Charmed 27 Der schwarze Turm Tabea Rosenzweig

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C

harmed

Zauberhafte

Schwestern

Der schwarze Turm

Roman von

Tabea Rosenzweig

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Klappentext:

Nach der endgültigen Vernichtung der Quelle scheint es, als

wäre endlich wieder ein wenig Ruhe ins Leben der Zauberhaften

eingekehrt. Piper und Leo freuen sich auf ihr Baby, und Phoebe

stürzt sich in die Arbeit beim Bay Mirror und versucht so, das

Debakel um Cole zu vergessen. Nur in Paiges Leben scheint sich

nichts, rein gar nichts zu ereignen. Da erhält die junge Hexe im

South Bay Sozialdienst Besuch von einem verzweifelten Jung-

Journalisten namens Selim, der sein erstes Prominenten-

Interview führen muss. Paige möchte helfen, doch kurz darauf

findet sie sich mysteriöserweise im Alten Orient wieder –

gefangen in einem unheimlichen Turm, in einer Stadt in der

Wüste und in einer längst vergangenen Zeit! Paige versteht die

Welt nicht mehr. Hat das Schicksal wieder einmal dafür gesorgt,

dass die Macht der Drei in den Lauf der Welt eingreifen muss?

Doch dann deutet einiges darauf hin, dass Selim sie auf Geheiß

eines machthungrigen Erzdämons entführt hat. Da sitzt Paige

nun im Jahr 790 unserer Zeitrechnung fest, und ihre Schwestern

setzen alles daran, einen Weg zu ihr zu finden.

Dieses eBook ist nicht zum Verkauf

bestimmt.

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Die Liebe ist und bleibt mir Glaube und Gesetz

Ibn al-Arabi (1165-1240)

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Prolog

E

RBARMUNGSLOS SCHIEN die Mittagssonne auf die

Wüste, die seit den ersten Tagen der Menschheit zu existieren
schien. Doch inmitten dieser menschenfeindlichen Öde aus
Sand, Salz und Stein, umgeben von massigen Mauern, dreimal
so hoch wie ein Mann, tobte das Leben.

Unermüdlich gingen die Händler in Ald’marans

Kaufmannsgassen, Basaren, Sklavenmärkten und
Karawansereien ihren Geschäften nach und erfreuten sich ihres
Wohlstands. Eines Wohlstands, den die Einwohner der Stadt
einer Wasserquelle zu verdanken hatten, die aus einer ehemals
kleinen Oase eine pulsierende orientalische Metropole hatte
erstehen lassen.

Doch für so manchen Reisenden und Pilger aus nah und fern

war die farbenprächtige Stadt in der Wüste mehr als nur ein
willkommener Zwischenstopp auf dem Weg nach Mekka,
Medina oder Damaskus.

Die Christen schrieben das Jahr 790, doch für die Bewohner

von Ald’maran, wie für die Menschen im ganzen Morgenland,
hatte das Jahr null vor gerade einmal 168 Jahren begonnen.

Zu jener Zeit nämlich hatte der Prophet Mohammed nach

Medina fliehen müssen, eine neue Religion begründet und die
arabische Halbinsel unter dem grünen Banner des Islam geeint.

Und nun, kaum drei Generationen später, herrschte von

Bagdad aus die legendäre Dynastie der Abbasiden unter Harun
al-Raschid über ein riesiges Imperium. Später würden die
Menschen des Orients diese Jahre als »goldene Epoche«
bezeichnen. Zur gleichen Zeit versuchte, in gut 4000 Kilometern
Entfernung, ein fränkischer König namens Karl der Große, jene
Völker zu einen, die man künftig zum alten Europa zählen

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würde, und sich seinerseits mit dem Schwert ein Weltreich zu
erstreiten.

Kalif Harun al-Raschid galt als Gönner der Künste und

Wissenschaften. Mathematik, Astronomie, Medizin, Musik und
Dichtung entfalteten sich unter seiner Herrschaft zu nie da
gewesener Blüte.

Und so war auch Ald’maran ein aufstrebendes geistiges

Zentrum seiner Zeit und stolz auf seine einst von Mahmud dem
Weisen begründete Hochschule, an der Wissbegierige aus der
gesamten arabischen Welt die alten und neuen Lehren studieren
konnten.

Doch wie das Böse überall und zu allen Zeiten existierte,

besaß auch das glorreiche Ald’maran eine dunkle, abgründige
Seite.

Weit abseits des prächtigen Herrscherpalastes ragte ein

mächtiger, granitfarbener Turm wie eine Speerspitze gen
Himmel und schmiegte sich an die einsame, halb verfallene
Nordmauer der Stadt, die als einzige kein Tor zur Wüste besaß.

Niemand in Ald’maran konnte heute mehr sagen, wie alt der

schwarze Turm war oder wer ihn erbaut hatte. Doch hinter
vorgehaltener Hand erzählten sich die Menschen, dass des
Nachts die Toten des nahe gelegenen alten Friedhofs ihren
Gräbern entsteigen und rund um das unheimliche Bauwerk ihr
Unwesen treiben.

Und so war der kahle Hügel, auf dem der schwarze Turm

stand, für die Bürger von Ald’maran seit Menschengedenken ein
Ort, den niemand ohne Not betrat, ein Ort, an dem Furcht und
Schrecken herrschten.

Der alte Zeyn lehnte sich vor, legte die Hände auf die matt

schimmernde Glaskugel und schloss die Augen. Ein Wirbel aus
Licht und Farben durchflutete seinen Geist, und sein

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missgestalteter Körper erbebte vor Erregung. Und dann war die
Verbindung endlich hergestellt.

Er sah, wie Selim mithilfe des Buchs der Weisheit einen

Spruch niederschrieb, der ihm das Reisen in der Zeit
ermöglichen würde.

»Gut, mein Junge, sehr gut«, flüsterte Zeyn. Er öffnete die

Augen und sah hinab auf die Schale mit der milchigen
Flüssigkeit, die neben der Kugel stand. Er lächelte. »Bei Iblis,
meine Macht wird grenzenlos sein.«

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1

I

M SOUTH BAY SOZIALDIENST

war wie immer die

Hölle los.

Ununterbrochen klingelte in dem Großraumbüro, in dem

Paige Matthews als Sozialarbeiterin tätig war, das Telefon.
Überhaupt war die Geräuschkulisse enorm, wie auch die Hektik,
die hier herrschte. Mitarbeiter eilten geschäftig hin und her, und
stets warteten im Empfangsbereich zahlreiche Hilfesuchende,
die persönlich vorsprachen, um sich in allen Lebensfragen
beraten zu lassen.

Paiges Schreibtisch bog sich fast unter Stapeln von Akten

und Dokumenten, die sie heute noch abarbeiten wollte. Es war
gerade mal elf Uhr vormittags, doch Paige hatte das Gefühl, hier
schon eine Ewigkeit zwischen Telefon, Computer und
Aktenbergen festzusitzen. Leider hatte sich heute auch noch ihre
Kollegin krankgemeldet, sodass sie zudem das Telefon am
Nachbarschreibtisch bedienen musste. Immerhin war heute
Freitag, und das Wochenende stand vor der Tür. Ein kleiner
Lichtblick zumindest.

Zu dumm, dass man nicht zum eigenen Vorteil hexen darf,

dachte sie. Wie cool wäre es, wenn sich die ganze Arbeit einfach
von selbst erledigen würde, während ich dem ganzen Stress hier
den Rücken kehre und ein bisschen Spaß habe.

Zu allem Überfluss musste sie sich nach Feierabend auch

noch in Sachen Sprüche- und Kräuterkunde weiterbilden, damit
sie es in Bezug auf ihr Hexenwissen schon bald mit ihren
Halbschwestern aufnehmen konnte. Piper nahm das alles sehr
ernst und würde sie nach dem Abendessen sicherlich wieder
prüfen und abhören wollen. Und obwohl Paige dem Hexentrio
nun schon seit einem Jahr angehörte, hatte sie natürlich noch
viel zu lernen und nachzuholen.

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Seit Paige eine der Zauberhaften geworden war, war eine

Menge passiert. Sie selbst hatte ziemlich bald erfahren müssen,
dass sie in einem früheren Leben eine böse Hexe gewesen war.
Piper, die unter dem Verlust ihrer Schwester Prue am ärgsten
gelitten zu haben schien, hatte sich zwischendurch in eine Furie
verwandelt und war sogar eine Zeit lang in die Unterwelt
verbannt worden.

Doch nun bekamen Leo und Piper ein Baby, das genau wie

sie, Paige, das Erbe eines Wächters des Lichts und einer Hexe in
sich tragen würde. Paige freute sich sehr für Piper, doch
insgeheim beneidete sie ihre älteste Schwester auch ein bisschen
um das private Glück.

Das zurückliegende Jahr hatte fast ganz im Zeichen der

Vernichtung der Quelle und des Kampfes gegen die Mächte der
Unterwelt gestanden.

Und all das hatte mit Cole zu tun gehabt, dem

halbdämonischen Ex-Anwalt, in den Phoebe sich vor einiger
Zeit verliebt hatte. Cole war zwischenzeitlich sogar ein ganz
normaler Mann ohne jegliche magische Fähigkeiten gewesen,
dann jedoch zur Quelle selbst geworden und zum König der
Unterwelt avanciert.

Doch nachdem die Zauberhaften ihn schließlich besiegt

hatten, war Cole nun in einer Art Zwischenwelt gefangen und
versuchte gelegentlich noch, mit Phoebe Kontakt aufzunehmen,
auf dass diese um ihn und ihre Liebe kämpfe.

Doch es schien, als ob Phoebe den Kampf um Cole bereits

aufgegeben hatte, und wenn Paige ehrlich war, musste sie
zugeben, dass das aus ihrer Sicht genau die richtige
Entscheidung war. Sie hatte Cole nie über den Weg getraut und
tat es auch jetzt nicht, obwohl er nicht mehr in dieser Sphäre
weilte und keine Gefahr mehr für die Zauberhaften darstellte.

Und dann, nachdem sie die Quelle endgültig vernichtet

hatten, hatte der Schicksalsengel den drei Frauen zur Belohnung

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für diese gute Tat ein ganz normales Leben in Aussicht gestellt.
Doch die Zauberhaften hatten nach reiflicher Überlegung
dankend abgelehnt, obwohl den Schwestern klar gewesen war,
dass sie eine solche Chance nie wieder erhalten würden.

Paige seufzte. Ja, sie hatten sich entschieden, auch in Zukunft

gegen Dämonen, Warlocks und andere Kreaturen der Nacht zu
kämpfen, doch so ein Hexenleben war hart, und noch viel härter
war es, eine der Zauberhaften zu sein.

Sie wusste nicht mehr, wann sie zuletzt ausgegangen war und

etwas Tolles erlebt hatte. Geschweige denn, mit einem süßen
Typen
ausgegangen war … So etwas wie ein Privatleben schien
es nicht mehr zu geben, wenn man eine Zauberhafte war.
Entweder man kämpfte gegen die Mächte des Bösen, oder man
verbrachte seine Zeit mit Geldverdienen und Pauken in Sachen
Magiefortbildung.

Doch all das hatte ihre quirlige Halbschwester Phoebe nicht

davon abgehalten, sie zum Mittagessen im South Bay
Sozialdienst
abholen zu wollen. Schon in einer Stunde wollte sie
hier sein, und dabei hatte Paige noch so viel zu erledigen … Es
war zwar Freitag, und das Wochenende stand vor der Tür, doch
anders als bei Phoebe, die als Kolumnistin für den Bay Mirror
tätig war, endete für Paige die Arbeitswoche an diesem Tag
nicht schon gegen Mittag.

Seit Paige nach Prues Tod in das Leben von Piper und

Phoebe getreten war, war es vor allem Phoebe gewesen, die den
Kontakt zu dem neuen Familienmitglied zu intensivieren
gesucht hatte. Immerhin, so wurde Phoebe nicht müde, ihrer
Schwester Piper gegenüber zu versichern, nahm Paige nun seit
gut einem Jahr Prues Platz als Dritte im Bunde der Zauberhaften
ein, und deshalb dürfe sich Paige auch nicht mehr länger als
Außenseiterin fühlen, wie es am Anfang gelegentlich der Fall
gewesen war. Und da Phoebe, im Gegensatz zu Piper, die das
P3 zu führen hatte, nach wie vor über mehr freie Zeit verfügte

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als ihre Schwestern, nutzte sie jede sich bietende Gelegenheit,
das Band zwischen ihnen enger zu knüpfen.

Ich wünschte, ein dunkelhaariger, gut aussehender Fremder

würde hier erscheinen, mich aus diesem Trott rausholen und mit
mir in ein wundervolles Wochenende aufbrechen, dachte Paige.
Und da das leider nur in Märchen passiert, hole ich mir jetzt erst
mal einen starken Kaffee.

Sie stand auf und ging hinüber zum Getränkeautomaten. Seit

der Sozialdienst einen neuen Kaffeespender angeschafft hatte,
der auch »Latte Macchiato« im Programm hatte, konnte man die
heißen Muntermacher sogar halbwegs genießen.

Mit ihrer vollen Kaffeetasse bahnte sich Paige den Weg

zurück zu ihrem Arbeitsplatz. Schon von weitem sah sie, dass
auf dem Besucherstuhl neben ihrem Schreibtisch jemand saß
und auf sie zu warten schien.

Es war ein junger Mann, der ebenfalls einen Plastikbecher

mit dampfendem Kaffee in der Hand hielt und gerade eine
flache Aktentasche neben seinem Stuhl abstellte. Das alles wäre
an sich nichts Bemerkenswertes gewesen, wäre der Besucher
selbst nicht überaus bemerkenswert gewesen. Genauer gesagt
hatte Paige noch nie zuvor einen interessanteren Mann gesehen.

Er war groß und schlank, hatte pechschwarzes, sanft

gelocktes Haar, einen gebräunten Teint und wunderschöne,
leicht mandelförmige grüne Augen, die einen aparten Kontrast
zu dem markanten Gesicht mit den hohen Wangenknochen
darstellten.

Und doch war er weit entfernt von jenen glatten Modeltypen,

auf die eine solche Beschreibung oberflächlich betrachtet
ebenfalls zutreffen mochte. Das lange Haar hatte offensichtlich
schon seit längerem keine Schere mehr gesehen, und in seinem
weißen Baumwollhemd, das lässig über die verwaschenen Jeans
fiel, sah er alles andere als gestylt aus. Doch das eigentlich
Attraktive bestand nicht in all diesen Äußerlichkeiten, sondern

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in der sonderbaren Ausstrahlung, die er besaß und die selbst aus
dieser Entfernung auf Paige wirkte wie eine Oase auf einen halb
Verdursteten.

Als sie herankam, sprang der junge Mann hastig auf, und sie

bemerkte, dass der Fremde irgendwie ein bisschen erschöpft
aussah. Auch stellte sie fest, dass er aus der Nähe betrachtet älter
wirkte, als es auf den ersten Blick den Anschein gehabt hatte.
Paige schätzte ihn auf Anfang dreißig, doch das machte ihn in
ihren Augen um keinen Deut uninteressanter, ganz im Gegenteil

»Sind Sie Paige Matthews?«, fragte er mit tiefer, weicher

Stimme. »Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier finde.«

Unwillkürlich machte Paige einen Schritt zurück, denn der

junge Mann hatte nicht nur eine ausgesprochen erotische
Stimme, er sah ihr zudem auch noch fest in die Augen.

Für einen Moment starrte sie ihn einfach nur an, anstatt seine

Frage zu beantworten, und versuchte, sich wieder zu sammeln.

»Es tut mir Leid, dass ich Sie so ohne Voranmeldung

überfalle«, fuhr der Besucher, nun sichtlich nervös, fort, ohne
auch nur die geringste Notiz von Paiges Verwirrung zu nehmen,
»aber ich muss Sie dringend sprechen.« Er lächelte das zugleich
hinreißendste und traurigste Lächeln, das Paige je gesehen hatte.

»Da sind Sie nicht der Einzige«, krächzte Paige, die

offensichtlich ihre Fassung wiedererlangt hatte. »Allerdings ist
es hier üblich, sich vorher einen Termin geben zu lassen, oder
aber Sie warten dort drüben im Empfangsbereich, bis einer der
anderen Sozialarbeiter Zeit –« Sie brach ab, denn der junge
Mann senkte stumm den Blick, und als er wieder zu ihr aufsah,
war es, als sähen seine Augen direkt in ihr Herz.

»Na … dann nehmen Sie mal wieder Platz«, murmelte sie

und stellte ihren Milchkaffee ab. »Was kann ich für Sie tun?«

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Der junge Mann, der den Kaffeebecher noch immer fest

umklammerte, drehte sich hastig zu seinem Stuhl um, wobei er
mit der freien Hand gegen einen der Aktenstapel auf dem
Schreibtisch stieß.

Der Papierturm geriet ins Wanken, kippte und riss im Fallen

Paiges Kaffeetasse um. Das Heißgetränk ergoss sich über
diverse Schriftstücke und bespritzte den Ledereinband von
Paiges Terminplaner, um schließlich über die Tischkante auf
den Teppichboden zu plätschern.

»Ach herrje!«, rief der junge Mann bestürzt, während Paige

geistesgegenwärtig bereits ihren Wochenvorrat an
Papiertaschentüchern aus der Schublade zerrte und versuchte,
die Lache auf ihrem Schreibtisch aufzuwischen. »Es tut mir
Leid«, stammelte der Besucher und stellte hastig seinen
Kaffeebecher ab, bevor er seinerseits versuchte, ein paar äußerst
gefährdete Aktenstapel sowie den Terminplaner auf dem
unbesetzten Nachbarschreibtisch in Sicherheit zu bringen.

»Ist schon okay«, presste Paige hervor, während sie die

letzten Pfützen auf ihrem Arbeitsplatz beseitigte.

»Muss die Putzkolonne heute Abend eben ein bisschen

sorgfältiger zu Werke gehen. Und der Teppich könnte sowieso
mal ’ne gründliche Reinigung vertragen.« Sie zwang ein
Lächeln auf ihr Gesicht und sah auf. Ihre Blicke trafen sich, und
ihr stockte der Atem. Es war, als ob sie in eine warme Lagune
eintauchte, und in ihrer Magengegend machte sich ein
verdächtiges Flattern bemerkbar.

»Also«, sagte sie schließlich lahm und setzte sich wieder,

»wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, in welcher
Angelegenheit kann ich Ihnen denn nun behilflich sein?«

»Ich heiße Selim«, stellte sich der junge Mann vor, »und der

Grund, warum ich sie aufgesucht habe, ist … mir irgendwie
entsetzlich peinlich.« Er hielt inne, starrte zu Boden und knetete
die Hände, wie wenn er um Worte rang. Dabei fiel ihm eine

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Stirnlocke über die Augen, was ihn geradezu anbetungswürdig
aussehen ließ. Um seinen gebräunten Hals schlang sich eine
feingliedrige silberfarbene Kette mit einem hübschen kleinen
Halbmond-Anhänger. Bestimmt ein Geschenk von seiner
Liebsten, dachte Paige, und ein Anflug von Neid schlich sich in
ihr Herz.

Sie räusperte sich. »Nun, Ihr Problem ist hier in guten

Händen«, sagte sie so einfühlsam wie möglich. Sie musste sich
sehr zusammenreißen, ihr Gegenüber zu allem Überfluss nicht
auch noch anzustarren, denn wie es schien, war dieser Selim
ohnehin schon äußerst nervös.

»Tja, also … ich bin Volontär beim Golden Gate Star

Report«, begann Selim stockend, »und soll heute Mittag bei
einer Wohltätigkeitsgala meine ersten Prominenten-Interviews
führen.« Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und starrte
freudlos in die Tasse.

»Aber … aber das ist doch toll«, meinte Paige. »Wo ist das

Problem?«

»Na ja, ich habe so was noch nie gemacht, und mein

Chefredakteur meinte, wenn ich nicht wenigsten zwei passable
Interviews zustande brächte, würde mein Vertrag beim Magazin
wohl nicht verlängert werden.«

»Das sind aber harte Sitten«, bemerkte Paige.

»Allerdings.« Selim nickte traurig. »Jedenfalls kam ich,

nachdem ich die Redaktion verlassen hatte, zufällig hier vorbei,
und da hab ich mir gedacht, es würde mir ein bisschen Mut
machen, wenn ich … na ja, wenn ich einfach mit jemandem
darüber reden könnte, der schon von Berufs wegen ein guter
Zuhörer ist.« Er lächelte sie verschämt an. »Ich weiß,
Sozialarbeiter haben eigentlich Dringenderes zu tun, als sich um
angehende Jungreporter zu kümmern, die Angst vor der eigenen
Courage gekriegt haben, aber … Wissen Sie, ich bin noch nicht
lange in der Stadt, und das dreimonatige Volontariat beim Star

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Report hab ich auch nur deshalb bekommen, weil ich mich
darauf eingelassen habe, das Wort ›Volontariat‹ wörtlich zu
nehmen. Das heißt, ich werde für meine Arbeit in dieser Zeit
nicht bezahlt.« Er seufzte und trank einen Schluck von seinem
Kaffee.

»Das hören wir hier oft«, sagte Paige so sachlich wie

möglich. »In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit ist man heutzutage ja
fast gezwungen, solche Beschäftigungsverhältnisse einzugehen,
die einem auch nur die geringste Chance auf etwas Besseres
eröffnen könnten.«

»Leider nur zu wahr«, sagte Selim traurig. »Jedenfalls tut es

sehr gut, mit jemandem darüber zu sprechen.« Er lächelte, doch
er wirkte immer noch reichlich gestresst. »Bestimmt komme ich
mir nachher unter all den Stars und Lokalgrößen hoffnungslos
armselig vor.« Er sah zur Uhr an der Wand und schluckte. »O
Mann, in einer Stunde ist es schon so weit.« Und dann sah er
wieder Paige an, und es schien, als sei ihm eine Idee gekommen.
»Sagen Sie, hätten Sie nicht Lust mitzukommen?«, fragte er
plötzlich. »Es gibt ein kaltes Büffet, freie Getränke, jede Menge
Prominente und ich –«, er hielt inne und lächelte sie offenherzig
an, »– und ich hätte eine zauberhafte Begleitung und käme mir
nicht mehr ganz so … verlassen vor.«

Im ersten Moment schnappte Paige unmerklich nach Luft.

Eine so schnelle Verabredung hatte ihr bisher noch kein Mann
angetragen. Andererseits brauchte dieser Selim offensichtlich
ihre Hilfe, und schließlich war es ihr Job, anderen Menschen zu
helfen, oder etwa nicht? Und hatte sie sich nicht eben noch
gewünscht, ein umwerfender dunkelhaariger Fremder würde sie
aus all dem hier rausholen – zumindest für eine Weile?

»Es wäre ja auch nur für eine Stunde«, sagte Selim und dann:

»Bitte …«

»Wo findet diese Gala denn statt?«, fragte Paige mit

klopfendem Herzen.

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»Ich hab mir die Adresse notiert«, meinte Selim sichtlich

erleichtert und reichte ihr den Zettel. Paige warf einen Blick
darauf. »›Marduk Palace‹? Noch nie gehört … Ah, in Nob
Hill!«

»Ja, soweit ich weiß, liegt das im Nordwesten der Stadt auf

einem Hügel.«

»Ich weiß, ist ’ne ziemlich vornehme Gegend.« Und dann

fragte sie zu ihrer eigenen Überraschung: »Kann ich denn so
mitkommen?« Zweifelnd sah sie an sich herunter. Sie war zwar
wie immer ausgesprochen modisch gekleidet, aber ob ihr
champagnerfarbener Hosenanzug mit dem schwarzen
rückenfreien Top für einen nachmittäglichen Promi-
Stehempfang das Richtige war?

»Sie sehen perfekt aus«, sagte Selim. »Im Übrigen wird das

heutzutage ja wohl auch nicht mehr so ernst genommen mit der
Kleiderordnung. Denken Sie nur an Brad Pitt oder Johnny Depp
und deren Schmuddel-Looks.« Er deutete viel sagend auf sein
eigenes lässiges Outfit. »Und schließlich sind wir die
Journalisten, und nicht die Stars«, fügte er lächelnd hinzu.

»Also gut, ich begleite Sie, wenn es denn Ihrer Karriere

nützt«, sagte sie. »Und … ein bisschen Party-Luft schnuppern
kann ja nicht schaden.«

Schier außer sich vor Freude sprang Selim auf. Dabei hatte er

jedoch den Kaffeebecher in seiner Hand vergessen, dessen
Inhalt sich nun über Paiges Schreibtisch ergoss.

»Ach du liebe Güte!«, rief er fassungslos aus und raufte sich

die Lockenpracht. »Das darf doch wohl nicht wahr sein …«

»Lassen Sie uns bloß von hier verschwinden«, sagte Paige

lachend, nachdem sie und Selim zum zweiten Mal an diesem
Tag den Schreibtisch von Kaffee befreit hatten. »Bevor noch ein
größeres Unglück passiert.«

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Still vergnügt meldete sie sich bei ihrem Chef Bob Cowan zu

einem Auswärtstermin ab und verließ mit Selim den South Bay
Sozialdienst.

Ihre Verabredung mit Phoebe war völlig vergessen.

Als Phoebe eine Stunde später im South Bay Sozialdienst

eintraf, war Paiges Schreibtisch verwaist.

Die halb eingetrockneten Kaffeespritzer auf dem

Schreibtisch, einige bekleckerte Akten und eine Kaffeepfütze
auf dem Fußboden zeugten davon, dass sich hier vor kurzem
eine Katastrophe ereignet haben musste.

Doch die eigentliche Katastrophe bestand darin, dass Paige,

wie Phoebe von einer Kollegin ihrer Schwester erfuhr, zu einem
Auswärtstermin gefahren war und ihre Verabredung völlig
vergessen zu haben schien.

Auf der Schreibtischkante lag ein verknitterter Notizzettel,

den Phoebe in einer Mischung aus Neugier und Frustration über
Paiges Verhalten zur Hand nahm. Die Vision traf sie wie ein
Schlag.

Die vor ihr liegende Säulenhalle schien direkt aus einem

Märchen aus 1001 Nacht zu stammen: Der Boden war mit
kostbaren dunkelblauen Mosaiken ausgelegt, und die Wände
schmückte ein florales, orientalisches Muster aus Blattgold und
türkisfarbenen Steinen. Von der hohen Kuppeldecke hing ein
radförmiger schmiedeeiserner Kerzenluster und verströmte ein
mattes, fast unwirkliches Licht.

An der Kopfseite des riesigen Saals erhob sich ein Podest,

auf dem sie schemenhaft eine in Licht getauchte Gestalt
ausmachen konnte, und eben diese Gestalt schleuderte nun
Energieblitze und Feuerbälle in Richtung einer Dreiergruppe,
die gerade die Halle betreten hatte.

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Und dann war es, als ob die Hölle selbst sich auftat, um

alles, was auf dieser Welt jemals gut und richtig gewesen war,
zu verschlingen …

Auf dem Parkplatz des South Bay Sozialdienstes holte

Phoebe erst einmal tief Luft und versuchte, die Bilder aus ihrer
Vision zu begreifen und in einen plausiblen Zusammenhang zu
bringen.

So viel war klar: Ein Wesen, das Magie beherrschte, hatte

versucht, eine Gruppe bestehend aus drei Personen zu töten.
Und um wen es sich bei dem Trio handeln musste, war für
Phoebe keine Frage: Wieder einmal schien jemand darauf aus zu
sein, die Zauberhaften zu vernichten! Und dieser Jemand musste
vermutlich in irgendeiner Verbindung zu einer Person stehen,
die in Paiges Büro gewesen war … Es sei denn, die Person, die
in Paiges Büro gewesen war, war dieser Jemand!

Sie stieg in ihren alten Pick-up und fuhr los. In ihrem Kopf

überschlugen sich die Gedanken. Die alles entscheidende Frage
war, ob es sich bei dem Besitzer des Notizzettels um einen
Unschuldigen handelte, den es zu retten galt, oder um einen
Dämon, der ihnen ans Leder wollte. Vielleicht sogar um die
unheimliche Gestalt selbst, die in ihrer Vision mit Blitz und
Feuer um sich geworfen hatte?

An der nächsten Ecke trat Phoebe auf die Bremse und fuhr

den Wagen an den Straßenrand. Mit zitternden Fingern holte sie
ihr Mobiltelefon aus der Tasche und wählte Paiges
Handynummer. Sie tat dies nur im äußersten Notfall, denn die
Schwestern hatten sich darauf geeinigt, Paige während
Auswärtsterminen nicht ohne triftigen Grund anzurufen. »Der
von Ihnen gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar«,
tönte es ihr aus dem Hörer entgegen.

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»Herrgott, Phoebe, du hast doch gehört: Sie musste einen

wichtigen Termin wahrnehmen. Und offensichtlich will sie
dabei nicht gestört werden«, meinte Piper, während sie eine
feuerfeste Auflaufform mit Kartoffel-Lachs-Gratin aus dem
Backofen holte.

»Ich verstehe nicht, wie du so ruhig sein kannst«, empörte

sich Phoebe, die einmal mehr erfolglos versucht hatte, Paige im
Büro und auf deren Handy zu erreichen. »Immerhin hab ich mit
angesehen, wie jemand drei Personen angegriffen hat! Drei
Personen? Klingelt’s denn da nicht bei dir?«

Sie war unverzüglich nach Hause gefahren, nachdem sie

Paige telefonisch nicht erreicht hatte, und hatte Piper von ihrer
Vision berichtet, die die Berührung des Notizzettels bei ihr
ausgelöst hatte.

»Wir wissen ja noch nicht mal, um was es sich dabei

gehandelt hat«, gab Piper zu bedenken, während sie für Phoebe
und sich zwei Teller aus dem Schrank holte.

»Diese Vision könnte auf ein Ereignis aus der Vergangenheit

hindeuten oder ein Hinweis auf Zukünftiges sein«, fuhr sie fort.
»Alles, wovon wir in diesem Moment mit Sicherheit ausgehen
können, ist, dass in absehbarer Zeit irgendetwas passieren wird,
bei dem die Zauberhaften gefragt sind … Ach, weißt du
übrigens, wer heute Abend im P3 auftritt?«

»Nein!«, entfuhr es Phoebe. »Jetzt hör mal zu: Während wir

hier rumsitzen und plaudern, ist Paige womöglich in großer
Gefahr.« Sie schnaufte ungehalten und wählte zum tausendsten
Male die Büronummer ihrer Halbschwester im South Bay
Sozialdienst.
Keine Antwort. »Sie hat es ja noch nicht mal für
nötig befunden, unser Treffen abzusagen«, setzte sie hinzu.
»Was, wenn sie dazu einfach keine Gelegenheit mehr hatte?«

»Was, wenn sie es einfach vergessen hat?«, konterte Piper.

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Phoebe konnte nicht begreifen, weshalb Piper die Vision, die

die Notiz hervorgerufen hatte, so auf die leichte Schulter nahm.
Immerhin musste der Zettel von jemandem stammen, der an
Paiges Schreibtisch gestanden hatte. Und womöglich war sie
gerade mit diesem Jemand in irgendeiner Angelegenheit
unterwegs. Schließlich fasste Phoebe sich ein Herz und
versuchte es bei Paiges Chef Bob Cowan, den sie auch erreichte.

»Guten Tag, Mr. Cowan, Phoebe Halliwell hier. Sagen Sie,

ist Paige Matthews schon wieder im Hause?« Nervös lauschte
Phoebe seiner Antwort, wobei sie unablässig einen ihrer beiden
Flechtzöpfe zwirbelte.

»Verstehe … danke … auf Wiederhören«, sagte sie und

trennte die Verbindung.

»Und?«, fragte Piper, während sie das Salatdressing

zubereitete.

»Bob Cowan sagt, Paige ist von ihrem letzten Termin noch

nicht ins Büro zurückgekehrt«, verkündete Phoebe mit
Grabesstimme. »Er sagt, sie sei mit einem Klienten in einer
wichtigen Angelegenheit zu einem Hotel gefahren, und er
vermutet, dass sie, wenn die Sache länger dauern sollte, danach
wahrscheinlich direkt nach Hause kommen wird.«

»Siehst du«, meinte Piper und füllte die Teller mit dem

Gratin auf.

»Was heißt hier ›Siehst du‹? Findest du es nicht auch

komisch, dass sie ihr Handy abgestellt hat?«, ereiferte sich
Phoebe. »Ich meine, wenn ein Sozialarbeiter zu einem
Außentermin fährt, dann ist es doch wohl das Mindeste, dass er
sich telefonisch erreichbar macht?«

»Nicht, wenn der verdammte Akku mal wieder leer ist«,

murmelte Piper.

»Und was, wenn wir sie dringend für die Macht der Drei

gebraucht hätten?«

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»Tja, dann hätten wir eben Pech gehabt. Solange Paige einen

Job hat, wird es auch mal Zeiten geben, wo sie unabkömmlich
ist. Und wenn wir in akute Gefahr geraten wären, hätte sie es so
oder so nicht mehr rechtzeitig zu uns geschafft. Mit diesem
Risiko müssen die Zauberhaften nun mal leben. Wir können
unmöglich vierundzwanzig Stunden am Tag wie Kletten
aneinander hängen.«

Als Phoebe entrüstet aufstöhnte, hielt Piper in ihrer Tätigkeit

inne und sah ihre jüngere Schwester einen Moment lang
schweigend an. »Pass auf, Süße«, sagte sie schließlich. »Wir
essen jetzt gemeinsam zu Mittag, okay? Danach sehen wir
weiter.«

Hand in Hand schritt sie mit Selim durch die grüne Oase,

und es war, als ob der Garten Eden seine Pforten geöffnet hätte.

Das Geplätscher von Brunnen drang an ihr Ohr, und über

ihnen war Vogelgezwitscher zu hören. In der Ferne standen
prächtige Pfauen auf einer Lichtung, die von blühendem
Oleander und Jasmin gesäumt war. Linker Hand war ein kleiner
See zu sehen, an dessen Ufer Schatten spendende Sykomoren
wuchsen.

Sie war im Paradies.

Und sie war glücklich wie noch nie im Leben. Sie war

daheim, und an ihrer Seite schritt der Mann, mit dem sie den
Rest ihres Lebens verbringen wollte.

Bei einem kleinen Pavillon angekommen, wandte Paige den

Kopf und sah Selim schweigend an. Er lächelte, und der Blick
aus seinen grünen Augen war erfüllt von Liebe und Sehnsucht.

Sie blieben stehen, und Selim zog sie leidenschaftlich an sich.

Sie spürte seine Wärme und seine starken Arme, die sie
umfingen. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sein wunderschönes

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Gesicht näherte sich dem ihren. »Paige, ich liebe dich«,
flüsterte er.

In Erwartung des lang ersehnten Kusses schloss Paige die

Augen. »Selim …«

In diesem Moment explodierte die Welt um sie herum in

einem Wirbel aus Licht und Farben, und es war, als ob das
Schicksal mit gierigen Fingern nach ihr griff und sie brutal
fortriss von diesem himmlischen Ort. Ein Schmerz durchzuckte
sie, der in jede Faser ihres Körpers vorzudringen schien.

Als Paige die Augen aufriss, da sah sie vor sich keineswegs

das wunderschöne Gesicht ihres Liebsten, sondern die
abscheuliche Fratze des Todes.

Sie schrie, und schrie, und schrie.

Hände berührten sie. Widerliche, lüsterne Hände …

Und Selim? Wo war Selim?

Ihr wurde kalt, der Schmerz klang ab, doch das Leben und

alles, was gut und schön war, schien aus ihr herauszuströmen,
während der Tod sein hässliches Lachen dazu anstimmte.

Als Paige keuchend die Augen aufschlug, hatte sie das

Gefühl, dass der böse Traum mit ihrem Erwachen keineswegs
zu Ende war.

Wie sie feststellte, war sie an einem sehr, sehr finsteren Ort.

Genauer gesagt lag sie auf dem Rücken und starrte gegen eine
dunkle, feuchte Decke.

Verwirrt richtete sie sich auf und musste mit Entsetzen

erkennen, dass sie sich in einer Art Zelle befand – auf einer
erbärmlich stinkenden Bettstatt lag. Wobei Zelle eigentlich nicht
das richtige Wort war, vielmehr hatte das Ganze etwas von
einem … Verlies. Wände und Boden bestanden aus dunklen,
grob behauenen Steinen. Aus den Ritzen und Ecken tropfte

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Wasser, und in einiger Entfernung, hoch oben an der Stirnwand
des Raumes, konnte sie ein schmales vergittertes Fenster
erkennen, durch das ein wenig Licht fiel.

Keine Frage, sie war in einem Kerker gelandet.

Sie erhob sich von dem Lager aus Wolldecken und machte

ein paar unsichere Schritte in Richtung der Wand mit dem
Fenster. Trotz oder gerade ob der üblen Lage, in der sie sich
befand, fühlte sie sich unendlich müde und schwach. Nachdem
sich ihre Augen an die trüben Lichtverhältnisse gewöhnt hatten,
entdeckte sie links und rechts armdicke Ringe mit verrosteten
Ketten an den Wänden.

Irgendwo trippelten und kratzten kleine Nagerfüße, und über

die feuchten Wände huschten Spinnen.

Sie wollte schreien, doch der Schock schnürte ihr schier die

Kehle zu.

Wo zum Teufel war sie hier? Und wo war Selim?

Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war, dass sie mit Selim

in einem Taxi zum »Marduk Palace«-Hotel gefahren war.

Lachend und scherzend hatten sie im Fond des Wagens

gesessen, und Paige hatte Selim während der Fahrt von ihrer
Arbeit und ihren beiden Schwestern berichtet, in deren Haus sie
seit einiger Zeit wohnte. Natürlich hatte sie ihm nichts von
ihrem Doppelleben als Hexe erzählt, obwohl sie sich dem
jungen Mann schon nach kurzer Zeit überaus nah und verbunden
gefühlt hatte. Jedes Mal, wenn er sie aus seinen unergründlichen
grünen Augen angesehen hatte, hatte ihr der Atem gestockt, und
in ihrem Bauch hatte sich ein wohl vertrautes Flattern
bemerkbar gemacht. Keine Frage, sie war auf dem besten Wege
gewesen, sich hoffnungslos in Selim zu verlieben …

Das alte Hotel hatte in Nob Hill, im Nordwesten von San

Francisco, auf einem der zahlreichen Hügel der Stadt gestanden
und war einfach traumhaft schön gewesen. Der perfekte Ort für

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eine glamouröse Charity-Veranstaltung mit Stars und Sternchen.
Sie gingen durch einen hübschen kleinen Park zum Eingang,
und als sie die verzierte Flügeltür erreicht hatten, machte ihr
Herz vor Freude einen kleinen Satz.

In diesem Moment war ihr siedend heiß die Verabredung mit

Phoebe wieder eingefallen, und sie hatte Selim gesagt, dass sie
sich aus der Lobby noch kurz bei ihrer Schwester melden müsse,
bevor sie sich ins Promi-Getümmel stürzen konnten.

Selim hatte genickt und seinen Presseausweis gezückt, und

dann waren sie voller Vorfreude eingetreten. Von da an
erinnerte sich Paige an nichts mehr. Niente, nada, Filmriss …

Und nun saß sie hier. In einem dunklen, muffigen Verlies.

Und das alles nur, weil sie einem Mann vertraut hatte, dem sie
sich auf seltsame Art verbunden gefühlt hatte.

Die Enttäuschung über Selims Verrat schmerzte, und mit

Reue dachte sie an Pipers Worte zurück, die einmal gesagt hatte:
»Traue nie einem Fremden. Er könnte ein Dämon sein, der es
auf die Zauberhaften abgesehen hat.«

Der alte Zeyn wanderte in seiner Kammer auf und ab und

lächelte.

Neben der Tür zu seinem Allerheiligsten stand reglos eine

Gestalt im Halbdunkel.

»Die Hexe ist nun hier«, murmelte Zeyn. »Das ist gut.«

»Ja, Erhabener«, sagte die Gestalt in den Schatten. Ihre

Stimme klang seltsam dumpf. »Es verläuft alles genau, wie Ihr
es geplant habt.«

»Natürlich tut es das!« Der Alte wandte sich um, und seine

ohnehin entsetzlich entstellte Fratze verzerrte sich vor Wut.
»Oder zweifelst du etwa an meinen Fähigkeiten?«

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Erschrocken wich die Gestalt zurück. »Nein, erhabener Zeyn,

Eure Macht ist grenzenlos.«

»Und sie wird überdauern Zeit und Raum.«

Als Paige nach dem Mittagessen immer noch nichts von sich

hatte hören lassen und nach wie vor telefonisch unerreichbar
blieb, begann auch Piper, sich allmählich zu sorgen.

Haarklein ließ sie sich von Phoebe noch einmal die Vision,

die diese beim Berühren des Zettels gehabt hatte, beschreiben.

»Was stand denn eigentlich auf dieser ominösen Notiz, die

das alles ausgelöst hat?«, wollte sie schließlich wissen.

»Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte Phoebe. »Ich glaube,

ich hab sie fallen lassen, als mich die Vision überkam.« Sie
dachte einen Moment lang angestrengt nach. »Ach ja, jetzt
fällt’s mir wieder ein. Es war … eine Adresse … in Nob Hill.
Ein Hotel, glaube ich. Wie hieß es noch gleich? Marak …
Maruk … nein, Marduk Palace! Jetzt erinnere ich mich wieder,
dass ich kurz vor dem Flashback dachte: Wow, auf dem Hügel
der Paläste würde ich auch mal gern übernachten!« Sie geriet
einen Moment lang ins Grübeln. »Könnte es nicht sein, dass
dieser Wohltätigkeitsempfang, zu dem Paige angeblich gefahren
ist, in eben diesem Hotel stattfindet?«

Statt einer Antwort sah Piper auf die Uhr. »Es ist jetzt kurz

nach eins. Ich schlage vor, wir konsultieren das Buch der
Schatten
wegen deiner Vision, fahren dann nach Nob Hill,
fragen uns zu diesem Hotel durch und schauen, ob wir Paige
dort antreffen.«

»Okay.« Phoebe sprang auf und eilte zur Treppe, um auf den

Dachboden zu flitzen. Plötzlich hielt sie inne. »Wo ist eigentlich
Leo?«

»Der ist in der nächsten Stunde in wichtiger Mission für den

Rat der Ältesten unterwegs«, erwiderte Piper. »Ich schreibe ihm

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noch rasch eine Nachricht, falls er zwischendurch hier
aufkreuzen sollte.«

Starr blickte der alte Zeyn in seine Glaskugel, um die

Verbindung zu Selim wiederherzustellen. Doch es gelang ihm
nicht. Er musste den Kontakt zu ihm verloren haben, nachdem
er die Hexe dem Zeitstrom entrissen und sie hinauf ins
Turmverlies hatte bringen lassen.

Zeyn knurrte. Das war nicht gut, denn es bedeutete, dass

Selim seine Zeit wieder verlassen hatte und er nun nicht wusste,
was dieser als Nächstes tat.

Auf dem Speicher von Halliwell Manor lag das gute alte

Buch der Schatten wie eh und je an seinem Stammplatz auf dem
antiken Lesepult.

Gespannt bauten sich Piper und Phoebe davor auf. Das

Familienerbstück besaß die sehr nützliche Eigenschaft, den
weiblichen Mitgliedern der lang zurückreichenden
halliwellschen Hexendynastie den einen oder anderen
hilfreichen Hinweis zu liefern, wann immer sie in Not waren
oder nicht mehr weiterwussten.

Darüber hinaus hatten die Vorfahrinnen der Schwestern von

Generation zu Generation ihre Erlebnisse und Erfahrungen, aber
auch hilfreiche Sprüche und Rezepte in dem alten Folianten
zusammengetragen, sodass das Buch der Schatten über die
Jahrhunderte zu einem umfassenden Kompendium aller bis dato
bekannten Phänomene, Dämonen, übernatürlichen Gefahren und
Ereignisse geworden war.

Zögernd öffnete Phoebe das Buch und blätterte ein wenig

darin herum. Und dann geschah das, was schon so oft bei der
Befragung des Buchs der Schatten passiert war: Die Seiten
schlugen automatisch und in rasender Geschwindigkeit wie von

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selbst um, bis das Buch eine ganz bestimmte Stelle erreicht
hatte.

Gespannt beugten sich Piper und Phoebe über die

aufgeschlagene Seite.

Diesmal war eine alte Zeichnung zu sehen, ein Kupferstich,

der einen schwarzen, irgendwie bedrohlich wirkenden Turm
darstellte.

»Was ist das?«, fragte Piper.

»Ein schwarzer, irgendwie bedrohlich wirkender Turm?«,

erwiderte Phoebe, als sei damit alles erklärt.

»Danke, aber das sehe ich selbst«, meinte Piper. Neben der

Abbildung des Turms stand etwas geschrieben.

Halblaut las Piper vor:

Und es wird kommen die Zeit,

da werden Iblis’ Diener ausziehen,

die Welt zu vernichten.

Wehe denen, welche die Botschaft im »Buch der Weisheit«

nicht zu deuten wissen:

Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten.

»Was bedeutet das?«, fragte Phoebe. Für sie klang das alles

sehr nach einer Warnung. »Und was in aller Welt ist denn das
Buch der Weisheit?«

»Weißt du, Süße, wenn die Hinweise im Buch der Schatten

auch nur einmal eindeutig gewesen wären, hätten wir uns in der
Vergangenheit ’ne Menge Ärger und Arbeit ersparen können«,
erwiderte Piper lakonisch.

»Und wer zum Teufel ist Iblis?«, murmelte Phoebe, ohne auf

die bissige Bemerkung ihrer Schwester einzugehen.

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»Keine Ahnung«, gab Piper zurück. »Aber der Name kommt

mir irgendwie bekannt vor. Ich schlage vor, wir konsultieren
mal das Lexikon.«

Zurück im Wohnzimmer stürzte Phoebe sogleich zum

Bücherregal, in dem auch das umfangreiche
Konversationslexikon der Schwestern stand, und zog den Band
»I« hervor.

»Moment … hab’s gleich … ah ja, hier steht’s: ›Iblis: im

Islam der Name des Teufels‹.« Sie hob den Kopf und starrte
Piper aus weit aufgerissenen Augen an.

»Na ja«, krächzte Piper. »Im Grunde ist das ja nichts Neues:

Des Höllenfürsten Schergen wollen offensichtlich wieder mal
die Welt vernichten. Seit Jahren schlagen wir uns mit nichts
anderem herum.« Sie ließ sich auf Grams altem Samtsofa nieder
und überlegte einen Moment. »Nur, was genau hat das alles mit
Paige, diesem Hotel und deiner Vision zu tun?«

»Immerhin hab ich das Innere eines irgendwie orientalisch

anmutenden Palastes gesehen«, erinnerte Phoebe. »Insofern ist
ein Bezug zum alten Iblis ja schon auf gewisse Weise
hergestellt.« Sie hielt einen Moment lang inne. »Und ich habe
drei Personen gesehen, die gegen irgendeine mächtige, mit
Magie kämpfende Kreatur antraten. Die Frage ist also, waren
das Bilder aus grauer Vorzeit oder ein Hinweis auf etwas, das
noch passieren wird?«

»Wenn ich mich recht erinnere«, meinte Piper und hob

spöttisch eine Augenbraue, »so waren deine Visionen noch nie
dazu angetan, uns lediglich einen nostalgischen Einblick in die
gute alte Zeit zu liefern. Was ich sagen will: Natürlich wird es
sich dabei um eine Warnung gehandelt haben, dass uns etwas
bevorsteht, so viel ist klar. Leider wissen wir bloß nicht, was
und wann!«

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»Wie dem auch sei, ich finde, wir sollten so schnell wie

möglich zu diesem Hotel fahren und Paige warnen«, sagte
Phoebe.

Als Selim wieder in dem alten Hotel auftauchte, verharrte er

eine Weile ratlos in der halb verfallenen Lobby. Noch immer
hielt er die lederne Aktentasche in der Hand. Mit einem
unterdrückten Wutschrei schleuderte er das nun überflüssige
Requisit zu Boden.

Doch schnell hatte er sich wieder im Griff. Die Dinge hatten

sich zwar ganz und gar nicht so entwickelt, wie er es geplant
hatte, aber noch war nicht alles verloren. Um das Ruder doch
noch herumzureißen, gab es nur einen Weg. Er beschloss, sich
Klarheit zu verschaffen.

In Pipers Geländewagen fuhren die beiden Schwestern von

Pacific Heights Richtung Westen nach Nob Hill, das zu den
vornehmsten Stadtbezirken San Franciscos zählte.

Wie viele Viertel lag auch Nob Hill auf einem der

zahlreichen Hügel der Stadt. Aus über hundert Metern Höhe
hatte man hier einen wundervollen Blick auf die San Francisco
Bay und die Liegeplätze im Hafen.

Die Gegend war einst berühmt gewesen für ihre

viktorianischen Villen und prächtigen Herrenhäuser, die jedoch
fast alle im Jahre 1906 dem großen Erdbeben zum Opfer fielen.
Danach waren an ihrer Stelle zahlreiche Luxushotels entstanden.
Vor allem entlang der California Street waren die prachtvollen
Nobelherbergen zu finden, doch eine mit dem Namen »Marduk
Palace« war hier nirgendwo zu entdecken.

Daher fuhr Piper am Pacific Union Club kurzerhand rechts

ran, damit Phoebe ihr Fenster herunterkurbeln und einen
Passanten nach dem Weg fragen konnte.

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Der erste Fußgänger, der vorbeikam, entpuppte sich als ein

überaus freundlicher Chinese, der allerdings kaum ein Wort
Englisch sprach. Das gut gelaunte Paar, das kurz darauf
vorbeiflanierte, stammte aus Illinois und war nur auf der
Durchreise. Der Mann, den Phoebe als Nächstes ansprach,
schien Pfarrer und aus der Gegend zu sein. »Hotel ›Marduk
Palace‹?«, überlegte er und legte die hohe Stirn in Falten. »Ich
glaube, das liegt in der Gaynor Street hinter dem Huntington
Park, aber –«

»Vielen Dank für Ihre Hilfe!«, rief Phoebe, und schon

brausten sie und Piper in die angegebene Richtung davon.

Der Pfarrer hatte sich nicht geirrt. Als die beiden Schwestern

in die Gaynor Street einbogen, mussten sie nicht lange suchen.
Am Ende der Straße tauchte rechter Hand ein großes Gebäude
aus Sandstein auf, von dem ein Schild am Eingang verkündete,
dass es sich hierbei um das »Marduk Palace«-Hotel handelte.

Allerdings verkündete der Zustand des Hotels auch noch

etwas ganz anderes: Der riesige Bau wirkte wie ausgestorben
und schien schon seit langem verlassen zu sein. Viele der
Fenster waren zerbrochen, die Fassade war verwittert und
schmutzig, und das Grundstück, auf dem das Hotel stand, war
mit den Jahren zu einem Schuttabladeplatz verkommen.

»Soll das ein Witz sein?«, fragte Piper und fuhr an den

Straßenrand. »Höchst unwahrscheinlich, dass jemand hier einen
Wohltätigkeitsempfang veranstaltet, oder? Es sei denn, Marilyn
Manson schmeißt hier heute ’ne Gartenparty …«

Wie gebannt starrte Phoebe auf das alte Gebäude. »Stimmt,

der Kasten sieht ziemlich abgewrackt aus«, murmelte sie, »aber
ich finde, wir sollten trotzdem kurz reingehen und uns
wenigstens ein bisschen umsehen. Immerhin stand diese
Adresse nun mal auf dem Zettel, der meine Vision ausgelöst
hat.«

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»Wie du meinst«, sagte Piper, doch sie fühlte sich alles

andere als wohl bei dem Gedanken, zumal Leo in der nächsten
Stunde für sie nicht zu erreichen war. Andererseits: Welches
Problem sollte in einem alten Hotel schon auf sie und Phoebe
lauern, das sich nicht mit einem Timefreeze oder einem
befreienden Energieschlag lösen ließ? Doch dann wiederum war
ihr seit Prues Tod die Rolle derjenigen im Dreierbund
zugefallen, die ihre jüngeren Schwestern zur Besonnenheit und
Vorsicht mahnte und die auch im größten Chaos noch einen
klaren Kopf behielt.

Sie stellte den Motor ab, und die beiden Schwestern stiegen

aus.

Schweigend gingen sie auf das rostige schmiedeeiserne Tor

zu, das nicht verschlossen war. Zögernd betraten sie das
verfallene Grundstück, das offensichtlich einst ein hübscher
kleiner Park gewesen war. Piper erkannte die Reste eines
Pavillons und einen eingestürzten Springbrunnen. Als sie die
große Flügeltür erreichten, von der bereits die Farbe abblätterte,
hielten die Schwestern kurz inne und sahen sich beklommen an.

»Also, ich weiß nicht«, murmelte Piper. »Ich finde nicht,

dass wir da einfach so reingehen sollten. Vielleicht ist es ja eine
dämonische Falle, oder da drinnen hausen irgendwelche
Kleinkriminelle, die uns sofort den Schädel einschlagen, sobald
wir um irgendeine Ecke –«

»Ich kann es ganz deutlich spüren«, murmelte Phoebe.

»Paige war oder ist hier …« Sie sah ihre Schwester flehend an.
»Hör zu, wir werfen nur mal kurz einen Blick da rein, und
sobald sich auch nur das Geringste bewegt, frierst du es ein.«
Entschlossen öffnete Phoebe die Tür, die laut in den Angeln
quietschte. »Schon vergessen, immerhin sind wir die wohl
mächtigsten Hexen unserer Zeit!«

Mit diesen Worten zog sie Piper hinter sich her und in das

alte Hotel hinein.

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Im gleichen Moment explodierte die Welt um die beiden

Hexen in einem Wirbel aus Farben und Licht. Und dann war es,
als ob sie in einen mächtigen Mahlstrom geraten wären, der sie
in rasender Geschwindigkeit einem unbekannten Ziel
entgegenschleuderte.

Von allen Seiten schienen unsichtbare Kräfte an ihnen zu

zerren, während in atemberaubendem Tempo Zerrbilder und
dissonante Geräusche auf sie einstürmten, als wären sie im Kopf
eines irren Weltenschöpfers gefangen.

Und dann war es plötzlich still.

Wütend humpelte der alte Zeyn auf seinen Diener zu, der

erschrocken vor ihm zurückwich.

»Was soll das heißen, es könnten noch andere Kreaturen

durchgekommen sein?«, zischte er. »Hab ich dir nicht gesagt, du
sollst das im Auge behalten?« Er deutete auf die Messingschale,
die in der Vorhalle zu seinem Allerheiligsten auf einem
Ebenholztischchen stand und in der sich eine trübe Flüssigkeit
befand. »Wenn du nicht schon tot wärst, würde ich dich auf der
Stelle vierteilen lassen«, donnerte er. »Vergiss nicht, dass du es
allein mir zu verdanken hast, dass du hier sein kannst.«

Der Ghul senkte den Blick. »Ja … erhabener … Zeyn«,

murmelte er stockend.

»Und jetzt geh wieder auf deinen Posten und tue, was ich dir

befohlen habe«, grollte der Dämon.

Langsam schlurfte der Ghul zu dem Tisch mit der Schale und

starrte auf die zähe Flüssigkeit herab. Er wusste, wenn sich an
ihrer Oberfläche auch nur das Geringste veränderte, musste er
seinem Herrn unverzüglich Bericht erstatten.

Manchmal fragte er sich, ob es für ihn nicht besser gewesen

wäre, wenn er auf dem Armenfriedhof von Ald’maran schlicht
und einfach verrottet wäre, anstatt nun in Diensten dieses

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grausamen Megalomanen ein unbeschreiblich freudloses Dasein
zu fristen.

Ein sterbliches Wesen konnte ihn, den Untoten, zwar nicht

mehr töten, doch der große Zeyn konnte ihm unvorstellbare
Qualen bereiten, wenn er noch einmal versagte.

Zurück in seinem Allerheiligsten trat Zeyn eilig zu dem

Tisch, auf dem auch seine kostbare Glaskugel lag, und nahm
eine schwere goldene Halskette zur Hand.

Auf dem ovalen Anhänger war das stilisierte Symbol eines

Auges zu erkennen, in dessen Mitte ein roter Rubin eingelassen
war.

Er legte sich das Wächteramulett um den Hals und hob seine

verkrüppelten Hände.

Dann schloss er die Augen und murmelte:

Mächte des Lichts, bleibt fern von der Stadt,

auf dass eure Magie keinen Zutritt mehr hat.

Paige atmete tief durch und legte das Ohr an die dicke

Holztür ihrer Zelle.

Von draußen war kein Ton zu hören. Eine Klinke oder ein

Schloss waren nicht zu sehen, zudem schien die Tür mit der
Wand, in die sie eingelassen war, wie verwachsen zu sein und
rührte sich keinen Millimeter, als sie sich dagegenstemmte.

Leise ging sie zu dem Haufen dreckiger Decken am Boden

zurück, neben dem ihr kleiner Wildlederrucksack lag, und
kramte ihr Handy hervor.

Das Display war tot, und auch nach mehrmaligem Betätigen

des Einschaltknopfes erschien das wohl vertraute Logo des

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Netzbetreibers nicht. Eine unbestimmte Panik keimte in ihr auf,
und tausend Fragen schossen ihr durch den Kopf.

Warum hatte Selim sie hierher gebracht? Und wenn nicht

Selim, wer dann hatte sie entführt? Warum hielt man sie hier
fest? Und wo war sie überhaupt? Was genau war nach dem
Betreten des »Marduk Palace« geschehen? Konnte es sein, dass
sie sich immer noch in Nob Hill befand und jetzt irgendwo im
Innern des Hotels festgehalten wurde?

Als sie sich das Zusammentreffen mit Selim im South Bay

Sozialdienst noch einmal in Erinnerung rief, fiel ihr plötzlich
ein, was er gesagt hatte, als sie vom Kaffeeautomaten an ihren
Schreibtisch zurückgekehrt war: »Sind Sie Paige Matthews?«,
hatte er gefragt, und »Man hat mir gesagt, dass ich Sie hier
finde.«

Das besagte doch eindeutig, dass er keineswegs zufällig in

den Sozialdienst gestolpert war, weil er von irgendjemandem
professionellen Rat und moralische Unterstützung für seinen
ersten wichtigen Job gebraucht hatte.

Verdammt! Er muss sich am Empfang des Sozialdienstes

ganz gezielt nach mir erkundigt haben. Er hat nach mir, und nur
nach mir allein gesucht! Warum ist mir das nicht gleich
aufgefallen?, fragte sich Paige. Doch die Antwort war so einfach
wie unerquicklich. Es war ihr nicht aufgefallen, weil sich bei
seinem Anblick und in seiner Gegenwart jeglicher Scharfsinn
und alle Vorsicht bis auf weiteres verabschiedet hatten.

Mehr noch, es war, als ob sie in dem Moment, da er vor ihr

stand, die Tür zu etwas Wunderbarem aufgestoßen hatte, das
ihren Blick für die Realität vollkommen verschleiert hatte. Piper
würde das vermutlich als schnöden Liebeswahn abtun, dachte
sie, und mir dringend raten, mich mit einem Therapeuten
darüber zu unterhalten …

Doch das musste warten. Viel wichtiger war die Frage: Was

sollte sie jetzt tun?

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Eigentlich gab es nun nur noch eine Lösung.

»Leo?«, flüsterte sie.

Doch Leo erschien nicht.

»Leo?«, rief sie ein wenig lauter.

Wieder nichts.

»Leo!«

Doch sie blieb allein.

Paige merkte, wie ihr trotz der klammen Kälte, die in ihrem

Gefängnis herrschte, der Schweiß ausbrach. Dann also Plan B,
dachte sie, während ihr das Herz bis zum Halse klopfte.

Sie konzentrierte sich und versuchte sich auf die andere Seite

der Tür zu orben, nicht wissend, was sie dort erwarten würde.

Nichts geschah. Sie hatte sich keinen Millimeter von der

Stelle bewegt!

Sie schluckte hart und rief »Rucksack!«, um ihren kleinen

Lederbeutel, der neben der schmuddeligen Bettstatt lag, per
Telekinese zu sich zu holen, doch ohne Erfolg.

Paige hatte das Gefühl, als ob ihr der Boden unter den Füßen

weggerissen würde. Sie war verschleppt worden, sie war allein,
ihre Magie hatte versagt, und wer auch immer sie in diesen
entsetzlichen Kerker eingesperrt hatte, hatte das sicherlich nicht
zum Spaß getan …

Als ihr das ganze Ausmaß ihrer Situation bewusst wurde, war

es, als ob ihr jemand einen Dolch ins Herz gejagt hätte mit den
Worten: Du bist nicht nur ohne deine Kräfte hier gefangen, du
bist so gut wie tot!

Nachdem Zeyn seinen Bann über Ald’maran gelegt und

damit verhindert hatte, dass weitere magiebegabte Kreaturen des

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Lichts die Stadt betreten konnten, kehrte er zurück in den
Vorraum zu seinem Allerheiligsten.

Sein treuer Diener stand noch immer an seinem Platz und

starrte in die Schale mit der milchigen Flüssigkeit.

Zeyn war einigermaßen zufrieden. Denn nun war es weder

der Hexe noch demjenigen, der außer ihr noch durch das Portal
geschlüpft sein mochte, möglich, sich aus der fernen Zukunft
Hilfe zu holen.

Er lächelte und beschloss, die schöne Hexe hoch oben im

Turm aufzusuchen.

Zum wiederholten Male versuchte Paige, sich an den grob

behauenen Steinquadern ihrer Zelle in die Höhe zu ziehen, um
einen Blick durch das schmale Fenster nach draußen zu werfen.

Die Wände waren feucht und glitschig, und mehr als einmal

war sie kurz vor dem Ziel wieder abgerutscht und zu Boden
gestürzt. Schließlich gelang es ihr, auf einem kleinen
Mauervorsprung Halt zu finden, den Arm nach dem
Fenstergitter auszustrecken und sich das letzte noch fehlende
Stück in die Höhe zu ziehen.

Blinzelnd starrte sie durch das schmale vergitterte Loch, und

was sie sah, verschlug ihr schier den Atem. Sie befand sich in
einem offensichtlich recht hohen Gebäude. Doch zu Füßen ihres
Gefängnisses lag keineswegs das exklusive Nob Hill, sondern
eine Stadt, die Paige noch nie gesehen hatte. Und die hatte nicht
die geringste Ähnlichkeit mit San Francisco.

In einem Meer aus lehmbraunen halbhohen Häusern ragten

hier und da prachtvolle Bauten mit goldenen, grünen oder
türkisfarbenen Kuppeln in die Höhe. Sie erkannte Minarette,
palmenbewachsene Plätze, Händlerkarawanen auf einer breiten
Hauptstraße und in der Ferne eine gewaltige Stadtmauer, hinter

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der sich eine wüstenartige Landschaft bis zum Horizont
erstreckte.

Mein Gott, man hat mich in den Nahen Osten verschleppt,

schoss es ihr durch den Kopf.

Irrwitzige Bilder von orientalischen Sklavenmärkten, mit

Eunuchen bevölkerten Harems und von entführten
Liebesdienerinnen aus aller Herren Länder erschienen vor ihrem
geistigen Auge.

Mit weichen Knien sprang sie wieder auf den Boden ihrer

Zelle zurück und versuchte, sich auf das Gesehene einen Reim
zu machen.

War Selim ein Mädchenhändler, der sich darauf verlegt hatte,

junge Amerikanerinnen in den Orient zu entführen, um sie an
irgendwelche dekadenten Ölscheichs zu verkaufen, die noch ein
paar exotische Nebenfrauen wünschten? Und gab es denn
heutzutage so etwas überhaupt noch?

Was um Himmels willen war geschehen, nachdem Selim und

sie das Hotel betreten hatten? Hatte man sie, Paige, überwältigt,
betäubt und dann per Schiff außer Landes geschafft? Und ging
es hier wirklich nur um simples Kidnapping, oder steckte mehr
dahinter?

In Anbetracht der Tatsache, dass sie eine der Zauberhaften

war, erschien es Paige nach einigem Überlegen allerdings viel
wahrscheinlicher, dass die ganze Sache sehr wohl mit ihr
persönlich zu tun hatte.

Wie aufs Stichwort wurde plötzlich die Tür ihrer Zelle

geöffnet, und eine Gestalt erschien auf der Schwelle.

Paige erstarrte, als ein alter, verkrüppelter Mann auf sie

zutrat, denn außer der Tatsache, dass er eine halbwegs
menschliche Form zu besitzen schien, war an ihm nur wenig
Menschliches.

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Das Gesicht glich einer geierartigen Fratze mit seiner großen,

hervorspringenden Hakennase und dem eingefallenen,
lippenlosen Mund. Die graubraune Haut war rissig wie ein
ausgetrockneter Schlammteich. Er schlich, nein, er humpelte
gebückt voran. Seine Arme waren auf geradezu groteske Weise
verkrümmt und wirkten wie abgestorbene Äste an einem toten
Baumstumpf.

Als das Ding näher kam, konnte Paige sehen, dass an seinem

nackten, buckligen Rücken zwei kleine ledrige Schwingen
saßen, die irgendwie schlaff und nutzlos wirkten. Doch das
Schlimmste an ihm waren die Augen. Es waren leblose, und
doch irgendwie fanatische Augen, rot umrandet wie die einer
weißen Maus und starr wie die einer Schlange.

Es waren uralte Augen.

Der Mann, oder was auch immer die Kreatur vor ihr sein

mochte, trug ein knielanges, dunkelblaues Hüfttuch, und auf
seinem kahlen Kopf saß eine Art flacher, weißer Turban.

Keuchend trat Paige einen Schritt zurück, als der abstoßende

Greis auf sie zuschlurfte und ein meckerndes Lachen ausstieß.

»Willkommen in meinem Reich, Hexe«, schnarrte er mit

einer Stimme, die in etwa so angenehm war wie Fingernägel, die
über eine Schiefertafel kratzen.

»Wer … wer sind Sie?«, stotterte Paige.

»Die Menschen in Ald’maran nennen mich Zeyn, doch

Namen sind so vergänglich wie die Menschen selbst. Wisse,
dass ich schon bald der Herr über Leben und Tod sein werde
und Lenker der Geschicke der Welt.«

Das ist ja lächerlich, schoss es Paige durch den Kopf. Fast

hatte sie das Gefühl, in einen Low-Budget-Spielfilm mit dem
Titel: »Und wieder greift das unaussprechliche Grauen nach der
Weltherrschaft« geraten zu sein. Aber eben nur fast …

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»Wo bin ich?«, fragte sie und wich unwillkürlich erneut

einen Schritt vor ihm zurück. Die bösartige Ausstrahlung, die
von dem Alten ausging, bereitete ihr fast körperliche
Schmerzen. Kein Zweifel, sie musste einen ziemlich üblen
Dämon vor sich haben.

»Du bist in Ald’maran, Hexe!«, sagte die Kreatur. »Und du

bist hier, weil ich es so bestimmt habe.«

»Was hat das alles zu bedeuten?«, verlangte Paige zu wissen.

»Du wurdest nicht in meine Zeit gebracht, den Plan zu

hinterfragen!«, zischte Zeyn. »Du bist nichts als ein Werkzeug
für meine Ziele.«

»Ihre Ziele? Ihre Zeit?«, fragte Paige verständnislos. »Was

soll das heißen?«

»Das soll heißen«, knurrte der Alte, »dass du nun da bist, wo

alles einmal seinen Anfang nehmen wird.«

»Wollen Sie … damit sagen«, stammelte Paige, »ich bin …

in der Vergangenheit?«

Der Dämon stieß ein rasselndes Lachen aus. »Du begreifst

schnell, Hexe«, erwiderte er höhnisch, und seine Augen
funkelten sie boshaft an.

Paige schluckte hart und fühlte, wie Übelkeit in ihr aufstieg.

Sie hatte zwar noch nicht ganz so viel Erfahrung als weiße Hexe
wie Piper und Phoebe, aber sie erkannte einen Erzdämon, wenn
er vor ihr stand. Und diese Kreatur hier verströmte so viel
unheilige Aura, dass es sich bei ihr nur um eine besonders
bösartige Ausgeburt der Hölle handeln konnte. Und was er
sagte, klang schlimm, wobei sie das unbestimmte Gefühl
beschlich, dass die ganze Wahrheit noch viel schlimmer war.

»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie mit erstickter Stimme.

»Von dir will ich nichts mehr, Hexe«, schnarrte die Kreatur.

»Du hast mir schon alles gegeben, was du hast.« Mit diesen

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Worten orbte er sich direkt vor sie, und Paige taumelte vor
Schreck zurück gegen die Wand.

Er hat meine Magie gestohlen!, schoss es ihr durch den Kopf.

»Bei Iblis, deine Kräfte sind nun meine Kräfte«, kicherte der

Dämon wie zur Bestätigung. »Nicht, dass ich sie gebraucht
hätte, aber so sitzt die kleine Maus nun sicher in der Falle.« Er
lachte. »Selim hat gute Arbeit geleistet, und schon bald, so viel
ist gewiss, wird die Welt eine andere sein.«

Er humpelte zurück in Richtung Tür. Auf der Schwelle drehte

er sich noch einmal zu ihr um. »Und erst dann werde ich mir
überlegen, was mit dir geschehen soll.«

Als Zeyn die Tür aufstieß und aus ihrer Zelle schlurfte,

konnte Paige einen schnellen Blick hinauswerfen.

Undeutlich erkannte sie am Ende des kurzen Gangs eine

lediglich vergitterte Zelle, in der zwei Schemen hin und her
wanderten.

Für einen Moment setzte ihr Herzschlag aus. Hatte dieser

teuflische Verrückte womöglich auch schon ihre Schwestern –

Sie vermochte den Gedanken nicht zu Ende zu denken, denn

in diesem Fall wäre das Schicksal der Zauberhaften besiegelt!

Und das alles nur, weil ihr ein attraktiver Mann schöne

Augen gemacht hatte und sie auf ihn hereingefallen war wie ein
kleines dummes Mädchen …

Mit einem Knall schloss sich die Tür zu ihrem Verlies, und

sie war wieder allein.

Allein in einem fremden Land, und allein in einer lang

zurückliegenden, archaischen Zeit.

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2

D

AS ERSTE, WAS PIPER UND PHOEBE SAHEN, als die

Welt um sie herum langsam wieder Gestalt annahm, waren die
nackten Wände eines im Halbdunkel liegenden kargen Raumes.

Auf dem einfachen Lehmboden lagen einige verblasste

orientalische Teppiche, und in einer Ecke stand ein schlichtes
Tischchen mit einer Öllampe darauf. An der Kopfseite des
Zimmers führte eine schmale Steintreppe abwärts.

Noch immer Hand in Hand, so wie sie das »Marduk Palace«-

Hotel betreten hatten, standen die beiden Schwestern einen
Moment lang einfach nur schweigend da.

»Was war das?«, presste Piper schließlich hervor.

»Scheint, wir wurden irgendwohin … georbt … gebeamt …

was auch immer?«, murmelte Phoebe. Sie war noch ganz
benommen von der rasanten Reise hierher.

»Okay, aber wo sind wir?«, fragte Piper und sah sich langsam

um.

Von draußen, durch ein glasloses hohes Fenster, drangen

Stimmengewirr und seltsame Geräusche an ihr Ohr.

Piper wagte einen Blick hinaus und schlug sich im selben

Augenblick entsetzt eine Hand vor den Mund. »Phoebe«,
keuchte sie. »Komm her!«

Als Phoebe neben ihre Schwester trat und aus dem Fenster

sah, mochte sie im ersten Moment ihren Augen nicht trauen.
Unter ihnen führte eine staubige Straße entlang, die in ein Areal
mündete, das offensichtlich der Eingang zu einem überdachten,
farbenprächtigen Markt war.

Zahlreiche Menschen waren ringsum in den Gassen

unterwegs, die geradewegs einem Märchen aus 1001 Nacht
entsprungen zu sein schienen.

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Ihr Blick erfasste halb verschleierte Frauen, Männer in langen

Gewändern und Turbanen, einige von ihnen mit merkwürdig
spitz zulaufenden ledernen Kopfbedeckungen, junge, barfüßige
Burschen mit lässig um den Kopf geschlungenen Schals, die
Tabletts mit Erfrischungen durch die Gegend trugen, und
geschäftig hin und her eilende, bepackte Händler.

Zu ihrer Linken wurden gerade zwei schwer beladene

Kamele durch eine weniger belebte Seitenstraße einem
unbekannten Ziel entgegengeführt. Die Tiere hoben widerwillig
die Köpfe, scheuten ein wenig und gaben dabei protestierende
Laute von sich.

Direkt unter ihrem Fenster fuhr polternd ein Eselskarren

vorbei, der mit Kisten, Lederschläuchen und Fässern beladen
war.

Und über allem brannte unerbittlich die frühe

Nachmittagssonne von einem wolkenlosen Himmel.

Der Ort war heiß, laut, staubig – und es war definitiv nicht

San Francisco und schon gar nicht das exklusive Nob Hill, auf
das die beiden Schwestern nun fassungslos herabstarrten.

»Das ist nicht Amerika«, bemerkte Piper daher auch treffend.

»Was ist geschehen?«, fragte Phoebe tonlos.

»Schätze, wir wurden an einen … anderen Ort … gebracht«,

meinte Piper.

»Offensichtlich«, krächzte Phoebe. »Aber wo sind wir hier,

und vor allem, warum sind wir hier?«

»Wenn ich mich recht erinnere, hatte deine Vision doch was

mit einem orientalischen Palast zu tun, oder?«

»Du meinst«, Phoebe sah ihre Schwester beklommen an,

»wir sind genau dort? Im … Nahen Osten?«

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»Sieht ganz so aus, oder glaubst du, irgendein Witzbold hat

uns nach Disneyland in den Sheherazade-Themenpark
teleportiert?«, gab Piper bissig zurück.

Phoebe ignorierte die Bemerkung. Seit Piper schwanger war,

unterlag sie bisweilen großen Stimmungsschwankungen, die von
absoluter Gelassenheit bis hin zu ausgesprochener Gereiztheit
reichten. »Ist dir aufgefallen«, begann sie stattdessen langsam,
»dass es da draußen überhaupt keine Autos, keine Werbung,
keine Schaufenster, keine Antennen auf den Dächern oder sonst
irgendwelche … modernen Errungenschaften zu geben
scheint?«

Piper sah noch einmal zum Fenster hinaus. Phoebe hatte

Recht, und die Abwesenheit all der Dinge, die ihre Schwester
aufgezählt hatte, ließ in ihr eine schlimme Ahnung aufsteigen.

»Wie es scheint«, begann sie mit bebender Stimme,

»befinden wir uns nicht nur irgendwo am anderen Ende der
Welt, sondern auch … in einer gänzlich anderen Zeit.«

»Aber wie und wieso?«, platzte Phoebe heraus.

»Ich nehme an, wir sind unabsichtlich durch eine Art …

Zeittor hier gelandet. Offensichtlich war der Eingang zum
›Marduk Palace‹-Hotel so etwas wie die Drehtür in eine ferne
Vergangenheit.« Sie holte tief Luft. »Und über das Wieso
können wir im Moment nur spekulieren. Fraglos hat es aber mit
deiner Vision und … mit Paige zu tun, so viel ist klar.« Sie hielt
inne und wunderte sich, wie gefasst sie all dies vortrug.

»Meinst du, Paige ist auch hier?«, fragte Phoebe, und ihr

Blick flog durch den Raum, als ob ihre jüngere Halbschwester
jeden Moment hereinspazieren könnte.

»Das könnte sein … nein, es ist sogar sehr wahrscheinlich,

wenn man sich das alles so zusammenreimt«, murmelte Piper.

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»Was sollen wir jetzt bloß machen?«, fragte Phoebe. Dann

stutzte sie und erhob sich per Levitation einen halben Meter in
die Luft.

»Was soll das?«, fragte Piper, als ihre Schwester wieder

festen Boden unter den Füßen hatte.

»Ich hab nur ausprobiert, ob meine Kräfte hier in der

Vergangenheit noch funktionieren«, erklärte Phoebe, »weil die
ja rein technisch gesehen noch gar nicht existieren können. Aber
wie du siehst, es klappt.«

Piper richtete ihre Hand auf eine tote Motte, die unter dem

Fenster am Boden lag, und zerlegte sie in ihre Bestandteile.
»Okay«, sie nickte zufrieden, »meine Kräfte scheinen also auch
noch vorhanden zu sein. Offenbar hat das Zeitportal unsere
Magie erhalten.«

»Aber«, begann Phoebe, »wenn wir durch ein Zeitportal

hierher gekommen sind, dann muss es doch auch einen Weg
zurück geben, oder nicht?«

Piper dachte einen Moment lang nach und ließ ihren Blick

durch das spartanische Zimmer wandern. Es hatte den Anschein,
als ob sie sich im obersten Geschoss eines Hauses befanden. Der
Bereich, in dem sie standen, schien Teil eines größeren Raums
zu sein, der vor ihnen einen scharfen Knick nach rechts machte.

Vorsichtig schlich Piper voran und lugte um die Zimmerecke.

Sie erkannte einen im Dunkeln liegenden fensterlosen Erker, der
offensichtlich als Schlafplatz diente. Auch dort war nichts und
niemand zu sehen.

»Also, ich entdecke hier weit und breit kein Zeitportal«, sagte

Piper. »Und nachdem der Teleporter hierher für uns als solcher
nicht zu erkennen war, kann sich der Weg zurück praktisch
überall befinden … hinter jeder Tür, in jedem Haus, in jedem
Winkel dieses verdammten Ortes –« Sie brach ab.

»Was?«, rief Phoebe alarmiert.

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»Wie konnte ich das nur vergessen«, flüsterte Piper, und rief

dann laut: »Leo!«

Nichts geschah.

»Leo!«, rief sie erneut.

Doch Leo tauchte nicht auf.

Kreidebleich sank Piper an der Wand zu Boden.

»Phoebe«, sagte sie und sah ihre Schwester erschüttert an.

»Ich glaube, wir stecken in ernsten Schwierigkeiten.«

Als Leo Wyatt, seines Zeichens Wächter des Lichts und

Ehemann von Piper Halliwell, gegen 14 Uhr im Wohnzimmer
von Halliwell Manor materialisierte, lag das alte Haus still und
verlassen da.

»Schatz? Jemand zu Hause?«, rief er, doch niemand

antwortete ihm.

Er schlenderte in die Küche und entdeckte auf der Anrichte

einen Zettel: Treffen uns mit Paige. Essen steht im Eisschrank.
Bis heute Abend. In Liebe, Piper.

Unschlüssig ging Leo zum Kühlschrank und öffnete ihn. Auf

der obersten Ablage standen ein Teller mit Kartoffel-Lachs-
Gratin und ein Schüsselchen Salat.

Er wollte die Mahlzeit gerade in die Mikrowelle stellen, als

ihn ein merkwürdiger Stich durchfuhr. Piper!, warnte ihn eine
Stimme in seinem Kopf. Das untrügliche Zeichen dafür, dass
seiner Schutzbefohlenen und Liebe seines Lebens irgendetwas
Böses zu widerfahren drohte!

Er wollte mit Piper Kontakt aufnehmen, doch seine

telepathischen Kräfte liefen seltsam ins Leere, und auch Phoebes
und Paiges Auren waren nicht fassbar.

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Er wirbelte herum, eilte zum Telefon und rief Piper auf ihrem

Handy an, doch er bekam keine Verbindung. Er versuchte,
Phoebe und Paige auf deren Mobiltelefonen zu erreichen, mit
dem gleichen Ergebnis. Und bei Paige im South Bay
Sozialdienst
nahm niemand ab.

Erneut versuchte er, zu Piper eine geistige Verbindung

aufzubauen, doch es war, als ob er dem weißen Rauschen des
Äthers lauschte.

Bestürzt sank Leo auf einen der Küchenstühle. Das konnte

nur zweierlei bedeuten: Entweder war Piper an einem Ort, den
weiße Magie nicht zu erreichen vermochte, oder aber sie war
tot.

Als der schwere Riegel vor ihrer Tür zum zweiten Mal an

diesem Tag beiseite gezogen wurde, sprang Paige von ihrem
Lager am Boden auf und verharrte mit klopfendem Herzen
reglos auf der Stelle. War der abscheuliche Dämon
zurückgekommen, um sie nun endgültig zu vernichten?

Die Zellentür wurde aufgestoßen, und dann trat eine Gestalt

ein, die indes nicht Zeyn sein konnte, denn sie war relativ hoch
gewachsen und bewegte sich mit merkwürdig steifen, irgendwie
roboterhaften Bewegungen bis zur Mitte des Raums.

Der Besucher trug eine bodenlange schwarze Kutte und hatte

Kopf und Gesicht mit einem schmutzigen Schal verhüllt in der
Art, wie es Beduinen tun, um sich vor dem Sand und der Sonne
in der Wüste zu schützen.

Er hielt einen Krug und einen Napf in Händen. Beides stellte

er nun auf dem Boden von Paiges Zelle ab, wandte sich
ruckartig um und stakste wieder hinaus.

»Hey! Hallo? Moment mal!«, rief Paige, doch da wurde die

Zellentür auch schon wieder geschlossen und von außen
verriegelt. Zurück blieb ein schwerer, süßlicher Geruch.

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Langsam trat Paige auf die Sachen am Boden zu. In dem

Krug befand sich offensichtlich Wasser, und in dem Napf ein
Brei aus kaltem Reis und einem Pamps, der nach Kichererbsen
oder irgendeinem Getreide roch, das sie nicht zu identifizieren
vermochte. So oder so, Paige hatte nicht vor, von dem alles
andere als appetitlichen Essen auch nur einen Bissen zu sich zu
nehmen. Stattdessen hob sie den Tonkrug an ihre Lippen und
trank einen kräftigen Schluck von dem Wasser. Es schmeckte
kühl und frisch.

So gestärkt versuchte sie noch einmal, die Wand unter dem

kleinen Fenster zu erklimmen. Als sie wieder auf dem winzigen
Vorsprung eines herausstehenden Steinquaders stand und
hinaussah, stellte sie fest, dass sie sich in der Tat ziemlich hoch
über der Stadt befand. Womöglich im höchsten Gebäude weit
und breit.

Eines war klar: Sie musste versuchen, von hier zu fliehen,

nicht wissend, was sie dann als Nächstes tun konnte, sollte ihr
die Flucht tatsächlich gelingen.

Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es jetzt früher

Nachmittag. Piper und Phoebe saßen vermutlich noch völlig
ahnungslos in Halliwell Manor und wunderten sich über die
Unzuverlässigkeit ihrer Schwester im Hinblick auf die geplatzte
Mittagsverabredung mit Phoebe.

Sie hatte sich am Empfangsschalter des South Bay

Sozialdienstes ordnungsgemäß abgemeldet, und vermutlich
schöpfte im 21. Jahrhundert bis jetzt niemand auch nur den
leisesten Verdacht. Doch wie lange noch?

Wieder und wieder ging sie im Geiste durch, was eigentlich

geschehen war. Selim, dieser anbetungswürdige und doch durch
und durch verschlagene junge Mann, hatte sie dazu überredet,
mit ihr nach Nob Hill zu fahren …

Und dann, nachdem sie den Zeittunnel betreten hatte, hatte

dieser Zeyn sie sogleich aus dem Verkehr gezogen und in dieses

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Verlies gesperrt. Und dies alles war offensichtlich allein zu dem
Zweck geschehen, um ihr ihre Kräfte zu stehlen …

So weit, so bekannt. Es war schließlich nichts Neues, dass

Kreaturen der schwarzen Seite versuchten, die Zauberhaften zu
entmachten, um dann die Welt ins Chaos und Verderben zu
stürzen.

Die Erinnerung an etwas, das Zeyn bei seinem Besuch in

ihrer Zelle gesagt hatte und das sie in jenem Moment irgendwie
irritiert hatte, spukte in ihrem Kopf herum, doch Paige konnte
sich nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war.

Sie seufzte schwer. Wie sollte es nun weitergehen? Allein die

Macht der Drei vermochte zu verhindern, dass Zeyn hier und
jetzt den Lauf der Welt änderte und das Böse für eine lange,
lange Zeit, wenn nicht für immer, die Oberhand gewann.

Sie musste einen Weg finden, mit ihren Schwestern Kontakt

aufzunehmen, bevor es zu spät war.

»Hätte ich doch bloß nicht auf dich gehört!«, schimpfte Piper

und raufte sich die langen seidigen Haare. »›Wir werfen nur mal
kurz einen Blick da rein‹ hast du vor dem Hotel gesagt, und nun
das!«

Kopfschüttelnd starrte sie zum wiederholten Male aus dem

Fenster des Hauses, in dem sie und Phoebe sich nach dem
Betreten des »Marduk Palace« wieder gefunden hatten.

Gerade trieb ein barfüßiger schmutziger Bengel eine Hand

voll Ziegen in Richtung des überdachten Basars.

»Ach, jetzt bin ich also wieder schuld, oder was?«,

protestierte Phoebe. Sie wirbelte zu ihrer Schwester herum, und
ihre beiden Zöpfe flogen angriffslustig hin und her. »Wer
konnte denn ahnen, dass wir keine Gelegenheit mehr haben
würden, diesen, ähm, Zeitsprung zu verhindern, nachdem wir

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das Hotel betreten hatten? Immerhin ging es ja allein darum,
Paige zu retten, schon vergessen?«

»Ja, tolle Rettungsaktion! Mit dem Ergebnis, dass wir nun

irgendwo in grauer Vorzeit festsitzen, Leo nicht zu erreichen ist
und wir keinen blassen Dunst haben, wie wir wieder von hier
verschwinden können … Und wo zum Teufel steckt Paige
überhaupt?« Frustriert und wütend schlug Piper mit der Faust
gegen die Wand neben dem Fenster.

»Aber begreifst du denn nicht?«, wandte Phoebe vorsichtig

ein. »Es war meine Vision, die uns direkt hierher gebracht hat.
Das muss doch was zu bedeuten haben! Ich bin sicher, dass
Paige hier irgendwo ist und dass das Schicksal uns in die
Vergangenheit geführt hat, damit wir etwas … sehr, sehr
Schlimmes verhindern!«

»Nein, nicht das Schicksal, sondern unser Leichtsinn, um

nicht zu sagen, unsere grenzenlose Blödheit hat uns direkt
hierher geführt«, sagte Piper. »Wenn Paige wirklich hier sein
sollte, ist das allein schon schlimm genug.« Sie zog scharf die
Luft ein. »Sofern sie nicht gegen ihren Willen mit diesem
ominösen Klienten aus dem South Bay Sozialdienst
verschwunden ist, wie konnte sie nur ein solches Risiko
eingehen, ohne uns vorher zu informieren?«

Sie sah Phoebe wütend an. »Da steckt doch bestimmt wieder

ein Kerl dahinter!«

Blinzelnd trat Selim hinaus auf die Gaynor Street und lief in

Richtung der riesigen Kirche, von der ein Schild behauptete, es
handele sich hierbei um die »Grace Cathedral«.

Er umrundete den neugotischen christlichen Bau, zu dem

wahre Menschenmassen gepilgert waren, und lief auf die
Haltestelle der Cable Cars an der belebten California Street zu.

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Sicher, er hätte auch zu den ihm bekannten Plätzen orben

können, doch er wollte hier so wenig Aufmerksamkeit wie
möglich auf sich ziehen. Man konnte schließlich nie wissen, wer
am Zielpunkt vor einem stand und sogleich ein großes Geschrei
veranstaltete, wenn man wie aus dem Nichts vor seiner Nase
materialisierte.

Er hätte zu gerne ein Taxi genommen, doch er besaß nicht

mehr genug Geld, und er verspürte wenig Lust, hier noch einmal
jemanden zu überfallen und auszurauben. Das Risiko war
einfach zu groß.

Seine Füße schmerzten, denn die Schuhe, in denen er

unterwegs war, waren ihm etwas zu klein. Er hatte die Sneakers
wie auch die Kleidung, die er trug, vor einigen Tagen einem
jungen Asiaten abgenommen, der sich bei dem alten Hotel mit
seinem Fotoapparat auf das verwahrloste Grundstück gewagt
hatte und danach vermutlich eine ganze Weile in einem
knöchellangen weiten Hemd und Wickelgamaschen durch die
Gegend geirrt war.

Einmal mehr hoffte er, dass, solange er wieder hier war,

niemand versehentlich in den Zeittunnel in dem alten Hotel
stolperte, denn dann gab es weder für ihn, Selim, noch für diese
Person einen Weg mehr zurück. Eine Besonderheit des
Zeitportals bestand nämlich darin, dass es jeweils nur einmal hin
und zurück benutzt und allein am Startpunkt, also in Ald’maran,
neu gesetzt werden konnte.

Selim konnte sein Glück kaum fassen, als einer der

Kabelwagen, die Richtung Westen fuhren, gerade an der Station
anhielt und einen Teil seiner Passagiere auf die Straße spuckte.
Er legte einen kurzen Spurt ein und sprang im letzten Moment
auf, bevor sich das Gefährt wieder quietschend in Bewegung
setzte. In Momenten wie diesem schätzte er die
Annehmlichkeiten des 21. Jahrhunderts sehr.

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Die Bahn ruckelte zügig den Hügel hinab. Bald passierten sie

das große Bibliotheksgebäude, zu dem er sich jüngst
durchgefragt und in dem er sich zwei Tage lang fast rund um die
Uhr aufgehalten hatte, um sich über diesen seltsamen Ort und
die Zeit, in der er sich befand, zu informieren.

Er hoffte, er hatte den Namen des Stadtteils, von dem Paige

ihm im Taxi erklärt hatte, dass sie und ihre Schwestern dort
wohnten, richtig verstanden. Und so machte er sich auf in
Richtung Pacific Heights.

Unschlüssig, was sie nun als Nächstes unternehmen sollten,

erkundeten Piper und Phoebe zunächst einmal den fensterlosen
Erker in dem L-förmigen Dachgeschoss.

Mit erhobenen Händen ging Piper voran, bereit, die Zeit

einzufrieren, falls etwas Ungewöhnliches ihren Weg kreuzen
sollte.

Links führte eine schmale Treppe hinab, und an der hinteren

Kopfseite befanden sich mehrere Schlafplätze aus dünnen
Matten, Schaffellen und Wolldecken. Dahinter war eine schmale
Tür zu erkennen, die, wie Phoebe mit einem kurzen Blick
feststellte, geradewegs hinaus auf das Dach des Hauses führte.

In einer Wandnische des Erkers, dem flüchtigen Blick fast

verborgen, stand ein hochbeiniges Gestell aus Zedernholz, und
darauf lag ein dickes Buch.

Langsam trat Piper näher und warf einen Blick auf den alten

Folianten. Sein Einband bestand aus gegerbtem Leder und war
mit goldenen orientalischen Ornamenten verziert. »Sieh mal,
Phoebe«, rief sie. »Lass uns mal einen Blick in dieses Buch hier
werfen, vielleicht –«

»Piper, der Wälzer ist höchstwahrscheinlich auf Arabisch

geschrieben, es hat wohl keinen Sinn, sich damit –«

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Doch Piper hatte das Buch bereits aufgeschlagen. Und dann

geschah das nahezu Unfassbare. Wie von Zauberhand schlugen
die Seiten selbstständig und in rasendem Tempo um, bis sie an
einer ganz bestimmten Stelle aufklappten.

Ein paar Schrecksekunden lang brachte keine der Schwestern

auch nur ein Wort heraus.

»Was in aller Welt –«, begann Piper.

»Es verhält sich genau wie … unser … Buch der Schatten!«,

rief Phoebe fassungslos.

Sie wandten ihre Aufmerksamkeit der aufgeschlagenen Seite

im Buch zu.

Zu sehen war die gleiche Zeichnung, auf die sie auch schon

im Buch der Schatten gestoßen waren: Ein schwarzer hoher
Turm ragte über die Dächer einer namenlosen Stadt aus
vergangenen Tagen in den Himmel!

Und daneben stand:

Und es wird kommen die Zeit,

da werden Iblis’ Diener ausziehen,

die Welt zu vernichten.

Wehe denen, welche die Botschaft im

»Buch der Weisheit« nicht zu deuten wissen:

Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten.

Allein der Tapferste wird finden

den Pfad durch die Zeit,

auf dass seine Suche nach der verwandten Seele

das Licht zurückbringe und die Magie

des geheiligten Bundes triumphiere.

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»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Phoebe. »Der Text ist

identisch mit dem im Buch der Schatten, nur der letzte Absatz
war bei uns nicht zu finden, soweit ich mich erinnere.«

»Ob das hier …«, begann Piper, »womöglich … das Buch

der Weisheit ist?«

»Der Gedanke liegt nahe«, meinte Phoebe. »Aber warum in

drei Teufels Namen können wir es lesen, wo es doch eigentlich
auf Arabisch geschrieben sein sollte?«

»Aus demselben Grund, aus dem wir uns miteinander

unterhalten können«, ertönte plötzlich eine dunkle Stimme aus
dem Hintergrund.

Piper und Phoebe fuhren erschrocken herum.

Auf dem Treppenabsatz stand ein weißbärtiger Mann und sah

die Schwestern aus glasig-trüben Augen an. Er war sehr alt –
und er war blind.

Langsam wanderte Paige in ihrer Zelle auf und ab und

zerbrach sich den Kopf über einen möglichen Ausbruchsplan.

Sie wusste, sie war in einem hohen Gebäude gefangen, und

das hieß, sie musste sehr wahrscheinlich einen ziemlich langen,
ziemlich gefährlichen Abstieg bis zum Ausgang zurücklegen.

Außerdem musste sie herausfinden, wer oder was am Ende

des Gangs hinter Gittern saß.

Doch das war bereits der zweite Schritt. Noch hatte sie nicht

die geringste Idee, wie sie den ersten, nämlich aus dieser
elenden Zelle überhaupt herauszukommen, bewerkstelligen
sollte.

Wenn es mir gelänge, diesen stummen Diener irgendwie

hierher zu locken und zu überwältigen, hätte ich vielleicht eine
Chance, überlegte sie, auch wenn das ohne meine Zauberkräfte
schwierig werden könnte. Das würde mir allerdings nur dann

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weiterhelfen, wenn Zeyn bei dieser Aktion nicht in der Nähe
wäre oder von irgendwem alarmiert würde.

Ach, was soll’s, dachte sie, ich muss es einfach versuchen.

Sie warf sich ihren Lederbeutel über die Schulter, ging zu der

massiven Eisentür und hämmerte wie verrückt dagegen. »Hallo?
Hilfe! Aufmachen! Hallo!!«

Sie wartete. Eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten.

Nichts geschah.

Ihr Blick fiel auf die rostigen dicken Ketten, die von der nahe

gelegenen Wand herabhingen. Eine von ihnen reichte fast bis
zum Boden. Sie packte die Kette und schleuderte sie mit
einigem Schwung gegen die Eisentür. Es gab ein
ohrenbetäubendes Knallen, das sicherlich noch in großer
Entfernung zu hören war.

Erschrocken ließ Paige die Eisenkette wieder los. Hoffentlich

hatte sie mit diesem Lärm nicht den Erzdämon selbst auf sich
aufmerksam gemacht!

In diesem Moment wurde von außen der Riegel vor ihrer Tür

beiseite geschoben. Automatisch schnappte sich Paige erneut
das Ende der Eisenkette und stellte sich mit ihr neben dem
Eingang auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Die Tür wurde knarrend aufgezogen, und dann trat auch

schon der verhüllte Diener in ihre Zelle und schlurfte einige
Schritte hinein.

Paige zögerte keine Sekunde, nahm ihren ganzen Mut

zusammen und holte aus. Mit Wucht traf das Ende der schweren
Kette den Mann genau im Rücken. Er kippte vornüber und fiel
ruckartig auf die Knie. Dabei rutschte ihm der schmutzige Schal
vom Kopf, und als er sich langsam zu ihr umdrehte, konnte
Paige einen entsetzten Aufschrei nur mit Mühe unterdrücken.

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Tote Augen in grüngrauem Fleisch starrten sie an, und als die

Kreatur ihre schwarzen Zähne bleckte, sah Paige, dass die
Zunge halb verfault war. Langsam rappelte sich das Ding wieder
auf.

In nackter Panik stürmte Paige aus ihrer Zelle auf den Gang

hinaus und warf sich gegen die Tür, um sie wieder
zuzuschieben. Das ging schwerer als erwartet.

Durch den schmalen Spalt konnte sie sehen, wie der lebende

Leichnam unaufhaltsam näher schlurfte und seine halb
verrotteten Arme nach ihr ausstreckte.

Im allerletzten Moment schaffte sie es, die Tür krachend zu

schließen, bevor das untote Ding sie erwischen konnte. Mit
zitternden Fingern schob sie den schweren Holzbalken vor,
drehte sich um und holte erst einmal tief Luft.

Der nicht mehr ganz taufrische Kerkermeister mochte zwar

einen Schlüssel zu ihrer Zelle besitzen, aber der massive
Holzbalken vor der Tür dürfte ihn daran hindern, diese auf
normalem Wege wieder zu verlassen. Nur wie lange?

Der Gang vor ihr war düster, doch an seinem Ende konnte sie

eine Reihe vergitterter Zellen ausmachen, auf die sie schon
zuvor einen Blick erhascht hatte.

Aus ihrem eigenen Verlies war kein Laut zu hören. Eine

Kämpfernatur schien der Untote, den sie soeben ausgetrickst
hatte, nicht gerade zu sein …

Langsam schlich sie den Gang entlang. Rechter Hand

passierte sie eine steile, schmale Treppe, die abwärts führte. Auf
dem Absatz lagen die von Fliegen umschwirrten, stinkenden
Überreste eines Mahls aus Fleisch und Knochen, von dem Paige
gar nicht wissen wollte, was es genau war. Bestimmt hat hier
dieser … Zombie seinen Posten bezogen, dachte sie schaudernd.

Sie huschte weiter auf die vergitterten Zellen zu.

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In der mittleren erkannte sie zwei Gestalten, die auf einer

harten Holzbank saßen.

Als sie näher kam, sah sie, dass es zwei junge Männer in

langen Gewändern und mit Ledergamaschen an den Beinen
waren, die nun aufsprangen, als hätten sie einen Geist gesehen.

»Wer seid ihr?«, stieß Paige hervor. Und zum ersten Mal seit

ihrem unfreiwilligen Aufenthalt hier fiel ihr ein, dass die beiden
sie wahrscheinlich gar nicht verstehen konnten, denn immerhin
befand sie sich in einem fremden Land und in einer lang
zurückliegenden Zeit.

Umso verblüffter war sie, als der Ältere seine Fassung

wiedererlangt zu haben schien und sagte: »Ich heiße Suleiman,
und das ist Seif. Wir sind Ibrahims Söhne und Selims
Halbbrüder.«

»Wer sind Sie?«, fragte Piper den alten Mann.

»Ich heiße Ibrahim«, sagte Weißbärtige, »ich bin der Vater

von Seif, Suleiman und Selim.«

Es entstand eine kleine Pause, in der sich Piper und Phoebe

stirnrunzelnd anblickten.

»Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte Phoebe schließlich, »aber

wer bitte sind Seif, Suleiman und Selim?«

Der alte Mann neigte den Kopf. »Das sind die gesegneten

Söhne meiner geliebten Gemahlin Djaudar, Allah habe sie selig.

Einst waren Seif, Suleiman und Selim mächtige Zauberer,

doch dann kam Zeyn, um das Antlitz der Erde mit Tod und Leid
zu überziehen.« Er hielt seufzend inne und wischte sich
verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. »Aber erlaubt mir
die Frage, wer seid ihr?«

»Ich heiße Phoebe, und das ist Piper«, platzte Phoebe heraus.

»Wir sind auf der Suche nach unserer Schwester Paige

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versehentlich, ähm, hier gelandet. Wir vermuten, dass Paige
entführt wurde und hier irgendwo versteckt gehalten wird.«

»Dann seid ihr also aus der Zukunft hierher gekommen«,

stellte der alte Araber fest, als wären Zeitreisen in seiner Epoche
das Selbstverständlichste der Welt.

»Das scheint Sie nicht sonderlich zu verwundern«, stellte

Piper mit scharfer Stimme fest. »Wissen Sie, wo unsere
Schwester ist?«

»Nicht mit Sicherheit, aber ich kann es mir denken«,

murmelte Ibrahim und strich sich durch seinen langen weißen
Bart. »Ich fürchte, für das alles ist Selim verantwortlich.« Aus
seinen blinden Augen sah er die Schwestern nun direkt an.
»Aber vielleicht sollte ich uns erst mal einen Tee machen, und
dann erzähle ich euch die Geschichte von Anfang an.«

Schweigend folgten Phoebe und Piper dem alten Mann

hinunter ins Erdgeschoss, wo der Greis trotz seiner Blindheit
erstaunlich behände umherhuschte, als wüsste er haargenau, wo
im Hause sich was befand. Und wahrscheinlich war dem auch
so, und er lebte hier schon sein ganzes Leben.

Im Parterre war es kühler als im oberen Teil des Hauses, und

der Alte forderte Piper und Phoebe freundlich auf, auf den bunt
bestickten Sitzkissen Platz zu nehmen, die am Boden rund um
ein großes Messingtablett platziert waren.

Dann setzte Ibrahim einen Kupferkessel auf eine kleine

Feuerstelle und bereitete zwei Teekannen vor. Eine für den Sud,
und eine für das kochende Wasser. Schon bald zog der köstliche
Geruch von frisch aufgebrühtem schwarzen Tee durch das Haus.

Schließlich füllte der Greis drei Tonbecher mit dem

dampfenden Getränk und stellte diese vor den beiden jungen
Frauen auf dem Tablett ab. Erstaunlich gelenkig nahm er
schließlich selbst auf einem der Sitzkissen Platz und schlug die

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Beine untereinander, als hätte er noch nie im Leben von Rheuma
oder Gicht auch nur gehört.

»So hat es Selim offensichtlich doch geschafft, einen Weg in

die Zukunft zu finden«, begann er schließlich und nahm
schlürfend einen Schluck von seinem Tee.

»Um ehrlich zu sein, ich verstehe kein Wort von dem, was

Sie sagen«, meinte Piper und setzte sich in ihren Cargopants auf
dem Kissen zurecht. »In welcher Zeit sind wir eigentlich, und
wer zum Henker ist Selim?«

»Bitte entschuldigt«, sagte Ibrahim, »ich versprach ja, euch

die Geschichte von Anfang an zu berichten.« Und zu Piper:
»Doch was deine erste Frage betrifft: Nach eurer Zeitrechnung
sind bis zum heutigen Tag«, er überlegte kurz, »fast 800 Jahre
seit der Geburt des Propheten Jesus ins Land gegangen. Seit
einigen Jahren herrscht von Bagdad aus Harun al-Raschid über
diesen Teil der Welt, während im Land der Barbaren ein
Kriegsherr von Sieg zu Sieg reitet, den sie Karl den Großen
nennen.«

Und während Piper und Phoebe diese ungeheuerliche

Information verdauten, begann der alte Ibrahim zu erzählen:

»Meine verstorbene Frau, Allah sei ihrer Seele gnädig,

entstammt einer sehr alten, sehr mächtigen Familie. Die
Mitglieder ihres Geschlechtes verstanden sich seit jeher auf
Alchemie, Kräuterkunde und die Magie der Elemente, die aber
nur zum Guten eingesetzt werden durfte.«

Piper hob eine Augenbraue und warf Phoebe einen raschen

Blick zu.

»Seit die Lehren des Propheten Mohammed die Geschicke

der Menschen in diesem Teil der Erde lenken«, setzte Ibrahim
hinzu, »ist die im heiligen Koran vorgeschriebene Strafe für
einen Magie Praktizierenden die Exekution mit dem Schwert.

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Daher müssen Zauberkundige heutzutage sehr vorsichtig in der
Ausübung ihrer Kunst sein. Selbst das Voraussagen der Zukunft
oder das Erstellen eines Horoskops ist nicht mehr gestattet, auch
wenn sich der Emir selbst einen Hofastrologen und andere
Zauberkundige im Palast hält, aber ich schweife ab …«

»Als ich meine Frau kennen lernte«, fuhr der Alte fort, »war

ich selbst schon kein junger Mann mehr. Djaudar hingegen war
noch im Frühling ihres Lebens und doch schon verwitwet. Wir
heirateten. Djaudar brachte einen kleinen Sohn mit in die Ehe,
der Selim genannt wurde. Damals hieß es, ihr erster Mann sei
von einem Tage auf den anderen verschwunden, und tatsächlich
haben wir lange Zeit nichts von ihm gehört. Selim war für mich
wie ein eigenes Kind, und ich liebte ihn sehr.

In den darauf folgenden Jahren schenkte mir Djaudar zwei

leibliche Söhne: Suleiman und Seif, die ebenfalls mein ganzer
Stolz wurden.

Doch in all der Zeit hatte ich das Gefühl, dass Djaudar mir

irgendetwas verheimlichte, was nicht zuletzt mit dem
Verschwinden ihres ersten Ehemannes im Zusammenhang zu
stehen schien.«

Ibrahim griff zu einer in der Nähe stehenden schlanken

Wasserpfeife und zündete sie an.

Ungeduldig rutschten Piper und Paige auf ihren Sitzkissen

hin und her.

Seelenruhig nahm der alte Mann erst einmal ein paar tiefe

Züge. Es folgte ein blubberndes Geräusch, und als Ibrahim den
Rauch ausblies, erfüllte der Duft von Honigtabak die Luft.
Endlich fuhr er mit seiner Erzählung fort:

»Die Jahre gingen ins Land, wir kamen hierher in diese Stadt.

Ich wurde Gesandter im Palast des Emirs von Ald’maran. Ich
reiste viel, und einmal traf ich sogar den damaligen Omaijaden-
Kalifen von Bagdad.

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- 61 -

Die Jungen wuchsen heran, und mit jedem weiteren Jahr, das

verstrich, wurde meine Frau verschlossener, wenn es um die
Ausbildung und die Zukunft unserer Söhne ging. Eines Tages
dann nahm sie mich zur Seite und gestand mir die ganze,
grausame Wahrheit: Djaudar hatte Selim von einem Malak
empfangen.« Ibrahim seufzte schwer.

»Was ist ein … Malak?«, fragte Phoebe.

»Die Mala’ika sind so alt wie die Menschheit. Sie sind für

uns, die Menschen im Morgenland, das, was für die Christen die
Schutzengel sind«, sagte der Alte. »Ehemals aufrechte
Erdenbewohner also, die kurz vor ihrem Tod vom großen
Weltenschöpfer zu Sendboten gemacht wurden.«

Wie aus einem Munde holten Phoebe und Piper Luft.

»Der Malak war zur Erde gesandt worden, um meine Frau

vor der dunklen Seite zu beschützen«, fuhr der Greis fort. »Denn
Djaudar war eine weiße Zauberin, die einzige noch lebende
ihres Clans, und ständig in Gefahr, nicht nur von den
Religionswächtern, sondern auch von den Schergen Iblis’
vernichtet zu werden.«

»Iblis, das ist doch der, den die Christen den Teufel

nennen?«, fragte Phoebe, obwohl sie die Antwort schon kannte.

»Das ist wahr.« Der alte Ibrahim nickte. »Es steht

geschrieben, dass Iblis in der Morgendämmerung der
Menschheit ein Erzengel Allahs war, der unserem Schöpfer
jedoch den Gehorsam verweigerte. Daraufhin hat der Herr
seinen unbeugsamen Diener verflucht und aus dem Paradies
vertrieben. Und seither bringt Iblis mit seinen Dämonen und
bösen Dschinnen Tod und Verdammnis über die Welt.«

»Der gefallene Engel, den man bei uns auch Luzifer nennt«,

murmelte Piper.

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- 62 -

»Hätte man ihn gleich zur Hölle geschickt, anstatt ihn nur aus

dem Himmelreich zu verjagen, hätte das der Menschheit eine
Menge Ärger erspart«, bemerkte Phoebe.

»Wir sollten die Entscheidungen unseres Schöpfers nicht in

Frage stellen«, sagte der alte Mann ernst. »Gäbe es das Böse
nicht, gäbe es auch nichts Gutes auf dieser Welt.« Er schlürfte
seinen Tee und fuhr dann mit seiner eigentlichen Geschichte
fort.

»Djaudar erzählte mir, dass sie eines Tages, kurz nach der

Geburt von Selim, von einem Ghul angegriffen wurde, der sie
und das Kind, das sie mit sich trug, töten wollte, als sie auf dem
Weg zum Wasserholen war. Doch zum Entsetzen meiner Frau
beschützte sie der Malak keineswegs, als dieser am Ort des
Geschehens erschien, sondern er entriss ihr den gemeinsamen
Sohn und versuchte nun seinerseits, Djaudar zu töten. Der
Malak war auf die dunkle Seite übergewechselt und von einem
Wesen des Lichts zu einer Kreatur der Nacht geworden.

Mit Hilfe ihrer Magie gelang es Djaudar jedoch, die Zeit

stillstehen zu lassen –«

Bei diesen Worten zog Piper vernehmlich die Luft ein.

Unbeirrt fuhr Ibrahim fort. »– und dann tötete sie den Ghul

mit einem Vernichtungszauber für Untote. Doch als die Zeit
wieder ihren gewohnten Lauf nahm, da verschwand der Malak
in einer blauen Wolke aus Licht und ward nie mehr gesehen.«

Piper und Phoebe konnten kaum glauben, was sie da hörten.

Wie märchenhaft und gleichzeitig bekannt ihnen das alles
vorkam!

»Kurz darauf nahm Djaudar mich zum Mann, und sie dachte,

wenn sie mit mir und ihrem kleinen Sohn nach Ald’maran gehen
würde, so würden die dämonischen Häscher sie aus den Augen
verlieren. Aber das war ein Trugschluss.« Abermals seufzte der
alte Ibrahim schwer.

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»Viele Jahre lebten wir in Frieden und Wohlstand, und

Djaudar gestand mir schließlich, wer sie war und was es mit
dem Verschwinden ihres ersten Ehemannes auf sich hatte. Doch
das war nur die halbe Wahrheit, wie ich erst sehr viel später
erfuhr. Als einzige überlebende weiße Zauberin ihres Clans
hatte sie drei Söhne zur Welt gebracht, die mit ungeahnten
Kräften ausgestattet waren und deren Schicksal es zu gegebener
Zeit sein würde, gegen das Böse zu kämpfen. Doch von all dem
erzählte sie mir und den Jungen nichts.«

Piper und Phoebe mochten ihren Ohren kaum trauen.

»Und dann, eines Tages, kam ich von einer Reise nach Hause

und fand Djaudar tot im Innenhof unseres Hauses. Sie lag in
ihrem eigenen Blut. Meine beiden ältesten Söhne waren zu
dieser Zeit bereits Studenten an der Hochschule von Ald’maran,
wo sie auch wohnten, und Seif befand sich gerade auf dem
Basar, um einige Besorgungen zu machen.

Ich ahnte sofort, dass Djaudar ein Opfer von Iblis’ Schergen

geworden war, denn man hatte ihr das Herz herausgerissen …
vermutlich, um an ihre Seele zu gelangen, die als Hort für jene
besonderen Kräfte gilt. Ich konnte den Anblick ihres
geschundenen Körpers kaum ertragen, und vielleicht bin ich
deshalb danach auch in kürzester Zeit erblindet.«

Schweigend tranken Piper und Phoebe ihren Tee. Die Worte

des Alten beunruhigten und berührten sie gleichermaßen.

»Wissen Sie«, sagte Piper schließlich langsam. »Meine

beiden Schwestern und ich … wir sind in unserer Zeit, na ja, wir
sind das, was auch Djaudar war – weiße Hexen. Und auch
unsere Aufgabe ist es, gegen das Böse zu kämpfen, wie ihre
Söhne.«

»Das weiß ich«, sagte der alte Mann. »Ich wusste es, und ich

habe es ganz deutlich gespürt, als ich euch vor dem Buch der
Weisheit
antraf.«

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»Aber woher wussten Sie von uns?«, fragte Phoebe. »Und

was ist das Buch der Weisheit?«

»Die Botschaften im Buch der Weisheit sind sehr alt – älter

als die Lehren aller Propheten dieser Welt. Das Buch stammt
aus einer Zeit, da die meisten Menschen noch die Göttlichkeit in
allem, was auf Erden ist, erkannten und ehrten. Es war von jeher
im Besitz der Familie meiner Frau«, sagte Ibrahim. »Djaudars
Vorfahren, die ja zum größten Teil aus Zauberinnen und
Magiern bestanden, haben es von Generation zu Generation
weitergeschrieben und ihren Nachkommen vermacht. Es finden
sich viele Prophezeiungen darin.«

Er nahm wieder einen Zug aus seiner Wasserpfeife.

»Nach dem Tode meiner Frau habe ich meinen Söhnen

erzählt, was ich wusste, und ihnen das Buch übergeben. Ich
ahnte ja nicht, dass ich damit ihr Schicksal besiegeln würde.«

Piper und Phoebe konnten sich fast denken, was nun kam.

»Und dann hat Seif, mein Jüngster, die große Macht des

Buches entfesselt, indem er seinen Brüdern den
Initiationsspruch vorlas, und von diesem Tag an waren meine
drei Söhne dazu verdammt, bis an ihr Lebensende gegen das
Böse zu kämpfen – der Bund der Magier war begründet
worden.«

»Das kommt uns sehr bekannt vor«, sagte Phoebe, »aber

noch mal, woher wusste man von uns, und warum wurde Paige
hierher entführt?«

»Es gibt hier einen sehr mächtigen Dämon mit Namen Zeyn.

Er lebt in dem alten schwarzen Turm hinter dem Friedhof von
Ald’maran«, sagte Ibrahim. »Seit Jahren schon versucht er,
mithilfe der Schwarzkunst immer mehr Macht an sich zu reißen
und die Aufrechten und Tapferen aus unserer Welt zu
verbannen.« Der alte Mann schlug bekümmert die Augen
nieder, dann ergriff er eine Gebetskette aus Holzperlen, die auf

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dem Messingtisch lag, und umklammerte sie fest, bevor er
fortfuhr.

»Meine Söhne kämpfen nun schon einige Zeit gegen diesen

Dämon und seine Kreaturen, doch vor etwa zwei Wochen ist es
Zeyn gelungen, Suleiman und Seif zu ergreifen und sie in seinen
Turm zu verschleppen.

Selim fand heraus, dass Zeyn ihnen offensichtlich durch

Berührung ihre Kräfte stahl. Und er hatte in Erfahrung gebracht,
dass der Erzdämon seit neuestem gute wie schlechte Magie in
sich aufzunehmen vermochte, wie ein Schwamm Wasser
aufsaugt. Und das bedeutete, dass Zeyn, da er nun auch die
Kräfte meiner beiden Söhne in sich trug, jetzt mächtiger war als
je zuvor.«

Ibrahim senkte kummervoll sein schlohweißes Haupt und

ließ die Kette durch seine Finger gleiten. »Ich weiß allerdings
nicht, ob Seif und Suleiman überhaupt noch leben, und auch
Selim konnte seit dem Tag, da sie verschwanden, keinen
Kontakt mehr zu seinen Brüdern herstellen.« Seine Stimme
zitterte leicht, als er weitersprach.

»Selim versuchte daher, mit Hilfe des Buchs der Weisheit

einen Ausweg zu finden, um seine Brüder zu retten, sofern sie
von Zeyn noch nicht getötet worden waren, und den Untergang
der Welt, wie wir sie kennen, doch noch zu verhindern.

Das Schicksal half ihm dabei und zeigte ihm die Seite, die

auch ihr im Buch der Weisheit gesehen habt, und er stieß auf
eine Prophezeiung, die besagte, dass es irgendwo in ferner
Zukunft eine ihm verwandte Seele gäbe, die ihm helfen könne.«

»Paige!«, riefen Piper und Phoebe wie aus einem Munde.

Der alte Mann nickte. »Und so fand er schließlich einen Weg,

in eure Zeit zu reisen, um eben diese Person, eure Schwester,
ausfindig zu machen. Er erzählte mir, er könne vermittels des
Buchs der Weisheit hier oben im Haus ein Zeitportal erschaffen,

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das den Reisenden in die Lage versetzt, sich mit den Menschen
am jeweiligen Zielort ohne Schwierigkeiten zu verständigen.
Wie ihr seht, ich spreche in meiner und ihr in eurer
Muttersprache, und doch ist es so, als stammten wir aus einer
Familie.«

»Na ja, andernfalls wäre so ein Zeitportal ja auch ziemlich

nutzlos«, bemerkte Phoebe.

»Selim«, fuhr der Alte fort, »hat sodann diese Reise in die

Zukunft einige Male unternommen, bevor er schließlich vor
einer Woche nicht mehr aus eurer Zeit zurückgekehrt ist. Ich
habe seitdem auch von ihm nichts mehr gehört.«

»Weil er Paige schließlich aufgespürt und dann heute mit ihr

Kontakt aufgenommen hat«, schlussfolgerte Phoebe.

»Aber wo ist Paige?«, rief Piper mit ungeduldiger Stimme.

»Es muss Selim irgendwie gelungen sein, sie hierher zu

bringen«, sagte der Alte, »denn sonst wäret auch ihr nicht in
Ald’maran, habe ich Recht?«

»So ist es«, bestätigte Phoebe. »Wir hatten Paige heute

längere Zeit nicht erreichen können«, erklärte sie Ibrahim.
»Zuvor jedoch hatte ich einen Zettel mit der Adresse eines
Hotels an ihrem verlassenen Arbeitsplatz gefunden und … Nun,
um es kurz zu machen: Wir sind zu diesem Hotel gefahren, um
sie zu suchen, doch als wir das Gebäude betreten wollten,
landeten wir hier. Genau im Eingang des Hauses in Nob Hill
muss sich also das Zeitportal von Selim befunden haben, und es
spricht einiges dafür, dass auch Paige es benutzt hat.« Sie sah
ihre Schwester erwartungsvoll an.

»Doch irgendwas muss schief gelaufen sein«, überlegte Piper

weiter, »denn von Paige fehlt hier wie dort jede Spur. Ich meine,
wenn sie mit Selim hier angekommen wäre, hätte sich ihr Sohn
doch sicherlich mit Ihnen in Verbindung gesetzt?« Sie schaute

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Ibrahim fragend an und vergaß dabei völlig, dass er sie ja gar
nicht sehen konnte, doch der alte Mann nickte.

»Womöglich irrt sie jetzt hier irgendwo in Ald’maran herum,

oder aber –« Sie brach ab und blickte Phoebe besorgt an.

»Es schmerzt mich, es auszusprechen«, sagte Ibrahim, »doch

ich fürchte, auch eure Schwester und Selim gerieten in Zeyns
Fänge, und –«, er machte eine längere Pause. »Und somit ist es
nun an euch, Zeyn zu vernichten, oder aber er vernichtet uns und
damit auch die Welt, wie ihr sie kennt.«

»Und wie bitteschön sollen wir das anstellen?«, rief Phoebe

verzweifelt aus und sah Hilfe suchend zu Piper. »Ohne Paige …
und damit ohne die Macht der Drei?«

»Ganz einfach, wir müssen Paige finden und befreien, wo

auch immer sie ist«, sagte Piper entschlossen. »Und Gott gebe,
dass sie noch im Besitz ihrer Kräfte ist.«

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- 68 -

3

F

ÜR EINEN MOMENT STARRTE PAIGE die beiden

jungen Männer nur schweigend an. Derjenige, der sich ihr als
Suleiman vorgestellt hatte, mochte um die fünfundzwanzig sein,
wohingegen Seif fast noch ein Teenager war.

Suleiman war groß und schlank. Er besaß ein schmales,

ernstes Gesicht mit einer aristokratischen Nase, einem
energischen Kinn und einem wohlgeformten Mund. Sein glattes
schwarzes Haar reichte ihm bis über die Schultern, und seine
klaren, grünbraunen Augen blickten Paige ruhig an.

Seif dagegen war etwas kleiner und kräftiger als sein älterer

Bruder. Er hatte ein herzförmiges, spitzbübisches Gesicht unter
einem zerzausten dunkelbraunen Lockenschopf und lebhafte,
fast bernsteinfarbene Augen mit langen dunklen Wimpern.

»Ihr seid Selims Brüder?«, fragte Paige ungläubig. »Hat er

euch etwa auch hierher gelockt und eingekerkert?«

Die beiden Angesprochenen sahen sich verständnislos an.

»Nein, das war Zeyn«, sagte Suleiman schließlich und erhob
sich müde von der Bank.

»Wer bist du?«, wollte der junge Seif wissen. Er sprang auf

und trat an das Zellengitter heran. Seine goldbraunen Augen
strahlten die schöne Fremde in dem blassgelben Hosenanzug in
einer Mischung aus Hoffnung und Neugierde an.

Paige sagte es ihnen. Und sie berichtete den beiden auch von

ihrem Treffen mit Selim im South Bay Sozialdienst, wobei sie
die Tatsache, dass sie sich in den jungen Mann hoffnungslos
verliebt hatte, diskret unter den Tisch fallen ließ.

Und schließlich schilderte sie Suleiman und Seif, wie sie und

Selim das Hotel in Nob Hill betreten hatten und sie daraufhin in
diesem Kerker erwacht war.

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»Soll das heißen, du kommst aus der Zukunft?«, fragte Seif

mit großen Augen, als Paige geendet hatte.

»So ist es«, sagte sie, »doch würdet ihr beide mir jetzt bitte

mal erklären, was hier eigentlich gespielt wird und warum mich
euer Bruder hierher gebracht hat?«

»Sag mal, scheint in der Zukunft denn niemals die Sonne?«,

wollte Seif wissen. »Ich meine, weil du so schrecklich blass bist
…«

Suleiman warf seinem Bruder einen strafenden Blick zu und

übernahm es, Paiges Frage zu beantworten. »Ich denke, Selim
hat sich um Hilfe an dich gewandt«, sagte er, »nachdem ich und
mein Bruder von Zeyn gefangen genommen wurden. Du musst
wissen, wir drei sind der Bund der Magier und dazu bestimmt,
das Böse in dieser Welt zu vernichten.«

Paige hatte das Gefühl, nicht richtig verstanden zu haben,

doch sie schwieg.

Und dann erzählte Suleiman ihr in kurzen Zügen von seiner

Mutter Djaudar, ihrem ersten Ehemann, dem Malak, und dem
Buch der Weisheit.

»Schließlich ist es Zeyn, dem Dämon, gelungen, unserer

habhaft zu werden«, beendete Suleiman seinen Bericht. »Seine
Häscher haben uns im Schlaf überfallen, und Zeyn hat uns hier
in seinem schwarzen Turm eingekerkert, uns berührt und damit
unsere Kräfte gestohlen, und …«, er stockte einen Moment und
fuhr sich in einer verzweifelten Geste durch das schulterlange
Haar, »und wenn er nun auch noch unseren Bruder Selim
ergreift, dann wird … sich die Hölle auf Erden auftun.«

Paige schwirrte der Kopf, und ein leichtes Schwindelgefühl

nahm von ihr Besitz. Sie brauchte einen Moment, um das
soeben Gehörte zu begreifen und in einen Zusammenhang zu
bringen. Demnach hatte die abstoßende Kreatur sie berührt, als
sie ohnmächtig gewesen war, um an ihre Kräfte zu gelangen …

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- 70 -

Der Traum, den sie vor ihrem Erwachen geträumt hatte, war
also nur zum Teil ein Produkt ihrer Phantasie gewesen. Der
Gedanke, dass das abstoßende Geschöpf Hand an sie gelegt
hatte, verursachte ihr Übelkeit.

»Also hat Selim mit Hilfe des Buchs der Weisheit einen Weg

in die Zukunft gefunden, um mich ausfindig zu machen?«,
fragte sie schließlich mit belegter Stimme.

»So scheint es«, sagte Suleiman. »Die Frage ist nur, wieso

gerade dich?«

Paige fand es allmählich an der Zeit, den beiden Brüdern über

sich und ihre Schwestern zu erzählen. Sie berichtete von der
uralten Hexendynastie, der sie entstammten, ihren einzigartigen
Zauberkräften, der Macht der Drei, dem Buch der Schatten, und
sie erwähnte auch die Tatsache, dass sie, Paige, die Tochter
einer Hexe und eines Schutzengels, eines Wächters des Lichts,
war.

Seifs und Suleimans Mienen wurden mit jedem Satz, den

Paige sprach, fassungsloser. »A-aber …«, stotterte Seif
schließlich, als die junge Hexe mit ihrem Vortrag fertig war,
»das ist ja alles fast genauso … wie in unserer Familie.«

Paige nickte stumm.

»Selim muss im Buch der Weisheit einen Hinweis auf deine

zukünftige Existenz entdeckt haben«, schlussfolgerte Suleiman.
»Und dann hat er einen Weg gefunden, in eure Zeit zu reisen
und mit dir, einer verwandten Seele, Kontakt aufzunehmen. Eine
Art Zeittor, wie ich vermute, das, wie wir ja selbst sehen, sogar
die Macht besitzt, den Reisenden in die Lage zu versetzen, mit
den Menschen am Ankunftsort in ihrer Sprache reden zu
können.«

»Ja, ’ne echt tolle Sache«, meinte Paige aufgebracht.

»Allerdings hat mir das alles wenig genützt. Ich hocke hier in
diesem verdammten Turm fest, weil Zeyn offensichtlich von

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dem Portal wusste, von Selim fehlt jede Spur, in meiner Zelle
sitzt jetzt ein vermutlich stinksaurer Zombie, und ich habe keine
Ahnung, wie ich hier rauskommen, geschweige denn in meine
Zeit zurückkehren kann, um meine Schwestern für die Macht
der Drei
zusammenzutrommeln.« Sie holte tief Luft.

»Du hast den Ghul in deiner Zelle eingeschlossen?«, fragte

Seif ungläubig und sperrte Mund und Ohren auf.

»Ghul?« Paige verzog angeekelt das Gesicht. »Wenn du diese

halb verfaulte Gesichtsbaracke meinst, ja, der, ähm, Ghul war
recht einfach zu überwältigen, auch ohne meine Zauberkräfte.«

Seif sah Suleiman grinsend an und hob anerkennend eine

Augenbraue.

Doch Suleiman hatte das dumpfe Gefühl, das etwas von dem,

was Paige zuvor gesagt hatte, ungemein wichtig war. Er konnte
sich nur nicht mehr erinnern, was genau das gewesen sein
konnte.

»Ich möchte wissen, was mit Abu passiert ist«, sagte Seif

plötzlich.

»Wer zum Teufel ist jetzt wieder Abu?«, fragte Paige.

»Ein Nubier, der bis vor ein paar Tagen in der Zelle nebenan

gesessen hat«, erklärte Seif. »Zeyn hat ihn holen lassen, als er
uns hier eingesperrt hat. Da haben wir ihn gesehen.«

»Abu ist ein Beschwörer des Geistes und hat zuletzt im Palast

des Emir als persönlicher Berater gedient«, fügte Suleiman
hinzu. »Selim und ich haben ihn in der Bibliothek der
Universität kennen gelernt. Abu vermag allein mit der Kraft
seiner Gedanken drohende Gefahren zu erkennen. Er hat zwar
nur ein Auge, aber mit diesem sieht er wohl mehr, als jeder
andere von uns. Wie dem auch sei, Seif und ich vermuten, dass
sich Zeyn Abus Kräfte ebenfalls einverleibt hat. Doch wir
wissen nicht mit Sicherheit, was aus ihm geworden ist.«

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»Das ist zwar alles sehr bedauerlich«, meinte Paige, »aber ich

muss versuchen, aus diesem Turm herauszukommen. Kennt ihr
euch hier vielleicht ein bisschen aus? Was könnte der sicherste
Fluchtweg sein?« Und als keine Antwort kam: »Hallo, jemand
zu Hause?«

»Du kannst hier nicht heraus«, sagte Seif langsam. »Die

Pforte des Turms ist durch eine magische Falle gesichert. Jeder
Sterbliche, der ohne Zeyns Erlaubnis hinein- oder hinauswill,
wird auf der Stelle getötet. Und selbst, wenn du es schaffen
solltest, bis ganz nach unten zu gelangen, dann wird dich
spätestens in der großen Säulenhalle Zeyn erwarten, um dich zur
Hölle zu schicken.«

Der alte Zeyn starrte in die Schale mit der trüben Flüssigkeit

und grunzte.

Chatun, sein untoter Diener, hatte behauptet, die Oberfläche

des Seelenspiegels habe sich zweimal bewegt. Das würde
bedeuten, dass wenigstens eine Kreatur aus der Zukunft das
Zeitportal benutzt haben musste, noch bevor er den Bann über
die Stadt gelegt und die Hexe in ihrem Gefängnis aufgesucht
hatte.

Allerdings war sein Kontakt zu Selim in dem Moment

abgebrochen, als er die Hexe dem Zeitstrom entrissen und
hierher gebracht hatte, was nur heißen konnte, dass Selim sich
nicht in seiner Zeit und damit nicht in Ald’maran aufhielt.

»Komm her«, rief er seinen Lakaien zu sich, der sich auch

sofort in Bewegung setzte.

»Wer immer ohne mein Wissen durch das Zeittor nach

Ald’maran gelangt ist: Ich will ihn oder sie haben!«

Chatun nickte stumm.

»Geh und hol den Algol, schick ihn in die Stadt – und findet

den oder die Eindringlinge!«, donnerte Zeyn.

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Zielstrebig lief Selim durch die Prescott Street, bis er das

große ziegelrote Haus im viktorianischen Stil erblickte.

Ein freundlicher alter Herr, der nicht weit von hier in seinem

Garten gearbeitet hatte, hatte ihm schließlich den
entscheidenden Hinweis geliefert, als sich Selim bei ihm nach
dem Haus einer gewissen Paige Matthews und deren Schwestern
erkundigt hatte.

»Ach, Sie meinen Halliwell Manor?«, hatte der alte Mann

gesagt, »ja, sicher kenne ich es, das gehört jetzt Pennys
Enkelinnen, drei wirklich hinreißende Mädchen …«, und ihm
bereitwillig den Weg dorthin erklärt.

Das Haus, in dem Paige lebte, lag ein wenig erhöht, und man

musste eine kleine Steintreppe erklimmen und einen hübschen
Vorgarten durchschreiten, bis man den überdachten Eingang
erreichte.

Selim klopfte an die Vordertür und strich sich nervös eine

widerspenstige Locke aus der Stirn.

Nach einer schier endlos erscheinenden Weile öffnete ihm

ein blonder, gut aussehender Mann und sah ihn aus
kristallklaren Augen an.

Bei seinem Anblick hatte Selim einen Herzschlag lang das

Gefühl, am wohlverdienten Ende einer langen Reise
angekommen zu sein. Und gleichzeitig ahnte er, dass er noch
eine lange, gefährliche Strecke vor sich hatte, bei der
keineswegs sicher war, dass er sein Ziel auch erreichte.

»Guten Tag«, sagte er mit heiserer Stimme und räusperte

sich, »mein Name ist Selim und ich –«

»Ich weiß, wer du bist«, sagte Leo. »Und ich habe dich schon

erwartet.«

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Zögernd traten Piper und Phoebe aus Ibrahims Haus hinaus

auf die Straße und sahen sich um.

Der alte Mann hatte den beiden Mädchen knöchellange

Gewänder und Gesichtsschleier herausgesucht, die noch von
seiner verstorbenen Frau stammten, damit sie sich der Zeit und
dem Ort gemäß kleiden und unerkannt unter die Menge mischen
konnten.

»Wenigstens muss man sich in dieser Aufmachung keine

Sorgen um sein Make-up oder die Frisur machen«, kicherte
Phoebe hinter ihrem Schleier, als sie losmarschierten.

»Stimmt, unter dieser Verkleidung kann man beobachten,

ohne selbst beobachtet zu werden«, sagte Piper.

Ibrahim hatte ihnen auch ein wenig mehr von dem schwarzen

Turm erzählt, in dem der unheimliche Zeyn residierte und der
am Ende der Stadt auf einem Hügel stand. Und die beiden
Schwestern nahmen an, dass der Schlüssel zur Aufklärung von
Paiges und Selims Schicksal genau dort zu finden war. Wie auch
Ibrahims leibliche Söhne sehr wahrscheinlich in dem Turm
gefangen gehalten wurden, sofern sie noch lebten.

Doch um das düstere Bauwerk zu erreichen, mussten sich

Piper und Phoebe nun durch ganz Ald’maran schlagen.

Die Stadt war staubig und heiß.

Piper und Phoebe beschlossen, den Weg durch den

überdachten, riesigen Basar zu nehmen, um in seinem
Getümmel unterzutauchen.

Überall herrschte emsiges Treiben und Stimmengewirr. Je

näher sie dem Markt kamen, umso größer wurde der Trubel.

Und dann fanden sich die beiden Zauberhaften unversehens

inmitten eines orientalischen Basars wieder, schier überwältigt
von der Farbenpracht, dem Gewühl und den zahlreichen
Gerüchen, die hier herrschten.

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Der Markt war ein Labyrinth aus hohen überkuppelten

Gängen und Gassen, in denen das Warenangebot nach Art und
Herkunft sortiert zu sein schien.

Ihre Blicke schweiften umher, als sie sich im Strom der

anderen Besucher vorwärts schoben.

In einem Gang verkauften Händler possierliche Äffchen,

Papageien, Jagdfalken und schreiende Pfauen an die
wohlhabenderen Bürger der Stadt. In einem anderen
präsentierten Waffenhändler Säbel, Dolche, Bögen und Köcher.

Nicht weit davon fanden sich die Sattelmacher, die

Reitgeschirr aller Art feilboten. Und in einem anderen Bezirk
priesen Marktschreier irdenes und kupfernes Geschirr und
anderen Hausrat an.

»Hier hat Handwerk offensichtlich noch goldenen Boden«,

raunte Phoebe ihrer Schwester zu, die unvermittelt stehen
geblieben war und sich staunend ein paar Mal im Kreise drehte.

Ein ganzer Distrikt schien eigens für Lebensmittel

vorgesehen. Hier bogen sich die Stände und Auslagen unter
allerlei Obst und Gemüse, Säcken mit Hülsen- und
Trockenfrüchten, Rosinen und Nüssen. Einige Händler hatten
sich ganz auf Essenzen, Tinkturen, Gewürze und Kräuter
spezialisiert, von denen selbst die erfahrenen Hexen nicht in
jedem Fall die Namen kannten.

In einem anderen Bereich warteten Teppich- und

Tuchhändler auf Kunden. Die meisten von ihnen hatten es sich
auf kleinen Kamelhockern oder Kelims gemütlich gemacht,
tranken Tee, schwatzten oder rauchten Wasserpfeife.

Und in einem durch riesige schmiedeeiserne Deckenlüster

besonders hell erleuchteten Gang fanden sich die Gold- und
Silberschmiede, in deren Verkaufsräumen es funkelte wie in Ali
Babas Schatzhöhle. Kunstvoll gefertigte Kleinodien und
prächtigstes Geschmeide, wohin das Auge sah.

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»Ich hoffe, wir finden hier jemals wieder heraus«, hauchte

Piper, als sie einen weiteren Säulengang betraten, in dem man
dampfende Reisgerichte, Fleischspieße, Hammeleintopf mit
Bohnen, Honiggebäck, Sesamkuchen und frisches Fladenbrot
kaufen konnte.

»Das sieht aber lecker aus«, bemerkte Phoebe mit Blick auf

die altorientalischen Fastfood-Stände, und dann fiel ihr ein, dass
sie ja noch nicht einmal Geld besaßen für den Fall, dass sie
länger hier bleiben und sich verpflegen mussten. »Ob Mundraub
hier wohl ebenso scharf geahndet wird wie Diebstahl?«, fragte
sie ihre Schwester. »Ich hab gehört, die Muslime hacken einem
die rechte Hand ab, wenn man was gestohlen hat, stimmt das?«

»Denk nicht mal ans Essen«, knurrte Piper und zog Phoebe

mit sich. »Wir haben Dringenderes zu tun, als uns hier die
Bäuche voll zu schlagen und vor dampfenden Fleischtöpfen
Maulaffen feilzuhalten.«

In diesem Moment sah sie, wie sich eine vermummte Gestalt

in dem Gedränge des Basars zielstrebig zu ihnen durchschlug.
Sie überragte alle anderen Besucher um gut einen Kopf und kam
eilends näher. Dessen ungeachtet wirkten ihre Bewegungen ein
wenig steif, als ob das Laufen ihr eine gewisse Mühe bereitete.

Piper erschrak, als der Überwurf des Mannes für einen

Moment aufklappte und den Blick auf eine schuppige Hand und
lange, stahlhart wirkende Krallen freigab. Und diese entsetzliche
Klaue langte gerade nach einem Dolch mit juwelenbesetztem
Griff, der im Gürtel steckte!

»Los, hier entlang! Schnell!«, rief sie und schob Phoebe in

einen etwas weniger belebten Seitengang, in dem sich
offensichtlich die Geldwechsler und Kreditgeber eingerichtet
hatten.

»Was … ist denn … los?«, stotterte Phoebe, doch als sie im

Laufen einen Blick über die Schulter warf, sah sie, wie sich eine

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große verhüllte Gestalt an ihre Fersen heftete und ihnen
beharrlich nachsetzte. »Man verfolgt uns!«

»Ich weiß!«, rief Piper und verdrehte die Augen, während sie

ihre Schwester mit sich zog.

»Was will der denn von uns?«, fragte Phoebe verwirrt, als sie

sich durch die Menge flüchteten.

»Also ich glaube nicht, dass er vorhat, uns nach der Uhrzeit

zu fragen«, gab Piper gehetzt zurück, bevor sie Phoebe am
Ärmel packte und in einen weiteren Gang zerrte.

Nach einigem Gedränge und Geschubse fanden sie

schließlich einen Weg aus dem Basar hinaus und stolperten in
eine schmutzige, enge Gasse. Der Gestank hier warf sie beinahe
um, doch die beiden Hexen hatten keine Zeit, sich über die
örtlichen hygienischen Verhältnisse den Kopf zu zerbrechen.

Ihr unheimlicher Verfolger hatte es nämlich ebenfalls aus der

Markthalle hinaus geschafft und holte zügig zu ihnen auf.

Die Schwestern verfielen in Trab, durchquerten diverse

Torbögen, bogen um etliche Häuserecken und mussten
schließlich feststellen, dass sie in einer Sackgasse gelandet
waren. Vor ihnen erhob sich eine hohe Ziegelmauer – ohne
Durchgang.

»Verdammter Mist!«, rief Piper aus. »Immer rennt man in

eine Sackgasse, wenn man es am wenigsten braucht!«

Mit gehetztem Blick fuhren sie herum und sahen, dass sie den

Vermummten keineswegs abgehängt hatten. Ohne große Eile,
und doch unmissverständlich drohend, kam er näher.

Da wurde es Piper zu bunt. Sie riss den Arm in die Höhe und

fror die Zeit ein. Die Welt um sie herum erstarrte, sämtliche
Geräusche verstummten, und auch ihr mysteriöser Verfolger
stand nun reglos inmitten der Gasse, während die beiden Hexen
einen Moment lang verschnauften.

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»Los, lass uns von hier verschwinden!«, zischte Piper ihrer

Schwester zu. Schon stürmten sie vorbei an ihrem
bewegungsunfähigen Gegner und flogen schier eine grob
behauene Treppe hinab, auf der die Menschen ebenfalls wie
angewurzelt dastanden.

Als sie in einen überwölbten Torweg einbogen, in dem ein

ebenholzschwarzer Nubier mit einem Esel im Schlepptau wie
versteinert auf der Stelle verharrte, begann die Zeit wieder
anzulaufen.

Die beiden Schwestern sprangen über verrottenden Unrat,

scheuchten träge herumliegende Katzen und spielende Kinder
auf, wären beinahe in eine brackige Abwasserrinne gestolpert
und rannten um ein Haar eine Beduinenfrau über den Haufen,
die schwer beladen Richtung Basar unterwegs war.

Und die Tatsache, dass sie ihre Flucht in fast bodenlangen,

schweren Gewändern unternehmen mussten, machte es nicht
eben einfacher. Mehr als einmal gerieten die Schwestern auf
dem unebenen Kopfsteinpflaster der größeren Straßen ins
Straucheln und fluchten.

Nachdem sie eine Weile kreuz und quer durch das

Gassengewirr der Altstadt von Ald’maran gehetzt waren und
immer wieder Haken geschlagen hatten, eilten sie schließlich
kopf- und ziellos über eine mit Naturstein gepflasterte, von
Platanen gesäumte Allee in eine parkähnliche Anlage.

Bei einem kleinen Palmenhain hielten sie schwer atmend

inne und sahen sich um. Von ihrem Verfolger war nichts zu
sehen.

Rings um den Park standen herrliche Häuser aus hellem

Stein, manche mit kleinen farbigen Kuppeln, andere mit
filigranen Fassaden oder geometrischen Einfassungen aus
dunkelblauen Fliesen. Rechter Hand waren protzige
orientalische Stadtvillen mit Terrassen, Obstgärten und
begrünten Dächern, sowie eine beeindruckende Moschee aus

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schneeweißem Marmor mit einem üppig verzierten Minarett zu
erkennen.

Offensichtlich standen sie mitten im Nobelviertel von

Ald’maran.

Eine Gruppe verschleierter Frauen mit einem Tross von

Dienerinnen und schwarzen Sklaven flanierte vorbei, ohne die
beiden herumstehenden Mädchen auch nur eines Blickes zu
würdigen.

Linker Hand erhob sich eine riesige Anlage, bei der es sich

nur um die Residenz des Emirs handeln konnte – das mächtige
weiße Gebäude besaß zahlreiche Anbauten mit Türmchen,
Galerien, vergoldeten Kuppeln, Rundbögen aus farbigen
Mosaiken und einen bewachten Vorplatz von der Größe eines
Olympiastadions. Sämtliche Alleen der Stadt schienen auf eben
dieses Bauwerk hinzuführen.

»Gegen diesen Palast wirkt das Weiße Haus ja wie sozialer

Wohnungsbau«, bemerkte Piper.

»Wie wohl erst der Kalif von Bagdad wohnen mag?«, fragte

sich Phoebe, und ein verträumter Ausdruck erschien in ihrem
Blick.

Für ein paar Sekunden ließen die beiden Schwestern die

ganze Pracht und Herrlichkeit des Orients auf sich wirken, bevor
sie sich wieder daran erinnerten, weswegen sie hier waren und
dass ihnen offensichtlich jemand auf den Fersen war.

»Los, lass uns weitergehen«, sagte Piper dann auch plötzlich,

»wir stehen hier ja wie auf dem Präsentierteller!«

In der Ferne ragte der schwarze Turm gen Himmel – ihr

eigentliches Ziel. Und eben diese Richtung einschlagend
durchquerten die beiden Schwestern den schattigen Park und
flüchteten sich unter einem Torbogen hindurch in einen
gepflasterten Innenhof.

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Dort eilten sie in den Schutz eines lang gestreckten, weiß

getünchten Steingebäudes, von dem sie inständig hofften, dass
es für den Fall der Fälle so etwas wie einen Hinterausgang
besaß.

Ein wenig außer Atem versteckten sie sich in dem schattigen

Säulengang hinter einem der mit hübschen Mosaiken
versehenen Pfeiler. »Haben wir diesen Dolchheini
abgeschüttelt?«, flüsterte Phoebe.

Piper wagte einen kurzen Blick in den Innenhof. Es war

nichts und niemand zu sehen. »Scheint so.« Sie hielt inne und
kniff die Augen zusammen. »Ich glaube allerdings, unser
Verfolger war irgendwie nicht … menschlich …«

Phoebe sah ihre Schwester erschrocken an. »Was soll das

heißen?«

»Na ja«, begann Piper, »als er im Basar auf uns zustürmte,

klaffte sein Umhang für einen kurzen Moment auf, und da hab
ich seine Hand gesehen, und …«

»Ja und?«, drängte Phoebe.

»Es war eher … eine Klaue … schuppige, ledrige Haut …

mit merkwürdig langen spitzen Krallen, du weißt schon …«

Phoebe riss die Augen auf. »Du meinst, das war ein Dämon?

Womöglich einer aus dem Gefolge von diesem Zeyn? Oder gar
Zeyn selbst?«

»Was weiß ich?«, flüsterte Piper und zog ihre Schwester

hinter eine der Säulen. »Wir müssen jedenfalls höllisch
aufpassen, dass wir nicht in die Hände dieses
Größenwahnsinnigen fallen. Du hast ja selbst gehört, was er mit
Ibrahims Söhnen gemacht hat und –«

»Warum hast du diesen vermummten Typen, nachdem du die

Zeit eingefroren hattest, nicht einfach in seine Bestandteile
zerlegt und in die ewigen Jagdgründe geschickt?«, fragte
Phoebe.

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»Ich kann dir nicht genau sagen, wieso, aber es erschien mir

auf einmal klüger, die möglichen Hintermänner unseres
Verfolgers in dem Glauben zu lassen, dass sie es mit zwei ganz
normalen Frauen zu tun haben …«

»Piper«, begann Phoebe langsam, »ich möchte ja keine

schlechte Laune aufkommen lassen, aber … irgendwas stimmt
hier nicht.«

»Wenn du darauf hinauswillst, dass wir bis zum Hals im

Dreck stecken, dann ist das jetzt nichts wirklich Neues für mich,
Phoebe«, gab Piper zurück. Im gleichen Moment stutzte sie und
sah ihre Schwester stirnrunzelnd an. »Oder hab ich irgendwas
nicht mitgekriegt? Was genau meinst du?«

»Na ja«, Phoebe spielte gedankenverloren mit ihrem

Gesichtsschleier, »mir ist nur gerade was aufgefallen. Wenn
unser Verfolger wirklich einer von Zeyns Leuten war, woher
wusste Zeyn eigentlich, dass wir überhaupt hier sind?«

Sie machte eine kurze Pause. »Wie du dich erinnerst, sind wir

aus dem Zeittunnel direkt in Ibrahims Haus materialisiert.
Niemand außer dem alten Mann hat uns dort gesehen, und im
Basar können wir auch nicht groß aufgefallen sein in unseren
landestypischen Gewändern – es sei denn«, sie holte tief Luft,
»jemand sucht in der Stadt gezielt nach Personen, die hier nicht
hingehören.«

Darüber musste Piper einen Augenblick lang nachdenken.

»Du denkst also, die ganze Sache war von vornherein so
geplant? Ich meine, das mit Paige hat, wenn man Ibrahim
glauben kann, ja dessen Stiefsohn Selim zu verantworten. Und
angeblich hatte der für seine Aktion einen guten Grund.

Aber was ist mit uns und unserem Erscheinen in dieser Zeit?

Bis jetzt sah es doch ganz so aus, als wären wir rein zufällig,
weil in Sorge um Paige, in diese Geschichte hineingestolpert …

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Und ja … du hast Recht, wenn die Kreatur von vorhin

wirklich aus Zeyns Gefolge stammt, dann wusste sie,
beziehungsweise ihr Auftraggeber, ganz genau, dass wir hier
sind. Und das wiederum kann nur bedeuten, dass jemand es
Zeyn gesagt haben muss.«

»Meinst du, der blinde Ibrahim hat uns an ihn verpfiffen?«

»Das glaube ich nicht«, sagte Piper. »Mir erschien der Alte

und das, was er uns erzählt hat, absolut vertrauenswürdig. Nein,
da steckt jemand anderes dahinter.«

Phoebe sah beklommen zu Boden. »Außer Ibrahim gibt es

nur noch zwei Personen, die Zeyn von uns erzählt haben
könnten«, sagte sie schließlich. »Die eine ist Paige, und das
würde heißen, dass Zeyn sie tatsächlich in seiner Gewalt hat.«

»Auch wenn es wahrscheinlich so ist, glaube ich nicht, dass

Paige ihm aus freien Stücken von uns berichtet hat«, wandte
Piper ein. »Und sofern Zeyn keinen Anlass hatte, Paige gezielt
nach ihrer Verwandtschaft zu befragen, warum sollte sie ihm
gegenüber ohne Not ihre beiden Joker preisgeben?«

»Was uns zu der einzigen anderen Person führt, die dem

Erzdämon von uns hätte erzählen können«, meinte Phoebe
düster, »und die heißt Selim.«

»Aber wozu der ganze Zirkus?«, rief Piper verzweifelt aus.

»Warum entführt Selim in Zeyns Auftrag unsere Schwester und
lockt uns hernach auf geradezu abstruse Weise ebenfalls
hierher? Für einen von langer Hand vorbereiteten Plan erscheint
mir ein solches Vorgehen viel zu umständlich und
unkalkulierbar.

Ich meine, viel wahrscheinlicher wäre es doch gewesen, dass

du den Zettel in Paiges Büro nie gefunden hättest. Und wie bitte
hätte uns Selim dann hierher lotsen sollen?«

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»Du hast Recht«, sagte Phoebe. »Das passt alles irgendwie

nicht zusammen. Und doch sieht es so aus, als ob jemand die
Zauberhaften nun genau dort hat, wo er sie haben will.«

Zögernd trat der Algol vor seinen Meister und senkte sein

verhülltes Haupt. »Sie sind mir entkommen, Herr«, sagte er
schließlich. Seine Stimme klang brüchig, fast krächzend. Das
hatte jedoch weniger mit seinem Versagen als mit der Tatsache
zu tun, dass ihm die menschliche Sprache nur schwer über die
nicht vorhandenen Lippen kam.

»Wie konnte das passieren?«, donnerte Zeyn.

»Ich habe … ihre Spur beim Basar verloren, Herr.«

»Ich hoffe, du hast eine gute Erklärung für dein

Unvermögen?«

»Sie scheinen … nicht von dieser Welt zu sein, Meister«,

sagte der Algol nur.

»Schön und gut, aber wer sind sie?«, wollte Zeyn wissen.

»Zwei Frauen«, schnarrte der Algol, »zwei überaus mächtige

Frauen.«

Zögernd machte Paige die ersten Schritte auf der engen

Wendeltreppe aus Stein, die den Turm hinabführte.

Sie hatte mit Seif und Suleiman vereinbart, dass sie sich in

Zeyns Bastion ein wenig umsah und nach einer
Fluchtmöglichkeit Ausschau hielt, um Hilfe zu holen.

Zwar lag die Vermutung nahe, dass der Ghul, den Paige in

ihrem eigenen Kerker eingeschlossen hatte, auch den Schlüssel
zur Zelle der beiden Brüder besaß. Doch ohne Waffe oder ein
anderes geeignetes Mittel, den Untoten außer Gefecht zu setzen,

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wagte Paige es nicht, sich ihm noch einmal ohne ihre
Zauberkräfte entgegenzustellen.

Solange ihre Zellentür von außen durch den schweren

Holzbalken gesichert war, konnte der Ghul nicht heraus. Doch
Paige und die beiden Brüder befürchteten, dass irgendjemand
ihn schon bald vermissen würde, wenn er ihn nicht mehr an
seinem Posten vorfand, und Zeyn alarmierte. Es war also eine
gewisse Eile geboten.

Die nächste Etage, die Paige erreichte, war nichts mehr als

eine runde Aussichtsplattform. Die massiven Außenwände
waren ringsum mit breiten Öffnungen versehen. Von hier hatte
man einen traumhaften Blick auf Ald’maran und die schier
endlose Wüste, welche die Stadt umgab. Das hereinfallende
Tageslicht erhellte den Ausguck von allen Seiten und sorgte
dafür, dass die klamme Kälte rasch von Paige abfiel.

Doch die junge Hexe hatte keinen Sinn für die Schönheiten

der Aussicht. Sie wusste nicht, was sie im nächsten Stock
erwarten würde, und das bereitete ihr Magenschmerzen. Sie trat
an eine der Fensteröffnungen und sah hinab in die Tiefe. Sie
befand sich immer noch in schwindelnder Höhe. Bis zum Boden
waren es bestimmt an die 80 Meter.

Wie Paige feststellte, stand der Turm auf einer Art Hügel,

und das ungepflegte, nahezu kahle Grundstück zu ihren Füßen
sah aus wie ein alter Friedhof, der sich auf dieser Seite bis
hinunter zum Abhang erstreckte. Sie erkannte verwitterte,
teilweise umgestürzte Grabsteine und eine Art Krypta im
Zentrum des Totenackers.

Einer Eingebung folgend griff Paige in ihren Lederrucksack

und holte das in dieser Welt gänzlich nutzlose Handy hervor. Sie
zögerte einen Moment, bevor sie das Telefon hinab in die Tiefe
warf. Es fiel und fiel und landete schließlich auf einem
vertrockneten Pflanzenbeet mitten in einem Dornbusch, der
nahe der Turmwand stand.

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Paige wusste nicht, ob sich diese Aktion für sie als von

Nutzen herausstellen würde oder ob sie sich damit womöglich in
noch größere Gefahr begeben hatte. Sie hegte nur die winzig
kleine Hoffnung, dass, sollten ihre Schwestern je einen Weg in
diese Zeit und an diesen Ort finden, sie irgendwie auf dieses
Lebenszeichen von ihr stoßen würden. Sollte jedoch zufällig
einer von Zeyns Schergen das seltsame Gerät finden, so war
vermutlich jegliche Hoffnung dahin.

Sie begab sich wieder zur Wendeltreppe und setzte ihren

Abstieg fort. Auch die nächste Etage lag still und verlassen da.
Es war ebenfalls eine Art Plattform, doch die Aussparungen in
den Mauern hatten lediglich die Größe von Schießscharten. Am
Boden des ansonsten leeren Raums entdeckte Paige eine alte
Öllampe, doch nichts, was auch nur annähernd als Waffe
geeignet war.

Paige seufzte und stieg weiter die enge Treppe hinab. Es ging

nun eine Weile abwärts, ohne dass sie ein weiteres Geschoss
oder einen Absatz erreichte. Doch es schien, als ob der Turm mit
jeder Umrundung, die sie auf der Wendeltreppe zurücklegte, an
Umfang zunahm.

Bald erreichte sie erneut eine Etage, von der mehrere kurze,

unbeleuchtete Gänge zu ausnahmslos verschlossenen Türen
führten. Paige rang mit sich. Sollte sie einen dieser Räume
betreten oder einfach weitergehen?

In diesem Moment drang von unten ein dumpfes, monotones

Klopfen an ihr Ohr. Paige biss sich auf die Unterlippe und
beschloss, den Abstieg fortzusetzen.

»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte Phoebe und lugte in

den prächtigen Innenhof, in den sie und Piper sich im Zuge ihrer
Flucht vor dem vermummten Dämon zurückgezogen hatten.
Noch immer standen sie unschlüssig im Schatten des
Säulenganges und berieten die nächsten Schritte.

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»Keine Ahnung«, sagte Piper. »Aber wir müssen sehen, dass

wir hier möglichst unauffällig wieder rauskommen und uns zum
schwarzen Turm durchschlagen, ohne dass wir dieser Kreatur
erneut in die Arme laufen.«

»Ich frage mich, warum wir keinen Kontakt zu Leo herstellen

können.«

»Das ist mir auch ein Rätsel«, sagte Piper. »Wächter des

Lichts können normalerweise Zeit und Raum überwinden, um
ihre Schützlinge zu erreichen. Einzige Ausnahme bilden Orte,
die ausschließlich von schwarzer Magie erfüllt sind – wie die
Unterwelt, in die er uns ja bekanntlich nicht folgen konnte.«

»Heißt das, wir befinden uns an einem … abgrundtief bösen

Ort?«, fragte Phoebe.

»Möglich. Es kann aber auch sein, dass uns irgendetwas

einfach daran hindert, mit Leo Verbindung aufzunehmen. Ein
Fluch vielleicht, der über der Stadt liegt, oder ein Bannzauber,
der den Kontakt zu ihm verhindert.«

In diesem Moment kam lachend und schwatzend eine Gruppe

Frauen durch den Hof auf sie zu. Ihre reich bestickten Gewänder
wirkten wertvoll, die Gesichtsschleier schienen aus filigraner
Seide zu bestehen, und ihr ganzes Auftreten ließ darauf
schließen, dass es sich bei ihnen um die Töchter oder Ehefrauen
wohlhabender Bürger Ald’marans handeln musste.

Piper und Phoebe zogen sich ihre verschlissenen Tücher

tiefer ins Gesicht, senkten den Blick und verharrten wie
angewurzelt an Ort und Stelle.

»Hier, Mädchen«, sagte eine der Frauen, als sie die beiden

vermummten Schwestern erreicht hatten, und drückte Phoebe
ein paar Münzen in die Hand. »Friede sei mit dir.«

»Und mit dir«, stieß Phoebe hervor, und dann: »Sei bedankt,

ehrenwerte Dame. Gelobt sei Allah, der Allmächtige.«

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Die Frau nickte, und Phoebe glaubte, durch den hauchdünnen

Gesichtsschleier ein Lächeln auf ihrem Gesicht zu sehen. Dann
betrat die Fremde mit ihren Freundinnen das Gebäude, das
vermutlich ein Dampfbad zu sein schien, denn als die Tür kurz
geöffnet wurde, schlugen den beiden Schwestern feuchte
Dunstschwaden entgegen.

Erstaunt hob Piper eine Augenbraue und sah ihre Schwester

respektvoll an. »Du scheinst dich ja hier ziemlich schnell
eingelebt zu haben.«

Phoebe hob in aller Seelenruhe ihren schäbigen Umhang und

ließ die Münzen in den Taschen ihrer Jeans verschwinden.
»Lesen bildet eben«, meinte sie nur. »Und wie du weißt, hab ich
die Geschichten aus 1001 Nacht schon immer geliebt.«

»Nun gut, lass uns von hier verschwinden«, meinte Piper.

Sie überquerten den Platz, schlugen sich wieder ins

Stadtinnere Richtung Norden und erreichten schließlich einen
schmucklosen arkadenumgebenen Innenhof mit einem Komplex
aus Holzboxen und Ställen.

In einigen der Verschläge standen Kamele, Maultiere und

Esel, wodurch es im ganzen Hof ziemlich streng roch.
Offensichtlich eine Karawanserei, in der die Karawanenführer
samt ihren Lasttieren auf ihrem langen Weg durch die arabische
Wüste Rast machen konnten. Im Obergeschoss wähnten die
Schwestern die Quartiere für die Reisenden, da sie dort offen
stehende Kammern mit am Boden liegenden Strohsäcken
erkannten, die anscheinend als Schlafplatz dienten.

Langbärtige Männer mit braun gebrannten, wettergegerbten

Gesichtern eilten in ihren Kaftanen geschäftig hin und her,
während andere in Grüppchen zusammensaßen, Mokka tranken,
Domino spielten, Wasserpfeife rauchten oder einfach nur
miteinander plauschten und lachten.

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Mit gesenkten Köpfen ließen Phoebe und Piper diesen

augenscheinlich nur Männern vorbehaltenen Ort rasch hinter
sich.

Sie passierten Ald’marans Stadtmauer mit dem Westtor zur

Wüste und hielten sich weiter Richtung Norden, wo der
schwarze Turm auf dem Hügel stand.

Die Gegend wurde zunehmend ärmlicher, und an jeder

Straßenecke wurden die Schwestern nun von Bettlern,
Straßenjungen, Aussätzigen und anderen Gestrandeten
angesprochen. »Ein kleines Almosen, ehrwürdige Damen!«,
»Helft einem vom Schicksal Gebeutelten! Habt ihr nicht Arbeit
für mich?« Keine Frage, dies war das andere, weniger prächtige
Gesicht von Ald’maran.

Schweren Herzens legten Phoebe und Piper einen Zahn zu.

Es gab nicht viel, das sie zu verschenken hatten.

Nach wie vor brannte die Sonne heiß vom Himmel, und die

Schwestern schwitzten in ihren langen Gewändern, unter denen
sie ja immer noch ihre moderne Kleidung trugen.

Als sie durch ein schmutziges Torgewölbe in eine

heruntergekommene Seitengasse einbogen, trat plötzlich eine
alte zerlumpte Frau auf Phoebe zu und hielt die junge Hexe
sacht am Ärmel fest. »Habt ihr vielleicht ein bisschen Brot für
mich?«, fragte sie leise. »Ich habe schon seit Tagen nichts mehr
gegessen.«

Phoebe blieb stehen und sah die Alte bekümmert an. Das

Antlitz der Greisin war nicht verhüllt, und so konnte sie sehen,
dass ihr ausgemergeltes, faltiges Gesicht feucht von Tränen war.

Der Anblick brach Phoebe fast das Herz. Sie griff unter ihren

Umhang, holte eine der Münzen aus ihrer Hosentasche und gab
sie der alten Frau.

»Ich danke dir von Herzen, Mädchen«, sagte die Bettlerin.

»Ich habe nichts, womit ich dir diese gute Tat vergelten kann,

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aber ich kann dir zum Dank die Zukunft voraussagen.« Schon
hatte sie Phoebes Hand ergriffen, obwohl dieser bei dem
Gedanken, dass ihr eine wildfremde Frau wahrsagte, ganz und
gar nicht wohl war. Andererseits wollte sie die alte Frau auch
nicht beleidigen, indem sie die Freundlichkeit zurückwies. Also
ließ sie die Alte gewähren.

Die Bettlerin sah sich eilig nach links und rechts um. »Ich

sehe, ihr kommt nicht von hier, also sprecht mit niemandem
über das, was ich nun tue«, sagte sie dann, »denn die neue
Religion verbietet es.«

Phoebe nickte; Piper trat ungeduldig von einem Bein aufs

andere.

»Du hast vor kurzem einen großen Verlust erlitten«, sagte die

Bettlerin, als sie Phoebes rechte Handfläche betrachtete.

Phoebe sah betroffen zu Piper, und die beiden verstanden

einander auch ohne Worte.

Der Verlust, den Phoebe erlitten hatte, war einerseits ihre

geliebte Schwester Prue gewesen, die von dem Dämon Shax
getötet worden war, und dann hatte sie sich von Cole trennen
müssen, der großen Liebe ihres Lebens. Und es tat noch immer
weh, an ihn und die Aussichtslosigkeit ihrer Beziehung erinnert
zu werden.

»Du bist in der Fremde, weit weg von zu Hause«, fuhr die

Bettlerin fort, »und du wirst dich einer großen Herausforderung
stellen müssen. Ja, einer großen Herausforderung …« Die Alte
sah auf und nickte den beiden Mädchen ernst zu, dann richtete
sie ihren Blick wieder auf Phoebes Hand. »Ich spüre eine große
Macht, die dir innewohnt und die dir helfen wird, das Schicksal
zu besiegen. Ich sehe –«, sie brach ab.

»Was sehen Sie?«, drängte Phoebe.

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Die alte Frau zögerte, und Piper, die schweigend daneben

stand und die ganze Szene aufmerksam beobachtete, meinte, so
etwas wie Furcht in ihren Augen zu sehen.

»Ich … ich sehe«, fuhr die Bettlerin stockend fort, während

sie unverwandt auf Phoebes Handfläche starrte, »auch eine
große Gefahr. Die Einheit muss wieder hergestellt werden, sonst
… sonst ist alles verloren.«

»Was meinen Sie damit?«, verlangte Phoebe zu wissen.

»Diese drei Linien in deiner Hand verraten mir, dass dein

Leben von Geburt an eng mit dem zweier anderer verknüpft ist«,
erklärte die Wahrsagerin.

»Das stimmt«, sagte Phoebe. »Ich habe noch zwei

Schwestern, denen ich mich sehr verbunden fühle. Aber was
meinen Sie mit der Einheit, die wieder hergestellt werden
muss?«

»Eine der Linien ist … unterbrochen«, murmelte die alte

Frau. »Und es ist von ungeheurer Wichtigkeit, dass die drei
Linien auf den Weg des Schicksals zurückgeführt werden,
andernfalls ist alles verloren.«

Sie deutete auf eine besonders lange Furche in Phoebes

Handfläche. »Der Weg des Schicksals wird durch die große
Linie hier in der Mitte deiner Hand verkörpert, die den Lauf
deines Lebens widerspiegelt.«

Die Alte blickte auf und sah Phoebe fest in die Augen. »Du

musst die Einheit wieder herstellen, Mädchen, mehr kann ich dir
über deine Zukunft nicht sagen. Ich hoffe, du tust das Richtige,
denn du verdienst nur das Beste, da du ein gutes Herz hast. Lebe
wohl.« Damit ließ sie Phoebes Hand los, wandte sich um und
ging davon.

Verwirrt blickte Phoebe ihr nach, bis sie von Piper wieder in

die Realität zurückgeholt wurde. »Komm, wir müssen weiter,
Süße. Und lass dir wegen dem, was die Alte gesagt hat, bloß

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keine grauen Haare wachsen. All das wissen wir doch schon seit
langer Zeit.«

»Du meinst, sie hat von der Macht der Drei gesprochen?«,

fragte Phoebe.

»Das ist doch offensichtlich«, erwiderte Piper. Sie wollte

Phoebe nicht beunruhigen, doch tief in ihrem Innern spürte sie,
dass hinter den Worten der alten Wahrsagerin mehr steckte als
der Hinweis auf das, was den Schwestern ohnehin längst
bekannt war: dass sie die Zauberhaften waren, die mithilfe der
Macht der Drei einmal mehr die Welt retten mussten. Tief in
ihrem Innern spürte Piper, dass dieses Abenteuer nicht so ohne
weiteres zu einem glücklichen Ende geführt werden konnte.

»Aber sie hat gesagt, wir müssen die Macht der Drei

unbedingt wieder herstellen, sonst wäre alles verloren«, gab
Phoebe zu bedenken.

»Na ja, deswegen sind wir ja hier, oder?«, gab Piper nervös

zurück. »Und wenn wir uns nicht beeilen, ist Paige womöglich
schon tot, und dann ist tatsächlich alles verloren!«

Phoebe nickte stumm, und die beiden Schwestern setzten

ihren Weg fort.

Nach einer Weile erreichten sie einen weiteren Torbogen,

hinter dem ein fast menschenleeres schmuckloses Atrium lag.
Im Zentrum des Innenhofs stand ein gemauerter Ziehbrunnen,
und daneben hockte ein zerlumpter Bengel im Staub, der
Kürbiskerne knackte und die Schalen in hohem Bogen
ausspuckte.

»Ich sterbe vor Durst«, sagte Phoebe. »Lass uns etwas

Wasser trinken.«

Sie eilten auf den Brunnen zu und wollten schon den

Holzeimer in den dunklen Schacht hinunterlassen, als der Junge
wie von einer Tarantel gestochen aufsprang. »Halt, was soll das?
Finger weg! Das iss unser Brunnen!«

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Piper ließ die Kurbel los und sah den Bengel erschrocken an.

»Tut mir Leid, wir wollten nicht unhöflich sein, aber ist es
möglich, einen Schluck Wasser zu bekommen?«

»Wir sind nämlich nicht von hier«, setzte Phoebe

überflüssigerweise hinzu.

»Dann verpflegt euch gefälligst in eurer Unterkunft«,

erwiderte der Junge. »Das hier iss kein öffentlicher Brunnen.«

»Ähm, wir sind nur auf der Durchreise«, erklärte Phoebe.

»Und wir sind etwas in Eile«, ergänzte Piper, »und wollten

uns nur rasch ein wenig erfrischen.«

»Dann zahlt ihr eben fürs Wasser«, sagte der Junge und

spuckte eine Kürbiskernschale auf den Boden.

»Wie viel?«, fragte Phoebe nur. Sie wandte sich ab, kramte

die Münzen in ihrer Hosentasche hervor und hielt sie dem
Jungen hin.

Blitzschnell schnappte der sich eines der Kupferstücke, wie

ein Geier nach einem Stück Aas pickt. »Also gut, bedient euch.«
Er grinste und schlenderte dann summend von dannen.

»So viel zur orientalischen Gastfreundschaft«, knurrte Piper,

während sie den Wassereimer in den Brunnenschacht
hinunterließ.

Im San Francisco des 21. Jahrhunderts standen sich derweil

zwei Männer gegenüber, wie sie unterschiedlicher kaum sein
konnten. Der eine blond und breitschultrig, der andere schlank
und schwarzhaarig. Und während die Augen des einen
schimmerten wie ein smaragdfarbener Teich, waren die des
anderen so unergründlich wie die aufgewühlte See.

Und doch war es, als ob sie beide Teil eines großen Ganzen

wären, als ob in dem Moment, da sie sich zum ersten Mal trafen,
das Alte und das Neue miteinander verschmolzen zu etwas ganz

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Außergewöhnlichem, während die Welt um sie herum den Atem
anhielt.

»Du kennst mich?«, fragte Selim.

»Ja und nein«, sagte Leo. »Aber ich wusste, dass du kommen

würdest.«

»Woher?«

»Der Rat der Ältesten hat es mir gesagt.« Leo trat einen

Schritt zur Seite, sodass Selim ins Haus kommen konnte. Dann
schloss der Wächter des Lichts die Tür und geleitete seinen Gast
durch die Eingangshalle mit dem edlen Intarsienparkett in den
altmodisch-gemütlichen Salon von Halliwell Manor.

Selim staunte nicht schlecht angesichts des prächtigen

Hauses, in dem Paige wohnte. »Setz dich«, sagte Leo, und als
sie beide auf der cremefarbenen Couch Platz genommen hatten:
»Und nun erzähl mir genau, was geschehen ist.«

»Ich heiße Selim und komme …«

»… aus der Vergangenheit«, half Leo.

»Ja«, erwiderte der junge Araber. »In meiner Zeit herrscht

Harun al-Raschid und –«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Leo. »Du stammst aus dem 8.

Jahrhundert.«

»Auch das hat dir der … Rat der Ältesten erzählt?«, fragte

Selim. »Und wer ist das überhaupt? Ich meine, der Rat der
Ältesten?«

»Das sind die Höheren Mächte, die mich zur Erde gesandt

haben, damit ich die Menschen beschütze. Ich heiße übrigens
Leo Wyatt.«

»Dann bist du ein Malak? Ein Schutzengel, wie man bei euch

sagt. Genau wie mein Vater!«, rief Selim erstaunt aus.

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»So könnte man es sagen, ja«, erwiderte Leo. »Außerdem bin

ich mit Piper Halliwell verheiratet. Das ist die Schwester von
Phoebe und die Halbschwester von Paige. Ich vermute, eine von
ihnen wird dir persönlich bekannt sein, habe ich Recht?«

Selim nickte, und dann erzählte er Leo von seiner Mission,

von seiner heutigen Begegnung mit Paige, die ihm vom Buch
der Weisheit
vorhergesagt worden war, und von seinem Plan,
mit ihrer Hilfe Zeyn zu besiegen und seine Brüder zu retten.
Aber auch vom Bund der Magier, von Ald’maran, seiner Mutter
Djaudar und dem schweren Erbe, das sie ihren Söhnen
hinterlassen hatte.

Vieles von dem, was Selim ihm berichtete, wusste Leo

bereits aus den Archiven der Ältesten, die er aufgesucht hatte,
nachdem er keinen Kontakt mehr zu den Zauberhaften hatte
herstellen können.

So stand in den alten Aufzeichnungen geschrieben, dass der

Nachkomme eines Sendboten und einer weißen Zauberin in die
Zukunft reisen würde, um den Untergang seiner Welt zu
verhindern. Und auch, dass seine drei Schutzbefohlenen bei
dieser Geschichte eine entscheidende Rolle spielen würden.

Und so klärte er Selim über die Schwestern und deren

persönliches Schicksal auf, was bei Selim die erwartete
Reaktion auslöste – grenzenloses Erstaunen –, und auch darüber,
dass alle drei Hexen just im Moment offensichtlich in Selims
Zeit gefangen waren.

Als der junge Zauberer dies hörte, wurde er blass, und seine

grünen Augen verdunkelten sich. »Was für ein Unglück!«, rief
er. »Hoffentlich hat Zeyn sie sich nicht auch noch geschnappt!«

»Wo genau ist das Zeitportal, mit dem du hierher gekommen

bist?«, fragte Leo.

»Im Eingang eines alten Hotels in einem Stadtteil namens

Nob Hill«, sagte Selim.

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- 95 -

Leo stand auf und legte seine Hand auf den Oberarm des

jungen Zauberers. »Konzentrier dich auf diesen Ort«, wies er
Selim an, und schon lösten sich ihre Körper in einem Wirbel aus
blauem Licht auf.

Als sie eine Sekunde später im »Marduk Palace«

materialisierten, meinte Selim: »Wow, so schnell funktioniert
das körperlose Reisen bei mir aber nicht.«

»Du bist ja auch nur zur Hälfte Engel – wie Paige im Übrigen

auch«, meinte Leo lächelnd. »Also, wo ist das Portal?«

Selim lief durch die dämmrige Lobby des verlassenen Hotels

auf den Haupteingang zu. Der Wächter des Lichts folgte ihm.
Dann ergriff Selim Leos Handgelenk und zog ihn auf die
Türschwelle. Nichts geschah.

Der junge Araber stutzte, blickte sich irritiert um und riss

dann bestürzt die Augen auf. »Es ist weg!«, rief er. »Das
Zeitportal ist weg! Jemand muss es in meiner Abwesenheit
benutzt haben.«

»Und ich kann mir auch schon denken, wer das war«, knurrte

Leo. »Kaum ist man mal für eine Weile weg –« Er brach ab und
sah Selim ernst an. »Wie genau hast du das Portal entstehen
lassen?«

»Mit Hilfe des Buchs der Weisheit«, erklärte der junge

Magier bekümmert. »Allein dieses Buch hat die Kraft, die nötig
ist, um die Pforte zu erschaffen. Der Durchgang kann nur
zweimal benutzt werden – einmal hin und einmal zurück.
Danach muss er neu gesetzt werden, aber dazu braucht man
dann wieder die Macht, die dem Buch der Weisheit innewohnt.«

Leo dachte einen Moment nach. »Komm mit«, sagte er, und

schon waren die beiden Männer vom Ort des Geschehens
verschwunden …

… um nur einen Augenblick später auf dem Dachboden von

Halliwell Manor zu materialisieren.

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Leo deutete auf das Lesepult, auf dem das Buch der Schatten

lag. »Piper, Phoebe und Paige haben ebenfalls ein sehr
mächtiges Buch«, erklärte er. »Vielleicht kannst du mit seiner
Hilfe ein neues Portal erschaffen?«

In einer Mischung aus Verblüffung und Freude ging der

junge Araber auf das alte Familienerbstück der Zauberhaften zu.
Die Seite mit dem schwarzen Turm und dem dazugehörigen
Spruch war noch immer aufgeschlagen. »Ich kann nicht
glauben, dass sich alles zu allen Zeiten wiederholt«, flüsterte er,
als er zärtlich über die Seiten des Buchs der Schatten strich.

»Die Zeit schreitet zwar fort, doch bleibt das Wesen der

Dinge stets gleich«, sagte Leo. »Das Gute kämpft gegen das
Böse, die Nacht verdrängt den Tag, um dann wieder vom Licht
besiegt zu werden, und so fort. Unsere Aufgabe besteht darin,
das Gleichgewicht zu erhalten, auf dass die Welt nie ganz in
Dunkelheit versinke.«

Langsam drehte sich Selim zu Leo um. »Bist du bereit, mit

mir nach Ald’maran zu gehen?«

Der Wächter des Lichts nickte, und dann legte Selim beide

Hände auf das Buch der Schatten und sprach:

So höret, ihr Mächte an diesem Orte,

gebt frei die Zeit und öffnet die Pforte.

Der Boden des Dachspeichers von Halliwell Manor vibrierte,

und dann erzitterte neben Selim fast unmerklich die Luft wie ein
Wasserspiegel, auf den sich ein federleichtes Insekt gesetzt hat.

Das Zeitportal hatte sich aufgetan. So fließend und kaum

greifbar wie eine Fata Morgana.

Nun verstand Leo, warum die Schwestern den Teleporter auf

der Schwelle des verlassenen Hotels womöglich gar nicht

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bemerkt hatten. Das Portal war bei schlechten
Lichtverhältnissen so gut wie nicht zu erkennen.

»So lass uns denn gehen«, sagte Selim.

Und gemeinsam betraten die beiden Männer den Durchgang,

der sie über 1200 Jahre zurück in die Vergangenheit bringen
würde.

Das nächste Turmgeschoss, das Paige im Begriff war zu

erreichen, schien im Gegensatz zu allen höher gelegenen
tatsächlich belebt zu sein. Das monotone Klopfen wurde lauter,
je weiter sie herabstieg.

Als sie auf dem Treppenabsatz um die Ecke lugte, fiel ihr

Blick auf einen Gang, an dessen Ende sich offensichtlich eine
Küche befand. Neben einem alten Lehmofen und einigen
Vorratssäcken erkannte Paige von ihrem Standort aus einen
hüfthohen Tisch, vor dem eine verhüllte Gestalt mit dem
Rücken zu ihr stand. Sie schien Fleisch und Knochen mit einem
Hackebeil zu zerteilen.

Das Beil würde eine prima Waffe abgeben, dachte Paige.

Wenn es mir gelänge, den Koch zu überwältigen, setzte sie im
Geiste hinzu.

Langsam schlich sie vorwärts. Das Herz schlug ihr bis zum

Hals. Die vermummte Gestalt am Tisch war so in ihre Arbeit
vertieft, dass sie nahe genug herankommen konnte, um zu einem
kräftigen Roundhouse-Kick auszuholen. Ihr Fuß verfehlte
jedoch leider den Hinterkopf des Mannes um Haaresbreite.
Doch der mit dieser Bewegung einhergehende Luftzug reichte
aus, ihn auf sie aufmerksam zu machen. Langsam drehte er sich
um, das Hackebeil noch immer in der Hand.

Paige musste einen Aufschrei unterdrücken, als sie in tote

Augen in halb verfaultem Fleisch starrte. Der abstoßende

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Anblick eines lebenden Leichnams war immer wieder ein
Schock, egal, wie oft sie damit konfrontiert wurde.

»Du …«, begann der Ghul mit dumpfer Stimme, doch Paige

hatte schon zu einem weiteren Tritt ausgeholt, der den Untoten
hart unter dem Kinn traf und ihm das morsche Genick brach.
»Scheiß Zombie!«

Mit einem Knirschen schlug der Kopf des Ghul in den

Nacken und blieb auch dort, sodass sein Besitzer nun
gezwungenermaßen an die Decke starren musste – in einem
Comic ein vielleicht nicht unkomischer Anblick. Aber da hier
wie dort Untote nun einmal nicht sterben konnten, war die
Gefahr damit noch lange nicht gebannt.

Unbeholfener denn je stakste der lebende Leichnam auf seine

Angreiferin zu und fuchtelte mit dem Beil umher. Da er nun
nicht mehr sah, wohin er lief und was sich vor ihm abspielte,
konnte Paige ihm relativ gefahrlos ausweichen, sodass sie auf
diese Weise ohne nennenswertes Ergebnis den Holztisch
umrundeten. Ihr war klar, dass sie den Ghul irgendwie zur
Strecke bringen musste, da er ihr sonst durch den ganzen Turm
hindurch folgen würde wie ein auf Angriff programmierter
Roboter. Nur wie?

Sie erwog kurz, ihn hinauf zur Aussichtsplattform zu locken

und dann aus dem Fenster zu stoßen, verwarf den Gedanken
aber wieder. Das Risiko einer Entdeckung war zu groß, zumal
der Ghul durch den Sturz womöglich ebenso wenig starb wie an
dem gebrochenen Genick.

Erneut hatten sie den Holztisch einmal umkreist, und langsam

fand Paige die ergebnislose Hatz durch die Küche ein wenig
ermüdend.

Sie überlegte fieberhaft, was sie über Untote wusste und ob

es womöglich ein nicht-magisches Mittel gab, sie auszuschalten.
Sie wusste, dass die Zombies der Karibik mit Salz getötet

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werden konnten, aber ob das auch auf orientalische Ghule
zutraf?

Hektisch flog ihr Blick durch die Küche, während sie immer

wieder dem auf sie zuwankenden Untoten und seinem
unkontrolliert vorbeizischenden Hackmesser auswich. Auf
einem alten Holzregal in einer der Ecken standen diverse Krüge
und Tongefäße.

Sie duckte sich an dem Ghul vorbei, lief zu dem Regal, griff

sich das erstbeste Behältnis und hob den Deckel. Darin war ein
currygelbes Pulver, das durchdringend nach Kreuzkümmel roch.
Der nächste Gefäß enthielt getrocknete Pfefferschoten. Das
übernächste irgendwelche Kräuter, ein anderes eine ranzig
riechende Substanz.

»Gibt’s denn in diesem gottverdammten Haushalt keinen

Krümel Salz?«, fluchte sie, als der Ghul sich wieder in ihre
Richtung wandte und auf sie zuwankte wie ein Hahn ohne Kopf.

Im nächsten Tontopf endlich befanden sich tatsächlich weiße

klumpige Kristalle, und Paige hoffte inständig, dass es sich
dabei nicht um Zucker handelte. Sie schloss für einen Moment
die Augen und schleuderte eine Hand voll des Granulats auf den
Ghul, der bereits wieder auf Armeslänge herangekommen war.

Der lebende Leichnam erstarrte mitten in der Bewegung, ließ

klirrend das Hackebeil auf den Steinboden fallen und rutschte
dann zusammen wie ein nasser Sack.

»Bingo!«, rief Paige mit gedämpfter Stimme, als sich ihr

Gegner nicht mehr regte.

Rasch füllte sie sich die Vordertasche ihres Lederrucksacks

mit dem groben Salz, steckte vorsorglich das handliche
Hackebeil ein und verließ diesen Tempel der Hausfraulichkeit.

Als Leo und Selim wieder materialisierten, warum sie herum

nichts als Sand, Geröll und Felsgestein.

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Sie befanden sich in einer Art Trockensteppe. Vom strahlend

blauen Himmel prallte die Sonne unerbittlich auf sie herab.

Es schien, sie waren zur rechten Zeit am falschen Ort.

»Wo um alles in der Welt sind wir?«, fragte Leo den jungen

Magier.

»In den Ausläufern der Wüste.« Selim runzelte die Stirn.

»Eigentlich hätten wir irgendwo im Dachgeschoss meines
Elternhauses in Ald’maran herauskommen müssen. Dort hätten
wir uns dann auch gleich was Zeitgemäßes anziehen können.«
Er sah skeptisch an seinem lässigen Dolce & Gabbana-Shirt und
den Levis herunter. »Weiß der Teufel, was mit dem Reisespruch
falsch gelaufen ist, aber hier hätten wir nun wirklich nicht
landen sollen …«

»In welcher Richtung liegt denn die Stadt?«

Selim sah nach dem Stand der Sonne und deutete dann in

Richtung eines ausgedehnten Felsplateaus. »Da lang.«

Die beiden Männer marschierten los. Es war brüllend heiß,

die Luft flirrte, und das Vorankommen im aufgewirbelten Sand
und Staub war eine rechte Qual.

Als sie den Kamm des Plateaus erklommen hatten, konnten

sie am Horizont die mächtigen Stadtmauern und das Westtor
von Ald’maran ausmachen. Linker Hand waren ein Dattelhain
und zu ihrer Rechten eine kleine Ansammlung von Zelten und
eine winzige Ziegenherde zu erkennen, doch von Menschen
fehlte in dieser Einöde jede Spur.

Über ihnen hatten bereits irgendwelche schwarzen Vögel

begonnen, ihre Kreise zu ziehen, was Leo einigermaßen
irritierend fand.

»Dann mal los«, sagte der Wächter des Lichts. »Ich denke,

wir sollten die Stadt zu Fuß betreten, anstatt mitten hinein zu
orben, um möglichst kein Aufsehen zu erregen«, setzte er hinzu
und begann mit dem Abstieg.

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Selim folgte ihm schweigend und zerbrach sich den Kopf

darüber, warum das Haus seines Vaters mit dem Zeitportal
plötzlich nicht mehr erreichbar war. Ihm schwante nichts Gutes.

Am Fuß des Felsenkamms angekommen, wurde Leo

plötzlich wie von einem unsichtbaren Schlag zurückgeworfen,
was zur Folge hatte, dass er unsanft auf dem Hintern landete,
während es um ihn herum zischte und brutzelte. »Autsch! Was
zur Hölle …«

Selim kam langsam heran und streckte beide Arme aus.

Vorsichtig tasteten seine Hände über ein unsichtbares,
offensichtlich vor ihnen aufragendes Hindernis, wobei bei jeder
seiner Berührungen kleine Funken sprühten, die wie heiße
Nadelstiche ins Fleisch drangen.

»Das ist eine magische Barriere«, sagte der junge Araber,

ohne mit der Wimper zu zucken. »Das kann nur Zeyns Werk
sein. Er muss diese für uns undurchdringliche Sperre erschaffen
haben, nachdem ich ohne Paige im Haus meines Vaters ankam
und gleich darauf wieder in deine Zeit zurückgereist bin. Jetzt ist
auch klar, warum wir nicht wie geplant im Obergeschoss meines
Elternhauses angekommen sind und unsere Zeitreise vor den
Toren der Stadt ein jähes Ende gefunden hat.«

»Ich schätze, somit können wir auch nicht in die Stadt

hineinorben?«, fragte Leo und rappelte sich wieder auf.

»Wenn die Barriere über ganz Ald’maran liegt, wovon

auszugehen ist, dann nicht«, erwiderte Selim frustriert.

»Womit auch geklärt wäre, warum ich die Zauberhaften nicht

erreichen konnte«, meinte Leo. »Dieser Bann hält weiße Magie
von der Stadt fern. Er wirkt wie eine hermetische Glocke. Magie
des Lichts kann weder hinein noch hinaus. Schätze, damit ist
unser kleiner Ausflug wohl beendet.« Er fuhr sich gestresst
durch das blonde Haar. »Was können wir jetzt noch tun außer
umkehren?«

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Selim kniff die Augen zusammen und dachte nach. »Zeyn ist

schlau«, sagte er langsam, »aber nicht schlau genug. Ich hab
eine Idee. Lass uns einfach weiter an der Barriere entlanggehen.
Es gibt im Norden nämlich noch einen anderen Weg in die
Stadt. Er verläuft unterirdisch, und ich bin sicher, sein Eingang
liegt diesseits der Barriere.«

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- 103 -

4

I

RGENDWANN AUF PIPERS UND PHOEBES WEG zum

schwarzen Turm änderte sich das Stadtbild dramatisch.

Nur noch vereinzelte Häuser standen hier, die eher an

Unterstände, denn an feste Gebäude erinnerten und irgendwie
unbewohnt wirkten. Die Straßen waren längst nicht mehr
befestigt und nur mehr staubige Trampelpfade. Keine Palme,
kein Strauch, noch nicht einmal Unkraut wuchsen hier, und auch
die allgegenwärtigen Bettler, Straßenjungen und Eselskarren
waren nicht mehr zu sehen.

Piper und Phoebe registrierten all dies mit einigem

Unbehagen. Am Fuß des kahlen Hügels, der sich nun vor ihnen
erhob, legten die beiden Schwestern schließlich eine kurze Rast
ein.

»Ich würde meinen linken Arm für ein kühles Bier geben«,

stöhnte Phoebe.

»Das würdest du dann auch müssen, denn wir sind hier im

Orient«, meinte Piper lakonisch, »da ist der Genuss von Alkohol
unter Höchststrafe gestellt.«

Dunkel und drohend ragte in einiger Entfernung der schwarze

Turm über ihnen auf.

»Ob Paige wirklich da drin gefangen gehalten wird?«, fragte

sich Piper.

»Ich kann es deutlich spüren«, murmelte Phoebe. »Sie muss

ganz in der Nähe sein.«

»Wollen wir hoffen, dass dein Gefühl dich nicht trügt und

dass wir nicht zu spät kommen«, sagte Piper und setzte sich
wieder entschlossen in Bewegung. Phoebe folgte ihr.

Sie erklommen ächzend den Hügel, und bald kam eine große

Freifläche ins Blickfeld – offensichtlich ein alter Friedhof.

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Verwitterte, teilweise umgekippte Grabsteine standen oder lagen
inmitten eines verdorrten Areals, das hier und da noch von alten
schmiedeeisernen Gitterzäunen begrenzt wurde. Inmitten des
Friedhofs, von wilden Ranken überwuchert, stand ein altes
Mausoleum. Keine Frage, vor ihnen lag ein Totenacker aus einer
längst vergangenen Zeit. Einer Zeit offenbar, als die Menschen
von Ald’maran diese Gegend noch nicht gemieden hatten.

Der schwarze Turm selbst war nun kaum mehr hundert Meter

entfernt und wirkte noch abweisender und bedrohlicher als auf
dem alten Kupferstich im Buch der Schatten.

Trotz der hier herrschenden Hitze fröstelten die Schwestern

bei seinem Anblick, als wäre die Luft um sie herum rapide
abgekühlt. Für einen Moment sprach keine von ihnen ein Wort.

Aus dem weit entfernten Stadtzentrum drang gedämpft die

Stimme eines Muezzin an ihr Ohr, der die Gläubigen zum
Nachmittagsgebet rief: La ilah illallah, Muhammadun
rasulallah …

»Wir sollten nun sehr vorsichtig sein«, sagte Piper leise.

»Wenn Zeyn uns in die Finger kriegt, ist alles verloren. Ohne
unsere Kräfte können wir nichts mehr ausrichten und wären für
immer hier gefangen.«

»Nicht zu vergessen diese Schuppenkreatur mit der

Klauenhand, die uns vom Basar aus verfolgt hat«, bemerkte
Phoebe beklommen und sah sich unwillkürlich um. Doch sie
waren mutterseelenallein.

»Ach, was soll’s. Den schicke ich das nächste Mal endgültig

zum Teufel, Tarnung hin oder her«, meinte Piper, »aber im Falle
von Zeyn dürfte das vermutlich nicht ganz so einfach werden.«

In Anbetracht der lähmenden Hitze, die in der Wüste

herrschte, orbten sich Selim und Leo Stück für Stück an der

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magischen Barriere entlang, die rund um Ald’maran lag, bis sie
einen kleinen Palmenhain erreichten.

»Wie weit ist es noch bis zu diesem unterirdischen Zugang in

die Stadt?«, fragte Leo und wischte sich den Schweiß von der
Stirn. »Wenn ich nicht bald was zu trinken kriege, verdurste
ich.«

»Nicht mehr weit«, krächzte Selim, dessen Kehle ebenfalls

wie ausgedörrt war.

Erschöpft lehnte sich Leo gegen eine der Palmen und ließ den

Blick schweifen. Plötzlich richtete er sich abrupt auf und deutete
auf einen unbestimmten Punkt in der Wüste. »Was in aller Welt
… ist das?«

Langsam drehte sich Selim um, und was er erblickte, übertraf

selbst seine kühnsten Träume.

Mitten in dieser Einöde aus Sand und Geröll erhob sich ein

goldener Palast aus dem Wüstenboden, der an Pracht und
Schönheit alles überstieg, was Selim und Leo je gesehen hatten.

»Was ist nun, Piper? Gehen wir rein und erledigen diesen

Dämon?«, fragte Phoebe, die das Zaudern und Zögern
allmählich gründlich satt hatte.

Inzwischen waren sie auf den alten Friedhof vorgedrungen,

der am Fuß des schwarzen Turms lag, und hatten nach wie vor
nicht den Hauch eines Plans. Bis auf das Zirpen einiger Zikaden
war es hier totenstill. Zu still.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Zeyn hier heute den Tag

der offenen Tür ausgerufen hat«, meinte Piper und deutete auf
das schwere Eingangstor des Turms. »Und außerdem laufen wir
ihm mit Sicherheit geradewegs in die Arme, wenn wir da so
einfach reinspazieren. Wenn es ihm möglich war, Selims Brüder
und Paige zu überwältigen und ihnen ihre Magie zu stehlen,

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wird es ihm auch in unserem Fall gelingen, wenn wir nicht
äußerst vorsichtig zu Werke gehen.«

»Was schlägst du also vor?«, fragte Phoebe ungeduldig.

»Wir sollten erst einmal das Gelände rund um den Turm

erkunden und sehen, ob es nicht eine Möglichkeit gibt,
unbemerkt hineinzugelangen.«

»Also gut.« Seufzend setzte sich Phoebe in ihrem langen

Übergewand in Bewegung.

In diesem Moment vibrierte der Boden unter ihren Füßen.

Und dann brach die vertrocknete Erde des Friedhofs an
zahlreichen Stellen auf, bevor das Grauen wie auf ein geheimes
Kommando hin dem Licht entgegendrängte.

Skelett um Skelett erhob sich aus seinem Grab, richtete sich

in Sekundenschnelle auf und kam drohend auf die beiden
Schwestern zu. Phoebe blieb wie angewurzelt stehen, während
Piper automatisch ein paar Schritte zurückwich.

Und dann ging alles ziemlich schnell. Noch ehe Phoebe sich

versah, war sie von der Skelettarmee umzingelt, und der Kreis
zog sich rasch enger. Einige der bleichen Knochengerüste hatten
ihre rostigen Dolche erhoben, andere waren mit
dreckverkrusteten Krummsäbeln bewaffnet, und eines schwang
eine halb verrottete Nagelkeule und war schon auf Armeslänge
bei ihr.

Hektisch sah sich Phoebe um, doch es gab kein Entrinnen

mehr – sie war hoffnungslos umstellt. Das Skelett mit der Keule
holte bereits zum Schlag aus.

»Frier die Zeit ein!«, schrie sie ihrer Schwester zu, und Piper

tat genau das.

Die Skelettarmee erstarrte inmitten ihrer Bewegung,

woraufhin sich Phoebe per Levitation eilig in Sicherheit brachte
und neben ihrer Schwester wieder auf dem Boden landete.

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»Puh, das war knapp!«, meinte Phoebe und wischte sich den

Schweiß aus der Stirn. Noch immer standen die Skelette wie
angewurzelt im Kreis, ihre rostigen Waffen drohend erhoben.
»Scheint, wir haben die heilige Ruhe eines Militärfriedhofs
gestört«, setzte sie hinzu.

Doch diesmal hatte Piper nicht vor, den Ort des Geschehens

kampflos hinter sich zu lassen. »Dann schicken wir die Jungs
am besten sofort wieder zurück ins Totenreich des unbekannten
Soldaten!« Sie hob eine Hand und konzentrierte sich.

Gleich darauf zerbarsten die Skelette eines nach dem anderen

zu Staub, noch ehe die Zeit wieder anlaufen konnte. Wenige
Sekunden später war der trockene Boden zu ihren Füßen
bedeckt mit weißem Knochenmehl, das schon bald vom Wind
davongetragen werden würde.

»Jetzt wissen wir auch, warum sich hier kein Mensch blicken

lässt«, meinte Phoebe und hob eine Augenbraue. »Was für ein
humorloses Empfangskomitee … Aber wenn dieser ach so
mächtige Zeyn nicht mehr aufzubieten hat als ein paar klapprige
Knochengerüste, dann haben wir wohl nicht viel von ihm zu
befürchten, oder?«

»Ich denke, das war erst der Anfang«, sagte Piper und ließ

den Arm wieder sinken. »Ich meine, so einfach kann es doch
nicht sein, oder?«

»Vermutlich nicht.« Phoebe sah sich unbehaglich um, doch

auf dem Friedhof war es wieder genauso still wie vor dem
Angriff der Knochenmänner. Und doch hatte sie das
unbestimmte Gefühl, heimlich beobachtet zu werden.

So machten sich die beiden Zauberhaften daran, im

Uhrzeigersinn den Turm zu umrunden. Bei einem vertrockneten
Blumenbeet, das vor langer Zeit einmal an der Außenwand des
Bauwerks angelegt worden war, hielt Phoebe plötzlich inne.
Etwas funkelte darin, als ob sich ein Sonnenstrahl an etwas
brach. Zögernd griff sie in das Gestrüpp und holte ein

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silberfarbenes Handy hervor. »Piper!«, rief sie. »Komm her und
sieh dir das an!«

Ihre ältere Schwester kam neugierig näher.

»Das sieht aus wie Paiges Handy«, sagte Phoebe aufgeregt.

»Nein, das ist Paiges Handy!«, setzte sie hinzu, nachdem sie das
elektronische Telefonbuch aufgerufen und eine Reihe bekannter
Nummern erblickt hatte. »Paige ist also hier – ich wusste es!«

»Aber wieso liegt das Ding hier im Dreck?«, wunderte sich

Piper. Sie nahm ihrer Schwester das Mobiltelefon aus der Hand
und betrachtete es nachdenklich. Ein Stück vom Gehäuse war
abgeplatzt, die Antenne verbogen und das Display zerkratzt.
»Irgendwie sieht das Ding ganz schön mitgenommen aus.« Sie
blickte stirnrunzelnd am Turm hinauf. »Weißt du was, Phoebe?
Ich glaube, Paige hat ihr Handy irgendwo dort oben aus dem
Fenster geworfen.«

»Damit wir es finden und somit wissen, dass sie hier ist!«,

schlussfolgerte Phoebe. »Wie schlau von ihr!«

»Schon, aber es bedeutet auch, dass sie da oben definitiv

gefangen ist –«, Piper sah ihre Schwester düster an, »und dass
sie nicht herauskann – weder auf normalem Wege noch mittels
Magie.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Nicht, dass ich was
anderes erwartet hätte …«

»Dann lass uns hoffen, dass wir einen Weg hinein finden,

bevor es zu spät ist.«

Als Paige das nächste Stockwerk des schwarzen Turms

erreichte, schlug ihr ein widerlicher Gestank entgegen. Diese
Plattform besaß nur einen einzigen Ausguck, wohingegen sich
rechts ein großer Raum anschloss.

Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Wieder war niemand zu

sehen, und doch war das, was Paige erblickte, alles andere als
beruhigend.

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Mitten in dem fensterlosen stickigen Raum, der nur durch

einige Öllampen erleuchtet war, standen einige lange
Holztische, auf denen offensichtlich Leichen lagen. Allerdings
handelte es sich nicht um die Körper frisch Verstorbener,
sondern um Tote im teilweise fortgeschrittenen Zustand der
Verwesung, was auch den fürchterlichen Gestank erklärte.

»Wo zum Teufel bin ich hier nur hineingeraten«, murmelte

Paige und musste ein Würgen unterdrücken.

Überall standen Bottiche mit undefinierbaren Flüssigkeiten

herum. Als Paige näher trat, entdeckte sie halbhohe Gefäße und
Tröge aus glasiertem Ton, in denen, entsetzlich genug,
menschliche Organe schwammen. Hier ein Herz, dort Teile
eines Gehirns, und in einem anderen lag eine mumifizierte
Hand. Neben den Tischen bei den Leichen lagen Gerätschaften,
die wie antikes Operationsbesteck anmuteten: Zangen,
blutverkrustete Messer, eine kleine Säge …

Paige merkte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

Neben einer der Leichen war eine Apparatur angebracht, die

entfernt an eine Wasserpfeife mit diversen Kolben und Röhren
erinnerte. Ein loser dünner Schlauch, der offenbar ebenfalls zu
dem seltsamen Gerät gehörte, steckte in der Nase des Toten.

Mit Bestürzung musste Paige erkennen, dass Zeyn nicht nur

ein mächtiger Magier war, sondern sich zudem auch für seine
Zeit höchst wissenschaftlich mit Nekromantie beschäftigte.

Mit zweien seiner Geschöpfe war sie ja bereits

zusammengetroffen – denn so wie es aussah, waren die Ghule,
die sich Zeyn als Diener hielt, ebenfalls von dem Erzdämon zum
Leben wieder erweckte Kreaturen.

Als Paige einen Schritt auf die Leiche mit dem Schlauch in

der Nase zumachte, erkannte sie, dass es sich bei ihr um einen
hoch gewachsenen Schwarzen handelte. Und der Tote hatte nur

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ein Auge, das Paige vorwurfsvoll anzustarren schien. Keine
Frage, vor ihr lag Abu, der Beschwörer des Geistes!

Paige vermutete, dass die flexible Röhre geradewegs in das

Gehirn des Nubiers geführt worden war. Wie zur Bestätigung
ihrer entsetzlichen Ahnung lagen neben dem Kopf ein kleiner
Hammer und ein spitz zulaufender Knochenmeißel …

Doch zu welchem Zweck hatte Zeyn auf diese brutale Weise

Hand an den Seher gelegt? Hatte der Dämon womöglich
vorgehabt, auf diesem Wege an die Kräfte des Mannes zu
gelangen? Das erschien Paige unlogisch, denn bekanntermaßen
absorbierte der alte Erzdämon die Magie seiner Opfer, indem er
sie berührte. Wozu also noch diese komplizierte Prozedur?

Paige dachte einen Moment über das Problem nach. Ihr Blick

wanderte von dem toten Abu über den Schlauch zu dem
seltsamen Glaskolbengefäß, das direkt neben ihm stand. Darin
schwamm eine kleine Pfütze aus trüber Flüssigkeit. Waren das
womöglich die Reste einer Essenz aus Abus hellseherischem
Gehirn? Paige schauderte. Was, wenn der Erzdämon die Kräfte
Abus gar nicht für sich selbst, sondern für einen viel
teuflischeren Zweck gebraucht hatte?

Ich muss schleunigst wieder ins Obergeschoss, den Ghul in

meiner Zelle töten und sehen, dass ich Suleiman und Seif
befreie, schoss es ihr durch den Kopf. Sie oder ich könnten die
Nächsten sein, die hier auf diesem Tisch landen!

Sie wandte sich abrupt um und ließ die Kammer des Grauens

hinter sich. Wieder auf der Plattform ging sie wie von einem
inneren Impuls getrieben auf den kleinen Ausguck zu und sah
hinaus.

Und was sie erblickte, verschlug ihr schier den Atem. Dort

unten auf dem Friedhof standen doch tatsächlich Piper und
Phoebe. Sie waren zwar in lange dunkle Gewänder gehüllt, doch
Paige erkannte sie sofort an ihrer Haltung und den für sie
typischen Gesten. Und wie es aussah, schienen die beiden über

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irgendetwas zu diskutieren, aber Paige konnte aus dieser Höhe
natürlich nicht verstehen, was sie sagten.

Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Einerseits

war sie unendlich glücklich, dass ihre Schwestern einen Weg
nach Ald’maran und zu ihr gefunden hatten. Andererseits konnte
sie die beiden nicht durch Rufe auf sich aufmerksam machen,
ohne sie oder sich selbst zu gefährden. Sie erinnerte sich an die
Worte der beiden Brüder, die gesagt hatten, dass die
Eingangspforte des Turms durch eine magische Falle gesichert
war, die jeden Sterblichen, der hinein- oder hinauswollte, auf
der Stelle tötete.

Hoffentlich nehmen Piper und Phoebe nicht den Weg durch

die Tür!, flehte sie im Geiste.

In diesem Moment sah sie, wie ihre Schwestern sich

entschlossen in Bewegung setzten, offensichtlich, um den Turm
zu umrunden.

Erleichtert riss sich Paige von dem kleinen Fenster los und

stürmte die Wendeltreppe hinauf.

Wie zwei ferngelenkte Roboter stolperten Leo und Selim auf

den goldenen Palast zu, der sich inmitten einer grünen
parkähnlichen Oase in den blauen Himmel erhob.

»Ich wusste gar nicht«, murmelte Selim, als sie das eiserne

Eingangstor erreicht hatten, »dass vor den Toren der Stadt ein
solch herrliches Bauwerk steht.«

In diesem Moment kam ein wunderschönes dunkelhaariges

Mädchen durch den Park auf sie zu und öffnete ihnen.
»Willkommen, Reisende«, sagte sie lächelnd, »tretet ein und
legt eine kurze Rast ein in unserem Domizil.« Sie sah sich
suchend um. »Wo sind eure Tiere?«

»Unsere, äh, Träger und Dienstboten sind mitsamt unserem

Gepäck bereits vorausgereist«, sagte Selim schnell. »Mein

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Begleiter«, er zeigte auf Leo, »und ich wollten nach Ald’maran,
sind aber vom Weg abgekommen und haben uns in der Wüste
verirrt. Unsere Pferde sind dabei leider kürzlich verendet.«

Leo musste ein Grinsen unterdrücken. Wie schnell Selim

diese Lüge doch über die Lippen gekommen war, und all das für
einen kühlen Schluck Wasser.

»Meine Herrin würde sich sehr freuen, euch in ihrem Heim

begrüßen und euch eine kleine Erfrischung anbieten zu dürfen«,
sagte das Mädchen.

»Deine Herrin?«, fragte Leo erstaunt, als sie der jungen Frau

durch den schattigen Park folgten. »Wer ist deine Herrin?«

»Die ehrenwerte Fatima«, erwiderte die junge Sklavin. Sie

blieb stehen und musterte die beiden Männer, die völlig
unzeitgemäß in Jeans, Baumwollhemd und T-Shirt gekleidet vor
ihr standen. »Ihr seid seltsam gewandet, Fremde; woher kommt
ihr?«, fragte sie, und ihre schwarzen Augen blitzten neugierig
auf.

»Aus dem Norden«, erwiderte Selim lächelnd, der

offensichtlich kein Problem mehr damit hatte, diesem
hoffnungslos naiven Mädchen eine phantastische Geschichte
nach der nächsten aufzutischen. »Wir kommen soeben von einer
Forschungsreise aus dem Land der, äh, Barbaren.« Er warf Leo
einen halb entschuldigenden Blick zu, doch der Wächter des
Lichts
grinste nur, während er unmerklich seine Armbanduhr in
der Hosentasche verschwinden ließ.

»So tretet denn ein«, sagte das Mädchen lächelnd, als sie die

offen stehende Pforte des goldenen Palastes erreicht hatten.

Leo und Selim taten wie ihnen geheißen und betraten eine

kühle Halle aus hellgrünem polierten Stein, über der eine riesige
Kuppeldecke aus schwarzem Alabaster schwebte.

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- 113 -

Aus den Schatten kam eine schlanke Gestalt auf sie zu. Es

war eine Frau, und ihr Anblick raubte Selim und Leo schier den
Atem.

Keuchend bog Paige um die letzte Ecke der Turmtreppe und

stürmte auf die Zelle der beiden Brüder zu. Seif und Suleiman
sprangen sofort auf.

»Abu ist tot«, stieß sie hervor. »Er liegt unten in einer Art

Laboratorium und hat einen Schlauch in der Nase.«

Seif und Suleiman sahen einander bestürzt an.

»Wie es scheint, ist dieser Zeyn so eine Art orientalischer

Frankenstein«, setzte sie atemlos hinzu.

Als die beiden Brüder sie verständnislos anblickten, fuhr

Paige fort: »Wie dem auch sei, ich hab einen Weg gefunden,
diese Ghule zu töten.« Als wieder keine Antwort kam, sagte sie
nur »Salz« und tätschelte bedeutungsvoll ihren Lederrucksack.

»Salz?!«, riefen die jungen Männer wie aus einem Munde.

»Ja, ich hab einen von den untoten Jungs in der Küche dieses,

ähm, gastlichen Heimes getroffen.« Sie grinste. »Und da hab ich
mich erinnert, was die Haitianer mit ihren Zombies machen,
wenn die ihnen lästig werden, und, na ja, den Rest könnt ihr
euch ja denken. Jedenfalls erledige ich jetzt den Ghul in meinem
Verlies, und ich hoffe sehr, der alte Knabe hat auch die
Schlüssel zu eurer Zelle bei sich.«

Seif und Suleiman nickten stumm, wenngleich sich jeder von

ihnen für einem Moment fragte, wer oder was in aller Welt die
Haitianer waren.

»Ach, und noch was!«, setzte Paige freudestrahlend hinzu.

»Meine Schwestern sind hier! Jetzt wird alles gut!«

Mit diesen Worten huschte sie den kurzen Gang hinunter, bis

sie die schwere Holztür ihres ehemaligen Kerkers erreicht hatte.

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- 114 -

Der Querbalken war noch immer vorgeschoben. Von drinnen
war kein Laut zu hören.

Sie ließ eine Hand in die Vordertasche ihres Rucksacks

gleiten, während sie mit der anderen den Balken zurückschob.
Dann zog sie die schwere Tür ein Stück auf und machte sich
bereit zum Angriff.

Der Ghul stand noch immer mitten in der Zelle wie ein Ochs

vorm Berg und glotzte Paige mit offenem Mund an. Diese griff
sich eine Hand voll Salz und wollte gerade zum Wurf ausholen,
da schoss die Hand des Untoten mit überraschender Flinkheit
vor und erwischte Paige im Gesicht.

Verdutzt taumelte die junge Hexe einen Schritt zurück, bevor

sie dem Angreifer endlich die Ladung Salz entgegenschleuderte.
Und wie schon sein untoter Kollege zuvor, sank der Ghul
augenblicklich in sich zusammen und blieb reglos am Boden
liegen.

Hinter sich konnte Paige einen gedämpften »Hurra«-Ruf von

Seif vernehmen; offenkundig hatten die beiden Brüder den
kurzen, dafür aber umso erfolgreicheren Kampf aus der Ferne
beobachtet.

Für einen Moment starrte Paige den am Boden liegenden

Ghul einfach nur an. Ihre linke Wange brannte.

Vermutlich hatte der widerliche Untote ihr mit seinen

Fingernägeln ein paar Kratzer im Gesicht beigebracht. Eine
eklige Vorstellung zwar, doch das war nicht die Zeit und der Ort
wegen solcher Lappalien zu jammern.

Sie ging in die Knie und musste sich überwinden, das vor

Dreck starrende Gewand des Leichnams anzuheben, um ihn zu
durchsuchen. Tatsächlich trug der tote Ghul einen schweren
Schlüsselring am Hosenbund, den Paige mit spitzen Fingern an
sich nahm.

Unverzüglich eilte sie zur Zelle der beiden Brüder zurück.

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- 115 -

»Das war große Klasse!«, rief Seif ihr schon von weitem zu,

und seine hellbraunen Augen strahlten die schöne Hexe an.

Einen nach dem anderen probierte Paige die zahlreichen

schweren Eisenschlüssel am Schloss des Kerkers aus, bis sie
schließlich den richtigen gefunden hatte. Quietschend öffnete
sich die Zellentür, und Seif und Suleiman traten zu ihr auf den
Gang hinaus.

»Du bist verletzt?«, fragte Suleiman erschrocken und deutete

auf Paiges Wange.

»Nur ein kleiner Kratzer«, Paige winkte ab. »Aber den hat

der Ghul teuer bezahlen müssen.« Sie grinste.

Seif und Suleiman wechselten betroffene Blicke, und Paige

fragte sich, was sie nun schon wieder falsch gemacht hatte.

»Das mag wohl sein«, sagte Suleiman ernst, »aber wenn wir

nicht schnellstens hier herauskommen, wirst du es sein, die teuer
bezahlen wird. Kratzer und Bisse durch einen Ghul sind nämlich
immer tödlich.«

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- 116 -

5

F

ATIMA WAR DIE WOHL SCHÖNSTE FRAU, die Leo

und Selim in ihrem ganzen Leben je erblickt hatten.

Ihre zartbraune Haut schimmerte wie pures Gold, ihr

hüftlanges Haar ergoss sich in weichen hellbraunen Locken über
ihren Rücken. Ihre hoch gewachsene schlanke Gestalt war in ein
hauchdünnes weißes Gewand gehüllt, das von einem
juwelenbesetzten Gürtel zusammengehalten wurde.

Mit einem betörenden Lächeln kam sie auf die beiden

Männer zu. »Willkommen im goldenen Palast«, sagte sie,
während die zierliche rothaarige Dienerin an ihrer Seite Leo und
Selim einen Becher mit Wasser reichte.

Der Magier und der Wächter des Lichts tranken gierig die

ihnen dargebotene Erfrischung, und als das kühle Nass ihre
Kehlen herablief, war es, als hätten sich die Pforten des djanna,
des orientalischen Elysiums, geöffnet.

Sie folgten Fatima durch die Halle in einen riesigen Park, der

mehr einem Zoo glich als einem Lustgarten. Leo und Selim
sahen frei laufende Antilopen und Raubkatzen, die einträchtig
umherwanderten, aber auch Nilpferde, die gemächlich in einem
Fluss schwammen, und weiße Elefanten.

Leo hatte den Eindruck, in eine orientalische Variante des

Tiergartens der Artemis geraten zu sein, während Selim vor
Staunen Mund und Augen aufriss, als sich ein zahmer Falke auf
seiner Schulter niederließ.

Die schöne Fatima geleitete sie in eine Flucht aus

prachtvollsten, ineinander übergehenden Gemächern, in denen
sich junge Mädchen aus aller Herren Länder auf bestickten
Seidenkissen räkelten und sogleich herbeieilten, um die beiden
Neuankömmlinge in ihre Mitte zu holen.

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- 117 -

Willenlos sanken Selim und Leo auf ein Lager aus weichen

Kissen und Decken, bevor sie von allen Seiten mit köstlichen
Leckereien und zärtlichen Zuwendungen bedacht wurden.

»Fatima ist wirklich sehr … gastfreundlich«, stammelte Leo,

als ihm eine dralle Brünette den verspannten Nacken massierte.

»Fürwahr«, seufzte Selim. Dann schloss er genüsslich die

Augen und ließ sich von einer gazellengleichen Schwarzen
Gesicht und Hände mit warmen feuchten Tüchern abreiben.

Von irgendwoher erklangen die einschmeichelnden Klänge

einer Tar-Laute, und als die beiden Männer die Augen wieder
öffneten, sahen sie die atemberaubende Fatima, die soeben einen
lasziven Schleiertanz vollführte.

Selim klappte förmlich die Kinnlade herunter, als ihre

Gastgeberin sich plötzlich zu entblättern begann, während sie im
Takt der Musik langsam die Hüften wiegte. Auch Leo war von
dem orientalischen Striptease wie gefesselt, und als Fatima
nackt, wie Gott sie schuf, vor ihnen stand und ihnen lächelnd
zuwinkte, da erhob er sich fast automatisch.

Auch Selim war aufgestanden und folgte dem Lockruf der

schönen Frau wie in Trance.

Sie erreichten ein Schlafgemach, in dem sich Fatima

seufzend in die Kissen warf und ihre Arme ausbreitete. »Kommt
zu mir, ihr prächtigen Burschen«, hauchte sie und leckte sich die
blutroten Lippen. »Kommt und kostet die Freuden der Liebe.«

Liebe …

In diesem Moment war es, als ob Leo aus einem schwülen

Traum erwachte. Hastig riss er Selim, der schon halb auf dem
Weg zum Bett war, zurück. »Moment mal, was tun wir hier
eigentlich?«

Selim wandte sich zu ihm um, und grenzenloses Erstaunen

spiegelte sich auf seinem Gesicht wider. »Wir, ähm, ich … also
…«

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- 118 -

»Kommt schon«, drängte Fatima vom Bett aus und zog einen

Schmollmund. »Wie lange soll ich denn noch auf euch warten?«

Unschlüssig flog Selims Kopf zwischen Leo und der schönen

Frau hin und her.

»Hast du vergessen, warum wir hier sind, Selim?«, fragte Leo

den jungen Magier eindringlich.

»Wir wollten –«, Selim brach ab und runzelte angestrengt die

Stirn.

»Ja, genau«, sagte Leo, »wir wollten in die Stadt, um deine

Brüder und die Zauberhaften zu retten!«

Die Erkenntnis traf Selim wie ein Blitz. Hastig wandte er sich

zu Fatima um und sagte: »Wir müssen jetzt leider gehen …
vielen Dank für Speis und Trank und äh, die freundliche
Aufnahme in deinem Heim.«

»Was soll das heißen?« Fatima war aufgesprungen und kam

aufgebracht auf die beiden Männer zu.

»Das soll heißen, dass wir etwas in Eile sind, Fatima.« Leo

lächelte ihr halbherzig zu. »Vielleicht beim nächsten Mal. Guten
Tag!«

Bevor die wütende Fatima sie erreichen konnte, packte der

Wächter des Lichts Selim am Arm und orbte mit ihm zurück in
die Wüste.

Und als sie sich noch einmal umwandten, verschwand der

goldene Palast und alles, was in und um seine Mauern gewesen
war, wie ein böser Traum.

Vorsichtig umrundeten Piper und Phoebe den schwarzen

Turm und ließen den alten Friedhof hinter sich.

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- 119 -

An der Rückseite des mächtigen Gebäudes verlief die

nördliche Stadtmauer, die jedoch kein Tor zur Wüste besaß.
Ansonsten war hier nichts Bemerkenswertes zu entdecken.

Die beiden Schwestern gingen weiter um den Turm herum,

bis sie dessen Ostseite erreicht hatten. Auch hier war nichts
außer ein wenig vertrocknetem Gestrüpp, das hier und da aus
dem steinharten Boden ragte.

»Ich fürchte«, seufzte Piper, »wir werden den Weg durch den

Haupteingang nehmen müssen. Ich sehe hier keine andere
Möglichkeit, in den Turm zu gelangen, obwohl mir alles andere
als wohl ist bei dem Gedanken.«

»Zuvor solltest du aber unbedingt die Zeit einfrieren«,

wandte Phoebe ein, »damit wir nicht wieder in eine Falle
tappen.«

»Schön und gut«, meinte Piper, »aber was, wenn wieder ein

Zeitportal oder irgendein schwarzmagischer Zauber auf der
Schwelle lauert? Dann hilft uns ein Timefreeze gar nichts.«

»Immerhin können wir damit zumindest etwaige Angreifer

lahm legen.«

Doch Piper schien nicht sonderlich überzeugt. Zu viel

Unberechenbares war geschehen, seit sie und Phoebe das Hotel
in Nob Hill betreten hatten, und zu viele Fragen waren noch
immer nicht beantwortet.

Zum Beispiel, warum sie keinen Kontakt zu Leo herstellen

konnten, oder warum Paige so einfach von Zeyn überwältigt und
geschnappt hatte werden können, während sie und Phoebe hier
immer noch mehr oder weniger unbehelligt umherspazierten?

Und welche Rolle kam Selim in diesem verwirrenden Spiel

wirklich zu? Und last, but not least: Wusste Zeyn wirklich, dass
Paiges Schwestern in Ald’maran eingetroffen waren, und wenn
ja, von wem? Die Kreatur, die sie im Basar verfolgt hatte, ließ
diesen Schluss zu, aber dann war es nur eine Frage der Zeit, bis

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- 120 -

sie und Phoebe dem Erzdämon in die Arme liefen. Im Grunde
brauchte sich Zeyn in diesem Fall nur zurückzulehnen und
darauf zu warten, dass die beiden letzten Zauberhaften ganz
ohne sein Zutun den schwarzen Turm aufsuchten, um ihre
Schwester zu retten. Um dann einfach zuzuschlagen.

Piper teilte ihrer Schwester diese Überlegungen mit, denn

nun galt es, die Risiken sorgsam abzuwägen.

»Du meinst, er benutzt Paige als Köder für uns?«, fragte

Phoebe, als Piper mit ihrem Vortrag geendet hatte.

»Sieht es nicht ganz danach aus?«, gab Piper zurück.

»Aber warum hat er uns dann nicht sofort bei unserer

Ankunft einkassiert, anstatt darauf zu warten, dass wir
irgendwann bei ihm eintrudeln? Bei Paige hat er ja
offensichtlich auch nicht lange gefackelt und direkt gehandelt,
nachdem sie in Ald’maran eingetroffen war.«

Über diese Frage hatte sich Piper auch schon den Kopf

zerbrochen. »Vielleicht wusste er ursprünglich gar nichts von
uns«, sagte sie langsam. »Und als er, wie auch immer, erfahren
hat, dass es uns gibt und dass wir hier sind, hat er uns zunächst
einmal diese Schuppenkreatur auf den Hals gehetzt. Nachdem
wir die jedoch mit Hilfe unserer Magie ausgetrickst hatten, ist
Zeyn klar geworden, dass er es mit zwei überaus mächtigen
Gegnerinnen zu tun hat. Ich denke daher, auch Zeyn wird
angesichts dieser neuen Situation seine Pläne überdenken
müssen, um am Ende nicht den Kürzeren zu ziehen.
Andererseits kann er es sich nach wie vor leisten zu warten,
während wir uns in Sorge um Paige von einer gewissen Eile
leiten lassen. Eine Eile, die uns womöglich angreifbar macht
und Kopf und Kragen kosten kann.«

»Wenn das alles, was du vermutest, wirklich zutrifft«, sagte

Phoebe frustriert, »dann ist Zeyn uns also immer einen Schritt
voraus, richtig?«

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- 121 -

»Mehr noch«, sagte Piper und verzog das Gesicht. »Egal, was

wir unternehmen, wir können nur verlieren. Paige ist
offensichtlich ohne ihre Kräfte, und damit ist auch die Macht
der Drei
bis auf weiteres zerstört. Und wenn man dem alten
Ibrahim glauben kann, dann hat sich Zeyn ihre Magie, wie auch
die von Selims Brüdern, einfach einverleibt. Ganz zu schweigen
von den Kräften, die er in der Vergangenheit schon absorbiert
haben könnte. Wir wissen also nicht, über welche Fähigkeiten
der Erzdämon verfügt – insofern wäre es nicht nur unvorsichtig,
sondern geradezu dumm, einfach in den Turm zu stürmen.«

Piper machte eine kleine Pause und sah ihre jüngere

Schwester ernst an. »Alles, was wir wissen, ist, dass Zeyn den
Lauf der Dinge verändern will. Und wir wissen, dass er uns auf
keinen Fall berühren darf, denn sonst wären auch wir im
wahrsten Sinne des Wortes machtlos, und das Schicksal der
Welt wäre besiegelt.«

Phoebe schluckte. »Es muss uns beiden also irgendwie

gelingen, Zeyn ohne die Macht der Drei auszutricksen und zu
vernichten, damit die von ihm gestohlenen Kräfte wieder
freigesetzt werden und zu ihren Besitzern zurückkehren
können?«

»Sofern die Besitzer noch am Leben sind, ja.«

»Das heißt, wir brauchen einen guten Plan?«

»Allerdings.« Piper lachte bitter auf. »Einen guten Plan, mehr

Informationen und sehr, sehr viel Glück.«

Sie hatte die letzten Worte kaum ausgesprochen, da war

plötzlich ein Grunzen hinter ihnen zu hören.

Piper und Phoebe wirbelten erschrocken herum, und ihr Blick

fiel auf die vermummte, hoch gewachsene Gestalt, die ihnen
schon im Basar von Ald’maran gefolgt war. Sie kam drohend
näher, den blitzenden Krummdolch in der schuppigen
Klauenhand.

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- 122 -

Piper hob die Hände, um die Zeit einzufrieren, doch nichts

passierte. Panisch blickte sie zu Phoebe.

»Was?«, rief diese erschrocken.

»Ich kann nicht zaubern«, zischte Piper, während sie und

Phoebe Schritt um Schritt vor dem Dämon zurückwichen.

Phoebe versuchte, sich per Levitation in die Luft zu erheben,

doch auch das misslang. »Ich auch nicht«, raunte sie ihrer
Schwester zu. »Verdammt, was machen wir jetzt?«

»Lauf!«, schrie Piper, wirbelte herum und rannte los. Seite an

Seite hetzten die beiden in ihren unpraktischen langen
Gewändern um den Turm herum, bis sie wieder dessen
Vorderseite erreicht hatten.

In diesem Moment verhedderten sich Pipers Beine in den

Falten ihres Umhanges, und sie schlug der Länge nach hin.
»Autsch! Verdammt!«

»Piper!« Phoebe blieb stehen und rannte zurück zu ihrer

Schwester, die sich beim Sturz offensichtlich verletzt hatte, denn
sie stöhnte leise auf, während sie sich wieder aufzurappeln
versuchte.

Ihr Verfolger holte auf und wollte sich gerade auf die junge

Hexe am Boden stürzen, als Phoebe herumwirbelte und der
vermummten Kreatur einen Tritt dorthin versetzte, wo sie den
Kehlkopf des Angreifers vermutete.

Mit einem merkwürdig krächzenden Laut taumelte das Ding

zurück, und der schmutzige Schal rutschte ihm vom Gesicht.

Für einen Moment hielt Phoebe erschrocken den Atem an.

Unter der Vermummung ihres Gegners wurde eine abscheuliche
Vogelfratze mit einem riesigen Raubtierschnabel sichtbar, der
Schädel teils gefiedert, teils geschuppt wie der Kopf eines
urzeitlichen Wesens. Bei seinem Anblick fühlte sich Phoebe
entfernt an die altägyptischen Reliefs des falkenköpfigen Horus
erinnert.

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- 123 -

Die Kreatur hob den Dolch und kam knurrend auf die

Schwestern zu. Phoebe, die nicht zuletzt mit Coles Hilfe in
diversen Kampftechniken geschult war, holte aus und schlug
dem Vogeldämon mit einem gezielten Handkantenschlag die
Waffe aus der Klaue. »Hier, du verflixtes Mistvieh!«

Der Kopf der Kreatur ruckte herum und starrte verwirrt auf

den am Boden liegenden Dolch. Dann bückte sich der Dämon
und hob ihn auf.

Inzwischen war Piper wieder auf den Beinen und rannte los.

»Komm!«, schrie sie ihrer immer noch in Angriffsstellung
dastehenden Schwester zu.

Phoebe tat, wie ihr geheißen.

Die Schwestern ließen die Eingangspforte des Turms hinter

sich und flüchteten sich wieder auf das alte Friedhofsgrundstück
im Westen des Hügels.

Der Vogeldämon folgte ihnen grunzend, wenngleich gewohnt

schwerfällig, doch als die Schwestern den Totenacker erreicht
hatten, hielt er vor dem alten schmiedeeisernen Tor plötzlich
inne.

Piper und Phoebe blieben stehen und verschnauften.

»Bist du verletzt?« Keuchend sah Phoebe zu ihrer Schwester,

die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das rechte Handgelenk
rieb.

»Nur ’ne leichte Verstauchung«, sagte Piper. »Hab mich im

Fallen irgendwie unglücklich abgestützt. Aber das wird schon
wieder.«

»Warum kommt er uns nicht nach?«, fragte Phoebe und

deutete auf den Vogeldämon, der immer noch reglos hinter dem
Friedhofszaun stand. Unverwandt sah er die beiden Hexen aus
seinen stechenden Knopfaugen an. Plötzlich öffnete sich der
große Raubtierschnabel, und der Dämon stieß einen schrillen

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- 124 -

Schrei aus. »Ich finde, der sieht irgendwie ziemlich sauer aus.
Worauf wartet er denn?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Piper. »Scheint, als traue er sich

nicht weiter vor. Was für ein Loser!« Einer plötzlichen
Eingebung folgend, hob sie erneut eine Hand, um einen
Materievernichtungsschlag gegen die Kreatur auszuführen, doch
der Zauber verpuffte kurz vor dem Friedhofszaun, als wäre er an
einer unsichtbaren Wand abgeprallt.

Phoebe begriff sofort. »Um den Turm liegt eine magische

Barriere!«, rief sie verblüfft.

»So sieht es aus«, murmelte Piper. »Magie scheint innerhalb

ihrer Grenzen nicht möglich, aber gleichzeitig hält sie uns auch
diesen Vogeldämon vom Hals, weil der Feigling es
offensichtlich nicht wagt, ihren Schutz zu verlassen. Eine
typische Pattsituation, die uns vermutlich –«

In diesem Moment sauste etwas haarscharf an Phoebes Kopf

vorbei; gleichzeitig hörte sie, wie Piper neben ihr vor Schmerz
aufschrie.

Phoebe fuhr herum und sah, dass sich ihre Schwester den

linken Arm hielt. Zwischen ihren Fingern sickerte langsam Blut
durch einen Riss in ihrem dunklen Gewand.

»Was ist passiert?«, rief Phoebe erschrocken.

»Diese miese Vogelfratze hat ihren Dolch nach mir

geworfen«, presste Piper hervor. »Glücklicherweise hat der
dicke Stoff meines Überwurfs das Schlimmste verhindert.«

Sie hob ihren Umhang, schob den zerfetzten Ärmel ihres T-

Shirts nach oben und entblößte ihren verletzten Oberarm. Die
Wunde war nicht besonders tief, blutete aber trotzdem stark.
»Mist, das ist ein 150-Dollar-Teil von Escada«, knurrte Piper
mit Blick auf das ruinierte Shirt. »Das Ding kann ich jetzt wohl
nur noch als Putzlappen verwenden.«

»Deine Sorgen möchte ich haben!«

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- 125 -

»Meine Sorgen sind auch deine Sorgen«, meinte Piper gallig.

Phoebe nestelte ein Päckchen Papiertaschentücher aus ihrer

Jeans und drückte es ihrer Schwester sanft in die Hand. »Press
das mal auf die Wunde«, sagte sie. »Wahrscheinlich hört’s
schon bald auf zu bluten.«

In diesem Moment wandte sich der Dämon mit der

Klauenhand knurrend um und ging auf den Eingang des
schwarzen Turms zu. Kurz vor der Schwelle vollführte er ein
merkwürdiges Ritual aus Gesten und Gemurmel, und dann
öffnete sich die schwere Holzpforte wie von Zauberhand. Die
Kreatur huschte hinein und war schon im nächsten Moment im
Innern des Turms verschwunden. Krachend schloss sich hinter
ihr die Eingangstür.

»Sesam, öffne dich«, bemerkte Phoebe.

»Dieser Zeyn scheint ganz schön paranoid zu sein«,

kommentierte Piper und konnte sich trotz der Schmerzen in
ihrem Arm ein Grinsen nicht verkneifen. »Die
Sicherheitsvorkehrungen in Fort Knox sind ja ein Witz
dagegen.«

Sie nahm den kleinen Stapel Papiertaschentücher aus der

Verpackung und drückte ihn auf die Wunde. Dann schob sie
umständlich das Ärmelbündchen ihres T-Shirts darüber und
fixierte so die behelfsmäßige Kompresse. »Du könntest mir
ruhig mal dabei helfen«, meinte sie vorwurfsvoll zu ihrer
Schwester, »anstatt hier Löcher in die Luft zu –«

»Schau mal«, rief plötzlich Phoebe und wies auf das alte,

steingraue Mausoleum, das im Zentrum des Friedhofs stand.
»Das Grabmal lässt sich offensichtlich betreten.«

Tatsächlich hing das kleine eiserne Törchen zum Eingang der

Begräbnisstätte schief in den Angeln und gab so den Zugang auf
eine verwitterte Steintreppe frei, die in eine unterirdische Krypta
zu führen schien. »Lass uns mal einen Blick hineinwerfen«,

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- 126 -

schlug Phoebe vor. »Das Risiko ist nicht allzu groß, weil unsere
Magie hier ja wieder funktioniert. Vielleicht stoßen wir da drin
ja auf etwas, das uns weiterhilft.«

»Ja, auf noch mehr durchgeknallte Skelette und

Vogeldämonen, die uns ans Leder wollen«, meinte Piper und
wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn.

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, rief Phoebe und strebte

entschlossen auf das Mausoleum zu. In diesem Moment hörte
sie hinter sich ein merkwürdig dumpfes Geräusch. Sie wandte
sich um und sah, dass ihre Schwester reglos am Boden lag.

»Piper!«, rief Phoebe und sank neben ihr auf die Knie. Pipers

Gesicht war gerötet, und sie stöhnte leise. »Ich … verbrenne
innerlich«, flüsterte sie, während ein Zucken durch ihren Körper
ging. »Der Dolch war … verflucht. Es ist … als ob das Blut in
meinen Adern … zu kochen beginnt. Und doch ist mir … so kalt
ums Herz …« Ein Zucken durchlief ihren Körper, während sie
den Kopf unkontrolliert hin und her warf. Und dann plötzlich
wich alle Kraft aus ihrem Körper, und sie verlor das
Bewusstsein.

»Piper!«, schrie Phoebe, und Tränen strömten ihr über das

Gesicht. »Bitte verlass mich nicht!« Panisch schüttelte sie ihre
Schwester, deren Wangen nun feuerrot glühten, und versuchte
sogar eine Mund-zu-Mund-Beatmung, doch Piper kam nicht
mehr zu sich und stammelte nur noch unverständliche Worte
wie im Fieberwahn.

Hilfe suchend sah sich Phoebe um, doch es war weit und

breit niemand zu sehen. Was sollte sie nun tun? Sie konnte Piper
doch nicht in diesem Zustand auf diesem entsetzlichen Friedhof
neben dem schwarzen Turm liegen lassen, während sie selbst in
die Stadt zurücklief, um Hilfe zu holen?

Schluchzend packte Phoebe ihre Schwester, von deren

Körper inzwischen eine unglaubliche Hitze ausging, und zerrte
sie in Richtung des Mausoleums und hinab in die kühle Gruft.

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- 127 -

»Ghul? Gift? Ghulgift? Soll das heißen, ich werde jetzt

sterben?«, schrie Paige entsetzt.

Suleiman sah die junge Hexe ernst an. »Nicht sofort. Das Gift

eines Ghuls wirkt schleichend. Es wird dich nach und nach
schwächen, bis schließlich dein Herz versagt. Es sei denn, du
nimmst ein Gegengift ein … Aber das ist, wenn überhaupt, nur
bei einem Heiler in Ald’maran zu bekommen.«

»Na, prima!«, rief Paige aus. »Ich fasse es nicht. Jetzt, wo wir

endlich aus diesem stinkenden Kerker raus und meine
Schwestern nicht mehr weit sind, soll ich kurz vor dem Ziel
einfach –« Sie brach ab, denn sie verspürte plötzlich einen
leichten Schwindel; das Ghulgift zeigte offensichtlich bereits
Wirkung. Als sie sich an der klammen Mauer vor der Zelle der
Brüder abstützte, huschte der junge Seif sogleich herbei und
ergriff ihren Arm.

Unwirsch schob Paige seine Hand fort und straffte sich.

»Verstehe ich das richtig, Jungs? Wir müssen, und das
wohlgemerkt ohne unsere Kräfte, versuchen, hier
herauszukommen, und zwar möglichst schnell, damit ich nicht
in diesem verdammten Turm verrecke, noch bevor meine
Schwestern Zeyn aus dem Weg geräumt haben?«

Seif und Suleiman nickten stumm.

»Dann nichts wie los!«, rief Paige. »Wir gehen jetzt da

runter, komme, was wolle! Vielleicht haben wir ja Glück und
meine Schwestern haben schon einen Weg in den Turm
hineingefunden, dann können wir ihnen vielleicht irgendwie zur
Hand gehen – auch ohne unsere magischen Kräfte.« Es entging
ihr nicht, dass die beiden Brüder sie zweifelnd ansahen.

»Wie auch immer«, fuhr Paige unbeirrt fort, »je länger wir

zögern, irgendetwas zu tun, desto schlechter werden unser aller

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- 128 -

Chancen, das Ganze hier zu überleben –« Erneut wurde sie von
einem Schwächeanfall heimgesucht. »Vor allem meine –«

Schweigend und einigermaßen verdrießlich setzten Leo und

Selim ihren Weg durch die Wüste fort.

Sie hatten sich darauf geeinigt, niemandem, und schon gar

nicht Piper und Paige, etwas von ihrem gleichermaßen
amourösen wie peinlichen Abenteuer im goldenen Palast zu
erzählen. Tatsächlich war es ihnen völlig unerklärlich, dass sie
sich in seinen Mauern gebärdet hatten wie ausgehungerte Wölfe,
denen man ein Stück Fleisch vor die Nase hält.

Leo vermutete, dass sie irgendeinem Liebeszauber erlegen

waren, den ihnen die schöne Fatima mit dem Willkommens-
Aperitif verabreicht hatte. Und plötzlich erinnerte er sich an eine
alte orientalische Geschichte, in der ein liebestoller weiblicher
Geist ahnungslose Reisende in sein Haus lockte, um diese für
immer aus der irdischen Welt ins Reich der Lüste und damit ins
Reich des ewigen Vergessens zu entführen. Er teilte Selim
seinen Verdacht mit.

»Da haben wir ja noch mal Glück gehabt, dass du in letzter

Sekunde doch noch einen lichten Moment hattest«, erwiderte
der junge Magier mit einem schiefen Grinsen. »Jeder
Normalsterbliche wäre vermutlich unwiderruflich in Fatimas
Liebesfalle getappt …«

»Offensichtlich sind auch halbe Wächter des Lichts gegen

derlei magische Verlockungen nicht immun«, feixte Leo, und
Selim senkte beschämt den Blick.

Wieder orbten sie sich Stück für Stück an der magischen

Barriere entlang und stapften durch den Sand, bis sie die Reste
einer alten Tempelanlage erreicht hatten.

»Sind wir endlich da?«, wollte Leo wissen, der allmählich

ungeduldig wurde. Sein Blick wanderte über wuchtige

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- 129 -

Mauerreste, Granitquader und altarähnliche Aufbauten, denen
die Zeit arg zugesetzt hatte.

»Ja, das ist die Stadt der Toten. Eine Kultstätte aus

vorislamischer Zeit«, erklärte Selim, »als die Menschen noch
den alten Göttern huldigten – und zugleich auch unser Ziel.«

Er sah sich einen Moment lang um. »Hier muss es irgendwo

diesen unterirdischen Durchgang geben, der direkt nach
Ald’maran führt.«

Gemeinsam mit Leo schritt er das riesige Areal der

Tempelruine ab, doch ein Eingang oder auch nur ein Loch im
Boden waren nirgendwo zu entdecken.

»An der Universität von Ald’maran habe ich auch die

Geschichte unserer Stadt studiert«, sagte Selim, »und da war
von diesem Geheimgang am Baal-Tempel die Rede. Er muss
hier also irgendwo sein.«

»Was, wenn er längst verschüttet ist?«, fragte Leo und

deutete auf eine umgestürzte Sandsteinmauer und eine Reihe
zerstörter Granitpfeiler. »Was, wenn er unter diesen
tonnenschweren Trümmern für immer und ewig vergraben
liegt?«

»Das haben wir gleich«, meinte Selim. Er hob die Hände,

schloss die Augen, und dann zerbarst eine riesige Steinplatte
unter einem ohrenbetäubenden Knall.

»Wow«, entfuhr es Leo, »Molekularbeschleunigung

beherrschst du also auch?«

Selim zuckte nur die Achseln und grinste. »Ich nenne es

Substanzvernichter.«

Als sich der Staub gelegt hatte, trat er an die Stelle, an der

zuvor die Mauer gelegen hatte. Doch darunter war nur der harte
Wüstenboden zu erkennen. Selim wiederholte das Ganze mit
drei massiven Säulen und einem mächtigen Torbogen, die unter
seinen magischen Händen zerbröselten wie Salzstangen.

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- 130 -

»Wenn das die UNESCO sehen würde«, murmelte Leo, und

als Selim ihn fragend ansah, fügte der Wächter hinzu: »Na ja,
von wegen Weltkulturerbe und so …«

Mit bloßen Händen begannen sie, die Haufen aus

ockerfarbenem, grauem und rötlichem Staub beiseite zu fegen,
leider ohne Erfolg. Denn auch darunter war kein Eingang zu
entdecken.

»Wir werden ewig brauchen, um hier jeden Stein zu

pulverisieren«, meinte Leo zerknirscht. Er wischte sich über die
Stirn, und ein breiter Schmutzstreifen prangte über seiner
Nasenwurzel wie eine Art Kriegsbemalung. »Bist du sicher,
dass der Eingang wirklich hier –« Er brach ab, denn in diesem
Moment erzitterte die Luft, und dann materialisierte ein Wesen
vor ihnen, das weder körperlich noch geistig zu sein schien.

Als Wächter des Lichts hatte Leo schon oft die Geister

Verstorbener erblickt, aber diese Kreatur hier war anders. Sie
besaß die Gestalt einer alten Frau mit wirrem, grauem Haar; die
Züge ihres Gesichts waren wutverzerrt und die dürren Arme
angriffslustig erhoben. Eine merkwürdige Kälte ging von ihr
aus, die Leo trotz der nachmittäglichen Hitze in der Wüste
frösteln ließ, und es war, als ob sich alles irdische Leid in ihr
manifestiert hätte.

Leo fühlte sich bei ihrem Anblick an die antiken Furien oder

die keltischen Banshees erinnert, und doch war die ganze
Erscheinung eher ätherisch als real. Wenn man von dem alten,
zerrissenen Gewand absah, auf dem sich in Brusthöhe ein
riesiger, dunkler Fleck aus getrocknetem Blut befand.

»Ein Kummerfluch!«, stieß Selim hervor, doch da war das

seltsame Geistwesen auch schon bei ihnen angelangt und griff
mit eiserner Hand nach dem Hals des Arabers.

»Du wagst es«, zischte die Alte, »den Ort meiner Seelenpein

zu schänden?«

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Der junge Zauberer versuchte, sich aus ihrem Würgegriff zu

lösen, doch vergebens. Auch schien es ihm nicht möglich, sich
mittels Magie aus seiner misslichen Lage zu befreien, denn er
war vor Kälte wie gelähmt. Als Leo ihm zur Hilfe eilen und die
wahnsinnige Alte ergreifen wollte, glitten seine Hände einfach
durch sie hindurch, als würde sie aus frisch gefallenem Schnee
bestehen.

»Es tut mir Leid«, keuchte Selim, dessen Gesicht langsam rot

anlief, während sich auf seinem Körper eine dünne Reifschicht
bildete, »aber ich wollte dich nicht … verärgern.«

»Verärgern?«, keifte der weibliche Kummerfluch und drückte

noch ein bisschen fester zu. »Du hast eine Todsünde begangen,
und dafür wirst du sterben, du Wurm.«

»Bitte hör mich an«, stieß Leo hervor. »Hier liegt

offensichtlich ein Missverständnis vor. Wir suchen hier doch nur
einen Eingang in die Stadt. Meine Frau und ihre Schwestern
sind in großer Gefahr! Zeyn hat einen Bann über Ald’maran
gelegt, sodass wir nicht auf normalem Wege hineinkönnen und
–«

Die Alte erstarrte und lockerte ihren Griff um Selims Hals.

»Zeyn?«, krächzte sie, und ihre Augen funkelten. »Treibt dieser
Teufel denn noch immer sein Unwesen in Ald’maran?«

»Du kennst ihn?«, fragte Leo.

»Er hat mir vor langer Zeit das Leben genommen – gleich

hier, wo ihr steht. Und dann hat er mir meine Seele gestohlen …
und sich von ihr genährt.« Sie ließ von Selim ab, der hustete und
keuchte, und senkte ihr eisgraues Haupt. »Seither ist es kalt um
mich, und ich kann keinen Frieden mehr finden.«

Leo verstand nicht. »Wer bist du? Und was meinst du damit,

er hat sich von deiner Seele genährt?«

»Einst nannte man mich Malah, die Gütige.« Die Alte lachte

bitter. »Doch dann riss mir Zeyn das Herz heraus, weil er in ihm

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den Sitz der Seele vermutete und den Ursprung meiner Magie
… und er aß es vor meinen Augen. Ich habe es mit angesehen,
denn ich war zu diesem Zeitpunkt noch … am Leben. Und das
ist auch der Grund, warum ich seitdem verdammt bin, auf Erden
zu wandeln und zu trauern, bis einer kommt, der den Dämon
tötet und den Fluch bricht.«

Für eine Weile schwieg Leo. Was für ein grausames

Schicksal!

»Malah war eine Zauberin«, setzte Selim leise hinzu. »Genau

wie meine Mutter, und sie starb auch wie meine Mutter …«

»Wir werden dafür sorgen, dass Zeyn vom Antlitz dieser

Erde verschwindet und deine gepeinigte Seele Frieden findet«,
sagte Leo. »Doch zuvor müssen wir diesen Tunnel in die Stadt
finden.«

Die bläuliche Gestalt der alten Frau schwebte auf den

altarähnlichen Aufbau zu, der mit einer schweren Granitplatte
abgedeckt war. Sie hob eine dürre Hand, und schon schob sich
die Abdeckplatte knirschend beiseite. Darunter wurde eine grob
behauene Steintreppe sichtbar, die in die Tiefe führte.

»Das ist der Weg in die Stadt«, sagte Malah. »Findet und

tötet Zeyn. Aber habt Acht, der Gang ist womöglich von seinen
abscheulichen Kreaturen bevölkert.«

Der alte Zeyn lehnte sich vor, legte die Hände auf die matt

schimmernde Obsidiankugel und schloss die Augen. Ein Wirbel
aus Licht und Farben durchflutete seinen Geist, und sein
missgestalteter Körper erbebte. Und dann war die Verbindung
endlich wieder hergestellt.

Er sah, wie Selim in Begleitung eines blonden Mannes in die

unterirdische Gruft hinabstieg, von welcher der alte Tunnel in
die Stadt führte.

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- 133 -

»Du bist schlau, mein Junge«, flüsterte Zeyn. »Aber nicht

schlau genug!« Er öffnete die Augen und sah hinab auf die
Schale mit der trüben Flüssigkeit. Er lächelte. »Bei Iblis, meine
Macht wird grenzenlos sein.«

Und dann beschwor er den Wächter.

Zögernd stiegen Selim und Leo die massiven Steinstufen

hinab in die Tiefe, während die schwere Steinplatte über ihnen
von Malah, dem Kummerfluch, wieder über den Einstieg
geschoben wurde.

Sie erreichten ein kleines Gewölbe, von dem ein langer,

dunkler Gang abging. Und obwohl von außen kein Licht an
diesen Ort dringen konnte, war die kleine Gruft in ein seltsam
rötliches Licht getaucht.

Leo blickte zur Decke, an der einige schlafende Fledermäuse

hingen. Es musste hier also mindestens einen Ausgang ins Freie
geben.

»Das dürfte der unterirdische Zugang in die Stadt sein, von

dem ich gelesen habe«, sagte Selim. »Er wurde vor langer Zeit
gebaut, um Waren und Truppen unbemerkt hinein- und
hinauszuschmuggeln. Ald’maran war einst ein heiß umkämpfter
Ort«, fügte er hinzu.

»Wollen wir hoffen, dass dieser Gang dort nicht ebenso heiß

umkämpft ist«, meinte Leo und deutete in den Tunnel. »Wie
weit ist es denn bis zur Stadt, und wo kommen wir eigentlich
wieder raus?«

»In den alten Aufzeichnungen heißt es, dass der Gang beim

alten Friedhof direkt neben dem schwarzen Turm endet.«

»Wie praktisch«, meinte Leo. »Dann steigen wir also bei der

Höhle des Löwen wieder ans Tageslicht. Seltsam nur, dass Zeyn
diese Schwachstelle in seinem Plan nicht berücksichtigt hat.«

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»Mir scheint, es wäre ein wenig voreilig, jetzt schon zu

triumphieren«, erwiderte Selim und deutete sichtlich geschockt
in Richtung des dunklen Gangs.

Leo fuhr auf dem Absatz herum und starrte direkt in die

glühenden Augen einer Kreatur, die er noch nie zuvor gesehen
hatte.

In der kühlen Gruft unter dem Mausoleum, inmitten von

staubigen Skeletten und zerbrochenen Steinsärgen, beugte sich
Phoebe Halliwell über ihre sterbende Schwester und flüsterte:
»Bitte halte durch, Piper. Halte durch für die Macht der Drei,
für Leo und für dein ungeborenes Kind …«

Das Heulen der riesigen Kreatur war ohrenbetäubend,

während das Monstrum gleichzeitig einen wahren Feuersturm
entfachte.

Leo konnte gerade noch rechtzeitig zur Seite springen, bevor

ihn die Flammenschneise, die der Feuergolem mit seinen
plumpen Händen in seine Richtung aussandte, erfassen konnte.
Flammen züngelten um seine Schuhe und versengten das Leder.

Entschlossen trat Selim einen Schritt vor und hob die Hand,

um das schwarzrote Ungetüm mit einem Energiestoß zu
zerstören. Doch im gleichen Moment öffnete der Feuergolem
sein riesiges Maul, und ein Schwall aus glühender Lava schoss
hervor. Unversehens stand der junge Zauberer mit seinen
Sneakers in einem kleinen See aus kochend heißem, zähem
Schmelzfluss. Er konnte noch nicht einmal vor Schmerz
schreien, denn er verlor auf der Stelle das Bewusstsein. Sein
lebloser Körper sank in die glühende Schlacke, die große Teile
seiner Kleidung und seiner Haut versengte.

Blitzschnell orbte sich Leo hinter das Monstrum aus der

Gefahrenzone und rannte in den Gang hinein, der laut Selim in

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die Stadt führte, um den Golem von dem jungen Magier
fortzulocken.

Als Wächter des Lichts verfügte er nur über diese eine,

defensive »Kampftechnik«, doch im Verbund mit den Kräften
der Zauberhaften hatte ihnen diese Fähigkeit in der
Vergangenheit mehr als einmal gute Dienste erwiesen. Nur dass
er jetzt völlig auf sich allein gestellt war und Selim in dem
kochend heißen, langsam erstarrenden Schmelzfluss zu sterben
drohte …

Doch das Ablenkungsmanöver funktionierte, denn die

massige Kreatur wandte sich um, stieß einen heulenden Schrei
aus, der Leo fast das Trommelfell platzen ließ, und nahm mit
donnernden Schritten die Verfolgung auf.

In diesem Moment wurde Leos Körper von Licht und Wärme

durchflutet, und ihm wurde schlagartig klar, dass die
Verbindung zu den Zauberhaften wieder hergestellt war.
Mindestens eine der Hexen musste ganz in der Nähe sein!

Noch im Laufen durch den düsteren Gang orbte er sich zur

Quelle des Energiestroms, der nun wieder zwischen ihm und
seinen Schutzbefohlenen floss.

Nachdem sie in der dunklen Gruft neben dem leblosen

Körper ihrer Schwester ausgeharrt hatte, konnte Phoebe ihr
Glück kaum fassen, als plötzlich Leo wie aus dem Nichts neben
ihr materialisierte.

Doch für Wiedersehensfreude blieb wenig Zeit.

»Leo!«, rief sie in einer Mischung aus Fassungslosigkeit und

Panik. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. »Hilf uns! Schnell!
Piper stirbt!«

Sofort sank der Wächter des Lichts neben der reglosen

Gestalt seiner Frau auf die Knie. Ihr Körper glühte wie unter
heftigem Fieber, während ihr Herzschlag soeben aussetzte. Er

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berührte sie sanft, und göttliches Licht floss durch seine Hände
in Piper hinein, neutralisierte den Fluch und weckte ihre
dahinscheidenden Lebensgeister. »Das war knapp«, murmelte
Leo und seufzte erleichtert.

Im gleichen Moment holte Piper tief Luft und schlug

überrascht die Augen auf. »Leo«, hauchte sie, und schon lagen
sich die beiden in den Armen.

Auch Phoebe fiel ein Riesenstein vom Herzen, doch die drei

hatten keine Gelegenheit, ihren äußerst knappen Sieg über
Pipers drohenden Tod auch nur eine Sekunde lang zu feiern,
geschweige denn, einander irgendetwas zu erklären.

Aus der Ferne drang ein unheilvolles Stampfen aus dem

Tunnel an ihr Ohr, das den Boden des unterirdischen Grabmals
mit jedem Schritt erzittern ließ. Und dann folgte ein Heulen, als
ob sich Zerberus persönlich auf dem Weg zu ihnen befand.

»Was ist das?«, fragte Piper erschrocken und sprang auf die

Füße.

»Feuergolem!«, stieß Leo hervor.

»Ein Feuergolem?«, wiederholte Phoebe lahm.

»Kann ich euch jetzt nicht im Einzelnen erklären«, rief der

Wächter des Lichts ungeduldig, »Selim ist ebenfalls schwer
verletzt, wenn nicht schon tot, und mir ist ein Feuergolem auf
den Fersen, der jeden Moment hier auftauchen wird!«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da erschien das

Ungetüm auch schon in dem Gang, der von der Krypta aus der
Stadt hinausführte, und stampfte heulend auf sie zu. Seine
Gestalt füllte den Tunnel fast völlig aus, der massige Körper war
eine einzige brodelnde Masse aus züngelnden Flammen, Ruß
und Glutklumpen, und die riesigen Augen in seinem formlosen
Kopf brannten wie glühende Kohlen.

Phoebe hielt vor Schreck den Atem an. Schon hatte der

Golem einen seiner plumpen Arme erhoben, und einen Atemzug

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später wälzte sich eine riesige Feuerkugel auf Phoebe zu.
Blitzschnell erhob sich die junge Hexe in die Lüfte, sodass das
verheerende Flammengeschoss unter ihr hindurchraste und an
der Wand hinter ihr explodierte.

Der Golem heulte erneut auf, öffnete sein Maul, und eine Flut

aus kochend heißer, schwarzroter Lava strömte hervor.

Piper zögerte keine Sekunde länger und zog die magische

Notbremse. Die Zeit fror ein. Der Schmelzfluss aus dem
Schlund des Golems erstarrte, und der Lavastrom hing nun aus
seinem Maul herab wie eine dicke, klebrige Zunge. Doch Piper
fackelte nicht lange und schickte das Monstrum mittels
Molekularbeschleunigung hinab in den Orkus. Als der
Feuergolem in Abermillionen Teilchen explodierte, war die
Hitze in dem Grabmal für einige Sekunden kaum auszuhalten.

»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte Piper ihren

Ehemann, nachdem der feurige Spuk vorbei war. Ihr Blick blieb
an Leos Gesicht hängen, auf dem sich breite Dreckspuren
befanden. »Und wieso siehst du aus wie ein Guerilla?«

»Ist ’ne lange Geschichte«, stieß Leo hervor. »Erzähle ich

euch später. Doch erst mal muss ich zurück zu Selim. Vielleicht
kann ich ihn noch retten.«

Phoebe, Piper und Leo nahmen sich bei den Händen, und

dann orbten die beiden Schwestern im Schlepptau des Wächters
zu der Stelle zurück, an der Selim am Boden lag. Die Schlacke
um ihn herum begann langsam zu erstarren; doch nicht nur aus
diesem Grund war Eile geboten.

»Hoffentlich ist es noch nicht zu spät!« Leo kniete neben

dem jungen Zauberer nieder und legte ihm vorsichtig seine
heilenden Hände auf die Brust. Wie schon zuvor bei Piper
umspielte sogleich ein unwirkliches, bläuliches Licht seine
schlanken Finger, dann suchte und fand die göttliche Energie
ihren Weg in den Körper des sterbenden Magiers.

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Phoebe und Piper hielten den Atem an.

Und schließlich, wie durch ein Wunder, begann Selims Herz

wieder zu schlagen. Jäh riss der junge Mann seine
smaragdfarbenen Augen auf und blickte erstaunt in drei
Gesichter, die ihn erwartungsvoll anstarrten. »Was ist
passiert?«, stöhnte er benommen.

»Das würden wir gern von dir erfahren, Selim«, sagte Piper

mit eisiger Stimme. »Wo zum Teufel ist unsere Schwester?«

Vorsichtig stiegen Paige, Seif und Suleiman die schmale

steile Wendeltreppe hinab.

Paige fühlte sich von Minute zu Minute elender. Zu der stetig

wachsenden Schwäche, die das Ghulgift ihr verursachte, kam
nun auch noch eine große Übelkeit hinzu.

Sie wusste nicht, wie sie in diesem Zustand und ohne ihre

Zauberkräfte Zeyn widerstehen sollte, käme es zu einer
Konfrontation mit dem Erzdämon und seinen Schergen.

Und sie hatte auch nicht den Hauch einer Idee, wie es ihnen

drei gelingen sollte, den Turm unbehelligt zu verlassen. Und
dennoch, sie mussten es einfach versuchen. Wenn nicht, dann
verendete sie hier in diesem elenden Loch wie ein verletztes
Tier, fern von zu Hause und fern von ihren Schwestern.

Sie zwang ihren Magen unter Kontrolle und ging weiter, bis

sie und die beiden jungen Männer die erste Aussichtsplattform
erreichten.

Draußen begann die Sonne zu sinken. Es musste inzwischen

später Nachmittag sein.

Mit weichen Knien lehnte sich Paige an die Wand neben

einem der Fenster und schloss für einen Moment die Augen.

Seif und Suleiman sahen sich besorgt an.

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- 139 -

»Fühlst du dich schlechter?«, fragte der jüngere der beiden

Brüder, und seine Stirn umwölkte sich.

Paige straffte sich und ballte die Fäuste. »Keine Sorge«, sagte

sie leise. »Wird schon irgendwie gehen … Wenn wir nur bald
hier herauskommen und meine Schwestern treffen, dann … wird
bestimmt alles gut.« Sie senkte den Blick. »Es muss einfach gut
werden … Bis jetzt ist doch noch immer alles gut geworden …«

»Du bist eine sehr starke Frau«, sagte Suleiman mit fester

Stimme und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Du wirst es
schaffen, dessen bin ich sicher.« Doch im Stillen war er ganz
und gar nicht davon überzeugt, dass die schöne Hexe das
Abenteuer, in das sein Halbbruder Selim sie gestürzt hatte,
tatsächlich überleben würde. Soviel er wusste, gab es nämlich
keineswegs ein Heilmittel gegen Ghulgift.

Paige versuchte ein halbherziges Lächeln. Die Worte des

ernsthaften jungen Mannes trösteten und ermutigten sie
gleichermaßen. »Wir sollten weitergehen«, sagte sie.

Sie gelangten ins nächste Geschoss, das dem vorherigen

ähnelte, bis auf die Tatsache, dass hier die Fenster lediglich die
Ausmaße von Schießscharten hatten.

Die alte Öllampe, die Paige schon bei ihrem ersten Besuch

entdeckt hatte, lag noch immer am Boden.

Die junge Hexe fragte sich, ob ihnen dieses Ding vielleicht

irgendwie von Nutzen sein konnte. Sie bückte sich, ergriff die
Lampe und betrachtete sie genauer. Sie war über und über mit
Staub und Patina bedeckt. An einer Seite entdeckte Paige den
kleinen Stutzen, durch den die Lampe mit Öl befüllt wurde.
Paige zog ihn heraus und schnüffelte an der Öffnung.

»Vorsicht!«, rief Suleiman, doch es war schon zu spät.

In diesem Moment stieg Dampf aus der Messingleuchte auf,

der sich rasch vermehrte und verdichtete, um sich schließlich zu
einem riesenhaften Gebilde zu manifestieren.

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»Ein Dschinn!«, rief Seif und wich unwillkürlich einen

Schritt zurück.

»Endlich!«, donnerte die Stimme des Geistes. »Frei!« Er warf

den Kopf in den feisten Nacken und lachte dröhnend.

Erschrocken ließ Paige die Lampe fallen. Der Dschinn hatte

die Gestalt eines fetten, kahlköpfigen Schwergewichtlers und
war gut zweieinhalb Meter groß. Um seine mächtigen
Unterarme wanden sich eiserne Manschetten, und an seinem
linken Ohrläppchen baumelte ein goldener Ring. Fast hätte man
ihn für einen einfältigen Jahrmarktsboxer halten können, wenn
er nicht so verdammt wütend ausgesehen hätte. Unheilvoll
schwebte er vor Paige, Seif und Suleiman in der Luft.

»Ihr Menschlein seid also meine Befreier«, stellte er höhnisch

fest.

»Wer bist du?«, fragte Paige.

»Man nannte mich Omar«, erwiderte der Dschinn hochmütig.

»Einst war ich in Diensten des mächtigen Zauberers Stamatis.«
Seine Stimme wurde grimmig. »Doch dann hat mich seine so
überaus redliche Frau in diese Lampe verbannt, in der ich nun
seit über hundert Jahren meiner Befreiung harrte.«

»Warum hat dich denn die Frau des Zauberers in die Lampe

gesperrt?«, fragte Seif neugierig, dem der Ernst der Situation
anscheinend nicht bewusst war.

»Die dumme Gans hatte die Arbeit ihres Mannes nicht

gutgeheißen«, erwiderte der Dschinn. »Und dazu zählte auch,
dass er sich dabei meiner Hilfe bediente, der Hilfe eines Iblis-
Dämonen. Und so hat sie mich aus dem Weg geräumt, nachdem
ihr Mann der Hexerei und Nekromantie verdächtigt und
hingerichtet worden war.«

»Die Arbeit deines Herrn war wohl offensichtlich die

schwarze Magie«, sagte Suleiman verächtlich. »Wie soll man
dergleichen gutheißen?«

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- 141 -

»Schweig, Nichtswürdiger«, donnerte der Dschinn.

»Schwarze Magie, weiße Magie – es ist doch alles nur eine
Frage des Standpunkts. Und überhaupt, was verstehst du schon
davon?«

»Vielleicht mehr als du denkst«, erwiderte Suleiman, und

seine schwarzen Brauen zogen sich zusammen. »Es ist auch eine
Frage der Achtung vor der Schöpfung. Doch sprich, was hast du
nun vor, da du wieder in Freiheit bist?«

»Zuerst werde ich euch töten«, sagte der Lampengeist

leichthin, »denn es ist auf Erden kein Platz für niedere, ach so
rechtschaffene Kreaturen, wie ihr es seid. Denn man darf die
Schöpfung, wie du es nennst, nie sich selbst überlassen, sonst
richtet sie sich am Ende gegen das, was noch über ihr steht.«

»Du stehst also über der Schöpfung?«, fragte Suleiman, der

zunehmend gereizter klang.

»Auf jeden Fall stehe ich über den so genannten

wohlanständigen Sterblichen«, sagte der Dschinn verächtlich.
»Und ein Mensch, der nicht in Diensten Iblis’ steht, ist es nicht
wert zu leben.«

»Ist das also der Lohn dafür, dass wir dich befreit haben?«,

ereiferte sich Paige, der immer übler wurde. »Zum Dank tötest
du uns?«

»Dank?« Der Lampengeist lachte spöttisch. »Ein mächtiger

Dschinn wie ich ist keinem Menschen zu Dank verpflichtet.
Vielmehr ist es für jeden großen Schwarzkünstler eine Ehre,
mich an seiner Seite zu haben. Die größten Magier der Welt sind
mir zu Dank verpflichtet.«

»Du willst ein mächtiger Dschinn sein?«, höhnte Paige, der

plötzlich eine Idee gekommen war. »So mächtig, dass du dich
von einer Frau in eine Öllampe hast einsperren lassen?«

Suleiman blickte die Hexe erschrocken an. Wieso provozierte

Paige den Dämon zu allem Überfluss?

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»Du wagst es –«, begann der Dschinn und schwebte drohend

auf Paige zu.

Doch Seif, der begriff, was Paige plante, warf ihr einen viel

sagenden Blick zu und fiel dem Lampengeist ins Wort.
»Wahrscheinlich bist du nur ein Scharlatan, der uns weismachen
will, er wäre so allvermögend, dass er selbst in diesem kleinen
Ding Platz fände.« Er bückte sich, hob die alte Öllampe wieder
auf und grinste spöttisch in Richtung seiner beiden Begleiter.
»Ich sage euch, kein Dschinn dieser Welt vermag ein solches
Kunststück zu vollbringen.«

Der Dschinn drehte sich zu dem frechen jungen Mann um

und lachte. »Ich werde dich lehren, mich zu verspotten, du
Wurm.«

In diesem Moment rief Suleiman, der das Spiel von Paige

und Seif endlich durchschaut hatte: »Dann beweise doch, wie
mächtig du bist, Dschinn.« Er wusste, das war eine riskante
Forderung, doch er zählte auf die altbekannte Eitelkeit der von
der schwarzen Seite korrumpierten Dämonen.

Und tatsächlich fiel der Lampengeist darauf herein. Mit den

Worten »So soll es sein« zog sich seine halbtransparente Gestalt
zusammen, bis sie einem schlaffen Luftballon glich, und fuhr
dann in Windeseile zurück in die alte Öllampe, die Seif noch
immer in Händen hielt.

Sofort versiegelte Seif den Einfüllstutzen mit dem magischen

Pfropfen und wandte sich mit einem triumphierenden Grinsen
zu Suleiman und Paige um. »Du liebe Güte, dieser Omar ist
nicht nur unglaublich ›mächtig‹, sondern vor allem unglaublich
einfältig.«

»Gut gemacht!«, riefen Paige und Suleiman wie aus einem

Munde.

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Aus dem Innern der Lampe war ein blechernes, dünnes

Stimmchen zu hören. »Lasst mich frei! So lasst mich doch
wieder frei!«

Der junge Seif grinste von einem Ohr zum anderen. »Wie bist

du überhaupt auf die grandiose Idee gekommen, den eitlen
Dschinn herauszufordern, auf dass er tatsächlich wieder in die
Lampe zurückkehrt?«, wollte er von Paige wissen.

»Ich hab mich an ein Märchen aus 1001 Nacht erinnert«,

erklärte Paige, doch Seif sah sie nur verständnislos an.

Suleiman räusperte sich. »Könntet ihr das vielleicht später

erörtern? Wir sollten zusehen, dass wir von hier verschwinden.«
Er deutete auf die Messinglampe, aus der noch immer die
kläglichen Hilferufe des Dschinns drangen. »Und was machen
wir mit diesem Wichtigtuer hier?«

Der Dschinn in der Lampe hatte sich zwischenzeitlich vom

Betteln übers Fluchen aufs Verwünschen und wieder zurück
aufs Flehen verlegt.

»Vielleicht kann er uns ja irgendwie von Nutzen sein?«,

murmelte Paige. »In dem Märchen, an das ich mich erinnert
habe –« Sie brach ab und begann plötzlich heftig zu frösteln.
Kalter Schweiß trat ihr auf die Stirn, und wieder gaben ihre
Beine nach. Das Ghulgift wirkte immer stärker.

»Wie sollte er uns von Nutzen sein?«, fragte Seif.

»Naja, er ist doch ein Dschinn, oder?«, presste Paige hervor.

»Vielleicht kann er uns mit seiner Magie helfen, hier
herauszukommen, wenn wir ihn noch mal befreien.«

»Lass mich raus! Ich hab’s doch nicht so gemeint«, flehte der

Dämon aus dem Innern der Lampe. »Ich werde euch auch nichts
zu Leide tun!«

»Das wage ich zu bezweifeln«, sagte Suleiman. »Er wird uns

wieder um unseren wohlverdienten Lohn bringen wollen, wenn
wir ihn freigelassen haben.«

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In diesem Moment knickten Paige die Beine endgültig ein,

und sie sank an der Wand zu Boden. Die Welt um sie herum
wurde immer schwärzer, und sie musste einen Brechreiz
unterdrücken.

»Paige!«, rief Seif alarmiert. Er drückte Suleiman die Lampe

in die Hand und war sofort an der Seite der jungen Hexe. Sacht
stützte er sie und streichelte ihr über die Wange. »Halte durch,
es wird alles gut.«

»Ihr habt zwei Möglichkeiten«, sagte Paige mit brüchiger

Stimme. »Entweder ihr befreit den Dschinn, und wir lassen uns
von ihm hier herausbringen, oder aber ihr kämpft euch
eigenhändig aus diesem Turm – ohne mich.« Sie schloss die
Augen, denn eine unendliche Müdigkeit umfing sie.

»Paige!«, rief Seif erneut und sah seinen älteren Bruder

flehend an. »Tu doch was, Suleiman! Lass den Lampengeist
frei!«

»Aber er steht doch in Diensten der dunklen Seite. Wie

können wir seinen Worten trauen?« In einer verzweifelten Geste
fuhr sich Suleiman mit der Hand durch das seidige schwarze
Haar. Dann hob er die Lampe an sein Gesicht und sprach:
»Höre, Dschinn. Wenn wir dich befreien, was genau ist unsere
Belohnung?«

»Ich werde euch am Leben lassen, und ihr habt zudem noch

einen Wunsch frei!«, kam es piepsend aus der Lampe.

Suleiman sah Seif zweifelnd an.

»Ich erfülle euch jeden Wunsch der Welt«, fügte der Dschinn

nachdrücklich hinzu. »Allein den Wunsch auf beliebig viele
weitere Wünsche kann ich euch natürlich nicht erfüllen.«

Suleiman schien sichtlich mit sich zu ringen. Konnte man

dem von der dunklen Seite Korrumpierten wirklich glauben?
Doch als er die halb tote, in sich zusammengesunkene Paige und
den hilflosen Blick seines Bruders sah, zog er mit

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zusammengebissenen Zähnen den magischen Pfropfen aus der
Lampe.

Der Dschinn entströmte dem Messingbehälter wie ein

schlechter Geruch und baute sich wieder zu voller Größe auf.
»Eine gute Entscheidung«, brummte er zufrieden in die Runde,
und zu Suleiman: »So sprich, Mensch, was ist dein Begehr?«

Seif atmete erleichtert auf. Offensichtlich gab es selbst unter

bösartigen Dschinnen so etwas wie einen Ehrenkodex.

»Mach diese Frau gesund!«, forderte Suleiman ohne zu

zögern und deutete auf Paige. »Es ist Ghulgift in ihrem Körper,
und sie stirbt.«

»Nichts leichter als das«, sprach der Dschinn. Er hob seinen

feisten Arm, dem daraufhin ein rotgoldenes Licht entströmte,
und schon im nächsten Moment schlug Paige die Augen auf.
Das Blut kehrte in ihre Wangen zurück, und ihre Atmung
normalisierte sich. »Danke«, hauchte sie in Richtung Suleiman.

»Gebührt der Dank nicht eher mir?«, fragte der dicke

Dschinn beleidigt.

Paige war aufgestanden. »Das verstehst du nicht«, sagte sie

zu dem Lampengeist. »Suleiman hätte sich ebenso gut wünschen
können, dass du uns hier herausbringst. Die Brüder wären
dadurch in Sicherheit gewesen, aber … für mich hätte es wohl
den Tod bedeutet. Den Tod deshalb, weil wir in Ald’maran auf
die Schnelle vermutlich keinen Heiler mehr für mich gefunden
hätten. Kurz: Ich wäre mit Sicherheit gestorben, hätte Suleiman
sich anders entschieden.«

Suleiman verzichtete darauf, Paige zu gestehen, dass es

seines Wissens überhaupt kein Gegenmittel für eine durch
Ghulgift hervorgerufene Infektion gab, Heiler hin oder her.

Erstmals sah sich der Dschinn genauer in dem Turmgeschoss

um. »Was ist das für ein Gebäude hier?«, verlangte er zu wissen.

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»Der schwarze Turm des Zeyn«, sagte Suleiman. »Zeyn ist

derjenige, der uns hier eingesperrt hat, er ist ein mächtiger –«

»Ich kenne Zeyn«, donnerte der Dschinn, und seine Züge

verfinsterten sich. »Er ist der Mentor meines ehemaligen
Meisters.«

Für einen Moment wurde es totenstill auf der Turmplattform.

Die Worte des Dschinns hatten eingeschlagen wie eine Bombe.

Der junge Seif stellte schließlich die Frage, die allen auf den

Nägeln brannte. »Heißt das, dass du nun Zeyn zu dienen
wünschst, Omar?« Jedem der Anwesenden war klar, was das für
sie bedeuten würde.

Der dicke Dschinn verzog das Gesicht. »Das heißt es

keineswegs«, sagte er langsam. »Zeyn wusste, was die Frau des
Schwarzmagiers mit mir vorhatte, und hätte es verhindern, oder
mich doch zumindest wieder aus dieser Lampe befreien können.
Aber er unterließ es. Er hatte wohl seine ganz eigenen Pläne und
wachte eifersüchtig über alles, was mein Meister an Großem
hervorbrachte. Tatsächlich stahl er ihm, seinem eigenen Schüler,
einige seiner viel versprechendsten Erfindungen, doch mein
Meister vertraute ihm blind. Niemals werde ich einem
Hundesohn wie Zeyn dienen!«

Man konnte die Erleichterung fast körperlich spüren, die

Paige, Seif und Suleiman erfasste.

»Was gedenkst du nun zu tun?«, fragte Paige, und Hoffnung

glomm in ihren Augen. »Wirst du dich an Zeyn rächen und ihn
vernichten?«

»Das würde ich gern, doch ich kann es nicht«, sagte der

Dschinn und senkte beschämt den Blick. »Dazu wiederum reicht
meine Macht nicht aus.«

Seif wollte den dicken Omar gerade fragen, was genau er mit

dieser Bemerkung meinte, aber er beschloss, den Lampengeist

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nicht noch mehr zu demütigen, als es offensichtlich ohnehin
schon der Fall war.

»Ich kapiere nicht, wie ein hässlicher kleiner Zwerg wie

dieser Zeyn so viel Macht an sich reißen konnte«, platzte Paige
verärgert heraus.

»Hässlicher kleiner Zwerg?«, wiederholte der Dschinn. »Was

redest du, Mädchen! Der Zeyn, den ich kannte, war eine
strahlende Lichtgestalt von überirdischer Schönheit.«

Für einen Augenblick starrten Paige und die beiden Brüder

einander verständnislos an.

»Der Zeyn, den ich kannte«, fuhr der Dschinn mit bitterer

Stimme fort, »besaß das Gesicht eines Engels und die Seele
eines Teufels. Doch Zeyn stand auf niemandes Seite, und in
seinem Hochmut hätte er selbst meinen Schöpfer Iblis verraten,
um seine eigene Macht zu mehren und die Welt zu
beherrschen.«

»Dann hilf uns doch bitte, hier herauszukommen, damit wir

ihn vernichten können!«, rief Paige verzweifelt.

»Ihr wollt Zeyn vernichten?«, fragte der Dschinn. Und dann

lachte er so heftig, dass sein Wanst und das Doppelkinn
wackelten. Doch trotz allem war es ein freudloses, keineswegs
ansteckendes Lachen.

Erneut sahen sich die Hexe und die beiden Magier

unbehaglich an.

»Ihr könnt Zeyn nicht vernichten, denn er ist unsterblich«,

sagte der Dschinn schließlich. »Keine Macht der Welt kann ihn
töten.«

Wie vom Donner gerührt standen Paige, Seif und Suleiman

da.

Zeyn unsterblich!, schoss es einem jeden von ihnen durch

den Kopf. Was heißt das für unseren Kampf gegen ihn? Und

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was bedeutet es für unsere Kräfte, die er uns geraubt hat? Wird
es uns je gelingen, unsere Magie wieder zurückzubekommen?
Und wie um alles in der Welt soll das möglich sein bei einem
Gegner, den man nicht vernichten kann?

Es war Suleiman, der mit heiserer Stimme als Erster wieder

das Wort ergriff. »Du hast Paiges Leben gerettet, und wir sind
dir zu größtem Dank verpflichtet, mächtiger Omar«, begann er
diplomatisch. »Doch verstehe mein Ansinnen jetzt nicht falsch,
wenn ich … wenn ich dich demütigst bitte, uns hier
herauszuhelfen. Wir mögen zwar auf entgegengesetzten Seiten
kämpfen, doch in unserem Wunsch, Zeyn vom Antlitz dieser
Welt zu fegen, stehen wir doch nun hier zusammen. Und glaube
mir, großer Omar, wir werden nichts unversucht lassen, genau
dieses zu tun, wenn wir erst einmal in Freiheit sind. Ich weiß, du
könntest uns mit Leichtigkeit unserem Schicksal und damit
Zeyn überlassen, doch bedenke auch: Eine solche Entscheidung
vermagst du nur zu treffen, weil es uns überhaupt gibt.«

Paige fand, Suleiman verstand sich ausgezeichnet darauf,

dem dicken Dämon mit wohlgesetzten Worten Honig ums Maul
zu schmieren. Und sie hoffte inständig, dass diese Taktik von
Erfolg gekrönt sein würde.

»So soll ich dir also ein weiteres Mal für meine Befreiung

zum Dank gefällig sein? Du überstrapazierst meine
Großherzigkeit, Mensch!«, grollte der Dschinn, doch man sah
ihm deutlich an, dass ihm Suleimans Worte geschmeichelt
hatten, denn ein selbstgefälliger Ausdruck war auf seinem
Gesicht erschienen. Er verfiel einige Sekunden ins Grübeln und
runzelte dabei die feiste Stirn, als ob der komplizierte
Sachverhalt begann, ihn langsam, aber sicher zu überfordern.

»Was du sagst, ist indes nicht falsch«, fuhr der Lampengeist

fort. »Der Feind meines Feindes muss letzten Endes mein
Freund sein … So will ich denn ein letztes Mal gegen meine
Prinzipien handeln, da es einem höheren Ziel zu dienen scheint.
Lebt wohl!«

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Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da fanden sich

Paige, Suleiman und Seif am Fuße des schwarzen Turms neben
dem alten Friedhof wieder.

Omar, der Iblis-Dschinn, hatte das unglückliche Trio

tatsächlich hinaus in die Freiheit befördert!

»Wir sind draußen!«, jubelte Seif und fiel Paige und

Suleiman um den Hals. »Endlich!«

Paige schossen vor Erleichterung die Tränen in die Augen,

während Suleiman befreit ausatmete.

»Wir sollten schleunigst von hier verschwinden und im Haus

unseres Vaters die nächsten Schritte besprechen«, sagte er zu
Paige. Er blickte zum immer noch strahlend blauen Himmel auf.
»Die Sonne geht in wenigen Stunden unter, und –«

In diesem Moment wurden Stimmen hinter ihnen laut, und

dann geschah das schier Unglaubliche.

Aus dem alten Mausoleum ganz in der Nähe stiegen vier

Gestalten ans Tageslicht!

Es waren Piper, Phoebe, Leo und – Paige blieb fast das Herz

stehen – Selim!

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6

I

M HAUS DES ALTEN IBRAHIM

saßen Leo, die

Zauberhaften

und die drei Brüder zusammen und

beratschlagten, was als Nächstes zu tun sei.

Man hatte es sich im Erdgeschoss um den runden

Messingtisch gemütlich gemacht und trank Tee, während der
Vater der jungen Magier schweigend dabeisaß und seine
Wasserpfeife rauchte.

Die Wiedersehensfreude war groß gewesen, und schon auf

ihrem Rückweg vom Turm nach Ald’maran hatten die sieben
begonnen, sich über das, was in den letzten Stunden passiert
war, gegenseitig ins Bild zu setzen.

In Ibrahims Heim angekommen hatten sie sich erst einmal am

hauseigenen Brunnen, der im kühlen Innenhof stand, vom Staub
und Schweiß des Tages befreit. Danach hatte sich Selim
umgezogen, denn die Jeans und das Shirt, die er getragen hatte,
waren von der glühenden Schlacke fast völlig versengt gewesen,
sodass sie in Fetzen an ihm heruntergehangen hatten.

Die Brandwunden, die er durch die Lava-Attacke des

Feuergolems davongetragen hatte, waren dank Leo noch an Ort
und Stelle vollständig verheilt. Genau wie Pipers Wunde am
Oberarm, die ihr der Vogeldämon mit seinem verwünschten
Dolch beigebracht hatte.

Draußen ging langsam die Sonne unter, während Selim beim

Schein der Öllampe seinen Brüdern und den Besuchern aus der
Zukunft noch einmal detailliert berichtete, was nach der
Gefangennahme Seifs und Suleimans genau passiert war.

Paige beobachtete den jungen Mann verstohlen, der sich

gerade eine Locke aus der Stirn strich und sagte: »Und so bin
ich mithilfe des Buchs der Weisheit in eure Zeit gereist, um die
verwandte Seele ausfindig zu machen, von der in der

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Prophezeiung die Rede war.« Er sandte einen verliebten Blick in
Richtung Paige, die daraufhin flammend rot wurde.

Piper, die sich eng an Leo gekuschelt hatte, musste grinsen.

Sie konnte gut verstehen, warum ihre Halbschwester dem
jungen Mann so ohne weiteres zu dem Hotel gefolgt war. Dieser
Selim war nicht nur ein ausgesprochen attraktiver Bursche mit
seinen dunkelgrünen Augen und den schwarzen langen Locken,
sondern schien darüber hinaus auch noch ein überaus
einnehmendes Wesen zu haben. Und zweifellos war er von
Paige genauso fasziniert wie sie von ihm. Die Spannung, die
zwischen den beiden herrschte, war fast körperlich zu spüren.

Auch Phoebe ließ ihren Blick über die Anwesenden wandern.

Piper und Leo saßen Arm in Arm beisammen, unübersehbar
glücklich, nun, da sie wieder vereint waren. Die drei Brüder
waren jeder für sich bemerkenswerte junge Männer: Der stille,
ernste Suleiman mit dem schmalen, markanten Gesicht und den
glatten schwarzen Haaren, der lustige Seif mit seiner
spitzbübischen Miene, der störrischen Mähne und den
funkelnden hellbraunen Augen, und schließlich der anziehende
Selim, der von innen heraus zu strahlen schien wie ein junger
Gott.

Kein Wunder, dass sich Paige auf der Stelle in ihn verliebt

hat, dachte Phoebe. Sie musste an Niall, den Sohn des Merlin,
denken, in den sie selbst vor einigen Jahren bis über beide
Ohren verschossen gewesen und der ebenfalls aus der
Vergangenheit gekommen war, um den Lauf des Schicksals zu
ändern. Eine Geschichte mit traurigem Ausgang, denn ihr und
Niall war eine gemeinsame Zukunft versagt geblieben, da ein
jeder von ihnen am Ende in seine Zeit hatte zurückkehren
müssen. Phoebe hoffte inständig, dass Paige nicht ebenso viel
Schmerz widerfahren würde.

Sie seufzte, und ihre Gedanken wanderten wehmütig zu Cole.

Auch die Beziehung zu ihm hatte überaus dramatisch geendet.
Doch die Trauer über den Verlust ihrer wohl größten bisherigen

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Liebe verblasste mit jedem Tag mehr, seit Cole in die
Zwischenwelt verbannt worden war.

Weiß Gott, sie selbst hatte in den letzten Jahren wenig Glück

mit Männern gehabt, doch Phoebe gönnte ihrer Halbschwester
die neue Liebe von Herzen. Wenn da nur nicht dieses
unbestimmte Gefühl gewesen wäre, dass hier womöglich
irgendwas nicht stimmte. Ein Gefühl, das, abgesehen von der
Tatsache, dass die Zauberhaften wieder mal bis zum Hals in der
Tinte saßen, unablässig an Phoebe nagte.

Als schließlich alle Anwesenden alles, was wichtig war,

voneinander wussten, ergriff Suleiman das Wort. »Was machen
wir nun?«, fragte er. Und in der Tat war genau das der Punkt,
der jedermann am meisten beschäftigte.

»Das ist eine gute Frage«, meinte Piper und blickte ernst in

die Runde. »Halten wir doch noch einmal die Fakten fest«,
setzte sie hinzu. »Paige, Suleiman und Seif sind ohne ihre
Kräfte, die Zeyn ihnen gestohlen und absorbiert hat. Doch was
genau sind eigentlich eure Kräfte?«, fragte sie in Richtung der
beiden jüngeren Brüder. »Paige ist zur Hälfte Hexe und
Wächterin des Lichts, das heißt, sie beherrscht das Orben und
die Telekinese. Und beide Fähigkeiten gingen heute an Zeyn
über.«

»Ich konnte die Zeit zum Stillstand bringen«, sagte Suleiman.

»Das kann ich auch«, bemerkte Piper nicht ohne Stolz.

»Außerdem beherrsche ich die Molekularbeschleunigung.« Sie
erklärte den Fremden kurz die Funktionsweise dieses Zaubers.

»Molekularbeschleunigung ist auch eine meiner Kräfte«,

sagte Selim. »Ich wusste bisher nur nicht, dass man es auch so
nennt. Außerdem kann ich, ähm, orben, wenngleich nicht so
schnell wie Leo.« Er lächelte dem Wächter des Lichts viel
sagend zu.

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»Ich konnte auf verschiedene Weise Brände entfachen«,

meldete sich Seif zu Wort.

»Das stimmt«, meinte Selim. »Unser Bruder war ein Erfolg

versprechender Feuermagier.«

»Und ich werde es wieder sein!«, rief Seif trotzig. »Wir

werden diesen Zeyn vernichten!«

»Was uns zum nächsten Problem bringt«, sagte Suleiman.

»Omar, der Dschinn, hat behauptet, der Erzdämon sei
unsterblich. Was genau bedeutet das für uns?« Forschend sah er
die Anwesenden an.

Leo, der die ganze Zeit schweigend dagesessen hatte,

räusperte sich. »Das bedeutet, dass dieser Zeyn eigentlich gar
kein Dämon ist«, sagte er in seiner gewohnt ruhigen Art.

Diese Nachricht war nun wahrlich mehr als eine

Überraschung. Fünf Augenpaare sahen den Wächter des Lichts
verständnislos an, während der alte Ibrahim stumm nickte und
seinen Tee schlürfte.

»Was soll das heißen?«, verlangte Phoebe schließlich zu

wissen.

»Das soll heißen, dass Zeyn ein Malak ist«, sagte Ibrahim

düster.

»Ein Malak?« Paige erinnerte sich dunkel, dass Suleiman

noch im Kerker etwas zu diesem Thema erwähnt hatte.

»Die Mala’ika des Orients sind das, was in unserer Zeit die

Wächter des Lichts sind«, erklärte Leo. »Und bekanntlich
können wir nicht sterben. Ich kam darauf, als es hieß, Zeyn
könne im Grunde nicht getötet werden.«

»Mein Vater war auch ein Malak …«, sagte Selim leise in die

entstandene Pause hinein, »doch es stellte sich heraus, dass er
zur dunklen Seite übergewechselt war und meine Mutter töten
wollte.«

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»Du meinst –?«, begann Paige.

»Soll das bedeuten –?«, fragte Piper.

»Kann es sein, dass –?«, rief Phoebe.

Plötzlich redeten alle aufgeregt durcheinander, bis Leo die

Hand hob und um Ruhe bat.

»Ja, genau das scheint der Fall zu sein«, sagte er. »Zeyn ist

der Malak, welcher der Zauberin Djaudar einst zur Seite gestellt
wurde, doch er wurde von der dunklen Seite korrumpiert und
versuchte daher, Djaudar zu töten und sich ihres gemeinsamen
Sohns zu bemächtigen. Hätte ich von hier aus eine Möglichkeit,
zum Rat der Ältesten zu gelangen, wüssten wir es mit
Bestimmtheit, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es so ist.«

Für einen Moment war es, als ob die Zeit in dem dämmrigen

Zimmer in Ald’maran stillstand.

»Zeyn … ist … mein Vater?«, flüsterte Selim fassungslos.

Niemand sagte ein Wort.

»Mein Junge«, begann der alte Ibrahim mit brüchiger

Stimme. »Ich wollte dir meinen Verdacht schon längst mitteilen,
aber ich war nicht sicher –«

Doch der junge Magier war schon aufgesprungen und rannte

die Treppe zum Dachgeschoss hinauf.

Paige wollte ihm folgen, doch Leo hielt sie zurück. »Lass

ihm ein wenig Zeit«, sagte er ruhig. »Lass ihm ein wenig Zeit –
allein.«

Sechs junge Menschen starrten im Schein der Öllampe

bedrückt vor sich hin, bevor der alte Ibrahim wieder das Wort
ergriff und sie aus ihren Gedanken riss.

»Ich habe die Geschichte mit dem angeblich auf

Nimmerwiedersehen verschwundenen ersten Ehemann meiner

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Frau nie geglaubt«, sagte er traurig. »Hätte Djaudar mir damals
die ganze Wahrheit gesagt, wäre sie vielleicht noch am Leben.«

»Wie das, Vater?«, fragte Suleiman.

»Nun, wir hätten zu einem Zeitpunkt entsprechende

Vorkehrungen treffen können, als dies noch möglich war.
Djaudar erzählte mir, dass der Malak versucht hatte, sie zu töten
und ihr den kleinen Selim zu rauben. Doch danach ward er nicht
mehr gesehen, und sie hat das Thema auch nie wieder
angesprochen. Auch seinen Namen hat sie mir und auch euch
Kindern gegenüber nie erwähnt.« Er seufzte schwer. »Es war,
als ob es ihn nie gegeben hätte.«

»Als wir nach Ald’maran kamen«, fuhr der blinde Mann fort,

»muss uns der Malak jedoch dorthin gefolgt sein und sich in
dem schwarzen Turm niedergelassen haben. Djaudar hat gewiss
geahnt, dass die Sache mit ihm noch nicht vorbei war, doch sie
schwieg. Das war ein Fehler. Mit den Jahren muss sich Zeyn
dann in der Schwarzkunst fortgebildet und sich so eine Untoten-
Armee geschaffen haben.«

Phoebe und Piper nickten stumm, als sie an das makabre

Skelett-Aufgebot beim Friedhof dachten, und auch Paige lief bei
der Erinnerung an die widerlichen Ghule ein Schauer über den
Rücken. »Außerdem hat er sich mit Nekromantie beschäftigt«,
fiel ihr ein. Und dann berichtete sie den Anwesenden noch
einmal detailliert von Zeyns Horrorlaboratorium, auf das sie im
Turm gestoßen war, und was mit dem unglücklichen Abu
geschehen war.

»Und irgendwie muss er dann eine Möglichkeit gefunden

haben, sich die Zauberkräfte Dritter anzueignen«, fuhr der alte
Mann fort, »denn soviel ich herausgefunden habe, ist es einem
Malak nicht gegeben, die Magie der Elemente für sich zu
nutzen.«

»Das stimmt«, bestätigte Leo. »Ein Wächter des Lichts

verfügt im Allgemeinen nur über die Fähigkeit, sich zwischen

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den Dimensionen fortzubewegen, und er kann Schutzbefohlene
und Unschuldige heilen. Zeyn muss sich daher schon vor langer
Zeit vom Pfad des Lichts abgewandt haben.«

»Und er hat dafür gesorgt«, bemerkte Piper, »dass weiße

Magie den künftigen Schauplatz des Geschehens nicht zu
erreichen vermag. Er hat viel vorausgesehen und alle möglichen
Vorsichtsmaßnahmen getroffen, aber er wusste dennoch nicht,
dass Phoebe und ich hier sind, davon bin ich überzeugt.«

»So ist es«, sagte Leo. »Er hat sogar einen Bann über

Ald’maran gelegt, der verhindert, dass Hilfe in Form von weißer
Magie in die Stadt gelangen kann.«

»Und er hat seinen Turm zudem mit einem Schutzzauber

umgeben, der weiße Magie rund um das Gebäude neutralisiert«,
ergänzte Phoebe und erinnerte die Anwesenden noch einmal an
ihren und Pipers Kampf mit dem Vogeldämon.

»Das heißt, du, Leo, kannst von hier aus nicht zum Rat der

Ältesten, und wir können innerhalb Ald’marans mit Hilfe des
Buchs der Weisheit kein neues Zeitportal kreieren, um in San
Francisco zu recherchieren, richtig?«, Paige seufzte.

»Richtig«, bestätigte Leo. »Das Portal für eine eventuelle

Rückreise ins 21. Jahrhundert steht zwar noch irgendwo in der
Wüste vor den Toren der Stadt, aber dorthin kommen wir nur
über den unterirdischen Gang, dessen Einstieg sich im
Mausoleum des alten Friedhofs befindet. Ich halte es ehrlich
gesagt für viel zu riskant, diesen Weg noch einmal zu
beschreiten. Wenn Zeyn auch noch Piper und Phoebe in die
Finger kriegt, ist alles aus.«

Suleiman wandte sich an Piper und sagte: »Du hast eben

etwas erwähnt, was vielleicht wichtig sein könnte.«

»Ach ja?«

»Du sagtest sinngemäß«, fuhr der junge Mann fort, »dass

Zeyn viel vorausgesehen und entsprechende Vorbereitungen

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getroffen habe.« Er sah ernst in die Runde. »Doch wie genau
konnte Zeyn überhaupt so viel wissen? Was ich meine: Er muss
gewusst haben, dass Selim Kontakt mit Paige aufgenommen hat
und sie hierher bringen würde. Sonst hätte er sie niemals dem
Zeitstrom entreißen, ihre Kräfte stehlen und dann gefangen
setzen können! Doch wie ist das möglich?«

»Ganz einfach«, rief der junge Seif. »Er kann in die Zukunft

sehen!«

»Wenn er in die Zukunft sehen kam«, sagte Piper, »warum

wusste Zeyn dann nicht auch, dass Phoebe und ich in eure Zeit
gereist waren, und hat es verhindert?«

»Weil er nur das wusste, was Selim wusste«, sagte Phoebe

mit eisiger Stimme. Nun ist es heraus, dachte sie beklommen,
aber dieses Gefühl, dass Selim mehr mit der Sache zu tun hatte,
als er vorgab zu wissen, beunruhigte sie schon länger. Als sich
ihre Blicke trafen, spürte sie, dass auch Piper in eine ähnliche
Richtung dachte.

»Willst du vielleicht behaupten«, rief Seif aufgebracht, »dass

Selim ein falsches Spiel gespielt hat?«

»Immerhin ist er Zeyns Fleisch und Blut, oder nicht?«, gab

Piper zu bedenken.

»Ich glaube nicht, dass Selim eure Schwester in böser

Absicht hierher gelockt hat«, sagte Suleiman, doch er wirkte
plötzlich leicht verunsichert.

»Vielleicht war er ein Werkzeug Zeyns ohne es zu ahnen«,

murmelte Leo.

Alle sahen ihn fragend an.

»Na ja, es könnte doch sein, nein, es ist sogar sehr

wahrscheinlich«, erklärte der Wächter des Lichts, »dass es eine
irgendwie geartete, geheime Verbindung zwischen dem
ehemaligen Malak und seinem leiblichen Sohn gibt. Dass Zeyn
jederzeit genau wusste, wo Selim war und was dieser als

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Nächstes plante. So konnte er ganz bequem die Dinge
voraussehen und entsprechende Maßnahmen ergreifen, um
seinen Plan voranzutreiben.«

»Und was genau ist sein Plan?«, fragte Phoebe müde, der

langsam, aber sicher der Kopf schwirrte.

»Das Übliche, wie ich vermute – ultimative Macht. Ich

denke, ursprünglich wollte er nur die drei Magierbrüder
vernichten, da sie seine Pläne, die Weltherrschaft an sich zu
reißen, zu durchkreuzen drohten«, überlegte Leo. »Er fand einen
Weg, Magie zu absorbieren, und hat bei nächster Gelegenheit
Seif und Suleiman kaltgestellt. Damit war der magische Bund
der drei Brüder, der ihm hätte gefährlich werden können, bis auf
weiteres gestört.

Die Verbindung zu seinem leiblichen Sohn indes bestand

immer, und so hat Zeyn herausgefunden, dass Selim mit Hilfe
des Buchs der Weisheit einen Weg in die Zukunft suchte und
auch fand, um Paige, eine verwandte Seele, ausfindig zu
machen, damit sie ihm im Kampf gegen den Malak helfe.«

Der Wächter des Lichts machte eine kleine Pause und trank

einen Schluck Tee. Ungeduldig warteten die Anwesenden
darauf, dass er mit seiner These fortfuhr.

»Und dann«, führte Leo weiter aus, »indem er heimlich

Selims Pläne durchschaute, ist Zeyn aufgegangen, dass eine
mächtige Hexe im Begriff war, in seine Zeit zu kommen. Ich
vermute, der Gedanke hat ihn weniger beunruhigt, denn
triumphieren lassen. Plötzlich sah er die Möglichkeit
gekommen, weitere Zauberkräfte an sich zu reißen, und sein
Sohn verhalf ihm dazu, ohne es zu ahnen.«

»Und weil Selim nicht wusste, dass ich zwei

Hexenschwestern habe, wusste auch Zeyn nichts von ihnen?«,
fragte Paige.

Leo nickte.

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»Dennoch hat er einen Bann über Ald’maran gelegt, kurz

nachdem wir hier eintrafen«, erinnerte Piper die anderen. »Aber
wieso?«, fragte sie langsam. »Er hätte Leos Theorie zufolge
doch davon ausgehen müssen, dass er nach Paiges Eintreffen in
seiner Zeit nichts mehr zu befürchten hatte.«

»Vielleicht wollte Zeyn einfach verhindern, dass Selim sich

weitere Hilfe aus der Zukunft holte, nachdem Paige ja nicht
mehr bei ihm war?«, mutmaßte Seif. »Ist doch nahe liegend,
oder?«

»Selim kehrte, wie wir wissen, umgehend wieder nach San

Francisco zurück, als Paige nicht mit ihm hier eintraf, und
beschloss erst in unserer Zeit, Halliwell Manor aufzusuchen«,
gab Leo zu bedenken. »Das lässt vermuten, dass die Verbindung
zwischen Zeyn und Selim nur hier in dieser Epoche besteht,
denn sonst hätte Zeyn ja gewusst, was Selim als Nächstes
vorhatte.«

»Verstehe«, sagte Phoebe. »Und als wir zwischenzeitlich hier

eintrafen, da hat uns Zeyn dem Zeitstrom nicht entrissen, weil er
gar nicht mit uns gerechnet hat, wie er es im Fall von Paige tat.
Ganz im Gegenteil, wir konnten uns unbehelligt in der Stadt
bewegen.«

»Nicht ganz unbehelligt«, erinnerte Piper. »Immerhin hat er

uns diesen Vogeldämon auf den Hals gehetzt. Es erhebt sich
also nach wie vor die Frage, wie oder von wem er kurz darauf
dennoch erfuhr, dass Phoebe und ich in Ald’maran waren?«

Niemand hatte eine passende Erklärung parat.

»Fassen wir also zusammen«, sagte Suleiman schließlich und

strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Zeyn hat offensichtlich
Verbindung zu Selim, die aber immer dann abreißt, sobald unser
Bruder seine Zeit verlässt. Zeyn wusste daher schon im Voraus,
dass eine junge Hexe aus der Zukunft herkommen würde, und
hat sich Paige auch sogleich geschnappt, als es so weit war.
Selim jedoch blieb unbehelligt, sodass er in eure Zeit

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zurückkehren konnte. Das heißt, an diesem Punkt ist dem
abtrünnigen Malak sein Plan scheinbar aus den Händen
geglitten.«

Alle nickten, und Suleiman fuhr fort:

»Kurz darauf treffen Piper und Phoebe in Ald’maran ein, was

Zeyn nicht zu verhindern wusste, später dennoch irgendwie
erfahren haben muss. Denn kurz darauf legt er einen Bann über
die Stadt, wohl wissend, dass sein Sohn noch nicht wieder
zurückgekehrt war, und schickt Piper und Phoebe den
Vogeldämon hinterher.«

»Das bedeutet«, sagte Leo, »dass Zeyn zwar zu spät erfuhr,

dass Piper und Phoebe ihrer Schwester gefolgt waren,
nichtsdestotrotz erfuhr er jedoch davon. Aber wie?«

»Abu!«, rief Paige plötzlich, und alle sahen die junge Hexe

verdutzt an.

»Als ich in Zeyns Laboratorium kam, lag doch dort der tote

Abu, und der hatte einen Schlauch in der Nase, der direkt in sein
Gehirn führte«, erklärte sie aufgeregt.

»Ja und?«, fragte Phoebe erschöpft. »Das wissen wir doch

schon.«

»Abu war ein Beschwörer des Geistes«, erklärte Suleiman,

dem allmählich dämmerte, worauf Paige hinauswollte. »Allein
mit der Kraft seiner Gedanken konnte er in die Zukunft sehen.«

»Aber er war kein Zauberer oder Hexenmeister«, Leo nickte

langsam, »deshalb war es Zeyn auch nicht möglich, sich die
Kräfte des Mannes anzueignen, indem er sie einfach absorbierte
– denn Abu besaß ja gar keine Magierfähigkeiten.«

»Und daher hat Zeyn sich Abus Geistesessenz auf andere Art

verschafft«, setzte Paige hinzu und erschauderte bei dem
Gedanken.

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»Das ist ja alles schön und gut«, meinte Piper verwirrt, »doch

was hat das mit mir und Phoebe zu tun?«

»Ich vermute, Zeyn hat sich mithilfe von Abus Hirn einen

Seelenspiegel geschaffen«, sagte Leo.

»Was ist denn ein Seelenspiegel?«, fragten Phoebe und Seif

wie aus einem Munde.

»Eine etwas altertümliche, äh, Vorrichtung, um das

Eintreffen und Vorhandensein magiebegabter Seelen
aufzuspüren«, erklärte Leo.

»Zeyn hat sich also eine Art Seismograph gebastelt, der mit

… Hirnschmalz funktioniert?«, fragte Paige und verzog
angeekelt das Gesicht.

»So in etwa«, sagte Leo. »Wie ein Pendel ausschlägt, wenn

man es auf eine bestimmte Person ansetzt, so reagiert die
Substanz eines Seelenspiegels auf atmosphärische, in unserem
Fall magische Veränderungen im Umkreis. Oder anders gesagt:
Sobald sich das magische Potenzial innerhalb eines bestimmten
Radius vergrößert, reagiert der Seelenspiegel darauf.«

»Das bedeutet«, schlussfolgerte Phoebe, »Zeyn wusste zwar,

dass weitere magisch begabte Personen in seine Zeit
eingedrungen waren, aber er wusste vermutlich nicht, um wen es
sich dabei handelte, nachdem die Verbindung zu Selim ja
abgerissen war. Und während sein Sohn im 21. Jahrhundert
Kontakt mit Leo aufnahm, schickte er mir und Phoebe auf gut
Glück diesen Vogeldämon hinterher.«

»Das ist die Lösung!«, rief Phoebe, und Leo nickte.

»Das mag ja sein«, meinte Suleiman freudlos, »doch die

Lösung für unser Problem ist das ganz und gar nicht. Wir wissen
jetzt zwar, wie Zeyn es angestellt hat, aber wir wissen immer
noch nicht, was wir gegen ihn unternehmen können.«

»Stimmt«, murmelte Piper ärgerlich. »Wir sind keinen Schritt

weitergekommen. Die Macht der Drei ist aufgehoben, der Bund

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der Magier ebenfalls. Und als ob das alles noch nicht schlimm
genug ist, müssen wir erfahren, dass Selim der Sohn des
Gegners ist, den wir zu vernichten suchen. Wobei wir Zeyn gar
nicht vernichten können, da er ja eine Lichtgestalt ist …«

Sie sah die anderen bestürzt an. »Mit anderen Worten: Wir

sind so gut wie erledigt!«

Der alte Malak zitterte vor Wut.

In seinem Privatgemach standen sein persönlicher Diener

Chatun und zwei weitere Ghule vor ihm, die betreten die Köpfe
hängen ließen.

»Wie konnten die Gefangenen entkommen?«, donnerte Zeyn

in Richtung der beiden namenlosen Untoten. »Es war eure
Aufgabe, sie zu bewachen!«

Keine Antwort.

Zeyn hob seinen rechten Arm, und dann schoss ein tiefroter

magischer Feuerstrahl aus seiner Hand, der den einen Ghul
mitten in die Brust traf. Die Kreatur heulte gepeinigt auf, brach
zusammen und krümmte sich vor Schmerzen am Boden.

»Das wird dich lehren, deine Aufgaben in Zukunft ernster zu

nehmen«, schnarrte der Malak, während sich in dem Raum ein
beißender Gestank ausbreitete.

Der Ghul am Boden schrie und schrie und schrie …

Nachdem Piper die Situation so schonungslos in Worte

gefasst hatte, entstand eine beklommene Pause, die der gute
Ibrahim dazu nutzte, seinen Gästen ein einfaches Mahl aus
Sesambrot, Dörrfleisch, Ziegenkäse und gesüßten Feigen zu
servieren.

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Während die jungen Leute schweigend aßen und tranken,

führte sich ein jeder der Anwesenden Pipers Ausspruch und
dessen Konsequenzen vor Augen.

Wie es schien, hatte es Zeyn geschafft, den Bund der Magier

und die Macht der Drei zu zerschlagen. Zudem saßen die drei
Hexen sozusagen in der Zeitfalle. Es gab für sie nur einen Weg
zurück, und dieser führte durch das Zeitportal in der Wüste,
durch das Leo und Selim in die Vergangenheit gereist waren.

Und selbst wenn es ihnen gelingen sollte, sich durch den

unterirdischen Gang zu kämpfen, in dem Zeyn vermutlich schon
wieder neue dämonische Schergen platziert hatte, was war
gewonnen, wenn sie danach zurück nach San Francisco
teleportierten? Paige wäre nach wie vor ohne ihre Zauberkräfte,
die Macht der Drei bliebe zerstört, und hier, in Ald’maran,
würde Zeyn den Lauf der Zeit ändern und eine dunkle Ära
einläuten.

Und das wiederum hieße nichts anderes, als dass die

Zauberhaften in eine Zeit heimkehren würden, in der das Böse
schon seit langem die Regentschaft übernommen hatte. Eine
Regentschaft, die ihren Anfang hier in Ald’maran genommen
hatte, da der Bund der Magier mithin ebenfalls zerstört war.

Somit wäre es Zeyn gelungen, nicht nur das mächtigste

Zaubertrio seiner Zeit auszuschalten, sondern auch dafür zu
sorgen, dass die Macht der Drei in der Zukunft schlicht und
einfach nicht mehr existierte. Kurz: Der Lauf der Dinge würde
sich unwiderruflich ändern, wenn die drei Brüder, mit oder ohne
die Zauberhaften, hier und jetzt nicht den Kampf gegen Zeyn
wagten – und gewannen.

In diesem Moment erhob sich Paige von ihrem Sitzkissen.

»Ich werde mal nach Selim sehen«, sagte sie leise, »und ihm
etwas zu essen bringen.« Sie nahm sich ein Stückchen Brot vom
Tisch und wandte sich zum Gehen.

Niemand hielt sie auf. Alle sahen ihr schweigend nach.

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Langsam stieg Paige die Treppe hinauf ins Obergeschoss und

betrat den düsteren Raum.

In der Ecke mit den Schlafplätzen saß Selim im Schein einer

Öllampe am Boden und hatte das Gesicht in den Händen
vergraben.

»Selim«, flüsterte Paige und trat zögernd auf den jungen

Mann zu.

Erschrocken sah der Magier auf; er hatte sie offensichtlich

nicht kommen hören. »Hallo, Paige«, sagte er mit belegter
Stimme.

»Wie geht es dir?« Sie trat näher und setzte sich zu ihm auf

die Wollmatratze. »Ich habe dir etwas Brot gebracht.« Aus der
Nähe sah sie, dass Selims Wangen nass von Tränen waren. Der
Anblick zerriss ihr fast das Herz.

Verschämt wischte sich der junge Mann mit dem Ärmel über

das Gesicht. »Mir geht es gut«, sagte er mit fester Stimme.
»Besser, als ich nach dieser ungeheuerlichen Nachricht erwartet
hätte.«

Sie reichte ihm das Stück Brot, doch er schüttelte nur den

Kopf. »Danke, aber ich habe keinen Hunger.«

»Du darfst dir das alles nicht so zu Herzen nehmen«, begann

Paige. »Was können denn die Söhne für die Sünden ihrer
Väter«, fügte sie hinzu und schalt sich im gleichen Moment für
diese hohle Phrase.

»So einfach ist diese Angelegenheit aber nicht abgetan«,

erwiderte Selim. »Einerseits steht zu befürchten, dass ich das
unheilige Erbe meines Vaters in mir trage, andererseits wird von
mir erwartet, dass ich meinen, nun ja, Erzeuger vom Antlitz
dieser Erde fege, wenngleich niemand weiß, wie uns das
überhaupt gelingen sollte.« Traurig sah er Paige aus seinen
dunkelgrünen Augen an, und wie von einem inneren Impuls

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getrieben, legte Paige das Stück Brot aus der Hand und berührte
sanft seine Wange.

In diesem Moment wurde sie von wohliger Wärme

durchströmt, und jede Faser ihres Körpers vibrierte. Auch Selim
spürte es offenbar, denn er zog Paige plötzlich leidenschaftlich
an sich, sodass sich ihre Herzschläge miteinander zu vereinen
schienen.

»O Paige«, raunte er ihr ans Ohr, »wie ich mich danach

gesehnt habe …« Seine Hände strichen über ihren Rücken,
wanderten hinauf zu ihrem Nacken und fuhren verzückt durch
ihr Haar. Sie wandte ihm langsam ihr Gesicht zu, noch immer
völlig im Bann der auf sie einströmenden Gefühle. Ihre Lippen
fanden sich in einem zarten Kuss, der von Sekunde zu Sekunde
leidenschaftlicher wurde und sie immer trunkener machte, bis
sie schließlich eng umschlungen auf die Matratze zurücksanken.
»Ich liebe dich, Paige …«, seufzte Selim, und Paiges Herz
machte vor Glück einen Satz.

Es war alles wie ein Traum. Noch heute Morgen hatte sie ihr

trübsinniges Dasein beklagt, und dann war dieser wunderbare
Mann im South Bay Sozialdienst erschienen und hatte ihr Herz
im Sturm erobert, auch wenn er sie mit einer gänzlich
erfundenen Geschichte aus dem Büro fortgelockt hatte, um den
Bund der Magier und damit die Welt zu retten …

»Selim, ich muss dich etwas fragen«, sagte Paige ein wenig

atemlos zwischen zwei Küssen.

»Alles, was du willst«, flüsterte Selim.

»Piper und Phoebe haben doch erzählt, dass das Hotel in Nob

Hill völlig verfallen war, als sie es betraten, um nach mir zu
suchen. Wie kann das sein? Als wir dort eintrafen, war es doch
völlig intakt …«

»Das war der Zauber der Liebe, Paige«, erwiderte Selim

lächelnd. »Wenn sich zwei Menschen treffen, die allein schon

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durch ihre Geburt so füreinander bestimmt sind wie wir, dann
wird selbst das Hässlichste auf dieser Welt wunderschön.«

Er streichelte ihr Gesicht, bedeckte es mit heißen Küssen, und

bei jeder seiner Berührungen sank sie ein bisschen mehr in jene
süße Paralyse der rückhaltlosen Hingabe, die bei allen
Liebenden zu allen Zeiten nach und nach den Verstand zu
umnebeln droht.

Sie schloss die Augen, und in diesem Moment schoss ihr ein

Bild durch den Kopf. Es war das hässliche, abstoßende Bild aus
ihrem Alptraum, der sie heimgesucht hatte, als sie mit Selim
durch das Zeitportal geschritten war.

Es war die Fratze des Todes, der sie aus kalten,

reptiliengleichen Augen anstarrte …

Keuchend fuhr sie auf und griff sich an die Brust.

»Was ist mit dir, Liebste?«, fragte Selim erschrocken.

»Nichts …«, murmelte sie. »Mir ist nur ein bisschen …

schwindelig.«

»Mir auch«, sagte Selim und lächelte sie verliebt an, doch

Paige senkte nur verstört den Kopf. »Oder … bin ich dir …
vielleicht zu nahe getreten?«

»Nein«, sagte Paige schnell. Unwillkürlich rückte sie ein

winziges Stück von ihm ab.

Da richtete auch er sich wieder auf und erhob sich langsam.

»Du … hast Angst vor mir?«, fragte er fassungslos. »Die
Sünden der Väter, habe ich Recht?«, fügte er bitter hinzu.

»Nein, es ist nicht so, wie du denkst!«, beeilte sich Paige zu

erklären, doch da war Selim auch schon durch die Tür, die aufs
Dach hinausführte, verschwunden.

Langsam folgte sie ihm, stieg die drei Stufen hinauf und

betrat das mit liebevoller Hand begrünte Flachdach, von dem
man einen atemberaubenden Blick über das frühabendliche

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- 167 -

Ald’maran hatte. Die Hitze des Tages war noch unter ihren
Füßen zu spüren, als sie im Schatten einiger Topfpalmen näher
trat.

In der Ferne rief der Muezzin die Gläubigen zum Nachtgebet,

während tausend Lichter den prächtigen Herrscherpalast und die
goldenen Kuppeln der Moschee aufs Eindrucksvollste
illuminierten.

Selim stand am Rand des Dachs, das von einer niedrigen

Lehmbrüstung eingefasst war, und starrte in die Dämmerung
hinaus.

Am Horizont erhob sich der schwarze Turm auf dem Hügel

wie ein unheilvoller Totempfahl.

Der schwarze Turm.

Mit Grausen dachte Paige an die Stunden zurück, die sie in

seinen feuchten Mauern zugebracht hatte. Nie wieder wollte sie
diesen Hort des Schreckens betreten und nie wieder Zeyns
hässliche Fratze sehen müssen. Wie durchdrungen von
Bösartigkeit musste die einstige Lichtgestalt mit den Jahren
geworden sein, dass die ehemals so strahlende Erscheinung
nicht nur tief in ihrem Inneren, sondern auch äußerlich auf derart
abstoßende Weise entstellt worden war.

Sie trat neben Selim an die Brüstung und sah hinaus in die

einbrechende Nacht. Unter ihnen liefen einige Eseljungen
vorbei; der Eingang zum Basar am Ende der Straße war von
Fackeln erhellt, und noch immer eilten dort Händler und
Lastenträger umher.

»Es ist nicht so, wie du denkst«, wiederholte Paige noch

einmal. »Es ist nicht so, dass ich Angst vor dir habe«, fuhr sie
fort, »ich habe Angst, dass das Schicksal …«

»… ein grausames Spiel mit uns treibt?«, vollendete Selim

ihren Satz.

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»Ja«, erwiderte Paige, obwohl es nicht exakt das war, was sie

eigentlich hatte sagen wollen. »Ich … ich … fühle auch, was du
fühlst, Selim«, fuhr sie fort. »Wir beide sind die Abkömmlinge
eines Sendboten und einer Magierin, was wahrscheinlich auch
der Grund dafür ist, warum wir uns so sehr zueinander
hingezogen fühlen.«

Sie holte tief Luft. »Aber kann es denn für uns eine Zukunft

geben? Wir leben in unterschiedlichen Welten, zu
unterschiedlichen Zeiten, und wir haben, jeder in seiner
Generation, eine Aufgabe zu erfüllen. Ich bin eine der
Zauberhaften, du bist Teil des Magierbundes.«

»Warum können wir nicht gemeinsam gegen die dunkle Seite

kämpfen?«, begehrte Selim auf. »Entweder in deiner oder in
meiner Zeit. Es ist doch völlig gleich.«

»Solange ich meine Kräfte nicht habe, kann ich überhaupt

nicht kämpfen«, meinte Paige betrübt. »Weder in deiner noch in
meiner Zeit. Ohne meine Kräfte bin ich nichts … und ohne die
Macht der Drei wäre das Schicksal unserer Welt besiegelt.«

»Glaubst du an die Kraft der Liebe?«, fragte Selim.

Auf diese Frage war Paige nicht vorbereitet gewesen. Sie

überlegte, und nach einer Weile sagte sie: »Die Kraft der Liebe
kann viel bewirken.« Herrgott, dachte sie, warum klingt
eigentlich alles, was ich sage, so schrecklich banal? Warum
kann ich ihm nicht einfach sagen, was ich fühle? Nie habe ich
derartig tief für einen Mann empfunden. Ich könnte ihm auf der
Stelle mein Leben zu Füßen legen, und doch habe ich mehr
Angst, als ich zu sagen imstande bin. »Ich meine … ich wollte
damit sagen, dass …«

Er wandte sich mit ernstem Gesicht zu ihr um und fragte:

»Liebst du mich, Paige?«

»Ich liebe dich, Selim, aber –«

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- 169 -

Abrupt drehte sich Selim herum. »Dann werde ich einen

Ausweg finden«, rief er entschlossen. »Immerhin ist er mein
Vater.«

Noch ehe Paige etwas antworten konnte, war der junge

Magier in einer blauen Wolke aus Licht verschwunden.

»Selim …«

Atemlos platzte Paige in den durch Kerzen spärlich

erleuchteten Wohnraum im Erdgeschoss, in dem ihre
Schwestern, Leo, Seif, Suleiman und Ibrahim noch immer am
Boden saßen und die nächsten Schritte beratschlagten.

»Selim ist fort!«

»Fort?« Suleiman sprang auf und ging erregt auf die junge

Hexe zu. »Fort wohin?«

Paige schilderte den anderen in knappen Worten, was Selim

zu ihr gesagt hatte, bevor er verschwunden war. Aus nahe
liegenden Gründen unterließ sie es, die leidenschaftliche
Kussszene und die Zukunftspläne zu erwähnen, die Selim
geschmiedet hatte.

»Soll das heißen, er ist zum schwarzen Turm gegangen, um

mit Zeyn zu … sprechen?«, fragte Piper erstaunt.

»So klang es«, meinte Paige. »Er sagte ›Immerhin ist er mein

Vater‹ und verschwand.«

»Allah steh uns bei«, murmelte der alte Ibrahim.

Selim materialisierte wenige Schritte vor dem Haupteingang

des schwarzen Turms.

Der Friedhof zu seiner Linken wie der gesamte Hügel lagen

still und dunkel da.

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- 170 -

Nicht nur aus den Erzählungen von Piper und Phoebe wusste

er, dass das Gebäude mit einer magischen Barriere umgeben und
dass die Pforte durch eine Falle geschützt war.

Er überlegte gerade, wie er sich dennoch gefahrlos Einlass

verschaffen konnte, als sich das schwere Holzportal knarrend
öffnete.

Auf der Schwelle stand eine in Lumpen gekleidete Gestalt in

schmutzigen Fußlappen. Ihrem schwarzgrün verfärbten Gesicht
nach zu urteilen offensichtlich ein Ghul aus seines Vaters
Gefolge.

»Komm«, sagte der Untote und schlurfte voran ins Innere des

schwarzen Turms. Man hatte ihn anscheinend schon erwartet.

Selim tat wie geheißen und betrat die kühle Säulenhalle.

So alt und baufällig der Turm von außen auch wirkte, so

prachtvoll war sein Inneres. Der Boden im Eingangsbereich war
ein Kunstwerk aus schwarzem Marmor und silbernen Mosaiken.
Die Wände waren mit Ornamenten aus Blattgold und Türkisen
verziert. Und von der hohen Kuppeldecke, die einem
sternenklaren Nachthimmel nachempfunden worden war, hing
ein riesiger eiserner Radleuchter, in dem unzählige Kerzen
brannten, die die Halle in ein fast überirdisches Licht tauchten.

An der Stirnseite des riesigen Saals befand sich ein schwarzes

marmornes Podest, auf dem Selim eine gebückte Gestalt
ausmachen konnte, die sich soeben langsam von einem
thronähnlichen Stuhl erhob.

»Willkommen, mein Sohn«, schnarrte die Gestalt, als Selim

näher trat.

»Ich grüße dich, Vater«, sagte Selim.

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- 171 -

7

I

M HAUS DES ALTEN IBRAHIM

war unterdessen ein

wahrer Sturm losgebrochen, und alle Anwesenden redeten
aufgeregt durcheinander.

Piper und Phoebe waren aufgesprungen und machten ihrer

Halbschwester Paige schwere Vorhaltungen, dass sie Selim den
Kopf verdreht habe, woraufhin der junge Magier sich nun
leichtsinnigerweise in die Höhle des Löwen begeben hatte.

»Wie konntest du das nur zulassen? Was, wenn Zeyn ihm

nun auch seine Kräfte stiehlt?«, rief Piper empört. »Dann sind
nur noch ich und Phoebe in der Lage, mit Hilfe von Magie etwas
auszurichten. Verdammt noch mal!« Sie schnaubte erbost.

»Aber ich konnte doch gar nichts dafür!«, verteidigte sich

Paige. »Er war so schnell weg, dass ich ihn nicht mehr aufhalten
konnte!«

»Seine Ritterlichkeit wird ihn teuer zu stehen kommen«,

knurrte Phoebe. »Und überhaupt: Nur weil du diesem Selim
blind und taub gefolgt bist wie ein verknallter dummer
Teenager, sind wir erst in diese Situation geraten!«

Paige wollte protestieren, doch im Grunde hatte Phoebe ja

nicht ganz Unrecht mit ihrer Feststellung.

»Unsere Gefühle waren schon immer unser größter Feind«,

bemerkte Piper düster. »Und dich, liebe Phoebe, möchte ich in
diesem Zusammenhang nur an die Sache mit Cole erinnern.«

Seif und Suleiman hatten sich neben die Feuerstelle nahe der

Eingangstür zurückgezogen und debattierten ihrerseits die neu
entstandene Lage. »Wie konnte Selim das nur tun?«, ereiferte
sich der junge Seif. »Er war unsere einzige Hoffnung.«

»Die Liebe ist selten ein guter Ratgeber«, meinte Suleiman

düster und sah verstohlen hinüber zu Paige.

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- 172 -

»Die Liebe, die Liebe …« Seif raufte sich das ohnehin schon

zerzauste Haar. »Wenn ich das schon höre! Hätte Selim seine
Sinne beisammen gehalten, anstatt sich Hals über Kopf in diese
Hexe zu verlieben, wäre alles bestimmt nicht halb so schlimm
gekommen, wie es jetzt ist …«

Aus gutem Grund vermied Seif es, sich anmerken zu lassen,

dass er selbst eine kleine Schwäche für die schöne Fremde
hegte, seit er sie in Zeyns Kerker zum ersten Mal gesehen hatte.
Und dass ihm die verliebten Blicke zwischen seinem Halbbruder
und Paige jedes Mal einen klitzekleinen Stich versetzt hatten,
mochte er sich nun auch nicht mehr eingestehen.

Kopfschüttelnd stand Leo zwischen den beiden streitenden

Parteien. »Ich bitte euch!«, rief er. »Es nützt doch nichts, wenn
wir uns jetzt gegenseitig Vorhaltungen machen. Wenn auch wir
jetzt den Kopf verlieren, dann, und erst dann hat Zeyn
gewonnen!«

»Ein weiser Einwand«, murmelte der alte Ibrahim, der gerade

dabei war, noch einmal Tee aufzubrühen.

Murrend setzten sich die drei Schwestern wieder auf die

weichen Kissen rund um den Messingtisch. Leo, Seif und
Suleiman folgten ihrem Beispiel. Zuletzt nahm Ibrahim Platz,
nachdem er eine frische Kanne Pfefferminztee auf dem Tablett
vor ihnen abgestellt hatte.

»Was sollen wir nun machen?«, fragte Suleiman. »Sollen wir

abwarten, bis Selim zurückkehrt – wenn er denn jemals
zurückkehrt –, oder sollen wir unsererseits zum schwarzen Turm
gehen?«

»Damit sich Zeyn auch meine und Phoebes Kräfte unter den

Nagel reißen kann?«, fragte Piper provozierend. »Und
überhaupt: Ohne die Macht der Drei ist wahrscheinlich gar
nichts auszurichten.«

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- 173 -

»Was könnten wir auch schon groß ausrichten, Magie hin,

Magie her?«, maulte Seif. »Ich denke, Zeyn ist unsterblich?
Genauso gut könnten wir versuchen, mit einem Löffel den
Ozean auszuschöpfen.«

»Zeyn mag zwar unsterblich sein«, sagte Leo langsam, »aber

ich glaube, man kann ihn trotzdem unschädlich machen.«

Sechs Köpfe flogen herum; sechs Augenpaare starrten den

Wächter des Lichts an, wenngleich der alte Ibrahim den blonden
jungen Mann ja nicht wirklich ansehen konnte.

»Was willst du damit sagen, Schatz?«, fragte Piper, und

Hoffnung glimmte in ihrem Blick auf.

»Nun, Zeyn ist und bleibt ein Sendbote«, sagte Leo. »Ein

Sendbote zwar, der auf die dunkle Seite gewechselt ist, aber
dennoch ein himmlisches Geschöpf.« Er trank einen Schluck
Tee und fuhr dann fort: »Wächter des Lichts, oder Mala’ika, wie
man uns hier nennt, können zwar nicht getötet werden, weil sie
im Grunde nicht von dieser Welt sind, doch man kann sie dahin
zurückbefördern, von wo sie kamen: ins Reich der höheren
Mächte. Dort würde Zeyn dann zur Verantwortung gezogen
werden für das, was er getan hat, und nie wieder einen Fuß auf
die Erde setzen können.«

»Das ist ja dann so gut wie tot«, bemerkte Phoebe trocken.

»In der Tat«, bestätigte Leo.

»Was geschähe danach mit unseren Kräften?«, fragte Paige.

»Die würden sehr wahrscheinlich in dem Moment, da der

Malak ins Reich der höheren Mächte eintritt, in ihre
ursprünglichen Besitzer zurückkehren«, erwiderte Leo.

»Und was, wenn die Besitzer längst nicht mehr leben?«,

fragte Phoebe.

»Dann werden deren Kräfte in Form von Energie freigesetzt,

bis sie einen neuen, hoffentlich würdigen Hort finden«,

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- 174 -

erwiderte Leo. »Aber um einen Sendboten unschädlich zu
machen, einen abtrünnigen Sendboten zudem, der alle mögliche
Magie an sich gerissen hat, braucht man –«

»Die Macht der Drei«, vollendete Piper seufzend seinen Satz.

»Womit wir wieder am Anfang wären.« Wütend schlug sie auf
das wollene Sitzkissen unter sich. »Es ist zum Kotzen! Wir
drehen uns unablässig im Kreis!«

»Kannst du als Wächter des Lichts denn nichts tun?«, fragte

Suleiman.

»Ich bin weder in der Lage, noch wäre ich befugt, einen der

Unsrigen zu richten«, sagte Leo.

»Die Einheit muss wieder hergestellt werden, sonst … sonst

ist alles verloren«, murmelte Phoebe plötzlich.

»Wie bitte?«, fragte Paige.

»Das waren die Worte der Wahrsagerin«, erklärte Phoebe,

»die Piper und ich in Ald’maran getroffen haben: ›Die Einheit
muss wieder hergestellt werden, sonst ist alles verloren.‹«

»Damit hat sie dir ja nichts wirklich Neues prophezeit«,

meinte Paige. »Wir wissen doch selbst, dass die Macht der Drei
nötig ist, um –« Sie brach ab, denn Phoebe war plötzlich wie
von der Tarantel gestochen aufgesprungen.

»Was?«, rief Piper bang.

»Verdammt, warum bin ich nicht schon längst

daraufgekommen!« Mit einem Satz war Phoebe bei der Treppe
und ins oberste Geschoss des alten orientalischen Hauses
gerannt.

Leo, die beiden Brüder und ihre Schwestern folgten ihr in

einer Mischung aus Sorge und Ratlosigkeit.

Vor dem Buch der Weisheit blieb Phoebe stehen. Die Seite

mit dem Bild des schwarzen Turms war noch immer
aufgeschlagen.

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- 175 -

»Und es wird kommen die Zeit«, deklamierte Phoebe laut,

»da werden Iblis’ Diener ausziehen, die Welt zu vernichten.
Wehe denen, welche die Botschaft im
Buch der Weisheit nicht zu
deuten wissen.«

Sie hob den Kopf und sah triumphierend in die Runde. »Und

jetzt kommt’s, hört gut zu: Die Einheit ist die Einheit zu allen
Zeiten!«

Ratlose Gesichter. Keiner sprach ein Wort, bis Seif

schließlich zögernd fragte: »Ja … und?«

»Aber versteht ihr denn nicht?«, rief Phoebe. »Die Einheit ist

die Einheit zu allen Zeiten! Hier haben wir den Bund der
Magier,
dort die Macht der Drei. Doch beide, ähm, Teams sind,
was ihr magisches Potenzial betrifft, derzeit unvollständig.«

Niemand widersprach.

»Doch was«, fuhr Phoebe fort, »wenn wir eine neue

schlagkräftige magische Verbindung schaffen würden mit mir,
Piper und Selim? Eine temporäre Macht der Drei sozusagen, um
Zeyn zu besiegen! Denn: Die Einheit ist die Einheit zu allen
Zeiten!«

»So hast du also doch noch den Weg zu mir gefunden«, sagte

Zeyn und trat auf seinen Sohn zu.

»Mutter sprach von dir als einem schönen, strahlenden

Mann«, sagte Selim. »Davon scheint nicht mehr viel übrig zu
sein.«

Ein Zucken durchlief den abstoßenden Körper des Malak.

»Die Beschäftigung mit der Magie zehrt an mir«, schnarrte der
Alte.

»Du meinst die Beschäftigung mit der schwarzen Magie und

mit dem Tod«, verbesserte sein Sohn.

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- 176 -

»Ich bin nun schon länger auf dieser Welt, als du dir

vorstellen kannst«, sagte Zeyn. »Deine Mutter war nicht die
Erste, der ich zur Seite gestellt wurde, aber sie war die Erste, die
mir einen Sohn gebar – dich.«

»Wieso bist du vom rechten Wege abgewichen?«, fragte

Selim leise. »Wieso hast du Mutter getötet?«

»Ich habe eure Mutter nicht getötet«, sagte Zeyn. »Das war

Stamatis, der griechische Hexenmeister, dessen Mentor ich einst
war.«

»Ist das der mit den Dschinn?«, fragte Selim, der sich an die

Geschichte mit dem Lampengeist erinnerte, die Paige, Seif und
Suleiman erzählt hatten.

»Ja, der mit dem unendlich dummen Dschinn«, erwiderte

Zeyn. »Stamatis war ein Nekromant, der glaubte, dass sich der
Schlüssel zur magischen Fähigkeit einer Person in deren Seele
befände und dass wiederum die Seele im Herzen dieser Person
gefangen sei.« Der Alte stieß ein trockenes Husten aus. »Er
tötete wahllos Menschen, die er mit besonderen Kräften
ausgestattet wähnte. So auch deine Mutter. Ich erfuhr zu spät
davon und konnte es nicht mehr verhindern.«

»Vor der Wüste trafen wir auf einen Kummerfluch namens

Malah. Die Frau behauptete, du hättest ihr das Herz bei
lebendigem Leibe herausgerissen. Was sagst du dazu?«

»Stehe ich hier etwa vor meinem Richter?«, donnerte Zeyn.

»Wie kannst du es wagen, so mit deinem Vater zu sprechen?«

»Warum beantwortest du nicht einfach meine Frage, Vater?«,

sagte Selim ruhig. »Warum also hast du Malah getötet?«

»Sie wollte mir meinen Sohn vorenthalten!«

Selim holte scharf Luft. »Du hast noch einen leiblichen

Sohn?«

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- 177 -

»So ist es«, erwiderte Zeyn. »Als ich deine Mutter verließ,

kam ich nach Ald’maran und heiratete Malah. Sie war ebenfalls
eine Zauberin, wie deine Mutter, und huldigte noch den alten
Göttern. Bald darauf war sie guter Hoffnung, doch sie hatte
nicht vor, mir das Kind zu geben, also …«

»Also hast du sie getötet und den Verdacht auf Stamatis

gelenkt?«

»Sie stand im Begriff, meine Pläne zu durchkreuzen«, sagte

Zeyn nur, als sei das Erklärung genug.

»Was wurde aus dem Sohn von Malah?«, fragte Selim.

»Sie hatte ihn gleich nach seiner Geburt vor mir versteckt

und meinem Zugriff entzogen, die alte Hexe.« Der alte Malak
spuckte wütend auf den prächtigen Marmorfußboden in der
Halle. »Und dann erfuhr ich, dass das Kind am Gelbfieber
gestorben war. Ich hätte es retten können, doch ich habe es
niemals zu Gesicht bekommen.« Er hob sein kahles Haupt und
sah Selim aus seinen reptilienartigen Augen an. »Aber das ist
nun ganz gleich, denn jetzt bist du ja hier, mein Sohn.«

»Was willst du damit sagen?«

»Es heißt«, schnarrte Zeyn, »wir Mala’ika seien unsterblich,

und tatsächlich weile ich schon unendlich lange auf Erden.
Dennoch hat mich die Beschäftigung mit der Magie hinfällig
werden lassen. Ich verblasse wie ein Wandgemälde unter der
Sonne, werde von Tag zu Tag schwächer, welke dahin wie ein
Baum ohne Wasser …«

»Du stirbst?!«, fragte Selim fassungslos.

»Ja, dieser Körper stirbt, mein Sohn«, krächzte Zeyn. »Und

es ist an der Zeit, dass ich einen Nachfolger bestimme, der
meine Pläne vollendet.« Er sah Selim lauernd an. »Einen
Nachfolger von meinem Fleisch und Blut.«

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- 178 -

Phoebes plötzliche Eingebung hatte zur Folge, dass alle

Anwesenden aufeinander einredeten, sodass wiederum ein
heilloses Stimmengewirr das Haus des alten Ibrahim erfüllte –
diesmal ausgehend vom Dachgeschoss.

Und wieder war es Leo, der die anderen zur Besonnenheit

rufen musste. »Ich denke, wir sollten diese hervorragende Idee
unten weiter besprechen. In Ruhe, und bei einer Tasse dieses
köstlichen Pfefferminztees.« Er zwinkerte Piper zu, die ihn
liebevoll anlächelte.

Keine Frage, die Stimmung hatte sich deutlich verbessert, seit

Phoebe so etwas wie einen Hoffungsschimmer am Horizont
dieses altorientalischen Jammertals entdeckt hatte.

Und tatsächlich entbehrte ihre Idee nicht einer gewissen

Logik, wie alle versicherten, als man sich wieder um den
flachen Messingtisch im Wohnraum versammelt hatte.

»Die Einheit ist die Einheit zu allen Zeiten«, wiederholte

Piper. »Dass wir nicht eher darauf gekommen sind.«

»Doch wie sollen wir es anstellen, eine temporäre Macht der

Drei zu erschaffen?«, fragte Suleiman. »Soweit ich weiß, wurde
der magische Bund bei euch – wie auch bei uns – seinerzeit
durch das jüngste Mitglied heraufbeschworen.«

»Das stimmt«, bestätigte Phoebe. »Es gibt im Buch der

Schatten eine Art Initiationsspruch, der die Macht der Drei
manifestiert.«

»So ein Spruch steht auch im Buch der Weisheit«, bestätigte

Seif. »Ich selbst habe ihn damals laut hergesagt, ohne zu ahnen,
was für Folgen das nach sich ziehen würde. Du liebe Güte, wenn
ich noch daran denke, was ihr, du und Selim, mir für
Vorhaltungen gemacht habt …«, sagte er mit einem leicht
vorwurfsvollen Blick auf Suleiman.

»Ich verstehe, was du meinst«, kicherte Phoebe und warf dem

jüngsten der Brüder einen komplizenhaften Blick zu. Auch sie

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- 179 -

konnte sich noch gut an die Vorwürfe erinnern, die ihr Prue und
Piper damals gemacht hatten, nachdem sie den Bann gebrochen
hatte.

»Niemand kann sich seinem Schicksal entziehen«, murmelte

der alte Ibrahim.

»Und unser Schicksal ist es nun mal, mit der Macht der Drei,

oder wie in eurem Fall als Bund der Magier, gegen das Böse
anzutreten«, sagte Piper. »Es ist alles so gekommen, wie es hat
kommen müssen.«

»Da bin ich aber sehr beruhigt, dass ich nur ein Werkzeug

des Schicksals war«, grinste Seif.

»Was wir also zu tun haben«, kam Phoebe wieder zum

Thema zurück, »ist, einen neuen Spruch zu kreieren, der eine
temporäre Macht der Drei ins Leben ruft. Eigentlich ganz
einfach, oder?«

»Nichts ist jemals wirklich einfach«, ließ sich der weise

Ibrahim wieder vernehmen. »Denn dazu brauchtet ihr Selim,
und Selim ist ja bekanntlich nicht mehr hier.«

Auf einen Schlag kehrte die bedrückte Stimmung wieder in

die kleine orientalische Wohnküche ein.

Für einige Minuten sprach niemand mehr ein Wort, und doch

wusste jeder, was der andere dachte: Würde Selim jemals
zurückkehren? Und wenn ja, besäße er dann noch seine Kräfte,
die doch für die temporäre Macht der Drei so dringend
gebraucht wurden?

Paige krümmte sich innerlich bei dem Gedanken, dass sich

Selim allein wegen ihr in große Gefahr begeben und ihre letzte,
wahrscheinlich allerletzte Chance, dieses Abenteuer heil zu
überstehen, aufs Spiel gesetzt hatte.

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- 180 -

Zeyn führte Selim durch die große Halle zu einer Treppe, die

offensichtlich in die Kellergewölbe des Turms führte.

Mit den Worten »Das Treppensteigen bereitet mir allmählich

Mühe« berührte der Alte sacht den Arm seines Sohnes, und
schon orbten sie hinab in die Privatgemächer des Malak.

»Diese Kraft hast du wohl von Paige gestohlen«, bemerkte

Selim gallig, als sie in einem langen Gang materialisierten, der
über und über mit kostbaren persischen Teppichen ausgelegt
war.

»Unsinn«, knurrte Zeyn. »Alle Mala’ika beherrschen das

körperlose von Ort zu Ort reisen ohnehin, oder was glaubst du,
von wem du diese Fähigkeit geerbt hast, mein Sohn?« Er lachte
heiser. »Wenngleich ich zugeben muss, dass die Kraft der
Telekinese in meinem Alter durchaus nützlich sein kann.« Er
schnippte mit seinen verkrüppelten Fingern und rief
»Schlüssel!« Schon lag der schwere Eisenschlüssel in seiner
faltigen Hand, der zuvor an einem Haken an der Wand gehangen
hatte.

Der alte Malak öffnete eine massive Tür am Ende des Gangs.

»Willkommen in der Halle der Sinnesfreuden«, sagte er.

Als sie eintraten, wagte Selim seinen Augen kaum zu trauen.

Die vor ihm liegende palastähnliche Anlage übertraf an
Schönheit gar noch Fatimas märchenhaftes Wüstenschloss.

Der Boden des riesigen Saales war eine Pracht aus poliertem

weißen Marmor und goldenen Einlegearbeiten. Von der Decke
hingen meisterhaft geschmiedete Messingleuchter, die den
unterirdischen Komplex effektvoll ausleuchteten. Blutjunge
Dienstmädchen, mit Krummschwertern bewaffnete Eunuchen
und Sklaven eilten geschäftig hin und her.

In der Mitte der Halle entsprang in einem goldenen Becken

eine riesige Fontäne aus Rosenwasser, die bis an die prächtige

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- 181 -

Kuppeldecke des Saales sprudelte. Hier und da brannte in
Alabasterschalen wohlduftendes Rauchwerk.

Untote waren hier weit und breit nirgends zu sehen.

An den Wänden des Saales befanden sich Estraden und

Séparées mit bequemen Diwans, neben denen gekühlte
Getränke, Opium- und Wasserpfeifen sowie exotische Früchte
zum Verzehr bereitstanden.

Überall waren herrliche Blumengärten angelegt worden, in

denen Paare und kleinere Gruppen zwischen rauschenden
Wasserfällen und von Singvögeln umschwirrten Pavillons
lustwandelten. Selim entdeckte kostbar gewandete Männer und
Frauen, die sich hier dem süßen Nichtstun hingaben. Er war
offensichtlich nicht Zeyns einziger Gast.

Am Ende der Halle, inmitten einer parkähnlichen Anlage mit

Palmenhainen und blühenden Bäumen, plätscherten Brunnen
und Wasserspiele, und in einem großen Bassin mit kunstvollen
Mosaiken tollten junge Mädchen umher und tauchten nach
Perlen und Edelsteinen auf seinem Grund. Dieser Bereich war
offensichtlich allein den Frauen vorbehalten.

Von überall drangen liebliche Klänge an Selims Ohr,

während hier und dort Bauchtänzerinnen, Akrobaten und bunt
gekleidete Narren Gäste wie Hofstaat mit ihren Darbietungen
unterhielten. Selim entdeckte einen Dompteur, dessen Äffchen
allerlei Kunststücke und Kapriolen aufführte, und sogar ein
prächtiges Schattenspiel, vor dem ein augenscheinlich
begeistertes Publikum gerade Applaus spendete.

»Wie kann es sein«, hauchte der junge Magier, »dass all

diese verschwenderische Pracht Platz findet unter dem alten,
schwarzen Turm?«

Der alte Malak lachte. »Nicht umsonst habe ich mich in den

letzten dreißig Jahren mit Magie beschäftigt.«

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- 182 -

»Du meinst, das alles hier ist gar nicht wirklich?«, fragte

Selim enttäuscht.

»Das hier ist alles so wahr«, erwiderte Zeyn, »wie meine

Liebe zu dir, mein Sohn.« Er machte eine weit ausholende
Bewegung. »Vor dir siehst du mein Meisterwerk. Dieser
unterirdische Palast reicht weit bis hinter die Nordmauer der
Stadt in die Wüste hinein. Es hat mich Jahre gekostet, ihn zu
erschaffen.«

Er geleitete seinen Sohn hinauf auf eine erhöhte, umlaufende

Galerie und in einen durch seidenbespannte Paravents
abgetrennten Raum, wo sie sich auf einem Kanapee
niederließen. Sofort eilten zwei junge, leicht bekleidete
Mädchen hinter sie und wollten ihnen mit Pfauenfedern Luft
zufächeln. Mit einer unwirschen Handbewegung schickte Zeyn
sie wieder fort.

Kurz darauf erschien ein schwarzer Sklave und brachte ihnen

auf einem silbernen Tablett eine Erfrischung. Staunend
betrachtete Selim die Kelche aus farbigem Glas, in denen sich
das Licht tausendfach brach.

Der alte Zeyn lehnte sich seufzend zurück, wobei ihm das

Schultertuch vom Oberkörper rutschte. Selim musste feststellen,
dass die Wirbelsäule des Malak stark verkrümmt war, was seine
gebückte Haltung erklärte. An seinem Rücken saßen zudem
kleine ledrige Schwingen, die schlaff herabhingen. Der junge
Magier versuchte, sich seine Abscheu nicht anmerken zu lassen,
und trank einen Schluck. Es war eine Art Traubensaft, und er
schmeckte köstlich und belebte seine Sinne. Dann starrte er auf
den pastellfarbenen chinesischen Teppich unter sich und
überlegte, wie er am besten anfangen sollte.

Doch Zeyn kam ihm zuvor.

»Warum bist du hierher gekommen?«, fragte er mit

krächzender Stimme. »Wohl kaum hat dich die Sehnsucht in die
Arme deines alten Vaters getrieben, habe ich Recht?«

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- 183 -

»Nun«, begann Selim, »in der Tat kam ich mit einem ganz

bestimmten Anliegen zu dir. Ich möchte dich bitten –«

»Du willst, dass ich dieser Hexe ihre Kräfte zurückgebe,

nicht wahr?«, unterbrach ihn der Malak.

Selim war so perplex, dass er für eine Sekunde schwieg.

»Ja«, begann er. »Denn ich liebe sie, und wenn … wenn du
wünschst, dass ich dein Werk fortführe, so brauche ich eine
Gefährtin an meiner Seite, die mir ebenbürtig ist.« Diese Lüge
war ihm erstaunlich leicht über die Lippen gekommen. »Doch
woher weißt du von … uns?«

»Versuche nicht, mich hinters Licht zu führen, Bürschchen«,

grunzte der Malak. »Ist es nicht vielmehr so, dass du wünschst,
deine Liebste möge ihre wiedergewonnenen Kräfte mit denen
ihrer Schwestern vereinigen, auf dass sie mich aus dieser Welt
verjagen können?« Er sah Selim aus seinen kalten Augen an.
»Davon abgesehen weiß ich fast alles über dich, unsere Bande
sind stärker, als du glaubst.« Er kicherte.

Selim merkte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach. Woher

zum Teufel wusste der Malak so genau Bescheid über die
Zauberhaften und die Macht der Drei? Und was sollte das
heißen: ›Unsere Bande sind stärker, als du glaubst‹? Wollte der
Alte etwa damit andeuten, dass er ihn die ganze Zeit über
beobachtet hatte?

Jetzt nur keine Schwäche zeigen, beschwor er sich. »Es ist

doch gar nicht mehr nötig, dich zu vernichten, Vater«, erwiderte
er mit einem mokanten Grinsen, »du stirbst doch ohnehin bald.«

»Nicht ohne meine Kräfte und mein Wissen an einen

würdigen Nachfolger übergeben zu haben«, gab Zeyn mit
ausdruckslosem Blick zurück. »An einen Nachfolger, der mein
Werk in meinem Sinne fortführt, wohlgemerkt. Und wenn du es
nicht wirst, dann wird es eben ein anderer«, fügte er ruhig hinzu.
»Mein Erbe wird einst der mächtigste Herrscher auf Erden
werden«, fuhr er fort. »Alle Menschen, alle Kreaturen werden

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- 184 -

ihm zu Diensten sein, und selbst Iblis wird erkennen müssen,
dass seine Tage gezählt sind. Der Lauf der Welt wird allein in
deinen Händen liegen, mein Sohn.«

Selim schauderte bei diesen Worten. »Ich bin … durchaus

nicht abgeneigt, dein Erbe anzutreten, Vater«, beeilte er sich zu
beteuern, »und sicherlich ist es nur in deinem Sinne, wenn dein
Werk von deinem eigenen Fleisch und Blut fortgeführt wird, als
dass ein gänzlich Fremder das Zepter führt.«

»Schöne Worte«, schnarrte der Malak. »Aber bist du auch

bereit, deine Verbundenheit mit mir unter Beweis zu stellen?«

»Was verlangst du von mir?«, fragte Selim mit bebender

Stimme.

»Ein Leben für ein Leben«, erwiderte der Malak.

Unruhig wanderte Paige auf der Dachterrasse von Ibrahims

Haus auf und ab.

Selim war nicht zurückgekehrt, und alle waren nach diesem

langen, aufregenden Tag sehr erschöpft. Und so hatte man
beschlossen, ein paar Stunden zu schlafen und die Nacht über
abzuwarten. Sollte Selim bis zum nächsten Morgen nicht wieder
aufgetaucht sein, so würden sie aktiv werden müssen, da war
man sich einig. Einen konkreten Plan für diesen Fall hatte
jedoch niemand vorzubringen gehabt.

Seif, Suleiman und ihr Vater hatten ihre Schlafplätze im

Obergeschoss des Hauses aufgesucht, während Leo, Piper,
Phoebe und Paige auf dem Dach unter einem sternenklaren
Himmel übernachten sollten. Der alte Mann hatte seinen Gästen
zu diesem Zweck bequeme Schaffellmatten und
Baumwolltücher bereitgelegt.

Es hatte sich nach Einbruch der Dunkelheit in der

Wüstenstadt merklich abgekühlt, und es ging eine frische Brise.

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Piper und Leo schliefen eng umschlungen auf ihrem Lager,

und auch Phoebe war in einen tiefen Schlaf gefallen. Nur Paige
hatte kein Auge zumachen können und war schließlich wieder
aufgestanden.

Bevor sich Leo und die Schwestern zur Ruhe begeben hatten,

war Phoebe auf der Dachterrasse an Paige herangetreten und
hatte sie diskret beiseite genommen.

»Ich denke, ich weiß, wie du dich fühlst«, hatte Phoebe ihr

im Vertrauen gesagt. »Du fühlst dich mies, weil du denkst, du
bist für all das hier verantwortlich. Aber es stimmt, was Ibrahim
gesagt hat: Niemand kann sich seinem Schicksal entziehen. Und
auch wenn Piper manchmal ein wenig ungnädig erscheint, weiß
sie ganz genau, dass es immer kommt, wie es kommen muss.
Das hat sie ja vorhin selber zugegeben. Es ist einfach so, dass
sie sich nach Prues Tod als Älteste der Zauberhaften so sehr für
uns verantwortlich fühlt, dass sie das manchmal einfach
vergisst.«

»Das weiß ich«, hatte Paige eingewendet, »ich hab oft mit

Piper darüber gesprochen, wann immer ich einen Fehler
gemacht habe. Aber in diesem Fall war mein Verhalten wirklich
unverzeihlich. Ich hätte euch von meiner Begegnung mit Selim
erzählen müssen, bevor … andererseits, woher zum Teufel hätte
ich wissen sollen, dass er mich ohne mein Wissen in die
Vergangenheit entführt, und woher hätte er wissen sollen, dass
sein Vater ihn die ganze Zeit im wahrsten Sinne des Wortes
durchschaute?«

»Ich bin fest davon überzeugt«, hatte Phoebe geantwortet,

»dass alles genau so gelaufen ist, wie es hat passieren müssen.
Wir als die Zauberhaften können jederzeit in außergewöhnliche
Situationen kommen, die auf den ersten Blick ganz alltäglich
erscheinen. So wie Selims Erscheinen im South Bay Sozialdienst
zum Beispiel. Ich will damit sagen, dass wir überhaupt keinen
Einfluss darauf haben, dass etwas geschieht, bei dem die
Zauberhaften gefragt sind. Das Zusammentreffen von dir und

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Selim war vorherbestimmt, Punkt, aus! Nun gilt es, hier und
jetzt das Gleichgewicht zwischen Gut und Böse wieder
herzustellen. Und genau deshalb sind wir hier!«

»Na ja«, hatte Paige gesagt. »Aber Piper schärft uns doch

immer ein, dass wir ganz besonders vorsichtig sein sollen, wenn
uns etwas Ungewöhnliches widerfährt. Und die Bekanntschaft
mit Selim … nun, die war und ist schon was ganz Besonderes
…«

Phoebe hatte ihre Halbschwester einen Moment lang

nachdenklich angesehen, bevor sie antwortete: »Du hast dich bis
über beide Ohren in Selim verliebt«, sagte sie, »das ist
offensichtlich. Und genauso offensichtlich ist es, dass er dich
anbetet. Aber lass dir von jemandem, der in dieser Hinsicht
vermutlich sehr viel mehr Erfahrung hat als du, sagen, dass das
eine ziemlich aussichtslose Geschichte ist. Es mag hart klingen,
aber es kann für euch keine gemeinsame Zukunft geben.
Niemand weiß das besser als ich.«

»Du spielst auf die Sache mit Niall, dem Sohn Merlins, an,

stimmt’s?«, hatte Paige gefragt. Phoebe und Piper hatten ihr erst
vor kurzem von ihrem Abenteuer im alten Camelot erzählt,
wohin die Schwestern während eines Urlaubs in Wales gereist
waren, nachdem der Sohn des alten Keltenmagiers in
Schwierigkeiten geraten war.

»Ja, unter anderem«, hatte Phoebe lachend geantwortet. Doch

dann war sie wieder ernst geworden. »Hör zu, Paige, keiner von
euch beiden darf seine Zeit verlassen, um sein Leben an der
Seite des anderen zu verbringen. Das wäre das Ende!«

»Wieso eigentlich?«, hatte Paige trotzig gefragt.

»Weil dadurch der Lauf der Dinge verändert würde, ganz

einfach«, hatte Phoebe geantwortet. »Wenn Selim für immer ins
21. Jahrhundert switchen würde, wäre er ja hier nicht mehr
existent, und der Bund der Magier damit auch nicht. Zum einen
wäre so das Gleichgewicht von Gut und Böse für alle Zeiten

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gestört, und zum anderen würde es dann vermutlich auch die
Zauberhaften nicht geben, wenn die Vergangenheit in dieser
Weise manipuliert würde. Das Kräfteverhältnis wäre also
dauerhaft zerrüttet, und die dunkle Seite hätte gewonnen. Mit
anderen Worten: Der Bund der Magier ist für seine Zeit genauso
wichtig wie die Zauberhaften gut 1200 Jahre später.«

»Das ist alles sehr schwer zu begreifen«, hatte Paige erwidert.

»Stell es dir einfach wie einen riesigen Turm vor. Entfernt

man auch nur einen Stein, bricht das ganze Konstrukt
zusammen. Eins baut auf dem anderen auf.«

»Bitte verschone mich mit Analogien von Türmen«, hatte

Paige grinsend geantwortet.

Und nun, da alle schliefen, trat sie an die Dachbrüstung und

starrte genau in Richtung des schwarzen Turms, der in der Nacht
nur mehr zu erahnen war. Hier und da waren in Ald’maran noch
vereinzelte Lichter zu sehen, doch ansonsten lag die Stadt still
und dunkel da.

Wo war Selim? Lebte er noch, oder hatte der grausame Zeyn

seinen letzten Widersacher aus dem Bund der Magier
unschädlich gemacht? Würde der Malak so weit gehen, das
Leben seines eigenen Sohns auszulöschen? Nein, dachte Paige,
wahrscheinlicher ist es, dass er auch Selim seine Kräfte raubt
und ihn festsetzt. Somit wäre auch der temporären Macht der
Drei
der Garaus gemacht, und die Welt, auch die Welt, die sie
kannte, würde schon bald in Finsternis versinken.

Und wie es schien, war sie allein an allem schuld, egal, was

die anderen dazu meinten. Und wenn das Schicksal tausendmal
bestimmt hatte, dass Selim sie in der Zukunft ausfindig machen
und mit nach Ald’maran nehmen würde, so hätte sie nicht mit
ihm gehen dürfen, ohne zuvor ihre Schwestern zu informieren.
Schließlich waren sie ein Team, von dessen Planung,
Vorbereitung und Handlungsfähigkeit alles abhängen konnte,
und genau diese Handlungsfähigkeit war ihnen nun abhanden

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gekommen. Sie, Paige, war völlig nutzlos im großen Kampf
gegen Zeyn geworden, und ohne ihre Fähigkeiten war die Macht
der Drei
gebrochen. Der alte Malak hatte sie entmachtet und das
zauberhafte Trio zerschlagen, noch bevor er wissen konnte, dass
es Piper und Phoebe überhaupt gab.

Andererseits hätte Zeyn mich ja auch auf der Stelle töten

können, nachdem er sich meine Kräfte einverleibt hatte,
überlegte Paige. Aber das hatte der Alte nicht getan. Warum
nicht?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal an diesem Abend.
Hatte er vielleicht doch noch Pläne mit ihr gehabt? Pläne mit ihr
und seinem leiblichen Sohn womöglich? Tatsächlich musste
dem Malak ziemlich bald klar geworden sein, was Selim für sie
fühlte, stand er ja vermutlich fast ununterbrochen in Kontakt zu
seinem Fleisch und Blut. Zeyns Fleisch und Blut …

Auf einmal traf Paige die Erkenntnis wie ein Schlag: Selim

war nicht nur nicht tot oder in Gefangenschaft geraten, sondern,
ganz im Gegenteil, sehr wahrscheinlich mit offenen Armen von
seinem Vater, dem gefallenen Engel, empfangen worden! Der
verlorene Sohn war zurückgekehrt, um … ja, um was eigentlich
zu tun? Paige wusste es nicht genau, aber sie wusste plötzlich,
dass ihre Anwesenheit im schwarzen Turm der ganzen
Geschichte eine neue, womöglich alles entscheidende Wendung
geben konnte.

Sie straffte sich und riss ihren Blick vom nächtlichen,

friedlich daliegenden Ald’maran los. Sie schlich über die
Dachterrasse, schnappte sich einen der alten traditionellen
Baumwollüberwürfe, die ihre Schwestern tagsüber getragen
hatten, und schlüpfte hinein.

Dann stieg sie leise die Treppe hinab und verließ auf

Zehenspitzen das Haus.

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- 189 -

8

Z

EYN FÜHRTE SELIM WIEDER HINAUF

in die

prächtige Eingangshalle des schwarzen Turms und erklomm mit
ihm die Wendeltreppe, bis sie die Plattform erreichten, in der
sich das Laboratorium des Malak befand.

Selim wusste von diesem Ort des Schreckens bereits aus

Paiges Erzählungen. Sein Blick fiel auf allerlei merkwürdige
Gerätschaften und Instrumente, auf Glaskolben, Behälter und
Tonkrüge, in denen Unbeschreibliches aufbewahrt wurde, doch
Tote oder gar die Leiche des unglücklichen Abu konnte er
nirgends entdecken.

»Was ist das hier?«, fragte er den Alten.

»Meine Experimentierstube«, erwiderte Zeyn. »Hier

erforsche ich das Mysterium des Lebens.«

Wohl eher das Mysterium des Todes, dachte Selim, doch er

schwieg.

Fest ergriff der Malak Selims Arm, und für einen Moment

erschrak der junge Zauberer. Doch Zeyn hatte nicht vor, ihm
seine Kräfte zu rauben, sondern sie orbten lediglich weiter
hinauf, bis sie ein Turmgeschoss erreichten, in dem sich
offensichtlich eine Küche befand. »Hier bereiten meine untoten
Diener die Mahlzeiten für sich und etwaige Gefangene.«

Selim schluckte. Auf dem alten Holztisch lagen von Fliegen

umschwirrte Fleisch- und Knochenreste. Auch diesen Raum
kannte er aus Paiges Bericht. Es war klar, dass der Malak die
Delikatessen, die er in der Halle der Sinnesfreuden für sich und
seine Gäste auffahren ließ, wohl kaum hier zubereiten ließ.

Sie orbten weiter hinauf und erreichten eine Etage, in der sich

ein unheimlich düsterer Gang mit mehreren verschlossenen
Türen befand. »Die Quartiere meiner Ghule«, erläuterte Zeyn im
Plauderton. »Sie schätzen das Licht nicht sonderlich.«

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Es kam Selim vor, als ob der Malak eine Art

Hausbesichtigung für seinen zukünftigen Erben veranstaltete.

Schließlich erreichten sie eine Art Aussichtsplattform.

»Schau auf diese Stadt«, sagte Zeyn und deutete mit einer
ausladenden Armbewegung auf das nächtliche Ald’maran. Die
letzten Lichter waren erloschen, nur vor dem schwer bewachten
Herrscherpalast brannten noch Fackeln.

Doch es war Vollmond, und so konnte Selim trotzdem

erahnen, wie groß und prächtig seine Heimatstadt von hier aus
gesehen war. Und wie still und friedlich aus dieser Höhe doch
alles wirkte. Trügerisch friedlich.

»Das alles wird schon bald dir gehören«, verkündete Zeyn

mit heiserer Stimme. »Du weißt es vielleicht nicht, aber längst
schon bin ich der heimliche Herrscher dieser Stadt.« Er kicherte
böse. »Und mehr noch – ich werde dich zum Herrn der Welt
machen.«

Selim schwieg, doch in seinem Kopf überstürzten sich die

Gedanken.

»Und nun folge mir in mein Allerheiligstes, Sohn.«

Sie orbten wieder zurück in die Säulenhalle mit den Ghulen

und betraten dann einen Raum, der direkt hinter dem
marmornen Podest lag, auf dem sich der Malak seinen
Empfangsthron errichtet hatte.

Es war eine Art Vorraum, in dem Selim eine Schale

entdeckte, in der eine trübe Flüssigkeit schwamm. Ein Ghul
stand daneben und starrte unverwandt hinein.

Zeyns Kammer selbst war wenig spektakulär. Fast war Selim

ein wenig enttäuscht. Er sah einen alten Diwan, eine
Opiumpfeife und mehrere Tische mit merkwürdigen
Instrumenten. Auf einem von ihnen stand eine matt
schimmernde Glaskugel. Irgendetwas war darin eingeschlossen,
doch er konnte nicht erkennen, was es war.

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»Was ist das für eine Kugel?«, fragte er den Malak.

»Es ist an der Zeit, dass ich dich einweihe in meine

Geheimnisse«, verkündete der Alte. »Doch zuvor muss ein
Ritual vollzogen werden, dass dich endgültig zu meinem
Nachfolger bestimmt.«

»Was für ein Ritual?«, fragte Selim.

»Das Ritual des Blutes.«

Selim schwante Böses. »Und das bedeutet?«

»Es bedeutet, dass du schließlich von meinem Blute trinken

musst, auf dass meine Kräfte auf dich übergehen.«

Selim krümmte sich bei diesen Worten innerlich vor Ekel.

Und gleichzeitig dachte er: So einfach ist das also? Wenn seine
Kräfte auf mich übergehen und er dann ins Reich der Alten
abberufen wird, könnte ich Paige und meinen Brüdern ihre
Kräfte zurückgeben, und alles wäre in Ordnung …

Er ging ein paar Schritte in der Kammer umher und

zermarterte sich das Hirn über diesen Handel. Sicher, er stand
hier vor seinem Erzeuger, der alles darangesetzt hatte, dass er,
Selim, zu ihm fand, und doch traute er dem alten Malak nicht
über den Weg.

Wieder fiel sein Blick auf die trübe Glaskugel, und als er

genauer hinsah, erkannte er etwas Schwarzes in ihrem Inneren.
Noch einmal fragte er: »Was ist das für eine Kugel, Vater?«

»Ich will ehrlich zu dir sein, mein Sohn«, krächzte der Alte

und kam auf ihn zu. »Diese Kugel enthält etwas von dir, das mir
deine Mutter gab, als du noch ein Säugling warst: eine
Haarlocke. Und es ist mir vor einigen Wochen gelungen, mit
ihrer Hilfe eine … Verbindung zu dir herzustellen.«

»Du hast mich seither die ganze Zeit beobachtet?«, rief Selim

empört, dem nun einiges von dem, was in den letzten Stunden
passiert war, klar wurde.

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»Ich war allein um dein Wohl besorgt«, schnarrte der Alte,

»und da habe ich zufällig mit ansehen müssen, was du und deine
Brüder gegen mich vorhattet. Du wirst verstehen, dass ich das
nicht zulassen konnte.«

»Und deshalb hast du Seif und Suleiman um ihre Kräfte

gebracht und hier eingesperrt? Weil du so um mein Wohl
besorgt warst?« Selim spuckte empört vor Zeyn aus. »Warum
hast du nicht mit mir gesprochen, so wie du jetzt mit mir
sprichst?«

»Ich musste handeln«, sagte der Malak lächelnd. »Schnell.«

»Ich verstehe«, erwiderte Selim mit bebender Stimme. »Und

dann wolltest du dir auch gleich noch Paiges Kräfte unter den
Nagel reißen, wo ich dich doch direkt auf diese Idee gebracht
hatte, richtig?« Wütend griff er nach der Kugel und schleuderte
sie auf den Steinboden. Sie zerbarst mit einem
ohrenbetäubenden Knall, und tausend Splitter flogen umher.

Doch der Malak grinste nur und entblößte seine halb

verrotteten Zähne. »Das Mädchen passt zu dir, denn sie ist eine
von uns. Aber sie stellte auch eine Gefahr dar – für mich und für
dich. Ich denke jedoch, der Zauber der Liebe wird aus ihr eine
willfährige Gefährtin für dich machen. Bedenke, auch du wirst
dich eines Tages nach einem Erben sehnen, mein Sohn, und
dieses Mädchen scheint mir ideal für diesen Zweck geeignet.«
Er seufzte. »Unterschätze nie den Zauber der Liebe …«

Nach fast einer Stunde hatte Paige es endlich geschafft, den

Hügel zu erreichen, auf dem der schwarze Turm stand.

Sie war zügig gegangen, und der Weg hierher war wider

Erwarten ohne größere Zwischenfälle verlaufen. Das nächtliche
Ald’maran war wie ausgestorben, und selbst in den
Armenvierteln war kaum mehr ein Mensch auf der Straße
gewesen.

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Einmal hatte sie einem aufdringlichen Bettler davonlaufen

müssen, der sie partout nicht gehen lassen wollte, ein andermal
war sie direkt in eine Art orientalisches Vergnügungsviertel
gestolpert, wo suspekte Gestalten ihr böse nachgestarrt hatten,
aber das war’s auch schon an unliebsamen Begegnungen.

Sie wusste, dass der Turm mit einer magischen Falle

gesichert war. Langsam trat sie auf die schwere Pforte zu und
fragte sich gerade, wie sie sich Einlass verschaffen sollte, als die
Tür knarrend geöffnet wurde.

Ein Ghul stand auf der Schwelle und winkte sie mit einer

knappen Geste herein.

Paige zögerte einen Moment lang, doch dann erinnerte sie

sich wieder daran, weshalb sie hergekommen war, und trat ein.

In der Halle der Sinnesfreuden lag Selim halb aufgerichtet

auf einem Lager aus üppigen Seidenkissen, während sich unweit
von ihm eine Gruppe wunderschöner Mädchen zu
einschmeichelnden Klängen im Bauchtanz wiegte. Sein Vater
hatte sich vor einigen Minuten diskret in seine Privatgemächer
zurückgezogen.

Eine ebenholzschwarze Nubierin war daraufhin sogleich

herbeigeeilt und fächelte ihm nun kühle Luft zu, während ihm
ein männlicher Sklave Traubensaft, Honiggebäck und andere
Spezereien vorsetzte.

Keine Frage, sein Vater führte ein prächtiges Leben, und er,

Selim, musste zugeben, dass er diesen paradiesischen Zuständen
durchaus viel abgewinnen konnte. Und doch, er sehnte sich nach
Paige. Und er musste versuchen, den Malak davon zu
überzeugen, dass er ihr die gestohlenen Kräfte wiedergab, damit

Er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn jemand

zupfte ihn sacht am Ärmel. Es war eine junge Frau mit einem

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hauchdünnen Gesichtsschleier vor Mund und Nase, deren
schwarzes Haar feucht glänzte. »Komm, schwimm mit mir«,
raunte sie ihm ins Ohr. Sie roch nach allen Verlockungen der
Erde.

Wie in Trance ließ sich Selim von der Unbekannten zu dem

großen, palmenumsäumten Wasserbassin führen, in dem kurz
zuvor noch die Gruppe junger Mädchen herumgetollt hatte. Jetzt
lag der türkisblaue Pool still und verlassen da.

Noch ehe er sich versah, streifte die junge Frau ihr

hauchdünnes Gewand ab und glitt geschmeidig ins Wasser.
»Komm herein«, rief sie lockend. »Es ist einfach herrlich!«

Selim konnte nach diesem anstrengenden Tag eine

Abkühlung wahrlich gebrauchen; also entledigte er sich seines
langen Hemdes und der Baumwollhose und stieg zu ihr ins
Becken. Das Wasser hatte eine angenehme Temperatur, und
schon sank er entspannt zurück und ließ sich einfach nur treiben.

Als er die Augen wieder öffnete, schwamm das Mädchen

geradewegs auf ihn zu. Ihr Gesichtsschleier aus Gaze war noch
immer mit goldenen Spangen an ihrem dunklen Haar befestigt.

Lachend schlang sie ihre Arme um ihn und zog ihn wieder

zurück ins flache Wasser. Plötzlich drückte sie ihren schlanken,
geschmeidigen Körper an den seinen und fuhr mit ihren Fingern
leidenschaftlich durch sein Haar.

Selim stockte der Atem, als sie ihren Gesichtsschleier hob

und ihre Lippen sich anschickten, seinen Mund für einen zarten
Kuss zu berühren. Vor ihm stand Paige!

Erschrocken machte er sich von ihr los. »Wie kommst du

hierher?«

»Auch ich bin dem Ruf deines Vaters gefolgt«, flüsterte sie.

»So wie du. Nun wird uns nichts und niemand mehr auseinander
bringen können …« Sie schloss die Augen und küsste ihn.

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Er ließ es geschehen. Wie auch immer der Malak es geschafft

hatte, Paige hierher zu bringen, es war ihm egal. Die Frau, die er
liebte, war hier, lag hingebungsvoll in seinen Armen, und er
wusste, wenn er nur wollte, so würde sie den Rest ihres Lebens
an seiner Seite verbringen. Hier. Im Paradies.

Vom Säulengang über der Halle der Sinnesfreuden aus

beobachtete Zeyn heimlich, wie sich Selim mit der Hexe im
Wasserbecken vergnügte. Und er lachte leise.

Nach dem erfrischenden Bad, das immer wieder von

leidenschaftlichen Küssen, ausgelassener Herumtollerei im
Wasser und Liebesgeflüster unterbrochen wurde, hatten sich
Paige und Selim wieder angekleidet und in eine blickgeschützte
Laube in der Halle der Sinnesfreuden begeben.

Lachend sanken sie auf einen Diwan, der unter einem

prächtigen Baldachin stand, und ließen sich die kühlen Getränke
und herrlichen Früchte schmecken, die ihnen ein Diener brachte.

Während sie so dalagen und sich küssten, fiel Paiges Blick

plötzlich auf die Silberkette mit dem halbmondförmigen
Anhänger, die Selim trug und die sie schon bei ihrem ersten
Treffen im South Bay Sozialdienst gesehen hatte. »Was ist das
eigentlich für eine Kette?«, fragte sie, und ein leichter Argwohn
schwang in ihrer Stimme mit. »Das Geschenk einer
Verflossenen?«

Selim schenkte ihr ein nachsichtiges Lächeln; dann jedoch

wurde sein Gesicht wieder ernst. »Diese Kette gab mir meine
Mutter, ein Jahr, bevor sie starb. Sie ist mir der liebste Besitz auf
der Welt. So wie du mir immer der liebste Mensch auf der Welt
sein wirst.«

Glücklich und erleichtert sank Paige in seine Arme und

bedeckte sein Gesicht mit Küssen.

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Zu ihrer Linken schwammen dicke goldfarbene Karpfen in

einem künstlich angelegten Teich, zu ihrer Rechten wuchsen
herrlich duftende Rosen- und Jasminsträucher. Fürwahr ein
Garten Eden.

»Wir werden hier in Ald’maran ein wunderbares Leben

führen, du und ich«, gurrte Paige und biss ihn zärtlich in den
Hals.

Selim glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen. »Was ist mit

deinen Schwestern und deinem Leben in San Francisco?«

»Die führen ihr Leben doch auch, wie sie es wollen«, gab

Paige trotzig zurück, während sie Selim mit einer Traube
fütterte. »Piper und Leo hatten zu Anfang auch große
Schwierigkeiten, überhaupt ein Paar zu werden und heiraten zu
dürfen. Und nun bekommen die beiden bald ein Kind. Und
Phoebe … na ja, Phoebe hat in Bezug auf Männer ohnehin
schon immer das getan, was sie wollte. Sogar im Fall Cole hat
sie letztlich ihren Willen durchgesetzt. Also warum sollte ich
nicht dem Ruf meines Herzens folgen und hier bei dir bleiben?«

Selim schüttelte erstaunt den Kopf. War das noch die gleiche

Paige, die vor kaum zwei Stunden so große Zweifel an einer
gemeinsamen Zukunft gehabt hatte?

»Du und ich, wir sind wie füreinander geschaffen«, fuhr sie

fort und kuschelte sich eng an ihn. »Selbst die Umstände unserer
Herkunft sind nahezu identisch. Auch mein Vater war ein
Wächter des Lichts, auch meine Mutter eine weiße Hexe. Das
kann doch kein Zufall sein –« Sie brach ab und schmiegte sich
zärtlich an ihn. »Ich habe auch ein Recht darauf, glücklich zu
sein. Ein Recht darauf, bei dem Mann zu sein, den … ich liebe.
Das ist mein Schicksal, unser Schicksal …« Sie sah zärtlich zu
ihm auf.

Gedankenverloren streichelte Selim Paige übers Haar. Auch

er war glücklich wie noch nie in seinem Leben. Alles, was er
wollte, war Paige. Und was sie sagte, ergab ja auch einen Sinn.

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Wenn es einen Weg gab, dass sie beide doch noch
zusammenkommen konnten, so einzig und allein mithilfe seines
Vaters Macht.

Und doch, irgendetwas stimmte hier nicht. Es war weniger

als ein ungutes Gefühl, das ihn beschlich; mehr eine dumpfe
Ahnung, das irgendetwas hier schrecklich falsch war.

Und während Selim und Paige in der Halle der Sinnesfreuden

dem süßen Nichtstun frönten, stieg der alte Malak in Begleitung
des Algols den schwarzen Turm hinauf, bis er das Quartier
seiner untoten Sklaven erreicht hatte.

Dort angekommen vernichtete er die Ghule mit nur einem

Handstreich. »Zum Teufel mit euch stumpfsinnigen Kreaturen«,
zischte er, »eure Dienste sind nicht länger vonnöten.«

Und er lächelte, als sich zuletzt auch sein ehemals treuer

Untertan Chatun schreiend am Boden wand und unvorstellbare
Qualen erlitt, während sich sein geschundener Körper langsam
auflöste wie Fleisch in einem Säurebad.

»Bei Iblis«, sagte Zeyn zu dem vogelköpfigen Algol, »meine

Macht wird grenzenlos sein.«

Der Morgen dämmerte schon, als Phoebe von ihrem Lager

aufschreckte.

Der Ruf des Muezzin hatte sie aus einem schrecklichen

Alptraum gerissen. Sie hatte geträumt von einer Welt, die völlig
aus den Angeln gehoben worden war, einer Welt, in der nur
noch Nacht herrschte, Verzweiflung und Kälte und Einsamkeit

Verwirrt sah sie sich um. Dann wusste sie wieder, wo sie

war. Sie erkannte die mit kleinen Platanen und Palmen begrünte
Dachterrasse von Ibrahims Haus und in der Ferne die vom

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ersten Licht des Tages beschienene orientalische Stadtansicht
Ald’marans.

Neben ihr lagen Piper und Leo noch im tiefen Schlaf.

Die Bettstatt von Paige jedoch war leer.

Phoebe erhob sich von ihrer Matratze und schlich barfuß zur

kleinen Treppe, die ins Innere des Hauses führte.

Im dunklen Erker des Dachgeschosses schliefen Seif und

Suleiman noch den Schlaf der Gerechten.

Auf Zehenspitzen stieg sie hinunter ins Erdgeschoss, wo der

blinde Ibrahim mit getrocknetem Kameldung gerade ein Feuer
in dem kleinen Lehmofen entfachte.

»Guten Morgen«, begrüßte Phoebe ihn herzlich.

»Sei gegrüßt, Mädchen.« Der alte Mann lächelte, während er

sich nun anschickte, den kleinen Tisch für seine Gäste mit einem
Morgenmahl aus Tee, frischem Fladenbrot, Honig und dickem,
süßem Rahm zu decken. Phoebe lief bei diesem Anblick das
Wasser im Mund zusammen. »Ich hoffe, du hast gut
geschlafen?«

»Eigentlich schon«, erwiderte Phoebe, »nur kurz vor dem

Aufwachen, da hatte ich einen wirklich schlimmen Alptraum.
Aber ich weiß schon jetzt gar nicht mehr, was genau darin
passierte … Na ja, egal, wissen Sie vielleicht, wo Paige ist?«

Der bärtige Mann hielt abrupt in seiner Tätigkeit inne, und

sein Gesicht wurde grau vor Bestürzung. »Sie ist nicht bei
euch?«, fragte er leise.

»Nein, ich dachte, sie ist vielleicht schon hier unten und hilft,

das Frühstück –«

Sie brach ab. »O Gott«, entfuhr es ihr. Sie wirbelte herum

wie ein Derwisch und raste wieder hinauf Richtung Dach.
»Piper, Leo, aufwachen! Schnell! Paige ist weg!«

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»Ich fasse es nicht«, war alles, was Piper hervorbrachte, als

Phoebe ihr und Leo die Hiobsbotschaft überbrachte.

»Was hat sie sich nur dabei gedacht?«, murmelte Leo und

erhob sich schlaftrunken von seinem Lager auf dem Dach des
Hauses.

Seif und Suleiman waren ebenfalls aufs Dach hinausgetreten.

Der Jüngere rieb sich verschlafen die Augen und blinzelte in die
fahle, aufgehende Sonne, während sein Bruder mit versteinerter
Miene dastand. »Ich kann mir schon denken, was sie sich dabei
gedacht hat«, sagte Suleiman leise. »Sie wird zum schwarzen
Turm gegangen sein … doch an eine aufopfernde
Rettungsaktion für meinen Bruder kann ich dabei nicht
glauben.«

»Was willst du damit sagen?«, herrschte Phoebe ihn an.

Suleimans Züge verfinsterten sich. »Nun, es ist doch ganz

offensichtlich, dass Zeyn seinen kostbaren Sohn bisher gänzlich
ungeschoren gelassen hat. Und ich frage mich langsam,
warum?«

»Du meinst, euer Halbbruder macht gemeinsame Sache mit

seinem Vater?«, fragte Piper.

»Es sieht doch ganz danach aus, oder etwa nicht? Und

vermutlich hat Paige heute Nacht ihre Chance erkannt, durch ihn
zu Macht und Einfluss zu kommen, und ist zu ihm gegangen.
Immerhin scheint Selim eurer Schwester ja ganz verfallen zu
sein …«

»Das würde Paige niemals tun!«, rief Phoebe empört.

»Niemals würde sie sich auf die dunkle Seite schlagen und die
Macht der Drei verraten …«

Es entstand eine beklemmende Pause, in der niemand etwas

sagte. »Es stimmt doch, was ich sage, oder?«, fragte Phoebe und
sah Piper und Leo eindringlich an.

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»Wir wollen hoffen, du hast Recht, Phoebe«, sagte Piper

düster. »Wobei ich nicht weiß, was schlimmer wäre: Dass Paige
die Zauberhaften im Stich lässt oder dass sie gerade versucht,
uns alle zu retten.«

Mühsam richtete sich Paige auf dem Diwan auf. Ihr Schädel

dröhnte, ihre Sinne waren betäubt wie nach einer durchzechten
Nacht, und ihre Kehle war wie ausgedörrt.

Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte, sie wusste

nur, dass sie sich hundeelend fühlte.

Neben ihr unter dem Baldachin lag Selim; er sah aus wie ein

schlafender Engel. Was er ja zur Hälfte auch war …

Hinter ihrer Stirn pochte und bohrte ein dumpfer Schmerz.

Sie stöhnte leise auf. Was war passiert, nachdem sie heute Nacht
den schwarzen Turm erreicht hatte?

Während sie krampfhaft überlegte, was nach ihrer Ankunft

im Turm geschehen war, kam eine junge Schwarze herbei und
reichte ihr einen Becher mit Traubensaft. Auch stellte sie eine
kleine Platte mit frischen geschälten Orangen und in Sirup
getauchten Küchlein neben ihr ab. »Eine kleine
Morgenerfrischung, edle Dame.« So lautlos, wie sie gekommen
war, entfernte sich die Sklavin wieder und verschwand hinter
den Paravents.

Gierig nahm Paige den Becher zur Hand und wollte ihn

schon zum Mund führen, als Selim neben ihr zischte: »Nicht
trinken!«

»Was?« Verwirrt sah sie neben sich. Selim hatte die Augen

aufgeschlagen und sah sie eindringlich an. »Nicht trinken«,
raunte er ihr noch einmal zu.

Zögernd stellte Paige das Getränk wieder zurück auf das

kleine Ebenholztischchen und sah Selim fragend an.

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Der erhob sich mit gefurchter Stirn von ihrem gemeinsamen

Lager und schüttelte nur den Kopf. Dann deutete er nach oben.
»Lass uns einen kleinen Ausflug machen«, rief er betont
fröhlich und ergriff ihre Hand. Schon orbten sie auf die große
Aussichtsplattform, auf der Zeyn noch vor wenigen Stunden mit
seinem Sohn in den Nachthimmel gesehen und einen viel
versprechenden Blick in die Zukunft getan hatte.

»Ich denke, hier können wir ungestört reden«, sagte der junge

Magier, nachdem er sich nach links und rechts umgeschaut
hatte. Er zog Paige zu sich heran und sah sie ernst an. »Hör mir
zu, Liebes, wir dürfen hier in diesem Turm nichts mehr essen
oder trinken, verstehst du; es verwirrt unsere Sinne und soll uns
gefügig machen!«

»Ungestört reden?« Paige sah ihn verständnislos an. »Nichts

mehr essen und trinken? Was meinst du damit?«

»Warum bist du hierher gekommen?«, fragte Selim langsam

und betonte dabei jedes Wort, als spräche er mit einem
begriffsstutzigen Kind.

»Ich kam, um …« Sie brach ab. »Ich kam, um … bei dir zu

sein«, sagte Paige lahm. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein,
das war es nicht allein.«

»Du kamst, um mich zurückzuholen, richtig?«

Paige runzelte die Stirn und dachte scharf nach. Sie erinnerte

sich, wie sie auf dem Dach von Ibrahims Haus eine wichtige
Entscheidung getroffen hatte. Und nach und nach, wie wenn
man sich gleich nach dem Aufwachen an einen bösen Traum
erinnert, fiel ihr ein, was dann geschehen war.

Sie hatte das Haus der Brüder verlassen. Und nachdem sie

beim schwarzen Turm angekommen war, hatte ein Ghul sie
eingelassen, der hässliche Malak hatte sie überschwänglich
begrüßt und ihr versichert, Selim warte schon auf sie. Man hatte

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ihr ein kühles Getränk zur Erfrischung gereicht und sie dann in
diese Halle geführt.

Dort hatten ein paar blutjunge Mädchen sie sogleich kichernd

in Empfang genommen, sie frisiert und parfümiert, ihr kostbare
Gewänder und einen Gesichtsschleier angelegt und sie dann
aufgefordert, doch ein kühles Bad zu nehmen …

Doch warum war sie wirklich hierher gekommen? Es war

wichtig gewesen, ungemein wichtig … Es hatte mit ihren
Schwestern zu tun gehabt. Und dann fiel es ihr plötzlich wieder
ein.

»Ich wollte dich zurückholen«, rief Paige, »weil wir dich für

die temporäre Macht der Drei brauchen. Und niemand außer mir
hätte Einlass in den schwarzen Turm gefunden, ohne bei Zeyn
Verdacht zu erregen …«

»Die temporäre Macht der Drei?«, fragte Selim verwirrt.

»Was ist das?«

Paige erklärte es ihm, und sie ließ ihn auch nicht im Dunkeln

über die Schlussfolgerungen, zu denen die Schwestern und seine
Brüder gelangt waren, nachdem Selim sich in die Dachkammer
zurückgezogen hatte. Plötzlich, mitten in der Erzählung, schlug
sie sich mit der Hand vor den Mund und wurde kreidebleich.

»Was ist?«, fragte Selim alarmiert.

Paige beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr: »Wir

vermuten auch, dass dein Vater dich beobachtet und alles sehen
kann, was du tust und –«

»Ich weiß«, sagte Selim lächelnd, »aber das ist nun vorbei.«

Er erzählte ihr von der magischen Kugel mit der Haarlocke in
Zeyns Gemach und davon, wie er sie zerschmettert hatte.

»Und es hat ihm gar nichts ausgemacht, dass du die

Verbindung zu ihm zerstört hast?«, fragte Paige ungläubig.

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»Nein, ich vermute, nun, da ich hier bin, glaubt er, sein Ziel

erreicht zu haben. Und damit eben dieses Ziel nicht in Gefahr
gerät, verabreicht er dir und mir regelmäßig irgendwelche
Zaubertränke, die das Denken unmöglich und uns am Ende zu
willenlosen Geschöpfen machen.«

»Aber was ist sein Ziel?«, fragte Paige.

»Er will seine Kräfte auf mich übertragen, denn er sagt, er

stirbt.«

Paiges Augen wurden groß und rund, als sie die Tragweite

dieser Worte begriff. »Aber … aber wenn das so ist, brauchen
wir doch nur noch auf seinen Tod zu warten, und wenn er dann
stirbt, kehren meine und die Kräfte deiner Brüder doch von ganz
allein zu uns zurück!«

»So einfach ist das nicht«, sagte Selim traurig. »Zeyn

überlässt nichts dem Zufall. Wenn ich mich nicht bereit erkläre,
in der Sekunde seines Dahinscheidens seine Magie in mich
aufzunehmen, wird es ein anderer tun. Mein Vater hat sich viele
ergebene Kreaturen geschaffen, die nur allzu willfährig wären –
«

Wie aufs Stichwort erschien plötzlich eine überaus

abstoßende Gestalt auf dem Treppenabsatz der Plattform. Es war
der Raubvogeldämon, von dem Piper und Phoebe berichtet
hatten.

Mit einer knappen, und doch unterwürfigen Bewegung

deutete der Algol mit seiner Klauenhand auf die Wendeltreppe.
Was er sagte, war kaum zu verstehen, doch Selim wusste auch
so, was man von ihm wollte: »Der erhabene Zeyn erwartet
Euch, junger Herr. Das Ritual soll beginnen.«

In einem Strudel aus blauem Licht materialisierten Leo,

Piper, Phoebe, Suleiman und Seif auf dem Friedhof vor dem
schwarzen Turm.

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- 204 -

»Rings um den Turm ist eine Barriere errichtet, die weiße

Magie neutralisiert«, erinnerte Piper die Anwesenden noch
einmal.

»Und die Pforte selbst ist mit einer magischen Falle

gesichert«, ergänzte Phoebe. »Die ist wohl nicht zu knacken.«

»Dann orben wir uns eben erst mal auf die große Plattform,

von der Paige erzählt hat«, schlug Leo vor und sah an dem Turm
hinauf. »Von da aus sehen wir dann weiter.«

»Hallo? Hast du mir nicht zugehört?«, fragte Piper ihn, »ich

habe doch gerade gesagt, dass um den Turm ein Bannzauber
liegt, der weiße Magie neutralisiert. Vermutlich beißen wir hier
auf Granit.«

»Vielleicht aber auch nicht«, meinte Leo. »Die Kräfte eines

Wächters des Lichts sind weitaus mehr als einfach nur weiße
Magie. Im Übrigen wissen wir gar nicht, ob die Barriere ganz
über dem Turm liegt oder nur rundherum verläuft wie ein hoher
Zaun.«

Sie fassten sich wieder an den Händen und verschwanden so

lautlos, wie sie gekommen waren.

Eine Sekunde später nahm die kleine Gruppe auf der

sonnendurchfluteten Aussichtsplattform des schwarzen Turms
wieder Gestalt an.

»Es hat geklappt!«, rief Phoebe.

Plötzlich zerriss ein Donnern und Krachen die Luft, während

sich ein großer Schatten über die Stadt legte.

Phoebe trat an den Rand der Plattform und ließ den Blick in

die Ferne schweifen. Nach und nach verdunkelte sich der
Himmel über ihnen, und sie spürte, dass sich die ganze Region
plötzlich im Zentrum eines gigantischen Kraftfeldes befand, wie
es nur durch eine ganz bestimmte Ausrichtung von Erde, Mond
und Sonne entsteht.

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- 205 -

»Eine Sonnenfinsternis!«, rief sie den anderen zu.

»Das ist bestimmt kein Zufall«, sagte Leo düster. »Große

atmosphärische Veränderungen sind wie geschaffen für gewisse
Umstürze mithilfe der schwarzen Magie. Wenn wir nicht schnell
handeln, könnte es schon bald zu spät sein.«

»Und was machen wir jetzt?«, wollte Seif wissen, der seine

Aufregung kaum verhehlen konnte.

»Nur Piper und Phoebe verfügen noch über ihre Magie«,

fasste Suleiman den Status quo zusammen. »Alle anderen
müssen sich auf ihr Geschick und ihre Fäuste verlassen. Ich
schlage daher vor, wir schleichen uns erst einmal hinunter in die
große Halle, und wenn uns auf dem Weg ein Ghul-Wächter
begegnen sollte, dann schickt Piper ihn zum Teufel.«

»Sollten wir nicht erst mal oben im Verlies nachschauen, ob

Paige dort nicht vielleicht eingesperrt ist?«, fragte Phoebe.

»Ich glaube nicht, dass Zeyn sie noch einmal gefangen

gesetzt hat«, sagte Leo, und Suleiman nickte.

»Also dann, auf in den Kampf!«, rief Phoebe angriffslustig.

Sie begannen mit dem Abstieg, allen voran Piper, die sich

innerlich bereitmachte, umgehend die Zeit einzufrieren, sollten
sie eine unliebsame Überraschung erleben. Doch zu ihrem
größten Erstaunen begegnete ihnen weder ein Untoter noch der
große Zeyn selbst.

Der ganze Turm schien wie ausgestorben.

»Wo sind die bloß alle?«, fragte Seif, als sie die Etage mit

den Ghul-Quartieren erreichten. Fast hatte er sich auf einen
Kampf mit den tumben Untoten gefreut. Ja, er hatte sich extra zu
diesem Zweck einen kleinen Lederbeutel mit Salz über die
Schulter geworfen.

»Vielleicht machen die irgendwo Party?«, meinte Phoebe

grinsend, und sie wusste gar nicht, wie Recht sie damit hatte.

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- 206 -

In Zeyns Gemach stand Selim neben seinem Vater, der sich

langsam mit einem scharfen Dolch in die eigene Handfläche
schnitt. Das faltige, braungraue Fleisch klaffte auf, und dann
ergoss sich ein dünnes Rinnsal aus Blut in einen goldenen
Kelch, den Selim bereithielt.

Paige, der es gestattet worden war, die ganze Szene auf

einem Diwan sitzend zu verfolgen, schauderte bei dem Anblick.

Der Malak tauchte einen dürren Finger in das aufgefangene

Blut, vollführte murmelnd einige Zeichen vor Selims Gesicht
und berührte dann die Stirn seines Sohnes. Sogleich prangte
über Selims Nasenwurzel ein dunkelroter Fleck wie ein
Kainsmal. Der junge Magier fröstelte.

»Der erste Schritt des Rituals ist hiermit vollzogen«, sagte

Zeyn. »Die Konstellation der Gestirne wird heute, wenn die
Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, für unsere Zwecke wie
geschaffen sein«, fuhr er mit brüchiger Stimme fort und nahm
die Blutschale wieder an sich. »Dann werden wir uns erneut hier
zusammenfinden, auf dass das Ritual vollendet werden kann.
Bis dahin, meine lieben Kinder, esst und trinkt und lasst es euch
wohl ergehen in der Halle der Sinnesfreuden.«

Als Leo, Piper, Phoebe, Seif und Suleiman um die letzte

Biegung der Wendeltreppe bogen, erkannten sie vor sich einen
prächtigen Saal, an dessen einem Ende ein marmorner Thron auf
einem Podest stand.

Auch hier war weit und breit kein Mensch oder Untoter zu

sehen.

»Das ist die große Eingangshalle«, raunte Suleiman den

anderen zu. »Aber wieso zum Teufel ist selbst hier niemand?«

Die anderen sahen sich unschlüssig an. Das alles lief völlig

anders, als sie es sich vorgestellt hatten. Wie kinderleicht sie bis

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- 207 -

hierher vorgedrungen waren, ohne dass sie auch nur eine einzige
Wache aufgehalten hatte! Entweder war Zeyn außerordentlich
leichtsinnig, dachte ein jeder von ihnen, oder aber er war der
Ansicht, dass er einfach nichts mehr von ihnen zu befürchten
hatte.

»Da hinten ist noch eine Treppe!«, rief Phoebe plötzlich aus.

Und tatsächlich, auf der rechten Seite der Halle, von einer
mächtigen Marmorsäule halb verdeckt, waren Stufen im Boden
zu erkennen, die abwärts führten.

Leo sah die anderen erwartungsvoll an, und alle nickten.

Dann orbten sie an die bezeichnete Stelle und wagten den
Abstieg.

Die Treppe führte hinab in einen düsteren Gang, der mit

kostbaren Teppichen ausgelegt war. An seinem Ende war eine
schwere Holztür zu erkennen, neben der ein großer
Eisenschlüssel hing.

Zögernd trat die Gruppe näher.

»Schlüssel oder hineinorben?«, fragte Leo in die Runde, als

sie vor der großen Holzpforte standen.

»Wer weiß, was uns dahinter erwartet?« Suleiman runzelte

die Stirn. »Vielleicht wäre es besser, diese Tür auf normalem
Wege zu öffnen und erst einmal einen Blick hineinzuwerfen?«

Noch ehe er den Satz zu Ende gesprochen hatte, hatte sich

Piper schon den Schlüssel geschnappt und ihn im Schloss
herumgedreht. Sie schob die Tür einen winzigen Spalt weit auf
und sah hindurch.

»Was siehst du?«, fragte Seif, der vor Neugier schier zu

platzen schien.

Keine Antwort.

»Piper?«, flüsterte Phoebe ungeduldig.

Keine Antwort.

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- 208 -

»Piper, was ist da hinter der Tür?«, drängte nun auch Leo.

»Das Paradies«, hauchte seine Frau. »Ich sehe das Paradies.«

In ihrem abgeschiedenen Liebesnest in der Halle der

Sinnesfreuden verfolgten Selim und Paige einen martialischen
Säbeltanz, der von einer Gruppe junger Männer in schmucken
orientalischen Uniformen vorgeführt wurde.

Zu den treibenden Rhythmen von Schalmeien und Mazhar-

Trommeln wirbelten die blitzenden Schwerter durch die Luft,
während sich die Tänzer in fast akrobatischer Weise dazu
bewegten.

Neben den beiden jungen Leuten standen gekochte und

gebratene Speisen, Früchte und Getränke im Überfluss, doch sie
hatten nichts von alledem angerührt.

Schon in einer halben Stunde würde Zeyn das Ritual

abschließen, und Selim würde die Kräfte seines Vaters in sich
aufnehmen, in dem Moment, da der alte Malak starb.

Keinem der beiden war wohl bei dem Gedanken an diesen

Plan, und es war Paige, die das beklommene Schweigen endlich
brach.

»Da gibt es etwas, das ich nicht verstehe«, begann sie und

schaute Selim besorgt an. »Leo hat gesagt, ein Malak könne
nicht sterben, und der muss es ja schließlich wissen. Wenn Zeyn
nun etwas anderes behauptet, so ist doch ziemlich offensichtlich,
dass er uns irgendwie anlügt, oder?«

Selim nickte. Genau diesen Gedanken hatte er in den letzten

Stunden immer wieder bis zum Überdruss gewälzt.

»Könnte es daher nicht sein«, fuhr Paige fort, »dass er

einfach einen frischen, jungen Körper für sich sucht? Dass am
Ende du derjenige sein wirst, der stirbt, während Zeyn in seiner
ganzen Bösartigkeit in deinem Körper weiterlebt?«

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- 209 -

Der junge Magier hob langsam den Blick, und die Erkenntnis

traf ihn wie ein Peitschenhieb. Ein Leben für ein Leben, hatte
Zeyn geantwortet, als er, Selim ihn nach dem Preis für die
Macht gefragt hatte, die sein Vater in seine Hände zu legen
beabsichtigte. Er hatte über diesen Satz nicht sonderlich lange
nachgegrübelt, aber er hätte nie gedacht, dass er sein eigenes
Leben, sein eigenes Ich und Sein, für die teuflischen Pläne des
Malak würde opfern müssen! Nie hatte er seit seiner Ankunft im
schwarzen Turm auch nur eine Sekunde für möglich gehalten,
dass sein leiblicher Vater den Tod seines einzigen Sohnes in
Kauf nehmen würde, nur damit er auf Erden weiterexistieren
konnte.

Der Gedanke schmerzte ihn mehr, als er Paige gegenüber

zugeben mochte, und doch nicht so sehr, als dass er sich deshalb
zur Schlachtbank führen lassen würde wie ein hilfloses Lamm.

»Du hast Recht, Paige«, sagte er und richtete sich abrupt auf.

»Die ganze Sache war von vornherein ein abgekartetes,
verlogenes Spiel. Zeyn hatte nie vor, aus dieser Sphäre zu
entschwinden, und als er bemerkte, dass sein irdischer Körper
immer mehr zerfiel, hat er alles darangesetzt, Kontakt mit mir
aufzunehmen und mich mit der Aussicht auf die ach so
erstrebenswerte Weltherrschaft für seinen ›Plan‹ geködert. Der
Bund der Magier und auch die Macht der Drei mussten dazu
natürlich zerstört werden«, fuhr der junge Magier fort, »und mit
dir an seiner Seite hätte er eine standesgemäße Gefährtin
bekommen, die von dem perfiden Körpertausch nichts ahnen
und die er mit schwarzer Magie und Zaubertränken vom Denken
abhalten würde – und die ihm vielleicht schon bald einen Erben
schenken würde –«

Er brach ab, denn ihm wurde übel bei dem Gedanken, und

auch Paiges Gesicht war vor Entsetzen grau geworden. Ihr Blick
fiel auf all die Köstlichkeiten, die man hier, in ihrem
romantischen kleinen Liebesnest, vor ihnen aufgebaut hatte, und
ihr wurde klar: Der Malak hatte seinem Sohn eine

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- 210 -

Henkersmahlzeit bereitet, damit Selim am letzten Tag seines
Lebens noch einmal in den Genuss aller irdischen Sinnesfreuden
kommen sollte.

Sie schluckte hart. »Was machen wir jetzt?«, flüsterte sie und

ergriff seine Hand. »Das Ritual darf auf keinen Fall vollzogen
werden!«

»Das ist nur allzu wahr!« Selim war aufgesprungen und zog

Paige von dem Diwan auf die Beine. »Wir müssen von hier
verschwinden, und zwar sofort!«

In diesem Moment erschien der Algol, der treueste Diener

seines Meisters, im Séparée und deutete Richtung Ausgang der
Halle. »Der erhabene Zeyn erwartet euch.«

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- 211 -

9

E

INER NACH DEM ANDEREN HATTEN sie gespannt

einen Blick in die Halle der Sinnesfreuden geworfen, in der alle
Herrlichkeit auf Erden Platz gefunden zu haben schien.

Piper und Phoebe hatten ihren Augen kaum getraut

angesichts der Pracht und Schönheit, die sich hinter der
unscheinbaren Tür verbarg. Und selbst der welterfahrene Leo
und der eher nüchterne Suleiman waren beeindruckt gewesen
von dem unterirdischen Garten Eden, den sich der Malak
geschaffen hatte.

Doch kann es einen Garten Eden ohne Schlange geben?,

fragte sich der Wächter des Lichts, und eine schlimme Ahnung
erfasste ihn.

Besonders Seif konnte sich vor Entzücken kaum fassen, als er

zwischen den Gärten, Teichen und Ruheinseln halb nackte
Sklavinnen und Bauchtänzerinnen entdeckte.

Plötzlich zuckte er zurück und rief: »Da kommen Paige und

Selim! Aber sie sind … nicht allein. Igitt, was für eine hässliche
Kreatur ist denn das?«

Phoebe drängelte sich neben ihn und wagte noch einmal

einen Blick durch den Türspalt. »Hey, das ist doch dieser
Dolchheini, der im Basar hinter uns her war und Piper beim
Friedhof angegriffen hat –«

Leo schob die beiden kurzerhand beiseite und spähte nun

seinerseits noch einmal durch den Türspalt. Tatsächlich, die
beiden Liebenden durchquerten soeben mit einem
absonderlichen Iblis-Dämon die Halle und kamen direkt auf sie
zu. Doch weder Selim noch Paige wirkten sonderlich entspannt,
geschweige denn glücklich.

»Los, verschwinden wir von hier!«, rief der Wächter des

Lichts und zog die schwere Tür wieder ins Schloss. Eine

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- 212 -

Sekunde später schon orbte die Gruppe zurück in die
Eingangshalle und versteckte sich in den Schatten des schmalen
Treppenaufgangs, der hinauf in den Turm führte.

Sie mussten nicht lange warten, bis der hünenhafte

Vogeldämon mit seinen beiden jungen Begleitern in der
Säulenhalle erschien.

Die drei steuerten auf den schwarzen Thron zu, wobei sich

Paige und Selim bei jedem Schritt mit gehetztem Blick umsahen
und verstohlen miteinander flüsterten.

Keine Frage, etwas Merkwürdiges ging hier vor. Etwas, das

offensichtlich ganz und gar nicht im Sinne von Selim und Paige
war.

In Zeyns Allerheiligstem lag der Malak lang ausgestreckt auf

seinem Diwan, als Paige und Selim zusammen mit dem Algol
den Raum betraten.

Die Kammer war stickig und nur halbherzig durch einige

Kerzen erleuchtet. Der Geruch von Tod und Verwesung hing in
der Luft, und Paige rümpfte unwillkürlich die Nase. Es roch, als
ob der Malak langsam von innen heraus verfaulte.

Ächzend erhob sich der Alte von seinem Lager; er wirkte

noch hinfälliger als vor einer Stunde und konnte sich nur noch
mit Mühe auf den Beinen halten. »Es ist so weit«, sprach er mit
brüchiger Stimme und trat auf seinen Sohn zu. »Bist du bereit?«

Selim nickte stumm, während Paige sich mit klopfendem

Herzen neben der Tür aufstellte. Niemand schien mehr groß
Notiz von ihr zu nehmen.

Der Malak nahm die Schale mit seinem Blut und hob sie

hoch über den Kopf. Gleichzeitig trat der Algol hinter seinen
Meister wie ein eifriger Bodyguard und legte ihm zwei
raubvogelartige Klauen auf die Schulter.

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- 213 -

Mit heiserer Stimme begann Zeyn nun, einige

Beschwörungsformeln zu murmeln, deren Sinn Selim nicht
verstand. Plötzlich befiel ihn eine seltsame Ruhe, und als der
Malak ihm die goldene Schale mit dem Blut reichte, nahm er sie
fast automatisch entgegen.

Unmerklich ging Paige in Kampfstellung.

Doch zu ihrem Entsetzen musste sie feststellen, dass mit

einem Mal ein friedlicher Ausdruck auf Selims Gesicht erschien,
und als er die Schale zum Munde führte, da lächelte er.

Panik erfasste Paige. Er wollte doch wohl nicht wirklich das

unheilige Blut seines Vaters trinken. Plötzlich hatte sie das
unbestimmte Gefühl, dass der Plan, den sich Selim und sie auf
dem Weg hierher zugeraunt hatten, in dieser Sekunde an
Gültigkeit verlor.

»Selim, nicht!«, schrie sie, als seine Lippen den Rand der

Schale berührten, und stürmte auf ihn zu.

Im gleichen Moment wurde die Tür zur Kammer aufgerissen,

und Leo, Seif, Suleiman, Piper und Phoebe platzten herein.

Ab da überschlugen sich die Ereignisse.

Der Malak schrie auf, der Algol riss dem wie betäubten Selim

die Blutschale aus der Hand – und trank!

Noch bevor Piper die Zeit anhalten konnte, wurde die

Kammer erfüllt von Hitze, Licht und einem ohrenbetäubenden
Rauschen, während der alte Zeyn lautlos zu Boden sank. Aus
seinem zuckenden Körper schossen Blitze und Strahlen, die sich
von allen Seiten in den Körper des Algol bohrten und ihn von
innen heraus erstrahlen ließen wie eine 1000-Watt-Glühbirne.

Das, was einmal der Algol gewesen war, starb, doch zugleich

schien der Dämon mit jeder Kraft, mit jedem Funken fremden
Lebens, das er in sich aufnahm, zu erstarken.

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- 214 -

Der Boden erzitterte leicht, als sich sein hybrider Körper und

sein hässlicher Raubvogelkopf auf geradezu phantastische
Weise zu verändern begannen.

Leo, die drei Brüder und die Zauberhaften mochten ihren

Augen kaum trauen, als nach der Metamorphose ein Wesen vor
ihnen stand, das an Schönheit und Erhabenheit seinesgleichen
suchte.

Doch es war nicht mehr zu leugnen: Neben der am Boden

liegenden toten Hülle des greisen Zeyn, schwebte die
Reinkarnation des Malak: eine geflügelte Lichtgestalt mit
langem lockigen Haar, grünen mandelförmigen Augen und dem
Gesicht eines Engels. Keine Frage, vor ihnen stand Zeyn, wie er
in jungen Jahren ausgesehen hatte, und er sah Selim zum
Verwechseln ähnlich!

Selim keuchte erschrocken auf, und sein Vater verzog das

Gesicht zu einem grausamen Lächeln.

»Raus hier!«, schrie Leo, und schon stürmten die drei Brüder

und die Hexen aus der Kammer durch die Säulenhalle des
schwarzen Turms.

»Wohin?«, rief Suleiman, »die Hauptpforte ist doch noch

immer durch die magische Falle gesichert!«

»Richtung Treppe!«, stieß Leo hervor, und schon flüchtete

sich die Gruppe wieder an ihren alten Platz neben der
Wendeltreppe und versteckte sich hinter einer schweren
Granitsäule.

Im gleichen Moment erschien der Malak auf der Schwelle

seines Allerheiligsten, sodass die Halle in einem gleißenden
Licht erstrahlte, und stieg auf das Podest mit dem schwarzen
Thron.

Als er sich zu Leo und den anderen umwandte, war es, als ob

die Welt den Atem anhielt.

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- 215 -

Und auch Phoebe erstarrte für einen Moment; denn vor ihren

Augen lag genau die Szenerie, die sie in ihrer Vision gesehen
hatte.

Der junge Zeyn hob einen Arm, und dann schossen grellrote

Feuerbälle und Blitze durch die Halle, die nur knapp ihr Ziel
verfehlten, weil sich die Gruppe im letzten Moment auf den
Treppenabsatz zurückzog.

Piper versuchte, die Zeit einzufrieren, doch der Malak, der

ebenfalls über diese Kraft verfügte, hob den Zauber in derselben
Sekunde auf.

Gleichzeitig baute sich eine gigantische Feuerwalze vor Zeyn

auf, die rasend schnell auf die Gruppe bei der Treppe zurollte.

Die sechs fassten sich an den Händen und konnten sich

gerade noch in Sicherheit orben.

Als sie auf dem ersten Zwischengeschoss wieder

materialisierten, rief Piper: »Phoebe, hast du den Spruch?«

Phoebe nickte und ergriff Pipers Hand. Dann rief sie: »Selim,

komm schnell her, wir brauchen dich für die temporäre Macht
der Drei!«

Der junge Magier trat zu den beiden Frauen, und mit seiner

Hilfe schlossen sie den heiligen Kreis.

In diesem Moment ging ein Eisregen auf die Gruppe nieder,

der sich ihnen ins Fleisch bohrte wie heißkalte Nadelstiche.

Paige trug einen Schnitt an der Wange davon; Seif wurde von

einem spitzen Hagelklumpen am Kopf getroffen, sank blutend
zu Boden und regte sich nicht mehr.

»Phoebe, schnell!«, rief Leo, während er den jungen Mann

wieder ins Leben zurückholte und gleich darauf auch Paige
heilte.

Phoebe hielt Pipers und Selims Hände noch ein bisschen

fester, hob den Kopf und rief laut:

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- 216 -

In dieser Nacht, zu dieser Stund

ruf ich die alten Mächte herbei.

Lenkt eure Kraft in unsren Bund,

verleihet uns die Macht der Drei!

Der schwarze Turm erbebte, und im gleichen Augenblick

ertönte ein markerschütternder Schrei aus der Eingangshalle.

Sodann wurden Piper, Phoebe und Selim von einer

rotgoldenen Aura umhüllt – die temporäre Macht der Drei war
hergestellt.

»Es hat geklappt!«, rief Paige und riss triumphierend den

Arm in die Höhe.

Schon stürmten Piper, Phoebe und Selim die Treppe hinab

und zurück in die Halle, während die anderen ihnen in sicherem
Abstand folgten.

Der Malak stand noch immer neben seinem Thron, beide

Hände gen Himmel erhoben, wie wenn er seinen Schöpfer um
Gnade anflehte. Rauchende Trümmer und verkohlte Teile der
Decke stürzten herab – offensichtlich die Folge einer
fehlgeleiteten Magieattacke – und begruben den Thron unter
sich.

Piper, Phoebe und Selim hoben die Hände in Richtung ihres

Erzfeindes und riefen dreimal im Chor:

Gib nun zurück, was du dir nahmst,

und gehe hin, woher du kamst.

Sie hatten das letzte Wort kaum ausgesprochen, da war es, als

ob sich aus den Fingerspitzen der drei sämtliche ihnen

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- 217 -

innewohnende Macht entlud und auf Zeyn niederging wie ein
tausendfaches Blitzgewitter.

Zeyns Gestalt wurde von einem Kraftfeld aus bläulicher

Energie umgeben, und sein Leib zuckte wie unter
Stromschlägen, bevor er mit einem Knirschen und Krachen
auseinander brach wie eine geplatzte Puppe. Gleichzeitig wurde
es in der Halle so unerträglich hell, dass die sieben einige
Sekunden lang wie geblendet dastanden.

Aus den Rissen und Klüften in Zeyns Körper quoll alles

irdische Leben, und mit ihm verließen ihn alle Kräfte, die er sich
im Laufe seines Erdendaseins angeeignet hatte. Wie farbige
Sonnenstrahlen brachen sie hervor, schossen in alle Richtungen
davon und suchten sich einen Weg zurück in ihre ursprünglichen
Besitzer.

Paige, Seif und Suleiman wurden von einer Welle aus Wärme

und Glück erfasst, als sich ihre Magie wieder in ihren Körpern
manifestierte – und dann waren plötzlich die Macht der Drei
und der Bund der Magier wieder hergestellt.

Drei Männer und drei Frauen erstrahlten in einem

überirdischen Glanz, fassten sich an den Händen und
intonierten:

Du gabst zurück, was du dir nahmst,

nun gehe hin, woher du kamst.

Gellend schrie der Malak auf, und dann explodierte das, was

von seinem Körper noch übrig war, in einer Wolke aus Feuer
und Licht, und seine verlorene Seele fuhr auf ins ewige Reich
der alten Mächte.

Als es vorbei war, standen die drei Brüder und die

Zauberhaften für einige Sekunden einfach nur wie betäubt da.

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- 218 -

Eine merkwürdige Stille legte sich über diesen Ort wie

Mehltau über eine Wiese, und es war Leo, der die sechs wieder
ins hier und jetzt zurückrief. »Wir müssen von hier
verschwinden!«, rief er, und schon einen Atemzug später ertönte
ein Grollen und Donnern unter ihren Füßen, und im
Marmorboden der Säulenhalle erschienen tiefe Risse und
Spalten, als ob die Unterwelt selbst im Begriff war, sich
aufzutun.

Kurz bevor das Fundament des schwarzen Turms gänzlich

einbrach, verschwand die Gruppe in einem Strudel aus blauem
Licht von diesem unheiligen Ort.

Auf der Terrasse von Ibrahims Haus materialisierten sie

genau in dem Augenblick, als der schwarze Turm erbebte und
ins Wanken geriet.

Und dann fiel das uralte Bauwerk mit einem

ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammen, und der
aufgewirbelte Staub verdunkelte für einige Minuten den Himmel
über Ald’maran.

Granitfarbene Gesteinsbrocken regneten auf den alten

Friedhof und den Hügel nieder, auf dem der Turm gestanden
hatte. Und diese Trümmer waren alles, was von Zeyns
ehemaliger Pracht und Herrlichkeit übrig geblieben waren.

Die Menschen von Ald’maran würden später von einem

Erdbeben sprechen, und die Archäologen der fernen Zukunft
würden in der Ruine des schwarzen Turms nach den Resten
einer untergegangenen Zivilisation graben und kluge Aufsätze
über Herkunft und Zweck des antiken Baus verfassen.

Doch niemand von ihnen würde je erfahren, was sich im

Jahre 790 in seinen Mauern wirklich abgespielt hatte.

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- 219 -

Im kleinen Innenhof von Ibrahims Haus herrschte fröhliche

Ausgelassenheit.

Die Sonne sank bereits, als man sich um den kleinen

Holztisch versammelte, während der alte Mann gemächlich
umherging und Rauchfackeln entzündete, um die Insekten zu
vertreiben.

Die Zauberhaften und die drei Brüder feierten ihren Sieg über

die Mächte des Bösen ebenso wie die Rückkehr ihrer Kräfte.
Die alte Ordnung war wieder hergestellt, die Macht der Drei
und der Bund der Magier waren wieder vereint.

Mit Magie hatte Seif in der Küche sogleich ein kleines

Feuerchen im Lehmofen entfacht, sodass Ibrahim das Essen und
einen starken Mokka zubereiten konnte. Auch Paige hatte dem
alten Mann dabei praktische Hilfe geleistet, indem sie per
Telekinese und unter großem Gelächter die jeweils benötigten
Zutaten herbeigezaubert hatte.

»Eigentlich dürfen wir Zauberhaften ja nicht zum eigenen

Vorteil hexen«, hatte sie augenzwinkernd gemeint, »aber ich
denke, heute können wir zur Feier des Tages ruhig mal eine
Ausnahme machen, oder?«

Niemand hatte widersprochen.

Nun saßen sie alle im schattigen Innenhof hinter dem Haus

und ließen sich die an kleinen Spießen gebratenen Fleischstücke
zu Reis und frischer Ziegenmilch schmecken. Während sie aßen
und tranken erzählten sie dem alten Ibrahim in allen
Einzelheiten von ihrem Kampf im schwarzen Turm.

»Was geschah eigentlich mit den vielen Menschen, den

Gästen, Sklaven und Dienern, die sich in Zeyns unterirdischer
Halle der Sinnesfreuden aufgehalten haben?«, fragte Paige
plötzlich erschrocken. »Mussten die alle heute ebenfalls
sterben?«

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- 220 -

»Das war doch alles nur Phantasmagorie und Blendwerk«,

sagte Selim, und Leo nickte.

»Er hat sich diesen Garten der Lüste mit schwarzer Magie

erschaffen und bevölkert, nicht zuletzt, um euch zu täuschen«,
fügte der Wächter des Lichts hinzu. »Nichts davon hat je
wirklich existiert.«

»Mannomann«, bemerkte Phoebe, »David Copperfield ist ja

ein Stümper dagegen.«

Als die drei Brüder sie verständnislos ansahen, fügte sie

hinzu: »Na ja, es gibt auch in unserer Welt ’ne Menge
Blendwerk und Täuschung, aber auch vieles, von dem ihr hier
noch nicht einmal zu träumen wagt.«

»Davon konnte ich mich mit eigenen Augen überzeugen«,

bestätigte Selim. »Auf den Gebieten der Technik, Wissenschaft
und Medizin hat die Menschheit geradezu Unglaubliches
geleistet, wenn auch oft um einen hohen Preis.«

Die Zauberhaften nickten, als sie an die so genannten

Segnungen der Zivilisation dachten, die unterm Strich beileibe
nicht immer zum Wohle der Menschen waren.

»So ein einfaches Leben hat wirklich einiges für sich«, sagte

Paige, als sie sich in dem schlichten, und doch idyllischen
Innenhof umsah. Ein unerwartetes Gefühl des Friedens erfüllte
sie, doch als ihr Blick an Selim hängen blieb, der sie mit
traurigen Augen ansah, verspürte sie einen heftigen Stich im
Herzen.

»Allerdings möchte ich persönlich den Komfort einer

warmen Dusche nicht mehr missen«, meinte Piper grinsend.
»Seit zwei Tagen schon stecke ich in denselben Klamotten, und
mein Haar sieht aus, als hätte ich es in einer Fritteuse
gewaschen.« Die Schwestern kicherten, während Leo den
Brüdern die Funktionsweise einer elektrischen Fritteuse
auseinander setzte.

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- 221 -

»Ob die arme Malah ihren Frieden gefunden hat?«, fragte

Phoebe plötzlich, die sich an Selims und Leos Begegnung mit
dem Kummerfluch erinnerte, von dem die beiden ihnen gestern
erzählt hatten.

»Ja, der Bann wurde in dem Moment gebrochen«, erwiderte

Leo, »da die irdische Existenz des Malak ihr Ende fand und die
von ihm gestohlenen Kräfte wieder in ihre ursprünglichen
Besitzer zurückkehrten. Malahs gepeinigte Seele ist nun für
immer befreit.«

»Und was wurde aus diesem komischen Vogeldämon?«,

fragte Paige.

»Des Meisters neues Gefäß«, entgegnete Leo trocken.

»Zumindest für einen kleinen, erhebenden Moment.«

»Na, das hat er sich bestimmt auch anders vorgestellt, als er

sich die Blutschale unter seine dämonische Kralle riss«,
bemerkte Piper kichernd.

Auch die anderen konnten sich ein leicht hämisches Grinsen

nicht verkneifen.

»Und wie geht es nun mit uns weiter, jetzt, da Zeyn vom

Antlitz der Erde verschwunden und der schwarze Turm zerstört
ist?«, fragte Suleiman, und die Anwesenden wurden für einen
Moment sehr Ernst.

Jeder wusste, was der andere dachte: Die drei Schwestern

mussten sich schon bald aus Ald’maran verabschieden und in
ihre Zeit zurückkehren. Und es würde ein Abschied für immer
sein.

»Spricht eigentlich irgendwas dagegen«, rief Phoebe

plötzlich in die entstandene Stille hinein, »wenn wir alle
zusammen
ins 21. Jahrhundert reisen und mit euch«, sie zeigte
auf die drei Brüder, »eine kleine Rundreise durch San Francisco
und unsere Zeit unternehmen?«

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- 222 -

Die Anwesenden sahen sich zweifelnd an, und dann richteten

sich alle Blicke auf Leo.

»Nun«, begann dieser langsam, »ich denke, die höheren

Mächte hätten nichts dagegen einzuwenden, wenn der Bund der
Magier
zum Zwecke des, ähm, Informationsaustausches ein paar
Tage in die Zukunft reist und danach wieder in seine Zeit
zurückkehrt.«

»Dann nichts wie los!«, rief Seif und sprang mit leuchtenden

Augen auf. »Ich kann’s kaum erwarten!«

Im Dachgeschoss von Ibrahims Haus erschuf Selim mithilfe

des Buchs der Weisheit zum letzten Mal das Zeitportal, und
nachdem sich Leo und die Zauberhaften von dem alten Mann
verabschiedet und ihm für seine Gastfreundschaft gedankt
hatten, traten die jungen Leute ihre gemeinsame Reise in die
Zukunft an.

In Halliwell Manor angekommen, folgte erst einmal eine

ausgiebige Hausbesichtigung, bei der die drei Brüder aus dem
Staunen nicht mehr herauskamen. So viel Luxus, so viel
Technik, und das auf engstem Raum!

Auf dem Speicher des viktorianischen Hauses verharrten die

drei Magier einen Moment lang ergriffen vor dem Buch der
Schatten,
bevor die Zauberhaften ihnen die halliwellsche
Familiengeschichte in aller Ausführlichkeit erzählten und dabei
auch der verstorbenen Prue gedachten.

Nach einem heißen Bad, einem Kleiderwechsel und einem

kleinen Imbiss besuchten sie am Abend das P3. Im Club wurde
Piper von ihren Angestellten schon sehnlichst erwartet, denn
heute sollte eine viel versprechende australische Newcomer-
Band namens Smart Kangaroos auftreten. Und es kostete Leo
einige Anstrengung, Seif und Suleiman zu erklären, wo
Australien lag.

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- 223 -

Anfänglich wirkte der Bund der Magier ein wenig irritiert

angesichts der lauten Musik und des Trubels, die in dem
Nachtclub herrschten, doch schon bald mischten sie sich mit
Leo und den Schwestern unter die Tänzer und feierten
ausgelassen ihren Sieg.

Am Sonntag zeigten die Zauberhaften den Brüdern dann die

Stadt, diverse Sehenswürdigkeiten und einige Museen. Am
Spätnachmittag standen ein Kinobesuch und eine Burger-Orgie
im besten Fastfood-Tempel der City auf dem Programm.

Auch Selim, der ja schon einige Male in San Francisco

gewesen war, glänzte mit seinen nicht unerheblichen
Kenntnissen über Zeit und Ort. In einer Mischung aus
Befremden und Faszination nahmen Seif und Suleiman alle
Eindrücke in sich auf und stellten unzählige Fragen.

Insbesondere für die beiden jüngeren Brüder war dieser Trip

in die ferne Zukunft, als ob sie völlig unvorbereitet auf einem
fremden Planeten gelandet wären, und mehr als einmal blieben
Seif und Suleiman inmitten des Großstadtdschungels aus Glas,
Metall und Stein einfach stehen, sahen staunend einem
aufsteigenden Jet oder einem anderen wie durch Zauberhand
bewegten Gefährt hinterher und schüttelten fassungslos die
Köpfe.

Musik, Geräusche und bewegte Bilder schienen wie aus dem

Nichts zu kommen, und Leo musste gelegentlich weit ausholen,
um den Brüdern die wichtigsten technischen Zusammenhänge
zu erklären. Er tat dies sehr gern und auf seine gewohnt ruhige
und warmherzige Art.

Als sie es sich am Abend dieses aufregenden Tages im

Wohnzimmer von Halliwell Manor bei Popcorn, Pizza und
Eistee gemütlich gemacht hatten und durch die zahllosen TV-
Programme zappten, musste Suleiman zugeben, dass der
»Zauber« des 21. Jahrhunderts der Elemente-Magie ihrer
eigenen Zeit in nichts nachstand.

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- 224 -

Für die nächsten beiden Tage hatten sich Piper, Phoebe und

Paige freigenommen, sodass sie mit den drei Brüdern in Pipers
offenem Geländewagen ins Umland von San Francisco fahren
und ihnen die Schönheiten der Westküste zeigen konnten.
Gelegentlich rundeten die Schwestern das Bild des modernen
Amerika mit einigen geschichtlichen Daten ab, die Phoebe aus
einem Reiseführer vorlesend ergänzte.

Am Abend des Mittwoch schließlich unternahmen sie dann

einen Ausflug ans Meer mit abschließendem Picknick am
Bakers Beach.

Und das war auch der Moment, in dem sich Paige und Selim

voneinander verabschieden und in das Unausweichliche fügen
mussten: Selim und seine Brüder würden noch an diesem Abend
zurück in ihre Zeit reisen.

Die beiden Liebenden standen ein wenig abseits des

Lagerfeuers, das die Gruppe am Strand entzündet hatte.
Gedämpft trug ihnen der Wind die Stimmen von Leo, Piper,
Phoebe, Suleiman und Seif zu, die Maiskolben, Steaks und
Marshmallows grillten und dabei lachten und schwatzten.

»Wie schön das alles ist«, sagte Selim, als er auf den leicht

aufgewühlten Pazifik hinaussah, über dem die letzten Möwen
ihre Kreise zogen, während über der Golden Gate Bridge
langsam die Sonne unterging. »Diesen Anblick werde ich wohl
nie vergessen.«

Paige wandte den Kopf und sah den jungen Mann an. »Und

ich werde dich nie vergessen«, sagte sie leise.

Langsam drehte sich Selim zu ihr um und nahm sie in die

Arme. »Mein Herz wird für immer dir gehören, Paige«,
erwiderte er, »egal, wie viel Zeit auch zwischen uns und unseren
Welten liegen mag. Ich werde dich lieben bis in den Tod.« Er
griff unter sein Hemd, holte die Kette mit dem kleinen
Halbmond hervor und gab sie Paige. Seine dunkelgrünen Augen
füllten sich mit Tränen, als er sagte: »Dies soll dich stets an

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- 225 -

mich erinnern, Liebe meines Lebens, wohin auch immer das
Schicksal uns führt.«

Mit zitternden Händen nahm Paige den Anhänger entgegen

und legte ihn an.

Selim nickte und sah wieder hinaus in die Nacht. »Siehst du

den hellen Stern dort oben?«, fragte er leise. »Das ist der
Abendstern, der, wie ich in eurer Welt erfahren habe, eigentlich
gar kein Stern ist, sondern unser innerer Nachbarplanet. Der
Abendstern wird auch Venus genannt und ist der ständige
Begleiter der Liebenden.« Er sah Paige eindringlich an. »Wenn
wir einander nicht vergessen, wird auch unsere Liebe die
Jahrtausende überleben wie dieser Abendstern.« Er zog sie an
sich und küsste sie zärtlich.

In diesem Moment fiel eine Sternschnuppe vom Himmel und

schien direkt ins Meer vor ihnen einzutauchen.

Und Paige wusste, dass sie den Nachthimmel nie wieder

würde betrachten können, ohne dabei an Selim zu denken. Und
sie weinte.

Es war weit nach Mitternacht, und noch immer saßen Piper,

Phoebe und Leo im großen Wohnzimmer von Halliwell Manor.
Bei Eiscreme und Kakao ließen sie die letzten aufregenden Tage
Revue passieren.

Vor etwa einer Stunde waren die drei Brüder mit dem

Zeitportal nach Ald’maran zurückgereist, und Paige hatte sich
danach sogleich auf ihr Zimmer zurückgezogen. Sie wollte
allein sein, und die Schwestern verstanden und respektierten
ihren Wunsch.

»Arme Paige«, sagte Phoebe gerade, die wohl von allen am

besten verstand, was nun in ihrer Halbschwester vorging. »Ich
hoffe, sie überwindet ihren Schmerz über diesen Verlust. Selim
war wirklich ein toller Mann …«

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»Es mag zwar banal, ja, vielleicht sogar herzlos klingen«,

meinte Piper, »aber es heißt doch, die Zeit heilt alle Wunden.
Ich denke, auch Paige wird ihren Kummer irgendwann bewältigt
haben und sich vielleicht schon bald wieder in einen tollen
Mann verlieben können.«

»Was glaubt ihr, werden die Brüder wohl mit den

Erfahrungen, die sie in den letzten Tagen gemacht haben, in
ihrer Generation anfangen?«, grübelte Phoebe.

»Ich denke, die drei sind klug genug, das Wissen, das sie hier

erlangt haben, nur zum Wohle ihrer Zeit einzusetzen«, sagte
Leo. »Wer weiß, vielleicht werden sie eines Tages zu den
großen Gelehrten des Morgenlandes gehören? Bekanntlich gilt
ja der alte Orient als Wiege von Wissenschaft, Medizin und
Astronomie. Und vielleicht hat ja der Bund der Magier auch
seinen kleinen Anteil daran?«

»Und welche, ähm, Strafe erwartet Zeyn, den ehemaligen

Wächter des Lichts, im Reich der Höheren Mächte?«, fragte
Piper.

»Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er nie wieder Gelegenheit

erhalten wird, auf Erden sein Unwesen zu treiben«, sagte Leo,
der nach seiner Ankunft in San Francisco dem Rat der Ältesten
natürlich einen kurzen Besuch abgestattet hatte. »Seine irdische
Zeit ist unwiderruflich abgelaufen.«

»Aber unsere nicht! Ein Hoch auf die Zauberhaften!«, rief

Phoebe triumphierend. »Ich bin froh, dass wir uns gegenüber
dem Schicksalsengel für unser Hexenleben entschieden haben.
Und auch wenn’s im alten Orient manchmal ganz schön stressig
zuging, bin ich ziemlich gespannt, was die Zukunft uns noch an
aufregenden Abenteuern bringen mag.«

»Na ja, Süße, schon bald bringt sie dir erst mal eine kleine

Nichte oder einen kleinen Neffen«, sagte Piper lächelnd und
deutete viel sagend auf ihren immer noch recht flachen Bauch.
»Wenn das nicht Aufregung genug ist …«

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Leo nahm seine Frau liebevoll in den Arm und küsste sie

zärtlich auf die Stirn.

»Gott sei Dank ist Leo ein durch und durch guter Wächter

des Lichts und nicht so ein durchgeknallter Himmelsbote wie
dieser Zeyn, der sogar den eigenen Sohn für seine
größenwahnsinnigen Ziele geopfert hätte …« Phoebe schauderte
bei der Erinnerung und nahm sich zum Trost gleich noch eine
große Portion Walnusseis mit Schokosoße. »Und solange du,
Leo, nicht nach der Weltherrschaft strebst, wird uns in dieser
Hinsicht hoffentlich jegliche Aufregung erspart bleiben.« Sie
zwinkerte den beiden lachend zu.

»Eines jedenfalls ist sicher«, sagte Piper. »Was immer die

Zukunft auch bringen mag, unser aller Leben wäre nicht das,
was es ist, hätte es vor 1200 Jahren den Bund der Magier nicht
gegeben.« Sie sah nachdenklich in die Runde. »Und es ist ein
wunderbares Gefühl zu wissen, dass auch wir einen Anteil daran
hatten.«

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Epilog

O

BEN IN IHREM ZIMMER TRAT PAIGE

ans Fenster und

öffnete es.

Sie fühlte sich leer und wie betäubt. Sie hatte in den letzten

Stunden so sehr um ihre verlorene Liebe getrauert, dass sie
kaum mehr Tränen hatte.

Sie tastete nach der Kette um ihren Hals und starrte hinaus in

den Nachthimmel.

Ihr Blick suchte und fand sein Ziel: den hell leuchtenden

Abendstern, den sie noch vor wenigen Stunden gemeinsam mit
Selim betrachtet hatte.

Selim …

Ihre Hand umklammerte den Anhänger mit dem kleinen

Halbmond. »Eines ist gewiss«, flüsterte sie, »so lange es an
diesem Himmel Sterne gibt, so lange werde ich dich nicht
vergessen, Liebster.«


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