Silverberg, Robert Als Die Vergangenheit Verlorenging

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Robert Silverberg

Als die Vergangenheit verlorenging

Man sollte niemals vergessen, daß die Zivilisation das Produkt des
menschlichen drei-Pfund-Hirns ist, des am feinsten gegliederte Stücks
Masse, das wir kennen.
Angenommen, jemand ist gewissenlos genug, genau an diesem Punkt
anzusetzen und dort eine nachhaltige Störung zu bewirken...

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Der Tag, an dem ein asozialer Unhold eine amnesieerzeugende Droge in
die städtische Wasserversorgung kippte, war einer der schönsten, die San
Francisco seit langem erlebt hatte. Die feuchte Wolke, die drei Wochen
lang über allem geschwebt hatte, trieb an jenem Mittwoch endlich über die
Bucht nach Berkeley, und die Sonne kam strahlend und warm hervor und
bescherte der alten Stadt den bislang wärmsten Tag des Jahres 2003. Die
Temperatur stieg bis weit über zwanzig Grad, und selbst jene Alten, die es
nicht geschafft hatten, auf die Celsius-Skala umzulernen, merkten, daß es
heiß war. Vom Golden Gate bis zum Embarcadero summten die
Klimaanlagen. Pacific Gas & Electric, die Elektrizitätswerke, registrierten
zwischen zwei und drei Uhr nachmittags die höchste Belastung ihrer
Geschichte. Die Parks waren überfüllt. Die Leute tranken große Mengen
Wasser, einige erheblich mehr als andere. Gegen Abend begannen die
durstigsten von ihnen bereits, einzelne Dinge zu vergessen. Am nächsten
Morgen befanden sich sämt liche Einwohner der Stadt, mit wenigen
Ausnahmen, in Schwierigkeiten. Es war wirklich ein idealer Tag zum
Begehen eines monströsen Verbrechens gewesen.

Am Tag, bevor die Vergangenheit verschwand, hatte Paul Mueller

ernsthaft erwogen, den Staat zu verlassen und Schutz in einem der
Zufluchtsorte für Schuldner zu suchen – vielleicht in Reno oder Caracas.
Es war zwar nicht ausschließlich seine Schuld, aber er befand sich mit fast
einer Million in den roten Zahlen, und seine Gläubiger wurden langsam
unwillig. Es war bereits so weit gekommen, daß sie ihre Inkassoroboter
vorbei schickten, um ihn persönlich zu belästigen, und das etwa alle drei
Stunden.

“Mr. Mueller? Ich bin beauftragt, Sie davon zu unterrichten, daß auf

Ihrem Konto bei Modern Age Recreators, Inc. die Summe von
$ 8.005,97 überfällig sind. Wir haben uns an Ihren Finanzverwalter
gewandt und sind von Ihrer Zahlungsunfähigkeit unterrichtet, und falls bis
zum Elften dieses Monats nicht eine Zahlung von $ 395,61 eingeht,
könnten wir uns genötigt sehen, Beschlagnahmemaßnahmen gegenüber
Ihrer Person einzuleiten. Daher rate ich Ihnen –”

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“ – die Summe von $ 11.554,97, zahlbar am neunten August, 2002, ist

bisher bei Luna Tours, Ltd. nicht eingegangen. Wir haben nach dem
Kreditgesetz von 1995 gegen Sie Zwangsvoll streckung beantragt und
gehen davon aus, eine Verfügung uns zustehender persönlicher
Arbeitsleistung zu erwirken, falls wir keine Zahlung erhalten, und zwar bis
zum –”

“ – wie in Ihrem Vertrag festgelegt, werden auf den von Ihnen nicht

bezahlten Betrag Zinsen in Höhe von vier Prozent monatlich berechnet –”

“ – Säumniszuschläge werden jetzt fällig und erfordern die umgehende

Überweisung von –”

Mueller gewöhnte sich langsam an diesen Vorgang. Die Roboter

konnten ihn nicht anrufen – Pacific Tel & Tel, die Telefongesellschaft,
hatte ihn schon vor Monaten aus ihrem Datennetz ausgesperrt, also kamen
sie vorbei, diese höflichen, gesichtslosen Maschinen mit den aufgedruckten
Firmen emblemen, und teilten ihm mit sanft schnurrenden Stimmen präzise
mit, wie tief er in diesem Moment in der Tinte saß, wie schnell sich die
Mahngebühren ansammelten und was sie mit ihm vorhatten, wenn er nicht
augenblicklich seine Schulden beglich. Wenn er ihnen zu entkommen
versuchte, spürten sie ihn wie unermüdliche Gerichtsvollzieher einfach auf
der Straße auf und verkündeten der ganzen Stadt seine Schande. Also
versuchte er nicht, ihnen zu entkommen. Aber ihre Drohungen würden
wohl bald konkrete Gestalt annehmen.

Sie konnten ihm schreckliche Dinge antun. Die Verfügung persönlicher

Arbeitsleistung würde ihn zum Beispiel zum Skla ven machen, er würde
zum Angestellten seines Gläubigers werden, und zwar bei einem vom
Gericht zu bestimmenden Gehalt, aber jeder Cent, den er verdiente,
würde auf seine Schulden angerechnet, während sein Gläubiger ihn mit
einem Minimum an Nahrung, Unterkunft und Kleidung versorgte. Es
konnte ihm passieren, daß er gezwungen war, zwei oder drei Jahre lang
niederste Arbeiten zu verrichten, auf die selbst ein Roboter pfeifen würde,
nur

um

diese

eine

Schuld

zu

begleichen.

Persönliche

Beschlagnahmemaßnahmen waren noch schlimmer; bei einer solchen
Vereinbarung konnte es ihm pas sieren, daß er faktisch zum Bediensteten

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eines der leitenden Angestellten der Gläubigerfirma wurde, Schuhe putzen
und Hemden falten mußte. Man konnte ihn auch mit einem unbe grenzten
Beschlagnahmungsbefehl belegen, demzufolge er und seine Nachkommen,
falls vorhanden, über die Jahre einen bestimmten Prozentsatz ihres
jährlichen Einkommens zu zah len hätten, bis die Schulden samt den darauf
angesammelten Zinsen schließlich beglichen waren. Und es gab noch
andere Mittel, um mit Zahlungsunfähigen fertig zu werden.

Er hatte keine Möglichkeit, in Konkurs zu gehen. Die einzel nen Staaten

und die Bundesregierung hatten 1995 die Konkurs gesetze für ungültig
erklärt, nach der sogenannten Kreditepide mie der 80er Jahre, als es eine
Zeitlang tatsächlich Mode wurde, sich unwiderruflich zu verschulden und
sich dann auf Gnade oder Ungnade den Gerichten auszuliefern. Die
Zuflucht eines bequemen Konkursverfahrens existierte nicht mehr; wenn
man zahlungsunfähig wurde, hatten die Gläubiger einen in der Hand. Der
einzige Ausweg bestand darin, in ein Schuldnerpa radies zu fliehen, an
einen Ort, wo die dort geltenden Gesetze die Auslieferung wegen eines
Kreditvergehens untersagten. Es gab etwa ein Dutzend solcher
Zufluchtsorte, und man konnte dort bequem leben, vorausgesetzt, man
besaß irgendeine besondere Fertigkeit, die man teuer verkaufen konnte.
Es war notwendig, gut zu verdienen, denn in einer Schuldnerzuflucht gab
es alles nur gegen bar – und zwar im Voraus, selbst für einen Haarschnitt.
Mueller besaß eine Fertigkeit, von der er glaubte, sie werde ihn
durchbringen: Er war ein Künstler, Hersteller von Klangskulpturen, und
seine Arbeiten waren immer gefragt. Alles, was er brauchte, waren ein
paar tausend Dollar, um eine Grundausrüstung an Handwerkszeug anzu-
schaffen – sein letzter Satz Modelliergeräte war vor ein paar Wochen
gepfändet worden –, dann konnte er in einem der Zufluchtsorte, für die
Robotermeute unerreichbar, ein Studio einrichten. Er glaubte, er könne
immer noch einen Freund auftreiben, der ihm ein paar tausend Dollar
leihen werde. Um der Kunst willen, sozusagen. Für einen guten Zweck.

Falls er zehn Jahre lang ununterbrochen am Zufluchtsort blieb, würde

man ihm seine Schulden erlassen, und er konnte ihn als freier Mann wieder
verlassen. Die Sache hatte nur einen Haken, und der war nicht

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unbedeutend. Wenn jemand sich einmal in eine Zuflucht begeben hatte,
waren ihm sämtliche Kreditquellen ein für allemal versperrt, wenn er
wieder in die Welt draußen zurückkehrte. Er konnte nicht einmal mehr
eine Postkreditkarte bekommen, geschweige denn einen Bankkre dit.
Mueller war sich nicht sicher, ob er so überhaupt leben konnte, wenn er
den Rest seines Lebens alles bar bezahlen mußte. Es würde schrecklich
beschwerlich und unerfreulich sein. Schlimmer noch: Es wäre barbarisch.

Er machte einen Vermerk auf seinen Notizblock: Morgen früh Freddy

Munson anrufen und drei Riesen borgen. Ticket nach Caracas kaufen.
Modellierzeug kaufen.

Die Würfel waren gefallen - falls er sich nicht morgen noch anders

entschied.

Er spähte verdrießlich hinaus auf die Reihe gleißend weiß gestrichener,

kurz nach dem Erdbeben gebauter Häuser, die sich an der steil
abfallenden Straße den Telegraph Hill hinab in Richtung Fisherman's
Wharf erstreckten. Sie glitzerten im ungewohnten Sonnenlicht. Ein
wunderschöner Tag, dachte Mueller. Ein wunderschöner Tag, um sich in
der Bucht zu ertränken. Verdammt. Verdammt. Verdammt. Bald würde
er vierzig Jahre alt werden. Er war an dem gleichen schwarzen Tag in die
Welt getreten, an dem Präsident John F. Kennedy sie verlassen hatte. In
einer bösen Stunde geboren, zu einem düsteren Schicksal verdammt.
Mueller blickte finster drein. Er ging zum Hahn und holte sich ein Glas
Wasser. Das war das einzige, was er sich zur Zeit zu trinken leisten
konnte. Er fragte sich, wie er es jemals geschafft hatte, sich in solch einen
Schlamassel hineinzumanövrieren. Schulden von fast einer Million!

Trübsinnig legte er sich hin, um ein Nickerchen zu machen.
Als er gegen Mitternacht aufwachte, fühlte er sich besser, als er sich seit

langem gefühlt hatte. Es war, als sei eine große Wolke fortgezogen, genau
wie sie an jenem Tag von der Stadt fortgezogen war. Mueller war
tatsächlich fröhlicher Stimmung. Er hatte keine Ahnung, warum. In einem
eleganten Stadthaus am Marina Boulevard probte der Sagenhafte Montini
seine Nummer. Der Sagenhafte Montini war ein professioneller
Gedächtniskünstler: ein kleiner, schmucker Mann von sechzig Jahren, der

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niemals etwas ver gaß. Er war tief gebräunt, mit dunklem, exakt
zurückgekämm tem Haar, kleinen schwarzen Augen, die vor
Selbstbewußtsein glitzerten, und schmalem, wählerisch gespitztem Mund.
Er zog ein Buch aus einem Regal und ließ es wahllos aufklappen. Es war
eine einbändige Shakespeare-Ausgabe, ein geläufiges Requisit seiner
Nachtclub-Nummer. Er überflog die Seite, nickte, warf einen kurzen Blick
auf eine weitere Seite, dann auf eine dritte, und lächelte sein nach innen
gerichtetes Lächeln. Das Leben meinte es gut mit dem Sagenhaften
Montini. Auf Tournee verdiente er bequem $ 30,000 die Woche, indem
er eine ausgefallene Begabung in ein profitables Geschäft verwan delte.
Morgen abend würde er ein einwöchiges Gastspiel in Las Vegas eröffnen,
danach ging es weiter nach Manila, Tokio, Bangkok, Kairo. Und so
weiter um den ganzen Erdball. In zwölf Wochen würde er sein
Jahreseinkommen verdient haben; dann konnte er sich wieder ausruhen.

Es war alles so einfach. Er kannte so viele gute Tricks. Sollten sie doch

eine zwanzigstellige Zahl herausschreien; er würde sie ihnen umgehend
zurückschreien. Sollten sie ihn doch mit langen Serien bedeutungsloser
Silben bombardieren; er würde das Kauderwelsch fehlerlos wiederholen.
Sollten sie doch kom plizierte mathematische Formeln auf den
Computerschirm schreiben; er würde sie bis zu letzten Exponentialgröße
wieder geben. Sein Gedächtnis war perfekt, sowohl optisch als auch
akustisch, genau wie in den anderen Wahrnehmungsberei chen.

Die Shakespeare-Sache, eine seiner einfachsten Nummern, versetzte die

leicht zu beeindruckenden Teile des Publikums unfehlbar in Erstaunen.
Den meisten Leuten schien es unglaub lich, daß jemand das Gesamtwerk
Seite für Seite auswendig lernen konnte. Er benutzte sie gerne als
Eröffnungsnummer.

Er reichte das Buch Nadia, seiner Assistentin. Sie war außer dem seine

Geliebte; Montini liebte es, den Kreis seiner Vertrau ten klein zu halten. Sie
war zwanzig Jahre alt, größer als er, mit riesigen, lidschattenglänzenden
Augen und einer Flut glänzenden, künstlich azurblau leuchtenden Haares:
in jeder Hinsicht modisch auf dem Laufenden. Sie trug ein gläsernes
Mieder, eine angemessene Verpackung für das, was sich darin befand.

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Sie war nicht besonders klug, aber sie tat das, was Montini von ihr
verlangte, und das tat sie ganz gut. Er schätzte, sie würde in etwa achtzehn
Monaten ersetzt werden. Seine Frauen langweil ten ihn schnell. Sein
Gedächtnis war zu gut.

“Laß uns anfangen”, sagte er.
Sie öffnete das Buch. “Seite 537, linke Spalte.”
Sofort erschien die Seite vor Montinis innerem Auge. “König Heinrich

der Sechste, II. Teil”, sagte er. “König Heinrich: Sag, Mann, waren das
deine Worte? Horner: Mit Eurer Majestät Erlaubnis, ich habe niemals
etwas dergleichen gesagt oder gedacht. Gott ist mein Zeuge, daß ich von
dem Bösewicht fälschlich angeklagt werde. Peter: Bei diesen zehn
Gebeinen, gnädige Herren, er sagte es mir eines Abends auf der
Dachkam mer, als wir Mylords von York Rüstung abputzten. York:
Gemeiner Köter, Schurke und –”

“Seite 778, rechte Spalte”, sagte Nadia.
“Romeo und Julia. Mercutio spricht: ... deine Augen dazu, darin Grund

zu einem Streit zu erblicken. Dein Kopf ist so voll Zänkereien, wie ein Ei
voll Dotter, und doch ist dir dein Kopf für dein Zanken schon dotterweich
geschlagen. Du hast mit einem angebunden, der auf der Straße hustete,
weil er deinen Hund aufgeweckt, der in der Sonne schlief. Hast du nicht
–”

“Seite 307, in der rechten Spalte vierzehn Zeilen von oben beginnend.”
Montini lächelte. Er mochte diese Passage. Bei der Vorstel lung würde

ein Bildschirm sie dem Publikum zeigen.

“Was Ihr wollt”, sagte er. “Der Herzog spricht: Zu alt, beim Himmel!

Wähle doch das Weib sich einen Altern stets! So fügt sie sich ihm an, so
herrscht sie ewig gleich in seiner Brust. Denn, Knabe, wie wir uns auch
preisen mögen, sind unsre Neigungen doch wankelmütiger, unsichrer –”

“Seite 495, linke Spalte.”
“Einen Moment”, sagte Montini Er goß sich ein großes Glas Wasser ein

und trank es mit drei schnellen Schlucken. “Diese Arbeit macht mich
immer durstig.”

Taylor Braskett, Kapitänleutnant a.D., U.S. Space Service, betrat

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federnden Schrittes sein Zuhause an der Oak Street, direkt am Golden
Gate Park. Mit 71 schaffte es Commander Braskett immer noch, sich flott
zu bewegen, und er war bereit, sofort wieder seine Uniform anzulegen,
falls sein Land ihn brauchte. Er war der Meinung, daß sein Land ihn heute
mehr denn je brauchte, da der Sozialismus wie ein Steppenbrand die
Hälfte der Nationen Europas durchzog. Wenigstens die Hei matfront
mußte doch bewacht werden. Das, was von der traditionellen Freiheit
Amerikas noch übrig war, mußte beschützt werden. Was wir eigentlich
brauchen, glaubte Com mander Braskett, ist ein Netz in Umlaufbahn
befindlicher C-Bomben, bereit, die Feinde der Demokratie mit dem
Höllen tod zu überziehen. Ganz egal, was dieser Vertrag besagt, wir
müssen bereit sein, uns zu verteidigen.

Commander Brasketts Theorien waren nicht allgemein akzeptiert. Die

Leute zollten ihm natürlich dafür Respekt, daß er einer der ersten
Amerikaner auf dem Mars gewesen war, aber er wußte, daß sie ihn im
Stillen für verschroben hielten, daß sie glaubten, er habe einen Sprung in
der Schüssel, er halte sich, wie jene Milizionäre des amerikanischen
Unabhängig keitskrieges, für einen Minuteman und mache sich immer noch
Sorgen um die Rotröcke. Sein Sinn für Humor war ausgeprägt genug, um
zu erkennen, daß er diesen jungen Leuten als absurde Gestalt erscheinen
mußte. Aber er meinte es ernst mit seiner Entschlossenheit, dabei
mitzuhelfen, Amerika seine Frei heit zu erhalten – die Jugend vor der Knute
des Totalitarismus zu bewahren, ob sie nun über ihn lachten oder nicht.
Diesen ganzen wunderbar sonnigen Tag lang war er durch den Park
gelaufen und hatte versucht, mit den Jungen zu reden, hatte sich bemüht,
ihnen seine Position zu erklären. Er war höflich, aufmerksam, erpicht
darauf, jemanden zu finden, der ihm Fragen stellte. Die Schwierigkeit war
nur, daß ihm niemand zuhörte. Und dann diese Jugend – im Sonnenschein
bis zur Taille nackt, Mädchen wie Jungen, sie nahmen in aller Öffent-
lichkeit Drogen, benutzten ganz beiläufig die obszönsten Schimpfwörter ...
Manchmal neigte Commander Braskett zu der Ansicht, die Schlacht um
Amerika sei bereits verloren. Aber er gab die Hoffnung nie ganz auf."

Er war stundenlang im Park gewesen. Nun, zu Hause, ging er am

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Trophäenzimmer vorbei in die Küche, öffnete den Kühl schrank und holte
eine Flasche Wasser hervor. Commander Braskett ließ sich jeden zweiten
Tag drei Flaschen mit Berg quellwasser ins Haus liefern; es war eine
Gewohnheit, die er fünfzig Jahre zuvor aufgenommen hatte, als man zuerst
dar über zu reden begonnen hatte, dem Wasser Fluor zuzusetzen. Er war
sich des versteckten Lächelns durchaus bewußt, das man ihm schenkte,
wenn er zugab, daß er nur abgefülltes Quellwasser trank, aber das machte
ihm nichts aus; er hatte bereits viele der Lächelnden überlebt, und er
schrieb seine ausgezeichnete Gesundheit seiner Weigerung zu, das ver-
schmutzte, verseuchte Wasser anzurühren, das die meisten anderen
Menschen tranken. Erst Chlor, dann Fluor – wahr scheinlich schütteten sie
inzwischen noch ganz andere Sachen hinein, dachte Commander Braskett.

Er nahm einen tiefen Schluck.
Man hat keine Möglichkeit, festzustellen, was für gefährliche

Chemikalien sie heutzutage in die öffentliche Wasserversor gung schütteten,
sagte er sich. Bin ich verschroben? Dann bin ich eben verschroben. Aber
ein Mann, der seine Sinne beisam men hat, trinkt nur Wasser, dem er
trauen kann.

Wie ein Fötus zusammengerollt, die Knie fast bis ans Kinn

hochgezogen, zitternd, schwitzend, schloß Nate Haldersen die Augen und
versuchte den Schmerz seiner Existenz zu lindern. Ein weiterer Tag. Ein
wunderbarer, sonniger Tag. Fröhliche Menschen spielten im Park. Väter
und Kinder. Ehemänner und ihre Frauen. Er biß sich auf die Unterlippe, so
fest, daß die Haut fast aufplatzte. Er war ein Experte in der Kunst, sich
selbst zu bestrafen.

Sensoren, die in seinem Bett auf der Psychotrauma-Station des Fletcher

Memorial Hospital angebracht waren, hielten ihn ständig unter
Beobachtung, schickten einen ununterbrochenen Strom von Meßwerten
an Dr. Bryce und sein Team von Quack salbern. Nate Haldersen wußte,
daß er ein Mann ohne Geheim nisse war. Sein Hormonspiegel, sein
Enzymumsatz, Atmung, Kreislauf, selbst der gallige Geschmack in seinem
Mund – all das erfuhr umgehend das Krankenhauspersonal. Wenn die
Sensoren feststellten, daß er unter die Depressionsschwelle sank, schoben

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sich Ultraschalldetektoren aus den Tiefen der Matratze empor,
Influenzdüsen, die seine Lage auf dem Bett feststellten, die geeigneten
Venen, fanden und ihn mit Auf putschmittel voll pumpten, um ihn
aufzuheitern. Die moderne Wissenschaft war wunderbar. Sie konnte alles
für Haldersen tun, nur seine Familie konnte sie ihm nicht zurückgeben.

Die Tür glitt auf. Dr. Bryce trat ein. Das Aussehen des

Oberquacksalbers entsprach seiner Rolle: Er war groß, ernst, aber
charmant, mit ergrauten Schläfen, eindeutig jemand, der über Macht
verfügte und in Geheimnisse eingeweiht war. Er setzte sich neben
Haldersens Bett. Wie üblich gab er deutlich zu erkennen, daß er nicht
vorhatte, die Reihe von Computerschir men neben dem Bett anzusehen,
auf denen die neuesten Details von Haldersens Zustand abzulesen waren.

“Nate?” sagte er. “Wie geht's?”
“Es geht”, murmelte Haldersen.
“Möchten Sie ein Weilchen reden?”
“Eigentlich nicht. Holen Sie mir einen Schluck Wasser?”
“Klar”, sagte der Arzt. Er holte das Wasser und sagte: “Es ist ein

wunderschöner Tag. Wie wär's mit einem Spaziergang im Park?”

“Ich habe diesen Raum seit zweieinhalb Jahren nicht mehr verlassen,

Doktor. Das wissen Sie doch.”

“Es gibt immer einen Zeitpunkt, an dem man sich loslösen kann.

Körperlich fehlt Ihnen überhaupt nichts, wissen Sie.”

“Ich habe einfach keine Lust, mit Leuten zusammenzukom men”, sagte

Haldersen. Er gab das leere Glas zurück. “Mehr?”

“Wollen Sie etwas stärkeres trinken?”
“Wasser ist ganz in Ordnung.” Haldersen schloß die Augen. Hinter

seinen Lidern tanzten ungewollte Bilder: die Linienra kete, wie sie über
dem Pol explodierte, wie die Passagiere sich aus ihr ergossen, gleich
herbstlichen Samen, die aus ihrer Hülse hervorbrechen, wie Emily
hinabstürzte, immer tiefer hinab, wie sie vierundzwanzigtausend Meter tief
fiel, wobei ihr goldenes Haar vom dünnen, kalten Luftzug hochgewirbelt
wurde, ihr kurzer Rock um ihre Hüften flatterte, ihre wunder baren langen
Beine den Himmel nach einem festen Halt absuchten. Und wie die Kinder

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neben ihr herabfielen, Engel, die vom Himmel stürzen, hinab, immer tiefer
hinab, dem beruhigend weißen Vlies des Polareises entgegen. Sie schlafen
in Frieden, dachte Haldersen, und ich habe den Flug verpaßt, ich bin als
einziger zurückgeblieben. Und Hiob sprach und sagte: Verdammet sei der
Tag, da ich geboren wurde, und die Nacht, da es hieß: Es ist ein Knabe
empfangen.

“Das ist elf Jahre her”, sagte Dr. Bryce zu ihm. “Warum können Sie

nicht davon ablassen?”

“Was für dummes Gerede von einem sogenannten Psychia ter. Warum

läßt es nicht von mir ab?”

“Sie wollen nicht, daß es das tut. Sie sind zu sehr in Ihre Rolle verliebt.”
“Heute ist wohl wieder die harte Tour dran, wie? Holen sie mir noch

etwas Wasser.”

“Stehen Sie auf und holen Sie es sich selbst”, sagte der Arzt.
Haldersen lächelte bitter. Er verließ sein Bett, durchquerte etwas

unsicher den Raum und füllte sein Glas. Er hatte viele verschiedene Arten
von Therapie durchgemacht – Zuwen dungstherapie, Streittherapie,
Drogen, Schocktherapie, ortho doxe Freud'sche Analyse, das ganze
Repertoire. Sie hatten ihm allesamt nicht geholfen. Immer blieb das Bild
einer sich öffnen den Kapsel und fallender Gestalten vor einem stahlblauen
Himmel. Der Herr hat gegeben und der Herr hat genommen; gelobt sei
der Name des Herrn. Meine Seele ist dieses Lebens müde. Er hob das
Glas an die Lippen. Elf Jahre. Ich habe den Flug verpaßt. Ich habe mit
Marie gesündigt, und Emily ist gestorben, und John, und Beth. Wie es sich
wohl anfühlte, so tief zu fallen? War es wie fliegen? Spielte dabei Ekstase
mit? Haldersen füllte sein Glas ein weiteres Mal.

“Durstig heute, was?”
“Ja”, sagte Haldersen.
“Sind Sie sicher, daß Sie nicht einen kleinen Spaziergang machen

wollen?”

“Sie wissen genau, daß ich das nicht will.” Ein Zittern durch lief

Haldersens Körper. Er drehte sich um und faßte den Psychiater am
Oberarm. “Wann wird es vorbeigehen, Tim? Wie lange muß ich das mit

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mir herumschleppen?”

“Bis Sie gewillt sind, es abzulegen.”
“Wie kann ich eine bewußte Anstrengung unternehmen, etwas zu

vergessen? Tim, Tim, gibt es keine Droge, die ich nehmen könnte, etwas,
das die Erinnerung fortschwemmt, die mich umbringt?”

“Nichts Wirksames.”
“Sie lügen”, murmelte Haldersen. “Ich habe von den Amnesieerzeugern

gelesen. Von den Enzymen, welche die Gedächtnis-RNS fressen. Den
Experimenten mit Di-Isopropyl-Fluor-phosphat. Puromycin. Die -”

Dr. Bryce sagte: “Wir haben keine Kontrolle über ihre Wir kung. Wir

können nicht einfach einen einzelnen Block trauma tischer Erinnerungen
aufspüren und dabei den Rest Ihres Gedächtnisses unversehrt lassen. Wir
müßten auf gut Glück um uns schlagen und hoffen, daß wir den Herd
treffen, ohne je genau zu wissen, was wir noch alles löschen. Sie würden
ohne Ihr Trauma aufwachen, aber vielleicht auch ohne Erinnerung an
irgend etwas anderes, das Sie im Alter von, sagen wir, vierzehn bis vierzig
erlebt haben. Vielleicht werden wir in fünfzig Jahren genau genug Bescheid
wissen, um die Dosis an einen bestimmten –”

“Ich kann nicht fünfzig Jahre warten.”
“Es tut mir leid, Nate.”
“Geben Sie mir die Droge trotzdem. Ich nehme das Risiko sonstiger

Verluste auf mich.”

“Darüber reden wir ein andermal, ja? Diese Drogen befinden sich im

Experimentalstadium. Wir müßten uns monatelang mit der Bürokratie
herumschlagen, ehe ich die Genehmigung bekommen könnte, sie an einem
Menschen zu testen. Sie müssen sich darüber im klaren sein –”

Haldersen schaltete ab. Er sah nur noch mit seinem inneren Auge, sah

die stürzenden Leiber, durchlebte zum abermillionsten Mal seinen Verlust,
schlüpfte mühelos in seine selbstge wählte Rolle des Hiob zurück. Ich bin
den Drachen ein Bruder und den Eulen ein Gefährte. Er hat mich
niedergeworfen auf jegliche Weise, und ich bin verloren: Und meine
Hoffnung hat er genommen wie einen Baum.

Der Arzt fuhr fort zu reden. Haldersen fuhr fort, ihm nicht zuzuhören. Er

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goß sich mit zitternden Händen ein weiteres Glas Wasser ein.

Es war fast Mitternacht an jenem Mittwoch, ehe Pierre Gerard, seine

Frau, ihre beiden Söhne und ihre Tochter Gelegenheit hatten, ihr
Abendessen einzunehmen. Sie waren die Inhaber, Köche und das
gesamte Personal des Restaurants Petit Pois in der Sansome Street, und
das Geschäft war den ganzen Abend außerordentlich, ja erschöpfend gut
gewesen. Normalerweise konnten sie gegen halb sechs essen, ehe der
abendliche Ansturm begann, aber heute hatten die Leute früher einzutref-
fen begonnen – zweifellos vom guten Wetter zum Über schwang verführt
–, und seit der Cocktailstunde hatte keiner von ihnen mehr auch nur einen
Augenblick Muße gehabt. Die Gerards waren lebhaftes Geschäft
gewöhnt, denn ihnen gehörte das wahrscheinlich beliebteste in
Familienbesitz befindliche Bistro der ganzen Stadt, mit leidenschaftlich
treuer Stammkundschaft. Trotzdem, ein Abend wie dieser war ein fach
zuviel.

Sie verzehrten bescheiden die Fehlschläge des Abends: einen übergaren

Lammrücken, einen leicht nach Korken schmecken den 97er Chateau
Beychevelle, ein zusammengefallenes Souffle und ähnliches. Sie waren
sparsame Leute. Ihr einziger Luxus war das Evian-Wasser, das sie aus
Frankreich importierten. Pierre Gerard hatte seit dreißig Jahren seine
Heimatstadt Lyon nicht mehr betreten, aber er bewahrte viele Gebräuche
seines Mutterlandes, einschließlich der traditionellen Haltung gegen über
Wasser. Ein Franzose trinkt nicht viel Wasser; aber das, was er trinkt,
kommt immer aus der Flasche, nie aus dem Hahn. Jedes andere Verhalten
hieße, ein Leberleiden zu riskie ren. Und auf seine Leber mußte man
achtgeben.

An jenem Abend holte Freddy Munson Helene in ihrer Woh nung in der

Geary Street ab und fuhr mit ihr wie üblich über die Brücke nach Sausalito
zum Abendessen bei Ondine's. Ondine's war eines von nur vier
Restaurants, allesamt berühmt und alteingesessen, in denen Munson in
regelmäßigem Turnus speiste. Er war ein Mann mit festen Gewohnheiten.
Er wachte unfehlbar jeden Morgen um sechs Uhr auf und befand sich um
sieben an seinem Schreibtisch bei der Börsenmaklerfirma, um sich in die

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Datenkanäle einzuklinken und zu erfahren, was auf den europäischen
Finanzmärkten geschehen war, während er geschlafen hatte. Um halb acht
Ortszeit öffnete die New Yorker Börse, und dann begann das eigentliche
Geschäft. Bis halb zwölf war New York für den Tag abgehakt, dann ging
Munson um die Ecke zum Mittagessen, und zwar immer ins Petit Pois,
dessen Besitzer er mit zum Millionär gemacht hatte, indem er ihm
zweieinhalb Jahre vor der großen Fusion Anteile an mehre ren
Tochterfirmen der Consolidated Nucleonics besorgt hatte. Um halb zwei
war Munson dann wieder im Büro, um auf eigene Rechnung Geschäfte an
der Pacific Coast-Börse zu täti gen; an drei Tagen in der Woche ging er
um drei nach Hause, aber dienstags und donnerstags blieb er bis gegen
fünf, um einige Transaktionen an den Börsen von Honolulu und Tokio
mitzubekommen. Danach ging es zum Dinner, ins Theater oder ins
Konzert, immer in angenehmer weiblicher Begleitung. Gegen Mitternacht
versuchte er zum Schlafen oder doch min destens ins Bett zu kommen.

Ein Mann in Freddy Munsons Position mußte ordentlich sein. Seine

Unterschlagungen von seinen Klienten beliefen sich zu jedem beliebigen
Zeitpunkt auf sechs bis neun Millionen Dol lar, und er bewahrte sämtliche
Details seiner Manipulationen in seinem Kopf auf. Er konnte es nicht
wagen, sie aufzuschreiben, weil es überall Scanneraugen gab und er
konnte sie erst recht nicht dem Datennetz anvertrauen, da allgemein
bekannt war, daß jede Information, die man in einen Computer eingab,
unweigerlich einem anderen Computer zugänglich war, ganz egal, wie
komplex der Schutzcode war, mit dem man die Eingabe belegte. Also war
es für Munson notwendig, sich an fünfzig oder mehr illegale Transaktionen,
an eine ständig wech selnde Kette von Unterschlagungen erinnern zu
können, und ein Mann, der eine derartige unumgängliche Gedächtnisdiszi-
plin praktiziert, entwickelt bald die Gewohnheit, diese Diszi plin auch auf
alle anderen Bereiche seines Lebens auszu dehnen.

Helene kuschelte sich an ihn. Ihr schwach psychedelisches Parfüm stieg

ihm in die Nase. Er schaltete den Wagen in den Sausalito-Regelkreis ein
und lehnte sich bequem zurück, wäh rend der Verkehrskontrollcomputer
die Steuerung übernahm. Helene sagte: “Ich habe gestern im Haus der

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Bryces zwei Skulpturen von deinem bankrotten Freund gesehen.”

“Paul Mueller?”
“Den meine ich. Die Skulpturen waren sehr gut. Eine von ihnen hat mich

angeschnarrt.”

“Was hast du bei den Bryces zu suchen?”
“Ich bin mit Lisa Bryce aufs College gegangen. Sie hat mich zusammen

mit Marty eingeladen.”

“Ich wußte gar nicht, daß du schon so alt bist”, sagte Munson.
Helene kicherte. “Lisa ist erheblich jünger als ihr Mann, Liebling. Was

kostet eine Skulptur von Paul Mueller?”

“So um die Fünfzehn- bis Zwanzigtausend. Mehr bei beson deren

Objekten.”

“Und trotzdem ist er pleite?”
“Paul besitzt ein seltenes Talent zur Selbstzerstörung”, sagte Munson.

“Er versteht einfach nichts von Geld. Aber in gewis ser Weise ist das seine
künstlerische Rettung. Je tiefer er ver schuldet ist, um so besser werden
seine Arbeiten. Er schöpft sozusagen aus seiner Verzweiflung. Obwohl er
sich bei der neuesten Krise übernommen zu haben scheint. Er hat völlig
aufgehört zu arbeiten. Ein Künstler, der nicht arbeitet, versün digt sich an
der Menschheit.”

“Du kannst dich manchmal so gut ausdrücken, Freddy”, sagte Helene

leise.

Als der Sagenhafte Montini am Donnerstagmorgen erwachte, bemerkte

er nicht sofort, daß sich etwas verändert hatte. Sein Gedächtnis war,
gleich einem guten Diener, immer zur Hand, wenn er es benötigte, aber die
Menge perfekt gespeicherter Fakten, die er in seinem Gehirn aufbewahrte,
blieb unter der Oberfläche, bis er sie benötigte. Ein Bibliothekar mochte
seine Regale durchsehen und feststellen, daß Bücher fehlten; es war
Montini nicht möglich, ähnliche Lücken in seinen Synapsen zu entdecken.
Er war vor einer halben Stunde aufgestanden, war unter die
Molekulardusche getreten, hatte sein Frühstück abge rufen und Nadia
geweckt, um ihr zu sagen, sie solle die Zubringerreservierungen nach Las
Vegas bestätigen, als er schließlich, gleich einem Konzertpianisten, der

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einige Arpeggien herunterspult, um seine Finger für die tägliche Arbeit zu
lockern, in den Speicher seines Gedächtnisses griff, um ein wenig
Shakespeare hervorzuholen, und es erschien kein Sha kespeare.

Er blieb ganz still stehen, die Hände auf dem Astrolabium, das sein

Panoramafenster schmückte, und starrte in plötzlicher Verwirrung auf die
Brücke hinaus. Er hatte es nie nötig gehabt, zur Vergegenwärtigung von
Fakten eine bewußte Anstrengung zu unternehmen. Er hatte lediglich
hingeschaut, und da waren sie, aber wo war Shakespeare? Wo war die
linke Spalte der Seite 136, die rechte Spalte der Seite 654, wo die rechte
Spalte der Seite 806, sechzehn Zeilen von oben? Fort? Er zog Nieten.
Der Bildschirm seines Gehirns zeigte ihm nur leere Seiten.

Ganz ruhig. Dies ist ungewöhnlich, aber keine Katastrophe. Du mußt

aus irgendeinem Grund verspannt sein, und darum forcierst du, das ist
alles. Entspann dich, zieh etwas anderes aus dem Speicher.

Die New York Times vom Mittwoch, dem 3. Oktober, 1973. Ja, da

war sie, die Titelseite, wunderbar klar, in der unteren rechten Ecke der
Bericht über das Baseball-Spiel, die Schlagzeile über das Flugzeugunglück
groß und schwarz, sogar den Urhe berhinweis für das Foto konnte er
deutlich erkennen. Sehr gut. Jetzt versuchen wir's mal mit -

Der St. Louis Post-Dispatch von Sonntag, dem 19. April, 1987.

Montini erschauerte. Er sah die obersten zehn Zentimeter der Seite, sonst
nichts. Ausgelöscht.

Er ging die anderen von ihm gespeicherten Zeitungen durch, die er sich

für seine Nummer eingeprägt hatte. Einige waren vorhanden. Andere
nicht. Einige, wie die Post-Dispatch, waren zum Teil gelöscht. Röte stieg
ihm ins Gesicht. Wer hatte an seinem Gedächtnis herumgepfuscht?

Er versuchte es noch einmal mit Shakespeare. Nichts.
Er versuchte es mit dem Chikagoer Datennetz-Adreßbuch von 1997. Es

war da.

Er versuchte es mit seinem Erdkundebuch der dritten Grund schulklasse.

Es war da, das große rote Buch mit dem ver schmierten Druck.

Er versuchte es mit dem Fünf-Uhr-Xerofax-Bulletin vom letz ten Freitag.

Weg.

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Er schwankte und sank auf den Diwan, den er, wie er sich erinnerte, am

neunzehnten Mai 1985 für 4200 türkische Pfund in Istanbul gekauft hatte.
“Nadia!” rief er. “Nadia!” Seine Stimme war kaum mehr als ein Krächzen.
Sie kam gelaufen, die Augen erst halb geschminkt, ihr Morgengesicht
verzogen.

“Wie sehe ich aus?” wollte er wissen. “Mein Mund – ist mein Mund in

Ordnung? Meine Augen?”

“Dein Gesicht ist ganz gerötet.”
“Abgesehen davon!”
“Ich weiß nicht”, keuchte sie. “Du scheinst furchtbar aufge regt zu sein,

aber –”

“Die Hälfte meines Gedächtnisses ist verschwunden”, sagte Montini.

“Ich muß einen Schlaganfall gehabt haben. Kannst du eine
Gesichtslähmung feststellen? Das ist eins der Symptome. Hol meinen Arzt,
Nadia! Ein Schlaganfall, ein Schlaganfall! Das bedeutet für Montini das
Ende!”

Als Paul Mueller am Mittwoch gegen Mitternacht aufwachte und sich

seltsam erfrischt fühlte, versuchte er, sich zu orientie ren. Warum war er
vollständig angezogen, und warum hatte er geschlafen? Vielleicht ein
Nickerchen, das sich zu lange ausge dehnt hatte? Er versuchte, sich zu
erinnern, was er im Laufe des Tages getan hatte, aber es gelang ihm nicht,
einen Hinweis darauf zu finden. Er war verwirrt, aber nicht beunruhigt;
seine vorherrschende Empfindung war ein übermächtiger Drang, sich an
die Arbeit zu machen. In seinem Kopf drängten sich die Vorstellungen von
fünf Skulpturen, alle vollständig geplant und geradezu danach schreiend,
konstruiert zu werden. Am besten fange ich gleich an, dachte er. Ich
arbeite bis zum Morgen durch. Die kleine zwitschernde, silbrige – die ist
das Richtige für den Anfang. Ich werde den Entwurf skizzieren, vielleicht
sogar einen Teil der Aufbauten angehen –

“Carole?” rief er. “Carole, bist du da?”
Seine Stimme hallte in dem seltsam leeren Apartment wider.
Zum ersten Mal bemerkte Mueller, wie wenig Möbel herum standen. Ein

Bett – eigentlich ein Feldbett, nicht ihr Doppel bett – und ein Tisch und

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eine winzige Warmhalteeinheit für Speisen und etwas Geschirr. Kein
Teppichboden. Wo waren seine Skulpturen, wo war seine
Privatsammlung seiner eigenen besten Arbeiten? Er betrat sein Studio und
stellte fest, daß es von Wand zu Wand leer war, all sein Werkzeug auf
mysteriöse Weise verschwunden, nur ein paar nicht mehr gebrauchte
Skizzen lagen auf dem Boden. Und seine Frau? “Carole? Ca role?”

Er begriff das alles nicht. Während er schlief, hatte anschei nend jemand

die Wohnung ausgeräumt, seine Möbel, seine Skulpturen, sogar den
Teppich gestohlen. Mueller hatte von solchen Diebstählen gehört. Sie
kamen mit einem Lastwagen, traten ziemlich dreist auf und gaben sich als
Möbelpacker aus. Vielleicht hatten sie ihm eine Art Droge verabreicht,
während sie arbeiteten. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie
seine Skulpturen mitgenommen hatten; der Rest war unwich tig, aber er
hatte diese zwölf Arbeiten wie seinen Augapfel gehütet. Ich sollte lieber
die Polizei rufen, beschloß er und eilte zum Terminal der Dateneinheit,
doch die war ebenfalls ver schwunden. Würden Einbrecher so etwas auch
mitnehmen?

Auf der Suche nach Aufklärung huschte er von Wand zu Wand und

entdeckte eine Notiz in seiner eigenen Handschrift. Morgen früh Freddy
Munson anrufen und drei Riesen borgen. Ticket nach Caracas kaufen.
Modellierzeug kaufen.

Caracas? Vielleicht eine Urlaubsreise? Und warum sollte er eine

Modellierausrüstung kaufen? Offenbar war das Werkzeug schon fort
gewesen, bevor er eingeschlafen war. Warum? Und wo war seine Frau?
Was ging hier eigentlich vor? Er fragte sich, ob er jetzt gleich Freddy
anrufen sollte, statt bis zum Morgen zu warten. Vielleicht wußte Freddy
Bescheid. Und Freddy war um Mitternacht immer schon zu Hause.
Wahrscheinlich hatte er eins seiner verdammten Mädchen bei sich und
würde nicht gestört werden wollen, aber zum Teufel damit; was nützte es,
Freunde zu haben, wenn man sie in einer Krise nicht belästigen durfte?

Auf dem Weg zur nächstgelegenen öffentlichen Kommunikatorzelle eilte

er aus seinem Apartment und stieß im Flur bei nahe mit einem
geschniegelten Mahnroboter zusammen. Diese Dinger kennen keine

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Gnade, dachte Mueller. Die belästigen einen zu jeder Tages- und
Nachtzeit. Zweifellos war dieser hier auf dem Weg, um dieser
Schmarotzerfamilie Nicholson am Ende des Flurs Scherereien zu machen.

Der Roboter sagte: “Mr. Paul Mueller? Ich bin rechtmäßig bestellter

Repräsentant der Firma International Fabrikation Cartel Amalgamated.
Ich bin hier, um Sie davon in Kenntnis zu setzen, daß Ihr Konto einen
Fehlbetrag von $ 9.150,55 aufweist, und dieser Betrag wird ab morgen
früh 0900 Uhr mit einem Strafzins von insgesamt 5 Prozent monatlich
belegt, da Sie auf unsere bisherigen drei Zahlungsaufforderungen nicht
reagiert haben. Ich muß Sie weiterhin davon unterrichten, daß -”

“Du hast ja nicht mehr alle Neutrinos im Schrank”, fuhr Mueller ihn an.

“Ich schulde I.F.C. keinen Cent! Endlich einmal bin ich im Plus, und
versuche nicht, mir das Gegenteil einzu reden.”

Der Roboter erwiderte geduldig: “Soll ich Ihnen die Transak tionen

ausdrucken? Am fünften Januar 2003 haben sie bei uns die folgenden
Metallprodukte bestellt: drei Viermeterrohre aus geflammtem Iridium,
sechs Zehnzentimeterkugeln aus –”

“Der fünfte Januar 2003 ist leider erst in drei Monaten”, sagte Mueller,

“und ich habe keine Zeit, mir verrückte Roboter anzu hören. Ich habe
einen wichtigen Anruf zu erledigen. Wirst du es wohl schaffen, mich ins
Datennetz zu schalten, ohne alles durcheinanderzubringen?”

“Ich bin nicht autorisiert, Ihnen zu gestatten, von meinen

Systemeinrichtungen Gebrauch zu machen.”

“Sperrenüberbrückung wegen Notfall”, sagte Mueller. “Menschliches

Wesen in Gefahr. Da sag' mal was dagegen!”.

Die Konditionierung des Roboters war intakt. Die Behaup tung eines

Notfalls

veranlaßte

ihn

sofort,

eine

Verbindung

zum

Hauptkommunikationsnetz herzustellen. Mueller gab Freddy Munsons
Nummer durch. “Ich kann lediglich eine Audiover bindung herstellen”,
sagte der Roboter und stellte den Anruf durch. Es verging fast eine
Minute. Dann knurrte Freddy Munsons wohlbekannte tiefe Stimme aus
dem Lautsprechergit ter in der Brust des Roboters: “Wer ist da und was
wollen Sie?”

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“Hier spricht Paul. Es tut mir leid, daß ich dich stören muß, Freddy,

aber ich bin in großen Schwierigkeiten. Ich glaube, ich verliere den
Verstand, oder aber alle anderen verlieren ihren.”

“Vielleicht verlieren alle anderen den Verstand. Wo liegt das Problem?”
“Meine sämtlichen Möbel sind verschwunden. Ein Mahnroboter

versucht, mich um neun Riesen anzugehen. Ich weiß nicht, wo Carole ist.
Ich kann mich nicht erinnern, was ich heute den ganzen Tag gemacht habe.
Ich habe hier eine Notiz über Tickets nach Caracas, die ich selbst
geschrieben habe, und ich weiß nicht, warum. Und –”

“Vergiß den Rest”, sagte Munson. “Ich kann nichts für dich tun. Ich

habe meine eigenen Probleme.”

“Kann ich. wenigstens vorbeikommen, um mit dir zu reden?”
“Auf gar keinen Fall!” Mit gesenkter Stimme sagte Munson: “Hör zu,

Paul, ich wollte dich nicht anschreien, aber hier ist etwas passiert, etwas
sehr Beunruhigendes -”

“Du mußt dich nicht verstellen. Du hast Helene bei dir, und du möchtest,

daß ich dich in Ruhe lasse. Schon gut.”

“Nein. Ehrlich”, sagte Munson. “Ich habe Probleme, ganz plötzlich. Ich

bin ganz und gar nicht in einer Position, um dir zu helfen. Ich brauche
selbst Hilfe.”

“Inwiefern? Kann ich irgendwas für dich tun?”
“Ich fürchte nein. Und wenn du mich jetzt entschuldigst, Paul –”
“Sag mir wenigstens eines. Wo ich Carole finden kann. Hast du

irgendeine Ahnung?”

“Bei ihrem Mann zu Hause, würde ich sagen.”
“Ich bin ihr Mann.”
Es entstand eine lange Pause. Endlich sagte Munson: “Paul, sie hat sich

letzten Januar von dir scheiden lassen und im April Pete Castine
geheiratet.”

“Nein”, sagte Mueller.
“Wie, nein?”
“Nein, das ist nicht möglich.”
“Hast du irgendwelche Pillen eingeworfen, Paul? Irgendwas geschnupft?

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Gras geraucht? Hör mal, es tut mir leid, aber ich habe jetzt nicht die Zeit,
um –”

“Sag' mir wenigstens, was heute für ein Tag ist.”
“Mittwoch.”
“Welcher Mittwoch?”
“Mittwoch, der achte Mai. Zu dieser nachtschlafenen Zeit eigentlich

schon Donnerstag, der neunte.”

“Und welches Jahr?”
“Um Himmels willen, Paul –”
“Welches Jahr?”
“2003.”
Mueller sank in sich zusammen. “Freddy, ich habe irgendwo ein halbes

Jahr verloren! Für mich ist noch Oktober 2002. Ich leide unter einer
seltsamen Art von Amnesie. Das ist die einzige Erklärung.”

“Amnesie”, sagte Munson. Der angespannte Tonfall schwand aus seiner

Stimme. “Ist es das, was du hast? Amne sie? Ob es wohl so etwas wie
eine Amnesie-Epidemie gibt? Ist sie ansteckend? Vielleicht solltest du
doch lieber hier vorbei kommen. Weil Amnesie nämlich auch mein
Problem ist.”

Donnerstag, der 9. Mai, versprach genauso schön zu werden wie der

vorangegangene Tag. Wieder strahlte die Sonne über San Francisco, der
Himmel war klar, die Luft mild und warm. Commander Braskett erwachte
wie immer früh am Morgen, rief sein übliches spartanisches Frühstück ab,
studierte die mor gendlichen Xerofax-Nachrichten, verbrachte eine Stunde
damit, seine Memoiren zu diktieren, und verließ gegen neun das Haus zu
einem Spaziergang. Die Straßen waren außerge wöhnlich belebt, stellte er
fest, als er das Einkaufsviertel an der Haight Street erreichte. Die Leute
wanderten ziellos und ver wirrt umher, fast wie Schlafwandler. Waren sie
betrunken? Standen sie unter Drogen? Dreimal innerhalb von fünf Minuten
wurde Commander Braskett von jungen Männern angehalten, die das
Datum wissen wollten. Nicht die Uhrzeit, das Datum. Er sagte es ihnen,
kurz angebunden, verächtlich, er versuchte, tolerant zu sein, aber es fiel
ihm schwer, Leute nicht zu verach ten, die so schwach waren, daß sie

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ungedingt ihr Gehirn mit Stimulantien, Narkotika, psychedelischen Drogen
und ähnli chem Müll vergiften mußten.

An der Ecke Haight/Masonic Street hielt ihn ein verloren wirkendes

hübsches Mädchen von etwa siebzehn Jahren mit großen, ausdruckslosen
blauen Augen an und sagte: “Sir, diese Stadt ist doch San Francisco, oder
etwa nicht? Ich meine, ich sollte im Mai aus Pittsburgh hierher ziehen, und
wenn wir jetzt Mai haben, dann ist dies San Francisco, stimmt's?”

Commander Braskett nickte brüsk und wandte sich peinlich berührt ab.

Er war erleichtert, als er einen alten Freund, Lou Sandler, den
Geschäftsführer der Bank of America-Filiale, auf der anderen Straßenseite
erblickte. Sandler stand vor dem Eingang zur Bank. Commander Braskett
ging zu ihm hinüber und sagte: “Ist es nicht eine Schande, Lou, daß heute
morgen die ganze Straße voller Süchtiger ist? Was hat das zu bedeuten,
irgendeine Jubiläumsfeier zum Gedenken an die 60er Jahre?” Woraufhin
Sandler ihm ein leeres Lächeln schenkte und sagte: “Ist das mein Name?
Lou? Sie wissen nicht zufällig auch noch meinen Nachnamen? Irgendwie
ist er mir entfallen.” In jenem Augenblick erkannte Commander Braskett,
daß mit seiner Stadt etwas Schreckliches geschehen war, vielleicht sogar
mit dem ganzen Land, daß die Machtübernahme der Linken, die er schon
so lange gefürchtet hatte, jetzt eingetreten sein mußte und es nun für ihn an
der Zeit war, seine alte Uniform wieder anzulegen und zu tun, was er
konnte, um dem Feind entgegen zutreten.

Nate Haldersen erwachte an jenem Morgen voller Freude und

Verwirrung und stellte fest, daß er auf irgendeine seltsame und
wunderbare Weise verwandelt worden war. Sein Kopf pochte, aber nicht
vor Schmerz. Ihm schien, als sei eine schreckliche Last von seinen
Schultern genommen worden, als habe die furchtbare Totenhand an
seinem Hals endlich ihren Griff gelockert.

Von unzähligen Fragen erfüllt sprang er aus dem Bett.
Wo bin ich? Was ist dies für ein Ort? Warum bin ich nicht zu Hause?

Wo sind meine Bücher? Warum fühle ich mich so wohl?

Es schien sich hier um ein Krankenhauszimmer zu handeln.
Ein Schleier überzog sein Gedächtnis. Er durchstieß dessen trübe Falten

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und erinnerte sich, daß er sich – letzten August -nein, vorletzten August –
selbst im Fletcher Memorial Hospital – in Behandlung begeben hatte, weil
er an schweren seelischen Störungen gelitten hatte, hervorgerufen durch –
hervorgeru fen durch –

Noch nie hatte er sich glücklicher gefühlt als in diesem Moment.
Er erblickte einen Spiegel. In ihm war die obere Hälfte von Dr. phil.

Nathaniel Haldersen zu sehen. Nate Haldersen lächelte sich zu. Ein
großer, schmaler, langnasiger Mann mit lächerlich strohfarbenem Haar,
lächerlich blauen Augen, schma len, lächelnden Lippen. Ein knochiger
Körper. Er knöpfte sein Pyjamaoberteil auf. Blasse, haarlose Brust, auf
jeder Schulter ein knochiger Höcker, wie Epauletten. Ich war lange krank,
dachte Haldersen. Jetzt muß ich hier heraus, zurück in meinen Hörsaal.
Ende des Urlaubs. Wo sind meine Kleider?

“Schwester? Doktor?” Er drückte seinen Klingelknopf dreimal

hintereinander. “Hallo? Ist da jemand?”

Niemand erschien. Seltsam; sie kamen sonst immer. Halder sen zuckte

die Achseln und trat in den Flur hinaus. An dessen anderem Ende
erblickte er drei Krankenwärter, die sich mit zusammengesteckten Köpfen
unterhielten. Sie ignorierten ihn. Ein Serviceroboter, der Frühstückstabletts
trug, glitt an ihm vorbei. Einen Augenblick später kam einer der jüngeren
Ärzte den Flur entlang gerannt und weigerte sich, anzuhalten, als
Haldersen ihn rief. Verärgert ging er in sein Zimmer zurück und sah sich
nach Kleidung um. Er fand keine, lediglich einen kleinen Haufen
Zeitschriften am Boden des Einbauschranks. Er betätigte den Klingelknopf
weitere drei Male. Endlich kam einer der Roboter ins Zimmer.

“Es tut mir leid”, sagte er, “aber das menschliche Kranken hauspersonal

ist zur Zeit beschäftigt. Kann ich Ihnen behilflich sein, Dr. Haldersen?”

“Ich möchte einen Satz Kleidungsstücke. Ich verlasse das

Krankenhaus.”

“Es tut mir leid, aber es gibt keinen Hinweis auf Ihre Entlas sung. Ohne

Zustimmung von Dr. Bryce, Dr. Reynolds oder Dr. Kamakura ist es mir
nicht erlaubt, Ihnen zu gestatten, sich zu entfernen.”

Haldersen seufzte. Er wußte, daß es keinen Sinn hatte, sich mit einem

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Roboter zu streiten. “Wo befinden diese drei Herren sich denn im
Augenblick?”

“Sie sind beschäftigt, Sir. Wie Sie vielleicht wissen, befindet sich heute

morgen die Stadt im medizinischen Notstand, und Dr. Bryce und Dr.
Kamakura helfen, das Komitee für öffentliche Sicherheit zu organisieren.
Dr. Reynolds hat sich heute früh nicht zum Dienst gemeldet, und es ist uns
nicht gelungen, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Es wird angenommen,
daß er ein Opfer der gegenwärtigen Schwierigkeiten ist.”

“Was für gegenwärtige Schwierigkeiten?”
“Massiert

auftretender

Gedächtnisverlust

auf

Seiten

der

Humanbevölkerung”, sagte der Roboter.

“Eine Amnesie-Epidemie?”
“Das ist eine der Interpretationen des Problems.”
“Wie kann so etwas –” Haldersen unterbrach sich. Er verstand jetzt den

Grund für seine Freude heute morgen. Erst gestern nachmittag hatte er mit
Tim Bryce die Anwendung gedächtnislöschender Drogen auf sein eigenes
Trauma disku tiert, und Bryce hatte gesagt -

Haldersen erinnerte sich nicht mehr an die Ursache seines eigenen

Traumas.

“Warte”, sagte er, als der Roboter im Begriff war, das Zimmer zu

verlassen. “Ich brauche Informationen. Aus welchem Grund war ich hier in
Behandlung?”

“Sie haben an sozialer Desorientierung und Verdrängungs symptomen

gelitten, deren Ursprung, glaubt Dr. Bryce, in einer Situation traumatischen
persönlichen Verlustes liegt.”

“Verlust wovon?”
“Ihrer Familie, Dr. Haldersen.”
“Ja. Das stimmt. Ich entsinne mich jetzt – ich hatte eine Frau und zwei

Kinder. Emily. Und ein kleines Mädchen – Margaret oder Elizabeth, oder
so ähnlich. Und einen Jungen namens John. Was ist ihnen zugestoßen?”

“Sie waren Passagiere an Bord des Intercontinental Airways-Fluges Nr.

103, von Kopenhagen nach San Francisco, am 5. September 1991. Das
Flugzeug wurde über dem arktischen Ozean von explosionsartiger

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Dekompression betroffen, und es gab keine Überlebenden.”

Haldersen nahm diese Information so ruhig auf, als teile man ihm die

Ermordung Julius Caesars mit.

“Wo hielt ich mich auf, als das Unglück geschah?”
“In Kopenhagen”, erwiderte der Roboter. “Sie hatten beab sichtigt,

gemeinsam mit Ihrer Familie mit Flug Nr. 103 nach San Francisco
zurückzukehren. Ihrer hier gespeicherten Akte zufolge verwickelten Sie
sich jedoch in eine emotionale Bezie hung zu einer Frau namens Marie
Rasmussen, die Sie in Kopenhagen kennen gelernt hatten, und erreichten
deshalb nicht mehr rechtzeitig Ihr Hotel, um noch zum Flughafen gelangen
zu können. Ihre Frau, der die Situation offenbar bekannt war, beschloß,
nicht auf Sie zu warten. Ihr kurz darauf erfolgter Tod, sowie der Ihrer
Kinder, rief bei Ihnen eine traumatische Schuldreaktion hervor, die dazu
führte, daß Sie sich für ihr Ableben verantwortlich fühlten.”

“Es sieht mir ähnlich, eine solche Haltung dazu einzuneh men, nicht

wahr?” sagte Haldersen. “Schuld und Sühne. Mea culpa, mea maxima
culpa. Ich habe den Begriff der Sünde immer sehr ernst genommen, selbst
wenn ich gerade dabei war, zu sündigen. Ich hätte ein alttestamentarischer
Prophet werden sollen.”

“Soll ich Ihnen weitere Informationen zukommen lassen, Sir?”
“Gibt es denn noch weitere?”
“In unseren Akten findet sich Dr. Bryces Bericht mit dem Titel Der

Hiob-Komplex: Eine Studie schuldinduzierter Paralyse.”

“Erspar mir das”, sagte Haldersen. “Es ist gut, geh jetzt.”
Er war wieder allein. Der Hiob-Komplex, dachte er. Nicht ganz

passend, oder? Hiob war ein Mann ohne Sünde, und doch wurde er
schwer geprüft, um eine Laune des Allmächtigen zu befriedigen. Es wäre
ein wenig anmaßend, würde ich meinen, mich mit ihm zu identifizieren.
Kain wäre eine bessere Wahl. (Und Kain sprach zum Herrn: Meine Strafe
ist schwerer, als ich ertragen kann. Aber Kain war ein Sünder. Ich war ein
Sünder.) Ich habe gesündigt und Emily ist dafür gestorben. Wann war das,
vor elf, elfeinhalb Jahren? Und jetzt weiß ich nichts mehr darüber, außer
dem, was mir die Maschine gerade erzählt hat. Erlösung durch Vergessen,

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würde ich das nennen. Ich habe für meine Sünde gebüßt, und jetzt bin ich
frei. Ich habe in diesem Krankenhaus nichts mehr verloren. Eng ist die
Pforte und schmal der Pfad, der in das Leben führet, und wenige sind es,
die ihn erkennen. Ich muß hier raus. Vielleicht kann ich ande ren behilflich
sein.

Er knotete den Gürtel seines Bademantels, nahm einen Schluck Wasser

und verließ das Zimmer. Niemand hielt ihn auf. Der Aufzug schien nicht zu
funktionieren, aber er fand die Treppe und stieg etwas unsicher hinab. Er
hatte sich seit mehr als einem Jahr nicht mehr so weit von seinem Zimmer
entfernt. Auf den unteren Stockwerken des Krankenhauses herrschte
Chaos – Ärzte, Krankenwärter, Roboter, Patienten, alle liefen sie
aufgeregt durcheinander. Die Roboter versuchten, die Leute zu beruhigen
und sie in die ihnen zugewiesenen Räume zurückzugeleiten. “Verzeihung”,
sagte Haldersen gelassen. “Verzeihung. Verzeihung.” Er verließ das
Krankenhaus durch den Haupteingang, ohne angehalten zu werden. Die
Luft drau ßen war frisch wie neuer Wein; als sie ihm in die Nase stieg,
meinte er, er müsse in Tränen ausbrechen. Erlösung durch Vergessen. Die
Katastrophe hoch über der Arktis beherrschte nicht mehr seine
Gedanken. Er betrachtete sie genau wie etwas, das vor langer Zeit der
Familie eines anderen Mannes geschehen war. Haldersen begann lebhaft
die Van Ness Ave nue entlang zu gehen, wobei er spürte, wie mit jedem
Schritt die Kraft in seine Beine zurückströmte. Eine heftig schluch zende
junge Frau schoß aus einem Gebäude hervor und stieß mit ihm zusammen.
Er fing sie auf, stützte sie und war von seiner eigenen Kraft überrascht, als
er sie vor dem Fallen bewahrte. Sie zitterte und schmiegte ihren Kopf an
seine Brust. “Kann ich irgend etwas für Sie tun?” fragte er. “Kann ich
Ihnen behilflich sein?”

Während des Dinners bei Ondine's am Mittwochabend begann Panik

sich auf Freddy Munson herabzusenken. Er hatte mitten während der
getrüffelten Hühnerbrüstchen angefangen, sich über Helene zu ärgern, also
hatte er begonnen, über geschäftli che Einzelheiten nachzudenken; zu
seinem Erstaunen schienen die Details in seinem Kopf nicht ganz richtig
geordnet zu sein und so verspürte er einen ersten Anflug von Schrecken.

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Das Ärgerliche war, daß Helene sich endlos über die Kunst der

Klangskulptur im Allgemeinen und Paul Mueller im Beson deren ausließ.
Ihr Interesse war stark genug, um bei Munson einen leichten Anfall von
Eifersucht hervorzurufen. Bereitete sie sich darauf vor, von seinem Bett in
das von Paul zu hüpfen? Dachte sie daran, den wohlhabenden,
gutaussehenden, aber im Grunde prosaischen Börsenmakler zugunsten des
verantwortungslosen, verarmten, faszinierend begabten Bildhauers zu
verlassen? Natürlich traf sich Helene auch mit einer Anzahl anderer
Männer, aber die kannte Munson, und als Rivalen zählten sie für ihn nicht;
es handelte sich um Nullen, Begleiter, die ihre müßigen Abende füllten,
während er zu beschäftigt war, um sich mit ihr zu treffen. Bei Paul Mueller
lag der Fall jedoch anders. Munson konnte den Gedanken nicht ertragen,
Helene könne ihn zugunsten von Paul verlassen. Also verla gerte er seine
Konzentration auf die geschäftlichen Manipula tionen des Tages. Er hatte
dem Schaeffer-Konto eintausend Anteile der Vorzugsaktien zu $ 5,87
entnommen und sie als Sicherheit angegeben, um den Fehlbetrag bei den
Comsat-Schuldverschreibungen zu decken, und dann hatte er das
Howard-Konto um fünftausend Pfandbriefanteile der South-east Energy
Corporation erleichtert, um damit – oder waren die Pfandbriefe vom
Brewster-Konto gekommen? Brewster besaß viele Anteile von
Energiebetrieben. Das gleiche galt für Howard, aber auf dessen Konto,
gingen bevorzugt Mid-Atlantic Power-Anteile, konnte sich also darauf
auch noch ein Haufen Southeast Energy befinden? Auf alle Fälle hatte er
die Pfand briefe beim Züricher Termingeschäft mit Uran eingesetzt, oder
sicherten sie seine Beteiligung an der Öl-Geschichte in der Antarktis ab?
Er konnte sich nicht erinnern.

Er konnte sich nicht erinnern.
Er konnte sich nicht erinnern.
Jede Transaktion hatte ihr eigenes Fach besessen. Plötzlich waren die

Trennwände verschwunden. In seinem Gehirn pur zelten Ziffern umher, als
befände sich sein Kopf im freien Fall. Sämtliche Geschäfte von heute
wirbelten durcheinander. Es erschreckte ihn. Er begann sein Essen
herunterzuschlingen, wollte nur noch hier weg, wollte Helene loswerden,

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es bis nach Hause schaffen und seine Aktivitäten vom vergangenen Nach-
mittag rekonstruieren. Seltsamerweise konnte er sich ganz deutlich an alles
erinnern, was er gestern unternommen hatte - das Xerox-Switchgeschäft,
die Stahl-Arbitrage – aber der heutige Tag wurde von Minute zu Minute
verschwommener.

“Geht's dir nicht gut?” fragte Helene.
“Nein”, sagte er. “Ich habe mir irgendwas geholt.”
“Den Venus-Virus. Alle Welt hat ihn zur Zeit.”
“Ja, das muß es sein. Der Venus-Virus. Du solltest dich heute abend

lieber von mir fernhalten.”

Sie ließen das Dessert aus und machten sich schnell aus dem Staub. Er

setzte Helene bei ihrer Wohnung ab; sie schien kaum enttäuscht zu sein,
was ihn beunruhigte, jedoch lange nicht so sehr wie das, was mit seinem
Gedächtnis geschah. Als er endlich allein war, versuchte er die Ereignisse
seines Arbeitsta ges in Umrissen aufzuschreiben, aber inzwischen war ihm
noch mehr entfallen. Im Restaurant hatte er noch gewußt, mit wel chen
Aktien er zu tun gehabt hatte, obwohl er sich nicht sicher gewesen war,
was er mit ihnen gemacht hatte. Jetzt konnte er sich nicht einmal mehr der
Namen der Papiere entsinnen. Er hatte Millionen von Dollar, die anderen
Leuten gehörten, für sich verplant, und jedes Detail dieser Transaktionen
war in seinem Gehirn gespeichert, und sein Gehirn war dabei, sich
aufzulösen. Zu dem Zeitpunkt, als Paul Mueller anrief, kurz nach
Mitternacht, war Munson bereits der Verzweiflung nahe. Er war
erleichtert, wenn auch nicht gerade erheitert, als er erfuhr, daß dieser
seltsame Einfluß, der sein Gedächtnis ange griffen hatte, Mueller noch viel
härter getroffen hatte. Mueller hatte alles vergessen, was seit letztem
Oktober geschehen war.

“Du bist bankrott gegangen”, mußte Munson ihm erklären. “Du hattest

diesen wirren Plan ausgeheckt, eine zentrale Makleragentur für
Kunstwerke einzurichten, eine Art Effekten börse – ein Unterfangen, wie
es nur ein Künstler in Angriff nehmen würde. Ich konnte dich nicht davon
abbringen. Dann hast du begonnen, Wechsel zu unterschreiben und an
Bedin gungen geknüpfte Verbindlichkeiten einzugehen, und ehe das

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Projekt sechs Wochen alt war, hattest du ein halbes Dutzend Zivilklagen
am Hals, und die ganze Sache begann zu kippen.”

“Wann genau ist das passiert?”
“Die Idee ist dir Anfang November gekommen. Um Weih nachten warst

du schon in großen Schwierigkeiten. Du hattest bereits einen Haufen
persönliche Schulden aus der Zeit davor, die unbezahlt geblieben waren,
und dein Guthaben schmolz dahin und in deiner Arbeit bist du an eine
schreckliche Sperre geraten und hast überhaupt nichts mehr zustande
gebracht. Kannst du dich wirklich an überhaupt nichts mehr von alledem
erinnern, Paul?”

“An gar nichts.”
“Nach dem ersten Januar fingen die Gläubiger, die am schnellsten

reagierten, damit an, gegen dich Verfügungen zu erwirken. Sie pfändeten
alles, was dir gehörte, außer den Möbeln und dann holten sie auch noch
die Möbel. Du hast von all deinen Freunden geborgt, aber sie konnten dir
nicht annä hernd genug geben, weil du dir Tausende geliehen hast und
Hunderttausende schuldig warst.”

“Um wie viel bin ich dich angegangen?”
“Um elf Riesen”, sagte Munson. “Aber mach dir darüber jetzt keine

Sorgen.”

“Mache ich mir auch nicht. Ich mache mir um gar nichts Sorgen. In

meiner Arbeit war eine Sperre aufgetreten, sagst du?” Mueller kicherte.
“Die ist jedenfalls verschwunden. Es juckt mich geradezu, mit der Arbeit
anzufangen. Alles, was ich brauche, ist Werkzeug - ich meine Geld, um
mir Werkzeug zu kaufen.”

“Was würde das denn kosten?”
“Zweieinhalb Riesen”, sagte Mueller.
Munson räusperte sich. “Na gut. Ich kann das Geld nicht auf dein

Konto überweisen, weil deine Gläubiger es sofort pfänden lassen würden.
Ich hole etwas Bargeld von der Bank. Du kannst morgen drei Riesen
haben, und ich gönne sie dir.”

“Du bist ein Engel, Freddy”, sagte Mueller. “Diese Art

Gedächtnisschwund ist eine gute Sache. Ich habe mir so viele Sorgen um

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Geld gemacht, daß ich nicht mehr arbeiten konnte. Jetzt mache ich mir
überhaupt keine Sorgen mehr. Ich nehme an, ich habe immer noch
Schulden, aber ich rege mich nicht darüber auf. Erzähl mir jetzt, was mit
meiner Ehe passiert ist.”

“Carole hatte dich satt und die Schnauze voll”, sagte Mun son. “Sie war

von Anfang an gegen deinen Einstieg ins Geschäftsleben. Als dieses Leben
dich aufzufressen begann, hat sie getan, was sie konnte, um dich daraus zu
befreien, aber du wolltest unbedingt mit noch mehr Krediten die
Geschichte durchziehen, und da hat sie die Scheidung eingereicht. Als sie
frei war, hat Peter Castine zugeschlagen und sie sich gekrallt.”

“Das ist der Teil der Geschichte, den ich am wenigsten glauben kann.

Daß sie einen Kunsthändler heiraten würde, einen vollkommen
unkreativen Menschen, einen – einen Para siten eigentlich –”

“Sie waren schon immer gut miteinander befreundet”, sagte Munson.

“Ich möchte nicht behaupten, er war ihr Geliebter, weil ich darüber nichts
Genaues weiß, aber sie standen sich nahe. Und Pete ist eigentlich gar nicht
so schrecklich. Er besitzt Geschmack, Intelligenz, alles was ein Künstler
braucht, außer Begabung. Ich halte es sowieso für gut möglich, daß sie
begabte Menschen satt hatte.”

“Wie habe ich es aufgenommen?” fragte Mueller.
“Du schienst es kaum zu bemerken, Paul. Du warst zu sehr mit deinen

Finanzschiebereien beschäftigt.”

Mueller nickte. Er schlenderte zu einer seiner eigenen Arbei ten hinüber,

einem drei Meter hohen Arrangement aus oszillie renden Metallstäben,
welches das ganze Klangspektrum bis in die höchsten Kilohertzbereiche
durchlief, und fuhr mit zwei Fingern über das Aktivatorauge. Die Skulptur
begann zu raunen.

Nach ein paar Augenblicken sagte Mueller: “Du hast dich furchtbar

aufgeregt angehört, als ich dich anrief, Freddy. Du sagst, du würdest auch
unter einer Art Amnesie leiden?”

Bemüht, gelassen zu erscheinen, sagte Munson: “Ich stelle fest, daß ich

mich an einige wichtige Transaktionen, die ich heute durchgeführt habe,
nicht mehr erinnern kann. Unglück licherweise sind sie außer in meinem

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Kopf nirgendwo aufge zeichnet. Aber vielleicht werden mir die
Informationen wieder einfallen, wenn ich erst mal darüber geschlafen
habe.”

“Dabei kann ich dir überhaupt nicht helfen.”
“Nein. Das kannst du nicht.”
“Woher kommt diese Amnesie, Freddy?”
Munson zuckte die Achseln. “Vielleicht hat jemand eine Droge in die

Wasserversorgung getan oder die Nahrungsmittel vergiftet oder so was.
Heutzutage weiß man ja nie. Hör mal. Ich habe noch zu tun, Paul. Falls du
heute nacht hier schlafen willst –”

“Ich bin hellwach, danke. Ich komme morgen früh wieder vorbei.”
Nachdem der Bildhauer gegangen war, bemühte sich Mun son eine

Stunde lang fieberhaft, seine Daten zu rekonstruieren, aber es gelang ihm
nicht. Kurz vor zwei nahm er eine Vier- Stunden-Schlaftablette. Als er
wieder aufwachte, erkannte er voller Entsetzen, daß er an die Zeit vom l.
April bis zum gestrigen Mittag überhaupt keine Erinnerung mehr hatte.
Wäh rend dieser fünf Wochen hatte er zahllose Wertpapiertransaktionen
getätigt, wobei er anderer Leute Eigentum als Sicher heiten benutzt und auf
seine Fähigkeit vertraut hatte, jedes Teilchen in seinem Puzzlespiel wieder
an seinen angestammten Platz zurücklegen zu können, ehe die
Wahrscheinlichkeit bestand, daß jemand danach suchte. Er hatte immer
die Fähig keit besessen, sich an alles zu erinnern. Jetzt konnte er sich an
gar nichts mehr erinnern. Er betrat wie immer um sieben Uhr früh sein
Büro und schaltete sich gewohnheitsmäßig in die Datenkanäle ein, um die
Züricher und Londoner Notierungen zu studieren, aber die auf dem
Schirm erscheinenden Preise sagten ihm nichts, und da wußte er, daß es
um ihn geschehen war.

Im gleichen Augenblick am Donnerstagmorgen löste der Haus computer

von Dr. Timothy Bryce einen Impuls aus, und die Weckstimme in seinem
Kopfkissen sagte ruhig, aber bestimmt: “Es ist Zeit, aufzuwachen, Dr.
Bryce.” Er regte sich, blieb jedoch liegen. Nach Ablauf der vorgegebenen
zehn Sekunden sagte die Stimme in etwas schärferem Tonfall: “Es ist Zeit,

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aufzuwachen, Dr. Bryce.” Gerade noch rechtzeitig richtete Bryce sich auf;
das Heben des Kopfes vom Kissen schaltete die dritte, erheblich
strengere Wiederholung aus, der die ersten Akkorde der
Jupiter-symphonie gefolgt wären. Der Psychiater öffnete die Augen.

Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß er das Bett mit einem

bestechend attraktiven Mädchen teilte.

Sie war honigblond, mit tief gebräunter Haut, hellbraunen Augen, vollen,

blassen Lippen und einem geschmeidigen, ele ganten Körper. Sie wirkte
ziemlich jung, gut zwanzig Jahre junger als er – so etwa zwischen fünf- und
achtundzwanzig Jahre alt. Sie war unbekleidet und in tiefen Schlaf
versunken, wobei ihre Unterlippe zu einer Art unwillkürlichem Schmollen
herabgesunken war. Weder ihre Jugend noch ihre Schönheit oder ihre
Nacktheit überraschten ihn, verwirrend fand er lediglich, daß er keine
Ahnung hatte, wer sie war oder wie sie dazu kam, bei ihm im Bett zu
liegen. Er hatte das Gefühl, sie noch nie gesehen zu haben. Jedenfalls
wußte er ihren Namen nicht. Hatte er sie gestern abend bei irgendeiner
Party aufgegabelt? Irgend wie konnte er sich nicht erinnern, wo er gestern
abend gewesen war. Er berührte sanft ihren Ellbogen.

Sie erwachte schnell, klapperte mit den Augenlidern, schüt telte den

Kopf.

“Oh”, sagte sie, als sie ihn erblickte, und zog die Bettdecke bis unter

den Hals hoch. Dann ließ sie sie mit einem Lächeln wieder sinken. “Was
für ein Unsinn. Es hat keinen Zweck, jetzt noch schamhaft zu sein, will mir
scheinen.”

“Mir auch. Hallo.”
“Hallo”, sagte sie. Sie wirkte genauso verwirrt wie er.
“Es hört sich wahrscheinlich dumm an”, sagte er, “aber irgend jemand

muß mir gestern abend ein kurioses Kraut untergejubelt haben, denn ich
furchte, ich bin mir nicht sicher, wie ich dazu gekommen bin, Sie mit nach
Hause zu nehmen. Oder wie Sie heißen.”

“Lisa”, sagte sie. “Lisa – Falk.” Sie stolperte über den Nach namen.

“Und Sie sind –”

“Tim Bryce.”

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“Sie erinnern sich nicht, wo wir uns kennengelernt haben?”
“Nein”, sagte sie.
“Ich auch nicht.”
Er stieg aus dem Bett, wobei ihn seine eigene Nacktheit zögern ließ,

aber er unterdrückte seine Hemmungen. “Also muß man uns beiden das
Gleiche zu rauchen gegeben haben. Weißt du” – er grinste schüchtern –
“ich kann mich nicht einmal erinnern, ob wir uns gestern abend zusammen
gut amüsiert haben. Ich hoffe, daß es so war.”

“Ich glaube, ja”, sagte sie. “Ich kann mich auch nicht daran erinnern.

Aber ich fühle mich von innen her wohl – so, wie ich mich sonst fühle,
wenn ich –” Sie hielt inne. “Wir können uns nicht erst gestern abend
kennen gelernt haben, Tim.”

“Woher willst du das wissen?”
“Ich habe das Gefühl, als würde ich dich schon länger kennen.”
Bryce zuckte die Achseln. “Ich sehe nicht ganz, wie. Ich meine, ohne

jetzt allzu grob klingen zu wollen, offenbar waren wir gestern abend beide
high, so richtig gut drauf, und da haben wir uns kennen gelernt und sind
hierher gekommen, und –”

“Nein. Ich fühle mich hier zu Hause. Als wäre ich vor vielen Wochen

hier bei dir eingezogen.”

“Ein wunderbarer Gedanke. Aber ich bin sicher, daß du das nicht getan

hast.”

“Warum fühle ich mich dann hier so zu Hause?”
“In welcher Hinsicht?”
“In jeder Hinsicht.” Sie ging zum Schlafzimmerschrank hin über und ließ

ihre Hand auf der Tastplatte ruhen. Die Schrank tür glitt auf; offenbar hatte
er den Hauscomputer auf ihre Fingerabdrücke eingestellt. Hatte er das
auch gestern abend getan? Sie griff hinein. “Meine Sachen”, sagte sie.
“Schau. All diese Kleider, Mäntel, Schuhe. Eine komplette Garderobe. Es
kann keinen Zweifel geben. Wir haben zusammengelebt und können uns
nicht daran erinnern!”

Ein kalter Schauer überlief ihn. “Was hat man mit uns angestellt? Ziehen

wir uns an und frühstücken, dann gehen wir zusammen ins Krankenhaus

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und lassen uns untersuchen. Wir -”

“Ins Krankenhaus?”
“Ins Fletcher Memorial. Ich arbeite dort in der neurologi schen

Abteilung. Was immer man uns auch gestern abend verabreicht hat,
jedenfalls leiden wir davon beide unter lakunärer, retrograder Amnesie –
einer Lücke in unserem Gedächt nis -, und es könnte etwas Ernstes sein.
Falls es Gehirnschä den verursacht hat, sind sie vielleicht noch nicht
irreversibel, oder wir können es uns nicht leisten, damit zu spaßen.”

Sie fuhr sich ängstlich mit der Hand an den Mund. Bryce verspürte

plötzlich das dringende Bedürfnis, diese wunder schöne Fremde zu
beschützen, sie zu behüten und zu trösten, und er erkannte, daß er in sie
verliebt sein mußte; obwohl er sich nicht erinnern konnte, wer sie war. Er
durchquerte das Zimmer, um sie kurz, aber innig zu umarmen; sie reagierte
freudig auf seine Umarmung, wobei sie ein wenig zitterte. Um Viertel vor
acht hatten sie das Haus verlassen und waren bei ungewöhnlich geringem
Verkehr unterwegs zur Klinik. Bryce führte das Mädchen eilig zum
Personalaufenthaltsraum. Ted Kamakura war bereits anwesend und
umgezogen. Der kleine japanische Psychiater nickte kurz und sagte:
“Morgen, Tim.” Dann blinzelte er. “Guten Morgen, Lisa. Wie kommt es,
daß du hier bist?”

“Kennst du sie?” fragte Bryce.
“Was ist das denn für 'ne Frage?”
“Eine todernste.”
“Natürlich kenne ich sie”, sagte Kamakura, und sein Begrü ßungslächeln

verschwand abrupt. “Warum? Ist daran irgend was nicht in Ordnung?”

“Du kennst sie vielleicht, aber ich nicht”, sagte Bryce.
“Oh mein Gott. Nicht auch noch du!”
“Sag' mir, wer sie ist, Ted.”
“Sie ist deine Frau, Tim. Du hast sie vor fünf Jahren gehei ratet.”
Um halb zwölf am Donnerstagvormittag hatte die Familie Gerard alle

Vorbereitungen getroffen und war für den mittägli chen Ansturm im Petit
Pois gerüstet. Die Suppe brodelte im Topf, die Bleche mit Escargots
standen bereit, um in den Ofen geschoben zu werden und die Saucen

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nahmen Gestalt an. Pierre Gerard war ein wenig überrascht, als die
meisten seiner mittäglichen Stammgäste nicht erschienen. Selbst Mr.
Munson, der sonst immer pünktlich um halb zwölf eintraf, war nicht
gekommen. Einige dieser Männer hatten seit fünfzehn Jahren an keinem
Wochentag den Lunch im Petit Pois ausgelassen. An der Börse muß sich
etwas Schreckliches ereignet haben, dachte Pierre, das all diese Geldleute
an ihre Schreibtische fesselt, und nun sind sie zu beschäftigt, anzurufen und
ihre Tischreservie rung abzubestellen. Das mußte die Antwort sein. Es war
undenkbar, daß irgendeiner seiner Stammgäste vergessen würde, ihn
anzurufen. An der Börse mußte der Teufel los sein. Pierre ermahnte sich,
daran zu denken, daß er nach dem Lunch seinen Makler anrufen und
herausfinden mußte, was vorging.

Gegen zwei Uhr am Donnerstagnachmittag ging Paul Mueller bei

Metchinkoff's Art Supplies vorbei, dem Künstlerbedarfsla den in North
Beach, um zu versuchen, einen Lötkolben, etwas Rohmetall,
Lautsprecherfarbe und all die anderen Dinge zu bekommen, die er für die
Wiedergeburt seiner Bildhauerkar riere benötigte. Metchnikoff begrüßte
ihn mürrisch mit den Worten: “Bei mir bekommen Sie keinen Kredit, Mr.
Mueller, nicht einmal fünf Cents!”

“Das geht schon in Ordnung. Diesmal zahle ich bar.”
Die Miene des Händlers hellte sich auf. “In dem Fall geht es vielleicht in

Ordnung. Haben Sie Ihre Schwierigkeiten über wunden?”

“Ich hoffe es”, sagte Mueller.
Er gab seine Bestellung auf. Sie belief sich auf etwa $ 2.300 als der

Zeitpunkt zum Bezahlen gekommen war, erklärte er, daß er nur mal kurz
in die Montgomery Street laufen müsse, um das Geld von seinem Freund
Freddy Munson zu holen, der drei Riesen für ihn bereithielt. Metchnikoff
begann wieder finster dreinzublicken. “Fünf Minuten!” rief Mueller. “Ich
bin in fünf Minuten zurück!” Aber als er Munsons Büro betrat, stellte er
fest, daß überall Aufruhr herrschte und Munson nicht da war. “Hat er
einen Umschlag für Mr. Mueller hinterlassen?” fragte er eine vollkommen
verwirrte Sekretärin. “Ich sollte heute nachmittag hier etwas Wichtiges
abholen. Würden Sie bitte mal nachschauen?” Das Mädchen rannte

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einfach vor ihm davon. Ebenso das nächste Mädchen. Ein stämmiger
Makler teilte ihm mit, er solle aus dem Büro verschwinden. “Wir haben
geschlossen, Mann”, brüllte er. Verwirrt ging Mueller wieder.

Da er sich nicht traute, mit der Nachricht zu Metchnikoff

zurückzukehren, daß es ihm doch nicht gelungen war, das Geld auf
zutreiben, ging Mueller einfach nach Hause. Drei Mahnroboter belagerten
seine Wohnungstür, und alle began nen sie ihre Hiobsbotschaften zu
krächzen, als er erschien. “Tut mir leid”, sagte Mueller, “ich kann mich an
all das überhaupt nicht erinnern”, dann betrat er seine Wohnung und ließ
sich auf dem nackten Boden nieder, wütend, weil er an all die brillanten
Stücke dachte, die er hätte schaffen können, wäre er nur irgendwie an
Werkzeug gekommen. Statt dessen machte er Skizzen. Wenigstens hatten
die Leichenfledderer ihm Bleistift und Papier gelassen. Na ja, das war
vielleicht nicht so effizient wie ein Computerschirm und ein Lichtgriffel,
aber Michel angelo und Benvenuto Cellini waren auch ganz gut ohne Com-
puterschirme und Lichtgriffel ausgekommen.

Um vier Uhr klingelte es an der Tür.
“Verschwinde”, sagte Munson durch die Gegensprechanlage. “Wende

dich an meinen Finanzberater! Ich will keine Mahnun gen mehr hören, und
das nächste Mal, wenn ich einen von euch idiotischen Robotern vor
meiner Tür antreffe, dann –”

“Ich bin's, Paul”, sagte eine nichtmechanische Stimme.
Carole.
Er eilte zur Tür. Dort draußen standen sieben Roboter und umringten

sie, versuchten, durch die Tür zu kommen, aber er stieß die Belagerer
zurück, so daß sie eintreten konnte. Ein Roboter durfte es nicht wagen, ein
menschliches Wesen anzu rühren. Er knallte ihnen die Tür vor den
metallenen Nasen zu und verriegelte sie.

Carole sah gut aus. Ihr Haar war länger als zu seiner Zeit, sie hatte etwa

acht Pfund zugenommen, verteilt auf all die richti gen Stellen, und sie trug
einen schillernden Umhang mit Guck löchern, den er nie zuvor gesehen
hatte und der eigentlich nicht das richtige Kleidungsstück für den
Nachmittag war, ihr jedoch hervorragend stand. Sie wirkte mindestens

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fünf Jahre jünger, als sie in Wirklichkeit war; offenbar waren ihr andert halb
Monate Ehe mit Peter Castine besser bekommen als neun Jahre Ehe mit
Paul Mueller. Sie strahlte einen gewissen Glanz aus. Außerdem wirkte sie
nervös und angespannt, aber das schien nur oberflächlich zu sein, das
Produkt irgendeiner Auf regung der letzten paar Stunden.

“Ich scheine meinen Schlüssel verloren zu haben”, sagte sie.
“Was willst du hier?”
“Ich verstehe dich nicht, Paul.”
“Ich meine, warum bist du hierher gekommen?”
“Ich wohne hier.”
“Tatsächlich?” Er lachte rauh. “Sehr witzig.”
“Du hattest schon immer einen seltsamen Sinn für Humor, Paul.”
Sie trat an ihm vorbei. “Nur daß es sich hierbei um keinen Witz handelt.

Wo ist denn alles geblieben? Die Möbel, Paul. Meine Sachen.” Plötzlich
brach sie in Tränen aus. “Ich glaube, ich werde verrückt. Heute morgen
wache ich in einem völlig fremden Apartment auf, völlig alleine, dann
verbringe ich den ganzen Tag damit, wie betäubt herumzuwandern, was
ich überhaupt nicht begreife, und nun komme ich endlich nach Hause und
stelle fest, daß du unseren gesamten verdammten Besitz verpfändet hast
oder so was, und –” Sie biß sich auf die Knöchel. “Paul?”

Es hat sie auch erwischt, dachte er. Die Amnesie-Epidemie.
Ruhig sagte er. “Es mag sich komisch anhören, daß ich dich das frage,

Carole, aber könntest du mir sagen, was wir heute für ein Datum haben?”

“Also – den vierzehnten September – oder haben wir den fünfzehnten

–”

“2002?”
“Was glaubst du denn? 1776?”
Es hat sie noch schlimmer erwischt als mich, sagte sich Mueller. Sie hat

einen ganzen Monat mehr verloren. Sie erin nert sich nicht an meinen
Versuch, ins Geschäftsleben einzu steigen. Sie erinnert sich nicht, daß ich
all mein Geld verloren habe. Sie erinnert sich nicht daran, daß sie sich hat
von mir scheiden lassen. Sie glaubt immer noch, sie sei meine Frau.

“Komm hier herein”, sagte er und führte sie ins Schlafzim mer. Er deutete

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auf das Feldbett, das an der gleichen Stelle stand, wo sich vorher ihr
Ehebett befunden hatte. “Setz dich, Carole. Ich werde versuchen, es dir
zu erklären. Es wird nicht sehr viel Sinn ergeben, aber ich werde es zu
erklären ver suchen.”

Unter den gegebenen Umständen wurde das Konzert des gastierenden

New Yorker Philharmonischen Orchesters am Donnerstagabend
abgesagt. Trotzdem versammelte sich das Orchester um halb drei am
Nachmittag zu einer Probe. Die Gewerkschaft bestand auf einer gewissen
Anzahl – bezahlter - Proben pro Woche; und deshalb probte das
Orchester unge achtet der verheerenden Umwälzungen, die sich in der
Außen welt abspielten. Aber es gab Probleme. Maestro Alvarez, der einen
elektronischen Dirigentenstab benutzte und stolz darauf war, daß er ohne
Partitur dirigierte, drückte den Knopf für einen Auftakt, und mit einem
Gefühl, als stürze er durch eine Falltür, stellte er plötzlich fest, daß die
Vierte von Brahms vollständig aus seinem Gedächtnis verschwunden war.
Das Orchester reagierte holperig auf seine zögernde Anleitung; einige der
Musiker hatten keinerlei Schwierigkeiten, aber der Konzertmeister starrte
entgeistert auf seine linke Hand und fragte sich, wie er wohl die Finger auf
die Saiten setzen müsse, um die Töne zu erzeugen, die seine Violine
hervorzubringen hatte, und die zweite Oboe konnte die richtigen Klappen
nicht finden, und der erste Fagottist hatte es noch nicht einmal geschafft,
sich zu erinnern, wie sein Instrument zusammenzu setzen war.

Gegen Abend war es Tim Bryce gelungen, sich die Geschichte soweit

zusammenzureimen, daß er begriff, was da nicht nur ihm und Lisa, sondern
der gesamten Stadt passiert war. Eine oder mehrere Drogen, die mit
ziemlicher Sicherheit über die kommunale Wasserversorgung verbreitet
worden waren, hat ten dazu geführt, daß beinahe jedermann das
Gedächtnis ver sagte. Das ist halt der Haken am modernen Leben, dachte
Bryce, daß uns die Technologie jedes Jahr die Möglichkeit zu immer
neuen, komplizierteren Katastrophen an die Hand gibt, aber sie befähigt

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uns offenbar nicht dazu, uns vor ihnen zu schützen. Gedächtnisdrogen
waren ein alter Hut, es gab sie seit dreißig, vierzig Jahren. Er selber hatte
sich ausführlich mit mehreren Arten beschäftigt. Erinnerung ist einesteils ein
che mischer Prozeß, andernteils ein elektrischer, einige der Drogen setzten
am elektrischen Ende an und blockierten die Synapsen, über die sich
Gehirnströme fortpflanzen, wieder andere entfal teten im molekularen
Zellgewebe ihre Wirkung, in dem Lang zeiterinnerungen festgelegt sind.
Bryce wußte, wie man das Kurzzeitgedächtnis zerstört, indem man die
synaptische Über tragung behindert, und er wußte, wie man das
Langzeitge dächtnis

zerstört,

indem

man

die

komplexen

Ribonukleinsäure-Ketten vernichtet, jene RNS des Gehirns, mittels derer
es dem Gehirn eingeprägt wird. Aber derartige Drogen hatten experi-
mentellen Charakter, waren unzuverlässig und unvorherseh bar in ihrer
Wirkung; er hatte Bedenken gehabt, sie auf menschliche Versuchsobjekte
anzuwenden; mit Sicherheit aber wäre es ihm nie eingefallen, jemand
könne sie einfach in eine Wasserleitung schütten und einer ganzen Stadt
eine simultane Lobotomie verpassen.

Sein Büro im Fletcher Memorial war zu einer improvisierten

Operationszentrale für ganz San Francisco geworden. Der Bürgermeister
war da, bleich und verhärmt; der Polizeichef drehte ihnen, erschöpft und
ratlos wie er war, von Zeit zu Zeit den Rücken zu und warf eine Pille ein;
ein benommen dreinblickender Medienbeauftragter lungerte in einer
Zimmerecke herum und überwachte nervös das hastig aufgebaute
Kommunika tionssystem, mit dem das von Bryce einberufene Komitee für
öffentliche Sicherheit seine Anweisungen überall in der Stadt
bekanntmachen konnte.

Der Bürgermeister war zu gar nichts zu gebrauchen. Er konnte sich nicht

einmal erinnern, je für das Amt kandidiert zu haben. Der Polizeichef war in
noch schlimmerer Verfassung, er war die ganze Nacht aufgewesen, weil er
unter anderem seine Privatadresse vergessen hatte und sich scheute, einen
Compu ter danach zu fragen, aus Angst, wegen Trunkenheit seinen Job zu
verlieren. Inzwischen war sich der Polizeichef der Tatsache bewußt, daß
er nicht der einzige in der Stadt war, der heute Probleme mit dem

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Gedächtnis hatte, und er hatte in den Akten seine Adresse nachgeschlagen
und sogar schon mit seiner Frau telefoniert, aber er war dem
Zusammenbruch nahe. Bryce hatte darauf bestanden, daß beide Männer
als Symbole der öffentli chen Ordnung dablieben; er wollte allerdings nur
ihre Gesich ter und ihre Stimmen zu seiner Verfügung haben, nicht ihren
strohköpfigen offiziellen Beistand.

Darüber hinaus hatte sich etwa ein Dutzend sehr verschie denartiger

Bürger in Bryces Büro versammelt. Um fünf Uhr nachmittags hatte er über
sämtliche Medien einen Appell aus gegeben und jedermann, dessen
Erinnerung an kürzlich Ver gangenes erhalten geblieben war, gebeten, zum
Fletcher Memorial zu kommen. “Sollten Sie in den vergangenen
vierundzwanzig Stunden kein städtisches Leitungswasser zu sich
genommen haben, sind Sie vermutlich gesund. Kommen Sie hierher. Wir
brauchen Sie.”

Er hatte eine recht merkwürdige Versammlung angelockt. Da gab es

den stocksteifen, greisen Weltraumhelden Taylor Braskett, einen
Körnerfresser, der ausschließlich Gebirgswasser trank. Da gab es eine
Familie französischer Gastwirte, Mutter, Vater, drei erwachsene Kinder,
die aus ihrer Heimat eingeflo genem Mineralwasser den Vorzug gaben. Da
gab es einen Computerverkäufer mit Namen McBurney, der sich
geschäftlich in Los Angeles aufgehalten und nichts von dem verseuch ten
Wasser zu sich genommen hatte. Da gab es einen pensio nierten Polizisten
namens Adler, der in Oakland wohnte, wo keine Gedächtnislücken
auftraten; er war von jenseits der Bucht herbeigeeilt, sobald er hörte, daß
San Francisco Pro bleme hatte. Das war vor dem Zeitpunkt gewesen, an
dem auf Bryces Anordnung hin jeglicher Zugang zur Stadt gesperrt
worden war. Und es gab noch ein paar andere von zweifelhaf tem Nutzen,
jedoch mit eindeutig intaktem Gedächtnis.

Die drei Bildschirme, die der Kommunikationsmensch auf gestellt hatte,

lieferten Bildfolgen von wichtigen Punkten in der Stadt. Soeben
überwachte einer davon den Fisherman's-Wharf-Distrikt von einer
Kamera hoch über dem Ghirardelli Square aus, einer verschaffte einen
Überblick über das Ban kenviertel von einem Hubschrauber über dem

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alten Ferry Buil ding Museum aus, und einer übertrug Bilder, die von einem
fahrenden Lastwagen im Golden Gate Park aufgenommen wurden.
Überall glichen sich die Szenen: umherirrende Men schen, die Fragen
stellten und keine Antworten bekamen. Noch gab es keine offenkundigen
Hinweise auf Plünderun gen. Nirgendwo brannte es. Die Polizei, jedenfalls
der Teil, der bei Verstand geblieben war, befand sich im verstärkten
Einsatz, und Aufruhrbekämpfungsroboter patrouillierten auf den
Hauptverkehrsstraßen, nur für den Fall, daß man sie brauchte, um ihre
erstickenden Schaumteppiche über plötzlich in Panik geratene
Menschenansammlungen zu versprühen.

Bryce wandte sich an den Bürgermeister: “Ich möchte, daß Sie um halb

sieben über alle Medien den Appell verbreiten, Ruhe zu bewahren. Wir
werden Sie mit allem versorgen, was Sie zu sagen haben.”

Der Bürgermeister stöhnte.
Bryce sagte: “Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihnen die ganze

Rede über Knochenleitung vorsagen. Konzen trieren Sie sich nur darauf,
deutlich zu sprechen und direkt in die Kamera zu schauen. Wenn Sie als
völlig verängstigter Mann rüberkommen, kann das für uns alle das Ende
bedeu ten. Wenn Sie cool aussehen, kommen wir womöglich durch.”

Der Bürgermeister schlug sich die Hände vors Gesicht.
Ted Kamakura flüsterte: “Du kannst ihn nicht über den Äther schicken,

Tim! Er ist ein Wrack, und jeder wird das sehen!”

“Der Bürgermeister der Stadt muß sich zeigen”, beharrte Bryce.

“Verpaß' ihm einen doppelten Schuß Beruhigungsmittel. Laß' ihn diese
eine Rede halten, und dann können wir ihn aufs Altenteil schicken.”

“Und wer soll dann der offizielle Sprecher sein?” fragte Kamakura.

“Du? Ich? Polizeichef Dennison?”

“Ich weiß nicht”, murmelte Bryce. “Wir brauchen eine Auto ritätsfigur,

die alle halbe Stunde oder so Bekanntmachungen verliest, und ich werde
verdammt keine Zeit dazu haben. Du auch nicht. Und Dennison -”

“Meine Herren, dürfte ich einen Vorschlag machen?” Es war der alte

Raumfahrer Braskett, der das sagte. “Ich habe den Wunsch, mich als
Sprecher zur Verfügung zu stellen. Sie müssen zugeben, ich strahle eine

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gewisse Autorität aus. Und ich bin es gewohnt, vor der Öffentlichkeit zu
sprechen.”

Bryce verwarf die Idee sofort. Dieser reaktionäre Irre, dieser

passionierte Schreiber wirrer Leserbriefe an jedes Nachrichtenmedium im
Staat, dieser Paul Revere der Neuzeit? Er als Sprecher des Komitees?
Aber noch während er diese Idee verwarf, akzeptierte er sie. Niemand
achtete im Grunde auf derartig abwegige politische Aktivitäten;
wahrscheinlich kann ten neun von zehn Leuten in San Francisco Braskett
wenn überhaupt, nur als Helden der Ersten Marsexpedition. Außer dem
war er ein ansehnlicher alter Gaul, in eleganter Manier und hager. Tiefe
Stimme, standhafter Blick. Ein Mann voller Kraft und Präsenz.

Bryce sagte: “Commander Braskett, falls wir Sie zum Vorsit zenden des

Komitees für öffentliche Sicherheit ernennen –”

Ted Kamakura gab ein Keuchen von sich.
“ – hätte ich dann Ihre Zusicherung, daß sämtliche Meldun gen, die Sie

abgeben würden, sich ausschließlich auf politische Äußerungen
beschränken, die vom gesamten Komitee getra gen werden.”

Commander Braskett lächelte eisig. “Sie wollen mich als Galionsfigur

benutzen, ist es das?”

“Als unseren Sprecher, mit dem offiziellen Titel eines Vorsit zenden.”
“Wie ich schon sagte: als Galionsfigur. Na gut, ich bin einver standen. Ich

werde wie eine brave Marionette meinen Text abliefern, und ich werde
nicht versuchen, einen meiner radika len, extremistischen Gedanken in
meine Äußerungen einfließen zu lassen. Ist es das, was Sie wünschen?”

“Ich glaube, wir verstehen uns ganz richtig”, sagte Bryce und lächelte

und wurde ebenfalls überraschend herzlich angelä chelt.

Nun hackte er auf sein Datenpult ein. Jemand im Pathologie labor acht

Stockwerke unter seinem Büro meldete sich, und Bryce sagte: “Liegt
schon eine aktuelle Analyse vor?”

“Ich verbinde Sie mit Dr. Madison.”
Madison erschien auf dem Bildschirm. Er war eigentlich Leiter der

Radioisotopenabteilung des Krankenhauses: ein muskulöser, rotgesichtiger
Mann, der aussah, als müsse er von Beruf Brauereivertreter sein. Er

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verstand etwas von seinem Fach. “Wir haben das natürlich bereits vor
anderthalb Stunden theoretisch angenommen, aber nun gibt's keinen
Zweifel mehr. Ich habe Spuren von zwei verschiedenen gedächtnislähmen-
den Drogen entdeckt, und es besteht die Möglichkeit, daß noch eine dritte
vorhanden ist. Wer das auch gewesen sein mag, er ist kein Risiko
eingegangen.”

“Was sind das für Drogen?” fragte Bryce.
“Nun ja, einmal wäre da ein kräftiger Schuß Acetylcholin-Terminase”,

sagte Madison, “was die Synapsen durcheinan derbringt und die Fixierung
des Kurzzeitgedächtnisses stört. Dann gibt's noch etwas anderes,
vermutlich ein Eiweiß lösen des Puromycin-Derivat, das sich an der
Gehirn-RNS zu schaf fen macht und weiter zurückliegende Erinnerungen
vernichtet. Ich habe außerdem den Verdacht, daß wir es mit einem der
neueren, im Versuchsstadium befindlichen Amnesieerzeugern zu tun
haben, mit etwas, das ich noch nicht isoliert habe und das in der Lage ist,
sehr tief einzudringen und ganz grundle gende notorische Muster zu
zerstören. Demnach haben die uns oben, unten und in der Mitte ihre
Schläge versetzt.”

“Das erklärt vieles. Die Kerle, die sich nicht entsinnen kön nen, was sie

gestern getan haben, die Kerle, die eine Portion ihrer Erinnerungen als
Erwachsene verloren haben, und die, die sich nicht einmal mehr an ihre
Namen erinnern können – das Zeug setzt bei den Leuten auf sämtlichen
Gedächtnisebe nen an.”

“Je nach individuell verschiedenem Metabolismus, Alter, Gehirnstruktur,

und danach, wie viel Wasser sie gestern trinken mußten, ja.”

“Ist die Wasserversorgung immer noch damit verseucht?” fragte Bryce.
“Ich würde mal versuchsweise sagen, nein. Ich habe mir Wasserproben

aus den in der Wasserversorgung stromaufwärts gelegenen Bezirken
kommen lassen, und dort ist alles in Ord nung. Das Wasseramt hat seine
eigene Überprüfung durchge führt; sie sagen das gleiche. Offenbar ist das
Zeug gestern früh ins System geraten, ist runter in die Stadt gekommen
und inzwischen generell verschwunden. Könnte sein, daß noch
Rückstände in den Leitungen sind; ich wäre jedenfalls auch heute noch

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vorsichtig mit dem Wassertrinken.”

“Und was sagt die Pharmakologie über die Wirksamkeit dieser

Drogen?”

Madison zuckte die Achseln. “Keine Ahnung. Das müßten Sie eher

wissen als ich. Läßt die Wirkung nach?”

“Nicht im gewöhnlichen Sinn”, sagte Bryce. “Es geschieht folgendes:

Das Gehirn stellt einen Notstromkreis auf und ver schafft sich allmählich
Zugang zu einem Duplikat der betroffe nen Erinnerungen – schaltet
sozusagen auf eine andere Band spur – vorausgesetzt, es war von Anfang
an ein Duplikat des in Frage kommenden Gehirnsektors vorhanden, und
vorausge setzt, das Duplikat ist nicht mit ausgelöscht worden. Einige Leute
werden in ein paar Tagen oder ein paar Wochen Teile ihres Gedächtnisses
wiederkriegen. Andere nicht.”

“Wunderbar”, sagte Madison. “Ich werde Sie auf dem Lau fenden

halten, Tim.”

Bryce unterbrach die Verbindung und sagte zu dem Kommu-

nikationsmann: “Haben Sie die Knochenleitung? Stecken Sie sie Seiner
Exzellenz hinters Ohr.”

Der Bürgermeister zuckte zusammen. Das kleine Instrument wurde an

Ort und Stelle befestigt.

Bryce sagte: “Herr Bürgermeister, ich werde Ihnen eine Rede diktieren,

und Sie werden sie über sämtliche Medien verbrei ten, und das ist das
Letzte, was ich von Ihnen verlange, bis Sie die Gelegenheit hatten, sich
wieder zu fangen. Okay? Hören Sie genau zu, was ich sage, sprechen Sie
langsam, und tun Sie so, als sei morgen Wahltag und Ihr Amt hinge davon
ab, wie gut Sie jetzt rüberkommen. Wir werden nicht live senden. Es wird
eine Verzögerung von fünfzehn Sekunden geben, und wir verfügen über
einen Löschkreis, so daß wir irgendwelche Ver sprecher korrigieren
können, und es besteht absolut kein Grund, Lampenfieber zu haben.
Konnten Sie mir soweit fol gen? Sind Sie bereit, alles zu geben, was Sie
haben?”

“Ich bin ganz benebelt.”
“Hören Sie mir einfach zu und wiederholen Sie vor der Kamera, was ich

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sage. Verlassen Sie sich auf Ihre Politikerre flexe. Hier haben Sie die
Chance, einen Helden aus sich zu machen. Wir machen in diesem Moment
Geschichte, Herr Bürgermeister. Was wir heute hier tun, wird ebensoviel
Beach tung finden wie die Vorgänge anläßlich des Großbrandes 1906.
Lassen Sie uns jetzt anfangen. Sprechen Sie mir nach. Ihr Menschen der
wunderbaren Stadt San Francisco -”

Die Worte kamen Bryce ohne Mühe von den Lippen, und, Wunder

über Wunder, der Bürgermeister nahm sie auf und sprach sie mit
deutlicher, herrlich tönender Stimme nach. Wäh rend er seine Rede
fortentwickelte, spürte Bryce, wie ihn ein überwältigendes Machtgefühl
durchströmte, und er stellte sich kurze Zeit vor, der gewählte Befehlshaber
der Stadt zu sein und nicht nur ein selbsternannter Notstandsdiktator. Das
war ein sehr interessantes, beinahe ekstatisches Gefühl. Lisa, die ihm
dabei zusah, schenkte ihm ein liebevolles Lächeln.

Er lächelte ihr zu. In diesem ruhmreichen Augenblick gelang es ihm

sogar beinahe, den Schmerz über das Wissen zu ignorie ren, daß er sein
gesamtes Gedächtnisarchiv über sein Leben mit ihr verloren hatte. Sonst
fehlte offenbar nichts. Aber die Droge im Leitungswasser hatte all das
sauber und mit idiotischer Selektivität abgeschnitten, was sich auf seine
fünf Jahre Ehele ben bezog. Kamakura hatte ihm vor einigen Stunden
gesagt, es habe sich um die glücklichste Ehe gehandelt, die ihm je unter-
gekommen sei. Vergessen. Wenigstens hatte Lisa aller Wahr scheinlichkeit
zum Trotz einen identischen Gedächtnisverlust erlitten. Das machte es
irgendwie leichter zu ertragen; es wäre schrecklich gewesen, wenn sich
einer von ihnen an die schöne Zeit erinnert und der andere gar nichts
gewußt hätte. Er schaffte es beinahe, das peinigende Gefühl des Verlusts
zu ignorieren, während er mit anderen Dingen beschäftigt war. Beinahe.

“Der Bürgermeister wird in einer Minute sprechen”, sagte Nadia. “Willst

du ihn hören? Er wird erklären, was passiert ist.”

“Das geht mich nichts an”, sagte der Sagenhafte Montini trübsinnig.
“Es ist irgendeine Art epidemischer Amnesie. Als ich vor hin draußen

war, habe ich alles darüber” gehört. Jeder ist davon betroffen. Nicht nur
du! Und du dachtest, es ist ein Schlaganfall, aber das war's gar nicht. Du

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bist gesund.”

“Mein Verstand ist ruiniert.”
“Doch nur vorübergehend.” Ihre Stimme klang schrill und wenig

überzeugend. “Es ist vielleicht irgendwas in der Luft. Irgendeine Droge,
die getestet wurde und hier eingeströmt ist. Wir haben allesamt damit zu
tun. Ich kann mich über haupt nicht an letzte Woche erinnern.”

“Was geht mich das an?” sagte Montini. “Die meisten die ser Leute

haben nicht einmal dann Erinnerungen, wenn sie kerngesund sind. Aber
ich? Ich? Ich bin vernichtet. Nadia, ich sollte mich eigentlich gleich in mein
Grab legen. Es hat keinen Sinn, weiter rumzulaufen.”

Die Stimme aus dem Lautsprecher sagte: “Meine Damen und Herren,

Seine Exzellenz Elliot Chase, Bürgermeister von San Francisco.”

“Laß' uns zuhören”, sagte Nadia.
Der Bürgermeister erschien auf dem Wandschirm und hatte seine

feierliche

Miene

aufgesetzt,

sein

Bürger-Wir-Stehen-Vor-Einer-Schweren-Herausforderung-Gesicht.
Montini warf einen flüchtigen Blick auf ihn, zuckte die Achseln und sah
weg.

Der Bürgermeister sagte: “Ihr Menschen der wunderbaren Stadt San

Francisco, wir haben soeben den schlimmsten Tag seit fast einem
Jahrhundert überstanden, seit jener entsetzli chen Katastrophe im April
1906. Heute hat die Erde nicht gebebt, auch sind wir nicht vom Feuer
heimgesucht worden und doch hat uns ein plötzliches Unheil einer
schweren Prü fung unterzogen.

Wie Sie alle sicherlich wissen, wurde die Bevölkerung San Franciscos

seit gestern abend von etwas betroffen, das man am besten als
epidemische Amnesie bezeichnet. Es ist zu einem massenhaften Verlust
des Gedächtnisses gekommen, der von leichten Fällen von Vergeßlichkeit
bis zum beinahe totalen Identitätsverlust geht. Wissenschaftlern, die am
Fletcher Memorial Krankenhaus tätig sind, ist es gelungen, die Ursache für
diese einzigartige und plötzlich eingetretene Katastrophe festzustellen.

Es hat den Anschein, als hätten kriminelle Saboteure die städtische

Wasserversorgung mit gewissen verbotenen Drogen verseucht, deren

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Eigenschaft es ist, Gedächtnisstrukturen auf zulösen. Die Wirkung dieser
Drogen ist zeitlich begrenzt. Es besteht im Grunde kein Anlaß zur
Besorgnis. Selbst jene, die am stärksten betroffen sind, werden feststellen,
daß ihre Erinne rungen allmählich wiederzukommen beginnen, und wir
haben allen Grund, binnen Stunden oder Tagen die vollständige Erho lung
zu erwarten.”

“Er lügt”, sagte Montini.
“Die Verantwortlichen sind bisher nicht gefaßt, aber wir rechnen jeden

Moment mit ihrer Verhaftung. Das Stadtgebiet von San Francisco ist die
einzige betroffene Region, woraus hervorgeht, daß die Drogen direkt
außerhalb der Stadtgrenzen eingeleitet worden sind. In Berkeley, in
Oakland, in Marin County und anderen außerhalb gelegenen Bezirken ist
alles normal.

Mit Rücksicht auf die öffentliche Sicherheit habe ich angeord net, daß die

Brücken San Franciscos geschlossen werden, ebenso wie die Schnellbahn
von der Bucht her und andere Zufahrten zur Stadt. Wir gehen davon aus,
daß diese Restrik tionen zumindest bis morgen vormittag aufrechterhalten
wer den müssen. Ihr Zweck besteht darin, Unruhen vorzubeugen und einen
möglichen Zustrom unerwünschter Elemente in die Stadt zu verhindern,
solange die Probleme andauern. Wir Bewohner San Franciscos sind uns
selbst genug, und wir kön nen ohne Einmischung von draußen für uns
selber sorgen. Allerdings habe ich mit dem Präsidenten und mit dem
Gouverneur Kontakt aufgenommen, und beide haben mir jede mögli che
Unterstützung zugesichert.

Das Leitungswasser ist gegenwärtig frei von der Droge, und es werden

alle Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, eine Wiederho lung dieses
Verbrechens gegen eine Million unschuldiger Men schen zu verhindern.
Allerdings wurde mir mitgeteilt, daß möglicherweise noch einige Stunden
lang Verseuchungen in den Rohrleitungen zurückbleiben könne. Ich
empfehle Ihnen, bis auf Widerruf Ihren Wasserkonsum niedrig zu halten
und alles Wasser, das Sie verwenden wollen, vorher abzukochen.

Noch etwas: Polizeichef Dennison, ich selber und Ihre übri gen

städtischen Beamten werden sich rund um die Uhr den Nöten der Stadt

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widmen, solange die Krise anhält. Möglicher weise werden wir keine
Gelegenheit haben, uns mit weiteren Berichten den Medien zu stellen.
Daher habe ich mich zu dem Schritt entschlossen, ein Komitee für
öffentliche Sicherheit zu ernennen, das aus berühmten Persönlichkeiten
und Wissen schaftlern San Franciscos besteht und als koordinierendes
Gre mium bei der Verwaltung der Stadt und bei der Abgabe von Berichten
an ihre Bürger helfen wird. Vorsitzender dieses Komitees ist der weithin
bekannte Veteran so zahlreicher For schungsreisen im Weltraum,
Commander Taylor Braskett. Bekanntmachungen, die das Fortschreiten
der Krise betreffen, werden in den verbleibenden Abendstunden von
Commander Braskett kommen, und Sie dürfen davon ausgehen, daß seine
Worte die unserer städtischen Beamtenschaft sind. Ich danke Ihnen.”

Braskett kam ins Bild. Montini grunzt. “Sieh dir den Mann an, den sie

dafür auftreiben. Einen manischen Patrioten!”

“Aber die Droge wird in ihrer Wirkung nachlassen”, sagte Nadia. “Dein

Verstand wird wieder funktionieren.”

“Ich kenne diese Drogen. Es besteht keine Hoffnung. Ich bin

vernichtet.” Der Sagenhafte Montini begab sich zur Tür. “Ich brauche
frische Luft. Ich werde rausgehen. Lebwohl, Nadia.”

Sie versuchte, ihn aufzuhalten. Er stieß sie beiseite. Als er den Marina

Park betreten hatte, machte er sich auf den Weg zum Jachtklub; der
Türsteher ließ ihn ein und achtete nicht weiter auf ihn. Montini ging hinaus
auf die Pier. Die Droge, heißt es, wirkt nur zeitweise. Sie wird nachlassen.
Mein Kopf wird wieder klar werden. Ich bezweifle das sehr. Montini
spähte auf das dunkle, ölige Wasser, das im von der Brücke reflektiertem
Licht glitzerte. Er erforschte sein beschädigtes Gehirn, suchte systematisch
nach Lücken. Ganze Erinnerungs abschnitte waren verschwunden. Die
Mauern waren zerbröckelt, klumpenweise war der Verputz abgefallen und
hatte nack tes Lattenwerk freigelegt. Er konnte so nicht leben. Vorsichtig,
stöhnend vor Anstrengung ließ er sich über eine metallene Leiter ins
Wasser gleiten und stieß sich von der Pier ab. Das Wasser war furchtbar
kalt. Seine Schuhe kamen ihm ungeheuer schwer vor. Er glitt auf die alte
Gefängnisinsel zu, aber er zweifelte daran, daß er noch längere Zeit über

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Wasser bleiben würde. Im Dahingleiten unternahm er eine Inventur seines
Gedächtnisses, sah, was ihm geblieben war, und erkannte, daß es nicht
ausreichte. Um auszuprobieren, ob wenigstens seine besondere Gabe
erhalten geblieben war, versuchte er, aus dem Gedächtnis die Rede des
Bürgermeisters zu wiederholen, und stellte fest, daß die Worte
verschwammen und undeutlich wurden. Dann sei's drum, sagte er sich,
und glitt weiter und ging unter.

Carole bestand darauf, den Donnerstagabend mit ihm zu ver bringen.
“Wir sind nicht mehr Mann und Frau”, mußte er ihr mittei len. “Du hast

dich von mir scheiden lassen.”

“Seit wann bist du so spießig? Wir haben zusammengelebt, bevor wir

verheiratet waren, und jetzt können wir zusammen leben, nachdem wir
verheiratet waren. Vielleicht erfinden wir gerade eine neue Sünde.
Nachehelichen Sex.”

“Das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, daß du anfingst, mich wegen

meiner Unordentlichkeit in Finanzdingen zu hassen, und mich verlassen
hast. Wenn du jetzt versuchst, zu mir zurückzukommen, wendest du dich
gegen deine eigene ver nünftige und wohlüberlegte Entscheidung vom
vergangenen Januar.”

“Für mich liegt der vergangene Januar immer noch vier Monate in der

Zukunft”, sagte sie. “Ich hasse dich ganz und gar nicht. Ich liebe dich. Das
habe ich immer getan und werde es immer tun. Ich kann mir nicht
vorstellen, wie ich je dazu kommen konnte, mich von dir scheiden zu
lassen, aber vor allem kann ich mich nicht erinnern, daß ich mich von dir
habe scheiden lassen, und du erinnerst dich nicht daran, daß ich mich von
dir habe scheiden lassen, und wieso können wir nicht einfach an dem
Punkt weitermachen, wo unsere Erinnerungen aufhören?”

“Unter anderem deswegen, weil du zufällig inzwischen Pete Castines

Frau bist.”

“Das hört sich für mich völlig unwirklich an. Das mußt du geträumt

haben.”

“Freddy Munson hat es mir aber erzählt. Es ist wahr.”
“Wenn ich jetzt zu Pete zurückgehen würde”, sagte Carole, “käme ich

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mir sündig vor. Bloß, weil ich ihn angeblich geheira tet habe, verlangst du
von mir, ich soll mit ihm ins Bett steigen? Ich will nicht. Ich will nicht. Kann
ich nicht hier bleiben?”

“Falls Pete –”
“Falls Pete, falls Pete, falls Pete! Vom Bewußtsein her bin ich Mrs. Paul

Mueller, und von deinem Bewußtsein her bin ich es auch, und zur Hölle
mit Pete und dem, was Freddy Munson dir erzählt hat, und allem anderen.
Das hier ist ein alberner Streit, Paul. Laß' uns damit aufhören. Wenn du
mich raushaben willst, dann sag' es mir jetzt gleich und mit diesen Worten.
Wenn nicht, dann laß' mich hier bleiben.”

Er konnte ihr nicht sagen, sie solle gehen.
Er besaß nur das eine schmale Feldbett, aber sie schafften es,

gemeinsam darauf zu liegen. Es war unbequem, aber auf amü sante Weise.
Eine Zeitlang fühlte er sich wieder wie zwanzig. Am Morgen standen sie
lange zusammen unter der Dusche und dann ging Carole los, um einiges
fürs Frühstück einzukau fen, da sein Service gesperrt war und er keine
Nahrungsmittel abrufen konnte. Ein Mahnroboter vor seiner Tür sagte zu
ihm, als Carole hinausging: “Der Antrag auf angemessene persönli che
Arbeitsleistung ist inzwischen gestellt, Mr. Mueller, und bei Gericht
anhängig.”

“Du bist mir nicht bekannt”, sagte Mueller. “Hebe dich hinweg!”
Heute, sagte er sich, würde er irgendwie Freddy Munson auftreiben und

das Geld von ihm kriegen und die Werkzeuge kaufen, die er brauchte, und
wieder zu arbeiten anfangen. Soll die Welt dort draußen den Verstand
verlieren; solange er an der Arbeit war, war alles gut. Falls er Freddy nicht
finden konnte, vielleicht konnte er dann den Einkauf auf Caroles Kredit
durch ziehen. Sie war gesetzlich von ihm geschieden, und seine
beeinträchtigte Kreditfähigkeit würde nicht auf sie abfärben; als Mrs. Pete
Castine würde es ihr sicher nicht schwer fallen, ein paar Riesen locker zu
machen, um Metchnikoff zu bezahlen. Möglicherweise waren die Banken
wegen der Gedächtniskrise heute geschlossen, überlegte Mueller, aber
Metchnikoff würde von Carole gewiß kein Bargeld verlangen. Er schloß
die Augen und stellte sich vor, was es für ein gutes Gefühl sein würde,

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wieder Dinge anzufertigen.

Carole blieb eine Stunde fort. Als sie mit Lebensmitteln bepackt

wiederkam, war Pete Castine bei ihr.

“Er ist mir gefolgt”, erläuterte Carole. “Er wollte mich nicht allein

lassen.”

Er war ein schlanker, aufrechter, beherrschter Mann, recht muskulös,

mehrere Jahre älter als Mueller – vielleicht gar schon über Fünfzig – wirkte
jedoch sehr jung. Gelassen sagte er: “Ich war sicher, daß Carole hierher
gekommen ist. Das ist völlig verständlich, Paul. Sie war die ganze Nacht
hier, hoffe ich?”

“Kommt es darauf an?” fragte Mueller.
“Gewissermaßen. Es ist mir lieber, wenn sie die Nacht mit ihrem

ehemaligen Mann verbringt als mit irgendeinem Dritten.”

“Sie war die ganze Nacht hier, ja”, sagte Mueller verdrieß lich.
“Ich möchte, daß sie jetzt mit mir nach Hause geht. Schließ lich ist sie

meine Frau.”

“Sie kann sich daran nicht erinnern. Ich auch nicht.”
“Das habe ich gemerkt.” Castine nickte freundlich. “Was meinen Fall

angeht, so habe ich alles vergessen, was mir vor meinem
zweiundzwanzigsten Lebensjahr passiert ist. Ich könnte Ihnen nicht den
Vornamen meines Vaters sagen. Es ist jedoch eine Angelegenheit
objektiver Realität, daß Carole meine Frau ist, und ihre Trennung von
Ihnen war eine recht bittere Erfahrung, und ich bin der Ansicht, sie sollte
sich nicht länger hier aufhalten.”

“Warum sagen Sie mir das alles?” fragte Mueller. “Wenn Sie möchten,

daß Ihre Frau mit Ihnen nach Hause geht, dann bitten Sie sie, daß sie mit
Ihnen nach Hause geht.”

“Das habe ich getan. Sie sagt, sie geht nicht, es sei denn, Sie schicken

sie fort.”

“Das stimmt”, sagte Carole. “Ich weiß, wessen Frau ich zu sein glaube.

Wenn Paul mich rauswirft, gehe ich mit dir. Sonst nicht.”

Mueller zuckte die Achseln. “Ich wäre ein Idiot, wenn ich sie rauswerfen

würde, Pete. Ich brauche sie, und ich will sie, und was es auch für eine

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Trennung gewesen sein mag, die sie und ich durchgemacht haben, für uns
ist sie nicht real. Ich weiß, das ist hart für Sie, aber ich kann's nicht ändern.
Ich nehme an, Sie werden keine Probleme haben, eine Anullierung zu
erhalten, sobald die Gerichte eine Bestimmung erarbeitet haben, die Fälle
wie diesen erfaßt.”

Castine schwieg einige Zeit.
Schließlich sagte er: “Wie ist es mit Ihrer Arbeit vorangegan gen, Paul?”
“Wie ich höre, habe ich das ganze Jahr über nichts zustande gebracht.”
“So ist es.”
“Ich habe vor, wieder anzufangen. Man könnte sagen, Carole hat mich

dazu inspiriert.”

“Fabelhaft”, sagte Castine ohne jegliche Betonung. “Ich ver traue darauf,

daß dieses kleine Wirrwarr bezüglich unserer – ah – gemeinsamen Ehefrau
die harmonische Beziehung zwi schen Künstler und Kunsthändler nicht
stören wird, derer wir uns in der Vergangenheit erfreut haben?”

“Ganz und gar nicht”, sagte Mueller. “Sie bekommen nach wie vor

meinen gesamten Ausstoß. Warum zum Teufel sollte ich irgend etwas übel
nehmen, was Sie getan haben? Carole war ein freier Mensch, als Sie sie
geheiratet haben. Es gibt da nur ein kleines Problem.”

“Ja?”
“Ich bin pleite. Ich habe keine Werkzeuge, und ich kann ohne

Werkzeuge nicht arbeiten und ich habe keine Möglich keit, mir Werkzeug
zu kaufen.”

“Wie viel brauchen Sie?”
“Zweieinhalb Riesen.”
Castine sagte: “Wo ist Ihre Dateneingabe? Ich werde einen

Kredittransfer vornehmen.”

“Die Telefongesellschaft hat sie längst stillgelegt.”
“Dann lassen Sie mich Ihnen einen Scheck geben. Sagen wir glatte

Dreitausend? Ein Vorschuß auf zukünftige Geschäfte.” Castine brauchte
eine Weile, bis er ein leeres Scheckformular entdeckte. “Der erste, den
ich seit ungefähr fünf Jahren aus stelle. Komisch, wie man sich ans
Geldausgeben mit dem Telefon gewöhnt hat. Da haben Sie ihn, und viel

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Glück. Euch beiden.” Er machte eine höfliche, erbitterte Verbeugung. “Ich
hoffe, ihr werdet glücklich miteinander. Und rufen Sie mich an, wenn Sie
ein paar Stücke fertig haben, Paul. Ich schicke dann den Lastwagen. Ich
nehme an, bis dahin werden Sie wieder Telefon haben.” Er ging hinaus.

“Es liegt ein Segen darin, vergessen zu können”, sagte Nate Haldersen.

“Die Erlösung im Vergessen nenne ich es. Was San Francisco diese
Woche zugestoßen ist, ist nicht unbedingt eine Katastrophe. Für einige
unter uns ist es das Schönste auf der Welt.”

Sie hörten ihm zu – wenigstens fünfzig Menschen, die sich ihm zu Füßen

versammelt hatten. Er stand auf dem Konzertpo dium im Park, gleich
gegenüber dem De Young Museum. Die Schatten wurden länger. Freitag,
der zweite volle Tag der Gedächtniskrise, näherte sich seinem Ende.
Haldersen hatte letzte Nacht im Park geschlafen, und er hatte vor, heute
nacht wieder hier zu schlafen; er hatte im Anschluß an seine Flucht aus
dem Krankenhaus festgestellt, daß seine Wohnung bereits längere Zeit
aufgelöst war und seine Habseligkeiten irgendwo aufbewahrt wurden. Das
machte gar nichts. Er würde von den Früchten des Landes leben und sich
Eßbares zusammensu chen. Die Flamme der Prophezeiung loderte in ihm.

“Lassen Sie mich Ihnen sagen, wie es bei mir war”, rief er. “Noch vor

drei Tagen befand ich mich wegen einer geistigen Störung im
Krankenhaus. Einige von Ihnen werden vielleicht lächeln und zu mir sagen,
daß ich auch jetzt dort hingehöre, doch nein! Sie verstehen mich falsch.
Ich war unfähig, der Welt ins Auge zu sehen. Wohin ich mich auch
wandte, sah ich glückliche Familien, Eltern und Kinder, und das machte
mich krank vor Neid und Haß, so daß ich meinen Platz in der Gesellschaft
nicht einnehmen konnte. Warum? Warum? Weil meine eigene Frau und
meine Kinder 1991 bei einem Luftun glück umgekommen sind, deshalb,
und ich habe das Flugzeug versäumt, weil ich an jenem Tag eine Sünde
begangen habe und wegen meiner Sünde starben sie und ich lebte fortan in
endloser Qual! Aber nun ist all dies aus meinen Gedanken
fortgeschwemmt. Ich habe gesündigt, und ich habe gelitten, und nun bin
ich in gnädigem Vergessen erlöst!”

Eine Stimme erhob sich aus der Menge. “Wenn Sie das alles vergessen

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haben, wieso kommt's, daß Sie uns die Geschichte erzählen?”

“Eine gute Frage! Eine ausgezeichnete Frage!” Haldersen spürte, wie

ihm der Schweiß aus den Poren brach und das Adrenalin in die Adern
schoß. “Ich kenne die Geschichte nur deshalb, weil eine Maschine im
Krankenhaus sie mir gestern morgen erzählt hat. Sie ist von außen an mich
herangetragen worden, eine Erzählung aus zweiter Hand. Die Erfahrung in
mir, die Narben, all das ist fortgespült worden. Der Schmerz ist
verschwunden. Oh ja, ich bin traurig, daß meine unschuldige Familie
umgekommen ist, aber ein gesunder Mann lernt es nach elf Jahren, mit
seiner Trauer fertigzuwerden, er nimmt seinen Verlust hin und geht zur
Tagesordnung über. Ich war krank, hier oben krank, und ich konnte nicht
mit meinem Jammer leben, aber nun kann ich es, ich blicke objektiv darauf
zurück, verstehen Sie? Und darum sage ich, es liegt ein Segen darin,
vergessen zu können. Wie steht es mit Ihnen da? Es müssen einige unter
Ihnen sein, die ähnlich schmerzliche Ver luste haben hinnehmen müssen und
sich jetzt nicht mehr daran erinnern können, die nun erlöst und von der
Qual befreit sind. Gibt es so jemanden? Gibt es sie? Heben Sie Ihre
Hände. Wer wurde in seliges Vergessen gehüllt? Wer von Ihnen weiß, er
wurde reingewaschen, auch wenn er sich nicht entsinnen kann, wovon er
reingewaschen wurde?”

Hände begannen sich zu heben.
Sie schluchzten jetzt, sie jubelten, sie winkten ihm zu. Hal dersen kam

sich ein wenig wie ein Scharlatan vor. Aber nur ein klein wenig. Er hatte
immer das Zeug zum Propheten gehabt, sogar damals, als er vorgab, ein
harmloser Akademiker zu sein, ein verstaubter Philosophieprofessor. Er
hatte besessen, was jeder Prophet braucht, ein geschärftes Empfinden für
den Kon trast zwischen Schuld und Reinheit, das Bewußtsein von der
Existenz der Sünde. Es war dieses Bewußtsein, das ihn elf Jahre hindurch
niedergeschmettert hatte. Es war dieses Bewußtsein, das ihn jetzt dazu
trieb, öffentlich seine Freude kundzutun, nach Gefährten zu suchen, die
ebenfalls Befreiung erfahren hatten – nein, nach Jüngern –, um hier im
Golden Gate Park die Kirche des Vergessens zu gründen. Das
Krankenhaus hätte ihm diese Drogen vor Jahren verabreichen und ihm die

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Qualen ersparen können. Bryce hatte sich geweigert, Kamakura, Rey-
nolds, all die heuchlerischen Ärzte hatten sich geweigert; sie warteten auf
weitere Tests, Experimente mit Schimpansen, Gott weiß was. Und Gott
hatte gesagt: Nathaniel Haldersen hat lange genug für seine Sünde gelitten
und daher hatte Er eine Droge in die Wasserversorgung von San
Francisco geschüttet, die gleiche Droge, die die Ärzte ihm vorenthalten
hatten, und die Leitungen von den Bergen herab war die süße Arznei des
Vergessens gekommen.

“Trinkt mit mir!” brüllte Haldersen. “Ihr alle, die Ihr gepei nigt werdet,

Ihr, die Ihr in Sorge lebt! Wir werden uns diese Droge selber beschaffen!
Wir werden unsere leidgeprüften See len reinwaschen! Trinkt das
gesegnete Wasser, und lobpreiset Gott, der uns Vergessen schenkt.”

Freddy Munson hatte sich am Donnerstag nachmittags und abends

sowie den gesamten Freitag über in seiner Wohnung verbarrikadiert und
alle Kommunikationsleitungen nach drau ßen abgeschaltet. Er beantwortete
und unternahm keine Anrufe, ignorierte die Teleschirme und hatte in jenen
sechsunddreißig Stunden nur dreimal den Xerofax eingeschaltet.

Er wußte, daß er am Ende war und er versuchte zu entschei den, wie er

darauf reagieren sollte.

Seine Gedächtnislage schien sich stabilisiert zu haben. Es fehlten ihm

lediglich fünf Wochen Markttransaktionen. Es kam nicht zu weiterem
Verfall - nicht, daß es darauf angekommen wäre, er steckte ohnehin in der
Patsche – und entgegen einer optimistischen Stellungnahme durch
Bürgermeister Chase am vergangenen Abend hatte Munson keinerlei
Anhaltspunkte dafür, daß der Gedächtnisverlust sich wieder umkehrte. Er
war unfähig, irgendeins der verschwundenen Details zu rekonstru ieren.

Es bestand keine unmittelbare Bedrohung, das wußte er. Die meisten

Klienten, mit deren Konten er jongliert hatte, waren reiche alte
Schachteln, die sich keine Sorgen um ihr Vermögen machen würden, bis
sie die Kontoauszüge des nächsten Monats bekamen. Sie hatten ihm
Vollmacht erteilt, was über haupt erst dazu, geführt hatte, daß er in der
Lage war, ihre Resourcen zu seinen Gunsten anzuzapfen. Bisher war es
Mun son immer gelungen, jede Transaktion innerhalb eines Monats

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abzuschließen, so daß alle Auszüge einen ausgeglichenen Saldo aufwiesen.
Er war mit dem Problem des Deckungsverlustes, den die Auszüge hätten
ausweisen müssen, fertiggeworden, indem er den Hauscomputer so
präpariert hatte, daß der solche Verluste löschte, vorausgesetzt, es kam
von Monat zu Monat nicht zu einem Nettoeffekt; auf diese Weise konnte
er zwei - Wochen lang 10 000 Anteile von United Spaceways oder
Com-sat oder IBM auslernen, die Aktien als Sicherheit für sein eigenes
Geschäft einsetzen und sie rechtzeitig wieder dem richtigen Konto
gutschreiben, ohne daß es jemandem auffiel. In drei Wochen allerdings
würden die monatlichen Auszüge ver schickt werden und in aller
Deutlichkeit zeigen, daß all seine Konten mit unerklärlichen Abbuchungen
gespickt waren, und es würde ihm an den Kragen gehen.

Möglicherweise würde der Ärger noch früher losgehen und zwar aus

einer ganz anderen Richtung. Seit die San-Francisco- Probleme
angefangen hatten, war es auf dem Markt steil bergab gegangen, und am
Montagmorgen würden vermutlich Deckungsforderungen bei ihm
eingehen. Die Börse von San Francisco war natürlich geschlossen; sie
hatte am Donnerstagmorgen nicht eröffnen können, weil die Amnesie so
viele Effektenmakler so schwer getroffen hatte. Aber die New Yorker
Börse war geöffnet, und man hatte negativ auf die Nachrichten aus San
Francisco reagiert, vermutlich aus Angst, es sei eine Verschwörung im
Gang und das ganze Land werde bald dem Chaos anheimfallen. Falls die
hiesige Börse am Montag wieder aufmachte, falls sie überhaupt
aufmachte, würde sie höchstwahrscheinlich mit den neuesten New Yorker
Kursen eröffnen, oder in ihrer Nähe, und weiter fallende Tendenz zeigen.
Mun son würde aufgefordert werden, Bargeld oder weitere Sicher heiten
aufzubringen, um seine Schulden zu decken. Das Bar geld hatte er mit
Sicherheit nicht, und die einzige Möglichkeit, an weitere Sicherheiten zu
kommen, bestand darin, aus noch mehr Konten abzuschöpfen und sein
Vergehen schlimmer zu machen; falls er andererseits den
Deckungsaufforderungen nicht entsprach, würde man ihn pfänden, und er
würde es nie schaffen, die Aktien auf die richtigen Konten
zurückzubuchen, auch wenn es ihm gelang, sich zu erinnern, welche

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Anteile wohin gehörten.

Er saß in der Falle. Er konnte noch ein paar Wochen rumhän gen und

das Niedersausen des Henkerbeils abwarten, oder er konnte jetzt gleich
abhauen. Er zog es vor, jetzt gleich abzu hauen.

Und wohin gehen?
Caracas? Reno? Sao Paulo? Nein, Schuldnerparadiese wür den ihm

nichts nützen, weil er kein gewöhnlicher Schuldner war. Er war ein Dieb,
und diese Zufluchtsstätten schützten keine Verbrecher, nur Bankrotteure.
Er mußte weiter weg, bis nach Luna Dome. Vom Mond konnte man ihn
nicht ausliefern. Allerdings bestand auch keine Hoffnung, je von dort
zurückzu kommen.

Munson setzte sich ans Telefon und hoffte, er würde sein Reisebüro

erreichen. Zwei Fahrkarten nach Luna, bitte. Eine für ihn, eine für Helene;
wenn ihr nicht danach war, mitzukom men, würde er allein reisen. Nein,
keine Rückfahrkarte. Aber das Reisebüro meldete sich nicht. Munson
wählte die Nummer mehrmals. Achselzuckend beschloß er, direkt zu
bestellen, und rief als nächstes United Spaceways an. Er bekam ein
Besetztzei chen. “Sollen wir Ihren Anruf auf Warteliste setzen?” fragte das
Datennetz. “Es wird beim gegenwärtigen Rückstau von Anru fen drei Tage
dauern, bis wir durchstellen können.”

“Schwamm drüber”, sagte Munson.
Es war ihm soeben aufgegangen, daß San Francisco ohnehin von der

Außenwelt abgeschnitten war. Er konnte die Stadt nicht verlassen, um
zum Raumhafen zu gelangen, es sei denn, er versuchte hinzuschwimmen,
selbst wenn er es schaffte, Fahrkarten nach Luna zu kaufen. Er saß hier
fest, bis man die Durchgangswege wieder aufmachte. Wie lange würde
das dau ern? Bis Montag, Dienstag, nächsten Freitag. Die konnten die
Stadt doch nicht auf ewig zuhalten – oder?

Worauf es hinauslief, das sah Munson, war ein Wettstreit der

Wahrscheinlichkeiten. Würde jemand die Diskrepanzen auf seinen Konten
entdecken, bevor er eine Möglichkeit gefunden hatte, nach Luna zu
entkommen, oder würde sich sein Flucht weg zu spät eröffnen? So
betrachtet würde es zu einem interessanten Glücksspiel, statt zu einer

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ausweglosen Situation. Er würde das Wochenende damit verbringen,
einen Weg aus San Francisco heraus zu suchen, und falls ihm das mißlang,
würde er versuchen, dem Kommenden stoisch ins Auge, zu sehen.

Nun wieder ruhig, erinnerte er sich, daß er versprochen hatte, Paul

Mueller ein paar tausend Dollar zu leihen, um ihm dabei zu helfen, daß er
sein Studio wieder aufbaute. Munson war traurig, weil er zugelassen hatte,
daß ihm das entfallen war. Er half gerne. Und selbst in dieser Lage, was
bedeuteten ihm schon zwei oder drei Riesen? Er besaß ausreichend
wieder aktivierbare Geldanlagen. Er konnte genauso gut Paul ein wenig
von dem Geld zukommen lassen, bevor die Anwälte anfingen, danach zu
grabschen.

Ein Problem. Er hatte weniger als hundert Dollar Bargeld bei sich – wer

machte sich schon die Mühe, Bargeld dabeizuha ben? Und er konnte keine
telefonische Überweisung von Geldern auf Muellers Konto vornehmen,
weil Paul beim Daten netz kein eigenes Konto mehr unterhielt, geschweige
denn ein Telefon. Es gab auch keinen Ort, wo man zu dieser Abendstunde
so viel Bares bekommen konnte, noch dazu, da die Stadt praktisch
lahmgelegt war. Und das Wochenende rückte näher. Munson hatte aber
eine Idee. Wie wäre es, wenn er am folgenden Tag mit Mueller einkaufen
ginge und einfach sein eigenes Konto mit dem belasten würde, was der
Bildhauer brauchte? Ausgezeichnet. Er griff zum Telefon, um die
Verabredung zu treffen, entsann sich, daß man Mueller nicht anrufen
konnte, und beschloß, Paul direkt davon zu erzählen. Jetzt gleich. Etwas
frische Luft würde ihm sowieso gut tun.

Er erwartete beinahe, draußen die Robot-Gerichtsdiener vor zufinden,

die darauf warteten, ihn zu verhaften. Aber natürlich war noch niemand
hinter ihm her. Er ging zu Fuß zur Garage. Es war ein wunderbarer
Abend, kühl, sternenklar, mit einer bloßen Andeutung von Nebel im
Osten. Aber die Lichter von Berkeley glitzerten durch den Dunst. Die
Straßen waren still. In Krisenzeiten bleiben die Leute offenbar lieber
daheim. Er fuhr rasch zu Muellers Wohnung. Vier Roboter standen davor.
Munson beäugte sie verdrießlich mit dem unsteten Blick des Mannes, der
genau weiß, daß der Sheriff in einer Weile auch hinter ihm her sein wird.

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Mueller dagegen nahm, als er zur Tür kam, keine Notiz von den Mahnern.

Munson sagte: “Tut mir leid, daß die Verbindung zwischen uns

abgerissen war. Das Geld, das ich dir zu leihen verspro chen hatte -”

“Das macht doch nichts, Freddy. Pete Castine war heute morgen hier

und ich habe mir die drei Riesen von ihm geborgt. Ich hab' mein Studio
schon wieder zusammengebaut. Komm' rein und sieh es dir an.”

Munson trat ein. “Pete Castine?”
“Eine gute Investition für ihn. Er verdient Geld, wenn er Arbeiten von

mir zu verkaufen hat, richtig? Es ist ganz in seinem Interesse, mir bei
meinem Neubeginn zu helfen. Carole und ich waren den ganzen Tag damit
beschäftigt, uns wieder einzurichten.”

“Carole?” sagte Munson. Mueller führte ihn ins Studio. Das gesamte

Drum und Dran eines Schallbildhauers lag auf dem Boden – ein
Schweißstift, eine Vakuumglocke, ein großer Strukturierbottich, einige
Barren und Drahtstücke und solches Zeug. Carole stopfte soeben nicht
mehr benutzbare Pappkar tons in den Müllschlucker an der Wand. Als sie
aufsah, lächelte sie unsicher und fuhr sich mit der Hand durch das lange
dunkle Haar.

“Hallo, Freddy.”
“Seid ihr wieder gut Freund miteinander?” fragte er ver blüfft.
“Keiner von uns erinnert sich, daß wir je verfeindet waren” sagte sie. Sie

lachte. “Ist es nicht wunderbar, wenn einem so die Erinnerungen gelöscht
sind?”

“Wunderbar”, sagte Munson freudlos.
Commander Braskett sagte: “Dürfte ich Ihnen allen etwas Was ser

anbieten?”

Tim Bryce lächelte. Lisa Bryce lächelte. Ted Kamakura lächelte. Sogar

Bürgermeister Chase, dieses armselige Wrack, lächelte. Commander
Braskett wußte dieses Lächeln zu deuten. Sogar jetzt noch, nach drei
Tagen des engen Kontakts in angespannter Lage, hielten sie ihn für
verrückt.

Er hatte einen Wochenvorrat in Flaschen abgefülltes Wasser von daheim

zum Kommandoposten hier im Krankenhaus schaffen lassen. Alle sagten

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ihm immer wieder, daß es jetzt ungefährlich sei, das städtische Wasser zu
trinken, daß die Gedächtnisdrogen daraus verschwunden waren; warum
konn ten sie bloß nicht begreifen, daß seine Aversion gegen Lei-
tungswasser aus einer Epoche stammte, als Gedächtnisdrogen noch
unbekannt waren? Schließlich befanden sich zahlreiche andere
Chemikalien im Reservoir.

Er erhob sein Glas zu einem eleganten Prosit und zwinkerte ihnen zu.
Tim Bryce sagte: “Commander, wir möchten, daß Sie um halb elf heute

morgen wieder zur Bevölkerung sprechen. Hier ist Ihr Text.”

Braskett überflog die Vorlage. Sie beschäftigte sich vor allem mit der

Lockerung des Befehls, Wasser vor dem Trinken abzu kochen. “Sie
verlangen also von mir, ich soll sämtliche Medien In Anspruch nehmen”,
sagte er, “und den Leuten erzählen, es sei jetzt ungefährlich, Wasser aus
der Leitung zu trinken, wie? Das ist eigentlich eine Zumutung für mich.
Selbst ein als Sprecher eingesetzter Strohmann hat das Recht auf ein
gewis ses Maß persönlicher Integrität.”

Bryce sah kurze Zeit verwirrt drein. Dann lachte er und nahm den Text

wieder an sich. “Sie haben absolut recht, Commander. Ich kann nicht von
Ihnen verlangen, im Hinblick auf Ihre - äh - besonderen Ansichten diese
Bekanntmachung zu verlesen. Wir wollen unseren Plan ändern. Sie leiten
den Spot ein, indem Sie mich vorstellen, und ich werde die Sache mit dem
Nicht-Abkochen abhandeln. Wäre Ihnen das recht?”

Commander Braskett gefiel die taktvolle Art und Weise, wie sie auf

seine persönliche Marotte Rücksicht nahmen. “Ich stehe zu Diensten,
Doktor”, sagte er ernsthaft.

Bryce hörte auf zu sprechen, und die Kamerascheinwerfer wandten sich

von ihm ab. Er sagte zu Lisa: “Wie steht's mit dem Mittagessen? Oder
dem Frühstück oder was es auch für eine Mahlzeit sein mag, die grade
dran wäre?”

“Es ist alles bereit, Tim. Wann immer du es bist.”
Sie aßen zusammen im Holographenraum, der zur Küche des

Kommandopostens geworden war. Riesige Kameras und Fässer mit
Ätzflüssigkeit umgaben sie. Die anderen ließen sie rücksichtsvoll allein.

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Diese kurzen gemeinsamen Mahlzeiten waren die einzigen privaten
Augenblicke, die er und Lisa in den zweiundfünfzig Stunden gehabt hatten,
seit er aufgewacht war und sie schlafend neben sich vorgefunden hatte.

Er starrte bewundernd über den Tisch auf dieses reizende blonde

Mädchen, das, wie man ihm sagte, seine Frau war. Wie wunderschön ihre
sanften braunen Augen vor dem Hintergrund des goldenen Haars waren!
Wie perfekt die Form ihrer Lippen, der Schwung ihrer Ohrläppchen!
Bryce wußte, daß niemand etwas dagegen haben würde, wenn er und
Lisa fortgingen und sich ein paar Stunden in einem der Privatzimmer
einschließen würden. So unentbehrlich war er nicht und es gab so vieles,
was er in Bezug auf seine Frau neu zu erfahren hatte. Aber er schaffte es
nicht, seinen Posten zu verlassen. Er war, seit die Krise entstanden war,
nicht aus dem Krankenhaus herausgekommen, nicht einmal aus diesem
Stockwerk; er hielt sich aufrecht, indem er sich alle sechs Stunden eine
halbe Stunde lang an den Schlafdraht hängte. Vielleicht war es eine
Illusion, geboren aus zu wenig Schlaf und zu vielen Daten, aber er war zu
der Überzeugung gelangt, daß das Überleben der Stadt von ihm abhing.
Er hatte seine berufliche Laufbahn hindurch versucht, einzelne kranke
Köpfe zu heilen, und nun hatte er sich um eine ganze Stadt zu kümmern.

“Müde?” fragte Lisa.
“Ich bin in dem Stadium der Müdigkeit, wo man aufhört, Müdigkeit zu

empfinden. Mein Kopf ist so klar, daß mein Schädel keinen Schatten
werfen würde. Ich nähere mich dem Nirwana.”

“Das Schlimmste ist vorbei, denke ich. Die Stadt erholt sich wieder.”
“Es ist aber immer noch schlimm. Hast du die Selbstmordfahrten

gesehen?”

“Schlimm?”
“Entsetzlich. Die Norm für San Francisco liegt bei 220 im Jahr. Wir

hatten annähernd fünfhundert in den vergangenen zweieinhalb Tagen. Und
das sind nur die gemeldeten Fälle, die entdeckten Leichen und so weiter.
Vermutlich können wir die Zahl verdoppeln. Dreißig Selbstmorde, die am
Mittwochabend gemeldet wurden, etwa zweihundert am Donnerstag, das
glei che am Freitag und bisher etwa fünfzig heute morgen. Zumin dest hat es

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den Anschein, als sei der Höhepunkt dieser Welle überschritten.”

“Aber warum, Tim?”
“Manche Leute reagieren übel auf Verluste. Vor allem auf den Verlust

eines Abschnitts ihrer Erinnerungen. Sie sind ent rüstet – sie sind
niedergeschmettert – sie sind erschrocken – und sie greifen zur Todespille.
Selbstmord ist heutzutage sowieso viel zu einfach. In der guten alten Zeit
reagierte man auf Enttäuschungen, indem man das Porzellan zerschlug,
heute schlägt man einen gefährlicheren Weg ein. Natürlich gibt es
Ausnahmen. Einen Mann namens Montini, den sie aus der Bucht gefischt
haben – einen professionellen Gedächtniskünst1er, der in Nachtclubs mit
seiner Nummer aufgetreten ist, unfehlbares Gedächtnis. Ich kann es ihm
kaum übel nehmen, daß er das Handtuch geworfen hat. Und ich nehme
an, es hat noch eine Menge anderer gegeben, die ihre Geschäfte mit dem
Kopf abgewickelt haben – Glücksspieler, Wertpapierspekulan ten,
Sprachpoeten, Musiker –, die womöglich versuchen werden, allem ein
Ende zu machen, anstatt die Scherben aufzusammeln.”

“Aber wenn die Wirkung der Droge nachläßt –”
“Tut sie das?” fragte Bryce.
“Du hast es selbst gesagt.”
“Ich habe um der Bevölkerung willen optimistische Laute von mir

gegeben. Wir besitzen keinerlei experimentelle Langzeitstudien über diese
Drogen bei menschlichen Versuchsper sonen. Zur Hölle, Lisa, wir kennen
nicht einmal die zugeführte Dosierung; als es uns endlich gelang,
Wasserproben zu neh men, war ein Großteil des Leitungsnetzes schon
wieder klargespült, und die automatischen Überwachungsgeräte an den
Pumpstationen der Stadt wurden bei der Verschwörung gleich
mitsabotiert, so daß sie nichts Außergewöhnliches anzeigten, Ich habe
nicht die mindeste Ahnung, ob es überhaupt zu einer meßbaren Erholung
des Gedächtnisses kommen wird.”

“Aber das tut's, Tim. Ich habe schon wieder angefangen, mich an einiges

zu erinnern.”

“Was?”
“Schrei mich doch nicht so an? Du hast mich erschreckt.”

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Er klammerte sich an der Tischkante fest. “Erlebst du tatsächlich eine

Erholung?”

“Ganz am Rand. Ich erinnere mich bereits wieder an einiges, in Bezug

auf uns.”

“Wie zum Beispiel?”
“Wie wir das Aufgebot bestellt haben. Ich stehe splitterfasernackt im

Innern einer Diagnostatmaschine, und eine Stimme aus dem Lautsprecher
fordert mich auf, direkt in die Scanner zu sehen. Und ich erinnere mich
dunkel an die Zeremonie. Nur eine kleine Gruppe von Freunden, auf dem
Standesamt. Dann haben wir uns in die Kapsel nach Acapulco gesetzt.”

Er sah finster drein. “Wann hat das angefangen, dir wieder einzufallen?”
“Gegen sieben heute morgen, glaube ich.”
“Gibt's noch mehr davon?”
“Ein bißchen. Unsere Flitterwochen. Der Roboterpage, der in unsere

Hochzeitsnacht reingeplatzt kam. Du hast daran keine –”

“Erinnerung? Nein. Nichts. Unbeschriebenes Blatt.”
“Das ist alles, woran ich mich erinnere, das frühere Zeug.”
“Ja natürlich”, sagte er. “Die älteren Erinnerungen sind immer die ersten,

die bei jeglicher Form von Amnesie wiederkommen. Das zuletzt
verlorengegangene Zeug ist als erstes wieder da.” Seine Hände zitterten,
nicht nur vor Erschöpfung. Eine seltsame Trostlosigkeit überfiel ihn. Lisa
erinnerte sich. Er nicht. War das eine Funktion ihrer Jugend oder der
chemischen Zusammensetzung ihres Gehirns oder – ?

Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß sie nicht länger im

Vergessen vereint waren. Er wollte nicht, daß die Amnesie ein einseitiges
Problem für sie wurde; es war erniedrigend, sich nicht an die eigene
Hochzeit zu erinnern, während sie es tat. Du verhältst dich irrational, sagte
er sich. Arzt, heile dich selbst!

“Laß uns wieder rübergehen”, sagte er.
“Du hast dein Essen nicht –”
“Später.”
Er betrat den Kommandoraum. Kamakura hatte in beiden Händen

Telefonhörer und brüllte zugleich Daten in einen Recorder. Die

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Bildschirme waren von morgendlichen Szenen erfüllt, Samstag in der
Großstadt, Menschenmengen am Union Square. Kamakura beendete
beide Anrufe und sagte: “Ich habe einen interessanten Bericht von Dr.
Klein am Letterman Gene ral Hospital erhalten. Er sagt, sie bekommen
heute morgen die ersten Hinweise auf ein Wiedereinsetzen des
Gedächtnisses rein. Ausschließlich Frauen unter dreißig.”

“Lisa sagt auch, daß sie wieder anfängt, sich zu erinnern”, sagte Bryce.
“Frauen unter dreißig”, sagte Kamakura. “Ja. Außerdem geht die

Selbstmordrate deutlich zurück. Es könnte sein, daß wir allmählich aus der
Sache rauskommen.”

“Fabelhaft”, sagte Bryce dumpf.
Haldersen lebte in einer über drei Meter hohen Blase, die einer seiner

Jünger mitten im Golden Gate Park für ihn aufgepustet hatte, direkt
westlich vom Arboretum. Fünfzehn gleichartige Blasen waren um die seine
herum entstanden, was der Gegend den Anblick eines modernen
Eskimodorfes mit Plastikiglus vermittelte. Die Bewohner des Lagers
waren, von Haldersen abgesehen, Männer und Frauen, denen so wenige
Erinnerun gen geblieben waren, daß sie nicht wußten, wer sie waren und
wo sie wohnten. Er hatte ein Dutzend dieser Verlorenen am Freitag
aufgesammelt, und bis zum späten Samstagnachmittag hatten sich ihm an
die vierzig weitere angeschlossen. Irgend wie breitete sich die Nachricht in
der Stadt aus, daß alle Heimatlosen eingeladen seien, sich vorübergehend
bei der Gruppe im Park niederzulassen. So war es auch während der
Katastrophe von 1916 gewesen.

Die Polizei war ein paarmal vorbeigekommen, um sie zu kontrollieren.

Beim ersten Mal hatte ein würdevoller Lieutenant versucht, die ganze
Gruppe dazu zu überreden, daß sie ins Fletcher Memorial umzog. “Dort
werden die meisten Opfer behandelt, wissen Sie. Die Ärzte geben ihnen
etwas, und dann versuchen wir sie zu identifizieren und ihre Angehörigen
zu finden –”

“Vielleicht ist es aber das Beste für diese Leute, sich eine Weile von

ihren Angehörigen fernzuhalten”, behauptete Haldersen. “Ein wenig
Meditation im Park – eine Exploration der Freuden des Vergessenhabens

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– das ist alles, was wir hier tun.” Er selber würde nicht ins Fletcher
Memorial gehen, es sei denn unter Zwang. Was die anderen anging, so
hatte er das Gefühl, im Park mehr für sie tun zu können als irgend jemand
im Krankenhaus.

Das zweite Mal, als die Polizei kam, am Samstagnachmittag als seine

Gruppe sich stark vergrößert hatte, brachten sie ein mobiles
Kommunikationssystem mit. “Dr. Bryce vom Fletcher Memorial möchte
mit Ihnen sprechen”, sagte ein anderer Lientenant.

Haldersen sah zu, wie der Schirm zum Leben erwachte “Hallo, Doktor.

Machen Sie sich meinetwegen Sorgen?”

“Ich mache mir um jedermann Sorgen, Nate. Was zum Teufel machen

Sie im Park?”

“Ich gründe, glaube ich, eine neue Religion.”
“Sie sind ein kranker Mann. Sie sollten hierher zurückkommen.”
“Nein, Doktor. Ich bin nicht mehr krank. Ich habe meine Therapie

gehabt und es geht mir gut. Das war eine wunderbare Behandlungsweise:
selektives Vergessen. Genau das worum ich gebetet habe. Das gesamte
Trauma ist fort.”

Bryce schien davon fasziniert zu sein. Sein stirnrunzelnder Ausdruck

offizieller Verantwortung verschwand einen Moment lang und machte
professionellem Interesse Platz. “Interessant”, sagte er. “Wir haben Leute,
die nur sämtliche Hauptwörter vergessen haben, und Leute, die vergessen
haben, wen sie geheiratet haben, und Leute, die vergessen haben, wie man
Geige spielt. Aber Sie sind der erste, der ein Trauma vergessen hat.
Trotzdem sollten Sie hierher zurückkommen. Sie können nicht selber
beurteilen, wie fit Sie sind, sich der Außenwelt zu stellen.”

“Oh, das kann ich wohl”, sagte Haldersen. “Mir geht es prächtig. Und

meine Leute brauchen mich.”

“Ihre Leute?”
“Waisen. Streuner. Die mit dem Totalverlust.”
“Wir möchten diese Leute im Krankenhaus haben, Nate. Wir wollen sie

wieder ihren Familien zuführen.”

“Ist denn das notwendigerweise eine gute Tat? Vielleicht können ja

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einige unter ihnen die zeitweilige Trennung von Ihren Familien gut
gebrauchen. Diese Menschen sehen glücklich aus, Dr. Bryce. Ich habe
gehört, es gibt eine Menge Selbst morde, aber hier nicht. Wir führen eine
Therapie des gegensei tigen Beistands durch. Suchen nach den Freuden,
die im Ver gessen zu finden sind. Es scheint zu funktionieren.”

Bryce starrte einige Zeit schweigend vom Bildschirm herab, Dann sagte

er ungeduldig: “Na gut, Sie sollen erst einmal ihren Willen haben. Aber ich
wünschte, Sie würden aufhören, sich wie eine Kombination aus Jesus und
Freud aufzuführen, und den Park verlassen. Sie sind nach wie vor ein
kranker Mann, Nate, und die Leute bei ihnen haben ernste Probleme. Ich
spreche später noch mal mit Ihnen.”

Die Verbindung brach ab. Die Polizei zog unverrichteter Dinge ab.
Haldersen sprach um fünf Uhr kurz zu seinem Volk. Dann schickte er

sie als Missionare aus, um weitere Opfer aufzusam meln. “Rettet so viele,
wie ihr könnt”, sagte er. “Sucht nach jenen, die völlig verzweifelt sind, und
bringt sie in den Park, bevor sie sich das Leben nehmen können. Erklärt
ihnen, daß der Verlust der eigenen Vergangenheit nicht den Verlust aller
Werte bedeutet.”

Die Jünger schwärmten aus. Und kamen wieder und geleite ten jene

herbei, die weniger Glück gehabt hatten als sie. Die Gruppe wuchs, bis es
Abend wurde, auf über hundert an. Irgend jemand trieb wieder den
Extruder auf und blies weitere zwanzig Blasen als Unterkunft für die Nacht
auf. Haldersen hielt seine Predigt von der Freude und blickte dabei in die
leeren Augen, in die erschlafften Gesichter jener, deren Identi tät am
Mittwoch fortgespült worden war. “Warum aufgeben?” fragte er sie.
“Jetzt habt ihr die Gelegenheit, euch ein neues Leben aufzubauen. Ihr habt
reinen Tisch! Sucht euch die Richtung aus, die ihr einschlagen werdet,
definiert durch Anwen dung des freien Willens euer neues Ich – ihr seid
wiedergebo ren im seligen Vergessen, ihr alle. Ruht euch nun aus, ihr, die
ihr gerade erst zu uns gestoßen seid. Und ihr anderen, zieht wieder aus,
sucht die Wanderer, die Streuner, die Verlorenen, die sich in den Winkeln
der Stadt verbergen –”

Als er gerade zum Schluß kam, sah er, daß ein Knäuel Menschen aus

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Richtung des South Drive auf ihn zu eilte. Da er befürchtete, es könne
Schwierigkeiten geben, ging Haldersen ihnen entgegen, doch als er näher
kam, sah er ein halbes Dutzend Jünger, die einen struppigen, unrasierten,
verängstig ten kleinen Mann festhielten. Sie warfen ihn vor Haldersen
nieder. Der Mann zitterte wie ein Hase, den die Hunde umzin gelt haben.
Seine Augen glitzerten, sein keilförmiges Gesicht mit spitzem Kinn und
spitzen Wangenknochen war bleich.

“Das ist der, der das Leitungswasser vergiftet hat!” rief einer. “Wir

haben ihn in einem Logierhaus in der Judah Street gefun den. Mit einem
Haufen Drogen auf seinem Zimmer und den Bauplänen des
Leitungssystems und einem Bündel Computer programme. Er gibt alles zu.
Er gibt es zu!”

Haldersen blickte nacht unten. “Stimmt das?” fragte er. “Bist du

derjenige, welcher?”

Der Mann nickte.
“Wie heißt du?”
“Sag' ich nicht. Will einen Anwalt sprechen.”
“Tötet ihn jetzt!” kreischte eine Frau. “Reißt ihm Arme und Beine aus!”
“Tötet ihn!” ertönte ein Antwortschrei von der anderen Seite der

Menge. “Tötet ihn!”

Die Versammlung, erkannte Haldersen, würde ohne weite res zum Mob

werden.

Er sagte: “Sage mir deinen Namen, Und ich werde dich beschützen.

Andernfalls kann ich keine Verantwortung über nehmen.”

“Skinner”, murmelte der Mann kläglich.
“Skinner. Und du hast das Leitungswasser verseucht.”
Wieder ein Nicken.
“Warum?”
“Um mich zu rächen.”
“An wem?”
“An jedermann. Jedermann.”
Der klassische Paranoide. Haldersen empfand Mitleid. Nicht die

anderen, sie wollten Blut sehen.

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Ein hochgewachsener Mann bellte: “Gebt dem Bastard sein eigenes Gift

zu trinken!”

“Nein, tötet ihn! Zertretet ihn!”
Die Stimmen wurden immer drohender. Die wütenden Gesichter kamen

näher.

“Hört mich an”, rief Haldersen und seine Stimme übertönte das

Gemurmel. “Hier wird heute abend nicht getötet.”

“Was haben Sie denn vor, ihn der Polizei zu überlassen?”
“Nein”, sagte Haldersen. “Wir werden gemeinsam Kommunion feiern.

Wir werden diesen erbarmungswürdigen Mann die Segnungen des
Vergessens lehren und dann werden wir selber an neuen Freuden
teilhaben. Wir sind menschliche Wesen. Wir besitzen die Fähigkeit, selbst
dem schlimmsten aller Sün der zu verzeihen. Wo befinden sich die
Gedächtnisdrogen? Hat da nicht jemand gesagt, ihr hättet die
Gedächtnisdrogen gefun den? Hier. Hier. Reicht sie weiter, hier herauf. Ja.
Brüder, Schwestern, laßt uns dieser düsteren und entstellten Seele zeigen,
was Erlösung bedeutet. Ja. Ja. Holt etwas Wasser bitte. Danke. Hier,
Skinner. Helft ihm auf, ja? Haltet seine Arme fest. Sorgt dafür, daß er
nicht hinfällt. Wartet eine Sekunde, bis ich die angemessene Dosierung
gefunden habe. Ja. Ja. Hier, Skin ner. Vergebung. Süßes Vergessen.”

Es war so schön, wieder zu arbeiten, daß Mueller nicht aufhö ren wollte.

Am Samstag im Laufe des frühen Nachmittags war sein Studio fertig
eingerichtet; er hatte längst die Entwürfe für das erste Stück ausgearbeitet;
jetzt war es nur noch eine Frage von Zeit und Arbeitsleistung, und schon
würde er etwas haben, was er Pete Castine zeigen konnte. Er arbeitete bis
weit in den Abend hinein, stellte seine Armaturen auf und unter nahm einige
Probeläufe mit den Schallsequenzen, die er in das Werkstück einzubauen
gedachte. Er hatte einige interessante neue Einfalle, was sie sonischen
Auslöser anging, jene Vorrich tungen, die den Schalleffekt in Gang setzte,
wenn der Betrach ter in ihre Reichweite kam. Carole mußte ihm schließlich
sagen, daß das Abendessen fertig sei. “Ich wollte dich nicht stören” sagte
sie, “aber es sieht so aus, als müßte ich es tun, sonst hörst du nie auf.”

“Tut mir leid. Die kreative Ekstase.”

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“Heb' dir was von dieser Energie auf. Es gibt noch andere Ekstasen. Als

erstes die Ekstase des Abendessens.”

Sie hatte alles selbst gekocht. Wunderbar. Danach machte er sich

wieder an die Arbeit, aber um halb zwei Uhr morgens unterbrach Carole
ihn. Jetzt war er bereit, aufzuhören. Er hatte einen anständigen Arbeitstag
hinter sich gebracht, und er war vom edlen Schweiß wohlgetaner Arbeit
bedeckt. Zwei Minuten unter dem Molekularreiniger und der Schweiß
war verschwunden, aber der angenehme Schmerz tugendhafter
Erschöpfung blieb zurück. So hatte er sich seit Jahren nicht mehr gefühlt.

Er erwachte mit sonntäglichen Gedanken an unbezahlte Schulden.
“Die Roboter sind immer noch da”, sagte er. “Sie werden nicht

weggehen, oder? Obwohl die ganze Stadt lahmgelegt ist, hat keiner den
Robotern gesagt, sie sollen sich zurückziehen.”

“Ignoriere sie doch einfach”, sagte Carole.
“Das habe ich schon die ganze Zeit getan. Aber ich kann nicht die

Schulden ignorieren. Letztendlich wird es zu einer Abrechnung kommen.”

“Du arbeitest aber wieder! Du wirst Einkünfte hereinbekommen.”
“Weißt du denn, wie viel ich denen schulde?” fragte er. “Beinahe eine

Million. Wenn ich ein Jahr lang pro Woche ein Stück anfertigen und jedes
Stück für zwanzig Riesen verkaufen würde, könnte ich vielleicht alles
abzahlen. Aber ich kann so schnell nicht arbeiten, und der Markt kann
unmöglich so viele Muellers aufnehmen, und Pete kann sie auf keinen Fall
alle im Hinblick auf zukünftige Geschäfte aufkaufen.”

Er merkte, wie sich Caroles Gesicht bei der Erwähnung Pete Castines

verdüsterte.

Er sagte: “Dir ist klar, was ich werde tun müssen? Nach Caracas gehen,

wie ich es vorhatte, ehe die ganze Sache mit den Erinnerungen losging. Ich
kann dort arbeiten und mein Zeug an Pete schicken. Und vielleicht werde
ich in zwei oder drei Jahren meine Schulden bezahlt haben, einhundert
Cent pro Dollar, und ich kann hier neu anfangen. Weißt du zufällig, ob das
geht? Ich meine, ob man, wenn man in ein Schuldnerpa radies flieht, für
immer den Kredit gesperrt kriegt, auch wenn man abzahlt, was man
schuldet?”

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“Weiß ich nicht”, sagte Carole abwesend.
“Das werde ich später noch rausfinden. Das Wichtigste ist, daß ich

wieder arbeiten kann, und ich muß irgendwo hinge hen, wo ich arbeiten
kann, ohne verfolgt zu werden. Und dann werde ich jedermann alles
zurückzahlen. Du kommst doch mit mir nach Caracas, nicht wahr?”

“Vielleicht müssen wir gar nicht fort”, sagte Carole.
“Aber wie -”
“Du solltest jetzt schon an der Arbeit sein, oder etwa nicht?”
Er arbeitete, und während er arbeitete, stellte er in Gedanken Listen von

Gläubigern auf und träumte von jenem Tag, an dem sämtliche Namen auf
sämtlichen Listen ausgestrichen sein würden. Als er Hunger bekam,
verließ er das Studio und fand Carole trübselig im Wohnzimmer sitzend
vor. Ihre Augen waren gerötet, die Lider geschwollen.

“Was ist passiert?” fragte er. “Willst du doch nicht mit nach Caracas?”
“Bitte, Paul – laß uns nicht darüber sprechen –”
“Ich habe aber wirklich keine Alternative. Ich meine, wenn wir uns nicht

einen der anderen Zufluchtsorte aussuchen. Sao Paulo? Spalato?”

“Das ist es nicht, Paul.”
“Was denn dann?”
“Ich fange wieder an, mich zu erinnern.”
Ihm blieb die Luft weg. “Oh”, sagte er.
“Ich erinnere mich an November, Dezember, Januar. An die

Verrücktheiten, die du begangen hast, die Darlehen, das finan zielle
Durcheinander. Und an die Auseinandersetzungen, die wir hatten. Es
waren fürchterliche Auseinandersetzungen.”

“Oh.”
“Die Scheidung. Ich erinnere mich, Paul. Gestern abend fing es an, mir

wieder einzufallen, aber du warst so glücklich, daß ich nichts sagen wollte.
Und heute morgen ist alles noch viel deutlicher. Du erinnerst dich immer
noch an gar nichts?”

“An nichts, was seit dem letzten Oktober gewesen ist.”
“Ich aber”, sagte sie zitternd. “Du hast mich geschlagen, wußtest du

das? Du hast mich an der Lippe verletzt. Du hast mich gegen die Wand

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gestoßen, gleich dort drüben, und dann hast du die chinesische Vase nach
mir geworfen, und sie ist zerbrochen.”

“Oh. Oh.”
Sie fuhr fort: “Ich erinnere mich auch, wie gut Pete zu mir war. Ich

glaube, ich kann mich sogar beinahe daran erinnern, wie ich ihn geheiratet
habe, wie ich seine Frau war. Paul, ich habe Angst. Ich spüre, wie in
meinem Kopf alles wieder Gestalt annimmt, und das macht mir genauso
viel Angst, als würde mir der Kopf auseinanderbrechen. Es war so schön,
Paul, diese letzten paar Tage. Es war, als wäre ich wieder frisch
verheiratet mit dir. Aber nun kommt alles wieder, was daran schlimm war,
der Haß, die Häßlichkeit, für mich ist das alles wieder lebendig. Und Pete
tut mir so leid. Wie wir beide ihn am Freitag ausge schlossen haben. Er hat
sich dabei wie ein Gentleman benom men. Aber Tatsache ist, er hat mich
gerettet, als ich unterzuge hen drohte, und ich bin ihm deswegen etwas
schuldig.”

“Was hast du vor?” fragte er gefaßt.
“Ich glaube, ich sollte zu ihm zurückgehen. Ich bin seine Frau. Ich habe

kein Recht hier zubleiben.”

“Aber ich bin nicht mehr der Mann, den du hassen gelernt hast”,

protestierte Mueller. “Ich bin der alte Paul, der vom letzten Jahr und noch
früher. Der Mann, den du geliebt hast. Alles, was hassenswert an mir war,
habe ich verloren.”

“Ich aber nicht. Jetzt nicht.”
Sie schwiegen beide.
“Ich denke, ich sollte zurückgehen, Paul.”
“Wie du meinst”
“Ich denke, das sollte ich. Ich wünsch' dir alles erdenkliche Glück, aber

ich kann nicht hier bleiben. Wird es deiner Arbeit schaden, wenn ich
wieder gehe?”

“Das weiß ich erst, wenn du es tust.”
Sie teilte ihm noch drei oder vier Mal mit, sie habe das Gefühl, zu

Castine zurückkehren zu müssen, und dann schlug er ihr in höflichem Ton
vor, sie solle doch gleich zurückgehen, wenn ihr das notwendig erschiene,

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und sie tat es. Er verbrachte eine halbe Stunde damit, durch die Wohnung
zu streifen, die nun wieder entsetzlich leer wirkte. Beinahe hätte er einen
der Mahnroboter hereingebeten, um ihm Gesellschaft zu leisten. Statt
dessen machte er sich wieder an die Arbeit. Zu seiner Überraschung kam
er recht gut voran, und nach einer Stunde hatte er ganz aufgehört, an
Carole zu denken.

Am Sonntagnachmittag unternahm Freddy Munson einen Kredittransfer

und schaffte es, die meisten seiner flüssigen Mittel auf ein altes Konto zu
überweisen, das er bei der Bank of Luna besaß. Gegen Abend begab er
sich zum Kai und ging an Bord eines Dreimann-Luftkissenboots im Besitz
eines Fischers, der bereit war, es mit dem Gesetz nicht so genau zu
nehmen. Sie schlüpften hinaus in die Bucht, ohne von Suchscheinwerfern
erfaßt zu werden, und überquerten die Bucht in einem großen
Diagonalbogen, worauf sie einige Zeit später wenige Kilometer nördlich
von Berkeley anlegten. Munson fand ein Taxi, um sich zum Flughafen von
Oakland fahren zu lassen, und erwischte den Mitternachtsflug nach Los
Angeles, wo es ihm nach vielem Hin und Her gelang, sich einen Platz an
Bord der nächsten Rakete Richtung Luna zu kaufen, die am
Montagmorgen um zehn abheben sollte. Er verbrachte die Nacht im
Raumhafengebäude. Er hatte nichts mitgenommen als die Kleidung, die er
am Leib hatte, seine wertvollen Besitz tümer, seine Bilder, seine Anzüge,
seine Mueller-Skulpturen und alles übrige blieb in seiner Wohnung zurück
und würde letztlich verkauft werden, um die Ansprüche gegen ihn zu
befriedigen. Zu schade. Er wußte, daß er sowieso nicht zur Erde
zurückkehren würde, nicht wenn ein Haftbefehl wegen Unterschlagung
oder Schlimmeres auf ihn wartete. Ebenfalls sehr schade. Es war so lange
so nett hier gewesen, und wem nützte schon eine Gedächtnisdroge in der
Wasserversorgung? Munson hatte nur einen einzigen Trost. Es war
Gegenstand seiner Philosophie, daß früher oder später, ohne Rücksicht
darauf, wie sorgsam man sein Leben organisiert hatte, das Schicksal
einem eine Falltür unter den Füßen öffnete und einen ins Unbekannte und
Unangenehme hinauskatapultierte. Nun wußte er, daß das zutraf, sogar
auf ihn. Sehr, sehr schade. Er fragte sich, wie wohl seine Chancen

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standen, dort droben neu anzufangen. Brauchten sie Börsenmakler auf
dem Mond?

In seiner Rede an die Bevölkerung am Montagabend sagte Commander

Braskett: “Das Komitee für öffentliche Sicherheit freut sich, berichten zu
können, daß wir den schlimmsten Teil der Krise überstanden haben. Wie
viele von Ihnen bereits festgestellt haben, fangen die Erinnerungen an,
zurückzukehren. Der Erholungsprozeß wird für einige schneller
voranschreiten als für andere, aber es sind schon große Fortschritte erzielt
worden. Mit Wirkung von morgen früh um sechs Uhr werden die
Verkehrsverbindungen von und nach San Francisco wieder geöffnet. Es
wird normale Postzustellung geben, und viele Geschäftsbetriebe werden
normal arbeiten. Liebe Mitbürger, wir haben wieder einmal den wahren
Charakter des amerikanischen Geistes demonstriert. Die Gründungsväter
müssen heute auf uns hernieder lächeln! Wie hervorragend haben wir das
Chaos vermieden, und wie wunderbar sind wir zusammengerückt, um uns
gegenseitig in einer Stunde Beistand zu leisten, die zur Stunde des Tumults
und der Verzweiflung hätte werden können!

Dr. Bryce bittet mich, Sie daran zu erinnern, daß ein jeder, der immer

noch an einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des Gedächtnisses leidet
– vor allem solche, die Identitäts verlust erfahren haben, eine Störung
lebenswichtiger Körperfunktionen oder andere Gebrechen –, sich in der
Notaufnah mestation des Fletcher Memorial Krankenhauses melden soll.
Hier wird Ihnen Behandlung angeboten, und es steht eine
Computeranalyse für diejenigen zur Verfügung, die ihr Zuhause und ihre
Lieben nicht finden können. Ich wieder hole –”

Tim Bryce wünschte, der gute Commander hätte darauf verzichtet,

diesen Einschub vom wahren Charakter des amerikanischen Geistes zu
machen, vor allem im Hinblick auf dir Notwendigkeit, gleich darauf die
verbliebenen Opfer ins Krankenhaus einzuladen. Aber es wäre
unbarmherzig gewesen, dagegen Einspruch zu erheben. Der alte
Weltraummann hatte das ganze Wochenende über in seiner Eigenschaft
als Die Stimme der Krise gute Arbeit geleistet, und ein paar patriotische
Ausschmückungen zum jetzigen Zeitpunkt waren harmlos.

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Die Krise war natürlich keineswegs auch nur annähernd vorbei, wie

Commander Brasketts Rede angedeutet hatte, aber das Selbstvertrauen
der Öffentlichkeit mußte gestärkt werden.

Bryce hatte die neuesten Zahlen vorliegen. Die Selbstmorde beliefen

sich nun auf 900, seit am Mittwoch die Schwierigkeiten begonnen hatten;
der Sonntag war ein unerwartet schlim mer Tag gewesen. Von mindestens
40 000 Menschen fehlte immer noch jede Spur, obwohl man 1000 pro
Stunde aufspürte und sie wieder ihren Familien zuführte, beziehungs weise
einer Intensivstation. Vielleicht 750 000 weitere hatten immer noch
Probleme mit dem Gedächtnis. Die meisten Kinder hatten sich voll erholt,
und viele Frauen befanden sich auf dem Weg der Besserung; aber ältere
Leute und Männer im allgemeinen hatten fast gar kein Wiedereinsetzen
ihres Gedächtnisses erlebt. Selbst jene, die beinahe ganz genesen waren,
hatten keinerlei Erinnerung an die Ereignisse von Dienstag und Mittwoch
und würden sie wahrscheinlich auch in Zukunft nicht bekommen; dagegen
würde es für eine große Anzahl Menschen erforderlich werden, große
Abschnitte der Vergangenheit durch äußere Einwirkung zu lernen, wie
Unterrichtsstunden in Geschichte.

Lisa brachte ihm auf diese Weise ihre Ehe nahe.
Die Reisen, die sie unternommen hatten – die guten Zeiten, die

schlechten – die Feste, die Freunde, die gemeinsamen Träume - sie
schilderte ihm alles, so lebhaft sie konnte und er klammerte sich an jeder
Anekdote fest und versuchte sie wieder zu einem Teil seines Ichs zu
machen. Er wußte, es war im Grunde hoffnungslos. Er würde den Ablauf
kennen, nie mals die Substanz. Dennoch war es vermutlich das Beste,
worauf er hoffen konnte.

Er war plötzlich ganz entsetzlich müde.
Er sagte zu Kamakura: “Gibt es schon irgendwas Neues aus dem Park?

Dieses Gerücht, wonach Haldersen tatsächlich einen Vorrat von der
Droge gekriegt hat?”

“Scheint zu stimmen, Tim. Es heißt, er und seine Freunde hätten den

Typ erwischt, der die Wasserversorgung sabotiert hat, und ihn um ein
ganzes Zimmer voller unterschiedlicher Amnesieerzeuger erleichtert.”

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“Wir müssen sie beschlagnahmen”, sagte Bryce.
Kamakura schüttelte den Kopf. “Nicht zum gegenwärtigen Zeitpunkt.

Die Polizei schreckt vor irgendwelchen Maßnahmen im Park zurück. Sie
sagt, die Lage ist unklar.”

“Aber wenn diese Drogen in Umlauf sind –”
“Überlaß' es ruhig mir, mich darum zu kümmern, Tim. Sieh mal, warum

gehen Lisa und du nicht eine Weile nach Hause? Du bist seit Donnerstag
pausenlos hier gewesen.”

“Genau wie –”
“Nein. Alle anderen haben eine Verschnaufpause gehabt. Geh ruhig.

Wir haben das Schlimmste überstanden. Entspannt euch, schlaft mal
richtig, liebt euch mal richtig. Sieh zu, daß du deine prachtvolle Frau
wieder ein wenig kennenlernst.”

Bryce wurde rot. “Ich würde lieber hier bleiben, bis ich das Gefühl

habe, es mir leisten zu können, daß ich gehe.”

Stirnrunzelnd entfernte sich Kamakura, um mit Commander Braskett zu

konferieren. Bryce besah sich die Bildschirme und versuchte sich
vorzustellen, was wohl gerade im Park vor sich ging. Einen Augenblick
darauf kam Braskett zu ihm herüber.

“Dr. Bryce?”
“Wie?”
“Sie sind bis Sonnenuntergang am Dienstag Ihren Pflichten enthoben.”
“Eine Sekunde mal –”
“Dies ist ein Befehl, Doktor. Ich bin Vorsitzender des Komi tees für

öffentliche Sicherheit, und ich sage Ihnen, Sie sollen aus diesem
Krankenhaus verschwinden. Sie werden einem Befehl doch nicht
zuwiderhandeln, oder?”

“Hören Sie mal, Commander –”
“Hinaus. Keine Meuterei, Bryce. Hinaus. Befehl ist Befehl. -
Bryce versuchte zu protestieren, aber er war zu erschöpft, um größeren

Widerstand leisten zu können. Gegen Mittag befand er sich auf dem Weg
nach Hause, mit vor Erschöpfung breiigem Kopf. Lisa war am Steuer. Er
saß ganz still da und mühte sich ab, sich an Einzelheiten seiner Ehe zu

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erinnern. Nichts kam dabei heraus.

Sie steckte ihn ins Bett. Er war sich nicht sicher, wie lange er schlief,

aber dann spürte er sie an seinem Körper, warm, seidenweich.

“Hallo”, sagte sie. “Kennst du mich noch?”
“Ja”, log er dankbar. “Oh, ja, ja, ja!”
Indem er die Nacht durcharbeitete, beendete Mueller am Montag gegen

Morgengrauen seinen Aufbau. Er schlief eine Weile und begann am frühen
Nachmittag die inneren Lautsprecherleisten aufzumalen: Etwa fünfhundert
Lautsprecher auf einen Zentimeter, ein jeder von höchstens ein paar
Molekülen Dicke, aus denen die Klänge seiner Skulptur mit tönender
Fülle hervortreten würden. Als dies getan war, hielt er inne, um sich dem
Problem der Oberflächenstruktur seiner Skulptur zu widmen, und gegen
sieben an jenem Abend war er soweit, zur nächsten Projektphase
überzugehen. Die Dämonen der Kreativität hatten von ihm Besitz ergriffen;
er sah nicht ein, warum er essen sollte und nur bis zu einem gewissen
Grade, warum er schlafen sollte.

Um acht, als er gerade für die lange Nachtarbeit richtig in Schwung

kam, hörte er ein Klopfen an der Tür. Caroles Signal. Er hatte die Klingel
abgestellt und Robotern fehlte der Grips, einfach anzuklopfen. Besorgt
ging er zur Tür. Sie war da.

“Nun?” sagte er.
“Nun bin ich zurückgekommen. Nun fängt alles wieder von vorne an.”
“Was soll das?”
“Kann ich reinkommen?” fragte sie.
“Von mir aus. Ich arbeite, aber komm ruhig rein.”
Sie sagte: “Ich habe alles mit Pete durchgesprochen. Wir kamen beide

zu dem Schluß, daß ich zu dir zurückgehen sollte.”

“Du hast wohl nicht viel für Konsistenz übrig, wie?” fragte er.
“Ich muß die Dinge nehmen, wie sie kommen. Als ich mein Gedächtnis

verloren habe, bin ich zu dir gekommen. Als ich mich wieder an alles
erinnert habe, hatte ich das Gefühl, gehen zu müssen. Ich wollte nicht
gehen. Ich hatte das Gefühl, ich sollte gehen. Das ist etwas anderes.”

“Tatsächlich”, sagte er.

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“Tatsächlich. Ich bin zu Pete gegangen, aber ich wollte nicht mit ihm

Zusammensein. Ich wollte hier sein.”

“Ich habe dich geschlagen und deine Lippe zum Bluten gebracht. Ich

habe die Mingvase nach dir geworfen.”

“Es war nicht Ming, es war K'ang-hsi.”
“Verzeihung. Mein Gedächtnis ist immer noch nicht sehr gut. Wie dem

auch sei, ich hab' dir schreckliche Dinge angetan und du hast mich genug
gehaßt, um dir die Scheidung zu wünschen. Warum kommst du also
zurück?”

“Du hattest recht, gestern. Du bist nicht der Mann, den ich hassen

gelernt habe. Du bist wieder der alte Paul.”

“Und wenn meine Erinnerung an die vergangenen neun Monate wieder

einsetzt?”

“Und wenn”, sagte sie. “Die Menschen ändern sich. Du bist durch die

Hölle gegangen und am anderen Ende wieder rausgekommen. Du
arbeitest wieder. Du bist nicht bedrückt und gereizt und verwirrt. Wir
werden nach Caracas gehen oder wohin du willst, und du wirst deine
Arbeit tun und deine Schulden bezahlen, so wie du es gestern gesagt
hast.”

“Und Pete?”
“Er wird die Annullierung vorbereiten. Er verhält sich fabel haft in der

Beziehung.”

“Der gute alte Pete”, sagte Mueller. Er schüttelte den Kopf. “Wie lange

wird das schöne Happy-End anhalten, Carole? Wenn du glaubst, es
besteht die Möglichkeit, daß du am Mittwoch wieder in die andere
Richtung galoppierst, sag es lieber gleich. In dem Fall würde ich mich
nämlich nicht gern erneut auf die Sache einlassen.”

“Auf keinen Fall. Auf gar keinen.”
“Es sei denn, ich werfe die Ch'ien-lung-Vase nach dir.”
“K'ang-hsi”, sagte sie.
“Ja. K'ang-hsi.” Er brachte ein Grinsen zustande. Plötzlich spürte er, wie

sich die während der letzten Tage aufgestaute Müdigkeit bemerkbar
machte. “Ich hab' zuviel gearbeitet” sagte er. “Eine Orgie der Kreativität,

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um die verlorene Zeit wettzumachen. Laß uns Spazierengehen.”

“Au ja”, sagte sie.
Sie gingen hinaus, gerade als ein Mahnroboter eintraf” Einen

wunderschönen guten Abend, mein Herr”, sagte Mueller.

“Mr. Mueller, ich vertrete die Inkassoabteilung der Firma Anne Brass

und –”

“Wenden Sie sich an meinen Anwalt”, sagte er.
Nebel rollte vom Meer herein. Es gab keine Sterne. Die Lichter der

Innenstadt waren nicht zu sehen. Er und Carole gingen nach Westen, auf
den Park zu. Ihm war sonderbar leicht im Kopf, nicht ausschließlich aus
Mangel an Schlaf. Traum und Wirklichkeit hatten sich vermengt; dies
waren außergewöhnliche Zeiten. Sie betraten den Park am Panhandle und
schlenderten Arm in Arm auf die Museumsgegend zu, ohne viele Worte zu
wechseln. Als sie am Gewächshaus vorbeikamen, wurde Mueller einer
Menschenmenge vor ihnen gewahr, Tausende von Leuten, die alle in die
Richtung starrten, wo sich die Konzertmuschel befand. “Was, meinst du,
geht da vor?” fragte Carole. Mueller zuckte die Achseln. Sie drängten sich
durch die Menge.

Zehn Minuten später waren sie nahe genug herangekom men, um die

Bühne zu sehen. Ein großer, dünner, wirr dreinblickender Mann mit
struppigem gelblichem Haar stand dar auf. Neben ihm befand sich ein
kleiner, knochiger Mann in zerlumpter Kleidung, und sie wurden von
einem Dutzend weiterer Personen flankiert, die Keramikschüsseln hielten.

“Was geht da vor?” fragte Mueller jemanden in der Menge.
“'ne religiöse Zeremonie.”
“Häh?”
“'ne neue Religion. Kirche des Vergessens. Das ist der Ober prophet da

droben. Sie ha'm wohl noch nichts davon gehört?”

“Keine Silbe.”
“Hat ungefähr Freitag angefangen. Sehen Sie diesen Typen neben dem

Propheten, der wie eine Ratte aussieht?”

“Ja.”
“Das ist der, der das Zeug ins Leitungswasser gekippt hat. Er hat alles

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gestanden, und die haben ihn gezwungen, seine eigene Droge zu
schlucken. Jetzt kann er sich an überhaupt nichts erinnern, und er ist der
Assistenzprophet. Völlig ver rücktes Zeug!”

“Und was machen die dort oben?”
“Sie haben die Droge in diesen Schüsseln. Sie trinken und vergessen

noch mehr.”

Der aufkommende Nebel schluckte die Laute derer auf der Bühne.

Müller strengte sich an, um etwas zu hören. Er sah die glänzenden Augen
des Fanatismus; der angebliche Wasservergifter glühte geradezu. Worte
schwebten hinaus in die Nacht

“Brüder und Schwestern.... die Freude, die Süße des Vergessens ...

kommt hier herauf zu uns, feiert mit uns die Kommunion ... Vergessen ...
Erlösung ... selbst die bösartigsten ... vergessen ... vergessen ...”

Sie reichten die Schüsseln auf der Bühne herum, tranken, lächelten.

Leute stiegen hinauf, um die Kommunion in Empfang zu nehmen, griffen
nach einer Schüssel, nippten daran, nickten glücklich. Im
Bühnenhintergrund wurden die Schüsseln von drei nüchtern wirkenden
Funktionären wieder aufgefüllt.

Mueller fröstelte. Er hatte irgendwie den Verdacht, daß das, was

während dieser Woche hier im Park ins Leben gerufen worden war, noch
lange weiterbestehen würde, nachdem die Krise San Franciscos schon
längst Geschichte geworden war, und es schien ihm, als sei etwas Neues
und Furchteinflößendes über das Land gekommen.

“Nehmet... trinket... vergesset...” schrie der Prophet
Und die Gläubigen brüllten: “Nehmen ... trinken ... vergessen ...”
Die Schüsseln wurden herumgereicht.
“Was soll das alles?” flüsterte Carole.
“Nehmet... trinket ... vergesset...”
“Nehmen ... trinken ... vergessen ...”
“Gelobt sei das süße Vergessen.”
“Gelobt sei das süße Vergessen.”
“Süß ist es, abzulegen die Bürde der Seele.”
“Süß ist es, abzulegen die Bürde der Seele.”

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“Freudenreich ist der Neubeginn.”
“Freudenreich ist der Neubeginn.”
Der Nebel wurde dichter. Mueller konnte kaum das Gebäude des

Aquariums gleich auf der anderen Seite des Weges erken nen. Er
umschloß Caroles Hand fest mit der seinen und begann zu überlegen, wie
er am besten aus dem Park herauskam.

Er mußte allerdings zugeben, daß diese Leute irgendwo ein Quentchen

Wahrheit getroffen hatten. War er etwa nicht besser dran, dadurch, daß er
eine Chemikalie in seinen Blutkreislauf aufgenommen und so ein Stück
seiner Vergangenheit abgelegt hatte? Ja, natürlich. Und doch – sich auf
diese Art den eigenen Kopf zu verstümmeln, absichtlich, freudig, einen
tiefen Schluck vom Vergessen zu nehmen –.

“Gesegnet sind jene, die vergessen können”, sagte der Pro phet.
“Gesegnet seien jene, die vergessen können”, antwortete dröh nend die

Menge.

“Gesegnet seien jene, die vergessen können”, hörte Mueller seine eigene

Stimme rufen. Und er begann zu zittern. Und er empfand plötzliche Furcht.
Er spürte die Kraft dieser seltsamen neuen Bewegung, die wachsende
Stärke des Appells des Pro pheten an die Unvernunft. Vielleicht war es ja
an der Zeit für eine neue Religion, für einen Kult, der die Befreiung von
allem inneren Ballast anzubieten hatte. Man würde diese Droge syn thetisch
herstellen und tonnenweise ausliefern, dachte Mueller, und wiederholt
einzelnen Städten Dosen davon verabrei chen, um jedermann dazu zu
bekehren, damit jedermann die Freuden des Vergessens auskosten
konnte. Niemand wird in der Lage sein, sie aufzuhalten. Nach einer Weile
wird niemand sie aufhalten wollen. Und so werden wir weitermachen, in
liefen Zügen trinken, bis wir von allem Schmerz und allen Sorgen
reingewaschen sind, von allen traurigen Erinnerungen, wir werden ein
Täßchen Freundlichkeit schlürfen und von der guten alten Zeit Abschied
nehmen, wir werden den Kummer aufgeben, den wir mit uns herumtragen,
und wir werden alles übrige mit aufgeben, Identität, Seele, unser Ich,
unseren Verstand. Wir werden vom süßen Vergessen trinken. Mueller
schauderte. Er wandte sich plötzlich ab, packte Carole dabei grob am

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Arm, schob sich durch die jubelnde, andächtige Menge und eilte traurig in
die nebelverhüllte Nacht hinaus, um einen Weg aus dem Park zu suchen.

Ende


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