band besorgte. Dreißig
Sekunden später wusste sie, dass das nicht nötig sein würde.

Noch bevor der letzte, lang angehaltene Ton des Flötenintros

verklungen war, hob der Schlagzeuger jäh seine Stöcke und begann
mit einem kraftvollen, treibenden Beat. Zwei Takte später setzte
Lancer ein und unterlegte die Drums mit einem hämmernden Bass.
Der pulsierende Rhythmus erfasste beinahe jede Faser von Pipers
Körper, und als sich dann noch Karens betörender Alt über die
mystisch-schwebenden Harmonien des Keyboards erhob, war sie
völlig hin und weg.

Erleichtert darüber, dass ihr die unangenehme Aufgabe erspart

blieb, die Band wieder nach Hause schicken zu müssen, trank sie ihr
Glas leer. Nichts sollte ihre gute Laune verderben, weder eine am

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Boden zerstörte Musikgruppe noch sonst irgendwas, nun, da sie
erkannt hatte, was nur allzu offensichtlich war – dass sie sich
keinesfalls von irgendwelchen Bagatellen ihr Leben ruinieren lassen
durfte. Sich hin und her wiegend, gab sie sich ganz der Musik und
dem Augenblick hin.

Der Song endete mit einem von allen vier Musikern gleichzeitig

und absolut präzise gespielten abrupten Schluss. Noch bevor sich
Piper der plötzlich eingetretenen Stille richtig bewusst werden konnte,
begann die Band bereits mit ihrem nächsten Song, einer langsamen,
gefühlvollen Ballade, die haargenau jenes erste Treppchen zur
glücklichen Zweisamkeit repräsentierte, das man gemeinhin als
»Klammerblues« bezeichnete. Als letztes Stück folgte die
Coverversion einer schnellen Tanznummer, die vor kurzem sämtliche
Charts gestürmt hatte. Keine Frage, With A Vengeance hatten das
Rennen gemacht.

»Bravo!« Begeistert spendete Piper Beifall.

»Das bedeutet, dass du uns liebst, richtig?«, fragte Daniel

augenzwinkernd.

Piper lachte laut auf. »Ihr seid fantastisch!«

»Also, wann sollen wir anfangen?« Karen sprang von der Bühne

und legte die Flöte wieder in die Schatulle zurück. Der äußerst
behutsamen Art nach zu schließen, mit der sie ihr Instrument
behandelte, gehörte es wahrscheinlich zu den kostbarsten Dingen, die
sie besaß, vermutete Piper.

»Gestern wäre gut«, grummelte der griesgrämige Mann am Bass.

»Mein Magen knurrt bereits eine zweite Bassline.«

»Ihr habt Hunger? Seid ihr etwa so abgebrannt?«, fragte Piper,

ohne über ihre Worte nachzudenken. Rasch schlug sie sich eine Hand
vor den Mund, um ein erneutes Auflachen zu unterdrücken. Obwohl
Lancers Bemerkung durchaus witzig gemeint war, wollte sie nicht,
dass die Band glaubte, sie würde deren desaströse finanzielle Lage
zum Anlass nehmen, sich über sie lustig zu machen. Beinahe hätte sie
angefangen zu kichern, als sie Karens konsternierten Blick sah.

»Wir könnten den Job wirklich gut brauchen«, sagte Daniel.

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»Um uns hier in der Gegend einen Namen zu machen«, setzte

Karen rasch hinzu. »Mason meinte, das P3 sei einer der angesagtesten
Clubs in der Stadt.«

Gebauchpinselt ließ Piper den Blick durch das ehemalige

Kaufhausuntergeschoss schweifen, das sie in einen etablierten
Treffpunkt für San Franciscos kritische Singles und sonstige
Nachtschwärmer verwandelt hatte. »Wenn wir hier einen Live-Act
haben, ist es jedes Mal gerammelt voll.«

Daniel betastete seinen Unterarm. »Yep, ich bin live.«

»Und engagiert.« Piper nahm ihr Glas und spülte mit dem

inzwischen geschmolzenen restlichen Eis einen weiteren Kicheranfall
hinunter. Offensichtlich hatte sie mit ihrem Entschluss, fortan die
Dinge etwas leichter zu nehmen, einer lang unterdrückten
unbeschwerten Heiterkeit sämtliche Schleusen geöffnet.

»Heißt das, wir können Donnerstag loslegen?«, fragte Karen.

Piper nickte. »Von neun bis um ein Uhr morgens. Donnerstag bis

Samstag.«

»Großartig!« Brodie warf einen Drumstick in die Luft, der hinter

ihm zu Boden polterte.

»Ich sag Mason Bescheid, dass er den Vertrag aufsetzen soll.«

Karen ließ die Flötenschatulle zuschnappen und klemmte sie sich
unter den Arm. »Hättest du was dagegen, wenn wir schon am
Mittwochnachmittag aufbauen und unser Programm noch mal kurz
durchproben?«

Piper stimmte ohne Zögern zu. »Kein Problem, ab zwei Uhr könnt

ihr jederzeit kommen. Die Alarmanlage ist übrigens auf dem
allerneuesten Stand, falls ihr eure Klamotten da lassen wollt.«

Eine Autohupe ertönte aus der Lieferantenzufahrt.

»Schiebt einfach alles nach hinten.« Piper wies auf die Vorhänge,

die den schmalen Raum hinter der Bühne vor den Augen des
Publikums verbargen, und stellte ihr Glas auf die Theke. »Ich bin am
Hintereingang, falls ihr mich braucht.«

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Gut gelaunt wandte Piper sich ab, um sich um die eintreffenden

Waren zu kümmern. Nachdem Leo zu Hause aufgehalten worden war,
konnte ihr der Umstand, dass der Lieferwagen später eintraf, nur recht
sein. Grinsend stellte sie sich ihren Mann vor, wie er verzweifelt
versuchte, der aus der Toilette schwappenden Wassermassen Herr zu
werden, bevor diese die gesamte obere Etage des alten viktorianischen
Hauses überfluteten – wohl wissend, dass derartige Katastrophen nicht
nur enorme Kosten, sondern auch jede Menge Stress nach sich zu
ziehen pflegten und seine nervlich ohnehin schon reichlich
überstrapazierte Frau weder von dem einen noch von dem anderen
sonderlich begeistert sein würde.

Als Leo wenige Meter vor der Tür zum Lagerraum materialisierte,

fuhr sie erschrocken zurück. »Ich sagte, keine dramatischen
Auftritte!«

»Aber ich dachte –« Leo runzelte die Stirn, stutzte und schaute

alarmiert zum Lagerraum hinüber. »Ist da etwa jemand drin?«

»Nein.« Kichernd schüttelte Piper den Kopf.

»Was ist so lustig?«, fragte Leo verwirrt.

»Äh – weiß auch nicht so genau.« Piper machte eine gleichgültige

Geste. »Schätze, ich bin einfach gut drauf, weil ich mir Paiges
Ratschlag zu Herzen genommen habe. Ich mach mir über jede
Kleinigkeit viel zu viele Gedanken.«

»Dem kann ich nicht widersprechen.« Leo grinste und entspannte

sich wieder.

»Ich denke, damit ist es jetzt vorbei.« Piper hielt sich die Hand vor

den Mund, als sie merkte, dass sie erneut losprusten musste. »Sorry,
aber dieser Bassist da oben ist wirklich zum Brüllen komisch.«

»Irgendwie schwer vorstellbar, dass jemand, der in einer Band mit

dem Namen With A Vengeance spielt, witzig sein soll«, sagte Leo.

Piper ahmte Lancers jammernden Tonfall nach, während sie den

Hintereingang aufschloss: »›Mein Magen knurrt bereits eine zweite
Bassline.‹«

Irritiert sah Leo sie an. »Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz

folgen.«

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Piper wollte es ihm erklären, doch vor lauter Kichern war sie kaum

in der Lage zu sprechen. »Ein Magen, der … wie eine Bassgitarre …
knurrt?«

Leo zuckte mit den Schultern.

»Denk mal drüber nach.« Glucksend stieß Piper die Hintertür auf.

»Ich hab den Witz durchaus verstanden«, sagte Leo, während Piper

den Lieferschein in Empfang nahm. »Ich find ihn nur einfach nicht
komisch.«

»Mach dir nichts draus, Liebling«, erwiderte Piper lächelnd.

Paige schlug den Kofferraum ihres lindgrünen VW-Käfers zu und

steckte die Autoschlüssel ein. Ihre Handtasche ließ sie im Wagen, sie
war dort weitaus besser aufgehoben als im Obdachlosenheim in der
Fünften Straße, einem alten Gebäude am Rande des Hafenbezirks, der
in dieser Gegend hauptsächlich aus Lagerhäusern bestand.

Vorausgesetzt, niemand klaut mir das Auto, dachte Paige, während

sie über den Schotterparkplatz eilte.

Mehr im Spaß äußerte Doug Wilsons immer wieder die

Befürchtung, dass früher oder später irgendeiner der Bedürftigen, die
zu den ständigen Gästen des Hauses zählten, sich den kleinen
Bürosafe unter den Arm klemmen und auf Nimmerwiedersehen
verschwinden würde. Immerhin ging besagter Spaß bei ihm so weit,
dass er es tunlichst vermied, irgendetwas Wertvolles in dem Tresor
aufzubewahren.

»Du bist zu spät«, bellte Doug Paige mit rauer Stimme an, als sie

zur Tür eintrat. Er war gerade damit beschäftigt, den
Rindfleischeintopf, der heute auf dem Speiseplan stand, mit
Unmengen von Pfeffer zu verfeinern.

»Gerade mal zwei Minuten!« Paige warf einen Blick auf die große

Uhr, die an der Wand hinter dem massiven Küchenherd hing. Sie
zeigte erst wenige Minuten nach halb sechs. »Ich musste erst noch
Stanleys Antrag auf Bewilligung eines Altersheimplatzes fertig
machen.«

»Schon gut, schon gut.« Doug wischte sich die Hände an einer

Schürze ab, die über und über mit undefinierbaren Soßenflecken

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bedeckt war. Mürrisch warf er einen Blick über die Schulter.
»Heutzutage kann man sich auf niemanden mehr verlassen.«

Wer den Leiter des Obdachlosenheims näher kannte, der wusste,

dass Doug, ein hagerer und drahtig aussehender Mann Mitte vierzig,
nicht einmal annähernd so unnahbar und bärbeißig war, wie er sich
den Anschein zu geben versuchte. Unfähig, die ständige Sorge, die
sich in seinen grauen Augen widerspiegelte, zu verbergen, war sein
Versuch, sich zum Ausgleich dafür hinter einem stacheligen und wild
wuchernden Vollbart zu verstecken, bei genauerem Hinsehen wohl
eher als gescheitert zu betrachten. Gerüchten zufolge hatte er, bevor er
in die Fünfte Straße kam, sein Geld als Computer-Guru verdient.
Doug sprach nicht gern über seine Vergangenheit; das Einzige, was
bisher aus ihm herauszulocken gewesen war, bestand in dem
Eingeständnis, dass er arbeitslos geworden war, weil er keine Lust
mehr hatte, sich immer dann den Bart zu stutzen, wenn andere Leute
meinten, es wäre mal wieder an der Zeit.

»Und? Ist der Antrag raus?«, erkundigte er sich betont gleichmütig.

»Ja, hab ihn eben noch schnell in den Briefkasten geworfen.« Paige

nahm sich ebenfalls eine Schürze vom Haken und band sie sich um.
»Ist Stanley schon da?«

»Nein, aber dafür Kevin Graves.« Doug wies mit einem Löffel auf

die Essensausgabe, die den Sitzbereich von der Küche trennte.

Am hinteren Ende des Tresens saß ein junger Mann auf einem

Stuhl und stopfte Papierservietten in kleine Halter aus Metall.

»Das ist also der Neue, ja?«, fragte Paige und versuchte, nicht allzu

interessiert zu klingen. Mit seinen kurzen blonden Haaren, den blauen
Augen, dem nahezu perfekten Profil und einem Teint, der an Sonne,
Sand und Wellen erinnerte, entsprach Kevin Graves ziemlich genau
dem Schönheitsideal des klassischen kalifornischen Sonnyboys. Nicht
gerade der Typ eines ehrenamtlichen Mitarbeiters, stellte Paige,
neugierig geworden, fest.

»Du hast's erfasst«, erwiderte Doug.

»Warum ist er hier?«, hakte Paige nach. »Hat die Polizei sein

Surfbrett konfisziert?«

»Nein.« Doug setzte den Deckel auf den Topf und sah sie mit

ausdruckslosem Gesicht an. »Auf der Baustelle, auf der er gejobt hat,

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gab es einen Unfall, und jetzt kann er nicht mehr richtig laufen.
Solange er noch keine neue Arbeit gefunden hat, möchte er seine Zeit
mit etwas Sinnvollem verbringen.«

»Oh.« Mit schamrotem Kopf sah Paige erneut zu dem jungen

Mann hinüber. Erst jetzt bemerkte sie den Gehstock, der neben ihm an
der Essensausgabe lehnte. Für eine Hexe, die auf den Steckbriefen der
Unterwelt wie eine Art Staatsfeind geführt wurde, ließ ihre
Beobachtungsgabe ziemlich zu wünschen übrig. »Sieht man mir an,
wie bescheuert ich mich fühle, so mit beiden Füßen mitten im
Fettnäpfchen?«

»Ich glaube nicht, dass es jemandem auffallen wird.« Doug wandte

sich um, als sich abermals die Tür öffnete und eine Frau mittleren
Alters eintrat. »Hey, Mrs. Ryan! Schön Sie zu sehen.«

In Designer-Jeans und modischem Pullover, dazu Lederstiefel an

den Füßen, die vermutlich mehr kosteten, als Paige in einer Woche
verdiente, erweckte Jennifer Ryan nicht unbedingt den Eindruck einer
Frau, die sich freiwillig in die Niederungen des so genannten
Bodensatzes der Gesellschaft begab. Gleichwohl trat ein aufrichtiges,
warmherziges Lächeln auf ihr Gesicht, als Doug Paige vorstellte.

»Paige arbeitet bereits seit längerem für mich und kennt sich hier

mit allem bestens aus.« Doug nahm einen alten, schmierigen
Topflappen zur Hand, zog die Herdklappe auf und holte ein Blech
voller dampfender, heißer Brötchen aus dem Ofen. »Sie wird Ihnen
zeigen, was zu tun ist.«

Dougs Wink mit dem Zaunpfahl sofort verstehend, drückte Paige

Jennifer eine Schürze in die Hand und forderte sie mit einer
freundlichen Geste auf, ihr zu folgen. »Im Grunde ist alles ziemlich
einfach. Was immer Doug in der Küche auch zusammenbrutzelt, wir
füllen es portionsweise auf Teller und geben es den hungrigen
Menschen. Meistens gibt es nur ein Gericht.«

»Ich denke, das sollte zu schaffen sein«, sagte Jennifer.

Im Gegensatz zu der Mehrzahl ihrer gut situierten Kollegen beim

South-Bay-Sozialdienst wies Jennifer Ryans Verhalten nicht die
geringste Spur von Hochnäsigkeit auf. Es war durchaus nicht
ausgeschlossen, entschied Paige, dass diese Frau von dem ehrbaren
Wunsch geleitet wurde, ein wenig von dem Glück, das sie im Leben

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hatte, an ihre weniger vom Schicksal begünstigten Mitmenschen
weiterzugeben.

»Vorher haben wir dafür zu sorgen, dass genügend Teller

bereitstehen und die Salz- und Pfefferstreuer aufgefüllt sind«, fuhr
Paige fort. »Hinterher machen wir alle zusammen die Tische sauber
und erledigen den Abwasch.«

Als sie am Tresen ankamen, schnappte sich Kevin seinen Gehstock

und erhob sich vom Stuhl. »Alle Besteckkästen und Serviettenhalter
wie befohlen randvoll bestückt«, sagte er und legte salutierend, mit
einem breiten Grinsen im Gesicht, die freie Hand an die Stirn.

»Hervorragende Arbeit«, gab Paige, ebenfalls grinsend, zurück. Sie

streckte die Hand aus, um den jungen Mann zu begrüßen, doch als ihr
Blick auf die Gehhilfe fiel, die er mit kräftigem Griff umklammert
hielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, zog sie ihren Arm
wieder zurück. »Das ist Jennifer«, sagte sie rasch, in dem etwas
hilflosen Versuch, den peinlichen Moment zu überspielen. »Und mein
Name ist Paige.«

»Ist mir ein ausgesprochenes Vergnügen.« Falls Kevin von der

Situation ebenso unangenehm berührt war wie sie, so ließ er es sich
jedenfalls nicht anmerken. »Du übertriffst noch bei weitem alles, was
ich über dich gehört hab.«

»Was genau hast du denn über mich gehört?«, fragte Page etwas

verunsichert nach. War da tatsächlich ein jäh aufflackerndes Interesse,
das die Luft zwischen ihr und Kevin zum Knistern brachte, oder
bildete sie sich das nur ein? Selten hatte sie sich von jemandem auf
Anhieb so angezogen gefühlt, eine Erkenntnis, die sie irgendwie
äußerst beunruhigend fand.

»Dass du ein wunderschöner Engel wärst«, erwiderte Kevin,

»voller Güte und hell erstrahlend wie das Licht der Sonne.«

»Das hat Doug gesagt?«, meinte Paige ungläubig. Derart poetische

und schwülstige Worte sahen dem ruppigen Boss des
Obdachlosenheims überhaupt nicht ähnlich. Hatte er sie womöglich,
ohne dass sie davon wusste, irgendwann einmal beim Orben
beobachtet?

»Nein, irgend so ein alter Kauz. Er hat nach dir gefragt, und als ich

ihm sagte, dass du nicht hier wärst, ist er vor sich hin brabbelnd in den

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Aufenthaltsraum hinübergeschlurft.« Kevin wies mit dem Kopf auf
eine Tür am anderen Ende des Raumes. »Tut mir Leid, aber es ließ
sich nicht vermeiden, seine Selbstgespräche mit anzuhören.«

»Stanley Addison«, sagte Paige erleichtert. Sie bezweifelte, dass

der alte Mann etwas von ihrer Fähigkeit, sich ohne Zeitverlust von
einem Ort an einen anderen zu orben, mitbekommen hatte, doch selbst
wenn, wäre dies nicht weiter tragisch gewesen. Kein Mensch würde
den verrückten Hirngespinsten eines senilen Greises Beachtung,
geschweige denn Glauben schenken.

»Jemand Besonderes?«, fragte Jennifer.

Paige nickte. Offenbar war ihr die Zuneigung, die sie für Stanley

empfand, anzusehen. »Ein liebenswerter, etwas verwirrter, aber völlig
harmloser alter Mann ohne Angehörige – zumindest konnten wir
bisher keine finden. Seit er von Sozialhilfe lebt, versuche ich ihm
einen Platz im Hawthorn Hill zu verschaffen, einem Seniorenheim für
einkommensschwache Bürger dieser Stadt.«

»Dann sind Sie also tatsächlich ein Engel«, stellte Jennifer fest.

»Für Mr. Addison auf jeden Fall«, fügte Kevin hinzu. »Vielleicht

ist er ja weitaus weniger verwirrt, als Sie annehmen.«

»Es ist mein Job, Menschen zu helfen«, erklärte Paige verlegen.

Die Intensität, mit der Kevin sie aus seinen blauen Augen ansah,
brachte ihr Blut in Wallung. Abermals spürte sie, wie ihr die Röte ins
Gesicht stieg. Sie senkte den Kopf und kratzte sich im Nacken.

»Okay, Leute«, rief Doug ihnen von der Küche aus zu. »Ende des

Plauderstündchens. Jeden Augenblick wird die hungrige Meute dort
zur Tür hereinstürzen, also lasst uns an die Arbeit gehen!«

Doug, mein Retter, dachte Paige und war dankbar, dass er die für

sie allmählich etwas heikel werdende Situation so abrupt beendete.

Jennifer blickte zu dem Chef des Obdachlosenheims hinüber. »Der

harte Sondereinsatzleiter mit einem Herz aus Gold, hab ich Recht?«

»Genau«, stimmte Paige ihr zu, »nur leider vergisst er zuweilen,

dass wir nicht seine Angestellten sind, was möglicherweise die hohe
Fluktuation an ehrenamtlichen Mitarbeitern in diesem
Obdachlosenheim erklärt.«

Jennifer zuckte mit den Schultern. »Ich finde ihn ganz nett.«

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»Ein ungeschliffener Diamant.« Paige warf einen verstohlenen

Blick auf die linke Hand der älteren Frau. Kein Ehering. Ohne jeden
Zweifel nahm die Woche einen höchst interessanten Anfang.

Die nächsten drei Stunden vergingen wie im Fluge, während Paige,

Doug und die beiden Neuen an fünfunddreißig hungrige Männer und
Frauen Essen verteilten, die aus fünfunddreißig unterschiedlichen
Gründen ihr Leben auf der Straße verbrachten. Einige von ihnen
zogen anschließend wieder davon, um sich für die Nacht irgendeine
Brücke oder Parkbank zu suchen. Andere waren froh, ihre müden und
gichtkranken Glieder auf einer der harten Pritschen des
Obdachlosenheims ausstrecken zu können. An diesem Abend mussten
sie auf die Verteilung der Betten allerdings etwas länger warten als
sonst, da Doug es sich nicht hatte nehmen lassen, Jennifer persönlich
zu ihrem Auto zu begleiten.

»War's das?« Sich mit einer Hand auf der Arbeitsplatte abstützend,

hängte Kevin eine große Schöpfkelle an den dafür vorgesehenen
Nagel in der Wand.

»Das war's.« Paige warf ihre Schürze in den Wäschesack.

Kevin wandte sich zu ihr um und lehnte sich mit dem Rücken

gegen die Anrichte. »Fährst du jetzt direkt nach Hause?«

Paige zögerte, bereits ahnend, wie Kevins nächste Frage lauten

würde. Obwohl sein Interesse an ihr für jeden, der Augen und Ohren
besaß und zudem über einige Grundkenntnisse der Körpersprache
verfügte, nur allzu offensichtlich war, hätte sie nicht gedacht, dass er
sie so bald danach fragen würde, mit ihm auszugehen. Wenn es
tatsächlich darauf hinauslief, würde sie ihm leider eine Abfuhr erteilen
müssen. Immerhin kannten sie sich kaum. Sie beschloss, zunächst ein
wenig Zeit herauszuschinden.

»Ich möchte mich erst noch vergewissern, ob Stanley für die Nacht

gut untergebracht ist«, sagte sie.

»Stanley ist gerade gegangen.« Kevin blickte hinüber zur vorderen

Eingangstür.

In einer Geste der Verzweiflung warf Paige ihre Arme in die Höhe.

Es hatte sie zahllose Diskussionen gekostet, Doug dazu zu bringen,
stets eines der Betten für Stanley Addison zu reservieren. Leider

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scherte sich der alte Greis nicht einen Pfifferling um die in
Obdachlosenheimen üblichen Regeln und machte sich nach dem
Abendessen bisweilen erst mal wieder auf Wanderschaft. Doch
meistens stand er, bevor Doug die Tür zuschloss, wieder auf der
Matte.

»Er kommt zurück«, sagte Paige. »Hoffe ich jedenfalls.«

»Du willst hier warten?«, fragte Kevin.

»Zumindest so lange, bis ich sicher sein kann, dass Doug ihn nicht

aus Versehen aussperrt. Ich bin so dicht dran, Stanley im Hawthorn
Hill unterzubringen.« Paige hielt ihren Daumen und Zeigefinger kaum
einen Zentimeter weit auseinander. »Es wäre wirklich tragisch, wenn
er, so kurz bevor ich für ihn alles unter Dach und Fach habe, noch
einem Verkehrsunfall zum Opfer fallen würde.«

»Du hast echt was übrig für den alten Kauz, was?« Anerkennung

schwang in Kevins Stimme, als würde er ihre Einsicht in die
Notwendigkeit, anderen zu helfen, uneingeschränkt teilen.

Da er sich freiwillig für diesen Job gemeldet hat, dachte Paige,

sollte wohl davon auszugehen sein, dass ihm ebenso viel am Glück
seiner Mitmenschen liegt wie mir. Gutes Aussehen in Verbindung mit
einem nicht minder guten Herzen war eine Kombination, der sich nur
schwer widerstehen ließ.

»Ich mag Stanley sehr, ja«, sagte Paige. »Und vielleicht wendet

sich tatsächlich für ihn noch alles zum Guten, aber –« Sie seufzte,
machte eine kleine Pause. »Es gibt so viele Menschen, die ernsthafte
Probleme haben, und viel zu oft können sie nichts dafür. Ich
wünschte, ich könnte ihnen allen helfen, aber ich kann es nicht. Es ist
einfach ein Ding der Unmöglichkeit.«

»Aber du sorgst dich um sie«, erwiderte Kevin. »Das ist mehr, als

manch einer von sich behaupten kann.«

»Mag sein, aber es gibt Tage, an denen mir alles so hoffnungslos

erscheint, dass ich schier verzweifeln könnte.« Wieder hielt Paige
inne, unfähig, Kevin von ihren Erfahrungen mit dem
unaussprechlichen übernatürlichen Bösen zu berichten, das die Last,
die das in der Welt der Sterblichen herrschende Elend ihr aufbürdete,
noch um etliche Tonnen verstärkte. Obwohl Kevin mehr als
sympathisch war und den Eindruck eines äußerst verständigen

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Menschen machte, würden derart finstere Abgründe ihm die Lust auf
eine weitere Vertiefung ihrer Bekanntschaft bestimmt verderben.

»Ich glaube, du bist zu hart zu dir selbst.« Kevin griff nach seinem

Gehstock, der am anderen Ende der Anrichte lehnte. Für eine gewisse
Zeit konnte er sich durchaus ohne Hilfsmittel auf den Beinen halten,
und die Ausgabe des Abendessens hatte er abwechselnd sitzend oder
stehend hinter sich gebracht. Doch zum Gehen benötigte er den Stock.

»Der ist wirklich sehr schön. Ist der antik?«, fragte Paige, während

sie ihre bewundernden Blicke über Kevins Gehhilfe gleiten ließ. In
den gekrümmten Griff aus glänzendem Silber waren feine,
geschwungene Linien eingraviert, die sich beinahe ohne erkennbaren
Übergang auf dem oberen Teil des polierten Holzschafts fortsetzten.
Größte Sorgfalt und ehrgeiziger Stolz hatten sich vereint zu einem
beeindruckenden Beispiel überragender Handwerkskunst.

»Das ist er tatsächlich. Ein Familienerbstück.« Kevin reichte Paige

den Gehstock, damit sie ihn näher betrachten konnte. Die rasche
Bewegung brachte ihn aus dem Gleichgewicht und ließ ihn ein, zwei
hilflose Schritte zur Seite torkeln.

»Pass auf!« Als Paige instinktiv die Hände ausstreckte, traf sie das

untere Ende des jäh in die Höhe schnellenden Holzstocks am Arm.
Überrascht von dem leichten Kribbeln, das sie im gleichen Moment,
einem schwachen Stromstoß ähnlich, bis in den Nacken hinein
verspürte, schrak sie zurück.

Eine Hand um sein sich selbstständig machendes Erbstück gekrallt,

mit der anderen die Kante der Arbeitsplatte packend, gelang es Kevin,
seinen Sturz zu bremsen. Wütend richtete er sich wieder auf und stieß
mit der Spitze seines Gehstocks auf den Boden. »Sorry,
normalerweise stelle ich mich nicht ganz so dämlich an.«

»Kein Problem –« Von plötzlichem Schwindel erfasst, griff Paige

sich an die Schläfe.

»Bist du okay?« Kevin legte ihr die freie Hand um den Arm. »Du

siehst ein bisschen blass aus.«

»Ja, mir geht's gut.« Ihre Worte Lügen strafend, hielt sie sich mit

beiden Händen an der Anrichte fest, um ihre zitternden Beine zu
entlasten.

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»Warum überzeugt mich das nicht?« Kevin zog die Stirn kraus.

»Vielleicht hast du dir von irgendeinem der Obdachlosen einen Virus
eingefangen. Die hygienischen Verhältnisse, in denen sie leben, sind
nicht eben die besten.«

Paige machte eine wegwerfende Geste. »Ach was, ich bin einfach

nur erschöpft. Neben meinem normalen Job und der Arbeit hier in der
vergangenen Woche hatte ich kaum Gelegenheit, mich mal richtig
auszuruhen.«

Dass sie beinahe das gesamte Wochenende damit zugebracht hatte,

zusammen mit Piper und Leo ihr Gedächtnis zu trainieren, verschwieg
sie wohlweislich. Leos Meinung nach waren ein vergessener
Zauberspruch oder die Unkenntnis über wichtige magische
Zusammenhänge die Hauptursachen für das oft viel zu frühe Ableben
so mancher guten Hexe. Und Paige verspürte wenig Drang, zu
denjenigen zu gehören, die ins Gras beißen mussten, nur weil sie
etwas vergesslicher waren als andere.

Paige lockerte ihren Griff, doch sofort wurde sie erneut von einem

Schwindelanfall überwältigt. »Ich glaube, ich sollte mich besser für
ein paar Minuten hinsetzen.«

»Vielleicht wäre es noch besser, wenn ich dich nach Hause fahren

würde«, schlug Kevin vor, während Paige sich unsicher auf einen
Stuhl sinken ließ.

Paige wollte bereits widersprechen, als ihr bewusst wurde, dass es

wahrscheinlich keine andere Möglichkeit gab. Sich selbst ans Steuer
zu setzen, kam bei ihrem erschöpften Zustand kaum in Frage. Piper
war im P3 und Phoebe bei ihrem Computerkurs. Sicher, Leo könnte
sich zwar in eine der dunklen Gassen in der Nähe orben, doch wie
sollte sie Kevin erklären, auf welche Weise es der Wächter des Lichts
von der etliche Häuserblöcke entfernten Bushaltestelle ohne
motorisierten Untersatz so schnell geschafft hatte, hierher zu
kommen?

»Das wär wirklich nett von dir, Kevin, vorausgesetzt, es macht

nicht zu viele Umstände.«

»Keine Umstände«, erwiderte Kevin grinsend. »Was ist mit

deinem Auto?«

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»Mein Schwager kann es später holen, wenn das P3 geschlossen

hat«, erwiderte Paige gähnend.

Phoebe fühlte sich von der Flut an Informationen, die der Lehrer an

der Abendschule auf die Teilnehmer seines Kurses niederprasseln
ließ, völlig erschlagen. Sie und vierundzwanzig andere Schüler waren
mehr oder minder eingeweiht worden in die Grundlagen
professioneller Website-Gestaltung, von denen die meisten aus einer
genauestens einzuhaltenden Abfolge komplexer Befehlszeilen und
Arbeitsschritte bestanden, die sie bis zum nächsten Montag aus dem
Effeff beherrschen mussten.

»Ich bin wirklich ganz verrückt nach allem, was mit Computern zu

tun hat«, sagte die junge Frau, die auf dem Platz neben Phoebe saß,
»aber bis jetzt fand ich den Kurs ziemlich langweilig.«

»Und mir dreht sich der Kopf«, erwiderte Phoebe und musterte

Kate Dustin mit einem flüchtigen Blick. Ausnehmend hübsch und
süßer, als die Polizei erlaubte, mit großen blauen Augen und gesegnet
mit einem Lächeln, das jedes Männerherz höher schlagen ließ, war sie
die Einzige im Kurs, die bereits das hohe Alter von fünfundzwanzig
erreicht hatte.

»Nicht, dass das Mr. Deekle etwas ausmachen würde«, fügte

Phoebe hinzu. »Ich bin absolut sicher, dass er bereits ohne jeden Sinn
für Humor zur Welt gekommen ist.«

Der hagere, verbissen wirkende Mann, der weiter vorn an dem zur

Klasse hin ausgerichteten Tisch saß, schaltete seinen Rechner aus. Der
Schnauzer unter seiner Nase war ebenso spärlich wie der Haarwuchs
auf seinem Kopf, und alles in allem wirkte Wayne Deekle, sowohl
was seine Körperhaltung anbelangte als auch die Art, sich zu kleiden,
kaum weniger steif als der monotone Vortrag, den er soeben gehalten
hatte. Den ganzen Abend über hatte er nicht ein einziges Mal den
Mund zu einem Lächeln verzogen. Falls Phoebe irgendwann einmal
tatsächlich die hohe Kunst des Webdesigns erlernen sollte, dann sicher
nicht wegen, sondern eher trotz Mr. Deekles Lektionen.

»Ha!« Kate unterdrückte ein Lachen und winkte Phoebe mit sich

hinaus in den Flur. »Ich hatte völlig vergessen, dass die
Computerfreaks des 21. Jahrhunderts durch die Bank verkorkste und
furztrockene Typen sind. Wie dumm von mir.«

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»Mr. Deekle ist irgendwo im letzten Jahrhundert stecken

geblieben«, sagte Phoebe. Sie steuerten auf die große
Doppelschwingtür zu, die am Ende des langen Flurs hinaus auf die
Straße führte. Wenige Meter vor ihnen strebten drei junge Männer
ebenfalls dem Ausgang zu, allesamt glichen dem gut aussehenden,
athletischen Typ mit Sinn für modischen Schick. Mein Gott, dachte
Phoebe, gleich drei künftige Firmenbosse auf einmal. »Diese
Möchtegern-Webmaster aus unserem Kurs sind wahrscheinlich die
kommenden Supermodels des Jahrtausends«, meinte sie und wies
nickend auf die drei Männer.

»Damit könntest du Recht behalten.« Seufzend blickte Kate den

drei hübschen Jünglingen hinterher, während sie sich durch die am
Bordstein parkenden Autos zwängten. Als sie sah, dass die drei in
einem Internet-Café auf der anderen Seite der Straße verschwanden,
stieß sie Phoebe grinsend an. »Darf ich dich noch auf einen Kaffee
einladen?«

Phoebe zögerte, Kates Angebot anzunehmen. Während ihrer Zeit

als Studentin hatte sie kaum irgendwelche näheren Kontakte zu den
um einige Jahre jüngeren Schülern der College-Stufe gehabt.
Abgesehen vom Altersunterschied war es eingedenk ihres
Hexendaseins ohnehin nicht immer ganz einfach, mit
Normalsterblichen so etwas wie eine dauerhafte Freundschaft zu
führen.

Kate indes war beinahe im gleichen Alter wie sie und darüber

hinaus offensichtlich nur an einer gleichgeschlechtlichen
Rückendeckung interessiert, während sie auf Männerfang ging.
Phoebe stand der Sinn ganz und gar nicht nach amourösen
Abenteuern, andererseits war es keine schlechte Idee, nach den
hirnzermarternden Strapazen des Abendschulkurses ein wenig
abzuschalten. Cole war irgendwo in der Wildnis, Paige arbeitete im
Obdachlosenheim, und Leo und Piper würden wahrscheinlich erst in
den frühen Morgenstunden aus dem P3 nach Hause kommen. Es gab
keinen Grund zu übertriebener Eile.

»Kaffee klingt großartig,« sagte Phoebe, »aber allzu lange kann ich

nicht bleiben. Ich muss heute Abend auf jeden Fall noch mal meine
Notizen durchgehen, bevor ich morgen vergessen habe, was damit
gemeint war.«

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»Erinnere mich bloß nicht daran.« Kate betrat das Café und ließ

anerkennend nickend ihren Blick über das geschmackvolle Interieur
gleiten. »Cooler Laden, was?«

Phoebe konnte dem nur zustimmen. Überall hingen Blumenampeln

aus Bast von der Decke, mit echten Pflanzen darin, und die Wände
zierten zahlreiche Kunstdrucke berühmter Gemälde. Ein großes
schwarzes Brett voller Zettel und Flyer hielt die Gäste über alles auf
dem Laufenden, was für die Klientel von Interesse sein mochte, von
demnächst anstehenden Konzerten über Schnäppchenkäufe bis hin zu
diversen Mietgesuchen und Wohnungsangeboten. Direkt daneben
stand ein riesiges Regal mit Büchern, Magazinen und einer Auswahl
der gängigsten Tageszeitungen. Gepolsterte Sofas und Stühle waren
vor Tischen platziert, die in ihrer zweckmäßigen Schlichtheit ein
wenig aus dem Rahmen fielen. Dessen ungeachtet war das Compute-
A-Cup
zwar nicht brechend voll, doch beachtlich gut besucht, wobei
die Kundschaft so gut wie ausnahmslos aus jungen Studenten bestand.

Wahrscheinlich weil auf jedem der Tische ein Computer mit

Internetanschluss steht, folgerte Phoebe messerscharf. Der auch vor
Cafés nicht zurückschreckende Hightech-Wahn war in Japan und
Europa längst selbstverständlich geworden. Offenbar setzte dieser
Trend sich allmählich auch in den Vereinigten Staaten durch.

Einer der drei jungen Männer, denen sie gefolgt waren, schaltete,

noch während er dabei war, sich hinzusetzen, den Computer auf
seinem Tisch ein.

»Dahinten ist noch was frei.« Kate wies auf einen Ecktisch am

anderen Ende des Raumes, von dem aus sich ihre männlichen
Kursgenossen ausgezeichnet im Auge behalten ließen. Sie hastete los,
bevor ihnen irgendjemand den Platz vor der Nase wegschnappen
konnte.

Während Phoebe sich gemesseneren Schrittes in ihrem Kielwasser

hielt, begann ein neuzeitlicher Barde, dessen Bühne allein aus einem
zentral positionierten Stuhl bestand, zu den gezupften Klängen seiner
zwölfsaitigen Gitarre eine irische Ballade zu singen. Kates
Gesellschaft, ein heißer Cappuccino und der sanfte Tenor eines
Folksängers waren genau das Richtige, um Phoebe für einen
Augenblick vergessen zu lassen, dass mit dem Morgengrauen für sie
ein weiterer langer Tag ohne Job und feste Arbeit begann.

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»Danke, dass du noch mitgekommen bist«, sagte Kate, als Phoebe

sich zu ihr setzte und ihre Bücher auf dem Boden ablegte. Sie schob
den Bildschirm weiter nach hinten an die Wand, ohne ihn
einzuschalten.

»Danke für die Einladung.« Phoebe lehnte sich zurück, während

die Bedienung, vermutlich ebenfalls Studentin, einige Krümel von
ihrem Tisch wischte.

»Wisst ihr schon, was ihr bestellen wollt?« Erwartungsvoll sah die

junge Frau sie mit gezücktem Notizblock und Kuli an.

»Für mich einen Cappuccino und ein Stück Erdbeer-Käsekuchen,

falls ihr den habt.« Wenn sie schon auf Studentin machte, entschied
Phoebe, konnte sie sich ruhig auch mal was Süßes gönnen. Die
überflüssigen Kalorien würde sie sich morgen zu Hause im
Fitnessraum wieder abtrainieren.

»Haben wir.« Der Blick der Bedienung wanderte zu Kate, die für

sich das Gleiche bestellte.

Im selben Moment, als die junge Frau sich umdrehte, um Richtung

Theke davonzustaksen, schaute Kate schon wieder zu den drei Jungs
hinüber, die dicht nebeneinander gekauert vor dem
Computerbildschirm hockten und die Köpfe zusammensteckten. »Ich
weiß es wirklich zu schätzen, dass du mich mit deiner Anwesenheit
beehrst. So sehr ich es auch mag, nach anstrengender geistiger
Tätigkeit einfach mal ein bisschen abzuhängen, alleine wär ich mir
hier ziemlich blöd vorgekommen.«

»Kein Problem«, erwiderte Phoebe. »Abgesehen von Lernen hatte

ich ohnehin nichts Besseres vor.«

»Was? Kein Mann in deinem Leben?« Ungläubig riss Kate die

Augen auf.

Phoebe verspürte nicht die geringste Lust, vor einer völlig Fremden

ihr Privatleben auszubreiten. Ihr Blick fiel auf Kates breiten, goldenen
Armreif, der mit verworrenen und ineinander verschlungenen, keltisch
anmutenden Mustern versehen war. »Was für ein außergewöhnlich
schönes Stück«, sagte sie, um das Thema zu wechseln.

»Es hat mal meiner Urgroßmutter gehört –« Kate brach ab und zog

grübelnd die Stirn in Falten. »– vielleicht war's auch meine
Ururgroßmutter. Egal. Auf der Innenseite ist noch irgendeine Inschrift

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eingraviert, aber ich hab nie herausfinden können, was sie bedeutet.«
Sie streifte den Armreif ab und drückte ihn Phoebe in die Hand.
»Vielleicht kriegst du es ja raus.«

Phoebes Antwort erstarb in einem gutturalen Grunzen, denn

plötzlich brach eine Vision über sie herein.

Kate, gekleidet in Tierfelle und Leder, darüber eine Rüstung aus

grob beschlagenem Eisen, stand neben einem riesigen Baum. Aus den
pechschwarzen Wolken über ihr zuckten grellweiße Blitze hervor.
Einer von ihnen schlug in den Stamm eines anderen Baumes ein, der
den, unter dem Kate sich befand, noch weit überragte, und fällte ihn
in einer explodierenden Kaskade aus Funken und Feuer …

Der Armreif entglitt Phoebes Fingern, und im selben Moment

wurde sie aus ihrer Trance wieder herausgerissen. Obwohl die Vision
ein Gefühl in ihr hinterließ, als hätte sich eine gigantische Faust
dreimal kräftig in ihrem Magen umgedreht, versuchte sie, sich
äußerlich nichts anmerken zu lassen. Glücklicherweise schaute Kate
gerade zu dem Folksänger hinüber, sodass ihr Phoebes kleiner
Aussetzer wahrscheinlich entgangen war.

»Irgendeine Idee?«, meinte Kate, indem sie sich wieder Phoebe

zuwandte.

»Was meinst du?«, fragte Phoebe leicht verunsichert.

»Die Inschrift.« Kate legte den Armreif wieder an. »Ich nehme an,

du hast auch keine Ahnung, was da steht.«

Phoebe schüttelte den Kopf, erleichtert, dass ihr kurzer

Trancezustand nicht bemerkt worden war. Nichtsdestotrotz war ihr
immer noch speiübel. Sie war sich ziemlich sicher, dass die
erschreckenden Bilder aus Kates Vergangenheit stammten und nicht
aus ihrer Zukunft. Doch da es ihr unmöglich war, an der
Vergangenheit der Frau irgendetwas zu ändern, musste sie warten, bis
der Hexenrat der Zauberhaften wieder zusammentreten würde.

»So, da wären wir.« Mit einer schwungvollen Bewegung setzte die

Bedienung ein Tablett mit zwei großen Cappuccino-Tassen und zwei
Portionen Käsekuchen à la New York – will heißen: mit jeder Menge
Erdbeersoße – auf dem Tisch ab.

Phoebe starrte pikiert auf die Kalorienbombe. »Hab ich etwa

Käsekuchen bestellt?«

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3

»

D

AS GEHT DICH NICHTS AN,

Doug.« Mit sich zunehmend

verfinsternder Miene presste Paige den Telefonhörer an ihr Ohr.
Normalerweise pflegte sie auf Dougs Sticheleien gar nicht erst
einzugehen, doch heute war sie zu gereizt, um seine
Unverschämtheiten einfach so hinzunehmen.

»Ich finde es großartig, dass du und Kevin euch so wunderbar

versteht, Paige«, sagte Doug. »Du bist viel zu jung, um fast deine
gesamte Freizeit damit zu verbringen, irgendwelche Straßenpenner
mit Kartoffelbrei abzufüttern.«

»Ich dachte, dir liegt etwas an diesen Leuten.« Paiges Blick fiel auf

ihren Chef, der sie vom anderen Ende des Großraumbüros her
anstarrte. Sie war an diesem Morgen zwanzig Minuten zu spät
gekommen, weil sie verschlafen hatte. Zu den wenigen Dingen, die
Mr. Cowan noch mehr hasste als Angestellte, die grundsätzlich zu spät
zur Arbeit erschienen, zählten Angestellte, die die Telefone des South-
Bay-Sozialdienstes
dazu missbrauchten, ihre Privatangelegenheiten zu
regeln. Und was Letzteres anbelangte, war sie nicht eben das, was
man ein leuchtendes Vorbild nannte.

»Für einen Mann wie mich ist das ja auch völlig in Ordnung, wenn

er sich tagein, tagaus um die Obdachlosen kümmert«, entgegnete
Doug. »Schließlich bin ich kein junger Springinsfeld mehr, bei mir ist
der Lack längst ab.«

»Jennifer scheint das ein wenig anders zu sehen«, konnte Paige

sich nicht verkneifen zu bemerken.

Doug überhörte die Anspielung auf seinen neuesten, leider nur aus

einer einzigen Verehrerin bestehenden Fanclub. »Warum rufst du
überhaupt an? Gibt es irgendeinen besonderen Grund?«

»Ja«, erwiderte Paige. »Ich wollte dich fragen, ob Stanley gestern

Abend wieder aufgetaucht ist.« Sie legte die Hand vor den Mund, um
ein Gähnen zu verbergen, und nickte sodann Mr. Cowan freundlich
zu. Ihr Boss runzelte die Stirn und zog sich in sein Büro zurück.

»Stanley ist etwa gegen elf hier eingetrudelt, hat die ganze Nacht

über so geschnarcht, dass die Wände wackelten, und sich dann um

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acht wieder auf die Socken gemacht.« Doug seufzte. »Schon was vom
Hawthorn Hill gehört?«

»Ich hab Stanleys Antrag doch gestern erst abgeschickt, Doug.«

Paige konnte die Frustration des Obdachlosenheimleiters voll und
ganz verstehen. Tag für Tag, Woche um Woche und Monat um Monat
kämpfte dieser Mann gegen die behäbig arbeitenden Mühlen
staatlicher Bürokratie, und bisweilen schien es fast so, als würden sie
sich überhaupt nicht von der Stelle bewegen. »Ich hoffe, dass ich noch
vor Ende der Woche Antwort erhalte, spätestens am nächsten
Montag.«

»Richtig. Ach ja, übrigens, nur für den Fall, dass es dich

interessiert –« Doug zögerte, als wollte er dem, was jetzt kam, durch
eine kleine Kunstpause zusätzliche Bedeutung verleihen. »– Kevin
arbeitet die ganze Woche hier.«

Paige legte auf, doch es gehörte nicht viel Fantasie dazu, sich

vorzustellen, wie Doug in diesem Moment in lautes Gelächter
ausbrach. Ausnehmend verärgert, schob sie den kleinen Kaktus, der
auf ihrem Schreibtisch stand, in die äußerste Ecke, schlug Stanleys
Akte auf und machte sich daran, ihre Anmerkungen auf den neuesten
Stand zu bringen. Auch wenn Doug es wahrscheinlich nicht glauben
würde, der einzige Platz, den Kevin Graves jemals in ihrem Leben
einnehmen würde, war der neben ihr an der Essensausgabe im
Obdachlosenheim.

Die Heimfahrt am vergangenen Abend war ziemlich enttäuschend

verlaufen. Zuerst hatte sie Kevin von ihrer Arbeit beim South-Bay-
Sozialdienst
erzählt, dann hatte er ihr seinen Arbeitsunfall geschildert,
und schließlich war das Gespräch bei Dougs Obdachlosenheim
gelandet, zunächst allgemein und dann speziell bei Stanley Addison.
Nicht einen einzigen Moment des Zögerns hatte es gegeben, als sie, in
der Prescott Street angekommen, die Beifahrertür aufstieß; kein
verlegenes Herumgedruckse und auch nicht einen einzigen Versuch
von seiner Seite, den Augenblick durch das Anschneiden eines neuen
Themas noch ein wenig hinauszuzögern. Lediglich ein knappes
»Mach's gut, vielen Dank, bis morgen dann«, konnte sie noch sagen,
bevor Kevin wieder davonfuhr.

Nachdenklich legte Paige die Stirn in Falten. Sie hatte sich das

Knistern zwischen ihnen beiden nicht bloß eingebildet, und sie war

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sich sicher, dass es auch Kevin nicht verborgen geblieben war. Was
also war geschehen, dass dieses erste zaghafte Aufflackern zarter
Gefühle so jäh erloschen war? Möglicherweise hatte der Umstand,
dass sie während der Autofahrt zwischen den Sätzen immer wieder
eingenickt war, dazu beigetragen. Was, wenn Kevin dachte, dass er sie
langweilte? Das würde natürlich sein plötzliches Desinteresse
erklären.

»Nicht gerade gutes Material für eine Seifenoper, das steht schon

mal fest«, murmelte Paige.

»Hast du irgendwas gesagt?« Lila blieb vor Paiges Schreibtisch

stehen und sah ihre Kollegin fragend an.

»Nichts von Bedeutung«, erwiderte Paige ausweichend. Solange

sie noch nicht herausgefunden hatte, was mit Kevin eigentlich los war,
wollte sie sich die täglichen Anfragen ihrer neugierigen Mitarbeiterin
hinsichtlich ihres Gefühlslebens lieber ersparen.

»Alles klar.« Lila wandte sich ab, um sich wieder an die Arbeit zu

machen. Doch sie blieb, ohne es zu bemerken, mit dem Ärmel an
Paiges neuem Kaktus hängen.

Paige schreckte aus ihrer Lethargie auf, als sie sah, dass sich hier

eine der vielen kleinen Katastrophen des Alltags anzubahnen schien.

Ihr erster Gedanke galt der Sorge um ihren Kaktus, der bei einem

jähen Sturz möglicherweise Schaden nehmen würde.

Ihr zweiter einmal mehr Mr. Cowan, der sich bereits einige Male

nicht eben gnädig über die Tarotkarten, Kerzen und all den anderen
Krimskrams, der Paiges Arbeitsplatz in die Nähe eines
Flohmarktstandes rückte, geäußert hatte. Er musste ja nicht unbedingt
mit der Nase darauf gestoßen werden, dass sich Paiges
beeindruckende Sammlung um ein weiteres Stück vergrößert hatte.

Instinktiv versuchte Paige, die Situation zu retten. »Kaktus«,

zischte sie, in der Erwartung, dass die gefährdete Pflanze
augenblicklich wohlbehalten in die Hände ihrer Besitzerin orbte.

Stattdessen folgte der Topf den Gesetzen der Schwerkraft und

zerbrach. Im nächsten Moment verschwanden Tonscherben, ein
Haufen Pflanzenerde nebst dem entwurzelten Kaktus in einer
wabernden Aura aus weißblauem Licht und materialisierten dort, wo
sie eigentlich als unbeschadetes Ganzes hätten auftauchen sollen.

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Rasch presste Paige die Hände zusammen, um zu verhindern, dass

die lockere Blumenerde zwischen ihren Fingern hindurch auf den
Bürofußboden rieselte. Ein Kaktusstachel bohrte sich in ihre
Handfläche, und mit einem spitzen Aufschrei ließ sie den ganzen
Klumpatsch einfach fallen.

»Was ist passiert?«, fragte Lila, sich wieder zu ihr umdrehend.

Genau das hätte Paige auch gern gewusst. Was war gerade

passiert?

»Mach dir keine Sorgen, Lila. Ich bin sicher, der Kaktus wird's

überleben.« Dabei bin ich es, die sich Sorgen machen muss, fügte
Paige in Gedanken hinzu, während sie sich bückte und die Pflanze
vorsichtig wieder aufhob. Kleine Erdklumpen und Tonsplitter steckten
auf den spitzen Stacheln. Sie war völlig überarbeitet und hatte zudem
in der vergangenen Nacht so gut wie überhaupt nicht geschlafen, doch
Piper und Phoebe hatten ihr gegenüber nie etwas davon erwähnt, dass
Erschöpfung ihre magischen Fähigkeiten beeinträchtigen konnte.

Nur mit Mühe gelang es Paige, die schweren Augenlider offen zu

halten, während sie mit den Händen die verstreute Blumenerde in
ihren Kaffeebecher schaufelte, um dem Kaktus eine provisorische
neue Heimat zu geben.

Vielleicht würde ein kleines Nickerchen ihre Kräfte wieder in

vollem Umfang zurück kehren lassen.

»Du hast ja noch gar nichts über deinen Webdesign-Kurs erzählt.«

Piper hielt eine Kartoffel unter den laufenden Wasserkran und warf
einen Blick über die Schulter, während sie die geschälte Knolle zu den
anderen in den Kochtopf plumpsen ließ.

Phoebe sah von ihrem Notebook auf, das vor ihr auf dem

Küchentisch stand. »Weil es noch zu früh ist, um zu beurteilen, ob er
was bringt oder nicht.«

Eigentlich stimmt das nur teilweise, dachte Phoebe. Sie hatte sich

bisher hinsichtlich des gestrigen Abends wohlweislich
zurückgehalten, weil er quasi über Nacht für sie zu einem bestenfalls
vage zu nennenden Eindruck zusammengeschmolzen war. Das
Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war, dass der Kursleiter ein
totaler Langeweiler war und dass sie es um so mehr genossen hatte,

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im Anschluss an seinen nervtötenden Vortrag mit Kate Dustin im
Compute-A-Cup noch ein wenig zu plaudern. Worüber sie sich jedoch
im Einzelnen unterhalten hatten, wusste sie nicht mehr, aber
andererseits legte sie ohnehin nicht viel Wert auf Konversationen über
irgendwelche Dates oder die neuesten Modetorheiten und Trends.
Zum Glück hatte sie sich während des Kurses reichlich Notizen
gemacht, sodass sie sich in der nächsten Stunde, die bereits auf den
morgigen Abend angesetzt war, nicht ganz auf verlorenem Posten
befand.

»Wenn es um technische Dinge ging, warst du doch immer die

Erste in unserem Verein, die ›Hier‹ gerufen hat«, sagte Piper.

»Ja, aber es ist ein Unterschied, ob man einfach nur in der

Nachbarschaft herumgondelt oder selbst ein Haus baut.« Phoebe
seufzte. »Dasselbe gilt für das Surfen im Internet und die Gestaltung
einer Website. Irgendwelche Homepages aufrufen kann jeder Idiot.«

Phoebe starrte auf den HTML-Code auf ihrem Bildschirm. Es war

nicht weiter schwierig, einen Link zu einer anderen Website zu setzen,
wenn man Schritt für Schritt gesagt bekam, was man als Nächstes zu
machen hatte. Echte Probleme bereitete es ihr indes, sich die
Arbeitsgänge des an sich simplen Übungsbeispiels auch tatsächlich zu
merken.

»Ich wette, eine Website zu gestalten ist um einiges leichter, als ein

Haus zu bauen, und billiger.« Kichernd stopfte Piper die
Kartoffelschalen in den Abfallzerkleinerer. Dann ließ sie ein bisschen
Wasser nachlaufen, setzte den schwarzen Stöpsel auf das gähnende
Loch im Spülbecken und schaltete den Resteschredder ein.

Phoebe bekam beinahe einen Herzinfarkt, als Pipers schriller

Aufschrei durch die Küche gellte. Alarmiert riss sie den Kopf in die
Höhe und bekam gerade noch mit, wie der Plastikstöpsel wie ein
Geschoss Richtung Küchendecke flog, gefolgt von einem wahren
Geysir aus zerhackten Gemüseschalen.

Piper brach in schallendes Gelächter aus.

»Stell ihn wieder ab!« Reaktionsschnell klappte Phoebe ihren

Laptop zu, um ihn vor Spritzern und umherfliegenden Breiklumpen zu
schützen.

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»Schon geschehen!« Piper legte den Schalter um, doch die Fontäne

aus Abfall und Wasser riss nicht ab.

Ihr Notebook zu retten, hatte für Phoebe oberste Priorität. Mit

gegen die Brust gepresstem Hightech-Gerät rannte sie hinaus auf den
Flur und entging nur mit knapper Not einer Frontalkollision mit der
Kellertür, die Leo in diesem Moment aufstieß.

»Was ist los?«, fragte der Wächter des Lichts, noch völlig außer

Atem von seinem Sprint die Kellertreppe hoch. Bei Notfällen im
eigenen Hause ging Laufen manchmal schneller als Orben.

Piper stand immer noch in der Küche und krümmte sich vor

Lachen. Unfähig, zusammenhängende Worte, geschweige denn ganze
Sätze zu bilden, zeigte sie unentwegt auf die Abfallfontäne und drehte
den Wasserhahn auf und zu, was allerdings auf den wenig
appetitlichen Springbrunnen in der Spüle ohne jede Wirkung blieb.

»Offenbar hat unser Abfallzerhacker sich gerade selbst eliminiert.«

Phoebe verstaute ihr Notebook in der erstbesten Schublade.

»Er lässt sich nicht mehr abschalten«, stieß Piper prustend hervor.

Dann griff sie nach einem herumliegenden Geschirrtuch, um sich das
braungelb gesprenkelte Gesicht abzuwischen, doch als sie merkte,
dass das Trockentuch klatschnass und voll schmieriger Kartoffelreste
war, warf sie es in einer bühnenreifen Geste kurzerhand über die
Schulter. Sie biss sich auf die Unterlippe, konnte jedoch nicht
verhindern, dass neuerliches Kichern ihrer Kehle entschlüpfte.

Auch Phoebe konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es würde

Stunden dauern, die Folgen des Malheurs zu beseitigen und alles, was
von der breiigen und allmählich antrocknenden Masse in
Mitleidenschaft gezogen worden war, einschließlich Piper, wieder von
Grund auf zu säubern. Aber immerhin nahm ihre ältere Schwester die
Sache mit Humor, anstatt auszuflippen.

»Möglicherweise ein Rohrbruch.« Leo machte einen Schritt in

Richtung Spülbecken und wäre fast auf dem Kartoffelschleim
ausgerutscht, der den Boden bedeckte.

»Pass auf!« Erschrocken riss Phoebe ihre Arme hoch, als Leo sich

wie ein Schlittschuh-Anfänger am Küchentisch festhielt.

Abermals brach Piper in lautes Gelächter aus. Sofort schlug sie

sich schuldbewusst die Hand vor den Mund. »Tut mit Leid, Leo.«

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»Schon okay. Wenn ich dich mit einer kleinen Slapstickeinlage

glücklich machen kann, soll's mir nur recht sein.« Lächelnd öffnete
Leo den Küchenunterschrank und sah hinein. »Ein Rohrbruch ist es
jedenfalls nicht.«

»Das ist doch gut, oder?«, fragte Phoebe, ein wenig verunsichert

durch den veränderten Tonfall in Leos Stimme.

»Wie man's nimmt.« Leo drehte den Haupthahn des Spülbeckens

zu, schloss die Unterschranktür und stand wieder auf. Dann fuhr er
mit dem Finger an der feuchten Abflussöffnung entlang und streckte
ihn Piper und Phoebe entgegen. Ein annähernd kreisrundes,
hauchdünnes und grünlich glänzendes Plättchen von etwa einem
Zentimeter Durchmesser hing daran.

»Was ist das?«, fragte Piper.

»Schlechte Neuigkeiten«, sagte Leo.

Phoebe runzelte die Stirn. Gestern war die obere Toilette

übergelaufen, und heute spielte der Abfallzerhacker verrückt. Zwar
bedeutete keines der beiden Desaster eine Gefahr für Leib oder Leben,
dennoch war ihre rasche Aufeinanderfolge höchstwahrscheinlich kein
Zufall. »Schlecht im Sinne von ›abartig veranlagter schleimiger
Dämon‹?«

»Eher im Sinne von ›schleimiger Gremlin‹«, erwiderte Leo. »Die

Ratten der Unterwelt, wenn man so will, nur hässlicher und gemeiner
– und viel schlauer. Viele von ihnen sind außerdem magieresistent,
aber eines haben sie alle gemeinsam: Schuppen.« Er schnippte die
grüne Gremlinschuppe in den Abfalleimer.

»Und wie werden wir ihn wieder los?« Piper lehnte sich über das

Spülbecken und spähte in den Abfluss.

»Indem wir ihn einfangen und ihn in seinem angestammten

Lebensraum wieder freilassen.« Leo blickte auf den Boden.
»Irgendwo da unten.«

»Gilt für Gremlins etwa so einer Art Abschussverbot?«, fragte

Phoebe.

»Nein«, erwiderte Leo, »aber wenn ein Gremlin stirbt, spüren es

die anderen und füllen die entstandene Lücke so schnell wie möglich
wieder auf. Die einzige Chance, diesen Kreislauf zu unterbrechen,

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besteht darin, bereits den ersten dieser widerlichen, kleinen
Hausbesetzer dingfest zu machen. Ein Gremlin, der in einer Falle
steckt oder auf sonst irgendeine Weise gezwungen wird, sein
erwähltes Wirkungsfeld zu verlassen, sondert ganz bestimmte
Pheromone ab. Wir können sie zwar nicht wahrnehmen, aber ihr
Geruch schreckt die anderen ab und sorgt dafür, dass sie die Stätte
seiner Schmach meiden wie der Teufel das Weihwasser.«

»Schon kapiert. Nicht einmal das Ungeziefer des Bösen lässt sich

auf einfache Weise beseitigen.« Nun, nachdem die Eruption aus
Schmutzwasser und Abfall gestoppt war, wagte sich Phoebe wieder
ein wenig näher an die Spüle heran. »Kannst du irgendwas erkennen,
Piper?«

Vorsichtig in das Abflussrohr linsend, schüttelte Piper den Kopf.

»Nein, außer dass es da unten ziemlich düster –« Jäh flog die
Unterschranktür auf, und ein schleimig grünes Etwas, das man auf den
ersten Blick für einen zu groß geratenen Frosch hätte halten können,
wären da nicht die spitzen, kleinen Zähne in dem sperrangelweit
aufgerissenen Maul, schoss kreischend zwischen Leos Beinen
hindurch.

»Achtung!«, rief Piper und lachte vor Überraschung hell auf.

Als sie das Minisumpfungeheuer auf sich zustürmen sah, setzte

Phoebe reflexartig ihre magischen Fähigkeiten ein. Doch anstatt, wie
erwartet, augenblicklich in die Höhe zu schießen, erhob sie sich mit
quälender Langsamkeit vom Boden. Der kleine grüne Unhold
schnappte nach ihrem Fuß und hinterließ, quasi im Vorbeisausen,
zwei Reihen hässlicher kleiner Zahnabdrücke in dem Leder ihres
Schuhs.

Hüstelnd versuchte Piper, ihr Glucksen zu verbergen und fragte:

»War das ein Gremlin?«

Leo nickte. »Ich fürchte, ja.«

Währenddessen zog sich Phoebe einige Schritte in den Hausflur

zurück und sorgte sich über ganz andere Dinge als über rattenartige
Frösche oder einen ruinierten Schuh. Viel drängender schien ihr die
Frage zu sein, warum ihre Hexenkräfte sie im Stich gelassen hatten.

Während ihres Psychologiestudiums hatte Phoebe gelernt, dass

Stress häufig zu körperlichem und geistigem Leistungsabfall führte.

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Konnte es sein, dass ihr Unterbewusstsein irgendwelche Ängste
unterdrückte, dass ihr, nur mal als Beispiel, Coles permanente kleine
Fluchten weitaus mehr zu schaffen machten, als sie eigentlich
annahm? Und konnte es sein, dass auch ihre übernatürlichen
Fähigkeiten davon beeinträchtigt wurden?

Oder war sie einfach nur gegen Gremlins allergisch?

So oder so, dachte Phoebe, ich sollte es schleunigst herausfinden

und etwas dagegen unternehmen. Schon um ihrer aller Sicherheit
willen konnte sie sich magische Kräfte, die ihr in kritischen
Momenten den Dienst versagten, nicht leisten.

Phoebe wollte Leo und Piper gegenüber nur ungern die Pferde

scheu machen, doch alles, was unter Umständen darauf hinauslief, die
Macht der Drei zu untergraben, war vor allem eines – beunruhigend.
»Ich schätze, wir haben da möglicherweise ein Problem.«

»Das weiß ich auch. Wie viel Schaden kann so ein kleiner Gremlin

anrichten, Leo?« Piper schien inzwischen nicht mehr ganz so
amüsiert. »Auf einer Skala von eins bis zehn.«

»Eins, wenn wir darüber reden, wie lebensbedrohlich und bösartig

das Biest ist«, erklärte Leo. »Es gibt verschiedene Arten von
Gremlins, und dieser hier scheint mir ein gewöhnlicher Hausgremlin
zu sein. Ich glaube nicht, dass er sonderlich gefährlich ist, aber in
Bezug auf seine Zerstörungswut und die für uns damit
zusammenhängenden Scherereien würde ich ihm auf jeden Fall eine
Zehn verpassen.«

»Mit anderen Worten, teuer.« Piper seufzte.

»Und was macht er hier?« Noch während Phoebe fragte, hatte sie

das unangenehme Gefühl, irgendetwas Wichtiges vergessen zu haben.

»Ungehindert und frohgemut im Haus herumrennen.« Piper zog

eine Augenbraue in die Höhe und bedachte Leo mit einem Blick, als
wäre das alles ganz allein seine Schuld.

Der indes schaute hinaus auf den Flur. »Genauer gesagt sucht er

wahrscheinlich nach einem Weg, wie er am schnellsten wieder zurück
ins Rohrleitungssystem gelangen kann.«

»Ich meinte, wieso hat er sich ausgerechnet unser Haus

ausgesucht«, konkretisierte Phoebe ihre Frage.

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»Weil Halliwell Manor voller Magie und alter Leitungsrohre

steckt.« Leo schloss die Kellertür. »Beides Dinge, die auf einen
verirrten Kanalgremlin eine ungeheure Anziehungskraft ausüben.«

»Du meinst, er hat sich verlaufen?« Irritiert blinzelte Phoebe ihn

an.

»Das war einmal, jetzt hat er ja uns«, witzelte Piper. »Wir

brauchen ihn bloß –«

»Frier ihn ein!«, schrie Phoebe, als das wieselflinke Scheusal

wieder in die Küche gerast kam und mit einem gewaltigen Satz ins
Spülbecken sprang.

Gerade als das groteske Monsterfrettchen seinen Kopf in den

Abfluss stecken wollte, entriss Piper es mit ihren magischen Kräften
dem Strom der Zeit und ließ es erstarren. »Hab dich!«

Angewidert ihre Nase verziehend, betrachtete Phoebe die seltsame

Kreatur in der Spüle. Der grünbraun gesprenkelte Körper ragte reglos
aus dem Abfluss heraus, sozusagen »Schwänzchen in die Höh«, nur
dass das »Schwänzchen« in diesem Fall aus zwei kräftigen
Hinterbeinen bestand. An den mit Schwimmhäuten versehenen Füßen
waren hakenförmige Krallen zu erkennen, die bei Bedarf
wahrscheinlich blitzschnell ausgefahren werden konnten. Die
vorderen Beine und Füße waren eine lediglich etwas kleinere Version
des hinteren Paars, ganz ähnlich denen eines Froschs oder einer Kröte.
Wenngleich Kröten, wie Phoebe fand, im Vergleich zu diesem kleinen
Abflussrohrtaucher geradezu zum Knuddeln waren.

»Schwein gehabt«, meinte Leo. »Scheint so, als würde Magie bei

ihm funktionieren.«

»Guck lieber mal genauer hin«, machte Piper ihn aufmerksam.

Zentimeter um Zentimeter rutschte, als ihr Zauber nachzulassen
begann, der in doppelter Hinsicht in der Klemme steckende
Hausterrorist tiefer in den Abfluss hinein.

Leo versuchte, den Gremlin an einem der Hinterfüße festzuhalten,

doch vergeblich. Das Biest war einfach zu glitschig.

Vor Ekel erschaudernd, sah Phoebe, wie der dämonische

Breitmaulfrosch im Siffon verschwand. »Okay, das war echt witzig.
Aber ich fürchte, jagen und einfangen müsst ihr ihn ohne mich,
Leute.«

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»Das Kerlchen ist dir wohl 'ne Spur zu schleimig, was?«, spöttelte

Leo.

»Nein, ich muss noch was für meinen Kursus morgen Abend tun.«

Angewidert ließ Phoebe ihren Blick durch die Küche schweifen, die
über und über mit zähflüssiger Kartoffelpampe eingesaut war. »Im
Wohnzimmer.«

»Ja, hier ist es wohl ein wenig zu schmutzig.« Piper wischte sich

etwas von der Nase, das entfernt an Tapetenkleister erinnerte. »Geh
nur Lernen. Leo und ich schaffen das hier auch alleine.«

»Vielen Dank.« Phoebe machte einen Schritt auf den Küchentisch

zu und blieb wie angewurzelt stehen. »Wo ist mein Laptop?«

»In dem Schränkchen hinter dir, dort, wo du ihn versteckt hast.«

Leo langte mit einem Arm unter die Spüle, um den Haupthahn wieder
aufzudrehen. »Mittlere Schublade.«

»Ach ja, richtig.« Phoebe schnappte sich ihren Computer und

machte sich mit ihm aus dem Staub, bevor Leo oder Piper Gelegenheit
fanden zu fragen, wieso sie denn auf einmal so vergesslich war.

Schnaufend blieb Piper vor der Tür zum Speicher stehen, voll

bepackt mit Kleidern in Plastiküberzügen. Sie hatte es satt, ihre und
Leos Klamotten tagein, tagaus in den viel zu kleinen
Schlafzimmerschrank hineinzustopfen, und war zu dem Entschluss
gekommen die Sachen, die sie schon seit Monaten nicht mehr
getragen hatte, kurzerhand auszusortieren. Aber solange sie nicht in
der Lage war, die mittlerweile ein wenig aus der Mode gekommenen
Röcke und Kostüme in die Altkleidersammlung zu geben, wollte sie
sie lieber erst einmal hier oben verstauen. Eines Tages würden sie und
ihre Schwestern sich vielleicht den über Generationen hinweg
angesammelten Halliwell-Krempel ansehen und sich entschließen,
einen riesigen Vorgarten-Flohmarkt zu veranstalten.

»Wahrscheinlich aber eher nicht,« murmelte Piper und tastete nach

dem Türknauf. Als sie bemerkte, dass die Dachbodentür lediglich
angelehnt war, stieß sie sie mit dem Fuß auf und stolperte auf den
Speicher. An der nächstbesten freien Stelle ließ sie ihre Last fallen,
drehte sich um und erblickte Paige, die in einem von Grams alten,
staubigen Koffern herumstöberte.

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»Hey, Paige. Was machst du denn hier?«

»Ich hab das hier gesucht.« Paige hielt einen kleinen Keramiktopf

in die Höhe, der mit zierlichen Blumenmotiven bemalt war. »Er ist
perfekt.«

»Er gehörte Grams«, sagte Piper. »Sie hat Nadeln darin

aufbewahrt.«

»Du meinst Broschen?«, fragte Paige gähnend nach.

»Nein, ganz normale Nadeln. Nähnadeln, Sicherheitsnadeln,

Hutnadeln, alles, was es da halt so gibt.« Piper kam näher heran und
setzte sich auf ein Kissen, das am Boden lag. »Egal, was für eine
Nadel wir auch gerade benötigten, wir wussten immer, wo sie zu
finden war.«

»Na, dann ist er ja noch viel perfekter.« Erschöpft schloss Paige

den Koffer. Sie ließ sich auf ihre Fersen sinken und schien in sich
zusammenzusacken, das zerbrechliche Gefäß noch immer in der
Hand. »Ich meine, wenn Grams ihn schon benutzt hat.«

»Perfekt wofür?« Piper beugte sich vor, bereit, jeden Moment

aufzuspringen und ihre Schwester aufzufangen, als sie sah, dass Paige
kaum noch in der Lage war, die schweren Augenlider offen zu halten.
Es war noch relativ früh am Abend, gerade mal neun Uhr, aber die
Doppelbelastung, die sich aus ihrer regulären Tätigkeit beim South-
Bay-Sozialdienst

und der beinahe täglichen Arbeit im

Obdachlosenheim in der Fünften Straße ergab, schien allmählich ihren
Tribut zu fordern.

Jäh ruckte Paiges Kopf in die Höhe, während sie gleichzeitig ihre

Hände samt Keramiktopf unkontrolliert in den Schoß fallen ließ. »Für
einen Kaktus bei mir im Büro. Der kleine stachelige Geselle braucht
dringend ein neues Zuhause – und ich unbedingt meinen Kaffeebecher
zurück.«

»Aha.« Piper wollte eigentlich Veto anmelden, ließ es dann jedoch

bleiben. Sie wäre untröstlich, wenn dem Erinnerungsstück an ihre
Großmutter irgendetwas zustieß, doch es war ihr auch unmöglich,
nein zu sagen. An jeder Ecke hätte Paige für ein paar Cent einen
neuen Kaktustopf bekommen. Doch offensichtlich wollte sie lieber
etwas benutzen, das in irgendeiner Beziehung zu ihrer Familie stand.
Grams altes Nadeldöschen war nur ein weiteres Verbindungsstück

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zwischen all den Jahren, die Paige ohne ihre Schwestern
aufgewachsen war.

»Was ist mit dem alten Topf passiert?«, fragte Piper.

Doch bevor Paige antworten konnte, platzte Phoebe zur

Speichertür herein, den flackernden Blick Unheil verkündend auf das
Buch der Schatten gerichtet.

Erschrocken zuckte Paige zusammen, und der Keramiktopf drohte

von ihrem Schoß zu kullern. Fast gleichzeitig streckten sie und Piper
ihre Hände aus, die eine, um das Gefäß zurückzuorben, die andere, um
es erstarren zu lassen.

»Topf!«, befahl Paige.

Piper straffte sich, als das unersetzbare Erbstück für einen kurzen

Moment in der Bewegung verharrte und dann weiterrollte.

Dumpf landete es, Gott sei Dank ohne zu zerbrechen, auf dem

abgenutzten Teppich.

»Das ist passiert«, beantwortete Paige Pipers immer noch im Raum

stehende Frage.

»Nichts also.« Piper runzelte die Stirn, als der alte Topf endlich in

Paiges Hände orbte.

»Genau.« Blass vor Bestürzung presste Paige das Keramikgefäß

gegen ihre Brust.

Piper starrte auf ihre eigenen Hände.

»Hatten wir eine Zusammenkunft anberaumt?« Phoebe blieb

stehen und ließ, einigermaßen verwirrt, wie es schien, ihren Blick über
den Dachboden schweifen.

»Nein«, erwiderte Piper. »Wir haben nur hier oben was zu

erledigen.«

»Ein neues Zuhause für meinen Kaktus suchen.« Das zerbrechliche

Gefäß mit beiden Händen fest umklammernd, hielt Paige den
Keramiktopf hoch und ließ sich ermattet in einen herumstehenden
Schaukelstuhl sinken.

»Ein paar alte Klamotten verstauen.« Piper wies auf den Haufen

ausrangierter Kleider und sah Phoebe an. »Und du?«

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Phoebe blinzelte verstört. »Keine Ahnung«, stellte sie fest.

»Was soll das heißen?« Als Piper den verblüfften Ausdruck im

Gesicht ihrer Schwester sah, hätte sie beinahe laut aufgelacht. Einmal
mehr an diesem Tag hielt sie sich prustend die Hand vor den Mund.
Gerade noch hatte ihre Fähigkeit, die Zeit anzuhalten, schmählich
versagt, was alles andere als witzig war. Doch aus irgendeinem
unerfindlichen Grund schien das ihre gute Laune in keinster Weise zu
beeinträchtigen. Was war nur mit ihr los?

Phoebe hob die Hände und zuckte mit den Schultern. »Ich kann

mich nicht erinnern, warum ich hochgekommen bin.«

»Ist das nicht furchtbar?« Paige verdrehte die Augen. Dann gähnte

sie erneut. »Das geht mir andauernd so. Ich komme in die Küche, um
irgendwas zu holen, und plötzlich ist mein Kopf wie leer gefegt.«

»Und sobald du wieder draußen bist, fällt's dir wieder ein«, fügte

Piper hinzu. »Oder du legst irgendwas irgendwo hin, und zwei
Minuten später kannst du es nicht mehr wieder finden. Hör mir bloß
auf, das kenne ich zu Genüge.«

Die Lippen zu einem verkniffenen Lächeln verziehend, ließ

Phoebe sich neben Paige in den Schaukelstuhl fallen. »Ich auch, aber
das hier ist was anderes. Ich hatte heute etwa ein dutzend Mal
irgendwelche Gedächtnisaussetzer, und das ist mir noch nie passiert.«

Nachdenklich legte Paige die Stirn in Falten. »Ich hatte auch noch

nie solche Verzögerungseffekte beim Orben.«

»Ist das der Grund, warum beinahe Grams' Topf zu Bruch

gegangen wäre?«, fragte Piper kichernd. »Ein Verzögerungseffekt?«

»Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll.« Paige bedachte

Piper mit einem wütenden Blick. »Und ich find's auch überhaupt nicht
komisch.«

»Ich auch nicht, aber –« Piper gingen allmählich die Erklärungen

aus. »Ich könnte mich heute einfach über alles totlachen.«

»Äußerst ungewöhnlich«, konstatierte Phoebe.

»Meinst du, wir sollten uns Sorgen machen?«, fragte Paige.

»Ja, aber ich weiß nicht genau, worüber.« Pipers Kopf fuhr jäh

herum, als Leo, mit einer großen Rohrzange bewaffnet, den Speicher

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betrat. Die letzten Stunden hatte er damit zugebracht, irgendeinen
genialen Plan auszuhecken, um den ungebetenen grünschuppigen
Hausgast dingfest zu machen. »Hast du ihn?«

»Noch nicht, aber ich kriege ihn, verlass dich drauf.« Leos

mahlende Kiefer, sein erbarmungsloser Blick und sein ganzes
Gebaren zeugten von einem Mann, der zum Äußersten entschlossen
war. »Ich muss alle Heizungsrohre schließen. Je weniger
Rückzugsmöglichkeiten der Gremlin hat, desto größer sind meine
Chancen, ihn zu erwischen.«

»Gremlin?« Verwundert riss Phoebe die Augen auf. »Was für ein

Gremlin?«

Paige sah Piper ebenfalls fragend an.

»Halt dich nicht mit Erklärungen auf, zeig's ihm einfach«, schlug

Piper vor.

Nickend streckte Paige ihre Hand aus. »Rohrzange!«

Damit rechnend, dass die Zange in einer Aura aus funkelndem

Licht von einer Sekunde zur nächsten verschwand, ließ Leo sie los.

Als das schwere Werkzeug herabzufallen drohte, versuchte Piper

mit blitzschnell hervorschnellendem Arm ihr Glück. »Komm schon
…«, presste sie zwischen den Zähnen hervor.

Für einen winzigen Augenblick schien es, als hinge die Zange

schwerelos in der Luft. Dann schlug sie auf dem Boden auf und orbte
im nächsten Moment in Paiges ausgestreckte Hand.

»Was hat das alles zu bedeuten?«, fragte Leo perplex.

»Zeitverzögertes Orben, Schockgefrieren ohne Schock und

Gedächtnisverlust«, erwiderte Piper. »Als der Gremlin heute
Nachmittag in der Spüle abgetaucht ist, dachte ich zuerst, er wäre, wie
du ja nicht ausgeschlossen hast, magieresistent. Aber offenbar ist das
nicht das Problem. Es lag an mir. Meine magischen Kräfte lassen
nach.«

»Und meine offensichtlich auch«, setzte Paige hinzu. »Ich war den

ganzen Tag zum Umfallen müde, also hab ich angenommen, es läge
vielleicht daran.«

»Können Gremlins magische Kräfte entziehen?«, fragte Piper.

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»Nicht dass ich wüsste.« Leo fuhr sich mit einer Hand durchs Haar

und begann, sich dabei den Nacken massierend, nachdenklich auf und
ab zu gehen. Dann sah er Phoebe an. »Hast du ebenfalls Probleme mit
deinen Kräften?«

»Ich bin mir nicht sicher.« Grübelnd legte Phoebe zwei Finger ans

Kinn und verengte ihre Augen zu schmalen Schlitzen. »Ich kann mich
nicht erinnern, kürzlich irgendeine Vision gehabt zu haben, aber das
will nichts heißen. Vielleicht hab ich's einfach nur vergessen.« Sie
schaute auf. »Bin ich heute schon geflogen?«

»Yep!« Piper grinste. »Du wolltest dich vor dem Gremlin in

Sicherheit bringen, aber so langsam, wie du dich in die Lüfte erhoben
hast, hätte man dir dabei die Schuhe besohlen können.«

»Langsam?« Phoebe setzte sich auf den Fußboden und umfasste

ihre Knie. »Hätte ich unter diesen Umständen nicht eigentlich
abzischen müssen wie eine Rakete?«

»Stimmt, jetzt, wo du es sagst.« Leo hockte sich zwischen Piper

und Paige. »Irgendetwas scheint sich nachteilig auf eure Kräfte
auszuwirken.«

»Aber mir ist heute nichts Merkwürdiges widerfahren – auch

gestern nicht oder vorgestern.« Piper dachte einen Moment lang über
die Ereignisse der vergangenen Tage nach. Der einzige übernatürliche
Zwischenfall in der ansonsten fast schon beunruhigend normal
verlaufenen letzten Woche bestand in dem plötzlichen Auftauchen des
Gremlins in ihrem Haus.

»Außer vielleicht, dass du deinen Sinn für Humor wieder entdeckt

hast«, bemerkte Paige. Sie stützte ihren Ellbogen auf den alten Koffer
und legte den Kopf in die Hand. Sofort fielen ihr wieder die Augen zu.

»Du hast in letzter Zeit ziemlich viel gelacht, Piper.« Ruckartig

setzte Leo sich auf.

»Glaubst du, das könnte eventuell darauf hindeuten, dass wir es mit

einem größeren Problem zu tun haben?« Phoebes Miene verfinsterte
sich. »Mein Kurzzeitgedächtnis lässt mich im Stich, Piper muss
ständig über alles Mögliche lachen, und Paige kann sich vor
Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten. Vielleicht sind unsere
magischen Kräfte nicht das Einzige, was unter irgendeinem fremden
Einfluss steht – welcher Art auch immer.«

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»Aber mir ist in letzter Zeit auch nichts Beunruhigendes

aufgefallen«, sagte Paige. »Keine Dämonen oder Warlocks oder sonst
irgendwas, das nach teuflischen Absichten stinkt.«

»Über die du natürlich bestens informiert bist.« Wieder begann

Piper zu kichern. Die Situation war überhaupt nicht komisch gewesen,
und jetzt – war sie es auf einmal doch.

»Guter Einwand.« Phoebe seufzte. »Unsere bösen Gegenspieler

sind in aller Regel ausgesprochene Leisetreter und halten sich meist
ziemlich bedeckt, was ihre Pläne anbelangt.«

»Vielleicht steckt gar kein planvolles Vorgehen dahinter«,

überlegte Leo. »In diesem Haus ist über die Jahre hinweg so viel
Magie praktiziert worden, dass es durchaus denkbar wäre, dass die
Reststrahlung – wenn man es so nennen will –, durch die auch der
Gremlin angelockt wurde, Halliwell Manor vollkommen kontaminiert
hat und nun bei euch die unterschiedlichsten Beschwerden auslöst,
magische wie auch psychische und körperliche.«

»Was?« Piper sah ihn bestürzt an. »Du meinst so eine Art

Hokuspokus-Überdosis?«

»Eine Abrakadabra-Allergie?« Paige grinste.

»Möglich wär's«, sagte Leo. »Immerhin haben wir uns einen

Gremlin eingefangen.«

»Höchste Zeit, einen Blick ins Buch zu werfen.« Phoebe sprang

auf und eilte zu dem Lesepult hinüber, auf dem das Buch der Schatten
lag. Hastig schlug sie irgendeine Seite auf. Dann hielt sie inne und hob
ihren Blick. »Wonach suche ich eigentlich?«

»Etwas, womit sich magische Restenergien in unserem Haus

aufspüren und isolieren lassen.« Piper rappelte sich vom Boden auf.
Mit sanftem Nachdruck stieß sie Phoebe zur Seite. »Lass mich das
machen. Ich denke, das geht schneller.«

»Weckt mich, wenn ihr irgendwas gefunden habt.« Paige setzte

den Keramiktopf ab und rollte sich auf dem Teppich zusammen.

Derweil machte sich Leo daran, diverse Kisten beiseite zu

schieben, um an den kleinen Heizkörper zu gelangen, der während der
kurzen Wintermonate die Kälte aus dem Speicher vertrieb.

Phoebe drehte sich um und schaute aus dem Fenster hinaus.

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Ohne dass das alberne Grinsen aus ihrem Gesicht verschwand,

blätterte Piper in dem Buch der Schatten. Ein wenig Leichtsinn und
Ausgelassenheit, fand sie, waren eine willkommene Abwechslung in
ihrem ständig von drohendem Untergang und düsterem Verhängnis
bestimmten Leben. Sie und ihre Schwestern hatten sich mit so vielen
finsteren tödlichen Mächten herumgeschlagen, seit sie als die
Zauberhaften in die Geschicke der Welt eingriffen, dass die
Heimsuchung durch Feenstaub oder irgendwelche magischen
Mikroben zu den vergleichsweise eher harmloseren, beinahe
amüsanten Störfällen des Lebens zählte.

»Das könnte funktionieren.« Piper blickte von einer Seite auf, die

mit »Diverse Existenzformen und Substanzen. Beschwörungsformeln
und Heilzauber« überschrieben war. Wie all die anderen
Themenbereiche im Halliwellschen Buch der Schatten schienen auch
die unter »Verschiedenes« zusammengefassten Seiten immer dem
gerade anstehenden Problem Rechnung zu tragen.

Am Boden drehte sich Paige gerade im Schlaf um.

»Wie bitte?« Phoebe löste sich von dem Ausblick aus dem Fenster

und schaute Piper über die Schulter aus großen braunen Rehaugen
fragend an.

Weiter hinten an der Heizung stemmte sich Leo soeben mit dem

Fuß gegen das von unten kommende Zuleitungsrohr und versuchte,
mit seiner Zange ein festsitzendes Durchlaufventil zu lösen. Völlig
vertieft in sein Klempnerproblem, hatte er Piper gar nicht gehört.

»Schon gut.« Seufzend überflog Piper die aufgeschlagene Seite.

»Ich schätze, das krieg ich auch mit der Macht einer Einzigen hin.«

Piper holte tief Luft und begann, einen simplen Spruch zur

Entlarvung kleinerer magischer Quälgeister zu rezitieren:

»Alle Magie, die in diesem Hause gestrandet –
verloren im Strom ob Geist oder Spore,
ob groß oder klein und ohne Furore –
zeige dich nun und eröffne dich uns.«

Phoebe drehte sich neugierig zu ihr um.

Angespannt wartete Piper auf irgendeine Reaktion.

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»Ich hab ihn!« Leo stieß triumphierend seine Faust in die Luft.

Während er sich hinabbeugte und die Rohrzange ansetzte, um das
gelockerte Zulaufventil wieder anzuziehen, brach schrilles Gekreische
im Innern des Heizungskörpers aus.

»Scheint so, als hättest du was gefunden«, sagte Phoebe.

Stimmt genau, dachte Piper und rannte wie ein geölter Blitz zu Leo

hinüber. Jetzt war nicht der Augenblick, Phoebes Kurzzeitgedächtnis
auf die Sprünge zu helfen. Der Gremlin hatte mitnichten auf ihren
Beschwörungsspruch reagiert, sehr wohl aber auf das sich schließende
Heizrohrventil, das ihn in die Falle gelockt hatte. »Mach schnell, Leo!
Bevor er uns entwischt!«

»Ich versuch's ja!« Leos Oberarmmuskeln spannten sich, während

er mit hochrotem Kopf an dem Gewinde herumschraubte.

Hier oben hat wahrscheinlich seit Jahrzehnten niemand mehr das

Heizungswasser abgedreht, dachte Piper. Es war lediglich eine Frage
von Sekunden, bis der randalierende Unhold merkte, dass der
Fluchtweg immer noch einen Spalt breit offen war. Piper versuchte,
ihn in seinem Gefängnis einzufrieren, doch das Einzige, was sie damit
erreichte, war, dass der kleine Schreihals noch mehr in Rage geriet.

»Was geht hier eigentlich ab?« Phoebe hielt sich mit beiden

Händen die Ohren zu.

»Gremlin!« Pipers gebrüllte Antwort hallte von den Dachsparren

zurück, während das schrille Krakeelen der durch die abwärts
führenden Rohrleitungen flüchtenden Kreatur langsam verebbte.

»Weg ist er«, grummelte Leo und schloss mit einem letzten,

kräftigen Ruck das Ventil.

»Gott sei Dank.« Völlig entnervt, die Finger gegen die Schläfen

gepresst, taumelte Phoebe zu ihrem Schaukelstuhl zurück. Um ein
Haar wäre sie über Paige gestolpert. »Wie schafft sie es bloß, bei dem
Lärm zu schlafen?«

»Frag mich was Leichteres.« Piper seufzte. »Hört zu, bevor ich

gleich wieder einen Lachkrampf kriege und kein Wort mehr
herausbringe. Ich sag euch, was ich von der Sache halte.«

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»Aufwachen, Paige. Frühstück.« Phoebe rüttelte ihre schlafende

Schwester wach. »Eine von uns beiden sollte sich merken, was Piper
zu sagen hat.«

»Ist der Identifizierungszauber fehlgeschlagen?«, fragte Leo.

»Das wäre eine Möglichkeit.« Obwohl Piper ziemlich sicher war,

dass ihr Spruch funktioniert hatte, war ein Versagen des Zaubers nicht
vollständig auszuschließen. »Eine andere wäre, dass es in diesem
Haus gar keine magische Kontamination gibt, was ich, ehrlich gesagt,
eher annehme.«

»Dann wissen wir also immer noch nicht, was für das Nachlassen

unserer Kräfte verantwortlich ist.« Paige streckte sich.

»Du hast's erfasst.« Mit aufeinander gepressten Lippen wartete

Piper, bis der Lachreiz, der ihr Zwerchfell kitzelte, wieder vorüber
war. »Angesichts dessen«, fuhr sie dann fort, »dass es im Augenblick
ohnehin keine Unschuldigen gibt, die unserer Hilfe bedürfen, sollten
wir also mit unseren Kräften ein wenig sparsamer umgehen,
zumindest solange wir nicht wissen, womit wir es eigentlich zu tun
haben.«

»Okay«, sagte Phoebe. »Ich glaube, das ist das erste Mal in

meinem Leben, dass ich mich darüber freue, Hausarrest zu
bekommen.«

»Gutes Kind«, erwiderte Piper und gluckste in sich hinein.

»Klingt vernünftig«, meinte Paige, »aber nach allem, was wir

wissen, könnten Stress und Erschöpfung durchaus die Ursache sein.«

»Das halte ich für eher unwahrscheinlich.« Leo überreichte Piper

die Rohrzange. »Vielleicht sollte ich besser den Rat der Ältesten
konsultieren.«

»Guter Plan«, pflichtete Paige ihm bei. »Sie wären bestimmt nicht

sonderlich begeistert, wenn wir sie bei einer solchen Sache außen vor
lassen würden.«

»Gott bewahre.« Piper drückte Leo einen Kuss auf die Wange und

winkte ihm zum Abschied noch einmal zu, während er in einem
Wirbel aus blauem Licht verschwand.

»Was ist mit meinen Visionen?«, fragte Phoebe besorgt. »Ich kann

meine übersinnlichen Antennen nicht einfach abstellen.«

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»Nein, aber da du dich ohnehin nicht lange genug an sie erinnerst,

um uns zu erzählen, was du gesehen hast, ist es beinahe so, als hättest
du gar keine gehabt«, erwiderte Piper.

Paige runzelte die Stirn. »Das heißt also, wir bekommen es gar

nicht mit, wenn Phoebe einen Unschuldigen aufspürt, der von einem
Dämon bedroht wird.«

»Dann werden die Höheren Mächte irgendeinen anderen Weg

finden, um uns davon in Kenntnis zu setzen«, entgegnete Piper. »Das
tun sie immer.«

»Hoffen wir, dass es nicht nötig sein wird«, sagte Phoebe. »Ohne

unsere Kräfte, fürchte ich, sind wir für niemanden eine große Hilfe.«

Piper nickte, während sie gleichzeitig versuchte, ein Lachen zu

unterdrücken. Denn wie Paige ganz richtig bemerkt hatte, war der
unerklärliche Rückgang ihrer Kräfte wirklich nicht so lustig. Sollte
irgendein Bewohner der Unterwelt auf die Idee kommen, ihnen oder
einem Unschuldigen mit unheiligen Absichten auf die Pelle zu rücken,
konnte das äußerst fatale Auswirkungen haben.

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4

»

P

AIGE!«, FLÜSTERTE LILA,

die in der Tür zum Kopierraum

stand, mit Nachdruck.

»Häh?« Paige blickte von dem Stapel Formulare auf, die auf dem

Kopierer lagen. Das Hawthorn Hill hatte zugesichert, den Antrag von
Stanley Addison aus Gründen der Dringlichkeit bevorzugt zu
behandeln, vorausgesetzt, sie würde möglichst rasch die noch
erforderlichen Unterlagen nachreichen. Und da das Fax-Gerät der
Halliwell-Schwestern unlängst seinen Geist aufgegeben hatte, blieb
ihr nichts anderes übrig, als sämtliche erbetenen Dokumente und
Belege im Büro zu kopieren und per Blitzkurier zu versenden.

»Ist der Kopierer kaputt?«, fragte Lila. »Du steckst jetzt schon seit

einer geschlagenen halben Stunde hier drin.«

»Nein, alles in Ordnung.« Na ja, nicht ganz, dachte Paige, während

sie die Abdeckung hochklappte, Stanleys Sozialhilfe-Nachweis
beiseite nahm und ein weiteres Original auf die Glasplatte legte. Zwar
hatte sie es geschafft, nicht im Stehen einzuschlafen, dafür jedoch die
letzte Viertelstunde mit leerem Blick einfach nur gegen die Wand
gestarrt, was kaum weniger ärgerlich war. »Kannst du dich mit deinen
Kopien noch fünf Minuten gedulden? Ich bin fast fertig.«

»Deswegen bin ich nicht hier«, sagte Lila. »Du hast Besuch.«

»Schwester? Klient?« Paige reckte den Hals, doch von hier aus

konnte sie ihren Schreibtisch nicht sehen.

»Süßer Typ mit Gehstock«, erwiderte Lila.

»Kevin Graves?«, fragte Paige verblüfft. Was wollte der denn hier?

»Sag ihm, ich komme gleich, okay?«

Obwohl sie beinahe umkam vor Neugier, kopierte sie in aller Ruhe

Stanleys restliche Unterlagen, steckte die Duplikate in einen bereits
adressierten Umschlag, hinterließ selbigen an der Anmeldung mit der
Bitte, ihn per Kurier weiterzuleiten, und begab sich zurück an ihren
Arbeitsplatz. Dabei versuchte sie, nicht ganz so verunsichert
auszusehen, wie sie es tatsächlich war.

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Kevin saß auf dem Stuhl für Mandanten und ließ die Gummispitze

seines Gehstocks nervös auf dem Boden auf und nieder hopsen. Als er
sie herankommen sah, trat ein Lächeln in sein Gesicht, so hell und
strahlend, als hätte er das städtische E-Werk angezapft. »Hi, Paige.«

»Das nenn ich eine Überraschung.« Hatte sie möglicherweise

Kevins Zurückhaltung, die er auch am nächsten Tag noch gezeigt
hatte, völlig falsch interpretiert? Es war schwer vorstellbar, dass
jemand mit seinem Aussehen schüchtern sein sollte, aber das Leben
steckte ja bekanntlich voller Kuriositäten.

»Ist das ein Problem?« Kevins Lächeln wich einem Ausdruck

banger Sorge. »Dass ich hier so einfach während deiner Arbeitszeit
reinrausche, meine ich.«

»Nein, nicht im Geringsten«, sagte Paige, was genau genommen

nicht einmal gelogen war. Falls Mr. Cowan irgendetwas sagen sollte,
konnte sie sich immer noch darauf berufen, dass sie und Kevin beide
ehrenamtlich für das Obdachlosenheim in der Fünften Straße tätig
waren, einer Einrichtung, die dem South-Bay-Sozialdienst nahe stand.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte sie und setzte sich auf ihren
Bürostuhl.

»Nun, ich, äh –« Kevin griff in seine Brusttasche und zog eine

dunkle Sonnenbrille hervor. »Ist das deine? Ich hab sie bei mir im
Auto gefunden.«

»Nein, ganz sicher nicht«, entgegnete Paige. Sie musste sich die

teure Designer-Brille nicht erst näher ansehen, um zu erkennen, dass
sie nicht ihr gehörte.

»Oh.« Kevin zögerte einen Moment, dann zuckte er mit den

Schultern. »Ich dachte, sie wäre dir vielleicht aus der Handtasche
gefallen, als ich dich nach Hause gefahren hab.«

»Tut mir Leid, nein.« Paige hatte keine Ahnung, was Kevin im

Schilde führte. Gestern Abend im Obdachlosenheim war er freundlich
gewesen, doch die Spannung, die noch am Montag zwischen ihnen in
der Luft gelegen hatte, war verschwunden.

Einen langen, schweren Seufzer ausstoßend, sah Kevin sie mit

reumütigem Blick an.

Paige zog eine Augenbraue hoch und wartete ab.

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»Sie gehört mir.« Mit einer raschen Bewegung ließ Kevin die

Brille wieder in der Hemdtasche verschwinden. »Ich brauchte nur
irgendeinen Vorwand, um dich wieder zu sehen. Ziemlich bescheuert,
was?«

»Völlig bescheuert«, stimmte Paige ihm zu. »Du brauchst keinen

Vorwand, um mich zu sehen.«

»Und jetzt hab ich's vermasselt, stimmt's?« Seinen Gehstock zu

Hilfe nehmend, stand Kevin auf, kam zu ihr herum und hockte sich
auf die Kante des Schreibtischs.

»Ich mag's nicht, wenn man mich anlügt, aber –«

»Also liegt es nun an dir zu entscheiden, wie es weitergehen soll.«

Kevin hob den Kopf und beugte sich zu ihr herab, wobei er mit dem
Ende seines Gehstocks sachte ihr Bein berührte. »Ich würde alles
dafür geben, mit dir Tanzen gehen zu können, doch da das leider nicht
möglich ist …«

Paige wich ein wenig zurück.

»Wie wäre es stattdessen mit einer Einladung zum Essen, sagen

wir Samstagabend?« Jäh zog Kevin seinen Stock zurück, als wäre ihm
gerade erst aufgefallen, dass er die ganze Zeit mit dessen Spitze an
Paiges Wade entlanggefahren war. Verlegen erhob er sich von der
Schreibtischkante. »Denkst du wenigstens mal drüber nach? Ich, äh …
seh dich dann heute Abend im Obdachlosenheim.«

»Äh, ja, sicher«, nickte Paige. »Okay.« Als sie ihre Gedanken

wieder einigermaßen beisammen hatte, war er bereits auf und davon.

Seufzend ließ sie ihren Kopf auf die Arme sinken. Vielleicht hätte

sie Kevins Einladung annehmen sollen. Die Tatsache, dass sie eine
Hexe war mit bisweilen äußerst anstrengenden Schwestern, hatte, was
Verabredungen betraf, ihrem Leben einen gehörigen Dämpfer
verpasst. Und wer konnte schon sagen, wie viel Zeit ins Land
streichen würde, bis wieder jemand kam, der sie fragte, ob sie mit ihm
ausgehen wollte.

Gähnend blickte sie auf die Uhr. Zehn nach drei, und sie war

bereits hundemüde. Sie fühlte sich, als hätte sie die ganze Nacht
durchgemacht, dabei hatte sie volle neun Stunden tief und fest
geschlafen. Zumindest tief und fest genug, um abermals den Wecker

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zu überhören. Nur mit Mühe hatte sie es noch pünktlich zur Arbeit
geschafft.

Ruckartig riss Paige den Kopf hoch, als sie merkte, dass sie

wegzudämmern begann. Sie würde ziemlichen Ärger bekommen,
wenn Mr. Cowan sie schlafend an ihrem Arbeitsplatz fand. Während
sie Stanleys Akte beiseite legte, fiel ihr Blick erneut auf die Uhr.

Noch mehr als neunzig Minuten bis Feierabend, und dann noch

vier weitere Stunden im Obdachlosenheim. Paige betrachtete einen
Moment lang den kleinen Kaktus, den sie in der Mittagspause in
Grams' Nadelbehälter umgetopft hatte. Dann nahm sie ihren Becher
und stand auf, um sich noch einen – den wievielten heute? – Kaffee zu
holen.

Piper saß an der Bar und stellte die Getränkebestellung für den

Hauslieferanten zusammen, wie sie es jeden Mittwoch tat. Doch
anders als sonst war sie heute nicht allein. Punkt zwei Uhr waren With
A Vengeance
eingetroffen, um sich auf ihr San-Francisco-Debut am
morgigen Abend vorzubereiten. Nach dem zu schließen, was Piper
bislang gehört hatte, würde die Band das Publikum im Sturm erobern.
Jeder der drei Songs, die sie geprobt hatten, war einer aus den
aktuellen Charts.

Als sie ihre Arbeit beendet hatte, legte Piper den Zettel beiseite.

Der Anruf selbst hatte noch Zeit. Sie wandte sich auf ihrem Barhocker
um und schenkte der Band ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Da Dixie
immer noch auf seine zeitlich äußerst eingeschränkte Reserve-
Babysitterin Rücksicht nehmen musste, blieb es auch heute wieder an
Piper hängen, die Bar in Ordnung zu bringen. Doch auch das konnte
noch zehn Minuten warten.

Zufrieden mit sich und der Welt summte Piper einen alten Rock-

Klassiker mit, der die ach so vergängliche Euphorie neu erblühter
Liebe beklagte. Seltsamerweise schienen Gelassenheit und gute Laune
ein angenehmer Nebeneffekt ihrer ständigen Lachattacken zu sein.

Mit geschlossenen Augen, den Kopf weit in den Nacken gelegt,

sang Daniel von Liebe und Leid, und in jedem seiner Worte schwang
echtes Gefühl:

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… what we're feeling now will pass,
fading like the day gives way to night;
Like whispers on the wind, no love can last …

Die Traurigkeit des Songs und die Melancholie, die in ihm lag,

hinterließen bei Piper einen faden Nachgeschmack. Wer immer das
Lied auch geschrieben hatte, er hatte nicht begriffen, dass Liebe auch
ständige Prüfung bedeutete. Nur wahre Liebe konnte sie bestehen.

Mit seiner rauen Stimme den letzten Ton des Liedes haltend,

blickte Daniel von seinem Keyboard auf, sah Piper an der Bar sitzen
und winkte ihr zu. Noch während der Schlussakkord verklang, deutete
er zuerst auf Piper und dann auf sich selbst, mit einem auffordernden
Zwinkern in den Augen, das keinen Zweifel darüber ließ, was er
damit, wenn vielleicht auch nur im Spaß, sagen wollte.

Gleichwohl geschmeichelt hob Piper ihre linke Hand. Sie zeigte

auf den Ring an ihrem Finger und musste lachen, als Daniel in maßlos
übertriebener Verzweiflung das Gesicht verzog. Dann zuckte er mit
den Schultern und ließ seine Finger über die Tasten gleiten.

Mit einem Seitenblick auf Daniel sprang Karen von der Bühne und

verdrehte die Augen. Ihr Grinsen wurde noch breiter, als sie an der
Bar ankam. »Daniel hat wenig Sinn für zarte Raffinesse.«

»Hab ich gemerkt«, sagte Piper und begann zu kichern, als sie sich

der unausgesprochenen Komplizenschaft bewusst wurde, die aus der
unter Geschlechtsgenossinnen nie bestrittenen Einsicht erwuchs, dass
»Männer im Allgemeinen« eine echte Landplage sind. Doch
Landplage hin oder her, der eher harmlose Flirt hatte jedenfalls dazu
geführt, dass sie an die Tatsache erinnert wurde, wie sehr sie Leo
vermisste. Für sie waren Stunden vergangen, seit er sie am gestrigen
Abend verlassen hatte, für ihn »dort oben« bestenfalls Minuten.

Karen öffnete den Flötenkasten, den sie auf der Bar liegen gelassen

hatte. »Du kannst dich darauf verlassen, am Wochenende werde ich
bestimmt nicht vergessen, ihn mit auf die Bühne zu nehmen.
Vielleicht bin ich ja ein wenig überängstlich, aber das Ding ist
ziemlich alt.«

»Dacht ich's mir. Sieht aus wie eine echte Antiquität.« Piper fiel

auf, dass ein Teil der in das Holz eingearbeiteten Muster eine rötliche
Färbung besaß. Am Montag war ihr dieses Detail völlig entgangen.
»Sie ist wunderschön.«

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»Danke.« Als Karen sich über die Theke beugte, um sich eine

Serviette zu nehmen, streifte die Flöte Pipers Wange.

Ein unangenehmes Kribbeln breitete sich auf Pipers Haut aus,

während sie ein neuerlicher Anflug von Benommenheit überkam.

»Noch einen Song und wir lassen's für heute gut sein. Du hast bis

heute Abend wahrscheinlich hier noch jede Menge zu tun.« Indem sie
sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirn wischte, eilte Karen
wieder davon in Richtung Bühne.

»Ja, sicher.« Piper schloss die Augen und atmete tief durch. Einen

Moment später, als die Band mit ihrer letzten Nummer loslegte,
begann sich der Schwindelanfall wieder zu legen.

Lancer schlug einen tiefen, dröhnenden Basston an, während

Brodie seine Stöcke auf die Becken krachen ließ. Über dem
verebbenden Klang von Bass und Schlagzeug setzte die Flöte ein mit
einer schwermütig klagenden Melodie, die in jeden Winkel des
menschenleeren Raumes zu dringen schien.

Piper seufzte und wünschte, Leo wäre wieder zurück, damit sie

endlich erfahren würden, worüber genau sie sich eigentlich Sorgen zu
machen hatten. Es war weder normal noch sonderlich witzig, dass sie
sich über alles und jeden halb totlachen konnte. Obwohl eine
Beeinträchtigung auch ihrer emotionalen Verfassung durch jenen
unbekannten Einfluss ziemlich wahrscheinlich schien, war doch nicht
auszuschließen, dass die Bürde, eine der Zauberhaften zu sein, bei ihr
letzten Endes einen fröhlich-beschwingten Sturz in den Abgrund des
Wahnsinns zur Folge hatte.

Also bin ich entweder verrückt oder verflucht, dachte Piper

betroffen. Was war das für eine Wahl? In jedem Fall eine schlechte,
stellte sie fest, während sie von dem Barhocker herunter rutschte und
hinter die Theke stapfte, um für den Abend alles vorzubereiten.

Karen setzte ihre Flöte ab, um ihre sanfte Altstimme mit Daniels

rauem Tenor zu vereinigen. Als der Song zu Ende war, nickten sich
die Jungs zufrieden zu und packten ihre Instrumente ein.

Piper nahm sich vor, Karen darum zu bitten, die langsamen

Balladen und schwermütigeren Stücke am morgigen Abend nicht so
dicht aufeinander folgen zu lassen. Eine gedrückte Stimmung war
schlecht fürs Geschäft.

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»Wie wär's, wenn wir zu diesem Spoons-No-Soup-Laden fahren

und einen Happen zu uns nehmen?«, schlug Brodie vor. »Der
Barkeeper im Jay's Joint gestern Abend hat regelrecht geschwärmt
von dem tollen Essen dort.«

Piper wollte ihn bereits unterbrechen und darüber aufklären, dass

die mickrigen Portionen in dem Yuppie-Restaurant völlig überteuert
waren und dem ganzen Hype, der um sie gemacht wurde, nicht mal
annähernd gerecht wurden. Sogar im Schlaf hätte sie ein besseres
Menü zu Stande gebracht. Doch sie schwieg. Plötzlich hatte sie das
Gefühl, als würde alles Elend dieser Welt allein auf ihren Schultern
lasten, und vor lauter Niedergeschlagenheit war sie nicht in der Lage
zu sprechen.

»Wir haben noch nicht mal vier Uhr«, sagte Daniel. »Wenn ich

jetzt etwas esse, hab ich um zehn wieder Hunger.«

Lancer zuckte die Achseln und verstaute seinen Bass. »Ich hätte

gegen ein zweites Abendessen nichts einzuwenden.«

»Ein Salat wäre nicht schlecht.« Karen forderte ihre Jungs mit

einer Geste Richtung Tür zum Aufbruch auf und kam noch einmal
zurück an die Bar. »Wir sehen uns dann morgen Abend, Piper. So
gegen halb neun. Ich möchte mich noch ein wenig unters Volk
mischen, bevor wir anfangen. Immer gut zu wissen, vor was für einem
Publikum man spielt.«

»Klar.« Piper zwang sich zu lächeln, während sie Karen dabei

zusah, wie sie ihre Flöte wieder zurück in die Schatulle legte und das
Kästchen zuschnappen ließ. »Im Banjo's machen sie hervorragende
Salate. Außerdem gibt's dort Steaks und Burger, und sie knöpfen dir
auch kein halbes Vermögen dafür ab. Nur drei Häuserblocks weiter,
wenn ihr rauskommt rechts.« Sie spürte, wie sie sich unter dem langen
und forschenden Blick der Sängerin versteifte.

»Danke«, sagte Karen endlich. Der Schatten eines Stirnrunzelns

huschte wie ein fernes Wetterleuchten über ihr Gesicht. Dann, als sie
merkte, dass Piper der Sinn nicht nach weiterem Smalltalk stand,
nickte sie und ging.

Kaum hatte sich die Tür hinter Karen wieder geschlossen, brach

Piper in Schluchzen aus. Sie nahm sich eine Hand voll
Papierservietten vom Tresen, sank hinab auf den Boden und ließ ihren
Tränen freien Lauf.

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Ratlos starrte Phoebe auf den Bildschirm ihres Computers.

Für einen kurzen Moment verspürte sie tatsächlich den Wunsch,

dass alle Mächte der Unterwelt sich gegen sie und ihre Schwestern
verschwören würden. Sich mit irgendwelchen dämonischen
Finsterlingen herumzuschlagen, die danach trachteten, sie um den
Verstand zu bringen, war immer noch besser, als an der eigenen
Blödheit zu verzweifeln.

Es sei denn, zwischen beidem besteht ein unmittelbarer

Zusammenhang, räumte sie in Gedanken ein.

Phoebes Miene verfinsterte sich. Kurz vor Kursbeginn hatte Piper

sie auf ihrem Handy angerufen, um ihr mitzuteilen, dass Leo »von
oben« zurückgekehrt sei. Ihre Schwester hatte irgendwie bestürzt
geklungen, was nicht wirklich verwunderlich war. Die Ältesten
standen, was die emotionalen, physischen und magischen
Beeinträchtigungen der drei Hexen betraf, vor einem völligen Rätsel.
Von einer neuen, sich hier vielleicht ankündigenden Bedrohung
wussten sie nichts. Sie hatten versprochen, in den Archiven nach
Hinweisen zu suchen, doch ohne genauere Informationen würde ihre
Recherche wohl ergebnislos verlaufen. Leo war nach seiner Rückkehr
sofort wieder losgeorbt, um sich ein wenig in Dämonenkreisen
umzutun und zu sehen, ob sich dort irgendetwas aufschnappen ließ.

Phoebe teilte die Beunruhigung der Ältesten. Alles, was die Kraft

der Drei in Frage stellen mochte, gab Anlass zu größter Besorgnis.
Dennoch zog sie es nach wie vor in Erwägung, dass psychischer
Stress der Grund für ihr Problem sein konnte. Auf der Uni hatte sie
Dutzende von Fällen durchgeackert, die sich mit den verschiedensten
körperlichen Beschwerden befassten, deren Ursachen allesamt in
beruflichem Leistungsdruck oder hoher emotionaler Belastung zu
sehen waren. Konnte es sein, dass Ähnliches auch für Hexenkräfte
galt?

Ihre romantische Vorgeschichte passte jedenfalls genau ins Muster.

Durch Cole lebte sie in einem Wechselbad der Gefühle,

angefangen bei der völlig normalen Verunsicherung zu Beginn ihrer
Beziehung – war der schlanke, dunkelhaarige und ausgesprochen gut
aussehende Bezirksanwalt ebenso an ihr interessiert wie sie an ihm? –
über den Moment, an dem sie herausgefunden hatte, dass die eine

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Hälfte seines Ichs aus dem Dämon Balthasar bestand, der ihr und
ihren Schwestern nach dem Leben trachtete, woraufhin sie ihre
Schwestern angelogen und ihn für besiegt erklärt hatte, um Cole vor
seinen Verfolgern zu retten – bis hin zu seinem emotionalen Trauma,
das in dem Umstand gründete, dass er nun ein Mensch und jeglicher
dämonischen Kräfte beraubt war.

Eine Menge Leute werden aus weitaus geringeren Gründen

verrückt, dachte Phoebe mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen in
der Familie Halliwell. Natürlich hatten auch ihre Schwestern einen
reichen Fundus an bizarren Erfahrungen, aber zumindest waren sie
nicht in einen Exdämon verliebt.

Die Erkenntnis, dass sie im Begriff war, ihre Kräfte zu verlieren,

ohne zu wissen, warum, traf Phoebe mit jäher Wucht. Mit einem Male
konnte sie Coles Schwierigkeiten, dazu verdammt zu sein, fortan sein
Dasein als ganz normaler Mensch zu führen, gut begreifen. Doch
obwohl sie wusste, wie wichtig die kleinen Fluchten für ihn waren,
um zu sich selbst zu finden, wünschte sie, er würde bald wieder nach
Hause zurückkehren. Sie brauchte seinen moralischen Beistand.

»Das Erstellen von Tabellen führt uns zur nächsten Lektion und

weiterem Kopfzerbrechen«, verkündete Mr. Deekle humorlos, »aber
wenn Sie erst einmal begriffen haben, wie Sie richtig damit umgehen,
können Sie sich viel Zeit sparen und am Ende vielleicht den einen
oder anderen zusätzlichen Kunden zufrieden stellen. Kann uns jemand
sagen, warum?«

Phoebe überflog die durchnummerierten Arbeitsschritte, die nötig

waren, um Tabellen in eine Website zu integrieren, aber genauso gut
hätten diese in Sanskrit abgefasst sein können. Als sie bei Schritt
Nummer acht angekommen war, hatte sie Schritt Nummer eins schon
wieder vergessen. Es hieß zwar, dass Kreativität für einen
Webdesigner der Schlüssel zum Erfolg war, doch wenn Phoebe schon
nicht in der Lage war, sich die wesentlichsten technischen Grundlagen
anzueignen, würde sie weder diesen Kurs erfolgreich absolvieren
können, geschweige denn ihre Kreativität unter Beweis stellen
müssen.

»Ms. Halliwell?« Die wässrigen Augen des Professors weiteten

sich erwartungsvoll, als sie ihren Blick hob.

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»Äh … wie lautete noch mal die Frage?«, versuchte Phoebe sich in

Ermangelung einer Antwort aus der Affäre zu ziehen.

»Kann es sein, dass wir die aufgegebenen Seiten nicht gelesen

haben?« Deekles dünne Lippen verzogen sich zu einem
schulmeisterlichen Lächeln.

»Nein … äh, ich meine, doch, ich hab sie gelesen«, stammelte

Phoebe, »aber ich habe –«

Der Professor schien wenig geneigt, sich ihre Entschuldigung

anzuhören. Abrupt wandte er sich ab und zeigte auf einen jungen
Mann mit Brille, der eine Reihe vor ihr saß. »Mr. Harrison?«

Kate, deren Platz direkt hinter Phoebe war, beugte sich vor und

flüsterte: »Lass dich von dem Volltrottel nicht fertig machen.«

»Welcher Volltrottel?« Phoebe sah zu Mr. Deekle hinüber, der den

Ausführungen des bebrillten Kursteilnehmers andächtig folgte.
»Meinst du ihn?«

»Wen sonst?«, erwiderte Karen leise. »Ein guter Lehrer würde eine

Schülerin niemals so sehr verunsichern, dass sie einen völligen
Blackout bekommt.«

Phoebe nickte. »Vielleicht hab ich Glück und er lässt mich für

heute in Ruhe.«

»Hoffentlich«, entgegnete Karen.

Das Gefühl von kaltem Metall in ihrem Nacken ließ Phoebe

zusammenzucken. »Was war das?«

»Was?«, fragte Kate.

»Häh?« Phoebe drehte sich um und fühlte sich beinahe ebenso

verwirrt, wie Kate sie ansah. »Hast du was gesagt?«

»Nein.« Kate lächelte. »Nichts.«

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5

L

EO MATERIALISIERTE IN DER KÜCHE des Halliwellschen

Hauses und war keinen Deut klüger als zuvor.

In der Gerüchteküche des Bösen war man ebenso ratlos wie in den

Hallen der Ältesten, niemand hatte irgendwen auch nur hinter
vorgehaltener Hand davon reden hören, dass eine neue dämonische
Verschwörung im Gange sei, um die Zauberhaften zu vernichten oder
die Weltherrschaft zu erlangen. Jedenfalls nicht mehr in dieser
Woche, dachte Leo, während er seinen Blick durch das Zimmer
schweifen ließ. Offensichtlich waren die letzten achtzehn Stunden in
Halliwell Manor nicht ganz so ereignislos verlaufen wie sein kleiner
Spionageausflug.

Pipers Tempel kulinarischer Genüsse war ein einziges Desaster.

Kräuter und Gewürze, Essenszutaten ebenso wie magische
Ingredienzien waren wild auf Tisch und Anrichte verstreut. Sämtliche
Schranktüren standen offen, überall lag zerbrochenes Geschirr herum,
und auf dem Boden hatten sich große und kleine Pfützen gebildet, in
die von der Decke herab das Wasser tropfte. Ein Topf, in dem sich
irgendetwas ausgesprochen übel Riechendes befand, blubberte leise
auf dem Herd vor sich hin, während ein völlig verkohlter, aus was
auch immer bestehender Auflauf auf den Küchenfliesen gelandet war.

Das Chaos, das sich Leo bot, war der erste Hinweis darauf, dass

hier irgendetwas ganz entschieden nicht in Ordnung war. Den zweiten
bekam er durch das laute Plärren des Fernsehers, der den häuslichen
Frieden seines Heims aufs Empfindlichste störte.

Etwas bewegte sich in der Spüle und zog Leos Aufmerksamkeit

auf sich. Das kleinere der beiden Abwaschbecken war voller
zermatschtem Obst und Gemüse, garniert mit einer Packung
Käsecracker. Leo erstarrte, als mit einem ploppenden Knall der
Gremlin aus dem Abfluss des anderen Beckens hervor schoss und sich
kopfüber in die Gemüsepampe stürzte.

Langsam und jede hektische Bewegung vermeidend, angelte sich

Leo eines der Trockentücher, die neben der Spüle hingen. Er hielt die
Luft an, aus lauter Angst, die Kreatur wieder zu vertreiben, die sich
direkt vor seiner Nase durch die Küchenabfälle pflügte und dabei

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gurrende Laute der Zufriedenheit ausstieß. Das Geschirrtuch wie
einen Baseballhandschuh um seine Rechte schlingend, machte Leo
sich bereit zum Angriff. Er musste den Gremlin nur packen und ihn
dann lange genug festhalten, um mit ihm wegzuorben. Dann würde er
ihn wieder aussetzen, in der Unterwelt, dort, wo er hingehörte.

Genau in dem Moment, als Leo sich auf ihn stürzen wollte, tauchte

der Gremlin tief in seine ekelhafte Mahlzeit hinein und verschwand.
Wütend, weil ihm der Eindringling schon wieder durch die Lappen
gegangen war, warf Leo das Handtuch auf die Anrichte. Als er sich
umwandte, um dem Ort seiner Niederlage den Rücken zu kehren, ließ
ihn ein schlürfendes Geräusch erneut einen Blick auf den Abfluss
werfen. Das spiralförmige Stück einer Pampelmusenschale versank
träge in dem im Abfallzerhacker stehenden Sumpf.

»Piper!« Entnervt von dem lauthalsen Gebrüll des Moderators

einer Gameshow, der den Kandidaten, dem Publikum im Studio und
allen Zuschauern »dort draußen« die sensationellen Preise vorstellte,
die es zu gewinnen galt, lief er ins Wohnzimmer. Dort fand er seine
Frau auf dem Sofa sitzend, den Blick auf den Fernseher gerichtet und
wie abwesend mit einem Löffel in einer großen Holzschüssel
herumrührend, in der sich ein grauweißer Brei befand. Dicke Tränen
kullerten ihre Wangen herab.

»Piper?« Leo kniete sich vor ihr nieder. Er hatte ja nicht ahnen

können, dass ihr emotionaler Zustand sich um hundertachtzig Grad
gewendet hatte und aus »himmelhoch jauchzend« inzwischen »zu
Tode betrübt« geworden war. »Geht's dir nicht gut?«

Schniefend wischte sich Piper eine Träne von der Backe. »Millie

hat verloren.«

»Millie?« Leo zog verständnislos die Stirn kraus, bis Piper mit dem

Löffel auf den Fernsehbildschirm wies. Rasch fuhr er zurück, um dem
umherspritzenden Brei auszuweichen. »Du meinst die Frau da in der
Gameshow?«

Piper nickte und schluchzte auf. »Millie wollte für ihren Enkel das

Angelbötchen gewinnen, deshalb hat sie auf den Breitbildfernseher
und die Musikanlage verzichtet und weitergemacht. Und dann hat sie
die Antwort auf die letzte Frage nicht gewusst und alles verloren. Das
Einzige, was ihr jetzt bleibt, ist ein Jahresvorrat von irgend so einem

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dämlichen Geschirrspülmittel, das mit Sicherheit nicht mal halb so
viel taugt, wie der Hersteller behauptet.«

»Eine echte Tragödie.« Leo wusste nicht recht, was er sagen sollte.

In der Hoffnung, Pipers Gedanken auf weniger betrübliche Dinge zu
lenken, versuchte er, das Thema zu wechseln. »Was rührst du da
eigentlich zusammen?«

»Einen Vitamintrunk für Gilbert.« Piper holte tief Luft und gab

sich redlich Mühe, einen neuerlichen Weinkrampf zu unterdrücken.

»Gilbert?« Leo sah sie verwirrt an. »Du meinst doch nicht etwa

den Gremlin, oder?«

Piper nickte abermals.

»Du fütterst ihn?!«, rief Leo völlig entgeistert.

»Wag es ja nicht, mich anzuschreien, Leo Wyatt!« In Pipers Augen

funkelte Zorn, doch ihre Lippen bebten, als würde sie gleich wieder
anfangen zu heulen. »Ich musste mir schließlich irgendwas einfallen
lassen, wie ich ihn bei Laune halten kann, bis du endlich in die Gänge
kommst und ihn uns vom Halse schaffst. Hast du dir schon mal unsere
Waschküche angeguckt?«

Leo schüttelte den Kopf. »Sieht es da genauso aus wie in der

Küche?«

Ein wenig besänftigt, beugte Piper sich näher zu ihm heran. »Stell

dir vor, er hat den großen Abluftschlauch des Wäschetrockners
zerfetzt.«

»Was hat ein Rohrleitungsgremlin im Wäschetrockner zu

suchen?«, fragte Leo.

»Was weiß denn ich?«, fuhr Piper ihn an. »Offensichtlich hat er

irgendeinen Koller gekriegt!«

»Offensichtlich.« Ebenso offensichtlich war es für Leo, dass Pipers

Zustand sich seit dem gestrigen Abend dramatisch verschlimmert
hatte. Sie hatten weiß Gott größere Probleme als einen verärgerten
Gremlin. »Ist Phoebe zu Hause?«

Piper zeigte mit dem Löffel Richtung Zimmerdecke.

»Auf dem Speicher. Solange wir nicht wirklich sicher sind, ob

vielleicht tatsächlich so eine Art kollektive Krise schuld daran ist, dass

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ich das reinste Nervenbündel bin und sie neuerdings ein Gedächtnis
hat wie ein Sieb, hält sie es für besser, im Buch der Schatten nach
einer übernatürlichen Erklärung zu suchen.«

»Rühr dich nicht von der Stelle«, sagte Leo. »Ich bin gleich wieder

zurück.«

Piper griff nach der Fernbedienung und zappte bereits weiter durch

das Fernsehprogramm, als Leo von einer hellen Aura umhüllt wurde,
die ihn hinauf auf den Dachboden trug.

»Hey, Leo. Was gibt's?« Mit untergeschlagenen Beinen hockte

Phoebe auf dem Fußboden des Speichers und kramte in einem alten
Koffer herum.

»Piper sagte, du wolltest das Buch befragen.« Leo blickte zu dem

Lesepult hinüber. Das Buch der Schatten war nicht einmal
aufgeschlagen.

»Befragen wonach?« Phoebe faltete ein besticktes Halstuch

zusammen und legte es auf einen Stapel dekorativer Kissenbezüge.

»Zum Beispiel, warum du dich von einer Minute auf die andere an

nichts mehr erinnern kannst.« Als Leo sich der Absurdität der
Situation bewusst wurde, versank er für einen Moment in Schweigen.
»Du hältst es also für vollkommen überflüssig«, fuhr er schließlich
fort, »das Buch zu konsultieren, versteh ich das richtig?«

»Absolut.« Einen pinkfarbenen, mit einem Monogramm

versehenen Babypullover aus der Kiste zerrend, sah Phoebe ihn aus
ahnungslosen Augen an. »Gibt es irgendetwas, worüber ich mir
Sorgen machen sollte?«

»Weshalb dich beunruhigen, wenn du es gleich sowieso wieder

vergessen hast?« Leo lächelte, doch tatsächlich war er selbst
beunruhigt genug. »Trotzdem, du musst mir helfen.«

»Okay.« Phoebe erhob sich und klopfte den Staub von ihrer Jeans.

Ihr Blick blieb an dem grob gehäkelten Pulli hängen, den sie über dem
T-Shirt trug. Sie streckte die Arme aus und betrachtete verwundert die
weiten Glockenärmel. »Wo kommt der denn her? Der ist ja
wundervoll.«

»Vielleicht aus dem Koffer da.« Leo ergriff ihre Hand und zog sie

mit sich zur Tür. »Komm schon. Ich brauche deine Hilfe.«

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»Was ist das Problem?«, fragte Phoebe.

»Ich sag's dir, wenn wir unten sind, dann muss ich es nicht

zweimal erklären.« Mit sanftem Nachdruck schob Leo sie zur Tür
hinaus. Als sie im Wohnzimmer ankamen, konnte Phoebe sich bereits
an kein einziges Wort des Gesprächs, das sie noch vor wenigen
Minuten auf dem Speicher geführt hatten, erinnern.

»Was schaust du dir da an?«, fragte Phoebe Piper.

»Ach, irgend so eine Seifenoper, ich glaub, sie heißt ›Am Ende der

Straße‹.« Piper trocknete sich mit dem Saum ihres Sweatshirts die
tränennassen Augen. »Wie halten die Leute diesen Serienquatsch nur
Tag für Tag aus? Ständig hat irgendwer irgendwelche Probleme.«

»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, murmelte Phoebe.

Behutsam nahm Leo seiner Frau die Schüssel mit dem

Gremlinkraftfutter aus der Hand. Sie hatte so lange darin
herumgerührt, dass aus dem Brei eine klumpige Suppe geworden war.
»Wo ist dein Laptop, Phoebe?«

»Keine Ahnung.« Suchend schaute Phoebe im Zimmer umher.

»Hier ist er jedenfalls nicht.«

Piper stand auf und versetzte Leo einen Stoß gegen die Brust. »Gib

du Gilbert sein Leckerchen. Ich kümmer mich in der Zwischenzeit um
den Laptop.«

»Piper –« Im letzten Moment gelang es Leo, die ausfallende

Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, herunterzuschlucken.
Normalerweise besaß er die Geduld eines Engels, aber normalerweise
benahmen sich die Zauberhaften auch nicht wie komplette
Vollidioten. »Hat eine von euch heute schon versucht, ihre magischen
Kräfte zu benutzen?«

»Weiß nicht«, meinte Phoebe.

Piper schüttelte den Kopf. »Wir haben beschlossen, vorläufig

darauf zu verzichten, erinnerst du dich?«

»Haben wir?« Phoebe machte einen ziemlich verwirrten Eindruck.

»Wann?«

»Ist doch egal, wann, Phoebe«, sagte Leo. »Los, versuch mal zu

schweben.«

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»Klar.« Phoebe holte tief Luft. Als ihre Füße einen Moment später

immer noch wie festgenagelt am Boden klebten, biss sie die Zähne
zusammen und kniff angestrengt die Augen zu. Tatsächlich gelang es
ihr, sich einige Zentimeter vom Boden zu erheben. Ein paar Sekunden
hing sie schwebend in der Luft, bevor die Kräfte der Schwerkraft über
die Magie obsiegten und sie wieder zurück auf die Erde holten.

»Das kann unmöglich etwas Gutes bedeuten.« Nervös knabberte

Piper an ihrer Unterlippe.

»Hallo zusammen, da bin ich wieder.« Paige kam zur Tür herein,

ließ ihre Tasche auf den Boden fallen und sich selbst in das Sofa
plumpsen, das Piper soeben geräumt hatte.

»Bist du nicht viel zu früh?« Schluchzend warf Piper einen Blick

auf ihre Uhr. »Wir haben gerade erst vier, Paige. Mr. Cowan hat dich
gefeuert, hab ich Recht? Was soll jetzt bloß aus unserer
Haushaltskasse werden.«

»Gar nichts«, erwiderte Paige gähnend. »Er meinte, ich sei krank,

und hat mich nach Hause geschickt.«

»Hast du Fieber?« Phoebe legte ihrer Schwester besorgt eine Hand

auf die Stirn.

Unwillig schob Paige die Hand wieder beiseite. »Nein, ich hatte

nur solche Probleme, mich wach zu halten, dass Mr. Cowan meinte,
ich bekäme ganz sicher die Grippe und solle schnell machen, dass ich
nach Hause komme, bevor ich noch alle anderen anstecke.«

»Das ist die erste gute Nachricht heute«, sagte Leo. Zumindest

hatte Paige, solange sie wach blieb, die Kontrolle über das, was sie tat
oder dachte.

»Ich bin wohl nicht die Einzige, die heute einen schlechten Tag

hat.« Paige hob mit dem Finger eines ihrer Augenlider an.

»Scheint so.« Seufzend setzte sich Phoebe auf die Armlehne der

Couch. »Ich krieg meine Füße kaum noch vom Boden hoch.«

»Horror!« Paiges Kopf sank auf eines der Sofakissen. Ihre Lider

begannen zu flattern, dann fielen ihr die Augen zu. Im nächsten
Moment riss sie sie wieder auf. »Hatten wir nicht vereinbart, unsere
Kräfte nicht mehr einzusetzen, solange wir nicht wissen, warum sie
nicht mehr richtig funktionieren?«

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»Wirklich?« Phoebe schlug sich mit der Hand auf den Mund.

»Oops.«

»Ich habe da eine Theorie, was das Nachlassen eurer Kräfte

betrifft«, sagte Leo. Doch bevor er den Schwestern mehr darüber
erzählte, musste er noch weitere aussagekräftige Indizien haben.
»Versuch mal, irgendwas einzufrieren, Piper.«

»Okay.« Schniefend ließ Piper ihre Hand in Richtung des

laufenden Fernsehers schnellen. Doch anstatt jäh zu einem Standbild
zu erstarren, liefen die Ereignisse auf dem Bildschirm nur in Zeitlupe
weiter. »Oh-oh.«

»Sehen so etwa angehaltene Moleküle aus?«, fragte Phoebe.

Piper runzelte die Stirn. »Nein, aber vielleicht sind meine

Molekularbeschleunigungskräfte ja noch in Ordnung.«

Bevor Leo dazu kam, danach zu fragen, ließ Piper die

zerstörerische Gewalt ihrer Fähigkeit über eine Topfpflanze auf der
Fensterbank hereinbrechen. Wobei »Gewalt« ein ebenso
unzutreffender Ausdruck war wie »zerstörerisch«, denn die Pflanze
kam mit vergleichsweise heiler Haut davon. Lediglich ein leichtes
Zittern durchfuhr ihr ausladendes Grün, und einige Blütenblätter
fielen sanft schwebend herab.

»Kann es sein, dass es seit gestern schlimmer geworden ist?«

Müde hob Paige ihren Kopf von dem Kissen.

»Schwer zu sagen«, meinte Piper achselzuckend. »Ich hab gestern

nicht versucht, etwas explodieren zu lassen.«

»Du bist dran, Paige«, sagte Leo.

Von gedämpften Erwartungen getragene Spannung breitete sich im

Zimmer aus, als Paige sich aufsetzte und ihre ineinander
verschränkten Finger knacken ließ. Einen kurzen Augenblick lang
schien sie zu zögern, doch dann schossen ihre Hände unerschrocken
nach vorn. »Fernbedienung!«

Leo verzog enttäuscht das Gesicht, als im ersten Moment nichts

geschah. Einige Sekunden später löste sich die Fernbedienung träge in
Orb-Partikel auf, die langsam in Paiges Hand schwebten und sich dort
wieder rekonstruierten.

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»Na ja, hat nicht ganz so geklappt, wie ich es mir eigentlich

vorgestellt habe«, stellte Paige nüchtern fest.

»Kann ich das Ding mal sehen?« Leo nahm ihr die Fernbedienung

aus der Hand. Auf den ersten Blick schien sie völlig in Ordnung zu
sein. Als er jedoch näher hinsah, bemerkte er, dass die Beschriftungen
vollkommen sinnlose Wörter ergaben und einige Tasten verrutscht zu
sein schienen.

»Oh Mann«, entfuhr es Paige, als Leo ihr die betreffenden Stellen

zeigte. »Das ist auf jeden Fall schlimmer als gestern.«

»Genau das wollte ich herausfinden.« Mit sachlichem Ton

eröffnete er den drei ihn fragend anblickenden Schwestern den
Schluss, den er aus den soeben gewonnenen Erkenntnissen zog:
»Irgendetwas ist geschehen, was beim ersten Zusammentreffen eine
Herabsetzung eurer Kräfte eingeleitet hat – und was immer es auch
war, irgendwann zwischen gestern und jetzt seid ihr erneut damit in
Berührung gekommen.«

Obwohl Phoebe noch ein wenig erstaunter aussah als Piper und

Paige, waren sie alle ziemlich verblüfft.

»Aber es ist rein gar nichts passiert«, beharrte Paige.

»Doch, das ist es«, widersprach Leo bestimmt. »Wie sonst ließe

sich erklären, dass ihr alle miteinander und zur gleichen Zeit unter
physischen oder emotionalen Beeinträchtigungen und dem Verlust
eurer magischen Fähigkeiten zu leiden habt.«

»Tut mir Leid, ich komm da nicht mehr mit.« Phoebe rieb sich die

Schläfen.

»Ich auch nicht«, meinte Piper.

Paige war ebenfalls nicht von seiner Theorie überzeugt. »Aber das

würde bedeuten, dass wir alle drei dem gleichen Phänomen ausgesetzt
waren. Wann soll denn das gewesen sein? Die einzige Zeit, in der wir
zusammen waren, befanden wir uns hier in diesem Haus.«

»Gilbert!«, keuchte Piper.

»Wer ist Gilbert?«, fragte Paige.

»Piper hat dem Gremlin einen Namen gegeben«, klärte Leo sie auf.

»Aber Gremlins verfügen nicht über hinreichende Fähigkeiten, um

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einen direkten Einfluss auf Menschen auszuüben, weder einen guten
noch einen bösen. Ihre magischen Kräfte reichen gerade mal dazu aus,
tote Gegenstände zu sprengen, zum Beispiel Wasserleitungen.«

»Du hast dem Gremlin einen Namen gegeben?« Paige schaute

Piper erbost an.

»Vergesst Gilbert mal für einen Augenblick«, sagte Leo. »Er ist

nicht verantwortlich für das Problem, das wir haben. Da ist
irgendetwas anderes im Gange, und wir sollten schleunigst
herausfinden, was, bevor von euren Kräften überhaupt nichts mehr
übrig ist.«

»Irgendwelche Ideen?«, fragte Paige und sah ihn voller Erwartung

an.

»Nicht viele.« Leo schüttelte den Kopf. »Nur, dass ihr irgendwann

in den letzten paar Tagen mit etwas in Kontakt gekommen sein müsst,
dem ihr noch nie zuvor im Leben begegnet seid. Und was immer es
war, es hat euch ein zweites Mal erwischt.«

Paige versuchte, den Gremlin abzuschütteln, doch die Zähne des

hässlichen kleinen Biests gruben sich nur immer tiefer in ihr Bein.

»Komm schon, Paige.«

»Häh? Was –« Jäh schreckte Paige aus ihrem Traum auf. Phoebe

schüttelte sie heftig am Knie und versuchte, sie wach zu bekommen.

»Es ist beinahe sieben Uhr«, sagte Phoebe. »Zeit wieder

aufzustehen.«

»Warum?« Gähnend zog Paige ihre Knie an und legte einen Arm

über den Kopf. Sie lag immer noch auf der Couch, auf der sie im
Anschluss an die Krisensitzung am Nachmittag eingeschlummert war.

»Äh –« Phoebe räusperte sich. »Augenblick, das haben wir

gleich.«

Neugierig geworden, rollte Paige sich auf die Seite und schaute

ihre Schwester aus verschlafenen Augen an. Den Häkelpulli, den
Phoebe trug, hatte Paige noch nie an ihr gesehen. Im Hippie-Look der
sechziger Jahre, passte das Teil perfekt zu Phoebes T-Shirt und Jeans.

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»Hübscher Pulli. Hast du den in irgendeinem Secondhandshop
aufgestöbert?«

»Lass mich nachsehen.« Phoebe saß auf dem Couchtisch, ihren

Laptop auf dem Schoß. Stumm bewegte sie die Lippen mit, während
sie die Worte auf dem Bildschirm las. »Auf dem Speicher«, sagte sie
schließlich. »Wie war noch mal die andere Frage?«

»Warum ich aufstehen soll«, wiederholte Paige für sie.

»Ach ja, richtig.« Phoebe richtete ihren Blick erneut auf den

Bildschirm. Ein Lächeln erhellte ihre Züge. »Weil Piper mit dem
Abendessen beschäftigt ist und Leo möchte, dass du etwas für ihn im
Buch der Schatten nachschaust. Zurzeit bin ich wohl keine große
Hilfe, wenn es um Recherche geht.«

»Wer ist eigentlich auf die Idee gekommen, den Computer als

Gedächtnisstütze einzusetzen?« Paige raffte sich auf und setzte ihre
Füße auf den Boden. Ihre Augenlider fühlten sich an, als würden
tonnenschwere Gewichte daran hängen.

»Weiß ich nicht mehr genau.« Phoebe zuckte mit den Schultern.

»Wahrscheinlich Leo. Jedenfalls funktioniert es ganz gut.« Wieder
blickte sie auf den Bildschirm. »Sieht so aus, als hätten wir eine
komplette Liste von allen möglichen Dingen gemacht, an die ich mich
vielleicht besser erinnern sollte.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Paige. »Steht auf deiner Liste auch,

was ich für Leo im Buch nachschauen soll?«

»Nein, aber –« Phoebe fuhr mit ihrem Finger die Liste entlang.

»Das Buch der Schatten ist in der Küche, die Leo und Piper eben
sauber gemacht haben.«

»Und mich haben sie schlafen lassen?« Paige streckte sich, um das

steife Gefühl aus ihren Armen und Beinen zu vertreiben, und strich
sich dann das zerknitterte Hemd glatt. »Muss wohl mein Glückstag
sein.«

»Glaube ich nicht«, meinte Phoebe, während sie Paige auf den Flur

hinaus folgte. »Auf meiner Liste steht, dass Piper ziemlich sauer auf
dich ist, weil du die Fernbedienung ruiniert hast.«

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»Tatsächlich?« Verärgert blickte Paige sich zu Phoebe um. »Und

dass sie um ein Haar eine Pflanze umgebracht hätte, ist wohl völlig in
Ordnung, was?«

In der Küche angelangt, steuerte Paige direkt den Kühlschrank an

und nahm eine Flasche Vitaminsaft heraus. Offensichtlich hatten Leo
und Piper versucht, sich durch Putzen von dem Problem abzulenken,
für das niemand eine Lösung zu finden schien. In der Küche sah es so
sauber aus wie am Morgen, alles war adrett und ordentlich wie eh und
je, abgesehen vielleicht von dem riesigen Haufen Küchenabfälle, der
sich in einer Hälfte der Doppelspüle türmte. »Steckt Gilbert schon
wieder im Abfallzerhacker?«

»Ich werde ihn nicht einschalten, um es herauszufinden.« Piper

kippte eine grauweiße, dickflüssige Masse in den Tümpel aus Unrat,
stellte sodann die hölzerne Schüssel in das leere Abwaschbecken und
ließ sie voll Wasser laufen. Ihre Augen waren schon ganz gerötet vom
vielen Weinen. »Unsere Probleme sind ohnehin schon schlimm genug,
auch ohne einen zu Hackfleisch verarbeiteten Gremlin.«

»Wir haben einen Gremlin? Meint ihr nicht, dass das auf meiner

Liste stehen sollte?« Phoebe setzte sich mit ihrem Notebook an den
Küchentisch und begann, die Worte vor sich hin murmelnd, zu
schreiben: »›Nicht den Abfallzerhacker einschalten. Gremlin drin.
Gibt Riesensauerei.‹«

»Ich hoffe, du schaffst es nach deinem kleinen Nickerchen eine

Weile wach zu bleiben, Paige.« Mit einem Seufzer räumte Leo die
letzte Kaffeetasse in den Schrank und stieß mit dem Knie die Klappe
des Geschirrspülers zu.

»Ich werd mich bemühen.« Gähnend nahm Paige Phoebe

gegenüber am Küchentisch Platz. Dann schlug sie das Buch der
Schatten
auf. »Kannst du mir irgendeinen Hinweis geben, wonach ich
eigentlich suche?«

»Tut mir Leid.« Leo schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns darauf

verlassen, dass du es von selbst erkennen wirst.«

Paige nickte und begann zu blättern. Das Wissen, das im

Halliwellschen Buch der Schatten archiviert war, befand sich in
ständiger Erneuerung, ergänzt und erweitert durch die unsichtbare
Hand eines ihrer Ahnen. Sachdienliche Informationen über neue
drohende Gefahren tauchten für gewöhnlich wie von selbst vor dem

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Auge des Ratsuchenden auf. Paige hoffte, dass das Buch sie auch
diesmal nicht im Stich lassen würde.

»Auf meiner Liste steht ein ganz merkwürdiger Eintrag über einen

Gremlin, der angeblich in unserem Abfallzerhacker hockt.« Phoebe
schaute über ihre Schulter zu Piper und Leo hinüber. »Ist da noch
mehr, was ich über Gremlins wissen sollte?«

»Ja.« Piper griff zu dem schnurlosen Telefon. »Wenn das

Spülbecken mit den Küchenresten leer ist, füll es wieder auf. Ich
bestell uns beim Chinesen was zu essen. Irgendwelche besonderen
Wünsche?«

»Irgendwas in Richtung süß-sauer«, sagte Phoebe.

Verwundert zog Paige eine Augenbraue hoch. Offenbar schien

Phoebes Langzeitgedächtnis noch völlig intakt zu sein. Nachdem der
Computer den Verlust ihres Kurzzeitgedächtnisses zumindest
notdürftig ersetzte, legte sie hinsichtlich der Situation, in der sie sich
befanden, einen erstaunlichen Pragmatismus an den Tag.

»Frühlingsrollen und Krabbenbrot.« Leo zog sich einen Stuhl

heran. »Am besten gleich zwei Portionen. Ich hab einen
Bärenhunger.«

»Das Obdachlosenheim!« Jäh sprang Paige auf. »Ich muss heute

Abend im Obdachlosenheim arbeiten.«

»Ich habe Doug angerufen und ihm gesagt, dass du dich nicht wohl

fühlst«, sagte Leo. »Schien mir das Richtige zu sein.«

»Da ich wohl kaum gleichzeitig Essen austeilen und schlafen kann,

war es das auch. Danke.« Paige setzte sich wieder an den Tisch. Das
Kinn aufgestützt, fuhr sie fort, im Buch der Schatten herumzublättern.
»Hoffentlich tauchen wenigstens Jennifer und Kevin auf, sonst hat
Doug ein echtes Problem.«

»Daran lässt sich dann auch nichts ändern. Phoebe schwänzt ihren

Abendschulkurs, und ich versetze meine Leute im P3. Keine von uns
geht irgendwo hin, solange –«, Piper blinzelte sich die Tränen aus den
Augen, »– wir noch keine Antwort auf unsere Fragen gefunden haben.
Und jetzt entschuldigt mich bitte.« Sie holte die Speisekarte des Sun
Li
aus einer Schublade und zog sich mit dem Telefon in die Diele
zurück.

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Kurz davor, schon wieder einzunicken, versuchte Paige, sich durch

heftiges Kopfschütteln aus den Klauen ihrer lähmenden Müdigkeit zu
befreien. »Allmählich fängt es an, anstrengend zu …« Mitten im Satz
brach sie ab, starrte auf eine Seite, die sie noch niemals zuvor gesehen
hatte.

»Hast du was gefunden?« Hastig beugte sich Leo zu ihr herüber.

»Vielleicht. Das hier sieht zwar aus wie ein Gedicht, aber weder

reimt es sich, noch scheint es ein Zauberspruch zu sein.« Mit einem
Ausdruck zunehmenden Unverständnisses überflog Paige den
vierzeiligen Eintrag.

»Bist du sicher, dass es keine Beschwörungsformel ist?«, fragte

Leo.

Zögernd las Paige den Passus vor:

»Und ist gekommen für die drei Auserwählten des Bösen eine Zeit
des Erwachens,
müssen die Kämpfer für die Tugend das Licht der vergangenen
Zeiten verteidigen,
oder sie sind verloren auf immer,
und den Kriegern der Finsternis gebühret der Sieg.«

»Irgendeine Ahnung, was das heißen könnte?« Phoebe tippte die

Zeilen in Windeseile in ihren Computer.

»Nicht wirklich, aber zumindest haben wir jetzt mehr in der Hand

als vorher.« Leo erhob sich von seinem Stuhl und warf einen Blick auf
den Durchgang zum Flur. »Sag Piper, dass ich aufgebrochen bin, um
nochmals die Ältesten zu konsultieren.«

»Richtig«, sagte Phoebe nickend, während ihre Finger über die

Tastatur ihres Laptops flogen. »›Piper sagen, dass Leo bei den
Ältesten ist.‹ Hab ich.«

Kaum war Leo davongeorbt, ließ Paige ihren Kopf auf das Buch

der Schatten sinken und schloss die Augen. »Vergiss nicht
abzuspeichern.«

»Ich schreib's mir auf.«

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6

K

AREN WARF IHRE LEDERJACKE über einen Stuhl, während

Kevin hinter ihnen die Apartmenttür schloss. »Wo ist Kate?«

»Hier hinten!« Mit einem strahlenden Lächeln und einem großen

Messer wedelnd, steckte die junge Frau den Kopf aus der kleinen
Küche heraus.

»Verbesserst du gerade deine Kampfkünste, Ce'kahn?«, fragte

Karen mit unverhohlenem Spott.

»Kate hat uns Pizza besorgt.« In Kevins Stimme und in seinem

frostigen Blick lag die unausgesprochene Mahnung, dass sie ihre
Clan-Namen unbedingt geheim halten mussten, solange die Sol'agath
noch nicht besiegt waren.

»Ich kann mit vollem Magen besser nachdenken«, sagte Kate.

»Was gibt's für ein Problem?«, fragte Karen schroff.

Kevin ließ sich von dem strengen Blick der Musikerin nicht

einschüchtern. Karen, einst als Sh'tara bekannt und bald wieder diesen
Namen tragend, würde es nicht zu einem offenen Streit kommen
lassen. Der alte Erzmagier, dem sie es zu verdanken hatten, dass sie
einem jämmerlichen Schicksal entgangen waren, hatte ihn, Tov'reh, zu
ihrem alleinigen Anführer bestimmt. Keine seiner Mitstreiterinnen
würde es jemals wagen, Shen'archs Weisheit anzuzweifeln und sich
seinem Willen zu widersetzen.

Als Karen vor zwei Jahren an dem für sie vorherbestimmten Ort

erschienen war, um sich ihm und Kate anzuschließen, hatte er darauf
bestanden, dass die Wahrheit auch weiterhin unter dem Deckmantel
ihrer menschlichen Existenz verborgen blieb. Aufgewachsen in ganz
normalen Familien und mit einem College-Abschluss fürs Leben
gerüstet, hatten sie ihre beruflichen Karrieren begonnen und sozialen
Kontakte gepflegt wie Millionen anderer Menschen auch. Konsequent
hatten sie an ihrer Vita gebastelt, stets darauf bedacht, nirgendwo
irgendwelche Lücken entstehen zu lassen, die den Sol'agath einen
Hinweis darauf geben könnten, was ihre wahre Herkunft und
Bestimmung betraf. Dazu gehörte ebenso, dass sie es vermieden, sich
bei ihren Dor'chacht-Namen zu nennen, die es den Höheren Mächten

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ermöglichen würden, eine Verbindung zwischen ihnen und der
Vergangenheit herzustellen.

»Selbst die alten Krieger der Finsternis mussten essen«, meinte

Kevin versöhnlich.

»Ja, aber leider gab es damals nirgendwo Menüs zum Mitnehmen.«

Kate kam mit einem flachen Pappkarton herein, in dem eine köstlich
duftende Pizza lag.

»Ich will nicht zu spät ins P3 kommen.« Angewidert blickte Karen

auf die amerikanische Pizza-Variante aus Teig, Käse, Fleisch und
Tomatensoße. »Im Übrigen wäre mir ein Wildschwein am Spieß
lieber.«

Kate kniete sich vor den kleinen Beistelltisch und hievte mit

Schwung ein Pizzastück auf ihren Pappteller. »Ich für meinen Teil hab
auch die Nase voll von Hamburgern, Shrimps und Chefsalaten mit
gegrillten Putenbruststreifen auf halb garem, zähem Schweinefleisch.«

»Ich finde, wir haben jetzt genug über Essen geredet. Wir haben

ein Problem, und uns bleibt nur wenig Zeit, es zu lösen.« Kevin nahm
einen Stoß Zeitungen von dem abgenutzten Sofa, das die Mitte des
Zimmers dominierte, und forderte Karen auf, sich zu setzen.

»Hat es irgendwas damit zu tun, warum Kate nicht in der

Abendschule ist und du heute Abend nicht im Obdachlosenheim
aushilfst, Kevin?« Ohne ihren Flötenkasten aus der Hand zu legen,
ließ Karen sich widerstrebend auf die Sofakante sinken.

Kevin sah, wie Karens Blick von den Papptellern und

Papierservietten, die auf dem Couchtisch lagen, zu dem Fernseher mit
Satellitenreceiver hinüberwanderte, der auf einem Metallrack stand.
Auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand befand sich ein
teurer Highend-Rechner mit 17-Zoll-Monitor. Er wusste, dass sie sich
in der modernen Welt des 20. und 21. Jahrhunderts stets wie eine
Fremde gefühlt hatte, während ihm es gelungen war, sich dem immer
schneller und schneller voranschreitenden technologischen Fortschritt
der Kommunikations- und Informationsgesellschaft anzupassen.

Kates Interesse an Männern, ausgiebigem Essen und sportlicher

Betätigung dagegen war so ungebrochen wie vor dreitausend Jahren.

»Paige ist im Obdachlosenheim nicht aufgetaucht«, sagte Kevin.

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»Und Phoebe hat im Webdesign-Kurs durch Abwesenheit

geglänzt.« Kate biss ein Stück von ihrer Pizza ab.

Beunruhigt sah Karen die anderen beiden an. »Meint ihr, die

Sol'agath-Hexen haben herausgefunden, was mit ihnen vorgeht?«

»Wie sollten sie?«, entgegnete Kate und zupfte sich einen

Käsefaden vom Kinn. »Shen'arch hat doch gesagt, dass die Höheren
Mächte uns nicht finden würden, solange wir menschlich sind, und
das bleiben wir auf jeden Fall bis morgen Abend – wenn wir erst
einmal im Tal der Ewigkeit sind, kann uns ohnehin niemand mehr
aufhalten.«

Karen schloss die Augen und hob ihr Gesicht zum Himmel, eine

Geste der Ehrfurcht und der Achtung vor dem schon vor langer Zeit
heimgegangenen Hexenmeister der Dor'chacht.

Und unsere Kräfte schlummern in den Artefakten, dachte Kevin.

Weder die Ältesten oben noch die dämonischen Mächte, die tief in der
Unterwelt hausten, konnten diese Magie erspüren, insbesondere dann
nicht, wenn sie bereits seit drei Jahrtausenden nicht mehr benutzt
worden war. Die Zeit und nicht zuletzt Shen'archs unbeugsamer Wille
hatten sie für das, wofür sie bestimmt worden war, bewahrt.

»Doug sagte, Paiges Schwager habe angerufen und ihm mitgeteilt,

dass sie krank sei«, erklärte Kevin. »In Anbetracht dessen, dass immer
dann, wenn der Stock ihr einen Teil ihrer Kräfte entzieht, auch ihre
Erschöpfung zunimmt, bin ich durchaus geneigt, das zu glauben.«

»Wahrscheinlich weiß Phoebe nicht einmal mehr, dass sie

überhaupt einen Kurs an der Abendschule hat«, meinte Kate lachend.
»Gestern Abend konnte sie sich bereits fünf Sekunden, nachdem Mr.
Deekle sie aufgerufen hatte, an rein gar nichts mehr erinnern. Und das
war, bevor ich sie ein zweites Mal mit dem Armreif berührt hab.«

»Es sollte mich nicht wundern, wenn sich herausstellt, dass Piper

Verdacht geschöpft hat.« Mit düsterer Miene ließ Karen ihre Hand
mechanisch über den Flötenkasten gleiten. »Ich kann mir nicht
vorstellen, dass sie sich keine Gedanken darüber macht, wieso sie sich
an dem einen Tag über alles Mögliche totlacht und am anderen ohne
jeden ersichtlichen Grund das heulende Elend bekommt. Oder
darüber, dass ihre magischen Kräfte versiegen.«

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»Aber sie wird wohl kaum darauf kommen, dass das alles mit der

Flöte zusammenhängt, die sie berührt hat«, hielt Kate dagegen.

Vielleicht nicht, vielleicht aber doch, dachte Kevin. Karens

Flötenspiel hatte Pipers emotionale Verfassung beeinflusst, weil sie
eine Hexe war. Als das Musikinstrument ihre Kräfte angezapft hatte,
war ein vorübergehendes magisches Band geknüpft worden zwischen
ihr und dem Artefakt. Normale Menschen waren dagegen immun. Die
Nebeneffekte, die sein Gehstock oder Kates Armreif bei Paige und
Phoebe ausgelöst hatten, ließen sich indes viel leichter erklären. Doch
wie auch immer, die Müdigkeit, die Vergesslichkeit und die extremen
Stimmungsschwankungen, unter denen die drei Hexen zu leiden
hatten, würden den Zauberhaften

hinreichend Anlass zur

Beschäftigung geben, um sie von der eigentlichen Gefahr, die für sie
von den Dor'chacht ausging, abzulenken – genau wie Shen'arch es
geplant hatte.

Doch auch wenn Piper uns auf die Schliche kommt, dachte Kevin,

wird es längst zu spät sein, um ihrem Schicksal noch zu entgehen.

»Ob unsere Tarnung aufgeflogen ist, werde ich merken, wenn ich

Piper nachher im P3 treffe«, sagte Karen. »Und selbst wenn, ich
werde auf jeden Fall dafür sorgen, dass sie abermals mit der Flöte in
Kontakt kommt, egal wie.« Als sie aufblickte, verengten sich ihre
Augen zu schmalen Schlitzen. »Aber das löst nicht euer Problem.
Irgendwie müsst ihr es bewerkstelligen, dass Phoebe und Paige ein
drittes Mal die Artefakte berühren, bevor die Schlacht beginnt.«

»Ich werde bei Phoebe vorbeischauen, um ihr die Notizen zu

leihen, die ich mir heute im Kurs gemacht habe.« Kate putzte sich die
fetttriefenden Finger an einer Papierserviette ab. »Immerhin haben wir
schon zusammen im Café gesessen und nett miteinander geplaudert.
Ich nehme also nicht an, dass sie sich großartig wundern wird.«

Karen blickte Kate skeptisch an. »Du bist doch selbst nicht im

Computerkurs gewesen.«

Kate verdrehte die Augen. »Nein, aber Stuart Randall war da und

hat für mich mitgeschrieben. Wir wollten heute Abend noch
gemeinsam ins Kino, und er meinte, es wäre kein Problem, mich auf
dem Weg dorthin kurz bei den Halliwells vorbeizufahren.«

»Du hast ein Date?«, fragte Karen entgeistert. »Heute Abend?«

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»Was?« In gespielter Entrüstung verzog Kate das Gesicht und

machte einen Schmollmund. »Ich darf nicht mal einen Freund haben,
obwohl wir demnächst die mächtigste magische Streitmacht der Welt
sein werden?«

Unangenehm berührt durch Kates großspurige Bemerkung, lehnte

Kevin sich auf dem Sofa zurück. Allergrößte Disziplin und ein
unerschütterlicher Glaube waren unabdingbare Voraussetzungen, um
den Sieg gegen Paige und ihre Schwestern davonzutragen. Mehr als
dreitausend Jahre waren vergangen, seit die Dor'chacht die Vorfahren
der Halliwells zum Kampf gefordert hatten, in der Hoffnung, die
Sol'agath samt ihrer wohltätigen Magie endgültig und unwiderruflich
vom Erdball zu fegen. Doch sie hatten die Mächte des Guten gewaltig
unterschätzt: Sie hatten die Schlacht verloren. Aber nun war für die
Dor'chacht die lang ersehnte Zeit der Vergeltung gekommen.

Kevin holte tief Luft und ballte entschlossen die Fäuste. Von

Shen'arch in letzter Minute mit magischer Kraft in den Schlund der
Zeit geschleudert, der ihn mit sich riss und Jahrhunderte wie
Sekunden an ihm vorüberziehen ließ, war er schließlich vor
sechsundzwanzig Menschenjahren wieder im Jetzt gestrandet, tief
gedemütigt durch die Schande der Niederlage, doch im Herzen die
ewig lodernde Flamme der Rache. Sollten sie diesmal erneut
unterliegen, würde es für den Clan der Dor'chacht keine weitere
Chance mehr geben, die verlorenen magischen Kräfte und den Platz,
den sie einmal in der Welt der Mächtigen innehatten,
zurückzuerlangen. Ihre mentale und emotionale Matrix würde
vollkommen ausgelöscht werden. Die geist- und seelenlosen Hüllen
ihrer Körper würden zurückbleiben und keiner von denen, die sie einst
beim Namen nannten, würde sie wieder erkennen.

Aber wir werden nicht unterliegen, schwor sich Kevin. Das

unbändige Verlangen nach Rache im Verein mit der Erfahrung des
ersten Gefechts verschaffte ihnen einen Vorteil. Dieses Mal würden
sie nicht zum Opfer ihres eigenen Hochmuts. Sie würden die
Sol'agath-Hexen vernichten.

»Du kannst jeden Tag einen anderen Mann haben, wenn du

möchtest, Kate«, sagte Kevin, um die unbedachte junge Hexe zu
beschwichtigen. »Und du brauchst auch nicht mehr in die
Abendschule zu gehen.«

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»Cool.« Ein leises Knurren drang aus Kates Kehle, Ausdruck jener

Blutgier, die seit jeher die böse Magie des Dor'chacht-Clans nährte.

»Aber zuerst müssen wir die Schlacht gewinnen«, fügte Kevin

hinzu. Er wandte sich wieder Karen zu: »Ich habe heute eigentlich nur
noch im Obdachlosenheim gearbeitet, um es mir nicht mit Doug zu
versauen. Für den Fall, dass ich morgen noch mal hin muss, um Paige
ein letztes Mal mit meinem Gehstock zu kitzeln.«

»Ist das nicht ein bisschen knapp?«, fragte Karen. »Außerdem, was

ist, wenn sie sich wieder wegen Unwohlseins entschuldigen lässt?«

»In ihrem Büro war ich gestern schon, um Phase zwei des

Kräfteentzugs einzuleiten, das fällt also aus«, sagte Kevin. »Trotzdem,
ich bin für jeden Vorschlag offen.«

»Warum schaust du nicht auch einfach bei ihr zu Hause vorbei?«,

schlug Kate vor.

»Findest du nicht, dass es ein wenig zu auffällig wäre, wenn ihr

plötzlich beide dort auftaucht?«, gab Karen zu Bedenken.

»Na und?« Kate machte eine wegwerfende Geste. »Wenn wir sie

mit unseren magischen Objekten berührt haben, dürften sie ohnehin
viel zu ausgelaugt sein, um uns noch gefährlich werden zu können.«

Eine durchaus zutreffende Umschreibung, dachte Kevin. Der erste

und zweite Kontakt mit den Objekten hatte die magischen Fähigkeiten
der Zauberhaften um fünfzig Prozent herabgesetzt. Die dritte
Berührung würde ihnen weitere fünfundzwanzig Prozent ihrer Kräfte
rauben, das Maximum, das ihnen noch entzogen werden konnte, ohne
dass ihr Magiepotenzial unter das geforderte Minimum sank. Nur ein
Quäntchen weniger als ein Viertel ihrer ursprünglichen Kraft, und die
Zauberhaften wären so vermenschlicht, dass die Dor'chacht ihren Plan
auf Vergeltung vergessen konnten.

»Also gut«, stimmte Kevin schließlich zu. »Ich fahr zu ihr. Aber

wir sollten wenigstens darauf achten, dass wir nicht gleichzeitig dort
erscheinen.«

»Stuart holt mich so gegen halb zehn ab, dir bleibt also genügend

Zeit, Paige deinen Besuch vorher abzustatten.« In Kates blauen Augen
blitzte grausames Vergnügen auf, als sie den goldenen Reif an ihrem
Arm betrachtete. Die Hälfte der eingravierten Muster hatte eine

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rötliche Färbung angenommen und zeigte damit an, dass sich in dem
Objekt genau die Hälfte von Phoebes magischen Kräften befand.

Karen öffnete ihre hölzerne Schatulle und warf einen Blick auf die

Flöte. Ebenso wie bei Kates Armreif und Kevins Gehstock hatten sich
die Schnitzereien auf dem Instrument zur Hälfte rötlich verfärbt.
Zufrieden nickend, ließ sie das Kästchen wieder zuschnappen. »Ich
muss los. Die Jungs würden sich bestimmt wundern, wenn ich zu spät
im P3 antanze, und ich möchte ungern irgendwelche lästigen Fragen
beantworten.«

»With A Vengeance.« Kate grinste. »Toller Name für 'ne Band, und

süß sind die Burschen auch noch. Ich bin dafür, dass wir sie uns warm
halten, wenn dies alles vorbei ist.«

»Oh, genau das hab ich vor.« Karen erhob sich. »Zumindest

solange, bis sie anfangen, langweilig zu werden, und ich mich
entschließe, sie durch Frischfleisch zu ersetzen. Ich habe nicht die
Absicht, meine Musik an den Nagel zu hängen, nur weil ich die
Fähigkeit habe, jeden das tun zu lassen, was ich will.«

»Mann, ich kann's gar nicht abwarten, endlich wieder die

Menschheit zu terrorisieren.« Kate stieß einen wehmütigen Seufzer
aus.

Kevin wusste genau, wie sie sich fühlten. Er vermisste seine

Fähigkeit, die physische Form von Dingen oder Lebewesen nach Lust
und Laune zu verändern, zumindest eben so sehr wie Karen es
vermisste, jeder beliebigen Kreatur, die über so etwas Ähnliches wie
ein Gehirn verfügte, ihren Willen aufzuzwingen. Kates Fähigkeit, über
die Elemente zu gebieten, war vielleicht etwas weniger subtil und
elegant, dafür jedoch umso effektvoller.

»Es gibt nichts Schöneres, als eine vernunftbegabte Beute zu jagen,

die von fünf Tornados gleichzeitig in die Enge getrieben wird«, fügte
Kate hinzu.

»Außer vielleicht Vergeltung«, sagte Kevin leise.

Während des Abendessens, das aus Klebereis und diversen

chinesischen Menüs bestand, hatte Piper alles niedergeschrieben, was
sie, Paige und Phoebe seit Sonntag erlebt hatten.

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Leos Theorie, dass sie alle seit dem Wochenende mit etwas

Ungewöhnlichem in Kontakt gekommen sein mussten, und das
mindestens zweimal, ergab einen Sinn, aber Pipers Liste erbrachte in
dieser Hinsicht nichts Verwertbares. Mit noch tränennassem Gesicht –
das Ergebnis eines Heulanfalls, weil sich Leo wieder einmal
unverhofft von ihnen verabschiedet hatte – seufzte sie gleichermaßen
mutlos wie herzerweichend.

»Bist du sicher, dass ich diese beiden Gerichte mischen kann?«,

fragte Paige argwöhnisch, bevor sie die Essensreste aus zwei
Pappschachteln kurzerhand zusammen schüttete. »Ich weiß ja nicht,
was Leo dazu meint, aber ich für meinen Teil hasse durchweichtes
Krabbenbrot, das ja eigentlich knusprig sein sollte –«

»Wie du meinst, Paige«, sagte Piper zerstreut, bevor ein gurgelndes

Geräusch sie auffahren ließ. Ihr Blick fiel in Richtung Küchenspüle,
gerade in dem Moment, als der Gremlin auf die Anrichte sprang.
»Verdammt!«

»Was ist das?«, fragte Phoebe und verzog angeekelt das Gesicht.

Gilbert schnaufte, dann machte er wieder dieses nervtötende

Geräusch und entblößte dabei zwei Reihen winziger, messerscharfer
Zähne. Dann begann er, vor Aufregung hin und her zu wackeln, wobei
er schnatterte wie ein wütendes Eichhörnchen.

»Ein Gremlin, der sein Besuchsrecht bei uns ein wenig

überstrapaziert.« Paige griff sich einen Holzlöffel und machte einen
drohenden Schritt auf die dreiste, froschartige Kreatur zu.

»Halt!« Piper sprang auf und zog Paige ein Stück zurück. »Wir

sollen ihn fangen, nicht verletzen, schon vergessen?«

Erstaunlich unbeeindruckt tippte Phoebe all die neuen

Informationen in ihren Laptop, wobei sie den Gremlin nicht aus den
Augen ließ.

»Ja, ja«, murrte Paige. »Aber kannst du mir auch sagen, wie? Ich

jedenfalls werde dieses Ding nicht anfassen!«

»Rechne bloß nicht mit mir!«, protestierte Piper, die sich schon bei

dem bloßen Gedanken schüttelte.

»Würg!«, rief Phoebe ihrerseits aus. »Was will dieser Gremlin

überhaupt hier?«

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Piper zuckte die Achseln. »Chinesisch essen?« Geschickt fing

Gilbert den Glückskeks auf, den sie ihm zuwarf, und verschwand
wieder im Abfallzerkleinerer.

Empört riss Paige die Hände in die Luft. »Wenn du ihn immerzu

fütterst, werden wir ihn nie los!«

»Wenn wir wüssten, wo sich Gilbert aufhält«, überlegte Piper,

»könnte sich Cole vielleicht um ihn kümmern, wenn er wieder zurück
ist. Da Gremlins der Unterwelt angehören, müsste ein ranghöherer
Dämon eigentlich mit ihm fertig werden können.«

»Nie ist ein Exdämon zur Stelle, wenn man ihn braucht«, nörgelte

Paige.

»Coles Unterwelt-Erfahrung kommt uns oft zugute, stimmt's?«,

fragte Phoebe und schaute Bestätigung heischend in die Runde.

»Ja, ja.« Paige nickte lächelnd.

Aber Gilbert ist zurzeit weiß Gott nicht unser größtes Problem,

dachte Piper, als sie sich wieder an den Küchentisch setzte und noch
einmal ihre Notizen durchging.

In Anbetracht der Tatsache, dass sie und ihre Schwestern die

Zauberhaften waren, war ihr Leben in den letzten beiden Tagen
erstaunlich unspektakulär verlaufen. Paige war zur Arbeit gegangen,
hatte abends im Obdachlosenheim der Fünften Straße ausgeholfen und
war dann wieder nach Hause gekommen. Phoebe hatte Halliwell
Manor lediglich verlassen, um die Abendschule zu besuchen, und sie
selbst hatte sich ausschließlich im P3 aufgehalten, bis auf einen Stopp
bei der Tankstelle und einen Besuch bei der Bank, wo sie
Überweisungen abgegeben hatte. Tatsächlich hatte sie sogar
zugestimmt, dass Leo für sie zum Gemüseladen fuhr und sich um
andere Haushaltsangelegenheiten kümmerte.

»Du hast Recht, Paige«, sagte Piper und massierte sich die

Schläfen. »Wenn wir alle zusammen waren, dann war das immer hier
im Haus.«

»Vielleicht haben wir irgendwas übersehen.« Paige trug drei

Pappschachteln zum Kühlschrank und stellte sie neben die von Leo
bestellten Frühlingsrollen auf das Ablagegitter.

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»Also ich ganz bestimmt.« Phoebe klemmte sich ihren Kuli

zwischen die Zähne und blätterte suchend durch den Schnellhefter,
den sie im Computerkurs benutzte.

Egal, wie schlimm es kommt, dachte Piper zärtlich, Phoebe ist

irgendwie durch nichts zu erschüttern.

Stattdessen hatte sich Phoebe zwei von Paiges Ratschlägen zu

Herzen genommen und sich zum einen eine Kopie ihrer Notizen
ausgedruckt und in die Hosentasche gesteckt. Zum anderen
durchforstete sie gerade ihre Aufzeichnungen, die sie in der
Abendschule angefertigt hatte, um eventuell einen Hinweis auf ihre
letzten außerhäusigen Aktivitäten zu finden.

»Phoebe bringt es auf den Punkt«, sagte Paige, als sie wieder an

den Tisch zurück kehrte. »Sie erinnert sich an nichts mehr, und wir
wissen auch nicht, wo sie überall gewesen ist. Wir können da nur
spekulieren.«

»Ich war am Montag im Compute-A-Cup«, rief Phoebe plötzlich

triumphierend und hielt einen Kreditkartenbeleg in die Höhe. »Laut
dieser Quittung habe ich für zwei Kaffee und zwei Käsekuchen
bezahlt.«

Piper schrieb den Namen des beliebten Studentencafés nieder. »Ich

vermute, du hast nicht den blassesten Schimmer, mit wem du dort
warst?«

Paige warf Piper einen viel sagenden Blick zu. »Sie hat die

Rechnung übernommen, also war es vermutlich kein Mann.«

»Auf keinen Fall!«, meinte Phoebe empört. »Ich liebe Cole. Ich

gehe doch nicht mit irgendeinem Typen Kaffee trinken, sobald mein
Liebster die Stadt verlassen hat.«

Piper hob den Kopf. »Was ist das Letzte, an das du dich im

Zusammenhang mit Cole erinnerst, Phoebe?«

»Der Abschiedskuss«, sagte Phoebe stirnrunzelnd, »und ein

Gespräch über seinen Angeltrip beim Frühstück.«

»Das war Montag«, resümierte Piper. Sie schlug in ihrem

Notizblock eine neue, jungfräuliche Seite auf. »Woran erinnerst du
dich noch hinsichtlich dieses Tages?«

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»An nicht viel«, erwiderte Phoebe und knabberte ein wenig am

Radiergummi ihres Bleistifts herum. »Ich hab ein bisschen gebügelt,
dann mit Leo zusammen ein Sandwich zu Abend gegessen, weil du ja
im Club warst, während Paige sich schon auf dem Weg ins
Obdachlosenheim befand, und dann bin ich zur Abendschule
gefahren.«

»Und ab da beginnt deine Erinnerung zu verblassen?«, fragte Piper

gepresst. »In der Abendschule?«

»Ja, jetzt wo du es erwähnst –«

In diesem Moment klingelte das Telefon.

Paige nahm das Gespräch entgegen. »Hier bei Halliwell.« Nach

einigen Sekunden gab sie den Hörer an Piper weiter. »Das P3 – klingt
irgendwie wichtig.«

»Ja, bitte«, meldete sich Piper beklommen. Schon Sekunden später

kullerten die ersten Tränen über ihre Wangen, als sie Dixies panische
Stimme am anderen Ende vernahm. With A Vengeance hatten eine
fantastische erste Vorstellung gegeben, wie sie erfuhr. Das Publikum
hatte die Band geliebt, aber als Karen erfuhr, dass Piper nicht ins P3
gekommen war, hatte die Musikerin die sofortige Bezahlung des Gigs
gefordert. Andernfalls, so berichtete Dixie, wolle die Band kein
weiteres Mal auftreten.

»Ärger?«, fragte Phoebe, als Piper wieder aufgelegt hatte.

»Musiker. Immer dasselbe«, sagte Piper genervt und versuchte,

den drohenden Weinkrampf zu unterdrücken. Das misslang, weil es in
diesem Moment an der Tür klingelte. »Was kommt jetzt?«, presste sie
zwischen zwei herzzerreißenden Schluchzern hervor.

»Ich finde es heraus.« Paige erhob sich und umfasste Pipers

Schultern. »Relax ein bisschen, okay?«

»Relaxen? Ich kann nicht relaxen!« Durch einen Tränenschleier

beobachtete sie, wie Paige in Richtung Halle verschwand.

Kurz entschlossen schnappte sich Piper ihre Handtasche von der

Anrichte und folgte ihr. »Ich muss in den Club und die Band bezahlen,
bevor diese Typen einfach abhauen und mir den Ruf des P3
ruinieren.«

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»Was ist eigentlich deren Problem?«, fragte Phoebe. Sie riss das

oberste Blatt mit ihren Erinnerungsnotizen vom Block, faltete es und
steckte es sich zusammen mit ihrem Bleistift in die Jeanstasche.

»Ich – sobald ich dort eingetroffen sein werde«, fauchte Piper und

wischte sich einige der kaum versiegen wollenden Tränen aus dem
Gesicht. Sie bremste ihren Schritt, um sich wieder ein wenig zu
sammeln, als Paige die Haustür öffnete.

Piper kannte den gut aussehenden blonden Mann nicht, der da auf

der Schwelle stand und sich auf einen hölzernen Gehstock stützte, und
sie hatte auch nicht die geringste Lust, sich bei einem Wildfremden
für ihre desaströse Verfassung zu entschuldigen.

»Kevin!« Paige klang gleichermaßen überrascht wie erfreut. »Was

machst du denn hier?«

»Doug meinte, du bist krank, und … na ja, da hab ich mir ein

bisschen Sorgen gemacht.« Lächelnd lehnte sich Kevin gegen den
Türrahmen. »Ich dachte, ich schau mal vorbei und frage, ob du
irgendwas brauchst.«

»Danke, aber ich glaube, nach ein paar Stunden Schlaf geht's mir

schon wieder besser.« Paige hielt den Türknopf noch immer fest
umklammert und machte keinerlei Anstalten, Kevin herein zu bitten.
»Diese Überstunden im Anschluss an meinen Acht-Stunden-Job
haben mich doch ein wenig ausgepowert.«

Die ehrenamtlichen Mitarbeiter von heute kommen in eindeutig

verbesserter Verpackung daher, dachte Piper. Sie straffte sich, warf ihr
Haar zurück und ging in Richtung Haustür. Angesichts von Kevins
phantastischem Aussehen und seines unverhohlenen Interesses
wunderte es Piper nicht, dass Paige beschlossen hatte, noch eine
weitere Woche im Obdachlosenheim auszuhelfen.

Pipers unvermittelter Anblick schien Kevin für einen Moment zu

irritieren. Er verlor ein wenig das Gleichgewicht und machte einen
Ausfallschritt nach hinten, wobei das Ende seines Gehstocks in die
Höhe schnellte und Paige am Arm streifte.

Piper erhaschte einen Blick auf das in das dunkle Holz

eingearbeitete Muster, das vom silbernen Handgriff bis fast zur Mitte
des Stabes reichte. Gerade als ihr die Ähnlichkeit zu der Schnitzerei
auf Karens Flöte auffiel, brach Paige zusammen.

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»Paige!« Pipers Tasche rutschte ihr vom Arm, als sie ihre

Schwester auffing.

»Hey, Kumpel!«, rief in diesem Moment Phoebe aus der

Küchentür.

»Wer? Ich?«, fragte Kevin verwirrt und hielt sich wieder am

Türrahmen fest, während er den Gehstock fest auf den Boden
stemmte. Dann blickte er besorgt hinunter zu Paige. »Was ist denn
passiert?«, fragte er Piper.

Sacht zog Piper ihren Arm unter Paige fort. Sie wusste nicht, was

gerade geschehen war, aber es musste im Zusammenhang mit Paiges
plötzlicher, krankhafter Schlafsucht stehen. Was sie hingegen ganz
sicher wusste, war, dass sie nicht wollte, dass Kevin hier noch länger
herumhing und die Dinge mit Fragen verkomplizierte, die sie nicht
beantworten konnte.

»Sie leidet unter, ähm, Narkolepsie«, erwiderte sie, während

Phoebe durch die Halle auf sie zugestürmt kam. Das war noch nicht
mal unbedingt gelogen, betrachtete man Paiges unerklärliche
Verfassung.

»Was ist das?«, fragte Kevin ängstlich und trat einen Schritt

zurück.

»Ein nervliches Problem«, erklärte Piper. »Menschen mit diesem

Leiden fallen hin und wieder in einen schlafähnlichen Zustand,« sie
schnippte mit den Fingern, »von einem Moment zum anderen.«

Inzwischen war Phoebe bei ihnen angelangt. »Warum hat dieser

Blödmann Paige mit seiner Krücke geschlagen?«, fragte sie erbost und
starrte Kevin wütend an.

»Es war … ein Versehen«, stammelte Kevin. »Ich wollte nicht –«

»Kein Problem, Kevin«, schnitt Piper ihm das Wort ab. »Paige

wird dich später anrufen, und es wäre jetzt wohl das Beste, wenn du
gehen würdest, damit wir uns um sie kümmern können.«

»Klar. Ich bin morgen wieder im Obdachlosenheim.« Mit einem

charmanten Lächeln drehte sich der junge Mann um und humpelte die
Treppe zur Straße hinunter.

»Wer war der Typ?«, fragte Phoebe, als Kevin außer Hörweite

war.

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»Einer der Freiwilligen im Heim an der Fünften Straße.« Piper

kniete sich neben ihre am Boden liegende Schwester.

Besorgt beugte sich Phoebe zu den beiden hinunter und deutete auf

Paige. »Was ist mit ihr passiert?«

Paige atmete ruhig und gleichmäßig – gelegentlich schnarchte sie

sogar leise.

»Sie ist einfach eingeschlafen«, erklärte Piper.

»Mitten im Flur?«, fragte Phoebe. Ihr alarmierter Gesichtsausdruck

spiegelte genau das wider, was Piper dachte. »Aber warum?«

»Gute Frage«, gab Piper zurück. »Aber ich hab im Moment keine

Zeit, nach einer Antwort zu suchen.« Sanft schüttelte sie Paige an der
Schulter. Murmelnd schob diese die Hand ihrer Schwester beiseite,
doch sie wachte nicht auf.

»Vielleicht sollten wir sie zur Couch rüber bringen, damit sie es ein

bisschen bequemer hat«, schlug Phoebe vor.

»Okay, versuchen wir's.« Piper griff Paige unter die Arme und hob

sie an. »Zu blöd«, ächzte sie, »dass sie im Schlaf nicht orben kann.«

»Eine orbende Schlafwandlerin«, beherzt ergriff Phoebe Paiges

Fußgelenke, »das wäre mal ein netter Trick –«

»Ach, herrje«, drang in diesem Augenblick eine Frauenstimme an

ihre Ohren. »Komme ich ungelegen, Phoebe?«

Phoebe ließ Paiges Beine zu Boden fallen und sah erstaunt auf. Auf

der Türschwelle stand eine umwerfende Blondine. »Kenne ich Sie?«

Piper beobachtete, wie die Besucherin sie in einer Mischung aus

Neugier und Verwunderung aus großen blauen Augen anstarrte. Sie
konnte sich nicht helfen, aber sie fand, die wunderschöne Fremde
hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Kevin.

»Na, du bist vielleicht witzig!«, rief die Frau lachend und verdrehte

die Augen. »Ich bin Kate Dustin aus deinem Computerkurs. Wir
waren zusammen Kaffee trinken … im Compute-A-Cup, schon
vergessen?«

Plötzlich blitzte in Pipers Kopf das Bild von Karen Ashley auf, die

überaus attraktive Musikerin der Ersatzband, die sie am Montag
angeheuert hatte. Auch sie war blond, blauäugig und hatte einen

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makellosen Porzellanteint … Piper fühlte sich auf einmal sehr
unbehaglich. Einen solchen Zufall konnte es nicht geben, schon gar
nicht für die Zauberhaften.

»Ach ja«, sagte Phoebe lahm und nickte, doch Piper wusste, die

Schwester hatte nicht die geringste Erinnerung an die junge Frau.
»Und du bist hergekommen, weil …?«

Kate deutete auf den Spiralblock in ihrer Hand. »Weil du heute

Abend nicht im Kurs warst und ich dachte, du könntest meine
Aufzeichnungen vielleicht gebrauchen.«

Als Phoebe, die noch immer am Boden hockte, sich erhob, trat die

Frau im gleichen Moment einen Schritt vor. Die beiden stießen
zusammen, woraufhin Kate der Notizblock aus der Hand fiel.

»Wie ungeschickt von mir!«, rief die Frau und bückte sich hastig,

um das Spiralheft aufzuheben. In der gleichen Absicht streckte Phoebe
ebenfalls ihren Arm aus, woraufhin sich eines der Enden von Kates
Metallarmband im rechten Ärmel von Phoebes Strickpullover
verhedderte.

»Auch das noch! Tut mir Leid«, murmelte Kate peinlich berührt

und versuchte, das Schmuckstück vorsichtig aus den Maschen zu
lösen.

Dabei bemerkte Piper eine Gravur auf dem Armband, die der

Schnitzerei auf Kevins Gehstock und Karens Flöte sehr ähnlich war.
Teile von ihr leuchteten rot auf.

»Ist halb so schlimm«, hauchte Phoebe, nachdem Kate den Armreif

wieder befreit hatte. Doch noch während sie dies sagte, wankte sie
leicht, als ob sie jeden Moment in Ohnmacht fallen würde.

Piper ließ Paiges Arme los und erhob sich hastig, um Phoebe zu

stützen. Ob die Berührung mit Kates Armband bei ihr eine Vision
ausgelöst hatte?, fragte sie sich.

Paiges nunmehr ungestützter Kopf schlug unsanft auf dem Boden

auf, doch sie erwachte keineswegs.

Stirnrunzelnd starrte Kate Phoebe an, deren glasiger Blick einen

unbestimmten Punkt in der Ferne zu fixieren schien. »Ist sie okay?«,
fragte sie Piper.

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»Sieht sie vielleicht aus, als ob sie okay ist?«, schnappte Piper. In

den letzten Minuten hatten sich die Ereignisse förmlich überschlagen,
weshalb es ihr nicht möglich war, hier und jetzt höfliche Konversation
zu betreiben, und ihre spontane Abneigung gegen Phoebes Bekannte
aus dem Computerkurs verstärkte sich mit jeder Sekunde.

»Hey, ich hab Phoebe nur einen Gefallen tun wollen«, rief Kate

und hob die Hände zu einer halb abwehrenden, halb entschuldigenden
Geste. Rasch klaubte sie ihren Notizblock vom Boden und murmelte:
»Ach was, vergiss es. Was kümmert's mich, wenn sie durchfällt.«

»Wer ist das?«, fragte Phoebe mit schleppender Zunge und deutete

in Richtung Kate, die sich eilig vom Haus entfernte.

»Das ist Kate«, sagte Piper und warf die Haustür ins Schloss. »Und

ich vermute, es ist sinnlos, dich nach der Vision zu fragen, die du
soeben hattest, als sie dich berührte?«

»Ich hatte … eine Vision? Gerade eben?«

»Du erinnerst dich an nichts mehr, stimmt's?«, seufzte Piper.

»Es tut mir Leid«, sagte Phoebe mutlos. »Und zu allem Überfluss

war es wahrscheinlich … unheimlich wichtig, oder?«

»Das sind deine Visionen im Allgemeinen immer.« Piper holte tief

Luft und dachte nach. Sie war wie selbstverständlich davon
ausgegangen, dass Phoebe eine Vision gehabt hatte. Doch was, wenn
der Schwester ganz einfach nur ein bisschen schwindelig geworden
war? Diese Möglichkeit würde bedeuten, dass sie etwas ganz
Entscheidendes übersehen hatte. Plötzlich erinnerte sich Piper, dass
auch sie sich ein wenig benommen gefühlt hatte, nachdem sie Karens
Flöte berührt hatte – das war bisher zweimal der Fall gewesen.

»Sag mal, Piper«, ließ sich nun Phoebe vernehmen. »Wer ist

eigentlich diese Frau, die da in unserer Halle am Boden liegt und
schläft?«

»Ich fasse es nicht!«, rief Piper verzweifelt. »Sag jetzt nicht,

Phoebe, dass du vergessen hast, wer Paige ist?«

»Paige …«, Phoebe sah ihre Schwester mit einem hilflosen

Lächeln an. »Ähm, kannst du mir vielleicht einen klitzekleinen Tipp
geben?«

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»Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?«, fragte Piper

hysterisch.

Angestrengt runzelte Phoebe die Stirn. »Cole … tot … aber nicht

wirklich, weil er von einem Typen in der Bruderschaft ausgetrickst
wurde …«

Pipers Augen weiteten sich vor Entsetzen. Phoebe bezog sich hier

auf Dinge, die schon Monate zurück lagen!

»Aber dann bin ich eine Banshee geworden«, plapperte Phoebe

weiter, plötzlich lächelte sie. »Und dann fand ich heraus, dass Cole
mich wirklich liebt … und ich ihn … aber es muss einen Weg geben,
das in Ordnung zu bringen, Piper. Wenn Cole wirklich böse wäre,
könnte er mich nicht lieben …«

Erschüttert ließ sich Piper gegen die Wand sinken. »Wir stecken

bis zum Hals im Dreck«, flüsterte sie tonlos.

»Schluss damit! Ich kann einfach keinen Kaffee mehr trinken!«

Paige hielt sich den Mund zu, um ihren Worten Nachdruck zu
verleihen. Pipers Koffein-Rosskur gegen akute Müdigkeit hatte ihr bis
zu einem gewissen Punkt geholfen, doch nun begann ihr Magen zu
rebellieren.

»Okay, aber schlaf bloß nicht wieder ein!«, sagte Piper und ging

schniefend zum Telefon, das gerade zu klingeln begonnen hatte. Als
sie das Gespräch entgegennahm, brach sie erneut in Tränen aus. »Was
ist denn nun schon wieder, Dixie?«

Es existiert noch nicht mal eine halbwegs gute Maßnahme gegen

Pipers Nonstop-Geflenne, dachte Paige frustriert. Keine Frage, die
chronisch gute Laune der Schwester war um einiges besser zu ertragen
gewesen.

Ohne an ihr eigenes Kräftedefizit zu denken, versuchte Paige, ihre

leere Kaffeetasse in den Spülstein zu orben. Doch als die Partikel
schließlich am Zielort eintrafen, materialisierte anstelle der Tasse nur
ein Haufen Porzellanscherben. Seufzend orbte sie die Trümmer in den
Mülleimer, was eine Ewigkeit zu dauern schien.

Sie warf einen Blick auf Phoebes Laptop-Bildschirm. Der mittleren

Halliwell-Schwester ging es kaum besser als ihr oder Piper. Nicht nur,

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dass sie ihr Kurzzeitgedächtnis verloren hatte, nun wies auch ihr
Langzeitgedächtnis große Lücken auf. Inzwischen hatte Phoebe
bereits alles vergessen, was seit Prues Ermordung geschehen war.

Phoebe speicherte ihre letzten Eingaben und nahm dann ihren

Bleistift zur Hand, um den Notizzettel, den sie stets bei sich trug,
ebenfalls auf den neuesten Stand zu bringen. Plötzlich sah sie auf und
blickte ihr Gegenüber stirnrunzelnd an. »Paige, richtig?«

»Richtig.« Paige nickte nur. Sie und Piper hatten versucht, Phoebes

Gedächtnis im Hinblick auf die wichtigsten Ereignisse der letzten
Monate aufzufrischen. Doch die Tatsache, dass die Quelle besiegt,
Cole menschlich geworden und sie selbst mit dem Exdämon verlobt
war, hatte Phoebe kaum über den Schock und den Schmerz angesichts
Prues Tod hinwegtrösten können.

»Nein, ich kann heute Abend nicht in den Club kommen«,

schluchzte Piper gerade ins Telefon. »Karen wird sich bis morgen
gedulden müssen.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel und trocknete
ihre Tränen mit einem Papiertaschentuch. »Jetzt will sie für alle
Auftritte im Voraus bezahlt werden.«

»Was so viel bedeutet wie ›Ich will, dass Piper hier erscheint

«,

sagte Paige. Denn als ihnen klar geworden war, dass ihr neuerlicher
Kräfteverlust und Phoebes galoppierender Gedächtnisschwund mit
Kevin Graves beziehungsweise Kate Dustins Erscheinen im Haus
zusammenhängen mussten, hatten die Schwestern eins und eins
zusammengezählt.

Abgesehen von der nicht zu übersehenden äußerlichen Ähnlichkeit

waren Kevin, Kate und Karen allesamt am Montag zum ersten Mal in
ihr Leben getreten. Zudem hatte Piper die Erfahrung gemacht, dass
keine wirklich ambitionierte Band es tolerieren würde, wenn eines
ihrer Mitglieder sich dermaßen unmöglich hinsichtlich der
Honorarfrage gebärdete.

Laut Dixie war Karens Forderung nach sofortiger Bezahlung auch

erst dann erfolgt, als die Musikerin erfahren hatte, dass Piper nicht in
den Club kommen würde. Da auch Kevin und Kate nur unter einem
Vorwand erschienen waren, gab es für Karens Verhalten ebenfalls nur
einen Grund: Es war der verzweifelte Versuch, Piper irgendwie ins P3
zu locken. Daher hatte sie Dixie angewiesen, With A Vengeance nach
jeder Vorstellung bar auszubezahlen.

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»Wo ist Leo?«, fragte Piper plötzlich mit weinerlicher Stimme.

Paige, die schon wieder drohte einzuschlafen, schreckte auf. »Ich

muss was unternehmen, um wach zu bleiben. Etwas ohne Einsatz von
Koffein, wenn's geht.«

»Also, gut«, meinte Phoebe und zog einen Fuß auf die Stuhlkante,

»lasst uns noch mal alle meine Notizen durchgehen, um
sicherzustellen, dass ich nichts falsch verstanden habe: Kevin, Karen
und Kate benutzen einen Gehstock, eine Flöte und einen Armreif, um
uns unsere Kräfte zu stehlen, richtig?«

»So sieht es aus«, sagte Piper.

Auch Paige nickte, wiewohl sie nicht glauben mochte, dass der

reizende Kevin böse war – aber es gab nun mal keine andere
Erklärung. Er hatte sie dreimal mit seiner Krücke berührt, und zwar
Montag im Obdachlosenheim, Mittwoch im Büro und heute Abend an
der Haustür. Und ihre Müdigkeit wie auch ihr Kräfteverlust hatten
nach jeder dieser Begegnungen schlagartig zugenommen.

»Und wie sicher können wir uns darüber sein?«, fragte Phoebe und

schaute ihre Schwestern nacheinander an.

»Ziemlich sicher«, erwiderte Paige. Sie erhob sich und wanderte

im Zimmer auf und ab. »Du hattest erwähnt, dass dein
Gedächtnisverlust eintrat, nachdem du das erste Mal diesen
Computerkurs besucht hattest. Kate war Montagabend mit dir dort,
und Piper hat sie heute sagen hören, dass ihr danach noch einen
Kaffee trinken wart.«

»Und Kate war auch gestern mit dir im Kurs«, ergänzte Piper. »Ich

habe Professor Deekle eben angerufen, bevor er sein Büro verlassen
wollte, und er hat mir genau das bestätigt. Er sagte, Kate hätte direkt
hinter dir gesessen.«

»Es wäre ein Leichtes für sie gewesen, dich mit ihrem Armband zu

berühren«, schloss Paige, während sie um den Küchenherdblock
herumwanderte.

»Ja, so weit habe ich das verstanden«, murmelte Phoebe und kaute

wieder auf ihrem Bleistift herum. »Und doch … irgendwie komisch
…«

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Piper zupfte ein weiteres Papiertaschentuch aus dem

Kleenexspender und schnäuzte sich. »Ehrlich gesagt sehe ich nicht,
was daran komisch sein soll.«

»Ich meinte«, erwiderte Phoebe, »als du erwähntest, wie die Songs,

die Karen gespielt hat, deine Stimmung beeinflusst haben. Ich
erinnere mich, so was mal in einem Aufsatz für die Schule behandelt
zu haben.«

»Soll das ein Witz sein?« Paige hielt mitten in der Bewegung inne

und starrte die Schwester verständnislos an.

»Lustiger Zufall, was?« Phoebe lehnte sich vor und schrieb ihre

Erinnerung schnell nieder, bevor sie sie wieder vergaß. »Also«,
begann sie, »es gab einmal im alten Irland diesen Erdgott der Tuatha
de Danann
mit Namen Dagda. Und der Große Dagda spielte die
Harfe, mit der er Mensch und Tier gleichermaßen verzaubern konnte.«

»Wer in aller Welt sind die Tuatha de Danann?«, fragte Paige.

»Das Volk der Göttin Dan«, erklärte Phoebe. »Das war ein irisches

Göttergeschlecht, das schon auf der Insel lebte, noch bevor diese von
den Kelten besiedelt wurde – ich glaube, das war so um 1000 vor
Christus. Wenn man den Legenden glauben darf, dann wurden die
Danann in die Anderwelt verbannt. Soviel ich weiß, basieren die
meisten bekannten irischen Sagen auf diesem Ur-Mythos.«

»Was hatten wir zum Abendessen, Phoebe?«, fragte Piper.

»Äh … keine Ahnung«, gab Phoebe seufzend zurück.

Paige blinzelte irritiert und schüttelte dann den Kopf. »Wie kommt

es, dass du nicht weißt, was du vor einer Stunde gegessen hast, dich
aber an diesen ganzen historischen Kram erinnern kannst?«

»Was denn für historischer Kram?«, fragte Phoebe. Dann fuhr ihr

Kopf herum, als Leo in einem Wirbel aus tausenden Lichtblitzen in
der Küche materialisierte. »Hallo, Leo!«

Piper sprang auf und fiel ihrem Ehemann um den Hals. Schon war

ihr Gesicht wieder tränenüberströmt. »Endlich bist du hier!«,
schluchzte sie nicht ohne einen vorwurfsvollen Unterton in der
Stimme.

»Sorry, aber die Archive der Ältesten sind ziemlich umfangreich«,

sagte Leo. »Und? Wie stehen die Dinge hier?«

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»Es dürfte eine Weile dauern, dir das zu erklären«, Piper streichelte

ihm zärtlich über die Schulter. »Hast du Hunger?«

Während sie ihrem Mann das Abendessen in der Mikrowelle

aufwärmte, lieferte Paige dem Wächter des Lichts eine Kurzfassung
ihrer Recherchen und Schlussfolgerungen. Als Piper einen
dampfenden Teller mit Frühlingsrollen, Krabbenbrot und Fleisch mit
Nudeln vor ihm abstellte, war Leo bereits völlig im Bilde.

»Das bedeutet, du hattest Recht, Leo«, schloss Paige ihren Bericht

und sank erschöpft auf einen der Stühle. »Tatsächlich waren wir alle
etwas – oder besser gesagt jemandem – ausgesetzt.«

»Eigentlich etwas und jemanden«, sagte Piper. »Den drei bösen Ks

und ihren komischen Objekten. Ich weiß nicht, ob es von Belang ist,
aber diese Muster auf dem Armband und dem Gehstock waren
teilweise rot. Das ist insofern bemerkenswert, als dass am Montag auf
Karens Flöte nicht der Hauch von Farbe zu erkennen war, wohingegen
die Schnitzerei gestern ebenfalls zum Teil rot aufleuchtete.«

Leo schluckte rasch seinen letzten Bissen herunter. »Die rote Farbe

könnte ein Indikator für die Menge an Macht sein, die diese
Gegenstände schon in sich aufgenommen haben. Wie viel von dem
Muster war denn rot?«

Piper schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. »Etwa

zwei Drittel auf dem Gehstock und dem Armband, glaube ich … und
ein Viertel der Schnitzerei auf der Flöte, aber das war, bevor sie mir
den Heulfluch an den Hals gewünscht hat.«

»Aber warum entziehen sie uns unsere Kräfte so langsam?«, fragte

Paige. »Warum bemächtigen sie sich ihrer nicht auf einen Schlag, so
wie die Dämonen es machen, die von der Großen Leere erfüllt sind?«

»Was denn für 'ne Leere?«, fragte Phoebe, während sie etwas in

ihren Laptop eingab.

Sie macht sich nicht über uns lustig, dachte Paige einmal mehr

erschüttert. Phoebe erinnert sich schlicht und einfach nicht mehr an
die ultimative Kraft, die im Stande ist, alle Magie zu absorbieren, weil
unser Zusammentreffen mit der Großen Leere einfach noch nicht
lange genug zurückliegt.

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»Das war jetzt nur ein Beispiel, Phoebe«, sagte Piper schnell und

sah Leo an. »Also, warum berauben sie uns unserer Kräfte nur nach
und nach?«

»Weil ihr sonst Sterbliche wärt«, erwiderte Leo und legte seine

Gabel nieder. »Und in diesem Fall könnten die Höheren Mächte auf
den Plan treten und die Magie negieren, die man beabsichtigt gegen
euch einzusetzen. Das ist genauso ein ›No-No‹ wie die ›Keine Magie
zum eigenen Vorteil einsetzen‹-Regel.«

»Moment mal«, sagte Paige. »Aber das Böse geht doch immer mit

Magie gegen die Unschuldigen vor!«

»Das stimmt«, erklärte Leo, »aber es gibt einige ungeschriebene

Gesetze, die für die offiziellen Vertreter von Gut und Böse aufgestellt
wurden.«

»Klingt, als ob dein Ausflug nach ›oben‹ alles andere als

Zeitverschwendung war«, sagte Piper.

»So ist es.« Leo schob seinen Teller von sich und verschränkte die

Arme vor der Brust. »Nach einiger Recherche hat der Rat der Ältesten
einen Hinweis auf die Krieger der Finsternis und die Kämpfer für die
Tugend gefunden –« Paiges Kopf ruckte in die Höhe. Sie stellte fest,
dass Leo noch immer sprach, obwohl sie offensichtlich eingenickt
war.

»– Gefecht zwischen den magischen Clans der Sol'agath und den

Dor'chacht«, sagte Leo gerade. »Kurz: das klassische Beispiel für den
Kampf Gut gegen Böse.«

»Die Wer und die Was?«, fragte Phoebe zerstreut.

»Ehrlich gesagt hab ich auch kein Wort verstanden«, meinte Piper.

»Ich hab's leider auch nicht mitgekriegt«, murmelte Paige. Sie

richtete sich wieder auf und kniff sich in den Oberschenkel, um wach
zu bleiben.

»Die Krieger der Finsternis sind also die Bösen, richtig?«, hakte

Phoebe nach und fütterte ihren Laptop mit dieser Information.

»Ja«, sagte Leo, »und die Sol'agath sind eure Vorfahren.«

»Unser Stammbaum reicht so weit zurück?«, staunte Piper.

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»Also fing das alles gar nicht mit Melinda Warren an?«, fragte

Phoebe grinsend. Offensichtlich freute sie sich, dass sie sich an einen
so wichtigen Punkt in ihrer Familiengeschichte erinnerte.

»Melinda markiert den Beginn des Zauberhaften-Zyklus«, erklärte

Leo und schnappte sich das letzte Stück Krabbenbrot vom Tellerrand,
bevor Piper zugreifen konnte. »Sorry, Schatz, aber ich liebe dieses
Zeug wirklich …«

»Ich dachte, du wärest fertig mit Essen«, erwiderte Piper mit

weinerlicher Stimme. Bevor die Tränenflut wieder einzusetzen drohte,
riss sie sich zusammen und tröstete sich mit dem letzten
Frühlingsröllchen.

»Okay«, sagte Phoebe und fasste ihre Notizen zusammen.

»Demnach hat der Dor'chacht-Clan die Sol'agath vor dreitausend
Jahren herausgefordert.« Sie sah vom Monitor auf. »Und was geschah
dann?«

»Die Sol'agath siegten«, berichtete Leo, »und ihre Nachfahren

leben seither unter den Menschen, um ihnen mit ihrer Magie Gutes zu
tun. Wären sie in dem Kampf unterlegen gewesen, hätten sie die Wahl
gehabt zwischen einer wohlgefälligen Existenz auf einer höheren
Ebene oder einem Dasein als einfache Menschen.«

»Aber die Dor'chacht waren die Verlierer.« Piper runzelte die

Stirn. »Was also geschah mit ihnen?«

Leo schluckte den letzten Bissen seines Krabbenbrots herunter.

»Weil sie von der Kraft des Bösen beseelt waren, haben sie ihre
menschliche Gestalt eingebüßt und wurden in die Unterwelt
verbannt.«

»Aber?«, fragte Phoebe.

»Aber wenn das Gedicht, das ihr im Buch der Schatten gefunden

habt, die Wahrheit enthält«, fuhr Leo fort, »dann haben offensichtlich
einige der Dor'chacht in menschlicher Gestalt überlebt.«

»Und was bedeutet das für uns?«, fragte Piper.

»Das weiß ich nicht.« Leo schaute unbehaglich in die Runde.

»Eigentlich dürfte niemand von den Dor'chacht hier sein!«

»Aber sie sind es.« Paige wünschte, sie hätte das Buch der

Schatten vor dem Abendessen nicht zurück auf den Speicher gebracht.

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Kurz erwog sie, den Aufstieg zum Dachboden zu machen, um die
Verse noch einmal nachzulesen, aber sie hatte einfach nicht mehr die
Kraft dazu. »Hieß es in dem Gedicht nicht, dass die Kämpfer für die
Tugend das ›Licht der vergangenen Zeiten‹ verteidigen müssten oder
für immer verloren wären?«

»Eine Revanche?«, fragte Phoebe.

»Könnte sein«, gähnte Paige, »aber das ist auch nur eine von vielen

Vermutungen. Andererseits macht diese Theorie wenig Sinn, weil die
Bösen ja besiegt und von dieser Welt verbannt worden sind.«

»Nicht, wenn einige der Dor'chacht bis in die heutige Zeit überlebt

haben«, gab Leo zu bedenken. »In diesem Fall hätte die Große
Schlacht praktisch nie geendet.«

»Macht das einen kleinen oder einen großen Unterschied?« Paige

hatte gelernt, dass manchmal jedes noch so kleine Detail wichtig sein
konnte, wenn man es mit magischen Gegnern zu tun hatte.

»Nun«, sagte Leo, »das würde de facto bedeuten, dass die

Dor'chacht den Kampf gar nicht verloren haben.« Er zuckte die
Achseln. »Und wenn dem so ist, dann wäre es auch möglich, dass sie
deshalb auch nicht in die Unterwelt verbannt wurden.«

»Schön und gut«, warf Piper gereizt ein, »aber wo sind sie dann?«

Tränen der Wut glitzerten in ihren Augen. »Wir haben es doch jetzt
hoffentlich nicht mit dem ganzen Dor'chacht-Clan aufzunehmen, oder
was?«

»Nein«, sagte Leo zuversichtlich. »Wenn es um Angelegenheiten

von solcher Tragweite geht, muss das Kräfteverhältnis von Gut und
Böse ausgeglichen sein. Was immer kommt, ich bin sicher, es wird in
einem Kampf drei gegen drei gipfeln. Und ich vermute, der Rest des
großen Dor'chacht-Clans weilt irgendwo in den Weiten von Zeit und
Raum in Erwartung darauf, dass sich sein Schicksal endlich
entscheiden möge.«

»Hätten denn die Höheren Mächte nicht erfahren müssen, dass die

Dor'chacht ihnen durch die Lappen gegangen sind?«, fragte Paige.

»Nicht unbedingt«, erwiderte Leo. »Sie können weder gebannte

Magie entdecken, noch die Vorgänge in der Unterwelt verfolgen.
Genauso wenig wie ich euch aufspüren kann, wenn ihr mal wieder ›da
unten‹ seid.«

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»Mir scheint, wir fischen ganz schön im Trüben«, sagte Phoebe.

»So sehe ich das auch.« Pipers Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Aber ich kenne jemanden, der uns die Antworten liefern kann, die
wir brauchen.«

»Karen«, sagte Leo nur.

»Die es kaum erwarten kann, Piper mit ihrer verdammten Flöte in

Kontakt zu bringen.« Paige sprang auf, um nicht wieder
einzuschlafen, und zog sich Leos Teller heran. Einzig ein kleiner Rest
kaltes Fleisch mit durchweichten Nudeln war darauf übrig geblieben.
»Bist du endlich fertig damit?«

Leo nickte, doch sein Blick war auf Piper gerichtet. »Du kannst es

nicht riskieren, ihr noch einmal zu begegnen, Liebling!«

»Das kann ich nur«, sagte sie, »wenn ihr mir alle zur Seite steht.«

Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen, und ihre Stimme zitterte,
und doch schien sie fest entschlossen. »Karen hat vielleicht einen Teil
meiner Magie gestohlen, aber nicht alles!«

»Fünfzig Prozent«, präzisierte Leo ihre Aussage. »Wenn man

davon ausgeht, dass ein Viertel Rot in dem Muster für exakt einen
Kontakt steht.«

Piper hat die Flöte zweimal berührt, also dürfte Leo mit seiner

Rechnung voll ins Schwarze treffen, überlegte Paige, als sie den Teller
zum Spülbecken trug. Der Haufen aus organischem Müll, der sich im
Ausguss türmte, war nur noch halb so groß wie vor Stunden. Gilbert
ist zwar nicht so schnell und effizient wie der Abfallzerhacker, dachte
sie, aber er machte Fortschritte.

Phoebe scrollte mit dem Trackball ihres Laptops durch ihre

Aufzeichnungen und sah dann mit großen Augen zu den Anwesenden
auf. »Wenn meine Notizen vollständig sind, sind diese Gegenstände
das einzig Magische, das die drei Ks gegen uns gebraucht haben.
Solange Piper also Karens Flöte nicht berührt, sollte sie sicher sein.«

»Aber wir können uns nicht auf meine Kräfte verlassen, um genau

das zu verhindern«, wandte Paige ein. »Wenn ich in meinem jetzigen
Zustand versuchen würde, die Flöte außer Reichweite zu orben, würde
sie vermutlich zu Sägespänen zerbröseln.« Die derzeitige
zerstörerische Qualität meiner Magie mag uns vielleicht irgendwann

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zugute kommen, in diesem Fall allerdings wäre es völlig verkehrt,
fügte sie in Gedanken hinzu.

»Definitiv keine gute Idee«, beeilte sich Piper, ihr beizupflichten.

»Warum nicht?«, fragte Phoebe. »Wenn die Flöte vernichtet ist,

würde dies Karen doch daran hindern, Piper noch mehr von ihrer
Magie zu rauben.«

»Schon«, erklärte Paige. »Aber nach allem, was wir wissen,

werden unsere Kräfte in eben diesen Gegenständen gebannt –« Sie
kippte die Reste des chinesischen Essens zu den anderen Abfällen, die
für Gilbert vorgesehen waren, in den Ausguss.

»Und wenn wir diese Artefakte zerstören, zerstören wir damit

gleichzeitig unsere eigenen magischen Fähigkeiten«, beendete Phoebe
den Satz ihrer Schwester und seufzte frustriert. »Das muss ich mir
unbedingt merken!« Flink tippte sie die Information in ihren Laptop
und fügte anschließend ihren handschriftlichen Notizen einen
entsprechenden Vermerk zu.

Plötzlich fuhr Piper von ihrem Stuhl auf. »Ich will meine Kräfte

und ich will ein paar Antworten, und es gibt nur einen Ort in dieser
Stadt, wo ich beides bekommen kann«, rief sie.

»Allerdings ist es ganz und gar nicht sicher, ob Karen dir

irgendetwas sagen wird«, wandte Leo ein.

»Ach, weißt du, sie hat 'ne Menge Stress gemacht, um mich heute

Abend ins P3 zu locken«, erwiderte Piper in einem Ton, der keinen
Widerspruch mehr duldete. »Und ich werde sie nicht enttäuschen!«
Auffordernd sah sie in die Runde. »Fahren oder orben wir?«

Phoebe stopfte sich ihre Notizen in die Jeanstasche, fuhr den

Laptop herunter und klemmte sich das Gerät unter den Arm. »Orben
geht schneller.«

»Fein, aber ich für meinen Teil bin so müde, dass ich mich an Leo

dranhängen muss.« Paige machte Anstalten, den Teller abzuspülen,
als sie erschrocken zurück wich. Aus dem Wasserhahn war soeben
Gilberts geschmeidiger Körper in die Spüle geplumpst.

Der Gremlin fauchte und bespritzte Paige dabei mit einigen

Tröpfchen undefinierbaren Unterweltschleims. Fassungslos sah sie

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mit an, wie die Kreatur einen beherzten Sprung in den Abfallhaufen
machte, um gleich darauf wieder im Abfluss zu verschwinden.

Hasserfüllt starrte Paige ins Spülbecken. »Hör mal, du Kröte, ich

kann dich auch kaputtorben – in einen Haufen Gremlinbrei
verwandeln, um genau zu sein!«

Da steckte Gilbert seinen Kopf durch den Ausguss und spuckte ihr

einen Klumpen Fleisch mit Nudeln vor die Füße.

Mit einem resignierten Seufzer drehte sich Paige zu ihrer Familie

um. »Ich wage kaum zu hoffen, dass das Leben in diesem Haus nicht
noch mehr, ähm, Überraschungen bereit hält …«

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7

P

HOEBE SCHNAPPTE NACH LUFT,

als sich ihr Körper in

einen Strudel aus Photonen aufzulösen begann. Für einen Moment
schien ihr Bewusstsein eins zu werden mit der Unendlichkeit des
Kosmos, bevor sie in der kleinen Gasse hinter dem P3 wieder
materialisierte – eng an Leo, Piper und Paige geklammert. Das
Kribbeln, das sie in jeder Zelle ihres Körpers verspürte, schwand
dahin wie die Blitze und der Lichtzyklon, in dessen Zentrum sie alle
wieder Gestalt annahmen.

»Das ist ja der helle Wahnsinn!«, rief Phoebe aus.

»Und ziemlich beängstigend, bis man sich erst mal daran gewöhnt

hat.« Paige lehnte sich gegen den Abfallcontainer und unterdrückte
ein Gähnen.

»Wie? Du kannst dich auch von einem Ort zum andern orben?«,

fragte Phoebe die Schwester, während ihr Blick nervös durch die
dunkle Nebenstraße huschte. »Und was machen wir hier überhaupt?«

»Wir haben jetzt keine Zeit, dir das zu erklären«, sagte Piper

angespannt. Ihre Augen waren rot vom Weinen. Sie kramte einen
Schlüsselbund aus ihrer Handtasche und öffnete dann die Tür zum
Lieferanteneingang des P3. »Führe dir einfach die Textdatei auf
deinem Laptop und deine Notizen in der Hosentasche zu Gemüte.
Oder besser noch: Tu einfach, was wir dir sagen!«

Leo warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Dixie hätte sich

schon vor fünf Minuten bei uns melden sollen.«

Phoebe sah, dass Paige hohe Stiefel, einen kurzen Rock und eine

flippige Bluse mit weiten Ärmeln trug. Piper hatte sich für einen
langen Rock, ein enges Top und klassische Halbstiefel entschieden.
Sie selbst trug Jeans, Sneakers und ein verwaschenes U2-T-Shirt.
Offensichtlich gehen wir nicht ins P3, um dort Party zu machen,
schlussfolgerte sie.

Piper hielt die Tür auf, während Paige und Leo in das Gebäude

schlichen. Phoebe folgte Piper, die die Gruppe in den Lagerraum des
Clubs führte.

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Erschöpft ließ sich Paige auf einen stabilen Karton sinken. »Haben

wir eigentlich einen Plan?«

»Wir haben so etwas wie eine vage Vorstellung, das muss

reichen«, gab Piper zurück.

Phoebe war drauf und dran, sich höflich zu erkundigen, was für ein

gefährliches Abenteuer denn überhaupt anstand, aber als sie Pipers
gestresste Miene sah, beschloss sie, sich ruhig zu verhalten. Sie setzte
ihren Laptop auf einen Kistenstapel, fuhr den Computer hoch und
öffnete die zuletzt benutzte Datei.

Piper wählte unterdessen eine Nummer auf ihrem Handy. »Hallo,

Dixie! Hier ist Piper. Gib mir rasch durch, wie die Dinge stehen. Ich
meine, genau in diesem Moment.«

Leo hielt Wache bei der Tür, während Paige verzweifelt versuchte,

gegen den Schlaf, der sie wieder permanent zu übermannen drohte,
anzukämpfen. Piper stand einfach nur da, lauschte dem Bericht von
Dixie und nickte von Zeit zu Zeit. Phoebe beschloss, sich derweil ihre
Computernotizen durchzulesen.

Sie brauchte kaum eine Minute, um festzustellen, dass ihr

Kurzzeit- wie Langzeitgedächtnis dank eines kräftezehrenden
Armreifs in Mitleidenschaft gezogen worden war. Und dies, so las sie,
hatte ihr eine Frau namens Kate angetan. Phoebe erkannte auch, dass
sie momentan nicht in der Lage war, eine vernünftige Entscheidung zu
treffen, und dass es das Beste war, sich Pipers Rat zu Herzen zu
nehmen und die Anweisungen der anderen vertrauensvoll zu befolgen.

»Okay«, flüsterte Piper nun in die Sprechmuschel ihres Handys.

»Bitte tu jetzt genau, was ich dir sage, Dixie: Sieh zu, dass du die
letzten Gäste los wirst wie auch sämtliche Bandmitglieder bis auf
Karen. Sag ihr, ich würde in Kürze erscheinen und mich um sie
kümmern. Dann schließ den Laden ab und geh nach Hause.«

Phoebe hatte ihrem Textdokument soeben entnommen, dass sie

einen wichtigen Notizzettel in der Hosentasche trug. Sie holte diesen
hervor und ergänzte das Papier um folgende Anweisung: »WICHTIG:
Keine Fragen stellen und einfach tun, was Piper und Paige mir
sagen!«

»Du hast sie doch aus den heutigen Einnahmen bezahlt, Dixie«,

zischte Piper jetzt ins Telefon. »Es ist also ohnehin nicht mehr so viel

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Geld in der Kasse, das gestohlen werden könnte. Ruf mich in ein paar
Minuten auf meinem Handy an, sobald du den Club verlassen hast –
und jetzt beeil dich!«

»Ist es eigentlich klug, Karen zu warnen, dass du kommst?«, fragte

Leo stirnrunzelnd.

»Wahrscheinlich nicht«, erwiderte Piper, »aber wir müssen mit ihr

allein sprechen. Wir können es nicht riskieren, dass irgendwelche
Unschuldigen da mit reingezogen werden, vor allem, da unsere Kräfte
momentan sehr zu wünschen übrig lassen. Außerdem bezweifle ich,
dass Karen mit unser aller Erscheinen rechnet.«

»Also ich bin bereit«, vermeldete Phoebe. »Für was auch immer

…«

Ein dumpfes Klatschen ließ sie alle herumfahren, und Pipers

Augen weiteten sich vor Schreck. Doch es war nur Paige, die
eingeschlafen und vom Karton gerutscht war wie ein nasser Sack, was
jedoch mitnichten dazu führte, dass sie erwachte.

»Leo, wecke Paige und sorge dafür, dass sie nicht wieder

einschläft«, befahl Piper, während sie das Display ihres Handys
fixierte. »Los, mach schon, Dixie«, murmelte sie, und schon eine
Sekunde später summte das Telefon. Mit zittrigen Fingern nahm Piper
das Gespräch an. »Dixie? Okay, super! Vielen Dank, bis morgen!«

»Haben wir vielleicht jetzt so etwas wie einen Plan?«, fragte Paige

mit schwerer Zunge, nachdem Leo ihr wieder auf die Füße geholfen
hatte.

»Wir werden versuchen zu bluffen und hoffen, dass unsere

mentalen Fähigkeiten so effektiv sein werden, wie es unsere
magischen einmal waren.« Hastig verstaute Piper ihr Handy in der
Handtasche.

»Nun, Grips ist roher Gewalt im Allgemeinen stets überlegen«,

meinte Paige. »Vielleicht auch der Magie?«

Phoebe, die versuchte, alles mitzuschreiben, konnte nicht mehr

folgen und kapitulierte. Nachdem der Notizzettel in ihrer Hand
besagte, sie möge Piper einfach vertrauen, ließ sie den Laptop Laptop
sein und folgte Paige, Leo und Piper in die Bar. Der Club war wie

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ausgestorben – bis auf eine umwerfende Blondine, die am Rand der
kleinen Bühne saß.

»Piper«, sagte die Frau ruhig. »Wer sind denn deine Freunde?«

»Verwandtschaft«, erwiderte Piper und verschränkte die Arme vor

der Brust. Sie ignorierte die einsame Träne, die langsam über ihre
rechte Wange kullerte. »Ich schlage vor, wir sparen uns den Smalltalk
und kommen gleich zur Sache, Karen.«

»Wie du meinst.« Langsam griff Karen nach ihrer Holzflöte, die

hinter ihr auf der Bühne lag.

»Vergiss es!«, rief Piper mit scharfer Stimme, die ihre weinerliche

Verfassung Lügen strafte. »Ich werde dieses Ding nicht anfassen.«

»Also hast du es herausgefunden«, konstatierte Karen und legte die

Flöte auf ihren Schoß. »Trotzdem gibt es nichts, was du jetzt noch tun
kannst. Deine Kräfte sind nutzlos.«

»Nicht ganz«, meldete sich nun Paige zu Wort und streckte einen

Arm in Richtung Tresen aus. »Kerze!«

Phoebe beobachtete, wie eine Tropfkerze, die in einer leeren

Weinflasche steckte, in einer kleinen Explosion aus Licht zerbarst.
Doch als sie kurz darauf in Paiges Hand materialisierte, war sie nur
mehr ein Klumpen aus Wachs und geschmolzenem Glas.

»Ich bin beeindruckt«, meinte Karen mit einem dünnen Lächeln.

»Sollte das etwa eine Drohung sein?«

»Nur eine Erinnerung daran, dass wir keineswegs hilflos sind«,

sagte Paige.

»Netter Versuch, aber ich bin zu hundert Prozent menschlich,

besitze also keine magischen Fähigkeiten.« Karen grinste. »Ihr könnt
keine Magie auf mich anwenden, ohne die Konsequenzen dafür zu
tragen.«

»Das stimmt«, ließ sich nun Leo vernehmen. »Deshalb haben die

drei auch nicht eure gesamten Kräfte gestohlen, ihr erinnert euch?
Karen, Kevin und Kate können keine Sterblichen herausfordern, und
ihr könnt es ebenso wenig.«

»Aber sie werden nicht mehr menschlich sein, wenn wir mit

unserer kleinen Familienfehde fertig sind, richtig?« Pipers Frage war

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mehr eine Feststellung von Fakten. Sie hielt Karens Blick stand, als
sie sich einen Stuhl heranzog und sich setzte.

Was für eine Fehde?, fragte sich Phoebe. Sie studierte ihre

Notizzettel, bis sie zu einem Eintrag kam, der von einer
frühgeschichtlichen Schlacht zwischen zwei verfeindeten
magiekundigen Clans berichtete: den Sol'agath und den Dor'chacht.
Als sie erkannte, wie wenig sie wusste, begriff sie gleichzeitig, dass
Piper vorgab, mehr zu wissen, als es tatsächlich der Fall war.
Offensichtlich hoffte die Schwester, Karen irgendwie auszutricksen,
um an mehr Informationen zu kommen.

»Warum sollte ich dir irgendwas erzählen«, knurrte Karen.

Paige zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und lockerte ihre Finger

wie ein Pianist vor einem Konzert. »Weil du dir nicht sicher sein
kannst, dass ich die Regeln auch einhalte. Immerhin betätige ich mich
noch nicht so lange als weiße Hexe wie meine Schwestern.« Sie
grinste viel sagend.

»In ihrem früheren Leben war Paige nämlich eine außerordentliche

mächtige und bösartige Zauberin«, ergänzte Piper. »Und in diesem
Leben hat sie ihre magischen Fähigkeiten gerade erst mal angetestet,
wenn du verstehst, was ich meine …«

»Ihr blufft doch nur«, sagte Karen.

Aufgrund ihrer Gedächtnisausfälle die letzten Monate betreffend,

kannte Phoebe ihre neue Halbschwester praktisch erst ein paar
Stunden. Doch nachdem sie in einem früheren Leben selbst einmal der
dunklen Seite angehört hatte, wusste sie, dass Paige hier und jetzt
nicht böse und gleichzeitig Teil der Zauberhaften sein konnte. Phoebe
begriff, dass Piper darauf spekulierte, dass Karen dies unbekannt war.

»Vielleicht«, gab Piper zurück. »Oder vielleicht auch nicht.« Sie

schniefte leise, was ihrem entschlossenen Blick, mit dem sie Karen
fixierte, jedoch keinen Abbruch tat. »Wenn du es allerdings nicht
drauf ankommen lassen willst, schlage ich vor, dass du jetzt anfängst
zu reden.«

Als sie sich an einen der leeren Tische setzte, bemerkte Phoebe den

Hauch eines Zweifels in den Augen der Blonden aufflackern. Pipers
Verunsicherungsmasche schien zu funktionieren.

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Karen zögerte, dann zuckte sie die Achseln. »Also gut. Ihr könnt

dieses Mal unsere Pläne ohnehin nicht mehr vereiteln, was spielt es
also für eine Rolle.«

»Dieses Mal?«, fragte Phoebe in Richtung Piper.

»Unsere Vorfahren haben die Dor'chacht vor dreitausend Jahren im

Kampf besiegt«, erklärte Piper. »Aber die Dor'chacht waren schlechte
Verlierer.«

»Und deshalb hätten sie jetzt gern eine Revanche«, ergänzte Paige.

Karen zog scharf die Luft ein. Offensichtlich war sie schockiert

darüber, wie viel die Schwestern schon herausgefunden hatten.
Schnell hatte sie sich jedoch wieder gefasst. »Ja. Shen'arch hat das
arrangiert, bevor die Sol'agath zum entscheidenden Schlag ausholen
konnten.«

Nachdem dies alles für Phoebe neu war, setzte sie sich gespannt

auf.

»Shen'arch?«, fragte Leo.

»Erzmagier der Dor'chacht«, erklärte Karen nicht ohne Stolz. »Der

größte Zauberer, den die Erde jemals gesehen hat.«

»Na ja«, sagte Paige. »So bedeutend kann er nicht gewesen sein –

er ist ja nicht mal hier.«

Karen lächelte. »Das wird er.« Sie machte eine kleine Pause.

»Nachdem wir das wiedererlangt haben, was uns eure Sol'agath-
Vorfahren stahlen. An diesem Tag werden wir die größte magische
Kraft im Diesseits sein.«

»Die Sol'agath haben fair und den Regeln entsprechend

gewonnen«, sagte Leo ruhig. »Da ändert es auch nichts, dass
Shen'arch herausgefunden hat, wie man das System umgeht.«

»Bürokratie scheint so etwas wie eine universelle Konstante zu

sein«, murmelte Paige, bevor sie einnickte.

»Wie hat Shen'arch es also gemacht?«, fragte Piper.

Phoebe vermutete, dass Piper den Hochmut ihrer Gegnerin reizen

wollte, auf dass diese sich zum Prahlen verleiten ließ und dabei
Wichtiges über den angeblich so mächtigen Meistermagier
ausplauderte.

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Sie wurde nicht enttäuscht.

»Shen'arch hatte die Kräfte der besten Dor'chacht-Kämpfer

bestimmten Artefakten übertragen, damit sie den Höheren Mächten
verborgen blieben«, sagte Karen.

»Darum hat der Rat der Ältesten auch nichts davon gewusst«,

murmelte Leo, dem der Ernst der Lage allmählich bewusst wurde. »Es
wurde keine magische Fährte hinterlassen.«

»Zumindest nicht in den letzten dreitausend Jahren«, sagte Karen,

die sich sichtlich an dem Unbehagen ergötzte, das ihre Mitteilungen
den Nachkommen ihrer Erzfeinde bereitete. »Und so lange die Magie
der Dor'chacht nicht bis zum Tage der endgültigen Schlacht
freigesetzt wird, können die Höheren Mächte uns auch nichts
anhaben.«

»Wie praktisch«, meinte Piper.

»Und du bist einer dieser Krieger?«, fragte Phoebe.

»Ich bin Sh'tara, die Gedanken-Lenkerin.« Karens Haltung

versteifte sich, ihre blauen Augen begannen bösartig zu funkeln und
verengten sich zu schmalen Schlitzen, während ihr Mund sich zu
einem spöttischen Grinsen verzog. »Die Wesenheiten der Krieger
Tov'reh, Ce'kahn und meiner selbst wurden am Tag der Großen
Wiedergeburt auf drei Sterbliche übertragen – das war vor 26 Jahren.«

Paiges Augen weiteten sich, als sie begriff. »Kevin, Kate und du!«

»In genau dieser Reihenfolge, ja.« Karens zufriedenes Lächeln war

kalt wie Eis, ihr Blick bar jeder menschlichen Empfindung.

Wütend funkelte Paige sie an. »Okay, also hat dieser Shen'arch

irgendein Hintertürchen gefunden, damit die Dor'chacht eine zweite
Chance bekommen. Aber was bitte macht dich so sicher, dass ihr
dieses Mal gewinnen werdet?«

»Ganz einfach, sie betrügen.« Piper verdrehte die Augen.

»Blödsinn«, lachte Karen auf. »Im Krieg sind alle Mittel erlaubt.«

Wie zum Beweis hob sie ihre Flöte in die Höhe.

»Indem sie eure Kräfte nutzlos machen«, erklärte Leo, »anstatt sie

euch ganz zu nehmen, können die Dor'chacht euch zum Kampf nach
den alten, verabredeten Regeln herausfordern, ohne Vergeltung

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befürchten zu müssen.« Er sah Piper, Paige und Phoebe der Reihe
nach an. »Denn ohne eure Magie und die Macht der Drei ist den
Dor'chacht der Sieg so gut wie sicher.«

»Leo!« Piper sah ihren Mann vorwurfsvoll an. Wie konnte er es

wagen, die Fähigkeit der Zauberhaften in Frage zu stellen?

»Auszeit!« Paige sprang auf und formte mit ihren Händen ein T in

die Luft. »Ich bin beim Stichwort ›zweite Chance‹ eingepennt. Könnte
mich mal bitte jemand auf den aktuellen Stand der Dinge bringen?«

»Ich habe alles gesagt, was zu sagen ist.« Karen erhob sich und

verstaute die Flöte in ihrem Kasten. Dann wandte sie sich zu den
Anwesenden um. »Also dann, bis morgen.«

»Morgen?«, zischte Piper. »Was ist morgen?«

»Das werdet ihr schon noch herausfinden. Spätestens um

Mitternacht.« Karen warf ihr langes Haar zurück und schritt ohne
besondere Eile die Treppe zur Tanzfläche hinunter. Selbstsicher
durchquerte sie den menschenleeren Club, entriegelte die Eingangstür
und war in der nächsten Sekunde verschwunden.

Als die Tür sanft wieder ins Schloss fiel, atmete Phoebe, die

während der letzten Minute unwillkürlich die Luft angehalten hatte,
vernehmlich aus.

Piper knuffte Leo in den Arm. »Sag mal, was sollte das eigentlich

heißen ›den Dor'chacht ist der Sieg so gut wie sicher‹?«

»Ja, das wüsste ich auch gern.« Paige hatte Mühe, ihre Augen

offen zu halten. »Genauer gesagt fehlt mir überdies auch noch die eine
oder andere Information.«

»Kann ich mir ein Mineralwasser nehmen?«, fragte Phoebe.

»Sicher«, erwiderte Piper, den Blick noch immer fest auf Leo

gerichtet. Der Wächter des Lichts verschränkte die Arme vor der
Brust. »Okay, mein Herr«, forderte seine Frau ihn auf. »So erklärt
Euch nun.«

»Tja«, meinte Leo. »Überheblichkeit ist der größte Feind der

Dor'chacht. Es scheint, sie halten sich für unbesiegbar.«

»Aber das sind sie doch auch!«, entfuhr es Piper. Die Tränen, die

sie während der letzten Minuten mühsam in Schach gehalten hatten,

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brachen sich nun ungehindert Bahn. »Unsere Kräfte sind praktisch
versiegt.«

»Aber sie haben ihre Kräfte doch auch nicht«, gab Paige zu

bedenken. »Zumindest nicht im Moment.«

»Aber wir können den kläglichen Rest unserer Magie nicht auf sie

anwenden, weil sie menschlich sind und wir nicht.« Piper zwinkerte
einige Tränen fort.

»Ein Magier, der so mächtig und gerissen ist wie Shen'arch, würde

nichts dem Zufall überlassen.« Unbehaglich trat Leo von einem Fuß
auf den anderen. »Wir können wohl davon ausgehen, dass die
Dor'chacht ihre Kräfte zurückerlangen werden, ohne die euren
freizusetzen, wenn die Schlacht beginnt.«

»Morgen um Mitternacht.« Piper seufzte.

»Was, wenn wir einfach nicht erscheinen?« Paige kippte ein wenig

zur Seite, konnte aber im letzten Moment verhindern, dass sie vom
Stuhl fiel. »Immerhin braucht es zwei Parteien, um Krieg zu führen,
richtig?«

»In eurem Fall gibt es nur zwei Möglichkeiten: Kämpfen oder

Sterben.« Leo sah fast entschuldigend in die Runde, als ob er für die
alten Rituale und Spielregeln verantwortlich wäre. »In grauer Vorzeit
wurden alle Familienfehden im Tal der Ewigkeit ausgetragen. Und
weil die morgige Schlacht offensichtlich eine Weiterführung des
ursprünglichen Konflikts ist, wird auch sie dort stattfinden.«

»Na und?« Phoebe stand an der Bar und schlürfte ihr

Mineralwasser. Sie verstand das Problem nicht. Niemand konnte
gegen jemanden kämpfen, der gar nicht da war, wie Paige so treffend
bemerkte.

»Deshalb werdet ihr morgen um Mitternacht automatisch ins Tal

der Ewigkeit befördert«, fuhr Leo fort, »um gegen die drei
auserwählten Dor'chacht-Krieger anzutreten.«

»Ich weiß, mir wird die Antwort nicht gefallen, aber ich muss es

trotzdem fragen –« Piper wollte sich schnäuzen, doch das Taschentuch
fiel ihr aus der Hand. Während sie gegen einen neuerlichen
Heulkrampf ankämpfte, griff sie sich einen Packen Papierservietten
von der Bar. »Was passiert, wenn wir verlieren?«

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Drei Augenpaare waren auf den Wächter des Lichts gerichtet.

Leo versuchte gar nicht erst, um den heißen Brei herumzureden.

»Dann werdet ihr und jeder, der Sol'agath-Blut in sich trägt, seine
Kräfte für immer verlieren.«

»Und?«, hakte Paige nach.

Phoebe begann zu frösteln. Eine dumpfe Ahnung stieg in ihr auf.

Leo senkte die Stimme, als er fortfuhr. »Und weil es dann auf

Erden weder weiße Magie noch die Zauberhaften geben wird, um die
Unschuldigen zu beschützen, wird alle Menschlichkeit dem Einfluss
des Bösen zum Opfer fallen. Und die Mächte der Dunkelheit werden
die Abgründe, die jedem Sterblichen innewohnen, für sich zu nutzen
wissen.«

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8

K

EVIN GRIFF NACH DEM TELEFONHÖRER,

setzte sich im

Bett auf und warf einen Blick auf den Radiowecker. Es war fast drei
Uhr morgens.

Am anderen Ende war Karen, die ihn sofort angerufen hatte,

nachdem sie das P3 verlassen hatte, um ihn von ihrem Gespräch mit
den Zauberhaften zu unterrichten.

»Ich hab's nicht geschafft, Piper um die letzte Magieladung zu

erleichtern«, gab sie unumwunden zu.

»Sehr bedauerlich, aber keine Katastrophe«, versicherte ihr Kevin.

Der Zeitpunkt, an dem irgendwas ihre Pläne stoppen konnte, war
längst überschritten. Der Prozess, den Shen'arch vor langer Zeit in
Gang gesetzt hatte, war nicht mehr aufzuhalten. »Dennoch wäre es
nicht schlecht, wenn wir noch die eine oder andere Strategie für
morgen besprechen würden«, fügte er hinzu.

»Wie du meinst, Hauptsache wir gewinnen.« Karen machte eine

kleine Pause, als ob sie den nun folgenden Gedanken auskostete,
bevor sie ihn aussprach. »Glaube mir, ich brenne darauf, ihre
Sol'agath-Hirne ganz unter meine Kontrolle zu bringen.«

»Vermutlich so sehr, wie Ce'kahn es kaum erwarten kann, einen

Hurrikan zu entfesseln?« Kevin lächelte, als er sich Paige in Gestalt
eines herrlichen Zentauren vorstellte. Der Gedanke, schon bald wieder
im Besitz seiner verlorenen Kräfte zu sein, um alles und jedes nach
Gutdünken zu verwandeln, erregte ihn. »Morgen«, flüsterte er.
»Morgen, Sh'tara.«

»Unser Schicksal wird sich erfüllen, Tov'reh.«

Nachdem Karen aufgelegt hatte, war Kevin zu aufgewühlt, um

noch länger im Haus zu bleiben. Seiner magischen Fähigkeiten
beraubt, war er sechsundzwanzig Jahre lang gezwungen gewesen, als
einfacher Mensch unter einfachen Menschen zu leben, und er hatte
jede Minute davon gehasst. Und nun, dank des brillantesten und
mächtigsten Magiers der Dor'chacht, trennten ihn nur noch wenige
Stunden davon, das wiederzuerlangen, was die Sol'agath ihnen
gestohlen hatten.

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Er schlüpfte in bequeme Kleidung und verließ das ebenerdige

Apartment mit Gartenzugang. Als er auf der Straße stand, blieb er für
einige Sekunden stehen und sog die Luft ein. Das süßliche Aroma
verrottenden Laubes und der köstliche Geruch menschlichen
Schweißes wurden überlagert vom widerwärtigen Gestank der Auto-
und Industrieabgase. Er schnaubte verächtlich, wie um die fauligen
Ausdünstungen des 21. Jahrhunderts aus seinen Nasenlöchern zu
vertreiben. Seine hoch sensitiven Sinne, die noch aus seinem früheren
Leben als Kampfmagier stammten, waren auf eine harte Probe gestellt
worden, als er in einem Vorort von Seattle aufwuchs.

Bald schon würde er keine Rücksicht mehr darauf nehmen müssen,

ob seine archaischen Vorlieben moderne Zeitgenossen womöglich vor
den Kopf stießen. Bald schon wären sie ihm und seiner barbarischen
Gnade auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Die kultivierten Sol'agath hätten die wilden Dor'chacht nie

besiegen dürfen, dachte Kevin, als er die Straße hinunter und in einen
benachbarten Park hineinlief. Mehrere schmale Baumreihen entlang
der akkuraten Wege mündeten in eine gepflegte Wiesenlichtung.
Dieses künstlich angelegte Stück Natur war zwar nicht ideal für seine
Zwecke, gleichwohl hob es seine Stimmung und half ihm, seine
Gedanken zu ordnen.

Sich geschmeidig fortbewegend wie ein Raubtier, hielt sich Kevin

nahe der Bäume, die die Pfade säumten. Geschickt vermied er jede
Begegnung mit den Joggern, deren Fitnesswahn sie offensichtlich
dazu trieb, ihre schweißtreibenden Runden noch vor Sonnenaufgang
zu drehen. Nie sahen oder hörten sie ihn. Es war ein Spiel, das er seit
seiner Kindheit spielte. Ein Weg, die Überlegenheit seiner Sinne mit
denen der Menschen konkurrieren zu lassen, die er so verabscheute.
Die Tatsache, einer von ihnen sein zu müssen, gefangen in seinem
Körper und unfähig, seine oder die Gestalt anderer zu verändern, war
ihm verhasst.

Aber nicht mehr lange, dachte Kevin, als er durch das Wäldchen

lief. Er war allein im Dunkel, allein in den lautlosen Stunden vor
Tagesanbruch, doch er liebte diese Einsamkeit. Schon morgen würde
er allein mit einem Wort töten können.

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Er setzte sich auf eine der Holzbänke, schloss die Augen und ließ

seinen Gedanken freien Lauf. Im Geiste durchlebte er noch einmal die
letzten Momente seines wahren Lebens.

Hoch war er über dem Schlachtfeld aufgestiegen, sein

Falkenschnabel und seine Raubvogelklauen hatten getrieft von
Sol'agath-Blut. Und dann hatte Shen'arch ihn den luftigen Höhen
entrissen …

* * *

Tov'reh vermochte weder gegen die gewaltigen Kräfte des

Erzmagiers anzukämpfen, noch konnte er den Ruf des Großen
Shen'arch einfach ignorieren.

Er geriet ins Straucheln, als er den vom Regen durchweichten

Boden berührte, weil sich seine Vogelkrallen unvermittelt in
menschliche, von Lederlappen umwickelte Füße verwandelten. Seine
mächtigen Schwingen und sein Federkleid wichen geschundenem
Fleisch, fahler Haut und glanzlosem Haar.

Sogleich suchte er Schutz hinter einem umgestürzten Baum, da er

nun in seiner menschlichen Gestalt der Gewalt von Ce'kahns Sturm
und der Magie der Sol'agath hoffnungslos ausgeliefert war.

Der Große Shen'arch wartete. Er wusste, Tov'reh war zu nichts

mehr nutze, sollte er durch einen gegnerischen Zauber besiegt oder
durch einen Blitz in einen Kohleklumpen verwandelt werden.

»Tov'reh!« Sh'taras gellender Hilferuf drang an sein Ohr wie ein

entferntes Donnergrollen. »Wo bist du?«

Tov'reh kroch an dem massiven Baumstamm entlang, bis er einen

Blick über die bedrohliche Weite des Tals der Ewigkeit werfen konnte.
Jenseits des Territoriums der Sterblichen und geschützt durch
kosmische Kräfte und unüberwindliche Bergmassive, war diese
Schlucht die Arena, in der seit uralten Zeiten blutige Fehden
ausgetragen wurden – seit dem Tag, da die ersten Auserwählten die
Elemente beherrschten.

Doch heute, da die Magier-Clans über die ganze Erde verstreut

waren, waren hier lediglich zwei Familien übrig geblieben: die
Dor'chacht und die Sol'agath. Und schon sehr bald würde eine von
ihnen als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen.

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»Sh'tara!« Tov'reh erhob sich und sah besorgt, wie die Gedanken-

Lenkerin an einem der Geysire vorbeistürmte, deren kochend heißer
Schwefeldampf aus den zahllosen Spalten und Rissen der
Felsenschlucht emporschoss.

Auf einem Plateau zu ihrer Rechten erhoben sich zwei Sol'agath-

Hexen, die Hand in Hand einen Zauber sprachen. Ihre Worte verloren
sich im Geheul des Sturms, doch das tat der Wirkung ihrer Magie
keinen Abbruch. Plötzlich durchstieß direkt vor Sh'tara eine gezackte,
gigantische Felsnadel den Boden. Brocken von geschmolzenem Erz
flogen umher, und Tov'reh, der wusste, dass die Kräfte der Gedanken-
Lenkerin auf geistlose Materie nicht wirkten, erkannte sogleich den
Ernst der Lage. Zögernd blieb Sh'tara stehen, als Ströme von rot
glühender Lava sie langsam einschlossen.

»Eis!« Tov'reh konzentrierte all seine verbliebene Kraft auf den

sich nach und nach in feurigen Schmelzfluss auflösenden Felsenturm,
doch seine Magie verebbte allzu rasch im Äther. Er war zwar nicht
mehr stark genug, den Zauber der Sol'agath gänzlich aufzuheben,
doch die Feuerfallen erstarrten zumindest so lange, bis Sh'tara sie
gefahrlos überwinden und sich in Sicherheit bringen konnte.

Als sie auf ihn zugerannt kam, erkannte Tov'reh, dass auch

Sh'taras Energie fast aufgebraucht war. Er wünschte, er könnte sie
mit den kräftigen Flanken eines wendigen Rosses ausstatten, doch er
wagte nicht, noch mehr seiner Kräfte zu verschwenden. Er erschrak,
als Sh'tara stehen blieb, um die Holzflöte aufzuheben, die ihr beim
Laufen aus dem Gürtel gerutscht war, doch die beiden Sol'agath-
Hexen hatten sich schon einem anderen Ziel zugewandt.

»Shen'arch ruft uns!«, rief Sh'tara atemlos, als sie bei ihm

angelangt war. »Wir müssen Ce'kahn finden!«

»Ich weiß.« Tov'reh legte einen Arm um die erschöpfte

Schwarzmagierin und ließ seinen Blick über das schier endlose Tal
wandern. Hier und da flackerten Blitze auf und markierten die
Schauplätze der tobenden Schlacht, die unter dem Grollen des von
Ce'kahn entfesselten Sturms ihrem Höhepunkt entgegensteuerte.

Die blonden, blauäugigen Dor'chacht-Krieger trugen massive, mit

Gold und Silber verzierte Eisenrüstungen über Leder-, Fell- und
derber Wollkleidung. Die wilden Kampfmagier setzten
Explosionszauber und wirbelnde magische Schwerter gegen den

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dunkelhaarigen Clan der weißen Zauberinnen ein, die ihnen in
schmucklosen Beinkleidern und schlichten Gewändern gegenüber
getreten waren.

Von Natur aus friedfertig, verteidigten sich die Sol'agath in der

Hauptsache mit Schilden und Schutzzaubern, die die bösartige,
zerstörerische Kraft der Dor'chacht reflektierten und auf die Angreifer
zurück warfen So war der Felsenturm das Stein gewordene Abbild von
Sh'taras Hartherzigkeit und seine feurigen Lavastrome die
Entsprechung der kochenden, wenngleich unerschütterlichen Wut
gewesen.

Und jeder erfolgreiche Sol'agath-Zauber verringerte die Kräfte der

Dor'chacht!

»Da ist sie!«, rief Sh'tara und deutete auf einen unbestimmten

Punkt im Schlachtfeld. Sie musste fast schreien, um den Lärm der
Schwerter, die gegen Schilde knallten, und die grollenden Dor'chacht-
Verwünschungen zu übertönen »Dort drüben!«

Mit den Augen suchte und fand Tov'reh die betreffende Stelle.

Tatsächlich, dort lag Ce'kahn reglos in einem Schlammloch. Sofort
eilten Sh'tara und er zu ihr. Ein Anflug von Panik erfasste ihn, als er
sah, dass Shen'arch ebenfalls auf sie zugestürmt kam. Der Große
Erzmagier griff nur äußerst selten auf physische Energie zurück,
verließ sich vielmehr in allen Situationen ganz auf seine magischen
Fähigkeiten. Die Tatsache, dass der Alte sie hier auf dem Schlachtfeld
nicht mithilfe der Magie ausfindig gemacht hatte, legte daher nur
einen Schluss nahe. Die Kräfte der Dor'chacht schmolzen dahin! Die
Entscheidungsschlacht verlief nicht zu Gunsten ihres Clans!

»Hier«, Tov'reh reichte Ce'kahn seine Hand, um ihr aufzuhelfen,

»der Sturm hat dich erschöpf.« Doch sie zischte ihn nur wütend an.
Und schon ging das Temperament mit ihr durch, woraufhin sogleich
ein Blitz zu seinen Füßen einschlug und Tov'reh nur knapp verfehlte.

»Schluss jetzt mit eurem Gezänk'«, donnerte Shen'arch, der

inzwischen herangekommen war, und versetzte Ce'kahn einen leichten
Schlag mit der silbernen Spitze seines Stabes. Seine Miene hatte sich
zusehends verfinstert. »Spürt ihr denn nicht, wie eure Magie mehr und
mehr schwindet? Die Schlacht ist verloren, und wir haben kaum noch
Zeit.«

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»Ich gebe niemals auf.« Ce'kahn spuckte verächtlich aus, nachdem

sie sich wieder aufgerappelt hatte. Ihr Gesicht war blut- und
schlammverkrustet. In ihrem langen goldenen Haar hatten sich
Zweige und Ranken verfangen, und ihre kalten blauen Augen
funkelten herausfordernd.

In diesem Moment warf Sh'tara ihren Kopf in den Nacken und stieß

einen markerschütternden Wutschrei aus.

Tov'reh bezwang seinen Groll und starrte den alten Erzmagier nur

zornig an. »Wir haben die Sol'agath herausgefordert, Shen'arch.
Wenn wir verlieren, wird jeder aus unserem Clan seine Kräfte und
sein magisches Sein für immer einbüßen.«

»Ja, ja«, rief der Alte ungehalten und fuchtelte mit seinem Stab

ungeduldig durch die Luft. »Doch es gibt eine Ausnahme von jeder
übernatürlichen Regel, Tov'reh.«

»Soll das heißen, wir können dem Schicksal ein Schnippchen

schlagen?«, fragte Sh'tara ungläubig.

»Wenn ich die Botschaft der Knochen richtig gedeutet habe«,

erwiderte der Erzmagier, »haben wir Dor'chacht nur noch eine
einzige Chance, den Lauf der Dinge zu ändern, um in der Zukunft
zurückzuerlangen, was wir heute verlieren werden. Doch wir müssen
schnell handeln.«

»Ich würde alles tun, um zu verhindern, dass die Sol'agath die

magische Vorherrschaft in der Welt der Sterblichen erringen«, sagte
Ce'kahn.

Tov'reh und Sh'tara nickten zustimmend.

»Wir können zwar nicht verhindern, dass die Sol'agath die Früchte

ihres Sieges ernten«, erklärte Shen'arch, »doch ihre Regentschaft
muss nicht für alle Zeiten währen.«

»Erkläre dies«, verlangte Tov'reh.

»Zunächst müssen wir eure magischen Fähigkeiten verstecken,

damit die Höheren Mächte sie nicht entdecken und euch stehlen
können.« Shen'arch legte den Stab mit der Silberspitze neben Sh'taras
Flöte und einen von Ce'kahns goldenen Armreifen auf den Boden.

Niemand stellte die Weisheit dieses Vorhabens in Frage. Als der

Erzmagier sie anwies, sich niederzuknien und die Objekte zu

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berühren, tat Tov'reh, wie ihm geheißen, und legte seine rechte Hand
auf den hölzernen Zauberstab. Auf Shen'archs Befehl hin nutzte er
seine verbliebenen Kräfte, um den mächtigen Knorrenstab in einen
hölzernen Gehstock mit silbernem Handgriff zu verwandeln.

Shen'arch hob sodann beide Arme und intonierte mit kraftvoller

Stimme: »Dunkle Mächte des Dor'chacht-Clans, auf dass eure Magie
einst zurückkehre. Mögen eure Kräfte nun durch euren Lebenssaft und
eure Hände Eingang finden in diese seelenlosen Gefäße!«

Das Blut in Tov'rehs Adern begann zu kochen, als seine

Zauberkräfte wieder in seinen Körper zurückkehrten, um gleich
darauf durch seine Fingerspitzen in den Stab zu fließen. Bevor er
zusammenbrach und neben Sh'tara und Ce'kahn zu Boden sank, sah
er, dass alle drei Artefakte jetzt mit den Symbolen der unendlichen
und grenzenlosen Magie versehen waren.

»Höret denn und vergesst niemals«, flüsterte Shen'arch.

Erschöpft und schwach schloss Tov'reh die Augen, und sein Geist

trieb unter dem Einfluss von Shen'archs eindringlicher Stimme davon
in eine andere Sphäre.

»Ihr werdet nun schlafen und erst in drei Mal tausend Jahren

wieder erwachen. Was zu wissen ist, werdet ihr zu gegebener Zeit
erfahren. Krieger der Finsternis, gebt euch nun dem Tode hin, um
erneut zu leben. Das Schicksal aller liegt fortan in eurer Hand …«

* * *

Kevin schreckte auf und schüttelte die Trance, in der er sich

befunden hatte, ab.

Dann strich er sich mit beiden Händen das blonde Haar zurück und

atmete tief ein. Er war noch immer tief ergriffen von Shen'archs
Weisheit und Macht.

Alles war genauso eingetreten, wie es der alte Erzmagier

vorhergesagt hatte. Ihr Geist, ihre Erinnerungen und ihre
Persönlichkeiten waren direkt vom vorzeitlichen Schlachtfeld
übergegangen in drei neue Körper – dreitausend Jahre später.

Wiedergeboren als Waisen und von verschiedenen Familien

adoptiert, hatten Kevin, Karen und Kate alles, was sie wissen mussten,
mit Beginn der Pubertät in ihren Träumen erfahren. Getrieben von den

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gleichen Instinkten und Befehlen waren sie dann vor zwei Jahren alle
in dem gleichen französischen Städtchen eingetroffen. Sie hatten
einander sofort erkannt, und es war sodann ein Leichtes gewesen, die
Höhle zu finden, in der Shen'arch die Flöte, das Armband und den
Gehstock deponiert hatte. Doch um die Höheren Mächte nicht auf sich
aufmerksam zu machen und zu riskieren, dass man ihnen ihre Kräfte
stahl, durften sie ihre Magie nicht freisetzen, bevor die
Vergeltungsschlacht beginnen sollte.

Was nicht bedeutete, dass wir in der Zwischenzeit herumgetrödelt

hätten, dachte Kevin. Er erhob sich von der Holzbank und streckte
sich. Wohl wissend, welche Schwierigkeiten ihm begegnen würden,
hatte der alte Erzmagier sich nicht damit zufrieden gegeben, ihre
Kräfte einfach nur aus dem Verkehr zu ziehen. Die spezielle
kosmische Konstellation, die eine Vergeltungsschlacht überhaupt erst
möglich machte, konnten sie sich nur gegen jene drei Nachkommen
der Sol'agath zu Nutze machen, die als die Macht der Drei eine
immense Konzentration von weißer Magie zu befehligen im Stande
waren.

In Anbetracht dieser Tatsache hatte Shen'arch das magische Blatt

zum Vorteil der Dor'chacht neu gemischt. Nicht nur, dass Tov'reh,
Ce'kahn und Sh'tara wieder über das gesamte Spektrum ihrer Magie
verfügen würden, wenn die Schlacht begann. Nein, die Sol'agath
würden sich ihnen ohne ihre Kräfte stellen müssen.

Kevin lächelte.

Obwohl Piper noch über fünfzig Prozent ihrer Fähigkeiten

verfügte, waren die Zauberhaften der Magie der Dor'chacht
hoffnungslos ausgeliefert. Die weißen Hexen würden die Schlacht
verlieren – wie auch den letzten Rest ihrer Kräfte und letztlich auch
ihr Leben.

Und die Dor'chacht würden wieder den ihnen zustehenden Platz im

Pantheon der Finsternis einnehmen – und fortan als die gefürchtetsten,
mächtigsten Herren über die Welt der Sterblichen regieren.

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9

»

W

ELCHEN TAG HABEN WIR HEUTE?«

Schlaftrunken

taumelte Paige ins Badezimmer.

»Freitag«, erwiderte Piper und schob ihre halb wache Schwester in

Richtung Waschtisch. Während sie Paige mit einer Hand festhielt,
öffnete sie mit der anderen den Wasserhahn über der Badewanne.

»Wie viel Uhr?«, fragte Paige und gähnte.

»Zeit, endlich aufzuwachen und mit mir herauszufinden, wie man

die Dor'chacht mit nur wenig Magie und zwei untauglichen
Schwestern besiegen kann.« Piper machte aus ihrer wütenden
Verzweiflung keinen Hehl.

Den ganzen Morgen hatte sie damit zugebracht, Phoebe zu helfen,

deren Aufzeichnungen in ein kleines Notizheft zu übertragen. Diese
Tätigkeit war insofern heikel gewesen, weil ihre Schwester nicht mehr
in der Lage war, auch nur ansatzweise eine zusammenhängende
Konversation zu bewältigen. Die Lücke in ihrem Langzeitgedächtnis
erwies sich dabei als bedenklichster Risikofaktor, da Phoebe sich auch
nicht mehr an den Vertrauensbund erinnerte, den sie und Piper mit
Paige geschlossen hatten. Piper konnte nicht ermessen, was diese
Tatsache in Verbindung mit ihren eingeschränkten Fähigkeiten für die
Macht der Drei bedeutete.

»Untauglich?« Mit Daumen und Zeigefinger öffnete Paige eines

ihrer Augen. »Also, ich finde es noch reichlich früh für derartige
Beleidigungen.«

»Ich wollte dich mit dieser Provokation nur motivieren.« Piper

tauchte ihre Hand in den Wasserstrahl, um die Temperatur zu prüfen.
Kurz erwog sie, die Wanne mit eiskaltem Wasser zu füllen, entschied
sich dann aber dagegen. Sie hatte keine Lust, es zu allem Überfluss
auch noch mit einer wütenden Hexe aufnehmen zu müssen.

»Ich verstehe.« Paige sah ihre Schwester ruhig an. »Und ich bin

durchaus im Stande, allein zu duschen.«

»Fein«, sagte Piper und trat einen Schritt zurück. »Wenn du fertig

bist, steht das Mittagessen auf dem Tisch. Danach müssen wir uns

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eine Strategie für heute Abend überlegen – die magische
Schlachtenversion der Hatfields und McCoys sozusagen.«

»Die wir vermutlich verlieren. Wir haben doch keine Chance.«

Paige stieg in die Wanne und schloss den Duschvorhang.

»Fast keine«, stimmte Piper ihr zu, während sie ein plötzliches

Schluchzen unterdrückte. Sie hatte sich inzwischen so sehr daran
gewöhnt, eine alte Heulsuse zu sein, dass die unvermittelten Tränen
und Weinkrämpfe sie schon gar nicht mehr irritierten. Sie konnte den
bevorstehenden Showdown nicht ignorieren, und es wäre dumm und
gefährlich, hinsichtlich seines Ausgangs falsche Hoffnungen zu
wecken.

»Und doch ist die Lage nicht aussichtslos«, erwiderte Paige, als ob

sie Pipers Gedanken gelesen hätte. Sie warf ihr Nachthemd auf den
Boden und blinzelte durch den Duschvorhang.

Piper erwiderte ihren Blick skeptisch. Ihre Chance, die Schlacht

mithilfe irgendwelcher Zaubersprüche zu gewinnen, war angesichts
ihrer derzeitigen Verfassung gleich null.

»Ich mag vielleicht nur fünfundzwanzig Prozent meiner Orb-

Fähigkeit besitzen«, fuhr Paige fort, »aber wenn man bedenkt, was ich
trotzdem mit Kaffeetassen und Kerzen so alles anzustellen vermag –«
Ein spitzbübisches Lächeln erschien auf ihrem Gesicht, als sie den
Gedanken weiter verfolgte.

Das Bild der von Paige völlig zerstörten Objekte tauchte vor Pipers

innerem Auge auf. Die Idee, dass Karen Ashley in ihre Bestandteile
zerlegt und hernach auf irrwitzige Weise wieder zusammengeschustert
würde, hatte einiges für sich, war jedoch kaum realisierbar.

»Wir wissen ja noch nicht einmal, welche bösartigen Kräfte die

drei Ks in den Artefakten eingeschlossen haben«, gab Piper zu
bedenken.

»Wir wissen aber«, erinnerte Paige, »dass Karens Name einst

Sh'tara lautete und dass sie eine Gedanken-Lenkerin war. Und wenn
Leo wieder zurück ist, werden wir vermutlich auch erfahren, was eine
Gedanken-Lenkerin eigentlich ist.«

Und über welche Kräfte Kevin alias Tov'reh und Kate alias

Ce'kahn verfügen, dachte Piper. Beziehungsweise verfügen werden,
setzte sie im Geiste hinzu, wenn ihre Magie wieder freigesetzt ist.

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»Es könnte also schlimmer sein«, bemerkte Paige und stellte den

Duschstrahl ab.

Piper wollte Paiges Zuversicht nicht erschüttern und schwieg.

Selbstvertrauen war so ziemlich die einzige Waffe, die ihnen noch
geblieben war. Falls Leo und der Rat der Ältesten nicht eine Hintertür
bereithielten, war es so gut wie sicher, dass das Gefecht zwischen den
Dor'chacht und den Sol'agath genauso ausging, wie Shen'arch es
geplant hatte. Und Leo hatte gestern Abend ohne Umschweife erklärt,
dass der alte Erzmagier nichts dem Zufall überlassen hatte.

Paige steckte wieder ihren Kopf durch den Duschvorhang. »Sag

mal«, sie gähnte, »macht die fast völlige Abwesenheit unserer Kräfte
uns nicht zu den Unschuldigen in diesem Heldenepos?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Piper achselzuckend. Soweit sie

verstanden hatte, war niemand außer ihnen an dieser Familienfehde
beteiligt. Und natürlich würde die gesamte Menschheit nach einem
Sieg der Dor'chacht schließlich ihre Unschuld einbüßen.

Sie schloss die Badezimmertür und machte sich auf den Weg in die

Halle hinunter. Sie fühlte sich fast so erschöpft wie Paige, dazu war
sie um einiges mutloser als die Schwester, auch wenn sie es nicht
offen zugab. Sie hatte kaum noch die Kraft, sich um ihre Schwestern
und die Verhinderung einer Katastrophe globalen Ausmaßes zu
kümmern. Paige wach zu halten, war mindestens genauso
anstrengend, wie eine sinnvolle Unterhaltung mit Phoebe zu führen.

Als ihr Fuß gerade den Treppenabsatz berührte, erschütterte Paiges

panischer Schrei die Grundmauern von Halliwell Manor. Wie von der
Tarantel gestochen wirbelte Piper herum, rannte in den Flur zurück
und stieß die Badezimmertür auf.

»Was ist los?«, rief sie, doch das Bild, das sich ihr bot, war

Antwort genug.

Paige stand zitternd im hinteren Bereich der Wanne und hatte den

Duschvorhang behelfsmäßig um sich geschlungen. Seifenflocken und
Shampooreste bedeckten Gesicht und Haar, während sie sich
jammernd gegen die Wand drückte.

Unter der Dusche stand Gilbert und hüpfte aufgeregt unter dem

Wasserstrahl auf und ab.

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Der Anblick dieser grotesken Szene verfehlte seine Wirkung nicht.

Piper musste laut loslachen.

»Das ist nicht komisch!« Paige hangelte nach einem Badelaken

und sprang mit ekelverzerrtem Gesicht aus der Wanne.

»Doch, das ist es!«, kicherte Piper. Dann begann sie wieder zu

lachen, bis ihr die Tränen über die Wangen rollten. Der herumtollende
Gremlin erinnerte sie fast an ein Kind, das soeben die Freuden von
Schokoladeneis kennen gelernt hatte. Ja, der kleine Dämon gebärdete
sich geradezu ekstatisch.

»Das ist definitiv Ansichtssache«, knurrte Paige.

In diesem Moment schien Gilbert offensichtlich klar zu werden,

dass er hier im Badezimmer unterlegen war. Mit einem panischen
Schrei, der den von Paige noch um einiges übertraf, schlidderte er
zurück zum Abflussloch und hechtete mit einem Kopfsprung hinein.
Einige Sekunden lang blieben seine stämmigen Hinterbeinchen
strampelnd in der Öffnung stecken, dann war er im Leitungssystem
von Halliwell Manor verschwunden.

»Wieso ist Gilbert plötzlich so furchtlos?« Piper rieb sich die

Augen, doch sie konnte nicht aufhören zu kichern.

»Was weiß ich?!« Paige stopfte den Zipfel eines Handtuchs in den

Abfluss und stieg wieder zurück in die Wanne, um sich abzuspülen.
»Vielleicht haben ein Spülbecken voller Essensreste und die eher
halbherzigen Versuche, ihn zu fangen, ihn irgendwie ermutigt …« Sie
blickte Piper vorwurfsvoll an.

»Okay, okay« Piper holte tief Luft. »Schuldig im Sinne der

Anklage. Andererseits kann man ja nun nicht behaupten, dass Gilbert
momentan unser größtes Problem wäre.«

»Du hast gut reden.« Paige verzog angewidert das Gesicht. »Dir ist

er schließlich auch nicht vor die nackten Füße geplumpst.«

Piper musste sich sehr zusammenreißen, um bei der Vorstellung

nicht laut loszuprusten. »Immerhin hat sein Erscheinen dich aus deiner
Lethargie gerissen.«

Paige warf einen nassen Waschlappen in Pipers Richtung, doch

diese konnte sich im letzten Moment mit einem Sprung in den Flur in
Sicherheit bringen. Lachend schlug sie die Badezimmertür von außen

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zu. Sie bereute den kleinen Zwischenfall keineswegs. Der kurze
Schreckmoment und die spielerische Auseinandersetzung hatten
Paiges Adrenalinspiegel offensichtlich in die Höhe schießen lassen,
und Piper selbst fühlte sich nun ebenfalls sehr viel frischer als noch
vor wenigen Minuten.

Aufgeregt stürmte Kate in Kevins Apartment. »Was ist so wichtig,

dass es nicht warten kann, bis wir auf dem Schlachtfeld sind?«

»Was könnte wichtiger sein als eine Strategiesitzung, die

sicherstellen soll, dass wir diesen Krieg auch gewinnen?«, gab Karen
zurück. Sie saß auf dem Sofa, die Flöte auf dem Schoß, und schaute
Kate missbilligend an.

»Ich war auf Haussuche«, erklärte Kate leichthin. Sie war zwecks

Besichtigungsterminen durch die ganze Stadt gefahren, damit sie
gleich morgen in ein neues Domizil umziehen konnte. Doch es gab so
viele Nobelanwesen in San Francisco, dass die Wahl schwer fiel.

»Du kannst jedes Haus haben, das du willst«, sagte Karen gereizt,

– »nachdem wir heute Abend die Sol'agath geschlagen haben. Also
sollten wir uns zunächst darauf konzentrieren.«

»Klar.« Je näher Mitternacht rückte, desto mehr fühlte Kate ihr

wahres Selbst, Ce'kahn, in sich erstarken, und eine freudige Erregung
ergriff von ihr Besitz ob des blutigen Gemetzels, das sie alle
erwartete.

Ce'kahn alias Kate funkelte die Inkarnation der Dor'chacht-

Kriegerin Sh'tara böse an. Wenn Karen ihr, der Herrin der Stürme, in
Zukunft nicht mehr Respekt zollte, würde sie die Gedanken-Lenkerin
mit einem schrecklichen Sturm dafür bezahlen lassen – nachdem die
Zauberhaften vernichtet waren.

»Sie zu schlagen, dürfte dennoch schwieriger sein als gedacht«,

sagte Kevin, der in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab lief. »Karen
hat es gestern Abend nicht geschafft, Piper mit ihrer Flöte zu
berühren.«

»Du hast versagt?« Kate sah Karen anklagend an.

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»Was sollte ich denn machen?«, gab Karen trotzig zurück. »Sollte

ich etwa auf meine Magie zurückgreifen, um sicherzustellen, dass
Piper uns im letzten Moment nicht doch noch dazwischenfunkt?«

»Und damit den Höheren Mächten den entscheidenden Hinweis

geben und sie auf unsere Fährte locken, sodass sie uns am Ende ganz
ohne Kampf zur Hölle schicken können?« Kate schüttelte den Kopf.
»Unmöglich.«

»Du sagst es, Ce'kahn.« Karen hielt Kates herausforderndem Blick

stand. »Außerdem haben die drei ohnehin keine Chance.«

»Was macht dich da so sicher?«, fragte Kate stirnrunzelnd. Sie

erinnerte sich noch zu gut daran, wie die Kräfte und Sprüche der
Sol'agath ihren Clan einst zu Fall gebracht hatten. Und die Erfahrung,
ihrem Körper entrissen und durch Zeit und Raum geschickt zu
werden, war geradezu traumatisch gewesen. Andererseits, das wusste
sie, wären die Folgen, die sich aus einer echten Niederlage ergeben
hätten, weitaus schlimmer gewesen.

»Selbst wenn sie noch über ihre gesamten Kräfte verfügen würden,

wären diese Hexen kein ernst zu nehmender Gegner für einen Adepten
der Magie des Alten Weges«, erklärte Karen. »Dieses Trio ist
erbärmlich und schwach, das verweichlichte Produkt einer Kultur, die
schon lange nicht mehr im Stande ist, die Stärke und das Geschick
eines wahren Kriegers zu erkennen.«

»Trotzdem bin ich froh, dass ich bei Phoebe erfolgreicher war«,

bemerkte Kate. Nachdem Pipers Kräfte nie ihr größtes Problem
gewesen waren, vergab sie Karen insgeheim deren Patzer. Sie schob
sich auf einen der hohen Barhocker, die vor dem Küchentresen
standen, und nahm sich einen Energieriegel aus einer Schachtel.

»Und doch wäre es ein Fehler, die drei Schwestern zu

unterschätzen«, gab Kevin zu bedenken. Er sah Karen eindringlich an.
»Oder hast du vergessen, dass wir heute überhaupt erst hier sind, weil
sie seinerzeit gewonnen haben?«

»Ach wirklich?«, fragte Karen ironisch. Sie ging zum Fenster und

sah hinaus.

Kate folgte ihrem Blick. Jenseits der Panoramascheibe lag ihnen

die City von San Francisco zu Füßen. Dort unten gähnten die Canyons
der Neuzeit inmitten turmhoher Häuser und Bürogebäude. Die

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Errungenschaften der Moderne, die seelenlosen Monumente der
Zivilisation erschienen ihr stets wie ein schwacher Abklatsch der
alterslosen Gebirgsketten, Felsentürme und Schluchten eines Landes,
das längst aus den Köpfen der Menschheit verschwunden war.

Die Erinnerung an diese Zeit und der Anblick des muskulösen, und

doch geschmeidigen Rückens der Gedanken-Lenkerin machten Kate
für einen Moment sehr wehmütig.

Sh'tara hatte ihre wahre Natur schon immer unter einem Panzer der

Ruhe verborgen gehalten. Und in ihrem neuen Leben hatte Karen es
vorgezogen, jeden Anflug von aufkeimendem Ungestüm, das ihre
gebannten Kräfte nährte, zu unterdrücken. Doch schon bald würde
Sh'taras Fähigkeit, den Geist der Menschen zu manipulieren, diese
Welt unterjochen – wie Kates entfesselte Naturgewalten den freien
Willen aller Erdenbürger zerstören und jedermann versklaven würde,
der mit ihrem überirdischen Zorn in Berührung kam.

Als Karen sich wieder umwandte, war der beherrschte

Gesichtsausdruck der Musikerin der grimmigen Entschlossenheit einer
Dor'chacht-Zauberin gewichen. Die azurblauen Augen funkelten und
brannten heiß; sie brachten auch Kates Kriegerinnen-Blut in Wallung,
das noch immer in ihren Adern floss.

Wenn sie um Mitternacht als ihre wahre Dor'chacht-

Persönlichkeiten auf den Plan traten, würden sie die ach so kultivierte
Fassade dieser Welt mit einem Schlag niederreißen.

Karen sah von Kate zu Kevin. »Wenn die Sol'agath gewonnen

hätten, würden wir heute nicht zusammensitzen, um uns auf den
finalen Vernichtungsschlag im Tal der Ewigkeit vorzubereiten, nicht
wahr?«

»Das ist richtig«, sagte Kevin und begegnete ihrem brennenden

Blick mit unerschütterlicher Beherrschung. Sie war mitnichten
Fassade, sondern der wohl temperierte Ausdruck seiner tödlichen
Entschlossenheit. Shen'arch hatte Tov'reh nicht ohne Grund zum
Leiter ihres Plans auserkoren – er wusste, seinem scharfen Verstand
würde nicht das kleinste Detail entgehen, von dem Sieg oder
Niederlage so oft abhing. »Aber wir wurden nicht dazu verdammt,
dreitausend Jahre zu warten, unseren Clan zu rächen, weil die
Sol'agath so schwach und hilflos sind. Shen'arch musste einiges

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aufbieten und ein großes Risiko eingehen, damit wir das wieder
rückgängig machen können, was bereits entschieden war.«

»Nichts war bereits entschieden!«, entfuhr es Karen. »In dem

Moment, da Shen'arch uns vom Schlachtfeld entfernte, war der
Ausgang des Gefechts noch völlig offen.«

So hatte Kate das zwar noch nie gesehen, aber was Karen sagte,

klang plausibel. Niemand konnte mit absoluter Sicherheit sagen, wie
die damalige Schlacht ausgegangen wäre, wären sie bis zum Schluss
mit ihrer Magie an Ort und Stelle verblieben. Sie schloss die Augen
und atmete tief durch. Die Luft war erfüllt von der Präsenz der
Elementarkräfte, die sie schon bald dazu nutzen würde, einen
rasenden Sturm oder eine alles verschlingende Flutwelle
heraufzubeschwören.

»Willst du damit etwa sagen, Shen'arch hätte voreilig gehandelt?«,

fragte Kevin. »Noch bevor der Ausgang der Schlacht besiegelt war?«

»Ich sage nur, es ist möglich«, gab Karen zurück. »Wir dürfen

nicht an uns zweifeln, nicht eine Sekunde lang.«

»Ich bin eine Dor'chacht!«, rief Kate plötzlich. Sie rutschte vom

Barhocker und riss eine Faust in die Höhe. Schon konnte sie das
heraufziehende Unwetter, das sie noch nicht herbeizuführen im Stande
war, spüren.

Auch Kevin schien die Magie, die stets in ihm präsent war, zu

spüren. Ein Zucken durchlief seine Finger, als er sich vorstellte, wie er
einen Holzscheit in einen Drachen oder einen Stein in ein
verheerendes Feuer verwandelte.

»All unsere Kräfte werden wiederhergestellt sein, während die

Sol'agath-Hexen über so gut wie keine Magie verfügen.« Karen
schnalzte genießerisch und bleckte dann ihre Zähne. »Dieses Mal
werden die Krieger der Finsternis triumphieren!«

»Ach«, seufzte Piper und sah vom Buch der Schatten auf. Ihre

Augen waren gerötet und von dunklen Schatten umgeben, aber
trocken.

»Was?« Paige hörte auf, in die Pedale des alten Trimmrads zu

treten, das sie in einer Ecke des Dachbodens entdeckt hatte.

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Körperliche Betätigung hielt sie wach und war einem Bad mit Gilbert
eindeutig vorzuziehen. Abgesehen von dem abstoßenden
Zusammentreffen mit dem Minidämon hatte die Begegnung einige
unerwartete positive Entwicklungen zur Folge gehabt. So hatten sie
festgestellt, dass man mit Adrenalinschüben Paiges Müdigkeit für
kurze Zeit ein Schnippchen schlagen konnte, während herzhaftes
Lachen Pipers tränenreiche Depression für eine Weile aufhob.
Darüber hinaus hatten sie gemerkt, dass endlose Wiederholungen dazu
geführt hatten, dass Phoebe jetzt zumindest Paiges Namen behielt,
obwohl ihr Kurzzeitgedächtnis noch immer nicht funktionierte und sie
sich auch nicht daran erinnerte, die neue Schwester je kennen gelernt
zu haben.

Phoebe saß im Schaukelstuhl; der Laptop stand auf einem kleinen

Tischchen vor ihr. Indem sie alles in den Computer eingab,
verbesserte sie ihr Erinnerungsvermögen zwar nicht, aber es
verringerte den Grad der Frustration.

»Hast du etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte, Piper?«

Paige stieg vom Trainingsrad und streckte sich.

»Nichts.« Piper schloss das Buch der Schatten und raufte sich die

Haare. »Keine Zauber, keine Sprüche, keine Tränke. Nichts, was uns
helfen könnte, die blonde Allianz des Bösen zu besiegen.«

»Aber es muss etwas geben, was wir tun können!« Phoebe lehnte

sich zurück und zwirbelte eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern.
»Könnte nicht ein ›Macht der Drei‹-Spruch oder ein Zaubertrank uns
helfen, die, ähm, –«, sie beugte sich nach vorn und überflog die
Eintragungen auf ihrem Bildschirm, »die bösen Ks zu vernichten?«

»Das Buch sagt nein.« Paige gähnte. Sie musste unbedingt ein

längeres Nickerchen halten, um sich einige Kraftreserven für die
Endrunde, wie sie die Schlacht gegen die Dor'chacht nannten, zu
verschaffen. Doch sie wusste, aller Schlaf der Welt würde ihr und
ihren Schwestern nichts nutzen, wenn sie keinen Weg fanden, Kevin,
Karen und Kates wiederhergestellter Magie irgendetwas
entgegenzusetzen.

Paige war klar, dass sie eine weitaus größere Chance hätten, eine

Lösung zu finden, wenn Phoebe sich an mehr als nur die beiden
letzten Sätze des aktuellen Gesprächs erinnern könnte. So allerdings

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war es gänzlich ausgeschlossen, dass der Schwester etwas Wichtiges
einfiel, das sie oder Piper womöglich übersehen hatten.

Phoebe tippte wieder etwas in ihren Laptop, lehnte sich dann

erneut zurück und starrte die Zeilen einen Moment lang an. »Es gibt
also keinen ›Macht der Drei‹-Spruch, um die Dor'chacht zu
vernichten.«

»Richtig.« Paige sah viel sagend zu Piper.

Diese nickte, schlenderte dann zu Phoebe hinüber und tätschelte

kurz den Computerbildschirm. »Geh einfach noch mal deine
Aufzeichnungen durch, Liebes, und berichte uns alles, was dir dazu
einfällt – und zwar in dem Moment, wo es dir einfällt, verstanden?«

»Okay«, erwiderte Phoebe und wandte sich wieder dem Monitor

zu. »Wir stecken ganz schön in der Scheiße, was?«

»Yep.« Piper ging wieder hinüber zum Lesepult und berührte das

Buch der Schatten, als ob sie auf diese Weise eine Lösung ihrer
Probleme herbeibeschwören konnte.

»Und niemand wird uns zur Seite stehen bei der Verteidigung der

Grenze zwischen dieser Welt und einer, in der das Böse regieren
wird«, sagte Paige düster.

Der blaue Planet und seine Bewohner waren mitnichten perfekt.

Aber die meisten Menschen waren im Prinzip gut. Sicher, einige
wenige, vor allem jene, die machtvolle Positionen innehatten, waren
abgrundtief schlecht. Doch stets siegte irgendwann das Gute über das
Böse. Und genau das würde sich ändern, wenn die Zauberhaften
keinen Weg fanden, dieses Prinzip aufrechtzuerhalten.

»Leo!«, rief Piper. Sie hatte seinen Namen noch nicht ganz

ausgesprochen, da erschien der Wächter des Lichts schon auf dem
Halliwellschen Dachboden. Doch ein Blick in das sorgenvolle Gesicht
ihres Mannes genügte, und Pipers gute Laune ging zum Teufel.
»Okay«, krächzte sie, »könnte jemand mal bitte ganz schnell was
Lustiges erzählen, bevor ich wieder in Tränen ausbreche?«

»Sorry, Piper«, meinte Paige, »aber mein Sinn für Humor lässt

angesichts unserer aussichtslosen Lage doch sehr zu wünschen übrig.«

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»Mir geht's ähnlich«, ließ sich Phoebe vernehmen. »An eine derart

aussichtslose Lage kann ich mich nicht erinnern, selbst als ich mich
noch erinnern konnte …«

Betrübt starrte Piper zu Boden.

»Sollte das womöglich witzig sein?«, fragte Leo verständnislos.

»Nachdem Piper noch immer flennt, als ob das Ende der Welt

bevorsteht, nein.« Paige stieg zurück aufs Trimmrad und wechselte
das Thema. »Deiner Miene nach zu urteilen, Leo, ist es für uns
sicherlich von Vorteil, dass man den Überbringer schlechter
Nachrichten heutzutage nicht mehr tötet, stimmt's?«

»Schlechte Nachrichten?« Nervös kaute Phoebe an ihren

Fingernägeln.

»Zumindest keine guten.« Leo legte seinen Arm um Piper, um sie

zu trösten, aber sie warf sich ihm einfach an die Brust und weinte
noch herzzerreißender. »Um es kurz zu machen: Shen'arch hat dafür
gesorgt, dass heute Nacht nichts die Große Schlacht verhindern kann –
noch nicht einmal die Höheren Mächte.«

»Und was bedeutet das genau?« Fest umklammerte Paige den

Lenker des Übungsrades, damit sie nicht herunterfiel, falls sie den
Kampf gegen die totale Erschöpfung wieder einmal verlor. »Ich
meine, was heißt das, sie können nichts tun, um das zu verhindern?
Kannst du uns nicht wenigstens einen Tipp geben, wie man dieses
Urzeit-Trio besiegen kann?«

»Sie können sich nun einmal nicht einmischen«, sagte Leo

bestimmt. »Ihr werdet Schlag Mitternacht ins Tal der Ewigkeit
befördert, um die Familienfehde mit den Dor'chacht zu Ende zu
bringen – und nichts auf Erden oder in irgendeiner anderen Dimension
kann das verhindern.«

»Schlusspunkt?«, fragte Phoebe, die alles haarklein mitgeschrieben

hatte.

»Ausrufezeichen.« Leo löste sich von Piper und setzte sie sanft auf

eines der großen Bodenkissen. »Ich mag's gar nicht aussprechen,
Piper, aber vielleicht wäre es besser gewesen, wenn du gestern Abend
Karens Flöte doch berührt hättest.«

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»Wie kannst du nur so etwas sagen?«, heulte Piper und bediente

sich in der Kleenexbox, die neben ihr auf dem Boden stand. Es war
einer von unzähligen Papiertaschentuchspendern, die man aufgrund
ihrer desolaten Verfassung im ganzen Hause verteilt hatte.

»Weil der nächste Gefühlsausbruch nach ›Freude‹ und ›Trauer‹

vielleicht ›Wut‹ hätte sein können«, erklärte Leo.

»Was vermutlich nützlicher gewesen wäre als das Dauergeplärre«,

bemerkte Paige. »Und sehr vorteilhaft im Kampf, auch wenn wir zur
Stunde X entwaffnet sein werden.«

»Immerhin hab ich noch die Hälfte meiner Kraft.« Piper schnäuzte

sich geräuschvoll und schleuderte das durchnässte Taschentuch in
Richtung Papierkorb. Wie aus einem Impuls heraus versuchte sie, es
einzufrieren. Erwartungsgemäß blieb das schlaffe Stück Zellstoff für
ein paar Sekunden in der Luft hängen, bevor es zu Boden sank.

Paige versuchte sogleich, das Taschentuch in den Papierkorb zu

orben. Das klappte, wenngleich das Objekt selbst sich dabei in
Konfetti verwandelte.

»Wo sind noch mal eure Zauberkräfte?«, fragte Phoebe plötzlich.

»Meine sind in Karens Flöte«, schluchzte Piper.

»Meine in Kevins Krücke«, setzte Paige hinzu. Stirnrunzelnd

beobachtete sie, dass Phoebe wie wahnsinnig die Tastatur ihres
Laptops bearbeitete. Sie platzte vor Neugier, aber wenn sie die
Schwester jetzt bei ihrer Tätigkeit unterbrach, konnte Phoebes
Gedankenblitz womöglich für immer dahin sein.

»Und was ist mit den Kräften der drei Ks, Leo? Wissen wir hier

jetzt etwas Genaueres?«, fragte Paige.

Leo nickte, aber seine Miene hellte sich nicht auf. »Wie erwartet,

kann Karen jedem Wesen ihren Willen aufzwingen. Kevin kann die
physische Gestalt von Menschen und Dingen verändern, und Kate
kann die Naturgewalten kontrollieren.«

»Wir sind verloren.« Piper schlug die Hände vors Gesicht und

atmete tief durch. Plötzlich sah sie wieder auf. »Sind wir das
wirklich?«

»Verloren?« Leo schüttelte den Kopf. »Nein. Die Schlacht wird

stattfinden, aber ihr Ausgang ist nicht vorherbestimmt. Genau deshalb

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hat Shen'arch ja diese Revanche arrangiert: Um den Dor'chacht
Gelegenheit zu geben, das Schicksal nach ihrem Gusto zu ändern.«

»Ihres und unseres.« Paige trat noch heftiger in die Pedale, dann

hielt sie plötzlich inne und schlug wütend auf den Lenker. »Seit wann
gehen wir eigentlich kampflos unter?!«

»Noch nie.« Phoebe klickte auf die Speicher-Taste.

In Pipers verheulten Augen glimmte so etwas wie ein

Hoffnungsschimmer auf, als sie sich an Paige wandte. »Glaube mir,
ich würde nichts lieber tun, als dieses gottverdammte Trio
durchzuprügeln, aber die Aktien stehen nicht gerade zu unseren
Gunsten.«

»Unterschätzt euch nicht.« Leo ergriff Pipers Hand und drückte sie

fest. »Ihr seid die Zauberhaften. Ihr könnt alles erreichen, was ihr
euch in den Kopf setzt, auch wenn ihr im Ring diesmal die Underdogs
seid.«

»Also im Film gewinnen die Underdogs immer.« Drei Augenpaare

waren auf Phoebe gerichtet, als diese wiederholte: »Immer.«

»Ja«, sagte Piper gereizt, »aber das hier ist das wahre Leben und

kein –«

»Moment!«, unterbrach Paige die Schwester. »Phoebe ist vielleicht

gerade was eingefallen. Sag, Phoebe, warum gewinnt der Underdog
im Film immer?«

»Weil er niemals aufgibt, nicht einmal, wenn die Chancen noch so

schlecht stehen.« Phoebes Enthusiasmus schien ungebrochen.

»Und sie machen das Beste aus dem, was sie haben«, ergänzte

Paige zögernd. »Ganz im Gegensatz zu uns. Bis jetzt sind wir immer
davon ausgegangen, dass das Glas halb leer ist.«

»Was bedeutet?«, fragte Piper verständnislos.

»Ich habe immer noch fünfundzwanzig Prozent meiner Orb-

Fähigkeit«, erklärte Paige und hielt ihre Hände in die Höhe. »Gut, ich
kann damit keine Berge versetzen, aber das Ergebnis kann sich noch
immer sehen lassen.«

Piper nickte langsam. »Und ein halber Erstarrungszauber ist besser

als gar keiner.«

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Paige lächelte. »Und die halbe Molekularbeschleunigung nicht zu

vergessen.«

»Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Kevin, Karen und Kate

glauben, unbesiegbar zu sein«, fügte Leo hinzu.

»Und ich bin die Spezialistin für Zaubersprüche, stimmt's?«, ließ

sich plötzlich Phoebe vernehmen. Einer Eingebung folgend, zog sie
ihren kleinen Notizblock aus der Hosentasche. »Und ich glaube, ich
hab da eine Idee.«

Es war offensichtlich, dass Phoebe etwas zur Lösung des Problems

beitragen wollte, und Paige brachte es nicht übers Herz, ihr einmal
mehr zu eröffnen, dass kein Macht der Drei-Spruch die Krieger der
Finsternis würde vernichten können. Andererseits konnte es nicht
schaden, die Schwester wissen zu lassen, dass ihre Film-Analogie die
Sicht der Dinge zum Positiven hin verändert hatte. »Du hast uns
wahrscheinlich vorhin eine Chance eröffnet, von der wir nicht einmal
zu hoffen wagten, dass wir sie haben, Phoebe.«

»Ich?« Phoebe grinste unsicher. »Wie das?«

»Du hast uns daran erinnert, dass wir die Zauberhaften sind«, sagte

Piper lächelnd. »Und die schlagen immer zurück.«

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10

P

HOEBE NAHM SICH EINE weitere Hand voll Popcorn aus der

Schale, die auf dem kleinen Beistelltisch stand. Ein Eintrag in ihrem
Laptop sprach von einem automatischen Transport an einen Ort
namens »Tal der Ewigkeit«. Darunter hatte sie die Frage »Ähnlich
dem Halloween-Portal ins Jahr 1670?« notiert.

»Sind wir bereit?«, fragte Paige.

»Allzeit bereit!« Piper klappte das verstaubte Buch zu, das Leo

irgendwo in Europa aufgetrieben hatte, und gab es dem Wächter des
Lichts
zurück. Dann wanderte ihr Blick über die anderen Folianten,
die sich auf dem Wohnzimmertisch türmten, und sie hob resigniert die
Hände. »Viel haben uns diese Wälzer ja nicht geholfen.«

»Meine Rede.« Paige seufzte. »Offensichtlich sind die drei bösen

Ks, nachdem sie von Shen'arch in die Zukunft katapultiert wurden,
komplett vom magischen Radarbildschirm verschwunden. Ich
befürchte, wir stellen uns hier einem Kampf, bei dem wir nur die
Namen und die Fähigkeiten unserer Gegner kennen.«

»Was wir nicht kennen, kann uns auch nichts anhaben«, warf

Phoebe ein.

»Schön wär's.« Piper ließ die Hände wieder in den Schoß fallen.

Ihre Unterlippe zuckte verräterisch angesichts des ganzen nutzlosen
Materials, das sie in den letzten Stunden gesichtet und durchgearbeitet
hatten. »Ich weiß nicht mehr, wo ich noch suchen soll.«

»Ich muss das alles sowieso bald wieder zurück bringen.« Leo sah

auf seine Armbanduhr. »Dort, wo ich sie her habe, geht schon bald die
Sonne auf.«

Phoebe taxierte die alten Schriftrollen, Bücher und Manuskripte,

die sich Leo aus den Museen und Universitäten der ganzen Welt
»ausgeliehen« hatte. Offensichtlich kümmerte sein Diebstahl die
Höheren Mächte nicht, so lange er die Sachen wieder an Ort und
Stelle zurück brachte.

»Und hier ist es fast Mitternacht«, sagte Paige beklommen. »Ich

hoffe, Stanley hat es zurück zum Obdachlosenheim geschafft.«

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»Wer ist Stanley?« Phoebe spülte eine weitere Ladung Popcorn mit

einem Schluck Mineralwasser herunter. Rasch überflog sie die Liste
auf ihrem Computerbildschirm und die Notizen auf ihrem
Erinnerungszettel. Sie wusste, diese Aufzeichnungen enthielten alles,
was nötig war, um die Nacht zu überstehen.

»Ein netter alter Herr, der darauf zählt, dass ich mich um ihn

kümmere.« Paige lächelte traurig. »Wenn ich meinen Job richtig
gemacht hätte, hätte er jetzt schon ein Zimmer im Hawthorne Hill-
Altersheim und müsste nicht mehr im Obdachlosenheim
unterkriechen.«

»Du hast noch nichts wegen deines Antrags gehört?«, fragte Leo.

»Nein, aber ich habe ihn ja auch erst vor wenigen Tagen gestellt.«

Paige rollte ein altes Pergament zusammen und gab es wieder an Leo
zurück.

»Bist du darin fündig geworden?«, fragte Piper. Anstelle der

Tränen, die ihr nahezu ununterbrochen übers Gesicht liefen, warf sie
Paige nun einen hoffnungsvollen Blick aus rot geränderten Augen zu.

»Nicht wirklich.« Paige unterdrückte ein Gähnen. »Der einzige

Hinweis, den ich auf Auseinandersetzungen zwischen frühzeitlichen
Clans finden konnte, lautet ›Aufhebung‹, aber das war's auch schon.«

»Was wir bereits wissen, ist, dass die Dor'chacht Ereignisse außer

Kraft setzen wollen, die dreitausend Jahre zurück liegen.« Piper stand
auf und rieb sich die Arme. »Wir wissen nur nicht, wie wir sie daran
hindern können.«

Angetrieben von einem nagenden Gedanken, den sie nicht zu

fassen vermochte, nahm Phoebe den kleinen Spriralnotizblock zur
Hand.

»Dann wollen wir hoffen, dass uns eine spontane Eingebung zur

Hilfe kommt, denn es ist fast so weit.« Paige deutete viel sagend auf
die alte Wanduhr.

»Komm schon, Piper –« Nachdrücklich schlug sich Piper mit der

flachen Hand gegen die Stirn. »Denk nach!«

»Glaubst du, du kannst dir die Lösung unseres Problems aus dem

Kopf prügeln?«, fragte Paige.

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»Vielleicht«, überlegte Piper. »Was einmal in ein Dor'chacht-

Artefakt hineingelangt ist, muss doch auch wieder hinaus können,
richtig?«

»Ich hab hier einen Spruch, der eine Flöte umkehrt«, rief Phoebe

und hielt ihren kleinen Notizblock in die Höhe. »Können wir den
gebrauchen?«

Noch bevor Piper antworten konnte, begannen die Wände des

Wohnzimmers zu zucken und zu flimmern.

Eilig verstaute Phoebe ihre Aufzeichnungen in der Hosentasche

und sprang vom Sofa auf. Sie wollte nach Pipers Hand greifen, doch
die Schwester stand schon inmitten eines wirbelnden Strudels – das
Werk einer mächtigen, unsichtbaren Kraft.

»Leo!« Pipers Stimme hallte dumpf in Phoebes Ohren wider, als

ob sich die Schwester am Grunde eines tiefen Brunnens befand.

»Oh-oh.« Paiges Augen weiteten sich vor Schreck, als der Sog nun

auch sie erfasste.

»Paige! Piper!«, schrie Phoebe angsterfüllt, während sie ebenfalls

in eine schwarze Nebelwolke eingehüllt wurde. Die Kraft, die sie mit
sich zerrte, war so gewaltig, dass ihr Magen für einen Moment
rebellierte. Als sie durch einen schier endlosen Tunnel aus Licht und
Schatten trieb, schloss sie die Augen und versuchte, nicht in Panik zu
geraten. Eine vage alte Erinnerung in ihr brach sich Bahn und
beruhigte sie schließlich auf seltsame Weise.

Sie war eine der Zauberhaften, eine der drei mächtigsten Hexen

der Welt. Sie hatte Schlimmeres erlebt als diese überirdischen Kräfte,
die sie nun im Griff hatten.

Der Gedanke fiel so schnell von ihr ab, wie er gekommen war, als

der Strudel sie plötzlich wieder freigab. Phoebe wurde förmlich
ausgespuckt auf einer riesigen bleiernen Ebene, auf der hier und da
Steintürme und verdorrte Baumskelette zu erkennen waren. Der fahle
Schein eines Vollmondes tauchte die unheimliche Landschaft in ein
unwirkliches grünliches Licht, während krachende Blitze die
bedrohlich tiefe, rötliche Wolkendecke über ihr zerrissen.

Während sich Phoebe aufrappelte und den Staub von ihrer Jeans

klopfte, fragte sie sich, ob sie womöglich geradewegs zur Hölle
gefahren war.

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Paige landete hart auf Händen und Knien. Scharfe Steine schnitten

ihr in die Finger, und in ihrem Kopf drehte sich alles nach der
turbulenten Reise. Instinktiv kroch sie hinter einen nahe gelegenen
Felsen, um wieder zur Besinnung zu kommen.

Ihre Augen benötigten einige Sekunden, um sich an das dämmrige

Zwielicht zu gewöhnen, in das die trostlose Landschaft um sie herum
getaucht war.

Wenige Meter von ihr entfernt kam Phoebe wieder auf die Beine.

Direkt neben ihr erhob sich Piper strauchelnd vom Boden und
massierte sich den Arm. Offensichtlich hatte sie sich auf dem Weg ins
Tal der Ewigkeit verletzt.

Der Name des alten Schlachtfeldes ist wirklich passend, dachte

Paige, als sie sich umsah. Das archaische Terrain sah aus, als ob es
seit Ewigkeiten den Naturgewalten ausgesetzt worden war. Tot und
bedrohlich zugleich.

Diese Erkenntnis hob ihre Laune nicht gerade. Im Gegensatz zu

der unerschütterlichen Fassade, hinter der sie sich in den letzten
Stunden verschanzt hatte, fühlte sich Paige in Wahrheit hilflos und
verletzlich, seit sie einen großen Teil ihrer Kräfte eingebüßt hatte.
Betrachtete man Shen'archs Fähigkeit, die Elemente wie auch Zeit und
Raum seinem Willen zu unterwerfen, so waren die dem Reich der
Finsternis angehörenden Dor'chacht-Krieger nicht zu unterschätzende
Gegner, selbst wenn die Zauberhaften noch über all ihre Magie
verfügt hätten.

»Und genau das ist nicht der Fall«, murmelte Paige. Sie lehnte sich

gegen einen Felsen und schloss die Augen. Die Schlafsucht, die
eingesetzt hatte, nachdem Kevin sie zum ersten Mal mit seinem
Gehstock berührte, schien hierum einiges schwerer zu wiegen.
Bedingungslose Kapitulation schien ihr angesichts totaler
Erschöpfung im Verbund mit totaler Hoffnungslosigkeit der einzig
vernünftige Weg.

»Wenn ich nicht eine Super-Hexe wäre, die den Ruf ihrer Familie

und ihre Ehre zu verteidigen hätte.« Paige schlug die Augen auf. Sie
lockerte ihre schweren Glieder, kämpfte die Müdigkeit nieder und
gesellte sich zu ihren Schwestern. Zusammen würden sie sich allem
stellen, was immer die bösen Ks ihnen in den Weg stellen würden.

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Obwohl, so dachte sie, als die Dor'chacht-Champions gerade aus

einem tiefschwarzen Portal heraus traten, mit einem solchen
Schrecken habe ich nicht gerechnet.

»Wer zum Teufel ist das?«, fragte Piper furchtsam und drängte

sich näher an Phoebe heran.

»Der Oberguru der schrecklichen Drei?«, gab Phoebe zurück.

»Stanley«, entfuhr es in diesem Moment Paige. Fassungslos starrte

sie den alten Herumtreiber und seine Dor'chacht-Eskorte an.

Stanley war barfuß. Sein altes Hemd hing schlaff über der

zerknitterten fadenscheinigen Hose. Er wirkte, als ob ihn die Krieger
der Finsternis direkt von seiner Pritsche im Obdachlosenheim hierher
befördert hatten. Mit einem Ausdruck panischen Entsetzens wich der
Alte einige Schritte hinter seine Entführer zurück.

Kevin, Karen und Kate indes waren allein aufgrund ihres blonden

Haares und ihrer blauen Augen als die drei Ks wiederzuerkennen.
Irgendwann auf dem Weg vom San Francisco des 21. Jahrhunderts
zum zeitlosen Schlachtfeld hatte das bösartige Trio seine
ursprüngliche Gestalt angenommen. Designer-Jeans, Nobel-Labels
und Markenschuhe waren Tierfellen, groben Wollumhängen,
Eisenrüstungen und ledernen Fußlappen gewichen, von denen ein
durchdringender Gestank nach Schweiß und Blut ausging.

Paige verstand sofort, warum der arme Stanley hier war. »Sie

haben einen Unschuldigen hierher gebracht, um uns abzulenken, weil
sie wissen, dass wir ihn beschützen müssen, selbst wenn wir uns damit
in Gefahr begeben.«

»Es hat also nicht gereicht, uns unsere Kräfte zu stehlen«, stellte

Piper bitter fest. »Das ist schon bemerkenswert, findet ihr nicht?«

Paige war ganz ihrer Meinung. Waren die Halliwell-Nachfahren

der Sol'agath am Ende so mächtig, dass die Dor'chacht sie selbst dann
noch fürchteten, wenn sie fast ihrer ganzen Magie beraubt waren?
Diese Frage war womöglich interessant, doch die Rettung Stanleys
hatte jetzt Vorrang.

»Kevin weiß ganz genau, wie sehr mir das Wohl dieses alten

Mannes am Herzen liegt.« Einen Anflug von Schuldgefühlen
unterdrückend, sah sie zu Stanley und seinen barbarischen Entführern
hinüber. Sie wusste, sie durfte sich keine Skrupel leisten. Alles, was

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ihr Selbstvertrauen und ihre innere Stärke erschüttern konnte,
vermochte ihren Tod nach sich zu ziehen. »Am ersten Abend unseres
gemeinsamen Einsatzes im Obdachlosenheim habe ich Kevin viel von
Stanley erzählt.«

»Dieser Versuch einer Erklärung ist nichts als ein weiteres Zeichen

deiner Hilflosigkeit, Paige«, schnarrte Kevin und versetzte dem alten
Mann einen Stoß.

Stanley fiel zu Boden und hob seine Arme über den Kopf, wie um

sich vor dem erbarmungslosen Magier zu schützen, als der sich der
einstige »Freund« der Obdachlosen entpuppt hatte.

»Soll es uns eigentlich beeindrucken, dass ihr es nötig habt, einen

alten Mann ins Feld zu führen?« Phoebe stemmte ihre Hände in die
Hüften. »In diesem Fall habe ich Neuigkeiten für euch: Das tut es
keineswegs.«

Angesichts der Tatsache, dass Phoebe nicht wusste, was hier

gespielt wurde und warum, konnte Paige ihre Forschheit nur
bewundern.

»Für diese Frechheit wirst du bezahlen, Sol'agath-Hexe«, zischte

die Frau an Kevins rechter Seite. Als sie sprach, entblößten ihre
Lippen schwarze, teilweise abgebrochene Zähne.

Paige erkannte Karen an ihrer Flöte wieder, die mit Lederbändern

an ihrem Gürtel befestigt war. Das wirre blonde Haar wurde mit
einem Fellband zurückgehalten, in das kleine Objekte aus Stein und
Holz eingearbeitet waren. Zahlreiche Lederschnüre, auf die Stein- und
Holzperlen aufgereiht waren, schmückten ihren Schild und ihre
kniehohen Fellstiefel.

»Nicht, wenn ein kussfrischer Mund hier etwas zählt«, sagte Piper.

»Du wagst es, mich zu beleidigen!«, rief Karen aufgebracht. Ihr

Kopf ruckte hin und her, und sie machte Anstalten, auf Piper
loszustürmen, doch Kevin hielt sie zurück. »Geduld, Sh'tara.«

»Wir haben uns lange genug in Geduld geübt!«, ließ sich nun Kate

zu seiner Linken vernehmen. In ihr hüftlanges Haar waren Ranken
und Schlangenhäute eingeflochten.

Plötzlich hob Kevin ein Schwert und einen Stock mit silberner

Spitze – offensichtlich das antike Gegenstück zu seinem Gehstock – in

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die Höhe. »Ich, Tov'reh, gelobe, mein Leben, mein Blut und meine
Kräfte zu geben für die Rache an den Sol'agath!«

Paige fröstelte unter dem eiskalten Blick seiner Augen. Als sie

sprach, zitterte ihre Stimme, doch ihr Pflichtbewusstsein war
unerschüttert. Wenn sie Kevin ablenken konnte, war es vielleicht
möglich, Stanley sicher aus der Schusslinie zu bringen.

»Ist das nicht ein wenig arg melodramatisch, Kevin oder Tov'reh,

oder wie auch immer du heißen magst?«, fragte sie spöttisch. Sie
wackelte übertrieben mit dem Kopf – eine unmissverständliche
Parodie auf die erboste Karen/Sh'tara. Sie wusste, verärgerte
Zeitgenossen und hoffnungsvolle Magier reagierten oft zu impulsiv,
was zu Fehleinschätzungen und falschen Schachzügen führen konnte.

»Du wagst es, dich über uns lustig zu machen?« Kochend vor Wut

ließ Kevin sein Schwert wieder sinken.

Paige hielt seinem hasserfüllten Blick stand.

»Ich bin Ce'kahn, die Herrin der Stürme!«, platzte nun Kate

dazwischen. Ihr schweres Armband funkelte im Zwielicht, als sie eine
Faust in die Höhe reckte. Dann ließ sie den Arm wieder sinken und
presste das Schmuckstück gegen die Stirn, während ihre kraftvolle
Stimme das Tal der Ewigkeit erfüllte: »Guh-sheen toh dak!«

»Ach du liebe Güte«, murmelte Phoebe.

Instinktiv hob Piper eine Hand, um Kate daran zu hindern, ihre

Magie einzusetzen. Doch die Bewegungen der drei Dor'chacht-
Krieger und ihrer Geisel wurden nur verlangsamt und nicht
eingefroren.

Wie in Zeitlupe richtete Kevin sein Schwert gegen den alten Mann,

der vor ihm im Dreck kauerte.

Doch diese wenigen Sekunden waren alles, was Paige brauchte.

Hastig sprang sie vor und ergriff Stanleys Hand, wodurch sie den
Effekt von Pipers Magie wieder aufhob. »Ich bin's, Mr. Addison –
Paige. Kommen Sie mit. Sofort!«

Stanleys Augen waren vor Angst geweitet, als er einen zaghaften

Blick über seine Schulter riskierte. Plötzlich erschien ein erleichtertes
Lächeln auf seinem faltigen Gesicht, als er die junge Frau

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wiedererkannte. »Hallo, Paige. Mann, ich hab 'nen echt schlimmen
Traum.«

»Ich weiß.« Paige lächelte zurück. Dann zerrte sie den alten Mann

auf die Beine, während sie aus einem Augenwinkel Kate beobachtete.
»Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage, Mr. Addison, und alles wird
wieder gut.«

»Okay«, erwiderte Stanley. Er ergriff Paiges Hand und sah auch

nicht zurück, während er hinter ihr herschlurfte.

Als der Zeitlupeneffekt nachließ, schüttelte Kevin sein Schwert

und brüllte wie ein Stier – offensichtlich außer sich vor Zorn, dass
Pipers unzulängliche Kräfte ihn überrumpelt hatten. Und Paige
wusste, schon bald würde seine Wut abgelöst werden von seiner
unerbittlichen Rache. Schon bald würde jeder aus dem Sol'agath-Clan
wie auch deren Schutzbefohlene für diesen Eingriff in den Lauf der
Dinge bezahlen, dessen Fortgang er allein zu bestimmen vorgehabt
hatte.

Paige warf einen Blick zurück, während sie Stanley hinter den

Felsen schob, der schon ihr selbst als Zuflucht gedient hatte.

Plötzlich glühte Kates Armreif wie Feuer und entlud dann einen

roten Blitz, der sich zu einem Netz aus reiner magischer Energie
ausdehnte. Das feurige Geflecht legte sich sodann Funken sprühend
über Ce'kahn und erstarb langsam, bis die Zauberin ihre sämtliche
Magie wieder in sich aufgenommen hatte.

»Bleiben Sie hier, bis ich zurück komme, Mr. Addison«, flüsterte

Paige. »Und egal, was passiert, halten Sie den Kopf unten, okay?«

Stanley nickte, dann runzelte er die Stirn. »Was, wenn ich

aufwache?«

»Dann sind Sie in Sicherheit.« Sie schenkte ihm ein weiteres

zuversichtliches Lächeln, bevor sie ihn verließ.

In diesem Moment wurde ohrenbetäubender Donner laut, und

Paige spürte, wie ihr Herz heftig gegen die Rippen pochte. Die
Elementarkräfte der Dor'chacht-Zauberin Ce'kahn waren denen sehr
ähnlich, die Paige selbst besessen hatte, als sie noch Schwarzmagierin
gewesen war. Wenn Leo Recht hatte, würde sie diese Fähigkeiten
irgendwann wieder besitzen, nur eben nicht jetzt.

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Was sehr bedauerlich ist, dachte sie, denn ein wohl platziertes

Erdbeben würde unsere momentanen Probleme auf einen Schlag aus
der Welt schaffen. Stattdessen musste sie sich auf ihre Findigkeit und
das verbliebene Viertel ihrer Orb-Fähigkeit verlassen, um den Gegner
zu vernichten.

»Guh-sheen toh dak!«, wiederholte Karen die

Beschwörungsformel, die vor ihr schon Kate ausgesprochen hatte, um
die lang gebannten Kräfte der Dor'chacht aus den magischen
Gegenständen zu befreien. Dann ließ sie ihren Schild zu Boden fallen
und hob die Flöte an die Lippen – doch sie spielte nicht darauf.
Stattdessen inhalierte sie die darin eingeschlossene Magie in Form
von kleinen Feuerstößen aus dem Mundstück des Instruments.

Wie sie so auf dem unheiligen Boden des Tals der Ewigkeit stand

und die drei wilden Schwarzmagier aus längst vergangener Zeit
beobachtete, verabschiedete sich Paige im Geiste von Kevin, Kate und
Karen. Diese drei Gestalten vor ihr hatten nichts mehr gemein mit
ihren modernen Inkarnationen, und in dem Moment, da ihre Kräfte
wiederhergestellt worden waren, waren sie mit Leib und Seele zu
Sh'tara, Ce'kahn und Tov'reh geworden.

Ce'kahn zeichnete eine gezackte Linie in die Luft, die heftige Böen

hervorrief, um die Zauberhaften zu peinigen.

»Und jetzt?«, fragte Piper ihre Schwestern und hielt sich mit

beiden Händen die im Wind flatternden Haare aus dem Gesicht. Auf
ihrem linken Arm prangte ein dunkelroter Fleck – das Ergebnis des
Sturzes, den sie bei ihrer Ankunft im Tal hingelegt hatte.

Phoebe zuckte die Achseln. »Woher soll ich das wissen?«

»Wenn wir nicht schnellstens was unternehmen«, murmelte Piper,

»ist es irgendwann zu spät dazu.«

»Wir haben irgendwas übersehen«, sagte Paige plötzlich, als

Tov'reh seinen Knorrenstab erhob. »Ich weiß es genau, aber ich
komme einfach nicht drauf.«

»Irgendeinen Hinweis?«, fragte Phoebe.

»Erzähl es mir«, drang plötzlich Sh'taras Stimme an Paiges Ohr.

Erschrocken fuhr sie herum und begegnete dabei dem stechenden
Blick der Zauberin, der sich direkt in ihren Geist hineinzufressen
schien.

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»Raus aus meinem Kopf«, schrie Paige. »Aufhören!« Wie

wahnsinnig schlug sie sich gegen den Kopf, um Sh'taras mentalen
Zugriff auf ihre Gedanken zu unterbinden. Die Vergewaltigung ihres
Hirns fühlte sich an, als ob tausend heiße Nadeln in dessen
Windungen herumstocherten. Und dann war es plötzlich vorbei.

»Sieh mich an, Phoebe!«, befahl Sh'tara.

Verwirrt und betäubt beobachtete Paige, wie Phoebe den

forschenden Blick von Sh'tara trotzig erwiderte.

Plötzlich hielt sich die Schwester mit beiden Händen den Kopf

fest. »Was?«, keuchte sie.

Als die Zauberin in ihren Gedanken herumzuwühlen begann, fiel

Phoebe auf die Knie und jammerte leise.

Paige erkannte, dass Sh'tara sich den Zugang in ihre Köpfe per

Augenkontakt verschaffte. Doch bevor sie eine Warnung herausgeben
konnte, hatte sich Piper schon zu der Zauberin herumgedreht.

»Lass sie in Ruhe«, schrie sie und wollte Sh'tara zurückstoßen.

Doch in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, taumelte Piper nach
hinten und schrie auf.

Gelassen beobachtete Tov'reh, wie sich Piper unter Sh'taras

Gedankenangriff wand. Dies verschaffte Paige ein paar zusätzliche
Sekunden zum Nachdenken, bevor der Magier auf die Idee kam, sich
seine eigenen Kräfte zurückzuholen. Sie hatte keinen Zweifel daran,
dass die Fähigkeit Tov'rehs, die Gestalt der Dinge nach Belieben zu
verändern, ebenso verheerend war wie Ce'kahns Stürme oder Sh'taras
Gedankenraub.

Sie wusste, es gab einen Weg, die drei Krieger zu besiegen, doch

der alles entscheidende Einfall tollte in ihrem Kopf herum wie ein
verspieltes Hündchen, das sich auf keinen Fall schnappen lassen
wollte.

»Sie sind machtlos.« Sh'taras Grabesstimme triefte vor

Verachtung, als sie ihre Erkenntnisse an Ce'kahn und Tov'reh
weitergab. »Außer einer Warnung, die ihnen ermöglichte, uns zu
identifizieren, haben diese Hexen in ihrem Buch der Schatten nichts
gefunden, das ihnen helfen könnte. Kein Spruch, kein Zauber, kein
Trank wird uns vernichten können.«

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»Hat Shen'arch auch das arrangiert?«, fragte Piper mit

tränenerstickter Stimme.

Und da wurde Paige klar: Hätten wir etwas Brauchbares im Buch

der Schatten gefunden, würde Sh'tara es jetzt wissen!

Etwas, das Phoebe vor kurzem gesagt hatte, kam ihr wieder in den

Sinn: Was wir nicht kennen, kann uns auch nichts anhaben. Sh'tara
konnte nichts in Erfahrung bringen, was sie nicht wussten und diese
Ahnungslosigkeit hatte sie vor der bösen Gedankenleserin geschützt.
Die Erkenntnis traf Paige wie ein Blitz. Doch sie konnte Piper
unmöglich daran teilhaben lassen, ohne die Dor'chacht auf sich
aufmerksam zu machen.

»Wer sind diese Leute?«, fragte Phoebe plötzlich.

»Wir sind dein schlimmster Albtraum«, sagte Ce'kahn.

»Wohl kaum«, witzelte Phoebe. »Andererseits«, mit angewidertem

Gesicht deutete sie auf den Haarschmuck der Zauberin, »bin ich kein
wirklicher Fan von Schlangen.«

»Ich mag Schlangen.« Phoebes Beleidigung schien für Kevin das

Stichwort zum Handeln. Er ließ das Schwert zu Boden sinken und
ergriff den Knorrenstab mit beiden Händen. Dann berührte er mit
dessen silberner Spitze seine Stirn.

Paige verlor wieder einmal einen Kampf gegen die übermächtige

Müdigkeit. Sie schloss die Augen und hoffte, ihre letzte Eingebung
würde jetzt nicht in Orpheus' Armen auf der Strecke bleiben.

»Guh-sheen toh dak!« Der Beschwörungszauber, der Kevins

Wandlung zu Tov'reh abschließen würde, riss sie aus ihrem
Dämmerzustand und hallte von den rauen Felswänden wider, die das
Tal umschlossen.

Paige zwang sich, hinzusehen, als sternförmige rote Magieblitze

aus dem silbernen Endstück des Stabes eruptierten. Und dann
erinnerte sie sich an etwas, was sie Piper in Halliwell Manor hatte
sagen hören: Was einmal in ein Dor'chacht-Artefakt hineingelangt ist,
muss doch auch wieder hinaus können?

Wenn die Dor'chacht ihre Kräfte wieder zurück bekommen

können, dachte Paige, dann muss es auch für uns einen solchen Weg
geben.

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Ce'kahn hob ihre Arme, als ob sie den Himmel umarmen wollte:

Dunkle Mächte der Luft und der Nacht,
der Erzfeind wird nun fallen –
und dreitausend Jahre sind ungeschehen gemacht!

In der Ferne erklang Donnergrollen, und launenhafte Blitze

brannten willkürlich Pfade in die Weiten der schmutzig grauen Ebene.

Plötzlich fiel Paige noch etwas Weiteres ein: In der Vergangenheit

war es stets so gewesen, dass die Schwestern immer ein geeignetes
Hilfsmittel aufgetrieben hatten – Tränke, Sprüche, Zauber und
dergleichen –, das es ihnen ermöglichte, im Kampf gegen das Böse zu
bestehen. Es erschien ihr daher überaus widersinnig, dass
ausgerechnet in diesem alles entscheidenden Konflikt, der das
Schicksal der Welt so nachhaltig bestimmen sollte, ihnen die Hände
gebunden sein sollten.

»Dein Sturm mag vielleicht einst die mächtigsten Sol'agath-Magier

verwirrt haben, Ce'kahn, aber er scheint mir gänzlich verschwendet an
diese fortschrittlichen, wenn auch schwachen Geister.« Sh'tara richtete
ihre brennenden Pupillen auf Paige.

Sieh ihr nicht in die Augen! Rasch wandte Paige den Blick ab und

starrte in Richtung eines riesigen Berges am dunklen Horizont.

»Wen nennt ihr schwach?«, verlangte Phoebe zu wissen.

»Das wirst du sein, wenn ich mit dir fertig bin«, fauchte Sh'tara.

»Unwiderruflich und vollständig – und befreit von jeglichen

Gedanken.«

»Also ich hab damit kein Problem«, meldete sich nun Piper zu

Wort. »Wenn wir schwach im Geiste sind, kann uns ja nichts mehr
erschrecken. Also bitte, Sh'tara, tu uns den Gefallen und nimm uns
unseren freien Willen wie auch den Verstand. Und das am besten
sofort.«

Paige brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass Piper hier die

»Fuchs und Hase«-Strategie versuchte. Einer alten Fabel nach hatte
einst der gewitzte Hase den Fuchs angefleht, ihn doch bitte nicht in
das nahe gelegene Wäldchen zu werfen. Der gemeine Fuchs indes
konnte sich diese Schandtat natürlich nicht verkneifen und tat am

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Ende genau dies: In hohem Bogen schleuderte er den Hasen in den
Hain, aus dem der pfiffige Meister Lampe prompt das Weite suchte.

»Den Teufel werd ich tun«, sagte Sh'tara dann auch wie erwartet.

»Ich quäle euch lieber so lange wie möglich.«

»Das würde ich auch machen.« Tov'reh stieß scharf die Luft aus,

als er den letzten karmesinroten Magiefunken in sich aufgenommen
hatte. »Fangen wir doch am besten mit Schlangen an.«

»Große, hungrige Schlangen.« Ce'kahn deutete gebieterisch auf

eine riesige Eiche. Sogleich fuhr ein Blitz aus den dunklen Wolken in
die blattlose Krone und pflanzte sich über den mächtigen Stamm bis
in die dicken Wurzeln fort, wo er in einem Funkenregen explodierte
und den Baum zu Fall brachte.

Paige, die noch immer den Augenkontakt mit der Gedanken-

Gebieterin mied, suchte sich im Geiste verzweifelt an die rettende
Information heranzuarbeiten, von der sie wusste, dass sie sie
irgendwo, irgendwann in ihrem Kopf abgespeichert hatte. Fieberhaft
versuchte sie alles Gesagte und Gelesene der letzten Tage noch einmal
Revue passieren zu lassen.

Der einzige Hinweis, den ich auf Auseinandersetzungen zwischen

frühzeitlichen Clans finden konnte, lautet »Aufhebung«.

Gegen einen weiteren Anflug von bleierner Müdigkeit

ankämpfend, wiegte sich Paige hin und her. Da fühlte sie Pipers Hand
auf ihrem Arm, die sie daran hindern wollte, einfach umzufallen.

»Ich glaube, wir sind in Schwierigkeiten«, sagte Phoebe.

»Insbesondere, wenn man unter einer Schlangenphobie leidet«,

keuchte Piper.

die Kämpfer für die Tugend müssen das »Licht der vergangenen

Zeiten« verteidigen oder sie sind für immer verloren …

Paige zwang sich, die Augen offen zu halten. Noch immer unter

dem Eindruck des tobenden Sturms und Sh'taras schmerzhaften
Gedankenzugriffs hatte sie große Schwierigkeiten, die Fäden ihrer
Erinnerung zu entwirren.

was hineingeht, muss wieder hinaus gelangen können

Aufhebung – müssen das Licht der vergangenen Zeiten verteidigen
Sie war sicher, das alles hatte etwas zu bedeuten.

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»Schlange!«, rief in diesem Moment Tov'reh in Richtung des

gefällten Baumes. Die toten Zweige schrumpften, während sich der
Stamm in eine riesige blaugrüne Schlange verwandelte. Das
gigantische Reptil kroch sofort auf Stanley zu, der hinter dem Felsen
kauerte wie ein Fötus.

»Ich denke, sie will einen Snack«, bemerkte Ce'kahn. Dann hob sie

den Arm und entfachte eine Sturmbö, die den schützenden Stein in
eine nahe gelegene Schlucht katapultierte.

Der alte Mann krümmte sich noch mehr zusammen, unfähig, auch

nur das Geringste zu tun.

»Das könnte ihr so passen!« Paige streckte ihre Hand in dem

Moment aus, als das Reptil sein riesiges Maul öffnete, um Stanley
einfach zu verschlingen. »Schlange!«

»Nein, Paige!«, schrie Piper. Schon schossen ihre Hände vor, um

die Kreatur zu verlangsamen.

Paige kam einen Schritt näher, während die Bewegungen der

Schlange jetzt in Zeitlupe abliefen. Nachdem ihre eingeschränkte Orb-
Fähigkeit mit einigen kostbaren Sekunden Verzögerung ablief, hatte
Pipers Notbremse den armen Stanley vor einem wahrlich grauenhaften
Tod bewahrt.

Während sich das fette Reptil endlich in unzählige

Molekularteilchen auflöste, wusste Paige nicht, ob es nach dem
Transport nun falsch oder korrekt zusammengesetzt wurde, um in
letzterem Fall dann sie statt Stanley zu verschlingen.

Als sich vor ihren Augen die geifernden Reißzähne der

Riesenschlange zusammensetzten, begriff Paige mit einem Mal, dass
mit dem »Licht der vergangenen Zeiten«, jener Zeile aus dem Gedicht
im Buch der Schatten, nur der alte Mann gemeint sein konnte.

Stanley Addisons liebenswerte, vertrauensvolle Seele war das

Licht seiner eigenen Vergangenheit und stand hier stellvertretend für
all die Unschuldigen, die die Nachfahren der Sol'agath in den letzten
dreitausend Jahren beschützt und gerettet hatten!

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11

P

HOEBE WURDE ZEUGIN,

wie Paige die riesige Schlange in

einen riesigen Blitz verwandelte. Sie verabscheute Reptilien, aber
dieses Monster war schlimmer als alles, wovor sie sich seit
Kindertagen gefürchtet hatte. Tatsächlich hatte sie für einen Moment
den Verdacht, einen schlimmen Albtraum zu durchleben.

Piper streckte ihre Hand aus, bereit, die Schlange einzufrieren,

sobald sie an einem anderen Ort wieder materialisierte. »Untersteh
dich, meine Schwester zu fressen, Schlange!«

»Welche Schwester?« Phoebe erschrak und trat einige Schritte

zurück, um einen Ast aufzuheben, der von der Eiche herabgefallen
war, bevor der Baum sich in einen fetten Lindwurm verwandelt hatte.
Es fiel ihr unsagbar schwer, das ganze Schauspiel auch nur halbwegs
richtig einzuschätzen, aber eines wusste sie ganz sicher. Sollte das
Monster versuchen, sie zu verschlingen, würde dies nicht ohne Kampf
vonstatten gehen.

»Diese Schwester!« Piper zeigte auf Paige und ächzte. »Ach, egal

…«

Erleichtert, aber nicht minder verwirrt umfasste Phoebe den Ast

mit beiden Händen wie einen Kampfstab und atmete tief durch. Paige
hatte die Schlange erfolgreich von dem alten Mann fortgeorbt, der
sich vorhin hinter einem Felsen versteckt hatte. Das Mindeste, was sie
selbst tun konnte, war, die Bestie nun mit allen Kräften
zurückzuschlagen.

»Du bist eine Närrin, Hexe!«, rief der Mann, der einmal Kevin

genannt wurde und nun Tov'reh hieß.

Phoebe konnte ein Lachen nicht unterdrücken, als die unzähligen

Materiepartikel der Schlange direkt vor Paige wieder Gestalt
annehmen wollten. Sie blieb auf ihrem Posten, als Piper mit den
Fingern schnippte, um das Monster und die drei Typen erneut
einzufrieren, die irgendwie aussahen wie Nebendarsteller aus einem
Conan-Film.

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»Warum hast du das gemacht?« Paige warf ihrer Schwester einen

vorwurfsvollen Blick zu. »Das Vieh wird sich in seine Bestandteile
auflösen, bevor das Orben abgeschlossen ist!«

Noch bevor Piper antworten konnte, bewegten sich die drei

Barbaren und das sich materialisierende Reptil plötzlich wieder in
normaler Geschwindigkeit.

»Nun machst du mich aber wirklich böse, Piper«, sagte die wilde

Frau namens Sh'tara und entblößte ihre Zähne.

»Du siehst mich ehrlich betroffen.« Pipers Stimme triefte vor

Sarkasmus, als sie das archaische Trio und die Schlange mit einem
weiteren Verlangsamungszauber lahm legte.

»Ich glaube, ich weiß, wie wir unsere Kräfte zurück kriegen

können«, raunte Paige ihr zu in dem Versuch, so viel Information wie
möglich innerhalb weniger Sekunden an die Frau zu bringen.
»Vermeide es aber unbedingt, Sh'tara fortan in die Augen zu sehen.
Auf diese Weise liest sie unsere Gedanken.«

»Bist du sicher?«, fragte Piper.

»Ganz sicher«, keuchte Paige und wich entsetzt zurück, als die

Schlange wieder in Bewegung kam. Doch nur eine Sekunde später
explodierte das Monster in einem Regen aus Holzspänen und war
gleich darauf nur noch der Baum, aus dessen Materie es einst
entstanden war.

»Nein!«, schrie Tov'reh.

»Es funktioniert«, bemerkte Piper nickend.

»Yeah!« entfuhr es Phoebe.

»Womit wir nun zu euch kämen«, sagte Paige und deutete in die

Richtung der drei Dor'chacht-Krieger. »So Leid es mir tut«, fügte sie
säuerlich lächelnd hinzu.

Es tut ihr keineswegs Leid, dachte Phoebe, als sie in das

wutverzerrte Gesicht des muskulösen Mannes blickte.

Schon schulterte Tov'reh seinen Stab wie einen Speer – das

silberne Ende war auf Paige gerichtet. »Dir wird das Lachen noch
vergehen, wenn du erst all deine Kräfte verloren hast!«

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»Piper!«, schrie Paige, als Tov'reh den Stab in ihre Richtung warf.

Die Schwester reagierte sofort, und die Silberspitze des hölzernen
Geschosses kam nur wenige Zentimeter vor Paiges Kehle zum Stehen.

»Okay, und jetzt?«, fragte Piper und ließ die Hände wieder sinken.

»Wir haben nicht viel Zeit.«

»Ich brauche nicht viel Zeit«, murmelte Paige und duckte sich

unter dem in der Luft hängenden Stab hinweg. Schon einen
Herzschlag später kam wieder Bewegung in den Schwarzmagier, und
im gleichen Moment lähmte Piper das Trio erneut.

»Kann ich ihnen eins überziehen?«, fragte Phoebe, die es satt hatte,

tatenlos am Rande des Geschehens auszuharren.

»Erst wenn ich meine Kräfte zurück habe.« Paige trat an den noch

immer frei schwebenden Stab heran und sank vor ihm auf die Knie.
Die silberne Spitze zeigte nun geradewegs auf ihre Stirn.
»Vorausgesetzt, es funktioniert.«

Als Pipers Zeitlupenzauber erneut von den Dor'chacht abfiel, warf

Ce'kahn den Kopf zurück und rief: »Feuer und –«

Da preschte Phoebe vor und versetzte der Frau mit ihrem Ast einen

heftigen Schlag.

»Wenn was funktioniert?«, fragte Piper und bremste das Trio ein

drittes Mal aus, sodass Paige ihre Frage beantworten konnte.

Quälend langsam fiel Ce'kahn nach vorn – die Züge erstarrt in

einer Mischung aus Bestürzung und Schmerz.

»Nicht schlecht«, meinte Phoebe grinsend.

»Diese alte Aufzeichnung, die ich heute über frühzeitliche Clans

und ›Aufhebung‹ gefunden hatte, bezog sich nicht etwa darauf, wie
man diese Familienfehde wieder aufhebt«, erklärte Paige schnell. »Ich
vermute, sie war vielmehr ein versteckter Hinweis darauf, wie man
den Kräftediebstahl aufhebt.«

In diesem Moment kam wieder Leben in Tov'reh, und er brüllte

vor Wut über Pipers Impertinenz und den Kampfeswillen der in seinen
Augen doch so hilflosen Hexen.

Rasch presste Paige ihre Stirn gegen die silberne Spitze des Stabes.

»Guh-sheen toh dak!«

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Als Tov'reh begriff, was geschah, stürmte er vor und versuchte,

den Stab an sich zu reißen. Paige hielt dagegen, aber die Wucht seines
Angriffs in Verbindung mit der kosmischen Prämisse, dass das
Kräfteverhältnis stets ausgeglichen zu sein hat, hatte zur Folge, dass
das stumpfe Ende des Steckens den Zauberer am Hals streifte und
tausend kleine rote Blitze, die seinem Körper entwichen, knisternd in
den Stab zurückflossen.

In diesem Moment wurde Paige in eine Wolke aus zartblauem

Licht eingehüllt.

»Was geht hier vor, Piper?«, fragte Phoebe, während sie Ce'kahn,

die sich gerade wieder aufgerappelt hatte, mit dem Ast erneut vor den
Kopf schlug. Die Schwarzmagierin strauchelte gegen Sh'tara, wodurch
sie die Gedanken-Gebieterin zu Fall brachte.

»Keine Zeit für Erklärungen!« Piper sah sich gehetzt um. »Hole

Kates Armreif! Schnell!«

»Wessen Armreif?« Phoebe konnte den Blick nicht von Paige

losreißen. Deren schwarzes Haar stand so zu Berge, als ob jede
Strähne erfüllt war mit statischer Energie. Ihr ganzer Körper erbebte,
als blaue Blitze in ihre fast transparente Hülle eindrangen.

»Ich liebe Feuerwerke!« In einiger Entfernung saß der alte Mann

im Schneidersitz am Boden und klatschte lachend in die Hände.

»Ce'kahn«, schrie Piper in diesem Moment. »Hinter dir, Phoebe!«

Alarmiert wirbelte Phoebe herum, doch Ce'kahn hatte schon ihre

Beine umfasst und riss sie zu Boden. Sie fühlte, wie beim Sturz
sämtliche Luft aus ihren Lungen gepresst wurde und der Ast unter ihr
zerbrach. Verwirrt und atemlos konnte Phoebe es nur hilflos
geschehen lassen, dass die Zauberin sich jetzt einfach auf ihre Brust
schwang.

»Das Armband!« Piper belegte Ce'kahn und auch Sh'tara mit einem

Verlangsamungszauber, denn Letztere war gerade im Begriff
gewesen, sich wieder aufzurappeln.

Phoebe bewegte ruckartig den Kopf, wie um ihre Benommenheit

abzuschütteln. Das Atmen fiel ihr schwer, denn auf ihrem Brustkorb
hockte eine Frau, die sich wie in Zeitlupe bewegte. Aus einem
Augenwinkel sah sie Paige, die einem blauäugigen Gesellen, der
aussah wie Attila der Hunnenkönig, einen Holzstab entwandt.

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Piper rannte auf sie zu, aber eine andere, ebenfalls ziemlich

abgerissene Frau packte die Schwester von hinten und legte ihr eine
Hand auf den Mund.

Ein stoischer alter Mann ohne Schuhe beobachtete unterdessen das

bizarre Schauspiel mit einem amüsierten Grinsen auf dem Gesicht.

Phoebe hatte nicht die geringste Ahnung, warum sie hier hilflos auf

dem Rücken lag, in einen Purpurhimmel starrte und von Leuten
angegriffen wurde, die aussahen wie die Akteure eines Rollenspiels.
Doch bis irgendjemand die Zeit fand, ihr all das zu erklären, konnte es
für sie nur eines geben: Kämpfen!

»Geh mir aus den Augen, Tov'reh!« Mit einer fast majestätischen

Geste orbte Paige den Schwarzmagier in einen Hain aus
Dornenbüschen. Lässig lehnte sie sich auf den Stab mit der
Silberspitze und grinste triumphierend. »Wer ist nun der Narr?«

In diesem Moment wurde Phoebes Aufmerksamkeit wieder auf

ihre eigene, wenig erfreuliche Situation gelenkt, da die Wirkung von
Pipers Verlangsamungszauber plötzlich aufgehoben war.

»Du wirst mir nicht entkommen, Phoebe«, zischte die Frau, die ihr

auf der Brust saß, und packte sie an der Gurgel. »Ich bin Ce'kahn!
Schick mir Feuer!«

»Das Armband, Phoebe!«, gellte da Pipers Stimme über das

Schlachtfeld, die sich soeben aus dem Griff der anderen Frau befreit
hatte. Doch ihre Worte verhallten im Wind. »Nimm ihren Armreif!«,
schrie sie erneut.

»Armreif?«, fragte Phoebe und erkannte im gleichen Moment, dass

eine Antwort nicht mehr relevant sein würde, wenn der riesige
Feuerball, der da auf sie hinabsauste, sein Ziel nicht verfehlte.

Piper war klar, dass Phoebe keine Ahnung hatte, was hier ablief

und warum. Doch dank Paiges Scharfsinn glaubte sie zu wissen, wie
Phoebe ihre Kräfte und ihr Erinnerungsvermögen zurückerlangen
konnte.

»Sofern sie vorher nicht zu einem Häufchen Asche verbrannt ist«,

murmelte sie, als sie Ce'kahns Feuerbombe erblickte. Automatisch
streckte sie ihre Hand nach dem herabsausenden Geschoss aus, doch

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nichts passierte. Offensichtlich, so erkannte sie mit Schrecken, hatte
sie ihre Fähigkeit in den letzten Minuten überstrapaziert und bis auf
weiteres verbraucht.

»Feuer!«, rief in diesem Moment Paige und orbte die

Flammenrakete in Richtung Sh'tara.

»Regen!«, setzte Ce'kahn dagegen. Und so wurde Sh'tara nicht

geröstet, sondern nur von einem enormen Wasserguss bis auf die
Knochen durchnässt.

Nachdem ihr Verlangsamungszauber vorerst erschöpft war, besann

sich Piper einiger konventioneller, nichtmagischer Taktiken. Ermutigt
durch Paiges Einsatz gegen Tov'reh stürmte sie zu Phoebe und rief:
»Pack ihren Arm!«

Phoebe zögerte nicht. Das stundenlange Training mit Cole im

Keller von Halliwell Manor hatte sie gestählt und ihre Reflexe
geschult. Blitzschnell hatte sie beide Handgelenke von Ce'kahn
umklammert, während sich ihre Beine gleichzeitig um den Oberkörper
der Zauberin schlangen. Ein kraftvoller Stoß, gefolgt von einem
schwungvollen Dreh, und nur einen Augenblick später hatte Phoebe
die Frau auf den Rücken geworfen und mit einem Knie zu Boden
gedrückt.

Piper staunte nicht schlecht, als sie sah, wie effektiv sich

menschliche Kraft gegen die Magie der Dor'chacht einsetzen ließ.
Phoebes Klammerattacke war fast so gut wie ihr Freeze, wenn er denn
funktionierte.

Sie kniete neben Phoebe nieder, um nach Ce'kahns Armband zu

greifen. »Kannst du deinen Kopf senken, ohne sie aus dem Griff zu
entlassen?«, fragte sie die Schwester.

»Kein Problem«, gab Phoebe zurück. Sie ließ den Arm mit dem

Reif los und packte Ce'kahn stattdessen an der Kehle, während sie das
zweite Handgelenk der Zauberin nach wie vor fest umklammert hielt.

Gerade als Piper Ce'kahns freien Arm mit beiden Händen packen

wollte, verkrallten sich die scharfen Fingernägel der Zauberin in ihrer
Schulter. Als die Gedanken-Gebieterin sie herumreißen wollte,
verstärkte Piper ihren Griff und schloss die Augen. »Schau sie auf
keinen Fall an!«, warnte sie Phoebe.

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»Sh'tara!«, erscholl in diesem Moment Paiges Stimme. Schon löste

sich die Herrin über Feuer und Eis in einer Partikelwolke auf, bevor
Paige sie gegen einen Felsen schleuderte.

»Kopf runter, Phoebe!« Fest presste Piper das Handgelenk mit dem

Armreif der Zauberin gegen die Stirn ihrer Schwester. Ce'kahn wehrte
sich wie eine Wahnsinnige, doch Piper ließ nicht locker. »Sprich mir
diese Worte nach, Phoebe!«, forderte sie ihre jüngere Schwester auf.
»Guh-sheen to dak!«

»Guh-sheen to dak!« Phoebe sog scharf die Luft ein, als eine

Kaskade blauer Blitze aus den Armband schoss und sie in eine Wolke
aus kaltem Licht einhüllte.

Ce'kahn schrie wie am Spieß, während gleichzeitig rote

Energieströme aus ihrem Mund, ihrer Nase und ihren Augen quollen
und zurück in den Armreif strömten.

Die Kräfteübertragung dauerte nicht länger als eine halbe Minute.

Das Geheul des Windes verebbte, der Donner verstummte, die
zuckenden Blitze erloschen und zurück blieb allein das fahle
Mondlicht, das den wolkenlosen grauen Himmel schwach erhellte.

Doch so rasch wollte Ce'kahn nicht aufgeben. Als Phoebe von der

Brust der Zauberin rutschte und sich erheben wollte, sprang die
Dor'chacht-Kriegerin in die Hocke. Außer sich vor Hass und Wut ließ
sie ihre Hände wie Klauen hervorschießen und hackte nach Phoebes
Gesicht. Dabei rutschte ihr der Armreif vom Handgelenk und fiel in
den Dreck. Sofort schnappte sich Phoebe das alte Schmuckstück und
sprang auf.

Mit einem Aufschrei brach Ce'kahn zusammen – besiegt und ihrer

Magie beraubt.

Tov'reh, der sich inzwischen aus dem Dornengestrüpp hatte

befreien können, stand taumelnd da. In seinem zerschundenen Gesicht
spiegelte sich die soeben erlittene Niederlage wider.

Tov'reh und Ce'kahn waren ihrer Magie beraubt worden, während

Paige und Phoebes Kräfte wieder ganz hergestellt schienen. Piper
zweifelte keine Sekunde mehr daran, dass die Zauberhaften nun das
gesetzwidrige »Rückspiel« gegen die Dor'chacht gewinnen würden.
Allerdings fragte sie sich jetzt, ob und wie sie ihre eigenen
Fähigkeiten zurückerlangen würde.

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Sie vermied es, Sh'tara anzusehen, als diese sich nach Paiges

Angriff wieder aufrappelte. Piper vermutete, die Zauberin konnte sie
in den Wahnsinn treiben, falls es ihr gelang, sich der Gedanken ihrer
Erzfeinde zu bemächtigen, doch sie verspürte wenig Lust, diese
Annahme näher zu überprüfen.

»Du magst vielleicht diesen Kampf gewonnen haben, Sol'a-gath-

Hexe, aber der Preis für den Sieg wird hoch sein.« Als sie dies sagte,
verzog sich Sh'taras Mund zu einem grausamen Lächeln. Langsam
zog sie ihre Flöte aus dem Gürtel.

Ein Anflug von Panik erschütterte Piper bis ins Mark, und ihr

Magen krampfte sich zusammen. Ihr wurde bewusst, dass die Magie
der Gedanken-Gebieterin noch nicht neutralisiert war. Wenn sie die
letzte Person gewesen war, die dieses Instrument berührt hatte, konnte
es sein, dass dessen Musik sie nun ins emotionale Chaos stürzen
würde.

Paige ergriff Pipers Hand und rief: »Flöte!«

Als das Instrument in der Hand ihrer Schwester wieder

materialisierte, sagte Piper: »Ich bezweifle, dass ich meine Kräfte
wiederbekomme oder Sh'taras Magie banne, indem ich die Flöte
einfach berühre.«

»Warum nicht?«, fragte Paige stirnrunzelnd. Sie orbte die

Gedanken-Gebieterin ein Stück von sich, damit diese keinen Einfluss
auf die Flöte nehmen konnte, während sie sich mit Piper beriet.
Genauer gesagt platzierte sie Sh'tara direkt neben dem blindwütigen
Tov'reh. Und obwohl der junge Schwarzmagier aus unzähligen
kleinen Wunden blutete und schwer angeschlagen schien, preschte er
plötzlich kreischend nach vorne.

Paige orbte ihn kurzerhand zurück in den Dornenhain. Unter

anderen Umständen hätte Piper die Ironie dieser Aktion gewiss
amüsiert, doch die Sorge um ihr eigenes Schicksal war einfach zu
groß.

»Wir drei können Sh'tara doch locker überwältigen, so in der Art,

wie ihr es bei Ce'kahn gemacht habt.« Paige grinste. »Wir müssen nur
höllisch aufpassen, dass sie uns nicht mit ihren babyblauen Äuglein
außer Gefecht setzt.«

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Piper wünschte, es wäre so einfach. Sie sah, wie Phoebe auf sie

zukam, das Notizbuch in der Hand. Sie beschloss zu warten, bis die
Schwester bei ihnen war, bevor sie Paiges Plan auseinander nahm.

»Und wenn du deine Kräfte wiederhast«, fuhr Paige fort, »kannst

du den Kräften der Dor'chacht den Garaus machen, indem du das
Armband, den Stab und die Flöte zum Teufel schickst. Und das war's
dann gewesen.«

»Und es würde auch funktionieren, wenn –«, Piper hielt einen

Moment lang inne, »ja, wenn Karen meine Kräfte nicht gestohlen
hätte, als sie die Flöte spielte, nachdem ich dieses verdammte Ding
berührt hatte.«

»Verdammt!«, entfuhr es Paige. »Ich hatte total vergessen, dass sie

damit den Magieraub manifestiert hat.«

»Und wir werden sie wohl kaum dazu überreden können, die Flöte

noch einmal zu spielen, um das Ganze wieder aufzuheben.«
Schluchzend schlug sich Piper eine Hand vor den Mund. Doch
diesmal resultierte ihre Trauer nicht aus Sh'taras Musikverzauberung –
der Schmerz über den drohenden endgültigen Verlust ihrer Magie war
echt.

Sie erinnerte sich daran, dass sie in den letzten Jahren gelegentlich

ihre Kräfte und die Bürde, eine der Zauberhaften zu sein, verflucht
hatte. Und dennoch war sie nicht bereit, all dies aufzugeben, noch
nicht einmal um den Preis ihres alten Lebens. Aber nun ihre Kräfte zu
verlieren, nach allem, was sie in den letzten Tagen durchmachen
mussten, und nachdem sie die Dor'chacht am Ende besiegt und die
Menschheit vor dem größtmöglichen Unheil bewahrt hatten, erschien
ihr wie ein grausamer Scherz des Schicksals.

»Wir können Sh'tara nicht zwingen zu spielen«, sagte Paige, »aber

vielleicht können wir die Flöte dazu bringen, von selbst zu spielen.«

Piper sah ihre Halbschwester zweifelnd an. Sie wagte kaum zu

hoffen, dass dieser Plan auch nur den Hauch einer Chance in sich
barg. »Ist dein Erinnerungsvermögen wiederhergestellt, Phoebe?«

»Hinsichtlich dieser Familienfehde im Tal der Ewigkeit? Yep!«

Phoebe nickte. »Offensichtlich kam mein upgedatetes Gedächtnis mit
meinen Kräften zusammen zurück.«

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»Hey!« Paige blinzelte erstaunt. »Und ich bin auch nicht mehr

müde!«

»Ich auch nicht«, ließ sich nun Stanley vernehmen. »Bin ich etwa

aufgewacht?«

»O nein!«, japste Piper. »Schlimm genug, dass ich für den Rest

meines Lebens eine Hexe ohne Zauberkräfte sein werde, aber ich
könnte es nicht ertragen, daneben auch noch als nervigste Heulsuse
aller Zeiten in die Geschichte einzugehen.«

»So weit müssen wir es nicht kommen lassen.« Phoebe hielt ihren

Notizblock in die Höhe. »Seid ihr bereit, für einen Macht der Drei-
Spruch?«

Paige warf Piper einen verstohlenen Blick zu. »Sicher«, sagte sie

dann, »aber das Buch der Schatten sprach davon, dass es keinen
Spruch gibt, der die Dor'chacht vernichten könnte.«

»Wer redet denn von vernichten?« Phoebe grinste. »Ich weiß nicht

mehr genau wann, aber in einer der letzten Stunden muss ich die
geniale Idee gehabt haben, einen Spruch niederzuschreiben, der die
Flöte von selbst spielen lässt. Offensichtlich hatte ich es meinen
Laptop-Notizen zu verdanken, dass ich ihn nicht sofort wieder
vergaß.«

»So ein Glück!«, rief Paige begeistert.

»Vor allem ein Glück, dass ich mich zwischenzeitlich nicht daran

erinnern konnte«, sagte Phoebe, »sonst wäre mir nämlich Sh'tara mit
ihrer Gedankenwühlerei auf die Schliche gekommen.«

»Das muss gestern Abend gewesen sein, Phoebe«, überlegte Piper.

»Du hattest etwas von einem Spruch erwähnt, kurz bevor wir aus dem
Wohnzimmer hierher entführt wurden. Du sagtest, du hättest eine
Idee, und ich Idiot hab mich nicht weiter darum gekümmert.«

Auch Paige machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich dachte, du

hättest einfach schon wieder vergessen, dass es keinen
Vernichtungszauber gegen die Dor'chacht-Krieger gibt.« Sie sah
Phoebe entschuldigend an. »Daher wollte ich dich nicht entmutigen,
weil du uns doch offensichtlich trotz deines Gedächtnisverlustes
helfen wolltest …«

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In diesem Moment setzte sich Sh'tara wieder in Bewegung und

näherte sich ihnen auf dem zerklüfteten Terrain.

»Also, wie gehen wir vor?«, fragte Paige.

»Losstürmen, angreifen, Spruch aufsagen«, stieß Piper hervor.

»Und nachdem die Hälfte meiner Kräfte noch in der Flöte steckt,
bleibt zu hoffen, dass die Macht der Zweieinhalb ausreicht.«

»Seid ihr bereit?« Paige umfasste die Flöte mit eisernem Griff.

Phoebe klemmte sich ihren kleinen Notizblock zwischen die

Zähne.

»Allzeit bereit.« Piper straffte sich, als Paige ihre freie Hand

ausstreckte und Sh'taras Namen rief. Eine Sekunde später war die
verblüffte Zauberin schon zu ihnen hingeorbt, und die drei Schwestern
hatten sie zu Boden geworfen, noch bevor sie vollständig
materialisiert hatte.

»Lehn dich ein Stück vor, Piper!« Paige hatte ein wenig Mühe, das

Ende der Flöte an der Stirn der sich heftig wehrenden Frau zu
platzieren, während das Mundstück Pipers Kopf berühren musste.
Schließlich war es geschafft. »Sag die Worte!«

»Guh-sheen to dak!«, intonierte Piper laut und klar.

Sogleich entströmte Sh'taras Mund ein prasselnder roter

Funkenschweif reinster Energie und floss geradewegs in die Flöte
hinein.

Während sie Sh'tara mit einer Hand zu Boden presste, nahm

Phoebe mit der anderen das bereits an der rechten Stelle
aufgeschlagene Notizbuch und hielt es so, dass ihre beiden
Schwestern den Spruch ebenfalls lesen konnten. Als sie die Worte
aufzusagen begann, fielen Paige und Piper sogleich mit ein.

Gibst heute Freude, morgen Leid,
heb an das Lied, das die Kräfte befreit.
Wie gewonnen, so sei nun zerronnen,
und aufgehoben, was von böser Hand ward begonnen.

Als die ersten sanften Töne der Flöte die Stille erfüllten, die sich

über das Tal der Ewigkeit gelegt hatte, wurde Piper von einer blau
glühenden Aureole eingehüllt. Die Melodie besaß den merkwürdig
atonalen Charakter eines Stückes, das rückwärts gespielt wurde. Piper

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spürte, wie sich die Trauer von ihrer Seele hob und die Magie zurück
in ihren Körper strömte.

Sie musste kurz auflachen, während die bizarre Tonfolge von den

Felswänden widerhallte, und fühlte eine große Erleichterung, als das
Instrument schließlich verstummte.

»Das war ein hübsches Lied.« Stanley war herbeigeschlurft.

»Mach dich bereit, Piper«, rief Paige und warf die Flöte hoch in die

Luft. »Test! Ein, zwei –«

Bei »drei« schossen Pipers Hände vor.

Der hölzerne Korpus des Instruments erzitterte unter der Wucht der

Molekularbeschleunigung. Piper lachte, als sich der verfluchte
Gegenstand in einem Schauer aus Sägespänen auflöste.

»Ja!« Phoebe ließ Sh'tara los und reckte triumphierend ihren

Daumen in die Höhe.

Wie im Rausch wandte sich Piper nun Tov'rehs Stab und Ce'kahns

Armband zu und zerlegte auch sie mitsamt der in ihnen gefangenen
bösen Magie in ihre Bestandteile.

In diesem Moment erschienen die Geister der anderen Dor'chacht-

Krieger und -Zauberer auf dem urzeitlichen Schlachtfeld. Hunderte
und aberhunderte Mitglieder des alten Clans – ihrem dreitausend Jahre
währenden Exil irgendwo in Zeit und Raum entrissen – zogen an
ihnen vorbei auf ihrem letzten Weg in die Unterwelt.

»Bist du auch auf dem Weg ins Heim an der Fünften Straße?«,

fragte Stanley einen Greis mit langem, weißen Haar, der soeben vor
ihnen Gestalt angenommen hatte.

»Shen'arch!«, rief Sh'tara und fiel auf die Knie. Ehrerbietig senkte

sie ihr Haupt vor dem alten Erzmagier. »Es ist alles verloren.«

»Hoh kann vri-dot?« Shen'archs stechende Augen waren auf die

Zauberhaften gerichtet.

Piper hielt seinem hasserfüllten Blick stand und hatte nicht die

Absicht, sich von dem einst mächtigen Zauberer einschüchtern zu
lassen. Es war offensichtlich, dass der Magier zutiefst enttäuscht und
verärgert war von dem Versagen seiner dunklen Krieger.

»Sie waren zu stark«, erklärte Sh'tara mit heiserer Stimme.

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»Und zu clever«, ergänzte Paige.

Phoebe nickte. »Und zu einfallsreich.«

Piper lächelte. Shen'archs ausgeklügelter Plan, die Sol'agath doch

noch zu besiegen, war beileibe nicht schlecht gewesen, doch all seine
Power und seine Verschlagenheit hatten gegen die Macht der Drei
letztlich nichts auszurichten vermocht.

Erst in diesem Augenblick schien Shen'arch sich seiner

endgültigen Niederlage bewusst zu werden. Auf Händen und Knien
kroch Tov'reh aus dem Dornengestrüpp. Ce'kahn kam auf die Beine
und schlug um sich, als ob sie einen imaginären Bienenschwarm
abwehren wollte. Und dann begannen der Erzmagier und seine drei
Auserwählten sich zu verändern.

Schilde und Schwerter fielen scheppernd zu Boden, und der ganze

Dor'chacht-Clan schrie gequält auf wie ein Mann, als die Magie des
dunklen Stammes sich verflüchtigte wie ein übler Geruch.
Gleichzeitig wandelte sich das wilde, barbarische Erscheinungsbild
der drei Krieger der Finsternis und ihres Anführers in etwas absolut
Groteskes. Langes blondes und weißes Haupthaar wurde zu grauem,
verfilzten Fell, und muskulöse, hoch gewachsene Körper schrumpften
zu missgestalteten gnomenhaften Leibern. Blaue Augen fielen ein zu
tiefschwarzen, leblosen Punkten in runzligen, ledernen Fratzen.

Rasch zog Piper den armen Stanley und ihre Schwestern ein Stück

zurück in Sicherheit, weil sich plötzlich raunend ein gähnender
Schlund im felsigen Untergrund auftat und die Karikaturen des
Dor'chacht-Trios einfach verschlang.

Das Raunen schwoll an zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen, als

der schwarze Abgrund größer wurde und den Rest des unheiligen
Clans in einem gigantischen Strudel in die namenlose Tiefe zog.
Schließlich erstarb der monströse Whirlpool mit einem Zischen und
einem fast erleichterten letzten Seufzer.

Zurück in der einsamen, totenstillen Öde blieben drei äußerst

verblüffte Hexen und der ihnen anvertraute Unschuldige.

Und dann verschwand der bleiche Mond am Horizont und wich

einem wunderschönen Sonnenaufgang.

»Ist das unser Ticket nach Hause?«, fragte Paige, als direkt vor

ihnen ein Bündel aus goldenen Strahlen auf die verdorrte Erde fiel.

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Sanft zog sie Stanley, der offensichtlich gerade zu einem Spaziergang
aufbrechen wollte, an einem Hemdzipfel wieder zu sich heran.

»Finden wir's heraus!«, erwiderte Phoebe und schlang ihre Arme

um die Gruppe.

»Haltet euch gut fest!«, rief Piper.

»Alles klar«, meinte Stanley.

Dann explodierte das Licht um sie herum in allen

Regenbogenfarben und trug das Quartett mit sich fort.

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12

W

ENN MAN EINMAL von den prächtigen Spektralfarben

absah, unterschied sich der Ritt auf dem Lichtstrahl nicht wesentlich
von dem schwarzen Tornado, der sie ins Tal der Ewigkeit befördert
hatte.

Als sie aus dem Zeit-Raum-Portal zurück ins Halliwellsche

Wohnzimmer geschleudert wurde, fühlte sich Piper wie nach einer
Fahrt in einem Express-Aufzug.

»Seid ihr alle in Ordnung?«, fragte Paige und zählte die

Anwesenden durch.

Stanley hob den Kopf. »Jetzt schlafe ich nicht mehr, stimmt's?«

»Nein, Mr. Addison, Sie sind wieder wach«, erwiderte Paige und

ließ seinen Hemdzipfel los.

»Ich brauch ein Nickerchen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ließ

sich der alte Mann aufs Sofa sinken. Eine Sekunde später schnarchte
er schon zufrieden und leise.

In diesem Moment stürmten Leo und Cole aus der Küche. »Gott

sei Dank, ihr seid zurück!«

»Und du ebenfalls.« Phoebe schenkte Cole ein warmes Lächeln.

»Und? Hast du was gefangen?«

»Nein.« Cole umarmte sie und hielt sie dann ein Stück von sich.

»Und du?«

»Nur Stanley.« Phoebe deutete auf den alten Mann. »Die

Dor'chacht haben ihn entführt. Vermutlich erhofften sie sich einen
weiteren Vorteil für sich, wenn sie uns während des Gefechts auch
noch die Rettung eines Unschuldigen aufzwingen.«

»Offensichtlich ist die Rechnung nicht aufgegangen.« Zärtlich

legte Leo einen Arm um Piper und drückte sie fest an sich.

»Nein«, bemerkte Piper grinsend. »Und uns unsere Kräfte zu

stehlen hat ihnen genauso wenig geholfen.«

»Geht es Stanley gut?«, fragte Leo und sah besorgt in Richtung

Sofa.

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»Ja, ja …« Stirnrunzelnd beugte sich Paige über den schlafenden

Stanley und sah dann zu den Anderen auf. »Ich denke, wir müssen uns
darüber, was er erlebt hat, keine Sorgen machen.«

»Was genau hat er denn mitgekriegt?« Auf Leos Stirn wurden die

Sorgenfalten noch tiefer.

»Eine Menge«, erklärte Paige. »Aber er ist nicht wirklich …

glaubwürdig. Ich meine, wenn er plötzlich anfängt, von Bäumen, die
sich in Schlangen verwandeln, und einem alles verschlingenden
Abgrund zu brabbeln, wer würde ihm glauben?«

»Bäume, die sich in Schlangen verwandeln?« Cole zog Phoebe

wieder an sich. »Das klingt unheimlich.«

»Das war es auch«, bemerkte Piper, »aber wir haben auch das in

den Griff gekriegt, trotz eingeschränkter Kräfte.«

»Eines ist klar«, sagte Leo und umfasste Piper erneut, »ihr seid

hier, die Sonne geht auf, der Rat der Ältesten hat nicht Alarm
geschlagen und ich habe Hunger. Ich sage euch, es fordert das Letzte
von einem Mann, die ganze Nacht in Sorge auszuharren.«

Piper knuffte ihn spielerisch. »Ich könnte einen Doughnut

vertragen.«

»Ich besorge uns welche!« Cole hielt seine Autoschlüssel in die

Höhe.

Phoebe nahm sie ihm aus der Hand. »Warte, bis ich mich

umgezogen habe, dann fahre ich mit dir. Nach fünf langen einsamen
Tagen lasse ich dich auf keinen Fall allein wieder fort.«

»Und was ist am Ende mit Kevin, Karen und Kate geschehen?«,

wollte Leo wissen.

»Auch bekannt als Tov'reh, Sh'tara und Ce'kahn.« Piper drückte

Leo auf die Sitzfläche eines Sessels hinunter und schwang sich auf
seinen Schoß. Erschöpft legte sie ihren Kopf an seine Schulter.

»Habt ihr sie vernichtet?«, fragte Cole.

»Das konnten wir nicht«, sagte Phoebe. »Das Buch der Schatten

hatte Recht. Es existiert kein Zauberspruch oder sonstige Magie, um
die Dor'chacht zu besiegen.«

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»Bitte sagt jetzt nicht, dass sie schon wieder davongekommen

sind?«, entfuhr es Cole. »Eine Menge hochrangiger Dämonen waren
nämlich ziemlich sauer, dass Shen'arch den Lauf des Schicksals
manipuliert hat.«

»Seit wann empören sich Dämonen über falsches Spiel und

gebrochene Regeln?«, fragte Leo.

»Weil es in diesem besonderen Zusammenhang einen ziemlich

üblen Präzedenzfall gegeben hätte«, erklärte Cole. »Das Böse nährt
sich von den Qualen derer, die in seinem Namen verlieren. Die
Dor'chacht haben für ihre Niederlage nicht gelitten, weil sie im Schutz
der Zeit bis zum Tage jener unverdienten Revanche einfach nur
ausgeharrt haben. Keiner dort unten wollte, dass sie gewinnen.«

»Das haben sie auch nicht.« Paige ließ sich ebenfalls in einem

Sessel nieder. Sie verkniff es sich zu bemerken, dass Cole, wäre er
nicht zum Angeln gefahren, ihnen eine Menge Zeit und Ärger hätte
ersparen können. Immerhin war Phoebes Verlobter ein Exdämon und
daher eine unschätzbare Quelle für Tratsch und handfeste
Informationen aus dem Reich des Bösen.

»Die Dor'chacht sind endlich da, wo sie hingehören: in der

Unterwelt.« Phoebe grinste.

»Und Gilbert auch«, wusste Leo zu berichten.

»Wir sind also wieder gremlinfrei?« Mit erstauntem Gesicht setzte

sich Piper auf seinem Schoß auf. »Wie hast du das nur geschafft?«

Leos Wangen verfärbten sich ein wenig rötlich, als er sagte: »Ich,

ähm, hab einfach im ganzen Haus für eine Stunde das Wasser
abgedreht, und da ist er, ähm, verschwunden.«

»Einfach so?« Paige konnte kaum glauben, dass sie tagelang

gezwungen gewesen waren, die Launen des schleimigen, verfressenen
Gremlins zu erdulden, wo sie lediglich das Wasser hätten abstellen
müssen.

»Einfach so«, bestätigte Leo lächelnd.

»Wie bist du denn schließlich diesem rostigen Haupthahn zu Leibe

gerückt?«, fragte Piper.

»Ich hab ihm geholfen«, warf Cole ein. »Nach einer Woche in der

freien Natur war ich ziemlich verwildert, als ich nach Hause kam. Und

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ich hatte wenig Lust, zusammen mit unserem ungebetenen Gast zu
duschen.«

»Das verstehe ich nur zu gut«, bemerkte Paige. Eingedenk ihrer

eigenen Badefreuden in Gesellschaft des schleimigen Gremlins sah sie
Leo vorwurfsvoll an.

Doch Leo hatte noch mehr gute Nachrichten in petto. »Mr. Cowan

hat vor fünfzehn Minuten hier angerufen, Paige. Doug hatte sich
Sorgen gemacht, weil er Stanley seit gestern Abend nicht mehr
gesehen hatte.«

»Okay, ich rufe gleich im Obdachlosenheim an und lasse Doug

wissen, dass alles in Ordnung ist.« Paige seufzte. Sie fühlte sich
körperlich wie seelisch völlig ausgelaugt. Ihre ehrenamtliche Arbeit
im Anschluss an ihren Job, der Stress der letzten Tage nebst dem
Verlust ihrer magischen Fähigkeiten, der Kampf im Tal der Ewigkeit
und nicht zuletzt die Angst um Stanley hatten sie an den Rand der
totalen Erschöpfung getrieben.

»Nun«, Leo lächelte, »das war nicht der einzige Grund für Mr.

Cowans Anruf. Er wollte dich außerdem darüber informieren, dass das
Hawthorne Hill-Heim Stanleys Aufnahme zugestimmt hat. Er kann
gleich morgen dort einziehen.«

»Wirklich?« Paige sprang auf und umarmte Leo voller Freude.

Sie vermutete, Stanley war noch immer zu erschöpft, um sie

überhaupt hören zu können. Doch Paige kniete trotzdem neben dem
Sofa nieder, in der Absicht, ihm die gute Nachricht mitzuteilen.
»Stellen Sie sich vor, Mr. Addison! Sie werden endlich ein neues
Zimmer mit Ihrem eigenen Bett und einer Dusche bekommen. Dazu
drei Mahlzeiten täglich! Ist das nicht wundervoll?«

Stanley drehte sich zu ihr um und öffnete die Augen. »Träume ich

etwa schon wieder?«, murmelte er.

»Nein, Mr. Addison. Diesmal ist alles real.« Paiges Lächeln

erlosch, als sie den enttäuschten Gesichtsausdruck des alten Mannes
bemerkte. »Stimmt was nicht?«

»Nein, aber –« Stanley seufzte. »Ich möchte so gerne noch mal

zurück in diesen Traum, und zwar genau zu der Stelle, wo die Welt
diese kleinen, hässlichen Kreaturen verschlingt.«

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»Ja, die Szene fand ich auch klasse.« Paige nickte zustimmend. Zu

sehen, wie sich die Erde auftat, um kleine, hässliche Kreaturen zu
verschlingen, gehörte eindeutig zu den Highlights im Leben einer
Zauberhaften.

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