Charmed 10 Ein verhängnisvoller Wunsch Elisabeth Lenhard

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Diana G. Gallagher

Charmed - Zauberhafte

Schwestern

Ein

verhängnisvoller

Wunsch

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Prue fotografiert einen wohlhabenden Geschäftsmann namens Stephen
Tremaine, der sich um ein öffentliches Amt bewirbt. Plötzlich fällt ihr Blick
auf eine antike Statue aus Südamerika... Als sie am nächsten Morgen mit
Phoebe und Piper die Nachrichten hört, erfahren die Schwestern, dass sich
eine ganze Reihe tragischer Vorfälle ereignet hat. Phoebe ist bestürzt und
wünscht sich, mehr Katastrophen vorhersehen zu können. Doch schon bald
hat sie mehr Visionen, als sie verarbeiten kann. Und allmählich zweifeln die
Halliwells, ob es ihnen überhaupt gelingen kann, das drohende Unheil
abzuwenden. Eine besonders schreckliche Vision schickt die Schwestern zu
einem Volksfest, auf dem sich Stephen Tremaine seinem Konkurrenten
stellen wird.
Dort kommt es zum großen Showdown, denn nun liegt es ganz allein an
ihnen, eine Tragödie zu verhindern und ganz San Francisco zu retten...

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ISBN 3-8025-2862-X

Originalausgabe: Beware what you wish

Aus dem Amerikanischen von Frauke Meier

2001 Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001

entstand auf der Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Spelling Television

ausgestrahlt bei ProSieben.

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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1

DIE

STARREN

,

DUNKLEN AUGEN

der Maske, die auf sie

herabblickten, drohten, Prue aus der Fassung zu bringen. Damit
hatte sie nicht gerechnet, als Stephen Tremaines Haushälterin
sie durch ein schweres Holzportal in das von Wandleuchtern
erhellte Foyer führte.

Plötzlich kam ihr wieder in den Sinn, was ihre Schwester

Piper beim Frühstück gesagt hatte: »Sei vorsichtig, Prue. Ich
habe gehört, der Typ ist unglaublich zäh und außerdem
unglaublich eingebildet.«

»Eingebildet schon, aber nicht ohne Grund«, hatte ihre

jüngste Schwester Phoebe ergänzt. »Den Klatschkolumnisten
zufolge ist Mr. Tremaine der mit Abstand begehrteste
Junggeselle der ganzen Stadt.«

»Das könnte daran liegen, dass er auch zu den reichsten

Junggesellen des ganzen Staates zählt.« Mit diesen Worten hatte
Piper Prue mitfühlend auf die Schulter geklopft. »Das Stichwort
lautet: eingebildet. Du wirst verdammt genau darauf achten
müssen, ihn ins rechte Licht zu rücken.«

Nun krampfte sich Prues Hand um den Kameragurt, während

sie das Spiel des künstlichen Lichts auf der archaischen Maske
betrachtete. Die Haut der Maske war braun und pergamenten.
Weiße Ringe umrahmten die toten Augen, die sie, gänzlich
unbeeinflusst vom Lauf der Zeit, herausfordernd anstarrten.

Voller Unbehagen dachte Prue, dass die Maske

wahrscheinlich eine Art Sinnbild für Stephen Tremaines
herausragende Stellung darstellte.

»Das Licht sollte perfekt sein«, hatte Phoebe ihr an diesem

Morgen außerdem geraten. »Tremaine hat im Geschäftsleben
den Ruf eines Hais.«

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Prue hatte die Warnungen ihrer Schwestern nicht auf die

leichte Schulter genommen. Immerhin hieß es gerüchtweise
über den reichen Unternehmer, sein Ego wäre ebenso
aufgeblasen wie seine Notierung an der Wall Street überschätzt.
Sollte Tremaine ihre Arbeit nicht als schmeichelhaft einstufen
und sich beim Herausgeber des 415-Magazins beschweren, so
würde das für ihren ohnehin schon kümmerlichen Kontostand
wenig erfreuliche Konsequenzen haben.

»Beunruhigt Sie der Anblick der Maske?«, hörte sie einen

Mann fragen.

»Nicht besonders, nein.« Prue sah sich um. Stephen Tremaine

hatte das Foyer betreten.

Dreiundvierzig Jahre alt, das graumelierte Haar kurz

geschnitten, was seine scharfen Gesichtszüge zusätzlich betonte,
strahlte Tremaine eine noch zwingendere Überlegenheit aus, als
Prue erwartet hatte. Die lässige graue Freizeithose und die blaue
Sportjacke über dem weißen Rollkragenpullover milderten seine
Strenge, schmälerten jedoch nicht seine Selbstsicherheit.
Außerdem war Tremaine, wie Phoebe bereits am Morgen gesagt
hatte, recht attraktiv - vorausgesetzt jemand stand auf die
geistreiche Variante eines typischen G.I.'s.

Nicht zu vergessen, dass Tremaine ehrgeizig war, ermahnte

sich Prue insgeheim. Vor zwanzig Jahren hatte er in einem
Einzimmerappartement in Oakland Computerspiele
programmiert und verkauft. Als sich später sein Unternehmen zu
einem Industriegiganten entwickelt hatte, dehnte er seinen
Geschäftsbereich auf Militärsimulationen und
Anwendersoftware aus und verkaufte im letzten Jahr Tremaine
Enterprises
für einige Millionen.

Nun beabsichtigte Tremaine, für den Kongress zu

kandidieren. Aus eben diesem Grund hatte sie den Auftrag
erhalten, ihn zu fotografieren. Zusammen mit einem Interview
sollte das Bild in 415 erscheinen.

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»Die Maske erschreckt Sie nicht besonders... Eine

verblüffende Antwort...« Verwundert war Tremaine stehen
geblieben, doch nun lächelte er und ging auf Prue zu. »Die
meisten Damen halten meine Sammlung für abstoßend.«

»Tatsächlich?« Von Tremaines durchdringendem Blick

verunsichert, widmete Prue ihre Aufmerksamkeit wieder der
Maske.

Auf einem Sockel stehend, beherrschte der Artefakt das

Foyer. Perlengeschmückte Strähnen fransigen schwarzen Haares
umrahmten die ovale Maske. Das Gesicht war mit bunten
Farben verziert, die die Augen von dem aufgerissenen Mund
trennten, in dem fahle, abgebrochene Zähne schimmerten.
Menschliche Zähne, vermutete Prue.

»Westafrikanisch, richtig?«, fragte Prue mit dem

zurückhaltenden, doch selbstsicheren Lächeln, das Piper als ihr
Siegerlächeln zu bezeichnen pflegte.

Tremaine zog verblüfft eine Braue hoch. Offensichtlich war

keine der Damen aus seinem Bekanntenkreis mit antiken
Kultgegenständen vertraut. »Ja, es handelt sich eine
Geistermaske aus dem Kongo.«

Prue streckte die Hand aus und stellte sich vor.

»Ich bin entzückt, Ms. Halliwell, mehr als Sie sich vorstellen

können.« Tremaine umfasste Prues Hand. »Es geschieht nur
selten, dass ich jemandem begegne, der die alten Künste zu
schätzen weiß.«

»Mehr als du je ahnen kannst«, dachte Prue. Sie und ihre

beiden Schwestern waren die Zauberhaften Hexen, ausgestattet
mit übernatürlichen Kräften und auf Gedeih und Verderb
verpflichtet, die Unschuldigen vor dem Bösen zu beschützen.
Seit sie alle drei wieder in das alte viktorianische Haus gezogen
waren, das sie von ihrer Großmutter geerbt hatten, und das Buch
der Schatten
entdeckt hatten, waren die Kräfte, aber auch die

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Bande zwischen den Schwestern stetig gewachsen.

»Noch seltener eine so schöne Frau, die die alten Künste zu

schätzen weiß...« Tremaine ließ Prues Hand los, hielt jedoch
ihrem wachsamen Blick stand. Als sie nicht gleich antwortete,
räusperte er sich und wandte peinlich berührt den Blick ab.

Prue wusste nicht recht, ob sie sein Werben ernst nehmen

sollte, oder ob er sie lediglich aus purer Eitelkeit für sich
gewinnen wollte. In jedem Fall lehnte sie seine allgemein
bekannten Machenschaften ab. Was zu einem Problem werden
konnte, sollte er vorhaben, sich mit ihr zu verabreden,
hinsichtlich ihres Jobs jedoch völlig irrelevant war. Schließlich
lächelte sie, um den peinlichen Moment zu überspielen, und hob
ihre Kamera. »Wollen wir?«

»Lassen Sie mich Ihnen zuerst noch einige andere kostbare

Stücke zeigen.« Tremaine legte eine Hand auf Prues Rücken
und schob sie sanft auf den Eingang der Bibliothek zu.

Prues Entrüstung angesichts seines besitzergreifenden

Verhaltens verschwand, als sie die prachtvolle Bibliothek betrat.
Tausende von Büchern, viele davon in Leder gebundene
Sonderausgaben, füllten an drei Wänden deckenhohe Regale.
Große Rundbogenfenster und Glastüren in der vierten Wand
führten hinaus in einen Garten. Eine Vielzahl Masken,
Wandbehänge, Lederschilde und indianischen Federschmucks
hing an der mahagoniverkleideten Wand zwischen den
Bücherregalen. Die Vitrinen füllten kunstvoll geschnitzte
Totems, Keramiken, Steingut und Werkzeuge sowie Juwelen
und Heiligenfiguren, die aus Metall, Stein und Holz gefertigt
waren. Der Anblick verschlug Prue den Atem.

»Ich sehe, Sie sind beeindruckt«, stellte Tremaine lächelnd

fest.

»Ja, das bin ich«, entgegnete Prue wahrheitsgemäß, angetan

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von der beinahe jungenhaften Freude, mit der Tremaine ihre
Reaktion beobachtete. Ihr geschulter Blick wanderte durch den
Raum. Viele der Artefakte ließen sich leicht ihrem jeweiligen
Kulturkreis zuordnen kunstvolle chinesische Jadeschnitzereien,
ägyptische Mosaike und aztekische Sonnensteine während
andere ihre Sachkenntnis schlicht überforderten. Sie beugte sich
vor, um eine Urne zu studieren, in die ein Bild des Gottes Zeus
eingraviert war. Insgeheim fragte sie sich, wie ein derart
kostbares antikes Kunstwerk in Tremaines Privatsammlung
hatte geraten können, statt in einem öffentlichen Museum
ausgestellt zu werden.

»Was schätzen Sie?«, fragte Tremaine.

»Griechisch. Viertes oder fünftes Jahrhundert vor Christus.«

Prue richtete sich auf, sorgsam darauf bedacht, sich ihr
Misstrauen nicht anmerken zu lassen. Als sie in Bucklands
Auktionshaus gearbeitet hatte, war sie mit jedem wichtigen
Kunst- und Antiquitätensammler bekannt geworden - nur nicht
mit Stephen Tremaine. Wie war er wohl an so viele unbezahlbar
kostbare Objekte gekommen?

»Fünftes Jahrhundert«, sagte Tremaine. »Die Urne wurde vor

etwa fünf Jahren bei einer Ausgrabung in der Nähe des antiken
Delphi gefunden.«

Prue fragte gar nicht erst, ob Bestechung ausgereicht hatte,

oder ob er zum Dieb hatte werden müssen, um eine so wertvolle
antike Urne aus Griechenland herauszuschaffen. Es war höchst
unwahrscheinlich, dass die griechische Regierung einfach
zugesehen hatte, wie irgendein Ausländer einen derart
hervorragend erhaltenen Kunstgegenstand außer Landes brachte.

»Auf der ganzen Welt existiert kein vergleichbares Stück«,

sagte Tremaine, während er die Urne in der Vitrine betrachtete.

Dieses Mal wusste Prue nicht recht, ob Ehrfurcht vor der

Geschichte der Urne und Respekt für die Hände, die sie einst
geschaffen hatten, ihren Gesprächspartner so überwältigten,

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oder ob er lediglich stolz und begeistert war über die Tatsache,
dass dieses einmalige Stück ihm allein gehörte. Vielleicht,
dachte sie, war es eine Mischung aus allem. Ein Mann mit
Tremaines Fähigkeiten konnte kaum so eindimensional sein, wie
es sein Ruf in der Öffentlichkeit nahe legte. Sie hatte erwartet,
einen arroganten, herrischen Mann vorzufinden. Stattdessen war
er freundlich und charmant. Wie es nun um die wahre
Persönlichkeit Stephen Tremaines bestellt war, vermochte Prue
beim besten Willen nicht zu sagen. Sie beschloss, kein Risiko
einzugehen, und wechselte das Thema, ehe sie etwas sagen
konnte, was sie später bedauern würde.

»Ich muss die Fotos machen, solange das Licht noch gut ist,

Mr. Tremaine.«

Einer der Filter, die sie in ihrer Tasche hatte, würde die harten

Linien seines Gesichts dämpfen. Davon abgesehen hoffte sie,
dass die Wunder der modernen Technik im Stande wären, die
Illusion von jugendlicher Größe zu schaffen, die Mr. Tremaine
von ihrem Foto erwarten würde.

»Natürlich.« Tremaine nickte knapp, machte kehrt und ging

zur anderen Seite des Raumes, wo er sich seufzend an seinen
Schreibtisch lehnte. »Ich nehme an, Sie wollen die üblichen
Porträtfotos machen.«

»Eigentlich hatte ich an eine etwas kreativere Variante

gedacht«, sagte Prue. Tatsächlich dachte sie auch an ihre
Zukunft. Sollte es Tremaine tatsächlich schaffen, gewählt zu
werden, würde es kaum schaden, wenn sie einen
Kongressabgeordneten zu ihren zufriedenen Kunden zählen
konnte. »Ein Foto sagt auch etwas über den Menschen aus, der
sich hinter seinem Ruf in der Öffentlichkeit verbirgt.«

»Wie zum Beispiel?«, fragte Tremaine.

Prue ließ ihre Tasche auf das Sofa fallen und redete weiter,

während sie nach einem passenden Filter suchte. »Zum Beispiel
ein Brustbild mit einem ihrer wunderbaren Stücke. Suchen Sie

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sich aus, welches.«

»Hervorragende Idee«, begeisterte sich Tremaine, zog einen

Schlüssel aus der Jackentasche und schloss die nächststehende
Vitrine auf. »Wird es eine Bildunterschrift geben?«

»Höchstwahrscheinlich.« Prue lächelte ihr Siegerlächeln.

Diplomatie, geschickt verpackt und angemessen dosiert, war
eine ziemlich wirkungsvolle Waffe. Ob Tremaine sie mit seinen
Komplimenten nun hatte zum Narren halten wollen oder nicht,
jetzt hatte sie die Zügel in der Hand.

»Was ist das?«, fragte Prue, als Tremaine eine roh behauene

kleine Statue aus der Vitrine nahm. Die Statuette war oval,
grobe Linien umrissen lediglich Kopf und Körper. Alles in
allem eine seltsame Wahl, verglichen mit Tremaines übrigen,
weit kunstvolleren Schätzen.

»Meine Gutachter halten die Statuette für einen Geisterstein.«

Tremaine schloss beide Hände um die kleine Statue, und sein
Blick ruhte in offener Bewunderung auf ihr.

»Nur weiter so!« Prue begann, aus verschiedenen

Blickwinkeln zu fotografieren.

»Dem Augenschein nach gehörte sie einem geheimnisvollen

Stamm an, der vor rund dreitausend Jahren im zentralen
Amazonasgebiet in Südamerika heimisch war«, fuhr Tremaine
fort.

Prue fing sein zufriedenes Grinsen mit der Kamera ein und

knipste weiter. »Faszinierend.«

»Ja, allerdings.« Tremaines Miene umwölkte sich. »Aber

meine Kenntnisse und meine Bewunderung für die alten
Kulturen werden mir nicht helfen können, meinen Gegner bei
der Wahl zu schlagen.«

»Vermutlich nicht«, stimmte ihm Prue zu. Noel Jefferson war

der andere Anwärter für den kürzlich freigewordenen
Abgeordnetenstuhl in San Francisco. Jefferson war jünger und

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attraktiver als Tremaine, ein idealistischer Kämpfer für
Gleichheit und Gerechtigkeit. Trotz Tremaines politischer
Verbindungen, von seinen finanziellen Mitteln ganz zu
schweigen, hatte Jefferson bislang die Nase vorn. Mit seinem
entschlossenen Eintreten für die Gerechtigkeit hatte er sich
bereits die Halliwell-Stimmen gesichert. Dennoch blieben
Tremaine noch mehrere Wochen bis zur Abstimmung. Eine
Frist, die ihm eine gute Chance einräumte, den Vorsprung seines
Gegenspielers aufzuholen. Denn Tremaine versprach, die
Amtsgewalt zugunsten von mehr Eigenverantwortung
einzuschränken. Der flexible, aufstrebende, geschäftstüchtige
Teil der Wählerschaft liebte den erfolgreichen, gutgestellten
Pragmatiker von ganzem Herzen.

Prue hörte nicht auf zu fotografieren, während Tremaines

Kiefermuskeln sich spannten und seine Finger sich fester um die
antike Steinfigur legten.

»Sie können sich gar nicht vorstellen, wie sehr ich mir

wünschte, ich müsste nicht gegen Noel Jefferson antreten. Der
Ruf dieses Mannes ist...« Tremaine schloss die Augen und
schwankte auf den Füßen, als wäre ihm plötzlich schwindelig
geworden.

Prue ließ die Kamera sinken und streckte instinktiv die Hand

nach ihm aus. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht es gut.« Nichtsdestotrotz stellte er die archaische

Steinstatuette mit zitternden Händen zurück in die Vitrine und
stammelte eine Entschuldigung. »Während der letzten Zeit
waren meine Tage so ausgefüllt... Ich habe wohl zu viele
Mahlzeiten ausfallen lassen.«

Obgleich Tremaine nichts davon bemerkt hatte, war Prue

nicht entgangen, dass er die Statue unsicher auf der Kante
abgestellt hatte. Als der schwankende Stein zu fallen drohte,
konzentrierte sie sich, schnippte mit dem Finger und rückte ihn
gerade, um die Vitrine vor größeren Schäden zu bewahren.

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Tremaine, der sich abgewandt hatte, bekam auch davon nichts
mit.

»Sind wir fertig?« Wieder gefasst, setzte sich Tremaine in den

Ledersessel hinter seinem Schreibtisch und klappte den Laptop
auf.

»Ja.« Prue stellte fest, dass der Kandidat aufgebracht war,

weil sie ihn in einem Augenblick der Schwäche erlebt hatte. Da
er aber seine medizinische Akte längst der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht hatte, wusste sie, dass er keine ernsthaften
Krankheiten zu verschweigen hatte. Dennoch hätte ein weniger
rechtschaffener Reporter als sie durchaus auf die Idee kommen
können, diesen Vorfall zu politischen Zwecken oder für seinen
eigenen beruflichen Vorteil zu missbrauchen. »Ich bin sicher,
eines dieser Bilder wird...«

»Schön. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich habe noch viel

zu tun.« Tremaine wandte sich ab und widmete sich seinem
Computer.

Verärgert über diesen Hinauswurf schnappte sich Prue ihre

Kameratasche und ging zur Tür. Unterwegs sah sie sich die
Vitrinen genauer an und erkannte, dass Tremaine einige ganz
besondere Stücke sein Eigen nannte. Vor allem jedoch
dominierten Waffen und andere Werkzeuge des Kampfes und
der Einschüchterung die Sammlung.

Als Prue das Foyer betrat, ging ihr plötzlich ein Licht auf.

Kampf und Einschüchterungstechniken waren ein passendes
Abbild von Tremaines Vorgehensweise als Geschäftsmann - und
vielleicht auch als Politiker. Jeder, der eine Wahl gewinnen
wollte, müsste sich in der Öffentlichkeit nun einmal freundlich
und charmant zeigen, auch wenn er es überhaupt nicht war.

Kurz blickte Prue in die dunklen Augen der Maske auf dem

Sockel, ehe sie schaudernd den Raum verließ. Vielleicht war
Tremaines Leben genauso leer wie diese alten, toten Augen, wie
das Leben so vieler Menschen, deren Dasein ausschließlich

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durch Geld und Macht definiert wurde.

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2

»

IST DAS NICHT ROMANTISCH

Grinsend öffnete Phoebe den

alten Weidenpicknickkorb ihrer Großmutter und zog eine
geblümte Tischdecke hervor. Ihre Schwestern wechselten
derweil vielsagende Blicke, als glaubten sie, Phoebe wäre ganz
plötzlich übergeschnappt.

Piper, die ein schlichtes Baumwoll-T-Shirt, einen sportlichen

Rock und Sandalen trug, verschränkte verwirrt die Arme vor der
Brust. »Hast du gerade ›romantisch‹ gesagt?«

»Ich habe ganz deutlich gehört, dass sie ›romantisch‹ gesagt

hat.« Prue, sehr sexy in ihrer knappen Jeans und dem roten,
rückenfreien Top, stellte ihre Kameratasche auf der Bank vor
dem Picknicktisch ab und ergriff einen Zipfel des Tischtuches.
Ihre blauen Augen, die durch das schimmernde, schulterlange
schwarze Haar betont wurden, funkelten vergnügt, als sie Piper
einen anzüglichen Blick zuwarf. »Ich habe dir doch gesagt, dass
Phoebe nicht genug rauskommt.«

»Das ist wahr.« Piper unterdrückte ein Grinsen. »Ich habe nur

nicht damit gerechnet, dass mehrere Wochen Examens-Büffelei
bei Menschen, die unter einem eklatanten Mangel an
romantischen Gegebenheiten leiden, eine Illusion der Romantik
hervorrufen können.«

»Eklatanter Mangel, ganz bestimmt. Illusion... nein«,

entgegnete Phoebe. Der Saum ihres blauen Oberteils rutschte
nach oben, als sie die Arme ausstreckte, und ein flacher Bauch,
ebenso gebräunt wie ihre langen Beine, kam zum Vorschein.
»Ich meine, seht euch doch mal um.«

Phoebes Blick wanderte über den ausgedehnten Stadtpark.

Der Picknicktisch, den sie sich ausgesucht hatten, stand hoch
oben auf einer grasbewachsenen Anhöhe unter den Zweigen
einer gewaltigen Eiche. Enten und Schwäne teilten sich den in

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der Sonne glitzernden Teich in der Mitte der Wiese unterhalb
des Hanges. Ein paar ältere Leute saßen auf Parkbänken und
genossen die warme Nachmittagssonne oder gingen mit kleinen
Hunden spazieren. Jogger und Teenager auf Inlineskates oder
Skateboards rasten die Pfade entlang, die sich zwischen dichten
Hainen aus Laub- und Nadelbäumen hindurchschlängelten.
Kinder lachten und kreischten auf einem Spielplatz, der mit
hölzernen Klettergerüsten, Rutschen und Schaukeln ausgestattet
war. Eine Geburtstagsgesellschaft, die ein Pony gemietet hatte,
belegte einen überdachten Picknickpavillon etwa hundert Meter
von ihrem Tisch entfernt.

Phoebe atmete tief ein und langsam wieder aus. Der friedliche

Anblick ganz gewöhnlicher Leute bei ihren ganz gewöhnlichen
Beschäftigungen war für sie eine willkommene und
besänftigende Abwechslung von dem ganz und gar nicht
gewöhnlichen, stetigen Kampf, den sie und ihre ebenfalls
keineswegs gewöhnlichen Schwestern gegen das Böse führen
mussten. Folglich war sie fest entschlossen, jeden
dämonenfreien Augenblick dieses improvisierten
Familienausfluges in vollen Zügen zu genießen, liebevolle
Hänseleien eingeschlossen.

Phoebe sah sich im Park um und zuckte die Schultern, als sie

sich wieder zu Piper umwandte. »Das mit der Romantik
verstehe ich nicht.«

»Für dich ist das also nicht der perfekte Rahmen für ein

romantisches, träges Nachmittagspicknick?« Phoebe war ehrlich
erstaunt. Unter den drei Schwestern stand keine so fest mit
beiden Beinen auf der Erde wie Piper, aber sie war auch die
Einzige unter ihnen, die gerade heiß verliebt war.

»Absolut perfekt.« Piper strich sich eine Strähne ihres langen

braunen Haares hinter das Ohr. »Nur dass wir drei Frauen
gemeinsam beim Picknick sitzen und kein Mann in der Nähe
ist.«

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Phoebe seufzte verärgert. »Aber wenn Leo hier wäre...«

»Ist er aber nicht.« Piper legte den Kopf auf die Seite und

reckte das Kinn vor. Ein Schatten legte sich über ihre dunklen
Augen.

Phoebe brauchte kein Lexikon für Körpersprache, um klar

und deutlich zu verstehen, was das zu bedeuten hatte. Leos
Aufgabe war es gewesen, die Halliwell-Schwestern zu
beschützen, als sie ihre Kräfte entdeckt hatten. Aber er hatte
Piper das Herz gebrochen. Wie auch immer, in letzter Zeit hatte
er sich nicht allzu häufig blicken lassen. Sie konnte es Piper
kaum vorwerfen, wenn jene nicht gern darüber sprach, dass sie
bei diesem Wächter des Lichts ununterbrochen die zweite Geige
spielen musste. Piper wagte es nicht, sich laut und deutlich zu
beklagen.

Piper sah die Sache falsch, dachte Phoebe dann. Da sich ihre

Schwester nun einmal in einen Mann hatte verlieben müssen,
der bereits im Zweiten Weltkrieg gefallen und von den
wichtigen Jungs im Himmel als Agent des Guten rekrutiert
worden war, musste sie ganz einfach mit den Konsequenzen
leben. Und wie das Glück so spielte, stand eine Romanze
zwischen den Wächtern des Lichts und den Hexen, die sie
beschützten, ganz oben auf der großen Verbotsliste des
Himmels. Als dann aber Pipers Liebeskummer die Macht der
Drei bedrohte, hatten sich Leos Bosse erweichen lassen -
allerdings unter einer Bedingung: Piper und Leo durften sich
ihrer verbotenen Liebe nur hingeben, solange sie keinem
schutzbedürftigen unschuldigen Menschen ihre Hilfe versagten.

Und Helfen war ein Vollzeitjob für sie alle, wie Phoebe im

Stillen feststellte. Aber im Gegensatz zu Leo waren sie und ihre
Schwestern gezwungen, sich auf unbekannte metaphysische
Ebenen zu begeben, um ihren Teil des Geschäfts zu erfüllen.

»Und für dich und mich steht nichts in Aussicht«, fügte Prue

hinzu.

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»Wie?« Phoebe blinzelte verwirrt.

»Keine romantischen Aussichten«, erklärte Prue.

»Das ist ein rein temporäres Problem. Ganz sicher«, konterte

Phoebe. Irgendwo da draußen wartete der Richtige auf sie,
versicherte sie sich. Besser die Geduld zu bewahren, als sich
dem Falschen hinzugeben und es für alle Zeiten bereuen.

»Offensichtlich weißt du gar nicht, wie Recht du hast«,

verkündete Piper. »Besonders, wenn du auf große, blonde,
braungebrannte Typen stehst.«

»Hast du in deine Kristallkugel geguckt?«, fragte Phoebe.

»Nein, nur hinter den Tresen vom P3«, entgegnete Piper

grinsend. »Rick Foreman, der neue Barkeeper, konnte kaum den
Blick von dir abwenden, als du zum letzten Mal dort warst.«

Phoebe runzelte nachdenklich die Stirn. Sie hatte Pipers Club

am letzten Freitag aufgesucht, um sich für ein paar Stunden eine
Auszeit von ihren Büchern zu nehmen. Aber sie konnte sich
nicht an einen neuen Barkeeper erinnern. »Warum hast du denn
nichts gesagt?«

»Weil du letztes Wochenende genug mit deinem Examen zu

tun hattest und bestimmt keine Ablenkung hättest gebrauchen
können«, erklärte Piper.

»Richtig«, stimmte ihr Phoebe zu. »Ich wäre bestimmt eine

lausige Gesprächspartnerin gewesen. Und der Funke wäre
vielleicht gar nicht übergesprungen, wenn ich diesen Rick
tatsächlich getroffen hätte.«

»Funke klingt gut«, seufzte Prue.

»Keine chemische Reaktion zwischen dir und dem reichen,

hinlänglich attraktiven Mr. Tremaine, Prue?«, fragte Piper,
während sie Plastikteller und Thermoskannen mit Limonade aus
dem Picknickkorb nahm.

»Nicht wirklich.« Nachdenklich verteilte Prue das Besteck,

das in Servietten eingewickelt war, wie Piper sie im P3 benutzte.

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»Soll das heißen, du bist nicht sicher?«, hakte Phoebe nach,

während sie den Deckel von der Schale mit kaltem
Grillhähnchen zog, sich einen Schlegel schnappte und die
Schale auf dem Tisch abstellte.

»Nein, ich bin nicht sicher.« Prue schob ihre Füße unter den

Tisch und schenkte Limonade ein, während Piper und Phoebe
sich ebenfalls setzten. »Stephen Tremaine ist tatsächlich
ziemlich nett, was nicht ungewöhnlich ist für einen Politiker, der
eine Wahl gewinnen will. Allerdings stimme ich mit keiner
seiner Positionen überein.«

»Erst die Wirtschaft, dann die Umwelt und so weiter«, sagte

Phoebe. Unter keinen Umständen würde sie für einen
superreichen Unternehmer stimmen, der den Standpunkt vertrat,
dass die Betriebe die Einhaltung der Umweltschutzauflagen
selbst überwachen sollten.

Piper nickte. »Andererseits stimmen viele meiner Gäste

Tremaine in genau diesen Punkten zu.«

»Wie es scheint, sind auch ziemlich viele andere Leute mit

deinen Gästen einer Meinung, aber was mich wirklich
abgestoßen hat, war...« Prue unterbrach sich und trank einen
Schluck.

»Was?« Phoebes Hand, die einen Löffel voller Kartoffelsalat

hielt, erstarrte. »Schlechter Atem? Lässt er die Gelenke
krachen? Schmatzt er beim Essen?«

»Er hat eine gruselige Sammlung.« Prue erschauderte.

Piper reagierte beinahe erschrocken. »Was für eine

Sammlung? Aufgespießte Käfer? Schrumpfköpfe?«

»Briefmarken?«, warf Phoebe ein.

»Keine Briefmarken, aber ich würde meinen neuen

Kaschmirpullover wetten, dass er irgendwo einen Käfer oder
einen Kopf herumliegen hat.« Prue lächelte. »Er besitzt eine der
beeindruckendsten Kunstsammlungen, die ich je gesehen habe.

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Aber die meisten Gegenstände haben einen Bezug zum Krieg.«

»Willst du damit sagen, Tremaine hat einen Knall?« Phoebe

kniff die Augen zusammen und knabberte an ihrer Karotte. »Das
würde erklären, warum er für den Kongress kandidiert. Mit all
seinem Geld muss er einfach verrückt sein, ausgerechnet in die
Politik zu gehen.«

»Nicht unbedingt«, widersprach Prue.

»Nun, ich jedenfalls bezweifle, dass Stephen Tremaine das

dringende Bedürfnis hat, sich für das Allgemeinwohl
einzusetzen«, entgegnete Piper. »Und der einzige andere Grund,
in die Politik zu gehen, ist die Macht.«

»Das passt zu Tremaines Persönlichkeitsprofil.« Prue ließ

einen Hühnerknochen auf ihren Teller fallen und wischte sich
die Finger an der Serviette ab.

Piper legte nachdenklich die Stirn in Falten. »Ich kann mir

einfach nicht vorstellen, warum irgend jemand für ihn stimmen
sollte.«

»Er ist großartig im Händeschütteln, und er hat ein

gewinnendes Lächeln.« Prue zuckte die Schultern. »Für manche
Leute reicht das.«

»Und außerdem hat ereine hervorragende Werbekampagne

für sich gestartet.« Phoebe pflegte sich üblicherweise nur wenig
um Politik zu kümmern, aber Tremaines eingängige Botschaft
war nur schwer zu übersehen. Seine TV-Spots und seine
Plakatwerbung für das Konzept einer umweltfreundlichen
Industrie dominierten sämtliche Fernsehsender und das
Straßenbild. Allzu viele Wähler waren nicht im Stande, jenseits
von kurzfristigen ökonomischen Gewinnen die langfristige
Gefahr katastrophaler Umweltschäden zu erkennen. Phoebe
dagegen glaubte nicht, dass die wirtschaftlichen Vorteile dieses
Risiko rechtfertigen konnten.

»Trotzdem scheint auch Tremaine ein bisschen besorgt zu

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sein«, sagte Prue. »Gestern hat er tatsächlich gesagt, er
wünschte sich, nicht gegen Noel Jefferson antreten zu müssen.«

»Das ist allerdings ein dicker Brocken.« Piper grinste. »Ganz

zu schweigen von der Tatsache, dass der einer von den guten
Jungs ist.«

Jefferson, der andere Möchtegern-Kongressabgeordnete, war

Mitte Dreißig, athletisch, blond, hatte braune Augen und stellte
sich als dynamischer Beschützer der Unterprivilegierten, als
Kämpfer gegen jede Art von Unrecht dar. Keiner der beiden
Kandidaten war verheiratet.

»Mr. Jefferson hat durchaus eine gewisse Anziehungskraft -

für einen armen Mann mit Prinzipien.« Aufgeregt beeilte sich
Phoebe, ihre Feststellung richtig zu stellen: »Nicht, dass ich
interessiert wäre.«

»Natürlich nicht, aber ich vielleicht.« Prue griff nach dem

Salz und stieß gegen ihr Limonadenglas.

Pipers Hand schoss vor, um das kippende Glas samt der

auslaufenden gelben Flüssigkeit einzufrieren.

»Piper!« Tadelnd runzelte Prue die Stirn, während sie das

Glas wieder aufrichtete.

»Sorry.« Piper verzog das Gesicht und löste den Bann über

der Limonade.

Prue schnappte sich einen Stapel Papierservietten, um die

verschüttete Limonade wegzuwischen.

Was für dramatische Sekunden, dachte Phoebe, während sie

sich umsah, um herauszufinden, ob irgendjemand sie beobachtet
hatte, was jedoch nicht der Fall war. Die Grundschüler, die ein
paar Meter entfernt Fußball spielten, waren zu sehr in ihr Spiel
vertieft, um auf ihre Umgebung zu achten. Das Gleiche galt für
ihre Eltern. Die Leute, die an der Geburtstagsfeier im Pavillon
teilnahmen, waren derweil damit beschäftigt, die übereifrigen
Ponyreiter davon zu überzeugen, dass sie warten mussten, bis

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sie an der Reihe waren.

»War doch klar, dass 415 ausgerechnet mich schicken musste,

um Tremaine zu fotografieren«, seufzte Prue. »Wenn ich
stattdessen Noel Jefferson kennen gelernt hätte, hätte ich ihm
wenigstens ehrlich sagen können, dass ich beabsichtige, ihm
meine Stimme zu geben.«

»Vielleicht bekommst du am nächsten Samstag eine neue

Chance.« Piper legte ihren Löffel ab und klopfte sich auf den
Bauch. »Ich bin voll.«

»Was ist am nächsten Samstag los?« Phoebe nahm sich eine

weitere Karotte. Als sie das Ende abbiss, warf Piper ihr einen
misstrauischen Blick zu. »Bin ich in Schwierigkeiten?«

»Bist du, falls du vergessen hast, dass du dich freiwillig bereit

erklärt hast, mir beim Stand des P3 während des
Wohltätigkeitsbasars zu helfen.«

»Findet der schon diesen Samstag statt?« Phoebes ohnehin

schon große braune Augen weiteten sich. Sie hatte ihr
Versprechen nicht vergessen, aber wegen der Prüfungen hatte
sie jegliches Zeitgefühl verloren.

Piper plante, das Ambiente des P3 mittels einer Sitzecke,

einem oder zwei Tischen, alkoholfreien Getränken und kalten
hors d'œuvres sowie Fotos von den Räumlichkeiten des Clubs
wiederzugeben. Außerdem sollten Konzertmitschnitte
verschiedener Musiker, die im P3 aufgetreten waren, für den
Club werben. Stattfinden würde die Veranstaltung an der
Strandpromenade und auf dem Picknickgelände gegenüber dem
Gold Coast Amüsement Park. Phoebe freute sich schon darauf,
an dem Stand mitzuhelfen, besonders weil sich viele lokale und
nationale Berühmtheiten angesagt hatten. Wer konnte schon
wissen, wo die Liebe ihres Lebens derzeit herumlungerte und
darauf wartete, einer kecken Hexe zu begegnen? Vielleicht
hinter dem Tresen des P3, dachte sie lächelnd.

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»Du wirst mich doch nicht im Stich lassen, oder?«, fragte

Piper.

»Ich halte mein Wort.« Feierlich erhob Phoebe ihre freie

Hand, nur um sich sogleich den Rest ihrer Karotte in den Mund
zu stopfen.

Was um alles in der Welt soll Noel Jefferson mit dieser

Wohltätigkeitsveranstaltung zu schaffen haben? Prue knüllte die
Papierservietten zusammen. Limonade tropfte zwischen ihren
Fingern herab, als sie den nassen Zellstoff in den gut drei Meter
entfernten Mülleimer warf. Der triefende Papierball prallte
gegen den Rand des Drahtgeflechteimers und drohte, auf die
Erde zu fallen.

»Hey!« Phoebes Augen blitzten warnend auf, als Prue die

Hand hob, um die nassen Servietten auf telekinetischem Weg in
den Abfalleimer zu befördern. »Wenn du und Piper nicht
endlich aufhört, mit euren Kräften herumzuspielen, landen wir
bald als Hexen auf den Titelblättern der Boulevardpresse.«

»Sorry.«

Prue glitt von der Bank, um die Servietten auf

herkömmlichem Wege aufzuheben.

Piper blickte kurz zum Himmel, ehe sie Phoebe ansah und die

Schultern zuckte. »Wenn so eine Macht allmählich zu einer
zweiten Natur wird, denkt man nicht mehr ständig darüber nach,
ehe man sie benutzt.«

Auf intellektueller Ebene konnte Phoebe die Schwestern

durchaus verstehen. Trotzdem konnte sie ihr Verhalten nicht
akzeptieren. Schließlich mussten sie alle daran denken, dass der
leichtfertige Gebrauch ihrer Gaben gegen die Regeln verstieß.
Sie selbst war nicht im Stande, ihre Fähigkeit, in die Zukunft
oder die Vergangenheit zu sehen zu kontrollieren. Bisher
beherrschte sie auch die Kunst der Levitation nicht sicher genug,
um sie aus dem Stegreif einsetzen zu können. Dennoch musste

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sie damit rechnen, dass sie eines Tages selbst aufpassen musste,
dass sie sich nicht einfach in die Lüfte erhob, um etwa
irgendeine Katze aus einem Baum zu retten.

»Möchte jemand Nachtisch?«, wechselte Phoebe das Thema

und förderte einen Schokoladenkuchen aus dem Picknickkorb zu
Tage.

Prue setzte sich wieder und beugte sich zu Piper hinüber.

»Wird Noel Jefferson etwa bei dem großen Ereignis nächsten
Samstag zugegen sein?«

»Yep.« Piper reichte Phoebe ein Messer. »Er und Stephen

Tremaine. Jeder von beiden wird eine Rede halten. So eine Art
Gehen-Sie-zur-Wahl-und-da-wir-gerade-dabei-sind-wählen-Sie-
mich-Zeug.«

»Toll. Vielleicht kann ich dann auch von ihm ein paar gute

Bilder schießen, für den Fall, dass 415 interessiert ist.« Prue
zuckte lässig mit den Schultern, aber für Phoebe war ihre
gleichgültige Fassade so durchsichtig wie Glas. In Liebesdingen
hatte ihre ältere Schwester in jüngster Zeit auch nicht gerade die
beste Figur abgegeben.

»Pass auf!«, schrie Piper.

Phoebe ließ das Messer fallen, als ein schwarzweißer Fußball

vom Himmel fiel und ihren Kuchen zertrümmerte. Sie sprang
zurück, aber nicht schnell genug, als dass sie ihr T-Shirt vor den
herumspritzenden Schokostückchen hätte schützen können. Sie
zischte Piper zu: »Warum hast du den Ball nicht eingefroren?«

»Ein zerstörter Kuchen ist nicht zwangsläufig ein Notfall, der

eine magische Vorgehensweise erforderlich macht«, entgegnete
Piper ebenfalls flüsternd. Dann kniff sie die Augen zusammen,
als ein etwa neun Jahre altes Mädchen sich ihrem Tisch näherte.

T-Shirt und Shorts des Kindes waren zerknittert und

schweißnass. Auf seinen Knien prangten Grasflecken, sein
Gesicht war schmutzig, und es trat mit ängstlicher Miene von

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einem Fuß auf den anderen.

»Gehört der dir?« Phoebe lächelte, um das Mädchen zu

beruhigen, und nahm den Ball von dem zerschmetterten
Nachtisch. Schokoguss und Kuchenbrösel klebten an seiner
Unterseite fest.

»Ja. Das mit dem Kuchen tut mir Leid.« Das Mädchen

streckte die Arme nach dem Ball aus.

»Ist schon in Ordnung...« Als die Hände des Kindes den Ball

berührten, wurde Phoebe von einer herzerschütternden Vision
durchgerüttelt. Ihre Muskeln verkrampften sich, und ihr wurde
schwindelig, als sich die Bilder einer bevorstehenden
Katastrophe in ihrem Kopf abspulten.

... das kleine Mädchen, zu Boden geschmettert, zertrampelt

von einer zotteligen Bestie, ihr Schrei, kaum hörbar in dem
Durcheinander aus menschlichen und pelzigen braunen
Beinen...

»Danke!« Das Mädchen machte kehrt und rannte davon.

Von der plötzlichen Vision aus dem Konzept gebracht, verlor

Phoebe wertvolle Sekunden, die sie benötigte, um ihre Sinne zu
sammeln. Sie kämpfte noch darum, einen Ton herauszubringen,
als ihre Schwestern bereits an ihre Seite eilten. »Warte.«

»Was ist los?«, fragte Prue, als das Kind stehen blieb und sich

umblickte.

»Ich bin nicht sicher. Irgendeine Art dämonisches Fellvieh...«

Phoebe sah sich nach dem Pavillon um, in dem die
Geburtstagsfeier stattfand. Ein Mann mit Cowboyhut führte das
Pony zu einem Pferdeanhänger auf dem nahegelegenen
Parkplatz.

»Was für ein dämonisches Vieh?«, drängelte Piper.

»Das Pony?« Phoebe zögerte verunsichert und richtete ihren

Blick auf das Mädchen, das den Ball unter den Arm geklemmt
hatte und sehnsüchtig zu dem Pferdeanhänger hinüberstarrte.

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»Ich wünschte, ich hätte ein eigenes Pony.« Plötzlich fiel der

Kopf des Mädchens zurück. Sie schwankte und sank auf ihre
grasfleckigen Knie, als die Beine unter ihr nachgaben.

Als ein lautes Kreischen die Stille des Nachmittags

erschütterte, stürzte Phoebe alarmiert auf das Kind zu. Ihr Herz
setzte aus, als das Pony sich an der Rampe des Anhängers
aufbäumte, sich losriss und quer über den Rasen auf das am
Boden liegende Mädchen zugaloppierte.

»Piper!«, schrie Phoebe und rannte los, fest entschlossen, das

Mädchen vor jeglichem Schaden zu bewahren. Dummerweise
gab es zu viele Zeugen, als dass Piper oder Prue ungesehen ihre
Kräfte hätten einsetzen können. Und sie selbst würde nicht
schnell genug bei dem Mädchen sein...

Innerhalb einer einzigen Sekunde hatte Piper die Situation

erfasst und erkannt, dass sie das Pony nicht einfrieren konnte,
ohne unter all den Menschen Aufmerksamkeit zu erregen. Es
gab einfach zu viele Leute, die alles beobachteten. Die Augen
von einem Dutzend Erwachsener und einem weiteren Dutzend
kindlicher Partygäste hingen förmlich an dem flüchtenden Pferd.
Die Mannschaftskameraden des Mädchens ahnten nicht einmal,
welche Katastrophe sich hier anbahnte, bis ein hysterischer
Mann und eine Frau losrannten, um das Kind zu retten. Pipers
Kräfte waren im Laufe der Zeit zwar gewachsen, aber sie waren
nicht stark genug, um mit so etwas fertig zu werden. Trotzdem
musste sie irgendetwas tun.

Prues Augen weiteten sich, als Pipers Hände vorschossen.

»Schieb das Kind weg!«, drängte Piper ihre ältere Schwester,

als das Pony erstarrte.

Prues Augen verengten sich, als sie sich konzentrierte und das

Mädchen mit einer Handbewegung auf ihre Schwester Phoebe
zu bewegte.

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Piper befreite das Pony in dem Augenblick, in dem das

Mädchen nicht mehr in seiner Fluchtbahn lag.

Als Phoebe das benommene Kind schützend in ihre Arme

nahm, schoss das Pony an ihr vorbei. Phoebe sah sich zu ihren
Schwestern um und deutete tonlos mit den Lippen ein ›Danke‹
an.

Auf der Bank am Picknicktisch sackte Piper seufzend vor

Erleichterung zusammen. Das Letzte, was sie jetzt brauchen
konnte, war eine Schlagzeile in der Morgenzeitung, die da
lautete: ›Die wundersame Ponyrettung‹. »Sind wir
aufgeflogen?«

»Glaub ich nicht.« Unauffällig richtete Prue ihre

telekinetischen Kräfte gegen das Pony, verlangsamte seine
Flucht, hielt es besänftigend zurück, bis der wütende Cowboy es
eingefangen hatte.

Phoebe ließ das kleine Mädchen los, als die Eltern des Kindes

sich neben ihm ins Gras fallen ließen. Das Mädchen fing an zu
schluchzen, als die Mutter es in ihre Arme zog und sanft wiegte.
Der Vater, dessen Gesicht leichenblass und zutiefst bestürzt
aussah, murmelte etwas, als Phoebe aufstand und sich von der
Familie entfernte. Piper konnte jedoch nicht hören, was der
Mann sagte.

Ein paar andere kleine Fußballspieler beobachteten das Pony

mit großen Augen und verwunderten Mienen, aber das
beunruhigte Piper nicht allzu sehr. Kinder neigten oft zu
Übertreibungen. Sie erzählten Märchen, die ihnen die Eltern
ohnehin nicht glaubten. Aber in der Nähe des Pavillons standen
ein paar Erwachsene, die eine hitzige Diskussion führten und
immer wieder verstohlen in ihre Richtung blickten.

Darauf gefasst, sich stellen zu müssen, was auch immer nun

auf sie zukommen mochte, beobachtete Piper die Szenerie mit
einer seltsamen Gelöstheit. Sollten sie einen Preis dafür
bezahlen müssen, weil irgendjemand ihre reale Zeitlupenshow

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bemerkt hatte, so würde sie sich eben etwas einfallen lassen. Der
einzige Preis, den zu bezahlen sie niemals bereit sein würde,
war, Leo zu verlieren, weil sie nicht angemessen auf die Notlage
eines Unschuldigen hatte reagieren können. Plötzlich erbebte sie
unter einem eisigen Schauder.

Wütend fegte er an den Frauen vorbei, die mehr als einfache

Menschen waren, durch das Gedränge der Leute, die sich vor
der großen Hütte versammelt hatten. Er verbreitete mehr
Grausen und Furcht um sich als in jener Zeit, in der sein Geist
noch über die Erde gewandelt war. Vor langer Zeit war ihm sein
dämonischer Leib geraubt worden, doch die schändliche,
weibliche Magie, die sein Wesen gebunden hatte, hatte ihm
nicht die Macht gestohlen.

Nun, in Form eines steten Windhauchs in dieses fremde Land

entlassen, war er noch immer fähig, aus den inkonsequenten
menschlichen Begierden katastrophalen Schaden zu wirken.
Doch, wie er befürchtet hatte, als er aus dem Stein geflüchtet
war, die Schamaninnen konnten ihn immer noch aufhalten.

Er kochte vor Wut, weil der zarte Körper des Kindes nicht

zerschlagen worden war, zertrampelt und zerquetscht unter den
harten Hufen eines tobenden Tieres.

Er schäumte, weil er die Lebenden, die dieses Kind liebten,

nicht in tiefe Verzweiflung und Entsetzen hatte stürzen können,
die sie niemals vergessen würden.

Er peitschte durch das Geäst ihm fremder Bäume, beraubte sie

ihres Laubes, beinahe wahnsinnig vor Zorn, weil das Tier
versagt hatte und unverletzt entkommen war.

Er jammerte, als er zum Himmel aufstieg, erfüllt von

irrsinniger Rage, weil die Hexen das Chaos abgewendet hatten,
welches er durch die Begierde eines Kindes hatte herbeiführen
wollen. Ihre Magie bedrohte den Reigen der Zerstörung, der

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durch die bloße Existenz eines Wunsches in Gang gesetzt
werden sollte. Aber seine Entschlossenheit war stärker als all
ihre Macht. Er würde Vergeltung üben für alles, was ihm
genommen worden war. Aber zuerst würde er diese Hexen
bezwingen.

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3

P

HOEBE KUSCHELTE SICH BEHAGLICH

in die Sofakissen und

schob ihre flaumigen Hausschuhe unter den Kaffeetisch. Nun,
da ihre Examen hinter ihr lagen, und sie bis zur nächsten Woche
keinen Unterricht mehr hatte, freute sie sich auf diesen
entspannten Vormittag. Sie würde nichts tun als Nachrichten
sehen und eine alberne, schwülstige Liebesgeschichte lesen.
Phoebe blies auf die Oberfläche ihres heißen Kaffees und
schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung ein. Sofort
wurde ihr ästhetisches Empfinden von einem Werbespot mit
singenden und tanzenden Würsten beleidigt.

»Es ist zu früh für die Folter billiger Werbesendungen.«

Phoebe schaltete den Ton aus, nippte an ihrem Kaffee und
stellte den Becher ab. Dann nahm sie das Taschenbuch zur
Hand, das sie für einen Dollar in einem Antiquariat in der Nähe
des Campus gekauft hatte. Geheime Gelüste zur Mitternacht war
zwar ein ziemlich dürftiger Ersatz für muskulöse Männerarme.
Aber sich den Kopf mit den Prinzipien der Thermodynamik
vollzustopfen war eindeutig schlimmer.

Auch wenn sie vor allem an Psychologie und Humanmedizin

interessiert war - überhaupt an allen Gebieten, die ihr helfen
konnten, die Menschen zu verstehen, welche auf die Hilfe der
Zauberhaften angewiesen waren - würde es in Zukunft durchaus
nützlich sein, wenn sie zusätzlich über ausreichende Kenntnisse
auf naturwissenschaftlichem Gebiet verfügte. Irgendwann würde
sie sich für eine berufliche Laufbahn entscheiden müssen. Es
konnte sicher nicht schaden, wenn sie auf alles Mögliche
vorbereitet war.

Doch jetzt war sie vollends zufrieden damit, an der heißen,

aber unglücklichen Liebe zwischen Agatha Cross und Trevor
Holcombe teilzuhaben. Dem Buchumschlag nach zu schließen,

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war Agatha eine arme, aber wunderschöne Bürgerliche, die auf
Holcombe Manor als Krankenschwester für Trevors
kränkelnden Vater arbeitete. Außerdem wusste Agatha nicht,
dass alle Holcombe-Frauen unter sonderbaren Umständen
vorzeitig zu Tode gekommen waren.

»Herzerwärmende, schwülstige und spannende Geheimnisse.

Einfach Perfekt.« Als Phoebe zum Prolog blätterte, drang der
köstliche Duft frisch gebackener Zimthörnchen in ihre Nase. Sie
blickte auf und sah, wie Piper eine Kuchenplatte auf dem
Kaffeetisch abstellte. »Gestern Schokoladenkuchen, heute
Zimthörnchen. Du bist wohl fest entschlossen, meine Zähne zu
ruinieren.«

Piper griff nach Phoebes Buch, um einen Blick auf den

Einband zu werfen. »So wie du entschlossen bist, dir dein Hirn
zu ruinieren.«

»Mein Hirn braucht eine Auszeit«, konterte Phoebe, legte das

aufgeschlagene Buch mit dem Rücken nach oben auf der
Armlehne des Sofas ab und griff nach ihrem Kaffeebecher. Nach
einem langen Blick auf die Zimthörnchen beschloss sie zu
passen. Extrakalorien abzuarbeiten entsprach nicht ihrer
Vorstellung von einem faulen Tag.

»Wie wär's mit einem Kompromiss? Nachrichten?« Piper

ergriff die Fernbedienung und schaltete den Ton wieder an. Ihre
Kaffeetasse in der Hand haltend, hockte sie sich mit
angezogenen Beinen neben Phoebe auf das Sofa. »Heute keine
Uni?«

»Nein. Ich habe wunderbare fünf Tage frei.« Grinsend hob

Phoebe ihren Becher.

»Super.« Piper prostete der Schwester mit ihrer Kaffeetasse

zu. »Dann könntest du mir doch beim Einkaufen helfen.«

»Ja, sicher.« Normalerweise ging Phoebe liebend gern

einkaufen egal was. Trotzdem wäre sie an diesem Tag eigentlich

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lieber zu Hause geblieben und in die Rolle einer echten
Müßiggängerin geschlüpft, aber sie konnte sich einfach nicht
beherrschen.

»Nichts Aufregendes, nur Lebensmittel«, sagte Piper und

fügte hinzu, als sie Phoebes enttäuschte Miene bemerkte: »Aber
notwendig.«

»Habe ich dir erzählt, dass die Hard Crackers bei der

Wohltätigkeitsveranstaltung am Samstag spielen werden?«

»Wirklich? Das ist ja toll.« Phoebes Miene hellte sich um

mehrere Grade auf. Die Band hatte nicht zuletzt durch ihre
öffentlichen Auftritte in Pipers Club eine Menge Popularität
gewonnen. »Und um wie viel macht dich das ärmer?«

»Keinen Cent.« Piper strahlte vor Genugtuung. »Sie

bekommen zu essen und zu trinken, so viel sie wollen, und eine
Chance, dass irgendeiner von den Prominenten bei der
Veranstaltung auf sie aufmerksam wird.«

»Cool.« Phoebe verlagerte ihr Gewicht und runzelte die Stirn,

als Prue die Haustür aufriss. Plötzlich erstarrte sie beim Klang
einer Sirene, doch dann erkannte sie, dass das Geräusch aus dem
Fernseher stammte.

»... wurde neben zwei Gangmitgliedern ein Mann in seinem

eigenen Wohnzimmer getötet, als Schützen aus einem fahrenden
Auto heraus das Feuer eröffneten«, verkündete ein Sprecher.
»Derzeit folgt die Polizei verschiedenen Spuren, die ihnen von
Augenzeugen geliefert wurden, doch bisher gibt es keine
Festnahmen.«

Phoebe schaltete den Ton wieder ab, als die Haustür krachend

ins Schloss fiel. »Sorry, Piper, aber ich kann Mord und
Totschlag nicht vertragen, ehe ich meinen ersten Kaffee
getrunken habe.«

»Geht mir genauso«, seufzte Piper.

Der Vorfall war sicher kein geeigneter Anlass, um Witze zu

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reißen, aber manchmal hielten sich Phoebe und ihre Schwestern
nur noch durch ihren Humor aufrecht. Immerhin mussten sie
sich täglich mit schrecklichen Dingen herumschlagen, an deren
Existenz die meisten Menschen nicht einmal glauben würden.

»Stehen wir auf dem Titelblatt?«, fragte Piper, als Prue mit

der Morgenzeitung hereinkam und sich auf einen Stuhl fallen
ließ.

Phoebe beugte sich vor, als Prue die Zeitung aufschlug,

begierig zu erfahren, ob das durchgegangene Pony im Park es
bis in die Lokalnachrichten geschafft hatte. Dabei fiel ihr auf,
dass auch Prue immer noch ihren Schlafanzug trug.
Offensichtlich hatte sie auch keine drängenden Termine an
diesem Tag. Als der Blick ihrer Schwester langsam über das
Titelblatt wanderte, wuchs Phoebes Spannung beinahe ins
Unermessliche. »Und?«

»Kein Wort.« Lächelnd drehte Prue die Zeitung, sodass

Phoebe und Piper ebenfalls einen Blick darauf werfen konnten.

Phoebe ließ sich wieder in die Kissen sinken, aber Piper war

nicht so einfach zu beruhigen.

»Blätter weiter!«, verlangte Piper kurz angebunden. »Sieh auf

jeder Seite nach.«

»Ja, ich schätze, das ist eine gute Idee.« Prue legte die Zeitung

vor sich auf den Tisch. »Würdest du mir vielleicht einen Kaffee
bringen?«

»Ich werde heute eine Ausnahme machen«, zog Piper sie auf.

»Außerdem könnte ich ohnehin noch einen Kaffee vertragen. Du
auch, Phoebe?«

»Gern. Danke.« Phoebe reichte Piper ihre Tasse, ehe sie ihren

wachsamen Blick auf Prue richtete. Einige Minuten blieb sie
ganz still sitzen, bis ihre Ungeduld schließlich doch die
Oberhand gewann. »Was gefunden?«

»Nur das Übliche bis jetzt, aber ich bin erst auf Seite Vier.«

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Prue blätterte um. »Ein Raubüberfall in der Pacific Street,
diverse Einbrüche, ein Typ hat seine Freundin erschossen und
Selbstmord begangen und...«

»Und?« Phoebe rutschte nervös auf ihrem Platz hin und her.

»Ein Kind ist in einem Teich beim Gemeindezentrum

ertrunken.« Prue räusperte sich. »Aber kein Wort von einem
Pony, das den Gesetzen der Schwerkraft trotzt.«

»Gut!« Die Henkel dreier Becher in einer Hand haltend, eine

Serviermethode, die Phoebe bisher nicht beherrschte, kehrte
Piper aus der Küche zurück. Sie reichte jeder ihrer Schwestern
einen Kaffeebecher, ehe sie sich wieder auf das Sofa fallen ließ.

»Letzte Nacht habe ich geträumt, ich wäre von einer Horde

wütender Eltern und Kinder verfolgt worden, weil ich ein
Karussell immer wieder eingefroren habe.«

Phoebes Lächeln verblasste, als ihr Blick zu dem stumm

geschalteten Fernseher schweifte. Hustende, ruß verschmierte
Leute in Morgenmänteln und Pyjamas wurden aus einem
brennenden Appartementhaus herausgeschafft. Die Kamera glitt
über die Straße hinweg, auf der benommene Männer und Frauen
ihre verängstigten Kinder umklammerten und mit großen Augen
zusahen, wie ihre Wohnungen und all ihr Hab und Gut in
Flammen aufgingen.

»Nur ein wirklich gutherziger Mensch kann Albträume wegen

eines Karussells haben«, neckte Prue Piper.

»Ich schätze, beim Erzählen geht das Entsetzen verloren«,

scherzte Piper. »Erinnert mich einfach daran, dass ich am
Samstag nicht in die Nähe eines Karussells gehe.«

»Es wird ein Karussell geben?« Prue blätterte eine Seite

weiter und schlug mit beiden Händen auf die Zeitung, um sie zu
glätten.

»Die Wohltätigkeitsveranstaltung findet auf der

Strandpromenade statt, gleich neben dem Gold Coast

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Amüsement Park.« Piper unterbrach sich und lachte leise.
»Großmutter wollte nie mit uns dahingehen, aber ich fand es
einfach toll - besonders das Karussell!«

»Eine gegen drei«, kommentierte Prue mit einem Lächeln.

»Selbst eine ausgebildete Hexe dürfte es nicht leicht gehabt
haben, uns alle drei im Auge zu behalten.«

Phoebe, die sich noch immer auf den Fernseher konzentrierte,

hörte nur mit halbem Ohr zu. Übergangslos hatte die
Nachrichtensendung den Bericht über das brennende
Appartementhaus durch einen über eine Flutkatastrophe im
Mittleren Westen ersetzt. Statt beinahe zu verbrennen, trieben
die Menschen nun auf provisorischen Flößen über überflutete
Straßen oder paddelten in kleinen Booten zwischen den Häusern
herum. Als gleich darauf das Bild eines kleinen Jungen auf dem
Bildschirm auftauchte, der bereits vor drei Tagen in einem
Nationalpark verschwunden war, schnappte sie sich die
Fernbedienung und schaltete das Gerät aus.

»Oh, nein!« Finsteren Blickes starrte Prue auf die

aufgeschlagene Seite.

»Was?«, fragten Phoebe und Piper im Chor. Phoebe

verschüttete Kaffee, als sie ihre Aufmerksamkeit ruckartig ihrer
Schwester zuwandte, und etliche Tropfen befleckten ihr langes
T-Shirt.

»Meine Lieblingsboutique veranstaltet einen Ausverkauf, und

ich liege schon am Kreditlimit«, jammerte Prue. »Dabei könnte
ich wirklich ein neues Paar Stiefel gebrauchen.«

»Jag mir doch nicht so einen Schrecken ein«, schimpfte

Phoebe, ehe sie in sich zusammensackte. »Ich habe für einen
einzigen Morgen genug schlechte Nachrichten zu verdauen.«

»Was für schlechte Nachrichten?« Verwirrt blickte Prue auf,

faltete die Zeitung zusammen und ließ sie zu Boden fallen.

»Einfach alle Nachrichten.« Kopfschüttelnd umklammerte

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Phoebe ihren Kaffeebecher.

»Offensichtlich ist mir irgendwas entgangen«, stellte Piper

fest. »Feuer, Überflutung, Raubüberfälle und verschwundene
Kinder.« Phoebe schauderte. Beim Aufwachen war sie in
prächtiger Stimmung gewesen, aber all die Neuigkeiten in der
Zeitung und im Fernsehen hatten ihr die Laune inzwischen
völlig verdorben. Naturkatastrophen und die menschliche Gier
fochten einen immerwährenden Kampf gegen die Hilflosen.
Wenigstens, so dachte sie, konnten die Zauberhaften gegen all
das Böse ankämpfen, das ihnen in ihrem Leben begegnete.

Phoebe biss sich auf die Lippe, um ihr Zittern zu unterbinden.

Manchmal empfand sie die Welt als so deprimierend, dass sie es
kaum aushallen konnte. Ein Zustand, der durch den Schmerz
anderer Menschen verschlimmert wurde, welchen sie schon so
oft in ihrem eigenen Geist wahrgenommen hatte. Sie war froh,
dass sie anderen Menschen durch ihre Gabe helfen konnte, aber
die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen, war ebenso ein Fluch wie
ein Segen.

»Alles in Ordnung mit dir?« Besorgt legte Piper ihre Hand auf

Phoebes Knie.

»Ja, es ist nur...« Phoebe seufzte, während sie an das kleine

Mädchen dachte, das ihre Schwestern vor den Hufen des Ponys
gerettet hatten, weil sie durch ihre Gabe eine Warnung erhalten
hatten. Ohne diesen Vorsprung wäre das Mädchen von dem Tier
verstümmelt worden, wenn nicht gar Schlimmeres passiert wäre.
»Ich wünschte, meine Visionen wären nicht so eingeschränkt,
dann könnten wir viel mehr von all diesen schrecklichen
Vorfällen verhindern.«

Plötzlich rebellierte Phoebes Magen, und eine Woge der

Übelkeit vernebelte ihren Geist. Der Kaffeebecher entglitt ihren
Fingern, als sie sich keuchend zusammenkrümmte.

»Phoebe!« Piper schlang die Arme um ihre gepeinigte

Schwester und ließ den Kaffeebecher zu Boden fallen, ohne ihn

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einzufrieren.

»Was ist los?« Prue sprang von ihrem Stuhl auf und ging

neben dem Sofa in die Knie. »Eine Vision?«

»Mir ist schlecht«, murmelte Phoebe, obwohl sie das für eine

gnadenlose Untertreibung hielt. Das Gefühl der Übelkeit hatte
sie so schnell und mit solcher Gewalt überfallen, dass sie sich
fühlte, als hätte jemand sie von innen verprügelt.

»Vielleicht sollten wir einen Arzt rufen«, schlug Prue vor und

stürzte zum Telefon.

»Warte.« Phoebe erhob eine Hand, um Prue aufzuhalten, als

das Gefühl der Übelkeit langsam nachließ. Dann atmete sie
einige Male tief durch und setzte sich langsam wieder auf. »Es
hört auf.«

»Etwas genauer bitte, Phoebe«, bat Piper schärfer als

beabsichtigt, weil sie besorgt war. »Was hört auf?«

»Superstarke Magenschmerzen, Benommenheit.« Phoebe

wischte sich den Schweiß von der Stirn und atmete erneut tief
durch, während ihr benebeltes Hirn allmählich klar wurde.
»Komisch.«

»Ein bisschen zu komisch.« Prue setzte sich auf den

Kaffeetisch und hob den Becher vom Boden auf. »Im einen
Augenblick ist noch alles in Ordnung und im nächsten leidest du
Höllenqualen? Das gefällt mir nicht.«

»Höllenqualen ist ein bisschen übertrieben.« Phoebe

betrachtete den feuchten Kaffeefleck auf dem Teppich. »Und
vielleicht ist es auch gar nicht so komisch, wenn ich es recht
bedenke.«

»Ich höre.« Piper verschränkte die Arme vor der Brust und

fixierte Phoebe skeptisch.

»Ich habe es in letzter Zeit einfach übertrieben... Das

Lernen... Der wenige Schlaf und alles...«, erklärte Phoebe. »Jetzt
hat der Stress mich wohl eingeholt.«

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»Du übertreibst immer, Phoebe«, widersprach Prue. »Neben

der Examensvorbereitung auch noch die Zeit, die du im Club
rumhängst...«

»Was sie nun wirklich nicht tun müsste«, unterbrach Piper.

»Ich gehe gern ins P3«, protestierte Phoebe. »Ein Mädchen
braucht nun mal seinen Spaß.«

»Sicher, aber die meisten Mädchen schlagen sich

üblicherweise auch nicht mit irgendwelchen Dämonen herum.«
Prue betrachtete Phoebe mit unverkennbarer Sorge. »Du
bekommst ziemlich selten genug Schlaf.«

»Okay«, lenkte Phoebe ein, »aber ich habe seit unserem

Picknick gestern nichts gegessen. Das ist ganz klar ein Fall von
zu viel Kaffee auf nüchternen Magen.« Um ihren Worten
Nachdruck zu verleihen, griff sie nach einem Zimthörnchen und
biss hinein.

Prue runzelte die Stirn und sah Piper an. »Kaufst du ihr das

ab?«

»Ich weiß nicht.« Piper zog eine Braue hoch, als Phoebe das

Hörnchen verschlang. »Ich würde es gern glauben. Ein bisschen
Übelkeit ist jedenfalls einfacher zu handhaben als die meisten
anderen Alternativen, falls ihr versteht.«

»Ich glaube nicht, dass Magie damit zu tun hat. Mir ist schon

früher vor Hunger schlecht und schwindelig gewesen.« Als nun
Prue und Piper sie misstrauisch musterten, setzte Phoebe hastig
hinzu: »Ich bin nicht gerade in Geld geschwommen, als ich in
New York war. Ihr erinnert euch doch?«

Piper erstarrte. »Ich wusste nicht, dass du am Verhungern

warst.«

»So schlimm war es nicht«, entgegnete Phoebe. Sie wollte

keine alten Wunden aufreißen, besonders, nachdem ihre
Schwestern sie mehr als einmal aus einer finanziellen Notlage
gerettet hatten, ehe sie nach San Francisco zurückgekehrt war.

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»Aber ich hatte oft genug so viel Hunger, dass ich ein bisschen
benommen war und mein Magen verrückt gespielt hat.«

»Bist du sicher?«, fragte Prue.

»Absolut.« Phoebe nickte und kaute, während ihr Magen sich

weiter beruhigte. Sie war immer noch ein bisschen zittrig. Aber
sie war trotz allem überzeugt, dass dieser überraschende Anfall
weiter nichts als die körperliche Reaktion auf den physischen
und emotionalen Stress während der Prüfungsvorbereitungen
war.

Athulak, wie man ihn vor langer Zeit genannt hatte, war

wütend über den Verlust seiner physischen Existenz.
Jahrhundertelang war er in den feuchten Wäldern nahe des
großen Flusses umgegangen, ein Dämon in Menschengestalt,
unempfindlich gegen die Waffen, die seine eingeborenen
Gegner gegen ihn erhoben, genährt von der Furcht und dem
Entsetzen, das er durch ihre Begierden erschaffen hatte. Würde
er sich nun wieder in einem menschlichen Leib unter ihnen
bewegen können, so würde es ihm nicht mehr so leicht fallen,
sich anzupassen. Die menschlichen Schwächen waren dieselben
geblieben. Aber die Welt, in der diese Menschen lebten, hatte
sich bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Menschen, die einst gegen mächtige Elemente um ihre

zerbrechliche Existenz hatten kämpfen müssen, hatten die
Herrschaft an sich gerissen. Längst waren sie nicht mehr
abhängig von der Jagd, vom Fluss oder von den Früchten des
Waldes. Brach ein Sturm aus, kauerten sie sich nicht länger
furchtsam in ihren Lehmhütten zusammen. Auch hatten sie die
Begrenzungen menschlicher Leistungsfähigkeit überwunden.
Sie lebten in standfesten Bauten, bedienten mächtige
Maschinen, die für sie arbeiteten und sie übergroße
Entfernungen trugen, schneller sogar als der Wind, zu dem er
geworden war.

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Aber trotz all ihrer wundersamen Errungenschaften waren sie

immer noch Menschen, und seine zerstörerische Macht über das
menschliche Schicksal war so stark wie eh und je.

Die Hexe aber war menschlich, und zugleich mehr, wie

Athulak feststellte, während er direkt unter der Decke des
Raumes verharrte, den sie sich mit den Frauen teilte. Wäre er
noch im Besitz eines Körpers gewesen, so hätten die
Besitztümer der drei Schamaninnen sein Interesse wecken
können. Das Fehlen materieller Ablenkung war jedoch ein
Vorzug für ihn, den er gerade erst zu schätzen lernte, während er
beobachtete und abwartete.

»Vielleicht solltest du dich ein bisschen ausruhen, Phoebe.«

Die Frau, die die Zeit aufhalten konnte, sammelte die
Trinkgefäße ein und erhob sich. »Ich kann genauso gut allein
einkaufen.«

»Vielleicht sollte ich mich ausruhen, aber ich bin nicht mehr

in der Stimmung, zu Hause herumzuhängen.« Die Seherin
wandte sich an die dritte Frau. »Wie steht's mit dir, Prue? Hast
du Lust auszugehen?«

»Ich bin nicht davon überzeugt, dass ein Besuch im

Supermarkt als ›ausgehen‹ gewertet werden kann«, sagte Piper.

Die blauäugige Frau griff nach einem Paket in der Nähe des

Eingangs. »Nichts würde ich lieber tun als einkaufen, aber ich
muss noch den Tremaine-Film entwickeln. Gil will die
Probeabzüge morgen haben.«

»Das ist wirklich schade.« Die Seherin lächelte. »Nicht

wahr?«

Piper blickte sich zu Prue um, während sie die Kuchenplatte

ergriff. »Werden die Bilder vom P3 rechtzeitig für Samstag
fertig?«

»Bestimmt.« Die Frau, die durch ihren Geist Dinge bewegen

konnte, schlang sich den Gürtel ihrer Tasche über die Schulter

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und ging zur Tür. »Und falls sie dir nicht gefallen, können wir
morgen oder übermorgen Nacht noch weitere Fotos
aufnehmen.«

»Ich hasse es, wenn du alles so endlos hinausschiebst«,

nörgelte Piper, als sie Prue zur Tür hinaus folgte.

Athulak ließ sich näher herantreiben, als die Seherin mit

Namen Phoebe den Kopf in den Nacken legte und die Augen
schloss. Begierig wartete er auf ein Zeichen, dass der Reigen
begonnen hatte. Doch nichts geschah.

Ungeduldig und wütend fegte er an ihr vorüber und durch die

Ritzen eines Metallgitters an der Wand. Während er durch den
Blechtunnel jagte, der ihn zu einer weiteren Abzugsöffnung und
aus dem Haus hinaus führte, rief er sich ins Gedächtnis, dass sie
eine Hexe war. Auch sie würde ihren Begierden erliegen, sich
verzehren und zerstört werden, aber das erforderte etwas Zeit.

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4

P

IPER STELLTE

IHRE TASCHE im Kindersitz des

Einkaufswagens ab, nachdem sie und Phoebe das Geschäft
durch die automatischen Türen betreten hatten. Drinnen
angelangt, zog sie ihren Einkaufszettel hervor und frischte rasch
ihre Erinnerung auf.

»Wozu all die Leckereien?«, fragte Phoebe nach einem

kurzen Blick auf die Liste, ehe sie Piper Platz machte, als diese
auf die Bäckerei zuhielt. »Geben wir eine Party?«

»Nein, wir geben keine Party«, entgegnete Piper. »Entweder

werde ich in Einsamkeit vor Sehnsucht nach Leo vergehen und
mich mit allem vollstopfen, was ich gern esse, oder ich werde
Leo mit allem vollstopfen, was ich mag, sollte er zufällig doch
auftauchen.«

»Cool. Was auch passiert, ich habe auf jeden Fall den

Hauptgewinn gezogen.« Phoebe grinste. »Ich mag das Zeug
nämlich auch.«

»Dann sollten wir wohl besser doppelt so viel davon

einkaufen.« Plötzlich bemerkte Piper, wie sich ein wenig Ärger
in ihre Stimme schlich. Sie stellte fest, dass sie nicht fair war.
Phoebe versuchte gar nicht, ihre Sehnsucht nach Leo lächerlich
zu machen. Sie war tatsächlich süchtig nach Leckereien.

»Dreifach sollten wir das Zeug kaufen«, sagte Phoebe. »Wir

können kein Fressgelage mit Schinkenröllchen und Schwarzbrot
mit Rahmkäse ohne Prue veranstalten.«

»Hätte ich mir nie einfallen lassen«, sagte Piper nun wieder

mit ruhiger Stimme, ehe sie das Gespräch in eine weniger
gefährliche Richtung lenkte. »Würdest du mich daran erinnern,
dass ich meinen Großhändler nachher anrufe? Ich habe ein paar
extra Platten mit Fingerfood für den Basar bestellt, und ich will
sicherstellen, dass sie nichts durcheinander bringen.«

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»Welche Art von Fingerfood?«, fragte Phoebe.

»Schnittchen... Käse, Salami, Brot mit ausgesuchtem

Spezialbelag...«

»Wow!«, sagte Phoebe und hielt eine Hand hoch. »Wären

Chips und Dips nicht einfacher? Und billiger?«

»Einfacher, billiger und total schäbig«, sagte Piper beleidigt.

»Ja, aber das P3 ist ein Club«, bohrte Phoebe weiter. »Ein

cooler Haufen, tolle Bands, Tanzen. Niemand geht zum Essen
hin.«

»Die meisten Leute bei der Wohltätigkeitsveranstaltung

werden aber gar nicht erfahren, dass das P3 ein toller
Tanzschuppen ist, wenn wir sie nicht an unseren Stand locken
können.« Piper verdrehte die Augen und reichte die
Einkaufsliste an Phoebe weiter, ohne sich noch einmal
umzublicken. »Und darum brauchen wir coole Snacks.«

»Okay, du bist der Boss«, sagte Phoebe, als sie den Zettel

ergriff und Piper zum Verkaufstresen der Bäckerei folgte. Aber
sie klang nicht sonderlich überzeugt.

»Lass uns ein paar von diesen Mini-Blaubeermuffins

mitnehmen...« Piper erstarrte, als Phoebe sie an ihrer Bluse
festhielt.

»Warte!« Phoebe griff noch fester zu, als Piper versuchte,

sich zu befreien.

»Was ist denn...«, setzte Piper an, verstummte jedoch

sogleich, als ein Einkaufswagen aus einem Seitengang direkt
vor ihrer Nase vorbeiraste. Der rücksichtslose Kunde, ein
ungepflegter Mann, der eine zerrissene Jeans und ein
schmutziges T-Shirt trug, sah nicht einmal in ihre Richtung. Er
zerrte eine Tüte mit Brötchen aus dem Regal und lief einfach
weiter, ohne sein Tempo im Mindesten zu drosseln.

Piper war so wütend, dass sie sich heftig zusammenreißen

musste. Am liebsten hätte sie den Kerl eingefroren, ehe er einen

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Unfall verursachte und womöglich ernsten Schaden anrichtete.
Dann hatte sie eine andere Erkenntnis, die ihr wichtiger
erschien. Wenn Phoebe sie nicht aufgehalten hätte, hätte dieser
Irre sie mit voller Wucht mit seinem Einkaufswagen gerammt.

Piper sah sich nach ihrer Schwester um. »Du hast das

gewusst?«

»Ja. Es ist in meinem Kopf aufgeblitzt, als du mir das hier

gegeben hast.« Phoebe wedelte mit dem Einkaufszettel.
»Kapitaler Unfall mit dem Einkaufswagen von diesem Typen.
Rumms! Geradewegs in die Kuchentheke. Gebrochenes
Handgelenk.«

»So hart hat er mich getroffen?« Piper erschauderte. Der

Supermarkt war ihr immer als eine Art Hafen in dem Meer der
Gewalt erschienen, das ihr Leben bestimmte. Natürlich hatte sie
längst ihre Sehnsucht danach aufgeben, eine ganz normale junge
Frau zu sein, die sich verlieben und heiraten und ein paar Kinder
in die Welt setzen würde. Sie versuchte einfach so zu leben, als
hätte sich nichts verändert, soweit ihr Dasein als Hexe mit
einem übernatürlichen Mann ihr dies erlaubte. Dennoch konnte
sie es nicht ausstehen, wenn Gefahren sich in die wenigen
sicheren Nischen einschlichen, die ihr geblieben waren.

»So hart hätte er dich beinahe getroffen!«, korrigierte Phoebe.

»Richtig. Danke.« Piper beschloss, sich von dem Vorfall nicht

den Tag verderben zu lassen. Der Typ war ein Idiot, aber kein
verachtenswertes Übel, das die ungeteilte Aufmerksamkeit der
Zauberhaften erfordert hätte. Angesichts der Tatsache, dass sie
Leo vermisste und die Vorbereitungen für den Stand des P3 bei
der Wohltätigkeitsveranstaltung sie in Trab hielten, war sie
wirklich nicht in Stimmung, alles stehen und liegen zu lassen,
um sich mit irgendeinem Dämon herumzuschlagen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Phoebe verzweifelt. »Du siehst

furchtbar wütend aus. Nicht, dass ich dir das zum Vorwurf
machen wollte.«

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»Nein, ich bin in Ordnung. Nur ein bisschen besorgt, weil ich

bis zum Samstag noch so viel zu tun habe.« Piper lächelte.
»Lass uns zusehen, dass wir fertig werden und von hier
verschwinden.«

»Keine Einwände.« Phoebe sah sich um. Ehe sie Piper winkte

weiterzugehen, wollte sie sicherstellen, dass es ungefährlich
war, den Quergang zu passieren.

Während sie durch die Gänge hin- und herliefen, drifteten

Pipers Gedanken immer wieder zu der Beinahe-Kollision, die
nur deshalb nicht stattgefunden hatte, weil Phoebe eine Vision
gehabt hatte. Es war nicht das erste Mal, dass Phoebes
hellseherische Gabe sie oder Prue gerettet hatte, und es würde
sicher nicht das letzte Mal sein. Dieser Vorfall erinnerte Piper
jedoch wieder einmal daran, wie unnormal ihr Leben verlief.
Aber gleichgültig, wie sehr sie sich auch wünschen mochte,
›normal‹ zu sein, ihr stand diese Option nicht offen. Sie konnte
nicht einmal ein intimes Abendessen zu zweit für sich und Leo
planen, weil sie nie wusste, wann er hereinschweben würde -
oder auch wieder hinaus.

»Wie wäre es damit für Leo?« Phoebe ließ zwei kleine

Packungen Müsliriegel in den Einkaufswagen fallen.

»Hast du deinen Tätigkeitsbereich inzwischen aufs

Gedankenlesen ausgeweitet?«, fragte Piper vergnügt. »Ich habe
gerade an Leo gedacht.«

»Du denkst immer an Leo«, zog Phoebe sie auf und warf eine

dritte Packung Müsliriegel in den Wagen. »Ich hasse es, wenn
mich ein Verlangen nach Müsliriegeln überfällt und keine im
Haus sind.«

Piper zuckte innerlich zusammen. Leo hatte die

Angewohnheit, sich aus der Küche der Halliwells mit allem zu
versorgen, wonach ihm der Sinn stand. Was auch völlig in
Ordnung war. Schließlich war er ihr Beschützer, ihr persönlicher
Wächter des Lichts und außerdem mit Piper zusammen.

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Trotzdem sollte sie auf jeden Fall in Zukunft daran denken,
einen ständigen Vorrat mit seinen Lieblingssnacks anzulegen.
Sie und ihre Schwestern hatten Probleme genug, auch ohne sich
über die mangelnde Verfügbarkeit von Müsliriegeln zu zanken.

»Du vermisst ihn sehr, nicht wahr?«, fragte Phoebe.

Die Frage traf Piper unvermutet. Sie und ihre Schwestern

standen einander sehr nahe. Trotzdem erzählte sie ihnen nicht
immer, was sie belastete, es sei denn, die Umstände erforderten
es. Phoebe und Prue hatten ihre Gaben wesentlich bereitwilliger
als sie akzeptiert, ebenso wie die enorme Verantwortung, die
mit ihnen einherging. Ein wenig fühlte sie sich schuldig, weil es
ihr nicht so leicht fiel, ihr früheres Leben mit dieser höheren
Bestimmung in Einklang zu bringen. Darauf war sie bestimmt
nicht stolz, aber sie konnte diesen Umstand auch nicht einfach
ignorieren. Trotzdem war das Naturkost-Regal im Supermarkt
bestimmt nicht der passende Ort, um eine ernsthafte Diskussion
über ihre persönlichen Verfehlungen zu führen.

»Ja, aber ich weiß auch, dass er so schnell er kann zu mir

zurückkehren wird.« Piper deutete den Gang hinunter. »Ich
glaube, das Dosenschwarzbrot ist dort.«

»Dann lass uns unsere Vorräte nachfüllen«, sagte Phoebe.

»Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen.«

»Kein Problem.« Genau wie Phoebe und Prue liebte auch

Piper die Snacks aus saftigem Schwarzbrot mit Rahmkäse, wie
ihre Großmutter sie für die Schwestern gemacht hatte, als sie
noch Kinder gewesen waren. Piper hatte die bürgerliche, ganz
und gar unhexenhafte Ader ihrer Großmutter immer zu schätzen
gewusst. Die einfachen Rezepte ihrer Küche bereiteten ihr oft
viel mehr Freude als jedes noch so überwältigende kulinarische
Vergnügen. Sie halfen ihr, die Lücke zwischen dieser Welt und
der anderen zu füllen, nun, da ihre Großmutter in jene andere
Welt hinübergegangen war.

Phoebe klopfte sich auf den flachen Bauch. »Ich werde die

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ganze nächste Woche damit zubringen, mir die Kalorien wieder
abzutrainieren.«

»Du könntest ja auf die Snacks verzichten«, schlug Piper vor.

»Kann ich mir nicht vorstellen«, widersprach Phoebe ohne

Zögern. »Das Leben ist zu kurz, um sich nicht hin und wieder
einmal gehen zu lassen.«

Dagegen konnte Piper keine Einwände erheben. Wieder

wanderten ihre Gedanken zu Leo, während sie Phoebe durch die
Gänge folgte. Ja, sie vermisste ihn – sehr -, und manchmal
fragte sie sich, ob er wusste, wie schwer die ständigen
Trennungen auf ihr lasteten. Bevor sie ihre Sphäre verlassen
hatte und dem Hauptquartier der Wächter des Lichts ›dort oben‹
einen Besuch abgestattet hatte, war ihr überhaupt nicht bewusst
gewesen, dass die Zeit dort viel langsamer verlief als in der Welt
der Sterblichen. Sie hatte Leo bereits seit zwei Wochen nicht
mehr gesehen, doch für ihn war nicht einmal ein Tag vergangen.
Es sei denn, er befand sich auf einer weiteren Mission in ihrer
Welt.

»Jetzt brauchen wir nur noch ein bisschen frisches Gemüse,

dann sind wir fertig.« Phoebe nahm Zettel und Stift und strich
zwei Pfund dünn geschnittenen Delikatess-Schinken von ihrer
Liste.

»Toll!« Piper ließ von ihrem vorübergehenden Anfall von

Selbstmitleid ab. Die Trennungen waren hart, aber sie war
dankbar, dass die maßgeblichen Stellen ihr und Leo die Chance
gegeben hatten, es miteinander zu versuchen. Sie bedachte
Phoebe mit einem strahlenden Lächeln. »Dann können wir nach
Hause gehen, und der Spaß kann losgehen.«

»Das Gelage kann beginnen.« Phoebe warb mit einem

frischen Bündel Broccoli um Pipers Beifall. »Vielleicht ein
bisschen Salatcreme dazu?«

»Perfekt.« Piper streckte die Daumen nach oben, ehe sie auf

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einen Jungen deutete, der damit beschäftigt war, die Auslagen
hinter Phoebe wieder aufzufüllen. »Hol uns doch bitte noch ein
paar Bund Schalotten.«

»Du weißt, was gut ist.« Phoebe reichte den Broccoli an Piper

weiter, ging auf den Jugendlichen zu und deutete auf die
Schalotten. »Kann ich zwei davon haben, ehe du sie hinter die
alte Ware stopfst?«

»Sicher.« Von Phoebes guter Laune und ihrem guten

Aussehen aus der Fassung gebracht, suchte er zwei Bund
Schalotten aus, packte sie in eine Tüte und gab sie Phoebe.
»Schon fertig.«

Piper hielt den Blick abgewandt. Der Junge war schon

verlegen genug, als dass sie ihn noch zusätzlich beobachten
wollte. Als aber Phoebe nach einigen Sekunden immer noch
nicht mit den Schalotten zurück war, blickte sie auf und sah, wie
der Junge seinen Wagen wieder durch die Tür zum Lager
bugsierte.

Die Tüte mit den Schalotten lag am Boden. Phoebe

klammerte sich am Regal fest. Ihre Finger waren so verspannt,
dass die Knöchel sich weiß unter der Haut abzeichneten. Ihre
Augen waren fest geschlossen, und ihr Atem ging stockend.

Alarmiert durch diese Auswirkungen einer neuerlichen Vision

lief Piper zu ihrer Schwester. »Was ist los, Phoebe?«

Phoebe konnte Piper durch die Flut der Bilder, die in ihren

Geist geströmt waren, als sie die Hand des Jungen berührt hatte,
kaum hören. Die Vision hatte sie getroffen wie ein physischer
Hieb. Sie hielt ihren Geist in einem Würgegriff, wurde gespeist
aus Panik und Hilflosigkeit.

Kein Schrei kam über die Lippen des Jungen, als seine

Knochen, seine Muskeln zwischen massiven, aufeinander zu
gleitenden Wänden zerrieben wurden.

Schweißperlen glänzten auf Phoebes Gesicht, als das Bild

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erlosch. Die Belastung durch zwei so direkt aufeinander
folgende Visionen hatte sie mehr als üblich geschwächt. Ihr
Schädel dröhnte. Sie umklammerte mit ihren schmerzenden
Finger noch fester das Regal, während ihre Knie unter ihr
nachzugeben drohten.

Piper ergriff Phoebes Arm, um sie zu stützen. »Was ist

passiert?« Als die Auswirkungen der Vision nachließen,
bemühte sich Phoebe angestrengt, sich wieder in den Griff zu
bekommen, ehe sie sich umblickte. »Wo ist er hingegangen?«

»Der Junge?«, fragte Piper. »Nach hinten.«

»Komm mit. Er wird zerquetscht werden, wenn wir es nicht

aufhalten.« Stolpernd machte sich Phoebe auf den Weg zur Tür.
Ihr blieb keine Zeit für eine genaue Erklärung. Wenn sie nicht
früh genug kamen, um das ganze Unheil von vornherein
abzuwehren, war Pipers Gabe, die Zeit anzuhalten, die einzige
Hoffnung, die dem Jungen blieb.

»Was aufhalten?« Piper war Phoebe direkt auf den Fersen, als

sie in den großen Lagerbereich des Kaufhauses stürmte.

»Das.« Phoebe starrte auf die Kehrseite des gewaltigen

schwarzen Sattelschleppers, der rückwärts auf den Ladesteg
zuhielt. Der Ladesteg war etwa zehn Meter breit, und der Fahrer
steuerte den Truck direkt auf die Mitte zu. Am Vortag war das
Unglück auf dem Rücken eines Ponys geritten, heute auf
mächtig vielen Pferdestärken unter einer glatten Plane mit der
Aufschrift Thunder & Stone.

Phoebe richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Jungen, der

zusammen mit einem Mann, dessen Hemdsärmel
hochgekrempelt waren und der eine Krawatte trug, am Rand der
Laderampe stand. Ein Manager, nahm sie an, während ihr Blick
zu einem anderen Mann wanderte, der auf einem Gabelstapler
ganz in der Nähe hockte. Sie zögerte. Irgendetwas an der
Szenerie stimmte nicht. In ihrer Vision hatte der Junge vor dem
Ladesteg am Boden gestanden und war von dem Truck gegen

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die Mauer gepresst worden.

Wie auf ein Stichwort blickte der Manager über die Kante des

Ladestegs hinunter auf die Rampe. »Hol den Kasten da raus,
Barry.«

»Okay.« Als Barry zu Boden sprang, drehte sich der Manager

zu dem Gabelstapler um.

»Nein!«, schrie Phoebe. »Holt ihn da raus!«

Barry blickte auf. Offenbar hatte er den Truck, der immer

noch auf ihn zukam, völlig vergessen.

»Es tut mir Leid, meine Damen«, rief der Manager. »Sie

dürfen sich hier nicht aufhalten. Nur autorisiertes...«

»Piper!« Mit verstörtem Blick wandte sich Phoebe an ihre

Schwester. Aber einen Sattelschlepper und vier Personen
einzufrieren war ein bisschen mehr als das, was Piper
üblicherweise aus dem Handgelenk zu schütteln pflegte. Okay,
es war sogar viel mehr, dachte Phoebe, aber sie hatten nun
einmal keine andere Wahl. Wenn sie nichts taten, würde Barry
zerquetscht werden. »Jetzt! Bitte!«

»Schon gut.« Piper verzog das Gesicht und riss die Hände

hoch.

Phoebe rannte bereits auf Barry zu, als die ganze Szenerie

erstarrte.

»Wir müssen uns beeilen«, sagte Piper, als sie die Kante des

Ladestegs erreicht hatte. »Das ist eine ziemlich große Portion
Gefriergut, und ich weiß nicht, wie lange ich den Zustand
aufrechterhalten kann.«

»Dann lass uns hoffen, es klappt lang genug.« Phoebe ging in

die Knie und sprang von dem Ladesteg in den Hof. Insgeheim
wünschte sie sich, Prue wäre bei ihnen. Barry hätte vermutlich
einige Kratzer und Blutergüsse davongetragen, wenn Prue ihn
mit ihrer Gabe aus der Gefahrenzone gerissen hätte. Aber das
war eindeutig besser, als von einem Truck plattgemacht zu

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werden. Und jetzt, dachte Phoebe, als sie den Arm des Jungen
ergriff, befand auch sie sich mitten im Gefahrengebiet.

Piper sprang neben ihr von dem Steg und schnappte sich den

anderen Arm des Jungen. »Na komm, Großer.«

Piper und Phoebe hatten den Jungen gerade beiseite gezerrt,

als der Motor des Trucks röhrend zum Leben erwachte.

»Was? Wo?«, stotterte der Manager, als Piper und Phoebe

plötzlich verschwunden zu sein schienen. Meistens gaben sie
sich alle Mühe, wieder an der richtigen Stelle zu stehen, ehe die
Zeitstarre sich auflöste, aber das war leider nicht immer
möglich.

Und es war nicht ihr größtes Problem, erkannte Phoebe,

während Barry zurücktaumelte. Gleich darauf riss er Piper und
sie mit sich zu Boden, als er das Gleichgewicht verlor.

Die Bremsen des Trucks quietschten, als der Fahrer den

Sattelschlepper vor dem Ladesteg unsanft zum Halten brachte.

Begraben unter dem benommenen Jungen flüsterte Phoebe

Piper zu: »Auf ein Neues!«

Piper nickte, hob die Hände und ließ erneut alles um die

Schwestern herum erstarren. Dann sprang sie auf die Beine und
blies sich eine wirre Haarsträhne aus dem Gesicht. »Und was
jetzt?«

Grunzend stemmte sich Phoebe unter Barry hervor und stand

auf. Sie hatte eine Idee, deren Chance vielleicht bei eins zu einer
Million lag. Aber ihr wollte einfach nichts anderes einfallen.
»Laufen.«

Piper widersprach nicht, als Phoebe sie auf die Leiter am

Ende des Stegs zudrängte. Im Laufschritt jagten sie über den
Steg, sausten an den erstarrten Arbeitern vorbei und durch die
Tür in den Verkaufsraum des Supermarktes. Als die Tür sich
hinter ihnen schloss, verlangsamten sie ihr Tempo. Noch immer
schnellen Schrittes hasteten sie zurück zu ihrem Einkaufswagen.

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»Je schneller wir hier raus sind, desto besser«, verkündete

Piper, als sie nach dem Wagen griff.

»Was ist mit dem Gemüse?« Phoebe blickte zurück.

»Wir machen auf dem Heimweg einen Abstecher zu Sams

Gemüseladen«, rief Piper ihr über die Schulter zu.

Als sich die Tür zum Lager zu öffnen begann, huschte Phoebe

hastig hinter den Regalen außer Sicht. Mit ein bisschen Glück
würden Barry, der Manager und der Gabelstaplerfahrer einfach
annehmen, ihr sonderbares Verschwinden hätte nie
stattgefunden. Diese besondere Eigenart des menschlichen
Verstandes arbeitete den Halliwells oft in die Hände, wenn sie
ihre magischen Spuren nicht vollständig verwischen konnten.
Trotzdem hatte sie bestimmt nicht vor, das Schicksal
herauszufordern, indem sie einfach abwartete, ob der Trick auch
dieses Mal funktionierte. Phoebe sauste an Piper vorbei, die das
Regal bereits halb passiert hatte.

Um die Dinge an der Kasse ein wenig zu beschleunigen, lud

Phoebe die Waren auf das Förderband, während Piper einem
älteren Herrn mit seinen Einkäufen half. Als endlich auch die
letzten Dosen Schwarzbrot auf dem Band lagen, atmete sie tief
durch. Offenbar beanspruchte Barry, der dem Truck nur so
knapp entronnen war, die volle Aufmerksamkeit des
Marktleiters. Arbeitsunfälle, Abfindungen und
Versicherungsbeiträge genossen vermutlich eine höhere Priorität
als Kunden, die sich auf geheimnisvolle Weise in Luft auflösten.

»Fein. Du bist also beschäftigt. Gut für uns.« Piper schob den

Einkaufswagen heran, um die Tüten mit ihren Lebensmitteln
einzuladen.

»Bis auf das hier!« Phoebe reichte der Kassiererin die letzte

Dose Schwarzbrot. Als sich ihre Fingerspitzen berührten, wurde
sie von einer weiteren Vision überfallen. Sie schwankte ein
wenig, als ein Bild so schnell in ihrem Kopf aufblitzte, dass sie
nicht einmal sicher zu sagen vermochte, was sie eigentlich

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gesehen hatte.

... Blut, das aus einer Wunde troff...

»Alles in Ordnung, Miss?«, fragte die Kassiererin.

Pipers Kopf ruckte herum, und ihre Augen verengten sich zu

schmalen Schlitzen.

»Alles bestens.« Phoebe erholte sich rasch von der

momentanen Orientierungslosigkeit. Ihre Visionen waren immer
verstörend. Doch diesem kurzen Aufflackern der Hellsichtigkeit
hatte kein Gefühl der Dringlichkeit angehaftet. Sie lächelte der
mütterlichen Kassiererin zu, während Piper die Rechnung
beglich. »Seien Sie vorsichtig mit scharfen Gegenständen,
okay?«

»Okay.« Die Frau starrte sie verwundert an und zahlte Piper

das Wechselgeld aus.

Piper beäugte Phoebe ebenfalls recht misstrauisch. »Fertig?«

»Mehr als das.« Phoebe verdrehte die Augen und winkte

Piper zu, das Geschäft zu verlassen. Als die automatischen
Türen sich öffneten, sah sie sich noch einmal um.

Die Kassiererin machte sich gerade daran, einen Stapel

Prospekte zu ordnen, als sie plötzlich aufschrie und ihren Finger
schüttelte. Blut rann aus einem Schnitt, den sie sich mit dem
Papier beigebracht hatte.

Prue liebte die Stille in der Dunkelkammer. Von den

gelegentlichen Überfällen aus dem Reich des Bösen und dem
einen oder anderen lebensbedrohlichen Notfall abgesehen, war
sie in dieser professionellen Sphäre von allem abgeschnitten,
was draußen vor sich ging. Selbst ihre Schwestern, die keine
Bedenken hatten, einfach ins Badezimmer zu stürmen, wenn sie
gerade unter der Dusche stand, oder sich in ihr Zimmer zu
schleichen, um sich irgendwelche Klamotten auszuleihen,
beachteten das Eintrittsverbot zur Dunkelkammer. Dabei zählten

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nicht allein die verdorbenen Fotos und der Zeitverlust, sollte zur
falschen Zeit Licht in den Raum dringen. Die Schwestern
respektierten die Dunkelkammer als ihren persönlichen
Freiraum - solange keine Notsituation eintrat.

Als Prues Blick über die Abzüge von Stephen Tremaine

wanderte, die über den Fotoschalen hingen, stellte sie fest, was
für ein unglaubliches Glück sie gehabt hatte. Nach Jahren, in
denen sie immer für andere gearbeitet hatte, hatte sie sich zu
dem riskanten Schritt in die Selbstständigkeit entschlossen. Sie
hatte schon immer leidenschaftlich gern fotografiert, und jeder
Karriereschritt auf diesem Sektor war für sie aufregend,
herausfordernd, aber auch beängstigend.

»Als gäbe es nicht genug anderes in meinem Leben, um mich

zu ängstigen«, murmelte Prue, als sie sich aufmachte, die letzten
Fotos zu entwickeln, die sie von dem Kongresskandidaten
geschossen hatte. Die Ungewissheit und Furcht, der sie sich
allein wegen ihres Daseins als Hexe jeden Tag aufs Neue stellen
musste, würde vermutlich nie abnehmen. Aber die Unsicherheit
und Furcht, die mit ihrem neuen Job einhergingen, ließen mit
jedem neuen Auftrag nach, den sie zur Zufriedenheit der
Zeitschrift abschließen konnte. Von einem festen Gehalt zu
einem Honorarscheck pro Auftrag zu wechseln, immer
vorausgesetzt, sie hatte einen Auftrag, war ihr nicht leicht
gefallen. Das gute Verhältnis zu Gil, dem Herausgeber von 415,
hatte sich jedoch als hilfreich erwiesen. Und der Tremaine-
Auftrag war ein entscheidender Schritt, um auch in Zukunft im
Geschäft zu bleiben.

Diese Fotos werden Gil und Tremaine gefallen, dachte sie, als

sie einen weiteren Abzug zum Trocknen aufhängte. Der
Lichteinfall dämpfte die harten Linien von Tremaines Gesicht
und die grobe Struktur seiner alternden Haut, was seiner
Eitelkeit nur schmeicheln konnte. Mittels des Fotos, das sie
gerade entwickelt hatte, war es ihr gelungen, ihn in jenem

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Augenblick festzuhalten, in dem er die archaische Steinstatue
bewunderte. Sein Gesichtsausdruck spiegelte eine
Menschlichkeit wider, eine Ehrfurcht, wie er sie im Alltag
niemals zeigte. Würde sie nichts über den Mann oder seine an
reinem Gewinnstreben ausgerichtete Lebensweise wissen, dann
hätte dieses Foto sie durchaus davon überzeugen können, ihn zu
wählen.

»Was für ein Pech, dass Sie, Mr. Tremaine, in jeder Hinsicht

eine Niete sind«, sagte Prue seufzend zu dem Foto. »Keine
Stimme, keine Chemie, kein Funkenflug, wirklich schade.«

Noch immer in die Betrachtung des Fotos vertieft, legte sie

ihre Stirn in Falten. Der kleine graue Fleck an der Stelle, an der
ein Auge in dem groben Stein angedeutet war, war so winzig,
dass er ihr zunächst entgangen war. Aber nun, da sie ihn
entdeckt hatte, sprang er ihr förmlich ins Auge. Besorgt beeilte
sie sich, die übrigen drei Bilder zu entwickeln. Ihre schelmisch
vergnügte Stimmung löste sich in Luft auf, als der Fleck auf
jedem weiteren Foto immer größer wurde. Auf dem letzten Bild
sah er schon beinahe wie eine dünne Rauchfahne aus.

Ein Fehler im Film?, fragte sich Prue, während sie die Bilder

am Ende der Filmrolle inspizierte. Mit diesem Profimaterial
hatte sie bisher noch nie Probleme gehabt, aber das bedeutete
schließlich nicht, dass derartige Schwierigkeiten immer
ausgeschlossen waren.

So wie auch etwas weit Bedrohlicheres nicht ausgeschlossen

werden konnte, wie sie bei näherer Betrachtung dachte.

Als sie an das Ende der Foto-Session gelangt war, hatte

Tremaine von seiner Kampagne gegen Noel Jefferson
gesprochen. Während ihres kurzen Gesprächs hatten die Bilder
eine Vielzahl unterschiedlicher Emotionen eingefangen. Dem
stolzen Blick angesichts seiner kostbaren Steinstatuette waren
diverse andere Mienen gefolgt, die alle einen Bezug zu seinem
Wahlkampf hatten: Sorge, Entschlossenheit, Ärger, Ernst und

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tiefschürfende Nachdenklichkeit.

Nein, nicht tiefschürfend erkannte Prue jetzt. Bei der letzten

Aufnahme schien Tremaine für einen Augenblick völlig
geistesabwesend gewesen zu sein. Zwar hatte er diesen Umstand
als nichtig abgetan, aber sie hatte in der Vergangenheit bereits
zu viele unangenehme Überraschungen mit so genannten
Nichtigkeiten erlebt, die sich schließlich doch als
brandgefährlich herausgestellt hatten. Als viel zu gefährlich
jedenfalls, um sie zu ignorieren...

Besorgt untersuchte Prue die Aufnahmen noch einmal. Aber

dieses Mal konzentrierte sie sich völlig auf den Fleck. Der sich
ausdehnende graue Schatten befand sich auf jedem Bild im
gleichen Abschnitt, womit ein Fehler im Rohmaterial als
Ursache auch weiterhin nicht ausgeschlossen werden konnte.
Andererseits war das jedoch auch kein Beweis dafür, dass der
Film fehlerhaft war.

Prue stemmte die Hände in die Hüften und stieß pfeifend die

Luft aus. Ein Problem mit dem Film wäre die logischste
Erklärung und die akzeptabelste zudem gewesen, aber sie war
noch nicht bereit, sich damit zufriedenzugeben. Vielleicht war
ihr Objektiv nicht mehr in Ordnung. Und natürlich lauerte das
Schreckgespenst übernatürlicher Ursachen stets im Hintergrund.

»Übernatürlich auf welcher Basis?«, murmelte Prue vor sich

hin. Irgendwie kam sie sich ein bisschen komisch dabei vor,
gleich das Schlimmste anzunehmen. Aber schließlich wollte sie
nur genau Bescheid wissen, gleichgültig, was dabei
herauskommen mochte. Und sie war eindeutig misstrauischer
als ihre Schwestern, ein Charakterzug, der sich schon viel zu oft
als wertvoll erwiesen hatte.

Neugierig nahm Prue ein Vergrößerungsglas aus einer

Schublade und benutzte es dazu, den Fehler in jedem der Bilder
noch einmal genauer zu untersuchen. Trotz allem entdeckte sie
die einzige Übereinstimmung zwischen den Bildern nicht, bis

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sie einen Teil der Aufnahmen zum dritten Mal in Augenschein
genommen hatte. Tremaines Kopf, sein Oberkörper, sein Arm,
die Hand und die archaische Statue waren auf allen vier
Abzügen in beinahe dergleichen Position zu sehen. Auf einem
Bild war der Kopf ein wenig stärker geneigt, auf einem anderen
der Arm ein wenig weiter abgesenkt. Der rauchähnliche Fleck
nahm seinen Ausgangspunkt auf allen Bildern an derselben
Stelle: nämlich in dem runden Auge der kleinen Statue.

Verblüfft legte Prue die Lupe weg und nahm die Schürze ab.

Sie glaubte im Allgemeinen nicht an derart verrückte Zufälle.
Aber sie hatte auch keine Veranlassung anzunehmen, dass es
einen anderen Grund für die Probleme mit den Fotos geben
konnte. Auf jeden Fall würde es kaum schaden, sich zu
vergewissern.

Erpicht darauf, sich so schnell wie möglich an die Arbeit zu

machen, hielt Prue in der Küche kurz inne, um Teewasser
aufzusetzen, ehe sie ins Wohnzimmer ging, um ihre
Kameratasche zu holen. Sie hatte mehrere Filmrollen auf einmal
gekauft. Die Kamera war schnell geladen. Natürlich hatte der
Test auch dann nicht viel Aussagekraft, wenn sich der Makel in
den neuen Bildern nicht einstellte. Aber zumindest konnte sie
dann definitiv ausschließen, dass ihr Objektiv schadhaft war.

Als der Tee fertig war, nahm Prue die Kamera zur Hand und

zog die Vorhänge von den Wohnzimmerfenstern zurück, um die
Lichtverhältnisse in Tremaines Bibliothek nachzustellen. Dann
fing sie an, die Einrichtung des Halliwellschen Wohnzimmers
zu fotografieren.

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5

P

IPER STELLTE DEN WAGEN

vor einem kleinen Geschäft ab,

schaltete den Motor aus und hielt Phoebe am Arm fest, als jene
Anstalten machte, die Tür zu öffnen. »Nicht so schnell.«

»Was ist los?« Phoebe blinzelte sie verwundert an. »Stimmt

was nicht?«

»Sag du es mir.« Piper verschränkte die Arme vor der Brust

und fixierte Phoebe mit einem durchdringenden Blick. Ihre stets
so überschäumende kleine Schwester, die sie üblicherweise mit
ihrem ununterbrochenen Gequassel beinahe um den Verstand
brachte, hatte kaum ein Wort von sich gegeben, seit sie den
Supermarkt verlassen hatten.

»Dir was sagen?«, fragte Phoebe, die Stirn in tiefe Falten

gelegt. »Und schalte den Großmutterblick aus, sonst komme ich
mir vor, als wäre ich wieder fünf Jahre alt.«

»Sorry.« Piper legte eine Hand an ihr Kinn und bemühte sich

um eine weniger Strenge Miene. Auch sie hatte den
allwissenden, strengen Blick ihrer Großmutter nie gemocht. Als
Kind war sie überzeugt gewesen, dass ihre Großmutter mit
irgendeiner geheimnisvollen Macht im Bunde stand, die sie über
jede Regung ihrer Enkelinnen auf dem Laufenden hielt. Erst, als
sie längst erwachsen geworden war, hatte sie erkannt, dass ihr
schuldbewusstes Verhalten sie jedes Mal verraten hatte.

»Wie damals, als Großmutter mir gesagt hat, ich sollte die

Lacklederschuhe nicht draußen zum Spielen tragen.« Ein
sehnsüchtiges Lächeln umspielte Phoebes Lippen. »Ich habe den
Dreck mit einem Handtuch von dem schwarz glänzenden Leder
gewischt und erst Jahre später herausgefunden, dass das
Handtuch und der Schmutz unter den Sohlen mich verraten
haben.«

»Ich erinnere mich«, sagte Piper.

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»Ich habe wirklich geglaubt, sie hätte Augen im Hinterkopf«,

verkündete Phoebe lachend.

»Das Thema zu wechseln wird dir bei mir auch nicht

weiterhelfen als damals bei Großmutter.« Erneut bedachte Piper
Phoebe mit einem gestrengen, durchdringenden Blick.

»Was soll denn das heißen?« Phoebe schien ehrlich erstaunt.

»Bis zu deinem Abstecher in die Vergangenheit warst du

verdächtig schweigsam«, sagte Piper. »Eines hat sich in den
letzten zwanzig Jahren nicht verändert: Du bist nur dann still,
wenn dich irgend etwas belastet.«

»Ist das so offensichtlich?« Seufzend blickte Phoebe zum

Seitenfenster hinaus, ehe sie Piper ansah und die Schultern
zuckte. »Wahrscheinlich ist das sowieso nicht wichtig.«

»Phoebe!« Ein wütender Ton hatte sich in Pipers Stimme

geschlichen. »Wir werden uns nicht vom Fleck rühren, ehe du
nicht redest, und wenn unsere Einkäufe in der Zwischenzeit
schlecht werden.«

»Drohungen werden dich auch nicht weiterbringen«, zog

Phoebe sie auf, doch ihr Grinsen erstarrte, als Piper keine Miene
verzog. »Okay. Es sind die Visionen. Zu viele, zu schnell
nacheinander und zu merkwürdig.«

Piper versteifte sich. Jede Auffälligkeit, die etwas mit ihren

Gaben zu tun hatte, war ein Grund zur Besorgnis. »Wie viele
und wie merkwürdig?«

»Drei im Supermarkt«, erklärte Phoebe. »Ein ganzes

Spektrum von einer Schnittverletzung durch eine Papierkante
bis hin zu einem zerquetschten Jungen.«

»Einem beinahe zerquetschten Jungen, dessen Rettung fast

dafür gesorgt hätte, dass wir beim Anhalten der Zeit erwischt
worden wären. Ganz zu schweigen von meinem ebenfalls
beinahe gebrochenen Handgelenk.« Keine besonders lustigen
Dinge, dachte Piper. Trotzdem verstand sie nicht, warum ihre

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Schwester so besorgt war. Normalerweise nahm Phoebe das
gefährliche Leben der Schwestern relativ leicht. »Ich verstehe
nicht, was daran so merkwürdig sein soll.«

»Ich habe vorhergesehen, wie die Kassiererin sich in den

Finger schnitt.« Ein furchtsames Beben schlug sich in Phoebes
Stimme nieder.

»Und das ist schlimm?« Piper wusste immer noch nicht,

worum es eigentlich ging.

»Ich weiß es nicht. Es ist nur, dass es so eine unwichtige

Sache war.« Phoebe setzte eine sorgenvolle Miene auf. »Meine
Visionen sind nie unwichtig.«

»Na ja, anscheinend sind sie es jetzt eben doch.« Piper

runzelte ebenfalls die Stirn, aber in ihrem Fall war das ein
Ausdruck der Verwirrung. Sie wollte Phoebes Sorgen nicht als
unbedeutend abtun. Aber sie konnte einfach nicht verstehen, wo
das Problem lag. Ihre eigene Fähigkeit, die Zeit anzuhalten und
Prues telekinetische Gabe hatten sich im Laufe der Zeit
dramatisch verstärkt. Ihre Gaben wären noch stärker gewesen,
hätte ihre Großmutter während ihrer Kindheit keinen Zauber
bewirkt, der ihre Gaben zu ihrem eigenen Schutz gelähmt hatte.
Prue konnte sich ganz spontan auf die Astralebene projizieren.
Phoebe hatte sich die Macht der Levitation angeeignet, aber das
war ein Geschenk von einem besiegten Gegner und keine
natürliche...

Phoebe riss Piper aus ihren Gedanken. »Aber warum sollten

meine Visionen plötzlich unwichtig sein?«

Piper schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Vielleicht weil

deine Gabe feinfühliger und stärker wird, so wie Prues
telekinetische Kräfte.«

Sofort hellte sich Phoebes Miene auf. »Glaubst du?«

»Hast du eine bessere Erklärung?« Piper ließ die

Wagenschlüssel in ihre Tasche fallen.

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»Nein. Gehen wir einkaufen. Ich habe plötzlich ein heftiges

Verlangen nach frischem Obst.« Erleichtert sprang Phoebe aus
dem Wagen und betrat zusammen mit Piper das Geschäft.
»Also, wie war das noch mit dem neuen Barkeeper?«

»Er heißt Rick. Studiert Psychologie und arbeitet an einer

Dissertation, die irgendwas mit der Popkultur zu tun hat. Darum
wollte er auch den Job.« Piper winkte Sam, dem Inhaber des
Geschäfts, zu und schnappte sich einen Einkaufskorb.

»Oh.« Phoebe runzelte die Stirn. »Dann war er

möglicherweise gar nicht wirklich an mir interessiert. Vielleicht
hat er nur gedacht, ich könnte ein gutes Forschungsobjekt
abgeben.«

»Vielleicht. Keine Ahnung«, neckte Piper. »Ich schätze, du

wirst ihn kennen lernen müssen, um das herauszufinden.«

»Als Laborratte oder als Verabredung zum Abendessen?«

Phoebe verzog das Gesicht. »Darüber muss ich wohl erst
nachdenken.«

Während Phoebe davonging, um das Obstangebot zu

inspizieren, sah sich Piper in den Auslagen mit frischem
Gemüse um. Sams Geschäft hatte sich von einem
unbedeutenden kleinen Laden in eine Art Institution verwandelt.
Während sie ihr Gemüse zusammensuchte, war Piper wirklich
froh, dass die Umstände sie zu diesem Abstecher gezwungen
hatten. Sams Gemüse war viel frischer und nicht so teuer wie
das im Supermarkt. Das P3 erfreute sich zwar zunehmender
Beliebtheit, aber solange Prue als freie Fotografin arbeitete und
Phoebe noch in der Ausbildung steckte, war sie für jeden
gesparten Dollar dankbar.

»Phoebe, beeil dich!«, rief Piper, als sie fertig war. Sie deutete

zur Tür, wo Sam an einer altmodischen Registrierkasse hockte.

»Nur noch eine Minute!« Phoebe schnappte sich eine

Packung Erdbeeren.

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Kopfschüttelnd wartete Piper unterdessen hinter einer jungen

Frau darauf, dass sie an die Reihe kam. Die junge Frau hatte
einen Sportwagen bei sich, in dem ein kleiner Junge saß. Das
Haar des Jungen war hellrot und bildete einen schmerzhaften
Kontrast zu dem rot karierten T-Shirt, das er unter der blauen
Baumwoll-Latzhose trug. Grüne Zuckermasse, vermischt mit
Speichel, lief über den Stiel des Lutschers auf seine Finger, als
er mit der Leckerei herumfuchtelte.

»Lolli«, krähte der Junge.

»Fein. Schön essen.« Piper lächelte, als die Mutter des Jungen

sich umblickte. »Süßes Kerlchen.«

»Danke.« Die Frau stellte ihre Tasche auf dem Dach des

Kinderwagens ab. »Na komm, Nathan. Daddy will uns zum
Essen abholen, und wir sind schon spät dran.«

Piper schob ihren Korb auf den Ladentisch, während sie sich

insgeheim fragte, ob die Frau ihr Kind vor den Mahlzeiten
immer mit Süßigkeiten fütterte.

»Wie geht es Ihnen, Piper?« Sams Goldzahn funkelte in der

Sonne, als er die Lippen zu einem Grinsen verzog. Bartstoppeln
verunzierten das Kinn des sechzigjährigen Mannes, dessen bunt
kariertes Hemd ausgefranst und dessen Hose, die er mit
Hosenträgern gesichert hatte, ausgebeult war.

»Mir geht es gut, Sam, und Ihnen?« Piper wusste nicht recht,

seit wann Sam bereits Obst und Gemüse verkaufte. Seinen
Laden gab es jedenfalls schon, so lange sie sich erinnern konnte.
Sie würde ihn sicher vermissen, sollte er sich eines Tages zur
Ruhe setzen.

Beladen mit einer Tüte Orangen und grünlicher Bananen,

worauf sie eine Packung Erdbeeren balancierte, blieb Phoebe
am Ende des Ladentisches stehen. Mit ihrem Kinn hielt sie alles
im Gleichgewicht, sodass sie mit ihrer freien Hand noch ein
paar Kiwis aufsammeln konnte.

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Vor Piper hatte die junge Mutter gerade ihre Sachen fertig

eingepackt und machte Anstalten, den Kinderwagen zur Tür zu
schieben.

»Ohoh!«, japste Phoebe.

Noch ehe Piper reagieren konnte, hatte die junge Frau sich

schon umgedreht und die Packung Erdbeeren aufgefangen,
bevor sie zu Boden fallen konnte.

»Danke«, sagte Phoebe mit einem verlegenen Grinsen.

»Manchmal stelle ich mich wirklich ungeschickt an.«

»Das passiert mir ständig.« Die junge Frau legte die

Erdbeeren auf den Ladentisch und griff in ihre Tasche, während
sie den Kinderwagen zur Tür schob. Als sie ihre Schlüssel
hervorzog, glitt ein Schnuller aus der Tasche.

Unbeholfen lud Phoebe das Obst auf den Ladentisch und hob

den Schnuller vom Boden auf. Sofort überfiel sie eine neue
Vision. In ihrer vorgebeugten Haltung konnte sie das
Gleichgewicht nicht mehr halten und fiel mit geschlossenen
Augen auf alle Viere.

»Phoebe?«, hauchte Sam mit großen Augen.

Piper lief zu ihrer Schwester und ging in die Knie. Als sie den

Schnuller erblickte, fing ihr Herz an zu rasen. Zu gern hätte sie
gewusst, was in Phoebes Kopf vorging. Aber sie musste warten,
bis ihre Schwester sich von ihrer Benommenheit erholt hatte.
Aber eines stand auch so schon fest: Irgendein Unglück wartete
auf Nathan.

»Komm schon, Phoebe«, drängelte Piper. Bis ihre Schwester

wieder zu sich gekommen war, raste ihr Puls. »Was wird
geschehen?«

»Autounfall.« Wieder voll bei Sinnen sah Phoebe auf die

Straße hinaus. In einem stahlgrauen Minivan fädelte sich
Nathans Mutter gerade in den Verkehr ein. »Wir müssen
hinterher!«

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»Legen Sie mir das Zeug zurück, Sam!«, rief Piper über ihre

Schulter, als sie hinter Phoebe herrannte.

Ehe Phoebe auch nur nach dem Gurt hatte greifen können, saß

sie schon angeschnallt auf dem Fahrersitz und hatte den Motor
eingeschaltet. »Wohin?«

»Ich weiß es nicht genau.« Phoebe verrenkte sich den Hals,

um den Minivan auf der vielbefahrenen Straße im Auge
behalten zu können. »Schnell. Wir verlieren sie!«

Pipers Magen verkrampfte sich beim Gedanken an Nathans

fröhliches Kindergesicht. Sie würde keine Ruhe mehr finden,
sollte ihm etwas zustoßen, nur weil sie und Phoebe nicht
rechtzeitig bei ihm gewesen waren. Die Räder des Wagens
drehten durch, und Kies spritzte durch die Luft, als sie den
Automatikhebel in die Fahrstellung schob. Am Ende der
Ausfahrt trat sie heftig auf die Bremse und hämmerte mit den
Fäusten auf das Lenkrad ein. Ein stetiger Strom aus Fahrzeugen
jagte in beiden Richtungen an ihnen vorbei.

»Mach schon, Piper!« Phoebes Stimme war schrill vor

Anspannung, ihr Blick noch immer unverwandt auf den Van
gerichtet, der vor einer Ampel stehen geblieben war. »Die
Ampel springt jede Sekunde um, und dann verlieren wir sie
womöglich.«

»Behalt sie im Auge!« Piper gab Gas, und der Wagen schoss

auf die Straße hinaus, während ein Pickup bedrohlich schnell
auf sie zukam. Sie bremste kurz, um ein Kabriolett passieren zu
lassen, und rammte erneut den Fuß aufs Gaspedal.

»Pass auf!« Phoebe zog den Kopf ein, ließ aber den grauen

Minivan nicht aus den Augen.

Der Fahrer des Pickup trat auf die Bremse und konnte gerade

noch eine Kollision mit Pipers Stoßstange verhindern, als sie das
Steuer hart nach links herumriss. Heftig schleudernd fädelte sich
der Wagen in den Verkehr ein. Kaum hatte sich das Fahrzeug

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wieder beruhigt, lenkte sie den Wagen schon unsanft auf die
rechte Spur.

»Wo hast du gelernt, so zu fahren?«, fragte Phoebe, nicht

ohne eine gewisse Bewunderung. »Fahrtraining oder
Stuntausbildung?«

»Ein ausgekochtes Schlitzohr.« Piper wischte eine ihrer

verschwitzten Hände an der Hose ab, wechselte dann die Hand
am Lenkrad und trocknete die andere. Dieser Klassiker unter
den Verfolgungsjagden war einer von Pipers Lieblingsfilmen.
»Ich habe ihn fünfmal gesehen.«

»Ohoh.« Phoebe stemmte sich auf ihrem Sitz hoch und

deutete zur Windschutzscheibe hinaus. »Sie biegen rechts ab.«

»Schon gesehen.« Ihr Wagen klebte beinahe an der

Stoßstange des vorausfahrenden Wagens und bog nach rechts
ab, ehe die Ampel wieder auf Rot umschaltete. Drei Wagen
trennten sie noch von dem Minivan, der vor ihnen die Straße
hinunterfuhr.

Nun, da der Van in Sicht war und der waghalsigere Teil der

Verfolgungsjagd hinter ihnen lag, wartete Piper, bis sie
unbesorgt überholen konnte, und konzentrierte sich auf
mögliche Anzeichen für den bevorstehenden Unfall. »Worauf
müssen wir achten?«

»Ich weiß es nicht genau. Der Van ist irgendwie in einem

roten Durcheinander untergegangen.« Phoebe biss sich auf die
Lippen und sah sich um, als der Minivan vor einer weiteren
roten Ampel hielt. »Ich habe wirklich keine Ahnung, Piper. Mir
kommt hier nichts bekannt vor.«

»Dann passiert es vielleicht nicht sofort«, mutmaßte ihre

Schwester, während sie den Wagen stoppte. Entweder das, oder
Phoebes Gehirn war wegen Überbeanspruchung völlig
durcheinander geraten. Vier Visionen innerhalb weniger
Stunden waren bestimmt ein einsamer Rekord.

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Kopfschüttelnd zog Phoebe die Stirn in Falten. »Nein. Ich bin

ziemlich sicher...« Das Heulen einer näherkommenden Sirene
schnitt ihr das Wort ab.

»Das ist es!« Phoebes Augen weiteten sich entsetzt.

»Feuerwehr. Kommt von da.« Sie deutete auf die Querstraße zur
Linken. Dutzende von Wagen fuhren zur Seite oder hielten
mitten auf der Straße an, obwohl die Ampel grün leuchtete. »Sie
wird ihnen direkt in den Weg fahren.«

Piper kämpfte gegen die Panik an, als ihr die

Hoffnungslosigkeit ihrer Situation bewusst wurde. Drei Wagen
befanden sich zwischen ihnen und dem Minivan. Weniger als
eine Minute würde vergehen, bis sich der Unfall ereignen
würde. Sie konnten das Unglück unmöglich aufhalten - außer
mit ihren übersinnlichen Gaben. Andererseits konnte Piper
unmöglich eine ganze Kreuzung mit allem, was sich darauf
bewegte, einfrieren. So stark war ihre Gabe bei weitem nicht.

Aber sie konnte auch nicht einfach rumsitzen und nichts tun.

»Übernimm du das Steuer, Phoebe.« Ohne sich mit

Erklärungen aufzuhalten, stieß Piper die Tür auf und sprang aus
dem Wagen. Das Heulen der Sirene wurde lauter, während sie
zwischen zwei Reihen stehender Fahrzeuge hindurch zu dem
Van rannte.

Aus dem Augenwinkel sah Piper, wie der mächtige

Feuerwehrwagen in der Straßenmitte an den stehenden Autos
vorbeiraste. Sirenen jaulten auf, als der rote Truck auf die
Kreuzung schoss - genau in dem Augenblick, in dem der graue
Minivan anrollte, um nach rechts abzubiegen.

Piper war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte es Nathans

Mom so eilig, ihren Mann zu treffen, dass sie dafür sogar
bereitwillig ihr Leben riskierte? Und das ihres Sohnes? Aber
vielleicht hatte sie auch die Sirene nicht gehört, weil ihr
Autoradio so laut war oder Nathan weinte. Alle möglichen
Erklärungen gingen ihr durch den Kopf, als sie die Hände hob

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und den Van einfror.

Der Feuerwehrwagen hatte die andere Seite der Kreuzung

erreicht...

Emotional und physisch erschöpft, befreite Piper den Van, der

mit einem Satz wieder zum Stehen kam, als die Frau auf die
erschreckende Lücke in ihrer Wahrnehmung reagierte.
Vermutlich hatte sie nicht die geringste Ahnung, wie nahe sie
und Nathan dem Tod gewesen waren.

»Gut gemacht.« Phoebe grinste und fragte ganz

ungezwungen: »Zurück zu Sam?«

Piper nickte. Sie hoffte, dass Phoebes magische Berührung

nicht noch mehr bedrohte Unschuldige zu Tage fördern würde,
während sie ihre zurückgelassenen Waren bei Sam bezahlte.
Noch eine Rettungsaktion, und ihr Sauerrahm würde sich in der
Mittagshitze in eine wenig appetitliche saure Suppe verwandeln.

Während sie darauf warteten, dass die Ampel Grün zeigte,

warf Phoebe Piper einen langen Seitenblick zu. »Also, wie groß,
wie gebräunt und wie heiß ist dieser Rick auf einer Skala von
eins bis zehn?«

Erleichtert, endlich wieder zu Hause zu sein, ließ Phoebe den

Beutel mit ihren Einkäufen auf den Küchentisch fallen. Sie hatte
im Wagen gewartet, während Piper Sams Rechnung bezahlt
hatte. Wenn sie sich auch nicht beklagt hatte, litt sie inzwischen
doch unter Kopfschmerzen. Einkaufen allein hätte lediglich ein
kleines Loch in ihren faulen Tag gerissen. Aber sie hatte nicht
mit diesem Rettungsmarathon gerechnet, der ihr das Gefühl
vermittelte, sie wäre unter einem Laster gelandet.

»Wo ist Prue?« Piper stellte die letzte Tüte auf dem Tisch ab

und öffnete den Kühlschrank.

»Immer noch in der Dunkelkammer, schätze ich.« Phoebe

fing an, ihre Einkäufe auszupacken, und reichte Piper alles, was

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gekühlt werden musste. Unterdessen überlegte sie, wie sie sich
am besten vor dem arbeitsreichen Teil ihres Fressgelages
drücken konnte. Abgesehen davon, dass sie nach ihren
vielfältigen Abenteuern ziemlich erschöpft war, mangelte es ihr
einfach an kulinarischer Kunstfertigkeit. Das
Zusammenmischen magischer Tränke war jedenfalls etwas ganz
anderes als Kochen.

»Du siehst ziemlich erschlagen aus.« Piper bedachte Phoebe

mit einem Seitenblick, als sie die Plastiktüten in den Abfall
stopfte.

»Ich bin ein bisschen müde«, gab Phoebe zu. »Hast du etwas

dagegen, wenn ich mich vor der Zubereitung unserer
Schnittchen drücke? Meine würden vermutlich sowieso krumm
und schief ausfallen.«

»Krumm und schief klingt interessant«, zog Piper sie auf.

»Aber ich komme auch ohne dich zurecht.«

»Bestimmt?« Phoebe drückte Piper drei Packungen Rahmkäse

in die Hand und ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen.

»Ganz bestimmt.« Piper stopfte den Käse in den vollen

Kühlschrank und griff nach dem Wasserkessel. »Willst du einen
Tee?«

Phoebe nickte. Eine Tasse dampfend heißen Tees, ein Aspirin

und ein Nickerchen würden sie hoffentlich von den
Kopfschmerzen befreien. Sie stützte das Kinn auf die
überkreuzten Arme und sah aus den Augenwinkeln, wie Prue
mit fassungsloser Miene aus der Dunkelkammer kam.

Piper setzte Teewasser auf und machte es sich auf einem

Stuhl bequem. Prue setzte sich zu ihnen. »Du siehst aus, wie ich
mich fühle, wenn ich ein Soufflee ruiniert habe. Sind die Bilder
von Tremaine nichts geworden?« fragte Piper.

»Die meisten schon.« Seufzend breitete Prue die Bilder auf

dem Tisch aus.

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»Puh, Stephen Tremaine sieht genauso aus wie unsere

Couch.« Phoebe runzelte die Stirn. Warum hatte Prue eine ganze
Bilderserie vom Halliwellschen Mobiliar geschossen?

»Das ist gut.« Piper deutete auf eines der Bilder. »Du hast

tatsächlich das Wesen unseres Kaffeetisches eingefangen.«

Prue versetzte Piper spielerisch einen Hieb gegen den Arm.

»Um das Motiv geht es nicht. Ich habe die Filme und das
Objektiv auf Fehler überprüft.«

»Oh.« Phoebe richtete sich auf, um sich die Bilder genauer

anzusehen. »Für mich sind die okay.«

»Ich weiß.« Prue zog mürrisch die Brauen zusammen. »Und

genau das ist das Problem.«

»So?« Piper sprang auf, als der Wasserkessel zu pfeifen

anfing und zog ihn von der Herdplatte.

»Ja.« Prue holte ein Foto von Tremaine unter dem

Bilderhaufen hervor.

»Tolles Bild, Prue!« Beeindruckt nickte Phoebe. Licht und

Aufnahmewinkel glätteten die harten Linien von Tremaines
Gesicht. Nur sein Gesichtsausdruck wirkte ein wenig
geistesabwesend. »Was ist das?« Phoebe deutete auf den ovalen
Stein in Tremaines Hand.

»Das ist das Problem.« Prue nahm eine Tasse dampfend

heißen Tees von Piper entgegen, während ihr
nachdenklichverwunderter Blick noch immer auf dem Foto von
Tremaine ruhte.

»Ich verstehe.« Piper gab auch Phoebe eine Tasse Tee und

setzte sich wieder. »Warum hält er einen Stein in der Hand?«

»Es geht nicht um den Stein. Na ja, jedenfalls nicht wirklich.«

Prue nippte an ihrem Tee und stellte die Tasse ab. »Laut
Tremaine ist das eine Art Geisterstein aus einer alten Kultur
Südamerikas. Er hat gesagt, der Stein wäre Tausende von Jahren
alt.« Wieder legte sie die Stirn in Falten, während ihre Finger

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den Umrissen des Steines folgten.

Neugierig geworden nahm Phoebe ihre Brille aus dem Etui,

das sie auf dem Tisch abgelegt hatte, und setzte sie auf die Nase.
Sofort erkannte sie den nebelhaften grauen Fleck auf dem
Abzug. »Ist das Dreck oder so was?«

»Yep.« Prue presste die Lippen aufeinander.

»Mist.« Piper klopfte Prue tröstend auf die Schulter. »Dabei

ist dir das Bild so gut gelungen. Tremaine hätte es sicher
gefallen.«

»Das ist nicht der Grund, warum ich so irritiert bin.« Prue

zögerte, gebannt von Phoebes und Pipers verwirrten Blicken
und nahm erneut das Bild von der Couch zur Hand. »Das Bild
ist völlig in Ordnung. Dieses nicht.« Sie tippte auf das Bild von
Tremaine. »Und ich weiß nicht warum.«

Piper versteifte sich. Plötzlich wurde sie nervös. »Und das ist

ein Problem, weil...?«

»Du wieder hin musst, um Tremaine noch einmal zu

fotografieren?«, fragte Phoebe.

Prue schüttelte den Kopf. »Das Objektiv hat keinen Fehler.

Das Filmmaterial könnte fehlerhaft gewesen sein - oder es liegt
an irgendwas anderem.«

Phoebes Herz setzte einen Schlag aus. Für die Zauberhaften

bedeutete ›irgendwas anderes‹ gewöhnlich irgendwas
Schlimmes‹, und das bedeutete gewöhnlich eine Menge Ärger.

So viel zu meinem Nickerchen, dachte Phoebe und seufzte

matt.

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6

W

ÄHREND PRUE IHRER SCHWESTER

Phoebe zu einem Lesetisch

in einer stillen Ecke der Universitätsbibliothek folgte, empfand
sie die Atmosphäre in dem Gebäude als tröstlich beruhigend. Ihr
Puls raste noch immer von dem wilden Rennen, das sie auf dem
Campus veranstaltet hatten, um einen Studenten davor zu
bewahren, von einem herabfallenden Ast getroffen zu werden.

»Ich muss mich setzen.« Phoebe ließ sich auf einen Stuhl

gleiten und rieb sich die Schläfen.

»Dito.« Prue legte ihre Tasche und den Ordner mit den Fotos

von Tremaine und dem Geisterstein auf den Tisch. »Ist mit dir
wirklich alles in Ordnung?«

»Nur leichte Kopfschmerzen. Geht gleich wieder.« Phoebe

nahm die Fotos aus dem Aktendeckel und lächelte. »Geh und
hol uns diese Nachschlagewerke, damit wir die Herkunft von
diesem Ding bestimmen können.«

Phoebes Lächeln konnte Prue nicht beruhigen, aber sie

beschloss, dieses Thema zurückzustellen, bis sie wieder zu
Hause waren. Herauszufinden, ob irgendeine unbekannte Gefahr
sich anschlich oder nicht, musste einfach Vorrang vor weniger
bedeutsamen Beschwerden haben.

»Das Nachschlagen könnte sich aber auch als ziemlich

fruchtloses Unterfangen herausstellen«, sagte Prue.

»Ja, aber wenigstens können wir das im Sitzen erledigen«,

entgegnete Phoebe seufzend.

»Du bleibst sitzen. Ich bin gleich zurück.« Prue lächelte ihrer

Schwester aufmunternd zu, obwohl sie im Stillen selbst besorgt
war.

Prue war ziemlich überrascht gewesen, als Piper und Phoebe

ihr von der hektischen und überaus anstrengenden Einkaufsfahrt

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erzählt hatten. Manchmal vergingen Tage, ohne dass Phoebe
eine Vision hatte. Natürlich wusste auch Prue, dass Phoebes
Fähigkeiten zwangsläufig stärker werden mussten. Nun,
vielleicht brauchte sie nur etwas Zeit, um sich an ihre
gesteigerte Empfindsamkeit zu gewöhnen.

Mit Phoebes Gabe zurechtzukommen, würde auch für sie und

Piper nicht einfach werden, erkannte Prue, während sie die Titel
der anthropologischen und archäologischen Nachschlagewerke
studierte. Menschen vor drohendem Unheil zu schützen, stand
dauernd auf ihrem Programm. Aber nun mussten sie vielleicht
anfangen, ihre Entscheidungen von der Dringlichkeit des
jeweiligen Falls abhängig zu machen.

Prue wählte vier Bücher aus, die sich mit frühen

südamerikanischen Kulturen befassten, ehe sie einen
Augenblick innehielt, um nachzudenken.

Sie hätten den Jogger, der Phoebe in der Nähe des

Studentenparkplatzes beinahe umgerannt hätte, gar nicht
ignorieren können. Phoebes Kraft, mit der sie den fallenden Ast
abgelenkt hatte, hatte den jungen Mann davor bewahrt, sich den
Hals zu brechen. Schnitte durch Papierkanten andererseits
erforderten kaum die Aufmerksamkeit der Zauberhaften. Die
Schwestern konnten es einfach nicht riskieren, ein wichtiges
Ereignis zu verpassen, nur weil sie ihre Zeit für eine Lappalie
opferten.

Ein Hauch kalter Luft jagte eisige Schauder über Prues

Wirbelsäule. Die Bücher an ihre Brust gedrückt, flüchtete sie
eilig aus dem kalten Luftzug und ging zurück zu Phoebe.

»Also? Was hast du uns mitgebracht?« Die Brille auf dem

Nasenrücken, nahm Phoebe eines der Bücher zur Hand.
Untergegangene Zivilisationen rund um den Amazonas. Klingt
nach einem Treffer.«

»Pass nur auf«, sagte Prue, als sie sich zu ihrer Schwester

setzte. »Wir finden bestimmt heraus, dass der Stein nur

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irgendeine Art antiker Mörser oder Ballast für die alten
Binsendächer war.«

»Viel Lärm um nichts.« Phoebe blies den Staub von dem alten

Buch und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. »Das wäre doch
auch einmal eine nette Abwechslung vom Alltagsgeschehen,
nicht wahr?«

»Ja.« Prue grinste. »Und mir würde es eine perverse Freude

bereiten, Mr. Stephen Tremaine zu erzählen, dass sein kostbarer
Geisterstein nur ein ganz gewöhnlicher Haushaltsgegenstand
ist.«

Phoebe starrte sie über den Rand ihrer Brille hinweg an.

»Höre ich da etwa Interesse heraus?«

»So verzweifelt bin ich nicht.« Prue schauderte, aber nicht

wegen der Vorstellung, sich einem Flirt mit dem reichen,
ichbezogenen Kandidaten hinzugeben. Ein weiterer eisiger
Lufthauch hüllte sie in seinen kalten, unsichtbaren Schleier. »Ich
kann mich in dieser Zugluft nicht konzentrieren. Du studierst
doch hier. Kannst du die Bücher nicht ausleihen?«

»Sicher.« Phoebe runzelte die Stirn. »Welche Zugluft?«

»Die aus der Klimaanlage.« Prue sah zur Decke hinauf, doch

da waren keine Lüftungsgitter, soweit sie es erkennen konnte.
Sie rieb sich die Arme, und ihre Miene verdüsterte sich, als die
eisige Kälte sich verzog und sich tiefe Besorgnis in ihr
festsetzte. Sie durfte nicht zulassen, dass ihre Vorstellungsgabe
aus jeder Kleinigkeit, für die sich nicht auf der Stelle eine
logische Erklärung finden ließ, ein potentielles Problem
dämonischen Ursprungs machte. Spätestens in einer Woche
würde sie vollkommen irre sein. Vielleicht schon früher.

»Komm schon.« Prue erhob sich und sammelte ihre Sachen

zusammen. »Wenn wir nach Hause gehen, kann ich mich auf
unserer eigenen, bequemen, fotogenen Couch um die
Nachforschungen kümmern, und du kannst dich von deinen

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Kopfschmerzen erholen.«

»Guter Plan.« Phoebe schlug das Buch zu.

Draußen empfing Prue dankbar die Wärme der

Nachmittagssonne auf ihrem Gesicht und ihren Armen, während
sie zurück zum Wagen gingen. Der Anblick der Studenten, die
über den Campus schlenderten oder in kleinen Grüppchen im
Gras saßen, half ihr, sich aus der schwermütigen Stimmung zu
lösen, die in der Bibliothek Besitz von ihr ergriffen hatte.
Irgendwie musste sie dringend die Paranoia beherrschen, die sie
unter jedem Stein am Wegesrand etwas Böses vermuten ließ.

»Da hat jemand seinen Taschenkalender verloren.« Phoebe

bückte sich, um den Kalender aufzuheben, der neben ihrem
Wagen auf dem Parkplatz lag, doch kaum hatten ihre Finger das
Leder berührt, fiel sie bereits in die Trance hellsichtiger
Visionen.

Piper rührte wie besessen in der Mischung aus Weichkäse,

gehackten Schalotten und Gewürzen. Tränen liefen über ihre
Wangen, zwangen sie, ihre Arbeit zu unterbrechen. Nachdem
Phoebe und Prue zur Universitätsbibliothek gefahren waren,
hatte sie geglaubt, die Zubereitung der Schinkenröllchen könnte
sie von ihrer Sehnsucht nach Leo ablenken. Statt dessen hatte
diese gewöhnliche Arbeit alles nur noch schlimmer gemacht.

Wenn sie nicht durch ihre Schwestern oder irgendein

bevorstehendes Unheil beansprucht wurde, konzentrierten sich
Pipers Gedanken automatisch auf die Leere, die sie empfand,
wenn Leo nicht in ihrer Nähe war. Was in letzter Zeit meistens
der Fall war, dachte sie schniefend. Sie konnte nicht einmal das
Radio anschalten und Musik hören, ohne gleich wieder in eine
Höllengrube voller Selbstmitleid zu stürzen. Jedes Lied, ob es
nun von einer verlorenen oder einer gerade entdeckten Liebe
handelte, erinnerte sie daran, dass ihre Beziehung beides
umfasste.

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Piper stellte die Schüssel ab und öffnete den Kühlschrank, um

den in Scheiben geschnittenen Schinken herauszuholen, schloss
die Tür aber unverrichteter Dinge wieder, als das Telefon zu
klingeln begann. Mürrisch atmete sie tief durch, um jeglichen
weinerlichen Ton aus ihrer Stimme zu verbannen, ehe sie den
Hörer abnahm.

»Piper. Phoebe hier. Wir haben schon wieder einen Notfall.«

»Was ist passiert?« Nun widmete Piper ihre ganze

Aufmerksamkeit ihrer Schwester, und ihr persönlicher Kummer
war für den Augenblick vergessen.

»Eine Frau droht in einem Ziegelgebäude aus dem Fenster zu

fallen. Wir haben sogar eine Adresse«, erzählte Phoebe
aufgeregt. »Ich kann nur hoffen, dass es die richtige ist.«

»Wo?« Piper notierte die Adresse und fischte die Schlüssel

aus ihrer Tasche.

»Du bist näher dran, Piper! Falls wir nicht ohnehin längst zu

spät kommen«, sagte Phoebe. »Wir sehen uns dann dort.«

Piper war bereits auf der Straße angelangt, ehe ihr einfiel,

dass die Käsecremefüllung für die Schinkenröllchen immer noch
auf dem Küchentisch stand, aber nun konnte sie ohnehin nicht
mehr umkehren. Immerhin stand ein Menschenleben auf dem
Spiel. Wenn sie oder Prue nicht rechtzeitig dort waren, um den
Sturz der Frau aufzuhalten, hatte das Opfer keine Chance.

Knapp fünf Minuten später hinterließ Piper eine dicke Spur

verbrannten Gummis auf dem Asphalt, als sie den Wagen mit
quietschenden Reifen auf den Parkplatz neben dem
heruntergekommenen Appartementhaus steuerte. Von Prues
Wagen war weit und breit nichts zu sehen.

»Schätze, nun liegt die Verantwortung bei mir.« Jede Sekunde

zählte, also stürzte Piper aus dem Wagen, ohne auch nur den
Motor abzustellen, und rannte zur Rückseite des Gebäudes. Auf
das Schlimmste vorbereitet, hastete sie um die Hausecke und

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kam taumelnd vor einem überquellenden Mülleimer aus Metall
zum Stehen.

Die schmale Gasse war von Schlaglöchern übersät, und der

Hinterhof des Gebäudes sah aus wie eine Müllhalde. Fliegen,
angezogen durch den Gestank, schwärmten um die Abfälle
herum, die aus aufgeplatzten Mülltüten herausgerieselt waren.
Neben der Hintertür stapelten sich Glasscherben, flachgetretene
Büchsen und allerlei anderer, alter Unrat.

Aber kein menschlicher Körper war zu sehen, der sich auf

dem gepflasterten Hof in eine breiige Masse verwandelt hatte,
wie Piper erleichtert feststellte.

Ein schriller Schrei lenkte Pipers Blick an der Fassade hinauf,

an der sich unzählige schmutzige Fenster befanden. Das
Gebäude war fünf Stockwerke hoch, aber sie konnte nicht
erkennen, aus welcher Etage der Schrei gekommen war, ehe die
Frau erneut kreischte.

»Das tut weh, Bobby!«

Wütend über diesen häuslichen Disput, stellte sich Piper auf,

bereit zu handeln, egal aus welchem Fenster die Frau
herausgeflogen käme. Sie wünschte, Prue und Phoebe würden
sich beeilen. Natürlich konnte sie auch einen fallenden Körper
einfrieren. Aber wenn der Effekt nachließ, würde die Frau
immer noch fallen - mit der gleichen, tödlichen
Geschwindigkeit, es sei denn, Prue würde in der Nähe sein, um
dem Sturz mit ihren telekinetischen Kräften Einhalt zu gebieten.

»Kommt schon, Kinder«, murmelte Piper, während sie ihre

Finger streckte. Mit finsterer Miene starrte sie an der Fassade
entlang.

»Lass das!«, kreischte die Frau.

»Was?«, verhöhnte sie eine männliche Stimme. »Darf ich

nicht ein bisschen... Linda! Pass auf!«

Lindas entsetzter Aufschrei vermischte sich mit dem

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Geräusch berstenden Glases, als sie rücklings durch ein Fenster
im vierten Stockwerk brach und zu fallen drohte. Piper fror die
Rückfront des Gebäudes ein, samt Linda, die halb aus dem
zerbrochenen Fenster hinausragte und mitten in der Luft
erstarrte.

»Schön. Und was jetzt?« Piper sah sich in der Gasse um,

wollte sich vergewissern, dass niemand das Schauspiel
verfolgte. Dann warf sie einen Blick zum Parkplatz. Keine Prue,
keine Phoebe, dachte sie zitternd, als ein Hauch eiskalter Luft
durch ihr Haar strich. Erschrocken über diesen merkwürdigen
Vorfall, der sich bei einer Temperatur von immerhin 27 Grad
Celsius ereignete, runzelte sie die Stirn.

Dann, als die Zeit wieder ihren natürlichen Verlauf nahm,

wurde ihre Aufmerksamkeit durch Lindas Schrei von der eisigen
Brise abgelenkt. Instinktiv fror sie erneut alles ein. Und blickte
ungläubig an der Fassade hinauf. Linda hing immer noch halb
aus dem Fenster.

Piper starrte Bobby an, der Lindas Handgelenk umklammert

hatte und gerade anfangen wollte, sie wieder hereinzuziehen.

Falscher Alarm? Piper blinzelte und warf frustriert die Arme

hoch, um die Erstarrung, die sie herbeigeführt hatte, wieder
aufzulösen.

»Bobby!« Lindas schriller Schrei zerriss die Stille in der

Seitenstraße.

»Keine Sorge, Baby! Ich hab' dich!« Bobbys Stimme bebte

vor Entsetzen.

Piper dachte, sie sähe, wie der Griff des Mannes sich lockerte,

und hielt die Zeit ein drittes Mal an. Dann zuckte sie zurück, als
eine silbergefasste Brille direkt vor ihren Augen auftauchte.
Während sie die Brille auffing, hasteten Prue und Phoebe um die
Ecke.

»Oh, gut. Wir sind nicht zu spät gekommen.« Phoebe schlug

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sich erleichtert die Hand an die Brust.

»Ihr kommt wie gerufen«, sagte Piper und hielt die Brille

hoch. »Ich habe die gerettet, Prue. Du rettest das Mädchen.«

»Ich bin bereit, wenn du es bist.« Als Prue die Hand hob, lief

die Zeit weiter.

»Nicht loslassen!«, flehte Linda ihren Bobby an. »Er verliert

sie!« Urplötzlich erhob sich Phoebe in die Luft. Als Bobby
Linda zurück in das Appartement zog und die Arme um sie
schlang, hängte sich Prue an Phoebes Fußgelenk.

»Oh, Mann.« Die Augen fest zusammengepresst, versuchte

Phoebe erfolglos, wieder auf den Boden herabzusinken.

Piper erkannte vollends verblüfft, dass plötzlich alles außer

Kontrolle geraten zu sein schien. Da Bobby Lindas Tod auch
ohne ihre Hilfe hätte verhindern können, hatten sie offenbar
alles stehen und liegen lassen, um eine Brille zu retten. Bis zur
Wohltätigkeitsveranstaltung blieben gerade noch zwei Tage,
und sie hatte ein Dutzend Dinge zu erledigen, ehe sie am Abend
wieder im P3 arbeiten musste. Und jetzt hing Phoebe, die
wirklich dringend den Umgang mit ihrer neuen Gabe der
Levitation erlernen musste, vor Zeugen mitten in der Luft. »Hol
sie runter!«, schnappte Piper.

»Ich versuche es ja!« Prues blaue Augen blitzten auf, als sie

Phoebe auf den Boden zurückzerrte und sich an ihre Arme
klammerte, um sie unten zu halten. »Ist jetzt alles in Ordnung?«

Phoebe nickte und starrte verwundert nach oben. »Sie wäre

gar nicht abgestürzt?«

»Offensichtlich nicht«, entgegnete Piper.

»Aber ich habe gesehen, wie sie durch das Fenster gestürzt

ist«, beharrte Phoebe.

»Sie ist nicht durch das Fenster gestürzt. Sie ist tatsächlich

nicht abgestürzt und nicht am Boden zerschmettert worden.«
Phoebe wirkte so fassungslos, dass Piper darauf verzichtete, die

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Käsefüllung zu erwähnen, die wegen dieses falschen Alarms
gerade auf dem Küchentisch verrottete. Als Bobby am Fenster
erschien, um sich ein Bild von dem Schaden zu machen, ging sie
stattdessen auf ihn los.

»Hey!« Die Hände in die Hüften gestemmt und erpicht

darauf, sich mit ihm anzulegen, ging Piper auf Lindas bulligen
Freund los. »Wo hat man dir denn beigebracht, auf ein Mädchen
einzuschlagen und es einfach aus dem Fenster zu stoßen?«

»Was reden Sie da für ein Zeug?« Bobby legte den Arm um

Linda, als sie neben ihm am Fenster auftauchte. »Ich habe sie
nicht gestoßen.«

»Nein, das haben Sie falsch verstanden.« Linda drängte sich

dichter an Bobby heran, als sie in die Tiefe blickte. »Er wollte
mir Kung-Fu beibringen, und ich bin gestolpert.«

Piper, die sich wie ein Vollidiot vorkam, stieß einen schweren

Seufzer aus und hielt die Brille hoch. »Ich werde die einfach
hier hinlegen.«

»Das hier auch«, sagte Phoebe leise. Mit einem linkischen

Schulterzucken legte sie den Taschenkalender neben der Brille
auf das Pflaster.

Als sie schließlich eilig verschwanden, bedachte Piper ihre

Schwestern mit einem scharfen Blick. »Wir müssen uns
unterhalten!«

Athulak jagte durch die Schluchten der Stadt, lauschte den

nutzlosen Worten der Sterblichen, die durch die Straßen eilten
oder sich hinter Mauern verbargen. Er hatte die Vorteile seiner
Existenz als Windhauch schnell zu schätzen gelernt. Keine
Barriere konnte ihn aufhalten, und kein Mensch fürchtete ihn,
kein Mensch erkannte seine Berührung.

Die Hexen konnten ihn fühlen, aber sie kannten weder seinen

Namen noch seine Macht. Und wie Hunderte anderer, deren
sorglos dahingeschwafelte Wünsche er seit seiner Rückkehr

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erfüllt hatte, wusste auch die Seherin nicht, dass auf ihr ein
Fluch lastete, hervorgebracht durch die impulsive
Launenhaftigkeit ihrer eigenen Worte.

Und dass die Ereignisse, die in Gang gesetzt worden waren,

als Tremaines Worte ihn aus dem Stein befreit hatten, nicht
umkehrbar waren. Außer durch die Magie der Drei.

Dennoch war Athulak unbesorgt, während er sich auf den

Luftströmungen durch den sonnenbeschienenen Himmel tragen
ließ. Was die Hexen nicht wussten, konnten sie auch nicht
aufhalten.

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7

I

N IHRE LEKTÜRE VERTIEFT

,

griff Prue geistesabwesend nach

ihrer Tasse und trank einen kräftigen Schluck Kaffee. Die kalte,
bittere Flüssigkeit ließ sie zusammenzucken. »Bah!«
Schaudernd und würgend stellte sie ihre Tasse auf dem
Küchentisch ab.

»Glück gehabt?« Phoebe schlurfte gähnend in die Küche,

blieb neben dem Ofen stehen und nahm den Deckel vom Kessel,
um nach dem Wasserstand zu sehen.

»Nichts, nada, nicht der kleinste Hinweis.« Prue lehnte sich

zurück, klappte das Buch zu und schob es zur Seite. Die
Nachschlagewerke aus der Unibibliothek hatten ihr eine Menge
faszinierender Informationen über das alte Südamerika geliefert,
aber kein Wort über eine Steinstatuette, die Ähnlichkeit mit der
in Tremaines Bibliothek gehabt hätte.

»Dann gibt es vielleicht gar nichts über diesen Steingötzen

herauszufinden.« Phoebe schaltete die Herdplatte an, streckte
sich und rieb sich den Nacken. »Falls es ein Götze ist und kein
Papierbeschwerer oder dergleichen.«

»In den alten südamerikanischen Kulturen gab es kein

Papier.« Prue streckte ihr die Tasse entgegen. »Würdest du das
bitte wegkippen?«

»Sicher.« Phoebe leerte die Tasse im Spülbecken aus, ehe sie

einen Teebeutel aus der Packung nahm. »Willst du auch Tee?«

Prue schüttelte den Kopf und betrachtete eines der Fotos von

Tremaine, auf dem sich der seltsame Nebel befand. Vielleicht
hatte Phoebe Recht, und der Artefakt war lediglich ein grob
behauener Stein, an dem außer seiner geheimnisvollen Herkunft
und dem unbekannten Alter nichts Besonderes war.
Wahrscheinlich war der Film die Ursache für die fehlerhaften
Bilder, besonders, da die Schwestern nicht von irgendwelchen

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dämonischen Kriegern aus der Vergangenheit angegriffen
worden waren. Außerdem hatten sie genug Sorgen, auch ohne
sich auf Geheimnisse zu stürzen, die es vielleicht gar nicht gab.

Beispielsweise die steigende Rettungsrate, die ihnen Phoebes

plötzlicher Ansturm hellseherischer Visionen eingebracht hatte,
wie Prue mit einem besorgten Blick auf ihre Schwester dachte.
Phoebe lehnte sich gegen den Küchentisch und massierte ihre
Schläfen.

»Schlecht geschlafen?«, fragte Prue.

»Nicht sonderlich.« Phoebe ließ sich auf einen Stuhl fallen

und gähnte noch einmal herzhaft. »Mein Gehirn ist diese
zusätzliche Beanspruchung einfach noch nicht gewohnt.«

Prue nickte. Seit Phoebe am Nachmittag ins Bett gegangen

war, kaum dass sie nach Hause gekommen waren, hatten Piper
und sie keine Möglichkeit gehabt, sich mit ihr zu unterhalten.
Dass sie ständig ihr Leben aufs Spiel setzten, weil sie andere
Menschen aus tödlichen oder dämonischen Gefahren retteten,
war eine Verantwortung, deren Last sie ausnahmslos ohne
Murren akzeptiert hatten. Ihrer aller Leben aber ein Dutzend
Mal am Tag dem totalen Chaos zu überantworten, um gänzlich
unbedeutende Unfälle abzuwehren, war eine andere Sache.
Phoebe musste lernen, zwischen Banalität und Ernstfall zu
unterscheiden. Aber dieses Thema wollte Prue nicht allein
anschneiden. Die jüngste Halliwell-Schwester ließ sich mit der
Macht der Zwei sicher leichter überzeugen.

»Bist du erholt genug für ein bisschen Spaß?« Prue ahmte die

Armbewegungen eines Flamencotänzers nach. »Die Hard
Crackers
spielen heute Abend im P3.«

»Willst du da jetzt hingehen?« Phoebe warf einen

zweifelnden Blick zur Uhr. »Es ist fast elf.«

»Hast du Angst, du könntest dich um Mitternacht in einen

großen Kürbis verwandeln?«, zog Prue sie auf, darauf bedacht,

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ihre Sorgen zu verbergen.

»Na ja, ich... okay.« Phoebe nickte und wandte für eine

Sekunde den Blick ab. Als sie ihre Schwester wieder ansah,
lächelte sie. Aber das schelmische Funkeln ihrer Augen, das
Prue erwartet hatte, fehlte. »Warum nicht?«

Das war es, was Prue hatte wissen wollen. Phoebe, die

niemals abgeneigt war, die Flirtmöglichkeiten in Pipers Club zu
erforschen, hatte wirklich keine Lust, auszugehen. Das schien
ihr sogar noch ominöser als die nebelhaften Flecken auf den
Bildern von Tremaines Geisterstein. Und, so beschloss Prue, als
Phoebe den Herd ausschaltete, eine Familienkonferenz war
dringend erforderlich.

Sorgenvoll beobachtete Phoebe die Menschenmassen, die

darauf warteten, in den Club eingelassen zu werden.
Üblicherweise fand sie diesen Anblick toll, denn ein überfüllter
Laden bedeutete auch, dass Piper eine Menge Geld verdiente
und sie weiter zur Universität gehen konnte. Aber heute sah sie,
anstelle der hübschen kleinen Dollarzeichen, in jedem Besucher
nur einen potenziellen Anlass zu größter Wachsamkeit.
Außerdem war es ihr schon in der stillen Zuflucht ihres eigenen
Zuhauses schwer genug gefallen, trotz ihrer hartnäckigen
Kopfschmerzen so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Sich nun
auch noch in das Gedränge des P3 zu stürzen, war schlicht und
einfach ein Albtraum.

Phoebe schämte sich, es zuzugeben, aber sollte in dieser

Nacht auf irgend jemanden eine wie auch immer geartete
Katastrophe lauern, so wollte sie es schlicht nicht wissen.

»Sieh dir das Gedränge an! Nicht schlecht für einen

Wochentag.« Prue stieg aus dem Wagen aus und strich den Stoff
ihres schwarzen Kleides glatt, das jede ihrer weiblichen
Rundungen betonte. Eine schwarze Spitzenbluse mit schmalen
Ärmeln verlieh ihr eine kühne Eleganz.

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Phoebe nannte es Prues Schwarzer-Witwen-Look; kein

lebendiger Mann konnte ihr so noch widerstehen. Aber Prue
zeigte keine Gnade und wies die meisten armen Teufel ab, die es
wagten, sie anzusprechen. Das allerdings war nicht schwer zu
verstehen. Sie alle mussten wegen ihrer Gaben übervorsichtig
darauf bedacht sein, sich auf der sicheren Seite zu bewegen.
Und sollte sie sich mit dem neuen Barkeeper, von dem ihr Piper
nun schon seit Tagen vorschwärmte, tatsächlich gut verstehen,
würde ihr geheimes Leben als Hexe früher oder später zu
Problemen führen. Problemen, mit denen die meisten Typen
einfach nicht umgehen konnten. In einen Wächter des Lichts
verliebt zu sein, mochte zwar ziemlich kompliziert sein, aber
zumindest musste Piper sich vor Leo nicht dauernd verstellen.

»Das sind wirklich eine Menge Leute.« Eine kalte Brise ließ

Phoebe erschauern, und sie rieb sich fröstelnd die Arme.

»Frierst du?«, fragte Prue.

»Es ist ein bisschen kalt, aber wenn wir drin sind, wird mir

schon wieder warm werden. All diese eng tanzenden Menschen
strahlen eine Menge Hitze ab.« Phoebe wusste nicht, ob Rick an
diesem Abend arbeitete. Aber mit dem Wickelrock, der in
lebhaften Farben gehalten war, und dem dazu passenden
Oberteil hatte sie sich für alle Fälle beeindruckend in Schale
geworfen.

Prue kniff verwundert die Augen zusammen. »Es ist ziemlich

warm hier draußen.«

»Aber ich hatte gerade...« Phoebe runzelte die Stirn, als ihr

bewusst wurde, dass Prue Recht hatte. Es war warm.

»Du hattest was?« Prue trat einen Schritt näher heran. »Den

Eindruck, einen eisigen Wind aus dem Nichts zu spüren?«

»Ja.« Phoebe starrte sie verwundert an. »Hast du das auch

gefühlt?«

»Nicht gerade jetzt, nein«, sagte Prue. »Aber ich hatte heute

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Nachmittag in der Bibliothek ein ähnliches Gefühl. Komm, lass
uns Piper besuchen.«

Phoebe rief Prue zurück, als diese sich auf den Weg durch das

Gedränge vor der Tür machen wollte. »Lass uns hinten
reingehen. Schließlich wollen wir keinen Aufstand verursachen,
nur weil wir hineindürfen, ohne zu warten.«

»Du hast Recht«, stimmte Prue zu und machte kehrt.

Nicht wirklich, dachte Phoebe, als sie das Lager durch den

Hintereingang betraten. Sie hatte sich lediglich noch nicht
entscheiden können, wie sie ihren Schwestern sagen sollte, dass
sie unter dem Ansturm an Visionen litt und nicht wusste, wie
lange sie dieser steten und anstrengenden Verantwortung noch
standhalten konnte. Trotzdem musste sie sich ihnen anvertrauen,
und zwar schnell. Aus diesem Grund hatte sie auch zugestimmt,
Prue ins P3

zu begleiten. Sie wollte nicht den Rest ihres Lebens

in ihrem Zimmer verbringen oder sich ihren Pflichten als
Zauberhafte entziehen. Aber sie würde auch niemandem mehr
helfen können, wenn sie den Verstand verlor.

In der Tür, die vom Lager in den Club führte, blieb Phoebe

stehen und musterte die Menge. Nirgends gab es auch nur einen
freien Stuhl, Barhocker eingeschlossen. Die Hard Crackers
hatten offensichtlich gerade eine Pause eingelegt. Aber das tat
der ausgelassenen Stimmung der Gäste keinen Abbruch. Auf der
Tanzfläche drängten sich die Pärchen, die zur Musik, die von
der Promotion-CD der Band stammte, im Kreis herumwirbelten.
Piper spülte Gläser, während die Barkeeper, Jimmy Dougan und
Monica Reynolds, Drinks einschenkten.

Phoebe war eher erleichtert als enttäuscht, nur Jimmy und die

dunkelhaarige, gertenschlanke Monica anstelle eines blonden,
braungebrannten Ricks hinter der Theke zu sehen. Die
chaotischen Visionen belasteten ihr sonst so unbeschwertes
Wesen sehr. Solange sie dieses Problem nicht im Griff hatte,
würde eine neue Beziehung kaum eine Chance haben. Eine

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oberflächliche Berührung beim Tanzen konnte jederzeit eine
neue, übermächtige Vision hervorbringen.

Niemand saß in der Nische im hinteren Teil des Raumes, denn

Piper hatte dort in weiser Voraussicht ein Schild mit der
Aufschrift ›Reserviert‹ aufgestellt. Phoebe vermutete, dass Piper
die behagliche Ecke für sie freigehalten hatte, weil Prue
angerufen hatte, um ihr zu sagen, dass sie vorbeikommen
würden. Sie war dankbar dafür. Die Nische lag abseits des
Gedränges, so dass sie nicht länger befürchten musste, mit
irgend jemandem zusammenzustoßen. Sobald sie erst einmal
dort war...

»Ich werde mich hinsetzen!«, brüllte Phoebe Prue zu, um sich

bei all dem Lärm verständlich zu machen, während sie
gleichzeitig auf die Theke deutete. »Gehst du Piper holen?«

Prue nickte und streckte die Daumen nach oben, ehe sie durch

die Menge glitt. Das Meer aus Leibern teilte sich vor ihr, nur um
sich in einer fließenden Bewegung gleich wieder hinter ihr zu
schließen.

»Dann bin ich jetzt wohl dran.« Phoebe atmete noch einmal

tief durch und drückte sich dann an der Wand entlang. Sie
hoffte, wer auch immer sie berührte, würde ein absolut
katastrophenfreies Leben führen. Aber dieses Glück blieb ihr
verwehrt.

Ein grobschlächtiger Typ, der eine absolut indiskutable,

ausgebeulten Hose und ein weites T-Shirt trug, lehnte sich vor
ihr gegen die Mauer, um ihr den Weg zu verstellen. »Hey, Süße,
ich warte auf dich.«

»Komisch, aber nein, danke, ich bin schon verabredet.« Mit

einem forschen Lächeln wollte Phoebe sich an ihm
vorbeischieben, als die Vision wie ein Blitzschlag über sie
hereinbrach.

... ein offener Kühlschrank, ein Teller mit kaltem Hühnchen...

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der Mann greift sich an die Kehle, würgt an einem Knochen...

Phoebe trat einen Schritt zurück und starrte dem Mann in die

Augen. »Wenn du nach Hause gehst, lass die Finger vom
Hühnchen.«

»Hühnchen?« Der Mann blinzelte sie verwirrt an.

»Die Reste in deinem Kühlschrank.« Phoebe war es egal, ob

er sie für eine Spinnerin hielt, wenn er ihr nur zuhörte. »Es ist
schlecht, verdorben, vergammeltes Geflügel. Iss es, und du wirst
sterben. Verstanden?«

Vollkommen sprachlos vor Verblüffung nickte der Mann nur.

»Ich mache keine Witze«, fügte Phoebe noch hinzu, als sie sich
an ihm vorbeischob. Gleich darauf stieß sie mit einer jungen
Frau zusammen, die ins Nichts starrte und gegen die Tränen
ankämpfte. Die Unterlippe der Frau zitterte, als sie ihr Glas an
den Mund führte und ihren Drink hinunterkippte.

... von einem Cop angehalten, zu betrunken, um gerade zu

stehen, verhaftet...

Erschüttert von dieser zweiten Vision, konnte sich Phoebe

einen Augenblick lang nicht bewegen. Verzweifelt kämpfte sie
um ihre Selbstkontrolle. Als sie wieder bei sich war, wich sie
zurück und drängte sich dicht an die Wand.

Während sich ihr Magen zusammenkrampfte und ihr Kopf

schmerzte, ließ sich Phoebe viel Zeit und erreichte schließlich
ohne weitere Zwischenfälle die Sitznische. Als sie sich setzte,
dachte sie, sie sollte Piper später sagen, dass die liebeskranke
Frau ein Taxi für den Heimweg brauchte. Dann genoss sie das
Gefühl, zwei weitere Leben vor dem Ruin bewahrt zu haben,
aber ihr Problem konnte das auch nicht lösen.

Als Piper und Phoebe ein paar Minuten später den Tisch

erreichten, hatte sich Phoebes Magen wieder ein bisschen
entspannt, und das Pochen in ihrem Schädel hatte nachgelassen.

»Was ist passiert?«, rief Piper, als sie sich zu ihr setzte. »Du

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zitterst.«

»Und du bist bleich wie ein Laken.« Prue legte die Hand auf

Phoebes

Stirn. »Fieber hast du nicht.«

»Ich bin nicht krank«, sagte Phoebe. »Es ist schlimmer als

das.«

Mühsam gefasst erzählte Phoebe den beiden von dem

Ansturm an Visionen, die sie heimsuchten, und davon, wie sehr
sie dieser Zustand physisch, emotional und mental auslaugte.
Als sie ihnen schließlich beichtete, dass sie nicht sicher war, wie
lange sie dies alles noch aushallen würde, war sie den Tränen
nahe.

»Und wir haben uns Sorgen darüber gemacht, wie wir auf die

dauernden Fehlalarme reagieren sollen.« Piper strich Phoebe
sacht das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe überhaupt nicht
daran gedacht, wie hart das für dich sein muss.«

»Ich auch nicht.« Prue ergriff Phoebes Hand. »Ich war viel zu

sehr damit beschäftigt, mir den Kopf über diesen seltsamen
Stein zu zerbrechen, der sich dann als weiter nichts als ein alter
Stein entpuppt hat.«

»Bist du sicher?«, fragte Piper.

»Ziemlich sicher«, entgegnete Prue achselzuckend. »Ich

meine, bisher ist nichts Besonderes passiert.«

»Außer dass sich Phoebe plötzlich in einen lebenden

Blitzableiter für Notsituationen aller Art verwandelt hat«, sagte
Piper. »Meine Kraft ist nach und nach stärker geworden, nicht
auf einmal.«

»Schon, aber ich habe auch meine Fähigkeit zur

Astralprojektion von jetzt auf gleich entdeckt«, wandte Prue
stirnrunzelnd ein. »Die telekinetische Kraft ist aber nur langsam
stärker geworden.«

»Diese Sache mit dem kalten Wind war auch ein bisschen

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komisch.« Phoebe war erleichtert, dass ihre Schwestern nun
wussten, welche Probleme ihr die übergroße
Empfindungsfähigkeit verursachte. Trotzdem wollte sie
unbedingt wissen, ob es tatsächlich möglich war, dass die
Verstärkung ihrer Gabe keine natürliche Ursache hatte. Früher
war eine solche Verbindung nur mit verzweifelten Menschen zu
Stande gekommen, die von Dämonen oder anderen bösartigen
Kreaturen mit tödlichen Absichten bedroht worden waren. Die
Übersensibilisierung mochte durchaus dafür sorgen, dass sie die
Botschaften, die sie eigentlich empfangen sollte, gar nicht mehr
wahrnehmen konnte.

Pipers Körper spannte sich. »Du meinst so etwas wie einen

Hauch eiskalter Luft, den es an einem heißen Nachmittag gar
nicht geben sollte?«

»Dann hast du das auch gespürt?« Prue starrte Piper

durchdringend an.

»Heute, als ich Linda nicht gerettet habe.« Pipers besorgte

Miene wich einer eher neugierigen Verwunderung, als sie sich
nach der Theke umsah. »Oh.«

Phoebe blickte auf und sah im Gedränge einen großen,

muskulösen Mann, der dichtes blondes Haar und eine tolle
Bräune hatte. Der Atem stockte ihr, als eben dieser Mann direkt
auf sie zukam, vor der Nische stehen blieb, die Hände in die
Taschen steckte und lächelte. Grübchen und perfekte weiße
Zähne, stellte sie im Stillen fest.

»Hi, Piper«, sagte der Mann.

Tiefe, raue Stimme und bernsteinfarbene Punkte in den

grünen, funkelnden Augen, dachte Phoebe ganz versunken in
ihre Betrachtungen.

»Rick, wie geht es dir?« Piper hatte Mühe, das Grinsen zu

unterdrücken, als Phoebe sich vollkommen überrascht versteifte.

Prue gab ihrer Zustimmung mit einem Nicken Ausdruck.

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»Super.« Rick lächelte Phoebe zu und sah ihr einen Moment

in die geweiteten Augen, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder
Piper widmete. »Monica sagte, du suchst noch Aushilfen für den
Stand bei der Wohltätigkeitsveranstaltung am Samstag, und ich
hätte Zeit.«

»Genau wie ich.« Hastig bemühte sich Phoebe, ihre Worte zu

erklären. »Zeit, um auf dem P3-Stand zu arbeiten, meine ich.
Diesen Samstag.«

»Das ist der Zusatzlohn für die Arbeit bei deiner Schwester,

mein Bonus, sozusagen«, kommentierte Rick, und sein Lächeln
wurde immer breiter, als er Phoebe erneut in die dunklen Augen
blickte.

»Am Samstag um sieben Uhr morgens«, sagte Piper. »Wir

werden nicht mit euch zum Park fahren, aber Jimmy wird dir
sagen, was zu tun ist.«

»Ich werde da sein.« Rick wollte gehen, wandte sich dann

aber noch einmal an Phoebe. »Wir sehen uns dann am
Samstag.«

»Davon kannst du ausgehen.« Dann brachte er Phoebe

vollständig aus der Fassung, als er ihre Hand ergriff und ihr
einen Handkuss aufdrückte. Die Bilder, die ihren Geist
überfluteten, verhinderten, was im realen Leben als Nächstes
hätte passieren müssen...

... Rick hebt die Hand, um sich gegen den Angriff von hinten

zu verteidigen, ein Knüppel kracht auf seinen Kopf... Blut
sprudelt aus seinem zertrümmerten Schädel hervor...

»Komm schon, Phoebe.« Prues bange Stimme brach durch

den Nebel, der sich über Phoebes Geist gelegt hatte, aber es
dauerte noch einige Sekunden, ehe sie die physischen
Nachwirkungen der Vision abschütteln konnte.

»Wo ist Rick?«, würgte Phoebe schließlich hervor. Ein

scharfer Schmerz breitete sich in ihrem Gehirn aus und schien

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von den Schädelinnenwänden widerzuhallen. Zitternd atmete sie
tief ein und aus, um die Übelkeit in den Griff zu bekommen.
Offenbar reagierte ihr Körper entsprechend zur Intensität der
Gewalt, die sich in ihren Visionen niederschlug.

»Er ist gerade gegangen«, sagte Piper und sah sich im Gewühl

um.

»Er wird auf der Straße überfallen.« Phoebes Augen weiteten

sich vor Entsetzen. »Sie werden ihn umbringen.«

»Nein, das werden sie nicht.« Prue sprang auf. »Du bleibst

hier. Wir werden uns darum kümmern.«

Phoebe umklammerte Pipers Handgelenk. »Tut nichts, was

wir nicht erklären können. Wenn über uns...«

»Wir kommen schon zurecht.« Piper drückte Phoebes Hand,

ehe sie sich hinter Prue einen Weg durch das Gedränge bahnte.

Phoebe richtete sich mühsam auf und rang um ihre Fassung.

Sie war übel und sie fühlte sich orientierungslos. Rick arbeitete
noch nicht sehr lange für Piper. Trotzdem hatte ihre Schwester
intuitiv gewusst, dass sie und Rick einen Draht zueinander
haben würden. Ob nun nur für eine Weile oder für immer, der
Funke war übergesprungen. Sie konnte nicht einfach
herumsitzen, während ihre Schwestern versuchten, eine Bande
von Straßenräubern davon abzuhalten, Rick den Schädel zu
zertrümmern.

Erneut arbeitete sich Phoebe dicht an die Wand gepresst zur

Tür vor, die zum Lager führte. Nur beeinträchtigt von der
flüchtigen Vision eines ungeschickten Trottels, der sich die
Finger in der Autotür einklemmte, erreichte Phoebe die Tür. Er
würde es wohl überleben. Angetrieben von dem verzweifelten
Wunsch, sich zu vergewissern, dass dies auch auf Rick zutraf,
ging sie weiter.

Im Schatten des Torweges entdeckte sie Prue und Piper, die

die Rauferei aus dem Verborgenen verfolgten. Prue warf ihr

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einen missbilligenden Blick zu, ehe sie sich rasch wieder auf die
Vorgänge auf der Straße konzentrierte. Rick gelang es, den
Angriff eines stämmigen, aber unbewaffneten Teenagers zu
parieren, während er gleichzeitig die beiden anderen Jungs im
Auge behielt, die sich seitlich von ihm befanden. In dem
Moment, als Rick dem stämmigen Jungen die Faust unter das
Kinn rammte und ihn von den Beinen riss, griff ihn der Junge zu
seiner Rechten mit einem Messer an.

Phoebe musste nicht fragen, warum Piper und Prue den

Dingen ihren Lauf ließen. Wohlwissend, dass sie Rick gern
besser kennen lernen würde, warteten die Schwestern bis zum
kritischen letzten Augenblick, ehe sie sich einmischten. Dabei
hofften sie, dass sie Rick retten konnten, ohne sich selbst zu
enttarnen.

Phoebes Herz schlug ihr bis zum Hals, als Ricks Hand den

Unterarm des Jungen umklammerte und die Klinge in der
Abwärtsbewegung erstarrte. Mit geschmeidiger Präzision
schwang er das Bein herum, um dem Angreifer die Beine unter
dem Körper wegzutreten. Als der zweite Junge zu Boden ging,
wirbelte Rick herum, um sich dem ersten Angreifer zu stellen,
der mit erhobener Faust auf ihn zustolperte. Hinter Rick ergriff
der dritte Junge ein abgebrochenes Tischbein, das aus dem
Müllcontainer des P3 gefallen war.

»Schnapp es dir!«, flüsterte Phoebe Prue ins Ohr.

Prue reagierte sofort. Mit einem zielgerichteten

Fingerschnippen griff sie auf telekinetischem Weg nach dem
Tischbein, riss es dem Jungen aus der Hand und schleuderte es
außer Reichweite auf das Dach. Wie vor den Kopf gestoßen
blieb der Junge stehen.

Rick konnte nicht wissen, warum der Angreifer in seinem

Rücken plötzlich in Panik geriet und die Gasse hinunter
flüchtete. Auch die anderen beiden Raufbrüder zogen, durch
Ricks Kampftechnik eingeschüchtert, den Schwanz ein und

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rannten hinter ihrem Kumpel her. Keuchend beugte sich Rick
vor, um wieder zu Atem zu kommen.

Prue, Piper und Phoebe zogen sich zurück und verschwanden

wieder im Lager.

»Danke.« Unsicher auf den Beinen, lehnte sich Phoebe für

einen Moment an die Mauer. Ihr Puls raste, und die Schmerzen
in ihrem Kopf hatten sich zu einem dumpfen, aber quälenden
Pochen entwickelt.

»Kein Problem, zumindest nicht in Bezug auf Rick.« Piper

warf ihr Haar zurück und wandte sich an Prue. »Ich glaube, es
kann nicht schaden, wenn wir uns ein bisschen genauer mit den
antiken Kulturen in Südamerika befassen. Für kalte Winde im
August mag es eine wissenschaftliche Erklärung geben. Aber es
kann kein Zufall sein, dass wir alle drei zu verschiedenen Zeiten
und an verschiedenen Orten so einen Luftzug wahrgenommen
haben.«

Prue nickte. »Ich weiß nicht viel über Geistersteine, aber

angenommen, sie werden als Gefäß benutzt, um Geister zu
fangen...«

»... dann wurde einer von ihnen vielleicht befreit«, beendete

Piper den Satz. »Die Frage lautet: welcher und warum? Und was
will er?«

»Professor Rubin vom anthropologischen Institut könnte uns

vielleicht helfen«, schlug Phoebe vor. »Ich bin ihm nie
persönlich begegnet. Aber ich habe gehört, er soll ein bisschen
exzentrisch sein. Auf jeden Fall hat er einige Bücher über frühe
Kulturen geschrieben.«

»Warum hast du nichts davon gesagt, als wir auf dem Campus

waren?«, fragte Prue ein wenig verwirrt.

»Weil er da als Witzfigur gilt. Angeblich hat er sich nur

zusammengerissen, bis sie ihm einen festen Vertrag gegeben
haben. Außerdem war mir heute Nachmittag noch nicht klar,

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dass wir tatsächlich ein Problem haben.«

»Ich werde ihn morgen aufsuchen, nachdem ich meine

Tremaine-Fotos bei 415 abgeliefert habe«, sagte Prue, obwohl
sie bezweifelte, dass der Weg die Mühe wert war. »Kannst du
mir sagen, wie ich sein Büro finde?«

»Besser. Ich kann dich zu ihm bringen«, entgegnete Phoebe.

»Nein!«, widersprach Piper. »Du hast Hausarrest, bis wir

herausbekommen haben, was hier vorgeht. Verlass das Haus auf
keinen Fall!«

»Geh nicht einmal zur Tür, wenn es klingelt«, fügte Prue

hinzu.

»Aber...«, setzte Phoebe zum Protest an. Doch dann wurde ihr

klar, dass Piper und Prue Recht hatten. Wenn sie es tatsächlich
mit einem noch unbekannten Problem dämonischen Ursprungs
zu tun hatten, konnten sie es sich nicht leisten, ihre Zeit und
Energie zu verschwenden, indem sie irgendwelche Leute vor
Blechschäden und anderen Nichtigkeiten beschützten.

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8

DAs

BÜRO VON DR

.

GREGORY RUBIN

befand sich im Keller des

kulturwissenschaftlichen Institutsgebäudes. Prue ging, mit
Phoebes Wegbeschreibung in der Hand und einem Foto von
dem Geisterstein in der Tasche, durch den düsteren Korridor.
Dabei konnte sie sich nicht von dem Gefühl freimachen, hier nur
ihre Zeit zu verschwenden.

Die unterirdische Domäne des Professors stand in den

Instandhaltungsbemühungen der Universität weit unten an, was
nicht zu übersehen war. Putz und Farbe blätterten von den
grauen Wänden ab, etliche Glühbirnen waren durchgebrannt
oder fehlten vollständig. Aus den Lüftungsschlitzen der
Klimaanlage in der Decke tropfte Kondensationswasser herab
und sammelte sich in Pfützen am Boden, und die Wasserrohre
rasselten bedrohlich. Die Verwaltung konnte den fest
angestellten Professor, solange er seine Arbeit ordentlich
verrichtete, nicht einfach feuern, weil er ein Spinner war.
Deshalb war er anscheinend in diesen Keller verbannt worden,
da man hoffte, dass er irgendwann von selbst das Handtuch
werfen würde.

Die unerfreuliche Umgebung gab Prue wenig Anlass, darauf

zu vertrauen, dass dieser Ausflug von Erfolg gekrönt sein
würde. Doch nun, da sie schon hierher gekommen war, konnte
sie es ebenso gut hinter sich bringen. Außerdem waren
exzentrische Wissenschaftler oft genug brillant auf ihrem
Gebiet.

»Ich darf noch hoffen«, murmelte Prue, als sie vor der

massiven Tür stand, auf der, schwarz auf grauem Grund, Prof.
Rubin
zu lesen war. Ein schwarzes Brett an der Wand neben der
Tür erregte Prues Aufmerksamkeit. Zwischen den
Stundenplänen und Seminarbeschreibungen entdeckte sie einen

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verblassten Buchumschlag, der sich an den Ecken aufrollte: Alte
Kulte und Kulturen der Neuen Welt von Dr. Gregory Rubin.
Eine vergilbte Zeitungsrezension hing direkt daneben. Das Buch
hatte es vor siebenundzwanzig Jahren auf die Sachbuch-
Bestsellerlisten geschafft.

Phoebe hatte nicht erwähnt, dass Rubin ein Experte für alte

Kulte war, aber diese Erkenntnis steigerte Prues Optimismus
deutlich. Gut möglich, dass sein Ruf, nicht ganz normal zu sein,
dem in Akademikerkreisen weit verbreiteten Misstrauen gegen
alles entstammte, was im weitesten Sinne als übernatürlich
bezeichnet werden konnte.

Als Prue die Hand zum Anklopfen erhob, wurde die Tür von

innen aufgerissen. Ein gebeugt gehender älterer Herr, der einen
zerknautschten Hut, einen zerknitterten Anzug und eine
unordentlich gebundene Krawatte trug, und auf dessen Nase
eine Drahtgestellbrille saß, sah von den Papieren in seiner Hand
auf und wich mit einem erschrockenen Keuchen stolpernd
zurück.

Besorgt, der alte Mann könnte einen Herzinfarkt erlitten

haben, sprang Prue herbei, um ihn zu stützen. »Es tut mir so
Leid, Professor Rubin. Alles in Ordnung mit Ihnen?«

»In meinem Alter ist nie alles in Ordnung«, grummelte der

Professor. »Und laut meinen verehrten Kollegen bin ich dafür
auch viel zu verrückt... In jeder Hinsicht... Wenn Sie mich bitte
loslassen würden...«

Prue zog ihre Hand von seinem Arm. »Tut mir wirklich

Leid.«

»Mir auch. Dass ich nicht vierzig Jahre jünger bin.« Charmant

und entwaffnend zwinkerte er Prue zu. »Nun? Was tut ein
hübsches junges Mädchen wie Sie hier unten? Haben Sie sich
verirrt?«

»Nein. Ich wollte Sie besuchen.« Prue zog die Fotografie aus

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der Tasche. »Deswegen.«

Der alte Mann nahm das Foto an sich und studierte es

blinzelnd durch seine Brillengläser. »Was sollte ich Ihnen denn
zu Stephen Tremaine erzählen? Ich verabscheue den Mann.«

»Wirklich?« Prue wusste nicht recht, was sie sagen sollte,

schließlich wollte sie den alten Knaben nicht kränken.

»Absolut!« Rubins Augen blitzten vor Zorn. »Tremaine mag

die schönste Privatsammlung archaischer Artefakte auf der
ganzen Welt haben, aber ihre kulturelle und historische
Bedeutung ist ihm völlig egal. Der Mann ist einfach völlig
desinteressiert.«

In dem Punkt waren sie sich einig, wie Prue insgeheim

feststellte.

Rubin gab ihr das Bild zurück. »Das können Sie vergessen.

Ich werde nicht für diesen Schurken stimmen. Ich werde
niemals jemanden unterstützen, dem mehr daran gelegen ist,
seinen Freunden die Konten zu füllen, als unsere bedrohte
Umwelt zu schützen.«

»Ich bin nicht für Tremaine auf Stimmenfang, Professor

Rubin. Ich wollte Sie nach dem hier befragen.« Prue deutete auf
den Stein in Tremaines Hand.

Rubin legte den Kopf zurück und studierte das Foto erneut.

»Oh, ja, ich verstehe. Interessant.«

Der Professor nahm das Bild an sich und ging zu seinem

Schreibtisch, auf dem ein heilloses Durcheinander aus Büchern,
Notizblöcken, Aktenordnern, leeren Fastfood-Packungen sowie
diversen Bürogeräten, einschließlich einer uralten
Schreibtischleuchte mit grünem Glasschirm, herrschte. Rubin
setzte sich auf seinen Schreibtischstuhl und griff nach einer
Lupe. Der alte Stuhl knarrte beängstigend, als der Mann sich
zurücklehnte, um das Bild genauer zu untersuchen.

Prue sah sich für einen Augenblick in dem Raum um, der eher

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an eine Mischung aus Lagerraum, Museum und Bibliothek
erinnerte als an ein Büro. Graue Metallregale voller Bücher,
Atlanten und Artefakten bedeckten den größten Teil der
Wandflächen. Alles, wofür auf den Regalen kein Platz mehr
war, häufte sich auf diversen Stapeln oder lag einfach auf dem
Boden. Die Ablagemethode des alten Mannes schien sich nach
Prues Eindruck darauf zu beschränken, Aktenordner in
unmittelbarer Nähe der Aktenschränke zu verwahren. Etliche
Ordner lagen aufgeschlagen auf geöffneten Schubladen,
während andere sich auf dem alten Metallschrank stapelten.
Versandkisten, geöffnet oder ungeöffnet, standen in der Nähe
zweier gewaltiger Werkbänke. Allmählich fragte sie sich, ob
sich der Professor in seinem Keller nicht womöglich sogar wohl
fühlte. Denn hier konnte sich niemand über seine Unordnung
beklagen.

»Wissen Sie, wo Tremaine das her hat?«, fragte der Professor.

»Irgendwoher aus Südamerika.« Prue setzte sich auf einen

verstaubten Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. »Er
sagte, es könnte ein Geisterstein sein und dass der Stein über
dreitausend Jahre alt wäre.«

Der alte Mann grunzte. »Eine bemerkenswerte Erkenntnis für

einen Mann wie ihn, auch wenn ich dies nur äußerst ungern
zugebe.« Er legte die Lupe ab und starrte Prue durchdringend
an. »Und was genau erwarten Sie nun von mir?«

Um Zeit zu sparen, kam Prue gleich zur Sache. »Ich will

wissen, ob es einem Geist möglich wäre, aus einem dieser
Steine zu entkommen, und falls das der Fall sein sollte - wer
oder was mag dann diesen Stein bewohnt haben?«

Der durchdringende Blick des alten Mannes fixierte sie noch

immer, doch Prue hielt ihm ohne mit der Wimper zu zucken
stand.

»Solche Geschichten sind blanker Unsinn«, sagte er

schließlich. »Das ist der Aberglaube ungebildeter Personen, die

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eine Instanz benötigen, die machtvoller ist als sie selbst. Eine
Instanz, der sie die Schuld an jedem Unglück und jeder
Naturkatastrophe zuweisen können, über die sie selbst keine
Kontrolle haben.«

»Vielleicht«, konterte Prue. »Aber ich fand es immer schon

faszinierend, dass so viele Details aus alten Glaubensrichtungen
ihren Weg in Kulturen gefunden haben, die weit später
entstanden sind. Es gibt zu viele gleich lautende Mythen, um
einfach von Zufall sprechen zu können, finden Sie nicht?«

»Möglicherweise.« Der alte Mann überlegte. »Sie nehmen

mich nicht auf den Arm, oder?«

»Nein, Sir, das tue ich nicht.« Prue war nicht sicher, ob Rubin

dachte, sie wäre ein bisschen verrückt, oder ob er einfach
überrascht war, auf eine Gläubige zu treffen. Sie und ihre
Schwestern hatten schon allzu oft erkennen müssen, dass viele
der von alten Kulten geprägten Formen des Aberglaubens ihren
Ursprung in einer schrecklichen, grausamen Wirklichkeit hatten.
Aber auch wenn Mystizismus und Metaphysik in der Popkultur
inzwischen akzeptiert waren, wurden Studien und Theorien auf
diesen Gebieten in den Hallen altehrwürdiger Universitäten
immer noch als Unsinn abgetan.

Seufzend faltete der Professor die Hände über seinem Bauch.

»Ihnen ist bewusst, dass ein Akademiker, der derart
widersinnigen Theorien Glauben schenkt, gezwungen werden
könnte, sich auf das Altenteil zurückzuziehen? Und das
Einkommen aus den Töpfen der Museen, die ihre
Neuerwerbungen von ausgemusterten Professoren auf Echtheit
überprüfen lassen wollen, ist keineswegs dazu angetan, den
Spott der Fachwelt wettzumachen.«

»Ja, das ist mir absolut bewusst«, sagte Prue lächelnd.

Natürlich wusste sie, dass sie alles, was er ihr erzählen würde,
absolut vertraulich behandeln musste. Rubin hatte das
Pensionsalter längst überschritten. Seine Fachkenntnis und seine

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wissenschaftliche Reputation sicherten ihm den Job. Aber sie
hatte das Gefühl, dass er einem erzwungenen Ruhestand bisher
schon mehr als einmal ziemlich nahe gekommen war.

Der alte Mann nickte und rückte seine Brille zurecht, ehe er

das Foto erneut in Augenschein nahm. »Es gibt Legenden,
mündliche Überlieferungen, die man sich in bestimmten
Stämmen erzählt, die noch immer den Dschungel am Amazonas
bevölkern. Ich vermute, dieser Stein repräsentiert Athulak, eine
Kreatur in menschlicher Gestalt, die Chaos sät und sich an ihm
labt.«

»Mir sind einige Leute bekannt, auf die das Gleiche zutrifft«,

spottete Prue.

»Ja, mir auch, so Leid es mir tut.« Grinsend entspannte Rubin

sich und fuhr fort. »Der Legende nach konnte Athulak den Sinn
von Gebeten für den Frieden und das Glück so verdrehen, dass
sie statt dessen Katastrophen herbeiführten. Der Stamm betet um
Regen und erntet eine vernichtende Überschwemmung. Die
Menschen bitten um Wild und werden von einer
seuchenverpesteten Plage überrannt. Sie verstehen, was ich
meine.«

»Ja, das tue ich.« Prue nickte, obwohl sie noch keinen

Zusammenhang zwischen dieser Überlieferung und den
derzeitigen Ereignissen hatte herstellen können. »Wie ist
Athulak in den Stein gekommen?«

»Vorausgesetzt, das ist der besagte Stein, woran ich zweifele,

so wurde Athulak von einer mächtigen Frau in ihn verbannt -
einer Frau, die imstande war, die Elemente zu manipulieren«,
erklärte der Professor.

Eine Hexe, dachte Prue.

»Nachdem Athulak in der Falle saß, hat sie den Stein

vergraben, damit er nicht durch das nächste Gebet, das ein
Potential zu katastrophaler Zerstörung in sich barg, wieder

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befreit werden konnte.«

»Warum denken Sie, dass es sich bei der Kreatur um Athulak

handelt?«, fragte Prue, als ihr einfiel, dass Tremaine behauptet
hatte, dieser Stein wäre der einzige seiner Art auf der ganzen
Welt.

»Die groben Konturen und der beinahe vollständige Verzicht

auf Details«, sagte Rubin. »Davon ist in den Legenden die Rede.
Der symbolische Aufbau der Figur verstärkt die Macht des
Bannzaubers, mit dem die Frau den Stein belegt hat.«

»Klingt vernünftig.« Prue steckte das Foto wieder ein und

dankte dem alten Mann. Nun, da sie einen Namen hatte, konnte
sie ihn im Buch der Schatten nachschlagen. Als sie bereits an
der Tür war, blickte sie sich noch einmal zu dem Professor um.
»Nur noch eine Frage, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Aber keineswegs.« Erwartungsvoll beugte sich der Professor

vor.

»Könnte ein körperloser Geist die Form eines kalten Windes

annehmen?«

Der alte Mann zögerte und rieb sich das Kinn, zuckte dann

aber mit den Schultern. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.
Aber das ist eine interessante Theorie, wenn man an Geister
glauben will.«

»Was hast du herausgefunden?« Phoebe legte Heimliche

Leidenschaft zur Mitternacht mit dem Buchrücken nach oben
auf den Kaffeetisch, als Prue den Raum betrat. Ein tiefer
Nachtschlaf und ein Tag ohne Visionen hatten sie von ihren
Kopfschmerzen befreit. Außerdem hatte sie sich endlich ein paar
faule Stunden machen und ein wenig lesen können. Das
Faulenzen hatte ihr Spaß gemacht, aber sie hatte nicht die
Absicht, den Rest ihres Lebens als Eremitin zu verbringen, weil
ihre Gabe außer Kontrolle geraten war.

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Prue betrachtete den Buchumschlag. »Versuchst du, dich mit

schwerem Lesestoff von deinen Problemen abzulenken?«

»Verglichen mit Agatha Cross und Trevor Holcombe ist mein

Leben langweilig.« Phoebe hatte nicht vor, zuzugeben, dass sie
Spaß an der schwülstigen Erzählung hatte, die noch
melodramatischer wurde, wenn sie Held und Heldin durch Rick
und sich selbst ersetzte. Es gab ein paar Geheimnisse, die auch
Schwestern nichts angingen. »Also, wie war es bei Professor
Rubin? Ist er wirklich so streitsüchtig und unheimlich, wie alle
sagen?«

»Eher süß und liebenswert - für einen weißhaarigen,

verschrobenen alten Mann«, sagte Prue. »Und hilfreich, nehme
ich an.«

»Nimmst du an?« Phoebe sackte in sich zusammen. »Ich hatte

gehofft, du könntest eine etwas genauere Aussage machen.«

»Na ja, vielleicht fällt dir und Piper ja etwas ein, was mir

entgangen ist.« Prue warf einen Blick in Richtung Küche. »Ist
Piper schon aus dem P3 zurück? Ich würde die ganze
Geschichte lieber nur einmal erzählen müssen.«

Phoebe schüttelte den Kopf. Piper hatte Prues Fotos vom P3

und die ganzen anderen Sachen, mit denen sie den Stand bei der
Wohltätigkeitsveranstaltung dekorieren wollte, mit in den Club
genommen. Außerdem hatte sie sich noch mit dem
Gastronomieausstatter unterhalten wollen, um sicherzustellen,
dass der kleine Kühlschrank rechtzeitig geliefert werden würde.
Wenn am nächsten Morgen alles wie geplant verlief, müssten
Rick und die anderen bereits sämtliche Vorbereitungen
abgeschlossen haben, ehe der Großhändler mit Nahrungsmitteln
und Getränken beim Stand eintraf.

»Sie ist ein bisschen nervös wegen der

Wohltätigkeitsveranstaltung«, sagte Phoebe. »Und darum hoffe
ich sehr, dass du keine schlechten Neuigkeiten für uns hast.«

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Erschrocken sahen sich die beiden an, als die Haustür

aufgerissen und lautstark wieder zugeworfen wurde.

Eine wütend aussehende Piper stürmte herein. »Habt ihr eine

Vorstellung davon, wieviel es kostet, einen Kühlschrank für
einen Tag zu mieten?«

»Nicht die geringste«, sagte Phoebe.

»Wieviel?«, fragte Prue.

»Zu viel. Also habe ich statt dessen einen Kühlschrank

gekauft. Aber den können wir hinterher mehr oder weniger
abschreiben. Vielleicht kann ich ihn im Club wenigstens noch
im Lager benutzen.« Als sie sich setzen wollte, ergriff Prue
ihren Arm und zog sie wieder hoch.

»Ehe du es dir bequem machst, wir müssen das Buch der

Schatten befragen.« Prue zerrte Piper in Richtung Flur und sah
sich nach Phoebe um. »Kommst du?«

»Schon unterwegs.« Phoebe trank den letzten Schluck Ginger

Ale in ihrem Glas und beeilte sich, mit den Schwestern Schritt
zu halten.

»Wozu befragen?«, erkundigte sich Piper, als sie die Stufen

zum Dachboden hinaufmarschierten.

»Zu einer Kreatur namens Athulak«, erklärte Prue. »Er hatte

eine Neigung zum Chaos. Nach den Legenden und den Worten
von Professor Rubin hat eine Hexe ihn in einen Stein gebannt,
den sie anschließend vergraben hat. Ich vermute, dass
Tremaines archäologische Expedition ihn wieder ausgegraben
hat.«

Prue ließ ihre Tasche neben den alten Schaukelstuhl ihrer

Großmutter fallen und ging zu dem Sockel, auf dem das Buch
der Schatten
thronte.

Phoebe ließ sich in den Schaukelstuhl sinken und genoss die

behagliche Atmosphäre Halliwellscher Geschichte, die auf
diesem Dachboden vorherrschte. Von uralten

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Familienerbstücken bis zu dem Kleid, dass sie auf dem High-
School-Ball getragen hatte, war hier alles Mögliche liebevoll
zusammengetragen und bewahrt worden. Doch am wichtigsten
war das ledergebundene Buch der Schatten, welches ihnen die
magischen Geheimnisse ihrer Vorfahren offenbart hatte, als ihre
eigenen Kräfte erwacht waren. Neue Informationen und
Zaubersprüche hatten stets ihren Weg in das Buch gefunden,
wann immer Großmütter oder andere längst verstorbene
Verwandte derlei zu bieten hatten.

»Hat das irgend etwas mit meinen Visionen zu tun?« Phoebe

überkreuzte die Finger, als Prue in dem Buch zu blättern
begann.

Stirnrunzelnd blickte Prue von dem Buch auf. »Hast du in

letzter Zeit ein Gebet um Frieden und Glück gesprochen?«

»Nicht seit Weihnachten«, sagte Phoebe. »Frieden auf Erden

und den Menschen ein Wohlgefallen.«

»Ich glaube, das ist nicht das, was Prue gemeint hat.« Piper

setzte sich auf einen alten Sitzsack, der den größten Teil seiner
Füllung eingebüßt hatte, und presste ein Sofakissen an ihre
Brust. »Was hast du gemeint?«, fragte sie Prue.

»Professor Rubin sagte, Athulak hätte die Macht, Gebete zu

manipulieren, so dass sie Katastrophen anstelle von Glück und
Frieden hervorbringen. Du betest um Regen und bekommst eine
Überschwemmung. So was in der Art«, erklärte Prue und
blätterte weiter.

Phoebe fing an zu schaukeln, was ihr das Nachdenken

erleichterte. »Ich glaube nicht, dass das auf mich zutrifft.«

»Warum nicht?«, fragte Piper verwundert.

»Weil meine Fähigkeit, mit mehr Menschen in Verbindung zu

treten, uns dabei geholfen hat, Katastrophen abzuwehren. Wir
haben keine Katastrophen geschaffen.« Entmutigt hörte Phoebe
auf zu schaukeln, stellte die Ellbogen auf die Knie und stützte

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ihr Kinn in ihre Hände.

»Gutes Argument.« Seufzend wandte sich Piper wieder an

Prue. »Hast du was gefunden?«

Prue schüttelte den Kopf und drehte sich um. »Noch nicht.«

Phoebe starrte das Buch an. Manchmal schlug ein

unsichtbarer Vorfahre das Buch an der richtigen Stelle auf, um
ihnen zu helfen, aber nun zogen sich die Sekunden dahin, und
die Seiten raschelten nicht einmal leise.

»Ich schätze, dieses Mal hilft uns niemand weiter«, vermutete

Piper seufzend.

Deprimiert ließ Phoebe den Kopf hängen. Sie wünschte sich

so verzweifelt, dass irgendein äußerer Umstand für ihre neue,
überempfindliche Sehergabe verantwortlich war, aber etwas zu
wünschen half schließlich auch nicht weiter. Oder vielleicht
doch? Plötzlich wirbelten Gedanken durch ihren Kopf.

»Brainstorm!« Phoebe sprang aus dem Stuhl, und ihr Blick

wanderte von einem perplexen Schwesterngesicht zum anderen.
»Beten die Menschen nicht normalerweise, weil sie irgend
etwas wollen?«

»Oder weil sie für irgend etwas dankbar sind«, sagte Piper.

Phoebe verdrehte die Augen, ehe sie anfing, auf- und

abzugehen, um ihre Gedanken zu sortieren. Sie wusste, sie griff
nach einem Strohhalm, aber ihr blieb keine andere Wahl.
»Trotzdem, ist ein Wunsch nicht beinahe dasselbe wie ein
Gebet?« Prue runzelte die Stirn. Piper blinzelte verwirrt.

»Gestern Morgen, als ich die Nachrichten gesehen habe«,

sagte Phoebe, »habe ich mir gewünscht, meine Kraft wäre
stärker, damit ich mehr Menschen helfen könnte, und - Bingo!
Meine Kraft ist stärker geworden.«

»Ist das möglich?« Piper bedachte Prue mit einem fragenden

Blick.

»Theoretisch.« Die Falten auf Prues Stirn wurden noch tiefer,

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als sie zu ihrer Tasche ging und das Foto herausnahm.

Phoebe starrte über Prues Schulter auf den nebelhaften grauen

Fleck, der die Sicht auf den Geisterstein verschleierte. »Was
ist?«

»Ich bin nicht sicher.« Die Brauen zusammengezogen

betrachtete Prue aus schmalen Augen nachdenklich das Foto.
Piper und Phoebe hielten beide den Atem an, als Prue
schließlich scharf die Luft ausstieß und sich ihre blauen Augen
vor Überraschung weiteten. »Diese Besprechung wird in die
Küche verlegt.«

»Warum?« Trotz aller Mühe konnte Phoebe die Aufregung

nicht ganz aus ihrer Stimme bannen. »Was ist los?«

»Ich möchte euch keine falschen Hoffnungen machen«, sagte

Prue auf dem Weg zur Tür. »Erst muss ich noch etwas
nachprüfen.«

»Was?«, rief Phoebe ihr nach. »Ich kann es verkraften!

Ehrlich!« Als Prue jedoch auf der Treppe verschwand, stampfte
sie mit dem Fuß auf und starrte finsteren Blickes zu der offenen
Tür hinüber.

»Wie wäre es, wenn wir uns die Wartezeit mit ein paar

Schinkenröllchen verkürzten?« Besänftigend legte Piper einen
Arm um Phoebes Schultern. »Ich habe auch einen ganzen Stapel
Schnittchen aus Schwarzbrot und Rahmkäse gemacht.«

Pipers Angebot wirkte beruhigend auf Phoebes aufgepeitschte

Nerven, forderte ihr aber ein Geständnis ab. »Ich, äh, ich habe
schon ein paar probiert... Eigentlich sogar einige... Vielleicht ein
Dutzend...«

»Kein Problem«, zog Piper sie auf. »Ich habe den Phoebe-

klaut-Faktor einkalkuliert, als ich sie zubereitet habe. Außerdem
sieht es nicht so aus, als würde Leo sich noch früh genug zum
Häppchenvertilgen blicken lassen.«

Phoebe ließ Piper den Vortritt und blieb kurz stehen, um das

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Licht auf dem Dachboden abzuschalten. In der Welt ihrer
Gedanken und Gefühle herrschte ein furchtbarer Tumult,
während sie sich unentwegt fragte, was Prue nachprüfen wollte.
Sie war nicht gerade scharf auf eine Auseinandersetzung mit
irgendeinem bösartigen Geist, aber die Alternative war
zweifellos schlimmer: Sie würde dazu verdammt sein, mit jeder
beiläufigen Berührung eine endlose Reihe fremder
Unglücksfälle zu erleben oder sich einer vollständigen Isolation
von unbestimmbarer Dauer unterwerfen müssen.

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» WO

IST PRUE

?«,

fragte Phoebe konsterniert. Piper zog einen

Teller voller Schwarzbrothäppchen aus dem Kühlschrank und
stopfte eines davon in Phoebes Mund. »Iss und sei still.«

Phoebe zog die Brauen zusammen, biss zu und nahm sich ein

weiteres Häppchen von dem Teller, noch ehe Piper ihn auf dem
Küchentisch abstellen konnte.

Piper atmete ein paar Mal tief durch und machte sich erneut

am Kühlschrank zu schaffen. Dieses Mal brachte sie ein Tablett
mit Schinkenröllchen zum Vorschein, die sie gleich darauf in
mundgerechte Stücke zu schneiden begann. Sie hatte Phoebe
nicht das Gefühl vermitteln wollen, dass sie sie nicht ernst
nahm. Aber sie hatte sich entschieden, Prue den Rücken
freizuhalten. Sollte Prue keine Antworten finden, würde
Phoebes Enttäuschung nur umso größer sein. Außerdem hatte
sie noch genug eigene Probleme zu bewältigen. Die
Wohltätigkeitsveranstaltung kostete sie mehr, als sie erwartet
hatte. Wenn der P3-Stand ihrem Club keine zusätzlichen Gäste
einbrachte, dann war ihr PR-Budget für das laufende Jahr schon
jetzt erschöpft.

Dennoch von einem Schuldgefühl geplagt, warf Piper ihrer

Schwester einen verstohlenen Blick zu, während sie
Schwarzbrothäppchen und Schinkenröllchen auf einem sauberen
Teller anrichtete. Phoebe blätterte in einer Zeitschrift, die Prue
auf dem Tisch hatte liegen lassen. Aber ihre zur Schau
getragene Gelassenheit konnte Piper nicht täuschen. Eine Art
Frühwarnsystem zu sein für jeden banalen oder tödlichen
Unfall, der sich in der nahen Zukunft eines Menschen ereignen
mochte, der ihr zufällig über den Weg lief, war eine schwere,
wenn nicht untragbare Last.

Als Piper gerade damit beschäftigt war, geraspelte Karotten,

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kleingeschnittenen Broccoli und Blumenkohl in eine Schüssel
zu füllen und mit einem Rand aus Salatcreme zu garnieren,
verließ Prue ihre Dunkelkammer.

»Seht euch die hier mal an.« Prue legte vier der Tremaine-

Fotos vor Phoebe auf den Tisch.

Piper trat hinter Phoebe und sah sich die Bilder, eines nach

dem anderen, aufmerksam an. »Wonach suchen wir?«

»Einem Muster.« Prue steckte ihr langes Haar hinter die

Ohren und deutete auf den nebelhaften Fleck, der sich auf jedem
der Fotos zeigte. »Jedes Mal, wenn ich mir die Bilder in der
Reihenfolge der Aufnahme angesehen habe, kam es mir vor, als
würde ich irgendetwas übersehen. Jetzt scheint es mir so
offensichtlich. Ich kann es kaum glauben, dass ich so lange
gebraucht habe, um das Muster herauszufinden. Seht ihr es?«

»Nein«, antwortete Piper ehrlich.

»Ich schon«, sagte Phoebe leise. »Der Fleck wird mit jedem

Bild größer.«

»Ja, aber das ist noch nicht alles.« Prue strich mit dem Finger

über das Hochglanzpapier. »Der Ausgangspunkt dieses Flecks
ist auch immer der Gleiche. Er fängt jedes Mal im linken
Augenwinkel an.«

Piper stellte sich neben Phoebe, um die Fotos noch einmal

genau anzusehen. Wie Prue schon gesagt hatte, schien der graue
Schatten aus dem Auge herauszuströmen. Interessant, aber nicht
schlüssig, dachte sie. Während Prue schnell alle möglichen
unerfreulichen Geschehnisse irgendwelchen bösen Kräften
zuschrieb, neigte sie zu einer eher skeptischen Haltung. »Ich
möchte deine Theorie nicht klein reden, Prue, aber der Fehler
würde auch dann bei jedem Bild an dergleichen Stelle auftreten,
wenn der Film fehlerhaft gewesen wäre.«

»Aber er ist nicht jedes Mal an exakt der gleichen Stelle.«

Prue zog ein Lineal aus der hinteren Hosentasche und maß die

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Distanz von dem Augenwinkel bis zum Rand jedes einzelnen
Bildes. Die Abstände unterschieden sich um bis zu zweieinhalb
Zentimeter. »Wäre der Film fehlerhaft, müsste der Fleck auf
jedem Bild exakt fünf Zentimeter vom seitlichen Rand entfernt
auftauchen. Aber das tut er nicht. Ausgangspunkt für den Fleck
ist immer das Auge, egal aus welchem Winkel es aufgenommen
wurde.«

»Ist das der richtige Zeitpunkt, um in ein lautes Jubelgeschrei

auszubrechen?«, fragte Phoebe zögernd.

»Ich denke schon. Meine Kamera hat das Wesen Athulaks

eingefangen, als er aus dem Stein entkommen ist.« Prue grinste
und war überaus zufrieden mit sich.

»Juhu!« Phoebe hob die Hand und klatschte Prue ab, ehe sie

ihre Arme um ihre Schwester schlang und sie an sich drückte.
»Was für eine Erleichterung.«

»Einen Augenblick mal!« Piper erhob beide Hände mahnend.

»Ein alter Geist, der frei herumläuft und überall Chaos
verursacht ist kein Grund zum Feiern.«

»Ach ja, richtig.« Sofort verblasste Prues Lächeln, und sie

hüstelte leise.

»Ich bin da anderer Meinung«, sagte Phoebe. »Wenn Athulak

dafür gesorgt hat, dass meine Gabe verrückt spielt, dann können
wir seine Taten vielleicht rückgängig machen.«

»Das ist durchaus möglich, aber wir wissen nicht gerade viel

über ihn oder seine Vorgehensweise.« Piper zog sich einen Stuhl
heran und setzte sich. »Vorausgesetzt, es ist tatsächlich Athulak
und nicht irgendein anderer heimtückischer Geist mit völlig
anderen Absichten, der aus Tremaines Stein entkommen ist.«

»Okay, okay.« Prue setzte sich ebenfalls. »Ich gebe zu, wir

sind auf Mutmaßungen angewiesen, aber vielleicht wissen wir
jetzt schon mehr, als wir uns vorstellen können.«

»Was, zum Beispiel?« Piper wünschte sich ebenso wie

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Phoebe, dass Prues Theorie korrekt war. Aber sie brauchte
handfestere Beweise als die Flecken auf ein paar Fotos, die
immer noch das Ergebnis eines fehlerhaften Films sein konnten.

»Ich bin nicht sicher«, sagte Prue achselzuckend.

»Hat Professor Rubin irgend etwas gesagt, das uns

weiterhelfen könnte?«, fragte Phoebe Prue, ehe sie sich zu Piper
umwandte. »Ich meine, wir können doch einfach einmal
annehmen, wir hätten es mit Athulak zu tun, solange es keine
anderen Verdächtigen gibt, okay?«

»Okay, nehmen wir Athulaks Existenz als

Diskussionsgrundlage.« Piper verschränkte die Arme vor der
Brust und schlug die Beine übereinander. Wann immer sie einen
strittigen Punkt zur Sprache brachte, pflegten Prue und Phoebe
den Köder aufzuschnappen und sich nach Kräften um
überzeugende Argumente zu bemühen. Gerade jetzt wünschte
Piper nichts mehr, als überzeugt zu werden.

»Okay.« Das Ausmaß von Phoebes Anspannung spiegelte

sich deutlich in ihrer leisen Stimme und ihrem prüfenden Blick
wider, als sie sich über den Tisch beugte. »Was genau ist in
Tremaines Bibliothek vorgefallen, Prue? Einer von euch beiden,
du oder er, muss etwas getan haben, das den Bannzauber
gebrochen hat.«

»Lass mich überlegen.« Prue schnappte sich ein Schnittchen

und fing an, daran zu knabbern, während sie angestrengt
nachdachte. »Professor Rubin sagte, die Hexe hätte den Stein
vergraben, nachdem sie den Geist gebannt hatte, damit er
nicht...« Prue unterbrach sich, darum bemüht, sich an die
exakten Worte des Professors zu erinnern. »Damit ein Gebet,
das geeignet wäre, eine Katastrophe herbeizuführen, ihn nicht
wieder befreien konnte.«

Piper schauderte kaum merklich. »Was hat Tremaine getan?

Für das Ende der Welt gebetet?«

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»Nein, er wünschte, er müsste nicht gegen Noel Jefferson

antreten.« Prue tippte auf das erste der vier Bilder auf dem
Tisch. »Und zwar einen Augenblick, bevor ich dieses Bild
geschossen habe. In allen vorangegangenen Fotos fehlt der
Fleck.«

»Da haben wir es doch!« Strahlend und triumphierend schlug

Phoebe mit beiden Händen auf die Tischplatte.

Prues zufriedenes Lächeln wich jedoch sofort einem irritierten

Stirnrunzeln, als ihr bewusst wurde, dass Pipers
Gesichtsausdruck keineswegs die Gefühle ihrer Schwestern
widerspiegelte. »Was ist?«, fragte Prue ärgerlich. »Alles,
worüber wir gesprochen haben, passt genau zu dem, was mit
Phoebe geschehen ist.«

»Ja, soweit wir die Tatsache ignorieren, dass unsere Macht

ohne Einmischung von außen ebenfalls stärker geworden ist«,
entgegnete Piper.

»Und was ist mit dem kalten Wind?«, fragte Phoebe mit

funkelnden Augen. »Wie erklärst du dir den, Piper?«

»Ein kalter Wind, den jede von uns zu einem anderen

Zeitpunkt gespürt hat«, fügte Prue nachdrücklich hinzu.

»Und an verschiedenen Orten.« Phoebe reckte kampfbereit

das Kinn vor.

»Viermal.« Piper schlug sich mit der flachen Hand an die

Stirn. »Ich habe diesen kalten Wind im Park gefühlt.«

»Als das Pony durchgegangen ist?«, fragte Prue.

»Oh, Mann.« Phoebe schloss für eine Sekunde die Augen.

»Das Pony hat verrückt gespielt, nachdem sich das kleine
Mädchen gewünscht hat, sie hätte ein eigenes Pony.«

»Dann hat Athulak offenbar prompt reagiert«, kommentierte

Prue.

»Nur, dass wir die Katastrophe aufgehalten haben.« Phoebe

stopfte sich ein Schinkenröllchen in den Mund.

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»Was uns zu einer weiteren Frage führt...« Piper zuckte die

Schultern, als ihre Schwestern sich gleichzeitig umdrehten und
sie aus großen Augen anstarrten. »Was hat Athulak in dem Park
gemacht? Oder in unserem Wohnzimmer?«

»Als ich meinen großen Mund aufgerissen habe und mich

selbst in den Schlamassel gewünscht habe«, murmelte Phoebe.

Prue verzog das Gesicht. »Das ist meine Schuld. Ich, äh, na

ja, ich habe meine Gabe benutzt, um den Stein vor einem Sturz
zu bewahren, als Tremaine ihn zurück in die Vitrine gestellt
hat.«

Piper setzte die übrigen Puzzlesteinchen zusammen. »Athulak

hat dich gesehen, und da er vor über dreitausend Jahren von
einer Hexe eingesperrt worden war, hat er beschlossen, dir zu
folgen, um sicherzustellen, dass so etwas nicht noch einmal
passiert.«

»Ich schätze, das erklärt einiges.« Prue ging zum Kühlschrank

und nahm einen Krug Orangensaft heraus. »Außer dass ich
immer noch nicht so ganz weiß, hinter wem wir her sind und
was wir tun sollen.«

»Mir geht's genauso.« Phoebe kratzte sich nachdenklich am

Kopf. »Ich meine, Tremaines Wunsch klingt nicht gerade so, als
könnte er der Welt einen irreparablen Schaden zufügen.«

Dieser Teil der Geschichte war auch Piper nicht ganz klar,

aber ein anderer dafür um so mehr. »Auf jeden Fall könnte er
Noel Jefferson eine Menge Ärger einbringen.«

Athulak ließ seinen Zorn an allen Menschen aus, die seinen

Weg kreuzten, als er dem Wagen der Hexen folgte. Ein Speer
konzentrierten Windes jagte tief unten durch die
Häuserschluchten, stach mit eisiger Kälte in jeden Zentimeter
entblößter Haut und riss Pakete aus verkrampften Fingern.
Topfpflanzen, Plastikmöbel, Schilder, kurzum alles, was nicht

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-112-

schwer genug oder irgendwo befestigt war, wurde von der
Gewalt seines Zorns durch die Straßen gefegt.

Die Panik, die seine Passage verursachte, bereitete ihm kein

Vergnügen. Stattdessen verfluchte er die Menschen, die einst
gelebt hatten und die Kunde über seine Niederlage von
Generation zu Generation weitergetragen hatten.

Aber noch schwerer wog seine Wut auf die Hexen. Sie speiste

seine Gier nach Rache.

Hartnäckig und mit den Mächten des Guten gesegnet, hatten

sie ihn erahnt und sich auf die Suche nach dem notwendigen
Wissen begeben. Er war ein Narr gewesen, zu glauben, die alte
Hexe hätte seine Geheimnisse mitsamt dem Stein vergraben.

Aber er würde nicht zulassen, dass nun diese Hexen an ihre

Stelle traten.

Als der Wagen vor einem großen Gebäude anhielt, wartete

Athulak, bis die Hexen ausgestiegen waren. Dann presste er die
Moleküle seiner unsichtbaren, aber dennoch physischen Gestalt
in eine flache Form. Er schliff die Schneide der molekularen
Klinge, in die er sich verwandelt hatte, durchtrennte einen
hochaufragenden Metallpfosten und schnitt ein rotweißblaues
Tuch, noch während es zu Boden flatterte, in Fetzen.

»Hast du das gesehen?« Phoebe blieb auf dem Parkplatz des

Gebäudes stehen, in dem die Büros der Pflichtverteidiger
untergebracht waren.

Prue hörte, wie der Fahnenmast nachgab. Sie sah, wie das

Sternenbanner zerfetzt wurde - für all das konnte es nur eine
einzige Erklärung geben: Athulak war nicht mehr damit
zufrieden, seine Anwesenheit durch seinen eisigen

KUSS

kundzutun. Sie schrie: »Bleib dicht bei mir und lauf!«

»Es ist Athulak, richtig?« Phoebe drängte sich an Prue, als sie

auf die Tür zustürmten.

»Das nehme ich jedenfalls an.« Prue konzentrierte sich und

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ließ ihre Hand über ihrem Kopfkreisen, um ein stabiles
telekinetisches Schutzschild zu schaffen, das im Stande war, den
unsichtbaren Feind abzuwehren. Bis der Fahnenmast umgestürzt
war, war ihr nicht klar gewesen, dass der Windgeist ihnen
tatsächlich physischen Schaden zufügen konnte. Doch nun, als
sie durch die Eingangstür in die Halle stürmten, wurde ihr
bewusst, dass Athulak, eine Kreatur geschaffen aus Luft, durch
das Belüftungssystem auch in das sicherste Gebäude vordringen
konnte.

»Da rein.« Immer noch mit einem Arm wedelnd, scheuchte

Prue Phoebe in die Toilette. Drinnen angelangt, verschloss Prue
die Tür und kletterte auf den Waschtisch, um den
Luftabzugsschlitz zu verschließen.

»Was ist denn los?«, fragte Phoebe mit schriller Stimme.

»Offenbar kann Athulak seine molekulare Dichte variieren«,

erklärte Prue. »Anders ausgedrückt, er kann sich selbst in ein
sehr scharfes, sehr gefährliches, sehr tödliches Schwert
verwandeln.«

»Und warum hat er uns dann nicht schon früher angegriffen?«

Prue zuckte die Schultern. »Vielleicht weil wir bisher nicht

genug gewusst haben, um eine Gefahr für ihn darzustellen.«

»Das ist nicht gerade beruhigend.« Phoebes Hand glitt hinauf

zu ihrer Kehle, während ihr Blick zu dem Spalt unter der Tür
wanderte. »Wie können wir ihn daran hindern, da unten
reinzukommen?«

»Magie. Du singst, ich rufe Piper an.« Prue klappte ihr

Mobiltelefon auf. »Wir brauchen einen Zauber, der uns vor
einem Windgeist schützen kann.«

»Ich bin nicht besonders gut darin, mir unter Druck etwas

Passendes einfallen zu lassen«, sagte Phoebe hektisch.

»Los!« Prue wählte.

Phoebe nickte, schloss die Augen und legte die Hand an die

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-114-

Tür. »Feuer, Wasser, Wind und Luft, im ursprünglich
kosmischen Meer vereint; durch diese Tür, so bitt ich euch, lasst
Athulak nicht ein.«

Als Piper das Gespräch annahm, erklärte Prue ihr rasch, vor

welchem neuen Problem sie standen. »Wir brauchen einen
Talisman, irgendetwas, das wir bei uns tragen können, um uns
vor dem Windgeist zu schützen.«

»Ich habe im Buch der Schatten einen Talisman gesehen, der

Dämonen abwehrt, wenn sie sich in Elementargestalt zeigen«,
sagte Piper. »Aber es kann eine Weile dauern, bis ich den
Schutz verfertigt habe und bei euch bin.«

»Wir warten.« Prue beendete das Gespräch und gesellte sich

zu Phoebe, die sich gegen ein Waschbecken lehnte und die Tür
anstarrte. Nachdem sie herausgefunden hatten, dass Noel
Jefferson sich in Gefahr befand, hatten sie erkannt, dass sie ihn
nicht schützen konnten, solange sie nicht wussten, wie die
Gefahr beschaffen war. Phoebe hatte sich bereit erklärt, dies auf
ihre eigene Weise herauszufinden, auch wenn es für sie
schmerzhaft werden mochte, ihn zu berühren. Je höher der
Gewaltpegel des drohenden Unheils war, desto schlimmer
wirkte sich der Kontakt in physischer Hinsicht auf sie aus. Und
dieses Mal hatten sie es mit einem Ereignis zu tun, das den
Anfang vom Ende der Welt darstellen konnte.

Prue blickte zur Tür und lächelte. »Gut gemacht.«

»Die Vorstellung, auf einem Parkplatz enthauptet zu werden,

hat mich motiviert.« Phoebe schauderte.

Prue lehnte sich mit einem matten Seufzer an die Wand. Sie

hatten sich schon vielen Dämonen, Hexern oder anderen
bösartigen Kreaturen stellen müssen, die ihnen am Anfang als
übermächtig und unschlagbar erschienen waren. Trotzdem
hatten sie immer gewonnen. Aber Athulak war anders als all die
Angreifer, die ihnen bisher begegnet waren. Sie hatten keine
Ahnung, wie sie ihn überwältigen sollten. Und wenn Pipers

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Talisman ihn nicht in Schach halten konnte, gab es für sie
keinen Schutz vor seiner rasiermesserscharfen Molekularklinge.

Prues Körper spannte sich an, als sie das Murmeln von

Stimmen und Gelächter aus der Eingangshalle hörte. Jemand
versuchte, die verschlossene Tür zu öffnen, und schlug mit der
Faust gegen das Türblatt, als sie sich nicht rührte.

»Hey!«, protestierte eine weibliche Stimme. »Aufmachen!«

»Schätze nicht«, flüsterte Phoebe finster.

Prue streckte eine Hand aus, um den Riegel auf

telekinetischem Wege an Ort und Stelle zu halten, während sie
gleichzeitig einen Blick zur Uhr warf. Es war kurz nach fünf.
Sie konnte nur hoffen, dass Piper da war, bevor ein Techniker
auftauchte, um die Tür zu öffnen, oder bevor sich Noel Jefferson
auf den Heimweg machte.

Athulak war nicht auf die zerstörerische Wirkung des Bannes

vorbereitet gewesen, als er versucht hatte, die Barriere zu
durchdringen, die von der Zauberin errichtet worden war. Der
Kontakt mit der wellenförmigen Mauer magischer Energien
hätte seine Moleküle beinahe auseinander gerissen. In der
Gefahr, in alle Winde verstreut zu werden, hatte er den Rest
seiner schwindenden Kraft dazu genutzt, in das Labyrinth aus
Rohren zu verschwinden, welches das Gebäude durchzog.
Dennoch gelang es ihm nur mit Mühe, seinen Zusammenhalt zu
bewahren, als er durch die Rohre in den Raum glitt, in dem Noel
Jefferson hinter seinem Schreibtisch saß.

Während er noch immer um seine physische Ganzheit

kämpfte, drang Athulak unter einer Tür zu einem kleineren,
dunklen Raum hindurch, in dem der Mann am Schreibtisch
diverse Kisten und alte Sesselschoner aufbewahrte. Erst in der
Sicherheit des vollgestopften Raumes, entspannte sich Athulak
ein wenig.

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Geschlagen und geschwächt ruhte er sich aus, um wieder zu

Kräften zu kommen, während er seinen Hass auf die Frauen und
ihre überwältigende Magie pflegte. Dann aber erfreute er sich an
dem Wissen, dass die Macht der Zerstörung schon bald ihm
gehorchen würde, und sein unausweichlich bevorstehender
Triumph spendete ihm Trost. Keine Macht auf Erden oder im
Himmel war noch im Stande, ihn zu besiegen oder die
Apokalypse aufzuhalten, wenn erst der ursprüngliche Wunsch
erfüllt war.

Die Kette der Ereignisse, die in Gang gesetzt worden war, als

Tremaine darum gebetet hatte, von seinem Widersacher befreit
zu werden, konnte nicht aufgehalten werden. Nicht, solange die
Seherin Jefferson nicht berührte und seines Schicksals gewahr
wurde.

Athulak wartete. Wenn nötig würde er auch einen weiteren

Abbau seiner ohnehin erschöpften Energien in Kauf nehmen,
um die Hexen abzuwehren.

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-117-

10

A

UFGESCHRECKT VON DEM POCHEN

,

als Piper an die Tür des

Waschraums klopfte, schlug Phoebe mit dem Hinterkopf gegen
den Spiegel. Während Prue die Tür öffnete, rieb sie sich die
schmerzende Stelle.

»Du schläfst bei der Arbeit?«, spottete Piper, als sie den

Raum betrat.

»Wir hatten keine Spielkarten dabei, um uns die Zeit zu

vertreiben«, konterte Phoebe. Andererseits konnte sie selbst
kaum glauben, dass sie einfach eingeschlafen war, während der
Winddämon ganz in ihrer Nähe sein Unwesen trieb.
Zauberbanne, die in einem Notfall aus dem Stegreif errichtet
wurden, pflegten keineswegs immer erwartungsgemäß zu
arbeiten. Glücklicherweise hatte der Bann, mit dem sie den
Windgeist am Eindringen hatte hindern wollen, tatsächlich
wunschgemäß funktioniert. Weder sie noch Prue hatten
irgendwelche Finger oder Zehen verloren.

Aber sie hatten auch das Problem noch nicht gelöst, das an

ihren, Phoebes, Nerven gezerrt hatte, bis sie schließlich
eingenickt war. Sie hatten sich so sehr darauf konzentriert, Noel
Jefferson zu beschützen, dass sie sich keine Gedanken darüber
gemacht hatten, ob ein Wunsch, den Athulak einmal gewährt
hatte, vielleicht nie wieder aufgehoben werden konnte.
Weggelaufene Ponys und andere klar eingegrenzte Einzelfälle
waren eine Sache. Aber was, wenn der Wunsch, der ihr die
Verstärkung ihrer Gabe eingebracht hatte, nicht rückgängig zu
machen war?

»Warum hast du so lange gebraucht, Piper?« Prue glitt von

dem Waschtisch herab und nahm das in Leder gehüllte
Päckchen entgegen, das Piper mitgebracht hatte. »Es ist schon
nach sieben.«

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»Es ist Freitag Abend, und in der Stadt ist die Hölle los«,

erklärte Piper, als sie Phoebe ein zweites Päckchen übergab.

»Besser spät als nie.« Phoebe sog schnüffelnd den würzigen

Geruch ein, der von dem kleinen Lederbeutel aufstieg, und
stellte überrascht fest, wie angenehm er duftete. Das Aroma
erinnerte sie an warmen, gewürzten Cidre und Zimt. Der letzte
Talisman, den Piper gebastelt hatte, hatte nach verbrannten
Kuhfladen, vermengt mit faulenden Abfällen, gestunken. »Was
ist da drin?«

»Rohe Hühnerherzen, Falkenfedern, verschiedene Pilze und

gewöhnliche Küchengewürze.« Mit einem anzüglichen Blick
auf Prue fügte Piper hinzu: »Ich musste den Sud über eine
Stunde lang kochen.«

»Hast du toll gemacht, Piper. Danke.« Prue stopfte den Beutel

in die vordere Tasche ihrer Jeans. »Du weißt nicht zufällig, ob
Noel Jefferson sich noch im Gebäude aufhält?«

»Sollten wir nämlich zu spät kommen, um ihn zu retten, dann

gewinnt Athulak, und die Welt geht unter.« Phoebe ließ sich von
dem Waschtisch gleiten und steckte ihren Talisman ein.

»Ich weiß es nicht«, sagte Piper. »Ich bin direkt hierher

gekommen.«

»Schätze, wir sollten uns beeilen, das herauszufinden.«

Phoebe schlang sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter
und winkte ihren Schwestern zu, ihr zu folgen.

Die Eingangshalle war verlassen, aber die Lichter brannten

noch, was Phoebe hoffen ließ, dass Noel Jefferson vielleicht
länger arbeitete. Ein rascher Blick auf den Lageplan neben den
Fahrstühlen lieferte ihnen die Erkenntnis, dass sich Jeffersons
Büro im dritten Stockwerk befand. Doch als Prue die Taste für
den Lift drückte, geschah rein gar nichts.

»Vermutlich lässt er sich nach Feierabend nur mit einem

Schlüssel bedienen.« Prue schlug mit der Faust auf die Metalltür

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-119-

ein.

»Kann ich helfen, meine Damen?«, fragte ein Mann in

scharfem Ton.

Phoebe blickte sich über die Schulter um und sah, dass ein

hochgewachsener Sicherheitsmann auf sie zukam. Statt eines
Lächelns entschied sie sich für eine Miene völliger
Verzweiflung, was ihr nicht weiter schwer fiel, denn sie war
völlig verzweifelt. »Das hoffe ich. Wir müssen sofort zu Noel
Jefferson. Ein Notfall.«

»Es geht um Leben und Tod«, fügte Piper hinzu.

»Ach ja?« Der Blick des Mannes wurde noch finsterer, als er

vor ihnen stehen blieb. Misstrauisch musterte er jede von ihnen,
als würden sie der Beschreibung der meistgesuchten Straftäter
Amerikas entsprechen. »Ich fürchte, da kann ich nichts für Sie
tun.«

»Aber es ist wirklich wichtig.« Prue stieß Piper an, ein nicht

allzu subtiler Hinweis darauf, dass sie sich vorbereiten sollte,
den Sicherheitsbediensteten an Ort und Stelle einzufrieren. Dann
konnten sie immer noch die Treppe zum dritten Stockwerk
hinaufsteigen.

»Tut mir Leid«, sagte der Mann, »aber Mr. Jefferson ist vor

einer halben Stunde zu seiner Wahlkampfzentrale gefahren.«

»Wo genau liegt die?«, fragte Phoebe.

»Das Gebäude ist geschlossen. Dort ist die Tür.« Der

Sicherheitsbedienstete setzte eine noch finsterere Miene auf und
machte eine Geste, als wollte er Hühner verscheuchen.

»Mach dir nichts draus, Phoebe«, sagte Prue gepresst. »Ich

weiß, wo wir die Wahlkampfzentrale finden.«

»Okay.« Phoebe entging nicht, wie Prue das Kinn vorreckte

und ihre Hände immer wieder zur Faust ballte, also packte sie
sie bei den Schultern und schob sie auf die Tür zu. »Wir gehen.«

Unterwegs flüsterte Phoebe Prue ins Ohr: »Mangelnde

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Hilfsbereitschaft ist kein Verbrechen, das den Einsatz
telekinetischer Strafmaßnahmen rechtfertigt.«

»Ich wollte ihm ja gar nichts tun«, erwiderte Prue ebenfalls

flüsternd. »Aber es gibt kein Gesetz, auch kein ungeschriebenes,
das mir verbietet, daran zu denken.«

An der Tür blieb Piper stehen und wandte sich um, um noch

ein letztes Wort mit dem Wachmann zu wechseln. »Danke für
ihre großzügige Hilfe. Ich bin sicher, der Staatsanwalt wird sich
freuen zu hören, dass Sie fleißig Ihren Job tun und öffentliche
Gebäude wirkungsvoll vor der Öffentlichkeit schützen.«

Phoebe zerrte sie gewaltsam zur Tür hinaus.

»Es tut mir nicht Leid«, schäumte Piper, als sie über den

Parkplatz liefen.

Das Benehmen des Sicherheitsbediensteten kümmerte Phoebe

nun nicht mehr. Sie klopfte auf ihre Tasche, um sich zu
vergewissern, dass der Talisman noch immer da war, und blickte
zu dem abendlichen Himmel empor. Die Luft war warm und
ruhig. Aber Athulak konnte überall lauern und auf die richtige
Gelegenheit zum Angriff warten. Sie konnte nur hoffen, dass
Piper die Anweisungen zur Herstellung der Talismane sorgfältig
gelesen hatte. Sein Leben von ein paar nach Zimt riechenden
Hühnerherzen abhängig zu machen, erforderte schon ein
ziemlich unerschütterliches Vertrauen.

Neben dem Wagen blieb Piper stehen und lehnte sich an die

Tür. »Braucht ihr mich bei eurem Anstandsbesuch in der
Wahlkampfzentrale?«

Prue blickte Phoebe fragend an.

Phoebe zuckte mit den Schultern. Sie wusste, dass Piper

wegen des Stands auf dem Wohltätigkeitsbasar unter Druck
stand. Die dauernden Unterbrechungen, um irgend jemanden aus
einer mehr oder weniger realen Gefahr zu retten, hatten ihren
Zeitplan ziemlich durcheinander gebracht. »Ich glaube, wir

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kommen allein zurecht. Ich muss Mr. Jefferson schließlich nur
berühren, um herauszufinden, was geschehen wird.«

»Und was ist, wenn du ihn nicht findest?«, fragte Piper.

Veranstaltung oder nicht, Piper würde ihre Pflicht, die
Unschuldigen zu beschützen, niemals vernachlässigen.
Trotzdem war der direkte Kontakt zu Noel Jefferson einfach
unverzichtbar. »Kein Problem. In seiner Wahlkampfzentrale
lässt sich sicher etwas finden, das ihm gehört.« Prue nickte.
»Und falls nicht, können wir Darryl bitten, ihn für uns zu
finden.«

»Gute Idee!« Phoebes Miene hellte sich auf. Die Verbindung

zum Polizeirevier kam ihnen durchaus gelegen, besonders da
Detective Darryl Morris wusste, dass sie Hexen waren.

»Okay, aber ruft an, wenn es irgendwelche Schwierigkeiten

gibt.« Piper glitt hinter das Steuer, schlug die Tür zu und winkte
ihnen noch einmal zu, ehe sie davonfuhr.

Phoebe starrte zum Seitenfenster hinaus, während Prue den

Wagen, so schnell es der Verkehr und die Ampeln erlaubten,
durch die abendliche Innenstadt steuerte. Gegen acht Uhr, als
das Tageslicht sich schließlich den dunklen Schatten der
bevorstehenden Nacht ergab, füllten sich rundherum Clubs und
Restaurants. Paare saßen an Fenstertischen, nippten an ihren
Drinks, ohne die Blicke voneinander zu lösen, während andere
Hand in Hand über die Bürgersteige flanierten. Unwissenheit, so
stellte Phoebe mit unverhohlenem Neid fest, war eine wahre
Freude.

Dann schweiften ihre Gedanken zu Rick, und sie fragte sich

lächelnd, ob er so intelligent wie hübsch war. Und so nett, wie
es den Anschein hatte. Wären sie einander am Vorabend unter
anderen Umständen begegnet, hätten sie Gelegenheit
bekommen, sich zu unterhalten. Vielleicht hätte er sie gebeten,
mit ihr auszugehen. Und sie hätte das Date platzen lassen

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müssen, um Noel Jefferson und den Rest der Welt vor einem
unbekannten, aber in jedem Fall schrecklichen Schicksal zu
bewahren. Manchmal machte sie die Last der Verantwortung
ziemlich fertig. Phoebe seufzte leise.

»Ich weiß, das ist hart für dich, Phoebe«, sagte Prue, ohne den

Blick von der Straße abzuwenden.

»Ja.« Phoebe blickte nun ebenfalls nach vorn und seufzte

noch einmal. »Ich weiß, dass es für Piper nicht leicht ist, wenn
Leo sie so lange allein lässt, aber sie hat wenigstens jemanden,
der Bescheid weiß und versteht, dass wir nicht so frei wie
andere über unser Leben verfügen können.«

»Wovon redest du?«, fragte Prue mit einem raschen,

verwunderten Blick in Phoebes Richtung.

»Männer.« Phoebe grinste. »Gibt es noch irgendwas

anderes?«

»Heute Abend schon«, sagte Prue. »Aber auch wir werden

eines Tages der Liebe unseres Lebens begegnen.«

»Davon bin ich überzeugt«, stimmte ihr Phoebe zu. »Sollten

wir je genug Zeit haben, uns auf die Jagd nach ihr zu machen.«

Prue bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Sollte sich Rick

nicht als Volltrottel entpuppen, könnten deine Tage als Jägerin
bald gezählt sein.«

»Vermutlich werden wir eine Weile schrecklich glücklich

zusammen sein. Aber früher oder später wird der Hexenfaktor
unser Glück zerstören. Er wird Fragen stellen, die ich nicht
beantworten kann. Ich werde ihn versetzen, ohne dass ich ihm
eine angemessene Erklärung dafür liefern kann, und so weiter
und so fort. Von Anfang an dem Untergang geweiht.«

»Bist du nicht ein bisschen zu pessimistisch?«, fragte Prue,

ohne Phoebe anzusehen. Ihr Blick ruhte noch immer
gedankenverloren auf der Straße.

»Nein. Ich bin realistisch«, entgegnete Phoebe seufzend.

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»Nur, dass vermutlich all das völlig egal ist, wenn dir erst der

richtige Mann über den Weg läuft«, sagte Prue.

Phoebe wollte Prue glauben, aber sie wollte sich auch keinen

Täuschungen hingeben. Für den Augenblick reichte es
allerdings, einen Schritt nach dem anderen zu tun. Schließlich
hatte Rick sie bisher noch nicht mal zum Abendessen
eingeladen!

»Da ist es.« Prue deutete auf eine Geschäftsfront zu ihrer

Rechten.

Die ›Jefferson-for-Congress-Wahlkampf-Mannschaft‹ belegte

ein Büro am hinteren Ende der Geschäftszeile. Das Büro war
hell erleuchtet, und durch die großen Fenster waren mehrere
Menschen zu erkennen. Phoebe kämpfte eine Woge
aufwallender Furcht nieder, als Prue den Wagen auf den
Parkplatz lenkte. Sie hatte nicht daran gedacht, dass sie sich erst
einer Menschenmenge würde stellen müssen, ehe sie auch nur
die geringste Chance bekommen würde, Jefferson zu berühren.

»Bereit?« Prue ließ die Schlüssel in ihre Tasche fallen und

öffnete die Wagentür.

»Ja, aber...« Phoebe zögerte. Sie wollte nicht eingestehen,

dass sie Angst davor hatte, ihr Verstand würde wegen
Reizüberflutung zusammenbrechen. Aber sie musste ehrlich zu
ihrer Schwester sein. »Versuche, mir so gut du kannst den Weg
freizuhalten, okay? Je weniger Menschen ich berühre, desto
besser.«

»Alles klar.« Prue lächelte, aber ihre Augen verrieten ihre

Besorgnis. »Dann los.«

Phoebe stellte sich auf die bevorstehenden Mühen ein,

während sie Prue in das geschäftige Treiben folgte, das im
Wahlkampfbüro herrschte. Rotweißblaue Flaggen schmückten
die hintere Wand und bildeten einen festlichen Kontrast zu den
grauen Aktenschränken. Poster mit Jeffersons lächelndem

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Konterfei klebten an jedem Wandflecken, der nicht von
Terminplänen, Mitgliedschaftsanträgen für seine Partei und
anderen Wahlkampf-Utensilien belegt wurde. Unter all den
Leuten, die damit beschäftigt waren, Papiere zu sortieren und
wild aufeinander zu stapeln, Telefongespräche zu beantworten
oder sich in hitzigen Diskussionen zu ergehen, schien niemand
von ihnen Notiz zu nehmen.

Phoebe schlang die Arme um den Oberkörper, um sich der

Gefahr zu entziehen, mit ihren Ellbogen die Menschen an dem
vorderen Tisch zu berühren. Sie alle hatten einen Telefonhörer
am Ohr und kritzelten hastig in ihren Notizblöcken herum.

»Jefferson ist nicht hier«, sagte Prue, als sie sich flüchtig im

Raum umgesehen hatte. »Ich werde den Mann an dem
Schreibtisch da drüben fragen.«

»Wohin du auch gehst, werde ich dir folgen.« Während sie

sich dem Schreibtisch näherten, hielt sich Phoebe dicht an Prue.
Sie merkte gar nicht, dass hinter ihr eine junge Frau zur Tür
hereingestürzt kam, bis es zu spät war, einem Kontakt
auszuweichen.

»Hey, Mace!« Der hübsche junge Rotschopf mit den hohen

Absätzen und dem modisch grünen Kostüm wedelte mit einem
Bogen Papier und schob sich zwischen Phoebe und Prue.

Phoebe stockte und klammerte sich an Prue, als eine neue

Vision sie erschütterte.

... kochendheißer Kaffee ergießt sich über ihre Hand, weiße

Haut färbt sich rot, Blasen brechen hervor...

Phoebes Kopf fing an zu hämmern, und ihr Magen wollte sich

umdrehen, als die Eindrücke wieder verblassten. Völlig außer
Atem deutete sie auf die Rothaarige, die dem Mann an dem
Schreibtisch ein Schriftstück überreichte und dann zu einem
Tisch ging, auf dem Kaffee und Tassen bereitstanden. »Kaffee«,
krächzte Phoebe.

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Prue schob Phoebe in die Lücke zwischen einem Stapel

Kartons und der Tischkante des Schreibtischs. »Beweg dich
nicht.«

»Keine Sorge.« Phoebe konzentrierte sich darauf, ihren Puls

zur Ruhe zu bringen, und behielt Prue im Auge, die sich der
Frau genau in dem Augenblick in den Weg stellte, als jene den
Kaffeeautomaten erreicht hatte und nach einer Tasse griff.
Nachdem die beiden Frauen ein paar Worte gewechselt hatten,
deutete die Rothaarige auf einen Korridor. Prue stellte gelassen
eine zweite Tasse unter den Hahn.

»Jenny!«

Die junge Frau riss den Kopf herum und starrte dem Mann

entgegen, der mit einem Klemmbrett bewaffnet den Korridor
hinunterstürmte. »Was gibt's, Charlie?«

Charlie riss einen Bogen Papier von seinem Klemmbrett, den

er ihr entgegenstreckte. »Kanal Sieben braucht einen Jefferson-
Sprecher für die Spätnachrichten. Dein Job.«

Phoebe wich zurück, als Jenny an ihr vorbeisauste und zur

Tür hinausstürzte. Obwohl ihre Schläfen schmerzhaft pulsierten
und obwohl ihre Knie zittrig waren, fühlte sie sich gut. Beide,
die junge Frau und Jefferson, hätten eine goldene Gelegenheit
verpasst, die Werbetrommel zu rühren, hätte Prue die Frau nicht
davor bewahrt, sich die Hand zu verbrühen.

»Phoebe!« Prue winkte Phoebe zu, ihr in den Korridor zu

folgen.

Nachdem sie sich rasch einen Überblick über die Horde

eitriger Wahlhelfer verschafft hatte, hastete Phoebe an dem
Schreibtisch vorbei. Der Mann, der hinter dem Tisch saß, brüllte
etwas in sein Telefon und bemerkte sie gar nicht. Dieser Mangel
an Sicherheitsvorkehrungen war erschreckend, angesichts der
Tatsache, dass sich Mr. Jefferson in ernsthafter Gefahr befand.
Einer Gefahr, deren Quelle sie noch nicht entdeckt hatten.

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»Wir haben Glück«, sagte Prue. »Jefferson hat ein Büro am

Ende dieses Ganges, und der Kandidat ist anwesend.«

»Dann los.« Phoebe rang sich ein Lächeln ab und versuchte

ein wenig Enthusiasmus an den Tag zu legen. Als sie aber die
beiden großen, breitschultrigen Männer vor der Tür zu seinem
Büro erblickte, verlor sie jede Hoffnung, sich mithilfe einer
Berührung einen Hinweis auf Jeffersons Zukunft erschleichen
zu können.

»Das könnte ein Problem werden«, flüsterte Phoebe. Die

beiden Männer waren aufgestanden und hatten wachsam
Haltung angenommen, als sie und Prue den Korridor betreten
hatten.

»Ich weiß.« Prue sprach leise, und auf ihren Lippen erschien

ein Vertrauen erweckendes Lächeln. »Wenn ich sie einfach aus
dem Weg stoße, wird irgendjemand die Polizei rufen, und es ist
zu spät, Piper um Hilfe zu bitten.«

»Hinterher ist man immer klüger, nicht wahr?« Phoebe setzte

ihr strahlendstes Lächeln auf, als sie und Prue sich den Männern
näherten. Sie bezweifelte, dass die beiden zwei Frauen auch nur
entfernt als ernst zu nehmende Gefahr einstufen würden. »Hey,
Jungs! Was steht an?«

»Genau das wollte ich Sie gerade fragen.« Der größere Mann

zur Linken trug einen buschigen Schnurrbart und war gebaut
wie ein Footballspieler. Er verschränkte die Hände vor sich und
wippte auf den Fersen auf und ab.

»Wir wissen, dass Sie nicht angemeldet sind.« Der Mann zur

Rechten war schmaler, hatte stahlgraue Augen, deren Blick
jegliche Illusion der Schwäche sofort zunichte machte. Er war
unverkennbar ein echter Profi.

»Sie haben Recht, wir sind nicht angemeldet«, sagte Prue.

»Aber wir müssen Mr. Jefferson wegen einer Sache, die
wirklich keinen Aufschub duldet, dringend sprechen. Es dauert

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höchstens ein paar Minuten.«

»Keine Chance.« Mr. Grauauge starrte sie mit einem

Ausdruck sturer Entschlossenheit, der Phoebe unheimlich an
Prue erinnerte, unerbittlich an. »Mr. Jefferson befindet sich in
einer Besprechung mit seinem Wahlkampfmanager, und er will
nicht gestört werden. Keine Sonderbehandlung, keine
Ausnahmen.«

Phoebe ließ Prue freie Hand und wartete auf ihren Einsatz.

»Ach so.« Prue seufzte und ließ die Schultern absacken. »Na

ja, Sie tun schließlich nur Ihre Arbeit.« Plötzlich blickte sie
lächelnd mit kokett funkelnden Augen auf. »Sorgen Sie rund um
die Uhr für Mr. Jeffersons Sicherheit?«

Phoebe fragte sich, warum Prue versuchte, mit dem Mann zu

flirten. Der große böse Sicherheitswächter war jedenfalls absolut
nicht ihr Typ. »Vierundzwanzig Stunden am Tag«, sagte
Schnurrbart. »Wo er ist, sind wir auch.«

»Ganz ohne Feierabend?«, fragte Prue.

Immun für ihre Reize, starrten die beiden Männer sie an.

Prue stubste Phoebe an und streckte die Hand dem Mann zu

ihrer Rechten entgegen. »Nun, jedenfalls war es sehr nett, Sie
kennen zu lernen.« Erneut versetzte sie Phoebe einen Stoß,
kombiniert mit einem aufgebrachten Blick. »Nicht wahr?«

»Häh?« Phoebe hatte Schwierigkeiten, mitzukommen, und so

dauerte es einen Moment, bis sie begriff, dass Prue versuchte,
sie zu einer Kontaktaufnahme mit einem der Wachmänner zu
drängen. Wenn die Wachmänner ständig mit Jefferson
zusammen waren, dann würden sie auch dabei sein, wenn ihrem
Boss irgendetwas Schlimmes zustoßen sollte. »Aber sicher.«

Phoebe machte sich auf den Kontakt gefasst und ergriff die

Hand des stämmigen Schnurrbartträgers, in der festen
Erwartung, sofort von einer so grausam brutalen Vision
überwältigt zu werden, dass ihr die eine oder andere geistige

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Sicherung durchbrennen würde. Tatsächlich passierte überhaupt
nichts. Absolut nichts. Nicht einmal ein rostiger Nagel lauerte in
der Zukunft des Sicherheitsmannes.

Nur für den Fall, dass die beiden Männern abwechselnd frei

hatten, wandte sich Phoebe zu dem anderen Mann um und
berührte seinen Arm. Wieder nichts. »Hübsche Jacke.«

Prue starrte Phoebe einen Moment völlig verblüfft an, weil

ihre Schwester immer noch sicher auf den Beinen stand, statt
sich in einer Vision von Zerstörung und Gewalt am Boden zu
krümmen.

»Na ja, ich schätze, wir sollten dann mal gehen.« Phoebe

zerrte an Prues Arm. »Wir werden einfach auf dem Weg nach
draußen einen Termin vereinbaren.«

»Halten Sie sich nicht mit dem Versuch auf, durch das Fenster

einzubrechen«, sagte Schnurrbart. »Es gibt keins.«

»Keine Sorge.« Prue brauchte keinen besonderen Anreiz, um

so schnell wie möglich zu verschwinden.

Bis die Schwestern wieder im Auto saßen, verloren sie kein

Wort über das unerwartete Ergebnis.

»Du hast nichts gesehen?«, fragte Prue, als sie den

Zündschlüssel ins Schloss steckte.

»Absolut nichts.« In einer hilflosen Geste hob Phoebe die

Hände. »Den harten Jungs droht in der Zukunft höchstens eine
Kissenschlacht.«

»Aber was hat das zu bedeuten?« Prue legte einen Gang ein,

steuerte den Wagen jedoch noch nicht aus der Parklücke.

»Ich weiß es nicht«, sagte Phoebe hilflos. »Vielleicht sind sie

in der Stunde Null doch nicht in Jeffersons Nähe.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Geschichte mit dem

Vierundzwanzig-Stunden-Sieben-Tage-Job ein Scherz war«,
entgegnete Prue.

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-129-

»Ich auch nicht«, stimmte ihr Phoebe zu, während ihre

Gedanken durcheinander wirbelten. »Bis zur Wahl dauert es
noch ein paar Wochen. Ich nehme an, was auch immer passieren
soll, muss nicht gleich passieren.«

Prue dachte einen Augenblick über ihre Worte nach.

»Möglich. Deinen Wunsch und den Wunsch des kleinen
Mädchens hat Athulak allerdings sofort erfüllt. Aber seit
Tremaines Wunsch sind schon mehr als zwei Tage vergangen.«

»Vielleicht dauert es einfach etwas länger, einen Wunsch mit

apokalyptischen Konsequenzen zu erfüllen.« Doch noch
während sie sprach, beschlich Phoebe das beunruhigende
Gefühl, dass ihr ein Stück des Puzzles entgangen war. Aber sie
konnte einfach nicht herausfinden, welches. »Jedenfalls bin ich
ziemlich sicher, dass heute Nacht nichts passieren wird, worum
wir uns sorgen müssten. Deshalb könnten wir doch jetzt ebenso
gut nach Hause fahren und eine Mütze Schlaf nehmen.« Prue
steuerte den Wagen auf die Straße.

Phoebe lehnte sich zurück, schloss die Augen und glitt wieder

in die Umklammerung verzweifelten Kummers. Der dumpfe
Schmerz in ihrem Kopf erinnerte sie ununterbrochen daran, dass
Noel Jefferson nicht das einzige Ziel für Athulaks tödlichen
Zorn war.

Sie zog Pipers Talisman aus der Tasche und umklammerte ihn

mit der Faust, während sie an den abgetrennten Fahnenmast
dachte. Vielleicht würde sie nicht herausfinden, welches
Schicksal Noel Jefferson erwartete, aber eines stand völlig außer
Frage: Athulak konnte Hexen nicht ausstehen.

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-130-

11

PIPER

ZOG EIN BLECH VOLLER

Blaubeermuffins aus dem Ofen

und stellte es zum Abkühlen auf den Herd. Vor ihnen lag ein
langer Tag, und sie wollte sicher sein, dass ihre Schwestern gut
gewappnet waren. Dank der Beteiligung lokaler und nationaler
Prominenz würde es bei der Veranstaltung von Reportern nur so
wimmeln. Ein einziges Bild von Brad Pitt, der sich an ihrem
Stand aufhielt, in der Zeitung, und das P3 wäre von einem
Augenblick auf den anderen so bekannt wie die heißesten Clubs
des ganzen Bundesstaates.

Sie hielt einen Augenblick inne und starrte sehnsüchtig ins

Nichts, während sie sich ein Titelfoto vorstellte, das sie neben
Brad Pitt zeigte. Sie fragte sich, ob sein Erscheinen bei der
Veranstaltung tatsächlich angekündigt worden war, oder ob es
sich nur um ein Gerücht handelte. Leo hatte ihr jedenfalls vor
drei Wochen hoch und heilig versprochen, zu kommen, und
bisher hatte sie von ihm nichts mehr gehört oder gesehen. »Ich
werde verrückt, wenn sich Brad Pitt auch nur als Phantom
entpuppt!« Frustriert riss Piper die Kühlschranktür auf. Wenn
die großen Bosse da oben dachten, sie käme ohne Leo nicht
mehr zurecht, würden sie ihn ihr womöglich gerade deshalb für
immer entreißen.

Phoebe schlurfte gähnend in die Küche und rieb sich die

Augen, als Piper eine Schüssel mit frischem, kleingeschnittenem
Obst auf dem Tisch abstellte.

»Morgen!«, trällerte Piper mit einem strahlenden Lächeln. Sie

wollte sich ihre Sorgen nicht anmerken lassen, denn Phoebe trug
noch Nachthemd und Pantoffeln. Sie hatte sich nicht einmal die
Haare gekämmt, die auf der einen Seite flach an ihrem Kopf
klebten und sich auf der anderen wirr kräuselten. Piper wollte
den Tag nicht gleich mit einem Streit anfangen, aber sie fragte

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sich ernsthaft, was Phoebe eigentlich in der halben Stunde, seit
dem ihr Weckalarm wieder verstummt war, getrieben hatte.

Phoebe grunzte gähnend.

»Kaffee läuft gerade durch, und da sind frische Muffins«,

sagte Piper.

Mit einem mechanischen Nicken starrte Phoebe die

Kaffeemaschine an, als könnte sie das Gerät mit reiner
Willenskraft dazu bringen, schneller zu arbeiten. Nach ein paar
Sekunden nahm sie sich eine Tasse aus dem Schrank und zog
die nur halb gefüllte Kanne unter dem Filter hervor. Einige
Tropfen der heißen Flüssigkeit tanzten über die
Warmhalteplatte, ehe der automatische Tropfschutz die Öffnung
verschloss.

»Der Kaffee ist bestimmt noch ziemlich stark.« Piper verzog

das Gesicht, löste die heißen Muffins aus ihrer Form und
richtete sie auf einem Teller an.

»Gut so.« Phoebe stellte die Kanne wieder in die Maschine,

nahm die Milch aus dem Kühlschrank, schnappte sich die
Morgenzeitung und setzte sich an den Tisch.

Jemand ist heute Morgen ziemlich verschroben, dachte Piper

verärgert, als sie die Muffins neben dem Obst auf dem Tisch
platzierte.

Phoebe war viel zu sehr in die Zeitung vertieft, um darauf zu

achten. Ihr Kaffee stand unberührt vor ihr, während ihr Finger
über die Titelseite wanderte. Dann schlug sie die Zeitung auf,
setzte ihre intensive Suche fort und nagte dabei eifrig an ihrer
Unterlippe.

Piper fragte sich, was mit Phoebe an diesem Morgen los war.

Denn gemäß dem, was Phoebe und Prue ihr in der letzten Nacht
erzählt hatten, war Phoebe mit einer kleinen Vision und zwei
totalen Fehlschlägen doch ganz gut davongekommen.

»Ist Prue schon auf?« Mit vor der Brust verschränkten Armen

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starrte Piper Phoebe an, deren Aufmerksamkeit nach wie vor
allein der Zeitung galt. »Habe ich dir schon erzählt, dass ich
bald mit Leo auf einer höheren Ebene leben werde?«

»Ohoh.« Phoebe nippte an ihrem Kaffee und blätterte eine

Seite weiter.

»Ich kann nicht fassen, dass ich wach bin, obwohl es draußen

noch dunkel ist.« Frisch geduscht kam Prue herein. Ihr
schwarzes Haar glänzte, was eine Folge energischer
Bürstenstriche war. Ihr rauchblaues Oberteil mit den Drei-
Viertel-Ärmeln und die schwarze Hose mit dem hohen Bund
unterstrichen das lebhafte Funkeln ihrer blauen Augen. Ihr
ganzes Auftreten bildete einen krassen Kontrast zu Phoebes
Erscheinung.

»Kaffee ist fertig.« Piper schenkte zwei Tassen ein und

reichte Prue eine davon. »Nachschub, Phoebe?«

»Klar.« Phoebe stellte ihren Becher ab, warf den ersten

Zeitungsteil auf den Boden und widmete sich den
Lokalnachrichten.

Piper ging zum Tisch, füllte den Becher nach und blieb, eine

Hand auf die Hüfte gestemmt, in klassischer Kellnerinnen-Pose
vor Phoebe stehen. »Okay. Was ist los?«

Prue trat zu ihnen und starrte Phoebe ebenfalls durchdringend

an.

Sekunden vergingen, ehe Phoebe überhaupt bemerkte, dass

sie im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand. Langsam
hob sie den Kopf und sah ihre Schwestern fragend an. »Ah...
Probleme?«

»Das sollst du uns sagen.« Piper machte kehrt, um die

Kaffeekanne zurückzustellen, ehe sie sich neben Prue auf einen
Stuhl fallen ließ.

»Wir hören«, sagte Prue.

»Richtig.« Piper nickte beifällig. »Warum bist du noch nicht

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angezogen? Ich hatte alles so geplant, dass wir gemütlich hätten
frühstücken können, ehe wir uns auf den Weg zum Park machen
müssen. Also? Wo liegt das Problem?«

»Ich, äh, ich... ich kann da nicht hingehen.« Phoebes Lippen

bebten, und ihre zittrigen Atemzüge verrieten, dass sie kurz
davor stand, in Tränen auszubrechen. »Da sind zu viele Leute.«

Pipers Ärger löste sich in Mitgefühl mit ihrer Schwester und

intensiven Selbstvorwürfen auf. Sie war so sehr mit der
Wohltätigkeitsveranstaltung beschäftigt gewesen, dass sie
Phoebes Probleme völlig vergessen hatte. Zudem hatte die
Belastung offenbar ein weit größeres Ausmaß angenommen, als
Phoebe eingestehen wollte.

»Wie schlimm ist es?« Pipers Stimme brach, und sie musste

sich räuspern.

»Ziemlich schlimm.« Phoebes Hand zitterte, als sie nach

ihrem Kaffeebecher griff.

»Letzte Nacht schien es dir ganz gut zu gehen«, sagte Prue.

»Ja und nein.« Phoebe trank einen großen Schluck und
massierte sich die Schläfen.

Piper und Prue warteten geduldig, bis ihre Schwester bereit

war, weiterzusprechen.

»Die Vision, als die Kassiererin sich in den Finger geschnitten

hat, war...« Phoebe unterbrach sich auf der Suche nach den
richtigen Worten. »... wie ein Flüstern, aber die physischen
Auswirkungen werden immer schmerzhafter. Und
erschöpfender. Die Verbrühung, die wir Jenny erspart haben,
war zwar viel ernster, aber die Wirkung, die die Vision auf mich
hatte, war mindestens dreimal so schlimm, wie sie hätte sein
dürfen. Versteht ihr?«

Prue nickte und legte mitfühlend die Hand auf Phoebes Arm.

»Ja, ich verstehe.« Als Piper sich beschämt abwandte, fiel ihr

Blick auf die Zeitung am Boden, und sie hob sie auf, faltete sie

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-134-

ordentlich und legte sie wieder auf den Küchentisch. »Wonach
suchst du, Phoebe?«, fragte sie sanft.

Phoebe ließ den Kopf hängen und seufzte. »Einen Artikel

über Noel Jeffersons unerwartetes Ableben.«

»Was?« Prue lehnte sich erschrocken zurück. »Aber ich

dachte...«

Phoebe streckte Prue ihre Hand entgegen. »Ich habe von den

beiden harten Jungs vor seiner Tür nichts empfangen. Und als
ich dann im Bett lag, konnte ich nicht aufhören, daran zu
denken, was geschehen wird, falls die beiden eben doch nicht
bei ihm sind, wenn Athulak seine Katastrophe einleitet.«

»Aber sie haben gesagt...«

Wiederunterbrach Phoebe ihre Schwester. »Ich weiß.

Vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.
Aber sie sind nicht während jeder Minute jedes Tages und jeder
Nacht in seiner Nähe. Sie waren nicht in Jeffersons Büro,
sondern sie standen vor der Tür. Aber er war drin. Er war außer
Sicht.«

Prue erbleichte. »Du denkst doch nicht, dass Athulak ihm

bereits einen Besuch abgestattet hat, oder?«

Phoebe schüttelte den Kopf. »Die Katastrophen, die Athulak

herbeiführt, hängen immer mit einem Wunsch zusammen, wie
bei dem durchgehenden Pony. Er handelt nicht aus eigenem
Antrieb.«

»Gerade das hat er aber gestern auf dem Parkplatz mit

Nachdruck getan.« Prue strich sich vielsagend mit dem
Zeigefinger über die Kehle.

Phoebe nickte. »Aber ich vermute, dass er Hexen hasst.

Würdest du dich nicht rächen wollen, wenn jemand dich
dreitausend Jahre lang in einem Stein einsperrt?«

»Vermutlich.« Prue griff nach einem Muffin, verharrte aber

mitten in der Bewegung. »Vielleicht sollten wir Darryl anrufen,

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um herauszufinden, ob mit Jefferson alles in Ordnung ist.«

»Nein.« Phoebe wischte sich eine Träne aus dem

Augenwinkel. »Es steht nichts in der Zeitung, und ich habe mir
nach dem Aufstehen die Nachrichten im Fernsehen angesehen.

Piper ahnte Phoebes Dilemma. Weil ihre Visionen so

schmerzhaft für sie geworden waren, stellte sie nun ihre eigenen
Motive in Frage und wusste nicht recht, warum sie sich nicht
stärker um einen Kontakt zu Jefferson bemüht hatte.

»Du hast dir jedenfalls nichts vorzuwerfen, Phoebe«, sagte

Piper. »Du wärst bestimmt nicht nach Hause gegangen, wenn du
ernsthaft angenommen hättest, dass Jefferson in der Nacht etwas
zustoßen könnte.«

»Sicher?« Phoebe warf den Kopf zurück und lachte spöttisch.

»Wenn ich daran hätte glauben können, dann hätte ich bestimmt
auch etwas Schlaf bekommen.« Sie atmete einige Male tief
durch, um die aufkeimende Hysterie zu ersticken. »Was habe
ich von einer Gabe, wenn ich durch die Nebenwirkungen wie
Kopfschmerzen und Übelkeit so eingeschüchtert werde, dass ich
sie nicht mehr anwende?«

Wie vom Blitz getroffen fuhr Prue hoch. »Oh mein Gott! Das

ist es!«

»Athulaks geheimer Plan.« Aufgeregt beugte sich Prue vor.

»Gestern konnten wir uns nicht vorstellen, warum Athulak
Phoebes Wunsch erfüllt hat, weil doch ihre verstärkte
Empfindungsfähigkeit Katastrophen verhindert, statt ein Chaos
hervorzubringen.«

»Bis hierhin komme ich ja noch mit«, sagte Piper, »trotzdem

weiß ich nicht, worauf du hinauswillst.«

»Ihr redet, ich esse.« Phoebe zog den Teller mit Muffins zu

sich heran und beugte sich vor, um eine Gabel aus der
Schublade zu nehmen. Piper nickte ihr zu. Phoebe nahm zwei
weitere Gabeln heraus, legte die eine vor Piper und die andere

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-136-

vor Prue.

»Okay. Es wird euch vielleicht kompliziert vorkommen, aber

das ist es gar nicht«, erklärte Prue. »Nicht, wenn man den
Zusammenhang erkennt.«

Piper winkte ihr zu, sich zu beeilen und nahm sich einen

Muffin.

Prue nippte kurz an ihrem Kaffee, räusperte sich und fuhr fort:

»Wir müssen mit Tremaines Wunsch beginnen, der zwei
verschiedene Punkte beinhaltet. Erstens hat er Athulak aus dem
Stein befreit, und zweitens wird die Erfüllung des Wunsches zu
einem apokalyptischen Echo führen.«

»Einverstanden.« Piper nickte.

»Gut. Da die Erfüllung von Tremaines Wunsch offensichtlich

länger dauert als die anderen Wünsche - das Pony und Phoebes
Gabe«, spann Prue den Faden weiter, »könnte es sein, dass
dieser erste Wunsch für Athulak eine größere Bedeutung hat als
die, ein paar Menschen ins Unglück zu stürzen oder kalt zu
machen.«

»Welche Bedeutung?« Phoebe legte die Stirn in Falten. Sie

sah so verwirrt aus, wie Piper sich fühlte.

»Vielleicht geht es für Athulak um Leben und Tod.« Prue

unterbrach sich, um über ihre Worte nachzudenken. »Was, wenn
sein ganzes weiteres Schicksal von diesem ersten Wunsch
abhängig ist?«

»Wenn etwas schief geht und Tremaines Wunsch nicht erfüllt

wird, ist Athulak Geschichte?«, hakte Phoebe nach.

»Die Theorie gefällt mir«, sagte Piper, »aber eigentlich hast

du doch nur geraten, oder?«

»Nicht wirklich.« Prue stand auf und ging zur

Kaffeemaschine, um Nachschub zu holen.

»Nach meinem Geschmack fällt das definitiv in die Kategorie

›Wunschdenken‹, aber ich bin mehr als bereit, mich eines

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Besseren belehren zu lassen«, verkündete Phoebe, während sie
ihre Gabel in eine Orangenscheibe bohrte.

Prue schenkte alle drei Kaffeetassen voll, während sie ihre

Erklärungen fortsetzte. »Der Schlüssel zu der ganzen Geschichte
ist Noel Jefferson, das Objekt von Tremaines Wunsch.« Prue
setzte sich und stellte die Kaffeekanne ab. »Wenn Phoebe
Kontakt zu Jefferson aufnimmt, werden wir wissen, wie sich
Tremaines Wunsch erfüllen wird.«

»Und wenn wir das wissen, sind wir vielleicht in der Lage, es

zu verhindern«, fügte Piper hinzu.

Phoebe hörte auf zu kauen und starrte ihre Schwestern an.

»Schön, aber wie hat Athulak das herausgefunden?«

Piper stellte fest, dass die Einzelteile des Puzzles sich

allmählich zusammenfügten. Athulak hatte in Tremaines
Bibliothek gesehen, wie Prue ihre Gabe genutzt hatte, und er
war ihr in den Park gefolgt. Er war schon einmal von einer Hexe
eingesperrt worden, und nun befürchtete er, eine moderne Hexe
könnte seine Pläne vereiteln.

»Athulak war im Park, als Phoebe wegen des Ponys Alarm

schlug, noch bevor es durchging.« Verblüfft lehnte sich Piper
zurück. »Und wir haben uns darüber unterhalten, dass wir Noel
Jefferson heute auf der Wohltätigkeitsveranstaltung begegnen
könnten.«

»Genauso sehe ich das«, sagte Prue. »Als Athulak entdeckt

hat, dass Phoebe in die Zukunft sehen kann, war ihm klar, dass
sie auch eine Katastrophe in Jeffersons Zukunft aufdecken
könnte.«

»Und als Phoebe dann diesen Wunsch geäußert hat«, nahm

Piper den Faden auf, »hat er ihn folglich bereitwillig gewährt
und ihre Macht verstärkt, um sie ihr auf einer anderen Ebene
wieder zu rauben.«

»Das ist so unglaublich diabolisch«, murrte Phoebe.

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»Darum nennt man diese Kreaturen Dämonen«, kommentierte

Piper.

Prue lächelte Phoebe zu. »Aber es gab einen kritischen Punkt,

den er einfach nicht bedacht hat: deine Entschlossenheit, das
Richtige zu tun, auch wenn es dich verletzen könnte.«

So leicht war Phoebe nicht zu besänftigen. »Danke, Prue.

Trotzdem kann ich dir nicht ganz folgen. Wir sind Noel
Jefferson nie nahe genug gekommen, um eine Vision
auszulösen.«

»Aber wir wollten es«, entgegnete Prue. »Wohin waren wir

gerade unterwegs, als er uns angegriffen hat?«

Phoebe blinzelte. »Zu Noel Jefferson.«

»Genau.« Prue schnappte sich einen Muffin und zog das

Papier ab. »Ich schließe den Beweisvortrag ab.«

»Gekauft. Aber ich konnte meine Mission immer noch nicht

erfüllen.« Phoebe legte ihre Gabel ab und verzog gepeinigt das
Gesicht. »Wir haben keine Ahnung, wie Athulak verhindern
will, dass Jefferson an der Wahl teilnimmt.«

»Es ist noch nicht zu spät, das herauszufinden«, sagte Piper.

»Jefferson plant nach wie vor, heute auf der Veranstaltung eine
Rede zu halten. Gegen elf Uhr, glaube ich.«

»Ich gehe mich anziehen.« Mit diesen Worten stürmte Phoebe

aus der Küche.

»Ich schätze, wir sollten keine Zeit verlieren.« Piper stellte

den Teller mit Muffins und die Schale mit dem Obst auf der
Arbeitsplatte ab.

»Wir brauchen noch mindestens eine Stunde.« Prue ergriff die

Kaffeekanne und stellte sie wieder in die Maschine. »Ich weiß
nicht, wie es dir geht, aber ich werde mich bedeutend besser
fühlen, wenn ich einen frischen Talisman bei mir tragen kann.«

Piper reichte Prue eine Rolle Cellophanpapier. »Du räumst

auf, ich koche.«

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Pipers Nerven waren zum Zerreißen gespannt, als sie die

Zutaten zusammensammelte und den Zettel mit den
Anweisungen zur Herstellung des Suds auseinander faltete. Der
Windgeist war imstande, sich die Gestalt einer unsichtbaren,
todbringenden Molekularklinge zu geben. Und er konnte diese
Klinge sogar mit genügend Kraft ausstatten, um einen
Fahnenmast durchtrennen zu können. Drei Hälse aus Fleisch
und Blut würden ihm im Vergleich dazu kaum Schwierigkeiten
bereiten. Er hatte schon einmal versucht, Phoebe auf diese
mörderische Weise davon abzuhalten, Noel Jefferson zu
berühren. Es wäre eine riesige Dummheit anzunehmen, dass er
es nicht wieder tun würde.

Die Talismane waren vielleicht ihr einziger Schutz, wie Piper

frustriert feststellte, als sie die Kunststoffschale mit rohen
Hühnerherzen aus dem Kühlschrank nahm. Es gab noch eine
andere, wenig erfreuliche Alternative, die keine von ihnen
bedacht hatte. Da Phoebe im Waschraum eingesperrt gewesen
war, als Jefferson das städtische Gebäude verlassen hatte, war
Athulak ihm möglicherweise einfach gefolgt. Dann hätte er
gewusst, dass Prue und Phoebe nicht an den Wachmännern in
der Wahlkampfzentrale vorbeigekommen waren. Vielleicht war
er ihnen sogar bis nach Hause gefolgt.

Piper starrte die Falkenfedern in dem Plastikbeutel mit einem

flauen Gefühl im Magen an. Der Bann, den sie dem Buch der
Schatten
entnommen hatte, war geschrieben worden, um
Tornados und Orkane abzuwehren. Sie hatte ihn lediglich ein
wenig abgewandelt, um mit Hilfe der Magie auch einen Dämon
zu erfassen, der in Form eines Windes sein Unwesen trieb. Und
sie hatte absolut keinen Beweis dafür, dass die Talismane
wirklich funktionierten.

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12

O

BWOHL DIE WOHLTÄTIGKEITSVERANSTALTUNG

erst in einer

Stunde die Tore für die Allgemeinheit öffnen würde, herrschte
auf dem Gelände rege Aktivität, als Prue gegen acht Uhr auf den
Parkplatz einbog.

»Weißt du überhaupt, wo dein Stand ist?«, fragte Prue Piper,

als die Schwestern aus dem Auto stiegen. Während einige
Standbetreiber ihre eigenen Aufbauten samt Generatoren
mitgebracht hatten, hatte Piper einen Stand samt Zuleitung für
das Stromnetz vom Veranstalter gemietet. Die meisten dieser
Stände befanden sich in der Nähe der Pavillons auf der anderen
Seite des Picknickareals.

»Nicht genau.« Piper blickte von dem Lageplan auf, den die

Veranstalter ihr geschickt hatten, und schirmte die Augen mit
der Hand ab, während ihr Blick über das Gelände schweifte.
Erneut betrachtete sie den Plan, ehe sie mit der Hand auf einen
Pavillon im Schatten hoher Palmen und Laubbäume zu ihrer
Linken deutete. »Ich glaube, wir sind da drüben.«

Prue schlang sich den Riemen ihrer Kameratasche über die

Schulter und schloss den Wagen ab. Zwar hatte sie die andere
Tasche mit Ausrüstungsgegenständen sicher unter dem Sitz
verstaut, dennoch wollte sie kein unnötiges Risiko eingehen.

Phoebe lehnte sich an die Motorhaube, die Arme vor der

Brust verschränkt, eine Haltung, die verriet, wie wenig sie
geneigt war, irgend jemanden zu berühren. Vor allem, dachte
Prue, musste Phoebe davor geschützt werden, mit
irgendjemandem außer Noel Jefferson in Körperkontakt zu
treten. Dies hatten sie und Piper sich geschworen, nachdem
Phoebe die Küche verlassen hatte. Den zukünftigen
Kongressabgeordneten und mit ihm die ganze Welt zu retten,
war jedoch unumgänglich.

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»Ich hoffe, Jimmy und die anderen sind früh genug

eingetroffen, um die Lieferanten zu empfangen«, sagte Piper
nervös.

»Ich frage mich, ob Rick auftauchen wird«, sagte Prue.

»Keine Ahnung, aber das werde ich gleich herausfinden. Wir

sehen uns dann, sobald ich sicher bin, dass alles unter Kontrolle
ist.« Mit diesen Worten zog Piper von dannen, um ihren Stand
zu suchen. Prue musterte Phoebe aufmerksam, doch ihre kleine
Stichelei in Bezug auf Rick war ungehört verhallt. Der ernste
Blick ihrer Schwester ruhte unverwandt auf dem stillen
Vergnügungspark, der sich im Norden an das Picknickgelände
anschloss. Dominiert von einem Riesenrad, einem reich
verzierten Karussell und einer Achterbahn, deren Loopings
vergleichsweise harmlos waren, breitete sich der Gold Coast
Vergnügungspark wie eine langsam wachsende Amöbe in der
Landschaft aus, seit er vor zehn Jahren zum ersten Mal die Tore
geöffnet hatte. Trotzdem hatte es in den vergangenen Monaten
Gerüchte gegeben, denen zufolge diese veraltete Attraktion
geschlossen werden sollte.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Prue.

Phoebes Blick streifte Prue für einen Moment, ehe er sich

wieder voll und ganz dem Vergnügungspark zuwandte. »Ich war
noch nie hier, während Gold Coast geschlossen war. Irgendwie
ist das unheimlich, als wäre der ganze Park gestorben, als die
Lichter ausgingen und das Geschrei und die Zirkusmusik
verklangen.« Sie schwieg, und ein feuchter Schleier legte sich
über ihre Augen, ehe sie wieder das Wort ergriff. »Verklungen
zu den Echos unschuldigerer, glücklicherer Zeiten oder so. Als
wir noch Kinder waren.«

»Für diese Tageszeit sind das erschreckend tiefschürfende

Gedanken«, kommentierte Prue in dem Versuch, ihrer
Schwester über die Melancholie hinwegzuhelfen. Aber sie
wusste auch, dass Phoebe durchaus imstande war, allein aus

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dieser persönlichen Krise herauszufinden. Für Kapitulation war
im genetischen Erbe der Halliwells schon seit Jahrhunderten
kein Platz.

»Okay.« Phoebe richtete sich auf und schenkte Prue ein

Lächeln. »Für einen Tag habe ich mich lange genug der
Schwermut hingegeben. Kümmern wir uns um unsere
Aufgaben, damit wir uns irgendwann auch ins Vergnügen
stürzen können.«

»Ich bin bereit.« Prue warf einen Blick in die Richtung, in der

Piper verschwunden war. »Willst du Piper helfen oder lieber
mitkommen, wenn ich mir die Bühne ansehe, auf der Tremaine
und Jefferson sprechen werden?«

Phoebes innerer Kampf spiegelte sich deutlich auf ihrem

Gesicht.

»Ich verstehe schon, wenn du dich lieber in der Nähe von

diesem Rick herumtreiben willst«, fügte Prue hinzu.

Das Leuchten, das sich bei der Erwähnung dieses Namens in

Phoebes Augen gezeigt hatte, hielt kaum einen Moment an.
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.«

»Dann los.« Die beiden Schwestern gingen, Prue voran, zu

einem großen Holzpavillon, an den eine große Überdachung aus
blauweißem Segeltuch grenzte. Innerhalb des Pavillons waren
Arbeiter damit beschäftigt, die Bühne aufzubauen, Stühle für
das Publikum aufzustellen und Kabel für die Lautsprecheranlage
zu ziehen. Schulchöre und aufstrebende Popbands sollten sich
die Bühne mit den Prominenten und den Politikern teilen.

Phoebe hielt sich dicht an Prue, als sie sich einen Weg über

einen breiten Joggingpfad bahnten. Von den Leuten abgesehen,
die Ausrüstungsgegenstände aller Art durch die Gegend karrten,
war der Pfad kaum genutzt. Phoebe entspannte sich ein wenig.
Die meisten Standbetreiber waren ohnehin hektisch damit
beschäftigt, ein letztes Mal Hand an ihre Stände zu legen.

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»Da, sieh mal, die Stoffpuppen!«, rief Phoebe aufgeregt. Die

Frau, welche die in altem Stil gehaltenen Stoffpuppen in weißen
Baumwollkleidchen und cremeweißen Schürzchen auspackte,
streckte Phoebe eine der Puppen entgegen, doch Phoebe
schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.«

»Was willst du mit einer Stoffpuppe?«, fragte Prue durchaus

erfreut angesichts der Tatsache, dass Phoebe Interesse an etwas
anderem als ihrer unerfreulichen Mission zeigte.

»Sie sind einfach allerliebst!«, sagte Phoebe achselzuckend

mit einem verlegenen Grinsen auf den Lippen. »Auf meinem
Bett sieht sie bestimmt absolut süß aus.«

Eine süße Erinnerung an vergangene Tage und unschuldigere

Zeiten, wie Prue mit einem Lächeln erkannte. Als sie sich nun
wieder auf dem Gelände umblickte, stellte sie fest, dass die
ganze Veranstaltung dazu angetan war, eine gute, von
Gemeinsinn getragene Stimmung zu erzeugen.

An den Ständen wurde alles Mögliche von handgearbeitetem

Schmuck und Holzspielzeugen bis hin zu exotischen Leckereien
und Hotdogs angeboten. Einige Stände offerierten Sportgeräte
und sogar Whirlpools. Wieder andere dienten verschiedenen
Organisationen dazu, sich vorzustellen:
Bürgerrechtsbewegungen und politische Gruppen, außerdem
Organisationen, die sich der kulturellen Bildung oder der
Gesundheitsvorsorge widmeten. Dann gab es noch Stände wie
der des P3

und einige, die von den Sponsoren verschiedener

Mannschaftssportarten betrieben wurden. Wieder andere warben
für allerlei familienbezogene Freizeitaktivitäten. Prue war
beeindruckt von der Vielfalt, dem Einfallsreichtum und der
Begeisterung, mit der die Betreiber bei der Sache waren.
Insgeheim fragte sie sich, ob nicht der eine oder andere seine
eigene Familie während der Vorbereitungen für das große
Ereignis in den Wahnsinn getrieben hatte. Jedenfalls hatte Piper
offenbar gewusst, was sie tat, als sie den Vertrag für ihren Stand

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unterzeichnet hatte. Allem Anschein nach rechnete hier jeder
mit einem gewaltigen Andrang.

»Ich rieche Kaffee.« Phoebe hielt inne, um den

verführerischen Duft einzuatmen, der aus dem weißblauen Zelt
zu ihnen herüberwehte. »Ich könnte noch ein oder zwei Tassen
vertragen.«

»Dito«, stimmte Prue zu, während sie darüber nachdachte,

was sie als Nächstes tun sollten.

Das Zelt war an zwei Seiten offen, aber mit Seilen abgesperrt.

Die Rückseite verdeckte eine Wand aus Segeltuch, während die
dem Pavillon zugewandte Seite nur teilweise abgesperrt war, um
Platz für einen Eingang zu lassen. Tische und Stühle wurden
unter dem Stoffdach hin und hergerückt. Zwei Frauen
bestückten die Tische an der rückwärtigen Zeltwand mit Platten,
auf denen Blätterteiggebäck und Doughnuts lagen. Außerdem
standen auf den Tischen zwei große, professionelle
Kaffeeautomaten, Sahnekännchen, Zucker und diverse Sorten
Tee, sowie ein Wasserkühler und Krüge mit geeisten Softdrinks.
Über dem Eingang des Zeltes baumelte ein Schild, auf dem zu
lesen stand: Nur für Presse und geladene Gäste.

»Ich nehme an, wir gehen nicht als geladene Gäste durch,

was?« Verärgert runzelte Phoebe die Stirn.

»Nein, aber vielleicht als Presseleute.« Prue fischte ihren 415-

Ausweis aus ihrer ledernen Handtasche und gab Phoebe ihre
Kameratasche. »Du bist gerade als Assistentin angeheuert
worden.«

»Du bist ein schlimmes Mädchen«, tadelte Phoebe grinsend.

»Ich weiß.« Prue verkniff sich das Lachen, als sie mit der

Haltung von Menschen, die genau wussten, wer sie waren und
wohin sie gingen, auf das Zelt zuhielten.

Die attraktive junge Frau, die an einem kleinen Tisch am

Eingang saß, blinzelte verblüfft, als Prue an ihr vorbeistolzierte,

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ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. »Einen
Augenblick, Miss!«

Prue blieb stehen und winkte Phoebe zu, weiterzugehen, ehe

sie sich mit einem verwunderten Stirnrunzeln zu der Frau
umdrehte. »Ja, was gibt es?«

»Äh... dieses Zelt ist nicht für den Publikumsverkehr

geöffnet.« Die Frau, Louise ihrem Namensschild zufolge,
machte einen ehrlich verlegenen Eindruck, als sie auf das Schild
deutete. »Nur Presse und geladene Gäste, tut mir Leid.«

Prue trat an den Tisch und hielt der Frau ihren Presseausweis

vor die Nase. »Prue Halliwell, Fotografin, 415Kurz sah sie
sich nach Phoebe um. »Und meine Assistentin.«

Louise betrachtete blinzelnd den Ausweis. »Oh, cool!« Sie

lächelte. »Bitte, sehen Sie sich um. Sie dürfen es sich gern
bequem machen und sich am Büffet bedienen.«

»Danke!«, entgegnete Prue ebenfalls lächelnd. »Mein

Redakteur möchte, dass ich die Stimmung der Veranstaltung
einfange. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie für meine
Zeitschrift ablichte?«

»Mich?« Errötend strich Louise ihr kurzes dunkles Haar glatt.

»Äh... nein. Ich meine, das wäre toll.«

»Hervorragend!« Prue machte Anstalten, die junge Frau allein

zu lassen, hielt aber dann inne. »Wissen Sie, wann Mr. Jefferson
seine Rede halten wird? Ich habe meinen Terminplan im Wagen
vergessen.«

»Um elf Uhr. Ich habe gerade mit ihm gesprochen. Er wird

etwa eine Viertelstunde vorher eintreffen.« Louise deutete zum
Beweis auf ihr Mobiltelefon und beugte sich vor, um in
verschwörerischem Ton fortzufahren: »Ich habe heute Morgen
auch schon mit Whoopi Goldberg gesprochen. Sie wird sich
verspäten.«

»Na ja, wenigstens hat sie nicht abgesagt. Noch einmal danke.

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Ich bin in ein paar Minuten wieder da.« Nunmehr überzeugt,
dass sie und Phoebe den ganzen Tag über Zutritt zu dem Zelt
haben würden, schenkte sich Prue einen Kaffee ein und gesellte
sich zu Phoebe, die an einem Tisch in der hinteren Ecke wartete.

»Alles in Ordnung?«, fragte Phoebe zweifelnd und blickte zu

Louise.

»Absolut.« Prue nahm ihre Kamera aus der Tasche und stellte

sie auf dem Tisch ab. »Wenn irgendjemand fragt, sag einfach
meinen Namen und die Zeitschrift und behaupte, du würdest mir
assistieren. Louise da drüben wird deine Aussage bestätigen.«

»Damit komme ich klar.« Phoebe verspannte sich, als zwei

Frauen und ein Mann, mit Klemmbrettern und Aktentaschen
ausgerüstet, am Nebentisch Platz nahmen. Aber sie waren voll
und ganz mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt und
achteten gar nicht auf die Schwestern.

»Also, wie sieht der Plan aus?«, fragte Phoebe mit leiser

Stimme. »Das heißt, haben wir einen Plan?«

»Jetzt schon.« Prue beugte sich zu ihr. »Aber zuerst die guten

Neuigkeiten. Louise hat gerade mit Jefferson gesprochen. Keine
Unglücksfälle in der letzten Nacht.«

Erleichtert legte Phoebe die Hand an ihr Herz. »Gott sei

Dank. Und was jetzt?«

»Du wirst einfach hier sitzen bleiben und warten, während ich

mit Piper spreche«, sagte Prue. »Es könnte ein bisschen voll
werden, aber ein Stelldichein mit Promis ist bestimmt nicht so
schlimm wie das Gedränge vor dem Zelt.«

Phoebe nickte lächelnd. »Wir haben uns schon mit

schlechteren Plänen herumgeschlagen. Bruce Willis steht nicht
zufällig auf der Gästeliste, oder?«

»Bruce Willis?« Prue betrachtete Phoebe fragend. »Seit wann

steht Bruce Willis denn auf deiner Liste berühmter Filmstars,
die du unbedingt kennen lernen musst, so weit oben?«

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»Er ist sexy und süß«, sagte Phoebe. »Für so einen alten

Typen jedenfalls. Genau wie Mel Gibson und Harrison Ford.«

»Mit dir geht die Fantasie durch.« Prue erhob sich und nahm

die Kamera an sich. »Ich schätze, ich sollte ein bisschen
herumwandern und die Fotografin spielen. Schließlich wollen
wir nicht, dass Louise misstrauisch wird und uns vor die Tür
setzt.«

»Nicht, solange wir unter fünf Dutzend Doughnuts wählen

können«, scherzte Phoebe mit einem Blick auf die Tische.

»Jefferson wird erst in ein paar Stunden eintreffen, aber ich

bin vor ihm wieder hier. Mit ein bisschen Glück kannst du hier
im Zelt einen Kontakt herstellen, bevor er seine Rede hält.« Der
leichte Schatten, der sich über Phoebes vergnügte Miene legte,
entging Prue nicht. »Bist du sicher, dass du hier allein
zurechtkommst?«

»Machst du Witze?« Phoebe setzte eine fröhliche Miene auf

und deutete auf den VIP-Bereich. »Ich habe jede Menge Kaffee
und eine Verabredung mit einem Haufen wichtiger Promis. Was
könnte ich mir mehr wünschen?«

Die Kamera im Anschlag machte sich Prue auf, ein paar

Bilder zu knipsen und den Handel mit Louise perfekt zu
machen.

»Das habt ihr wirklich großartig gemacht!« Zum ersten Mal

seit einer Woche war Piper wirklich überzeugt davon, dass sie
eine kluge Entscheidung getroffen hatte, als sie ihre begrenzten
PR-Gelder in einen Stand auf der Wohltätigkeitsveranstaltung
investiert hatte.

Jimmy, Rick und zwei von Jimmys Freunden hatten Tische,

Stühle, Hocker, den Kühlschrank und alle möglichen anderen
Requisiten in Rekordtempo aufgestellt. Sie hatten sogar die
Verkabelung für den Auftritt der Hard Crackers am Nachmittag

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vorbereitet. Bis dahin würde Jimmys Rockmusik-Sammlung für
die richtige Stimmung sorgen.

Sandy und Monica, die an diesem Tag kellnerten, wippten zu

dem Klang eines alten Cars-Songs, während sie die Tische mit
rotweiß karierten Tischtüchern bedeckten und mit roten
Geranien schmückten. Serviettenhalter dienten als
Briefbeschwerer, um die Werbezettel des P3 gegen die leichte
Brise zu sichern.

Die Wohltätigkeitsveranstaltung versprach, ein voller Erfolg

zu werden, vorausgesetzt, Athulak schwebte nicht vom Himmel
hernieder, um Rache zu üben. Piper betastete den Talisman in
ihrer Tasche und rieb sich vor Anspannung beinahe ein Loch in
den Hals. Sollte sie tatsächlich enthauptet werden, so würde Leo
vermutlich auf ihr Schicksal aufmerksam werden, wo auch
immer er sich gerade aufhielt. Aber sie bezweifelte, dass seine
Heilkräfte ausreichten, um sie wieder zusammensetzen zu
können.

»Wow! Das sieht fantastisch aus!« Prue tauchte hinter Piper

auf, verschränkte die Arme und nickte anerkennend, während
sie den Stand in Augenschein nahm.

Piper strahlte trotz ihrer sorgenvollen Gedanken. »Ist es auch

nicht übertrieben? Ich meine, im P3 gibt es keine Blumen.«

»Nein, es ist absolut perfekt. Und mir gefällt, was du mit den

Fotos gemacht hast.« Prue ging zu der Staffelei, die Piper auf
der linken Seite des Standes aufgebaut hatte. Die Bilder, die das
P3 während des Betriebes zeigten, hingen an einer Pinnwand,
die auf dem hölzernen Ständer thronte. »Die sind richtig gut
geworden, findest du nicht?«

»Ja, danke.« Piper bemerkte, dass sie sich erneut mit der

Hand an den Hals fuhr und rammte beide Hände in die Taschen.
»Gibt es etwas Neues über Jefferson?«

»Ich habe herausgefunden, dass er noch am Leben und

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kerngesund ist. Er wird etwa gegen Viertel vor elf im Zelt
erwartet.«

Piper zog einen gefalteten Terminplan aus der Tasche.

»Tremaine spricht sofort nach ihm um elf Uhr fünfundvierzig.«

Prue runzelte die Stirn. »Ich frage mich, ob das Athulak in die

Hände spielen könnte. Wir werden sehen, ob Phoebe
Gelegenheit bekommt, Kontakt herzustellen, bevor er seine
Rede hält.« Rasch sah sich Prue um, um sicherzustellen, dass
niemand in der Umgebung die Ohren spitzte. »Ich weiß, dass
wir unsere Du-weißt-schon-was in der Öffentlichkeit sowieso
nicht benutzen können, aber du solltest für alle Fälle trotzdem
dort sein.«

»Moralische Unterstützung, wenn wir sonst nichts tun

können.« Piper wusste, dass sie ihre Kräfte einsetzen mussten,
wenn sie keine andere Wahl hatten, aber nur, wenn es wirklich
keinen anderen Ausweg mehr gab. Zweifelnd sah sie sich zu
dem Festzelt um. »Wo ist Phoebe?«

»Die sitzt im VIP-Zelt und hofft, dass ihr Bruce Willis über

den Weg läuft.« Prue stellte ihre Kamera auf dem Tresen ab, der
sich über die ganze Länge des Standes zog, und kletterte auf
einen Barhocker. Als Rick auf der anderen Seite mit einem
Schraubenschlüssel in der Hand auftauchte, zuckte sie
zusammen.

»Phoebe kennt Bruce Willis?« Ricks Brauen runzelten sich

unter einer Flut ungezähmten blonden Haares.

»Das war mir auch neu.« Piper thronte neben ihr auf einem

Barhocker. »Wie auch immer, ich bin froh, dass du deine
Kamera mitgebracht hast. Wenn Brad Pitt vorbeikommt, ist
bestimmt wieder weit und breit kein Reporter in Sicht.«

Ricks Unterkiefer klappte herab. »Du kennst Brad Pitt?«

»Wir sind nur befreundet.« Piper brach in schallendes

Gelächter aus. »Nein.«

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»Keine Sorge, Rick«, sagte Prue. »Zufällig weiß ich, dass

Phoebe auf große, schlanke Typen mit sandblondem Haar steht.
Bruce ist klein und praktisch kahl.«

Ricks Interesse an Phoebe schien seinen Sinn für Humor zu

stören, stellte Piper fest. Anscheinend verstand er den Witz
nicht. »Phoebe kennt keine Filmstars«, fügte sie deshalb hinzu.

Phoebe starrte den grauhaarigen Mann auf der anderen Seite

des Tisches fasziniert an. Er war zwar nicht Bruce Willis, aber
sie hatte ihn im Laufe der Jahre Dutzende von Malen in Filmen
und Polizeiserien im Fernsehen gesehen. Trotzdem kannte sie
seinen Namen nicht.

»Das Beste war die Stelle, an der er sich vorbeugt und die

Naht seiner Hose platzt«, erzählte der alte Schauspieler
kichernd. »Er hat dafür gesorgt, dass sie den Film vernichten
mussten.«

»Musste wohl sein männliches Image schützen, was?« Phoebe

lächelte.

»Männlich mit weichen Knochen.« Der alte Schauspieler

blickte sie mit vergnügt funkelnden Augen an. »Aber von mir
haben Sie das nicht.«

»Ich kann schweigen«, sagte Phoebe.

»Nun, ich bekomme immer noch hier und dort eine kleine

Rolle, aber er ist schon seit zehn Jahren nicht mehr auf der
Leinwand zu sehen gewesen. Im Fernsehen auch nicht.« Die
gute Laune des alten Mannes war ansteckend, und Phoebe
musste lachen.

Nachdem Prue sie verlassen hatte, hatte sie eine Stunde damit

zugebracht, in der kitschigen Schauergeschichte zu schmökern,
die sie von zu Hause mitgenommen hatte. Die nächsten dreißig
Minuten hatte sie all die örtlichen TV-Größen aus den
Nachrichtensendungen und die vielen Schauspieler angegafft,

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die sie in dem Zelt hatte entdecken können. Sie strömten in das
Zelt hinein und wieder hinaus, nahmen sich eine Auszeit vom
Bad in der Menge oder benutzten es als Garderobe vor einem
Auftritt, mit dem sie die Besucher der Veranstaltung zu
großzügigen Spenden ermutigen wollten. Die meisten der nicht
ganz so schrecklich Prominenten hatten sie schlicht ignoriert.
Ein paar hatten ihr zugelächelt oder sie im Vorübergehen
gegrüßt, was ihr ganz recht war, da sie im Gegenzug nicht einen
von ihnen beim Namen hätte nennen können.

Dann war ihr charmanter älterer Gesprächspartner mit einem

Doughnut in einer, einer Tasse Kaffee in der anderen Hand
herübergeschlendert und hatte sie gefragt, ob ersieh zu ihr setzen
dürfte. Da der Stuhl an ihrem Tisch der einzig freie Sitzplatz im
ganzen Zelt war, hatte sie ihn schlecht abweisen können. Also
hatte sie die letzte halbe Stunde damit zugebracht, seinen
Geschichten über die Arbeit an diversen Drehorten zu lauschen.

Es gab nur ein Problem: Als er nach einer Serviette gegriffen

hatte, hatte er ihre Hand berührt.

Es war die erste Vision dieses Tages, und ihre

Nachwirkungen waren nicht so schlimm wie erwartet. Dennoch
hatte sie ihren ganzen Willen aufbringen müssen, um still sitzen
zu bleiben, während das Hämmern in ihrem Schädel und die
Woge der Übelkeit sie zu überwältigen drohten. Aber auch das
war nicht das wirkliche Problem. Wie, so fragte sich Phoebe,
sollte sie diesem süßen, aber streitsüchtigen alten Knaben sagen,
dass seine falschen Zähne ihm auf der Bühne aus dem Mund
fallen würden?

»Da ist Noel.« Eine Frau am Nebentisch sammelte ihre

Papiere ein und stopfte sie in eine Aktentasche.

Phoebe richtete sich auf, um an dem alten Mann vorbei einen

Blick zum Eingang des Zeltes zu werfen. Groß, blond, mit
einem jungenhaften Grinsen auf dem Gesicht, betrat Jefferson
das Zelt. Mitarbeiter und Vertraute umgaben ihn wie ein

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Gefolge. Phoebe erkannte Jenny, den Rotschopf, Charlie mit
dem Klemmbrett, und Schnurrbart und seinen hageren,
gefährlich aussehenden Partner aus der Wahlkampfzentrale des
Kandidaten. Dazu kamen noch ein gutes Dutzend anderer
Männer und Frauen, von denen einige offenbar Reporter waren.

Von Piper und Prue war nichts zu sehen.

»Wer ist das?« Der alte Mann drehte sich auf seinem Stuhl

um, um nachzusehen, was den Aufruhr am Eingang verursachte.

»Noel Jefferson«, sagte Phoebe. »Er kandidiert für den

Kongress.«

Als sich die Menschenmenge vor dem Kandidaten teilte, sah

Phoebe, dass Jeffersons Hand auf dem Rücken einer hübschen
blonden Frau ruhte, die einen breiten Strohhut trug. Die Frau
wiederum hielt die Hand eines sommersprossigen Jungen von
etwa acht Jahren.

Unverheiratet, aber anscheinend gebunden, dachte Phoebe.

Prue tat ihr ein bisschen Leid. Das Gerede beim Picknick, bei
dem es um den romantischen Aspekt einer möglichen
Bekanntschaft Prues mit dem Kongresskandidaten gegangen
war, hatte lediglich scherzhaften Charakter gehabt. Trotzdem
stand nicht einmal ein kleiner Flirt zur Diskussion, wenn der
Typ seine Freundin dabei hatte.

Phoebe blickte auf ihre Armbanduhr und erhob sich. Bis zu

Jeffersons Auftritt blieben noch fünf Minuten.

»Die verdammten Politiker bekommen heutzutage mehr

Aufmerksamkeit als unsereins«, schnaubte der alte Schauspieler
kopfschüttelnd, als er sich wieder umdrehte. »Sagen Sie nicht,
Sie wollen gehen. Ich bin doch gerade erst warm geworden.«

»Ich würde wahnsinnig gern bleiben und zuhören, aber ich

muss wirklich los.« Dann gab sich Phoebe einen Ruck, beugte
sich vor und flüsterte in sein Ohr. Sie konnte einfach nicht
daneben stehen und zulassen, dass der alte Mann vor all den

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Leuten in eine derart peinliche Lage geriet. »Das klingt jetzt ein
bisschen seltsam, aber Sie sollten unbedingt vor dem Auftritt
überprüfen, ob Ihr Gebiss richtig sitzt. Nicht böse sein.«

Er streckte die Hand aus und drückte kurz ihren Arm. »Bin

ich nicht. Danke.«

»Wenn ich kann, sehe ich mir Ihren Auftritt an.« Damit

verschwand Phoebe hastig in Richtung Büffet, wo das Gedränge
nicht ganz so dicht war. An diesem Tag sorgte sie sich nicht
darum, ob Jeffersons Bodyguards versuchen könnten, sie
aufzuhalten. Der Kandidat schüttelte ohnehin jedem in seiner
Reichweite die Hand in der Hoffnung, zusätzliche Stimmen zu
gewinnen. Sollte sie aber durch irgendjemanden anderen eine
Vision erhalten, bevor sie ihn erreicht hatte, war die Gelegenheit
verloren. Aufmerksam studierte sie das Innere des Zeltes, ehe
sie einen Kurs wählte, mit dem sie zu ihm durchkommen würde
vorausgesetzt niemand berührte sie zuvor.

Die Arme dicht an den Körper gepresst, schlängelte sich

Phoebe ohne Zwischenfälle an den Tischen vorüber. Ganz in der
Nähe der Menschentraube, die sich um den Kandidaten gebildet
hatte, hielt sie inne, um zu überlegen, was sie nun tun sollte.

»Wie stehen Sie zur Regulierung der

Wahlkampffinanzierung?«, erkundigte sich ein Reporter.

Jefferson versuchte gar nicht, sich einer direkten Antwort zu

entziehen. »Wir müssen eine klare Trennlinie zwischen der
Finanzierung eines Wahlkampfes und der Politik selbst ziehen.
Nur so können wir unsere gewählten Repräsentanten vor dem
Einfluss finanzstarker Interessengruppen schützen. Die erste und
einzige Priorität der Regierung müssen die Menschen sein, die
sie gewählt haben.« Unter anderen Umständen hätte Phoebe
Jefferson zugejubelt.

Die Reporter und Fernsehteams drängelten sich vor Jefferson.

Schnauzbart und sein finster aussehender Kollege standen zu
beiden Seiten des Kandidaten, knapp einen Schritt hinter ihm,

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sowie seiner Freundin und dem Kind. Noch weiter hinten sah
Phoebe Piper und Prue aufgeregt winken.

Ein rascher Blick in die Runde bewies, dass Piper die ganze

Szene nicht einfach einfrieren konnte, um ihr zu helfen.
Zusätzlich zu den vielen Menschen in dem ohnehin schon
überfüllten Zelt, drängten immer noch weitere herein. Im
Zuschauerbereich warteten gut und gern hundert Leute darauf,
Jeffersons Rede zu hören. Fast jeder von ihnen verfolgte derzeit
die improvisierte Pressekonferenz.

»Ich will einen Doughnut.« Das Kind zerrte an der Hand

seiner Mutter.

Die Frau beugte sich zu ihm herab, um ihn zu beschwichtigen.

»In einer Minute, Paul.«

Als es ihr gelang, Prues Aufmerksamkeit kurz auf sich zu

lenken, gab Phoebe ihr einen Fingerzeig, dass sie versuchen
würde, sich Jefferson von hinten zu nähern. Wenn sie die Menge
als Schild benutzte, würde sie sich keiner allzu großen Gefahr
aussetzen. Sie würde viel zu viel Aufmerksamkeit erregen, sollte
sie zusammenbrechen, während sie dem Kandidaten die Hand
schüttelte. Ihr reichte es vollkommen, seine Schulter oder seinen
Arm zu berühren, und niemand würde merken, wenn sie im
Rücken der Menschen, die sich um ihn drängten,
zusammenklappte.

Prue und Piper wechselten ein paar Worte, dann duckte sich

Prue unter den Seilen hindurch, um Phoebe zu unterstützen.

Darauf bedacht, niemanden zu berühren, hatte Phoebe am

äußeren Rand des Gedränges schon den halben Weg zu ihrem
Ziel zurückgelegt, als sich die Menge plötzlich in Bewegung
setzte. Alles drängte voran, als der Conferencier Jefferson auf
die Bühne rief.

Phoebe ballte die Hände zu Fäusten. Sie hatte keine Ahnung,

was sie nun tun sollte.

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Prue hob die Hand und warf ihr einen fragenden Blick zu.

Vor dem Zelt verfolgte Piper hilflos die Vorgänge im Inneren.

Da sie wusste, dass sie vermutlich keine zweite Chance

bekommen würde, schlich sich Phoebe von hinten weiter an
Jefferson heran. Unterdessen setzten die Leibwächter gerade an,
sich hinter ihm aufzubauen. Als der Kandidat zur Bühne ging,
sprang sie.

In diesem Augenblick riss sich das Kind von der Hand seiner

Mutter los, wirbelte um die eigene Achse und prallte mit Phoebe
zusammen.

Von dem Aufprall zurückgeworfen, lag Phoebe am Boden, als

sie von einer neuen Vision überwältigt wurde.

... an eine Eisenstange geklammert... der Junge schreit vor

Angst... sieht, wie Noel Jefferson an der höchsten Stelle vom
Riesenrad stürzt...

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-156-

13

P

RUE KONNTE KAUM FASSEN

,

dass alle Mühe umsonst

gewesen war.

»Paul!«, schrie die Frau mit dem Strohhut, als Phoebe sich am

Boden krümmte.

Als Prue sich durch das Gedränge der Reporter schob, sah sie

wie Noel Jefferson sich umwandte.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Jefferson erstaunt.

»Nichts, worum Sie sich sorgen müssten, Sir«, entgegnete der

größere der Bodyguards, während er den Kandidaten zur Bühne
drängte.

Der Leibwächter mit den grauen Augen drehte sich um, als

die Mutter des Jungen neben ihrem Kind in die Knie ging. Die
unzähligen Reporter verdeckten ihm die Sicht, sodass er Phoebe
gar nicht bemerkte und sich gleich wieder zu Jefferson
umwandte.

»Das wollte ich nicht«, sagte der Junge schniefend. Tapfer

bemühte er sich, die Tränen zurückzuhalten. »Aber du hast
gesagt, ich kann einen Doughnut haben!«

»Es ist alles in Ordnung, Paul.« Die Frau streckte die Hand

nach Phoebe aus, die sich mit schmerzverzerrtem Gesicht am
Boden krümmte, die Hände in die Leibesmitte gepresst.

Prue packte die Frau an der Schulter, um sie aufzuhalten.

»Bitte, entschuldigen Sie, sie ist meine Schwester.«

»Sie scheint schreckliche Schmerzen zu haben«, entgegnete

die Frau verstört, als sich Prue an ihr vorüberschob und neben
Phoebe auf die Knie sank. »Ich kann gar nicht verstehen, wie
Paul sie so hart hat treffen können.«

Aus den Augenwinkeln sah Prue Piper, die am Eingang mit

Louise diskutierte. Sie bettete Phoebes Kopf auf ihren Schoß

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und schenkte der Mutter des Jungen ein beruhigendes Lächeln.
»Es war nicht sein Fehler. Sie... äh... sie ist nicht ganz gesund.«

»Na ja, wenn Sie meinen.« Dennoch zögerte die Frau, sie

allein zu lassen.

»Ganz bestimmt. Sie braucht nur ein bisschen frische Luft. In

ein paar Minuten geht es ihr wieder gut.« Prue stieß pfeifend die
Luft aus, als die Frau ihren Sohn nach draußen scheuchte. Erst
als sie ihm versprach, dass er noch in den Vergnügungspark
gehen durfte, ehe sie zurück nach Hause gingen, hörte er auf zu
weinen.

Da Paul der Auslöser von Phoebes Vision war, sah Prue ihnen

nach, um festzustellen, wo sie hingingen. Die Frau setzte den
Jungen auf einen Stuhl nahe der Bühne und blieb neben ihm
stehen, um sich Jeffersons Rede anzuhören. Sofort bot ihr einer
der Reporter seinen Platz an.

Erleichtert, dass Paul offensichtlich im Moment keine Gefahr

drohte, sah sich Prue nach Piper um. Phoebe stöhnte und kam
langsam wieder zu sich. Piper hob die Hand in der Absicht, die
sture Frau am Eingang einzufrieren, damit sie endlich ins Zelt
gelangen konnte.

»Piper!«, rief Prue und schüttelte den Kopf, als Piper sich zu

ihr umblickte.

Sengender Zorn spiegelte sich in Pipers braunen Augen, aber

ihre ganze Anspannung löste sich, als sie sah, dass Phoebe sich
regte. Gleich darauf deutete sie mit dem Daumen über ihre
Schulter und zog sich zurück.

»Was ist passiert?«, fragte ein alter Mann hinter Prue so

unerwartet, dass sie erschrocken zusammenzuckte. »Soll ich
Hilfe rufen?«

»Nein«, entgegnete Prue eine Spur zu scharf angesichts all der

neugierigen Blicke. Schon jetzt hatten sie und Phoebe viel zu
viel Aufmerksamkeit erregt.

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Mühsam stemmte sich Phoebe in eine sitzende Haltung und

atmete tief durch. Dann schenkte sie dem alten Mann ein mattes
Lächeln und krächzte: »Alles in Ordnung. Wirklich.«

»Sie braucht nur etwas Ruhe.« Prue half Phoebe auf die Beine

und schlang den Arm um ihre Taille, um sie zu stützen. »Ich
kümmere mich um sie.«

Mit einem besorgten Nicken wich der Mann zurück, als Prue

Phoebe aus dem Zelt brachte.

Nicht weit vom Eingang entfernt ging Piper unter einem

großen Baum unruhig auf und ab. Als Prue und Piper an der
Menschenmenge vorbeigingen, kam Prue nicht umhin, zu
bemerken, dass Jeffersons ruhige, aber kraftvolle Stimme
jedermann in ihren Bann geschlagen hatte. Ihre
Entschlossenheit, alles zu tun, was notwendig war, um ihn vor
dem sicheren Tod zu retten, verstärkte sich, als sie ihn über
alternative Energiequellen reden hörte und über die
Notwendigkeit, die bedrängte Natur für zukünftige
Generationen zu erhalten.

Falls sie die Art von Jeffersons Bedrohung noch rechtzeitig

herausfanden, dachte sie mit wachsender Sorge.

»Wie geht es ihr?« In Pipers Augen spiegelte sich die gleiche

Sorge.

»Der Junge.« Phoebes Stimme zitterte vor Panik, als sie

neben Piper und Prue zu Boden sank. »Wo ist er?«

»Hört sich die Rede an«, sagte Prue.

Erleichtert nickte Phoebe und lehnte sich mit dem Rücken an

den Baum. »Gut. Dann haben wir noch Zeit.«

»Bevor was passiert?«, fragte Piper.

»Sag es genau, bitte«, fügte Prue hinzu, so sehr sie es hasste,

Phoebe in diesem geschwächten Zustand zu bedrängen.
Andererseits waren sie ihrem Ziel, die Erfüllung von Tremaines
Wunsch zu verhindern, noch nicht einen Schritt näher

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gekommen. Mit Schrecken stellte sie fest, dass sie sich
womöglich würden entscheiden müssen, wen sie retten wollten,
den Jungen oder den Kandidaten. »Was passiert mit Paul,
Phoebe?«

»Ich weiß nicht, ob er einen Schaden davontragen wird, von

dem Trauma abgesehen.« Schaudernd unterbrach sich Phoebe
für einen Moment. »Das Trauma, das er davonträgt, wenn er
sieht, wie Noel Jefferson vom Riesenrad stürzt.«

Piper atmete scharf ein und ging in die Knie. Prue starrte in

Phoebes schmerzumwölkte Augen. Eine bizarre Fügung des
Schicksals hatte ihnen die Information geliefert, die sie so
dringend gebraucht hatten. Aber mit der Verwicklung des
Jungen in diese Angelegenheit hatte niemand von ihnen
gerechnet. Sie dachte an ihre Unterhaltung mit Professor Rubin
und fragte sich, ob Paul eine Schlüsselrolle in dem
unabwendbaren Katastrophenszenario zukommen würde, das
sich aus der Erfüllung von Tremaines Wunsch ergeben sollte.
Würde Pauls Schicksal durch den Anblick eines in den Tod
stürzenden Mannes pervertiert werden, damit der Schaden noch
größer wurde, der das Land erwartete, falls Tremaine und nicht
Jefferson die Wahl gewinnen sollte?

Aufgebracht verdrängte Prue diese verstörenden

Überlegungen. Es würde gar keine Kette katastrophaler
Ereignisse geben, wenn Jefferson überlebte, und das lag einzig
und allein an ihnen.

»Ich habe gehört, dass Pauls Mutter versprochen hat, mit ihm

in den Vergnügungspark zu gehen«, sagte Prue. »Wir müssen
sie unbedingt davon abhalten.«

»Passt mir gut«, sagte Piper und sah sich nach ihrem Stand

um. »Jimmy und die Mädchen können sich um den Stand
kümmern. Außerdem hat Rick angeboten, in der Nähe zu
bleiben, falls irgendwann wirklich viel los sein sollte.«

»Ich würde nicht darauf wetten, dass das der einzige Grund

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ist«, bemerkte Prue und lächelte Phoebe zu. »Er ist ganz
hingerissen von diesen großen braunen Augen.«

»Ach ja?« Für einen Augenblick blitzte ein Lächeln auf

Phoebes Lippen auf, erstarb aber sogleich, als sie sich auf die
Beine mühte. Immer noch ziemlich wackelig, stützte sie sich mit
einer Hand an dem Baumstamm ab. »Wenn wir Mr. Jefferson
auf dem Weg zum Vergnügungspark auflauern wollen, sollten
wir wohl allmählich in Deckung gehen.«

»Deckung?«, fragte Piper ein wenig verwirrt.

»Ich meine, wir sollten uns ein passendes Plätzchen suchen«,

erklärte Phoebe. »Meine Verfassung ist momentan nicht die
beste.«

»Gute Idee.« Auch Prue erhob sich und schlug sich den Dreck

von der Hose. »Gehen wir.«

Piper folgte Prue und Phoebe, die langsam zu einem

verlassenen Picknicktisch gingen, der ein paar hundert Meter
von dem Zelt entfernt war. Mühsam unterdrückte sie den
Impuls, den Himmel zu kontrollieren. Sollte Athulak angreifen,
würden sie ihn ohnehin nicht kommen sehen. Allein dieser
Gedanke war beängstigend genug. Wären die Begleitumstände
nicht dermaßen furchtbar gewesen, so hätte sie die Ironie der
Situation zu würdigen gewusst. Nach all den grotesken
Dämonen, rachsüchtigen Hexenmeistern und anderen bösartigen
Kreaturen, die sie bekämpft und besiegt hatten, würde nun
vielleicht ausgerechnet ein Wesen aus Luft ihr Verderben
bedeuten.

»Hast du eine Ahnung, wie lange wir warten müssen?«, fragte

Piper, als sie sich auf die Bank an dem Picknicktisch setzte.

Phoebe schüttelte den Kopf und schwang ihre Beine unter die

gegenüberliegende Seite des Tisches.

»Wahrscheinlich nicht besonders lang«, sagte Prue, die

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rittlings neben Phoebe saß und Richtung Parkplatz blickte.
»Paul wird ziemlich unruhig sein, nachdem er während
Jeffersons Rede die ganze Zeit still sitzen musste.«

»Zu schade, dass er vergeben ist«, sagte Phoebe mit einem

anzüglichen Blick auf Prue. »Noel Jefferson, meine ich. Ich
hatte den Eindruck, er und Pauls Mutter sind so«, fügte sie
hinzu, wobei sie die Zeigefinger ineinander hakte.

»Mein einziges Interesse an Noel Jefferson betrifft sein

Überleben, das des Kindes und überhaupt der ganzen Welt«,
protestierte Prue.

Jedenfalls für den Anfang, dachte Piper, verkniff sich aber

den Kommentar. Nervös sah sie sich zu dem Zelt um. Jeffersons
Anhänger formierten sich vor der Bühne, während das Publikum
allmählich den Rückzug antrat.

»Aufgepasst«, warnte sie.

»Habt ihr schon darüber nachgedacht, wie wir die Sache

regeln sollen?«, fragte Phoebe.

»Uns wird schon etwas einfallen«, sagte Prue. »Außerdem

arbeite ich daran.«

Pipers Blick schweifte zum Parkplatz, wo eine weitere Horde

Reporter und Fernsehleute sich gerade aufmachte, Stephen
Tremaine in das Zelt zu folgen. Auf dem Weg dorthin sah
Tremaine in ihre Richtung, zögerte kurz und schwenkte auf sie
zu.

»Besuch«, flüsterte Phoebe, als sich der Gegenkandidat

näherte, während die Reporter mit einigem Abstand
zurückblieben.

»Ms. Halliwell?« Tremaine ging direkt auf Prue zu. Anders

als Jefferson, der ganz zwanglos gekleidet war, trug Tremaine
einen perfekt maßgeschneiderten Anzug samt Krawatte zu
teuren Schuhen, die glänzten wie geschliffenes Glas.

»Mr. Tremaine.« Prue lächelte angespannt. »Was für eine

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Überraschung.«

»Ich freue mich ebenfalls, Sie wieder zu sehen«, entgegnete

der Kandidat in einem Ton, der so aufrichtig schien wie seine
Miene. »Ihr Herausgeber hat mir Abzüge von den Fotos
geschickt, die Sie von mir geschossen haben. Ich wollte Ihnen
nur sagen, wie sehr ich mit den Ergebnissen zufrieden bin.
Hervorragende Arbeit.«

»Danke.« Prue schenkte ihm ein Lächeln, das zwar freundlich

war, aber nicht gerade zu weiteren Worten einlud.

Und ihnen blieb in der Tat keine Zeit für Geplauder, wie Piper

erkannte, als sie Noel Jefferson samt Gefolge näher kommen
sah.

Tremaine hatte es jedoch offensichtlich nicht eilig, sie wieder

allein zu lassen. Er streckte den Arm aus, um Prue die Hand zu
schütteln und streifte dabei Phoebes Schulter.

Phoebes Kopf ruckte hoch, sie verdrehte die Augen und brach

zusammen. Piper sprang auf den Tisch und fiel neben ihrer
schwer geplagten Schwester auf die Knie.

»Was zum...« Tremaine zuckte zurück, als Prue schützend

einen Arm über Phoebes Rücken legte. »Sollen wir einen
Krankenwagen rufen?«

»Nein, es ist nur die Hitze. Nichts, worum Sie sich sorgen

müssten«, erklärte Prue hastig. »Aber vielleicht sollten Sie uns
jetzt besser allein lassen.«

Tremaine zögerte, zog sich dann aber zurück und winkte

seinen Leuten zu, ihm zu folgen.

Piper beugte sich schützend über Phoebes Kopf. Langsam

wurde ihr klar, dass ihre Probleme auf eine gefährliche Art
immer komplizierter wurden. Zur Untätigkeit verdammt, musste
sie hilflos zusehen, wie Noel Jefferson und seine Begleiter auf
ihrem Weg zum Vergnügungspark und der tödlichen Fahrt im
Riesenrad an ihnen vorüberzogen.

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Neben ihr krümmte sich Phoebe vor Schmerzen.

Die Bilder in ihrem Geist prasselten mit einer Gewalt auf

Phoebe nieder, die der Vernichtung angemessen war, von denen
sie erzählten. Ein stiller Schrei hallte durch ihren Schädel, als
sie die wunderschöne Stadt San Francisco in nicht ferner
Zukunft in Ruinen liegen sah. Die sonst so hell erleuchteten
Fenster in der Innenstadt waren dunkel, ihre Scheiben
zersplittert, Glasscherben bedeckten die verlassenen,
aufgerissenen Straßen. Laub verdorrte, fiel von rauchenden
Bäumen herab, von denen bald nur noch ein Haufen Asche übrig
sein würde. Ausgemergelte Menschen stolperten in schaurigem
Schweigen durch die finsteren Straßen, zu erschöpft, die Flucht
zu ergreifen.

Voller Entsetzen sah sie zu, wie das Bild der Stadt einem

weiteren Panorama wich. Im dem einen Augenblick noch
verhüllt von dichtem grauen Nebel, verschwand San Francisco
nun plötzlich unter einem Aufblitzen gleißend hellen Lichtes,
das mit einem dumpfen Donnern einherging. Dann herrschte
Schwärze.

Tränen rannen aus Phoebes Augen, als sie sich aus der

unsäglichen Tiefe dieser Weltuntergangsbilder löste.

»Komm schon, komm schon...«

Phoebe klammerte sich an den Klang von Prues aufgewühlter

Stimme, mühte sich ab, einen Weg zurück in die Wirklichkeit zu
finden. Die Übelkeit hatte sich zu einem brennenden Krampf
gesteigert, so als würde ihr Leib von glühender Gallenflüssigkeit
verzehrt. Scharfe Schmerzen schossen durch ihren Kopf und
machten es ihr beinahe unmöglich, irgendetwas klar zu
erkennen.

»Phoebe.« Piper zupfte sacht an ihrem Arm. »Was hast du

gesehen? Was passiert mit Tremaine?«

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Mit rasendem Puls und kaum im Stande zu atmen, bohrte

Phoebe die Finger in Pipers Oberschenkel und hob mühsam den
Kopf. »Er verbrennt zusammen mit allen anderen«, flüsterte sie
heiser. »Ein nuklearer Holocaust.«

»Wie?«, keuchte Prue.

»Unwichtig.« Phoebe starrte ihre Schwestern brennenden

Blickes an und schöpfte Kraft aus der Macht der Drei, die sie
miteinander verband. »Ihr werdet das verhindern, indem ihr
dafür sorgt, dass Jefferson überlebt und die Wahl gewinnt.«

Prue und Piper sahen sich zum Parkplatz um, ehe ihr

besorgter Blick sich erneut auf Phoebe konzentrierte.
Unentschlossenheit spiegelte sich in ihren Augen.

»Los!«, bellte Phoebe heiser.

»Okay.« Als Phoebe aufschaute, fuhr ihr Prue mit der Hand

durch das Haar. »Wir gehen.«

Phoebe legte den Kopf wieder auf den Tisch und beobachtete

aus den Augenwinkeln, wie ihre Schwestern hinter dem
Kandidaten herliefen. Tränen sammelten sich auf der rohen
Holzfläche unter ihrer Wange, ein Schluchzen schüttelte sie. Es
gab nichts mehr, was sie hätte tun können. Das Schicksal der
ganzen Welt lastete nun allein auf Prues und Pipers Schultern.

»Wie kann ein Mann einen nuklearen Holocaust

verursachen?«, fragte Piper, als sie und Prue atemlos
innehielten.

»Hat sich Phoebe je geirrt?« Die Hände auf die Knie gestützt,

behielt Prue Jefferson im Auge und bemühte sich, ihre Atmung
unter Kontrolle zu bringen. Kameraleute, Reporter,
Wahlkampfhelfer und Pauls Mutter blieben vor dem Riesenrad
stehen, als sich der Kandidat zusammen mit dem Jungen in die
Menschenschlange vor dem Riesenrad einreihte.

»Nein, hat sie nicht.« Als Piper ein Haargummi aus der

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Tasche zog, glitt der lederne Talisman heraus und fiel zu Boden.
Piper ging in die Hocke, um ihn wieder aufzuheben.

In diesem Augenblick hörte Prue ein schrilles Heulen, das

immer stärker wurde, während die Temperatur in der Nähe ihres
Gesichts unter den Gefrierpunkt fiel.

Athulak! Prue sah, wie die Finger ihrer Schwester wie in

Zeitlupe nach dem Talisman griffen. Doch ihr blieb keine Zeit
für eine Warnung.

Im Geiste sah sie schon Pipers Kopf rollen, am Hals

abgetrennt von dem schnellen Streich eines molekularen
Schwertes, geschaffen von einem Windgeist.

Mit einem verwunderten Blinzeln nahm Piper zur Kenntnis,

dass das Heulen noch schriller wurde und sich zu einem
zornigen Aufschrei steigerte, ehe sie fühlte, dass die unsichtbare
Kreatur abgeschwenkt war.

Piper richtete sich auf, steckte den Talisman zurück in die

Tasche und fasste ihr Haar am Hinterkopf mit Hilfe des
Gummibandes zu einem Pferdeschwanz zusammen. Ihre Augen
zogen sich mit einem Ausdruck der Verwirrung zusammen, als
sie merkte, dass Prue sie anstarrte. »Was ist?«

»Der Talisman funktioniert«, entgegnete Prue mit einem

strahlenden Lächeln.

Piper sah zum Himmel auf, und ihre Hand fuhr zu ihrem Hals.

»Bist du sicher?«

»Praxistest erfolgreich bestanden.« Zwar entging Prue das

leise Keuchen ihrer Schwester nicht, als jener die Bedeutung
ihrer Worte bewusst wurde. Aber ihnen blieb keine Zeit zu
feiern, dass sie soeben knapp mit dem Leben davongekommen
waren. Noel Jefferson und Paul waren die nächsten, die eine
freie Gondel besteigen würden. »Komm. Wir müssen Mr.
Jefferson diese Fahrt irgendwie ausreden.«

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Piper nickte. Gemeinsam mit Prue ging sie forschen Schrittes

Richtung Riesenrad, während ein Schaustellergehilfe die
nächste leere Gondel über der Einstiegstreppe zum Stillstand
brachte. Jefferson ließ den Jungen zuerst einsteigen und legte
ihm den Sicherheitsgurt um, ehe er selbst die Gondel bestieg
und sich setzte.

Prue beschleunigte ihre Schritte, obwohl sie keine Ahnung

hatte, was sie sagen sollte. Ihr kam einfach nichts
Überzeugendes in den Sinn, und sie würden lediglich wie zwei
komplett Verrückte klingen, sollten sie ihm die Wahrheit
erzählen.

Der Schausteller legte den Sicherheitsbügel um, und Prue fing

an zu rennen. »Halt!«

Die Frage, was sie überhaupt sagen sollten, weitete sich zu

einem noch wesentlich ernsthafteren Problem aus, als die
Leibwächter beim Klang von Prues Stimme zu ihr
herumwirbelten. Sie erkannten Prue auf Anhieb. Es erforderte
keine große Fantasie, sich vorzustellen, was den beiden
Männern durch den Kopf ging. Sie stellten sich nebeneinander
auf, um die beiden wild rennenden Frauen abzufangen. Ob sie
die Schwestern nun für fanatische Bewunderer hielten oder
dachten, die beiden stellten eine ernsthafte Gefahr dar, die
Bodyguards hatten jedenfalls nicht die Absicht, Prue und Piper
auch nur in die Nähe von Jefferson kommen zu lassen.

Prues Herz fing an zu flattern, als der Schausteller das Rad

weiterlaufen ließ. Jeffersons Gondel stieg auf und hielt wieder
an, als die nächste Gondel über der Einstiegstreppe angelangt
war - die letzte leere Gondel des gewaltigen Riesenrads.

»So viel zum Reden«, knurrte Piper, als sie stehen blieben

und die beiden Männer anstarrten. »Ich schätze, das geht als
Notfall durch. Was meinst du?«

»Katastrophe«, sagte Prue. »Einsatzbefehl erteilt.«

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Piper fror die Leibwächter, die Menschen in der

unmittelbaren Umgebung und das Riesenrad ein. Riskant, dachte
Prue, als sie an der Schlange vor der Kasse und den finster
blickenden Bodyguards vorbei zu der Gondel rannten. Riskant,
aber notwendig.

»Anschnallen«, sagte Piper, während sie die Zeit mit einer

Handbewegung weiterlaufen ließ.

Der Schaustellergehilfe zog ein verdutztes Gesicht, zuckte

dann mit den Schultern und legte den Bügel vor, ohne sich
weitere Gedanken über die Fahrgäste zu machen, die offenbar
aus dem Nichts erschienen waren. Prue war klar, dass dieser
Mann die immer gleichen Abläufe in seinem Job mit nur
wenigen Veränderungen verrichtete. Trotzdem wagte sie kaum
zu atmen, ehe er sich wieder auf seinen Metallhocker gesetzt
und das Rad gestartet hatte.

Jeffersons Leibwächter nahmen das Verschwinden von Prue

und Piper nicht so leicht, wie Prue mit einiger Befriedigung
erkannte. Beide blickten sich wild um, ihre Köpfe bewegten sich
ruckartig von einer Seite zur anderen. Sie schienen völlig aus
der Fassung geraten zu sein und von ihrer grimmigen
Entschlossenheit war nichts mehr zu sehen. Als der Mann mit
dem Schnurrbart sich umblickte und sie entdeckte, winkte ihm
Prue lächelnd zu.

»Haltet das Ding an!« Der Leibwächter stürmte auf den

Schausteller zu. »Sofort!«

Der Schausteller verdrehte die Augen und scheuchte ihn weg.

»Hau ab, Mann!«

Während sie unterhalb von Jeffersons Gondel in die Höhe

getragen wurde, beobachtete Prue die vollends verwirrten
Bodyguards. Dann, nachdem die Gondel die höchste Stelle
passiert hatte, konzentrierte sie sich nur noch auf Jefferson,
dessen Gondel nun unter der ihren auf dem Weg nach unten
war.

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Weder sie noch Piper sagten einen Ton. Die Finger um den

Sicherheitsbügel gekrallt, starrte auch Piper hinab. Jeder Muskel
in ihrem schlanken Leib war vor Anspannung hart geworden,
wartete auf den kritischen Sekundenbruchteil, in dem ihre
Gaben zwischen Erfolg und Niederlage entscheiden würden.

Das Rad drehte sich und drehte sich, aber der Anblick des

fernen Horizonts und die fröhliche Atmosphäre des
Vergnügungsparks existierten nur in einer Welt, die weit von
der entfernt war, der Prues ganze Aufmerksamkeit galt.
Unentwegt behielt sie die Gondel im Auge, die über ihnen
schwankte, wenn es aufwärts ging, und unter ihnen schaukelte,
wenn sich das Riesenrad abwärts drehte.

Während der fünften Runde durchbrach das schrille Heulen

Athulaks, der über ihnen auf den Luftströmungen ritt, Prues
Konzentration. Die Nähe des Geistes brachte ihr eine Gefahr zu
Bewusstsein, die sie nicht bedacht hatten. Phoebe hatte nicht
gesehen, was zu Jeffersons Sturz geführt hatte, ob er
möglicherweise geköpft war, als er aus der Gondel fiel.

Prue zog ihren Talisman aus der Tasche, als sich das

schaurige Geräusch verstärkte, und wartete dann endlose
Sekunden darauf, dass die Gondel ihre Reise zum Boden
antreten würde. Genau im richtigen Moment ließ sie den
Lederbeutel auf das Dach von Jeffersons Gondel fallen. Als er
dennoch abzurutschen drohte, schleuderte sie ihn mit Hilfe ihrer
telekinetischen Kräfte auf den Boden vor Jeffersons Füße.

Pipers Augen weiteten sich, als Athulaks Kreischen direkt vor

ihrer Gondel erklang.

»Keine Sorge«, sagte Prue, die immer noch Jeffersons Gondel

beobachtete, während diese sich dem Tiefpunkt näherte, ihn
passierte und wieder in die Höhe getragen wurde. »Dein
Talisman sollte für uns beide reichen.«

»Ich hoffe, du...« Das Krachen berstenden Metalls schnitt

Piper das Wort ab.

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Sowohl Piper als auch Prue wanden sich unter dem Gurt

hindurch und zogen sich auf die Beine, sodass sie zwischen dem
Sicherheitsbügel und der Oberkante des Dachs standen. Als
Prue sich in dieser Haltung zu der anderen Gondel umblickte,
stockte ihr der Atem.

Die Gondeln waren zu beiden Seiten frei beweglich in

Kupplungen gelagert, die dafür sorgten, dass die Gondeln immer
in der Waagerechten blieben, wenn das Rad sich bewegte.
Während nun das Rad seine Drehung fortsetzte, brach die
äußere Kupplung an Jeffersons Gondel.

Pipers Hände schossen vor, um zwei Dinge gleichzeitig zu

tun: das Rad und jeden Menschen am Boden, der die Szene
beobachten konnte, einzufrieren.

Prue verschaffte sich hastig einen Überblick über die Lage.

Den Mund vor Entsetzen weit geöffnet, saß der Junge erstarrt
und eingezwängt in den Sicherheitsgurt auf seinem Platz. Seine
Hände umklammerten den Sicherheitsbügel.

Jeffersons Gurt hatte sich gelöst. Offenbar hatte er sich nicht

an dem Stahlbügel festgehalten, als die Kupplung gebrochen
war. Denn er war im Begriff, unter dem Bügel
hindurchzurutschen. Wenn die magische Erstarrung endete und
das Rad sich wieder in Bewegung setzte, würde er durch die
Streben viele Meter weit in die Tiefe und in den Tod stürzen.

»Ich hoffe, dir fällt bald irgendwas ein«, sagte Piper. »Die

Erstarrung wird nicht mehr lange anhalten.«

»Verstanden.« Prue atmete tief ein, hob die Hände und hoffte,

dass sie die Lage richtig eingeschätzt hatte. Wenn die Zeit
wieder lief, würde die Gondel nicht mehr horizontal über der
Achse schaukeln, sondern vertikal an nur einer Kupplung
herabhängen. Ihr blieben nur ein paar Sekunden, ehe die
herabbaumelnde Gondel des Kandidaten den höchsten Punkt des
Rades passierte. Auf dem Weg abwärts hatte sie keine Chance,
ihr Ziel direkt anzuvisieren.

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Als die Zeit weiterlief, schnitt Pauls Schrei durch die

Kirmesorgelmusik, das Ächzen der Maschinen und die entsetzte
Stille, die sich über die Menschen gesenkt hatte.

Jefferson griff nach dem Sicherheitsbügel. Seine Hände

schlugen wild durch die Luft, als die Gondel in eine vertikale
Position schwenkte. Voll auf den Kandidaten fixiert, fing ihn
Prue mit ihrer telekinetischen Energie ab und hielt ihn sicher an
Ort und Stelle, ehe er vollständig unter dem Bügel hätte
hindurchgleiten können.

Noch immer in dem Sicherheitsgurt gefangen, klammerte sich

Paul an den Bügel, als die Schwerkraft an seinem kleinen
Körper zerrte. Der Junge saß nicht mehr, sondern hing in dem
Gurt, der ihn in Taillenhöhe sicherte.

Die Seite, an der Jefferson herabhing, war nun der Boden der

Gondel. Die Rückenlehne und die Vorsprünge, auf denen die
Fahrgäste normalerweise ihre Füße aufstützten, bildeten die
Seiten.

Schweiß benetzte Prues Stirn, als sie den überraschten Mann

auf den neuen Boden der gekippten Gondel schob und dort
festhielt, während ihn die Bewegung des Rades in die Höhe und
auf den Scheitelpunkt zutrug.

»Jetzt schnapp dir endlich den verdammten Bügel«, murmelte

Prue. Prues Herz dröhnte in ihren Ohren, als Jefferson mit der
rechten Hand nach dem Bügel griff, sein linkes Knie hochzog
und sich mit dem linken Fuß an der Fußablage abstützte. Nun
ruhte das Hinterteil des Jungen auf Jeffersons Kopf. Seine Beine
baumelten über die Schultern und die Brust des Mannes, und
Jefferson griff mit der freien Hand nach oben, um das
schreiende Kind zu stützen.

Während Prues Macht noch immer durch ihre ausgestreckten

Hände strömte, trafen sich ihre Blicke mit denen des
Kandidaten. Für scheinbar endlose Sekunden starrten sie
einander in die Augen, Sekunden, in denen Prue Jefferson in

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Gedanken beschwor, auszuhalten. Sie sah, wie sich sein Griff
um den Bügel und um Pauls Bein spannte, ehe die
herabbaumelnde Gondel den höchsten Punkt überschritten hatte
und sich mit Jefferson und Paul außer Sichtweite und damit aus
dem Bereich ihrer Kontrolle bewegte.

Ein heftiger Wind pfiff kreischend durch die Streben des

Rades, als Prue und Piper zurück auf ihre Sitze glitten. Prue
beugte sich über den Sicherheitsbügel und blickte mit
angehaltenem Atem hinunter. Die Seite, auf der Paul gesessen
hatte, bildete nun die Oberseite der Gondel und versperrte ihr
die Sicht. Sie konnte lediglich eines von Pauls Beinen und
Jeffersons Fuß erkennen. Als das Rad langsamer wurde und
schließlich knirschend zum Stehen kam, hörte der Junge endlich
auf zu schreien.

»Na, das war doch ziemlich aufregend, oder?«, sagte Prue.

Ihre Gondel schaukelte sacht hin und her, während die
Bodyguards und einige Sanitäter des Vergnügungsparks
herbeieilten, um Noel Jefferson und Paul aus der schwankenden
Gondel zu holen.

Prue sackte in sich zusammen, verspannte sich aber sofort

wieder, als sie Athulaks Kreischen aus der Höhe hörte.

»Was ist das?«, fragte Piper besorgt, als Prue ihre Hand

ergriff.

»Halt dich fest.« Prue klammerte sich an Piper und verließ

sich ganz auf den Talisman in der Tasche ihrer Schwester, der
sie vor Athulak beschützen sollte. Die ganze Zeit über hatten sie
sich, wie Prue nun klar wurde, so sehr damit beschäftigt,
Jefferson zu retten, dass ihnen überhaupt nicht in den Sinn
gekommen war, der rachsüchtige Geist könnte sie auch
weiterhin bedrohen.

Als das durchdringende Geräusch immer näher kam, schloss

Prue die Augen. Ihr Haar flog auf, hochgewirbelt von der
stürmischen Annäherung Athulaks. Ein abgehackter Schrei

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entglitt ihrer Kehle, als eine bittere Kälte über ihre Wange
strich. Dann kehrte Stille ein.

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14

P

HOEBE HATTE ALLES MIT

ansehen müssen, als sie an

Ponyreitbahnen und Kinderkarussells vorbei in Richtung des
Riesenrads gelaufen war. Denn als sie wieder ein wenig zu
Kräften gekommen war, hatte sie es nicht ausgehalten, einfach
sitzen zu bleiben und abzuwarten. Um sie fernzuhalten, wenn
ihre Schwestern in Gefahr gerieten, bedurfte es mehr als
hämmernder Kopfschmerzen und Magenkrämpfe. Schließlich
konnte man nie wissen, wann die Macht der Drei gebraucht
werden würde.

Aber dieses Mal war ihre Hilfe nicht benötigt worden. Phoebe

blieb stehen, als die herabhängende Gondel mit Jefferson und
Paul knapp über dem Boden zum Stillstand kam. Sie war es
müde, mit irgend jemandem in Kontakt zu treten, deshalb hielt
sie sich abseits der Menge, die sich vor dem Riesenrad
versammelt hatte. Blitzlichter flammten nun auf, Filmkameras
surrten, als die Nachrichtenleute, die sich Jefferson
angeschlossen hatten, jede Sekunde nutzten, um diese
Sensationsstory festzuhalten. Grinsend stellte sich Phoebe das
Top-Thema der Abendnachrichten sämtlicher
Nachrichtensender vor.

»Kongresskandidat rettet kleinen Jungen und sich vor

tödlichem Sturz.« Jede Fernsehreportage und jede Tageszeitung
würde ihre eigene Variante der Geschichte zum Besten geben.
Auch wenn niemand jemals erfahren würde, was sich wirklich
dort oben auf dem Riesenrad ereignet hatte, war es immer noch
eine Topstory. Ein Kameramann stürzte aus der Menge und
streifte Phoebe an der Schulter, als er an ihr vorbeirannte.

»Entschuldigung!«, rief er, ohne jedoch innezuhalten.

Offenbar versuchte der Mann, der Konkurrenz zuvorzukommen.
Leider blieb ihr keine Zeit, dem Mann zu erzählen, dass in der

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nahen Zukunft keine Schicksalsschläge auf ihn lauerten. Es war
reines Glück, dass der Mann keine neue Vision ausgelöst hatte.
Um weiteren Zusammenstößen aus dem Weg zu gehen, zog sie
sich in den geschützten Bereich zwischen Eingang und Ausgang
des Riesenrades zurück.

Phoebe reckte sich auf die Zehenspitzen und winkte Piper und

Prue zu, doch beide hielten die Augen geschlossen und konnten
sie nicht sehen. Dass die beiden ziemlich fertig waren,
überraschte sie nicht.

Auf den Sitzen eines laufenden Riesenrades etwa

fünfundzwanzig Meter über dem Erdboden zu stehen, dürfte
jeden aus der Fassung bringen, sogar eine Hexe.

Kaum als Jefferson wieder auf festem Boden stand und Paul

in den Armen seiner Mutter lag, tauchte ein Wartungsteam auf
und machte sich an der beschädigten Gondel zu schaffen. Sie
lösten die Bolzen der Kupplung, senkten die Gondel auf den
Boden ab und schoben sie zur Seite, damit der
Schaustellergehilfe die anderen Passagiere absetzen konnte.
Vermutlich würde es noch ein paar Minuten dauern, bis Piper
und Prue ihre Gondel verlassen konnten.

Mehrere Sicherheitsleute des Vergnügungsparks halfen

Jeffersons Bodyguards, die Menge zurückzudrängen, damit die
Sanitäter und die glücklichen Überlebenden das Riesenrad
verlassen konnten, ohne in dem Gedränge zu Tode gequetscht
zu werden.

Während sie Jeffersons Leibwächter beobachtete, dachte

Phoebe daran, was für ein Glück sie im Grunde gehabt hatten. In
der vergangenen Nacht hatte sie lange wach gelegen, zutiefst
besorgt, die beiden Männer könnten nicht in Reichweite ihres
Arbeitgebers sein, wenn das Unheil seinen Lauf nahm, und sie
hatte Recht behalten. Dann aber hatte der Zufall ihr und Noel
Jefferson in die Hände gespielt. Trotzdem stufte sie es als Fehler
ein, sich auf Visionen aus zweiter Hand verlassen zu haben, ein

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Fehler, den sie nie wieder begehen würde.

Als sich das Rad wieder in Bewegung setzte, trat Phoebe

näher, damit Prue und Piper sie sehen konnten, sobald sie die
Gondel verließen. Jefferson scheuchte die Sanitäter mit einem
Wink davon, als er sich von dem Riesenrad entfernte, während
Pauls Mutter sich standhaft weigerte, ihren Sohn auch nur für
einen Augenblick loszulassen. Die uniformierten Sanitäter
deuteten auf den Krankenwagen, woraufhin die Frau nickte,
aber dennoch bei Jefferson blieb. Der Junge hatte die Arme um
ihren Hals geschlungen und den Kopf an ihrer Schulter
geborgen.

Der Kandidat machte einen erschütterten Eindruck, hatte sich

selbst und die Situation aber voll unter Kontrolle. Presse und
Öffentlichkeit würden sich auf die Heldentat stürzen. Obwohl
Jefferson den Posten als Abgeordneter schon aus rein fachlichen
Gründen verdient hatte, hatte ihm sein wagemutiger Kraftakt auf
dem Riesenrad vermutlich soeben den Wahlsieg eingetragen.

Als die Frau an Phoebe vorbeikam, hielt sie kurz inne.

»Hallo! Ich bin ja so froh, dass Sie sich schon wieder von ihrem
kleinen Zusammenstoß mit Paul erholt haben.« Sie verlagerte
das Gewicht des Jungen auf ihre rechte Hüfte. Dann legte sie die
Hand auf Phoebes Arm. Phoebe zuckte zusammen und bemühte
sich, standhaft zu bleiben. Aber die erwartete Vision trat nicht
ein.

»Ich habe mir furchtbare Sorgen gemacht«, fuhr die Frau fort.

»Aber Ihre Schwester schien genau zu wissen, was sie tat.«

»Auf Prue kann ich mich immer verlassen.« Phoebe lächelte,

beeindruckt davon, dass die Frau noch einmal auf den
Zwischenfall zu sprechen kam. Und dies, obwohl ihr Sohn
gerade eine so schreckliche Erfahrung hatte machen müssen. Sie
konnte sehr gut verstehen, was Jefferson an ihr mochte. Diese
Frau würde eine perfekte Politikergattin hergeben.

Als Jefferson bewusst wurde, dass die Frau stehen geblieben

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war, drehte er sich um und nickte Phoebe lächelnd zu. Jede
Stimme zählt, dachte Phoebe amüsiert, als der Politiker sie
völlig überraschend am Arm berührte. »Lenore hat mir erzählt,
was passiert ist.«

Phoebe schwankte auf unsicheren Beinen, als ein Bild von

San Francisco in strahlendem Sonnenschein unter blauem
Himmel wie ein aus der Ferne aufgenommenes Foto in ihrem
Geist auftauchte. Dies war keine ihrer üblichen Visionen, auch
keine von der Art, wie sie sie gequält hatten, seit Athulak ihren
Wunsch erfüllt hatte. Es war ein kostbarer Blick in die Zukunft,
ein Lohn, der das Entsetzen auslöschte, das ihr Stephen
Tremaine bereitet hatte.

Und mit ein bisschen Glück, überlegte Phoebe, war das die

letzte außergewöhnliche Vision, die ihr Athulaks Gabe
einbringen würde. Immerhin war nichts geschehen, als der
Reporter und später Lenore sie berührt hatten. Allerdings war
das noch kein Beweis dafür, dass die Folgen von Athulaks
Wunscherfüllung überwunden waren. Sie hätte auch keine
Vision erfahren, wenn in der Zukunft des Reporters und der
jungen Frau kein Unheil lauerte.

»Entschuldigung, Ma'am.« Der Karussellführer packte

Phoebe bei den Schultern und schob sie aus dem Weg, um an
sein Kontrollpult zu kommen.

Phoebes Hoffnung wuchs, als auch er keine neuen Bilder in

ihrem Geist erzeugte.

»Sind Sie sicher, dass alles wieder in Ordnung ist?«, fragte

Jefferson mit besorgter Miene. »Keine Beulen oder Ähnliches?«

»Ich habe mich nie besser gefühlt, danke.« Von den eigenen

Emotionen überwältigt, wechselte Phoebe hastig das Thema.
Schließlich konnte sie ihm kaum erklären, dass sein Überleben
San Francisco davor bewahrt hatte, aus der Landkarte ausradiert
zu werden - oder dass ihre Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen,
wieder auf einem normalen Level angelangt zu sein schien.

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»Wie geht es Paul? Das muss doch furchtbar beängstigend
gewesen sein, da oben, was? Du warst ein ganz tapferer Junge.«

Paul lächelte schüchtern.

»Ihm geht's bald wieder gut«, sagte die Frau und zog den

Jungen ein wenig fester an sich. »Er will immer noch einen
Doughnut.«

»Im VIP-Zelt gibt es sehr gute Doughnuts«, entgegnete

Phoebe. »Ich habe drei gegessen.«

Paul kicherte.

Jefferson streichelte sanft den Rücken des Jungen. »Kannst du

auch drei verdrücken, Paul?«

»Ja, aber ich will nicht mehr mit dem Riesenrad fahren, Onkel

Noel.«

»Das ist doch trotz Wahlkampf mal ein Versprechen, das ich

einhalten kann«, sagte Jefferson lachend.

Phoebe legte neugierig den Kopf schief. »Onkel Noel?«

Jefferson nickte und legte einen Arm um die Schultern der

Frau. »Das ist meine Schwester, Lenore.«

»Tatsächlich?« Phoebe nickte und deutete auf den Ausgang

des Riesenrads, durch den Piperund Prue soeben auf sie
zustürzten. »Das sind meine Schwestern, Piper...«

Piper streckte ihm die Hand entgegen. »Hallo.«

»Hallo, Piper.« Jefferson schüttelte Pipers Hand, aber sein

Blick ruhte unverwandt auf Prue. Das elektrisierende Knistern
zwischen den beiden war greifbar. Als die beiden Bodyguards
eingreifen wollten, winkte der Kandidat sofort ab.

»... und Prue. Fotografin, Single und den Rest des

Nachmittags frei.« Phoebe fühlte, wie sich ihre boshafte Ader
bemerkbar machte, als Prue vor lauter Verlegenheit rot anlief.
Prue war viel zu prüde, um den ersten Schritt zu tun, und
Jefferson war offensichtlich interessiert. Besser noch: Ihre

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Kopfschmerzen ließen nach, und auch von dem Krampf in ihren
Eingeweiden war kaum noch etwas zu spüren.

»Mr. Jefferson, ich fürchte meine Schwester...« Prue zögerte,

als Jefferson ihre Hand mit den seinen umfing. »... meine
Schwester ist, äh, immer noch ein bisschen verwirrt durch die
Hitze.«

»Sie haben mich vor dem Sturz gerettet.« Jefferson starrte

Prue noch immer in die nun erschrocken blickenden Augen.

»Nein, ich...« Mit weit aufgerissenen Augen sah sich Prue

rasch nach Phoebe um, doch auch die war viel zu perplex, um
einen Ton von sich zu geben.

»Nein, wirklich«, sagte Jefferson. »Ich weiß, das klingt

verrückt, aber ich hatte das Gefühl, dass Sie mir die Kraft und
den Willen gegeben haben, durchzuhalten.« Dann, in dem
Wissen, dass jedermann ihn erwartungsvoll anstarrte, räusperte
sich Jefferson. »Und ich, äh, könnte ein paar neue
Porträtaufnahmen gebrauchen.«

Prue nickte. »Das werden wir sicher hinkriegen.«

»Wir könnten uns beim Essen darüber unterhalten«, schlug

Jefferson vor. Als er sie zusammen mit Lenore und Paul
wegführte, blickte Prue noch einmal über die Schulter und
bedachte die beiden Leibwächter, die ihnen folgten, mit einem
zufriedenen Lächeln.

Piper sah ihnen noch einen Moment nach, ehe sie sich mit

einem traurigen, sehnsüchtigen Seufzer Phoebe zuwandte. »Sind
Happyends nicht schön?«

»Ja, aber da Noel gewählt werden wird, dürfte die Geschichte

nicht allzu ernst werden. Ich glaube jedenfalls nicht, dass Prue
bereit ist, nach Washington D. C. zu ziehen.« Plötzlich weiteten
sich Phoebes Augen und sie musste sich alle Mühe geben, eine
neutrale Miene beizubehalten, als sie sah, wie Leo in der Menge
hinter Piper auftauchte und den Finger an die Lippen legte.

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»Das Profil der süßen, anspruchslosen Politikergattin passt

auf keinen Fall zu ihr«, sagte Piper, nur um gleich darauf laut
aufzukreischen, als Leo ihr die Augen zuhielt. Noch ehe er ein
›Rate mal‹ herausbringen konnte, stieß sie ihm den Ellbogen in
die Rippen.

Phoebe zuckte zusammen, als der Wächter des Lichts

stöhnend das Gesicht verzog. »Hi, Leo.«

»Leo!« Peinlich berührt, aber voller Aufregung schlug Piper

die Hand vor den Mund, während Leo sich aufrichtete, die
Hände immer noch an den Bauch gepresst. Kaum aber hatte sie
ihre Sinne wieder beisammen, erging sich Piper in einer
typischen Tirade: »Verdammt, Leo! Ich konnte doch nicht
wissen, dass...«

Wortlos legte Leo die Hände an Pipers Wangen und küsste

sie.

»... du es bist.« Mit Freudentränen in den Augen schlang

Piper die Arme um Leos Hals und zog ihn an sich. Einen
Augenblick später ließ sie wieder von ihm ab, trat einen Schritt
zurück und maß ihn mit einem strengen Blick. »Wie lange wirst
du bleiben?«

»Sie haben mir drei Tage zugesagt, vielleicht sogar mehr.«

Leo unterbrach sich und zögerte einen Augenblick.
»Vorausgesetzt, es kommt keine Katastrophe von weltweitem
Ausmaß dazwischen.«

»Das dürfte kein Problem sein«, sagte Piper, als sie sich bei

ihm einhakte. »Um die Katastrophen weltweiten Ausmaßes, die
während dieser Woche stattfinden, haben wir uns bereits
gekümmert.«

»Und wie«, stimmte Phoebe zu.

»Ich hörte davon.« Leo lächelte Piper schmachtend an. »Was

würdest du gern als Erstes machen?«

»Zuerst will ich zehn Runden auf dem Karussell drehen.

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Danach gehen wir zurück zu meinem Stand, um uns zu
vergewissern, dass für die Hard Crackers alles vorbereitet ist.
Anschließend tanzen wir den ganzen Nachmittag lang, weil die
Leute im P3 nun einmal genau das tun sollen.« Während Piper
ihre lange Liste herunterbetete, wechselte Leos Miene von
erwartungsvoller Freude zu schlichter Resignation. »Wenn die
Veranstaltung dann um acht Uhr schließt, können wir nach
Hause gehen.«

»Wie oft, hast du gesagt, willst du Karussell fahren?«, fragte

Leo, als sie Hand in Hand davon schlenderten.

»Zehnmal. Und ich werde mitzählen.« Plötzlich blieb Piper

stehen und drehte sich ruckartig zu Phoebe um. »Sag Rick, er
kann sich den Rest des Tages frei nehmen. Er hängt sowieso nur
hier rum, weil er hofft, dich zu sehen.«

Bestens, dachte Phoebe. Rick...

»Du bist ein seltsames Mädchen, weißt du das?« Rick hielt

die Hände in den Taschen und blickte stur geradeaus, als er
gemeinsam mit Phoebe zum VIP-Zelt ging.

»Findest du?«, fragte Phoebe unschuldig.

»Ja«, sagte Rick mit einem unglücklichen Lächeln. »Mich hat

noch nie ein Mädchen gebeten, sie zu einem Date mit einem
anderen Typen zu begleiten.«

»Es ist kein typisches Date«, sagte Phoebe, insgeheim erfreut,

dass Rick sich heftig genug in sie verknallt hatte, um sie
tatsächlich zu begleiten. Der einzige Grund, warum sie das Spiel
so weit getrieben hatte, war, dass er wirklich alles so furchtbar
ernst nahm und sie einfach nicht hatte widerstehen können, ihn
ein wenig auf den Arm zu nehmen. Rick war so heiß, wie sie ihn
in Erinnerung hatte, und so nett, wie sie gehofft hatte. Aber
seinem Sinn für Humor mangelte es an Verständnis für ihren
subtilen Sarkasmus.

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Nur die Hälfte der Klappstühle vor der Bühne waren besetzt.

Niemand saß in der ersten Reihe. Der alte Schauspieler stand
bereits auf der Bühne und erzählte seine Geschichten, und
Phoebe freute sich still und heimlich, als das Publikum über
einen seiner Witze lachte.

»Komm mit. Wir können uns ganz vorn in die Mitte setzen«,

sagte Phoebe und winkte Rick, ihr zu folgen.

Rick blieb wie angewurzelt stehen. »Das ist Roy Hansen.«

»Wer?« Phoebe sah sich um, zuckte dann aber die Schultern

und wandte sich wieder der Bühne zu.

Der alte Mann sah sie und winkte ihr zu, während er in sein

Mikrophon sprach. »Hey! Wie geht es meinem liebsten
Mädchen?«

»Hervorragend!«, antwortete Phoebe.

»Du kennst auch Roy Hansen?« Ungläubig warf Rick die

Hände in die Luft.

»Du meinst...« Phoebe deutete auf die Bühne. »... das ist Roy

Hansen?«

»Es gibt nur den einen«, entgegnete Rick. Voller Ehrfurcht

betrachtete er den alten Mann. »Roy Hansen war dreißig Jahre
lang der beste Wildwest-Stuntman in Hollywood, ehe er von
einem bockenden Pferd niedergetrampelt wurde und sich ein
Dutzend Knochen brach. Danach hat er sich eine zweite
Karriere aufgebaut und selbst kleine Rollen gespielt, aber auf
einem Pferd übertrifft ihn niemand. Er ist mit Abstand der
Beste.«

»Da hast du Recht. Und außerdem ist er mein Date«,

entgegnete Phoebe und blinzelte ihm lächelnd zu.

Jetzt ging Rick endlich ein Licht auf. Er ergriff ihren Arm und

führte sie zur ersten Reihe. »Denkst du, du könntest mir ein
Autogramm besorgen?«, fragte er, als sie sich setzten.

»Vermutlich.« Phoebe rückte ein wenig näher, als Rick den

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Arm über die Lehne ihres Stuhles legte. »Aber das kostet dich
ein Abendessen.«

Phoebe konnte die Komplikationen, die ihr geheimes Leben

als Hexe für eine Beziehung bereithielt, nicht vergessen. Aber
dennoch wollte sie nicht jegliche Freude am Leben verlieren.
Wie Prue gesagt hatte: Wenn sich erst der Richtige blicken ließ,
war alles andere völlig egal. Hauptsache sie waren zusammen.
Und in der Zwischenzeit war Phoebe fest entschlossen, sich so
gut wie nur möglich zu amüsieren.

»Das ist das beste Geschäft, das ich seit langer Zeit

abgeschlossen habe.« Rick strich mit den Lippen über ihr
Ohrläppchen. Die Berührung jagte wohlige Schauer über
Phoebes Rücken.

»Hey!«, rief Roy, »es ist nicht fair, mit dem Mädchen eines

alten Mannes herumzumachen.«

Rick spielte mit und streckte kapitulierend die Hände hoch.

»Danke. Sie ist ein tolles Mädchen, nicht wahr? Aber in

meinem Alter kann Liebe verdammt demütigend sein.« Roy
blinzelte ihnen zu und schlug sich vor die Brust. »Wenn die alte
Pumpe zu schnell wird, fallen mir noch die falschen Zähne
raus.«

Das Publikum tobte. «

»Woohoo!« Rick wedelte mit den Fäusten in der Luft herum,

um seiner Anerkennung Nachdruck zu verleihen.

Phoebe lachte laut auf, überwältigt von Erleichterung und

Freude. Prue war mit einem zukünftigen Kongressabgeordneten
beim Essen, Leo endlich nach Hause zurückgekehrt. Athulak
war fort, die Welt gerettet, und sie hatte die Herzen zweier
absolut hinreißender Männer gewonnen. Heute schlugen die
Zauberhaften einfach alles.


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