Fritz Skowronnek Þr Polenflüchtling


Fritz Skowronnek

Der Polenflüchtling

Ein Roman aus dem Osten

1. Kapitel

Die Nacht war still und düsig. Kein Mond am Himmel. Nur ab und zu blinkte zwischen den dunklen Wolken, die sich langsam am Himmel dahinschoben, ein Stern für einige Augenblicke auf, um nach wenigen Minuten wieder zu verschwinden... Wie eine hohe schwarze Wand erhob sich hinter dem russisch-deutschen Grenzgraben der preußische Grenzwald.

Von weither kam aus der Dunkelheit das friedliche Quaken der Enten und das heisere Schnarchen der Haubentaucher. Dazwischen in unregelmäßigen Pausen der dumpfe, brüllende Laut der Rohrdommel. Ab und zu kam es durch die Luft angestürmt wie das wilde Heer... Flügelrauschen und trompetenartige Schreie, mit denen die aus dem Süden heimkehrenden Kraniche oder Graugänse die Ordnung in ihrer Schar aufrechterhielten...

Eben waren auf russischer Seite die Posten der Straschniks, der Grenzwächter abgelöst worden. In kurzen Abständen waren je zwei Mann aufgestellt, die unaufhörlich nach rechts und links hin und her zu gehen hatten, bis sie mit dem Nebenposten zusammentrafen.

„Eine gute Nacht für die Schmuggler“, sagte der Kleinere zu seinem Kameraden, der ihn um mehr als Haupteslänge überragte.

„Ja, eine sehr gute Nacht, Iwan Andreijewitsch“, erwiderte der Lange flüsternd. „Und nicht bloß für Schmuggler, sondern auch für einen, der nach Preußen hinüber will.“

„Um Gottes willen, Fedor, wer wird solche Gedanken haben.“

„Nun, sie kommen und gehen, die Gedanken, und man kann ihnen nicht befehlen. Hast du denn keine Gedanken?“

„Was soll ich denken?“ erwiderte der Kleine achselzuckend. „Man denkt am besten gar nichts. Ich denke bloß immer, wenn die sieben Jahre um sind, dann kommst du nach Hause. Vielleicht wartet die Marfa noch auf mich, vielleicht hat sie schon den Piotr Iwanowitsch geheiratet... Aber nun müssen wir einmal gehen.“

Schweigend wandte er sich ab, um die fünfzig Schritt bis zum nächsten Posten zu gehen. Nach wenigen Minuten standen sie wieder beieinander.

„Hast du schon gehört, Iwan Andreijewitsch, daß es Krieg geben soll mit den gelben Teufeln, die weit hinter Sibirien wohnen, den Japanern, oder wie sie heißen?“

„Nun, soll es Krieg geben, Fedor, was geht es uns an? Da schickt Väterchen ein paar Sotnien Kosaken und ein paar Kanonen hin und läßt die kleinen Teufel wegjagen.“

„Ach, Iwan Andreijewitsch, du redst wie ein Kind! Ich habe heute den Jessaul sagen hören: das wird ein großer Krieg. Viele Soldaten werden fahren, weit weg nach Osten, wo die Sonne aufgeht..., viele Tage und Wochen. Vielleicht werden auch wir fahren müssen. Ich fahre nicht mit.“

„Man muß nicht alles glauben, was erzählt wird. Und weshalb willst du fortlaufen? Du hast bloß noch ein paar Jahre, dann kommst du frei... und gehst nach Hause zu deinen Eltern oder zu deinem Liebchen.“

„Ich habe keine Eltern, ich habe auch kein Liebchen“, erwiderte Fedor rauh. „Und mir ist gleich, wo ich bin. Was soll ich noch die Jahre warten? Soll ich mir im Krieg die Knochen zerschießen lassen?“

„Ich weiß schon, was du denkst. Du willst überlaufen.“

„Ja, ich will überlaufen. Drei Jahre habe ich gelebt wie ein Hund. Jetzt will ich wie ein Mensch leben. Und bei den Preußen ist gut leben. Wer fleißig ist und arbeiten will, kann wie ein Herr leben... Du weißt doch auch, daß die Leute, die nach Preußen zur Arbeit fahren, jedes Jahr im Winter einen Sack voll Geld mitbringen.“

Er stieß seinen Kameraden mit dem Ellenbogen an. „Komm mit, Bruder.“

Der Kleine schüttelte traurig den Kopf. „Ich kann nicht. Aber wenn du willst, dann geh, ich halte dich nicht... Nein, jetzt nicht, du mußt erst zum anderen Posten gehen und zurückkommen. Dann habe ich nichts gesehen und nichts gewußt.“

Hastig streckte ihm Fedor die Hand hin... „Wirst du schießen, Bruder?“

„Ich werde schießen, denn ich muß schießen, Bruder, Aber die Nacht ist finster. Ich kann doch nicht sehen, wo du geblieben bist...“

Noch ein Händedruck. Langsam schritt Fedor davon... bis zum nächsten Posten, der schon auf ihn wartete. „Wo bleibst du so lange, du polnischer Hund?“

In Fedors Händen zuckte das geladene Gewehr. Doch er bezwang sich und erwiderte gleichmütig: „Es war ein Geräusch vor uns, da mußten wir aufpassen.“

Brummend wandte der Russe sich um und ging zurück... Auch Fedor tat noch einige Schritte. Dann schnallte er den Gürtel mit Patronentasche und Bajonett ab und legte es auf die Erde... das Gewehr daneben. Langsam kauerte er sich nieder und kroch durch den trockenen Grenzgraben, bis ihn der finstere Wald aufnahm. Dort richtete er sich auf und ging schnell, aber vorsichtig tiefer in das Dunkel hinein. Nun stand er still und lauschte.

Es dauerte nicht lange, da hörte er seinen Kameraden rufen, erst halblaut, dann mit scharfer Stimme: „Fedor, Fedor Poranski!“

Gleich darauf kam der Alarmschuß. Fedor hörte die Kugel in eine Kiefer einschlagen... Dann lautes Rufen. Von rechts und links kamen die Posten zusammengelaufen. Er hörte einen Ruf: „Hier liegt sein Koppel und sein Gewehr..., der polnische Hund ist übergelaufen.“

Im jähen Freudengefühl reckte Fedor die Arme empor. „Polnischer Hund und nie anders als polnischer Hund! Ja, der bin ich bei euch gewesen, ihr russischen Schweine. Jetzt bin ich ein freier Mann.“

Unwissend wie ein Kind, aber vertrauensvoll schritt er seiner Zukunft entgegen. Ohne Weg und ohne Steg.

Eine Stunde mochte er gewandert sein, als sich vor ihm plötzlich der Wald öffnete. An eine dicke Kiefer gelehnt, blieb er stehen und lauschte. War das vor ihm nicht der russische Grenzgraben? Richtig, dort drüben bewegte sich ein dunkler Schatten hin und her. Er hörte den halblauten Anruf zweier Posten, die sich begegneten. Also war er im Bogen wieder an die Grenze zurückgekommen!

Er hielt den Atem an und lauschte. Die Nacht war so still und hellhörig, daß er jedes Wort verstand.

Die Russen drüben sprachen noch von ihm. Die Nachricht, daß er übergelaufen war, hatte sich in der Postenkette fortgepflanzt.

„Ein kluger Hund ist das gewesen, dieser Polack“, hörte er den einen sagen. „Zu keinem Menschen hat er ein Wort davon gesagt.“

„Zu zwei Ohren gehört immer nur ein Mund“, erwiderte der andere, „was man tun will, muß man nie vorher sagen.“

Jetzt trennten sich die beiden Straschniks und schritten nach verschiedenen Seiten davon. Da löste sich Fedor vom Baum und schritt in den Wald zurück. Er wußte nicht, wo er war. Er wußte nur, daß der Wald auf preußischer Seite sehr groß sein sollte und große Seen dazwischen. Ob es doch nicht besser wäre, wenn er sich irgendwo im Dickicht versteckte und den Tag erwartete? Doch das Gefühl der Unsicherheit trieb ihn vorwärts. Er wußte, daß auf preußischer Seite Grenzjäger mit Hunden Wache hielten, um Schmuggler abzufangen... Wenn die ihn anhielten und nach seinen Papieren fragten?

Wieder war er eine Stunde marschiert. Da war es ihm, als wenn vor ihm ein schwacher Lichtschimmer auftauchte. Er blieb stehen und bohrte seine Blicke in das Dunkel... Er mußte sich wohl geirrt haben. Doch nein, jetzt nach wenigen Schritten erschien der Lichtschimmer wieder. Vorsichtig schlich er darauf zu. Bald konnte er erkennen, daß der Lichtschein nicht von einem erleuchteten Fenster, sondern von einem kleinen Feuer ausging, das im Walde brannte... Jetzt sah er einen Schatten sich vor dem Feuer bewegen.

Wer konnte das sein? Waren das Menschen, die zur Nacht auch kein Dach über dem Kopf hatten, wie er, der russische Überläufer?

Jetzt war er nahe genug, um Einzelheiten zu erkennen. Vor dem Feuer kauerte ein Mann und rührte in einem Topf, der an einer Kette von einem dreibeinigen Galgen über der Glut hing. Als der Mann seinen Kopf hob, murmelte Fedor überrascht „Zigan“. Aber nun schritt er ohne Scheu auf das Feuer zu. Der Zigeuner erhob sich und spähte in das Dunkel hinaus. Er hatte das Knacken eines Astes gehört, den der nächtliche Gast zertreten hatte. Ohne Scheu trat Fedor näher und warf sich neben dem Feuer ins Moos. Wo die Zigeuner lagerten und sogar Feuer brannte, war auch er in Sicherheit.

Der Zigeuner musterte ihn mißtrauisch. „Du bist wohl eben über die grüne Grenze gekommen?“

Fedor nickte gleichmütig... „Ja... Ich will nichts von dir, ich will mich nur ein Weilchen ausruhen und dann weitergehen.“

„Wie du willst“, erwiderte der Zigeuner ruhig. „Wohin willst du denn?“

Fedor zuckte die Achseln. „Weiß ich? Weiter nach Preußen hinein. Wo ich Arbeit finde, bleibe ich...“

„Wie willst du in der Nacht durch den Wald finden, wenn du nicht den Weg kennst?“ fragte der Zigeuner und auf sein Gesicht trat ein lauernder Zug. „Bleib' lieber ruhig liegen und schlaf' dich aus. Morgen hast du noch weit zu wandern. Kannst auch was zu essen bekommen, wenn du bezahlen kannst.“

Der Überläufer hielt es für besser, darauf nicht zu antworten. Er zog aus der Tasche seines grauen Wandmantels ein Ledersäckchen mit Tabak und drehte sich eine Papieros, die er mit einem glimmenden Ast anzündete. Dann verschränkte er die Arme unter dem Kopf und sah zu den Baumkronen hinauf, die von dem Feuerschein beleuchtet wurden. „Zigan, wie weit ist das nächste Dorf?“

„Ach, sehr weit, fünf, sechs Stunden zu gehen. Du kannst morgen früh mit uns gehen. Wir brechen ganz früh auf.“

Wieder lag Fedor eine Weile. Er hatte und machte sich keine Gedanken. Nur das Gefühl, daß er frei war, daß er morgen früh nicht mehr in Reih und Glied zu stehen brauchte, durchflutete ihn. Er war nicht müde, denn er hatte den ganzen Nachmittag auf der Pritsche gelegen und geschlafen. Aber während er sonst um diese Zeit unablässig hin und her gehen mußte, konnte er jetzt still liegen und träumen, von seiner Zukunft träumen...

Und seine Träume waren so bescheiden! Er wollte zuerst bei einem Bauern als Knecht dienen, bis er sich so viel verdient hatte, daß er sich preußische Kleider kaufen konnte. Dann wollte er weiter sich umsehen, ob er nicht irgendwo zur Fischerei ankommen könnte.... denn das Fischen verstand er.

Jetzt hatte der Zigeuner den Topf vom Feuer genommen und einen halblauten Ruf getan, der seine Familie zum Essen rief. Aus dem mit einem zerrissenen Plan bedeckten Wagen, der einige Schritte abseits stand, kamen drei Kinder gekrochen, dann eine junge Frau und zuletzt ein altes weißhaariges, in Lumpen gehülltes Weib.

Fedor richtete sich auf und starrte mit weit geöffneten Augen auf das alte Weib und die Kinder, die mit Holzlöffeln in den Topf fuhren und nach kurzem Blasen die heiße Suppe hinunterschlangen. Eine Erinnerung stieg in ihm auf. War das nicht dasselbe Weib, das ihn drei Jahre lang jeden Tag geprügelt, jeden Tag hundertmal mit den gemeinsten Worten beschimpft hatte? Und die beiden Jungen? Waren das nicht die Kinder, die ihn in derselben Zeit täglich gestoßen und geschlagen hatten? Eine Empfindung, die ihn wie eine Faust am Halse würgte, stieg ihm aus der Brust empor. Er wollte aufstehen und weitergehen...

Die Alte hatte einige Worte mit dem jungen Zigeuner gewechselt, jetzt trat sie auf Fedor zu...

„Bist du Pole oder Russe?“

„Ich bin ein Pole aus edlem Geschlecht“, erwiderte Fedor stolz.

„Edelleute tragen nicht den Rock des gemeinen Soldaten.“

„Du siehst doch, ich trage ihn“, erwiderte Fedor jetzt auf polnisch.

„Ach so, deshalb bist du weggelaufen. Hast du Bekannte, hast du Freunde in Preußen?“

Der Überläufer schüttelte den Kopf und zuckte die Achseln. „Ich suche bloß Arbeit.“

„Die könnte ich dir nachweisen... Ich brauch' bloß im nächsten Dorf zu fragen, wer einen Knecht braucht.“

„Dazu hab' ich auch einen Mund.“

„Ah, du bist noch sehr stolz, mein Söhnchen, aber das wird sich geben... Nicht jeder Bauer nimmt einen russischen Überläufer als Knecht, den er vor dem Gendarmen verstecken muß... Du hast wohl gedacht, hier warten die Menschen mit offenen Armen auf dich?... Nein, wer über die Grenze kommt, muß seinen richtigen Paß vom russischen Nazelnik haben und der muß vom preußischen Landrat abgestempelt sein, sonst heißt es: pascholl zurück über die Grenze..., und übergelaufene Soldaten müssen gleich angezeigt werden.“

Fedor schwieg betroffen. Das hatte er nicht gewußt.

„Vielleicht hast du auch Glück“, fuhr das alte Weib fort. „Vielleicht nimmt dich ein Bauer und gibt dir andere Kleider. Aber in deiner Uniform kannst du nicht am Tage in ein Dorf hineinmarschieren, da wirst du gleich angehalten... Nun, nun, sei nicht gleich so traurig, ich kann dir deine Zukunft voraussagen. Aller Menschen Zukunft steht in den Sternen geschrieben.“

„Die Sterne sieht man heute nicht“, erwiderte Fedor trocken.

„Nein, aber ich lese alles, was dir bevorsteht, aus deiner Hand, und was mir deine Hand nicht sagt, verraten mir meine Karten.“

Sie griff mit der Hand in ihr Brusttuch und warf ein Spiel funkelnagelneuer Karten, wie sie der junge Mann noch nie gesehen hatte, vor ihm in das Moos. Die weißen, im Scheine des Feuers gleißenden Blätter verfehlten ihren Eindruck auf den naiven, unwissenden Menschen nicht.

Er holte tief Atem und fragte: „Was kostet das?“

„Einen Rubel für die Hand und zwei Rubel für die Karten.“

„Weib, bist du verrückt? Drei Rubel..., dafür kann ich vierzehn Tage leben“, erwiderte Fedor und drehte sich ab, um nicht die Karten anzusehen, die ihn mit ihren Figuren und Sternen und ihrem Gleißen lockten.

„Wird dir leid tun, mein Söhnchen“, murmelte die Alte und bückte sich, um die Karten aufzusammeln... „Wird dir leid tun, wenn du nicht weißt, ob dir Gutes oder Schlechtes beschieden ist..., oder du hast kein Geld...“

Mit einem Ruck drehte Fedor sich um. „Ich habe Geld, aber drei Rubel sind mir zuviel... Einen Rubel will ich dir geben.“

„Einen Rubel? Das ist sehr wenig, aber weil du ein armer Überläufer bist... Erst gib mir den Rubel“, rief sie kichernd, als Fedor ihr die Hand hinstreckte...

Während Fedor halb widerwillig seinen Rock öffnete und ein Päckchen Papierscheine hervorzog, rief die Alte dem jungen Zigeuner einige Worte in einer Sprache zu, die der junge Pole nicht verstand. Sofort stand der Zigeuner auf und verschwand in der Dunkelheit.

„Ei, sieh da“, rief die Alte, als sie das Päckchen Scheine erblickte, „du bist ja nicht so arm, wie ich dachte.“

„Ein Rubel ist nur ausgemacht“, erwiderte Fedor rauh. „Willst mir nun wahrsagen oder nicht?“

„Ja, ja, mein Söhnchen, ich halte Wort. Aber wenn ich dir Gutes zu berichten habe, wirst du mir von selbst noch ein Rubelchen schenken. Jetzt zeig' mir deine Hand...“

Sie erfaßte seine Handwurzel von unten mit ihren alten, knöchernen Fingern und zog ihn näher zum Feuer. „Eine starke Hand, eine schöne Hand... Oh, da sehe ich schon viel Gutes... Alle sieben Planeten sind scharf abgeteilt und glatt und hoch... Du wirst alt und grau werden, mein Sohn..., die Lebenslinie ist tief und geht bis in den Finger hinauf. Eine schwere Gefahr steht dir bevor. Sie wird dich bis an den Rand des Grabes bringen, aber du wirst sie überstehen...“

„Jawohl, er wird sie überstehen, dafür werden wir sorgen, du alte Hexe“, rief ein Mann, der in diesem Augenblick aus dem Dickicht hervortrat..., das Gesicht geschwärzt und durch einen falschen Bart unkenntlich gemacht. Anhörbar war er auf seinen Chodakis, seinen Filzsohlen, herangekommen. Hinter ihm trat ein Zweiter, Dritter in den Lichtkreis des Feuers...

` „Was geht euch das an“, zischte die Alte die Schmuggler an. „Geht eurer Wege...“

„Das tun wir, aber den jungen Mann da nehmen wir mit. Besinn dich nicht lange. Der Zigeuner steht schon an der Grenze und hat eben die Posten angerufen. Er handelt bloß noch mit dem Leutnant, wieviel er dafür bietet, daß er dich verrät und die Straschniks herführt.“

Schon bei den ersten Worten war Fedor aufgesprungen. „Ist das wahr?“

„Es ist nicht wahr“, zischte die Alte dazwischen. „Mein Sohn ist bloß gegangen nach den Schlingen zu sehen, die er aufgestellt hat.“

„Halt' dich nicht lange auf, sondern mach', daß du wegkommst“, rief der Schmuggler wieder Fedor zu. „Komm mit uns, da bist du sicher.“

Mit einigen Sätzen war Fedor im Dunkel verschwunden.

2. Kapitel

Die alte Zigeunerin hob hinter den im Dunkel verschwundenen Schmugglern die Faust. „Wartet nur, ihr verdammten Polacken, euch werde ich den Rückweg versalzen.“ Dann scheuchte sie die Kinder vom Topf weg und langte mit dem Holzlöffel hinein. Es dauerte nicht lange, bis sie Schritte hörte. Der junge Zigeuner trat in den Lichtkreis. „Wo ist der Überläufer?“

„Du bist ein Esel, Ernani“, erwiderte die Alte mürrisch. „Gewiß hast du wieder so laut geschrien.“

Von allen Seiten sprangen jetzt russische Straschniks aus dem Dunkel. Der Unteroffizier, der sie führte, sah sich verblüfft um. „Wo habt ihr denn den Überläufer?“

Die Zigeunermutter, die das drohende Unheil schon ahnte, warf sich vor ihm auf die Knie und rang die Hände. „Ach, großmächtigster Herr Unteroffizier, er würde noch hier liegen..., ich habe ihm aus der Hand gewahrsagt, ich wollte ihm noch die Karten legen, da kamen drei polnische Schmuggler, die haben ihn fortgelockt...“

„Du kannst viel sagen, ehe ich dir ein Wort glaube, du alte Hexe. Gewiß, der Hund von Überläufer hat dir Geld gegeben, damit du ihn frei gehen läßt.“

Die Alte rutschte auf den Knien näher zu ihm heran. „Ach, gnädigster Herr Unteroffizier, wie kann ich altes Weib einen jungen, kräftigen Mann festhalten.“

Der Russe stieß sie mit dem Fuß vor die Brust, daß sie nach hinten überfiel. In demselben Augenblick sprang der junge Zigeuner auf ihn zu. „Weshalb schlägst du die alte Frau? Was hat sie dir getan? Wir sind hier nicht in Rußland...“

Der Russe zwinkerte nur mit dem linken Auge. Sofort sprangen ein paar Straschniks zu und befaßten dem Zigeuner die Arme. „So, mein Sohn, du hast uns hierher gelockt, jetzt nehmen wir dich mit. Du bist jung und kräftig.“

„Zu Hilfe..., Hilfe!“ schrie der Zigeuner.

„Schrei nicht, du dummer Hund, die preußischen Grenzer haben heute nacht ein Schwein abgefaßt, damit sind sie unterwegs nach Hause. Dich hört kein Mensch. Jetzt wollen wir erst mal nachsehen, was du in deinem Wagen hast.“

Vier, fünf Straschniks liefen zum Wagen und rissen den auf dünne Reifen gespannten Plan `runter... Da erhob sich im Wagen das junge Weib, mit einem Revolver in der Hand. Ein Schuß krachte... Ein Russe taumelte zurück und brach zusammen.

Mit einem greulichen Fluch lief der Unteroffizier zu dem Verwundeten und beugte sich über ihn. Die beiden Russen, die den Zigeuner hielten, ließen ihn los und liefen zu dem Kameraden. Auch die anderen drängten sich um ihn. Im nächsten Augenblick waren alle Zigeuner verschwunden. Nur eine schrille Stimme schrie aus dem Dunkel. „Ihr Räuber, ihr Banditen, verflucht sollt ihr für jetzt und ewig sein... krepieren sollt ihr wie die Hunde auf dem Wege... euer Fleisch sollen die Krähen fressen...“

Der Unteroffizier schob sich mit einer Handbewegung die Mütze in den Nacken und kraute sich im Haar. „Das kann eine böse Suppe werden, die wir ausessen müssen... Ist er tot?“

„Nein, er lebt, aber er verliert soviel Blut“, erwiderte einer der Straschniks, der niedergekniet war und dem Verwundeten den Rock geöffnet hatte.

„Wir werden die Suppe nicht essen“, fügte ein Straschnik grinsend hinzu, „aber du...“

„So? Meinst du? Was wolltet ihr am Wagen? Habe ich es euch befohlen? Und wo habt ihr den Zigeuner, ihr beiden?“ Er sah sich wütend im Kreise um. „Wer hat den Zigeuner gehalten?“

Die Kerle schwiegen und grinsten. „Reißt den Plan vom Wagen und legt ihn drauf. Wir müssen fort.“

„Wer meinen Plan anrührt, dem verdorrt die Hand“, schrie eine Stimme aus dem Dunkel. Keine Hand rührte sich. Die abergläubische Furcht vor den geheimen Zauberkünsten des alten Zigeunerweibes hielt sie gefesselt... Das Feuer war erloschen. Nur ab und zu irrte noch ein Fünkchen durch die Asche... Im Finstern hoben die Straschniks den wunden Kameraden auf und trugen ihn fort, nach der Grenze zu. Er war ohne Bewußtsein, aber er stöhnte. Mühsam wand sich der stille Zug durch das dichte Unterholz von Wacholdersträuchern und Kiefernaufschlag.

Die Schmuggler hatten Fedor, der auf sie wartete, bald eingeholt. „Du bist doch ein dummer Kerl“, sagte einer lachend. „Legst dich keine dreihundert Schritt von der Grenze ans offene Feuer. Kannst eigentlich was dafür ausgeben, daß wir dich gewarnt haben.“

Mißtrauisch wich Fedor zur Seite. „Brauchst keine Angst zu haben“, knurrte der Schmuggler, „wir sind ehrliche Leute. Sollst bloß ein Schnäpschen kaufen, wenn wir an die Wagen kommen.“

„An welche Wagen?“

„Na, wo wir die Waren abholen.“

„Ist das noch weit?“

„Ein halbes Stündchen, dann sind wir da...“

Schweigend schritten sie weiter. Ein Käuzchen umschwirrte sie mit lautlosem Flügelschlag und schrie sein schauriges Huhuhu... Sein Ruf war nichts weiter als der Ausdruck seiner Sehnsucht nach einer liebenden Gefährtin. Und tausendmal verklingt er in der Stille des Waldes, ohne daß ein menschliches Ohr ihn vernimmt. „Verdammter Unglücksvogel, was hast du uns zu beschreien?“ rief einer der Schmuggler und strich ein Zündholz an, um den Vogel durch die aufblitzende Flamme zu verscheuchen.

Am Himmel machte sich jetzt ein heller Schein bemerkbar, der von einem hochlodernden Feuer herrührte. In schmalen und breiten Bändern stieg der Schein durch die Baumwipfel in die neblige Luft empor... Zwei hochbeladene Wagen standen dicht am Feuer. Ein paar deutsche Kaufleute und drei jüdische Händler saßen daran und feilschten um die Ware. Die drei Schmuggler waren hinter den Wagen verschwunden, wo schon dreißig, vierzig Genossen lagerten und schweigend ihre Zigaretten rauchten. Die jüdischen Händler hatten sich im Samowar Tee bereitet. Die deutschen Kaufleute zogen es vor, das heiße Wasser mit Zucker und Rum zu mischen. Fedor hatte sich weit ab vom Feuerschein gelagert und wartete geduldig der Dinge, die da kommen sollten. Wenn die Wagen leer wegführen, konnte er vielleicht ein Plätzchen darin erwischen.

Die jüdischen Händler feilschten eifrig und zäh mit großem Wortschwall. Sie schworen bei jedem Preis, der ihnen genannt wurde, die heiligsten Schwüre, daß sie nur die Hälfte bieten könnten; sie verfluchten sich, ihre Vorfahren und ihre Nachkommen, wenn jemals einer so leichtsinnig sein könnte, solche Preise zu zahlen, bei denen sie mit Schaden verkaufen müßten. Die Kaufleute, die ihre Art aus langer Gewohnheit kannten, warteten geduldig, bis der Wortschwall vorübergerauscht war.

„Also, Moschek, wieviel willst du nehmen?“

Noch zwei-, dreimal windet sich Herr Moschek unter Fluchen und Schwören. Dann bestellt er, zahlt und erhält die Ware, die einer der Knechte gleich vom Wagen ladet. Je weiter die Zeit vorrückt, desto schneller wickelt sich das Geschäft ab. Die Schmuggler beladen sich und verschwinden lautlos im Dunkel des Waldes. Sie wissen schon ganz genau die Stelle, wo in dieser Nacht der russische Doppelposten fehlt, so daß sie ungesehen und ungehindert durchschlüpfen können.

Das hat Herr Moschek schon vorher alles besorgt. Das kostet freilich ein schönes Stück Geld, denn die Schmiergelder verteilen sich auf eine ganze Anzahl Personen, aber trotzdem lohnt sich das Geschäft. Am wenigsten bekommen die armen Kerle, die in finsterer Nacht, ohne Weg und Steg, die schweren Packen schleppen müssen und dabei manchmal ihr Leben aufs Spiel setzen, denn es kommt doch vor, daß an der verabredeten Stelle zufällig doch ein russischer Posten steht und scharf schießt. Meistens ist es nur auf die Packen abgesehen, die sofort, wenn ein Schuß fällt, von den Schmugglern abgeworfen werden, um schneller ausreißen zu können. Doch der russische Straschnik ist unberechenbar... er pflegt zu treffen, wo er gar nicht zielen soll.

Die Schmuggler und Händler waren verschwunden, die Kaufleute saßen plaudernd am Feuer, während die Knechte die Pferde suchen gingen, die, an den Vorderfüßen gekoppelt, irgendwo in der Nähe weideten. Da trat Fedor an sie heran, zog seine Mütze und fragte bescheiden, ob die Wagen ihn nach der Stadt mitnehmen möchten. Er sei von den Russen übergelaufen nach Preußen und möchte sich hier Arbeit suchen. Er sei Fischer von Beruf...

„Ja, mein Sohn“, erwiderte einer der Kaufleute, „in der russischen Uniform wirst du bei Tage nicht weit kommen.“

„Ach, Herr, ich habe Geld... sechzig Rubel... ich könnte mir vielleicht in der Stadt einen anderen Anzug kaufen.“

„Das ist was anderes. Wir kommen noch vor Tagesgrauen nach Johannisburg. Da will ich dir andere Kleider besorgen. Weshalb bist du denn ausgerückt. Hast du was verbrochen?“

„Nein, Herr, so wahr ich hier vor Ihnen stehe, ich habe nichts verbrochen. Ich habe es nicht länger ausgehalten. Ich bin behandelt worden wie ein Hund... schlimmer als ein Hund... dem gibt man doch satt zu fressen.“

„Nanu, so schlimm sind doch die Russen nicht...“

„Ja, Herr, denn ich bin Pole. Ich habe kein anderes Wort gehört als ,polnisches Hundsblut', Hundesohn', polnisches Schwein'! Drei Jahre habe ich es ausgehalten, vier hatte ich noch vor mir... jetzt sollten wir in den Krieg ziehen gegen die Japaner. Da habe ich in dieser Nacht Gewehr und Gürtel abgelegt und bin übergelaufen...“

„Das kann man dir nachfühlen. Wenn du Fischer bist, wirst du beim Pächter in Glodowen Arbeit finden, dort sucht dich auch kein Mensch.“

Die Pferde waren angeschirrt. Die Kaufleute stiegen auf den Wagen. Fedor sprang von hinten auf und warf sich ins Stroh. Als der Wagen über das Steinpflaster der Stadt zu rasseln anfing, wachte Fedor auf. Er hatte fest geschlafen. Neugierig schaute er im Zwielicht des grauenden Morgens auf die kleinen Häuser, sie kamen ihm so merkwürdig sauber vor, auch die Straßen. Da lagen keine Dunghaufen, da waren keine Pfützen, in denen Schweine wühlten. Sein Gefühl der Hochachtung für Preußen verstärkte sich.

Eine Stunde später war er in einen schmucken Zivilisten verwandelt. Der Kaufmann hatte ihm aus seinem Laden eine graue Joppe, Kniehosen, einen Gummikragen und eine Mütze für zehn Rubel verkauft. Seine Uniform und den Mantel hatte er zu einem Bündel verschnürt und mit Packpapier umwickelt. Die russischen Juchtenstiefel behielt er an. Reichlich gesättigt und mit etwas Mundvorrat versehen, trat er seinen Weitermarsch an. Der Kaufmann hatte ihm nicht nur den Weg beschrieben, den er einschlagen mußte, um nach Glodowen zu gelangen, sondern auch den preußischen Gendarm, vor dem er sich in acht nehmen mußte, um nicht aufgegriffen und an Rußland ausgeliefert zu werden. Auch das russische Geld hatte er ihm eingewechselt und ihm den Wert der deutschen Münzen erklärt.

Dem Überläufer war der Mut gesunken... Er hatte geglaubt, man werde ihn in Preußen mit offenen Armen aufnehmen. Nun sollte er sich wie ein Dieb durch das Land schleichen... Nein, lieber sterben, als den Russen ausgeliefert werden. Da würde er zuerst wohl halbtot geprügelt und dann in ein sibirisches Regiment gesteckt werden, wenn man ihn nicht gar als Sträfling in die Bergwerke verschickte...

Er war noch nicht weit auf der Steinstraße nach Snopken zu gegangen, als ein Bauernwagen ihn einholte. Er blieb stehen und rief den Jungen an, der das Gefährt lenkte, ob er ihn nicht ein Ende mitnehmen wollte. Er wolle nach Glodowen... er wolle ihm dafür ein Trinkgeld geben.

Aus freien Stücken erzählte er, wie ihm der Kaufmann für solche und ähnliche Fälle angeraten hatte, er sei aus der Gegend von Thorn, wo man auf dem Lande das richtige Hochpolnisch spricht... und wolle hier zur Fischerei gehen...

Der Junge hielt an und ließ ihn aufsteigen. „Ich fahre nach Weissuhnen, von da hast nicht mehr weit. Was gibst?“

„Was willst?“

„Na, gibst fünf Dittchen?“

Fedor war in großer Verlegenheit. Er wußte nicht, wieviel das war und fürchtete, sich gleich jetzt beim ersten Anlaß durch seine Unkenntnis des deutschen Geldes zu verraten. „Ich gebe dir eine Mark.“

Der Junge lachte über das ganze Gesicht. „Gib her und steig auf...“

Sie waren noch nicht weit gefahren, als ihnen auf der Straße ein Reiter entgegenkam. Die Sonne hatte den Morgennebel besiegt und wärmte schon fühlbar. Aber dem Acker schwirrten die Lerchen und sangen unermüdlich. Der Helm des Reiters blitzte von weitem im Sonnenschein, und wenn das stallmutige, wohlgenährte Pferd seinen Kopf warf, sah Fedor ein breites, weißes Band auf der Brust des Reiters schimmern.

Kein Zweifel, das war ein preußischer Gendarm. Die Aufregung befiel den jungen Polen so schwer, daß seine Hände zitterten. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn... keine Möglichkeit zur Flucht... links und rechts vom Wege offenes, flaches Ackerland. Jetzt ließ der Gendarm seinen Gaul antraben. Der Zwischenraum mit dem Wagen verschwand in wenigen Augenblicken...

Der Junge lachte vergnügt. „Das ist unser Gendarm aus Weissuhnen.“ Er zog seine Mütze und rief laut: „Guten Morgen, Herr Wachtmeister!“

Der Reiter nickte freundlich und hob die rechte Hand an den Helm. Fedor hatte ebenfalls seine Mütze gezogen. Jetzt würde der Gendarm sein Pferd anhalten und ihn fragen: woher und wohin? Doch nein... der Gaul schoß dicht am Wagen vorüber... Jetzt vernahm Fedor das Trappsen der Hufe hinter sich. Er wagte nicht, sich umzusehen... Erst wischte er sich den Schweiß von der Stirn, dann setzte er seine Mütze auf. —

Noch nach Jahren verfolgte ihn die Erinnerung an diese wenigen Augenblicke bis in seine Träume, so daß dann er schweißgebadet erwachte. —

Der Junge schien vom vielen Sprechen nichts zu halten, er pfiff sich ein Liedchen und machte den Mund nur auf, um den Pferden ein anfeuerndes Wort zuzurufen. Als Fedor seinen Schreck überwunden hatte, begann er den Jungen auszufragen, bei wem er sich in Glodowen melden müsse, wieviel Lohn es gäbe...

„Das kann ich dir nicht sagen. Aber du wirst vielleicht gar nicht brauchen nach Glodowen zu gehen. Bei uns in Weissuhnen wohnt der Grosek. Er heißt eigentlich Wnuk, aber die Fischer und alle Leute nennen ihn bloß Grosek, Großväterchen. Er ist im Winter Garnmeister beim Niewod und im Sommer hat er eine Maschkopie von Sackstellern. Wenn der dich annimmt, bekommst du Arbeit, soviel du haben willst.“

„Zahlt er auch den Lohn an die Fischer?“

„Ach wo... bei jeder Maschkopie ist noch ein Inspektor dabei, der nimmt jeden Morgen die Fische ab. Jeder Fischer bekommt vierzig Doppelsäcke, die Muß er abends aufstellen und morgens die Fische `rausnehmen. Ich glaube, für das Viertel Schleie und Karauschen gibt's eine Mark und für jeden Aal eine halbe Mark. Wer Glück hat, kann jeden Tag bis zu zwanzig Mark verdienen.“

Jetzt plauderte der Junge von selbst weiter. „Jede Maschkopie bekommt ein Stück See angewiesen. Da schlagen sie ihr Lager auf. Am Tage trocknen sie ihre Säcke und flicken sie aus und kochen sich Fische. Brot und Speck wird gemeinschaftlich eingekauft. Der Grosek führt die Kasse und teilt jedem zu, dafür bekommt er von jedem Viertel, das gefangen wird, ich glaube, ein halbes Dittchen. Im Frühjahr ist das zur Nacht manchmal recht kalt, aber im Sommer, das ist ein Lebchen... Da spielt einer abends auf der Fiedel oder der Handharmonika, die anderen singen und tanzen oder spielen Karten... Und zu trinken gibt's auch nicht zu knapp. Aber der Grosek ist streng. Wenn er Feierabend gebietet, dann muß alles sich schlafen legen, und morgens weckt er schon, kaum, daß der Morgen graut. Wer will, kann nachher noch schlafen.“

„Kennst du den Grosek?“

Der Junge lachte. „Er ist ja mein Onkel und Vormund. Ich habe keinen Vater mehr. Wenn ich groß genug bin, nimmt er mich zur Fischerei. Jetzt muß ich noch zwei Jahre beim Bauern dienen. Zuerst habe ich bei ihm die Schafe und Schweine gehütet, jetzt bin ich schon bei den Pferden. Wollt ihr wohl laufen, ihr Faulpelze?“

3. Kapitel

In dem Dorfkrug von Weissuhnen herrschte sonntägliche Stille, als Fedor eintrat. Die langen, weißen Tische glänzten vor Sauberkeit. Die Dielen waren frisch gescheuert und mit Sand und kleingehacktem Fichtengrün bestreut. Erst nach einer Weile kam der Wirt, ein mittelgroßer Mann mit fettem Bäuchlein und fragte nach seinem Begehr. Fedor bestellte einen Schnaps und ein Glas Bier und zog seinen Mundvorrat aus der Tasche, um zu frühstücken. Der Schnaps war nicht so gut wie drüben in Rußland, aber das Bier schmeckte ihm so vorzüglich, daß er sich gleich noch ein Glas bestellte.

Er wollte gerade aufbrechen, als eine Schar polnischer Erntearbeiter hereindrängte. Die Mädchen in grellfarbigen Kleidern mit einer bunten Schürze darüber, die lose Jacke ebenfalls farbig, meistens knallrot oder blau; auf den sauber geflochtenen Zöpfen ein weißes Häubchen mit bunter Krause. Statt der langen Schaftstiefel hatten sie zum Sonntag niedrige Schuhe angelegt.

Lachend und schwatzend drängten sie sich an der Tonbank, wo der Wirt alle Hände voll zu tun hatte, um ihnen Zuckerwerk, Zigaretten und süßen Likör zu verkaufen. Einer der jungen Burschen hatte beim Eintreten den einsamen Gast ins Auge gefaßt. Jetzt kam er vom Schanktisch auf ihn zu: „Guten Tag, Fedor, wo kommst du her?“

Der Überläufer erschrak. Auch er hatte den Burschen erkannt, aber er bezwang sich und erwiderte achselzuckend: „Du irrst dich, wir kennen uns nicht.“

Ungläubig starrte der Pole ihn an. „Bist du nicht der Fedor Poranski, der beim Smirnow in Smugi gefischt hat?“

Fedor schüttelte den Kopf. Der Bursche grinste. „Der Fedor, den ich sehr gut gekannt habe, mußte nachher zum Militär gehen... dem wird es wohl unangenehm sein, wenn ihn ein Bekannter hier trifft und wiedererkennt... Na, wie du willst... Ich will dich nicht kennen. Vor mir brauchst dich nicht zu fürchten.“

Er wandte sich ab und trat an den Ladentisch. Fedor blieb sitzen und forderte sich noch ein Glas Bier. Es sollte nicht so aussehen, als wenn er vor den polnischen Arbeitern davongegangen wäre. Nach einer Weile brach der Trupp auf. Der Wirt verschwand. Als der Pole, der ihn angesprochen hatte, an ihm vorbeiging, winkte Fedor ihn mit den Augen zu sich heran und streckte ihm die Hand entgegen. „Bronislaw!“

„Also hast mich doch erkannt?“

„Ja, ich habe dich gleich erkannt, aber wenn man so in Angst leben muß…“

Der Pole setzte sich zu ihm und lachte gutmütig. „Ich versteh', du bist über die grüne Grenze gekommen.“

Fedor nickte. „Ich hielt es nicht mehr aus. Jetzt soll's dort Krieg geben...“

„Krieg? Gegen die Preußen?“

„Nein, gegen die Japaner.“

„Die kenne ich nicht.“

„Sie wohnen noch weit hinter Sibirien, wo die Sonne aufgeht.“

„Da wolltest dich nicht für die Russen totschießen lassen und bist ausgerückt? Nun sag', was willst du hier?“

„Ich will zur Fischerei gehen.“

„Das wär' auch das beste für dich. Aber sag' mal: Hast du Papiere? Hast du einen Paß?“

Fedor zuckte die Achseln. „Woher soll ich Papiere haben? Ich bin heute nacht übergelaufen, wie ich ging und stand.“

Der polnische Arbeiter beugte sich näher zu ihm heran und flüsterte ihm zu: „Ich werde dir meine Papiere verkaufen. Größe, Alter, Haare... alles stimmt, wie in meinem Paß.“

„Deine Papiere... aber Bronislaw, dann hast du doch keine?“

„Nun, hab' ich keine, dann hab' ich sie verloren. Ich bin rübergekommen mit Paß... der Paß kann verschwinden... wird man mir einen neuen ausschreiben.“

Fedor griff nach seiner Hand. „Bruder, ich geb' dir dafür, was du willst...“

„Gibst fünf Mark?“

Ohne zu bedenken griff Fedor zu und gab noch einige Glas Bier zum besten.

Eine halbe Stunde später schritt Fedor vergnügt die Dorfstraße herunter. Alle Menschen, die ihm begegneten, grüßte er freundlich. Die Welt sah ihm mit einem Male so schön aus. Er hörte, wie die Vögel sangen und freute sich darüber. Er blieb stehen und rief ein junges Mädchen an, das eben ins Haus treten wollte. „Goldene Herrin, wo wohnt der Fischmeister Wnuk?“

Die zierliche Blondine drehte sich um. „Der wohnt hier. Aber mein Vater ist nicht Fischmeister. Du bist wohl der Fischer, der heute mit dem Liba aus der Stadt gekommen ist? Na, dann komm mal `rein, der Vater kann dich gerade noch brauchen.“

Dem jungen Mann erschien es als eine gute Vorbedeutung, daß er von einem so schmucken Mädel so freundlich begrüßt wurde. Sie gefiel ihm auf den ersten Blick. Sie war zwar nicht groß, aber bei aller Zierlichkeit hübsch rundlich, dazu das krause Blondhaar, die lustigen, hellen Augen und frische Farben im Gesicht. Er schlug die Hacken zusammen, legte die rechte Hand auf die Brust und verbeugte sich. Das Mädel nickte lachend mit dem Kopfe und ging ihm voran in die Stube. Am Herd stand eine rundliche Frau, die ihn treuherzig mit Handschlag begrüßte und willkommen hieß. Am Tisch saß ein großer, starker Mann, der seinen Gast, als er sich erhob, um halbe Kopflänge überragte. Aber die runde Hornbrille warf er einen forschenden Blick auf den Ankömmling. Dann erhob er sich und streckte ihm die Hand entgegen. Fedor sah ehrerbietig zu ihm auf. Aus den hellen Augen unter buschigen Brauen hervor musterte ihn ein scharfer Blick.

„Sei willkommen in meinem Hause. Was führt dich zu mir?“

„Ich wollte fragen, ob Sie mich zur Fischerei annehmen möchten.“

„Verstehst du schon was von der Fischerei?“

„Ach, Herr, ich bin von meinem fünfzehnten Jahr an fünf Jahre bei einer großen Fischerei gewesen. Ich kann alles, Sackstellen, mit der Gant fischen, und im letzten Jahr war ich schon beim Niewod am Flügel.“

„Das freut mich, dann kann ich dich brauchen. Hast du auch Ausweispapiere?“

Fedor errötete ein wenig, als er die Papiere, die er sich eben gekauft hatte, dem Fischer hinreichte, der nur einen Blick hineinwarf und dann sofort fragte: „Wie kommst du zu den Papieren? Du hast doch meinem Neffen erzählt, daß du aus der Gegend von Thorn stammst... und hier ist der Stempel von unserm Landratsamt in Johannisburg?“

Tief errötend senkte Fedor seine Augen. Dann sah er sich scheu nach den beiden Frauen um, die am Herd standen. „Ich habe eben die Papiere im Krug von einem polnischen Arbeiter gekauft“, flüsterte er leise.

„Kannst ruhig laut sprechen, mein Sohn, aus meinem Hause geht nichts hinaus, was hier gesprochen wird. Weshalb hast du die Papiere gekauft?“

„Ach, Herr, ich will Ihnen alles sagen. Ich bin ein russischer Überläufer. Gestern abend habe ich noch über der Grenze Posten gestanden...“

„Weshalb bist du ausgerückt? Hast du was ausgefressen?“

„Nein, Herr, ich habe immer ordentlich meinen Dienst getan; ich habe es nicht länger ausgehalten. Ich habe es bei den Russen schlechter gehabt als wie ein Hund, bloß, weil ich ein Pole bin. Drei Jahre habe ich es ausgehalten... vier hatte ich noch vor mir...“

Der Fischer sah ihm scharf in die Augen, und Fedor hielt den Blick aus. „Gut, ich glaube dir. Ich will dich annehmen zur Fischerei. Wir können junge, kräftige Männer hier sehr gut brauchen. Und wenn du fleißig bist, kannst du dein gutes Auskommen haben. Aber mit den Papieren ist es nichts, die kannst du dem jungen Mann wiedergeben. Wenn du erst bei uns Fischern bist, kräht kein Hahn danach, wo du hergekommen bist. Der Gendarm ist heute nicht zu Hause, und morgen früh fahren wir weg...“

Mit jedem Wort, das der Mann sprach, stieg die Freude in Fedor empor, bis sie ihn überwältigte. Er sank vom Stuhl vor dem Alten auf die Knie und legte sein Gesicht ihm auf das Knie. Ein Schluchzen erschütterte seinen Körper. Sanft legte ihm der Fischer die schwere Hand auf das lockige Haar.

„Beruhige dich, mein Sohn... du bist bei Freunden, die dich verstehen. Wir denken nicht daran, dich den Russen auszuliefern... Die möchten wohl mit dir nach Sibirien abfahren.“

Der junge Pole hatte das Gefühl, als hätte er einen Vater gefunden. Er hob seinen Kopf. „Grosek, ich bin ja so ein armer Mensch. Ich habe keine Eltern gehabt. Ein paar Jahre haben mich Zigeuner mit sich herumgeschleppt in der Welt... dann bin ich drei Jahre bei einem Juden gewesen. Nachher hat mich das Dorf genommen und zu einem Bauern gegeben. Da lief ich fort, wie ich groß wurde und ging zur Fischerei... Kein Mensch ist zu mir gut gewesen, Ihr seid der erste...“

Seine Stimme brach, Tränen stürzten ihm aus den Augen. Da legte ihm der Alte den Arm um die Schultern und zog ihn wortlos an sich. Mit leisen Worten, halb flüsternd, erzählte Fedor von seinem Leben. All das Leid und Elend, das er in seinem jungen Leben gekostet, strömte aus ihm heraus.

Als er schwieg, fragte Grosek, ob er denn gar keine Ahnung hätte, wo er herstammte...

„Nein, aber ich habe ein Zeichen“, erwiderte Fedor leise. „Ihnen will ich es zeigen“; er öffnete mit einem Ruck sein Hemd und zog eine goldene Münze hervor, die an dünner Kette um seinen Hals hing. „Die Judenfrau hat es gesehen, als sie mich zum erstenmal auszog und wusch. Der Jude wollte es mir wegnehmen, aber die Frau litt es nicht. Es soll eine Münze sein, hat der Jude gemeint, wie sie sie früher die alten polnischen Starosten mit ihrem Wappen prägen ließen. Vielleicht habe ich noch reiche Verwandte in Polen…“

Grosek betrachtete die Münze durch seine Brille. Auf der einen Seite war der weiße Adler, das Wahrzeichen des polnischen Königreichs, aufgeprägt, auf der anderen ein Wappen mit Schild und Helmzier.

„Verwahr' das Zeichen gut. Wenn du älter und klüger wirst, kannst du vielleicht Nachforschungen anstellen... Und jetzt sag' mir: Wie nennst du dich?“

„Der Jude hat mich Fedor gerufen, und nachher haben mich die Leute nach dem Bauern, bei dem ich diente, Poranski genannt.“

„Gut, also Fedor Poranski, jetzt wollen wir die Sache in aller Ruhe besprechen. Was hast du von Kleidern?“

„Diesen Anzug und in einem Bündel meine Soldatenkleider.“

„Der Anzug ist zu schade zum Fischen. Emma, hol' mal die Sachen von meinem verstorbenen Bruder. Auch den Wandmantel. Die werden dir gerade passen, denn mein Bruder war so groß und so schlank wie du...“

„Was sollen die Kleider kosten, Grosek?“

Der Alte lachte. „Du fragst ja wie ein Graf, der die Welt kaufen will. Hast du denn Geld?“

Stolz lächelnd zog Fedor seinen ledernen Geldbeutel und gab ihn dem Alten in die Hand. „Das habe ich mir bei der Fischerei verdient und gespart.“

„Das freut mich, daß du ein ordentlicher, sparsamer Mensch bist. Eine Kleinigkeit muß ich dir für die Kleider abnehmen, weil sie dem Jungen gehören, der sie später einmal bekommen sollte. Aber bis er groß wird, hat er genug schlechte Kleider zum Fischen.“

Während Fedor die Kleider musterte, deckte Anka den Tisch mit Tellern, Messern, Gabeln und Löffeln. Gleich darauf trug Frau Wnuk eine Schüssel auf den Tisch, aus der ein kräftiger Duft emporstieg. Fedor nahm seine Mütze und wandte sich zum Gehen.

„Nein, du bleibst“, sagte der Alte und schob ihm einen Stuhl hin. „Du bist heute unser Gast.“

Er trat an den Tisch und sprach in deutscher Sprache ein kurzes Gebet. Fedor verstand kein Wort, aber er fühlte, daß es ein Gebet war und faltete die Hände. Dann setzten sich alle und wünschten sich freundlich eine gesegnete Mahlzeit. Es gab ein kräftiges Gemüse mit großen Fleischstücken darin und ein Stück Brot dazu. Unter freundlichen Gesprächen wurde die Mahlzeit verzehrt. Dann sagte Grosek zu ihm: „Du wirst müde sein. Oben auf der Lucht steht ein Bett, da kannst dich hinlegen. Kannst nachher auch ein bißchen `rausgehen und dir die Gegend ansehen.“

Mit einem seligen Lächeln war Fedor eingeschlafen, kaum, daß er sich ausgestreckt hatte.... Frisch gestärkt, wie neugeboren, erwachte er nach drei Stunden, stand auf und ging über den Hof und durch den Garten nach dem See hinunter, den er schon von weitem hatte blinken sehen. Das Herz hüpfte ihm vor Freuden, als er am Ufer stand. Wie ein Spiegel lag der weite See... Unzählige kleine Kreise sprangen auf, um nach wenigen Augenblicken spurlos zu verzittern. Das waren die kleinen Weißfische, die nach den auf dem Wasserspiegel tanzenden Mücken schnappten.

Jetzt sprangen dreißig, vierzig aus dem Wasser heraus und fuhren wie silberne Strahlen durch die Luft, bis sie wieder in ihrem nassen Element verschwanden. Da war ein Hecht zwischen sie gefahren... Ein Schof Enten kam von weither gezogen und fiel drüben am andern Ufer ein.

Träumend und sinnend ging Fedor am Rande entlang, der von dichtem Gebüsch eingefaßt war. Er war Fischer mit Leib und Seele, und die Aussicht, daß er nun tagaus, tagein fischen sollte, stimmte ihn so froh, daß er laut hätte jubeln mögen... Er warf sich in das spärliche Gras, das reichlich mit Kornblumen durchsetzt war und schaute in stillem Sinnen auf den See hinaus. Er hatte noch nicht lange gesessen, als ein Flüstern und Kichern an sein Ohr drang... Eben hatte er an Groseks schmuckes Töchterchen gedacht.

Das war doch Ankas Stimme? Er drehte sich leise um und bog die Zweige des Strauches, der ihm die Aussicht verdeckte, zur Seite... Wirklich, das war Anka, und vor ihr stand ein junger Filippone.

Er kannte die Sekte, denn der Fischereipächter, bei dem er gearbeitet, war auch ein Filippone gewesen. Aber Fedor wußte nicht, daß ein Teil der Sekte nach Preußen ausgewandert und in mehreren Dörfern der Johannisburger Heide angesiedelt war. Unangenehme Gäste, fast jeder ein Wilddieb und Raubfischer, mit denen die Beamten oft recht häßliche Zusammenstöße hatten. Mit Überhebung sahen die russischen, schmutzigen Kerle auf die Masuren herab und ernteten dafür, wie es sich gebührte, Haß und Verachtung.

Dicht bei Weissuhnen liegt eine der größten Filipponen-Ansiedlungen: Onufrigowen. Gerade damals war unter der Einwirkung des Propstes bei der russischen Botschaft in Berlin, Maltzew, eine Bewegung unter ihnen entstanden, wieder in den Schoß der orthodoxen russischen Kirche und nach Rußland zurückzukehren. Einige hatten bereits ihr Anwesen verkauft und waren weggezogen.

Der junge Filippone, der bei Anka stand, schien gegen die Masuren keine Abneigung zu empfinden, zumal, wenn sie weiblichen Geschlechts und so jung und hübsch waren wie Groseks Töchterchen. Er hatte ihre Hand gefaßt und sprach eifrig auf sie ein.

Fedor konnte von dem geflüsterten Gespräch nichts verstehen, aber er sah, daß der Filippone das Mädchen um etwas bat, und daß Anka sich weigerte. Ihre linke Hand spielte mit den Fransen ihrer Schürze, Dem Lauscher gab es einen Stich durchs Herz. Das Mädel hatte also schon einen Liebsten? Und daß sie ihn sehr gern hatte, konnte Fedor auch sehen, denn nun schlug sie die Augen auf und sah ihn so innig an. Jetzt sagte sie laut: „Ich kann nicht länger bleiben. Die Leute kommen schon zur Andacht. Vielleicht abends, wenn der Vater in den Krug geht.“ Sie entzog ihm ihre Hand und wandte sich zum Gehen. Da sprang der junge Mann mit einem Satz ihr nach, umfaßte sie und drückte ihr einen langen Kuß auf. Sie sträubte sich nicht allzusehr dagegen. Dann machte sie sich aus seinen Armen los, schlug neckend nach ihm und lief davon. Eine Viertelstunde später ging Fedor ihr nach. Das Herz war ihm schwer geworden.

4. Kapitel

Ein leises Murmeln, ein Raunen und Wispern ging durch den Raum. Dem Tisch zunächst saßen die älteren Männer und Frauen auf niedrigen Schemeln. Dahinter standen dicht gedrängt, Schulter an Schulter, die jüngeren Leute, den Kopf demütig gesenkt. Der Tisch war weiß gedeckt und mit zwei dicken Wachslichtern bestellt, um deren Flammen ein rötlicher Strahlenkreis sich legte, der mühsam mit dem silbern hereinflutenden Tageslicht kämpfte.

Die fromme Stimmung, die aus den Herzen und von den Lippen der inbrünstig Betenden emporstieg, lag wie eine zitternde Welle über den gebeugten Köpfen und Nacken. Einige Frauen waren niedergekniet und völlig zusammengesunken. Bald hier, bald dort stieg aus einem zerknirschten Herzen ein zitternder Seufzer empor. „Herr, erbarme dich unser.“ Obwohl leise geflüstert, erreichte er jedes Ohr. Dann senkten sich die Nacken tiefer, als wenn das Schuldbewußtsein ihrer Sündhaftigkeit mit Zentnerlast auf ihre Schultern drückte.

Draußen vor den geöffneten Fenstern sangen die Vogel ihre Lieder. Ein Buchfink saß in der hohen Tanne, die das Haus beschattete und wiederholte unermüdlich seine schmetternde Strophe. Aus der Hecke antwortete eine Amsel mit sanft flötenden Tönen. Dazwischen lärmten und schrien die Spatzen.

Es war das ewige Frühlingslied der Natur vom Wiederauferstehen nach banger Winterszeit, das Lied der Freude am Dasein, der schaffenden Liebeslust. Es ließ die Stille, die über den betenden Menschen lag, noch tiefer erscheinen.

Als Letzter stand Fedor hinter den Betenden, dicht an der Tür, seltsam ergriffen von der schweigenden Stille und den geflüsterten Seufzern. Es war ihm, als wenn ein Geist über dieser Versammlung schwebte, der die Gebete und Seufzer in Empfang nahm.

Jetzt erhob sich Grosek hinter dem Tisch, wo er mit seiner Hornbrille in der uralten Familienbibel gelesen, die einer seiner Vorfahren vor Jahrhunderten für drei Joch Ochsen erstanden hatte. Ein kostbares Erbstück, der Stolz und das Heiligtum der ganzen Sippe, deren Vorfahren seit vielen Generationen mit Weib und Kind, mit Namen, mit Geburts- und Sterbetag in diesem Buch verzeichnet standen.

„Liebe Brüder und Schwestern, vernehmt in Andacht die Epistel des heutigen Sonntags, die aufgezeichnet steht: Römer, Kapitel 14, Vers 17 bis 19.“

Er hob mit starken Händen das schwere Buch und las: „Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem heiligen Geiste. Wer darin Christo dient, der ist Gott gefällig und den Menschen wert. Darum laßt uns dem nachstreben, das zum Frieden dient und was zur Besserung untereinander führt.“

Er legte das Buch nieder und begann zu sprechen. Sein Haupt mit dem langen, grauen, wallenden Haar war von dem rötlichen Schein der Lichter wie von einem Heiligenschein umwoben. Seine Augen glänzten. Wie Perlen rollten die Worte von seinen Lippen, sanft und doch eindringlich. Er drohte nicht, er schalt nicht, nein, ganz schlicht sprach er von der Güte Gottes, der mit unendlicher Sanftmut die Sünden der Menschen erträgt, die, von ihm rein und gut erschaffen, sich von der Schlange verlocken ließen.

Es war dem jungen Polen, als wenn der Alte zu ihm allein spräche, und mit gläubigem Staunen lauschte er den Worten, die schlicht und sanft von dem guten Gott im Himmel erzählten, der seinen Sohn opfern mußte, um die Menschen von ihren Sünden zu erlösen. Eine Offenbarung war es ihm und ein Evangelium, eine frohe Botschaft. Eine neue Welt erschloß sich vor ihm, die Welt des Glaubens. Mit weit geöffneten Augen und mit weit geöffnetem Herzen hing er an dem Munde des Predigers, der in der Tat nur für den einen sprach, der arm an Geist unter den vielen stand, die mit heißer Seele Gott und seine Liebe suchten. Für den einen, der wie ein junger Wolf in der Heide aufgewachsen war, gestoßen und getreten wie ein Hund, ohne Bewußtsein seiner Menschenwürde. Und er sah mit Freuden, wie der junge Pole mit ehrfürchtigem Staunen seine Worte aufnahm.

Dicht vor Fedor standen drei junge Mädchen. Sie sahen sich nach ihm um, steckten die Köpfe zusammen und kicherten. Er ließ sich dadurch nicht stören, denn er merkte es kaum.

Die Beter waren gegangen, nachdem sie noch ein langes Lied gesungen hatten. Anka löschte die Lichter und trug sie weg. Grosek hatte sich an den Tisch gesetzt und las in der Bibel. Da trat Fedor zu ihm. „Grosek, woher wißt Ihr das alles vom lieben Gott?“

„Mein Sohn, das steht hier in dem Buch. Er hat es durch seinen Heiligen Geist den Männern mitgeteilt, die es für uns aufgezeichnet haben.“

„Ist das derselbe Gott, den wir in Polen haben?“

„Ja, mein Sohn, es ist überall derselbe allmächtige, allwissende Gott, der die ganze Welt und alles, was darin ist, geschaffen hat. Hör' zu!“

Er las ihm das erste Kapitel des ersten Buches Moses, die Schöpfungsgeschichte, vor. Dann schloß er das Buch und trug es in den Schrank. „Wenn du willst, kannst du mehr hören. Wir haben draußen am Wasser genug Zeit dazu. Jetzt komm, wir müssen in den Krug gehen, einkaufen.“

In der großen Krugstube herrschte drangvolle Enge. Da saßen und standen die polnischen Schnitter mit ihren Mädchen, ihren Weibern und Kindern. Eine dichte Rauchwolke, die man hätte in Stücke schneiden können, lag über ihren Köpfen. Lautes Stimmengewirr erfüllte den Raum. Dahinter lag eine zweite kleinere Stube. Auch von dort tönte scharfes, erregtes Sprechen. Die masurischen Fischer, die sich dort versammelt hatten, fanden den Tisch von drei jungen Filipponen besetzt, die keine Miene machten, ihnen den Platz zu räumen. Heftige Worte flogen hin und her. Im nächsten Augenblick konnte es zu Tätlichkeiten kommen.

Grosek trat mit Fedor in die Tür. Sofort verstummte der Wortwechsel. „Weshalb sitzt ihr hier?“ fragte er die Filipponen mit ruhiger Stimme. „Hat euch der Wirt nicht gesagt, daß ich die Stube für uns bestellt habe?“

Einer der Filipponen stand auf, warf ein Geldstück auf den Tisch und ging schweigend hinaus. Fedor erkannte in ihm den jungen Kerl, der mit Anka am Seeufer zusammengetroffen war. Jetzt ging er nur, um sie wieder zu treffen.

Murrend rückten die beiden anderen zum Ende des Tisches: „Uns kann niemand verbieten, hierzusitzen. Ihr habt genug Raum.“

„Ja, wir haben genug Raum, aber wir wollen allein sein, denn wir haben allerlei Geschäftliches zu besprechen, was kein anderer zu hören braucht“, erwiderte Grosek ruhig. „Seid vernünftig, Leute, wir sind im Recht und ihr seid im Unrecht, Paprotta“, rief er dem Wirt zu, der im vorderen Zimmer hinter der Tonbank stand, „schaff' die Filipponen `raus.“

Der Wirt trat achselzuckend näher. „Es sind doch ebensogut meine Gäste wie ihr.“

„So? Na, da kommt, Kinder. Wir können ebensogut drüben bei Scheumann einkaufen.“

„Aber Grosek, wer wird denn gleich so übelnehmerisch sein? Selbstverständlich gehört euch das Zimmer. Ihr beiden könnt euch so lange bei mir in die Wohnstube setzen. Kommt, macht keine Sperenzchen.“

Unwillig erhoben sich die Filipponen, zahlten und gingen. „Wenn du nicht gekommen wärst, hätten wir die Kerle `rausgeschmissen“, meinte ein älterer Fischer zu Grosek.

„Nein, Kinder, es ist besser so. Sie sind zwar nicht unseres Glaubens und Stammes, aber sie sind auch Untertanen unseres Königs, und wir müssen mit ihnen in Frieden leben, solange es geht. Hier habe ich einen neuen Kameraden mitgebracht, Fedor Poranski. Haltet Frieden mit ihm, er ist ein Pole von jenseits der Grenze. Ich bitte mir aus, daß er nicht deswegen von euch gekränkt wird. Nun nehmt Platz. Ich werde euch einschreiben.“

Einer nach dem andern trat zu Grosek heran, nannte seinen Namen und die Summe, die er als Vorschuß entnehmen wollte. Am anderen Ende des Tisches stand schon der Wirt, der jedem ein Glas Bier gebracht hatte, und schrieb die Bestellung auf.

„Schön, Kuba, ein halbes Kistchen Zigarren, nicht zu dunkel, wird gemacht. Ich habe eine pikfeine Sorte, zu vier Pfennigen das Stück. Die kann der Kaiser mit Genuß rauchen, fünf Päckchen Kautabak... dünn oder dick? Schön, machen wir. Drei Pfund Zucker... vielleicht auch einen geräucherten Hering? Frisch, saftig... Eine Flasche Rum? Ja, da hast du recht, es ist abends noch recht frisch draußen, da ist ein Glas Grog nicht zu verachten. Na, und Papierossen? Man kann doch nicht immer Zigarren rauchen.“

Mit unheimlicher Zungenfertigkeit zählte er noch eine Menge Dinge auf, die für einen Fischer nötig, nützlich oder angenehm sind. Den größten Auftrag bekam er von Grosek, der für die Maschkopie im großen einkaufte. Heringe, Butter, Speck, Kaffee, Mehl, Schmalz, Zigaretten, Salz, Pfeffer und noch andere Dinge, die für ein Lagerleben, fernab von menschlichen Wohnstätten, nicht zu entbehren sind.

Als er abgefertigt war, erhob er sich. „Du kannst noch hierbleiben, Fedor, und dich mit deinen Kameraden besprechen. Zum Abendbrot und zum Schlafen kommst du zu mir. Morgen früh um sechs Uhr steht ihr alle bei mir vor dem Hause. Gute Nacht, Kinder.“

Langsam schritt er die Dorfstraße hinab nach Hause. Er fand seine Frau allein. Sie las in der Bibel. „Wo ist Anka?“

„Sie ist eben `rausgegangen, vielleicht nach dem Garten oder zu einer Freundin.“

„Weshalb kümmerst du dich nicht um das Kind?“

„Mein Gott, Grosek, die Anka ist doch kein Kind mehr, sondern ein erwachsenes Mädchen. Sie kann doch nicht immer an meinem Schürzenband hängen.“

„Weißt du nicht, daß der Saschul ihr nachschleicht wie die Katze der Maus?“

„Unsere Anka ist alt und verständig genug. Sie wird sich nicht mit einem Filipponen einlassen.“

„Gott gäb', daß du recht behältst. Ich halt' es für sicherer, aufzupassen und einzugreifen, ehe es vielleicht zu spät ist.“

Er drehte sich um und ging hinaus durch den Garten nach dem Seeufer hinab. Mit lautlosen Schritten ging er auf dem weichen, feuchten Fußpfad am See entlang.

Hinter einem Strauch, gegen das Dorf gedeckt, saßen die beiden. Saschul hatte seinen Arm um Ankas Schultern gelegt und sprach eifrig auf sie ein.

„Ich habe schon einen Käufer..., in drei, vier Wochen kann die Sache erledigt sein.“

„Die Eltern werden nie erlauben, daß ich dich heirate“, erwiderte Anka traurig. „Vielleicht wenn du hierbleiben und dich taufen lassen möchtest.“

„Das geht nicht, das geht beim besten Willen nicht. Das lassen meine Brüder nicht zu. Erinnerst dich noch an den Arzum, den großen Schwarzen? Der hat sich taufen lassen, um die Stefka Jezorek aus Babken zu heiraten. Acht Tage später war er verschwunden, als hätte ihn die Erde verschluckt. Nein, du mußt jetzt, wenn dein Vater weg ist, täglich zum Popen ins Kloster gehen, bis er dich taufen kann. Am nächsten Tage traut er uns, und dann ziehen wir weg nach Rußland. Du weißt, ich bin nicht arm, wir können uns dort eine schöne, große Besitzung kaufen, wo du die Herrin bist. Keinen Finger wirst du in kaltes Wasser zu stecken brauchen..., zwei, drei Mädchen sollen um dich herumtanzen.“

Traurig senkte Anka den Kopf. Sie hatte Saschul sehr lieb. Er war nicht so roh und unwissend wie seine Glaubensgenossen. Sein Vater hatte ihn auf die Bürgerschule nach Johannesburg geschickt. Er sprach und las fertig deutsch. Saschul hob ihr das Kinn und küßte sie. Plötzlich hatten sie beide das Gefühl, als wenn jemand dicht hinter ihnen stände. Sie sprangen auf... „Der Vater“, schrie Anka auf.

Grosek nahm sie bei der Hand. „Ja, der Vater, der sein ehrvergessenes Kind suchen muß.“

„Vater, ich schwöre dir...“

„Schwöre nicht, mein Kind, das hast du nicht nötig. Und dir, Saschul, sage ich in aller Ruhe und Freundschaft: Laß meine Tochter in Ruhe! Ich kann dir nicht übelnehmen, daß mein Kind dir gefällt, aber sie ist nicht für dich gewachsen. Ich werde nie und nimmer meine Einwilligung geben.“

„Grosek“, erwiderte der Filippone mit warmer Stimme, „ich kann nicht von Anka lassen, ich... ich will mich taufen lassen und in Preußen bleiben. Ich verkaufe, und wir ziehen weg in die ganz deutsche Gegend.“

„Nein, Saschul, das schlag' dir aus dem Kopf. Wenn du früher zu mir gekommen wärst und hättest gesagt: unterweis mich, lehr' mich glauben, was du glaubst und was Anka glaubt, dann hätte ich dich geprüft und hätte dich unterwiesen in unserem Glauben. Jetzt, wo du deinen Glauben wechseln willst wie ein Hemd, um eines Weibes willen, jetzt sage ich nein.“

Anka umklammerte ihn: „Vater, sei doch nicht so hart gegen uns. Ich lasse nicht von ihm. Du gewinnst eine Seele für unseren Glauben.“

„Meinst du, daß das Gott wohlgefällig wäre? Ich nicht, mein Kind. Gott ist so groß, daß es ihm gleich ist, wie die Menschen ihn verehren. Sie sollen bloß an ihn glauben und seine Gebote befolgen. Wenn Saschul jetzt seinen Glauben abschwören will, um deinetwillen, dann ist es ein Handelsgeschäft.“

„Mein Gott, Vater, dann laß uns doch heiraten. Saschul betet nach seiner Art zu Gott und ich nach meiner. Väterchen, er ist doch ein guter, lieber Mensch... Er kann doch nichts dafür, daß er als Filippone geboren ist.“

„An dir ist ein Pfaffe verlorengegangen“, erwiderte Grosek lächelnd. „Du willst mich mit meinen eigenen Worten fangen. Ich muß es mir erst in aller Ruhe überlegen, und dabei will viel bedacht sein. Du, Saschul, mußt mir dein Wort und deine Hand darauf geben, daß du Anka in Ruhe lassen wirst, wenn ich weg bin. Willst du das und willst du dein Wort ehrlich halten, dann schlag' ein.“

„Wir sprechen mit der Mutter nicht darüber“, sagte Grosek zu seiner Tochter, als sie durch den Garten aufs Haus zugingen. „Und du mußt Geduld haben, mein Kind, in deinem eigenen Interesse. Ich habe die Pflicht, darüber zu wachen, daß du nicht durch Unerfahrenheit ins Unglück läufst. Ich muß erst sehen, daß Saschul hierbleibt und tüchtig wirtschaftet. Dann kann er zum Herbst zu uns ins Haus kommen. Ich muß ihn doch auch erst kennenlernen. Du weißt, ich kann in die Herzen der Menschen sehen. Sehe ich, daß er ein guter Mensch ist und standhält, dann will ich sagen: in Gottes Namen.“

„Ich danke dir, Väterchen“, flüsterte Anka und hob seine Hand an die Lippen.

Ziemlich spät kam Fedor an. Er hatte mit ein paar Burschen seines Alters Freundschaft geschlossen und war freudig erregt, wozu auch der ungewohnte Biergenuß etwas beitrug. Lächelnd bot ihm Grosek die Hand, während Anka ihm die Schüssel mit Essen vorsetzte. „Nun, was hast du eingekauft?“

Fedor errötete und schielte nach Anka.

„Du hast doch keine Dummheiten gemacht?“ fragte der Alte, der den Blick aufgefangen hatte, in der Meinung, der Pole hätte Anka ein Geschenk gekauft.

„Ich habe eine Fibel und eine Tafel gekauft. Ich will lesen und schreiben lernen. Und ich möchte Euch bitten, Grosek, daß Ihr mit mir deutsch sprecht, damit ich es lerne.“

„Deswegen brauchst du dich doch nicht zu schämen. Das ist sehr verständig von dir. Ein Mensch, der nicht lesen und schreiben kann, ist nur ein halber Mensch oder noch weniger. Nun iß und leg' dich schlafen. Deine guten Kleider kannst hier lassen, die kannst du anziehen, wenn wir zum Sonntag nach Hause kommen.“

Mit dem ersten Sonnenstrahl, der sich durch die Luke im Giebel stahl, war Fedor wach. Er zog sich die Fischerkleider an, die ihm paßten, als wenn sie auf seinen Leib gearbeitet wären, und ging hinunter. Da waren bereits einige Kameraden damit beschäftigt, die eingekauften Vorräte, die der Gastwirt geschickt hatte, in einen großen Kahn zu laden... Eine halbe Stunde später saß die ganze Gesellschaft in dem Kahn, der von kräftigen Ruderschlägen getrieben, den Warnold entlang nach Glodowen fuhr, wo jeder Fischer seinen Kahn und seine Reusen in Empfang nehmen sollte.

5. Kapitel

Eine ganze Woche war der „Fischdoktor“, wie er allgemein genannt wurde, der im Auftrage des Ostpreußischen Fischereivereins die Masurischen Seen erforschte, eingeregnet in einem kleinen elenden Dorf an der Ostseite des Spirding. Himmel und Erde waren zu einer einförmigen grauen Masse verschmolzen. Wie eine Wand dünner Bindfäden hing der Regen in der Luft. Er ließ sich in dem armseligen Wirtshaus, das fern aller menschlichen Kultur lag, in dem es wenig zu essen und noch weniger zu trinken gab, einen Tisch scheuern, legte seine Karten auf und zeichnete die Ergebnisse seiner Seeforschungen ein, die Tiefe, die Grundverhältnisse, die Rohr- und Binsenkämpe.

Dann gab ihm die Langeweile die Feder in die Hand. Er wurde fleißig und schrieb zu jedem See einen eingehenden Bericht über seinen Fischbestand, seine Belastung durch Fischereiberechtigung und Raubfischerei, und schließlich noch einen langen, allgemeinen Bericht.

Seine beiden Ruderknechte, zwei junge, strebige Burschen, hatten sich am ersten Abend vor Langerweile sträflich betrunken. Zur Strafe gab er ihnen auf, seine langen Transtiefel blankzuwichsen. Das ging noch über das Filzschuhwichsen, was der Masur als die ärgste Strafe bezeichnet. Aber es gelang ihnen. Am siebenten Tage, als der Himmel sich aufzuklären begann, strahlten seine Juchtenen im schönsten Glänze.

Ein strammer Ostwind hatte sich gegen Mittag erhoben, der die Wolken in Fetzen zerriß und nach Westen trieb. Durch die Löcher guckte ab und zu Mutter Sonne und freute sich, daß ihre Tochter Erde so sauber gewaschen aussah.

Bald nach Mittag bestieg der Fischdoktor sein Boot, ließ das Segel aufspannen und fuhr ab. Er wollte Menschen sehen und mit ihnen ein vernünftiges Wort sprechen. Noch war von dem gegenüberliegenden Westufer, obwohl es stellenweise hoch und mit dunklem Nadelwald bestanden ist, nichts zu sehen, denn dort standen noch dichte Regenschwaden. Es war ein zauberhafter Anblick, als auch dort das Gewölk zerriß, und die Landschaft, von der dahinterstehenden Sonne beleuchtet, mit wunderbarer Schnelligkeit hervortrat. Der Wald schien noch von einem hellblauen, duftigen Schleier eingehüllt, aber schon leuchteten einige Wipfel im rötlichen Abendsonnenschein.

Jetzt legte sich auch der Wind. Die Burschen setzten sich an die Schlagruder. War das ein Leben und Weben auf und in dem Wasser! Es war, als wenn alle Geschöpfe sich über das Wiedererscheinen der Sonne freuten und ihr zujubelten. Im dichten Rohr lärmten die Bläßenten, fauchend und schreiend jagten und prügelten sie sich. Weiter auf dem See lag eine Schar Haubentaucher. Hier verschwanden fünf, sechs fast zu gleicher Zeit unter dem Wasserspiegel. Dort tauchten ebenso viele auf, fast jeder mit einem weißen Fisch im Schnabel.

Vor einer flachen Bucht fischte eine Gesellschaft von Kormoranen, die, zu gleicher Zeit in die Tiefe tauchend, die Fische nach der Bucht trieben. Hier und dort stand am Ufer im seichten Wasser ein Fischreiher regungslos, mit hochaufgerecktem Hals, bereit, jeden Augenblick die Flucht zu ergreifen, wenn das Boot in bedrohliche Nähe kommen sollte. Sobald sich einer davon überzeugt hatte, daß ihm keine Gefahr drohte, watete er bedächtig weiter. Dann stieß er schnell mit dem spitzen Schnabel zu, ein stattlicher Fisch zappelte gefangen, und jetzt schwang sich der Reiher mit ungeschicktem Sprung und Flügelschlägen auf, um die Beute den Jungen zuzutragen.

Nach wenigen Minuten bog das Boot nach der Kazeraino-Bucht ein. Da arbeiteten die Fischer, die ihre Säcke am Nachmittag getrocknet hatten und jetzt wieder aufstellten. Der Doktor kannte nicht jeden, aber sie kannten ihn alle und grüßten durch freundliche Zurufe und Handschwenken. Am bewaldeten Ufer erhob sich eine dünne Rauchsäule. Senkrecht, wie ein Baumstamm, stieg sie in die klare Luft empor, und oben breitete sie sich zu einer schwankenden Krone aus. Das war also das Lager der Sacksteller. Eine Fischerwitwe im besten Heiratsalter, zwischen fünfzig und neunzig, wie die Masuren zu sagen pflegen, hatte das Feuer entzündet, um den Männern das Abendbrot zu kochen.

Vor der Tür der Schilfhütte saß Freund Boruch, der jüdische „Spektor“ der Maschkopie. Ein großer, breitschultriger Mann mit einem bis auf die Brust herabwallenden, schwarzen Bart, in den sich schon die ersten Silberfäden des herannahenden Alters mischten.

Er kam langsam ans Ufer, als das scharf gebaute Kielboot am seichten Ufer aufstieß. Schon von weitem winkte er mit der Hand. „Oh, welche Freude, Herr Doktor! Habe ich jeden Tag ausgeschaut und gehorcht. Habe ich gefragt: weshalb sitzt der Herr Doktor in dem elenden Nest? Weshalb kommt er nicht zu seinem Freund Boruch? Ich habe ein Achtelchen Bier liegen, ich habe guten Rum.“

Der Doktor watete durch das seichte Wasser, wobei seine gewichsten Stiefel ihren Glanz einbüßten und schüttelte ihm kräftig die Hand.

„Ich bin sehr fleißig gewesen, habe alles aufgearbeitet, habe Karten gezeichnet, habe Berichte geschrieben. Nun kann ich ein paar Tage bei Euch bleiben und mir Euren Betrieb ansehen. Wie fischt es sich?“

„Gut, sehr gut, Herr Doktor.“

Sie setzten sich auf die Holzbank vor Boruchs Hütte. Durch die hochragenden Kieferstämme fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, und jeder Baum, den sie trafen, erglühte in rotem Licht.

Die Wellen, die über den meilenweiten See angewandert kamen, begannen abzustillen. Ihre Oberfläche schien wie von dünnem Öl geglättet. Mit leisem Murmeln zerfloß eine Welle nach der anderen auf dem weißen Ufersand, in dem die glatten Kieselsteine, von Sonnenschein übergossen, wie Edelsteine glänzten. Eine Entenmutter zog mit ihrem Schof Jungen leise quakend quer über die Bucht, dicht an den Kähnen der Fischer vorbei, die ihr keine Furcht einflößten.

Die beiden Männer sprachen von allem möglichen. Das heißt, Boruch fragte und der Doktor erzählte. Der Spektor konnte nicht Deutsch lesen, und auch der Schreiber in Glodowen, der diese Kunst erlernt hatte, verstand das wenigste von dem, was er in den deutschen Zeitungen las. Da mußte der Gast ihm denn die Dinge und Ereignisse erklären, von denen eine dunkle Kunde zu ihm gedrungen war. Von einem nihilistischen Mordanschlag in Moskau, von dem Krieg Rußlands gegen Japan und von allem, was in der Welt vorging.

Boruch war ein Schriftgelehrter seines Volkes, und sein Beruf ließ ihm viel Zeit, in den alten Schriften zu forschen. Denn wenn er des Morgens den rückkehrenden Fischern die Beute abgenommen und in die Fischhalter verteilt hatte, war sein Tagewerk vollendet. Bald waren die beiden mitten in der Erörterung eines schwierigen Problems.

Der Fischdoktor hatte ihm vor einiger Zeit das Schulbeispiel eines logischen Trugschlusses aufgegeben. Ein junger Mann läßt sich von einem Rechtsgelehrten ausbilden. Das Lehrgeld soll erst dann bezahlt werden, wenn der Schüler seinen ersten Rechtsstreit mit Erfolg durchgeführt hat. Aber der junge Mann denkt nicht daran, einen Rechtsstreit zu führen. Er wird deshalb von seinem Lehrer auf das Lehrgeld verklagt. Was nun? Verliert der Schüler den Prozeß, dann hat er nach der Abmachung kein Lehrgeld zu zahlen, weil er ja doch seinen ersten Prozeß nicht mit Erfolg geführt hat. Gewinnt er, dann entbindet ihn der Spruch des Richters von der Zahlungspflicht.

Jetzt erinnerte der Doktor ihn daran. Lächelnd warf Boruch den abgebrannten Stummel seiner Zigarette in das Feuer. „Der Lehrer kann gar nicht klagen, denn der Schüler hat noch nicht seinen ersten Prozeß geführt.“

In diesem Augenblick wurden sie gestört. Die Piesna, die Fischerwitwe, kam heran und bat Boruch, ihr für den Gast und seine Leute Fische zum Abend zu geben. Während er aufstand, um mit seinem Kahn zu den Haltern zu fahren, die dicht hinter dem Rohr verankert waren, fragte der Doktor das Weib, woran denn ihr Mann gestorben sei.

„Er hat viele Jahre zu wenig und einmal zu viel Wasser getrunken“, erwiderte sie lachend. Der Schmerz um den Verlust ihres Mannes schien nicht sehr tief gegangen und schon überwunden zu sein. Auch der Doktor lachte über die witzige Antwort, denn er verstand sie. Ihr Mann hatte zu wenig Wasser im Spiritus getrunken, er hatte „gebrannt“, wie der Masur das Erbübel seines Stammes, das jetzt schon stark verschwunden ist, nennt. Und dann hatte er einmal zu viel Wasser getrunken, das heißt, er war ertrunken...

„Abends, als er vom Niewod nach Hause ging, ist er in eine Wuhne getorkelt und nicht mehr `rausgekommen. Wer weiß, wo er jetzt schwimmen mag. Ich habe wenigstens die Kosten des Begräbnisses gespart.“

Jetzt begannen die Fischer heimzukehren. Einer hatte beim Vorbeifahren an den Stangen eines stehenden Sackes eine verdächtige Bewegung bemerkt, hatte ihn gehoben und einen Wels von fast vierzig Pfund darin gefunden. Der sollte morgen für die Maschkopie zu Mittag gekocht und gebraten werden. Auch der Doktor ging hinunter, um sich das kleine Ungetüm anzusehen. Als er noch an dem Kahn stand, kam Grosek um die Rohrecke gefahren. Grosek, sein alter Kumpan, bei dem er so manche liebe Nacht im Kahn gesessen. Sein Gesicht strahlte vor Freude, als er den Gast erblickte.

Sorglich breitete er über das feuchte Gras erst seinen Lederschurz und dann seinen Wandmantel, auf den sie sich niederließen. Während sie von diesem und jenem plauderten, fuhr Piesna wie ein wildgewordener Kreisel um die Feuerstelle. Sie hatte an drei grünen Stangen an langer Kette einen Kessel über das Feuer gehängt, in dem bereits das Fischgericht brodelte, das sie öfter mit einem Schuß kalten Wassers abschreckte, damit die Fische nicht zerfielen. Zwei mächtige „Grapen“ auf drei Beinen, in denen Kartoffeln kochten, standen seitwärts dicht am Feuer. Der Doktor hörte, daß sie einen jungen Burschen wegschickte, von dem gegenüberliegenden Ufer der Bucht fetten Lehm zu holen und wußte nun schon, daß ihm ein erlesener Genuß bevorstand. Ein ausgenommener, im Innern mit reichlich Butter, etwas Salz, Zwiebel und Pfeffer gefüllter Schlei sollte, mit feuchtem Lehm umhüllt, für ihn in der heißen Asche gebacken werden.

Jetzt entstand ein Wettstreit zwischen Boruch und Grosek, wer den Gast mit Getränken bewirten sollte. Er entschied, daß Boruch mit einem milden Grog den Anfang und Grosek mit Bier den Abschluß machen sollte.

Die Dämmerung begann herabzusinken. Die Bäume leuchteten im Widerschein des Feuers... von dem nassen Grase stieg ein feiner Nebel empor. Gedämpft klang das Geschrei der Wasservögel... ein einzelner Stern erschien am Himmelsgewölbe... Der Doktor lag auf dem Rücken, sah dem schnell zerfließenden Rauch seiner Zigarre nach und gewahrte zuerst ein mattes Blinzeln, das ebensogut auch von seinen Augen herrühren konnte. Doch nein, jetzt blinkte ein winziger, leuchtender Punkt, der sofort den Augen entschwand, wenn man genauer hinsah. Aber nun... ja, das war ja wirklich ein Stern. Jetzt stand er deutlich sichtbar da oben.

Durch die Stille der Natur tönten jetzt vom See her eilige Ruderschläge. Ein junger, schlanker Mann sprang wie auf Draht gezogen aus dem Kahn, zog ein Stück aufs Ufer herauf, ging zum Feuer und zog ein glimmendes Ästchen heraus, um sich seine Zigarette anzustecken.

Der Doktor wies mit den Augen auf den späten Ankömmling. „Das ist mein bester Fischer, ein Pole“, erwiderte Grosek. „Ich werde dir später mehr von ihm erzählen.“

Sie hatten kräftig geschmaust und lagen nun zu dritt etwas abseits vom Feuer, das, durch einen Stoß trockener Aste genährt, hoch aufloderte. Millionen winziger Fünkchen und Aschenstäubchen riß die züngelnde Flamme hoch mit sich empor in die Luft. Nicht weit davon stand eine dichte Säule von Mücken. Obwohl Hunderttausende der winzigen Tierchen durcheinanderwirbelten, sich hoben und senkten, behielt doch der Schwarm die Form eines Stammes, von dem ein Ton wie von einer leise angestrichenen Saite ausging.

In den Wipfeln der hohen Kiefern war ein leises Raunen und Rauschen. Da erklang aus dem Dunkel der Ton einer Geige. Der junge Pole spielte, und er spielte meisterhaft... Süß und voll und traurig erklang ein polnisches Volkslied, eine schwermütige Klage um vergangene Zeiten, als die tapferen Lechen den Moskowitern ihre gepanzerte Faust zu kosten gaben. Dann ging die Melodie in ein wildes Reiterlied über. Man sah förmlich die keuchenden Rosse über die Wallachische Ebene dahinrasen...

Als das Lied verklungen war, zogen ein paar junge Burschen den Polen aus dem Dunkel zum Feuer heran und baten um einen Kosak. Lächelnd setzte Fedor die Geige ans Kinn und strich über die Saiten. Als erstes Paar trat die Piesna mit einem Fischer an, der mit vollem Recht den Namen Boczan, das heißt: Storch, trug, denn sein lächerlich kleiner Oberkörper ruhte auf einem Paar dünner, langer Beine.

Wie ein Federball flog die rundliche Frau, die sich die Röcke für strenge Anstandsbegriffe etwas zu hoch geschürzt hatte, in die Kniebeuge, streckte die rundlichen Beine von sich und schnellte wieder empor, während ihr Partner sie in hüpfenden Schritten umkreiste. Die Fischer, die im Kreise herumstanden, brachen in lautes Lachen aus. Der Anblick des Storches war aber auch zu komisch, denn jetzt warf er die langen Spinnenbeine mit unheimlicher Gelenkigkeit nach allen Seiten von sich, während die Frau ihn umhüpfte.

Das war der Glanzpunkt des Abends, denn nun ergriff ein alter Fischer die Ziehharmonika und bald hüpfte alles nach den Klängen eines der neuesten Berliner Operettenschlagers. Und in jedem Jahre brachten junge Burschen, die ihre Militärzeit in Berlin bei der Garde erfüllt hatten, neue Melodien mit nach Hause. Das Neueste war in diesem Jahre die bange Frage nach dem spurlos verschwundenen kleinen Kohn...

Alle hatten schweigend zugeschaut, bis der Kreis der Tanzenden sich löste. Die meisten der jungen Burschen waren verschwunden. Sie wanderten eine Meile oder zwei in ein Dorf, um an einem Kammerfenster anzupochen, das sich ihnen bereitwillig öffnete... Es war still geworden im Lager. Die drei Herren hatten sich das Fäßchen Bier so nahe heranstellen lassen, daß sie ihre Gläser füllen konnten, ohne aufzustehen.

Auch Grosek tat trotz seiner Frömmigkeit wacker mit. Schnaps kam nicht über seine Lippen. Er hatte davon, wie er selbst sagte, genug getrunken, denn er hatte fünf Jahre scharf gebrannt, das heißt, fast nur reinen Spiritus getrunken, bis der Rückschlag kam und ihn auf ein schweres Krankenlager warf. Aber Bier hielt er nicht für gefährlich. Er hatte wenigstens davon noch keinen Rausch gehabt.

Der Himmel schien wie von einem leichten Schleier bezogen. Das Licht der Sterne war matt, als wären die kleinen Himmelslichter da oben schläfrig und müde des ewigen Gefunkels.

„Was sagen eure Gelehrten von den Sternen?“ fragte Boruch.

„Das sind goldene Stühle, auf denen die Engelein sitzen“, fiel Grosek ein. „Es ist ein Märchen, ich weiß es, aber meine Mutter hat es mir erzählt, und als Kind habe ich ehrfürchtig hinaufgeschaut und das Englein bedauert, dem sein Stühlchen untreu wurde und auf die Erde herabfiel. Und noch jetzt muß ich manchmal denken, wie mag es doch im Himmel sein, wo der liebe Gott wohnt und die Welt regiert?“

„Ja, Grosek“, erwiderte der Doktor, „das kann niemand wissen... die Kraft, die das Weltall geschaffen, ist viel zu groß, als daß wir sie begreifen könnten.“ Und dann begann er zu erzählen von den Sternen, die helleuchtende, glühende Sonnen sind, viel tausendmal größer als unsere Sonne, von den gewaltigen Entfernungen, die man nur nach Lichtjahren messen kann.

Allmählich wanderte der helle Schein, der den Stand der Sonne unter dem Horizont anzeigte, über Norden nach Osten und begann, sich rosig zu färben. Der Doktor hatte sich müde gesprochen und schwieg. Wie aus tiefem Sinnen fuhr Grosek empor. „Die Nacht ist vergangen, es ist Zeit, zu den Säcken zu fahren.“

Er stand auf und rief laut: „Auf, Kinder! Zeit zur Arbeit!“

Hier und dort wickelte sich ein Fischer aus seinem Mantel, stand auf und rieb sich die Augen. Auch die jungen Burschen waren schon zurückgekehrt. Schon schoben einige ihre Kähne vom Ufer. „Du kannst dich in meine Hütte legen“, meinte Grosek zu seinem Gast.

„Ich denke nicht daran... ich fahre mit dir...“

„Na, denn komm.“ Vereint schoben sie sein Boot ab, stiegen hinein und fuhren der Sonne entgegen, die bereits einige Wolken im Zenit mit rosa Bändern umsäumte...

6. Kapitel

Die Arbeit, die Grosek an diesem Sonntag Morgen zu verrichten hatte, war nicht schwer. Er hob nur bei jedem Sack die beiden Endpricken und sah nach, ob Fische darin waren. Dann zog er den Sack in den Kahn, nestelte das schließende Band auf und schüttete den Fang in den untergehaltenen Kescher. Dabei erzählte er von Fedor, nach dem der Doktor gefragt hatte.

„Du, das ist ein Mensch“, sagte er mit Nachdruck. „Dumm wie ein Schwein ist er von den Russen weggelaufen. Keine Schule, keine Kirche hat er besucht. Er wußte kaum, daß es einen Gott gibt. Durch einen Zufall geriet er in meine Hände und gefiel mir vom ersten Augenblick an. Ich sah eine Seele, die mit leichter Mühe zu gewinnen war, und ich habe sie gewonnen. Er ist von Natur anständig, das muß doch so im Menschen drinliegen, denn er hat doch nicht einmal die zehn Gebote gekannt...“

Während er mit leichtem Ruderschlag den Kahn weitertrieb, fuhr er fort. „Unsere Masuren sind auf die Polacken nicht gut zu sprechen. Aber den Fedor mag jeder leiden. Er ist gefällig und freundlich und höflich. Gleich am zweiten Tag — wir hatten in der ersten Nacht in unseren Mänteln und Decken gefroren, nimmt er einen scharfen Spaten, sticht Rasen aus und baut für sich und mich eine feste Hütte, die er fein mit Rohr abdeckte. Da haben wir weich und warm gelegen. Und ich mußte erzählen. Was der Junge auch alles wissen wollte! Meistens sind mir im Sprechen die Augen zugefallen... Er hat förmlich einen Hunger nach Wissen. Wir sprachen alle mit ihm nur deutsch, damit er's lernt, und jetzt, nach acht Wochen, spricht er ziemlich ebensogut wie ich und liest auch. Ja, er liest auch“, wiederholte er, als der Doktor erstaunt aufsah. „Er hat sich eine Fibel und eine Tafel gekauft, und ich habe ihm die Buchstaben beigebracht. Da hat er jede freie Stunde gelernt und geschrieben. In dem Jungen steckt ein Trieb, das ist eine reine Freude. Mußt ihn mal nachher ein bißchen ausfragen. Heute nacht hat er nicht weit von uns gelegen und zugehorcht. Nicht ein Auge hat er zugetan.“

Als Grosek schwieg, fragte sein Gast ihn nach seiner Frau und Anka. Er lächelte. „Meine Alte wird immer dicker und schwerfälliger. Na, sie hat ja jetzt Hilfe und kann sich schonen. Die Anka? Mit der bin ich nicht zufrieden. Die brautet sich mit einem Filipponen.“

„Ach red' doch nicht, das ist doch ausgeschlossen“, fuhr der Fischdoktor auf. In demselben Augenblick schon las er auf Groseks Gesicht, wie seine hastigen Worte ihn getroffen hatten und versuchte, sie abzuschwächen. „Es gibt ja auch Ausnahmen. Besinnst dich auf den Ulas, der im Moor ertrank? Das war doch ein prächtiger Kerl... und die Anka wird sich doch nicht an einen schlechten Menschen hängen.“

„Gott geb's, daß du recht hast. Er scheint ja wirklich etwas anders zu sein als die ganze andere Bande. Wenn du nichts anderes vorhast, kannst heute mit mir nach Weissuhnen mitkommen, ich fahre gleich, wenn ich fertig bin, nach Hause.“

„Aber gern... gegen Abend will ich nach Glodowen fahren.“

Nach einer Stunde hatte Grosek seine Fische abgeliefert. Sie nahmen den Segelkahn des Doktors, weil sie guten Segelwind hatten. In einer halben Stunde hatten sie den Warnoldsee überflogen. Es war noch nicht sechs Uhr, als sie auf den Hof traten. Frau Wnuk kam gerade mit dem vollen Eimer aus dem Stall. „Na, Vater, heute so früh?“

„Ja, Mutter, ich habe heute gar keine Ruhe. Wo ist Anka?“

„Die wird wohl noch beim Anziehen sein. Heute am Sonntag will jeder Mensch ein bißchen länger schlafen.“

Sie gingen in die Stube. Frau Wnuk machte sich am Herd zu schaffen, um einen Kaffee zu bereiten. Grosek ging ungeduldig in der Stube auf und ab. Nach einer Weile öffnete er die Tür zum Flur und rief: „Anka!“ und noch einmal... Er mußte wohl keine Antwort erhalten haben, denn er ging hinaus und stieg hastig die steile Treppe zum Boden hinauf.

„Was der Alte bloß heute hat. Als wenn ihm die Margell fortlaufen wird“, meinte Frau Wnuk.

Auch der Doktor war unruhig geworden. Er stand auf und trat in den Flur hinaus. Da saß Grosek auf der obersten Treppenstufe, das Gesicht mit den Händen bedeckt. „Grosek!“ Er richtete sich stöhnend auf, sah seinen Freund verzweifelt an und stöhnte: „Weg...“

„Ist die Margell nicht oben?“ rief Frau Wnuk vom Herde her. Schwerfällig stieg der Alte die Treppe hinunter und kam über den Flur. „Mutter, Male, wo ist unser Kind?“

„Mein Gott, Mann, was hast du dich so?“

„Frau“, schrie Grosek auf, „begreifst du denn nicht, was geschehen ist? Unser Kind ist mit dem Filipponen weggelaufen.“ Er ließ sich auf die Bank fallen, stützte den Kopf in die Hand und stöhnte. Die Frau sah ratlos von dem Gast zu ihrem Mann. Dann lief sie flink die Treppe empor. Der Doktor folgte ihr... Was er in dem Stübchen sah, ließ auch ihm keinen Zweifel, daß Anka sich heimlich aus ihrem Elternhause entfernt hatte. Der Kleiderschrank, dessen Tür offenstand, war leer, auch der Kasten, in dem ihre Wäsche gelegen hatte, war ausgeräumt.

Die Mutter hatte sich fassungslos auf einen Stuhl gesetzt und weinte still vor sich hin. „Mit einem fremden Kerl weggelaufen... unser Kind... unser liebes, gutes Kind... Nein, das ist doch nicht möglich.“

Der Doktor hatte sich in dem Stübchen umgesehen, ob das Mädel nicht ein Wort, eine Nachricht für die Eltern hinterlassen hätte. Schließlich fiel sein Blick auf den kleinen Wandspiegel. Da steckte eine beschriebene Karte. Er las: „Liebe Eltern, verzeiht mir, ich kann nicht anders, ich gehe mit Saschul nach Rußland. Grämt euch nicht um mich. Ich gebe bald Nachricht.“ Darunter in kleinerer Schrift: „Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Mann anhängen, der Gewalt über sie hat.“

Der Doktor nahm die Karte und brachte sie Grosek. Er überflog sie und lachte grell auf. „Mit einem Wort aus der Bibel will sie ihre Tat beschönigen. Ich habe es ihr ja selbst beigebracht, daß alles wahr und heilig ist, was in der Bibel geschrieben steht. Heute abend werden wieder die Frommen zu mir kommen. Da kann ich ihnen ja von der Gottesfurcht predigen, daß ein Kind seine Eltern verlassen muß, um einem fremden Kerl in die Welt nachzulaufen, bloß weil so `n Spruch in der Bibel steht. Es gibt ja auch noch andere schöne Sprüche darin, die kann ich ihnen auch so schön auslegen.“

Sein Freund unterbrach ihn. „Grosek, aus dir spricht jetzt nur die Aufregung... Wir wollen lieber handeln. Vielleicht ist es noch möglich, das Mädel anhalten und zurückbringen zu lassen.“

„Anhalten? Zurückbringen? Nein, die gehört nicht mehr in mein Haus... die darf mir nicht mehr unter die Augen kommen... und anhalten, wenn sie in Rußland ist... Das weißt du doch selbst, daß man von dort nichts mehr wiederkriegt. Hast du schon mal gehört, daß einer sein Pferd wiedergekriegt hat, das ihm gestohlen und nach Rußland gebracht wurde?... Ich nicht.“

„Grosek, hier handelt es sich um die Entführung eines minderjährigen Mädchens... Wenn sich da unsere Behörden dahintersetzen...“

Er schien seinen Gast gar nicht zu hören. Ein anderer Gedanke war in ihm aufgestiegen. Er trat in den Flur und rief seiner Frau zu, sie möchte doch endlich `runterkommen. „Hast du denn gar nichts bemerkt?“ fuhr er sie an. „Die beiden müssen sich doch getroffen und alles besprochen haben.“

Weinerlich erwiderte die Frau: „Was sollt' ich denn bemerken, Vater? Der Anka war nichts anzumerken, sie tat ihre Arbeit, wie immer, sie ging auch mal auf ein Stündchen ins Dorf...“

„Hast du denn nichts davon gehört, daß Saschul verkauft hat?“

„Die Leute erzählten ja davon, aber Anka sagte, das wäre nicht wahr.“

„Da hat sie dich also angelogen. Sie hat das wissen müssen. Na, das geht eben in einem hin. Willst du mitkommen?“ wandte er sich an den Doktor. „Ich will doch mal nachfragen, wann das Pärchen sich auf die Reise gemacht hat...“

Sie gingen durchs Dorf und weiter den Weg nach Onufrigowen. Auf Saschuls Hof stand ein Knecht. „Wo ist dein Herr?“

„Wen meinst, den alten oder den neuen? Der alte ist gestern abgefahren. Ein Wagen mit Sachen ist schon mittags weggefahren. Er ist erst des Abends gefahren mit den beiden Braunen, die er sich vorbehalten hat.“

Mit einem Kopfnicken wandte Grosek sich ab. „Ein Paar, das im Wagen fährt, wird doch auch in Rußland zu greifen sein“, flüsterte der Doktor ihm zu.

„Wollen mal sehen“, erwiderte er kurz und schritt weiter, einen Feldweg entlang zum „Kloster“.

Das Kloster war eine alte, elende Holzbaracke, das Urbild eines verwahrlosten russischen Hauses... die Fenster blind oder zerschlagen. Die Löcher mit Lumpen verstopft. Da hauste ein Pope darin mit zwei Mönchen. Drei alte Kerle, die sich täglich betranken, wenn sie soviel Geld zusammengebettelt hatten, daß es dazu langte. Der Doktor wußte noch nicht, was Grosek dort erfahren wollte. Mit harter Stimme rüttelte er an der Tür, die verschlossen war...

„Die Hunde schlafen noch, die sind noch von gestern nicht nüchtern.“ Er schlug mit der Faust gegen die morsche Tür, daß sie zu zerspringen drohte. Endlich kam ein schlürfender Schritt heran... der Riegel wurde zurückgeschoben, die Tür tat sich auf... Ein alter Kerl in dunkler, von Schmutz starrender Kutte musterte sie argwöhnisch. „Was macht ihr für einen Lärm? Was wollt ihr?“

„Ist mein Kind bei Euch gewesen?“

„Wer ist dein Kind? Wer bist du?“

„Stell' dich nicht dumm, du alter Saufsack“, schrie Grosek ihn an. „Du weißt sehr gut, wer ich bin.“

Der Alte zuckte die Achseln. Er schien keine Lust zu haben, den Männern Rede und Antwort zu stehen. Da mußte ein anderer Weg eingeschlagen werden. Der Doktor schob Grosek zur Seite und nahm eine Mark aus der Tasche. „Nun sag' mal, Alterchen, ist die Anka Wnuk zu Euch ins Kloster gekommen? Sag' die Wahrheit, dann bekommst du die Mark.“

Jetzt grinste der Alte. „Na, gewiß ist sie gekommen. Sie hat ja beim Popen unseren Glauben gelernt. Gestern nachmittag ist sie getauft worden und gleich nachher mit dem Saschul getraut. Ist schon alles in Richtigkeit.“ Grosek stöhnte. Aber als der Doktor dem Alten das Geldstück hinreichen wollte, griff er schnell zu und befaßte seine Hand. „Steck' das Geld ein, das wäre Sünde, es dem alten Kerl zu geben.“

Er zog seinen Freund an der Hand mit sich fort. Eine harte Entschlossenheit lag auf seinem Gesicht. „Jetzt muß ich sie wiederhaben. Wo kein Schwein sich wohlfühlen würde, da geht mein Kind hin, läßt sich von einem Kerl, der Tag und Nacht nach Schnaps stinkt, im Glauben unterweisen, läßt sich taufen und trauen...“

„Grosek, das muß dir doch ein Trost sein, daß Anka mit Saschul getraut ist... sie ist doch nun seine rechtmäßige Frau... das gilt doch in ganz Rußland... Und wenn der Saschul ein anständiger Mensch ist...“

„Ist das anständig, das Mädel wegzulocken und mit sich zu schleppen?“ erwiderte der Alte rauh.

„Du siehst die Sache bloß von deiner Seite an. Sie liegt doch so: die beiden jungen Menschen haben sich sehr lieb. Sie zweifeln an deiner Einwilligung. Da entschließt sich das Mädchen, was schon Hunderttausende vor ihr getan haben und nach ihr tun werden, dem Mann zu folgen und seinen Glauben anzunehmen. Wenn er mit ihr Böses im Sinne hatte, brauchte er sich doch nicht mit ihr trauen zu lassen.“

„Das war nur der Vorwand, um sie in die Hand zu bekommen.“

„Du scheinst ihm alles Böse zuzutrauen. Ich denke so: die Anka kennt ihn besser als du. Sie hält ihn für einen guten, anständigen Menschen und, wie ich deine Tochter kenne, ist sie klug und verständig.“

„Nein, sie ist blind und toll... hinter dem Kerl verrückt, der mich betrogen hat. Er sollte nicht verkaufen, sondern hierbleiben. Dann sollte er zum Herbst zu uns ins Haus kommen. Dann wollte ich ihn taufen und ihm mein Kind geben. Aber das Mädel konnte ja nicht warten. Die mußte ja in ihr Unglück rennen. Aber nun will ich wirklich versuchen, sie zurückzuholen. Ich muß gleich nach Johannisburg. Der Weg zu Wasser ist der schnellste. Kannst du mir für heute dein Boot borgen?“

„Ich komme mit.“

Eine halbe Stunde später saßen sie im Boot. Der stramme Westwind war ihnen so günstig, daß sie den Warnold nach Glodowen herauf- und dann den Spirding hinunterfahren konnten. Der Doktor saß am Steuer, Grosek gegenüber, der den Kopf vornübergebeugt hatte. Er begann zu erzählen, nach diesem und jenem zu fragen, um ihn von seinen Gedanken abzulenken, aber er hatte damit kein Glück. Gegen Mittag waren sie in Johannisburg. Grosek begab sich sofort zum Landrat in dessen Privatwohnung.

Als er nach einer halben Stunde wiederkam, sah er zehn Jahre älter, müde und gebrochen aus. Hastig trank er das Glas Rotwein, das sein Freund ihm eingoß. Dann sagte er ruhig: „Es wird wohl nicht viel Zweck haben. Heute am Sonntag kann der Herr Landrat nichts machen. Morgen wird er telegraphieren und schreiben. Mir soll's recht sein! Wie man sich bettet, so schläft man. Ich würde mich innerlich auffressen, wenn ich die Margell täglich vor Augen haben sollte. Man muß einfach denken: sie ist tot...“

„Das wirst du nie denken. Du wirst immer denken und grübeln, wie es ihr gehen mag. Sie wird vielleicht auch bald an dich schreiben, wenn sie mit ihrem Mann glücklich lebt... Aus meiner Familie hat auch ein Mädel nach Rußland geheiratet... und ich glaube, auch einen Filipponen, eine Schwester meines Großvaters. Zehn Jahre war er ohne Nachricht von ihr, dann brachte ein Zigeuner einen Brief von ihr. Sie lebte glücklich, hatte sieben stramme Jungens... Das war überhaupt ein merkwürdiges Frauenzimmer. Sie konnte den Weichselzopf kurieren und verdiente damit viel Geld. Ich habe sie als Junge mal kennengelernt, als sie zu Besuch kam. Wie eine Gräfin angezogen, mit blitzenden Ringen an den Fingern...“

Grosek erwiderte nichts, er hatte kaum zugehört. Sie fuhren ab. Der Wind war etwas nach Norden `rumgegangen, sie mußten zu den Rudern greifen. Nach einer Weile, als sie in den Jeglinner Kanal einbogen, brummte der Alte: „Leg' die Ruder weg. Ich schaff' es allein. Erzähl' lieber was.“

Das war leichter gesagt als getan. Aber der Doktor sprach von allem möglichen, was ihm einfiel. Als sie um die Insel aus dem Sextersee in den Spirding einbogen, fiel ihm etwas ein. „Weißt, was ich jetzt denke? Die Juden haben doch sehr gute Verbindungen in Rußland, und der Zocher die allerbesten. Wir sprechen in Glodowen an und bitten ihn, daß er ausforschen läßt, wo sich die beiden aufhalten. Soviel ich weiß, stellt die russische Regierung den Filipponen, die nach Rußland zurückkehren, Ländereien zu billigem Preis zur Verfügung. Ich glaube, sie teilt ein paar Domänen für sie auf. Das wird doch nicht schwer sein, zu erfahren, wo das ist.“

„Na, und wenn ich das weiß?“

„Dann fährst du hin. Lebt Anka glücklich mit ihrem Mann, dann freust du dich und kommst zurück. Vertragen sie sich nicht, dann nimmst sie mit dir nach Hause.“

„Das werde ich nie tun...“

„Du bist ein alter, bockbeiniger Kerl“, erwiderte der Doktor energisch. „Die Anka bleibt deine Tochter, solange sie lebt. Dein Recht, über ihr Schicksal zu bestimmen, hört doch auch hier in Preußen mit dem Tage auf, wo sie einundzwanzig Jahre alt wird. Jetzt hat es durch ihre Verheiratung auch aufgehört. Du hast bloß noch die Pflicht, ihr beizustehen, wenn sie deiner Hilfe bedarf. Und dieser Pflicht darfst du dich nicht entziehen. Du vergißt immer, daß sie als erwachsener Mensch das Recht hat, sich ihr Schicksal selbst zu wählen.“

7. Kapitel

In Glodowen herrschte trotz des Sonntags starker Betrieb. Auf der Bootswerft, wo immer einige Kähne ausgebessert und zwei, drei neu gebaut wurden, war es still. Um so lebhafter ging es bei den Fischhaltern zu. Ein großer Zug wurde zusammengestellt und befällt, der auf dem Wasserwege nach Warschau gehen sollte. Die Drebel waren für den Zweck grob, aber fest aus starken Brettern zusammengeschlagen, die an Ort und Stelle, nachdem sie ihren Zweck erfüllt hatten, als Brennholz verkauft wurden, weil die Rücksendung teuerer war als die Anschaffung.

In jeden Drebel kam eine andere Fischsorte. In einen Hechte, in den anderen Schleie oder Karauschen oder Barsche oder Brassen. Aber den Spirding wurde der Zug durch einen kleinen Schleppdampfer gebracht, dann ging es stromab durch den Pissek, Poprat, Narew und Bug bis zur Weichsel, wo die Drebel an einen der zwischen Thorn und Warschau verkehrenden Dampfer angehängt wurden. Die Verzollung der Fische beim Überschreiten der russischen Grenze machte keine Schwierigkeiten, weil die Hauptsache, die Befriedigung der russischen Beamten, von dem Pächter Zocher schon vorher erledigt war.

Mit Vergnügen sah der Doktor, daß Fedor Poranski sich bei der Verteilung der Fische nützlich machte. Es war nicht viel, was er sich mit der Arbeit verdiente, aber es war doch besser, als wenn er sein Geld wie die anderen jungen Leute in den nächsten Dorfkrug trug. Er paßte eine Gelegenheit ab, ihm zu sagen: „Fedor, die Anka ist fort, sie hat sich gestern mit dem Saschul trauen lassen und ist heute nacht mit ihm nach Rußland ausgerückt.“

Im ersten Schreck hatte er den Doktor am Arm gepackt. „Was sagen Sie, Herr? Die Anka fort?“

Als der Doktor bejahte, stöhnte er tief auf. Nach einer Weile sagte er leise: „Ach, tut mir der Grosek leid... ach Gott . . . guter Gott, wie ist das möglich. So ein schönes und kluges Mädchen läuft einem Hund von Filipponen nach.“

Man sah es ihm an, daß die Nachricht ihn persönlich anging. Das Mädel mußte ihm wohl nicht ganz gleichgültig sein. Nach einer Weile sah der Doktor, wie er zu Grosek ging, auf ihn einsprach und ihm dabei den Arm streichelte. Er hatte auch schon Boruch die Tatsache mitgeteilt und ihn gebeten, seinen Kollegen zu sagen, daß sie in Groseks Gegenwart nicht darüber sprechen möchten.

Als es zu dunkeln anfing, waren die Drebel voll beladen, fest verschlossen und mit einer starken Kette, die vom ersten zum letzten lief, verbunden. Um Mitternacht sollte die Fahrt beginnen, damit man zeitig am anderen Morgen an der russischen Grenze war, wo es ein paar Stunden Aufenthalt gab.

Sie waren ins Haus gegangen, wo Zocher sich schon von seinem Schreiber über den Inhalt des Drebelzuges Bericht erstatten ließ. Eine Patriarchengestalt aus dem Alten Testament... Ein großer, vierschrötiger Mann mit langem grauen Bart und buschigen Augenbrauen. Er begrüßte die Besucher würdevoll und ließ ihnen zu dem Tee, der aus dem auf dem Tische stehenden Samowar eingeschenkt wurde, Rum bringen. Dann wandte er sich an Grosek: „Was bringt dich mal her? Du bist ein seltener Gast.“

Grosek nickte. „Ich wollte mich erkundigen, ob Ihr vielleicht auskundschaften könnt, wo die Filipponen, die von uns nach Rußland zurückgehen, angesiedelt werden?“

„Was ist da auszukundschaften?“ fiel der Schreiber ein, „das weiß ich ganz genau. Vielleicht dreißig Werst von Warschau. Da hat der russische Staat ein großes Gut eingezogen von einem Polen, es ist nichts wert, der reine Sand, aber für die Filipponen ist es gut genug. Es heißt Balaschki.“

„Wozu willst du das wissen?“

„Mein Schwiegersohn, der Saschul, ist auch dahin gezogen“, erwiderte Grosek ruhig.

„Schwiegersohn? Seit wann machst du schlechte Witze, Wnuk?“

„Das ist kein Witz, das ist die reine Wahrheit. Meine Tochter hat sich umtaufen und mit Saschul trauen lassen und ist mit ihm nach Rußland gezogen. Wann geht der nächste Zug mit Fischen nach Warschau?“

„In vierzehn Tagen“, erwiderte der Schreiber.

„Dann möchte ich den Zug führen. Besorg' mir inzwischen einen Paß. Den Weg kenne ich ja, ich bin oft genug früher mit den Fischen gefahren.“

Bald darauf verabschiedete sich Grosek, um mit Fedor auf seinem Kahn nach Hause zu fahren. Der Fischdoktor blieb für den Abend in Glodowen. Die Spektors setzten sich mit dem Schreiber zusammen, um Oko, das dem Poker sehr ähnlich ist, zu spielen. Der Gast blieb bei Zocher sitzen, der ihn erst über Ankas Flucht und dann über die Ergebnisse der Seenforschung ausfragte. Er konnte sich nicht recht vorstellen, was die Regierung für ein Interesse daran haben könnte, zu erfahren, wie tief die Seen seien und welche Pflanzen und Tiere darin vorkämen. Er argwöhnte, daß die Berichte zu einer Steigerung der Pacht Anlaß geben könnten.

Etwa drei Wochen später führte den Doktor sein Weg wieder an dem Lager der Sacksteller vorbei. Er sprach an, um mit Boruch ein Stündchen zu plaudern. Grosek war wirklich mit dem nächsten Drebelzug nach Warschau gefahren. Dann fragte der Doktor nach Fedor.

„Das ist ein Prachtkerl“, erwiderte Boruch. „Er ist wie ein Sohn zu dem alten Mann. Und seit Grosek weg ist, hat er noch seine Säcke übernommen und fischt für ihn. Nicht eine Minute Ruhe gönnt er sich. Ich fürchte nur, wir werden ihn bei der Fischerei nicht lange mehr behalten. Gestern ist angefragt in Glodowen vom Landratsamt — das muß doch ein infamer Schweinehund angezeigt haben — ob sich nicht hier ein russischer Überläufer aufhält.“

„Das ist doch ein Jammer, daß es solche schlechten Menschen gibt. Na, da muß der Zocher eingreifen und dafür sorgen, daß der Fedor wenigstens die Aufenthaltserlaubnis bekommt.“

Boruch zuckte die Achseln. „Es weht kein guter Wind für uns bei der Regierung. Der Zocher hat werden wollen preußischer Untertan. Ein Mann, der viel mehr hat als eine Million Taler. Was möchte der für Steuern zahlen hier in Preußen, das hat er auch den Herren gesagt. Auch ich habe mich darum beworben, preußischer Untertan zu werden. Nun, wenn man das einem armen Juden abschlägt, der nichts hat und nichts ins Land bringt, dann kann ich das verstehen. Aber solch einen reichen Mann abzuweisen...“

„Was wird nun mit dem Fedor?“

„Was soll werden? Der Gendarm wird kommen, wird ihn an die Grenze bringen und den Russen übergeben.“

„Das darf nicht geschehen, das wäre doch eine furchtbare Grausamkeit.“

„Es geschieht so viel Schlechtes in der Welt, da wird auch dieses geschehen. Vielleicht, wenn Grosek hier wär', der ist gut Freund mit dem Herrn Landrat. Er hilft ihm bei den Wahlen. Hier in dem ganzen Winkel wählt kein Mensch anders als wie Grosek will. Auch mit dem Grafen Mirbach ist er gut Freund, der könnt' schon was machen.“

„Weiß es der Fedor schon?“

„Wozu? Ein Unglück erfährt der Mensch früh genug.“

„In diesem Falle ist es nicht richtig. Ich halte es für besser, es ihm zu sagen.“

„Nu, dann sagen Sie es ihm.“ Der Doktor ging zu Fedor, der nicht weit davon einen Sack ausbesserte. Als er ihn kommen sah, sprang er auf, zog seine Mütze und verbeugte sich.

„Fedor, ich muß dir etwas sagen, was dich nicht freuen wird. Es ist Anzeige gegen dich eingelaufen. Der Landrat hat bei Zocher angefragt, ob er einen russischen Überläufer unter seinen Fischern beschäftigt.“

Der junge Mann wurde kreidebleich, „Herr, wer hat Ihnen das gesagt?“

„Der Boruch hat es mir eben erzählt. Du mußt dich also vorsehen. Einige Tage bist du noch hier sicher. So schnell schießen die Preußen auch nicht. Erst wird der Zocher antworten.“

„Was wird er antworten?“

„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich wird er schreiben, daß er bei den einzelnen Maschkopien nachfragen wird, ob da ein Überläufer unter den Sackstellern ist. Dann wird der Landrat nach einiger Zeit an sein erstes Schreiben erinnern.“

„Und wenn Zocher schreiben läßt: ja, hier ist der Überläufer Fedor Poranski?“

Der Doktor konnte die Möglichkeit nicht von der Hand weisen.

„Fangen lasse ich mich nicht“, rief Fedor mit blitzenden Augen. „Ich geh' weg nach Amerika. Geld habe ich genug verdient. Noch heute abend fahr' ich nach Glodowen und laß mir auszahlen, was ich noch zu bekommen habe und dann rücke ich aus. Ich spreche schon soviel Deutsch, wie ich brauche, um durchzukommen. Ich weiß auch schon, wie es in der Welt aussieht. Sie ist doch größer als Preußen. Ich danke Ihnen auch viele Male, Herr Doktor, wenn die Nachricht auch nicht gut war. Aber besser so, als wenn der Gendarm gekommen wäre und hätte mich mitgenommen.“

Gegen Abend fuhr der Fischdoktor weg. Sein Amt führte ihn schon in der allernächsten Zeit vom Spirding weit weg. — Erst im Spätsommer kam er wieder in die Gegend. Er kam mit dem Dampfer von Lötzen und machte an der Fähre in Wiersba, die über den Beldahn-See führt, halt. Zu seiner Freude fand er dort Grosek und Fedor, die mit einem Garn Maränen singen. Sie hatten eben ihr Netz zum Trocknen aufgehängt und lagen am Ufer, wo sie sich ihre Hauptmahlzeit kochten.

Der Doktor warf sich nach der Begrüßung zu ihnen ins Gras und sprach Fedor an: „Na, Herr Starost, noch immer in Preußen?“

Er lachte über das ganze Gesicht. „Ich bin kein Starost mehr, ich bin preußischer Untertan.“

„Wer hat das fertig gekriegt?“

Er winkte mit den Augen auf Grosek. „Der Vater.“ Auch Grosek lächelte. „Ich konnte mir doch meinen lieben Sohn nicht wegnehmen lassen. Ja, lieber Freund, Fedor ist mein Sohn geworden. Nun werde ich kein einsames Alter haben.“

Dem Doktor schoß ein Gedanke durch den Kopf. „Ist Anka etwa zurückgekommen?“

„Nein, nein“, erwiderte Grosek schnell, „von der erzähl' ich dir später. Nein, Fedor hat sich zu mir wie ein Sohn benommen, und da habe ich gesagt, wenn du so handelst wie ein Sohn, dann will ich für dich handeln, wie ein Vater. Zuerst bin ich zum Landrat gegangen. Das ist immer so mit den hohen Herren. Wenn sie einen brauchen, dann ist man gut Freund, wenn man aber mal was haben will, dann bleibt von dem guten Freund nichts übrig. Na, ich habe schon gewußt, wie ich mit ihm zu reden habe. Herr Landrat, im nächsten Jahr ist wieder Wahl. Da wird der alte Wnuk auch nicht zu finden sein, wenn Sie ihn brauchen werden.' Das half. Er war mit einem Schlage wie umgewandelt. Ich will Ihnen ja gern helfen, Herr Wnuk, aber das wird sehr schwer halten. Rußland hat die Auslieferung beantragt, und wir sind doch gut Freund mit Rußland, wir müssen ihnen den Kerl ausliefern.`

Das ist kein Kerl, sage ich zu ihm, sondern ein sehr tüchtiger, fleißiger, junger Mann, der in der Fischerei sehr gut zu brauchen ist. Und mir ist er lieb geworden wie ein Sohn. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann müssen Sie an die Regierung schreiben, daß Sie ihn zum preußischen Untertan machen wollen.

Wie ich nach Hause komme, denke ich: doppelt hält besser als einfach, setze mich am nächsten Tage in Rudzanny in die Bahn und fahr' zum Grafen Mirbach. Das ist wirklich ein großer Herr. Der sagt gleich: Selbstverständlich, lieber Wnuk, das muß gemacht werden, wenn Sie es wünschen.` In vierzehn Tagen war die Sache gemacht.“

„Ja, aber acht Tage habe ich doch ausrücken müssen. Ich war in Lyck, bei Vaters Bruder. Ach, ist das eine schöne, große Stadt.“

„Na, so groß ist Lyck nicht“, erwiderte der Doktor lachend.

„Für mich die größte Stadt, die ich gesehen habe. Auch Ihr Militär.“

„Unser Militär“, verbesserte ihn der Doktor.

„Ja, unser Militär. Ich vergeß' noch immer, daß ich Preuße bin.“

„Na, hat es dir gefallen?“

Er wiegte den Kopf, um seine Bewunderung auszudrücken. „Ach, Herr Doktor, das sind doch Soldaten. Ich habe am Kasernentor gestanden uno zugesehen. Das ist doch eine Pracht, wie die exerzieren. Ich habe sie auch durch die Stadt marschieren sehen.“

Als es dämmerte, führte Grosek seinen Freund ein Stück am Ufer entlang. Auf der ansehnlichen Bergeshöhe lagerten sie sich. Aus der anderen Seite des Beldahn war die Sonne hinter dem dunklen Kiefernwald versunken. Aber ihre Strahlen vergoldeten noch die Wolken, die langsam nach Westen zogen. In der Natur war es schon still geworden. Nur ein Specht hämmerte unweit von ihnen an einer trocknen Fichte. Aus der Ferne kam das dumpfe, taktmäßige Poltern eines Dampfers. Langsam keuchte er heran, ein unendlich langes Floß hinter sich schleppend.

„Ich wollte dir noch von Anka erzählen. Also ich hatte in Warschau schon am ersten Tage meine Fische abgeliefert. Am nächsten Morgen ging ich zu Fuß nach Balaschki. Was soll ich dir anders sagen als: ein russisches Dorf. Die Zäune verfallen, auf den Feldern liegen die Ackergeräte, wie man sie gebraucht hat. Ich frage einen Jungen, wo der Saschul wohnt. Er führt mich zu einer kleinen Kabach. Ich sage dir, die schlechtesten Insthäuser bei uns sind wahre Paläste dagegen.“

„Ich denke, der Saschul hat Geld und wollte sich ankaufen?“

„Geld scheint er ja zu haben, aber keine Lust zum Wirtschaften. Er handelt lieber mit Pferden. Ich kriege einen Schreck, so daß ich mich erholen mußte, ehe ich eintrat. Eine kleine, niedrige Stube, so daß ich mich beinahe bücken mußte, wenn ich geradestehen wollte. Ein Bett, ein Tisch, ein paar Stühle, aber wenigstens sauber. Mit einemmal kommt Anka aus der Kammer. Wie sie mich sieht, fällt ihr der Löffel aus der Hand. Sie wird blaß wie der Kalk an der Wand und sagt bloß: Vater, du?`

Ist das deine ganze Begrüßung?' sage ich. Da kommt sie zu mir `ran und küßt mir die Hand.

Wie hast du hergefunden?' fragte sie. ,Das ist doch egal. Ich will bloß wissen, wie du mit deinem Mann lebst, dann gehe ich wieder.`

Läßt die Mutter nicht grüßen?` fragte sie. Nein, sage ich, die weiß gar nicht, daß ich nur deinetwegen nach Warschau gefahren bin. Aber nun möchte ich Antwort haben auf meine Frage. Wie behandelt dich dein Mann?'

Mein Mann? Wie er mich behandelt, so muß es gut sein, ich habe es ja nicht anders gewollt. Wenn er guter Laune und nüchtern ist, dann ist er ganz freundlich zu mir.`

Und wenn er nicht nüchtern ist?` frag' ich...

Frag' nicht, Vater, das hat doch keinen Zweck.`

Lieber Freund, das Herz hat sich mir im Leibe umgedreht. ,Du packst sofort die Kleider zusammen und kommst mit mir`, sage ich zu ihr. Da fällt sie bei mir auf die Knie, legt ihr Gesicht auf meinen Schoß und weint und sagt: Ich kann nicht mehr, ich gehe nicht mehr allein.` Da sind mir auch die Tränen gekommen. Also, deshalb bist du mit ihm gegangen?`

„Ja, Vater`, schreit sie auf, ,ich habe mich versündigt an dir und der Mutter. Nun muß ich froh sein, daß ich seine Frau bin.`

Seid ihr denn auch richtig getraut?` frage ich nach einer Weile.

Für Rußland gilt das ja`, sagt sie, aber ein Papier haben wir darüber nicht bekommen.`

So liegt also die Sache. Dann kann Saschul eines Tages zu dir sagen: mach', daß du fortkommst, ich will dich nicht mehr haben. So geht das nicht, Kind, ich muß mit deinem Mann reden.` Zwei Tage bin ich bei ihr geblieben. Aber der Kerl, der Saschul, hat wohl erfahren, daß ich da bin und hat ihr geschrieben, er müßte nach Galizien fahren, Pferde kaufen und würde nicht vor drei, vier Wochen nach Hause kommen. So lange konnte ich nicht warten. Sie hat ja inzwischen schon zweimal geschrieben. Es scheint ihr ja ganz gut zu gehen. Sie hat gedroht, daß ich sie nach Hause holen will, und wegen des Kindes behandelt er sie auch besser. Ich habe ihr etwas Geld dagelassen. Vielleicht kommt sie doch nach Hause. Das wäre das Beste. Sie hat doch nach menschlichem Ermessen noch ein langes Leben vor sich.“

8. Kapitel

Im Herbst wurde Fedor von Zocher, der auf den jungen Polen aufmerksam geworden war, als Hof- und Lagerverwalter in Glodowen angestellt. Der Generalpächter des größten einheitlichen Fischereibetriebes Deutschlands brauchte einen zuverlässigen Menschen, auf den er sich unbedingt verlassen konnte. Fedor hatte nicht rechte Lust gehabt, die Stelle anzunehmen. Er wollte lieber mit Vater Grosek an das große Wintergarn, den Niewod, gehen. Aber Wnuk hatte ihm gut zugeredet. Er wolle doch nicht Zeit seines Lebens Fischerknecht bleiben, er müsse doch höher hinausstreben.

Der Posten war wirklich nicht leicht. Fedor hatte alle Vorräte für Vieh und Menschen unter sich. Dazu noch die große Menge von alten und neuen Netzen, die im Winter für die Zeit der Fischerei im offenen Wasser ausgebessert oder neu hergerichtet werden mußten. Am meisten Zeit beanspruchte das Verpacken und Verladen der Fische, die in großen, wiegeförmigen Behältern an die Bahn gebracht und verschickt wurden. Und wenn die Arbeiter Feierabend machten, hatte Fedor noch die vielen Tonnen Fische abzunehmen und nachzuwiegen, die täglich nach Beendigung des Fanges nach Glodowen gebracht wurden.

Den ganzen Tag war Fedor mit seinem großen Schlüsselbund und seinem Notizbuch auf den Beinen. Während er den Knechten Hafer zumaß, kam schon ein Mann, der Garn zum Netznähen verlangte, und so fort.

In der ersten Zeit schwirrte Fedor manchmal der Kopf, aber er arbeitete sich ein, und wenn er abends seine tagsüber gesammelten Aufzeichnungen in die Bücher eingetragen und die von ihm angewiesenen Lohnzahlungen mit den von dem Schreiber ausgezahlten Beträgen verglichen hatte, fand er noch immer ein Stündchen Zeit zum Lesen. Er las alles, was er fand. Der Schreiber Grünberg, ein junger, strebsamer Mann, hatte auch den Drang nach Bildung. Er hatte sich wahllos eine Anzahl Bücher gekauft, bei denen er mehr auf die Billigkeit als auf den Inhalt gesehen hatte, unter anderem einen ganzen Arm alter Schulbücher, die ihm ein abgegangener Gymnasiast für ein paar Mark verkauft hatte.

Nach diesen griff Fedor zuerst. Er begann mit den Schullesebüchern, die kraus und wirr alles durcheinander bringen: Gedichte, Abschnitte aus alten Sagen, aus alter und neuer Geschichte, dazwischen Schilderungen und Beschreibungen fremder Länder.

Eine neue Welt tat sich vor ihm auf. Tausend Fragen stürmten auf ihn ein, so daß er ganz mutlos wurde, denn das Gebiet menschlichen Wissens schien ihm so groß, daß es sich gar nicht lohnte, anzufangen. Er tat damit unbewußt den ersten und größten Schritt zur Erkenntnis, als er merkte, daß er noch nichts wisse.

Ein paar Tage hatte er die Bücher liegen lassen. Dann reizte es ihn, eine kleine Erzählung, ein Märchen aus dem Gedächtnis aufzuschreiben. Dabei kam ihm das Bewußtsein, wie gering noch seine Kenntnis der deutschen Sprache war. Nicht nur, daß ihm Worte fehlten, vor allem für die abstrakten Begriffe, sondern auch die Rechtschreibung machte ihm die allergrößten Schwierigkeiten, so daß er völlig verzagte. Da fiel ihm eines Abends ein ganzer Stoß dünner Hefte in die Hand. Das Titelblatt mit einem grell-bunten, groben Holzschnitt geziert und darüber der Titel: „Polens Adler oder die Fürstenbraut“.

Es war ein Kolportageroman allerschlimmster Sorte, wie sie seinerzeit von den unteren Volksklassen reißend gekauft und verschlungen wurden.

Heft für Heft einen Silbergroschen. Beim zwanzigsten Heft wurden zwei prachtvolle Öldruckgemälde gegen Nachzahlung von fünf Mark geliefert. Beim fünfundzwanzigsten Heft eine große Stehlampe gegen Nachzahlung von zehn Mark. Das sollte gewissermaßen eine Prämie für die treuen Leser sein. Es wurde aber zum Mittel, ihnen wertlosen Schund allerschlimmster Sorte aufzudrängen, denn die herumziehenden Händler lieferten kein neues Heft, ehe nicht die Prämie bezahlt war.

Fedor begann zu lesen, nein, die Hefte zu verschlingen. Vieles verstand er nicht, aber er stürmte weiter bis tief in die Nacht hinein, bis ihm die Lampe erlosch.

Auf den Hintergrund der letzten polnischen Revolution hatte der Verfasser die abenteuerlichsten Schicksale zahlreicher Personen aufgebaut; er führte die Leser durch fast alle europäischen Hauptstädte, durch, die schlimmsten Spelunken und Lasterhöhlen ebenso sicher, wie durch fürstliche Paläste und kaiserliche Schlösser. Mit offener Verherrlichung der Polen hatte er ihren Befreiungsversuch geschildert.

Fedor konnte kaum den nächsten Abend erwarten, um weiterzulesen. In ihm wogte und stürmte es. Das angeborene Nationalgefühl, das in ihm schlummerte, erwachte. Er hatte als Junge die polnischen Bauern davon sprechen hören, daß ihre Väter als Sensenmänner die Revolution mitgemacht hatten. Aber von einer Wiederholung des Versuchs, das russische Joch abzuschütteln, wollte keiner etwas wissen. Das wäre Wahnsinn. Und schließlich wäre es doch gleichgültig, wem sie zu gehorchen hätten, ihren Edelleuten oder den russischen Beamten. Das eine wäre genau so schlimm wie das andere.

Jetzt sah er die Erhebung seines Volkes in ganz anderem Licht. Von keinem Schatten getrübt, lauter Edelmut und glühende Vaterlandsliebe und todesmutige Tapferkeit, die nur von der brutalen Übermacht der Russen niedergetrampelt wurde. Und nun wollte er mehr wissen von der Geschichte seines Volkes, zu dem er in Wirklichkeit nicht mehr gehörte. Er suchte unter den Büchern und fand einen Leitfaden der Geschichte für höhere Schulen, der die Geschichte des polnischen Volkes seit der ersten Teilung Polens in kaum dreißig Druckzeilen abtat.

Eines Abends wurde er durch einen Boten nach Wiersba am Beldahn-See bestellt. Dort hatte Boruch unter dem Eise einen großen Zug getan, mehrere hundert Tonnen Barsche, Hechte und Weißfische aller Art. Er brauchte leere Tonnen zum Bergen der Beute und Fuhrwerke. War das ein Treiben und Drängen auf dem Eise, das glücklicherweise schon dick genug war, um Hunderte von Menschen zu tragen. Und reichlich soviel Menschen waren aus den nächsten Dörfern und dem Städtchen Nikolaiken, das am anderen Ufer des Sees liegt, herbeigeströmt. Die einen wollten billig ein Gericht Fische erstehen, andere hofften Beschäftigung zu finden, um sich dadurch ein Gericht Fische zu verdienen oder auch in dem allgemeinen Wirrwarr zu ergattern.

Es war ein ziemlich heller Mondschein. Die Fischer hatten einen Kreis um die Auszugwuhne gebildet, Boruch und Wnuk standen am Sack, schöpften mit großen Keschern die wimmelnden Fische heraus und füllten sie in die Tonnen. Fedor zählte jede leere Tonne, die zum Garn gebracht wurde und jede volle, die unter seinen Augen mit dem Boden zugeschlagen wurde. Und jeder Fuhrmann, der seinen voll beladenen Schlitten fortfuhr nach Glodowen, wo er von dem Schreiber in Empfang genommen wurde, erhielt einen Zettel, auf dem die Zahl der Tonnen mit Buchstaben verzeichnet war. Denn es war schon manchmal vorgekommen, daß einige Fässer sich unterwegs verkrümelten, ja, daß eine ganze Schlittenladung ihr Ziel nicht erreicht hatte.

Gegen neun Uhr war der vorhandene Tonnenvorrat erschöpft und es mußte eine Pause in der Verladung eintreten. Einer der Spektors, der mittlerweile angekommen war, blieb mit mehreren Fischern am Garn zur Wache zurück, die anderen begaben sich in den Fährkrug, während Grosek die Zeit benutzte, um die den Garnleuten gehörenden Fische, die mit den Flügeln herausgezogen waren, zu verhökern. Es waren mehrere Zentner, denn gleich zu Anfang des Zuges war ein Schwarm Fische gegen den linken Flügel gestoßen, und soviel auch Boruch wetterte und das Garn auszuschütten befahl, so waren doch genug Fische im Flügel geblieben. Erst hatte sich jeder der Fischer seine Lischke, den großen Bastkorb, in dem der Mundvorrat aufbewahrt wurde, mit guten Fischen füllen lassen, dann wurde der Rest ohne langes Feilschen verkauft, und Grosek war nicht engherzig, er gab reichlich für weniges Geld.

Fedor war mit Boruch in das Herrenstübchen des Kruges getreten. Da saßen bereits der Fischmeister Jarotzki, der Förster Wenzel, der Lehrer Krüger und ein großer, hagerer Mann mit eisgrauem Knebelbart, der von Boruch mit besonderer Wärme begrüßt wurde. Eine Kanne mit heißem Wasser, Zucker und Rum standen auf dem Tisch. Ein blitzsauberes, bildhübsches Mädel mit lüchternen Augen brachte sofort ein paar reine Gläser.

„Wie geht's, Bogumil?“ fragte Boruch den alten Herrn. Fedor horchte auf. Das war doch kein masurischer Name?

„Es muß solange gut sein, bis es besser geht“, erwiderte der Alte. „Ich habe reichlich Arbeit im Walde, meine Pferdchen verdienen sich ihr Futter und ich die Gerichtskosten für den Hausleerer.“

„Können Sie denn nicht endlich von dem dummen Prozeß loskommen? Der frißt Sie ja doch bloß auf.“

„Er frißt mich auf, meine Frau, meine Kinder und meine Wirtschaft, lieber Boruch. Aber dann klage ich auf Armenrecht weiter. Ich will bloß feststellen, ob es noch Recht gibt in Preußen, oder ob ein offenbares Recht sich in Unrecht verkehren kann.“

„Die Erfahrung haben Sie doch schon mehr als einmal in Ihrem Leben gemacht. Ich habe immer an einer Erfahrung genug.“

„Herrschaften“, rief der Fischmeister dazwischen, „nun laßt den Bogumil mit seinem Prozeß in Ruhe, sonst kommen wir heute nicht mehr zu einer vernünftigen Unterhaltung. Boruch, ich möchte einen schönen Hecht haben.“

„Sollen Sie haben, Herr Fischmeister. Sie werden auch welche bekommen, meine Herren. Der Jud' ist nicht so, wenn er hat gut gefangen, dann gibt er gern.“

„Was ist denn das für ein Vogel?“ fragte der alte Herr und wies mit den Augen auf Fedor.

„Das ist unser neuer Hof- und Lagerverwalter, lieber Freund.“

Fedor war aufgestanden und hatte dem alten Herrn die Hand gereicht.

„Der ist aus Polen zu uns gekommen“, fuhr Boruch lachend fort. „Aber es ist ihm geglückt, er ist schon preußischer Untertan geworden.“

Während die anderen sich zum Kartenspiel an den Nebentisch setzten, widmete sich Bogumil dem jungen Polen. „Wie sieht's da jetzt bei euch aus? Ich bin schon lange nicht drüben gewesen. Habt ihr noch immer die Raupen im Kopf?“ Fedor sah ihn verständnislos an. „Na, ich meine: denkt ihr noch immer daran, euch mit Gewalt von den Russen zu befreien?“

„Ich weiß nicht, Herr Bogumil. Ich bin drei Jahre russischer Soldat gewesen und im Frühjahr ausgerückt.“

„Das freut mich, das ist recht von Ihnen. Aber ich heiße nicht Bogumil, das ist nur ein Name für meine Freunde. Ich bin der frühere Lehrer und jetzige Grundbesitzer Gottlieb Soyka. Ich unterschreibe mich nur in den Zeitungen, wenn ich etwas veröffentliche, mit Bogumil. Na, wie gefällt es Ihnen hier bei uns in Preußen?“

„Oh, sehr gut, Herr Soyka. Ich habe gleich den Grosek in Weissuhnen kennengelernt, und der hat mir in allem geholfen.“

„Hat er Ihnen auch was vorgepredigt?“

Der spöttische Ton der Frage reizte Fedor. „Ich habe ihn nur einmal sprechen gehört, aber...“

„Er hat mit dem Predigen und dem Frommsein aufgehört“, rief Boruch vom Nebentisch her, „seitdem die Tochter mit dem Filipponen durchgebrannt ist.“

Betroffen sah Fedor sich um. Bogumil lachte. „Ja, ja, die Art Frömmigkeit hält bloß so lange, wie sie dem Einzelnen kein Opfer auferlegt. Was sich in solcher Weise in der Öffentlichkeit breit macht, ist nicht für den Hausgebrauch. Nun lassen Sie man, junger Mann, wir haben alle den Grosek sehr gern und achten ihn hoch, der war zu schade, einem Schock verrückter Weiber zu predigen. Sie werden das auch verstehen, wenn Sie älter werden, daß die wahre Frömmigkeit sich nicht auf die Straße drängen darf, sondern im tiefsten Herzen sitzen muß. Sie sprechen schon etwas deutsch? Wie haben Sie das gelernt?“

In Fedors Augen blitzte es auf. „Ich habe mir eine Fibel gekauft und Lesen gelernt.“

Bei diesen Worten trat Grosek ins Zimmer. Er nahm ohne weiteres das Glas Grog, das Bogumil sich eben gemischt hatte und trank es auf einen Zug leer. Dann schüttelte er ihm die Hand und klopfte auf den Tisch, um die Tochter des Krugwirts herbeizurufen. „Koch' mir mal `ne Flasche Rotwein auf, Fritze; ich bin den ganzen Tag über durchgefroren, daß mir die Seele im Leibe zittert.“

„Es schmeckt dir also schon wieder?“ rief Bogumil lachend.

„Mir hat's nie aufgehört zu schmecken. Ich habe mich nie an Schnaps besaufen können, weil mir das Zeug nicht schmeckt. Aber eine gute Gottesgabe habe ich nie verachtet, selbst nicht, als ich Gromadki war. Hast schon mit meinem Sohn gesprochen?“

„Deinem Sohn?“

„Ja, er ist so gut wie mein Sohn, nicht wahr, Fedor? Du, alter Freund, kannst dich mal des Jungen etwas annehmen. Er will lernen, er will viel lernen, aber er weiß nicht wie und was. An dem wirst deine Freude haben.“

Der alte Herr wandte sich an Fedor. „Wenn Sie am Sonntag zu mir kommen wollen.“

„Oh, sehr gern, ich werde Ihnen sehr dankbar sein“, erwiderte Fedor schnell.

„Ach, mein Sohn, du kannst mir meine Lischke holen, sie liegt auf dem Netzschlitten, ich will noch was verbeißen, ich habe seit mittag nichts gegessen.“ Fedor sprang auf, nahm seine Mütze und trat hinaus. Vor der Tür auf dem schmalen Vorbau stand Fritze, das Wirtstöchterchen. „Na, Sie polnischer Starost“, sprach das Mädchen ihn lachend an. „Sie sind ja stolz wie ein polnischer Edelmann. Noch kein Wort haben Sie mit mir gesprochen.“

„Wenn so viel ältere Männer da sind, muß ein junger schweigen.“

„Sie sind ja sehr bescheiden, oder tun Sie bloß so? Seit wann sind Sie denn in Glodowen?“

„Seit dem Herbst, liebes Fräulein.“

„Und dann sind Sie noch nie nach Wiersba gekommen? Am Sonntag nachmittag zum Kaffee? Da kommen viele Herrschaften aus Nikolaiken `raus. Es wird gesungen, gespielt und getanzt. Sind Sie nicht auch musikalisch?“

„Ja, ich spiele etwas Geige.“

„Na, dann müssen Sie aber bestimmt kommen, mein Vater begleitet gut auf der Gitarre. Aber wollen lieber `rein gehen, es ist doch draußen zum Unterhalten zu kalt.“

Sie warf ihm einen koketten Blick zu und ging ins Haus. Als Fedor mit der Lischke zurückkam, saß das Mädel am Tisch bei Grosek und Bogumil. „Jetzt kenn' ich Ihren ganzen Steckbrief“, rief sie ihm entgegen. Die beiden haben sich die ganze Zeit bloß von Ihnen unterhalten. Also ein Überläufer sind Sie? Und ich dachte, Sie können nicht bis drei zählen. Und jetzt wollen Sie bei unserem Nachbar Soyka zu studieren anfangen. Nehmen Sie sich bloß dabei in acht. Herr Soyka hat eine bildschöne Tochter, daß Sie der nicht zu tief in die Augen sehen.“

„Du bist ein kleiner Deuwel, Fritze. Du weißt doch, daß meine Tochter verlobt ist und in den nächsten Wochen heiratet. Du bist bloß neidisch, daß der schöne Jüngling dir nicht den Hof macht. Schmeißen Sie sich man an die Fritze `ran, Fedor, die ist gar nicht spröde gegen hübsche Jünglinge.“

Das Mädel wurde rot und stand auf. „Ich habe mir noch nichts zuschulden kommen lassen, Herr Soyka, mir kann niemand etwas nachsagen.“

Bogumil sah sich lachend nach Wnuk um. „Habe ich was Schlechtes von der Fritze gesagt? Natürlich in allen Ehren, Fritze. Das wäre doch traurig um die Welt bestellt, wenn hübsche, junge Leute nicht aneinander Gefallen finden sollten. Man lacht, man scherzt, schließlich verliebt man sich und heiratet sich.“

„Oder auch nicht“, sagte Grosek ernst. „Das ist ja auch nicht immer nötig. Wenn ich alle Mädel hatte heiraten sollen, die mir mal gefallen haben... Und die Fritze wäre sicherlich schon einige dutzendmal verheiratet...“

„Sie sind genau solch ein alter Spaßmacher wie der Soyka“, rief das Mädel halb lachend, halb ärgerlich und ging hinaus.

„Das ist etwas für Sie“, meinte Bogumil zu Fedor.

„Zum Spielen, aber nicht zum Heiraten“, fügte Grosek scharf hinzu.

9. Kapitel

Die Nacht war bei dem Ausschöpfen und Verpacken der Fische draufgegangen. Müde und durchgefroren kam Fedor im Morgengrauen nach Hause. Aber für ihn gab es kein Ausruhen, seine Tagesarbeit nahm ihn sofort wieder in Ansp

ruch. Erst am nächsten Tage kam er dazu, mit dem Schreiber, der schon einige Jahre in Glodowen war und die ganze Umgegend kannte, über den alten Herrn Soyka zu sprechen.

„Ach, Sie meinen den Bogumil. Sie können ihn ruhig so nennen, er hört den Namen gern. Ja, das ist ein Original. Er hat als Waisenknabe das Vieh gehütet und hat es doch durchgesetzt, daß er Lehrer geworden ist. Er hätte sollen lieber Bauer werden, dann wäre es ihm besser gegangen.“

„Ist es ihm denn schlecht gegangen?“

„Aber sehr. Er hat immerzu mit der Regierung Krieg geführt. Er wollte ein neues Haus gebaut haben. Dazu hat er noch eine Zeitung gelesen, die immer gegen die Regierung schrieb. Das wurde ihm verboten, er hat sie doch gelesen. Dann hat man ihn in Strafe genommen, er hat die Strafe bezahlt, aber nicht gehorcht. Zuletzt hat man ihn fortgejagt. Da hat er mit der Regierung einen Prozeß geführt und hat in den Zeitungen darüber geschrieben und hat gewonnen. Nun wurde er wieder angestellt, aber schon nach einem Jahr war's wieder zu Ende. Da war er angezeigt, daß er die Schulkinder hat in seinem Garten arbeiten lassen. Da wurde er mit fünfzig Jahren zum zweitenmal fortgejagt, und ohne Pension.

In der Nacht, bevor er aus dem alten Haus hat ausziehen müssen, ist Feuer ausgebrochen. Kaum daß er mit seiner Frau und den Kindern, es waren bloß ein Dutzend, hat aus dem Hause laufen können. Die alte Frau, die damals das Gut Popielnen hier drüben gehabt hat, nahm ihn mit seiner ganzen Familie auf und setzte ihn in den Fährkrug. Eine Woche später kommt eine Gerichtskommission. Hat doch ein Kerl Anzeige gemacht, der Bogumil hätt' selbst das Haus angesteckt. Aber da hat er den Herren gesagt: „Wenn Sie mich nicht für ganz verrückt halten, dann müssen Sie sich doch selbst sagen, daß ich nicht mein bißchen Hab und Gut verbrennen lasse, wo ich nicht weiß, wie ich den nächsten Tag erleben soll.“ Sie sollten mal lieber nachforschen, wer die Anzeige gegen ihn gemacht hätte, dann könnten Sie wohl den richtigen Täter erwischen.

Man hat ihm nichts getan und er hat ein paar Jahre ganz ruhig und friedlich auf dem Fährkrug gelebt. Die alte Frau Krüger hatte ihm die Gutsgeschäfte übertragen, er hat auch ihre Wirtschaft geführt. Nahe Verwandte hatte sie nicht. Der einzige Sohn war nach Amerika gegangen und verschollen. In einer schweren Krankheit hat die Frau Krüger einen Herrn vom Gericht `rauskommen lassen, hat ihr Testament gemacht und dem Bogumil den Fährkrug verschrieben. Nicht lange darauf stirbt sie. Da kommen die Erben, kündigen ihm den Krug und werfen ihn `raus.“

„Wie ist das möglich, wenn die Frau ihm das verschrieben hat?“ warf Fedor entrüstet ein.

Der Schreiber zuckte die Achseln. „Deswegen führt er jetzt den Prozeß, wohl schon zehn Jahre. Er und seine Frau haben beschworen, daß die Frau Krüger ihnen das Kruggrundstück versprochen und auch wirklich in ihrem Testament verschrieben hat. In dem Testament soll das aber anders stehen, vielleicht mit so einem Kniff, daß man das so und so auslegen kann. Der Bogumil hat zuerst auf eine kleine Entschädigung geklagt und verloren, nachher hat er wegen des Kruges geklagt und auch schon zweimal verloren. Nun ist der Prozeß in Berlin, und da wird er ihn auch verlieren.“

„Was hat er denn angefangen, als er aus dem Krug `raus mußte?“

„Nu, unter uns gesagt: der Boruch und der Wnuk haben ihm Geld geborgt, davon hat er sich eine kleine Schaluppe und ein paar Morgen Land gekauft. Leben kann er davon nicht, aber er hält sich drei Pferde und rückt Holz in der Forst. Eine schwere Arbeit, aber er ist fleißig und könnte sehr gut davon leben, wenn nicht die Gerichtskosten alles auffressen möchten. Und dabei ist der alte Mann immer lustig und vergnügt, macht mit jedem seinen Scherz und hilft jedem. Wer was zu schreiben hat, geht zu ihm, und er nimmt dafür keinen Pfennig. Wenn er mal ein paar Tage keine Arbeit hat, sitzt er und schreibt dicke Bücher. Von dem können Sie was lernen, Fedor.“

Am nächsten Sonntag gleich nach Mittag ließ sich Fedor einen kleinen Schlitten anspannen und fuhr über den fest gefrorenen Seearm und durch die Forst nach Wiersba. Am Fährkrug hielt er an, um sein Pferd einzustellen. Als er aus dem Stall kam, stand Fritze schon vor der Haustür.

„Ach, Sie haben Wort gehalten, Herr Poranski, das ist nett von Ihnen. Kommen Sie `rein in die gute Stube. Es ist noch niemand da und die Eltern schlafen, da können wir ungestört plaudern.“

Sie bot ihm die Hand und zog ihn in die Tür. „Was wollen Sie trinken? Ein Schnäpschen, ein Glas Rotwein?“

„Ich muß zu Herrn Soyka gehen“, erwiderte Fedor ruhig. Innerlich war ihm ganz anders zumute. Das Mädel gefiel ihm, vielleicht wäre es richtiger gesagt: sie reizte ihn. Ihre dunklen Augen funkelten ihn an und sagten ihm sehr deutlich, daß er ihr gefiel. Und er konnte einem jungen Mädchen auch wohl gefallen. Das frische, ausdrucksvolle Gesicht mit dem kecken Schnurrbärtchen, die schlanke, elegante Figur, dazu ein Hauch von Schwermut, der sich als ruhige Zurückhaltung ausdrückte, konnte ein Mädchen, das gewöhnt war, die Männer sich genau anzusehen, wohl reizen.

Obwohl er nichts bestellt hatte, brachte Fritze eine Flasche Rotwein und zwei Gläser, schenkte ein und stieß mit ihm an. „Auf gute Freundschaft, Herr Poranski, oder darf ich Fedor sagen? Ach bitte ja, das klingt so romantisch polnisch.“

Fedor nickte gleichmütig und nahm einen Schluck: „Wie Sie wollen, Fräulein. Die meisten Menschen nennen mich Fedor.“

Das Mädel bog sich zu ihm hinüber und sah ihm mit einem feurigen, lockenden Blick in die Augen. „Wenn ich Sie so nenne, lieber Fedor, dann bedeutet das etwas anderes. Das bedeutet, daß ich mich nicht so kalt und fremd zu Ihnen stellen will. Sie sind ein feiner Mann, Sie werden nicht so zudringlich wie andere junge Leute.“

In Fedors Adern stürmte das Blut. Es war ihm, als wenn er das Mädel in seinen Arm nehmen und abküssen müßte. Aber er beherrschte sich. Er beugte sich nur nieder und drückte einen Kuß auf ihre weiche Hand, die in verführerischer Nähe auf dem Tisch vor ihm lag.

Fritze ließ sie ruhig liegen und sah ihn lachend an. „Eigentlich müßte ich Ihnen böse sein, aber Sie sind als Pole wohl gewöhnt, jungen Mädchen die Hand zu küssen.“

In diesem gefährlichen Augenblick öffnete sich die Tür, und Herr Gutbier, der Krugwirt, trat ein. Er begrüßte Fedor und fing mit ihm ein Gespräch über Fischerei an, das dem jungen Mann vorkam wie schales Bier nach einem feurigen Glas Champagner. Fritze schien dies auch zu fühlen, denn sie stand auf. „Sie gehen also jetzt zu Soyka. Aber bleiben Sie nicht zu lange. Zum Kaffee finden Sie hier bei uns schon Gesellschaft.“

Als Fedor aus der Tür trat, stand Fritze schon auf dem Vorbau. Sie lehnte sich etwas an ihn, blickte schelmisch zu ihm auf und flüsterte: „Der Alte hätte ruhig noch eine Stunde schlafen können. Aber solche alten Leute sind mißtrauisch, und man muß sich vor ihnen in acht nehmen.“

Nachdenklich ging Fedor die wenigen Schritte bis zu dem kleinen, altersschwachen Häuschen, das Bogumil bewohnte. An der einen Seite war aus Holz eine Stube angebaut, zu der man einige Stufen heraufsteigen mußte. Er klopfte an und trat ein. Ein kahler Raum mit einem Tisch und ein paar Stühlen. Aber die ganzen Wände waren mit Regalen bestellt, in denen Bücher standen, mindestens einige hundert. Mit Staunen sah sich Fedor um. Da trat hinter ihm Soyka ein, bot ihm die Hand und sagte lächelnd: „Das ist das Einzige, was ich aus dem Brande gerettet habe. Die Bücher standen schon in Kisten verpackt auf der Scheune, sonst wären sie mit verbrannt. Die Kinder habe ich im Hemd aus den Betten gerissen und durchs Fenster gesetzt. Nun seien Sie mir herzlich willkommen. Als Groseks Sohn sind Sie mir kein Fremder, sondern ein lieber, junger Freund, und was in meinen Kräften steht, will ich an Ihnen tun. Ich trage damit eine Dankesschuld an Grosek ab.“

„Also Sie wollen lernen, viel lernen“, fuhr er fort, „das ist sehr lobenswert von Ihnen. Der Mensch kann nie genug lernen. Ich werde Ihnen vielleicht am besten dabei Rat geben können, denn ich habe mich auch so durchringen müssen und verdanke alles nur mir selbst. Nun erzählen Sie mir mal, was wissen Sie schon?“

„Ach, sehr wenig. Ich habe Lesen und etwas Schreiben gelernt.“

Der Alte gab ihm ein Stück Papier hin, gab ihm eine Feder und ließ ihn einige Wörter aufschreiben. Dann begann er, ihn auszufragen. „Na, ich sehe schon, lieber Freund, wir stecken noch in den Anfangsgründen. Ich rate Ihnen, zunächst mal fleißig abzuschreiben. Sie können ja selbst vergleichen, ob Sie Fehler gemacht haben. Wenn Sie dasselbe Stück drei-, viermal abgeschrieben haben, dann versuchen Sie, es aus dem Kopfe aufzuschreiben. Jedes Wort, das Ihnen nicht geläufig ist, müssen Sie mehrmals laut buchstabieren, bis Sie es fest haben. Für heute wollen wir mal etwas Satzlehre treiben, damit Sie einen Begriff von dem Aufbau der Sprache bekommen.“

Gute zwei Stunden exerzierte der Alte mit Fedor. Er hatte eine gute Art zu lehren, und Fedor war ein gelehriger Schüler. Sie hatten gar nicht gewußt, wieviel Zeit vergangen war, als die Tür sich öffnete und ein bildhübsches, schmuckes Mädel eintrat. Soyka stellte vor: „Herr Fedor Poranski, Groseks Adoptivsohn, meine Tochter Lina.“

„Ich bitte die Herren zum Kaffee.“

„Ist es schon soweit? Na, dann können wir nach dem Kaffee fortfahren.“

„Das wird mir wohl zuviel werden, Herr Soyka“, erwiderte Fedor lächelnd, „mir schwirrt schon der Kopf.“

„Na, wie Sie wollen.“

Beim Kaffee fragte die Tochter: „Wie gefällt Ihnen das Fräulein Fritze?“

Fedor zuckte die Achseln. „Ich habe das Fräulein erst vor ein paar Tagen kennengelernt und heute einen Augenblick gesehen. Sie scheint sehr munter und lustig zu sein.“

„Ein leichtfertiges, kokettes Ding, vor dem Sie sich in acht nehmen müssen“, fiel Bogumil ein. „Wenn Sie der den kleinen Finger reichen, nimmt Sie gleich die ganze Hand. Sehen Sie sich vor, daß Sie nicht hängenbleiben.“

„Ach, Vater, du urteilst zu scharf“, warf die Tochter ein. „Sie ist ein bißchen leicht und lebenslustig, aber man kann ihr doch nichts nachsagen.“

„Weiter nichts, als daß sie schon dreimal verlobt gewesen ist.“

„Sie hat jedesmal selbst die Verlobung aufgehoben.“

„Weil ihr der Nächste besser gefiel. Sie ist doch schon mit dem Forstaufseher Fuchs in den Wald spazierengegangen, während sie noch mit dem Lehrer verlobt war.“

„Ja, darin ist sie wohl etwas leichtsinnig. Aber Sie, Herr Poranski, wollen sich doch wohl nicht mit ihr verloben?“ fragte Lina lachend.

Wie aus einem Traum schrak Fedor bei der Frage auf. Er war sehr verlegen, obwohl man es ihm nicht ansah. Er hatte in seinem Leben noch nie Gelegenheit gehabt, mit einem gebildeten Mädchen zu verkehren. Aber er fühlte den Abstand zwischen Fritze und der Tochter des Hauses sehr deutlich.

„Ich bin noch zu jung und bin noch nichts, da kann ich noch mit dem Verloben warten.“

„Wie denken Sie sich denn Ihre Zukunft?“ fiel der Alte ein.

„Ein paar Jahre möchte ich noch in Glodowen bleiben, bis ich was gelernt und etwas Geld gespart habe.“

„Dann müssen Sie nicht zu oft in den Fährkrug gehen, sonst wird aus dem Sparen nichts. Fritze ist eine sehr teure Bekanntschaft.“

„Ach, geh, Vater, du sprichst bloß immer schlecht von ihr.“

„Darüber weiß ich besser Bescheid als du. Sie werden jedenfalls heute einige Flaschen Rotwein loswerden, wenn Sie ein paar Stunden dort bleiben.“

„Eine haben wir schon angefangen zu trinken“, erwiderte Fedor lachend. „Das ist für mein Einkommen genug. Ich werde sie austrinken und nach Hause fahren.“

Als er gegen fünf Uhr in den Fährkrug kam, ging es dort schon lustig zu. Drei Familien waren mit erwachsenen Töchtern aus Nikolaiken im Schlitten übers Eis gekommen, ein halbes Dutzend junger Leute war auf Schlittschuhen gelaufen. In der großen Krugstube wurde ein Rundspiel mit Gesang ausgeführt. Als Fedor eintrat, sprang Fritze auf ihn zu, stellte ihn mit großer Gewandtheit vor und rief dann: „Jetzt sind wir Unpaar, jetzt können wir Hafer schneiden.“

Im nächsten Augenblick hatte der junge Pole an jeder Hand eine junge Dame und schritt im Reigen. Dazu wurde gesungen:

„Kommt, wir wollen Hafer schneiden, Hafer schneiden, wollen Garben binden.

Ei so dreh sich, ei so dreh sich, wer ein Liebchen haben will, der greife zu geschwinde.“

Schon bei dem letzten Wort flogen sich die jungen Mädchen und Herren paarweise in die Arme. Fedor sah sich verdutzt um, da schlang auch schon Fritze ihre weichen Arme um ihn und preßte ihn an sich. Sie blieb, als das Spiel wiederholt wurde, an seiner Seite und flüsterte ihm zu: „Wir beide.“ Und nach jedem Rundgang warf sie sich ihm an die Brust, so daß einer der jungen Leute ihr lachend zurief: „Sie werden einseitig, Fräulein Fritze.“

„Gutbier heiße ich, Herr Lehmann, wenn Sie sich das gefälligst merken wollen“, rief ihm Fritze scharf zu.

„Kinder, nur nicht ungemütlich“, meinte ein junges Mädchen.

Nun kam ein Pfänderspiel an die Reihe, und zum Schluß hatte Fedor auch einige Pfänder auszulösen. Er stellte sich so ungeschickt dabei an, daß alle lachten. „Na, ich muß Ihnen schon auf die Sprünge helfen“, rief Fritze, „sonst bekommen Sie ihr Pfand nicht zurück“, faßte ihn um und gab ihm einen Kuß, „Sie sollen aber bis drei zählen“, rief die Pfandinhaberin, „also noch zwei Küsse.“

Dem jungen Mann war das Blut zu Kopf gestiegen. Er sah das Mädel an. Eine Abwehr war nicht in ihren Augen zu lesen, eher eine Aufforderung. Da faßte er sich ein Herz, schlang seinen Arm um sie und küßte sie. Willig ließ sich ihr heißer Mund finden. „Halt, halt“, riefen mehrere Stimmen, „es sind ja schon fünf Küsse.“

Da erwachte Fedor aus dem Rausch, der jäh über ihn gekommen war und trat verlegen zurück.

„Er kann deutsch noch nicht so gut zählen, wie wir“, rief Fritze lachend zurück, „und ihr würdet auch nicht böse sein, wenn er sich bei euch um ein paar Küsse verzählt.“

Spät am Abend, als die Gäste sich zum Aufbruch rüsteten und Fedor eine sehr ansehnliche Zeche bezahlt hatte, trat Fritze zu ihm heran: „Wie wäre es, Herr Fedor, wenn Sie mich und meine Freundin Anna noch nach Nikolaiken fahren möchten? Sie möchte nicht zurücklaufen, und ich möchte mit ihr fahren und morgen bei ihr bleiben. Ach bitte, bitte ja? Es ist doch bloß ein kleiner Umweg.“

Freudig willigte Fedor ein. Die beiden jungen Mädel nahmen im Schlitten Platz, er saß hinter ihnen auf dem Bock und führte die Zügel. Sie waren noch nicht weit gefahren, als Fritze ihre weiche, warme Hand nach hinten streckte. Ohne Bedenken ergriff er sie und drückte einen feurigen Kuß darauf. Nun wurde er kühn. Er bog sich vor und küßte sie hinter das Ohr.

„Sie werden zu kühn, Fedor. Das Schlittenrecht beginnt erst, wenn die Fahrt zu Ende ist?“

„Was ist, bitte, das Schlittenrecht?“

„Traurig genug, daß Sie das nicht wissen, Sie verliebter Stint“, erwiderte Fritze lachend. „Wollen wir uns über den armen jungen Starosten erbarmen? Na gut, dann will ich es Ihnen verraten. Sie haben von jeder jungen Dame, die Sie fahren, am Ende einen Kuß zu bekommen. Aber Sie dürfen keinen Vorschuß darauf nehmen“, rief sie kichernd, als Fedor seinen Mund wieder auf ihr Ohr preßte und bog ihren Kopf zur Seite, so daß sein Mund ihren warmen Hals finden konnte.

Wie im Traum fuhr Fedor nach Hause, nachdem er sein Schlittenrecht eingeheimst hatte. Noch brannte Fritzens Kuß auf seinen Lippen. Seine Wangen glühten. Er gab dem Pferd die Zügel frei und überließ sich seinen Gedanken und Gefühlen.

10. Kapitel

Herr Fedor Poranski war heftig verliebt. Wo er ging und stand, sah er das Mädel vor sich, fühlte er Fritzens Küsse. Zum Nachdenken kam er gar nicht. Er hatte nur das dringende Bedürfnis, das Mädel wiederzusehen, es in die Arme zu nehmen und zu küssen. Es war nicht die stille Zuneigung, die allmählich erwachst und sich in der ersten Zeit damit begnügt, das Bild der Geliebten im verschwiegenen Herzen zu tragen und ihrer mit Ehrfurcht zu gedenken. Nein, es war eine stürmische, sengende Leidenschaft, die ihn mit unwiderstehlicher Gewalt mit sich fortriß, und es war die erste Wallung seines Herzens.

Ruhelos wanderte er auf dem Hof umher, von der Scheune, wo ein Dutzend Weiber und Mädel Netze ausbesserten, eine von den Margellen, ein hübsches, luchternes Ding, machte ihm blanke Augen; er sah es nicht, ging zum Speicher, wo ein paar Frauen den Hafervorrat umstachen, dann wieder ins Haus.

Beim Mittag meinte der Schreiber, es müßte ein Faß Teer aus Nikolaiken geholt werden. „Wollen Sie nicht fahren, Fedor? Sie können auch in Wiersba ansprechen. Der Gutbier soll so schnell als möglich noch ein Schock Tonnen fertigmachen. Wir werden sie wohl nächste Woche brauchen.“

Herr Grünberg lächelte, als Fedor mit unverhohlener Freude einwilligte und gleich nach Mittag anspannen ließ.

Im Fährkrug hatte er zuerst eine Enttäuschung. Fritze war noch nicht zu Hause. „Aber wenn Sie gleich hinfahren und zum Bäcker Reinert gehen, werden Sie sie noch finden und können sie mitbringen“, sagte ihm die Mutter.

Aber in dem Städtchen besorgte Fedor erst gewissenhaft seine Einkäufe, ehe er Fritze aufsuchte. Sie dachte noch nicht daran, nach Hause zu gehen; sie wollte noch einen Tag bei ihrer Freundin bleiben. Fedor machte eine so betrübte Miene, als er das hörte, daß sie laut auflachte. Er ahnte ja in seinem arglosen Gemüt gar nicht, daß das bloß eine Neckerei war. Er erhob sich, um sich zu verabschieden. „Ich werde es bei Ihnen zu Hause bestellen.“

„Haben Sie es so eilig? Ich dachte, Sie werden uns erst ein Stündchen spazierenfahren, nach Isnoten in das Gasthaus, da bin ich mit der Tochter befreundet. Da könnten wir schön Kaffee trinken.“

„So lange habe ich heute nicht Zeit.“

„Ach, Sie sind heute langweilig.“

„Ich habe auch keinen Spazierschlitten, sondern einen großen Holzschlitten.“

„So, na dann verzichten wir schon darauf. Und auf dem Holzschlitten soll ich mit Ihnen nach Hause fahren? Aber erst, wenn es dunkel geworden ist.“

„Wenn Sie mitkommen, will ich solange warten.“

Geduldig saß Fedor im Gasthof und wartete auf Fritze, die mit ihrer Freundin ausgegangen war, einzukaufen. Endlich gegen 6 Uhr kam es zur Abfahrt. Gleich beim Einsteigen sagte Fritze lachend: „Heute gibt es aber kein Schlittenrecht, Herr Fedor.“

„Ach, weshalb denn nicht?“

„Weil das keine Spazierfahrt ist.“

Er ließ die Pferde antraben. Als der Schlitten auf den See abbog, konnte er sich nicht mehr länger beherrschen. Er legte den Arm um Fritze und zog sie an sich. Sie wehrte heftig seinen Arm ab und fragte mit deutlichem Unwillen in der Stimme:

„Was soll das heißen, Herr Poranski? — Ich steig' sofort ab und geh nach der Stadt zurück.“

Fedor war wie aus den Wolken gefallen. Er hatte nach dem Vorgänge von gestern es als selbstverständlich angenommen, daß er sie in den Arm nehmen und abküssen würde den ganzen Weg. Er war so verblüfft, daß er zunächst nichts zu antworten wußte. Erst nach einer Weile sagte er schüchtern: „Sie waren gestern so gut zu mir.“

„Gestern ist nicht Heute. Gestern waren wir in übermütiger Laune und haben gespielt und gescherzt.“

„Bloß gescherzt?“ fragte Fedor tonlos. „Ich habe gedacht, Sie haben mich ein bißchen lieb.“

„Ach so, Sie dachten, ich will eine Liebelei mit Ihnen anfangen? Nein, Herr Poranski. Ich bin übermütig und lustig und halte es für keine Sünde, wenn man sich mal von einem hübschen Mann einen Kuß rauben läßt. Ein Küßchen in Ehren darf niemand verwehren. Aber alles hat seine Grenzen. Man muß auch wieder vernünftig sein.“

„Ich habe Sie aber so furchtbar lieb, Fräulein Fritze“, sagte Fedor leise.

„Das ist sehr nett von Ihnen; aber wenn ich mich von jedem jungen Mann küssen lassen will, weil ich ihm gefalle, dann möchte ich aus dem Küssen gar nicht `rauskommen.“

Fedor hörte kaum, was sie sprach. Er hörte nur ihre Stimme, ihr klingendes Lachen. Er fühlte sie neben sich. Er mußte sich Gewalt antun, um sie nicht in seine Arme zu reißen und an sich zu pressen. Er verstand in seinem klaren Wesen das Mädel nicht. Das war gestern bloß Spiel und Scherz gewesen? Er schwieg und trieb die Pferde an.

Nach einer Weile begann Fritze: „Sie müssen dies doch selbst einsehen, Herr Fedor, daß ich mir das von Ihnen nicht bieten lassen kann. Wir sind doch nicht verlobt miteinander. Wir haben uns ein paarmal gesehen, wir sind einen Abend lustig miteinander gewesen, aber eigentlich kennen wir uns doch noch fast gar nicht. Was weiß ich denn von Ihnen? Sie sind über die Grenze gekommen, haben den Sommer über als Fischer gearbeitet und sind jetzt in Glodowen angestellt.“

Jetzt verstand der junge Mann, was das Mädel meinte. Er war noch nichts, er hatte nichts vorzustellen in der Welt. Er war nicht reich, er hatte ihr nichts zu bieten. Als er hartnäckig schwieg, fragte sie nach einer Weile: „Was wollen Sie eigentlich werden, Herr Poranski?“

„Das weiß ich noch nicht“, erwiderte Fedor hart. „Vorläufig habe ich noch einige Jahre zu lernen.“

„Na, sehen Sie, wie vernünftig Sie sein können. Sie können doch noch lange nicht ans Heiraten denken.“

Sie waren schweigend eine Viertelstunde gefahren. Schon leuchteten die Fenster des Fährkruges auf. Da stieß ihn Fritze mit den Ellenbogen an. „Was ist Ihnen? Weshalb sprechen Sie kein Wort zu mir?“

„Was soll ich mit Ihnen sprechen? Sie haben ja schon alles gesagt, was nötig war, und Sie haben ganz recht.“

„Deshalb kann man doch gut Freund bleiben und freundlich und mal auch lustig miteinander verkehren. Und weil Sie den ganzen Weg über so artig gewesen sind, will ich Ihnen auch das Schlittenrecht gewähren. Ach, Sie tragen mir etwas nach. Ich bin nicht so. Ich kann mich ganz gehörig mit einem Menschen durchzanken, im nächsten Augenblick habe ich das schon vergessen und bin wieder freundlich.“

„Ich kann das nicht vergessen, was Sie mir heute gesagt haben“, erwiderte Fedor bitter.

Als der Schlitten den Uferberg herabfuhr, wandte sie sich schnell zu ihm, legte ihren Arm um seinen Nacken und küßte ihn. Da ließ er die Leine fahren, schlang seinen Arm um sie, preßte sie an sich und erwiderte in aufflammender Leidenschaft ihren Kuß. Sie wand sich schnell aus seinen Armen. „Sie sind ja ein gefährlicher Mensch, jetzt bin ich mit Ihnen böse. Sie können lange warten, bis ich Ihnen wieder gut bin.“

Den Kopf voll wirrer Gedanken, fuhr Fedor weiter nach Hause, ohne im Krug anzusprechen. Er konnte aus dem Mädel nicht klug werden. Er war noch zu unerfahren auf diesem Gebiet. Er wußte nicht, daß es Mädel gibt, denen es Spaß macht, mit dem Feuer zu spielen. Innerlich eiskalt, nicht einmal von ihren Sinnen abhängig, die sooft den Verstand bezwingen und mit sich fortreißen, müssen sie jeden Mann, der ihnen gefällt, reizen und in sich verliebt machen. Manche verstehen nicht die Grenze zu ziehen und entgleisen dabei. Aber Fritze war nicht nur klug, sondern in diesem Spiel auch erfahren. Sie verstand auch schon, scheinbare Kälte als stärkstes Reizmittel anzuwenden.

Und dies Mittel hatte auch bei Fedor gewirkt. Er war so verliebt in das Mädel, daß er die Arme ausstreckte und stöhnte. Am liebsten wäre er unter einem Vorwand wieder umgekehrt, um noch ein paar Stunden mit ihr zusammen zu sein. Schließlich begann er, zu grübeln. Er hatte sehr gut verstanden, was sie meinte. Er mußte sich mit ihr verloben, um sie in die Arme nehmen zu können. Dazu mußte er erst etwas werden, um sie auch heiraten zu können. Was sollte er werden, um schnell Geld zu verdienen?

Er hatte noch nie darüber nachgedacht. Sorglos hatte er in den letzten Monaten dahingelebt, ohne Ehrgeiz. Er hatte ja nicht einmal die Stelle in Glodowen annehmen wollen. Wenn er Zocher zum Frühjahr um eine Inspektorstelle bat? Er wußte noch nicht, wie gering das Einkommen dieser Leute war. Sie lebten nicht ohne Grund als Einspänner in Preußen, während ihre Familie in Rußland blieb, wo das Leben billiger war, und die Frau noch meist durch einen kleinen Handel etwas dazu verdiente. Wenn er selbst eine kleine Pachtung übernahm? Aber dazu gehörte, wie er jetzt wußte, Geld. Grosek sollte Geld haben, ob der ihm nicht dazu helfen würde?

Der Schreiber machte ein erstauntes Gesicht, als Fedor in die Stube trat. „Nanu, Sie sind schon zu Hause? Ich dachte, Sie würden den Abend in Wiersba bleiben?“

„Was soll ich dort?“

„Ist das eine Frage, was Sie bei der schönen Fritze sollen“, erwiderte der Schreiber grinsend. „Süßholz raspeln und fleißig mit ihr Rotspon trinken. Gestern soll sie ja so freundlich zu Ihnen gewesen sein.“

„Gestern ist nicht heute“, erwiderte Fedor rauh und ging in sein Zimmer, um abzulegen.

Am nächsten Sonntag ging er zu Fuß nach Wiersba, um nicht mit dem Fuhrwerk im Krug ansprechen zu müssen. Der alte Herr war mit seinen Fortschritten nicht zufrieden. Fedor hatte wenig geschrieben und viel Fehler darin gemacht. „Sie haben wohl viel zu tun gehabt und sind abends müde gewesen?“ meinte Bogumil nachsichtig.

Fedor wurde verlegen und rot, aber sein offener Sinn sträubte sich dagegen, sich mit einer Lüge zu entschuldigen. „Nein, ich habe was anderes im Kopf gehabt, eine Dummheit.“

Der alte Herr nickte und schmunzelte, erwiderte aber darauf nichts, sondern begann mit dem Unterricht.

Zwei Sonntage hatte Fedor den Fährkrug gemieden. Am dritten ging er wieder hin. Es war ein böses, unfreundliches Wetter, ein scharfer Ostwind mit Schneetreiben. Die Gäste waren ausgeblieben. Fritze in ein großes Wolltuch gewickelt, saß frierend und mißmutig am Ofen, der das Zimmer nicht zu erheizen vermochte. Sie stand auf, reichte Fedor gleichgültig die Hand und fragte: „Was darf ich Ihnen geben, Herr Poranski? Ein Glas Grog?“

Dann verschwand sie und kam erst mit dem heißen Getränk wieder. „Was gibt es Neues? Haben Sie viel zu tun?“

Der junge Mann, dem das Herz brannte, hatte freundschaftliche Vorwürfe für sein langes Ausbleiben erwartet, oder ein Wort, das an den stürmischen Abschied im Schlitten erinnerte. Nichts davon, das Mädel behandelte ihn wie einen fremden, gleichgültigen Gast, dem sie als Wirtstöchterlein aus Höflichkeit Gesellschaft leisten mußte. Schließlich gab er sich einen Ruck und fragte: „Sind Sie mir noch böse, Fräulein Fritze?“

„Ich Ihnen böse? Wofür denn? Ach so!“ Sie machte eine lässige Bewegung mit der Hand. „Daran war nur meine Dummheit schuld. Ich hätte schon wissen müssen, daß Sie keinen Scherz verstehen. Zum zweitenmal wird das nicht vorkommen. Verlassen Sie sich darauf.“

Nach einer Weile nahm Fedor noch einen Anlauf: „Ich bitte Sie um Verzeihung, Fräulein Fritze. Ich konnte mich nicht beherrschen.“

„Ich habe Ihnen ja schon gesagt, daß ich daran schuld war“, erwiderte sie lässig.

„Sie wollen schon gehen?“ fragte sie kühl geschäftsmäßig. „Nicht noch ein Glas Grog?“

„Ich danke“, erwiderte Fedor, legte Geld auf den Tisch, verbeugte sich und ging. In ihm begann es zu dämmern, daß er dem Mädel gleichgültig war. Aber sein Herz wollte noch nichts davon wissen. Das stürmte und brannte, daß ihm sein leichter Gehpelz trotz des schneidenden Windes zu warm wurde. Und noch hielt er an der Hoffnung fest. Sie war also mehr beleidigt, als er glaubte. Wie konnte sie sonst so abstoßend gegen ihn sein? Er war aber auch zu stürmisch gewesen. Er hatte sie mit Gewalt an sich gepreßt und ihr Gesicht mit Küssen bedeckt. Weshalb hatte er ihr nicht heute gesagt: „Fräulein Fritze, ich will Sie heiraten. Wollen Sie ein paar Jahre auf mich warten, bis ich was geworden bin?“

Er wußte, daß sie noch jung war, erst 18 Jahre. Er kam nach Hause. Er nahm seine Bücher vor und zwang sich, aufzupassen. Aber mitten im Schreiben überraschte er sich, daß er nicht die Buchstaben, sondern ihr Gesicht vor sich sah, bald lachend mit funkelnden Augen, bald kalt und gleichgültig, wie heute. Schließlich warf er die Bücher weg und nahm eins von den bunten Romanheften vor. Doch als er ein paar Seiten gelesen hatte, da wußte er kein Wort davon.

Am nächsten Sonntag lud ihn Bogumil zur Hochzeit seiner Tochter. Sie sollte nur im engsten Kreise still gefeiert werden. Grosek, Boruch, Fedor uns ein Förster. „Sie kommen gegen Abend. Ein einfaches Gericht und ein paar Glas Grog, mehr gibt es nicht. Ich kann keine großen Sprünge machen. Vielleicht kommt auch mein Sohn aus Düsseldorf, wenn er Urlaub kriegt.“

Als Fedor nach dem Kaffee wegging, zog es ihn mit Gewalt nach dem Fährkrug. Er ging bis vor das Haus, er sah die Fenster erleuchtet, er horte Singen. „Kommt, wir wollen Hafer schneiden...“ Dann biß er die Zähne zusammen, drehte um und ging den Weg zurück, nach Hause.

Am Freitag sollte wieder ein Zug auf dem Beldahn herauskommen, und da man wieder einen großen Fang erwartete, wurde Fedor gleich nach Mittag mit einem großen Schlitten voll Fischtonnen hingeschickt. Auch aus dem Fährkrug sollte er mitnehmen, was Gutbier an Tonnen fertiggestellt hatte... Er stieg ab, ging durch das große Gastzimmer und öffnete die Tür des Herrenstübchens. Verblüfft und grenzenlos verlegen blieb er in der Tür stehen. Auf der Ofenbank saß ein schmucker Soldat und auf seinem Schoß Fritze. Sie hatte ihre Arme um ihn gelegt und sah mit einem strahlenden Lächeln zu ihm auf.

Ohne eine Verlegenheit zu verraten, stand sie ruhig auf und streckte Fedor die Hand hin. „Lassen Sie sich auch mal bei uns sehen? Ich dachte, Sie wären schon gestorben. Darf ich die Herren bekannt machen? Herr Fedor Poranski, Herr Unteroffizier Hans Soyka von den Düsseldorfer Ulanen, mein Jugendfreund. Wir sind zusammen aufgewachsen.“

Fedor verneigte sich gemessen. Das Blut war ihm aus dem Gesicht nach dem Herzen geströmt, und er war bleich geworden. Aber seiner Stimme war nichts anzumerken, als er fragte: „Wo finde ich Ihren Vater, Fräulein Gutbier? Ich soll die Tonnen holen, die fertig sind.“

„Der ist unten in der Werkstatt. Aber wollen Sie nicht erst ablegen und was trinken?“

Den ganzen Nachmittag und Abend handelte und sprach Fedor wie im Traum. Er sah nur immerfort das Bild vor sich, das Paar in inniger Umarmung. Jetzt war ihm ein Licht aufgegangen und das Licht blendete ihn, denn es war wie ein Blitzstrahl gewesen, vor dem man die Augen schließen muß. Aber das Licht machte den Kopf klar, wenn auch das Herz weh tat. Er hatte das Gefühl, als wenn er laut schreien müßte. Das Mädel anschreien? Nein, das war sie nicht wert.

Der Zug war herausgekommen und hatte nichts gebracht. Die Fischer versenkten das Netz zur Nacht wieder in die Wuhne, weil es sonst knochenhart erstarrte und am nächsten Morgen nicht zu handhaben war. Fedor hatte auf Grosek gewartet. Jetzt kam der Alte auf ihn zu, legte ihm den Arm um die Schulter und sagte lachend: „Jetzt wird ein Glas Grog schmecken. Du kommst doch mit?“

„Ich wollte eigentlich gleich nach Hause fahren.“

„So, so? Ich dachte, du gehst oft und gern in den Fährkrug wegen der Fritze.“

„Das ist schon vorbei, Vater“, erwiderte Fedor und sah ihm offen ins Gesicht. „Ich bin ein paar Wochen krank gewesen, aber heute bin ich wieder ganz gesund geworden. Ich komme mit.“

„Das ist ja schnell gegangen, mein Junge.“

„Ja, Vater. Ich habe heute eine Medizin eingenommen, die mich gesund gemacht hat.“

11. Kapitel

Die Hochzeit der Lina Soyka war ganz still vorübergegangen. Am Polterabend waren einige Freundinnen der Braut gekommen und hatten dem Brautpaar ihre Sprüchlein aufgesagt. Einige alte Töpfe hatten auch ihr Leben lassen müssen, denn eine Hochzeit, bei der es nicht poltert und Scherben gibt, bedeutet eine unglückliche Ehe. Am nächsten Tag war das junge Paar mit Vater und Bruder als Trauzeugen eine Stunde bei starkem Frost und heftigem Wind über Land zum Standesamt gefahren und ganz verklammt zurückgekommen. Gegen Abend stellten sich die wenigen Gäste ein.

Der Brautvater war sehr lustig und aufgeräumt und erzählte Schwänke aus seinem Leben. Wie er als blutjunger Mensch zum Superintendenten nach der Stadt gegangen war, um dreist und gottesfürchtig sich um die Erlaubnis zum Schulhalten zu bewerben. Sein Vorgänger, ein lahmer Schneider, der seinen Beruf im Umherziehen ausgeübt und vom Schneidertisch aus seine Zöglinge unterrichtet hatte, war ins bessere Jenseits hinübergewechselt. Zur Unterstützung seines Gesuchs hatte der junge Bewerber ein Schock Eier mitgenommen.

Unterwegs kommt ihm der Gedanke, daß ein Schock Eier als Geschenk sehr reichlich sei und daß man hohe Herren nicht verwöhnen müsse. Er nimmt eine Mandel ab und verbirgt sie am Wege im Strauch. Nach einer Weile legt er die zweite und schließlich die dritte Mandel ab, so daß er statt mit einem Schock mit einer Mandel Eier bei dem gestrengen Herrn Superus anlangt.

„So, du hast mir was mitgebracht“, sagt der Herr Superus erfreut, als der Bewerber schüchtern ihm den Korb hinreicht. Sein Ausdruck wandelt sich, als er die geringe Zahl Eier in dem großen Korb sieht. Und nun folgt ein scharfes Examen. Aber der Jüngling ist sattelfest... die biblische Geschichte, die Sprüche und Kirchenlieder schnurrt er bloß so ab. Er bekommt seinen Erlaubnisschein und marschiert als angehender Schulmeister nach Hause. Unterwegs nimmt er die Eier wieder an sich.

Der alte Herr war unerschöpflich in solchen Schnurren. Der Inhalt war meistens nicht weltbewegend, aber er verstand sie mit so viel Humor zu würzen, daß die Zuhörer herzlich lachten. Und er erzählte sie in dem masurischen Dialekt, das in seiner humoristischen Wirkung viel Ähnlichkeit mit Reuterschem Platt besitzt.

Fedor freundete sich im Laufe des Abends mit dem flotten Ulan, dem Bruder der jungen Frau, an, der sich von ihm viel von dem russischen Militär erzählen ließ. Im Laufe des Gesprächs, als sie sich schon berochen hatten, äußerte Fedor sein Bedauern, daß er ihn in dem traulichen Beisammensein mit Fritze gestört hätte. „Das ist wohl Ihre Braut?“

„Ja, für die Zeit, wo ich zu Hause bin... ein schlauer Racker“, fügte er lachend hinzu. „Darfst ja kommen bis ans Türchen, weiter aber, weiter aber, weiter aber nicht“, trällerte er. „Ich habe noch fünf Jahre bis zur Zivilversorgung zu dienen, das ist ihr zu lange. Die muß einer vom Fleck weg heiraten können, sonst kriegt er sie nicht. Und ich glaube, sie wird eine ganz gute Frau werden, das heißt, wenn sie in der Ehe nicht Zicken macht...“

Nach acht Tagen war Bogumil ganz vereinsamt. Seine Hausgenossen bestanden nur noch aus einem lahmen Knecht, der nichts weiter leisten konnte, als zu Hause die Pferde zu besorgen, und einem alten Weibe, das die Wirtschaft führte. Trotzdem fühlte der alte Herr sich wohl. Jetzt konnte er die Nächte bei der Lampe sitzen und schreiben, ohne daß ihm seine Tochter die Lampe wegnahm und ihn zu Bett schickte. Am nächsten Sonntag kam er schon früh nach Glodowen und blieb den Tag über bis zum späten Abend. Ja, er kam auch öfter einen Tag in der Woche. Seine Hauptarbeit im Walde war getan.

Und eines Tages erschien auch Fritze, natürlich in Begleitung ihres Vaters, der mit dem Schreiber geschäftlich zu verhandeln hatte. Währenddessen belegte sie Fedor mit Beschlag. Mit dem liebenswürdigsten Lächeln reichte sie ihm die Hand und bat ihn, ihr die Sehenswürdigkeiten von Glodowen zu zeigen. Höflich, aber völlig zurückhaltend in seinem Benehmen, führte Fedor sie durch die Ställe und Scheunen, die nach seiner Meinung für ein junges Mädchen eigentlich wenig Interesse haben konnten. Schließlich sagte Fritze: „Vom Balkon Ihrer Stube soll ja so ein entzückender Rundblick auf den Spirding sein. Wollen Sie mich mal hinaufführen?“

Fedor verbeugte sich schweigend und führte sie. Beim Eintritt sah Fritze sich in dem Stübchen um.

„Klein, aber gemütlich... Hier haben Sie den ganzen Winter gehaust? Die Aussicht ist wirklich prächtig.“ Sie wies mit der Hand über den schmalen Seearm, der den Spirding mit dem Warnoldsee verbindet. „Dort drüben liegt unser Land. Wir haben dort ein paar Morgen, die wir mit Gemüse bepflanzen. Im Frühjahr können Sie mich drüben erkennen, wenn Sie gute Augen haben. Und dann kommen Sie zu mir `rüber und wir...“ hm, hm... „plaudern ein Stündchen gemütlich“, fuhr eine spöttische Stimme hinter ihr fort. Sie wandte sich schnell um. Bogumil stand hinter ihr und lachte spöttisch.

„Dazu habe ich keine Zeit“, fiel Fedor ein, der sehr wohl verstanden hatte, was der alte Herr meinte. Mit der unschuldigsten Miene, ohne eine Spur von Verlegenheit verabschiedete sich das Mädel. Bogumil sah Fedor lachend an. „Die Sache scheint nicht gefährlich mehr zu sein, sonst hätten Sie die Tür zu Ihrer Stube nicht offengelassen. Die Krankheit ist also vorbei. Aber nun hören Sie zu, Fedor. Ich habe Ihnen was wichtiges Neues zu erzählen: der Schreiber geht zu Ostern ab. Er hat sich genug gespart und beteiligt sich an einer Pacht. Der Zocher wird Ihnen die Stelle anbieten. Seien Sie nur nicht blöde. Er wird nicht viel bieten, aber er wird Ihnen geben, was der Grünberg bekommen hat, wenn Sie festbleiben. Das sind, soviel ich weiß, hundert Mark monatlich.“

„Ich weiß nicht, ob ich die Arbeit werde machen können.“

„Ach, Unsinn. Der Mensch kann alles, wenn er nur ernstlich will. Sie können jetzt schon einen ganz manierlichen Brief schreiben. Die Buchführung ist auch nicht so schwer. Der Grünberg hat's doch auch erst hier gelernt. Die hundert Mark monatlich sind das wenigste, die Hauptsache sind die Nebeneinnahmen. Sie werden nicht so darauf zu laufen wissen, wie der Grünberg, aber an dreitausend Mark werden doch zusammenkommen.“

„Dreitausend Mark?“ wiederholte Fedor erstaunt und zweifelnd.

„Mindestens“, versicherte Bogumil. „Jeder, wer mit Glodowen Geschäfte machen will, zahlt dem Schreiber eine Provision. Die Netzfabriken, die Fischhändler, jeder, der hier was verdienen will, kommt zuerst zum Schreiber. Wissen Sie, wie der das macht? Er zuckt die Achseln. Er kann nicht ja, nicht nein sagen, aber er wird mit Zocher reden, das heißt, wenn Zocher hier ist, den ganzen Sommer über ist er ja unterwegs.“

„Das kann ich nicht“, sagte Fedor fest.

„Wollen Sie geheiligte Gebräuche umstoßen? Meinen Sie, der Zocher weiß nicht, was der Schreiber nebenbei verdient?“

„Das ist doch undenkbar.“

„Sie kennen die Welt noch nicht, lieber Freund. Da heißt es: Hand wird nur von Hand gewaschen, wenn du nehmen willst, so gib'. Ja, wenn der Zocher es nicht wissen würde und Ihnen verbieten würde, aber da er das nicht tut, obwohl er es weiß, so können Sie ruhig nehmen, was Ihnen auf diese Weise zufließt.“

„Das sind russische Sitten“, erwiderte Fedor.

„In Deutschland sind sie auch Mode. Ich bringe dem Buchhalter in der Holzfirma auch einen Hecht mit, wenn ich mit ihm das Holzrücken abschließen will. Sie werden das auch tun müssen, wenn Sie Holz, wollen mal sagen Bretter und Bohlen zu Kähnen in der Schneidemühle kaufen wollen. Dies liegt in Zochers Interesse, dann werden Ihnen die besten, astfreien Bretter ausgesucht.“

„Ich kann doch nicht einfach Fische zu diesem Zweck aus dem Halter nehmen?“

Bogumil lachte. „Kindchen, sind Sie denn mit geschlossenen Augen hier `rumgegangen? Sie wissen doch, daß der Grünberg einen Drebel unter seinem Verschluß hat, über dessen Inhalt er allein Buch führt, natürlich mit Zochers Wissen und Einwilligung.“

Einige Tage später kam der Schreiber auf Fedors Zimmer. „Was geben Sie mir, wenn ich Ihnen meine Stelle verschaffe?“

Fedor sah, ohne Überraschung zu zeigen, von seinem Buch auf und schüttelte den Kopf. „Ich will gar nicht Schreiber werden.“

Grünberg lachte. „Sie sind ein Goi, aber ein gebenschter Goi, sonst müßte ich sagen, Sie sind ein Narr, daß Sie nicht zugreifen, wenn Ihnen meine Stelle hier angeboten wird.“

„Ich gehe zum Sommer wieder zur Fischerei, da verdiene ich mehr als hier. Sie können meine Stelle noch übernehmen.“

„Entweder sind Sie ein ganz gerissener Kunde oder Sie sind wirklich ein Narr. Wissen Sie denn, was meine Stelle trägt?“

„Ich weiß so ziemlich, was Sie verdienen.“

„Verdienen wird in der Welt groß geschrieben, lieber Fedor. Aber nun in allem Ernst gesprochen. Der Zocher hat noch nicht an Sie gedacht, aber ich werde es ihm beibringen. Dafür will ich natürlich Provision haben. Das ist doch nicht zuviel verlangt, wenn ich sage: zehn Prozent für zwei Jahre, na, wollen mal sagen von 5000 Mark.“

„Geben Sie sich keine Mühe, Grünberg, ich will Ihre Stelle nicht.“

„Nu, dann wird sie ein anderer bekommen, der mir mit Freuden die zehn Prozent zahlt“, erwiderte der Schreiber ärgerlich und ging hinaus.

Fedor hatte wirklich Lust, seine Stelle in Glodowen aufzugeben und wieder in Groseks Maschkopie einzutreten. Noch vor wenigen Wochen, als er so heftig in Fritze verliebt war, hätte er begierig nach jeder Gelegenheit gegriffen, Geld zu verdienen. Jetzt war ihm das gleichgültig. Das Frühlingswetter lag ihm schon in den Knochen. Er sehnte sich hinaus ins Freie, in das ungebundene Leben im Freien... und auch das Fischen lockte ihn, es war bei ihm zur Leidenschaft geworden. Deshalb kümmerte er sich nicht weiter darum, wer Grünbergs Nachfolger werden sollte. Eine Woche war vergangen, als Zocher ihn nach dem Abendbrot rufen ließ. Der Schreiber saß bei ihm und sprach eifrig auf ihn ein. Mit einer herrischen Handbewegung sagte der Patriarch: „Grünberg, gehen Sie `raus, ich habe mit Poranski zu reden.“

Mit wütendem Gesicht erhob sich der Schreiber und warf Fedor einen bösen Blick zu.

„Setzen Sie sich, Fedor. Sie wissen wohl schon, was ich mit Ihnen sprechen will?“

Fedor zuckte die Achseln. „Der Schreiber hat mir Andeutungen gemacht...“

Der alte Herr lachte. „Was heißt Andeutungen? Er hat gewollt von Ihnen Provision und Sie haben ihm geboten zu wenig.“

„Ich habe ihm gar nichts geboten.“

„Gar nichts? Das ist sehr wenig. Aber das gefällt mir von Ihnen. Sie sollen haben die Stelle. Ich lege Ihnen zu 50 Mark monatlich.“

„Ich will die Stelle nicht, Herr Podbielski. Sie können sich auch gleich nach einem Menschen umsehen, der meine Stelle übernimmt, ich will wieder mit Grosek fischen.“

Der alte Herr, der sonst die Gleichmütigkeit selber war, richtete sich aus der Sofaecke auf, in der er den ganzen Tag zu sitzen pflegte, weil ihm seine Leibesfülle jede Bewegung verbot. Von der Anstrengung keuchte seine Stimme. „Sie sind sehr klug, Fedor, Sie sollen haben hundert Mark, wie der Grünberg bekommen hat. Reden wir nicht mehr davon. Der Grünberg kann Sie anlernen und kann Ihnen die Bücher übergeben. Ich will haben einen zuverlässigen Menschen, wenn ich wegfahre... keinen Jud'...“

Fedor saß in tiefen Bedenken. „Sie wissen wohl nicht, was der Grünberg hat verdient nebenbei?“ fuhr Zocher fort.

„Es ist mir gesagt worden, und deswegen will ich die Stelle nicht annehmen.“

„Wenn ich Sie nicht kennen würde wie meine Tasche, möchte ich sagen, Sie sind ein großer Ganef, Fedor. Gut, wenn Sie nicht wollen, nehmen Sie nichts. Aber mein Schade darf es nicht sein.“

„Ja, Herr Podbielski, was mache ich aber, wenn Sie verreisen und ich weiß nicht Bescheid.“

„Dann fragen Sie den Boruch, der weiß alles, und wie er bestimmt, so soll es geschehen. Sind wir nun einig?“

Er reichte ihm seine Hand über den Tisch. Fedor stand auf. „Noch eine Frage, Herr Podbielski, hat der Grünberg für mich gesprochen?“

„Soviel, wie Sie ihm Provision geboten haben“, erwiderte der alte Herr lachend. „Noch eins. Sehen Sie nach, was wir für das Frühjahr und den Sommer brauchen werden. Es ist Zeit, neues Garn zu bestellen.“

„Neues Garn brauchen wir nicht, wir haben für zwei Jahre genug. Ein großer Posten liegt auf dem Speicher, der scheint schon sehr alt zu sein, den haben die Mäuse schon etwas zerschnitten.“

Zocher griff schnell nach dem Klingelzug, der neben ihm hing. „Grünberg, haben Sie schon Garn bestellt?“

„Ja, wie gewöhnlich.“

„So? Haben Sie nicht gewußt, daß wir Garn für zwei Jahre auf dem Speicher liegen haben? Holen Sie die Bücher.“ Er reichte Fedor die Hand. „Gehen Sie noch nicht schlafen, ich werde Sie vielleicht noch rufen lassen.“

Am anderen Morgen ganz früh reiste der Schreiber ab. Zocher hatte mit ihm eine sehr scharfe Auseinandersetzung über seine Buchführung gehabt und dabei einen schweren Anfall von Atemnot bekommen. Er ließ Fedor an sein Bett kommen und sagte mühsam: „Kaufen Sie alles neue Bücher. Fahren Sie nach Johannisburg. Ich habe meinen Schwiegersohn kommen lassen, der wird Ihnen Unterweisung geben und die Bücher einrichten. Ich habe mich gestern abend noch sehr geärgert. Aber es ist besser so, daß Sie nicht kennenlernen die Schliche, die der Grünberg gemacht hat.“

Die Nachricht, daß der Schreiber plötzlich entlassen und Fedor an seine Stelle getreten war, mußte sich wie ein Lauffeuer in der Umgegend verbreitet haben. Als Fedor Ende der Woche an die Fähre kam, die schon wieder im Betrieb war, weil das Eis ein Fuhrwerk nicht mehr trug, wurde er von Gutbier mit einer an Unterwürfigkeit grenzenden Hochachtung empfangen und behandelt. Mit abgezogener Mütze hatte er sich mehrmals tief verbeugt und Herrn Poranski ins Haus gebeten, er hätte mit ihm geschäftlich zu sprechen. Die Fähre wäre ja auf der anderen Seite. Währenddessen könnte man noch ein Glas Rotwein genehmigen...

Im Herrenstübchen empfing ihn Fritze mit ihrem strahlendsten Lächeln und wünschte ihm herzlich Glück zu der neuen Stellung. Da kam auch schon Gutbier mit einer Flasche Rotwein und schenkte drei Gläser ein. „Fritze soll auch mit anstoßen. Auf gutes Einvernehmen, Herr Poranski. Wir haben mit Herrn Grünberg auch sehr gut zusammen gelebt. Wissen Sie vielleicht, ob er schon die Bandstücke und das Holz für die Tonnen gekauft hat?“

„Ich dachte, das wäre Ihre Sache, das Holz zu kaufen?“ fragte Fedor erstaunt. Herr Gutbier lächelte verschmitzt. „Wenn Glodowen kauft, kommt die Sache doch billiger.“

„Sie haben doch denselben Preis bekommen, wie alle anderen Lieferanten?“

„Den Preis hat mir Herr Grünberg gemacht.“

„Sie haben also das Holz bezahlt?“

„Ja, gewiß“, fiel Fritze ein. „Was denken Sie von uns, Herr Fedor? Das ist doch immer aufgerechnet worden, nicht wahr, Vater?“

„Jawohl... jawohl... aber wir vergessen dabei ganz das Trinken. Prost, Herr Poranski, oder muß man jetzt Herr Schreiber sagen?“

„Auf den Titel lege ich keinen Wert“, erwiderte Fedor trocken. „Was kostet die Flasche Wein?“

„Aber, Herr Fedor“, erwiderte Fritze schnell, „die Flasche hat doch Vater ausgegeben, um mit Ihnen auf Ihr Wohl anzustoßen.“

„Bedaure sehr…“ Er zog seine Geldtasche.

Fritze sprang auf. „Das gibt es nicht, Herr Fedor. Sie haben nichts bestellt. Der Vater hat Sie eingeladen. Oder sind wir Ihnen zu schlecht, daß Sie nicht ein Glas Wein von uns annehmen? Sie können sich ja revanchieren, wenn Sie zurückkommen. Die Leute werden mit der Fähre aus der anderen Seite warten, damit Sie keinen Aufenthalt haben. Sie können auch noch zu Fuß über das Eis kommen, es trägt noch einen Menschen.“ Sie goß wieder die Gläser voll. „Sie haben noch Zeit, bis Ihr Wagen drüben ist. Ich bringe Sie zu Fuß über das Eis. Und heute abend sind wir noch ein Stündchen zusammen, nicht wahr?“

In ihren Augen leuchtete es auf wie eine Verheißung und heißes Verlangen...

12. Kapitel

In den nächsten Wochen erfuhr Fedor, wo er ging und stand, welche Macht mit seinem neuen Posten verbunden war und wie sein Vorgänger sie ausgenutzt hatte. Die Ursache davon war, daß die ganze Umgegend mit dem gewaltigen Fischereibetrieb wirtschaftlich verknüpft war. Anfang Mai fuhr Zocher weg. Zuerst nach Warschau zum Besuch seiner Tochter, dann nach Karlsbad und schließlich in ein Seebad, von wo er im Herbst zurückkehrte. Fedor war tatsächlich Alleinherrscher in Glodowen.

Boruch hatte in diesem Jahre seine Maschkopie, die wieder von Grosek zusammengebracht war, an den Warnold verlegt, höchstens eine Viertelstunde von Glodowen entfernt, so daß er jederzeit leicht zu erreichen war. Ab und zu kam er nach Glodowen und erkundigte sich nach dem Gang der Geschäfte.

Weiter brauchte er auch nichts zu fragen. Er sah ja, daß alles wie am Schnürchen ging. Die Bootsbauerei war in vollem Gange, an dem großen Zuggarn für den Sommer wurde eifrig gearbeitet. Nur bei der Zusammenstellung des ersten Drebelzuges erbat sich Fedor seine Hilfe. Bogumil kam öfter und blieb tagelang. Er hatte die Anfuhr des Brennholzes für Glodowen übernommen und sich dazu einen Arbeiter angenommen. Nun begleitete er seinen Zögling auf Schritt und Tritt und ergänzte seinen Unterricht durch belehrende Gespräche.

Abends fuhren beide öfter ins Fischerlager zu Grosek und Boruch, und dann kam es zwischen den drei Graubärten zu den ergötzlichsten Wortgefechten, bei denen Fedor viel lernte. Bogumil liebte es, gewagte Behauptungen aufzustellen und mit allen möglichen Gründen zu verfechten, die er selbst nicht glaubte. Boruch, der auch leidenschaftlich gern „klarte“, das heißt spitzfindige Streitfragen erörterte, war ihm darin vollkommen gewachsen, wenn nicht überlegen. Grosek dagegen hatte sofort sein Urteil fertig und wunderte sich oder ärgerte sich sogar darüber, daß die beiden anderen über eine Sache, die seiner Meinung nach ganz leicht zu entscheiden war, so viele Worte machen und sich dabei erhitzen konnten. Ein Gespräch über Politik suchte Boruch nach Möglichkeit zu verhindern, denn dabei gerieten sich die beiden anderen stets heftig in die Haare. Bogumil war ein wütender Demokrat, und wenn er für die sozialdemokratischen Fragen etwas mehr Verständnis gehabt hätte, hätte er sich vielleicht sogar zur Sozialdemokratie gerechnet. Grosek dagegen rechnete sich zur konservativen Partei und ging mit der Regierung durch dick und dünn. Er hielt es fast für ein Verbrechen, anderer Meinung zu sein als die Regierung, und da er im Wortgefecht seinem Gegner nicht gewachsen war, zog er sich auf den lutherischen Stand zurück: „Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat.“

Dann warf ihm Bogumil ein: „Ja, aber wozu schreibt die Regierung Wahlen aus und läßt Abgeordnete wählen? Weil sie allein nicht klug genug ist und weil sie wissen will, wie das Volk denkt. Sonst könnte sie ja bloß die Landräte nach Berlin kommen und abstimmen lassen. Oder sie brauchte sie gar nicht kommen zu lassen, denn die stimmen doch bloß mit Ja.“

Zum Schluß mußte Boruch regelmäßig Frieden stiften, was ihm nicht schwer wurde, denn die beiden Alten waren trotz aller tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten gute Freunde. Fedor stand bei diesen Wortgefechten innerlich immer auf Bogumils Seite, aber es tat ihm leid, daß Grosek stets den Kürzeren zog, ohne sich überzeugen zu lassen.

Einmal, als die beiden Freunde sehr heftig aneinandergeraten waren, fragte er Bogumil auf der Rückfahrt, wer denn von ihnen beiden recht gehabt hätte.

„Mein Sohn“, erwiderte der Alte, „bei solchen Fragen läßt sich nicht entscheiden, auf wessen Seite das Recht oder das Unrecht ist. Wovon ich ehrlich überzeugt bin, das ist für mich das Rechte. Merk' dir das fürs Leben. Es kommt nur darauf an, daß man nach seiner Überzeugung handelt und sich durch nichts bestimmen läßt, sie aufzugeben, am wenigsten durch einen Vorteil, den man durch Aufgeben oder auch nur Verschweigen seiner Überzeugung ergattern könnte.“

Er lachte in seiner stillen Weise. „Nun habe ich Sie im Eifer ,Du' genannt.“

„Oh, darüber freue ich mich sehr.“

„Nun, dann wirst du auf mich auch ,Du' und ,Bogumil' sagen, wie meine Freunde.“

In der ganzen Umgegend hatte man es bald weg, daß ein neuer Geist in die Glodower Verwaltung eingezogen war, nachdem Fedor ein paar Versuche, ihn durch ein Trinkgeld irgendwie zu beeinflussen, sehr scharf zurückgewiesen hatte. Die Netzfabrik, die über das Ausbleiben des sehr großen Auftrages beunruhigt war, fragte deswegen an und stellte eine Erhöhung der Provision in Aussicht. Als sie darauf keine Antwort erhielt, schickte sie einen Reisenden, der erst erstaunt war, nicht mehr Herrn Grünberg vorzufinden und dann auf den Busch klopfte, ob das Garn bei einem anderen Geschäft bestellt worden wäre. Als Fedor die Frage verneinte, stellte er sich zuerst ungläubig und dann rückte er ganz offen mit der Frage heraus, wieviel Provision denn der Herr Schreiber verlange. Verblüfft und verlegen stand er auf, als Fedor ihn kurz ersuchte, die Tür von draußen zuzumachen.

Er sprach nie davon, aber seine alten Freunde wußten, wie er handelte. Und daß Zocher es erfuhr, dafür sorgte Boruch, der seinem Brotherrn öfter Bericht erstattete.

Zum Beginn des Sommers traten zwei Ereignisse ein, von denen das eine ziemlich spurlos vorüberging, während das andere der ganzen Umgegend reichen Gesprächsstoff lieferte. Erst verlobte sich Fritze wieder einmal, diesmal mit einem älteren Herrn, der mit der Absicht, eine Schneidemühle zu kaufen oder neu zu erbauen, sich in dem Fährkrug häuslich niedergelassen hatte. Er verhandelte mit Bogumil und einigen Eigenkätnern wegen Ankauf ihres Landes. Er schien es sehr eilig zu haben, denn er wollte gleich Holz auf Vorrat kaufen und besuchte alle Holzverkaufstermine in der ganzen großen Heide und bot eifrig mit. Er bekam natürlich nicht einen Spohn Holz zu kaufen, denn die großen Händler und Schneidemühlenbesitzer hielten jeden Preis.

Es war ihnen aber unangenehm und auch zu teuer, einen solchen Mitbewerber zu haben. Und eines Tages nahm einer von ihnen den Herrn Leutnant Strang, wie er sich nennen ließ, beiseite und fragte ihn, wie hoch er wohl das Vergnügen, mitzubieten, einschätzte. Mit einigen blauen Lappen war die Angelegenheit geregelt, und seitdem besuchte Herr von Strang zwar nach wie vor alle Verkaufstermine, er bot aber nur dann mit, wenn man es unterlassen hatte, seine Kauflust vorher zu beschwichtigen.

Mit der Zeit aber entwickelte sich doch daraus ein kleiner Holzhandel, weil er Gelegenheit hatte, kleine Posten ohne Aufschlag zu kaufen. Abnehmer dafür fand er bei der regen Nachfrage immer, und für einen gewissen Verdienst übernahm er es auch, für die Bäcker und anderen Handwerker ihren Holzbedarf einzukaufen.

In der ersten Zeit war er sehr anspruchsvoll aufgetreten, und Fritze prahlte überall so mit dem Reichtum und dem Titel ihres Verlobten, daß sie bald nur „Frau Leutnant“ und mit mehr Berechtigung genannt wurde, als mancher ahnte.

Gegen den Herbst kam die Katastrophe, die sie aus allen Himmeln riß. Ihr Verlobter hatte sich den schwerwiegenden Gründen, die Hochzeit recht bald anzuberäumen, die Fritze ihm zu Gemüte führte, nicht entziehen können. Da fiel es einem Gendarm, der eben in seinem Amtsblatt die Erneuerung eines Steckbriefs gelesen hatte, ein, die Beschreibung des schweren Jungen, der seit dem Frühjahr spurlos verschwunden war, nachzulesen, und es schien ihm, als ob der Herr Leutnant eine fatale Ähnlichkeit mit dem gesuchten Verbrecher hätte.

Es gab eine häßliche Szene im Fährkrug, die damit endigte, daß der Gendarm dem angehenden Hochzeiter ein eisernes Handband umlegte und ihn daran wegführte. Als Ersatz für die recht hoch angelaufene Rechnung hinterließ der Herr Leutnant seinem zukünftigen Schwiegervater nichts mehr und nichts weniger als die Anwartschaft auf einen strammen Enkel.

Das zweite Ereignis trat mit mehr Geräusch ins Leben und brachte es zu einer nachhaltigen Wirkung auf die ganze Umgegend. Eines Tages kam ein schnell fahrendes Motorboot über den Spirding und legte bei Glodowen an. Ein mittelgroßer, breitschultriger Mann in den besten Jahren, er sah nach Anfang der Vierziger aus, stieg aus und ging auf die Bootswerft zu, wo Fedor sich gerade aufhielt. Ein frisches, offenes Gesicht, mit blitzenden, blauen Augen, von einem kurz gehaltenen blonden Vollbart umrahmt. Leicht die blaue Seemannsmütze lüftend, trat er näher und fragte, wo er Herrn Poranski finden könnte.

Fedor grüßte und fragte, womit er dem Herrn gefällig sein könnte.

„Doktor Peters“, stellte sich der Fremdling vor. „Gibt es hier in der Nähe einen schöngelegenen Ort, wo ich ein gutes Unterkommen finden könnte?“

„Da würde ich Ihnen raten, nach Rudzanny zu fahren. Dort finden Sie ein sehr gutes Gasthaus.“

„Da bin ich schon gewesen. Liegt mir zu versteckt und die Schleuse ist mir ein zu großes Hindernis. Ich möchte irgendwo bleiben, wo ich den Spirding schnell und ungehindert erreichen kann.“

„Ach, Sie wollen längere Zeit hierbleiben?“

„Vorläufig den ganzen Sommer über. Am liebsten möchte ich ein schmuckes, sauberes Häuschen mieten.“

„Das könnte ich Ihnen vielleicht nachweisen.“

Fedor war es durch den Kopf geschossen, daß Grosek dem Herrn sein Häuschen für den Sommer vermieten könnte. Er war so wenig zu Hause. Er hatte seiner Frau, als Anka verschwand, kein böses Wort gesagt, aber er trug es ihr nach, daß sie auf die Tochter nicht besser Obacht gegeben hatte und mied sein Haus. Vergrämt lebte sie still und einsam in ihrem Schmerz. Sie würde gern mit dem kleinen Oberstübchen vorliebnehmen.

„Das wäre ja prächtig“, erwiderte Peters erfreut.

„Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden wollen, können wir gleich mit Ihrem Boot hinfahren. Darf ich Sie zum Frühstück einladen?“

„Aber mit Vergnügen! Ich habe mir heute früh ein Hühnchen in Nikolaiken geben lassen, das war so wie eine Korint für einen Ochsen. Donnerwetter, Sie leben hier nicht schlecht“, rief er vergnügt aus, als die Mamsell auftrug. Eine Schüssel saurer eingekochter Fische, ein mächtiges Stück vom geräucherten Aal, der in Masuren der Länge nach aufgespalten wird, einen Teller geräucherter Maränen.

„Sie leben ja hier an der Quelle, da brauche ich mich wohl nicht zu genieren“, meinte er, als er eifrig zu wirken begann. „Wo liegt das Häuschen?“

„Nicht weit von hier, in Weissuhnen, es gehört meinem väterlichen Freunde Wnuk, der von allen Menschen Grosek, das heißt Großväterchen, genannt wird. Die Frau lebt allein zu Hause.“

„Sagen Sie mal, kann die Frau kochen?“

„Ich glaube, sie kocht sehr gut, denn sie ist in ihrer Jugend Köchin gewesen.“

„Das wäre ja großartig. Sie fangen an, mir zu gefallen, junger Mann.“

Fedor verbeugte sich lachend. „Wer hat Sie zu mir gewiesen?“

„Ein origineller alter Kauz, den ich an der Fähre kennenlernte. Ich glaube, er heißt Bogumil, wohl ein Vollblutpole?“

„Nein, ein waschechter Steinmasur. Aber ich bin nach meiner Abstammung Pole, ich bin in Russisch-Polen geboren und aufgewachsen.“

„So, das interessiert mich. Da werden Sie mir noch viel von Polen und Rußland erzählen müssen. Sobald ich erst hier seßhaft geworden bin, komme ich, wenn Sie gestatten, öfter mal zu Ihnen. Sagen Sie mal, kann ich auch die Erlaubnis zum Angeln bekommen?“

„Aber gern.“

„Was kostet der Angelschein?“

„Dafür werde ich Ihnen doch nichts abnehmen.“

„Nein, ich liebe klare Verhältnisse, ich will viele Fische fangen, und was ich fange, aufessen.“

„Das wird wohl nicht viel sein“, meinte Fedor lächelnd.

„Da irren Sie sich, junger Mann, vorausgesetzt, daß die Seen nicht zu sehr ausgeplündert sind. Das will ich mir von Ihrem Brotherrn, der mir ganz fremd ist, nicht schenken lassen. Also was kostet der Angelschein für mich und meine Familie?“

Fedor zuckte die Achseln. „Ich habe gar keine Ahnung.“

„Nun, dann will ich Ihnen hundert Mark vorschlagen. Können wir die Angelegenheit gleich erledigen?“

Nach einer Viertelstunde fuhren sie mit dem Motorboot in gemäßigter Fahrt in den Warnold ein. „Hier ist es ja herrlich, der schönste Punkt der schönen Gegend. Wenn das meine Kinder sehen, die gehen ja vor Vergnügen entzwei. Was ist denn das?“ rief er erstaunt, als ein Kranich sich aus dem niedrigen Ufergebüsch mit ungeschickten Sprüngen und Flügelschlägen in die Luft erhob.

„Ein Kranich, Herr Doktor.“

„Und das ist wohl ein Reiher, und das eine wilde Gans? Das ist ja hier das reine Vogelparadies.“

„Ja, das ist eine ganz unzugängliche Insel im schwimmenden Moor, da nisten noch alle diese Arten.“

„Schwimmendes Moor? Was ist denn das nun wieder?“

„Das ist ein Moor, das sich mit einer dünnen Grasnarbe bedeckt hat, die noch keinen Menschen trägt.“

„Da bin ich wieder ein Stück klüger geworden. Der Mensch wird alt wie `ne Kuh und lernt noch immer dazu. Ihren Fischereibetrieb möchte ich auch kennenlernen, er soll ja großartig sein. Ach, liegt das Dorf entzückend!“ rief er aus, als Weissuhnen in Sicht kam. „Nun muß ich das Häuschen unter allen Umständen haben.“

„Ja, Herr Peters, dat gefällt mi ock“, sagte der Graubart, der den Motor bediente und wie ein richtiger Schiffer oder Fischer aussah. Ein verwittertes, runzliges Gesicht, das von einem grauen Kehlbart eingerahmt war.

„Na, dann wollen wir hier vor Anker gehen, stopp.“

In elegantem Bogen schoß das Boot an einen Wassersteg heran. Klaus, der Schiffer, fing einen Pfahl mit geschickt geworfener Leine ein und machte fest.

Mutter Wnuk freute sich sehr, als sie Fedor zu sehen bekam. Ihre erste Frage war, ob er nicht wüßte, ob Grosek schon einen Brief von Anka bekommen hätte. Dann führte sie die Herren ins Haus und wischte schnell mit der Schürze ein paar Stühle ab, obwohl sie vor Sauberkeit glänzten, und nötigte zum Sitzen. Peters fragte in dem Platt, wie es an der Waterkant gesprochen wird, ob er wohl das Haus ansehen und es für den Sommer mieten könnte.

Fedor sprang helfend ein und erklärte dem Fremdling, daß die Masuren außer ihrem polnischen Dialekt nur hochdeutsch sprechen.

„Den einen beherrsche ich gar nicht und den anderen nur unvollkommen“, erwiderte Peters lachend. Er war von dem Häuschen, das unten vier Räume und oben zwei Stübchen enthielt, ganz entzückt. Über die Vermietung konnte ihm Frau Wnuk keine Auskunft geben, das müsse er mit ihrem Mann abmachen. Sie würde es gern tun und auch die Kocherei übernehmen.

„Also dann auf zu dem Großväterchen.“

Die Sacksteller hatten das Boot schon vorbeifahren sehen und sich über das kleine Fahrzeug, das so flink durch die Wellen schoß, gewundert. Als es jetzt an ihrem Lager anhielt, standen sie alle am Ufer.

„Wer ist der Lagerkommandant?“ rief Peters.

„Unser Grosek“, riefen ein paar Burschen und zeigten auf Wnuk.

„Also, Herr Grosek, richten Sie mal die Jünglinge ein wenig aus, die stehen ja wie Kraut und Rüben durcheinander und lassen Sie sie stillstehen, während ich an Land gehe.“ Lachend stellten sich die Fischer, die alle Soldaten gewesen waren, in zwei Gliedern auf. Peters schritt ernsthaft die Front ab. „Danke, wegtreten! Und nun grüße ich Sie, Herr Grosek, und bitte Sie um geneigtes Gehör für eine hochwichtige Angelegenheit. Ich beabsichtige, Ihr Haus für den Sommer mit Beschlag zu belegen. Was meinen Sie dazu?“

Grosek, dem die burschikose Art des Fremdlings gefiel, nickte schmunzelnd: „Wenn es Ihnen nicht zu teuer wird, da können wir wohl einig werden.“

13. Kapitel

Grosek hatte einen lächerlich geringen Mietspreis für sein Haus gefordert. Peters sah ihn dabei ganz ernst an und schüttelte den Kopf. „Da werden wir nicht zusammenkommen, verehrtes Großväterchen. Sie müssen doch berücksichtigen, was die Sache mir wert sein kann.“

Etwas verlegen stammelte Grosek: „Wenn es Ihnen zuviel ist...“

Peters lachte. „Ich sehe schon, Sie sind ein tüchtiger Fischer, aber kein Geschäftsmann. Lassen Sie mich den Preis bestimmen. Ich gebe Ihnen zweihundert Mark monatlich, und mit Ihrer Frau werde ich auch einig werden. Ist Ihnen das recht?“

Jetzt schüttelte Grosek den Kopf: „Das wäre ja eine Sünde, wenn ich Ihnen soviel Geld abnehmen wollte.“ Da aber sein Mieter durchaus darauf bestand, entschloß er sich, diese Sünde auf sich zu laden und den Mietspreis zu nehmen. Fedor ließ sich bald mit dem Boot nach Hause fahren. Peters blieb noch bis zum Abend im Lager, machte Bekanntschaft mit Boruch und nahm an dem Mittag der Maschkopie teil. Die Piesna, die auch in diesem Jahr ihres Amtes als Köchin waltete, erhielt zur Belohnung einen blanken Taler, der sie in den nächsten Tagen zeitweilig in bedenkliche Schwankungen versetzte, bis der ganze Silberling in Gestalt von Alkohol durch ihre Kehle gerutscht war.

Peters hatte dem Spektor, der ihn danach ausforschte, soviel von seinen Lebensverhältnissen erzählt, als er für gut befand. Daß er durch ein großes Vermögen völlig unabhängig gestellt sei und den Sommer über nur seinem Vergnügen und der Erziehung seiner beiden Kinder lebe. Er habe ein sehr großes Stück Welt gesehen, da habe es ihn gereizt, auch einmal den äußersten Winkel im preußischen Osten kennenzulernen. Eine Plauderei mit Bildern in einem illustrierten Journal habe ihn darauf gebracht.

Diese dürftige Auskunft wurde im Laufe der Zeit durch Äußerungen einzelner Familienmitglieder ergänzt. Peters entstammte einem alten Hamburger Handelshause, war als junger Mensch nach Übersee gegangen und hatte dort einige Jahre gewirkt. Vor einigen Jahren, er war älter als er aussah, schon Anfang der Fünfzig, hatte er sich von den Unternehmungen, von denen die meisten ihm ihr Entstehen und Gedeihen verdankten, zurückgezogen, um sich ganz seiner Familie zu widmen.

Seine Frau, die stets leidend war, oder zu sein glaubte, reiste allein mit einer Gesellschafterin in den Modebädern Europas herum, und erst zum Winter fand sich die ganze Familie in ihrer prachtvollen Villa im Grunewald bei Berlin zusammen. —

Weissuhnen hatte in der nächsten Zeit viel zu staunen, viel zu bewundern und der staunenden Mitwelt zu berichten. Zuerst kam ein Auto an, das bei jedem Erscheinen von dem ganzen Dorf umlagert wurde und alle Pferde, denen es begegnete, in Furcht und Schrecken versetzte. Gleich am nächsten Tage fuhr es mehrere Male nach Rudzanny und holte Koffer, Kisten und Ballen. Herr Franz, der Chauffeur, hatte auf einer Fahrt zwei junge Mädel mitgenommen, und die konnten wochenlang nicht genug davon erzählen, wie schnell das gegangen wäre. Sie hätten kaum die Bäume im Vorbeifahren erkennen können.

Einige Tage später holte Franz die Familie des Herrn Doktor ab. Ein junges Mädchen von sechzehn und ein Knabe von etwa vierzehn Jahren. Das Mädel, Annemarie, war eine blonde, überaus reizende Erscheinung mit den strahlenden Blauaugen des Vaters. Sie hatte ein älteres Fräulein bei sich, die mit Vornamen „Miß“ und mit Vatersnamen „Wiggers“ hieß. Die hatte, wie man sich bald staunend erzählte, nichts weiter zu tun, als mit Annemarie englisch oder französisch zu sprechen.

Der Knabe Erich, ein lebhafter Junge mit dunklen Augen und Haaren, hatte auch einen Lehrer mit, der Herr Professor genannt wurde, obwohl er bis jetzt jedem Examen mit Vorsicht und Erfolg aus dem Wege gegangen war. Aber Peters nannte ihn gleich vom ersten Tage an Professor und dabei blieb es.

Frau Wnuk war in die Mangelkammer, die in der Scheune lag, übergesiedelt. So fand die ganze Familie Unterkunft in dem Häuschen, an dessen Einrichtung nicht das geringste geändert wurde. Bloß ihre Sachen hatte Frau Wnuk auf den Boden schaffen müssen. Ihre Kochkunst fand ungeteilte Anerkennung.

Schon am nächsten Tage, nachdem man sich eingerichtet hatte, kam Peters mit seiner ganzen Gesellschaft nach Glodowen. Es wurde gerade ein Drebelzug, der nach Warschau gehen sollte, zusammengestellt. Über die vielen, schönen, großen Fische regte sich Peters förmlich auf. Er stieg mit seinen gelben Schuhen auf den Haltern herum und half die Fische herausfangen und umsetzen. Als er sich dabei nasse Füße geholt hatte, zog er die Schuhe aus und lief barfuß umher. Gegen Abend kam einer der Spektors, Meier, ein kleiner, aber untersetzter Mann mit großem, fuchsrotem Vollbart, der mit zwei Garnen auf dem Spirding fischte, an und brachte einen großen Hecht von über vierzig Pfund mit, bei dessen Anblick Peters ganz aus dem Häuschen geriet.

„Das wäre das größte Glück meines Lebens“, erklärte er aufgeregt, „wenn ich mal solch einen Burschen an die Angel bekäme.“

Sofort am nächsten Tage wollte er mit der Darre sein Heil versuchen. Fedor hatte ihm einen leichten, neugebauten Kahn mit einem Wasserschaff, wie ihn die Sacksteller benutzen, überlassen. „Ich weiß schon, wie ich es mache. Ich stelle ein Hungertuch von Segel auf und fahre mit dem Wind über den Spirding. Zurück holt mich Klaus mit dem Motorboot.“

Der Dampfer, der den Drebelzug über den Spirding schleppen sollte, blieb aus. Da erbot sich Peters, mit seinem Boot die Drebel bis nach Johannisburg zu bringen. Zum Dank dafür schlug Fedor vor, den warmen Sommerabend im Fischerlager zu verleben. Peters stimmte sofort bei. „Gut, machen wir eine italienische Sommernacht in Masuren. Professor, fahren Sie mit Erich nach Hause und holen Sie, Erich, paß gut auf, damit der Professor nichts vergißt, erstens Lampions und Lichte. Ihre Klampfen können Sie auch mitbringen; zweitens einen Korb mit Fressage und edlen Getränken. Ich denke, Moselwein mit Selter wird das geeignetste Getränk für die Herren Honoratioren sein. Drittens holen Sie aus dem Dorfkrug einige Achtel Bier und einige Pullen echten Kartofflinski für die Fischer. Ferner eine Pulle süßen Likör für die alte Dame, die uns im Lager die Honneurs machen wird.“

„Oh, das ist interessant. Haben die Fischer eine Dame bei sich?“ fragte Miß Wiggers mit naivem Erstaunen.

„Selbstverständlich“, versicherte Peters mit tiefem Ernst. „Eine Vollblutmasurin aus edlem Geschlecht, das seine Ahnen bis auf Weißmantel, einen Ritter von deutschem Hause, über eine edle junge Frau aus masurischem Fürstengeschlecht zurückführt.“

Als es zu schummern anfing, war das Boot zurückgekehrt und alle Aufträge waren restlos ausgeführt. Fedor hatte seine Geige mitgenommen, die er schon lange nicht in der Hand gehabt hatte, und in dem Boot untergebracht, ohne daß es einer von der Gesellschaft gesehen hatte. Schon bei der Anfahrt leuchtete ihnen das hell auflodernde Lagerfeuer entgegen. Fedor hatte durch Meier Nachricht geschickt, die jungen Burschen möchten genügend trockenes Holz beschaffen, der Herr Peters käme mit seiner ganzen Gesellschaft zu Besuch und es gäbe was Ordentliches zu trinken.

Als das Boot landete, standen die Fischer in zwei Reihen stramm ausgerichtet am Ufer, Boruch und Meier, die wie Vater und Sohn aussahen, wenn man nur die Figur berücksichtigte, standen als Unteroffiziere vor der Front. Grosek trat an Peters heran, grüßte militärisch und meldete: „Fünfundzwanzig Fischer und zwei jüdische Spektoren.“

„Ich danke“, erwiderte der Doktor ernst. „Lassen Sie die Leute wegtreten. Vorher aber will ich Ihnen sagen, daß ich mir für den Abend eine ungezwungene Fröhlichkeit und die beste Glanzleistung ausbitte, deren Sie fähig sind.“ Er trat auf Boruch zu. „Es freut mich, daß die Herren auch auf den Scherz eingegangen sind. Ich bitte Sie, heute abend meine Gäste zu sein.“

Miß Wiggers hatte mit sichtlichem Erstaunen die Szene beobachtet, die sich ganz ernst abgespielt hatte. „Herr Professor, das imponiert mir. Man sieht doch die preußische Drill oder Disziplin, wie Sie sagen.“

Hinter ihr brach Annemarie, die ihren Vater besser kannte und die Szene auf seine Anstiftung zurückführte, in ein fröhliches Lachen aus.

„Aber wo ist die alte Dame? Ich möchte ihr begrüßen“, fuhr Miß Wiggers unbeirrt fort.

Peters drehte sich um und holte die Piesna, die am Kessel hantierte, herbei. „Hier, Miß Wiggers, eine ebenso alte wie naive Engländerin, Frau von Kobylinska, die Repräsentantin des Fischerlagers.“ Empört drehte sich die Miß um, aber Annemarie reichte dafür der alten Piesna ihre kleine, weiche Hand.

Nun sollten die Lampions aufgehängt werden, und da stellte es sich heraus, daß der Professor keinen Draht mitgebracht hatte. „Sie leiden zwar immer an chronischem Drahtmangel“, meinte Peters, „aber gerade deswegen hätten Sie an dieses unentbehrliche Material denken können.“

Es war nicht schwer, im Fischerlager dafür Ersatz zu finden, und bald war der Lagerplatz mit einer Anzahl farbiger Lampions umzogen. Da es ganz natürlich zugehen sollte, lagerten sich die Fischer um das Feuer und aßen „ganz natürlich“, wie Miß Wiggers treffend bemerkte. Nur die Menge Fische und Kartoffeln, die verspeist wurde, erregte ihr Erstaunen. Als die Mahlzeit vorüber war, wurde neues Holz auf das Feuer geworfen und die Getränke in Angriff genommen. Dann begannen die jungen Leute zu singen. Es waren ein paar frische Stimmen darunter; sie sangen masurische Volks- und Schelmenlieder, deren drastischer Inhalt zum Glück von den Gästen nicht verstanden wurde.

„Viel Natur, wenig Kunst“, meinte Miß Wiggers nach dem ersten Liede.

„Na, erlauben Sie mal“, erwiderte Peters, „das war ein richtiggehendes Männerquartett und eine sehr respektable Leistung. Haben Sie so was schon von Ihren ewig besoffenen Arbeitern in England gehört?“ Miß Wiggers zuckte die Achseln und schwieg. Als die Fischer sich sattgesungen hatten, trat eine Pause ein. Eben setzte die Unterhaltung wieder ein, als aus dem Dunkel des Waldes der leise Ton einer Geige erklang. Eine einfache, schwermütige Melodie. Hell und klar, wie aus einer Menschenbrust, kamen die Töne angeschwebt. „Professor“, flüsterte Peters seinem Hauslehrer zu, „sperren Sie die Ohren auf. Da können Sie noch was lernen. Das ist Musik. Wer mag das aber sein?“

„Der junge Pole“, erwiderte auf der anderen Seite Annemarie leise. Allmählich wurde die Melodie stärker und mutiger, und wieder brausten die Töne, wie die alten polnischen Reiter, deren Taten sie besangen, über das Land. Als Fedor nach einer Weile erschien, klatschte Peters Beifall, und die ganze Gesellschaft folgte seinem Beispiel. „Sie sind ja ein Künstler, Herr Fedor. Wo haben Sie das gelernt? Sie müssen doch vorzüglichen Unterricht gehabt haben.“

„Ich habe gar keinen Unterricht gehabt. Ich habe nur einen Zigeuner spielen gehört. Als ich zur Fischerei kam, kaufte ich mir eine Geige und habe angefangen, zu spielen. Ich hatte viel freie Zeit und nachher beim Militär noch mehr.“

„Da müssen Sie Noten lernen. Der Professor gogt auch die Geige, der kann Ihnen Unterricht geben.“

Nun traten der Boczan und Piesna, die schon ungeduldig darauf gewartet hatten, ihre Kunst zeigen zu können, in den Lichtkreis. Fedor hatte seine Geige wieder angesetzt und spielte einen reißenden Kosak. Kaum hatte das Paar angefangen, zu tanzen, als Peters Bravo rief und aus vollem Halse zu lachen begann, bis ihm die Tränen in die Augen traten. Miß Wiggers hatte augenscheinlich keinen Sinn für groteske Komik, denn sie rief empört: „Shoking! Annemarie, wenden Sie sich ab. Professor, führen Sie den Erich weg, das ist ja empörend.“

„Sie alte Zwiebel“, fuhr ihr Peters heftig in die Parade, „stören Sie uns nicht im Kunstgenuß und verekeln Sie meinen Kindern nicht ein unschuldiges Vergnügen. Wir werden uns morgen noch eingehender über Ihre lächerliche Prüderei unterhalten.“

Mit dem Tanz war der Höhepunkt der Kunstgenüsse erreicht, denn die Lieder, die der Professor zur Laute sang, zeigten mehr guten Willen als Können. Die alten Herren hatten sich um ein Faß Bier gelagert und ließen sich von Peters über Japan, das er aus eigener Anschauung kannte, erzählen. Fedor hatte sich neben den Professor gesetzt, der ihm einen tiefgründigen Vortrag über die Tonbildung auf der Geige hielt. Er war den ganzen Tag über in einer wunderbaren Stimmung. Sooft er konnte, hatte er Annemarie angesehen, mit scheuer Ehrfurcht, wie ein gläubiger Katholik zu dem Bilde der jungfräulichen Mutter Gottes aufschaut. Er hätte nicht sagen können, was ihm diese ehrfürchtige Bewunderung abnötigte. Es war der sich selbst noch unbewußte Liebreiz einer Mädchenknospe und ein Hauch von Kindlichkeit, der sie so köstlich unbefangen erscheinen ließ. Sie hatte ihn, wenn sie mit ihm sprach, so voll und offen mit ihren leuchtenden Augen angeschaut, daß er unter ihrem Blick fast verlegen wurde. Wie ein Wesen höherer Art kam sie ihm vor.

Und als sie jetzt den Professor unterbrach und ihn bat, noch etwas zu spielen, nahm er seine Geige und trat einige Schritte abseits ins Dunkel. Er wußte nicht, was er spielte, Melodien und Tänze, wie sie ihm in die Finger kamen, aber aus seiner Geige sprach seine Seele.

„Jetzt werden Sie bald begreifen, was Tonbildung auf der Geige ist“, flüsterte Annemarie, die viel von der Art ihres Vaters mitbekommen hatte, dem Professor zu. Als er geendet hatte, verschwand Fedor. Er hatte das Gefühl, allein sein zu müssen. Er warf sich im Dunkel ins Gras und schloß die Augen. Und während er Annemarie vor sich sah, mußte er an Fritze denken. Ein Gefühl der Scham stieg in ihm auf, wenn er an die Zeit dachte, als die Leidenschaft für das Mädchen in seinem Blut tobte, so daß er die Nächte nicht schlafen konnte. Er begann zu begreifen, daß die Leidenschaft für Fritze bloß von seinen leicht entzündlichen Sinnen ausgegangen war. Das Interesse, mehr konnte es doch wohl nicht sein, für Annemarie ging von seinem Kopf und etwas wohl auch schon von seinem Herzen aus.

Das Motorboot, das den Drebelzug über den Spirding geschleppt hatte, war zurückgekehrt und Peters brach mit seiner Gesellschaft auf. Er hatte ein großartiges Vergnügen gehabt und bedankte sich bei Wnuk und Grosek. Fedor war nicht zu finden. Am anderen Morgen hatte der Doktor eine sehr heftige Auseinandersetzung mit Miß Wiggers unter vier Augen. Er hielt ihr eine energische Standrede über ihre Prüderei, wie man harmlose Unschuld vergiften könnte.

„Wenn Sie so verschroben sind, daß Sie an solcher Natürlichkeit Anstoß nehmen, dann behalten Sie das für die Zukunft gefälligst für sich. Mein Junge hat ganz harmlos gelacht. Erst als Sie mit Ihrem shoking loslegten, grinste er wie ein Voß. Das verbitte ich mir. Zwischen Moral und Prüderei ist ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht. Und wenn Sie ihn nicht kennen, dann halten Sie gefälligst Ihren Schnabel.“

Miß Wiggers erwiderte heftig: sie wäre von anständigen Eltern wohlerzogen und wüßte sehr gut, was moralisch und was unmoralisch wäre.

„Nein, das wissen Sie eben nicht, weil man Ihnen eine bösartige Prüderei anerzogen hat. Im übrigen möchte ich Sie bitten, Ihre Belehrung irgendwelcher Art, wie ich sie nach Ihrem gestrigen Benehmen vermuten muß, bei Annemarie zu unterlassen. Das Kind braucht solche Unterweisung von Ihnen nicht mehr. Sie hat gelernt, Natürliches unbefangen zu empfinden und vor etwas Unpassendem bewahrt sie ihr angeborenes Zartgefühl.“

Miß Wiggers kämpfte einige Tage mit sich, ob sie nicht kündigen sollte. Aber dann siegte ihr praktischer Sinn und sie unterließ es.

Peters war jetzt häufiger Gast in Glodowen und im Fischerlager. Er angelte viel und hatte gute Erfolge. Er hatte schon mehrere Hechte von zehn, zwölf Pfund gefangen und war sehr stolz darauf. Die beiden Kinder mit ihren unvermeidlichen Anhängseln, wie Erich respektlos die beiden Lehrer nannte, kamen auch oft nach Glodowen. Erich verschwand dann gleich nach der Bootswerft, wo er nicht nur stundenlang zusah, sondern mithalf. Er wollte sich selbst ein Canoe bauen und sich dafür die nötigen Kenntnisse aneignen. Annemarie saß gern auf dem hohen, steilen User des Spirding und sah, in stilles Sinnen versunken, träumend auf die unendliche Fläche hinaus, über der an ganz hellen Tagen das jenseitige Ufer wie ein dünner Pinselstrich zu erkennen war.

14. Kapitel

In der ganzen Umgegend war man sich bald darüber einig, daß der Doktor Peters ein ganz merkwürdiges Exemplar der Gattung Mensch sei. So `n reicher Herr und so gar kein Stolz. Den Dorfjungen, die ihn in der ersten Zeit wie ein Wundertier anglotzten, hatte er bald beigebracht, ihn höflich zu grüßen, ja, er kannte sie bald alle bei Vor- und Zunamen, denn sie waren seine Wurmlieferanten. Er selbst hatte ihnen beigebracht, abends nach einem Regentage die Gärten mit der Laterne abzusuchen und die Würmer, die bei dem geringsten Geräusch blitzschnell in ihrem Loch verschwinden, zu greifen.

Auch mit den erwachsenen Dorfbewohnern war er gut Freund, denn er sprach jeden Menschen auf der Straße an und ließ sich mit ihm in ein Gespräch ein. Es dauerte auch nicht lange, da wandte sich jeder, der etwas auf dem Herzen hatte, an ihn. Er half auch, wo es not tat, mit Geld, aber nur, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß der Hilfesuchende ein ordentlicher Mensch war. Darüber konnte ihm Grosek jede gewünschte Auskunft geben.

Ankas Schicksal hatte ihm Frau Wnuk erzählt und ihm geklagt, daß ihr Mann ihr die Schuld daran beimesse und sich seitdem nicht mehr um sie kümmere. Daraufhin hatte Peters am nächsten Sonntag Grosek in seinem Boot nach Hause gebracht und ihm unterwegs eine gehörige Standpauke gehalten. Doch damit nicht genug. Mit Boruchs Hilfe oder vielmehr durch geschäftliche Verbindungen des großen Fischlieferanten hatte er über Ankas Befinden Erkundigungen eingezogen. Sie hatte einen kleinen Jungen und lebte ziemlich friedlich mit ihrem Mann, der sehr viel auf Reisen war und selten nach Hause kam. Er legte Grosek nahe, zu ihr zu fahren und sie nach Hause zu holen. Der Alte wies den Vorschlag kurz von der Hand. Sie gehöre zu ihrem Mann, und wenn sie es nicht mehr bei ihm aushalten könnte, dann sei es ihre Sache, ins Elternhaus den Weg zu finden.

Auch über Fedors romantische Jugend und dunkle Herkunft war Peters unterrichtet. Er hatte den jungen, frischen Mann gern, der bei aller seiner Bescheidenheit so energisch und geschickt den großen Betrieb leitete. Peters hatte sich von ihm die Erlaubnis geben lassen, eine Nachtschnur auf Aale zu legen und bezahlte jeden Aal, den er fing, nach dem Händlerpreis.

Fast jeden Abend brachte er in der Gesellschaft seiner Freunde zu, das heißt im Fischerlager, wo sich regelmäßig Bogumil einfand. Auch Meier, einer der vielen „Spektors“ in Boruchs Betrieb, kam fast jeden Abend. Er hatte eine sehr traurige Jugend verlebt.

Eines Abends hatte er, als Peters ihn darum bat, davon erzählt.

Sein Vater war Krugpächter in Russisch-Polen. Er wohnte in einem Dorf, das einem sehr reichen polnischen Grafen gehörte. Als Meier etwa zehn Jahre alt war, brach die letzte polnische Revolution aus. Der Graf schloß sich mit der Mehrzahl seiner Leute dem Aufstande an. Seine junge Frau mit einem kleinen Mädchen von zweieinhalb oder drei Jahren blieb allein auf dem Schloß zurück. In einer finsteren Nacht wurde das Schloß von einer russischen Streifschar überfallen und niedergebrannt, wobei die junge, schöne Frau ihren Tod fand. Sie soll den Russen mit der Pistole in der Hand entgegengetreten und dann niedergemacht worden sein, wenn ihr nicht noch Schlimmeres angetan wurde. Das kleine Mädchen wurde gerettet. Das polnische Kindermädchen, das bei ihm schlief, riß es aus dem Bettchen und sprang mit ihm durchs Fenster in den Schloßgarten. Es gelang ihr, den See, der im Park lag, zu erreichen und sich mit dem Kahn im Schilf zu verbergen.

Am anderen Morgen waren die Russen abgezogen. Das Mädel wagte sich aus seinem Versteck hervor und fand nicht nur das Schloß, sondern auch das Dorf verbrannt. Nur das Wirtshaus war verschont geblieben, weil es ein Stück abseits lag und weil Meiers Vater die Russen mit Spiritussen reichlich traktiert hatte.

Das Mädchen übergab die Kleine dem Krugwirt und ging davon ins nächste Dorf, wo sie Angehörige hatte. Einige Tage später war Meier von seinem Vater nach dem nächsten Dorf geschickt worden, um etwas zu holen. Als er gegen Abend nach Hause kam, war sein Elternhaus eine Stätte des Grauens geworden. Vater, Mutter und die erwachsene Schwester waren von einer Streifschar aufgehängt worden. Ein altes, schwachsinniges Weib, das in der Umgegend bettelte und dabei gewesen war, wiederholte auf die Fragen des Jungen nur immer: „Der Graf, der Graf...“

Das war ein Schicksal, von dem die Juden während des Aufstandes öfter betroffen wurden, denn von beiden Seiten hatte man sie im Verdacht der Spionage und machte mit ihnen kurzen Prozeß.

Wenn der Graf an der Spitze einer polnischen Streifschar das hatte ausführen lassen, dann hatte er wohl den jüdischen Gastwirt im Verdacht, die Russen zu dem Überfall auf das unverteidigte Schloß veranlaßt zu haben, was Meier aber entschieden in Abrede stellte.

Mit ungeheurer Mühe hatte der kleine Junge die Leichen abgeschnitten und im Garten hinter dem Hause beerdigt. Als er einsam und weinend abends bei einem Licht in der Stube saß, hörte er leises Weinen. Er suchte nach und fand Maria, die kleine Grafentochter, unter dem Bett versteckt. Nun stand er vor einem Rätsel. Wenn der Graf sein Töchterchen unter der Obhut des jüdischen Ehepaares fand, hätte er wohl kaum so schrecklich gehandelt.

Aus dem Kind war nichts herauszubringen. Es gab auf alle Fragen bloß die Antwort: „Russen kommen... Maria verstecken...“ Man mußte annehmen, daß die Kleine, durch Getümmel und Geschrei eingeängstigt, sich unter einem Bett versteckt hatte und dort eingeschlafen war. Man mochte sie gesucht und gerufen haben, über sie hatte nicht geantwortet. Das war nur die Folge der Russennacht, wo das Kindermädchen sie durch Gewalt, durch Zuhalten des Mundes und durch Schläge zum Schweigen gezwungen hatte.

Am nächsten Morgen nahm der Knabe das Kind auf den Arm und wanderte mit ihm nach Grajewo, wo ein Bruder seines Vaters wohnte. Der Mann hatte auch ein Häuflein Kinder, aber er nahm den Zuwachs in seine Familie auf. Um alle Redereien zu vermeiden, wurde die Kleine als Meiers Schwester ausgegeben und Mirjam gerufen. Von dem Schicksal des Grafen war nichts zu erfahren. Er konnte gefallen oder gefangen oder auch entflohen sein.

Er war glücklich entkommen und hatte dicht an der preußischen Grenze in einem Forsthaus Unterschlupf gefunden, wo er sich versteckt hielt, bis er seine Flucht nach Frankreich fortsetzen konnte. Sehr viele Polen, die dem russischen Blutbad entronnen waren, fanden zu jener Zeit gastliche Aufnahme in Ostpreußen, wo man an ihrem unglücklichen Schicksal leidenschaftlichen Anteil nahm. Das war offenes Geheimnis, wohl auch für die Behörden, die angewiesen waren, jeden polnischen Flüchtling festzunehmen und an Rußland auszuliefern.

Des Grafen Töchterchen wuchs in der armen jüdischen Familie auf, ohne eine Ahnung ihrer Herkunft zu haben, denn die Ereignisse ihrer Kindheit waren ihrem Gedächtnis völlig entschwunden. Schon als Kind erregte sie durch ihre Schönheit Aufsehen und entwickelte sich zu einem wunderbar lieblichen Mädchen. Meier deutete es zwar mit keinem Wort an, daß er sich in sein Schwesterchen ebenso wie alle anderen Jünglinge des Städtchens verliebt hatte, aber man konnte es aus seinen Worten herausfühlen.

Der Graf war nach zwölfjähriger Abwesenheit wieder in Ostpreußen aufgetaucht und hatte sich in dem Grenzort Prostken niedergelassen. Er hatte lange mit der russischen Regierung um Herausgabe seiner Güter prozessiert, aber nichts weiter erreicht, als daß ihm eine für seinen Reichtum sehr mäßige Abfindungssumme geboten wurde. Er nahm sie an, eröffnete damit ein Weingeschäft, das sehr gut ging, denn der Graf hatte sich in Frankreich als Küfer durchs Leben geschlagen...

Das war natürlich Meiers Onkel in dem kaum eine Meile entfernten Grajewo bekannt, und nun entstand die Frage, ob er verpflichtet sei, das Mädel dem Vater zuzuführen. Er hatte nicht große Lust dazu, denn das Mädel war ihm lieb geworden wie sein eigenes Kind. Als aber ein paar Heiratsangebote kamen — auch die Offiziere der russischen Garnison machten eifrig Jagd auf das Mädel —, da entschloß er sich, dem Grafen von seiner Tochter Nachricht zu geben. Er erkannte sie an der Ähnlichkeit mit seiner Frau und nahm sie zu sich. Maria-Mirjam erfreute sich nur noch ein Jahr ihres Lebens, im nächsten Sommer ertrank sie beim Baden im Fluß. Sie war beim Schwimmen in ein Gewirr von Wasserpflanzen geraten und hatte sich nicht mehr befreien können.

Meier glaubte, daß sie selbst den Tod gesucht hatte. Er war zu der Zeit in Prostken in einem Geschäft und sprach sie ab und zu. Das Mädel war an ein stilles, zurückgezogenes Leben im Schoße einer Familie, mit der sie durch innige Zuneigung verbunden war, gewöhnt und fühlte sich in dem geräuschvollen Hause, wo ihre Schönheit als Lockmittel für Gäste dienen mußte, nicht wohl. Dazu kam noch eine lieblose Behandlung durch die Stiefmutter. Da hatte sie in ihrer Verzweiflung wohl den Tod gesucht.

Meier, obwohl er in reiferem Alter geheiratet und drei Kinder hatte, konnte den Verlust noch immer nicht verschmerzen. Er quälte sich auch mit Gedanken, ob es nicht ein Unrecht gewesen wäre, das Mädchen ohne Kenntnis seiner Herkunft als Jüdin zu erziehen...

Am nächsten Abend brachte Peters, wohl durch Meiers Erzählung veranlaßt, die Unterhaltung auf russische und polnische Zustände, worüber Boruch und Meier ihm hinlänglich Bescheid geben konnten. Fedor, der, wie immer, dabei war, hörte aufmerksam zu. Er hörte schweigend zu, weil er sich kein Urteil darüber zutraute. Aber sein Blut regte sich in ihm, als Peters die Frage auswarf, ob die Polen denn noch immer hofften, ihre staatliche Selbständigkeit wiederzuerlangen.

Bogumil, der die Verhältnisse wohl am genauesten kannte, wußte, daß die Polen die Hoffnung durchaus noch nicht aufgegeben hatten. Er hatte Kenntnis von den Bestrebungen, die darauf ausgingen, die Masuren für den großpolnischen Gedanken zu gewinnen.

Er führte aus, die Polen wären in Posen und Westpreußen trotz der ihnen feindlichen Regierungspolitik, die sie durch deutsche Ansiedler verdrängen wollte, nicht geschwächt, sondern gestärkt. Der polnische Bauer und Gutsbesitzer habe wirtschaften gelernt, und in den Städten sei ein gebildeter Bürgerstand erwachsen, der den nationalen Gedanken eifrig pflege.

Der beste Beweis dafür sei ja, daß die Polen, denen der preußische Staat ihre Güter für teuren Preis abkaufe, sich nach Ostpreußen hineindrängten. In etwa zehn Jahren seien in dem masurischen Ländchen, wo es früher fast keine Katholiken gab, zehn katholische Kirchen entstanden... außerdem ein paar nationalpolnische Zeitungen.

„Ich meine“, warf Peters ein, „daß die Wiederherstellung eines selbständigen Staates Polen wohl möglich ist. Allerdings nicht in den alten Grenzen, die es zur Zeit seiner größten Ausdehnung hatte.“

„Ich bin der Ansicht“, erwiderte Bogumil, „daß die Polen keine Befähigung zur Staatenbildung haben. Das maßlose Selbstgefühl der Adelskaste hat sowohl die Entwicklung einer starken Königsmacht, wie die Schaffung des Parlamentarismus verhindert, der die Unterwerfung der Minderheit unter den Willen der Mehrheit bedeutet. Das war in Polen unmöglich, denn jeder einzelne konnte durch sein „Nje pozwolam“ jeden Beschluß verhindern. Ich finde in der ganzen polnischen Geschichte nirgends ein Zeichen staatsmännischer Klugheit bei der herrschenden Klasse. Bei uns ist der adlige und bürgerliche Großgrundbesitz, der sich mit der ihm verschwägerten und versippten Regierung und Kriegerkaste in die Macht teilt, auch reichlich einseitig aber er läßt sich doch schließlich die nötigen Reformen abringen. In Polen findet sich nie eine Spur davon... da haben sich nur die Gegensätze fortwährend verschärft.“

„Erzähl' doch mehr davon“, bat Fedor.

Bogumil, der leidenschaftlich gern rauchte, steckte sich eine neue Zigarre an und sah eine Weile nachdenklich ins Feuer. „Ich kann dir doch hier nicht die ganze polnische Geschichte vortragen, aber ich will mal ein paar Momente herausgreifen. Zum Beispiel: Nach der zweiten Teilung Polens bildeten die Flüchtlinge, ich glaube, es ist im Jahre 1797 gewesen, in Italien eine polnische Legion unter Dombrowski, die mit Erfolg gegen die Österreicher kämpfte. Im nächsten Jahr kam noch eine zweite polnische Legion unter Kniaziewicz dazu. Was war das Ende vom Liede? Die Franzosen gaben beim Friedensschluß die Interessen Polens rücksichtslos preis und schickten die Polen nach Haiti, wo sie sich in dem Kampf gegen die aufständischen Neger aufrieben. — Aber die Polen haben ja an den Franzosen einen Narren gefressen“, fuhr er fort, „und als Napoleon im Jahre 1806 nach Warschau kam, wurde er überschwenglich gefeiert. Hat sich doch sogar die Gräfin Walewska, eine schöne, edle Frau, dem Korsen in die Arme geworfen, um ihn zugunsten ihres Vaterlandes zu beeinflussen. Dann will ich mal den Aufstand von 1830 nehmen. Da haben die Polen mit einer ganz beispiellosen Tapferkeit gekämpft, aber der polnische Reichstag war von Parteien zerrissen. Die großen Magnaten wollten das alte Reich mit ihren Privilegien aufrichten, der niedere Adel und das Bürgertum war von demokratischen Ideen erfüllt... nicht einmal den Bauernstand konnten die polnischen Machthaber für sich gewinnen. Sonst wäre vielleicht die Aufstandsbewegung im Jahre 1846 in Posen nicht so ganz im Sande verlaufen, obwohl die Preußen gleich zu Anfang die Führer verhafteten und ihnen den Prozeß machten. Wie die Bauern in Wirklichkeit gegen den Adel gesonnen waren, das zeigte sich in Galizien. Da wurden von den Bauern über 2000 Adlige und Priester ermordet.

Es ist geradezu lachhaft, sagen zu müssen, daß die Russen die nötigen Reformen in Rußland eingeführt haben. Alexander II. hat die Frondienste der Bauern abgeschafft und in Rentenzahlung umgewandelt. Er ließ von dem Grafen Wielopolski sogar einen Reformplan ausarbeiten, der eine weitgehende Selbstverwaltung vorsah und betraute ihn mit der Ausführung. Und was geschah? Der hohe Adel bemächtigte sich sofort der Verwaltung und besetzte alle Ämter mit seinen Anhängern. Natürlich fand er Widerstand bei der demokratischen Partei, die durch eine Umwälzung selbst ans Ruder zu gelangen hoffte. Und eine geheime Nationalregierung wußte sich durch Terrorismus und Meuchelmord Macht zu verschaffen. Dadurch wurde der Aufstand von 1863 zugleich zu einem Bürgerkrieg der Polen untereinander. Es bildeten sich Banden unter Langiewicz, der auch kleine Erfolge erzielte, aber schließlich aufgerieben wurde, weil die Landbevölkerung sich völlig ablehnend verhielt. Im nächsten Jahre haben dann die Russen die polnischen Bauern aus der Leibeigenschaft befreit und mit den Gütern der nach Sibirien verbannten Edelleute ausgestattet.

Das sind so ein paar Sachen, die mir durch den Kopf gehen. Der Traum der Polen von einer staatlichen Wiedergeburt ist ganz hoffnungslos. Die Bauern machen nicht mit. Und allein sind die Polen, selbst, wenn das ganze Volk einig wäre, nicht mehr imstande, sich zu befreien. Das könnte nur durch die Hilfe einer starken, auswärtigen Macht geschehen. Frankreich? Das ist mit dem Zarismus verbündet und füttert den unersättlichen Magen des Tschin mit Milliarden, um seine Hilfe für den Revanchekampf mit Deutschland zu gewinnen.“

„Dann wäre doch Deutschland der geborene Freund der Polen, wenn es mit Rußland in Krieg gerät“, warf Peters ein.

„Die Polen und Deutschland“, erwiderte Bogumil, „das ist jetzt so wie Wasser und Feuer, seitdem Preußen in seinen Ostprovinzen die scharfe Polenpolitik begonnen hat. Und ich glaube nicht daran, daß Preußen auf den Gedanken kommen könnte, Polen den Russen wegzunehmen und einen Pufferstaat daraus zu machen. Damit würde es sich nur in sein eigenes Fleisch schneiden und seine inneren Schwierigkeiten im Osten vermehren. Es liegt doch viel näher, sich mit dem monarchischen Rußland wieder zu vertragen. Die beiden Herrscherhäuser sind nahe miteinander verwandt, und wenn die Russen gründlich Keile gekriegt haben, dann werden sie auch wieder vernünftig werden. Jetzt, wo sie von den Japanern schon geduckt sind, wäre der richtige Zeitpunkt, ihnen die Jacke vollzuklopfen.“

15. Kapitel

Ein trockener, heißer Sommer war auf den schönen Frühling gefolgt. Auf dem leichten Sandboden kümmerte das Getreide, und im Walde verdorrte das Gras. Selbst der Tau fehlte am Morgen, denn die kurzen, hellen Nächte brachten keine Abkühlung. Wie ein Alp lastete die schwüle Hitze auf der Natur und den Menschen. Vergebens spähten die Landwirte am wolkenlosen Himmel nach einer Wolke aus. Manchmal sah es in der Mittagszeit so aus, als wenn sich ein Gewitter zusammenballen wollte, aber gegen Abend zerfloß der Dunst, und die Sonne ging in wunderbarer Farbenpracht unter...

Nur die Sacksteller waren mit dem Wetter zufrieden. Noch nie hatten sie soviel gefangen wie in diesen heißen Tagen. Und auch Annemarie und Erich fanden an dem Wetter nichts auszusetzen. Im Gegenteil, sie fanden es prächtig, weil es sie von der Aufsicht ihrer Lehrmeister befreite. Miß Wiggers wagte sich nicht aus dem Zimmer, das durch Schließen der Läden verdunkelt wurde, und der Professor hatte seinem Zögling Sommerferien gegeben. Er wollte oder vielmehr, er sollte eifrig arbeiten, denn Peters hatte ihn gedrängt, endlich mal ein Examen abzulegen, weil seine Stellung im Herbst zu Ende gehen sollte, denn Erich sollte zum Winter eine Realschule besuchen, um später sich auf einer Handelshochschule für den Kaufmannsstand vorzubereiten.

Den Professor schien die Aussicht auf eine Staatsstellung nicht sehr zu locken. Er entwickelte schon seit einiger Zeit eine merkwürdige Neigung für die Landwirtschaft und im besonderen für eine stattliche bäuerliche Besitzung, die einer jungen Witwe gehörte. Ob sich aus der Neigung für die Landwirtschaft erst die Neigung zu der jungen Witwe entwickelt hatte, oder ob die Sache umgekehrt gegangen war, war zweifelhaft. Jedenfalls steuerte er sehr energisch seinem Ziel zu, und augenscheinlich mit Erfolg...

Da Peters gerade in dieser Zeit in Geschäften nach Hamburg verreist war, blieben die beiden Kinder den ganzen Tag sich selbst überlassen. Morgens ließen sie sich von Frau Wnuk einen Korb mit Speisen und Getränken packen und fuhren mit dem leichten Angelkahn fort. Zuerst fuhren sie nach Glodowen, wo sie an Fedor einen guten Gesellschafter fanden. Erich hing mit schwärmerischer Bewunderung an dem älteren Freunde, der bereitwillig alle seine Wünsche erfüllte. Jetzt hatte er ihm die dünnen Bretter für das Kanu besorgt und legte selbst mit Hand an, um das kleine Fahrzeug zu bauen.

Annemarie war ein heiteres, liebenswürdiges Kind. Meistens entledigte sie sich schon ebenso wie Erich im Kahn ihrer Schuhe und Strümpfe und lief barfuß. Hals und Arme, die das leichte Kleidchen freiließen, waren kräftig gebräunt. Mit Fedor verkehrte sie wie mit einem Bruder.

Eines Tages hatte Fedor die Kinder nach der Insel im Spirding, auf der das alte Fort Lyck liegt, hinübergerudert. Es muß ein merkwürdiger Stratege gewesen sein, der den Gedanken faßte und auch ausführte, auf der kleinen, wenige Morgen umfassenden Insel ein Fort zu bauen. Einige Jahrzehnte hindurch war es von einem halben Hundert Invaliden besetzt. Als sie ausgestorben waren, zerfielen die Gebäude. Was als Baumaterial zu verwenden war, holten die Bauern allmählich weg, so daß schließlich nur ein paar Kellerräume erhalten blieben.

Nun hatte die Vogelwelt von dem einsamen Eiland Besitz ergriffen. Da nisteten wilde Enten, Bläßhühner und Möwen in solcher Zahl, daß der Ufersaum mit Nestern dicht besetzt war. In Scharen waren sie aufgestiegen, als das Boot landete und hatten mit betäubendem Geschrei die Störenfriede umkreist.

Seitdem hatten die Geschwister schon mehrmals allein die Fahrt nach der Insel angetreten. Es machte ihnen Spaß, still auf den Trümmern, die den höchsten Punkt bildeten, zu sitzen und zuzusehen, wie die Vogel sich beruhigten und wieder ihre Nester aufsuchten.

Eines Nachmittags hatten die Geschwister wieder in ihrem leichten Kahn die Fahrt unternommen. Fedor hatte ihnen davon abgeraten, denn es sah endlich einmal aus, als ob sich im Westen ein Gewitter zusammenbrauen wollte. Als sie seine Warnung nicht beachteten, hatte er ihnen eingeschärft, falls ein Gewitter aufsteigen sollte, die Insel nicht zu verlassen, sondern das Unwetter in einem Kellerraum abzuwarten.

Er selbst war auf sein Zimmer gegangen und hatte sich an seine Bücher gesetzt. Trotz der Schwüle war er bald so in seine Arbeit vertieft, daß er förmlich emporschrak, als der grelle Sonnenschein wie mit einem Schlage von einer grauen Dämmerung verschlungen wurde. Er sprang auf und trat auf den Balkon hinaus. Kein Zweifel, es war ein Gewitter im Anzug. Schnell lief er den Korridor entlang bis zum Fenster am anderen Ende, wo er nach Westen ausschauen konnte. Dort stand eine schwarzblaue Wolkenwand, die mit unheimlicher Schnelligkeit emporgestiegen sein mußte und bereits die Sonne verschluckt hatte. In den höheren Luftschichten mußte ein scharfer Wind wehen, denn einzelne Fetzen rissen sich von der Wolke los und segelten, wie vom Sturm getrieben, über den Himmel...

Mit seinen scharfen Augen spähte er nach der Insel hinüber. Was er befürchtete, war eingetreten. Die Geschwister waren auf dem Rückweg. Sie hatten wahrscheinlich das Gewitter aufsteigen sehen und glaubten. Glodowen erreichen zu können, ehe es losbrach. Sie wußten nicht, wie schnell sich solch ein Unwetter entwickelt und mit welcher Gewalt es losbricht.

Ohne seinen Rock zu holen, den er in der Stube abgelegt hatte, lief Fedor zur Bootswerft hinunter. „Die Kinder sind unterwegs“, schrie er noch im Laufen den Leuten zu, „wir müssen sie holen.“

Die Männer zuckten verlegen die Achseln. „Wenn das Wetter losbricht, Herr Inspektor“, erwiderte der alte Bootsbauer, „dann hält sich kein Kahn auf dem Spirding.“

„Wir müssen `rausfahren, wir können doch die Kinder nicht ertrinken lassen“, schrie Fedor. „Wir nehmen ein großes Boot. Ihr...“ er wählte vier kräftige jüngere Männer aus, „ihr kommt mit... Marsch, vorwärts! Jede Minute ist kostbar!“

Die Männer murrten. „Wir haben Frau und Kind zu Hause. Wer sorgt für die, wenn wir ertrinken?“

„Herr Peters wird sorgen, die werden keine Not leiden.“

Zweifelnd sahen die Männer sich an. „Fünfzig Mark für jeden, der mit mir fährt... hundert Mark...“

Nun kratzte sich einer der Männer im Haar. „Wer bezahlt die?“

„Ich, sofort, wenn ihr wollt...“

„Na, wollen wir's versuchen?“ fragte jetzt einer der Männer.

Wenige Minuten später fuhr das Boot, von acht starken Armen getrieben, auf den See hinaus. Noch lag der weite See wie ein Spiegel, von dem Widerschein der Wolken unheimlich gefärbt. „Das Gewitter steht fest, das kann nicht über den See“, rief Fedor den Männern zu, um ihnen Mut zu machen.

Die Geschwister waren in dem von Gestrüpp überwucherten Gemäuer herumgeklettert und hatten sich dann im Schatten eines dichten Strauches hingesetzt. Annemarie hatte einen großen Busch Feldblumen gepflückt, aus denen sie einen Strauß wand. „Ich komme mir vor wie Robinson“, meinte Erich träumerisch. „Er hat auch so auf der Spitze des Berges gesessen und hat aufs Meer hinausgeschaut.“

„Das ist bloß kein Berg und das ist kein Meer“, erwiderte Annemarie lächelnd.

„Na, aber man kann sich das mit einem bißchen Phantasie ausmalen. Man sieht doch drüben kein Ufer, und die Möwen sind doch hier zu Hause wie auf dem Meer. Sieh mal dort... da schwimmen neun, zehn auf einem Haufen. Ich werde sie mal aufjagen.“

Er sprang auf, suchte sich einen Stein und warf ihn ins Wasser. „Der Fedor müßte sie eigentlich alle abschießen, sie fressen so furchtbar viele Fische.“

„Aber doch nur kleine, hat Fedor gesagt“, erwiderte Annemarie. „Die Taucher und Kormorane sind viel schädlicher, aber die Fischer dürfen sie trotzdem nicht schießen, das dürfen nur die Jäger.“

„Der Vater könnte sich eigentlich die Erlaubnis verschaffen und mir ein Gewehr schenken, dann möchte ich den ganzen Tag bloß Taucher schießen.“

„Das würde dein Professor schon gar nicht erlauben.“

„Der Professor, der kümmert sich ja gar nicht mehr um mich. Weißt du, Annemarie, daß er die Frau Kostka heiraten will?“

„Ach, Erich, du mußt nicht alles nachsprechen, was von den Leuten geredet wird.“

„Ich weiß, was ich weiß“, erwiderte Erich mit Nachdruck. „Frau Wnuk hat es mir gesagt. Zum Herbst soll schon Hochzeit sein. Zuerst hatte ich immer gedacht, er wird unsere Miß heiraten.“

Annemarie lachte hell auf, „Die stehen sich ja wie Katze und Hund gegenüber.“

So plauderten sie, bis Annemarie ihren Strauß gewunden hatte. Nun stand sie auf, um ihn in den Kahn zu tragen und mit Wasser zu benetzen. In diesem Augenblick sah sie die Wolkenwand im Westen. Mit einer fahlen Dämmerung kam ein dunkler Streifen über den See gewandert. „Es gibt ein Gewitter“, rief Erich, „wir müssen uns sputen, um nach Hause zu kommen.“

„Nein, Erich, Fedor hat uns das eingeschärft, wir sollen ein Gewitter hier abwarten.“

„Was der Fedor sagt, das ist dir heilig“, erwiderte Erich übermütig.

„Jedenfalls kann er das besser beurteilen als wir...“

„Na, dann bleib' du hier, ich fahr'“, sagte Erich trotzig. „Wir können doch höchstens naß werden.“

Noch einmal versuchte Annemarie, den Bruder durch verständige Vorstellungen umzustimmen. Er hörte nicht mehr darauf, sondern stieg in den Kahn. Nun wollte Annemarie ihn nicht allein lassen, sondern mitrudern, um schneller vorwärtszukommen. Das war für beide ein schweres Stück Arbeit, denn die Schwüle war geradezu beängstigend.

Sie waren etwa zehn Minuten gefahren, als Erich sich umwandte, um mit dem Blick die Entfernung bis zum Ufer zu messen. „Da kommt Fedor, uns holen“, rief er vergnügt aus und wies mit der Hand auf das Boot, das eben von Glodowen abfuhr. „Nun brauchen wir uns nicht mehr so anzustrengen.“

„Im Gegenteil, dann ist die Gefahr größer, als wir glauben“, erwiderte Annemarie. „Vorwärts, Erich!“

„Ich kann nicht mehr, ich bin schon ganz naß geschwitzt.“

„Nur die fünf Minuten, lieber Erich“, bat Annemarie. „Sieh mal, wie scharf die Männer rudern.“

Kaum dreihundert Meter waren die Boote voneinander entfernt. Fedor war aufgestanden und schrie den Kindern etwas zu, was sie nicht verstanden. Im nächsten Augenblick brauste die Eilung heran, heulend und pfeifend, und zerwühlte die Oberfläche des Wassers zu unregelmäßigen Wellen, die sich im Nu mit Schaum bedeckten. Jetzt hatte die Windsbraut das leichte Boot erfaßt, glücklicherweise nicht von der Seite, sonst hätte sie es beim ersten Anprall umgeworfen. Annemarie hatte sich auf dem Boden des Kahnes niedergekauert und Erich war ihrem Beispiel gefolgt, denn nun begannen die Wellen das Boot hin und her zu werfen.

Hinter der Eilung kam eine himmelhohe, weißgraue Wand über den See gerast, die alles Licht verschlang. Im nächsten Augenblick prasselte der Regen nieder, in großen Tropfen, die beim Aufschlagen Schmerz verursachten. Mit jeder Minute wurden die Wellen höher und wilder. Die erste, die über Bord schlug, füllte den Kahn halb mit Wasser. Da sprang Erich auf und schrie mit seiner hellen Stimme: „Zu Hilfe, Fedor.“

Der Schrei war ihre Rettung, denn er gab Fedor die Richtung an. Jetzt war auch seine Stimme zu hören.

Es war die höchste Zeit, denn die Kinder standen schon bis zu den Knien im Wasser. Da schoß das andere Boot aus der Dunkelheit heran. Fedor schrie ihnen zu: „Werft euch ins Wasser und haltet euch am Kahn fest!“

Ohne Besinnen warf sich Annemarie aus dem Kahn. Der scharfe Wind hatte sie durch die nasse Kleidung bis ins Mark durchkältet. Jetzt empfand sie das Wasser wie ein lauwarmes Bad. Mit beiden Händen hielt sie sich am Kahnbord. Die Wellen schlugen über ihren Kopf. Krampfhaft schloß sie Augen und Mund. Die Sinne drohten ihr zu schwinden. Jede Welle zerrte sie vom Kahn ab... die Hände wurden ihr lahm.

„Haltet bloß noch einen Augenblick aus!“ schrie Fedor dicht neben ihnen. Es war nicht leicht, das schwere Boot so nahe heranzubringen, daß man den kleinen Kahn fassen konnte. Doch jetzt... Zwei starke Hände erfaßten Annemaries erlahmten Arm, ein scharfer Ruck, bei dem ihr Körper heftig gegen die Bordwand schlug, aber nun saß sie im rettenden Boot vor Fedors Füßen. Eine Minute später war auch Erich geborgen.

Annemarie war bewußtlos zusammengesunken. „Nach Hause können wir nicht, wir müssen mit dem Wind ans Ufer“, schrie Fedor den Männern zu.

„Aber wo?“ brüllte einer der Männer zurück. Und er hatte recht, so zu fragen, denn bei dem Rettungswerk hatten alle das Richtungsgefühl verloren. Vom Ufer war nichts zu sehen, obwohl der Regen nicht mehr ganz so dicht war. Aber der Wind gab Fedor die Richtung an. Es war jetzt keine Zeit, sich mit irgendeinem anderen Gedanken zu befassen, denn ihr Boot befand sich auch in Gefahr. Denn noch immer brauste der Sturm und peitschte die Wellen immer höher auf. Ab und zu schlug eine Welle von hinten her über Bord und durchnäßte das zusammengesunkene Mädchen.

Und Fedor konnte sie davor nicht schützen. Er mußte mit festen Händen das Steuerruder führen, damit die Wellen das Boot nicht von der Seite faßten. Jetzt ruderten nur zwei Männer, denn das Boot flog mit dem Winde. Die beiden anderen hatten mit Ausschöpfen des überschlagenden Wassers genug zu tun.

Erich saß zitternd und zähneklappernd im Vorderteil des Bootes. Aber das Erlebnis hatte ihn nicht überwältigt. Im Gegenteil, er freute sich, endlich mal ein wirkliches gefährliches Abenteuer erlebt zu haben.

Nach zehn Minuten rasender Fahrt unterschied Fedor einen dunklen Streifen vor sich. Das war das sichere Ufer. Aber ein Landen war dort unmöglich, denn auf dem flachen Strand stand eine mannshohe Brandung. Schon konnte man deutlich den kochenden Gischt erkennen. Er warf das Steuer herum. Wenn sie noch wenige Minuten durchhielten, dann mußte sich zur Linken die Nikolaiker Bucht öffnen. Da waren sie geborgen. Aber noch stand ihnen das Schwerste bevor: sie mußten nach links wenden und mehrere hundert Meter breitseit mit den Wellen fahren.

Das Boot, das bisher die Wellen quer durchschnitten hatte, wurde jetzt wie eine Wiege geschaukelt. Die kleineren, von denen sich ziemlich regelmäßig sieben bis acht folgten, konnten dem Boot nichts anhaben, aber dann kamen immer drei ganz gewaltige Wellen, von denen eine einzige genügt hätte, es vollzuschlagen... dann warf Fedor mit gewaltiger Kraftanstrengung die Spitze herum den Wellen entgegen.

Annemarie war von einer Übelkeit erwacht, die nichts anderes war als ein Anfall von Seekrankheit. Gar zu gern hätte Fedor sie in den Arm genommen, sie mit seinem Leib gegen den Sturm gedeckt, aber die eiserne Pflicht verlangte von ihm die größte Aufmerksamkeit und Anspannung seiner Kräfte. Er konnte ihr aber tröstende Worte zurufen.

„Nur noch ein paar Minuten, Annemarie, dann sind wir in Sicherheit. Sobald wir dort hinter der Landzunge unter Wind kommen, landen wir und laufen zu Fuß nach Wiersba.“

Das Mädel verstand nicht, was er rief, aber sie sah vertrauensvoll zu ihm auf. Sie sah, wie seine Arme sich anspannten, wie er die Zähne zusammenbiß, wenn er das Boot mit einem Druck seines Handruders, das ihm als Steuer diente, gegen die Wellen warf.

Schon lag vor ihnen ein Streifen ruhigen Wassers, der wunderbar anzusehen war, denn zu beiden Seiten war er von hohen Wellen eingeschlossen. Jetzt schoß das Boot hinein, wandte sich zum Land und fuhr auf dem seichten Ufersand fest. Mit einem Satz sprang Fedor heraus, hob Annemarie auf und trug sie auf den Armen ans Land. „Zieht das Boot weit auf und kommt in den Fährkrug; da könnt ihr euch was Warmes zu trinken geben lassen“, rief Fedor ihnen noch zu.

16. Kapitel

Die Geschwister hatten sich bei Bogumil zu Bett gelegt und eine Kanne heißen Pfefferminztee getrunken, der bald eine wohltätige, schweißtreibende Wirkung äußerte. Ihre Kleider waren zum Trocknen in den zum Brotbacken geheizten Ofen geschoben. Fedor hatte sich nur von seinem Freunde ein trockenes Hemd geben lassen und war nach dem Fährkrug gegangen, wo seine Helfer bei einem steifen Grog vergnügt beisammensaßen und die Fahrt besprachen. Er bestellte sich auch ein Glas und setzte sich zu ihnen. „Na, Kinder, wie ist euch jetzt zumute?“

„Fein, Herr Inspektor“, erwiderte Martin Kruk, ein vorlauter Bursche, „wenn wir man erst die hundert Mark schon hätten. Ich denke, wir bekommen doch jeder hundert Mark.“

„Jawohl, und noch heute abend sollt ihr das Geld haben.“

„Sie verauslagen das ja doch bloß für den Herrn Doktor.“

„Nein, das ist meine Sache. Der Herr Doktor darf von der Geschichte nichts erfahren.“

„Ich dacht' nicht, daß wir durchkommen werden“, meinte ein anderer. „Zuletzt, wie wir umbiegen mußten und die Wellen von der Seite kriegten, da gab ich nicht mehr ein Dittchen für unser Leben.“

Eine Stunde später war das Gewitter vorübergerauscht. Es war wieder ganz still geworden in der Natur. Die Männer fuhren mit dem Boot nach Glodowen zurück, Fedor wanderte mit den Kindern durch den Wald nach Weissuhnen. Sie sprachen von ihrem Erlebnis.

„Das ist die Strafe für deinen Ungehorsam“, sagte Fedor zu Erich. „Du hast damit auch deine Schwester in Gefahr gebracht.“

„Sie brauchte ja nicht mitzukommen. Sie hätte mich ja können allein fahren lassen“, erwiderte der Junge trotzig.

„Dann lägst du ertrunken im Spirding. Wenn ihr nicht so tapfer gerudert hättet, wären wir zu spät gekommen. Als der Wolkenbruch kam und der Sturm heulte, konnten wir von euch nichts hören und nichts sehen. Nicht zehn Minuten hättest du es ausgehalten, am Kahn zu hängen.“

„Mein Arm war schon so schwach, daß ich beinahe losgelassen hätte“, warf Annemarie ein. „Ich habe gar nicht geglaubt, daß Wellen solch eine Kraft haben. Es war immer so wie ein Schlag gegen die Brust und das Gesicht.“

„Dem Vater wollen wir aber nicht erzählen, daß ihr gegen meine Warnung von der Insel fortgefahren seid. Erfahren wird er es ja doch.“

„Ich erzähle es ihm nicht“, meinte Erich kleinlaut.

„Aber ich werde es ihm sofort schreiben. Das sind wir Ihnen schuldig, lieber Fedor, das muß der Vater wissen, daß Sie uns beiden das Leben gerettet haben“, sagte Annemarie und sah mit einem dankbaren Blick zu Fedor auf.

„Die vier Männer haben genau soviel geleistet wie ich, ja noch mehr. Sie haben gerudert und ich habe bloß gesteuert.“

„Das habe ich gesehen, was steuern hieß“, rief Erich.

Um sie abzulenken, erzählte Fedor, wie der Spirding im Winter aussieht. „Er friert, weil er verhältnismäßig flach ist, meistens schon sehr früh zu und die Eisdecke bleibt manchmal ein paar Wochen ohne Schneedecke. Das sieht dann wunderbar aus, wenn die Sonne auf den riesigen Spiegel scheint. Des Morgens hat er andere Farben als am Mittag und Abend. Und des Nachts, wenn der Frost starker einsetzt, beginnt ein Donnern und Krachen, wie Kanonendonner bei einer großen Schlacht.“

„Dann könnt ihr ja in Glodowen gar nicht schlafen“, meinte Erich lachend.

„Man gewöhnt sich daran. Sobald das Eis stärker wird, bilden sich ganz plötzlich weite Risse, die sich nach einiger Zeit von selbst wieder schließen oder mit Eis bedecken.“

„Na, wie breit?“ fragte Erich.

„Mehrere Meter. Vor einigen Fahren ist ein Schlitten mit Fischern nachts in solch einen Spalt hineingefahren. Die Pferde ertranken, die Männer konnten sich noch retten. Sobald Schnee liegt, erkennt man solch eine Spalte schon von weitem, aber bei dunklem Eise und in finsterer Nacht...“

„Wenn Schnee fällt, muß die weite Fläche wunderbar aussehen“, warf Annemarie ein.

„Ja, im hellen Sonnenschein“, erwiderte Fedor, „aber bei trüben, dunklen Tagen macht die unendliche, durch nichts unterbrochene weiße Fläche einen ganz schwermütigen Eindruck. Man kommt sich so klein vor und so einsam. Ich bin mal in einer finsteren Nacht quer über den See gegangen. Es fror sehr stark und rings um mich krachte und donnerte es. Manchmal lief solch eine Ritze unter meinen Füßen durch, daß ich die Bewegung des Eises spürte.“

„Das müssen wir auch mal erleben“, rief Erich begeistert aus. „Wenn wir das Vater erzählen, kommt er im Winter mit uns auf einige Tage her.“

Plötzlich blieb Erich stehen. „Annemieke, das ist unser Auto. Da kommt der Vater... Nur Mut, die Sache wird schon schief gehen. Zum Glück haben wir ja Fedor bei uns.“

Der Junge hatte richtig gehört. Das Rattern kam näher und das Auto hielt: Peters sprang heraus. „Woher kommt ihr denn abends noch anmarschiert?“

Annemarie warf sich ihm an die Brust. „Wir kommen von Wiersba, wo wir unsere Kleider getrocknet haben.“

„Ach so, das Gewitter hat euch überrascht.“

„Ja, Vater, mitten auf dem Spirding. Fedor hat uns das Leben gerettet.“

Während sie fuhren, erzählte Annemarie wahrheitsgetreu die Vorfälle des Nachmittags, häufig von Erich unterbrochen, der sehr vergnügt war, als die Schwester Fedors Warnung verschwieg.

Schon während der Erzählung hatte Peters seinen Arm um Fedor gelegt.

„Sie werden verstehen, lieber Fedor, daß ich das Verlangen habe, Ihnen auf irgendwelche Weise meinen Dank abzustatten. Die Männer, die Ihnen geholfen haben, werde ich morgen reichlich mit Geld entlohnen. Ihnen kann ich Geld nicht anbieten. Das würden Sie mit Recht zurückweisen. Aber ich werde mich auf andere Weise erkenntlich zeigen. Ich kenne und achte Ihren Bildungseifer und werde Ihnen den Weg ebnen, daß Sie sich ein gründliches Wissen aneignen können. Sie haben an mir einen Freund fürs Leben gewonnen. Sie können, wenn Sie Lust dazu haben, in unser Handelshaus in Hamburg eintreten.“

„Oh, Herr Peters, die Kinder haben mir schon so herzlich gedankt. Ich habe doch nur meine...“

„Nur keine falsche Bescheidenheit, lieber Fedor. Ich bin Ihr Schuldner und werde es ewig bleiben. Heute abend bleiben wir beisammen. Mein Boot kann Sie nachher nach Glodowen bringen.“

Der Wagen hielt. Frau Wnuk kam über den Hof gelaufen. Das Fräulein Miß hätte sich hingelegt. Sie wäre von dem furchtbaren Gewitter krank geworden.

„Um so besser“, rief Peters lustig aus. „Der Professor wird wohl bei Frau Kostka sitzen. Also bleiben wir allein unter uns. Machen Sie Licht, Frau Wnuk, und geben Sie mir den Kellerschlüssel. Ich will heute mal eine besondere Marke aussuchen.“

Am anderen Vormittag kam Peters im Boot nach Glodowen. Fedor hatte schon früh den Männern die versprochene Belohnung ausgezahlt. Er sagte kein Wort zu Peters, der auf die Bootswerft hinunterging, um ebenfalls die Männer zu belohnen, die geholfen hatten, seine Kinder zu retten. Als er die gewichtige Brieftasche zog, rief der alte Bootsbauer: „Ist nicht mehr nötig, Herr Doktor, Fedor hat schon jedem hundert Mark gegeben, das ist schon sehr reichlich.“

„Das müssen Sie schon mir überlassen, wie hoch ich das Leben meiner Kinder einschätze“, erwiderte Peters ernst, schüttelte erst jedem der Männer kräftig die Hand und dann erhielt jeder noch ein Geldgeschenk, das ihre kühnsten Hoffnungen weit hinter sich ließ.

Zu Fedor sprach er kein Wort von dem Geld. Aber er schickte ihm am nächsten Tag die verauslagte Summe im Briefumschlag mit einem kurzen Dankeswort. Dann fuhr er mit seinem Motorboot heraus auf den Spirding, um den Angelkahn zu suchen. Die Wellen hatten ihn umgekippt und dadurch vor dem Versinken bewahrt.

Schon lange hatte sich Peters mit dem Gedanken getragen, ein Stück Land zu erwerben und sich darauf für den Sommeraufenthalt ein bescheidenes, aber bequemes Häuschen zu erbauen. Jetzt schritt er zur Ausführung. Am besten gefiel ihm die Lage von Wiersba, und in dem kleinen Ort wieder die Lage Von Bogumils Schaluppe. Da konnte man nach Osten weit über den Spirding sehen, nach Süden dehnte sich der Beldahn aus, nach Westen der Nikolaiker See. In einer Viertelstunde konnte man das Städtchen erreichen und auf dem Kanal, der die großen masurischen Seen verbindet, nach Lötzen und Angerburg gelangen.

Peters hatte nicht erwartet, bei Bogumil auf Schwierigkeiten zu stoßen. Er wollte ihm einen sehr guten Kaufpreis bieten und dem alten Herrn außerdem noch ein paar Zimmer einrichten. Doch schon beim ersten Wort erhob Bogumil Einspruch. Er werde sich nie von seinem geliebten Wiersba trennen, hier habe er seine bösen und guten Tage verlebt und wolle auf dem kleinen Kirchhof im Walde begraben werden. Auch als Peters ihm ein behagliches Heim im neuen Hause versprach, schüttelte er den Kopf.

„Ich habe meinen Prozeß auch in letzter Instanz verloren und muß noch sechs, sieben Jahre fleißig arbeiten und Geld verdienen, um die Gerichtskosten zu bezahlen. Dazu brauche ich aber die Schaluppe und den Stall. Ich habe auch andere Gläubiger, Herr Peters, als Boruch und Wnuk, die ja beim Verkauf ihr Geld zurückbekommen. Gute Leute haben mir geholfen, als ich in der tiefsten Not saß, denen muß ich auch gerecht werden. Das Gericht muß mir Ratenzahlung bewilligen, und wenn ich darüber wegsterbe, ist es auch kein Unglück. Aber den Leuten muß ich noch meine Schulden bezahlen.“

„Das wird nicht soviel sein, wie mir Ihre Besitzung wert ist. Das will ich gern noch auf den Kaufpreis schlagen. Sie tun mir einen Gefallen, vergessen Sie das nicht, Bogumil... Sie werden wohl auch schon gemerkt haben, daß es bei mir auf einige tausend Mark nicht ankommt. Überlegen Sie es sich noch einmal in aller Ruhe. Ich habe mich schon sehr darauf gefreut, hier oberhalb nach dem Berg zu ein Häuschen aufzustellen. Nun wollen Sie mir einen Strich durch die Rechnung machen.“

„Na ja, ich werde es mir noch überlegen, Herr Peters“, erwiderte Bogumil, als sie nach der Fähre hinuntergingen, wo das Motorboot angelegt hatte.

„Wissen Sie auch schon, daß Fedor mir bei dem Gewittersturm meine Kinder gerettet hat?“

„Das habe ich schon erfahren. Das hing am seidenen Faden, Herr Peters. Wenn das ein anderer gewesen wäre, dann hätten Sie heute Ihre Kinder nicht mehr. Aber der Fedor ist ein Deuwelskerl. Die Männer haben sich doch geweigert, hinauszufahren. Da hat er ihnen einen Haufen Geld geboten. Ich glaube, hundert Mark jedem.“

„Und hat das Geld aus seiner Tasche bezahlt, ohne mir ein Wort davon zu sagen“, erwiderte Peters. „Das werde ich dem Jungen nicht vergessen. Das ist wirklich ein Edelmann nach der Gesinnung.“

„Wer kommt denn da angefahren?“ rief Bogumil und wies auf den See. „Er sieht aus wie der Meier, aber er kann's doch nicht sein, denn der Meier hat `nen roten Bart und der hat einen weißen ..

Das schwerfällige, langgestreckte Fahrzeug, Zaun genannt, an dem die Spektors im Sommer ihre Fischhalter mit sich schleppen, kam langsam näher. „Bei Gott, es ist doch der Meier. Was mag dem Mann zugestoßen sein? Wie sieht der Mann aus? Der ist ja seit gestern alt geworden wie ein Greis. Meier, was ist mit Ihnen los?“

Der Spektor winkte müde mit der Hand. Dann stieg er aus dem Zaun und kam auf die beiden zu. „Ein Unglück, meine Herren, ein großes Unglück hat mich betroffen. Wollen uns hinsetzen, ich bin so müde, daß mich die Füße nicht tragen wollen. Ich war doch vor vierzehn Tagen zu Hause in Kowno bei meiner Familie. Ein Jammer ist das da drüben. Während der Revolution haben die Beamten gehungert, weil kein Mensch mehr ein Trinkgeld gegeben hat. Jetzt nehmen sie es doppelt und dreifach. Wer nicht zahlt, wird verhaftet und in die Kosa gesperrt. Wenn mein Weib mit ihrem Kram auf dem Markt steht, dann kommt der Polizist, läßt sich ein Schock Gurken geben oder hundert Zigaretten und geht weg ohne Bezahlung.“

„Das war auch schon früher so“, warf Bogumil ein.

„Aber nicht so schlimm wie jetzt. Meine Frau hat nicht mehr soviel verdient, wie sie braucht zum Leben. Und ich muß kommen und muß ihr das Unglück ins Haus bringen. Sie haben mir doch gegeben ein großes Pack alte Zeitungen, Herr Doktor, zum Lesen. Ich habe gedacht, wirst zu Hause Zeit haben zum Lesen, wirst auch deinen Freunden geben zum Lesen, wo deutsch verstehen. Da habe ich die Zeitungen mitgenommen und habe sie `rübergeschmuggelt. Ich fahr' weg und laß die Zeitungen dort. Was geschieht? Meine Frau nimmt die Zeitungen und wickelt ein, was sie verkauft. Sie denkt, Papier ist Papier und das hat nichts gekostet...“

„Ei weih, nun kann ich es mir schon denken“, warf Bogumil ein.

„Was hat man getan? Die Polizei ist gekommen, hat meine Frau mit den drei Kindern — das Jüngste ist noch an der Brust — in die Kosa gesperrt, und was man gehabt in der Wohnung und in dem Laden, hat man weggenommen. Ein Freund hat mir geschrieben…“

„Da müssen Sie gleich hin und alle Hebel in Bewegung setzen, um Ihre Frau und die Kinder zu befreien. Ich helfe Ihnen dabei“, rief Peters heftig aus. „Ich bin mitschuldig an dem Unglück.“

Meier schüttelte den Kopf. „Sie haben mir gegeben die Zeitungen aus gutem Herzen, Herr Doktor, hier zum Lesen. Ich... ich habe schuld, ich ganz allein. Ich habe doch gewußt, wie schlimm die russische Regierung auf alles bedruckte Papier ist. Weshalb habe ich die Zeitungen mitgenommen nach Rußland? Weshalb habe ich meiner Frau nicht gesagt, was bedrucktes Papier ist?“

„Es läßt sich doch in Rußland alles erreichen. Ich statte Sie mit Mitteln aus und Sie fahren hinüber...“

„Ja, das habe ich noch nicht erzählt, ich kann nicht mehr nach Rußland fahren. Meine Frau hat in ihrer Angst ausgesagt, daß ich die Zeitungen `rübergebracht habe. Wenn ich mich dort blicken lasse, werde ich sofort verhaftet.“

„Na, dann muß anders Rat geschafft werden. Ich würde fahren, wenn ich nur etwas russisch oder polnisch sprechen könnte. Aber Bogumil, Sie können das übernehmen.“

„Ich würde es gern tun, aber ich weiß noch einen besseren Mann, der Boruch muß fahren. Meier, wo steckt der Boruch?“

„Er fischt drüben auf der anderen Seite bei Sdorren.“

„Kommen Sie mit, Meier, wir holen Boruch dort ab und bringen ihn nach Johannisburg oder nach Glodowen. Morgen früh muß er schon abfahren.“

In den Augen des armen Juden glomm ein Fünkchen Hoffnung auf. „Wie kann ich das von Ihnen annehmen, Herr Doktor?“

„Meier, mach' keine Redensarten, der Herr Doktor hilft dir gern“, rief Bogumil. „Und Ihnen, Herr Peters, will ich jetzt auch was sagen. Ich verkaufe Ihnen meine Sitzstelle hier in Wiersba, wenn Sie mir die Schaluppe und den Stall auf meinem Land wieder aufstellen lassen.

Er hielt Peters die Hand hin. „Wenn Sie mich morgen früh abholen, können wir schon aufs Gericht fahren.“

Boruch, der noch keine Ahnung von dem Schicksal hatte, das seinen Freund betroffen, war sofort bereit, die Fahrt nach Polen zu unternehmen. Er fuhr mit dem Motorboot nach Glodowen zurück, wo er sich umkleiden mußte. Dort sollte ihn früh das Auto abholen und zur Bahn bringen. Peters hatte ihn sehr reichlich mit Geldmitteln ausgestattet und ihm die Anweisung gegeben, das Geld nicht zu schonen, wenn sich nur irgend etwas damit erreichen ließe. Als er spät abends nach Glodowen abfuhr, begleitete ihn Meier zum Boot. Unterwegs ergriff er Peters Hand und küßte sie, ehe der Überraschte es hindern konnte.

„Der Herr meiner Väter soll Sie segnen in Ihren Kindern und Kindeskindern, Herr Doktor“, sagte Meier mit tiefbewegter Stimme. „Es wird kein Abend und kein Morgen vergehen, wo ich nicht in meinem Gebete dem Herrn der Welt meine Bitte vortragen werde, daß er Ihnen Gesundheit schenken möchte bis in Ihr spätes Alter.“

Seltsam ergriffen stieg Peters in sein Boot und gab seinem Klaus mit einem Wink die Weisung, den Motor angehen zu lassen. Mit abgezogener Mütze stand Meier am Ufer und nickte wie im Traum vor sich hin. Seine Lippen bewegten sich, als wenn er betete. —

Zu Hause sprangen ihm die Kinder jubelnd entgegen. „Der Professor hat sich eben mit der Frau Kostka verlobt. Wir sollen noch seine Hochzeit mitfeiern. Du erlaubst doch, Vater. Die Hochzeit soll großartig ausgerichtet werden. Ein Hochzeitsbitter soll zu Pferde die ganze Freundschaft und Verwandtschaft einladen.“

„Aber selbstverständlich, Kinder, und übermorgen fahre ich auf einen Tag nach Berlin. Ich habe Bogumils Besitzung in Wiersba gekauft.“

17. Kapitel

Peters war von seinem Plan so erfüllt, daß er am nächsten Morgen mit den Kindern nach Wiersba fuhr, um ihnen den Bauplatz zu zeigen und Einzelheiten mit ihnen zu besprechen. In Glodowen wurde angehalten und Fedor mitgenommen. Peters wußte, daß er damit seinen Kindern eine Freude bereitete. Er hatte schon längst die scheue, ehrfürchtige Neigung erkannt, die der junge Pole seiner Tochter entgegenbrachte. Und er sah auch in seinem Töchterchen die Neigung keimen.

Das war ihm durchaus nicht zuwider. Im Gegenteil! Fedors Charakter war lauter und rein und mehr brauchte er von seinem zukünftigen Schwiegersohn nicht zu verlangen. Vor allem schätzte er bei ihm die seltene Willensstärke, mit der der junge Mann an sich und seiner Zukunft arbeitete. Und sie waren beide jung, sie konnten noch mehrere Jahre auf ihr Glück warten...

In fröhlicher Stimmung stiegen sie am Fährkrug ans Land und gingen den Berg zu Bogumils Besitzung hinauf. Wo das Haus zu stehen hatte, war kein Zweifel. Dicht an der Bergkuppe, so daß man nach drei Seiten freie Aussicht hatte. Auf der vierten Seite rauschte der Kiefernwald, von hellem Unterholz freundlich belebt. Die Seite, die nach dem Bergeshang zu stehen kam, mußte ein Stockwerk tiefer gebaut werden. Nach dem See hinunter mußten vier oder fünf Terrassen angelegt werden. In den flachen See hinaus wurde das Bootshaus gestellt, das auch einige Badezellen enthalten sollte.

„Jetzt wollen wir mal ein Programm für die nächsten Wochen entwerfen“, sagte Peters, als sie in Bogumils Gartenlaube beim Frühstück saßen. „Wir haben bis jetzt so in den Tag hineingelebt und von dem herrlichen Masurenland nichts weiter kennengelernt als ein Stück vom Spirding.“

„Den aber gründlich“, sagte Annemarie und nickte Fedor lächelnd zu.

„Dann fahren Sie mit Ihrem Boot erst mal das Taltergewässer hinauf nach dem Städtchen Rhein, am Nachmittag zurück und durch die Kanäle und über den Löwentin nach Lötzen. Dort machen Sie einen Ausflug nach dem Stadtwald zum Aussichtsturm, von dem Sie zweiundzwanzig Seen erblicken.“

„Ist das nicht ein bißchen viel?“ fragte Annemarie neckend.

„Nein, es stimmt genau“, erwiderte Bogumil lachend. „Ich habe sie selbst gezählt. Am nächsten Tag über den Mauersee nach Angerburg; unterwegs sprechen Sie auf der Insel Upalten an.“

„Ist das alles?“ fragte Erich.

„Nein. Von Lötzen fahren Sie mit der Bahn nach Lyck, der Hauptstadt Masurens. Und zuletzt machen Sie einen Abstecher nach Rußland hinein.“

„Ist das nicht ein bißchen gefährlich?“ fragte Peters.

„Ach nein, in dem Grenzort Grajewo ist man an Fremdenverkehr gewöhnt. Die deutschen Eisenbahnzüge fahren bis nach Rußland hinein und die russischen kommen bis auf unsere Grenzstation Prostken.“

„Wenn die Sache nicht zu gefährlich wäre, möchte ich ein bißchen mehr von Rußland sehen“, meinte Peters. „Ich möchte gern Warschau kennenlernen. Aber so allein und ganz unkundig der Landessprache...“

In Fedors Augen leuchtete es aus. „Ich begleite Sie.“

„Was, Sie wollen sich in den Rachen des Löwen oder sagen wir des russischen Bären wagen, dem Sie mit Mühe entronnen sind?“

„Nein, Fedor, das dürfen Sie nicht“, warf Annemarie ein und ihre Augen baten.

„Wenn Sie über Thorn-Alexandrowo fahren, wird Fedor wohl kaum einem Menschen begegnen, der ihn wiedererkennt.“

„Das wollen wir uns noch überlegen“, meinte Peters.

Eine Stunde später fuhren alle zusammen nach Nikolaiken, wo der Kaufvertrag vor dem Rechtsanwalt aufgesetzt werden sollte. Noch war zwischen den beiden Parteien kein Wort über den Preis gesprochen worden. Man konnte dem alten Herrn deutlich die Unruhe darüber anmerken, aber er scheute sich, vor den Kindern und Fedor das Thema anzuschneiden. Endlich, auf dem Wege durch die Stadt, gab er sich einen Ruck, blieb stehen und sagte: „Wie denken Sie über den Preis, Herr Doktor?“

Peters, der weitergegangen war, wandte sich halb zurück und erwiderte lachend: „Darüber werden wir schon einig werden.“

„Das glaube ich auch, aber wir können uns doch vor dem Notar nicht darüber unterhalten.“

„Das ist durchaus nicht nötig, lieber Bogumil. Ich habe mich von Grosek beraten lassen.“

„Nein, Herr Peters, so geht das nicht, wir müssen doch...“

„Wollen Sie nun mitkommen oder nicht?“ herrschte ihn Peters mit finster gerunzelter Stirn an. Vor dem Notar ging es in derselben Weise weiter. Als Peters den Kaufpreis nannte, fuhr Bogumil auf. „Nein, das geht nicht.“

„Schreiben Sie tausend Mark mehr.“

„Das kann ich nicht annehmen.“

„Also noch tausend Mark...“

„Das ist schon sehr reichlich“, warf der Notar ein. „Sie können damit zufrieden sein, Herr Soyka.“

„Wollt ihr mich nicht verstehen?“ rief Bogumil. Dann wandte er sich ab, um die Tränen zu verbergen, die ihm in die Augen getreten waren. So viel für sein Stückchen Land zu bekommen, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht geglaubt. Das war ja sündhaft, Peters so viel abzunehmen, wenn er auch reich war. Halb wie im Traum hörte er zu, wie Peters das Land und die Wiese von dem Kauf ausschloß und die Verpflichtung übernahm, Haus, Stall und Scheune auf dem Restgut neu aufzustellen.

Dem alten Herrn zitterten die Hände, als er den aufgezählten Kaufpreis zusammenraffte. „Das hätte ich vor zehn Jahren haben müssen“, murmelte er.

Als sie mit dem vollzogenen Vertrag weggingen, faßte Peters den alten Herrn unter den Arm. „Sie sind mir doch nicht böse, Bogumil? Ich weiß, wie Ihr Herz an dem Fleckchen Erde hängt und was Sie mir für ein Opfer gebracht haben. Auf der anderen Seite habe ich mich auf dasselbe Stück Erde vernarrt und hätte, ohne zu murren, den dreifachen Preis bezahlt. Was wollten Sie damit sagen: -Wenn Sie das Geld vor zehn Jahren gehabt hätten?“

„Dann hätte ich mir einen tüchtigen Rechtsanwalt in Berlin annehmen können und meinen Prozeß gewonnen. Dann hätte ich mich nicht all diese Jahre so zu schinden brauchen und einen frohen Lebensabend mit Frau und Kindern gehabt.“

„Das können Sie auch jetzt noch. Sie sind noch nicht zu alt und Sie sind so rüstig.“

„Jawohl, und nun habe ich nichts weiter zu tun als darüber zu grübeln, wie der Prozeß besser hätte angefangen werden können.“

„Na, dann werde ich Ihnen einen Vorschlag machen. Kommen Sie morgen mit nach Berlin. Ich habe dort einen sehr guten Freund, der ein sehr gewiegter Rechtsanwalt ist. Bringen Sie ihm mit einem Gruß von mir Ihre Akten, und wenn noch irgendeine Möglichkeit vorhanden ist, den Prozeß aufzunehmen, wird er sie sicher herausfinden.“

„Das nehme ich mit Dank an, aber ich kann nicht mit Ihnen zusammenfahren. Ich fahre nur vierter Klasse.“

„Wir fahren zweimal zweiter, das ist nach Adam Riese dasselbe“, erwiderte Peters lachend. „Abgemacht, reden Sie kein Wort weiter, Bogumil. Und nun wollen wir im Deutschen Hause den Kauf durch eine gute Flasche Rotspon beziehen.“

Fedor war inzwischen mit den Geschwistern zur Königshöhe gegangen, um den herrlichen Rundblick, der den ganzen Spirding und seinen Nebenarm umfaßt, zu zeigen. Auf der langen Brücke, die über den See führt, blieb Fedor stehen und erzählte ihnen von dem Stinthengst, der unten an der Brücke angekettet sein sollte.

„Was ist das, ein Stinthengst?“ fragte Annemarie.

„Der Name ist schon eine Neckerei“, erwiderte Fedor. „Der Stint ist ein winziger Fisch, und dies soll ein fabelhaft großes Ungetüm sein. Wie dieser Volksschwank entstanden sein mag, weiß niemand. Früher neckten die Nikolaiker jeden Fremden, der herkam, damit, und es soll auch Leute gegeben haben, die Semmeln hinunterwarfen, und auf das Auftauchen des Ungetüms warteten. Jetzt hat sich der Spieß umgedreht. Jetzt werden die Nikolaiker mit ihrem Stinthengst geneckt.“

Als sie hinter der Brücke den Berg hinaufzusteigen begannen, hängte sich Annemarie an Fedors Hand. Erich hatte schon längst dasselbe getan. So stiegen sie lachend und scherzend zu der Höhe empor und warfen keinen Blick nach rückwärts, um sich die Überraschung des Rundblicks nicht zu zerstören. Dann standen alle drei und ließen ihre trunkenen Augen ringsum über das wunderbare Landschaftsbild schweifen. Nach Südosten lag in majestätischer Größe und Ruhe der Spirding, ringsum von dunkelblauen Wäldern, die sich bis zum fernen Horizont hinzogen, umgeben. Und in diesem Waldmeer überall helle Seespiegel, groß und klein, rund und lang gestreckt. Hier und dort leuchteten auch die roten oder wettergrauen Dächer eines Dorfes oder Gutes auf. Fedor hatte sich von Erichs Hand freigemacht und zeigte nach den verschiedenen Punkten, die er schon kannte.

Als er schwieg, sah Annemarie bittend zu ihm auf. „Nicht wahr, lieber Fedor, Sie fahren nicht mit dem Vater nach Warschau?“

„Ich möchte gern“, erwiderte er ernst. „Ihr Vater hat viel mehr von der Reise, wenn ich ihm mit meinen Sprachkenntnissen zur Seite stehe. Haben Sie keine Angst, Annemarie, es kann mich doch nur einer meiner früheren Vorgesetzten erkennen, und ich habe mich doch wohl in der Zeit so verändert, daß niemand in mir den Überläufer vermuten wird.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte Annemarie, „ich muß fortwährend daran denken, daß Ihnen dort drüben ein Unglück zustoßen könnte.“

Fedor saß ganz still. Keine Muskel in seinem Gesicht zuckte, aber in ihm sang es und klang es und sein Herz zitterte vor Seligkeit. Das liebe Mädel, das sich so vertrauensvoll an ihn lehnte, zersorgte sich wie eine Schwester um ihn. Erich war schon lange wieder von der Bank, auf der sie sich niedergelassen hatten, aufgesprungen, um hierhin und dorthin zu gehen. „Ich werde mich sehr in acht nehmen, Annemarie“, sagte Fedor leise. „Ich spreche doch schon fertig deutsch, und das gibt mir die größte Sicherheit.“

Als sie nichts erwiderte, fuhr er nach einer Weile fort: „Wer weiß, ob die Reise zustande kommt und ob ich überhaupt mitfahren kann. Ich kann doch nicht so einfach für acht Tage oder länger von Glodowen wegfahren.“

„Freuen Sie sich auch, daß Vater hier bauen will? Wir freuen uns ganz unbändig. Ich denke, wir werden auch schon den nächsten Winter hier verleben, wenn die Mutter uns nicht einen Strich durch die Rechnung macht. Sie ist so ganz verschieden von Vater. Jetzt ist sie in Baden-Baden zu dem großen Pferderennen. Im Winter geht sie in Berlin viel ins Theater und in die Oper. Dann werden drei, vier große Gesellschaften gegeben. Dann ist Vater vorher und nachher sehr ungemütlich.“

„Das kostet wohl sehr viel?“ warf Fedor ein. Annemarie lachte hell auf. „Deswegen nicht, aber die Abfütterung fremder Menschen, die ihm im Grunde genommen gleichgültig sind, findet er gräßlich. Im nächsten Winter werde ich wohl auch eine solche Gesellschaft mitmachen müssen.“

„Wer wird denn da eingeladen?“

„Hohe Beamte, alte und junge Offiziere, Gelehrte, Künstler und Schriftsteller.“

„Mein Gott, woher kennen Sie die alle?“ fragte Fedor in ehrlichem Erstaunen.

Annemarie lachte. „Die Mutter lernt so viel Menschen auf ihren Reisen kennen. Und in Berlin trifft man sich doch überall, wo etwas los ist und lernt sich kennen und ladet sich gegenseitig ein. Im nächsten Winter, nicht in diesem, der jetzt kommt, im nächsten werde auch ich meinen ersten Ball mitmachen. Ich möchte lieber hier in Wiersba sein. Hier gibt es doch überall Berge, wo man rodeln kann. Und ein Eissegelboot muß der Vater anschaffen.“

„Was ist rodeln?“ fragte Fedor.

„Das kennen Sie nicht? Das ist herrlich. Man fährt mit einem kleinen Schlitten in sausender Fahrt einen steilen Berg hinunter. Scheitlaufen ist ebenso schön. Man bindet sich zwei lange, dünne Stäbe, Scheite, unter die Füße und gleitet über den Schneeweg. Wir sind in jedem Winter ein paar Wochen dazu in den Harz gefahren, nach Braunlage oder nach Andreasberg. Hier hätten wir das viel bequemer.“

„Ja, Schnee ist hier genug.“

„Auf die nächsten Tage freue ich mich“, sagte Annemarie nach einer Weile. „Könnten Sie nicht mitkommen?“

„Das geht leider nicht. Ich kann mich höchstens so wie heute auf ein paar Stunden wegstehlen, nachdem ich alles in Gang gebracht habe.“

Während sie noch so plauderten, kamen die beiden Herren den Berg hinaufgestiegen. Sie waren sehr aufgeräumt und unterhielten sich lebhaft über den Hausbau. Auf der Höhe angelangt, warf Peters einen flüchtigen Blick auf das Landschaftsbild, sagte: „Prächtig, wundervoll“, und dann drehte er all den Herrlichkeiten den Rücken und sprach mit Bogumil weiter. „Nun hören Sie mal ordentlich zu. Zwei Zimmer werden für Sie eingerichtet. Das Land verpachten Sie. Dann übernehmen Sie die Erziehung meines Jungen.“

„Aber Herr Peters“, rief Bogumil lachend aus, „Sie wollen doch nicht den Bock zum Gärtner machen. Ich kann weder fremde Sprachen noch Mathematik.“

„Ich habe ja nicht gesagt: unterrichten, sondern erziehen. Für den Unterricht schaffen wir uns einen jungen, klugen Menschen an. Dem sehen Sie auf die Finger und im übrigen führen Sie belehrende Gespräche mit dem Jungen. Er soll in Ihnen seinen Mentor und väterlichen Freund sehen. Ich verspreche mir sehr viel davon. Ich weiß ganz genau, wie Sie über alles denken und stimme mit Ihnen in dem meisten völlig überein.“

Bogumil schüttelte nachdenklich den Kopf. „Das kommt mir so überraschend wie der Kauf.“ Erich stand schon eine Weile neben den Männern und hörte zu. Jetzt legte er seinen Arm um den alten Herrn, schmiegte sich an ihn und sah vertrauensvoll zu ihm auf. „Ach ja, Herr Bogumil, tun Sie doch dem Vater den Gefallen. Ich will Sie gern zum Lehrer haben, viel lieber als den langweiligen Professor.“

Gerührt legte ihm der alte Herr die Hand auf den Kopf. „Wenn du mich auch haben willst, muß ich doch ja sagen. Hier haben Sie mich mit Haut und Haaren, Herr Peters.“

Am nächsten Morgen fuhren die beiden Herren bei Sonnenaufgang zur Bahn. Dann waren sie schon abends in Berlin. Beide kehrten sehr zufrieden zurück. Peters hatte bei seinem Freunde einen Entwurf gefunden, der ihn in allem zufriedenstellte. Und Bogumil brachte die Gewißheit mit heim, daß in seinem Rechtsstreit noch ein Punkt nicht erledigt war, der die Handhabe bot, den Prozeß von neuem zu beginnen. Er brauchte sich um nichts zu kümmern. Der Rechtsanwalt besorgte alles von Berlin aus.

In Johannisburg fand Peters einen tüchtigen Maurermeister, der die Bauausführung übernahm und den Rohbau bis zum Herbst fertigzustellen sich verpflichtete. Schon zwei Tage später kamen Arbeiter, die das Haus und den Stall in Wiersba abzureißen begannen. Bogumil schaffte seinen Hausrat und seine Bücher nach Glodowen, wo sie in einer leeren Scheune Unterkunft fanden. Sein Amt begann schon mit der Reise durch Masuren, die an einem schönen Herbstmorgen angetreten wurde.

Das Programm hatte noch eine Erweiterung erfahren. Erst sollte der Spirding umfahren und das große Truppenlager bei Arys besichtigt werden. Peters kannte einen Major, der dorthin abkommandiert war. Einen Tag später hielt Fedor eine Ansichtskarte in der Hand, auf der zu lesen war: „Die Fahrt ist herrlich. Wir sind sehr lustig und amüsieren uns großartig. Herr Bogumil erzählt so drollige Geschichten von jedem Ort, wo wir vorbeifahren. Wir haben auch von Ihnen gesprochen und viel an Sie gedacht. Der Vater hat große Dinge mit Ihnen vor, die ich Ihnen noch nicht verraten darf. Ich freue mich ganz besonders, daß Vater Miß Wiggers nicht mitgenommen hat. Die hätte uns den ganzen Genuß verdorben. Mit herzlichen Grüßen Ihre Annemarie.“ Eine zweite Karte war nur mit Namen bedeckt. Von nun an kam jeden Tag eine Karte, bald von der ganzen Reisegesellschaft unterschrieben, bald nur allein von Annemarie.

18. Kapitel

In Lyck gefiel es der Reisegesellschaft so gut, daß man einige Tage zu bleiben beschloß, um Ausflüge in die Umgegend zu machen. Peters hatte von Arys Empfehlungen an einen Major Aldenhoven mitbekommen, einen jovialen Junggesellen, der Annemarie mit altfränkischer Ritterlichkeit den Hof machte und damit den jungen Dragoneroffizieren mit gutem Beispiel voranging. Das Mädel, dessen kindlicher Liebreiz in den Herzen aller Leutnants einen Aufruhr erregte, nahm die Huldigungen mit unbefangener Natürlichkeit entgegen.

„Was die preußischen Leutnants für eine feine Witterung für einen Berliner Goldfisch haben, ist unglaublich“, meinte Peters lachend zu Bogumil.

Er konnte die Dinge mit ruhiger Heiterkeit ansehen, denn er wußte, daß das Herz seines Töchterchens dabei keine Gefahr lief. Und da die Tage so schnell und angenehm verflogen, wurde noch einer und noch einer, und auf allgemeines Bitten noch ein dritter zugelegt. Endlich, am Sonntag morgen, ging die Reise weiter. Mindestens zwei Dutzend Offiziere erschienen am Zuge auf dem Bahnhof, und Annemarie erhielt zum Abschied ein Dutzend Sträuße, die ihr Bruder respektlos als Gemüse bezeichnete.

Auf dem Bahnhof in Prostken mußten die Pässe besorgt werden, die ohne große Förmlichkeit ausgestellt werden, weil sie nur für den lokalen Grenzverkehr gelten. Zwei Stunden später fuhr der Zug weiter über die Grenze nach Grajewo.

„Der erste Eindruck ist nicht übel“, meinte Peters, als sie in das stattliche Bahnhofsgebäude traten. Schon nach kurzer Zeit lautete sein Urteil wesentlich anders. Zunächst wurden sie von einem Dutzend alter und junger Juden empfangen, die ihnen in zudringlichster Weise ihre Dienste und ihre Waren anboten. Der schmierige Kaftan, die dürftigen Gestalten gaben unseren Reisenden sofort einen Begriff von den Verhältnissen, unter denen die jüdische Bevölkerung in Rußland vegetiert.

Auf Bogumils Rat wurde ein ziemlich manierlich aussehender Jüngling als Führer angenommen. Er führte seine Gesellschaft zuerst in die Zukierna, die einzige Konditorei des Städtchens, die wohl als die größte Sehenswürdigkeit des Ortes galt. Ein mit schäbiger Eleganz eingerichtetes Lokal. Das süße Gebäck auf dem Ladentisch war vor der Menge Fliegen, die darauf saßen, nicht zu erkennen. Im zweiten Zimmer spielte ein Offizier der Grenzwache mit einem gemeinen Polizisten Billard. Der junge Reiseführer scheuchte mit seinem Hut, den er abgenommen hatte, die Fliegen von dem Kuchen und lud zur Auswahl ein, was von Annemarie dankend abgelehnt wurde.

„Das ist ein schöner Reinfall, Kinder“, rief Peters lachend. „Bogumil, was sollen wir hier genießen?“

„Nichts weiter als Schnaps! Der ist aber ausgezeichnet.“

Nach kurzem Aufenthalt ging es weiter. Bei dem Gang durch die von elenden, verwahrlosten Holzhäusern eingefaßten Straßen bekamen alle einen deutlichen Begriff von russischen Zuständen. Vor den Türen lagen Dunghaufen, auf denen sich Schweine in allen Größen und struppige Hühner tummelten. „Das ist ja nicht Halb-Asien, wie Franzos es getauft hat“, rief Peters, „das ist die reine, unverfälschte Barbarei. Das müssen ja Schweine sein, die sich in solchen Verhältnissen wohlfühlen. Man bekommt ordentlich Hochachtung vor dem eigenen Lande, wenn man so was sieht.“

Um so überraschter waren die Reisenden, als ihnen beim Austritt auf den weiten, natürlich ungepflasterten Markt die russische Kirche gegenüberstand. Ein gewaltiger Bau in byzantinischem Stil mit vergoldeter Zwiebelkuppel, die im Sonnenschein glänzte. Niemand kümmerte sich um sie, als sie durch die offene Tür in das dämmrig kühle Innere traten. Einzelne Beter knieten vor einem der zahlreichen Altäre.

„Die öffentlichen Gebäude in Rußland sind alle mit einer auffallenden Großzügigkeit gebaut“, erklärte Bogumil. „Die Russen wollen repräsentieren, das heißt nur als Staat.“

Von der Kirche führte sie ihr Reisemarschall in den Park des polnischen Grafen Starczinski. Das war einer von den vielen polnischen Magnaten, die aus Klugheit oder Überzeugung sich der russischen Macht gebeugt hatten und in ihrem Besitz unangefochten geblieben waren.

Der Park war wirklich sehenswert. Er war nach den Ideen des Grafen Pückler-Muskau angelegt und hatte Partien, wo man gern eins Viertelstunde verweilte, um zu schauen und zu genießen. Mit klugem Verständnis hielt sich der Judenjüngling im Hintergründe. Erst auf dem Rückwege drängte er sich an Bogumil. „Die Herrschaften werden doch einkaufen Andenken an Grajewo? Gute polnische Ware. Zigaretten, Warschauer Süßigkeiten, gute Liköre, vorzügliche Warschauer Schuhe. Ich kann Ihnen empfehlen ein sehr gutes Geschäft am Markt. Frau Grünstein.“

„Das ist doch wohl Ihre Mutter?“ fragte Bogumil lachend.

„Nu, wenn sie ist meine Mutier, weshalb soll sie nicht haben gute Ware?“

Der großartige Laden erwies sich als ein Raum von wenigen Metern im Geviert, der mit Waren aller Art so vollgepfropft war, daß die Frau, die hinter der Tonnenbank stand, kaum Platz hatte, sich umzudrehen. Eine stattliche Frau mit üppigen Formen und brennenden Augen, die in der Jugend ungewöhnlich schön gewesen sein mußte.

Mit unheimlichem Zungenschlag pries sie den Herrschaften ihre Waren an. Während sie sprach, tat sie einen Griff in die sie umgebenden Massen und holte mit unfehlbarer Sicherheit die angepriesene Ware hervor. Peters kaufte reichlich ein, denn die Waren waren gut. Annemarie suchte sich ein Paar Stiefeletten aus, die alles Vorzügliche der polnischen Arbeit auswiesen. Erich wählte sich ein Dolchmesser, das seinen deutschen Ursprung nicht verleugnen konnte, denn es trug das bekannte Zeichen einer deutschen Firma. Außerdem kaufte Peters eine Menge Näschereien, deren elegante Verpackung nur von der Güte der Ware übertroffen wurde. Damit wollte er seine Gattin erfreuen.

Bevor der Handel begann, hatte Frau Grünstein einige Päckchen Zigaretten geöffnet und zum Probieren aufgefordert. Peters, der sehr mäßig rauchte, war von den Zigaretten entzückt. Noch entzückter war Frau Grünstein, als der Käufer einige tausend Stück verlangte und mit deutschem Gold- und Silbergeld zahlte. Auf dem Bahnhof wurden noch zahlreiche Ansichtskarten geschrieben, die Freunden und Bekannten von dem Ausflug nach Asien, wie Erich meinte, Nachricht geben sollten.

Spät am Abend kam unsere Gesellschaft müde, aber sehr befriedigt, von der Reise in Johannisburg an, wo das telegraphisch bestellte Auto sie erwartete. Am nächsten Morgen ging es schon früh zu Boot nach Wiersba, wo die alten Holzgebäude inzwischen verschwunden und die Grundmauern des neuen Gebäudes gelegt waren. Auch der Gärtner war schon am Werke, den Bergabhang in Terrassen zu verwandeln.

Auf dem Rückwege wurde in Glodowen haltgemacht, um Fedor von der Reise, über deren Verlauf er schon durch Postkarten unterrichtet war, Bericht zu erstatten. „Jetzt habe ich ein dringendes Bedürfnis, mehr von Rußland kennenzulernen. Wenigstens Warschau möchte ich noch sehen. Na, wie ist es, Fedor, haben Sie noch Lust, mitzukommen?“

„Gern, Herr Peters, vielleicht kann ich dort Nachforschungen anstellen, was meine Denkmünze bedeutet.“

„Das ist ein guter Gedanke. Es ist doch nicht unmöglich, daß Sie mit Hilfe der Münze Ihre Familie wiederfinden. Also abgemacht, ich besorge alles, was nötig ist. Und nun setzen Sie sich hin und schreiben Sie Ihrem Herrn Zocher, daß Sie sobald als möglich Ihre Stellung aufzugeben wünschen und ihn bis dahin um Urlaub bitten.“

„Um Gottes willen, Herr Peters, ich bin froh, daß ich hier ein Unterkommen gefunden habe.“

„Na, dann wollen wir mal deutsch miteinander reden. Sie kommen mit mir nach Berlin, und ich sorge dafür, daß Sie was Ordentliches lernen.“

„Nein, Herr Peters, das kann ich nicht annehmen. Lassen Sie mich meinen Weg allein gehen.“

„Das sollen Sie ja auch, ich werde Ihnen keine Vorschriften machen. Sie leben als lieber Hausgenosse in Berlin bei uns.“

„Ich weiß sehr wohl, wie gut Sie es mit mir meinen“, erwiderte Fedor mit bewegter Stimme, „aber... ich... will nicht von Ihrer Gnade abhängig sein.“

„Stolz lobe ich mir den Spanier“, erwiderte Peters, ernst werdend, „aber der Ausdruck Gnade paßt für unser Verhältnis zueinander wie die Faust aufs Auge.“ Er streckte ihm beide Hände hin. „Ich habe Sie liebgewonnen, Fedor, ich kann wohl sagen, wie einen Sohn. Und außerdem haben Sie mir meine beiden Kinder wiedergeschenkt. Ich stehe also bei Ihnen in einer Schuld, die ich nie ganz abtragen kann. Da kommt mir nun Ihr Stolz dazwischen und fabelt was von Gnade. Wenn Sie wirklich vorwärtskommen wollen im Leben, dürfen Sie meinen Vorschlag nicht ablehnen. Fragen Sie nur Ihre beiden alten Freunde, Grosek und Bogumil, die werden Ihnen dasselbe sagen. Ich gebe Ihnen acht Tage Bedenkzeit, aber heute schon schreiben Sie um Urlaub.“

In den nächsten Tagen fragte Fedor erst Grosek und dann Bogumil um Rat, und beide rieten ihm dringend zu, Peters Vorschlag anzunehmen. Er blieb dabei, daß er sich von Peters keine Wohltaten erweisen lassen könne. Gegen Abend nahm er sich einen kleinen Kahn und fuhr nach Weissuhnen, um Peters seinen Entschluß mitzuteilen. Ihm war sehr traurig dabei zumute. Er wußte, was der Vorschlag für ihn bedeutete. Nicht bloß lernen und lernen, sondern auch täglich mit Annemarie zusammen sein. Wenn Peters ihm in Berlin irgendeine Stellung verschaffen könnte, das wollte er annehmen.

Am Seeufer saß Annemarie lesend. Sie sprang auf und ging Fedor zum Landungssteg entgegen. Während sie ihm die Hand bot, fragte sie schon: „Nun, haben Sie es sich überlegt? Nicht wahr, Sie kommen mit uns nach Berlin?“

Er lächelte verlegen. „Wenn Ihr Vater mir in Berlin eine Stellung verschaffen könnte.“

„Nein, lieber Fedor, das könnte Vater schon, aber das will er nicht. Sie sollen wie ein Sohn, wie unser Bruder bei uns bleiben...“

„Annemarie, das kann ich nicht.“

Mit einem schelmisch bittenden Blick sah sie zu ihm auf. „Auch nicht, wenn ich Sie herzlich darum bitte?“

Alles Blut drängte sich Fedor zum Herzen. „Annemarie!“

„Sie sollen doch dem Vater eine Freude bereiten und uns Kindern auch.“ Sie faßte ihn an der Hand und zog ihn mit sich fort. Er folgte willenlos und nickte nur, als Annemarie übersprudelnd vor Freude dem Vater zurief, daß Fedor eingewilligt habe.

Als Fedor spät abends weggefahren war und die Geschwister dem Vater gute Nacht gesagt hatten, meinte Miß Wiggers, die den ganzen Abend schweigend wie auf der Lauer dagesessen hatte: „Sie scheinen die Gefahr nicht zu sehen, Herr Peters, der Sie Ihre Tochter aussetzen. In Annemarie keimt eine Neigung zu dem polnischen Überläufer.“

„Ich warne Sie“, erwiderte Peters ruhig, aber seine Stimme hatte einen harten, drohenden Klang, „sich in Dinge zu mischen, die Sie nichts angehen. Vermeiden Sie ängstlich, über diese Angelegenheit mit Annemarie ein Wort zu reden. Rauben Sie meinem Kinde nicht die köstliche, kindliche Unbefangenheit, sonst sind Sie die längste Zeit in meinem Hause gewesen. Ich habe die Neigung der beiden jungen Menschen schon lange beobachtet und freue mich darüber. Richten Sie sich danach“

Gekränkt mit dem Kopf schüttelnd, verschwand Miß Wiggers. Ihr war es unfaßlich, daß ein Mann, der an seinen zukünftigen Schwiegersohn die größten Anforderungen in Rang und Namen stellen konnte, es zulassen konnte, daß sich zwischen seiner Tochter und einem jungen Menschen, der nichts bedeutete, der kaum deutsch sprechen konnte, ganz abgesehen von seiner dunklen Herkunft, eine Liebe entwickelte, die auf beiden Seiten ganz offen zutage trat.

Zwei Tage später kam Zocher, der sich durch den Verlust eines Teils seiner Leibesfülle ordentlich verjüngt hatte, auf einige Tage nach Hause, um sich mal seinen Betrieb anzusehen. Er wußte ja durch Boruch, der ihm regelmäßig Bericht abstattete, daß alles in bester Ordnung war. Aber er staunte doch, wie sich das große Anwesen im Laufe des Sommers zu seinem Vorteil verändert hatte. Früher stand und lag auf dem weiten Hof alles wie Kraut und Rüben durcheinander. Hier stand ein Arbeitswagen, dort lag Ackergerät, dort ein Stapel Bretter, dazwischen trieb sich noch allerlei Gerümpel umher. Das war alles verschwunden. Ja, selbst die Scheunen und Ställe hatten ihre Verwahrlosung aufgeben müssen, und sogar in das Wohnhaus war die Reinlichkeit eingezogen.

Die Bücher waren, wie sich das eigentlich von selbst verstand, nicht nur in bester Ordnung, sondern zeigten eine erhebliche Zunahme der Einnahmen und eine Verringerung der Ausgaben. Um so weniger war er von der Aussicht erbaut, Fedor zu verlieren. In seiner polternden Art, die nur seine große Gutmütigkeit verbergen sollte, fuhr er Fedor an: „Ich weiß schon, was Sie wollen... Ist schon gut... Ich lege Ihnen hundert Mark monatlich zu. Nu lassen Sie mich zufrieden.“

„Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich Sie bescheiden um eine Zulage gebeten“, erwiderte Fedor.

„Nu, was wollen Sie denn? Ein so junger Mensch in solcher Stellung und ist nicht zufrieden.“

„Ich will weiter, Herr Zocher. Der Herr Doktor Peters nimmt mich mit nach Berlin.“

Zocher wiegte bedächtig das Haupt. „Haben Sie sich das auch überlegt? Sie werden sagen: Ja. Nu, dann gehen Sie mit Gott, junger Mann. Und wenn es Ihnen in Berlin nicht gefällt, es können dort Verhältnisse sein, die Ihnen nicht passen, was weiß ich... dann kommen Sie zurück nach Glodowen. Es wird immer ein Platz für Sie vorhanden sein. Wann wollen Sie weggehen?“

„Sobald Sie einen Ersatz für mich gefunden haben.“

„Dann muß ich meinen Schwiegersohn kommen lassen. Ich fahr' dies Jahr nicht mehr nach Warschau, meine Tochter kommt mit den Kindern her.“

Peters hatte inzwischen die Vorbereitungen für die Reise nach Rußland eifrig betrieben. Er hatte für Fedor einen Paß auf den Namen seines Chauffeurs Franz Kleinknecht besorgt. Er hatte sich Geld auf eine polnische Bank in Warschau überweisen und Empfehlungsbriefe an einige große Geschäftshäuser schreiben lassen, mit denen er Verbindungen anknüpfen wollte, nicht nur, um einen Vorwand für seine Reise zu haben, sondern auch, um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden.

Fedor hatte einen Empfehlungsbrief von Zocher an seinen Bruder bekommen, der in Warschau ein großes Kommissionsgeschäft betrieb und unter anderem auch die Glodower Fische verkaufte. Der Herr Franz Kleinknecht, wie er jetzt von der Familie Peters neckend genannt wurde, hatte sich neu eingekleidet und sah durchaus nicht nach einem ehemaligen russischen Überläufer aus.

An einem schönen Herbstmorgen fuhren die beiden Reisenden zur Bahn; die Fahrt sollte über Allenstein-Thorn-Alexandrowo gehen. Der Übergang über die Grenze vollzog sich ohne Schwierigkeiten, denn Peters und Fedor führten nur zwei bescheidene Koffer mit sich, die das Nötigste an Wäsche und Kleidung enthielten. In Warschau fanden sie in dem erstklassigen Hotel de Varsovie behagliche Unterkunft. Die Preise waren allerdings gepfeffert.

Fedors Sprachkenntnisse brauchten gar nicht in die Erscheinung zu treten, denn der Hoteldiener, der sie an der Bahn in Empfang nahm, sprach ziemlich geläufig deutsch. Und auch auf der Straße kam man überall mit Deutsch durch. Im Notfall brauchte man nur einen der Juden heranzuwinken, die sich scheinbar zwecklos in den Straßen der Stadt umhertrieben und die glücklich waren, einige Kopeken verdienen zu können. Fedor fühlte sich ganz sicher, wer sollte ihn denn auch hier wiedererkennen? Mit großem Vergnügen genoß er die Eindrücke, die ihm die große, gewerbefleißige und von rauschendem Vergnügen erfüllte Stadt bot.

Gleich am zweiten Abend wurde die große polnische Oper besucht, die sich mit Recht den gleichen Kunstinstituten anderer Großstädte als ebenbürtig an die Seite stellen konnte. Am nächsten Abend gingen sie in das polnische Theater, wo das ergreifende Schauspiel „Kasimir Wielki i Esterka“ gegeben wurde. Es ist die Geschichte des polnischen Königs Kasimir der Große, der eine Jüdin heiratet und den Glaubensgenossen seiner Gattin die volle staatsbürgerliche Gleichberechtigung verleihen will.

Die Vorstellung war vorzüglich. Der junge Priester, der dem jähzornigen König den Bannfluch ins Gesicht schleudert, die junge Frau, die die Rolle der Esther spielte, waren Künstler ersten Ranges. Fedor hatte den größeren Genuß, weil er die Sprache verstand, aber auch Peters war sehr befriedigt. Sie saßen allein in einer Loge, und Fedor flüsterte ihm bei jeder Szene zu, was sie bedeutete. Seine Backen brannten, und das Herz schlug ihm bis zum Halse hinauf. Das Blut seiner Väter war in ihm lebendig geworden.

19. Kapitel

Nach dem Theater saßen die beiden Reisenden mit einem polnischen Großkaufmann Parczinski, der fertig deutsch sprach, in einem feinen polnischen Restaurant zusammen. Das Lokal war stark gefüllt. Mehrere Tische waren von russischen Offizieren besetzt, die mit Damen der Halbwelt Sekt tranken und sich in sehr vorgerückter Stimmung befanden und sehr geräuschvoll benahmen.

„Das ist das typische Bild unserer Zustände“, meinte Parczinski, mit den Augen auf die Offiziere weisend. „Die Russen fühlen und benehmen sich als die Herren, ohne jede Rücksicht auf Sitte und Gesetz. Und wir dulden schweigend.“

„Von einer Versöhnung oder gar Verschmelzung der beiden verwandten Völker ist allerdings nichts zu merken“, erwiderte Peters. „Es soll aber doch eine große Partei unter Ihnen geben, die sich auf die Seite der Russen gestellt hat und die Verschmelzung der beiden Völker betreibt.“

„Das ist von jeher die Quelle unseres nationalen Unglücks gewesen. Die Adelspartei, die mit Hilfe der Russen sich in den Besitz der Macht setzen wollte, hat die Zerstörung und Aufteilung unseres Reiches verschuldet.“

„Hoffen Sie noch immer, Ihre nationale Selbständigkeit mal wieder zu erringen?“

Parczinski schüttelte den Kopf. „Aus eigener Kraft sind wir dazu nicht imstande. Im vorigen Jahr hat Joseph Pilsudski hier während der Revolutionsbewegung einen Aufstand versucht. Er wurde schnell und energisch unterdrückt. Das Häuflein der Aktivisten, die an die Möglichkeit einer gewaltsamen Befreiung glauben, ist klein. Sie ahnen ja gar nicht, wie zerrissen unser Volk ist. Und jede Partei will nichts mit der anderen zu tun haben. Die Arbeiterbevölkerung ist wie überall sozialistisch gesinnt und hat die nationalen Gefühle als veraltet über Bord geworfen. Auch in den anderen Ständen sind die wirtschaftlichen Interessen an die erste Stelle getreten. Der großgrundbesitzende Adel, der Bauernstand, das Bürgertum stehen sich schroff, ja, man könnte sagen, feindselig gegenüber.“

„Da haben die Russen leicht herrschen“, warf Peters ein. „Ich sehe auch nicht, wie und von welcher Seite ihnen Hilfe kommen könnte. Die politische Lage schließt jede Hoffnung auf Wiedererstehung Ihres Reiches aus. Sie haben früher in einer merkwürdigen Selbsttäuschung auf Frankreich gehofft. Den Traum werden Sie wohl endgültig begraben können. Das demokratische, republikanische Frankreich ist mit dem absoluten Zarentum auf Gedeih und Verderb verbündet.“

„Polen kann nur von Deutschland befreit werden“, sagte Fedor mit Nachdruck.

„Kann, kann“, erwiderte Peters. „Jawohl. Und ich bin überzeugt, daß es über kurz oder lang zum Krieg zwischen Deutschland und Rußland kommt und daß Rußland trotz seiner großen Übermacht gründlich besiegt werden wird. Aber daß die Deutschen dann das Königreich Polen herstellen würden, das erscheint mir völlig ausgeschlossen.“

„Mir auch“, meinte Parczinski. „Es würde damit nur seine inneren Schwierigkeiten, die es mit den polnischen Gebietsteilen hat, vermehren.“

„Das sehe ich nicht ein“, erwiderte Peters.

„Sie müssen doch nachgerade einsehen, daß Preußen seine Provinzen Westpreußen und Posen an Polen nicht zurückgeben kann, ohne sich zu ruinieren. Und wenn es nach der Niederwerfung Rußlands den Polen die Bedingung stellt, auf diese ehemaligen Gebietsteile ihres Reiches für immer zu verzichten…“

„Ja, meine Herren, wo sind die Polen, mit denen man darüber verhandeln könnte? Und nehmen Sie es mir nicht übel, von Ihnen, den Deutschen, will keine Partei bei uns etwas wissen. Ich glaube, der größte Teil meiner Landsleute würde lieber die russische Herrschaft, als die Befreiung durch die Deutschen vorziehen.“

Nach einer Weile sagte Peters: „Es ist ein Jammer, was ein Jahrhundert Fremdherrschaft aus einem hochbegabten Volk machen kann. Sie stehen doch in Bildung, in Fleiß, in allem turmhoch über diesen Russen, die bei allem äußerlichen Glanz und Schliff doch nichts weiter sind als eine mit westeuropäischem Firnis übertünchte Horde von Asiaten. Sie haben eine alte Kultur. Das Stück, das wir heute gesehen haben, gehört in die Weltliteratur. Mich wundert, daß die Russen solch ein Stück überhaupt aufführen lassen.“

Der Kaufmann lächelte bitter. „Sie halten das mit Recht für ungefährlich. Im vorigen Jahr sind die Zuschauer im Theater aufgesprungen, wenn König Kasimir der Große auf der Szene erschien und haben ihm zugejubelt. Er wird übrigens von einem Deutschen mit polonisiertem Namen gespielt. Heute hat wohl alles mäuschenstill gesessen.“

Er sah sich um. „Es ist übrigens Zeit, daß wir aufbrechen. Es sieht so aus, als wenn nächstens die leeren Champagnerflaschen durch den Saal fliegen werden. Wenn es Ihnen recht ist, können wir noch in ein kleines Café gehen, das nur von Polen besucht wird.“

Eine Viertelstunde später saßen sie bei einem schwedischen Punsch in einem kleinen, verräucherten Raum, dessen Eleganz schon stark verblichen war. An einem Tisch saß eine Gruppe junger Leute in der Uniform der russischen Gymnasiasten. „Das sind wohl Studenten?“ fragte Peters.

„Nein, das sind noch Gymnasiasten, die notgedrungen die russische Schule besuchen. Polnische Studenten gibt es hier kaum. Vielleicht ein Dutzend oder zwei. Was irgend kann, geht ins Ausland, aber nicht zu Ihnen, da werden sie nicht geduldet, sondern nach der Schweiz, nach Belgien und Frankreich.“

„Daher stammt wohl auch die Vorliebe Ihrer Jugend für diese Länder?“

„Die Ausländerei ist wohl bei uns kaum größer als bei Ihnen“, erwiderte Parczinski ironisch lächelnd. „Ich war im vorigen Jahr in Berlin. Da habe ich jeden Tag ein Theater besucht. Ich glaube, es sind einige zwanzig vorhanden, und von den Wiener Operetten abgesehen, wurden nur Stücke ausländischer Autoren aufgeführt... französische, englische, dänische, spanische Stücke.“

Peters lachte. „Ja, wir sind Weltbürger und tun uns etwas darauf zugute, daß wir die Literatur aller anderen Völker besser zu würdigen wissen als unsere eigene. Ein deutsches Stück muß schon sehr gut sein, wenn es sich nur einige Tage auf dem Spielplan halten will. Die meisten werden von der Kritik mit scharfem Schwert hingerichtet. Uns fehlt nun einmal der Stolz des Selbstgefühls, und es müßte schnurrig zugehen in der Welt, wenn wir diesen Stolz mal lernen sollten. Was macht denn jener junge Mann dort?“

Am Nebentisch war ein junger Mann aufgestanden, hatte die Arme über der Brust gekreuzt und einige Worte gerufen.

„Das ist ein Rezitator, er wird einige Gedichte sprechen.“

Im Zimmer war es still geworden. Mit halblauter Stimme begann der junge Mann zu sprechen. Mit jedem Wort hob sich seine Stimme, seine Arme fuhren wild durch die Luft. An den Tischen sprang alles auf und sprach den Kehrreim mit. Als er geendet hatte, brach ein Beifallssturm los.

„Das ist nun unsere Jugend“, meinte Parczinski bitter. „Sie berauscht sich fast jeden Abend in dieser Weise an alten Heldenliedern, an nationaler Freiheit und Größe, und am Tage sitzt sie still in den Kontoren.“

Am anderen Vormittag schlenderte Peters und Fedor die große Verkehrsader Warschaus entlang. Sie wollten einen Juwelier aufsuchen, der ihnen von Parczinski empfohlen war und ihm Fedors Münze zeigen. Peters hatte sie eingesteckt, damit Fedor ganz aus dem Spiel bleiben könnte.

Der Juwelier, ein alter Herr, hatte kaum die Münze in die Hand genommen, als er ausrief: „Wie kommen Sie zu diesem Stück?“

„Ich habe sie gekauft.“

Der alte Herr wiegte zweifelnd den Kopf. „Diese Münzen pflegen nicht käuflich zu sein. Das sind die Wahrzeichen der alten Adelsgeschlechter, die jedes männliche Mitglied der Familie als kostbaren Schatz hütet und bewahrt.“

„Ein kleiner Findling, der nach Ostpreußen verschlagen worden ist, hat sie besessen.“

„Das ist seltsam“, murmelte der Juwelier, während er ein Vergrößerungsglas zur Hand nahm und die Münze betrachtete. „Sie ist schon sehr alt und ziemlich abgeschliffen, aber der weiße Adler ist noch deutlich zu erkennen. Was darunter steht, kann ich im Augenblick nicht erkennen. Würden Sie mir das Stück für einige Tage hier lassen, dann könnte ich das feststellen.“

„Na, Fedor“, sagte Peters ernst, als sie auf die Straße hinaustraten, „nun werden Sie wahrscheinlich Auskunft über Ihre Abstammung erhalten. Wenn der Juwelier uns mit Bestimmtheit den Namen Ihrer Familie sagen kann, dann wird es doch ein Leichtes sein, sie aufzufinden und sich mit ihr in Verbindung zu setzen.“

„Ja, Herr Peters, die Aussicht regt mich sehr auf, aber ich weiß nicht, ob ich mich darüber freuen soll.“

„Na, zum Teufel auch, das ist doch selbstverständlich. Denken Sie bloß, wenn Sie Vater und Mutter wiederfinden... wenn Sie nicht der einsam in der Welt stehende Mensch sind, sondern zu einer alten, vornehmen Familie gehören. Haben Sie sich denn das nie in Gedanken ausgemalt?“

Fedor schüttelte den Kopf. „Ich habe wohl manchmal daran gedacht, aber niemals mit großer Sehnsucht. Ich fühle mich in Preußen wohl, ich will meinen eigenen Weg gehen. Ich will nicht als Pole in Rußland leben. Gestern abend im Theater und nachher im Café, da ist mir auch das Herz heiß geworden, aber dann habe ich...“

Er stockte und suchte nach Worten. Peters lächelte. Er wußte, was der Magnet war, der den jungen Mann nach Preußen zog und hätte seine Worte leicht ergänzen können: „an Annemarie gedacht...“

„Sie haben jedenfalls die Pflicht, sich mit Ihrer Familie in Verbindung zu setzen und Ihren Eltern von Ihrem Dasein Nachricht zu geben. Wie sich dann das verwandtschaftliche Verhältnis ausgestalten wird, wollen wir getrost der Zukunft überlassen. Auf jeden Fall bekommen Sie einen vornehmen, altpolnischen Namen, was durchaus nicht zu verachten ist. Und auch pekuniär kann sich Ihre Lage ganz anders gestalten. Das würde Ihnen doch Ihre Zukunft wesentlich erleichtern.“

„Ja, Herr Peters, wenn das wäre... daran habe ich noch nicht gedacht“, rief Fedor freudig aus.

Beim nächsten Schritt blieb er wie angewurzelt stehen und faßte den russischen Polizisten ins Auge, der an der Straßenecke stand. Auch der Russe war auf den jungen Mann, der ihn anstarrte, aufmerksam geworden. In seinen Augen blitzte es auf. Mit schnellen Schritten ging Fedor auf ihn zu. „Iwan Andreijewitsch, erkennst du mich?“

Der Polizist schüttelte den Kopf. „Geh' mit Gott, mein Freund, ich kenn' dich nicht.“

Auf Fedors Gesicht war die Farbe gegangen und wiedergekommen. „Was wollten Sie von dem Polizisten?“ fragte Peters erstaunt, als sie langsam weitergingen.

„Das ist mein Freund, mein Kamerad, der in der Nacht, als ich überlief, neben mir gestanden hat“, erwiderte Fedor aufgeregt. „Er hat mich wiedererkannt, aber er will mich nicht kennen.“

„Da haben Sie eine schöne Dummheit begangen. Wenn der Mann Sie auf der Stelle festgenommen hätte?“

„Davor war ich sicher. Ich sah es in seinen Augen aufleuchten, ich wußte, daß er mich erkannt hatte, da konnte ich nicht anders. Ich mußte ihn ansprechen.“

„Das sehe ich nicht ein. Ein paar Rubelscheine werden dem armen Kerl viel angenehmer sein als die Auffrischung Ihrer Bekanntschaft. Das werde ich besorgen, wenn wir denselben Weg zurückgehen.“

Iwan Andreijewitsch stand noch auf derselben Stelle, als sie nach einer Viertelstunde zurückkamen. Peters streckte ihm die Hand hin, unter der er mit dem Daumen ein Päckchen Rubelscheine festhielt. Der Polizist ergriff mit verständnisinnigem Lächeln die Hand und dankte auf russisch.

„Wo kann ich dich heute sprechen?“ raunte Fedor ihm zu.

„Heute abend in der Lodzer Straße 8. Um 6 Uhr bin ich dienstfrei.“

„Was haben Sie mit dem Mann verabredet?“ fragte Peters im Weiterschreiten.

„Ich will mich heute abend mit ihm treffen. Es ist keine Gefahr dabei, Herr Peters. Der Mann verrät mich nicht.“

„Es kann aber auffallen, daß Sie sich mit einem ganz gewöhnlichen russischen Polizisten freundschaftlich unterhalten. Das braucht bloß ein zweiter zu sehen, der nicht so anständig denkt wie dieser Ossip, dann sind Sie geliefert.“

Fedor ließ sich nicht abhalten. Bald nach sechs suchte er die Lodzer Straße auf und fand in der Nummer 8 eine kleine Cukierna, in der Iwan Andreijewitsch schon auf ihn wartete. Sonst war noch kein Gast in dem Lokal.

Nun mußte erst Fedor erzählen, wie es ihm in Preußen gegangen war. Sein Kamerad sperrte Augen und Ohren auf. „Der Herr hat dir geholfen, er wird dir weiterhelfen. Mir ist es nicht so gut gegangen. Wie ich loskam vom Militär, bin ich nach Haus gewandert. Mein Vater tot, mein Liebchen verheiratet. Da habe ich mein Bündel genommen und bin nach Warschau gegangen. Erst habe ich in einer Fabrik gearbeitet, dann hat mich mein früherer Hauptmann, du hast ihn nicht mehr gekannt, getroffen, der hier bei der Polizei ist. Er hat mir zugeredet und mir den Dienst verschafft.“

„Und wie war's in der Nacht, als ich überlief?“

„O Brüderchen, ein Rosruch, ein Aufruhr. Wie ich geschossen habe, kamen von rechts und links die Posten angelaufen. Der eine hatte schon dein Gewehr und Koppel gefunden. Es dauerte nicht lange, da kommt der Hauptmann angeritten. Er schreit mich an: Du hast es gewußt, du hast ihm fortgeholfen.` Herr Hauptmann, gestatten Sie, zu sagen: Wenn ich gewußt hätte, daß er überlaufen will, dann hätte ich es auch nicht hindern können.` Ich wurde abgelöst und habe drei Tage in der Kosa gesessen, aber sie haben mir nichts nachweisen können. Wie ich zurückkomme, erfahre ich, daß ein Zigeuner dich hat verraten wollen. Ein Unteroffizier mit zehn oder zwanzig Mann ist gleich mit dem Zigeuner gegangen, aber sie haben dich nicht mehr gefunden. Da haben sie den Zigeuner mitnehmen wollen. Das ist ihnen aber schlecht bekommen. Da sind noch mehr Zigeuner gewesen, die haben mit Revolvern geschossen und haben einen von uns totgeschossen. Dem Unteroffizier — du kennst ihn, es ist der Ratayczak, mit den Pockennarben im Gesicht — ist es schlecht gegangen. Er ist degradiert worden und hat noch ein Jahr als Gemeiner dienen müssen.“

Mir einem ansehnlichen Geldgeschenk verabschiedete sich Fedor von seinem früheren Kameraden und fuhr in das Hotel zurück, wo Peters schon mit Ungeduld und einiger Besorgnis auf ihn wartete. Er hatte schon Eintrittskarten für das polnische Theater besorgt, wo Gorkis „Nachtasyl“ gegeben wurde. Er kannte es schon aus einer vorzüglichen Aufführung in Berlin und hoffte auf einen großen Genuß. Es war aber eine böse Enttäuschung. Das Stück lag den feurigen, temperamentvollen, polnischen Schauspielern nicht. Sie bekamen es nicht fertig, den müden, indolenten, melancholischen Charakter der russischen Volkstypen darzustellen.

Auch Fedor wurde von den Vorgängen auf der Bühne wenig gefesselt. Er hatte bei der Erzählung seines Kameraden die Nacht seiner Flucht in der Erinnerung durchlebt, und nun zog die Zeit, die er in Deutschland zugebracht hatte, an ihm vorüber, bis seine Gedanken bei Annemarie haften blieben. Seine scheue, bescheidene Zuneigung zu ihr war heute in ein anderes Stadium getreten. Denn nun war die Hoffnung in ihm erwacht, ernst um ihre Hand werben zu können, wenn er als Sohn einer vornehmen, begüterten Familie zurückkehrte.

Nach dem zweiten Akt erhob sich Peters. „Die Sache ist langweilig, ich möchte lieber noch einen Tingeltangel besuchen. Oder wollen Sie noch hierbleiben?“

„Nein, ich komme gern mit, das Stück gefällt mir auch nicht.“

Eine Viertelstunde später traten sie in das Varieté ein. „Alles alte Bekannte“, sagte Peters lachend und wies auf die grellbunten Plakate an den Wänden. Aber Fedor machte Augen, als er beim Eintreten hoch oben an der Decke drei kräftige Männergestalten herumturnen und durch den Raum fliegen sah. Er staunte und dann lachte er fröhlich wie ein Kind, als danach zwei Groteskkünstler mit englischen Namen als drei Männer mit nur drei Beinen auf der Bühne erschienen. Die Puppe zwischen ihnen drehte den Kopf, öffnete den Mund und sprach. Mit Vergnügen sah Peters, wie Fedor sich amüsierte.

„Wenn Ihnen das solchen Spaß macht, mein lieber Fedor, dann können wir morgen wieder hergehen“, sagte er.

20. Kapitel

Auf dem Heimweg sprach Fedor seine Absicht aus, nach Balaschki zu fahren, um Groseks Tochter Anka zu besuchen. Die Mutter hatte ihn darum gebeten. Er möchte mit eigenen Augen sehen, wie es ihr ginge und ihr einen ungeschminkten, wahrheitsgetreuen Bericht bringen. Er hatte sich schon nach dem Weg erkundigt. Er konnte mit der Bahn fahren und brauchte nur eine halbe Stunde zu Fuß zu gehen. Zu Mittag würde er also auf alle Fälle zurück sein.

Peters hatte am Vormittag Geschäfte zu erledigen. Er hatte für sein Hamburger Haus Verbindungen angeknüpft, die recht aussichtsreich erschienen und wollte morgen eine große Lieferung abschließen. Und dann wollte er zu dem Juwelier herangehen. Eine Enttäuschung hielt er für ausgeschlossen, aber wenn sie eintreten sollte, wollte er sie Fedor beibringen.

Es war ein wunderbarer klarer und milder Herbsttag, als Fedor von dem kleinen Bahnhof nach Balaschki wanderte. In dem goldenen Sonnenschein segelten die weißen Wanderfäden, die wir merkwürdigerweise Altweibersommer nennen. Jeder Baum, jeder Strauch hatte eine Menge davon eingefangen, die wie ein Schleier im Winde wehten. Auf jedem Stoppelfeld lagen Tausende und aber Tausende kleiner Spinngewebe, die wie Filigranarbeit aus weißen Silberdrähten aussahen.

Mit dem Gefühl freudiger Erwartung betrat Fedor das Dorf. Er freute sich, das Mädel wiederzusehen, das zum erstenmal sein Herz für wenige Tage höher schlagen ließ. Wer weiß, wenn das Schicksal sie ihm nicht so schnell entführt hätte…

Das junge Weib erkannte ihn auf den ersten Blick, als er eintrat. „Fedor, wo kommen Sie her?“

„Ich bin mit einem Herrn nach Warschau gekommen und bringe Ihnen herzliche Grüße von den Eltern.“

Sie nickte mit dem Kopf, ohne eine Freude zu verraten. „Danke, wie geht es den Eltern?“

„O sehr gut. Ihre Mutter hat viel zu tun, Ihr Häuschen ist an einen Herrn Doktor aus Berlin vermietet, der den Sommer über in Weissuhnen wohnt. Die Mutter hat das Kochen übernommen und ist von morgens bis abends auf den Füßen. Ihr fehlt nichts, als daß Sie noch zu Hause wären.“

Anka schien die letzten Worte mit Absicht zu überhören. Sie fragte ruhig: „Und der Vater?“

„Na, der hat sich sehr verändert. Er ist ganz grau geworden. Und das Predigen hat er aufgegeben. Er ist nicht mehr Gromadki.“

„Ach, wieso denn?“

„Das hängt mit Ihnen zusammen. Er meint, das hätte der liebe Gott nicht zulassen dürfen, daß Sie die Eltern verließen und mit dem fremden Menschen weggingen.“

„Der fremde Mensch war mein Mann vor Gott... und er ist noch heute mein Mann. Vergessen Sie nicht, Fedor, daß Sie in seinem Hause bei seiner Frau sind.“

Sie hatte so scharf geantwortet und eine so abweisende Miene aufgesetzt, daß es Fedor schwer wurde, das Gespräch fortzusetzen. Erst nach einer Weile begann er wieder: „Nehmen Sie es mir nicht übel, Anka, ich mußte Ihnen doch sagen, wie der Vater denkt. Ich spreche hier wie ein Bruder zu Ihnen, denn ich habe Ihren Vater so lieb wie ein Sohn, und er nennt mich auch so.“

In den müden Augen der jungen Frau leuchtete es ein wenig auf. „Das freut mich, das freut mich sehr. Fischen Sie noch immer mit dem Vater zusammen?“

„Nein, ich bin Schreiber und Inspektor in Glodowen geworden, oder jetzt muß ich wohl sagen: gewesen, denn ich habe meine Stelle aufgegeben und fahre mit dem Herrn Doktor nach Berlin. Aber nun sprechen Sie mal offen zu mir. Ihre Mutter will doch wissen, wie es Ihnen geht. Weshalb schreiben Sie nicht?“

„Was soll ich schreiben? Ein Tag verläuft bei mir wie der andere. Aber wenn Sie alles den Eltern erzählen sollen, dann will ich Ihnen auch was zeigen, wovon Sie erzählen können.“

Sie stand auf, ging in die Kammer und kam nach wenigen Augenblicken mit einem dicken, pausbäckigen Jungen wieder, der seine rosigen Bäckchen an ihr Gesicht schmiegte. Sie stellte ihn im Hemdchen auf den Tisch und strich ihm zärtlich mit der Hand über die blonden Locken. „Ist das nicht ein Prachtkerl? Gib dem Onkel das Händchen, nicht das, das richtige. So, und nun sag': Guten Tag, lieber Onkel'.“

Fedor nahm den kleinen Buben auf den Arm. „Anka, wenn Ihre Eltern den Jungen zu Hause hätten, dann wäre das ganze Haus voller Sonnenschein.“

Sie wiegte bedächtig den Kopf. „Das glaube ich. Er ist auch mein Glück und mein Schutz. Wenn ich ihn nicht hätte, ich glaube…“

Sie brach ab und schwieg. „Sprachen Sie weiter, sagen Sie mir alles.“

„Was soll ich Ihnen sagen? Daß mein Mann manchmal nicht gut zu mir ist, wissen die Eltern. Aber er ist der Vater meines Jungen und freut sich über den Jungen, und seitdem ist er auch besser zu mir.“

Ihre Backen hatten sich fieberhaft gerötet, so daß es Fedor auffiel. Er musterte mit den Augen ihre Gestalt. Von dem drallen, rosigen Mädel, das in seiner Erinnerung stand, war nicht viel übriggeblieben. Anka war mager geworden. Ihre weichen Gesichtszüge waren scharf geworden.

„Sie sind nicht gesund, Anka. Was fehlt Ihnen?“

„Im Winter habe ich viel gehustet. Ich war nach dem Jungen so schwach, daß ich manchmal nicht zwang, aufzustehen und Mittag zu kochen. Im Sommer ist es besser geworden, und jetzt...“ Sie senkte den Kopf und sagte leise: „Jetzt gehe ich wieder auf anderen Füßen. Wer weiß, ob ich das noch aushalten werde.“

Stumm saßen sie eine Weile sich gegenüber. „Soll ich Ihrer Mutter sagen, daß sie herkommt und Sie ein paar Wochen oder Monate ordentlich pflegt?“

„Da müßte ich erst meinen Mann fragen.“

„Das ist doch nicht nötig. Eines Tages kommt die Mutter und dann ist sie da. Die Mutter kann doch ihre Tochter mal besuchen?“

Anka zuckte die Achseln. Dann sagte sie, sich zusammenraffend: „Meine Mutter paßt nicht zu meinem Mann. Die würden gleich am ersten Tag zusammengeraten. Nein, nein, sagen Sie das um Gottes willen nicht meiner Mutter, daß sie herkommen soll. Vielleicht...“ sie stockte wieder.

„Sie werden zu Besuch kommen.“

„Nein.“ Frau Anka stand auf. „Zu Besuch nicht. Ich werde nach Hause kommen. Mein Mann trinkt so furchtbar. Er ist bloß noch ein Schatten von dem, was er früher war. Mit dem nimmt's kein gutes Ende. Im vorigen Winter hat er betrunken nachts im starken Frost im Schnee gelegen. Als wir ihn fanden, war er steif wie ein Knüppel und ohne Bewußtsein. Vier Wochen hat er auf Leben und Tod gelegen, dann hat er ein paar Monate mit dem Trinken aufgehört. Aber jetzt hat er wieder angefangen und schlimmer als früher. Jetzt säuft er Steine aus der Erde. Des Morgens geht er weg in den Krug, zu Mittag kommt er betrunken nach Haus, schläft sich ein paar Stunden aus, und abends geht er noch nicht ganz nüchtern wieder in den Krug.“

„Hat er denn soviel Geld zum Vertrinken?“

„Er hat viel verdient mit dem Pferdehandel und macht auch jetzt noch, wenn seine schlimme Zeit vorüber ist, Geschäfte. Und das Betrinken kostet hier in Rußland nicht viel. Mit einem Rubel kann man sich zweimal am Tage den Verstand versaufen.“

Fedor stand auf. „Anka, jetzt sage ich Ihnen als Bruder: Sie dürfen hier nicht länger bleiben, Sie müssen nach Hause kommen zu Ihren Eltern. In einer Stunde geht der Zug nach Warschau. Sie ziehen sich an, mitnehmen brauchen Sie nichts. Ich trage den Jungen.“

Anka war in sich zusammengesunken. Die Hände hatte sie im Schoß gefaltet. Man konnte es ihr ansehen, daß sie mit einem Entschluß rang. „Soll Ihr Junge ein Filippone werden, wie sein Vater?“ fragte Fedor leise. Da sprang das Weib auf. „Nein, das soll er nicht. Das Wort hat Ihnen der liebe Gott eingegeben. Nein, das soll er nicht, er soll ein guter, braver Mensch werden, ein Deutscher. Warten Sie bloß einen Augenblick.“

Sie verschwand in der Kammer. Nach einer Viertelstunde erschien sie wieder zum Ausgehen angezogen. Sie warf dem Jungen ein Röckchen und ein Mäntelchen über. „Wir müssen uns beeilen, ehe mein Mann nach Hause kommt.“ Noch einen Blick warf sie um sich auf die kleine Stube, in der sie so viel Leid erfahren hatte, dann schritt sie Fedor voraus zur Tür. In demselben Augenblick tat sich die Tür auf und Saschul stand auf der Schwelle. Man hatte ihm die Nachricht ins Wirtshaus zugetragen, daß ein fein gekleideter junger Herr in sein Haus gegangen wäre. Zuerst hatte er dazu gelacht und gemeint, man wolle mit ihm einen Scherz machen.

„Ein feiner, junger Herr bei meiner Frau? Ja, wenn es ein alter Mann wäre, dann möchte ich sagen, das ist mein Schwiegervater, der auf Besuch gekommen ist. Er war ja schon einmal da.“

„Nein, Saschul“, erwiderte der Krugwirt. „Ein feiner, junger Herr. Er sieht nicht wie ein Pole oder Russe aus, sondern ist gekleidet wie ein Deutscher.“

„Da mußte du doch mal nachsehen“, rief sein Zechkumpan, „das ist vielleicht einer, der sein Liebchen besuchen kommt.“

„Meine Frau hat keinen Liebhaber“, schrie Saschul wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. Aber das Wort war ihm in die Knie gefahren. Er stand auf. „Ich will doch mal nachsehen, was meine Frau für einen Besuch bekommen hat.“ Er war schon etwas unsicher auf den Beinen, als er die Dorfstraße entlang ging. Und seine Augen flackerten, als er die Tür aufstieß und den beiden gegenüberstand. Im ersten Augenblick siegte das Gefühl der Unterwürfigkeit, das jedem Russen einem gutgekleideten Menschen gegenüber angeboren ist. Er zog die Mütze und verbeugte sich.

Anka trat zur Seite. Sie war im ersten Augenblick bleich geworden. Aber sie hatte sich schon wieder gefaßt. „Saschul, das ist ein Freund aus Ostpreußen. Er hat mir Grüße von den Eltern gebracht.“

Der Filippone runzelte die Stirn. „Und weshalb hast du dich angezogen?“

„Ich will den Herrn zur Bahn begleiten.“

„Und weshalb trägt er meinen Jungen aus dem Arm?“

„Mein Gott, Saschul, ich kann den Jungen doch nicht `ne ganze Stunde allein lassen.“

„Zur Bahn begleiten?“ wiederholte der Mann mißtrauisch. „Oder vielleicht mitfahren? Mir meinen Jungen stehlen?“

Er griff zu und nahm das Kind, das sich an Fedor anklammerte, an sich. „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?“ schrie er Fedor an.

„Mein Gott, Saschul, sei doch vernünftig, das ist doch Fedor Poranski, der mit meinem Vater gefischt hat.“

„Der russische Überläufer? Der will dich hier wegholen nach Hause, und meinen Jungen wegnehmen?“

In Fedors Adern raste das Blut. Er wußte, er fühlte, daß er den vom Trunk ausgemergelten, auf seinen Beinen wankenden Kerl mit leichter Mühe überwältigen, binden und mit einem Knebel am Schreien hindern konnte. Als hätte Anka, deren Blicke erregt zwischen den beiden Männern hin und her flogen, geahnt, was in Fedor stürmte, drängte sie sich zwischen die beiden Männer. „Gib mir das Kind, Saschul, gib doch, dann hole ich euch eine Flasche Okowit aus dem Krug und Fedor erzählt dir, wie es in Weissuhnen und Onufrigowen aussieht. Nicht wahr, Fedor, Sie bleiben hier, mein Mann wird Sie gern kennenlernen. Sie haben sich ja, glaube ich, schon in Weissuhnen gesehen.“

Das arme Weib sprach in ihrer Herzensangst, was ihr der Geist in dem Augenblick eingab. Sie ahnte nicht, daß der Fusel in ihres Mannes Kopf zu verdunsten begann und welche Gedanken ihm durch den Kopf flogen. Vielleicht las er auch in Fedors Augen, mit welchen Gefühlen ihm der Gast gegenüberstand. Er ließ sich von Anka den Jungen abnehmen. „Was wollen Sie von meiner Frau, Sie russischer Überläufer?“

„Ihre Frau hat es Ihnen schon gesagt, daß ich bloß gekommen bin, ihr Grüße von den Eltern zu überbringen.“

„Das will ich aber nicht. Sie haben nichts in meinem Hause zu suchen, Sie verdammtes polnisches Hundsblut.“

„Wer einen Gast in seinem Hause beschimpft, zerstört sein Dach“, rief Anka dazwischen.

„Mein Dach ist fest, aber du..., du verdammtes preußisches Frauenzimmer“, er gebrauchte einen viel schlimmeren beschimpfenden Ausdruck gegen seine Frau, „du willst es von meinem Haus reißen. Du willst mit deinem Liebhaber auskneifen nach Preußen.

Das lohnt nicht, Herr, das lohnt wirklich nicht mehr. Das ist keine Frau mehr, wie sie sein soll, das ist nichts mehr als Haut und Knochen. Aber sie muß bei mir bleiben, meinen Jungen zu pflegen.“

Mit Mühe hatte sich Fedor bezwungen. Er hatte die Gefahr erkannt, in der er sich befand. „Saschul, Brüderchen“, sagte er auf russisch, „ich habe Eure Frau zweimal gesehen. Ich wußte, daß sie mit Euch verlobt war. Ihr müßt also nicht dummes Zeug reden. Ich habe eine Braut in Ostpreußen und denke nicht an Eure Frau. Ich bin bloß gekommen, weil Ankas Mutter mich darum gebeten hat. Wollen wir jetzt nicht in den Dorfkrug gehen und einen guten Schluck darauf trinken?“

Er schämte sich vor sich selbst, während er sprach, aber in ihm war etwas, das ihm riet, diesen halbtrunkenen Menschen durch freundliche Worte zu besänftigen. Er streckte der Frau die Hand hin. „Leben Sie wohl, Frau Anka, ich werde Ihren Eltern bestellen, daß es Ihnen gut geht, daß Sie einen prächtigen Jungen haben.“

„Ich dachte, meine Frau wollte Sie begleiten“, fragte Saschul mit lauerndem Blick.

„Dazu ist keine Zeit mehr, ich muß mich beeilen, zur Bahn zu kommen. Leben Sie wohl, Saschul.“

Der nächste Augenblick verdarb alles. Das junge Weib hatte mit schwerem Herzen den Entschluß gefaßt, von ihrem Mann wegzugehen. Es hatte im Herzen schon die Freude durchlebt, nach Hause zu den Eltern zu kommen und still und friedlich weiterzuleben. Den Gedanken, ihre Fesseln abzuwerfen, hatte sie schon oft gehabt. Aber sie war in einem einsamen Dorf aufgewachsen, sie war, ehe sie Saschul folgte, noch nie weiter in die Welt gekommen als bis nach Johannisburg. Wie sollte sie mit dem bißchen Russisch, das sie gelernt hatte, die vielen hundert Meilen nach Hause kommen? Jetzt war der Retter gekommen, der sie sicher nach Hause geleiten würde. Daß der Retter selbst in der größten Gefahr schwebte, ahnte sie nicht. Sie sprang auf. „Fedor, ich komme mit.“

Blitzschnell hatte Fedor begriffen, was diese Worte der jungen Frau bedeuteten. „Es ist zu spät, Anka, ich muß schnell zugehen, sonst fährt mir der Zug vor der Nase weg.“

„Dann kommt der nächste. Saschul“, schrie sie auf, „ich geh' weg, ich kann nicht länger bei dir bleiben.“

„Geh' mit Gott, mein Täubchen“, erwiderte der Russe höhnisch grinsend. „Bloß den Jungen mußt du mir hierlassen.“

Er sprang auf seine Frau zu und versuchte, ihr das Kind vom Arm zu reißen. Sie stieß ihn mit der Hand zurück. Da hob der Russe seine Faust. Im nächsten Augenblick hatte Fedor ihn am Arm erfaßt und ihn zurückgeschleudert. Mit einem Schwung hatte er den Russen umgedreht und ihn von hinten umschlungen. Mit heftigen Wendungen versuchte der Russe sich zu befreien. „Du verdammter polnischer Überläufer, du Hundsblut, du überfällst mich in meinem eigenen Hause.“

Mit eisernem Griff umschnürte ihn Fedors Arm, daß ihm die Luft ausging. „Weib, so hilf doch, nimm das Beil und schlag' ihn über den Kopf“, schrie Saschul.

„Anka, gehen Sie `raus mit dem Kind. Ich muß Ihren Mann unschädlich machen, sonst sind wir beide verloren.“

„Fedor, Fedor, nein, nein, lassen Sie meinen Mann los.“

„Anka, seien Sie doch vernünftig, geben Sie mir einen Strick, daß ich ihm die Hände binden kann.“

„Die Hände binden“, brüllte Saschul, „zu Hilfe, Freunde, Brüder, zu Hilfe.“

Die Tür tat sich auf, ein Haufen Kinder drängte ins Zimmer; schon liefen einige schreiend davon. Sie waren dem trunkenen Saschul gefolgt und hatten vor der Tür gelungert, um den feinen Herrn zu sehen, wenn er wieder wegging. So was sieht man in einem russischen Dorf nicht alle Tage.

21. Kapitel

Einen ganz kurzen Augenblick hatte Fedor noch überlegt. Dann gab er Saschul frei. Einige Kinder liefen draußen schon laut schreiend nach den nächsten Häusern. In wenigen Minuten würde der Filippone Hilfe erhalten. Er ging schnell zum Tisch, nahm seinen Hut und lief zur Tür zurück. Saschul vertrat ihm den Weg. „Ah nein, du Überläufer, hier kommst du nicht so weg.“

„Seien Sie doch vernünftig, Saschul, ich habe Ihnen nichts tun wollen. Ich habe Sie bloß von Ihrer Frau zurückhalten wollen.“

Der Filippone lachte höhnisch. „Erst wolltet ihr beide ausrücken und meinen Jungen mitnehmen, und nachher, weil ich euch in den Weg kam, wolltet ihr mich umbringen. Erst werde ich mit dir abrechnen und dann mit dem Weib.“

Vorsichtig Fedor im Auge behaltend, ging er rückwärts zur Tür, die er von außen verriegelte. Sofort zog Fedor seine Brieftasche. „Hier, Anka, die bewahren Sie mir auf, und geben Sie meinem Herrn Nachricht, wo ich geblieben bin. Mein Herr heißt Doktor Peters und wohnt in Warschau, Hotel de Varsovie. Hier ist ein Brief an Zochers Bruder, der in Warschau wohnt. Den können Sie auch abgeben. Meinen Paß behalte ich.“

Nach einer Weile fragte er: „Was meinen Sie, was will Ihr Mann tun?“

„Er holt Soldaten aus dem Krug, da sind immer welche, nicht weit von hier ist ein großes Lager.“

Jetzt begriff Fedor erst die Größe der Gefahr, die ihm drohte. Saschul wollte ihn als Überläufer anzeigen und verhaften lassen. Er trat ans Fenster. Da stand schon ein Haufen Männer und Weiber. An denen kam er nicht ungeschoren vorbei. Er ging zur Hintertür. Sie war auch verriegelt. Er kam zurück. Da fiel sein Blick auf das junge Weib, das sich mit dem Jungen auf dem Schoß hingesetzt hatte.

„Anka, was werden Sie machen? Er hat auch Ihnen gedroht?“

Sie zuckte die Achseln. „Gehn Sie weg, sobald er aus dem Haus ist. Er wird doch einige Stunden wegbleiben. Gehen Sie nach dem nächsten Dorf, mieten Sie sich ein Fuhrwerk. In meiner Brieftasche ist Geld. Fahren Sie zur nächsten Station und von dort nach Warschau.“

Anka schüttelte den Kopf. „Er wird verlangen, daß ich auch Zeugnis gegen Sie ablege, aber er wird sich irren. Sie müssen sich bloß nicht verraten, daß Sie polnisch und russisch sprechen.“

Langsam trat Fedor vom Fenster zurück mitten in die Stube. Saschul kam mit drei Soldaten zurück. Die Tür wurde aufgeriegelt und aufgerissen. Fedor versuchte nicht die geringste Abwehr, als sie auf ihn zustürzten und ihm die Arme befaßten. „Saschul, sagen Sie den Soldaten, daß ich freiwillig mitgehe, daß mich keiner zu halten braucht.“

„Ach nee, Brüderchen“, erwiderte Saschul auf russisch, „du hast flinke Beine, du kannst versuchen, auszureisen. Und du, Weib, kommst mit. Gib den Jungen der Marfa Feodorowna.“ Er faßte seine Frau am Handgelenk und zog sie mit sich fort.

Ein Haufen Männer, Weiber und Kinder schloß sich ihnen an. Der Filippone genoß schon das Vorgefühl befriedigter Rache. „Die werden sich sehr freuen, so einen Überläufer wiederzubekommen. Läuft weg nach Preußen, wird dort ein feiner Herr und kommt ganz frech wieder, hier ein Weib zu stehlen. Weißt du auch, Brüderchen, was sie mit dir tun werden? Sie werden dich in die Bergwerke nach Sibirien schicken, Gold graben. Das ist eine feine Beschäftigung für einen feinen Herrn.“

Der ganze Haufen lachte und johlte. Fedor verriet mit keiner Miene, daß er die Schmähworte des Filipponen verstand. Eine halbe Stunde dauerte der Weg. Schon von weitem konnte man die mit einem hohen Zaun umgebenen Baracken stehen sehen, in der ein ganzes Regiment untergebracht war. Vor der Tür lungerten Soldaten herum. Ein Posten stand mit geschultertem Gewehr im Eingang. Er ließ nur die Soldaten mit ihrem Gefangenen und Saschul mit seinem Weib durch. Vor der Tür des Wachhäuschens saßen einige Offiziere beim Kartenspiel. Saschul zog seine Mütze und verbeugte sich. „Die Herren verzeihen, daß ich störe, ich bringe einen Überläufer, einen Polen, der bei der Grenzwache in Kolno gestanden hat und im vorigen Frühjahr desertiert ist nach Preußen.“

Die Offiziere unterbrachen ihr Spiel und wandten sich zu dem Filipponen. Jetzt sagte Fedor auf deutsch: „Meine Herren, ich bitte, mich gegen den betrunkenen Filipponen in Schutz zu nehmen. Ich weiß nicht, was er von mir will.“

Einer der Offiziere erwiderte in geläufigem Deutsch: „Sie sollen ein Überläufer sein.“

„Ich bin ein deutscher, preußischer Untertan und mit meinem Herrn nach Warschau gekommen.“

„Glauben Sie ihm nicht, Herr Leutnant, ich kenne ihn genau“, schrie Saschul dazwischen.

„Halt das Maul, du Lippowaner“, fuhr ihn einer der Offiziere an.

Dann wandte er sich an seinen deutsch sprechenden Kameraden. „Thaddi, der Mensch sieht aus wie ein Bruder von dir.“

Fedor hatte verstanden, was der Offizier sagte. Jetzt fiel es ihm auch auf, daß der eine Offizier eine ganz merkwürdige Ähnlichkeit mit ihm besaß.

„Eine flüchtige Ähnlichkeit. Ihr müßt mich einen Augenblick entschuldigen. Ich werde doch die Sache untersuchen und ein Protokoll aufnehmen müssen.“

In der Wachstube setzte er sich an den Tisch und ließ sich einen Bogen Papier geben.

„So, nun erzählen Sie mir mal, was Sie hierher geführt hat und wie der Filippone dazu kommt, Sie als Überläufer zu bezeichnen“, sagte er auf deutsch und nicht unfreundlich zu Fedor.

„Ich bin Chauffeur und Diener bei einem Herrn Doktor Peters aus Berlin. Wir sind in diesem Sommer nach Ostpreußen gekommen und mein Herr hat von den Eltern der Frau ein Haus gemietet. Wie mein Herr nach Warschau fuhr, hat die Mutter der Frau mich gebeten, hier in Balaschki ihre Tochter zu besuchen und ihr Grüße zu überbringen. Die Eltern befürchten, daß ihre Tochter von ihrem Manne schlecht behandelt wird, und ich sollte ihnen auch darüber Nachricht geben.“ Er griff in die Tasche und holte seinen Paß hervor, den der Offizier flüchtig durchblätterte.

„Wie kommt denn der Filippone darauf, Sie als russischen Überläufer anzuzeigen und festnehmen zu lassen?“

Fedor zuckte die Achseln. „Der Mann war im Wirtshaus und kam nicht ganz nüchtern nach Hause. Seine Frau wollte mich zur Bahn begleiten und hatte sich dazu angezogen. Da hat er wohl geglaubt, sie wolle ihn verlassen. Er geriet in eine fürchterliche Wut, beschimpfte seine Frau und wollte sie schlagen. Da bin ich dazwischengetreten und habe ihn davon abgehalten.“

„Wie haben Sie sich denn mit dem Mann verständigt?“

„Er spricht gut deutsch, er soll ja aus Ostpreußen hierher gezogen sein.“

„Nun, dann erzählen Sie mal, was Sie zu sagen haben. Sprich deutsch“, herrschte er den Filipponen an, als Saschul russisch zu sprechen begann.

„Der versteht ebensogut russisch und polnisch wie wir, Herr Leutnant. Und ich denke, wir können in Rußland russisch sprechen.“

Er fuhr auf russisch fort: „Der Mann heißt Fedor, ich glaube, Fedor Poranski. Im vorigen Frühjahr, als ich mit meiner Frau verlobt war, kam er an. Der Vater meiner Frau ist ein frommer Mann, der hat ihn als Fischer angenommen. Meine Frau wird das bezeugen...“

„Nun, Frau?“ fragte der Leutnant, „stimmt das, was Ihr Mann sagt?“

„Ich verstehe nur wenig Russisch“, erwiderte Anka ruhig auf deutsch. „Aber was Ihnen mein Mann erzählt hat, ist ein Märchen. Ich habe den Herrn heute zum erstenmal in meinem Leben gesehen.“

„Du lügst, Weib“, schrie Saschul und hob die Faust gegen sie. „Dir hat der Überläufer schon damals gefallen. Jetzt wolltest du mit ihm durchgehen und meinen Jungen mitnehmen.“

Mit einem scharfen Wort hatte der Leutnant Saschul zur Ruhe verwiesen.

„Es scheint mir ein Racheakt von dem Lippowaner zu sein, Herr... Herr Kleinknecht, aber ich kann Sie nicht ohne weiteres loslassen.“

„Freilassen?“ schrie Saschul, „dann geh' ich hinter ihm auf Schritt und Tritt, ich werde schon einen Polizisten finden, der nicht deutsch mit dem Überläufer spricht.“

„Sperrt den Kerl ein, bis er nüchtern geworden ist“, befahl der Offizier. Ein paar Soldaten sprangen zu und erfaßten Saschul die Arme. „Ach, Herr Leutnant“, begann er demütig zu bitten, „ich werde ganz ruhig sein. Ich bin auch ganz nüchtern, aber ich bitte, mir zu glauben, daß das ein Überläufer ist. Schicken Sie ihn doch zur Grenzwache nach Kolno, da werden ihn noch alle kennen.“

Auf einen Wink des Offiziers ließen die Soldaten Saschul los. „Da hast du in deiner Dummheit einen guten Gedanken gehabt. Ich muß jetzt ein Protokoll mit Ihnen aufnehmen und es zur Kommandantur einreichen, die mag entscheiden. Also, wie heißen Sie?“

„Franz Kleinknecht.“

„Wann geboren und wo?“

Jetzt fühlte Fedor, wie sein Herzschlag aussetzte. Er wußte nicht, was sein Paß über diese Punkte für Angaben enthielt. Er hatte ihn mal flüchtig angesehen und nicht im Traum daran gedacht, daß er danach gefragt werden konnte. Mit gut gespielter Gleichgültigkeit griff er nach dem Paß, den der Leutnant neben sich auf den Tisch gelegt hatte.

„Das steht hier alles in meinem Paß, Herr Leutnant.“

Der Zufall war ihm günstig. Er hatte mit einem Blick das Datum und den Namen erfaßt. „Der Paß ist in Berlin für mich ausgestellt und beim russischen Generalkonsulat visiert.“

Der Offizier, der beim Schreiben nicht aufgesehen hatte, schien nichts von Fedors Schreck und Verlegenheit gemerkt zu haben. Er schrieb kurz Fedors Aussagen nieder, dann die Beschuldigung durch den Filipponen und die Aussage seiner Frau. In zehn Minuten war er damit fertig, las die Niederschrift vor und ließ sie von den dreien unterzeichnen.

„Das schicke ich durch eine Ordonnanz zur Kommandantur. Wenn Sie Glück haben, können Sie noch vor Abend entlassen werden. Bis dahin muß ich Sie festhalten. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ihr bleibt auch noch hier, vielleicht werdet ihr noch einmal vernommen werden.“

Er stand auf und gab auf russisch den Befehl, Fedor in das Arrestlokal zu sperren.

„Ach, Herr Leutnant, ich habe einen kleinen Jungen zu Hause. Ich bin auch so schwach, ich kann mich kaum aufrechterhalten... könnte ich nicht nach Hause gehen?“ bat Anka. „Nach Balaschki ist ja nicht weit, ich kann ja wiederkommen, wenn ich gebraucht werde. Ich will beschwören, was ich ausgesagt habe. Ich kenne den fremden Herrn nicht weiter als von heute.“

„Na, dann gehen Sie.“

Saschul wagte seine Frau nicht zu halten. Er blieb in der Wachstube sitzen, zog Geld heraus und schickte einen Soldaten nach Okowit. Während der Leutnant sich in seiner Stube auf die Liege ausstreckte und ein Buch zur Hand nahm, erzählte Saschul den Soldaten, um was es sich handelte. „Das ist ein Überläufer, ich kann es beschwören, meine Frau lügt, die will ihn retten. Die hat's schon damals mit ihm gehalten, Jetzt kommt er, sie hier besuchen, und sie will mit ihm ausrücken nach Preußen.“

Die Soldaten lachten. „An der verlierst nichts, die möchte ich ruhig gehen lassen und mir eine andere nehmen“, rief einer.

„Hast recht, Brüderchen, sie kann gehen, sie soll gehen, ich werde sie selbst heute wegjagen, bloß den Jungen darf sie nicht mitnehmen. Ach, ein goldenes, prächtiges Jungchen habe ich.“

„Der Leutnant war ja sehr freundlich zu ihm“, meinte einer der Soldaten. „Du wirst sehen, er läßt ihn heute abend frei.“

„Er wird nicht freikommen“, schrie Saschul und schlug sich dröhnend an die Brust. „Das sage ich... ich bleibe am Tor, bis er `rauskommt, und dann gehe ich ihm nach und schreie hinter ihm her bis Warschau. Da werde ich doch einen finden, der nicht deutsch, sondern russisch mit ihm spricht. Was ist das für ein Offizier hier, wie heißt er?“

„Das ist ein geborener Pole, Thaddäus Kaminski“, erwiderte einer der Soldaten.

„Ach, ein Pole“, lachte Saschul höhnisch. „Nun wird mir alles klar. Eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus. Gut, daß ich das weiß. Bei der Kommandantur wird hoffentlich noch ein russischer Offizier zu finden sein.“

Der Leutnant hatte eine Weile in das Buch gesehen, bis er merkte, daß er nicht las, sondern sich mit seinen Gedanken beschäftigte. Die Ähnlichkeit des Gefangenen mit ihm und vor allem mit einem Jugendbild seines Vaters ging ihm durch den Kopf. Das wäre an und für sich keine Tatsache gewesen, die ihn erregen konnte. Aber es kam dazu, daß sein ältester Bruder als kleiner Junge von zweieinhalb Jahren in den Wirren der letzten Revolution verlorengegangen war. Sein Vater hatte sich nicht an der Revolution beteiligt, sondern stand auf feiten der Russen. Und weil er deswegen einen Racheakt seiner aufständischen Landleute befürchtete, wollte er sich mit seiner Familie in den Schutz der russischen Bajonette begeben.

Unterwegs war ihm sein ältester und damals noch einziger Sohn abhanden gekommen. Die polnische Amme, die den Kleinen betreute, war eines Nachts mit ihm aus der Herberge, in der sie Unterkunft gefunden hatten, verschwunden. Sie hatte als glühende polnische Patriotin das Kind den russisch gesinnten Eltern entführt.

Die Eltern hatten jahrelang vergeblich alles in Bewegung gesetzt, um eine Spur ihres Kindes zu finden. Schließlich hatten sie es für verschollen und tot erklären lassen und der zweite, Thaddäus, war als Erbe an seine Stelle getreten. Wenn dieser als Überläufer verdächtige Mensch nun wirklich sein vermißter Bruder wäre? Weshalb versteifte sich der Filippone so auf seine Beschuldigung? Konnte das Hirn dieses Menschen so einen teuflischen Racheakt ausbrüten, einen Menschen, den er zum erstenmal sah, als Überläufer zu verdächtigen?

Die Frau? Die konnte ein Interesse haben, den jungen Menschen zu retten, und es lag doch auch nicht fern, wo dies Interesse zu suchen war...

Damit bekam die Sache jedoch ein ganz anderes Gesicht. War der junge Mensch ein Überläufer und ein geborener Pole, dann konnte es auch sein Bruder sein...

Er stand auf und ging eine Weile ruhelos im Zimmer auf und ab. Schließlich griff er nach der Klingel und befahl der eintretenden Ordonnanz, den Gefangenen zu ihm zu führen.

Fedor hatte sich in der Einsamkeit der Zelle seine Lage nach allen Seiten hin überlegt und war zu der Ansicht gekommen, daß er keine Angst zu haben brauche. Anka war nach Hause gegangen. Vielleicht fuhr sie noch heute nach Warschau und suchte Peters auf. Der würde dann schon eingreifen. Aber wahrscheinlich würde man ihn schon heute freilassen. Wenn bloß der Kerl, der Saschul, nicht den Rat gegeben hätte, ihn nach Kolno zu schicken, wo ihn jeder Soldat vom Gemeinen bis zum Offizier wiedererkennen würde.

Das arme Weib! Hätte sie dem Mann bloß nicht die Wahrheit ins Gesicht geschleudert, als es zu spät war! Aber was tut nicht der Mensch, wenn er in solch einer Aufregung ist? Gerade in dem Augenblick, wie sie sich nach schwerem Kampf entschließt, in die Freiheit, zu den Eltern, zurückzugehen, tritt ihr der Mann entgegen...

„Wenn sie bloß nicht nach Hause, sondern gleich zum Bahnhof gegangen ist“, dachte Fedor. „Der Saschul hat ihr doch mit seinen Reden das ganze Dorf zum Aufpasser bestellt. Man wird sie nicht fortlassen.

Man wird ihr den Jungen nicht geben. Dann fährt sie nicht, dann bleibt sie, bis der Mann nach Hause kommt.“

Der Gedanke erregte ihn so, daß er aufsprang und die wenigen Schritte in der schmalen Zelle hin und her ging. Da wurde die Tür aufgeschlossen und geöffnet. Ein Soldat schrie ihn an: „Du sollst zum Leutnant kommen.“

Fedor tat, als wenn er nicht verstand, was man ihm sagte. Da packte ihn der Soldat am Ärmel und führte ihn heraus. In der Wachstube rief ihm Saschul höhnisch nach: „Geh' nur, geh', du kommst mir doch nicht aus.“

22. Kapitel

Mit einer einladenden Handbewegung bot der Leutnant Fedor einen Stuhl an. „Ich habe Sie holen lassen, um noch einige Fragen an Sie zu richten. Ich spreche jetzt nicht als der russische Offizier, sondern als der polnische Edelmann Thaddäus Kaminski zu Ihnen. Mir ist die Ähnlichkeit zwischen uns beiden aufgefallen.“ Er machte eine Pause und griff nach der Schachtel mit Zigaretten und bot auch Fedor eine an. „Ja, die Ähnlichkeit ist wirklich überraschend groß und noch größer mit einem Jugendbild meines Vaters. Nun handelt es sich um die Frage, ob Sie wirklich in Deutschland von deutschen Eltern geboren sind oder...“

Er machte wieder eine Pause. Fedor sah, wie er mit sich kämpfte. Das konnte ein Zeichen seiner inneren Erregung sein, weiter nichts. Oder sollte womöglich eine Falle dahinter stecken, ein plumper Versuch, ihm ein Geständnis abzulisten? Auf jeden Fall beschloß er, auf seiner Hut zu sein.

„Ich muß vorher einschalten, daß meinen Eltern in der letzten Revolution ein Sohn verlorengegangen ist, der jetzt genau in Ihrem Alter sein müßte. Nun kann ich nicht ohne weiteres von Ihnen erwarten, daß Sie mir die Tatsachen, auf die es ankommt, unter den Umständen, unter denen Sie sich jetzt in einem Truppenlager befinden, zugeben werden. Deshalb gebe ich Ihnen mein Ehrenwort, das Ehrenwort eines polnischen Edelmannes, daß ich von dem, was Sie mir jetzt sagen, keinen Gebrauch machen werde. Sie können mir ohne jede Gefahr zugestehen, daß die Beschuldigung des Filipponen auf Wahrheit beruht, oder es genügt mir auch, wenn Sie mir sagen, daß Sie polnischer Abkunft sind.“

Fedor hatte Thaddäus Kaminski, während er sprach, scharf beobachtet, und dabei war ihm eine Reihe von Gedanken durch den Kopf geflogen. Was konnte der junge Mann, der augenscheinlich jünger war als er, für ein Interesse daran haben, einen verschollenen älteren Bruder aufzufinden? Einen Bruder, der ihn doch nur aus der Stellung des Erstgeborenen verdrängen mußte? Verwandtschaftliche Gefühle schienen bei dieser Frage nicht im Spiele zu sein. Kein Wort des Bedauerns über den Verlust des Bruders... und dem sollte er voreilig sein Geheimnis preisgeben?

„Herr Leutnant, ich bedauere sehr, Ihnen keine andere Auskunft geben zu können als die, die schon in Ihrem Protokoll steht. Es soll doch nicht ganz selten vorkommen, daß zwei Menschen, die nicht im entferntesten miteinander verwandt sind, sich zum Verwechseln ähnlich sehen. Ich glaube, man nennt das Doppelgänger.“

„Ja, das soll vorkommen“, erwiderte Thaddäus Kaminski und sah Fedor forschend an. „Es scheint wirklich nichts weiter als ein merkwürdiges Spiel der Natur zu sein. Denn Sie werden doch an meinem Ehrenwort nicht zweifeln?“

„Durchaus nicht, Herr Leutnant.“

„Und die Aussicht, aus Ihrem einfachen Stand... Sie sind Diener, nicht wahr?... zu dem Sohn eines reichen, polnischen Adelsgeschlechts emporzusteigen, würde wohl auch nicht ihre Wirkung auf Sie verfehlt haben.“

„Nein, Herr Leutnant, jetzt möchte ich es fast bedauern, kein Pole und russischer Überläufer zu sein“, erwiderte Fedor lächelnd. „Die Ähnlichkeit allein würde doch auch für Sie und für Ihre Familie nicht genügen.“

„Allerdings nicht. Aber mein Bruder hatte, als er uns geraubt wurde, ein Kennzeichen bei sich, das Wahrzeichen unseres Geschlechts, das nur das Haupt der Familie und der älteste Sohn erhält.“

Jetzt mußte sich Fedor innerlich zusammenraffen, um sich nicht zu verraten. Er sah den Leutnant fragend an.

„Das ist eine goldene Schaumünze, die der Betreffende an einer goldenen Kette um den Hals trägt.“

„Wenn Herr Leutnant sich überzeugen wollen, daß ich...“

„Danke, ich bin vollkommen überzeugt, daß nur eine zufällige Ähnlichkeit vorliegt. Deshalb halte ich es auch nicht für nötig, Ihnen noch weitere Angelegenheiten zu bereiten. Ich habe die Anzeige an die Kommandantur noch nicht abgeschickt. Ich entlasse Sie, Sie können gehen und nach Warschau zurückkehren.“

Fedor stand auf. „Ich danke Ihnen, Herr Leutnant, ich fürchte nur, daß der betrunkene Filippone, der noch in der Wachstube sitzt, mir weitere Angelegenheiten bereitet.“

„Sie sind ihm wohl bei seiner Frau ins Gehege gekommen?“ fragte Thaddäus lachend.

„Nein, Herr Leutnant, der Mann wurde dadurch gereizt, daß seine Frau ihm erklärte, zu ihren Eltern zurückkehren zu wollen.“

„Den Kerl lasse ich für ein paar Stunden einsperren, bis Sie in Warschau sind. Aber halten Sie sich dort nicht mehr lange auf. Es ist für jeden Ausländer besser, wenn er nichts mit der russischen Polizei zu tun bekommt.“

Als Fedor sich mit einem nochmaligen Dankeswort verbeugte und zur Tür ging, klopfte es, und die beiden russischen Offiziere, die schon vorher zugegen waren, traten ein.

„Nun, Thaddi, hast du jetzt zu einer Preffrence Zeit oder beschäftigt dich noch immer die Suche nach deinem Bruder?“

Der Leutnant nahm das Protokoll, das auf dem Tisch lag und reichte es dem Sprecher. Den Paß gab er dabei Fedor zurück. „Ich habe mich überzeugt, daß dieser junge Mensch kein Pole und demnach weder mein Bruder, noch ein Überläufer sein kann. Ich will ihn eben entlassen. Was meint ihr dazu? Kann ich das tun?“

Fedor hatte jedes Wort der russisch geführten Unterhaltung verstanden und ein leises Angstgefühl stieg in ihm auf. Doch jetzt warf der eine der beiden Offiziere das Protokoll, das er überflogen hatte, auf den Tisch. „Aber selbstverständlich. Wozu willst du dir noch Scherereien mit der Kommandantur machen?“

„Darf ich jetzt gehen, Herr Leutnant?“

„Ja, Sie können gehen“, erwiderte Thaddäus von Kaminski und trat hinter ihm in die Tür. Er rief dem Unteroffizier, der am Tor saß, den Befehl zu, den betrunkenen Filipponen einzusperren und diesen Mann gehen zu lassen.

Im Abgehen zog Fedor noch einmal seinen Hut. Als er aus dem Tor schritt, hob sich seine Brust unter einem tiefen Atemzug. Jetzt kam der Rückschlag auf seine Nerven, denn jetzt kam ihm erst recht zum Bewußtsein, in welcher Gefahr er sich befunden hatte. Ohne zu zögern oder zu fragen, schlug er einen Feldweg ein, der nach seiner Meinung zum Bahnhof führen mußte. Es war schon vier Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er noch einen Zug erreichen, der gegen sechs in Warschau eintraf.

Peters war schon in großer Unruhe. Fedor hatte unter allen Umständen zu Mittag zurück sein wollen. Was konnte ihn noch zurückhalten? Der Mann würde von dem Besuch wohl nicht sehr erfreut sein. Vielleicht war er aber nicht zu Hause und die junge Frau hielt den lieben Gast aus der Heimat fest.

Er beschloß, zum Bahnhof zu gehen, um den nächsten Zug abzuwarten und unterwegs bei dem Juwelier vorzusprechen. Der alte Herr empfing ihn mit sichtlichem Interesse und führte ihn in sein Privatkontor. „Die Münze ist das Wahrzeichen des polnischen Adelsgeschlechts Kaminski. Sie zeigt den weißen Adler und unten einen Stein. Der polnische Name bedeutet auf deutsch von Stein'. Der alte Herr Kaminski lebt übrigens hier in Warschau. Es würde ihn sehr interessieren, von Ihnen zu erfahren, wie Sie in den Besitz der Münze gelangt sind und sie für jeden Preis zurückzuerwerben suchen. Ich habe mich bereits unter der Hand erkundigt und erfahren, daß die Familie den Verlust des ältesten Sohnes betrauert, der als Kind während der letzten Revolution verlorengegangen ist.“

Peters hielt es nicht für geraten, dem alten Herrn zu sagen, daß sein Begleiter der verloren geglaubte Stammhalter des polnischen Adelsgeschlechts sein müsse. Er bedankte sich für die Mühewaltung, nahm die Münze an sich und ging seines Weges.

Eine Menge von Gedanken stürmten ihm durch den Kopf. Selbstverständlich mußte Fedor sofort erfahren, was der Juwelier festgestellt hatte. Was er dann tat, war seine Sache und Peters wollte jede Einwirkung darauf vermeiden. Wenn dann die Familie, der er ohne Zweifel angehörte, ihn mit offenen Armen aufnahm und an sich zog...?

Er mußte auch an sein Töchterchen denken, das sein Herz an Fedor verloren hatte und an die Pläne, die er mit ihm vorhatte. Doch dabei lächelte er nur. Wie er Fedor zu kennen glaubte, würde der sich durch nichts von seinem Ziel abwendig machen lassen. Und es war doch immerhin ganz angenehm, daß er sein Kind nicht einem namenlosen Findling zu geben brauchte.

Er kam gerade auf den Bahnhof, als der Zug einlief. Schon von weitem erkannte er Fedor, der mit der Hand grüßte. „Nun, wo haben Sie so lange gesteckt? War die Bewirtung so gut?“

Fedor schüttelte ihm die Hand. „Nein, mir ist ein Abenteuer zugestoßen, das leicht sehr übel hätte ausgehen können. Wir wollen uns einen Wagen nehmen, da kann ich es Ihnen erzählen.“

„Nun, was war es denn?“ fragte Peters, als sie im Wagen saßen.

„Ich bin von dem Mann der jungen Frau als Überläufer angezeigt und verhaftet worden.“

„Was sagen Sie? Als Überläufer verhaftet?“

„Ja, ich habe länger als eine Stunde in der Kosa gesessen, ich wurde verhört, aber trotz der Aussagen des Filipponen freigelassen, wahrscheinlich, weil die Frau aussagte, mich nicht zu kennen. Mein Paß war in Ordnung.“

Peters schüttelte den Kopf. „Sie können Gott danken, daß Sie nicht schon auf dem Wege nach Sibirien sind. Aber nun werden wir hier schleunigst unser Bündel schnüren und nach Hause fahren. Es hat sich allerdings hier auch etwas ereignet, was Sie möglicherweise festhalten könnte. Der Juwelier...“

„Ich weiß schon alles“, unterbrach ihn Fedor. „Ich bin ein Kaminski. Ich habe sogar schon meinen jüngeren Bruder gefunden.“

„Das ist ein bißchen viel auf einmal“, lachte Peters. „Wie haben Sie das in aller Schnelligkeit fertiggebracht?“

„Mein Bruder Thaddäus ist russischer Offizier. Er hatte zufällig die Wache in dem Truppenlager, in das ich eingeliefert wurde. Ein paar Kameraden, die bei ihm waren, machten ihn sofort auf die Ähnlichkeit zwischen uns beiden aufmerksam. Er verhörte mich, den Filipponen und seine Frau und sperrte mich ein. Eine Stunde später ließ er mich in sein Zimmer holen, gab mir sein Ehrenwort, mich nicht zu verraten und fragte mich, ob ich wirklich ein Deutscher oder vielleicht doch polnischer Abstammung wäre.“

„Na und Sie?“ fragte Peters gespannt.

„Mir gefiel der junge Mensch nicht. Er hatte so etwas Lauerndes in seinem Wesen. Ich sagte mir, er könnte unmöglich darüber erfreut sein, einen älteren Bruder zu bekommen, der ihn wahrscheinlich aus der Stellung des ältesten Sohnes verdrängt.“

„Und Sie haben trotz seines Ehrenwortes Ihr Inkognito nicht gelüftet?“

„Nein, ich versprach mir keinen Nutzen davon. Ich hatte die Münze nicht bei mir und konnte mich damit nicht ausweisen.“

„Da sind Sie aber reichlich mißtrauisch gewesen, lieber Fedor.“

„Ja, ich hatte nur den einen Gedanken, freizukommen. Vielleicht irre ich mich in meinem Bruder. Aber halten Sie es für unmöglich, daß er trotz seines Ehrenwortes mein Geständnis dazu benutzte, mich nach Sibirien verschicken zu lassen?“

„Na, auf jeden Fall haben Sie sich dadurch freigemacht. Ihr Vater lebt hier in Warschau, er wird nicht schwer zu finden sein. Was gedenken Sie zu tun? Das Nächstliegende und Natürlichste wäre es, daß Sie ihn aufsuchen und sich ihm vorstellen.“

„Muß ich das wirklich tun?“

„Ja, lieber Fedor, da kann ich Ihnen nicht raten und nicht helfen. Darüber müssen Sie allein entscheiden. Mir scheint, Ihr Verlangen, in den Schoß Ihrer Familie zurückzukehren, ist nicht sehr groß.“

Fedor faßte nach seiner Hand. „Finden Sie das schlecht von mir, Herr Peters?“

„Schlecht? Nein, ich kann mich in Ihre Lage hineinversetzen; ich glaube zu wissen, was für ein Ziel Sie verfolgen. Glauben Sie denn nicht, daß Ihr Lebensweg sich leichter gestalten und schneller zum Ziel führen kann, wenn Sie gesellschaftlich und pekuniär eine andere Stellung im Leben einnehmen?“

Er sah, daß Fedor den Kopf hängen ließ und fuhr schnell fort: „Auf unser Verhältnis, mein lieber Fedor, bleibt es natürlich ganz ohne Einfluß. Im Gegenteil, ich könnte nur fürchten, Sie zu verlieren.“

„O nein, Herr Peters“, rief Fedor und faßte nach seiner Hand, „aber“, fügte er nachdenklich hinzu, „wenn ich durch meine Familie in den Besitz von Geldmitteln käme und meinen Lebensweg alleingehen könnte? Aber das will ich nicht“, rief er energisch aus. „Ich hasse Rußland und alles, was russisch ist oder mit den Russen Freundschaft hält. Und mein Vater ist Russenfreund und mein Bruder ist russischer Offizier. Das trennt mich von meiner Familie, ehe ich sie wiedergefunden habe. Nein, ich bleibe bei Ihnen, Herr Peters.“

„Das freut mich, mein Junge. Daran habe ich noch nicht gedacht, aber das ist ein Punkt, der allerdings schwer ins Gewicht fällt. Nun kann ich mit Ihnen ganz rückhaltlos sprechen. Jetzt rate ich dazu, sich mit Ihrem Vater in Verbindung zu setzen. Ob das schon heute oder morgen hier geschieht, ist nur eine Frage der Zweckmäßigkeit. Ich würde dafür sein, daß Sie das von Ostpreußen oder Berlin aus schriftlich tun. Hat Ihr Vater, wie ich annehme, das Interesse, Sie wiederzufinden, dann kann er Sie dazu aufsuchen. Sie haben ja einen genügenden Grund, Warschau sobald als möglich zu verlassen und sich über die Grenze in Sicherheit zu bringen. Wir können ja noch den heutigen Abend dazu benutzen, über Ihre Familie nähere Auskünfte einzuziehen.“

In Weissuhnen verlief ein Tag wie der andere. Wenn der Briefträger dagewesen war und Nachricht von Peters und Fedor gebracht hatte, fuhren die Geschwister mit Bogumil im Boot nach Wiersba. Manchmal schloß sich ihnen auch Miß Wiggers an, die, wie sie sagte, vor Langeweile umkam und sehnsüchtig die Rückkehr nach Berlin erwartete. Der Hausbau schritt rüstig vorwärts. Die Mauern wuchsen zusehends aus der Erde empor. Die Geschwister tummelten sich den ganzen Tag auf der Baustelle, die ihnen jetzt interessanter und lieber war als Glodowen.

Der Professor hielt sich jetzt den ganzen Tag bei seiner Zukünftigen auf und betätigte sich eifrig in der Wirtschaft. Die Hochzeit sollte schon in den nächsten Tagen stattfinden und mit großem Aufwand gefeiert werden. Die junge Witwe hatte einen alten Mann aufgetrieben, der überall umherreiten und die Gäste laden mußte. Die Sitte war schon fast ganz verschwunden. Nun erregte es Aufsehen, wenn der Hochzeitsbitter auf seinem geputzten Pferdchen, selbst mit Bändern und Blumen geschmückt, ins Dorf einritt und hoch zu Roß durch die bereitwillig geöffneten Türen bis in die Stube hineinritt, wo er seine langen Sprüche hersagte. Die Aufgabe war nicht leicht wegen der reichen Bewirtung, die überall der Einladung folgte, und am Nachmittag pflegte der alte Mann schon recht bedenklich im Sattel zu schwanken.

Am Vormittag des Tages, als Fedor in Balaschki war, kam Meier in Begleitung Boruchs nach Wiersba, um von seinem alten Freunde Bogumil Abschied zu nehmen. Er hatte sich mit einer jüdischen Gesellschaft in Verbindung gesetzt, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihre Glaubensgenossen, die aus Rußland flüchteten, in Südamerika anzusiedeln.

Meier war in der richtigen Abschiedsstimmung, die aus Wehmut und Hoffnung gemischt ist. Er war traurig darüber, daß er die lieben, alten Freunde und die Verhältnisse, in denen er grau geworden war, verlassen sollte und doch froh bewegt, denn er sah mit Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft. Die Gesellschaft hatte ihm freie Überfahrt zugesagt und ein für europäische Begriffe großes Stück Land am Ufer eines großen Stromes, was ihn besonders freute, denn er würde dort ein großes Gewässer vor der Tür haben, wo er nach Herzenslust fischen konnte, nicht für einen anderen, der ihm dafür einen kärglichen Lohn zahlte, sondern für sich, und er würde dort ein freier Mann sein, den niemand seines Glaubens und seiner Abkunft wegen über die Schulter ansah.

23. Kapitel

In freudiger Hast war Anka nach Hause geeilt. Ihr Entschluß stand fest. Sie wollte den Jungen nehmen, das Haus abschließen und davongehen, soweit ihre Kräfte es zuließen. In der Aufregung achtete sie nicht auf die Schmerzen in der Brust, die ihr das Atmen zur Qual machten. Vor dem Hause der Marfa Feodorowna, der ihr Mann den Jungen übergeben hatte, saß ihr Bübchen zwischen anderen Kindern und spielte im Sande. Sie hob ihn auf und drückte ihn an sich. Sofort erschien das Weib in der Haustür.

„Den Jungen kannst du an dich nehmen, aber denke bloß nicht, daß du mit ihm weglaufen kannst. Wir passen auf dich auf. Allein kannst du gehen, hat dein Mann gesagt, aber der Junge bleibt hier.“

Ohne ein Wort zu erwidern, ging Anka in ihr Haus, brachte den Jungen zu Bett und setzte sich neben sein Lager. Nun war auch diese Hoffnung aus. Wilde Gedanken fuhren ihr durch den Sinn. War es nötig, daß sie dies elende Leben noch länger mit sich fortschleppte? Im Stall hingen genug Stricke... in der Wand steckten große Nägel, die das Gewicht eines Menschen trugen...

Dann sah sie wieder auf ihren Jungen, der so sanft schlummerte. Seine Backen hatten sich rosig gefärbt. Ihr Kind verlassen? Unter fremden Menschen allein lassen? Einer Stiefmutter, die ihn schlecht behandeln und schlagen würde? Nein, das konnte sie nicht. Solange ihr Gott das Leben schenkte, wollte sie bei ihrem Kinde bleiben... lange würde das ja nicht mehr dauern. Sobald es kalt wurde, würde sie wieder zu husten anfangen. Dazu kamen dann die Anfälle, wo ihr der Atem ausging und sie mit dem Gefühl, ersticken zu müssen, kämpfte... und müde war sie zum Umsinken. Vorsichtig legte sie sich mit dem Oberkörper neben ihren Jungen und nahm sein warmes Händchen in ihre Linke. So lag sie und dachte und dachte, bis ihr die Augen zufielen und der Sorgenlöser, der Schlaf, sie für eine kurze Spanne Zeit ihren Schmerzen und ihrem Herzeleid entrückte.

Saschul hatte noch zwei Stunden auf der Wache sitzen müssen. Er hatte die Soldaten freigebig mit Schnaps traktiert und selbst eifrig getrunken. Gegen Abend war er nach Hause gewankt. Seine Frau saß mit ihrem Bübchen auf dem Schoß am Tisch. Hastig atmend wie ein gereiztes Tier schritt er durch die Stube und hob die Faust. „Was, du bist noch in deinen guten Kleidern? Du wartest wohl darauf, daß dein Liebhaber wiederkommt oder du willst fortlaufen?“

Als er zum Schlage ausholte, hielt Anka ihm den Knaben entgegen. „Saschul, gib Ruhe. Ich laß mich nicht von dir schlagen, sei doch vernünftig, du erschreckst das Kind.“

Der Junge schrie laut auf und klammerte sich an den Hals der Mutter. Saschul packte ihn mit rohem Griff und riß ihn an sich. „Du wirst das Kind nicht mehr berühren. Du steckst ihn nur mit deiner Krankheit an. Am besten ist es, wenn du die Tür in die Hand nimmst und nicht mehr wiederkommst — sonst... sonst... vergreif' ich mich noch an dir.“

Er taumelte und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Du allein hast schuld daran, daß der Leutnant den Überläufer freigelassen hat. Weib, hast du denn nicht Angst vor der Sünde? Du hättest falsch geschworen...“

Bei diesen Worten übermannte ihn wieder die Wut. Er stellte den Jungen auf die Erde und stand auf. Anka hatte sich hinter den Tisch geflüchtet. „Was willst du von mir, du Teufel, du versoffener?“

„Weib, mach', daß du `rauskommst, sonst...“

„Nein, ich geh' nicht ohne meinen Jungen. Er gehört mir ebensogut wie dir.“

Mit einem Fluch griff Saschul über den Tisch, packte sie an der Brust und zerrte sie hervor. Seine Faust fiel zwei-, dreimal auf ihren Kopf. Schreiend sank das gepeinigte Weib zusammen. „Schlag' mich tot, dann hat die Qual doch einmal ein Ende.“

„Das beste wär's für dich und mich, dann kriege ich gleich eine neue, junge, gesunde... aber so dumm bin ich nicht, dich totzuschlagen, wirst ja doch nicht lange mehr machen. Solange kann ich noch, warten.“

„Ja, lange wirst nicht mehr zu warten brauchen. Aber das ist die gerechte Strafe für meine Sünden. Alles habe ich dir gegeben, meinen Leib und meine Seele, meinen Glauben habe ich abgeschworen, um mit dir leben zu können, meine Eltern habe ich heimlich verlassen, um dir nachzulaufen...“

Sie hielt erschöpft inne, weil ihr die Brust schmerzte und der Atem ausging. Erstaunt starrte Saschul sie an. Noch nie hatte sie den Mund aufgetan und ihm Vorwürfe gemacht. Stumm und still hatte sie alles über sich ergehen lassen.

„Und was hast du an mir dafür getan? Meinst, ich weiß nicht, wie du lebst, wenn du auf den Handel fährst? Die Weiber hier im Dorf haben es mir ja nachgeschrien, ich sollte mich in acht nehmen, daß du nicht mal eine andere mit nach Hause bringst und mich wegjagst. Meinst, ich weiß nicht, daß die Trauung im Kloster nur eine Komödie war, um mich dumm zu machen und an dich zu binden? Aber was red' ich, ich allein bin schuld. Ich habe die Komödie mit der Taufe mitgespielt, obwohl ich kaum ein Gebet in deiner Sprache aufsagen konnte. Ach, wenn ich doch meinem Vater alles gesagt hätte, als er hier war und mich zurückholen wollte nach Hause. Aber die Scham und die Schande haben mir den Mund verschlossen.“

Saschul grinste höhnisch. „Was jammerst du denn? Du sagst ja selbst, daß du es gewollt hast?“ Er stand auf und holte sich aus dem Eckschrank eine Flasche mit Schnaps.

„Ja, weil ich an dich geglaubt habe, wie an den lieben Gott. Wenn du dein bißchen Verstand nicht schon halb versoffen hättest, dann könntest du noch wissen, wie schön und süß du zu mir gesprochen hast. Mein Herzblatt, mein Täubchen, mein geliebtes Weibchen.'“ Sie lachte schrill auf. „Dein geliebtes Weibchen. Du solltest heute nicht mehr saufen, du hast schon genug.“ Sie streckte die Hand nach der Flasche aus. Er stieß sie zurück und goß sich einen großen Schnaps ein. „Oder nein, sauf', sauf', bis du den Verstand verlierst.“

Sie warf sich auf den Tisch, legte das Gesicht in die Hände und weinte still vor sich hin. Schließlich raffte sie sich auf und beugte sich zu dem kleinen Buben nieder, der zu ihr hingerutscht war und sich an ihrem Rock aufgerichtet hatte.

„Rühr' den Jungen nicht an“, brüllte Saschul, stand mühsam auf und nahm den Jungen. Er trug ihn in die Kammer und warf ihn aufs Bett. Das schien ihm wohl einladend zu winken, denn er warf sich auch hin und streckte sich grunzend aus.

Es waren kaum drei Minuten vergangen, als er laut zu schnarchen begann. Da stand Anka auf, trat leise an das Bett und hob ihren Jungen heraus. Mit bösem Blick sah sie auf den Schläfer. „Jetzt geht es nicht anders. Du oder ich.“ Sie wußte, daß ihr Mann, selbst wenn er schwerbetrunken nach Hause kam, meistens schon nach einer Stunde aufzuwachen pflegte und dann oft stundenlang wach gelegen und sich schlaflos auf seinem Lager gewälzt hatte. Aber schon seit Monaten stand er dann immer auf, nahm die Flasche vor und füllte frisch nach, bis er am Tisch einschlief oder schlaftrunken ins Bett taumelte. Es hatte keinen Zweck, fortzugehen. Wenn er aufwachte und das Kind nicht fand... Nein, er mußte sie und das Kind noch bei sich sehen, und wenn er sich dann wieder vollgetrunken hatte, schlief er wie ein Toter bis tief in den Tag hinein. Dann hatte sie Zeit, mit ihrem Jungen wegzugehen, soweit sie ihre Füße trugen.

Sie legte den Jungen, der müde geworden war, wieder ins Bett. Eine Stunde saß sie dumpf brütend, von starken Schmerzen in der Brust gepeinigt am Tisch und lauschte auf das dröhnende Schnarchen des Mannes. Jetzt stöhnte und röchelte der Mann, als wenn er schwer träumte. Jetzt würde er wohl aufwachen und aufstehen und nach der Flasche greifen...

Sie stand auf und ging leise aus der Stube in den Flur. Dort kauerte sie sich in einem Winkel nieder und lauschte zitternd und bebend nach der Stube hin. Es war nichts zu hören. Sonst pflegte ihr Mann doch zu fluchen und zu husten und mit sich zu sprechen? Sie öffnete ein wenig die Tür und hielt das Ohr an den Spalt. Es war auch kein Schnarchen zu hören. Lag er wach und wollte heute nicht trinken? Nun, dann trank er morgen früh.

Es war ganz dunkel geworden in der Stube. Sie hielt es nicht mehr aus. Sie war müde zum Umsinken. Leise erhob sie sich und schlich ins Zimmer. Sie wollte sich auch niederlegen und ein paar Stunden ruhen. Wenn er wach war, konnte sie doch nicht weg.

Es war so merkwürdig still in der Kammer. Sie schlich näher und horchte. Nicht einmal seinen Atem konnte sie hören, und er pflegte doch sonst ganz laut zu atmen. Oder hörte sie es bloß nicht, weil ihr Herz so hämmerte und bis in die Schläfen hinauf schlug? Mit unwiderstehlicher Gewalt zog es sie vorwärts in die Kammer hinein. Sie stolperte über einen Schuh, taumelte und stieß gegen den Körper ihres Mannes.

Weshalb rührte er sich nicht? Weshalb schrie er sie nicht an? Noch eine Minute stand sie still und lauschte. Jetzt fing es sie an zu grauen. Sie ging zurück in die Stube, suchte am Herd nach Streichhölzern und zündete sich einen Kienspan an, trat in die Kammer und leuchtete ihrem Mann ins Gesicht. Er lag mit geschlossenen Augen wie im friedlichen Schlummer.

Aber nichts rührte sich an ihm. Da faßte sie sich ein Herz und legte ihre Hand auf seine Backe. Sie war kalt, sie faßte seine Hand und hob sie auf.

Tot... und neben ihm der kleine Bube in sanftem Schlummer mit rosigen Päckchen. Da sank sie an dem Lager hin und preßte ihr Gesicht gegen den Arm des Toten. Sie dachte jetzt nicht mehr an die Leiden, die ihr der Mann bereitet hatte, sie dachte an die Zeit ihres ersten, reinen Liebesglückes. Wie er zum erstenmal den Arm um sie gelegt und ihr ins Ohr geflüstert hatte, daß er sie liebe, an die Wochen, wo sie im Schummern sich aus dem Hause stahl, um ein paar Minuten am Seeufer bei ihm zu stehen und sich von ihm herzen und küssen zu lassen.

Und aus ihrem Herzen stieg ein Dankgebet empor zum Himmel, daß er sie durch den Tod des Mannes erlöst hatte. Nun war sie frei. Sollte sie noch länger hierbleiben und bis zum Morgen warten? Dann würden die Nachbarn kommen. Wer weiß, ob man ihr nicht schuld an dem Tode ihres Mannes gab? Nein, dem brauchte und wollte sie sich nicht aussetzen.

Im Dunkeln nahm sie ihren Jungen, der fest schlief, aus dem Bett und wickelte ihn mit dem großen Umschlagetuch an ihre Brust, an der sie auch Fedors Brieftasche trug.

In den Häusern war kein Lichtschimmer mehr, kein Mensch dachte mehr daran, sie zu bewachen. Ihr Mann war ja zu Hause. Die Erregung hatte ihr neue Kräfte verliehen. Aber nicht weit hinter dem Dorf waren sie zu Ende. Sie setzte sich am Wege hin, um sich auszuruhen. Als sie wieder aufstehen wollte, knarrten Räder. Ein Wagen kam langsam in dem tiefen Sandweg angefahren. Der Fuhrmann nickte im Halbschlummer. Sie stand auf und rief den Fuhrmann an: „Brüderchen, nimm mich mit, ich bin so krank und müde.“

„Wohin willst du denn, Schwesterchen?“

„Ich muß mit dem kleinen Jungen zur Stadt, nach Warschau.“

„Steig ein, Schwesterchen. So weit fahre ich nicht, aber in Lepki kannst du mit dem Zug weiterfahren.“

Sie stieg in den aus Korbreisern geflochtenen Panje-Wagen, der mit Stroh gefüllt war. Eine Weile saß sie und beantwortete die Fragen des Fuhrmanns nach dem Woher und Wohin. Dann fielen ihr die Augen zu. Sie legte sich rückwärts über und streckte sich bequem aus. Im Morgengrauen war sie in Warschau. Mühsam fragte sie sich durch die große Stadt bis zum anderen Bahnhof. Dort war ihr das Glück günstig, denn der Zug, der nach Norden zur preußischen Grenze fuhr, stand zur Abfahrt bereit. —

In Weissuhnen saßen die Geschwister Peters und Miß Wiggers gerade beim Abendbrot, als die Tür sich auftat und ein jammerhaft elend aussehendes, junges Weib auf die Schwelle trat. Erstaunt sah man sich gegenseitig an, dann sprang Annemarie auf: „Sie sind wohl Anka, die Tochter?“

In demselben Augenblick schlossen sich zwei Mutterarme um das junge Weib und eine zitternde Stimme rief:

„Mein Kind...“

„Mutter…“

Sie wollte nichts essen, nichts trinken, nur hinlegen wollte sie sich. Sie war so erschöpft, daß sie weder sprechen noch einschlafen konnte. Leise trat Annemarie in die Kammer. „Hier, Frau Wnuk, bringe ich Ihnen eine Flasche milden Rotwein. Geben Sie Ihrer Tochter davon, der wird sie stärken.“

Das Glas tat wirklich seine Wirkung. Nach einer Weile fing sie zu erzählen an, mit leiser Stimme, ab und zu wurde sie von Atemnot unterbrochen. Sie klagte nicht, sie erzählte nichts von ihrem Leiden. Annemarie steckte wieder den Kopf durch die Tür. „Darf ich Ihnen noch was bringen, Frau Wnuk? Vielleicht ein paar Keks oder eingemachte Früchte?“

„Nein, Fräulein, aber wenn Sie `reinkommen wollen und zuhören. Fedor ist gestern bei meiner Tochter gewesen. Erzähl' weiter, mein Kind.“

Annemarie hatte sich einen Stuhl genommen und neben Frau Wnuk gesetzt. „Wie wir gerade `rausgehen wollen,“ hörte sie Anka leise erzählen, „kommt mein Mann. Er war nicht mehr ganz nüchtern und schrie mich an. Da habe ich in meiner Aufregung gesagt: ja, ich will von dir weggehn und den Jungen mitnehmen. Da ist der Fedor dazwischen gesprungen und hat meinen Mann festgehalten, und wie er meinen Mann losläßt, ist er `rausgelaufen und hat Soldaten geholt, und da haben sie Fedor als Überläufer ins Lager gebracht.“

Annemarie fuhr zusammen. „Anka, was sagen Sie? Fedor ist von den Russen verhaftet?“

„Ja, Fräulein, und ich weiß nicht, ob er loskommen wird oder nicht. Der Leutnant, der ihn verhörte, sprach deutsch und war auch ganz freundlich zu ihm. Ich habe gesagt, daß ich ihn nicht kenne, und Fedor hat auch gestritten, er wäre kein Pole, sondern ein Deutscher. Und der Paß war auch in Ordnung. Aber er mußte ihn doch einsperren lassen.“

Annemarie stand auf und ging still hinaus. In der Wohnstube stand Miß Wiggers mit dem Licht in der Hand. Lautlos brach das junge Mädchen am Tisch zusammen und legte das Gesicht auf die Arme. Ein unhörbares Schluchzen schüttelte ihren Körper. „Mein Gott, Kind, was ist Ihnen?“ rief Miß Wiggers. Erich hatte sich über die Schwester gebeugt und fragte: „Annemieke, was ist dir, hast du was Schlechtes gehört?“

Erst nickte Annemarie, dann hob sie das Gesicht, das von Tränen überströmt war. „Fedor ist von den Russen verhaftet.“

„Das ist nicht wahr, das kann nicht wahr sein“, rief Erich, „unser lieber Fedor.“

„Ja, unser lieber Fedor“, wiederholte Annemarie schluchzend.

„Annemarie“, sagte Miß Wiggers in strengem Ton auf englisch, „ich finde Ihr Benehmen im höchsten Grade unpassend. Sie können Mitleid empfinden mit dem fremden, jungen Mann, aber dieser Schmerzausbruch ist mir unverständlich.“

„Ach, was wollen Sie von Annemarie? Lassen Sie meine Schwester in Ruhe, was verstehen Sie davon?“ erwiderte Erich, und die Stimme schlug ihm über.

24. Kapitel

In Fedors Gegenwart hatte Herr Parczinski sich rückhaltlos über die Familie Kaminski geäußert, natürlich ohne zu ahnen, welch ein Interesse seine Worte für den jungen Begleiter seines Geschäftsfreundes besaßen.

„Die ganze Familie steht nur noch auf vier Augen. Eine Tochter ist an einen belgischen Grafen verheiratet, der Sohn steht bei einem russischen Linienregiment und tritt, wie man erzählt, mit Eifer und Erfolg in die Fußstapfen seines Herrn Vaters, der mit Anstand und Grazie hier in Warschau und in Paris viel Geld ausgibt.“

„Dann ist die Familie wohl reich?“ warf Peters ein.

Parczinski zuckte die Achseln. „Wie man's nimmt. Die Begüterung ist groß, aber stark heruntergewirtschaftet, der schöne Waldbestand abgeholzt und verkauft. Seit einigen Jahren soll ein Deutscher als Verwalter in Kornatowo sein, der sehr tüchtig sein soll. Aber was er herauswirtschaftet, verbraucht die Familie. Nicht nur die beiden Herren, sondern auch die Tochter soll bedeutende Zuschüsse brauchen. Da bleibt zu Verbesserungen der Wirtschaft nichts übrig.“

„Was ist der alte Herr für ein Mensch? Kennen Sie ihn näher?“

„Ich habe öfter mit ihm geschäftlich zu tun gehabt. Er ist ein Pole mit allen guten und schlechten Eigenschaften unseres Volkes: elegant, ritterlich, gastfrei, geschäftlich leicht zu nehmen. Sein Vater war noch ein glühender Patriot. Aber der Sohn besaß schon als ganz junger Mensch die Klugheit, sich auf Seiten der Russen zu stellen. Das soll zu einem heftigen Zerwürfnis Anlaß gegeben haben, in dessen Verlauf der Vater dem Sohn im Besitz der Güter weichen mußte. Der alte Herr hat noch bis vor kurzem zurückgezogen und verbittert auf einem kleinen Nebengut gelebt.“

Als die Herren sich verabschiedeten, lud Parczinski sie für den Abend zum Besuch der Oper ein. Es würde ein großes Ballett gegeben, das sehr sehenswert sei. Auf dem Rückwege zu ihrem Hotel, wo sie noch vorher einen Imbiß nehmen wollten, sagte Fedor: „Mein Entschluß steht fest. Ich schreibe meinem Vater, daß ich Preuße und Deutscher geworden bin und schicke ihm die Münze mit dem weißen Adler zurück. Was ich heute von der Familie gehört habe, der ich entsprossen bin, erweckt in mir kein Verlangen, ihr anzugehören. Ich will meinem Vater nicht auf der Tasche liegen und an ihn Geldforderungen stellen. Am besten, ich gebe mich ihm gar nicht zu erkennen.“

„Das wollen wir uns noch in aller Ruhe überlegen, lieber Fedor“, erwiderte Peters ernst.

Nach dem Schluß der Vorstellung, die alles übertraf, was Peters auf diesem Gebiet gesehen hatte, lud Parczinski die Herren ein, mit ihm zusammen zu speisen. „Wenn es Sie interessieren sollte, den Herrn Kaminski zu sehen, ich habe erfahren, wo er regelmäßig zu verkehren pflegt.“

Das große, vornehme Lokal begann sich schnell mit Gästen, die aus dem Theater kamen, zu füllen. Es dauerte nicht lange, da wies Parczinski mit den Augen auf einen stattlichen alten Herrn, der eine blendend schöne Dame am Arme hereinführte. „Das ist Herr Kaminski, und die Dame ist unsere erste Tänzerin, die Sie heute schon bewundert haben.“

Fedor fühlte, wie sein Herz zu klopfen begann. Der Gedanke, daß dort wenige Schritt von ihm sein Vater vorüberging, brachte sein Blut in Wallung. „Eine stattliche Erscheinung“, meinte Peters. „Der Schnurr- und Knebelbart ist noch schwarz, das Gesicht frisch, das Haar ein bißchen ergraut, die Ähnlichkeit ist unverkennbar.“

„Ähnlichkeit? Mit wem?“ fragte Parczinski.

Mit einer Kopfbewegung wies Peters auf Fedor, der mit leuchtenden Augen dem Vater nachsah.

„In der Tat“, rief der Kaufmann halblaut aus, „eine merkwürdige Ähnlichkeit.“

„Die Sache ist nicht so merkwürdig, wie Sie annehmen, Herr Parczinski“, erwiderte Peters. „Es wird wohl Vater und Sohn sein, die sich hier nach mehr als zwanzig Jahren zum erstenmal wiedersehen. Mein junger Freund ist ohne Zweifel der verlorengegangene älteste Sohn der Familie.“

„Ah, deshalb sind Sie wohl hergekommen, um die Ansprüche Ihres jungen Freundes zu verfechten?“

Fedor hatte noch kein Auge von seinem Vater abgewandt, der nicht weit von ihnen in einer großen Gesellschaft Herren und Damen neben der Tänzerin saß. Es war nicht schwer, zu bemerken, daß er seiner Nachbarin den Hof machte. Und sie behandelte ihn mit einer gewissen Vertraulichkeit, schlug ihn mit dem Fächer auf den Arm und trank ihm zu.

Es mochten nicht zehn Minuten vergangen sein, als zwei junge Offiziere das Lokal betraten, sich einen Augenblick umsahen und dann dicht an ihnen vorbeikamen.

„Mein Bruder Thaddäus“, flüsterte Fedor in großer Erregung Peters zu.

Auch Thaddäus hatte Fedor bemerkt und wiedererkannt. Er stutzte einen Augenblick, lächelte und grüßte höflich im Vorbeigehen. Dann trat er an den Tisch, wo sein Vater saß, und begrüßte die Gesellschaft. Zum Schluß beugte er sich über seinen Vater und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Herr Kaminski stand auf und sah sich nach Fedor um. Im nächsten Augenblick kamen beide gegangen. Peters sah, wie Fedor sich erheben wollte. Schnell befaßte er ihm das Handgelenk und flüsterte ihm zu: „Ruhig Blut, mein Junge. Und nur deutsch antworten.“

Schon standen die beiden Herren vor ihnen. Thaddäus wandte sich an Fedor. „Darf ich Sie mit meinem Vater bekannt machen? Ich habe ihm von der wunderbaren Ähnlichkeit erzählt.“

„In der Tat, ich bin aufs höchste frappiert und überrascht, mein Herr. Wenn hier nicht bloß ein Spiel der Natur vorliegt.“ Er verbeugte sich vor Peters und nannte seinen Namen, dann reichte er Parczinski die Hand.

Mit feinem Lächeln und ironischem Ton sagte inzwischen Thaddäus zu Fedor: „Sollte Ihre deutsche Abstammung nicht ebensowenig echt sein wie Ihre Stellung als Diener, die in Ihrem Paß steht?“

Jetzt hielt Peters es für geraten, einzugreifen. „Meine Herren, hier ist wohl nicht der Ort zu einer Aussprache. Aber wenn Sie uns in unser Hotel de Varsovie folgen wollen.“

Wenige Minuten, nachdem sie auf Peters Zimmer angelangt waren, wurden die beiden Herren Kaminski gemeldet. Ohne weiteres ging der alte Herr auf Fedor zu.

„Nur eine Frage, mein Herr. Sind Sie Pole oder Deutscher?“

„Ich bin in Polen geboren und aufgewachsen.“

„Haben Sie jemals eine Münze besessen, auf der ein fliegender weißer Adler und darunter ein Stein eingeprägt ist?“

„Ich habe die Münze bei mir.“

Nur einen Blick warf der alte Herr auf das Wahrzeichen seines Geschlechts, dann schloß er Fedor stürmisch in die Arme. „Mein Zbigniew, mein geliebter Sohn.“

„Und hier, das ist dein Bruder Thaddäus, umarmt euch, so.“

„Und dem Herrn Peters habe ich es wohl zu verdanken, daß ich meinen Sohn wiedergefunden habe? Sie haben sich seiner angenommen. Gestatten Sie, daß ich Ihnen die Hand schüttele und Ihnen den Dank der Familie Kaminski ausspreche.“

Fedor stand noch wie betäubt. Langsam fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und sagte leise: „Mein Vater, mein Bruder.“

Thaddäus legte ihm den Arm um die Schultern. „Weshalb hast du heute so hartnäckig deine Herkunft abgestritten, Zbigniew? Das ist nachträglich noch eine Beleidigung für mich.“

„Ich konnte mich heute mittag nicht durch die Münze ausweisen. Dis hatte ich einem Juwelier übergeben, um die Familie festzustellen, der sie entstammt. Du hättest mich können für einen Betrüger halten und mich als Überläufer nach Sibirien verschicken lassen.“

Man saß lange beim Sekt zusammen. Fedor erzählte von seiner Jugend und von seinen weiteren Lebensschicksalen, wie er über die Grenze nach Preußen entwich.

„Das ist nicht schlimm“, rief sein Vater dazwischen. „Es wird mir nicht schwer fallen, meinem ältesten Sohn Straflosigkeit zu erwirken.“

Von seinem Aufenthalt in Preußen verschwieg Fedor manches, und Peters mußte im stillen lächeln, wie geschickt sein junger Freund die Punkte überging, die zu einer ernsten Aussprache hätten führen müssen.

Beim Abschied sagte der Vater: „Heute nacht lasse ich dich noch deinem Freunde, morgen früh hole ich dich ab. Ich werde früh am Morgen an deine Schwester nach Brüssel telegraphieren, daß sie herkommt, sich mit uns zu freuen.“

Er umarmte Fedor und küßte ihn nach polnischer Art auf beide Backen.

„Was nun?“ fragte Peters, als die beiden gegangen waren. „Du hast dich heute sehr klug benommen, um die erste Freude des Wiedersehens nicht zu stören. Aber morgen mußt du dich entscheiden, ob du bei deiner Familie bleibst oder mit mir gehst.“

„Das brauchen Sie nicht zu fragen, Herr Peters, ich gehe mit Ihnen.“

„Das ist sehr schmeichelhaft für mich, aber mit deinem Vater wird es noch einen harten Strauß setzen. Übrigens, da wir in so froher Laune und zu vertraulichen Mitteilungen gestimmt sind, so kannst du, entschuldige, lieber Fedor, das Du` ist mir so über die Zunge gelaufen, wenn es dir recht ist, ich habe dich in meinem Herzen schon lange du genannt. Also, nun sag' mir mal offen, was hat in diesem Widerstreit zwischen deinem Vater und mir den Ausschlag für mich gegeben? Bloß der Wunsch und Drang nach Bildung?“

Fedor wurde feuerrot. „Herr Peters, das kann ich Ihnen nicht sagen.“

„Wenn ich es aber schon lange weiß… Habe ich recht? Ist es meine Tochter Annemarie?“

Fedor nickte stumm. Aber seine Augen leuchteten. Dann sagte er leise: „Ich hätte es Ihnen nie zu sagen gewagt.“

„Na, vielleicht am Ende doch, später. Nun gib mir mal deine Hand und das Versprechen, deine Liebe für mein Kind still im Herzen zu tragen und nicht zu verraten. Meine Tochter ist noch sehr jung. Sie hat dich lieb, das weiß ich, aber das Bewußtsein soll unausgesprochen bleiben, bis sie alt genug ist, die Verhältnisse klar und mit reifem Urteil zu überschauen. Und wenn du dir eine Stellung errungen hast, dann soll eurer Verbindung von mir aus nichts im Wege stehen.“

„Herr Peters.“

„Na ja, mein Junge, ich wollte dir einen Ansporn geben und das Ziel zeigen. Und ich wollte verhindern, daß du mir mein Kind beunruhigst.“

„Das hätte ich nie getan, Herr Peters.“

„Ich glaube dir. Aber nun wollen wir schlafen gehen, morgen ist auch noch ein Tag.“

Fedor war schon lange aus, als sein Vater erschien. „Ich bin schon im Gouvernement gewesen und habe einem Freunde von mir, dem Kriegsrat Garmatow, deinen Fall vorgetragen. Es wird gar keine Schwierigkeiten machen. Er erläßt sofort die Anzeige, daß der Steckbrief und Verhaftungsbefehl gegen den Straschnik Fedor Poranski erledigt ist. In dem Zbigniew Kaminski wird niemand den Überläufer suchen. Wo ist dein Freund? Wir wollen uns bei einer guten Flasche Wein zusammensetzen und deine Zukunft besprechen. Was willst du werden? Willst du in die Verwaltung eintreten oder willst du Offizier werden? Es kostet mich nur ein Wort.“

„Nein, Vater, ich trete nicht in russische Dienste.“

„Wenn du nicht willst, ist die Sache schon erledigt. Willst du nach Kornatowo gehen und dich der Landwirtschaft widmen?“

„Auch das nicht, Vater. Ich gehe mit Herrn Peters nach Preußen zurück, laß mich aussprechen. Ich habe noch so gut wie gar nichts gelernt. Ich muß noch viel lernen, um ein gebildeter Mensch zu werden.“

„Was hast du noch zu lernen? Nun gut. Französisch, da nimmst du dir einen Lehrer.“

„Ach nein, Vater, ich muß noch viel mehr lernen.“

„Ich sehe schon“, erwiderte der Alte lachend, „du bist schon ein halber Deutscher geworden, die lernen und lernen, und lernen doch nicht aus.“

„Nein, Vater, ich bin ein ganzer Deutscher geworden, ich bin auch schon preußischer Untertan und will es bleiben.“

„Das heißt, du willst dich von uns trennen? Oh, Zbigniew, schlag' dir diese Gedanken aus dem Kopf. Du bist ein Pole und gehörst deinem Vaterland, gehörst deiner Familie.“

„Sei mir nicht böse, wenn ich auf meinem Entschluß beharre, Vater, Herr Peters hat wie ein Vater an mir gehandelt, ich bin ihm Dankbarkeit schuldig. Ich habe ihm noch heute nacht versprochen, mit ihm zu gehen.“

„Da müßte ich eigentlich dem Herrn Peters zürnen. Du verdirbst mir eine große Freude. Ich wollte heute meine Freunde zu einem fröhlichen Fest laden und ihnen meinen Ältesten vorstellen. Aber nun im Ernst gesprochen. Ich habe mich bei Parczinski nach deinem Freund Peters erkundigt. Er soll ein sehr reicher Mann sein. Hat er Kinder?“

„Ja, einen Sohn und eine Tochter.“

„Wie alt ist die Tochter?“

„Ich glaube, sechzehn Jahre.“

„Das wird wohl der Magnet sein, der dich anzieht. Nun, dann geh' deinen Weg, mein Sohn. Aber ein Kaminski braucht nicht von fremder Leute Gnade zu leben. Ich gebe dir einen Wechsel von tausend Mark monatlich. Du wirst dich schon damit einrichten. Der Thaddi verbraucht ein bißchen viel und deine Schwester stellt auch Ansprüche an meine Kasse. Ich komme in diesem Winter durch Berlin, da sehen wir uns wieder. Ich kann ja ein paar Wochen in Berlin verleben, wenn es auch nicht so amüsant ist wie Paris. Aber nun komm, wir treffen Thaddi in dem Restaurant, wo wir gestern abend uns zuerst gesehen haben.“

Der Leutnant war durchaus nicht ungehalten darüber, daß Zbigniew sich schon so schnell von ihnen trennen und nach Deutschland zurückkehren wollte. Als man sich zu Tisch setzte, kam Peters. Er fand die drei im besten Einvernehmen miteinander und ersah daraus, daß die Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn sich ohne Schwierigkeiten vollzogen hatte. Er regte die Frage an, wie Fedor sich fortan nennen sollte. „Er wird natürlich den Namen führen, der ihm zukommt“, erwiderte der alte Herr.

Und er fügt noch hinzu: „ genannt Poranski`“. Und Zbigniew werden wir ihn auch nicht nennen. Für uns bleibt er der Fedor, den wir liebgewonnen haben, nicht wahr, mein Junge?“ —

In Weissuhnen war in Wnuks Hause Freude und Wehleid eingekehrt. Grosek war gekommen und hatte die Tochter und den Enkel begrüßt. Aber Anka war krank und schwach und mußte liegenbleiben. Der Vater sah es ihr an, daß ihr Lebenslicht im Erlöschen war. Aber seiner Frau sagte er nichts davon. Annemarie ging still mit verweinten Augen umher, und Erich war auch traurig gestimmt. Da kam abends eine Depesche vom Vater: „Wir kommen morgen früh mit dem ersten Zuge. Das Auto zur Bahn. Gruß! Euer Vater.“

Wieder und immer wieder las Annemarie das Telegramm. Ihre Hoffnung wachte auf und klammerte sich an das Wörtchen „wir“.

„Aber das ist doch selbstverständlich, daß Vater den Fedor wieder mitbringt“, meinte Erich mit voller Bestimmtheit. „Er wird nicht wir' schreiben, wenn er allein zurückkommt. Weißt was, Annemieke, wir fahren morgen früh zur Bahn.“

Die Sonne war kaum aufgegangen, da standen die Geschwister erwartungsvoll auf dem Bahnhof in Rudzanny. Als der Zug heranbrauste, mußte Annemarie sich an Erich halten, denn ihre Knie zitterten. Jetzt öffnete sich die Wagentür. Peters stieg zuerst aus. An ihm vorbei flog Annemarie und warf sich Fedor an die Brust. Von der anderen Seite umklammerte ihn Erich.

„Da haben wir den Salat“, sagte Peters zu sich, lachend. „Na, nu laßt mal euren Fedor und begrüßt auch mich.“

„Wie hast du ihn freibekommen?“ fragte Erich.

„Ach. ihr wißt schon alles?“

„Ja, die Frau Anka ist mit ihrem kleinen Jungen nach Hause gekommen.“

„Na, nun kann ich mir auch eure Freude erklären. Aber ihr müßt euren Fedor jetzt etwas anders behandeln und ansehen. Er ist inzwischen in Warschau ein Herr Zbigniew Kaminski und ein richtiggehender polnischer Starost geworden.“

„Für uns bleibt er der Fedor“, rief Erich, „wenn er auch Starost geworden ist. Und Sie bleiben bei uns, nicht wahr, Fedor?“

„Ja, Kinder, ja. Komm, Annemieke, ich freue mich, daß ihr euch über Fedors Rettung ebenso freut wie ich. Im Wagen kann er es euch erzählen. Er ist inzwischen noch was anderes geworden, so etwas wie ein Bruder von euch.“

Mit Vergnügen sah er, wie seine Kinder Fedor in die Mitte nahmen und sich seiner Hände bemächtigten.

Sie hatten zu Hause gefrühstückt, als Miß Wiggers ganz formell Peters um eine Unterredung ersuchte. „Ich muß Ihnen mitteilen, Herr Peters, daß Annemarie sich in Ihrer Abwesenheit sehr unpassend benommen hat.“

„Ach, das ist aber recht betrübend, verehrte Miß Wiggers. So wenig hat Ihre Erziehung und Ihr Beispiel gewirkt? Was hat sie denn verbrochen?“

„Sie hat sich wie unsinnig gebärdet, als sie erfuhr, daß der Herr Kaminski oder Poranski, oder wie Sie ihn jetzt nennen wollen, in russische Gefangenschaft geraten sei. Sie ist in Tränen ausgebrochen und hat geschluchzt.“

„Finden Sie das unpassend, Miß Wiggers, daß sie über ein Unglück trauert, das ihren Lebensretter betroffen hat?“

„Der jähe Ausbruch ihres Schmerzes hat mir verraten, daß Annemarie für den jungen Menschen Gefühle hegt, die...“

„Die ich kenne und vollkommen billige. Sie hat ihn auch heute auf dem Bahnhof stürmisch umarmt, noch ehe sie mich, ihren Vater, begrüßte, und ich habe das als ganz natürlich empfunden. Sie tat dann etwas verschämt über diesen Ausbruch ihres Gefühls, und damit ist alles wieder in Ordnung. Die beiden jungen Menschenkinder werden noch still nebeneinander hergehen, ein Jahr oder zwei, und dann werden sich ihre Herzen für immer finden. Und damit diese keusche Zuneigung nicht von einer täppischen Hand oder einem unbedachten Wort gestört wird, müssen wir uns trennen. Ich stelle Ihnen noch das Gehalt für ein halbes Jahr zur Verfügung. Sie teilen mir wohl bald mit, wann Sie abzureisen gedenken. Sie können jederzeit über das Auto verfügen. Wir fahren gleich alle nach Wiersba, wo wir wohl unseren Freund Bogumil finden werden.“

Noch acht Tage blieb Peters mit seiner Familie in Weissuhnen. Er wollte seinen Kindern das Vergnügen gönnen, eine masurische Bauernhochzeit mitzumachen. Der Abschied Fedors von Grosek war schmerzbewegt. Der Alte hielt ihn lange still umschlungen. Dann legte er ihm die Hände auf die Schultern: „Geh' mit Gott, mein Sohn, und bleibe, wie du gewesen bist, ehrlich, offen und wahr. Es schmerzt mich, daß du von mir gehst, aber es muß sein. Du mußt in die Welt. Aber es freut mich, daß ich dich vom ersten Augenblick an richtig erkannt habe. Vergiß uns nicht ganz. Und wenn du kannst, komm im nächsten Sommer zu Besuch. Mich und die Mutter wirst du wohl noch wiederfinden. Anka nicht mehr, die wird von uns gehen, wenn die letzten Blätter fallen. Sie ist auch so ein müdes Blatt, das vom Lebensbaum fällt.“

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