Fritz Skowronnek Masurenblut Neue Folge


Masurenblut.

Neue Folge.

Novellen von Fritz Skowronnek.

Berlin W. 57.

Rich. Eckstein Nachf.

H. Krüger.

Die rote Stefka.

Sie hatten es alle nicht glauben wollen, dass der reiche Samel Korpis die arme Stefka Jezorek, die bei ihm zum Scharwerk ging, heiraten würde. Erst als das Aufgebot des Paares beim Schulzen im Kasten hing, war an der Tatsache nicht mehr zu zweifeln. Nun wussten alle alten Weiber im Dorfe, dass sie das Ereignis schon lange vorausgesagt hatten. Die Stefka war aber auch zu klug; sie wusste sehr genau, wie schön sie war. Das hatten ihr ja alle Burschen des Dorfes nicht einmal, sondern hundertmal gesagt, und sie warf sich nicht weg. Keiner von all den jungen Leuten, die hinter ihr herliefen, konnte sich rühmen, dass sie ihm auch nur die geringste Gunst geschenkt hätte. Wohl ein jeder hatte einmal an ihr Kammerfenster geklopft, aber keinem hatte es sich geöffnet.

Eine Zeitlang hatten die Weiber davon gemunkelt, dass sie dem Fedor Adamek, der mit ihr noch verwandt war, blanke Augen gemacht habe. Wenn das wirklich der Fall gewesen war, dann hatte es in dem Augenblick aufgehört, als der Samel von den Soldaten nach Hause kam. In voller Uniform war er gekommen, als Oberjäger von den Gardeschützen. Da hatten ihn die anderen Bauernsöhne von der Bahn abgeholt und gleich an demselben Abend ein Tanzvergnügen in dem Dorfkrug veranstaltet. Von den Scharwerkmargellen war keine einzige dazu eingeladen worden, bloss die Stefka; die durfte bei keinem Vergnügen fehlen.

Damals sah sie der Samel zum erstenmal; denn als er vor drei Jahren nach Berlin wegfuhr, war sie noch ein mageres Margellchen gewesen, das jeder für hässlich hielt. Aber wie hatte sie sich in den drei Jahren herausgemacht! Die reichen, rotblonden Haare trug sie in zwei langen Zöpfen, die ihr bis über die Schürzenbänder hinabhingen, dazu ein Gesicht wie Milch und Blut und ein Paar dunkle Augen, die wie Kohlen glühten.

Kein Wunder, dass der Samel sie den ganzen Abend nicht von der Hand liess und nur mit ihr tanzte.

Die alten Weiber, die draussen am Fenster standen und zusahen, meinten, sie hätten noch kein schöneres Paar gesehen; aber es wäre schade um die Stefka, wenn ihr der Samel den Kopf verdrehen sollte.

Es war umgekehrt gekommen. Sie hatte ihm den Kopf verdreht. Als sie am nächsten Tage zum Scharwerk gekommen war, hatte er ihr die leichteste Arbeit zugewiesen und sie auf die Tenne geschickt, um einen Haufen Roggen umzustechen. Dann war er ihr nachgeschlichen und hatte versucht, sie in den Arm zu nehmen und abzuküssen.

Aber damit kam er schon an. Die alte Jerlitzka wusste das ganz genau, denn sie war nachgeschlichen und hatte durch die Türritze geguckt.

„Mit einem Satze war die Stefka an der Tür“, so erzählte die Alte, „und hatte die Klinke in der Hand. Da fing der Samel an, schön zu bitten, sie möchte sich doch vor ihm nicht fürchten, er sei ein anständiger Mensch, und wenn sie ihm nur ein wenig gut sein könnte, dann wisse er, was er tun werde. Darauf hatte die Stefka die Klinke losgelassen und mit einem schelmischen Blick gefragt, was das denn wäre? „Na, ich will Dich heiraten, dumme Margell“, hatte der Samel gesagt.

Weiter konnte die Jerlitzka leider nichts erzählen; denn die alte Frau Korpis war auf den Hof gekommen und hatte nach ihr gerufen.

Vielleicht wäre die ganze Geschichte doch noch anders gekommen; denn der alte Bauer war ein hochmütiger Mann und hatte seinem Erbsohn schon ein reiches Mädchen aus der Verwandtschaft zur Braut ausgesucht. Aber eines Nachts hatte er sich in Selliggen, auf der anderen Seite des Sees, etwas zu satt getrunken und war auf dem Heimweg in eine Fischerwuhne geraten. Mit grosser Mühe hatte sich der alte Mann herausgekrabbelt und nach Hause geschleppt. Doch das kalte Bad hatte ihm den Tod gegeben. Zwar hatte er gleich zwei Schuss Pulver in Schnaps eingenommen und sich einmal von Kopf bis zu Fuss mit Petroleum einreiben lassen, aber das half alles nichts, in acht Tagen war er tot und begraben.

Jetzt war Samel Herr auf dem Hofe und konnte tun und lassen, was er wollte. Das Trauerjahr hindurch hatte ihm noch die Mutter die Wirtschaft geführt, dann zog sie in die kleine Chalupp ins Altenteil. An demselben Tage hatte Samel das Aufgebot bei dem Pfarrer und dem Standesbeamten bestellt.

Und heute war die Hochzeit.

Schon lange Zeit vorher hatte der alte Schmiegel, der noch die Sprüche kannte, mit denen der Drusba die Gäste einlädt, ein kleines Pferd eingeübt, auf dem er in die Stuben reiten musste, um seinen Vers aufzusagen. Dann war er drei Tage lang umhergeritten, um zur Hochzeit zu bitten, aber nur vormittags. Am Nachmittag musste er sich irgendwo in die Scheune legen und ausschlafen; denn er war ein alter Mann und konnte die vielen Schnäpse nicht vertragen, die von den Eingeladenen spendiert wurden.

Es war die grossartigste Hochzeit, die seit langer Zeit im Dorfe gefeiert worden war. Aus der Stadt hatte der Samel sechs Musikanten kommen lassen; die mussten schon am Vormittag zu blasen anfangen, als das junge Paar zum Standesbeamten fuhr. Der Bräutigam hatte sich einen neuen schwarzen Anzug machen lassen, den Rock mit ausgeschnittenen Ecken, wie ihn die Herren in der Stadt trugen. Die Braut hatte ein weisses Seidenkleid an, das ihr vom Bräutigam geschenkt worden war, und der weisse Schleier reichte ihr vom Kopf bis zu den Füssen. Auch einen neuen Tafelwagen hatte der Bauer zur Hochzeit angeschafft und ein Paar forsche Rappen vorgespannt, so dass die Bauernsöhne, die zur Seite ritten und aus ihren Pistolen schossen, kaum mitkommen konnten.

Noch wochenlang hatten die Frauen in der Nachbarschaft von der Hochzeit gesprochen. Den Samel musste das Vergnügen ein schönes Stück Geld gekostet haben. Aber er hatte es ja dazu. Alle kleinen Leute aus dem Dorfe, die nicht als Gäste geladen waren, die kleinen Eigenkatner und die Tagelöhner, hatten an einer langen Tafel auf dem Hofe zu essen bekommen, und jede Frau konnte noch im Paartopf für ihre Kinder Essen mit nach Hause nehmen. Sogar die alten Spinnfrauen im Armenhaus hatte Stefka nicht vergessen, sie selbst hatte ihnen ein grosses Stück gebratenes Fleisch und einen Fladen gebracht. Und Samel hatte ausserdem durch einen Knecht ein ganzes Lechel voll Honigschnaps hingeschickt.

Noch von etwas anderem wurde gesprochen. Die junge Frau hatte auch den Fedor Adamek zur Hochzeit bitten lassen. Dem Bräutigam war das nicht recht gewesen, aber er konnte nichts dagegen sagen, denn der Fedor war der einzige Verwandte seiner Braut, und die Leute hätten ihr Maul darüber aufgerissen, wenn er nicht eingeladen worden wäre. Und Fedor war wirklich gekommen. Er hatte sich still in eine Ecke gesetzt, als wenn ihn die ganze Lustbarkeit nichts anginge. Die einen meinten, es wäre ihm peinlich gewesen, unter den reichen Verwandten des Korpis in seinem dunklen Wandrock zu sitzen. Die anderen sagten, er wäre bloss traurig gewesen, denn er hätte die Stefka von klein auf lieb gehabt und immer gehofft, dass sie ihn nehmen würde.

Vielleicht hatten die Leute damit nicht so ganz unrecht. Denn als Stefkas Vater gestorben war, da hatte Fedor sie mit ihrer Mutter in seine kleine Chalupp aufgenommen und für sie gesorgt, als wenn er nicht der Sohn einer Halbschwester, sondern der richtige Sohn der Frau Jezorek gewesen wäre. Er hatte ja auch nicht viel übrig; denn sein Vater lag schon seit Jahren, an Händen und Füssen gelähmt, auf dem Krankenbett und musste gewartet werden wie ein kleines Kind.

Da ging nun Fedor tagsüber an die Bahn zur Arbeit, wo er vom Morgen bis zum Abend mit Kiesstopfen vierzehn Dittchen verdiente, und bis in die Nacht hinein sass er an der Schnitzbank und schnitzte Holzpantoffeln und Malanis, die grossen Holzschuhe für die Tagelöhner. Viel konnte er damit nicht verdienen, aber es war doch besser als gar nichts.

Wer weiss, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen, als der junge Ehemann gegen Mitternacht seinen Rundgang machte, um mit jedem der Gäste anzustossen, und auch zu ihm kam. Da hatte er zuerst so getan, als wenn er es nicht merkte, dass der Samel ihm das Glas hinhielt. Erst als dieser ärgerlich sagte, er könne auch nach Hause gehen, wenn es ihm hier nicht passe, hatte er mit ihm angestossen, aber gleich darauf sein Glas so heftig hingesetzt, dass ihm die Scherben in der Hand blieben.

Die Frauen, die in der Nähe sassen, hatten schnell mit dem Daumen an die Tischkante gestossen und dreimal ausgespuckt; denn die Scherben bedeuteten Unglück für die junge Ehe, und alles hatte sich gewundert, dass der Samel so ruhig, ohne ein Wort zu sagen, weiterging. Aber als der jungen Frau die Fladrusch, die grosse Haube, aufgesetzt werden sollte, und sie noch einmal mit allen jungen Leuten tanzen musste, da hatte der Ehemann ihr verboten, den Fedor aufzufordern.

Vielleicht wäre es noch zu einem Streit zwischen den jungen Eheleuten gekommen, wenn nicht der Drusba den Samel wieder beruhigt und ihm vorgestellt hätte, dass der Fedor doch der einzige Verwandte seiner Frau sei und es böses Gerede geben müsste, wenn sie ihn auslassen würde. Aber Samel hatte vor Wut gezittert und mit den Zähnen geknirscht, als der Fedor nach dem Tanze der jungen Frau den Schleier aufhob und ihr einen Kuss gab, wie es sein gutes Recht war. Dann war Fedor zu den Musikanten getreten, hatte ihnen einen harten Taler aufgeworfen und war, ohne sich umzusehen, aus der Tür und nach Hause gegangen.

In dem Trubel der Hochzeit hatten nur wenige etwas von dem Vorfall bemerkt, aber die Sache hatte sich herumgesprochen, und niemand für Fedor Partei. Alle meinten, er sei ein Narr, wenn er sich eingebildet hätte, die Stefka würde ihn heiraten, ihn, den armen Schlucker, während sie doch den reichsten Bauern des Dorfes kriegen konnte. Was er für sie und ihre Mutter getan habe, das konnte ja ihr Mann bis auf den letzten Pfennig abzahlen.

Der Samel musste wohl von dem Gerede gehört haben. Oder war es ihm selbst eingefallen? Eines Sonntags vormittags steckte er sich ein Stück Geld ein und ging in die Chalupp zum Fedor.

Im ersten Augenblick wusste dieser gar nicht, was er sagen sollte, als der Bauer zu ihm in die Stube trat. Er war gerade beim Reinmachen; denn er hatte vom frühen Morgen schon an der Schnitzbank gesessen. Er musste jetzt sehr fleissig sein; sein alter Vater war bereits so schwach, dass es jeden Tag mit ihm zu Ende gehen konnte. Und zu den Kosten des Begräbnisses fehlte noch manche Mark, wenn er den Vater nicht wie einen Bettler unter die Erde bringen lassen wollte.

Samel Korpis hatte beim Eintritt „Gottes Segen“ gewünscht und sich schweigend auf den Stuhl gesetzt, der ihm von Fedor hingeschoben worden war. Ihm war recht unbehaglich zumute. Er war zwar sonst nicht auf den Mund gefallen, aber diesmal wusste er doch nicht, wie er anfangen sollte. Verlegen sah er sich in der kleinen Stube um und blickte zu dem Alten hinüber, der schweratmend und gänzlich teilnahmslos im Bette lag. Wie oft hatte er als Junge dem Alten bei seiner Arbeit zugesehen, wenn er sich bei ihm ein Paar neue Holzpantoffeln bestellte. Wie ordentlich es in dem Stübchen aussah, als wenn nicht ein Junggeselle, sondern eine tüchtige Frau die Wirtschaft führte! Unwillkürlich musste er daran denken, dass seine Frau als Kind in diesem Raume gespielt und gearbeitet hatte.

Inzwischen hatte Fedor die Schnitzspähne in die Ecke gekehrt. Jetzt holte er aus dem Spind eine Flasche mit Schnaps hervor und stellte sie auf den Tisch. Er konnte sich zwar gar nicht denken, was der Samel von ihm wollte, aber jetzt war er sein Gast und sass unter seinem Dach. Bedächtig goss er ein Glas ein und trank ihm zu.

„Was bringst Du Gutes, Samel? Wie geht's Dir?“

„Dank für die Nachfrage, Fedor; ich komme, um bei Dir unsere Schulden abzuzahlen.“

„Schulden? Ihr bei mir? Davon weiss ich nichts.“

„Du hast doch meiner Frau und ihrer Mutter Wohnung gegeben und ab und zu auch bares Geld — wieviel, das weiss ich ja nicht, aber Du wirst es Dir ja gemerkt haben.“

Fedor stieg das Blut zu Kopfe; nun wusste er, weshalb der Bauer zu ihm gekommen war. Er wollte ihn mit Geld ablohnen, damit er nicht sagen könnte, die Stefka und ihre Mutter seien ihm nicht nur Dank, sondern auch Geld schuldig. Er wusste auch, was Samel damit bezweckte. Dieser wollte ihn nur ärgern und demütigen.

Mit Mühe bezwang er seine Aufregung und erwiderte: „Was ich aus gutem Herzen für meine armen Verwandten getan habe, das lasse ich mir nicht bezahlen. Und Du bist mir gar nichts schuldig, von Dir nehme ich kein Geld.“

„Na, da nimmst Du es von meiner Frau.“

„Schickt Dich Stefka?“

„Ja, sie will Dir nichts schuldig sein.“

Fedor zuckte zusammen, als hätte ihn ein Hieb getroffen. Ein gallenbitteres Gefühl stieg in ihm auf. Er musste unwillkürlich zurückdenken an die Zeit, die noch gar nicht so weit hinter ihm lag, als Stefka mit ihrer Mutter in der zweiten Stube seiner Chalupp wohnte. Nach Feierabend waren die beiden regelmässig herübergekommen, um das Licht zu sparen. Stefka hatte genäht, die Mutter gestrickt und er mit ihnen beim Schnitzen geplaudert. Wie oft hatte sein Vater gesagt, er solle doch mit Stefka Hochzeit machen. Aber Fedor war ein Narr gewesen, und hatte gemeint, sie sei noch zu jung, er könne auch noch ein paar Jahre warten. Jetzt bekam er den Lohn für alles Gute, das er an ihr getan hatte. Eigentlich brauchte er sich darüber nicht zu wundern, dass sie ihm das Geld schickte. Wenn man so herzlos ist und beim Freien nur nach dem Geldsack sieht — aber vielleicht hatte sie Samel auch wirklich lieb? Er war doch ein ansehnlicher junger Mann, ein flotter Kerl.

„Na, nimmst Du nun das Geld oder nicht?“

Der Ton, mit dem der Bauer das sagte, klang ärgerlich und gereizt.

Wie aus einem Traume war Fedor aufgewacht, aber er war ruhig geworden, ganz ruhig. Nur die Gedanken liefen ihm blitzschnell durch den Kopf: Wenn er das Geld nicht nahm, ärgerte sich der Bauer. Aber weshalb sollte er das Geld zurückweisen? Bloss um sagen zu können: Die reichen Leute da drüben in dem grossen Hause sind mir Dank schuldig? Und noch ein Gedanke flog ihm durch das Hirn, als er gleichmütig erwiderte:

„Gewiss, ich nehme das Geld, es ist ja nicht geschenkt.“

„Na, wieviel rechnest Du denn?“

Fedor nannte eine ziemlich hohe Summe, die der andere, ohne ein Wort zu verlieren, auf den Tisch zählte.

„Erklärst Du Dich nun für befriedigt?“

„Ja, Samel, ich hätte ja nie etwas von Dir oder Deiner Frau gefordert, aber es ist gut, dass Du mir das Geld gebracht hast; ich werde es aufheben, wenn Du oder Stefka es mal brauchen solltet.“

„Wie meinst Du das?“

„Na, ich meine, man kann nie wissen, wie es noch im Leben kommt. Auch reiche Menschen werden manchmal arm.“

Der Bauer lachte höhnisch auf: „Darauf kannst Du bei mir lange warten, ich habe Geld auf Leuten.“

„Das weiss ich, Samel, aber Geld ist bald verbraucht, wenn man sich nicht um die Wirtschaft kümmert, sondern auf Jagden umherfährt.“

„Was geht Dich das an?“

„Nichts, gar nichts, das ist nur Deine Sache! Aber es kann einem, der sogar des Nachts in der Königlichen Forst wilddieben geht, mal auch was zustossen.“

Der Bauer wechselte plötzlich die Farbe. Er hatte geglaubt, dass niemand davon auch nur eine Ahnung hätte, und jetzt sagte es ihm sein Gegner ins Gesicht. Vielleicht aber wollte dieser bloss auf den Busch klopfen. So ruhig, wie es ihm möglich war, erwiderte er achselzuckend:

„Du glaubst doch nicht, dass ich ein Wilddieb bin?“

„Ich glaube es nicht nur, ich weiss es. Ich habe Dich ja gesehen, wie ich in der Nacht zum Sonntag mir ein Stück Ellernholz aus dem Schwarzen Bruch holte.“

„Wer weiss, wen Du gesehen hast!“

„Dich habe ich gesehen! Du hattest zwar einen grossen Bart vorgebunden und einen Anzug an wie ein Filippone; aber ich will es vor Gericht beschwören, dass Du es warst.“

Er hatte dem Bauern bei diesen Worten fest ins Auge gesehen und wohl gemerkt, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Also war es wirklich wahr, was er nur vermutet hatte! Der reiche Bauer Samel Korpis war Wilddieb, natürlich nicht aus Gewinnsucht, sondern nur aus Leidenschaft.

Einen Augenblick messen die beiden Männer einander mit den Blicken. Beide fühlten, dass in diesem Moment eine böse Feindschaft zwischen ihnen aufgelodert war, die Feindschaft zweier Männer, die ein und dasselbe Weib begehrt hatten. Und der Unterlegene wollte jetzt an dem Sieger Rache nehmen.

So weit gingen Fedors Gedanken noch nicht. Er wollte an seinem Gegner nur Vergeltung üben für die Kränkung, die dieser ihm soeben zugefügt hatte, Samel aber hörte aus Fedors Worten schon die Drohung heraus, und das raubte ihm die kühle Überlegung.

„Du möchtest mich wohl anzeigen?“

„Weshalb denn?“

„Weshalb? Meinst Du, ich weiss es nicht? Weil ich die Stefka genommen habe.“

Fedor zuckte die Achseln. Ein geringschätziger Zug legte sich um seinen Mund: „Wegen der dummen Margell? Was geht mich die an? Wäre sie mir wirklich gut gewesen, dann hätte sie Dich trotz Deines Geldes nicht genommen. Brauchst keine Angst zu haben, ich will Dir Deine Frau nicht abspenstig machen.“

Ohne ein Wort zu erwidern, war Samel gegangen. Er ärgerte sich darüber, dass er Fedor aufgesucht hatte. Vielleicht aber war es doch gut, dass er wusste, woran er mit ihm war. Wenn der Kerl nicht das Maul hielt? — Ach was! Dazu war er viel zu gutmütig und dachte wohl gar nicht daran, ihn anzuzeigen. Die Menschen würden dem Angeber auch nicht glauben, sie würden sagen, es sei nur Rache.

Einige Wochen später war der alte Adamek gestorben. Fedor hatte das Gewerk aus der Stadt bestellt und einen schwarzpolierten Sarg gekauft. Am Sonntag Nachmittag sollte die Beerdigung stattfinden. Das ganze Dorf nahm daran teil. Sie hatten den Verstorbenen alle gern gehabt; denn er war ein lustiger guter Mensch gewesen, der mit jedem Nachbar in Frieden gelebt hatte. Auch Frau Korpis rüstete sich zum Begräbnis.

Sie hatte sich gerade die Kapuze aufgesetzt, als ihr Mann vom Hofe in die Stube kam. In rauhem Tone fuhr er sie an: „Du willst doch nicht mit der Leiche gehen?“

„Aber ja, weshalb sollte ich nicht? Es ist doch mein Onkel!“

„Ich möchte aber nicht, dass Du gehst.“

„Sei doch nicht komisch, Samel. Was sollten die Leute sagen, wenn ich meinem Verwandten nicht die letzte Ehre erwiese!“

„Lass die Leute reden, was sie wollen. Ich will nicht, dass Du gehst!“

Die junge Frau sah ihn mit grossen Augen an: „Das lasse ich mir nicht von Dir verbieten, ich wüsste auch nicht, warum. Oder bist Du noch immer auf den Fedor eifersüchtig?“

„Ach, Unsinn. Was Du Dir einredest. Es passt mir nicht, dass Du zu dem kleinen Eigentümer aufs Begräbnis gehst.“

„So? Meinst Du? Aber es passte Dir doch Deine Frau aus derselben Chalupp zu holen.“

Damit nahm Stefka ihr grosses Umschlagetuch und ging.

Im ersten Augenblick dachte der Bauer daran, sich noch schnell anzuziehen und ebenfalls zum Begräbnis zu gehen. Wie konnte er nur so dumm sein und nicht vorher daran denken! Nach dem Begräbnis wurde doch seine Frau mit dem Fedor zusammen von dem Kirchhof gehen. Wenn sie dann mit einander zu sprechen anfingen — Ach was! Und wenn die Frau das schon erfuhr, dann konnte sie ihm doch nur dankbar sein, dass er ihre Schulden bezahlt hatte.

Der Lehrer hatte ein kurzes Gebet gesprochen. Jung und alt war an das Grab getreten und hatte dem Verstorbenen drei Hände voll Erde mitgegeben. Dann hatten die Nachbarn Fedor mit einem Trostwort die Hand geschüttelt Zuletzt, als das Grab schon zugeschaufelt war und die anderen sich zum Gehen wandten, kam auch Stefka zu ihm heran.

„Sei nicht so verzagt, Fedor, und gönne dem alten Mann die Ruhe; er war doch nur sich selbst und auch Dir zur Last“

Fedor nickte gleichmütig. Der Schmerz, den er empfand, war nicht sehr gross; nur das Gefühl des Alleinseins hatte ihn gepackt. Wenn er abends nach Hause gekommen war und das alte Weib weggeschickt hatte, das den Tag über den Vater bediente, dann hatte er doch einen Menschen gehabt, mit dem er über all die kleinen Sorgen des täglichen Lebens sprechen konnte. Jetzt stand er ganz allein da in der weiten Welt Er hätte es vermeiden können. Sein Blick fiel auf das junge, blühende Weib, das vor ihm stand, und glühend heiss stieg es ihm in der Brust empor.

Die hätte jetzt an seiner Seite stehen können. Er wandte sich ab und schritt langsam davon. Aber Stefka blieb neben ihm. Sie hatte das Gefühl, als müsste sie ihm ein freundliches Wort sagen, ihm danken für all das Gute, das er ihr und ihrer Mutter erwiesen. Und sie sprach es aus, wie sie dachte, kurz und schlicht, aber warm. Ein wenig schlug ihr das Herz dabei; denn sie hätte es schon lange tun müssen.

Fedor hatte nur mit halbem Ohr auf ihre Worte hingehört. Ihn regte es auf, dass Stefka an seiner Seite blieb. Weshalb war sie überhaupt zum Begräbnis gekommen? Doch nur, um das Gerede der Leute zu vermeiden, trat sie hier als Verwandte auf. Mit einem Ruck blieb er jetzt stehen und drehte sich nach ihr um.

„Spar Deine Worte, Frau Korpis, Du bist mir nichts schuldig, weder Dank noch Geld. Du hast ja mich auslohnen lassen.“

„Fedor, was sagst Du? Ich hätte Dich auslohnen lassen?“

„Tu doch nicht so, als wenn Du das nicht wüsstest.“

„Bei Gott, Fedor, ich weiss nichts davon!“

Er sah die junge Frau von der Seite an; die Tränen standen ihr in den Augen. Nein, sie hatte nicht gelogen, es war ja auch nicht ihre Art, die Unwahrheit zu sprechen. Dann hatte also ihr Mann diese Nichtswürdigkeit begangen und ihren Namen missbraucht, um ihn, Fedor, zu kränken.

Die junge Frau an seiner Seite wunderte sich, dass er ihr keine Antwort gab. Sie griff nach seiner Hand.

„Sag mal, Fedor, weshalb bist Du so böse auf mich? Ich habe Dir doch wirklich nichts getan.”

„Nein, Stefka, Du nicht.”

„Wer denn? Etwa mein Mann? Das musst Du mir sagen, ich bitte Dich; das muss ich wissen.“

„Ach, lass doch, Stefka; ich bin froh, dass ich von Dir nicht schlecht zu denken brauche.“

„Nein, ich lass Dich nicht eher von mir, als bis Du mir sagst, war vorgefallen ist. Was hat mein Mann Dir getan?“

„Was soll er mir getan haben? Er kam zu mir und gab mir Geld für die Wohnung, die ihr bei mir gehabt habt, und für das bischen bare Auslagen.“

„Du hast doch gesagt, ich hätte Dich ausgelohnt? Jetzt weiss ich alles. Mein Mann hat Dir vorgelogen, ich hätte ihn geschickt“

Sie musste das Taschentuch hervorholen, um die Tränen zu trocknen, die unaufhaltsam hervorquollen.

„Na, was ist denn da Grosses dabei?“

„Meinst Du? Er macht mich vor meinem Verwandten schlecht, und dazu soll ich still sein? Nein, Fedor, wie er mich hier belügt, so hintergeht er mich auch anderswo. Das habe ich schon gemerkt. Drum danke ich Dir, dass Du mir die Augen geöffnet hast. Jetzt weiss ich auch, weshalb ich nicht zum Begräbnis gehen sollte.”

Sie blieb stehen und reichte ihm die Hand. „Bist nicht mehr böse auf mich, Fedor?“

„Nein, Stefka, ich habe Deinem Manne gleich nicht recht geglaubt, dass Du so schlecht sein könntest.“

Langsam, in tiefen Gedanken, ging er nach Hause. Br musste erst noch die Holzschläger traktieren, die das Grab ausgeworfen und zugeschaufelt hatten, und mit der Mrotzkowa, die den Vater gepflegt hatte, wollte er sprechen, dass sie zu ihm ziehe und ihm das Essen koche.

Einsilbig sass er zwischen den Männern am Tische, die der Flasche eifrig zusprachen. Es war schon Abend, als sie fortgingen. Eine Weile sass er noch allein in der Stube, die ihm heute so leer vorkam; dann nahm er seine Mütze vom Nagel und ging hinüber in den Krug.

An der Tonbank stand ein Knecht des Samel Korpis. Er musste auch eben erst gekommen sein; denn das Glas Bier, das er sich hatte geben lassen, stand noch unberührt vor ihm. Er hatte wohl gerade der Frau etwas Lustiges erzählt. Fedor hörte noch, wie sie mit rauhem Lachen erwiderte: „Es wird wohl nicht das erste Mal gewesen sein und wird auch nicht das letzte Mal bleiben.“

Der Knecht nickte bestätigend; „Aber heute ging es scharf her, und, wie die Trine sagt, hat die Frau angefangen. Gleich, wie sie vom Begräbnis kam, nahm sie den Bauern vor. Wir haben alle nicht gedacht, dass sie so heftig sein kann; denn sie ist sonst von Herzen gut und steckt uns manches zu, wovon der Mann nichts weiss. Aber heute! Na, ich danke schön! Wie einen dummen Jungen hat sie ihn ausgeschimpft.“

„Wofür denn?“

„I, der Deuvel weiss! Dass er Dir, Fedor, Geld gegeben und dabei gelogen hätte, auch dass er manchmal des Abends spät in einem kleinen Einspänner wegfährt. Wir haben dazu gelacht. Denkt Euch, die Frau weiss wirklich nicht, wohin der Mann fährt!“

„Na, was weisst Du denn davon?“ fuhr ihn Fedor an.

Der Knecht lachte laut auf: „Ich bin doch nicht von heute oder gestern, sondern schon zehn Jahre auf dem Hofe; da merkt man doch, was los ist.“

„Dann reisst man nicht das Maul über die Herrschaft auf und trägt es im ganzen Dorfe herum!“

„Was ich nicht erzähle, erzählt ein anderer. Im ganzen Dorfe klingerts ja schon, dass es heute bei uns Schacht gegeben hat.“

„Was sagst Du, der Samel hat seine Frau geschlagen?“

„Na gewiss, Dass soll ja die Liebe auffrischen.“

Fedor musste sich zusammennehmen, um nicht vor Wut aufzuschreien. Das Weib, das er wie einen Augapfel gehütet und auf seinen Händen getragen hätte, das hatte der Bauer geprügelt! Er stand auf, bezahlte den Schnaps, den die Wirtin ihm eingegossen hatte, und ging hinaus. In ihm wogten und stürmten die Gedanken. Wie er die Stefka kannte, würde sie sich das nicht gefallen lassen.

Und dann? Und dann?

Auf einem grossen Umweg ging er nach Hause, Als er die Tür seiner Stube aufklinkte, stand eine Frauensperson vor ihm; sie hatte auf der Ofenbank gesessen und sich bei seinem Eintritt erhoben. Ohne zu fragen, wusste er, wer es war. Sein Herz begann ihm vor Erregung zu klopfen, dass er es bis zum Halse hinauf fühlte. Einen Augenblick standen beide einander gegenüber. Dann griff Fedor in die Tasche nach den Streichhölzern und machte Licht.

Die Frau hatte sich inzwischen auf einen Stuhl am Tische niedergelassen und das Gesicht in den Händen vergraben.

„Was willst Du hier, Stefka? Die Gäste vom Begräbnis sind schon weg.“

Im nächsten Augenblick tat es ihm leid, dass er sie so angefahren hatte; denn das junge Weib schluchzte, dass ihr ganzer Körper bebte. Sanft strich er ihr mit der Hand über die dicken Haarflechten.

„Ich weiss alles, Stefka. Euer Knecht hat es im Krug erzählt.“

Sie hob den Kopf und sah ihn mit rotgeweinten Augen an: „Dann weisst Du auch, weshalb ich hier bin.“

„Nein, das weiss ich nicht und will es auch nicht wissen! Du gehörst nach Hause zu Deinem Mann!“

„Fedor!“

„Ja, das sage ich Dir, als Dein einziger Verwandter.“

„Nein, ich bleibe nicht bei ihm. Weisst Du denn nicht, dass er mich geschlagen hat?“

„Aber Du hast angefangen mit Zanken, Du hast ihm so lange zugesetzt, bis er wütend wurde.“

„Soll ich etwa dazu den Mund halten, dass er mich belügt und betrügt? Fedor, ich habe ja keinen anderen Menschen, dem ich meine Not klagen kann, als Dich!“

„Was kann ich Dir helfen? Wie man sich bettet, so schläft man.“

Seine Stimme stockte mehrmals, als er fortfuhr: „Ein anderer hätte Dich nicht belogen und hätte Dich nicht geschlagen. Aber wenn eine arme Scharwerksmargell der Deuwel plagt, dass sie den reichsten Bauern des Dorfes heiratet, dann muss sie schon in den Kauf nehmen, was danach kommt.“

Die junge Frau war aufgestanden und hatte sich mit der Hand die letzten Tränen weggewischt.

„Du hast Recht, Fedor! Was ich mir eingebrockt habe, muss ich selbst ausessen. Bloss eins muss ich Dir sagen: Ich habe den Mann geheiratet, den ich lieb hatte. Das merke Dir, damit Du nicht auf falsche Gedanken kommst. Gute Nacht!“

Ohne ihm die Hand zu reichen, war sie aus der Tür gegangen. Wie ein dummer Junge, der eben Prügel bekommen hat, stand Fedor da. Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen. Anstatt der armen Frau, die in der Not zu ihm gelaufen kam, Trost zuzusprechen, hatte er sie ausgescholten. Aber welches Recht hatte er, sich zwischen die Eheleute zu stecken?

Lange sass er auf dem Platze, wo eben noch die junge Frau gesessen hatte und starrte in die trübe Flamme der Lampe, die immer kleiner wurde und schliesslich zuckend verlosch. Ein übelriechender Qualm füllte die Stube. Fedor stand auf und stiess die vom Alter erblindete Fensterscheibe auf, Der Mond schien draussen so klar am wolkenlosen Himmel. Wenn er nun hinausging und sich das Wipfelende der dicken Eller holte, die er neulich im Bruch umgelegt hatte? Zwei, drei Holzkorken würde das Stück noch abgeben. Schnell warf er seinen langschössigen Wandrock ab und zog den kurzen Arbeitskittel an.

Langsam schritt er durch, die dunkeln Tannen dahin. Ohne zu wissen weshalb, war eine ruhige, zufriedene Stimmung über ihn gekommen, Wenn er zu der Stefka gesagt hätte: Lass den Lorbas fahren und komm zu mir. Ich kann Dich nicht am Sonntag mit dem Tafelwagen zur Kirche schicken, aber ich werde Dich auch nicht verprügeln. Wer weiss, was sie darauf entgegnet hätte.

Ein paar Schritte weiter ärgerte er sich schon über sich selbst, dass er solche Dummheiten dachte. Was wollte er denn? Dem Bauern sein Weib abspenstig machen? Ein zweites Mal würde die Stefka nicht zu ihm kommen. Am besten würde es sein, wenn er all den dummen Gedanken ein Ende machte und sich eine Frau nahm; er konnte doch nicht jahrelang mit dem alten Weibe wirtschaften. Aber wen? In Gedanken ging er alle die jungen Mädchen durch, die für ihn in Betracht kamen.

Da war die Lowise Kroll. Sie sollte sogar etwas Geld hinter sich haben. Aber das böse Maulwerk. Nein, das war nichts. Der würde er womöglich täglich das Leder auswalken müssen, um sie still zu bekommen.

Die Trine Ditjurjeit? Zu alt und zu hässlich! Die Marie Bobrowska? Hübsch, jung, flott, manierlich. Aber, aber — ohne dass er es wusste, hatte er diese leichte Person mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan.

Er war so in seine Gedanken vertieft, dass er ordentlich erschrak, als nicht weit von ihm ein Schuss fiel. Unmittelbar darauf fiel ein zweiter Schuss. Der erste klang hell und scharf, der zweite wie ein Böller aus einem alten Einspänner.

Als alter Soldat wusste Fedor ganz genau, was dieser Unterschied bedeuten konnte. Da war aller Wahrscheinlichkeit nach der Förster mit einem Wilddieb zusammengeraten, und der Wilddieb hatte den zweiten Schuss abgegeben. Vielleicht lag einer der Männer tot oder verwundet auf dem Rasen, und er konnte ihm noch Hilfe bringen. Oder vielleicht waren, die beiden Gegner handgreiflich aneinander geraten und rangen jetzt auf Tod und Leben in einsamer Waldesstille. Am besten wäre es unter allen Umständen schleunigst Kehrt zu machen und nach der anderen Seite davon zu eilen. Aber es bohrte in ihm, hinzugehen, wo der Schuss gefallen war; es konnten kaum fünfzig Schritte bis dahin sein. Am Rande der langen Wiese, die sich vom hohen Holz bis zum schwarzen Bruch hinzog, mussten die Schüsse gefallen sein.

Vorsichtig schlich er durch das dichte Unterholz der Wiese zu. Wie er den Kopf aus dem Dickicht steckte, sah er einen Mann über die vom Vollmond hell beschienene Wiese laufen. Kein Zweifel, das war der Samel, trotz seiner Verkleidung! Die hohe schlanke Figur mit den zu lang geratenen Beinen und den hohen Schultern, so sah kein anderer Mann im meilenweiten Umkreis aus. Noch ein paar Sätze, dann verschwand er drüben im Waldesdunkel.

Wahrscheinlich hatte der Samel den Schall der Tritte Fedors gehört und war vor diesem geflohen. Dann musste aber der andere irgendwo in der Nähe sein. Er bog sich noch etwas vor und wandte den Kopf seitwärts. Ein kalter Schauder kroch ihm über den Rücken. Da lag nicht dreissig Schritte von ihm ein Forstbeamter mit dem Gesicht auf dem Rasen. Die rechte Hand, die noch die Büchse umspannt hielt, war weit vorgestreckt. Sollte er davonlaufen oder zu dem Manne hingehen, der da auf der Wiese lag?

Einen Augenblick zögerte Fedor, dann trieb ihn das Grausen in die Flucht. Ehe er aber noch ein paar Schritte getan hatte, sprang ihm ein Hund gegen die Brust und verbiss sich in seinen Kittel. Bevor Fedor sich losreissen konnte, hatte eine starke Faust ihn im Genick gepackt. Ein lauter Ruf, und mit mächtigen Sätzen kam noch ein Forstbeamter durch das Unterholz gestürmt und blieb mit gespannter Flinte vor ihm stehen.

„Wer bist Du?“

„Ich bin der Fedor Adamek aus Mrosen, Herr Förster.“

„Wo hast Du Dein Gewehr?“

„Herr Förster, ich — ich habe ja gar keine Flinte. Ich habe ja gar nicht geschossen. — Der andere hat ja geschossen!“

„Na, dann hast Du eben zugetrieben. Wer ist der andere?“

„Herr Förster, ich weiss wirklich nicht.“

Ein scharfer Hieb mit einem fingerdicken Krückstock prasselte auf seinen Rücken nieder.

„Lüge nicht, Du Lorbas! Das musst Du wissen! Der andere hat an der Wiese vorgestanden und Du hast durchgedrückt.“

Ein zweiter Schlag fiel auf ihn nieder. Unwillkürlich ballte sich seine Faust, und seine Muskeln spannten sich. Er war ein grosser starker Mann, der zur Not mit den beiden Grünröcken fertig geworden wäre, wenn der eine von ihnen nicht mit gespannter Flinte vor ihm gestanden hätte. Und die liessen nicht mit sich spassen, das wusste er. Da war es wohl am besten, wenn er sich aufs Bitten verlegte.

„Herr Förster, Herr Wohltäter, entschuldigen Sie, wenn ich noch einmal sage: Ich weiss nicht, wer da geschossen hat. Aber schlagen Sie mich nicht, ich bin ja noch nie wilddieben gegangen; ich wollte blos das Wipfelchen von der Eller holen, die im Bruch liegt.“

„Lüge nicht, Du Hund!“

Ein dritter Schlag sauste auf ihn nieder, der den Kopf traf und ihm das Bewusstsein zu rauben drohte. Sollte er sich noch mehr prügeln lassen? Weshalb sollte er nicht sagen, was er gesehen hatte?

„Der Samel Korpis ist es gewesen. Ich sah ihn noch über die Wiese laufen; aber ich habe nichts mit ihm zu tun, ich bin ganz zufällig hier gegangen.“

Einer der Förster lachte laut auf: Haben wir das nicht schon lange gedacht, dass der Bauer sich mit der Flinte herumtreibt? Und der Vetter seiner Frau hilft ihm dabei. So, mein Junge, jetzt halt mal die Hände ein bischen ganz ruhig nach vorn, damit ich Dir die Hundeleine herumwickeln kann. Und Sie, Kollege, machen einen kleinen Trab nach Mrosen und holen sich den Herrn Korpis.“

Wie betrunken schwankte Fedor neben dem Förster her, der mit gespanntem Gewehr ihm zur Seite ging. Ihm schmerzte der Kopf so sehr, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Aber so viel merkte er doch, die Förster missten noch gar nicht, dass ihr Kamerad auf der Wiese erschossen lag.

Eine halbe Stunde später sass Adamek wohlverwahrt im Spritzenhaus des Dorfes. Lange ging er ruhelos auf und ab, dann warf er sich in eine Ecke und lehnte die schmerzende Stirn gegen die kalte Mauer.

Allmählich wurden ihm die Gedanken klarer. Den Samel hatte er als Täter angegeben. Konnte er das vor Gericht beschwören? Vielleicht lag der Samel ruhig zu Hause im Bette. Aber wer sollte es denn sonst gewesen sein? Solche Sachen sprechen sich doch unter den Leuten im Dorfe herum. Und er wusste keinen anderen, der ausser dem Samel Wilddieben ging.

Mit einem Male schrak er auf. Die Tür wurde aufgeschlossen. Sollte er solange geschlafen haben? Sollte es schon Morgen sein und der Förster ihn abholen kommen, um ihn zur Stadt zu bringen? Erwartungsvoll starrte er nach der Tür. Sie ging auf. Ein Mann wurde in den dunkeln Kaum hineingestossen. Hinter ihm rief der Förster mit höhnischer Stimme: ,So, Korpis, da finden Sie Gesellschaft, Ihren Zutreiber und Helfershelfer. Lasst Euch die Zeit nicht lang werden!“

Mit verhaltenem Atem sass Fedor in seiner Ecke und lauschte. In dem Raume war es so finster, dass man nicht die Hand vor den Augen sehen konnte. Nur eine schmale Ritze in der Tür schimmerte, wie ein verdämmernder grauer Streifen.

Zum erstenmal, so lange er sich entsinnen konnte, beschlich ihn die Angst. Nur wenige Schritte vor ihm stand sein Todfeind, den er durch seine Aussage dem Strafgericht überliefert, ein Mann, der eben erst eine Blutschuld auf sich geladen hatte. Und der hatte die Arme frei, während er gefesselt am Boden lag. Das Herz klopfte ihm so laut, dass er glaubte, der andere müsse es hören.

Wenn Samel sich jetzt auf ihn warf, dann konnte er sich nicht einmal wehren, höchstens um Hilfe schreien, und wer weiss, ob ihn jemand hören würde.

Eine fliegende Hitze lief ihm über den Körper; nach wenigen Augenblicken schüttelte ihn der Frost, dass ihm die Zähne klapperten. Er erhob die gefesselten Hände und streckte sie so weit vor sich aus, wie er konnte, um zu fühlen, wenn der andere sich auf ihn stürzte. Zwei, drei Minuten vergingen, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen.

Weshalb stand der andere regunslos? Hatte jener vielleicht ebensolche Angst wie er? Wusste Samel nicht, dass ihm, Fedor, die Hände gebunden waren? Ja, woher sollte Samel das wissen? Leise führte Fedor die Hände zum Munde und tastete mit den Zähnen und Lippen an dem Stricke herum, damit er den Knoten finde. Endlich, ganz unten fand er ihn; er hatte die Hände verrenken müssen, um heranzukommen.

Er biss an einer Stelle hinein und zog, aber die Zähne glitten ab und schlugen mit hörbarem Krach zusammen. Nun lauschte er wieder, mit angehaltenem Atem. Nichts rührte sich. Wieder biss er hinein und zog... Jetzt begann der Strick allmählich nachzugeben. Ein Ende löste sich, der Knoten begann sich zu lockern. Und nun hatte er die Hände frei! Mit einem tiefen Stöhnen, das wie das unterdrückte Knurren eines Raubtiers klang, reckte er die Arme aus.

Jetzt konnte der andere kommen, jetzt fürchtete er sich nicht mehr vor ihm. Mit den Armen würde er ihn zerdrücken wie einen Wollsack. Aber hatte Samel nicht sein Messer bei sich, einen Genickfänger mit Scheide, den er stets im Stiefelschaft zu tragen pflegte?

Fedor erhob sich langsam vom Boden und stellte sich mit dem Rücken an die Wand. Samel musste dicht bei ihm gestanden haben; denn ganz deutlich hörte er ihn ein paar Schritte tun. War jener vielleicht mit dem blanken Messer in der Hand auf ihn zugeschlichen?

Wieder kroch die Angst an ihm empor und schüttelte ihn, dass ihm die Zähne klapperten. Sein Kopf brannte und schmerzte, das war ja zum Verrücktwerden! „Samel!“

Keine Antwort.

„Samel!“

„Was willst Du?“

„Weshalb schleichen wir im Finstern umeinander herum wie zwei wilde Tiere, die sich zerreissen wollen? Lass uns lieber vernünftig reden.“

„Was haben wir miteinander zu reden? Morgen vor Gericht werde ich sprechen.“

„Ich glaube, Du wirst das Maul halten. Bloss eins musst Du sagen: Dass ich nie mit Dir wilddieben gegangen bin.“

„Was kann ich dafür, dass die Förster Dich gefangen haben? Weshalb kriechst Du nachts im Walde herum, wo Du nichts zu suchen hast! Aber ich weiss, was ich sagen werde. Du hast mich nur angegeben, weil Du einen Hass auf mich hast, dass ich die Stefka geheiratet habe. Du hetzt meine Frau gegen mich auf und erzählst ihr allerlei Märchen.“

„Bei Gott, Samel, das ist nicht wahr! Aber weshalb prügelst Du Deine Frau? Ich weiss es schon, sie war gestern Abend bei mir und hat es mir geklagt. Und ich dummer Esel habe sie noch angeschnauzt und nach Hause gejagt. Uebrigens, wo warst Du denn, dass Du nicht weisst, wo Deine Frau hingeht?“

Samel schwieg; er mochte im Augenblick nicht die rechte Antwort finden.

„Ich weiss, wo Du warst“, fuhr Fedor mit lauter Stimme fort. „Im Walde, bei der langen Wiese, am schwarzen Bruch.“

„Du träumst wohl! Zu Hause habe ich im Bette gelegen.“

Fedor lachte höhnisch auf. „Ich habe sehr scharfe Augen, und Deine langen Beine muss jeder wiedererkennen, der sie einmal gesehen hat“

„Du willst doch nicht etwa vor Gericht aussagen, dass Du mich heute nacht im Walde gesehen hast?“

„Gewiss werd' ich das tun! Und wenn Du der Wahrheit gemäss erzählst, dass wir beide verfeindet sind, dann muss der Richter mir glauben, dass ich nicht Dein Helfershelfer bin. Deshalb sieh zu, dass Du nicht in die Bredullge kommst. Das wird ein paar Jahre abgeben.“

„Wofür denn? Selbst wenn sie mich ungerecht verurteilen sollten, komme ich mit Geld weg, denn ich bin noch nicht bestraft”

Jetzt erschrak Fedor. Sollte der andere nicht wissen, was geschehen war? Womöglich war er es doch nicht gewesen? Unwillkürlich war er einen Schritt auf Samel zugeschritten und schrie ihn an: „Weisst Du nicht, dass der Förster Gruber tot auf der Wiese liegt?“

„Was sagst Du? Der Gruber tot! — O, mein Gott!“

Fedor hörte deutlich, wie dem Samel die Stimme zitterte. Er war es also doch gewesen.

„Ja, tot. Und der Schuss, der zweite, der kam aus Deinem alten Einspänner.“

„Sage das nicht noch einmal, sonst“ —

„Sonst? — Sonst? Du willst mir noch drohen, wo Du Dich eben verraten hast?“

„Ich habe mich verraten? Du bist wohl im Kopfe nicht ganz richtig? Das geht einem doch nahe, wenn man hört, dass ein Mensch erschossen worden ist.“

„Ja, und Dir muss es am meisten nahe gehen.“

Fedor war so aufgeregt und so wütend, dass er die Hand ausstreckte, um seinen Gegner zu packen; aber Samel musste schon vorher einen Schritt zurückgewichen sein. Jetzt hörte er ihn ganz ruhig sagen:

„Ich gehe Dir den guten Rat: Schwatze nicht solchen Unsinn! Wenn Du mich hineinlegst, dann sage ich aus, dass Du mir immer zugetrieben hast, nur heute nicht. Da bist Du allein im Walde gewesen. Also hast Du den Gruber erschossen!“

Das war zu viel. Mit einem heiseren Schrei stürzte Fedor auf die Stelle zu, wo der andere stehen musste. Er griff in die Luft und stiess mit dem Kopf gegen die Mauer. Samel war behende zur Seite gesprungen. Jetzt sagte er ganz vernehmlich neben ihm:

„Sei vernünftig, Fedor, ich habe das blanke Messer in der Hand; beim nächsten Mal stosse ich zu! Und nun lass Du mal ruhig mit Dir reden. Du kannst vor Gericht sagen, was Du willst, man wird Dir nicht glauben. Erzähle nur ruhig, dass ich heute meine Frau geschlagen habe. Um so besser, denn meine Frau wird schwören — hörst Du? — sie wird schwören, dass ich heute nacht zu Hause gewesen bin.“

„Du willst Deine Frau falsch schwören lassen?“

„Das ist ihre Sache, was sie für ihren Mann tut!“

Weiter kam er nicht. Im nächsten Augenblick hatte sich Fedor in einem Anfall sinnloser Wut auf ihn geworfen. Ehe Samel es sich versah, hatte Fedor ihn zu Boden gerissen. Mit einem Knie sass er ihm auf der Brust, mit dem anderen drückte er ihm den rechten Arm nieder. Mit der Hand brach er ihm die Faust auf, die das Messer hielt. Seine grosse starke Hand fuhr ihm an die Kehle, dass dem Samel der Atem verging, und dicht über seinem Gesicht brüllte Fedor: „Eher erwürge ich Dich mit meiner Hand, ehe ich zugebe, dass die Stefka falsch schwört!“

Es war die höchste Zeit, dass der Förster, der draussen am Spritzenhaus Wache hielt, auf den Tumult da drinnen aufmerksam wurde. Er kam gerade noch zur rechten Zeit, um Samel aus den Händen seines rasenden Gegners zu befreien.

Der Richter, der die Untersuchung führte, konnte aus der ganzen Sache nicht klug werden.

Der Tagelöhner Adamek, der in der betreffenden Nacht den Forstbeamten den Bauer Korpis als seinen Kumpan angegeben hatte, war durch keine Mittel zu bewegen, seine Aussagen zu wiederholen. Im Gegenteil, er behauptete, die Schläge, die er bekommen, hätten ihn den klaren Verstand geraubt und da habe er in seiner Angst den ersten besten Namen genannt. Dass er gerade auf den Samel Korpis verfallen war, sei auch erklärlich. Der Bauer hätte ihn schon vorher durch verschiedene Dinge gereizt, und an demselben Abend sei die Frau des Korpis, eine nahe Verwandte, bei ihm gewesen und habe ihm geklagt, dass ihr Mann sie geschlagen hätte. Den Menschen, von dem unzweifelhaft der tödliche Schuss abgegeben worden sei, habe er ein Stück über die Wiese laufen sehen. Das sei aber, wie er sich erinnere, wahrscheinlich ein Filippone gewesen, mit langem Kittel, Pumphosen und Kniestiefeln.

Auf diese Aussage gab der Richter nicht allzuviel. Wenn es auch bekannt war, dass die Filipponen, die russischen Flüchtlinge, die seit vielen Jahrzehnten in Masuren angesiedelt sind, als arge Wilddiebe meilenweite Streifzüge unternehmen, so wusste er doch aus seiner langen Praxis, dass die Masuren mit Vorliebe die charakteristische Tracht der Filipponen benutzen, um den Verdacht von sich abzulenken. Dagegen war es eine Tatsache, die nicht zu bezweifeln war, dass die beiden Verdächtigen in bitterer Feindschaft zusammenlebten. Es war also nicht anzunehmen, dass sie gemeinschaftlich miteinander gehandelt hatten.

Dem alten erfahrenen Mann fiel es natürlich auf, dass Adameks Aussage ganz darauf gerichtet war, den Korpis völlig zu entlasten. Die Förster hatten freilich die unbegreifliche Dummheit begangen, beide Angeklagte für eine Nacht im Spritzenhaus zusammen einzusperren. Dort konnte der reiche Bauer dem armen Tagelöhner ein grosses Stück Geld geboten haben, wenn dieser für ihn günstig aussagte. Dem stand aber wieder der Bericht des Försters gegenüber, der die beiden in einem erbitterten Ringen betroffen und sie mit grosser Mühe getrennt hatte. Dass es keine Spiegelfechterei gewesen war, hatte er selbst an den blauen Flecken, die der Bauer noch wochenlang am Halse trug, sehen können.

Und merkwürdig, beide Angeklagte hatten unabhängig voneinander ausgesagt, sie wären wegen der Frau des Korpis aneinander geraten. Es handelte sich augenscheinlich um ein Eifersuchtsdrama. Der reiche Bauer hatte dem armen Arbeiter die Geliebte abspenstig gemacht und sie geheiratet, und dann war er wohl auf den unterlegenen Nebenbuhler noch nachträglich eifersüchtig geworden. Er glaubte wahrscheinlich, dass seine Frau den anderen geliebt, ihn selbst aber des Geldes wegen genommen hätte.

In welchem Zusammenhang stand das aber mit der Wilddiebsgeschichte? Der Bauer bestritt ganz entschieden, dass er in der Nacht im Walde gewesen sei. Er habe sich so sehr über seine Frau geärgert, dass er sich schliesslich an ihr vergriffen hätte. Das hätte ihm sofort wieder leid getan; denn er habe seine Frau aus Liebe geheiratet. In seiner Aufregung sei er wie verzweifelt fortgerannt und habe sich eine Stunde oder auch zwei, so genau könne er das nicht sagen, auf dem Felde umhergetrieben. Als er wieder ruhiger geworden wäre, sei er wieder nach Hause gegangen, habe sich mit seiner Frau ausgesöhnt und sich dann zu Bette gelegt.

Auf die Frage, wie der Adamek dazu gekommen sei, ihn anzuzeigen, hatte er die Achseln gezuckt und geantwortet: Das wisse doch jeder im Dorfe, dass Adamek ihn mit seinem Hass verfolge und sogar seine Frau gegen ihn aufgehetzt habe.

Der alte Untersuchungsrichter konnte keinen Faden finden, an dem er sich aus dem Labyrinth heraustastete. Weshalb hielt denn der Adamek nicht an seiner ersten Aussage fest? Weshalb suchte er den Korpis zu entlasten? Dadurch verstärkte er ja nur den Verdacht, der auf ihm selbst lastete! Womöglich war er doch der Täter? Der erschossene Förster hatte ihm allerdings nie etwas zuleide getan, aber jener hatte augenscheinlich seinen Gegner beim Wildern überrascht und zuerst auf ihn einen Schuss abgegeben. Der Adamek war unmittelbar am Tatort ergriffen worden. Weshalb sollte er denn nicht der Täter sein?

Zwar hatte man an dem Tatort kein Gewehr gefunden, doch das war nicht von Belang. Adameks Kumpan, und ein solcher war unzweifelhaft vorhanden, hatte Zeit genug gehabt, in der Nacht den Tatort abzusuchen und das Korpusdelikti zu beseitigen. Der Samel Korpis konnte es nicht sein, denn den hatten die Förster noch in der Nacht festgenommen. Und wenn die Frau des Korpis beschwor, dass er in der fraglichen Nacht zu Hause gewesen war, dann konnte man ihm wirklich nichts anhaben, Fedor hatte in all den Tagen nur den einen Gedanken: Wird die Stefka schwören müssen und wie wird sie schwören? Was er nur tun konnte, um den Schwur überflüssig zu machen, hatte er getan, deshalb seine Aussage nach reiflicher Überlegung auch so eingerichtet, dass Samel völlig entlastet wurde. Für Adamek bestand kein Zweifel, dass Samel wirklich der Täter war; aber mochte dieser immerhin frei ausgehen, wenn nur Stefka nicht zu schwören brauchte. Wenn sie ein falsches Zeugnis ablegte, dann war er, ihr einziger Verwandter, auch mit daran schuld. Er hatte sie zurückgejagt zu ihrem Manne und ihr gesagt, sie müsse die Suppe, die sie sich eingebrockt, auch ausessen. Und wenn aus keinem anderen Grunde, so würde sie schon deswegen für ihren Mann eintreten, weil er, der Fedor, zuerst diesen angegeben hatte.

In fieberhafter Erregung wartete auch Samel auf den Tag der Verhandlung. Seine Frau musste ja für ihn aussagen. Er war kaum zwei Stunden von Hause weggewesen, und seine Frau hatte einen so ruhigen, festen Schlaf. Als er leise aufstand und die Kleider vom Stuhle nahm, da hatte sie so ruhig geatmet wie ein Mensch, der sanft schläft, und genau so hatte sie dagelegen, als er wiederkam. Als der Forstaufseher mit dem Gemeindevorsteher ihn aus dem Bette holte und verhaftete, da hatte sie laut aufgeschrien, wie sie hörte, dass Fedor ihren Mann angegeben hatte. Er hatte nur zu ihr gesagt: „Dein lieber Verwandter hat mich aus Rache angezeigt, Du weisst auch, warum.“

Nein, seine Frau würde ganz ruhig beschwören, dass er die Nacht nicht aus dem Hause gegangen war.

Der Tag der Verhandlung kam endlich heran. Auf der Geschworenenbank sassen fast nur bäuerliche Besitzer. Samels Verteidiger hatte von den Stadtherren so viele abgelehnt, als er nur irgend konnte. Der Staatsanwalt war sehr matt in seiner Anklage gegen Korpis und konnte nichts weiter als allgemeine Verdachtgründe vorbringen. Desto energischer wandte er sich gegen Fedor, den er schliesslich geradezu als den Täter bezeichnete.

Fedors Verteidiger war ein junger Referendar, der sich mit grossem Eifer für seinen Klienten ins Zeug legte. Vergeblich hatte er versucht, von Adamek einige Fingerzeige zu erhalten, die ihm einen Anhalt geben konnten. Schliesslich hatte er sich selbst die Sache zurechtgelegt, und in der Tat war er der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Er zweifelte nicht an der Richtigkeit von Fedors erster Aussage; er wusste nur nicht, aus welchem Gründe der unter schwerem Verdacht stehende Mann sich weigerte, seinen Feind und Nebenbuhler zu belasten. Die gewagte Kombination, die er zur Erklärung dieser Tatsache aufstellte, machte auf die Geschworenen keinen Eindruck.

Den Ausschlag aber gab das Zeugnis der Stefka.

Sie hatte schon, vor dem Untersuchungsrichter ausgesagt, dass ihr Mann in der fraglichen Nacht keinen Fuss aus dem Hause gesetzt hatte. Die Art, wie sie damals ihre Aussage abgab, hatte den alten Praktiker völlig überzeugt. Jetzt vor dem Gerichtshof war sie stark befangen und gab ihre Aussage nur stockend und mit leiser Stimme ab. Als sie zum Schwur aufgefordert wurde, wechselte sie die Farbe.

Fedor hatte es ganz genau gesehen, denn seine Augen hingen an ihr. Einen Moment hatte sie den Kopf zu ihm hingewendet, da hatten sich ihre Blicke getroffen. Etwas wie Hass oder Verachtung sprühte ihm aus ihren Blicken entgegen, und gleich darauf hatte sie die Hand gehoben und mit lauter Stimme den Schwur nachgesprochen.

Der Spruch der Geschworenen fiel so aus, wie es zu erwarten war. Samel wurde freigesprochen, Fedor zu drei Jahren Gefängnis verurteilt Er konnte zwar nicht ganz überführt werden, aber er war dringend verdächtig, die Tat selbst begangen zu haben. Auf jeden Fall hatte er Hilfe geleistet und sich die mildenden Umstände durch sein freches Leugnen verscherzt.

***

Es war ein stiller Herbsttag, als Fedor nach Verbüssung seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen wurde. Auf der Erde lag milder Sonnenschein; weisse Fäden segelten langsam mit dem Winde quer über den Weg. An den Bäumen hafteten noch die Blätter, aber sie waren gelb geworden und sassen nur ganz lose an ihren Stielen. Wenn ein stärkerer Luftzug wehte, fielen sie herab und flatterten im Zickzack zur Erde nieder, aus der sie entsprossen waren. Ab und zu stieg noch eine Lerche vom Acker empor und zwitscherte eilig ein kurzes Abschiedslied.

Ganz langsam schritt Fedor den Weg entlang. Ihm war so eigentümlich zumute, dass er wieder allein hingehen konnte, wohin er wollte. Er hatte es ja nicht schwer gehabt im roten Hause. Im Sommer hatte er mit zwanzig, dreissig Gefangenen Erde gekarrt, im Winter Netze gestrickt. Ab und zu hatte er auch erfahren, wie es zu Hause ging, wenn einer aus dem Dorfe kam, um das Winterholz abzusitzen, das er aus der Forst gestohlen hatte. In seinem Hause wirtschaftete die alte Mrotzkowa; die Stefka kam manchmal, nach ihr zu sehen. Sie sollte ja mit ihrem Manne ganz gut zusammen leben. Bald nach der Gerichtsverhandlung war ein kleiner Junge bei ihr angekommen. Seit einiger Zeit hatte er nichts weiter von ihr gehört; denn im Sommer wurden keine Arbeiter im Gefängnis eingezogen, bloss im Winter, wenn keine Arbeit war. Im Gehen dachte er darüber nach, was er jetzt anfangen wollte. An der Bahn würden sie ihn wahrscheinlich nicht mehr nehmen, dann ging er zu einem Bauern als Knecht oder als Losmann.

Jetzt lag das Dorf vor ihm. Vom Berge sah er weit darüber hinaus auf den weiten Spiegel des Selmentsees, der so ruhig dalag, als wäre er aus Blei gegossen. Das Herz wurde ihm schwer. Was sollte er noch hier? Die Kinder auf der Strasse würden ihm nachrufen, dass er drei Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Am besten war es, wenn er die Chalupp verkaufte und wegzog, dahin, wo ihn niemand kannte — bis nach Westfalen, wo man die Kohlen aus der Erde grub. Im Gefängnis hatte einer davon erzählt, der dort gewesen war.

Er bog von der Strasse ab und machte einen weiten Umweg durch das Feld, um unbemerkt zu seiner Chalupp zu gelangen. Schon von weitem sah er einen Leichenzug aus dem Dorfe kommen. Das musste ein reicher Bauer sein, der da bestattet wurde; denn vier schwarz behängte Pferde gingen vor dem Wagen, und das ganze Dorf folgte hinterher. Er hielt einen Jungen an, der mit dem Korb am Arm auf das Feld ging, um Kartoffeln zu buddeln.

„Wer wird da begraben?“

„Ach, sieh da, Fedor, das weisst Du nicht? Du kommst wohl gerade aus dem Gefängnis? Das ist der! Samel Korpis, den sie da hinaustragen, ein Förster hat ihn totgeschossen.“

Ganz mechanisch ging Fedor weiter; das Denken hatte bei ihm aufgehört. Quer über Feld ging er dem Leichenzug nach, über Furchen und Stoppeln und Saat. Ganz hinten, wo die armen Leute aus dem Dorfe beisammen waren, blieb er stehen. Die drängten und schoben einander, bis die Reihe auch an sie kam, an das Grab zu treten und dem Toten drei Hände voll Erde nachzuwerfen. Dann wurde es leer um ihn.

Kaum fünf Schritte stand Fedor vor dem offenen Grabe, in dem nun der Widersacher ruhte, und ihm gerade gegenüber die ganz in Schwarz gekleidete junge Witwe. Langsam gingen die anderen weg, als das Grab zugeschaufelt war; nur er blieb und drüben auf der andern Seite die Stefka. Dann kam sie um den Grabhügel herum auf ihn zu und reichte ihm die Hand.

„Es ist gut, dass Du gekommen bist, Fedor, ich habe mit Dir zu reden.“

Stumm gingen sie nebeneinander her bis zu Stefkas Hofe; da wollte er abbiegen, aber sie hielt ihn am Ärmel fest.

„Ich habe Dir doch schon gesagt, dass ich mit Dir zu reden habe.“

In der Stube sprang ihnen ein kleiner Junge entgegen.

„Vatchen! Vatchen!“

Von der Ofenbank stand die alte Frau auf, die den Jungen gewartet hatte.

„Komm Janek, komm, wir gehen auf den Hof, zu den Ferkelchen, die immer „kochutsch, kochutsch“ machen. Komm, Janek, komm.“

Jetzt waren sie beide allein in der Stube. Der grosse Spiegel war noch verhängt, die Uhr angehalten, die Bänke, auf denen der Sarg gestanden hatte, umgekehrt. Langsam legte die Frau die schwarze Haube mit dem langen Kreppschleier ab.

„Nimmst Du von mir zu essen und zu trinken an, Fedor?“

„Weshalb fragst Du? Weshalb sollte ich von Dir nicht Trocken und Nass annehmen?“

„Dann setze Dich hin und höre zu!“

Eine Weile ging sie langsam in der Stube auf und ab, dann blieb sie vor ihm stehen, sah ihn fest an und sagte:

„Ich habe damals falsch geschworen, Fedor, meinetwegen bist Du verurteilt worden. Lass mich ausreden! Ich war wütend auf Dich, dass Du meinen Mann angegeben hattest. Ich habe erst später erfahren, wie das gekommen ist. Aber wenn Du seinen Namen, nicht genannt hättest, so hätte ich nicht zu schworen brauchen.“

„Ich wusste nicht, was ich tat, der Forstaufseher hatte mich mit dem Krückstock auf den Kopf geschlagen.“

„Lass gut sein! Wenn Du nicht auf meinen Mann einen Groll gehabt hättest, wäre Dir sein Name nicht über die Lippen gekommen. Aber ich kann Dir das nicht verdenken, und Du hast dafür Strafe genug gehabt.

An demselben Tage, wie er aus der Untersuchung frei kam, hat mir der Samel auf den Knien geschworen, dass er nie wieder ein Gewehr anrühren würde. Am Sonntag fuhr er mit mir zur Kirche und nahm das Abendmahl darauf. Ein Jahr hat er sein Wort gehalten, vielleicht auch nicht, ich kann das ja nicht wissen. Dabei war er immer ganz vergnügt — ich nicht! Ich konnte die Nächte nicht schlafen. Du sassest unschuldig im roten Hause und mein Mann ging frei herum. Aber er hat mir immer gut zugeredet und gesagt, wenn Du loskämst, würde er Dich wie einen Bruder halten, und keinen Finger solltest Du mehr in kaltes Wasser stecken. Ich habe ihm das nicht geglaubt; ich wusste, dass Du ihn in der Nacht im Spritzenhaus gewürgt hast, und das kann kein Mensch vergessen. Nur weiss ich nicht warum. Sage mir, warum Du das getan hast?“

„Weil er sagte, Du würdest für ihn schwören, und ich wusste, dass es falsch war.”

„Weshalb hast Du denn vor Gericht anders ausgesagt?“

„Damit Du nicht zu schwören brauchtest.“

„Das hat Dir und mir nichts geholfen, Fedor. Du hast drei Jahre abgesessen und ich habe falsch geschworen — nicht für den anderen, nur für den kleinen Jungen, den ich unter dem Herzen trug. Der Vater sollte nicht im Gefängnis sitzen, wenn der Kleine zur Welt kam. Jeden Sonntag habe ich vor dem Altar auf den Knien gelegen und den lieben Gott gebeten, er möchte das Kind nicht entgelten lassen, was Vater und Mutter verbrochen haben. Aber Gott kann das nicht mit ansehen, dass Menschen falsch schwören oder einen anderen totschlagen und wie anständige Leute frei umhergehen, wenn ein Unschuldiger im Gefängnis sitzt.

Erst ist der Samel an die Reihe gekommen. Er ist wilddieben gegangen nach wie vor, bis das Mass voll war. Dann hat er die Kugel gekriegt mitten in die Stirn, mit der er gelogen hatte. Jetzt komme ich daran! Ich aber will freiwillig gehen.“

„Was willst Du tun?“

„Was ich tun muss, Fedor. Rede, mir nicht darein; es ist hohe Zeit, dass ich mein Kreuz auf mich nehme. Vielleicht wird der liebe Gott dann ein Einsehen haben und an meinem kleinen Jungen nicht die Sünden der Eltern strafen. Rede mir nicht ab, Fedor; das hilft nichts mehr. Ich wäre heute doch gegangen, auch wenn Du nicht gekommen wärst. Aber ich bin froh, dass Du gekommen bist. Du sollst hier wirtschaften und meinem kleinen Jungen Vater und Mutter sein.“

Sie musste einen Augenblick mit Sprechen innehalten, denn die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Erst nach einer Weile fuhr sie fort:

„Denke, dass das Dein Junge hätte sein können, wenn Du nicht so dumm gewesen wärst, so lange zu warten, bis der andere kam. Ich bin ja dem Samel wirklich gut gewesen, sonst hätte ich ihn nicht genommen, das kannst Du mir glauben, Fedor. Ich habe noch niemals die Unwahrheit gesagt, bis auf das eine Mal vor Gericht.“

Sie wischte sich die Tranen ab und reichte ihm die Hand. „Lebe wohl, Fedor, und halte mir den Jungen gut; der liebe Gott wird es Dir lohnen.“

Sie wandte sich schnell ab und ging zu dem Fenster, das noch offen stand. Mit fester, lauter Stimme rief sie hinaus: „Trine! Jette! Adam! Gottlieb! Kommt mal alle her in die Stube!“

Die Gerufenen standen nach wenigen Augenblicken an der Tür.

„Hier, der Fedor Adamek, mein Vetter, wird den Hof verwalten, solange ich fort bin. Ich gehe heute weg und komme sobald nicht wieder. Er hat Euch zu befehlen und Ihr habt ihm zu gehorchen, bis ich wiederkomme. Und Du, Gottlieb, spann den Wagen an, denn Du sollst mich nach der Stadt fahren, sonst wird es zu spät, bis ich hinkomme.“

Durch die offene Tür war das alte Weib mit dem kleinen Jungen hereingekommen. Stefka hatte ihn schweigend auf den Schoss genommen, ihn an sich gedrückt und ihr Gesicht auf seinen Flachskopf gelegt. Aus den geschlossenen Augen perlten ihr die Tränen.

Jetzt klapperte der Wagen vor der Tür. Sie stand auf, setzte den Jungen dem Fedor auf den Schoss, warf den Mantel um und ging hinaus.

Die geheime Revision.

Pan Warda, der Dorfschulze von Seliggen, hatte sich am Sonntagmorgen ziemlich spät von seinem Lager erhoben. Mürrisch sass er an dem weissgescheuerten Eichentisch und strich gedankenvoll die langen grauen Haare aus dem Nacken über den schmerzenden Schädel. Vergeblich suchte er sich darauf zu besinnen, wie er heute früh nach Hause gekommen war. Sie hatten aber auch zu viel von dem Honigschnaps getrunken und ganz gegen Morgen hatte noch der verrückte Kerl, der Grinda, Rotwein bestellt... Er schüttelte sich, als diese Erinnerung in ihm aufstieg, teils, weil er noch den schauderhaften Geschmack dieses Getränks verspürte, das Duda, der Krugwirt, seinen Gästen zu vorgerückter Stunde als „Rotspohn“ vorzusetzen liebte, teils weil eine unbestimmte Ahnung ihm sagte, dass sein Name mit fünf oder sechs Kreidestrichen dahinter auf der grossen schwarzen Wandtafel bei Duda verzeichnet sein könnte. Und jedes Weib, jedes Kind, das für ein „Dittchen“ Salz holte, ersah auf den ersten Blick, dass der Herr Gemeindevorsteher beim Krugwirt in der Kreide sass... Ein verdammter Kerl, der Duda. Das tat er doch nur, damit die Frauen es sofort am nächsten Morgen erfuhren, was ihre Männer schuldig geblieben waren.

Argwöhnisch sah Pan Warda zu der rundlichen Frau hinüber, die am Herde stand und sich tun ihn gar nicht zu kümmern schien. Unter anderen Umständen hätte er schon längst mit einem kräftigen Donnerwetter seine Frühstückssuppe verlangt, heute tat er wohl besser daran, in Ruhe den Verlauf der Dinge abzuwarten. So sah er denn ganz geduldig zu, wie seine bessere Hälfte die für ihn bestimmte Schüssel am Herde stehen liess und sich zwei kleinen. Ferkeln widmete, denen wegen einer Verdauungskrankheit einige Tage Stubenpflege verordnet sein mochten. Endlich kam auch an ihn die Reihe. Aber aus der Art und Weise, wie seine Ehehälfte ihm die Schüssel voll saurem Kumst mit Stint vor die Nase stellte, ersah er deutlich, dass am häuslichen Himmel ein Gewitter stand. Die Schüssel mit Sauerkohl war schon der Vorbote. Sonst gabs doch an Sonn- und Festtagen für ihn, den Hausherrn, einen Topf Kaffee mit Kartoffelflinsen... heute sollte er mit dem Essen der Leute vorlieb nehmen; zur Strafe natürlich. Das beste war, wie er aus langjähriger Erfahrung wusste, wenn er sich nichts merken liess und keinen Widerspruch wagte. Dann rauschte das Gewitter schnell vorüber.

Aber dazu sollte es heute nicht kommen. Denn kaum hatte Frau Warda die einleitende Frage getan, ob er bei Duda etwas schuldig geblieben wäre, als die Haustür ging. Gleich darauf hörte man, wie jemand auf den Steinfliesen des Flurs den Schnee von den Stiefeln scharrte. Mit einem Griff nahm Frau Warda ihrem Mann die Schüssel weg und verschwand damit in der Kammer. Wenn er auch nichts Besseres verdient hatte, ein Fremder sollte doch nicht sehen, dass der Schulz von Seliggen am Sonntage sauren Kumst mit Stint ass. Im Abgehen hörte sie noch, wie der Besucher an die Tür klopfte — das tat niemand aus dem Dorfe. Und da Frau Warda noch von ihrer Dienstzeit her wusste, was feine Lebensart war, so blieb sie einen Augenblick stehen und rief kräftig auf deutsch: „Herrein!“

Die Tür ging auf, ein fremder Mann, städtisch gekleidet, trat herein, hing seinen schwarzen Hut an den Hagel im Balken, an dem die geschlachteten Schweine aufgehängt werden, und bot mit masurischem Gruss dem Bauern die Hand. Pan Warda kannte den Gast nicht, erinnerte sich nur dunkel, ihn mal in der Stadt gesehen zu haben. Vielleicht hatte er ihn dabei zu einem Besuch eingeladen. Solche Dinge vergisst man manchmal hinterher... Aber wer wird überhaupt einen Gast fragen, wie er heisst und was er will. Zuerst gibt man ihm zu essen und zu trinken, gut und reichlich. Dabei ergibt sich alles andere von selbst...

Pan Warda war ein höflicher Mann. Er schlug mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Heda! Frau, wo steckst Du? Hast Du nicht gesehen, dass ein Herr aus der Stadt zu Besuch gekommen ist? Entschuldigen Sie, Herr Wohltäter, dass es so lange dauert Sie wissen doch: die Frauen! Sie können hundert Jahre alt sein, wenn ein fremder Mann ins Haus kommt, müssen sie sich putzen. Na, und meine erst recht. Sie ist ja auch noch jung, Herr Wohltäter; es ist meine zweite Frau, müssen Sie wissen.“

Ein reichliches Frühstück wurde aufgetragen. Der Gast ass langsam aber gründlich. Er lobte die Wurst, die Sülze, den Käse, den Schinken, die Eier und den kräftigen Waldmeister. Aber von dem Zweck seines Besuches hatte er noch nicht gesprochen. Das tat er erst, als das Essen abgetragen war.

„Pan Warda“, fing er an, „Sie sind in Ehren grau geworden. Sie haben noch nie gesessen, nicht einmal wegen Holz oder Fischen. Darum komme ich als Freund zu Ihnen, um Sie zu warnen.“

Die Frau, die unbemerkt hinzugetreten war, kreischte auf. „Was hast Du bloss angestellt, Du alter Sünder. Gewiss bist Du wieder nicht bei Verstand gewesen. Ach, Herr Wohltäter, sonst ist er nicht schlecht, bloss wenn er zuviel getrunken hat…“

„Beruhigen Sie sich, Frau Warda! So schlimm ist es nicht! Ich bin ja hergekommen, um zu helfen. Nun hören Sie zu: In der Stadt wird gesprochen, dass die Gemeindekasse hier in Selligen nicht in Ordnung sein soll. Und gestern ist auf dem Landratsamt ein Schreiben eingelaufen, ohne Unterschrift natürlich, da steht dasselbe drin! In zwei, drei Tagen ist der Landrat hier...“

Frau Warda fing wieder an zu jammern. „Siehst Du, Warda, was hast Du davon, dass Du auch die Kasse führst, weil der Kerl der Weltkus, nicht lesen und schreiben kann. O, mein Gott, Herr Wohltäter, helfen Sie, raten Sie doch, was soll mein Alter tun. Nein, diese Schande...“

Es war ein grosses Glück, dass der fremde Herr zu Besuch gekommen war. Er sass am Tisch, hatte die Bücher vor sich ausgebreitet und rechnete und rechnete. Pan Warda sass mit sorgenvoller Miene daneben, füllte ihm das Glas mit Waldmeister, sowie es ausgetrunken war, wobei er sich selbst nicht vergass, und reichte ihm ab und zu eine Zigarre. Es war die beste Sorte, die Duda sonst nur hervorholte, wenn der Herr Amtsvorsteher oder feine Herren aus der Stadt hei ihm einkehrten. Zum Mittag machte der Mann im Rechnen eine Pause, aber nur so lange, bis er so ziemlich die Hälfte des gebackenen Schinkens und drei Töpfe Bier vertilgt hatte. Endlich um die Vesperzeit legte er die Feder weg.

„Die Quittungen sind ziemlich vollzählig, aber es fehlen dreissig Mark an der Kasse. Das wird sehr schlimm werden, lieber Pan Warda, sehr schlimm. Vielleicht suchen Sie noch einmal in Ihren Papieren nach.“

Im Dorfe herrschte schon seit Mittag grosse Aufregung. Auf ganz unerklärliche Weise war das Gerücht entstanden, dass ein Herr vom Gericht beim Schulzen die Bücher revidiere. Die Hausväter sammelten sich im Dorfkrug, wo gerade das junge Volk den Sonntag durch ein Tänzchen feiern wollte. Wie ein Lauffeuer flog es von Mund zu Munde, dass der alte Warda die ganze Gemeindekasse bei Seite gebracht hätte. Im Herrenstübchen sassen die angesehenen Mitglieder der Gemeinde, die Hufner und Halbufner. Von ihren Pfeifen und Glimmstengeln stieg der Rauch in dichten Wolken zur Decke auf; gesprochen wurde nicht viel, das Bier wollte nach der Anstrengung der letzten Nacht noch nicht recht munden. Und in der Hauptsache war man sich ja einig. Es würde sicherlich nicht nur Unterschlagung, sondern auch Urkundenfälschung vorliegen. Also, Zuchthaus! Wer hätte das dem alten Mann mit seinen grauen Haaren zugetraut! Und wozu konnte er bloss das Geld gebraucht haben? Er war doch wohlhabend und brauchte sich nicht an fremdem Geld vergreifen.

„Das will ich Euch sagen“, fiel der alte Grinda ein, „er braucht `n bischen viel. Wenn er in die Stadt zum Markt fährt und er hat einen unter der Mütze sitzen, dann lässt er sich mit den Herren ein, traktiert sie mit Bier und Wein und Zigarren. Vielleicht ist er auch unter die Brüder geraten, die sich Abends mit „Rechtslinks“, „meine Tante — Deine Tante“ die Zeit vertreiben.“

Der lange Scech hatte dem Sprecher mit finsterer Miene zugehört. Jetzt schlug er mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser tanzten.

„Du solltest Dich schämen, Grinda, über meiner Mutter Bruder so schlecht zu sprechen. Er hats doch dazu, fremde Menschen zu traktieren. Erst heute Nacht habt Ihr ihm ja sechs Buddeln von dem roten Essig ausgelockt, dass er noch jetzt an der Tafel steht. Und „meine Tante — Deine Tante“ spielt er nicht, aber Du, Grinda! Von Dir weiss ichs, denn ich habs gesehen. Und dann hört auf mit dem dummen Geschwätz. Ich gehe zu Warda und werde sehen, was an der ganzen Sache wahr ist.“

Als Scech bei seinem Onkel eintrat, fand er zwei sehr vergnügte Menschen. Pan Warda hatte seine Pelzmütze unternehmend auf ein Ohr gesetzt und war eben im Begriff, sich aus Honig und Spiritus sein Lieblingsgetränk zu bereiten. Die Tante erholte sich bei einer Kanne Kaffee und dem nötigen Kuchen dazu von der Aufregung der vergangenen Stunden. Sein Neffe machte ein verdutztes Gesicht. „Onkel, wie stehts?“

„Gut, mein Jungchen, gut! Komm, trink einen Schluck! Alles in Ordnung.“

„Na, wie? Sagt doch, erzählt doch!“

„Was ist da zu erzählen? Erst kriegt ich einen grossen Schreck wie er rechnet und rechnet und mit einem Mal sagt: „Pan Warda, es fehlen dreissig Mark.“

„Die hättst Du doch einfach aus Deiner Tasche zulegen sollen.“

„Sag' das nicht, mein Jungchen, das Geld muss mit den Büchern stimmen und das stimmte nicht. Da hab ich in meinem Spind noch einmal gesucht und noch eine Quittung von vierzig Mark gefunden. Nun war's noch schlimmer.“

„Und wie wurde es?“

Der Alte machte mit einem verschmitzten Lächeln die Bewegung mit der Hand nach der Tasche und flüsterte ihm zu: „Er hats genommen! Alles in Ordnung. Und nun komm nach dem Krug, dass ich meinen Namen von der Tafel wischen lasse.“

Unterwegs fragte Scech seinen Onkel, wer das eigentlich gewesen wäre.

Pan Warda blieb stehen und sah seinen Neffen erstaunt an. „Aber Liba, wie soll ich das wissen, es war doch eine geheime Revision der Kasse!“

„Onkel, Onkel, das ist aber komisch! Das kann ein Betrüger gewesen sein.“

„Ein Betrüger, Jungchen? Wie sollt der Mann wissen, dass in der Kasse zehn Mark zu viel sind? Und wenn schon! Dann hat er genug gerechnet für zehn Mark!“

Zu spät.

Wieder einmal nach Jahresfrist war ich dort hinten an der russischen Grenze im Littauischen bei einem Jugendfreund, dem Förster Hahn, eingekehrt. Den Tag über hatten wir uns müde gelaufen in dem herrlichen Eichen- und Buchenwald, der nur an einzelnen Stellen von dichten Tannenschonungen unterbrochen wird. —

Auf den vielen Wiesen, die das Revier durchziehen, standen vertraut äsend die Rehe, und manch ein Kapitalbock darunter mit starkem Gehörn. An einer weiten, mit viel Strauch bestandener Wiese hatten wir uns gegen Abend angestellt, um die Birkhähne zu verhören, die am nächsten Morgen uns beim Balzen zur Beute fallen sollten. Da war vor mir ein stolzer Hirsch auf die Wiese getreten, so ein Herumtreiber, der im Sommer von der Johannisburger Haide bis nach Rominten und darüber hinaus bis in die russischen Wälder hinein wechselt.

Jetzt sassen wir in der von wildem Wein umrankten Laube des Gartens. Dicht vor uns stand der Wald, schweigsam, von mildem Mondlicht umflutet. Um die Lampe flatterten allerlei Käfer, und sonderbar geformte Insekten stiessen mit den Köpfen an das leuchtende Glas, bis sie von der Hitze versengt zu Boden fielen.

Die Nacht war still, aber etwas kühl. Um so besser mundete uns der ostpreussische Maitrank, den wir nach dem alten Rezept verfertigten: „Rum muss drin sein, Zucker kann drin sein, Wasser ist nicht absolut notwendig“.

Wir hatten uns viel von vergangenen Zeiten erzählt, von dem alten Forsthause in der masurischen Haide, in dem mein Freund als Hilfsaufseher des Vaters Jahre lang gehaust und mit der heranwachsenden Generation Freundschaft geschlossen hatte.

Bald der eine, bald der andere hatte angefangen: „Weisst Du noch, wie wir damals…“ Und hatte dann eine lange Geschichte erzählt, die jeder von uns beiden so genau kannte, dass er sie fast mit denselben Worten erzählen konnte.

Jetzt schwiegen wir beide, warteten auf die Kanne mit heissem Wasser, die wir trotz des alten Spruches zur Bereitung unseres Maitranks brauchten. Endlich kam sie, die gute Frau Schettler, die meinem Freunde schon lange die Wirtschaft führte, schenkte uns die Gläser voll und verliess uns mit der tröstlichen Versicherung, dass noch ein ganzer Kessel heissen Wassers auf dem Herde stehe.

Nachdenklich hatten wir Rum und Zucker verrührt, still mit den Gläsern angestossen und uns zugenickt.

„Sag' mal, Viktor“, begann ich jetzt, „weshalb heiratest Du nicht? In ein rechschaffenes Forsthaus, dessen Inhaber ein Hahn ist, gehört eine Henne und Küchlein.“

Der Grünrock zuckte die Schulter und schwieg.

Hartnäckig fuhr ich fort:

„Du bist ein flotter, forscher Mann. Du kannst ohne Furcht vor einem Korbe überall ansprechen.“

„Das könnte ich wohl“, meinte er ruhig, „aber ich will nicht.“

Dann beugte er sich nach vom und nahm das Glas zwischen seine starken braunen Hände.

„Ich habe `mal was erlebt, was meine landläufigen Ansichten, über Liebe und Ehe stark geändert hat, und seitdem bin ich noch keinem Weibe begegnet, das auch nur im entferntesten dem Mädel gleicht, an das ich erst nach seinem frühen Tode zu denken angefangen habe. Wenn Du versprichst, mich nicht zu oft zu unterbrechen, will ich Dir die Geschichte erzählen.“

Er lehnte sich zurück und sah den blauen Rauchwolken nach, die langsam verschwebten.

„Es war in demselben Frühjahr, in dem Du als junger Student in die Welt zogst, ein hässliches Frühjahr — bis nach Johanni kalt und viel Regen. Endlich fiel warmes Wetter ein. Am nächsten Tage im Morgengrauen brach ich auf nach den Neuendorfer Wiesen. Die Pfuhlschnepfe musste da sein und ich wollte Deinem Vater mit einem paar Dutzend überraschen. Du weisst, Dein Alterchen ass die kleinen fetten Dinger zu gern. Die alte Diana war natürlich mit von der Partie. Eine Stunde nach Sonnenaufgang war ich am. Sandberg, bei Jagen 18, da, wo Du bei der Treibjagd die scheine Doublette auf Fuchs und Hase machtest.“

Ich nickte bloss vergnügt, als er die Erinnerung auffrischte.

„Weisst Du“, fuhr er fort, „hier fehlen mir doch die weitgestreckten Torfwiesen. Man fand dort so manchen. Vogel, den man hier nicht zu Gesicht bekommt. Und dann der weite Blick von den hohen Sandbergen über die unendliche Ebene, bis weit nach Russland hinein, wo den Horizont der dunkle Saum des Waldes abschliesst —“

Er mischte sich erst ein frisches Glas, ehe er wieder begann:

„Dort unten am Sandberg, wo der Weg auf der anderen Seite die kleine Anhöhe hinauf führt, habe ich sie zum ersten Male getroffen, die Meine Anka, ein kleines schwächliches Mädchen mit guten blauen Augen und einem Strudelkopf voll blonder Locken. Sie sass neben einer Karre, die mit Ästen hoch bepackt war und weinte herzbrechend. Angst vor mir konnte es nicht sein, denn sie hatte mich noch nicht bemerkt. Erst als ich vor ihr stand, fuhr sie auf und fing mit Jammern und Heulen an zu bitten, ich möchte sie doch nicht aufschreiben. Es kostete mir einige Mühe, ihr begreiflich zu machen, dass ich sie der paar trocknen Äste wegen, die sie aufgelesen hatte, nicht anzeigen würde. Im Weggehen fragte ich sie noch, weshalb sie schon vorher so geweint hätte? Denk Dir, das arme Wesen musste alle Morgen eine solche Karre voll Holz aus der Forst holen für den Eigenkätner Lazarcyk.“

Für den pockennarbigen kleinen Kerl, den wir —?“

„Ja, für denselben, den wir beide an der Regler Grenze beim Wildem abgefasst haben. Der rohe Patron schlug das arme Ding, wenn es nach seiner Ansicht nicht schnell genug aus dem Walde zurückkam. An dem Tage hatte die Kleine, wie sie mir unter Tränen erzählte, sich ein wenig ausgeruht, dann wollte sie das Holz zur Hälfte abladen, die Karre über den Berg schieben und das übrige Holz allmählich in den Armen nachholen. Der Mühe konnte ich sie überheben. Ich beteiligte mich als königlicher Hilfsaufseher an dem Holzdiebstahl und schob ihr die Karre den Berg hinauf. Nach masurischer Sitte griff sie nach meiner Hand, um sie zu küssen, erwischte aber nur meinen Rockzipfel, an dem sie ihre Dankbarkeit auslassen konnte. Im Abgehen rief ich ihr noch zu, sie möge dem Lazarczyk sagen, dass ich sie getroffen, aufgeschrieben und am nächsten Tage weder abfassen würde.

Ich war noch nicht 100 Schritte weit gegangen, als ich hinter mir lautes Schelten und heftiges Wehklagen vernahm. Natürlich machte ich sofort Kehrt. Von weitem schon hörte ich Herrn Lazarczyk wettern und schimpfen. Er hatte augenscheinlich die Kleine eben erst geschlagen und machte ihr nun fortwährend den schimpflichen Vorwurf, es habe nur an ihrer Dummheit gelegen, dass ich sie aufgeschrieben hätte. — Das ging mir doch wider den Strich. Ich fasste den Kerl, ehe er sichs versah, etwas unsanft im Genick und drehte ihn um. Dann schickte ich erst das Mädel nach Hause. Herr Lazarczyk war im ersten Augenblick etwas perplex, aber bald gewann er seine Sprache wieder und fragte mich ganz patzig, wie ich dazu komme, ihn anzufassen.

Nicht wahr, ich bin doch ein ruhiger, gutmütiger Mensch und habe noch keinen geschlagen. Aber da zuckte es mir doch im Arm, und weil ich ihn so gut im Griffe hatte, habe ich ihn ein bisschen abgeschlackert. Weiter nichts, aber es genügte für den Anfang. Herr Lazarczyk nahm seine Mütze, die ihm bei der Prozedur zu Boden gefallen war, auf, hob die Karre und wollte sich stumm davon machen.

Damit war ich aber gar nicht einverstanden, denn die ekelhaften Vorwürfe, die er dem Kinde gemacht, hatten mich zu sehr in Harnisch gebracht. Und dass er das Mädel zu Hause noch misshandeln würde, wenn ich nicht einen Riegel vorschob, war auch sicher. Ich nötigte ihn also höflich, noch ein wenig zu warten, was er auch mit grossem Widerstreben tat. Als ich dann das Notizbuch hervorzog und seine Nationale aufnehmen wollte, wurde er nochmals widerborstig. Ganz frech meinte er, ich hätte seinen Vor- und Zunamen doch schon im Buch stehen. Es hat mich viel Mühe gekostet mich zu bezwingen, dass ich nicht die Flinte auf die Karre legte und ihm das Leder durchwackelte. Von meinem seligen Vater habe ich aber ein gutes Mittel gegen den aufsteigenden Zorn; man zählt ganz langsam bis zehn, ehe man antwortet oder zur Tat schreitet.“

Ich lachte laut auf.

„Ja, lache Du nur, aber das Mittel ist probat, es half mir auch damals. Ich steckte mein Buch ein und teilte Herrn Lazarczyk ruhig mit, ich würde ihn anzeigen, weil er das Mädel fortgesetzt zu Holzdiebstählen gezwungen hätte. Er erwiderte höhnisch, die Kleine würde vor Gericht das Gegenteil beschwören.“

Noch einmal musste ich bis zehn zählen, aber dann hatte ich auch meine ganze Ruhe wieder.

„Mir solls recht sein, Herr Lazarczyk“, gab ich zur Antwort, „die Aussage, die das Mädchen heute vor mir getan hat, werde ich vor Gericht beschwören und falls noch Zeugen in der Sache erforderlich sind, werden sie wohl auch zu beschaffen sein.“

Er zuckte die Schultern und hob die Karre an. Ich fuhr ganz ruhig fort:

„Wollen Sie mich nicht noch ein bischen anhören, Herr Lazarczyk? Sie werden wohl in diesem Jahre auf den Gestellen und in den Schonungen wieder Streu machen wollen; davon schreibt Paulus nichts an die Epheser. Und mit dem Holzrücken zum Winter wird wohl auch nichts werden; Holz- und Wilddiebe sollen grundsätzlich von der königlichen Forst ferngehalten werden. Deshalb werde ich auch darauf dringen, dass Sie keinen Torfstich mehr bekommen, damit Ihnen überhaupt jeder Vorwand genommen wird, sich in der Forst aufzuhalten.

Das war das eine, was ich Ihnen sagen wollte. Nun möchte ich Ihnen noch dringend empfehlen, die kleine Anka nicht mehr zu schlagen. Ich erfahre es früher oder später doch und dann möchte unsere nächste Begegnung nicht so friedlich verlaufen.“

Herr Lazarczyk hatte schon bei den ersten Worten seine energische Haltung völlig verloren und mit zerknirschter Miene die Mütze gezogen. Jetzt machte er ein demütiges Gesicht und kroch förmlich in sich zusammen.

„Herr Förster, Sie werden einen armen Eigenkätner nicht so hart strafen und wegen der paar Ästchen mich nicht anzeigen. Und wenn der Herr Förster wünschen, dann soll die Margell bei mir gehalten werden wie ein Kind im Hause. Sie werden mich nicht anzeigen, Herr Förster.“

Mein Zorn war verflogen. „Das hängt davon ab, wie Sie das Mädchen behandeln.“

Es war eine ausgewachsene Dummheit von mir, lieber Freund, dass ich ihm das noch sagte. Denn der Kerl plinkerte mir daraufhin vertraulich zu und versicherte mir in unverschämt vertraulichem Ton, er würde das Mädel morgen und alle Tage, wie ich wollte, in die Forst schicken, ob sie gar nichts oder wenig nach Hause brächte, wäre in dem Fall ganz egal.

„Weisst Du, lieber Freund“, fuhr er nach einer langen Pause, in der er seine Erregung bemeistert hatte, fort, „es erscheint mir noch heute wie ein Wunder, dass der Kerl nach diesem Wort ungeschoren davonkam. Aber die ersten drei oder vier Pfuhlschnepfen, die Diana mir `rausbrachte, habe ich glattweg vorbeigeschossen in meiner Wut. Solch eine Nichtswürdigkeit von diesem Kerl.“

Ich musste lächeln. „Lieber Freund, die Nichtswürdigkeit lag nur darin, dass Herr Lazarczyk bei Dir eine Art von Bestechungsversuch machte. Dass Du über das Mittel empört sein konntest, hat er gar nicht verstanden.“

„Kann sein, in der Beziehung herrschen ja dort noch ganz vorsündflutliche Anschauungen. Aber nun lass mich weiter erzählen.

Ich hatte gute Jagd gemacht an dem Tage. Von den Pfuhlschnepfen hatte ich rund drei Dutzend an der Tasche hängen, und ganz zuletzt hatte Diana noch in einem dicht verwachsenen Torfloch eine Koppel junger Enten gefunden, von denen ich nur sieben Stück schiessen konnte, weil mir die Patronen ausgegangen waren. Deine Mutter machte ein vergnügtes Gesicht, als ich nach Hause kam und die Beute ablieferte. Da fuhr mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich wusste, dass sie zu Martini ein kleines Küchenpussel mieten wollte. Ich erzählte ihr also die Geschichte mit dem Lazarczyk und bat sie geradezu, die Kleine zu mieten. Deine Mutter sah mich dabei mit ihren freundlichen Augen so eigentümlich an, dass ich bis über die Ohren rot wurde.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, aber mir war die Sache sehr peinlich, dass ich schon am nächsten Morgen Deine Mutter bat, sie möge das Mädel nicht mieten, denn Lazarczyk könnte mir üble Nachrede schaffen, und dazu wollte ich ihm absolut keinen Anlass geben.

Ich war über mich selbst ärgerlich. In meiner Gutmütigkeit hatte ich mich des Mädels angenommen und war schon auf zwei Stellen in den Verdacht unlauterer Absichten geraten. Es war mir ordentlich unangenehm, als Deine Mutter mir nach einiger Zeit mitteilte, sie hätte die Anka gemietet.

Im Herbst wurde ich für einige Monate nach der Oberförsterei Pfeilswalde kommandiert, um den Kollegen Fuchs zu vertreten, den die Filipponen arg zugerichtet hatten.“

„Hast Du die Bande auch kennen gelernt“, warf ich ein.

„Na ob, die Regierung hat uns Forstbeamten mit der Ansiedelung der Russen mitten in der königlichen Forst eine schöne Zuchtrute angebunden. Mein Glück war es, dass ich gleich in den ersten acht Tagen den schlimmsten von den Kerlen, den baumlangen Ulas Mikifer, beim Wildern griff und hinter Schloss und Riegel brachte.“

Ich sah ihn fragend an. „Die Geschichte habe ich Dir schon erzählt. Ich war unmittelbar, nachdem er auf den Hirsch geschossen, bei ihm. — Er hatte seine einläufige Büchse noch nicht weder laden können, weil das Patronenlager verrostet war.“

„Aha, ich besinne mich!“

„Ich war froh, als ich nach drei Monaten, kurz vor Weihnachten, in Dein liebes Elternhaus zurückkehrte. Die Anka war schon seit Martini da. Aber was hatten die wenigen Wochen aus dem verkümmerten Schmalreh gemacht! Das Mädel war aufgeblüht wie eine Rose in guter Pflege, und im Laufe des Winters wurde aus dem unscheinbaren Ding ein dralles Mädel, das bei den jungen Burschen des Dorfes viel Beifall fand.

Vor mir war Anka sicher. Du kannst es mir aufs Wort glauben — ich bin ihr nie, weder mit einem Wort noch mit einer Miene zu nahe getreten. Dafür sorgte Deine Mutter durch kleine Neckereien, die ihren Zweck nicht verfehlten. Und ausserdem — ich kann es Dir ja sagen, hatte ich damals ein ganz ernsthaftes Verhältnis mit einem Mädchen, das ich zu heiraten dachte. Ich will Dir auch den Namen sagen: es war die Julie Lander aus Barannen.“

Ich pfiff leise durch die Zähne.

„Die stolze Gutsbesitzerstochter, die jetzt an den Amtsrichter Rother verheiratet ist? Armer Kerl, hat Dir denn niemand gesagt, dass Du nicht der erste warst, mit dem sie ein „ernsthaftes Verhältnis“ anknüpfte?“

Mein Freund machte eine abwehrende Handbewegung.

„Das habe ich erst später erfahren, als ich von ihr den Laufpass schon erhalten hatte. Aber nun lass mich fortfahren.

Klein-Anka bezeugte mir auf alle mögliche Weise ihre Dankbarkeit. Es war mir oft geradezu lästig. Wenn ich im Winter spät nach Hause kam, fand ich stets in der Ofenröhre ein Glas Grog und einen Teller voll Essen. —

So verging das Frühjahr und der Winter. Die kleinen Neckereien mit der Dankbarkeit meines Schützlings hatten aufgehört, weil kein Grund zu ihrer Wiederholung vorlag. Im Sommer fuhr ich oft mit Deinem alten Fischmeister Stomber auf den See. Die Passion für das Angeln und Fischen hast Du mir ja beigebracht.

An einem schönen Abend kam ich langsam mit dem kleinen Angelkahn das Ufer entlang nach Hause gefahren. Die Sonne stand schon tief im Westen, der See lag spiegelglatt.

Als ich um die letzte Ecke biege, höre ich lautes Schreien und Kreischen von Weiberstimmen. Ich musste unwillkürlich lachen. Die Gesellschaft würde schön ausrücken, wenn ich hinter dem dichten Rohr, das mich ihren Blicken noch verbarg, hervorkam. Die Mädel badeten natürlich an der sandigen Stelle, die aber nach wenigen Schritten schon steil zur Tiefe abfällt.

Nur noch wenige Ruderschläge hatte ich hinter dem dichten Rohr zu tun, als das fröhliche Jauchzen sich plötzlich in ein ängstliches Schreien verwandelt.

„Hilfe! Rettung! Sie ertrinkt!“

So ging es wild durcheinander. Mit einem heftigen Ruderschlag liess ich den Kahn hinter dem Rohr hervorschiessen. Ein halbes Dutzend Dorfschönen standen in Evaskostüm bis an die Knie im Wasser, zeigten mit den Händen aufs Wasser und schrieen: Hilfe, Hilfe, die Anka ertrinkt!

Ich hatte den Rock und die leichten Hausschuhe sofort abgeworfen und beugte mich über den Kahn: Ertrinkende sollen doch manchmal, ehe sie ganz untergehen, noch zur Oberfläche emporsteigen. Ich war in grosser Aufregung, denn es tat mir furchtbar leid um das frische junge Blut, das hier so elendiglich zu Grunde gehen sollte. Und wäre die alte Hündin nicht bei mir gewesen, dann hätte das arme Ding ertrinken müssen. Diana stand natürlich hinter mir, hatte die Pfoten auf den Kahnrand gelegt und äugte scharf ins Wasser, als wenn sie genau wüsste, um was es sich handelte —“

„Natürlich hat sie es gewusst“, fiel ich ein. „Du alter Grünrock wirst doch darüber nicht im Zweifel sein.“

„Das bestreite ich gar nicht, lieber Freund, denn die Hündin begann plötzlich laut zu winseln, sodass ich mich schnell umdrehte. Ich sah noch gerade wenige Schritte vom Kahn den Körper wie eben hellen Schein langsam versinken. Sofort sprang ich nach und erwischte glücklicherweise ihr langes Haar mit beiden Händen, Mit wenigen Stössen war ich an der Oberfläche und am Ufer. Nun erst rückten die Mädel kreischend aus und versteckten sich hinter den Sträuchern. Bloss die Trine Skorupa blieb.“

„Unsere alte Trine, die nachher den buckligen Schneider geheiratet hat?“

Mein Freund lächelte. „Die Personalien stimmen, ich kann also wohl weiter erzählen.

Trina half ohne Rücksicht auf ihre mangelhafte Bekleidung die Bewusstlose rollen und reiben. Als das nichts half, stellte ich mit ihr künstliche Atembewegungen an, wie wir es beim Militär gelernt haben. Es hat aber noch mindestens eine halbe Stunde gedauert, bis wir sie zum Bewusstsein brachten. Mir dampfte von der Anstrengung das nasse Zeug auf dem Leibe.

Mittlerweile hatte sich die Nachricht von dem Unfall im Dorfe verbreitet. Alles was gehen konnte, kam angeströmt. Glücklicherweise war Deine Mutter ziemlich zuerst da. Sie trieb die schwatzenden und schreienden Weiber und die Kinderschar, die bei solchen Anlässen niemals fehlen darf, in die gehörige Entfernung zurück und löste die Trine ab, die bis dahin, tapfer ausgehalten hatte. Das arme Weib hat ihre resolute Hilfsbereitschaft schwer büssen müssen. — Das nichtsnutzige Weiberpack hat wochenlang darüber gekeift, dass sie sich nicht erst angekleidet, ehe sie mir zu Hilfe sprang. Ja, selbst die Anka hat viele Sticheleien über sich ergehen lassen müssen. Sie müsste sich nun ewig vor nur schämen und könnte nicht da im Dienste bleiben, wo ich im Hause wäre.“

Er machte eine kleine Pause und goss in die Glaser, die ich schon, mit Rum und Zucker versehen, das heisse Wasser, Und während er seine kurze Jagdpfeife mit frischem Stoff versorgte, fuhr er lächelnd fort:

„Deine Mutter trat schliesslich bei einer guten Gelegenheit ganz energisch dazwischen. Sie hatte die ganze Weiblichkeit des Dorfes zur Heuaust geladen, und als das Necken losging, hielt sie den Klatschmäulern eine so starke Standpauke, dass die Redereien verstummten. Auf Anka hatten die Sticheleien merkwürdigerweise keinen Eindruck gemacht. Die Kleine war nicht auf den Mund gefallen, und hat den Weibern, wie mir später erzählt wurde, lächelnd geantwortet: Hätte er eine von Euch aus dem Wasser gezogen, dann hätte er dabei wohl die Augen zugemacht, bei mir hat er sie offen behalten.“

Nun lachte ich lauthals los. Viktor schüttelte ärgerlich den Kopf.

„Du lachst, Dir kommt die Sache jetzt spasshaft vor. Mir war sie peinlich, denn nun lebten die alten Neckereien von Neuem auf, und mehr wie einmal habe ich gute Bekannte grob angefahren, wenn sie anzügliche Redensarten über die Dankbarkeit des Mädels für ihren „Lebensretter“ machten. Natürlich goss ich damit nur Öl ins Feuer, sodass ich drauf und dran war, zum Oberförster zu gehen und um meine Versetzung in ein anderes Revier zu bitten; aber ich stand dicht vor dem Forstaufseher, jeder Tag konnte die Nachricht bringen, und —“

Er schwieg, als wenn er sich scheute einen wunden Punkt zu berühren.

Ich hatte es schon gemerkt, wollte ihm aber nichts von der Geschichte schenken. So warf ich denn ganz harmlos ein; „Was sagte denn Deine Braut dazu?“

Er tat erst einige tiefe Züge aus der Pfeife, ehe er antwortete:

„Hm, ich will offen sein, sie setzte mir am meisten zu. Sie hatte gehört; dass Anka mir am nächsten Tage die Hand geküsst und mir mit Tränen in den Augen gedankt hatte. Gute Freunde, die unser Verhältnis mehr ahnten als kannten, hatten das ihrige dazu getan — kurzum, als ich nach ein paar Tagen zum Besuch kam, behandelte sie mich in Gegenwart ihrer Eltern erst ganz eisig kalt, und unter vier Augen machte sie mir eine böse Szene mit dummen Vorwürfen, bis ich schliesslich, aufs tiefste verstimmt, davonging. Ich war in einer eigentümlichen Stimmung. Einer Schuld war ich mir nicht bewusst, aber ich musste unwillkürlich Vergleiche anstellen zwischen dem gebildeten Mädchen, das mich ohne Grund beleidigte, und der armen Dienstmargell, die mich in selbstloser Weise mit der rührendsten Sorgfalt umgab. Sage selbst, wenn es nicht nur reine Dankbarkeit war, was konnte das arme Ding von mir hoffen?“

Er setzte die gebräunte Hand so hart auf den Tisch, dass die Gläser klirrten.

„Willst Du mir glauben oder nicht, ich habe manchmal an mich halten müssen, um nicht der Anka mit der Hand zärtlich über das Haar zu fahren, wenn sie mich mit ihren treuen Augen anlachte. Es war nicht Rücksicht auf Fräulein Zander, die mich davon abhielt. — Ich wollte vor nur selbst ein ehrlicher Kerl bleiben.“

Ohne ein Wort zu sagen, reichte ich ihm über den Tisch die Hand. Dann fuhr er mit raschen Worten fort:

„Es wird der Anka in Deinen Augen nicht schaden, wenn ich Dir sage, dass sie, wie es mir schien, jede Gelegenheit wahrnahm, mich auf der Schreiberstube, wo ich damals logierte, aufzusuchen.“

„Das arme Ding verstand es nicht anders“, fiel ich ein, „sie hatte Dich lieb und wollte ihre Dankbarkeit mit dem einzigen Kleinod bezahlen, das sie besass.“

„Das war's, lieber Freund, und dagegen konnte ich mich nur durch ein unfreundliches Benehmen wehren, dass ihr regelmässig die Tränen in die Augen trieb. Weiss Gott, mit Sehnsucht habe ich den Herbst über auf die Versetzung gewartet, die mit meiner Ernennung zum Forstaufseher eintreten musste. Ich trieb mich, soviel ich konnte, ausser dem Hause umher.

Mit Fräulein Julie Zander hatte ich mich so oberflächlich ausgesöhnt, aber es war doch ein kleiner Rest von Verstimmung geblieben, der sich trotz des besten Willens von meiner Seite nicht beseitigen liess. Ich habe mich redlich darum bemüht, ich war so oft in Barannen, dass schliesslich auch Juliens Eltern meine Absicht merkten. Unter der Hand erfuhr ich, dass ich mir bei Ihnen keinen Korb holen würde. Ich muss aber doch ein Pechvogel sein, denn ein kleines Ereignis, das mich in den Augen meiner Braut völlig hätte rechtfertigen müssen, führte den endgiltigen Bruch herbei.

Ich war an einem stürmischen Herbstabend mit Stomber zum Fischen gefahren. Wie wir hinausfuhren auf den See, hatten die Wellen schon die weisslich-grünen Schaummützen aufgesetzt und mit Anbruch der Nacht wurde aus dem steifen Südwest ein ganz richtiger Weststurm. Ich wäre ganz gern nach Hause gefahren, denn das Rudern war keine leichte Arbeit, und alle Augenblicke musste ich das Wasser ausschöpfen, wenn ein starker Spritzer über den kleinen Kahn hinweggegangen war. Aber der alte Seeräuber wollte davon nichts wissen. „Wir müssen noch die Brassen finden.“ Und richtig, wie wir die vier aneinander gebundenen Staaknetze in der flachen Bucht — Ni-Nikolaika hiess sie, nicht wahr? — ausgestellt hatten, und ich mit dem Sturgel ins Wasser fuhr, fühlte ich deutlich, dass ich auf Fische stiess.

Ich habe manchen Zug mit dem alten Stomber gemacht, aber das ging doch über die Hutschnur. Die Netze waren geradezu weiss von den prächtigen Brassen. Ganz langsam, dicht am Ufer, staakte ich den Kahn nach Hause zu, während er die Fische auslas und mir von ähnlichen Fängen erzählte, die er mit Dir getan.

Es war fast ein Wunder, dass wir glücklich nach Hause kamen. Als wir anlegten, glaubte ich zu sehen, dass eine dunkle Gestalt aus den Weidenbüschen am Ufer davonsprang, den Berg in die Höhe zur Försterei. Ich hatte mich nicht getäuscht. Denke Dir, das dumme Ding, die Anka, hatte die halbe Nacht in dem eisigen Sturm am See gesessen und nach uns ausgeschaut.“

„Armes, kleines Herz!“

„Du hast recht, das Mädel konnte einem leid tun. Aber hör' weiter. Wie wir die Netze aufgehängt, klopfte ich ans Küchenfenster an, um eine von den Margellen aufzuwecken, die mir die Haustür aufschliessen sollte. Die alte Lotte schlief ja stets wie ein Murmeltier, aber die Anka wurde regelmässig wach, wenn ich nur mit dem Finger an die Fensterscheiben rührte.

Als sich bei wiederholtem Pochen keins von den Mädchen hören liess, ging ich zur Haustür zurück. Es war mir furchtbar unangenehm, dass ich Deine Eltern wecken sollte, aber ich war nass und hungrig. Wie ich noch so unentschlossen dastehe, rührt sich etwas auf der Veranda. Ich springe zu und rufe:

„Wer ist da?“

„Ich, Herr Hahn, ich, die Anka.“

Ein Zorn, über dessen Ursachen ich mir keine Rechenschaft geben konnte, stieg in mir auf. Eigentlich wars auch eine Dummheit.

„Woher kommst Du so spät nach Hause?“

Sie antwortete mir ganz zaghaft: „Ich habe nur hier gesessen.“

„Bist spazieren gegangen, mein Fräulein, und die dicke Lotte hat hinter Dir den Riegel vorgeschoben?“

Das Mädel schwieg. Das reizte mich noch mehr. Ich fuhr sie an:

„Mit wem hast Du Dich die Nacht `rumgetrieben?“

Schon mit weinender Stimme gab sie zur Antwort: „Mit keinem, Herr Hilfsaufseher. — Der Sturm hat so geheult — da habe ich Angst gekriegt.“

Jetzt schoss mir das Blut zu Kopf. Ich ärgerte mich über mich selbst, drehte mich kurz um und ging zum Fenster vom Alkoven, wo Deine Eltern schliefen. Dein Alter machte mir selber auf und wunderte sich, als hinter mir die Anka hereinschlich. Ich hielt es für das beste, darüber kein Wort zu verlieren, berichtete über unseren reichen Fang und liess mir Essen und Trinken vorzüglich schmecken. Deine liebe, gute Mutter war auch aufgestanden. Vorsorglich, wie sie war, brachte sie den Stiefelknecht und ein paar Hausschuhe mit. Aber ich versuchte vergeblich, das gequollene Leder von den Füssen zu ziehen. Da machte Frau Förster die Tür auf und rief in die Küche hinaus:

„Lotte, Anka!“

Im nächsten Augenblick erschien Anka. Deine Mutter sah sie gross an und fragte ärgerlich: „Schläfst Du in Kleidern, Margell?“

Dem Mädel traten die Tränen in die Augen, aber es antwortete nicht. Dafür sagte ich lachend, obwohl mir ganz anders zu Mute war:

„Sie hat sich so sehr vor dem Sturm gefürchtet, dass sie auf der Veranda sitzen musste.“

Mir haben die paar Worte später auf der Seele gebrannt. Ich wusste doch, weshalb das Mädel am See und in der Veranda gesessen hatte. — —

Es war mir furchtbar peinlich, als die Kleine mir mit grosser Anstrengung die Stiefel abzog und weinend davonschlich.

Am nächsten Morgen bat sie die Frau Förster, sie möchte sie ohne Kündigung aus dem Dienst gehen lassen. Noch an demselben Abend wanderte sie durch die Forst eineinhalb Meilen bis nach Ostrokollen, wo der Pfarrer ein Dienstmädchen suchte. Sie kam sofort an und zog nach zwei Tagen mit Sack und Pack davon.

Mir war ganz eigentümlich zu Mut. Ich freute und ärgerte mich umschichtig. Wo ich ging und stand, fehlte mir das Mädel. Ich fühlte es ganz genau, dass in mir eine wirkliche tiefe Neigung zu der armen Dienstmargell erwachsen war. Und wer weiss, was geschehen wäre, wenn das Schicksal nicht so grausam eingegriffen hätte.

Du weisst, ich hatte etwas Vermögen und brauchte nicht nach Geld zu suchen. Wenn Deine Mutter sie noch ein oder zwei Jahre in Behandlung nahm und zurechtstutzte — sie hätte es mir zu Liebe sicherlich getan. — Mit solchen Gedanken trug ich mich, so dass acht Tage vergingen, bis ich mich wieder bei Fräulein Julie blicken liess, allerdings nur, um ein Ende zu machen. Ich hatte es nicht nötig. Sie wusste schon, dass die „verrückte Margell“ mir vor der Haustür aufgelauert hatte usw. usw.

Wie sich infolgedessen der Empfang gestaltete, kannst Du Dir leicht vorstellen. Ich machte kurzen Prozess, drehte mich um und ging. Am andern Tage bekam ich einen Brief, so voll von boshaften Vorwürfen, dass ich ihn im ersten Aerger verbrannte. Es hat mir später leid getan, solche lehrreichen Dokumente sollte man aufbewahren. Als Antwort packte ich die kleinen Geschenke, die ich von ihr hatte, meist Handarbeiten, ein und schickte sie ihr durch einen Holzschläger zu.

Ich war sehr froh, dass sich das Verhältnis so leicht gelöst hatte. Dass meine Ernennung zum Forstaufseher noch immer auf sich warten liess, war mir fast lieb. Ich hatte mir in vollem Ernst vorgenommen, mit Deiner Mutter über Anka zu sprechen, schob es aber von einem Tag zum andern hinaus.“

Die Erinnerung hatte ihn so gepackt, dass er aufstand und im Garten einige Male auf- und abging. Ich sah es ihm an, dass er mühsam eine starke Erregung bemeistert hatte, als er nach einer ganzen Weile seinen Platz wieder einnahm. Seine Stimme klang fast heiser, als er fortfuhr:

„Was noch zu erzählen ist, kann ich mit wenigen Worten abmachen. Ich hatte wenige Tage darauf einen Zusammenstoss mit den drei Brüdern Slowikoff aus Ostrokollen. Wie ich mit dem einen ringe, um ihm die Flinte wegzunehmen, bekomme ich von dem zweiten einen Schlag mit dem Kolben ins Genick, der mich umwirft. Glücklicherweise traf der Hieb erst den Kolben meiner Büchse, die ich mit dem Lauf abwärts über die Schulter gehängt hatte. Es war ein Glück, dass ich trotzdem sofort zusammenbrach und die Kerle mich nach mehrmaligem Umwenden für tot hielten, sonst hatte der älteste, der Saschul, mir noch einen Fangschuss gegeben. Und der Zweifel darüber, ob ich wirklich tot sei oder nicht, wurde meine Rettung.

Anka hatte im Auftrag der Frau Pfarrer noch spät abends der Frau des Saschul, die im Kindbett schwer krank lag, eine Suppe gebracht. Die Brüder waren nach Hause gekommen und führten im Nebenzimmer ein heftiges Gespräch, natürlich auf russisch. Denke Dir bloss, was die Vorsehung manchmal für Wege einschlägt. Der Lazarczyk war lange Zeit in Russland gewesen und hatte sich von dort seine Frau mitgebracht, mit der er nur russisch sprach, da sie das Masurische nicht verstand. Die Anka, die als kleines Kind in das Haus gekommen und dort aufgewachsen war, verstand daher jedes Wort.

Die Kerle stritten sich darüber, dass sie weggegangen wären, ohne genau zu wissen, ob ich tot wäre, wirklich tot. Der Jüngste, mit dem ich gerungen, und der auch durch sein Dazwischentreten den Fangschuss von mir abgewendet hatte, meinte, er möchte am liebsten zurückgehen und mich retten, wenn ich noch am Leben wäre.

Anka hatte sich still hinausgeschlichen. Sie hatte aus den Reden so ungefähr entnehmen können, wo ich lag.

Statt nun ein paar Menschen zur Hilfe aufzufordern, machte sie sich ohne Besinnen, ohne ein warmes Tuch oder eine Jacke auf den Weg, um mich zu suchen. Es war eine bitterkalte, mondhelle Nacht. Wie eine Wahnsinnige war sie im Walde hin- und hergerannt und hatte verzweifelt immer und immer wieder meinen Namen gerufen. Und weisst Du, wem ich nächst Anka meine Rettung verdanke? Der alten Diana! Die Hündin war mir, obwohl ich sie zu Hause gelassen hatte, langsam nachgeschlichen, hatte mich gefunden und stand winselnd neben mir und leckte mir das Gesicht. Als sie Anka rufen hörte, antwortete sie mit Heulen. —

Das Mädel rieb mir mit Schnee das Gesicht, bis ich die Besinnung wieder erlangte. Dann habe ich mich aufgerappelt und mich bis nach Ostrokollen zum Pfarrhaus geschleppt. Ich hätte allein die paar tausend Schritte nicht gemacht, wenn mich Anka nicht gestützt und alle Augenblicke angefeuert hätte, weiter zu gehen.

Als ich nach sechs Wochen noch ziemlich klapprig aus dem Pfarrhause, wo man mich wie einen Sohn gepflegt hatte, in Dein Elternhaus zurückkehrte, erfuhr ich erst, welchen Preis ich für meine Rettung zu zahlen hatte.“

Er bog sich vornüber und fuhr sich mit der Hand über die Augen.

„Anka hatte sich beim Umherlaufen und Rufen erhitzt und erkältet — ihre Lunge war wohl auch nicht die stärkste. Im Pfarrhause hatte sie nichts von ihrem Leiden gesagt. Sie war am nächsten Sonntag Nachmittag zu Deiner Mutter gegangen und hatte der ihr Leid geklagt. Deine liebe Mutter — dafür werde ich ihr ewig dankbar sein — steckte sie sofort ins Bett und liess den Arzt holen. — Er konnte nicht mehr helfen. Es ging mit ihr rasend schnell bergab.

Dein Alter hatte mich mit dem Schlitten aus Ostrokollen geholt und unterwegs mir nur erzählt, dass Anka auf der kleinen Oberstube krank liege und mich gern sehen möchte.

Ich ahnte die Wahrheit. Im Schummern kamen wir an. Deine Mutter begleitete mich hinauf, stellte die Lampe, die sie mitgebracht hatte, auf den Tisch und ging mit Trine, die an ihrem Bett Wache gehalten, hinaus.

Meine arme kleine Anka lag im Bett mit offenen Augen, die Hände über die Bettdecke gefaltet Die dunklen Augen erschienen noch grösser als sonst; von dem reichen blonden Haar ringelten sich einige Löckchen über die bleiche Stirn hinab.

In ihren Augen leuchtete es auf, als ich eintrat. Ich setzte mich zu ihr auf den Bettrand und nahm ihre dünnen Finger zwischen meine Hände. Sie lächelte mich an und grüsste mich mit den Augen. Mir quollen unaufhaltsam die Tränen hervor.

„Meine liebe Anka, nun wirst Du bald gesund.“

Sie schüttelte kaum merklich mit dem Kopf, dann winkte sie mit den Augen mich näher zu sich heran.

Ich schob meinen Arm unter ihren Kopf und hob sie an, als ich merkte, dass sie mir etwas sagen wollte. Mühsam kam es von ihren Lippen: „Der liebe Gott möge Sie segnen dafür, was Sie an mir getan. Jetzt, da ich sterbe, kann ich Ihnen sagen, dass ich dumme Margell keinen andern Gedanken gehabt habe, als dass sie mir nur einmal ein bischen gut sein möchten. Aber es war wohl besser, dass Sie mich damals nachts ausschalten.“

Das Herz krampfte sich mir zusammen. — —

Jetzt erst wusste ich, was ich mit meinem Zögern mit meiner Unentschlossenheit verschuldet hatte. Ich flüsterte ihr ins Ohr:

„Nein, meine süsse Anka, Du wirst nicht sterben, Du wirst leben. — Du sollst meine liebe kleine Frau Försterin werden.“

Schon seit einer Weile hatte er den Kopf in die Hand gestützt und mit bebender Stimme erzählt. Jetzt rannen ihm die heissen Tränen die gebräunten Wangen in den starken Bart hinab.

Ich stand auf und trat in den Garten hinaus, über dem noch der letzte Schimmer des untergebenden Vollmonds lag. Ganz leise hörte ich meinen Freund hinter mir weiter sprechen:

„Ihr Kopf fiel zurück, während ich sie küsste, nur in den Augen stand noch der Abglanz des Glückes, das ihr in der Todesstunde zum ersten Mal genaht — —

Wie lange ich sie noch in den Armen gehalten, weiss ich nicht. Ich merkte kaum, als Deine Mutter die Tote mir abnahm und ihr die Augen zudrückte.“

Er war aufgestanden und neben mich getreten.

„Begreifst Du jetzt, dass ich ein Einspänner bleiben werde?“

Ohne meine Antwort abzuwarten schritt er zum Garten hinaus in den schweigenden dunklen Wald.

Der Mitwisser.

Es war ein behagliches Leben gewesen, das er auf der Oberförsterei Zerin in Pommern geführt hatte. Das Schreibwerk, das jetzt die Grünröcke plagt, war damals noch in seinen Uranfängen und der Oberförster ein freundlicher wohlwollender Mann, der seinem Forstschreiber die schöne freie Zeit von Herzen gönnte.

Eines Tages hielt Adam Stopka den amtlichen Brief in Händen, der ihn nach Johannisburg zum Försterexamen einberief. Sein alter Lehrmeister, der jetzt die grosse masurische Forstinspektion verwaltete, hatte noch eigenhändig hinzugefügt, er möchte sich bald auf den Weg machen, denn er müsste sogleich die Vertretung eines erkrankten Försters übernehmen.

Der Abschied von dem Hause, in dem er wie ein lieber Sohn behandelt wurde, fiel ihm recht schwer. Aber es war ja die Heimat, die ihn rief, und hinter dem Examen winkte das ersehnte Ziel des Lebens, die Anstellung als Förster.

So packte er denn den geräumigen Rucksack, füllte die grosse, mit einer Dachsschwarte bezogene Jagdtasche mit Proviant und nahm den Weg unter seine langen Beine. Sein magerer Geldbeutel erlaubte es ihm nicht, anders zu reisen, als auf Schusters Rappen, und wenn möglich, kehrte er abends in einem Forsthause ein, um die grüne Farbe zu grüssen.

In den ersten Tagen war sein getreuer Teil übermütig vor ihm hergesprungen. Jetzt schritt er schon bedächtig neben seinem Herrn dahin und schaute oftmals verwundert zu ihm auf, als wollte er fragen, ob denn das Wandern nicht bald ein Ende nehmen würde.

Aus seinem letzten Nachtquartier war Adam schon beim ersten Morgengrauen aufgebrochen. Die sandige Landstrasse hatte er gleich hinter dem Forsthause verlassen, um sich auf der geradesten Linie durch den Wald zu schlagen, denn hier kannte er bereits jeden Weg und Steg von seiner Lehrzeit her. Gegen Mittag stand er auf der Höhe, von der die Haide ihre letzten Ausläufer in die Ebene des Pissek entsendet. Ihm zu Füssen lag das Ziel seiner Wanderung, das masurische Landstädtchen Johannisburg, freundlich in Grün gebettet; weiter nach Norden zu blinkte der Spiegel des Roschsees, und ganz fern am Horizont erglänzte, die unermessliche Fläche des Spirding. Die Heimat wars, die liebe Heimat! Hinter einem dichten Haselstrauch, unfern der Strasse machte, er Toilette. Und als er zuletzt den wegmüden Zwilchkittel mit dem dunkelgrünen Waffenrock vertauschte, da war aus dem verwitterten Haideläufer ein schmucker Forstmann geworden, dem man die weite Wanderung nicht ansah. Ein Bäuerlein, das verspätet zur Stadt fuhr, hatte Rucksack und Jagdtasche mitgenommen. Frei und leicht schritt Adam hinterdrein.

Es war gerade Markt in Johannisburg. Wie eine Wagenburg standen dichtgedrängt die leichten Leiterwagen der Bauern. Die kleinen struppigen Gäule hatten sich ihr Bündel Heu oder Klee bereits einverleibt und standen nun da, traurig den Kopf gesenkt. Mitleidslos brannte die Sonne ihnen auf das Fell. Gewichtigen Schrittes wanderte der Stadtwachtmeister durch die Wagenreihen und sah dabei so nachdenklich aus, als überlegte er, wie dieser Knäuel von Fuhrwerken sich am Abend würde entwirren lassen. Denn früher fahren die Masuren nicht vom Markte nach Hause, als bis die Sterne am Himmel stehen.

Handel und Wandel waren bereits vorüber. Die Bauern drängten sich schon lange in den Trinkstuben der Kaufleute, lärmten und sangen, dass es über den weiten Platz schallte. Rudelweise zogen die Weiber von einem Laden zum andern, um mit behendem Zungenschlag von den schwarzlockigen Verkäufern ein Restchen Kattun zur Schürze oder ein grellbuntes Kopftuch zu erhandeln. Auf den Wagen sass nur hier und dort ein Weib, das sich schon vormittags sattgetrunken hatte und nun im Halbschlummer vornüber nickte. An einem Wagen standen drei junge Mädchen beisammen und bewunderten gegenseitig ihre Einkäufe. Mit blanken Augen schauten sie auf den flotten Jägersmann, der an ihnen vorüberschritt. Und als er ein Stückchen weitergegangen war, da rief die eine mit einem Ton, der fragend und zweifelnd klang:

„Onkel Adam!“

Erstaunt blieb der Haideläufer stehen und wandte sich um. Er kannte keins von den Mädchen. Aber da kam schon ein zierliches Ding auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Das leicht von der Sonne gebräunte Gesicht war wie mit Blut übergossen, doch die blauen Augen grüssten ihn gar vertraut.

„Du bist doch Onkel Adam? Adam Stopka?“

„Ja, das bin ich, wie mein Taufschein besagt. Aber wer bist Du?“

„Rat einmal!“

Er nahm das Mädel bei der Hand und schob ihr das weisse Kopftuch zurück. Eine leise Erinnerung begann in ihm aufzudämmern. Als er vor sechs Jahren in die Fremde gezogen war, da hatte er bei einem älteren Vetter einen Tag Rast gemacht. Dort war so ein kleines lustiges Ding von zwölf Jahren um ihn herumgesprungen, mit „luchternen“ Augen und singendem Munde. Und an den Augen erkannte er sie.

„Lotte Stopka!“

Da nahm er sie am Kopf und küsste sie gründlich ab. War das ein schmuckes Mädel geworden, zierlich und fein wie ein Stadtkind und doch drall und rund.

„Wie geht's dem Vater?“

„Schlecht, Onkel, schlecht. Er hat das Reissen in beiden Füssen und kann nur an zwei Stöcken gehen. Aber er ist heute in der Stadt; beim Schlonski wird er sitzen.“

„Gut, ich komme nachher hin. Und wie geht's der Mutter?“

Ein trauriger Schein flog über ihren lachenden Mund.

„Wir haben sie vor zwei Jahren begraben. Seitdem führe ich dem Vater die Wirtschaft.“

In dem Hotel am Markt, wo die Gutsbesitzer der Umgegend abzusteigen pflegten, hatte Adam seinen „Bruder Innerlich“ gestärkt und erfrischt, ehe er den kleinen Marsch zur Oberförsterei antrat, die ein Stückchen vor der Stadt lag. Sein alter Lehrherr, der Forstinspektor Kettner, musterte ihn erst mit scharfem Blicke, ehe er ihm freundlich die Hand bot.

„Es ist hohe Zeit, Stopka, dass Sie kommen, wir haben schon auf Sie gewartet“

Eine helle Röte schoss dem jungen Manne bis zu dem Haar hinauf, und seine Augen wurden traurig. „Herr Forstinspektor, Sie haben immer Adam und du zu mir gesagt.“

„Na, wenn Du's haben willst, so soll's mir recht sein. Bist hoffentlich der gute brave Adam geblieben. Nun hör' einmal zu! Du wirst den Förster Dreyhaupt in Zimna vertreten. Der arme Kerl hat im Winter von Wilddieben einen Schuss in die Lunge gekriegt. Nun kräpelt er und kräpelt und kann nicht zu Kräften kommen. Von Jagdschutz war also nicht die Rede; er ist froh, wenn er sein bischen Schreibwerk erledigt.“

„Hat man die Wilddiebe nicht gefasst?“

„Nein, Adam; im Gegenteil, sie haben in den letzten Monaten überhand genommen und treiben ihr Handwerk bei hellem lichten Tage. Da brauche ich jetzt einen ganzen Kerl, mit dem man den Teufel auf blankem Eise hetzen kann. Hab' ich recht, wenn ich Dich dorthin schicke?“

Nur ein Aufleuchten in die Augen des jungen Mannes antwortete ihm.

Mit freundlicher Miene fuhr der Forstinspektor fort: „In Zimna, beim Dreyhaupt, kannst Du nicht wohnen; da ist das Haus voll Kinder. Du musst sehen, dass Du in Schiast, an der anderen Seite des Reviers, Unterschlupf findest.“

Er ging einigemale im Zimmer auf und ab.

„Noch eins, Adam! Dort in Schiast und Umgegend sitzen Deine Verwandten. Ich glaube nicht, dass sie alle hasenrein sind. Du verstehst mich, mein Junge! Und ich hoffe, dass Du nie vergessen wirst, was Du als Beamter zu tun hast.“

Er reichte ihm die Hand, die der Forstaufseher mit festem Druck umschloss.

„Nun geh mit Gott, mein Junge, und halt die Augen offen!“ — — —

So vergnügt Adam zur Oberförsterei gewandert war, so schwer war ihm das Herz, als er die kleine Gartenpforte hinter sich zuzog und auf die Strasse trat. Dass er ein Revier von Wilddieben säubern sollte, das schreckte ihn nicht. Er hatte nicht ohne Grund überall, wohin er kam, den Ruf gewonnen, ein ganz vorzüglicher Schütze zu sein, der nicht nur beim Scheibenschiessen auf jede Kugel parieren konnte. Aber hier sollte er seinen Verwandten gegenübertreten, die in weitverzweigter Sippe als wohlhabende Bauern in den Dörfern am Rande der Haide sassen. Und als Junge hatte er manchmal im Elternhause von den nächtlichen Fahrten erzählen hören, die seine älteren Brüder oder Vettern in die königliche Forst unternommen hatten. Wie nur sein Vater darauf gekommen war, ihn in den grünen Rock zu stecken! Aber was half es, heute darüber Betrachtungen anzustellen! Jetzt hiess es, die Zähne zusammenzubeissen und ruhig den geraden Weg der Pflicht zu gehen. Wenn die Sippschaft merkte, dass er nicht gesonnen war, ein Auge zuzudrücken oder vielleicht gar alle beide —

Auf dem Markte traf er Lotte. Sie stand mit hochgeschlagenem Kleide bei den Pferden, die sie aus einem kleinen Milcheimer tränkte. Von rechts und links drängten die Gäule der danebenstehenden Wagen heran und reckten gierig die Hälse nach dem Mädchen.

Schon von weitem rief sie ihm zu: „Na, Onkel, wohin hat Dich der Forstaufseher geschickt?“

„Nach Schiast, zu Euch!“

Adam sah deutlich, wie das Mädchen zusammenfuhr. Aber im nächsten Augenblick lachte sie auf.

„Du machst Spass, Onkel!“

„Nein, Kind, es ist kein Scherz. Ich bin in Schiast stationiert und werde natürlich bei Euch wohnen.“

Eine jähe Röte flog über ihr Gesicht.

„Onkel, das geht nicht.“

„Weshalb denn nicht? Raum genug habt Ihr im Hause.“

„Onkelchen, es geht wirklich nicht.“

In dem jungen Manne stieg ein leiser Ärger auf. Was hatte denn das dumme Ding gegen ihn? War die erste Begrüssung von beiden Seiten zu herzlich ausgefallen, dass die Freundinnen sie damit schon geneckt hatten? Oder, lag die Sache tiefer? Auf jeden Fall musste er sich gleich hier Klarheit schaffen. Vielleicht war es dem Vetter unbequem, einen Forstbeamten im Hause zu haben. Er drehte sich also kurz um und rief dem Mädchen zu: „Wenn Du nicht willst, muss ich Deinen Vater fragen.“

Mit einigen hastigen Schritten war Lotte bei ihm und fasste seine Hand. Die Tränen standen ihr in den Augen.

„Sag dem Vater nichts! Vielleicht wird er Dich aufnehmen — aber ich möchte nicht.”

„Das verstehe ich nicht, da bin ich zu dumm dazu.“

„Na, dann muss ichs Dir sagen. Ich hab einen Bräutigam, den Rasun aus unserm Dorf.“

„Und Du glaubst, dass ich ihn eifersüchtig machen werde? Hab keine Angst, Du dummes Ding.“

„Nein, Onkel, das ist es nicht. Aber der Rasun hat schon ein paar Mal mit den Förstern Streit gehabt, und in diesem Jahr ist er bestraft worden wegen zwei Zochbäumen, die er aus der Forst geholt hatte. Seitdem kommt kein Förster mehr zu uns in den Krug, denn wenn der Rasun eins unter der Mütze hat, fängt er mit jedem Zank an.“

„Und den Menschen sollst Du heiraten? Findet denn Dein Vater keinen besseren Schwiegersohn?“

Lotte antwortete nicht. Nur ein paar grosse Tränen rollten ihr über die geröteten Backen hinab. Kopfschüttelnd sah Adam sie an.

„Jetzt wirst Du mir die ganze Wahrheit sagen. Weshalb willst Du den Menschen heiraten? Hast Du ihn lieb?... Gut, Du willst darauf nicht antworten“, fuhr er fort, als die Kleine mit gesenktem Kopf unbeweglich stehen blieb. „Ist er reich?“

„Nein, er hat die kleinste Besitzung im Dorf und `ne Masse Schulden drauf.“

„Nun werde ich Dir etwas sagen, kleine dumme Lotte! Jetzt quartiere ich mich unter allen Umständen bei Euch ein. Hörst Du, unter allen Umständen! Willst Du mitkommen zum Vater?“

„Nein, Onkel! Sag' auch nicht, dass Du mich getroffen hast und dass wir uns gesprochen haben.“

Das grosse Gastzimmer bei Schlonski war dichtgedrängt voll Bauern, als Adam eintrat. Ein dicker Qualm von Pfeifen und Zigarren stand über den Köpfen. Dazu kamen der fade Geruch von vergossenem Bier und Fuseldunst, den all diese halb angetrunkenen Weiber und Männer ausströmten. Im ersten Augenblick prallte der Grünrock zurück. Ihm kam der Gedanke, ob es nicht besser wäre, wenn er zu Fusse nach Schiast hinauswanderte und dort auf den Vetter wartete oder heute in Johannisburg bliebe und erst morgen früh hinausginge. Schon aber war es dazu zu spät. Neben ihm kreischte ein Weib auf.

„Der Adam Stopka! Der Adam ist da!“

Im nächsten Augenblick reckte sich ihm schon ein Dutzend Hände entgegen. Langsam wand er sich durch den Menschenknäuel bis zu dem Tisch im Hintergrund, wo der Vetter Samel sass. Der mittelgrosse, etwas beleibte Mann hatte zwei Krückstöcke zwischen seinen Knien stehen. Schon von weitem rief er ihm entgegen:

„Na, Adam, wo hat Dich der Deuwel hergekarrt? Komm her, mein Junge, und gib mir einen Kuss! Mir wird das Aufstellen schwer. Der „Reissmichdüchtig“ sitzt mir in den Hinterbeinen.“

Er stiess einen jungen Bauern an, der neben ihm sass: „Steh' auf, Rasun, und lass den Onkel sitzen! Na ja, was machst für'n dummes Gesicht! Der Adam wird doch Dein Onkel, wenn Du die Lotte heiratest. Das ist meiner Lotte ihr Bräutigam. Ein guter Kerl, sage ich Dir, bloss die grünen Röcke kann er nicht leiden. Na, schad't nichts. Mit Dir is's ja was anderes. Du bist ja aus der Freundschaft.“

Mit möglichst freundlicher Miene reichte Adam dem jungen Bauern die Hand. Der Mann missfiel ihm vom ersten Augenblick an. Es war zwar kein unübler Mensch. Er war gross, schlank gewachsen und mit regelmässigen Gesichtszügen. Nur die Augen hatten keine Stetigkeit, Es war keine „pupillarische Sicherheit“ darin, wie man jetzt mit einem bekannten Scherzwort zu sagen pflegt.

Nach der ersten Begrüssung folgte sofort die Frage, wo Adam für die nächste Zeit stationiert wäre. Mit einem gewissen Gefühl der Beklemmung antwortete er, dass der Forstinspektor ihn nach Schiast gewiesen hätte. Ob er sich bei ihm einquartieren könne? Unter vergnügtem Lachen schlug der Vetter ihm mit der Hand auf die Schulter:

„Aber gewiss, Adam! Bei wem sollst Du denn sonst wohnen? Na prost, alter Junge! Da wollen wir mal drauf anstossen!“

Gleich darauf fasste er Adam mit der Linken um und zog ihn zu sich heran. „Sieh Dir mal den Lorbass, den Rasun an, was der für'n Gesicht macht! Als wenn die Katz' donnern hört. Ich glaub', der is jetzt schon auf Dich eifersüchtig. Hast meine Lotte schon gesehen? Nein? Na, da wirst Augen machen! E' forsche Margell, sag' ich Dir!“

Er bliess die Backen auf, kniff verschmitzt die Augen zusammen und wies mit dem Kopf auf seinen zukünftigen Schwiegersohn, der kein sehr vergnügtes Gesicht machte. „Jetzt möcht' er Dich am liebsten mit den Augen totschlagen. Und Du bist doch Onkel zu der Margell, nicht wahr?“

Seine Stimme klang so lustig, wie er selbst dabei aussah. Und doch hatte Adam das Gefühl, als wenn sich, hinter dem Scherz ein sehr bitterer Ernst verstecke. Er sah Rasun an. Der machte ein ganz vergnügtes Gesicht. Unwillkürlich kam es ihm auf die Zunge, zu fragen, ob es ihm wirklich unangenehm wäre, wenn er sich in Schiast bei dem Vetter einquartiere.

Der Bauer schüttelte gleichmütig den Kopf. „Wieso denn, Herr Forstaufseher? Der Verwandtschaft kann es ja nur angenehm sein, wenn Sie dorthin kommen.“

„Wie meinen Sie das?“

Jetzt streifte der Bauer den Forstbeamten mit einem halben Blick aus dem Augenwinkel, der diesem das Blut zu Kopfe trieb. Ehe er antworten konnte, fiel Samel Stopka mit deutlich gemachter Lustigkeit ein:

„Hast recht, Rasun! Sechs Jahre ist der Junge weggewesen. Jetzt kommt er zurück und wird bei Verwandten wohnen. Na denn prost!“

Er stiess ringsum an, aber weder Rasun noch Adam hoben das Glas. Indessen ihre Blicke trafen sich und entzündeten sich aneinander. Mit gewaltsamer Kraft bemeisterte der Forstbeamte seine Erregung. Seine Stimme vibrierte noch, als er sich zu dem Bauern hinüberbog, der ihm jetzt an dem schmalen Tische gerade gegenüber sass:

„Nehmen Sie sich mit Ihren Redensarten in acht, Rasun! Und sperren Sie die Löffel auf, damit Sie verstehen, was ich Ihnen sage! Sie sind Soldat gewesen, wie ich an Ihrer Mütze sehe. Dann werden Sie auch wissen, was Gehorsam heisst. Ich bin Beamter und im Revier kenne ich keinen Verwandten, selbst wenn's mein eigener Bruder wäre. Merken Sie sich das! Ja? Und erzählen Sie `s möglichst vielen Leuten! Ihnen persönlich will ich noch einen guten Rat geben. Wenn Sie ein Schiesseisen im Hause haben, dann legen Sie's noch heute Abend auf den Hauklotz und schlagen Sie dreimal aus voller Kraft mit der Axt darauf! Haben Sie mich verstanden?“

Seine Stimme war lauter und schärfer geworden, als er beabsichtigt hatte. Die Nachbarn rechts und links waren aufmerksam geworden, aber sie hatten wohl nicht alles begriffen, denn der junge Grünrock hatte im Eifer nicht masurisch, sondern deutsch gesprochen. Doch den Ton hatten sie verstanden und Adam glaubte zu fühlen, dass sie sich über die Standrede freuten, die er dem Rasun gehalten hatte. Und ganz deutlich hatte er gemerkt, dass sein Vetter Samel dabei sehr vergnügt aussah. Aber ein wenig war er doch überrascht, als er ihn laut auflachen hörte.

„Na prost, Jungens! Habt Ihr Euch schon am Kopf? Hähä! Na, Ihr werdet Euch schon wieder vertragen. Musst es dem Lorbass nicht übel nehmen, Adam, wenn er Dummheiten schwatzt! Der hat heute schon einen Stalleimer voll Bier in sich, und das kann kein Pferd vertragen. Und nun wollen wir nach Hause fahren, es ist Zeit, denn bei mir wird auch die Krugstube voll Menschen sein.“

Schweigend fuhren sie in den stillen Abend hinein. Wie eine kupferne Scheibe hing die Sonne. Über dem blauschwarzen Streifen, der den Horizont umsäumte. Dafür strahlte nach ihrem Versinken um so heller das Abendrot auf. Wie gewaltige Stäbe standen die letzten Lichtstrahlen am Himmel. Vor ihnen im Tale lag der Fluss, der das Wasser des Spirding dem Nebenfluss der Weichsel zuführt. Früher wandte er sich in unzähligen Krümmungen durch die niedrigen Wiesen. Jetzt hatte man ihn geradegelegt, so dass die Wassermassen in scharfer Strömung dahinschossen. Aber zu beiden Seiten waren tote Arme geblieben. Üppig wucherten Rohr und Schilf um die kleinen Blänken, an denen sich die Wasservögel tummelten. Ein Reiher zog mit misstönendem Schrei über ihre Köpfe hinweg, Auf der anderen Seite des Flusses begann der Wald. Dicht am Wiesenrand standen Erlen und weissschimmernde Birken. Dahinter aber sah es trostlos aus. An einzelnen Stellen hatten die niedrigen knorrigen Kiefern über den Sand gesiegt. In ihrem Schutz hatten sich der Wachholderstrauch und das Haidekraut angesiedelt. Auf weiten Flächen aber behauptete der Sand die Herrschaft. Das ist ein gefährlicher Geselle. Er steht mit dem Winde auf und wandert mit ihm am Boden dahin wie Schnee auf glattem Eise. Und wehe dem Samenkorn, das auf diesem trügerischen Grunde Wurzel schlägt! Eines Tages wandert der Boden, in dem es steht, mit ihm davon. Wenn es aber grösser ist und seine Wurzel tiefer getrieben hat, dann häufen sich die Sandmassen um das Bäumchen, bis sie es zugedeckt haben. All die niedrigen runden Hügel auf der weiten Fläche sind nichts anderes als Gräber, in denen das vermoderte Gerippe eines Bäumchens steckt.

Mit gekrümmtem Rücken schleppten die Gäule den Wagen durch den tiefen Sand. Der Wind, der erst zum Abend eingeschlafen war, hatte die Gleise verweht. Von Zeit zu Zeit blieben die Pferde stehen, um zu verschnaufen. Die beiden Vettern waren allein. Lotte war schon um die Vesperzeit zu Fusse nach Hause gegangen, und Rasun hatte es vorgezogen, die Gefälligkeit eines Nachbarn in Anspruch zu nehmen.

Der junge Forstbeamte kämpfte im stillen mit sich selbst, ob er nicht die Gelegenheit zu einer gründlichen Aussprache wahrnehmen sollte. Dabei hatte er das Gefühl, als ob der Vetter mit ähnlichen Gedanken umging.

Als die Pferde wieder einmal anhielten, hob Samel den Peitschenstock und wies auf den Wald: „Dort fängt Dein Revier an. Es ist ein schönes Stück, das Du zu belaufen hast. Na, Gott sei Dank, Du hast lange und gesunde Beine. Aber ich —“

„Ja, sag' mal, Samel, was fehlt Dir eigentlich?“

„Weiss ichs? Vor drei Jahren hat's mich zum ersten Mal befallen. Da schwollen mir die Knie und Füsse, dass ich vor Schmerzen mich nicht im Bett umdrehen konnte. Pfundweise habe ich Salben geschmiert und eimerweise Medizin getrunken, die mir der alte Dubois in Johannisburg verschrieb. Aber es hat nichts geholfen. Da liess ich schliesslich die alte Stankowiczka holen. Weiss der Deuwel, woher die alten Weiber diese Künste haben. Sie hat jeden Fuss an sieben Stellen geritzt und aus jeder Stelle einen Tropfen Blut mit einem Lappen aufgefangen und bei Neumond auf dem Kirchhof vergraben. Seitdem ist mir besser geworden, aber ein halber Krüppel bin ich geblieben.“

Der Grünrock musste unwillkürlich lächeln. „Ich glaube, Dir tut am meisten weh, dass Du nicht mehr auf die Jagd gehen kannst.“

„Glaub` das nicht, Adam! Ich hab' ja ganz gern die Flinte spazieren geführt, aber ich kann mich ebenso gut ohne das behelfen.“

„Es wäre ein Glück, wenn das andere auch konnten. Ich meine zum Beispiel: der Rasun.“

Samel zuckte die Achseln.

„Ich frage Dich nichts“, fuhr Adam fort, „aber ich meine, Du könntest dem Rasun mal ins Gewissen reden. Es wäre mir doch unangenehm, wenn ich mit Deinem Schwiegersohn im Walde zusammenrasseln sollte.“

„Schwiegersohn? Damit hat's noch lange Zeit. Erst muss der Johann von den Soldaten zurückkommen und heiraten, ehe die Lotte aus dem Hause gehen kann. Und bis dahin wird noch viel Wasser vom Berge laufen.“

„Wie kommt es denn, dass er mit der Lotte versprochen ist?“

„Frag` doch die Margell, was sie an ihm gefressen hat!“

Beinahe hätte Adam sich jetzt verraten. Aber noch zur rechten Zeit besann er sich und schwieg.

Im Walde, wo der Wind die Gleise nicht verweht hatte, begannen die Pferde zu traben. Der Hunger trieb sie vorwärts. Nach zehn Minuten blinkten Lichter auf; sie waren im Dorfe. Der Wagen rasselte und klapperte auf dem Steinpflaster, aber deutlich vernahm Adam durch das Geräusch den Knall eines Schusses. Sofort griff er mit einer Hand in die Leine, um die Pferde anzuhalten. In demselben Augenblick fiel ein zweiter Schuss, aber in ganz anderer Richtung. Adam musste dabei wohl ein verdutztes Gesicht gemacht haben, denn Samel lachte laut los.

„Wirst Dich noch daran gewöhnen, wenn Du an jedem Abend ein halbes Dutzend Schüsse hören wirst. Brauchst auch nicht zu denken, dass da jedesmal ein Rehbock fällt. Die Bande knallt bloss, um Dich in Atem zu halten. Und mit einem Paar Beinen kannst Du nicht zu gleicher Zeit auf sieben Hochzeiten tanzen. Komm' ruhig mit nach Hause und leg' Dich auf's Ohr! Du wirst müde sein und morgen ist auch noch ein Tag.“

Ohne ein Wort zu erwidern, liess Adam die Leine los; aber in ihm zitterte die Erregung. Wenn er gleich in der ersten Nacht einen Wilddieb abfasste! In einer Stunde ging der Mond auf…

In der hell erleuchteten Krugstube standen die Bauern Kopf an Kopf. Mit schnellem Blick überflog Adam die Menge. Rasun war nicht darunter. Lotte stand hinter dem Ladentisch und nickte ihm freundlich zu. Dann kam sie angesprungen und bot ihm die Hand.

„Na, wo ist denn Dein Bräutigam?“

Ehe das Mädchen antworten konnte, rief der Vater, der an seinen Stöcken langsam heran- gehumpelt kam; „Der wird schon lange schlafen. Der hatte sich doch schon in Johannisburg satt getrunken.“

Adam hielt es für geratener, nichts darauf zu antworten. Er bat Lotte, ihm sein Zimmer zu zeigen, er möchte sich gleich niederlegen.

Das alte Weib, das ihm die schmale Stiege zur Oberstube hinaufleuchtete, sah aus, als wenn sie das Waschen für eine durchaus überflüssige Ceremonie trachtete. Deshalb war er sehr angenehm überrascht, als er das kleine Zimmer betrat, das sie ihm aufschloss. An dem winzigen Fenster hingen weisse Vorhänge, der Tisch war mit bunter Decke und einem gestrickten Schoner bedeckt. Darauf stand ein Glas mit Astern und Georginen. Und das buntgestreifte Bett duftete nach Lawendel. Er fühlte förmlich die liebevolle Fürsorge, die hier gewaltet hatte. Sie hatte sich sogar auf Teil erstreckt, der im Winkel an der Tür eine grosse Schüssel voll Milch mit eingebrocktem Brot gefunden hatte.

Eine Viertelstunde später hatte Adam sich umgezogen. Leise schlich er die Treppe hinab, um unbemerkt das Haus zu verlassen. Vergebliches Bemühen! Auf der breiten Steintreppe standen zwei Männer. Einer davon war Samel. Er rief dem Davonschreitenden nach: „Wenn's nur auf die Grösse ankommt, fängt die Kuh den Hasen!“

So ganz unrecht hatte er damit nicht. Das musste der Grünrock sich selbst sagen. Wenn er eine Viertelstunde, nachdem der Knall erfolgt war, auf dem Anschuss gewesen wäre, aber jetzt — und doch trieb es ihn vorwärts. Zum wenigsten erfuhren alle, die es anging, dass er auf dem Posten war.

Gleich hinter dem Hause führte die Brücke über den Pissek. Zu beiden Seiten des Flusses stromaufwärts und -abwärts lagen die Gehöfte. Die Hausgärten zogen sich bis ans Wasser hinunter. Die Wilddiebe konnten es nicht bequemer haben. Wenn sie den Bock auf der Wiese geschossen und am Ufer im Versteck geborgen hatten, fuhren sie als harmlose Fischer weiter, um ihn nachts auf demselben Wege abzuholen. Der erste Schuss, den er gehört hatte, war ohne Zweifel auch dicht am Fluss gefallen, nur weiter oberhalb, da, wo der Pissek in den Wald trat. Wahrscheinlich war die Beute schon längst in Sicherheit gebracht.

Gleich hinter dem Dorfe traf er ein langes Floss, das langsam den Fluss hinunterschwamm. An der Sprache hörte er, dass es deutsche Flösser waren, die über den Narew, den Bug und die Weichsel nach Danzig fuhren. Fr rief die Leute an, die auf der ersten Traft standen. Bereitwillig gaben sie ihm Auskunft, dass der Schuss, den er meinte, weiter oberhalb am Waldesrand gefallen war, höchstens zweihundert Schritt vom Fluss, denn sie hatten das Feuer aufblitzen sehen.

Eine halbe Stunde später wanderte Adam mit einem starken Sechserbock auf der Schulter nach Schiast zurück. Der brave Teil hatte auf der Wiese den Anschuss ausgemacht und dann an der Leine seines Herrn schnurstracks an das Ufergebüsch geführt, wo das Reh' im dichten Rohrkamp versteckt lag. Lange hatte der Forstmann, dem das Herz vor Freuden sprang, überlegt, ob er sich nicht an der Fundstelle ansetzen sollte, um den Wilddieb abzufassen, wenn er seine Beute holen kam. Aber man hatte ihn ja gesehen, als er wegging, da würde er sicherlich vergebens warten. Und er war so totmüde, dass er sich ordentlich danach sehnte, seine Knochen in den duftenden Linnen auszustrecken.

Ungesehen kam er über die Brücke und ins Haus zurück. Als er die knarrende Stiege hinauftappte, wurde unten die Tür geöffnet und Lotte rief ihm nach, ob er nicht noch herunterkommen wollte, um etwas zu essen. Nachdem er sich die Hände gewaschen und einen anderen Rock angezogen hatte, ging er hinab in die Krugstube. Sie war schon leer geworden, nur an einem Tisch sass Samel mit ein paar Bauern, darunter auch Rasun. Das höhnische Lachen, womit er begrüsst wurde, hätte Adam unter anderen Umständen das Blut in Feuer verwandelt. Jetzt machte es ihm Spaas. Gleichmütig antwortete er auf die Frage, wo er gewesen sei, ass sein Abendbrot, trank sein Glas Grog dazu und freute sich im stillen auf das Gesicht, das Rasun machen würde, wenn er ihm erzählte, wie und wo er den Bock gefunden hatte. Dann aber stieg der Gedanke in ihm auf, weshalb er ihm denn die nächtliche Kahnfahrt und das vergebliche Suchen, ersparen wollte. Denn dass kein anderer als Rasun der glückliche Schütze war, das stand in ihm von dem Augenblick an fest, wo er den Schuss hatte fallen hören.

Im Sitzen waren ihm die Augen zugefallen. Es war Zeit, dass er zur Ruhe ging. Als er aufstand, hörte er Lotte ganz laut mit ärgerlicher Stimme sagen: „Ach, lass mich zufrieden, dummer Kerl!“ Ein Blick in das halbdunkele Nebenzimmer gab ihm die Erklärung. Die Kleine wehrte sich gegen ihren Verlobten, der sie umfasst hatte und sie an sich presste, um ihr einen Kuss zu geben. Im nächsten Augenblick war sie ihm entschlüpft und kam auf Adam zu, der nur mit Mühe eine Erregung bemeisterte, die ihm das Blut zu Kopfe trieb.

„Willst schon schlafen gehen, Onkel? Sonst möchte ich Dir noch ein Glas Grog machen. Nein? Na, denn gute Nacht!“

Und ehe er es sich versah, hatte Lotte ihm den Arm um den Hals gelegt und ihm einen herzhaften Kuss gegeben.

Am anderen Morgen hatte er seinen Rapport an den Forstinspektor geschrieben und den Rehbock mit einem Frachtfuhrmann, der mit Eisentöpfen von Wondollek kam, nach der Stadt geschickt. Vetter Samel hatte ein verschmitztes Gesicht gemacht, als er den Bock sah und gelacht, als Adam meinte, diesmal hätte die Kuh den Hasen nicht eingeholt, aber überlistet. Zu Mittag gab es Fisch. Ganz unaufgefordert erzählte Lotte, Rasun hätte in der Nacht noch gefischt und vormittags das schöne Gericht Barsche geschickt. Jetzt wusste Adam genug. Das Fischen war nur der Vorwand gewesen für die Fahrt nach der Beute.

Für lange Zeit war das Auffinden des Rehes Adams einziger Erfolg. Ganz wie Samel es vorausgesagt hatte, fielen an jedem Abend mehrere Schüsse im Revier, manchmal gar nicht weit von dem jungen Haideläufer. Und wenn er nach atemlosem Marsch an die Stelle kam, fand er entweder niemand oder einen halbwüchsigen Jungen, der harmlos Pilze suchte. Dann erwischte er schliesslich nachts bei Mondschein einen Filipponen mit geladenem Gewehr, der ihm unversehens in den Weg lief, und einige Tage später an der Grenze drei Polacken, die sich gegenseitig das Wild zutrieben.

Aber das waren nicht die Übeltäter, die er suchte, denn das Knallen im Walde hörte nicht auf. Er war zuletzt ganz verzweifelt. Mehrmals hatte er das Gescheide von Reh gefunden, das die Wilddiebe wie zum Hohn offen hatten liegen lassen. Er war manchmal drauf und dran, nach Johannisburg zu gehen und den Forstinspektor zu bitten, ihn anderswohin zu versetzen. Ihn hielt weniger die Hoffnung, die Wilddiebe doch noch zu erwischen, als etwas ganz anderes, das er sich nicht eingestehen mochte. Das waren die traurigen Augen der Lotte. Seit jenem ersten Abend, als sie ihm den ersten Kuss gegeben hatte, war sie wie verwandelt. Sie vermied es sogar, ihm die Hand zu reichen, und wenn er sie in ein Gespräch verwickeln wollte, dann schützte sie stets eine dringende Besorgung in der Wirtschaft vor, um von ihm loszukommen.

Dafür leistete ihm der Vetter Samel um so bereitwilliger Gesellschaft, wenn der junge Haideläufer spät bei finsterer Nacht aus dem Walde kam und nach Speise und Trank begehrte. Rasun liess sich wenig im Kruge blicken; es war, als wenn er das Zusammentreffen mit dem Forstbeamten mied. In hellen Nächten hatte Adam Rasuns Haus bewacht, das ziemlich am Ende des Dorfes lag. Stundenlang hatte er hinter den Ellern am Ufer gestanden, von wo er Rasuns Kahn beobachten konnte; aber stets vergeblich. Jetzt wartete er schon seit Wochen auf starken Frost und Schnee. Es schien fast, als ob der Himmel mit den Wilddieben im Bunde war.

Tag für Tag das trübe, nasskalte Wetter, das durch den dicksten Wandrock erkältend bis auf die Haut drang. Adam hatte seinem Körper im Übereifer zu viel zugemutet. Eines Nachts erwachte er in heftigem Fieber; fliegende Hitze wechselte mit Kälteschauern.

Acht Tage hatte er fest zu Bett gelegen. Jetzt sass er schwäch wie ein Kind neben dem warmen Ofen im kleinen Hinterstübchen und schaute ungeduldig aus dem Fenster auf die dunklen Kiefern jenseit des Flusses. Es hatte geschneit, dann war klarer Frost gekommen, das beste Wetter für Jäger und Wilddiebe. Aber merkwürdig! Die frühere Unrast war von ihm gewichen. Der Forstinspektor war eines Tages selbst gekommen, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, und hatte ihm streng anbefohlen, nicht früher ins Revier zu gehen, als bis er wieder ganz gesund wäre. Dass ihm die Zeit nicht lang, wurde, dafür sorgte Vetter Samel. Der schien über Adams Krankheit ganz glücklich zu sein. Jetzt hatte er doch, wie er sagte, einen vernünftigen Menschen, mit dem er sich den ganzen Tag unterhalten konnte. Es war eine recht merkwürdige Natur, dieser bäuerliche Krugwirt; ein Mensch wie eine Seele, sagt der Masur. Ein kleines Kind konnte mit ihm betteln gehen, so gutmütig war er. Wer nicht zu faul war, zu fordern, nahm seine Hilfe in Anspruch. Und Samel gab, ohne zu fragen, ob und wann er es wiederbekommen würde. Er hatte es ja dazu. Sein Rittergut, wie er die tausend Morgen Sand nannte, trug nicht viel, denn er hatte höchstens hundert Morgen unter dem Pfluge. Aber der Krug war eine Goldgrube. Er lag gerade an der Stelle, an der die Fuhrleute, die aus Russland Getreide brachten oder von der Eisenhütte Wondollek Waren nach der Stadt schafften, grössere Rast halten mussten, um die Pferde zu füttern. Auch die Flösser kehrten regelmässig bei ihm ein, ehe sie für Monate nach Russland hineinfuhren.

Die ganze grosse Wirtschaft leitete Lotte mit sicherer Hand. Sie schenkte jedes „Bummchen“ Kornus ein, das verlangt würde, verkaufte Salz und Heringe und hatte noch Zeit, in Küche und Hof nach dem Rechten zu sehen. Den kranken Onkel pflegte sie wie eine Mutter. Alle paar Stunden tischte sie etwas Gutes auf, so dass ihr Vater lachend erklärte, jetzt hätte er mit Adam ein Leben „wie im Lehm“. Es war ein Vergnügen, ihr zuzusehen, wie sie emsig und geräuschlos schaltete und waltete. Dann stieg immer und immer wieder in dem Grünrock der Gedanke auf, dass dies prächtige liebe Mädel doch viel zu schade wäre für den rohen Kerl, der sich ihr Bräutigam nennen durfte. Er sprach es auch offen zu Samel aus, was er dachte. Der zuckte die Achseln.

„Ja, gewiss, Du hast recht. Sie könnte sogar einen studierten Herrn heiraten. Nicht nur wegen des Geldes, das sie mitbekommen wird. Ich habe sie ja in Johannisburg drei Jahre zur Schule gehen lassen. Da hat sie genau dasselbe gelernt wie die Tochter vom Kreisphisikus und vom Bürgermeister. Ich werde Dir einmal ihre Bücher zeigen, was da drin steht, von fremden Völkern und Ländern und Tieren. Das weiss ich alles und noch mehr.“

Jetzt schlug Adam die Hände vor Verwunderung zusammen. „Und dann will Lotte den Rasun heiraten? Erzähl' mir kein Märchen, Samel; da steckt was anderes dahinter. Ich hab' jetzt hier genug gesehen! Weshalb hat die Lotte des Morgens immer so rote Augen, als wenn sie stundenlang in der Nacht geweint hätte? Wahrscheinlich, weil sie sich so sehr auf die Hochzeit mit dem Rasun freut?“

„Ach, lass doch das Adam! Was bläst Du das Feuer, das nicht brennt?“

Dem jungen Manne war's, als wenn ihm bei diesem Worte Schuppen von den Augen fielen. Ja, das Feuer brannte in ihm, dass die helle Lohe aus seinen Augen strahlte. Und jedesmal, wenn Lotte vorbeiging und ihm freundlich zunickte, flackerte es lustig auf. Er sah den Vetter herausfordernd an:

„Soll ich Lotte fragen, ob sie den Rasun laufen lassen will?“

„Verbrenn Dir nicht die Zunge! Sie wird den Rasun heiraten. Es ist bei uns nicht Sitte, voneinander zu laufen, wenn man sich einmal versprochen hat.“

„Na, die Sache liegt hier wohl anders, lieber Samel. Weisst Du, was ich denke? Du hast einen Ring durch die Nase und der Samel den Strick in der Hand, an dem er Dich führt. Aber das sage ich Dir: finde ich das Messer dazu, dann schneide ich den Strick durch!“

Einige Tage nach diesem Gespräch fand Adam, als er sich abends zum Schlafengehen in sein Zimmer begeben wollte, Lotte in der leeren Krugstube sitzen. Sie hatte die Hände vor das Gesicht gelegt und weinte, dass ihr die hellen Tropfen von den Fingern perlten. Mit zwei Schritten war er bei ihr und strich ihr sanft über die dicken Zöpfe.

„Weshalb weinst Du, Lottchen? Sag mir's doch, vielleicht kann ich Dir helfen.“

Sie schüttelte den Kopf, trocknete die Augen mit der Schürze und stand auf. „Lass mich, Onkel! Mir kann kein Mensch helfen. Auch nicht der liebe Gott, denn er sucht die Sünden der Vater heim an den Kindern. Aber ehe es dazu kommt, gehe ich ins Wasser. Der Fluss ist ja noch offen.“

Sie schlug wieder die Hände vor das Gesicht und schluchzte, dass ihr ganzer Körper bebte. Adam legte ihr den Arm um die Schultern und zog ihr die Hände vom Gesicht. „Liebling, wer wird so kleinmütig sein! Hast Du denn kein Zutrauen zu mir? Sag mir's doch, was Dich quält. Vielleicht kann ich Dir helfen.“

„Aber nein, lieber Onkel. Du am allerwenigsten kannst mir beistehen. Hat's Dir der Vater noch nicht gesagt? Bruder Johann kommt nach Hause. Sie haben ihn von den Soldaten freigelassen, weil der Vater krank ist und er der einzige Sohn.“

„Das ist doch kein Unglück.“

„Für ihn nicht, aber für mich. Denn das hat der Rasun eingefädelt! Er hat auch dem Johann schon eine Braut besorgt, eine Sparka aus Wilken, und zu Weihnachten soll es eine Doppelhochzeit geben.“

Dass die Entscheidung so nahe bevorstand, hatte Adam nicht gedacht. Und Lotte hatte wohl recht, wenn sie meinte, er könne ihr nicht helfen. Denn wenn Rasun der Wilderer war, für den er ihn hielt, dann würde er sicherlich in den letzten acht Wochen keinen Fuss in den Wald setzen.

Aus seinem Sinnen störte ihn ein jämmerliches Heulen auf. Das war Tell, der so klagte. Mit einem Satz war Adam vor der Tür. Da lag sein treuer Gefährte mitten auf der Strasse und wand sich in Krämpfen. Kein Zweifel, er hatte Gift bekommen. Dem Forstaufseher standen vor Wut und Schmerz die Tränen in den Augen, als er den sterbenden Hund streichelte, der noch einen schwachen Versuch machte, ihm die Hand zu lecken, ehe er sich ausstreckte. Als Adam sich abwandte, stand Lotte vor ihm, mit funkelnden Augen, die Hände geballt.

„Onkel, das hat der Rasun getan! Kein anderer!“

„Kind, woher weisst Du das?“

„Das kann ich Dir nicht sagen, aber er ist es gewesen. Verlass Dich darauf, Onkel.“

„Was hilft mir das, wenn Du nicht sprechen willst! Sei doch klug, Liebling. Vielleicht habe ich jetzt das Messer gefunden, mit dem ich den Strick zerschneide.“

„Welchen Strick?“

„Den Strick, an dem Rasun Deinen Vater führt. Meinst Du, ich bin blind, dass ich nichts sehe? Ach, könnt' ich den Kerl bloss einmal mit der Flinte im Walde treffen, dann wäre uns allen geholfen. Lotte, ich meine, Du könntest mir mal einen Wink geben.“

Sie waren in den dunklen Hausflur zurückgegangen. Da fühlte Adam, wie sich zwei Arme um seinen Hals schlangen, ein heisser Kuss brannte auf seinen Lippen; im nächsten Augenblick schon stand das Mädchen in der geöffneten Tür zur Krugstube. Noch einmal drehte sie sich um und flüsterte ihm zu:

„Heute Nacht um vier Uhr an der Brücke in Wilken. —“

Schon eine Stunde nach Mitternacht war des Haideläufer an Ort und Stelle. Der Vollmond stand noch klar am Himmel, sodass man den Fluss weit hinab übersehen konnte. Er führte bereits Eisschollen mit sich und wo die Strömung sie ans Ufer trieb, da hielt sie der Frost fest. Mit grosser Mühe hatte Adam einen Kahn ins Wasser geschoben und ihn unter die Brücke getrieben, wo ihn in dem dunkeln Schatten auch das schärfste Auge nicht entdecken konnte.

Trotz der Kälte trat ihm vor Erregung der Schweiss auf die Stirn. Wenn er heute Nacht den Rasun mit einem gewilderten Reh abfasste! Er stand im Kahn auf und reckte die Glieder, die ihm von dem Sitzen in der Kälte steif geworden waren. Das Gesicht, das der Kerl machen würde, wenn er mit dem Reh auf der Schulter nach Johannisburg marschieren müsste! Dann würde Rasun einige Wochen in Untersuchungshaft sitzen. Die Strafe würde auch nicht zu milde ausfallen. Wenn er dann im Frühjahr wiederkam —

Und wenn der Kerl sich widersetzte, womöglich gar die Flinte gegen ihn hob — Adam vermochte den Gedanken nicht auszudenken. Aus seinem ehrlichen Herzen stieg ein Gefühl empor, das ihm das Blut ins Gedicht trieb. War es bloss das Pflichtgefühl des Beamten, das ihn hierher geführt hatte? Nein. Den Nebenbuhler suchte er zu treffen mit der Macht, die ihm das Amt verlieh. Einigemale hatte er nach der Stange gefasst, um den Kahn ans Ufer zu treiben und davonzugehen. Aber dann stieg das Bild vor ihm auf, wie Lotte weinend in der Krugstube sass; er sah seinen treuen Hund im Todeskampf auf der Strasse liegen...

Stunde um Stunde verrann, schon stand der Mond dicht über dem Horizont. Noch eine Viertelstunde verging. Da wurde sein Ohr aufmerksam und gleich darauf bekam er auch den Kahn zu Gesicht, der gegen die scharfe Strömung aufschoss, sodass das Wasser an der Spitze schäumte. Deutlich erkannte Adam in dem vordersten der Männer trotz des falschen Bartes den, den er suchte. Es war Rasun, unverkennbar an der vornüber gebeugten Haltung seiner hohen Gestalt. Im Mittelteil des Kahns lag ein Haufen Stroh, der unzweifelhaft das gewilderte Reh bedeckte.

Jetzt war der Kahn auf zehn Schritte heran, im nächsten Augenblick musste er neben dem Jäger sein. Hastig erhob sich Adam und griff nach der Stange, die er quer über den Bord gelegt hatte. War sie nun so glatt oder waren seine Hände erstarrt, kurzum, sie entglitt ihm beim Zufassen. Während er sich nach ihr bückte, drehten die Männer in ihrem Boot sich um und trieben es, ohne zu wenden, stromabwärts. Als Adam sich aufrichtete, waren sie schon fünfzig, sechzig Schritte weit weg. Der ganze Vorgang hatte sich in wenigen Augenblicken abgespielt. An eine Verfolgung war nicht zu denken, weder zu Kahn noch zu Fuss, denn die geübten Fischer fuhren mit der Strömung schneller, als ein Mann laufen konnte. Vor Ärger und Wut kochend, wanderte der Grünrock nach Hause. Eine Haussuchung in der Nacht hatte keinen Zweck. Die Wilddiebe lagen, wenn er ankam, schon lange im Bett, und das Reh hatten sie wahrscheinlich irgendwo im Fluss versenkt.

Im Kruge gabs am nächsten Vormittag, als Adam in den Wald gegangen war, eine heftige Szene. Rasun war gekommen und hatte von seinem zukünftigen Schwiegervater kurz und rund verlangt, er solle dem Forstbeamten den Stuhl vor die Tür setzen.

Verwundert fragte der Krugwirt: „Weshalb?“

„Er hat heute Nacht in Wilken an der Brücke gelauert. Von wem hat er das erfahren?“

„Na, von mir doch nicht“

„Nein, aber ich werde es Dir sagen, von wem. Von Deiner Tochter, die hetzt ihrem Bräutigam den Förster auf den Hals.“

„Da soll doch gleich — Lotte! Lotte!“

Als wenn sie darauf gewartet hätte, erschien sie in der Tür.

„Was soll ich, weshalb schreit Ihr so?“ Sie sah ihren Verlobten mit einem verächtlichen Blick an. „Weshalb hast Du ihm den Hund vergifte, Du — Du Giftmischer Du? Und Dich soll ich heiraten? Nein, Vater, eher gehe ich ins Wasser.“

Mit einem schiefen Blick wandte Rasun sich ab. „Die Hunde, die bellen, beissen nicht.“

„Vielleicht beisse ich auch noch“. Sie trat ihm näher und raunte ihm mit heiserer Stimme zu; „Was ich von Dir weiss, genügt, um Dich für ein paar Jahre ins Rote Haus zu bringen.“

„Und Deinen Vater auch.“

Lotte fuhr zusammen als hätte sie einen Schlag bekommen. Ihre Augen füllten sich mit Wasser. Der Krugwirt war aufgestanden und hatte Rasun an die Schulter gepackt.

„Mensch, nimm doch Vernunft an. Ich zahl` Dir noch heute auf ein Brett dreitausend Taler aus, wenn Du von der Heirat abstehst.“

„Damit er morgen wiederkommt und nochmal dreitausend fordert? Nein Vater, darauf lass Dich nicht ein!“

„Hast recht, mein Täubchen! Ich bekomme ja zehntausend, wenn ich dich heirate und noch eine hübsche Frau obendrein!“

„Wenn Du Dich nur nicht irrst, Rasun! An Deiner Stell würde ich mich tausendmal besinnen, ein Mädel zu heiraten, das —“

„Das als Braut einem anderen nachläuft und ihren Bräutigam verrät —“

„Ich, Deine Braut? Nein, Rasun! Du solltest Dich schämen, dies Wort in den Mund zu nehmen. Hab' ich Dir jemals ein freundliches Gesicht gemacht oder einen Kuss gegeben? Nein, ich bin bloss so dumm gewesen und hab' geschwiegen, wenn der Vater mich bat, weil er sich vor Dir fürchtet. Ich habe immer gehofft, dass er sich von Dir losmachen und Dich aus dem Hause werfen würde.“

„Ja, wenn er das könnte!“

„Dann werde ichs besorgen. Du wirst keinen Schritt mehr in den Wald gehen, von dem Adam nicht erfährt.“

„So, das meinst Du? Na, dann werd` ich zur Vorsicht von jetzt ab Deinen Vater mitnehmen.“ Er rüttelte den Krugwirt, der sich hingesetzt und den Kopf in beide Hände gestützt hatte, an der Schulter. „Du, Schwiegervater, hörst Du, was die Margell sagt? Sie droht mir. Na, Du wirst ihr schon den Kopf zurechtsetzen, und morgen gehen wir beide in den Wald. Es sind Hirsche da, ich habe sie heute früh gespürt. Morgen ist Forstgerichtstag, da muss der Herr Adam Stopka nach Johannisburg. Wir können also ganz ruhig treiben. Hörst Du, Lotte, wir werden morgen Jagd machen.“

„Der Vater wird nicht dabei sein.“

„Er wird dabei sein, verlass Dich darauf. Nicht wahr, Schwiegervater?“

Samel erhob sich schwerfällig. Mit beiden Händen musste er sich am Tische halten. Seine Brust ging unter schweren Atemzügen. Ängstlich wanderten seine Blicke von Lotte, die mit geballten Fäusten und funkelnden Augen vor ihm stand, zu dem jungen Bauern hinüber, der ihm mit höhnischem Lächeln zunickte. Eine ohnmächtige Wut kochte in ihm. Es zuckte ihm in allen Gliedern, zuzuspringen und den frechen Kerl aus der Stube zu werfen. Vielleicht wäre es besser, schnell das Ende herbeizuführen, als immer in Angst und Furcht zu leben. Einmal käme es doch zum Klappen. Denn auf Lotte war kein Verlass mehr, seitdem ihr der Adam im Kopfe steckte. Entweder sie lieferte ihm den Rasun ans Messer, und dann fing der Kerl an zu sprechen, oder sie schwieg und ging ins Wasser. Und was half ihm das, wenn sein Kind in den Tod ging? Dann würde er tagtäglich dem Kerl den Mund stopfen müssen, um sein Schweigen zu erkaufen.

Langsam stieg in ihm ein Gedanke auf, so furchtbar, dass er ihm den kalten Schweiss auf die Stirn trieb. Wenn einer in den Tod gehen musste, weshalb musste es denn das junge, schuldlose Wesen sein? — Mit dem Gedanken war die Ruhe über ihn gekommen. Er hob die Hand und wies nach der Tür. „Du, Rasun, für heute hab' ich genug. Mehr vertrag' ich nicht. Sonst mach' ich ein Ende. Und das wird Dir nicht gefallen. Mach', dass Du rauskommst, Mensch, sonst vergreif' ich mich an Dir!“

Vor dem Blick seiner Augen war der junge Bauer bis an die Tür zurückgewichen. Das hatte er nicht erwartet. Was wollte der Alte? Womit drohte er? Dass er hingehen würde, um sich selbst dem Gericht zu stellen? Das hatte er schon manchmal gesagt, wenn er Geld herausrücken sollte. Aber wozu ihn jetzt noch mehr reizen? Heute Abend würde er schon wieder gut Wort geben und ihn bitten. Rasun setzte die Mütze auf und nahm die Tür in die Hand.

„Adieu, Stopka! Adieu, Lotte! Heute Abend werden wir weiter reden.“

Hinter ihm her drohte Samel mit geballter Faust. Dann sank er stöhnend auf die Bank zurück und jammerte: „Der Kerl frisst mein ganzes Leben auf. Ist das noch ein Leben? Keinen Tag lässt er mir Ruhe, immer und immer wieder fängt er davon zu reden an. Und wenn er mal allein nach der Stadt fahrt, dann sitze ich hier und zittere vor Angst, dass er sich betrinkt und plaudert. Ach, mein Kind, Du hast ja keine Ahnung, was ich zu leiden habe. Keine Nacht kann ich schlafen. Sobald ich die Augen zumache, fange ich an zu träumen, und immer schaufle ich an dem Grab.“

Der Kopf sank ihm auf die Brust, während er tonlos vor sich hin murmelte: „Ach, wenn mir doch jemand ein Maul voll Rattengift eingeben wollte, dass ich endlich Ruhe bekäme!“

Mit starren Augen hatte Lotte dem Vater zugehört. Alles Blut war ihr aus dem Gesicht gewichen und drängte ihr zum Herzen, so dass sie es wie einen körperlichen Schmerz empfand. Es war ihr, als hätte eine ungeheure Last sich auf sie gewälzt, unter der sie ersticken müsste. Ihr Vater hatte einen Menschen erschlagen oder erschossen, und Rasun wusste darum. Und den einzigen Zeugen der Tat hatte sie gereizt, hatte ihm gedroht, hatte ihm den Forstbeamten auf den Hals gehetzt. Dann war's ja ein Glück, dass der Adam ihn heute Nacht nicht erwischt hatte. War sie denn blind und taub gewesen in den letzten Jahren? Immer hatte sie geglaubt, dass der Vater sich nur vor der Strafe für die Wilddiebereien fürchtete, die er mit Rasun begangen hatte; sie hatte ihm gegrollt, weil er sie deswegen opfern wollte. Dass es sich um ein schweres Verbrechen handeln könne, das war ihr nie in den Sinn gekommen. Um so härter griff ihr die Gewissheit ans Herz, dass es jetzt keinen Ausweg mehr für sie gab als den einen, Rasun zu heiraten. Noch vor wenigen Monaten hätte sie sich vielleicht dareingefunden, jetzt aber bäumte sich bei dem Gedanken alles in ihr empor. Langsam tastete sie sich am Tisch weiter zu dem Vater, der noch immer so gebrochen da sass und nur ab und zu schwerfällig mit dem Kopfe nickte, als wenn er sich selbst den Entschluss bekräftigen müsste, der seinen ganzen Willen auszufüllen begann. Laut und deutlich vermochte sie noch zu sagen: „Vater, gräme Dich nicht, ich werde den Rasun heiraten!“ Dann verliess sie ihre Kraft. Sie sank auf die Bank, der Alte fing sie auf und bettete ihren Kopf an seine Brust. Wie aus weiter Ferne schlugen die Worte, mit denen er sie zu trösten suchte, an ihr Ohr. Es war ihr, als sei alles um sie her kleiner und enger geworden, als ginge sie alles, was der Vater sprach, nichts an.

„Ich bin an allem schuld, mein Kind. Als der Bengel siebzehn Jahre alt war, da kam er zu mir und bat mich auf den Knien, ich möchte ihn mitnehmen in den Wald, und ich war so leichtsinnig… ich hatte keinen anderen, mit dem ich gehen konnte... ich nahm ihn mit. Die Leidenschaft zum Wildern, die hat schon lange in ihm gesteckt, die hat er von seinem Vater geerbt, aber ich hab' ihn in das Handwerk eingeweiht. Wir kamen auch immer gut durch. Es war ja keine Kunst dabei. Wenn der Förster nach der Stadt fuhr, kam er nicht vor halber Nacht nach Hause. Und jedesmal wusste ich`s vorher, wenn er wegfuhr. Im Herbst vor drei Jahren waren wir eines Abends auch rausgegangen, nach dem Bruch an der Grenze. Es war wenig Licht, denn der Mond stand schon im letzten Viertel. Aber wir wussten, dass ein Hirsch im Revier war, und wenn einer sich vorstellte und der andere zutrieb — Wir hatten kein Glück an dem Abend. Zweimal war der Rasun durch das Bruch gegangen, aber kein Hirsch kam. Ganz ärgerlich gehen wir nach Hause, denken an gar nichts Böses, da steht plötzlich auf dreissig Schritt ein Mann vor uns.

Es war so dunkel, dass man nicht erkennen konnte, wer das war. Aber ich hielt ihn für den Förster. Er sah genau so gross und stark aus wie der Dreyhaupt, und die Flinte hatte er unter dem rechten Arm... Mein Kind, was ich Dir sage, ist die reine Wahrheit: Ich wollt im ersten Augenblick Kehrt machen und ausreissen. Ach Gott, hätt' ich das doch getan! Wir waren, wie immer im Wald, hintereinander gegangen, und wie ich stehen bleibe, rennt der Rasun auf mich auf, springt zur Seite und reisst die Flinte von der Schulter, natürlich jetzt ich auch. Und wenn jetzt einer von uns zugerufen hätte: Herr Förster! Oder wie, dann wäre das Unglück nicht geschehen. Aber man wird doch nicht den Mund aufmachen, um sich nicht an der Stimme zu verraten. Ach, Lotte, das muss der Teufel schon so eingefädelt haben für mich! Konnte der dumme Kerl nicht die Beine in die Hand nehmen und vor uns ausrücken? Nein, er reisst die Flinte an die Backe und schiesst. Da war der Verstand bei mir weg. Wie ich das Gewehr hoch gekriegt und den Finger krumm gemacht habe, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen. Aber als man Schuss kracht, klappt der Mann zusammen wie ein Messer und fällt vornüber.“

Der Erzähler schloss die Augen und holte tief Atem. Die Erinnerung hatte ihn gepackt und schüttelte ihn, dass ihm die Zähne wie vor innerem Frost zusammenschlugen. Doch das Mädchen an seiner Seite hatte sich noch mehr in sich zusammengekauert und die Hände vor das Gesicht geschlagen. Erst nach einer langen Pause fuhr der Vater fort; „Er hatte mich auch getroffen. Bis über das Knie hinauf sassen die Wolfshagel in beiden Beinen. Das ist nicht Rheumatismus, mein Kind, was mich plagt. Das sind die Schrotkörner. Ein Dutzend hat nur ja die alte Stankowiczka aus dem Fleisch geschnitten, aber nicht alle.“

„Und der Mann, Vater?“

„Der Mann? Der — war — tot! Ich habe ihn noch in derselben Nacht begraben, ich ganz allein. Der Rasun hatte ja Angst, mitzukommen. Das Grab wird niemand finden, und wenn einer den ganzen Wald durchwühlt. Als ich am andern Morgen wieder an die Stelle kam, da war schon der Sand darüber gelaufen und alles glatt wie ein Tisch. Indem ich so stand und keine Spur mehr sah, da war mir so, als hätt' ich geträumt... bis ich nach Hause kam und der Rasun davon zu reden anfing.“

Bei diesen letzten Worten hatte Lotte sich aufgerichtet. Ihre Augen funkelten. „Vater, kann niemand das Grab finden?“

„Nein, mein Kind. Es wurde: mir ja so schwer, denn ich könnt' mich selbst kaum auf den Füssen halten; aber ich hab' ihn in zwei Laken gewickelt und auf einem kleinen Einspänner bis dicht an die Grenze gefahren.“

„Also, auch Rasun weiss nicht, wo der — tote Mann begraben ist?“

„Was willst Du, Lotte?“

„Aber Vater, dann brauchst Du doch keine Angst zu haben! Wenn der Rasun Dich anzeigt, sagst Du, es ist alles nicht wahr, es ist bloss Rache, weil Du ihn nicht zum Schwiegersohn haben willst. Es weiss doch niemand, wo das Grab liegt.“

Der Alte tat einige hörbare Atemzüge, ehe er tut laut und fest antwortete: „O ja, Lotte, einer weiss, wo das Grab liegt, und das bin ich. Ich. will nicht noch mehr lügen. Es ist genug davon gewesen in den letzten drei Jahren. Jetzt will ich die Wahrheit reden.“

Wie eine Flamme im Stroh, so war in dem Mädchen die Hoffnung aufgeschossen. Wenn der Rasun das Grab nicht zu zeigen vermochte, dann konnte ihm doch das Gericht nicht glauben. Aber der Vater wollte ja nicht, er hielt dies Leben nicht mehr aus. Jetzt wusste sie auch, was er tun wollte: sich selbst dem Richter stellen. Sie musste den letzten Gedanken wohl laut ausgesprochen haben, denn der Alte schüttelte den Kopf.

„Nein, mein Kind, das werde ich nicht tun. Die Leute sollen nicht mit Fingern auf Euch zeigen, weil Euer Vater im Gefängnis sitzt. Sei still, Lotte, weine nicht. Warum weinst Du? Ich bin doch ein schlechter Vater zu Dir gewesen, weil ich zu feige gewesen bin, mein Kreuz selbst zu tragen. Na, das werd' ich jetzt wieder gut machen. Und nu Kopf hoch, Lotte!“ Er zog sie an sich und streichelte ihr die Backen. „Wirst nicht schlecht denken Von Deinem Vater — wenn er nicht mehr da ist? Und dem Johann brauchst nichts zu sagen. Dem Adam? Ja, wenn Ihr glücklich verheiratet seid und er Dich fragen sollte.“

Samel Stopka gab sich einen Ruck und erhob sich. „So, jetzt such mir meinen grossen Reisepelz vor und die Pelzstiefel und lass die beiden Braunen vor den Schlitten Spannen. Ich hab' heute noch einige Meilen Wegs vor mir. Ja, was ich sagen wollte: Da in meinem Spind in der Schublade rechts liegt ein Zettel. Da steht der Name darauf von der Frau des Toten. Sie lebt mit fünf Kindern in Prawdowko. Sie hat bis jetzt keine Not gelitten, und Du wirst weiter für sie sorgen. Das Geld dazu gebe ich Dir noch, davon braucht der Johann nichts zu wissen.“

Wie im Traume war Lotte den ganzen Tag umhergegangen. Adam war zur Vesperzeit aus dem Walde gekommen und hatte sein Essen verlangt. Sie hatte sich vor ihm nicht sehen lassen, sondern das Essen durch eine Margen hineingeschickt. Nach einer Stunde war er wieder gegangen. Spät abends, als die Krugstube schon leer war, kam Rasun. Lotte war allein im Schankraum. Sie stellte das Glas Bier, das er verlangte, vor ihn hin und wollte gehen. Er stand auf und kam hinter ihr her nach der kleinen Stube.

„Was willst Du von mir?“

„Ich will mit Dir reden.“

„Wir beide haben nichts mehr miteinander zu reden. Trink Dein Bier aus und geh nach Haus!“

„Wo ist Dein Vater?“

„Weggefahren! Ich weiss auch nicht, wann er nach Hause kommt.“

„So? Na, dann kannst Du ihm ja bestellen, dass ich ihn morgen früh abholen werde. Wir wollen nach Wondollek fahren.“ Er lachte kurz vor sich hin. „Ach so, ich vergass, dass Du jetzt alles weisst. Also dann sag ihm, die Hirsche stehen dort unten an der Grenze in dem kleinen Busch, wo“ — Er sah lauernd das Mädchen an, das bei diesen Worten zusammenzuckte. „Na, er wird schon wissen. Vielleicht weisst Du auch, was ich meine.“

„Ja, Rasun, ich weiss ganz genau, was Du meinst, und ich sage Dir, Du tust besser, wenn. Du allein gehst.“

Der Bauer zog pfeifend die Luft durch die gespitzten Lippen ein. „So, damit willst Du mich schrecken? So dumm bin ich nicht. Dein Vater und ich verstehen uns sehr gut. Bloss Du“ — Er trat ihr einen Schritt naher und schlug einen ganz andern Ton an. „Sag mal, Lotte, was hast Du gegen mich?“

Sie mass ihn mit einem verächtlichen Blick von oben bis unten. „Was ich gegen Dich hab'? Das fragst Du noch? Den Vater hast Du bis aufs Blut gequält“ —

„Und weshalb, Du dumme Margell, Du? Weil ich Dich haben will.“ Seine Stimme nahm einen weichen Klang an, „Bei Gott, Lotte, ich will nicht das Geld. Das konnte ich jeden Tag von Deinem Vater haben, wenn ich wollte. Du weisst ja, weswegen. Aber das will ich nicht, bloss Dich; und ich nehm' Dich, auch wenn Du keinen Pfennig mitbekommst. Lotte, sei doch blos ein bischen gut zu mir! Ich schwör' Dir hier, dass nie ein Wort über meine Lippen kommen soll gegen Deinen Vater, und Du sollst Deinen Finger nicht in kaltes Wasser stecken als meine Frau.“

Er streckte die Hände nach ihr aus. Sie wich schaudernd zurück.

„Sag mir nur eins, Rasun: Hast Du den Hund vergiftet?“

„Was geht Dich das an? Aber jetzt weiss ich genug. Dir steckt der Jäger im Kopf. Na, von der Krankheit werden wir Dich bald heilen, den werd' ich bald klein kriegen. Zweimal hat er schon, vor meiner Flinte gestanden, ohne es zu wissen. Das dritte Mal geht er nicht zu Fuss nach Hause. Ich hab' das gelernt von Deinem Vater, wie ein Mensch' verschwindet, dass niemand sein Grab findet, wenn der Wind den Sand darüber geweht hat.“

Rasun war gegangen, ohne das Glas Bier berührt zu haben. Lotte sass auf dem Stuhl und starrte auf den Lichtstumpf, der langsam herunterbrannte, Sie hatte keine Gedanken mehr. Nur ein dumpfes Gefühl lag auf ihr. Sie sah das Unglück sich heranwälzen und musste stillhalten. Die Hände hatte sie geballt und die Zähne aufeinander gebissen, denn wenn sie jetzt den Mund aufmachte, dann musste sie mit gellender Stimme losschreien, dass die Menschen im Hause erwachten.

Erst spät in der Nacht kam der Vater nach Hause. Sie musste wohl geschlafen, haben, denn sie schrak auf, als er ins Zimmer trat Aber was war das? Er sah so freundlich, beinahe vergnügt aus. Getrunken hatte er nicht, das sah sie auf den ersten Blick. Eine leise Hoffnung wollte in ihr aufkeimen und sie wusste nicht, weshalb. Sie scheute sich auch zu fragen, als der Vater freundlich „Gute Nacht“ sagte und ihr dabei liebevoll über die Haare strich. Aber sie konnte wenigstens erfahren, wo er gewesen war; sie brauchte bloss dem alten Knecht, dem Kuba, mit einem Schnaps die Zunge lösen. Der Graubart sass hinter seiner Schüssel voll Erbsen in der Gesindestube und schüttelte den Kopf, als sie ihn fragte.

„Gar nicht auszuwundern, Lottchen, gar nicht, Erst fuhren wir nach Johannisburg und gleich beim Harrer vor. Nach einer Stunde kam der Vater `raus und ging zu Fuss nach der Sparkasse und nachher noch zum Rechtsanwalt. Ich hab' in der Zeit die Pferde gefüttert und das war sehr gut, denn wir sind in einem Zug von der Stadt gefahren bis — Na rat mal!“

„Bis Prawdowko?“

„Richtig. Na denn, Du weisst ja wohl mehr als ich. Ueber die Grenze ist der Vater zu Fuss gegangen, aber ich weiss nicht, ob ich das erzählen soll.“ Der Alte schielte nach der Flasche, die Lotte in den Händen hielt. Sie goss ihm noch einen Schnaps ein. Er trank und lachte verschmitzt. „Als er zurückkam, ging ein Weib mit ihm und hat ihn in den Schlitten gepackt und ihm den Ärmel geküsst und immer gesagt: „Ich dank' auch vielmal, Herr Wohltäter, und ich werd' Tag und Nacht den lieben Gott für sie bitten.“ Weiter verstand ich nicht, denn wir fuhren los, und ich versteh' auch jetzt nicht, was das Weib haben wollte. Vielleicht hat der Herr ihr Geld geschenkt. Aber wofür?“

Lotte schenkte ihm noch einen Schnaps ein und wartete, bis er gegessen hatte. Dann schloss sie das Haus hinter ihm, und schlich leise zu Vaters Tür. Durch eine Spalte schimmerte noch Licht. Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf. Sie wusste jetzt ganz genau, was der Vater heute getan hatte. Er hatte sein Haus bestellt wie ein Mensch, der auf dem letzten Lager liegt. Eine furchtbare Angst stieg in ihr auf. Wenn sie morgen früh aufstand und den Vater nicht mehr am Lehen fand! Behutsam drückte sie die Klinke, die Tür gab nach. Der Vater lag im Bett lang ausgestreckt, mit gefalteten Händen, die Augen zur Decke gerichtet. Als die Tür knarrte, wandte er den Kopf. Ein trauriges Lächeln ging über sein Gesicht. Im nächsten Augenblick lag Lotte neben seinem Bett auf den Knien. Er strich ihr sanft über das Haar.

„Kannst ruhig schlafen, mein Kind, ich gehe noch nicht weg. Und verlass Dich darauf, es wird niemand sagen können, dass der Samel Stopka selbst Hand an sich gelegt hat.”

In Kleidern hatte Lotte sich auf das Bett geworfen, um sich ein wenig auszuruhen, denn ihre Füsse wollten sie nicht mehr tragen. Aber schlafen, konnte sie nicht. Sie lag und grübelte darüber nach, was der Vater zu tun beabsichtigte. Schliesslich hatte die Müdigkeit sie doch überwunden. Als sie aufwachte, war es heller, lichter Tag. Adam war schon fort zum Forstgerichtstag nach Johannisburg. Auch der Vater war fort, nach Wondollek, wie Kuba ihr sagte, um Töpfe und eiserne Ringe zu kaufen. Der Rasun war mit ihm gefahren. Jetzt befiel sie die Angst. Es war ihr, als flüsterte ihr jemand ins Ohr, der Vater kommt nicht wieder. Und das furchtbare Gefühl, so allein zu sitzen und auf das Unglück warten zu müssen! Tausend Gedanken stiegen in ihrem Kopf auf, sie kamen und gingen, aber die Angst blieb. Wenn sie den grossen Schlitten anspannen liess und dem Vater nachfuhr? Aber wohin? Vielleicht war ihre Angst unnötig, vielleicht war er wirklich zur Eisenhütte gefahren? Aber was hatte der Rasun dort zu tun? Wohl hundertmal lief sie auf die Brücke, von wo sie den Weg eine ganze Strecke übersehen konnte. Jede Stunde schickte sie den Knecht hinüber und liess fragen, ob Rasun schon zu Hause wäre. Und dabei ruhig bleiben, den Leuten im Krug mit freundlichem Gesicht Schnaps und Bier einschänken!

Langsam krochen die Stunden. Es wurde Abend, aber niemand kam. Lotte sass in der Dämmerstunde allein in der grossen Stube. Der Kopf tat ihr weh, die trockenen Augen schmerzten, und in der Brust brannte es ihr wie Feuer. Jetzt war ihr einziger Gedanke: Wenn doch bloss Adam käme! Und als er hereintrat, da hörte sie es nicht. Er war vergnügt und pfiff wie eine Drossel im Frühjahr. Der Forstinspektor, dem er sein ganzes Herz ausgeschüttet, hatte ihn gelobt und ihm gut zugeredet auf dem Posten auszuhalten. Am Nachmittag hatte er mit den Kollegen von der grünen Farbe ein bischen gekneipt. In übermütiger Stimmung war er nach Hause gewandert. Noch heute wollte er die Sache mit Lotte ins Reine bringen und dann Vater Samel stellen. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er den nicht von dem Rasun losbekommen sollte. Was konnte denn da vorliegen? Wahrscheinlich hatten die beiden zusammen gewildert und jetzt drohte der Kerl mit der Anzeige. Und wenn schon, wenn wirklich etwas bewiesen werden konnte, dann liess er sich weit weg nach Littauen versetzen oder gar nach Pommern, wo niemand von den Dingen hier etwas wusste.

Er hatte sich zu Lotte auf die Bank gesetzt und sie, ohne ein Wort zu sagen, in den Arm genommen. Was sollte er auch noch fragen? Er fühlte ja, wie sie sich an ihn schmiegte, als wollte sie bei ihm Schutz suchen. Weiter wollte er auch nichts wissen, als dass sie ihn lieb hatte. Jetzt mochte kommen, was da wollte.

Auch über das arme gequälte Herz an seiner Seite war es wie ein Glücksgefühl gekommen. Nicht heftig und stürmisch, sondern leise wie ein sanfter Schleier hatte sich das sichere Bewusstsein über sie gesenkt, dass sie in ihrer Angst und Not nicht mehr allein sei. Aber sie fuhr dennoch zusammen, als Adam fragte: „Wo ist der Vater? Ich muss ihm doch sagen —“

„Was willst Du mir sagen, mein Jungchen?“

In der Tür zum Hinterzimmer stand Samel Stopka.

„Dass Lotte den Rasun heiratet, das lass ich nicht zu.“

„Ich auch nicht, Adam!“

Ganz verblüfft sah der junge Forstbeamte nacheinander Vater und Tochter an. Es war so dunkel geworden, dass er die Gesichtszüge nicht mehr unterscheiden konnte. Was bedeutete das? Aber bevor er fragen konnte, hatte Samel seine Stöcke auf den Tisch gelegt und beide Hände ausgestreckt.

„Kommt her, Kinder, dass ich Euch an mein Herz ziehen kann! Adam, ich hab' ja von Anfang an gewünscht, dass Du mein Sohn werden möchtest. Und nun frag' nicht viel! Die Lotte hat schon gestern dem Lorbass den Laufpass gegeben. Wie ich mit ihm auseinanderkomme, das ist meine Sache. Zerbrecht Euch darüber nicht den Kopf, es wird alles gut werden.“

Wie im Traume ging Lotte nach dem Keller, um eine Flasche von dem Grüngesiegelten zu holen, der seit Jahren unberührt in der Ecke lag. Der Vater wollte mit ihnen beiden auf ihr Glück anstossen. Ihr Herz wollte vor Freuden jauchzen, aber sie getraute sich nicht, dem Glücksgefühl Raum zu geben. Es war ihr zu schnell gekommen, und dann lauerte noch immer in ihr die Frage, was denn mit Rasun wäre. Das der sich mit Geld den Mund nicht stopfen liess, das wusste niemand so genau wie sie. Und mit Angst beobachtete sie den Vater, der mit ihnen anstiess. Er war freudig gestimmt, aber in seinen Augen lag etwas, das ihr nicht gefiel.

Mit Angst ging sie in die Küche, um den beiden Männern ein gutes Abendbrot zu rüsten. Als sie zurückkam, sass Adam allein am Tisch.

„Wo ist der Vater?“

„Er ist noch einen Augenblick ins Dorf gegangen. Er hat noch etwas abzumachen. Wir sollen allein essen, wenn er nicht gleich zurückkommt.“

Lautlos brach Lotte zusammen.

Sie waren beide nicht wiedergekommen, weder Samel noch Rasun. Erst nach Wochen erfuhr Lotte, dass jenseit der Grenze der Fluss einen Toten ans Ufer gespült hatte, der nach der Beschreibung ihr Vater sein konnte. Unter der Menschenmenge, die das Geheimnis herbeigelockt hatte, war auch eine arme Witwe aus Prawdowko, deren Mann vor Jahren auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Sie erbot sich, den Unbekannten bestatten zu lassen; niemand wusste, weshalb.

Der Aeltervater.

Was zu unserer in Masuren weitverbreiteten Sippe, gleichviel ob von Schwert- oder Spindelseite gehört, pflegt bei Rechtsstreitigkeiten nicht aufs Gericht zu laufen. Man unterwirft sich lieber dem Schiedsspruche des Familienoberhauptes. Das ist billiger und führt schneller zum Ziel. Seit etwa dreissig Jahren gilt mein Vater als Haupt der Sippe, die wohl hundert waffenpflichtige Männer zählt. Rechnet man das Weibervolk und die entsprechende Nachkommenschaft — ein halbes Dutzend dürfte etwa dem durchschnitt entsprechen — hinzu, dann wird man sich ein Bild von der Bedeutung dieser Gruppe von Familien machen können, die den verwandtschaftlichen Zusammenhang mit gutem Vorbedacht unterhalten und pflegen. Für uns Jungens war es jedesmal ein Fest, wenn Verwandte zur Einholung eines Schiedsspruches erschienen. Manchmal kamen nur ein paar Männer, öfter jedoch war jede Partei durch ein halbes Dutzend Männer und Frauen vertreten. Nach der Begrüssung wurde alsbald eine Trennung der Geschlechter vorgenommen. Die Männer blieben beim Vater im Vorderzimmer und besprachen bedächtig bei einem Glase Bier den Streitfall. Viel lebhafter ging es im Hinterzimmer zu, wo die Frauen unter dem Vorsitz meiner Mutter die Angelegenheit erörterten. Da half keine Kunst der Überredung. Immer erhitzter wurden Rede und Gegenrede, immer höher die Stimmen, bis mein Vater die Tür öffnete und mit einem energischen „Donnerwetter!“ dazwischen fuhr. Das half besser als die triftigsten Gründe. War der Streit beigelegt und der Friede durch Handschlag besiegelt, dann wurde an langer Tafel vergnügt geschmaust. Das beste dazu hatten die Verwandten mitgebracht: ein gebratenes Spanferkel, eine Gans oder fette Enten. Ein gutes Fischgericht und die nötigen Getränke lieferte unser Elternhaus.

Mitten in meinem ersten Studiensemester hatte mich das Heimweh gepackt. Am Morgen des Sonnabends vor Pfingsten hatte ich früh mein Ränzel geschnürt und mich auf die Bahn gesetzt. Einen „Dhaler und sechs Dittchen“ kostete die Fahrt in der vierten Klasse von Königsberg nach Lyck. Das war noch zu erschwingen! Als ich im Abendgrauen auf mein Elternhaus zuschritt, strahlte heller Lichterschein aus den Fenstern. Eine grosse Gesellschaft von Verwandten fand ich vor.

Die Sparkas aus Wilken hatten sich mit den Rosteks aus Rakowen veruneinigt. Von der gemeinsamen Grossmutter her besassen sie ein grosses Gelände auf den meilenweiten Pissowoder Wiesen, das nicht nur Heu und Streu, sondern auch Torf lieferte. Bisher hatten die Sparkas auf den Torf keinen Anspruch gemacht, denn sie wohnten dicht an der grossen Haide und hatten Brennholz in Hülle und Fülle. Nun hatte Johann Sparka kürzlich zum zweiten Mal geheiratet. Eine Joswig aus dem Hause Pietrzyken, und sie fand es unbillig, dass die Rosteks allein den Torfboden nutzten. Entweder sollten sie das unterlassen oder etwas dafür bezahlen.

Die junge Frau war entschieden sehr wirtschaftlich veranlagt und hatte auch eine gewisse Berechtigung für ihre Forderung. Bei meiner Ankunft war der Streit bereits beigelegt. Mein Vater hatte entschieden, dass Johann Sparka von jetzt ab alljährlich ebensoviel Torf stechen und auf dem Markte in Johannisburg verkaufen dürfe, wie die Rosteks für ihre Haushaltungen verbrauchten, und über diesen Spruch war die junge Frau so sehr erfreut, dass sie einige Tage später zwei Scheffel Weizen schickte: die Rosteks waren auch zufrieden, denn sie versprachen zum Herbst ein ganzes Faselschwein. Die Sparkas hatten ihren Aeltervater Samel mitgebracht, einen Greis von nahezu neunzig Jahren, der seine mächtige, hohe Gestalt so aufrecht hielt wie ein Jüngling. Auch sein glattrasirtes Gesicht sah noch frisch und blühend aus. Das nach uralter Sitte bis auf die Schultern herabhängende Haar war noch nicht völlig ergraut. Nur die buschigen Brauen über den klugen Augen waren ganz weiss. Es war der Bruder meiner Grossmutter, die hochbetagt in unserm Hause lebte. Jetzt sassen die beiden Alten, die sich lange nicht gesehen hatten, beisammen auf dem Sofa und sprachen von alten Zeiten, in denen sie beide jung gewesen waren. Mich hatte der Grossonkel mit grosser Freude und einem gewissen Respekt begrüsst, der meiner zukünftigen Gelehrsamkeit galt. Nur eins gefiel ihm an mir nicht: dass ich den Vornamen Fritz führte. Der Erstgeborene im Hause Skowronnek sollte nach altem Herkommen Adam heissen. Es wurde ziemlich spät, bis die Gesellschaft sich zur Ruhe begab. Für die Männer war auf der Tenne eine grosse Streu bereitet, auf der sie, mit ihrem grauen Mantel aus grobem Tuch bedeckt, den Schlaf der Gerechten schliefen. Auch die Frauen schliefen „table d'hôte“, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Auf der grossen Oberstube war für sie eine dicke Schicht von Richtstroh mit Laken bedeckt. Dazu ein Kissen und ein Deckbett. Nur der Aeltervater Samel erhielt ein eigenes Bett. Er sollte in meinem Zimmer schlafen.

Ich war rechtschaffen müde, aber zum Schlafen kam ich noch lange nicht. Der Vollmond schien so hell in unser Zimmer, dass man bei seinem Scheine beinahe hätte lesen können. Der alte Mann lag in seinem Bette mit offenen Augen, mitten in dem Lichtstreifen, der vom Fenster hereinfiel. Ein heiterer Glanz strahlte von seinem Gesicht.

Mich beschlich ein wundersames Gefühl. Wie lustig und lebensfroh war der Alte, der am Ausgang seines Daseins stand! Wie der jüngste von uns hatte er gescherzt und gelacht! Schreckte ihn das Ende nicht oder machte er sich darüber keine Gedanken? Ich sollte bald eines Besseren belehrt werden; denn nach einer Weile begann der Alte: „Sag mal, Fritzku, wissen die Gelehrten schon, was die Sterne sind?“

„Jawohl, Grossonkel, es sind solche Erden wie die, auf der wir leben.“

Der Alte wiegte nachdenklich den Kopf. „Wohnen dort auch Menschen?“

„Das weiss man nicht. Bei manchen ist es möglich, bei manchen wahrscheinlich.“

„Hm, vielleicht könnten auch bloss Geister darauf wohnen, aber die kann man ja nicht sehen.“

Ich musste lachen. „Nein, Grossonkel, die kann man auch mit dem schärfsten Fernrohr nicht entdecken.“

Nach einer Weile begann der Alte wieder: „Sag mal, Fritzku, wie ist eigentlich so ein Fernrohr? So wie eine scharfe Brille, nicht wahr?“ Vom Fernrohr kamen wir zur Spektralanalyse und dann wieder zu den Sternen, die wir von unserm Lager aus durch das Fenster erblicken konnten. Der alte Mann war unermüdlich im Fragen, und er wollte nicht bloss wissen, was ich ihm berichten konnte, nein: viel mehr interessirte es ihn, wie die Menschen zu diesem Wissen gelangt waren. Mir wollten die Augen vor Müdigkeit zufallen, aber immer wieder störte mich der Alte durch sein Fragen auf. Endlich war ich doch mitten in einer schwierigen wissenschaftlichen Erklärung fest eingeschlafen. Der Alte aber, vor dem ich mit meinen schwachen Kräften eine neue wunderbare Welt der Gedanken aufgebaut hatte, lag noch lange wach und schaute in den Mond, den er jetzt aus meinen Schilderungen genau kannte. Ihm genügten wenige Stunden Schlaf. Bereits am frühen Morgen weckte er mich, um mir eine Reihe von Fragen vorzulegen, die in der Stille der Nacht ihm durch den Kopf gegangen waren. Er wollte von mir wissen, wie der Mensch dazu gekommen war, an Gott zu glauben und sich selbst eine unsterbliche Seele zuzuteilen.

Er hätte kein besseres Thema finden können, um mich wach zu machen. Mit grosser Lebhaftigkeit, so gut es in der einfachen masurischen Sprache vonstatten ging, führte ich ihm alle die philosophischen Beweise für das Dasein Gottes vor, häufte alle Wahrscheinlichkeitsgründe für die Unsterblichkeit der Seele — umsonst. Er schüttelte nur leise den Kopf, so dass ich zuletzt ganz verwundert fragte, wie er denn so vergnügt sein könne in dem Glauben, dass sein Dasein mit dem körperlichen Tode völlig beendigt sei. Voller Lebhaftigkeit erhob er sich und streckte die Hand nach mir aus.

„Das wirst Du später erfahren, mein Sohn, wenn Deine eigenen Kinder um Dich herumspringen. Ich sterbe; aber ich bleibe leben, nicht in einer, nein, in zwanzig, in hundert, in tausend Gestalten. Sieh mal den Johann, meinen Enkel, an. Er ist anders, als ich bin und sein Vater war. Seine Kinder sind auch anders als er. Aber in jedem sehe ich, dass das ein Stückchen von meinem Geiste ist. Ich kann ruhig die Augen zumachen, davor fürchte ich mich nicht, denn ich lebe schon in mehr als dreissig Kindern und Enkeln.“

Er stand auf und trat ans Fenster. Unten am Brunnen wuschen sich die Männer, putzten ihre Stiefel und bürsteten sich gegenseitig die Spuren des nächtlichen Lagers von den Röcken. Zuletzt zog einer dem andern mit Hilfe eines Kammes, den sie vorsorglich mitgebracht hatten, den Scheitel. Mit lauter Stimme rief der Alte zu ihnen hinunter: „Kinder, ich bin heute Nacht zehnmal klüger geworden, als ich in meinem ganzen Leben war. Ich bleibe hier, wenigstens ein paar Tage. Ich muss dem Fritz alles abfragen, was er noch weiss.“ Und so geschah es. Die Verwandten fuhren ab, der Alte blieb. Nun durchlebte ich einige wunderbare Tage, die ewig in meiner Erinnerung haften werden, denn die Fragen des Aeltervaters Samel zwangen mich förmlich dazu, ein Inventarium alles dessen aufzunehmen, was ich wusste. Und das beste daran war, dass ich sehr deutlich inne wurde, dass ich noch sehr wenig wusste. Wenn ich dann zu meiner Hilfe ein Buch hervorsuchte, dann sah der Alte ehrfurchtsvoll auf dies Hilfsmittel des menschlichen Geistes und klagte in rührender Weise, dass er nur polnisch sprechen und lesen gelernt habe. Am letzten Abend vor seiner Abreise sassen wir auf der geräumigen Veranda des Hauses beisammen. Eine wundervolle milde Frühlingsnacht sank herab. Die Sonne war schon lange versunken, aber noch stand das Abendrot hellstrahlend am westlichen Himmel, von einzelnen goldgeränderten Wolken durchzogen, die sich auf der stillen Fläche des weiten Landsees spiegelten. Im Osten über dem Dunklen Tannenwalde stieg der Vollmond empor, und aus dem grünen Saatfelde vor uns klang gedämpft der leise Lockruf des Rebhuhns. Vom Dorfe klang ab und zu ein Hundeblaff herüber. Eine ganze Weile hatten wir still beieinander gesessen. Dann fragte mein Vater: „Hast Du, Onkel Samel, jemals etwas von Deiner Tochter Sophie gehört? Weisst Du überhaupt, ob sie noch lebt, und wie es ihr geht?“

Ich sah, wie der Alte bei diesen Worten die rechte Hand ballte, und strich ihm leise über den Arm. Langsam nickte er einige Male mit dem Kopf, dann wandte er sich zu mir und sagte in mildem Tone: „Du hast recht, mein Sohnchen, sie ist ja auch ein Stück von meinem Geist gewesen. Und kein Mensch kann verlangen, dass seine Kinder in allem so tun und denken wie er. Dazu bekommt jedes Kind seinen eigenen Kopf für sich mit.“

Jetzt bat ich schmeichelnd den Aeltervater, er möchte uns doch erzählen, wie die Geschichte mit seiner Tochter Sophie gekommen war. Auch der Vater wüsste nicht alles. Dem Alten hatte sich die Seele gelöst. Mit ruhigen, freundlichen Augen sah er uns alle an. Allmählich flog sein Blick ins Weite, und dann begann er zu erzählen: „Ihr könnt Euch ja gar nicht vorstellen, Kinderchens, wie es zu jenen Zeiten, als ich jung war, hier in Masuren aussah. Jetzt spannt man ein Paar junge Pferde vor den leichten Klapperwagen, und in wenigen Stunden ist man sechs, sieben Meilen auf der glatten Chaussee `runtergerutscht, oder man setzt sich auf die Eisenbahn, und — bim bim bim bim bim — fährt man wie ein König von Johannisburg nach Lyck. Aber früher! Da dankte man Gott, wenn man im Sande den vollen Wagen bis zur Stadt brachte, und wir haben doch gelebt und ein schönes Stück Geld eingenommen. Im Winter fuhr ich mit einer Fuhre voll Grütze nach Königsberg, und im Sommer, da gingen wir über die Grenze. Heutzutage lohnt sich das nicht mehr, denn jetzt ist in Russland alles billiger als bei uns, und jetzt schmuggeln die Russen zu uns herein, was wir früher zu ihnen trugen.“

„Was habt ihr denn früher geschmuggelt, Grossonkel?“

„Alles, was einen Namen hatte, mein Sohnchen, Seide und Spiritus und Stahlwaren, Kaffee, Zucker. Am meisten haben wir Gewehre getragen, aber das war sehr gefährlich, denn wenn die Russen einen dabei erwischten, dann machten sie kurzen Prozess. Zum Gewehrtragen waren auch genug Polaken da. Die kamen fast jede Nacht in Haufen von dreissig, vierzig Mann über die Grenze und kauften bei den Kaufleuten in Johannisburg ein. Das heisst, nicht in Johannisburg selbst. Sondern die Kaufleute packten nachmittags ihren Wagen voll und fuhren gegen Abend damit in die Haide, bald hier, bald dort, je nachdem verabredet war. Dann machten sie aus trockenem Holz ein grosses Feuer und brauten sich Grog, bis die Polen und Juden kamen, um mit ihnen zu handeln.“

Bei diesen Worten lachte mein Vater still vor sich hin. „Ich habe manchmal als junger Haideläufer nachts an einem solchen Feuer gesessen, und das war nicht immer ganz ungefährlich, denn die Straschniks respektirten die Grenze nicht. Sie kamen in ganzen Trupps herüber und suchten die Wälder ab. Manchmal haben sie im Winter bei Mondschein ganze Treibjagden veranstaltet.“

„Ja, ja, Adam“, fuhr jetzt der Alte fort, „Du kennst ja die Sache auch noch aus eigener Erfahrung.“

„Gingst Du auch mit dem Pack über die Grenze, Grossonkel?“ fragte ich.

Der Alte sah mich mit einem wunderbar verschmitzten Blick aus den Augenwinkeln an und nickte energisch mit dem Kopfe. „Ich trug meine anderthalb Zentner mit Leichtigkeit; vielleicht möchte ich sie auch jetzt noch zwingen. Wir hatten auch nicht sehr weit zu tragen, denn damals hatte die Regierung schon durch das grosse Barlock-Bruch die Kanäle graben lassen, um der Eisenhütte in Wondollek Wasser zu schaffen. Da fuhren wir denn jeder mit einem leichten Kahn bis zum Wehr hinunter, wo das Wasser gestaut wurde, und von dort hatten wir nur noch ein paar hundert Schritt bis zur Grenze.“

„Lauerten Euch denn dort nicht die Straschniks auf?“

„Manchmal ja, manchmal auch nein, und wir wussten stets sehr genau, wann sie nicht da waren. Das besorgten die Händler, für die wir die Packen trugen.“ Dabei machte er mit Daumen und Zeigefinger die bekannte Bewegung des Geldzählens.

Nachdem er sich ein frisches Glas Grog gebraut und eine Zigarre angesteckt, fuhr er fort:

„In den dreissiger Jahren waren die Filipponen zu uns gekommen. Sie wohnten ehemals in dem Gebiet, das vor dem unglücklichen Krieg zu Preussen gehört hatte. Wie die Russen nachher dort Herren wurden, ging es den Filipponen sehr schlecht. Denn sie wollten nicht Soldat spielen und überhaupt keine Obrigkeit anerkennen. Deshalb waren die Russen ganz froh, als der preussische König diese Heisswassertrinker aufnahm. Zuerst kamen zwei Brüder über die Grenze, der Sidor und Jafim Borissow. Der Sidor war schon ein alter Mann mit grauen Haaren. Das war ihr Starik, ihr Geistlicher. Dann kamen bald die andern Familien nach, der Onufri Jakublew, die Krimows, Slojikows und wie sie alle heissen. Jetzt sind sie ja schon ganz manierlich und zum Teil auch vernünftig geworden. Aber damals! Da musste man immer lachen, wenn man so einen Vogel ansah. Denn wie ein bunter Vogel sahen sie aus. Alles war rot und blau an ihnen, die kurze Jacke ohne Knöpfe rot, das Hemd, das sie ausserhalb der Hosen trugen, blau und rot gestreift und die kurzen Hosen, die nur bis zum Knie reichten, blau. Alles machten sie selbst. Die Hüte flochten sie sich aus gespaltenen Fichtenwurzeln, aus Birkenrinde machten sie sich Sandalen, die sie mit bunten Bändern bis ans Knie festschnürten. Auch ihre Häuser bauten sie selbst aus runden Stämmen. Na, das kennt ihr ja alle noch!

Aber was für eine Zucht damals in der Johannisburger Haide begann, davon habt ihr keine Ahnung. Die Kerle glaubten einfach, dass Wald und See nur für sie geschaffen seien. Am Tage lagen sie auf dem See und fischten, und des Nachts gingen sie wilddieben. Mit der Regierung führten sie geradezu Krieg. Sie wollten keine Geburt, kein Begräbnis anmelden, und wenn einer zum Militär eingezogen werden sollte, dann ging er auf ein paar Jahre über die Grenze und kam später unter einem anderen Namen wieder zurück. Unterscheiden konnte man die Kerle ja nicht. Einer sah wie der andere aus. Sie waren alle gross und schlank gewachsen, hatten blonde Haare und einen blonden krausen Bart, den sie sich nie scheren durften, das verbot ihnen ihr Glauben.

Eine der letzten Familien, die herüber kamen, waren die Iwanows, auch zwei Brüder. Der ältere war schon verheiratet, der jüngere, ein hübscher, flotter Kerl von vielleicht fünfundzwanzig Jahren, war, wie man sagte, mit der Tochter des Sidor Borissow verlobt. Das war gerade in der Zeit, als meine Frau starb und meine Tochter Sophie die Wirtschaft übernahm. Das heisst, ich hatte sie ihr nicht verschrieben, denn ich war ja noch ein junger Mann in den besten Jahren und wollte mich noch lange nicht zur Ruhe setzen. Zudem waren auch zwei Jungens da, und da konnte ich doch nicht die Besitzung, die so lange Jahre in unserer Familie gewesen war, einem Schwiegersohne verschreiben.

Du, Adam, hast ja die Sophie noch sehr gut gekannt, ihr seid wohl beide in gleichem Alter. Nicht wahr, das war doch eine forsche Margell! Gross und schlank, und ein paar Augen hatte sie im Kopfe wie glühende Kohlen.“

„Ich war damals mit dem Kahnert in Zimna stationiert“, warf mein Vater ein, „wir waren ja damals fast täglich bei Dir im Kruge, besonders seitdem der Kahnert Feuer gefangen hatte.“

„Ja, ja, von dem Kahnert wollte ich eben erzählen. Schade, dass er nicht mein Schwiegersohn geworden ist, aber wer kann alles voraussehen? Zuerst habt ihr beide gelacht, wenn ihr kamt und den Fama Iwanow am Tische sitzen fandet. Ich habe auch gelacht über den Liebhaber der Sophie, der kaum so viel Worte masurisch sprach, dass er sich ein Glas Braunbier bestellen konnte. Er hat wohl mit seinen schönen blauen Augen gesprochen, denn wenn die Sophie am Schenktisch erschien, um Schnaps einzugiessen oder etwas zu verkaufen, dann liess er keinen Blick von ihr. Es hat gar nicht lange gedauert, da fingen die Leute an, darüber zu reden, dass der junge Filippone jeden Tag bei mir im Kruge sass. Aber was wollte ich machen? Ich konnte ihn doch nicht hinausschmeissen und hatte auch keine Ursache dazu. So ging das den ganzen Sommer hindurch. Der Kahnert war schon lange eifersüchtig auf ihn. Er hat ihm auf Schritt und Tritt aufgepasst, ob er ihn nicht beim Wilddieben erwischen könnte, aber der Fama war anders als die übrigen Filipponen. Er hat tagsüber fleissig auf dem Felde geschafft und des Abends bei uns im Kruge gesessen.

Im Herbst war ich eines Tages nach Johannisburg gefahren. Wie ich ziemlich spät in der Nacht nach Hause komme, ist bei mir noch alles hell. Ich denke gleich: da ist etwas nicht richtig. Und wirklich, wie ich in die Krugstube komme, sitzt der Fama noch am Tisch und bei ihm die Sophie mit dick verweinten Augen. Ich frage, was los ist. Da springt sie auf mich zu, fasst mich um den Hals und weint und schreit: Ein Unglück, Vaterchen, ein Unglück, sie wollen den Fama einsperren!`

Wer? Was? Wofür?` frage ich, hat er einen totgeschlagen?`

Nein, Vater`, sagt die Sophie, das ist meinetwegen, bloss meinetwegen.`

Na, ich habe mich nie über etwas aufgeregt und jetzt, wie ich alt bin, weiss ich, dass das sehr gut ist, denn alles geht vorüber, Kinderchen, Gutes und Böses, der Mensch muss bloss Geduld haben. Ich gehe also erst zur Tonbank und giesse mir einen grossen Krausen ein. Das weiss ich noch so wie heute. Dann setze ich mich an den Tisch und sage zu dem Fama: Nu erzähle mal, Bruderchen, was los ist.` Er sprach schon ganz manierlich masurisch, und wenn ihm ab und zu ein russisches Wort unterlief, das verstand ich auch. Also er erzählt, dass heute nachmittag, gerade wie er sich zum Weggehen rüstete, der Sidor Borissow zu ihm gekommen und ihn gebeten hatte, im Kloster etwas auszubessern.“

„War das ein wirkliches Kloster, Grossonkel?“ fragte ich dazwischen.

Der Alte lachte. „Das ist die alte Holzbaracke, die noch jetzt in Onufrigowen steht. Damals wohnten drei oder vier Kerle drin, die zu heilig waren um zu arbeiten. Sie liessen sich von den andern füttern und spielten fleissig Karten, so fleissig, dass sie sich manchmal die Köpfe dabei blutig schlugen; aber heilig blieben sie doch. Der Fama hatte also, wie er erzählte, seine Axt genommen und war mit dem Sidor nach dem Kloster gegangen. Dort hatten sich die Heiligen gleich auf ihn geworfen und ihn mit einem Strick zusammengeschnürt, dass er sich nicht rühren konnte. Dann hatten sie ihn vor den Altar geschleppt und von ihm verlangt, dass er nicht mehr zu dem masurischen Mädel, das heisst zu uns, gehen sollte. Sie hatten Angst, dass er von ihrem Glauben abfallen und sich zu uns bekehren könnte, um die Sophie zu heiraten. Als er sich weigerte, den furchtbaren Schwur nachzusprechen, den ihm der Starik vorsprach, hatten sie ihm sehr gründlich das Leder durchgewalkt und ihn in einer unbewohnten Stube, die mit eisernen Gardinen` verwahrt war, eingesperrt. Glücklicherweise hatten sie ihm nicht die Füsse gebunden. Da ist er denn ans Fenster gegangen, hat mit dem Ellbogen die Scheiben eingestossen und an den scharfen Glassplittern, die im Rahmen stehen geblieben waren, die Stricke, mit denen seine Hände gebunden waren, zerschnitten. Dann hatte er die Tür aufgebrochen und war durch die Haustür herausgegangen, ganz ungehindert, und keiner hatte es gemerkt, denn die Heiligen sassen mit dem Starik in einer Stube und spielten Oko, dass der Tisch dröhnte. Jetzt sass er bei mir in der Krugstube.

Was sollte ich nun mit dem jungen Filipponen anfangen? Ich hatte doch keine Schuld, dass ihm seine Glaubensgenossen zu Dach stiegen. Weshalb kam er jeden Tag in den Krug gekrochen? Aber wenn die Sophie nicht gewesen wäre — na, daran hatte ich denn doch Schuld, dass die Sophie da war.“

Der Alte lachte herzlich vor sich hin. Dann fuhr er fort: „Ja, Kinder, damals war mir nicht so lächerlich zu Mute. Was sollte ich tun? Ihn im Hause behalten? Dann würden die Leute bald zu reden angefangen haben. Und war ich sicher, dass mir nicht die Filipponen eines Nachts die Bude über dem Kopfe ansteckten? Daran, dass die Sophie mit dem Fama einig war, daran habe ich an jenem Abend noch gar nicht gedacht. Vielleicht hätte ich dann anders gehandelt. Vielleicht auch nicht. In der Nacht hinausjagen konnte ich doch den jungen Menschen nicht. Denn draussen standen sicherlich die Filipponen und lauerten ihm auf. Und wenn er verschwand, auf immer verschwand, wer sollte es ihnen nachweisen?

Ich liess ihn also auf dem Boden ein Bett aufstellen. Am andern Tage gab ich ihm einen Anzug von einem meiner Knechte, wir setzten uns auf den Wagen und fuhren nach Wondollek zur Eisenhütte. Das hatte ich mir in der Nacht so ausgedacht: dort waren viele Menschen, da war Tag und Nacht Leben, da würde er sicher sein. Zur Vorsicht fuhren wir erst nach Johannisburg zu und bogen erst dicht vor der Stadt ab in den Wald. Der Herr Direktor in Wondollek nahm den Fama gleich als Arbeiter an, denn er konnte Leute gebrauchen, und ich fuhr beruhigt nach Hause. Nun würde auch das Gerede der Leute aufhören. Ich dachte, auch die Sophie würde sich beruhigen und zu dem Kahnert freundlicher werden. Das war doch wirklich ein ansehnlicher Mann, noch einen Kopf grösser als sie und auch ein guter Mensch.

Es kam ganz anders. Eines Nachts waren meine Hunde sehr unruhig. Ich nehme die Laterne, gehe hinaus, suche den ganzen Hof ab und die Ställe, finde aber nichts. Am andern Morgen kommt die Sophie zu mir, weckt mich auf und sagt: Vater, der Fama ist da.` — Nanu`, sage ich, soll die Geschichte denn wieder losgehen? Wieso hat ihn denn der Deuwel hergekarrt?`“

Am Himmel hatte sich langsam eine dunkle Wolkenwand hochgeschoben und den Mond verhüllt. Es war dunkel geworden, ganz dunkel. In der Luft lag eine Schwüle, als wenn ein Gewitter im Anzug stand. Das Gesicht des Aeltervaters konnten wir nicht mehr sehen, nur ab und zu leuchtete seine Zigarre auf, wenn er zwischen den einzelnen Sätzen eine kleine Pause machte. Seine Stimme klang rauh und scharf, als er weiter erzählte.

„Jetzt kamen ein paar schlimme Wochen. Den Fama hielten wir in der kleinen Oberstube versteckt, aber wie das so geht: durch die Margellen, die den Mund nicht halten konnten, wurde es bald bekannt, dass wir ihn im Hause hatten. Mir tat der junge Mensch leid, sonst hätte ich ihm den Stuhl vor die Tür gesetzt. Aber wenn ich das tat, dann war er verloren, denn in jeder Nacht schlichen die Filipponen um unser Haus, und als ich einmal hinausging, wie die Hunde zu toll stürmten, fiel ein Schuss und die Kugel schlug dicht bei mir in die Haustür ein. Eines Tages kam der Kahnert zu uns. Er muss wohl der Sophie Vorwürfe gemacht haben, denn als ich dazukam, hörte ich bloss noch, wie die dumme Margell ihm sagte, er könne ruhig seinen Schnaps und sein Glas Bier trinken, aber um das andere hätte er sich nicht zu kümmern. Zum Unglück musste noch gerade der Fama dazukommen. Er hatte wohl oben von der Treppe aus das Streiten angehört. Mit zwei Sätzen war er in der Krugstube, stellte sich vor den Kahnert hin und fragte ihn, was er von der Sophie wolle.

Im nächsten Augenblicke hatten sich die Männer gepackt. Ich hatte gedacht, dass der Kahnert dem Filipponen, der viel dünner und schmächtiger war als er, die Knochen zerbrechen würde. Aber nein, ehe ich zuspringen konnte, lag der Fama oben und schnürte dem Kahnert die Gurgel zu, dass er blau wurde. Das war mir denn doch zu arg. Ich sprang zu, kriegte den Kerl am Kragen und schlackerte ihn ordentlich ab. Aber meinst Du, dass er sich gewehrt hat? Nicht die Hand hat er gerührt. Bloss einmal sagte er: Herr Sparka`, sagte er, tun Sie mit mir, was Sie wollen. Ich werde mich nicht wehren gegen Sie.` Da kam ich zur Besinnung. Ich stellte ihn auf die Beine, liess ihn los und wies mit dem Finger nach der Tür.

Es hat mir nachher manchmal leid getan. Aber sagt mal, Kinder, konnte ich damals anders handeln? Da kommt so ein junger fremder Mensch ins Haus, verdreht meiner Tochter den Kopf und dann, als ich ihn wochenlang im Haus halte, weil seine Landsleute ihm an den Kragen gehen wollen, wenn er meine Tochter wirklich heiratete...“

Er trank hastig sein Glas aus und stellte es mit hartem Ruck auf den Tisch.

„Was nun kam, das sehe ich noch wie heute vor mir. Wie er ging und stand, schritt er aus der Tür, nur einen Blick hatte er auf die Sophie geworfen und leise gesagt: Lebe wohl, Soscha, wir werden uns nicht wiedersehen!`

Ganz verzweifelt hatte sich die Sophie an mich gehängt und schrie immer: Vater, lass ihn nicht weggehen! Vater, ruf' ihn zurück! Er geht in den Tod meinetwegen, für mich geht er in den Tod!`

Wütend wie ich war, hatte ich die Margell zurückgestossen und mich ans Fenster gestellt. Da sehe ich, dass der dumme Kerl, der Fama, nicht die Strasse nach dem Dorfe hinuntergeht, sondern nach der andern Seite, dem Walde zu. Ich hörte kaum, wie die Tür ging, aber ich drehte mich doch um: die Sophie war weg. Ich sehe durchs Fenster, da läuft die Sophie auf der Strasse hinter dem Fama her. Ich weiss nicht recht mehr, was für Gedanken mir damals durch den Kopf gingen, und nie wäre ich darauf verfallen, dass die Sophie hinter dem Filipponen herlaufen könnte. Überhaupt kann ja niemand wissen, was die Weiber tun wollen. Denkt man so, dann tun sie das andre, denkt man das andre, dann tun sie so.

Ich gehe also vor die Tür und sehe den beiden nach. Gleich vorn am Walde, es waren ja bloss hundert Schritte bis dahin, sind drei, vier Filipponen beim Fama. Die hatten schon auf ihn gewartet. Beinahe musst' ich lachen. Wirst nicht mehr wiederkommen, mein Jungchen`, dachte ich bei mir. Wirst nicht mehr auf die Freit kommen zur masurischen Bauernmargell. Das werden Dir Deine Brüder und Onkels schon austreiben.`

Wie ich nun so stehe und denke, sehe ich, wie die Sophie die Männer einholt. Ich sehe, wie sie sich an den Fama hängt und die andre Hand gegen die Filipponen ausstreckt. Auf einmal steht der Kahnert neben mir und sagt: Wollen Sie nicht ihre Tochter zurückholen, Herr Sparka?` Ich lache bloss. Die wird gleich zurückkommen, und dann werde ich mit ihr ein Wörtchen reden, aber gründlich.`“

Der Alte machte eine Pause, füllte sich das Glas von neuem, nahm einen langen Schluck und fuhr dann ruhiger fort:

„Sie kam nicht zurück, und ich, ich war so wütend, dass ich in die Stube zurückging und mir einen Krausen nach dem andern eingoss. Aber eine Stunde später, da packte es mich. Ich liess mir den Wagen anspannen und fuhr nach Onufrigowen. Ich ging von Haus zu Haus und fragte nach dem Fama und nach der Sophie. Die Kerle grinsten, zuckten die Achseln und keiner wollte die beiden gesehen haben. Ich fuhr zum Schulzen nach Weissuhnen. Der konnte mir auch nicht helfen. Der Gendarm kam erst gegen Mitternacht nach Hause. Er ging sofort mit mir und den Männern, die ich im Krug bei Paprotta fand. Wir haben jedes Haus durchsucht. Wir haben auch das Kloster von oben bis unten durchstöbert: die beiden waren nirgends zu finden.“

Der alte Mann machte eine lange Pause, die wir nicht zu stören wagten. Ganz umständlich steckte er sich eine neue Zigarre an und blies den Rauch mit starken Zügen von sich. Endlich erzählte er weiter: „Ich habe viel Geld ausgegeben, um zu erfahren, wo die Sophie geblieben oder ob sie noch am Leben war. Die Behörden haben sich auch um die Sache gekümmert, haben alle Filipponen vernommen, aber das Gesindel lügt ja, wie es den Mund auftat. Es war nichts herauszubekommen... Vielleicht sechs, sieben Jahre verflossen. Da kam eines Tages der alte Hermann zu mir, der Zigeuner. Er hatte damals ein junges Mädchen bei sich, das er Aschani nannte. Das war ein sonderbares Wesen, denn die Margell konnte ihren Körper und ihre Glieder nach allen Seiten verbiegen, als wenn sie gar keine Knochen im Leibe hätte. Der Hermann liess im Dorfe ansagen, dass er am Abend eine Vorstellung bei mir in der grossen Krugstube geben würde. Jeder, der hereinkam, zahlte einen Dittchen, und nachher ging die Margell noch mit dem Teller sammeln, und die Bauern gaben gutwillig, denn so was wird man auf der Erde nie wieder sehen. Mitten in der Stube hatten sie einen kleinen Teppich hingelegt, und da drauf wand und drehte sich die Margell, dass es ganz grauenhaft anzusehen war. Der Zigeuner spielte dazu die Harfe und ein kleiner Junge von vierzehn Jahren strich auf der Fiedel. Ganz spät in der Nacht, als die Leute alle gegangen waren, sass ich noch allein mit dem Zigeuner zusammen, denn er war ein unterhaltsamer Mann und konnte viele merkwürdige Sachen erzählen, die er gesehen und erlebt hatte. Auf einmal erfasst er meine Hand und sagt: Herr Sparka`, sagt er, nun raten Sie mal, ich habe Ihnen einen Gruss zu bestellen.` Wie sollte ich raten? Wusste ich, von wem? Da sagt er: Von Frau Iwanow, von Ihrer Tochter Sophie.`

Im ersten Augenblicke blieb mir das Blut stehen. Aber dann wurde ich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch: Weiss die Margell denn keinen andern Weg, ihrem Vater Nachricht zu geben, als durch einen Zigeuner? Na, mit der Zeit wurde ich ruhiger und dann erzählte er mir alles, wie es gekommen war. Denkt Euch bloss, die Sophie ist mit dem Filipponen mitgegangen bis Onufrigowen zu dem Starik, dem Sidor Borissow. Dort hat sie vor den Filipponen erklärt, dass sie zu ihrem Glauben übertreten wolle.“

Er schwieg wieder eine Weile, bis er fortfuhr: „Natürlich wurde sie mit Freuden aufgenommen. Der Bruder der Fama spannte sofort ein Fuhrwerk an und brachte die beiden zur Grenze. Von dort sind sie dann weitergegangen, bis nach einem kleinen Dorfe, tief in Russland, wo noch ein paar Familien ihres Glaubens lebten. Nun, und dort ist meine Tochter eine Filipponin geworden... Ich habe später noch manchmal von ihr erfahren. Sie hat sieben stramme Jungens, die alle gut eingeschlagen sind, lebt sehr glücklich mit ihrem Fama und hat die Heimat völlig vergessen.“

Der Wolkenrand am Himmel war zerrissen. Hier und dort blinkte ein Stern, und jetzt trat auch der Vollmond hervor und füllte wieder „Busch und Tal still mit Nebelglanz“. Die Augen des Aeltervaters leuchteten. Er sah uns alle freundlich der Reihe nach an und nickte nachdenklich mit dem Kopfe.

„Was meint ihr, Kinder, hat die Sophie damals recht gehandelt oder nicht? Ich glaube, ja. Das war der einzige Weg, um den Fama zu retten... Gute Nacht, Kinder, gute Nacht! Und Du, Fritzku, komm schlafen! Wir haben uns noch vieles zu erzählen, denn morgen, wenn die Sonne aufgeht, muss ich mich auf den Weg machen. Ich will zur Sophie fahren... Es ist doch mein Kind, wenn es auch andern Glaubens geworden ist... Gute Nacht, Kinder, gute Nacht!“

Josepha.

Langsam schleppten die beiden Ackergäule den schweren Kastenschlitten durch den tiefen Schnee. Des Morgens, als sie denselben Weg machten, lag auf der Landstrasse, an der die niedrigen Weidenbäume ihre Aste frierend in die Luft reckten, noch ein ausgefahrenes Geleise. Aber hinter ihnen war der Ostwind aufgestanden und fegte die hartgefrorenen Körnchen wie eine Herde Schafe vor sich her. Uber die niedrigen Hügel und die endlose Fläche des Spirdingsees, bis sie an einer Hecke, an einem Zaun Halt fanden. Starr und schwelgend stand der schwarzgrüne Fichtenwald. Nur wenn der Wind stärker einsetzte, schüttelten sich die Zweige, wie unmutig über die Belästigung, und warfen den Schnee ab, der sie eingehüllt hatte, dass er in langen Schleiern hinunterwallte.

Der Kutscher auf dem Vordersitz hatte den Kragen seines unbezogenen Schafpelzes hoch aufgeschlagen. Von Zeit zu Zeit rührte er die Leine. „Zieh, mein guter Bronak, zieh! Und Du, Maruschka, sei auch nicht faul. Noch ein halbes Stündchen, dann steht Ihr wieder im warmen Stall und bekommt schönes weiches Heu. Vielleicht spendiert Euch das gnädige Fräulein auch eine Metze Hafer für den Weg. Zieht, meine Lieben, bald kommt ein neuer Herr, ein reicher Herr, dann sollt Ihr Alle Tage, morgens und abends, goldigen Hafer in der Krippe finden. Zieht, hoh, hopp!”

„Was murmelt der Alte immer so vor sich hin?“ fragte einer der beiden Männer, die in Pelzen vergraben hinten im Schlitten sassen, seinen Begleiter. Es war ein junger Mann, von dem man nur den starken, eisbetauten Schnurrbart und die lebhaften braunen Augen sah, die aufmerksam nach allen Seiten Umschau hielten.

„Er spricht mit den Pferden, was die Leute hier in dieser Gegend alle tun. Er verspricht ihnen gutes Futter und erzählt ihnen von dem neuen Herrn, der so reich ist, dass er ihnen alle Tage die Krippe voll Hafer schütten wird. Ich hoffe, der neue Herr werden Sie sein, Herr von Totleben! Und ich kann Ihnen nur wiederholen, was ich Ihnen schon gesagt habe: Greifen Sie zu! Jetzt gleich! Lassen Sie es nicht zur Subhastation kommen. Es mag ja schwer für Sie sein, sich jetzt im Winter zum Kauf zu entschliessen. Aber dass die Ländereien stark heruntergewirtschaftet sind, daraus macht doch niemand ein Hehl. Und der prächtige See, der kostbare Wald sind doch auch unter der Schneedecke zu erkennen. Der Wald namentlich. Wir machen nachher noch eine Fahrt durch die schönsten Partien, er steht da, unberührt.“

„Das ist mir eigentlich ein Rätsel, lieber Herr Preuss! Der alte Herr v. Damski könnte sich doch, solange er lebt, ganz gut über Wasser halten, wenn er nach und nach den Wald abholzen wollte.“

Über das breite bartlose Gesicht des Agenten flog ein eigentümliches Lächeln.

„Ja, das könnte er wohl, und mancher wundert sich darüber, dass er's nicht tut. Aber er ist nun einmal ein wunderlicher Herr in vielem, auch in dieser unbegreiflichen Liebe für den Wald. Und dasselbe gilt von Josefa, seiner Tochter. Die soll ja wohl alle starken Stämme im ganzen Wald kennen und jedesmal weinen, wenn einer umgehauen wird.“

„Sie übertreiben, Preuss! Übrigens was ist das für ein Mädchen, diese Josefa?“

„Ein kleiner rundlicher Blondkopf mit ganz dunklen schwärmerischen Augen. Niemand wird aus ihr recht klug. Aber das steht fest: sie hält die ganze Wirtschaft im Zuge, soweit das bei den traurigen Verhältnissen noch geht. Sie ist Inspektor und Wirtschaftsmamsell in einer Person. Und dabei findet sie noch Zeit, mit dem alten Herrn über den Büchern zu sitzen. Wie gesagt, ein merkwürdiges Mädel.“

„Hm, es scheint so. Dann wird ihr der Verkauf des Gutes, das so lange schon in der Familie ist, nicht leicht fallen.“

Der Agent zuckte die Achseln. „Sie könnte ja, wie gesagt, das Gut noch halten, bis vielleicht ein Freier mit dem nötigen Betriebskapital sich fände. Doch, damit hat's wohl einen Haken. Man munkelt hier so allerlei. Vor fünf, sechs Jahren, als sie noch ein ganz junges Ding war, soll sie auf einer Reise, nach Cranz glaube ich, einen jungen Mann kennen gelernt und sich rettungslos in ihn verliebt haben.

Man munkelt davon, aber man weiss natürlich nichts Genaues darüber.“

Der Weg war aus dem dunklen Walde ins freie Feld gelangt. Blendender Sonnenschein lag auf der weissen weiten Schneefläche, auf der in jedem Augenblick Tausende glitzernder Punkte aufblitzten; in der Talmulde zwischen den Hügeln tauchte der alte Herrenhof von Kulinowen auf; weitgestreckte altersgraue Gebäude, von niedrigen Hütten umringt, wie eine Henne von ihren Küchlein… Das grelle Licht hatte die Reisenden am Ausblick gehindert, sonst hätten sie die junge Dame bemerken müssen, die zehn Schritt vom Wege aus einer Mergelgrube soeben einen Hasen aufgestöbert hatte, um ihn alsbald mit einem wohlgezielten Schuss zu erlegen. Der Knall hatte die Gäule so erschreckt, dass der Kutscher die Leine festzog und mit schmeichelnden Worten auf sie einsprach. Jetzt wandten sich auch die Reisenden nach der Richtung, aus der die junge Dame mit dem erlegten Hasen in der Hand auf sie zugeschritten kam. Eine prächtige Erscheinung! Gross, schlank, mit blitzenden Augen in dem von der Winterkälte sanft geröteten Gesicht, das mit der leicht gebogenen Nase und dem vollen Kinn entschieden schön genannt werden musste. Auf dem üppigen dunklen Haar sass keck eine kleine Pelzkappe, ein graues Lodenjakett umschloss fest die volle Figur, unter dem Rock, der wenig weiter als bis über die Knie reichte, kamen ein paar enganliegende Juchtenstiefelchen hervor. So unbeschreiblich fesch und flott sah die junge Dame aus und doch so unbeschreiblich herausfordernd, als heische sie von jedem Blick, der auf sie fiel, die glühendste Bewunderung. Etwas ähnliches musste sich wohl auf dem Gesicht des jüngeren Reisenden wiederspiegeln, der nach der ersten Überraschung seine Pelzdecke abgeworfen hatte und aus dem Schlitten gesprungen war.

„Irre ich mich nicht... Fräulein von Kobylinska?“

„Nein, Herr von Totleben, Sie irren sich wirklich nicht. Doch was verschlägt Sie hierher in unseren abgelegenen Erdenwinkel?“ Sie warf das Gewehr über die Schulter und streckte ihm die schmale, von einem wildledernen Handschuh geschützte Rechte entgegen. „Wollen Sie etwa Kulinowen kaufen? Unser Nachbar werden?”

„So ganz bin ich noch nicht entschlossen, aber ich bin dazu hergekommen, mich zu informieren. Vielleicht entschliesse ich mich, wenn ich finde, was ich suche.”

„Was suchen Sie... Feld, Wald, See, schöne Jagd, und vielleicht auch“ — sie trat ihm lächelnd einen Schritt näher — „eine nette, kleine Frau. Doch verzeihen Sie, ich weiss nicht…“

„Ich bin noch, gänzlich unbeweibt, Fräulein Jadwiga, obwohl ich in dem Alter bin, in dem man sich eigentlich schon nach einer Lebensgefährtin uUmsehen müsste. Doch das eilt nicht... Ich würde also ihr Nachbar werden...“

„Von dem ich schon heute die Erlaubnis erbitten möchte, auf Kulinowen jagen zu dürfen, wie ich es bisher gewohnt bin. Was ich schiesse, liefere ich ehrlich ab, wie diesen Hasen, den Sie gleich meiner lieben Josefa mitnehmen können.“

Sie warf den Hasen in den Schlitten. „Sie kennen doch Josefa, Herr von Totleben? Nein? Ach ja, besinnen Sie sich doch nur... Sie war ja damals auch in Cranz. Das kleine Blondinchen mit den verträumten Märchenaugen, das so bescheiden war, dass es den Mund nicht auftat. Ich glaube fast… Doch ich will Sie nicht länger aufhalten. Für die erste Begegnung haben wir genug geplaudert. Hoffentlich werden Sie unser Nachbar… auf jeden Fall aber besuchen Sie uns, ehe Sie abreisen, mein Vater wird sich sehr freuen...“

„Auch Sie, Fräulein Jadwiga?“

Die junge Dame lachte hell auf. „Ja, Herr von Totleben, auch ich! Glauben Sie etwa, ich scheue mich, das auszusprechen? Sie sind ein charmanter, liebenswürdiger Kavalier, womit ich Ihnen keine Schmeichelein sage; denn Sie wissen es selbst, und auf einer einsamen Klitsche in der Masurei sind solche Exemplare der Spezies Mensch sehr selten. Auf Wiedersehen, Herr von Totleben, auf Wiedersehen und grüssen Sie nur Josefa!“

Der „charmante Kavalier“ schien durch die Begegnung etwas aus seiner Ruhe gekommen zu sein. Er hatte sich über das unerwartete Wiedersehen sehr erfreut gezeigt, zwar nicht in seinen Worten, aber sein ganzes Wesen hatte so deutlich gesprochen, dass die fesche Jägerin es gemerkt haben musste. Auch der Agent hatte es gemerkt. Ein verschmitztes Lächeln flog über sein Gesicht, als er nach einer kleinen Weile das Gespräch wieder aufnahm.

„Sie kennen Fräulein von Kobylinska näher?“

„Ja und nein, wie man's nimmt. Ich war vor sechs Jahren einige Wochen in Cranz, und bin dort in den Kreis geraten, der sich um die junge Dame schaarte. Einer von den vielen, die Fräulein Jadwiga an ihren Triumphwagen spannte. Das Unerwartete des Wiedersehens nach so langer Zeit hat wohl unsere Begrüssung wärmer ausfallen lassen, als anzunehmen war.“

„Na ja, das ist ja ganz natürlich... wenn man sich so ganz unvermutet wiedersieht... aber das Fräulein hatte Sie doch sehr gut im Gedächtnis.“

„Herr Preuss, ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse aus dem kleinen Vorfall. Auf meinen Entschluss, Kulinowen zu kaufen, wird die Aussicht auf die Nachbarschaft kaum einen Einfluss ausüben.“

Eine Stunde später sassen die beiden Reisenden mit dem Gutsherrn von Kulinowen in eifriger Unterhaltung an dem mächtigen Eichentisch auf der Diele des Hauses, die, mit zahlreichen Jagdtrophäen geschmückt, einen äusserst anheimelnden Eindruck machte. Starke Hirschgeweihe hingen in Gruppen vereinigt an den Wänden, dazwischen erlesene Rehkronen von bedeutendem Sammelwert und ungeschlachte Köpfe des Elchs mit den gewichtigen Schaufeln darauf. Ein massiver Eichenschrank, vom Alter geschwärzt, der mit seinem reichen Schnitzwerk das Auge jedes Kenners entzücken musste, barg eine Anzahl kostbarer Gewehre, die ein jagdfrohes Geschlecht reicher Grundherren im Laufe von Jahrhunderten gesammelt hatte. Der schwarzbraune Kachelofen füllte den Raum mit behaglicher Wärme und wie zum Überfluss knisterten und prasselten im Kamin die trockenen Tannenscheite...

Gleich nach der Ankunft hatte man die Wirtschaftsgebäude besichtigt. Starke Mauern, wie für die Ewigkeit geschichtet, aber verwahrlost, zerfallen. Das Inventar ungenügend, altersschwach. In den weiten Ställen mageres Vieh, kaum ein Drittel dessen, was das Gut ernähren musste, wenn es ordentlich, mit dem nötigen Kapital bewirtschaftet wurde. Und daran fehlte es dem Käufer nicht. Er war so reich, dass er die Landwirtschaft als Sport betreiben konnte, ohne nach einer Verzinsung seines Geldes zu fragen. Und sicherlich würde der Boden, sowie ihm die nötige Pflege zu Teil wurde, sich dankbarer als bisher erweisen. Mit halbem Ohr hörte Gregor von Totleben dem Agenten zu, der weitschweifig alles hervorhob, was an dem Kaufobjekt auszusetzen war. Der Mann hatte leichtes Spiel, denn der alte Herr mit dem nachdenklichen Gelehrtengesicht wehrte sich nicht. Nur manchmal wies er offenbare Übertreibungen zurück, ruhig, fast schüchtern.

Dem Käufer wurde die Situation peinlich. Er beschloss, ihr ein Ende zu machen.

„Bitte, Herr Preuss, wollen Sie nicht die Punktation über den Kauf aufsetzen? Den Preis lassen Sie offen, darüber werde ich mich mit dem Herrn von Damski persönlich einigen.“

Der Gutsherr verneigte sich schweigend mit einem freundlichen Blick, der dem jungen Mann den Dank dafür aussprach, dass er ihn von den Rücksichtslosigkeiten des Vermittlers erlöst hatte. In einer Viertelstunde waren die Formalitäten erledigt, der Agent fuhr ab, höchst befriedigt von dem schnellen Verlauf der Angelegenheit.

Die Unterhaltung zwischen den beiden, die zurückblieben, wollte nicht recht in Fluss kommen. Der alte Herr litt ganz augenscheinlich unter dem Entschluss, sich von dem Besitztum seines Geschlechts, auf dem er gross und grau geworden war, zu trennen. Und Gregor fühlte diese Stimmung so deutlich, dass er sich wie ein Eindringling vorkam, der mit brutaler Faust in alte geheiligte Rechte griff. Er kannte das Gefühl nur zu gut; hatte er es doch vor wenigen Jahren selbst durchlebt, als er unter dem Druck unerträglich gewordener Zustände seine Begüterung in Kurland verkauft hatte. In plötzlicher Gefühlsaufwallung stand er auf und streckte dem alten Herrn die Hand hin.

„Herr von Damski, wenn Sie den Verkauf rückgängig machen wollen...“

Der Angeredete schüttelte nur mit traurigem Lächeln den grauen Kopf.

„Nein, Herr von Totleben, ich muss froh sein, dass ich die Sache hinter mir habe. Verkaufe ich nicht jetzt freiwillig, dann wird mir die Besitzung in Jahr und Tag zwangsweise versteigert.“

„Sie vergessen den Wald, Herr von Damski. Man wundert sich allgemein, dass Sie von dem Mittel, das Ihnen für lange Zeit Luft schaffen könnte, keinen Gebrauch machen.“

„Der Wald ist mir ans Herz gewachsen, Herr von Totleben. Es stehen viele Bäume darin, die noch meine Ureltern gekannt haben. Es mag Sentimentalität sein, die für die heutige Welt nicht mehr passt, aber ich komme über dies Gefühl nicht mehr hinaus. Und meine Tochter Josefa denkt ebenso. Übrigens, wenn ich auch den Wald herunterschlagen wollte... das Geld würde doch nicht hinreichen, das Land wieder in die Höhe zu bringen, dazu gehören andere Mittel. Und wenn ich schliesslich die Augen zumache, bleibt meinem Kinde nichts übrig…“

Eine leichte Bewegung an der Tür veranlasste beide, sich umzuwenden. Da stand ein kleines Mädel unter Mittelgrösse in einfachem Hauskleide. Das helle Haar, in der Mitte gescheitelt, legte sich glatt an die zierliche Bindung des Kopfes, nur an der Stirn und den Schläfen ringelten sich einige natürliche Locken. Dazu die dunklen Augen, so ernst und traurig. So bescheiden die kleine Gestalt aussah, man fühlte förmlich den anmutigen Liebreiz, der von ihr ausstrahlte. In dem Gesicht des Vaters leuchtete es auf, als er seine Tochter dem Gast vorstellte, der eigentlich schon Besitzer des Hauses geworden war.

Gregor war überrascht. Seiner Erinnerung schwebte ein unscheinbares Wesen vor, das von niemand beachtet worden war und jetzt fand er eine junge Dame, die trotz ihres schlichten Auftretens jeden Vergleich aushielt. Auch mit der stolzen Jadwiga?

Diese Gedanken flogen ihm durch den Kopf, als er sie mit einigen Worten an die Bekanntschaft aus Cranz erinnerte.

Ohne eine Miene zu verziehen, versicherte Josefa, dass sie sich seiner noch ganz gut erinnere. Sie habe sich eigentlich gewundert, dass keiner der Herren, die ihrer Freundin so eifrig den Hof gemacht, im Ernst um das interessante Mädchen geworben.

„Nun werden Sie ja ihr Nachbar, Herr von Totleben, und wie ich von unserem alten Gottlieb gehört, haben Sie ja schon heute das Vergnügen gehabt, Jadwiga unterwegs zu treffen…“

„Jawohl, mein Fräulein, ich überbringe nebst einem Hasen herzliche Grüsse, die ich hiermit bestelle.“

Josefa neigte nur leicht den Kopf, dann lud sie zum Essen ein.

Der Besitzwechsel hatte sich vollzogen. Gregor hatte seinem Vorgänger eine Summe geboten, die dieser zu erzielen nie gehofft hatte. Und dann war etwas geschehen, was niemand für möglich gehalten hatte: Herr von Damski war nicht fortgezogen, sondern hatte von seinem Nachfolger das grosse leerstehende Inspektorhaus gemietet, das mit den Möbeln des Schlosses sehr behaglich eingerichtet worden war. Auch das war eigentlich sehr sonderbar, denn nach dem Wortlaut des Kaufvertrages hatte Herr von Totleben das ganze Mobiliar des Schlosses erworben. Aber der neue Besitzer hatte gegen diesen Teil seines eben erstandenen Besitztums eine solche Abneigung gefasst, dass der alte Herr ihm förmlich einen Gefallen tat, als er gegen eine geringfügige Ermässigung des Kaufpreises den grössten Teil der Möbel behielt.

Seine Tochter hatte unbegreiflicherweise sich heftig gegen alle diese Abmachungen gewehrt. Aber der alte Herr war plötzlich so hartnäckig und eigensinnig geworden. Er wurde sogar böse, als Josefa von Wohltaten sprach, die Herr von Totleben ihnen damit erweisen wolle. Er hatte zu dem jungen Manne vom ersten Augenblick an ein Zutrauen gefasst, das sich in kurzer Zeit zu einer offenkundigen Zuneigung steigerte. Stundenlang sass er drüben im Schloss oder er fuhr mit Gregor durch Feld und Wald, und daheim erzählte er seiner Tochter von all den Verbesserungen, die sich in rascher Folge einsteilten, mit einem Stolz, als wäre der neue Besitzer sein Sohn, der das herabgekommene Familiengut zu frischem Glanze emporhob.

Je freundlicher sich der alte Herr zu Gregor stellte, desto abweisender wurde Josefa. Sie schlug jede Einladung ins Schloss unter irgend einem Vorwand aus, und wenn ihr Vater, was recht oft geschah, seinen jungen Freund zu sich einlud, war sie von einer kalt abgemessenen Höflichkeit, die beinahe an die Grenze des Gegenteils streifte. Aber der Vater, der sonst so feinfühlig war, merkte davon nichts. Er blühte förmlich auf und wurde wieder jung in dem anregenden Umgang mit dem frischen Mann, der sich um ihn bemühte wie ein leiblicher Sohn.

Nur manchmal, wenn niemand es merkte, brach aus Josefas Augen ein heisser Strahl von Liebe, der dem Manne galt, den sie schon so lange heimlich im Herzen getragen. Abends jedoch, wenn sie in ihr Stübchen trat, dessen Einrichtung sie sich ausdrücklich im Kaufvertrag vorbehalten hatte, dann kränkte sie sich und weinte heftige Tränen über ihn, der keine Rücksicht darauf genommen, was sie als Erbtochter des alten Hauses empfinden musste. Wenn sie irgendwo hingezogen wären, nach einer kleinen Stadt, aber nur weg, nicht hierbleiben, wo jedes Gesicht, jeder Schritt sie daran erinnerte, was sie verloren hatte. Vielleicht hätte ein Mann nicht mit so starker Empfindung an dem Erbe des Geschlechts gehangen wie sie.

Merkwürdig, dass der Vater nichts dergleichen empfand. Andere Menschen jedoch empfanden es und waren rücksichtslos genug, es ihr gegenüber auszusprechen. Bald nach dem Umzug war Jadwiga erschienen. Ihr erstes Wort nach der Begrüssung war: „Aber Josefa, wie könnt Ihr bloss hierbleiben! Die ganze Welt hält sich ja darüber auf! Es ist ja rein, als wenn Dein Vater Dich dem Herrn von Totleben auf dem Präsentierteller entgegenbringt, und wenn der Mann schliesslich eine andere heiratet, in welchem Lichte stehst Du denn da? Unglaublich!“

Im Herzen hatte ihr Josefa recht gegeben. Aber kühl und gelassen hatte sie erwidert, dass sie es Herrn von Totleben deutlich genug zeigen werde, wie sie über die dem Vater aufgedrängten Wohltaten denke. Und sie werde schon zur richtigen Zeit hier Schluss machen. Danach war sie in heftiges Weinen ausgebrochen und hatte mit dem Fuss aufgestampft.

Jadwiga hatte dabei ein nachdenkliches Gesicht gemacht und sich manches gedacht. Und dann hatte sie die Freundin in den Arm genommen.

„Reg' Dich nicht auf, Kleinchen, der Mann ist Dir doch gleichgiltig! Und seine Zukünftige wird schon erfahren, dass Du keine Absichten auf ihn gehabt hast.“

„Kennst Du sie?“

„Vielleicht.“

Fast erschrocken hatte sich Josefa aus dem Arm der Freundin losgemacht.

„Du... Du selbst?“

„Kann sein, kann auch nicht sein.“

„Liebst Du ihn denn?“

Achselzuckend hatte Jadwiga geantwortet: „Mein Gott, Kleine, Du fragst wie eine jugendliche Naive im Lustspiel. Er ist das, was man eine gute Partie nennt, reich, hübsch, ein angenehmer Mensch, gutmütig, bequem im Umgang, aber um einem Mädchen wie mir eine heftige Leidenschaft einzuflossen, dazu ist er mir nicht interessant, nicht schneidig genug. Ich glaube sogar, auf Dich könnte er sogar einen viel stärkeren Eindruck machen.“

Josefa hatte sich an jenem Tage unter dem Vorwand unerträglicher Kopfschmerzen in ihr Zimmer zurückgezogen und Jadwiga hatte den beiden Herren, die bald darauf erschienen waren, die Honneurs gemacht. Bis in die späte Nacht hatten die drei zusammen fröhlich beisammengesessen und wenn Josefa die Tür ihres Zimmers öffnete, hörte sie das laute Sprechen und Lachen zu sich herüberschallen. Dann biss sie sich auf die Lippen, um nicht aufzuschreien vor eifersüchtigem Herzeleid und rang mit dem Gedanken, ob sie nicht ein Recht hätte, den Mann vor der Freundin zu warnen, die nur aus Berechnung auf ihn wartete...

Dem Bösewicht, der all' das Unheil angerichtet hatte, war schon nach wenigen Wochen eine leise Ahnung aufgestiegen, was er verschuldet hatte. Als er in seiner Treuherzigkeit dem alten Herrn den Vorschlag gemacht, in Kulinowen zu bleiben und das Inspektorhaus zu mieten, da hatte er sich nichts Arges dabei gedacht, obwohl der Wunsch, Josefa in der Nähe zu behalten, schon halb eingestanden in ihm schlummerte. Wäre Herr von Damski nicht so bereitwillig darauf eingegangen, dann hätte er ihn, als die Tochter sich so heftig dagegen sträubte, fast noch zurückgezogen. Allmählich aber hatte er den alten Herrn liebgewonnen und die langen Winterabende, die er im Inspektorhause verlebte, waren ihm, so zurückhaltend Josefa sich benahm, zur lieben Gewohnheit geworden. Ja, er empfand diese Abende, an denen er so viel und gern von seinem Elternhause, von seinen Erlebnissen in der Welt, die er kreuz und quer durchbummelt, erzählte, wie eine Erquickung nach den Tagen, die er bei Herrn Lucas von Kobylinski auf Worki verlebte.

Die Kobylinskis waren ein altes polnisches Geschlecht, das noch viele Verwandte drüben über der Grenze hatte und sich erst seit wenigen Jahrzehnten unter den Schutz des preussischen Adlers begeben hatte. Aber die alten Hoffnungen und Traditionen wurden sorgsam gepflegt, auch in der Lebensführung, die man nicht mit Unrecht als polnische Wirtschaft bezeichnen konnte. Tagelang waren junge Schlachzizen von drüben zu Besuch; dann wurde getollt und gekneipt, und Jadwiga war stets dabei, wenn sie auch ein gewisses Mass zu halten verstand.

Auch Gregor war in Worki ein häufiger, gerngesehener Gast. Er kam sich dabei vor wie eine Motte, die um das Licht flattert. Ein leidenschaftliches Begehren zog ihn zu der schönen Jadwiga; er machte ihr eifrig den Hof und war glücklich, wenn er zu merken glaubte, dass er ihr nicht gleich gütig wäre. Sowie aber der Gedanke an ihn herantrat, ernsthaft um das Mädchen zu werben, befiel ihn eine merkwürdige Scheu davor. Er konnte sich seine Häuslichkeit nicht mit Jadwiga als Hausfrau darin vorstellen; wenn er sich diesen Gedanken ausmalte, dann sah er sich stets neben Josefa sitzen. Er litt unter diesem merkwürdigen Zwiespalt so sehr, dass seiner Umgebung die Veränderung seines Wesens auffiel. Sonst gegen jedermann höflich und gütig, war er mürrisch, ja leicht gereizt geworden. Am heftigsten befiel ihn diese Stimmung, wenn er von einem seiner Besuche in Worki zurückkam. Seit einiger Zeit war dort ein junger Pole, Graf Woyczinski zu Gast, der sich ganz offen um Jadwiga bemühte. Sie liess sich seine Huldigungen ohne merkliches Entgegenkommen gefallen, ja, manchmal schien es Gregor, als wenn er selbst in einer gewissen Absichtlichkeit bevorzugt würde. Doch über einen leichten, anreizenden Flirt kam er nicht hinaus, so oft er auch die Gelegenheit suchte, ernsthaft mit Jadwiga zu sprechen. Es war ihm, als wenn das schöne Mädchen einen ganz bestimmten Plan verfolgte, bei dessen Misslingen er als Notbehelf dienen sollte. Allmählich begann sich sein Stolz aufzubäumen und trotzdem konnte er es nicht über sich gewinnen, die Besuche in Worki einzustellen.

In dieser erregten Stimmung, die meistens dem Ärger über sich selbst entsprang, kam er eines Nachmittags ins Inspektorhaus. Der alte Herr war nicht zu Hause, er war ins Feld gegangen, denn, zum Ärger seiner Tochter kümmerte er sich, seitdem er nicht mehr Herr des Gutes war, um die Wirtschaft mehr als je vorher. Josefa sass allein am Kaffeetisch. Ohne alle Umstände, wie er's gewohnt war, nahm Gregor Platz und bat sich eine Tasse aus. Dann fragte er nach dem alten Herrn. Mit einer Schärfe im Ton, die ihn überraschte, antwortete Josefa, er wäre die Wirtschaft inspizieren gegangen. Gleich darauf fuhr sie fort:

„Sagen Sie einmal, Herr von Totleben, haben Sie etwa meinen Vater als Inspektor angestellt?“

„Wie kommen Sie darauf?”

„Ich fürchtete schon, Sie haben den Wohltaten, die für uns Demütigungen bedeuten, eine neue hinzugefügt.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie stand schnell auf und trat ans Fenster. Überrascht, bestürzt sah Gregor ihr nach, er konnte sich diesen Gefühlsausbruch bei dem ruhigen Mädchen gar nicht erklären.

„Ich muss ganz ergebenst bitten, mir Ihre Worte zu erklären, gnädiges Fraulein, ich bin mir durchaus nicht bewusst, Ihrem Herrn Vater Wohltaten erwiesen oder Demütigungen zugefügt zu haben.“

„Wenn Sie es sagen, muss ich es Ihnen glauben. Aber an der Tatsache lässt sich nicht rütteln; die lächerlich geringe Miete für dies Haus ist eine Wohltat, die Ausschliessung des Mobiliars vom Kauf für einen ebenso geringen Preis war ebenfalls eine Wohltat. Auch der Kaufpreis war zu hoch normiert, er ging unter irgend welchem Vorwand weit über Vaters Forderung hinaus. Können Sie das abstreiten?“

„Nein, Fräulein Josefa. Nur Sie haben alles falsch aufgefasst. Ihr alter Vater ist so wenig praktisch veranlagt, dass er den Wert des Waldes, den Sie wie ein Heiligtum gepflegt haben, viel zu gering eingeschätzt hatte. Es widerstrebte mir, daraus Vorteil zu ziehen. Wollen Sie mir das übel nehmen? Und genau derselbe Fall lag bei dem Mobiliar vor. Allein das Jagdzimmer, das Sie mir gütigst überlassen haben, ist mehr wert, als Ihr Herr Vater für die ganze Einrichtung des Schlosses gefordert hatte. Meinen Sie, mein Fräulein, ich möchte mir nachsagen lassen, dass ich die Unerfahrenheit des alten Herrn in solchen Dingen missbraucht hätte?“

„Gut, Herr von Totleben, das will ich gelten lassen, aber weshalb haben Sie den Vater überredet, hier zu bleiben?“

„Mein Gott, Fräulein Josefa, ist das ein Verbrechen? Mir ging es nahe als ich sah, wie schwer Ihrem Herrn Vater die Trennung von Kulinowen fiel... ich kann es ja sagen, ich hatte in den wenigen Wochen bis zur Übergabe des Gutes ein Gefühl der Verehrung für den alten Herrn gefasst, dass ich ihm ohne jedes Arg den Vorschlag machte, der ebenso aufgenommen wurde. Mir wollte ich eine Wohltat erweisen, und am wenigsten, Ihnen eine Demütigung zufügen. Hätte ich auch nur geahnt, wie Sie die Sache auffassen, ich hätte mich sehr gehütet, den Vorschlag zu machen.“

Er war aufgestanden und neben Sie getreten. „Genügt Ihnen diese Aufklärung?“

„Nein.“

„Ich begreife Sie nicht, Fräulein Josefa.“

„Das ist mir um so lieber, Herr von Totleben. Und nun möchte ich Sie zum Schluss noch um einen kleinen Dienst bitten, den ich wirklich als eine Wohltat von Ihnen betrachte: kündigen Sie uns unter irgend einem Vorwand die Wohnung.

Ich bitte Sie darum, Herr von Totleben“, fuhr sie erregt fort, „fragen Sie nicht, weshalb. Sie tun mir persönlich einen grossen Gefallen.“

„Auch Ihrem Herrn Vater?“

„Nein, aber zwingen Sie mich doch nicht, Ihnen zu sagen, was Sie eigentlich fühlen müssten. Fragen Sie nur Jadwiga, die wird es Ihnen sagen, ich… ich kann es nicht.“

Mühsam, hatte sie die Tränen niedergekämpft, nun wandte sie sich ab und verliess schnell das Zimmer. Sie musste die Lippen zusammenpressen, um nicht laut aufzuschreien vor Herzeleid. So gleichgültig war er geblieben, er hatte nichts gemerkt, er hatte nicht gefühlt, weshalb sie hier fort wollte. Wäre sie ihm nicht ganz gleichgültig geblieben, dann hätte er an ihrer Erregung merken müssen, wie es um sie stand. Und noch schlimmer wäre es, wenn er jetzt den wirklichen Grund ahnte.

Die Gedanken des jungen Mannes, der allein im Zimmer zurückgeblieben war, liefen einen ähnlichen Weg. Sie kann es mir nicht sagen, weshalb sie hier fort will? Jadwiga soll ich fragen? Also meinetwegen, will sie hier weg? Oder vielleicht auch nur, weil böse Zungen ihre Anwesenheit in Kulinowen falsch deuten könnten? Selbst das wäre ihr nicht gleichgültig? Vielleicht hatte sie nur deshalb ihn stets so gemessen höflich behandelt? Und wenn sie darunter ein tieferes Gefühl für ihn verbarg, musste sie nicht unter seinen allzu häufigen Besuchen in Worki, die doch nur mit dem einen so naher liegenden Grunde zu erklären waren, leiden?

Bei diesem Punkt angelangt, machte Gregor ein vergnügtes Gesicht und setzte sich allein an den Kaffeetisch. Auf dem Flur hörte er Tritte, das konnte nur Herr von Damski sein, der von seinem Gang zurückkehrte. Erstaunt sah der alte Herr seinen Gast einsam am Tische sitzen.

„Nanu, so allein, Herr von Totleben? Wo ist Josefa?“

„Ich habe sie durch meine Dickfelligkeit vertrieben, mein lieber Herr von Damski; zur Strafe will ich Sie heute bedienen. So, hier ist Ihre Tasse Kaffee, die Mischung hoffe ich gut getroffen zu haben. Darf ich Ihnen eine Semmel oder ein Stück Schwarzbrot dazu streichen?“

„So…“ fuhr er fort, als der alte Herr sich verwundert neben ihm niederliess, „nun schenken Sie mir gütigst einige Augenblicke Gehör für eine kleine Beichte, die ich vorausschicken muss. Sie wissen, ich bin in der letzten Zeit ein sehr häufiger Gast in World gewesen, viel häufiger als bei Ihnen. Die Ursache war Jadwiga von Kobylinska. Ich will ganz offen sein: Das Mädchen hatte mich gefangen genommen, sie reizte meine Sinne zu leidenschaftlichem Begehren. Aber ein gewisses Etwas hielt mich davon ab, den entscheidenden Schritt zu tun... ich konnte sie mir nicht als mein Weib denken. Den Platz in meinem Herzen nimmt trotz aller Leidenschaft stets eine andere ein, die mich immer so kühl und zurückhaltend behandelt hat, dass ich gar kein Recht hatte, ihr den Platz in meinen Gedanken anzuweisen. Wer weiss, was ich getan hätte, wenn ich nicht seit kurzem die Überzeugung gewonnen hätte, dass ich dieser Andern doch nicht so ganz gleichgiltig bin. Vielleicht irre ich mich, dann möchte ich aber bald darüber Gewissheit haben. Wollen Sie mir dazu verhelfen?“

Er fasste nach der Hand des alten Herrn, der ihm stillschweigend zugehört hatte. „Sie haben es schon erraten, es handelt sich um Josefa. Würden Sie mir Ihren Liebling anvertrauen?“

„Mit Freuden, lieber Gregor, trotz des Geständnisses der Leidenschaft für Jadwiga, die ich nach Ihren offenen Worten als überwunden betrachte.“

Er stand auf und schloss den jungen Mann in seine Arme. „Und nun zur Hauptsache: Wie steht's mit Josefa? Oder besser, wie stehen Sie mit ihr? Sie waren vorhin so vergnügt...“

„Weil mir Josefa darüber Vorwürfe machte, dass ich Sie zum Hierbleiben veranlasst. Sie forderte von mir, ich sollte Ihnen die Wohnung kündigen, weigerte sich aber, einen Grund für ihr Verlangen anzugeben. Wie ich es mir erkläre, wissen Sie...“

„Wie soll ich das ergründen, ob Ihre Annahme richtig ist, lieber Gregor?“

„Dazu gehört nur etwas Diplomatie, lieber alter Herr. Teilen Sie Josefa mit, dass ich Ihnen die Wohnung gekündigt und machen Sie ihr Vorwürfe, dass sie selbst dazu den Anstoss gegeben, wie ich Ihnen mitgeteilt hätte. Dann dringen Sie auf den wahren Grund, und wenn dies nicht hilft, dann sagen Sie ihr auf den Kopf zu, dass sie mich liebt und aus irgend welchen Ursachen, die Sie nicht verstehen, vor mir ausrücken will...“

Zum Abendbrot war Josefa erschienen mit verweinten Augen, die der alte Herr nicht mit Unrecht für ein gutes Zeichen ansah. Er glaubte aber gut daran zu tun, wenn er davon keine Notiz nahm. Nach dem Essen holte Josefa das Schachbrett, wie sie es stets zu tun pflegte, um mit dem Vater die gewohnte Partie zu spielen. Sie kämpfte mit sich, ob sie den Vater bitten sollte, von Kulinowen fortzuziehen. Doch wenn sie ihn so vergnügt sah, dann brachte sie es nicht über ihr Herz, dies Thema, zur Sprache zu bringen. Es reute sie schon, dass sie mit Totleben darüber gesprochen. Um so überraschter war sie, als der Vater beim Aufsetzen der Figuren mit heiterer Miene, als wenn es sich um die gleichgültigste Sache von der Welt handle, ihr mitteilte, der Gutsherr habe ihm die Wohnung gekündigt.

„Und was das Merkwürdige dabei ist, er behauptet, Du hattest ihn darum gebeten. Sag' mal, Kind, wie kommst Du dazu? Hat Gregor, ich meine Herr von Totleben, Dir dazu Anlass gegeben?“

Nein, er war kein Diplomat, der prächtige alte Mann, sonst hätte er dazu ein möglichst betrübtes Gesicht gemacht. Seine heitere Miene liess in dem Mädchen blitzschnell einen Verdacht aufsteigen, der im nächsten Augenblick zur Gewissheit wurde, als es sich daran erinnerte, dass die beiden Männer sich noch am Kaffeetisch getroffen. Als sie in der ersten Überraschung nicht gleich antwortete, fuhr der Vater fort:

„Ich möchte gern wissen, wie Du dazu gekommen bist, Herrn von Totleben darum zu bitten. Du weisst, wie sehr ich an dem Ort hänge, an dem ich geboren und alt geworden bin... Weshalb gönnst Du es mir nicht, dass ich hier meine Tage in Ruhe beschliesse? Du wunderst Dich vielleicht, dass ich die Sache so heiter aufnehme. Weshalb sollte ich nicht? Herr von Totleben hat mir erklärt, er brauche das Haus nicht, ich täte ihm einen Gefallen, wenn ich wohnen bliebe. Also weshalb sollen wir hier wegziehen? Sprich, Kind, Du weisst, ich bringe Dir gern ein Opfer, aber ich muss doch wenigstens wissen, weshalb?“

„Vater! Quäl' mich nicht! Glaub mir, es ist keine Laune, ich muss hier fort.“

„Josefa, ich bitte Dich, Du bist doch kein Kind mehr, Du musst mir doch einen vernünftigen Grund sagen können.“

„Ja, Vater, das kann ich allerdings. Unser Hiersein hat mich in der Leute Mund gebracht. Es heisst, wir sind nur deshalb hier geblieben, um Herrn von Totleben für mich einzufangen.“

Laut aufschluchzend warf sie sich an die Brust ihres Vaters und weinte zum Herzbrechen. Mitleidig streichelte der Alte ihr das seidenweiche Haar. Ihm selbst war so traurig zu Mute, dass ihm die Augen feucht wurden.

„Mein armes Kind, also das ist es! Die böse Welt hat wieder einmal ihre Bosheit an unschuldigen Menschen ausgelassen. Aber warum hast Du mir das nicht früher gesagt? Ich allein bin doch Schuld daran... in meiner Arglosigkeit habe ich nicht daran gedacht... Aber wie kann solch' dummes Gerede mein kleines tapferes Mädel anfechten?“

Er hob ihr den Kopf in die Höhe und in dem Augenblick hatte er sogar vergessen, dass er damit in dem Auftrage Gregors handelte, sonst hätte er wahrscheinlich die Sache wieder falsch angefasst: „Sag, Kind, die Welt hat doch nicht etwa Recht, wenn sie das behauptet? Oder hast Du mich nicht früher darauf aufmerksam gemacht, weil Du selbst wünschtest, hierzubleiben?“

Der Strenge Ton der Frage war dem alten Herrn bitterer Ernst; der Gedanke, dass sein Verhalten mit Recht so gedeutet werden könnte, wie es tatsächlich geschehen, erregte ihn. Und als sein Kind wortlos ihr Köpfchen an seine Brust presste und mit stillem Weinen ihm Antwort gab, da erst fiel es mit Zentnerschwere auf sein Herz, dass diese Gewissheit, die er vor wenigen Minuten noch so sehnlich erhofft hatte, ihn mit unerbittlicher Notwendigkeit von hier forttrieb. Arglos wie ein Kind hatte er den Vorschlag Gregors angenommen... die böse Welt stempelte es zu nichtswürdiger Berechnung.

***

In übermütigem Glücksgefühl war Gregor aus dem Inspektorhause fortgegangen. Eigenhändig hatte er sich seinen Fuchs gesattelt und war fortgeritten ins Feld. Seit einigen Tagen wehte ein starker Südwest, der schon an den Abhängen den Schnee fortgezehrt hatte. Wie Frühlingsahnen lag es in der Luft, davon murmelte ja sogar das trübe Schmelzwasser, das in den Gräben gurgelnd abwärts schoss. Wie eine stille Zufriedenheit war es über ihn gekommen, seitdem er sich dem alten Herrn, dem Vater Josefas, offenbart hatte. Es erschien ihm fast unbegreiflich, dass er sich erst heute bewusst geworden, wohin sein Herz ihn zog. Aber daheim, als er vor dem flackernden Kaminfeuer im Jagdzimmer sass, da überkamen ihn die Zweifel. Wenn er Josefa's Benehmen falsch gedeutet? Der Vater musste doch schon Gewissheit haben, weshalb schickte er ihm nicht Botschaft von dem Erfolg seiner Mission? Gewiss, der alte Herr war nur so unpraktisch. Wenn er selbst die wenigen Schritte machte? Ein Vorwand war ja so leicht gefunden… er wollte nur fragen, wann auf dem Schlag am Walde zum letzten Mal Weizen gestanden...

Als er über den Hof ging, fasste ihn die Erregung, die man für gewöhnlich als Lampenfieber bezeichnet. Wie war sie doch so ganz anders, als das Gefühl, das ihn nach Worki gezogen hatte. Langsam tappte er sich im dunklen Hausflur zur Tür der Wohnstube. Alles still da drinnen, als er zaghaft anpochte... Trotzdem öffnete er die Tür, sie ging geräuschlos in den Angeln. Da stand der alte Herr und hielt wortlos sein Kind umschlungen. Im nächsten Augenblick hob Josefa den Kopf, ihr Blick fiel auf den Eindringling, der wortlos, mit leuchtenden Augen und bebenden Lippen die Arme nach ihr ausbreitete.

Und dann begab sich etwas, worüber der alte Herr sich noch heute wundert. Wortlos flogen die beiden Herzen sich entgegen, sein Kind barg jetzt den Kopf an der Brust des jungen Mannes, der leise ihr Haar streichelte und sich hinunterbog, um seine Lippen sanft auf den blonden Scheitel zu drücken.

Schicksal.

Wie ist doch das Schicksal der Menschen verschieden! Die einen wandern ihr Lebtag gemächlich dahin, wie auf blumiger Au und pflücken nach Belieben die schönsten Blumen. Andere wieder hat das Leben in eine Tretmühle gespannt, in der sie die Not vorwärts treibt wie ein Lasttier die Peitsche, ohne Rast und Ruh', bis sie mit den Füssen voran die letzte Fahrt zum Friedhof machen. Und wieder auf andere stürzt sich das Schicksal, wuchtig, zermalmend, wie ein Bergsturz, der unbarmherzig alles Leben unter seinen Trümmern begräbt. Von grausem Schrecken gebannt, schauen wir andern das Entsetzliche. Aus zitterndem Herzen ringt sich die bange Frage empor: „Weshalb musste das sein?...“

… Ein Narr wartet auf Antwort...

Durch die wogenden Kornfelder schritt ein Mann, hochgewachsen, von starken Gliedern. Aber kein frischer Lebensmut richtete ihm den Kopf empor. Er sah nicht den Segen der Natur auf den Fluren, er hörte nicht die Lerche, die hoch über ihn in der klaren Abendluft ihr fröhliches Lied sang. Müde hing ihm der Kopf vornüber, mühsam schoben die Füsse die grosse Gestalt vorwärts. Er mochte etwa dreissig Jahre zählen, aber die Schläfen waren ihm schon eingesunken und das spärliche Haar war grau geworden. Langsam liess er sich am Waldesrand ins Gras sinken. Ohne Ausdruck schweiften die Augen unruhig ins Weite, als wenn sie nicht die Kraft besässen, an einem Dinge zu haften, weil der Blick nach innen gerichtet war, auf die Gedanken, die sein Hirn marterten. Sie standen mit ihm auf und gingen mit ihm schlafen, sie begleiteten ihn bis in seine Träume und liessen sich nicht einmal durch den Alkohol vertreiben, mit dem er seinen Kopf zu betäuben versucht hatte...

Heute vor zwanzig Jahren war die Tat geschehen, die mit ihren Folgen einen unschuldigen Knaben unter sich begrub… Eines Tages hiess es im Dorfe, der Fritz Mazat sei verschwunden, und niemand konnte sich sein Verschwinden erklären, denn der junge Bauer war ein lebenslustiger Mann, der fest in seinen Schuhen stand und schon in der nächsten Zeit von seinen betagten Eltern das stattliche Bauerngut übernehmen sollte. Es war also nicht anzunehmen, dass er heimlich das Weite gesucht hätte. Er hatte auch nichts begangen, dessentwegen er eine Strafe hätte befürchten müssen... Heiter und vergnügt war er eines Abends ins Feld gegangen und nicht mehr zurückgekehrt. War er unterwegs verunglückt oder gar von einem Nebenbuhler erschlagen und beiseite geschafft worden?

Niemand vermochte es zu sagen, nur ein zehnjähriger Knabe ahnte es, wo der Unglückliche geblieben war. Das grausame Schicksal hatte das Kind zum Mitwisser eines Mordes gemacht, den sein Vater begangen. Keine Fantasie kann so ungeheuerliche Dinge ersinnen, wie das Leben sie schafft…

Gezwungen und widerwillig war das arme Mädel dem reichen Bauerngutsbesitzer Woytek, der ihre Hand begehrte, zum Traualtar gefolgt. Drei Kinder hatte sie ihm geboren, einen Knaben, den Franz und zwei Mädchen. Aber die Ehe war unglücklich gewesen vom ersten Tage an. Der Mann war ein Spieler, der die Nächte im Wirtshaus sass und die Frau mit Schlägen bedrohte, wenn sie ihm Vorwürfe machte. Schliesslich hatte sie sich in ihr Schicksal ergehen und sogar geschwiegen, als ihr Mann sie mit einem Tagelöhnerweib betrog.

Wie das mit dem Fritz Mazat gekommen war? Nun, wie das so kommt im menschlichen Leben! Sie waren beide gleich alt, der Fritz und die Anna. Sie waren bis zur Einsegnung zusammen in die Schule gegangen und hatten sich lieb gehabt, bis der Fritz zu den Soldaten kam und die Anna den reichen Woytek heiratete. Und als der Fritz nach vier Jahren wiederkam, da gingen sie fremd an einander vorüber. Was kümmerte den flotten Jüngling das Weib seines Nachbarn? Vielleicht hätte er das arme Mädel geheiratet, wenn sie auf ihn gewartet hätte, aber sie hatte ja den andern genommen, nun mochte sie sehen, wie sie mit ihrem Schicksal sich abfand.

Eines Abends kam Fritz spät vom Felde heim. Er hatte mit der Sense tüchtig geschafft und schritt froh wie ein Mann, der ein gesegnetes Tagewerk hinter sich hat, den Feldrain entlang, seinem Gehöft zu. Unter den beiden Linden, die am Bergeshang die Quelle beschatten, sass die Frau seines Nachbarn Woytek. Sie hatte das Gesicht in die Hände gelegt und brütete still vor sich hin. Sie war trotz ihrer dreissig Jahre noch immer ein blühendes Weib, nur in das Antlitz hatte der Kummer seine Zeichen eingegraben. Wortlos, ohne Gruss, wollte der junge Bauer vorübergehen. Aber es war ihm, als wenn ein Zentnergewicht sich an seine Füsse gehängt hatte und von der Brust stieg in ihm eine heisse Blutwelle zum Kopf empor...

Wie es dann weiter kam? Er hatte sich neben sie gesetzt und schweigend ihre dicken blonden Zöpfe gestreichelt. Da war sie von ihrem Sitz hinabgeglitten, hatte den Kopf auf seine Knie gelegt und zum Herzbrechen geweint, nach langen Jahren zum ersten Male geweint...

Dann hatte er die Weinende emporgezogen und ihren Kopf an seine Brust gelegt, bis ihr Mund zu klagen begann von all' dem schweren Herzeleid, das sie zehn Jahre lang still für sich getragen.

Wochenlang hatte die Frau seit jenem Abend jedes Zusammentreffen mit ihm gemieden. Und wenn sie ihn zufällig mal auf der Strasse traf, dann schritt sie eilig mit stummem Gruss an ihm vorüber. Aber in dem engen Raum eines Dorfes können zwei Menschen, die das Schicksal zu einander treibt, sich auf die Dauer nicht aus dem Wege gehen.

Es war gekommen, wie es kommen musste. Eines Abends war Woytek früher als gewöhnlich aus dem Wirtshaus nach Hause gegangen. Er hatte sich beim Kartenspiel mit seinen Kumpanen gezankt, und der Wirt hatte ihm das Lokal verboten. Das ganze Haus war leer. Knecht und Magd waren zum Tanz gegangen. Vergeblich suchte er seine Frau. Sie lag nicht im Bett, sie war nicht bei den Kindern, die nebenan in der Kammer schliefen... Wo konnte sie sein? Wo sollte er sie suchen? Er hatte sich die Lampe angesteckt, die Schnapsflasche vorgesucht und sich an den Tisch gesetzt. Und mit jedem Schluck, den er trank, stieg seine Wut. Kein Zweifel, sein Weib hatte einen gefunden, der sie tröstete, mit dem sie ihm betrog, wie er sie vom ersten Tage ihrer Ehe an betrogen hatte. Aber vergebens zermarterte er sein Gehirn, wer das sein könnte.

Eine Stunde mochte er gewartet haben, als seine Frau ins Zimmer trat. Die Szene, die nun folgte, spottet jeder Beschreibung. Aus dem furchtsamen Weib, das jedes harte Wort und jeden Schlag von dem betrunkenen Mann ergebungsvoll hingenommen hatte, war ein entschlossenes Wesen geworden, das mit scharfer Zunge seine Vorwürfe zurückwies, bis er, seiner Sinne nicht mehr mächtig, sich an ihr vergriff. Er kam erst zur Besinnung, als sein zehnjähriger Junge sich laut weinend an die Mutter klammerte und die Hände abwehrend gegen den Vater hob.

Kinder verstehen nicht alles, was Erwachsene reden, aber sie fühlen aus dem Ton den Sinn. Und so fühlte der kleine Franz, was zwischen Vater und Mutter vorging. Er hörte, wie der Vater drohte, er würde den Schuft schon ermitteln, der... und wie die Mutter trotzig antwortete, er brauche nicht lange zu suchen. Und dann nannte das unglückselige Weib den Namen: Fritz Mazat...

Vier Wochen später war der junge Mann verschwunden, als hätte die Erde ihn verschluckt. Vergeblich forschten die alten Eltern nach seinem Verbleib, vergeblich boten sie eine hohe Geldsumme für die geringste Nachricht über den Vermissten. Auch die Nachforschungen, die das Gericht anstellte, blieben ohne Erfolg, denn niemand hatte eine Ahnung von dem Drama, das sich im Hause des Woytek abgespielt hatte. Wortlos gingen die beiden Gatten seit jenem Abend neben einander her. Die Frau hatte noch in derselben Nacht in dem kleinen Stübchen, das in jedem Bauernhause für den Altsitzer eingerichtet ist, für sich und die Kinder ein Lager zurechtgemacht und schlief dort bei geschlossenen Läden und verriegelter Tür. Die Dienstboten wunderten sich darüber nicht, sie wussten von dem Eheleben der Woyteks genug, um diese Trennung erklärlich zu finden. Nur darüber wunderten sich alle, dass der Bauer nicht mehr ins Wirtshaus ging. Er war ein nüchterner Mensch geworden, der in Haus und Hof schaffte, als wolle er in einem Jahr einbringen, was er in elf Jahren versäumt.

Und dann kam die Katastrophe. Die Leiche des Fritz Mazat wurde gefunden. Sie lag unter einem halbvermoderten Streuhaufen, der seit Jahren am Waldrande stand. Der Besitzer hatte ihn vergessen einzufahren, und nun stand er und moderte, bis eines Tages ein armer Tagelöhner sich daran machte, ihn auseinander zu werfen, um billig Streumaterial für seinen Schweinestall zu gewinnen. Ganz unten auf dem Erdboden lag der Erschlagene mit zertrümmertem Schädel.

Die Gerichtskommission hatte schon früher festgestellt, wann der Ermordete zum letzten Male gesehen worden war. Jetzt stellte sie Nachforschungen an, wer von den Dorfbewohnern an jenem Abend in der Nähe des mutmasslichen Tatortes gewesen sein könnte. Es war nicht schwer, festzustellen, dass Woytek an jenem Tage noch spät abends aufs Feld gefahren war, um für Kühe und Pferde Grünfutter zu holen. Den Acker, auf dem er gemäht, lag ganz nahe an der kleinen Wiese, auf der man den Toten gefunden. Es lag kein Grund vor, anzunehmen, dass Woytek der Täter sein müsste. Aber der Bauer machte sich selbst verdächtig. Er war nicht mitgegangen, als alle Welt hinausströmte, um den Toten zu sehen, und als er zum ersten Mal vernommen wurde, da leugnete er die Tatsache, die Knecht und Magd mit aller Bestimmtheit bekundeten, dass er an jenem Abend hinausgefahren war, um Grünfutter zu holen. Hätte er dies zugegeben, dann hätte ihn noch niemand der Tat zeihen können... und als er gefesselt an die Leiche geführt wurde, da brach seine Selbstbeherrschung zusammen; er gestand, dass er Fritz Mazat mit der Wagenrunge erschlagen habe.

War es vorbedachter Mord, war es Totschlag, im Jähzorn begangen? Woytek behauptete das letztere. Er erzählte bei der zweiten Vernehmung ganz geläufig, dass Mazat mit einem Krückstock in der Hand auf ihn zugekommen wäre und ihn deshalb zur Rede gestellt hätte, dass er nachts vorher seine Pferde in Mazats Haferfeld habe weiden lassen. Ein Wort habe das andere gegeben, der junge Mann sei ihm schliesslich mit dem dicken Stock zu Leibe gegangen, da habe er sich auf den Wagen geflüchtet und die Runge herausgerissen. Wie der Schlag gefallen, da sei er seiner Sinne nicht mächtig gewesen. Es war niemand da, der diese Schilderung hätte widerlegen können. Also lag nur Totschlag vor, denn es konnte auch keiner der Dorfbewohner bekunden, dass die beiden vorher je in Unfrieden aneinandergeraten wären. Und die Frau, die mehr wusste, schwieg...

Niemand hatte in diesen Tagen auf den kleinen Franz Woytek geachtet. Das Kind ging scheu und gedrückt umher und weinte viel, wie die Leute meinten, um den Vater. In der Schule sass der Junge manchmal wie geistesabwesend da und schrak zusammen, wenn der Lehrer ihn anrief. Dem alten Mann fiel das Gebahren des Kindes, das ihm lieb war, auf. Er nahm es eines Tages nach Schluss der Schule an die Hand und führte es hinüber in sein Wohnzimmer, um ihm Trost zuzusprechen. Da rang sich aus der gemarterten Kinderseele alles empor, was sie gequält und gedrückt hatte. Wie der Vater die Mutter geschlagen und wie diese ihm den Namen „Fritz Mazat“ entgegengeschrien...

Und dann kam das Furchtbare: Wie des Kindes Zeugnis die Mutter zum Sprechen zwang und den Vater des vorbedachten Mordes überführte. Der Wahrspruch der Geschworenen lautete auf „Schuldig“, das Gericht musste auf Todesstrafe erkennen, die der Landesherr auf dem Gnadenwege in lebenslängliches Zuchthaus umwandelte.

Nun begann der Leidensweg des unschuldigen Knaben. Wer vermag die Rätsel des menschlichen Herzens zu entwirren! Die Mutter, bei der er Trost suchte, stiess den Kleinen von sich, mit Gift und Galle war jeder Bissen getränkt, den sie ihm reichte. Und auch die Nachbarn behandelten ihn so, ab wenn er allein seine Eltern ins Unglück gestürzt hätte. Wie ein Aussätziger wurde er gemieden, als wenn ein Pesthauch von ihm ausginge. Nach dem frühen Tode der Mutter nahmen die Schwestern ihr Erbteil und zogen fort nach der Grossstadt... Er blieb allein im Hause, allein mit seinen Gedanken, die ihn quälten und peinigten, dass er fürchten musste, den Verstand zu verlieren. Was war denn seine Schuld? Dass sein unschuldiges Kinderherz dem Lehrer sein Leid geklagt?

Stundenlang hatte Franz Woytek einsam am Waldesrand gelegen. Es war am Sonntag, kein Mensch auf dem Felde zu sehen. Da kam ein alter Mann langsam die Landstrasse dähergewankt. Er sprach laut mit sich selbst, wie es alle diejenigen tun, die lange Zeit hinter eisernen Gardinen gesessen haben. Und dieser Graubart hatte zwanzig Jahre dahinter gesessen, bis die Pforte sich öffnete, um ihn hinauszulassen in die Freiheit. In all' den Jahren hatte nur ein Gedanke in ihm gelebt: Rache zu nehmen an dem Jungen, der durch sein Zeugnis ihn auf Lebenszeit ins Zuchthaus gebracht. Als er am Waldesrand Halt machte, wo man das Dorf sehen könnte, erblickte er dicht neben sich im Grase einen Mann liegen, der beinahe auch so aussah, als hätte er seit zwanzig Jahren eine Strafe zu verbüssen, jetzt standen die beiden sich Aug' in Auge gegenüber, Vater und Sohn. Nicht ein Wort hatten sie miteinander gewechselt, aber jeder wusste, wer der andere war. Im Auge des Alten blitzte es jäh auf, er hob den dicken Eichenstock zu wuchtigem Schlag. Dean Jungen sank der Kopf vornüber, ohne seine Arme zur Abwehr zu heben. Mit geschlossenen Augen rief er laut:

„Schlag` zu, Vater! So schlugst Du ja auch den andern!“

Machtlos sank der Knüppel zur Erde. Ächzend wandte der Alte sich ab und schritt davon, zurück in den Wald. Am andern Morgen fanden ihn die Holzschläger. An seinem Leibgurt hatte er sich erhängt. Nach dem Begräbnis verschwand der Sohn. Spurlos, niemand hat je wieder von ihm ein Lebenszeichen vernommen. Ob er sein Dasein von sich geworfen, ob er die Last des furchtbaren Schicksals geduldig weiter schleppt? Niemand weiss es…

Wer warf dem unschuldigen Knaben das grause Los? Wer lenkt das Schicksal, dass es wie ein Bergsturz zermalmend auf den lockigen Scheitel eines Kindes fällt?...

…Ein Narr wartet auf Antwort...

Die Dorfprinzessin.

Die Spatzen schliefen noch, als Otta aus dem Hause trat. Nur der Hausprophet hatte schon mehrmals seine Stimme schmetternd erhoben, um den Bewohnern des kleinen Häuschens das Nahen des Morgens zu verkünden. Am östlichen Himmel standen lange schmale Wolkenstreifen, ihr Saum war von einem rosigen Licht überflutet, denn zu ihnen da oben schossen bereits die Strahlen des kommenden Tagesgestirns empor.

Das Mädel trat an den Ziehbrunnen, liess den moosbewachsenen Eimer mit rüstigen Griffen zur Tiefe fahren und wieder heraufschweben, um ihn mehrmals in den aus dicken Bohlen gezimmerten Trog zu entleeren. Dann warf sie die rotgestreifte Jacke ab, liess das kurzärmelige Leinenhemd bis zu den Hüften hinabfallen und netzte den wohl geformten Oberkörper mit dem eiskalten Nass.

Jetzt löste sie die dicken blonden Haarflechten, die wie eine Krone um ihr rundes Köpfchen lagen, und flocht sie auf, um sie glatt zu kämmen und neu zu ordnen. Wie ein lichter Mantel umwallte das Haar die kräftige, schlanke Gestalt, die von jugendfrischer Gesundheit strotzte. Nur über den Augen lag ein leichter Zug von Mattigkeit.

Kein Wunder! Hatte sie doch in der Nacht kein Auge zugetan! Zur „Musik“ war sie gewesen, im Krug. Zum erstenmal, seitdem sie aus der Stadt nach Hause gekommen war... Ein schelmisches Lachen zog um ihren Mund. Nur ihretwegen hatten die jungen Burschen des Dorfes die Musik veranstaltet. Und mit was für süsssauren Mienen die anderen Mädel sie begrüsst hatten! Die Kathinka, die Tochter des reichen Ortsschulzen, die Mina, deren Vater sich schon Gutsbesitzer schrieb, und alle die anderen Alle.

Aber erst die Bauernsöhne! Geprügelt hätten sie sich, wenn sie nur mit einem mehr als zweimal getanzt hätte. Wein hatten sie ihr angeboten, vom allerteuersten, den der Krugwirt hatte. Doch sie hatte sich gehütet, das anzunehmen, denn sonst hätte sie mit jedem trinken müssen, um nicht einen zu beleidigen. Nein, für ihr eigenes Geld hatte sie sich Brauselimonade geben lassen...

Mit wohlgefälligem Lächeln wand sie die glatten Zöpfe um den Kopf und steckte sie fest. Wie die andern Margellen sich aufgeputzt hätten! Die Haare vorn bis zum halben Kopf abgeschnitten und gebrannt.... Sie musste laut auflachen... Wie sie gegen Morgen aussahen, als die künstliche Frisur sich gelöst hätte und die Locken als glatte Strähne hinunterhingen...

„Bist ja so vergnügt, Otta, hast viel getanzt gestern, ja...?“ In der Tür der Chalupp stand die Mutter. Eine grosse, robuste Gestalt, noch nicht fünfzig Jahre alt, mit wenig grauen Haaren in dem dunklen Scheitel. Aber der Rücken gekrümmt von schwerer Arbeit...

„Ja, Mutter, hätte ich sechs Beine gehabt, ich hätte genug zu tanzen gehabt“

„Ich hab's gesehen, Otta, hab's gesehen, bis elf Uhr stand ich unterm Fenster... Wie wild waren die Jungens hinter Dir. Na... wie ist's... hast Dir einen ausgesucht?“

Mit geheuchelter Gleichgiltigkeit schüttelte das Mädel den Kopf. „Ausgesucht? Nein, Mutter, dazu habe ich noch Zeit.“

„Na, na, Kind, die Jahre laufen wie der Wind! Wer zu lange wählt, bleibt ledig. Jetzt bist Du zweiundzwanzig... noch ein paar Jahre...“

„Hab' nicht Angst, Mutter, mit dem Heiraten hat's keine Not, wenn ich nur will...“

„Ja, wenn Dir egal ist, wen Du heiratest... Wer war das, der Dich heute Morgen nach Haus' brachte?“

„Herr Adam Gollub...“

Die Alte schüttelte missbilligend den Kopf. „Du dumme Margell! Musst Du Dir gerade den Taugenichts aussuchen?“

„Wieso, Mutter?“

„Ich denke, Du weisst, was der Adam Gollub ist. Ein Lump, ein Lorbass, ein...“ Sie spie heftig aus und drohte ihrer Tochter mit der Faust. „Dass Du Dich nicht unterstehst, mit dem anzubändeln! Hat Dir wohl schon den Kopf verdreht mit den schwarzen Augen, den krausen Haaren und dem grossen Schnurrbart? Er hat gerade schon genug Unglück angerichtet. Frag' mal die Mina Sareyka...“

„Aber Mutter, woher soll ich das wissen?“

„So, Du bist wohl noch ein Kind?! Gesessen hat er schon zweimal wegen Wilddieberei. Das letzte Mal warens sechs Monate.“ Sie streichelte dem Mädel mit beiden Händen die Backen. „Otta, Kind, sei vernünftig! Meinst, ich hätte Deinen Vater geheiratet, um mich das ganze Leben abzurackern, wenn ich solch' hübsches Gesicht mitbekommen hätte, wie Du? In den paar Tagen, dass Du zu Hause bist, habe ich genug gesehen. Du kannst eine reiche Bauerfrau werden und brauchst Deinen Finger nicht in kaltes Wasser zu stecken, wenn Du bloss willst...“

Das Mädel lachte übermütig. „Wenn ich will, Mutter, ja! Vielleicht werde ich wollen, vielleicht auch nicht. Einen Mann bekomme ich, deshalb mach' Dir keine Sorgen! Und bin ich nicht eine gute Partie? Ich habe ein Bett, neu geschüttet in neuem Inlett, vier grosse Stück Leinwand und dreihundert Mark auf der Sparkasse...“

Sie fasste die alte Frau und drehte sie ein paarmal in heftigem Wirbel um sich. „Nun werden wir die Ziegen melken, Kaffee kochen und dann zur Arbeit.“

„Zur Arbeit? Willst Du denn zur Arbeit gehen?“

„Weshalb denn nicht, Mutter? Soll ich wie eine Prinzessin zu Hause sitzen? Ich gehe heute zum Dombrowski, Korn raffen.“

„Der Karl hat mit Dir gestern auch schön getan. Wenn Du heut bei ihm zum Scharwerk gehst...“

„Dann sieht er, dass ich arbeiten kann. Ich werde hinter ihm raffen und als erster soll er die Sense führen, sonst lache ich ihn aus...“

Hinter ihnen räusperte sich jemand. Am Gartenzaun stand ein junger Mann, gross breitschulterig. Aus dem offenen hübschen Gesicht lachten zwei freundliche Augen. „Guten Morgen, Tante Jezorek, guten Morgen, Otta! Schon ausgeschlafen?“

Er fasste über den niedrigen Zaun, schob den Riegel der Tür zurück und kam näher. Jetzt sah man, dass er hinkte. Der linke Fuss war ein ganz klein wenig kürzer als der rechte.

„Wohin, Janek?“

„Nach Osranken, liebe Tante, nach Osranken zur Arbeit. Sonst gehe ich nicht mehr aus dem Hause, aber der Drusba ist ein guter Freund zu meinem Vater gewesen. Und jetzt hat er den Löffel weggelegt.“

„Was, der alte Drusba ist tot?“

„Ja, Tante, jetzt wird er mit den Füssen voran zum letzten Mal spazieren fahren. Am Mittwoch... Zwei Tage und zwei Nächte habe ich zu tun, die Jungen wollen sich zum Begräbnis neue schwarze Anzüge machen lassen…“

„Das wird ein bischen viel für Dich werden, Janku; diese Nacht hast Du auch nicht viel geschlafen...“

„Macht nichts aus, Tante, ich bin starker als mancher Mensch' mit gesunden Beinen... Und der schöne Verdienst... Na, adieu Tante, adieu Otta. Geht Ihr zur Arbeit heute? Beide?“

„Ja, Janek“, erwiderte jetzt das Mädel lachend, „alle beide gehen wir zur Arbeit Ich bin keine Prinzessin, ich kann noch arbeiten…“

Die Frauen sahen ihm, nach, bis er um die Hausecke bog, Dann wandte sich Otta zur Mutter. „Du, Mutter, der Janek nimmt mich auch. Die ganze Nacht hat er in der Tür gestanden und kein Auge von mir gelassen. Bloss schade, dass er Skorupa heisst und ein Skorupa (Krüppel) ist.

„Du Lästermaul Du! Der liebe Gott wird Dich noch für Deinen losen Mund strafen. Was kann der arme Junge dafür? Aber sonst hast Du recht! Das ist ein ordentlicher Mensch! Ein schönes Haus hat er, schon zur Hälfte mit Ziegeln untermauert. Und Geld hat er auf Leuten, weil er fleissig ist und nichts vertut. Du möchtest auch bei ihm ein gutes Leben haben, wenn er Dich bloss nehmen möchte!“

„Ein Schneider, ein Ziegenbock, meck, meck!“

„Du bist verrückt, Margell. Ich weiss, was Dir im Kopfe steckt. Der Adam, der Taugenichts...“ Sie hob die Hand. „Sag' mir nichts weiter! Du glaubst klug zu sein und bist noch sehr dumm! Aber das sage ich Dir: Wenn Du mit dem Lorbass, dem Adam, Dich einlässt, dann kommen wir beide auseinander! Ich hab' gedacht, ich werde auf mein Alter noch' bei Dir gute Tage verleben und nichts weiter tun als Flachs und Wolle spinnen. Aber wie Du willst, meine Tochter! Vielleicht werde ich auch im Scharwerk meine Knochen zu Ende schleppen, oder sie stecken mich ins Armenhaus, wenn ich die Arme nicht mehr rühren kann.“

„Aber Mutter, wie kannst Du so reden!“

„Schon gut, Otta, schon gut! Ich weiss jetzt, wie Du denkst! Du bist klüger als Deine Mutter und wirst doch mit sehenden Augen in Dein Unglück gehen. Alles kann man den Kindern geben, bloss nicht die Erfahrung.“

Bis Mittag hatten die Schnitter rüstig trotz der Hitze auf dem Felde geschafft. Allen voran der junge Bauer Karl Dombrowski. Als Erster führte er die Sense und warf mit jedem Schwung seiner starken Arme einen vollen Schwad zur Seite, so dass Otta Mühe hatte, die vielen Halme zu raffen und in Garben zu binden. Die alten Weiber, die hinter den Schnittern die Garben zu Hocken zusammensetzten, plinkten sich verständnisvoll zu, wenn das Paar vom anderen Ende des Feldes angewandert kam, um eine neue Reihe zu beginnen. Das sah doch ganz so aus, als ob zwischen den beiden sich etwas entspann! Und man konnte gar nicht wissen! Womöglich fiel es dem reichen Bauernsohn noch ein, die arme Scharwerksmargell zu heiraten. Er brauchte ja doch niemand zu fragen, denn seine Eltern waren lange tot...

Alte Weiber pflegen in Liebesgeschichten eine feine Nase zu haben. Auch hier hatten sie das Richtige getroffen. Dem jungen Bauer gefiel seine Rafferin. Schon auf dem Tanzvergnügen hatte sie ihm in die Augen gestochen. Sie war so hübsch und adrett und wusste sich ganz anders zu benehmen, als selbst die reichen Bauerntöchter. Und gut kochen hatte sie in der Stadt gelernt. Auf Geld brauchte er bei seiner Zukünftigen nicht zu sehen, davon hatte er selbst genug... Der Gedanke begann ihm zu gefallen. Wenn er ihr heute in der Mittagspause sagte, was er vorhatte, dann konnte er sie schon abends als glücklicher Bräutigam herzen und küssen nach Herzenslust...

Er zog den Schleifstein aus dem Kocher und begann seine Sense zu streichen. Dabei sah er, wie unter Ottas Kopftuch die hellen Schweisstropfen hervorperlten. Die ungewohnte Arbeit nach durchtanzter Nacht... Sogleich stiess er den Sensenstiel in die Erde und gebot die Mittagspause. Schnatternd zogen die Weiber zum Feldrain, wo `die Paartöpfe mit dem Essen standen. Langsam folgten die Männer nach. Der junge Bauer hielt das Mädel zurück. „Du kannst bei mir essen, Otta.“

„Wenn ich nicht will, dann auch?“

„Sei nicht so schnippisch, Du dummes Ding! Weshalb willst Du nicht?“

„Weil ich nicht will! Sollen die Weiber über mich klatschen?“

„Ach so, davor hast Du Angst? Na gut, aber nachher möchte ich mit Dir etwas besprechen.“

„Ich weiss, was Du sagen willst“

„Du könntest Dich irren!“

„Ach nein — ihr Männer seid einer wie alle und alle wie einer.“

Dem Bauer schoss das Blut zu Kopf. Jede andere Margell wurde kriselig vor Freude, wenn er sie nur ansah, und diese dumme Gans tat, als wenn sie eine Prinzessin wäre.

Der Nachmittag verging recht unbehaglich. Der Bauer schaffte so gewaltig, dass Otta nur mit Aufbietung aller Kräfte hinter ihm zu raffen geriet. Und hätte er sie nicht mit unfreundlichen Worten angetrieben, vielleicht hätte sie vor Abend ausgespannt. „Aber so sind die Männer“, dachte sie bei sich, „erst zuckersüss und dann roh, wenn man ihnen nicht zu Willen ist...”

Erst spät nach Sonnenuntergang hatte der Bauer Feierabend geboten. Stumm schritten sie als letztes Paar hinter den anderen her. Vor dem Hoftor wollte Otta mit kurzem Gruss weiter gehen. Der Bauer forderte sie harsch zum Bleiben auf.

„Was soll ich?“

„Den Tagelohn will ich Dir geben. Du kannst morgen wo anders zur Arbeit gehen, ich brauch' Dich nicht.“

„Hab' ich nicht genug geschafft?“

„Das wohl, aber ich kann solche obstematschen Frauenzimmer nicht brauchen.“

„Ach so, das machst Du wohl immer... wer bei Dir arbeitet, muss...“

„Nein, mein Täubchen, so schlecht bin ich denn doch nicht. Aber ich will Dir etwas verraten. Du wirst es ja nicht weiter erzählen... Heute Mittag war ich so dumm, dass ich Dich fragen wollte, ob Du meine Frau werden willst. Jetzt hätten wir Deine Mutter geholt und Verlobung gefeiert. So, nun weisst Du es, was ich mit Dir besprechen wollte. Es ist besser, dass es so gekommen ist. Du lässt Dich ja lieber mit dem Taugenichts, dem Adam Gollub, ein. Wünsch viel Glück und hier ist Dein Geld...''

Es gab viel Maulgesperre im Dorfe, als Otta am nächsten Morgen beim Bauer Dombrowski nicht zur Arbeit erschien. Die einen meinten, es wäre ihr wohl zu schwer geworden, der Prinzessin... in der Stadt wäre es freilich leichter, ein paar Stuben zu fegen und ein Dutzend Tellern abzuwaschen... Die andern glaubten, sie hätte dem jungen Besitzer zu blanke Augen gemacht. Deshalb hätte er sie gleich gehen lassen, um nicht in Ungelegenheiten zu kommen, weil er auf Freiersfüssen ging... Ganz untröstlich war Ottas Mutter. Sie konnte sich die Sache gar nicht erklären, denn das Mädel schwieg darüber... Womöglich hatte der Bauer ihr schon einen Heiratsantrag gemacht und sie hatte ihn abgewiesen? Gewiss steckte ihr der Taugenichts, der Adam Gollub, im Kopf. Na, der sollte sich bloss blicken lassen, dem wollte sie schön heimleuchten!

Es war nur gut, dass Otta's Tugendhaftigkeit nicht von der Wachsamkeit der Mutter abhing. Denn schon in der nächsten Nacht sass eine dunkle Gestalt in dem grossen Kirschbaum vor der Tochter Kammerfenster. In kurzen Zwischenräumen flog ein Kirschkern gegen die Glasscheiben...

Das Mädel wusste ganz genau, wer da Einlass begehrte... der schwarze Adam... das fehlte gerade noch, dass der sie ins Gerede brachte! An der einen Dummheit war's genug, dass sie sich nach dem Tanzvergnügen hatte von ihm heimgeleiten lassen. Er hatte ihr ja ganz gut gefallen, besser als die tölpelhaften Knechte, die sie manchmal beim Tanzen so unverschämt an sich gepresst hatten. Er tanzte wie ein Herr und konnte so gut erzählen. Aber sich mit ihm einlassen...? So dumm war sie doch nicht!

Wieder klirrte ein Kern an der Scheibe. Was fiel dem Lorbass bloss ein? Das Mädel zitterte vor Ärger und Scham. Wenn jetzt womöglich der Janek dazu käme... Und öffnete sie heute nicht, dann kam er morgen wieder. Endlich würde es still. Sie sah, wie die dunkle Gestalt aus dem Kirschbaum verschwand. Leise stiess sie ihr Fenster auf und sandte dem zudringlichen Liebhaber ein Sturzbad nach...

Vergnügt stand Otta am anderen Morgen auf. Sie musste laut auflachen, als sie morgens beim Brunnen ihre Toilette machte. Den hatte sie gründlich abgefertigt, den frechen Burschen, der würde sie jetzt wohl in Ruhe lassen. Wenn das der Karl Dombrowski erfuhr... vielleicht besann er sich noch einmal. Und wenn nicht, dann nahm sie eben den Janek, den Schneider. Trotz seines lahmen Beines war er doch ein ganz forscher Mann, und wenn er auch nicht so reich war wie der Bauer, so hatte er doch sein gutes Einkommen und besass eine Chalupp mit Garten und Kartoffelland...

Ein paar Tage später sah sie mit Vergnügen, wie ihre Mutter sich ihr gutes Kleid anzog und sich zum Ausgehen rüstete. Sie wusste ganz genau, was das zu bedeuten hatte. Aber sie stellte sich dumm und fragte. Ganz entrüstet sah die Mutter sie an.

„Stell' Dich doch nicht so dumm an, Otta! Schon ehe Du nach Hause kamst, hat Janek's Mutter bei mir angefragt. Nu ist doch wohl Zeit, dass ich ihr Antwort bringe. Und ich denke, Du bist vernünftig geworden...“

„Na ja, Mutter, kannst ja mit der Tante sprechen.“

Die Alte strich ihr zärtlich mit der Hand über die vollen Backen.

„Siehst Du, der Janek ist ein guter Mensch. Ihr passt so gut zu einander. Ja... was ich noch sagen wollte... wenn ich gegen Abend nicht zu Hause bin, dann ziehst Dir Dein bestes Kleid an und kommst nach... dann ist die Sache in Ordnung...“

„Könnt` mich der Janek nicht holen kommen?“

„Ach, mach' keine Faxen! Tu, wie ich Dir sage!“

Damit ging die Alte. Otta nahm einen Korb und ging in den Garten, Bohnen zu pflücken. Ihr war so lustig zu Mut, dass sie laut zu singen begann. Am Gartenzaun blieb ein Mann stehen und bot ihr freundlich die Zeit. Das war ja der schwarze Adam? Wie hatte der ihr die kalte Abweisung nicht übel genommen? Im ersten Augenblick war sie so verwirrt, dass sie nicht wusste, was sie antworten sollte. Und der freche Mensch tat wirklich so, als wenn nichts passiert wäre! Er erkundigte sich nach ihrem Befinden, erzählte, dass er vier Tage zur Jagd gewesen wäre... gleich am Morgen nach dem Tanz wäre er weggegangen.

Nun schwang er sich gar über den niedrigen Zaun und kam dicht zu ihr heran.

In diesem Augenblick sah Otta unwillkürlich den Weg hinunter, den die Mutter kommen musste... Und da richtig, da, kam sie an… sie schritt so hastig aus, dass ihr die Haubenbänder unter dem Kinn wackelten... Was war geschehen? Ehe der junge Mann sich`s versah, hatte Otta ihn verlassen… Die Alte schoss hastig an ihm vorbei, ohne ihn zu sehen... sie war augenscheinlich in grosser Aufregung... Hatte das junge Mädel eine Dummheit oder gar eine Schlechtigkeit begangen? Er blieb stehen und horchte.

„Du nichtsnutzige Margell Du! Mich so zum Narren zu machen! Gibst dem Janek, der mit Dir am Fenster plaudern will, einen Topf Wasser über'n Kopf und sagst nichts davon. Lässt mich ruhig hingehen. Na wart' nur, das werd' ich Dir eintränken...“

„Aber, liebste Mutter, ich dacht' ja, es war' der Adam Gollub...“

Draussen lachte jemand so laut, dass die beiden, Mutter und Tochter, es hören mussten. Es war der dritte Freier, der sich aus dem Staube machte.

Das trotzige Herz.

I.

Auf dem See brütete die Glut des wolkenlosen Sommertages. Glatt und blank lag der weite Spiegel da, über ihm zitterte und flimmerte die erhitzte Luft. Schläfrig hockten die goldgelben Käferchen auf den Blättern des mannshohen Rohres, das so unbeweglich dastand, als hätte es nie im frischen Morgenwind gerauscht. Der geschwätzige Rohrsänger war verstummt, unheimliche Stille lag über der Natur.

Nur im Wasser war Leben und Bewegung. In gedrängten Scharen zogen fingerlange Plötze und Ukelei dicht unter der Oberfläche dahin und schnappten nach den Mücken, die ermattet auf das Wasser niedersanken. Von Zeit zu Zeit schossen Hunderte von silberhellen Schuppenträgern gleichzeitig aus ihrem nassen Element empor, um dem gierigen Räuber zu entgehen, der aus der Tiefe mit blitzschneller Wendung zwischen sie gefahren war und gefrässig ihre Reihen lichtete. Im nächsten Augenblick schon sprangen die Fischlein sorglos wieder nach den Mücken und stiessen in die glatte Oberfläche des Wassers unzählige kleine Kreise, die mit zitternder Bewegung schnell zerflossen.

In dem Gelege, dem dichten Röhricht, das wie ein grünes Band das Ufer umsäumt, gingen Fischer ihrem mühsamen Gewerbe nach. Ein Mann, dem schon der Schnee des Alters auf dem spärlichen Haupthaar lag, schob mit langem Eschenruder den flachen, aus dünnen Brettern gezimmerten Kahn, wie ihn die Bewohner des Spreewaldes benutzen, durch die engstehenden Binsen. In dem zweiten, grösseren Kahn, der mit einem Wasserbehälter zur Aufnahme der gefangenen Fische versehen war, stand ein schlankes, hochgewachsenes Mädchen und trieb ihn mit kräftigen Stössen vorwärts. Ein einfacher, verwitterter Strohhut beschattete ihr hübsches, regelmässig geschnittenes Gesicht, das durch einen scharfen Zug um die vollen Lippen den Eindruck männlicher Entschlossenheit erhielt. Auch die klaren, grauen Augen blickten so kühl, als hatten sie nie in mädchenhaftem Übermut gelacht.

Auf einen Zuruf des Alten hielten beide ihren Kahn an und schoben mit langer, dünner Stange ihre Netze aus, bis die beiden Flügel sich berührten. Die andere Hälfte der Netze ging im rechten Winkel zum Ufer. Nun wurde mit den Stangen der umschlossene Raum abgesucht. Hier und dort schob sich ein grösserer Fisch durch die Binsen vorwärts, bis ihn ein wohlgezielter Stoss vollends ins Netz scheuchte. Dann sprang der Alte mit seinen langen Stiefeln in das seichte Wasser, um die Gefangenen zu lösen, ehe sie sich durch ungestüme Bewegungen aus der Umstrickung befreiten. Als der Zug beendet war, watete der Fischer zum Ufer, die Tochter folgte mit dem Korbe, in dem ihr Mittagbrot enthalten war. Schweigend verzehrten beide die dickgeschnittenen Butterbrote, dann warf sich der Alte rücklings ins Gras und deckte sein Gesicht mit dem Strohhut. Nicht lange danach zeigten tiefe, langsame Atemzüge, dass ihm der Schlummer die müden Glieder gelöst hatte. In Gedanken, versunken sass das Mädchen neben ihm, halb mechanisch scheuchte sie mit einem Erlenzweig die Mücken, die den Schläfer umsummten. Wenn der Vater aufwachte, würde er sicherlich wieder davon anfangen zu sprechen, dass es höchste Zeit sei, einen Schwiegersohn ins Haus zu schaffen, der ihm die Last der Arbeit von dem gebeugten Rücken nähme. Ihre Gedanken flogen zurück in die Zeit, da sie noch mit Hängezöpfen in jugendlichem Übermut durch Haus und Hof sprang und den Herren, die zur Sommerfrische bei ihnen weilten, die Angeln versteckte. Und dabei war ihr die alte Geschichte passiert, bei der manchem Mädchen das Herz brechen soll. Noch zwei Sommer war er wiedergekommen, hatte sie in den Arm genommen, ihre vollen Lippen, die glückstrahlenden Augen, die weisse Stirn unter den krausen Löckchen geküsst und mit heiligen Eiden geschworen, dass sie sein Weib werden sollte, sein geliebtes Weibchen, wenn er sich nur erst so viel erarbeitet, dass er sie heimführen könnte. Im dritten Sommer blieb er aus. An seiner Statt kam ein Brief, er hätte eine Stelle in Stettin angenommen. Das Gehalt sei noch zu gering zum Heiraten, aber in einigen Jahren… Die Jahre waren vergangen, sie hatte keinem ihr Herzeleid geklagt. Nur der Vater hatte es erraten und eines Tages sich aufgemacht, um den ungetreuen Liebhaber als Schwiegersohn heimzuholen. Er kam allein zurück... Aus der übermütig fröhlichen Jungfrau wurde ein ernstes Mädchen mit dem scharfen Zug um den Mund, der es so gut verstand, jeden Freier abzuweisen. Was sie zuerst nur als Spiel betrieben, war ihr zum Bedürfnis geworden. Wie ein Mann stand sie ihrem Vater im Betrieb der Fischerei als Gehilfe zur Seite, sodass er oftmals im Scherz ihren Vornamen „Hannchen“ in „Hans“ verkehrte. Und schon lange war niemand unter ihren Bekannten, der sie nicht „Hans“ nannte. Zu Anfang hatte sie sich darüber geärgert; jetzt kam es ihr beinahe komisch vor, wenn jemand sie mit „Hannchen“ ansprach. Der Alte war erwacht und hatte sich zur sitzenden Stellung aufgerichtet. Bekümmert sah er auf seine Tochter, die regungslos, vornüber gebeugt neben ihm sass, als warte sie bereits auf die alltägliche Strafpredigt. War es nicht vergeblich^ dass er sie immer und immer wieder mit denselben Vorhaltungen quälte? Aber es musste sein. Vielleicht sah sie doch endlich ein, dass sie allein Rat schaffen konnte. Er war doch zu alt, um nochmals die Pacht des Sees zu übernehmen, und einem alleinstehenden Mädchen würde die Hofkammer nie und nimmer das Gewässer verpachten. Er seufzte erst tief auf, ehe er begann:

„Du, Hans, jestern abend war ick bei Beelitzen, der weiss einen, der Dir heiraten möcht'. `N Wittmann is et, mit drei Kinder, aberst ein juter Mensch, ein ordentlicher Mensch. Und verstehen dhut er wat von det Fischen. Wat sagste dazu?“

Das Mädel zuckte die Achseln. „Muss et jerade ein Wittmann sind, wenn ick heiraten soll?“

„Nein, Kind, aber ein Dag verjeht wie der andere, und Du weisst janz jut, det wir de Pacht nich kriegen, wenn nich `n Schwiegersohn in't Haus kommt. Ick for mir, ick wer' die paar Jahrekens noch zu beleben ha'm, auch ohne Fischerei. Und wenn ick dot bin, verkaufste det Haus und de fufzig Morjen Heide un jehst nach Berlin in'n Dienst oder bleibst bei den neuen Pächter als Gehilfe, wie Du willst, det Geschäft verstehste ja...“

„Vader!“

„Na ja! Wie soll et denn anners wer'n?“

Das Mädel wischte sich mit dem Handrücken die Stirn, auf der die hellen Schweisstropfen standen.

„Vader...“ Die Worte kamen schwerfällig und zögernd von ihren Lippen... „Vader, zur Herbstfischerei brauchen wir so wie so `n Gehilfen..“

„Ach so... ick versteh! Vielleicht findste einen, der Dir gefällt...“

Das Mädel zuckte zusammen, als hätte sie einen Schlag bekommen. Ärgerlich hob der Alte die Stimme: „Nu, nu, hab Dir man nich so! Et gibt noch mehr Mannsleut' auf de Welt als den Lump, der Dir bedrogen hat. Ick jlobe jar, wenn er heut nach acht Jahr wiederkäm, würdst ihn noch um'n Hals fliegen. Det mach Dir man ab, aber balde! Verstehste? Siehst ja wie ein Sauertopp aus, wer soll Dir denn nehmen?“

Unwillkürlich waren ihr bei dem Zornesausbruch des Vaters zwei einzelne Tränen ins Auge getreten. Sie ärgerte sich darüber und noch mehr über sich selbst. Wie ein kleines Kind, das gescholten wird, hätte sie am liebsten laut aufgeschrieen, aus Zorn, aus Ärger, sie wusste selbst nicht, worüber. Sie fühlte nur, dass es heiss in ihr emporquoll, und konnte es nicht länger Unterdrücken, laut schluchzend und weinend barg sie das Gesicht in den Händen, eine krampfhafte Erschütterung schüttelte ihren Leib. Erschrocken sah der alte Fischer auf sein Bond. Was war das? War das „der Hans“, das ruhige Mädel, das alles und jedes mit einem spöttischen Lächeln abgefertigt hatte? Die Augen wurden ihm selbst feucht; denn es war doch sein Kind, sein einziges Kind, das im Weinen laut aufschrie. Das Mädel wusste selbst nicht, weshalb das Weinen über es gekommen war; es wusste nicht, dass sein Herz es war, ein jahrelang von dem harten Kopf gemisshandeltes Herz, das da aufschrie, als der Vater mit seiner groben Hand zufasste, um die einzige liebe Erinnerung an die Jugendzeit ihm zu entreissen. Im innersten Winkel, da hatte das Bild gestanden, von Kränzen behängen, die eine starke Liebe ihm geflochten, und umspielt von einem schwachen Hoffnungsschimmer. Sie hatte sich selbst dieser Empfindung, die sie wie einen Schatz hütete, geschämt, und sie durch rauhes, abstossendes Wesen zu verbergen gesucht. Nicht nur vor den Leuten, nein, auch vor sich selbst. Jetzt hatten sie die Worte „Lump“ und „betrogen“ wie ein Schlag getroffen, und der Schlag tat weh, so weh, dass sie laut weinen und schreien musste. Ihr war's, als wäre in diesem Augenblick erst ihre Liebe gestorben. Ganz leer und tot war's in ihr geworden. Sie biss die Zähne zusammen, um das Schluchzen zu überwinden, und drückte die Hände fest gegen die Augen. Dann stand sie auf und sagte mit seltsam tonloser Stimme: „Hast recht, Vader, `es is en Lump gewesen, nicht anderes! Nu sorg for'n Gehilfen, ick wer'n heiraten, wenn Du willst, gefallen braucht er mir nicht!“

Sie hob den Korb vom Boden und watete rasch zum Kahn, als wollte sie der Antwort des Alten entgehen.

Vierzehn Tage waren vergangen. Vater und Tochter hatten eifrig gefischt, ohne mehr als die notwendigsten Worte zu wechseln. Sie wusste, dass er mit Hilfe eines Sommergastes, der zum Angeln bei ihnen weilte, ein Inserat in der Fischerei-Zeitung erlassen hatte, wonach der Fischer Huschke in Neu-Köthen einen ledigen, nicht zu jungen Gehilfen suchte. Fine Menge von Briefen war eingelaufen, in denen die Bewerber ihre Kenntnisse und Fähigkeiten mit starken Worten, aber schwacher Schreibkunst ins beste Licht zu stellen suchten. Mit einem unbeschreiblichen Widerwillen hatte sie die Briefe durchmustert, bis auf einen, den kürzesten von allen. In fester, klarer Handschrift schrieb ein gewisser Karl Selchow, er sei dreissig Jahre alt, in einer Fischwirtschaft aufgewachsen, aber schon seit seinem fünfzehnten Lebensjahr unter fremden Leuten, da ihm die Eltern kurz hintereinander weggestorben seien. Die Fischerei habe er auf den Seen in Pommern und Mecklenburg kennen gelernt, worüber er Zeugnisabschriften beilege. Im Militärverhältnis sei er Unteroffizier der Landwehr, hätte aber bereits seine Übungen hinter sich. Der in fehlerfreiem Deutsch geschriebene Brief stand trotz seiner Kürze und einfachen Form turmhoch über allen anderen. Einer plötzlichen Eingebung folgend, wollte sie schon dem Vater sagen, er möchte an keinen andern, als am diesen Karl Selchow, schreiben. Aber dann überkam es sie wie Trotz gegen das Schicksal. Sie wollte ihre Hand nicht hineinmischen. Ob dieser oder ein anderer! Wer kam, wurde geheiratet! Sie steckte den Brief weg, mitten hinein zwischen das ganze Pack, als wenn sie sich schämte, an der Frage, von der ihre Zukunft abhing, auch nur das flüchtigste Interesse genommen zu haben. Es war ihr beinahe unangenehm, als der Sommergast nach dem Abendbrot gerade diesen Brief hervorsuchte, um an den Karl Selchow zu schreiben. Durch die offene Tür zur Küche hörte sie, wie er dem Vater erklärte, das müsse, nach dem Schreiben zu urteilen, ein ruhiger, verständiger Mann sein, der mehr gelernt habe als ein gewöhnlicher Fischerknecht.

Ein paar Tage danach kam eine Postkarte mit der kurzen Mitteilung, dass der neue Gehilfe am nächsten Sonnabend mit dem nächsten Mittagszug auf der Bahnstation Halbe eintreffen würde. Frühmorgens fuhr der Vater mit dem Einspänner fort. Er hatte zwei grosse Fässer mit Hechten geladen, die nach Berlin abgeschickt werden sollten. Der Alte war in den letzten Tagen sehr vergnügt gewesen. Er freute sich auf die Zeit der Ruhe, die ihm bevorstand, und er hatte ein Recht, sich darauf zu freuen; denn die körperliche Anstrengung wurde ihm schon sehr sauer, zumal, wenn ihn im Herbst und Winter das Reissen plagte. Wie gern gönnte Hans dem Vater das Ausspannen. Wenn nur nicht das bittere Gefühl in ihr gewesen wäre, dass sie dabei das Opferlamm sein sollte! In dem Inserat hatte zwar nichts von Einheiraten gestanden und auch in dem Brief, den der Vater hatte schreiben lassen, war davon nichts erwähnt worden. Und nach langem Zögern hatte sie dem Alten, als er schon auf den Wagen gestiegen war und die Leine zur Hand nahm, gebeten, er möchte nichts davon dem Gehilfen sagen, dazu wäre ja noch Zeit, wenn man sah, dass der Fremde in der Fischerei sich gut anliess. Der Vater hatte nur zustimmend genickt, aber sie konnte sich auf diese stumme Zusage verlassen.

Als der Wagen vom Hof rollte, blieb sie einen Augenblick tief aufatmend stehen. Dann wandte sie sich um und ging ins Haus zurück. Die Gerlachen, das alte Faktotum, das die Hauswirtschaft besorgte, kam eben die Treppe von der Oberstube herunter, die für den Gehilfen hergerichtet wurde. Mit einem schnellen Entschluss stieg sie selbst hinauf und sah sich in dem kleinen Raum um, der einen recht ungastlichen Eindruck machte. Das frauenhafte Empfinden regte sich in ihr. Es brauchte doch nicht gar so unfreundlich in dem Zimmer auszusehen! Vor allen Dingen musste alles sauber sein; sonst hielt der Fremde sie für ein unordentliches Frauenzimmer! Schnell holte sie Wasser, Seife und Besen, fegte die Wände ab und wusch das Fenster, bis die kleinen Scheiben glänzten. So, nun ein paar Kattunvorhänge ans Fenster, eine Decke auf den Tisch, jetzt sah der Raum ganz freundlich aus. Wenn sie nun noch einen Blumenstrauss hinstellte… Bei diesem Gedanken wurde sie ärgerlich auf sich selbst. Das würde ja so aussehen, als freute sie sich darüber, dass der Mensch ins Haus kam. Aber der Gedanke liess sie nicht los. Und nachmittags, kurz bevor der Wagen kam, stand wirklich ein kleiner Strauss auf dem Tisch.

Durchs Küchenfenster musterte sie klopfenden Herzens den Ankömmling mit einem leisen Gefühl der Enttäuschung. Sie hatte sich schon viel mit ihm in Gedanken beschäftigt und sich unwillkürlich einen grossen schlanken Mann mit einem flotten Schnurrbart vorgestellt. Der neue Gehilfe war dagegen kaum von Mittelgrösse, wenig grösser als sie selbst, aber stark untersetzt mit mächtig breiten Schultern. Ein dichter dunkler Vollbart umrahmte sein offenes Gesicht. Und eins gefiel ihr auf den ersten Blick: die anständige Kleidung. Er sah so aus, als sei er gewohnt, stets gut gekleidet zu gehen. Jetzt hob er ohne sichtliche Anstrengung den Kasten, der seine Sachen barg, vom Wagen, und trug ihn hinter dem Alten her, der ihm den Weg zu seiner Giebelstube zeigte, ins Haus. Einige Minuten später kamen die Männer herunter. Jetzt musste sie hineingehen mit dem Mittagessen. Sie war so befangen, dass sie sich über sich selbst ärgerte. Was musste der fremde Mensch von ihr denken! Als sie eintrat stand er auf und reichte ihr mit den Worten: „Karl Selchow, der neue Gehilfe“ die Hand, Sie erwiderte nur mit einem kurzen Neigen des Kopfes. Der Vater jedoch, der sehr vergnügt aussah, klopfte ihr dabei auf die Schulter und sagte: „Det is der Hans, en dichtiges Mächen! Und Fischen dhut se, wie'n Mann. Na, Se wer'n ja sehen, Selchow. Und nu lassen's sich jut schmecken, en bissken Appetit werden Se wohl haben.“

Nach dem Essen besahen die Männer die Netze und Kähne. Die grossen Boote für die Herbstfischerei mit dem Zuggarn lagen umgestülpt auf dem Trocknen. Sie sahen ziemlich schadhaft aus, und der Alte meinte, in der nächsten Woche müsste der Bootsbauer aus Eichwalde geholt werden, um sie auszuflicken, zu dichten und zu teeren. Das wäre immer eine Ausgabe von dreissig Mark.

„Die können wir sparen“, meinte Selchow ganz ruhig. „Das Handwerkszeug habe ich dazu. Und wenn Sie wollen, baue ich im Winter neue Kähne, vielleicht ein wenig kleiner, denn diese scheinen mir reichlich gross zu sein.“

Erfreut stimmte der Alte zu, und abends in Gegenwart der Tochter besprach er mit Selchow die Bootsbauerei bis in alle Einzelheiten. Hannchen antwortete ziemlich einsilbig, wenn der Vater sie dabei um ihre Meinung fragte. Der scharfe Zug um ihren Mund trat schärfer hervor, als je, denn sie fühlte, dass der Alte das Gespräch nur angefangen hatte, um ihr zu zeigen, welch ein tüchtiger Mensch der neue Hausgenosse sei. Aber eins musste sie sich innerlich, wenn auch mit Widerstreben, eingestehen: der Mann wusste, was er wollte. Er sprach nicht viel, aber was er sagte, kam mit ruhiger, klarer Bestimmtheit zum Vorschein. Er hatte, wie er kurz erzählte, jahrelang bei dem Grossfischer Stöhwahse in Wollin beim Bauen der Boote mitgearbeitet, so dass er sich getraue, selbst einen Fischerkahn, noch dazu mit flachem Boden, herzustellen. Dann kam das Gespräch auf die Seen, auf die Art der Fischerei, und es war ganz interessant, zuzuhören, wie Selchow einige neue Arten, die er in Pommern kennen gelernt hatte, mit kurzen Worten schilderte. Morgen, am Sonntag, wollte er auf die Seen hinauffahren, um sich selbst ein Bild von dem Gewässer zu machen. Dann stand er auf, gab Vater und Tochter die Hand, wünschte kurz „Gute Nacht“ und ging hinauf in sein Zimmer.

Kaum hatte er die Tür hinter sich ins Schloss gezogen, als der Alte vergnügt aufsprang und ausrief:

„Nu, Hans, wat sagste zu den Mann? Dat `s `n juter Jriff, nich wahr? Wenn er Dir so jefällt, wie mir...“

„Ach, Vater, lass doch das. Das eilt ja doch jetzt nicht.“

„Na, nee, äberst wenn Du ihn immer so'n Gesichte machst wie heute abend, denn werd't ihr wohl in alle Ewigkeit nich zusammenkommen. Jesacht hab' ick ihn noch nichts davon, det er einheiraten könnt', aberst nu musste ihn `n freundliches Gesichte machen, sonst kommt er nich druff. Um `n Hals brauchste ihn nich gleich zu fallen, det verlang ich nich, aberst... na ick hab's ja schon gesagt. Wollen mal `n paar Dage abwarten, vielleicht gefällt er Dir, denn werd' ick et ihn schon beibringen, dat er den Mund aufdhut. Na, jute Nacht, Hans, jute Nacht. Un morjen früh frag' mal nach, wat er auf die neue Stelle geträumt hat, det jeht in Erfüllung. Jute Nacht!“

In der Herrgottsfrühe des anderen Tages hörte Hannchen den Hausgenossen die knarrende Stiege herabkommen. Von ihrem Fenster aus sah sie ihn über den Hof schreiten. Er trug ein kurzes Lederjakett ohne Knöpfe, wie sie es noch nicht gesehen hatte, und halblange Juchtenstiefel. Die enganliegende Kleidung liess das Kraftvolle seiner Figur deutlich hervortreten. Und nicht wie ein Fischerknecht sah er aus, sondern wie ein Herr aus Berlin, der sich für den Wassersport angekleidet hat. Unten am Wasser schob er einen der leichten Spreewaldkähne vom Ufer und fuhr langsam davon.

Sie sah ihm nach, bis er hinter der nächsten Landzunge verschwand. Erst gegen mittag kam er wieder. Bei Tisch sprach er sich über den See aus, den er rings umfahren hatte, und erwähnte ganz beiläufig, dass er sechs Puppen gefunden hätte mit drei Aalen und einem Wels von sieben Pfund. Er hätte die Fische in einem leeren Abteil des Hüttkastens gesetzt, weil sie schon matt wären und im Haushalt verbraucht werden müssten. Der Alte freute sich darüber, sie ärgerte sich, denn eigentlich warfen die von ihm bei der ersten Fahrt gefundenen Puppen ein schlechtes Licht auf ihren ganzen Betrieb der Fischerei.

Am nächsten Morgen fuhren die beiden jungen Leute mit den Staaknetzen ins Gelege. Hannchen trug ihr Fischerkostüm, einen kurzen Rock, der knapp die Kniee deckte, und Stiefel, die neben seinen plump aussahen. Aber beim Fischen merkte sie doch öfter, dass seine Blicke nicht dem durch das Röhricht fliehenden Fisch folgten, sondern auf ihr ruhten. Trotzdem sah er alles, was vorging, und mehrmals musste er sie auf einen Hecht aufmerksam machen, den sie übersehen hatte; dabei sprach er sie stets mit „Fräulein“ an. Beim dritten oder viertenmal schnitt sie ihm das Wort ab. „Hier bin ich nicht Fräulein, hier bin ich Fischer wie Sie, Selchow. Also sagen Sie nur ruhig „Hans“ zu mir, wie alle Menschen.“ Er erwiderte darauf nichts, aber für die Folge vermied er die Anrede, den Namen „Hans“ gebrauchte er nicht.

ln der Mittagspause reichte sie ihm ausser dem dick belegten Brot ein Fläschchen mit Branntwein zu. Er wies die Flasche zurück. „Für gewöhnlich trinke ich keinen Schnaps. Es ist schon genug, wenn man im Gasthaus ab und zu genötigt wird, das Zeug zu schlucken, um nicht für einen Duckmäuser gehalten zu werden.“ Sie sagte nichts dazu, griff aber in ihren Korb und reichte ihm eine Flasche Bier hin, die er mit kurzem Dank annahm. Eine Weile sassen sie still nebeneinander und sahen den Möven zu, die dicht vor ihnen auf den Wasserspiegel hinabstiegen, um sich ein Fischlein zu greifen. Dann fragte sie, ob auch in Pommern so viel von dem Zeug wäre. Nun wurde er gesprächig und schilderte ganz lebendig, wie frech die Wasservögel zu gewissen Zeiten, wenn die Fische von der Oberfläche verschwunden sind, sich mitten zwischen den Kähnen umhertummeln und sogar auf das Netz stossen, um sich ihre Beute zu holen. Dabei hätte sich eine Möve dicht vor ihm ins Netz verstrickt, er hätte sich hastig überbeugt und wäre aus dem Kahne kopfüber ins Wasser gefallen... Hannchen lachte bei der Schilderung laut auf. Er sah sie verwundert an, nicht weil sie lachte, sondern weil er dabei ein ganz anderes Wesen vor sich sah, ein liebreizendes junges Mädchen, aus deren Gesicht der bittere Zug weggewischt war. Sie merkte sein Erstaunen, und im nächsten Augenblick hatte sie wieder die herbe Miene aufgesetzt. Kopfschüttelnd meinte er, das fröhliche Gesicht hätte ihr viel besser gestanden. Sie antwortete so schroff und abweisend, dass er verletzt schwieg. Einsilbig setzten sie ihr Tagewerk fort. Und so blieb es auch fortan. Selchow sprach nur das Notwendigste zu ihr, aber er war von einer Dienstbeflissenheit, die ihr unangenehm war, wenn er zum Beispiel im dichten Röhricht zu ihrem Kahn watete, um ihr über seichte Stellen hinüberzuhelfen. Zu Hause war er nicht eine Minute müssig. Wenn er vom See kam, ging er an die Kähne, die er ausbesserte, und manchmal hörte sie ihn, wie er leise zwischen den Zähnen ein Lied pfiff.

Der Vater stand dann vergnügt dabei und rauchte behaglich seine lange Pfeife. Ihm gefiel das beschauliche Leben, das er jetzt führte, und mehr noch gefiel ihm das stille, bescheidene Wesen, die emsige Geschäftigkeit des Gehilfen. Dass dieser die Fischerei aus dem Grunde verstand, stand auch fest, denn die beiden jungen Leute hatten regelmässig an einem Tage ebensoviel gefangen, wie er mit Hannchen an zwei Tagen. An mehr oder minder deutlichen Bemerkungen über Selchows Vorzüge hatte er es nicht fehlen lassen. Er ahnte nicht, dass er damit gerade das in seiner Entwickelung störte, was er zu fördern gedachte. Wenn's nach ihm gegangen wäre, dann hätte er schon in der ersten Woche dem Gehilfen erklärt, was man von ihm erwartete, und Verlobung gefeiert. Der Gedanke, Selchow würde nicht sofort mit beiden Händen zugreifen, kam ihm gar nicht. Nach vierzehn Tagen war er so ungeduldig geworden, dass er eines Abends Hannchen ganz rund heraus erklärte, er müsste jetzt mit Selchow reden. Die Tochter bat, er möchte sich noch einige Zeit gedulden. Nun wurde der Alte ordentlich böse.

„Nu fährste schon zwei Wochen, Dag for Dag mit den Mann acht Stunden allein auf den See und weisst noch nich, ob er Dir haben möcht. Ick jlobe, mit den ersten hat dat nich so lange jedauert, da war't ihr einig. Na hab Dir manch' nich“, fuhr er ruhiger fort, als er sah, dass Hannchens Augen sich mit Tränen füllten, „ick mein' dat nich so schlimm. Aberst Du musst doch selbst `n Insehn ha'm. Et wird Zeit, dat ick uff de Hofkammer jeh' und sage, ick hab'n Schwiegersohn ins Haus, `n ordentlichen Menschen, sonst kriegen wir de Pacht nich. Na und wenn er selbst nich den Mund aufmacht, denn muss ick'n doch en bissken anstossen. Wer soll et denn dhun?“

Mit vieler Mühe bettelte Hannchen dem Vater das Versprechen ab, noch acht Tage warten zu wollen. Aber dann liess er sich nicht mehr von seinem Vorhaben abhalten, das wusste sie ganz genau. Und mit der Hofkammer hatte er auch recht. Die Behörde hatte für die ertragreichen Gewässer gewiss schon mehr als einen Bewerber an der Hand, sie nahm nur Rücksicht auf den Alten, in dessen Familie die Pacht seit zweihundert Jahren stets vom Vater auf den Sohn übergegangen war. Aber der Termin für die Neupachtung war schon bedenklich nahe gerückt und die Ungeduld des Vaters ganz begreiflich.

Die nächsten Tage wurden dem Mädchen förmlich zur Qual. Vergeblich bemühte sie sich, Selchow ein freundliches Gesicht zu zeigen, und er ging aus seiner höflichen aber zurückhaltenden Art und Weise nicht heraus. Sollte er wirklich nicht wissen, was man von ihm erwartete? Die Leute sprachen doch sicherlich schon darüber. Aber freilich, er war ja in der ganzen Zeit nicht von Hause weggekommen und hatte nur hier und da mit einem, der Fische holte, ein paar Worte gewechselt.

Am Sonnabend sollten sie alle drei nach, dem benachbarten Birkholz fahren. Da hatte ein bekannter junger Mann das Gasthaus gekauft, und die Kaufleute aus der Stadt Buchholz hatten sich mit Bekannten aus der Umgegend verabredet, die Einsetzung durch eine fröhliche Kneiperei und ein Tänzchen zu feiern. Hannchen hatte lange geschwankt, ob sie mitfahren sollte oder nicht. Jahre hindurch hatte sie sich von allen Festlichkeiten, ja beinahe von allem Umgang fern gehalten. Wenn sie jetzt mit dem neuen Hausgenossen zum Vergnügen erschien, dann setzte sie alle Klatschmäuler der Umgegend in Bewegung. Und wenn Selchow dort ein anderes junges Mädchen fand, das ihm besser gefiel, und sie links liegen liess... Nein, es war besser, wenn sie zu Hause blieb, und ehrlicher gegen sich selbst.

Gegen Abend fuhren die Männer weg. Der Vater hatte gebrummt, weil sie nicht mitkam, Selchow hatte sie, wie es ihr schien, ganz traurig angesehen. Sollte er ihr wirklich nicht gleichgültig gegenüberstehen? Sie ging ins Haus und besah sich im Spiegel, was sie lange nicht getan hatte. Ein vergrämtes, verbittertes Gesicht sah sie an. Das würde ihr selbst nicht gefallen, wenn sie ein Mann wäre. Konnte sie denn wirklich nicht ein bischen freundlicher aussehen, nicht die Verbitterung abschütteln, die wie eine Last auf ihr lag? Wenn sie nun wirklich den guten Menschen heiratete? Angekleidet warf sie sich aufs Bett, drückte ihr Gesicht in die Kissen und weinte, und weinte, bis sie sich in den Schlaf geweint hatte. Nach Mitternacht wachte sie von einem Geräusch auf. Die Haustür ging, mit leisen Tritten kam jemand über den Flur und stieg die knarrende Stiege zum Boden hinauf. Das war Selchow. War er allein nach Hause gekommen ohne den Vater? Trotz der Dunkelheit fühlte sie, dass sie rot wurde bis unter die Haarwurzeln. Eilig sprang sie vom Bett und schob leise den Riegel an ihrer Tür vor. Im nächsten Augenblick schämte sie sich vor sich selbst. Wie hatte ihr nur solch ein Gedanke kommen können! Aber was war vorgefallen, dass Selchow allein, zu Fuss, nach Hause gekommen war? Sie öffnete das Fenster und horchte in die finstere Nacht hinaus. Alles still... Das Herz schlug ihr bis zum Halse hinauf. Hatte der Vater mit ihm gesprochen? War er deshalb weggegangen? Womöglich war es ihretwegen vor allen Leuten zum Streit gekommen?

Die alte Wanduhr nebenan schlug zwei, schlug drei, endlich kam der Vater. Er musste stark über den Durst getrunken haben, denn er sprach laut mit sich selbst, was er nur in diesem Zustand zu tun pflegte. Aber sie konnte nicht verstehen, was er sprach. Sie schloss das Fenster und warf sich wieder auf das Bett; doch kein Schlaf kam mehr in ihre Augen. Bald nach Sonnenaufgang hörte sie Selchow die Treppe herunterkommen. Er fuhr auf den See, die Aalschnüre und Puppen aufnehmen, die er gestern gestellt hatte. Wenn sie aufsprang und ihn auf den Kopf fragte, was in Birkholz vorgegangen war... Aber ihr fehlte der Mut dazu. Ein paar qualvolle Stunden vergingen, bis der Vater aufstand. Der starke Kaffee, den er in solchen Fällen zu verlangen pflegte, stand schon lange bereit.

Der Alte brummte nur etwas vor sich hin, als sie ihm die Kanne und die Tasse hinstellte. Er tat, als merkte er nicht, dass sie am Tisch stehen geblieben war. So musste sie denn schon fragen, was es in Birkholz gegeben hätte, Selchow wäre doch schon drei Stunden früher nach Haus gekommen.

„Wat soll et denn jejeben ha'm“, antwortete der Vater brummig, „Nischt hat et jejeben… Frag'n doch selbst!“ In ausbrechendem Zorn schlug er mit der Faust auf den Tisch. „Gekündigt wird er auf der Stell, der... der Herr Gehilfe.“

Mit beiden Händen hatte sich Hannchen an der Tischkante festhalten müssen. Sie fragte nichts mehr, sie wusste genug. Aber Gewissheit wollte sie haben, volle Gewissheit, wie die Sache sich abgespielt hatte. Die Martha Beelitz drüben aus Alt-Köthen war ja auch mit ihrem Vater in Birkholz gewesen, sie hatte sie im Kahn über den See fahren sehen. In zehn Minuten war sie drüben. Ihre Freundin, die einzige, mit der sie noch manchmal zusammenkam, würde es ihr sicherlich erzählen. Sie lag noch im Bett, als Hannchen ankam. Ganz ausnehmend gut, so erzählte die Freundin, hätten sie sich gestern amüsiert. Und der neue Gehilfe, der Selchow, das wäre ein ganz himmlischer Mensch. Tanzen könnte er wie ein junger Gott. Bloss dass er so früh weggegangen wäre. Ob er sich vielleicht mit einem gezankt hätte, fragte Hannchen.

„Ih, Jott bewahre, man ja nich! Bloss was Dein Vater is, der hat'n immer gestichelt, dass er dort so uffjekratzt war. Zu Hause war' er bloss `n Duckmäuser. Selchow hat bloss gelacht dazu. Aber der Olle hat ja keine Kuh gegeben. Nach'n nächsten Tanz hat er wieder angefangen, dat Selchow nu schon drei Wochen mit `en hübsches junges Mädchen Dag for Dag uff'n See rumfährt und se noch nich mal von der Seite angesehen hätte. Natürlich meinte er Dir und Selchow'n damit“

„Und was sagte Selchow dazu?“

„Ja, Hans, da fragste mich zuviel. Abersten der Olle muss wohl mächtig einen unter der Mütze sitzen gehabt haben, denn er hat immerzu raisonniert, dat so'n junger Mensch dat Jute nich insieht und zugreift, wo's ihn jeboten wird. Und mächtig wütend is er jeworden, als er hört', dat Selchow allein nach Hause jejangen war...“

Eine Viertelstunde später stand Hannchen wieder in ihrem Kahn. Dort hinten an der Insel fuhr Selchow. Wenn sie schräg hinüber zur Spitze fuhr, wo die Hüttkasten lagen, mussten sie gerade Zusammentreffen. Ein paar Minuten war sie früher da, und es schien ihr, als ob er absichtlich langsamer angefahren kam als sonst. Schon von weitem zog er die Mütze und grüsste sehr höflich. Wie er an den Hüttkasten anlegte, sagte er noch einmal: „Guten Morgen.“ Dann fing er schweigsam an, die gefangenen Aale mit dem Käscher aus seinem Wasserkasten zu fischen. Sie merkte, dass er von dem, was in Birkholz passiert war, nicht sprechen wollte. Also musste sie anfangen. Aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt „Herr Selchow.“

Überrascht blickte er bei der förmlichen Anrede auf.

„Herr Selchow, Sie haben sich gestern mit meinem Vater verunwillt...“

„Nicht, dass ich wüsste, Fräulein Huschke. Ihr Herr Vater hat anfangs seinen Spass mit mir gemacht, aber später fing er an, über Sachen zu reden, die nicht vor aller Leuts Ohren gehören. Einmal, zweimal habe ich ihn gebeten, er möchte davon aufhören, das könnten wir auf dem Rückwege unter vier Augen besprechen. Na... der alte Mann hörte nicht darauf... da bin ich denn gegangen.“

Kein Wort, keine Andeutung, wie er sich zu der Sache stellte, die sie beide so nahe anging. In der Erregung biss sie sich auf die Unterlippe, dass sie den scharfen Schmerz spürte. Was musste der Mensch jetzt von ihr denken! Zum mindesten, dass sie genau dasselbe von ihm erwartet hatte, wie der Vater, der vor allen Leuten ihm vorgeworfen, dass er die Tage des ungestörten Beisammenseins mit seiner Tochter nicht ausgenutzt habe. Sie beugte den Kopf, denn sie fühlte, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Mit einem Satz war Selchow über den Hüttkasten hinweg neben ihrem Kahn und fasste ihre Hand.

„Fräulein Hannchen... Hans... ich habe ja alles gewusst, ehe ich herkam. Im Gasthaus bei Mietne in Buchholz wurd' es mir brühwarm erzählt, dass Ihr Vater wegen Erneuerung der Pacht einen Schwiegersohn haben musste und sich dazu einen neuen Gehilfen verschrieben hätte. Auch von Ihnen wurde gesprochen, dass Sie vor Jahren eine unglückliche Liebe gehabt haben... Weinen Sie nicht, Hannchen, ich glaube es ja, denn Sie haben's mir jeden Tag gezeigt, dass Sie von mir nichts wissen wollen. Anfangs war's mir recht, denn ich wär' nie hergekommen, wenn ich das alles vorhergewusst hätte.“

„Herr Selchow!... Ich danke Ihnen…“

„Ja, Fräulein Hannchen, ich bin bloss noch nicht zu Ende. Ich wollte Ihnen bloss noch sagen, dass ich jetzt anders darüber denke. Viel freundliche Gesichter haben Sie mir noch nicht gezeigt, aber vielleicht wird das später anders... ich möchte Sie wirklich heiraten... wenn Sie mir ein ganz klein wenig gut sein wollten...“

II.

Vater Huschke hatte ein ganz verdutztes Gesicht gemacht, als die jungen Leute eintraten, und Selchow in einfachen Worten um Hännchens Hand anhielt. Er konnte es gar nicht begreifen, dass der zukünftige Schwiegersohn gestern abend der Erklärung aus dem Wege gegangen war, er hätte es ihm doch so schön an die Hand gegeben! Und niemand hatte es so eilig mit der Hochzeit wie er. Schon am nächsten Tage fuhr er mit den Papieren zum Standesbeamten und bestellte das Aufgebot.

Die junge Ehe liess sich anfangs ganz glücklich an. Die Herbstfischerei mit dem grossen Zuggarn war vorüber, Selchow fuhr nur ab und zu an stillen, sonnenklaren Tagen mit dem Staaknetz ins Gehege, um ein paar Hechte zu fangen. Einmal hatte sie ihn dabei begleitet. Sie hatte es als selbstverständlich betrachtet, dass sie im zweiten Kahn mitfuhr. Es war ihr aber so, als wenn Selchow es nicht gern sah. Er hatte zwar nichts gesagt, er war auch beim Fischen genau so hilfsbereit ihr gegenüber gewesen wie früher, und trotzdem hatte sie das Gefühl, als ob es ihm unangenehm wäre, dass sie nach altgewohnter Weise fischte. Und sie tat es doch so gern! Das Fischen war ihr allmählich zur Passion geworden. Ihr fehlte etwas, wenn sie einige Tage nicht das Ruder in der Hand hielt und den Hecht vor der Stange durch das Röhricht schiessen sah. Wollte er ihr das Vergnügen verwehren? Darüber musste sie sich Gewissheit verschaffen. Als ihr Mann am nächsten Tage auf die See führ, zog sie sich schnell ihre Fischerkleidung an und folgte ihm. Er war so vertieft in die Arbeit, dass er ihren Kahn erst bemerkte, als sie dicht neben ihm hielt. Deutlich sah sie es ihm an, dass er von ihrer Ankunft unangenehm überrascht war. Sie tat, als merke sie davon nichts. Mochte er es ihr doch sagen, dann wollte sie ihm schon darauf antworten. Um ihren Mund, der bereits gelernt hatte, zu lachen, spielte wieder der herbe, bittere Zug.

Vergeblich wartete sie auf eine Äusserung von seiner Seite. Und das ärgerte sie und reizte sie. Wie glimmendes Feuer frass die Erregung in ihr weiter, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Nur die Erwägung, dass sie sich ihm gegenüber gewissermassen ins Unrecht setzte, wenn sie zuerst davon anfing, verschloss ihr den Mund. Endlich begann sie doch:

„Wollen wir nicht Frühstück machen, Karl? Ich habe ein paar Butterbrote für uns mitgebracht.“

„Wie Du willst, Hannchen.“

Das kam so ruhig, so gleichmütig heraus, dass die Erregung in ihr noch wuchs. Er musste das fühlen, als sie jetzt mit scharfer Stimme fragte: „Du hast mich wohl nicht erwartet?“

„Nein, Hannchen. Ich wollte zum Mittag nach Hause kommen und hoffte, dass Du…“ Das Wort war sehr deutlich betont... „dass Du mir einen schönen Fisch mit Spreewaldsauce kochen würdest.“

„Ach, Karl, sei doch offen. Weshalb sagst Du es mir nicht ins Gesicht, dass es Dir nicht recht ist, wenn ich Fischen fahre.“

„Ja, Hannchen, wenn Du mich so auf den Kopf fragst, dann muss ich Dir's wohl sagen. Ich hätte es wirklich lieber, wenn Du zu Hause bliebst.“

„Und weshalb denn?“

Der Ton ihrer Stimme klang so gereizt, dass er verwundert aufsah. „Na, sieh mal, Du hast es doch nicht nötig, als Frau zu fischen. Wie Du als Mädchen Deinem Vater halfst, da war es was anderes. Ich will es mir nicht nachsagen lassen, dass meine Frau bei mir den Fischerknecht spielen muss.“

„Ich tue es aber gern, es macht mir Spass.“

„Dann tut es mir leid, Dir das sagen zu müssen.“ Seine Stimme nahm einen weichen, schmeichelnden Klang an. „Es wär' doch auch besser, wenn Du Dich um die Hauswirtschaft bekümmern wolltest. Die alte Gerlachen war doch nur ein Notnagel, als Ihr allein war't.“

„Was ist denn gross in der Wirtschaft zu tun? Das besorge ich noch nebenbei.“

„Ich möchte aber nicht, dass Du nur so nebenbei die Wirtschaft versiehst. Da ist genug zu tun, Du brauchst Dich bloss umzusehen.“

„Ach so, jetzt versteh' ich Dich. Na, verlass Dich darauf, Du wirst nicht zu klagen haben. Und zum Fischen wird mir doch noch Zeit bleiben.“ Er stand auf und sah sie ernst an. „Hannchen, wenn ich Dich so recht von Herzen bitte, mir darin nicht zuwider zu sein, willst Du es dann nicht tun?”

Er hielt ihr die Hand hin, sie tat, als bemerkte sie es nicht Da schüttelte er traurig den Kopf und ging zum Kahn, stieg hinein und fuhr davon, nach Hause.

Der erste Zwiespalt war da… Kein lauter, heftiger Streit, der vorüberrauscht wie ein Gewitter, hinter dem der Bogen der Versöhnung hell glänzend am Ehehimmel erstrahlt, nein, ein stiller Zwiespalt, der wie ein Spalt im Erdreich aufklafft, bis der Sprung hinüber und herüber zur Unmöglichkeit wird. Und keiner von beiden versuchte den Sprung... Selchow wusste es gar nicht, welch' ein Opfer er von seiner Frau verlangte, er ahnte es gar nicht, wie schwer sie nach all den Jahren schrankenloser, persönlicher Freiheit diese Beschränkung empfand. Vielleicht wenn sie ihm gesagt hätte, dass er ihr damit ein leidenschaftlich betriebenes Vergnügen raubte…

Wie manches Mal, wenn der See morgens so still dalag wie ein klarer Spiegel, und er davonfuhr, zuckte es ihr in den Fingern, Netz und Stange zu nehmen und nach der anderen Seite zu rudern. Aber sie wagte es nicht, obwohl sie ihren Mann noch nie heftig gesehen hatte. Der alte bittere Zug nistete sich wieder auf ihrem Gesicht ein, dass sogar der Vater es merkte und fragte, ob es zwischen ihnen Streit gegeben hätte. Erst wollte sie nicht mit der Sprache heraus, aber der Alte liess nicht locker, bis sie ihm ihr Herz ausschüttete. Stillschweigend hatte der Vater ihr zugehört und ganz ruhig gesagt: „Wat haste Dir denn so? Er ist Dein Mann, und wenn er et nich haben will, denn bleibste eben zu Hause.“

Bei der alten Gerlachen fand sie besseres Verständnis für ihren Ärger und Groll. Das alte Faktotum hatte es bald herausgefunden, dass in der jungen Ehe nicht alles in Ordnung war. Und seitdem sie von Vater Huschke gehört hatte, um was es sich handelte, verging kein Tag, wo sie der Frau nicht zum Munde redete. Die Kluft erweiterte sich immer mehr... es fiel zwar kein unfreundliches Wort zwischen den Eheleuten, aber Selchow fühlte deutlich, dass seine Frau einen stillen Groll gegen ihn mit sich herumtrug. Er blieb gleichmässig freundlich gegen sie und hoffte, dass die kleine Verstimmung vorüber gehen werde.

Anfangs Dezember trat starker Frost ein. Nach ein paar Tagen schon wagten sich die Männer auf das Eis, um Löcher zu schlagen und mit Puppen Hechte zu angeln. Mit einem Gefühl grenzenloser Verbitterung sah die junge Frau ihnen nach. Das Angeln war schon von klein auf ihr grösstes Vergnügen gewesen... Mit einem kleinen Zugnetz wurden kurz vor dem Zufrieren die Weissfischchen gefangen, die als Köder an den Haken gesteckt werden sollten. Wie Puppen standen auf dem Eise in gemessenen Abständen die armdicken Holzklötze, auf denen die Schnur aufgewickelt war. Wenn der Fisch den Köder genommen hatte, dann fiel der Klotz um und schoss in die Wuhne... Eilends fuhr man auf dem Piekschlitten hinzu und zog den gefrässigen Räuber mit heftigem Ruck empor auf's Eis... Und das sollte ihr fortan verwehrt sein, bloss weil ihr Mann es so wollte? Im Hause war doch, nichts weiter zu tun, als das bischen Kochen, das konnte wirklich die Gerlachen besorgen...

Eines Tages war ihr Mann mit dem Vater weggefahren, um nachzusehen, ob das Eis auf den Heideseen schon das schwere Wintergarn tragen könnte. Draussen lockte der helle Sonnenschein... Vor Mittag würden die Männer nicht wiederkommen. Und wenn schon... das kleine Vergnügen konnte Selchow ihr doch gönnen. Kurz entschlossen holte sie sich Köderfische aus dem Hüttkasten und die Puppen und fuhr davon. Ach, war das eine Lust, so dahinzufliegen... Und die Hechte bissen so gut! Bald hier, bald dort schoss einer der Holzklötze auf die Wuhne zu, nach einer Stunde schon lag fast neben jedem Loch ein starker Hecht auf dem Eise.

Plötzlich schrak sie zusammen. Dort hinten vom Dorf kam jemand auf einem Piekschlitten in rasender Eile angefahren. Das war ihr Mann! Ihr erster Gedanke war, sich auf den Schlitten zu setzen und davonzufahren. Im nächsten Augenblick jedoch bäumte sich der Trotz in ihr auf. Mochte er doch kommen, sie wollte mal sehen, ob er es wagen würde, ihr das Vergnügen zu verbieten. Pfeilschnell flog der Schlitten heran... Da durchzuckte sie der Gedanke, dass auf dem Wege, den ihr Mann kommen musste, die Stelle lag, wo das Wasser einer warmen Quelle wegen selten zufror. Und wenn sich auch manchmal eine Eisdecke dort bildete, dann blieb sie so dünn, dass ein schwerer Mann mit einem Schlitten durchbrechen musste. Sie wollte schreien, winken, aber schon schoss in ihr etwas empor, wie Schadenfreude. Mochte er doch ein kaltes Bad zur Abkühlung nehmen, ertrinken konnte er dort nicht, das Wasser reichte ihm höchstens bis zur Brust.

Den Gedanken hatte sie kaum noch ausgedacht, als sie schon das Eis prasseln hörte... Jetzt aber stockte ihr der Atem. Mit gewaltigem Schwung schoss Selchow vom Schlitten, der unter ihm versank, vorüber auf das dünne Eis, das unter der Wucht des Anpralls zersplitterte. Wie Glas zerschnitten ihm die Scherben Gesicht und Hände. Im nächsten Augenblick hatte er sich aufgerichtet und den Grund unter seinen Füssen gefühlt. Langsam watete er zurück, holte sich den Schlitten heraus und ging am Ufer entlang bis aufs feste Eis. Ehe sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, war er davongefahren. Als sie zu Hause ankam, war er schon beim Umkleiden. Sie flog auf ihn zu. „Karl, ich wollte rufen, aber es war schon zu spät. Es fiel mir auch erst ein, dass Du einbrechen könntest, als das Unglück schon da war. Bist Du böse, Karl!“

„Böse? Nein, Hannchen. Weshalb sollte ich Dir böse sein? Es ist ja meine Schuld. Ich hätte Dir ja sagen können, dass ich nichts dagegen habe, wenn Du zum Angeln mitkommst, Jetzt ist ja im Hause nichts zu tun, und das Angeln ist doch was anderes als das Fischen... Vielleicht hätt'st Du mir auch das erste Wort sagen können.“

Bei den letzten Worten verflog bei ihr die weiche Stimmung, als wäre sie weggeblasen. Also das war's! Sie sollte ihn um Erlaubnis bitten, angeln fahren zu dürfen? Dazu hatte sie den Menschen, der nichts weiter mitbrachte, als seine Arbeitskraft, geheiratet, um sich in ihrem Elternhause von ihm kommandieren zu lassen wie eine Dienstmagd? Hastig warf sie ihm die trockenen Kleider hin, die sie aus dem Schrank geholt hatte, drehte sich um und ging hinaus. Bekümmert sah er ihr nach und nickte still vor sich hin mit dem Kopfe, als müsse er sich selbst die traurigen Gedanken bestätigen, die in ihm aufstiegen. Dann zog er sich an, bepflasterte die zerschnittenen Hände sowie das Gesicht und fuhr hinaus an die Stelle, wo die Puppen lagen. Erst gegen abend kam er zurück. Bei seinem Anblick erschrak die Frau. Die Augen lagen ihm tief im Kopf, die Zähne schlugen im Fieberfrost zusammen. In der grössten Seelenangst sass sie an seinem Bett und hörte zu, wie er in seinen Fantasieen allerlei unverständliches Zeug zusammenschwatzte. Am frühen Morgen trieb sie den Vater an, dass er nach Buchholz fuhr, den Arzt zu holen.

Der alte Sanitätsrat hatte ein sehr ernstes Gesicht gemacht, als er ankam und der jungen Frau ganz offen gesagt, es sei nichts mehr und nichts weniger als ein schweres Nervenfieber. Einige Wochen vergingen in herzbrechender Angst, bis die starke Natur des Mannes über die Krankheit siegte. Wie ein Schatten sah Hannchen aus, ermattet vom vielen Wachen und zerrissen von den Gedanken, die auf sie einstürmten. Wie in der Tretmühle gingen sie in ihrem Kopfe herum, um in ermüdendem Kreislauf immer weder auf denselben Punkt zurückzukehren. War sie schuld an dem Unglück? Weshalb hatte er ihr das Fischen verboten? Und hätte er nicht an dem ersten Morgen, als er mit den Angeln ausfuhr, sagen können: „Hans, komm mit!?“

Jetzt lag ja wieder die ganze Fischerei auf ihren Schultern. Den Vater hatte sein Reissen so krumm gezogen, dass er nur mühsam mit Schmerzen durch die Stube humpelte. Gefischt musste werden, sonst verliefen sich die Leute, die das Garn in jedem Winter zogen, anderswohin. So musste sie denn ein paar Tage selbst hinaus, bis der Gehilfe kam, der einzige, der sich auf ihr Inserat in der Fischerzeitung gemeldet hatte. Der Mensch gefiel ihr nicht, er hatte so etwas Grosssprecherisches, Vorlautes an sich; aber sie musste froh sein, überhaupt einen Menschen zur Aushilfe gefunden zu haben. Mit der Besserung ging es bei ihrem Mann nur sehr langsam vorwärts. Auch ihm gefiel der neue Gehilfe, Franz Herbig hiess er, nicht. Er kannte ihn aus alten Papieren und wusste, dass es ein windiger Patron war, der gern mit den Leuten Kaprusche machte, um sich einen Nebenverdienst zu schaffen.

Eines Tages raffte sich Selchow, so schwach er war, auf, und fuhr auf den See. Acht Tage später legte er sich wieder hin, diesmal an einer Rippenfellentzündung. Ein paarmal hatte Hannchen ihm in ihrer scharfen Art gesagt, er solle zu Hause sitzen, bis er sich ganz erholt hätte. Und als er sich zum zweiten Mal hinlegte, da könnte sie eine bittere Bemerkung über seinen Leichtsinn, wie sie es nannte, nicht unterdrücken. Wochen vergingen, bis Selchow die zweite Krankheit überwunden hatte. Aber eine Schwäche war zurückgeblieben, unter der er furchtbar litt und nicht bloss körperlich. In dumpfem Brüten sass er Tag aus, Tag ein im Lehnstuhl am Ofen. Angstvoll sah er auf, wenn seine Frau mit hartem Gesicht ihm eine kleine Handreichung leistete. In ihr war die milde Regung für ihn schon längst überwuchert von heftigem Groll.

Das war der Erfolg ihrer Nachgiebigkeit! Jetzt hatte sie einen siechen Mann auf dem Halse, jetzt passte es sich für sie, dass sie von morgens bis abends auf dem Eise am Wintergarn stand und mit den Fischen zur Stadt fuhr.

Eines Tages hatte Selchow sich schliesslich emporgerafft. Es war schon ziemlich dunkel, als er hinausging, um den Leuten wenigstens beim Abladen des Netzes zu helfen. Wie er langsam zum Seeufer hinabging, hörte er Herbig, den Gehilfen, mit Hannchen sprechen. Der freche Bursche sprach von ihm, ob er noch jemals gesund werden würde, und bedauerte seine Frau, dass sie womöglich zeitlebens an den siechen Mann gebunden sein würde. Angstvoll horchte Selchow, was Hannchen, seine Frau, dem Patron antworten würde. Sie schwieg! Er hörte weiter, wie Herbig sagte, es wäre doch schade, dass eine so hübsche, forsche, junge Frau so gar nichts mehr von ihrem Leben haben sollte. Das täte ihm so furchtbar leid. Selchow zitterte vor Wut, er wollte vorspringen, den unverschämten Burschen an den Kragen fassen, aber die Kniee versagten ihm den Dienst. Langsam schlich er hinter den beiden, die dicht an ihm vorbeigegangen waren, ohne ihn zu bemerken, ins Haus.

Erst nach einer langen Weile rief ihn seine Frau zu Tisch. Er bat, sie möchte ihm später eine Kleinigkeit zu essen bringen. Mit verletzender Gleichgiltigkeit stellte sie ihm ein Butterbrot und eine Flasche Bier hin. Dabei fasste er ihre Hand.

„Hannchen, ich will Dich um etwas bitten.“ Kalt sah sie ihn von der Seite an: „Wohl wieder so eine Bitte, die ein Befehl sein soll?“

„Hannchen, ich bitte Dich, entlass den Herbig!“

„Nanu, das wäre ja noch schöner. Weshalb denn? Weshalb kümmerst Du Dich darum? Kannst Du denn schon wieder was tun? Ich habe jetzt all die Wochen allein auf meinen Kopf handeln müssen, und vielleicht wird das überhaupt so bleiben. Das Kommandieren vom Stuhl aus musst Du Dir schon abgewöhnen.“

„Frau, sieh nach Deinen Worten!“

„Wie so denn? Ich stehe doch für das Meinige hier.“

Das traf ihn wie ein Schlag. Mit einem Ruck war er auf den Füssen. „Jawohl, Du hast recht! Ich habe nichts zugebracht, ich bin nur Dein Mann. Aber trotzdem wird der Herbig heute noch ausgelohnt.“

„Versuch es, dann bleibt er bei mir im Dienst.“

„Hannchen, Frau, ist das Dein letztes Wort?“

„Ich pflege nicht zweimal zu predigen.“

Schwer stöhnend fiel Selchow in den Stuhl zurück.

„Dann muss ich aus dem Hause. Ich will nicht, dass der Mensch Dich bedauert, weil Du einen kranken Mann zu ernähren hast.“

Am anderen Morgen, als seine Frau mit dem Gehilfen zum Fischen weggefahren war, packte Selchow seine Sachen, holte sich aus dem Dorfe ein Fuhrwerk und fuhr davon. Abends fand die Frau einen Brief vor, worin ihr Mann kurz geschrieben hatte, er wolle ihr nicht zur Last fallen; sie könne, sobald es anginge, gegen ihn die Scheidungsklage wegen böswilligen Verlassens einleiten und sich darüber von Herbig trösten lassen. Der Vater kam dazu, als sie gerade den Brief in kleine Fetzen zerriss. Sie wollte ihn mit einer Redensart abfinden, aber der Alte liess nicht locker. Und dann gab's eine Flut von Vorwürfen. Von da an wurde das Leben im Fischerhause recht ungemütlich. Es verging kein Tag, an dem der Vater sie nicht hart anliess, meistens wegen der kleinsten Ursachen. Der Gehilfe drehte sich wie ein Pfau um die junge Frau und überhäufte sie mit den gröbsten Schmeicheleien, die sie ruhig annahm. Dafür zahlte ihm der Alte mit faustdicken Grobheiten heim, und als Herbig ihm eines Tages frech antwortete, lohnte er ihn in Gegenwart der Tochter, mit der er ein Wort deutsch gesprochen hatte, aus und wies ihm die Tür.

Die Winterfischerei war zu Ende, der Frühling war vorzeitig ins Land gekommen, draussen sang bereits die Lerche. In dem Fischerhause war es still geworden. Der Alte sprach nicht viel, aber sein drittes Wort war Selchow. Und wenn er schwieg, ging er herum wie ein ewiger, lebendiger Vorwurf.

Es war eine schwere Prüfungszeit für die junge Frau, aber auch eine Zeit der Läuterung, in der die Schlacken der Verbitterung von ihr abfielen, wie von edlem Metall, das im Feuer seine Probe zu bestehen hat. Nicht am ersten Tage nach der Trennung, nicht auf einmal, nein, ganz langsam und allmählich rang sich in ihr die Erkenntnis durch, dass ihre tiefe Verstimmung nur der Unzufriedenheit mit sich selbst entsprungen war. Auf sich selbst war sie wütend gewesen, während sie mit Selchow schmollte und haderte. Jetzt begann sie jede einzelne Szene im Gedächtnis nachzuprüfen, und je mehr sie über die kurze Zeit ihrer Ehe nachdachte, desto schärfer wurden die Vorwürfe, die sie sich selbst machte.

Und eines Tages hatte sie das Album aufgeschlagen, in dem Selchows Bild neben dem ihrigen steckte, hatte die kleine Photographie herausgenommen und unter ihr Kopfkissen geborgen, das noch feucht war von den Tränen, die sie in der Nacht vergossen. Jetzt erst fühlte sie es, und jetzt erst hatte sie den Mut, es sich einzugestehen, wie sehr sie den Mann liebte, den sie durch ihr hartes Wesen aus dem Hause getrieben hatte.

Eine grosse Traurigkeit überkam sie, in der sich die Starrheit ihres Gemüts löste. Sie wurde weich und milde, senkte still den Kopf, wenn der Vater schalt und polterte. Ja, noch mehr: trotz der Traurigkeit keimte in ihr ein zages, leises Hoffen empor... wenn er jetzt wiederkäme... jetzt würde sie das sein, was er von ihr verlangte... das liebende, vertrauende Weib...

Selchow hatte in Berlin einen Freund aufgesucht, mit dem er zusammen in Greifswald bei den Jägern gestanden hatte. Er war Bierfahrer in einer grossen Brauerei. Schon in der nächsten Woche nahm er Selchow als Begleiter an. Die Arbeit fiel Selchow furchtbar schwer. Aber er biss die Zähne zusammen und quälte sich, bis ihn die Krankheit, die er noch nicht überstanden hatte, wieder umwarf. Die Krankenkasse liess ihn in die Charité schaffen. Dort kurierten die Ärzte an ihm herum, bis er nach Wochen und Wochen als geheilt entlassen werden konnte. Sein Freund versorgte ihn mit Reisegeld, damit setzte er sich auf die Bahn und fuhr nach Wollin zu seinem früheren Brotherrn, der ihm vielleicht ein Plätzchen in seinem grossen Betrieb einräumen würde. Der alte Mann, der ihn ungern hatte gehen sehen, fragte ihn bis aufs Blut aus und schüttelte den Kopf.

„Sie sollten lieber zu Ihrer Frau zurückfahren, lieber Selchow. Solch ein Band zerreisst man nicht nach dem ersten oder zweiten Zank.“

„Nein, Herr Stöhwase, das tue ich nicht! Nach dem, was ich erfahren habe, auf keinen Fall. Wenn Sie für mich keine Beschäftigung haben, dann setze ich meinen Wanderstab weiter, am Haff wird doch jemand einen Fischerknecht brauchen können.“

Er brauchte nicht weiter zu wandern, denn der alte Grossfischer stellte ihn als Inspektor ein. Der Dienst war nicht schwer. Selchow fuhr mit dem langen, schmalen Fahrzeug, das die drei oder vier Hüttkasten schleppte, gemächlich zwischen den beiden Netzen, die er zu beaufsichtigen hatte, hin und her und nahm den Fischern den Ertrag jedes Zuges ab. Stundenlang konnte er träumend im Stroh liegen, wenn die drei Ruderer das schwere Fahrzeug gegen Wind und Wellen mühsam vorwärts trieben. Seine Gedanken flogen immer denselben Weg... nach Neu-Köthen zu seiner Frau. Ja, war sie noch seine Frau? Vielleicht wartete sie nur darauf, seinen Aufenthaltsort zu erfahren, um ihm alsbald die Scheidungsklage zustellen zu lassen? Oder hatte sie sich noch besonnen und eingesehen, dass sie ihm Unrecht getan, ihn bis auf den Tod beleidigt hatte? War er überhaupt schuld an dem Zerwürfnis? Allmählich verblasste die Erinnerung an den heftigen Auftritt, und oftmals sah er das Gesicht seiner Frau vor sich, nicht das böse, harte, sondern das milde, freundliche, mit dem sie ihn damals, als sie zum erstenmal fischen fuhren, angelacht hatte. Und ebenso allmählich keimte in ihm der Gedanke, dass er schreiben müsste, gleichviel, wie die Sache für ihn stand; er durfte sich nicht in der Welt verstecken. Aber nicht an seine Frau wollte er schreiben, sondern an ihre Freundin, Martha Beelitz.

Verwundert nahm das Mädel eines Tages im Sommer den Brief in Empfang. Sie möchte nicht verraten, wo er weilte, so schrieb Selchow, sondern ihm Nachricht geben, wie es bei Huschkes ginge. Für eine kurze Nachricht würde er ihr sehr dankbar sein. In wenigen Minuten war das gute Mädel unten am See und fuhr hinüber. Sie wollte mit eigenen Augen sehen, wie es in Neu-Köthen stand. Nach den Erzählungen der Leute sehr traurig. Der Alte hatte sich einen blutjungen Menschen, einen Schwestersohn, zur Hilfe angenommen und fischte wieder selbst, Hannchen sollte immer still zu Hause sitzen. Als Martha bei ihrer Freundin eintrat, erschrak sie. So sah der flotte Hans aus? Müde, abgespannt, zum Erschrecken mager und bleich, wie der Kalk an der Wand. Mit allerlei gleichgiltigen Redensarten schleppte sich mühsam das Gespräch hin, bis Martha nach Selchow fragte. Da schoss eine fliegende Röte über das bleiche Gesicht, einen Augenblick kämpfte das unglückliche Weib mit den Tränen, dann warf sie sich an die Brust der Freundin und schluchzte zum Erbarmen. Das Eis, mit dem sie ihr Herz gepanzert glaubte, war schon lange gebrochen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis die junge Frau ihre Erregung niedergekämpft hatte. Und dann brachen wie eine Flut die Selbstvorwürfe hervor. Nur sie allein sei schuld an seiner Krankheit, an seinem Siechtum, sie habe sich sogar noch über das kalte Bad gefreut, das er nahm, als das Eis unter ihm zusammenkrachte.

Nun hielt sich die Freundin nicht länger. Sie zog Selchows Brief aus der Tasche. „Hier, Hannchen, ist seine Adresse. Das weitere muss ich Dir überlassen. Ich denke, Du schreibst ihm selbst.“

Der jungen Frau flatterten die Hände wie Espenlaub, als sie den Brief in Empfang nahm. Auf ihrem Gesicht wechselten die Farben, wie vorüberhuschende Schattenbilder. Dann ging ein Leuchten in ihren Augen auf. „Nein, Martha, ich werde nicht schreiben, ich werde selbst zu ihm hinfahren. Vater, Vater“ — rief sie dem eintretenden Alten entgegen — „ich weiss, wo mein Mann ist. Lass anspannen, Vater, ich fahre, ihn holen.“

In diesem Sommer bin ich wieder einmal draussen gewesen in Neu-Köthen. Ich kenne kein glücklicheres Ehepaar als die Selchows. Ich kenne auch keinen Ehemann, der so sehr von seiner Frau verwöhnt wird, wie mein Freund Karl. Und alle paar Wochen feiern die beiden ein Freudenfest. Dann sagt Selchow zu seiner Frau, die er stets Hannchen nennt: „Hannchen, komm' mit, wollen `n paar Hechte fangen...“

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