Fritz Skowronnek Þr Kampf um die Scholle


Fritz Skowronnek

Der Kampf um die Scholle

1.

„Mensch, Karl, sei doch nicht so miesepeterig!“

„Ach, laß mich, Max.“

„Möcht'st mir nicht wenigstens sagen, was mit dir los ist? Siehst ja aus, als wenn dir die Petersilie verhagelt wäre. Red' doch `n Ton! Hat dich womöglich ein Schuster beim Kneipen beklappt?... Nicht? Na, dann weiß ich wirklich nicht, was dir fehlt... Ich möchte immer meine Mütze in die Höhe schmeißen und schreien vor Vergnügen. Denk mal, Karl, morgen früh stehen wir Vorturner mit Ränzel, Plaid und Wanderstock vor dem Gymnasium, und dann geht's los auf eine frische, fröhliche Turnerfahrt. Erst nach Lötzen mit der Eisenbahn, dann auf dem Dampfer über den schönen, großen Mauersee nach Angerburg, dann nach Beynuhnen mit seinen herrlichen Kunstschätzen, und schließlich noch ein zweitägiger Marsch durch die schönste Forst, die man sich denken kann, zum Waldkater... Mensch, Junge, da kannst du so trübselige Gesichter schneiden?“

Der Angeredete, ein hochaufgeschossener Jüngling von achtzehn Jahren, dem der erste Flaum des zukünftigen Schnurrbarts auf der Oberlippe sproßte, zuckte die Achseln.

„Ich werde die Turnerfahrt der Prima nicht mitmachen.“

„Ach, red' doch nicht so `n dummes Zeug!“

„Ich red' ganz vernünftig, lieber Max. Ich habe nicht das Geld dazu. Ich habe meinen Vater rechtzeitig um die dreißig Mark, die dazu notwendig sind, gebeten, habe aber bis heute weder Antwort noch Geld erhalten.“

„Wenn's weiter nichts ist! Dann hauchst einfach deine Pensionsmutter um die dreißig Gulden an... Der Alte wird nachher schon berappen.“

„Nein, Max... Na, ich will offen sein, aber sprich nicht darüber. Ich hab' das vorhin schon versucht, und da sagt mir Frau Wendt, daß der Vater schon das letzte Vierteljahr nicht die Pension für mich bezahlt hat. Sie kann oder will mir das Geld nicht geben.“

„Himmelkreuzmillionenschockschwerenotdonnerwetter… Entschuldige, lieber Karl, wenn ich als zukünftiger Theologe so gotteslästerlich fluche: aber da schlage doch einer lang hin und der andere quer darüber. Was kann denn mit deinem Alten los sein?“

Der andere zuckte zusammen, als hätte ihn bei diesen Worten ein Schlag getroffen.

„Ja, siehst du, das ist die Frage, die ich mir auch vorlege. Daß ich die Turnerfahrt nicht mitmachen kann, das würde ich schon verschmerzen. Aber mich quält der Gedanke, daß zu Hause nicht alles in Ordnung ist.“

„Ach, geh' doch, Karl, du scheinst wirklich Neigung zu haben, dich mit solchen Gedanken selbst zu quälen. Was kann denn dort los sein?“

„Vielleicht ist mein Vater krank oder...“ Er hielt inne und schauderte zusammen, als wenn er einen sehr traurigen Gedanken von sich abzuschütteln versuchte.

„Weißt du, Max, seit dem Tage, wo mein Großvater von dem Pollacken mit der Axt erschlagen wurde, kann ich das geheime Grauen nicht los werden. Mir ist, als wenn unserer Familie noch mehr solch Unheil bevorsteht.“

„Das war doch nur ein trauriger Unglücksfall, den dein Großvater durch seine Heftigkeit, wie du mir erzählt hast, selbst verschuldet hat. Und dein Vater ist doch so ruhig und still...“

Karl schüttelte den Kopf. „Ich will dir alles sagen. Aber du mußt mir dein Ehrenwort geben, nicht darüber zu sprechen. Wie ich Pfingsten zu Hause war, hat mir mein Vater schon gar nicht gefallen. Er war gar nicht still; im Gegenteil, immer so aufgeregt, als wenn ihn eine geheime Unruhe befallen hätte. Ich vermute, daß ihn schwere Sorgen quälen. Schon nach dem Tode der Mutter fing die Änderung bei ihm an. Nun hat er in den letzten Jahren gebaut und gebaut, erst die große Scheune und dann den Stall und jetzt zuletzt das Wohnhaus. Ich fürchte, er hat sich verbaut, denn bar Geld war nicht viel vorhanden, und die kleine Besitzung von 400 Morgen kann das allein nicht bringen.“

Kopfschüttelnd hatte der andere zugehört. Sein frisches Gesicht, aus dem des Lebens Frohsinn leuchtete, hatte einen nachdenklichen Ausdruck angenommen.

„Na, dann hätte der Alte doch wenigstens ein paar Worte schreiben können.“

Es war, als wenn dieses Wort seinem Kameraden den letzten Rest von Selbstbeherrschung geraubt hätte.

Ein heftiges Schluchzen erschütterte seinen ganzen Körper.

„Das ist es ja eben, was mich quält, daß der Vater auch nicht eine Zeile geschrieben hat. Seit Pfingsten habe ich überhaupt keinen Brief von ihm bekommen.“

„Aber, Mensch, dann hätte ich doch einen Sonntag mich ausgesetzt und wäre nach Hause gefahren. Die paar Kilometer von der Bahn bis nach Gonsken hättest du ja auch zu Fuß machen können. Na, nu mach' dir nur keine Gedanken, und morgen kommst du mit. Dafür werde ich sorgen!“

„Was willst du tun?“

„Sehr einfach: ich gehe zum Direktor und setze ihm deine Lage auseinander. Ist das nicht ein famoser Gedanke, den Direx anzupumpen?“

Der Gedanke gefiel ihm so gut, daß er laut auflachte und dann mit heller Tenorstimme zu singen begann: „Dann fahren wir nach Cyprus hinunter und pumpen die Königin an. Remblem...“

Als er das zweite Remblem singen wollte, klopfte es vernehmlich an der Tür. Schnell gefaßt, sang er statt dessen:

„Herein!“

Mit lachender Miene nahm er dem Briefträger ein Schreiben ab. „Na, da siehst du ja, jetzt haben wir's. Poststempel Gonsken. Wenigstens geschrieben hat der Alte. Hoffentlich hat er auch den schnöden Mammon papiernerweise beigefügt.“

Hastig hatte Karl ihm das Schreiben aus der Hand genommen. Beim ersten Blick auf die Handschrift war er kreidebleich geworden. Mit zitternden Händen erbrach er das Schreiben. Beim Entfalten flatterte ein Fünfmarkschein heraus, den Max jubelnd in der Luft aufgriff und emporschwang. Im nächsten Augenblick verwandelte sich seine frohe Laune in jähe Bestürzung, denn Karl hatte das Schreiben aus der Hand fallen lassen, sich aus einen Stuhl geworfen, den Kopf in die Hände gestützt und schluchzte zum Gotterbarmen. Stumm nahm er den Brief von der Erde auf und las: „Lieber Karl! Erschrick nicht. Dein Vater ist erkrankt, und Deine Anwesenheit zu Hause dringend erforderlich. Lass' Dir vom Direktor Urlaub geben und komm' mit dem Nachtzug nach Hause. Auf dem Bahnhof wird das Fuhrwerk Dich erwarten. Dein Ohm Zenthöfer.“

Dem frohen Jüngling waren die Tränen in die Augen getreten. Sanft legte er den Arm seinem Freunde um die Schultern, aber während er ihm Mut und Trost zuzusprechen versuchte, zitterte ihm die Stimme. „Mein lieber Junge, man bloß nicht den Mut verlieren! So schlimm wird's ja nicht sein. Dein Vater wird schon wieder gesund werden!“

Mit einem energischen Ruck richtete Karl Miska sich auf. „Gib dir keine Mühe, Max! Solche Dinge muß man allein tragen. Der Brief verschweigt mehr, als er sagt. Der Vater ist entweder schon tot, oder...“ Er biß die Zähne zusammen, als wenn er alle Kraft aufbieten müßte, um nicht in rasender Angst das hinauszuschreien, was schon wie ein böser Alp wochenlang auf ihm gelegen hatte.

Es mußte wohl eine ganze Menge Willenskraft in dem jungen Menschen stecken. Denn ruhig, aber bestimmt hatte er die Begleitung des warmherzigen Freundes abgelehnt, war festen Schrittes zum Direktor gegangen und hatte sich unter Vorzeigung des Briefes für einige Zeit Urlaub erbeten. Dann hatte er seinen kleinen Koffer mit den notwendigsten Kleidungsstücken gefüllt und war nach dem Bahnhof gegangen. Ruhelos wanderte er auf dem schwach beleuchteten Perron auf und ab, von einem Ende zum anderen. Am liebsten hätte er einen der hölzernen Laternenpfähle umfaßt, seinen Kopf darangelegt und bitterlich geweint…

2.

Vor der Tür hatte Ohm Zenthöfer sich von ihm verabschiedet. Vergeblich hatte der alte, liebe Mann ihm zugeredet, zu ihm nach Hause zu kommen und den Abend in seiner Familie zu verleben. Karl hatte es bei allem Dank für die liebevolle Fürsorge des väterlichen Freundes entschieden abgelehnt. Sollte er mit seinem verstörten Wesen den Leuten zur Last fallen? Jedes Wort, das er aussprach, mußte er sich ja selbst förmlich abringen. Nein, solche Dinge muß der Mensch, wie er schon seinem Schulkameraden vor drei Tagen gesagt hatte, allein tragen.

Vor drei Tagen! Ihm kam es vor, als wenn die Schulzeit schon drei Jahre hinter ihm zurückläge. Es schien ihm ganz unfaßbar, daß er noch vor drei Tagen ein Schüler war, im Grunde seines Herzens ein frischer, fröhlicher Gesell, eben nach der Prima versetzt, der mit ehrlichem Eifer auf die rote Mütze zusteuerte, das Zeichen des bestandenen Abiturientenexamens.

Und im innersten Winkel seines Herzens, da hatte schon leise die Hoffnung aufgekeimt, daß eine gewisse Jemandin ihm den ersten Albertus für die rote Mütze schenken würde. Sie trug zwar noch lange, blonde Hängezöpfe und lachte aus ihren blauen Augen die Welt noch ganz unbekümmert um ihre Zukunft an. Aber in zwei Jahren war sie eingesegnet, und dann wäre es wohl an der Zeit gewesen, ehe er zur Universität ging; sie du fragen, ob sie dereinst seine geliebte Frau Pfarrerin werden möchte. Denn Geistlicher wollte er werden, schon um den Wunsch seiner über alles geliebten, leider zu früh verstorbenen Mutter zu erfüllen.

Ach, wenn die Mutter doch noch am Leben wäre! Vielleicht oder sogar wahrscheinlich wäre alles anders gekommen.

Mit müden, langsamen Schritten war er die Steintreppe zum Hause emporgegangen, hatte seinen Hut und Überzieher im Flur an die Knagge gehängt und dann zögernd die Tür zum Wohnzimmer geöffnet. Es war, als müßten die Eltern ihm entgegentreten, so wie einst vor Jahren, wenn er als fröhlicher Tertianer nach Hause kam und jubelnd in die Stube sprang und nicht wußte, wem er zuerst um den Hals fliegen sollte, der Mutter, die schon die Hände nach ihm ausbreitete, oder dem Vater, dem er erst die Pfeife aus dem Mund nehmen mußte, um ihm einen Kuß zu geben.

Die Sonne war eben untergegangen. Grellrot stand das Abendrot am Himmel und füllte das große Zimmer mit blendendem Scheine. Noch nie war es ihm so groß und so leer erschienen. Ihm war, als wenn sein Denken aufgehört hätte, untergegangen wäre in ein unglaubliches, dumpfes Gefühl, das wie eine schwere Last auf ihm lagerte. Ganz mechanisch ging er durch die Stube bis zur gegenüberliegenden Wand. Da hingen zwischen Rehkronen und Hirschgeweihen die Gewehre seines Vaters. Jahrelang waren sie das Ziel seiner glühenden Sehnsucht gewesen. Er hatte es gar nicht erwarten können, bis er so weit erwachsen war, daß ihm der Vater die Erlaubnis, zur Jagd zu geben. erteilte. Im vorigen Herbste war er zum erstenmal mit zur Hühnerjagd gewesen. Da, mit dieser Flinte. Er nahm sie vom Nagel, klappte sie aus und sah durch die Läufe. Mitten zwischen den Gewehren hing an der Wand sein Patronengürtel. Noch sieben Patronen waren darin... Eine einzige würde genügen...

In diesem Augenblick hatte er die Empfindung, als wäre er nicht allein in der Stube. Ihm war, als stände er selbst wie ein zweites Ich daneben, und diese Gestalt flüsterte ihm zu: „Was zauderst du noch? Mach' doch Schluß, schmeiß` den ganzen Krempel von dir! Es ist ja nur ein Augenblick!“ Aber sein anderes Ich wehrte sich dagegen. Nicht mit Worten, nur mit dem Gefühl. Er hatte den Großvater gesehen, der von dem Polen erschlagen worden war. Genau so würde er auch aussehen.

Und wenn die Leute auf den Schuß herbeilaufen würden, dann würden sie sagen: „Schade um den Karl!“

Bei diesem Gedanken flossen die beiden Gestalten seines Ichs wieder in eins zusammen. Ihn überkam eine Rührung, die Rührung des Mitleids mit sich selbst. In all den Tagen war sein Auge trocken geblieben. Jetzt stellte er das Gewehr in die Ecke, lehnte den Kopf an die kalte Wand und weinte bitterlich. Hinter ihm ging die Tür. Der alte Kämmerer Pehlke war eingetreten, hatte die Scheunenschlüssel an das große Schlüsselbrett gehängt und wartete nun still darauf, daß sein junger Herr ihn anreden würde. Aber er wartete vergeblich darauf. Das Abendrot war verglüht, die Schatten der Nacht waren in das Zimmer gekrochen. Nur ganz undeutlich sah er an der Wand neben den Gewehren seinen Herrn stehen. In der alten, treuen Seele mochte so etwas wie Verständnis aufdämmern. Vielleicht war es nur ein dunkles Ahnen, daß dem jungen Menschen da drüben die Nähe der Gewehre gefährlich werden könnte.

Ein paarmal hatte er sich ganz vernehmlich geräuspert, aber vergeblich. Also mußte er einen kräftigeren Anlauf nehmen.

„Junger Herr... junger Herr! Ich möcht' mal fragen, wie das morgen wird... ich mein' mit der Wirtschaft.“

Keine Antwort.

„Junger Herr! Der Roggen auf dem Schlag am Teich ist trocken. Soll ich den morgen fahren lassen? Der Kuba mit dem Tiger kann hinterher harken. Und dann möcht' ich vorschlagen: Wir kriegen zu morgen sechs Mann aus dem Dorf; die wollen wir an den Weizen schicken. Er ist knochentrocken und todreif.“

Noch immer keine Antwort.

Jetzt packte den alten Mann die Angst. Mit langen Schritten kam er durch die Stube: „Junger Herr! Karlchen! Red' doch e' Wort!“

Langsam drehte der Jüngling sich um: „Is gut, Pehlke. Wie du machst, is gut. Und jetzt kannst du gehen.“

„I, wo werd' ich, Karlchen! Fällt mir gar nicht eint Du könnt'st am End' noch e' Dummheit machen!“

Unwillkürlich war Karl zusammengefahren. Das Wort aus treuem Munde hatte gesessen. Er hätte auffahren mögen und den Alten mit harten Worten anlassen; aber die Treuherzigkeit des grauhaarigen Mannes, der schon seinem Vater und Großvater gedient, entwaffnete ihn.

„Nimm man nich übel, Karlchen, daß ich das gesagt habe. Aber mir fuhr das nur so raus. Na, nu sag` selbst, hab' ich nicht recht? Ein Unglück ist ja über euch gekommen. Deinen Großvater hat der Pollack erschlagen, und deinem Vater hat der liebe Gott den Verstand genommen, aber selbst totgeschossen hat sich noch kein Miska!“

In seiner Herzenseinfalt hatte der Alte wieder das richtige Wort gefunden. Dem jungen Manne klang's in den Ohren, als wenn ihm jemand das Wort Selbstmörder zugeschrien hätte! Und eine zweite Stimme in ihm wurde wach, die wiederholte fortwährend: „Du Feigling!“ Mit langen Schritten begann er in der Stube auf und ab zu gehen. Wie aus weiter Ferne drangen die Worte des alten Mannes in sein Ohr:

„Fünfundfünfzig Jahre, von meinem fünfzehnten Jahre an, bin ich nun schon hier bei euch Miskas im Dienst, und mein Großvater hat mir erzählt, daß wir Pehlkes, so lange ein Mensch zurückdenken kann, bei euch Kämmerer gewesen sind. Du brauchst ja bloß die alte Familienbibel aufzuschlagen Da stehen sie ja alle aufgeschrieben, wie die Edelleute, einer hinter dem anderen, und immer ist die Besitzung vom Vater auf den Sohn gegangen. Und jetzt soll ich auf meine alten Tage noch einen neuen Herrn kriegen? Nein, Karlchen, das kannst du nicht wollen. Das mit der Dummheit, das habe ich vorhin so rausgesagt. Das traue ich dir auch gar nicht zu. Aber ich mein', du wirst hier nicht weggehen, wenn es dir auch schwer fällt. Denn was wirst du mal deinem ältesten Jungen sagen, wenn er dich fragt: Vater, weshalb hast du die Besitzung, die all die langen Jahre in unserer Familie gewesen ist, weggegeben?“

Jedes Wort, das der alte Mann sprach, kräftigte in dem jungen den Entschluß, der sich langsam in ihm emporrang: den Kampf des Lebens aufzunehmen; nicht nur den Kampf um das Dasein, sondern auch den Kampf um die väterliche Scholle. So etwas wie Stolz, ein Stolz auf sein Geschlecht, quoll in ihm empor. Mochte der Blitz auch den alten Stamm getroffen haben: aus der Wurzel war ein junges, kräftiges Reis emporgeschossen, biegsam und zäh, das der Sturm wohl niederdrücken, aber nicht brechen konnte! Aus dieser Empfindung heraus kam die Frage, die den Alten im ersten Augenblick überraschte:

„Wie ist die Ernte dieses Jahr, Pehlke?“

„Gut, junger Herr, gut! Vielleicht könnt' man sogar sagen sehr gut, wenn wir alles trocken reinkriegen.“

„Willst du nicht morgen den Roggen einfahren?“

„Ja, junger Herr.“

„Wie lange wird es dauern, bis wir ihn dreschen können?“

„Hm. Na, wenn`s nötig ist, dann können wir ihn vom Fuder gleich in die Maschine schmeißen.“

„Bei wem habt Ihr immer den Roggen verkauft?“

„Beim Hirschberg, junger Herr, in Lyck. Das ist ein anständiger Jud'. Und das Geld zahlt er auf ein Brett aus. Wenn Sie wollen, können Sie morgen zu ihm fahren und ihm sagen: ich habe 300 Scheffel Roggen, die ich Ihnen in acht Tagen liefere; geben Sie mir das Geld dafür. Sie kriegen's.“

„Und was wird der Weizen bringen, Pehlke?“

„Ich schätze aufs achte Korn, junger Herr, und der Weizen preist gut dieses Jahr.“

„Wann wirst du den Weizen hauen lassen?“

„Na, ich sagt' schon: morgen, junger Herr, aber Sie haben wohl nicht gehört. Mit sechs Mann.“

„Könnt' man den auch schon dem Hirschberg verkaufen?“

„Aber ja doch, Karlchen. Du kannst e' ganz gehöriges Stück Geld aus dem Getreide machen Aber bloß eins möchte ich sagen: Die Saat müssen wir zurückbehalten. Denn unser Weizen ist gut, und was wir im nächsten Frühjahr bezahlen müßten, das weiß man nicht.“

Frohen Mutes war der Alte eine Stunde später aus dem Herrenhause nach seiner Wohnung gegangen. Bis in die kleinsten Einzelheiten hatten sie den Stand der Wirtschaft und alles, was so drum und dran hing, besprochen. Der machte keine Dummheit mehr, der Karlchen. Der wußte jetzt, was er wollte. Und er wollte! Er wollte die Scholle festhalten, die sein Geschlecht seit Jahrhunderten besessen. Und er, der alte Pehlke, kannte das Geschlecht! Der eine war jach und heftig in seinem Temperament, der andere still und friedfertig, aber alles waren sie gute Wirte gewesen, die in redlicher Arbeit für sich und ihre Nachkommen sorgten und schafften. Auch der vorletzte, bis der liebe Gott ihm den Verstand getrübt hatte… Hätte der Alte gewußt, wie schwer sein junger Herr noch in derselben Stunde mit sich zu ringen hatte, er wäre nicht so frohgemut nach Hause gewandert.

Hinter ihm war die Josepha gekommen, die alte Köchin, die nun auch schon weit über ein Menschenalter hinaus im Miskaschen Hause diente. Sie hatte nach Weiberart ihrem jungen Herrn all das Böse und Unangenehme aufgetischt, das seiner wartete: daß die Instleute schon ein Jahr und länger gar kein bares Geld, nur Naturalien als Lohn erhalten hätten, daß die Kaufleute in der Stadt schon mehrmals den Vater gemahnt und mit der Klage gedroht. Und als die Alte gegangen, nachdem sie den Tisch abgeräumt, da war die schwerste Stunde über den jungen Menschen gekommen. Da war die Erinnerung in ihm aufgelebt, wie Ohm Zenthöfer, der Jugendfreund seines Vaters, ihn nachts auf dem kleinen Bahnhof empfangen und ihm unterwegs so schonend als nur irgend möglich die traurige Kunde beigebracht, daß sein Vater zwar leiblich gesund, aber von einer Wahnvorstellung befallen wäre, die ihn zur Leitung seines Anwesens untauglich mache. Kein Mensch hätte geahnt, was kommen würde; als der Vater erst den Stall, der noch gute 50 Jahre hätte stehen können, abbrechen ließ, um einen neuen auszuführen. Dann hätte sich dieselbe Geschichte mit der Scheune und zuletzt mit dem Wohnhaus wiederholt. Er, Zenthöfer, habe schon damals den Verdacht gehabt, als wenn sein lieber Jugendfreund unter einer Wahnvorstellung handelte. Dann wäre es immer klarer hervorgetreten. Erst hätte er dem Nachbar Walendy fast täglich mit dem Vorschlag in den Ohren gelegen, er wolle ihm ein neues Wohnhaus aufbauen. Schließlich hätte er sich den verlumpten Wirt Skok vorgenommen und ihm eingeredet, er würde ihm auf seine eigenen Kosten eine neue Scheune bauen. Der Kerl hätte anfangs dazu gelacht, aber schließlich eingewilligt, als Miska ihm in vollem Ernst den Vorschlag machte, sich vor dem Notar in der Stadt zur Erbauung der Scheune zu verpflichten. Da habe er es für seine Pflicht gehalten, einzugreifen. Erst war es ihm ganz unfaßbar erschienen, was Ohm Zenthöfer ihm erzählte. Der Vater, sein ruhiger, kluger, verständiger Vater... er mochte das landläufige Wort für diesen Geisteszustand nicht einmal in Gedanken hören. Aber es war kein Zweifel daran möglich. Das hatte er am anderen Vormittag gesehen, als der Kreisphysikus kam, den Ohm Zenthöfer bestellt hatte, um den Vater auf seinen Geisteszustand zu untersuchen. Scheinbar vernünftig, mit allen möglichen Gründen, hatte er sein Vorhaben, dem versoffenen Skok eine neue Scheune zu bauen, verteidigt. Vergeblich hatte ihn Ohm Zenthöfer darauf aufmerksam gemacht, daß er ja nur mit der äußersten Mühe das Kapital zur Erbauung seines eigenen Wohnhauses aufgebracht hätte...

Mit der Zähigkeit eines Geisteskranken hatte der Vater daran festgehalten, daß er dem verlotterten und verarmten Bauer die Scheune bauen müßte. Dann würde ein anderer Geist in den Kerl einziehen; er würde einsehen, daß er bisher schlecht gewirtschaftet habe und ein neues Leben anfangen. Dann war der Arzt ins Nebenzimmer gegangen und hatte über eine Stunde lang ein ausführliches Gutachten niedergeschrieben. Währenddessen hatte er mit Ohm Zenthöfer beim Vater gesessen. Die beiden Männer hatten sich über alles mögliche, über die Wirtschaft, über Getreidepreise, über Vieh, kurzum über das, was den Landwirt in erster Linie angeht, unterhalten, und dabei hatte sein Vater genau so gesprochen, als wenn er nie ein Quentchen seines Verstandes eingebüßt hätte! Und dann war die traurigste, die schrecklichste Szene gekommen, als die beiden Männer dem Vater einredeten, daß dicht bei Allenstein auf einem großen Gut Gebäude zu errichten wären, und die könne kein Mensch fertig bekommen, wenn er nicht mit seinem Rat und vielleicht auch mit der Tat dort eingriff. Begierig hatte der Kranke den Gedanken aufgenommen; noch an demselben Tage wollte er hinfahren; das ginge nicht, daß die Leute da in Verlegenheit blieben... Wenn es nur an ihm läge, er wolle gern helfen...

Wie ein Verzweifelter hatte der arme Junge dabei ausgeschrien. Da hatte der Vater sich zu ihm gewandt, ihm mit der Hand über das Haar gestrichen und gesagt: „Das freut mich, mein Jungchen, daß du so denkst. Die armen Leute können doch nicht in Verlegenheit bleiben. Ich werde gleich morgen hinfahren.“ Und freudig hatte er zugestimmt, als Ohm Zenthöfer ihm erklärte, da müßten sie auch dabei sein, er und Karl.

Das Herz krampfte sich zusammen, als die Erinnerung daran ihn packte. Als er den Ohm Zenthöfer nach dieser Szene hinausbegleitete, da war er ihm um den Hals gefallen und hatte laut aufgeschluchzt, und während der alte Freund seines Vaters ihn umfaßte und ihm freundliche Trostworte zusprach, da waren auch ihm aus den Augen die Tränen gerollt wie die Erbsen.

Heute früh hatte er vom Vater Abschied genommen.

Der saß schon ganz vergnügt über allerlei Bauplänen, die ihm die Ärzte in der Anstalt angeblich zur Begutachtung vorgelegt hatten. Er hatte es für ganz selbstverständlich erachtet, als ihm Karl mitteilte, daß er aus der Schule gehen und vorläufig nun zu Hause die Wirtschaft übernehmen würde.

In wenigen Augenblicken durchlebte er immer und immer wieder die ganze Geschichte. Manchmal war es ihm zumute, als wäre der Vater gestorben, und er hätte ihn heute begraben... das andere war ja nur ein böser Traum... Wenn er dann wieder zum vollen Bewußtsein der Wirklichkeit kam, dann fühlte er förmlich den Wunsch in sich emporsteigen, daß der Vater wirklich tot wäre. Wenn er den leiblichen Tod gestorben wäre, etwa von einer Krankheit oder gar von einem Verhängnis, wie der Großvater, dahingerafft, dann wäre sein Bild in ihm lebendig geblieben, das Bild, wie er in der Vollkraft seiner Jahre ihm ein liebender Vater gewesen, zu dem er voll Ehrfurcht und Bewunderung emporschaute.

Aber jetzt, dieses Bewußtsein mit sich herumtragen, zu wissen, daß der Vater körperlich lebte und geistig tot war, das schien ihm in manchen Augenblicken schwerer, als Menschenkraft zu ertragen imstande ist.

3.

Spät erst nach Mitternacht hatte Karl sein Bett ausgesucht und dann stundenlang wie ein Toter geschlafen. Der jugendliche Körper forderte nach den Aufregungen der letzten Tage sein Recht. Und mit der körperlichen Erfrischung begann sich auch sein Geist auszurichten. Das ist ja das herrliche Geschenk, das die gütige, allweise Mutter Natur der Jugend in die Wiege gelegt hat, diese Elastizität des Geistes, dies Gemisch aus Leichtsinn und Hoffnungsfreudigkeit, das wohl von einem Schicksalssturm erschüttert, aber nicht ertötet werden kann. Als er erwachte, stand die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel. Auf dem Hofe war alles still und leer. Die Leute waren schon stundenlang an der Arbeit.

Er zog sich an, ließ sich von der alte Josepha einen Topf Milch und ein Stück Grobbrot geben und ging, nachdem er dieses einfache Frühstück mit bestem Appetit verzehrt hatte, zum Ohm Zenthöfer. Der alte Herr war nicht mit ihm verwandt. Er war nur ein Spielkamerad und Jugendfreund seines Vaters. Aber in Ostpreußen ist es Sitte, daß die Kinder befreundeter Familien auf die Erwachsenen Ohmchen und Tante sagen.

Ohm Zenthöfer war eben vom Felde heimgekehrt und hatte einen anständigen Appetit mit nach Hause gebracht. Er saß beim Frühstück und widmete sich mit Eifer und Ausdauer all den schönen Dingen, die auf einem ostpreußischen Gutshof zur Ernährung des Menschen vorhanden sind. Ob er wollte oder nicht, Karl mußte am Tisch Platz nehmen und zugreifen, denn Ohm Zenthöfer erklärte energisch, mit einem hungrigen Menschen sei viel schwerer zu verhandeln als wie mit einem satten. So nebenbei fragte er, was für Arbeiten der Pehlke heute angeordnet hätte, und wunderte sich, als Karl darüber ganz genau Bescheid wußte. Das hatte er nicht erwartet oder gehofft. Schließlich kam der Moment, in dem er Messer und Gabel weglegte, sich den mächtigen Schnurrbart wischte und sagte: „Nun, mein Junge, wollen wir mal vernünftig über deine Zukunft sprechen. Hast du dir schon welche Gedanken darüber gemacht?“

„Gewiß, Onkel. Ich will die Scholle meiner Väter festhalten; ich will wirtschaften! Und wenn du mir mit deinem Rat zur Seite stehen willst...“

„Langsam, powoli, ruhig Blut. Das will sehr reiflich überlegt sein, mein lieber Karl. Hast du schon einen vollen Überblick über deine Lage?“

„Nein, Onkel.“

„Na, denn will ich dir mal ungefähr sagen, was ich weiß. Deine vierhundert Morgen sind zum allergrößten Teil guter, kleefähiger Boden, auf dem auch Weizen wächst. Sie sind bis auf die letzten zwei, drei Jahre, ehe dein Vater zu bauen anfing, in vorzüglichster Kultur gewesen. Was in dieser Zeit versäumt ist, läßt sich ja bald nachholen. Die Ernte in diesem Jahr ist gut, du wirst dafür ein Stück Geld einnehmen. Aber wenn du vorwärts kommen willst, dann muß davon ein nicht zu kleiner Posten zur Neubeschaffung von Vieh usw. verbraucht werden. Es wird dir also nicht zu viel zum Bezahlen von Schulden übrig bleiben. Und davon ist leider mehr vorhanden, als gut ist. Dein Vater hat das Gut bis über die Puppen belastet, und wenn man das Ding beim richtigen Namen nennen will, dann muß man sagen, dir gehört nicht ein Ziegel mehr von der ganzen Besitzung.“

„So schlimm habe ich's mir allerdings nicht gedacht, lieber Onkel. Aber wenn es auf irgendwelche Weise durchzusetzen ist, dann will ich die Besitzung zu halten suchen.“

„So, dich lockt wohl die Aussicht, hier den Herrn Gutsbesitzer zu spielen?“

„Nein, Onkel, damit tust du mir unrecht. Bei Gott, ich möchte lieber auf der Schulbank sitzen und den Horaz lesen. Ich habe gern gelernt, Onkel, und mich auf das Studium gefreut. Wenn ich mich entschließe, hier zu bleiben, dann begrab` ich all die Gedanken, die ich mir bisher über meine Zukunft gemacht habe. Du weißt, es war der Wunsch meiner Mutter, daß ich Pfarrer werden sollte“

„Ja, mein Jungchen, das weiß ich. Übrigens diese Hoffnungen müßtest du sowieso einpacken. Denn wenn du die Besitzung verkaufst, dann bleibt dir nicht so viel übrig, daß du acht Tage in Lyck leben kannst. Du müßtest dich also schon entschließen, einen Beruf zu erwählen, der dir sofort einen Unterschlupf bietet. Wie wär's, wenn du auf einem großen Gut als Lehrling eintreten möcht'st. Da könnte ich dich unterbringen.“

„Nein, Onkel, ich danke dir für deine Fürsorge. Aber lass' mich den Weg gehen, den ich mir vorgezeichnet habe. Zwing' ich es nicht, kann ich mein Erbe nicht für mich und meine Nachkommen erhalten, dann werde ich deine Güte in Anspruch nehmen. Aber ohne Kampf will ich das Erbgut meines Geschlechts nicht fahren lassen. Dann kann ich und keiner mir den Vorwurf machen, daß ich die Flinte ins Korn geworfen habe.“

Jetzt streckte ihm der alte Herr die Hand entgegen.

„Junge, ich habe dich geprüft, und du hast bestanden. Ich fürchtete, du würdest kleinmütig sein, so daß ich dir erst ordentlich einheizen müßte. Nun sage ich dir: Ich halte es für möglich, daß du dich in die Höhe rappelst, und ich wünschte, daß meine Jungens diese Liebe zur Scholle hätten. Aber der eine sitzt in der Stadt als Lehrer, der andere ist Offizier, und keiner will die Klitsche in Masuren übernehmen. Nun schick' mir mal heute abend den alten Pehlke her und komm' selbst mit, daß wir genau ausrechnen, was aus der Wirtschaft in den nächsten Wochen zu machen ist und wieviel davon abgezahlt werden kann. Nun, Gott gebe dir Glück, mein Junge. Noch eins. Ich will dir noch einen guten Rat geben. Besinnst du dich auf die Geschichte in deinem Kinderfreund von dem geheimnisvollen Kästchen?“

„Ach, du meinst, Ohmchen, die Geschichte, wie einer Besitzersfrau die Wirtschaft immer mehr zurückging, ohne daß sie wußte, warum?“

„Ja, die Geschichte meine ich. Wie eine kluge Nachbarin ihr ein geheimnisvolles, verschlossenes Kästchen gab, das sie in jeder Stunde auf einen anderen Platz ihres Hauses und Hofes hintragen mußte. Die Nutzanwendung daraus sollst auch du ziehen.“

„Ohmchen, ich dachte: ich bin jung und stark, ich könnte eine Arbeitskraft sparen und selbst überall mitarbeiten.“

„Ja, das könntest du wohl, aber das wäre unpraktisch. Es ist viel richtiger, wenn du fortfährst mit dem Kästchen, in Haus und Hof hin und her wanderst, das heißt, überall die Aufsicht führst. Das ist mehr wert als körperliche Arbeit. Eine halbe Stunde mußt du bei den Mähern stehen, dann gehst du auf den Torfstich, dann nach Hause, siehst zu, wie abgestakt wird. Jede Metz' Getreide mußt du eigenhändig austeilen, von jedem Liter Milch, das in die Küche kommt, mußt du wissen, wo es bleibt. Die beiden Alten, der Pehlke und die Josepha, sind ehrlich und zuverlässig, aber auf das andere Volk ist kein Verlaß. Da muß man hinterher sein, wenn sie ihren Tagelohn verdienen sollen.“

Am Abend hatte Ohm Zenthöfer mit Hilfe des alten Pehlke in Karls Gegenwart eine ganz eingehende Schätzung der zu erwartenden Einnahmen aufgestellt. Die Gegenrechnung konnte er noch nicht machen, denn Karl hatte zwar im Schreibtisch ein ganzes Bündel unbezahlter Rechnungen gefunden, aber ob das nun alles war, das wußte niemand. Darüber brachten indessen schon die nächsten Tage ziemliche Gewißheit. Als es bekannt wurde, daß der alte Miska ins Irrenhaus gebracht worden war und der junge die Wirtschaft übernommen hatte, liefen von allen Seiten wenig höfliche Mahnungen ein; ja, einige besonders vorsichtige Gläubiger, die bereits eine ausgeklagte Forderung hatten, erschienen persönlich in Begleitung des Hausleerers mit dem blauen Kragen auf dem Hofe, um Vieh, Wagen und Maschinen zu pfänden. Sie waren überrascht und erstaunt, als Karl ihnen ihre Schuldforderungen bar bezahlte unter Vorbehalt der Nachprüfung. Er war am Tage der Unterredung mit Ohm Zenthöfer sofort nach Lyck gefahren und hatte den Getreidehändler Hirschberg aufgesucht. Er kannte den Mann oberflächlich von der Schule her, denn er war mit seinem ältesten Sohn Klasse für Klasse gleichzeitig ausgerückt.

Der erste Empfang war für Karl nicht gerade ermutigend. Der gewiegte Geschäftsmann hatte die Roggenprobe sorgfältig geprüft, die Karl ihm vorlegte, und gemeint, er würde ihm gerne seinen ganzen Vorrat ablaufen. Darauf hatte der junge Mann schüchtern die Bitte vorgebracht, ihm einige hundert Mark Vorschuß auf das Geschäft zu geben. Zuerst hatte Hirschberg in ganz bestimmter Form dieses Verlangen abgeschlagen.

„Dreschen Sie fleißig, Herr Miska, und was Sie mir schicken, werde ich bar bezahlen, genau nach dem Preise, den der Börsenbericht für den Tag angibt, abzüglich der Bahnfracht nach Königsberg.“

Die tiefe Bestürzung, die bei diesen Worten auf Karls Gesicht deutlich hervortrat, mochte ihn nachdenklich stimmen.

„Sagen Sie selbst, Herr Miska, ob Sie an meiner Stelle so handeln würden, wie Sie von mir verlangen? Was weiß ich von Ihnen? Sie sind hier zur Schule gegangen, Sie sind ein fleißiger, ordentlicher Mensch gewesen, das weiß ich von meinem Sohn, der mit Ihnen auf die Schule gegangen ist. Aber ich weiß noch mehr. Ich weiß, daß die Besitzung Ihres Vaters überschuldet ist. Sie verkaufen mir hier 300 Scheffel Roggen, möchten wenigstens die Hälfte des Geldes schon dafür haben, und inzwischen kommen die Gläubiger, legen Siegel `ran, und ich bin der Gemeierte. Hab' ich recht oder nicht?“

„Herr Hirschberg, das will ich ja eben vermeiden. Von ausgeklagten Forderungen sind etwa 600 Mark vorhanden. Wenn ich die bezahle und noch etwas Geld übrig behalte, um meinen Leuten, die auch Lohn verlangen, eine Abschlagszahlung geben zu können, dann habe ich so lange Ruhe, bis ich auch den Weizen gedroschen habe. Es sind auch 60 Fuder Klee da. Das will ich Ihnen alles vor dem Notar verpfänden.“

Überrascht sah der Getreidehändler ihn an. „Wie kommen Sie zu diesen Geschäftskenntnissen, junger Mann?“

„Das hat mir Ohm Zenthöfer gesagt, heute früh, ehe ich wegfuhr, ich sollte Ihnen diesen Vorschlag machen.“

„So, so, der Herr Zenthöfer hat Ihnen das gesagt? Ein kluger Mann, ein umsichtiger Mann, der beste Landwirt im ganzen Kreis. Der hat Ihnen das gesagt?“

„Ja, Herr Hirschberg.“

„Nu, denn gestatten Sie, daß ich weiter frage: Hat er Ihnen nicht gesagt, Sie sollen den ganzen Krempel schmeißen und irgendwelchen anderen Beruf ergreifen als Landwirt?“

In den Augen des jungen Mannes leuchtete es auf.

„Nein, Herr Hirschberg, er hat meinen Entschluß gutgeheißen, den Kampf um die väterliche Scholle aufzunehmen. Ich will festhalten, was meinem Geschlecht jahrhundertelang gehört hat. Ob ich's durchführen werde, das ist eine andere Frage. Aber den Willen dazu habe ich, Herr Hirschberg.“

„Das ist viel, was Sie sagen, das ist sehr viel, mein junger Freund. Aber nun werde ich Ihnen auch was sagen. Ihren Herrn Vater hat der liebe Gott mit einem schweren Schicksal getroffen. Er war ein guter Freund von mir. Wir haben manche Partie L'hombre beim Kelterborn zusammen gespielt, und ich habe nie geglaubt, daß der kluge Mann solche Dummheiten machen würde. Entschuldigen Sie, lieber Freund. Ich meine mit dem Wort was anderes; er konnte ja nichts dafür, er hatte keine Verantwortung Und wenn das schwere Schicksal nicht über ihn gekommen wäre, dann würden Sie noch heute mit meinem Siegfried zusammen auf Prima sitzen. Na, es ist anders gekommen. Der liebe Gott hat Sie aus der Schule genommen und mitten in das Leben gestellt. Vielleicht wird es zu Ihrem Segen sein.“

Er wandte sich rasch ab, nahm aus dem Geldschrank ein Dutzend blauer Scheine und legte sie Karl auf den Tisch.

„So, mein junger Freund. Jetzt unterschreiben Sie hier noch die Quittung, und dann fahren Sie mit Gott nach Hause. Sie werden jetzt viel mit sehr schlechten Menschen zu tun haben. Da ist es gut, wenn Sie erfahren, daß es auch noch andere Menschen gibt. Es werden viele Leute kommen und Forderungen an Sie erheben. Da seien Sie hartnäckig. Sie können nachweisen, daß Ihr Herr Vater schon jahrelang von der fixen Idee beherrscht worden, daß er nicht mehr ganz dispositionsfähig war. Machen Sie auch den Einwand, es wäre möglich, daß die Forderung bezahlt ist. Lassen Sie jeden schwören, daß er noch kein Geld bekommen hat. Es werden manche sein, die nicht werden schwören wollen. Und nun grüßen Sie Herrn Zenthöfer recht schön von mir. Tun Sie nichts, was er nicht vorher gutgeheißen hat. Die Erfahrungen, die schon ein anderer gemacht hat, braucht man nicht noch einmal zu machen. Außerdem: es ist billiger! Adieu, Herr Miska!“

4.

Die nächsten Wochen vergingen wie im Fluge. Frühmorgens, wenn Pehlke zur Arbeit läutete, saß Karl schon bei seinem Frühstück, das nach wie vor aus einem Topf Milch und einem Stück Grobbrot bestand. Dann ging er auf den Hof, sah zu, wie die Knechte die Gespanne anschirrten, fuhr mit ihnen hinaus aufs Feld, wanderte zu Fuß wieder nach Hause, ging durch die Ställe, um nachzusehen, ob das Vieh sein Futter erhalten hatte, kam in die Küche, überwachte das Ausmessen der Milch, die in mehreren großen Kannen zur Molkerei geschickt wurde, und besprach mit der alten Josepha, was für die Leute und ihn zu Mittag gekocht werden sollte. Anfangs wollte die treue Seele ihm noch ein Extragericht zu Mittag bereiten, und er hatte Mühe, sie davon zu überzeugen, daß die Kost, die den unverheirateten Knechten gereicht wurde, auch für ihn gut genug sei. Mit einemmal war ein frischer, flotter Zug in die Wirtschaft gekommen. Karl war eben hinten und vorn, und die Leute merkten, daß sie unter steter Aufsicht standen. Das allein genügte schon, um ihre Leistungen wesentlich zu erhöhen. Karl hatte nicht nötig, einen oder den anderen anzufahren. Er hätte es auch nicht getan, denn er war von Natur etwas schüchtern und hätte kaum die richtigen Worte gefunden, um einen lässigen Arbeiter anzutreiben.

Es war wirklich bewundernswert, was in diesen Wochen auf der Besitzung geleistet wurde. Mitten zwischen der Ernte und den Vorbereitungen für die Herbstbestellung hatte Pehlke die Dreschmaschine fleißig gehen lassen und so ziemlich alles Getreide ausgeklappert. An jedem Regentage fuhren die Reisewagen, hochbeladen, nach Lyck und lieferten Roggen und Weizen an Hirschberg ab. Der alte Kämmerer hatte die Sachlage ganz genau begriffen. Er wußte, wieviel es darauf ankam, die Gläubiger wenigstens zum Teil zu befriedigen, um sie davon abzuhalten, eine Zwangsversteigerung zu beantragen. Auf den Rest mußten sie eben noch warten.

Karl hätte gern allen, die ihm eine Rechnung vorlegten, gleich das Geld auf den Tisch gezählt. Aber erstens hatte er es nicht, und zweitens durfte er keine Zahlung leisten, zu der nicht vorher Ohm Zenthöfer, der freiwillig die Vormundschaft über ihn übernommen hatte, seine Zustimmung gegeben hatte. Es war ja die Frage erörtert worden, ob es nicht besser sei, bei Gericht Karls Mündigkeitserklärung zu beantragen. Unter den obwaltenden Umständen wäre die Einwilligung des Vormundschaftsgerichts wohl zu erlangen gewesen. Aber nach reiflicher Überlegung hatte Ohm Zenthöfer es für richtiger befunden, wenn er noch einige Zeit die letzte Entscheidung für alle Dinge in der Hand behielt. So mußten denn alle Forderungen zuerst bei ihm eingereicht werden, und mancher, der gegen den jungen Besitzer ohne jede Rücksicht vorgegangen wäre, scheute vor den schärfsten Maßregeln zurück, um es mit dem alten Herrn Zenthöfer nicht zu verderben, dessen Einfluß im Kreise sehr weit reichte. Auf die Dauer war aber die letzte Entscheidung nicht aufzuhalten. Die Handwerker, die noch von dem Hausbau her Forderungen hatten, taten sich zusammen, bestellten einen Rechtsanwalt als ihren Sachwalter und beschlossen, gemeinsam vorzugehen.

Glücklicherweise war der Rechtsanwalt ein alter, guter Freund Zenthöfers und einsichtig genug, dessen Urteil in dieser Sache als richtig zu erkennen.

Die Geschichte lag ja so einfach wie möglich. Wenn die Handwerker ihre Forderungen einklagten und gegen Karl vorgingen, dann mußte die Besitzung zur Zwangsversteigerung gestellt werden, und was dabei herauskommen würde, konnte sich jeder an den fünf Fingern abzählen. Dann fielen sie eben alle glattweg aus. Gaben sie dagegen dem jungen Besitzer vorläufig längere Frist und begnügten sich einstweilen mit den Zinsen, dann hatten sie Aussicht, in absehbarer Zeit zu ihrem Gelde zu kommen.

In der ganzen Umgegend wurde natürlich über das Schicksal, das das Haus Miska betroffen hatte, viel sprechen, und merkwürdigerweise fand Karls heldenmütiger Entschluß, sich den Besitz seiner Väter aufs neue zu erkämpfen, eine wenig günstige Beurteilung.

Die meisten meinten, der Versuch wäre aussichtslos, und der junge Mann täte wirklich besser, irgend einen anderen Beruf zu wählen, anstatt die besten Jahre seines Lebens an ein so schweres Unternehmen zu setzen.

Manche, die sehr klug sein wollten, waren der Ansicht, daß der junge Mann sicherlich eine geheime Absicht verfolge. Wahrscheinlich wollte er die Gläubiger, solange es ging, hinhalten und inzwischen ein paartausend Mark aus der Wirtschaft beiseite bringen. Wenn ihm dann das Gut verkauft wurde, dann hätte er seinen Zweck erreicht und die Gläubiger das Nachsehen.

Der alte Zenthöfer, dem alle diese Redereien zu Ohren kamen, war nicht sonderlich erbaut davon. Aber falsche Gerüchte, die mit tausend Zungen durch das Land schwirren, sind nicht leicht zu widerlegen. Am besten, man kehrt sich nicht daran. Will man aber den Kampf mit dem bösen Gerede aufnehmen, dann muß man viele und treue Helfer haben. Und die hoffte Zenthöfer seinem Schützling gewinnen zu können.

Eines Tages forderte er Karl auf, ihn zu der Sitzung des landwirtschaftlichen Kreisvereins in Oletzko zu begleiten. Ein Wanderlehrer würde einen Vortrag halten, aus dem er was lernen könnte. Der eigentliche Zweck war aber der, Karl mit einer ganzen Anzahl älterer Landwirte in persönliche Berührung zu bringen und dadurch das allgemeine Urteil über ihn zum Guten zu bringen, und er konnte sich auf seinen Schützling verlassen. Seine Treuherzigkeit, sein bescheidenes, offenes Wesen mußten ihm überall Zutrauen erwerben.

Der alte, erfahrene Herr hatte ganz richtig gerechnet. Die älteren Mitglieder des Vereins, die noch den Vater gekannt und geschätzt hatten, zogen den Sohn ins Gespräch und freuten sich über seine frische Offenherzigkeit, mit der er erklärte, daß er nicht eher von der Scholle weichen würde, bis die Gläubiger ihm den Stuhl vor die Tür setzten. Als der Abend weiter vorrückte, nahmen die jüngeren Gutsbesitzer Karl in ihre Mitte. Und auch dort wußte er sich Geltung zu verschaffen, denn er war kein Duckmäuser und auch nicht auf den Mund gefallen. Bei diesem und jenem hatte auch Ohm Zenthöfer durch ein kluges, freundliches Wort Stimmung für seinen Schützling gemacht.

Die Folge war, daß das Urteil über Karl völlig ins Gegenteil umschlug, wie es ja so oft der Fall ist, wenn Menschen sich persönlich kennen lernen. Man fand es höchst ehrenwert, daß er das Besitztum, das sein Geschlecht so lange besessen, nicht ohne Kampf verlieren wollte.

Auch nach einer anderen Richtung war der Abend für Karl von Erfolg gewesen. Der Herr Landrat hatte ihn ins Gespräch gezogen und ihn gefragt, weshalb er denn nicht seine Mündigkeitserklärung bei Gericht beantragt hätte. Glücklicherweise war Ohm Zenthöfer in diesem Augenblick zu den beiden getreten und hatte dem Landrat auseinandergesetzt, daß sein Schützling noch zu wenig Erfahrung habe, um sich durch die verwickelten Rechtsverhältnisse hindurchzufinden. Aber wenn der Herr Landrat etwas für Karl tun wolle, dann möge er eine Neuabschätzung des Gutes in die Wege leiten. Die letzte Bonitierung habe vor dreißig Jahren stattgefunden. Inzwischen sei das Gut durch Karls Vater bedeutend in die Höhe gebracht, alle Gebäude seien neu aufgeführt. Da müßte sich doch eine beträchtliche Erhöhung des Wertes und damit der Beleihungsfähigkeit ergeben. Er würde gern für diesen Fall die Aufgabe des Taxators übernehmen.

Die Fürsprache war auf guten Boden gefallen. Schon nach wenigen Tagen fanden sich die anderen Mitglieder der Kommission bei Ohm Zenthöfer ein, und in überraschend kurzer Frist war die neue Taxe fertig, die Karls Gut um mehr als ein Drittel im Werte erhöhte. Damit war die Möglichkeit gegeben, den vereinigten Gläubigern eine Art von Sicherheit zu bieten.

Der erste Ansturm war glücklich abgeschlagen. Am 1. Oktober hatte Karl alle Zinsen bis auf den letzten Pfennig bezahlt, das Pflegegeld für seinen Vater an die Anstalt abgesandt und dann allerdings kaum so viel übrigbehalten, um seinen Leuten zu Martini den Rest des Lohnes, den sie noch zu fordern hatten, zu bezahlen. Ein halbes Jahr war gewonnen. Aber was sollte zum Frühjahr werden, denn Karl hatte unter dem Zwange der Not mehr verkauft, als er eigentlich durfte. Schon zu Jakobi hatte Pehlke ihm den Vorschlag gemacht, allen verheirateten Instleuten zu kündigen und die leer werdenden Wohnungen zu vermieten. Im nächsten Frühjahr würden ja genug Pollacken über die Grenze kommen, um die Bestellung der Sommersaat und später die Ernte durchzuführen. Karl hatte den Vorschlag rundweg abgewiesen. Er wußte ja, worauf der alte, treue Pehlke hinaus wollte. Aber das gerade wollte Karl nicht. Bis auf eine Familie, die im Herbst erst zugezogen waren, saßen die Leute schon seit Jahrzehnten im Dorf und waren ebenso lange auf seiner Besitzung tätig gewesen. Entließ er sie jetzt aus dem Vertragsverhältnis, dann stoben sie in alle Winde davon. Die einen fanden vielleicht irgendwo in der Nachbarschaft ihr Brot, die anderen würden aber ihr Bündel schnüren und davonziehen nach Westen.

Pehlkes Anregung hatte aber bei ihm die Frage ausgelöst, ob die Leute sich nicht vielleicht freiwillig von ihm trennen würden. Sie wußten ja alle ganz genau, wie es mit ihm stand, und hatten manchmal sich mit einer geringen Abschlagszahlung begnügen müssen, anstatt des vollen Lohnes, den sie verdient hatten. Ja seiner Ehrlichkeit war Karl von einem zum anderen gegangen und hatte ihm die Frage vorgelegt, ob er bleiben oder sich eine andere Stelle suchen wollte. Und da war nicht einer, der ihn verließ. Am deutlichsten hatte wohl der alte Stopka, der seit seiner Einsegnung auf dem Hofe war, dem Ausdruck gegeben, was die Leute dachten.

„Junger Herr!“ hatte er gesagt, „wir haben hier viele gute Tage verlebt; jetzt sollen wir Sie im Stich lassen, wenn's mal ein bißchen schlecht geht?“

Einige Zeit später sollte Karl zum zweitenmal erfahren, daß auch unter dem groben Wandkittel des masurischen Losmanns ein treues Herz schlägt. Da war der alte Stopka des Abends nach der Arbeit zu ihm gekommen und hatte gesagt:

„Junger Herr! Was sollen die Leute den ganzen Winter über, ohne etwas zu tun, in der Stube liegen? Wir könnten doch ebensogut arbeiten. Und wir wollen arbeiten! Ich hab' das mit den anderen schon besprochen, und wir sind einig. Wenn Sie möchten das Stubbenroden und das Holzrücken in der Forst übernehmen, dann brauchen Sie aus Ihrem Stückchen Wald nichts rauszunehmen oder zu kaufen. Und mit dem Holzrücken ist ein schönes Stück Geld zu verdienen. Sie müssen man sich gleich aussehen und nach Lötzen fahren und mit den großen Holzhandlungen dort abschließen. Wenn's dort nicht wird, fahren Sie gleich weiter nach Lyck und sehen zu, daß Sie beim Oberförster den ganzen Schlag hier von Theerbude und Polommen bekommen“

Der Vorschlag des Alten kam so überraschend, daß Karl im ersten Augenblick nichts erwidern konnte als er würde sich die Sache überlegen. Aber er fühlte sofort, daß sich vor ihm die Möglichkeit auftat, den Winter über das Geld zu verdienen, das er am ersten April für seine Gläubiger benötigte. Ohm Zenthöfer, zu dem er auch noch an demselben Abend hinüberging, war gleichfalls freudig überrascht. Er hatte schon manchmal mit schwerer Sorge daran gedacht, wie sein junger Freund den Ostertermin überstehen sollte. Wenn es ihm gelang, nur von einer großen Holzhandlung die Holzrückerei zu erhalten, dann konnte er mit seinen acht Gespannen den Winter über ein schönes Stück Geld verdienen. Es fragte sich nur, ob der Verdienst nicht schon an einen anderen vergeben war. Da hieß es schnell handeln.

Schon am nächsten Tage im ersten Morgengrauen setzte sich Karl auf den Wagen und fuhr nach Lötzen. Er hatte Glück. Als er ziemlich zaghaft die Tür zum Kontor der großen Holzhandlung von Lehmann aufdrückte, stand ein junger Mann vor ihm, der ihn mit dem erstaunten, aber freudigen Zuruf begrüßte: „Mensch, Karl, wo kommst du her?“ Es war Fritz, der älteste Sohn des Hauses, der vor einem Jahr mit dem Einjährigen-Zeugnis von der Schule abgegangen war, um bei seinem Vater in die Lehre zu treten.

Ein Wort gab das andere, und in wenigen Minuten hatte Karl einen Fürsprecher gefunden, der ihm bei seinem Vorhaben den Weg ebnete. Ohne alle Verhandlungen hatte der alte Herr Lehmann, ein Geschäftsmann des guten, alten Schlages, ihm die Holzrückerei in der ganzen Oberförsterei übertragen. Jetzt war sein Besuch in Lyck beim Oberförster überflüssig, denn er hatte so viel Arbeit bekommen, daß er sie kaum mit seinen acht Gespannen bewältigen konnte. Beim Abschied hatte sein Schulkamerad ihm noch gesagt, er könne jederzeit einen Vorschuß bekommen, er brauchte nur ein paar Zeilen an ihn zu schreiben.

So war wieder alles anders gekommen, als Karl es erwartet hatte. Er hatte sich vorgenommen, den Winter über fleißig in seinen Schulbüchern zu studieren. Er wollte allein weiterarbeiten und sich so weit fördern, daß er, falls das Geschick ihn von Haus und Hof vertrieb, das Abiturientenexamen als Extraneus bestehen konnte. Aber zum Lernen kam er jetzt nicht. Er fuhr früh bei Tagesgrauen mit seinen Leuten in den Wald, legte überall selbst mit Hand an, und wenn er abends müde und abgearbeitet nach Hause kam, dann hatte er nur den einen Wunsch, schnell ein paar Happen zu essen und dann seine müden Glieder im Bett auszustrecken.

Nach vierzehn Tagen, als er den Leuten den ersten Lohn zahlte, hatte er sein geringes Barvermögen völlig erschöpft. Er setzte sich also hin und schrieb seinem Schulkameraden Fritz Lehmann nach Lötzen ganz genau, was er in dieser Zeit mit seinen Gespannen geschafft habe, und bat um einen kleinen Vorschuß. Schon am dritten Tage hatte er das Geld in der Hand. Ein Gefühl der Sicherheit kam über ihn. Immer seltener wurden die Augenblicke, in denen er mit Wehmut an die schöne, sorgenfreie Schulzeit zurückdachte. Nur der Gedanke an das Weihnachtsfest trieb ihm manchmal die Tränen in die Augen. Schon in den letzten Jahren hatte er mit seinem Vater allein beim brennenden Weihnachtsbaum gesessen. Aber es war doch der Vater, der bei ihm saß, wenn auch still und schweigsam, wie es seine Gewohnheit war. Jetzt würde er mutterseelenallein ohne Baum dasitzen und trüben Gedanken nachhängen. Er wußte nicht, daß das Geschick ihm eine herzhafte Weihnachtsfreude zugedacht hatte. Als er eines Tages vom Walde nach Hause fuhr, sah er schon von weitem die Fenster seines Wohnhauses erleuchtet. Im ersten Augenblick kam so etwas wie ein Angstgefühl über ihn. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wer oder was da auf ihn wartete. Ein Besuch mußte es sein, denn sonst würde sich die alte Josepha nicht die Mühe gemacht haben, die große Hängelampe anzuzünden. Es war wirklich ein Besuch, und ein sehr lieber. Als Karl in die Stube trat, fiel ihm sein Intimus von der Prima, Max Kerwin, um den Hals.

„Ist das nicht ein famoser Gedanke von mir, dich auf deiner Klitsche aufzusuchen? Du natürlich läßt von dir nichts hören. Wir dachten, du würdest zur Kneipe des Sängerkränzchens wenigstens kommen. Wir haben dir doch `ne Einladung geschickt.“

Karl lächelte. „Ja, das habt ihr, und ich danke euch dafür. Aber kneipen und Feste feiern, das hat für mich, wenigstens vorläufig, aufgehört. Übrigens, wie lange bleibst du?“

„Na, wenn du mich nicht rauswirfst, die ganzen Feiertage über.“

„Wollen dich denn deine Eltern nicht zu Weihnachten haben?“

„Ach, lieber Karl, da will ich dir reinen Wein einschenken. Wir älteren Kinder, meine Schwester und ich, fühlen uns zu Hause überflüssig, seitdem wir eine Stiefmutter haben. Du hast deine Eltern verloren, aber wenigstens noch dein Elternhaus über deinem Kopfe. Glaube mir, es ist viel schlimmer, wenn es einem Menschen so geht wie mir, wenn man sich im Elternhause nicht mehr zu Hause fühlt. Am meisten tut mir ja meine arme Schwester leid. Die hat`s nicht leicht bei der Stiefmutter. Na, davon später... Nu sag' mir mal, alter Knabe, was hast du in dieser Zeit geschafft?“

Er trat ein paar Schritte zurück und musterte Karl von oben bis unten. „Nimm's mir nicht übel, aber du siehst schon wie ein richtiger Bauer aus!“

„Das will ich als ein Lob einstecken“, lachte Karl.

„Wenn man den Tag über Holz rückt und selbst dabei Hand anlegt, dann kann man nicht wie ein feines Primanerchen aussehen.“

„Dann komme ich dir wohl ungelegen?“

„Ach nein, lieber Max! Ich freue mich so riesig über deinen Besuch, wie ich dir gar nicht sagen kann. Und so viel habe ich schon geschafft, daß meine Leute auch mal `n paar Tage ohne mich in den Wald fahren können. Nein, die Zeit, die will ich ausnutzen. Ich habe sie mir redlich verdient.“

Bis tief in die Nacht saßen die beiden Freunde plaudernd zusammen. Sie hatten sich so viel zu erzählen.

Erst hatte Karl seine Lage geschildert, wobei Max ihm von Zeit zu Zeit mit feierlicher Miene die Hand drückte, und dann hatte Max das unerschöpfliche Thema gemeinsamer Schulerlebnisse aufs Tapet gebracht. Zwischenein wurde eifrig beratschlagt, was man mit den vierzehn Tagen Ferienzeit anfangen könnte. Max entwarf das Programm. Vormittags Jagd. Er hatte einen Jagdschein, den ihm der Vater alljährlich zum Geburtstag schenkte, vorsorglich mitgebracht und hielt es für selbstverständlich, daß sein Freund als Besitzer einer eigenen Jagd diesem Punkt des Programms freudig zustimmen würde. Aber Karl schüttelte wehmütig den Kopf.

„Es war mir ja manchmal ganz komisch zumute, wenn ich übers Feld ging und ein Volk Hühner oder ein Krummer vor mir rausging. Aber offen gesagt, ich mußte es bei meiner Lage für eine Sünde halten, fünf Taler für einen Jagdschein auszugeben. Doch du kannst mit der Flinte rumstiebeln, soviel du willst...“

„Nein, mein Freund, das wäre nur das halbe Vergnügen.“

„Na, dann werde ich mal leichtsinnig sein und mir einen Tagesjagdschein für einen Taler kaufen. Da können wir wenigstens drei Tage miteinander übers Feld wandern.“

Jetzt fiel Max energisch ein: „Weißt du was? Dann veranstalten wir eine Treibjagd. Und am anderen Tage muß dein Ohm Zenthöfer auch eine machen.“

...Am Tage vor dem heiligen Abend fuhren die beiden Freunde nach Lötzen. Karl wollte mit Lehmann abrechnen und einige Einkäufe zum Fest machen. Seinem alten Pehlke, der alten Josepha und auch dem alten Stopka, der ihm den guten Rat erteilt, wollte er eine Weihnachtsfreude bereiten. Mittags saßen sie im Hotel mit ihrem gemeinsamen früheren Schulkameraden Fritz Lehmann zusammen. Da ergab es sich von selbst, daß er zur Jagd eingeladen wurde. In der fröhlichsten Stimmung wurde eine lustige Karte an den Herrn Primaner Siegfried Hirschberg nach Lyck losgelassen, in der er feierlichst für die Tage von Weihnachten bis Neujahr eingeladen wurde. Am zweiten Feiertag früh sollte ihn Karls Fuhrwerk abholen.

Es wurde ein recht vergnügter Weihnachtsabend. Die beiden Freunde hatten sich selbst den Baum geputzt und mit Lichtern besteckt. Dabei hatten sich unwillkürlich ihre Blicke getroffen, und einer hatte in dem Auge des anderen denselben Gedanken aufleuchten sehen. Die Erinnerung an vergangene Zeiten, als sie noch als fröhliche Kinder aus den Händen der Eltern die Bescherung empfingen, stieg in ihnen auf... Jetzt rüsteten sie sich als einsame Menschen selbst den Baum zu.

Ohne ein Wort zu sprechen, hatten sie sich die Hände entgegengestreckt, sich umschlungen und still verschämt über ihr hervorbrechendes Gefühl eine Träne zerdrückt. Dann aber war der Frohsinn ihrer Jugend über die Traurigkeit Herr geworden, und während Karl die Lichter anzündete, setzte Max sich an das uralte Spinett, das mit seinem schwachen Stimmchen an längst vergangene Zeiten erinnerte, und fang mit seiner frischen, prächtigen Tenorstimme: Stille Nacht, heilige Nacht! Zaghaft war Karl mit seinem kräftigen Baß eingefallen, aber schon nach den ersten Tönen wurde es in ihm freier, leichter.

…Er war auf dem besten Wege dazu, ein einsamer, stiller Mensch zu werden. Was hatte er auf der Schule tagsüber mit den Kameraden zu besprechen, zu plaudern gehabt! Und nun all die langen Wochen außer einer geschäftlichen Besprechung mit Ohm Zenthöfer nichts weiter als die notwendigsten Worte, die er mit seinen Leuten wechselte. Er fühlte selbst, wie ihm der Besuch seines Freundes zum Segen wurde.

Mit dem Recht der Jugend warf er für einige Zeit all die Sorgen von sich ab, die ihn drückten, und hätte nicht der Gedanke an das Schicksal des Vaters ihn ab und zu an die Wirklichkeit erinnert, dann hätte er sich für einen glücklichen Menschen halten können. Manchmal war ihm ganz merkwürdig zumute, wenn er sich in Gedanken mit seinen Freunden verglich. Siegfried Hirschberg, der freudestrahlend am zweiten Feiertage eingetroffen war, und Max waren ganz verständige Jünglinge, aber ihr geistiger Horizont reichte doch noch nicht weit über die Schulstube hinaus. Fritz Lehmann hatte von dem Ernst des Lebens auch noch nicht viel in sich aufgenommen. Er jammerte mit komischer Miene über den unerträglichen Zwang, stundenlang auf dem Drehschemel sitzen zu müssen und große Zahlenreihen aufzurechnen... Und er? Er mußte sich manchmal förmlich dazu zwingen, den Gesprächen seiner Freunde einiges Interesse abzugewinnen. Es kam ihm so vor, als wenn er in der kurzen Zeit zehn Jahre älter geworden wäre. Wieviel geistige Frische und neuen Lebensmut ihm die munteren Gesellen ins Haus gebracht hatten, ahnte er nicht.

Ohm Zenthöfer war auf den Vorschlag, eine Treibjagd zu veranstalten, bereitwilligst eingegangen. So hatten sie denn einen Tag auf Karls Gebiet gejagt und am anderen Tage bei Ohm Zenthöfer. Am Abend hatten sie regelmäßig Skat gedroschen und dazu stundenlang von der Schule geplaudert. Am Silvesterabend hatten sie bei einem kräftigen Urpunsch die alten Gebräuche der Heimat geübt, hatten Zinn gegossen, Äpfelschalen rückwärts über die Schulter geworfen, um die Anfangsbuchstaben der Zukünftigen zu ergründen, hatten mit verbundenen Augen den Topf geschlagen und allerlei Kurzweil getrieben.

Am dritten Tage des neuen Jahres brachte Karl seinen Freund Max zur Bahn. Als der Zug sich in Bewegung setzte und der gute Junge noch aus dem Fenster die letzten Grüße ihm zuwinkte, da war es Karl, als habe die Jugend endgültig von ihm Abschied genommen. Was vor ihm lag, war durch keinen Sonnenstrahl erhellt. Einförmig grau lag die Zukunft vor ihm: ein weites Feld, worüber die grauen Wolken zogen; hier und dort ragte ein steiler Hügel auf, über den ihn sein einsamer Pfad führte.

5.

Die drei Wintermonate waren Karl wie im Fluge vergangen. Sie hatten ihm nichts anderes gebracht als Arbeit, schwere Arbeit vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Aber der Segen war nicht ausgeblieben. Er hatte sich noch zwei Gespann Pferde kaufen und vier Arbeitsleute annehmen müssen. Aber dafür hatte er auch ein schönes Stück Geld verdient. Als er am 28. März das letzte Stück Bauholz aus dem Schlag an die Ablage gerückt hatte und abends die Schlußsumme aus seinen Büchern zog, da ergab sich ihm die freudige Gewißheit, daß er nicht nur seine Zinsen zum ersten April bezahlen konnte, sondern auch noch einige hundert Mark für den Sommer übrigbehalten würde. Die Abrechnung mit Lehmann, zu dem er am nächsten Tage fuhr, wickelte sich mit Hilfe seines Freundes Fritz sehr schnell ab. Andere mußten wochenlang warten, bis die Abrechnung erfolgte. Er konnte mit Fritz in die Kneipe gehen, während der Buchhalter seine allerdings musterhafte Aufstellung prüfte. Als er heimkam, hatte er das Bedürfnis, seinen Leuten eine kleine Extrafreude zu bereiten. Obwohl sie bei ihm in Lohn und Brot waren, hatte er es doch für richtig gehalten, ihnen den ortsüblichen Tagelohn gutzuschreiben. Sie hatten wohl bei Beendigung der Arbeit auf ein anständiges Trinkgeld gehofft, aber daß ihnen ihr junger Herr jeden Arbeitstag regelrecht bezahlen würde, das hatten sie nicht erwartet. Karl hatte noch ein übriges getan. Er hatte dem alten Pehlke und dem Stopka eine neue Pfeife gekauft und von den anderen jedem zwei Pfund Kanaster gestiftet. Zum Überfluß hatte er noch für einen Taler eine Kiste Zigarren erstanden.

In feierlicher Erwartung hatten sich die Leute in seinem Wohnzimmer eingefunden. Der große Tisch war ausgezogen und durch einen Ansatz verlängert. Er war weiß gedeckt und mit Stühlen umstellt. In der Mitte prangte die Kiste Zigarren. Mit blitzenden Augen sahen die Losleute und Knechte auf die feierliche Veranstaltung. Erwartete der Herr Gäste, oder sollten sie es sein, für die diese Zurichtungen gemacht waren? Ja, es war für sie. Obenan hatte Pehlke Platz genommen. Er las aus seinem Notizbuch den Namen vor und sagte dazu, wieviel Tage jeder in der Forst gearbeitet hatte. Dann sagte der junge Herr: Das macht so und so viel und zahlte dem Vorgerufenen die Summe in blanken Silberstücken auf den Tisch. Und als sie alle ihren Lohn in der Tasche hatten, erhob sich Pehlke:

„Kinder, unser junger Herr will heute das Erntefest mit euch feiern. Ihr wißt alle, weshalb das im Herbst nicht möglich war. Das sollen wir heute nachholen. Nu setzt euch mal hier ran. Es wird was zu essen und auch zu trinken geben. Aber eins sage ich euch: Ein Hundsfott, wer sich besäuft! Wer genug hat, der geht nach Hause.“

Es ist dem einfachen Menschen gemeinhin nicht gegeben, seinen Gefühlen und Empfindungen in wohlgesetzten Worten Ausdruck zu geben. Aber dann pflegen die Augen zu sprechen, wenn auch der Mund stumm bleibt. Und wäre Karl so klug und welterfahren gewesen, wie er es nicht war, dann hätte er die Sache nicht besser anstellen können. Ebensogut hätte er im großen Gesindezimmer die Leute bewirten können. Aber es war ihm, als wenn er damit die Leute herabgesetzt hätte, die treu den ganzen Winter über bei ihm geschafft hatten.

Und man glaube nur nicht, daß die einfachen Menschen es nicht empfanden, was es bedeutete, im Wohnzimmer der Herrschaft mit dem Herrn an einem festlichen Tische zu sitzen. Anfangs bedrückte sie das Ungewohnte. Nur allmählich löste die Festfreude ihre Zungen. Der da mitten unter ihnen saß, hatte nicht als Aufseher vor ihnen gestanden und ihre Arbeit überwacht. Nein, mitten zwischen ihnen hatte er den Wuchtbaum mit der Schulter gehoben, hatte mittags genau so wie sie aus der Lischke das Stück Speck und Grobbrot genommen und den Kornus aus dem Hörnchen getrunken, das bei ihnen reihum ging.

In vorgerückter Stunde hatte Pehlke den Gefühlen, die sie alle beseelten, in etwas ungelenker Rede Ausdruck gegeben. Rauh waren die Worte, aber sie kamen aus treuem Herzen, und wären es nicht arme, niedrig geborene Masuren im fernen Osten gewesen, dann hätte man beinahe an eine Tafelrunde edler Ritter denken können, die sich in die Hand ihres Fürsten auf Leben und Tod zusammenschwören. Das Geld, das sie empfangen hatten, machte es nicht, auch nicht die festliche Bewirtung, die ihnen zuteil geworden war. Es war das Gefühl der Zusammengehörigkeit, das sich langsam, aber fest in ihnen aufgebaut hatte Und das sprach Pehlke auch aus, als die anderen gegangen waren.

„Junger Herr, mir ist jetzt nicht bange. Wir sind zwar mit der Frühjahrsbestellung noch etwas zurück, aber das holen wir ein, lieber Karl. Wir schaffen mindestens das Doppelte wie auf anderen Gütern. Da ist nicht einer, der versagen wird. Aber eins möchte ich noch sagen. Wenn Gelegenheit ist, dann traktier' mal die Weiber ordentlich mit Honigschnaps. Dafür können wir sie in der Heuaust doppelt anspannen. Gut' Nacht, junger Herr!“

Der alte Pehlke hatte recht gehabt. Die Frühjahrsbestellung ging so flott vor sich, daß Karl sogar den Ohm Zenthöfer, der doch als der beste Landwirt im ganzen Kreise bekannt war, überholte. Der alte Herr konnte sich nicht genug darüber wundern. Er war auch ein guter Herr, der seinen Leuten nicht Überlast tat, aber einen solchen Feuereifer beim Arbeiten, wie ihn Karls Instleute und Knechte entfalteten, hatte er noch nicht beobachtet. Und das machte ihm Freude. Er war mehrmals mit Karl übers Feld gegangen, weil er im geheimen fürchtete, sein Schützling hätte sich mit seinen Arbeitern, wie man so zu sagen pflegt, „zu gemein gemacht“. Aber seine Besorgnis war unbegründet. Karl reichte zwar jedem Arbeiter, den er antraf, die Hand, aber wie er zu ihnen sprach, das war kein Bitten, sondern ein kurzes, bestimmtes Befehlen, wenn auch in der höflichsten Form.

„Junge“, sagte er, als sie beide heimwärts schritten, „dich hat der liebe Gott davor bewahrt, einen falschen Beruf zu ergreifen. Du bist der geborene Landwirt.“

Karl wehrte bescheiden ab. „Ach nein, Onkel, ich weiß am besten, was ich noch zu lernen habe. Wenn ich den alten Pehlke nicht hätte, wäre ich aufgeschrieben. Ich weiß ja noch nicht, weshalb auf diesem Schlag Weizen und auf jenem Roggen stehen muß.“

„Na, laß man gut sein. Das wirst du ja so allmählich rauskriegen. Bis dahin wird ja der alte Pehlke vorhalten. Nun, mein Junge, denke ich, ist es Zeit, daß ich dich mündig sprechen lasse. Ich sehe wenigstens kein Hindernis. Wenn die Ernte einigermaßen ausfällt, bezahlst du am 1. Oktober deine Zinsen und stößt ein Stück Schulden ab. Den Winter über verdienst du das Geld für die Aprilzinsen. Na, und in acht bis zehn Jahren wirst du wohl auch die beiden letzten Hypotheken abgelöst haben.“

Ohm Zenthöfer hatte so gesprochen, wie es die meisten Landwirte gewöhnt sind, die im starken Gottvertrauen jedes Jahr darauf hoffen, daß der liebe Gott ihnen die völlige Ernte zuwachsen läßt. Aber manchmal kommt es auch anders. Manchmal scheint es, als ob der alte Petrus etwas altersschwach geworden und nicht mehr imstande ist, jedem Landstrich so viel Regen und Sonnenschein zu geben, als er braucht. Kein Beruf ist ja so sehr auf die Gnade des Himmels angewiesen wie der des Landwirts. Da hilft kein Fleiß, keine Einsicht, keine Sorgfalt: das Wachsen und Gedeihen steht in der Gewalt eines Höheren, auf den die Wünsche und Hoffnungen des Menschen keinen Einfluß haben.

So war es auch in diesem Jahre. Bereits im März hatte die Sonne und ein eifriger Südwest allen Schnee weggezehrt, dann kamen starke Nachtfröste, die den weichen Boden zerrissen und die zarte Pflanze emporheben, daß ihre Wurzeln im Erdreich abrissen. In den Talsenken bildeten sich Teiche, die wochenlang auf der Saat standen.

Dann, im April, öffnete der Himmel seine Schleusen, und es war, als wollten sie sich nimmer erschöpfen und leeren. Da schwand unter dem Wasser die Wintersaat. Große Flächen lagen im Mai da, als wären sie nie von Menschenhand bestellt worden, und der Lenz, der holde Knabe, wie es so schön in Gedichtbüchern heißt, hatte noch heftig mit den Launen des griesgrämigen Alten, des Winters zu kämpfen. Nach schönen warmen Tagen setzte der Wind um nach Nordosten, und von den eisigen Gefilden Rußlands kam ein kalter Hauch, der Schneestürme mit sich führte, so daß man drei, vier Tage die Schlitten vorholen mußte.

Es war zum Verzweifeln. Noch im Juni kamen Nachtfröste. Das ist in Ostpreußen nichts Ungewöhnliches. Aber in diesem Jahre war eine große Hitze, die acht Tage andauerte, vorhergegangen und hatte alle Pflanzen wie im Treibhause emporgetrieben. Der Roggen reckte schon seine Ähren hinaus, und am anderen Morgen sah das Feld aus, als wenn ein Würgengel darüber hinweggefahren wäre.

Karl wußte ganz genau, was ihm bevorstand. Er hatte alle Stellen, die das Wasser ausgelaugt, mit Sommergetreide bestellt. Aber gegen die Nachtfröste im Juni war er machtlos. Auch nach einer anderen Richtung hatte er Pech. In dem regelmäßigen Wechsel der Felder waren die Kartoffeln auf schweren Boden gekommen. Er hatte sich zwar dagegen gesträubt und lange mit dem alten Pehlke verhandelt, ob man nicht entgegen allen landwirtschaftlichen Grundsätzen die Kartoffeln auch in diesem Jahre auf Sandboden, der ein Viertel seines Gutes ausmachte, setzen könnte. Aber Pehlke war standhaft geblieben. Er hatte das Schema der Bestellung von seinem Herrn übernommen und erachtete es fast für einen Frevel, die bewährte Fruchtfolge anzutasten. Karl empfand es schmerzlich, daß er nicht imstande war, gegen Pehlkes Anordnungen einen Einspruch zu erheben. Er hatte es im Gefühl gehabt, daß die Kartoffeln in diesem Jahr auf schwerem Boden mißraten müßten. Aber um den Bewirtschaftungsplan umzustoßen, dazu hätte er eine Erfahrung haben müssen wie etwa sein Ohm Zenthöfer, den er leider bei dieser Frage nicht um Rat angegangen war.

Es waren böse Wochen, die Karl im Juni verlebte. Er mußte sich sagen, daß ein schweres Jahr für den Landwirt angebrochen war. Alte Besitzer, die einen Geldsack hinter sich hatten, mußten und konnten sich auf diese Eventualität gefaßt machen. Aber wie sollte er den Herbsttermin überstehen? Er würde wahrscheinlich froh sein, wenn er so viel Getreide baute, um seine Leute und sein Vieh den Winter über zu ernähren. Noch nie war ihm die Gefährlichkeit seines Berufes so sehr zum Bewußtsein gekommen. Er hatte ja der „Schweinerei“ auf seinem Gute mächtig aufgeholfen. Mindestens 30 Faselschweine waren im Herbst zum Verkauf reif. Aber damit allein konnte er seine Verpflichtungen nicht bestreiten.

Mit der Zeit war ein gewisser Fatalismus bei Karl ausgebrochen. Er sagte sich, daß niemand besser wirtschaften könnte wie er... Wenn der Erfolg dem nicht entspräche, dann wäre eben sein Kampf um die Schelle zu Ende. Eines Tages, als er eben zu Mittag nach Hause gekommen war und mit einer Schale dicker Milch nebst den dazu gehörigen Pellkartoffeln seinen Hunger stillte, klapperte ein Fuhrwerk auf dem Steinpflaster des Hofes. Er sprang hinaus, um den Gast zu empfangen: Es war Herr Hirschberg aus Lyck.

„Guten Tag, Herr Miska. Erlauben Sie, daß ich bei Ihnen Rast mache? Ich habe heute schon einen langen Weg hinter mir. Darf ich bei Euch für mein Pferd um einen Armvoll Heu und für mich um ein Glas Wasser bitten?“

Die Pferde hatten nicht nur einen Armvoll Heu, sondern auch eine Krippe voll Hafer gefunden, und Herr Hirschberg, der streng nach den Vorschriften seiner Religion lebte, hatte sich mit zwei Eiern und etwas Käse gesättigt. Dann hatte Herr Hirschberg seine Zigarrentasche gezogen und Karl eine Zigarre angeboten, die nach seiner Aussage unter Brüdern 20 Pfennig kostete.

Karl hatte lachend den Kopf geschüttelt. „Herr Hirschberg, ich habe als Gymnasiast, wo einem das Rauchen wegen des Verbotes noch Spaß machte, nicht geraucht: jetzt könnte ich es ja, aber ich habe es noch nicht probiert, und es ist wohl besser, wenn ich auch der verlockenden Form einer „echten“ standhalte.“

„Wie Sie wollen, mein lieber Freund. Ich hätte Ihnen gern eine Kiste Manuel Garcia mit Siegfried rausgeschickt, und damit komme ich ja auf den Zweck meines Besuches: Mein Siegfried träumt von nichts, als von einem mehrwöchigen Aufenthalt bei Ihnen. Nu müssen Sie sich das doch mal vorstellen. Sie sind nicht älter wie mein Siegfried, und Sie leben hier als Junggeselle auf Ihrem Gute. Da könnte ein junger Mensch vielleicht schlechte Dinge lernen. Aber das glaube ich nicht. Sonst möchte ich nicht mit Ihnen darüber sprechen. Also wollen Sie den Siegfried auf vier Wochen bei sich aufnehmen?“

„Herr Hirschberg, wir wollen offen darüber sprechen. Im Winter hatte meine alte Josepha `ne Gans, auch ein paar Enten abgewürgt, dann schossen wir auf der Treibjagt einige Hasen. Es war also was zum Essen da. Wenn Ihr Sohn jetzt kommt, dann ist nichts davon vorhanden. Das Sonntagsgericht für mich ist ein Stück Schinken in Schmand gebraten, und im übrigen nähre ich mich von Milch und Grobbrot“

„Gut, lieber Freund! Das soll ein Wort sein. Mein Siegfried ißt in der Stadt so viel Delikatessen, daß ihm die Rückkehr zu einer ganz einfachen Kost sehr dienlich sein wird. Also, wenn ich Sie nochmals darum bitten darf, dann stelle ich die Bedingung, daß mein Sohn auch nicht im geringsten von der Nahrung abweichen darf, die Sie sich täglich erlauben. Wer so gesund und frisch dabei aussieht, der kann auf andere als Vorbild wirken.“

„Herr Hirschberg, Sie können sich wohl denken, welche Freude es mir machen wird, einen Schulkameraden wochenlang bei mir zu haben. Jetzt bitte ich Sie darum, daß Sie mir meinen lieben Freund Siegfried für den Juli herschicken. Die alte Josepha kann ja ab und zu unter den Gänsen und Enten ein kleines Blutbad anrichten.“

„Das will ich nicht. Das Einfache Ihres Lebens soll ja gerade für meinen Jungen wie Medizin wirken. Sind wir jetzt einig, mein junger Freund? Dann möchte ich zu Ihnen noch über etwas anderes sprechen. Sagen Sie mal, wie wird es in diesem Herbst mit Ihrer Ernte werden?“

„Herr Hirschberg, rund herausgesagt: …Es wird gar nichts werden. Wenn ich, was ich auf dem Halm habe, einigermaßen trocken hereinbringe, dann wird es gerade hinreichen, meine Instleute und mein Vieh bis zur nächsten Ernte durchzufüttern, aber zum Verkaufen auch nicht einen einzigen Zentner.“

„Hm, hm, Sie sprechen ein großes Wort gelassen aus, junger Mann! Ist denn Ihre Wirtschaft ganz allein auf die Halmfrucht angewiesen?“

„Nein, Herr Hirschberg, ich habe Gott sei Dank auch etwas für das Vieh tun können, aber das kann in diesem Jahr noch nicht zum Ausdruck kommen.“

„Sie weichen mir aus, lieber Freund! Ich möchte wissen, was Sie in diesem Herbst möglicherweise für Vieh einnehmen könnten?“

„Herr Hirschberg, das ist nicht der Rede wert; wenn's Glück gut ist, vier- oder fünfhundert Mark.“

„Und wieviel haben Sie zu bezahlen?“

„Mindestens das Vierfache.“

„Haben Sie sich schon irgend einen Plan oder einen Gedanken darüber gemacht, wie Sie sich das Geld beschaffen werden?“

„Nein, Herr Hirschberg. Nur einen Gedanken habe ich mir durch den Kopf gehen lassen: daß es aus ist, daß ich töricht gehandelt habe, den Kampf aufzunehmen. Ich habe in den letzten Monaten wieder über meinen Büchern gesessen und glaube mindestens ebenso weit zu sein wie die Primaner, die mit mir zu gleicher Zeit versetzt wurden. Wenn ich jetzt auf die Schule zurückgehen könnte, dann hätte ich nur noch ein Jahr, wie Ihr Siegfried, bis zum Abiturium“

„Papperlapapp! Schabbern Sie nicht, lieber Freund... Entschuldigen Sie das harte Wort... Alle Hochachtung. Ich will nichts dawider sagen, daß Sie gelernt haben, anstatt zu schlafen, wo Ihr junger Körper das doch wohl verlangt hat. Doch davon kann gar keine Rede sein. Sie hat der liebe Gott jetzt vor eine Aufgabe gestellt, und Sie müssen diese Aufgabe durchführen. Jetzt möchte ich Sie fragen: Ist das wahr, haben Sie Ihr Gut neu bonitieren lassen?“

„Ja, Herr Hirschberg.“

„Haben Sie die Papiere darüber?“

Karl ging zum Schrank, schloß auf und holte ein Aktenbündel hervor. „Hier, das ist die neue Schätzung.“

Herr Hirschberg setzte sich seinen Klemmer auf und studierte mindestens eine Viertelstunde lang das Aktenstück. Dann nahm er sein Augenglas ab, steckte es in die Tasche und sah Karl an.

„Die Bonitierung ist glänzend. Danach kann Ihr Gut noch mindestens sechs- bis siebentausend Mark Hypotheken tragen. Es ist nicht nötig, daß Sie die ganze Summe aufnehmen. Es ist nur nötig, daß Sie so viel Geld in die Hand bekommen, wie Sie brauchen, um den Oktobertermin zu überstehen. Ich nehme an, daß Sie den Winter über so viel verdienen werden wie in diesem Jahr. Mein Freund Lehmann hat mir davon erzählt, also spreche ich wie ein Wissender. Also, Ihnen gesagt, ich gebe noch eine Hypothek von 3000 Mark“

„Herr Hirschberg, ich danke Ihnen vieltausendmal für das freundliche Anerbieten, aber ich kann es nicht annehmen. Kommt noch ein Jahr wie dieses, dann hilft mir kein Gott. Dann gehe ich mit dem weißen Stab aus dem Erbe meiner Väter.“

„Das meinen Sie, junger Mann. Was denken Sie sich eigentlich? Meinen Sie, ich werfe mein Geld weg an Leute, die vor der Subhastation stehen? O nein! Sie werden vielleicht später verstehen, was ich Ihnen jetzt sage: Was ich verdiene, was ich schaffe, das tue ich als der Sachwalter meiner Kinder, denen ich einmal Rechenschaft schuldig bin über jeden Pfennig, den ich verschleudert habe. Und wenn ich Ihnen heute dieses Anerbieten mache, dann weiß ich auch, daß ich die Verantwortung dafür trage. Also nehmen Sie an, Ihr Gut hat noch eine Hilfsquelle, die Sie bisher noch nicht entdeckt haben. Und wenn ich auch zur letzten Hypothek stehe, ich werde immer rauskommen.“

„Herr Hirschberg, Sie können meine Besitzung billiger haben, wenn Sie mir das Geld nicht geben und noch ein paar Monate warten.“

„O pfui, lieber Herr Miska! Das möchte ich mir doch verbitten! Ich habe nicht den Ehrgeiz, mir einen Landsitz hier zu kaufen. Das hätte ich auf anderen Stellen schon mehrmals tun können und mit mehr Erfolg. Auf die 400 Morgen, die Sie besitzen, verleckere ich mich wirklich nicht. Aber ich wiederhole nochmals: Ihr Gut hat eine Reserve, die Sie noch nicht kennen.“

„Herr Hirschberg, Sie meinen vielleicht meinen Wald? Da sind Sie im Irrtum. Die starken Eichen und die alten Kiefern hat mein Vater alle rausgeholt. Da sind nur noch Tannen, allerdings schöne, große, alte Tannen. Das Holz hat leider keinen Wert hier. Ich bin mit meinem Freunde Fritz Lehmann bei der Treibjagd durchgegangen, und der hat gesagt, ein paartausend Mark stecken da schon drin, aber die wird dir niemand geben, denn so billig wie in der Königlichen Forst kann kein Mensch das Holz verkaufen.“

„Lieber junger Freund, ich habe meine Gründe dafür, Ihnen noch nicht zu sagen, was ich denke. Sie müssen mir schon das Zutrauen schenken, daß ich das Gefühl der Verantwortlichkeit habe für Gelder, die ich in anscheinend aussichtslose Spekulationen stecke. Ich sage Ihnen noch einmal: Ihr Gut hat mit den 60 Morgen Wald eine starke Reserve, und über deren Ausnutzung werden wir sprechen, wenn es Zeit ist.“

6.

Zu den Sommerferien war Siegfried gekommen, ein harmlos-gutmütiger Mensch, der von der geschäftlichen Tüchtigkeit seines Vaters nicht eine Spur geerbt hatte. Er lebte nur für seine Bücher und freute sich bereits auf die Zeit, wenn er auf die Universität kommen würde, um Medizin zu studieren. Der Ehrgeiz seiner Rasse war auch in ihm lebendig. Er wollte furchtbar fleißig sein und alles lernen, was die Wissenschaft ihm bieten konnte. Mit seinem harmlosen Geplauder machte er Karl das Herz schwer. Denn er weckte in ihm die Gedankenreihen, die er selbst einst gehegt...

Der Sommer vollendete, was die Nachtfröste im Frühjahr begonnen hatten. Es verging selten ein Tag, an dem es nicht stark regnete. Die Kartoffeln faulten bereits in der Erde, das Getreide lagerte, obwohl es nicht allzu dicht stand, und wurde durch immer neue Regengüsse förmlich an den Erdboden gepreßt. Was noch aufrecht stand, konnte nicht reifen, denn es fehlte die Wärme.

Das schlechte Wetter fesselte die beiden Freunde viel ans Haus. Aber sie hatten keine Langweile. Denn Karl war auf den Gedanken gekommen, sich von Siegfried examinieren zu lassen. Im großen und ganzen hatte er ganz recht gehabt, als er sagte, er wäre durch sein Selbststudium so weit gekommen wie die Schulkameraden, die mit ihm zugleich nach Prima versetzt worden waren.

Hier und dort ergaben sich in seinen Kenntnissen Lücken, die sofort ausgefüllt werden sollten. So saßen denn die beiden Jünglinge stundenlang über den Büchern, Siegfried lehrend, und Karl als der eifrigste Schüler, den man sich denken kann.

Dieser Eifer entsprach der Stimmung, unter der Karl schon seit Monaten stand. Er wußte ja, daß er durch Siegfrieds Vater über den Herbsttermin und durch die Holzrückerei im Winter auch bis in den nächsten Sommer durchkommen würde. Aber er sah jetzt weiter und tiefer in seine Lage. Wenn er mit dem Gelde, das Herr Hirschberg ihm geben wollte, auch einen Teil der Schulden bezahlte, so ging doch ein gutes Stück davon nur durch Zinsen drauf, und die Tatsache ließ sich nicht aus der Welt schaffen, daß er eine neue Schuld zu den alten hinzugefügt hatte. Er hatte eine neue Belastung seiner Besitzung vorgenommen, die doch auch verzinst werden mußte. Manchmal tröstete ihn der Gedanke, daß ein so kluger Geschäftsmann wie Hirschberg ihm das Geld nicht angeboten haben würde, wenn er es für gefährdet hielt. Er hätte es gern vermieden, die Hilfe anzunehmen. Aber es ging nicht anders. Die Ernte war total mißraten, sie war auch schlecht unter Dach und Fach gekommen. Der Roggen war auf den Hocken ausgewachsen, der Weizen wurde auf dem Halm überreif, bekam dann, als er gemäht war, einige Tage starke Hitze und streute so furchtbar, daß die dreifache Saat auf dem Felde liegen blieb. Mit einem Wort, Karl erntete nicht so viel, daß er seine Leute und sein Vieh den Winter über durchhalten konnte.

Ganz offen hatte er diese Dinge Herrn Hirschberg auseinandergesetzt, als er einige Tage vor dem ersten Oktober mit schwerem Herzen zu ihm fuhr. Der alte Herr hatte ihm aber Troß zugesprochen und ihm das Geld gegeben. Dann war Karl nach Lötzen gefahren, hatte von Lehmann wieder die Holzrückerei erhalten und noch mehr wie im vorigen Jahr, so daß er sich noch drei Gespann Pferde kaufen und einige Arbeitsleute annehmen mußte.

Der nächste Winter verging wie der vorige in schwerer Arbeit, aber Karl fehlte dabei die Freudigkeit, die ihn im vorigen Jahre beseelt hatte. Er hatte auch alle Ursache, trübe in die Zukunft zu blicken. Die Wintersaat war spät in die Erde gekommen und sehr schwach eingegrünt. Wenn das Frühjahr nicht ganz günstiges Wetter brachte, dann stand auch für das nächste Jahr eine ziemlich schlechte Ernte in Aussicht. Und dann? Immer häufiger hatte Karl mit dem Gedanken zu kämpfen, ob es nicht besser wäre, das Ringen als aussichtslos aufzugeben. Wenn er diesen Entschluß nicht ausführte, so geschah es nur aus dem einen Grunde: er hatte wenigstens vorläufig noch ein Heim und konnte bis zum nächsten Herbst in seinem Selbststudium es so weit bringen, daß er sich zum Examen meldete. Dann würde Ohm Zenthöfer oder vielleicht auch Herr Hirschberg ihm mit einer Kleinigkeit unter die Arme greifen, daß er sein Studium beginnen konnte. Daß er es durchsetzen würde, darum war ihm gar nicht bange. Die gute, alte Albertina in Königsberg ist mit Stipendien und Freitisch für Theologen sehr freigebig, und wer ein bißchen fleißig ist und ein gutes Semestrale ablegt, kann als Theologe ohne Sorge sein Studium absolvieren. Eine Bedingung war allerdings dabei: Herr Hirschberg mußte seine Einwilligung dazu geben. Das Gut durfte nicht zur Zwangsversteigerung kommen, weil sein Wohltäter dabei sicherlich ausfallen würde.

Als dieser Gedanke allmählich feste Gestalt in ihm annahm, ging er mit der Energie, die er bisher betätigt hatte, an die Ausführung. Er ließ die Leute öfter allein in den Wald fahren und saß währenddessen zu Hause bei seinen Büchern. Einmal ging er zu Ohm Zenthöfer mit dem festen Entschluß, ihm seine Zukunftspläne zu erzählen. Aber er kam nicht dazu. Der alte Freund merkte wohl, worauf es hinausging, als Karl sein Klagelied begann und von seinen trüben Aussichten sprach.

Der alte Herr wurde ordentlich grob.

„Du bist wohl kleinmütig geworden? Du willst die Flinte ins Korn werfen? Das habe ich nicht von dir erwartet. Du meinst, es geht dir zu langsam. Na, hast du denn gedacht, daß du in zwei bis drei Jahren alle Schulden bezahlen und noch womöglich Geld auf die hohe Kante legen wirst? So viel Einsicht hast du doch schon besessen, als du den Kampf aufnahmst, daß ein weiter mühseliger Weg vor dir liegt.“

„Nein, Ohmchen! Jetzt übersehe ich erst, was noch vor mir liegt. Wenn ich damals diese Einsicht besessen hätte, dann hätte ich wahrscheinlich den Kampf nicht aufgenommen.“

„Ach, red' doch nicht so `n dummes Zeug. Ich begreife dich nicht. Damals hattest du keine Ahnung von der Wirtschaft, wußtest nicht, wie du über den nächsten Winter rüberkommen würdest und hast dich doch in die Sielen gelegt. Jetzt hast du schon etwas von der Wirtschaft gelernt, hast die vorzügliche Verbindung mit Lehmann, die dir in jedem Winter einen guten Verdienst sichert, und jetzt kommst du her und siehst aus wie ein alter Waschlappen. Sollst dich was schämen, du Lorbaß! Ist das der Kampf um die Scholle deiner Väter? Mart` doch erst ab, was das nächste Jahr bringen wird. Oder hast du keine Liebe für deinen Beruf, hast du keine Freude an der Landwirtschaft?“

„O doch, Onkel. Ich hatte mich in den Gedanken hineingelebt, Pfarrer zu werden. Aber ebenso gern bin ich Landwirt.“

Karl sagte mit diesen Worten nur die Wahrheit. Er war wirklich mit Leib und Seele Landwirt. Jeder Halm, der aussprießt, bereitete ihm Freude, auf jedes Stück Jungvieh, das er heranzog, war er stolz. Er übersah den ganzen Betrieb und hatte so viel Erfahrung gesammelt, daß er auch ohne Pehlkes Hilfe die Wirtschaft hätte leiten können. Nicht allzu viel, aber immerhin etwas hatte er sich mit den Büchern beschäftigt, die er in der fachwissenschaftlichen Bibliothek seines Vaters gefunden hatte. Kurzum, er war auf dem besten Wege, ein tüchtiger Landwirt zu werden.

Der Zuspruch des alten Freundes hatte Karl wenig genützt. Nur ein Wort war ihm im Gedächtnis geblieben, das von dem „Schnell-reich-werden“. Er begann darüber nachzugrübeln. Sollte es nicht irgend ein Mittel geben, größere Erträge aus seiner Wirtschaft herauszuholen? Freilich, auf kostspielige Experimente, die ein großes Anlagekapital erforderten, konnte er sich nicht einlassen. Sein Lehmboden hätte ihm zum Beispiel die Möglichkeit gegeben, eine große Ziegelei anzulegen.

Aber dazu gehörte ein Kapital von mehreren tausend Talern und eine Summe von technischen und geschäftlichen Erfahrungen, über die er nicht verfügte. Solche Ideen mußte er also als undurchführbar im ersten Keim ersticken.

Bei diesem Grübeln war er nahe daran, ein Träumer zu werden. Er wanderte über das Feld, ohne etwas zu sehen, denn sein Kopf baute Luftschlösser. Mitunter kamen ihm auch ganz phantastische Gedanke. Wenn er sich ein Lotterielos kaufte und das Glück hatte, einen großen Gewinn zu tun... oder wenn er einen Schatz finden könnte… Er entsann sich aus seiner Kindheit, daß die Leute in der Gesindestube von Schätzen gemunkelt hatten, die von den Franzosen bei ihrem eiligen Rückzug aus Rußland vergraben sein sollten.

Eines Tages, als er wieder einmal in tiefen Gedanken über sein Feld wanderte, kam er an dem kleinen Kirchhof vorbei, der seiner Familie gehörte. Da lagen dicht beieinander die Gräber derjenigen, die vor ihm den Namen Miska geführt und zu Ehren gebracht hatten. Auf der niedrigen Steinmauer, die den Raum einhegte, saß ein alter Mann, beide Arme auf den Krückstock gestützt, und starrte mit seinen trüben Augen stumpfsinnig vor sich hin. Karl kannte ihn sehr gut. Das war der Ortsarme Dolinga, ein gebrechlicher Greis, hoch in den Siebzigern. Es war ein jammervolles Dasein, was der Alte führte. Frau und Kinder waren vor ihm gestorben. Seitdem pilgerte er ganz allein durch die Welt. Ein kränkliches Weib, beinahe ebenso alt wie er, mit dem er im Armenhaus zusammen wohnte, wusch ihm ab und zu sein Hemd und setzte auf die Lumpen, die er tagaus, tagein, jahraus, jahrein trug, hin und wieder einen Flick. Das Mittagessen erhielt er reihum bei den Bewohnern des Dorfes, die ihm für das Abendbrot und das Frühstück noch ein Stück Schwarzbrot mitzugeben pflegten. Früher hatte der Alte mit Korbflechten und Besenbinden noch ein paar Groschen verdient, aber schon seit Jahren war auch diese kleine Einnahmequelle versiegt, denn seinen Händen fehlte die Kraft und seinen Augen das Licht, um auch diese leichte Arbeit zu verrichten. Es war eigentlich wunderbar, was den gebrechlichen Alten mit seinem siechen Körper noch aufrechterhielt. Vielleicht war es die fixe Idee, die ihn nun schon seit Jahrzehnten nicht zur Ruhe kommen ließ. Früher hatten die Menschen über ihn gelacht, wenn er damit prahlte, er würde noch einmal einen großen Schatz heben und so reich werden, daß er alle Bauern des Dorfes auskaufen könnte. Aber schon seit langer Zeit zuckten sie nur mitleidig die Schultern und klopften bedeutungsvoll mit dem Finger an die Stirn, wenn der alte Dolinga an ihnen vorüberschlich nach dem Kirchhofe, auf dem er täglich viele Stunden zubrachte. Auch Karl hielt ihn für einen harmlosen Irrsinnigen, vermied es aber, ihm zu begegnen. Denn der Anblick weckte in ihm stets die Erinnerung an das Schicksal des Vaters. Sicherlich wäre er auch heute im großen Bogen um den Kirchhof herumgegangen, wenn er nicht in so tiefen Gedanken gewesen wäre.

Mit einem kurzen Kopfnicken wollte er vorübergehen. Doch der Alte humpelte ihm nach und ergriff seinen Rockärmel, um ihn zu küssen. Unwillkürlich blieb Karl stehen.

„Was willst du, Alter? Hast du irgend einen Wunsch?“

„Ach Gott, guter, gnädiger, junger Herr, wenn Sie doch bloß ein bißchen mit mir sprechen möchten, bloß ein bißchen zuhören, ich möchte Ihnen was erzählen.“

Dem jungen Manne wurde es unheimlich. Er murmelte etwas von: „Keine Zeit“, doch der Alte ließ ihn nicht los.

„Junger Herr Wohltäter, hören Sie mich man schon ein bißchen an. Ich weiß, Sie glauben, ich bin verrückt, aber das schabbern die Menschen bloß so im Dorfe. Ich weiß sehr gut, was ich will, und ich bin immer bei Verstand gewesen. Aber der liebe Gott hat mir das Unglück gegeben, daß mir keiner glauben will.“

Karl nickte. Es war genau die Form, unter der sein Vater erkrankt war. Auch der Alte war anscheinend ganz vernünftig bis auf den einen Punkt, wo die Wahnvorstellung einsetzte. Aber mochte er doch erzählen. Wer weiß, ob nicht doch etwas Tatsächliches daran war? Und Dolinga erzählte.

Sein Vater war in Gonsken geboren und aufgewachsen. Eines Abends — es war in der Zeit, als die ersten flüchtigen Scharen der Franzosen aus Rußland zurückzukehren begannen, wurde an das Fenster der Chalupe geklopft, in der Dolingas Vater und noch eine Familie wohnte. In jeder Familie war noch ein Scharwerker. Alle vier Männer mußten ihre Spaten nehmen und mit dem Trupp Franzosen, der das Haus umzingelt hatte, auf den Kirchhof gehen. Dort stand bereits ein einfacher, schmuckloser Sarg, für den sie die Grube schaufeln sollten. Als sie das getan, wollten die Männer sich entfernen. Sie waren aber im Irrtum. Die Franzosen schleppten sie mit bis zum nächsten Depot. Dort wurden sie, wahrscheinlich damit ihre Anwesenheit unter der Truppe nicht auffiele, in Uniform gesteckt, erhielten eine Muskete und mußten mitmarschieren. Schon nach wenigen Tagen versuchte einer von ihnen zu desertieren. Er wurde aufgegriffen und kurzerhand erschossen. Die anderen machten keinen Versuch mehr, zu entfliehen. So hatten denn die drei Masuren in der französischen Armee den ganzen Befreiungskrieg mitgemacht, und schließlich war von ihnen nur Dolingas Vater übriggeblieben. Die beiden anderen waren in einer Schlacht gefallen. Bei einem Gefecht auf französischem Boden wurde auch er verwundet. Als er nach langer Krankheit siech und matt aus dem Lazarett entlassen wurde, bettelte er sich mit Mühe ins Rheinland durch. Dort erhielt er Arbeit und heiratete schließlich. Aber die Liebe und Sehnsucht zur Heimat ließ ihm keine Ruhe, und eines Tages machte er sich mit Weib und Kindern auf, um dorthin zu pilgern. Aber seine Kräfte reichten nicht so weit. Er starb unterwegs, doch schon auf ostpreußischem Boden. Seine Frau bettelte sich mit den beiden Kindern, von denen das älteste sieben Jahre alt war, bis nach dem Heimatsort ihres Mannes, nach Gonsken, durch. Als sie nach wenigen Jahren starb, vertraute sie ihrem ältesten Jungen, der gerade eingesegnet war, das Geheimnis des Grabes an.

Lange Jahre hatte es in dem Knaben geschlummert. Dann begann es in ihm lebendig zu werden. Nun war aber die Frage, auf welchem Kirchhofe der Vorfall sich zugetragen hatte, ob auf dem Kirchhofe des Dorfes oder auf dem Miskaschen. Schließlich hatte sich in dem Manne die Überzeugung festgesetzt, daß nur der Miskasche Kirchhof in Betracht kommen könnte. Der Vater hätte ja den Plan ohne Zweifel wiedergefunden, aber die Angaben, die er hinterlassen hatte, waren recht ungenau. Aber davon sagte der Alte nichts. Er behauptete mit großer Bestimmtheit, er wüßte ganz genau, daß es nur das eingesunkene Grab sein könnte, das aus dem wüsten Teil des Kirchhofes lag, auf dem seit Menschengedenken niemand begraben worden war.

Auf Karl hatte die Erzählung des Alten einen ganz gewaltigen Eindruck gemacht. Denn sie gab den Träumen und geheimen Hoffnungen, die er in seinem Innern genährt hatte, eine feste Richtung. Der Alte behauptete so steif und fest, daß nach Ansicht des Vaters in dem Sarge kein Toter gelegen haben könnte, denn er sei ganz unglaublich schwer gewesen. Es fiel ihm nicht ein, alle die Unwahrscheinlichkeiten zu prüfen, die der Geschichte anhafteten. Nur eins war ihm aufgefallen: daß der Alte nicht schon früher unter der leichtgläubigen Bevölkerung ein paar Helfershelfer gefunden hatte, die sich bereit erklärten, mit ihm in finsterer Nacht den Schatz zu heben. Doch dies Bedenken wußte Dolinga leicht zu zerstreuen. Die dummen Kerle waren alle so abergläubisch gewesen. Wenn sie wirklich das Grab aufgruben und die Überreste eines Toten darin fanden, dann zogen sie sich die Rache des Geistes zu, dessen Ruhe sie gestört hatten.

Das klang einleuchtend. Weshalb aber hatte der Alte sich ihm offenbart und nicht dem Vater? Auch diese Frage wußte Dolinga genügend zu beantworten. Er hatte Karls Vater mehrmals in den Ohren gelegen, das Grab zu öffnen. Aber der hatte ihn ausgelacht und ihm schließlich eine Tracht Prügel versprochen, wenn er ihn nochmals mit der dummen Geschichte behelligen würde. Der Alte spielte dabei ganz offen darauf an, daß Karls Vater zu jener Zeit schon nicht mehr im vollen Besitz seiner Geisteskräfte gewesen wäre, und vielleicht hatte dieser Hinweis, so schmerzlich er auch war, bei Karl die allergrößte Wirkung. Aus einer anderen Ursache konnte er es sich wirklich nicht erklären, daß der Vater die Möglichkeit, aus seinen Geldschwierigkeiten herauszukommen, außer acht gelassen hatte.

In tiefen Gedanken wanderte Karl über das Feld nach Hause. Der Alte humpelte neben ihm her und redete fortwährend auf ihn ein. Sie brauchten ja niemand etwas von ihrer Absicht zu sagen, es wäre für einen kräftigen Menschen die Arbeit von einer Stunde, den Sandboden aus dem Grab zu werfen. Na, und wenn man schon nichts anderes fand als ein paar Knochen, dann wäre es auch noch so. Der Tote würde sie gewiß nicht belästigen. Denn wer einmal den Löffel gelegt und mit den Füßen voran zum letztenmal spazieren gefahren, der sei wirklich tot.

Noch einen Tag schwankte Karl. Als er am nächsten Tage vormittags aufs Feld ging, führten ihn seine Füße, ohne daß er es beabsichtigt hatte, wieder nach dem Kirchhof. Da saß auch der Alte, als hätte er auf ihn gewartet. Er ging von der Ostgrenze der Umfassungsmauer auf den Kirchhof und sieben Schritt nach Norden.

Auf dem Schnittpunkt dieser beiden Linien sollte das Grab liegen. Und richtig. Da war eine Stelle, die augenscheinlich früher einmal ausgegraben worden war.

Der Alte buddelte mit seinem Stock etwas in der dünnen Grasnarbe und zeigte Karl, daß unmittelbar darunter heller Sand lag. Also hatte niemand sich um das Grab bekümmert, niemand hatte einen Hügel aus fruchtbarer Erde darüber aufgeschichtet, um Blumen darauf zu pflanzen. Nun war Karl überzeugt. Heute abend, wenn die Leute im Dorf zur Ruhe gegangen wären, wollte er den Schatz heben. Der Alte war ganz außer sich vor Freude. Er vergaß dabei nicht, sich von Karl ein reichliches Ausgedinge versprechen zu lassen. Weiter gingen ja seine Wünsche nicht, als noch ein paar Jahre gut zu essen und reichlich Schnaps zu trinken.

Der Tag verging für Karl in fieberhafter Aufregung. Noch nie waren ihm die Stunden so lang erschienen. Er hatte sich aus dem Stall einen neuen, scharfen Spaten geholt, und die Laterne, mit der er stets zur Nacht die Wirtschaftsgebäude revidierte, ordentlich instand gesetzt. Stundenlang hatte er, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten, auf dem Sofa gelegen, bis ihm im Halbschlummer die Augen zufielen. Nur sein Kopf arbeitete weiter und zauberte ihm die prächtigsten Bilder vor... Und wenn's nur ein paartausend Taler wären, die er dort fand. Aber sicherlich waren mehr, viel mehr... Er begann in Gedanken abzuschätzen, wieviel Goldstücke wohl in einen Sarg hineingehen könnten, und kam dabei zu einer Zahl, bei der ihm ganz schwindelig zumute wurde.

Dann kamen wieder andere Gedanken. Wenn der Alte in seiner Einfalt plauderte? Das mußte verhütet werden. Dolinga mußte fortan bei ihm in seinem Hause leben. Wie lange konnte es noch mit dem Alten dauern? Er würde doch, wenn er nur genügend Kartoffelinsky zu trinken bekam, Tag und Nacht betrunken sein.

Bei diesem Gedanken schauderte er zusammen und erschrak vor sich selbst. Wohin führte ihn diese Gier nach Geld? Keimten da nicht schon Gedanken in ihm auf, die zum Verbrechen treiben konnten? Einige Augenblicke war er fest entschlossen, die ganze Schaugräberei auf sich beruhen zu lassen, doch wieder und immer wieder kroch die Versuchung an ihn heran und gaukelte ihm die prächtigsten Bilder vor, bis er fest und traumlos einschlief. Als er erwachte, war es schon Nacht. Die alte Josepha hatte ihm sein Abendbrot auf dem Tisch im Nebenzimmer aufgestellt und die Lampe angesteckt. Er sah nach der Uhr; es war nicht mehr weit von Mitternacht. Hastig trank er einen Schluck Milch und schlich sich hinaus wie ein Mensch, der auf verbotenen Wegen wandelt. In der Ecke am Keller stand der Spaten.

Die Nacht war still, aber finster. Unbeweglich standen über der Erde die dichten Wolken. Nur hier und dort öffnete sich für Augenblicke eine Lücke, durch die ein einzelner Stern blinkte. Als Karl auf dem Kirchhofe ankam, löste sich eine dunkle Gestalt von der Mauer. Es war Dolinga, der dort schon stundenlang gesessen und gewartet hatte. Beim Schein der kleinen Laterne begann Karl seine Arbeit. Schon nach den ersten Minuten trieb ihm die ungewohnte Arbeit den Schweiß aus allen Poren. Je eifriger er grub, desto unheimlicher wurde ihm zumute, und hätte nicht der alte Dolinga mit glühenden Augen am Rande der Grube neben ihm gekauert, mit aufgeregter Stimme fortwährend wiederholend, daß sie in einer Stunde spätestens einen gewaltigen Schatz vor sich liegen haben würden, dann hätte er jetzt noch den Spaten weggeworfen und wäre davongelaufen. Doch nun ging es nicht mehr. Jetzt konnte er nicht mehr zurück.

Er mochte eine Stunde gegraben haben; jetzt mußte er auf den Sarg stoßen. Selbst wenn die Bretter total vermodert und zusammengefallen waren, mußte doch von ihrem Inhalt etwas vorhanden sein. Aber nichts, gar nichts. Kein Holzsplitter, kein Knochen, kein Schatz!... Er ließ sich von Dolinga die Laterne geben und beleuchtete den Boden. Kein Zweifel: hier hörte die lose Erde auf. Darunter lag eine feste Tonschicht, in die er nur mit der größten Anstrengung den Spaten hineintreiben konnte. Das Grab war leer.

Anfangs vermochten die beiden Schatzgräber diese Tatsache gar nicht in ihren Gedanken zu fassen. Der Alte starrte mit Augen in die Grube, aus denen der Wahnsinn sprach. Sein Mund murmelte Flüche und Verwünschungen, und aus den Augen kollerten ihm die Tränen. Mechanisch stocherte Karl mit dem Spaten an den Seitenwänden herum. Sie waren fest wie Boden, der seit Jahrhunderten nicht berührt worden ist. Ohne Zweifel, hier war keine Leiche begraben worden. Es war ein Sarg mit einem Schatz gewesen, aber wo war er geblieben? Wer hatte ihn gehoben?

Mit großer Mühe schwang sich Karl aus der Grube. Ihm war ganz elend zumute. Am liebsten hätte er auch weinen mögen. Sein ganzer Körper war von der Arbeit wie zerschlagen, und jetzt mußte er die aufgeworfene Erde wieder zurückschaufeln. Mit jedem Spatenstich voll Erde, den er hinabwarf, begrub er ein Stück seiner Hoffnungen und Träume. Eine Mutlosigkeit kam über ihn, wie er sie noch nie empfunden. Es war ihm, als hätte er sein ganzes Lebensglück, seine ganze Zukunft eingesargt. Als er am nächsten Morgen nach einem unruhigen Schlaf voll schwerer Träume erwachte, packte ihn die Reue und die Verzweiflung. Düstere, schwere Gedanken kamen über ihn, und sie waren viel hartnäckiger als damals, als das Unglück zum erstenmal auf ihn gefallen war.

Ein paar Tage schlich er im Hans umher, als wenn das böse Gewissen ihn plagte. Auf das Feld ging er nicht hinaus. Er fürchtete sich davor, den Kirchhof auch nur von weitem zu erblicken.

Am dritten Tage kam Ohm Zenthöfer. Schon der erste Blick aus seinen jungen Freund zeigte ihm, daß seine Vermutungen und Befürchtungen nur allzu berechtigt waren. Bleich, hohlwangig stand Karl vor ihm. Den mußte er ordentlich zurechtrücken. Ohne alle Umschweife begann er:

„Also doch! Die Dummheit konnte nicht ungeschehen bleiben. Waren dir die paar Schritte bis zu mir zu weit, oder hast du kein Zutrauen zu mir, daß du nicht mehr kommen kannst, mich um Rat zu fragen?'“

„Was meinst du, Onkel?“

„Ach, tu` doch nicht so. Im ganzen Dorf klingert es ja schon, daß jemand mit dem alten Dolinga auf eurem Kirchhof nach einem Schatz gegraben hat, und dieser Jemand bist du und kein anderer. Versuche es nicht zu leugnen. Ich würde dir nicht glauben.“

„Ja, Onkel, ich bin es gewesen.“

„Na, dann hättest du dir auch vorher überlegen können, daß der Sand, der beim Zuscharren des Grabes liegen bleibt, euer lichtscheues Tun verraten würde. Glücklicherweise weiß noch niemand, wer dem verrückten Kerl dabei geholfen hat, und selbst sagen kann er es nicht mehr. Er hat sich heute nacht das Halstuch umgebunden und sich am Bettpfosten aufgehängt.“

Bei dieser Nachricht löste sich die Spannung, die Karl die Brust zugeschnürt hatte, und er sank auf den nächsten Stuhl, schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen, daß sein ganzer Körper dabei erbebte. Mit einem Gefühl grimmiger Befriedigung sah der alte Herr auf ihn nieder.

„So bleib' du mal noch ein Weilchen bei, mein Junge, das wird dir sehr dienlich sein: das wird dir eine Lehre fürs ganze Leben geben. Ich habe heute früh schon an die Staatsanwaltschaft Bericht geschrieben, daß der Alte wahrscheinlich aus Lebensüberdruß seinem Leben ein Ende gemacht habe, und daß ein Verbrechen ausgeschlossen erscheint. Da wird wohl kaum noch eine Gerichtskommission herauskommen. Die Geschichte ist also tot und begraben. Hättest du mich gefragt, dann wäre die Dummheit unterblieben. Solche Geschichten von vergrabenen Schätzen spuken hier viel in Ostpreußen herum. An den meisten ist nichts daran, und wo wirklich die Franzosen auf der Flucht einen Kriegsschatz vergraben haben, da sind sie in den nächsten Jahren wieder hier erschienen und haben die angebliche Leiche mit militärischen Ehren nach der Heimat übergeführt. Wer weiß, ob das nicht hier auch schon geschehen ist“

„Wahrscheinlich, Onkel, oder ganz gewiß, denn in der Gruft war nicht ein Span Holz oder Knochenreste.“

„Das ist dein Glück, Karl, daß du keinen Toten in der Ruhe gestört hast. Ich bin nicht abergläubisch, aber schön ist es nicht, aus Habgier ein Grab auszubuddeln. Na, lass' nur, ich weiß, was dich getrieben hat. Aber nun zieh' auch die Lehre daraus. Sie ist so alt beinahe wie die Welt. Wenn du einen Schatz heben willst, dann grabe deinen Acker um im hellen Tageslicht, wenn die Sonne deinem Tun ihren Segen geben kann.“

7.

Am ersten Osterfeiertage war Siegfried in der roten Mütze zu Besuch gekommen. Alle sechs Mann, die mit Karl zugleich nach der Prima versetzt worden waren, hatten ihr Abiturientenexamen bestanden. Mit Stolz trug der Jüngling das Zeichen seiner neuen Würde.

Sein ganzes Wesen war von einem freudigen Selbstbewußtsein durchleuchtet. Jetzt lag ja die Welt von ihm offen. Er wollte erst auf ein paar Semester nach Königsberg gehen, um dort fleißig zu arbeiten und einen guten Grund zu legen, dann weiter nach Berlin und vielleicht auch noch ein paar Semester nach Würzburg. In der einen wie in der anderen Stadt hatte er unter den Professoren Verwandte. Er sah in seine Zukunft wie in einen goldenen Spiegel.

Anfangs löste dieser Besuch bei Karl recht schmerzliche Empfindungen aus. Zugleich aber bestärkte er ihn in dem Entschluß, zum Herbst auf alle Fälle den Versuch zu machen, das Examen als Extraneus in Lyck zu bestehen. Siegfried hatte ihm sowohl die schriftlichen Arbeiten wie den Gang der mündlichen Prüfung genau erzählt und hatte selbst hinzugefügt, daß Karl seines Erachtens das Examen ebensogut hätte bestehen können wie die anderen. Im Herbst wollte er mit Beginn seiner Ferien wieder zu Besuch kommen und Karl wieder auf das Examen einpauken.

Auch der Max hatte sich die rote Mütze erobert. Er hatte allerdings zwei der schriftlichen Arbeiten „verbogen“, aber man hatte ihn, wie Siegfried etwas boshaft bemerkte, durchschlüpfen lassen, weil man wußte, daß er unter allen Umständen, Theologie studieren würde. Die tröstliche Aussicht, die darin auch für ihn lag, wehrte Karl ganz energisch ab. Er wollte nicht unter diesem Schild in den Kampf ziehen.

Nach Siegfrieds Abreise saß er fleißiger denn je über seinen Büchern, ohne darüber seine Wirtschaft zu vernachlässigen. Die war ja sowieso unter Pehlkes Leitung in sicherer Obhut, und die Leute brauchten nicht angetrieben zu werden, als ob der Acker ihnen selbst gehöre. Übrigens war die Kunde von Karls tatkräftigem Wirken bereits durch die ganze Gegend geflogen. Bei den Zusammenkünften des landwirtschaftlichen Kreisvereins, dem Karl auf Zenthöfers Anraten beigetreten war, war schon mehrfach darüber gesprochen worden, und der alte Ohm hatte mit der ganzen Kraft seiner Autorität den Ausspruch getan, der Betrieb seines Schützlings sei auf dem besten Wege, eine Musterwirtschaft zu werden. Kein hochmoderner Betrieb mit ungezählten Zentnern künstlichen Düngers, sondern eine Wirtschaft nach gutem alten Schlag, die ihren Dünger selbst produzierte und nur an einzelnen Stellen mit den Resultaten der modernen Wissenschaft eingriff.

Wie sehr die Stimmung zu seinen Gunsten war, das merkte Karl am besten, als er in diesen Tagen einmal mit Ohm Zenthöfer zu einer geschäftlichen Sitzung des Vereins gefahren war. Von der Landwirtschaftskammer lag eine Anfrage vor, wie man dem verstärkten Abwandern der Landarbeiter Einhalt tun könnte. Da hatte er auf Aufforderung des Vorsitzenden mitgeteilt, daß er seine Leute den Winter über beschäftige und ihnen neben dem Deputat noch den vollen Tagelohn eines Holzarbeiters zahle. Er sprach bescheiden, wie es seiner Jugend geziemte, unterließ es aber nicht, am Schluß zu betonen, daß seiner Meinung nach in dem Mehrverdienst, den seine Leute den Winter über sich erarbeiteten, die Hauptursache lag, daß sie gegen alle Verlockungen der Abwanderung gefeit blieben.

Es wurde in der angeregten Debatte, die sich darüber erhob, allseitig anerkannt, daß darin viel Wahres liege, man bedauerte nur, daß man dem guten Beispiel nicht folgen könnte. Von hundert Besitzungen lägen nicht zwei so günstig wie Gonsken, und dort hätte auch nur Karl allein das Glück, die Holzrückerei zu bekommen.

Die allgemeine Anerkennung, die dem jungen Mann von seinen Berufsgenossen zuteil wurde, und die er in der Art, wie man ihn behandelte, lebhaft empfand, vermochte es nicht, ihn von seinem Entschluß, das Abiturientenexamen zu machen, abzuwenden. Auf keinen Fall konnte ihm die Ausführung dieses Vorhabens etwas schaden. Im Gegenteil! Sie sicherte ihn gegen die allerschlimmste Eventualität, wenn er, durch die Macht der Verhältnisse gezwungen, den Kampf um die Scholle aufgeben mußte. Und war das nicht nötig, so mußte ihm doch die Energie, mit der er auf dieses Ziel losgegangen war, Achtung und Anerkennung einbringen.

Eines Tages war er nach Lyck gefahren und hatte sich bei dem Direktor des Gymnasiums anmelden lassen. Der alte Herr, der ihm noch von früher her sehr wohlwollend gegenüberstand, war hocherfreut, als er den Zweck des Besuchs erfuhr. Er äußerte nur einige Zweifel, ob Karl durch sein Selbststudium sich in allen Fächern gleichmäßig hätte fördern können. Er war jedoch beruhigt, als er erfuhr, daß Siegfried Hirschberg eine Kontrolle darüber ausgeübt und jetzt seinen Freund noch mündlich für das Examen einpauken wolle. Er hatte in der Zwischenzeit manches über seinen ehemaligen Schüler gehört, denn das Schicksal des jungen Miska war bereits in der ganzen Umgegend ein regelmäßiges Gesprächsthema. Ganz offen erklärte ihm Karl, er wolle das Examen nur machen, um gewissermaßen eine Rückendeckung für alle Fälle zu haben; so lange es ihm jedoch irgend möglich wäre, wolle er auf der väterlichen Scholle sitzen bleiben. Auch das hatte der alte Herr rückhaltlos gebilligt.

Nach der Rückkehr vergrub sich Karl mit Feuereifer in seine Bücher und wartete mit Sehnsucht auf Siegfrieds Ankunft und die Ankündigung des Termins zur schriftlichen Prüfung. Eines Tages fand Ohm Zenthöfer ihn über seinen Büchern sitzen. Er steckte eine überraschte Miene auf und schüttelte energisch den Kopf.

„Dacht` ich's mir doch, daß so was im Gange war!“

„Ja, Onkel, ich will unter allen Umständen das Examen machen.“

„Es wäre viel richtiger, wenn du dich um deine Wirtschaft kümmern wolltest. Sie ist ja eingespielt wie eine Drehorgel, und der Pehlke steht noch immer seinen Mann. Aber wenn man sich so weit durchgerungen hat wie du und es mit Hilfe meines Maulwerks schon zu einem gewissen Ansehen unter den Berufsgenossen gebracht hat, dann braucht man nicht noch einmal Schuljungen-Vorstellungen zu geben.“

Unwillkürlich mußte Karl lachen.

„Onkelchen, du hast dich ein bißchen verschnappt. Die Anerkennung, die mir zuteil wird, beruht wirklich nur zum allergrößten Teil auf deinem... wie du dich respektlos ausdrückst... Maulwerk`. Doch beruhige dich. Ich denke wirklich nicht daran, hier die Flinte ins Korn zu werfen. Nur eins mußt du mir zugestehen: Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß ich unterliege, und dann bin ich gegen alle Schicksalsschläge gewappnet, wenn ich mein Abiturium hinter mir habe. Du oder Herr Hirschberg, ihr würdet ja wohl beide für das erste Semester mir ein wenig unter die Arme greifen, und für die andere Zeit ist mir nicht bange. Also unter diesen Umständen wirst du mir hoffentlich deine Einwilligung nicht vorenthalten.“

„Nein, mein Junge. Jetzt will ich dir sogar aus vollem Herzen meinen Segen dazu geben. Ich stehe ja an deines Vaters Stelle hier, und es tut mir nur leid, daß mein guter Freund Gottlieb die Freude nicht mehr mitempfinden kann. Ich habe heute vom Direktor der Anstalt einen Brief bekommen… Er sagt nichts Neues. Körperlich ist dein Vater noch ziemlich rüstig, aber die geistigen Kräfte sind fast vollständig von der einzigen Wahnvorstellung überwuchert. Er hat die Erinnerung an die Vergangenheit fast völlig verloren, sitzt über Bauzeichnungen, rechnet, geht in der Anstalt umher und mißt mit Hilfe eines ungefährlichen Schicksalsgenossen die Gebäude. Ab und zu muß einer der jungen Ärzte eine Stunde opfern und sich von ihm die Pläne zum Umbau vorlegen lassen. Dann ist er wieder befriedigt... Na, laß gut sein, mein Junge. Es ist nu mal nichts dagegen zu machen. Wenn du mit der roten Mütze wiederkommst, kannst du mal hinfahren: vielleicht, daß dein Vater doch noch eine Empfindung dafür hat...“

Siegfried war endlich gekommen, und auch der Brief mit der Anzeige, daß die schriftlichen Arbeiten Mitte August beginnen würden. Die Tage vergingen wie im Flug, und als Karl am bestimmten Tage nach Lyck fuhr, gab ihm sein Freund die tröstliche Versicherung mit auf den Weg, daß seine geistige Rüstung mehr als hinreichen werde, die Prüfung zu bestehen.

Karl hatte sich für die Tage der Klausurarbeiten bei seiner früheren Pensionsmutter einquartiert. Ohm Zenthöfer wollte während seiner Abwesenheit in der Wirtschaft nach dem Rechten sehen.

Die Primaner, die mit Karl zugleich ins Examen stiegen, schauten mit einem Gemisch von Ehrfurcht und Bewunderung zu dem gebräunten, kräftigen jungen Mann auf, und die Lehrer behandelten ihn mit einer achtungsvollen Freundlichkeit. Es war ja auch ein Ereignis für die Schule, daß ein ehemaliger Zögling, den das Schicksal mitten aus seinem Bildungsgang herausgerissen hatte, zurückkehrte, um sich aus eigener Kraft das Maturitätszeugnis zu erringen.

Die Abende verlebte Karl meistens im Kreise der Hirschbergschen Familie. Siegfried hielt streng darauf, daß sein Freund während dieser Zeit kein Buch anrührte, damit er für die schweren Stunden der Klausurarbeit frisch bleibe.

Vergnügt fuhr Karl am nächsten Sonnabend ab. Er hatte die Empfindung, alle die Aufgaben gut gelöst zu haben. Der Direktor, der wohl schon einen Blick in die Arbeiten getan und auch von den Lehrern, denen die Korrektur oblag, ein Urteil eingeholt hatte, gab ihm den guten Rat, sich die Zeit bis zum mündlichen Examen nicht allzusehr anzustrengen. Es sei viel besser, wenn er mit frischem Geist dazu erscheine, als überarbeitet und abgespannt. Der gute Rat wurde, wie so viele andere, natürlich nicht befolgt.

Am ersten September fand die mündliche Prüfung statt. Der Schulrat, der dazu aus Gumbinnen herübergekommen war, ließ sich den Extraneus, von dem ihm der Direktor schon erzählt hatte, vorstellen, reichte ihm die Hand und sprach ihm einen Glückwunsch aus, der bei allen Lehrern ein verständnisvolles Lächeln hervorrief. Auch Karl verstand es, was der freundliche alte Herr damit meinte. Von ihm schwand die Befangenheit, die jeden Menschen bei der ersten Prüfung überfällt. Er gab seine Antworten frisch und offen und scheute sich nicht, das eine oder andere Mal einzugestehen, daß er bei seinem Selbststudium diesen Punkt nicht genauer erfaßt hätte.

Gegen 3 Uhr nachmittags war die Prüfung der 11 Examinanden beendet. Vor dem Gymnasium stand bereits Kopf an Kopf eine Menschenmenge, Schüler aus allen Klassen, die Pensionseltern und Angehörigen der Prüflinge und noch viele andere, die nur das Interesse an dem Schicksal der jungen Menschenkinder dorthin geführt hatte. Die da oben im Examen schwitzten, waren bisher nur die Primanerchen gewesen. wenn sie aber die rote Mütze aufsetzten, so waren sie die zukünftigen Herren Ärzte, Richter, Lehrer, Pfarrer, und mancher von ihnen würde nach Beendigung seines Studiums in die Heimat zurückkehren, um sich die zur Frau zu holen, die er bis dahin auf den Schulfesten eifrig betanzt und an jedem Morgen bei dem Begegnen auf dem Schulwege mit freudigem Erröten begrüßt hatte.

Die kleine Landstadt lebte mit ihrem Gymnasium. Fast eine jede Familie hatte ein Kind auf der Schule oder einen Pensionär. Man kannte jeden Lehrer aus den Erzählungen seiner Schüler; ihre Spitznamen waren stadtbekannt. Man wußte auch, wie der oder jener in der Schule stand, ob er fleißig war, ob er versetzt wurde oder nicht. Schon wochenlang vorher waren die Aussichten eines jeden, der da oben im Examen saß, gründlich erörtert werden. Es war kein Geheimnis, daß dieser in Mathematik schwach war, und jener wahrscheinlich den deutschen Aufsatz „verbiegen“ würde. Das meiste Interesse hatte sich diesmal dem Extraneus zugewandt. Man kannte zwar seine äußeren Schicksale, wußte aber nicht, mit welchen Aussichten er in die Prüfung ging. Die Meinungen waren geteilt. Die einen wollten wissen, daß man jeden Extraneus mit der äußersten Strenge behandle, um darzutun, daß nur ein regelechter Unterrichtsgang, wie er von der Schule erteilt würde, zur Reife führe, die anderen wiesen auf die Besonderheit des Falles hin und glaubten, daß die Lehrer gerade bei diesem Prüfling eine ganz außerordentliche Milde beweisen würden. Aber alle stimmten darin überein, daß es eine höchst ehrenwerte Sache sei, daß der junge Mensch sich durch das Examen gegen alle Schicksalsschläge wappne.

So hatten denn viele Menschen, die Karl kaum von Ansehen kannten, in die Tasche gegriffen und einen großen goldenen Albertus gekauft, um ihn dem jungen Gutsbesitzer nach bestandener Prüfung anzustecken. Es ist eine alte, prächtige Sitte dort oben im äußersten Osten des deutschen Vaterlandes. Der goldene Albertus, das Wahrzeichen der Königsbergern Albertina, der den zukünftigen Musensöhnen an den Rock gesteckt wird, ist aus reinem Gold gefertigt und wird von jedem Goldschmied zu dem feststehenden Satz von 5 Mark wieder angekauft. Das hat schon manchem Studiosus über die erste, schwere Zeit hinweggeholfen.

Die Prüfung war beendet. Die Examinanden hatten das Zimmer verlassen, denn die Lehrer wollten das Resultat feststellen. In etwas gedrückter Stimmung saßen die jungen Leute in dem Zimmer der Prima zusammen. So manche Frage war unbeantwortet geblieben, so manches Mal hatte der Herr Schulrat, wenn der Gefragte sein geringes Wissen durch einen reichlichen Aufwand von Worten zu verdecken suchte, mißbilligend den Kopf geschüttelt. Es war gar nicht ausgeschlossen, daß der eine oder der andere „rasselte“. Schon das erste Wort würde die Entscheidung bringen. Man wußte, daß der Herr Schulrat, wenn einer durchgefallen war, seine Rede stets mit dem Worte „Leider“ begann.

Jetzt steckte der Schuldiener den Kopf durch die Tür.

„Der Herr Direktor lassen bitten.“

Die vergnügte Miene, mit der er diese Aufforderung hervorbrachte, ließ alle freudig aufatmen. Der Graubart, der nun schon so viele Jahre seines Amtes waltete und so viele Primaner zu der folgenschweren Entscheidung gerufen hatte, wußte sicherlich schon ganz genau, daß die allgemeine Freude durch kein „Leider“ getrübt werden würde. Und richtig. Der Herr Schulrat begann: „Es gereicht mir zur größten Freude, daß Sie alle das Examen bestanden haben.“ Von dem, was danach kam, von der kurzen, kräftigen Ermahnung, die er den Jünglingen auf ihren Lebensweg mitgab, hörte keiner mehr ein Wort. Mit freudeglänzenden Augen schüttelten sie den Lehrern die Hand, und dann stürmten sie, drei, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter ins Freie. Nur bei Karl hatte das Ereignis kein Aufjauchzen der Seele ausgelöst. Es war ihm nur, als wenn ein Wärmestrom seinen ganzen Körper durchflutete, vielleicht weil ihm die Tragweite des Ereignisses deutlicher zum Bewußtsein kam als den jüngeren Gefährten. Ruhig nahm er die Glückwünsche des Direktors und des Schulrats in Empfang und schritt dann langsam die Treppe hinunter. Kaum war er aus dem Portal getreten, da warf ihm einer mit rücksichtslosem Schwung den Hut vom Kopf, ein anderer warf sich an seine Brust. Es war Siegfried, der ihm mit feuchten Augen die rote Mütze aufsetzte Das heißt, von der roten Mütze sah man eigentlich schon nichts. Denn es war kein Fleck an ihr, der nicht schon von einem Albertus besetzt war. Und dann drängten sich die Leute an ihn heran, fremde Leute, die er nicht einmal von Ansehen kannte, mit der einen Hand steckten sie ihm einen Albertus an den Frack, mit der anderen Hand klopften sie ihm auf den Rücken, weil sie seine rechte Hand nicht erwischen konnten, die unaufhörlich unterwegs war, die von einem zum anderen ging, der gerade daran war, sie zu erhaschen.

Ehe er vom Schulhof ging, war sein Frack von den Rockklappen bis zu den Schößen herab dicht bei dicht mit Albertussen bedeckt. Selbst auf der Vorderseite der Ärmel hatten sie Platz suchen müssen, und mancher hatte ihn im Überschwang der Freude beim Anstecken ganz empfindlich gepickt. An Siegfrieds Seite schritt er die einzige, lange Straße hinab, aus der das Städtchen besteht, bis zum Deutschen Tor, an dem seine Pensionsmutter wohnte. Sie war nicht mehr so gut auf den Beinen, sonst wäre sie persönlich vor dem Gymnasium erschienen. Sie hatte es sich aber ausbedungen, daß Karl den ersten Imbiß nach bestandenem Examen bei ihr einnehme. Aber bis er dahin kam, sollte noch eine Weile dauern. Überall standen die Einwohner vor ihren Häusern. Aus den weitgebauten Vortreppen waren Tische aufgestellt, auf denen allerlei gute Sachen zu einem Imbiß und Weinflaschen standen, und keiner der Jünglinge kam vorbei, der nicht mit einem Glas und einem Albertus begrüßt wurde. Wie im Traum nahm Karl alle die Glückwünsche in Empfang. Die Albertusse begannen sich bereits auf seiner Weste anzusiedeln, weil sie auf dem Frack keinen Platz mehr fanden. Und immer neue gesellten sich dazu. Das war ein Kapital, was er an sich trug.

Zum Mittag hatte Herr Hirschberg ihn eingeladen. Als Karl mit Siegfried etwas verspätet eintraf, wurde ihm eine neue Überraschung zuteil. Ohm Zenthöfer war da und auch der alte Pehlke. Die gute, treue Seele strahlte vor Glück. Wahrscheinlich auf Anstiften des Ohmchens hatten die Arbeiter ein paar Dittchen zusammengelegt und ihm durch Pehlke ebenfalls einen Albertus stiften lassen. Karl bog die Nadel zweimal ein, um ihn später von der Menge der anderen unterscheiden zu können. Auch Ohm Zenthöfer hatte sich losgelassen. Er hatte sich aus Königsberg einen extragroßen Albertus verschrieben, von mindestens drei Zoll im Durchmesser, wie er für Extrafälle von den Goldschmieden angefertigt wird. Er suchte aber vergeblich nach einem Plätzchen für dieses Prachtexemplar. Er mußte sich mit dem untersten Zipfel der Weste begnügen, wo er wie das Schild eines Schmuckgürtels breit und brastig dasaß.

Am Abend fand nach alter Sitte der Abiturientenkommers statt. Das Lehrerkollegium mit dem Direktor an der Spitze war natürlich vollzählig erschienen. Frühere Schüler des Gymnasiums, die jetzt auf den Universitäten die rote Mütze mit einer bunten vertauscht hatten, waren gekommen, um die „Muli“ für ihr Korps oder ihre Burschenschaft zu keilen. Dazu die männlichen Angehörigen der mit den Abiturienten verwandten Familien. Die größte Zahl von „Angehörigen“ hatte Karl aufzuweisen. Denn Onkel Zenthöfer war auf den nicht ganz fernliegenden Gedanken verfallen, die Berufsgenossen vom landwirtschaftlichen Kreisverein zu dem Ehrentage ihres jüngsten Mitgliedes einzuladen. Die beiden langen Tafeln vermochten kaum die Zahl der Gäste zu fassen. Karl war der Ehrenplatz neben dem Direktor zugefallen. Ihm war auch die Aufgabe geworden, auf die Rede des Direktors zu antworten und den Toast auf die Lehrer auszubringen. Er hatte sich darauf vorbereiten wollen, aber keine Zeit dazu gefunden. So sprach er denn frei vor einer größeren Versammlung zum zweitenmal in seinem Leben. Doch schon nach den ersten, etwas mühsam hervorgebrachten Sätzen wich die Befangenheit von ihm.

Er hatte den richtigen Faden gefunden. Mit schlichten Worten dankte er der Schule und ihren Lehrern für alles, was sie ihm gegeben hatten. Wenn er auch als ein Extraneus das Examen bestanden habe, so könne er sich doch als vollgültiges Mitglied des Gymnasiums betrachten, denn nur die Anleitung, die gründliche Durchbildung in allen Fächern, die ihm bis zur Prima zuteil geworden, habe ihn befähigt, allein die zum Examen nötigen Kenntnisse zu sammeln. Deshalb hätten wohl die Kameraden ihm die Ehre dieser Antwort übertragen, weil in seinem Bildungsgange am deutlichsten der Wert des empfangenen Unterrichts zum Ausdruck komme. So hatte er das Lob, das der Direktor ihm in seiner Rede freigebig gespendet hatte, mit seiner Wendung den Lehrern zurückgegeben, und mit freudigster Energie stimmte die ganze Korona in das dreifache Hoch auf den Direktor und das Lehrerkollegium ein.

Dann nahm ihn Ohm Zenthöfer in Beschlag, der in seiner Freude des Guten schon etwas zu viel getan hatte und sehr redselig geworden war. Er konnte sich über die Fähigkeiten, die sein Schützling eben entwickelt hatte, gar nicht genug wundern. Fortan mußte Karl neben ihm an der „scharfen Ecke“ sitzen bleiben, zu der sich die trinkfesten jungen Gutsbesitzer geschart hatten.

Die Anstrengungen des Tages waren etwas reichlich gewesen, auch in dem Genuß von Alkohol, und Karl hatte seit langer Zeit außer ein paar Gläsern Bier, die er bei seinen Fahrten nach Lyck oder Lötzen notgedrungen genießen mußte, keinen Alkohol zu sich genommen. Trotzdem unterlag er ihm nicht. Als die Festesfreude etwas lärmend geworden war, drückte sich Karl und ging heim.

Als er am anderen Morgen erwachte, lag die rote Mütze vor ihm auf dem Deckbett. Seine Pensionsmutter mußte sie ihm leise hingelegt haben.

Es war vielleicht der schönste und feierlichste Moment, den er jetzt in seinem Dasein durchlebte. Goldene Zukunftsträume stiegen vor ihm empor. Er sah sich als Student der Universität wandeln, sah sich als junger Pastor auf der Kanzel, und vorn in der ersten Bank saß die Mutter und weinte Freudentränen. Als er die Augen schloß, um diesen Gedanken noch weiter nachzuhängen, stieg ein anderes Bild vor ihm auf: das Bild der Wirklichkeit. Wie er in seinem dicken Flausrock und den langen Stiefeln über das Feld schritt und abends müde aufs Bett sank. Einsam in dem großen, weiten Hause... Es war ihm, als hätte dies Leben keinen Inhalt mehr... Wenn er sich auch durchrang bis zum gefestigten Besitz der väterlichen Scholle, was hatte er dann? Hatte das Leben dann noch einen Inhalt für ihn? Im ewigen Wechsel würde das Säen kommen und das Ernten, einmal besser, einmal schlechter. In engem Kreise würde sich sein Wirken abspielen, und er nichts anderes dabei als das Pferd in der Tretmühle. Dann kam etwas wie Reue über ihn. Hatte Ohm Zenthöfer nicht recht gehabt, als er ihn ausschalt, beim erstenmal, da er ihm von seinem Plan Mitteilung machte? Was waren das für Gedanken, was hatte ihm denn die allgemeine Achtung und Wertschätzung eingebracht? Doch nichts anderes, als die Zähigkeit, mit der er das Erbe seiner Väter verteidigte. Mit einem schnellen Griff hob er die rote Mütze von dem Deckbett, setzte sie sich auf den Kopf und begann sich anzuziehen. Er wollte heimfahren und endgültig mit all den schönen Träumen von Studieren usw. Schluß machen. Ein Notbehelf für die Zukunft, das sollte die rote Mütze sein, aber weiter nichts. Er hatte gerade nach einem trefflichen Frühstück bei seiner Pensionsmutter dem Kutscher den Befehl zum Anspannen gegeben, als Ohm Zenthöfer und Pehlke erschienen. Sie waren in einem etwas derangierten Zustand, hatten sich untergefaßt, um das schwankende Gleichgewicht durch gegenseitige Unterstützung aufzubessern, und erklärten energisch, sie würden jetzt mit Karl und seinem Fuhrwerk zunächst nach der Waldschenke hinausfahren, wo der Frühschoppen stattfinde, und dann mittags mit dem Festzug nach Birkenwalde, wo die Kriegervereine des ganzen Kreises gemeinsam das Sedanfest feierten. Nur mit Widerstreben ließ sich Karl zu der Fahrt bewegen; aber er hatte die Widerstandsfähigkeit der beiden alten Klutenpedder unterschätzt. Sie nüchterten sich bei dem fröhlichen Gelage im frischen Waldesgrün aus und waren nachmittags, ohne eine Stunde geschlafen zu haben, ziemlich repräsentationsfähig.

Es war ein richtiges ostpreußisches Volksfest, ohne die lärmende Fröhlichkeit, die sich in anderen Gegenden Deutschlands an solche Veranstaltungen zu heften pflegt. Aber dafür war die ganze, große Gesellschaft wie eine Familie. Karl genierte sich ordentlich, mit seiner Unmasse von Albertussen durch die Menge zu gehen, denn er war der Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Aber Ohm Zenthöfer ließ ihn nicht los. Es war, als wenn der alte Herr in der Anerkennung, die seinem Schützling zuteil wurde, sich sonnte.

Für Karl hatte dieser Tag noch eine besondere Bedeutung. Er sah das Mädel wieder, von dem er einstmals, ehe das schwere Schicksal über ihn gekommen war, geträumt, und von dem er gehofft hatte, daß es ihm die rote Mütze aufsetzen und dereinst seine Frau Pfarrerin werden sollte. Als sie zum erstenmal in Gesellschaft mehrerer Referendare und Offiziere an ihm vorbeigegangen war, hatte er sie gegrüßt. Da war sie stehen geblieben, hatte ihm freundlich die Hand gereicht und ihm einen Glückwunsch ausgesprochen. Und merkwürdig! Die Begegnung hatte Karl ganz gleichgültig gelassen. Aus dem frischen, natürlichen Schulmädchen war ein eitles, gefallsüchtiges Ding geworden, das trotz seiner sechzehn Jahren mit seinen Begleitern kokettierte, als wäre es in der großen Welt aufgewachsen und nicht in einem kleinen ostpreußischen Landstädtchen. Es wäre vielleicht trotz alledem eine Frau Pfarrerin geworden, aber zu einer Landwirtin, wie Karl sie gebrauchte, zu einem treuen Weib, das mit ihm von früh morgens bis spät abends schaffte und seine Sorgen mit ihm trug... dazu gehörte ein anderes Wesen.

Die Ernte im Herbst war sehr mäßig gewesen. Nur mit Hilfe eines Vorschusses, den er sich zum ersten Oktober bei Lehmann erbat, war es Karl möglich gewesen, seine Verpflichtungen zu decken. Er war in diesem Jahr nicht vorwärts gekommen. aber auch nicht zurück. Er hatte eben nur wieder für ein Jahr die Möglichkeit seiner Existenz gewonnen.

8.

Am zweiten Tage nach dem Examen war Karl zum Besuche des Vaters nach Kortau gefahren. Die rote Mütze, die Weste und den Frack hatte er in den Koffer gepackt, um sich damit zu schmücken, wenn er dem Kranken gegenübertrat. Aufs höchste erregt kleidete Karl sich im Zimmer des Direktors um. Man hatte ihn darauf vorbereitet, daß sein Vater, der doch kaum die Fünfzig überschritten hatte und in seiner Erinnerung als ein starker, blühender Mann dastand, körperlich etwas zurückgegangen sei. Aber so schlimm hatte er sich diesen Rückgang doch nicht vorgestellt. Der da im bequemen Lehnstuhl vor ihm saß, sah aus wie ein gebrechlicher Greis mit grauen Haaren, in denen schon das Weiß vorherrschte Die Geschäftigkeit seines Wesens, die ihn in den ersten Jahren ruhelos hin und her getrieben hatte, war von ihm gewichen; müde und abgespannt saß er stundenlang da, ohne ein Wort zu sprechen. Als diese Veränderung zum Durchbruch kam, hatten die Ärzte sie für ein günstiges Zeichen angesehen, aber vergeblich darauf gewartet, daß der arme Kranke eine Frage nach seinem Sohn oder nach seinem Gute tun würde. Sie wußten deshalb nicht, ob und wie das Erscheinen Karls in dem auffallenden Schmuck auf ihn eine Wirkung ausüben würde.

Bei seinem Eintreten hob der Vater die Augen zu ihm, leere, glanzlose Augen, für deren Ausdruckslosigkeit sich schwer ein Vergleich finden läßt. Er sah aus wie ein Mensch, der, in tiefe Gedanken versunken, ganz mechanisch seinen Blick über die Umgebung hinschweifen läßt, ohne zu empfinden, was er sieht. Und noch etwas mehr lag in ihm, oder vielmehr fehlte darin: das Bewußtsein des eigenen Ichs, das man in dem Blick jedes Menschen findet, mag er geistig auch noch so niedrig stehen. Bei diesem Anblick krampfte sich Karl das Herz zusammen, die Tränen traten ihm in die Augen, und aus seiner Brust rang sich mit dem Ausrufe: „Vater, geliebter Vater!“ all die schmerzliche Liebe, die nimmer aufgehört hatte zu hoffen und nun von einem hoffnungslosen Schmerz abgelöst wurde.

In seiner Aufregung entging ihm, was der Arzt, der mit ihm zugleich eingetreten war, zu seiner größten Freude bemerkte. In den Augen des Vaters begann es seltsam aufzuleuchten, ein grenzenloses Erstaunen malte sich auf dem Gesicht des Kranken, mit halbgeöffnetem Mund, der sprechen zu wollen schien, hob er sich halb im Lehnsessel empor. Laut weinend lag sein Sohn vor ihm auf den Knien und barg das Gesicht in seinem Schoß.

Da sprangen die Fesseln von seiner Seele, die Schatten wichen von seinem Geist, die ihn bis dahin von Vergangenheit und Gegenwart geschieden. Wie ein helles Licht überflutete ihn die Erkenntnis, daß da sein Sohn vor ihm auf den Knien lag, geschmückt mit den Zeichen des glücklich bestandenen Abiturientenexamens. Leise umschloß er mit beiden Händen das Haupt des Knienden, von dessen Locken die Mütze gefallen war; aus den Augen tropften ihm die Tränen. Zum erstenmal in seiner Krankheit weinte er.

Überrascht, beinahe erschrocken, hob Karl den Kopf. Aus den Augen des Vaters strahlte ihm das klare Bewußtsein entgegen.

„Vater, geliebter Vater, Gott hat dich mir wiedergeschenkt, ich bin es, dein Sohn Karl...“

War ein Wunder geschehen, oder hatte die Natur auf uns Menschen unerforschlichem Wege die geistigen Kräfte entflammt, die in der Seele verborgen ruhten, daß sie die Fesseln sprengten, oder war es nur ein plötzliches Aufflackern, das bald wieder von der grauenvollen Nacht des Wahnsinns bedeckt werden würde? Karl wußte es nicht. Er machte sich auch in diesem Augenblick keine Gedanken darüber. Er war überglücklich: denn mit verständnisvollen Augen und gerührter Miene hörte der Vater zu, wie er ihm in fliegender Haft die Vorgänge während des Examens schilderte. Und dann fragte der Vater mit einer Stimme, aus der das volle Verständnis sprach:

„Wer hat denn die Zeit über in Gonsken gewirtschaftet?“

„Ich, geliebter Vater! Ohm Zenthöfer hat mich unter seine Obhut genommen, und gute Menschen haben mir geholfen.“

Nun begehrte der Vater Genaueres zu wissen. Aus seinen Fragen ersah Karl, daß ihm das Bewußtsein seiner Handlungen schon bald nach dem Tode der Mutter, als er zu bauen begann, abhanden gekommen war. Er suchte alles im rosigsten Licht darzustellen, aber jetzt war dem Kranken mit der Klarheit der Gedanken auch die Schärfe des Urteils zurückgekehrt, und seine Fragen gingen auf alle Einzelheiten: wie stark das Gut belastet sei, wie er die Zinsen habe beschaffen können. Und dann kam der Moment, vor dem Karl sich fürchtete. Er fühlte förmlich, wie die Erkenntnis seiner geistigen Erkrankung mit unwiderstehlicher Gewalt auf den Vater herabsank.

Seine Fragen wurden seltener, bis sie ganz aufhörten, so daß der Sohn nicht wußte, ob der Vater noch hörte, was er sprach. Zusammengesunken saß er vor ihm da, die Hände zwischen den Knien gefaltet, den Kopf tief nach unten gesenkt.

In diesem Augenblick erschien der Arzt, der still das Zimmer verlassen hatte, als der Kranke zum Bewußtsein gekommen war. Er nahm Karl mit sich fort. Jetzt war zunächst einmal unbedingte Ruhe erforderlich, am besten ein langer Schlaf, den er durch ein sanft wirkendes Mittel herbeiführen wollte. Morgen früh würde sich zeigen, ob der Hoffnungsstrahl noch fortleuchtete, ob man es mit einem vereinzelten lichten Moment, wie sie manchmal bei gutartigen Kranken austreten, zu tun hatte, oder ob die seelische Erschütterung stark genug gewesen sei, die Banden des Irrwahns zu sprengen. In fieberhafter Aufregung durchwachte der Sohn die Nacht. Erst gegen Morgen fiel er in einen unruhigen Schlummer. Eine bleierne Müdigkeit lag auf seinen Gliedern; er glaubte zu vernehmen, wie die Tür aufging, aber er vermochte die Augen nicht zu öffnen. Da schlug eine Stimme an sein Ohr. Noch glaubte er zu träumen, daß sein Vater an seinem Bett stünde. Aber nein, er war es wirklich, der da vor ihm stand:

„Na, mein Junge, ich muß sagen, als Landwirt hast du einen gesunden Schlaf des Morgens.“

Mit dem Vater war auch der Direktor eingetreten. „Ja, Sie haben wirklich gut geschlafen, mein junger Freund. Nun ziehen Sie sich schnell an, und dann kommen Sie mit Ihrem Herrn Vater runter zu meiner Wohnung. Wir wollen zusammen frühstücken.“

Er nickte beiden noch freundlich zu und ging. Karl aber sprang mit beiden Füßen aus dem Bett und warf sich dem Vater an den Hals. Welch eine Verwandlung war mit ihm in dieser kurzen Zeit vorgegangen! Nicht nur geistig, sondern auch körperlich. Seine große Gestalt war straff aufgerichtet, seine Hand umspannte mit kräftigem Druck die des Sohnes.

Während Karl sich anzog, ging der Vater mit starken Schritten in der Stube auf und ab. „Mein Junge, ich weiß alles. Ich weiß, daß mein Geist umnachtet war, schon lange vorher, ehe ich hier in die Anstalt kam. Ob der liebe Gott mir für den Rest meines Lebens die geistige Gesundheit wiedergeschenkt hat, oder ob es nur ein kurzes Aufflackern meiner Geisteskräfte ist, das wissen wir nicht. Und mit diesem Gedanken soll und will ich mich nicht plagen. Heute bin ich frei und will Gott dafür dankbar sein. Vielleicht war die Prüfung nicht mir auferlegt, sondern mehr noch dir. Vielleicht war es nur der schwere Durchgang zu der großen Freude, die mir der Himmel schenkte, daß ich dich in diesen kurzen Jahren vom Ernst des Lebens zum Mann gereift wiederfinde und den Herzenswunsch erfüllt sehe, daß du nach mir kräftig im Besitz unserer Väter wirken und schaffen wirft. Ich hoffe, der Arzt wird mir gestatten, mit dir nach Hause zurückzukehren Aber fürchte nichts, mein Junge! Ich weiß sehr gut, daß meine Tätigkeit auf Erden hier ihren Abschluß gefunden hat. Du wirft der Besitzer von Gonsken bleiben und vollständig selbständig wirtschaften, wie bisher. So schnell als möglich werde ich dir das Gut verschreiben, damit du auch formell gesichert bist. Wahrscheinlich werden mir noch manche schwarze Stunden nicht erspart bleiben. Das hat mir der Arzt gesagt. Aber dann hab' Geduld mit mir. Hoffentlich finde ich die Kraft, sie zu überwinden. Die Freude wird mich aufrechterhalten.“

Noch diesen Tag und die folgende Nacht waren Vater und Sohn in der Anstalt geblieben. Wahrscheinlich wollten die Ärzte erst sehen, ob die Besserung, von der alles ebenso überrascht wie freudig bewegt war, anhalten würde. Und sie hielt an.

Am Abend, als der Vater sich zur Ruhe begeben hatte und sanft eingeschlummert war, hatte Karl noch eine lange Unterredung mit dem Direktor, der ihm auf alle Fälle eingehende Verhaltungsmaßregeln gab. An Ohm Zenthöfer wurde sofort das wunderbare Ereignis telegraphisch berichtet. Am Nachmittag meldete er auf demselben Wege, daß sie am anderen Tage mittags auf der Bahnstation eintreffen würden.

Auf der Fahrt hatte sich der Vater noch einmal eingehend nach allen Verhältnissen der Wirtschaft erkundigt, und während Karl erzählte, nahm er seine Hand und streichelte sie in wohlberechtigtem Vaterstolz. An der Bahn wartete das Fuhrwerk. Pehlke hatte es sich nicht nehmen lassen, seinen alten Herrn selbst abzuholen. Er glaubte noch nicht recht an das wunderbare Ereignis.

Aber als Vater Miska, zwar grau geworden, aber so stattlich und aufrecht wie früher, aus dem Abteil des Zuges stieg und ihm die Hände entgegenstreckte, da stürzten dem treuen Menschen die Tränen aus den Augen.

„Was granzt du, alter Esel?“

Bei dieser Anrede verzog sich Pehlkes Gesicht zu einem freudigen Grinsen. Jetzt hatte er wirklich die Gewißheit, daß sein alter Herr gesund zurückgekehrt war. Das merkte er an der herzerfrischenden Deutlichkeit, mit der er ihn ansprach.

Vor dem Wohnhause wartete Ohm Zenthöfer auf die Rückkehr des Freundes. Die Tür war bekränzt. Am Eingang des Gartens erhob sich eine Ehrenpforte aus Tannenreisig, mit Fahnen verziert. Zu beiden Seiten der Pforte standen die Leute des Gutes, festlich gekleidet, auf der anderen Seite des Weges drängten sich Kopf an Kopf die Einwohner des Dorfes. Im ersten Augenblick hatte Karl Bedenken, ob dieser freudige Empfang beim Vater nicht traurige Gedanken an die Vergangenheit auslösen würde. Und dasselbe Gefühl hatte wohl auch Ohm Zenthöfer gehabt. Denn er hatte den Lehrer, der mit seiner Kinderschar den Gutsherrn durch einen Gesang empfangen wollte, energisch zurückgewiesen. Aber den Leuten konnte er es wirklich nicht verwehren, daß sie ihrer Freude an dem Ereignis Ausdruck gaben. Ihm ging es ja ebenso. Als sein alter Freund Gottlieb aus dem Wagen stieg, da verschlug ihm die Freude des Wiedersehens die Rede. Er konnte nur stumm die Arme ausbreiten und den heimgekehrten Freund an die Brust ziehen. Dann drängten sich die Leute heran und streckten ihre Hände aus. Die Weiber haschten nach einem Rockzipfel oder dem Ärmel, um ihn nach slavischer Sitte zu küssen. Stumm schüttelte Vater Miska all die Hände, die sich ihm entgegenstreckten Er hatte Mühe, seiner Bewegung Herr zu werden.

Schon am nächsten Tage fuhr er mit Karl in die Stadt, um ihm vor dem Notar das Gut zu verschreiben. Er hatte darauf bestanden, obwohl sich der Junge dagegen gesträubt und ihn gebeten hatte, die Leitung der Wirtschaft wieder ganz in die Hand zu nehmen. Und Karl hatte in dieser Angelegenheit ein ganz richtiges Gefühl. Als er in den nächsten Tagen mit dem Vater über das Feld wanderte, da wußten die Leute nicht, wen sie nun als ihren Herrn anzusehen hatten. Auch der Vater empfand das Zwiespältige seiner Stellung und merkte zugleich, daß es ihm schwer fallen würde, so ganz, wie er es beabsichtigt hatte, hinter dem Sohn zurückzutreten. Doch davon ließ er sich nichts merken.

Ganz allmählich kehrten alle aus der Flut hochgespannter Empfindungen in die Alltäglichkeit des Lebens zurück. Karl hatte mit seiner Rückerei begonnen; täglich fuhr er mit seinen Leuten in den Wald und kehrte spät abends zurück. In der ersten Zeit plagte ihn die Furcht, wie er seinen Vater bei der Rückkehr finden werde. Diese Besorgnis war leider nicht ganz unbegründet, obwohl Karl kaum ahnte, was in seinem Vater vorging. Der alte Herr hatte wirklich bei der Entsagung auf jedes Eingreifen seine Kräfte überschätzt Wenn er am Tage durch die Ställe ging und die Gebäude betrachtete, dann fiel es ihm schwer auf die Seele, daß er durch sein Bauen das Gut über Gebühr belastet hatte, und ging er über das Feld, wenn ein paar Gespanne zu Hause geblieben waren, um Dünger zu fahren, dann wurde es ihm schwer, nicht einzugreifen und hier und dort mit einem kleinen Donnerwetter dreinzufahren. Die fixe Idee, die seine geistige Erkrankung herbeigeführt hatte, war wohl endgültig überwunden, aber nicht selten kam eine schwere Stunde über ihn, in der das Bewußtsein seines Schicksals mit Zentnerlast auf ihn fiel. Dann saß er stundenlang dumpf brütend irgendwo am Feldrain oder auf der Deichsel eines Wagens, der auf dem Hof stand: Pehlke, der nicht zum Rücken mitfuhr, hatte seinen alten Herrn dabei schon manchmal beobachtet und ihn angesprochen, um ihn aus seinen schweren Gedanken zu reißen. Auch Zenthöfer wußte darum und hatte wohl die richtige Ursache herausgefunden, daß sein Freund sich in der freiwillig übernommenen Untätigkeit innerlich aufrieb. Doch als er einmal darauf anspielte und beim nächstenmal ganz ernstlich riet, Gottlieb möchte wenigstens den landwirtschaftlichen Betrieb völlig in seine Leitung übernehmen, da hatte er eine entschiedene Abweisung erfahren.

Bei diesem inneren Kampfe verfiel der alte Herr sichtlich, so daß die Veränderung auch dem Sohn nicht verborgen bleiben konnte. Doch diejenigen, die ihn darüber aufzuklären vermochten, schwiegen. Miska hatte ihnen das Versprechen abgenommen, nicht darüber zu reden.

9.

Bei der Rückerei hatte Karl dies Jahr oftmals Ärger. Er hatte seinen Betrieb wieder vergrößern und mehrere neue Leute einstellen müssen, darunter auch einen Stanislaus Szelinski, einen Polen, der vorigen Sommer mit den übrigen Feldarbeitern nach Preußen gekommen war. Er mußte wohl, wie man so zu sagen pflegt, zu Hause etwas „ausgefressen haben“, denn er ging zum Winter nicht mit seinen Landsleuten in die Heimat zurück, sondern blieb in Preußen. Ein junger, flotter Kerl von ranker, geschmeidiger Gestalt, mit brennend schwarzen Augen, der all den jungen Mädchen des Dorfes den Kopf verdrehte, wenn er Sonntags zum Tanz seine Konföderatka aufsetzte und seinen pelzverbrämten Schnurrock anzog. Der Bursche war anstellig und geschickt, aber bald stellte es sich heraus, daß er sich mit seinen Arbeitsgenossen nicht vertragen konnte.

Die Masuren haben, obwohl sie selbst aus slavischem Stamm entsprossen sind und einen polnischen Dialekt sprechen, eine unüberwindliche Abneigung gegen die unter russischer Herrschaft lebenden Polen. Und diese Abneigung geht so weit, daß sie die Bezeichnung „Polack“ als Schimpfwort gebrauchen. So konnte es nicht ausbleiben, daß bald Reibereien ausbrachen, die nicht selten in Schlägereien auszuarten drohten. Wäre der Pole friedfertig und bescheiden gewesen, dann hätten die anderen ihn wohl unter sich geduldet. Nun aber hänselten sie ihn auf alle mögliche Weise, da sie wußten, daß er sich schon ärgerte, wenn sie seinen Vornamen Stanislaus nicht in der polnischen Form Stanislaw aussprachen. War der Kerl nun wirklich faul, oder wollte er damit seinen Widersachern einen Schabernack spielen, er schonte bei der Arbeit seine Kräfte so sehr, daß er den anderen förmlich im Wege war. Und eines Tages, als Karl in Geschäften vormittags fortgefahren war und erst nachmittags in den Wald kam, hatte es deswegen sogar eine Schlägerei gegeben. Bis dahin hatten die Leute geschwiegen. Jetzt kam Stopka selbst an ihn heran und verlangte im Namen und im Auftrag der anderen, Karl sollte den Polack entlassen. Er brauche keinen anderen dafür einzustellen; sie wollten die Arbeit, die der Szelinski geleistet hätte, noch auf ihre Schultern nehmen.

Karl suchte zu vermitteln. Er wollte den Burschen unter vier Augen ordentlich zusammenrucken. Vielleicht ginge es dann mit ihm. Am nächsten Vormittag nahm er ihn beiseite und redete ihm gut zu. Herr Szelinski hörte ihn an, als wenn die Sache ihn nichts anginge, und verteidigte sich mit keinem Wort, so daß Karl nicht wußte, wie seine wohlwollende Mahnung aufgenommen wäre. Schon nach wenigen Tagen sollte er darüber Gewißheit haben, als Stopka mit zwei anderen, älteren Männern bei ihm erschien und die Entlassung des Polen forderte. Sie würden unter keinen Umständen mehr mit ihm zusammen arbeiten. Sie seien alle wie die Brüder zueinander und hätten keine Lust, sich täglich mit einem hergelaufenen Polacken zu zanken oder gar zu prügeln. Unter diesen Umständen blieb Karl nichts übrig, als dem Verlangen seiner Leute zu willfahren. Er ließ sofort Herrn Szelinski holen, um ihn in Gegenwart der Männer abzulohnen. Nun folgte eine unerquickliche Szene. Der Pole warf den Masuren vor, daß sie ihn aus der Arbeit treiben wollten, bloß weil er jenseits der Grenze geboren sei, und schimpfte wie ein Rohrsperling, so daß Karl sich beeilte, ihm das Geld auszuzahlen, um dem Auftritt ein Ende zu machen. Als der Bursche das Geld in der Tasche hatte, wurde er patzig, setzte seine Konföderatka aufs Ohr und meinte in herausforderndem Tone, jetzt würde er ganz offen sagen, weshalb er hier rausgeworfen würde. Die Herren wären eben überall gleich. Die armen Leute müßten für einen Hundelohn bei ihnen schuften, und ihre Weiber wollten sie auch noch für sich haben.

Im ersten Augenblick verstand Karl diese Frechheit nicht. Stopka dagegen war sofort zugesprungen und hatte den Burschen im Genick gepackt. „Du verdammter Polack, was meinst du damit? Was sagst du auf unseren Herrn?“

„Na, tut doch nicht so, als ob Ihr nicht wißt, daß ich mit der Auguste hier vom Hof versprochen bin. Und das scheint dem gnädigen Herrn nicht zu passen. Deshalb lohnt er mich aus. Ihr seid ja bloß die Schafsköpfe, die ihm dabei den Rücken decken.“

Jetzt wäre es dem Polacken schlecht gegangen, wenn Karl nicht seine Ruhe bewahrt hätte. Aber es war ihm das Schicksal seines Großvaters in die Erinnerung gekommen. Auf sein Geheiß ließ Stopka den Szelinski los und ging nach der Küche, um die alte Josepha samt der Auguste zu holen. Vor all den Zeugen wollte er diesen bösen Handel durchfechten. Es widerstrebte ihm nur, selbst Fragen, die nötig wurden, an die Margell zu tun. Doch das besorgte Stopka. Er führte die Weinende an der Hand herein, stellte sie dem Polen gegenüber und fragte sie eindringlich, was sie mit dem Lorbaß zu tun habe. Mit stockender Stimme erwiderte sie, sie wollten sich heiraten.

„So, so! Und der Kerl behauptet, der junge Herr ginge dir nach. Ist das wahr?“

Das Mädel sah dem Alten voll ins Gesicht. „Da sei Gott vor, daß ich so etwas sagen könnte. Nicht mit einem Auge hat der junge Herr mich angesehen.“

„Wann wollt ihr denn heiraten?“

Die Margell antwortete: „Na, wir dachten schon zu Frühjahr!“

„Du bist doch bis Martini hier im Dienst?!“

Das Mädel schlug verlegen die Augen nieder. „Ja, aber vielleicht hätt' mich der Herr schon vorher gehen lassen müssen.“

Nun hielt es Karl an der Zeit, einzugreifen und reinen Tisch zu machen.

„Wenn es so mit dir steht, dann gehst du sofort aus dem Hause, noch heute. Hier ist das Lohn bis zum Frühjahr. Dein Dienstbuch kannst du dir morgen von der Josepha holen.“

„Herr“, meinte Stopka, als er das Brautpaar, das auf der Stelle eine lebhafte Auseinandersetzung begann, hinausbegleitet hatte, „das war das beste, was Sie tun konnten. Mir tut nur die arme Margell leid, daß sie den Polacken heiraten muß. Na, sie hat's ja selbst gewollt. Aber machen Sie sich weiter keine Sorge darum. Die Auguste findet jetzt noch überall Arbeit bis zur Hochzeit, und wenn ihr der Kerl ausrückt, dann hat sie auch nichts verloren.“

„Das scheint mir aber ein ganz gefährlicher Bursche zu ein.“

„Ach, Herr, die Hunde, die bellen, beißen nicht. Und bis Sie eine andere gefunden haben, kann meine Tochter auf den Hof zur Aushilfe kommen.“

Im Frühjahr hatte Karl mit Herrn Szelinski nochmal einen kleinen Auftritt. Der Bursche, der das Mädel inzwischen geheiratet hatte, erschien auf dem Hof und sprach Karl um Arbeit an. Er hatte sich den Winter über bei den Bauern so durchgestoßen, aber nirgends lange ausgehalten. In seiner Gutmütigkeit hätte Karl den Menschen, der jetzt ganz bescheiden zu bitten verstand, vielleicht angenommen, wenn nicht der Pehlke dazugekommen wäre und ganz entschieden dagegen Einspruch erhoben hätte. Sofort kehrte der Pole seine wahre Natur wieder heraus und fing zu schimpfen an. Das wäre ja ein neuer Herr, dem seine Leute vorschrieben, was er zu tun und zu lassen habe. Drohend und schimpfend ging er vom Hof.

Über der Sorge um den Vater hatte Karl den Auftritt bald vergessen. Der alte Herr verfiel sichtlich. Er ging selten noch aus der Stube. Meistens saß er in seinem Lehnstuhl und brütete still vor sich hin. Sein Interesse um die Wirtschaft und alles, was um ihn vorging, schien gänzlich geschwunden zu sein. Er hörte zu, wenn Karl ihm Bericht erstattete, tat aber selten eine Frage. Der Sohn konnte sich diesen Zustand nicht erklären. Auch Ohm Zenthöfer konnte oder wollte ihm keine Auskunft geben. Er riet ihm nur, den Vater so viel wie möglich für die Wirtschaft zu interessieren, ihn womöglich täglich in den Schlitten zu setzen und mit ihm über das Feld oder durch den Wald spazieren zu fahren. Daß der Vater noch mit den alten Wahnvorstellungen zu kämpfen habe, das hielte er für ausgeschlossen.

Der Rat war leichter gegeben als befolgt. Denn Vater Gottlieb weigerte sich entschieden, auszufahren. Er bat nur, man möchte ihn in Ruhe lassen.

Als das Frühjahr kam und die Sonne wärmer zu scheinen begann, besserte sich sein Zustand ein wenig. Er machte kurze Spaziergänge auf das Feld und sprach auch, wenn er zurückkam, darüber, wie er sich freute, daß die Saat so gut über den Winter gekommen war. Eines Tages war er weiter als gewöhnlich gewandert, bis zum Walde. Sein Herz krampfte sich zusammen, als er die vielen Stubben sah. Hier hatten uralte Kiefern gestanden, dort eine Gruppe mächtiger Eichen. Wo waren sie geblieben? Hatte Karl sie zu Geld gemacht?... Plötzlich kam die Erinnerung über ihn. Er war es ja selbst gewesen, der das schöne Stück Wald so verwüstet hatte.

Und mit der Erinnerung kam seine schwarze Stunde über ihn. Er setzte sich auf einen Stubben und brütete still vor sich hin. Es waren keine klaren Gedanken, die ihn peinigten, nur das dumpfe Schmerzgefühl, die Trauer um sein zerstörtes Leben. Kalt strich der frische Ostwind über den Berg und durchschauerte ihn bis aufs Mark, aber er hatte nicht mehr die Kraft, sich zu erheben und heimwärts zu gehen.

Erst kurz vor Mittag kam Karl von einem Gang in die Nachbarschaft zurück und erfuhr, daß sein Vater seit morgens weg wäre. Die Leute sagten ihm, daß sie den alten Herrn in der Richtung nach dem Walde hätten übers Feld gehen sehen. Von Angst getrieben, ließ Karl sofort einen Wagen anspannen und fuhr dem Vater nach. Er fand ihn zusammengesunken auf einem Stubben sitzen, und in diesem Augenblick schoß vor ihm wie ein Blitz die Erkenntnis aus. Jetzt wußte er, was den Vater drückte!

Der Vorfall hatte die Katastrophe ausgelöst oder wenigstens beschleunigt. Der alte Herr hatte sich, wie man so zu sagen pflegt, bis auf den Tod erkältet und fieberte stark, als er ins Bett gebracht wurde. Der Arzt war sofort geholt werden. Er hatte energisch eingegriffen, den Kranken in ein nasses Laken gewickelt und zum Schwitzen gebracht, so daß bis zum Abend der erste Anprall der Krankheit gehoben war.

Für den ersten Augenblick war wohl das Ärgste abgewendet, doch dem Kräfteverfall vermochte der Arzt nicht Einhalt zu tun. Er konnte dem Kranken nicht die Lust am Leben wiedergeben, die in vielen Fällen weit mehr wert ist als alle Arznei. Vater Miska war lebensmüde. Die einzige Freude, die ihm fern Dasein noch bieten konnte, die Freude an dem frischen Wirken des Sohnes, hatte er genossen. Jetzt konnte er getrost sein müdes Haupt zur Ruhe betten. Sein Sohn und Nachfolger hatte sich mit starken Knochen in die Sielen gelegt, und wenn Gott ihm seinen Segen gab, dann würde das Geschlecht der Miska auf der Väter Scholle dauern.

Mit aller Mühe und allen Mitteln, die ärztliche Kunst anzuwenden vermag, suchte Karl die drohende Katastrophe abzuwenden oder wenigstens hinauszuschieben. Der Vater war ein geduldiger Patient. Er nahm alles, was man ihm reichte, zwang sich dazu, die Stärkungsmittel zu genießen, die ihm vorgesetzt wurden, obwohl er wußte, daß alles vergeblich war. Wie eine Blume, die der kalte Hauch des Winters gestreift, welkte er dahin. Nur ab und zu, wenn Karl an seinem Bette saß und ihm von der Ernte sprach, die gut ausfallen werde, stieg leise in ihm der Wunsch auf, daß es ihm vergönnt sein möchte, noch einige Jahre dem emsigen Schaffen seines Kindes zuzuschauen. Im nächsten Augenblick jedoch zerrann schon die Empfindung. Ihm fehlte die geistige Kraft, der Wille zum Leben.

Als die Sense zum ersten Male auf dem Felde durch die reifen Roggenhalme rauschte, trat der Schnitter Tod an das Bett des Gutsherrn. Jede Minute, die er sich aus der Wirtschaft, die jetzt seine volle Kraft in Anspruch nahm, wegstehlen konnte, hatte Karl am Bett des Vaters zugebracht. Er hatte wohl die Hoffnung aufgegeben, das Verhängnis aufhalten zu können. Aber so nahe hatte er sich das traurige Ereignis nicht vorgestellt. Vom Felde hatte er eine Handvoll der schönsten und längsten Ähren mitgebracht und dem Kranken aufs Bett gelegt. Eine Weile hatte der Vater mit geschlossenen Augen dagelegen, bis er die Nähe des Sohnes fühlte. Der Anblick der reifen Ähren, die ihren Daseinszweck erfüllt hatten, mochte in ihm den Gedanken an das Ende auslösen. Er fühlte, daß seine Stunde gekommen war.

„Richte mich empor, mein Sohn. Es ist Zeit, daß ich dir sage, was noch zu sagen ist... So, ich danke dir! Und nun neige deinen Kopf, damit ich meine Hände darauf legen kann. Du bist mir allezeit ein guter, gehorsamer Sohn gewesen, und nie hast du mir einen ernsthaften Kummer verursacht. Dafür danke ich dir. Hadere nicht mit Gott, mein Sohn. Das Schicksal, das er mir auferlegt, war die Prüfung für dich. Jetzt weiß ich, weshalb er mich in die Trübsal der geistigen Umnachtung geworfen hat: um mir die Freude zu bereiten, mir zu zeigen, daß Gottes Segen auf dir ruht. Nimm auch meinen Segen! Du hast der Mutter Wunsch nicht erfüllen können. Das werde ich ihr sagen, wenn ich oben mit ihr zusammentreffe. Und es ist besser so. Nur die Geschlechter dauern auf Erden, die fest auf ihrer Scholle sitzen und mit der Liebe zur Natur die Ehrfurcht vor dem Schöpfer bewahren. Gott segne dich, mein Sohn!“

Langsam ließ der Sterbende sich in die Kissen zurückgleiten, seine Hand blieb auf dem Kopf des Sohnes ruhen. Unbeweglich kniete Karl vor dem Bett seines Vaters. Er fühlte, wie die Hand aus seinem Haupte schwer wurde und kalt... Er richtete sich empor, um noch einen Blick aus den treuen Augen zu erhaschen... sie waren geschlossen. Ohne Kampf war der Vater in das bessere Jenseits hinübergeschlummert.

10.

Die Rede des Geistlichen am Grabe hatte Karl wunderbar getröstet und gestärkt. Der weißhaarige Prediger, der den Verstorbenen eingesegnet, getraut, den Sohn getauft und eingesegnet hatte, sprach nur aus, was alle Anwesenden empfunden, daß es eigentlich als eine große Gnade Gottes zu betrachten gewesen sei, daß der Verstorbene aus seiner geistigen Umnachtung erwacht, sich noch einige Monate an der Tüchtigkeit des Sohnes habe erfreuen können. Es war ein sehr stattliches Leichengefolge. Die Arbeiter hatten es sich nicht nehmen lassen, den weiten Weg vom Gutshause bis zum Kirchhofe den schweren Sarg auf ihren Schultern zu tragen. Von weit und breit waren die alten Freunde und die Berufsgenossen des Verstorbenen herbeigeeilt, um dem Manne, der sich manchem als getreuer Nachbar erwiesen hatte, das letzte Geleit zu geben. Die Mitglieder des landwirtschaftlichen Kreisvereins waren erschienen. Der Lehrer des Dorfes hatte unter seinen Kollegen ein Doppelquartett zusammengebracht das am Grabe sang. Nach der Beerdigung hatten sich die Anwesenden, die zum Teil von weither gekommen waren, noch zu einem Imbiß im Trauerhause versammelt, wie es dort im Osten Sitte ist, und auch manch einer von den alten Freunden des Vaters hatte Karl beiseite genommen, um ihm noch ein freundliches, kluges Wort mit auf den Lebensweg zu geben.

Es war Abend, als die letzten Gäste abfuhren. Mit geziemenden Worten hatte sich Karl bei jedem für die freundliche Teilnahme bedankt. Der erste, heftige Schmerz war vorübergerauscht und nur das dumpfe Gefühl zurückgeblieben, das nur von der Zeit überwunden wird. Aber außer diesem Gefühl trug Karl noch eine bittere Empfindung mit sich herum. Solange der Vater lebte, selbst als er sich noch im Irrenhause befand, war der junge Mann sich nicht so verlassen vorgekommen. Es war doch noch einer seines Namens, seines Geschlechts da. Jetzt stand er mutterseelenallein auf der weiten Erde, und es war ihm, als wenn eine innere Stimme ihn fragte, wozu er denn überhaupt noch auf der Welt sei. Er sprach sich darüber zu seinem Freunde Max Kerwin aus, der mit seiner Schwester Anna zum Begräbnis gekommen war. Die Geschwister wollten einige Tage in Gonsken bleiben und ihm Gesellschaft leisten, damit er sich in den ersten Tagen nicht so furchtbar vereinsamt vorkommen möchte. Max meinte, das Gefühl sei noch ein Überbleibsel aus alten Zeiten, in denen einem einzelnen das Ansehen daraus erwuchs, daß er als Glied einer großen, einflußreichen Familiengemeinschaft dastand, die in guten und bösen Tagen fest zusammenhielt und gemeinsam ihre Ziele verfolgte.

„Sieh mal, mein Junge, draußen im Reich, und namentlich in den Großstädten, da mag es schon anders sein; da hat die moderne Entwickelung dies Gefüge zertrümmert, da schwimmt jeder einzelne allein im Strom, da sind die Familiengemeinschaften auseinandergerissen. Der eine Sohn des Hauses wird hierher gewürfelt, der andere dorthin. Bei uns in Ostpreußen ist es ja noch anders. Da halten sogar unter den Bauern die Sippen noch fest zusammen. Selten, daß mal ein anderer Mensch in diese Sippen einheiraten darf.“

„Bei mir ist es doch wohl etwas anderes, lieber Max! Dies Gefühl habe ich nie gekannt, denn sowohl Vater wie Mutter hatten keine näheren Verwandten. Ich fühle mich eben verlassen, weil ich keinen Bruder, keine Schwester habe. Die Familien meines Namens, die hier in der Umgegend sitzen, mögen ja von altersher mit mir verwandt sein; aber der Zusammenhang ist uns verloren gegangen, wir kennen ihn nicht mehr.“

„Ich kann Ihnen nachempfinden, Herr Miska“, meinte jetzt die Schwester des Freundes. „Wir beiden Geschwister erleben ja gerade in diesen Tagen etwas Ähnliches. Wir haben noch ein Elternhaus, unser Vater lebt, und doch ist uns der Zusammenhang mit ihm verloren gegangen durch die Stiefmutter. Ich will der Frau keine Schuld geben, ich will alle Schuld auf mich nehmen, aber die Tatsache bleibt doch bestehen, daß uns durch sie der Vater entfremdet ist.“

„Ja, darin hat meine Schwester recht“, fuhr Max fort. „Die Stiefmutter behandelt uns wie Eindringlinge, und der Vater tut nichts dazu, diesen Gegensatz zu mildern. Ich komm' schon darüber hinweg, denn ich bin ja nur wenige Tage im Jahr zu Hause, aber die arme Anna hat fürchterlich darunter gelitten. Jetzt habe ich sie so weit, daß sie sich entschlossen hat, aus dem Hause zu gehen und sich eine Stellung zu suchen, bis ich mein Studium beendet habe und sie zu mir nehmen kann. Sie hat zu Hause in der Wirtschaft tüchtig zugreifen müssen und wird ihren Platz in der Welt schon ausfüllen. Wenn es dir recht ist, bleiben wir ein paar Tage bei dir. Es kann ja nicht lange dauern, bis Anna eine Stelle gefunden hat.“

Nun begann eine Reihe schöner Tage für die drei jungen Menschenkinder, und hätte nicht die Trauerstimmung in Karl die Freude gedämpft, dann hätte er sagen können, daß er noch nie so froh gewesen wie in dieser Zeit. Anna hatte die innere Wirtschaft sich angesehen und bei ihrer Erfahrung bald herausgefunden, wo die bessernde Hand angelegt werden konnte. Schon am zweiten Tage hatte sie der alten Josepha die Leitung des Hauswesens abgenommen, und zum erstenmal empfand Karl das Behagen, das eine tüchtige Hausfrau auch in einem einfachen Hausstande um sich zu verbreiten vermag. Der Tisch war zu jeder Mahlzeit gefällig gedeckt und mit einem Blumenstrauß geschmückt. Er saß nicht mehr allein am Tisch, das Essen schmeckte ganz anders, das heißt viel besser, als es die Josepha zubereitet hatte, deren Kochkunst nur gerade für die geringen Ansprüche der unverheirateten Knechte ausreichte. In all den Jahren hatte der junge Mann kein Auge für ein weibliches Wesen gehabt. Jetzt begann zum erstenmal die frische, gesunde Natürlichkeit einer Frau auf ihn zu wirken. Anna war nicht gerade schön zu nennen. Hätte die Polizei ihr Signalement ausstellen sollen, dann hätte es darin heißen müssen: Nase, Mund: gewöhnlich; Augen: blau. Besondere Kennzeichen: fehlen. In diesem Punkt allerdings wäre die Beschreibung nicht genau gewesen. Doch das kann die Polizei ja nicht wissen. Anna war von klein an allzeit lustig und fröhlich gewesen, mit einem deutlichen Anflug von Schalkhaftigkeit, der ihr unter dem schweren Druck der Verhältnisse im Elternhause in den letzten Jahren abhanden gekommen war. Jetzt lebte er wieder auf und durchglühte ihr ganzes Wesen.

Wie die Kinder lebten die drei zusammen. Als der Weizen eingefahren wurde, übernahmen sie ein Gespann, Karl stakte die Garben, Anna stand auf dem Finder, und Max harkte nach und fuhr weiter. Und wenn sie abends nach getaner Arbeit fröhlich plaudernd zusammensaßen, dann wunderte sich Karl über sich selbst, daß er einer jungen Dame gegenüber so wenig schüchtern war. Mit den Schwestern seines Freundes Siegfried hatte er manchmal ein paar Worte gewechselt Doch schon nach den ersten Augenblicken war ihm nichts mehr eingefallen, was er hätte sagen können. Mit der Anna war das ganz was anderes. Mit der sprach er wie mit einem guten Kameraden, weihte sie in alle seine Sorgen und Zukunftspläne ein und war glücklich, wenn sie ihm verständnisvoll zunickte. Der Gedanke, daß Anna eine junge Dame in heiratsfähigem Alter war und in ihrem zwanglosen Umgang etwas anderes sehen könnte als einen rein freundschaftlichen Verkehr, kam ihm nicht. Max hatte allerdings einige Male bemerkt, wie die bei den sich „rot anstickten“, wie Onkel Bräsig sagen würde. Und das erfüllte ihn mit großer Freude. Vorläufig aber behielt er seine Gedanken für sich. Wenn sich zwischen den beiden, die ihm wie füreinander geschaffen erschienen, obwohl Anna fünf Jahre älter war wie Karl, etwas anspann, dann war es gut, solche keimenden Empfindungen nicht zu stören.

Die Geschwister hatten in mehreren Zeitungen inseriert, und allmählich begannen Offerten einzulaufen, die gemeinsam geöffnet und mit großer Spannung gelesen wurden. An jeder hatte Karl etwas auszusetzen. Die eine Stelle war zu weit weg, dort wurde zu wenig Gehalt geboten, hier waren die Anforderungen zu groß. Er wurde ordentlich beredt dabei. Eines Tages entfuhr ihm unwillkürlich die Äußerung, wenn er ein alter Herr wäre, dann wäre es ja am besten, wenn Anna bei ihm bliebe und ihm die Wirtschaft führte. Mit Mühe verbiß Max bei diesen Worten das fröhliche Lachen, das in ihm aufstieg, und mit großer Genugtuung beobachtete er, wie die beiden sich ansahen, rot wurden und eine Weile ganz verlegen dreinschauten. Endlich kam doch eine Offerte, an der nichts auszusetzen war. Eine kränkliche junge Frau suchte eine erfahrene Wirtschafterin, die ganz selbständig den Haushalt leiten könnte. Sie bot ein ansehnliches Gehalt, und die Stelle war ganz in der Nähe, also kein Grund vorhanden, sie auszuschlagen. Auf jeden Fall mußte Anna wenigstens hinfahren, um sich persönlich von den Dingen, die in dem Briefe so schön beschrieben waren, zu überzeugen. Sie brauchte sich ja nicht auf der Stelle zu binden. Das hatte Max, der seine geheimen Pläne verfolgte, ihr ausdrücklich zur Bedingung gemacht.

Am nächsten Tage fuhr Anna mit einem Einspänner ab, einen kleinen Hütejungen als Kutscher. Karl hatte ihr sein bestes Gespann mit dem Kutschwagen geben wollen, obwohl er es in der Wirtschaft sehr gut brauchen konnte. Beim Mittagessen kamen die beiden Mannsleute sich ganz vereinsamt vor. Besonders Karl empfand deutlich, wie sehr ihm die Schwester seines Freundes fehlen würde, wenn sie die Stelle annahm. Max umlauerte ihn und wartete auf die passende Gelegenheit, die Sache zur Sprache zu bringen, die ihn ganz ernstlich beschäftigte. Und er fand sie, als Karl ihm so ungeschickt die Suppe zureichte, daß ein großer Fleck auf dem reinen Tischtuch entstand. Als wenn sie schon mehrmals über dies Thema gesprochen hätten, begann er:

„Na, siehst du, es fehlt ein weibliches Wesen hier im Hause. Du mußt heiraten, mein Junge!“

Bei diesen Worten errötete sein Freund bis über die Ohren. Was Max sagte, das hatte er ja soeben selbst gedacht. „Ich bin zu jung dazu.“

„Das glaubst du doch selbst nicht! Du hast einen anderen Entwickelungsgang durchgemacht als die Durchschnittsmenschen, und deine Wirtschaft schreit ja geradezu nach einer Frau. Sieh mal, wie das hier anders geworden ist, seit meine Schwester ihre Hand reingesteckt hat. Soll die Schlamperei wiederkommen? Die alte Josepha ist stumpf; wer weiß, wie lange sie noch vorhalten wir.“

„Das ist alles ganz gut und richtig, was du sagst, mein lieber Max! Nur vergißt du eins. Ich bin nicht in der Lage, eine Frau in dies Haus zu führen, das mir eines Tages über dem Kopf zusammenstürzen kann. Wäre ich so weit, daß nach menschlicher Berechnung eine Katastrophe ausgeschlossen wäre, dann hätte ich wohl nicht nur das Recht, sondern sogar die Verpflichtung, mir eine Frau zu suchen. Denn darin hast du recht, daß meine innere Wirtschaft unter diesem Zustande leidet.“

„Du siehst die Sache von einem falschen Gesichtspunkt an, mein Junge. Wieviel Männer heiraten ohne die Gewißheit, daß sie gegen jeden Schicksalsschlag gesichert sind? Das kann überhaupt kein Mensch wissen, was ihm die Zukunft bringen wird, und die Verantwortung trägst nicht du, sondern das Mädel, dem du die Frage vorlegen wirst, ob sie ihr Schicksal an das deine knüpfen will. Als ehrlicher Kerl wirst du ihr natürlich reinen Wein einschenken, und sagt sie „Ja“, nun dann stemmt ihr euch eben Schulter gegen Schulter und tragt gemeinsam, was der Himmel euch noch schickt, ob Freud' oder Leid.“

Eine Weile hatten sie schweigend nebeneinander gesessen und sich nur mit dem Essen beschäftigt. Dann legte Max Messer und Gabel weg und sah den Freund an.

„Was sollen wir beide wie die Katzen uns den heißen Brei herumschleichen, wir wissen ja doch, um was es sich handelt: um Anna!` Ich weiß zwar nicht, wie du darüber denkst, aber nach meiner Ansicht wäre sie die gegebene Frau für dich. Sie hat über sechstausend Taler Mutterteil, ist tüchtig in der Wirtschaft, das hast du ja gesehen. Mit dem Geld rappelst du dich raus, und dann ist der Zustand gegeben, den du voraussehen willst: nach menschlichem Ermessen werdet ihr euch in die Höhe arbeiten und zuletzt ein ganz vergnügtes Dasein miteinander führen“

„Du vergißt die Hauptsache, lieber Max, ob deine Schwester mich haben will! Sie müßte mich schon sehr lieb haben, wenn sie aus einem Joch ins andere kriechen sollte.“

„Na, erlaub' mal, lieber Junge, so schroff wollen wir die Sache doch nicht hinstellen. Hier arbeitet sie dann doch für sich. Das ist doch kein Joch, sondern eine Erlösung aus unerträglichen Verhältnissen, und sicher einer abhängigen Stellung vorzuziehen. Aber mir scheint, du bist etwas blöde und möchtest dir nicht gern einen Korb holen, was meiner Meinung nach ausgeschlossen ist. Die meisten jungen Leute scheinen vor dem Heiraten genau so eine Scheu zu haben wie vor dem ersten Examen. Erst wenn die ersten Fragen getan und beantwortet sind, verlieren sie die Furcht. Das wird auch bei dir der Fall sein. Ich kann es dir übrigens nachempfinden, daß es etwas peinlich sein muß, wenn man einer jungen Dame Herz und Hand zu Füßen legt und mit einem „Nein“ heimgeschickt wird, mag es auch in Seidenpapier eingewickelt sein. Damit du nicht in diese Verlegenheit gelangst, will ich bei meiner Schwester mal auf den Busch schlagen: Ja oder Nein?... Du läßt mich `ne halbe Stunde predigen und machst nicht den Mund auf. Womöglich bin ich von einer ganz falschen Voraussetzung ausgegangen. Vielleicht ist dir meine Schwester ganz gleichgültig?“

Hätte er gewußt, was in Karl bei seinen Worten vorging, so wäre er nicht auf diese Vermutung gekommen. In seinem Freunde wogten Gedanken und Empfindungen, die sich schwer in Worte fassen ließen. In Anna war ihm das erste weibliche Wesen entgegengetreten, das er näher kennen lernte. Aber welcher Art die Gefühle waren, die er ihr entgegenbrachte, hatte er bis zur Stunde noch nicht gewußt, oder er war sich darüber nicht klar geworden. Und nun sollte er sich nicht nur darüber entscheiden, sondern auch noch über die weit wichtigere Frage, ob er das Schicksal dieses Mädels an das seine ketten dürfe. Er stand auf und ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab. Das Herz schlug ihm bis zum Halse hinaus. Jetzt sah auch Max den Kampf, der in seinem Freunde wogte. Er mochte fühlen, daß er ein wenig zu schnell vorgegangen war. Aber wenn seine Schwester heute abend zurückkehrte mit der Absicht, die Stelle anzunehmen, dann war es doch Zeit, die Sache zur Entscheidung zu treiben. Kam es zu einer Verständigung zwischen den beiden, dann wäre es doch töricht gewesen, die Hochzeit auf Monate hinauszuschieben. Weshalb sollte seine Schwester sich dann noch lange unter fremden Leuten rumstoßen und Karl auf seinem Gutshofe allein hausen? Er sprach es aus, was er dachte, und fügte hinzu:

„Nun überleg' dir mal die Sache, aber nicht allzu lange. Denn wir sitzen schon vierzehn Tage dir auf dem Leder, und es ist Zeit, daß wir unseren Wanderstab weiter setzen.“

Es war ziemlich spät, als Anna zurückkehrte. Den ganzen Nachmittag und Abend über hatten die Freunde von allerlei gleichgültigen Dingen geredet und nicht von dem, was ihre Gedanken fortwährend beschäftigte. Bei all seiner Unerfahrenheit hatte Karl doch das Gefühl, als müßte er sich sehr gewissenhaft prüfen, ob er die Schwester seines Freundes wirklich liebte. Er schätzte ihre wirtschaftliche Tüchtigkeit, ihr ganzes Wesen berührte ihn sympathisch. Es war nur die Frage, ob nicht jedes andere weibliche Wesen, das er zum erstenmal so kennen lernte wie Anna, auf ihn denselben Eindruck gemacht haben würde. Der gute Junge... er war ja in Liebessachen noch so gänzlich unerfahren. Er wußte nicht, was es bedeutete, daß sein Herz so ungeduldig schlug, daß es vor Freude hüpfte, als die Hunde draußen anschlugen, wie der Wagen über das Steinpflaster rasselte. Mit langen Schritten stürzte er hinaus und hob Anna aus dem Wagen, und ehe er sie noch zur Erde setzte, da hatte er schon die Frage getan, ob ihr die Stelle gefallen habe. Lachend hatte Max ihn beobachtet. Jetzt wußte er, wie es um seinen Freund stand. Schon der nächste Moment gab ihm recht. Anna war von der Reise müde gewesen und hatte nichts weiter gesagt, als daß sie keinen ernstlichen Grund hätte, die Stelle nicht anzunehmen.

Schon beim Morgengrauen fuhr Karl aus dem Bett und weckte seinen Freund mit der Frage, ob er nicht einen Gang aufs Feld mit ihm tun wolle. Ganz heimlich wollten sie davonschleichen und zum Frühstück wiederkehren. Doch als sie die Tür zum Wohnzimmer öffneten, stand bereits die Kaffeemaschine dampfend auf dem Tisch, und daneben saß Anna, als hätte sie von dieser Frühpromenade gewußt. Auf dem Wege durch die Felder blieb Karl plötzlich stehen und streckte Max die Hand entgegen.

„Ich will deinen Vorschlag annehmen, lieber Freund. Jetzt weiß ich, daß ich deine Schwester liebe und es nicht ertragen könnte, wenn sie hier wegginge, um sich einen Dienst bei fremden Menschen zu suchen. Willst du mir helfen, so werde ich's dankbar annehmen, wenn du, wie du sagtest, bei Anna auf den Busch klopfen willst.“

Stürmisch fiel ihm der Freund um den Hals. „Ich kann mir keine größere Freude denken, als wenn aus euch beiden prächtigen Menschen ein Paar würde.“

Der eine war weitergegangen aufs Feld, der andere hatte sich umgedreht und war nach Hause zurückgekehrt. Unterwegs überlegte Max, wie er seinen Auftrag am besten ausführen könnte. Er hatte ja gar keinen Zweifel daran, daß seine Schwester den Freund liebgewonnen hatte. Sie kannte ihn nicht erst aus den vierzehn Tagen ihres Beisammenseins, sondern schon seit Jahren hatte der Bruder ihr vorgeschwärmt von seinem Freunde, der, aus der Schule gerissen, jung und mutig den Kampf mit den widerwärtigsten Verhältnissen aufgenommen und daneben noch Zeit gefunden hatte, sich zum Abiturientenexamen durchzuringen. In ihren Träumen hatte sie ihn sich ja etwas anders ausgemalt. So einen bärenstarken Menschen, der alles vor sich niederwirft, was ihm in den Weg tritt, eine Herrennatur... Nun hatte sie einen stillen, bescheidenen Jüngling gefunden, dem man eigentlich auf den ersten Blick nicht ansehen konnte, was in ihm steckte. Doch dieses Wesen hatte ihr wohl mehr zugesagt als die Gestalt ihrer Träume.

Erst in den letzten Tagen war der Gedanke in ihr aufgetaucht, daß sie dem Freunde ihres Bruders mehr sein könnte als eine alltägliche Bekanntschaft. Sie hatte sich sogar die Frage vorgelegt, wie sie sich dazu stellen würde, wenn Karl ihr seine Hand antragen sollte. Sie war ja nicht mehr so jung, um nicht zu merken, daß sie ihm nicht gleichgültig geblieben war. Aber daß die Entscheidung so nahe bevorstand, hatte sie doch nicht gedacht.

Ihr guter Bruder hatte entschieden zum Diplomaten wenig Geschick. Denn anstatt sie mit harmloser Miene vorsichtig auszuforschen, ob bei ihr die vermutete Neigung zu Karl vorhanden sei, sprang er ihr mit der Frage um den Hals, ob sie Karl heiraten wolle?

Das Mädel erschrak. Das war sicherlich doch wieder einer von Maxens dummen Streichen. Wahrscheinlich hatte er seinen Freund gepreßt, ihm womöglich ihre Mitgift als Köder hingehalten, bis der gute Mensch eingewilligt hatte, dem heimatlosen Mädel einen Unterschlupf zu bieten. Vergeblich beteuerte Max, daß Karl sie liebe, so ganz richtig liebe. Anna entließ ihn sehr ungnädig mit der Weisung, dafür zu sorgen, daß sie hier wegkämen. Sie würde jedenfalls sich womöglich noch heute im Dorfe ein Fuhrwerk mieten und hinfahren, um die Stelle anzunehmen.

Der Studiosus fiel aus allen seinen Himmeln. An die Möglichkeit, daß sein Schwesterlein „Nein“ sagen könnte, hatte er nicht gedacht. Ganz verblüfft schlich er hinaus, um Karl aufzusuchen und ihm von dem unerwarteten Resultat seiner Sendung Mitteilung zu machen. Der Verlobungskandidat war schon auf dem Hofe. Die Ungeduld hatte ihm draußen keine Ruhe gelassen. Noch ehe sein Freund den Mund auftat, sah er ihm den Inhalt seiner Botschaft an.

„Es ist also nichts mit deinem Projekt! Das hätte ich dir vorhersagen können. Ich habe eben kein Glück. Nur ab und zu leuchtet mir so'n kleiner Strahl auf, bloß damit ich um so deutlicher erkenne, wie schwarz es um mich ist. Hätt'st du nicht die Geschichte angerührt, dann wäre ich mir über meine Empfindungen vielleicht noch nicht klar geworden, wenigstens jetzt noch nicht. Oder wenn du nicht anders konntest, dann hättest du erst deine Schwester fragen können, ehe du mit mir darüber zu sprechen anfingst.“

„Damit es so aussieht, als wenn ich dir meine Schwester aufdrängen will. Ich kann sie dir doch nicht auf dem Präsentierteller entgegenbringen. So was Ähnliches hat mir übrigens Anna auch gesagt.“

Jetzt wurde Karl hellhörig. „Sag' das noch einmal, mein Junge! Hat Anna dir für mich ein glattes „Nein“ mitgegeben, oder war sie vielleicht nur böse, weil sie fürchtete, du hättest sie mir aufdrängen wollen?“

„Bei Gott, Karl, du hast recht! Sie hat wohl das Peinliche der Situation empfunden, das mir jetzt auch zum Bewußtsein kommt.“

„Was ist denn dabei peinlich?“

„Na, erlaub' mal, lieber Freund! Da kommt ein Geschwisterpaar zu einem unverheirateten jungen Mann auf Besuch, und der Bruder fragt ihn kurz und bündig: Willst du meine Schwester heiraten?... Ich habe sie zur Vorsicht gleich mitgebracht“

Nun mußte Karl laut und herzlich auflachen. Von dieser Seite aus betrachtet, hatte der Vorgang entschieden etwas Komisches. Max hatte nur einen Umstand vergessen, der diese Entwickelung der Dinge nur ganz natürlich erscheinen ließ: ihre enge Freundschaft!

„Du vergißt, daß wir wie zwei Brüder miteinander stehen! Und das muß auch dein Schwesterlein einsehen. Gib mir die Hand, mein Junge, jetzt will ich mein Glück versuchen. Ich denke, ich werde es bei einem Zipfel erwischen.“

Mit ein paar Sätzen nahm er die Stufen der Freitreppe und verschwand im Flur. Im Wohnzimmer fand er Anna. Sie erhob sich bei seinem Eintritt und suchte hastig die Spuren der Tränen zu verwischen, die ihr im Auge standen. Ihr war das Herz schwer. Auch ihr war es bei den Worten des Bruders erst völlig klar geworden, wie sie Karl liebte. Und jetzt mußte sie ihn abweisen. Es ging nicht anders! Was sollte er von ihr denken? Am besten, wenn sie Karl gar nicht dazu kommen ließ, ihr einen Antrag zu machen. „Lieber Herr Miska“... sonst hatte sie ihn meistens nur Karl genannt... „ich bitte, mir nicht die Dummheit meines Bruders zuzuschreiben, ich bin ganz unschuldig daran... nicht mit einem Wort habe ich ihm dazu Anlaß gegeben.“

Ohne ein Wort zu sagen, trat Karl ihr näher und streckte beide Hände nach ihr aus. All die schönen Worte, die er ihr sagen wollte, waren wie weggeblasen, die Kehle wie zugeschnürt. Nur die Augen sprachen und flehten so beredt, wie es sein Mund nie und nimmer gekonnt hätte. Vor diesem unerwarteten Angriff streckte sie die Waffen... denn nun begann in ihr der Verbündete dieses Jünglings zu sprechen, der vor Liebe und Aufregung bebend vor ihr stand. Der Blick seiner guten, treuen Augen bezwang all ihre Bedenken. Wie mit Blut übergossen stand sie da, den Kopf gesenkt... In Liebessachen hatte Karl noch gar keine Erfahrung, das war aber in diesem Falle auch gar nicht nötig. Er hätte blind sein müssen, um nicht zu fühlen, daß seine stille Werbung kein Hindernis fand. So machte er denn kühn noch einen Schritt, bis seine Arme sich sanft um die Geliebte schlossen und ihr Kopf an seine Brust sank.

Wer weiß, wie lange sie in seliger Vergessenheit so dagestanden hätten, wenn nicht Max, den schon die Ungeduld verzehrte, den Kopf zur Tür hereingesteckt hätte.

In einem Jubelruf entlud sich seine Freude. „Karl, Schwager! Kinder, jetzt seid ihr mir doch nicht mehr böses. Ich habe doch recht gehabt!“

Wie ein paar ertappte Sünder waren die beiden auseinandergefahren. Beide standen sie da und wagten nicht, sich anzublicken.

„Was ist denn mit euch los! Vor mir braucht ihr euch doch nicht zu genieren!“

„Wir haben noch kein Wort miteinander gesprochen“, gestand Karl treuherzig. Nun mußte Max laut auflachen.

„Ihr habt noch kein Wort miteinander gesprochen? Na, eigentlich habt ihr trotzdem die Sache am richtigen Ende angefangen!“

Seine Stimme nahm einen gerührten Ton an.

„Nun denkt, daß ich an Stelle meines Vaters hier stehe, und kommt her, daß ich euch meinen Segen gebe.“

Eine Stunde später wanderte das Brautpaar glückstrahlend von Max begleitet zu Ohm Zenthöfer. Sie hatten sich gründlich über alles und jedes ausgesprochen. Max hatte zwar gemeint, mit der Umarmung sei alles schon erledigt, aber Karl hatte darauf bestanden, seiner Braut, denn das war sie doch nun, seine Verhältnisse ganz klar darzulegen, um sie vor die Frage zu stellen, ob sie ihr Schicksal an das seine knüpfen wolle. Trotz des Ernstes der Situation hatte Max furchtbar dabei gelacht und sie damit geneckt, daß sie die Verlobung sozusagen rückwärts durchmachten. „Erst umarmt ihr euch, und dann stellt ihr fest, ob ihr euch überhaupt nehmen wollt.“

Bei Ohm Zenthöfer wurde die Verlobung gefeiert. Der alte Freund war von dem Geschehnis nicht sonderlich überrascht, aber sehr erfreut. Er hatte sich schon seine Gedanken darüber gemacht, als er die beiden so zutraulich miteinander verkehren sah und im geheimen diesen Ausgang herbeigewünscht. Was konnte Karl Besseres passieren, als eine tüchtige, liebe Frau zu bekommen, die ihm eine gute Mitgift ins Haus brachte?! Daß sie ein paar Jahre älter war als ihr Zukünftiger, war nach seiner Ansicht kein Hindernis für eine glückliche Ehe, und Karl war nach seinem schweren Schicksal zu einem Manne gereift, dem eine Frau ruhig auf den Lebensweg folgen konnte.

Es war elf Uhr geworden. Sie hatten noch einmal das Glas erhoben und auf eine glückliche Zukunft angestoßen. Karl und Max rüsteten sich zum Heimweg. Anna sollte, wie es nun einmal die Sitte erfordert, bei Zenthöfers bleiben. Da begann der Nachtwächter auf seinem Horn Feuerlärm zu blasen, und schon im nächsten Augenblick lief der Ruf durch die Dorfstraße: „Feuer! Feuer!“ Erschreckt sprangen sie vors Haus. Am anderen Ende des Dorfes, wo Karls Hof lag, schossen die Feuergarben empor. Schon liefen einzelne Männer und Weiber die Straße entlang.

Wo brennt's? Herrgott, das kann doch nur der Miskasche Hof sein. Der Umschwung vom höchsten Glück zum tiefsten Unglück kam zu plötzlich. Er hätte gar nicht zu fragen brauchen. Er hatte es gewußt, als er vor die Tür hinaustrat, daß es nur bei ihm brennen könnte. Und jetzt gerade mußte es brennen! Die Scheune mit Getreide bis zum Dachfirst vollgestopft, die Ställe voll Vieh... Wie eine Lähmung kam es über ihn, die Kniee zitterten unter ihm, so daß er sich am Zaun halten mußte, um nicht umzusinken. Nur einen Augenblick, dann siegte sein Wille über die Schwäche. Mit einem Satz schwang er sich über den hohen Zaun und sprang in langen Sätzen die Straße hinunter. Die Männer, die an ihm vorüberliefen, um die Spritze zu holen, riefen ihm zu: „Die Scheune brennt!“

Zum Unglück war heute nicht wie sonst im Herbst der Wind zum Abend eingeschlafen, sondern nach Osten herumgegangen und hatte mit frischer Kraft eingesetzt.

Mit einem Blick übersah Karl, als er auf dem Hof ankam, daß alles verloren war. Die alte Spritze war, wie gewöhnlich auf den Dörfern, verstakt, der Schlauch undicht. Dazu Wassermangel! Denn die lang andauernde Trockenheit, die in der Ernte so angenehm gewesen war, hatte das Wasser im Dorfteich versiegen lassen. Fast einen Kilometer weit mußten die Wassertonnen zum See fahren, und wenn sie in rasender Fahrt wiederkehrten, dann war die Hälfte ihres Inhalts hinausgeschleudert.

Wie ein Verzweifelter hatte Karl gekämpft. Von der Scheune war nichts zu retten. Es galt nur, den Stall zu halten. Das Vieh, was darin steckte, brüllte wie wahnsinnig und arbeitete an den Ketten. Vergeblich versuchten die Knechte, wenigstens den Pferden und den Kühen Säcke um die Köpfe zu binden und sie dann hinauszugeleiten. Karl stand als Erster oben auf der Leiter und suchte die brennenden Garben, die der Wind von der Scheune herübertrug, mit dem Feuerhaken herunterzureißen. Hinter ihm stand Stopka und schwang den Eimer. Sie fühlten, daß ihr Bemühen vergeblich war, daß die furchtbare Glut, die der Wind mit sich führte, sie vom Dache vertreiben würde. Schon sprang hier und dort unter den Dachpfannen die Flamme hervor. Karl wollte nicht weichen!... Die Funken hatten ihm das Gesicht und die Kleider versengt...

Es war eine grauenhafte Szene, das Toben der wildgewordenen Tiere, das Schreien der aufgeregten Menschen, das Heulen der Weiber, das Brausen der himmelhoch aufstrebenden Flammen.... Wie im Traum hörte Karl den Ruf: „Zurück! Runter! Das ganze Dach brennt!“ Er fühlte, wie ihn jemand am Rock rückwärts zog, und als er den Fuß auf den Boden setzte, da war die Stelle, wo er eben gestanden, ein Feuermeer.

Mit vieler Mühe war es gelungen, das Wohnhaus zu retten. Die Fenster waren zwar von der Hitze gesprungen, auch ein Teil des Dachstuhls war verbrannt. Aber als die Gluten des Stalles in sich zusammensanken und die Hitze nachließ, hatte das Wasser wenigstens an dieser Stelle das Feuer besiegt.

Von den umherliegenden Dörfern und Gütern waren die Spritzen gekommen. So gelang es auch, die zunächstliegenden Gehöfte zu schützen. Karl allein hatte das Unglück getroffen. Wie natürlich, war gleich beim Ausbruch des Feuers die Entstehungsursache erörtert worden. Es konnte keinem Zweifel unterliegen, daß es böswillig angelegt war, und der Verdacht fiel alsbald auf den Polacken, den Szelinski, der angeblich schon am Morgen desselben Tages nach Westfalen abgereist sein sollte. Trotzdem hatten ihn ein paar Männer, die spät aus der Stadt heimkehrten, vor dem Dorfe getroffen. Er kam aus der Richtung der Miskaschen Scheune, aus der eine Viertelstunde später die Flammen hervorbrachen. Kein Zweifel: der Kerl hatte sich gerächt!

11.

Als der Morgen graute, rückten die Spritzen ab. Nur eine Brandwache war zurückgeblieben. Auf dem Hofe sah es grauenvoll aus. Der Boden war von dem vergossenen Wasser zu einem dicken Brei geworden, der von Tausenden von Menschentritten durchknetet war. Hier lag ein Haufen halbverbrannter Wagen und Schlitten, dort stand ein Fuder Getreide, das man gerettet hatte. Aber wie? Halb versengt, ganz mit Wasser durchtränkt... Von der Scheune war nur wenig mehr vorhanden als ein Haufen Steine, aus dem noch kleine Rauchwolken aufstiegen. Vom Stall standen noch die Umfassungsmauern. Wie ein Pesthauch kam es aus ihnen heraus, war doch all das Vieh elendiglich in den Flammen umgekommen. Es wäre vielleicht möglich gewesen, die Kühe und die Pferde zu retten, wenn man sofort, als die ersten Flammen aus der Scheune aufzuckten, daran gegangen wäre, sie herauszuführen. Als das Geschrei der Menschenmenge den Hof füllte und die Hitze von der Scheune sich fühlbar machte, da waren die Tiere wild geworden und hatten allen Versuchen, sie aus dem Stall zu ziehen, den hartnäckigsten Widerstand entgegengesetzt. Dann hatte das Dach des Stalles zu brennen angefangen. So rapid war die Katastrophe verlaufen, daß kein Mensch sich an einen ähnlichen Vorgang erinnern konnte... Auch der Obstgarten war vernichtet. Im vorderen Teil hatte die Hitze die Bäume versengt, hinten hatte das rohe Volk, das sich lachend und johlend um die Unglücksstätte drängte, die Bäume geplündert, starke Äste abgebrochen und den ganzen Gemüsegarten wie ein Brett festgetreten.

Karl war als der Letzte vom Hofe gegangen und hatte sich an den Schreibtisch gesetzt. Es war ihm, als hätte das Feuer auch in seiner Brust gewütet. Mit peinigender Schärfe kam ihm ein Satz ins Bewußtsein, den er neulich in einem Buche über Landwirtschaft gelesen hatte: „Wenn man in einer gut eingebauten Besitzung den Wert der Gebäude genau abschätzt und den Anschaffungswert eines jeden lebenden oder toten Inventarstücks dazurechnet, dann bleibt gemeinhin vom Verkaufswert nicht ein Pfennig für Grund und Boden übrig.“ Dieser Satz, auf seine Lage angewendet, sagte ihm, daß er jetzt ein Bettler sei. Ja, vielleicht noch mehr. Er hatte eine Unterlassungssünde begangen, die sich jetzt bitter rächte. Er hatte nicht die Versicherung erhöht, die noch für die kleinen Gebäude, wie sie vor dem Neubau dastanden, galt; er hatte die Ernte nur mit einer winzigen Summe versichert, die etwa dem entsprach, was er nach dem Verkauf des Getreides an Vorrat für den Winter behielt. Wäre das Unglück nur vierzehn Tage später eingetreten, so hätte er wenigstens das Geld für die reiche Ernte in der Tasche gehabt, denn er hatte sich bereits, um möglichst schnell vorwärts zu kommen. eine Dampfmaschine gemietet und wollte in vier, fünf Tagen die Drescharbeit erledigen.

Ganz mechanisch schloß er die Schublade des Schreibtisches auf, in der die Versicherungspapiere lagen, und begann zu rechnen. Was er an Schaden erlebt hielt, würde kaum dazu hinreichen, die abgebrannten Gebäude in Holz wieder auszuführen, und woher sollte er das andere Geld nehmen? Die Zinsen und die Abschlagszahlung für die Gläubiger?

Nein, jetzt war's aus, endgültig aus mit dem Kampf um die Scholle; und die Leute, denen er das Geld schuldete, konnten ihm obendrein den Vorwurf sträflichen Leichtsinns machen. Er hatte wirklich nicht an diese Möglichkeit gedacht, daß ein Brand ihn zum Bettler machen könnte, und wäre ihm der Gedanke gekommen, wer weiß, ob er nicht aus falscher Sparsamkeit die hohen Versicherungsprämien gescheut hätte? Ja, wenn er schon verheiratet gewesen wäre und das Geld seiner Frau hinter sich gehabt hätte... Aber jetzt war doch daran nicht zu denken. Jetzt mußte er als anständiger Mensch vor Anna hintreten und ihr das Wort zurückgeben. Sie würde wohl selbst Bedenken tragen, jetzt noch ihr Schicksal mit dem seinigen zu verbinden, und wenn sie hochherzig genug war, an dem Verlöbnis festzuhalten, dann mußte er auf der Lösung bestehen. Es wäre ja unverantwortlich gewesen, das Geld noch in die Besitzung zu stecken. Es würde ja gerade hinreichen, neu zu bauen und das ganze Inventar frisch zu kaufen. Aber dann? Dann war er ebenso weit, wie er angefangen hatte, und die nächste schlechte Ernte warf ihn von Haus und Hof. Und ihn nicht mehr allein, sondern auch das Wesen, das er an sich gekettet hatte.

Er ging in sein Schlafzimmer, wo an der Wand die rote Mütze hing, und holte die Pappschachtel hervor, in der er seine Albertusse aufbewahrt hatte. Das war ja ein kleines Vermögen, groß genug, um ihm über die erste Zeit des Studiums wegzuhelfen. Die hellen Tränen fielen ihm dabei aus den Augen. So war nun doch gekommen, was er bei all seiner frischen, energischen Tätigkeit immer im geheimen gefürchtet hatte; als Besiegter ging er aus dem Hause seiner Väter.

Lauter Ruf schreckte ihn aus seinem Sinnen auf. Ohm Zenthöfer war mit Anna und Max gekommen, hatte die ersten Zimmer leer gefunden und rief jetzt mit lauter Stimme: „Karl, Junge, wo bist du?“ Gleich darauf wurde die Tür zum Schlafzimmer geöffnet. Der Onkel steckte den Kopf hinein.

„Mensch, wie siehst du aus, du bist ja noch ganz schwarz und verräuchert, und dein Rock voller Löcher. So kannst du deiner Braut nicht unter die Augen kommen. Nun mach` dich mal fein!“

Der Ton dieser Worte, in dem nichts von wehleidigem Bedauern lag, wirkte auf Karl wie ein belebender Hauch. Der Onkel, der doch seine Verhältnisse ganz genau kannte, schien seine Lage gar nicht für so verzweifelt anzusehen. Schnell warf er die Kleider ab und fuhr in die große Waschschüssel.

Anna war inzwischen in die Küche gegangen, die Margellen schliefen noch, nur die alte Josepha saß in einer Ecke und nickte. Die alte, treue Seel war auch die ganze Nacht auf den Beinen gewesen; jetzt hatte sie die Müdigkeit übermannt. Aber erst hatte sie vorsorglich am Herde Feuer gemacht und Wasser aufgesetzt. Schnell hatte Anna den Kaffee gemahlen und Brot und Butter hervorgeholt, um den Frühstückstisch zu decken. Als Karl im Wohnzimmer erschien, sah es so gemütlich und einladend aus, und hätte er nicht am Gesicht und den Händen die kleinen Brandwunden gefühlt, dann hätte er glauben können, geträumt zu haben. Und ehe er sich's versah, hatte seine Braut ihre Arme um seinen Hals geschlungen und ihn herzlich abgeküßt.

Diese Umarmung, dieser Kuß sagten Karl mehr als lange Auseinandersetzungen. Das Mädel, das sich ihm verlobt hatte, war gewillt, auch im Unglück treu zu ihm zu stehen, und die beiden Männer, die ihm jetzt am nächsten standen, der alte Freund und der zukünftige Schwager, wußten bereits darum und waren damit einverstanden. Da würde er einen schweren Stand haben. Aber er wollte fest bleiben.

Zuerst berichtete Ohm Zenthöfer, daß er als Amtsvorsteher sich bereits um die Ursache des Feuers gekümmert habe. Es sei kein Zweifel, das Szelinski der Brandstifter sei. Die beiden Männer, die ihn auf der Landstraße dicht vor dem Dorfe trafen, hätten ihn ganz genau erkannt. Er habe bereits überallhin telegraphiert, um den Kerl, wenn er irgendwo die Eisenbahn bestieg, festnehmen zu lassen. Das gab Karl Veranlassung, zu schildern, wie er den Polacken auf das Verlangen seiner Leute habe entlassen müssen, wie er dann nochmals wiedergekommen sei und ihn um Arbeit angesprochen hätte. Das sei wohl die genügende Erklärung für die Beweggründe der Tat.

So war das Gespräch von Anfang an in ruhige Bahnen gelenkt. Dann erst ging Ohm Zenthöfer auf die wichtige Frage ein, was nun geschehen solle. Karl holte das Blatt, auf dem er gerechnet hatte.

„Wollt Ihr Euch mal die Zahlen ansehen? Hier steht ungefähr, was die Gebäude, das Inventar und das verbrannte Vieh wert gewesen sind; so viel beträgt die Versicherungssumme; so viel habe ich am 1. Oktober zu zahlen. Und nun zieht die Rechnung. Da fehlen rund 6000 Taler, um die Wirtschaft in den vorigen Stand zu setzen und auszubauen. Das bedeutet: Karl Miska geht mit dem weißen Stab in der Hand und einem Haufen Schulden aus dem Hause seiner Väter.“

Polternd fiel Ohm Zenthöfer ein: „Was red'st du da? Von Schulden kann nicht die Rede sein. Denn du haftest persönlich nicht mit einem Pfennig. Das sind alles Schulden, die auf dem Grundstück ruhen. Davon kann also keine Rede sein.“

„Nein, Onkel, aber moralisch hafte ich dafür. Zum mindesten für die 3000 Mark, die mir Herr Hirschberg gegeben hat.“

„Das ist Gefühlssache, darüber wollen wir nicht streiten. Erst muß hier Klarheit geschaffen werden! Willst du jetzt die Flinte ins Korn werfen?“

„Der Ausdruck, lieber Onkel, durfte in diesem Falle nicht zutreffen. Ob ich will oder nicht, ist hier nicht die Frage. Es ist eben aus.“

„Du vergißt, lieber Schwager“, warf jetzt Max ein, „daß jetzt Anna mit ihrem Geld einspringt“

„Nein, Max, nein, Anna! Davon kann gar keine Rede sein. Es wäre unverantwortlich von mir, das Geld in die Unglückswirtschaft zu stecken. Ich weiß alles, was ihr dagegen sagen könntet. Für mich ist das eine ausschlaggebend: daß mich die nächste Mißernte unweigerlich dahin zurückschleudert, wo ich angefangen habe. Liebe Anna, ich habe heute früh schon mit mir gekämpft und gerungen, ob ich dir dein Wort zurückgeben soll. Jetzt bin ich davon abgekommen. Willst du zu mir halten, bis ich mein Studium beendet habe und in Amt und Brot bin?“

Jetzt hätte Anna gerührt auf ihn zufliegen und ihm unter Tränen um den Hals fallen müssen. Aber merkwürdig: sie dachte gar nicht daran. Sie blieb ruhig sitzen und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen. „Nein, Karl, das will ich nicht! Ich will hier bleiben und mit dir unser Heim hier aufbauen!“

Karl schüttelte den Kopf. „Das habe ich gewußt, daß du mir dies Anerbieten machen willst. Ich muß aber bei meinem „Nein“ bleiben. Ich habe den Mut verloren. Ich weiß nicht, ob ich noch die Energie besitze, den Kampf von neuem aufzunehmen. Laßt mich doch, quält mich nicht, ich kann wirklich nicht!“

Ohm Zenthöfer hatte sich während dieser Auseinandersetzung schon mehrfach vernehmlich geräuspert. Jetzt brach er los.

„Das habe ich von dir nicht erwartet, daß du jetzt schlapp werden wirst. Übrigens haben wir diese Bedenklichkeiten von deiner Seite vorausgesehen. Auch dafür ist Rat, und du kannst Gott danken, daß du ein so treues, hochherziges Weib bekommst. Also, wenn du weggehen willst, um zu studieren, dann wird ein anderer deine Aufgabe hier vollenden, ein viel forscherer Kerl, als wie du je gewesen bist. Hier steht er! Ja, schau' sie nur an, sie läßt Gonsken nicht fahren. Du brauchst keinen Finger mehr zu rühren. Du kannst ruhig studieren gehen; wir werden hier weiterwirtschaften. Und die Sache ist furchtbar einfach: Deine Braut übernimmt die Besitzung, wie sie jetzt steht und liegt, mit allen Aktiven und Passiven. So, und wenn du dich satt studiert hast, dann kannst du herkommen und dich ins warme Nest setzen. Na, wie gefällt dir das? Ein sehr bequemer Ausweg für dich!“

Überrascht, zweifelnd sah Karl von einem zum anderen. Das war ja, als wenn die drei Verbündeten, die ihm gegenüberstanden, den Schlachtplan vorher ganz genau besprochen hatten. Anna war zu ihm getreten und hatte ihn umgefaßt.

„Es ist mein voller Ernst, lieber Karl! Wir haben ganz genau gewußt, daß du in deiner Hochherzigkeit meine Hilfe zurückweisen, mir sogar die Lösung unseres Verlöbnisses freistellen würdest. Ich denke gar nicht daran, dazu habe ich dich viel zu lieb!“

Es hatte noch eine ganze Weile gedauert, bis Karl sich gefangen gab. Den Ausschlag gab Annas ganz bestimmte Versicherung, daß sie die Besitzung kaufen würde, selbst wenn es zur Subhastation käme. Daran konnte er nicht vorbei. Das durfte er nicht zugeben, daß seine Braut in die Presche sprang, wenn er die Flinte mutlos von sich warf.

„Jetzt haben wir dich, wo wir dich haben wollten“, meinte Ohm Zenthöfer zum Schluß ganz vergnügt.

„Du glaubst, du bist ein Pechvogel! Im Gegenteil! Du fällst immer, wie die Katze, auf die Füße. Mir scheint, der liebe Herrgott dort oben verfolgt mit all den Schicksalsschlägen, die er dir schenkt, einen ganz bestimmten Plan. Du wirst systematisch erzogen, mein Jungchen! An dieser Prüfung bin ich übrigens nicht ganz schuldlos. Ich hätte daran denken können, ob du genügend versichert bist. Und nun noch die Frage: Wann wollt ihr Hochzeit machen? Nach meiner Meinung habt ihr keine Ursache, damit zu warten. Gerade jetzt, in den nächsten Wochen und Monaten, wird es sehr nötig sein, daß eine Frau hier im Hause nach dem Rechten sieht. Ich werde euch einen Stall einräumen, damit ihr etwas Vieh einstellen könnt, und bis zur Hochzeit bleibt Anna bei mir.“

Noch an demselben Tage hatte Anna an ihren Vater geschrieben, ihm alles mitgeteilt und um seinen Segen gebeten. Die Antwort darauf lautete nicht anders, als man erwartet hatte. Der Vater schrieb sehr kühl, sie wäre ja mündig und könnte ohne seine Einwilligung tun und lassen, was sie wollte. Andernfalls hätte er Einspruch erheben. Dem Briefe waren die nötigen Papiere und ein Scheck von 4000 Mark beigefügt, der Annas Aussteuer darstellte. Die Hochzeit wurde ganz still im kleinen Kreise begangen. Vormittags fuhr das Brautpaar mit Ohm Zenthöfer und Max als Trauzeugen nach Schwentainen. Am Nachmittag fand die Trauung in der Kirche statt.

Auf dem Hofe herrschte reges Leben. Schon am zweiten Tage nach dem Brande war Karl nach Lyck gefahren und hatte sich bei Herrn Hirschberg einen Vorschuß auf die Versicherungsgelder geben lassen, deren Auszahlung sich noch einige Monate hinauszögern würde. Dann hatte er mit einem Bauunternehmer den Vertrag über den Neubau des Stalles abgeschlossen. Der bis zum Winter noch unter Dach und Fach sein sollte. Die Scheune brauchte ja erst im nächsten Frühjahr gebaut zu werden. Denn das wenige Getreide, das noch auf dem Felde stand, konnte auch in Stoggen gesetzt werden. Das Holz zum Neubau hatte ihm Lehmann sehr billig zum Selbstkostenpreise abgelassen, das Sparrenzeug konnte er aus seinem Stück Wald nehmen.

Neuer Mut war über Karl gekommen. So schlimm, wie er sich die Sache anfangs vorgestellt hatte, war es doch nicht. Wenn er sich etwas bei dem Neubau einschränkte, würde er von der Mitgift seiner Frau nur die Hälfte verbrauchen. Der Rest konnte auf die hohe Kante gelegt oder zur Abzahlung von Schulden verwendet werden. Von dem Gelde für ihre Aussteuer hatte Frau Anna auch nur ein Drittel verbraucht.

So kam der 1. Oktober heran. Karl war schon in geheimer Sorge. Sie hatten noch vor der Hochzeit die Hälfte der Wertpapiere, die Anna besaß, dem Bankier nach Königsberg geschickt, mit dem Auftrage, sie zu Geld zu machen. Das konnte doch keinen Schwierigkeiten begegnen. Seine Frau hatte vor zwei Jahren, als sie mündig geworden war und das Vormundschaftsgericht ihr die pupillensicheren Papiere einhändigte, auf den Rat des ihrer Familie befreundeten Bankiers in Königsberg die Dokumente verkauft und sich dafür Aktien einer Berliner Hypothekenbank gekauft. Nach der Ansicht ihres Beraters waren die Papiere todsicher und jederzeit leicht in Geld umzusetzen. Sie brachten, da sie ganz regelmäßig von Jahr zu Jahr stiegen, weitaus mehr Zinsen als mündelsichere Hypotheken, so daß Anna nach dem Stand der Aktien jetzt über mehr als siebentausend Taler verfügte.

Seit einigen Tagen schien es Karl, als wenn seine Frau etwas drückte. Einmal war es ihm sogar, als ob sie verweinte Augen habe. Er konnte sich das nicht erklären. Nicht der leiseste Mißton war bis dahin in ihrer jungen Ehe vorgekommen. Im Gegenteil! Jeder Tag hatte ihnen eine Freude gebracht, die sie immer inniger verband. Wie der verbrannte Giebel ihres Hauses gerichtet, wie die Fundamente zum neuen Stall gelegt worden waren, wie die Milch von den neugekauften Kühe zum erstenmal in das Haus kam und zum erstenmal das Futter für die frischgekauften Schweine hinausgetragen wurde: das alles waren so erhebende Momente in ihrem Leben gewesen, daß sie dann vergnügt, oder besser gesagt, innerlich froh bewegt, sich um so enger aneinander geschlossen hatten.

Daß mit den Wertpapieren seiner Frau etwas nicht in Ordnung sein könnte, daran dachte Karl gar nicht. Vielleicht war irgend eine kleine Kursschwankung eingetreten und der Bankier in seiner Gewissenhaftigkeit wollte sie vorübergehen lassen, um keinen Verlust an dem Verkauf der Papiere herbeizuführen Er scheute sich davor, mit seiner Frau darüber zu sprechen, um sie nicht in Unruhe zu versetzen.

Am ersten Oktober jedoch war die Sache nicht länger hinauszuschieben. Als er von einem Gang ins Feld zum Frühstück nach Hause kam, hatte er sich vorgenommen, nach Königsberg zu telegraphieren, um wenigstens Gewißheit zu haben, wenn er die Gläubiger und Zinsenempfänger noch für ein paar Tage vertrösten müßte. Er fand seine Frau in Tränen aufgelöst am Tische sitzen. In der Hand hielt sie das Zeitungsblatt, auf dem Tische lag ein erbrochener Brief, an seine Frau gerichtet. Er war von dem Bankier in Königsberg, und darin stand mit dürren Worten, daß die Direktoren der Hypothekenbank in Berlin unter dem Verdacht großartiger Unterschlagungen verhaftet worden seien. Er hätte die Papiere sofort nach Berlin geschickt, um sie dort verkaufen zu lassen. Aber man müßte dort bereits von der bevorstehenden Katastrophe eine Ahnung gehabt haben. Denn die Papiere seien sprungweise von Tag zu Tag heruntergegangen, und jetzt nach der Verhaftung der Direktoren nichts mehr wert als ein Stück Makulatur.

Einen Augenblick mußte Karl sich an der Tischkante halten. Er hatte das Gefühl, als stürze das Dach seines Hauses über ihm zusammen, als loderten rings um ihn die Flammen, wie damals, als er aus der Leiter stand. Unwillkürlich kamen ihm die Worte des Onkels ins Gedächtnis: „Du bist wie eine Katze, die immer auf die Füße fällt.“ O ja, er würde jetzt auch auf die Füße fallen, aber anders, als Ohm Zenthöfer gemeint hatte. Dann kam ihm das Bewußtsein, daß seine Frau ja noch viel härter von diesem Schicksalsschlage betroffen sein müsse als er. Sie war es doch gewesen, die ihn, wenn auch in gutem Glauben, in diese furchtbare Situation gebracht hatte. Das gab ihm die Besinnung wieder. Er hatte schon so viel Kraft, seine Frau zu trösten, als sie sich vor Verzweiflung weinend an seinen Hals warf. Es hätte sich doch nichts geändert. Im Gegenteil! Das gütige Schicksal hätte ihm das Glück, das seiner wartete, nicht nur von ferne gezeigt, sondern ihm sogar einen Vorgeschmack davon gegeben. Was sei denn verloren? Das bißchen Geld?... Jetzt müßten sie eben seinen alten Plan ausführen, er nach Königsberg gehen und studieren und sie eine Stellung als Wirtschafterin annehmen, bis er eine Pfarrstelle gefunden. Unter den Kollegen im Kreisverein seien einige hochmögende Herren. Mit deren Empfehlung würde man ihn in Anbetracht seines Schicksals wohl noch vor der Zeit zum Examen zulassen, wenn er sich recht fleißig zeigte.

So redete er auf seine kleine Frau ein, die in der Tat ganz verzweifelt war und sich im stillen die fürchterlichsten Vorwürfe machte. Anstatt ihr Geld an sicherer Stelle stehen zu lassen, hatte sie es in Papieren angelegt, bloß um eine bessere Verzinsung zu erzielen. Aber auch darüber versuchte Karl sich zu beruhigen. In diesem Sinne sei der Mensch nicht verantwortlich für seine Handlungen. Wenn die Tat an sich berechtigt und nicht unehrenhaft sei, könne niemand sich über die Folgen Vorwürfe machen.

Den ganzen Vormittag hatten sie nach allen Seiten hin und her erörtert, wie sich jetzt ihr Lebensplan gestaltete. In der Hauptsache waren sie sich ja einig. Es fragte sich nur, was mit dem Gut geschehen sollte, ob Karl freiwillig die Subhastation beantragen mußte. Er wollte doch nicht mehr, selbst wenn es gegangen wäre, den Winter über in Gonsken sitzen, sondern sofort nach Königsberg, um nicht das Semester an der Studienzeit zu verlieren. Und als seine Frau in die Küche gegangen war, um das Mittagsbrot zu bereiten. da hatte er sich hingesetzt und gerechnet und gerechnet, bis ihm der Kopf heiß wurde. Aber es ging nicht! Selbst wenn die Gläubiger ihm eine Frist bewilligten und er durch vermehrte Tätigkeit den Winter über das Geld für beide Raten verdiente, dann blieb die Sache trotzdem eine Kräpelei. Dann mußte er sich bis auf den letzten Pfennig verausgaben, um nur die allernotwendigsten Geräte, Wagen usw. anzuschaffen. Nein, es war schon besser, er machte jetzt unter die Rechnung einen Strich und zog das Fazit. Er hatte sich nichts vorzuwerfen. Er brauchte nicht mit Bitterkeit an die verflossene Zeit zurückdenken. Er hatte sich tüchtig erwiesen, sich die allgemeine Achtung erworben, und sicherlich würde ihm auch von allen Seiten die Teilnahme bei dieser Wendung seines Schicksals nicht fehlen. Darüber konnte er beruhigt sein. Ein paarmal mußte er die Zähne zusammenbeißen, wenn er an die nächsten Jahre dachte. Als Junggeselle würde er einsam in der großen Stadt hausen, sein liebes Weib getrennt von ihm in dienender Stellung. Das war bitter: das hatte er vom Schicksal nicht verdient.

Kurz nach Mittag kam Pehlke, um sich mit seinem Herrn für die nächsten Tage zu besprechen. Sie wollten ja doch zusammen auf den Jahrmarkt nach Oletzko fahren, um dort Pferde und wenigstens ein paar gute Milchkühe noch zu kaufen. Dann sollte Karl weiter nach Lötzen, um mit Herrn Lehmann für den Winter wieder abzuschließen. Das war vielleicht der schwerste Moment, als er dem Alten auseinandersetzen mußte. daß es nun zu Ende sei, wirklich zu Ende. Und dann stand ihm noch ein Gang bevor, der ihn mindestens ebenso schwer dünkte: er mußte zu Herrn Hirschberg und ihm die Verhältnisse klar machen. Tief im Innersten seines Herzens fand er dabei eine Ecke, an die er während der ganzen Jahre nicht gerührt hatte. Darin bewahrte er die Erinnerung an ein Wort auf, das Herr Hirschberg ihm einst zu Beginn ihrer näheren Bekanntschaft gesagt hatte: in dem Gute stecke noch eine Reserve, noch eine Kraft, die herausgeholt werden könnte. Vielleicht war es nur eine Redensart gewesen, um ihm damals Mut zu machen, und selbst wenn es etwas mehr gewesen wäre, wenn Herr Hirschberg wirklich noch eine Hilfsquelle erschließen könnte, so würde er dazu wohl die Hand nicht mehr bieten können.

Am Nachmittag waren beide zu Ohm Zenthöfer gegangen, um ihn mit der Sachlage bekannt zu machen. Der alte Herr hatte gewettert und dann mit Karl noch einmal alle Verhältnisse bis ins kleinste erörtert, in der Hoffnung, daß sich doch noch ein Ausweg finden würde. Doch schließlich hatte er Karl zustimmen müssen und Karl gleichzeitig für die erste Zeit des Studiums bereitwilligst seine Hilfe zugesagt. Das war ja nun nicht nötig. Denn sie hatten ja noch die 2000 Mark von der Aussteuer. Die gehörten seiner Frau; auf die hatte kein Gläubiger Anspruch. Aber mit Dank wurde der Vorschlag angenommen, daß Frau Anna bei Zenthöfers bleiben sollte, um der alten Dame, der bei ihrer Völligkeit das Wirtschaften schon sehr schwer war, die Leitung des Hauswesens abzunehmen.

Im Abendgrauen ging das Paar nach Hause. Sie wollten noch heute mit den Vorbereitungen beginnen. Karl hatte ja in den nächsten Tagen noch genug zu tun, um die geschäftlichen Angelegenheiten abzuwickeln, die dieses Ereignis mit sich brachte.

Vor dem Hause hatten sich all die Arbeiter mit Pehlke und Stopka an der Spitze versammelt. In ihnen allen war nur ein Gefühl lebendig: die Trauer um den Verlust ihrer geliebten Herrschaft.

Vielleicht, wenn sie ihn bitten würden, sie nicht zu verlassen, dann würde der junge Herr sich bestimmen lassen, doch hier zu bleiben. Der Pehlke hatte ja gemeint, es ginge, wenn auch schwach. Und das sprach der alte Stopka aus. Die Männer hatten die Mühen abgenommen; einige von den Frauen weinten. Es war so feierlich wie bei einem Gottesdienst. Und sicherlich war es auch eine Art Gottesdienst, wie diese Liebe und Anhänglichkeit aus den treuen Seelen emporquoll. Da war keiner unter ihnen, der nicht ohne Bedenken das letzte Hemd hergegeben hätte, wenn er damit das Unheil hätte abwinden können.

Noch nie war Frau Anna bei aller Rührung auf ihren jungen Mann so stolz gewesen als in diesem Augenblick. Sie fühlte, wie nahe ihm dieser Auftritt ging. Noch einmal streckte die heimatliche Scholle die Hand nach dem Manne aus, der sein Herzblut für sie eingesetzt hatte... Vergeblich!...

Nur mit Mühe hatte sich Karl so weit beherrscht, um den Leuten sagen zu können, daß er nicht gehen würde, wenn ihn nicht das Unglück zwänge. Und als er dann jedem einzelnen die Hand reichte und schüttelte, war ein Weinen und Jammern geworden, das in ihm wieder den Wunsch aufgehen ließ, es möchte sich noch ein Weg finden lassen.

Die Leute standen noch auf einem Haufen zusammen, als ein Wagen auf den Hof fuhr. Es war Herr Hirschberg. Schon beim Aussteigen rief er ihnen zu: „Kinder, geht nur ruhig nach Hause. Es ist alles in Ordnung. Eure Herrschaft bleibt! Dafür verpfände ich euch mein Wort!“

Erst ein Augenblick der größten Überraschung... dann suchte die Freude einen Ausweg und machte sich in sehr kräftigen Hochrufen auf den Retter in der Not Luft.

Karl hatte sich im Wohnzimmer still auf einen Stuhl gesetzt, seine Frau stand neben ihm, hatte seinen Kopf an ihre Brust gelegt und strich ihm tröstend mit der Hand über die Haare. Doch was war das? Dieses freudige Hochrufen! Und in demselben Augenblick wallte in Karl ein Gefühl auf, das alle seine Entschlüsse über den Haufen warf. Wie ein Bergwasser, das die Fesseln sprengt, brach sich die Hoffnung in ihm Bahn, die er mit so vieler Mühe, unter Ausbietung aller Vernunftgründe, eingedämmt hatte. Er wußte, wer da kam.

„Herr Hirschberg!“

„Ja, ich bin es, mein lieber Freund. Und das ist ja wohl Ihr liebes Frauchen, das ich von Herzen hier begrüße. Hoffentlich komme ich nicht zu spät, um Sie vor übereilten Entschlüssen zu bewahren. Ich war heute in Königsberg bei meinem Bankier. Ich habe auch einen schönen Posten Hypothekenaktien. Das mag Ihnen ein Trost sein, daß ein so gewiegter Geschäftsmann, für den ich mich halte, sich die Finger daran verbrannt hat. Bei meinem Bankier erfuhr ich auch, daß es Ihnen ebenso geht wie mir. Na, Gott sei Dank sind`s nur ein paar tausend Taler und nicht der Rede wert.“

Unwillkürlich mußte Karl lächeln. Der Verlust dieser paar tausend Taler bedeutete ja für ihn den wirtschaftlichen Zusammenbruch.

„Doch nun zur Sache, lieber Freund“, fuhr Hirschberg fort. „Sie haben es wohl vergessen, was ich Ihnen vor langer Zeit einmal sagte, daß in Ihrem Gute noch eine sehr starke Hilfsquelle verborgen ist, die wir jetzt anbohren wollen. Ich hatte früher keine Zeit, diesen Plan durchzuführen, oder offen gesagt, ich wollte erst mal sehen, wie Sie sich erproben würden. Nun, Sie haben die Probe bestanden. Doch ehe ich weiterspreche, verehrte junge Frau, Sie haben sicherlich von der Hochzeit her noch eine Flasche Wein im Keller. Es bespricht sich besser, wenn man nicht so trocken da sitzt, sondern sich ab und zu die Zunge anfeuchten kann.“

Mit zitternden Händen hatte Anna eine Lampe angesteckt, während Karl wie der Blitz in den Keller flog. Er brachte zur Vorsicht seinen ganzen Vorrat, das heißt zwei Grüngesiegelte, mit. Die Gläser standen schon auf dem Tisch; es wurde eingeschenkt, dann erhob Herr Hirschberg sein Glas: „Und nun lassen Sie uns anstoßen auf die Firma Miska und Hirschberg, Schindelfabrikation en gros.“

Tief bewegt hatten die beiden ihm Bescheid getan. Dann hatte Herr Hirschberg ihnen seinen Plan auseinandergesetzt. Er hatte bis dahin drüben über der Grenze in Rußland einen Wald von etwa 100 Morgen zu Schindeln verarbeitet. Jetzt wurden die Arbeiter dort frei und sollten schon in den nächsten Tagen nach Gonsken übersiedeln. Nach einer vorläufigen Schätzung steckte in den sechzig Morgen Wald, die Karl besaß, ein schönes Kapital, das sie im Laufe von zwei Jahren herausholen würden. Während sie noch mitten in der Besprechung waren, erschien Ohm Zenthöfer. Er war gekommen, um zu trösten und Mut zuzusprechen, und fand eine Gesellschaft, die vor Glück strahlte.

In diesem Sommer war ich bei meinem Freunde Karl Miska zu Besuch. Er steht mit festen, markigen Knochen auf der dauernden, wohlgegründeten Erde, auf der Scholle seiner Väter. Nicht ganz aus eigener Kraft hat er sie behauptet. Dazu war der Rat und die Hilfe guter Freunde und getreuer Nachbarn erforderlich. Aber sie war es doch, die im letzten Grunde alles hergab.

Früh am Morgen war ich ausgegangen, um an einem Teich Karpfen zu angeln. In den Jahren, die ich nicht in der Heimat gewesen war, hatte sich dort um Gonsken eine Drainagegenossenschaft gebildet. Der Abfluß des Wassers ging zwischen den Bergen durch, auf denen sein Wald ehemals gestanden. Als umsichtiger Wirt hatte er mit leichter Mühe einige Teiche anlegen können, aus denen ich ein paar fette Schuppenträger zum Mittagsmahl herausholen sollte.

Es war noch früh am Morgen. Über den Bergen, über die jetzt der Pflug ging, kam die Sonne empor, ringsum sangen die Vögel: es war ein Tag, an dem jedem Menschen vor Freude das Herz aufgehen muß. Kaum hatte ich meine erste Angel ausgeworfen, als sich ein kleiner, von der Sonne verbrannter Junge zu mir gesellte: der älteste Sprößling meines Freundes. Natürlich hieß er Max.

„Junge, wo kommst du her? Bist du nicht in der Schule?“

„Nein, ich bin dem Herrn Lehrer durchgebixt. Ich will bei dir angeln lernen, Ohmchen.“

Das tat er denn auch. Aber das Vergnügen sollte nicht lange währen. Mit langen Schritten kam über den Berg sein Vater daher, legte ihn übers Knie, zog ihm die Höschen stramm und bewies ihm schlagend, daß er reumütig nach der Schule zurückzukehren habe.

Dann warf sich Karl Miska neben mir ins Gras. „So'n Lorbaß! Weißt du, was der fertig kriegt? Der geht in den Roßgarten, wo die zweijährigen Remonten stehen, lockt eine mit `nem Stück Zucker ran, legt ihr dabei `nen Strick ins Gebiß, und im nächsten Augenblick sitzt er oben. Natürlich geht das wie die wilde Jagd hin und her. `s ist mir nur wunderbar, daß der Schlingel dabei nicht schon mal das Genick gebrochen hat.“

Sein Ton klang grollend, aber aus den Augen leuchtete ihm dabei der Vaterstolz. Nach einer Weile fuhr er ruhiger fort:

„Du hast mich gestern gefragt, wie mir denn nun eigentlich jetzt so zumute ist, und ich bin dir die Antwort schuldig geblieben. Jetzt will ich's dir sagen. Als Hirschberg mir geholfen hatte, kam eine wunderbare Stimmung über mich. Der Kampf war zu Ende. Ich brauchte nur das Geld einzustreichen, konnte alle meine Gläubiger bezahlen. Ich habe alle Hypotheken bis zur Landschaft abgestoßen. Aber es fehlte mir etwas. Es war mir, als wenn mein ganzes Dasein keinen Inhalt mehr hätte. Mir fehlten die Sorgen, der Stachel, der mich vorwärts trieb. Und weißt du, daß gerade damals die allerschwersten Zweifel über mich kamen, ob ich wirklich die nötige Liebe zu meinem Beruf, zur Landwirtschaft hätte? So jahraus, jahrein in regelmäßigem Wechsel säen und ernten und Vieh heranziehen und verkaufen, gut leben, auf die Jagd gehen, Geld auf die hohe Kante legen... Ja, ein anderer, der würde glücklich sein. Ich quälte mich in Gedanken über meinen Zustand. Ich fürchtete sogar... Nun, du wirst ja schon wissen, was ich meine.“

„Wenn du so darüber sprechen kannst, dann hat sich deine Ansicht doch entschieden geändert!“

„Ja, lieber Freund, mit einem Schlage. Als ich da eines Tages von einer Reise nach Lyck zurückkam, war dieser Lorbaß, dieser Schlingel, eingetroffen. Naseweiß, wie er nun einmal ist, hatte er uns mit seiner Ankunft überrascht. Und als ich in die Stube trat und mir das feine Stimmchen zum erstenmal entgegenschallte, da, lieber Freund, empfand ich es, daß mein Leben wieder einen Inhalt bekommen hatte. Da war wieder die Sorge da, die Sorge um den kleinen Erdenbürger. Jetzt weiß ich, wofür ich gekämpft habe.“

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