Emma Harrison
Charmed - Zauberhafte
Schwestern
Der Garten des
Bösen
scanned by AnyBody
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Paige fühlt sich wie das fünfte Rad am Wagen. Piper und Phoebe turteln
verliebt mit ihren Männern Leo und Cole, während sie noch immer nicht
ihren Traummann gefunden hat und nur neidisch das Glück der Schwestern
beobachten kann. Phoebes neueste Vision unterbricht die Frühlingsgefühle
und sorgt für Aufregung... die Zauberhaften retten eine Studentin vor dem
Angriff eines Dämons und machen dabei Bekanntschaft mit Micah, einem
gut aussehenden jungen Mann mit unglaublich blauen Augen, der Paige
schnell den Kopf verdreht. Auch Micah scheint ernsthaft an Paige
interessiert zu sein, doch irgendetwas stimmt nicht mit ihm. Phoebe hat da
ihre Zweifel... Davon will Paige jedoch nichts wissen. Wütend ignoriert sie
die Warnungen ihrer Schwestern und gibt sich ganz ihren Gefühlen hin, was
sie in ernsthafte Gefahr bringt. Und die magischen Kräfte der Hexen
scheinen in diesem Fall wirkungslos zu sein...
ISBN 3-8025-2946-4
Originalausgabe: Garden of Evil
Aus dem Amerikanischen von Antje Görnig
l. Aufl. - 2002 Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH
Umschlaggestaltung: Sens, Köln
Titelfoto: © Spelling Television Inc. 2002
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Für Matt... weil er mir immer geduldig zuhört
Gefangen im Paradies
»Du hast es bestimmt schon öfter gehört, aber ich muss sagen,
dein Zuhause ist wunderschön«, schwärmte Paige und ließ ihren
Blick durch die Bibliothek mit den vielen ledergebundenen
Büchern schweifen. Micah trat zu ihr.
»Du auch, aber das hörst du bestimmt auch nicht zum ersten
Mal«, entgegnete er. »Es bedeutet mir sehr viel, dass dir dieses
Haus ebenso gut gefällt wie mir«, fuhr er leise fort. »Aber ich
wusste es. Du hast dich gleich auf den ersten Blick in es
verliebt.«
Ein warmer Schauer jagte über Paiges Haut, als Micah sie an
der Taille fasste. Verträumt sah sie zu ihm auf. »Man muss es
einfach lieben«, sagte sie. »Es ist... umwerfend.«
Sie sahen sich in die Augen, und Paige überkam das gleiche
Schwindelgefühl wie am Abend zuvor im Restaurant, aber es
war okay. Allmählich begann sie es zu genießen - dieses Gefühl,
sich in Micahs Augen zu verlieren.
»Das Beste hast du noch gar nicht gesehen«, sagte Micah mit
rauer Stimme.
»Das Beste?«, wiederholte Paige benommen, denn sie war in
diesem Augenblick nicht fähig, einen klaren Gedanken zu
fassen.
»Den Garten«, erklärte Micah und seine Augen leuchteten vor
Begeisterung. »Du musst dir unbedingt den Garten ansehen.«
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DIE warmen strahlen der Nachmittagssonne kitzelten Paige
Matthews im Nacken, als sie sich auf den Bauch drehte und die
Seiten des bunten Hochglanzmagazins glatt strich, das sie nun
schon zum fünften Mal durchblätterte. Es war ein herrlicher,
wolkenloser Frühlingstag in San Francisco, und die Sonne hatte
Paige und ihre Schwestern Phoebe und Piper Halliwell mitsamt
ihren besseren Hälften Cole und Leo in den Delores Park
gelockt - wie die übrigen Bewohner des Viertels auch. Als Paige
die dunkle Sonnenbrille auf die Nase setzte und sich umsah, lief
eine Gruppe schreiender Kinder vorbei, die Fangen spielte, und
ein Liebespaar spazierte Hand in Hand über den grünen Rasen.
Verträumt flüsterten sich die beiden gegenseitig Zärtlichkeiten
ins Ohr.
Der Anblick trieb Paige fast in den Wahnsinn. Sie hob den
Kopf und drehte sich zu Phoebe und Cole um. »Hey, habt ihr
vielleicht Lust...«
Sie brach mitten im Satz ab, als sie sah, womit die beiden
beschäftigt waren. Phoebe hatte den Kopf in den Nacken gelegt
und den Mund weit geöffnet, um eine in Sahne getauchte
Erdbeere in Empfang zu nehmen, mit der Cole sie füttern wollte.
Phoebes lange braune Haare fielen über ihre Schultern bis auf
die blaue Picknickdecke. Es sah aus, als posierten die beiden für
das Titelfoto von einem dieser billigen Liebesromane, die
Phoebe so gern las.
»Ach, ist nicht so wichtig«, sagte Paige und verdrehte genervt
ihre großen blauen Augen, als Phoebe kichernd in die Erdbeere
biss.
»Ähm... Hört mal, Leute«, sagte Piper, die auf der anderen
Seite der Decke saß und das unerträgliche Geturtel des Paares
beobachtete. »Hatten wir nicht gesagt, wir wollen heute
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Nachmittag mal ein bisschen weniger... zweisam sein?« Weil
das Objekt ihrer Begierde - ihr Ehemann Leo - sich gerade von
der Truppe entfernt hatte, fühlte sie sich offenbar zur Anführerin
der Kampagne gegen pärchenweises Zusammenhängen berufen.
Alle drei sahen Paige mit schuldbewusster Miene an und sie
spürte, wie ihr vor Verlegenheit und Ärger die Röte in das
milchweiße Gesicht stieg.
»Meinetwegen müsst ihr nicht auf den Schmalzfaktor
verzichten«, sagte sie leichthin, setzte sich auf und schlug ihre
Zeitschrift zu. Mit lässiger Geste zog sie ihren Pferdeschwanz
stramm. »Nur weil ich seit Monaten keinen Freund hatte und für
die nächste Zukunft auch keiner in Sicht ist, müsst ihr mich
nicht wie ein rohes Ei behandeln.«
»Nein, nein. Piper hat Recht«, entgegnete Phoebe nickend und
rückte ein paar Zentimeter von Cole ab. Resolut straffte sie die
Schultern. »Wir müssen ja nicht die ganze Zeit aneinander
kleben.«
»Wenn du meinst...«, sagte Cole und knabberte verspielt an
Phoebes Hals.
»Cole!«, kreischte Phoebe und schlug lachend nach ihm.
»Fort mit dir!«
»Tut mir Leid«, sagte Cole und zog gespielt beleidigt eine
Schnute. Seine heitere Stimmung stand im krassen Gegensatz zu
seiner ansonsten eher düsteren und grüblerischen Art.
»Ach was, knabbert ruhig weiter!«, rief Paige und winkte ab.
»Cole hat Recht. Jeden Augenblick könnte ja wieder irgendein
freakiger Abgeordneter der Unterwelt auftauchen, um ihn zu
jagen, und ihr seht euch unter Umständen tagelang nicht,
Phoebe.«
Paige schlug ihre Zeitschrift wieder auf und steckte die Nase
hinein. Aber es gelang ihr nicht, sich auf den Inhalt der bunten
Seiten zu konzentrieren. Stattdessen versuchte sie einmal mehr,
sich mental mit der Tatsache anzufreunden, dass zu ihrem
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Wortschatz nun Begriffe wie »Abgeordnete der Unterwelt« oder
»Kopfgeldjäger« zählten.
Vor gar nicht allzu langer Zeit war Paige noch ein ganz
normales Mädchen ohne Geschwister gewesen, das seine
Brötchen als Sozialarbeiterin verdiente und nicht die geringste
Ahnung von dem unirdischen Bösen gehabt hatte, das überall
auf der Welt lauerte. Aber seit Phoebe und Piper in Paiges
Leben getreten waren, hatte sie jeden Tag neue und verrückte
Dinge kennen gelernt.
Sie war ein Adoptivkind, das hatte sie immer gewusst, aber
was für ein Schock war es gewesen zu erfahren, dass ihre
leibliche Mutter eine Hexe gewesen war - und eben auch die
Mutter von Piper und Phoebe. Damit nicht genug: Ihr Vater war
ein Wächter des Lichts gewesen, ein übernatürlicher Verfechter
des Guten und Hexenbeschützer. Gesegnet mit solchen Eltern
musste Paige, wie den drei Schwestern rasch klar geworden war,
über beträchtliche Kräfte verfügen. Und so hatte es nicht lange
gedauert, bis Paige herausfand, dass sie nicht nur orben, also
von einem Ort verschwinden und woanders wieder auftauchen,
sondern auch auf dieselbe Weise nach Belieben Gegenstände
bewegen konnte.
Paige war eine sehr begabte Hexe - eine der drei Zauberhaften
- und zu dritt vereint konnten die Schwestern so ziemlich alles
bezwingen: Dämonen, Hexer...
Alles, außer Paiges drastischem Männermangel.
»Da bist du ja!«, rief Piper unvermittelt und riss Paige aus
ihren Gedanken. Wie sie sofort an der Leichtigkeit in der
Stimme ihrer Schwester erkannte, war ihr Ehemann Leo,
ebenfalls ein Wächter des Lichts, wieder zu der Picknickdecke
zurückgekehrt.
»Für Sie, holde Maid!«, sagte Leo und überreichte seiner Frau
einen riesigen Strauß wilder Blumen. Piper strahlte vor Freude
über das ganze Gesicht.
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»Danke, Liebling! So schöne Blumen für... uns alle!«, rief sie.
Hüstelnd teilte sie rasch den Strauß auf. Ein Drittel der Blumen
reichte sie Paige und das zweite Drittel Phoebe. »Ist das nicht
nett von Leo?«, fragte sie und strich sich das glatte braune Haar
hinter die Ohren.
»Guter Versuch, Piper«, bemerkte Paige und sah auf ihre
Blumen.
»Okay, was habe ich wieder falsch gemacht?«, fragte Leo
forschend und zog die Augenbrauen hoch, als er sich neben
Piper setzte.
»Gar nichts«, entgegnete Paige und lächelte ihn an. »Die
wollen mich nur von meinem extremen Männermangel
ablenken, was ihnen gründlich misslingt.«
»Oh«, sagte Leo betroffen. »Kann ich etwas für dich tun? Ich
meine, abgesehen davon, dir zum Beispiel Blumen zu bringen?«
»Ja, kennst du nicht vielleicht irgendeinen netten Wächter des
Lichts, mit dem du mich bekannt machen könntest?«, meinte
Paige und richtete sich auf.
Leo drehte sich Hilfe suchend nach Piper um, aber die sah zur
Seite und kratzte sich am Nacken - ein eindeutiges Zeichen
dafür, dass sie auf diese Frage nicht eingehen wollte.
»Also...«
»Ich bitte euch, Leute!«, sagte Paige und biss sich auf die
Unterlippe. »Wo soll ich denn sonst einen Typen finden, der
meinen neuen Superhelden-Lebensstil begreift?«
»Glaub mir, Paige, so einen willst du gar nicht wirklich«,
entgegnete Piper und fing emsig an, sämtliche Tupperdosen zu
öffnen. Hektisch riss sie eine Packung Servietten auf, die prompt
in alle Richtungen flogen. Angesichts der plötzlichen
Geschäftigkeit ihrer Schwester zog Paige erstaunt die
Augenbrauen hoch.
»Piper und ich haben viel durchstehen müssen, um zusammen
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sein zu können«, erklärte Leo und fasste Piper sacht am Arm,
bevor sie noch mehr Chaos anrichten konnte. »Die da oben
haben alles Erdenkliche unternommen, um uns vom Heiraten
abzubringen. Diese Erfahrung wünsche ich niemandem. Und dir
schon gar nicht.«
»Na, prima!«, rief Paige und seufzte.
Normalerweise fand sie Leos Mega-Beschützerinstinkt
liebenswert, aber in ihrer derzeitigen Lage hätte er sich nach
ihrem Geschmack ruhig etwas weniger als großer Bruder und
etwas mehr als Kuppler betätigen können. Unglücklicherweise
war eine solche Verwandlung völlig unwahrscheinlich, und so
wandte sie sich zur Aufheiterung dem nächstbesten
Seelentröster zu: Süßigkeiten. Auf der Suche nach der Tüte mit
den Schokoladenbrezeln durchforstete sie den Picknickkorb.
Obst... Kräcker... Käse...
»Ähm... Piper?«, rief Paige und richtete sich wieder auf.
»Hast du an meine Schokobrezeln gedacht?«
Piper zuckte zusammen und schlug sich mit der Hand vor die
Stirn. »Tut mir Leid! Hab ich total vergessen«, sagte sie. »Aber
ich habe Plätzchen gebacken.«
Sie reichte Paige zur Versöhnung eine der Dosen. Wie Paige
mit einem prüfenden Blick feststellte, war sie jedoch mit kleinen
Mürbeteigplätzchen gefüllt, jedes mit einem Klecks Marmelade
in der Mitte. Marmelade! Meilenweit von akzeptablem Gebäck
entfernt, so ganz ohne Schokolade.
»Danke, lieb gemeint«, sagte Paige. Sie war enttäuscht,
obwohl ihr das albern vorkam. Was war schon groß passiert?
Dann hatte Piper eben die eine kleine Sache vergessen, um die
sie gebeten hatte. Die Frau war sehr beschäftigt, sie hatte ja
schließlich ihren Club zu leiten, das P3, und kämpfte zudem
ständig gegen das Böse. Na ja, aber trotzdem... dachte Paige. So
schwer wäre es nun wirklich nicht für sie gewesen, an diese eine
kleine Sache zu denken.
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»Hey, Paige, kommst du mit?«, fragte Phoebe, stand auf und
strich ihr T-Shirt glatt. Auffordernd streckte sie Paige die Hand
entgegen. »Lass uns bei dem süßen Kerl mit dem Eiswagen ein
bisschen was zum Naschen holen!«
Paige lachte. »Glaubst du etwa, der Eisverkäufer könnte der
Richtige für mich sein?«, fragte sie.
»Also, wenn er es ist, dann kannst du dich gleichzeitig mit
deiner Zuckerdosis und einem Date versorgen«, sagte Phoebe
grinsend. »Das ist ja wohl eine total effektive Maßnahme, oder
etwa nicht?«
Paige verdrehte wieder die Augen, ergriff aber Phoebes Hand
und ließ sich von ihrer Schwester auf die Beine helfen.
Vielleicht war der Eisverkäufer ja wirklich ihr Schicksal. Und
wenn nicht, durfte sie zumindest die Gewissheit haben, dass dort
draußen vor dem Park ein dickes Eis auf sie wartete.
Phoebe Halliwell war guter Dinge, als sie mit Paige Arm in
Arm durch den Park spazierte. Obwohl sie sich der Aufgabe der
Zauberhaften mit großer Leidenschaft widmete, genoss sie die
seltenen Tage, an denen es nichts Böses zu bekämpfen gab,
keine ruhmgierigen Dämonen hinter ihrem Freund her waren
und sie es sich zur Abwechslung einfach mit ihrer Familie im
Park gemütlich machen konnte.
»Dann haben wir dich also in letzter Zeit alle mit unserer
Schmuserei genervt, hm?«, fragte Phoebe und zog die Nase
kraus, als sie ihre Schwester ansah.
»Na ja, ist schon irgendwie schwer, sich nicht einsam zu
fühlen, wenn man mit zwei so perfekten Paaren zusammenlebt«,
entgegnete Paige und kickte mit dem Fuß gegen ein Büschel
hohes Gras. »Versteh mich nicht falsch - ich freue mich über
euer Glück. Ich wünschte nur, ich könnte ebenso glücklich sein
wie ihr.«
Phoebe lächelte Paige mitfühlend an. Es war noch nicht lange
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her, da hatte sie genauso empfunden wie ihre kleine Schwester
jetzt. Aber erst als sie sich nicht mehr so viel um Jungs und
Dates gekümmert hatte und wieder zur Schule gegangen war,
hatte sie Cole kennen gelernt.
Nachdem sie sich jedoch in ihn verliebt hatte, hatte sie erst
einmal herausfinden müssen, dass er eigentlich ein Halbdämon
mit der Aufgabe war, sie und ihre Schwestern aus dem Weg zu
schaffen. Aber Cole hatte sich gegen seinen bösen Meister
gewendet und sein Leben dem Guten verschrieben - und daher
waren die dämonischen Kopfgeldjäger hinter ihm her. Die bösen
Jungs hatten ganz offensichtlich etwas gegen Verräter.
»Du wirst auch jemanden finden«, versicherte Phoebe Paige
und strich sich das lange Haar zurück, das ihr der Wind ins
Gesicht geweht hatte. »So etwas passiert immer, wenn man es
am wenigsten erwartet.«
In diesem Augenblick zischte etwas Buntes an Phoebes
Gesicht vorbei, und sie stieß einen spitzen Schrei aus und hob
schützend die Arme über den Kopf. Als sie herumwirbelte und
nach dem vermeintlichen Angreifer Ausschau hielt, musste sie
lachen. Eine leuchtend rote Frisbee-Scheibe lag ein paar Meter
weiter auf dem Rasen.
»Bisschen schreckhaft heute?«, fragte Paige grinsend.
»Ich vermute, mir fehlt wohl das rechte Vertrauen in den
gefahrenfreien Tag«, sagte Phoebe und schüttelte über sich
selbst den Kopf.
Als sie sich umsah, entdeckte sie eine hübsche farbige Frau,
jünger noch als Paige, die auf sie zugelaufen kam. Phoebe hob
die Frisbee-Scheibe auf, um sie ihr zuzuwerfen, erstarrte aber
unvermittelt, bevor sie den Arm heben konnte.
Die Vision traf sie mit blendender Wucht. Sie kniff die Augen
zu und umklammerte die Frisbee-Scheibe fest mit einer Hand.
Sie sah vor sich, wie die junge Farbige aus Leibeskräften schrie,
als sie von einer grauenhaften Kreatur mit rasiermesserscharfen,
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langen Krallen angegriffen wurde. Die junge Frau kauerte hinter
einem zertrümmerten Schreibtisch und versuchte in panischer
Angst, den Dämon abzuwehren, aber nach fünf Sekunden hatte
die grauenhafte Kreatur sie bereits in Fetzen gerissen.
»Phoebe? Alles in Ordnung?« Paiges Stimme drang durch die
allmählich verblassende Vision.
Wie Phoebe nun wahrnahm, stützte ihre Schwester sie von
hinten, und sie war schrecklich froh, gerade bei dieser Vision
nicht allein gewesen zu sein. Wäre sie ohne Hilfe gewesen, läge
sie nun der Länge nach auf dem Boden. Paige nahm ihr die
Frisbee-Scheibe aus der Hand, und Phoebe bemühte sich, ihre
Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen.
»Was hast du gesehen?«, fragte Paige.
Aber Phoebe konnte noch nicht antworten.
Ihr war die Vision so echt vorgekommen, als habe sie das
Gesehene selbst erlebt. Kraftlos klammerte sie sich an Paiges
Arm. Ihre Visionen wurden mit jedem Mal stärker und
lebendiger, und manchmal konnte sie die Erinnerung daran
kaum ertragen - wenn sie zum Beispiel Unschuldige gesehen
hatte, die aus keinem erkennbaren Grund übel zugerichtet
wurden.
»Hey, danke!«, rief das Frisbee-Mädchen, das mittlerweile zu
ihnen herübergekommen war. »Ich bin echt zu grobmotorisch
für diesen Sport«, sagte es und ließ sich die rote Scheibe von
Paige zurückgeben. Phoebes fast durchsichtige Gesichtsfarbe
schien es gar nicht zu bemerken.
»Versuch herauszufinden, wer sie ist!«, flüsterte Phoebe Paige
zu.
»Ähm... hey! Kennen wir uns nicht von irgendwo?«, fragte
Paige mit einem freundlichen Lächeln. Sie ließ Phoebe los, die
tief durchatmete. Mit letzter Kraft gelang es ihr, nicht auf dem
Boden zusammenzusacken.
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Das Mädchen sah Paige unsicher an. »Vielleicht. Ich kann mir
wirklich schlecht Gesichter merken«, sagte sie. »Gehst du ans
San Francisco State College?«
»Ja, genau«, log Paige und legte die Stirn in Falten, als
versuche sie, sich an etwas zu erinnern. Sie schob die Hände in
die Gesäßtaschen ihrer Jeans. »Warst du letztes Semester in
meinem... Literaturkurs?«
»Kreatives Schreiben? Ja, genau!«, sagte das Mädchen
lächelnd und streckte Paige die Hand entgegen. »Ich bin Regina
Trager.«
»Stimmt! Regina!«, sagte Paige und schüttelte dem Mädchen
die Hand. »Ich bin Paige Matthews.«
»Schön, dich zu sehen«, entgegnete Regina. »Aber jetzt muss
ich zurück zu meinen Freundinnen.« Sie warf Paige und Phoebe
einen letzten nachdenklichen Blick zu, bevor sie zu einer
kleinen Gruppe schnatternder Mädchen hinüberjoggte.
»Regina Trager«, wiederholte Phoebe schwach. »Ich wette,
die Gute hat keine Ahnung, was ihr bevorsteht.«
In diesem Augenblick tauchte Piper neben ihr auf und griff
nach ihrer Hand. Sie hatte die Szene offenbar aus der Ferne mit
angesehen.
»Hey, alles in Ordnung mit dir?«, fragte sie, strich Phoebe das
Haar aus dem Gesicht und sah sie prüfend an.
»Ja, mir geht es gut«, antwortete Phoebe zitternd. Sie wischte
sich die schweißnassen Hände an ihrem Bock ab und seufzte.
»Aber wir müssen diesem Mädchen helfen.«
»Was ist in deiner Vision passiert?«, fragte Paige und
verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hatte schon Angst, du
kippst aus den Latschen.«
»Da war ein Dämon«, antwortete Phoebe und erschauderte,
als sie sich an die Brutalität ihrer Vision erinnerte. »Irgendein
großes, schuppiges Ding mit Vielfraßklauen...« Ihre Stimme
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erstarb, während sie Regina hinterher schaute, die mit ihren
Freundinnen das Spiel mit der Frisbee-Scheibe wieder
aufgenommen hatte.
»Aber er... tötet sie doch nicht, oder?«, fragte Paige und sah
ebenfalls zu Regina hinüber.
»Doch, und zwar auf ziemlich unschöne Weise«, entgegnete
Phoebe mit einem Nicken.
Piper umarmte sie und drückte sie tröstend an sich. Phoebe
lächelte sie dankbar an.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Piper. »Wir gehen sofort nach
Hause, schlagen im Buch der Schatten nach und schmieden
einen Plan, wie wir diese Bestie vernichten.«
»Dann beeilen wir uns besser«, mahnte Phoebe. »Denn wenn
dieses Ungeheuer schneller bei Regina ist als wir, stehen ihre
Chancen denkbar schlecht.«
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2
ALS die drei Schwestern schließlich zu Hause ankamen,
fühlte sich Piper mehr als nur ein bisschen unwohl. Phoebe war
immer noch blass und geschockt von ihrer Vision, und Piper
wusste, ihre Schwester spulte den schrecklichen Film immer
wieder von vorn in ihrem Kopf ab, um kein einziges Detail zu
vergessen. Es war ihr unerträglich, dass Phoebe immer wieder
so etwas Schreckliches durchmachen musste. Ihre Visionen
hatten den Zauberhaften zwar schon geholfen, Dutzende
Unschuldige zu retten und unzählige Dämonen zu besiegen, aber
Piper wünschte, Phoebe hätte nicht so oft unter ihnen zu leiden.
»Phoebe, setzt dich doch erst mal ein Weilchen hin«, schlug
Piper vor, als Phoebe sofort auf den Speicher wollte. »Ich mache
dir einen Tee.«
»Piper, wir haben keine Zeit für Tee«, entgegnete Phoebe, die
bereits auf der dritten Treppenstufe stand. »Wir müssen die
Bezwingungsformel für den Dämon finden, Regina aufspüren
und ihr Haus überwachen. Tee steht jetzt leider nicht zur
Debatte.«
»Okay, okay, du hast ja Recht«, sagte Piper widerstrebend.
»Aber sobald sich die Gelegenheit bietet, wirst du dich ein
bisschen ausruhen.«
Sie folgte Phoebe und Paige nach oben auf den Dachboden,
wo sie das Buch der Schatten aufbewahrten, und konnte sich
nicht von dem unguten Gefühl befreien, dass es sich diesmal um
etwas besonders Furchterregendes handelte. Wenn Leo doch nur
da wäre! Aber als sich die Mädchen auf den Heimweg gemacht
hatten, um ihr Buch zu konsultieren, hatte Leo beschlossen,
beim Hohen Rat nachzuhören, ob ihm irgendwelche
Informationen vorlagen, und war ziemlich rasch davongeorbt.
Obwohl Piper Leos Pflichtbewusstsein und Hingabe bewunderte
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und die Erfordernisse seiner immens wichtigen Aufgabe
respektierte, vermisste sie ihn in solchen Situationen trotzdem.
Ich wüsste gern, wie Phoebe damit umgeht, dachte Piper und
beobachtete ihre Schwester, die zum Buch der Schatten eilte und
anfing, in den dicken, vergilbten Seiten zu blättern. Wenigstens
wurde Leo nicht von dämonischen Kopfgeldjägern verfolgt!
Cole war ebenfalls verschwunden, als die Schwestern sich nach
Hause aufgemacht hatten. Er achtete stets darauf, in Bewegung
zu bleiben und nicht zu lange an einem Ort zu verharren, damit
es den Kopfgeldjägern nicht gelang, ihn aufzuspüren.
»Aha! Da ist es!«, rief Phoebe und bohrte ihren Zeigefinger in
das Buch.
»Igitt... das Ding?«, fragte Paige. Sie beugte sich mit einer
Mischung aus Ekel und Ungläubigkeit im Gesicht über das
Buch. »Sieht ja aus wie Freddy Krueger!«
Obwohl sie nach dieser Beschreibung wenig Lust hatte, den
neuen Feind anzuschauen, trat Piper zu ihren Schwestern. Als
sie ihr Platz machten, um sie einen Blick in das Buch werfen zu
lassen, rutschte ihr regelrecht das Herz in die Hose. »Aplacum«,
las sie die Überschrift auf der Seite vor. »Also, der wird wohl
nie einen Dämonen-Schönheitswettbewerb gewinnen!«
Aplacum war ein gewaltiges Ungetüm mit der Statur eines
riesenhaften Footballspielers. Er war mit Schuppen bedeckt und
hatte sieben Finger an jeder Pfote, an denen lange, scharfe
Krallen wuchsen. Wie aus seinem wutverzerrten, gruseligen
Gesicht zu schließen war, hatte er noch nicht viele glückliche
Tage erlebt.
»Das ist ja nicht besonders ausführlich«, bemerkte Piper und
blätterte um. »Kein Wort darüber, welches Ziel er verfolgt, und
warum er tötet oder wie er das macht.«
»Ich glaube, wir wissen wie«, entgegnete Paige und schluckte.
»Und hier steht die Bezwingungsformel«, sagte Phoebe.
»Darauf kommt es schließlich an, nicht wahr? Wir können das
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Biest erledigen, bevor es unsere Unschuldigen tötet.«
»Okay, ich schreibe mir die Formel raus. Paige, willst du
nicht auskundschaften, wo diese Regina Trager wohnt?«, schlug
Piper vor.
»Bin schon dabei«, entgegnete Paige. Sie machte auf dem
Absatz kehrt und eilte die Treppe hinunter.
Piper schnappte sich Notizblock und Stift vom Fenstersims
und fing an, die Formel abzuschreiben. Daneben stand auch das
Rezept für eine Zaubertinktur, und sie achtete darauf, die
angegebenen Mengenangaben exakt zu übernehmen. Eine
falsche Zahl, und es konnte alles Mögliche passieren. Aplacum
konnte zum Beispiel noch stärker werden, gar unbesiegbar. So
gesehen war Magie eine sehr heikle Angelegenheit.
»Komm mit, Phoebe«, sagte Piper und riss das Blatt aus dem
Block, als sie fertig war. »Jetzt bekommst du deinen Tee.«
»Gute Idee«, meinte Phoebe und massierte sich mit den
Fingerspitzen die Schläfen.
Sie folgte Piper schweigend vom Dachboden die Treppe
hinunter zum Wohnzimmer. Als sie in der Küche ankamen und
immer noch kein Wort gefallen war, machte sich Piper große
Sorgen um Phoebe. Ihre kleine Schwester war in der Regel alles
andere als schweigsam. Piper füllte den Wasserkessel, stellte ihn
auf den Herd und drehte die Gasflamme auf die höchste Stufe.
Dann stemmte sie eine Hand in die Hüfte und sah Phoebe
prüfend an.
»Okay, was ist los?«, fragte sie. »Du bist doch sonst nicht so
still. Wir wissen jetzt, wie wir diesen Dämon vernichten können.
Was bedrückt dich denn sonst noch?«
»Nichts«, entgegnete Phoebe wenig überzeugend. Wie in
Zeitlupe setzte sie sich auf einen der Hocker, die um die
Kücheninsel in der Raummitte aufgestellt waren.
»Komisch, irgendwie kann ich dir das nicht so recht glauben«,
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meinte Piper.
»Ich weiß auch nicht... Ich habe so ein merkwürdiges Gefühl.
Außer Aplacum war da noch jemand oder... etwas in meiner
Vision«, sagte Phoebe und verschränkte die Arme auf der
gekachelten Kücheninsel. »Da war noch etwas Böses. Findest
du das nicht seltsam?«
»Hast du diesen Jemand oder dieses Etwas denn gesehen?«,
fragte Paige, die mit dem Telefonbuch unter dem Arm in die
Küche getrabt kam. Ihr brauner Pferdeschwanz wippte
dynamisch hinter ihr her.
»Nein, das ist nur so ein Gefühl«, antwortete Phoebe und
zuckte mit den Schultern. »Einfach nur ein verdammt ungutes
Gefühl.«
»Nun, vielleicht fühlst du dich nur so, weil die Vision sehr
brutal war«, sagte Paige, rutschte auf den Hocker neben ihr und
schlug das dicke Telefonbuch auf. »Wahrscheinlich hat sie dir
einfach nur viel mehr zugesetzt als die vorherigen.«
Piper sah Phoebe hoffnungsvoll an. »Glaubst du, es liegt
daran?«, fragte sie und öffnete den Zauberschrank - den
Aufbewahrungsort für alle magischen Zutaten. Piper hielt als
sachkundige Köchin ihre Zutaten so gut wie möglich vor
neugierigen Augen verborgen.
»Vielleicht«, antwortete Phoebe unsicher.
»Hab sie!«, rief Paige und hielt triumphierend das
Telefonbuch hoch. »Sie lebt in einem Studentinnenwohnheim
auf dem Campus.«
»Gott sei Dank steht sie überhaupt drin«, bemerkte Phoebe.
»Dann klappt ja heute wenigstens etwas.«
»Es wird alles klappen«, sagte Piper zuversichtlich. Sie kniete
sich hin und holte ein paar Edelstahltöpfe aus dem Schrank.
»Wir werden diese Tinktur zubereiten und uns in Bewegung
setzen, bevor Aplacum angreifen kann. Und ich werde uns mit
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einem kleinen Extraschutz versehen - für den Fall, dass du mit
deinem unguten Gefühl richtig liegst.«
Piper stand wieder auf und stellte die Töpfe auf den Herd. Sie
öffnete eine Schublade und holte drei violette Kristalle heraus.
Dann nahm sie eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und
goss etwas davon in den kleinsten der Töpfe.
»In der Rezeptur ist Mineralwasser angegeben?«, fragte
Phoebe und zog erstaunt eine Augenbraue hoch.
»Je reiner, desto besser«, entgegnete Piper.
Sie stellte den Gasherd an, wartete, bis das Wasser kochte,
und warf dann einige Zutaten hinein. Als sie mit dem Holzlöffel
umrührte und die Flüssigkeit im Topf so pink wie Pepto-Bismol
wurde, ließ sie die Kristalle hineinfallen. Eine rosaweiße
Rauchwolke stieg auf. Zufrieden holte sie die Kristalle wieder
heraus, ließ sie in der Spüle abtropfen und reichte einen an
Phoebe weiter, den zweiten an Paige und behielt den dritten für
sich.
»Cool!«, sagte Paige und hielt den nun schneeweißen Kristall
ins Licht, um ihn zu betrachten. »Wofür ist der gut?«
»Wenn du den Kristall heute Abend in der Tasche hast,
bewahrt er dich vor allem unerwarteten Bösen«, erklärte Piper
und steckte sich ihren Kristall in die Hosentasche.
»Wow, du hast dich ja praktisch zur Meisterköchin unter den
Hexen gemausert«, bemerkte Phoebe beeindruckt.
Piper errötete und zuckte mit den Schultern. »Ich tue, was ich
kann«, sagte sie bescheiden und begann, die Zutaten für die
Tinktur zu Aplacums Vernichtung vorzubereiten. Sie hoffte nur,
ihre Schwester lag mit der Einschätzung ihres Küchentalents
richtig. Denn so wie es aussah, hing davon im Augenblick
Reginas Leben ab.
»Kannst du vielleicht ein bisschen leiser lutschen?«, fragte
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Piper und sah Paige im Rückspiegel des Autos an.
»Sorry«, sagte Paige und verdrehte die Augen. Sie schob sich
ihren Lutscher in den Mund und ließ ihn in der Backentasche
ruhen. »Wenn du mich zur Abwechslung mal ans Steuer
gelassen hättest...«
»Was hat denn das Fahren mit dem Lutscher zu tun?«, gab
Piper zurück und rieb sich mit einer Hand über die Stirn, als
spräche sie mit dem nervigsten Kind auf dem ganzen Spielplatz.
»Es will mir einfach nicht in den Kopf, warum ich nicht ab
und zu mal dein Auto fahren kann«, sagte Paige. »Nur weil ich
die Jüngste bin?«
»Nein, weil du nicht mal zum Briefkasten fahren kannst, ohne
eine Beule reinzufahren«, entgegnete Piper.
Paige spürte, wie sie vor Schmach und Verlegenheit rot
wurde. »Hey, dieser Briefkasten ist plötzlich aus dem Nichts
aufgetaucht!«
»Ich verstehe nicht, wo das Problem liegt«, sagte Piper
genervt. »Du hast doch selbst ein Auto.«
»Ja, aber das ist eine totale Schrottmühle«, entgegnete Paige.
»Nun, vielleicht gibt es einen Grund dafür, dass es eine
Schrottmühle ist«, gab Piper zurück.
»Hey, Mädels! Müssen wir jetzt über dieses Thema streiten?«,
platzte Phoebe heraus. »Darf ich euch daran erinnern, warum
wir unterwegs sind?« Sie bedachte Paige und Piper mit einem
todernsten, strafenden Blick und Paige ließ sich in ihren Sitz
zurückfallen. Sie würde sich hüten, Phoebe zu widersprechen,
wenn sie so schlecht gelaunt war. Wenn sie derart meckerte -
was selten genug vorkam -, dann war die Lage ernst.
Paige seufzte und betrachtete die Fenster des hell erleuchteten
Wohnheims der Studentinnenvereinigung, in dem Regina
wohnte. Das große, mit Stuck verzierte Haus stand in einem
Park mit vielen Bäumen und bunten Blumen - es sah eher nach
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einer Urlaubsunterkunft aus als nach einem Collegewohnheim.
Das Auto stand geschützt auf der gegenüberliegenden
Straßenseite und nun saßen die drei Schwestern schon seit über
einer Stunde im Dunkeln und hatten nichts zu tun. Nichts
jedenfalls, außer sich zu zanken. Paige hatte geklingelt, als sie
angekommen waren, und man hatte ihr gesagt, Regina sei mit
ihrem Freund ausgegangen. Weil Phoebe in der Vision gesehen
hatte, wie Regina in ihrem Schlafzimmer angegriffen wurde,
gingen die drei Schwestern davon aus, dass Regina nichts
zustieß, solange sie draußen unterwegs war. Sie hatten
beschlossen zu warten und nach Aplacum Ausschau zu halten.
»Ich verstehe sowieso nicht, wie du so viel Zucker zu dir
nehmen kannst«, zischte Piper.
»Hey, ihr beiden habt Männer, ich hab die Süßigkeiten«, gab
Paige zurück.
Sie sah, wie Piper und Phoebe schuldbewusste Blicke
wechselten, aber das war ihr egal. Wenigstens hatte sie es
geschafft, den beiden für den Augenblick das Maul zu stopfen.
»Ich verstehe nur nicht, warum dieses Aplacum-Ding eine
unschuldige Collegestudentin töten will«, sagte Paige und zog
den Lutscher aus dem Mund. Sie schaute einer Gruppe
Studenten nach, die mit Büchern beladen an ihnen vorbeikamen.
»Was meint ihr? Ist sie vielleicht eine Hexe?«
»Wer weiß?«, entgegnete Phoebe. »Vielleicht hat sie etwas,
das Aplacum haben will.«
»Eine richtig gute Feuchtigkeitscreme zum Beispiel«, witzelte
Piper.
Paige lachte und sah Piper im Rückspiegel in die Augen.
Piper lächelte, und sofort fühlte sich Paige besser. Sie hatte bis
vor kurzem gar keine Geschwister gehabt und es überraschte sie
immer noch, wie leicht es war, Groll und Streit zu vergessen, als
wäre nichts geschehen. Es war irgendwie cool, Schwestern zu
haben.
-21-
»Es gibt ja auch Dämonen, die einfach nur aus Spaß an der
Freude töten«, bemerkte Phoebe und zupfte am Saum ihres
langen Pullovers herum. »Ich weiß ja nicht, wie ihr das seht,
aber ich finde diese Sorte am unheimlichsten.«
Eine Weile herrschte Schweigen, während Paige und ihre
Schwestern darüber nachdachten, aber dann ertönte plötzlich das
Motorengeräusch eines näher kommenden Autos. Paige beugte
sich in ihrem Sitz vor, und da fuhr auch schon ein kleines rotes
Kabrio vor dem Wohnheim vor. Regina stieg lachend aus und
machte einen sehr ausgelassenen Eindruck. Auf der anderen
Seite kletterte der heißeste Typ aus dem Auto, den Paige je
gesehen hatte.
»Wow!«, raunte sie. »Regina weiß offensichtlich, wo man sie
herbekommt.«
Reginas Freund war groß und schlank und hatte dunkles Haar.
Wie sagenhaft blau seine Augen waren, konnte Paige sogar in
der Dunkelheit und aus vielen Metern Entfernung erkennen. Als
er Regina anlächelte und sie an die Hand nahm, setzte Paiges
Herz einen Schlag aus. Noch nie hatte sie so heftig auf ein
banales Lächeln reagiert. Schon gar nicht, wenn es einer anderen
galt. Der gut aussehende Mann trug einen mordsmäßig coolen
Anzug und seine Haltung verriet, dass er ein Mensch war, der
genau wusste, wohin er wollte und was er tun würde, wenn er
dort ankam. Paige lief förmlich das Wasser im Mund
zusammen, und sie schob sich rasch wieder den Lutscher in den
Mund.
»Also, das ist jedenfalls nicht der Dämon«, meinte Piper.
»Das ist nicht gesagt. Denk mal an einen gewissen Typen
namens Cole«, entgegnete Phoebe. Sie öffnete die Autotür, als
Regina und ihr Freund in dem Wohnheim verschwanden. »Ich
denke, wir sollten uns das genauer ansehen.«
»Warum? Um sie zu schützen oder weil du in Spannerlaune
bist?«, fragte Piper schelmisch.
-22-
Dennoch stiegen auch sie und Paige aus dem Wagen und
schlossen leise die Türen. Sie schlichen über die Straße und
dann die Einfahrt zum Haus hoch. Nachdem Regina das Haus
betreten hatte, war hinter keinem der Fenster auf der Vorderseite
des Hauses Licht angegangen, also schlichen die drei auf die
Rückseite. Regina und ihr Freund waren deutlich im Fenster
eines Zimmers im ersten Stock zu erkennen.
»Da ist es!«, zischte Phoebe den anderen zu, und die Mädchen
gingen hinter einem Busch in Deckung. »Das ist das Zimmer,
das ich in meiner Vision gesehen habe.«
Paige kämpfte gegen die in ihr aufsteigende Angst und
richtete sich leicht auf, um besser sehen zu können. Regina und
ihr Freund standen mitten im Zimmer und lachten über etwas,
das er gesagt hatte. Der Typ, der nun besser zu erkennen war,
musste ein paar Jahre älter als Regina sein. Er war eindeutig
Anfang bis Mitte zwanzig und verfügte auch ebenso eindeutig
über ein gut gefülltes Bankkonto. Sein Anzug saß nicht nur
tadellos, sondern schien auch sehr teuer zu sein.
Nun nahm der junge Mann Reginas Gesicht in seine Hände
und beugte sich zu ihr vor, um sie lange und zärtlich zu küssen.
Paige beobachtete die Szene und spürte, wie in ihr eine
irrationale Eifersucht aufstieg. Eigentlich hätte sie wegsehen
sollen, um den beiden Verliebten ein bisschen Privatsphäre zu
gönnen, aber sie konnte ihren Blick nicht abwenden. Sie starrte
hinauf zu dem Fenster und wünschte sich in diesem Augenblick,
diejenige zu sein, die geküsst wurde.
Urplötzlich zuckten jedoch grelle grüngelbe Lichtblitze durch
den Raum und Aplacum stand mitten in Reginas Zimmer. Paige
schlug das Herz bis zum Hals. In 3-D und in Farbe mutete der
Dämon noch viel furchterregender an als im Buch der Schatten.
Er stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus und das Pärchen fuhr
erschreckt auf.
»Ach du lieber Gott!«, stieß Paige hervor und klammerte sich
-23-
mit zitternder Hand an Pipers Arm fest.
»Showtime!«, rief Phoebe und sprang auf. Mit einem Satz war
sie auf der Veranda und trat die Hintertür des Hauses ein. Sie
riss sie in dem Augenblick aus den Angeln, als Regina ihren
ersten markerschütternden Schrei ausstieß.
Paige und Piper rannten die Treppe hinauf und folgten Phoebe
zu Reginas Zimmer. Regina stand schreiend mit dem Rücken
gegen den Schreibtisch und hob schützend die Hände vors
Gesicht, als Aplacum sich auf sie stürzte. Der Dämon holte mit
einer seiner monströsen Pfoten aus, um alles kurz und klein zu
schlagen. Seine scharfen, silbernen Krallen blitzten gefährlich
im Licht der Deckenlampe auf.
»Piper!«, rief Phoebe.
Piper hob die Hände und hielt das Geschehen an. Aplacums
Krallen blieben nur Zentimeter vor Reginas Gesicht in der Luft
hängen.
»Das war knapp!«, bemerkte Phoebe und griff sich erleichtert
ans Herz.
»Okay, und was jetzt?«, fragte Paige und schaute über die
Schulter zu Reginas Freund, der offenbar vor ihrem Eintreffen
bereits zu Boden geworfen worden war.
Piper holte das kleine Fläschchen mit der Bezwingungstinktur
aus der Tasche, die sie am Nachmittag hergestellt hatte.
»Phoebe, sobald ich die Erstarrung auflöse, musst du den
Dämon ablenken. Aber pass auf und komm den scharfen Krallen
nicht zu nahe!«
Phoebe nickte und stellte sich kampfbereit neben der
erstarrten Regina auf.
»Paige, du kümmerst dich um Regina und ihren Freund und
bringst sie sofort aus dem Zimmer«, fuhr Piper fort. »Wir haben
hier drin zu wenig Platz zum Kämpfen. Aber komm so schnell
wie möglich wieder rein, wir brauchen dich nämlich für die
-24-
Zauberformel.«
»Verstanden«, sagte Paige und nickte.
»Okay, dann geht's jetzt los!«, sagte Piper. Mit einem
Fingerschnippen hob sie den Bann über das Zimmer wieder auf,
und Reginas Geschrei ging weiter.
Phoebe trat umgehend in Aktion und verpasste Aplacum
einen Tritt in das, was höchstwahrscheinlich sein Magen war,
obwohl sich das nicht mit Sicherheit sagen ließ, da sie nichts
über den Körperbau des Dämons wussten. Als das Wesen ein
Stück zurückwich, nahm Paige Regina bei der Hand und zog sie
von dem Schreibtisch weg.
»Du musst sofort hier raus«, erklärte sie knapp und fasste das
Mädchen bei den zitternden Schultern.
Regina drehte sich vollkommen hysterisch zu ihr um, aber da
sprang Phoebe bereits in die Luft, um Aplacums Krallen
auszuweichen, was ihr mit knapper Not gelang. »Wo ist
Micah?«, schrie Regina.
»Ich bin hier«, ächzte Micah und versuchte, sich
aufzurappeln. Er sah Paige in die Augen und blinzelte, als
versetze ihn irgendetwas in Erstaunen. Trotz der ganzen Action
ringsum verspürte Paige einen Schauder der Erregung, und für
einen Augenblick war es, als seien der Raum und das ganze
Chaos einfach verschwunden. Sie hatte zwar schon aus der
Ferne festgestellt, wie großartig seine Augen waren, aber aus der
Nähe hatten sie eine regelrecht hypnotische Wirkung. Dann
wendete Micah seinen Blick jedoch ab, und der Bann war
gebrochen. Paige blinzelte und Micah sah sich im Raum um.
Offenbar kam er wieder zu sich.
»Komm, lass uns verschwinden!«, sagte er und zog Regina
am Arm aus dem Zimmer. Paige hörte, wie er sich bemühte,
eine Gruppe neugieriger Mädchen vor der Tür zu vertreiben.
»Ich halte nicht mehr lange durch!«, rief Phoebe, duckte sich
unter Aplacums Krallen hinweg und brachte ihn mit einem
-25-
gezielten Tritt in die Beine aus dem Gleichgewicht. Paige
wirbelte erschreckt um die eigene Achse, als die Kreatur zu
Boden krachte und eine Lampe und die Hälfte von Reginas
Schreibtisch mit sich riss.
»Piper, jetzt!«, rief Paige.
Piper schleuderte das Fläschchen mit der Tinktur zu Boden,
und es zersprang in tausend Splitter. Violetter Dampf schoss in
die Luft und hüllte den Dämon ein. Phoebe sprang rasch über
das Bett, um sich neben Piper zu stellen, und auch Paige eilte
herbei. Piper hielt den Zettel mit der Bezwingungsformel so vor
sich, dass ihre Schwestern mitlesen konnten.
»Säuselnder Wind, hilf auf die Schnelle, bring diesen Dämon
zurück in die Hölle!«
Aplacum stieß erneut ein gewaltiges Gebrüll aus, bevor er mit
einem roten Lichtblitz verschwand. Ein heftiger Windstoß fegte
durchs Zimmer, blies Paige die Haare aus dem Gesicht und riss
Reginas Poster und Fotos von den Wänden. Aber er verschwand
genauso rasch wieder, wie er gekommen war. Aplacum war ein
für alle Mal besiegt.
»Das war aber nicht wirklich ein säuselnder Wind«, bemerkte
Piper und pflückte sich ein paar Post-its aus dem Haar.
»Hey, sind da noch alle Finger dran?«, fragte Phoebe, kniff
fest die Augen zusammen und streckte ihren Schwestern die
zitternden Hände entgegen.
Paige betrachtete sie prüfend. »Alle zehn Finger vollzählig!«,
bestätigte sie.
»Puh!«, machte Phoebe und öffnete grinsend die Augen. »Ich
finde, wir sollten den Beschluss fassen, nie wieder gegen so
etwas Ekelhaftes zu kämpfen!«
In diesem Augenblick war Lärm aus dem Flur zu hören, und
Micah und Regina stürzten Hand in Hand herein. Regina sah
sich in ihrem Zimmer um und setzte sich dann zitternd und
-26-
offensichtlich unter Schock auf einen Stapel Eierkartons an der
Tür.
»Alles in Ordnung!«, rief Micah in den Flur, bevor er die Tür
ins Schloss knallte.
»Ist er wirklich weg?«, fragte Regina mit bebender Stimme.
»Ja. Mach dir keine Sorgen! Das Biest siehst du nie mehr
wieder«, antwortete Phoebe und strich Regina das zerzauste
Haar glatt.
Das Mädchen sah zu ihr auf und lächelte sie dankbar an.
»Was war das eigentlich?«, fragte es mit weit aufgerissenen
Augen, in denen Tränen schwammen.
»Wir haben irgendwie gehofft, du könntest uns das sagen«,
antwortete Piper ruhig. »Hast du eine Ahnung, warum es hinter
dir her war?«
»Ich denke immer noch, ich werde gleich wach«, sagte
Regina ratlos. »Außer in Horrorfilmen und Albträumen habe ich
noch nie so etwas gesehen... und Albträume werde ich heute
Nacht bestimmt haben.«
»Nun, es ist nicht ganz einfach, das zu erklären«, sagte
Phoebe und sah erst Micah, dann Regina an. »Sagen wir mal so:
Wir sind Hexen und kämpfen gegen das Böse und wir würden es
sehr zu schätzen wissen, wenn du niemandem etwas davon
erzählst.«
»Hexen?«, fragte Micah und sah die Schwestern der Reihe
nach an. Als sein Blick auf Paige fiel, hatte sie das Gefühl, ihr
zerspränge jeden Augenblick das Herz, aber es gelang ihr, lässig
mit den Schultern zu zucken und fröhlich zu grinsen. Micah
kicherte. »Also, was auch immer hier gerade passiert ist, wir
sind euch auf jeden Fall sehr dankbar für eure Hilfe«, sagte er.
Er hockte sich neben Regina auf den Boden und nahm ihre
Hand. »Ohne euch hätten wir die Geschichte wohl kaum
überlebt.«
-27-
»Ja«, sagte Regina nur und drückte Micahs Hand. »Danke.«
»Keine Ursache. Ihr braucht euch nicht bei uns zu bedanken«,
sagte Piper und schritt vorsichtig über die zerbrochene Lampe
hinweg zur Tür. Sie lächelte Regina an. »Versuch, keine
Albträume zu haben! Du bist jetzt in Sicherheit.«
»Tut uns Leid... das ganze Chaos hier«, sagte Paige noch, als
Piper und Phoebe hinausgegangen waren. Paige wollte ihnen
gerade folgen, aber da sah Micah sie an, und sie blieb wie
angewurzelt stehen. In seinem unverhohlen interessierten Blick
aus diesen blauen Augen lag eine solche Anziehungskraft, dass
sie sich am liebsten auf der Stelle in seine Arme gestürzt hätte.
Was bildest du dir eigentlich ein? Er ist nur dankbar!, rief sie
sich zur Ordnung und zwang sich, ihre Beine in Bewegung zu
setzen. Krieg dich wieder ein!
Dennoch spürte sie, wie sein Blick auf ihr ruhte, als sie hinaus
in den Korridor ging. Jeder Zentimeter ihrer Haut kribbelte vor
Aufregung. Noch nie hatte ein männliches Wesen solche
Gefühle in Paige geweckt. Und schon gar nicht mit einem
einzigen Blick. War es vielleicht das, was man gemeinhin mit
»Liebe auf den ersten Blick« bezeichnete?
-28-
3
»GUTEN morgen!«, rief Piper Phoebe strahlend am nächsten
Tag zu, als sie in die Küche kam. Sie reckte die Arme in die
Höhe und atmete tief durch. Piper war definitiv ein
Morgenmensch. Ganz besonders an einem schönen, sonnigen
Morgen nach der Schlacht gegen einen Dämon, die ohne
Verletzungen und andere Zwischenfälle zu seiner Bezwingung
geführt hatte.
»Die hätten wir wahrscheinlich gar nicht gebraucht«, sagte sie
lächelnd und warf ihren Schutzkristall auf die Kücheninsel, wo
Phoebe ihren Kaffee trank und Zeitung las. »Hey, ich hoffe, du
hast den Gesellschaftsteil für Paige aufbewahrt. Wenn sie nicht
ihre morgendliche Dosis Klatsch und Tratsch bekommt, hat sie
gleich schlechte Laune.«
Piper ging zum Kühlschrank und holte den Glaskrug mit dem
Orangensaft heraus. Erst als sie sich wieder umdrehte und
Phoebe genauer ansah, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte.
Wie immer war Phoebe perfekt frisiert und zurechtgemacht. Sie
trug ein rosafarbenes schulterfreies Top und einen dazu
passenden gestreiften Rock, aber sie saß da und starrte ins
Nichts, obwohl sie den Modeteil der druckfrischen
Sonntagszeitung vor sich ausgebreitet hatte.
»Wie ich sehe, feiern die guten alten Legwarmer jetzt ihr
Comeback«, bemerkte Piper gespielt unschuldig und wartete auf
eine entsetzte Reaktion von Phoebe. Als diese ausblieb, setzte
sie den Krug mit dem O-Saft auf dem Tisch ab. »Auf welchem
Planeten bist du eigentlich heute Morgen?«, frage sie und
wedelte mit der Hand vor Phoebes Gesicht.
Phoebe blinzelte einige Male und starrte ihre geblümte
Kaffeetasse an, als wäre sie gerade erst in ihren Händen
aufgetaucht.
-29-
»Sorry«, sagte sie und lächelte Piper an. Sie stellte die Tasse
seufzend ab und fuhr sich mit den Händen durchs Haar, wobei
ihre zahlreichen glitzernden Armreifen gegeneinander
klimperten. »Ich denke nur über gestern nach.«
»Und was bringt dich so aus dem Konzept? Der tote Dämon
oder die dankbaren Nichtopfer?«, fragte Piper, während sie sich
ein großes Glas Saft einschenkte.
»Es ist dieser Micah«, sagte Phoebe und rieb sich die Hände,
als sei ihr plötzlich kalt geworden. »Ich könnte schwören, ich
habe diesen Typen schon irgendwo gesehen, und das hat mir die
ganze Nacht keine Ruhe gelassen.«
»Na ja, vielleicht erinnerst du dich nur aus deiner Vision an
ihn«, meinte Piper. Sie schob die Ärmel ihres braunen
Wollpullovers hoch, bevor sie einen Schluck trank. »Er ist ja
bestimmt darin aufgetaucht, oder?«
Phoebe kniff die Augen zusammen, dachte nach und
schüttelte dann langsam den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie
frustriert. »Ich glaube zwar nicht, dass es mit der Vision zu tun
hat, aber falls doch, ist das auch ein Grund zur Beunruhigung,
oder?«
»Warum das denn?«, fragte Piper und runzelte die Stirn.
»Ich habe dir doch von der anderen bösen Anwesenheit in
meiner Vision erzählt, erinnerst du dich?«, sagte Phoebe und
beugte sich vor. »Was, wenn es sich bei dieser bösen
Anwesenheit um Micah handelt?«
Piper seufzte. Ihre Schwester geriet angesichts der möglichen
heißen Spur zunehmend in Aufregung und sie wollte ihre
Seifenblase nicht zum Platzen bringen, aber dieser Verdacht
schien ihr nun doch ein wenig weit hergeholt. »Phoebe, komm
schon...«
»Nein, Piper! Was, wenn Micah eine Art getarnter Dämon ist?
Oder auch nur ein ganz gewöhnlicher gefährlicher
Krimineller?«, entgegnete Phoebe und redete sich immer mehr
-30-
in Rage. »Was, wenn Regina immer noch in Gefahr ist und wir
das nicht durchschaut haben?«
»Okay, du musst dich von diesen Gedanken befreien«, sagte
Piper und tätschelte beruhigend Phoebes Hand. »Micah scheint
doch ein wirklich netter Kerl zu sein. Er war nur ebenso
schockiert wie Regina wegen dieser ganzen Hexen- und
Dämonengeschichte.«
Phoebe seufzte und starrte auf die Fliesen der Küchentheke.
Sie wirkte fast enttäuscht.
»Und mal abgesehen von allem anderen: Wenn Micah
wirklich böse wäre, warum hast du dann nicht in deiner Vision
gesehen, wie er Regina angreift?«, argumentierte Piper und hob
ihr Saftglas an die Lippen.
»Du hast Recht«, sagte Phoebe. Abwesend strich sie mit den
Fingern über den Rand der Zeitung und knickte die Ecke einer
Seite um. »Wir haben Regina gerettet. Es ist vorbei.«
»Ganz genau«, sagte Piper bestimmt.
»Ganz genau«, wiederholte Phoebe.
Piper merkte jedoch, dass Phoebe nicht überzeugt war. Wenn
sie sich über etwas Sorgen machte, war es beinahe unmöglich,
sie mit logischen Argumenten zu überzeugen. Sie brauchte einen
soliden Beweis, sonst nagte diese Micah-Geschichte noch ewig
an ihr. Es war einfach eine der vielen liebenswerten - und
manchmal nervigen - Eigenschaften ihrer Schwester.
»Aber dieser Aplacum war ziemlich gruselig, hm?«, sagte
Phoebe mit einem kleinen Lächeln.
»Allerdings. Ich weiß nicht, wie es Regina ergangen ist, aber
ich habe Albträume gehabt«, entgegnete Piper.
»Ich weiß. Ich habe auch kaum geschlafen«, sagte Phoebe.
Sie griff seufzend nach ihrer Kaffeetasse, als es unvermittelt
an der Haustür klingelte. Bevor Piper überhaupt mitbekam, was
geschah, waren über die ganze Küchentheke Keramikscherben
-31-
verstreut. Eine riesige Kaffeepfütze bewegte sich im Eiltempo
auf die Kante zu und drohte, auf den Boden zu laufen.
»Mach schnell! Mach schnell!«, rief Phoebe, faltete hastig
einige Zeitungsseiten zusammen und stoppte damit die
Kaffeeflut.
Piper hob die Hände, um die Pfütze anzuhalten, und holte
rasch die Rolle Küchentücher aus dem Halter über der Spüle.
Gemeinsam mit Phoebe wischte sie die Überschwemmung auf
und warf das durchweichte Zeitungspapier und die nassen
Tücher in den Mülleimer.
»Etwas schreckhaft heute Morgen?«, witzelte Piper, als der
Schaden behoben war.
»Schlafmangel«, entgegnete Phoebe lachend. »Da bin ich
immer so drauf.«
»Ich gehe schon!«, rief Paige, als die Türglocke zum zweiten
Mal läutete.
Sie sprang die Treppe hinunter und ging in der Erwartung zur
Tür, eine Pfadfinderin oder irgendeinen Vertreter vorzufinden.
Sie machte sich bereit, eine Miene höflicher Ablehnung
aufzusetzen - falls es sich nicht um ein Kind mit Schokokeksen
handelte. Als sie die Tür jedoch schwungvoll aufriss, war ihr
Kopf plötzlich ganz leer. Vor ihr stand Micah mit seinen blauen
Augen und lächelte sie an. Auf der Stelle bedauerte Paige ihren
gemütlichen Jogginghosen-Sonntagslook.
»Hallo!«, sagte Micah mit diesem umwerfenden Grinsen im
Gesicht. »Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
Paige brauchte eine Weile, bis sie ihre Stimme wiederfand,
und als sie so weit war, kam zunächst ein unverständliches
Gestotter aus ihrem Mund. Sie lief rot an, lachte und trat einen
Schritt zurück. »Nein! Überhaupt nicht«, sagte sie schließlich.
»Komm doch rein!«
»Danke.«
-32-
Micah trat über die Schwelle, und Paige wurde von dem
süßen Moschusduft seines Rasierwassers eingehüllt. Sie fiel fast
in Ohnmacht. Ihr Puls raste und ihre Handflächen wurden
feucht. Was war nur los mit ihr? Als Micah sich rasch in der
Eingangshalle umsah, warf Paige einen prüfenden Blick in den
Spiegel neben der Tür und strich sich mit zitternder Hand übers
Haar.
»Und? Was führt dich zu uns?«, fragte sie und strahlte Micah
hemmungslos an. Er sah verdammt gut aus. Seine Schultern
wirkten in dem dunklen, leichten Mantel, den er über seinem -
wieder tadellosen - Anzug trug, besonders breit, und sein
tiefblaues Hemd betonte seine faszinierenden Augen nur noch
mehr.
Micah öffnete den Mund, aber bevor er antworten konnte,
kamen hinter ihm Phoebe und Piper aus der Küche. Piper warf
Paige einen fragenden Blick zu, und Paige zog nur die Schultern
hoch. Sie musste sich sehr am Riemen reißen, um nicht zu
kichern anzufangen. Sie konnte ihr Glück, diesen Typen noch
einmal wiederzusehen, gar nicht fassen.
»Guten Morgen!«, rief Micah und drehte sich zu den beiden
Schwestern um. »Wie ich gerade sagte... Ich hoffe, ich komme
nicht ungelegen.«
»Nein, nein. Wir haben nur gerade die Folgen eines kleinen
kulinarischen Missgeschicks beseitigt, alles in Ordnung«,
scherzte Phoebe und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Und? Was treibt dich hierher?«, fragte sie unverblümt.
»Phoebe!«, zischte Paige mit zusammengebissenen Zähnen.
»Ich glaube, meine Schwester wollte sagen, wie überrascht
wir sind, dich zu sehen«, warf Piper mit einem
beschwichtigenden Lächeln ein. »Wir haben euch gestern ja
nicht mal unsere Namen verraten. Wie hast du uns gefunden?«
Micah kicherte und sah auf seine Schuhe. »Verstehe, das gibt
euch natürlich zu denken«, sagte er und seine blauen Augen
-33-
leuchteten. »Aber ich habe dich aus dem P3 wiedererkannt,
Piper«, erklärte er. »Ich gehe da oft hin, und ich weiß, dass du
den Laden führst. Also habe ich einen Freund angerufen, der für
dich arbeitet... Tyrell Brooks? Er hat mir gesagt, wo ich euch
finde.«
»Ach, du kennst Tyrell?«, fragte Piper und ihre Schultern
entspannten sich sichtlich. »Er ist ein großartiger Mensch. Ohne
ihn wäre ich verloren.«
Paige zog überrascht die Augenbrauen hoch. Tyrell Brooks
war ein Typ Anfang zwanzig, der sich unerwartet schnell vom
Aushilfskellner zum stellvertretenden Geschäftsführer
hochgearbeitet hatte. Den Großteil seines jungen Lebens hatte er
in verschiedenen Heimen verbracht, war immer wieder an
Drogen geraten und hatte oftmals das Gesetz gebrochen, bevor
er auf den rechten Weg gelangt war. Vor einigen Jahren war
Piper das Wagnis eingegangen, ihm einen Job im Club zu
geben, und seitdem hatte er nicht aufgehört, sie zu
beeindrucken.
Natürlich war Tyrell ein sehr netter Kerl, der bestimmt viele
Freunde hatte, aber Paige musste sich doch wundern, dass ein
Mann, der in einem heißen Kabrio durch die Gegend fuhr und in
Tausend-Dollar-Anzügen rumlief, einen Freund mit einer
derartigen Herkunft hatte. Normalerweise erwiesen sich Typen
wie Micah immer als Snobs.
Piper streckte die Hand aus. »Also dann: Schön, dich offiziell
kennen zu lernen, Micah...?«
»Grant«, sagte Micah und schüttelte ihr die Hand. »Micah
Grant.«
»Das ist Phoebe, und das hier ist Paige«, stellte Piper ihre
Schwestern vor.
Micah schüttelte Phoebe die Hand und Paige hielt die Luft an,
als er sich ihr zuwandte. Verstohlen wischte sie sich rasch die
Hand an der Jogginghose ab. Als sich ihre Finger berührten,
-34-
schoss eine Hitzewelle ihren Arm hinauf bis in ihre Schultern.
Paige musste sich regelrecht zwingen, Micahs Hand wieder
loszulassen.
»Was habt ihr denn den anderen Mädchen in dem Wohnheim
erzählt?«, fragte Phoebe. »Die müssen ja völlig durchgedreht
sein.«
»Keine von ihnen hat dieses... Monster gesehen, oder was
immer das war. Die offizielle Version lautet also, dass ein vor
Eifersucht wahnsinniger Exfreund von Regina durchgedreht
ist«, sagte Micah. »Und sie haben uns die Geschichte abgekauft,
da bin ich sicher.«
»Gute Geschichte«, bemerkte Piper, schob die Hände in die
Hosentaschen und sah Phoebe an. »Sollten wir uns merken!«
»Nun, jedenfalls wollte ich einfach vorbeikommen und mich
noch mal für eure Hilfe gestern bedanken«, sagte Micah. Er
wurde ein bisschen verlegen, als er Paige ansah. »Ich bin den
Kontakt zu Superhelden nicht so gewohnt, glaube ich.«
Paige lachte und lief knallrot an. »Ach, wir sind ganz und gar
keine Superhelden.«
»Nun, aus meiner Perspektive sah es aber so aus«, meinte
Micah. Er warf einen Blick auf seine goldene Uhr und verzog
das Gesicht. »Ach, ich sollte mich auf den Weg machen. Ich
muss los. Aber vielen Dank noch mal!«
»Gern geschehen«, entgegnete Piper. »Obwohl wir hoffen,
dass ihr uns nie wieder braucht«, fügte sie lachend hinzu.
Micah ging auf die Haustür zu und drehte sich noch einmal zu
Paige um. Wieder traf sie sein Blick mit der Wucht eines
Tornados, und ihr wurden die Knie weich. Halt suchend lehnte
sie sich an die Wand.
»Eigentlich... Sag mal, Paige... hättest du vielleicht eine
Sekunde Zeit?«, fragte er.
»Ähm... sicher«, entgegnete Paige und zuckte mit den
-35-
Schultern. Als ihre Schwestern nicht augenblicklich den Flur
räumten, ging sie zur Haustür und öffnete sie. »Gehen wir doch
nach draußen.«
Micah winkte Piper und Phoebe noch einmal zum Abschied
zu und ging an Paige vorbei auf die Vordertreppe. Sie folgte
ihm, schloss die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
»Also...«, sagte sie verlegen, denn sie hatte nicht den leisesten
Schimmer, was Micah ihr unter vier Augen zu sagen haben
könnte, obwohl ihr in diesem Moment einige höchst
unwahrscheinliche Fantasien durch den Kopf geisterten.
»Paige... es kommt dir vermutlich ein wenig dreist vor, weil
wir uns nicht einmal kennen und ich gerade erst deinen Namen
erfahren habe«, sagte Micah. Er stand so dicht vor ihr, dass sie
seine Körperwärme spüren konnte. »Aber ich frage mich, ob...
na ja, ob du vielleicht heute Abend mit mir ausgehen möchtest.«
Paige hätte in diesem Augenblick vor Freude Rad schlagen
können, riss sich aber am Riemen. »Bist du denn nicht... ähm...
mit Regina zusammen?«, fragte sie und versteckte ihre Hände
hinter dem Rücken, damit Micah nicht sah, wie sehr sie
zitterten.
Micah lächelte leise und blickte in den Himmel, als suche er
nach den richtigen Worten. »Regina ist sehr nett«, sagte er
schließlich. »Aber bei unseren bisherigen drei Verabredungen
habe ich niemals gefühlt, was ich für dich gefühlt habe, als ich
dich gestern zum ersten Mal sah.«
Paige blieb die Luftweg. Sollte das ein Witz sein? Gab es
wirklich Männer, die so etwas sagten? Und wenn ja, warum war
ihr bislang noch nie so einer begegnet?
»Okay, ich gehe mit dir aus«, sagte Paige und sah durch ihre
dichten Wimpern zu ihm auf. »Unter einer Bedingung!«
»Und die wäre?«, fragte Micah.
»Du verzichtest auf dieses kitschige Gesülze«, gab Paige
-36-
zurück.
Micah lachte, und Paige bemerkte hocherfreut, wie sich seine
Wangen ein wenig rot färbten. Hey, sie durfte doch nicht den
Eindruck erwecken, hin und weg zu sein, bevor es überhaupt zu
dem ersten Date gekommen war!
»Abgemacht«, sagte Micah. »Dann hole ich dich gegen sieben
ab.«
»Lieber um acht«, entgegnete Paige.
Damit schlüpfte sie zurück ins Haus und schloss die Tür
hinter sich. Sie wartete, bis Micah in seinem Auto saß, bevor sie
einen Jubelschrei ausstieß. Also hatte sie sich die Zuneigung in
seinem Blick am Vorabend nicht eingebildet! Und nun würde
sie tatsächlich mit dem Typen ausgehen, der in der vergangenen
Nacht in ihren Träumen die Hauptrolle gespielt hatte.
»Phoebe hatte Recht«, sagte Paige grinsend zu sich selbst.
»Man verliebt sich genau dann, wenn man es am wenigsten
erwartet.«
-37-
4
»ALSO... das war ziemlich cool von ihm, vorbeizukommen
und sich zu bedanken«, sagte Phoebe, als sie mit Piper zurück in
die Küche ging.
»Siehst du!«, gab Piper zurück. »Er ist ein sehr netter Junge.«
Die Haustür fiel ins Schloss, und Sekunden später kam Paige
in die Küche geflogen. Auf Socken schlitterte sie Phoebe
entgegen und schloss sie fest und ausgelassen in die Arme.
Phoebe hatte kaum Zeit, Luft zu holen und Paiges Umarmung zu
erwidern, als ihre Schwester sie bereits wieder losließ und eine
kleine Pirouette mitten in der Küche vollführte. Piper warf
Phoebe einen skeptischen Blick zu, und es war klar, was sie
dachte: Paige war eigentlich nicht so sehr der Pirouettentyp.
»Wer ist dein Koffeinlieferant und kannst du mir bitte seine
Nummer geben?«, fragte Phoebe mit unbeweglicher Miene.
»Er will mit mir ausgehen!«, jubelte Paige, die regelrecht zu
schweben schien. »Du hattest Recht! Ich habe aufgehört zu
suchen und - schwups! - steht er vor mir!«
Phoebes Herz setzte einen Schlag aus, und sie warf Piper
einen besorgten Blick zu. Das war nicht gut. Wenn Micah sich
möglicherweise als Gefahr herausstellte, war das an sich schon
ein Problem - wenn er sich jedoch mit ihrer Schwester
verabredete, war das noch mal etwas ganz anderes. Es behagte
Phoebe ganz und gar nicht.
»Und wie ich aus deinem Geflattere schließe, hast du
zugesagt«, bemerkte Piper und schlug ein paar Eier in einer
großen Schüssel auf.
»Natürlich habe ich zugesagt«, entgegnete Paige mit einem
ungläubigen Lächeln im Gesicht. »Hast du ihn dir nicht richtig
angesehen?«
-38-
»Doch, schon, aber hör mal, Paige...«, entgegnete Phoebe und
rutschte auf ihrem Stuhl herum, »bist du dir da auch sicher? Ich
meine, was weißt du schon über den Kerl?«
»Ach, ich bitte dich!«, entgegnete Paige lachend. »Was weiß
man schon über einen Typen, wenn man zum ersten Mal mit
ihm ausgeht? Er ist nett, höflich und süß, und er weiß definitiv,
wie man sich anzieht.«
»Alles wertvolle Eigenschaften«, bemerkte Piper und
verquirlte die Eier mit dem Schneebesen. »Aber weißt du auch,
wo er wohnt, womit er sein Geld verdient und wer seine
Freunde sind?«
»Allerdings! Er ist mit Tyrell befreundet!«, rief Paige
triumphierend. »Und wenn er Tyrells Sympathiestempel
bekommen hat, bekommt er deinen sicher auch.«
Phoebe sah, wie Piper tief Luft holte, als sie den
Wahrheitsgehalt dieser Aussage erfasste. Tyrell und Piper
standen sich sehr nahe. Und wenn Tyrell Micah mochte...
»Also...«, sagte Piper.
Paige, die viel zu sehr in Hochstimmung war, um sich von
den Worten ihrer Schwestern beeindrucken zu lassen, ging an
den Schrank und sah nach, was an Frühstücksflocken da war.
Als sie ihren Schwestern den Rücken zuwandte, wedelte Phoebe
mit der Hand, um Piper auf sich aufmerksam zu machen.
»Ich muss ihr von meinem Verdacht erzählen«, formte sie
tonlos mit den Lippen.
»Nein!«, gab Piper in übertriebener Lippensprache zurück.
»Warum?«, machte Phoebe.
»Sieh sie dir doch an!«, raunte Piper ihrer Schwester zu und
wies mit den Augen in Paiges Richtung.
Paige schnippte sich ein paar Apple Jacks in den Mund, kaute
und summte dabei vor sich hin. Phoebe seufzte und verfiel in
Schweigen. Paige war viel zu glücklich und Phoebe wollte nicht
-39-
diejenige sein, die sie von ihrer Wolke herunterholte - schon gar
nicht, wenn es noch keinen soliden Beweis dafür gab, dass
Micah auf irgendeine Weise verdächtig war.
Paige stellte die Schachtel Apple Jacks auf die Küchentheke
und blätterte rasch die Zeitung durch. Als sie am Ende
angekommen war, hielt sie irritiert inne und blätterte wieder
nach vorn. »Ähm, hört mal? Wo ist eigentlich der
Gesellschaftsteil?«, fragte sie.
Phoebe blickte betroffen drein. Sie rutschte von ihrem Hocker
und öffnete mit dem Fuß den Tretmülleimer. Der Deckel ging
auf und da lag, oben auf einem Häufchen Apfelschalen,
Kaffeefilter und dreckigen Küchentüchern, der zerknüllte,
kaffeebraune, durchweichte Gesellschaftsteil der Zeitung.
»Sorry«, sagte Phoebe. »Kleiner Unfall.«
»Na, super!«, stöhnte Paige und verdrehte die Augen. Dann
blickte sie prüfend auf die Theke. »Wie ich sehe, haben der
Mode- und der Ernährungsteil das Massaker überlebt.«
»Tut mir Leid, Paige, wirklich«, beteuerte Phoebe. »War
keine Absicht.«
Paige griff wieder zu den Apple Jacks. »Ist ja auch egal«,
sagte sie, warf den Kopf in den Nacken und schüttelte ihre
Enttäuschung ab. »Ich habe sowieso ganz andere Probleme.
Zum Beispiel, was ich heute Abend anziehen soll.« Sie holte
sich eine Hand voll Apple Jacks aus der Schachtel und stapfte
aus der Küche. Ihre ausgelassene Stimmung hatte sich
inzwischen deutlich abgekühlt.
»Hab ich dir ja gesagt«, meinte Piper und goss die verquirlten
Eier in die Bratpfanne. »Schlechte Laune!«
Phoebe seufzte und schaute auf ihre Zeitung. Sie wollte
gerade den Lokalteil beiseite schieben und sich der Mode
widmen, als ihr ein Foto auf dem Titelblatt ins Auge fiel. Sie
klappte die Zeitung auseinander und strich sie glatt. »Das ist ja
wohl unglaublich!«, rief sie aus und starrte auf das Foto.
-40-
»Was?«, fragte Piper.
Phoebe hielt die Zeitung hoch. Da, mitten auf der Titelseite,
prangte ein Farbfoto mit einem lächelnden Micah darauf, wie er
dem Gouverneur von Kalifornien die Hand schüttelte.
»Gibt's ja gar nicht!«, staunte Piper.
Phoebe legte die Zeitung wieder hin und las den Text unter
dem Foto laut vor. »Der Millionär und allseits bekannte
Wohltäter Micah Grant - hier zu sehen mit Gouverneur Stiles
bei der Verleihung der Friends of the State Awards letzte Woche
- wird heute Mittag das rote Band zur Eröffnung der neuen
Kinderstation im Mercy Hospital zerschneiden. Über die Hälfte
der Spenden für diese hochmoderne Einrichtung hat Grant
persönlich gesammelt.«
»Wow!«, machte Piper beeindruckt. »Deshalb hast du
wahrscheinlich den Eindruck, ihn schon irgendwo gesehen zu
haben. Er ist wahrscheinlich ständig in den Zeitungen.«
Phoebe hörte kaum, was Piper sagte. Sie war zu beschäftigt
damit, den kurzen Artikel unter dem Foto zu verschlingen. »Hier
steht, er hat schon viel für wohltätige Projekte gespendet und
Geld gesammelt, zum Beispiel für Kinderheime und
Notunterkünfte«, sagte Phoebe, die mit jedem Wort, das sie las,
bekümmerter wurde. »Er ist vor ein paar Jahren hierher gezogen
und hat die Micah-Grant-Foundation ins Leben gerufen, die sich
dafür einsetzt, die Lebensbedingungen unterprivilegierter
Kinder zu verbessern.«
»Ruf die Polizei an. Dieser Mann muss gestoppt werden!«,
sagte Piper sarkastisch.
»Du hast ja Recht«, entgegnete Phoebe leicht verstimmt. Sie
faltete die Zeitung zusammen und seufzte. »Anscheinend hat
Paige doch einen Guten gefunden.«
»Na, das klingt aber nicht sehr begeistert«, bemerkte Piper,
klappte ihr Omelette zusammen und nahm die Pfanne vom
Herd.
-41-
»Bin ich aber. Ich freue mich für sie«, erwiderte Phoebe und
bemühte sich, überzeugend zu klingen. Aber obwohl alle Fakten
für ihn sprachen, konnte Phoebe das Gefühl nicht abschütteln,
dass mit Micah Grant etwas nicht stimmte. Sie hoffte nur, sie
irrte sich... Paige zuliebe.
Paige musste sich heftig konzentrieren, damit ihr der Mund
nicht vor Ehrfurcht offen stehen blieb, als sie abends mit Micah
das Restaurant betrat. Es lag abseits auf einem Berg am Ende
einer einsamen einspurigen Straße und bot einen gigantischen
Ausblick auf die darunter liegenden Hügel und die Bucht.
Regelrecht atemberaubend wurde die Aussicht durch die
Tatsache, dass drei der vier Wände des Speisesaals vom Boden
bis zur Decke aus Glas waren. Die Einrichtung war ebenso
elegant wie unaufdringlich. Auf jedem Tisch lag ein weißes
Leinentischtuch, auf dem Rosenblätter verstreut waren, und in
der Mitte standen drei unterschiedlich große Kerzen. Es
herrschte eine gedämpfte romantische Atmosphäre. Auch die
Kellner sprachen im Flüsterton miteinander, während sie in
ihren eleganten Smokings von einem Tisch zum anderen
huschten.
»Das ist unglaublich!«, hauchte Paige, als Micah ihr das
seidene Tuch, das sie sich umgehängt hatte, von den bloßen
Schultern nahm.
»Genau wie du«, raunte ihr Micah ins Ohr, und ihr lief ein
kalter Schauer über den Rücken.
»Wie war das noch mit dem kitschigen Gesülze?«, fragte sie,
zog die Augenbrauen hoch und schaffte es irgendwie,
vollkommen ruhig und gesammelt zu wirken. Eine reife
Leistung, wenn man bedachte, wie sehr Micah sie bereits mit
seinem Sinn für Stil, seinem Sinn für Romantik, seinem Sinn für
einfach alles verzaubert hatte. Er hatte sie mit einer schwarzen
Limousine abgeholt und ihr eine wunderschöne Lilie überreicht.
-42-
Als er ihr seinen Arm angeboten hatte, um sie zum Wagen zu
geleiten, war sogar Phoebe beeindruckt gewesen.
»Sorry«, sagte Micah lächelnd. »Habe ich vergessen. Das ist
eine Berufskrankheit.«
Bevor Paige ihn fragen konnte, was er damit meinte, kam ein
schlanker, distinguiert wirkender Herr zu ihnen und nahm
Paiges Tuch von Micahs Arm. »Ihr Tisch ist bereit, Mister
Grant«, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
Paige und Micah folgten ihm zu einem abgeschiedenen
Ecktisch direkt an der Glaswand, die auf die Bucht hinausging.
Paige wurde etwas schwindelig, als sie sich setzte, aber das
verging rasch wieder, und sie blickte wie betäubt von all der
Schönheit in die Welt hinaus.
»Ich sehe, dir gefällt das Restaurant«, bemerkte Micah und
reichte ihr die Speisekarte.
»Och, ist ganz okay«, scherzte Paige, zuckte mit der Schulter
und entlockte Micah ein Lachen. Paige war froh, dass er Humor
hatte, denn für sie machte es keinen Sinn, mit einem humorlosen
Typen auszugehen - selbst wenn er aussah wie frisch von einem
Pariser Laufsteg.
»Warum ist kitschiges Gesülze denn bei dir eine
Berufskrankheit?«, fragte Paige und sah von ihrer Speisekarte
auf. »Verdienst du dein Geld mit Dates?«
»Nicht wirklich«, sagte Micah. »Ich habe von meinen Eltern
ein beträchtliches Vermögen geerbt und muss mein Geld nicht
im eigentlichen Sinne verdienen. Aber ich habe eine
Wohltätigkeitsstiftung für unterprivilegierte Kinder gegründet,
und da ist einiges an Schmalz erforderlich, um es höflich
auszudrücken. Man muss lernen, was man zu bestimmten
Leuten sagen muss, um sie zum Spenden zu bewegen.«
»Die gute Sache allein reicht nicht aus, damit die Leute ihre
Brieftasche öffnen?«, fragte Paige.
-43-
»In den meisten Fällen leider nicht«, entgegnete Micah mit
einem schmalen Lächeln. »Ich wünschte, es wäre anders. Aber
ich tue, was ich kann. Wir betreiben einige Waisenhäuser und
ein offenes Heim. Ich versuche, so oft wie möglich hinzugehen
und ein wenig Zeit mit den Kindern zu verbringen. Es ruft mir
immer wieder in Erinnerung, warum ich jeden Abend mit
unausstehlichen alten Damen Kaviar futtere.«
Er nahm einen Schluck Wasser und sah in die Speisekarte.
Offenbar war es ihm unangenehm, über den Geldeintreiber-Teil
seines Jobs zu sprechen, und Paige mochte ihn deshalb nur noch
mehr. Sie kannte viele Leute, die weitaus mehr Spaß daran
hätten, mit der Elite von San Francisco Küsschen
auszutauschen, als sich mit mittellosen Kindern abzugeben.
»Wo arbeitest du denn?«, fragte Micah dann. »Du hast nichts
mit unausstehlichen alten Damen zu tun, oder?«
»Manchmal schon«, sagte Paige und lachte. »Ich bin
Sozialarbeiterin. Ich habe viel mit Missbrauchsfällen zu tun...
und mit Leuten, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Ich lerne
auch manchmal Leute kennen, die nicht so nett sind. Aber in der
Regel habe ich mit den tollsten Menschen auf der Welt zu tun.«
»Genau«, sagte Micah und sein Gesicht leuchtete auf. »Siehst
du? Du verstehst, worauf es ankommt. Ich weiß ganz genau, was
du meinst.«
Sie lächelten sich an, und Paige musste rasch in ihre
Speisekarte schauen, damit sie innerlich nicht vollständig
durchglühte. Zu schade, dass der Oberkellner nicht eines der
riesigen Fenster öffnen konnte, um ihr ein wenig Abkühlung zu
verschaffen. Paige fühlte sich, als trüge sie statt ihres trägerlosen
Kleides einen Wollpullover.
Auch Micah riss seinen Blick von ihr los, klappte die
Speisekarte auf und sah sie rasch durch. »Nun, was gehört zu
den Dingen, die Paige Matthews gerne isst?«, fragte er und
nahm noch einen Schluck von seinem Wasser.
-44-
»Na ja, Fisch auf jeden Fall nicht«, antwortete sie. »Keine
Krabben, keine Muscheln, kein Hummer. Nichts, das mal
geschwommen oder auf dem Meeresboden rumgekrabbelt ist.«
»Ist notiert«, entgegnete Micah grinsend. Ihre unverblümte
Ehrlichkeit amüsierte ihn eindeutig.
»Aber ich liebe Risotto«, sagte Paige. Sie war froh, einige
Varianten davon auf der Karte zu entdecken. »Und Lamm.« Sie
hob entschuldigend die Hand. »Ich weiß! Eigentlich sind sie viel
zu süß zum Essen, aber das versuche ich zu verdrängen.«
»Das ist eine gute Politik«, bemerkte Micah und schloss die
Speisekarte. »Ein paar Abgründe muss man sich schon erhalten.
Bei mir ist es Science-Fiction. Ich kann es einfach nicht lassen.«
Paige atmete tief ein und sah ihn skeptisch an. »Oh, nein! Ich
sitze hiermit einem Science-Fiction-Freak! Das könnte ein
Grund sein, sofort von der Verabredung zurückzutreten«,
bemerkte sie trocken. »Welche Sorte? Gehörst du zu den
Trekkies oder zu den Akte-X-Fans?«
»Star Wars«, antwortete Micah. »Aber die alten, nicht die
neuen.«
»Ach, na dann! Das ist okay«, sagte Paige und gab sich
erleichtert. Sie mussten beide lachen, und Paige konnte gar nicht
mehr aufhören zu strahlen. Es lief sehr gut. Wirklich sehr, sehr
gut.
»Und du, was liest du gern?«, fragte Micah und stützte die
Ellbogen auf den Tisch. »Ich wette, du liest Liebesromane.«
»Also, bitte!«, schmollte Paige und verdrehte die Augen.
»Meine Schwester Phoebe ist hinter ihnen her, als wären sie
morgen ausverkauft. Dabei sind sie schon seit Jahrzehnten out.
Ich steh eher auf die Klassiker. Ich liebe Jane Austen und habe
in der letzten Zeit viel von Willa Cather gelesen.«
»Dann stehst du doch auf Liebesromane«, sagte Micah und
lächelte leise. »Nur auf die ganz alten.«
-45-
»Hey! Das sind Meilensteine der Literatur«, fuhr Paige auf,
aber mehr Argumente fielen ihr nicht ein. Schließlich hatte
Micah Recht. Aber wie hätte sie auch ahnen können, dass ein
Mann wie er Ahnung davon hatte, um welche Themen es bei
Austen und Cather ging! Normalerweise kommentierten ihre
Gesprächspartner den Hinweis auf die Klassiker mit einem
gespielt verständnisvollen Nicken und beließen es dabei, weil
sie weder etwas Falsches sagen noch zugeben wollten, dass sie
von Literatur keinen Schimmer hatten.
Plötzlich erschien der Kellner so leise an ihrem Tisch, als
wäre er herübergebeamt. »Möchten Sie jetzt bestellen?«, fragte
er und neigte vornehm den Kopf.
»Ja, wir nehmen beide das Lamm«, sagte Micah und reichte
ihm die Speisekarten. »Und... Paige, hast du einen Risotto
ausgewählt?«
»Ich nehme den mit Kürbis«, sagte Paige lächelnd zu dem
Kellner.
»Klingt gut«, meinte Micah, und seine blauen Augen
funkelten. »Bringen Sie uns zwei, bitte.«
Paige verschränkte die Arme auf dem Tisch und versuchte,
Micah in die Augen zu sehen. Das war gar nicht so einfach,
denn immer, wenn sie es tat, hatte sie das Gefühl, jeden
Augenblick an den Schmetterlingen in ihrer Brust zu ersticken.
»Was ist das denn für eine Masche, Grant? Kannst du dir nicht
selbst was aussuchen?«, fragte sie.
»Vielleicht will ich einfach alles über dich wissen«,
entgegnete Micah. »Und das bedeutet, ich will auch wissen, wie
das Essen schmeckt, das du magst.«
Paige fühlte sich bis unter die Haarwurzeln geschmeichelt,
wollte es aber nicht zeigen. »Dieser Logik zufolge müsstest du,
wenn du später nach Hause kommst, Verstand und Gefühl lesen,
in einen rosa Flanellschlafanzug schlüpfen und ein bisschen
Kiss hören.«
-46-
Auf Micahs Gesicht breitete sich ein neckisches Lächeln aus,
und er beugte sich so weit zu Paige vor, dass sie seinen
Pfefferminzatem riechen konnte. »Wenn es erforderlich ist«,
sagte er, »werde ich genau das tun.«
Plötzlich wurde Paige von einem heftigen Schwindelanfall
erfasst. Graue Punkte tanzten vor ihren Augen. Ihr wurde
unglaublich heiß. Sie suchte an der Stuhllehne Halt und atmete
unauffällig tief durch. In den vergangenen vierundzwanzig
Stunden hatte sie zwar schon einige Male über die Wirkung
gestaunt, die Micah auf sie hatte, aber nun erlebte sie eine ganz
neue Intensitätsstufe.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Micah und zog besorgt die
dunklen Augenbrauen hoch.
»Mir geht es gut«, sagte Paige, trank einen Schluck Wasser
und nahm ihr Haar mit den Händen zum Pferdeschwanz
zusammen, um sich den Nacken zu kühlen. »Ich denke, es liegt
an der Höhe... an dem Ausblick... weißt du? Das ist alles
ziemlich... überwältigend.«
Es klang nach einer guten Ausrede. Und es war in der Tat eine
perfekte Ausrede. Micah rief den Kellner und fragte, ob es
vielleicht einen Tisch weiter weg vom Fenster gäbe. Der Mann
eilte dienstbeflissen davon, und innerhalb weniger Augenblicke
führte er Paige und Micah an einen anderen Tisch weiter hinten
im Raum.
Paige war zwar sehr erleichtert, dass ihre Ausrede so
überzeugend gewesen war, fand aber ihr inneres Gleichgewicht
nicht wieder, als sie dem Kellner an den neuen Tisch folgte.
Micah ging ganz dicht hinter ihr. Sie befand sich innerlich in
einem derartigen Ausnahmezustand, weil sie genau wusste, dass
es kein Schwindelanfall wegen der Höhe oder so etwas
Ähnliches gewesen war. Es lag einzig an Micah. Für die
Heftigkeit ihrer Reaktionen gab es einfach keine andere
Erklärung.
-47-
Paige war dabei, sich Hals über Kopf zu verlieben.
Später am Abend öffnete Micah leise die Tür eines großen
alten Herrenhauses in einem der ältesten Viertel der Stadt. Paige
trat so leise wie möglich auf Zehenspitzen über die Schwelle des
Waisenhauses und sah sich überrascht um. Irgendwie hatte sie
ein Heim wie in dem Musical Annie erwartet, aber dieses Haus
glich eher dem von Daddy Warbucks und nicht der
heruntergekommenen Höhle, der Miss Hannigan vorstand.
»Das soll ein Waisenhaus sein?«, flüsterte Paige und
betrachtete staunend die glänzenden Böden und die bunten
Kunstwerke an den Wänden.
»Wenn wir mit den Kindern sprechen, nennen wir es einfach
Zuhause«, flüsterte Micah zurück. »Damit sich die Kinder nicht
so andersartig vorkommen.«
Sie schritten gemeinsam durch den Eingangskorridor auf den
Fahrstuhl zu, der sich farblich passend in die cremefarbenen
Wände einfügte.
»Bringst du all deine Dates hierher?«, fragte Paige und ging
ein paar Schritte rückwärts, um Micah anlächeln zu können.
»Nun, du wolltest mehr über meine Arbeit wissen, und das
hier ist der Teil, der mir am meisten Freude bereitet«, antwortete
Micah und drückte auf den Aufwärts-Knopf an der Wand.
Die Türen des Fahrstuhls öffneten sich und Paige ging hinein.
Wenige Augenblicke später stieg sie mit Micah im fünften Stock
aus. Als sie schweigend den langen Flur entlanggingen, der mit
dickem Teppich ausgelegt war, fiel Paige auf, dass an jeder
Zimmertür ein selbst gemachtes Schild mit Kindernamen darauf
hing.
»Haben die Kids die selbst gemacht?«, fragte sie und strich
zärtlich über das Bild eines Blauwals, auf das mit Goldflitter der
Name »Jonas« geschrieben war.
-48-
»Ja, den Kleinen hat die ganze Geschichte von Jonas und dem
Wal ziemlich beeindruckt«, entgegnete Micah. »Wir lassen die
Kinder ihre Zimmer im Rahmen der Möglichkeiten selbst
gestalten. Wir haben zwar kein unbegrenztes Budget für jedes
Kind, aber für eine persönliche Einrichtung und etwas
Dekoration reicht es aus. Dann fühlen sie sich ein bisschen mehr
zu Hause.«
Er ging mit Paige bis ans Ende des Korridors, legte die Finger
an die Lippen und öffnete dann leise die Tür zu dem letzten
Zimmer. Paige spähte hinein und sah vier kleine Jungen, die tief
und fest in ihren Bettchen schliefen. Der Lichtstrahl aus dem
Flur fiel auf das Engelsgesicht, das unter der Decke des Betts
gleich neben der Tür hervorlugte. Paige bemerkte, wie Micahs
Gesicht beim Anblick des Jungen ganz weich wurde.
»Das ist Christopher«, raunte er ihr zu. »Er hat letzte Zeit
Probleme mit dem Schlafen, da wollte ich nur mal kurz
reinsehen.«
Paige hatte das Gefühl, ihr schwelle das Herz in der Brust.
Unfassbar, wie sehr Micah das Wohl dieser Kinder am Herzen
lag! Er kannte ihre Geschichte, ihre Schlafgewohnheiten. Er
kam mit einem Date her, um nach einem der Kleinen zu sehen.
Von welchem Planeten kam dieser Typ eigentlich?, wunderte sie
sich.
»Okay, wo ist der Haken?«, fragte sie Micah, nachdem er
leise die Tür ins Schloss gezogen hatte.
»Der Haken?«, fragte Micah zurück und runzelte die Stirn.
Er führte sie wieder den Korridor hinunter und zog einen
kleinen Schlüssel aus der Tasche, als sie vor der verschlossenen
Glastür der Veranda angekommen waren. Er schloss die Tür auf
und trat zur Seite, um Paige vorgehen zu lassen. Paige atmete in
der frischen Nachtluft tief durch und stützte sich auf das
Geländer, um ihren Blick über die friedliche Straße tief unten
schweifen zu lassen.
-49-
»Der Haken«, wiederholte sie und lächelte, als ihr der Wind
das Haar von den Schultern wehte. »Du macht einen zu
perfekten Eindruck. Irgendwo musst du doch eine Schwachstelle
haben.«
Micah lachte und stellte sich neben sie an das Geländer.
»Jeder hat seine Schwachstellen«, sagte er. »Man muss sich nur
überlegen, ob man bereit ist, über die Schwächen der anderen
hinwegzusehen.«
»Nun, bei dir habe ich noch keine gefunden«, entgegnete
Paige und sah ihm in seine unwiderstehlichen Augen.
»Dann sollte es dir ja sehr leicht fallen, über sie
hinwegzusehen«, gab Micah zurück und kam ihr noch ein
bisschen näher.
Als ihre Arme sich berührten, überkam Paige wie zuvor im
Restaurant dieses unglaubliche Schwindelgefühl. Sie schloss die
Augen, denn die grauen Punkte raubten ihr erneut die Sicht. Als
sie die Augen wieder öffnete, war Micahs Gesicht nur noch
Millimeter von ihrem entfernt. Paige blieb das Herz stehen und
ihr stockte der Atem.
»Ich werde dich jetzt küssen«, sagte Micah leise, »wenn du
nichts dagegen hast.«
Paige hätte nicht antworten können, selbst wenn sie gewollt
hätte, also schmiegte sie sich an ihn und ergab sich seinem Kuss.
Als sich ihre Lippen berührten, bekam Paige weiche Knie, aber
Micah schlang seine Arme um sie und fing sie auf. Zum ersten
Mal in ihrem Leben erlebte Paige, was damit gemeint war, wenn
die Leute von einer außerkörperlichen Erfahrung sprachen.
Micahs Kuss ließ sie schweben - sie hatte den Eindruck, ihren
Körper zu verlassen.
Und ihr persönlich war es in diesem Augenblick vollkommen
egal, ob sie je zurückkehren würde.
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5
PIPER sass am montag nachmittag in einer der Ecknischen
im P3 und hatte vor sich auf dem Tisch ihr Scheckheft, die
Buchhaltungsunterlagen und Unmengen von Quittungen und
Rechnungen ausgebreitet. Die finanziellen Angelegenheiten zu
regeln hasste sie ganz besonders. Sie konnte sich jedoch nicht
dazu durchringen, diesen Teil ihres Jobs von einem Buchhalter
erledigen zu lassen. Jedes Mal, wenn sie sich an die Bücher
setzte, dachte sie wieder von neuem über diese Möglichkeit
nach. Ganz besonders dann, wenn sich erneut diese furchtbaren
Kopfschmerzen einstellten.
»Ach Mann! Das muss doch auch anders gehen!«, klagte
Piper laut in dem leeren Club, setzte die Brille ab und warf sie
auf den Tisch. Sie kniff sich in die Nasenwurzel und schloss die
Augen. »Warum bin ich nur so ein dermaßener Kontrollfreak
und meine, alles selbst machen zu müssen!«
»Willst du 'ne Aspirin, Boss?«
Piper fuhr erschreckt auf, als Tyrell plötzlich vor ihr
auftauchte. »Ja, und den Defibrillator, vielen Dank!«, schimpfte
sie, legte die Hand aufs Herz und sah zu ihm auf. »Du hast mich
fast zu Tode erschreckt!«
Ein jungenhaftes Grinsen erhellte Tyrells dunkle Züge, und er
holte die Hände hinter dem Rücken hervor, stellte ein Glas
Wasser auf den Tisch und legte zwei Tabletten daneben. Bereits
beim Anblick des Schmerzmittels verspürte Piper Erleichterung.
»Es sei dir vergeben«, sagte sie und griff nach dem Glas. »Wo
kommst du jetzt überhaupt her?«, fragte sie und warf sich die
Tabletten in den Mund.
»Ich bin vor ein paar Minuten hinten reingekommen«, sagte
Tyrell und zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Ich habe
schon eine ganze Weile in der Küche gewirtschaftet. Hast du
-51-
mich nicht gehört?«
Piper seufzte und raufte sich die Haare, während sie auf den
Wust von Papieren vor ihr auf dem Tisch starrte.
»Wahrscheinlich war ich zu sehr vertieft in meinen Kram hier.«
»Nun, ich will dich nicht ablenken«, sagte Tyrell und trat
einen Schritt zurück. »Ich wollte nur die Reinigungsmittel
checken und sehen, ob wir etwas brauchen.«
»Tyrell, warte doch mal einen Augenblick«, sagte Piper,
bevor er wieder verschwinden konnte. Sie verspürte zwar leichte
Gewissensbisse, beschloss aber, sie zu ignorieren, und das zu
tun, was sie tun musste. Immerhin war Paige ihre Schwester. Es
war ganz normal - löblich sogar-, wenn sie sich Sorgen um sie
machte. Tyrell blieb abwartend am Tischende stehen. »Erzähl
mir ein bisschen über deinen Freund Micah Grant«, forderte ihn
Piper schließlich auf.
Tyrells Gesicht leuchtete auf. »Stimmt ja! Ich wollte dich
auch schon fragen, ob er gestern bei euch war. Er ist echt ein
toller Typ.«
»Ach wirklich?«, sagte Piper und zog eine Augenbraue hoch.
»Warum denn?«
»Also... du weißt ja, ich hatte es als Kind nicht leicht - sogar
vor ein paar Jahren noch hatte ich Schwierigkeiten«, sagte
Tyrell. »Micah hat das Heim geführt, in dem ich landete,
nachdem ich endlich clean geworden war. Er ist uns Kids oft
besuchen gekommen, hat viel Zeit mit uns verbracht und mit uns
Ausflüge gemacht und so. Und das hätte er ja nun wirklich nicht
tun müssen, nicht wahr? Er hat tonnenweise Geld, und trotzdem
war er immer interessiert an uns. Ich glaube, das hat mir
wirklich geholfen, einen anderen Weg einzuschlagen - die
Erfahrung, dass es Leute gibt, denen wir nicht egal sind.«
»Wow!«, sagte Piper lächelnd. Mit so einem glänzenden
Gutachten stieg Micah gewissermaßen zum ernst zu nehmenden
Heiratskandidaten auf. »Danke, Tyrell. Klingt ja wirklich sehr
-52-
nett.«
»Nur mal so aus Neugier: Was wollte er eigentlich von
euch?«, fragte Tyrell und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Oh... also...«
Was sollte Piper sagen? - Micah wollte sich bei uns bedanken,
weil wir ihm das Leben gerettet und einen Dämon vernichtet
haben?
»Er wollte mit Paige ausgehen«, sagte sie rasch. Sie war
heilfroh, eine so perfekte Ausrede zur Hand zu haben.
»Paige und Micah?«, rief Tyrell grinsend aus. »Das ist ja
super!«
In diesem Augenblick kam Paige hüpfend die Treppe in den
Club hinunter, übersprang die letzten paar Stufen und landete
mit einem Plumps auf dem Treppenabsatz. »Oh, es ist wirklich
super!«, rief sie.
Piper musste beim Anblick ihrer rotwangigen Schwester
grinsen. Sie sah aus wie eine Vierzehnjährige, die gerade ihre
erste Knutscherei auf dem Schulhof hinter sich hatte. Sie trug
sogar einen kurzen, karierten Minirock und einen bunten
Pullover, die diesen Eindruck noch verstärkten.
»Was willst du denn am helllichten Tag hier?«, fragte Piper
und Paige ließ sich schwungvoll neben sie auf die Bank fallen -
so schwungvoll, dass Piper ein Stück in die Höhe hüpfte.
»Was soll das denn heißen? Darf ich meine
Lieblingsschwester nicht in der Mittagspause besuchen?«, fragte
Paige und legte einen Arm um Piper.
»Ich lasse euch jetzt mal allein«, sagte Tyrell und schüttelte
den Kopf, als er sich umdrehte. »Paige, das mit dir und Micah
finde ich total Klasse!«, fügte er noch hinzu, bevor er in der
Küche verschwand.
»Und ich erst!«, rief Paige ihm hinterher.
»Na... dann erzähl mal!«, sagte Piper, drehte sich zu Paige um
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und legte den Ellbogen auf die Banklehne. »Schade, dass ich
dich heute Morgen verpasst habe.«
»Ich weiß. Ich musste früh zur Arbeit, um mir noch mal die
Unterlagen zu einem Fall anzusehen«, sagte Paige. »Aber Piper,
gestern Abend, das war wirklich einmalig! Er ist mit mir in ein
unglaubliches Restaurant gegangen, und wir haben so leckere
Sachen gegessen, und dann sind wir noch in eines seiner
Waisenhäuser gefahren, und dann sind wir tanzen gegangen...«
»Wow, wann bist du denn nach Hause gekommen?«, fragte
Piper.
»Ungefähr eine Stunde bevor ich wieder aufstehen musste«,
gestand Paige lachend. »Aber das war es wirklich wert. Er ist
unglaublich. Er ist so fürsorglich und humorvoll und höflich
und... also, ich bin wirklich nicht stolz darauf, aber wenn er
mich ansieht, schmelze ich dahin wie Butter in der Sonne.«
»Das klingt ja nach einem irrsinnig guten ersten Date«,
bemerkte Piper und stützte den Kopf auf die Hände. »Meine
ersten Dates endeten meist damit, dass ich heulend über einer
Packung Taschentücher hockte und mich fragte, was bloß
schiefgegangen ist.«
Paige lachte. »Aber jetzt hast du ja Leo«, sagte sie und blickte
verklärt auf die Tanzfläche. »Und ich habe Micah.«
Da begannen in Pipers Kopf plötzlich die Alarmsirenen zu
heulen. Paige hatte so einen entrückten Blick, und ihre Augen
wirkten irgendwie... unnatürlich, fast leer. Und dass Paige sich
und Micah bereits mit Piper und Leo verglich - zwei Menschen,
die sich jahrelang kannten und seit Monaten verheiratet waren -,
war nun doch ein wenig übertrieben.
Ȁhm... du hast aber nicht vor, schnell mal nach Las Vegas
abzuhauen oder so?«, fragte Piper halb im Scherz, halb ernst
gemeint.
»Quatsch!«, rief Paige aus, erwachte aus ihrer kleinen Trance
und gab Piper fröhlich einen Klaps aufs Knie. »Aber für heute
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Abend sind wir wieder verabredet. Er will mir sein Haus
zeigen.«
Erneut schrillten die Alarmsirenen. »Sein Haus?«, fragte Piper
und fuhr kerzengerade in die Höhe. »Ihr habt euch doch erst vor
zwei Tagen kennen gelernt. Findest du es nicht ein bisschen
früh, wenn er dir jetzt schon sein... Haus zeigen will?«
»Bitte, Piper! Wir sind im einundzwanzigsten Jahrhundert!«,
rief Paige und lachte wieder. »Abgesehen davon tue ich nichts
Dummes. Und Micah ist der perfekte Gentleman. Er hat mir nur
erzählt, dass er in einem tollen Haus oben in den Bergen wohnt,
und ich habe gesagt, ich würde es gern mal sehen und so...
werde ich es jetzt eben sehen.«
»Ich weiß nicht, Paige. Ich meine... willst du dich wirklich in
eine solche Lage bringen?«, fragte Piper und erschauderte ein
wenig angesichts ihres mütterlichen Tonfalls. »Ich meine, ganz
allein mit einem Mann in seinem großen alten Haus, das... Wie
kann er sich das überhaupt leisten? Hast du eine Ahnung, woher
sein Geld kommt oder...«
»Ich glaube es einfach nicht!«, unterbrach Paige sie
aufgebracht, und in ihrem Gesicht zeichnete sich Entrüstung ab.
»Ich lerne einen total perfekten Typen kennen und Phoebe und
du, ihr habt nichts Besseres im Sinn, als nach irgendwelchen
Fehlern zu suchen!«
»Paige, ich...«
»Was kommt als Nächstes? Willst du ihm jetzt auch noch
unterstellen, er sei böse, wie Phoebe es getan hat?«, fragte Paige
und stand auf.
»Nein! Wie Tyrell mir sagte, ist Micah wirklich ein ganz
toller Mensch!«, sagte Piper. »Ich möchte nur, dass du
vorsichtig bist, das ist alles.«
»Na, prima! Jetzt stellst du schon hinter meinem Rücken
Nachforschungen über Micah an«, empörte sich Paige und nahm
ihre Tasche von der Bank. »Natürlich ist Phoebe wegen ihrer
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Vision in höchster Unruhe, aber ich dachte, wenigstens du
könntest dich für mich freuen.«
Damit machte Paige auf dem Absatz kehrt und stolzierte aus
dem Raum. Piper rutschte aus der Sitzecke und sprang auf.
»Paige! Paige! Warte doch! Ich bin doch nur um dich besorgt!«
»Ja, toll, aber das kannst du dir sparen!«, rief Paige und
stampfte die Treppe hinauf, ohne noch einmal stehen zu bleiben
oder sich umzudrehen.
Piper seufzte frustriert und hielt sich ihren Kopf, der nun noch
heftiger pochte. Sie konnte richtig fühlen, wie eine Ader an ihrer
Schläfe pulsierte. Langsam ließ sie sich wieder auf ihren Platz
sinken und holte tief Luft.
»Was habe ich eigentlich für ein Problem?«, fragte sie sich.
»Tyrell findet den Typen Klasse. Paige findet den Typen Klasse.
Warum habe ich dann plötzlich das Gefühl, wir könnten ihm
nicht trauen?«
Es machte doch alles gar keinen Sinn. Gestern hatte sie Paige
noch aus ganzem Herzen viel Spaß mit Micah gewünscht und
nun... nun verhielt sie sich wie Phoebe und richtete sich nach
einem Gefühl in der Magengrube, für das es überhaupt keine
realen Gründe gab. Aber da war etwas an der Art, wie Paige
über ihn redete... Etwas stimmte nicht mit ihr. Sie hatte
regelrecht benommen gewirkt, mehr als entrückt, als sie auf die
Tanzfläche gestarrt hatte. Aus irgendeinem Grund richteten sich
bei Piper sämtliche Nackenhaare auf.
»Schluss jetzt! Das ist doch Spinnerei!«, ermahnte sich Piper
kopfschüttelnd. Sie setzte sich die Brille wieder auf die Nase
und nahm eine der Rechnungen vom Tisch, um sie zu prüfen.
»Das hier ist die Realität... leider.«
Phoebe drehte die Stereoanlage, die in einer Ecke im Keller
stand, auf volle Lautstärke und lockerte erst einmal ihre
verspannte Nackenmuskulatur. Dann begann sie, auf der Stelle
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zu hüpfen. Paige war vor einer Weile zu ihrer zweiten
Verabredung mit Micah aufgebrochen, Piper arbeitete im Club
und Cole war immer noch unterwegs. Das Misstrauen, das sie
Paiges neuem Freund entgegenbrachte, und die Tatsache, dass
Cole irgendwo da draußen herum lief - wahrscheinlich wieder
einmal in tödlicher Gefahr -, hatten dafür gesorgt, dass sich bei
Phoebe mehr als genug negative Energie angestaut hatte, die sie
dringend loswerden musste. Am liebsten hätte sie irgend
jemandem eine ordentliche Tracht Prügel verpasst.
Sie schwitzte bereits von dem Workout, das sie sich verordnet
hatte, und ihre Armmuskeln begannen wie Wackelpeter zu
zittern, aber sie hatte immer noch nicht die gesamte Aggression
abgebaut, die durch ihre Adern pumpte. Der Sandsack durfte
sich auf eine weitere Runde freuen.
Micah... Cole... Paige... Dämonen auf der Jagd nach Cole...
Plötzlich musste Phoebe an Aplacum und seine fiesen Krallen
denken, und sie stieß ein lautes, wütendes Knurren aus, als sie
die Faust mitten in den schweren Sandsack stieß. Einmal
angefangen schlug sie immer schneller und schneller auf ihn ein
und baute sicherheitshalber noch ein, zwei Roundhouse-Kicks
ein. Aber das Bild, wie Aplacum sich auf Regina stürzte, wollte
sich nicht verdrängen lassen. Immer noch hörte sie das
ohrenbetäubende Gebrüll des Monsters.
Er ist erledigt. Er kann niemandem mehr wehtun. Er ist weg,
weg, weg...
Schneller und immer schneller flogen Phoebes Fäuste, bis sie
völlig außer Atem war. Bis die Beine unter ihr nachgaben. Bis
sie auf den Sandsack zutaumelte und ihn total erschöpft
umklammerte.
In ihrem tiefsten Inneren wusste sie, es war nicht Aplacum,
der sie so beunruhigte. Es war nicht einmal Cole. Der konnte auf
sich selbst aufpassen. Es war dieses ungute Gefühl, das an ihr
nagte. Das Gefühl, es habe noch ein weiteres Übel in ihrer
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Vision gelauert. Das Gefühl, Micah habe irgendetwas mit dieser
bösen Anwesenheit zu tun, und das Wissen, dass ihre Schwester
gerade mit diesem Typen unterwegs war.
Es ist noch nicht vorbei, sagte eine leise Stimme in Phoebes
Kopf. Aplacum war erst der Anfang.
»Okay, das reicht«, sagte sie schließlich, wischte sich den
Schweiß von der Stirn und verschnaufte eine Weile.
Nachdem sie die Musik abgestellt hatte, stieg sie erst die
Kellertreppe hinauf, dann die Treppe zum Dachboden und ihre
Beine protestierten bei jedem Schritt. Als sie das Buch der
Schatten erreichte, musste sie es von dem Pult nehmen und sich
damit auf die Fensterbank setzen.
Sie schlug das Buch auf, lehnte sich mit der Schulter an die
kalte Glasscheibe des Fensters und fing an zu blättern. Sie
wollte sich noch einmal vergewissern, nichts übersehen zu
haben. Als sie endlich bei dem Text über Aplacum angekommen
war, überflog sie rasch die Zeilen. Keine neue Information war
auf magische Weise dazugekommen. Aplacum war und blieb
ein gruselig aussehender Dämon ohne jedes Motiv, für den es
eine Bezwingungsformel gab. Nicht mehr und nicht weniger.
Frustriert blätterte Phoebe zu dem nächsten Dämon um und
zuckte zusammen. Die Abbildung war nicht hübscher als die
vorige. Sie stellte eine riesige Kreatur dar - mit einem Gesicht,
das aussah, als sei es seit tausend Jahren mumifiziert. Tiefe,
fleischige Falten, Hunderte spitze Vampirzähne und leere
schwarze Augen. Seine Hände hielt das Monster seitlich
ausgestreckt, und aus den Handgelenken kamen irgendwelche
Strahlen.
»Vandalus«, las Phoebe und führte ihren Zeigefinger die
Überschrift entlang. »Hoffentlich werden wir dir nie begegnen!«
Sie wollte gerade weiterblättern, als ihr etwas ins Auge fiel:
der Name »Aplacum« mitten in dem Text über Vandalus.
Phoebes Herz schlug schneller. Sie zog das Buch auf ihren
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Schoß und begann zu lesen. Das konnte es sein! Das war
vielleicht die Antwort, nach der sie gesucht hatte.
»Vandalus, einer der brutalsten, zerstörerischsten Dämonen
der Unterwelt, kämpfte jahrhundertelang gegen seinen Erzfeind
Aplacum um die Herrschaft über die Dimensionen. Wenn es
einem von beiden gelingt, den anderen umzubringen, wird der
siegreiche Dämon die absolute Herrschaft erlangen und
ungeahnte Schrecken über die Menschheit bringen.«
Phoebe hielt inne und holte tief Luft. »Klingt ja nach einem
reizenden Paar«, bemerkte sie.
»Glücklicherweise ist es dem Hohen Rat zu Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts gelungen, Vandalus lange genug von
seinen loyalen Günstlingen und Beschützern wegzulocken, um
ihn mit einem mächtigen Zauber belegen zu können, mit dem er
auf die Erde verbannt wurde.« Phoebe stutzte.
»Auf die Erde verbannt?«, fragte sie laut und runzelte die
Stirn. »Es wäre uns ja wohl schon aufgefallen, wenn dieses
Biest hier irgendwo rumläuft!«
Beunruhigt und neugierig zugleich las Phoebe weiter und
erfuhr mehr über den Krieg zwischen Aplacum und Vandalus.
Sie war so vertieft, dass sie das, was sie beim Weiterblättern las,
so schockierte, als hätte man ihr einen Eimer kaltes Wasser über
den Kopf geschüttet.
»Oh nein!«, rief sie und ihr Herz begann zu rasen. »Nein! Das
darf doch nicht wahr sein!«
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6
PAIGE schmiegte sich in den bequemen Limousinensitz und
konzentrierte sich mit aller Kraft auf ihr Gesicht, um nicht mit
ihrer Mimik zu verraten, wie aufgeregt sie war. Sie strich den
Seidenrock ihres roten Kleides glatt, atmete zur Beruhigung tief
durch und blickte mit völlig gelassener Miene aus dem Fenster.
Der Zustand hielt ungefähr drei Sekunden an.
Bevor sie sich versah, hibbelte Paige schon wieder auf der
Sitzkante, und ihr Herz klopfte unbeherrschter denn je. Beim
Verlassen des Hauses hatte sie noch befürchtet, die Warnungen
ihrer Schwestern nicht aus dem Kopf zu bekommen, aber nun
hatte sie seit Stunden gar nicht mehr an Piper und Phoebe
gedacht. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, aufgeregt zu
sein.
Der Wagen hielt vor einer roten Ampel, und Paige begann,
ohne es zu merken, ungeduldig mit dem Fuß auf den mit
Teppich ausgelegten Boden zu trommeln. Micah kicherte, und
sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Er saß lässig in der
Ecke, hatte einen Arm auf der Rückbanklehne ausgestreckt und
stützte den Kopf auf die Fingerspitzen der anderen Hand. Er
lächelte, als er Paiges Blick bemerkte.
»Wie kannst du nur so ruhig sein!«, rief Paige und warf die
Hände in die Luft. »Wir gehen zu einer Premiere! Zu einer
richtigen Filmpremiere... in Los Angeles... mit echten Stars!«
Seit Micah sie früher am Abend in seinen Privatjet hatte
einsteigen lassen, erwartete Paige sekündlich, sich in einen
Kürbis zu verwandeln. Sobald sie in dem ledernen
Flugzeugsessel Platz genommen hatte, der größer und bequemer
war als jede Wohnzimmercouch, hatte Micah zu ihrer großen
Überraschung zwei Karten für die Hollywoodpremiere eines
neuen Actionstreifens aus dem Ärmel gezaubert... und dann
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hatte er sich entschuldigt, weil er offenbar angenommen hatte,
Actionfilme seien nicht so sehr Paiges Ding.
Sie hatte ihm so höflich wie möglich widersprochen. Es war
ihr vollkommen egal, um welchen Film es ging, denn schließlich
würden sie sich unter echte, lebendige Berühmtheiten mischen!
»Sind auch nur Menschen«, sagte Micah und zuckte mit den
Schultern.
»Oh, ich bitte dich!«, schmollte Paige, rutschte in den Sitz
und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist nur so
unaufgeregt, weil du es schon millionenmal gemacht hast!«
»Wahrscheinlich«, entgegnete Micah wenig überzeugt.
»Komm schon! Du kannst mir nicht weismachen, dass du
kein bisschen aufgeregt warst, als du zum ersten Mal zu so
einem Event eingeladen wurdest«, drängte Paige.
Micah grinste und beugte sich ein Stück zu ihr. Eine dunkle
Locke fiel ihm in die Stirn. »Okay, ein wenig vielleicht schon.«
Seine Nähe machte Paige eine Gänsehaut, und sie musste sich
auf die Lippen beißen, um nicht zu breit zu grinsen. Was hatte
sie nur für ein Glück! Sie ging nicht nur mit dem
unglaublichsten Typen von der ganzen Welt aus, er entführte sie
auch noch nach Hollywood! Und all das aufgrund einer kleinen
Vision, die Phoebe gehabt hatte. Paige nahm sich vor, ihrer
Schwester bei nächster Gelegenheit zu danken.
Als die Limousine anhielt, schlug Paige das Herz bis zum
Hals. Aus dem Seitenfenster blickte sie direkt auf einen langen
roten Teppich, der zu beiden Seiten von mindestens tausend
schreienden Fans gesäumt wurde. Blitzlichter blendeten sie, und
ihr Puls raste so sehr, dass sie befürchtete, gleich in Ohnmacht
zu fallen.
»Bist du bereit?«, fragte Micah.
»Hmmm«, gab Paige zur Antwort.
Micah öffnete die Tür auf seiner Seite, stieg aus und riss
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Paige aus ihrer Benommenheit heraus, als er die Tür zuknallte.
Paige rückte die Träger ihres Kleides zurecht, presste kurz die
Lippen aufeinander und schüttelte ihr Haar nach hinten, bevor
Micah ihr die Tür öffnete. Sie setzte einen Fuß auf den Asphalt
und zitterte, als stiege sie in einer bitterkalten Nacht aus dem
Meer. Micah bot ihr seine Hand an, und Paige klammerte sich
dankbar daran fest. Ohne seine Hilfe hätte sie definitiv den roten
Teppich geküsst.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Micah und hakte sich bei ihr
unter, während sie sich unsicher umsah.
»Wie eine Aufschneiderin«, antwortete sie leise. »Wir sind
doch für die Leute gar nicht wichtig.«
»Diese Leute hier werden dich nur einmal ansehen und
denken, du wärst ein neues Sternchen in dem Film. Dann
werden sie um deine Aufmerksamkeit betteln«, sagte Micah und
seine tiefe Stimme war so dicht an ihrem Ohr, dass es ihr erneut
kalt über den Rücken lief.
Obwohl Paige über Micahs illusorische Behauptung lachen
musste, gab sie ihrem Selbstbewusstsein Auftrieb. Sie schaffte
es, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und klammerte sich an
Micahs Arm, als sie langsam mit ihm über den roten Teppich
schritt. Zunächst musste sie sich zum Lächeln zwingen, und die
Anstrengung tat fast weh. Aber je näher sie den großen
Flügeltüren kamen, desto natürlicher erschien es ihr. Offenbar
interessierten sich die Leute doch für sie. Einige der Paparazzi
riefen Micahs Namen und er blieb stehen, damit sie ein paar
Bilder von ihm und Paige machen konnten. Als sie endlich das
prunkvolle Theater betraten, strahlte Paige regelrecht. Zwar
konnte sie außer den Blitzlichtern, die ihr vor den Augen
tanzten, nicht viel sehen, aber zum ersten Mal in ihrem Leben
bekam sie einen Eindruck, wie es sein musste, ein Filmstar zu
sein.
»Siehst du! War doch gar nicht so schlimm, oder?«, meinte
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Micah und gab ihr einen raschen Kuss auf die Stirn.
Paige lächelte ihn an, und ihr Herz flatterte. »Also, übel war
es ganz bestimmt nicht.«
Ein paar Stunden später chauffierte Micah Paige bereits
wieder in seinem Kabrio durch die Straßen von San Francisco,
und Paige schwebte auf einer Wolke der Glückseligkeit. Sie
hatte einen ganzen Abend damit verbracht, mit Berühmtheiten
zu plaudern, das tollste Essen (abgesehen von dem, was Piper
kochte) zu genießen und von Kopf bis Fuß von dem Mann
hofiert zu werden, der besser aussah als sämtliche männlichen
Models und Schauspielerstars im Saal zusammen.
»Das war ein ganz unglaublicher Abend«, hauchte Paige und
legte den Kopf in den Nacken, um den Vollmond zu betrachten,
der tief am Nachthimmel stand.
»Er ist noch nicht vorbei«, sagte Micah und griff nach ihrer
Hand. Paige fühlte sich von seiner Körperwärme regelrecht
überflutet.
»Das stimmt«, entgegnete sie lächelnd. »Ich werde noch dein
Haus sehen.«
»Ja, das wirst du«, sagte Micah und legte die Hand wieder ans
Steuer, um den Wagen beidhändig um eine besonders scharfe
Kurve zu lenken. »Ich hoffe nur, es gefällt dir.«
Ganz bestimmt!, dachte Paige. Jemand, der so perfekt wie
Micah ist, hatte bestimmt ein ebenso perfektes Haus. Falls er
sich nicht als einer dieser Studentenverbindungstypen entpuppte
- mit leeren Pizzaschachteln, Bierkisten und Stapeln
schmutziger Zeitschriften in allen Ecken. Aber wenn sie sich
sein klassisches Profil und das perfekt mit Gel zurückgekämmte
Haar ansah, bezweifelte sie das.
Als der Wagen sich immer weiter von der Stadtmitte entfernte
und immer höher in die Berge hinauffuhr, lehnte sich Paige
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zurück und genoss einfach den Augenblick. Es war eine herrlich
warme Nacht, der Wind spielte mit ihrem Haar, und wie an den
Anwesen zu erkennen war, an denen sie vorbeifuhren, lebte
Micah in einer piekfeinen Nachbarschaft. Paige kam sich mehr
denn je wie ein Filmstar vor.
Micah hielt den Wagen in dem Wendehammer am Ende einer
Sackgasse an. Außer dem Geräusch des laufenden Motors war
nichts zu hören. Paige sah zu dem hohen schmiedeeisernen Tor
auf, vor dem sie standen, und merkte, wie ihr langsam der
Unterkiefer herunterklappte.
»Ein bisschen paranoid?«, scherzte sie.
»Ich weiß, es sieht irgendwie gruselig aus«, entgegnete Micah
lachend. »Aber das Tor steht schon genauso lange da wie das
Haus. Es gehört zu seiner Geschichte. Ich brächte es nicht übers
Herz, es entfernen zu lassen.«
Er zog eine Chipkarte aus seiner Brusttasche und steckte sie
in den Schlitz in dem Metallgehäuse, das neben dem Tor in die
Mauer eingelassen war. Ein leises Piepen ertönte, und dann
öffnete sich das Eisentor mit ohrenbetäubendem Quietschen.
»Und wo ist das Haus?«, fragte Paige und spähte neugierig in
die Dunkelheit, während Micah den Wagen durch das sich
langsam öffnende Tor steuerte.
»Siehst du gleich«, antwortete er.
Und als sie um eine große Kurve kamen, erschien auch
tatsächlich ganz oben auf dem Berg das »Haus« in ihrem
Blickfeld. Es war eher eine Villa, eine Residenz, als ein Haus,
und Paige fröstelte es, als sie das Gebäude betrachtete. Es war
riesengroß und im klassischen viktorianischen Stil gebaut, der in
der Gegend von San Francisco so beliebt war. Mit seiner
gewaltigen umlaufenden Balustrade, den zahlreichen Giebeln,
und einer Garage, in die lässig das ganze Haus der Halliwells
hineinpasste, verdiente Micahs Zuhause wahrhaftig die
Bezeichnung Landgut.
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Und es war so düster, verhangen und furchterregend wie der
Schauplatz in einem alten Schwarz-Weiß-Gruselfilm.
»Nicht zu fassen!«, rief Paige und sah zu der Spitze des
höchsten Eckturmes auf. »Das ist ja wie aus einem Bronte-
Roman.«
»Freut mich, dass es dir gefällt«, sagte Micah und fuhr mit
dem Wagen am Eingang vor. Die Reifen knirschten im Kies.
»Es ist schon ewig in Familienbesitz.«
»Was für eine Familie!«, bemerkte Paige.
Sie stieß die Tür auf und kletterte aus dem Wagen, ohne den
Blick vom Haus abzuwenden. Vor ihrem geistigen Auge
entwickelte sich bereits das Szenario einer tragischen
Liebesgeschichte in diesem märchenhaften Haus. Eine Frau in
Gewändern des achtzehnten Jahrhunderts sieht klagend von
ihrem Fenster im vierten Stock hinauf zu den Sternen und hofft,
doch noch einen Ausweg zu finden, um der Heirat zu
entkommen, die der Vater für sie arrangiert hat, und um sich mit
ihrer wahren Liebe vereinen zu können. Ihr Geliebter, der sie
retten will, klettert über die Giebel an ihr Fenster, stürzt jedoch
in den Tod, bevor sich ihre Finger berühren.
So eine Story bot sich in diesem Ambiente doch geradezu an!
»Komm mit!«, sagte Micah, und Paige schreckte aus ihren
Gedanken auf, als er sie an der Schulter berührte. Sie zog ihr
dünnes rotes Tuch ein wenig fester um sich. »Gehen wir
hinein.«
Paige raffte den Saum ihres Kleides und stieg die
Verandastufen hoch. Die Tür quietschte, als Micah sie öffnete
und Paige hereinbat. Sie hatte das Gefühl, in ihre eigene,
lebendig gewordene Traumwelt einzutreten. Der Boden in der
Empfangshalle war in einem wunderbaren Mosaikmuster
gefliest - in der Mitte war der Mond dargestellt, wie er sich vor
die Sonne schiebt. Gleich gegenüber, auf der anderen Seite des
Mosaiks, führte eine geschwungene Treppe nach oben. Paige
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folgte Micah die Stufen hinauf, wobei sie die beeindruckenden
Kunstwerke an den Wänden und den Kronleuchter unter der
Decke bestaunte.
Micah führte sie durch den Korridor im ersten Stock und
öffnete im Vorbeigehen die Türen. Jedes Zimmer war im
viktorianischen Stil gehalten, als habe man nichts mehr
angerührt, seit die ursprünglichen Besitzer das Haus eingerichtet
hatten. Micah führte Paige in jeden einzelnen Raum, erklärte ihr
mit großer Ehrerbietung den Grundriss des Hauses und die
Antiquitäten, die in jedem Zimmer standen. Es verging eine
ganze Stunde, bevor sie wieder ins Erdgeschoss gingen und
Micah Paige in seine Bibliothek bat.
»Du hast es bestimmt schon öfter gehört, aber ich muss sagen,
dein Zuhause ist wunderschön«, schwärmte Paige und ließ ihren
Blick durch die Bibliothek mit den vielen ledergebundenen
Büchern schweifen. Micah trat zu ihr.
»Du auch, aber das hörst du bestimmt auch nicht zum ersten
Mal«, entgegnete er. Paiges Herz setzte einen Schlag aus, und
sie drehte sich heftig errötend zu ihm um. Er sah sie ganz ehrlich
an, und sie musste seinem Blick ausweichen. Micah strich ihr
mit dem Finger über die Wange, und ihr Herz schlug nur noch
schneller.
»Es bedeutet mir sehr viel, dass dir dieses Haus ebenso gut
gefällt wie mir«, fuhr er leise fort. »Aber ich wusste es. Du hast
dich gleich auf den ersten Blick in es verliebt.«
Ein warmer Schauer jagte über Paiges Haut, als Micah sie an
der Taille fasste. Verträumt sah sie zu ihm auf. »Man muss es
einfach lieben«, sagte sie. »Es ist... umwerfend.«
Sie sahen sich in die Augen, und Paige überkam das gleiche
Schwindelgefühl wie am Abend zuvor im Restaurant, aber es
war okay. Allmählich begann sie es zu genießen dieses Gefühl,
sich in Micahs Augen zu verlieren.
»Das Beste hast du noch gar nicht gesehen«, sagte Micah mit
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rauer Stimme.
»Das Beste?«, wiederholte Paige benommen, denn sie war in
diesem Augenblick nicht fähig, einen klaren Gedanken zu
fassen.
»Den Garten«, erklärte Micah, und seine Augen leuchteten
vor Begeisterung. »Du musst dir unbedingt den Garten
ansehen.«
Er rückte wieder von ihr ab, und Paige fühlte sich plötzlich
kalt und wach, als habe ihr jemand ins Gesicht geschlagen. Das
Schwindelgefühl war verflogen, und ihre Sinne schienen wieder
voll zu funktionieren. Sie schüttelte den Kopf, um sich von dem
Schock zu erholen. Micah ging auf eine große Glastür zu, die
hinaus auf eine gepflasterte Terrasse führte. Überwältigt von der
schauerlichen Romantik des Anwesens fühlte sich Paige auf
einmal sehr erschöpft.
»Es ist eigentlich schon ein bisschen spät geworden«, sagte
sie und schaute auf ihre Uhr. »Und ich vermute, der Garten zu
einem solchen Palast ist riesig. Können wir die Besichtigung
vielleicht auf nächstes Mal verschieben?«
Micah blieb mit dem Rücken zu ihr stehen, und Paige biss
sich unsicher auf die Unterlippe. Die Antwort auf diese Frage
erschien ihr einfach. Warum brauchte er dafür so viel Zeit?
»Micah?«, drängte sie.
Schließlich drehte er sich um, und ein Lächeln glitt über seine
ebenmäßigen Züge. »Ich habe mir das Beste bis zum Schluss
aufgespart«, sagte er und streckte ihr seine Hand entgegen. »Wir
müssen ja nicht das ganze Gelände abwandern. Ich möchte nur,
dass du es siehst. Für mich ist es der schönste Teil des
Anwesens.«
Paige blickte auf seine ausgestreckte Hand und seufzte. »Nun,
wenn es für dich der schönste Teil ist«, sagte sie grinsend und
verdrängte ihre Müdigkeit.
Als sie nach seiner Hand griff, schlang er seine Finger fest um
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die ihren und griff mit der freien Hand nach dem Messingknauf
der Gartentür.
In diesem Augenblick klingelte Paiges Handy.
»Verdammt! Tut mir Leid«, sagte Paige und löste ihre Hand
aus Micahs Umklammerung. Sie öffnete ihr Abendtäschchen
und zog das kleine Gerät heraus. Auf dem Display stand
ZUHAUSE.
»Meine Schwester«, sagte sie zu Micah, der die Hände in die
Hosentaschen schob. »Dauert nur eine Sekunde.«
Paige drückte auf die Gesprächstaste und hielt sich das Handy
ans Ohr. »Ich habe eine Verabredung, schon vergessen?«,
knurrte sie mit zusammengebissenen Zähnen und wendete sich
von Micah ab.
»Paige, das ist ein Notfall«, ertönte Pipers Stimme aus dem
Handy. »Du musst nach Hause kommen. Sofort!«
Paige blieb vor Angst fast das Herz stehen. Piper klang
ungewöhnlich besorgt. Was war geschehen? War Cole von den
Kopfgeldjägern des Rats des Bösen gefangen genommen
worden? War Phoebe etwas zugestoßen? Paige hätte gern
gefragt, aber natürlich durfte sie vor einem Zivilisten wie Micah
nicht von den Angelegenheiten der Zauberhaften sprechen.
Selbst wenn er schon einmal einen Dämon gesehen hatte, war
das, womit Paige und ihre Schwestern im Allgemeinen zu tun
hatten, mehr, als der Durchschnittsmensch verkraften konnte.
»Ich komme sofort«, sagte Paige. Sie drehte sich um und sah
Micah entschuldigend an. »Es tut mir sehr Leid«, sagte sie und
steckte ihr Handy in die Tasche. »Ein Notfall zu Hause. Ich
muss weg.«
»Bist du sicher?«, fragte Micah.
»Glaub mir, ich würde nicht gehen, wenn es nicht sein
müsste«, antwortete Paige ehrlich. Sie trat einen Schritt näher an
Micah heran und legte die Hand an das Revers seiner
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Smokingjacke. »Das macht dir doch nichts aus, oder?«
»Nein«, entgegnete Micah mit einem unüberzeugenden,
knappen Lächeln. »Aber wenn es dir nichts ausmacht, wird
Charles dich fahren.« Er griff über ihre Schulter hinweg zu dem
Telefon, das auf einem kleinen Wandtisch stand. »Charles?«,
fragte Paige verwirrt.
»Mein Fahrer«, antwortete Micah knapp. »Charles, bitte
fahren Sie Miss Matthews sofort nach Hause. Sie hat einen
Notfall in der Familie.«
Er legte auf und schob die Hände wieder in die Hosentaschen.
»Wow! Ist Charles sieben Tage die Woche rund um die Uhr
auf Abruf? Wer bist du? Batman?«, fragte Paige und versuchte,
die Stimmung aufzuheitern.
»Er gehört praktisch zur Familie«, entgegnete Micah gepresst.
Er ging an ihr vorbei zu dem Schreibtisch auf der anderen Seite
des Raumes und blätterte in einem Aktenstapel. »Ich würde dich
ja selbst nach Hause fahren, aber wenn wir den Abend schon
vorzeitig beenden, arbeite ich lieber noch ein wenig.«
Paige schluckte, trat neben Micah und neigte den Kopf, um
ihm in die Augen zu sehen. »Es tut mir wirklich sehr Leid«,
sagte sie zögernd. »Ich würde gern ein andermal
wiederkommen, wenn ich darf.«
Micah atmete hörbar aus und sah sie endlich an. »Tut mir
Leid«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich benehme mich wie
ein Baby. Das tue ich wohl immer, wenn ich nicht bekomme,
was ich will«, fügte er hinzu und grinste verlegen.
Paige lächelte. Sie ging auf die Zehenspitzen und küsste ihn
auf den Mund. Es wurde ein sehr langer Kuss, und als sie sich
von Micah löste, hielt er seine Augen noch einen Augenblick
geschlossen.
»Nächstes Mal«, sagte sie. »Versprochen!«
In der Einfahrt ertönte eine Autohupe, und Paige ging zur Tür.
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Als Micah sie für sie öffnete und sie hinaus in die Nacht trat,
kam sie sich vor wie Aschenputtel, das seinen Prinzen stehen
lässt - als erwache sie aus einem perfekten Traum.
Sie setzte sich in den Wagen und warf Micah eine Kusshand
zu. Als er ihr zuwinkte, spielte ein trauriges Lächeln um seine
Mundwinkel. Aber da fuhr Charles auch schon los, und bevor
Paige sich versah, ging es auch schon den Berg hinunter.
»Es wäre besser für meine lieben Schwestern«, flüsterte
Paige, »wenn es sich bei dem Notfall um eine ausgewachsene
Katastrophe handelt.«
»Wo bleibt sie nur?«, zischte Piper und schritt vor dem
Fenster auf dem Speicher auf und ab.
Seit Phoebe sie nach Hause gerufen und ihr gezeigt hatte, auf
was sie im Buch der Schatten gestoßen war, befand sich Piper in
höchster Unruhe. Sie konnte die Vorstellung nicht aushalten,
dass Paige irgendwo da draußen ganz allein war und sie keine
Möglichkeit hatten, sie zu schützen.
»Sie wird schon kommen«, sagte Phoebe von ihrem Posten
auf dem Fensterbrett aus. Sie hatte das Buch der Schatten
aufgeschlagen auf dem Schoß, um Paige sofort zeigen zu
können, was sie gefunden hatte. Ihre Hände lagen gefaltet auf
der entsprechenden Seite. Und obwohl sie gerade noch so
beruhigend auf Piper eingeredet hatte, schien ihr ganzer Körper
unter Hochspannung zu stehen.
»Da! Scheinwerfer!«, rief Piper, als zwei weiße Lichtstrahlen
durch den Raum blitzten. Sie eilte zurück ans Fenster und sah
eine Limousine vor dem Haus anhalten. Als sie dann auch noch
sah, wie Paige herauskletterte, fiel ihr ein riesiger Stein vom
Herzen. »Da ist sie!«, verkündete sie.
Phoebe legte das Buch auf dem Fensterbrett ab und erhob
sich.
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»Hallo!«, kam Paiges Stimme von unten. »Wo seid ihr?«
Sie polterte die Treppe hinauf und fegte in ihrem bodenlangen
Kleid in den Raum, die Augen vor Sorge weit aufgerissen. »Was
ist los?«, fragte sie. »Alles in Ordnung mit euch?«
Phoebe konnte sich nicht beherrschen und schloss Paige fest
in die Arme. Über ihre Schulter hinweg warf Paige Piper einen
fragenden Blick zu.
»Okay, wo ist das Problem?«, fragte sie, als Phoebe sie
endlich wieder losließ.
»Ich bin nur so froh, dass dir nichts fehlt«, sagte Phoebe und
lächelte erleichtert. Dann verschränkte sie die Arme vor der
Brust.
»Du bist froh, dass mir nichts fehlt?«, wunderte sich Paige
und runzelte die Stirn, als sie ihr Tuch und die kleine Tasche auf
der Couch ablegte. »Ich dachte, es gäbe hier zu Hause einen
Notfall.«
»Gibt es auch... sozusagen«, sagte Piper und biss sich auf die
Unterlippe.
Ein Schatten huschte über Paiges Gesicht, als sie von einer
Schwester zur anderen sah. »Ich habe gerade das bezauberndste
Date meines Lebens abgebrochen, um hierher zu kommen. Eine
von euch macht jetzt besser ganz schnell den Mund auf!«
Piper faltete die Hände und kam auf Paige zu. Sie biss die
Zähne fest aufeinander, während sie überlegte, wie sie
ausdrücken sollte, was sie zu sagen hatte. Es war - wieder
einmal - eine heikle Situation, die sie sich liebend gern erspart
hätte. Paige stand einfach nur da, stemmte eine Hand in die
Hüfte und wartete ungeduldig auf eine Erklärung.
»Vielleicht setzt du dich erst mal hin«, schlug Piper vor.
Paige stöhnte und verdrehte die Augen, bevor sie sich auf die
Couch fallen ließ. »Okay, raus damit!«, forderte sie.
»Phoebe hat noch einmal im Buch der Schatten nach
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Informationen über Aplacum gesucht und ist auf etwas... sehr
Ungutes gestoßen«, sagte Piper und sah Phoebe an.
Paige hob den Kopf und schaute Piper erwartungsvoll an.
»Und das wäre?«
Piper ließ sich auf die Kante ihres Lieblingssessels sinken. Sie
fühlte sich plötzlich sehr müde. Paige so herausgeputzt zu sehen,
so strahlend, genau wie in einem Liebesfilm, machte es ihr noch
schwerer, mit der Wahrheit herauszurücken. Ihre Schwester
glaubte, den Mann ihrer Träume gefunden zu haben, und nun
mussten sie und Phoebe ihr sämtliche Illusionen zerstören. Piper
konnte es nicht fassen.
»Ähm... Phoebe? Vielleicht solltest du es ihr erklären«,
meinte Piper, denn schließlich hatte Phoebe einige Erfahrung im
Umgang mit diesem Thema. Sie hatte so etwas selbst schon
einmal erlebt.
»Also, Aplacum ist der Erzfeind eines Dämons, der Vandalus
heißt«, erklärte Phoebe und ging ans Fenster, um das Buch der
Schatten zu holen. »Und Vandalus ist extrem gefährlich. Er ist
beinahe das schlimmste Übel der Unterwelt - fähig zur
Massenvernichtung.«
Phoebe machte eine Pause, damit Paige diese Information
verdauen konnte, aber Paige erfasste den Ernst der Lage
natürlich nicht. »Und?«, drängte sie.
»Und er wurde vor über tausend Jahren in menschlicher
Gestalt auf die Erde verbannt, weil er zu mächtig war, um
vernichtet zu werden«, fügte Piper hinzu.
»Im Buch der Schatten gibt es keine Abbildung von Vandalus
in seiner menschlichen Gestalt«, sagte Phoebe und holte tief
Luft. Mit der Bitte um moralische Unterstützung sah sie Piper an
und reichte Paige das Buch, die es sich auf den Schoß legte.
»Aber die Beschreibung klingt verdammt nach Micah«, fügte
Phoebe hinzu.
Einige Augenblicke herrschte vollkommenes Schweigen, und
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nur die Atemgeräusche der drei Schwestern waren zu hören.
Piper beobachtete teilnahmsvoll, wie Paige diese Information
allmählich verarbeitete. Zunächst sah sie ihre Schwestern
verständnislos an, aber dann zeichneten sich auf ihrem Gesicht
Verwirrung und Schock ab. Sie sank in einer Haltung auf die
Couch, die in ihrem eleganten Kleid ganz unpassend wirkte, und
das Buch der Schatten rutschte ihr vom Schoß.
»Das kann ich nicht glauben«, hauchte sie tonlos.
»Ich weiß, Süße, das will einem nicht in den Kopf«, sagte
Phoebe. Sie hockte sich vor die Couch und tätschelte Paige
tröstend den Arm. »Aber das kommt alles wieder in Ordnung.
Wir sind für dich da. Ich bin sicher, wir finden einen Weg, ihn
zu vernichten.«
Ungläubig riss Paige den Mund auf. »Ihn vernichten? Willst
du mir im Ernst erzählen, dass ihr vorhabt, meinen Freund zu
vernichten?«
Piper rutschte das Herz in die Hose, und Phoebe sah sie
schockiert an. »Paige, du kannst nicht mit ihm
zusammenbleiben!«, sagte Piper aufgebracht. »Er ist eine große
Gefahr.«
»Ja, natürlich«, entgegnete Paige spöttisch und setzte sich
gerade hin. »Die Beschreibung der menschlichen Gestalt dieses
Vandalus klingt verdammt nach Micah«, wiederholte sie
sarkastisch und riss das Buch an sich. »Was steht da? Groß,
dunkelhaarig und gut aussehend? Auf wie viele Männer trifft
diese Beschreibung wohl zu?«
Phoebe nahm Paige das Buch ab und stand auf. »Als Mensch
ist Vandalus von großer Statur, hat dunkles Haar und strahlende
blaue Augen. Ihre Farbe ist beinahe unnatürlich«, las Phoebe vor
und schritt durch den Raum.
»Seht ihr! Das passt auf jeden!«, protestierte Paige
aufgebracht.
»Aber das ist noch gar nicht der Punkt«, sagte Phoebe. »Hier
-73-
steht auch, dass Vandalus Kinder hypnotisiert und sie ausbildet,
um eine eigene Armee aufzubauen.«
Piper sah Paige erwartungsvoll an, aber ihre Schwester
schüttelte nur den Kopf und schnaubte: »Ja und?«
»Micah hat doch viel mit Kindern zu tun. Er sorgt dafür, dass
sie ihm vertrauen und ihn mögen. Er macht sie von ihm
abhängig. So könnte er tatsächlich seine eigene Armee
zusammenstellen.«
»Okay, ihr beiden habt ganz offensichtlich zu tief in die
falsche Schublade des Zauberschranks geguckt«, sagte Paige.
»Ich finde einen Mann, der sich ganz der karitativen Arbeit
verschrieben hat, und ihr wollt mir weismachen, er stelle eine
Armee von Kindern zusammen, um seine bösen Pläne zu
verwirklichen.«
»Jaha!«, riefen Piper und Phoebe einstimmig.
»Paige, du musst zugeben, die Geschichte hat Hand und Fuß«,
sagte Piper. In ihr stieg die nackte Verzweiflung auf. »Denk
doch mal nach! Wenn Aplacum und Vandalus Erzfeinde sind,
dann war Aplacum wahrscheinlich hier, um Micah zu töten und
nicht Regina.«
Paige blinzelte, und einen Augenblick lang dachte Piper, sie
hätte sie mit diesem Argument überzeugt, aber das Schweigen
ihrer Schwester währte nicht lang.
»Und warum hat Phoebe dann in ihrer Vision gesehen, wie
Aplacum Regina tötet?«, gab Paige zurück, verschränkte die
Arme vor der Brust und warf ihren Schwestern einen
triumphierenden Blick zu. »In der Regel haben die Zauberhaften
ja wohl keine Visionen, mit denen sie beauftragt werden, die
Tötung eines Dämons durch einen anderen zu verhindern,
oder?«
»Ähm, nein«, sagte Phoebe stirnrunzelnd und drückte das
Buch der Schatten an ihre Brust.
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»Also... offenbar war Regina nur ein Opfer von Aplacum auf
seinem Weg zu Micah«, erklärte Piper und hob stolz und ein
wenig überrascht das Kinn, weil ihr aus dem Stand so eine gute
Antwort eingefallen war. »Phoebe muss die Vision bekommen
haben, damit wir die Unschuldige retten und sie nicht ins
Kreuzfeuer der Dämonen gerät.«
»Okay, das reicht mir jetzt«, fuhr Paige auf, schlug mit den
Händen auf die Couchkissen links und rechts neben ihr und
erhob sich. »Ich meine, einen kleinen Dämpfer von Zeit zu Zeit
kann ich ganz gut ertragen, aber diesmal geht ihr beiden
eindeutig zu weit.«
»Was meinst du mit ›einen kleinen Dämpfer‹?«, wollte Piper
wissen.
»Ich meine, ihr beiden wollt offenbar gar nicht, dass ich
glücklich bin!«, verkündete Paige aufgebracht. Sie schnappte
sich ihr Täschchen und wühlte vor Wut zitternd darin herum.
Plötzlich rutschte es ihr aus der Hand und fiel zu Boden, und
Make-up, Handy und Schlüssel flogen durch den Raum. Paige
stöhnte und ging auf die Knie, um ihre Sachen wieder
einzusammeln. Als sie alles in die Tasche gestopft hatte, stand
sie auf und warf ihr Haar in den Nacken. Den Schlüssel hielt sie
in der Hand. »Ich weiß auch nicht, vielleicht seid ihr ja
neidisch!«
»Neidisch?«, fuhr Piper auf. Das war zu viel! Wie konnte
Paige nur glauben, sie hätten etwas anderes im Sinn, als sie zu
beschützen?
»Ja, genau! Ihr seid neidisch, weil ich einen netten,
erfolgreichen Typen menschlicher Abstammung gefunden
habe«, entgegnete Paige.
Piper blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg. Wie
konnte Paige nur so etwas sagen! Sie selbst würde Leo nicht
gegen alle Männer auf der ganzen Welt eintauschen, und
bestimmt fühlte Phoebe für Cole genauso. Abgesehen davon
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hatte sie angenommen, Paige habe Leo und Cole gern. Wie kam
sie nur dazu, sie alle derart zu beleidigen?
»Ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Du musst uns
glauben, es ist die Wahrheit«, sagte Phoebe mit zitteriger
Stimme. Paiges Anschuldigung hatte sie genauso getroffen wie
Piper. »Wir sind deine Schwestern, wir machen uns Sorgen um
dich, und wir sagen die Wahrheit.«
»Ist mir ganz egal«, entgegnete Paige kopfschüttelnd.
»Ich bin weg.« Sie drehte sich um, nahm ihr Tuch von der
Couch und stürmte vom Dachboden.
»Wo willst du hin?«, rief Piper ihr hinterher und lief ihr mit
Phoebe zur Treppe nach.
»Das geht euch gar nichts an!«, erwiderte Paige trotzig.
Einige Augenblicke später fiel die Eingangstür ins Schloss, und
dann hörte man, wie vor dem Haus der Motor von Paiges Auto
ansprang.
Piper atmete tief durch, um ihre strapazierten Nerven zu
beruhigen, und presste die Hände gegen die Schläfen. Sie konnte
nicht verstehen, warum das Gespräch derart schief gelaufen war.
Kopfschüttelnd kehrte sie auf den Dachboden zurück. »Das ist
nicht einfach so passiert«, sagte sie.
»Was machen wir denn jetzt?«, fragte Phoebe schrill und
legte das Buch der Schatten wieder auf das Pult vor dem
Fenster. »Wo fährt sie denn jetzt hin?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Piper matt und sank auf die Couch.
Sie sah zur Tür und wünschte, sie hätten irgendwie versucht,
Paige zurückzuhalten. »Ich hoffe nur, sie tut nichts Dummes.«
Leider aber wusste Piper nur zu gut, dass Paige in ihrem
augenblicklichen Zustand die besten Aussichten hatte, kopfüber
in irgendwelchen Schwierigkeiten zu landen.
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7
PAIGE spürte, wie ihr Puls raste, als sie ihren Wagen über
die dunkle, kurvenreiche Straße steuerte, die zu Micahs
Anwesen führte. Sie war ziemlich wütend auf ihre Schwestern,
die sie wie ein Kleinkind behandelt hatten und ihr ausgerechnet
den einen Mann wegnehmen wollten, der ihr seit Ewigkeiten
einmal gefiel. Gleichzeitig beschlich sie ein banges Gefühl. Wie
würde Micah sie empfangen, wenn sie nun - eine Stunde,
nachdem sie ihn verlassen hatte - wieder an seine Tür klopfte?
Sie hielt das Steuer fest umklammert und schaute sich
aufmerksam die Gebäude links und rechts der Straße an, um zu
prüfen, ob sie auf dem richtigen Weg war. Da sie erst einmal bei
Micah gewesen war und sich die Strecke nicht gemerkt hatte,
konnte sie nur beten, dass sie sich nicht verfuhr. Das wäre
wirklich das Letzte, was ihr nach allem, was an diesem Abend
geschehen war, noch fehlte.
»Danke!«, sagte Paige laut, als sie einen auffälligen
Briefkasten an der Straße wiedererkannte.
Sie war auf der richtigen Straße, und so beruhigten sich ihre
Nerven ein wenig. Ihr tuckerndes Auto musste die letzten
Kraftreserven mobilisieren, denn der Berg wurde immer steiler
und Paige trat das Gaspedal bis zum Boden durch, um es bis zu
dem Tor vor Micahs Haus zu schaffen, ohne dass ihr die alte
Kiste ausging. Sie hielt den Wagen gleich neben der Tafel an, in
die Micah zuvor seine Chipkarte gesteckt hatte, um das Tor zu
öffnen. »Und was jetzt?«, flüsterte sie und sah zu dem wenig
einladend wirkenden Tor auf.
Sie blickte prüfend auf die in die Wand eingelassene
Metallplatte und bemerkte einen kleinen Knopf gleich neben
dem Schlitz für die Karte. Es war einen Versuch wert. Vielleicht
war in das Gerät auch eine Sprechanlage integriert, und Micah
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konnte ihr von drinnen mit dem Summer aufmachen. Paige
kurbelte das Fenster herunter, drückte auf den Knopf und
wartete. Und wartete. »Komm schon!«, murmelte sie, denn sie
begann in der sich rasch abkühlenden Nachtluft zu frieren.
Plötzlich ertönte ein leises Piepen und das Tor öffnete sich
quietschend. Paige klopfte das Herz bis zum Hals. Einen
Augenblick lang verharrte sie reglos auf der Stelle. Das war
doch merkwürdig! Wenn es auf dem Anwesen so viele
Sicherheitsvorkehrungen gab, würde Micah wohl kaum einfach
so das Tor öffnen, wenn jemand klingelte. Aber draußen stehen
bleiben wollte Paige natürlich nicht. Sie legte den Gang ein, trat
aufs Gaspedal und hoffte, ihr Wagen schaffte es noch die kleine
Anhöhe hinauf bis zum Eingang von Micahs Haus.
Kurze Zeit später hielt sie auch schon vor der Treppe und
atmete tief durch. »Hoffentlich ist er nicht mehr sauer«, sagte sie
leise.
Sie kletterte aus dem Auto, steckte den Schlüssel in die
Tasche und blickte zu dem Haus auf. Micah stand bereits in der
offenen Eingangstür.
»Du bist zurückgekommen«, sagte er grinsend. Er hatte sich
noch nicht umgezogen und trug immer noch seinen Anzug.
Niemals in ihrem ganzen Leben war Paige ein strahlenderer
Empfang bereitet worden.
»Da bin ich«, entgegnete sie mit einem kleinen Lächeln.
»Falscher Alarm! Es war nur ein eingebildeter Notfall.« Sie
umrundete ihren Wagen und kam die Stufen zur Tür hoch. »Tut
mir Leid, dass ich vorhin weggelaufen bin«, entschuldigte sie
sich noch einmal und lächelte ihn an. »Es wird nicht wieder
vorkommen.«
»Oh, ganz deiner Meinung«, sagte Micah mit einem
anzüglichen Lächeln.
Er legte ihr einen Arm um die Schultern, und Paige genoss die
Wärme, die er ihr mit dieser Geste spendete. Gemeinsam gingen
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sie ins Haus. Micah blieb stehen, machte die Tür zu und schloss
ab.
»Woher wusstest du, dass ich es bin?«, fragte Paige, als sie
durch die Empfangshalle gingen.
»Am Tor, meinst du?«, fragte Micah zurück.
»Überwachungskameras.«
»Wow. Du bist wirklich Batman!«, scherzte Paige.
Micah grinste und drückte sie an sich. »So was Ähnliches.«
»Und... wie war das mit der Gartenbesichtigung?«, fragte
Paige und sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an, als sie in die
Bibliothek kamen.
Micahs Gesicht leuchtete bei dem Vorschlag auf, und seine
blauen Augen funkelten. »Wie schön! Du hast es nicht
vergessen«, sagte er. Er ging rasch zur Garderobe und holte
einen langen schwarzen Mantel, den er Paige über die Schultern
legte. Dann nahm er sie an die Hand.
»Danke«, sagte Paige. Sie war ganz gerührt von seinen
Gentleman-Manieren.
Dabei ist er doch ein Dämon..., dachte sie sarkastisch und zog
den warmen Mantel fester um sich, als Micah die Hintertür
öffnete. Wenn Piper und Phoebe sehen könnten, wie
zuvorkommend Micah sie behandelte! Paige sah zu ihm auf und
betrat lächelnd die Terrasse, über die man in den Garten
gelangte. Es gibt wirklich keinen Grund zur Beunruhigung,
dachte sie. Nicht den geringsten.
Micah schloss die Tür hinter ihnen, und Paige überquerte die
beleuchtete Terrasse. Als Micah ihr nicht gleich folgte, wie sie
angenommen hatte, drehte sie sich zu ihm um. Er stand immer
noch mit der Hand an dem Messingtürknauf da, hatte die Augen
geschlossen und den Kopf gesenkt. »Ist alles in Ordnung?«,
fragte sie besorgt. Vielleicht war ihm schlecht geworden?
Aber Micah hob den Kopf, öffnete die Augen und lächelte.
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»Ja, alles in Ordnung«, sagte er und schüttelte ab, was immer
gewesen sein mochte. Er kam zu Paige herüber und nahm ihre
Hand. »Ich kann es gar nicht erwarten, dich herumzuführen.«
Paige lächelte, als sie die Terrasse verließen und die
Rasenfläche überquerten, die von perfekt getrimmten Hecken
umgeben war. In der Mitte eines kleinen quadratischen Platzes
stand ein plätschernder Brunnen. Auch hier erhellten kleine
Gartenleuchten den Weg. Paige warf im Vorbeigehen einen
Blick in das klare Wasser. Der Boden des Brunnens war mit
kleinen wasserblauen Fliesen ausgelegt, jede mit einem
goldenen Kreis in der Mitte. Durch die sich kräuselnde
Wasseroberfläche schienen Farben und Formen in einem fast
hypnotisierenden Tanz zu schaukeln und zu wechseln. Micah
zog Paige an der Hand und sie folgte ihm ans andere Ende der
Rasenfläche und durch eine Lücke in der Hecke auf die andere
Seite.
In stummer Bewunderung klappte Paige der Mund auf, als sie
den nächsten Garten betraten. Man hatte fast den Eindruck, von
Zimmer zu Zimmer zu gehen wie in einem Haus. Auch dieser
Teil des Gartens war von einer Hecke eingegrenzt, jedoch viel
größer als der vorige. Hier standen einige Steinbänke und üppig
blühende Büsche, wie Paige sie noch nie gesehen hatte.
»Was ist das?«, fragte Paige und umfasste sacht eine dicke
rote Blüte.
»Das ist eine Rose«, antwortete Micah.
»Nein, kann nicht sein!«, rief Paige. Sie beugte sich vor, um
an der Blüte zu schnuppern - und in der Tat: Sie duftete wie eine
Rose. »Ich wusste gar nicht, dass sie so groß werden können«,
staunte sie.
»Mein Gärtner ist ein Zuchtexperte«, erklärte Micah, als sie
durch den Garten schlenderten und die anderen Blumen
bewunderten. »Diese Sorten hat er selbst gezüchtet. Er hat schon
die erstaunlichsten Dinge hervorgebracht.«
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»Einfach unglaublich«, sagte Paige. Nicht zu fassen!
Zusätzlich zu allen anderen bewundernswerten Eigenschaften
war Micah auch noch ein Blumenexperte. Er könnte sie für den
Rest ihres Lebens mit Blumensträußen verwöhnen!
Micah führte sie an der Hecke entlang zum Ende des Gartens
und Paige entdeckte überrascht eine kleine Steinhütte, die
überwuchert mit blühenden Ranken ganz in der Ecke stand.
»Was ist das?«, fragte sie.
»Eigentlich ein Geräteschuppen«, sagte Micah. »Aber es gibt
auch ein kleines Bad, damit die Gäste nicht immer den ganzen
Weg zurück ins Haus laufen müssen.«
»Wie aufmerksam!«, bemerkte Paige lächelnd.
Durch eine Lücke in der Hecke gelangten sie in den letzten
Garten, der von der Bruchsteinmauer eingefasst wurde, die das
gesamte Anwesen umgab. Er war riesig. Links von Paige
wuchsen entlang der Mauer große Bäume, deren verwachsene
Wurzeln sich unter den Mauersteinen hindurch ihren Weg auf
die andere Seite suchten. Am anderen Ende des Gartens war ein
kleiner Tümpel mit einem Wasserfall. Auf der gepflasterten
Terrasse davor standen zwei bequeme Liegen, ein Glastisch mit
Sonnenschirm und vier Polsterstühle.
»Ich vermute, hier holst du dir deine perfekte Bräune«,
bemerkte Paige.
»Ich habe nicht viel Freizeit, aber wenn, dann findet man
mich hier«, entgegnete Micah.
»Meiner Meinung nach sollte sich jemand wie du mehr Zeit
für sich nehmen«, sagte Paige, als sie sich auf den Rückweg
machten.
»Findest du? Wozu?«, fragte Micah.
»Zum Entspannen«, antwortete Paige. Unterdessen waren sie
wieder im Blumengarten angekommen, und sie setzte sich auf
eine der Steinbänke. Sie zog die Schultern hoch und blinzelte
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ihm zu. »Um dir selbst auf die Schulter zu klopfen für deine
vielen Wohltaten.«
Lachend setzte sich Micah neben sie und strich ihr zärtlich
eine Haarsträhne aus der Stirn. Bei der Berührung fing Paiges
Haut an zu kribbeln und ihr Herz klopfte plötzlich sehr laut. Für
einen Augenblick schien es alle anderen Geräusche zu
übertönen.
»Vielleicht auch, um... so viel Zeit wie möglich mit deiner
neuen Freundin zu verbringen?«, schlug sie hoffnungsvoll vor.
Micah beugte sich zu ihr, und ihr Puls raste wie wild, als er
über ihre Schulter hinweg eine rote Rose von dem Busch
pflückte, der gleich neben der Bank wuchs. Er überreichte sie
Paige, und sie hob die schöne Blüte langsam an ihre Nase und
sah Micah dabei die ganze Zeit an.
»Das ist der erste vernünftige Grund, den ich höre«, sagte er
mit tiefer Stimme.
Zitternd ließ Paige die Rose sinken. Micah legte ihr die Hand
in den Nacken und beugte sich über sie. Paige schloss der
Ohnmacht nahe die Augen, bevor sich ihrer beider Lippen zu
einem Kuss vereinigten, wie Paige noch nie einen bekommen
hatte. Er fuhr ihr bis in die Fingerspitzen und die Zehen, sie
spürte ihn in den Ohren, im Kopf, im Herzen. Sie hatte den
Eindruck, Micah umfinge sie mit der ganzen Wärme seiner
Gefühle. Fest hielt er sie in seinen Armen, und als er sie
schließlich wieder losließ, schwebte sie irgendwo in der Nähe
des Mondes.
»Und? Was meinst du?«, fragte Micah und sah sie an.
»Wozu?«, fragte Paige benommen zurück. Sie fühlte sich, als
wäre sie betrunken. Nur mit Mühe gelang es ihr, die Augen zu
öffnen, und ihr Blick war verschwommen.
»Zu dem Garten«, erklärte Micah und strich ihr mit den
Fingerspitzen über die Wange.
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»Ich finde, er ist unglaublich«, entgegnete Paige und blinzelte
einige Male, um sich aus ihrer Trance zu befreien. »Ich glaube,
ich muss im Lotto gewinnen, damit ich mir auch so etwas leisten
kann«, fügte sie hinzu.
»Tut mir Leid«, entgegnete Micah. »So etwas gibt es nicht
noch mal. Aber du wirst alle Zeit der Welt haben, diesen hier zu
genießen.«
»Wirklich? Bedeutet das, du willst mich öfter sehen?«, fragte
Paige schüchtern und lächelte ihn an.
»Viel öfter«, antwortete er und sah sie aus seinen blauen
Augen durchdringend an.
Er beugte sich wieder zu ihr vor und gab ihr einen festen,
langen Kuss auf die Stirn. Dann rückte er von ihr ab und lächelte
sie fast traurig an. In diesem Augenblick wurde Paige plötzlich
klar, wie vielschichtig Micah Grant sein musste. Wie jeder
andere auch hatte er seine Geheimnisse, und es war ihr ein
Bedürfnis, alles über ihn zu erfahren.
Er hatte schon so viel Trauriges gesehen. Und er war so ein
liebenswürdiger, großzügiger Mensch. Wie konnten Piper und
Phoebe ihn nur für böse halten?
Micah stemmte die Hände auf die Oberschenkel, um sich von
der Bank zu erheben. Paige stand ebenfalls auf, um ihm zu
folgen. So bezaubert sie auch von dem Garten und von Micah
selbst war, sehnte sie sich doch nach der Wärme des Hauses.
Aber sie hatte erst einen Schritt gemacht, als Micah sich zu ihr
umdrehte und die Hand ausstreckte. »Du musst bleiben«, sagte
er bestimmt.
»Wie meinst du das?«, fragte Paige verwirrt. Wollte er etwas
holen und wieder nach draußen kommen?
»Du musst bleiben«, wiederholte er, als wäre es der normalste
Satz auf der Welt. »Dies ist dein neues Zuhause.«
Er drehte sich um und ging durch den Durchlass in der Hecke
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in den ersten Garten. Paige blieb verblüfft und wie angewurzelt
stehen. Eine Kältewelle, die nicht von der Kühle der Nacht
herrührte, flutete über sie hinweg. Wovon zum Teufel redete er?
Schließlich gelang es Paige, ihre Beine in Bewegung zu
setzen, und sie eilte mit zitternden Knien hinter Micah her. Als
sie durch die Hecke kam, war er bereits auf der Terrasse.
»Micah! Was soll das heißen, das ist mein neues Zuhause?«,
rief sie irritiert. Auch aus ihrem eigenen Mund kamen ihr diese
Worte reichlich merkwürdig vor.
Micah drehte sich langsam um und sah sie mit geduldiger
Miene an, als rede er mit jemanden, der nur ein halbes Gehirn
hat. »Du wirst hier bleiben und meine Geliebte sein«, sagte er
ganz sachlich. »Du hast gesagt, dir gefällt mein Garten. Also
bleibst du ganz einfach in meinem Garten.«
Plötzlich meldete sich Paiges Instinkt. Weglaufen lautete die
Botschaft. Sie konnte Piper und Phoebe praktisch schreien
hören, sie solle verschwinden, so schnell sie ihre hohen Absätze
tragen konnten. Micah war offenbar nicht ganz dicht.
»Ich fahre jetzt nach Hause«, sagte Paige bestimmt, und ihr
Herz raste wie das eines verängstigten Vogels. Sie hob das
Kinn, versuchte möglichst unerschrocken dreinzublicken und
ging einfach an Micah vorbei. Einen Augenblick lang glaubte
sie, frei zu sein. Sie nahm an, er würde sie einfach gehen lassen,
denn er machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten. Aber
gerade als das Gefühl in Paige aufstieg, einer tödlichen Gefahr
entronnen zu sein, geschah etwas ganz Seltsames, Irritierendes
und Unglaubliches.
Sie lief gegen eine Wand. Eine Wand, die gar nicht da war.
Als sie nach dem Zusammenprall ihr Gleichgewicht
wiederfand, tastete sie vorsichtig ihren Kopf ab und spürte eine
dicke Beule. Verwirrt sah sie sich um. Nein, sie war nicht
verrückt. Da war nichts. Aber sie war eindeutig mit etwas
zusammengestoßen, da war sie sich ganz sicher.
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»Was ist hier los?«, rief sie und wirbelte zu Micah herum.
Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Ich habe es dir doch gesagt«, antwortete er ruhig. »Du
kannst nicht weg.«
Panik machte sich in Paige breit, und sie drehte sich zur
Terrasse um. Aber als sie einen Schritt machte, stieß sie erneut
gegen etwas Festes. Unsichtbar zwar, aber fest. Sie streckte
tastend eine zitternde Hand in die Luft - aber da war keine Luft.
Ihre Fingerkuppen glitten eindeutig über eine Mauer - eine kalte,
raue, völlig undurchdringliche Steinmauer.
»Nein! Das kann doch nicht wahr sein!«, stieß Paige tonlos
hervor. Die Beule an ihrer Stirn begann heftig zu pochen. Ich
muss verschwinden, dachte Paige, bevor ich noch ernsten
Schaden nehme.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und rannte am Haus entlang,
aber die Grenzmauer des Anwesens - die echte, sichtbare - ging
gleich von der Hausecke ab. Sie war mindestens drei Meter
hoch, und es war unmöglich, sie zu überwinden. Verzweifelt
stolperte Paige die Mauer entlang und hielt nach einer Öffnung
Ausschau, aber da war keine. Es gab keinen Ausweg.
Als sie begriff, dass sie wirklich in der Falle saß und dieser
Albtraum ganz real war, drehte sich Paige um und ging langsam
zurück zur Terrasse. Dabei behielt sie Micah die ganze Zeit im
Auge. Er stand einfach nur da, Hände in den Hosentaschen, und
beobachtete sie mit ausdruckslosem Gesicht. Seine gelassene
Miene machte sie wütend.
»Das kannst du mir nicht antun!«, stieß sie hervor und
kämpfte gegen die Tränen. »Du kannst mich nicht hier
behalten.«
»Es ist zu deinem eigenen Wohl«, erwiderte Micah ernst. »Zu
unser beider Wohl.« Er machte einen Schritt auf sie zu, und
Paige zwang sich, stehen zu bleiben und nicht zurückzuweichen.
Er sollte nicht merken, wie sehr sie sich fürchtete, damit er nicht
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noch besser dastand, wenn das überhaupt möglich war. »Es ist
unser Schicksal, zusammenzubleiben, Paige. Schon bald wirst
du mich lieben lernen, wie ich lernte, dich zu lieben.«
Jetzt fühlte sich Paige von seinen Worten richtiggehend
abgestoßen, obwohl sie dieselben Worte noch vor wenigen
Augenblicken in Hochstimmung versetzt hätten. Zum ersten
Mal erkannte sie die Kälte in Micahs blauen Augen. Eine
stählerne Kälte, die sie unter dem dicken Wollmantel erzittern
ließ. »Du bist Vandalus, nicht wahr?«, stieß sie hervor. »Du bist
der Dämon, vor dem mich meine Schwestern gewarnt haben.«
Auf Micahs Gesicht spiegelte sich dieselbe Trauer wie zuvor,
die Paige seiner empfindsamen, gequälten Seele zugeschrieben
hatte. Sie machte sich die größten Vorwürfe. Wie hatte sie nur
so blind sein können! Es war die ganze Zeit sein Ziel gewesen.
Er hatte vorgehabt, sie als Gefangene zu halten. Nun wusste sie,
warum er sie so unbedingt in seinen Garten hatte führen wollen.
»Es verletzt mich, dass du in mir etwas anderes siehst als den
Mann, der dich liebt«, sagte Micah.
Dann wandte er sich abrupt ab und ging mitten durch die
unsichtbare Wand in die Bibliothek. Ohne lange nachzudenken,
stürzte Paige ihm hinterher und warf sich gegen die Stelle, an
der Micah durch die Wand gegangen war. Aber der
Zusammenstoß war so heftig, dass sie zu Boden geworfen
wurde. In ihren Schultern pulsierte der Schmerz. Sie sah, wie
Micah ihre Tasche von dem Tisch in der Bibliothek nahm und
das Handy herausholte.
»Nein«, rief sie und rappelte sich auf. Verzweifelt hämmerte
sie mit den Händen gegen die unsichtbare Wand. »Nein!«, rief
sie erneut.
Ihr Herz raste vor Hilflosigkeit und Panik, als sie beobachtete,
wie Micah das Handy auf den Boden legte und es mit einem
kräftigen Tritt zerstörte. Dabei sah er sie unverwandt an.
»Nein!!!«, schrie Paige und ließ den Tränen freien Lauf. »Tu
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das nicht! Micah! Bitte tu das nicht!«
Aber er drehte sich einfach um und schaltete das Licht aus.
Paige blieb allein und frierend und ohne jede Aussicht auf
Entkommen in Finsternis gehüllt zurück.
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8
AM nächsten morgen wurde Paige vom Gezwitscher der
Vögel und dem sanften, blassrosa Licht der frühmorgendlichen
Sonne geweckt. Sie lag auf einer der Liegen im hinteren Teil des
Gartens. Als sie sich aufrichten wollte, zuckte ein stechender
Schmerz durch ihren Kopf. Vorsichtig betastete sie die Beule
und fuhr zusammen.
»Da ist man ja sofort wach!«, sagte sie tonlos und sah sich
erschöpft um. Ihre Augenlider waren schwer und ganz
aufgequollen von den Tränen, die sie in der Nacht vergossen
hatte, und sie brauchte eine Weile, bis sie scharf sehen konnte.
Aber als sie die Lage erfasste, war ihr klar, dass sich nichts
geändert hatte. Sie war immer noch in Micahs Garten. Sie war
immer noch allein. Und niemand wusste, wo sie sich aufhielt.
Ein Windstoß raschelte in den Blättern der Bäume, und Paige
lief es kalt über den Rücken. Sie zog den Wollmantel, den sie
als Decke benutzt hatte, fest um ihre Schultern und rollte sich
wie ein Fötus zusammen.
»Warum passiert mir das?«, flüsterte sie heiser. In der Nacht
hatte sie noch stundenlang vergeblich um Hilfe gerufen, und nun
war ihre Stimme fast weg. Eine dicke Träne kullerte ihr aus dem
Augenwinkel über die Schläfe und sie spürte, wie neue
Schluchzer in ihrer Brust aufwallten.
Wie konnte ich nur so dumm sein?, dachte sie und immer
mehr Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie hatte sich in einen
Dämon verliebt, in einen definitiv bösen Dämon. Nicht in einen
starken, knuddeligen wie Cole zum Beispiel. Was war sie nur
für ein blindes, dummes kleines Mädchen!
Nein!, rief eine Stimme in ihrem Kopf. Du wirst nicht mehr
weinen. Du bist nicht hilflos. Du bist eine von den
Zauberhaften.
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Paige hob den Kopf wieder, ignorierte diesmal den Schmerz
und zog die Nase hoch. Es war nun taghell, aber immer noch
sehr früh am Morgen. Micah war bestimmt noch nicht auf.
Wenn überhaupt, dann musste sie sofort versuchen zu fliehen.
Sie stand auf, zog den Mantel an und wickelte ihn fest um sich.
»Du glaubst, du kannst mich einsperren?«, murmelte Paige
und sah zu dem Haus auf. »Du weißt ja nicht, mit wem du es zu
tun hast!«
Sie ging zu der hohen Mauer, holte tief Luft und schloss die
Augen. In der Nacht hatte sie bereits versucht, aus dem Garten
zu orben, hatte sich aber nicht einmal innerhalb der Mauer von
einem Ort an den anderen bewegen können. Dieses Versagen
hatte sie ihrer Erschöpfung und ihrem Schock zugeschrieben,
aber nun musste sie es erneut versuchen. Ihre Fähigkeiten waren
noch nicht so weit trainiert, dass sie bis nach Hause orben
konnte, aber sie wusste, über die Steinmauer konnte sie es
schaffen. »Okay, los geht's!«
Paige konzentrierte sich und spürte das brausende, warme,
angenehm prickelnde Gefühl, das so typisch für das Orben war.
Man bekam den Eindruck, plötzlich Teil der Luft, Teil der
Atmosphäre zu sein. Nun musste sie nur noch den Ort
visualisieren, an dem sie wieder auftauchen wollte. Sie stellte
sich die Wiese auf der anderen Seite der Mauer vor. Stellte sich
vor, wie sie darauf zulief.
Es funktioniert!, dachte sie und spürte, wie ihr Körper sich
auflöste und sich in Bewegung setzte.
Aber noch bevor sie sich richtig freuen konnte, wurde sie
plötzlich von zwei steinharten Händen wieder zur Erde
gestoßen. Ihre Füße berührten den Boden, und sie war wieder
zurück. Zurück und immer noch in dem Garten. »Die
unsichtbare Wand ist stärker als meine Zauberkraft«, wisperte
Paige.
Erneut drohte Verzweiflung in ihr aufzusteigen, und sie
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kämpfte dagegen an. Sie war schließlich nicht nur eine der drei
Zauberhaften - sondern auch Paige Matthews, das Mädchen, das
sich als Teenager unzählige Male aus seinem Zimmer
geschlichen und wie ein Profi die Schule geschwänzt hatte.
»Es muss einen Ausweg geben«, dachte Paige laut und sah
sich um. »Etwas, das er nicht bedacht hat.« Wenn es einen
solchen Schwachpunkt gab, wollte sie ihn finden.
»Paige?«, ertönte plötzlich Micahs Stimme. Paige wirbelte
erschreckt herum und sah Micah freundlich lächelnd in den
Garten kommen. Er trug ein großes Tablett mit Essen. »Ich
bringe dir dein Frühstück.«
Paige kniff die Augen zusammen, als er zu ihr trat und das
Tablett auf dem Gartentisch abstellte. Sein Anblick verursachte
ihr einen bitteren Geschmack im Mund. Als er sie ansah, zog sie
seinen Mantel aus und gab sich größte Mühe, nicht zu zittern,
als die kalte Morgenluft auf ihre nackten Arme traf.
»Den will ich nicht«, sagte sie und reichte ihm den Mantel.
»Ich will gar nichts von dir.«
»Das ist aber schade«, entgegnete Micah und legte sich den
Mantel über den Arm. »Ich habe extra für dich ein paar leckere
Sachen in der Küche bestellt.«
Da stieg Paige der Duft von Pfannkuchen, frischem Speck
und Kaffee in die Nase. Ohne dass sie es wollte, wanderte ihr
Blick zu dem Tablett. Sehnsüchtig sah sie sich die Leckereien
an, und ihr knurrte heftig der Magen. Aber sie zwang sich,
wegzusehen und ihren Blick auf Micah zu konzentrieren.
»Vergiss es«, sagte sie giftig. »Ich werde nichts essen, was von
dir kommt.«
Eine Wolke schien über Micahs Gesicht zu ziehen, und sein
Mund wurde zu einer dünnen, energischen Linie. »Wie willst du
denn sonst an Nahrung kommen?«
»Ich esse einfach nicht«, entgegnete Paige und straffte die
Schultern.
-90-
Ihr Magen knurrte hörbar, und Paige spürte wütend, wie sie
rot wurde, als Micah sie angrinste. »Du überraschst mich,
Paige«, sagte er und trat an den Tisch. »Ich hätte dich für
schlauer gehalten.«
»Schlauer als was?«, schoss sie zurück und ging ihm nach.
»Du weißt, es gibt für dich kein Entrinnen«, sagte er und
nahm das Tablett vom Tisch. »Und doch scheinst du
entschlossen, dir das Leben hier so unangenehm wie möglich zu
machen.«
Paige hätte gern geantwortet. Sie zermarterte sich das Hirn
nach einer schlagfertigen, beißenden Bemerkung, aber ihr fiel
nichts ein. In gewisser Weise hatte er Recht. Sie strafte sich nur
selbst, wenn sie den Mantel und das Essen nicht annahm. Aber
die Genugtuung - zu ihrem Wohlergehen beizutragen - wollte
sie Micah nicht geben.
»Ich lasse ein paar warme Kleider für dich da«, sagte er und
zeigte auf eine der Liegen. Ein ganzer Stapel Kleider lag darauf:
eine Jeans, ein mollig warm aussehender Pullover, Socken und
Sneakers.
»Die kannst du auch wieder mitnehmen«, sagte Paige und sah
ihn bestimmt an. »Wie ich schon sagte: Ich will nichts von dir
haben.«
Micah atmete tief ein und ließ die Luft langsam wieder
entweichen. Er schüttelte den Kopf. »Ich tue das nur zu deinem
Besten. Ich liebe dich, Paige«, sagte er und ging mit dem Tablett
voller leckerer Speisen davon. »Ich wünschte, du würdest das
verstehen.«
Er warf einen Blick auf die Kleider, ließ sie aber liegen. Paige
sah ihm wütend nach, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Das Bündel hatte er nur liegengelassen, um sie dazu zu
verführen, seine Hilfe anzunehmen. Ohne lange nachzudenken
nahm sie die Kleider in den Arm und schleuderte das ganze
Paket mit einem wütenden Knurren in den Tümpel. »Ich hasse
-91-
dich!«, schrie sie Micah hinterher, und heiße Tränen strömten
über ihr Gesicht. »Ich hasse dich, weil du mir das antust!«
Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen, und ihr Körper wurde
von Schluchzern geschüttelt.
Vielleicht kommen Piper und Phoebe mich retten, dachte sie
bekümmert. Aber sie wusste, die Chancen standen schlecht. So
wie sie am Vorabend aus dem Haus gestürmt war, dachten ihre
Schwestern vermutlich, sie sei irgendwohin abgehauen, um
Dampf abzulassen und sie dafür zu bestrafen, dass sie ihren
Freund für einen Dämon hielten.
»Warum habe ich nicht auf die beiden gehört?«, flüsterte
Paige unter Tränen. »Kein Wunder, dass sie mich wie ein Baby
behandeln.«
Als Phoebe ihr Auto am Nachmittag in ihre Straße lenkte, war
sie vor Angst kaum in der Lage, sich auf das Fahren zu
konzentrieren, so viele Gedanken gingen ihr gleichzeitig durch
den Kopf.
»Hoffentlich steht ihr Auto da«, murmelte sie. »Bitte, mach,
dass ihr Auto da steht!«
Aber als sie mit quietschenden Bremsen vor dem Haus
anhielt, war Paiges kleines rotes Auto nirgends zu sehen. Phoebe
stellte den Motor ab, schnappte sich ihre Tasche und rannte ins
Haus. Eine furchterregende Fantasie nach der anderen kam ihr
in den Sinn. Paige konnte einen Autounfall gehabt haben, so
wütend wie sie am Vorabend davongebraust war. Vielleicht war
sie auch zu Micah zurückgekehrt, und er hatte längst die
Schlacht eröffnet.
»Vielleicht ist sie auch schon im Büro«, sagte Phoebe zu sich
selbst und gab sich Mühe, besonnen zu bleiben, als sie die
Haustür aufstieß. Vielleicht hatte Paige einfach irgendwo
übernachtet und war morgens direkt zur Arbeit gefahren.
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»Paige?«, rief Piper erwartungsvoll, als Phoebe den Flur
betrat.
Mit dem schnurlosen Telefon in der Hand eilte Piper aus der
Küche und machte ein langes Gesicht, als sie Phoebe erblickte.
»Immer noch nichts von ihr gehört, hm?«, fragte Phoebe und
zog ihre Jacke aus.
»Nein. Und ich habe es schon tausendmal auf ihrem Handy
probiert. Immer geht die Mailbox an«, entgegnete Piper. »Hat
dir das Einkaufen geholfen, dich ein wenig abzulenken?«
»Siehst du irgendwelche Tüten?«, fragte Phoebe und streckte
die Hände aus. In den vergangenen zwei Stunden war sie
lediglich benommen und blind durch ihre Lieblingsläden
gezogen und hatte die Leute mit ihrem zombiemäßigen
Verhalten erschreckt. Sie rieb sich die Stirn, und das nervöse,
ungute Gefühl in ihrem Magen wurde von Sekunde zu Sekunde
stärker. »Hast du es noch mal auf der Arbeit probiert?«
»Ja, auch an ihrem Platz war nur der Anrufbeantworter dran«,
sagte Piper und lehnte sich gegen den Türrahmen zwischen Flur
und Wohnzimmer. »Ich habe die Zentrale angewählt und man
sagte mir, sie könne vormittags auch wegen eines Falles
unterwegs sein. Manchmal macht sie gleich morgens ihre
Außentermine, bevor sie ins Büro kommt.«
»Aber das hältst du wohl nicht für sehr wahrscheinlich,
oder?«, fragte Phoebe, die den skeptischen Unterton in der
Stimme ihrer Schwester bemerkt hatte.
»Ich sage es nicht gern, aber ich bin echt besorgt«, sagte
Piper. »Anscheinend hat seit gestern niemand, der sie kennt, von
ihr gehört.«
Phoebe atmete stockend ein und traute sich beinahe nicht
auszusprechen, was sie dachte. »Und was ist mit Micah?«,
fragte sie schließlich.
»Kaum zu glauben, aber der Typ steht nicht im Telefonbuch«,
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entgegnete Piper mit einem bitteren Lächeln.
Phoebe wurde zusehends unwohler zu Mute. Wenn sie nicht
auf der Stelle etwas unternahm, fuhr sie im wahrsten Sinne des
Wortes aus der Haut. Falls Paige sich bei Micah aufhielt, und
Micah war tatsächlich Vandalus, dann konnte er ihr alles
Mögliche antun. Vielleicht war sie auch schon... »Okay, das
reicht«, platzte Phoebe heraus, stieg die Treppe hoch und
versuchte, sämtliche morbiden Gedanken aus ihrem Kopf zu
verbannen. »Ich werde mehr über diesen Kerl herausfinden.«
»Ich bin dabei«, sagte Piper.
Einige Minuten später saß Phoebe vor ihrem Computer und
sah die lange Liste mit Artikeln durch, die auf dem Bildschirm
erschienen war, nachdem sie Micahs Namen in eine
Suchmaschine eingegeben hatte. Piper schritt mit vor der Brust
verschränkten Armen hinter Phoebes Schreibtischstuhl auf und
ab.
»Dieser Typ ist der reinste Heilige«, sagte Phoebe. Sie war
regelrecht enttäuscht. Wenn wenigstens schon erwiesen wäre,
dass Micah der Feind war, hätten sie immerhin einen Anfang
jemanden, den sie bekämpfen könnten. »Er tut offenbar nur
Gutes: sammelt Geld für karitative Kindereinrichtungen,
eröffnet Waisenhäuser und versucht, auf den Kongress Einfluss
zu nehmen und berühmte Leute zu Spenden zu überreden.«
»Ich verstehe das nicht«, sagte Piper und legte die Hände auf
Phoebes Rückenlehne. »Wo ist das Böse?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Phoebe und ihre Augen irrten
suchend über den Bildschirm. Sie klickte mit der Maus und
scrollte abwärts, vorbei an vielen Artikeln über den edlen
Wohltäter. Plötzlich fiel ihr etwas ins Auge, und ihr Herz setzte
einen Schlag aus. »Sieh dir das mal an!«, sagte sie und klickte
einen der Artikel an. »Junge Frau tot im Büro ihres Freundes
gefunden.«
»Rutsch rüber«, sagte Piper und zwängte sich neben Phoebe
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auf den Stuhl. Phoebe rückte ein Stück zur Seite und stemmte
ein Bein auf den Boden, um nicht das Gleichgewicht zu
verlieren.
Als der Artikel auf dem Bildschirm erschien, machte Phoebe
große Augen. »Der bekannte Wohltäter Micah Grant zeigte sich
schockiert und niedergeschmettert angesichts des gewaltsamen
Todes seiner Freundin Karen Carthage, deren verstümmelte
Leiche Samstag Abend in seinem Stiftungsbüro gefunden
wurde. Carthage ist die dritte Frau, die innerhalb der
vergangenen fünf Jahre ums Leben kam und eine Beziehung zu
Grant hatte, aber wie von den Behörden mitgeteilt wurde, zählt
Grant für sie nicht zu den Tatverdächtigen.«
Phoebe und Piper sahen sich verblüfft an.
»Drei tote Mädchen, und er zählt nicht zu den
Tatverdächtigen?«, sagte Piper mit hochgezogenen
Augenbrauen. »Gibt es da nicht diese unbedeutende juristische
Kleinigkeit, die sich ›begründeter Verdacht‹ nennt?«
»Wie die Polizei vermutet, kamen alle drei Frauen durch den
Angriff eines wilden Tieres ums Leben«, las Phoebe weiter vor.
»Klingt nach unserem guten alten Freund Aplacum«,
bemerkte Piper gepresst.
»Trotz der bizarren, ungeklärten Tatumstände konnten die
Behörden Grant keinen der Todesfälle anhängen, da er keinerlei
Tiere hält und kein Tatmotiv hatte«, beendete Phoebe den
Artikel. Sie warf sich perplex und mehr als beunruhigt gegen die
Stuhllehne. »Wir müssen Paige finden!«
»Nun, es mag vielleicht etwas irre klingen, aber wenigstens
wissen wir jetzt, dass sie nicht getötet wird«, sagte Piper und
stand auf. »Ich meine, nicht auf dieselbe Weise wie die anderen
Mädchen. Wir haben Aplacum vernichtet. Falls nicht irgendein
anderes wildes Tier die drei Mädchen getötet hat, ist Paige
zumindest vor dieser Gefahr sicher.«
»Okay«, sagte Phoebe, die bereit war, sich an jeden positiven
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Gedanken zu klammern. »Aber was ist eigentlich das Problem?
Warum ist Aplacum durch die Gegend gerannt und hat Micahs
Freundinnen zerfetzt?«
Piper öffnete den Mund, um zu antworten, klappte ihn aber
rasch wieder zu. »Das kann ich dir auch nicht sagen.«
»Ich muss darüber nachdenken«, sagte Phoebe, schob ihren
Stuhl vom Schreibtisch weg und fegte an Piper vorbei aus dem
Raum. »Wir müssen etwas übersehen haben. Falls Micah
Vandalus ist, was will er dann mit Paige machen? Und warum
hat Aplacum alle seine Freundinnen getötet?«
Und schon war sie unterwegs zum Dachboden. Als sie die
Treppe hinaufflitzte, nahm sie mit jedem Schritt zwei Stufen auf
einmal. Sie wollte jeden einzelnen Satz, der über Aplacum und
Vandalus im Buch der Schatten stand, noch einmal nachlesen.
Sie fühlte sich verantwortlich für Paige und gab sich die Schuld
an der gefährlichen Situation, in die ihre Schwester
möglicherweise mit Micah geraten war. Hätte sie nicht die
Vision gehabt, wären Paige und Micah sich nämlich gar nicht
begegnet, und Paige säße nun gesund und munter an ihrem
Schreibtisch im Büro.
»Phoebe!«, rief Piper, als sie auf den Dachboden kam. »Das
Ganze noch mal zu lesen hilft auch nicht. Du kennst doch schon
fast alles auswendig.«
»Ich weiß, aber ich muss es noch mal versuchen«, antwortete
Phoebe. »Ich muss... Aua!« Phoebe fluchte vor sich hin und
ging in die Knie, um den spitzen Gegenstand aufzuheben, auf
den sie gerade getreten war. Es war ein schwarzer Kristall. Sie
nahm ihn in die Hand und hielt ihn Piper hin. »Was ist das
denn?«, fragte sie.
Piper warf nur einen kurzen Blick auf den Stein, und ihr
Gesicht wurde aschfahl. Zitternd streckte sie eine Hand aus und
nahm ihn an sich.
»Es... es ist einer unserer Schutzkristalle«, sagte sie
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benommen. »Paige muss ihn hier verloren haben, als ihr gestern
die Tasche heruntergefallen ist.«
Phoebe schluckte. »Und warum ist er schwarz?«, fragte sie,
aber eigentlich wollte sie die Antwort gar nicht hören.
»So dunkel wird er nur, wenn er gegen etwas wirklich sehr
Böses ankämpfen muss«, erklärte Piper. »Wenn sie ihn jedes
Mal dabeihatte, als sie mit Micah zusammen war...«
»Oh Gott!«, rief Phoebe aus und spürte, wie sich ihr der Hals
zuschnürte. Sie fühlte sich plötzlich, als stürze die ganze Welt
ein. »Wir müssen sofort ihren Aufenthaltsort herausfinden,
Piper. Nehmen wir das Pendel - sofort!«
Gemeinsam rannten die beiden die Treppe ins Wohnzimmer
hinunter, wo sie die Karte von San Francisco und ihr Pendel
aufbewahrten. Mit diesen Hilfsmitteln konnten sie im Prinzip
jede Hexe und jeden Dämon in der Stadt aufspüren. Allerdings
war nicht immer jeder Versuch ein Treffer. Phoebe hoffte nur,
dass es diesmal gleich beim ersten Mal klappte.
»Dann mal los«, sagte Piper und ließ den Stein an der Kette
über dem Stadtplan baumeln. Phoebe glättete rasch noch einmal
das zerknitterte Papier. »Such Paige!«, befahl Piper. Der Kristall
pendelte über dem Gewimmel der städtischen Straßen.
»Komm schon... Komm schon«, sagte Phoebe und
beobachtete den Stein, der sich um die eigene Achse zu drehen
begann. Schließlich fiel er auf die Karte, und Phoebe und Piper
beugten sich vor, um sich die Stelle anzusehen.
»Das ist es!«, rief Phoebe. »Das ist exakt das Viertel, in dem
sich Micahs Haus befindet. Es stand in einem der Artikel.« Sie
drehte sich um und rannte zur Tür; unterwegs schnappte sie sich
ihre Tasche. »Los, komm, Piper, fahren wir!«, sagte sie.
»Ich komme, ich komme!«, entgegnete Piper und nahm ihre
Lederjacke von einem der Haken an der Tür. »Wie sollen wir
denn sein Haus finden, wenn wir in dem Viertel sind?«, fragte
sie, als Phoebe ihr die Tür aufhielt.
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Phoebe holte tief Luft und seufzte. »Wir müssen einfach auf
ein bisschen Intuition hoffen«, sagte sie. »Und auf eine
ordentliche Portion Glück!«
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9
»DAS ist es! Das muss es sein!«, rief Phoebe, als Piper das
Auto vor einem großen schwarzen Eisentor am Ende einer
Sackgasse auf einem extrem steilen Berg zum Stehen brachte.
»Wie kommst du darauf?«, fragte Piper, beugte sich vor und
sah durch die Windschutzscheibe zu dem Tor auf. »Warum
sollte es ausgerechnet dieses hier sein?«
»Ich bitte dich, guck es dir doch mal an!«, erwiderte Phoebe
und machte eine weit ausholende Geste. Rasch öffnete sie die
Autotür und stieg aus. »In so einem Kasten kann doch nur ein
alter böser Dämon hausen!« Sie zog ihre Jeansjacke zurecht,
knallte die Tür zu und warf einen prüfenden Blick auf das Tor.
Sie sah aus, als überlege sie, wie hoch sie springen musste, um
es zu überwinden.
Und genau das tut sie auch!, stellte Piper erschrocken fest.
Rasch parkte sie das Auto ein Stück weiter an der Straßenseite,
damit er vom Tor aus nicht sofort zu sehen war, und stellte den
Motor ab. Als sie aus dem Wagen stieg und hinüber zu ihrer
Schwester ging, musste sie Phoebe Recht geben. Bereits die
Einfahrt verhieß nichts Gutes, und links und rechts davon ragte
eine hohe, abweisende Mauer auf, die sich kilometerweit in
beide Richtungen zu erstrecken schien. Phoebe trat an das Tor,
griff an die Gitterstäbe und rüttelte kräftig daran.
»Phoebe, lass das!«, zischte Piper mit zusammengebissenen
Zähnen und spürte ihr Herz von innen gegen den Brustkorb
hämmern. »Da kannst du ja gleich mit Trompetenfanfare die
Ankunft der Kavallerie ankündigen!«
»Und was schlägst du vor?«, fragte Phoebe.
»Komm her!«, befahl Piper und winkte Phoebe zu sich an
eine geschütztere Stelle neben der Mauer.
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Phoebe verdrehte die Augen und kam zu ihrer Schwester.
»Warum machst du nicht... du weißt schon... deinen Matrix-
Trick?«, schlug Piper vor und zeigte nach oben.
»Daran habe ich auch schon gedacht, aber auf diese Weise
komme nur ich allein rein«, entgegnete Phoebe und sah zu der
Mauerkante auf. »Wenn wir es wirklich mit einem Dämon zu
tun haben, brauchen wir bestimmt die Macht der Drei.«
»Wohl wahr«, sagte Piper. »Aber im Augenblick würde mir
schon die Information genügen, dass Paige gesund und wohlauf
ist. Du könntest also reingehen, die Lage sondieren und mir
dann erzählen, wie die Dinge stehen.«
»Okay, klingt nach einem Plan«, willigte Phoebe ein. Sie
entfernte sich ein paar Schritte von der Mauer und blickte
konzentriert in die Höhe. Dann ging sie in die Knie, sprang
kräftig ab und schwebte wie ein Heliumballon über Pipers Kopf
hinweg.
»Ich werde mich wohl nie an diesen Anblick gewöhnen«,
murmelte Piper leise vor sich hin und legte den Kopf in den
Nacken, um ihre Schwester zu beobachten.
Phoebe flog in einem Bogen auf die Mauer zu, aber als sie
genau über ihr war, streckte sie unvermittelt alle viere von sich,
und ihr Gesicht wurde platt gedrückt, als sei sie gegen eine
Glasscheibe geprallt. »Aua!«, schrie sie im gleichen Moment.
Und bevor Piper überhaupt begriff, was geschah, stürzte ihre
Schwester im freien Fall vom Himmel herab... und zwar direkt
auf sie zu.
»Piper!«, rief Phoebe und ruderte verzweifelt mit den Armen
in der Luft.
Reflexartig wollte Piper sofort aus dem Weg springen, aber
dann wurde ihr schlagartig klar, dass Phoebe besser dran war,
wenn sie ihren Sturz ein wenig abfing. Sie streckte die Arme
aus, schloss die Augen und hoffte das Beste. Phoebe traf sie wie
ein Sack Kartoffeln und sie ging mit ihr zu Boden. Jeder
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einzelne Zentimeter ihres Körpers tat ihr weh.
»Oh Gott«, sagte Phoebe stöhnend und löste sich von Piper.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Piper setzte sich langsam auf, schob den Unterkiefer vor und
zurück und spürte, wie er knackte. »Ich glaube, ich habe einen
Tritt von dir ins Gesicht gekriegt«, entgegnete sie und strich sich
das Haar hinter die Ohren.
»Was ist bloß passiert?«, fragte Phoebe, rieb sich die
schmerzenden Schultern und blickte in den Himmel. »Es fühlte
sich an, als wäre ich gegen die Mauer gestoßen, aber das kann ja
nicht sein. Ich war doch über der Mauer... oder?«
»Meiner Meinung nach schon«, antwortete Piper, legte den
Kopf auf die rechte Seite und kippte ihn dann vorsichtig auf die
linke, um ihren verspannten Nacken zu lockern. »Von hier unten
sah es aus wie in dem Cartoon in der Samstagszeitung. Wenn
der Kojote zum Beispiel hinter dem Roadrunner her ist und -
platsch! - gegen einen Felsen rennt.«
Phoebe stand vom Boden auf. »Es muss eine Art Kraftfeld um
das Grundstück geben«, sagte sie, wischte sich den Staub vom
Hosenboden ihrer Jeans und klatschte in die Hände. »Dann ist
die Sache ja ernster, als wir befürchtet haben.«
»Na gut, das war's dann also«, sagte Piper. Sie streckte ihrer
Schwester die Hände entgegen, und Phoebe half ihr beim
Aufstehen. »Schluss mit den freundlichen kleinen Hexen!«, fuhr
Piper fort und ging näher an das Tor heran. Unter gar keinen
Umständen würde sie ihre Schwester in der Höhle eines Dämons
vergammeln lassen! Nicht, wenn sie etwas dagegen
unternehmen konnte.
Sie hob die Hände und schoss einen Energieblitz auf das Tor
ab, um es zu zerstören. Aber es gab nur einen harmlosen Knall,
als er auf das unsichtbare Kraftfeld auftraf und wirkungslos
verpuffte. Ebenso gut hätte sie einen Feuerwerkskörper auf ein
Raketensilo abfeuern können. Beunruhigt setzte Piper noch
-101-
einmal neu an und versuchte es wieder mit demselben Ergebnis.
»Wir schaffen es nicht«, sagte sie entmutigt und stemmte die
Hände in die Hüften.
»Warte doch mal«, entgegnete Phoebe. Sie packte Piper am
Arm und zog sie vom Tor weg. »Komm mal mit! Wir wollen
uns das Ganze mal genauer ansehen.«
Piper folgte ihrer Schwester die Mauer entlang. Sie suchten
nach irgendeiner Öffnung oder einem Beweis dafür, dass Paige
dort gewesen war oder versucht hatte zu entkommen. Die Mauer
war zwar allem Anschein nach alt und verwittert, aber dennoch
stabil, und je weiter sie durch Buschwerk und hohes Gras
vordrangen, desto hilfloser fühlte sich Piper. Wie hatte sie dies
nur zulassen können? Sie hätte Paige am Abend zuvor niemals
gestatten dürfen, das Haus zu verlassen.
»So werden wir sie nie finden«, flüsterte sie frustriert. »Das
ist ja das reinste Fort Knox der Unterwelt.«
»Warte! Schscht! Hast du das gehört?«, fragte Phoebe, blieb
abrupt stehen und legte den Kopf schräg.
Piper runzelte die Stirn und lauschte. »Was?«, flüsterte sie
und stellte sich dicht neben Phoebe.
»Da hat jemand gesprochen«, sagte Phoebe mit großen
Augen. »Ich glaube, ich habe Paiges Stimme gehört.«
Pipers Herz klopfte wie wild, und sie lauschte noch
angestrengter. Nun hörte sie ganz deutlich ein sehr, sehr
schwaches Geräusch, das von irgendwo auf der anderen Seite
der Mauer kam.
»Wo ist sie?«, fragte Piper und krallte ihre Finger in das
zerklüftete Mauerwerk.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Phoebe. »Paige?!«, rief sie
dann. »Paige?! Bist du da drin?«
Es gab keine Antwort. Phoebe begann, schneller an der Mauer
entlangzugehen, und Piper blieb ihr dicht auf den Fersen. Schon
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bald wurde die Stimme lauter und lauter. Sie hatten den
Eindruck, ihrer Schwester immer näher zu kommen, und je
weiter sie gingen, desto verzweifelter hielten sie nach
irgendeinem Lebenszeichen von Paige Ausschau. Wir müssen
sie finden!, dachte Piper verzweifelt. Sie verspürte das
dringende Bedürfnis, ihre kleine Schwester zu trösten und ihr zu
sagen, dass alles wieder in Ordnung kommen würde.
»Piper! Da ist ein Loch!«, raunte Phoebe ihr aufgeregt zu. Sie
beugte sich vor, zwängte ihre Finger in eine Vertiefung im
Mauerwerk und holte eine Portion vermoderte Blätter und Erde
heraus. »Ich hab's! Sieh nur!«, rief Phoebe aus und legte eine
kleine quadratische Öffnung von der Größe eines halben
Mauersteins frei. Sie hockte sich dicht davor und spähte
hindurch. »Da ist sie! Piper! Ich kann sie sehen! Allem
Anschein nach geht es ihr gut!«
»Lass mich mal sehen«, sagte Piper und schob Phoebe zur
Seite.
Sie presste ihr Gesicht an die Mauer und sah Paige, die auf
einer Steinbank mitten in einem wunderschönen Garten lag. Sie
trug immer noch ihr Abendkleid und das lange Haar klebte ihr
verfilzt im Nacken. Sie schaute hinauf in den Himmel und
sprach - allerdings mit niemand Bestimmtem. Es klang, als sage
sie irgendetwas auf.
»Paige!«, raunte Piper durch das Loch in der Mauer.
Ihre Schwester hob den Kopf und sah sich um.
»Paige! Hier drüben!«
Paige drehte sich auf der Bank und schaute prüfend zur
Mauer. In ihrem Blick spiegelten sich Verwirrung und Hoffnung
zugleich. Piper hatte keine Ahnung, ob Micah in der Nähe war,
oder ob Paige sich allein in dem Garten aufhielt. Natürlich legte
sie sehr wenig Wert darauf, von Micah erwischt zu werden und
weiß der Himmel was zu erleben, aber sie musste unbedingt mit
ihrer Schwester reden und herausfinden, was los war.
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»Hierher! Hier ist ein Loch in der Mauer!«, sagte Piper ein
wenig lauter.
Endlich hatte Paige die Stelle entdeckt, und ihre Blicke
kreuzten sich. Sie flitzte zu der Mauer, fiel auf die Knie und
spähte durch das Loch.
»Gott sei Dank seid ihr da!«, rief sie, und ihre Augen
strahlten. In ihrem Gesicht malte sich jedoch Erschöpfung.
»Bitte sagt mir, dass ihr mich hier rausholt! Mir ist so
langweilig! Ich habe schon angefangen, ganze Filme aus der
Erinnerung aufzusagen.«
Piper musste grinsen. Typisch Paige! Nur sie konnte in einer
potenziell lebensgefährlichen Situation noch auf die Idee
kommen, sich über Langeweile zu beschweren.
»Wie habt ihr mich gefunden?«, fragte Paige.
»Nun, nachdem wir den ganzen Tag nichts von dir hörten,
haben wir noch einige Nachforschungen über Micah
angestellt...«, begann Piper, aber dann brach sie ab und sah zu
Boden, denn sie wusste nicht genau, wie viel sie ihrer Schwester
verraten sollte. Die Informationen, die sie und Phoebe über
Micah aufgetan hatten, waren für ihre Schwester unter den
gegebenen Umständen nicht sehr tröstlich.
»Was habt ihr rausgekriegt?«, fragte Paige und bemühte sich,
gefasst zu klingen. »Piper, sag es mir!«
Piper holte tief Luft und sah ihrer Schwester in die Augen. »In
den letzten Jahren wurden drei seiner Freundinnen getötet«,
sagte sie.
»Oh, mein Gott!«, stieß Paige aus und wich etwas von der
Mauer zurück.
»Erzähl ihr von der guten Nachricht!«, flüsterte Phoebe und
gab Piper einen Stups.
»Es gibt auch eine gute Nachricht?«, fragte Paige.
»Wenn man es so nennen kann«, entgegnete Piper gepresst.
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»Offenbar hat Aplacum diese Mädchen getötet, und da wir ihn
ja vernichtet haben...«
»Bin ich in Sicherheit«, ergänzte Paige. Dann lachte sie
schnaubend. »Sozusagen!« Sie sah betreten auf ihre Hände.
»Piper, es tut mir so Leid, dass ich gestern nicht auf dich gehört
habe. Du hattest Recht. Ich hätte mich von ihm fern halten
sollen.«
»Ist schon gut«, sagte Piper. »Mach dir jetzt keine Gedanken
darüber. Geht es dir gut? Hat er dir wehgetan?«
»Nicht im eigentlichen Sinne«, antwortete Paige, schlang die
Arme um sich und warf einen argwöhnischen Blick über die
Schulter. »Aber ich sitze hier fest, und ich habe Hunger, und ich
möchte wirklich nicht noch eine Nacht hier draußen verbringen.
Ihr habt doch bestimmt schon einen Plan, wie ihr mich hier
rausholen könnt.«
Piper sah Phoebe an. Was sollte sie sagen? Wie konnte sie
ihrer Schwester klar machen, dass die Rettungsmannschaft nicht
einmal das Tor an der Einfahrt überwinden konnte?
»Lass mich mal!«, sagte Phoebe und scheuchte Piper von dem
Loch weg. Sie kniete sich auf den Boden und lächelte Paige
beruhigend zu. »Hey!«, sagte sie.
»Phoebe, es tut mir so Leid«, beteuerte Paige erneut und ihre
Stimme brach. Piper zerriss es fast das Herz.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Phoebe. »Aber hör mal, warum
versuchst du nicht einfach rauszuorben?«
»Das habe ich ja - sogar schon einige Male«, entgegnete
Paige. »Es funktioniert nicht. Es scheint eine unsichtbare Wand
um das ganze Anwesen zu geben, und ich kann sie nicht
überwinden.«
»Was ist mit Leo?«, fragte Phoebe und sah zu Piper auf.
»Vielleicht gelingt es ihm irgendwie reinzukommen.«
»Ist auf jeden Fall einen Versuch wert«, meinte Piper. Die
-105-
moralische Unterstützung ihres Mannes konnte sie in diesem
Moment gut gebrauchen. Sie war zwar stark, aber wenn Leo in
ihrer Nähe war, fühlte sich noch ein bisschen stärker.
»Leo!«, zischte sie und blickte sehnsüchtig in den Himmel.
»Leo! Wir brauchen dich!«
Fast augenblicklich regnete es weißes Licht vom Himmel, und
ihr Ehemann materialisierte sich neben ihr. Sie stürzte sich auf
ihn und er schlang seine Arme um sie. Piper krallte sich in sein
Hemd und drückte ihn fest an sich.
»Was ist los?«, fragte er Phoebe, die sich vor dem Loch in der
Mauer aufrichtete.
»Es geht um Paige«, sagte Phoebe. »Sie sitzt auf der anderen
Seite dieser Mauer fest, und es gibt irgendeinen magischen
Schnickschnack, der uns nicht durchlässt.«
»Schnickschnack?«, wiederholte Leo und sah Piper
verständnislos an.
»Eine unsichtbare Wand. Ein Kraftfeld. Wie auch immer du
es nennen möchtest«, erklärte Piper, löste sich von ihm und zog
die Schultern hoch. »Was es auch ist, wir kommen jedenfalls
nicht rein, und sie kann nicht raus.«
»Okay, dann werde ich mal sehen, was ich tun kann«,
versprach Leo.
Piper trat einen Schritt zurück, als Leo von einem Wirbel aus
weißem Licht eingehüllt wurde und verschwand. Für einen
Sekundenbruchteil glaubte sie schon, es hätte geklappt und sie
würde Paige jeden Moment wohlbehalten in die Arme schließen
können. Aber einen Augenblick später war Leo auch schon
wieder da. Allein. Noch nie war Piper so unglücklich gewesen,
ihn zu sehen.
»Ich komme nicht durch«, sagte er mit sorgenvoller Miene.
Piper schlug das Herz bis zum Hals. Der ungewohnte
Gesichtsausdruck ihres Mannes verriet nichts Gutes. Leo schien
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ernstlich besorgt.
»Oh nein!«, rief Paige von der anderen Seite der Mauer. »Wie
soll ich jemals hier rauskommen, wenn Leo nicht mal
reinkommen kann?«
»Rede mit ihr!«, raunte Leo Phoebe leise zu, die sofort begriff
und ihm zunickte.
Als Phoebe sich vor das Loch kauerte, um Paige abzulenken,
zog Leo Piper ein Stück von der Mauer weg. Mit angehaltenem
Atem machte sich Piper auf das Schlimmste gefasst.
»Was ist denn los?«, fragte sie, und ihre Kehle wurde ganz
trocken.
»Das bedeutet nichts Gutes«, sagte Leo und warf über die
Schulter einen Blick auf die Mauer. »Nur etwas wirklich sehr
Böses kann mich daran hindern, zu einer meiner
Schutzbefohlenen zu orben, wenn sie in Schwierigkeiten ist.«
»Also, wir gehen davon aus, dass es sich bei dem Typen, der
sie da festhält, um den Dämon Vandalus handelt«, erklärte
Piper. Sie hatte das Gefühl, alle Energie würde ihr in diesem
Augenblick aus dem Körper gepumpt. »Hast du schon von ihm
gehört?«
»Vandalus... Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte Leo
und kniff die Augen zusammen. »Ich werde beim Hohen Rat
nachfragen.«
»Was?«, rief Piper aus und hielt Leo am Arm fest. Gegen die
Verzweiflung in ihrer Stimme war sie machtlos. »Und was
sollen wir in der Zwischenzeit tun?«, fragte sie unsicher.
»Wollt ihr nicht im Buch der Schatten nachschlagen?«, schlug
Leo vor. »Vielleicht gibt es ja eine Formel, mit der man
magische Hindernisse durchbrechen kann.«
»Aber wir können Paige doch nicht einfach da drin bei dem
Dämon lassen!«, protestierte Piper heiser.
»Ich verspreche, ich bin so schnell wie möglich wieder da«,
-107-
entgegnete Leo ruhig. Er beugte sich vor und gab Piper rasch
einen Kuss. »Wir werden das schon hinkriegen«, tröstete er sie,
legte ihr die Hände auf die Schultern und sah ihr fest in die
Augen.
»Okay«, sagte Piper, wendete ihren Blick aber gleich ab, denn
sie konnte nicht mit ansehen, wie Leo wieder davonorbte.
Als er verschwunden war, trottete Piper langsam zu der
Mauer zurück. Sie traute sich gar nicht recht, ihren Schwestern
zu sagen, was sie zu sagen hatte. Als sie näher kam, sah Phoebe
auf. Sie warf nur einen kurzen Blick auf Pipers Gesicht und
wurde blass.
»Was hat Leo gesagt?«, fragte sie beunruhigt.
Piper kniete sich neben Phoebe auf den Boden und schaute
durch das Loch in der Mauer. »Paige?«, sagte sie. »Leo ist
losgezogen, um den Hohen Rat zu fragen, was wir machen
sollen«, erklärte sie.
»Er ist weg?«, fragte Paige schrill. »Aber er soll mich doch
hier rausholen!«
»Das wird er auch. Wir werden es schaffen«, entgegnete
Piper. Sie schob ihre Finger in das kleine Loch und holte tief
Luft. »Aber hör mal, Paige, wir müssen noch mal nach Hause
und im Buch der Schatten nachlesen.«
»Was?«, riefen Phoebe und Paige gleichzeitig.
»Ihr könnt mich doch nicht hier allein lassen!«, jammerte
Paige. Sie klang wie ein kleines Mädchen, das schlecht geträumt
hatte. »Bitte, Piper, ich kann hier nicht länger allein bleiben!
Versteh das doch!«
»Ich weiß, Süße, aber du musst jetzt noch ein Weilchen die
Zähne zusammenbeißen«, entgegnete Piper. »Du musst uns
vertrauen. Wir kommen so schnell wie möglich wieder zurück,
aber im Augenblick können wir hier gar nichts ausrichten.«
Phoebe biss sich auf die Unterlippe, legte die Hand an die
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Mauer und redete zu ihr, als könne sie Paige auf der anderen
Seite sehen. »Piper hat Recht, Paige. Wir haben nur eine
Chance, dir zu helfen, wenn wir einen Weg finden, wie wir dich
befreien können, und den finden wir wiederum nur, wenn wir
nach Hause gehen und im Buch nachschlagen.«
Piper hörte, wie Paige langsam einatmete und die Luft
schnaufend wieder ausstieß. »Okay, ihr habt Recht«, sagte sie
schließlich. »Aber ihr müsst schwören, dass ihr zurückkommt
und mich hier rausholt.«
»Ich schwöre«, sagte Piper bestimmt und versuchte, möglichst
viel Überzeugung in ihre Stimme zu legen. »Ich schwöre, wir
holen dich da raus.«
In ihrem tiefsten Innern nagten jedoch Zweifel. Sie wünschte,
sie wäre nur halb so überzeugt, wie sie nach außen vorgab zu
sein.
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10
»ICH lasse sie wirklich nur höchst ungern hier zurück«, sagte
Phoebe und versuchte, ihre Gefühle zu verdrängen, als sie mit
Piper die Mauer entlang zum Tor eilte. Ihr war, als zögen sie
tausende unsichtbare Seile zurück zu Paige. Noch nie hatte sie
ihre Schwester so verzweifelt und ängstlich gesehen. Und ihr
war ganz furchtbar zu Mute, weil es nichts gab, was sie tun
konnte, um ihr zu helfen.
»Es dauert ja nicht mehr lange«, sagte Piper bestimmt, als sie
an die Stelle kamen, wo die Mauer einen Knick machte. »Das
Buch der Schatten hat bestimmt eine Lösung für uns. Wir
müssen nur...«
Unvermittelt blieb Piper stehen, und Phoebe rannte ihr von
hinten in die Hacken.
»Wie war's, wenn du mich das nächste Mal warnst!«, zischte
sie ihrer Schwester zu.
»Ich höre ein Auto«, erklärte Piper im Flüsterton und hob die
Hand, um Phoebe zurückzudrängen. Vergeblich! Als sie
vorsichtig einen Blick um die Mauerecke riskierte, war Phoebes
Kopf auch schon neben ihrer Schulter. Sie beobachteten mit
klopfenden Herzen, wie das schmiedeeiserne Tor aufging. Es
schien Ewigkeiten zu dauern, bevor die Flügel weit genug offen
waren, um ein Auto durchzulassen.
»Los, schnell, laufen wir!«, schlug Phoebe vor und spürte, wie
ihr Körper von Adrenalin überflutet wurde. »Wenn wir uns
beeilen, können wir noch durchschlüpfen, bevor das Tor wieder
zugeht.«
»Bist du verrückt?«, fuhr Piper auf und drehte sich zu Phoebe
um. »Dann sieht er uns doch!«
»Ja und? Wenn wir erst mal drin sind und er uns schnappt,
-110-
kommen wir wenigstens zu Paige«, erklärte Phoebe ungeduldig.
»Und wenn wir alle drei vereint sind, können wir ihn
vernichten.«
»Wir haben aber keine Bezwingungsformel«, bemerkte Piper.
»Und wenn du tot bist, wirst du Paige keine große Hilfe sein.
Abgesehen davon verschwindet die unsichtbare Mauer nicht
unbedingt, nur weil sich das Tor öffnet.«
Bevor Phoebe etwas erwidern konnte, kam Micahs kleines
rotes Kabrio aus dem Tor und rollte auf die Straße. Der Anblick
seines Gesichts erfüllte Phoebe mit so viel Zorn, dass sie ihn am
liebsten auf der Stelle in die Hölle geprügelt hätte. Sie machte
einen Schritt, aber Pipers Hand schnellte vor und packte sie am
Handgelenk, um sie zu hindern. Der feste Griff ihrer Schwester
holte Phoebe offenbar zurück in die Realität, und sie blieb
stehen. Piper hatte mal wieder Recht: Natürlich war sie Paige
keine Hilfe, wenn sie verletzt wurde oder ihr am Ende noch
Schlimmeres zustieß.
Phoebe hielt die Luft an, denn sie befürchtete, Micah würde
jeden Augenblick nach rechts schauen und ihr Auto entdecken.
Wenn er das tat, waren sie erledigt. Aber er sah gar nicht hin. Er
bog einfach mit dem Wagen nach links ab und fuhr den Berg
hinunter.
»Das ist unsere Chance!«, fuhr Phoebe auf und schoss hinter
der Mauer hervor.
»Das Tor ist aber schon wieder zu!«, rief ihr Piper hinterher.
»Darum geht es doch gar nicht!«, gab Phoebe zurück und
rannte auf das Auto zu. »Wir verfolgen ihn! Mach schnell,
Piper, bevor er uns entwischt!«
Piper lief auf die Fahrerseite des Wagens, sprang hinein und
ließ den Motor an. Als sie die kurvenreiche Straße
hinunterrasten, die gespickt war mit toten Winkeln und
versteckten Einfahrten, stemmte Phoebe die Hände Halt suchend
gegen das Autodach und die Tür. Micah musste ihnen
-111-
mindestens eine Kurve voraus sein; zu sehen war sein Kabrio
jedenfalls nicht.
»Wir werden ihn nie mehr einholen«, bemerkte Phoebe
frustriert.
»Oh doch, das werden wir«, gab Piper zurück.
Sie trat das Gaspedal durch und ging mit einer derartigen
Geschwindigkeit in die nächste Kurve, dass der Wagen leicht in
Schräglage geriet und die Reifen sich auf der linken Seite vom
Asphalt hoben. Dann schossen sie endlich hinaus auf den
geraden Straßenabschnitt am Fuß des Berges. Phoebe fiel ein
Stein vom Herzen, als sie ein Stück weiter Micahs kleinen
Sportwagen erblickte. Er bremste vor einer roten Ampel.
Piper hielt hinter ihm an, atmete tief durch und stützte den
Ellbogen auf die Fensterkante. Ȁhm, sag mal... Warum
verfolgen wir ihn eigentlich?«, fragte sie. »Glaubst du, er wird
uns einfach so verraten, wie man in seine magische Festung
eindringen kann?«
»Natürlich nicht! Aber je mehr wir über ihn wissen, desto
leichter fällt es uns, seine Schwächen aufzuspüren«, antwortete
Phoebe und tauchte so weit in ihrem Sitz ab, bis sie hinter dem
Armaturenbrett verborgen war. »Vielleicht finden wir auf diese
Weise eine Möglichkeit, wie wir ihn und seine unsichtbare
Wand aus dem Weg räumen können.«
Piper sah auf Phoebe herab und runzelte irritiert die Stirn.
»Was machst du denn da?«
»Wir stehen direkt hinter ihm!«, entgegnete Phoebe, die
zusammengekauert die Knie gegen das Handschuhfach stemmte.
»Wenn er in den Rückspiegel guckt und eine Brünette im
Wagen hinter ihm entdeckt, fällt ihm vielleicht nicht auf, wer du
bist, aber wenn er uns beide sieht...«
»Gutes Argument«, sagte Piper und trat aufs Gaspedal, als die
Ampel auf Grün schaltete.
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Phoebe sah über sich im Fenster die Straßenlaternen und
Stromleitungen vorbeizischen. Es war ein schwindelerregender
Anblick und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin die Fahrt
ging.
»Was macht er?«, fragte sie Piper, die den Wagen
konzentriert durch den Verkehr steuerte.
»Ich glaube, er hält an«, entgegnete Piper, setzte den Blinker
und stoppte am Bordstein. »Ja, jetzt steigt er aus. Er geht in ein
Bürogebäude.«
»Dann los!«, rief Phoebe und riss sich den Sicherheitsgurt
vom Leib.
Rasch stiegen die beiden aus dem Auto und überquerten den
breiten Gehsteig. Phoebe gab sich alle Mühe, unauffällig zu
wirken und nicht wie ein Mädchen, das seiner Schwester das
Leben retten wollte. Piper ging durch die Drehtür voran, aber
sobald sie in dem Bürogebäude waren, zog sie Phoebe hinter
eine große Topfpalme. Gemeinsam spähten sie durch das dichte
Blattwerk und beobachteten Micah. Er betrat gerade einen der
vier Aufzüge, der sich hinter einem verdrießlich dreinblickenden
Wachmann geöffnet hatte.
Als die Aufzugtür sich wieder schloss, trat Phoebe hinter der
Palme hervor. Der Wachmann blickte Piper und Phoebe von
seinem kleinen Schreibtisch aus mit mäßigem Interesse
entgegen. So wie diese in Marmor und Stahl eingerichtete
Empfangshalle aussah, hatte dieser Typ wahrscheinlich den
ganzen Tag nur mit Anzugträgern zu tun.
»Hi«, sagte Piper strahlend und ging auf den Wachmann zu.
Phoebe behielt die Etagenanzeige über dem Aufzug, den Micah
genommen hatte, im Auge. Er war immer noch nicht
ausgestiegen. »Wir möchten nach oben«, erklärte Piper.
»Zu wem?«, fragte der Wachmann und verschränkte die Arme
vor der Brust.
»Piper«, murmelte Phoebe leise. »Außer uns ist niemand hier
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in der Halle.«
»Na gut«, entgegnete Piper. Und als sich Neugier im Gesicht
des Wachmanns zu regen begann, machte sie die typische
Handbewegung und ließ ihn erstarren. »Ich tue das nur ungern,
wenn es nicht unbedingt nötig ist.«
»Nun, es war aber nötig«, entgegnete Phoebe und packte
Piper am Arm. »Los, komm mit! Micah ist in die oberste Etage
gefahren.«
Gemeinsam sprangen die beiden in einen wartenden Aufzug,
und Phoebe drückte auf den Knopf für das zwanzigste
Stockwerk. Als sich die Fahrstuhltüren schlossen, streckte Piper
noch einmal die Hände aus und erlöste den Wachmann aus
seiner Erstarrung. Phoebe beobachtete noch, wie er sich
überrascht umsah, und dann gingen die Türen auch schon zu.
»Komm schon... komm schon...«, murmelte sie ungeduldig,
als der Aufzug in die Höhe fuhr.
Als die Türen sich endlich wieder öffneten, lag eine vornehme
Büroetage vor ihnen, die ganz mit teurem Mobiliar aus Holz und
in erdigen Farben eingerichtet war. Eine hübsche junge
Empfangsdame lächelte ihnen entgegen, als sie aus dem Aufzug
traten.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und faltete die Hände auf
ihrem Schreibtisch.
Phoebe warf einen Blick auf die geschlossene Bürotür hinter
dem Empfang. »Sagen Sie, ist Micah Grant gerade da
reingegangen?«, fragte sie.
»Das ist er«, entgegnete die Dame und errötete leicht. Sie war
eindeutig in den alten Dämon verknallt. »Er hat einen Termin
mit Mister Reingold.«
»Mit Mister Reingold?«, hakte Piper nach. »Mit Terrence
Reingold, dem Generaldirektor von MicroCorp?«
Phoebe und Piper sahen sich an. Terrence Reingold war der
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reichste Mann von San Francisco, und wahrscheinlich einer der
zehn mächtigsten Geschäftsmänner des Landes. Er galt als
verrückt, egozentrisch und sehr besitzergreifend, was seine
Reichtümer anging.
Vielleicht steckte er mit Micah unter einer Decke, überlegte
Phoebe und ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf.
»Ja«, antwortete die Empfangsdame, und über ihrer
Nasenwurzel erschien eine kleine Falte. »Das hier ist sein
persönliches Büro. Haben Sie eine Verabredung mit Mister
Reingold? In meinem Kalender steht nämlich nichts.«
Offenbar regte sich Misstrauen in der Frau. Phoebe wurde
nervös. Sie sah Piper an, schürzte die Lippen und nickte in
Richtung der Sekretärin. Piper verdrehte die Augen, streckte
aber trotzdem die Hände aus und hielt das Geschehen an. Die
Empfangsdame, die gerade nach dem Telefonhörer greifen
wollte, erstarrte. Gerade noch rechtzeitig, denn sie hatte
bestimmt die Security rufen wollen.
»Wir haben fünf Minuten«, sagte Piper. Sie ging zu der
Bürotür und machte sie ganz leise auf. Dahinter lag ein
geräumiges Wohnzimmer, in dem sich niemand aufhielt. Aber
auf der gegenüberliegenden Seite gab es eine weitere Tür, die
nur angelehnt war, und von dort kamen Stimmen.
»Los, komm mit«, forderte Phoebe ihre Schwester auf und
durchquerte auf Zehenspitzen den Raum.
Piper stellte sich auf die eine Seite der Tür und Phoebe
drängte sich auf der anderen mit dem Rücken an die Wand. Sie
konnte alles ganz genau hören.
»Ich brauche dieses Geld, Terrence«, sagte Micah ernst. »Sie
haben es mir versprochen.«
»Ja, das habe ich«, war die Stimme eines älteren Mannes zu
vernehmen. Er klang ruhig und selbstsicher. »Aber ich habe
noch einmal darüber nachgedacht, und es geht einfach nicht. Ich
weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, Ihnen Spenden für
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Ihre Sache zuzusagen.« In seiner Stimme lag Verachtung.
»Ehrlich gesagt pflegt meine Gesellschaft schlechten Leuten
kein gutes Geld hinterher zu werfen.«
»Sie werden mir dieses Geld geben«, sagte Micah.
Phoebe sah Piper alarmiert an. Micahs Worte hatten wie eine
Drohung geklungen. Wie man aus dem Gespräch schließen
konnte, steckte Reingold offenbar nicht unter einer Decke mit
Micah. Und wie schlecht Reingolds Ruf auch war, Micah durfte
ihm nichts antun. Millimeter für Millimeter schob Phoebe den
Kopf vor und spähte durch den Türspalt. Piper fuchtelte panisch
mit den Händen, aber Phoebe ignorierte sie. Sie wollte sehen,
was im Raum geschah.
Micah beugte sich über Reingold und stemmte die Hände auf
die Armlehnen seines Bürosessels. Der ältere Mann starrte ihn
entschlossen und fast amüsiert an. Ganz offensichtlich hatte er
nicht das Gefühl, sich in Gefahr zu befinden.
»Sie werden mir dieses Geld geben«, sagte Micah wieder und
sah Reingold in die Augen.
Dann wurde das Gesicht des älteren Mannes plötzlich völlig
ausdruckslos. Sein Blick wirkte leer, als stünde er unter
Hypnose. Phoebe schluckte und spürte, wie es ihr vor Angst kalt
über den Rücken lief. Hatte Micah den Typen gerade etwa mit
seinem Blick verzaubert? Wie war das nur möglich?
»Ja... ja, natürlich«, entgegnete Reingold und richtete sich auf.
»Auf welches Konto soll ich es überweisen?«
»Auf mein persönliches, bitte«, antwortete Micah grinsend. Er
rückte ein Stück zur Seite, um Reingold an seinen Computer zu
lassen. »Und eine Million Dollar würde schon genügen.«
»In Ordnung«, sagte Reingold und tippte auf der Tastatur. »Es
ist immer ein Vergnügen, Geschäfte mit Ihnen zu machen,
Mister Grant.«
Als Micah aufsah, wich Phoebe erschreckt zurück. »Gehen
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wir!«, forderte sie Piper lautlos auf.
Mit klopfendem Herzen führte sie ihre Schwester nach
draußen zu der Empfangsdame, die regungslos an ihrem Platz
verharrte. Piper und Phoebe stellten sich genauso vor ihren
Schreibtisch, wie sie vor wenigen Minuten gestanden hatten,
und Piper löste den Bann.
»Wissen Sie was?«, sagte Phoebe, als die Empfangsdame
nach dem Telefonhörer griff. »Wir haben uns wohl in der Etage
geirrt. Entschuldigen Sie die Störung!«
Schon machten sie kehrt und flitzten zum Eingang des
Treppenhauses. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, tauchte
Micah gerade am Empfang auf. Wahrscheinlich hatte er sie
nicht mehr gesehen.
»Was ist da drin eigentlich passiert?«, fragte Piper, als sie mit
Phoebe die Stufen hinuntereilte.
»Er hat den Typen manipuliert... und das allein mit seinem
Blick«, berichtete Phoebe. Sie war immer noch erschüttert von
dem, was sie gerade mit angesehen hatte. »Zunächst weigerte
sich Reingold, Micah das Geld zu geben, und dann sah Micah
ihm tief in die Augen und puff! - hier ist eine Million Dollar,
bitte sehr!«
»Das klingt gar nicht gut«, sagte Piper. »Wir haben es mit
einem Kerl zu tun, der unsichtbare Wände aufstellen und in den
Köpfen anderer herumpfuschen kann, ohne ins Schwitzen zu
geraten.«
»Ich dachte, er sei als Mensch auf die Erde verbannt worden«,
sagte Phoebe. »Wo hat er dann diese beträchtlichen magischen
Fähigkeiten her?«
»Keine Ahnung«, entgegnete Piper. »Aber nun wissen wir
zumindest, wie er an seine Millionen kommt.«
Phoebe holte tief Luft und versuchte, ihr strapaziertes
Nervenkostüm zu beruhigen. Die Geschichte schmeckte ihr ganz
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und gar nicht. Wenn Micah einen der mächtigsten Männer der
Welt dazu bewegen konnte, gegen seinen Willen tonnenweise
Geld herauszurücken, wollte sie lieber gar nicht erst darüber
nachdenken, wozu er Paige bringen konnte.
»Was tun wir denn jetzt?«, fragte Piper, als sie zu ihrem
Wagen zurückgingen.
»Ich habe keine Ahnung«, entgegnete Phoebe, blieb neben
dem Auto stehen und lehnte sich an die Tür.
»Was will er nur von Paige?«, fragte sie Piper verwundert.
»Warum hält er sie da oben gefangen?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann nur hoffen, dass Leo rasch mit
ein paar Antworten zurückkommt.« Seufzend schaute Piper in
den strahlend blauen Himmel. »Denn was die Schwächen
angeht, von denen du gesprochen hast...«
»Ich weiß, ich weiß«, fiel ihr Phoebe ins Wort und merkte,
wie sich ihr Magen zusammenzog. »Davon haben wir noch
keine einzige gefunden.«
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11
PAIGE sass auf der Liege und beobachtete den
Sonnenuntergang. Dabei hatte sie das Gefühl, ihr ganzes Leben
vor ihren Augen untergehen zu sehen. Je tiefer die Sonne stand,
desto hilfloser und verlassener fühlte sie sich.
Kommt schon, Leute!, dachte sie. Wo bleibt ihr?
Wenn Piper und Phoebe sie nicht bald holen kamen, musste
sie eine weitere lange, kalte, dunkle Nacht allein im Garten
verbringen, ohne zu wissen, was Micah eigentlich mit ihr
vorhatte, und in der ständigen Angst, dass er ihr etwas antun
könnte.
Das letzte helle Scheibchen der Sonne versank am Horizont,
und der ganze Himmel wurde in hellrosa Licht getaucht. Paige
seufzte. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie die Schönheit
eines Sonnenuntergangs gar nicht richtig genießen können.
Es muss etwas schiefgegangen sein, dachte sie und zog die
Knie unters Kinn. Was, wenn Micah Piper und Phoebe erwischt
hatte? Was, wenn er ihnen etwas angetan hatte?
Sie schlang die Arme um ihre Beine und zog sie so eng an den
Körper, wie es ging. Sie hasste dieses Gefühl. Das Gefühl, nicht
zu wissen, was außerhalb dieser undurchdringlichen Mauern
vorging. Ihre Schwestern konnten bereits tot sein, und sie bekam
das nicht einmal mit!
Plötzlich hörte Paige Geräusche im angrenzenden Garten, und
sie setzte sich auf, als Micah erschien. Ihm folgte ein älterer
Diener, den Paige noch nie gesehen hatte. Sie trugen beide
Tabletts, auf denen Teller mit silbernen Servierhauben standen.
Paige hing der Magen durch, und in ihr stieg eine derart
schlimme Übelkeit auf, dass sie sich kaum von der Liege
erheben konnte. Aber sie tat es dennoch. Micah sollte sie nicht
zusammengekauert wie ein verängstigtes Kind sehen.
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»Ich habe ein wunderbares Dinner für uns zubereiten lassen,
Paige«, sagte Micah lächelnd.
Es war unglaublich, wie normal er sich verhielt. Er schien gar
nicht zu begreifen, was er ihr angetan hatte - und noch antat.
Man hätte meinen können, es sei ein Date wie jedes andere.
»Für uns?«, fragte Paige und verschränkte die Arme vor der
Brust. Vielleicht knurrte ihr Magen nicht so heftig, wenn sie ihn
ein wenig einschnürte.
»Ja, für uns«, entgegnete Micah. Nachdem er und der
ergrauende Diener die Tabletts auf dem Tisch abgestellt hatten,
steckte Micah die Hände in die Taschen seiner frisch gebügelten
Khakihosen und wartete, bis der Diener wieder hinter der Hecke
verschwunden war.
»Wie ich sehe, haben dir die Kleider nicht gefallen, die ich dir
gebracht habe«, sagte er und warf einen amüsierten Blick auf
den Tümpel, in dem die mit Wasser voll gesaugten Kleider
mittlerweile zu Boden gesunken waren.
»Ich habe es dir doch schon gesagt«, antwortete Paige, »ich
will nichts von dir.«
Außer diesem Essen!, schrie eine kleine schwache Stimme in
ihrem Kopf. Ich will dieses Essen!
»Hast du Hunger?«, fragte Micah, als hätte er ihre Gedanken
gelesen.
Paige riss den Blick von den dampfenden Tabletts los und
ärgerte sich, dass es ihr nicht gelang, ihre Gier besser zu
verbergen. Sie setzte sich wieder auf die Liege und wandte dem
Tisch den Rücken zu. Hätte sie das nicht getan, wäre sie
wahrscheinlich vor Hunger in Ohnmacht gefallen. Sie zitterte
am ganzen Körper, und ihr Herz flatterte in einem
alarmierenden Tempo.
»Ich werde dir nichts hier stehen lassen, Paige«, sagte Micah,
und seine Stimme wurde kalt. »Wenn du nicht mit mir
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zusammen isst, bekommst du gar nichts.«
»Sehr schön«, entgegnete Paige bestimmt. »Dann bekomme
ich gar nichts.«
Sie hörte, wie er sich setzte und den Stuhl zurückschob. Hörte
die leisen klirrenden Geräusche, als er die Hauben von den
Tellern nahm. Köstliche Düfte stiegen Paige in die Nase, und sie
wurde beinahe ohnmächtig. Ihr lief das Wasser im Mund
zusammen, als sie sich vorstellte, was alles unter den
Servierhauben gleich hinter ihr verborgen war. Das Klappern
von Messer und Gabel gab ihr den Rest.
»Du bist unglaublich!«, rief sie und wirbelte zu Micah herum.
Sie starrte ihm einen Sekundenbruchteil in die Augen, bevor ihr
Blick von dem Essen angezogen wurde. Auf den Tabletts
türmten sich Hähnchenfleisch in einer aromatischen
Zitronensoße, Pasta, Brot und Salat. Paige konnte sich nicht
erinnern, den Anblick von Salat schon einmal so
appetitanregend gefunden zu haben.
»Wie meinst du das?«, fragte Micah schelmisch und führte
eine Gabel voll Essen zum Mund.
»Ich weiß über deine ehemaligen Freundinnen Bescheid«,
sagte sie. »Hast du sie alle hier gefangen gehalten?«
»Diese Frauen haben mir nichts bedeutet«, erklärte Micah
ganz sachlich. Falls er überrascht war, dass Paige informiert
war, zeigte er es jedenfalls nicht. »Du bist doch nicht etwa
eifersüchtig, oder? Dazu besteht nämlich überhaupt kein Anlass.
Du bist die einzige Frau, die ich liebe.«
Paige gab sich keine Mühe, ihr Entsetzen und ihren Ekel zu
verbergen. Als würde sie sich im Ernst für Micahs
Vergangenheit interessieren! Als läge ihr an der Auszeichnung,
seine einzige Liebe zu sein. Hätte er ihr gestern solche Worte
zugeflüstert, wäre sie auf rosa Wolken geschwebt, aber nun
hätte sie ihm am liebsten ins Gesicht gespuckt. Innerhalb
kürzester Zeit hatte sich vieles verändert.
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»Warum sollte ich eifersüchtig auf Frauen sein, die ermordet
wurden?«, fragte Paige giftig. »Du hast sie alle auf dem
Gewissen!«
Micah schluckte, legte die Hände auf die Tischkante und
spannte den Unterkiefer an, als müsse er sich sehr am Riemen
reißen, um nicht die Beherrschung zu verlieren. »Ich habe sie
nicht getötet, Paige. Es war Aplacum.«
»Stimmt, und zwar deinetwegen«, gab Paige zurück.
»Das genügt«, sagte Micah scharf. Er ließ die Gabel fallen,
streckte seine Hand aus und zielte auf Paige. Sie zuckte
zusammen und warf sich auf die Liege, als auch schon ein
heißer Blitz an ihrem Gesicht vorbeifegte. Es gab einen
merkwürdigen Knall hinter ihr, und als sie sich umdrehte, war
die zweite Liege aus dem Garten verschwunden. Einfach so.
Micah hatte sie in Luft aufgelöst.
Innerlich schlotterte Paige vor Angst, gab sich aber alle Mühe,
es zu verbergen. Wie war es möglich, dass er über solche
Fähigkeiten verfügte?
Ich werde hier sterben, dachte sie und schluckte. Wenn Piper
und Phoebe nicht bald zurückkommen, werde ich das nicht
überleben.
»Ich will dir nichts antun, Paige«, sagte Micah ernst. »Aber
du darfst mich nicht provozieren.« Er schnitt lässig ein Stück
Fleisch ab, als führten sie ein ganz normales Dinnergespräch
und keinen Streit über die Tode unschuldiger Menschen,
durchsetzt von der willkürlichen Vernichtung unbelebter
Gegenstände.
»Es sollte dir ein Trost sein, dass Aplacum kein Thema mehr
ist«, sagte Micah und nahm einen weiteren Bissen. »Du und
deine Schwestern, ihr habt ihn für mich erledigt. Nun gibt es
keine Hindernisse mehr.«
Eine dunkle Vorahnung stieg in Paige auf, und ihr zog sich
der Magen zusammen. »Für wen gibt es keine Hindernisse
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mehr?«, fragte sie und ballte die Hände zu Fäusten.
»Für uns«, entgegnete Micah. Ersah sie durchdringend aus
seinen kalten blauen Augen an. »Für mich und die Erfüllung
meines Schicksals, wenn du so willst.«
Paiges Puls begann zu rasen, denn Micah sah sie unverwandt
an. Sie ließ sich eigentlich keine Gelegenheit entgehen, an neue
Informationen zu kommen, aber sie musste es geschickt
anstellen. Wenn Micah Verdacht schöpfte, würde er ihr
natürlich nichts mehr verraten.
»Die Erfüllung deines Schicksals?«, wiederholte Paige und
erhob sich langsam - und vorsichtig. Ein kolossaler
Schwindelanfall ergriff sie, aber sie zwang sich, langsam auf
den Tisch zuzugehen, ohne den Blick von Micahs gefährlichen
Händen zu nehmen. »Warum war Aplacum ein Hindernis für
dich?«, fragte sie und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Das
Essen war nun so nah, sie konnte kaum noch widerstehen. Aber
sie nahm alle Kraft zusammen und konzentrierte sich ganz auf
Micah.
Er sah sie argwöhnisch an. Natürlich versuchte er zu
durchschauen, warum Paige das interessieren könnte. Einen
Augenblick lang glaubte sie schon, er würde alles stehen und
liegen lassen, aber dann widmete er sich doch wieder seinem
Teller.
»Alles zu seiner Zeit«, sagte er nur. »Alles zu seiner Zeit.«
»Was hat deine Wohltätigkeitsarbeit denn damit zu tun?«,
bohrte Paige weiter. »All diese Kinder, die dir angeblich so am
Herzen liegen. Spielen sie auch eine Rolle oder sind sie nur eine
Tarnung?«
»Eine Tarnung wofür?«, fragte Micah scharf.
Für deinen wie auch immer gearteten hinterhältigen
Masterplan, dachte Paige. Aber das sagte sie natürlich nicht laut
- dafür war der heiße Blitz ihrem Gesicht ein wenig zu nahe
gekommen. »Für die Erfüllung deines Schicksals«, sagte Paige
-123-
leichthin.
»Oh nein!«, entgegnete Micah kichernd und schüttelte den
Kopf, als sei diese Idee absolut lachhaft. »Die Kinder gehören
zu der ganzen Sache dazu. Ich werde sie brauchen, wenn die
Zeit reif ist. Mittlerweile gibt es tausende von ihnen - manche
erwachsen, manche noch sehr jung. Aber ich habe dafür gesorgt,
dass sie mich alle lieben. Dass sie mich brauchen. Sie sind
absolut loyal. Wohin ich auch gehe, sie werden mir folgen.«
Paige ballte die Fäuste noch fester zusammen, als die nackte
Angst sie mit kalter Hand ergriff. Ihr stockte der Atem. »Und
wohin sollen sie dir folgen?«, fragte sie. Nur mit Mühe brachte
sie diese Frage über die Lippen.
»Jeder General braucht eine Armee, Paige«, erklärte Micah
und lächelte sie an. Er sah ihr in die Augen, dann legte er das
Besteck zur Seite. »Es tut mir Leid, ich merke, wie sehr ich dich
verwirre«, sagte er freundlich. »Wir können auch ein andermal
darüber reden. Und dann wirst du alles verstehen.«
Paige saß eine Weile schweigend da, ihr schwirrte der Kopf.
Es stimmte also: Micah wollte diese süßen kleinen Kinder
tatsächlich zur Ausführung seines Masterplans missbrauchen,
was auch immer er ausgeheckt hatte. Paige wusste aus eigener
Erfahrung, was für eine Wirkung Micah auf Menschen hatte -
sie selbst hatte bereits nach einem einzigen Date geglaubt, in ihn
verliebt zu sein. Kaum auszudenken, was er mit seinem Charme
alles bei Kindern bewirken konnte! Aber wie wollte er eine
Armee aus ihnen machen? Was genau wollte er mit ihnen
anstellen, um seine teuflischen Pläne zu realisieren?
Paige hatte eine Million Fragen auf Lager, aber es war
deutlich zu erkennen, dass für Micah das Gespräch beendet war.
Sie musste den richtigen Moment abwarten und auf eine weitere
Gelegenheit hoffen, um doch noch herauszufinden, was er im
Schilde führte.
In diesem Augenblick jedoch wollte sie nur noch alleine sein.
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Micah sollte aufstehen und verschwinden, damit sie nachdenken
konnte. Sie starrte ihn durchdringend an, damit er seine Tabletts
zusammenpackte und mit ihnen die Fliege machte - um sie
zumindest nicht mehr mit dem Anblick des Essens zu foltern.
Aber Micah schien völlig vertieft in seine Mahlzeit, und mit
jeder Sekunde wurde es schwieriger für Paige, dem Essen zu
widerstehen, das sie direkt vor der Nase hatte.
»Paige«, sagte Micah heiser. »Sieh mich an!«
Wahrscheinlich weil sie so müde war, vielleicht aber auch,
weil der unvernünftige Teil von ihr immer noch hoffte, es gäbe
bei Micah einen vernünftigen Teil, tat Paige wie ihr geheißen.
Und sobald sie ihm direkt in die Augen sah - in seine offenen,
ehrlichen, tiefblauen Augen -, wurde sie von einem
schwindelerregenden, berauschenden Gefühl erfasst. Ihr wurde
ganz leicht ums Herz und alles, was in den vergangenen
vierundzwanzig Stunden geschehen war, schien zu verfliegen.
Es gab nur Paige und Micah. Micah und Paige.
Ihr wurde ganz warm, ihr Blick verschleierte sich, und um
ihre Mundwinkel spielte ein Lächeln. Es war sehr freundlich
von Micah, sie den Garten benutzen zu lassen. Und er hatte ihr
dieses wunderbare Essen gebracht. Warum lehnte sie es ab? Wie
konnte sie so unhöflich zu diesem Mann sein, der sie doch
liebte?
»Nimm doch wenigstens ein bisschen was zu dir, Paige«,
sagte Micah, und seine Stimme ließ einen Schauder der
Erregung über ihre Haut fahren. »Ich mag dich gar nicht so
sehen.«
»Nun, vielleicht einen kleinen Salat«, sagte Paige verlegen,
die sich albern vorkam, weil sie sich so lange geziert hatte.
Als sie die Gabel vom Tisch nahm, glitt sie ihr aus den
Händen und fiel klappernd auf die Glasoberfläche des Tischs.
Paige fuhr erschreckt in die Höhe, blinzelte einige Male, und ihr
Kopf wurde plötzlich wieder klar.
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Was ist nur los mit mir?, dachte sie und legte die Gabel weg.
Hatte ich etwa gerade liebevolle Gefühle für Micah? Sie holte
tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Sie war nur im
Delirium, weil sie so lange nichts gegessen hatte, das war alles.
Von nun an musste sie einfach ein bisschen vorsichtiger sein.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte sie zu Micah und kniff die
Augen zusammen.
»Paige, ich will doch nur, dass du glücklich bist«, entgegnete
Micah.
»Das kannst du dir sparen«, gab sie zurück.
Seine Gesichtszüge verhärteten sich, und Paige merkte, wie
sich ihre sämtlichen Muskeln vor Angst anspannten. Micah sah
aus, als verlöre er die Nerven. Unwillkürlich wanderte Paiges
Blick zu seinen Händen. Was würde er tun, wenn ihm endgültig
der Geduldsfaden riss?
Micah nahm einen Schluck Wasser und dachte nach, bevor er
das Wort ergriff. »Du solltest wissen, dass mir der heutige
Besuch deiner Schwestern nicht entgangen ist«, sagte er in
gelangweiltem Tonfall.
Paige rutschte das Herz in die Schuhe. »W...wie das denn?«,
stotterte sie und vergaß jede Coolness.
»Die Überwachungskameras, erinnerst du dich?«, erklärte
Micah grinsend. »Ihr drei seid Hexen, das wusste ich ja schon,
aber deine beiden Schwestern verfügen wirklich über ziemlich
große Zauberkräfte.« Er taxierte Paige von oben bis unten, und
sie rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. »Und was ist
mit dir? Wie sieht es mit deinen Fähigkeiten aus?«, fragte er
neugierig.
»Das wirst du nie erfahren«, erwidert Paige patzig und sah zur
Seite.
»Warum hast du sie nicht gegen mich eingesetzt?«, fragte
Micah und klang dabei recht selbstgefällig.
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»Vielleicht tue ich das ja noch«, entgegnete Paige und
beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Sie würde ihm nicht
verraten, dass sie allein auf sich gestellt mit ihren Fähigkeiten
nicht viel gegen ihn ausrichten konnte. Es gab wirklich keinen
Grund, ihm das zu sagen.
»Nun, dann muss ich gut auf mich aufpassen«, sagte er mit
einem Lachen in der Stimme. »Aber ich wüsste gern, warum
deine Schwestern, wo sie doch so viel Macht besitzen, heute
keine Möglichkeit gefunden haben, dich zu befreien.«
Paige holte tief Luft und konzentrierte sich auf die
Pflastersteine der Terrasse. Die Tränen drohten ihr in die Augen
zu steigen, und sie hasste sich dafür. Sie wollte keine Schwäche
zeigen. Aber sie war nun mal schwach. Sie war erschöpft und
fast verhungert und lange würde sie nicht mehr die Starke
spielen können.
»Weißt du, was ich glaube?«, meinte Micah und beugte sich
zu ihr vor. »Ich glaube, ihnen liegt gar nicht so viel an dir, wie
du gern glauben möchtest.«
Hör nicht auf ihn!, ermahnte sich Paige und verschränkte die
Arme noch fester. Er weiß ja nicht, wovon er redet. Du darfst
der Verzweiflung nicht nachgeben, sonst hat er dich genau da,
wo er dich haben will!
»Ich wette, sie sagen dir die ganze Zeit, wie sehr sie um dich
besorgt sind, nicht wahr?«, bohrte Micah und schien mit seiner
Stimme jeden Nerv in ihrem Körper zu berühren. »Aber darauf
kommt es gar nicht an, Paige. Zeigen sie es dir denn auch?
Nehmen sie Rücksicht auf deine Bedürfnisse? Auf die Dinge,
die für dich wichtig sind?«
Nein!, antwortete die Stimme in ihrem Kopf reflexartig. Sie
hören mir nicht zu! Sie achten nicht auf mich!
Paige schloss fest die Augen und brachte die Stimme zum
Schweigen. Das war nur die Verzweiflung, die aus ihr sprach.
Sie durfte sich nicht von Micah unterkriegen lassen. Paige
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richtete sich auf, straffte die Schultern und sah Micah fest in die
Augen. »Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest«, sagte sie.
»Und ich würde es wirklich sehr zu schätzen wissen, wenn du
dir dein ekelhaftes Essen unter den Arm klemmst und
verschwindest.«
Micahs Lächeln erstarb. Er hörte auf zu kauen. Ganz
offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass man so mit ihm
sprach, und es passte ihm gar nicht. Einen Augenblick lang
befürchtete Paige, das Maß nun überschritten zu haben, aber
Micah erhob sich nur vom Tisch und legte sein Besteck neben
dem Teller ab.
»Also gut. Wenn es das ist, was du willst...«, sagte er. Er
setzte die silbernen Hauben auf die Teller und ließ nur den
Brotkorb offen. Dann drehte er sich zum Haus um und rief:
»George!«
Der ältliche Diener erschien blitzartig auf der Bildfläche. Wie
Paige klar wurde, musste er die ganze Zeit auf der anderen Seite
der Hecke gewartet haben. Am Tisch angekommen, nahm er
eins der Tabletts, wartete ab, bis Micah das zweite genommen
hatte, und folgte seinem Herrn hinaus.
An der Öffnung in der Hecke blieb Micah noch einmal stehen
und drehte sich zu Paige um. »Gute Nacht«, sagte er. »Ich hoffe,
bis morgen kommst du wieder zur Vernunft.«
Paige sagte nichts, aber als Micah hinter der Hecke
verschwunden war, hob sie rasch die Hand und flüsterte: »Brot.«
Der warme Laib verschwand in einem Wirbel aus weißem Licht
von Georges Tablett und tauchte in Paiges Hand wieder auf. Der
Mann bemerkte es nicht einmal, und dann waren er und Micah
auch schon verschwunden.
Paige ließ sich auf die Liege fallen und biss hungrig in das
Brot. Sie dachte keine Sekunde mehr an ihren früheren Schwur,
nichts zu essen, was Micah ihr gab. Was er nicht weiß, macht
ihn nicht heiß!, dachte sie. Schließlich musste sie bei Kräften
-128-
bleiben, bis Piper und Phoebe zurückkehrten. Sie würden die
Kraft der Drei brauchen, um Micah zu bekämpfen, und wenn sie
nichts aß, stand ihnen am Ende höchstens die Kraft der
Zweieinhalb zur Verfügung.
Das Brot zerging Paige förmlich auf der Zunge. Noch nie in
ihrem Leben hatte sie etwas so Köstliches gegessen!
Aber dann wanderten ihre Gedanken wieder zu Piper und
Phoebe. Wann kommen die beiden endlich zurück?, dachte sie.
Natürlich maß sie Micahs Sticheleien keinerlei Bedeutung
bei, aber insgeheim fragte sie sich doch, ob er nicht zum Teil
Recht gehabt hatte. Es waren die kleinen Dinge, auf die ihre
Schwestern in letzter Zeit nicht geachtet hatten - ausgerechnet
ihren Lieblingsteil der Zeitung hatten sie weggeworfen,
enthielten ihr das Auto vor, kritisierten blind an ihrem Freund
herum...
Okay, in dieser Hinsicht hatten sie mehr als Recht behalten,
aber dennoch: Mussten sie ihr denn bei jeder Kleinigkeit
widersprechen?
»Nein, sie lieben mich«, sagte Paige laut und schüttelte den
Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen. »Das tun sie. Micah
versucht nur, mir etwas einzureden.«
Der Himmel war nun völlig dunkel, und Paige sah hinauf zu
den Sternen. Ihre zweite Nacht in Gefangenschaft begann.
»Wo bleibt ihr denn?«, flüsterte sie beklommen in die
Finsternis. »Wenn ihr mich so sehr liebt, warum lasst ihr mich
dann so lange warten?«
»Da steht nichts drin!«, rief Piper und schlug das Buch der
Schatten zu. Am liebsten hätte sie das kostbare Familienerbstück
auf den Boden geschleudert, so frustriert war sie. »Warum steht
denn da nichts über magische Kräftefelder drin!«
Sie fing an, auf und ab zu marschieren und schob sich mit den
-129-
Händen das Haar aus dem Gesicht. Es war schon stockfinster
draußen, und Paige war ganz allein. Nicht auszudenken, was
Micah ihr bislang schon angetan haben konnte und was er
gerade in diesem Augenblick mit ihr tat. Eine tolle Schwester
bin ich, dachte sie, eine wahnsinnige Hilfe. »Ich halte das nicht
mehr aus, Phoebe«, sagte sie und die
Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich halte es nicht mehr aus.
Sie sitzt in dem Garten fest, und wir können nichts tun!«
Sie setzte sich auf die altersschwache Couch, stützte den Kopf
auf die Hände und blickte hilflos zu Boden. Und wie sie so
dasaß, hatte sie den Eindruck, der muffige Speicher würde
immer kleiner und kleiner. Sie bekam kaum noch Luft.
»Es wird schon werden«, sagte Phoebe beruhigend, setzte sich
neben sie und legte ihr einen Arm um die Schulter. »Wir werden
sie befreien.«
Piper sah zur Decke auf, atmete tief durch und versuchte, die
Tränen zurückzudrängen. »Wo ist Leo?«, fragte sie mit
brechender Stimme. »Wo bleibt er nur so lange?«
In diesem Augenblick orbte Leo auch schon mitten in den
Raum, aber Pipers Erleichterung über den Anblick ihres
Ehemannes war nur von kurzer Dauer. Sie sah ihn nur flüchtig
an und hatte das Gefühl, als zöge ihr jemand die Couch unter
dem Gesäß weg. »Was ist los?«, fragte sie, obwohl sie gar nicht
so sicher war, ob sie die Antwort verkraften konnte.
»Es sieht nicht gut aus«, sagte Leo, der in solchen Situationen
nicht lange um den heißen Brei herumredete. »Micah ist in der
Tat Vandalus, und er ist wirklich gefährlich.«
»Wie gefährlich?«, fragte Phoebe, die Piper immer noch im
Arm hielt.
»Wenn er sämtliche Geschütze auffährt, dürfen wir uns auf
ein richtiges Armageddon gefasst machen«, entgegnete Leo und
sah die beiden ernst an.
-130-
»Ja, so was Ähnliches haben wir uns auch schon gedacht«,
sagte Piper und erhob sich. »Einen von Micahs kleinen Tricks
haben wir heute schon erleben dürfen.«
»Was für einen kleinen Trick?«, fragte Leo und runzelte die
Stirn.
»Falls man es als kleinen Trick bezeichnen möchte, wenn er
jemandem in die Augen sieht und ihn so dazu bringt, ihm eine
Million Dollar zu überweisen«, erklärte Phoebe und lehnte sich
gegen die Couch. Sie sah sehr blass aus. Piper ahnte, dass ihre
Schwester sich die Szene in Reingolds Büro noch einmal in
Erinnerung rief.
»Wie können wir ihn besiegen, Leo?«, fragte Piper. »Wir
dachten, er sei ein Mensch, dabei hat er mehr Macht als wir drei
zusammen. Er kann die Leute zu allem Möglichen bewegen.«
Leo trat ans Fenster und legte die Hand ans Kinn. »Wenn er
nur ein wenig Zauberkraft besäße, könnte ich das verstehen«,
sagte er nachdenklich. »Er ist schon sehr lange auf der Erde, und
ein Dämon wie er wird sicherlich nach Möglichkeiten suchen,
wie er wieder zu neuer Stärke gelangen kann.«
»Aber die Frage ist doch, was er mit Paige vorhat«, meinte
Phoebe. »Wenn er sie töten wollte, hätte er das schon
millionenmal tun können.«
»Ja, jetzt kommt das Unheimliche an der Sache«, sagte Leo
und drehte sich zu den beiden Schwestern um. »Um wieder zu
Vandalus zu werden, ist Micah auf eine gewisse Kleinigkeit
angewiesen.«
In Pipers Gesicht malten sich Argwohn und Ekel. »Ich traue
mich gar nicht nachzufragen«, bemerkte sie.
»Er braucht einen Kuss«, fuhr Leo fort. »Einen Kuss aus
echter Liebe.«
»Einen Kuss?«, wiederholte Piper verblüfft. Dann traf sie die
Erkenntnis wie ein Blitz. »Deshalb hat Aplacum die drei
-131-
Mädchen getötet! Und bei Regina hat er es auch versucht!
Solange er verhindern konnte, dass Micah diesen Kuss aus
echter Liebe bekam, hatte er unter den Dämonen keinen
ernsthaften Gegner zu fürchten.«
»So ist es«, bestätigte Leo.
»Aber... Regina und Micah haben sich viele Male geküsst«,
sagte Phoebe und beugte sich auf der Couch vor. »Warum hat
sie den Dämon in ihm nicht geweckt?«
»Wie mir der Hohe Rat erklärte, hat Micah in der
Vergangenheit schon unzählige Frauen geküsst«, sagte Leo.
»Und viele dieser Frauen haben ihn geliebt... oder wenigstens
dachten sie das. Aber aus irgendeinem Grund hat es nie
funktioniert.«
»Wie frustrierend für den armen kleinen Dämon«, bemerkte
Piper sarkastisch.
»Aber der Hohe Rat nimmt an, wenn eine der Zauberhaften
sich in ihn verliebt, wird die Macht ihres Kusses vielleicht stark
genug sein, um Vandalus zu befreien«, sagte Leo.
Piper merkte, wie sie sich innerlich verkrampfte. »Also wird
er Paige benutzen, um sich wieder in diesen Dämon zu
verwandeln und die Weltherrschaft anzutreten«, sagte sie, und
es lief ihr kalt über den Rücken.
»Aber dann ist das Problem doch vom Tisch!«, rief Phoebe
fröhlich aus, warf ihr langes braunes Haar nach hinten und
sprang von der Couch auf.
»Wie meinst du das denn?«, fragte Piper und zog die
Augenbrauen hoch. »Warum ist das Problem dann vom Tisch?«
»Weil...«, sagte Phoebe gedehnt und verdrehte angesichts der
Begriffsstutzigkeit ihrer Schwester die Augen, »Paige diesen
fiesen Dämon, der sie gefangen hält, niemals küssen und sich
schon gar nicht in ihn verlieben wird.«
»Es sei denn...«, bemerkte Leo und verzog das Gesicht.
-132-
»Es sei denn, er sieht ihr in die Augen«, vervollständigte
Piper den Satz.
Alle Farbe wich aus Phoebes Gesicht. »Oh Gott!«
»Allerdings«, sagte Leo und faltete die Hände. »Auf diese
Weise hat er so viele Mädchen dazu gebracht, sich in ihn zu
verlieben. Je länger Paige ihm dort in seinem Garten ausgeliefert
ist, desto schwerer wird es für sie, ihm zu widerstehen -
besonders, wenn sie gar nicht weiß, um was es geht.«
»Piper!«, sagte Phoebe voller Angst.
Piper zerriss es fast das Herz. »Wir müssen sie da
rausholen!«, sagte sie. »Wir müssen einen Weg finden. Und
zwar sofort!«
-133-
12
PAIGE sass auf einer der Steinbänke im Blumengarten und
ließ sich nach einer weiteren Nacht, in der sie unter freiem
Himmel gefroren hatte, von den warmen Sonnenstrahlen die
Kälte aus den Knochen vertreiben. Sie hatte kaum geschlafen
und nur an ihre Schwestern gedacht. Pausenlos hatte sie sich
gefragt, wo sie nur blieben, und auf Geräusche an der
Gartenmauer gelauscht. Neben dem Loch in der Mauer war sie
schließlich, mit dem Rücken an die kalte, raue Oberfläche des
Hindernisses gelehnt, eingenickt. Piper und Phoebe hatten sich
nicht blicken lassen und so war Paige mit einem schmerzhaften
Knoten im Rücken wach geworden und mit einem noch
schmerzhafteren im Herzen.
»Sie kommen nicht wieder«, flüsterte sie. Ihr blieb nichts
anderes übrig, als diese Tatsache zu akzeptieren.
Wenn ihren Schwestern wirklich an ihr läge - wenn sie
tatsächlich um ihre Sicherheit besorgt wären -, dann hätten sie
doch wenigstens noch einmal nach ihr gesehen. Auch wenn sie
noch keinen Weg gefunden hatten, sie zu befreien, hätten sie
doch noch einmal vorbeikommen können, um mit ihr zu reden.
Warum hatten sie es nicht getan?
»Weil ich ihnen egal bin«, sagte Paige zu sich selbst, und ihr
Herz zog sich schmerzhaft zusammen. »Micah hatte Recht. Das
ist nun mein neues Leben. Ich werde den Rest meines Lebens in
diesem miesen Kleid verbringen, mir Essen erschleichen und
mich zu Tode langweilen.« Sie war zwar erst eineinhalb Tage in
Gefangenschaft, aber da sie nichts zu tun hatte und mit
niemandem reden konnte, kam ihr die Zeit zehnmal so lang vor.
Zwei Vögel segelten über sie hinweg und jagten sich
gegenseitig über den strahlend blauen Himmel. Paige lächelte
traurig. Es war schon okay. Wenigstens war ihre Umgebung
-134-
wunderschön und offen und strahlend. Er hatte sie zumindest
nicht in einem feuchten, muffigen Verlies eingekerkert - so viel
musste man Micah immerhin lassen.
»Paige?«
Sie setzte sich erschreckt auf und wartete, bis das nun schon
gewohnte Schwindelgefühl verflogen war. Micah war leise
neben ihr aufgetaucht. Er hielt eine Einkaufstasche in den
Händen und lächelte auf sie herab. Die Sonne stand ihm im
Rücken und tauchte seine Gestalt in warmes Licht. Er sah aus
wie ein Engel.
Ein Dämonenengel allerdings, dachte Paige. Dann rührte sich
etwas in den Tiefen ihres Bewusstseins, ein nagendes Gefühl,
und sie sah ihn an und wartete auf den Funken der Erkenntnis. -
Er hatte ihr am Vortag irgendetwas erzählt. Etwas Wichtiges.
Etwas, an das sie sich besser erinnerte. Aber es war
verschwunden. Was immer es war, es war einfach weg.
Spielt sowieso keine Rolle, dachte Paige ernüchtert. Selbst
wenn ich etwas über ihn wüsste, könnte ich ja doch nichts damit
anfangen.
»Ich habe dir ein paar Sachen gebracht, um es dir...
angenehmer zu machen«, sagte Micah und setzte sich fast
zögernd neben sie.
Paige wusste, er rechnete damit, wieder von ihr abgewiesen
zu werden, aber ihr Widerstand war gebrochen. Auch hatte sie
keine Angst mehr vor ihm. Sein Anblick weckte überhaupt kein
Gefühl mehr in ihr. Vielleicht gehörte das nun auch zu ihrem
Leben - nichts mehr zu fühlen.
Micah zog die große Tasche näher zu sich und holte ein paar
ledergebundene Bücher heraus. Paiges Herz machte einen
Sprung. Offenbar konnte sie doch noch etwas fühlen: totale
Erleichterung zum Beispiel. Als wäre ihr ein Rettungsring
zugeworfen worden. Sie schnappte sich die Bücher und ging
neugierig die Titel durch.
-135-
»Austen... James... Bronte... Cather«, las sie, und ihre Augen
wurden immer größer.
Als sie Vernunft und Gefühl aufklappte, strich sie zärtlich mit
den Fingern über die erste Seite. Sie konnte es nicht erwarten,
sich in die Geschichten zu vertiefen. Alles war besser, als Tag
und Nacht herumzusitzen und nachzudenken... und langsam zu
begreifen, dass ihr niemand zu Hilfe kam.
»Gefallen sie dir?«, fragte Micah, und seine Augen leuchteten
auf. »Wie mir einfiel, hast du bei unserem ersten Date diese
Autorinnen erwähnt, aber ich wusste nicht, welche Titel dir
gefallen.«
Paige stapelte die Bücher auf ihrem Schoß und sah Micah an.
Ihre Augen waren voller Hoffnung, denn sie erinnerte sich an
die vielen guten Eigenschaften, die sie an ihm bemerkt hatte,
und an die Romantik und Magie ihrer ersten Verabredung. Es
war sehr aufmerksam von ihm, ihr diese Bücher zu bringen. Er
wüsste, sie brauchte Zerstreuung. Auch wenn er sie gegen ihren
Willen festhielt, war er in gewissen Sinne um ihr Wohl besorgt.
Im Gegensatz zu ihren Schwestern, die offenbar vergessen
hatten, dass sie überhaupt existierte.
»Danke«, sagte sie.
Micah strahlte sie an, und Paiges Herz machte einen
Freudensprung.
Komm schon, Mädchen, reiß dich am Riemen!, sagte sie zu
sich selbst. Das ist immerhin der Typ, der dich gefangen hält.
Der Dämon, der dich gefangen hält!
»Und das hier habe ich dir auch mitgebracht«, sagte Micah.
Er griff in die Tasche und holte ein Sweatshirt, eine Sweathose,
Socken und ein anderes Paar Sneakers heraus. »Als ich neulich
bei dir zu Hause war, hast du so etwas getragen. Ich dachte,
vielleicht gefallen dir diese Sachen besser als das, was ich dir
gestern gebracht habe.«
-136-
Paige griff nach dem Sweatshirt und ließ die Finger über die
Innenseite des Stoffes gleiten. Die Berührung des flauschigen
Gewebes verursachte ihr eine Gänsehaut auf den nackten
Armen.
Es könnte mir so gut gehen, dachte sie und sah auf ihr dünnes
Kleid herab. Warum bestrafe ich mich selbst derart? Wer weiß,
wie lange ich noch hierbleiben muss! Vielleicht für immer...
»Und eines noch«, sagte Micah. Diesmal holte er eine
Plastikbox aus der Tasche und stellte sie zwischen sich und
Paige auf die Bank. Er öffnete sie, und zum Vorschein kamen
ein Stück Seife, kleine Fläschchen mit Shampoo und
Pflegespülung, Zahnpasta, Zahnbürste und eine Haarbürste.
»Die Dusche im Gartenhaus hast du ja bestimmt schon
entdeckt«, sagte er.
Paige griff mit zitternden Händen nach der Seife. Kaum zu
glauben, wie dankbar man für so etwas Einfaches wie ein Stück
Seife sein konnte - für etwas, das sie in ihrem bisherigen Leben
immer für selbstverständlich gehalten hatte. Plötzlich war sie
überwältigt von der Vorstellung, wie gut es tun würde, zu
duschen, den Schmutz der vergangenen Tage von ihrem Körper
zu waschen und in diese warmen, sauberen Kleider zu steigen.
Tu es nicht!, warnte eine kleine Stimme in ihrem Kopf. Du
darfst dir von ihm nichts Gutes tun lassen!
Ihr Überlebensinstinkt machte sich zwar lautstark bemerkbar,
aber das Bedürfnis, ihren Körper nicht mehr zu riechen, war
noch größer.
»Danke, Micah«, sagte sie, legte die Bücher zur Seite und
nahm die Toilettenartikel und die neuen Kleider. »Ich gehe dann
mal...«, sagte sie und nickte in Richtung des angrenzenden
Gartens, wo sich der Geräteschuppen mit der Dusche befand.
Micah erhob sich gut gelaunt. »Wenn du fertig bist, gibt es
Frühstück.«
Paige setzte ein Lächeln auf, drückte ihre neuen Sachen fest
-137-
an sich und marschierte Richtung Dusche. Eigentlich hätte sie
über ihre Flucht nachdenken sollen, das wusste sie. Sie musste
versuchen, sich zu erinnern, was Micah ihr am Vortag erzählt
hatte... etwas über sein Schicksal oder so. Aber in diesem
Augenblick konnte sie nur daran denken, wie schön sich heißes
Wasser auf der Haut anfühlte und daran, ob Micahs Koch an
zwei aufeinanderfolgenden Tagen wohl Pfannkuchen servieren
würde.
»Das Frühstück ist so lecker!«, sagte Paige, nahm noch einen
Bissen von ihrem in Ei gebackenen Toast und genoss den
köstlichen Geschmack. Also keine Pfannkuchen, dachte sie,
aber das hier ist genauso gut. »Es ist erstaunlich, dass du bei so
einem Koch in deiner Küche noch nicht dick und rund geworden
bist!«, rief sie.
Micah lächelte sie an, und sie errötete, als ihr bewusst wurde,
dass sie ins Plappern geraten war. Sie konnte nichts dafür, aber
sie plapperte tatsächlich mit ihrem Peiniger. Seit sie geduscht
hatte - so lange wie seit ihrer Teenagerzeit nicht mehr, als sie
ständig den gesamten Heißwasserspeicher geleert hatte -, fühlte
sie sich viel unbeschwerter. Fast glücklich. Sie war sauber und
warm angezogen. Und nun hatte sie sich satt gegessen. All die
lang entbehrten Genüsse vermischten sich zu einer einzigen
großen unkontrollierbaren Euphorie.
»Möchtest du vielleicht ein wenig mit mir spazieren gehen?«,
fragte Micah und beugte sich zu ihr vor.
Sie hätte nein sagen sollen, das war Paige in ihrem tiefsten
Innern bewusst. Micah sollte keine Belohnung dafür bekommen,
dass er sie menschlich behandelte - schließlich hielt er sie als
Gefangene. Aber da war sie wieder, diese unverhohlene
Hoffnung in seinen Augen, die sie dazu drängte, ihm zu geben,
was er verlangte. Abgesehen davon war es ja nur ein
Spaziergang. »Sicher«, sagte sie ruhig.
-138-
Sie schob den Stuhl zurück und kam um den Tisch herum. Als
Micah sie jedoch an die Hand nehmen wollte, beschlich sie ein
ungutes Gefühl. So dankbar sie ihm auch für das Essen, die
Kleider, die Dusche und die Bücher war, wollte sie ihn doch
lieber nicht berühren. Und so schob sie die Hände in die
Bauchtasche ihres Sweatshirts. Enttäuschung zeichnete sich auf
Micahs Gesicht ab, aber er sagte nichts. Er verschränkte nur die
Hände auf dem Rücken und ging los.
»Ich bin sehr froh, dich hier zu haben, Paige«, sagte er und
richtete den Blick in weite Ferne. »Du machst dir ja keine
Vorstellung, wie einsam mein Leben hier ist.«
Paige hielt den Blick auf den Boden gerichtet. Sie wusste sehr
gut, wie es war, sich allein zu fühlen - und das nicht erst seit den
vergangenen beiden Tagen. Ihre Adoptiveltern waren bei einem
Autounfall ums Leben gekommen, als sie noch auf der High
School gewesen war, und sie hatte rasch erfahren, wie sich
Einsamkeit wirklich anfühlte. Aber davon wollte sie nicht
sprechen. Nicht mit Micah. Noch nicht.
»Ich weiß, du hältst mich für... böse«, sagte er mit einem
ungläubigen Lachen. »Aber so einfach ist das nicht. Mit all
deiner Erfahrung müsstest du doch wissen, dass es nicht nur
Schwarz und Weiß gibt.«
Durch die Öffnung in der Hecke gelangten sie in den
Blumengarten, der im Licht der Morgensonne förmlich vor
bunten Farben explodierte. Paige blieb an der Hecke zurück, als
Micah zu den Rosenbüschen hinüberging. Sie beobachtete, wie
er zärtlich eine der vielen Blüten berührte und sie voller Liebe
und Bewunderung betrachtete.
Paige war sehr wohl über die verschiedenen
Grauschattierungen zwischen Schwarz und Weiß im Bilde. Es
gab Regeln, die waren dazu gemacht, gebrochen zu werden.
Manchmal musste man fragwürdige Dinge tun, um letztlich zu
dem richtigen Ergebnis zu kommen. Cole war ein gutes
-139-
Beispiel. Er schaffte es, den Dämon in seinem Innern in Schach
zu halten. Er war ein guter Mensch, obwohl der Dämon
Balthasar in ihm lauerte und auf die Chance wartete, sein böses
Gesicht zu zeigen.
Wenn Cole gegen seine dämonische Natur ankämpfen konnte,
gelang es Micah vielleicht auch, überlegte Paige. Vielleicht war
dies der Grund, warum er sie in dem Garten festhielt. Weil er
Zeit brauchte, um ihr zu zeigen, wer er wirklich war, und weil er
wusste, dass sie ihm anders nicht zuhören würde. Paige hielt
Kidnapping zwar nicht für die richtige Methode, aber plötzlich
verstand sie, warum Micah sie gewählt hatte.
Micah kam zu ihr zurück und brachte die schönste Blüte mit,
die sie je gesehen hatte: eine schneeweiße Lilie von
überirdischer Schönheit.
»Ich möchte doch nur eine Frau haben, die mich so liebt, wie
ich wirklich bin, Paige«, sagte Micah, als sie mit klopfendem
Herzen behutsam die Lilie aus seinen Händen entgegennahm.
»Und du könntest diese Frau sein. Das wurde mir bewusst, als
ich dich zum ersten Mal sah.«
Paige schnupperte an der Lilie und ließ sich von dem süßen
Duft berauschen. Als sie durch ihre dichten Wimpern zu Micah
aufschaute, hatte sie das Gefühl, ihn zum ersten Mal richtig
anzusehen. Er war so gut aussehend, so offen, so kultiviert, so
fürsorglich. Er mochte ja etwas Dämonisches in sich tragen,
aber durch und durch schlecht konnte er einfach nicht sein.
Wenn jemand so wunderbare Eigenschaften hatte, war er mit
Sicherheit nicht ganz böse.
Ein leichter Wind kam auf und zerzauste ihr die Frisur. Micah
sah ihr unverwandt in die Augen und strich ihr das Haar aus
dem Gesicht. Als er Paige dabei mit den Fingerspitzen leicht an
der Wange berührte, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper.
»Ich fahre da jetzt noch mal hin«, verkündete Piper und
-140-
schnappte sich den Autoschlüssel vom Tisch neben der Haustür.
Sie holte noch ihre Jacke vom Garderobenhaken und war schon
zur Tür hinaus, als Leo und Phoebe hinter ihr die Treppe
heruntergeeilt kamen.
»Piper, was willst du denn machen, wenn du da bist?«, fragte
Phoebe atemlos. »Du weißt doch, du kommst an dieser Barriere
nicht vorbei.«
Piper war frustriert bis über beide Ohren. »Das weiß ich
selber!«, rief sie und drehte sich aufgebracht zu Phoebe um.
»Aber ich kann es nicht mehr ertragen, sie dort allein zu lassen.
Ich will wenigstens nachsehen, ob es ihr gut geht.«
Sie ballte die Hände zu Fäusten und musste all ihre
Beherrschung aufbringen, um ihre Zauberkräfte nicht dazu zu
missbrauchen, die Glastür zersplittern zu lassen, die in den
Salon führte. Natürlich war Zerstörung nicht das geeignete
Ventil für ihren ganzen Frust, das wusste sie, aber ein verdammt
gutes Gefühl wäre es doch!
»Okay, ich weiß ja, wie beunruhigt du bist«, sagte Phoebe und
kam auf ihre Schwester zu. »Aber wir brauchen erst mal einen
vernünftigen Plan. Und wenn es stimmt, was Leo gesagt hat,
dann sollten wir uns damit besser ein wenig beeilen.«
Piper sah von Phoebe zu Leo, die erwartungsvoll ihren Blick
erwiderten. Sie gingen zweifellos davon aus, dass es Pipers
Aufgabe war, sich diesen Plan auszudenken. Und warum auch
nicht? Zu den schweren Aufgaben, die ihr nun als der ältesten
im Bunde auf den Schultern lasteten, gehörte auch, auf alles eine
Antwort zu haben. Aber in diesem Fall fiel ihr einfach nichts
ein. Diesmal brauchte sie jemanden, der sich um sie kümmerte -
der ihr sagte, was zu tun war. Denn wenn es um Paige ging,
konnte sie nicht klar denken. Paige war ihre kleine Schwester,
die gerade erst in ihr Leben getreten war und nun in großer
Gefahr schwebte - und Piper fühlte sich schuldig.
»Ich hätte sie Montag Abend nicht wieder gehen lassen
-141-
dürfen, Phoebe«, sagte sie unter Tränen. »Oder ich hätte
wenigstens ihren Schutzkristall überprüfen müssen. Es ist eine
Katastrophe, dass Micah sie nun dort gefangen hält.«
»Ist schon okay«, sagte Phoebe und umarmte Piper. Piper
klammerte sich an sie, als ginge es ums nackte Leben. Als
Phoebe sich von ihrer Schwester löste, spiegelte sich
Entschlossenheit in ihrem Gesicht. »Ich werde eine Formel
finden, mit der wir die unsichtbare Wand zerstören können. Und
wenn nicht, finden wir einen anderen Weg. In der Zwischenzeit
sollte jemand nach Paige sehen, da hast du wirklich Recht.«
Piper nickte, und Phoebe drehte sich zu Leo um. »Bring du sie
doch hin!«, schlug sie vor. »Ich mache mich hier sofort an die
Arbeit.«
»Okay«, willigte Leo ein. Er ging zu Piper, legte seine starken
Arme um sie und küsste sie auf die Stirn. »Beeil dich«, sagte er
zu Phoebe. »Wir sind bald zurück.«
Piper schmiegte ihr Gesicht an Leos Brust und ließ sich
eingehüllt in die Wärme seines weißen Lichts davontragen.
Einen Sekundenbruchteil später hatten sie sich auch schon
wieder in exakt derselben Pose vor der Mauer um Micahs
Anwesen materialisiert.
Piper suchte das Loch in der Mauer, das Phoebe freigelegt
hatte, und kniete sich davor. Als sie Paige nirgends entdeckte,
bekam sie furchtbare Angst. »Paige?«, rief sie verzweifelt.
»Paige! Wo bist du?«
Es gab keine Antwort. Nichts rührte sich. Piper sah zu Leo
auf. »Sie ist nicht da«, sagte sie und bekam Panik.
»Piper, sie kann irgendwo auf dem großen Gelände sein«,
beruhigte Leo sie und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Versuch es einfach weiter!«
»Paige!«, rief Piper. »Ich bin's, Piper. Wo bist du?«
Endlich kam Paige in den Garten, und Pipers Herz setzte
-142-
einen Schlag aus. Sie sah ganz in Ordnung aus. Sie wirkte
regelrecht... heiter. Paige sah zu dem Loch in der Mauer und
kam ganz langsam zu Piper hinüber. Piper quetschte sich dichter
an die Öffnung und erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte.
Eigentlich hätte sie erwartet, Paige käme wie am Vortag
herübergerannt, aber ihre Schwester schien nicht einmal
überrascht - geschweige denn erfreut -, sie zu sehen.
»Hallo Piper«, sagte Paige und ging vor dem Loch in die
Knie. Sie klang so unbeteiligt, als telefoniere sie mit einer
entfernten Bekannten.
»Geht es dir gut?«, fragte Piper besorgt.
»Sicher«, entgegnete Paige schulterzuckend und spielte
abwesend mit dem Kapuzenbändel ihres blauen Sweatshirts. Ihr
gelassener, entrückter Gesichtsausdruck stand im krassen
Gegensatz zu ihrer furchtbaren Angst am Vortag. Heute machte
sie auf Piper regelrecht einen zufriedenen Eindruck.
Piper kniff die Augen zusammen und beobachtete Paiges
Hände. »Paige, wo hast du diese Kleider her?«, fragte sie.
»Die? Die hat Micah mir gegeben«, antwortete Paige und sah
an sich herunter. »Sie sind echt bequem. Er war wirklich sehr
nett zu mir, Piper. Er hat mir Bücher gebracht, leckeres Essen
für mich zubereiten lassen und mir Blumen gepflückt...«
Er hat sie schon rumgekriegt!, dachte Piper alarmiert, und ihr
zog sich der Magen zusammen. Paige glaubte bereits, dass
Micah sich etwas aus ihr machte. Und wenn er schon so weit
gekommen war, brauchte er gewiss nicht mehr lange, bis sie
sich ernsthaft in ihn verliebte.
»Was soll ich nur tun?«, raunte Piper Leo tonlos zu.
»Du musst sie irgendwie aus ihrem Zustand aufwecken«, gab
Leo leise zurück.
»Paige, Süße, hör mal... Du darfst Micah nicht vertrauen«,
sagte Piper verzweifelt und presste beide Hände gegen die
-143-
Mauer. »Er hat dich mit irgendeinem Dämonenzauber belegt. Er
bringt dich dazu, ihn zu lieben, aber das tust du eigentlich gar
nicht.«
»Und warum seid ihr gestern Abend nicht noch mal
zurückgekommen?«, fragte Paige nur und wirkte denkbar
uninteressiert an der Antwort.
»Paige...«
»Ach, du musst es nicht mir erklären, Piper«, fuhr sie fort.
»Ich weiß, du hast viel um die Ohren. Du hast Leo und den Club
und deine echte Schwester Phoebe. Ich kann nachvollziehen,
warum es auf deiner Prioritätenliste nicht ganz oben steht, mich
hier rauszuholen.«
Piper bekam eine ganz trockene Kehle, und sie brauchte eine
Weile, um ihre Stimme wiederzufinden. War das wirklich
Paiges ehrliche Meinung oder war es Micahs Zauber, der da aus
ihr sprach? »Paige, bitte hör mir zu«, sagte sie. »Micah hat die
Fähigkeit...«
»Ich weiß, ich weiß«, entgegnete Paige und verdrehte die
Augen. »Micah ist ein böser Dämon, blablabla. Aber du kennst
ihn gar nicht richtig, Piper. Nicht so wie ich. Ich kann das Gute
in ihm sehen. Er ist sehr sensibel, romantisch und fürsorglich. Er
ist nicht schlecht und böse, Piper. Das kann nicht sein!«
Piper ließ resigniert den Kopf sinken und legte ihre Stirn an
die Mauer. Das konnte doch nicht wahr sein! Paige fiel doch
nicht wirklich auf diesen Bastard herein! Was tat er ihr nur an!
»Sag etwas«, flüsterte Leo ihr zu und hockte sich neben sie.
»Egal was!«
»Paige, das ist nicht real«, sagte Piper, und ihre Stimme
brach. »Du musst dagegen ankämpfen. Micah benutzt dich nur,
um wieder zu Vandalus zu werden. Er ist böse, Paige!«
Paige schmollte. »Weißt du überhaupt, was du da sagst?«, gab
sie zurück. »›Er ist böse, Paige‹- dass ich nicht lache! Alles, was
-144-
Micah will, ist, mit mir zusammen zu sein. Und das ist mehr als
man von dir und Phoebe sagen kann.«
Ihre Worte schnitten Piper tief ins Herz. »Paige, das meinst du
doch nicht ernst! Du kannst doch nicht...«
Aber Paige war schon wieder aufgestanden. Plötzlich sah
Piper durch das Mauerloch nur noch ihre Beine. »Ich muss jetzt
gehen«, sagte Paige, und ihre Stimme klang gedämpft und
entfernt. »Es ist bald Zeit fürs Dinner und ich möchte mich noch
ein bisschen hübsch machen für Micah. Er kümmert sich so
rührend um mich...«
»Paige!«, rief Piper und ging mit dem Mund ganz dicht an das
Loch in der Mauer. »Paige! Geh nicht!«
Aber als sie wieder durch die Öffnung spähte, sah sie, wie
Paige sich immer weiter von der Mauer entfernte. So laut sie
auch nach ihr rief, so flehentlich ihre Stimme auch klang, Paige
drehte sich nicht einmal mehr zu ihr um. Als sie schließlich
durch die Hecke verschwunden war, wandte sich Piper ab,
plumpste zu Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die
Mauer. »Wir haben sie verloren, Leo«, sagte sie ungläubig.
»Wir haben sie tatsächlich verloren.«
-145-
15
PHOEBE riss das oberste Blatt von ihrem Schreibblock ab,
zerknüllte es zu einer festen Kugel, warf sie ein paarmal von
Hand zu Hand und donnerte sie dann laut stöhnend durchs
Zimmer. So frustriert war sie beim Schreiben seit der
Collegeprüfung nicht mehr gewesen, aber Zauberformeln
ausdenken war nun mal keine leichte Übung. Besonders, wenn
möglicherweise die Freiheit ihrer Schwester - ihr Leben gar -
davon abhing.
»Okay, du musst dich konzentrieren! Das hast du doch schon
millionenmal gemacht«, sagte Phoebe laut, ließ sich gegen die
Rückenlehne der Couch fallen und entknotete die übereinander
geschlagenen Beine. Eine Strähne hatte sich aus ihrem
geflochtenen Zopf gelöst und kitzelte sie an der Wange.
Ungeduldig strich Phoebe sie hinters Ohr. Sie nahm den
Notizblock auf den Schoß, hielt den Stift einsatzbereit und biss
sich auf die Unterlippe.
»Mal sehen... Wände... Barrieren... Mauern...« Phoebe blickte
nachdenklich zur Decke und durchforstete ihren Wortschatz.
»Was reimt sich alles auf Wände...?«
Plötzlich erschien ein Wirbel aus weißem Licht, und Phoebe
schreckte überrascht aus ihren Überlegungen auf. Piper und Leo
materialisierten sich vor der Couch und Phoebe spürte, wie sich
ihr sämtliche Nackenhaare aufrichteten, als sie ihre Schwester
ansah. »Was ist los? Was ist passiert?«, fragte sie und hielt die
Luft an.
»Er hat schon damit begonnen, seinen kleinen Liebeszauber
auszuschütten«, erklärte Piper sarkastisch und kickte eine von
Phoebes Papierkugeln durchs Zimmer. Sie ließ sich auf den
Stuhl gegenüber von Phoebe fallen und stützte mutlos den Kopf
in die Hände. »Paige war nicht sie selbst, könnte man sagen.«
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Phoebe schluckte und besah sich das Durcheinander, das sie
ringsum angerichtet hatte - das ganze unfruchtbare
Durcheinander. Der Dielenboden war unter den zahllosen
kleinen weißen Papierkugeln kaum noch zu sehen.
»Ist dir etwas eingefallen?«, fragte Leo sie und runzelte
besorgt die Stirn.
»Ich sage es nur ungern, aber leider nein«, entgegnete Phoebe,
und ihre Angst wuchs Stein um Stein wie eine Mauer. »Ich bin
irgendwie blockiert oder so, und ich glaube, ich weiß auch
warum. Ich meine, wenn Leo diese Wand nicht durchdringen
kann, wie soll dann eine Zauberformel funktionieren?
Besonders, wenn wir nur zu zweit sind?«
»Nun, wir müssen es eben versuchen«, entgegnete Piper und
straffte die Schultern. »Etwas anderes bleibt uns ja nicht übrig.«
»Ich hätte da vielleicht eine Idee«, sagte Leo. Wie es für ihn
typisch war, legte er eine Hand ans Kinn und stützte den
Ellbogen mit der anderen.
»Wir probieren es, egal was es ist!«, rief Phoebe. Sie drehte
sich zu Leo um, damit sie ihn besser sehen konnte, und legte ein
Bein auf die Couch.
»Was ist mit Cole?«, fragte Leo und sah Phoebe in die Augen.
»Wie meinst du das? Was soll mit ihm sein?«, fragte Phoebe
zurück, und ihr Puls begann zu rasen. Sie hatte seit Tagen nichts
von Cole gehört oder gesehen, und ihn für Paiges Rettung
einzusetzen kam ihr als Ausrede gerade recht. Sie konnte jede
moralische Unterstützung gebrauchen, die zu kriegen war.
»Ich meine, seine Fähigkeit, sich von einem Ort zum anderen
zu bewegen, hat ihren Ursprung im Bösen«, erklärte Leo.
Phoebe rutschte unbehaglich auf der Couch hin und her. Wann
immer ihr Freund und das Wort »böse« in ein und demselben
Satz erwähnt wurden, versuchte sie, es, so gut es ging, zu
überhören. »Tut mir Leid, Phoebe«, sagte Leo und sah sie
aufrichtig aus seinen blauen Augen an. »Aber diese Tatsache
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könnte uns in der momentanen Situation tatsächlich von Nutzen
sein.«
Piper erhob sich langsam und ging ein paar Schritte auf
Phoebe zu. »Seine Fähigkeit zu schimmern kommt ja von... na,
du weißt schon«, sagte sie und sah Phoebe entschuldigend an.
»Er könnte durchaus fähig sein, eine Barriere des Bösen zu
überwinden.«
Phoebes Herz schlug noch ein paar Takte schneller, als sie
begriff, was die beiden vorschlugen. »Cole könnte es gelingen
reinzukommen«, sagte sie. »Und vielleicht kann er uns sogar
alle mitnehmen.«
»Es ist einen Versuch wert«, bemerkte Leo.
»Rufen wir ihn!«, sagte Piper.
Das musste man Phoebe nicht zweimal sagen. Sie sprang von
der Couch auf und ergriff Pipers Hände. »Bist du bereit?«,
fragte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. Als Piper nickte,
umklammerte Phoebe die Hände ihrer Schwester noch fester. Es
musste einfach funktionieren. Sie hoffte nur, Cole konnte auf
ihren Ruf reagieren und würde wohlbehalten bei ihnen landen.
»Mächte des Guten, helft ihm zu fliehen, bringt uns Cole, wir
brauchen ihn!«, sagten Phoebe und Piper gemeinsam auf.
Sofort schien die Luft im Raum heißer zu werden und begann,
vor den beiden Schwestern zu schimmern. Augenblicklich
tauchte Cole auf - mit zerrissenem Hemd, schwarzen Augen und
ganz offensichtlich desorientiert. Er ließ sich geschwächt zu
Boden sinken und stützte sich mit der Hand ab.
»Cole!«, rief Phoebe, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen
und legte besorgt einen Arm um ihn. »Alles in Ordnung mit
dir?«
»Ja«, flüsterte Cole heiser. Er war schweißgebadet und völlig
außer Atem. »Ihr habt mich gerade nur aus einem heftigen
Kampf herausgeholt.«
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»Wer lag in Führung?«, fragte Leo.
Cole sah zu ihm auf, und Phoebe bemerkte erleichtert seinen
gewohnt schelmischen Blick. »Ich natürlich«, antwortete er,
stand auf und klopfte sich die Kleider ab. »Ich gebe meinen
Gegnern gern das Gefühl, sie seien mir überlegen, bevor ich sie
dann erledige.«
»Ich wünschte, du würdest nicht solche Witze machen«, sagte
Phoebe missmutig. »Du kämpfst da draußen mit weiß der Teufel
wem um dein Leben und kommst in so einem Zustand wieder
hierher... Sieh dich doch mal an!«
»Tut mir Leid, Phoebe. Mir geht es gut«, sagte Cole und
küsste sie auf die Stirn. Bereits diese kleine Berührung spendete
Phoebe so viel Trost wie ein heißes Bad. Dann löste sich Cole
von ihr und sah sie beunruhigt und fragend an. »Warum habt ihr
mich gerufen?«
»Es geht um Paige«, erklärte Piper. »Sie wurde von Vandalus
gekidnappt, und wir brauchen deine Hilfe, um sie aus seiner
Gewalt zu befreien.«
»Vandalus?«, wiederholte Cole und blickte betroffen drein.
»Vandalus hat Paige in seiner Gewalt? Wie lange schon?«
»Seit zwei Tagen«, entgegnete Leo gepresst.
»Warum habt ihr mich nicht gleich gerufen?«, fragte Cole und
sah die drei der Reihe nach vorwurfsvoll an.
»Du kennst ihn?«, fragte Phoebe mit zitteriger Stimme und
trat ganz dicht an Cole heran. »Was weißt du über ihn?«
»Genug jedenfalls, um zu wissen, dass wir sie sofort von ihm
wegholen müssen.« Cole ergriff Phoebes Hand. »Wo hält er sie
gefangen?«
»Die Adresse ist Mercer Street Nummer 155«, antwortete
Piper und ging zu Leo. »Wir treffen uns vor der Mauer.«
»Warte!«, rief Phoebe. Sie angelte das Stück Papier, auf dem
ihr einziger erfolgreicher Versuch des Nachmittags verzeichnet
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war, von der Couch. »Die Bezwingungsformel«, erklärte sie.
»Die sollten wir wirklich nicht vergessen«, zischte Piper
durch die Zähne.
Als der weiße Lichtwirbel Leo und Piper einhüllte, schmiegte
sich Phoebe an Cole und schickte ein rasches Stoßgebet zum
Himmel. Hoffentlich gelang es Cole, sie alle durch Micahs
unsichtbare Wand zu bringen! Hoffentlich kommen wir nicht zu
spät!, war ihr letzter Gedanke, bevor sie mit Cole aus dem
Wohnzimmer schimmerte.
Paige traute ihren Augen nicht, als sie in ihr kleines
Badezimmer ging, um sich für das Dinner mit Micah
zurechtzumachen. An der Wand hing das schönste Abendkleid,
das sie je gesehen hatte. Es war aus weichem schwarzem Samt.
An das eng anliegende trägerlose Oberteil schloss ein
ausgestellter Rock an, dessen besonderer Clou ein Schlitz bis
zum Knie war.
Andächtig nahm sie das Kleid vom Haken. Wie war es Micah
nur gelungen, das Kleid zu besorgen und es hier für sie zu
verstecken? Er hatte sich den Tag freigenommen und fast jede
Minute davon mit ihr gemeinsam verbracht. Es war ein
unglaublich romantischer Tag gewesen mit langen Gesprächen
und angenehmen Pausen dazwischen. Wann immer Paige in
Micahs hypnotische blaue Augen blickte, hatte sie das Gefühl,
sie erfahre ein wenig mehr über seine Seele und er über die ihre.
Sie war verrückt gewesen, je an ihm zu zweifeln.
»Das ist ja Wahnsinn!«, hauchte Paige und hielt das Kleid vor
ihren Körper, um sich im Spiegel zu betrachten. Sie sah wie eine
Prinzessin aus modernen Zeiten aus.
Voller Vorfreude zog sie sich rasch aus und schlüpfte in das
neue Kleid. Sie bekam eine Gänsehaut am ganzen Körper, als
der Stoff über ihre Haut glitt. Nachdem sie ihr Haar
hochgesteckt hatte, lächelte sie ihrem Spiegelbild zu.
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An diesem Abend lag Magie in der Luft, das spürte sie ganz
deutlich.
Als sie sich vorbeugte, um die Schuhe anzuziehen, bemerkte
sie, dass der Saum des Kleides mit tiefblauer, glänzender Seide
eingefasst war. Wenn sie sich bewegte, blitzte immer etwas
Blauglänzendes auf, das die Aufmerksamkeit auf ihre Beine
lenkte. »Dann wissen wir ja jetzt, auf welchen Körperteil Micah
abfährt!«, sagte Paige zu sich selbst und lachte.
Sie öffnete Micahs jüngstes Carepaket und legte etwas von
dem Parfüm auf, das sie darin fand. Dann öffnete sie eine kleine
Samtschatulle, und ihr stockte der Atem. Das schönste Paar
Diamantohrringe funkelte ihr entgegen, das sie je gesehen hatte.
Obwohl ihr die Hände zitterten, gelang es Paige irgendwie, den
Schmuck anzulegen. Dann trat sie einen Schritt zurück und warf
einen langen, prüfenden Blick in den Spiegel. »Perfekt!«, sagte
sie zufrieden. »Es wird ein rundherum perfekter Abend!«
Plötzlich stieg eine kleine Welle der Angst in ihr auf, und
Paige kämpfte verwirrt dagegen an. Wovor musste sie schon
Angst haben? Micah liebte sie. Er hatte ihr die vielen schönen
Sachen geschenkt. Er nahm sich ihrer an. Sie hatte wirklich
nichts von ihm zu befürchten.
Sie hob resolut das Kinn, verdrängte ihre Besorgnis und trat
hinaus in die kühle Abendluft. Es war eine ruhige, sternenklare
Nacht, und Paige ließ sich von der Atmosphäre gefangen
nehmen, als sie durch den Garten zu der Öffnung in der Hecke
ging. Als sie den Blumengarten betrat, kam sie sich vor wie im
Märchen.
Überall waren Kerzen. Seile mit chinesischen Laternen waren
zwischen den Hecken gespannt und die Lichter schaukelten
kreuz und quer über Paiges Kopf. Auch auf dem Boden waren
überall Kerzen in kleinen Glasgefäßen aufgereiht, deren
Flammen in der leichten Brise tanzten. Sie schmückten ebenfalls
den Tisch, der mit makellosem weißen Porzellan und
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Kristallglas eingedeckt war. Aber nichts von der wunderschönen
Dekoration konnte es mit dem Anblick aufnehmen, den Micah
bot.
Er stand mitten im Garten, und seine Augen leuchteten vor
Begeisterung, als er Paige erblickte. Mit seinem schwarzen
Smoking und der weißen Fliege sah er exakt so aus wie der Held
in einem romantischen Film. Und als plötzlich klassische
Walzermusik im ganzen Garten erklang, bot er Paige seinen
Arm an. »Darf ich bitten?«, fragte er lächelnd.
Paige kam ganz langsam auf ihn zu, damit er Zeit hatte, den
Anblick der vielen schönen Dinge auf sich wirken zu lassen, die
er ihr geschenkt hatte, und hakte sich bei ihm unter. »Es ist mir
ein Vergnügen«, antwortete sie und lächelte ihn an.
Micah nahm sie in seine starken Arme, und sie tanzten
gemeinsam unter den Sternen. Paige hatte noch nie zuvor
Walzer getanzt, aber irgendwie wussten ihre Füße offenbar, was
sie zu tun hatten. Sie musste sich nicht einmal konzentrieren. Sie
sah zu Micah auf, als sie durch den Garten wirbelten, und ihr
wurde schwindelig. Mittlerweile genoss sie dieses Gefühl. Denn
es war das Gefühl, das Micah in ihr hervorrief. Ein Gefühl, das
so einem wunderbaren Mann durchaus angemessen war.
Er ist kein Mann!, rief eine leise Stimme in ihrem Kopf aus.
Er ist ein Dämon, Paige, erinnere dich! Erinnere dich doch
daran, was er über die Erfüllung seines Schicksals gesagt hat!
Über die Kinder...
Aber Paige verdrängte die mahnende Stimme und ignorierte
ihr bizarres Geschwätz. Es spielte keine Rolle, dass Micah ein
Dämon war. Er war gleichzeitig auch ein Mensch. Er hatte sein
ganzes Leben lang Gutes getan. Wenn er sich mit Kindern
beschäftigte, dann nur, um ihnen ein besseres Leben zu
ermöglichen. Seine einzige Bestimmung war es, die Welt ein
Stückchen besser zu machen und in Paige bislang ungeahnte
Gefühle zu wecken.
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Sie sah Micah beim Tanzen tief in die Augen, entspannte sich
und ließ sich einfach von ihm führen. Sie konnte ihren Blick
nicht von seinen wunderbaren tiefen blauen Augen losreißen.
Plötzlich wünschte sie sich aus ganzem Herzen, ihn zu lieben.
Und von ihm geliebt zu werden.
Nein, Paige!, rief ihre innere Stimme. Das ist nicht richtig!
Aber Paige war hin und weg. Sie war verloren. Immer tiefer
versank sie in Micahs Augen. Und sie hatte absolut keine Lust,
jemals wieder aufzutauchen.
Sobald sich Piper draußen vor der Mauer materialisiert hatte,
ließ sie Leo los, ging in die Knie und zwängte ihr Gesicht so
dicht an das Guckloch, wie es die Gesetze der Physik erlaubten.
Es war fast unmöglich, im Schein des verschwommenen Lichts,
das eine Million Kerzen in dem Garten verbreiteten, etwas zu
erkennen, aber als Piper die Musik wahrnahm, erkannte sie, dass
die beiden Gestalten in dem Garten tanzten. Als sie allmählich
schärfer sah, traute Piper ihren Augen nicht. Aber es war nicht
von der Hand zu weisen - das Ganze spielte sich nur wenige
Meter vor ihr ab. »Leo!«, rief sie entsetzt.
»Was ist los?«, fragte er und hockte sich neben sie.
»Da sind Paige und Micah«, sagte Piper. Hilflos streckte sie
Leo eine Hand entgegen, und er hielt sie fest. »Sie tanzen
und...«
Piper konnte den Satz nicht über die Lippen bringen. Wenn
sie es aussprach, wurde der Albtraum unwiederbringlich zur
Realität. Paige sah bewundernd zu Micah auf, während sie mit
ihm Walzer tanzte, und Piper wusste, was der entrückte
Ausdruck im Gesicht ihrer Schwester zu bedeuten hatte. Es war
Liebe. Die reine, unverfälschte Liebe.
»Wir müssen da rein«, sagte sie, stand wieder auf und blickte
in den Himmel. »Wo bleiben sie denn nur?«
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Cole und Phoebe erschienen schimmernd ein paar Meter
weiter, und Piper rannte sofort auf Cole zu und schlang die
Arme um seine Taille. »Los, mach schnell!«, rief sie.
»Okay, haltet euch gut fest!«, sagte Cole. »Ich habe noch nie
mehr als eine Person mitgenommen.«
Leo lächelte die anderen beruhigend an, und einen
Augenblick später wurde alles grau, dann weiß, und dann waren
sie auch schon an einem ganz anderen Ort. Piper öffnete die
Augen und sah sich um: üppig blühende Rosen, farbenfrohe
Blumenbeete, perfekt getrimmter Rasen. Paige und Micah, die
sich umarmten. Ihre Lippen waren sich ganz nah...
»Paige! Nein!«, rief Piper und stürzte auf ihre Schwester zu.
Sie konzentrierte all ihre Energie auf ihre Hände und hielt das
Geschehen an. Micah erstarrte mit zum Kuss gespitzten Lippen,
die Augen halb geschlossen. Wie er so im Mondlicht stand, bot
er einen fast komischen Anblick.
Paige blinzelte und drehte sich zu ihren Schwestern um.
»Warum habt ihr das getan?«, fragte sie und verschränkte die
Arme vor der Brust.
»Siehst du! Wie ich gesagt habe«, raunte Piper Phoebe zu.
»Von Wiedersehensfreude keine Spur!«
Phoebe lief zu Paige hinüber, fasste sie an beiden Händen und
zog sie von dem erstarrten Micah weg. »Paige, hör mir zu«,
sagte sie und führte ihre Schwester zu Cole und Piper. »Cole hat
uns hergebracht, damit wir Vandalus erledigen. Wir müssen
Micah loswerden und dich hier rausholen.«
Verwirrt runzelte Paige die Stirn. »Micah loswerden?«, fragte
sie verständnislos und legte den Kopf schräg. Sie sah Piper
hilflos an, als begreife sie nicht, was Phoebe da gesagt hatte.
»Warum sollte ich ihn loswerden wollen? Ich liebe ihn über
alles.«
Piper verließ jede Hoffnung, die gerade noch in ihr
aufgekeimt war. Paige hatte einen stärkeren Willen als die
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meisten Menschen, die sie kannte. Und sie war immerhin eine
der Zauberhaften. Wenn Micah ihr derart das Hirn verwirren
konnte, was geschah dann erst, wenn der Dämon in ihm auf eine
arglose Welt losgelassen wurde?
»Paige, du musst jetzt wach werden!«, ermahnte Piper ihre
Schwester und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Micah hält dich hier gefangen, erinnerst du dich? Er ist einer
von den Bösen.«
»Einer von den ganz Bösen«, bemerkte Cole.
Paiges Augen funkelten vor Wut. »Du musst gerade den
Mund aufmachen!«, schleuderte sie Cole entgegen. »Micah hat
immerhin sein ganzes Leben damit zugebracht, Menschen zu
helfen. Was hast du denn getan, bevor du Phoebe kennen gelernt
hast? Außer Unschuldige zu töten, meine ich.«
Phoebe atmete hörbar ein, als Cole deutlich getroffen zur
Seite blickte. »Paige...«
»Nein, ich will nichts davon hören«, sagte Paige und wich
einige Schritte zurück. »Ich liebe Micah und ich werde bei ihm
bleiben. Piper, würdest du nun die Güte haben, meinen Freund
wieder zu befreien?«
Piper warf hilflos die Hände in die Luft und wandte sich von
Paige ab. Die Sache war verloren. Jeden Augenblick würde sich
Micah sowieso wieder aus seiner Erstarrung lösen und sie alle
gefangen nehmen, wie sie da standen. Und ohne die Macht der
Drei hatten sie keine Chance, einen so mächtigen Dämon zu
besiegen.
»Was machen wir denn jetzt, Piper?«, fragte Phoebe und wich
zurück, als Micah wieder zu sich kam und ihm bewusst wurde,
dass er nicht mehr Arm in Arm mit Paige dastand.
Mit klopfendem Herzen nahm Piper Phoebe bei der Hand.
»Ich würde sagen, wir gehen in Deckung.«
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14
»WAS soll das denn?!«, schrie Micah vor Wut schäumend,
als er sich zu Piper, Phoebe und Cole umdrehte. »Wie seid ihr
denn hier reingekommen?«
Phoebe ruderte suchend mit der Hand hinter ihrem Rücken,
bis Cole sie ergriff und fest drückte. Diese Frage des
gefährlichen Dämons wollte Phoebe auf keinen Fall
beantworten, um zu vermeiden, dass er ihren Freund angriff.
Piper stellte sich ebenfalls schützend vor Cole. Die
unerschütterliche Entschlossenheit und Stärke ihrer Schwester
machte Phoebe neue Hoffnung. Gemeinsam konnten sie alles
besiegen! Natürlich wären ein pfiffiger Ersatzplan und die Hilfe
von Paige auch ganz brauchbar gewesen...
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie immer noch den Zettel
mit der Bezwingungsformel in der Hand hielt, und sie stopfte
ihn rasch in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Sie konnten die Formel
erst verwenden, wenn sie Paige wieder zur Vernunft gebracht
hatten, und bis dahin blieb das Papier besser in sicherer
Verwahrung.
»Ach, eigentlich ist es mir auch egal, wie ihr reingekommen
seid«, sagte Micah mit einem bösen Grinsen und richtete den
rechten Arm wie eine Waffe auf sie. »Euch alle hier auf einem
Haufen zu haben macht die Sache für mich noch einfacher.«
»Piper...«, sagte Phoebe argwöhnisch, denn plötzlich fiel ihr
die Abbildung von Vandalus im Buch der Schatten wieder ein,
auf der man sah, wie irgendwelche Strahlen aus seinen
Handgelenken kamen.
»In Deckung!«, rief Piper nur noch.
Phoebe machte einen Hechtsprung, schlug einen Salto und
landete kampfbereit in der Hocke. Ein heißer Blitz fegte über ihr
Gesicht hinweg. Als sie sich rasch umsah, entdeckte sie, dass es
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Micah irgendwie gelungen war, eine Steinbank in Luft
aufzulösen und ein Loch in seine Hecke zu brennen, aber Cole
und Piper waren gesund und wohlauf.
»Das ist der Mann, den du liebst, Paige?«, rief Piper und
richtete sich langsam auf.
Paige gab keine Antwort, aber auf ihrem Gesicht malte sich
Verwirrung, als sie die Szene betrachtete. Wenn man sie nicht
kannte, hätte man vermuten können, sie sei noch nie zuvor
einem Dämon in Aktion begegnet. Micah hob erneut die Arme
und verzog den Mund zu einem ekelerregenden, zufriedenen
Grinsen, aber bevor er einen weiteren Blitz abschießen konnte,
erhob sich Cole und wirbelte einen rot glühenden Energieball
mitten in Micahs Brust.
»Nein!«, schrie Paige aus Leibeskräften und schlug die Hände
vors Gesicht, als Micah in die Hecke auf der
gegenüberliegenden Seite des Gartens geschleudert wurde.
»Damit hat er nicht gerechnet, was?«, sagte Cole und rieb sich
die Hände.
»Kein Grund, übermütig zu werden«, bemerkte Phoebe.
»Piper, schnapp dir Paige und bring sie wieder zur Vernunft!
Wir versuchen, Micah zu beschäftigen.«
Als Piper Paige in eine Ecke des Gartens zog - weit weg von
Micah -, starteten Phoebe und Cole zum Angriff durch. Micah
rappelte sich gerade aus dem eingeknickten Buschwerk auf, als
Phoebe in die Luft sprang, einige Meter flog und einen brutalen
Tritt gegen seinen Kiefer landete. Der Kopf flog ihm in den
Nacken, und Micah stolperte rückwärts, blieb diesmal aber nur
wenige Sekunden am Boden. Als Phoebe wieder landete, war
auch er auf den Beinen.
Phoebe setzte zu einem Schlag an, dem Micah mühelos
auswich, aber während er sich wegduckte, schleuderte Cole
einen weiteren Energieball auf ihn. Einen Augenblick lang hatte
Phoebe den Eindruck, der Kampf sei gar nicht so aussichtslos,
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aber dann hörte sie Cole nach ihr rufen und wirbelte auf dem
Absatz herum. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Cole trommelte verzweifelt mit den Fäusten in die Luft. Er
stemmte die Hände gegen unsichtbare Wände, die ihn von allen
Seiten umgaben. Micah hatte ihn in einer unsichtbaren Kiste
festgesetzt. »Lass mich hier raus!«, rief Cole, und die Adern an
seinem Hals traten deutlich hervor, als er Micah zornig
anfunkelte.
»Cole!«, rief Phoebe und eilte aufgelöst an seine Seite.
»Versuch es mit einem Energieball!«
Cole holte aus und feuerte einen glühenden Ball ab, der
jedoch wirkungslos zerschellte. Die unsichtbaren Wände wurden
in rotes Licht getaucht, und für einen Augenblick waren die
Umrisse von Coles Gefängnis sichtbar, bevor das Licht wieder
verschwand.
»Phoebe! Runter!«, rief Cole plötzlich mit weit aufgerissenen
Augen.
Ohne lange zu überlegen, duckte sich Phoebe, und Cole warf
sich neben ihr auf den Boden. Eine weitere Hitzewelle zischte
über ihren Kopf hinweg und traf Coles Gefängnis. Hätte er sich
nicht augenblicklich hingeworfen, wäre er verbrannt.
»Also gut, das reicht!«, sagte Phoebe und ging mit
zusammengekniffenen Augen auf Micah los. »Wenn du dich mit
meinem Freund anlegst, bekommst du es mit mir zu tun.«
Phoebe sprang ab, drehte sich in der Luft um die eigene
Achse und verpasste Micah einen Roundhouse-Kick gegen den
Unterkiefer. Als sie mit den Füßen wieder auf dem Boden
aufkam, streckte sie ihm eine Faust in die Eingeweide und trieb
ihn mit Rückhandschlägen zurück in die Büsche. Micah rang
mit ihr, um sich wieder aufzurappeln, aber Phoebe ließ nicht
nach. Solange sie ihm nahe genug war, um ihn zu schlagen,
konnte er sie nicht mit seinen höllischen Blitzen treffen.
»Paige wird dich niemals lieben!«, rief sie wütend und
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blockte seinen Arm ab, als er ihr einen Aufwärtshaken
verpassen wollte.
Die Faust kam auf sie zu, und sie verspürte einen
Adrenalinstoß, aber dann bekam sie aus heiterem Himmel keine
Luft mehr. Mit eisernem Griff hatte Micah sie am Hals gepackt
und hob sie hoch. Phoebe strampelte mit den Beinen und rang
nach Atem.
»Da habe ich aber ganz aktuelle Informationen für dich,
kleines Mädchen«, sagte Micah und sah sie durchdringend an.
»Das tut sie nämlich schon.«
»Phoebe!«, rief Cole, als Micah sie zur Seite schleuderte. Sie
landete mit einem markerschütternden Aufprall auf dem Boden
und hustete schmerzerfüllt, als sie die Nachtluft in ihre Lungen
saugte.
»Du langweilst mich«, sagte Micah und lachte kurz auf. »Ich
würde dich ja gleich erledigen, aber ich brauche nur einen Kuss
von deiner Schwester, und dann habe ich die Macht, dir auf eine
Art und Weise wehzutun, wie du es dir gar nicht vorstellen
kannst.«
Phoebe gelang es, sich auf die Ellbogen aufzustützen, als
Micah sein Jackett glatt strich und davonging. Ihr Herz, ihr Kopf
und ihre Seele hämmerten vor Angst, und nur mit Mühe fand sie
unter Husten und Keuchen ihre Stimme wieder.
»Piper!«, krächzte sie. »Piper! Er kommt!«
Piper, die Paige zur Seite genommen hatte, unterbrach ihre
Überzeugungsversuche, als Phoebes geschwächte Stimme an ihr
Ohr drang. Voller Panik blickte sie über die Schulter, und es lief
ihr kalt über den Rücken. Cole saß in der Falle, Phoebe war am
Boden, und Micah kam nun in ihre Richtung. Rasch drehte sich
Piper wieder zu ihrer Schwester um und packte sie am Arm -
aber das Mädchen, das ihr entgegenblickte, hatte herzlich wenig
mit ihrer Schwester gemein. Paige befand sich in einer Art
-159-
Trancezustand. Ihre Augen starrten ins Leere, ein entrücktes,
wehmütiges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel, und ihr
Körper war fast erschlafft.
»Paige, bitte!«, drängte Piperund schüttelte ihre Schwester
verzweifelt, als Micah immer näher kam. »Bitte! Erinnere dich
daran, wer du bist! Du bist eine von den Zauberhaften. Das Böse
zu bekämpfen ist deine Aufgabe, und ich schwöre dir, Micah ist
böse!«
»Ich liebe ihn, Piper«, sagte Paige verträumt und sah über
Pipers Schulter hinweg zu dem Dämon in Traumprinz-
Verkleidung. »Gegen wahre Liebe ist man machtlos.«
Piper hörte, wie Micah hinter ihr stehen blieb. »Gibst du nun
auf, Hexe?«, fragte er mit rauer Stimme.
»Noch nicht«, antwortete Piper, biss die Zähne zusammen,
drehte sich zu Micah um, und schirmte Paige vor ihm ab.
»Ich muss deine Entschlossenheit wirklich bewundern«, sagte
Micah und zupfte nonchalant an seinem Kragen. Dann sah er sie
an und zog die Augenbrauen hoch. »Ach was, ich habe es mir
gerade anders überlegt!«
Bevor Piper sich rühren konnte, hatte Micah auch schon eine
Hand ausgestreckt und sie zu Boden gestoßen. Sie landete
bäuchlings mit dem Gesicht im Dreck, den sie auf ihren Lippen
schmeckte. Micah machte einen Schritt über sie hinweg und zog
Paige an sich. Piper rollte sich auf den Rücken und legte mit
zusammengekniffenen Augen all ihren Hass auf Micah und die
ganze Wut, die sie in den vergangenen Tagen gespürt hatte, in
ihren Angriff. Sie streckte die Hände aus, um ihn dahin
zurückzuschicken, wo er hingehörte.
Nichts geschah.
»Guter Versuch!«, spottete Micah, der Paige unverwandt
ansah. Er legte ihr die Hand in den Nacken und beugte sich über
sie. Paige sah ihm verklärt in die Augen.
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»Verdammt!«, rief Piper. Erneut streckte sie ihre Hände aus
und ließ Micah erstarren - einen Sekundenbruchteil, bevor sich
die beiden küssen konnten.
»Hörst du wohl damit auf!«, zischte Paige ihr zu und
verdrehte die Augen, als sei Piper die reinste Nervensäge.
»Phoebe! Schwing deinen Hintern hierher!«, rief Piper und
rappelte sich auf.
»Bin schon da«, sagte Phoebe und kam zu Piper herüber. Sie
war ein wenig schmutzig und leicht außer Atem, sah aber
ansonsten gar nicht so ramponiert aus.
»Ich weiß einfach nicht, wie ich sie aus ihrem Zustand
rausholen soll«, klagte Piper und zeigte müde auf Paige. Ihre
kleine Schwester schmiegte sich an Micahs reglose Brust, den
Kopf verträumt zu Seite geneigt, und sah ihm ins Gesicht. »Sie
ist im Augenblick ein richtiger Liebeszombie.«
»Lass mich es versuchen!«, sagte Phoebe. Sie ging zu Paige
und versuchte, sie von Micah wegzuziehen, aber Paige wehrte
sich.
»Warum tut ihr uns das an?«, schrie sie und versuchte
vergeblich, ihr Handgelenk aus Phoebes fester Umklammerung
zu befreien. »Phoebe! Lass mich los!«
Paige zog so fest an ihrem Arm, dass Phoebe loslassen
musste. Piper sah, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Paige hielt sich das schmerzende Handgelenk und schien in sich
selbst zusammenzusinken.
»Ich verstehe nicht, warum ihr nicht wollt, dass ich glücklich
bin«, beklagte sich Paige. »Euch liegt gar nichts mehr an mir.
Ich darf nie das tun, was ich gern möchte, und ihr gebt mir nicht,
was ich gern hätte. Aber macht euch keine Gedanken, denn ich
werde euch nicht länger zur Last fallen. Ich bleibe hier bei
Micah.«
Piper hatte das Gefühl, einen Dolch in die Brust gerammt zu
-161-
bekommen. Obwohl ihr bewusst war, dass Paige nur wegen
Micahs Bann derart redete, fand sie es ganz furchtbar, ihre
Schwester so gekränkt zu sehen. Noch schrecklicher war
allerdings Paiges irrige Annahme, Piper und Phoebe seien
Schuld an ihrer Misere. »Paige, das meinst du doch nicht
ernst!«, rief Piper. »Du weißt doch, wie viel du uns bedeutest!«
»Das war schon immer so und wird auch immer so sein«,
beteuerte Phoebe ernst.
»Ihr braucht mich nicht länger zu belügen«, sagte Paige, und
ein trauriges Lächeln spielte um ihre Mundwinkel. Sie sah
Micah verliebt an. »Micah ist ein großartiger Mann. Er wird sich
ab jetzt um mich kümmern.«
Als Paige zurück zu dem vermeintlichen Mann ihres Lebens
ging, verdrängte Piper ihren Kummer erst einmal, um sich auf
die anstehende Aufgabe zu konzentrieren. »Das ist wirklich
nicht zu fassen«, sagte sie leise zu Phoebe. »Wie sollen wir sie
nur dazu bringen, ihn so zu sehen, wie er wirklich ist?«
Plötzlich leuchtete Phoebes Gesicht auf, und sie fiel Piper
stürmisch um den Hals und umarmte sie ganz fest. »Piper! Das
ist es!«, rief sie und ließ ihre Schwester wieder los. »Wir müssen
einfach eine Enthüllungsformel sprechen!«
Piper sah sie erstaunt an und spürte, wie neue Hoffnung in ihr
aufkeimte. »Glaubst du, das funktioniert?«
»Wenn das nicht funktioniert, dann funktioniert auch nichts
anderes! Du erinnerst dich doch noch daran, wie schrecklich
diese Kreatur im Buch der Schatten aussah«, sagte Phoebe und
warf einen beunruhigten Blick auf Micah. »Wenn noch ein
bisschen von der echten Paige übrig ist, wird sie wach, wenn sie
den echten Vandalus sieht.«
»Okay, dann versuchen wir es«, sagte Piper. »Wenn ich ihn
gleich aus seiner Erstarrung erlöse, müssen wir die Formel so
schnell wie möglich aufsagen - bevor er sie küssen kann.«
»Moment! Holen wir sie zuerst von ihm weg«, warf
-162-
Phoebe ein und ging zu Paige. »Dann haben wir ein bisschen
mehr Zeit.«
Wieder packte sie Paige am Arm und zog sie von Micah weg,
der wie eine Statue dastand.
»Phoebe! Mein Gott! Was macht ihr nur?«, schrie Paige und
wehrte sich mit Händen und Füßen.
Phoebe verdrehte die Augen und hielt ihre Schwester ganz
fest. »Okay«, sagte sie zu Piper, »los jetzt!«
Mit angehaltenem Atem hob Piper die Hände und befreite
Micah, dann fassten sie und Phoebe sich an der Hand. Micah sah
sich verwirrt um, weil Paige nicht mehr in seinen Armen lag,
und ging auf die Schwestern los. »Jetzt habe ich genug von
euren Spielchen!«, sagte er und marschierte mit entschlossener
Miene auf Paige zu.
»Jetzt!«, rief Piper und begann, gemeinsam mit Phoebe die
Enthüllungsformel aufzusagen:
»Spiegel des Lebens, Spiegel der Wahrheit,
zeigst uns die Welt in aller Klarheit!
Nichts bleibt verborgen in deiner Scheibe,
enthülle uns die Wahrheit in diesem Leibe!«
Paige hatte das Gefühl, ihr Herz springe in ihrer Brust Seil, als
Micah sich ihr näherte. Aus seinen magischen tiefblauen Augen
sprach grenzenlose Liebe. Ihre Haut kribbelte, als er sie
berührte; ihr schwirrte der Kopf, als er sie an sich zog. Ergeben
legte sie den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sie
sehnte sich nach seinem Kuss. Es schien eine Ewigkeit her zu
sein, seit sie den letzten bekommen hatte.
Da stöhnte Micah plötzlich laut auf, und Paige öffnete
erschreckt die Augen. Er schien große Schmerzen zu haben. Sie
musste ihm helfen.
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Aber als sie Micah ansah, wich sie entgeistert zurück, denn
mit ihm geschah etwas Schreckliches. Er griff sich an den Kopf,
der so heftig zitterte, als explodiere er im nächsten Moment.
Dann beobachtete Paige, wie seine Haut gewissermaßen
wegschmolz und ein dämonisches Gesicht freilegte, dessen
Anblick sie kaum ertragen konnte. Eine Million spitze Zähne
befanden sich plötzlich da, wo der Mund sein sollte, und seine
Haut wurde runzlig wie eine Pflaume, die ihre beste Zeit hinter
sich hatte. Seine Augen waren kohlrabenschwarz.
Seine schönen blauen Augen! Was war nur mit seinen
faszinierenden blauen Augen geschehen?
Plötzlich hatte Paige das Gefühl, aus einem Traum
wachgerüttelt zu werden. Halt suchend streckte sie die Hand
aus, um sich irgendwo anzulehnen, und traf auf etwas Weiches.
Als sie zur Seite sah, erblickte sie Piper, die sie stützte, und dann
spürte sie, wie Phoebe ihr den Arm um die Schulter legte, um
ihr Halt zu geben.
»Alles in Ordnung?«, fragte Phoebe mit hoffnungsvoller
Stimme.
»Glaube schon«, entgegnete Paige. In ihrem Kopf tobten
zahllose verschwommene, konfuse, irritierende Gedanken, und
ihr Herz hämmerte, als habe sie gerade einen Zehn-Kilometer-
Lauf hinter sich gebracht. Aber eines war klar: Da, wo vorher
Micah gewesen war, stand nun ein abscheulicher Dämon, und er
sah alles andere als freundlich aus. »Was ist das denn?«, fragte
Paige und verzog vor Ekel das Gesicht.
»Sie ist zurück, meine Damen und Herren!«, rief Piper
triumphierend.
»Ähm... Zeit für die Formel«, mahnte Phoebe und zog den
zerknitterten Zettel aus der Hosentasche.
Da stürzte dieses Micah-Wesen auch schon auf Paige und ihre
Schwestern zu. Obwohl Paige noch immer verwirrt war und ihr
der rechte Durchblick fehlte, wusste sie eines jedoch ganz
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bestimmt: Der Dämon sollte sie und ihre Schwestern nicht in
seine Klauen bekommen. Und so sagte sie, ohne lange
nachzudenken, die Formel mit ihnen auf, die Phoebe sich
ausgedacht hatte.
»Wir brechen den Bann mit der Macht der Drei,
fort mit der Maske, das Spiel ist vorbei!
Denn unsere Worte bezwingen Vandalus den Bösen
und werden uns von dem Monster erlösen!«
Paige klammerte sich an ihre Schwestern, als Vandalus' Kopf
plötzlich nach hinten schlug, und er seine Arme in die Luft warf.
Blendende rote Lichtstrahlen schossen aus seinen Handgelenken
in den Nachthimmel, und er stieß gespenstische
Schmerzensschreie aus. Die Strahlen wurden langsam immer
breiter, bis sie sich überschnitten und das Monster ganz
umhüllten, und im nächsten Augenblick waren sie plötzlich
verschwunden, und Vandalus gleich mit ihnen.
»Ich muss mich erst mal setzen«, sagte Paige, denn sie
merkte, wie ihre Beine nachgaben.
Piper und Phoebe führten sie zu einer Bank, und als sie sich
hinsetzte, brach die Erinnerung an die Ereignisse der
vergangenen Tage über sie herein. Eine wahre Bilderflut tobte in
ihrem Kopf. Ihre erste Nacht in dem Garten, der erste hungrige,
verängstigte Tag. Aber die Erinnerung an das unmittelbar
Zurückliegende war am schlimmsten. Paige sah auf ihr
Samtkleid herab, das sie erst vor kurzem so beglückt angezogen
hatte. Warum war sie so glücklich gewesen? Was hatte sie sich
dabei gedacht, diesen Schmuck anzulegen? »Oh mein Gott«,
sagte Paige. »Er wollte die Kinder missbrauchen... alle Kinder
aus seinen Waisenhäusern und Heimen. Er sagte, er würde mit
ihnen seine Armee aufbauen.«
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Piper wurde blass und sah Phoebe an. »Wir hatten Recht. Er
hat ihnen wahrscheinlich die ganze Zeit über eine Gehirnwäsche
verpasst, damit sie ihm folgen, wenn er schließlich wieder in
Dämonengestalt frei herumläuft.«
»Gehirnwäsche?«, wiederholte Paige und sah ihre Schwestern
fragend an.
»Das hat er auch mit dir gemacht«, erklärte Phoebe ihr. »Er
hatte dich mit einer Art Bann belegt.«
Langsam sah sich Paige im Garten um. Überall flackerten
Kerzen, und die Blumen waren schöner denn je. Sie hatte am
Morgen mit Micah einen wunderbaren Spaziergang gemacht
und sie war so... zufrieden gewesen. Und nun war alles nur eine
Lüge. Ein Bann. Oder etwa nicht? Micahs Zuneigung war ihr so
echt vorgekommen.
Plötzlich materialisierte sich Leo vor ihr, und Cole tauchte
hinter Phoebe auf. Sie alle in Micahs Garten zu sehen verwirrte
Paige, denn bis vor kurzem hatte dieser Ort nur ihr und Micah
gehört. Aber nun war Micah verschwunden. Micah war böse.
»Das Kraftfeld ist zusammengebrochen«, verkündete Leo,
hockte sich vor Paige hin und sah ihr ins Gesicht. »Ist alles in
Ordnung mit dir? Geht es euch allen gut?«, fragte er und sah
sich nach den anderen um.
»Uns geht's gut, nicht wahr, Paige?«, meinte Piper und strich
Paige zärtlich über die Wange.
»Ich weiß nicht«, sagte Paige, und plötzlich stiegen ihr die
Tränen in die Augen. »Ich weiß doch gar nicht, was passiert ist
oder wo ich überhaupt war...« Sie sah ihre Schwestern
bekümmert an. »War dieser Dämon wirklich Micah?«, fragte
sie, und eine Träne lief ihr über die Wange. »Haben wir ihn
gerade umgebracht?«
Piper und Phoebe wechselten einen bedeutungsvollen Blick,
bevor Phoebe antwortete. »Das haben wir, Süße«, sagte sie.
»Aber Micah hat nie wirklich existiert. Es war nur eine Maske,
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hinter der sich Vandalus versteckt hat.«
»Oh«, machte Paige und sah auf ihre Hände. Das verstand sie.
Wirklich, das tat sie. Aber wenn sie doch wusste, dass Micah
böse war, warum war sie dann so bestürzt? Gehörte das noch zu
dem Bann, mit dem er sie belegt hatte?
Würde sie jemals wieder Schein und Sein auseinander halten
können?
Erschöpft und verwirrt beugte sie sich vor und fing an zu
weinen. Sie spürte es kaum, als Leo die Arme um sie legte und
mit ihr aus dem Garten direkt in ihr Zimmer orbte.
»Versuch, ein bisschen zu schlafen«, sagte er, als er sie in ihre
weichen Kissen bettete. »Alles wird gut.«
Paige drehte sich auf die Seite und zog sich die kuschelige
Decke bis ans Kinn. Aber so erleichtert sie auch darüber war,
wieder in ihrem eigenen Bett zu sein, fiel es ihr schwer, Leos
Worten Glauben zu schenken. Ihre Hoffnung auf eine neue
Liebe hatte sich zerschlagen, und sie hatte das Gefühl, für sie
würde nie wieder die Sonne scheinen.
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15
ALS Piper am nächsten morgen die Augen aufschlug, war
Leo schon hellwach. Offenbar hatte er sie beobachtet, denn er
lächelte, als sie ihn ansah. Piper drehte sich zu ihm auf die Seite,
versuchte, das angenehme Gefühl der Benommenheit von der
kleinen Portion Schlaf noch ein wenig festzuhalten, die ihr
vergönnt gewesen war.
»Wie lange beobachtest du mich schon?«, fragte sie, winkelte
einen Arm an und bettete ihren Kopf auf den Bizeps.
»Seit du eingeschlafen bist«, antwortete Leo wahrheitsgetreu.
»Und wann war das?«, fragte Piper und runzelte die Stirn.
»Vor ungefähr einer Stunde«, entgegnete er. »Nach den
Ereignissen des gestrigen Tages ist an ruhigen Schlaf wohl nicht
zu denken.«
Piper drehte den Kopf und sah zur Decke auf, die schwach
von der Frühmorgensonne erleuchtet wurde. Sie hatte in der
Nacht stundenlang wach gelegen und noch einmal über alles
nachgedacht, was in den vergangenen Tagen gesagt und getan
worden war. Es waren zwar zahllose schreckliche Dinge
geschehen, aber eines bereitete ihr besonders viel
Kopfzerbrechen: Paige hatte behauptet, ihre Schwestern
kümmerten sich nicht um sie. Diesen Vorwurf hatte sie mehr als
einmal geäußert. Und nicht jedes Mal war sie völlig berauscht
von Micah gewesen.
»Ich muss nach ihr sehen«, sagte Piper, schlug ihre Decke
zurück und schwang die Beine aus dem Bett.
Sie schlüpfte mit den Füßen in die Pantoffeln und tappte,
dicht gefolgt von ihrem Ehemann, in den Flur. Erstaunt blieb sie
stehen - Phoebe und Cole drückten sich bereits vor Paiges Tür
herum.
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»Ich glaube, sie ist noch nicht wach«, flüsterte Phoebe Piper
und Leo zu, als sie näher kamen. Sie legte ein Ohr an die Tür
und sah Piper kopfschüttelnd an. »Nichts zu hören.«
Piper seufzte und betrachtete die geschlossene Tür. Hätte sie
nur die Fähigkeit, durch Wände sehen zu können! Ob Paige
auch die ganze Nacht wach gelegen hatte? Saß sie vielleicht in
diesem Moment auf ihrem Bett und verfluchte ihre Schwestern,
weil sie bei der Vernichtung des Kerls hatte mithelfen müssen,
den sie liebte?
»Glaubst du, sie hat es ernst gemeint?«, fragte Piper und sah
Phoebe kurz an.
»Dass wir uns nicht um sie kümmern?«, fragte Phoebe zurück
und legte die Stirn in Falten. »Dass wir ihre Wünsche nicht
respektieren und ihr Vorschriften machen...?«
»Ja. Dann hast du also auch darüber nachgedacht, hm?«,
meinte Piper und fühlte sich schon etwas besser, weil sie
offenbar nicht die Einzige war, die von diesen Gedanken gequält
wurde.
»So was dürft ihr euch aber nicht antun!«, sagte Leo, schlang
seine Arme von hinten um Piper und legte sein Kinn auf ihre
Schulter. »Natürlich liebt euch Paige, das wisst ihr. Und sie
weiß, dass ihr sie liebt.«
»Sie stand in Vandalus' Bann«, fügte Cole hinzu. »Er hat ihr
das alles eingeredet. Sie wusste nicht, was sie sagt.«
Piper sah Phoebe in die Augen und erkannte in ihnen die
Wahrheit. Sie dachten beide dasselbe: Paige hatte sich schon
beschwert, bevor sie Micah überhaupt kannte. Ihr war das
ständige Gemecker über ihren Zuckerbedarf ziemlich auf die
Nerven gegangen; sie konnte nicht begreifen, warum sie das
Auto nicht fahren durfte, und dann war da noch die
Picknickgeschichte und das Fiasko mit der Zeitung. Alles
eigentlich Kleinigkeiten, aber in der Summe recht eindeutig.
Wenn man zudem noch berücksichtigte, dass Paige erst vor
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kurzem in das Leben der Halliwells getreten war, konnte man
verstehen, warum ihre kleine Schwester mehr als verunsichert
war, was ihren Platz in der Familie betraf.
»Ich habe eine Idee«, sagte Phoebe unvermittelt.
Auf ihrem Gesicht erschien ein verschmitztes Grinsen, und
Piper wurde sofort hellhörig. Wenn Phoebe so grinste, hatte sie
meist eine richtig gute Idee auf Lager.
»Erzähl!«, forderte Piper. Sie hakte sich bei Phoebe unter und
entfernte sich mit ihr von den beiden Männern, die ihnen
kopfschüttelnd hinterhersahen.
Paige bürstete sich geistesabwesend das Haar. Sie stand zwar
vor dem Spiegel, aber ihr Blick ging durch ihr Spiegelbild
hindurch ins Nichts. Ihr Körper fühlte sich an, als sei sie von
einem Weltklasse-Boxer verprügelt worden, und ihrem Gehirn
ging es nicht viel besser. Obwohl sie an diesem Morgen die
Dinge schon viel klarer sah, machten ihr die vergangenen
Ereignisse doch noch sehr zu schaffen.
Vor wenigen Tagen noch war sie absolut glücklich gewesen,
denn sie hatte geglaubt, endlich einen tollen Typen gefunden zu
haben. Und der war ihr nun auf höchst schreckliche Art und
Weise unwiederbringlich entrissen worden.
Sie stieß einen Seufzer aus und legte die Bürste auf die
Frisierkommode. Als sie sich zur Tür umdrehte, fiel ihr das
schwarze Samtkleid ins Auge, in dem sie aufgewacht war. Es
lag zerknittert und ramponiert auf ihrem Schaukelstuhl - das
letzte Überbleibsel ihres Märchenlebens.
Paige musste über sich selbst den Kopf schütteln. Sie streckte
die Hand aus und sagte: »Kleid!« - und schon orbte das Kleid in
ihre Hand. Fest zusammengeknüllt stopfte sie es in ihren
Mülleimer. »So viel zu der Frage, ob Träume wahr werden
können!«, sagte sie missmutig. Dann nahm sie den kleinen
Mülleimer auf den Arm, verließ ihr Zimmer und ging die Treppe
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hinunter.
Als sie im Erdgeschoss ankam, wollte sie zur Haustür gehen,
um das Kleid im Müllcontainer zu versenken, aber als sie die
Hand auf den Türknauf legte, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Dieser Duft... Was war das nur?
Mit dem Mülleimer auf dem Arm machte Paige kehrt und
ging in die Küche, wo sie das Klappern von Töpfen und Pfannen
gehört hatte. Piper trug gerade Pfannkuchen mit
Schokostückchen, Rührei und Muffins auf den Tisch, während
Phoebe einen Stapel Zeitungen zurechtlegte. Keine von beiden
hatte Paige bemerkt.
»Was macht ihr denn da?«, fragte Paige und setzte langsam
den Mülleimer auf dem Boden ab.
Ihre Schwestern sahen ruckartig auf und riefen wie aus einem
Munde: »Überraschung!« Unwillkürlich musste Paige grinsen.
Höchst verwunderlich eigentlich, denn vor wenigen Minuten
hatte sie noch geglaubt, nie wieder lachen zu können. »Ist das
alles für mich?«, fragte sie und trat an den Tisch, um sich den
Festschmaus anzusehen.
Da standen Platten und Körbe mit ihrem Lieblingsfrühstück,
aber es kam noch besser: Die Gesellschaftsteile von vier
Zeitungen lagen bereits neben ihrem Teller. Phoebe stützte sich
von hinten auf die Lehne eines Stuhls und beobachtete Paiges
Reaktion.
»Das war doch nicht nötig!«, sagte Paige, bekam aber vor
Freude rote Wangen.
»Wissen wir«, entgegnete Piper und stellte sich neben
Phoebe. »Aber wir möchten uns dafür entschuldigen, dass wir in
der letzten Zeit so schusselig waren.«
»Das Problem ist nur, wir sind immer schusselig«, bemerkte
Phoebe kichernd. »Du musst einfach versuchen, es nicht
persönlich zu nehmen, denn wenn wir mal was vergessen,
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bedeutet das noch lange nicht, dass du uns egal bist.«
»Aber wir werden uns ab jetzt bemühen, weniger nachlässig
zu sein«, ergänzte Piper.
»Und wir wollten dir das hier schenken«, erklärte Phoebe. Sie
holte von der Arbeitsfläche neben der Spüle eine kleine rote
Schachtel, die sie Paige mit einer feierlichen Geste überreichte.
»Was ist das?«, fragte Paige staunend.
»Das wirst du erfahren, wenn du es aufmachst«, sagte Piper
und verschränkte die Arme vor ihrer marineblauen Strickjacke.
Paige lüftete neugierig den Deckel der kleinen Schachtel, in
der sie irgendein Schmuckstück vermutete. Aber als sie ihr
Geschenk erblickte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Rasch
angelte sie sich mit dem Finger einen Ring heraus. Es war der
hübscheste, den sie je gesehen hatte!
Es war ein Schlüsselring. Mit einem echten Schlüssel daran!
»Ist es das, was ich vermute?«, fragte Paige und zog die
Augenbrauen hoch.
»Der Schlüssel für das Auto«, bestätigte Piper nickend. »Sei
einfach... vorsichtig.«
»Piper!«, protestierte Phoebe.
»Sorry!«, sagte Piper lachend. »Wir hätten ihn dir schon
längst geben sollen«, erklärte sie Paige.
»Danke, vielen Dank!«, sagte Paige gerührt.
Als Piper ihre Arme um sie schlang, erwiderte Paige die
Umarmung und schloss die Augen. Dann kam auch Phoebe dazu
und legte ihre Arme um beide Schwestern.
»Wir sind so froh, dich wieder hier zu haben«, sagte Phoebe.
»Und ich bin froh, wieder hier zu sein«, entgegnete Paige
ehrlich.
Als sie sich schließlich voneinander lösten, trat Paige einen
Schritt zurück und lehnte sich gegen die Kücheninsel. Sie sah
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auf ihren Schlüssel herab und drehte den Ring immer wieder um
ihren Finger. »Ihr sollt wissen, wie Leid es mir tut«, sagte sie
zögernd und ohne aufzusehen.
»Es tut mir Leid, dass ich mich gefangen nehmen ließ, und es
tut mir Leid, dass ich mich gestern so idiotisch benommen
habe.«
»Ist schon okay«, antwortete Piper und streichelte ihr tröstend
den Arm. »Du warst ja nicht ganz bei dir.«
»Ja, aber ich hätte vorher auf euch hören müssen. Dafür gibt
es keine Entschuldigung«, sagte Paige, riss endlich den Blick
von dem Schlüssel los und sah ihre Schwestern bekümmert an.
Sie kam sich so blöd vor, so naiv. Wie sollten die beiden sie je
wieder respektieren, nachdem sie sich so unvernünftig verhalten
hatte?
»Aber ihr sollt wissen, ich habe aus der ganzen Sache so
manches gelernt«, erklärte sie ernst. Sie holte tief Luft. »Erstens
werde ich von nun an immer auf eure Warnungen hören.
Vielleicht werde ich sie nicht immer befolgen, denn ich habe
meinen eigenen Kopf, aber ich werde sie definitiv einen Tick
länger überdenken als null Sekunden.«
Phoebe und Piper mussten lachen, und Paige konnte sich ein
Grinsen nicht verkneifen.
»Zweitens werde ich mich nicht mehr kopfüber in eine
Beziehung stürzen, nur weil ich unbedingt eine haben will«, fuhr
sie fort, und sie bekam einen Kloß im Hals, als sie an Micah
dachte, wie er vor seiner dämonischen Verwandlung ausgesehen
hatte. »Von nun an bin ich die Vorsicht in Person.«
»Ich dachte, das ist dein Job«, bemerkte Phoebe neckend zu
Piper.
»Sie darf sich den Titel ruhig eine Weile ausleihen«, gab
Piper zurück.
Paige kam zum Tisch und zog einen Stuhl vor, um sich der
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anstehenden kulinarischen Herausforderung zu widmen.
»Was ist eigentlich Punkt drei?«, fragte Phoebe und ließ sich
links von Paige auf den Stuhl plumpsen.
»Hm?«, machte Paige.
»Nummer drei! Du sagtest, du hast so manches gelernt und
das müssten doch mehr als zwei Dinge sein. Wie lautet also
Nummer drei?«, hakte Phoebe nach.
»Oh.« Paige wurde knallrot und ließ sich auf ihren Stuhl
sinken. »Nummer drei ist: Ich möchte definitiv keinen
dämonisch veranlagten Freund haben - nichts für ungut,
Phoebe.«
Phoebe sah sie nur eine Sekunde lang an, und Paige
befürchtete schon, von ihrer Schwester eine verpasst zu
bekommen, aber da brach Phoebe in lautes Lachen aus. »Keine
Ursache«, sagte sie und nahm sich einen Muffin aus dem Korb,
der mitten auf dem Tisch stand.
»Dann wollen wir erst mal frühstücken!«, rief Piper und kam
mit dem Orangensaftkrug an den Tisch.
Paige nahm sich zufrieden lächelnd einen Pfannkuchen von
dem großen Stapel. Ihre Schwestern fingen an, über die
interessanten Künstler zu sprechen, die in der nächsten Zeit im
P3 auftreten sollten. Sie wusste, sie würde für sehr, sehr lange
Zeit nicht in der Lage sein, sich mit jemandem zu verabreden.
Aber sie wusste auch, dass sie irgendwann doch der Liebe ihres
Lebens begegnen würde.
Und bis es so weit war, konnte sie sich auf die Liebe von zwei
zauberhaften Schwestern verlassen.