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C
harmed
Zauberhafte
Schwestern
Kampf gegen die Götter
Roman von
Elisabeth Lenhard
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Klapptext:
Endlich ist Prues große Chance gekommen: Wenn sie ein
wirklich tolles Foto schießt, soll es auf dem Cover des
angesagten Stadtmagazins 415 erscheinen. Das könnte für sie
der Durchbruch sein, wenn sie nur ein überzeugendes Konzept
hätte. Da kommt ihr die Idee, eine Gruppe von Models als
griechische Gottheiten zu fotografieren. Sie will sogar eine alte
Kamera benutzen, um dem Foto die nötige Patina zu verleihen.
Doch als Prue auf den Auslöser drückt, geschieht das
Unfassbare: Die Models sinken als seelenlose Körperhüllen zu
Boden! Um die unschuldigen Opfer zu retten, steigen die
Charmed-Schwestern hinab in den Hades, das Totenreich der
griechischen Mythologie. Dort entpuppt sich Phoebes neuer
Schwärm Nikos als skrupelloser Sohn des Unterweltgottes, der
sie gefangen nimmt und zu seiner Gattin machen will. Wird es
Piper und Prue gelingen, ihre Schwester und die Models aus
dem Reich der Finsternis zu befreien?
Aus dem Amerikanischen von Christina Deniz
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Charmed – zauberhafte Schwestern. – Köln: vgs
(ProSieben-Edition)
Kampf gegen die Götter: Roman von Elisabeth Lenhard.
Aus dem Amerikan. von Christina Deniz. – 1. Aufl. – 2001
ISBN 3-8025-2861-1
Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001
Titel der amerikanischen Originalausgabe: Soul of the Bride
von Elizabeth Lenhard
Das Buch »Charmed – Zauberhafte Schwestern.
Kampf gegen die Götter« von Elizabeth Lenhard entstand auf der
Basis der gleichnamigen Fernsehserie von Spelling Television
ausgestrahlt bei ProSieben.
© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung
der ProSieben Televisions GmbH
™ und © 2001 Spelling Television Inc.
All Rights Reserved.
1. Auflage 2001
© der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH
Alle Rechte vorbehalten.
Produktion: Wolfgang Arntz
Umschlaggestaltung: Sens, Köln
Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001
Satz: Kalle Giese, Overath
Druck: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 5-8025-2861-1
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»
P
rue? Würden Sie bitte in mein Büro kommen?«
Prue Halliwell sah von dem Kontaktbogen auf, den sie gerade
geprüft hatte, während sie darauf wartete, ihren Chefredakteur,
Nick Caldwell, zu sprechen, der sie nun in sein Reich bat.
Sie schluckte. Als Fotografin für das 415, San Franciscos
angesagtestes Stadtmagazin, hatte sie es meistens nur mit
einfachen Redakteuren zu tun – mit dem Fotoredakteur, dem
Moderedakteur oder dem Restaurantkritiker –, für die sie ihre
Bilder machte. Doch so gut wie nie hatte sie mit Mr. Caldwell
persönlich gesprochen. Er gehörte zum Management des
Verlags, und wenn sich ihre Wege einmal kreuzten, so war ihr
Kontakt über ein höfliches »Guten Tag« nie hinausgegangen.
Prue steckte den Kontaktbogen in einen Ordner und nickte
ihrem Boss zu. Er sah wie immer gepflegt und fast ein bisschen
zu glatt aus mit seinen grauen Schläfen und dem Designer-
Anzug.
»Natürlich, Mr. Caldwell, bin sofort bei Ihnen«, rief sie, erhob
sich von ihrem Schreibtisch und durchquerte die
Redaktionsräume des 415, ein großzügiges City-Loft im
Industriedesign mit rotem Zementboden und einem
Röhrensystem unter der Decke.
Prue liebte das coole Ambiente der Büroräume, und sie liebte
ihren Job als angestellte Fotografin für das Stadtmagazin. Für
sie war es die bislang befriedigendste und aufregendste Arbeit
überhaupt. Doch nun wollte sie der Häuptling höchstpersönlich
sprechen … Sie schauderte. Wollte er sie womöglich vor die Tür
setzen?
Prue vertrieb diesen schrecklichen Gedanken und fuhr sich mit
den Fingern durch ihr glänzendes schwarzes Haar. Als sie seine
Bürotür erreichte, schenkte sie Mr. Caldwell ihr strahlendstes
Lächeln.
»Was kann ich für Sie tun, Mr. Caldwell?«, fragte sie leicht
nervös.
»Kommen Sie herein, Prue«, sagte der Chefredakteur und
nahm hinter seinem Schreibtisch Platz. »Und schließen Sie bitte
die Tür hinter sich.«
Oh, dachte Prue, wenn das mal kein schlechtes Zeichen ist.
»Prue«, begann Mr. Caldwell, »ich muss Ihnen sagen …«
Sie krümmte sich innerlich. Was nützt es, dachte sie, wenn
man eine Hexe ist und sich doch nie aus solchen Situationen
herauswinden kann?
»… dass ich Ihre Arbeit liebe.«
»Wie bitte?«, platzte sie heraus, und ihre blauen Augen
weiteten sich ungläubig. Sie hatte so sicher mit einem Rüffel,
wenn nicht mit einem Rausschmiss gerechnet, dass sie ihren
Ohren kaum trauen mochte.
»Ihre Fotos sind so dynamisch«, sagte Mr. Caldwell. »Sie
haben ohne Zweifel großes Talent, auch wenn das eine oder
andere natürlich noch ausbaufähig ist.«
»Danke schön!«, entfuhr es ihr, und sie fühlte, wie sich ihre
Wangen vor Freude röteten. Wer braucht schon Magie, dachte
sie, wenn man Talent hat?
»Ich möchte Ihnen daher Folgendes vorschlagen«, fuhr Mr.
Caldwell fort. »Wir haben noch nichts für das August-Cover
geplant. Ich möchte Ihnen eine Chance geben. Wenn Sie mir ein
Foto liefern, das mich aus den Latschen haut, dann haben Sie
das Cover.«
»U-und … zu welchem Thema?«, stotterte Prue.
»Das überlasse ich Ihnen«, erwiderte Mr. Caldwell mit einem
knappen Lächeln. »Das könnte einen Quantensprung für Ihre
Karriere bedeuten. Doch Sie sollten wissen, dass andere
Kollegen ebenfalls für dieses Cover arbeiten werden. Mit
anderen Worten: Sie haben einiges an Konkurrenz zu erwarten,
also geben Sie Ihr Bestes.«
»Selbstverständlich«, sagte Prue und stand auf.
Natürlich kannte Mr. Caldwell sie nicht wirklich gut. Wären
ihre beiden Schwestern, Piper und Phoebe, hier, hätten sie ihrem
Chef versichert, dass Prue stets ihr Bestes gab. Sie war eine
ausgesprochene Perfektionistin, das typische älteste Kind, das
seine Verantwortung stets ernst nahm. »Danke, dass Sie mir
diese Chance geben, Sir. Ich versprechen Ihnen, Sie bekommen
ein Foto, das sie aus den Latschen haut.«
Mit einem Grinsen wandte sie sich um und verließ Mr.
Caldwells Büro. Genauer gesagt verließ sie auch die
Redaktionsräume des 415. Sie war viel zu aufgeregt, um sich
weiter mit Kontaktabzügen zu beschäftigen. Sie musste sich ein
absolutes Überfliegermotiv für das Cover überlegen, und das
konnte sie nur zu Hause. Vielleicht sogar mit ein wenig
Unterstützung und Inspiration von ihren Schwestern.
Seit Prue, Piper und Phoebe in das Herrenhaus ihrer
Großmutter gezogen waren, hielten die drei Schwestern wie
Pech und Schwefel zusammen und konnten sich blind
aufeinander verlassen. Das betraf sowohl Ratschläge in
Liebesdingen als auch Tipps für Partyoutfits und natürlich alles,
was mit ihren magischen Fähigkeiten zusammenhing.
Nachdem Phoebe auf dem Speicher des Anwesens das Buch
der Schatten entdeckt hatte, wussten die Schwestern, dass sie
Hexen waren, weiße Hexen aus der Dynastie der Zauberhaften.
Es hatte sich herausgestellt, dass der alte schwere Foliant
unzählige Beschwörungsformeln, Zaubersprüche und hilfreiche
Einträge enthielt und dass das Buch in der Halliwell-Familie seit
Generationen von Mutter zu Tochter weitervererbt worden war.
Dem Schicksal hatte es gefallen, dass ihre Großmutter und
auch ihre Mutter nicht mehr unter den Lebenden weilten, und so
war es nun an Prue und ihren Schwestern, das Vermächtnis der
Zauberhaften anzutreten und vielleicht eines Tages
weiterzutragen.
Und wie sie bald feststellen sollten, waren sie die mächtigsten
Hexen dieser Dynastie überhaupt. Schon jede Schwester für sich
war mittels ihrer Fähigkeit imstande, Großes zu vollbringen.
Doch im Verbund verfügten sie über die Macht der Drei, eine
Energie, die sie nahezu unschlagbar machte. Was Dämonen und
Hexer allerdings nicht davon abhielt, sie töten und ihnen ihre
Kräfte rauben zu wollen.
Tja, dachte Prue nicht ohne Sarkasmus, als sie die Fahrertür
ihres BMW aufschloss, aller guten Dinge sind drei …
Die andere Seite der Medaille war, dass das Leben einer mit
besonderen Fähigkeiten ausgestatteten Hexe oft ziemlich
stressig war.
»Oder wie erklärt man seiner Verabredung, dass man mittels
Telekinese Dinge aus dem Fenster befördern kann?«, murmelte
Prue, als sie nach Hause fuhr. »Oder dass Piper die Zeit
einzufrieren vermag und dass Phoebe Visionen von der Zukunft
hat und zu allem Überfluss auch noch fliegen kann?«
Phoebes Fähigkeit, sich in die Lüfte zu erheben, war eine
Sache, die die Schwestern erst kürzlich herausgefunden hatten
und die das Nesthäkchen noch nicht vollständig erforscht hatte.
Ich kann es schon bildlich vor mir sehen, dachte Prue und
lachte trocken auf. Da will mir der Typ, mit dem ich den Abend
verbracht habe, vor der Haustür noch einen Gute-Nacht-Kuss
geben, und ich muss mich beeilen zu erklären: ›Keine Sorge, die
Hexe, die da auf dem Staubsauger durch die Gegend fliegt, ist
nur meine kleine Schwester …‹
Auch die Verpflichtung, die die drei Schwestern mit ihrem
Erbe eingegangen waren, nämlich die Unschuldigen und
Hilflosen vor allem Bösen zu beschützen, konnte mitunter zu
einer großen Last werden. Was kein Wunder ist, dachte Prue,
denn wann kommt die Aufgabe, die Welt zu retten, überhaupt
mal gelegen?
»Doch nichts dergleichen darf diesmal passieren«, murmelte
sie. »Nichts soll und darf sich zwischen mich und dieses
Magazin-Cover stellen. Nichts!«
Kann es was Schöneres geben, als hier in der Kunstklasse zu
sein?, fragte sich Phoebe Halliwell, als sie am Ausguss stand
und ihre Pinsel auswusch.
Sie warf einen Blick über die Schulter in den Raum, in dem
außer ihr noch viele andere Kunststudenten mit ihren Arbeiten
beschäftigt waren. Phoebes derzeitiges Werk stand beim Fenster
– direkt neben der winzigen rothaarigen Professor Winters.
Tatsächlich, so musste Phoebe erschrocken feststellen,
musterte Frau Professor – ihre Kunstlehrerin und härteste
Kritikerin – soeben ihre Leinwand. Ach du liebe Güte, dachte
sie, ließ ihre Pinsel fallen und flitzte zu ihrer Staffelei.
»Ich hab mich mal an einer Mischung aus O'Keefe und van
Gogh versucht«, verkündete sie, als sie sich hinter ihre
Professorin stahl.
»Ja, das sehe ich«, sagte Professor Winters, als sie Phoebes
abstrakte Schwertlilien betrachtete. »Ein bisschen zu imitiert für
meinen Geschmack, und das, obwohl Sie doch durchaus dazu im
Stande sind, etwas Eigenes zu schaffen.«
Sprach's und ließ Phoebe mit offen stehendem Mund stehen.
Imitiert!, dachte sie enttäuscht. Ich dachte, meine Idee sei
originell, zumal ich O'Keefes Stil eine völlig neue, verrückte
Wendung gegeben habe. Offensichtlich lag ich da wohl falsch.
»Und ein weiterer akademischer Fehlschlag für Phoebe«,
murmelte sie und seufzte tief. Die Schule war noch nie ihre
große Stärke gewesen, doch seit sie wieder zum College ging,
versuchte sie, nicht erneut in den alten »Eine-Vier-reicht-auch«-
Trott zu verfallen. Ganz klar, dachte sie, ich hab mich einfach
nicht genug angestrengt.
Gerade als sie sich in Selbstzweifeln ergehen wollte, sagte
eine tiefe, unglaublich erotische Stimme an ihrem Ohr: »Hör
nicht auf sie. Dein Bild ist toll.«
Phoebe fuhr herum und hätte heute fast zum zweiten Mal mit
offenem Mund dagestanden, wenn sie nicht rechtzeitig die
Fassung wiedererlangt hätte. Vor ihr stand ein schwarzhaariger,
über und über mit Farbe verschmierter Traumboy in beklecksten
Levis und einem Jeanshemd, das ebenfalls mit sämtlichen
Regenbogenfarben verziert war. Wo ist der denn so plötzlich
hergekommen?, dachte sie erstaunt.
Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte der Junge mit
einem gewinnenden Lächeln: »Heute ist mein erster Tag hier.
Ich heiße Nikos. Und Sie sind zweifellos die Starstudentin aus
Kurs 201. Ihre Lilien sind einfach unglaublich, Miss …«
»… Phoebe«, platzte sie heraus, während sie in Nikos'
wunderschöne blaue Augen starrte. »Ich meine, ähm, Halliwell,
ich meine, Phoebe Halliwell. Aber Sie können mich einfach …«
»… Phoebe nennen?«, fragte Nikos mit einem verschmitzten
Gesichtsausdruck.
Am liebsten hätte sich Phoebe vor die Stirn geschlagen, doch
ihre Hände waren voller Farbe, daher verfluchte sie sich nur im
Stillen. Ein atemberaubender Typ reicht, um mich in einen
brabbelnden Vollidioten zu verwandeln, dachte sie. Muss ich
dringend dran arbeiten …
»So«, sagte sie. »Nikos. Was ist das für ein Name?«
»Ein griechischer«, sagte er mit einem verwegenen Lächeln.
»Ich stamme aus einer großen, sehr alten griechischen Familie.
Unsere Wurzeln reichen sehr weit zurück.«
So, so, dachte Phoebe und musste grinsen. Dann deutete sie
auf Nikos' diverse Pinsel in seiner Hand. »Und woran arbeiten
Sie gerade?«
Sie schob sich an ihm vorbei zu seiner Staffelei und warf
einen Blick auf die Leinwand. Fast musste sie einen erstaunten
Aufschrei unterdrücken. Das mag ja sein erster Tag in diesem
Kurs sein, dachte sie, aber dieser Junge ist mit Sicherheit kein
Anfänger.
»Es ist … geradezu hypnotisierend«, flüsterte sie, als sie auf
die grauen und braunen Wirbel starrte, die Nikos zu einer
Sumpf- und Waldszene komponiert hatte. Als sie genauer
hinsah, konnte sie durch die Bäume ein gespenstisches Gebäude
erkennen. Schemenhafte Wesen schienen in seinen Schatten zu
lauern.
Phoebe konnte sich nicht von dem Bild losreißen. Je länger sie
darauf starrte, desto mehr Details wurden sichtbar, desto mehr
zog es sie in sich hinein.
»Es ist so dunkel«, sagte sie atemlos. Dann endlich riss sie
sich zusammen und drehte sich zu dem Künstler um. »Auf
positive Weise natürlich«, fügte sie schnell hinzu.
»Keine Sorge«, meinte er augenzwinkernd, »alle meine
Abgründe werden durch die Malerei kompensiert. Im wahren
Leben bin ich ein hoffnungsloser Optimist.«
»Ach, wirklich?«, flirtete Phoebe.
»Lassen Sie es mich Ihnen beweisen«, erwiderte Nikos.
»Kaffee?«
»Zufällig hab ich gleich eine Freistunde«, erwiderte sie. Ihr
Herz hüpfte vor Aufregung. Im Moment kann es wirklich nichts
Schöneres geben, als hier in dieser Kunstklasse zu sein, dachte
sie.
Sie schenkte Nikos ihr bezauberndstes Lächeln, als sie
fortfuhr: »Lassen Sie mich nur schnell die Farbe von meinen
Händen abwaschen.« Sie lachte. »Und dann können wir von hier
verschwinden.«
Piper saß am Küchentisch, einem ihrer Lieblingsplätze im
weitläufigen, hoffnungslos überladenen Halliwell Manor.
Doch das sonnige Fleckchen bot ihr an diesem Nachmittag
keinen Trost, weil sie eine ihrer unangenehmsten Aufgaben zu
erledigen hatte – die monatliche Abrechnung für ihren Club P3.
Lustlos hackte sie auf den Taschenrechner ein. Immer wieder
warf sie einen sehnsuchtsvollen Blick durch das
Buntglasfenster. Mit einem Seufzer stellte sie fest, dass sie sich
zu Tode langweilte.
Alles, was ich tue, dachte sie, ist arbeiten! Nachts spiele ich
die Mutter und Geschäftsführerin für meine Angestellten im
Club. Und meine gesamte Freizeit scheint dafür draufzugehen,
Unschuldige zu beschützen und Dämonen, die mir und meinen
Schwestern ans Leder wollen, den Garaus zu machen.
Sogar meine eigene Fähigkeit, so fand sie, ist irgendwie
langweilig. Klar, ich kann die Zeit anhalten, und dennoch
stagniert mein Leben. Prue hat eine neue aufregende Karriere als
Fotografin gestartet, und Phoebe hat sich wieder den Freuden
des Collegelebens zugewandt. Darüber hinaus sind die beiden
wahre Männermagneten.
Sie erschauderte und dachte mit Reue an Leo, seines Zeichens
ein Wächter des Lichts und ihr Beschützer. Ja, sie betete Leo an,
doch es konnte nicht normal sein, sich mit einem in Wahrheit
über achtzigjährigen himmlischen Sendboten zu treffen. Und er
war in dieser Funktion überaus beschäftigt, genauer gesagt
bekam sie ihn in letzter Zeit so gut wie gar nicht mehr zu
Gesicht. Zudem schien sie für richtige Männer, sprich sterbliche
Männer, so gut wie nicht mehr zu existieren. Sie war eben
einfach nur Piper, die mittlere Schwester – unsichtbar,
langweilig, blaß.
»Hey, du glaubst nicht, was mir heute passiert ist!«, rief eine
Stimme aus dem Flur. Es war Prue, die gerade die Eingangshalle
betreten hatte.
»Ich lege meinen Fall nieder«, murmelte Piper, doch dann
versuchte sie ein Lächeln. Schließlich war es nicht Prues Schuld,
dass sie so unzufrieden mit ihrem Leben war.
»Was ist denn los?«, fragte sie, als ihre Schwester in die
Küche stürmte, ihre Handtasche auf die Theke warf und sich zu
ihr an den Tisch setzte. Ihre Wangen waren vor Aufregung
gerötet.
»Nun«, begann Prue, »ich habe …«
Rumms!
Mit einem Knall fiel die Eingangstür ins Schloss. Das muss
Phoebe sein, dachte Piper.
»Jemand zu Hause?«, rief die jüngste Halliwell-Schwester aus
dem Foyer. »Ihr glaubt nicht, was mir heute passiert ist!«
Sprach's und schoss direkt auf den Kühlschrank zu.
»Ich hab heute in der Redaktion eine fantastische Chance
bekommen«, fuhr Prue fort und lehnte sich aufgeregt vor.
»Ich hab heute in der Schule einen fantastischen Typen
kennen gelernt«, platzte Phoebe heraus, während sie sich mit
einem dicken Stück Käse und etwas Obst eindeckte.
Und schon legten die beiden los, während Piper mit offenem
Mund von Prue zu Phoebe und wieder zu Prue sah. Es ist, als ob
ich einem Pingpong-Spiel zusehe, dachte sie amüsiert.
Als sie ihre Schwestern beim Kampf um die Redezeit
beobachtete, wunderte sie sich wieder einmal, dass sie alle so
gut miteinander auskamen. Was fast ein Wunder war, denn das
Trio konnte unterschiedlicher kaum sein. Prue mit ihrem
rabenschwarzen Haar und der blassen Haut war der direkte,
sachliche und eher vernünftige Typ. Ganz im Gegensatz zur
inzwischen erblondeten Phoebe mit ihrem stets gebräunten
Teint, die sich vor allem durch ihre sorglose, offene Art und ihre
hochfliegenden Zukunftspläne auszeichnete. Und schließlich sie
selbst, die brünette, zart gebaute Piper, die – wieder einmal –
irgendwie dazwischen lag. Sie war zwar eine sehr professionelle
Geschäftsfrau, doch im Grunde war sie immer ein bisschen zu
schüchtern, hoffnungslos romantisch und ziemlich gutmütig.
Wenn man bedenkt, wie unterschiedlich wir sind, dachte
Piper, ist es erstaunlich, wie nah wir uns doch stehen. Das
stimmte. Denn seit die Schwestern herausgefunden hatten, dass
sie die Zauberhaften waren, waren sie einander so verbunden,
wie, nun, wie es die Mitglieder eines Hexenzirkels eben nur sein
konnten.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Schwestern zu
und schaffte es irgendwie, ihrem Redeschwall ein paar
Basisinformationen zu entreißen: Soweit sie verstand, sollte
Prue ein Foto für das Cover des 415 machen, und Phoebe hatte
am College offensichtlich einen ziemlich heißen Typen kennen
gelernt. Ja, sie hatten sogar schon ihre erste Verabredung
gehabt.
»Er heißt Nikos …«, sagte Phoebe gerade.
»Mein Abgabetermin ist in zehn Tagen …«, erklärte Prue.
»Hey!«, platzten beide gleichzeitig heraus. »Hast du überhaupt
ein Wort von dem mitbekommen, was ich gesagt habe?«
Das war der Moment, in dem Piper in schallendes Gelächter
ausbrach.
»Lasst mich euch kurz ins Bild setzen«, sagte sie, während
Phoebe an ihrem Käsestück kaute. Und so war es an ihr, Phoebe
von Prues großer beruflicher Chance und Prue von Phoebes
neuer Eroberung zu unterrichten.
»Gut gemacht, Prue!«, kommentierte Phoebe mit vollem
Mund. »Und ich hab auch schon das richtige Model für dein
Foto – Nikos! Der Typ ist soooo süß. Steck ihn in ein paar
Calvin-Klein-Unterhosen, und fertig ist das Starfoto! Und
natürlich brauchst du auch eine Assistentin, richtig? Ich melde
mich freiwillig. Die perfekte Gelegenheit, Nikos besser kennen
zu lernen!«
Sie grinste zufrieden und biss ein großes Stück von ihrem
Apfel ab.
»Immer mit der Ruhe, Phoebe!«, rief Prue lachend. »Ich weiß
ja noch nicht mal, was für ein Motiv ich auswähle. Findest du es
da nicht ein wenig voreilig, Nikos schon jetzt zu bitten, für mich
zu modeln?«
Doch Piper wusste, dass Phoebe sich nicht so einfach von
ihrem Vorhaben würde abbringen lassen. Denn wie sie Phoebe
»Ich kriege immer den Mann, den ich will« Halliwell kannte,
war das Projekt Nikos bereits beschlossene Sache. Angesichts
dieses Plans konnte sie sich ein Seufzen nicht verkneifen.
»Was ist denn?«, fragte Phoebe, die sich gerade noch ein
Stück Käse abschnitt und sich dann zur ihren Schwestern an den
Tisch setzte.
Ich weiß wirklich nicht, wo Phoebe die ganzen Kalorien lässt,
dachte Piper. Sie kann essen und essen und behält trotzdem die
Figur eines Fotomodells. »Nichts«, erwiderte sie, nahm sich
ihrerseits ein Stück Käse und kaute langsam darauf herum.
»Na komm schon«, sagte Prue. Sie lehnte sich vor und sah
ihre Schwester prüfend an. »Raus damit. Was ist los mit dir?«
»Es ist …«, begann Piper, »ach, ich bin einfach etwas müde.
Und außerdem fühle ich mich ein bisschen, na ja, auf dem
Abstellgleis, wenn ihr es genau wissen wollt. Ihr beide erlebt
gerade so viel Neues und Aufregendes, wohingegen ich mich
immer nur mit der Buchhaltung für den Club beschäftige und
meine Samstagabende ohne Begleitung verbringe. Tatsächlich
haben die ganze Arbeit und der fehlende Spaß aus mir ein
ziemlich langweiliges Etwas gemacht.«
Es entstand eine kleine Pause, dann brachen Prue und Phoebe
in schallendes Gelächter aus.
»Vielen Dank«, sagte Piper beleidigt. »Es ist schön, wenn man
sich auf die moralische Unterstützung seiner Schwestern
verlassen kann.«
»Tut mir Leid, Süße«, sagte Prue japsend, »aber ich bitte dich:
Du bist eine Hexe mit Superfähigkeiten, du bist wunderschön,
du führst den heißesten Club in der Stadt, und das nennst du ein
langweiliges Leben?«
»Ich weiß, was du brauchst«, meldete sich nun Phoebe zu
Wort. »Ein bisschen Nachtleben! Was haltet ihr davon, wenn
wir mal wieder einen draufmachen? Sobald Prue ihren Auftrag
erledigt hat, organisieren wir einen Abend unter Schwestern und
machen einen Ort unsicher, an dem wir noch nie waren, zum
Beispiel dieses neue Cabaret namens Schattenreich. Ich hab
gehört, dort tritt auch eine tolle Sängerin auf. Das wird bestimmt
ein super Abend!«
»Na ja …« Piper musste zugeben, dass diese Idee nicht
schlecht klang.
»Finde dich damit ab! Du hast jetzt eine Verabredung«, sagte
Phoebe und drückte Piper einen Kuss auf die Wange. »Es wird
ein unvergesslicher Abend werden, und es wird dir noch Leid
tun, dass du jemals behauptet hast, dein Leben sei langweilig!«
2
A
m nächsten Morgen führte Prue ihr erster Weg in die
Bibliothek. Noch immer zerbrach sie sich den Kopf über das
perfekte Coverfoto und benötigte daher ein wenig Inspiration.
Vielleicht wird es mir helfen, dachte sie, wenn ich mir ein paar
Bücher mit historischen Motiven anschaue.
Es ist schon komisch, überlegte sie. Da beschweren sich die
Fotografen immer, dass sie keine Aufträge bekommen und um
jede Gelegenheit, ihr Talent unter Beweis stellen zu können,
betteln müssen. Und jetzt, wo ich die Chance habe, zu zeigen,
was ich draufhabe, bin ich wie paralysiert!
In ihrer typischen Entschlossenheit durchforstete sie die
Regale in der Bildband-Abteilung systematisch nach Themen,
die ihr geeignet schienen. Schließlich schleppte sie einen
riesigen Bücherstapel zu einem der Lesetische.
Als sie den ersten Band durchblätterte, stieß sie auf eine Reihe
von Schwarzweißfotos mit Suffragetten. Hmmm, dachte sie,
vielleicht sollte ich eine Serie über starke Frauen in San
Francisco machen? Doch dann verwarf sie den Gedanken
wieder. Vielleicht sollte ich ein etwas populäreres Motiv ins
Auge fassen, ein Motiv, mit dem sich jeder irgendwie
identifizieren kann, sogar Mr. Caldwell.
Der nächste Band enthielt Landschaftsaufnahmen von
Dorothea Lange. Ich mag die romantische Anmutung dieser
Fotos zwar sehr, dachte sie, aber so was ist einfach nichts für
das 415. Ein Titelfoto für dieses Magazin muss etwas Urbanes
haben.
Plötzlich erklang hinter ihr eine tiefe Stimme, so samtig wie
ein exquisiter Wein. »Ich kann mir nicht helfen, aber es sieht so
aus, als ob Sie sich die halbe Fotoabteilung ausgeliehen haben.«
Prue schnaubte und verdrehte die Augen. Was für eine lahme
Anmache, dachte sie. Man sollte doch meinen, dass man
wenigstens in der Bibliothek vor baggernden Typen sicher ist.
Gereizt wirbelte sie herum und wollte dem Störenfried gerade
eine passende Antwort geben, als sie innehielt.
Wie gebannt starrte sie in ein Paar grau-grüne Augen mit
langen dunklen Wimpern und auf das süßeste Lächeln, das sie je
gesehen hatte.
»Ähem«. sagte sie und konnte nicht fassen, wie sehr sie dieser
Mann aus dem Konzept gebracht hatte. Was ist bloß aus der
resoluten Prue geworden, schalt sie sich, dass ich angesichts
eines Lächelns außer Fassung gerate? Ganz zu schweigen von
seinem athletischen Körper und dem wunderschönen braunen
Haar …
»Es tut mir Leid, Sie gestört zu haben«, sagte der Mann.
»Aber ich bin Journalist, und ich befürchte, sie haben in diesem
Stapel ein Buch, das ich dringend für meine Arbeit brauche.«
»Oh«, platzte Prue heraus, »ich bin Fotojournalistin! Wollen
Sie nicht Platz nehmen?«
O mein Gott, dachte sie. Du kennst noch nicht mal seinen
Namen und bittest ihn schon, sich zu dir zu setzen? Was ist bloß
in dich gefahren, Prue? Du hast noch genau neun Tage Zeit, um
dieses Projekt hinter dich zu bringen, und plötzlich hast du
nichts Besseres zu tun, als dich mit einem Fremden auf ein
Schwätzchen einzulassen?
»Ich heiße Mitchell«, stellte sich der Mann vor und zog sich
einen Stuhl heran. Dann streckte er Prue seine Hand entgegen.
»Mitchell Pearl vom National Geographie.«
»Das ist doch ein Witz, oder?«, sagte Prue. »Ich fasse es nicht!
Für National Geographie zu arbeiten ist der Traum eines jeden
Journalisten. Was ist Ihr derzeitiges Projekt?«
»Ich bin auf dem Weg nach Vietnam, um eine Reportage über
das neue Saigon zu machen. In diesem Zusammenhang bin ich
auf der Suche nach einem bestimmten Buch mit Kriegsfotos«,
erklärte Mitchell und warf einen Blick auf Prues Bildband-
Ausbeute. »Ah, da ist es ja schon! Macht es Ihnen was aus,
wenn ich's mir mal anschaue?«
»Mein Name ist Prue Halliwell«, sagte sie und errötete. Ich
erröte!, dachte sie erschüttert. Seit wann zum Teufel erröte ich?
»Nein, bedienen Sie sich nur«, sagte sie hastig. »Ich selbst bin
auf der Suche nach Ideen für das 415.«
»Für das 415? So, so. Einige der besten Fotografen der Stadt
arbeiten für dieses Magazin«, sagte Mitchell anerkennend,
während er das Vietnam-Buch aus dem Stapel zog. »Sie müssen
sehr gut sein.«
»Eines Tages vielleicht«, sagte Prue bescheiden. »Momentan
stehe ich noch ganz am Anfang. Ich bin erst seit diesem Jahr
dabei. Doch jetzt soll ich schon Fotovorschläge für ein Cover
machen und dachte, dass ich hier vielleicht die perfekte Idee
dazu finde.«
»Da sind Sie hier genau richtig«, bestätigte Mitchell, fischte
sich einen weiteren Band aus Prues Bücherstapel und blätterte
ihn flüchtig durch.
»Sehen Sie sich zum Beispiel mal diese zeitgenössischen
viktorianischen Porträts an«, sagte er.
Er zeigte Prue ein sepiafarbenes Gruppenfoto von neun
Frauen, das im Stil der klassischen Antike arrangiert war. Die
Modelle trugen schlichte weiße Gewänder, Oberarmreifen und
auf dem Kopf goldene Kränze. Eine der Damen hielt eine Lyra,
eine andere Pfeil und Bogen in den Händen.
»Darf ich mir das mal ansehen, Mitchell?«, fragte sie und
nahm das Buch an sich. Dann las sie die Bildunterschrift:
»›Viktorianische Aristokraten nehmen sich des neuen Mediums
Fotografie an, indem sie selbst vor der Kamera posieren und
dabei historische Charaktere darzustellen versuchen. Die zu
dieser Zeit beliebtesten Motive waren zumeist klassischer Natur.
Diese Gruppe beispielsweise stellt die neun Musen des
mythologischen Griechenlands dar.‹«
Prue schnappte nach Luft. »Ich hab's!«, flüsterte sie aufgeregt.
»Ich mache eine Reportage über San Franciscos viktorianische
Architektur. Ich könnte etwas im klassizistischen Stil
arrangieren, so wie auf diesem Foto. Und ich weiß auch schon,
wo ich das Ganze aufnehmen werde.«
»Na, also«, bemerkte der unglaubliche Fremde. »War das jetzt
wirklich so schwer?«
»Mitchell, ich danke Ihnen«, sagte Prue. »Sie haben mir
soeben aus meinem Dilemma geholfen. Mit anderen Worten: Sie
können die anderen Bücher gerne haben. Ich muss los und mich
um mein Projekt kümmern.« Sie nahm den Bildband mit den
viktorianischen Fotos an sich und stand auf.
Mitchell erhob sich ebenfalls. »Meinen Glückwunsch, Prue«,
sagte er. »Doch danken Sie nicht mir. Auf diese tolle Idee sind
Sie ganz allein gekommen.«
Prue konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Aber Sie
haben den richtigen Riecher gehabt«, erwiderte sie. »Ohne Sie
wäre ich gar nicht darauf gekommen.«
»Nun, wenn Sie wirklich darauf bestehen, mir zu danken«,
sagte Mitchell grinsend, »darf ich Sie dann morgen zum Lunch
einladen?«
»Also, ich weiß nicht …«, sagte sie zögernd. »Ich hab noch so
viel zu erledigen, um diesen Abgabetermin zu halten. Und wie
steht es überhaupt mit Ihnen? Wollten Sie nicht nach Vietnam?«
»Erst in zwei Wochen«, erklärte er. Sein Lächeln verblasste.
»Doch hören Sie, wenn Sie kein Interesse haben, ist das okay für
mich. Ich kann damit leben.«
»Nein«, entfuhr es Prue, und sie erinnerte sich an das gestrige
Gespräch am Küchentisch. ›Die ganze Arbeit und der fehlende
Spaß haben aus mir ein ziemlich langweiliges Etwas gemacht‹,
hatte Piper gesagt. Sie hätte genauso gut von mir sprechen
können, dachte sie. Sobald ich mich auf meine Arbeit
konzentriere, geht mein Privatleben zum Teufel. Eine schlechte
Angewohnheit, die ich mir wirklich mal abgewöhnen sollte.
Also warf sie sämtliche Vorsicht über Bord, schlug die guten
Ratschläge, die sie ihren Schwestern so gern erteilte, in den
Wind und schenkte Mitchell ein strahlendes Lächeln. »Was ich
sagen wollte, ist, ja, ich würde morgen wirklich sehr gern mit
Ihnen zu Mittag essen.«
»Fein!«, rief Mitchell und zeigte ihr seine umwerfend weißen
Zähne. »Und ich habe genau den richtigen Treffpunkt für uns.
Im Castro hat ein neuer Vietnamese aufgemacht, und ich habe
gehört, die Küche soll wirklich sehr authentisch sein. Wenn Sie
mich dorthin begleiten, würden Sie mir Ihrerseits bei meinen
Recherchen helfen.«
»Ich glaube zwar nicht, dass Sie meine Hilfe benötigen, Mr.
National Geographie«, witzelte Prue, »aber vietnamesische
Küche klingt wirklich verlockend.«
»Soll ich Sie morgen Mittag abholen?«, fragte Mitchell.
»Das wäre toll«, sagte sie und warf sich ihre Tasche über die
Schulter. Rasch gab sie ihm ihre Adresse und eilte dann zum
Ausgabeschalter, um den Bildband auszuleihen.
Als sie die Bibliothek verließ, waren ihre Wangen vor
Aufregung gerötet.
Während sie kurz darauf Richtung Parkplatz ging, versuchte
sie Mitchells unwiderstehliches Lächeln aus ihrem Kopf zu
vertreiben. Ich muss mich schleunigst wieder meiner Arbeit
widmen, beschwor sie sich. Insbesondere, wenn ich mir morgen
Mittag schon wieder eine Auszeit gönne.
Prue stieg in ihren Flitzer und fuhr los.
Sie hatte Mitchell die Wahrheit gesagt, als sie meinte, sie
wüsste genau, wo sie die Fotos machen wolle. Tatsächlich
schwebte ihr dafür der wohl passendste Ort überhaupt vor. Denn
welches Gebäude in San Francisco war ein typischeres Beispiel
für die viktorianische Architektur als Halliwell Manor?
Während Prue auf dem Weg nach Hause war, traf Phoebe
gerade dort ein.
Genauer gesagt kam sie direkt aus der Schule und von ihrem
zweiten Date mit Nikos.
Sofort suchte sie ihren Lieblingsplatz im Haus auf – das
Sonnenzimmer – und ließ sich in einen der superbequemen
Rattansessel fallen. Verträumt starrte sie aus dem Fenster.
Nikos ist perfekt, dachte sie, als sie immer tiefer in die Kissen
sank. Die anderthalb Stunden im Café sind wie im Fluge
vergangen, und ich kann kaum glauben, dass er auch so ein
großer Fan von Georgia O'Keefe ist. Und genau wie ich sucht er
verzweifelt nach einer beruflichen Zukunft, die ihn erfüllt.
»Malen ist das Einzige, was ich wirklich will«, hatte er gesagt
und sich dabei eine seiner unbändigen Locken aus den Augen
gepustet. »Und das Einzige, was ich wirklich gut kann.«
»Damit könntest du verdammt Recht haben«, hatte Phoebe
geantwortet und sich an seine mystische Waldszene erinnert.
»Wo ist also das Problem?«
»Allein vom Malen kann man nicht existieren«, hatte Nikos
erwidert. »Zumindest sagt das mein Vater. Er setzt Himmel und
Holle in Bewegung, damit ich Steuerberater werde.«
Phoebe hatte daraufhin ihre Hände um ihren Hals gelegt und
mit verdrehten Augen einen schrecklichen Tod imitiert.
»Damit triffst du den Nagel auf den Kopf«, hatte Nikos
lachend gemeint. »Doch ich hab eine Idee. Von heute an werde
ich nur noch dich malen. Mit deinem Gesicht als Vorlage werde
ich in kürzester Zeit ein gemachter Mann sein.«
»Ha!«, hatte sie gekichert und einen Schluck von ihrem
Cappuccino geschlürft.
»Das ist mein Ernst, Phoebe«, hatte er gesagt. »Du bist einfach
atemberaubend. Es wäre eine große Ehre für mich, dich ab und
an porträtieren zu dürfen.«
Zurück im Sonnenzimmer, schloss Phoebe die Augen und
stellte sich vor, wie sie hingegossen auf einer grünen
Samtchaiselongue läge, während Nikos sie malte. Aus dem
Weg, Kate Winslet!, dachte sie und musste kichern.
Und während er sie eine Stunde oder länger porträtierte, würde
er sich völlig in seiner Arbeit verlieren. Und mit jedem
Pinselstrich würde er sie interessanter machen, als sie im wahren
Leben je aussehen konnte, faszinierend und …
»Perfekt!«
Beim Klang dieses Wortes riss Phoebe ihre dunkelbraunen
Augen auf und erwartete fast, Nikos vor sich stehen zu sehen.
Doch es war nur Prue, die gerade schwer bepackt mit ihrer
Fotoausrüstung das Sonnenzimmer betreten hatte.
»Danke, Prue«, sagte Phoebe und hob eine Augenbraue.
»Doch wie hab ich dieses Kompliment verdient?«
»Dich hab ich gar nicht gemeint«, sagte Prue nur.
»Oh …«
»Herrgott, Phoebe, du weißt doch, dass du toll aussiehst«,
sagte Prue und verdrehte die Augen. Sie hob ihre Nikon aus der
Tasche. »Ich habe mir nur das Sonnenzimmer angesehen, und
ich glaube, es ist die perfekte Umgebung für mein Foto.«
Mit dem Wohnraum durch einen wunderschönen
holzgetäfelten Torbogen verbunden, war das Sonnenzimmer fast
so etwas wie ein verglaster Vogelkäfig. Diese Zuflucht mit ihren
geweißten Wänden stand in großem Kontrast zu dem in dunklen
Holztönen gehaltenen Wohnzimmer. Beide Räume waren durch
einen blassgrünen Samtvorhang voneinander getrennt, den die
Schwestern jedoch zumeist offen ließen, damit das
hereinfallende Sonnenlicht das ganze Geschoss durchfluten
konnte.
»Du machst dein Foto hier drinnen?«, fragte Phoebe und erhob
sich aus dem Sessel. Das war die Chance, Nikos noch mal ins
Spiel zu bringen.
Doch bevor sie das Thema anschneiden konnte, erschien Piper
im Durchgang und schaute zu ihnen herein. »Hallo und auf
Wiedersehen, Leute«, sagte sie. »Ich gehe zur Arbeit – zurück
auf das allabendlich auslaufende Galeerenschiff namens P3.«
»Halt!«, rief Prue. »Piper, warte. Ich brauche mal kurz deine
Hilfe.«
»Wobei?«, fragte Piper argwöhnisch und ließ ihre Tasche
fallen.
»Bei meinem Foto für das 415. Ich hab alles schon genau
geplant«, sagte sie und zeigte ihren Schwestern das
mythologisch angehauchte Porträt aus dem Bildband.
»Ich möchte genau so eine Gruppe, aber mit Paaren«, erklärte
sie. »Vielleicht vier insgesamt. Alle sollen wallende Gewänder,
Sandalen und Lorbeerkränze tragen, ihr wisst schon, dieser
ganze antike Griechenland-Kram. Und ich will das Ganze so
arrangieren, wie man es um die Jahrhundertwende getan hat. Ich
finde, das ist das ideale Covermotiv, um eine Story über San
Franciscos viktorianische Architektur einzuleiten.«
Während sie sprach, hatte sie ihre Kamera zur Hand
genommen und ein paar Fotos vom Zimmer gemacht.
»Nur ein paar Testaufnahmen«, erklärte sie. »Doch ich glaube,
das Ambiente hier ist einfach perfekt.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, stimmte Piper zu. »Doch
wozu brauchst du mich?«
»Zum Beispiel wegen deines umfassenden Wissens«, sagte
Prue. »Du kennst dich doch bestens in der antiken Mythologie
aus. Soweit ich mich erinnere, warst du die Einzige an der
Highschool, die freiwillig Latein genommen hat.«
»Vielen Dank, dass du mich daran erinnerst, was für eine
Streberin ich war«, sagte Piper und verdrehte die Augen.
»Piper, bitte!«, protestierte Prue.
»War nur Spaß«, gab sie zurück. »Also, du willst vier Paare
für dein Foto. Das ist nicht so schwer. Nehmen wir uns mal die
Götter des Olymp vor. Da hätten wir den großen Zeus und seine
Hera, dann Artemis und Apollon, diese beiden waren Zwillinge,
und natürlich die weltberühmten Götter Venus und Mars …«
»Du bist auch göttlich, Piper«, sagte Prue und drückte ihre
Schwester fest an sich. »Ich wusste, dass du mir helfen kannst.«
»Keine Ursache«, meinte Piper und schnappte sich ihre
Tasche. »Wenn ihr mich aber jetzt entschuldigen würdet, ich
muss los …«
»Ähem, tja, das war eigentlich noch nicht alles«, sagte Prue
und schaute schuldbewusst in die Runde. »Na ja«, erklärte sie,
als ihre Schwestern sie fragend ansahen. »Ich müsste acht
Fotomodelle anheuern und …«
»Das musst du nicht!«, unterbrach Phoebe sie und sprang aus
dem Rattansessel.
»Wie meinst du das?«, fragte Prue.
»Na ja, Nikos wäre das perfekte Model für dieses Foto, vertrau
mir!«, rief sie. »Und ich glaube, er würde dir gern Modell
stehen. Ich meine, alles im Interesse der Kunst, versteht sich.
Und im Interesse meiner Person natürlich auch.« Sie grinste.
»Mannomann«, entfuhr es Piper. »Ihr beide verliert aber
wirklich keine Zeit.«
»Ich bin verrückt nach ihm«, erklärte Phoebe leidenschaftlich
und ließ sich wieder in den Sessel zurückfallen. »Doch mehr als
Kaffeetrinken ist bisher noch nicht gewesen. Das Shooting wäre
doch die perfekte Gelegenheit, die Dinge ein wenig
voranzutreiben – ein ausgiebiger Fototermin in meinem Haus …
Wir könnten die Pausen auf der Veranda verbringen, oder auf
der Couch …«
»Phoebe!«, riefen ihre Schwestern wie aus einem Munde.
»Hey! Darf ein Mädchen nicht auch mal ein bisschen
träumen?«, gab Phoebe zurück. »Also, was sagst du, Prue? Soll
ich Nikos fragen, ob er für dich arbeiten will? Bitte, bitte, bitte!«
Prue seufzte. »Na ja, eigentlich wollte ich ja Profi-Models
buchen, und Nikos zu engagieren würde die Kosten natürlich
erheblich senken, aber …«, begann Prue. Als ihr Blick auf
Phoebes enttäuschte Miene fiel, fuhr sie fort: »Also gut, Nikos
ist dabei. Jetzt muss ich mich nur noch um sieben Models
kümmern.«
»Sechs«, rief Phoebe und sprang wieder auf die Füße.
»Phoebe, ich kann rechnen«, meinte Prue bissig, »vielen
Dank.«
»Warum teure Fotomodelle buchen, wenn du eine perfekte
und willige Schwester hast?«, meinte Phoebe und stemmte die
Hände in die Hüften. »Warst nicht du es, die mir noch vor
wenigen Minuten gesagt hat, wie umwerfend, toll und
atemberaubend ich sei?«
»Sagt mal, hab ich vielleicht die Stunde der Wahrheit verpasst,
oder was?«, witzelte Piper.
»Phoebe, ich kann bei meiner Arbeit nicht auch noch eine
hinter Nikos hersabbernde Schwester gebrauchen«, erwiderte
Prue. »Mit diesen vielen Models wird mich das Shooting
ohnehin den ganzen Tag kosten.«
»Sabbernd?«, wiederholte Phoebe. »Das verletzt mich. Ich
kann genauso professionell sein wie jedes beliebige
Supermodel, wenn ich auch nicht ganz so knochig bin. Ich
schwöre dir, ich bin echt gut. Ich könnte die Hera verkörpern,
und Nikos könnte diesen Oberheini darstellen, wie hieß er noch
gleich?«
»Zeus«, sagte Piper. »Der Göttervater.«
»Ja, genau der«, meinte Phoebe gedankenverloren. »Das wäre
doch perfekt!«
Prue biss sich auf die Lippen. »Also, ich weiß nicht …«
»Wie wär's damit?«, insistierte Phoebe. »Ich gehe auf den
College-Campus und suche dir sechs weitere Modelle. Mein
Gott, die Schule ist voller attraktiver junger Menschen …
Natürlich wähle ich nur solche aus, die das Ganze auch ernst
nehmen, versprochen. Mit dieser Maßnahme könntest du deine
Kosten wirklich senken. Was glaubst du, was für einen tollen
Eindruck das bei deinem Chefredakteur machen würde?«
»Auf Phoebes verquere Art hat sie damit gar nicht so
Unrecht«, bemerkte Piper zu Prue.
Prue runzelte die Stirn und sah ihre jüngste Schwester
zweifelnd an. Phoebe war schon immer die Schwester Leichtfuß
der Halliwells gewesen – die chronische Zuspätkommerin mit
dem stets leer gefahrenen Tank und den selten eingehaltenen
vollmundigen Versprechungen … Doch seit sie ins Herrenhaus
gezogen war, hatte sie viel von ihrer Unzuverlässigkeit abgelegt.
Prue wollte ihr wirklich vertrauen. Und schließlich nickte sie.
»Okay, okay«, sagte sie. »Du weißt, ich stand dir noch nie im
Weg, wenn du etwas wirklich wolltest, Phoebe. Und tatsächlich
würde dein Vorschlag mir sehr helfen, meinen Termin zu halten.
Doch vergiss nicht, dass eine Menge davon abhängt. Bitte lass
mich nicht hängen!«
»Nein, ich werde mich nicht über diese letzte Bemerkung
ärgern«, sagte Phoebe grinsend. »Wenn es mich nur Nikos näher
bringt, besorge ich dir die heißesten Sahnetörtchen, die der
Campus zu bieten hat. Dein Foto ist so gut wie im Kasten, Prue.
Vertrau mir.« Glücklich ließ sie sich in den Rattansessel
zurückfallen.
»Gut«, sagte Piper. »Dann braucht ihr mich ja nicht mehr.«
Zum zweiten Mal pflückte sie ihre Handtasche vom Boden und
eilte Richtung Haustür. Sie wollte sie gerade öffnen, als Prue
wie aus dem Nichts vor ihr auftauchte. Genauer gesagt erschien
ein Schemen ihrer Schwester, der ihr nun mit in die Hüften
gestemmten Händen den Weg versperrte.
»Prue!«, rief Piper und verdrehte die Augen. »Du weißt doch,
dass ich es hasse, wenn dein Astralkörper im Haus
herumgeistert.«
Der Schemen löste sich auf. Gleichzeitig trat Prue mit
schuldbewusster Miene aus dem Wohnzimmer in den Flur. »Ich
konnte dich noch nicht weggehen lassen, Piper«, sagte sie. »Ich
hab da nämlich noch ein kleines Attentat auf dich vor.«
»So?«, fragte Piper.
»Na ja, Phoebe hatte Recht, was die Kosten und das Timing
betrifft«, erklärte sie. »Und wie ich schon sagte, die Session
wird mich den ganzen Tag auf Trab halten, und, tja, ich muss
die Darsteller ja auch irgendwie verköstigen …«
»Verstehe ich das richtig? Du willst, dass ich für dich und acht
Models koche?«, fragte Piper.
»Und außerdem brauche ich eine Fotoassistentin«, sagte Prue
schnell und bohrte ihren rechten Zeh ins Parkett. »Bitte, Piper,
das wird bestimmt total witzig. Und hattest du nicht ohnehin
vor, ein paar neue Rezepte fürs P3 zu kreieren? Jetzt hättest du
die Gelegenheit dazu. Und außerdem geht's auch um meinen
großen beruflichen Durchbruch. Ich brauche wirklich eure
Hilfe.«
Piper biss sich auf die Unterlippe. Natürlich wollte sie Prue
helfen. Doch gerade diese Bitte verstärkte in ihr das Gefühl,
dass ihre Schwestern zur Zeit großen Dingen entgegensahen,
während sie außen vor blieb … und Abendessen kochte.
»Na ja, nachdem ich ja sowieso nie vor Einbruch der
Dunkelheit in den Club muss, kann ich wohl nicht nein sagen«,
sagte sie widerwillig.
»Danke, Süße«, sagte Prue und drückte ihre Schwester fest an
sich. »Was würde ich bloß ohne dich tun?«
»Keine Ahnung. Vielleicht Pizza bestellen?«, sagte Piper
grinsend, öffnete die Haustür und ging zur Arbeit.
Am nächsten Tag klingelte es zur Mittagszeit an der Haustür.
Prue warf noch schnell einen Blick in den Spiegel im Flur,
bevor sie öffnete. Sie war froh, dass sie Phoebes Rat gefolgt war
und sich für das pinkfarbene Bustier und das türkisfarbene
Seidenkapries entschieden hatte. Mit ihrem zu einem losen
Knoten aufgesteckten schwarzen Haar war sie daher gerade
noch passend für einen Lunch gekleidet und doch wiederum
apart genug, um Mitchell zu beeindrucken.
Als sie die Tür öffnete, verriet sein Gesichtsausdruck, dass sie
die gewünschte Wirkung durchaus erzielt hatte.
»Wow …«, hauchte er atemlos.
»Hallo«, begrüßte Prue ihn und merkte, dass sie wieder rot
anlief.
Mitchell trat ein. »Prue, du siehst einfach toll aus.«
Dann sah er sich im Foyer um und betrachtete staunend die
antike Standuhr, die geschwungene Treppe aus Walnussholz, die
üppig gepolsterten Rosshaarsofas und die Samtvorhange.
»Also, ich muss schon sagen, dein Haus ist fast so
überwältigend wie du«, bemerkte er. »Hier lässt es sich leben.«
»Es ist das Haus meiner Großmutter«, erklärte Prue, die gegen
einen der mit aufwändigen Schnitzereien verzierten Stühle
gelehnt stand. »Man kann sagen, sie hatte ein Faible für
Antiquitäten.«
»Darf ich einen Vorschlag machen?«, fragte Mitchell, als er
das Sonnenzimmer betrat. »Dieses viktorianische Foto, das du
erwähntest … Du solltest es hier aufnehmen. In genau diesem
Raum.«
»Du wirst es nicht glauben, aber die Idee hatte ich auch
schon«, sagte Prue. Als sie ihm in den lichtdurchfluteten Raum
folgte, konnte sie von der Sonne gebleichte Strähnen in seinem
Haar entdecken. Auch konnte sie nicht umhin festzustellen, dass
sein graues Hemd genau die Farbe seiner Augen hatte. »Die
Fotosession findet in genau zwei Tagen statt – in diesem
Zimmer.«
»Wirklich?«, fragte Mitchell. »Ich hätte es mir denken
können, Prue. Du bist wirklich tüchtig und dazu auch noch so
unglaublich talentiert.«
Bei diesen Worten wurde Prue von einem warmen Gefühl
durchströmt. Bei vielen Männern konnte man solche
Komplimente mit Fug und Recht als leeres Gefasel abtun, doch
bei Mitchell klang das alles so aufrichtig. Sie konnte es kaum
erwarten, einen ganzen Abend mit ihm zu verbringen.
»Und?«, fragte sie lächelnd. »Wie sieht's aus? Hast du
Hunger? Ich schlage vor, du führst mich jetzt zu deinem
Vietnamesen.«
Zwanzig Minuten später saßen sie an einem kleinen Tisch vor
dem Bien Hoa, einem winzigen Restaurant im Castro-Viertel.
Eine ältere weißhaarige Frau servierte ihnen gerade einen
süßen sahnigen Eistee. »Haben Sie schon gewählt?«, fragte sie
mit schwerem Akzent.
Mitchell wandte sich ihr zu und sprach sie auf Vietnamesisch
an. Prues Augen weiteten sich erstaunt. Offensichtlich hatte sich
Mitchell gut auf seine Reise in das südostasiatische Land
vorbereitet. Sie war beeindruckt.
Die alte Frau schien das ähnlich zu sehen, denn sie antwortete
ihm mit einem strahlenden Lächeln, und so verlief ihre
Konversation einige Minuten lang sehr angeregt. Schließlich
tätschelte sie wohlwollend Mitchells Schulter und ging davon.
»Wir kriegen die Spezialität des Hauses«, berichtete Mitchell
lächelnd, als er sich wieder Prue zuwandte. »Sie sagt, wir sollen
uns überraschen lassen, sie kümmert sich höchstpersönlich
darum.«
»Das klingt gut«, erwiderte Prue lachend. »Ich hätte ohnehin
nicht gewusst, was ich essen soll.«
»Du wirst diese Küche lieben, das verspreche ich dir«, sagte
Mitchell. »Aber nun erzähl mir von deiner Arbeit. Wie bist du
dazu gekommen?«
Und so berichtete Prue ihm, wie sie ihren trockenen Job als
Antiquitätenhändlerin gegen den einer Fotografin für das hippe
Stadtmagazin eingetauscht hatte. »Ich glaube, das war schon ein
ziemlich krasser Wechsel«, sagte sie. »Manchmal frage ich
mich, wie um alles in der Welt ich den geschafft habe.«
»Ich kenne das Gefühl«, sagte Mitchell. »Glaube mir, wenn
man so viel reist wie ich, dann vergisst man manchmal sogar, in
welcher Stadt man gerade aufgewacht ist.«
Prue lachte. »Weißt du, wir haben National Geographic
abonniert«, sagte sie. »Ich habe mir einige ältere Ausgaben
angesehen und auch den Artikel gelesen, den du über Prags
Jugendszene geschrieben hast. Er war so lebendig, so fesselnd.
Du bist wirklich sehr gut.«
Verlegen starrte Mitchell in sein Eisteeglas. »Hör auf, mir um
den Bart zu gehen, Prue«, sagte er. »Sonst werde ich noch
überheblich.«
Doch als er wieder aufblickte und sie ansah, konnte Prue
sehen, dass er sehr stolz auf seine Arbeit war.
Schon jetzt fühlte sie sich ihm sehr verbunden. Endlich hatte
sie einmal jemanden getroffen, der ihre berufliche Begeisterung
teilte.
»Komm, erzähl mir ein paar Geschichten aus der Fremde«, bat
sie ihn.
Und während Mitchell sie mit einigen ebenso amüsanten wie
spannenden Erlebnissen auf seinen Reisen unterhielt, brachte die
ältere Frau ihnen zwei riesige Schüsseln mit einem
vietnamesischen Eintopf. Er bestand aus viel Gemüse mit
kleinen Rindfleischstückchen.
Vorsichtig nahm Prue einen Löffel und war gleich darauf
entzückt. »Mmmh!«, sagte sie. »Das ist köstlich!«
»Die Küche fremder Länder zu entdecken ist ein netter
Nebeneffekt meiner Arbeit«, sagte Mitchell.
»Das glaube ich dir aufs Wort«, erwiderte Prue kauend.
»Aber es ist natürlich nicht halb so spannend wie Bilder für
die Ewigkeit festzuhalten, so wie du es tust«, fuhr er fort.
›»Tausend Worte vermögen nicht zu sagen …‹, du weißt schon.
Moment mal, mir ist da gerade was eingefallen.«
»Ja?«
»Hast du schon einen Assistenten für dein Shooting?«
Prue blinzelte. »Nein, noch nicht«, sagte sie und nahm einen
Schluck von ihrem süßen Tee. »Eigentlich wollte ich das noch
mit meinem Fotoredakteur besprechen.«
»Lass es«, sagte Mitchell. »Ich werde dir assistieren. Nenn es
unsere zweite Verabredung.«
»Du?«, fragte Prue nervös. O nein, dachte sie, wie kann ich
dieses Angebot bloß taktvoll zurückweisen?
Immerhin musste sie sich schon mit einem Haufen
Amateurmodels herumschlagen. Und in diesem Chaos auch
noch Mitchell zu sagen, was er zu tun und zu lassen hatte,
erschien ihr nicht gerade sehr förderlich für ihre Beziehung.
»Nichts für ungut, Mitchell«, sagte sie vorsichtig. »Aber du
bist in erster Linie ein Schreiber. Meinst du, du kommst so ohne
weiteres mit einem Belichtungsmesser klar und so?«
»Ich bin in erster Linie Journalist«, korrigierte Mitchell sie.
»Und dazu ein Absolvent der Columbia Journalistenschule –
einer sehr traditionsreichen Lehranstalt. Jeder Student dort lernt
auch das Fotografieren und die Grundlagen für die Assistenz bei
einem Shooting.«
Erstaunt starrte Prue ihn an. Konnte dieser Typ eigentlich noch
perfekter sein?
»Und es macht dir nichts aus, Anweisungen von deiner
Verabredung entgegenzunehmen? Sei gewarnt, ich bin sehr
kritisch bei meiner Arbeit und führe ein strenges Regiment.«
»Kein Problem«, meinte Mitchell. »Ich würde dir wahnsinnig
gern bei der Arbeit zusehen.«
Während Prue aß, dachte sie über den Vorschlag nach.
»Okay«, stimmte sie schließlich zu. »Aber nur, wenn das 415
dich dafür bezahlt. Ich bestehe darauf.«
»Kommt gar nicht in Frage«, gab Mitchell zurück. »Wegen
des Geldes mache ich es nicht.«
»Ach, nein?«, sagte Prue. »Und warum schießt du darin einen
ganzen Tag Recherche in den Wind, um in meinem Haus
rumzuhängen. während ich fotografiere?«
»Darum«, flüsterte Mitchell, beugte sich vor und drückte ihr
einen warmen weichen Kuss auf die Lippen. Als er sich wieder
in seinen Stuhl zurücklehnte, grinste er geradezu
anbetungswürdig. Das Nächste, an das Prue sich erinnerte, war,
dass sie sich zu ihm herüberbeugte und es ihm gleichtat. Sein
Kuss war warm und betörend … Sie vergaß alles um sich herum
– das Essen, die Leute, den Straßenverkehr –, bis die ältere Frau
mit einem Teller kalter Frühlingsrollen an ihren Tisch trat.
Peinlich berührt und mit geröteten Wangen fuhren sie und
Mitchell auseinander. Doch die alte Frau zwinkerte dem
Journalisten nur zu und kniff ihn mütterlich in die Wange,
während sie etwas auf Vietnamesisch sagte.
Als sie wieder fort war, bemerkte Prue, wie sie rot anlief.
»Was hat die Bedienung zu dir gesagt?«
»Sie sagte ›Kümmert euch nicht um die alte Frau. Küss dein
Mädchen weiter‹«, sagte Mitchell.
»Das ist doch eine Lüge«, sagte Prue grinsend.
»Nein, im Ernst«, erwiderte Mitchell und sah ihr tief in die
Augen. »Und dann sagte sie noch etwas über dich.«
»So? Was denn?«
»Sie sagte: ›Dieser Fisch ist magisch. Lass ihn nicht
davonschwimmen.‹«
Rasch senkte Prue den Blick und starrte in ihren Suppenteller.
O Mitchell, dachte sie wehmütig, wenn du nur wüsstest …
3
»
P
hoebe!
Bist du schon wach?«
Müde hob Phoebe den Kopf von ihrem Kissen und sah
blinzelnd zur Tür. Ihr Blick fiel auf Prue, die mit einem
ungeduldigen Gesichtsausdruck im Rahmen stand.
»Wie spät ist es?«, krächzte sie.
»Acht Uhr,« sagte Prue gehetzt. »Das Shooting findet in zwei
Stunden statt, und wir haben noch so viel zu tun …«
»Als da wäre?«, fragte Phoebe, die sich nun ächzend in eine
aufrechte Position brachte und dabei herzhaft gähnte. »Ich
meine, abgesehen von der Tatsache, dass ich sieben Models für
dich gesucht, gefunden und für zehn Uhr hierher bestellt habe.
Ich finde, das Einzige, was ich an diesem Tag noch zu tun hätte,
ist, genug Schönheitsschlaf zu bekommen.«
Prue lächelte reuevoll und lehnte sich gegen den Türrahmen.
»Ich weiß«, sagte sie. »Du hast dich für mich wirklich ins Zeug
gelegt. Ich hatte so viel mit den Kostümen und dem Set zu tun,
dass ich nicht weiß, was ich ohne deine Hilfe getan hätte.«
»Dankbar angenommen.« Phoebe grinste und ließ sich wieder
in die Kissen zurückfallen.
»Wird Nikos denn nun unter den schönen Collegekids sein
oder nicht?«, fragte Prue.
»Was für eine Frage«, meinte Phoebe und grinste ihre
Schwester an. »Er war total begeistert, als ich ihn im Unterricht
darauf ansprach. Und stell dir vor, was er gesagt hat: ›Ich? Ein
griechischer Gott? Du machst Witze …‹ Hach, wunderschön,
talentiert und bescheiden dazu! Ich muss ihn einfach zu meinem
Freund machen.«
»In diesem Fall solltest du aber schleunigst aufstehen, findest
du nicht?«, fragte Prue und wedelte mit einer Hand in Richtung
ihrer Schwester. Im gleichen Moment flog die Bettdecke in die
Luft und landete auf dem Fußboden.
Schweigend starrte Phoebe auf ihre nackten Füße. Dann sah
sie zu ihrer Schwester, die sich über diesen kleinen Streich
köstlich zu amüsieren schien. »Telekinese vor dem Frühstück,
Prue?«, knurrte sie und sprang aus dem Bett. »Was bist du doch
für eine Hexe.«
»Was du nicht sagst«, kicherte Prue. »Und jetzt schnell unter
die Dusche. Ich brauche deine Hilfe bei den Kostümen.«
»Das hört sich nach einem langen Tag an«, grummelte
Phoebe, als sie im Badezimmer verschwand. Als sie in den
Spiegel schaute, stellte sie mit Schrecken fest, dass sie dunkle
Ränder unter den Augen hatte, und auch ihre blonde
Lockenpracht hatte schon bessere Tage gesehen. Vielleicht ist es
doch keine so gute Idee gewesen, bis zwei Uhr morgens
fernzusehen, wo doch heute mein großer Tag mit Nikos
bevorsteht, dachte sie.
»Denn man weiß nie, ob der Nächste nicht dein zukünftiger
Ehemann ist«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Also, verbock es
nicht.«
»Genau!«, rief sie und sprang kichernd unter die Dusche.
Im Erdgeschoss flitzte Prue zur selben Zeit mit einem Arm
voller fein gewobener Gewänder in die Küche.
Piper warf gerade einen Blick in den Ofen, in dem sie
Honigbrote backte. Dann wandte sie sich wieder der riesigen
Schüssel mit Nudelsalat zu, den sie parallel dazu vorbereitete.
»Piper, das riecht ja köstlich«, bemerkte Prue, als sie die
Roben vorsichtig über den Küchenstuhl legte. »Mal sehen, ob
ich alle Darsteller zusammenhabe: Also, da wären Zeus und
Hera in der Mitte, weil sie sozusagen die Herrscher des
Himmels sind, richtig?«
»Richtig«, bestätigte Piper, während sie die Tomaten für den
Salat würfelte. »Zeus ist der Herrscher des Olymp, der Boss
gewissermaßen. Und dann wären da noch Ares, der Gott des
Kampfes, und Aphrodite, die Göttin der Liebe, besser bekannt
als Mars und Venus, wie sie bei den Römern hießen.«
»Heißt das, Mars und Venus waren ein Liebespaar?«, fragte
Prue lachend.
»So ist es«, sagte Piper. »Aphrodite war eigentlich die Frau
des Hephaistos, dem rußigen Schmied und einzigen äußerlich
unattraktiven Gott auf dem Olymp. Also hatte sie eine Affäre
mit Ares, dem Gott des Kampfes.«
»Also, diese griechischen Götter hatten offensichtlich ihre
ganz eigene Seifenoper, wie es scheint«, meinte Prue, während
sie goldfarbene Schnürsandalen für die Models bereitlegte.
»Das kannst du laut sagen! Dabei hab ich noch gar nicht
richtig angefangen zu erzählen«, sagte Piper und verdrehte die
Augen. »Also, Artemis und Apollon waren Zwillinge. Artemis
ist die Göttin der Jagd, und Apollon ist unter anderem der Gott
der Poesie, des Gesanges und der Musik.«
»Also muss er die Lyra in Händen halten?«, fragte Prue und
zog eine kleine goldfarbene Harfe aus einer Kiste mit
Utensilien, die sie gestern in einem Laden für Theaterbedarf
ausgeliehen hatte.
»Ja, genau. Perfekt!«, sagte Piper. »Und last but not least darf
natürlich das nervöse Pärchen Hades und Persephone nicht
fehlen.«
»Wie ist denn ihre Geschichte?«, wollte Prue wissen.
Piper huschte zum Ofen, zog das Blech mit den Brotlaiben
heraus und schob ein weiteres hinein.
»Hades ist der Gott der Unterwelt, doch dies nicht freiwillig«,
sagte sie über ihre Schulter hinweg. »Er hat zwei Brüder, Zeus
und Poseidon. Als sie die Welt unter sich aufteilten, fiel Hades
das nach ihm benannte Totenreich zu, während Zeus als
Herrscher über das Himmelreich und Poseidon als Gebieter über
die Meere aus diesem Handel hervorgingen.
Hades entführte die junge Göttin Persephone in sein dunkles
Reich und machte sie zu seiner Frau. Zeus jedoch schickte einen
Götterboten in die Unterwelt und ließ Hades befehlen, die
Entführte zu ihrer Mutter Demeter zurückkehren zu lassen.
Hades gehorchte, steckte Persephone zuvor aber noch einen
Granatapfelkern in den Mund. So traf sie reichlich benommen
beim Göttervater ein und musste zur Strafe einwilligen, ein
Drittel des Jahres bei Hades und den Rest bei ihrer Mutter zu
verbringen.«
»Krass«, sagte Prue. »Aber es macht mein Foto bestimmt noch
interessanter, wenn ich den dunkelsten und geheimnisvollsten
Charakter aus der Gruppe den Hades verkörpern lasse. Ich kann
es kaum erwarten zu sehen, wie meine Models eigentlich
aussehen!«
»Da musst du nicht mehr lange warten«, sagte Piper, als es im
gleichen Moment an der Tür klingelte.
Prue warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Mindestens
einer von ihnen scheint überpünktlich zu sein«, sagte sie
stirnrunzelnd und huschte aus der Küche.
»Warte!«, rief Piper ihr nach, ließ die Brote Brote sein und
folgte ihr in die Eingangshalle. »Ich will auch schöne Menschen
sehen!«
Prue riss die Eingangstür auf und schnappte nach Luft. Vor ihr
stand ein großer, stattlicher junger Mann mit dichtem
glänzendem Lockenschopf und dunkelblauen Augen. Er trug
zerrissene Zimmermannshosen und ein lässiges T-Shirt, ein
Outfit, dass jedermann geradezu »Achtung, Künstler!«
entgegenschrie. Auch schien er schwer an einer Holzbox zu
tragen, die offensichtlich auf einem Stativ mit drei langen
Beinen stand. Ein schwarzes Samttuch hing von einem der
Enden herab.
»Wow«, wisperte Prue, als sie Piper über die Schulter einen
Blick zuwarf. »Sieht so aus, als hätten wir unseren Hades schon
gefunden. Er ist einfach überwältigend!«
»Prue Halliwell?«, fragte der junge Mann mit einem warmen
Lächeln. »Ich bin Nikos. Phoebes Freund.«
»Komm doch herein«, sagte Prue und trat einen Schritt
beiseite. Sie deutete auf den braunen Kasten, den Nikos jetzt
hereintrug. »Ist das, was ich glaube, dass es ist?«, fragte sie.
Nikos stellte das geheimnisvolle Etwas vor ihr ab. »Erraten –
es ist eine alte Plattenkamera aus dem letzten Jahrhundert«,
sagte er. »Mein Vater … na ja, man könnte sagen, er ist ein
Sammler. Er hat 'ne Menge altes Zeug im Keller. Und als ich
von deinem viktorianischen Thema erfuhr, dachte ich, du
möchtest vielleicht einen Blick auf dieses Schätzchen werfen.«
»Und ob ich das möchte!«, rief Prue entzückt. »Die ist einfach
perfekt. Warum bin ich nicht selbst daraufgekommen? Eine
Jahrhundertwendekamera mit Einstelltuch und Glasplatten
anstelle von modernem Film. Die Fotos, die sie macht, werden
aussehen, als ob sie aus einem anderen Zeitalter stammen. Das
wird mir meinen Konkurrenten gegenüber einen
Riesenvorsprung verschaffen. Nikos, wie kann ich dir nur dafür
danken?«
»Nicht der Rede wert«, sagte er mit einem Grinsen. »Für eine
Schwester von Phoebe würde ich alles tun.«
»Wie wäre es dann, wenn du Phoebe endlich guten Tag sagen
würdest?«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Das Trio fuhr herum
und staunte nicht schlecht, als es Phoebe in einem der luftigen
griechischen Gewänder vor sich stehen sah. Das Kleid wurde
durch einen geflochtenen goldfarbenen Stoffgürtel in der Taille
zusammengehalten und passte gut zu den Schnürsandalen in der
gleichen Farbe. Ein Oberarmreif und eine einzelne Perle an
einer Goldkette um ihren Hals komplettierten den Look. Mehr
noch, Phoebe wirkte, als ob sie soeben einem griechischen
Götterdrama entstiegen wäre.
»Phoebe, du siehst einfach umwerfend aus!«, rief Nikos.
»Und du erst!«, meinte Phoebe. »Einfach perfekt für unser
Foto.«
»Ich hab mein Kostüm in der Küche gefunden und mich schon
mal umgezogen«, erklärte sie Prue, als sie heranrauschte und
Nikos einen zärtlichen Kuss in den Nacken gab. »Hallo, mein
olympischer Gott!«, säuselte sie.
»Ach du liebe Güte«, murmelte Piper und verdrehte die
Augen. »Komm, Prue, lass uns ein Kostüm für Hades
aussuchen.«
Prue nahm die wertvolle Kamera an sich und verließ mit ihrer
Schwester das Foyer, sodass Phoebe und ihre neueste Eroberung
einen Moment lang ungestört sein konnten.
»Das ist der Beweis«, sagte Nikos zu Phoebe. »Du bist in
jeder Epoche eine Schönheit, sei es nun in der Antike, im
viktorianischen Zeitalter oder in der Gegenwart …«
»Ach, Quatsch«, unterbrach sie ihn und klimperte mit ihren
goldfarbenen Wimpern. »Mach weiter …«
»Wie du willst«, sagte Nikos und kam einen Schritt auf sie zu.
Jetzt wird er mich endlich küssen, dachte Phoebe und schloss
die Augen. Mein Plan hat ja super funktioniert!
Rrrring!
»Ups«, machte Nikos und wich erschrocken zurück. »Ich
glaube, es hat gerade an der Tür geklingelt.«
»Scheint so«, seufzte Phoebe. Irritiert öffnete sie. Es war
Chloe, eine blonde Schönheit mit blassem, fast durchsichtigem
Teint. Ihr perfekter Schmollmund war zu einer blasierten
Schnute verzogen. Als Phoebe sie auf dem Campus entdeckte,
hatte sie sofort gewusst, dass sie die Richtige für Prues
Gruppenfoto war. Leider hatte sie nicht wissen können, dass
Chloe das Gehabe eines Supermodels an den Tag legen würde.
Sie seufzte und rollte mit den Augen. Aber was hab ich denn
erwartet?, fragte sie sich.
Neben Chloe stand ein ziemlich attraktiver, muskulöser Mann.
Er hatte kurzes braunes Haar und trug eine ausgebeulte Tasche
bei sich, die offensichtlich allerlei Zeug enthielt.
»Hi, ich bin Mitchell«, sagte er freundlich und reichte Phoebe
die Hand. »Ich werde Prue bei dem Shooting assistieren.«
Endlich beschloss auch Chloe, ihr Schweigen zu brechen.
»Hallo, Phoebe«, sagte sie träge. »Scheint, ich bin hier richtig.
Es wurde doch hoffentlich für Make-up und Haarstyling gesorgt,
oder?«
»Ich glaube, das ist mein Job«, seufzte Phoebe und schob das
Mädchen in die Küche. Dann sah sie zu Nikos und verzog das
Gesicht. »Schätze, wir müssen an die Arbeit«, flüsterte sie ihm
zu.
»Kein Problem. Ich werde mir merken, wo wir stehen
geblieben waren«, flüsterte er zurück und zwinkerte ihr zu.
Okay!, jubelte Phoebe innerlich. Alles nach Plan!
Eine Stunde später bevölkerten vier Männer und drei Frauen
die Halliwellsche Küche.
Alle waren gewandet in goldgefasste hauchdünne Stoffbahnen
und gegürtete Chitons, und alle standen in griechischen
Schnürsandalen in der Gegend herum. Der Küchentisch war
überladen mit antiken Waffen, Lyras und Hirtenflöten. Und die
Luft war geschwängert von den weltbewegenden Themen
amerikanischer Collegestudenten.
»Und da sagte ich zu dem Prof: ›Sie müssen mich zulassen,
immerhin hatte ich an dem Tag ein Vorsprechen‹«, sagte Kurt,
der strohblonde Darsteller des Apollon.
»Ist ja ein Ding«, meinte Madelaine, eine beeindruckende
Rothaarige im vollen Hera-Outfit, die gerade auf einem von
Pipers Canapés herumkaute. »Kann mir eigentlich jemand
sagen, ob diese Hors d'œuvres fettfrei sind?«
Phoebe hielt sich unterdessen mit Nikos und Mitchell im
Sonnenzimmer auf. Der Journalist war gerade dabei,
Reflektoren aufzustellen, während Nikos und Phoebe wieder
einmal flirteten.
»Also, ich muss schon sagen, Nikos, du hast echt tolle Beine«,
bemerkte Phoebe und starrte unverhohlen auf das kurze Gewand
ihres Fast-Freundes.
»Ich wette, dass sagst du zu allen Göttern«, witzelte er.
Phoebe lachte. »Warum? Du bist doch der einzige Gott, den
ich kenne und …«
»Phoebe!«
Sie zuckte zusammen und fuhr herum. Da stand Prue neben
der Plattenkamera im Eingang des Sonnenzimmers. Sie trug
einen bequemen Overall und einen ziemlich sauren
Gesichtsausdruck zur Schau.
»Prue!?«, rief Phoebe alarmiert.
»Prue!«, rief Mitchell erfreut.
»Hallo, Mitchell«, begrüßte sie ihn und versuchte ein Lächeln
in Richtung ihres anbetungswürdigen Assistenten, während sie
gleichzeitig wütend ihre jüngste Schwester fixierte.
»Ähem, gibt's ein Problem?«, fragte Phoebe und warf einen
Blick durch das Wohnzimmer in die überfüllte Küche. »Die
Crew scheint jedenfalls ganz zufrieden zu sein.«
»Ja … aber ist dir zufällig aufgefallen, dass wir eine
Darstellerin zu wenig haben?«, fragte Prue so ruhig wie
möglich, obwohl sie innerlich kochte.
Ich hätte mich nicht auf Phoebe verlassen dürfen, dachte sie.
Natürlich musste wieder irgendwas schief gehen.
»Das kann doch gar nicht sein«, sagte Phoebe leise. »Ich hatte
von allen eine Zusage.«
»Tatsache ist, eins der Mädchen ist nicht erschienen«, sagte
Prue knapp. »Und das heißt, wir haben ein Riesenproblem.«
In diesem Moment kam Piper mit einem Tablett ins
Sonnenzimmer. »Phoebe, du musst unbedingt mal meine
frittierten Krabben probieren«, sagte sie und reichte ihrer
Schwester die köstlich riechenden Vorspeisen. »Keins der
Models will sie anrühren, weil sie in Fett gebacken sind.«
»Nicht jetzt, Piper«, sagte Phoebe. »Wir haben nämlich ein
großes … Moment mal … Piper.« Sie lächelte ihre Schwester
strahlend an.
Prues Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sie ahnte, was
Phoebe vorhatte. Doch eine Sekunde später bemühte auch sie ihr
süßestes Lächeln. »Piper …«, begann sie.
Das war der Moment, in dem Pipers Kinnlade herunterklappte,
sie sich gleichzeitig auf dem Absatz umdrehte und zurück in die
Küche schoss. »O nein!«, rief sie ihren Schwestern über die
Schulter zu. »Diesen Ton in deiner Stimme kenne ich, Prue. Ihr
wollt noch einen Gefallen von mir, stimmt's? Und ich weiß
schon jetzt, dass mir euer Ansinnen nicht gefallen wird.«
»Aber du würdest in diesem Teil so hübsch aussehen«, meinte
Prue und hielt das letzte verbliebene Kostüm in die Höhe, ein
kurzes, in Falten gelegtes Kleidchen.
»Und … du liebst griechische Küche!«, fiel Phoebe ein.
»Unbedingt, Phoebe«, sagte Piper grimmig und knallte das
Tablett auf die Küchentheke. »Unbedingt.«
»Du hast Recht«, sagte Prue. »Wir brauchen unbedingt deine
Hilfe. Eines der Models ist nicht gekommen, und wenn du nicht
für sie einspringst, geht mein ganzer Tagesplan zum Teufel und
damit auch meine große Chance beim 415.«
»Okay, okay«, sagte Piper. »Ich mache es. Aber versteckt
mich bitte irgendwo in der Menge. Das ist mir alles so
gottverdammt peinlich …«
Kurz darauf hatte Prue die Darsteller auf diversen antiken
Möbelstücken im Sonnenzimmer arrangiert.
Mit Mitchells Hilfe posierten sie in klassischen Posen: Joey,
der den Ares verkörperte, hielt grimmig einen Speer in die
Höhe, während Aphrodite, auch bekannt unter dem Namen
Piper, sich schüchtern über seine Schulter beugte. Dabei zerrte
sie unentwegt am kurzen Saum ihres Röckchens und zog
unbehaglich den Kopf ein.
Phoebe alias Persephone, die von Hades geraubte Braut,
musste in einer dramatischen Geste die Hand gegen ihre Stirn
pressen und sich von Nikos abwenden, der den Gott der
Unterwelt darstellte.
»Mhm, Phoebe«, flüsterte Mitchell ihr zu, »findest du es
richtig, so nah bei Hades zu sitzen? Ich meine, immerhin
verabscheust du deinen ungeliebten Ehemann zutiefst.«
»Pssst«, machte Phoebe, zwinkerte ihm zu und rückte noch ein
bisschen näher an Nikos heran.
Mitchell zwinkerte zurück und hielt ihr einen
Belichtungsmesser ans Gesicht. »Sieben Komma vier, Prue«,
verkündete er.
»Großartig«, sagte Prue und verschwand unter dem
Einstelltuch der Kamera. »Ja, das sieht gut aus. Alles bereit?«
»Eigentlich fühle ich mich nicht sonderlich gut«, ließ sich nun
Chloe vernehmen, die Platinblonde, die die Artemis darzustellen
hatte. Sie musste mit Pfeil und Bogen gegen eine der Wände
zielen, während sie gleichzeitig einen glutvollen Blick in die
Kamera werfen sollte. »Diese Canapés waren einfach zu salzig.
Mir klebt die Zunge am Gaumen. Könnte ich bitte ein Glas
Stilles Wasser haben? Aber nur Stilles Wasser, auf keinen Fall
Mineralwasser.«
Prue stemmte die Fäuste in die Hüften und war kurz davor, der
Primadonna mitzuteilen, was diese von ihr aus mit dem Stillen
Wasser machen könne, als Mitchell ihr besänftigend eine Hand
auf die Schulter legte.
»Natürlich, ich hole dir das Wasser«, sagte er zu Chloe.
»Evian oder Pellegrino?«
»Evian«, orderte Chloe.
»Du bist ein wahrer Heiliger«, raunte Prue Mitchell zu und
grinste.
»Wozu sind Assistenten sonst da?«, flüsterte er zurück. Dann
verschwand er in Richtung Küche, um das Gewünschte zu
besorgen.
Prue tauchte wieder unter das Samttuch und fühlte ein
erregendes Prickeln in sich. Dies würde ein einmaliges Foto
werden. Sie konnte es schon im wahrsten Sinne des Wortes
bildlich auf dem Cover des Magazins sehen.
»Sieht schon fast perfekt aus«, rief sie. »Also, Phoebe, wenn
du dich jetzt von Nikos losreißen könntest, und Piper, wenn du
bitte ein bisschen weniger erschreckt dreinschauen würdest,
mache ich jetzt das erste Bild.«
»Wer ist gestorben und hat aus ihr Annie Leibovitz
gemacht?«, nörgelte Piper leise durch ihr aufgesetztes Lächeln,
während Phoebe ein Prusten unterdrückte.
»Okay«, sagte Prue, während sie ihr altertümliches Blitzgerät
in die Höhe hielt.
Psfffflttt!
Piper sah das Licht aufflammen und war für einige Sekunden
geblendet. Gleichzeitig stöhnte sie vor Schmerz auf. Der Grund
dafür lag ihr zu Füßen, genauer gesagt lag er mitten drauf. Kurz:
Ares war kollabiert, aus ihren Armen geglitten und am Boden
zusammengesunken.
»Prue …«, sagte Piper und sah sich um. Nikos, Chloe … und
all die anderen College-Schönheiten lagen ebenfalls reglos auf
dem Parkett. Nur Phoebe saß aufrecht an ihrem Platz und
blinzelte verwirrt in die Gegend.
Prues Kopf kam hastig unter dem Tuch hervor; in ihren Augen
blitzte Panik auf.
»Was zum Teufel ist passiert?«, keuchte sie, rannte nach vorne
und beugte sich über Kurt alias Apollon. Sie stieß ihn sanft an
und legte dann ihr Gesicht an das seine. »Er atmet«, sagte sie.
»Hera auch«, berichtete Piper und ließ Madelaines Hand
wieder los, die daraufhin schlaff herabfiel. »Genauer gesagt
schnarcht sie.«
Phoebe hatte sich über Nikos gebeugt. »Er sieht so friedlich
aus«, sagte sie. »Sie sind einfach alle … in Schlaf gefallen.«
»Scheint so«, sagte Prue und stieß Kurt erneut an. Er öffnete
leicht den Mund und tat einen leisen Schnarcher, doch er wachte
nicht auf. »Da liegen sie und … können nicht aufstehen.«
»Ein Glas Evian mit Strohhalm kommt sofort!«, kam es
plötzlich aus Richtung Küche.
»Mitchell!«, rief Phoebe alarmiert.
Aus den Augenwinkeln konnte Piper die Stiefelspitzen des
Journalisten in den Wohnraum spazieren sehen. Ohne groß
nachzudenken, wedelte sie mit der Hand und fror die Zeit ein.
Das Schnarchgeräusch von Hera und das Ticken der Standuhr
verstummten im gleichen Moment. Was nicht weiter tragisch
war, da die Zeit ohnehin still stand.
»Gute Reaktion, Piper«, lobte Phoebe und sah sich ratlos im
Sonnenzimmer um. »Ich weiß nicht, was hier geschehen ist,
aber es ist ganz bestimmt etwas Übernatürliches im Spiel.«
»Was bedeutet, dass Mitchell lieber nichts davon erfahren
sollte«, beendete Prue den Gedanken für sie. Sie flitzte zu dem
hölzernen Durchgang, der das Sonnenzimmer vom Wohnraum
trennte, und schloss den blassgrünen Vorhang zwischen den
beiden Räumen.
Gerade rechtzeitig, denn nur Sekunden später kam wieder
Leben in den Journalisten, und er setzte seinen Weg ins
Wohnzimmer fort. Als er das Sonnenzimmer betreten wollte,
versperrten ihm Prue und der Vorhang den Weg.
»Was? Jetzt schon Pause?«, fragte er verwundert. »Ich dachte,
du führst ein strenges Regiment?«
»Ähem …«, stotterte Prue.
»Mir sind beide Träger gerissen«, kreischte Phoebe aus dem
Sonnenzimmer. »Wir haben ein Kostümproblem hier drinnen
und müssen uns umziehen. Ich stehe so gut wie nackt da, also
nicht reinkommen, hörst du, Mitchell!«
»Ja, so ist es«, platzte Prue heraus. Innerlich krümmte sie sich
angesichts einer solch plumpen Lüge. Doch nun konnte sie aus
dieser Nummer nicht mehr raus.
»Kaum zu glauben, wie fummelig diese Kostüme sind«,
ereiferte sie sich künstlich, während sie Mitchell ins Foyer
schob. »Ich werde sie alle wieder zurück in den Verleih bringen
und welche verlangen, die ein bisschen mehr aushaken.«
»Das kann ich doch für dich erledigen«, bot Mitchell an.
»Immerhin bin ich der Assistent.«
»Nein!«, schrien Piper und Phoebe aus dem Sonnenzimmer.
»Ähem … was sie meinen, ist, dass die ganzen Bestellungen ja
auf meinen Namen liefen. Ich werde mich wohl persönlich
darum kümmern müssen, und dann wiederholen wir das
Shooting am Nachmittag.«
Sie öffnete die Haustür.
»Insofern kann ich dich wirklich nicht guten Gewissens länger
hier festhalten«, fuhr sie fort und schob Mitchell über die
Schwelle nach draußen. »Aber du warst einfach großartig, danke
für deine Hilfe. Ich wüsste nicht, was ich ohne dich getan hätte.
Also dann, auf Wiedersehen!«
»Warte«, rief Mitchell und stellte seinen Fuß zwischen die
Tür, als Prue diese gerade zuwerfen wollte. »Was ist mit heute
Nachmittag? Brauchst du denn keinen Assistenten für die
Fortsetzung des Shootings?«
»Weißt du«, sagte sie und bedauerte zutiefst, Mitchell nun
endgültig abservieren zu müssen, »du bist ein hervorragender
Assistent, aber ich glaube, ich arbeite lieber allein.«
»Nun …«, sagte Mitchell langsam. »Ich finde, das ist
verständlich.«
»Großartig!«, meinte Prue und versuchte erneut, die Tür hinter
ihm zu schließen.
»Prue!«, rief Mitchell, während er sie abermals daran hinderte.
»Wenn ich schon nicht dein Assistent sein darf, so gehe
wenigstens morgen Abend mit mir essen. Ich würde dich
wirklich gern wieder sehen.«
»Sehr gern!«, sagte sie hastig und fühlte Panik und
Erleichterung zugleich. Vielleicht bestand ja doch noch eine
Chance, aus diesem ganzen Dilemma herauszukommen, ohne
dass sie es sich völlig mit Mitchell verdarb. »Warum holst du
mich nicht einfach um acht Uhr hier ab, okay? Wir sehen uns
also morgen!«
Endlich gelang es ihr, die Tür zu schließen. Schwer atmend
lehnte sie sich von innen dagegen. Sie hasste diese peinlichen
und kniffligen Situationen, von denen es in ihrem kurzen
Hexenleben schon mehr als genug gegeben hatte.
Seufzend ging sie zurück ins Wohnzimmer und zog den
Vorhang beiseite. Piper und Phoebe saßen schweigend am
Boden und schauten betreten auf die schlafenden Amateur-
Models.
»Wir haben sie noch mal untersucht«, berichtete Piper. »Es
scheint ihnen gut zu gehen bis auf die Tatsache, dass sie alle in
einen geradezu komatösen Schlaf gefallen sind.«
»So viel zu meinen großen ›Nach-dem-Fototermin‹-Plänen mit
Nikos«, sagte Phoebe tonlos und stieß den anbetungswürdigen,
aber reglosen Körper ihres Liebsten an.
»Und so viel zu meinem Coverfoto für das 415!«, rief Prue
wütend. »Und das alles habe ich deinem feinen Freund hier zu
verdanken. Was glaubst du, was er ist? Ein Dämon oder ein
Hexer? Schwer zu sagen bei einer so göttlichen Erscheinung.«
»Warum glaubst du, dass es Nikos' Schuld ist?«, protestierte
Phoebe und sprang auf ihre sandalenbeschuhten Füße. »Die
Kamera gehört ihm nicht einmal. Er sagte doch, dass er sie im
Keller seines Vaters gefunden hat. Sie hätte von überall her
stammen können.«
»Richtig, Phoebe«, erwiderte Prue eisig, während sie die
Negativplatte aus der Kamera zog und in einem metallenen
Schutzbehälter verstaute. »Und weißt du was? Das alles
interessiert mich im Moment einen feuchten Kehricht. Alles,
was ich weiß, ist, dass du ihn hier angeschleppt hast. Und jetzt
liegen sechs besinnungslose Leute, die unter irgendeinem
perversen Bann stehen, in unserem Wohnzimmer. Mein
ruiniertes Shooting ist nichts im Vergleich zu dem Ärger, den
wir kriegen werden, wenn wir diese Models nicht wieder
beleben können.«
»Da hat sie Recht«, meinte Piper, zog an ihrem noch immer zu
kurzen Röckchen und biss sich auf die Unterlippe.
»Ich verstehe das alles nicht«, murmelte Phoebe und
umrundete die Kamera. »Für mich sieht das Ding aus wie ein
ganz gewöhnlicher alter Fotoapparat.« Sie legte eine Hand auf
den Kasten, und im gleichen Moment durchlief ein leichtes
Beben ihren Körper. Sie schnappte nach Luft und schloss die
Augen. Sie konnte es kommen fühlen – eine ihrer Visionen
stand bevor.
Und dann ging sie durch einen dunklen, sumpfigen Wald. Als
sie zu Boden blickte, sah sie, wie ihre Sandalen in dem
morastigen Fußweg versanken. Die Bäume um sie herum
wirkten wie dürre Skelette, und von fern war ein unheimliches
Kreischen zu hören.
Sie sah sich um, aber es war zu neblig, um Genaueres
erkennen zu können. Doch Moment mal! Versteckten sich nicht
dort hinter den Bäumen geisterhafte Schemen, wie um ihr
aufzulauern? Sie verspürte schreckliche Angst, und doch hatte
dieser Ort auch etwas … Vertrautes.
In diesem Moment wurden ihre Sinne abrupt aus der Szenerie
gerissen und tauchten wieder ein in die Gegenwart. Als sie
blinzelnd die Augen öffnete, erkannte sie ihre Schwestern, die
sich mit besorgten Mienen über sie beugten. Sie war direkt
neben der Kamera zu Boden gestürzt.
»Eine Vorhersehung?«, fragte Piper.
»Uh – ja«, krächzte Phoebe. »Ich war in einem Sumpf, keine
Ahnung, wo das war. Aber irgendwas lässt mich ahnen, dass
unsere Models jetzt genau dort sind.«
Prue und Piper sahen einander an.
»Das Buch der Schatten«, sagte Prue.
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund«, antwortete Piper.
Und schon eilten die drei Schwestern die Treppe hinauf zum
Speicher.
Der Dachboden war voll gestellt mit alten Rosshaarsofas,
Stühlen aus Weidengeflecht, abgewetzten Kleiderpuppen und
verrosteten Vogelkäfigen. Doch die Mitte des Raums war von
altem, ausrangiertem Krempel verschont geblieben. Dort stand
ein antikes Lesepult, auf dem das riesige ledergebundene Buch
der Schatten lag.
Wie schon so oft beugten sich die drei Schwestern über den
alten Folianten, und Phoebe begann durch die Seiten zu blättern.
»Mal sehen …«, murmelte sie. »Fotos, Schlaf,
Verwünschungen, Kamera … Ah! Kamera.«
Piper und Prue hörten aufmerksam zu, als sie laut vorlas.
»›Primitivere Kulturen wurden lange für ihren Glauben
verlacht, dass eine Kamera die Seele des Fotografierten zu
stehlen vermag. Nur wenige unter den Sterblichen wissen
jedoch, dass eine Kamera auch das Portal zu Orten auf der
anderen Seite sein kann.‹«
»Portal zu Orten auf der anderen Seite?«, fragte Piper. »Was
und wo genau soll das sein?«
»Du kennst doch das Buch«, seufzte Prue. »Kryptisch wie eh
und je.«
›»Bei einer verzauberten Kamera wird die Seele von einem
Strudel aus Energie mitgerissen‹«, fuhr Phoebe fort. ›»Sie muss
durch ebendieses Portal wieder heimgeführt werden.‹«
»Klingt, als ob wir durch diese Kamera reisen und die Seelen
der Models wieder zurückholen könnten«, überlegte Prue.
»Aber uns hat die Kamera doch gar nicht mitgenommen«,
stellte Piper fest. »Wahrscheinlich haben unsere Kräfte uns
davor beschützt. Wie wollen wir es also anstellen?«
Die drei Schwestern sahen sich einige Sekunden lang
schweigend an. Dann riefen sie wie aus einem Mund:
»Zauberspruch!«
»Gut, mal sehen, was wir zu Stande bringen«, sagte Phoebe
und blätterte wieder durch das Buch. »Hört mal, wie wäre es
hiermit: ›Auf dass wir von nun an Sterbliche seien‹«, las sie.
»›Sodass man uns führe zu jenem Ort, und uns die Kräfte
wieder verleihen, sobald wir eintreffen ebendort!‹«, beendete
Prue den Spruch, während Piper rasch die Zeilen mitschrieb.
»Ich glaube, das dürfte klappen«, meinte Phoebe und schlug
das Buch wieder zu. »Und jetzt lasst uns schnell nach unten
gehen und durchstarten.«
Grrrrrrrrr.
»Moment mal«, sagte Piper und warf einen Blick über ihre
Schulter in den im Dunkeln liegenden hinteren Teil des
Dachbodens. »Habt ihr das auch gehört?«
»Was denn?«, fragte Prue, die schon auf dem Weg zur Treppe
war.
GRRRRRRRRR!
»Okay, wartet mal 'ne Minute«, sagte Phoebe mit zitternder
Stimme und ergriff Pipers Arm. »Jetzt habe ich es auch gehört.«
Grrrrr-OWR!
Mit einem weiteren schrecklichen Knurren kam plötzlich
etwas aus der hintersten Ecke des Speichers hervor. In dem
dämmrigen Licht meinte Phoebe den Eindringling schemenhaft
zu erkennen. Es war ohne Frage eine Art Tier, und es kam
näher.
Kurz darauf stieß sie einen gellenden Schrei aus.
Das Tier war ein Hund, ein monströser, bösartiger
Riesenhund. Seine unglaublichen Muskeln spielten unter dem
glänzenden Fell bei jedem Schritt, den er tat. Die
rasiermesserscharfen Klauen schlugen hörbar in die
Bodendielen des Speichers, als er knurrend auf sie zukam.
Doch das Schrecklichste an dieser Höllenkreatur war, dass sie
nicht einen, nicht zwei, sondern gleich drei Furcht erregende
Köpfe besaß, die nun geifernd nach ihnen schnappten.
4
»
G
ütiger Gott!«,
schrie Piper und wedelte panisch mit den
Händen. Die dreiköpfige Bestie fror auf der Stelle ein. Eine ihrer
mit Reißzähnen bewehrten Schnauzen war nur wenige
Zentimeter von Pipers Kehle entfernt.
»Ooo-kay«, sagte Phoebe, sichtbar um Fassung bemüht. »Das
ist neu.«
In diesem Moment kam Prue wieder die Stufen zum
Dachboden heraufgerannt, um ihren Schwestern zu helfen. Sie
rang hörbar nach Luft, als sie die drei aufgerissenen Mäuler der
Bestie sah, ihre sechs blutunterlaufenen gelben Augen und den
massiven, vor Muskeln strotzenden Körper von der Größe eines
Grizzlybären.
Sie konnte ihren Blick kaum von der abscheulichen Kreatur
abwenden, als sie fragte: »Irgendwelche Vorschläge?«
»Schickt ihn zurück in die Hölle!«, jammerte Phoebe außer
sich.
»Aber wie?«, fragte Piper. Niemand antwortete, denn in
diesem Moment kam wieder Leben in die Bestie, und sie
schnappte abermals knurrend nach den Schwestern.
Prue machte eine Handbewegung, und der Hund flog in
hohem Bogen quer durch den Dachboden. Er krachte hart in
einen Standspiegel, sodass die Splitter durch den ganzen Raum
flogen. Doch das Tier schien nicht ansatzweise verletzt zu sein.
Im Gegenteil, nur noch wütender kam es jetzt auf Prue
zugerannt.
Grrr-ROWR!
Prue vollführte einen Roundhouse-Tritt gegen seine mächtige
Brust, und die Bestie wurde wieder zurückgeschleudert. Schnell
versetzte sie ihr einen Schlag mit dem Unterarm, sodass das Tier
die Treppe hinunterstürzte und hart am unteren Absatz
aufschlug.
AAAAAAARRRP!, jaulte es.
»Endlich scheint das Vieh was abbekommen zu haben!«, rief
Phoebe hoffnungsfroh und sah sich hektisch nach einer Zuflucht
um. Da fiel ihr Blick auf eine alte Lampe, die sie vor einigen
Wochen auf dem Speicher zwischengelagert hatte, weil das
Kabel zu heiß geworden war und die Ummantelung
durchschmort hatte. Sie hatte sich vorgenommen, das gute Stück
reparieren zu lassen, wenn es ihre Zeit zuließ.
»Physik war zwar noch nie meine große Stärke«, sagte sie,
»aber ich hab da eine Idee.« Sie wandte sich an Piper. »Du
spielst den Köder.«
»Was?«, quietschte Piper. »Hast du gerade ›Köder‹ gesagt?«
»Prue«, fuhr Phoebe fort und drückte ihr den Stecker der
Lampe in die Hand, »Stöpsel den mal ein.«
Prue tat, wie ihr geheißen. Gleichzeitig pulte Phoebe
vorsichtig die Gummiisolierung vom Kabel, sodass schließlich
nur noch der nackte Draht übrig blieb. Dann nahm sie die
Lampe zur Hand und legte das Kabel quer über den oberen
Absatz der Treppe.
Grrrrr.
Das nervenzerfetzende Knurren war nicht mehr weit. Der
Hund hatte mit dem Wiederaufstieg in den Speicher begonnen.
»Phoebe«, sagte Piper mit zitternder Stimme. »Ich finde, der
Köter klingt irgendwie ziemlich sauer.«
»Bleib da stehen und beweg dich nicht«, wies Phoebe sie an.
»Und halte dich bereit, die Bestie einzufrieren, falls es nötig
werden sollte.«
GRRRRRRRR!
»Er kommt!«, schrie Piper.
Phoebe konnte hören, wie der Riesenhund die letzten Stufen
zum Dachboden im Sprint nahm – das Knirschen seiner
mächtigen Kiefer und Klauen, das Knurren und das Grollen
wurden immer lauter. Schon erschien der erste Kopf auf dem
Treppenabsatz und schnappte nach Piper.
»Phoebe!«, kreischte sie in höchster Not.
»Jetzt!«, rief Phoebe und spannte das Kabel, als die Bestie
gerade ihren ersten Schritt in den Dachboden tun wollte. Der
freiliegende Draht erwischte sie direkt an der Brust; brutzelnd
verschmorte das Fell und auch das Fleisch darunter. Die Bestie
jaulte und heulte, ihre drei Köpfe zuckten hin und her. Es roch
nach verbranntem Fleisch und Fell, ein Funkenregen nach dem
anderen stob durch die Luft, und die Schwestern zogen sich
langsam in den hinteren Teil des Dachbodens zurück.
Und plötzlich, mit einem fürchterlichen Heulen, bäumte sich
das Tier ein letztes Mal auf, bevor es in einem Feuerball
explodierte.
Dann trat Stille ein.
Phoebe, die sich auf den Boden geworfen hatte, hob langsam
den Kopf. Die Kreatur war verschwunden, nur eine kleine
schwarze Rauchwolke zeugte von dem zurückliegenden Kampf
mit dem Monsterhund. Hinter ihr hatten sich ihre Schwestern in
eine der Ecken gekauert. Jetzt erhoben sie sich mit weichen
Knien und kamen zu Phoebe.
»Bist du okay?«, fragte Prue.
Sie nickte.
»Lasst uns zur Kamera gehen!«, sagte Piper.
Während die drei Schwestern durch die Eingangshalle eilten,
sagte Prue: »Ich muss einen Fernauslöser anbringen, damit wir
alle drei vor der Kamera sitzen können, wenn ich das Foto
mache.«
»Okay, ich besuche unterdessen unsere schlafenden
Schönheiten«, sagte Phoebe. Sie rannte ins Sonnenzimmer und
sah nach den bewusstlosen Models.
»Ich habe den Spruch!«, rief Piper und wedelte mit einem
Blatt Papier.
Prue wollte gerade das lange Selbstauslöserkabel aus ihrer
Fototasche nehmen, als sie ein Geräusch vernahm. Ein
schreckliches Geräusch.
Ca-caw, ca-CAW!
Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und sie fröstelte, als sie
aufsah.
»Piper! Phoebe!«, schrie sie, als sie taumelnd auf die Füße
sprang.
Mitten auf der alten Boxenkamera saß eine Kreatur, die noch
grotesker aussah als der dreiköpfige Hund, falls das überhaupt
möglich war. Sie hatte einen Frauenkopf – das Gesicht war
kalkweiß, mit Hakennase und einem lippenlosen Mund. Der
Torso war schuppig und hatte vage menschliche Formen. Doch
dort, wo sich normalerweise die Arme befinden sollten, saßen
zwei riesige lederne Schwingen, und anstelle von Beinen hatte
die Kreatur Greifvogelklauen. Lange Schwanzfedern
vervollständigten das skurrile Bild.
»Was zum Teufel macht …«, entfuhr es Piper.
Doch Prue wollte sich im Moment nicht mit der Frage
aufhalten, was diese Kreatur vorhatte. Stattdessen schoss ihr
Zauberarm vor und beförderte das Vogelwesen in die Lüfte.
Das Biest stieß ein schreckliches Kreischen aus, doch bevor es
mit der Wand zu kollidieren drohte, breitete es seine Schwingen
aus und blieb in der Luft hängen. Dann flatterte es kreischend
geradewegs aus Prues telekinetischem Energiestrahl heraus und
unter die Decke.
»Pass auf die Models auf!«, rief Prue, als die Kreatur
Anstalten machte, ins Sonnenzimmer zu fliegen.
Piper hetzte hinüber, doch die Vogelfrau schien kein Interesse
an den reglosen Gestalten zu haben. Stattdessen stürzte sie sich
nun auf Piper. Die messerscharfen Klauen verfehlten ihr Auge
nur um wenige Zentimeter.
»Ich glaube, das Vögelchen ist nicht an unseren Models
interessiert!«, schrie sie.
»Sieht so aus«, keuchte Prue, während sie im letzten Moment
den krallenbewehrten Raubvogelfüßen auswich. »Ich glaube,
man kann mit ziemlicher Sicherheit behaupten, dass das Ding
unseretwegen hier ist.«
»Und ich glaube, hier ist wieder mal Super-Phoebe gefragt«,
ließ sich die jüngste Schwester vernehmen. Piper und Prue
fuhren herum und sahen, wie Phoebe sich gerade in die Luft
erhob, um die Vogelfrau auf sich aufmerksam zu machen.
Das Wesen stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus und
schoss geradewegs auf sie zu. Phoebe erwartete es mit einer
Reihe wohlgezielter Karateschläge. Das Vogelmonster
versuchte seine Angreiferin mit seinen ledrigen Schwingen zu
Boden zu schlagen, doch Phoebe vollführte einen eleganten Tritt
gegen seinen Körper. Dann duckte sie sich geschickt, um den
scharfen Krallen und machtvollen Schwanzfedern
auszuweichen.
»Phoebe scheint zu wissen, wie man mit diesem fliegenden
Ungeheuer klarkommt«, bemerkte Piper zu Prue.
»Worauf du dich verlassen kannst«, gab diese zurück. Dann
rief sie ihrer jüngsten Schwester zu: »Soll ich übernehmen?«
»Bei drei!«, rief Phoebe zurück, während sie wieder nach der
Kreatur schlug. »Eins … zwei …«
Sie wirbelte zweimal um ihre eigene Achse und trat dem Biest
mitten in sein hässliches Gesicht, sodass es laut aufkreischte.
»Drei!«
Wütend flatterte die Vogelfrau zurück ins Foyer, wo Prue sie
bereits erwartete und mit kraftvollen telekinetischen Schlägen
auf sie eintrommelte. Geschwächt wurde die zeternde Bestie
gegen die Wand geschleudert. Der Aufschlag war so hart, dass
sie in einer Wolke aus Federn und Asche explodierte.
Erleichtert ließ sich Phoebe auf den Boden plumpsen.
»Mannomann«, stöhnte sie. »Das Fliegen wird zwar immer
einfacher, nur die Landung macht mir noch Sorgen.«
»Lasst uns endlich die Sache mit dem Foto hinter uns bringen,
bevor noch weitere ungebetene Gäste hier erscheinen«, sagte
Piper ungeduldig. »Phoebe, komm her zu mir.«
Piper und Phoebe platzierten sich vor der Kamera, während
Prue den Selbstauslöser anbrachte.
»Das Ding ist so alt, ich hoffe, ich kriege das Kabel überhaupt
angeschlossen«, murmelte sie.
»Pruuuuue! Beeil dich!«, rief Phoebe alarmiert und deutete in
eine Ecke des Wohnzimmers, wo die Luft plötzlich zu
schimmern und flackern begann. »Ich glaube, wir kriegen schon
wieder Besuch!«
»Fast fertig«, knurrte Prue und brachte das Kabel mit
fliegenden Fingern am Auslöser der Kamera an.
»Schnell!«, schrie Piper.
»Geschafft!«, verkündete Prue genau in dem Moment, als sich
eine riesige neunköpfige Viper im Wohnzimmer materialisierte
und sich ihnen zischelnd näherte.
»Los! Sagt den Spruch auf«, rief Prue und hechtete zu ihren
Schwestern vor die Kamera.
»Auf dass wir von nun an Sterbliche seien …«, intonierten die
Schwestern.
Ssssssss.
»Sodass man uns führe zu jenem Ort …«
Die Riesenschlange war nun schon recht nahe.
»Und uns unsere Kräfte wieder verleihen, sobald wir
eintreffen ebendort!«
In diesem Moment schoss einer der Schlangenköpfe vor und
züngelte nach ihnen.
»Jetzt!«, riefen Phoebe und Piper gleichzeitig.
Prue betätigte den Selbstauslöser, und im gleichen Moment
explodierte das Blitzlicht. Dann bemerkte sie, wie ihr Körper zu
Boden ging. Gleichzeitig wurde ihr Geist in einen dunklen
tobenden Strudel gezogen.
Sie fühlte die Hände der Schwestern in den ihren, dann wurde
alles um sie herum schwarz und totenstill.
Phoebe blinzelte und schüttelte den Kopf.
Sie hockte auf Händen und Knien, und sie war sich sicher, für
einen Moment das Bewusstsein verloren zu haben.
Als sie sich umwandte, sah sie Prue und Piper neben sich
stehen. Sie sahen genauso verwirrt aus, wie sie sich fühlte.
Phoebe stand auf und begann zu zittern. Sie stand mitten in
einer matschigen Pfütze, und ihr hauchdünnes griechisches
Kostüm war über und über mit Dreck beschmiert. Mit einem
schmatzenden Geräusch versanken ihre Füße im morastigen
Untergrund.
»Pfui Teufel«, sagte Piper und zog ihrerseits einen Fuß aus
dem Schlamm. »Wo sind wir bloß gelandet?«
»Keine Ahnung«, sagte Phoebe und schaute sich unbehaglich
um. Sie waren umgeben von dunklen, kahlen Bäumen. Durch
den Nebel glaubte sie die Schemen von hellen, irgendwie
körperlosen Gestalten zwischen den Stämmen hindurchhuschen
zu sehen. Ob das wohl Geister sind?, fragte sie sich.
In der Ferne erkannte sie die Umrisse eines maroden
Gebäudes, das ganz mit wildem Wein bewachsen war.
»Moment mal«, murmelte sie. »Ich hab zwar keinen blassen
Schimmer, wo wir sind, aber das ist genau der Ort, den ich in
meiner Vision gesehen habe.«
Und dann begriff sie noch etwas anderes, das sie geradewegs
erschütterte. Nun wusste sie, warum ihr diese Gegend so
vertraut vorgekommen war. Sie standen mitten in Nikos'
Gemälde! Alles war hier: die geisterhaften Wesen, das
verfallene Gebäude, die toten Baumskelette …
Gerade wollte sie ihren Schwestern von dem Bild erzählen, als
etwas sie davon abhielt. Sie wusste selbst nicht, was das alles zu
bedeuten hatte, aber sie wusste, dass Prue Nikos für all das
verantwortlich machte. Wenn sie ihr nun von dem Gemälde
erzählte, würde das ihren Verdacht nur noch bestärken.
Doch Phoebe war sich sicher, dass Nikos nicht die Schuld an
dieser Sache trug. Das kann, das darf einfach nicht sein, dachte
sie. Er ist doch so wunderbar. Und so süß. Und so entzückend
…
Da steckt bestimmt irgendein Trick dahinter, überlegte sie
weiter. Vielleicht ist das Gemälde ja nur der Auslöser für alles
gewesen? Egal, wenn wir nicht schleunigst wieder aus diesem
Schlamassel rauskommen, werden wir es nie erfahren.
Sie stahl sich in den Schatten der Bäume und suchte die
Gegend nach etwas ab, das ihnen die Richtung weisen konnte.
Piper, die neben sie gehuscht war, fragte: »Wo auch immer wir
sein mögen, hast du eine Ahnung, wo wir hingehen sollen?«
Phoebe zuckte die Achseln und fühlte sich ein bisschen
unbehaglich bei dem Gedanken, ihre Schwestern nicht in das
Geheimnis von Nikos' Bild eingeweiht zu haben.
»Hey!«, rief ihnen Prue aus einigen Metern Entfernung zu und
schlug sich durch das Dickicht. »Habt ihr das gesehen?«
Piper und Phoebe eilten zu ihr zurück.
»Was gesehen?«, fragte Piper und folgte Prues Blick.
»Ich habe Lichter aufflackern sehen«, sagte sie aufgeregt. »So
ein Glimmen, wie man es von Leuchtkäfern kennt.«
Phoebe starrte angestrengt in den Nebel hinaus. »Bist du
sicher, dass das kein Wunschdenken war, Prue?« Sie rieb sich
über die Gänsehaut auf ihren Armen. »Immerhin befinden wir
uns nicht gerade in hochsommerlichen Gefilden, in denen sich
diese Insekten normalerweise aufzuhalten pflegen.«
Plötzlich konnte sie ein schwaches Flackern durch die Bäume
erkennen. »Da ist es!«, rief sie. »Ist dies das Licht, das du
gesehen hast, Prue?«
»Genau«, erwiderte sie.
»Ich hab's auch gesehen«, bestätigte Piper.
»Na ja, sieht so aus, als ob wir jetzt wenigstens ein Ziel
haben«, sagte Phoebe. »Los, kommt, Schwestern! Sehen wir uns
das mal genauer an.«
Sie brauchten fast eine Stunde, um sich durch das Unterholz
des sumpfigen Geisterwaldes zu schlagen.
Eulen und Fledermäuse umschwirrten sie auf ihrem Weg,
sodass sie fortwährend vor Schreck aufkreischten und den
heranflatternden Geschöpfen ausweichen mussten. Ihr Haar
verfing sich in dornigem Gestrüpp, und zu allem Überfluss
tropften permanent übel riechende, kalte, schleimige Substanzen
aus den Baumkronen auf ihre Köpfe und nackten Schultern.
»Dagegen war der Survival-Trip mit der Belegschaft des P3 ja
die reinste Vergnügungsfahrt«, beschwerte sich Piper, die
gerade feststellte, dass sich ihr Gewand in einem Dornenbusch
verfangen hatte und zerriss.
»Vergiss nicht den Tag, an dem du dein Maskottchen im Müll-
Container verloren hast«, grummelte Phoebe, als sie auf
Zehenspitzen einen blubbernden Strom aus brauner Brühe
durchquerte. »Ich glaube, das war noch ein bisschen
widerlicher.«
»Kommt schon, Leute!«, rief Prue, als sie über einen
zerklüfteten Felsblock kletterte. »Wir sind fast da. Ich habe das
Licht wieder aufflackern sehen, und diesmal war es ganz nah!«
Schließlich erreichten sie ein sandiges Ufer.
»Ist das ein See?«, fragte Phoebe und deutete auf die
ausgedehnte Wasserfläche vor ihnen, über der dicke, stinkende
Nebelschwaden hingen.
»Nein, ein Fluss«, sagte Piper und deutete hinaus auf die
langsame Strömung. Brackige, gelbe Wellen liefen am Ufer aus
und benetzten ihre Zehen.
»Igitt!«, rief Prue und sprang einen Schritt zurück.
»Fragt sich nur, wo unser Leuchtkäfer ist?,« murmelte Piper
und starrte zitternd vor Kälte aufs Wasser hinaus.
»Ich frage mich, wie wir auf die andere Seite kommen sollen«,
sagte Prue. »Ich sehe hier nirgends eine Brücke.«
Plötzlich tauchte aus dem Nebel ein Boot auf und trieb
gemächlich auf sie zu. Im Bug hing an einem Stab eine
Glaslampe, in der eine schwache Flamme flackerte. Daneben
stand eine dunkle Gestalt in einer langen schwarzen
Kapuzenrobe, die das Boot mit einer Stange auf sie zusteuerte.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Phoebe unbehaglich.
»Oder wer auch immer das ist.«
Die Schwestern verharrten sprach- und reglos, bis das Boot
direkt vor ihnen am Ufer Halt machte. Doch die dunkle Gestalt
stand einfach nur schweigend da und schien auf irgendetwas zu
warten.
»Meint ihr, er wird etwas zu uns sagen?«, wisperte Phoebe.
»Vielleicht wartet er darauf, dass wir den Anfang machen«,
flüsterte Prue zurück. »Piper, mach dich bereit, ihn einzufrieren,
wenn er irgendeine krumme Tour versucht oder so.«
»Okay«, gab sie zurück.
Dann machte Prue einige Schritte vorwärts, wobei sie sich
möglichst nah beim Heck hielt. Sie versuchte das Gesicht der
Gestalt zu erkennen, doch es wurde von der Kapuze verhüllt.
»Können Sie uns vielleicht sagen, was auf der anderen Seite
des Flusses ist?«, fragte sie.
Die Gestalt schüttelte schweigend den Kopf.
Über die Schulter warf Prue ihren Schwestern einen nervösen
Blick zu. Dann wandte sie sich wieder an den Fremden.
»Gut, aber können Sie uns sagen, ob hier irgendwo eine
Brücke ist?«
Wieder schüttelte der Mann den Kopf.
»Okay«, meinte Prue. »Aber vielleicht könnten Sie uns
freundlicherweise übersetzen? Ginge das?«
Endlich nickte der Mann.
»Phoebe«, wisperte Piper ihr zu, »bist du sicher, dass das eine
gute Idee ist? Erinnere dich daran, was unsere Mutter immer
gesagt hat: Lass dich nie von Fremden mitnehmen.«
»Ich glaube nicht, dass wir eine andere Wahl haben«, wandte
Phoebe unwirsch ein und machte Anstalten, in das Boot zu
klettern, aber der Fährmann trat ihr in den Weg. Dann hielt er
seine Hand auf.
Phoebe sah sie an und stöhnte auf vor Schreck und Ekel. Die
Hand war vollkommen verrottet! Das Fleisch war schwarz und
verfault und übersät mit nässenden Wunden. Auch ging von
dem Mann ein süßlich-modriger Gestank aus. Es war der
Geruch des Todes. Dieser Fährmann scheint auf einem sehr
schmalen Grat zwischen Leben und Tod zu wandeln, dachte
Phoebe.
Die Hand des Mannes schloss und öffnete sich, wie um sie
aufzufordern, etwas hineinzulegen.
»Kann es etwa sein …«, murmelte sie laut, und dann fühlte sie
sich plötzlich leicht schwindelig angesichts ihrer
ungeheuerlichen Vermutung. Sie erstarrte, als der Fährmann
sich plötzlich seine Kapuze vom Kopf schob und darunter ein
grauenvolles Gesicht zum Vorschein kam. Die Nase war halb
zerfressen, durch den schmutzverkrusteten Bart konnte Phoebe
eine Reihe brauner Zahnstümpfe erkennen. Die Augenhöhlen
waren leer und schwarz. Flöhe und Läuse wimmelten in der
langen zottigen Mähne auf seinem Kopf.
Da schrie Piper hinter ihr auf. Gleichzeitig verstärkte sich in
Phoebe das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Plötzlich passten alle Puzzlestücke, die ihnen dieser
schreckliche Tag präsentiert hatte, zusammen. Langsam wandte
sie sich zu ihren Schwestern um und sagte: »Ich … ich weiß
jetzt, wer das ist. Das ist … Charon!«
»Charon?«, fragte Prue mit gepresster Stimme und starrte den
lebenden Toten angeekelt an. »Und wer ist das bitte?«
»Jetzt ergibt alles einen Sinn«, murmelte Piper. »Der
dreiköpfige Hund auf dem Speicher, das war Kerberos, der
Hund, der den Eingang zur Unterwelt bewacht. Und diese
hässliche Vogelfrau, das war eine Harpyie, eine andere
grauenvolle Kreatur aus der griechischen Mythologie.«
»Und diese tausendköpfige Schlange, die in unserem
Wohnzimmer auftauchte, kurz bevor wir verschwunden sind?«,
fragte Phoebe.
»Das war die Hydra«, sagte Piper. »Definitiv die Hydra.«
»Ist ja alles schön und gut«, meinte Prue ungeduldig, »aber
jetzt weiß ich immer noch nicht, wer dieser Charon eigentlich
ist.«
»Charon«, sagte Piper mit zittriger Stimme, »ist der
Fährmann, der die Menschen in seinem Boot über den Acheron
bringt. Aber nur … tote Menschen.«
»Tote Menschen?«, fragte Prue fassungslos. »Was ist denn das
für ein Fluss, dieser Acheron, meine ich?«
»Der Acheron«, sagte Piper leise, und ihr Gesicht wurde grau
vor Angst, »ist einer der vier Ströme der Unterwelt und der
Eingang in den Hades – das Totenreich der griechischen
Antike.«
5
W
ährend
Piper die grausame Wahrheit,
dass sie geradewegs
in den Hades katapultiert worden waren, bereits verdaut hatte,
verspürte Phoebe plötzlich einen kalten Schauer, der ihren
Körper durchströmte wie Eiswasser.
Langsam fuhr ihr Finger zur Halsschlagader. Als sie ihren Puls
fühlen konnte, atmete sie erleichtert auf. »Wollte nur sehen, ob
ich noch lebe«, flüsterte sie ihren Schwestern zu.
»Oh …«, sagte Prue und deutete auf Charon. »Was macht er
da?«
Die unheimliche Gestalt hob einen Arm und winkte sie herbei.
»Ich weiß es«, sagte Piper. »Er will, dass wir die Überfahrt
bezahlen. Charon nimmt nur die mit, die ihm irgendetwas
geben. Im alten Griechenland wurden den Toten deshalb
Geldstücke mit ins Grab gelegt, sodass sie den Fährmann
entlohnen konnten.«
»Danke für die interessante Geschichtsstunde«, murmelte
Phoebe und zeigte auf ihr dünnes, taschenloses Gewand, »aber
leider hab ich meine Kreditkarten heute nicht dabei.«
Prue durchwühlte die Taschen ihres Overalls. »Ich hab nur
einen Vierteldollar bei mir«, sagte sie betrübt.
»Der würde uns hier ohnehin nicht weiterhelfen«, meinte
Piper. »Soweit ich mich erinnere, kostet die Überfahrt einen
Obolus.«
»Schön«, meinte Prue, »auch wenn ich nicht weiß, was und
wie viel ein Obolus ist, so weiß ich doch, dass wir keinen haben.
Was machen wir also?«
Mit einem schrecklich schmatzenden Geräusch hob Charon
erneut seinen Arm und deutete mit einem schmutzstarrenden
Finger auf Phoebes Hals.
»Was will er?«, fragte sie irritiert.
Piper folgte Charons Fingerzeig. Ihr Blick fiel auf die Perle,
die an einer zarten Goldkette um den Hals ihrer Schwester hing.
»Vermutlich will er uns sagen, dass er deine Kette als
Bezahlung für die Überfahrt annehmen würde«, sagte sie
beklommen.
»Aber ich liebe dieses Schmuckstück!«, protestierte Phoebe
und legte schützend eine Hand darüber. Dann löste sie den
Lorbeerkranz aus goldfarbenem Metall aus Pipers Frisur und
hob ihn in die Höhe. Doch der Fährmann schüttelte seine lange
zottelige Mähne und deutete erneut auf Phoebes schöne
Halskette.
»Ich glaube, man kann Charon nicht bescheißen«, sagte sie
enttäuscht. »Also gut.« Widerwillig nahm sie die Kette ab und
legte sie in Charons verfaulte Hand. Dann kletterte sie rasch in
den Kahn und half ihren Schwestern beim Einstieg.
Mit einer langen Stange stieß sich der Fährmann vom Ufer ab
und wendete. Und dann tauchte das Boot mit den drei Halliwell-
Schwestern ein in den Nebel, der über dem Fluss der Seelen lag.
Nur wenige Minuten später hörten sie, wie das Boot
knirschend auf sandigen Grund lief. Sie hatten das andere Ufer
des Acheron erreicht.
Piper sah zu Charon, der wieder seinen Arm erhoben hatte und
nun nach links deutete.
»Wahrscheinlich weist er uns den rechten Weg«, vermutete
Phoebe. »Offensichtlich ist er ja schon eine Weile hier.«
Die Schwestern stiegen aus und betraten einen sumpfigen
Pfad, der am Flussufer entlang führte. Erwartungsvoll schauten
sie sich um. Doch alles, was sie sahen, waren noch mehr tote,
dürre Bäume und dorniges Gestrüpp.
»Rechts der Wald und links der nebelige Fluss«, konstatierte
Prue. »Ich frage mich, wo das alles hinführen soll. Ich fühle
mich wie im Niemandsland.«
Plötzlich drehte sich der Wind und trieb eine Wand aus übel
riechendem Nebel auf sie zu, die sie in dicke Schwaden hüllte.
»Und nicht zu vergessen dieser Nebel«, ergänzte Piper
mürrisch die Bestandsaufnahme ihrer Schwester. »Stinkender
Nebel, um genau zu sein.«
Sich den unangenehmen Dunst aus dem Gesicht wedelnd,
setzten die drei Schwestern ihren Weg fort.
Schließlich klärte sich die Luft wieder, und das Trio sah sich
um. Sie waren immer noch in diesem geisterhaften Wald. Doch
als sie weiterstapften, lichtete sich der Baumbestand allmählich
und wich verdorrten Feldern, schwarzen Bächen, die nach saurer
Milch rochen, und ab und an einer erbarmungswürdigen Hütte,
um die der Wind pfiff. Sie waren ausnahmslos winzig und
schäbig und unbewohnt.
Nirgendwo gab es etwas Grünes, Lebendes, geschweige denn
eine Menschenseele.
»Habt ihr auch bemerkt, dass hier einfach alles düster und
braun-grau ist?«, fragte Phoebe nach einer Weile. »Selbst diese
Hütten haben alle die Farbe von Treibholz.«
»Genau wie das Erdreich«, sagte Prue und deutete auf den
Boden.
»Und die Bäume«, ergänzte Piper und sah sich fröstelnd um.
Ihre Schritte wurden immer schwerfälliger.
»Was für eine gottverdammt eintöniger Ort«, jammerte
Phoebe und schleppte sich mühsam weiter.
»Hört auf, euch zu beschweren, Leu … huaaaaaa …« Prues
Satz ging in einem herzhaften Gähnen unter.
»Ich beschwer mich ja gar nicht«, murmelte Piper. »Ich bin …
nur so … entsetzlich müde.«
Phoebe steuerte einen toten Baumstumpf am Wegesrand an
und ließ sich darauf nieder. »Nur … eine Minute … Rast«,
gähnte sie. »Mehr brauche ich nicht.«
Piper sank neben Phoebe zu Boden und legte ihren Kopf auf
das Knie der Schwester. »Gute Idee«, murmelte sie und schloss
die Augen.
Nur wenige Sekunden später schliefen die beiden tief und fest.
Verwirrt blieb Prue stehen und starrte auf ihre schnarchenden
Schwestern. Gleichzeitig versuchte sie angestrengt, nicht
ebenfalls einzunicken. Da … stimmt was nicht, dachte sie träge.
Warum … so müde? Mir ist, als … unter Drogen gesetzt …
Ihre Augen weiteten sich bei dem Gedanken. Drogen! Das
musste es sein. Sie riss sich zusammen und stolperte auf ihre
beiden Schwestern zu.
»Aufwachen«, flüsterte sie. »Drogen … wir wurden …
betäubt … ein Trick … vielleicht dieser Nebel, der … vom
Fluss …«
Doch sie konnte kaum noch die Augen offen halten und
merkte, wie sie vornüber auf die Knie fiel. Gerade wollte sie den
Kampf gegen die bleierne Müdigkeit als verloren betrachten, als
sie aus der Ferne einen Laut vernahm.
Ah-ha-ha-ha-ha!
»Was …?«, murmelte Prue.
Ah-ha-ha-ha-ha!
Ihre Lider flackerten. Was war das? Es klang wie ein weit
entferntes, drohendes, gackerndes … Gelächter.
»Piper!«, keuchte sie. »Phoebe! Aufwachen!« Sie rüttelte und
schüttelte ihre Schwestern.
»Was?«, grummelte Piper ungehalten, als sich ihre Augen
langsam öffneten.
»… schlafen«, murmelte Phoebe und schlug Prues Hand weg.
»Zzzzzzz …«
AH-HA-HA-HA-HA!
»Prue«, rief Piper, die jetzt hellwach war, alarmiert, »was ist
das?«
»Ich weiß es nicht, und ich bin auch nicht scharf darauf, es zu
erfahren«, gab Prue zurück und rappelte sich mühsam auf. In
ihrem Kopf drehte sich alles. »Wir müssen hier verschwinden.«
Auch Piper kam wieder auf die Füße. »Mann«, grummelte sie.
»Mein Kopf fühlt sich an, als ob er mit Watte gefüllt wäre.«
»Meiner auch«, sagte Prue. »Wir müssen weg von hier. Weck
Phoebe auf!«
Piper machte gerade Anstalten, ihre jüngste Schwester wach
zu rütteln, als sie ein Krachen und Rumpeln im Unterholz der
Baumgruppe nicht weit von ihnen vernahm. Auch das bösartige
Gegacker war wieder zu hören, diesmal sehr nah.
»Okay«, rief Prue entnervt. »Welche Kreatur hat bloß ein
derart hinterhältiges Pferdegewieher-Lachen?«
»Vielleicht die da?!«, schrie Piper und deutete auf die
Baumgruppe. Das Tier – oder war es ein Mann? – kam gerade
aus dem Dickicht gestürmt, wobei es Äste und Erde aufwirbelte.
»Ach du liebe Güte«, stöhnte Piper, als sie begriff. »Das ist ein
Zentaur. Halb Mann, halb Pferd – die schlimmsten Rabauken in
der gesamten griechischen Mythologie.«
In einer Mischung aus Faszination und Abscheu starrte Prue
auf das Tierwesen. Von der Hüfte abwärts sah es aus wie ein
ganz gewöhnlicher stämmiger Rappe. Vier behufte Beine,
kräftige Flanken, ein buschiger Schwanz. Doch dort, wo
eigentlich Hals und Kopf des Tieres sein sollten, ragte der
nackte Torso eines muskulösen Mannes aus dem Pferdekörper.
Er war recht dunkelhäutig, Brust und Arme waren stark behaart,
er hatte dichtes gelocktes Haupthaar und kräftige schwarze
Augenbrauen.
Stampfend galoppierte der Zentaur auf sie zu. Seine Hufe
wirbelten Staub und Dreckklumpen in die Luft. Dann legte er
den Kopf in den Pferdenacken und lachte das ihnen wohl
bekannte höhnische Lachen, wobei er eine Reihe brauner Zähne
entblößte.
»Verdammt«, presste Prue hervor, »wie viele dieser
missgestalteten Kreaturen gibt es eigentlich in der griechischen
Mythologie?«
»Zu viele!«, sagte Piper beklommen und beugte sich über ihre
immer noch schlafende kleine Schwester. »Phoebe! Wach auf.
Wach endlich auf!«
»Was … was ist denn?«, murmelte Phoebe benommen und
hob mühsam den Kopf. Sie fühlte sich, als ob sie aus einer
dunklen Höhle ins Licht zurückgekehrt sei. Ihre Augenlider
waren schwer und drohten immer wieder zuzuklappen. Kann
nicht …, dachte sie. Kann nicht … aufwachen.
Plötzlich packte sie jemand um die Hüften und hob sie in die
Luft.
»Hey!«, rief sie empört. Doch der Trick hatte funktioniert. Ihre
Augen klappten auf – und dann erstarrte sie vor Schreck. Sie lag
quer über dem Rücken eines Pferdes, festgehalten von einer
kräftigen Männerhand. Und das Pferd raste in vollem Galopp
durch die Landschaft.
Träge drehte sie den Kopf, um einen Blick auf ihren Entführer
werfen zu können.
»Aaaaah!«, schrie sie. »Das ist ja … gar kein Pferd!«
Entgeistert starrte sie auf den behaarten Rücken eines Kerls, der
wundersamerweise aus dem Körper eines Pferdes gewachsen
war.
Der schwarz gelockte Kopf des Pferdemannes drehte sich zu
ihr um und grinste hämisch. »Ah-ha-ha-ha-ha!«, lachte er laut,
wobei er seine verrotteten Zähne bleckte. Dann trug er sie weiter
in die dämmrige Ödnis des Hades.
»Prue!«, schrie Phoebe panisch. »Piper! Rettet mich!«
Wie paralysiert starrten Prue und Piper ihrer vom Zentaur
geraubten Schwester nach. Schließlich wedelte Piper mit ihren
Armen in der Luft, aber das Biest war schon zu weit entfernt, als
dass es noch eingefroren werden konnte. Alarmiert sah sie ihre
älteste Schwester an. »Wir können nichts machen außer ihnen
nachzurennen!«, schrie sie.
Gesagt, getan. Schon setzten die beiden zu einem
Verfolgungssprint an.
»Pruuuuuuue! Piiiiiiper!«, drang die Stimme ihrer Schwester
an ihr Ohr – verzweifelte Hilferufe, die sich mehr und mehr von
ihnen entfernten.
»Ah-ha-ha-ha-ha!«, lachte der Zentaur.
»Wir kommen!«, keuchte Piper.
Doch nach zwei Minuten Verfolgungsjagd mussten Prue und
Piper erkennen, dass sie ein allzu voreiliges Versprechen
abgegeben hatten: Sie spürten eine zunehmende Erschöpfung.
»Kann nicht … mehr rennen«, japste Prue. »Hätte ich bloß
nicht … mit Aerobic aufgehört …«
»Los, weiter!«, trieb Piper sie an und stolperte durch eine
kleine Gruppe aus toten Bäumen.
»Nein!«, sagte Prue. Sie war stehen geblieben und stützte sich
schwer atmend gegen einen der Stämme. Dann ließ sie sich auf
einen Baumstumpf sinken. »Ich hab 'ne bessere Idee.«
Mit diesen Worten fiel ihr Kopf auf die Brust, und ihr Körper
wurde schlaff.
Besorgt sah Piper ihre Schwester an und biss sich auf die
Lippe. Sie wusste, Prue hatte sich in den Astralmodus versetzt.
Sie hoffte nur, dass ihr Geist auch wirklich den Ort erreichte,
an den der Zentaur Phoebe verschleppt hatte.
Phoebe hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu
müssen.
Der Pferdemann galoppierte so schnell über Stock und Stein,
dass sie kaum klar sehen und denken konnte.
Daher glaubte sie zunächst auch an eine Halluzination, als sie
plötzlich sah, wie ihre älteste Schwester hinter einem der Bäume
hervortrat und ihnen in den Weg trat.
»Prue, pass auf!«, schrie sie vom Rücken des Pferdes.
»Aaaaack«, bellte der Zentaur und bremste scharf ab, kurz
bevor er mit Prue zu kollidieren drohte. Und schon galoppierte
er in die entgegengesetzte Richtung davon.
Doch da hatte sich Prue schon wieder vor ihm aufgebaut und
zwang ihn wieder abzubremsen. Dabei hatte sie ihre Hände in
die Hüften gestemmt und blickte ihn herausfordernd an. Da
wusste Phoebe, dass sie es mit der Projektion ihrer Schwester zu
tun hatte, die gekommen war, um sie zu befreien.
Erschreckt schnaubte der Zentaur auf und wich dem
unerwarteten Hindernis erneut aus. Doch jedes Mal, wenn er die
Richtung änderte, stellte sich Prue ihm wieder in den Weg, bis
der Pferdemann sich schließlich wiehernd aufbäumte und mit
den Vorderhufen heftig durch die Luft paddelte.
»Aaaah!«, schrie Phoebe, als sie mit Schwung abgeworfen
wurde und auf einem Haufen Laub und toter Äste landete.
Der Zentaur schnaubte noch einmal wütend auf, dann
galoppierte er in ein Wäldchen hinein und verschwand. Bald
verklangen seine Hufschläge auf dem weichen Untergrund. Er
war fort.
Torkelnd kam Phoebe wieder auf die Beine und rieb sich den
Allerwertesten. Dann sah sie seufzend an sich hinunter. Ihr
Kleid war nur noch ein Lumpen, aber ihre Knochen waren alle
noch intakt.
»Danke, Schwester«, sagte sie zu Prue, doch die starrte sie nur
mit leerem Blick an; dann löste sich ihre Gestalt mit einem
Flimmern in Nichts auf.
»Ach, ja«, murmelte Phoebe. »Hätte fast vergessen, dass es
Prues Astralkörper war, der mir aus der Patsche geholfen hat.«
Sie legte die Hände trichterförmig um ihren Mund und rief:
»Haaaaalllooooooo!«
»Phoebeeeeee!« Das war Pipers Stimme, und sie klang noch
ziemlich weit entfernt.
»Hier drüben! Hallo!«, schrie Phoebe in die Einsamkeit
hinaus, bis ihre Schwestern endlich durch das Unterholz brachen
und zu ihr stießen.
»Meine Heldin!«, rief Phoebe, eilte auf Prue zu und drückte
sie fest an sich. »Was war das bloß für ein schreckliches
Untier?«
»Ein Zentaur«, erklärte Piper. »Wie man unschwer übersehen
kann, sind diese Burschen halb Mensch, halb Pferd, und sie
haben einen verdammt schlechten Ruf, wenn ich mich recht
erinnere. Ich wette, dieser Typ hat im Auftrag von jemandem
gehandelt.«
»Aber in wessen?«, fragte Phoebe.
»Lasst uns weitergehen«, drängte Prue und fächerte sich die
letzten Reste des Nebels aus dem Gesicht. »Möglicherweise
erfahren wir es dann.«
»Na ja, aber wir sind total vom Weg abgekommen«, stellte
Piper stirnrunzelnd fest und sah sich um. Doch alles, was sie
erkennen konnte, waren die allgegenwärtige Düsternis und die
toten Bäume in so ziemlich jeder Richtung. »Wohin also?«
»Ich finde, wir sollten die dem Ziel des Zentauren
entgegengesetzte Richtung einschlagen,«, schlug Phoebe vor.
»Das ist in unserer Situation so gut wie jeder andere Vorschlag
auch«, nickte Prue grimmig.
Und wieder schlugen sie sich durch das Unterholz, bis sie auf
eine Lichtung stießen, die von einem Fluss durchschnitten
wurde.
»Wir sollten dem Wasserlauf folgen«, überlegte Piper. »Der
Fluss wird uns schon irgendwohin führen.«
Prue und Phoebe zuckten die Schultern und folgten ihr
schweigend. Plötzlich machte der Fluss eine Biegung und führte
mitten durch einen weiteren Wald aus toten Bäumen. Es war
nicht zu erkennen, wohin er floss, doch sie hatten kaum eine
andere Wahl, als ihren einmal eingeschlagenen Weg
fortzusetzen.
So liefen sie eine Weile unbeirrt und schweigend am Ufer
entlang, bis Prue plötzlich innehielt. »Seht mal dort«, sagte sie
und streckte ihren Finger aus.
Der Strom floss direkt in eine gigantische Höhle in einem
noch gigantischeren Berg. Die Schwestern standen da und
staunten.
»Ich kann noch nicht mal den Gipfel erkennen«, sagte Piper
atemlos, als sie an der schroffen, abweisenden Bergwand
hinaufsah. Die Spitze des Massivs ragte weit in den
wolkenverhangenen Himmel hinein.
Als sie näher traten, erkannten sie, dass der Eingang aus
Felsen geformt worden war, die zu einem fast perfekten
Torbogen behauen waren. Eindeutig das Werk denkender
Wesen und keine Laune der Natur.
»Gehen wir rein«, sagte Phoebe entschlossen.
Zögernd betraten sie die dämmrige, feuchte Grotte. Doch
alles, was sie erkennen konnten, war eine kleine unscheinbare
Kammer.
Phoebe stieß Prue an und deutete in den hinteren Teil des
Raumes. »Da ist ein Durchgang«, flüsterte sie. »Scheint, als ob
er in eine weitere Kammer führt.«
Als sie sich unter dem niedrigen Sturz hindurchduckten,
fanden sie Phoebes Vermutung bestätigt. Auch diese Kammer
war eng und dunkel, und sie hatte, welche Überraschung, einen
Durchgang in eine weitere Kammer, die wiederum in die
nächste führte … So durchquerten sie einen Raum nach dem
anderen, bis Piper plötzlich stehen blieb.
»Prue, Phoebe«, wisperte sie, »mir ist gerade was aufgefallen.
Dieses Licht hier … es kann längst nicht mehr von draußen
hereinfallen.«
»Du hast Recht«, sagte Phoebe und bemerkte, wie es ihr kalt
den Rücken herunterlief.
»Es muss also aus der Höhle selbst kommen«, stellte Prue fest.
Sie nickten sich zu und betraten die nächste Kammer.
Doch hier erwartete sie eine große Überraschung. Mitten im
Raum saß eine Gestalt auf einem Thron aus grob behauenen
Steinen – es war Nikos!
Sein griechisches Göttergewand war ebenso verschwunden
wie der Habitus des genialen Künstlers. Stattdessen trug er einen
Anzug aus Samt, der denselben erdigen Braunton hatte wie alles
im Hades. Seine wilden schwarzen Locken waren streng
zurückgekämmt. Und er rauchte eine stinkende Zigarre. Lässig
kreuzte er seine langen Beine, als die Schwestern eintraten.
»Wo wart ihr denn so lange?«, fragte er gelangweilt. »Du liebe
Güte, ihr seht ja furchtbar aus.«
»Nikos!«, rief Phoebe und eilte auf ihn zu. »Geht's dir gut?
Was … was ist denn mit dir geschehen? Wo sind die anderen?«
»Mir geht's blendend«, sagte er. »Nun, wo ich meinem
elenden Leben als Hungerkünstler auf Erden endlich entfliehen
konnte.« Mit verächtlicher Miene deutete er nach oben. »Herr
der Finsternis, was hab ich nicht alles unternommen, um euch in
mein Reich zu locken.«
Er warf den Kopf in den Nacken und stieß ein lautes Lachen
aus.
Phoebe fühlte sich, als hätte sie einen Schlag in den Magen
bekommen. Verzweifelt sah sie zu ihren Schwestern, die mit
versteinerten Gesichtern von ihr zu Nikos schauten.
»Wer bist du?«, fragte Prue leise.
»Ich hatte mich doch schon vorgestellt«, sagte Nikos. »Mein
Name ist Nikos. Allerdings habe ich euch meinen wahren Beruf
noch nicht verraten.«
»Stimmt«, sagte Piper kühl. »Leider hatten wir bisher noch
keine Gelegenheit, unsere Visitenkarten auszutauschen. Ich
nehme an, du bist kein Maler, richtig?«
»Richtig, ich bin ein Prinz.«
»Ha!«, entfuhr es Phoebe.
»Der Prinz des Hades, um genau zu sein«, ergänzte Nikos und
warf Phoebe einen niederträchtigen Blick zu. »Auch genannt
Herrscher der Unterwelt, Peiniger der Toten, Schrecken der
Nacht und so weiter und so fort. Ein ziemlich langweiliger Job,
wenn ihr mich fragt. Mein Vater hasst ihn.«
»O mein Gott«, krächzte Phoebe.
»Noch nicht, meine liebe Phoebe, noch nicht. Denn noch ist
mein verehrter Herr Vater der Gott der Unterwelt«, sagte Nikos
leichthin. »Aber vielleicht werde ich es eines Tages sein.
Lustiger Zufall, nicht wahr, Prue, dass du mir ausgerechnet die
Rolle des Hades für dein albernes Foto zugedacht hattest. Besser
hätte ich das auch nicht drehen können.«
Phoebe konnte kaum glauben, was sie da hörte. Von allen
arrangierten Kontaktaufnahmen und Verabredungen mit den
Sendboten der dunklen Seite war diese Sache hier eindeutig der
Gipfel.
»Wo sind die Models?«, fragte Prue drohend und trat
entschlossen vor Nikos' Thron. »Hast du sie auch hierher
gelockt?«
»Heh-heh-heh«, sagte Nikos und erhob sich gemächlich. »Ja,
sie sind hier, und es geht ihnen gut. Sie sind in Sicherheit, glaubt
mir, obwohl sie ebenso abgerissen aussehen wie ihr. Sie wurden
schon weggebracht.«
Mit einer lässigen Geste deutete er in Richtung einer Kammer
hinter sich.
Dieser Ort scheint aus einem ziemlich komplexen
Höhlensystem zu bestehen, dachte Phoebe. Und natürlich muss
sich der Sitz des Herrschers der Unterwelt in einer feuchten
unterirdischen Höhle befinden …
»Warum hast du die anderen überhaupt hierher gebracht?«,
verlangte Piper zu wissen.
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Nikos. »Sie sind Geiseln
und Köder zugleich. Sie haben euch in mein Netz gelockt.«
»Okay, aber was willst du von uns?«, fragte Prue.
Nikos warf seine Zigarre auf den Boden und fixierte sie mit
rot glühenden Augen. »Von dir will ich gar nichts!«, zischte er.
»Du solltest noch nicht mal hier sein, große Schwester.«
Erschrocken hob Piper eine Hand vor ihren Mund. »Es ist
Phoebe, die du willst, richtig?«, flüsterte sie. »Deswegen hast du
den Zentaur geschickt, um sie zu entführen …«
»Ah, die schüchterne mittlere Schwester ist gar nicht so
dumm, wie sie aussieht«, bemerkte Nikos herablassend.
Phoebe fühlte, wie ihr Herz sank. »Du willst damit sagen«,
fragte sie mit brüchiger Stimme, »dass du die Models entführt
hast und ich das Lösegeld bin?«
»Eine Seele«, kicherte Nikos, während seine Augen wieder
ihre normale blaue Farbe annahmen. »Das ist alles, was ich
brauche. Aber es durfte nicht irgendeine Seele sein. Das hätte
nicht funktioniert. Was ich brauche, ist Göttlichkeit.«
»Tja, ich glaube, da bist du einem Irrtum aufgesessen«, sagte
Phoebe giftig. »Ich bin nicht wirklich eine Göttin, Nikos, ich
spiele lediglich eine im Fernsehen.«
»Bitte, ich bin Realist«, sagte Nikos und musterte Phoebe von
oben bis unten. »Weißt du, das war nämlich mein Problem.
Wahre Göttinnen sind heutzutage nicht eben üppig gesät.«
»Was für ein Jammer«, murmelte Prue und verzog das
Gesicht.
»Stimmt, man muss Kompromisse machen«, gab Nikos
zurück, und sein Ausdruck wurde plötzlich hart. »Wenn man
keine Göttin finden kann, muss man eben mit einer Hexe vorlieb
nehmen.«
Bei diesen Worten umfasste er Phoebe mit einem seiner
starken Arme, sodass sie sich kaum mehr rühren konnte. Sie trat
um sich und zappelte, doch Nikos' Griff war kräftig,
übermenschlich stark.
Piper hob eine Hand, um die Zeit anzuhalten, doch ohne
Erfolg.
Nikos legte den Kopf zurück und lachte. »Glaubst du etwa,
dass du deinen kleinen Trick auf mich anwenden kannst?«,
bellte er spöttisch. »Du bist nichts gegen mich. Ich herrsche
hier!«
»Sagtest du nicht eben, Papa herrscht hier?«, fragte Prue
höhnisch.
Nikos' Gesicht verdunkelte sich, und seine Augen begannen
wieder rot zu glühen. »Ich verdamme euch! Ich verdamme euch
zurück auf die Erde!«, schrie er donnernd und wedelte mit seiner
freien Hand in Prues und Pipers Richtung.
Die beiden Schwester schrien auf, als sie rückwärts durch all
die Kammern wirbelten, die sie kurz zuvor durchquert hatten.
Eine Sekunde später wurden sie wieder in den dunklen Strudel
gezogen, der sie in den Hades getragen hatte. Der Sog war
ohrenbetäubend, das Geräusch erinnerte an ein grollendes
Unwetter.
Dann plötzlich trat Stille ein, und Prue und Piper fanden sich
auf dem Orientteppich im Sonnenzimmer von Halliwell Manor
wieder – direkt vor der Kamera.
Nichts hatte sich während ihrer Abwesenheit verändert. Noch
nicht einmal die Zeiger der Standuhr waren vorgerückt.
Es war, als wären sie nie fort gewesen.
Nur eine Sache war anders.
Phoebe fehlte.
6
P
iper rappelte sich auf und sah sich gehetzt im Wohnzimmer
um.
Etwas in ihr hoffte, dass Phoebe vielleicht hinter der Couch
gelandet war. Oder dass das Zurückliegende nie passiert war
und ihre kleine Schwester gerade den Kühlschrank plünderte.
»Phoebe?«, rief sie hoffnungsvoll.
Sanft berührte Prue ihre Schwester an der Schulter und zeigte
auf den Boden. Piper sah, dass die leblosen Körper der Models
noch immer dort herumlagen und leise vor sich hin schnarchten.
»Es war kein Traum«, sagte Prue mit bebender Stimme. »Wir
waren da. Und er hat Phoebe.«
»Er hat Phoebe«, sagte Piper und deutete auf den wohl
schönsten Körper unter den schlafenden Models: Nikos'
irdisches Selbst, friedlich schlummernd und mit rosigen Wangen
und schwarzen Locken, die ihm adorabel in die wohlgeformte
Stirn fielen.
»Er sieht aus wie ein Engel«, zischte Prue wütend.
»Wer konnte schon ahnen, dass er ein wahrer Teufel ist?«,
sagte Piper. »Mach ihn fertig, Schwester.«
Prue deutete auf Nikos' schlafenden Körper und bewegte ihre
Hand so heftig sie konnte. Ich werde ihn gegen die Wand
schmettern, dass es ihm jeden einzelnen Knochen im Körper
zermalmt, dachte sie grimmig.
Doch nichts geschah.
Nikos ruhte nach wie vor friedlich zwischen Hera und Ares.
»Was zum Teufel …«, presste Prue hervor und wiederholte
ihren telekinetischen Schlag. Doch ohne Erfolg.
Piper sprang auf und stieß Nikos an der Schulter an. Sie
erschrak, als ihre Hand glatt durch ihn hindurchfuhr.
»Ich fürchte, du bist nicht die Einzige, die Astralprojektion
draufhat, Prue«, sagte sie. »Der Idiot ist gar nicht mehr hier.
Wahrscheinlich wusste er ganz genau, dass wir an seinem
irdischen Körper Rache nehmen würden, wenn wir wieder zu
Hause sind.«
»Also hat er seinen feigen Arsch in Sicherheit gebracht«, stieß
Prue aufgebracht hervor.
Verärgert trat Piper nach Nikos' Projektion und stürmte aus
dem Sonnenzimmer.
»Was machen wir jetzt?«, fragte sie ihre Schwester.
»Dachboden!«, sagte Prue nur. Und schon rannten sie die
Stufen zum Speicher hinauf, um das Buch der Schatten zu
konsultieren.
Aufgeregt blätterte Prue durch den Helfer in der Not. »Mal
sehen, ob hier irgendwas zum Thema Hades drinsteht …«,
murmelte sie. »Hades … Hades …«
Nach einigen Minuten vergeblichen Suchens meinte Piper:
»Versuch's mal unter dem Stichwort ›Unterwelt‹ oder
›Totenreich‹ …«
»Nein, nichts …«, seufzte Prue nach einer Weile. »Okay, lass
uns mal was anderes versuchen. Du weißt schon, Piper, das, was
Phoebe mal mit dem Buch gemacht hat.«
Prue hielt ihre vor Aufregung zitternden Hände über den
geöffneten Folianten, während Piper das Gleiche tat. Sie waren
beide Zeuge gewesen, als Phoebe das Buch einmal auf diese
Weise zum automatischen Suchen veranlasst hatte. Vielleicht
klappte es ja diesmal auch?
Gebannt starrten die Schwestern auf das aufgeschlagene Buch.
Die Seiten schienen zurückzustarren und rührten sich nicht.
»Konzentrier dich!«, befahl Prue.
»Was glaubst du, was ich mache?«, fragte Piper und lächelte
grimmig. Dann schloss sie wieder fest die Augen.
Als nach einigen Minuten noch immer nichts passierte, ließ
Prue ihre Hände wieder sinken.
»Das funktioniert nicht«, sagte sie frustriert. »Möglicherweise,
weil darin nichts zum Thema Hades oder Unterwelt steht? Und
ich dachte immer, das Buch der Schatten wüsste alles und sei
unfehlbar …«
»Na ja«, erinnerte Piper sie, »es wurde ja ausschließlich von
den Hexen unserer Familie geschrieben. Vielleicht hatte bisher
einfach keine von ihnen mit dem Hades zu tun?«
»Da sind wir also die Ersten«, stellte Prue verdrießlich fest.
»Ich hasse es, mich so hilflos zu fühlen. Was um Gottes willen
sollen wir jetzt bloß tun?«
Sprachlos stand Phoebe in dem steinernen Kerker und starrte
in den Spiegel. Sie konnte immer noch nicht begreifen, was mit
ihr geschehen war.
Nachdem Nikos ihre Schwestern aus der Unterwelt verbannt
hatte, hatte er sie einfach in diese schrecklich Kammer
verschleppt. Alles Schreien und Umsichschlagen hatte nichts
genützt.
Nun stand sie hier in diesem düsteren Verließ, das überladen
war mit dunklen schweren Möbeln, einem riesigen Pfostenbett
mit schwarzem Samtvorhang, satinbezogenen Liegen und
Sesseln, einem Kleiderschrank mit Onyx-Intarsien, einem
Teppich, der aus einem grauen, irgendwie schmierigen Material
gewebt zu sein schien, und einem mannshohen Wandspiegel,
der von Wasserspeiern flankiert wurde.
Und sie war nicht allein. Vier weitere junge Frauen lungerten
ebenfalls hier herum. Sie alle trugen hautenge silberfarbene
Bodys, und ihre schwarze Lockenpracht reichte ihnen bis zur
Taille. Alle waren ausnahmslos blasshäutig mit schwarz
umrandeten Augen und barfuß.
»Was soll das hier sein?«, schnappte Phoebe in Richtung
Nikos. »Ein Goth-Abend in der Gruft, oder was? Ehrlich, mein
Lieber, ich hatte dir wirklich ein bisschen mehr Geschmack
zugetraut. Wie klischeehaft!«
»Halt den Mund!«, blaffte Nikos sie an. »Was glaubst du
denn? Meinst du, Götter und Göttinnen gehen nicht mit der
Zeit? Ich habe diesen Look im Mittelalter gesehen und fand ihn
einfach großartig. Ich bin sicher, auch du wirst lernen, ihn zu
lieben. Es wird dir nämlich nichts anderes übrig bleiben,
verstehst du?«
Er schnippte mit den Fingern in Richtung der vier jungen
Frauen. »Kümmert euch um sie. Sie sieht ja grauenvoll aus!«
Mit diesen Worten rauschte Nikos aus der Kammer. Wie von
Zauberhand rollte sodann ein mächtiger Felsen vor den Eingang
und verschloss ihn perfekt.
Phoebe stampfte mit dem Fuß auf und schrie vor Wut und
Enttäuschung. Dann warf sie sich mit voller Wucht gegen den
Felsblock und trommelte wie rasend mit den Fäusten dagegen,
bis ihre Hände schmerzten.
Doch es war hoffnungslos. Der Felsblock bewegte sich nicht
einen Millimeter – die Kammer war hermetisch abgeriegelt.
Kurz überlegte sie, ob sie nicht einen Kung-Fu-Tritt probieren
sollte, verwarf die Idee aber sofort wieder. Das Letzte, was sie
hier zu allem Überfluss gebrauchen konnte, war ein gebrochener
Fuß.
Fluchend zog sie sich wieder in die Kammer zurück und blieb
dann unschlüssig stehen. »Mein Gott!«, murmelte sie. »Kaum zu
glauben, dass ich diesen Typen mal richtig süß gefunden habe.«
Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie hier nicht allein war.
Langsam wandte sie sich zu den düsteren Mädels um. Sie lagen
noch immer träge auf den diversen Liegen und Sofas und sahen
sie aus ihren dunklen und doch ausdruckslosen Augen
gelangweilt an.
»Ja, hallo … wie geht's denn so?«, sagte Phoebe nervös.
Die Mädchen antworteten nicht. Stattdessen richteten sie sich
langsam auf und kamen auf sie zu, wobei sie ihre Hüften
aufreizend kreisen ließen. Phoebe bemerkte, dass ihre nackten
Füße den Boden kaum zu berühren schienen. Und bei
genauerem Hinsehen musste sie feststellen, dass dies auch nicht
der Fall war.
Sie unterdrückte einen Aufschrei und drehte sich instinktiv
zum Ausgang um. Natürlich war der Felsblock noch immer da.
Sie wirbelte herum; ihr Blick flog über die Wände – kein
Fenster weit und breit. Sie saß in der Falle. Ihre einzige Chance
bestand darin, es mit Höflichkeit zu versuchen.
»Ähem, wir sind … uns noch nicht vorgestellt worden«,
begann sie zögernd. »Also, ich heiße … Phoebe.«
Die Mädchen kreisten sie ein und zogen den Ring immer
enger. Dabei starrten sie ihren Gast unverwandt an; doch ihr
Blick war kalt und leer.
»Tja, schön, euch kennen zu lernen«, sagte Phoebe und
streckte ihre Hand aus. Eines der Mädchen senkte den Kopf und
schnupperte an ihren Fingern.
»Okay«, sagte Phoebe. »Mit der Etikette habt ihr's
offensichtlich nicht so … Aber das ist okay für mich … wirklich
…«
Das Mädchen schnüffelte an ihrem Handgelenk. Plötzlich
zischte es, und dann schoss seine Zunge hervor – eine
gespaltene Zunge!
»O mein Gott!«, schrie Phoebe auf. Panisch durchbrach sie
den Kreis der Schlangenmädchen und flüchtete in den hinteren
Teil der Kammer.
Hisssssssss.
Schon waren sie wieder bei ihr, und für Phoebe gab es kein
Entrinnen mehr. Sie schrie, als die Mädchen mit eiskalten
Händen nach ihr griffen, ihr das schmutzige Kostüm vom
Körper rissen und an ihren Haaren zerrten.
»Geht weg von mir!«, kreischte sie. »Lasst mich in Ruhe!«
Doch sie hatte keine Chance.
Eine Stunde später stand Phoebe wieder vor dem Spiegel.
Die Mädchen hatten ganze Arbeit geleistet und die Kammer
inzwischen wieder verlassen.
»Hier war das Schönheitsstudio der Hölle am Werk«, sagte sie
resigniert. »Ich komme mir vor, als ob ich in einem Cher-Video
gelandet bin.«
Die Mädchen hatten ihr kein Leid angetan. Stattdessen hatten
sie Nikos' Anweisungen peinlich genau befolgt. Ihr zerrissenes
Fähnchen war einem langen, engen, weinroten Samtkleid
gewichen, das glockenförmige Ärmel und eine goldfarbene
Kordel als Gürtel besaß.
Ihre Augen waren tiefschwarz umrandet, die Lippen blass
geschminkt. Ihr Haar hatte nun die Farbe schwarzer Tinte und
umrahmte mit langen glänzenden Locken ihr Gesicht.
Tatsächlich hatte sie auf einmal große Ähnlichkeit mit den
Schlangenmädchen.
»Verdammter Egomane«, schimpfte Phoebe, als sie ihr neues
Outfit betrachtete. »Wie ätzend!«
Sie wollte sich gerade aufs Bett schmeißen, als der Felsblock
vor dem Eingang knirschend beiseite geschoben wurde. Diesmal
betrat ein Mann ihre Kammer. Er hatte dieselben toten
schwarzen Augen wie die Schlangenmädchen und eine
gespaltene Zunge, die immer wieder abstoßend hervorschoss.
Nikos scheint eine ganze Armee dieser reptilienhaften Diener
verpflichtet zu haben, dachte sie und sah den Besucher trotzig
an. Er schien direkt durch sie hindurchzuschauen, als er seine
Hände nach ihr ausstreckte.
»Auf keinen Fall!«, protestierte Phoebe. »Finger weg!«
Der Diener zischelte, als er auf sie zugeschossen kam, sie
packte und mit einer Leichtigkeit hochhob, als sei sie eine
Stoffpuppe. Dann schwebte er mit ihr aus der Kammer.
»Lass mich runter!«, kreischte Phoebe und trat nach seinen
kalten Beinen. Doch sie wusste, es war vergeblich. Dieser Kerl
würde sie bringen, wohin er wollte. Phoebe fühlte einen dicken
Kloß im Hals. Wie sollte sie ohne die Macht der Drei jemals
wieder aus diesem Schlamassel herauskommen? Was immer
dieser Schlamassel auch war. Sie hatte immer noch keine
Ahnung, warum Nikos sie hierher gelockt hatte und gefangen
hielt. Einfach nur aus Boshaftigkeit? Ging es um
Machtspielchen? War es eine Vater-Sohn-Angelegenheit? Oder
warum?
Der Diener trug sie durch eine Flucht aus felsengesäumten
Korridoren. Ab und an passierten sie weitere steinerne
Kammern, in denen Phoebe noch mehr Mädchen entdeckte, die
inmitten der aufwändigen alten Möbel ihre Zeit totzuschlagen
schienen. Sie konnte auch einen Blick auf ein riesiges
Esszimmer erhaschen, in dem ein Tisch stand, an dem
mindestens vierzig Personen Platz fanden.
Doch trotz all des Luxus, der an diesem unterirdischen Ort
herrschte, ging von ihm nicht die geringste Spur von Wärme
aus. Die Wände waren feucht und dunkel, in den Räumen und
Fluren war es dämmrig und empfindlich kühl. Phoebe klapperte
schon mit den Zähnen, als der Diener endlich in eine der
Kammern einbog und seine Last ziemlich unsanft auf einen
großen geschnitzten Holzstuhl fallen ließ.
Phoebe sah sich um. Der Raum war voller roter Samtsofas und
Ruheliegen. Die Tische bogen sich unter Schalen und Platten
mit Obst, Gebratenem, Käse und riesigen Weinkrügen. Und
inmitten dieses Bacchanals saß Nikos in einer Art Hausmantel
und Pantoffeln. Er war gerade damit beschäftigt, den Nacken
eines der Schlangenmädchen zu beschnuppern, das ihm zu
Füßen saß. Andere ihrer Art hingen im Raum herum und
flirteten mit ihm, wobei sie aufreizend züngelten. Geräuschvoll
trank Nikos einen großen Schluck Wein aus einem Glaspokal
und grinste eines der Mädchen herausfordernd an. Sie kicherte
schrill und schüttelte ihre langen schwarzen Locken.
»Gütiger Gott«, murmelte Phoebe und erhob sich. »Was geht
hier vor, Nikos?«, verlangte sie zu erfahren.
Nikos nahm einen weiteren Schluck Wein und wandte sich
dann gelangweilt zu ihr um.
»Ach, Phoebe, du bist's … Hm, diese Frisur sieht doch schon
gleich viel besser aus. Blond ist wirklich nicht deine Farbe,
Schatz.«
»Wie dem auch sei«, rief sie aufgebracht, »ich will jetzt
endlich wissen, warum du mich hierher gebracht hast. Und wo
zum Teufel sind die Models?«
»Weißt du, Phoebe«, sagte Nikos träge. Er kreuzte seine Beine
und schob sich eine Weintraube in den Mund. »Ich sehe nicht,
wie eine anständige Konversation zwischen uns möglich sein
soll, wenn du solcher Laune bist. Setz dich, entspann dich, trink
etwas Wein …«
Mit diesen Worten drückte ihr eines der Schlangenmädchen
einen Glaskelch mit Rotwein in die Hand. Phoebe starrte den
Pokal einige Sekunden lang schweigend an. Für ihn scheint das
alles nur ein Spiel zu sein, dachte sie. Angewidert schmetterte
sie den Kelch zu Boden, wo er in tausend Stücke zerbrach. Der
Wein ergoss sich über die Steinplatten wie eine frische
Blutlache.
»Ich will Antworten!«, rief sie. »Und ich will sie sofort!«
Nikos' Blick streifte Phoebe flüchtig, dann schnippte er mit
dem Finger, und ein männlicher Diener erschien in der Tür.
Sofort schnappte sich dieser einen Lappen und beseitigte die
Glassplitter und den vergossenen Wein.
Schwerfällig kam der Prinz auf die Beine. Als er stand,
schwankte er leicht.
Er ist betrunken, dachte Phoebe.
»Du solltest dich wirklich glücklich schätzen, weißt du«, sagte
Nikos. »Nicht jeden Tag widerfährt einem Mädchen die Gnade,
zur Braut des Herrschers eines Königreichs gemacht zu
werden.«
»Zur was?«, platzte Phoebe heraus. »Hast du gerade … Braut
gesagt?«
Nikos seufzte und verdrehte die Augen. »Ich weiß«, sagte er,
»dieses Wort macht mich auch krank.« Dann zuckte er die
Achseln. »Aber es ist beschlossene Sache.«
»Moment mal!«, sagte Phoebe. »Wovon redest du eigentlich?«
»Setz dich, Phoebe«, sagte er eisig.
Wütend verschränkte Phoebe die Arme vor der Brust. Sie hatte
nicht vor, dieser Aufforderung Folge zu leisten. Doch dann sah
sie sich um: Die Tür war bewacht, und Nikos schien sie nicht
wirklich behelligen zu wollen. So entschied sie, es auf die coole
Tour anzugehen. Sie strafte den hochlehnigen protzigen
Holzstuhl mit Verachtung und ging hinüber zu einem kleinen
samtbezogenen Sessel. Auf ihm räkelte sich eines der
Schlangenmädchen und knabberte an einer Birne.
»Ich nehme diesen hier, danke«, sagte Phoebe. Das Mädchen
zischte sie an, doch als Nikos ihm einen scharfen Blick zuwarf,
erhob es sich auf der Stelle und gab den Platz frei.
Phoebe sank in die weichen Polster und rieb sich über ihre
eiskalten Arme. Dann sah sie auf und wartete.
»Phoebe«, begann Nikos, wobei ein spöttisches Grinsen seine
Mundwinkel umspielte, »ich möchte, dass du mich heiratest.«
»Ja, natürlich«, sagte sie trocken. »Insbesondere, da du mir
neuerdings so viel Aufmerksamkeit, Respekt und Zuneigung
zuteil werden lässt.«
»Ich bitte dich!«, schnaubte Nikos verächtlich und rollte mit
den Augen. »Als ob Zuneigung und Heirat etwas miteinander zu
tun hätten.«
»Auf der Erde schon«, gab Phoebe zurück.
»Ha!«, lachte Nikos. »Nun, hier im Hades ist die Ehe nicht
mehr als eine mehr oder weniger lästige Verpflichtung. Sieh dir
nur meine Eltern an.«
»Verschone mich mit deinem Psychogequatsche«, sagte sie.
»Alles, was mich interessiert, ist, zu erfahren, warum du mich
heiraten willst.«
»Von Wollen kann keine Rede sein«, sagte er und schob sich
eine weitere Traube in den Mund. »Ich muss dich heiraten. Papa
will es so.«
»Papa? Du meinst Hades persönlich?«, fragte Phoebe und
spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.
»So ist es«, seufzte Nikos. »Mein Vater hält mich für
unzuverlässig und leichtlebig.«
»Nein, wirklich?«, murmelte Phoebe, während ihr Blick über
das Gelage wanderte.
»Also hat er mir befohlen, dass ich mir bis zu meinem
fünfundzwanzigsten Geburtstag eine Braut zu suchen habe«,
fuhr er fort. »Andernfalls werde ich verbannt.«
»Verbannt? Wohin?«, fragte sie und hob eine Augenbraue.
»Auf die Erde!«, schnaubte Nikos verächtlich. »Verdammt
dazu, ein langweiliges Leben ohne Magie und ohne meine
besonderen Kräfte zu führen. Verdammt, zwischen Sterblichen
zu leben, die, unter uns gesagt, nicht unbedingt zur attraktivsten
Sorte zählen.«
»Ich verstehe«, spottete Phoebe mit Blick auf die
gelangweilten Schlangenweiber.
»Der Countdown für den Fluch meines Vaters hat schon
begonnen«, fuhr Nikos fort und ignorierte ihre Bemerkung.
»Wenn am Morgen meines fünfundzwanzigsten Geburtstags
kein Ring an meinem Finger steckt, schickt er mich auf der
Stelle … nach oben.« Er erschauderte sichtlich bei dem
Gedanken. »Und wie ich bereits deinen Schwestern erzählte«,
sagte er und strich sich selbstgefällig über seine
zurückgekämmten Locken, »kann ich mir jede Braut nehmen,
die ich will. Immerhin bin ich der Prinz der Unterwelt. Ein
göttliches Wesen.«
»Natürlich«, erwiderte Phoebe gleichgültig.
»Schade nur, dass es heutzutage so wenige allein stehende
Göttinnen gibt«, beklagte er sich. »Du warst das Beste, was ich
auftreiben konnte. Ich wusste, dass du die Richtige warst, als ich
deinen Namen hörte – Phoebe. Vielleicht weißt du es ja schon,
aber die echte Phoebe entstammte dem alten Göttergeschlecht
der Titanen. Du siehst, Darling, alles war gewissermaßen
vorherbestimmt.«
»Und unsere romantischen Treffen im Café …«, fragte Phoebe
und vergaß für einen Moment ihren tief sitzenden Hass.
»Darauf bist du reingefallen?«, wunderte sich Nikos amüsiert.
»Bitte, Schatz, du bist überhaupt nicht mein Typ. Ich meine, du
siehst nicht schlecht aus … zumindest noch.«
»Was willst du damit sagen?«, verlangte Phoebe zu wissen
und sprang auf. Sie spürte, wie die Angst mit klammen Fingern
nach ihr griff.
»Na ja«, meinte Nikos leichthin, »wir werden heiraten, und du
wirst fortan die Eisenkugel an meinem Bein sein. Aber ich bin
sicher, es dauert nicht lange, und du wirst dich gehen lassen.«
Er kicherte und deutete mit dem Daumen auf einen der
überladenen Tische. Auf diesem standen ein ganzer Truthahn in
einem Nest aus Gemüse, eine dampfende Terrine mit cremiger
Suppe, zahlreiche süße Kuchen und Tabletts, auf denen sich die
Schokolade türmte. »Von mir aus kannst du gleich damit
anfangen«, schnarrte er und reichte ihr einen Teller. »Iss, bis du
aufgehst wie ein Hefekuchen. Mir ist's egal. Alles, was mich im
Zusammenhang mit dir interessiert, ist die
Hochzeitszeremonie.«
»Niemals!«, schrie Phoebe und schleuderte den Teller zu
Boden. Am liebsten hätte sie dem Diener, der gleich darauf
herbeigeeilt kam, um die Scherben zu beseitigen, seine toten
Augen ausgekratzt.
»Du irrst, meine Liebe«, gab Nikos zurück. Seine langen
Beine brauchten nur wenige Schritte, schon war er an ihrer Seite
und packte ihr Handgelenk so fest, dass es schmerzte. Dann griff
er in die Tasche seines Hausmantels.
Phoebe keuchte vor Schreck auf und spannte jeden Muskel an
in der Erwartung, dass Nikos nun ein Messer, einen Dolch oder
eine andere Waffe hervorzog. Seine Augen glühten rot vor Zorn,
als er seine Hand vor ihr Gesicht hob. Seine Finger
umklammerten einen Ring.
Es war ein Verlobungsring, und Phoebe entfuhr ein weiteres
Keuchen. Diesmal vor Bewunderung. Der mittlere Stein war ein
riesiger Diamant von mindestens sieben Karat, so protzig wie
jedes einzelne Möbelstück in diesem grotesken Höhlenpalast.
Und doch übte er ein merkwürdige Faszination auf sie aus.
Der monströse Edelstein war gebettet in einen Kranz aus
perfekten Rubinen, so tiefrot wie der zuvor verschüttete Wein,
so rot wie Nikos' bösartig funkelnde Augen.
Der Prinz der Unterwelt ergriff Phoebes rechte Hand und
schob ihr den Ring auf den dafür vorgesehenen Finger. Erpasste
wie angegossen. Das ist zu unheimlich!, schrie es tief in ihr.
Dann ließ er Phoebes Hand fallen, als ob er es mit einer
Pestkranken zu tun hätte, und ließ sich auf eine Couch sinken,
direkt zwischen zwei ihn anschmachtende Mädchen.
»Nun, da du dein Verlobungsgeschenk bekommen hast«, sagte
er mit schneidender Stimme, »solltest du dir etwas Passendes für
mich überlegen. Immerhin habe ich bald Geburtstag. Am 15.
August, um genau zu sein.«
»Das ist ja …«, rechnete Phoebe und legte eine Hand auf ihre
Stirn.
»Richtig«, sagte Nikos, »das ist in genau fünf Tagen. Was
bedeutet, dass unsere göttliche Verbindung in vier Tagen
offiziell besiegelt wird.«
7
P
iper lag auf ihrem Lieblingssofa
im Wohnraum und starrte
niedergeschlagen in das Sonnenzimmer.
»Wie können sie einfach nur so daliegen und schlafen?«,
murmelte sie und fühlte einen Anflug von Neid. Wenn doch nur
auch sie endlich schlafen und diesen real existierenden
Albtraum für einige Stunden vergessen könnte. Phoebe war im
Hades gefangen, und Prue und sie schienen keine Lösung für
das Problem zu finden.
Nicht dass Prue es aufgegeben hätte. Sie saß mit angezogenen
Beinen in einem Sessel in ihrer Nähe und studierte aufmerksam
Seite für Seite das Buch der Schatten, das auf ihren Knien lag.
Ab und zu schüttelte sie den Kopf und blätterte seufzend weiter.
»Vielleicht sollten wir uns einfach noch mal fotografieren und
auf diese Weise in den Hades zurückkehren«, schlug Piper
betrübt vor. »Und dann fahren wir einen Überraschungsangriff,
schnappen uns Phoebe und verschwinden wieder.«
»Ich glaube nicht, dass das funktioniert«, sagte Prue.
»Erinnere dich nur, wie lange die Reise gedauert hat, bis wir
endlich diese Höhle erreicht haben. Wir wären bei unserem
Eintreffen so erschöpft, dass wir nichts mehr auf die Reihe
kriegen würden. Besonders ohne unsere Kräfte …«
»… die bei Nikos ohnehin nicht funktionieren«, sagte Piper
frustriert.
»Außerdem glaube ich nicht, dass wir einfach so da
reinspazieren und Phoebe rausholen können«, sagte Prue. »Und
wenn es uns tatsächlich gelingen sollte, bis zu ihr vorzudringen,
so glaube ich, dass sie in diesem Höhlenpalast auf eine ganz
besondere Art festgehalten wird.« Sie wandte sich wieder dem
Buch der Schatten zu. »Warte mal, ich glaube, ich hab hier was
gefunden.«
»Was denn?«, fragte Piper aufgeregt und rannte zu ihr
hinüber.
»Hier, ein Zauberspruch für verlorene Seelen«, sagte Prue und
zeigte auf eine verschmutzte Seite. »›Wenn eine wandernde
Seele verloren scheint, nimm diesen Spruch, auf dass er Geist
und Körper eint …‹«
»Also, ich finde, das klingt ganz gut! « Piper stieß ihre
Schwester hoffnungsvoll an.
»Ja, aber wir verfügen nicht über die Macht der Drei«,
erinnerte Prue sie. »Also, lass uns den Spruch zur Sicherheit
lieber dreimal aufsagen.«
Die Schwestern nahmen sich bei den Händen und lasen laut
aus dem Buch vor:
»› Geist, o Geist, wo immer magst sein, vernimm unseren Ruf
und kehre heim.‹«
Sie wiederholten den Spruch dreimal und verschränkten ihre
Finger so fest ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Schließlich öffneten sie die Augen und sahen sich
erwartungsvoll an.
Piper blickte sich suchend um, doch Phoebe war nirgends zu
sehen. Enttäuscht sah sie Prue an und seufzte. Doch die Augen
ihrer Schwester waren fassungslos auf einen Punkt hinter ihrem
Rücken gerichtet.
»Was?«, schrie Piper panisch auf und fuhr herum. Prues Blick
ging starr in Richtung eines kleinen vergoldeten Wandspiegels,
eines der Lieblingsstücke ihrer Großmutter, der neben der
Küchentür hing.
»O mein, Gott … Phoebe!«, rief sie und rannte darauf zu. Prue
folgte ihr. Bestürzt starrten sie in den Spiegel. Anstelle ihrer
eigenen Abbilder sahen sie ihre jüngste Schwester darin, oder
zumindest ihre Projektion. Ärgerlich stampfte Phoebe in einem
Gemach mit Steinboden auf und ab.
»Sieht aus, als ob sie in einer Art Schlafzimmer gefangen
gehalten wird«, presste Prue hervor. »Siehst du das große
Pfostenbett? Und diesen Samtvorhang?«
»Und wie sieht sie eigentlich aus?«, keuchte Piper bestürzt
und deutete auf Phoebes geschmackloses Gothic-Outfit und das
lange schwarz gelockte Haar. Gerade blickte die Schwester auf
etwas Glänzendes an ihrem Finger, als das Bild immer
schwächer wurde, bis es schließlich ganz verschwand.
Verzweifelt schlug Prue gegen den Spiegelrahmen, doch die
beiden Schwestern starrten nur noch in ihre eigenen
entgeisterten Gesichter.
»Nun, damit ist der Fall wohl erledigt«, sagte Piper ironisch.
»Nun wissen wir, dass Phoebe in Nikos' unterirdischem Domizil
gefangen gehalten wird und dass sie von jemandem ausstaffiert
wurde, der einen ziemlich kranken Geschmack hat.«
»Immerhin scheint es ihr gut zu gehen«, murmelte Prue. Sie
begann im Wohnzimmer auf und ab zu tigern, wie es noch vor
Sekunden die Schwester in ihrer unterirdischen Kemenate getan
hatte. »Aber dieser Spruch taugt offensichtlich nicht dazu, uns
Phoebe zurückzubringen!«
»Von unseren anderen verlorenen Seelen ganz zu schweigen«,
erinnerte Piper sie und deutete auf die schnarchenden College-
Studenten im Sonnenzimmer.
Prue warf die Hände in die Höhe und stampfte vor Frustration
auf. Verzweifelt sah sie sich im Zimmer um, als sie plötzlich
etwas am Boden liegen sah – gleich neben der antiken Kamera.
Es war das Buch mit den viktorianischen Porträts aus der
Leihbücherei, das ihr die ganze Sache erst eingebrockt hatte.
Aber wer weiß?, dachte sie. Wenn ich Nikos nicht mit aufs
Bild genommen hätte, wäre das alles vielleicht gar nicht
passiert.
»Verdammt!«, fluchte sie. »Hätte ich das blöde Buch doch nie
gefunden!« Mit einem Wutschrei packte sie den Fotoband und
schmetterte ihn gegen die Wand. Aufgeschlagen plumpste er auf
den Orientteppich zurück.
Piper wollte das Buch an sich nehmen, um es vor Prue in
Sicherheit zu bringen, als ihr Blick auf die aufgeklappte Seite
fiel. Das Bild zeigte einen Mann mit einem langen grauen Bart
und breiter Brust, der seine kräftigen Hände hochmütig in die
Hüften gestemmt hatte.
›Zeus – Göttervater des Olymp‹, war in der Bildunterschrift zu
lesen.
In Pipers Kopf schlugen die Gedanken Purzelbäume, und sie
begann die Puzzlestücke der letzten Stunden
zusammenzusetzen. Plötzlich kam ihr eine Idee. Eine geradezu
brillante Idee!
»Natürlich!«, rief sie aus und eilte zu ihrer Schwester. »Ich
glaube, ich weiß jetzt, was da vor sich geht!«
»Ach, ja?«, fragte Prue stirnrunzelnd.
»Hast du den Ring an Phoebes Finger gesehen?«
»Ja«, erwiderte Prue. »Sah aus wie ein riesiger Diamant mit
Rubinen drumherum oder so. Irgendwelche roten Steine
jedenfalls.«
»Ein Diamantring«, bestätigte Piper atemlos. »Ein
Verlobungsring!«
»Was?«, fragte Prue entsetzt.
»Ich glaube, Nikos hat Phoebe entführt, damit sie seine Frau
wird«, erklärte Piper. »Immerhin hat Hades, sein Vater, genau
das Gleiche getan. Er raubte Persephone und zwang sie, die
Königin der Unterwelt zu werden.«
»Das stimmt«, erinnerte sich Prue. »Aber hast du mir nicht
erzählt, dass sie nur für eine gewisse Zeit im Jahr im Hades sein
musste?«
»Genau, weil sie während ihres Aufenthaltes dort einen
Granatapfelkern gegessen hat, der kurzfristig ihre Sinne
verwirrte«, führte Piper aus. »Deshalb musste sie ein Drittel des
Jahres bei Hades zubringen.«
»Okay, Piper«, meinte Prue, »wenn mich das jetzt irgendwie
beruhigen soll, so kann ich dir sagen, dass das nicht der Fall ist.«
»Ich bin noch nicht fertig«, rief Piper aufgeregt. Sie deutete
auf das Foto in dem Bildband. »Es war Zeus, der König aller
Götter und Herrscher des Himmels, der für diesen Deal
verantwortlich war. Er hatte beschlossen, dass Persephone für
den Genuss des Granatapfelkerns büßen sollte. Dass sie den
Hades deshalb zwar nicht verlassen, ihren Aufenthalt dort aber
verkürzen durfte.«
»Also, was du meinst, ist …«, begann Prue.
»Wenn Zeus dergleichen für Persephone tun konnte, könnte er
es doch auch für Phoebe tun, oder nicht?«, fragte Piper und
schlug das Buch zu. »Zeus ist der Boss. Er hat alle Macht über
die Götter, also auch über seinen Bruder Hades und damit über
die Unterwelt.«
»Also, wenn wir Kontakt mit Zeus aufnähmen …«, überlegte
Prue.
»Und warum sollte das nicht möglich sein? Schließlich sind
wir schon bis in den Hades vorgedrungen«, unterbrach Piper sie.
»Also wissen wir, der Olymp muss existieren!«
»Und wir könnten Zeus bitten, anzuordnen, dass Phoebe
freigelassen wird«, schlussfolgerte Prue.
»Wir müssen nur herausfinden, wie wir auf diesen Berg
hinaufkommen«, sagte Piper und griff nach dem Buch der
Schatten.
»Erstens das, und zweitens sollten wir inständig hoffen, dass
Phoebe in der Zwischenzeit im Hades nichts zu sich nimmt«,
gab Prue zu bedenken. Pipers Teint wurde fahl. »Du hast
Recht«, sagte sie leise.
»Und du weißt doch, wie gerne sie isst«, fügte Prue hinzu. Sie
war ebenfalls sehr blass geworden. »Ständig futtert sie. Sie hat
einfach immer Hunger, wie du weißt.«
»Lass uns das Beste hoffen«, sagte Piper und blätterte mit
fliegenden Fingern im Buch der Schatten. »Vielleicht ist ihr die
Idee, den Prinzen der Unterwelt ehelichen zu müssen, ja auf den
Magen geschlagen.«
Wider Erwarten fand sich im Buch der Schatten, das keinen
einzigen Eintrag zu Thema Hades hatte, etwas zum Berg Olymp.
»So überraschend ist das nun auch wieder nicht«, bemerkte
Piper, als sie die Seite studierte. »Immerhin ist der Sitz der
Götter ein wesentlich attraktiveres Reiseziel als die Unterwelt.«
»Wenn man die Sache als Ausflug betrachtet, hast du
vermutlich Recht«, sagte Prue und sah ihrer Schwester über die
Schulter. »Also, was haben wir denn hier?«
»Einen Trank und einen Zauber«, sagte Piper, während sie das
Rezept für das Elixier studierte. »Es scheint, als ob die Sonne als
eine Art Portal in den Olymp fungiert. Man kann ihn nur bei
Sonnenaufgang betreten und bei Sonnenuntergang wieder
verlassen.«
»Das klingt machbar«, befand Prue. »Und wie stellen wir das
nun an?«
»Na ja, jetzt kommt der Haken«, sagte Piper. »Es scheint, als
ob nur eine von uns gehen kann.«
»Was? Warum?«
»Also, die Person, die zum Olymp reist, muss den Trank zu
sich nehmen. Aber jemand auf der Erde muss sie dorthin
schicken und, was noch wichtiger ist, sie von dort wieder
zurückholen.«
»Also muss diese Person bei Sonnenaufgang …«
»… den Zauber sprechen«, beendete Piper den Satz ihrer
Schwester. »Damit wird die andere zum Portal entsandt, das in
den Olymp führt.«
»Gut«, sagte Prue. »Ich denke, so können wir es machen.
Alles, was wir tun müssen, ist … Achtung!!!«
»Was?«, schrie Piper, als sie das vor Schreck verzerrte Gesicht
ihrer Schwester sah. Sie duckte sich gerade noch rechtzeitig, als
sie auch schon etwas an ihren Haaren vorbeizischen spürte.
Abrupt richtete sie sich kerzengerade auf und starrte auf den
Pfeil, der in der Wand stecken geblieben war.
Langsam wandte sie sich um.
Die Kreatur, die in der Küchentür stand, war die wohl
schrecklichste, die sie bisher gesehen hatte. Sie war einäugig,
ihre Haut war grau und schuppig, und ihr Haar – nun ja, es war
nicht wirklich Haar, was sich da auf ihrem Kopf kringelte und
wand. Es waren zischende Schlangen!
Schon nahm die Kreatur einen weiteren Pfeil aus einem
Köcher, den sie über der Schulter trug. Als sie den Kopf senkte,
um das Geschoss in den Bogen einzulegen, packte Piper ihre
Schwester und riss sie mit sich hinter die Couch.
»Was tust du da?«, protestierte Prue und versuchte sich aus
Pipers Griff zu befreien. »Lass uns dieses Ding erledigen. Das
schaffen wir doch locker.«
»Nein, Prue«, quietschte Piper panisch. »Ich kenne diese
Kreatur aus der griechischen Mythologie. Das ist eine Gorgo.«
»Ich geb's auf«, sagte Prue, als ein weiterer Pfeil durch die
Luft sauste und sich in die Couch bohrte. »Was zum Henker ist
eine Gorgo? – Verdammt, diese Couch ist eine Antiquität!«
»Vergiss die Couch!«, keuchte Piper entsetzt. »Hast du schon
mal von der Medusa gehört? Sie war eine der Gorgonen. Die
Legende sagt, jedermann, der sie erblickte, wurde zu Stein.«
»Also werden wir entweder von einem Pfeil durchbohrt, oder
sie versteinert uns?«, fragte Prue.
»Oder wir überlegen uns, wie wir ihr den Garaus machen
können, ohne Augenkontakt mit ihr zu haben«, sagte Piper.
»Also für strategische Kriegsführung haben wir jetzt wirklich
keine Zeit«, schrie Prue, als ein weiterer Pfeil durch die Luft
schoss. »Wir sollten uns lieber darauf konzentrieren, Phoebe zu
retten.«
»Ich glaube, deswegen hat man uns die Gorgo ins
Wohnzimmer geschickt«, sagte Piper. »Um genau das zu
verhindern.«
»Mag sein«, grummelte Prue. Dann erhellte sich ihre Miene.
»Warte mal, ich hab 'ne Idee!«
Sie deutete auf den kleinen Wandspiegel, in dem sie noch vor
wenigen Minuten Phoebe gesehen hatten. Er hing ganz in ihrer
Nähe. »Piper«, fragte sie, »meinst du, du kannst dieses Biest
einfrieren, ohne es anzusehen?«
»Keine Ahnung«, gab Piper zurück. »Ich kann's ja mal
versuchen.«
Sie schloss ihre Augen und konzentrierte sich; versuchte sich
die Gorgo in ihrer ganzen schleimigen, schlangenhaften
Hässlichkeit vor ihr inneres Auge zu führen. Dann hob sie die
Hand und bewegte sie wedelnd über der Couch.
Die Standuhr hörte auf zu ticken. Ein Staubkorn, das eben
noch zwischen ihnen geschwebt hatte, blieb reglos in der Luft
hängen.
»Es hat geklappt«, flüsterte Piper.
Prue wollte sich schon erheben, doch die Schwester hielt sie
zurück. »Möglich, dass selbst eine eingefrorene Gorgo uns zu
Stein erstarren lassen kann«, gab sie zu bedenken. »In der
griechischen Sage war Medusas Kopf sogar noch tödlich, als er
schon abgeschlagen war.«
»Ich passe schon auf«, versicherte ihr Prue. »Gib mir
Deckung.«
Mit zu Boden gerichtetem Blick standen die Schwestern auf.
Sie konnten die Klauenfüße der Gorgo sehen, die noch immer
auf der Schwelle zur Küche stand. Rasch kroch Prue auf die
Wand zu und nahm den Spiegel ab. Dann hielt sie das gute
Stück wie einen Schild vor ihr Gesicht, ging hinüber zu der
Kreatur und hielt es der Gorgo direkt vor die Nase. Über die
Ränder des Spiegels konnte sie einen Blick auf die ehemals
wimmelnden Schlangenleiber erhaschen, die nun starr und steif
in die Luft ragten.
Sie hielt den Atem an.
Die Sekunden verstrichen und kamen Prue vor wie Stunden.
Schließlich lief die Zeit wieder an; der Wind rauschte durch die
Bäume vor dem Fenster, die Uhr begann wieder zu ticken, und
dann stieß die Gorgo einen Schrei aus, der ihnen durch Mark
und Bein ging.
Begleitet von einem knackenden Geräusch wurden ihre
grässlichen Füße grau und leblos. Auch die Schlangen auf ihrem
Kopf versteinerten inmitten ihrer Bewegungen. Mit ihrer
Schuhspitze berührte Prue vorsichtig die Zehen der teuflischen
Kreatur. Sie waren hart wie Fels.
»Prue, das war einfach genial!«, rief Piper, als sie ihrer
Schwester den Spiegel aus den zitternden Händen nahm. »Du
hast genau denselben Trick angewandt, den Perseus benutzt hat,
um die Medusa zu bezwingen.«
Prue ließ den Spiegel sinken und starrte die Gorgo fassungslos
an. Selbst als steinerne Statue war sie noch grauenvoll
anzusehen. Insbesondere, da ihre ohnehin abstoßenden Züge vor
Schmerz und Ekel völlig verzerrt waren, festgehalten in dem
Augenblick, da sie ihre eigene Fratze hatte anschauen müssen
und an dem Anblick zugrunde gegangen war.
»Ich wollte eigentlich vorschlagen, sie im Garten aufzustellen,
aber irgendwie ist sie einfach zu hässlich als Rasenschmuck«,
sagte Prue trocken.
»Zudem wiegt das Ding bestimmt über eine Tonne!«,
beschwerte sich Piper. »Wie sollen wir es nur aus dem Haus
schaffen?«
»Darum kümmern wir uns später«, meinte Prue. »Im Moment
sollten wir uns mit diesem Zaubertrank beschäftigen. Morgen
bei Sonnenaufgang muss eine von uns hinauf auf den Olymp.«
Eine Stunde später standen die beiden Schwestern in der
Küche, die nun im wahrsten Sinne des Wortes eine Hexenküche
war.
»Gut, ich glaube, wir haben die Zutaten für den Trank
zusammen«, sagte Prue. »Lavendel, Thymian, Salbei und Safran
…«
»Genau genommen einen ganzen Teelöffel Safran«, nörgelte
Piper. »Es ist ja auch nur das teuerste Gewürz unter der Sonne.
Zumal ich nächste Woche Paella machen wollte …«
»Deine Sorgen möchte ich haben«, bemerkte Prue. »Wie dem
auch sei, wir haben auch den roten Ton, die Rosendornen und
die Schuppen eines silbernen Fischs …«
»Gut, dass ich den Lachs eingefroren hatte«, murmelte Piper.
»Und zu guter Letzt etwas Stein von einer Skulptur.«
»Was für ein wunderbarer Zufall«, grinste Piper. Sie öffnete
den Schrank unter der Spüle und begann in einem
Werkzeugkasten herumzuwühlen. Schließlich ging sie mit
einem Hammer bewaffnet hinüber zu der erstarrten Gorgo, die
noch immer im Kücheneingang stand.
Mit einem einzigen Hieb schlug sie eine der versteinerten
Schlangen von ihrem Kopf und warf sie ihrer Schwester zu.
»Rache ist süß«, rief sie. »Was müssen wir als Nächstes tun?«
»Jetzt muss das Ganze vier Stunden lang gekocht werden«, las
Prue vor. »In Rotwein und begleitet von einem … Lied.«
»Hmmmm«, machte Piper. Dann zwinkerte sie ihrer
Schwester verschwörerisch zu und zog einen kleinen Karton aus
dem Geschirrschrank. »Der tragbare CD-Player«, erklärte sie,
»ist des Küchenchefs bester Freund.« Sprach's und stöpselte das
Gerät direkt neben dem Herd ein.
Dann wühlte sie in einem Stapel von CDs herum, bis sie eine
Scheibe von Green Day gefunden hatte, legte sie ein und
drückte den Wiedergabe-Knopf.
»Den Göttern sei Dank für ›Auto-Replay‹«, murmelte Prue.
Als Piper begann, die Zutaten für den Trank abzumessen und
in einem Topf miteinander zu vermengen, biss sich Prue nervös
auf die Lippe. »Ist dir klar, dass wir den wichtigsten Teil unseres
Plans noch gar nicht besprochen haben?«, sagte sie. »Ich meine
die Frage, wer von uns beiden denn nun auf den Olymp gehen
wird.«
»Ich nehme an, das wirst du sein«, erwiderte Piper. »Du bist
die Ältere von uns beiden und verfügst über die aktiveren
Fähigkeiten und so weiter. Ich werde daher am besten zu Hause
bleiben … wie immer.«
»Eigentlich«, warf Prue ein, »hab ich es mir gerade
andersherum überlegt. Du wärst eigentlich viel geeigneter, mit
dem alten Zeus zu verhandeln.«
»Ach nee?« Piper lächelte dünn und ließ den Messlöffel
sinken. »Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Na ja, einerseits verfügst du über das fundierteste Wissen zur
griechischen Mythologie«, erklärte Prue. »Ich meine, ich hab
immer gedacht, dass du eine ziemliche Streberin warst, aber wer
konnte schon ahnen, dass dein Fleiß eines Tages unsere Familie
retten könnte?«
»Ähem, ja, vielen Dank«, murmelte Piper und verdrehte die
Augen.
»Außerdem könnte ich hier unten viel nützlicher sein für den
Fall, dass noch andere sagenhafte Horrorgestalten in unserem
Haus auftauchen«, fuhr Prue fort und wackelte mit ihrem
Telekinese-Finger. »Ich könnte sie erledigen, bevor sie sich an
unseren schlafenden Schönheiten vergreifen.«
»Das ist ein Argument«, sagte Piper und wandte sich wieder
dem Rezept zu. »Also ist es beschlossene Sache: Ich gehe rauf,
und du bleibst hier.«
Obwohl sie dies so leichthin sagte, fühlte sie eine unbändige
Erregung in sich aufsteigen. Schon als Kind, als sie die
griechischen Sagen in der Schule durchgenommen hatten, hatte
sie immer versucht sich vorzustellen, wie es wohl auf dem Sitz
der Götter aussehen mochte. Lustige Fantasien waren ihr dabei
in den Sinn gekommen, zum Beispiel wie es wäre, wenn sie wie
Mary Poppins einfach dorthin fliegen oder wie Ebenezer
Scrooge in der Zeit zurückreisen könnte.
Und nun, sie konnte es kaum fassen, würde sie tatsächlich auf
den Olymp gehen! Und nicht zuletzt aus Sorge um ihre
Schwester Phoebe konnte sie es kaum erwarten, dorthin zu
kommen.
»Weißt du eigentlich, was das bedeutet, Prue?«, fragte sie
plötzlich. »Morgen werde ich im Himmel sein, während Phoebe
in der Hölle festsitzt.«
Angesichts dieser Vorstellung konnte Prue ein Kichern nicht
unterdrücken. »Eigentlich ist das ja alles andere als lustig«,
sagte sie, »aber findest du nicht auch, dass dieser Geschichte
eine gewisse poetische Gerechtigkeit anhaftet?«
»Hehe«, kicherte Piper, doch dann unterbrach ein
alarmierendes Geräusch diesen Anflug von Heiterkeit.
Es hatte an der Tür geklingelt! Die beiden Schwestern
wechselten einen panischen Blick.
»Wer kann das bloß sein?«, krächzte Prue.
»Er oder sie darf auf keinen Fall die Models sehen!«, stieß
Piper hervor. »Prue, du musst schnell den Vorhang schließen
und auf sie aufpassen. Ich wimmele unseren Besucher
inzwischen ab.«
»Alles klar!«, rief sie, und dann stürmten sie aus der Küche. In
Windeseile hatte Prue den Vorhang zwischen Sonnen- und
Wohnzimmer geschlossen. »Madelaine schnarcht wieder!«, rief
sie von drinnen. »Wer immer es ist, lass ihn oder sie auf keinen
Fall herein!«
Piper nickte und schluckte. Dann eilte sie ins Foyer und riss
mit den Worten »Es ist sechs Uhr! Wissen Sie nicht, dass
anständige Menschen um diese Zeit zu Abend essen?« die Tür
auf.
»Mitchell!«, platzte sie heraus.
Da stand Prues anbetungswürdiger potentieller Liebhaber auf
der Schwelle und lächelte sie freundlich an. Piper konnte nicht
umhin festzustellen, wie attraktiv sein muskulöser Körper in
dem blauen Shirt und der perfekt sitzenden Levis aussah.
»Äh, hallo«, sagte sie mit einem schiefen Grinsen. »Du bist
mit Prue verabredet, stimmt's?«
»Yep«, erwiderte er und scharrte ein bisschen auf der Stelle.
Natürlich wartet er darauf, dass ich ihn hineinbitte, dachte
Piper. Was soll ich jetzt bloß machen?
»Ich hab's irgendwie geschafft, ihr die Verabredung zum
Dinner abzuschwatzen, bevor sie mich vor die Tür gesetzt hat«,
erklärte er und lachte befangen. »Ich hoffe, der Rest des
Shootings lief gut?«
»Oh, ja«, rief Piper. »Es war einfach toll! Geradezu
umwerfend toll. Mitchell … könntest du einen Moment hier
warten? Ich glaube, Prue ist noch nicht so weit. Warum setzt du
dich nicht ein bisschen auf die Veranda und genießt die gute
Luft? Ich bin sofort wieder zurück!«
Sprach's, warf die Tür zu und rannte zurück ins Wohnzimmer.
Prue klebte förmlich am Samtvorhang zum Sonnenzimmer.
Entsetzt hatte sie eine Hand auf den Mund gepresst. »Ich hab
Mitchell total vergessen! Wir waren für heute Abend
miteinander verabredet«, keuchte sie. »Ich muss ihm sagen, dass
ich nicht mitkommen kann.«
Piper konnte sehen, wie sehr es ihrer Schwester Leid tat,
Mitchell einmal mehr enttäuschen zu müssen.
Prue seufzte. »Ich glaube, das war's dann mit uns beiden.
Welcher Mann lässt sich schon zweimal hintereinander vor den
Kopf stoßen? Und wieder wurde eine hoffnungsvolle Beziehung
das Opfer meines Hexendaseins …« Sie seufzte erneut und
machte sich auf in Richtung Haustür.
Doch Piper hielt sie zurück. »Warte mal«, sagte sie. »Weißt du
was? Wir können bis Sonnenaufgang doch ohnehin nichts mehr
unternehmen. Uns sind quasi die Hände gebunden, bis ich auf
dem Olymp eingetroffen bin. Und ich kann die Sache mit dem
Trank auch allein machen – also, warum gehst du nicht einfach
mit Mitchell aus?«
»Bist du verrückt?«, rief Prue. »Phoebe schwebt in
Todesgefahr, und ich verlustiere mich mit meinem Liebsten?«
»Jetzt mal halblang, Prue«, sagte Piper sanft. »Da draußen
steht ein wundervoller Mann. Du möchtest ihn nicht verlieren.
Und falls du es noch nicht bemerkt haben solltest: Wir
schweben jede Woche mehr oder weniger in Todesgefahr. Ich
kümmere mich um alles. Geh du bitte essen mit Mitchell, und
wenn es auch nur dem Zweck dient, dass er sich daraufhin auch
in Zukunft mit dir treffen möchte. Das ist ein schwesterlicher
Befehl!«
»Na gut«, murmelte sie. »Ich würde wahrscheinlich sowieso
nur hier rumsitzen und die Wände anstarren.« Sie biss sich auf
die Unterlippe. »Bist du sicher, dass du meine Hilfe bei dem
Trank nicht brauchst?«
»Das ist ein Kinderspiel«, gab Piper zurück. »Einfacher als
Paella, so viel ist klar.«
»Nun denn … okay«, sagte Prue und rannte die Stufen zu
ihrem Zimmer hinauf. »Ich muss mich nur noch ein wenig
zurechtmachen. Bitte sag ihm, ich bin in fünf Minuten fertig.
Und, Piper …?«
»Ja?«
»Danke. Du bist wirklich die Beste.«
»Darauf kannst du wetten«, sagte Piper augenzwinkernd. Sie
freute sich für ihre Schwester, und doch war da wieder dieses
Gefühl der Schwermut. Wann hatte das letzte Mal ein Mann auf
sie vor der Tür gewartet? Seufzend ging sie zurück in die
Küche, wo sie Mitchell einen kühlen Drink eingoss.
Als sie wieder die Haustür öffnete, fand sie Prues Freund auf
der obersten Stufe sitzend vor. Mit einem hoffnungsvollen Blick
fuhr er herum und ließ enttäuscht die Schultern sinken, als er
Piper erblickte.
»Sie ist wie immer zu spät dran«, verkündete diese und
unterdrückte ein Kichern angesichts dieser ungeheuerlichen
Lüge. »Aber länger als fünf Minuten wird sie nicht mehr
brauchen.«
»Großartig«, sagte Mitchell, und seine Miene hellte sich
wieder auf. »Für eine Sekunde dachte ich, dass sie mir wieder
eine Abfuhr erteilen wird.«
»Wo denkst du hin?«, sagte Piper und lächelte auf ihn herab.
Dann drückte sie ihm das Glas mit dem Drink in die Hand.
»Limo?«
8
M
itchell chauffierte
sie in seinem Geländewagen in ein altes
Viertel mit Kopfsteinpflaster in Downtown San Francisco.
»Ich hoffe, es ist dir recht, dass ich uns einen Tisch in einer
Trattoria reserviert habe«, sagte er, als er aus dem Wagen
sprang, um Prue die Tür zu öffnen. »Ich bin sehr oft hier. Ich
dachte, nach unserem vietnamesischen Abenteuer wäre etwas
Bodenständigeres zur Abwechslung ganz nett.«
Prue stieg aus und strich sich ihr Kleid glatt, eine
kürbisfarbene Satinkreation mit tiefem Rückenausschnitt. Dann
fiel ihr Blick auf das Schild vor dem Eingang. »Rose von
Neapel« war dort zu lesen, und sogleich erschienen vor ihrem
geistigen Auge knusprige, warme Brötchen, Nudeln in roter
Soße mit frischem Parmesan und süffiger Chianti. Mit anderen
Worten: wohl vertraute, tröstliche Küche.
Dankbar sah sie Mitchell an. »Eine gute Wahl. Es ist, als ob
du meine Gedanken gelesen hättest.«
»Perfekt«, freute er sich und schenkte ihr ein
anbetungswürdiges Lächeln.
Als sie sich an einem kleinen gemütlichen Ecktisch
niederließen, konnte Prue nicht umhin, an Phoebe zu denken.
Ihre Schwester war zur Zeit an einem Ort, der in keinem
krasseren Gegensatz zu diesem hier stehen konnte. Selbst der
Gedanke an Essen verursachte ihr Schuldgefühle, angesichts der
Folgen, die eine Mahlzeit für ihre Schwester haben konnte.
Als Mitchell eine Flasche Rotwein bestellte und ihr ein Glas
eingoss, nahm Prue hastig einen großen Schluck, um die Angst
und Sorge zu vertreiben, die sich in ihrer Magengegend breit
machte.
Nach einem Teller ›Penne Primavera‹ und zwei weiteren
großzügig eingeschenkten Gläsern Wein fühlte sie sich schon
viel besser. Tatsächlich konnte sie sogar ausgelassen über die
Geschichte von Mitchells erstem Job lachen.
»Und da fragte mich die Herausgeberin: ›Wann haben Sie
denn dieses Abenteuer, das Sie so lebhaft in Ihrem Leitartikel
beschreiben, erlebt? Die Story ist einfach toll erzählt!‹«,
berichtete er gerade. »Und ich sagte: ›Gar nicht. Das habe ich
mir ausgedacht.‹«
»Was?«, kicherte Prue.
»Ich war solch ein Grünschnabel. Ich wusste noch nicht mal,
dass man keine hypothetischen Schauplätze und Ereignisse in
seine Geschichte einbauen darf«, fuhr er fort. »Also nahm sie
mich zur Seite und sagte mir: ›Aber so funktioniert Journalismus
nicht. Sie können sich die Dinge nicht einfach nach Ihrem Gusto
zusammenfantasieren!‹«
»Ich kann es mir geradezu bildlich vorstellen«, lachte Prue.
»Der junge, ernsthafte Reporter, der sich kurzerhand eine
fesselnde Geschichte ausdenkt.«
»Ja, du lachst«, sagte Mitchell. »Aber mich hätte es fast die
Karriere gekostet, noch ehe sie richtig begonnen hatte.«
»Wie es scheint, hast du dich von diesem Einbruch ja prächtig
erholt«, bemerkte Prue. »Ich meine, immerhin arbeitest du für
National Geographic, der Nummer eins unter den Reise- und
Abenteuerzeitschriften. Bitte erzähl mir, wie ist es, für dieses
Magazin tätig zu sein.«
»Wie wäre es, wenn ich das beim Nachtisch tue?«, schlug er
vor und bat den Kellner um die Rechnung. »Ich kenne da genau
den richtigen Ort …«
Kurz darauf schaute Prue in einen atemberaubenden
Sternenhimmel.
Sie sah Mitchell an und lächelte. Dann versuchte sie eine
etwas bequemere Sitzposition auf der Motorhaube des
Geländewagens einzunehmen. Sie hatten auf einem hoch
gelegenen Kliff über dem Pazifik geparkt und betrachteten nun
gegen die Windschutzscheibe gelehnt den wunderschönen
Nachthimmel.
»Dies ist mein Lieblingsplatz fürs Dessert«, erklärte Mitchell
mit einem schüchternen Grinsen. Er setzte sich auf und
präsentierte ihr die beiden Schachteln, die er aus dem
italienischen Restaurant mitgenommen hatte. »Cannoli oder
lieber Tiramisu?«
»Definitiv Tiramisu«, sagte Prue mit gespielter
Ernsthaftigkeit. Mitchell reichte ihr das cremige Dessert
zusammen mit einer Plastikgabel. Prue nahm einen Bissen und
verdrehte verzückt die Augen. »Das ist das beste Tiramisu, das
ich je gegessen habe!«, schwärmte sie.
»Probier mal meins«, sagte er und reichte ihr die Schachtel mit
der Cannoli. »Danach wirst du glauben, du wärst gestorben und
direkt nach Sizilien überführt worden.«
Prue lachte und naschte auch von der knusprigen Nachspeise.
»Verdammt«, rief sie. »Du hast nicht übertrieben, das ist einfach
köstlich!«
Dann schüttelte sie fassungslos den Kopf. »Ich habe so eine
tolle Zeit mit dir. Kaum zu glauben, dass …«
Abrupt hielt sie inne. Sie fühlte sich so wohl in Mitchells
Gegenwart, dass sie fast die Sache mit Phoebe ausgeplaudert
hätte. Und in der Folge natürlich auch, dass sie eine Hexe war.
Was wiederum jegliche Chance auf eine gemeinsame Zukunft
mit Mitchell zunichte gemacht hätte. Prues Lächeln schmolz
dahin, und sie starrte betrübt auf ihre Hände.
Während sie so grübelnd dasaß, rutschte Mitchell von der
Motorhaube und erschien eine Minute später mit seiner Kamera
vor dem Wagen. Jäh aus ihren Gedanken gerissen, hob Prue den
Kopf und sah ihn entsetzt an.
»Was machst du da?«, fragte sie und fühlte sich plötzlich alles
andere als wohl.
»Du warst einfach so wunderschön, wie du da gesessen und in
die Sterne geblickt hast«, sagte Mitchell mit einem treuherzigen
Grinsen. »Und da fiel mir ein, dass ich meine Kamera im
Kofferraum habe.«
»Ach so«, sagte Prue und schüttelte den Kopf. Was ist so
schlimm daran?, dachte sie. Er will doch nur ein Bild von dir
machen. Doch irgendetwas in ihr rebellierte bei diesem
Gedanken.
»Ich … ich glaube nicht, dass ich jetzt fotografiert werden
will«, sagte sie und zog den Kopf ein. »Ich sehe bestimmt
schrecklich aus. Es ist total windig hier …«
»Ach, gehörst du etwa auch zu den Fotografinnen, die
austeilen, aber nicht einstecken können?«, zog Mitchell sie auf
und hob die Kamera vor seine Augen. »Komm schon. Nur ein
einziges Foto.«
»Bitte nicht!«, sagte Prue und versuchte dabei freundlich zu
klingen. Tatsächlich kämpfte sie gerade einen Anflug von Panik
nieder. Ihr Gesicht brannte, und da war auch ein Sausen in ihren
Ohren …
»Lächeln, Prue. Bitte«, drängte Mitchell und schaute durch
den Sucher.
»Nein!«, rief Prue und sprang von der Motorhaube. Ich halte
das nicht mehr länger aus, dachte sie. Das Leben meiner
Schwester hängt am seidenen Faden, und ich vergnüge mich
romantischerweise unter Sternen? Was bin ich nur für ein
Mensch? Ich muss sofort nach Hause!
»Es … es tut mir Leid«, stotterte sie, als sie Mitchells
erschreckten Gesichtsausdruck sah. Sie lehnte sich gegen den
Wagen und dachte fieberhaft über eine Ausrede nach. »Es ist …
ich hab momentan einfach so viel Stress wegen meines Jobs«,
erklärte sie. »Und als du die Kamera ins Spiel gebracht hast, da
kam einfach alles wieder hoch …«
»O Mann«, murmelte Mitchell, hängte sich den Fotoapparat
über die Schulter und kam auf sie zu. »Ich hab's richtig
verbockt, was? Da wollte ich dich eigentlich nur ein bisschen
von deiner Arbeit ablenken, und genau das Gegenteil ist dabei
herausgekommen.«
In einer liebevollen Umarmung drückte er sie an sich, und
Prue fühlte, wie sich aufgrund ihrer Lüge das schlechte
Gewissen einstellte. Andererseits, so dachte sie, habe ich ja
wirklich 'ne Menge Stress wegen meines Jobs, wenn auch nicht
in dem Sinne, den Mitchell vermutet.
»Bitte sag mir, was ich tun kann, damit du deine Probleme für
eine Weile vergisst«, sagte er.
»Es tut mir Leid«, erwiderte Prue. »Aber ich weiß, im
Moment kann keiner von uns beiden etwas daran ändern. Ich
hatte so einen tollen Abend, und ich denke, es ist das Beste,
wenn ich jetzt nach Hause gehe.«
»Natürlich«, sagte er. »Das verstehe ich.« Doch er bewegte
sich nicht vom Fleck. Seine warmen Hände ruhten auf ihrem
Nacken, und dann begann er plötzlich, ihre verspannten
Halsmuskeln zu massieren. Zu ihrer größten Verwunderung
fühlte Prue, wie ihr Widerstand nachließ und sie sich an ihn
schmiegte.
Mitchells Hände wanderten sanft ihre Wirbelsäule hinab und
streichelten die Haut im Rückenausschnitt ihres Kleides. Prue
seufzte still, und plötzlich bedeckten Mitchells Lippen die ihren
in einem sanften warmen Kuss. Sie schloss die Augen, während
sie ihre Arme um seinen Hals legte.
Seine Lippen liebkosten ihren Nacken, ihre Ohrläppchen, und
dann küsste er sie wieder auf den Mund, leidenschaftlicher,
fordernder diesmal. Und Prue ließ es geschehen. Mehr noch, auf
einmal wollte sie nicht mehr nach Hause, wollte hier mit
Mitchell unter den Sternen verweilen – für immer.
Ein wenig atemlos hielt er sie plötzlich von sich und berührte
sie zärtlich an der Nasenspitze. Dann sah er ihr tief in die
Augen. »O Prue«, flüsterte er, »ich bin im Himmel.«
Himmel … Olymp … Plötzlich hatte die Realität Prue wieder
eingeholt. Was ist nur los mit mir?, dachte sie erschrocken. Eben
noch war ich drauf und dran, nach Hause zu gehen und mich um
das Wichtigste überhaupt zu kümmern, und einen Kuss später
sind meine Schwestern schon wieder völlig vergessen!
»Ich … ich muss jetzt wirklich gehen«, sagte sie traurig.
Mitchell seufzte tief und nickte. Dann öffnete er die
Beifahrertür und half ihr beim Einsteigen.
Kurze Zeit später standen sie vor dem Halliwellschen
Anwesen.
»Mitchell«, sagte Prue, »es tut mir wirklich Leid, dass ich
heute so launisch und unentschlossen war.« Sie streichelte ihm
sanft über sein weiches braunes Haar. »Ich … ich hatte wirklich
einen wundervollen Abend mit dir. Aber es gibt da einfach ein
paar Dinge, um die ich mich jetzt dringend kümmern muss.«
»Tja, meinst du denn, dass in deinem überfüllten
Terminkalender noch Platz für ein weiteres Treffen mit mir drin
ist?«, fragte er und sah sie aus seinen großen grau-grünen Augen
bittend an.
»Aber natürlich«, erwiderte sie. »Ich meine … ich hoffe. Ich
meine … ich rufe dich an, okay?«
Wieder sah er ihr tief in die Augen, als ob er ihre Gedanken zu
lesen versuchte, und wieder einmal wünschte sie sich, weniger
vorsichtig in allem sein zu müssen. Rasch drückte sie ihm einen
Kuss auf die Lippen, öffnete die Tür und stieg aus dem Wagen.
Als sie den Weg zum Haus hinaufging, drehte sie sich noch
einmal um und winkte ihm zu.
Nachdem sich die Eingangstür hinter ihr geschlossen hatte,
lehnte sie sich erst einmal von innen dagegen und versuchte ihre
Gedanken zu ordnen. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund
schien es ihr genauso wichtig zu sein, die Beziehung mit
Mitchell voranzutreiben, wie sich um die Rettungsaktion für ihre
Schwester zu kümmern. Tadelnd schüttelte sie den Kopf.
Was ist nur mit mir los?, fragte sie sich wieder. Ich kenne
Mitchell doch kaum, und nichts kann vorrangiger sein, als
Phoebe wieder sicher bei uns zu Hause zu wissen.
»Muss am Chianti liegen«, murmelte sie und ging in die
Küche. Als sie eintrat, fiel ihr Blick auf eine sorgfältig verkorkte
Flasche, die einsatzbereit auf der Theke stand.
Nachdem sie einige Aspirin mit einem Glas Wasser
heruntergespült hatte, ging sie in ihr Zimmer. Sie stellte den
Wecker auf 4 Uhr 30 – eine halbe Stunde vor Sonnenaufgang –
und legte sich ins Bett. Kurz darauf schlief sie tief und fest.
Es war noch dunkel am nächsten Morgen, als Piper die Küche
betrat.
Sie trug bequeme Leggins und ein weiches Baumwollshirt.
Gerade zog sie sich ihre Laufschuhe an, als Prue hereinkam.
»Willst du da oben an den olympischen Spielen teilnehmen?«,
witzelte sie.
»Man kann nie wissen, was einen erwartet – in Anbetracht
unseres Ausflugs in den Hades, meine ich«, gab Piper zurück.
»Ich möchte lediglich bereit sein – für alle Fälle.«
»Guter Plan«, sagte Prue. »Ich für meinen Teil bin mehr als
bereit für einen Kaffee.«
»Hab gerade 'ne ganze Kanne gekocht«, sagte ihre Schwester
und wies auf die Maschine in der Ecke. »Immerhin hast du
einen ziemlich langen Tag des Wartens vor dir.«
»Ich bitte dich, das ist doch nichts im Vergleich zu dem, was
dir bevorsteht«, erwiderte Prue besorgt. »Bist du bereit?«
»Ja, und sehr aufgeregt«, gab Piper zu. »Mein Gott, der
Olymp! Nicht viele Sterbliche haben die Gelegenheit, diesen
sagenhaften Ort zu besuchen.«
»Dann mach dich bereit, diese Gelegenheit jetzt zu ergreifen«,
sagte Prue, als sie einen Blick aus dem Küchenfenster warf. »Ich
kann das erste Licht des Tages schon sehen. Ich würde sagen,
bis Sonnenaufgang sind es nur noch fünf Minuten.«
»Wow«, sagte Piper und huschte neben ihre Schwester. »Ich
weiß nicht, wann ich das letzte Mal vor Sonnenaufgang
aufgestanden bin.«
»Ich glaube, das war am Weihnachtsmorgen des Jahres 1979«,
sagte Prue.
Piper lachte. Dann drückte sie die Schwester fest an sich. »Wir
schaffen das«, flüsterte sie. »Mach dir keine Sorgen.«
»Ich weiß«, sagte Prue, während sie eine Träne wegblinzelte.
Dann reichte sie Piper den Trank und nahm den Spruch aus dem
Buch der Schatten zur Hand.
»Fertig?«
»Fertig«, antwortete Piper und holte tief Luft.
Und dann begann Prue zu lesen:
»›So nimm diese Reisende mit hinauf
zum Sitz der Götter, da die Sonne geht auf.
Über Wolken möge sie wandeln sogleich,
geleite sie sicher ins Himmelreiche‹«
Während Prue den Spruch anstimmte, entkorkte Piper die
Flasche mit dem Zaubertrank und leerte sie mit zwei tiefen
Schlucken.
Mit großen Augen musste Prue mit ansehen, wie die Gestalt
ihrer Schwester langsam verblasste. Piper lächelte und winkte
ihr zum Abschied noch einmal zu. Gleich darauf explodierte ihr
Schemen in einem Blitz aus Licht, der bis zur Decke reichte –
dann war sie verschwunden.
Benommen stolperte Prue auf die Veranda und sah in den
Himmel hinauf, der sich langsam rosa färbte.
»Viel Glück, Piper«, flüsterte sie.
Piper stöhnte vor Erleichterung auf, als sie sich wieder
materialisierte und ihren Körper fühlen konnte.
Als die Küche langsam um sie herum verblasste, war sie alles
andere als sicher gewesen, wie ihre Reise enden würde. Doch
als sich ihre Hände nun von geisterhaften Schemen wieder in
feste Materie zurückverwandelten, wusste sie – oder hoffte
zumindest –, dass sie auf dem Olymp angekommen war.
Mit klopfendem Herzen sah sie sich um und blinzelte
ungläubig.
Gut, das ist nicht das, was ich erwartet habe, dachte sie. Wo
sind sie Wolken, die geflügelten Himmelsboten, wo die
korinthischen Säulengänge …?
Tatsächlich stand – oder vielmehr schwebte – sie in einer Art
wirbelnder silberfarbener Blase, deren Inneres flimmerte wie
Quecksilber. Trotz seiner anorganischen Anmutung fühlte sich
dieser Kokon irgendwie warm und weich an und vermittelte ihr
ein Gefühl von Geborgenheit.
Piper sah nach unten und hielt den Atem an. Ihre praktischen
Leggings und Laufschuhe waren verschwunden und einem
eleganten Ganzkörperanzug gewichen, der dieselbe metallische
Farbe hatte wie ihre Umgebung. Sie machte einen Schritt
vorwärts, obwohl sie keinen Boden unter sich spürte. Trotzdem
fühlte sie, wie sie sich in der merkwürdigen Blase
vorwärtsbewegte.
»Gut, es existiert hier also so etwas wie Bewegung«, flüsterte
sie. »Die Frage ist nur, wohin ich mich bewege. Ich meine …
huch!«
Die Blase hatte sich unter ihr geöffnet, und nun rutschte sie in
einen langen engen Tunnel. Es gab nichts, an dem sie sich
festhalten konnte, und die Geschwindigkeit, mit der sie
dahinsauste, war geradezu atemberaubend.
»Aaaaaahhh!«, schrie sie, doch dann begann sie zu ihrem
eigenen Erstaunen plötzlich zu lachen. Die Sache machte einen
Heidenspaß! Nach dem ersten Schreck des freien Falls fühlte sie
sich, als ob sie auf einer warmen Wasserrutsche hinabschoss,
und insgeheim hoffte sie, dass diese aufregende Fahrt niemals
enden möge.
Natürlich wurde ihr Wunsch nicht erfüllt. Plötzlich fand sich
Piper in einem neuen Raum wieder. Doch im Gegensatz zu dem
quecksilbrigen Ballon hatte dieser Ort etwas Wattiges und
zugleich Fragiles, schien gar nicht wirklich existent zu sein. Sie
rappelte sich auf und sah sich um.
»Willkommen.«
Erschrocken fuhr sie herum, aber es war niemand da. Dieser
Raum, oder was immer es war, war vollkommen leer.
»Hallo?«, rief sie nervös.
»Du bist Piper Halliwell«, sagte die Stimme. Es war eine
weibliche, sanfte und sehr melodiöse Stimme.
»Ich glaube, ich drehe gleich durch«, murmelte Piper. Und das
nicht nur, weil die Stimme meinen Namen kennt, dachte sie
weiter, sondern weil es sich anfühlt, als ob sie aus meinem Kopf
herausspricht.
»Hab keine Angst«, sagte die Stimme.
Aus irgendeinem Grund war es ihr möglich, dieser
Aufforderung zu folgen. Mehr noch, sie entspannte sich und
fasste Vertrauen. Sie fühlte sich sicher.
»Also«, begann sie. »Ich bin hier, um …«
»… Zeus zu sehen«, beendete die Stimme Pipers Satz.
»Ja, genau«, rief sie aufgeregt aus. »Wissen Sie, ich habe …«
»… eine Schwester, die in großer Gefahr schwebt«, fuhr die
Stimme fort. »Du musst nicht weiterreden. Ich kann deine
Gedanken lesen.«
»Oh«, sagte Piper und fühlte wieder Panik in sich aufsteigen.
Nervös zerrte sie an dem engen Rollkragen ihres Körperanzugs.
»Du fühlst dich nicht wohl in deiner Kleidung«, stellte die
Stimme fest. »Doch keine Sorge. Du wirst sie nicht länger
benötigen. Du hast die erste Prüfung bestanden und dich aus
dem Vorraum befreit.«
»Prüfung?«, fragte Piper. »Was meinen Sie damit?« Dann
entfuhr ihr ein leiser Aufschrei der Überraschung, als der
silberne Körperanzug plötzlich verschwand und durch ein
langes, hautenges Gewand ersetzt wurde, gewoben aus dem
wohl wärmsten und geschmeidigsten Material, das sie je
gesehen hatte. Darüber hinaus schimmerte das Kleid in einem
wunderschönen überirdischen Blauton.
»Nicht jeder schafft es bis auf den Olymp«, sagte die Stimme.
»Das ist dir sicherlich bekannt.«
»Allerdings«, erwiderte Piper. »Aber wie habe ich diesen Test
bestanden? Ich hab doch gar nichts gemacht.«
»Mittels der Reinheit des Geistes«, antwortete die Stimme.
»Aufrichtigkeit und wahrhafte Bedrängnis sind der Schlüssel.
Wir haben dich auf diese Voraussetzungen hin geprüft.«
»Mich geprüft?«, fragte sie. »Das hört sich an wie aus einem
schlechten Arnold-Schwarzenegger-Film. Was kommt als
Nächstes?«
»Weitere Prüfungen«, sagte die Stimme. »Du wirst durch eine
Reihe von Portalen gehen müssen. Wenn du dich als würdig
erweist, wirst du vor Zeus treten dürfen.«
»Ach du liebe Güte«, sagte Piper beklommen.
»Hab keine Angst«, sagte die Stimme wieder. »So setze nun
deinen Weg fort.«
Piper holte tief Luft und tat, wie man ihr geheißen hatte: Sie
ging weiter durch den Raum. Dann schob sie sich kurzerhand
durch eine der Wände, die sich noch wärmer und weicher
anfühlte als der Stoff ihres wunderbaren Kleides. Das Nächste,
was ihr bewusst wurde, war, das sie in einem neuen Raum trieb,
der ganz mit Wasser gefüllt war. Angst überfiel sie, und sie warf
sich herum, um wieder dahin zurückzukehren, woher sie
gekommen war. Doch das war nicht mehr möglich. Sie öffnete
den Mund, um zu schreien, und stellte zu ihrer Überraschung
fest, dass sie atmen konnte. Sie atmete unter Wasser!
Mit einem zufriedenen Grinsen durchschwamm sie die
Kammer, nicht ohne ein paar Purzelbäume und andere
Kapriolen unter Wasser zu schlagen, bevor sie sich auch schon
im nächsten Raum wiederfand.
Die Wände dieser Kammer schimmerten opaleszent, und die
Luft war durchflutet von pastellfarbenen Strahlen. Piper seufzte
verzückt und ertappte sich dabei, wie sie sich diese wunderbaren
Effekte in ihrem Club vorstellte.
Ganz in der Nähe gähnte ein weiteres Portal. Beherzt trat Piper
hindurch und ließ sich in den dahinter wartenden Tunnel fallen.
Diese Schussfahrt war kürzer und weniger rasant als ihre erste,
doch die Ankunft war umso spektakulärer.
Denn am Fuß des Tunnels erwartete sie ein riesiger Mann.
Er war weit über zwei Meter groß und baumstark. Über seine
breiten Schultern fiel eine langes, blassgraues Gewand. Das
Haar hatte denselben wunderschönen Farbton wie seine Robe
und floss in weichen Wellen seinen Rücken hinab.
»Zeus?«, fragte Piper atemlos. Er muss es einfach sein, dachte
sie. Und auch er war nicht der, den sie erwartet hatte. Auf allen
Gemälden, bei allen Statuen war ihr der Göttervater als Furcht
einflößender, bärtiger Patriarch erschienen. Doch dieser Mann
verströmte sowohl überirdische Warmherzigkeit als auch
entsetzliche Strenge. Ihn umgab so unendlich viel mehr Macht,
als Piper je bei einem anderen Individuum gespürt hatte.
»Der bin ich«, sagte Zeus. »Komm mit mir.«
Nur einen Herzschlag später fand sich Piper in einem völlig
weißen Raum vor dem Gott sitzend wieder. Überall um sie
herum war Nebel. Durch die Schwaden konnte sie eine Gruppe
von Personen erkennen; es waren junge Männer und Frauen in
ähnlichen Gewändern wie dem ihren.
Sie selbst saß auf einem irgendwie formlosen und doch
unendlich bequemen Kissen – genau wie der Göttervater selbst.
»Erzähle«, sagte Zeus nur und legte eine mächtige Hand auf
sein Knie.
Kurz und taktvoll – immerhin war Nikos ein Neffe ihres
Gegenübers – berichtete Piper ihm alles, was sich zugetragen
hatte, von dem Moment an, da Nikos die Kamera in ihr Haus
gebracht hatte.
»Und wir befürchten nun, dass er unsere Schwester auf genau
dieselbe Weise zur Frau nehmen will, wie Hades es seinerzeit
mit Persephone gemacht hat«, schloss sie. »Ich bitte Sie, großer
Zeus, wir sind Hexen, die dazu auserkoren wurden, die
Unschuldigen zu beschützen. Ohne die Macht der Drei sind wir
nichts!«
»Du kennst unsere Geschichte?«, fragte der Göttervater ruhig.
»Ja.«
»Dann weißt du auch, was mit Persephone geschah?«
»Sie aß den Kern eines Granatapfels«, erwiderte Piper.
»Hat deine Schwester im Hades etwas zu sich genommen?«,
fragte Zeus.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Piper, die immer nervöser
wurde.
Zeus schlug sich mit der Hand auf sein Knie. »Hier ist deine
Aufgabe: ›Bei Dunkelheit erscheinen sie ungerufen, bei Licht
indes sind sie verloren, ohne geraubt zu sein.‹«
Piper fühlte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie kannte das Szenario
aus der griechischen Mythologie nur zu gut. Als Preis für einen
Gefallen, den ihm die Götter erweisen sollten, musste der
Sterbliche ein Rätsel lösen. War der Bittsteller im Stande, die
richtige Antwort zu geben, wurde ihm der Wunsch erfüllt. Und
jetzt war die Reihe an Piper. Das Schicksal ihrer gesamten
Familie hing nun allein von ihrem Scharfsinn ab.
Sie schloss die Augen und grübelte über die sibyllinischen
Worte nach. Bei Dunkelheit kommen sie …, überlegte sie, …
bei Licht verschwinden sie. Dunkel … Nacht … Himmel …
Plötzlich schlug sie die Augen auf und rief: »Die Sterne! Damit
sind die Sterne am Nachthimmel gemeint, richtig?«
Nachdem sie mit ihrer Antwort herausgeplatzt war, saß Zeus
einige Zeit nur still da und schaute sie an. Schließlich klatschte
er in die Hände.
»Deine Schwester sei frei«, verkündete er und erhob sich.
»Doch nur, sofern nicht das geringste Krümchen Speise ihre
Lippen berührt hat.«
»Oh, vielen Dank!«, rief Piper aus. Aufgeregt sprang sie auf.
»Werden Sie sie auch aus dem Hades befreien, oder …«
»O nein«, sagte Zeus und erhob seine Hände. »Niemals würde
ich in das Reich meines Bruders vordringen. Du musst selbst
gehen, sie finden und mit nach Hause nehmen. Alles, was ich
tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass die Kreaturen der Unterwelt
ihren Fortgang nicht behindern werden.«
»Oh …«, sagte Piper enttäuscht, und sie fragte sich plötzlich,
warum sie überhaupt die Mühen auf sich genommen hatte, Zeus
zu konsultieren. Doch dann riss sie sich zusammen, da sie
wusste, dass die Bewohner des Olymp Gedanken lesen konnten.
Doch zu spät.
»Meine Liebe, ich weiß, dass dies nicht die Lösung all deiner
Probleme ist«, sagte Zeus und sah sie durchdringend an. »Doch
sei versichert, ohne meine Verfügung würde deine Schwester
den Hades niemals verlassen können. Wenn du sie findest, noch
bevor Nikos sie zu seiner Frau gemacht und noch bevor sie auch
nur das Geringste zu sich genommen hat, wird sie bei ihrer
Reise aus der Unterwelt unter dem Schutz meiner Macht
stehen.«
»Ich verstehe«, sagte Piper demütig und verschränkte ihre
Finger. »Und ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken.«
»Auf Wiedersehen«, sagte Zeus abrupt und wandte sich um.
»Darf ich noch eine Frage stellen?«, sagte Piper befangen.
»Was ist mit unseren Models? Stehen sie auch unter Ihrem
Schutz?«
»Für sie«, sagte der Göttervater, »seid ihr ganz allein
zuständig. Ich fühle mich allein für die Macht der Drei
verantwortlich.«
Er klatschte in die Hände, und sofort traten einige Geschöpfe
aus seinem Gefolge vor und geleiteten Piper aus dem Raum.
Noch bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, wurde sie
zu einem Portal eskortiert.
»Nun, ich denke, das ist wieder mal so ein Fall von ›Nimm-
was-du-kriegen-kannst‹«, murmelte sie, als sie durch einen
strahlend hellen Tunnel zurück ins Diesseits flog. »Halte durch,
Phoebe. Die Rettung naht!«
9
N
achdem Piper verschwunden war, sah sich Prue
einigermaßen hilflos in der Küche um.
Sie war immer die Macherin in der Familie gewesen,
diejenige, die die Dinge ins Rollen brachte und vorantrieb. Doch
nun war sie dazu verdonnert, untätig auszuharren und die
Stellung zu halten, während ihre Schwestern an jenseitigen
Orten die großen Schlachten ausfochten.
Noch nicht einmal Hausarbeit gab es zu erledigen – Piper
hatte, nachdem sie den Trank gemixt hatte, noch gleich ein
Großreinemachen angeschlossen. Die Küche blitzte vor
Sauberkeit.
Prue ging in den Wohnraum und lugte hinter den Samtvorhang
ins Sonnenzimmer. Sie schnaubte, als sie die schlafenden
Aushilfsmodels sah – rotwangig und schön wie immer.
»Wie machen die das bloß?«, wunderte sie sich, als sie in den
Spiegel sah und ihr eigenes aufgedunsenes Gesicht, die müden
Augen und ihre ruinierte Frisur betrachtete. »Man sollte doch
meinen, dass ein Vierundzwanzig-Stunden-Schlaf nicht ohne
Konsequenzen bleiben kann.«
Schließlich war sie es leid, die Models anzustarren,
insbesondere das Trugbild dieses unheimlichen Nikos. Sie
wollte den Vorhang gerade wieder schließen, als ihr Blick auf
die antike Kamera fiel, die noch immer an ihrem alten Platz
stand.
»Hmmm«, murmelte sie, »eigentlich könnte ich ja mal
nachschauen, was aus der Filmplatte geworden ist.« Sie konnte
sich kaum noch vorstellen, wie wichtig das Cover ihr gestern
noch gewesen war.
Eine kleine Entführung in der Familie, und schon erscheinen
die Dinge in einem ganz neuen Licht, dachte sie nicht ohne
Bitternis. Sie schnappte sich den Metallbehälter, in den sie die
Negativplatte gelegt hatte, und ging in ihre Dunkelkammer im
Keller. Immerhin habe ich jetzt etwas zu tun, dachte sie.
Im schwachen Licht der roten Lampe bereitete sie die
Chemikalien vor und erstellte dann eine Papiervergrößerung von
der zerbrechlichen Glasplatte. Schließlich legte sie das
belichtete Bild in die Entwicklerlösung.
Während die Konturen des Motivs langsam hervortraten, hielt
Prue den Atem an. Als der Kontrast zufriedenstellend war, legte
sie das Foto ins Fixierbad und gab noch ein wenig Sepiatönung
in die letzte Wässerungsschale, um den gewünschten
altertümlichen Farbton zu erzielen.
Schließlich hielt sie das fertig entwickelte Foto ins Licht und
betrachtete es.
Sofort fiel ihr Blick auf Nikos.
»Jetzt zeigt er uns sein wahres Gesicht«, murmelte sie
grimmig, als sie daran dachte, wie ekelhaft dieser Junge sie
hinters Licht geführt hatte.
Doch je länger sie den gelockten Adonis, der Besitz ergreifend
seinen Arm um die Schulter ihrer Schwester gelegt hatte,
betrachtete, desto mehr wurde ihr klar, dass nichts darauf
schließen ließ, dass er der Prinz der Unterwelt war. Tatsächlich
sah er richtig süß aus.
Sie hielt das Bild in einiger Entfernung von sich, um es ganz
auf sich wirken zu lassen. Sie mochte es kaum glauben, aber das
Foto war perfekt. Jedes der acht Models, einschließlich Piper,
sah überirdisch schön aus. Das goldene Licht, das das
Sonnenzimmer durchflutet hatte, verlieh dem Ganzen eine
warme Atmosphäre, ja, die Komposition war ausgewogen und
mutete sehr zeitgenössisch an.
»Das ist ja unglaublich«, flüsterte Prue. »Meine erste und
einzige Aufnahme lässt nichts mehr zu wünschen übrig!
Vielleicht ist diese Kamera auch noch in anderer Hinsicht
verzaubert?«
Kopfschüttelnd stieg sie wieder die Stufen zur Eingangshalle
hinauf. Ihre Arbeit in der Dunkelkammer war beendet, aber
vielleicht gab ja noch etwas anderes für sie zu tun. Nachdem sie
einen weiteren Blick auf die Models geworfen hatte, die nach
wie vor gesund und wunderschön darnieder lagen, und das Haus
nach mythologischen Ungeheuern abgesucht hatte, sah sie auf
ihre Uhr.
»Ach du liebe Güte! Erst neun?«, jammerte sie. »Der
Sonnenuntergang ist noch Stunden entfernt! Hoffentlich bin ich
bis dahin nicht durchgedreht!«
»Ich werde durchdrehen, wenn ich noch eine Nacht hier
verbringen muss«, murmelte Phoebe.
Zu Tode gelangweilt lag sie auf einer opulenten Couch in ihrer
fensterlosen Kammer und haderte mit dem Schicksal.
Den ganzen Morgen über waren Schlangenmädchen zu ihr
gekommen und hatten Tabletts mit Essen gebracht. Doch
Phoebe hatte sie jedes Mal aus dem Zimmer gescheucht. Die
Letzte war gerade erst vor wenigen Minuten gegangen.
»Lass mich in Ruhe!«, hatte sie die Dienerin angeschrien, ihr
das Tablett mit der Lammkeule und dem Kartoffelbrei aus der
Hand gerissen und das Ganze in den Vorraum geschleudert.
Das Mädchen hatte ihre toten Augen zusammengekniffen, sie
böse angezischt und dann den Raum verlassen.
Wütend presste Phoebe nun die Hände auf ihren knurrenden
Magen. Sie war völlig ausgehungert, doch die Vorstellung,
etwas von dem zu essen, das diese züngelnden Vipern berührt
hatten, ekelte sie zutiefst.
»O Prue, o Piper«, flüsterte sie. »Wo seid ihr?«
Knirsch!
Phoebe wirbelte herum, als sich der Felsblock vor ihrer Tür
erneut beiseite schob, und sprang auf die Füße. Wie machen die
das bloß, fragte sie sich frustriert? Gerade wollte sie eine weitere
Schimpftirade in Richtung Tür anstimmen, als es ihr die Sprache
verschlug.
Auf der Schwelle zu ihrer Kammer stand eine junge Frau in
ihrem Alter, und sie hatte rein gar nichts Reptilienhaftes an sich.
Tatsächlich trug sie ein ähnliches Kleid wie Phoebe selbst und
einen Korb unter dem Arm. Darin lagen frisches Obst, Käse, ein
Teller mit Kaviar, ein Baguette und verschiedene Pasteten – ein
typisch französisches Picknick.
»Wer bist du?«, fragte Phoebe.
Die junge Frau kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. »Hi«,
sagte sie, während sich die Tür wieder hinter ihr schloss. »Ich
heiße Jessica.«
Phoebe erwiderte den Handschlag nicht. Stattdessen setzte sie
sich und starrte die Besucherin verwirrt an. »Bist du auch eine
Gefangene?«, fragte sie schließlich.
Jessica warf den Kopf in den Nacken und lachte so heftig, dass
ihre schwarzen Locken hin und her flogen. »Mitnichten!«, sagte
sie und ließ sich neben Phoebe auf der Couch nieder. Dann griff
sie in den Korb und legte die mitgebrachten Köstlichkeiten auf
einen kleinen Tisch, der vor ihnen stand. »Ich lebe freiwillig im
Hades.«
»Ach, wirklich?«, sagte Phoebe. Dann erschien ein bestürzter
Ausdruck auf ihrem Gesicht, und sie hob eine Hand vor den
Mund. »Bist du etwa … bist du tot?«
Wieder lachte Jessica herzlich und schüttelte den Kopf.
»Gut«, sagte Phoebe misstrauisch und verschränkte die Arme
vor ihrer Brust. »Fassen wir also zusammen: Du bist weder hier,
weil du mit einem Obolus beerdigt wurdest, noch, weil man dich
entführt hat. Verbringst du also deinen Urlaub hier, weil kein
Hotelzimmer mehr in der Karibik frei war, oder was?«
»Warum so despektierlich, Phoebe?«, sagte Jessica und
vermied damit eine Antwort auf die Frage. »Freu dich, dass du
hier sein darfst, und genieße die Zeit.«
»Das ist mir zu hoch«, sagte Phoebe. Da fiel ihr Blick auf den
Ring, den Jessica trug und der genauso aussah wie der, den
Nikos ihr geschenkt hatte. Doch statt mit Rubinen war er über
und über mit Brillanten geschmückt.
»Moment mal«, platzte Phoebe heraus. »Hast du etwa …«
»… in die Sippe eingeheiratet?«, beendete Jessica kichernd
Phoebes Frage. »So ist es. Ich bin die Frau von Nikos' älterem
Bruder Philip. Er ist genauso umwerfend wie Nikos. Warte nur,
bis du ihn kennen lernst.«
»Wann? An meinem Hochzeitstag, wenn er mich mit Reis
bewirft?«, fragte Phoebe bissig. Erstaunt sah sie, wie Jessica
begeistert nickte.
»Wir freuen uns alle so sehr, dass du hier bist«, sagte die junge
Braut. »Ich und meine Schwägerinnen, meine ich. Wir sind elf
Frauen, und Nikos, der jüngste Bruder, ist der einzige Sohn des
Hades, der noch nicht verheiratet ist.«
»O mein Gott«, presste Phoebe hervor. »Du willst also damit
sagen, dass man euch auch entführt hat, um die Ehefrauen dieser
… Männer zu werden?«
»Entführt? Was für ein hässliches Wort«, sagte Jessica. Sie
verteilte etwas Kaviar auf einem Cracker und verzehrte ihn mit
Genuss. »Mmmm. Möchtest du auch etwas?«
Sie reichte Phoebe einen Löffel mit glänzendem Kaviar, doch
diese schüttelte nur den Kopf. Ich muss vorsichtig sein, dachte
sie. Diese Frau hat eindeutig eine Gehirnwäsche hinter sich. Ich
will auf keinen Fall dem gleichen Fluch zum Opfer fallen.
»Bitte erzähle mir, was mit dir geschehen ist«, sagte sie
stattdessen.
»Ich bin nun schon ein Jahr, ein wundervolles Jahr, mit Philip
verheiratet …«, begann Jessica.
»Nein, das meine ich nicht«, unterbrach Phoebe. »Ich möchte
wissen, wie es dazu kam, dass du seine Frau wurdest?«
»Ich habe mein Schicksal angenommen«, sagte Jessica
verträumt. »Phoebe, du hast ja keine Ahnung … du glaubst ja
gar nicht, wie toll das alles werden wird.«
»Toll?«, fragte Phoebe ungläubig.
»Wenn du es annimmst«, sagte Jessica und naschte von der
Pastete. »Das Leben hier ist eine nie enden wollende Party.«
»Was meinst du mit ›es‹?«, fragte Phoebe ungeduldig.
»Also, diese Pastete ist einfach grandios«, schwärmte Jessica
mit verzücktem Gesichtsausdruck. »Die musst du einfach mal
probieren. Hast du schon mal Pastete gegessen, Phoebe?«
»Herrgott, ich bitte dich«, sagte Phoebe gereizt. »Meine
Schwester ist Köchin. Ich habe in meinem Leben schon
Unmengen von Pastete gegessen.«
»Ich dachte mir, vermutlich magst du das Essen nicht
besonders, das dir diese Dienerinnen gebracht haben«, sagte
Jessica und lehnte sich mit einem verschwörerischen Lächeln zu
Phoebe hinüber. »Unter uns, diese Weiber jagen auch mir einen
Schauer über den Rücken. Deswegen habe ich dieses kleine
Picknick für uns vorbereitet.«
Sie nahm sich eine saftige Erdbeere, tauchte sie in eine
Silberschale mit geschlagener Sahne und biss ein Stück davon
ab. »Mmmmm«, sagte sie wieder. »Wie köstlich! Die musst du
einfach mal probieren.«
»Ich glaube, du gehst jetzt besser«, sagte Phoebe kalt.
Bestürzt schlug Jessica die Augen nieder. Sie wirkte verletzt.
»Ich dachte, wir könnten Freundinnen werden«, sagte sie. »Es
würde dir den Wechsel sehr erleichtern, weißt du.«
»Es wird keinen Wechsel geben, Jessica!«, schrie Phoebe.
»Und jetzt verschwinde von hier!«
Jessica starrte Phoebe einige Sekunden lang an, dann warf sie
schnaubend die Reste ihrer Erdbeere über die Schulter und stand
auf. »Wie du willst«, sagte sie und ging in Richtung Tür.
Knirschend glitt der Fels zur Seite. »Aber du solltest etwas
essen«, sagte sie und drehte sich noch einmal zu ihr um. »Du
hast ein paar anstrengende Tage vor dir. Du weißt schon, die
ganzen Hochzeitsvorbereitungen und so …«
»Raus!«, schrie Phoebe so laut, dass Jessica erschreckt über
die Schwelle floh. Der Fels rollte wieder an seinen Platz und
versiegelte ihr Gefängnis.
»Uff!«, machte sie und ließ sich wieder auf die Couch fallen.
»Ein Schwätzchen unter Frauen mit der lieben Verwandtschaft.
Was kommt als Nächstes?«
Zum tausendsten Mal versuchte sie, sich des riesigen
Verlobungsrings zu entledigen, doch er steckte an ihrem Finger
wie angewachsen. Frustriert stieß sie einen leisen Schrei aus.
Was fand diese Jessica nur daran, im Hades zu leben? Als
geraubte Braut, die hier nichts zu tun hatte, als den ganzen Tag
faul herumzuliegen und sich mit Delikatessen voll zu stopfen?
Delikatessen, die noch immer auf dem kleinen Tisch lagen und
die Phoebe zu verhöhnen schienen …
Wieder zog sich ihr Magen vor Hunger schmerzhaft
zusammen. Tatsächlich konnte sie kaum ihren Blick von den
Leckereien abwenden. Bestimmt schmeckten sie so gut, wie sie
aussahen … Auch glaubte sie Jessica, dass die abstoßenden
Schlangenfrauen diese Lebensmittel nicht berührt hatten. Gierig
befeuchtete sie ihre trockenen Lippen. Dann griff sie nach dem
Löffel mit dem Kaviar …
Doch als sie ihn berührte, wurde sie von einer ihrer Visionen
heimgesucht, hässliche Bilder, die blitzlichtartig durch ihren
Kopf zuckten: Sie sah Jessica schreiend und jammernd gegen
die Tür einer Kammer trommeln. Und dann saß die junge Frau
bleich und matt auf einem riesigen Pfostenbett und wurde von
jemandem gefüttert, den Phoebe nicht erkennen konnte. Um ihre
eingefallenen Augen lagen dunkle Schatten, und ihr Blick war
leer. Dann schob sich ein anderes Bild vor Phoebes geistiges
Auge: Jessica und eine andere Frau mit dunklen Locken tanzten
ausgelassen in einem Salon. Eine Gruppe äußerst attraktiver
Männer mit stechend blauen Augen stand am Band und sah
ihnen gelangweilt zu …
Mit einem Keuchen kehrte Phoebe wieder in die Realität
zurück; klappernd fiel der Kaviarlöffel auf den kalten
Steinboden.
Wie immer erklärte sich auch diese Vorhersehung nicht von
selbst. Doch sie hatte Phoebe eindeutig gezeigt, dass Jessica in
dem Moment eine Wandlung vollzogen hatte, als sie etwas
gegessen hatte. Die wundersame Wandlung von einer
verzweifelten Gefangenen in ein oberflächliches, willenloses
Party-Mäuschen.
In Phoebes Hirn arbeitete es fieberhaft, als sie den mit Speisen
überladenen Tisch anstarrte. Seit der Stunde ihrer Ankunft war
sie permanent genötigt worden, etwas zu essen. Der Zug der
Dienerinnen, die mit überladenen Tabletts in ihre Kammer
geschwebt waren, wollte nicht abreißen. Und nun auch noch
diese Vision. Phoebe war sicher: Das Essen im Hades war
gefährlich.
Vor Hunger und Ärger außer sich, fegte sie die Silberschale
mit der Schlagsahne vom Tisch. Sie flog in hohem Bogen durch
den Raum und bekleckerte die Wände mit weißen Flocken,
bevor sie klappernd zu Boden fiel. Verzweifelt warf sich Phoebe
auf ihr Bett und barg den Kopf unter dem Kissen.
»Das ist wirklich mein schlimmster Albtraum«, flüsterte sie.
»Nie hätte ich gedacht, dass ich, Phoebe Halliwell, die
unersättlichste Schwester der Familie, mal in den Hungerstreik
treten muss!«
Ihr Rückweg führte Piper wiederum durch eine Reihe von
Kammern – durch den opaleszenten Raum mit den
wunderschönen Lichteffekten, die wassergefüllte Halle und
schließlich in das wattige, warme Nest. Dann wurde sie aufwärts
durch den Wildwassertunnel gezogen, um schließlich wieder in
der quecksilbrigen Empfangshalle zu landen.
Auch trug sie wieder den silbernen Körperanzug, was
bedeutete, dass ihre Uhr verschwunden war, genauso wie die
anderen Sachen, in denen sie hier angekommen war. So
vermochte sie nicht festzustellen, wie lange sie schon auf dem
Olymp weilte, als sie in die merkwürdige Blase zurückkehrte.
Abwartend sah sie sich um. Der Sitz der Götter ist magischer
und jenseitiger, als ich es mir vorgestellt habe, dachte sie. Kaum
zu fassen, dass ich ihn sehen durfte.
Dann runzelte sie die Stirn. »Ich kann nur hoffen«, flüsterte
sie, »dass sich dieser Besuch auch gelohnt hat und dass wir
Phoebe rechtzeitig finden … Hey, was ist das?«
Plötzlich verdunkelte sich das gleißende Innere der Blase, und
der Boden begann orange zu glühen.
»Das muss der Sonnenuntergang sein«, stieß Piper aufgeregt
hervor. Sie mochte kaum glauben, dass der Tag so schnell
vergangen war. Ich muss in eine Art Zeitschleife geraten sein,
als ich den Olymp betreten habe, überlegte sie, während sie die
Augen schloss und sich auf die Rückreise zur Erde vorbereitete.
Jeden Moment, dachte sie, wird Prue den Spruch aufsagen und
mich wieder nach Hause holen.
Gemächlich trottete Prue die Treppe von Halliwell Manor
hinunter und warf einen Blick auf die alte Standuhr in der Halle.
Sechs Uhr.
Demnach hatte sie noch eine ganze Stunde Zeit bis
Sonnenuntergang.
Sie seufzte. Tatsächlich hatte sie bereits ihre gesamten
Negative archiviert, ein ausgiebiges Bad genommen und sogar
einen weiteren Dämon aus dem Hades bekämpft: eine andere
Gorgo diesmal. Schon überlegte sie, ob sie nicht fünf Monate im
Voraus damit anfangen sollte, Weihnachtsgrüße zu schreiben,
als es klingelte.
»Man ist ja für jede Abwechslung dankbar«, murmelte sie, als
sie zur Tür ging. Schnell zupfte sie ihr altes Tank-Top und die
bequemen Shorts in Form und öffnete.
»Mitchell!«, rief sie überrascht.
»Hi, Prue«, sagte er und überreichte ihr einen großen Strauß
pinkfarbene Tulpen. »Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich
dich so einfach überfalle … aber ich … ich musste dich
unbedingt wieder sehen. Ich hab nicht aufgehört, an dich zu
denken, seit ich dich gestern nach Hause gebracht habe. Ich
weiß, du bist sehr beschäftigt, aber ich dachte, vielleicht kann
ich dich ja zu einer kleinen Pause überreden?«
»Ähem … also«, stotterte sie und fuhr sich hektisch durch die
Frisur. Nicht nur, dass Mitchell sie zu einem äußerst
ungünstigen Zeitpunkt aufgesucht hatte, darüber hinaus sah sie
auch noch ziemlich schlampig aus.
»Lass mich wenigstens reinkommen und die hier«, er deutete
auf die Blumen, »ins Wasser stellen, okay?«
»Ja, natürlich«, erwiderte Prue zögernd. »Tut mir Leid. Komm
doch herein.«
Mit einem schnellem Blick ins Wohnzimmer überprüfte sie
die korrekte Position des Vorhangs und geleitete ihren Besucher
in die Küche. Dort suchte und fand sie eine Vase und füllte sie
mit Wasser.
»Hast du ein paar Pennys?«, fragte Mitchell.
»Was?«
»Pennys«, wiederholte er. »Wenn du sie mit ins
Blumenwasser legst, gehen die Tulpen besser auf.«
»Nein, ich werde dich jetzt nicht fragen, wo du diesen Tipp
herhast«, lachte Prue und griff in einen Tontopf, der auf der
Küchentheke stand und in dem die Schwestern ihr Kleingeld
deponierten.
»Das ist eine Berufskrankheit«, erklärte Mitchell. »Mit jeder
Story, die man recherchiert, schnappt man mehr und mehr
Trivialitäten des Alltags auf. Die Sache mit den Pennys zum
Beispiel habe ich vom Chelsea-Blumenmarkt in New York.«
»Sicher, dass dir das nicht eine verflossene Freundin geflüstert
hat?«, fragte Prue, als sie einige Geldstücke in die Vase gab.
»Ganz sicher«, sagte er. »Komm, gib mir auch einen!«
Als Prue ihm einen Penny reichen wollte, berührten sich ihre
Finger, und es war wie ein Elektroschock.
»Wow«, entfuhr es Prue, dann presste sie ihre Lippen
aufeinander. Hoffentlich hat er das nicht gehört, dachte sie.
»Ich weiß«, sagte er, während sein Grinsen verblasste und sein
Blick weich wurde. »Ich habe es auch gespürt.«
»Mitchell«, begann Prue. »Ich kann …«
Er unterbrach sie, indem er ihr einen Finger auf die Lippen
legte. Prue fühlte, wie ein weiteres elektrisierendes Prickeln
durch ihren Körper ging. Und plötzlich küsste sie ihn.
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände und erwiderte den Kuss
leidenschaftlich. Seufzend lehnte sie sich gegen die
Küchentheke und legte ihre Arme um seinen Hals. Dann schloss
sie langsam die Augen. Seine Küsse waren einfach
überwältigend, ließen sie eintauchen in ein Meer aus Wärme
und Leidenschaft, ließen sie einfach alles vergessen.
Das orangefarbene Glühen schien seine größtmögliche
Intensität erreicht zu haben.
Piper war wie hypnotisiert und konnte kaum fassen, wie schön
der Sonnenuntergang von hier aus war. Die leuchtenden
Rottöne, die zu ihr in die quecksilbrige Hülle drangen, boten ein
so faszinierendes Schauspiel, dass sie sich fast in dieser
traumhaften Atmosphäre verlor. Doch plötzlich griff die Realität
wieder nach ihr und riss sie jäh aus diesem Rausch. Gleichzeitig
verblassten die Farben, und Piper fühlte, wie die Panik ihr
langsam die Luft abschnürte.
»Prue«, murmelte sie. »Wo bist du?« Das orangefarbene Licht
wurde von Minute zu Minute schwächer.
»O nein!«, rief sie und wirbelte hektisch herum. Kein Portal
weit und breit. Kein Entkommen aus dieser Kammer, die ihr mit
jedem Herzschlag, der verging, enger vorkam.
Sie schloss die Augen. Atme, beschwor sie sich. Atme
regelmäßig und tief. Prue ist das Pflichtgefühl in Person. Und
sie ist meine große Schwester. Sie wird mich nicht im Stich
lassen. Immerhin ist der Sonnenuntergang ja noch nicht vorbei
…
Erneut griff die Angst mit klammen Fingern nach ihr. Ihr Puls
beschleunigte sich. Sie hielt die Augen geschlossen und faltete
die Hände vor ihrer Brust in der Hoffnung, dass ihr Körper nun
immer leichter wurde, um schließlich ganz von hier zu
verschwinden. Um sich schließlich in der guten alten
Halliwellschen Küche wieder zu materialisieren.
Wieder holte sie tief Luft und dankte Phoebe dafür, dass sie
ihr diese Yoga-Technik beigebracht hatte.
Doch irgendwo in ihrem Kopf flüsterte ihr eine schwache
Stimme zu: Vergiss den ganzen Yoga-Kram, Piper! Irgendwas
läuft hier gerade schrecklich schief!
Sie schlug die Augen auf und erschrak. Ihre schlimmsten
Befürchtungen hatten sich bewahrheitet: Die Kammer war
schwarz, und der Sonnenuntergang war schon seit Minuten
vorbei!
Was bedeutete, dass sie einen weiteren langen Tag auf dem
Olymp festsaß.
»Prue!«, rief Piper in die bedrückende Stille hinein. Dann
begann sie zu schluchzen. »Wo bist du?«
Prue zog Mitchell näher zu sich heran und legte ihre Arme um
seine schlanke Taille. Sie küssten sich noch immer
leidenschaftlich. Ihre Augen waren fest geschlossen und
sämtliche Gedanken aus ihrem Kopf vertrieben. Sie war ganz
erfüllt von der Wärme seiner wundervollen Küsse und
Berührungen …
Plötzlich ging ein Ruck durch ihren Körper – ihre Sinne hatten
etwas vernommen, das nicht hierher gehörte. Es klang wie eine
Stimme, ein angstvoller Ruf, der aus den Tiefen ihres Geistes in
ihr Bewusstsein vordrang. Prue schlug die Augen auf, und was
sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Hastig stieß sie Mitchell von sich. »O mein Gott!«
»Was ist los?«, fragte er bestürzt. »Alles okay mit dir?«
Prue stolperte zum Küchenfenster und zeigte wortlos hinaus.
Alarmiert wirbelte Mitchell herum, doch dann breitete sich
Verständnislosigkeit auf seinem Gesicht aus. »Was? Ich sehe
nichts.«
Und genau dies war das Problem.
Sie war so sehr mit Mitchell beschäftigt gewesen, dass sie ihre
beiden Schwestern völlig vergessen und den Sonnenuntergang
verpasst hatte. Was bedeutete, dass Piper auf dem Olymp und
Phoebe im Hades festsaß und sie die beiden einen weiteren
langen, grausamen Tag einem ungewissen Schicksal ausgeliefert
hatte. Und möglicherweise hatte sie mit ihrer
Pflichtvergessenheit alles ruiniert.
Prue war so entsetzt angesichts dessen, was sie getan hatte,
dass sie fast hyperventilierte. Panisch schob sie Mitchell beiseite
und raste in der Küche umher, wobei sie sich gelegentlich an der
Theke festhielt und tief durchatmete.
Denk nach!, beschwor sie sich. Es muss einen Weg geben, das
Ruder noch herumzureißen. Konzentrier dich!
»Prue?«, ließ sich Mitchell hinter ihr vernehmen. »Was ist
denn los?«
Doch sie schüttelte nur den Kopf und wedelte mit den Händen,
ohne sich auch nur nach ihm umzudrehen. »Ich muss … mich
konzentrieren«, presste sie hervor. »Du musst gehen, Mitchell.
Es tut mir Leid, aber du musst auf der Stelle gehen.«
»Das glaube ich nicht, Prue«, erwiderte er.
Für einem Moment dachte sie, nicht richtig gehört zu haben.
Mitchells sanfte, liebevolle Stimme hatte auf einmal so etwas
Kaltes, Abweisendes, Furcht einflößendes …
»Außerdem«, fuhr er fort, »ist es zu spät. Du kannst deine
Schwestern jetzt nicht mehr retten.«
Sie wirbelte herum und schrie vor Entsetzen laut auf.
Mitchells wunderschönes Gesicht hatte sich verändert. Seine
Haut hatte eine kranke grünliche Farbe angenommen. Seine
schwärzlichen Lippen waren grausam zurückgezogen, um Platz
für die enormen Fangzähne zu schaffen, von denen ein zäher
gelber Speichel tropfte. Doch auch sein Körper transformierte:
Die Schultern wurden breiter, und seine schwellende Brust
sprengte die Nähte seines grauen T-Shirts. Und er wuchs und
wuchs vor ihr in die Höhe.
Und dann ragte vor Prue ein Biest auf, das schrecklicher war
als alle Dämonen, die bisher in Halliwell Manor eingefallen
waren. Das Ding, das einmal Mitchell gewesen war, beugte sich
zu ihr hinab und packte sie mit eisenharten Klauen an der
Schulter. Sein heißer, ätzender Atem versengte ihr fast das
Gesicht.
Prue wand sich vor Angst und Ekel und versuchte sich aus
dem Griff des Monsters zu befreien. Tränen der Verzweiflung
liefen ihr über die Wangen, während sich die grausame
Wahrheit langsam einen Weg in ihr Bewusstsein bahnte. Die
Wahrheit, die Mitchell, oder das, was er wirklich war, nun für
sie aussprach:
»Ohne die Macht der Drei wirst du es niemals schaffen,
Phoebe zu retten«, grunzte er. »Euer Bund ist zerstört. Und das
alles wegen eines Kusses. Dich abzulenken war wirklich
lächerlich einfach. Nikos, mein Gebieter, wird sehr zufrieden
sein.«
10
»
N
ein!«, schrie Prue.
Das Monster, das noch vor Minuten der anbetungswürdige
Mitchell und der beste Küsser unter der Sonne gewesen war,
warf seinen hässlichen grünen Kopf in den Nacken und lachte.
»O ja!«, rief er mit schwerer gutturaler Stimme. Seine Klauen
umfassten ihre Schultern noch fester. »Du hast deine Schwestern
verraten, Prue.«
»Nicht … möglich«, schluchzte Prue. »Wie …«
»Das weißt du sehr genau«, höhnte das Monster.
Und das stimmte.
Sie erinnerte sich nur zu gut an das erste Treffen mit Mitchell
in der Bibliothek. Er war so charmant und zuvorkommend
gewesen, als er ihr … das Buch gegeben hatte. Das Buch mit
den viktorianischen Porträts hatte sie geradewegs in den Hades
befördert!
Sie fröstelte, als sie erkannte, mit welcher List und Tücke sich
Mitchell an sie herangemacht hatte. So auch, als er ihr
angeboten hatte, bei dem Shooting zu assistieren. Nikos hatte
ihm gewiss befohlen, in der Nähe zu sein, falls irgendetwas
nicht nach Plan verlief mit der verfluchten Kamera, die der Prinz
der Unterwelt ins Haus gebracht hatte.
Und plötzlich fiel ihr noch etwas ein.
»Du hast auch versucht, mich noch mal in den Hades zu
schicken!«, stieß sie hervor. »Und zwar, als du mich gestern
unbedingt fotografieren wolltest. Darum hast du mich so
bedrängt!«
»Sehr richtig«, sagte die Kreatur. »Wie kommt es, dass du auf
einmal so scharfsinnig bist? Wie dem auch sei, als du partout
nicht wolltest, musste ich eben hierher kommen und einen
anderen Weg finden, dich zur Kooperation zu bewegen. Ich
hoffe, es hat dir Spaß gemacht … Prue.«
Er verzog seine hässliche Fratze zu einem Grinsen und leckte
sich über seine gesprungenen schwarzen Lippen.
In diesem Moment sah Prue rot, und sie schrie vor Zorn laut
auf. Und obwohl Mitchell ihre Arme festhielt, schaffte sie es
irgendwie, ihre Hände zu bewegen und ihre telekinetischen
Kräfte zu mobilisieren. Ihre unbändige Wut half ihr dabei, und
so wurde die Kreatur plötzlich in hohem Bogen durch die Küche
geschleudert. Sie landete direkt auf dem Frühstückstisch, der
krachend unter dem enormen Gewicht zusammenbrach.
Das machte Prue nur noch rasender. Sie war es Leid, dauernd
Möbelstücke ersetzen zu müssen, die irgendwelche
marodierenden Dämonen zertrümmert hatten!
»Argh!«, kreischte sie und wedelte mit dem Arm in Richtung
ihres ehemaligen Freundes. Das Monster wurde wieder
zurückgeschleudert und machte diesmal Kleinholz aus dem
Gewürzregal. Prue schüttelte den Kopf und schoss vor, um dem
Mitchell-Monster ihren Absatz in sein hässliches Maul zu
rammen.
»Aaaaaahhh!«, bellte die Kreatur, schwang eine riesige Faust
und erwischte Prue direkt am Wangenknochen. Kleine Wellen
aus Schmerz breiteten sich in ihrem Gesicht aus, während sie
rückwärts zu Boden taumelte. Gerade rechtzeitig kam sie wieder
auf die Füße, als Mitchell seinen mit Stacheln bewehrten
Schwanz so schnell über dem Kopf schwang, dass die Luft
sirrte.
Plötzlich schnellte das Ding vor wie eine Froschzunge und
erwischte Prue an den Knöcheln, als sie sich gerade mit einem
Sprung in Sicherheit bringen wollte. Hart krachte sie gegen die
Küchentheke.
Das war der Moment, in dem ihr klar wurde, wie schmerzlich
sie die Hilfe ihrer Schwestern vermisste. Mit Pipers Fähigkeit,
die Zeit anzuhalten, Phoebes ausgefeilter Kung-Fu-Technik –
ganz zu schweigen von der Macht der Drei – konnten es die
Schwestern mit nahezu jedem Gegner aufnehmen. Doch im
Moment zweifelte Prue ernsthaft daran, ob sie gegen den
monströsen Mitchell eine Chance hatte.
Mit zusammengebissenen Zähnen umfasste sie ihren vor
Schmerz pochenden Knöchel und kroch hinter der Theke in
Deckung.
»Hast wohl Schiss?«, höhnte Mitchell knurrend, als er auf sie
zustampfte. Prue konnte den grässlichen Schwanz wieder durch
die Luft peitschen hören. Sie sammelte ihre Kräfte, stand auf
und stieß einen Schrei der Vergeltung aus. Dann bewegte sie
ihre Hand in Richtung des hin und her peitschenden Schwanzes.
Die Kraft der Telekinese erfasste ihn sofort, und er wickelte sich
fest um Mitchells schuppigen Hals.
In einer Mischung aus Überraschung und Atemnot japste das
Monster laut auf. Prue wiederholte die Aktion, und die Schlinge
zog sich enger. Panisch schlug das Monster mit seinen
rasiermesserscharfen Klauen nach seinem eigenen Schwanz, und
fast musste Prue lachen angesichts seiner schmerzverzerrten und
entsetzten Grimasse. Um seinen Hals zu retten, müsste er sich
den eigenen Schwanz abreißen, stellte sie hoch zufrieden fest.
»Und? Wer hat jetzt Schiss … Mitchell?«, schrie sie ihm
entgegen und bewegte wieder ihre Zauberhand. Diesmal zog der
Schwanz seinen Besitzer durch die Küchentür. Das Monster
stolperte und wollte nach ihr ausholen, doch Prue lachte nur und
versetzte ihm einen weiteren Energieschlag. Mitchell wurde ins
Wohnzimmer gestoßen. Inzwischen hatte seine Gesichtsfarbe
von kränklich Grün zu kränklich Grau gewechselt. Sein Atem
ging stoßweise, und es war offensichtlich, dass es ihn große
Kraft kostete, bei Bewusstsein zu bleiben. Gut!, befand Prue und
versetzte ihm einen weiteren Telekinesehieb.
Dann preschte sie an dem wankenden Dämon vorbei, zog den
Vorhang zum Sonnenzimmer beiseite und beförderte ihn mit
aller Energie in die Mitte des Raums. Hier ließ Prue endlich von
ihm ab. Schwer atmend stand Nikos' Handlanger im
Sonnenzimmer; matt hing sein abstoßender Kopf auf die
eingesunkene grüne Brust herab.
»Armer Mitchell«, kicherte Prue, und seine gelben Augen
flackerten böse auf. Rasch duckte sie sich unter das Einstelltuch
der verfluchten Kamera und richtete sie auf das Monster aus.
»Sag mal ›Hades‹«, rief sie und drückte auf den Auslöser.
Mit letzter Kraft warf Mitchell, das Monster, seinen Kopf in
den Nacken und brüllte, dass die Wände erzitterten. Als sich die
Blende wieder schloss, schien es, als ob seine Beine sich
verflüssigten, und dann brach er unter seinem eigenen Gewicht
zusammen. Er fiel direkt auf das Trugbild von Nikos, das
daraufhin in einer Wolke aus Rauch verpuffte. Nur eine
Sekunde später war auch der teuflische Mitchell verschwunden.
Schnell überzeugte sich Prue, dass er mit seinem Fall keines
der herumliegenden Models verletzt hatte, dann atmete sie
erleichtert auf.
Der Dämon war aus dem Weg geräumt, doch damit fingen die
Probleme erst an. Denn nun musste sie herausfinden, wie sie
ihren schrecklichen Fehler wieder rückgängig machen konnte.
Sie ging zurück ins Wohnzimmer und tigerte auf und ab.
Okay, dachte sie, es muss einen Weg geben. Doch wie? Sie
wusste, das Buch der Schatten konnte hier nicht helfen.
Immerhin hatte es ihnen eine Möglichkeit aufgezeigt, Piper auf
den Olymp zu schicken, und sie hatte die einfachste Sache der
Welt, den Spruch bei Sonnenuntergang aufzusagen, in den Sand
gesetzt!
Wie konnte das nur passieren?, fragte sie sich zum
wiederholten Male. Den ganzen Tag hab ich hier einzig und
allein zu dem Zweck untätig herumgehangen, um diese einfache
Aufgabe zu erledigen. Doch als der entscheidende Moment kam,
hab ich alles verbockt!
Sie hielt inne, als sie begriff, dass Mitchells Küsse schuld
daran gewesen sein mussten, dass er sie auf diese Weise mit
irgendeinem Zauber belegt hatte, der sie sämtliche
Verantwortung hatte vergessen lassen. Nur so war zu erklären,
dass sie jedes Mal, wenn sich ihre Lippen nur berührten, in eine
Art Rausch versetzt wurde und die Welt um sie herum versank.
Doch das ist verdammt noch mal keine Entschuldigung!,
schalt sie sich kopfschüttelnd. Sie hatte gehörigen Bockmist
gebaut, und das war etwas, das Prue Halliwell niemals tat.
Schon gar nicht, wenn so viel davon abhing. Sie musste
unbedingt eine Lösung für das Problem finden!
Doch verzweifelt musste sie feststellen, dass ihr Kopf total
leer war. Sie war mental wie blockiert angesichts dieses
Dilemmas. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte, und sie
war ganz allein.
Langsam ließ sie sich auf einen Stuhl in der Halle nieder und
starrte stumpf auf die alte Standuhr, deren Pendel eintönig hin-
und herschwang und ihr so das unerbittliche Verstreichen der
Sekunden anzeigte.
Und da hatte sie plötzlich eine Eingebung.
Rasch sprang sie auf, eilte hinüber zur Uhr, umarmte sie kurz
und rannte dann die Stufen zum Speicher hinauf.
»Natürlich!«, murmelte sie. »Wir haben ja noch den Zeitreise-
Spruch von Phoebe, den wir benutzt haben, um Hunderte von
Jahren in die Vergangenheit zurückzugehen – warum also nicht
auch eine Stunde?«
Sie öffnete den Schrank, in dem Phoebe die Zutaten für
Tränke, einige Flaschen, ein Kompendium aller Dämonen, die
die Schwestern bekämpft hatten, sowie sämtliche selbst
verfasste Sprüche aufbewahrte. Zu Prues Erstaunen lagen dort
auch einige Plüschtiere aus Phoebes Kindheit. Sie seufzte und
wühlte weiter in dem Durcheinander, bis sie auf einige Stapel
Papiere und sogar ein paar Servietten stieß, auf denen Phoebe
ihre Zaubersprüche niedergeschrieben hatte.
»Also gut«, murmelte Prue. »Was haben wir denn hier: einen
Liebeszauber … eine Beschwörungsformel, um Tote
herbeizurufen … einen weiteren Liebeszauber … noch einen
Liebeszauber – Herrgott, Phoebe!«
Sie rollte mit den Augen und setzte ihre Suche mit fliegenden
Fingern fort. Gerade wollte sie eine weitere uninteressante Notiz
auf den Boden werfen, als sie bemerkte, dass auf der Rückseite
des Zettels etwas notiert war. Sie drehte das Papier um und
seufzte erleichtert auf.
»Zeitreise in die Vergangenheit«, las sie und lachte leise auf.
»Oh, und hier ist auch der Spruch für die Zeitreise in die
Zukunft. Hoffentlich verwechsle ich die beiden am Ende nicht!«
Rasch warf sie einen Blick auf die Zeilen und verstaute den
Zettel in der Tasche ihrer Shorts. Dann holte sie tief Luft und
begann zu singen:
»›Verleih mir die Kraft, zu lösen das Band,
vom Leben geknüpft mit ewiger Hand,
und führ mich zurück in jene Zeit,
wo es hat seinen Anfang – ich bin bereit.‹«
Nachdem sie die Worte dreimal aufgesagt hatte, öffnete sie die
Augen und sah auf die Uhr. Die Anzeige hatte sich nicht
verändert! Irritiert rannte sie zu dem kleinen Fenster im hinteren
Teil des Speichers und starrte hinaus. Draußen war es noch
immer stockdunkel. Doch wie konnte das sein? Früher hatte
dieser Spruch von Phoebe doch auch funktioniert …
Doch noch bevor sie sich diese Frage gestellt hatte, wusste sie
die Antwort: Es fehlte die Macht der Drei. Prue lachte trocken
auf. Welch eine Ironie des Schicksals: Sie konnte ihre
Schwestern nicht retten ohne ihre Schwestern!
Erschöpft setzte sie sich auf den Boden, schlug verzweifelt die
Hände zusammen und sah zur Decke. Sie konnte ihr Elend kaum
fassen und kämpfte gegen die Tränen an.
»O Piper«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Es tut mir so
Leid!«
Matt ließ sie ihre Hände wieder sinken; da berührten ihre
Finger etwas Weiches, Flauschiges. Sie wandte den Kopf, und
da fiel ihr Blick auf einen arg mitgenommenen Plüschhund.
Prue musste lächeln. Sie kannte das alte Ding nur zu gut –
Phoebe hatte es überall mit hin geschleppt, als sie noch sehr
klein gewesen war. Sie hatte ihn Charles genannt.
»Moment mal!«, dachte sie und legte einen Finger an ihr Kinn.
Zwar waren Piper und Phoebe nicht hier, aber sie hatte Charles.
Was, wenn sie persönliche Dinge, zu denen ihre Schwestern
eine sehr enge Beziehung aufgebaut hatten, zur Hilfe nahm?
Vielleicht beherbergten diese Gegenstände ja ein wenig vom
Geist ihrer Besitzer – und ihrer Kräfte?
Sofort eilte Prue die Treppe hinunter in Pipers Zimmer. Dort
angekommen sah sie sich schnell um. Welcher Gegenstand hier
bedeutet Piper am meisten? Was ist ihr kostbarster Besitz?
Plötzlich schnippte sie mit den Fingern – natürlich, Großmutters
Halskette!
Sie öffnete das Schmuckkästchen ihrer Schwester, suchte und
fand das wertvolle Amulett der Weißen Magie in einer
Samtschatulle und betrachtete es einige Sekunden lang – es
zeigte Sonne und Mond.
Und Phoebes Lieblingsgegenstand? Immerhin hatte sie den
Plüschhund inmitten ihrer wertvollsten Sprüche und Tränke
aufbewahrt und ihn in den ersten Lebensjahren von morgens bis
abends geküsst und geherzt. Prue fand, dass Charles für ihre
Zwecke einfach perfekt war.
Mit der Halskette rannte Prue wieder auf den Dachboden
hinauf und legte das wertvolle Stück an. Dann nahm sie Charles
auf den Arm und drückte ihn fest an sich. Schließlich schloss sie
die Augen und intonierte den Zeitreisespruch – einmal, zweimal,
dreimal …
Plötzlich verspürte sie einen leichten Windhauch, der sich in
ihrem Haar verfing und dann genauso schnell wieder
verschwand. Sie eilte zum Fenster und sah hinaus.
Die letzten Sonnenstrahlen fielen matt durch das farbige Glas.
Mit klopfendem Herzen sah sie auf ihre Armbanduhr: Es war
18.45 Uhr. Ja! Noch fünf Minuten bis Sonnenuntergang!
Sie schluchzte fast vor Erleichterung, als sie die Treppe
hinunterpolterte und sich den Olymp-Spruch von der
Küchentheke schnappte. Dann flitzte sie hinaus auf die Terrasse
hinter dem Haus, um das nun folgende Naturschauspiel genau
im Blick zu haben.
Das Herz hämmerte ihr in der Brust, als sie in die Sonne
blinzelte, die soeben den Horizont berührte und sich dabei in
einen wunderschönen orangefarbenen Ball verwandelte. Sie
wartete noch eine ganze Minute, bis sie fast zur Hälfte
verschwunden war.
Jetzt!
Mit zitternder Stimme sagte Prue den Spruch auf:
»So lasst nun die Reisende treten ein
in die unsrige Welt, da die Nacht bricht herein.
Geleitet sie sicher zurück an den Ort,
den sie verließ, als sie ging hinfort.«
Sie hielt den Atem an und wartete.
Plötzlich verspürte sie den dringenden Wunsch, sich
umzudrehen.
Als sie durch die offene Küchentür lugte, sah sie, wie sich
Piper an genau der gleichen Stelle materialisierte, an der sie bei
Sonnenaufgang verschwunden war – in Leggins und
Laufschuhen. Ja, sie winkte ihr sogar auf dieselbe Weise zu, wie
sie es am Morgen getan hatte.
Mit einem fast irren Grinsen stürmte Prue in die Küche
zurück.
Als Piper wieder vollständig im Hier und Jetzt war, blickte sie
sich in der ziemlich demolierten Küche um und schüttelte den
Kopf. Dann sah sie an sich selbst herab und lächelte. Schließlich
fiel ihr Blick auf Prue.
»Piper!«, rief diese glücklich. »Ich bin ja so froh, dich zu
sehen!«
»Ach, wirklich?«, fragte Piper schnippisch. »Wo zum Teufel
warst du? Der Sonnenuntergang kam und ging, ohne dass
irgendwas passiert wäre. Und dann, na ja, dann ging die Sonne
noch mal unter …«
»Ich musste einen Zeitreisespruch anwenden, nachdem ich den
ersten Sonnenuntergang verpasst habe«, erklärte Prue und
drückte ihre Schwester schnell an sich.
»Was war denn so wichtig, dass ich dafür fast im Olymp
festgehangen hätte?«, wollte Piper wissen und sah ihre
Schwester anklagend an. »Und warum trägst du eigentlich
meine Halskette, wenn ich fragen darf?«
Prue wusste, dass Piper total sauer auf sie war, aber sie konnte
trotzdem nur glücklich lachen.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie. »Ich erzähl sie dir
später. Doch sag mal, was hast du denn Aufregendes von Zeus
zu berichten?«
»Nun«, begann Piper und lehnte sich gegen die Küchentheke,
»auf den Olymp zu reisen war das überwältigendste Erlebnis,
das ich jemals hatte. Diese merkwürdigen Kammern, die mit
silbrigen Strudeln und wunderschönem Licht gefüllt sind … oh,
und man kann dort sogar unter Wasser atmen!«
»Und? Und?«, fragte Prue ungeduldig. »Hast du den
Göttervater getroffen?«
»Das habe ich«, sagte Piper. »Und … er hat … na ja, es ist
nicht gerade die optimalste Lösung für unser Problem, aber …«
»Was hat er denn nun gesagt?«
»Er sagte, er würde Phoebe vor den Dämonen des Hades und
auf ihrem Weg aus der Unterwelt beschützen«, berichtete Piper.
»Und die schlechte Nachricht?«, fragte ihre Schwester
argwöhnisch.
»Tja, er kann sie nicht einfach mit einem Fingerschnippen zu
uns zurückbringen«, seufzte Piper. »Wir müssen selbst dorthin
und sie holen.«
Für einen Moment zog sich Prues Magen zusammen, als sie
sich an die nervenaufreibende, widerwärtige Reise durch die
Unterwelt erinnerte, und ihr Herz wurde schwer. Doch nur eine
Sekunde später war sie schon wieder gefasst und bereit für das
große Abenteuer. Zumal sie keine andere Wahl hatten, wie ihr
grausam klar wurde.
»Kamera!«, meinte sie nur. »Lass uns gehen.«
»Du sagst es«, sagte Piper und folgte ihrer Schwester ins
Sonnenzimmer. Wie schon zuvor positionierten sie sich vor dem
Objektiv, während Prue den Selbstauslöser fest umklammert
hielt.
»Fast hätte ich's vergessen«, sagte sie und nickte in Richtung
der schlafenden Models. »Was ist mit unseren lieben Freunden
hier? Stehen sie auch unter Zeus' Schutz?«
»Ähem, also …«, murmelte Piper und knetete ihre Hände.
»Piper? Was?«
»Für die, so sagte er, sind wir selbst verantwortlich.«
»Großartig«, nörgelte Prue. »Einfach großartig. Also müssen
wir lediglich Phoebe aus Nikos' Klauen befreien, rasch die
Models finden, die überall in seinem riesigen Palast sein
können, und dann die ganze Mannschaft wieder sicher zur Erde
zurückbringen, richtig?«
»So ist es«, erwiderte Piper leise und sah Prue mit großen
Augen an. »Meinst du, wir schaffen das?«
»Wir haben keine andere Wahl«, sagte sie und grinste
freudlos. Dann begann sie den Spruch herunterzuleiern, der sie
in den Hades bringen würde. Gerade als sie den Selbstauslöser
betätigen wollte, schrie Piper: »Halt!«
»Was ist denn?«, fragte Prue.
Piper beugte sich zu ihr hinüber und nahm ihr die Halskette
der Großmutter ab. Dann sprang sie auf, sah sich fieberhaft um
und schnappte sich schließlich einen alten, aber nicht besonders
kostbaren Brieföffner und ein Tintenfass aus Perlmutt vom
Schreibtisch aus dem Wohnzimmer.
»Das Fährgeld für Charon«, erklärte sie, schob den Brieföffner
unter das Gummiband ihrer Leggins und übergab Prue das
Tintenfässchen. »Wir können ihn genauso gut mit etwas
entlohnen, an dem nicht unser Herz hängt.«
»Stimmt«, sagte Prue und verstaute den kleinen Behälter in
ihrer Shorts. Dann ergriff sie Pipers Hand und drückte auf den
Knopf des Selbstauslösers.
11
I
m
Hades schien
die Zeit dahinzuschleichen. Phoebe hatte
keine Ahnung, wie lange sie schon in ihrem kalten Gefängnis
festsaß – es gab hier weder Uhren noch Fenster. Und wer wusste
schon, ob die Zeit hier überhaupt normal verging, ob es im
Hades überhaupt so etwas wie Morgen, Mittag und Abend gab?
Was sie wusste, war, dass dieser Ort in einem stetigen
Zwielicht lag, einem dämmrigen, grauen Halbdunkel, wie es
auch in jenem Schreckenswald allgegenwärtig gewesen war.
Die Vorstellung, auch nur einen weiteren Tag hier verbringen
zu müssen, stürzte sie in tiefe Verzweiflung. Die Vorstellung,
gar ein ganzes Leben hier zubringen zu müssen, war etwas, an
das Phoebe noch nicht einmal zu denken wagte.
Wimmernd und zusammengekrümmt lag sie auf ihrem Bett
und presste die Hände auf ihren Magen, der vor lauter Hunger
schon ganz eingesunken war. Dann schüttelte sie frustriert den
Kopf, sodass die verhassten schwarzen Locken hin und her
flogen. Hier gab es noch nicht einmal etwas Abwechslung, keine
Bücher, keine Bilder, nichts außer Essen.
Sie wälzte sich von der Matratze, schlich zur Tür und presste
ihr Ohr an den kühlen Stein, der nach wie vor den Eingang
blockierte. Vielleicht konnte sie ja ein paar Fetzen Unterhaltung
aufschnappen.
Doch es war nichts zu hören. Entmutigt ließ sie sich auf dem
Boden nieder und versuchte wieder einmal erfolglos, sich den
Verlobungsring vom Finger zu ziehen. Ihre Gedanken
wanderten zu den Models, und sie fragte sich, wo sie wohl
waren. Hatten die jungen Leute nicht ihren Zweck erfüllt,
nachdem Nikos sie und ihre Schwestern in den Hades gelockt
hatte? Hatte er sie womöglich davongejagt und dazu verdammt,
für immer im Hades umherzuwandern? Oder hatte Nikos sie zu
seinem persönlichen Vergnügen behalten? Was hatte Chloe
wohl dazu gesagt, als man ihr die Haare schwarz gefärbt und in
diese lächerlichen Locken gedreht hatte?
Ich frage mich, ob sie hier unten Evian haben, dachte Phoebe
und musste kichern. Dann rief sie sich wieder zu Raison – das
alles war ganz und gar nicht witzig, und sie allein trug die
Schuld daran. Sie hatte die Studenten angeheuert und Nikos mit
nach Hause gebracht. Und nun waren fünf Seelen womöglich
für immer verloren.
Aber vielleicht, so überlegte sie, hat er seine Köder ja laufen
lassen, nachdem er bekommen hat, was er wollte. Vielleicht
hängen die fünf ja gerade im Sonnenzimmer herum, essen
Pipers Canapés und tratschen über die neue Herbstmode.
Doch irgendwie wollte sie nicht so recht an diese Möglichkeit
glauben. Sie kannte den dämonischen Nikos nicht sehr gut, aber
gut genug, um zu wissen, dass Mitgefühl nicht zu seinen
herausragenden Eigenschaften zählte.
Und gerade als Phoebe sich wieder einer ihrer zahllosen
Selbstmitleidattacken hingeben wollte, vernahm sie das
inzwischen vertraute Kratzen des Felsens, der beiseite rollte.
Reglos und mucksmäuschenstill blieb sie am Boden sitzen – und
tatsächlich, eines der Schlangenmädchen schwebte in ihre
Kammer und auf den kleinen Beistelltisch zu, ohne sich im
Raum umzusehen. Es war offensichtlich, dass die Dienerin nicht
bemerkt hatte, dass ihre Gefangene direkt neben dem Eingang
hockte. Phoebe warf einen Blick auf ihr Bett: Die dicke Decke
darauf war derart zusammengeknüllt, dass man einen
schlafenden Körper darunter vermuten konnte.
Diese Erkenntnis traf Phoebe wie ein Blitz.
Die Dienerin hatte ihr immer noch den Rücken zugewandt und
räumte nun die Reste von Jessicas Picknick auf ihr Tablett.
Phoebe hielt den Atem an.
Dann kroch sie auf allen vieren langsam aus der Kammer.
Als Prue und Piper ihre Körper wieder spüren konnten, sahen
sie sich erstaunt um.
Grelles Sonnenlicht blendete sie, und sie schaukelten sanft hin
und her. Auch war ein monotones Geräusch von Wasser, das
gegen Holz schlug, zu vernehmen.
»Oh«, sagte Piper nur.
»Wo zum Henker sind wir?«, fragte Prue. »Das ist doch nicht
der Hades, wie wir ihn kennen und hassen.«
»Wir sind in einem Boot!«, platzte Piper heraus.
»Danke, dass du mich darauf hinweist!«, sagte Prue bissig. Sie
verdrehte die Augen und sah ihre Schwester tadelnd an.
Das schlichte Boot war etwa drei Meter lang und hatte außer
den Bänken, auf denen sie saßen, und einem Paar primitiver
Paddel nichts zu bieten. Um sie herum war nichts als tiefblaues
Wasser.
In einiger Entfernung konnte Prue eine bergige Insel mit
tropischer Vegetation ausmachen, die einen wunderschönen
Sandstrand besaß. Das Boot trieb direkt auf eine traumhafte
Lagune mit klarem hellblauem Wasser zu.
»Also, das ist definitiv nicht der Styx«, murmelte Piper.
»Kannst du dich vielleicht erinnern, ob es so was wie eine
Hintertür zum Hades gibt?«, fragte Prue.
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Piper besorgt.
»Ich denke, wir können genauso gut bis an den Strand
rudern«, meinte Prue. »Hoffentlich finden wir an Land
irgendeinen Weg in die Unterwelt.«
Jede der Schwestern griff sich ein Paddel, und dann ruderten
sie gemächlich auf die Insel zu. Und obwohl sie weiß Gott nicht
zwecks eines Sommerurlaubs hier waren, hatten die Wärme der
Sonne und das gleichmäßige Plätschern der Wellen etwas
überaus Beruhigendes. Piper ertappte sich sogar dabei, dass sie
den Kopf in den Himmel reckte und die Sonnenstrahlen auf
ihrem Gesicht genoss.
Aufmerksam ließ Prue ihren Blick über die Küste vor ihnen
wandern auf der Suche nach Gebäuden oder etwas anderem, das
ihnen verraten konnte, wo sie waren. Doch außer den tropischen
Bäumen und dem malerischen Strand war nichts zu sehen. Oder
doch?
»Piper«, rief Prue und zeigte mit dem Finger auf den
Küstenstreifen, der die Lagune einschloss, »hast du das auch
gesehen?«
»Was denn?«, fragte sie und starrte angestrengt in die gleiche
Richtung.
»Ich dachte, ich hätte dort eine Bewegung gesehen, aber
wahrscheinlich … Ja, sieh doch! Da ist es wieder. Dort auf den
Felsen hat etwas in der Sonne geblitzt!«
»Wirklich?«, fragte Piper nervös. »Was kann das nur sein?«
»Nach den jüngsten Ereignissen kann das so ziemlich alles
sein«, sagte Prue grimmig. »Und es ist uns
höchstwahrscheinlich nicht freundlich gesinnt.«
»Sollen wir um die Insel herumrundern und woanders an Land
gehen?«, fragte Piper.
Prue biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf. »Lass
uns noch ein bisschen näher heranrudern«, meinte sie. »Diese
Lagune scheint der einfachste Zugang auf die Insel zu sein.
Ansonsten müssten wir nämlich bergsteigen …«
»Stimmt, dazu haben wir im Moment wirklich nicht die Zeit«,
sagte Piper und ruderte schneller.
»Mach dich bereit, sie einzufrieren, wenn nötig«, flüsterte
Prue ihrer Schwester zu, als sie auf den Strand zuhielten. Die
Felsen kamen in Sicht, aber ansonsten war weit und breit nichts
zu sehen.
»Was immer du gesehen hast, es scheint sich zu verstecken«,
zischte Piper.
»Vielleicht hab ich es mir ja nur eingebildet«, sagte Prue
hoffnungsvoll.
In der gleichen Sekunde entdeckte Piper ein Augenpaar, das
über den Rand eines der Felsen lugte. »Das glaube ich nicht,
Prue«, flüsterte sie und deutete mit dem Kopf in die betreffende
Richtung. »Da beobachtet uns jemand.«
Prue sah unauffällig hin, und tatsächlich, hinter dem Felsen
war etwas, das aussah wie … ein Frauenkopf. Je näher sie
kamen, umso deutlicher war er zu erkennen. Und seine
Besitzerin war wunderschön mit ihrem kupferfarbenen Haar und
den großen grünen Augen mit den langen Wimpern.
Plötzlich sprang das Wesen auf den Felsen, als sei dies die
einfachste Übung der Welt.
»Wow!«, japste Piper.
»Hat sie … Flügel?«, fragte Prue leise.
»Flügel, Federn und Füße mit Schwimmhäuten«, flüsterte
Piper zurück. »Die ganze Palette.«
Fassungslos starrten sie auf die Kreatur mit dem Kopf einer
Frau und dem Körper einer Möwe. Ihre Federn waren strahlend
weiß, die Füße hellrot. Als das Wesen über den Felsen hüpfte,
konnte Piper sehen, dass sein wacher Blick und die ruckenden
Kopfbewegungen eindeutig vogelhaft waren. Tatsächlich war
dieses Mischwesen weitaus weniger grotesk als die grauenvolle
Harpyie in ihrem Wohnzimmer und doch um nichts Vertrauen
erweckender.
»Kopf einer Frau, Körper eines Vogels«, murmelte Piper.
»Lebt am Meer … ich weiß, ich kenne diese Kreatur, aber ich
komme gerade nicht drauf …« Während sie im Geiste fieberhaft
ihr mythologisches Wissen durchforstete, kamen zwei weitere
Vogelfrauen in Sicht, die mit einigen kräftigen Flügelschlägen
neben ihrer Anführerin landeten. Ihr Haar war sandfarben, und
sie sahen die Schwestern aus schwarzen Knopfaugen an.
»Gut, sie greifen nicht an«, wisperte Prue. »Das ist doch ein
gutes Zeichen, oder?«
»Ich denke schon«, sagte Piper, doch sie fühlte sich nicht wohl
bei dem Gedanken. Etwas an diesen Wesen flößte ihr Angst ein.
Angestrengt presste sie ihre Hand an die Stirn und versuchte
sich zu erinnern, mit wem oder was sie es hier zu tun hatten.
In diesem Moment öffnete die Anführerin den Mund.
Und da fiel es Piper wie Schuppen von den Augen.
Hastig ergriff sie den Arm ihrer Schwester. »Ich weiß, was sie
sind«, rief sie. »Das sind Sirenen! Höre nicht auf ihr Lie…«
Noch bevor sie den Satz zu Ende sprechen konnte, stimmte die
Kreatur plötzlich einen hellen, unglaublich klaren Ton an. Er
traf Piper mitten ins Herz, und sie spürte, wie eine Welle aus
Glückseligkeit sie durchströmte. Es war der schönste Klang, den
sie je vernommen hatte, auch wenn Worte oder so etwas wie
eine Melodie fehlten. Er umfing sie wie die wärmste Umarmung
der Welt, die zärtlichste Berührung, die sie je gespürt hatte. Und
plötzlich waren ihre Angst, die Warnung an Prue, die Sorge um
Phoebe wie weggeblasen.
Wie in Trance wandte sie sich zu ihrer Schwester um. Der
verzückte Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet Piper, dass diese
ebenso in den Bann der Musik gezogen war wie sie.
Da kam Bewegung in die beiden anderen Vogelfrauen: Die
eine zog eine Lyra unter ihrem Flügel hervor, die andere eine
Flöte, die sie nun an ihre Lippen hob. Und die Töne, die sie
diesen Instrumenten entlockten, waren von solch einer
Schönheit und Harmonie, dass Piper es kaum ertragen konnte.
Und doch wollte sie, nein, sie musste einfach mehr davon hören.
Rasch ruderten sie die wenigen verbliebenen Meter zum
Strand und zogen das Boot an Land. Dann gingen sie langsam
auf die Sirenen zu. Das Lied wurde lauter und
wundersamerweise auch immer lieblicher …
Wie automatisch erklommen sie den Felsen und setzten sich
nieder, wobei sie die Vogelfrauen unverwandt anblickten.
Ich möchte, dass dieses Lied nie endet, dachte Piper. Ich
möchte es mein ganzes Leben lang hören.
Das Gefühl der Glückseligkeit war so überwältigend, dass sie
die Augen schloss und sich hinlegte. Als sie noch einmal träge
blinzelte, sah sie, dass Prue dasselbe getan hatte. Piper fühlte
sich plötzlich sehr leicht, fast schwerelos. Alle Spannung war
aus ihrem Körper gewichen, alle Mühsal von ihr abgefallen,
nichts war zurückgeblieben als purer Seelenfrieden.
Auf Zehenspitzen schlich Phoebe durch eine Reihe von
steinernen Kammern und Hallen.
Direkt nachdem sie aus ihrem Zimmer geflohen war, hatte sie
sich verlaufen. Was ihr nur recht war. Sie hoffte, ihr düsteres
Gefängnis nie wieder sehen zu müssen. Alles, was sie wollte,
war, die Models zu finden und Nikos Horror-Refugium auf
schnellstem Wege durch den Notausgang zu verlassen.
Sie bog um eine Ecke nach der anderen und ließ Raum um
Raum hinter sich. Plötzlich stellte sie fest, dass der Boden leicht
abschüssig geworden war und mit jedem Schritt weiter abfiel.
Dann und wann erreichte sie einen Torbogen und lugte
vorsichtig um die Ecke. Doch dahinter lagen nur leere
Schlafkammern, Speisesäle und Wohnzimmer. Der Palast war
wie ausgestorben. Wo sind sie bloß alle?, fragte sie sich. Und
wie soll ich jemals einen Weg hier herausfinden?
Sie kämpfte die aufkeimende Panik nieder und konzentrierte
sich wieder auf die Suche nach den Models. Wo würde Nikos
sie verstecken? Hmmmmmm …
Ihr Blick fiel auf den abschüssigen Steinboden. Natürlich!
Dieser Weg muss in ein unterirdisches Verlies führen,
schlussfolgerte sie. »Wobei dieser ganze Ort ein einziges Verlies
zu sein scheint«, murmelte sie verbittert.
Vorsichtig sah sie sich um, ob nicht eine der reptilienhaften
Dienerinnen oder gar ein Mitglied der göttlichen Familie in der
Nähe war. Dann raffte sie den Rock ihres schweren Samtkleides
zusammen und rannte los.
Tiefer und tiefer lief sie dem unterirdischen Kerker entgegen.
Sie hetzte um zahllose Ecken, wobei sie auf dem glatten
Steinuntergrund immer wieder ins Schleudern geriet. Doch sie
vermochte nicht gegen die Sorge und Angst in ihrem Innern
anzukämpfen, also rannte sie noch ein bisschen schneller.
Schließlich wurde der abschüssige Boden wieder ebener, und
Phoebe erreichte eine große Halle. Sie war durch Fackeln, die an
den Wänden befestigt waren, schwach erleuchtet. Zwischen den
Halterungen konnte Phoebe Felsblöcke erkennen, die in
bekannter Weise als Türen fungierten und offensichtlich den
Zugang zu Zellen versperrten, genau wie bei ihrer Kammer.
»Scheinbar haben die, die nicht in die göttliche Familie
einheiraten werden, die dritte Klasse zugewiesen bekommen«,
murmelte Phoebe. Wieder meldete sich ihr schlechtes Gewissen,
als sie sich fragte, ob die Models wohl in diesen Zellen
untergebracht waren.
»Chloe?«, flüsterte sie und sah sich furchtsam um.
Andererseits, dachte sie und straffte ihre Schultern, lebt Nikos'
Sippe wahrscheinlich in einem ganz anderen Teil dieser
unterirdischen Anlage. Wer außer seinen Gefangenen kann mich
hier schon hören?
»Chloe!«, rief sie lauter. »Madelaine? Kurt? Seid ihr hier?«
Sie lauschte und hielt den Atem an. War da ein Geräusch
gewesen? Ja, es klang fast wie das Wimmern eines Babys. Doch
es schien so weit entfernt …
»Chloe!«, schrie sie wieder. »Madelaine!«
Sie presste ihr Ohr an eine der Felstüren, und diesmal hörte sie
es ganz deutlich. Ein verhaltenes Weinen und einen
verzweifelten Ruf. »Hilf uns!«
»O mein Gott«, presste Phoebe hervor. »Ich bin's! Phoebe! Ich
bin hier unten. Ich hole euch da raus, das verspreche ich euch!«
Doch dann lehnte sie ihre Stirn gegen die kalte Mauer und
flüsterte: »Aber wie?«
»Gute Frage, Phoebe.«
Erschrocken wirbelte sie herum, und da stand Nikos nur
wenige Meter von ihr entfernt und starrte sie aus rot glühenden
Augen an.
»Ich bin selbst in deine Kammer gegangen, um dich
abzuholen, doch ich konnte dich nicht finden«, sagte er kalt.
»Mein Vater gibt ein Bankett zu deinen Ehren, eine kleine
Feierlichkeit vor der großen Feier. Meine ganze Familie mitsamt
ihrem Gefolge ist anwesend und wartet auf dich.«
Ach, dachte Phoebe. Dort hängen sie also alle rum. Kein
Wunder, dass der Palast wie ausgestorben ist.
»Stell dir nur meine Schmach vor«, zischte er sie wütend an.
»Stell dir nur den Schmerz dieser Menschen vor, die du hier
unten eingesperrt hast«, gab sie zurück und deutete auf die
Zellen, in denen sie die Studenten vermutete. »Du hast mich
hierher gelockt, also brauchst du sie nicht mehr. Ich bitte dich,
kannst du sie nicht wieder zur Erde zurückschicken?«
»Sei nicht naiv, Phoebe«, sagte Nikos. »Und wage es nicht,
mich noch einmal deswegen zu belästigen. Ich habe dir
wunderschöne Kleider geschenkt, dir das beste Essen servieren
und deine schrecklichen Haare in Ordnung bringen lassen, und
wie dankst du es mir? Indem du hier herumschnüffelst? Was soll
das? Wolltest du etwa fliehen?«
Mit finsterer Miene starrte Phoebe zu Boden, doch Nikos
kicherte nur.
»Das wird nicht noch einmal passieren, bis du meinen Ehering
an deinem Finger trägst, das verspreche ich dir«, grollte er. »Ich
würde dich auf der Stelle hier unten einkerkern, wenn meine
Familie nicht auf dein Erscheinen warten würde. Wir werden
nun auf der Stelle zu diesem Fest gehen. Und morgen früh
werden wir heiraten.«
»Morgen?«, rief Phoebe entsetzt. »Aber dein Geburtstag ist
doch erst …«
»… in drei Tagen«, sagte Nikos. »Aber deine Renitenz macht
es erforderlich, dass ich ein wenig umdisponiere. Bist du erst
einmal meine Frau, gehörst du mir. Flucht ist dann unmöglich.
Sofern der allmächtige Zeus nicht eingreift, etwas, das nahezu
ausgeschlossen ist.«
Er kicherte wieder und packte Phoebes Arm, wobei er seine
Nägel schmerzhaft in ihr Fleisch grub. Sie schrie vor Angst, als
sie fühlte, wie sich ihre Gestalt auflöste und verschwand.
Als sie sich wieder schimmernd materialisierte, hielt Nikos sie
noch immer fest. Sie standen in einem riesigen Foyer vor dem
Eingang des imposanten Speisesaals, den sie bei ihrer Ankunft
gesehen hatte.
Stimmengewirr, das Klappern von Silber auf Porzellan und
Gelächter drangen an ihr Ohr.
»Wir gehen jetzt da rein. Und mach mir keine Schande«,
zischte Nikos ihr zu, »oder ich lasse unsere Eheschließung auf
der Stelle vollziehen.«
12
P
rue wusste nicht, wie lange sie und Piper hier schon lagen
und dem Gesang der Sirenen lauschten. Alles, was sie wusste,
war, dass es nie aufhören möge.
Doch genau dies geschah – die lieblichen Klänge brachen
unvermittelt ab.
Prue runzelte die Stirn. Wo war die Musik? Sie wollte sie
unbedingt wieder hören. Ja, sie brauchte sie! Neben ihr
protestierte Piper leise murmelnd vor sich hin. Offensichtlich
erging es ihr nicht anders.
Bitte, bitte, betete Prue, macht doch um Gottes willen weiter!
Nichts auf der Welt kann mich je wieder glücklicher machen als
dieses Lied.
Doch die Musik setzte nicht wieder ein. Ungehalten und unter
größter Anstrengung öffnete Prue die Augen und sah die
Vogelfrauen fragend an. Die Kreaturen starrten zurück, doch
ihre Münder waren fest verschlossen. Allerdings funkelten ihre
Augen jetzt geradezu boshaft, und die Anführerin mit den roten
Haaren wirkte am feindseligsten.
Unruhig watschelte sie auf ihren roten Möwenfüßen hin und
her und kam schließlich langsam auf Piper und Prue zu. Doch
damit nicht genug: Unter einem ihrer weißen Flügel blitzte
plötzlich ein Messer hervor!
Prue versuchte zu schreien, aber irgendwie hatte das Lied sie
in einen Zustand der Paralyse versetzt. Sie konnte kaum den
Kopf heben, geschweige denn die Energie aufbringen, um Hilfe
zu rufen. Sie stöhnte leise und versuchte sich zu bewegen. Muss
… Piper warnen …
Die Sirene kam immer näher, wobei sie das Messer nun über
ihren Kopf hielt.
Prue spürte, wie das Grauen sie zu überwältigen drohte,
zudem war sie noch immer so gut wie gelähmt. Lediglich ein
Arm ließ sich ein wenig bewegen.
Und sie hoffte inständig, dass dies reichen würde.
Unter Aufbietung aller ihr verbliebenen Reserven
konzentrierte sie ihre telekinetische Kraft und bewegte ihre
Hand schwach in Richtung der Sirene.
Und es funktionierte!
Ein Strom aus Energie stieß die Kreatur zurück, sodass sie
vom Felsen ins Meer stürzte. Ihr Wutschrei zerriss die Luft, und
das Geräusch war so schmerzhaft und schrill, wie der Gesang
überirdisch schön gewesen war. Das Geheul schlug in Prues
Kopf ein wie ein Blitz und vertrieb dabei ein wenig diesen
Nebel, der ihr Denken und Handeln blockiert hatte.
Sie blinzelte und sah zu ihrer Schwester hinüber. Piper hielt
sich die Ohren zu und kam gerade wacklig auf die Beine.
»Prue«, keuchte sie. »Diese Sirenen … locken Seeleute in den
Tod … mit ihrem hypnotischen Gesang. Sie werden uns …
töten!«
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erklärte Prue
kategorisch und erhob sich ebenfalls. Dann schickte sie Sirene
Nummer zwei in die blauen Fluten. Doch da war die Anführerin
schon wieder auf den Felsen zurückgeflogen – sie hielt noch
immer das Messer und kam rasend schnell auf sie zu.
»Piper!«, rief Prue.
Und Piper nickte und hielt die Zeit an. Die Anführerin und die
dritte Sirene froren auf der Stelle ein.
»Weg von hier!«, schrie Prue, und dann stolperten sie mit
noch immer weichen Knien den Felsen hinab und den Strand
entlang. Ihr Ziel war ein dichter Hain aus tropischem Gehölz,
der in etwa zwanzig Meter Entfernung vor ihnen lag.
»Ich fühle mich so schwach«, schnaufte Piper und sah sich
ängstlich um.
»Geh … einfach … weiter«, presste Prue hervor, doch dann
trat sie gegen einen Stein und stürzte. Piper blieb stehen und half
ihrer Schwester auf. In diesem Moment drang das grauenhafte
Kreischen der Sirenen über den Strand.
»Die Zeit läuft wieder weiter«, sagte Prue, die sich mit jedem
Schritt kraftvoller fühlte. »Wie geht's dir, Piper?«
»Ein bisschen besser«, erwiderte Piper und schüttelte heftig
den Kopf.
»Mir auch«, sagte Prue. »Ich glaube, wir können sie
abhängen.«
Sie schlugen einen Haken und rannten auf das dichte
Unterholz des tropischen Hains zu. Sie hatten das Wäldchen fast
schon erreicht, als Piper plötzlich spürte, wie etwas ihre Wange
streifte. Sie keuchte vor Schreck, als sie sah, wie das Messer der
Anführer-Sirene vor ihr in den Sand fiel. Es hatte sie nur um
Millimeter verfehlt!
Entsetzt wirbelte sie herum. Die rothaarige Vogelfrau stand
nur wenige Schritte von ihnen entfernt und kreischte vor Wut.
Ihre beiden Begleiterinnen waren ebenfalls da und hatten Lyra
und Flöte gegen scharfe Dolche eingetauscht. Sirene Nummer
zwei reichte ihre Waffe nun der Anführerin, die den Dolch
erhob, um ihn auf sie zuzuwerfen.
Ohne lange zu überlegen, griff Piper in den Bund ihrer
Leggins und holte den silbernen Brieföffner hervor, der
eigentlich für Charon bestimmt war. Dann holte sie weit aus und
schleuderte das Erbstück in Richtung der rothaarigen Sirene.
Was sie nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein: Der Brieföffner
fuhr direkt ins Herz der teuflischen Kreatur! Grünes Blut ergoss
sich über weiße Federn, und mit einem letzten
ohrenbetäubenden Kreischen fiel die Sirene tot in den Sand. Ihre
beiden Begleiterinnen stimmten daraufhin ein schreckliches
Geheul an und breiteten klagend und schreiend die Schwingen
über ihre Anführerin. In diesem Moment hielt Piper erneut die
Zeit an.
»Lass uns von hier verschwinden, bevor sie sich an uns
rächen!«, rief sie Prue zu. Glücklicherweise waren sie nun
wieder so weit bei Kräften, dass sie den Rest des Weges rennend
zurücklegen konnten. Rasch hatten sie das Wäldchen erreicht
und schlugen sich hastig einen Weg durch das dichte Unterholz.
»Ich glaube nicht, dass sie uns folgen«, keuchte Piper.
»Wahrscheinlich können sie nicht durch die dicht stehenden
Bäume fliegen.«
»Wie dem auch sei«, meinte Prue, während sie gerade einen
Farn niedertrampelte, »ich möchte so viele Meter wie irgend
möglich zwischen uns und diese Biester legen. Unglaublich,
welche Macht ihre Musik auf uns ausgeübt hat.«
»Die Sage berichtet, dass nur die willensstärksten Seeleute
ihrem wunderbaren Gesang widerstehen konnten. Odysseus ließ
sich deshalb sogar an den Mast seines Schiffs fesseln und die
Ohren mit Wachs verstopfen«, berichtete Piper, als sie einen
kleinen Bach durchquerten. »Gott sei Dank konnten wir ihnen
entrinnen!«
»Ich vermute, nur die willensstärksten Hexen sind dazu im
Stande«, sagte Prue grinsend, als sie einen morastigen Weg
entlangeilten. Plötzlich hielt sie abrupt inne. »Piper!«, rief sie
aufgeregt.
Piper, die mit gesenktem Blick vor ihr hergetrottet war, drehte
sich zu ihrer Schwester um.
»Sieh dich doch mal um«, sagte Prue. »Ich glaube, wir
befinden uns wieder auf Nikos' lieblichem Grund und Boden!«
Piper blickte um sich und musste der Schwester zustimmen.
Ohne dass sie es bemerkt hatten, hatte sich das Terrain von
üppigem, tropischem Grün zu braunem, leblosem Sumpfland
gewandelt. An die Stelle der frischen Meeresbrise war das
altbekannte nasskalte, neblige Klima getreten. Die Bäume hatten
ihre Blätter verloren, Holz und Wurzelwerk waren tot und
schwarz.
»Halte nach dem Berg Ausschau!«, sagte Piper. »Du erinnerst
dich: Der Eingang zu Nikos Höhlenpalast war am Fuß eines
hohen zerklüfteten Gebirges.«
Suchend liefen sie weiter durch den toten Wald, bis Prue
plötzlich »Da ist es!« rief und nach links deutete. Und
tatsächlich, durch den Nebel waren schwach die Umrisse eines
in den Himmel ragenden Massivs zu erkennen. »Das muss es
sein.«
»Und sieh mal hier«, sagte Piper und zeigte zu Boden. »Da ist
auch der Fluss, der uns beim letzten Mal zur Höhle geführt hat.«
»Phoebe, wir kommen!«, rief Prue triumphierend.
Erschöpft saß Phoebe auf dem vergoldeten Stuhl und
versuchte die Augen offen zu halten.
Das Bankett dauerte nun schon viele Stunden, doch niemand
der Geladenen zeigte auch nur die geringsten
Ermüdungserscheinungen. Weinglas um Weinglas wurde
geleert, Gang um Gang aufgetischt und unablässig über
Nichtigkeiten getratscht und gelacht.
Jessica hatte nicht übertrieben, als sie behauptet hatte, das
Leben im Hades sei wie eine Party. Und fatalerweise schien es
einzig und allein daraus zu bestehen, was Phoebe entsetzlich öde
fand. Einige der ausnahmslos schwarz gelockten Partygäste
hatten versucht, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Doch
nachdem sie nicht darauf reagiert und einfach geschwiegen
hatte, hatten sie sich schulterzuckend wieder abgewandt. Von da
an war es, als ob sie nicht mehr existierte; man sah durch sie
hindurch und unterhielt sich über ihren Kopf hinweg.
Runde zwei in der Schlacht mit der lieben Verwandtschaft,
hatte sie gedacht und die Augen verdreht.
Verstohlen warf sie einen Blick auf den Mann, der am Kopf
des Tisches saß und der Hades, der Gott der Unterwelt, sein
musste. Phoebe erkannte in seinem Gesicht Nikos' dunkelblaue
Augen und die ausgeprägte Mundpartie wieder. Auch er hatte
tiefschwarze Locken, in denen jedoch die eine oder andere
silberne Strähne zu entdecken war. Er war groß gewachsen und
beeindruckend, und mit Schrecken wurde ihr bewusst, was für
ein mächtiger Gott er doch war. Dennoch wirkte er genauso
oberflächlich wie jedermann auf diesem Bankett, zu sehr mit
sich und seinem Amüsement beschäftigt, um seine zukünftige
Schwiegertochter auch nur wahrzunehmen. Er lachte, aß und
trank viel, schäkerte mit den Schlangenmädchen, und bald
wandte sich Phoebe angewidert ab.
Tatsächlich wanderte ihr Blick immer wieder zu den
überquellenden Platten und Schüsseln, die vor ihr standen.
Saftige Rinderlendenstücke, Kartoffeln, die in Butter schier
ertranken, und andere Köstlichkeiten lachten sie an. Wie auch
die knusprigen Brötchen auf ihrem Vorspeisenteller, die saftigen
Früchte, die sich aus Füllhörnern auf das weiße Tischtuch
ergossen, und das Glas mit edlem Wein, das neben ihr stand.
Phoebe seufzte und sah zu Nikos hinüber, der nur wenige
Plätze von ihr entfernt saß. Sie war so unsagbar müde und
hungrig, dass sie nicht wusste, wie sie diesen Abend überstehen
sollte.
Um einfach nur ihre Hände zu beschäftigen, griff sie nach
einem der Granatäpfel aus dem Füllhorn vor sich und rollte ihn
zwischen ihren Fingern hin und her. Sie liebte diese edle Frucht,
seit sie ein kleines Mädchen war und Großmutter sie zu den
Erntedankfesten serviert hatte. Es war ihr jedes Mal eine große
Freude gewesen, sie mit den bloßen Fingern zu schälen, um an
die glatten, glänzenden Kerne zu gelangen, deren Saft einfach
köstlich schmeckte und die Lippen hellrot färbte.
Langsam und ohne dass sie es bewusst registrierte, begann sie
die Schale des Granatapfels abzupuhlen, bis sie die weiße
Membran darunter freigelegt hatte, um schließlich die rot
schimmernden Kerne daraus zu befreien.
Wie hübsch sie doch sind, dachte sie. Sie sehen aus wie
Rubine. Fast wie die dreieckigen Edelsteine in meinem
Verlobungsring …
Da entfuhr ihr ein leises Schluchzen. Der Ring an ihrem
Finger schien mit diesem fest verwachsen zu sein, warum sich
also nicht mit der Tatsache abfinden? Sie würde den Rest ihres
fortan sinnentleerten Lebens an diesem kalten, schrecklichen Ort
mit diesen stumpfen Leuten verbringen. Es gab keine Hoffnung,
und es gab keine Möglichkeit zur Flucht, nicht, wenn sie von
Minute zu Minute schwächer wurde, weil sie so unsagbar
hungrig war …
Wie in Trance begann Phoebe die Kerne aus der Frucht zu
pflücken und sie auf das weiße Tischtuch fallen zu lassen. Sie
sahen so appetitlich, so saftig aus … Langsam hob sie einen der
Kerne an ihre Lippen.
»Phoebe! Nein!«
Phoebe hielt inne und sah erstaunt auf. Wo war diese Stimme
hergekommen? Rasch flog ihr Blick von einem Gast zum
anderen, aber niemand schaute auch nur in ihre Richtung.
Sämtliche Anwesenden waren nach wie vor in ihre geistlosen
Gespräche vertieft, tranken Wein und taten sich an Fleisch und
Suppe gütlich. Litt sie womöglich schon an den Folgen ihrer
Hungerei und hatte Halluzinationen?
»Hinter dir!«
Phoebe erstarrte; dann drehte sie sich langsam um. Und
tatsächlich – hinter der mächtigen Rückenlehne ihres Stuhls
hockte ihre Schwester Piper auf dem Boden!
»Piper«, flüsterte Phoebe fassungslos und ergriff unauffällig
die Hand ihrer Schwester. Tränen traten in ihre Augen, als sie
sagte: »Ich dachte, ich würde dich niemals wieder sehen …«
»Hast du etwas gegessen, seit du hier bist?«, fragte Piper
hastig.
»Wo denkst du hin?«, wisperte Phoebe zurück. »Ich bin im
Hungerstreik. Warum?«
»Gott sei Dank!«, entfuhr es Piper, in deren Augen ebenfalls
Tränen glitzerten. »Okay, wir hauen jetzt hier ab. Prue steht
hinter der Tür«, sagte sie und nickte in Richtung Eingang.
»Wir haben uns hier eingeschlichen«, fuhr sie fort. »Das war
einfach, auch, weil sich offensichtlich niemand hier um dich zu
kümmern scheint. Sehr merkwürdig.«
»Das liegt wahrscheinlich daran, weil ich hier noch nichts zu
mir genommen habe«, erklärte Phoebe mit leiser Stimme. »Ich
glaube, die ganze Sippe ist irgendwie verhext. Essen scheint aus
ihnen geistlose Geschöpfe zu machen, die nur auf ihr
persönliches Vergnügen und Party aus sind. Ich gehöre praktisch
noch gar nicht dazu. Ist das nicht komisch?«
»In der Tat, und das aus dem Munde des Mädchens, das jeden
Club in San Francisco kennt«, sagte Piper grinsend. »Wie dem
auch sei, wenn du jetzt aufstehst und ganz langsam und
unauffällig zur Tür hinausspazierst, wird das vermutlich
niemandem auffallen. Ich konnte sogar unbeobachtet bis zu
deinem Stuhl kriechen, ohne dass jemand Notiz davon
genommen hat.«
»Alles klar«, sagte Phoebe, als sich ihre Schwester wieder
langsam zurückzog. Verstohlen sah sie in die Runde, doch
nichts hatte sich geändert – die Atmosphäre war noch immer
erfüllt von bedeutungslosen Gesprächen und alkoholisiertem
Gelächter. Unweit von ihr stieß Nikos gerade mit einem der
Schlangenmädchen an und knabberte an dessen Ohrläppchen.
Pfui Teufel, dachte Phoebe. So sehen also seine letzten
Stunden als Junggeselle aus. Was soll's? Von mir aus kann er
ewig damit weitermachen – ich verabschiede mich ja sowieso
jetzt.
Langsam schob sie ihren Stuhl zurück und glitt von der
Sitzfläche. Dann hob sie den Saum ihres langen Kleides und
kauerte sich auf den Boden. Langsam kroch sie Meter um Meter
durch den langen Speisesaal, bis sie endlich die Tür erreicht
hatte. Mit einem letzten Blick zurück auf das dekadente Gelage
huschte sie aus dem Raum und fiel direkt in Prues warme
Umarmung.
»O Prue«, schluchzte sie. »Es ist so schrecklich. Nikos will
mich zwingen, seine Frau zu werden. Sein Vater hat verfügt,
dass er, wenn er nicht bis zum fünfzehnten August verheiratet
ist, auf die Erde verbannt werden wird und seine ganzen Kräfte
verliert.«
»Was ist denn am fünfzehnten August?«, fragte Prue und
streichelte ihrer Schwester zärtlich über die schwarzen Locken.
»Sein fünfundzwanzigster Geburtstag«, erklärte Phoebe. »Wir
müssen auf der Stelle von hier verschwinden. Die Hochzeit soll
nämlich schon morgen stattfinden – Nikos hat etwas
umdisponiert.«
»Alles wird gut«, flüsterte Prue und drückte ihre Schwester
fest an sich. »Wir werden bald von hier verschwunden sein.
Doch zuvor müssen wir wissen, wo dieser Teufel die Models
versteckt, und sie mitnehmen.«
Phoebe nickte. »Sie sind im Kerker«, sagte sie. »Ich hoffe, du
kannst mit deiner Kraft die Tür aufbrechen.«
»Lasst uns gehen«, sagte Prue. »Zeig uns den Weg, Phoebe.«
Gerade als die Schwestern im Begriff waren, aus der Halle zu
verschwinden, flackerte plötzlich eine Gestalt vor ihnen auf.
Es war Nikos, der noch immer sein Weinglas in der Hand
hielt.
Mit schneidender Stimme wandte sich der verderbte Prinz an
seine Verlobte: »Ich habe dich gewarnt, Phoebe!«, schrie er und
schleuderte sein Glas zu Boden. Dann hob er eine Hand und
wollte Phoebe ins Gesicht schlagen. Doch bevor er ihre Wange
berühren konnte, wurde er so hart zurückgeschleudert, als ob er
mit einer Gummiwand kollidiert wäre.
Erstaunt öffnete Nikos den Mund. Dann ging er wieder auf
Phoebe los, doch sein Arm wurde wie von Zauberhand brutal
zurückgerissen.
»Was …?«, presste er hervor.
»Das ist Zeus' Werk«, erklärte Piper und zog ihre Schwester
zu sich. »Er hat bestimmt, dass Phoebe frei ist. Sie steht unter
seinem Schutz. Wie wir alle. Und wir werden sie jetzt wieder
mit nach Hause nehmen.«
»Was … nein … das kann nicht sein!«, bellte Nikos.
»Doch, kann es«, gab Prue scharf zurück. »Also finde dich
damit ab.«
Nikos stieß einen Wutschrei aus, und seine roten Augen
glühten hell auf in seinem dunklen Gesicht. Doch plötzlich
verstummte er, und ein böses Grinsen spielte um seine Lippen.
»Also gut, ihr könnt sie wiederhaben«, sagte er und
verschränkte die Arme vor der Brust. »Aber ich habe immer
noch eure wunderschönen Freunde. Fünf Unschuldige, die einer
nach dem anderen sterben werden, bis Phoebe endlich
einwilligt, mich zu heiraten.«
13
N
achdem
Nikos
seine ungeheuerliche Drohung ausgestoßen
hatte, klatschte er in die Hände, und schon kamen drei
Schlangenmädchen herbeigehuscht und flankierten den Prinz
der Unterwelt.
»Holt die Gefangenen«, befahl Nikos. »Sofort.«
Die Dienerinnen verschwanden, um sich eine Sekunde später
wieder an Ort und Stelle zu materialisieren – und die fünf
Models waren bei ihnen. Obwohl es sich nur um ihre Seelen
handelte, die im Hades gefangen waren, sahen sie sehr
mitgenommen aus.
Chloes hohe Wangenknochen ragten schärfer denn je aus
ihrem nun eingefallenen Gesicht hervor, und Kurts muskulöse
Arme wirkten irgendwie abgemagert und schlaff. Sie alle waren
derangiert und schmutzig und zitterten vor Angst und Kälte in
ihren zerrissenen griechischen Kostümen. Eng standen sie
beieinander und blickten Nikos furchtsam an.
Als Chloe die drei Schwestern entdeckte, stieß sie einen Schrei
aus und rief: »Wo seid ihr gewesen?«
Nikos ging zu dem Mädchen hinüber, schlang seinen Arm um
ihre Taille und zerrte sie von der Gruppe weg in die Mitte der
Halle.
»Du weißt, Chloe«, sagte er, »ich mag dich nicht. Du meckerst
zu viel.« Mit diesen Worten zog er ein Messer unter seinem
Samtanzug hervor und hielt es Chloe an die bleiche Kehle.
»Hilfe!«, schrie das Mädchen entsetzt auf und begann zu
weinen.
Automatisch hob Piper die Hand, als ihr einfiel, dass ihre
Magie bei Nikos nicht funktionierte. Prue ging in
Kampfstellung, bereit, auf seine leiseste Bewegung zu reagieren,
als der Prinz die Klinge wieder sinken ließ.
»Nein«, sagte er. »Ich werde sie nicht selbst töten. Eine solche
Tätigkeit ist unter der Würde eines Prinzen. Dafür habe ich
meine Schergen.«
Er schnippte mit dem Finger, und gleich darauf materialisierte
sich eine weitere Gestalt im Foyer: ein mächtiger Dämon mit
breiten Schultern, schuppiger grüner Haut und einem langen
stacheligen Schwanz, der gefährlich hin und her peitschte.
»Mitchell!«, entfuhr es Prue.
»Mitchell?«, platzten Piper und Phoebe gleichzeitig heraus
und starrten den unfassbar abstoßenden Dämon fassungslos an.
»A … Aber«, stotterte Piper. »Du bist doch …«
»Gütiger Gott der Unterwelt«, ächzte Nikos und verdrehte die
Augen. »Ihr Mädchen seit wirklich nicht die Hellsten, was?
Kaum taucht ein heißer Typ auf, schon seid ihr hoffnungslos
verloren. Ihr könnt einen Dämon ja nicht mal von Matt Damon
unterscheiden!«
»Hey!«, schnarrte Mitchell und verzog seine schwarzen
Lippen zu einer bösen Grimasse. »Wie wär's mit einer kleinen
Anerkennung dafür, dass ich die drei so herrlich hinters Licht
geführt habe?«
»Schon gut, war nicht so gemeint«, sagte Nikos und seufzte.
Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen die Wand,
verschränkte die Arme und gab Mitchell ein Zeichen.
»Also gut«, sagte er. »Auf geht's! Du tötest die Blonde zuerst,
es sei denn, Phoebe hält sich an unsere Abmachung.«
»Nein!«, schrie Phoebe. »Lass Chloe in Ruhe!«
»Dann heirate mich«, befahl Nikos.
Gehetzt sah Phoebe von Nikos zu Chloe und dann zu ihren
Schwestern. Was sollte sie bloß tun? Das unschuldige Leben
retten und damit die Macht der Drei auf immer zerstören? Das
wiederum würde das Leben zahlreicher Menschen kosten, die
ihre Dienste in Zukunft brauchen würden. Sollte sie Chloe
opfern, um wieder zurück auf die Erde zu kommen? Nein! Das
konnte sie auf keinen Fall tun.
In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Prue, Piper«,
wisperte sie verzweifelt, »helft mir doch!«
Prue sah zu Mitchell, der die vor Angst schluchzende Chloe
bedrohte. Sie musste irgendetwas unternehmen, aber was?
»Hey!«, rief sie Mitchell zu, und das Monster drehte sich zu
ihr um.
»Du bist wirklich schnell beleidigt, das muss man dir lassen«,
höhnte sie. »Und weißt du was? Du bist der jämmerlichste
Dämon, der mir je untergekommen ist. Du wirst es nie mit mir
aufnehmen können.«
Sie wandte sich ihren Schwestern zu. »Ihr müsst wissen, ich
hab diesen Loser mit seinem eigenen Schwanz zur Strecke
gebracht. Ist das nicht zum Schreien?«, kreischte sie und brach
in wahnsinniges Gelächter aus. Piper und Phoebe fielen nervös
kichernd mit ein.
»Was hat sie vor?«, fragte Phoebe leise, während sie den
Mund zu einem breiten Grinsen verzog.
»Keine Ahnung«, murmelte Piper kichernd zurück. »Einfach
mitmachen!«
Offensichtlich fand Mitchell dies alles weniger komisch.
Drohend machte er einen Schritt auf Chloe zu.
»Und besonders gut küssen kannst du im Übrigen auch nicht«,
fuhr Prue schnell fort. »Außerdem bist du ein ziemlicher
Langeweiler. Wenn du mich nicht verhext hättest, wäre ich bei
unseren Treffen aus dem Gähnen nicht mehr rausgekommen.«
Mitchell fuhr so abrupt herum, dass der Sabber aus seinem
hässlichen Maul durch die Luft flog. »Ach, wirklich? Auf mich
hast du aber ziemlich beeindruckt gewirkt«, krächzte er und
funkelte sie böse an.
»Dass ich nicht lache!«, rief Prue. »Du glaubst doch nicht im
Ernst, dass ich je auf so einen erbärmlichen Journalisten wie
dich reinfallen könnte. Deine Schreibe ist zum Kotzen, und
deine Recherchemethoden spotten jeder Beschreibung!«
Das reichte. Mitchell ließ von Chloe ab und stieß einen
unmenschlichen Schrei aus. Dann wirbelte er herum und stürmte
auf Prue zu. Sein heißer Atem schlug ihr ins Gesicht, als er seine
Klauen nach ihr ausstreckte – es war ganz wie bei ihrem letzten
Zusammentreffen in Halliwell Manor.
»Du hast ja überhaupt keine Ahnung, wovon du sprichst«,
keuchte er.
»Keine Sorge, ich weiß genau, wovon ich spreche«, gab Prue
zurück. »Du hast deine Seele an den Prinz des Hades verkauft.
Und als Gegenleistung machst du hier den Fußabtreter und
Schergen, nur damit du auf Erden beim National Geographic
glänzen kannst, dem, ähem, Höhepunkt deiner Karriere.«
Empört schnaubte Mitchell auf, und seine Augen begannen rot
zu glühen. Prue wusste, dass ihre Taktik richtig war. Mitchell
mochte seine Seele verkauft haben, aber er hatte zweifelsohne
seinen Stolz behalten. Seine Arbeit war seine Achillesferse.
»Ich weiß, warum dich das ärgert«, fuhr sie fort. »Du bist
kaum mehr als ein mittelmäßiger Lohnschreiber, und mit Talent
und Inspiration ist es bei dir nicht weit her. Ohne Nikos wärst du
nichts!«
Wütend heulte Mitchell auf und schlug Prue gegen den
Unterkiefer.
»Prue!«, riefen Piper und Phoebe wie aus einem Munde und
wollte ihr zu Hilfe eilen. Doch Prue hob abwehrend die Hände.
»Das ist mein Gefecht«, murmelte sie und rieb sich das
schmerzende Kinn.
»Ist es nicht wieder typisch?«, knurrte Mitchell. »Das kleine
Fräulein Perfekt hat wieder mal alles im Griff, alles unter
Kontrolle. Denn alles ist ja so einfach für dich, nicht wahr?«
»Eifersüchtig?«, fragte Prue.
Wieder schlug Mitchell nach ihr, doch Prue war so in Rage,
dass sie den Hieb kaum spürte. »Du liebe Güte«, sagte sie, »ist
das alles, was du draufhast?«
Das war der Punkt, an dem Mitchell sich vergaß und wie
rasend auf sie losging. Doch indem sie ihre eigene Wut
konzentrierte und in perfekte Kampftechnik wandelte,
vermochte sie sich geschickt unter seinen Schlägen
hinwegzuducken, blockte sie ab und konterte ihrerseits mit
gezielten Attacken. Gnadenlos schlug und trat sie Mitchell in die
Seite, gegen die Beine und in die Magengegend.
Nur wenige Sekunden später hatte sie ihn in der Defensive.
Und das war auch der Moment, in dem sie die schweren
Geschütze auffuhr. »Frier ihn ein!«, schrie sie Piper zu, und die
Schwester tat, wie ihr geheißen. Mit hoch erhobenen Händen
stand das Mitchell-Monster reglos in der Halle. Offensichtlich
hatte Zeus dafür gesorgt, dass die Schwestern bei der Befreiung
von Phoebe auf ihre Kräfte zurückgreifen konnten.
Sofort nutzte Prue ihre Fähigkeit, um ihn gegen die Steinwand
zu schmettern. Die Wucht des Aufpralls hob Pipers Bann wieder
auf – Mitchell schüttelte den Kopf und schaute verwirrt auf.
»Wie bin ich hierher gekommen?«, grunzte er.
»Noch mal!«, befahl Prue.
Wieder feuerte Piper einen Frostschlag gegen Mitchell, und
Prue schleuderte den Regungslosen gleich darauf gegen die
Mauer. Sie wiederholten das brutale Spiel noch zweimal. Als
Prue zum dritten Mal »Noch mal!« schrie, hob Mitchell seine
enormen Klauen. »Nein!«, rief er. »Bitte, ich kann nicht mehr!«
»Was?«
Das war Nikos, der das Ganze mit Belustigung verfolgt hatte.
Doch nun schien er ob des Verlaufs der Dinge ein wenig
ungehalten zu sein.
»Du bist mein Dämon!«, bellte er Mitchell an. »Du tust, was
man dir befiehlt. Und jetzt töte das Mädchen.«
»Piper …«, sagte Prue.
»Nein!«, schrie Mitchell. »Frier mich nicht wieder ein. Ich
kann … kann nicht.« Mit diesen Worten brach er auf dem
Boden zusammen und barg seinen scheußlichen Kopf unter den
Klauen.
»Besiegt von Frauen?«, gellte Nikos' Stimme durch die Halle.
»Du wertlose Kreatur!«
»Du hättest mir zur Seite stehen können«, beschwerte sich
Mitchell und sah seinen Meister vorwurfsvoll an.
»Wie ich bereits sagte, ein Kampf Mann-gegen-Mann ist unter
meiner Würde. Das ist der Job eines Dämons«, zischte Nikos.
»Außerdem wollte ich sehen, ob du was taugst. Nun weiß ich,
dass ich für dich keine Verwendung mehr habe.«
»Was?«, schrie Mitchell. »Aber wir haben doch ein
Abkommen!« Eilig kroch er auf seinen Herrn zu und berührte
ihn am Knie. »Bitte, bitte, töte mich nicht«, heulte er. »Wir
haben doch ein Abkommen.«
»Bitte«, murmelte Nikos angewidert, »dein unwürdiges Leben
ist nicht in Gefahr. Allerdings ist unser Abkommen null und
nichtig.« Mit diesen Worten bewegte er eine Hand in Richtung
seines Schergen, der daraufhin in seine menschliche Gestalt
zurücktransformiert wurde. Doch jegliche Attraktivität,
sämtlicher Charme waren von ihm abgefallen, als der so
erniedrigte Mitchell nun vor Angst zitternd und mit
hassererfüllter Miene vor ihnen stand.
»Ich … ich verstehe nicht«, sagte er.
»Ich entlasse dich hiermit aus den Diensten im Hades«, sagte
Nikos ungeduldig. »Du kehrst zurück auf die Erde – als Mensch.
Sterblich und langweilig.«
»A … Aber«, stotterte Mitchell, »was ist mit meiner
Karriere?«
»Sieh zu, wie du sie mit menschlichem Vermögen bewältigst«,
knurrte Nikos. »Ich jedenfalls habe dich gründlich satt.«
Sprach's und zeigte mit dem Finger auf seinen ehemaligen
Diener, der sich daraufhin in einem hellen Blitz aus der
gemütlichen Runde verabschiedete.
Angewidert schüttelte Nikos den Kopf und zog sein Messer
wieder hervor. »Ich fürchte, ich muss mich selbst darum
kümmern«, sagte er. »Wirklich nicht einfach, heutzutage gutes
Personal zu kriegen.«
Er stampfte auf Chloe zu, packte sie und fuchtelte mit dem
Messer vor ihrer Nase herum. Er kicherte, als die Studentin vor
Entsetzen aufschrie.
»Phoebe«, jammerte das Mädchen. »Bitte …«
»Ja, Phoebe«, sagte Nikos, »du solltest dich langsam mal
entscheiden. Was sagst du? Deine Hand … oder Chloes
Leben?«
Unter Tränen öffnete Phoebe den Mund. Sie konnte es nicht
zulassen, dass ein anderer Mensch ihretwegen sein Leben lassen
sollte. Und genau das musste sie Nikos mitteilen.
Sie warf ihren Schwestern einen Blick des Bedauerns zu und
wandte sich dann an Nikos. Sie schluckte schwer.
»Verleih uns die Kraft, zu lösen das Band, vom Leben geknüpft
mit ewiger Hand!«
Das war Prue, die diese Zeilen angestimmt hatte.
Zeitgleich wirbelten Phoebe und Nikos zu ihr herum.
»Was ist das?«, schnarrte der dunkle Prinz. »Ein
Abschiedsgedicht?«
»Wenn du es so nennen willst«, gab Prue zurück, als sie ein
zerknittertes Stück Papier aus der Tasche ihrer Shorts zog.
»Verleih uns die Kraft, zu lösen das Band, vom Leben geknüpft
mit ewiger Hand, und führe uns weiter in der Zeit, wo es hat
sein Ende – wir sind bereit!«
Verwirrt schüttelte Phoebe den Kopf. Dieses Poem kam ihr
irgendwie bekannt vor. Und dann fiel es ihr wieder ein. Das ist
kein Gedicht, dachte sie, sondern ein Zeitreisespruch. Aber zu
welchem Zweck?
Auch Piper sah ihre ältere Schwester verständnislos an,
wiewohl auch sie die Worte wieder erkannte. Ich glaube, das ist
Phoebes Zeitreisespruch, dachte sie. Aber … zu welchem
Zweck?
Während sie die Verse intonierte, sah Prue ihre Schwestern
durchdringend an. Vertraut mir, schienen ihre Augen zu sagen.
Und: Helft mir! Dann sprach sie den Spruch ein weiteres Mal,
und Phoebe fiel mit klarer, kräftiger Stimme ein. Sofort schloss
sich Piper ihnen an.
»Was tut ihr da?«, schrie Nikos. Er stieß Chloe aus dem Weg
und eilte auf Prue zu. »Was immer es ist, ich rate euch, hört auf
damit. Es wird euch sehr, sehr Leid tun, wenn ihr meine Pläne
zu durchkreuzen versucht.«
Ungeachtet dieser Drohung schloss Prue die Augen. Ich muss
den Spruch zu Ende bringen, dachte sie, als ihre Schwestern und
sie die Worte ein drittes Mal wiederholten. »Verleih uns die
Kraft, zu lösen das Band …«
»Es reicht!«, schrie Nikos und rannte wieder zu Chloe zurück.
»… vom Leben geknüpft mit ewiger Hand …«
»Ich werde sie jetzt töten«, verkündete er.
»… und führe uns weiter in der Zeit …«
Er hob die Klinge.
»… wo es hat sein Ende – wir sind bereit!«
Plötzlich wehte ein kräftiger Wind durchs Foyer, der die
Sterblichen fast zu Boden drückte und Nikos das Messer aus der
Hand riss.
»Verdammt!«, schrie er völlig außer sich. Sein Blick suchte
und fand das Messer, und er versuchte es mittels seiner Kräfte
wieder in seine Hand zu bekommen.
Doch die Klinge rührte sich nicht, schien mit dem Boden wie
verwachsen.
»Was soll das?«, zischte Nikos. Dann straffte er sich und
schloss die Augen. Phoebe, die ihn dabei beobachtete, wusste,
was er vorhatte: Er wollte sich von einem Ort zum anderen
projizieren.
Doch auch dies misslang.
»Mei… meine Kräfte«, heulte Nikos auf. »Ich versteh …«
»Wie doch die Zeit vergeht«, sagte Prue beiläufig und warf
einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Kaum zu glauben, dass wir
schon den fünfzehnten August haben.«
»Mein Geburtstag!«, rief Nikos entsetzt. »Wie kann das sein?«
»Zeitreisespruch«, erklärte Phoebe knapp. »Eine alte
halliwellsche Tradition. Wir sind soeben zwei Tage in die
Zukunft gesprungen.«
»Nein!«, rief Nikos aus und ruderte wild mit den Armen durch
die Luft, um seine Magie doch noch irgendwie zu befehligen.
»Das ist nicht möglich!«
»Sony, die Sache ist schon gelaufen«, sagte Phoebe nicht ohne
Häme. »Was hast du mir damals noch gleich gesagt? Warte, ich
glaube, der exakte Wortlaut war: ›Der Countdown für den Fluch
meines Vaters hat schon begonnen. Wenn am Morgen meines
fünfundzwanzigsten Geburtstags kein Ring an meinem Finger
steckt, schickt er mich auf der Stelle … nach oben.‹ Ich fürchte,
du bist verdammt zu einem öden Leben ohne magische Kräfte
unter ganz normalen Sterblichen.«
Geschlagen sank Nikos auf die Knie. Er zitterte vor Furcht
und Wut. »Nein«, keuchte er. »Das kann nicht sein.«
»Komm schon, Nikos«, sagte Prue und trat auf ihn zu. »Nimm
es wie ein Mann und sieh zu, wie du das Leben auf der Erde mit
menschlichem Vermögen bewältigst, um es mit deinen Worten
zu sagen. Wir sehen uns dann dort!«
Sie schnippte mit den Fingern, wie Nikos es immer zu tun
pflegte, und er erhob sich in die Luft wie ein Papierdrache. Dann
löste sich seine Gestalt auf, und er wurde in einem Strahl aus
Licht aus den Sphären des Schattenreichs auf die Erde
transformiert – wie bereits Mitchell vor ihm.
Zögernd warf Phoebe einen Blick in den riesigen Speisesaal.
»Unglaublich, jetzt feiern die schon vier Tage ohne die
geringsten Ermüdungserscheinungen«, murmelte sie. »Lasst uns
schleunigst von hier verschwinden, bevor jemand merkt, dass
der Sohn des Gastgebers nicht mehr unter ihnen weilt.«
Rasch nahmen die Schwestern die völlig verängstigten Models
bei den Händen und führten sie hinaus aus dem unterirdischen
Felsenpalast in den düsteren Hades.
Von dort hatten sie nun ihren langen Rückweg durch die toten
Wälder und das öde Sumpfland zurückzulegen.
»Ich schlage vor, wir verlassen diesen heimeligen Ort durch
den Vordereingang«, sagte Prue. »Mir ist der gute, alte Charon
allemal lieber als diese grässlichen Sirenen, zumal wir immer
noch sein Fährgeld bei uns tragen.«
Sie wühlte in der Tasche ihrer Shorts und zog das hübsche
Perlmutttintenfass hervor.
»Unser Problem sind die Models«, flüsterte ihr Piper im
Gehen zu und warf einen Blick auf die mürrischen Schönheiten,
die sich schon die nackten Füße blutig gelaufen hatten. »Meinst
du, sie können diesen Fährmann ertragen?«
»Glaube mir«, ließ sich Phoebe vernehmen, »das schaffen die
schon. Die große Frage ist, werden wir ihre zu erwartenden
Nörgeleien und Beschwerden überleben?«
»Ist es zu glauben?«, drang da wie aufs Stichwort Chloes
Stimme an ihre Ohren. »Da hält man uns zwei Tage dort fest,
und nicht ein einziges Magazin weit und breit! Von den
primitiven Badezimmern ganz zu schweigen …«
»Oje«, sagte Prue lachend. »Vorwärts, Leute. Das wird
wahrlich ein Höllentrip.«
»Aber wenigstens unternehmen wir ihn gemeinsam«, sagte
Phoebe und lächelte ihren Schwestern dankbar zu. »Wir haben
die Macht der Drei zurück. Was brauchen wir mehr?«
14
»
J
emand zu Hause?«, rief Prue durch die Eingangshalle,
nachdem sie lautstark die Tür ins Schloss hatte fallen lassen.
Eilig durchquerte sie das Wohnzimmer, warf einen Blick in
das leere – angenehm leere – Sonnenzimmer, umrundete die
steingewordene Gorgo, um schließlich in die Küche zu sprinten.
Dort fand sie Piper und Phoebe am nagelneuen Küchentisch
sitzend vor. Piper schlürfte einen Eistee, während Phoebe sich
gerade ein gigantisches Sandwich aus Schinken, Käse und
zahlreichen anderen Leckereien zusammenbaute. Prue konnte
nicht anders, sie musste lachen.
»Was?«, fragte Phoebe und strich sich eine ihrer blonden
Strähnen aus dem Gesicht. »Das ist mein Mittagessen. Du weißt
doch, dass ich immer fast vor Hunger sterbe, wenn ich aus der
Kunstklasse komme.«
»Hoffentlich ist es nicht wieder ein unglaublich süßer Typ, der
deinen Metabolismus in Wallung bringt«, grinste Prue und ließ
sich auf einem Stuhl nieder.
»Keine Chance!«, protestierte Phoebe und biss ein riesiges
Stück von ihrem Sandwich ab. »Der einzige Mann, mit dem ich
derzeit was zu tun haben will, heißt Vincent van Gogh.«
Prue lächelte und schüttelte den Kopf. »Kaum zu glauben,
dass unser Hades-Abenteuer erst eine Woche zurückliegt.«
»Fünf Supermodels und drei Hexen in der Unterwelt«,
kicherte Piper.
»Gott sei Dank, dass sie sich an nichts mehr erinnern konnten,
als sie im Sonnenzimmer aufgewacht sind«, sagte Phoebe und
steckte sich eine Olive in den Mund.
»Ja«, meinte Prue. »Und das alles mit nur einem kleinen
Zeitreisespruch, der die Tatsache ausgelöscht hat, dass sie ein
zweitägiges Nickerchen gemacht haben.«
»Das war einfacher, als meine alte Haarfarbe
wiederzukriegen«, fügte Phoebe hinzu. »Ich habe drei Stunden
beim Hairstylist zugebracht, um Nikos' Geschmacksverirrung
rückgängig zu machen. Mein Friseur dachte, ich sei völlig
verrückt geworden.«
Sie zwirbelte eine Strähne ihres blonden Haares zwischen den
Fingern und grinste, während ihre Schwestern laut lachten.
»Doch jetzt erzähl mal, Prue«, sagte Piper, »was ist so
aufregend, dass du die Haustür ins Schloss fallen lässt, wie es
sonst nur unsere Phoebe tut?«
»Ich komme gerade von der Redaktion des 415«, berichtete
Prue und zog den atemberaubenden Abzug ihres viktorianisches
Fotos aus der Tasche. »Und was soll ich euch sagen? Mr.
Caldwell liebt dieses Bild! Er nannte es geradezu zauberhaft.«
»Wie treffend«, bemerkte Phoebe lakonisch.
»Und ich bekomme das Cover!«, fügte Prue hinzu.
»Prue, das ist ja wunderbar!«, kreischte Piper.
»Denen hast du's aber gezeigt«, meinte Phoebe. »Und du
musstest dafür noch nicht mal deine Seele verkaufen. Alles nur
mit Talent – ja, das ist meine Schwester!«
»Was mich an etwas anderes erinnert, das ich heute entdeckt
habe«, sagte Prue grinsend und zog eine dünne Zeitung aus ihrer
Tasche.
Sie schlug sie auf und blätterte darin, bis sie die Seite mit den
Lokalnachrichten aus San Francisco und Umgebung gefunden
hatte. »Hier.«
»Das ist ja ein Nachruf«, sagte Phoebe und sah ihre Schwester
fragend an. »Kennen wir diese Person? Und warum grinst du so,
Prue? Der Mann ist tot, und er ist nur siebenundneunzig Jahre
alt geworden.«
»Das meine ich nicht«, erklärte Prue. »Schaut euch mal den
Namen des Autors an.«
»Nachruf von Redaktionsmitglied Mitchell Pearl«, las Piper.
Dann weiteten sich ihre Augen. »Mitchell? Etwa dein
Mitchell?«
»Ja«, kicherte Prue. »Ohne Nikos' teuflischen Einfluss war
dies wohl der einzige Job, den er kriegen konnte. Er kann von
Glück sagen, dass er nicht in der Poststelle gelandet ist.«
Die Schwestern lachten.
»Und was ist eigentlich aus dem nun ach so sterblichen Nikos
geworden?«, fragte Piper ihre jüngste Schwester »Hast du ihn
noch mal gesehen?«
Phoebe schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollte ich mal im
Reptilienhaus des Zoos nach ihm suchen«, sagte sie verächtlich.
»Ich weiß, dass er eine Schwäche für Schlangen hat.«
»Ich glaube, damit haben wir unseren Rekord gebrochen«,
stellte Prue fest und nahm sich einen von Phoebes Chips.
»Gleich zwei von uns haben sich zur gleichen Zeit in Dämonen
verknallt. Unglaublich!«
»Stimmt«, sagte Phoebe. »Warum haben wir bloß immer so
ein Pech mit den Männern?«
»Immerhin ist Prue ja wenigstens ein bisschen auf ihre Kosten
gekommen«, sagte Piper grinsend und knuffte ihre Schwester in
den Arm.
»Hey«, protestierte die, »du hast versprochen, das nicht mehr
zu erwähnen, wenn ich dafür einen Monat lang deine Wäsche
mache!«
»Was erwähnen?«, neckte Piper sie. »Dass du mich fast auf
dem Olymp sitzen gelassen hättest, nur weil du mit einem Typen
rumgemacht hast?«
»Aaaaaah!«, kreischte Prue lachend. »Du hast es doch
versprochen!«
»Das war das letzte Mal, dass ich dieses Thema angeschnitten
habe«, sagte Piper und erhob sich, um ihrer Schwester einen
Eistee zu holen. »Großes Hexen-Ehrenwort.«
Phoebe biss ein Stück von ihrer Senfgurke ab und kaute
hingebungsvoll darauf herum. »Wir sollten das Ganze mal von
der positiven Seite betrachten«, murmelte sie. »Vielleicht treffen
wir ja ein paar echt heiße Typen, wenn wir heute Abend ins
Schattenreich gehen.«
»Wie bitte?«, riefen ihre Schwestern wie aus einem Munde.
»Haben wir diesen ganzen Mist denn nicht hinter uns?«, fragte
Piper.
»Nicht der Hades, Leute! Schattenreich – das neue Cabaret!
Wir hatten doch verabredet, die Stadt aufzumischen, wenn Prue
die Sache mit dem Cover unter Dach und Fach hat. Du erinnerst
dich, Piper? Du hattest große Sorge, in einem Dasein aus
Langeweile und Eintönigkeit zu verkümmern.«
»Aber hör mal«, sagte Piper lachend, »ich war auf dem
Olymp. Ich habe einen dreiköpfigen, wild gewordenen
Wachhund, eine Gorgo und ein paar Sirenen erledigt. Ich war im
Hades und bin wieder zurückgekommen. Mein Leben ist alles
andere als langweilig!«
Phoebe biss noch einmal herzhaft in ihr Sandwich und
zwinkerte ihren Schwestern zu. »Darauf esse ich!«
»Ihr vergesst aber hoffentlich nicht, dass wir noch eine
wichtige Sache zu erledigen haben?«, erinnerte Piper die beiden.
Prue nickte.
Dann drehten sich die Schwestern wie auf Kommando auf
ihren Plätzen um und starrten die steinerne Gorgo an, die vor
dem Eingang der Küche stand.
Es war und blieb die hässlichste Skulptur unter der Sonne, und
vor allem stand sie im Weg. Die ganze Woche über hatten sie
überlegt, wie sie das tonnenschwere Ding wieder loswerden
konnten. Dass man diesen Job nicht in professionelle Hände
geben konnte, ohne sich peinlichen Nachfragen auszusetzen,
war ihnen schnell klar geworden. Und selbst mit geeignetem
Gerät war es schier unmöglich, die Statue die Treppen
hinunterzubefördern, ohne Schaden an Haus und Mobiliar
anzurichten.
»Gut, dass du das Problem gerade ansprichst, Piper«, sagte
Phoebe und ging zum Besenschrank hinüber. Sie grinste
verschwörerisch. »Ich glaube nämlich, mir ist heute eine Lösung
dafür eingefallen. Ich war in diesem Eisenwarenladen und habe
… dies hier gefunden.«
Sie wirbelte herum und präsentierte ihren Schwestern drei
riesige Vorschlaghammer.
»Phoebe!«, rief Piper und schlug sich gegen die Stirn.
»Natürlich! Du bist brillant. Dass wir nicht gleich darauf
gekommen sind …«
»Seid ihr bereit für die lustige Gorgo-Zertrümmer-Session?«,
fragte Phoebe.
»Oh ja«, sagte Prue. »Hauen wir das Weib in Stücke!«
Jede der Schwestern schnappte sich einen Hammer; dann
stellten sie sich um das hässliche Standbild auf.
»Wer macht den ersten Schlag?«, fragte Piper.
»Ich finde, das sollte Phoebe tun«, meinte Prue. »Immerhin
musste sie eine schreckliche Geiselhaft durchstehen und
darben.«
»Und vergiss nicht ihre Haare«, erinnerte Piper kichernd.
Phoebe sah ihre Schwestern grinsend an, dann holte sie
lustvoll mit dem Vorschlaghammer aus. »Hiiii-YAH«, brüllte
sie und ließ ihn auf die Gorgo niederfahren. Zusammen mit
einem Regen aus Steinbröckchen plumpste der hässliche Kopf
zu Boden.
»Ja!«, schrie Piper, schwang ihren Hammer und zertrümmerte
die Arme der Statue.
Dann kam die Reihe an Prue, die sich über die Füße der
steingewordenen Scheußlichkeit hermachte Sie lachten, denn es
war außerordentlich befreiend, diese schreckliche Kreatur zu
vernichten, die dasselbe fast mit ihnen getan hatte.
Nach einer Weile waren sie völlig außer Atem und
verschwitzt, aber von der Gorgo war nicht mehr übrig als ein
staubender Trümmerhaufen.
»Ich hole große Müllsäcke«, bot Phoebe an.
»Und ich den Besen«, sagte Piper und eilte durch die Küche.
»Und ich werde eine offizielle Erklärung für all diejenigen
verfassen, die uns dabei zugehört haben sollten«, meinte Prue.
Dann deutete sie zu Boden auf das, was einmal ein
mythologisches Ungeheuer gewesen war, und rief »Und du und
deinesgleichen, merkt euch. Legt euch niemals mit den
Zauberhaften an!«