Fritz Skowronnek Þr Muckerpfaff


Fritz Skowronnek

Der Muckerpfaff

Roman

Meinem Bruder Max gewidmet

Wodni, Lindecke & Ködel, Verlag, Dresden-A.

Eulen-Verlag, A.G., Leipzig

COPYRIGHT 1928

BY EULEN-VERLAG, A.G., LEIPZIG

Druck von G. Kreysing in Leipzig

1. Kapitel

Frau Enute Miltaler saß am Fenster ihrer Wohnstube und strickte eifrig. Die letzten Strahlen der Wintersonne fielen schräg durch die niedrigen Fenster, die mit Blumentöpfen zugestellt waren, und zogen goldene Streifen durch das Zimmer.

Die alte behäbige Dame bewegte ihre Hände so fleißig, daß ihr ganzer Körper an der Bewegung teilnahm. Ab und zu, wenn sie eine Nadel abgestrickt hatte, maß sie die Länge des Strumpfes an ihrer Hand.

Ihr gegenüber am zweiten Fenster saß ein junges Mädchen, das schon über die erste Jugendzeit hinweg sein mochte. Eine stattliche, üppige Erscheinung, deren Gesicht eine ungewöhnliche Energie verriet. Sie sah mit dem starken Mund und Kinn beinahe männlich aus. Dafür entschädigte aber der feurige Blick ihrer großen, dunklen Augen und das überaus reiche kastanienbraune Haar, das in Wellen von dem Madonnenscheitel zu beiden Seiten des Kopfes fiel. Sie hatte sich über ihre Arbeit gebeugt und stickte eifrig.

Jetzt hob sie den Kopf und schaute nach der alten Dame hinüber. „Na, Tantchen, was sinnierst du so?“

Frau Enute zog die Nadel heraus und sah auf: „Ich habe eben an dich gedacht. Sag' mal, mein Kind, ist das wahr, hast du gestern wieder einen Heiratsantrag gehabt?“

Erdmute Endrulat nickte gleichmütig. „Ja, Tante, der Ramonat aus Sodehnen war's.“

„Na, und?“

„Ich habe ihm selbstverständlich einen Korb gegeben. Ein Witwer mit zwei Kindern, das paßt mir nicht, ich will nicht Stiefmutter spielen.“

Frau Enute bewegte mißbilligend ihren Kopf. Mit sanftem Vorwurf sah sie das Mädel an. „Liebe Erdmute, der Ramonat hat ein schönes Gut, er ist ein tüchtiger Wirt und ein solider Mann. Das wäre keine schlechte Partie gewesen.“

Das junge Mädchen hob lachend den Kopf. „Tante, er ist einen Kopf kleiner als ich und hat graue Haare.“

Über Enutes Gesicht zog ein mildes, verstehendes Lächeln. „Na ja, ich kann es dir nachfühlen, daß du dir einen etwas anderen Mann wünschest. Aber du bist nicht mehr die Jüngste. Du bist doch schon siebenundzwanzig. Du kannst doch nicht mehr einen jungen Springer heiraten, der womöglich jünger ist als du.“ Eifriger fuhr sie fort: „Kind, dir verfließen die schönsten Jahre deines Lebens. Du hättest schon lange verheiratet sein und Kinder haben können; und es haben doch auch Männer um deine Hand angehalten, wo du wirklich hättest zugreifen können.“

„Nein, Tante, die meisten hat bloß mein Geld gereizt, das wollten sie heiraten und mich dabei mit in den Kauf nehmen. Ich bin doch nicht häßlich und ich habe die komische Ansicht, daß zu einer richtigen Ehe auch ein bißchen Liebe gehört. Du hast den Onkel doch auch nur aus Liebe geheiratet.“

Frau Enute nickte lächelnd. „Freilich, wir waren einige Jahre im stillen verlobt, bis Miltaler das Gut kaufen konnte.“

„Und weshalb habe ich keinen Mann gefunden, der bloß aus Liebe um mich wirbt?“ fragte das Mädel leise, mit schwermütigem Ton.

„Ja, Erdmute, das liegt doch bloß zum größten Teil an dir selbst. Du bist immer so stolz und unnahbar. Denk' mal an den jungen Lehrer, an den Rohrmoser. Du warst damals noch nicht zwanzig. Das war doch ein schöner, stattlicher Mann, und wie hat er dich verehrt...“

Erdmute zuckte die Achseln. „Ein Schulmeister...“

„Ja, Kind, wenn du so denkst... Er hat sein gutes Brot und eine angesehene Stellung. Jetzt ist er nach Insterburg gekommen an die Mädchenschule. Kind, er ist noch unverheiratet. Ich glaube, man brauchte ihm bloß einen Wink zu geben.“

„Nein, nein, Tante, du wirst dir bei mir keinen Kuppelpelz verdienen.“

„Meine liebe Erdmute, du mußt auch auf deinen Bruder etwas Rücksicht nehmen. Der gute Abrys kann doch keine Frau bekommen, solange du im Hause bist. Euer Vater hat an ihm nicht gut gehandelt, als er dir so viel Geld und das halbe Haus verschrieb.“

„Das ist doch nicht meine Schuld.“

„Nein, mein Kind, das nicht. Aber welch ein Mädchen geht in das Haus, in dem du gewöhnt bist zu kommandieren?“

Ein schelmischer Zug flog über Erdmutes Gesicht. „Tantchen, du willst auf den Busch klopfen und ich will dafür offen mit dir sprechen. Unter uns Pastorentöchtern ist es doch ein offenes Geheimnis, daß mein guter Bruder auf eure Madeline wartet. Ich denke, ihr werdet sie ihm geben. Und Madeline scheint sich, wenn sie ihn auch nicht gerade heiß liebt, doch allmählich an den Gedanken zu gewöhnen, seine Frau zu werden.“

Frau Enute hatte ihr Strickzeug in den Schoß sinken lassen und sah auf. „Ja, Erdmute, wir würden glücklich sein, wenn unsere Madeline den Abrys nimmt, wir schätzen deinen Bruder sehr hoch. Er ist ein lieber, prächtiger Mensch und er besitzt genug, um ein armes Mädchen zu heiraten. Aber Madeline scheut sich auch, ihn zu nehmen, solange du zu Hause bist.“

„Laß mich doch ausreden, Tantchen. Wenn Madeline dem Abrys ihr Jawort gibt, dann kaufe ich mir hier im Dorf ein Häuschen, richte es mir ein und verlasse mein Elternhaus. Mein Anteil an dem Hause soll Madelines Hochzeitsgeschenk sein. Bist du nun mit mir zufrieden?“

Die alte Dame stand auf, legte den Arm um das junge Mädchen und küßte es auf die Stirn. „Das ist sehr hochherzig von dir, meine liebe Erdmute. Ich habe es immer gewußt, daß du ein gutes Herz hast, wenn du es auch nicht so oft zeigst. Das wird der Madeline den Entschluß sehr erleichtern. Ich darf es ihr doch sagen?“

„Selbstverständlich, Tantchen, wenn du es wünschest. Besser wäre es ja, wenn sie ohne diesen Anreiz ihren Entschluß faßte. Na, aber nun muß ich schon B sagen, wenn ich A gesagt habe.“

Eine Weile war es still im Zimmer. Die Sonne war verschwunden, die Dämmerung brach schnell herein. Frau Enute stand auf. „Mein Gott, Kind, kein Mensch denkt an den Kaffee. Die Dore muß ihn doch längst fertig haben. Du bleibst doch bei uns. Ich muß den Vater wecken. Madeline könnte auch schon zu Hause sein.“

Als sie das Strickzeug zusammenpackte und weglegte, kam ein Schlitten mit hellem Geläut die Dorfstraße entlang gefahren. Frau Miltaler bog eine Blume zur Seite und schaute hinaus. „Das Fuhrwerk kenne ich nicht, woher mag das sein? Kennst du es?“

„Nein, Tante, und ich kenne doch jedes Fuhrwerk auf fünf Meilen in der Runde. Es hält bei euch, ihr bekommt Besuch.“

Der Schlitten hielt wirklich vor der Haustür. Eine stattliche Frau in großem Reisepelz, auf dem Kopf eine dunkle Kapotte, stieg aus und schritt auf das Haus zu. „Mein Gott, wer ist das? Wer kann das bloß sein?“ murmelte Frau Enute. Eine Ahnung stieg in ihr auf, das Gesicht kam ihr so bekannt vor. Im nächsten Augenblick schon wußte sie, wer der Gast war. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht, sie mußte sich mit der Hand an die Stuhllehne stützen. Die Tür ging auf. Die fremde Frau stand auf der Schwelle und fragte: „Bin ich hier recht bei Herrn Miltaler?“

„Ja, Lowisa“, schrie Frau Enute auf und schloß die Besucherin in ihre Arme. „Mein Gott, Lowisa, was führt dich hierher, nach siebzehn Jahren? Leg' ab.“ Diensteifrig nahm sie der Frau den Pelz und die Kapotte ab. „Nimm Platz, ich werde gleich für Kaffee sorgen und meinen Mann wecken.“

Als die Tür sich hinter ihr geschlossen, trat die Frau auf Erdmute zu und sah ihr forschend ins Gesicht. „Madeline?“ fragte sie leise mit einem zitternden Ton in der Stimme.

„Nein, ich bin Erdmute Endrulat, hier aus dem Dorf. Herr Miltaler ist mein Vormund gewesen.“

„Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie wären Madeline.“

„Nein“, lachte Erdmute. „Die sieht mit ihren achtzehn Jahren etwas anders aus als ich. Ein kleines, zierliches Persönchen mit hellblonden, krausen Haaren und blauen Augen.“

„So? Die ist klein geblieben? Sie schlachtet nach dem Vater, der ist auch nicht groß.“

„Ja, sie ist das Ebenbild ihres Vaters“, bestätigte Erdmute.

Ein merkwürdiges Lächeln huschte über das Gesicht der Frau, als sie sich in den Stuhl am Fenster niederließ. „Ist Madeline nicht zu Hause?“

„Nein, sie ist zu einer Freundin zu Besuch gegangen. Sie wird aber bald kommen. Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend, denn ich kenne Ihr Fuhrwerk nicht.“

„Nein, Fräulein, ich komme von weit her, aus Masuren. Zur Nacht war ich in Goldap. Heute mittag habe ich in Stallupönen zwei Stunden gerastet.“

„Da haben Ihre Pferde aber schon einen tüchtigen Weg hinter sich.“

Jetzt trat Frau Enute mit der brennenden Lampe ins Zimmer und hinter ihr Miltaler, ein kleiner, untersetzter Mann mit grauem Vollbart. Er ging auf die Frau zu und reichte ihr die Hand. „Was führt Sie zu uns, Frau... Frau...?“

„Kruk ist mein Name“, erwiderte die Frau mit einer deutlichen Schärfe im Ton.

„Ja richtig, Kruk. Mein Gott, wie einem doch in der langen Zeit selbst Ihr Name abhanden kommen kann. Aber was ist bei Ihnen passiert? Sie tragen Trauer? Doch nicht Ihr Mann?“

„Nein, mein Kind, mein letztes...“

„Ach je, Lowisa“, rief Frau Enute und schloß die Frau in ihre Arme. „Du Ärmste. Dein letztes Kind. Ach, tut uns das leid, wir trauern mit dir.“

„Ja, heute vor acht Tagen haben wir es begraben. Ein prächtiges Mädelchen von sieben Jahren, der Sonnenschein in unserem Hause.“ Langsam stahlen sich zwei große Tränen aus ihren Augen und rollten die Backen hinab. Während sie sich auf das Sofa setzte, erzählte sie weiter. „Am Abend fing sie an, über den Hals zu klagen. Ich machte ihr gleich einen nassen Umschlag. Sie fieberte so stark, daß ich mir keinen Rat wußte und sie noch in ein nasses Laken einhüllte. Am anderen Morgen schickte ich nach dem Arzt. Er war über Land gefahren und wir bekamen ihn erst abends. Es war zu spät. Bräune oder wie man jetzt sagt: Diphtheritis.“

„Das ist doch zu gräßlich mit dieser schrecklichen Krankheit,“ meinte Miltaler bedauernd, „und Ihr letztes Kind hat sie Ihnen genommen.“

„Ja, mein letztes“, erwiderte Frau Lowisa mit stark eigenartiger Betonung. „Erst hatte ich ein Pärchen Jungen, die schnell hintereinander wegstarben, dann wieder einen Jungen, der verunglückte uns in der Dreschmaschine...“

„Das ist doch ein bißchen zu viel Unglück“, warf Miltaler ein.

„Ja, Herr Miltaler. Da ist mir der Gedanke gekommen, als wenn das eine Strafe für mich sein sollte.“

„Aber, Lowisa“, fiel Frau Enute mit vorwurfsvollem Ton ein. „Wer wird so was denken?“

„Na, man macht sich doch solche Gedanken. Mein Trost war bloß noch das Mädchen, die Liese. Ich habe sie behütet und bewacht, sie war ein kräftiges Kind, immer lustig und munter, den ganzen Tag hat sie gesungen. Und im Ausschank hat sie schon geholfen...“

„Ihr habt noch den Krug?“

„Jawohl. Wir haben ihn schon vor zehn Jahren von Eurem Nachfolger gekauft. Uns ist es ja sonst gut gegangen. Wir haben auch Land zugekauft, ich glaube, wir haben jetzt vierhundert Morgen. Mein Mann wirtschaftet tüchtig. Wir haben etwas hinter uns gebracht.“

Erdmute fühlte, daß etwas wie eine verhaltene Spannung zwischen den drei Personen lag. Als wenn sie aneinander vorbeiredeten und durch ihre Gegenwart gehindert waren, sich mehr zu sagen. Sie trank hastig ihren Kaffee aus und verabschiedete sich. Eine Weile herrschte ein drückendes Schweigen. Dann sagte Miltaler: „Ich kann mir jetzt denken, weshalb du gekommen bist. Du willst Madeline sehen. Es ist zwar ein bißchen viel Zeit verflossen, in der du dich gar nicht um sie gekümmert hast, aber ich kann es dir nachfühlen, daß du dich jetzt an sie erinnerst.“

„Ja, Miltaler, du hast recht, jetzt erst habe ich mich daran erinnert, daß ich noch ein Kind habe. Ich habe es meinem Mann gestanden, und er hat von Herzen zugestimmt, daß ich hierher fahre und Madeline nach Hause hole.“

Mit entgeisterten Augen hatte Frau Enute erst ihren Mann und dann Frau Lowisa Kruk angesehen, wie ihnen mit einem Male das vertrauliche „Du“ von den Lippen floß! Und dann wurde sie totenbleich, als die Frau wie von etwas Selbstverständlichem davon sprach, Madeline „nach Hause zu holen“. —

Als Näherin und Weberin war Lowisa als junges Mädchen in ihr Haus gekommen, als sie noch dort unten in Masuren ihr Gut Lisken hatten, eine bildschöne, stattliche Person, hinter der alle jungen Burschen eifrig her waren, wie die Bienen hinterm Honig. Aber die Lowisa hatte ihren Stolz, sie schien unnahbar, und doch hatte sich Frau Miltaler in ihr getäuscht. Und als es keinem Zweifel unterliegen konnte, daß bei Lowisa der Klapperstorch einkehren würde, da hatte sie mit ihrem Mann gesprochen. Ihr hatte das Geschick einen Leibeserben versagt. Sie war ebenso untröstlich darüber wie ihr Mann. Nun wollte sie ihm den Vorschlag machen, das Kind der Lowisa abzunehmen und als eigenes aufzuziehen.

Das war denn auch geschehen. Lowisa hatte sich bereitfinden lassen, ihr Kind, ein kleines, niedliches Mädchen, dem Ehepaar Miltaler abzutreten. Zum Lohn dafür hatten sie ihr und dem Mann, der sich schon lange um sie bewarb und dem sie jetzt die Hand reichte, den zum Gut gehörenden Dorfkrug verpachtet.

Dann war es Miltaler schlecht gegangen. Er hatte sein Gut mit Verlust verkaufen müssen und war mit dem Rest seines Vermögens nach Lasdehnen, in das große litauische Kirchdorf gezogen, wo er als Amtsvorsteher und Standesbeamter sein bescheidenes Auskommen fand. Und das kleine Madelinchen war aufgewachsen und niemand hatte eine Ahnung, daß es nicht das richtige Kind des Ehepaares Miltaler war. Und siebzehn Jahre hatte sich die Mutter nicht um ihr Kind bekümmert. Nicht einmal geschrieben hatte sie und sich nach seinem Befinden erkundigt. Kein Wunder, daß die Miltalers sich in den Gedanken eingelebt hatten, daß es immer so bleiben würde.

Eine Weile herrschte drückende Stille im Zimmer. Eine verspätete Fliege summte um die Lampe. Frau Enute weinte still vor sich hin. Miltaler ging, mächtige Rauchwolken ausstoßend, auf und ab. In die Stille hinein sagte Frau Lowisa leise: „Stellt euch doch vor. wie mir zumute ist. Es ist ja wahr, ich habe mich nicht um Madeline gekümmert. Aber wie mir nun das letzte Kind aus dem Hause getragen wurde, da schlug es mir förmlich ins Herz, daß ich ja doch noch ein Kind habe...“

„Und nun denk' mal, wie uns zumute sein muß“, erwiderte Frau Enute leise. „Wir haben sie aufgezogen, sie ist uns ans Herz gewachsen wie unser eigenes, sie ist der Trost und die Freude unseres Alters. Nun willst du sie uns wegnehmen.“

„Davon kann keine Rede sein. Du hast seinerzeit feierlich darauf verzichtet, jemals Mutterrechte an Madeline geltend zu machen“, fiel Miltaler energisch ein.

„Aber nicht schriftlich“, rief Frau Lowisa laut dagegen.

„Nun, dann muß ich von dem Recht Gebrauch machen, das dem Vater nach dem Gesetz zusteht, sein Kind nach dem vierten Lebensjahr zu sich zu nehmen.“

2. Kapitel

Mit einem Schrei war Frau Enute aufgesprungen. „Miltaler, du?“ Feurige Kreise drehten sich vor ihren Augen, in ihren Ohren brauste es. Mit einem leisen Stöhnen sank sie auf dem Stuhl zusammen... Frau Lowisa sprang auf und nahm sie in den Arm. „Hol' Wasser, sie ist ohnmächtig geworden.“

„Erst werden wir sie aufs Sofa legen. Ich habe noch mit dir zu reden. So. Das war nicht nötig, Lowisa. Madeline darf nie etwas von diesen Dingen erfahren, und kein Mensch im Dorf darf etwas davon ahnen. Die Leute sind hier so komisch in ihren Ansichten. Es handelt sich um Madelines Zukunft. Ein lieber, guter Mensch, ein reicher Gutsbesitzer, der Bruder des jungen Mädchens, das du vorhin gesehen hast, wirbt um sie. Das wäre in demselben Augenblick aus, wo der Mann erfährt, daß Madeline nicht mein eheliches Kind ist.“

Frau Lowisa hatte sich hoch ausgerichtet. „Liebt Madeline den Mann?“

Einen Augenblick zögerte Miltaler mit der Antwort. „Ja, sie wartet bloß darauf, bis die Schwester das Haus verläßt, dann wollen sie gleich Hochzeit machen.“

Die Frau preßte beide Hände auf die Brust und tat einen tiefen Atemzug. „Das ist was anderes, dann will ich nicht dazwischentreten, aber sehen will ich sie wenigstens.“

„Sei vernünftig, Lowisa. Du kannst dich nicht beherrschen.“

Heiße Tränen rannen der Frau die Wangen hinab. Sie hob bittend die Hände: „Sei barmherzig, Miltaler, mir müßte ja das Herz brechen, wenn ich sie nicht mal sehen sollt'...“

Ganz leise kam es vom Sofa her: „Das können wir ihr doch nicht verweigern, aber du mußt vernünftig sein, Lowisa. Sie darf nicht ahnen, wer du bist.“

Jetzt ging die Haustür. Ein leichter Schritt kam durch den Flur. Betroffen blieb das zierliche Mädelchen in der Tür stehen. Wie sonderbar! Die Mutter lag auf dem Sofa, deutliche Spuren von Tränen auf dem Gesicht, der Vater stand mitten in der Stube und vor ihm eine fremde Frau, die mühsam ihre Erregung beherrschte...

„Komm näher, mein Kind“, rief Miltaler. „Hier, das ist eine alte Jugendfreundin von uns, sie ist auf der Reise zu Verwandten und hat uns besucht. Sie hat vor acht Tagen ihr letztes Töchterchen begraben.“

„Ja, mein letztes“, sagte Frau Lowisa heiser. „Das wäre ein ebenso hübsches, liebes Mädelchen geworden wie du, Madeline. Ja, mein Kind, ich sag' gleich auf dich 'Du', denn ich kenne dich schon von deiner Geburt an. Ich habe dich ein ganzes Jahr auf meinen Armen getragen.“

Ein warnender Blick ließ sie aufhören. Sie wandte sich ab und trat ans Fenster. Gerührt und von Mitleid erfüllt, trat Madeline zu ihr und legte den Arm um sie. „Ach, wie tut es mir leid, daß Sie Ihr Kindchen verloren haben. War es schon groß?“

„Sieben Jahre,“ erwiderte Frau Lowisa mit tränenerstickter Stimme, „ein so liebes, freundliches Kind; genau so wirst du in dem Alter ausgesehen haben.“ Sie legte den Arm um Madeline und zog sie an sich, Ein schmerzlich süßes Gefühl durchströmte sie. Sie hielt ihr Kind im Arm, sie fühlte ihr Gesicht an ihrem Busen ruhen und durfte nicht schreien: „Mein geliebtes Kind...“

„Nimm dich zusammen“, mahnte Frau Enute leise. „Es geht alles vorüber im menschlichen Leben, die Freude wie der Schmerz.“

„Ja, ja, es geht alles vorüber. Gib mir einen Kuß, mein Kind, zur Begrüßung und zum Abschied.“

„Du willst doch nicht schon weg?“

„Ja, laßt mich... ich halte es nicht länger aus, ich muß allein sein.“ Sie nahm ihren Pelz und schlüpfte hinein. „Ich habe mir schon im Gasthaus Quartier bestellt. Morgen, noch ehe der Tag graut, fahre ich weiter, ich will euch nicht stören.“

Als sie die Kapotte aufgesetzt hatte, nahm sie Madelines Kopf in ihre beiden Hände und küßte sie schnell auf Stirn und Mund. „Behüt' dich Gott, liebes Kind... Leb' wohl...“

„Wer war das, Muttchen?“ fragte Madeline, als die Tür sich hinter Lowisa geschlossen hatte.

„Eine arme, unglückliche Frau, der das Schicksal vier Kinder geraubt hat. Sie hat als Mädchen in unserem Hause gelebt. Als sie heiratete, verpachteten wir ihrem Mann den Dorfkrug, der zum Gut gehörte.“

„Wie kommt sie so plötzlich hierher? Ich habe doch früher nichts von ihr gehört?“

„Sie ist auf der Durchreise. Sie will sich wohl von einer Verwandten ein Kind holen, das sie als eigenes annehmen will. Wenn sie bloß damit Glück hat.“

Madeline hatte das Kaffeegeschirr abgeräumt und sich mit einer Handarbeit neben die Mutter aufs Sofa gesetzt. Sie erzählte die kleinen Neuigkeiten, die sie von ihrer Freundin erfahren hatte. Frau Enute strickte eifrig. Nur ab und zu warf sie eine Bemerkung dazwischen. Nach einer Weile begann sie: „Erdmute hat mir heute nachmittag Gesellschaft geleistet. Sie hat wieder einen Antrag gehabt und abgelehnt.“

„Von wem denn?“

„Das geht uns nichts an, mein Kind. Erdmute ist alt genug, um zu wissen, was sie tut. Ich glaube, sie macht sich schon mit dem Gedanken vertraut, alte Jungfer zu werden.“

„Ach wo, Muttchen, sie hat bloß noch nicht den Rechten gefunden, weil sie so große Ansprüche macht. Sie will einen schönen, stattlichen Mann, der selbst reich sein muß, daß er nicht bloß ihres Geldes wegen kommt.“

Kopfschüttelnd ließ Frau Enute ihr Strickzeug sinken. „Woher weißt du das alles?“

„Sie hat das schon öfter zu anderen Leuten gesagt.“

„Das redet sie so hin und danach wird sie beurteilt, sie ist aber besser als ihr Ruf, sie hat doch ein gutes Herz. Denk' dir mal, sie wird sich ein Häuschen einrichten und ihr Elternhaus verlassen, damit der Abrys endlich heiraten kann.“

Eine feine Röte war Madeline ins Gesicht gestiegen, sie beugte sich tiefer über ihre Arbeit. „Ja, und die Hälfte des Hauses will sie dem jungen Mädchen, das sich mit Abrys verlobt, zur Hochzeit schenken.“

„Das ist wirklich nett von ihr“, sagte Madeline leise. „Nun wird der Abrys wohl nicht lange mehr warten. Ich denke, er wird um die Agusche Abromeit anhalten.“

„Wie kommst du darauf?“

„Sie wird ihm ja schon lange zugefreit und sie wartet schon auf ihn. Sie hat auch das Geld, das der Abrys braucht.“

„Der Abrys braucht kein Geld“, erwiderte Miltaler mit energischer Betonung.

„Sag' das nicht, Vater. Er muß doch über kurz oder lang Erdmute auszahlen, und so viel Belastung verträgt sein Gut nicht.“

„Nun seht mal an, was so `n Keuchel alles weiß“, brummte Miltaler. „Ich weiß aber mehr, und es ist Zeit, daß du es auch erfährst. Also: der Abrys denkt nicht an die Agusche Abromeit, er braucht auch nicht ihr Geld. Er kann ein armes Mädchen heiraten, und das will er auch. Kannst du dir vielleicht denken, wer das sein mag?“

Madeline schüttelte den Kopf und bog sich tiefer über ihre Arbeit. Der alte Herr betrachtete sie kopfschüttelnd. „Merkwürdig, du weißt doch sonst alles. Solltest du nicht wissen, wen der Abrys lieb hat? Nein?... Na, das ist ein kleines, dummes Mädchen, das hat schon als Kind auf seinem Schoß gesessen, und noch als das Mädel einen Hängezopf trug, war es gut Freund mit dem Abrys. Kaum hatte es seine Schularbeiten gemacht, dann war es schon drüben und trieb sich mit dem Abrys in den Ställen und auf dem Felde `rum. Da meint der Abrys, das kleine Mädel könnte ihn auch noch jetzt liebhaben, und weil er es selbst so sehr lieb hat, will er es zu seiner Frau machen. Und wir, mein Kind, sind sehr glücklich darüber, denn wir haben den Abrys schon lieb wie einen Sohn und achten ihn sehr hoch als einen ehrenwerten, tüchtigen Mann, der nie über die Stränge schlagen und seine Frau auf den Händen tragen wird.“

Stillschweigend hatte Madeline zugehört. Jetzt legte die Mutter den Arm um sie und zog sie an sich. „Ja, mein Kind, wir sind sehr glücklich darüber. Und dir hat Erdmute das reiche Hochzeitsgeschenk zugedacht. Ich darf es dir schon sagen und hoffe, daß es dir den Entschluß erleichtern wird. Das sind schlecht gerechnet zwanzigtausend Mark, die Erdmute dir schenken will... dir und dem Abrys, denn er müßte doch sonst der Schwester ihren Anteil abkaufen. Nicht wahr, mein Herzchen, du freust dich auch ein bißchen?“

Langsam hob Madeline den Kopf. „Ich habe es geahnt, daß es so kommen würde.“

„Na, dann hast du dich ja auch schon mit dem Gedanken vertraut gemacht.“

„Nein, Mutter. Ich habe den guten Abrys lieb wie einen Bruder, aber zur Ehe gehört doch was anderes. So, wie ihr euch geliebt habt, jahrelang, bis ihr euch heiraten konntet...“

„Die Raupe hast du ihr also in den Kopf gesetzt, Enute“, brummte Miltaler. „Ich möchte bloß wissen, ob jede Mutter ihre Liebesgeschichte der Tochter erzählt. Und dir, mein Kind, sage ich: das sind seltene Ausnahmen, die nicht immer zum besten ausschlagen. Es ist viel praktischer, wenn sich die Ehe auf gegenseitige Achtung gründet, die hält länger vor als das, was man so Liebe zu nennen pflegt. Die Leidenschaft verfliegt bald.“

„Ja, ja, mein Kind“, warf die Mutter mit einem Seufzer ein. „Manchmal verfliegt sie überraschend schnell.“

Ein feines Lächeln huschte um Madelines Mund. „Wenn ihr beide es mir sagt, muß ich es schon glauben. Aber wenn ich nun einen anderen Mann lieb gewinne, wenn ich mit Abrys verlobt oder schon verheiratet bin, was dann?“

„Na, die Gefahr ist wohl nicht sehr groß, daß so ein Romanheld vom Himmel herunterschneit, der den jungen Mädchen den Kopf verdreht“, lachte Miltaler. „Wenn du erst mit Abrys verheiratet bist, dann ist die Gefahr wohl nicht mehr groß, daß dir ein anderer besser gefällt. Das begreifst du zwar heute noch nicht, aber du wirst es mir später glauben. Deshalb bin ich dafür, daß ihr euch bald verlobt und auch mit dem Heiraten nicht lange wartet. Der Abrys braucht eine Hausfrau, wenn Erdmute das Haus verläßt.“

„Nein, Vater, drängen laß ich mich nicht. Ich bin noch so jung, ich will noch erst mein Leben genießen, ich will im nächsten Winter noch viel tanzen.“

„Ach du Kindskopf, du,“ lachte der Vater, „als junge Frau kannst du noch genug tanzen. Der Abrys wird dich daran nicht hindern.“

„Na, aber vielleicht etwas anderes, Miltaler. Darin hat sie recht. Wir brauchen sie wirklich nicht zu drängen. Wenn Abrys erst weiß, daß Madeline ihn nehmen wird, dann wird er noch geduldig ein Jahr warten. Ich muß doch auch erst die Aussteuer fertig haben. Wenn wir unserem Kinde jetzt auch noch kein bares Geld mitgeben können, so muß es doch eine Aussteuer bekommen, wie es sich für eine Gutsfrau gehört.“

„Ich will mich aber auch noch nicht mit ihm verloben, auch nicht im stillen. Ich will nicht gebunden sein und immer erst fragen, was mein zukünftiger Herr und Gebieter sagt. Ihr könnt ihm ja sagen, daß ich grundsätzlich einverstanden bin, wenn kein Romanheld vom Himmel fällt, der mich ihm abspenstig macht.“

„Damit soll man nicht scherzen, mein Kind“, warf Frau Enute ernst ein. „Weißt noch, Miltaler, wie das mit uns beiden kam? Wie wir uns auf dem Schützenfest kennenlernten, und am anderen Morgen wußte ich ganz genau, daß ich keinen anderen nehmen würde als dich.“

„Du kannst auch den Schnabel nicht halten“, fuhr Miltaler auf. „Mußt ihr das gerade jetzt erzählen.“

„Das braucht ihr ja nicht zu passieren, aber ich muß doch sagen, wenn ein Mädchen noch nie geliebt hat, dann ist die Gefahr doch nicht ausgeschlossen, daß mal ein Mann kommt, der ihr Herz in Flammen setzt.“

„Mit Strohfeuer.“

„Nein, Miltaler. Bei den Männern pflegt es wohl öfter Strohfeuer zu sein, aber bei den Frauen geht es meistens tiefer, die sind so dumm, solch eine Liebe ihr ganzes Leben mit sich zu schleppen.“

„Nun hör' aber mal auf, Alte. Deine Weisheiten passen nicht für junge Ohren. Ich sage dir, mein Kind: wenn man einem Manne sein Jawort gegeben hat, dann muß man auch daran festhalten. Auch solch eine heiße Liebe, wie die Mutter sie meint, geht vorüber, und am besten ist es, wenn man sie gar nicht durchzumachen braucht. Das ist nichts weiter wie eine Krankheit im Blut, ein hitziges Fieber.“

Frau Enute sah Madeline an und nickte lächelnd.

„Weißt, was ich denke? Du gehst noch auf ein Stündchen zu Abrys und Erdmute `rüber und bringst sie beide zum Abendbrot. Du brauchst dir ja nichts anmerken zu lassen und dem Abrys machst du eine große Freude. Er weiß am Sonntagabend nicht, was er mit seiner Zeit anfangen soll.“

Madeline lachte laut auf. „Er fängt schon an, Patiencen zu legen, die er von dir gelernt hat.“

„Ach ja, mein Kind, gib mir meine Karten, ich will mal gleich eine legen.“

„Aber die ganz große, die schwer aufgeht“, rief Miltaler lachend. „Und diesmal werde ich mir etwas dabei denken, aber nicht mogeln.“

„Ich mogle nie“, erwiderte Frau Enute und begann, die Karten zu mischen. Mit einem Kopfnicken hatte Madeline sich verabschiedet. Jetzt legte Frau Enute die Karten hin und richtete ihren Blick groß und vorwurfsvoll auf ihren Gatten. „Miltaler!“

„Was willst du, Alte?“

„Miltaler, daß ich das noch erleben mußte.“

Der alte Herr hatte sich eine frische Pfeife gestopft, jetzt setzte er sie umständlich in Brand und im Paffen stieß er ein paar grunzende Laute aus. „Hm... ja... wer hätte das gedacht? Kommt plötzlich her und will uns das Mädel ausspannen.“

„Miltaler,“ sagte die Frau vorwurfsvoll, „du weißt, was ich meine. Mir krampfte sich das Herz zusammen, als ich das erfuhr.“

„Jetzt nach achtzehn Jahren? Ich dachte immer, du hast es gewußt oder wenigstens geahnt. Wenn wir schon ein fremdes Kind annehmen wollten und mußten, dann konnte es doch mein Kind sein. Du weißt, wie ich unter deiner Kinderlosigkeit gelitten habe, und wenn ich nicht heute mein Vaterrecht hätte geltend machen können, dann wären wir das Kind los. Sie hat bloß damit nicht gerechnet.“

Frau Enute nickte. „Ja, ja, Miltaler. Ach, es schmerzt noch heute... nachträglich... Bei dir war es Strohfeuer, bei mir war es tiefe, innige Liebe, die noch heute vorhält und dir verzeiht.“

Miltaler setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. „Das ist schön von dir, Alte, aber von Strohfeuer kannst du wirklich nicht sprechen. Hätte ich sonst jahrelang ausgehalten, auf dich zu warten, anstatt ein reiches Mädchen zu heiraten? Und zwanzig Jahre sind wir nun zusammen durchs Leben gegangen, und ich habe mir sonst nicht das geringste vorzuwerfen. Und noch eine Frage: ist dir Madeline nicht dadurch noch lieber geworden, seitdem du weißt, daß sie mein Kind ist?“

Still neigte die Frau ihren grauen Kopf zu ihm und schmiegte sich an ihn.

3. Kapitel

Das große Kirchdorf Lasdehnen liegt langgestreckt zu beiden Seiten der Scheschupp, die als südlicher Nebenfluß der Memel auf eine lange Strecke die Grenze mit Rußland bildet. Auf dem südlichen Ufer liegt der Hauptteil mit stattlichen Häusern, von denen manche schon städtischen Charakter tragen, und große Bauerngehöfte. Auf dem nördlichen Ufer liegt nur die Kirche mit dem Pfarrhaus und einer Anzahl ärmlicher Arbeiterhäuser. Nicht weit von diesen liegt einsam am Ufer des Flusses eine Schmiede mit kleinem Wohnhaus.

Ein klarer, kalter Wintertag neigte sich seinem Ende zu. Die Sonne stand schon tief im Westen und übergoß den Himmel mit flammender Glut, die noch schärfere Kälte für die nächsten Tage ankündigte. Aus dem weiten Tor der Schmiede strahlte die lodernde Flamme der Esse. Eben zog der Geselle, ein graubärtiger, kleiner Mann, der auf einem Fuß hinkte, ein glühendes Eisen aus der Glut und begann es zu hämmern.

Der Meister, ein mittelgroßer, untersetzter Mann, der kaum die Dreißig erreicht haben konnte, stand vor der Schmiede und beschaute prüfend einen Wagen, dessen eisernen Beschlag er eben vollendet hatte.

„Komm doch zuschlagen,“ rief Jons ungeduldig aus der Schmiede, „sonst wird das Eisen kalt.“

„Ach, mach' schon heute Feierabend. Wir wollen nichts mehr Neues anfangen.“

„Wie du willst, du hast ja zu bestimmen“, erwiderte Jons unmutig und warf das Eisen auf den Herd zurück. „Zwei, drei Stunden konnten wir doch noch schaffen.“

„Wir haben in der Woche so scharf gearbeitet, daß wir uns heute einen schönen Feierabend gönnen können. Ich muß heute noch fortgehen und habe einen weiten Weg vor mir.“

„Das hätte ich mir schon denken können.“ erwiderte der Hinkfuß, „daß du heute nicht zu Hause bleiben wirst, es wäre viel richtiger, wenn wir den fertigen Wagen dem Abrys `raufbringen und uns das Geld holen würden.“

„Das läuft uns nicht weg“, erwiderte Erkmann gleichmütig.

„Nein, aber wir könnten es brauchen.“ Er warf sich den Rock über und schloß das Tor. „Wenn man vom Wolf spricht, dann kommt er“, rief er, als er sich zurückwandte und wies mit einem Auswerfen des Kopfes auf die Dorfstraße, wo der Gutsbesitzer Abrys Endrulat angegangen kam. Ein junger, stattlicher Mann, der sechs Fuß hoch in seinen Schuhen stand. In dem frischen Gesicht, das trotz des Winters seine Wetterfarbe nicht verloren hatte, leuchtete unter der starken, glatten Nase ein mächtiger weißblonder Schnurrbart, der noch heller war als das Haupthaar. Ein paar große blaue Augen prägten dem Gesicht den Ausdruck unendlicher Gutmütigkeit auf. Er kam gemächlich heran und reichte dem Schmied die Hand. „Ist er fertig? Ja? Das freut mich, daß du mal Wort gehalten hast.“

„Ich halte immer Wort, wenn ich kann“, erwiderte der Schmied ein bißchen scharf.

„Ja, wenn du kannst, das ist aber manchmal nicht der Fall.“ Langsam ging er um den Wagen herum und beschaute ihn prüfend. „Das muß man dir lassen, Erkmann, du lieferst eine saubere Arbeit. Nun sag' mal, was kostet der Spaß?“

„Das eilt doch nicht, Abrys.“

„Das glaube ich dir, aber ich bleibe keinem Menschen, der etwas von mir zu fordern hat, sein Geld schuldig. Also `raus mit der Sprache.“

Erkmann zuckte die Achseln. „Was hast denn sonst dafür gegeben?“

„Sag' doch: hundertfünfzig Gulden“, fiel Jons ein. „Wir haben doch die ganze Woche fleißig daran arbeiten müssen und das Eisen dazu. Ich denke, das ist nicht zu viel.“

Abrys lächelte. „Ich finde es nicht zu viel, aber vielleicht will dein Meister mehr haben.“

„Nein, nein, Abrys, ich bin damit zufrieden.“

„Na, dann klappt es ja, ich habe mir genau hundertfünfzig Gulden eingesteckt. Hier, Erkmann, Quittung brauche ich nicht. Morgen früh lasse ich den Wagen holen.“

„Morgen ist Sonntag, Abrys.“

„Das weiß ich, Erkmann. Das wird den Feiertag nicht entheiligen, wenn einer meiner Leute ganz früh den Wagen holt. Das geht dich ja weiter nichts an. Guten Abend!“

Er drehte sich kurz um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. „Das war doch wirklich überflüssig, daß du den guten Abrys mit deinem Sonntag vor den Kopf stößt. Das ist noch der einzige, der uns die Arbeit nicht wegschickt, sondern ins Haus bringt.“

Erkmann erwiderte nichts darauf, sondern ging ins Haus. Mit einem kurzen „Guten Abend, Mutter“, ging er durch die Stube in seine Kammer. Jons kam nach ihm hineingehumpelt und ließ sich am Tisch nieder. „Na, Mutter Urrte, ist der Kaffee noch nicht fertig? Wir haben heute früh Feierabend gemacht.“

„Er steht schon in der Röhre.“ Langsam erhob sich die hohe, hagere Frau und schritt zum Ofen. Wer es nicht wußte, hätte kaum vermutet, daß ihr das Augenlicht bis auf einen kleinen Schimmer geschwunden war. Trotzdem versah sie noch allein den Haushalt, wusch und kochte. Während Jons sich ein Stück Brot abschnitt, fragte Urrte: „Geht er wieder weg?“

Der Gesell zuckte die Achseln. „Er hat keine Ruhe zu Hause. Heute hat er einen weiten Weg, hat er gesagt. Er wird also wohl nach Giwerlauken gehen. Aber vorher werde ich ihn noch ein bißchen erleichtern. Eben hat er von Abrys hundertfünfzig Gulden gekriegt.“

Er aß und trank, während die Frau umständlich eine kleine Lampe anzündete. Nach einer Weile kam Erkmann Kurat schwarz gekleidet aus seiner Kammer und setzte sich an den Tisch. Jons schob ihm das Brot zu und sah ihn lauernd an. „Na, wie ist's, Erkmann, willst nicht was abladen von dem Mammon?“

„Das Geld ist ja noch nicht warm geworden in meiner Tasche. Was willst denn?“

„Ich will für zwei Monate Lohn, für vier habe ich noch zu kriegen.“

„Ich werde es dir morgen geben.“

„Nee, Meister, am Sonnabend wird der Gesell ausgelohnt.“

„Wozu brauchst es denn gerade heute?“

„Ich will mir mal einen vergnügten Abend im Wirtshaus machen. Mir juckt heute die Gurgel.“

„Du solltest dich was schämen.“

„Ich mich schämen? Wofür denn? Ich tue meine Arbeit und verlange meinen Lohn. Wie ich ihn totschlage, ist meine Sache. Kannst ja heute fleißig für mich beten. Vielleicht komme ich dann nüchtern nach Hause.“

Um die Augen des alten Hinkefuß zuckte es verdächtig, aber er zwang sich zum Ernst, strich das Geld ein, das Erkmann ihm auf den Tisch warf und steckte es in die Tasche.

„So, das hätten wir. Dann sind beim Kaufmann in Pillkallen fünfzig Gulden zu bezahlen, sonst kriegen wir nichts mehr. Das kannst deiner Mutter geben. Dreißig Gulden brauchen wir zu Kohlen. Was du deiner Mutter zum Haushalt geben willst, geht mich nichts an.“

„Dann bleibt mir ja gar nichts übrig“, fuhr Erkmann auf.

„Ja, etwas Geld brauch' ich, Erkmann“, sagte die Mutter leise. „Ich habe nichts mehr im Hause, keinen Kaffee, kein Salz, kein Mehl.“

„Ein frommer Mensch sollte doch zuerst für seine blinde Mutter sorgen, anstatt das Geld zu verschättern.“

„Du, Jons, ich sage dir...“ brauste der Schmied auf.

„Was sagst mir, mein Jungchen? Oh, du kannst noch mehr von mir zu hören kriegen. Ist das erhört, daß du dein Geld an fremde Menschen verteilst? Meinst, ich weiß nicht, daß die Weiber dir was vorheulen, wenn ihre Männer den Lohn versaufen. Denen gibst, aber deine Mutter muß dich erst bitten. Das nennt man Frömmigkeit.“

Hastig sprang Erkmann auf und warf einige Taler auf den Tisch. „Ich komme heute erst spät wieder. Guten Abend.“

„Geh' mit Gott“, erwiderte die Mutter leise.

„Mit Gott... mit Gott...“ höhnte der Graubart, als die Tür sich hinter dem Meister geschlossen hatte. „Der Deuwel führt ihn. Ist das eine Vernunft, bei dieser kalten Nacht anderthalb Meilen über Land zu wandern, um mit ein paar alten Weibern zu singen und zu beten.“

Ärgerlich fauchend humpelte er in der Stube umher. „Mein Gott, Urrte, was könnten wir für ein Leben führen, wenn der Junge vernünftig wär'! Drei, vier Gesellen könnte er halten, wenn er nicht mit seiner Muckerei die Bauern gegen sich aufbringen würde. Lieber schicken sie die Arbeit meilenweit in die Stadt, anstatt sie ihm zu bringen. Bloß im Sommer, wenn sie es eilig haben, dann heißt es aufspringen und bis in die Nacht `rein arbeiten. Was hilft das Schimpfen? Ich habe mir schon das Maul fusselig geredet. Na, nu sag' mal, was du brauchst, ich geh' `rüber ins Dorf und werde alles mitbringen.“

Mit ängstlicher Stimme zählte die Frau verschiedene Gegenstände auf, dann tastete sie nach dem Geld. „Ich weiß nicht, ob es langen wird, zähl' mal nach…“

„Das Geld verwahr' man als Notgroschen. Ich habe so viel, wie wir brauchen.“ Er zog einen Taler aus der Tasche, warf ihn in die Luft und fing ihn wieder auf. „Der wird versoffen heute, dann hat meine Gurgel wieder für ein Vierteljahr Ruhe. Aber erst muß ich mich fein machen, zum Abendbrot komme ich nicht nach Hause.“

Die Frau löschte die Lampe aus, als er gegangen war und lehnte sich in ihren Lehnstuhl zurück. Ihre Augen brauchten das Licht nicht, sie hatte heute ja auch nichts zu tun. Langsam wanderten ihre Gedanken zurück in die Vergangenheit, wie sie noch ein bildsauberes, stolzes Mädel gewesen, hinter dem die jungen Burschen des Dorfes her waren... auch der Jons, der damals ein flotter, junger Bursche war. Und sie hatte sich schließlich mit ihm im stillen versprochen. Dann brach ihm ein schweres Stück Eisen den Fuß und er lag monatelang krank im Spital, und als er wiederkam, da hinkte er. In der Zeit war ein anderer an seine Stelle getreten — der Kurat.

Drei Jahre lebte sie glücklich mit ihrem Mann, der auch Schmied war, bis er dem Dämon Alkohol verfiel. Da war Jons als Geselle ins Haus gekommen. Er erhielt mit seiner Arbeit die ganze Wirtschaft. Er erzog den kleinen Erkmann und zog ihm öfter, wenn es nötig war, die Hosen stramm. Die Menschen redeten darüber, daß Jons, der doch früher ihr Bräutigam gewesen, wieder in ihrem Hause lebte. Aber die Menschen hatten unrecht. Urrte vergab sich nie auch das geringste dem Gesellen gegenüber, und der Jons schien auch vergessen zu haben, daß er seine Frau Meisterin früher mehr als einmal in seinen Armen gehalten hatte. Auch als der Mann gestorben war, gingen sie still und wunschlos nebeneinander her.

Der heranwachsende Sohn hatte, von schlechten Menschen verhetzt, mit Argusaugen das Verhältnis zwischen seiner Mutter und Jons überwacht, bis er überzeugt war, daß an dem Gerede der Menschen kein wahres Wort war. Und einen Abscheu vor dem Alkohol, der seinen Vater in Siechtum und in den Tod führte, hatte seine junge Seele eingesogen. Wie er noch Lehrling bei Jons war, kamen eines Tages die Maldininker, die frommen Sektierer, die in der Hauptsache Enthaltsamkeit vom Alkohol fordern und üben, ins Dorf. Da ging er auch zuhören. Und als er zurückkam, da hatte sich der fünfzehnjährige Knabe als Mitglied einschreiben lassen. Und so war er geblieben, ernst und fromm. Wenn andere Knaben oder Jünglinge seines Alters sich mit Tanz und Spiel vergnügten oder am Sonntag im Wirtshaus saßen, las er Erbauungsschriften und Traktätchen, die er von seiner Sekte zugeschickt erhielt.

„Laß ihn“, hatte Jons manchmal zu Urrte gesagt. „Er arbeitet sich in der Woche genug aus, da schadet ihm das Stillsitzen am Sonntag nichts. Und wenn er erst in die Fremde geht, dann wird sich das auch geben.“

Aber es gab sich nicht. Erkmann kam zurück, wie er fortgegangen war... ein stiller, versonnener, ernster Mensch, der an jedem Sonntag meilenweit wanderte, um mit Mitgliedern seiner Sekte zu singen und zu beten. Wen es dazu trieb, der stand auf und sprach fromme Worte. Und einmal hatte es auch ihn dazu getrieben. Mit Staunen hörte ihm die Versammlung zu. Wie ihm die Worte von den Lippen flossen! Seitdem war er das geworden, was man dort in Litauen einen Muckerpfaff nennt... ein Sektenprediger. Kein Weg war ihm zu weit, kein Wetter zu schlecht, um den Ort zu besuchen, wo sich einige Mitglieder seiner Gemeinschaft zusammenfanden.

Wie oft hatte Jons darüber gemurrt und gescholten, wenn Erkmann ihn allein ließ, um irgendwo einen Gottesdienst abzuhalten. Überall ringsum in den Dörfern hatte er kleine Gemeinden. Die Ärmsten der Armen, die Hintersassen der Bauern und Gutsbesitzer waren es, die ihm anhingen, die er aufrichtete und mit Trost beschenkte. Zuerst kamen nur die Frauen, aber mit der Zeit stellten sich auch die Männer ein. Manchmal kam auch einer, der nicht ganz taktfest auf den Beinen war und ihn mit spöttischen Worten anzugreifen versuchte. Denen hatte er schön heimgeleuchtet.

„Die Bauern sind ja dammlig“, hatte Jons manchmal zu Erkmann gesagt. „Die müßten dir eine Kirche bauen und dich besolden wie einen Pfarrer. Du machst es doch bloß, daß die Leute still und friedlich an ihre Arbeit gehen und fleißig und ordentlich sind. Ich glaube aber, nüchterne, ordentliche Arbeiter, die mit der Zeit auch was hinter sich bringen, die können sie nicht brauchen. Ihnen sind die verkommenen Saufsäcke lieber, die bei ihnen im Vorschuß stecken. Die können sie besser treten.“

Auf zwei Stellen, wo Erkmann die Dorfschmiede übernommen hatte, war er schon von den Bauern hinausgewiesen worden. Seit einem Jahre war er nach Lasdehnen gekommen, wo er aufgewachsen war. Und auch hier waren die Bauern ihm schon aufsässig. Im Sommer, wenn eilige Arbeit geleistet werden mußte, dann kamen sie an mit ihren Wagen oder Pferden zum Hufbeschlag, und wenn dann die Arbeit nicht schnell genug fertig war, dann schalten sie auf den Muckerpfaff, der sie über seiner Beterei im Stich ließ.

Wie oft hatte Jons, wenn Erkmann fortgegangen, noch einmal das Feuer auf der Esse entfacht und bis in die Nacht gearbeitet. Aber allein konnte er es nicht schaffen, und mit dem Bezahlen hatten die Bauern es gar nicht eilig. Sie wußten, daß Erkmann jeden Groschen, den er verdiente, so nötig brauchte wie ein Stückchen Brot. Aber eben deswegen ließen sie sich erst fünf- bis sechsmal mahnen, ehe sie zahlten, meistens erst dann, wenn Jons kam und mit groben Worten das Geld forderte.

Wenn Erkmann anders gewesen wäre, hätte er wohl schon eine Frau bekommen, die ihn mit einer guten Mitgift unabhängig machte, denn er war ein hübscher, stattlicher Mensch. Aber der Muckerpfaff konnte sich das Anklopfen sparen, er hätte wohl überall einen Besen an der Tür gefunden. Er schien auch gar nicht an das Heiraten zu denken, obwohl er an die Dreißig heran war. Auch jetzt dachte die alte Frau sehnsüchtig daran, wie gut sie es haben könnte, wenn eine junge, tüchtige Schwiegertochter im Hause wäre.

Das sah niemand, wie viele Tränen ihre lichtlosen Augen vergossen, wenn sie mühsam in der Küche herumtastete, wenn sie mit den Fingern die geschälten Kartoffeln betastete, ob nicht doch noch ein Stückchen Schale haften geblieben wäre. Wenn der Jons nicht gewesen wäre... Wie oft kam er von der Arbeit hereingelaufen... „Urrte, wat bruckst? Dem Päper möchst häbbe? Hier is he.“

So saß sie und sann und spann ihre Gedanken aus der Vergangenheit in die Zukunft. Wenn sie ganz erblindete? Im Winter hatte sie es ja immer schwerer empfunden, aber in diesem Winter war ihr das Licht wirklich noch knapper geworden als sonst. Und dann? Was dann?

Und ihr Sohn stapfte durch den tiefen Schnee und durch die eisige Kälte, um fremden Menschen Trost und Hilfe zu bringen. In Gedanken schon formte er die Worte, die er heute sprechen wollte...

4. Kapitel

Die Scheschupp war in diesem harten Winter fast zugefroren und trug schwere Lasten. Und erst gegen Ende März, acht Tage vor Ostern, fiel Tauwetter ein. Der fußhohe Schnee begann zu schmelzen und gurgelnde Bäche in das Flußbett zu entsenden. Bald sammelte sich fußtiefes Wasser auf der Eisdecke an, das tagelang den Verkehr zwischen den beiden Dorfhälften hinderte. Schließlich drang das Wasser unter die Eisdecke und hob sie auf, daß sie in Schollen zerbrach.

Noch innerhalb des Dorfes lag ein hohes Wehr, das den Fluß anstaute, um einen Teil seines Wassers für den Betrieb einer Mühle abzuleiten. Vor diesem Hindernis türmten sich die Eisschollen auf, bis eine nach der anderen mit lautem Krachen hinabstürzte und polternd in dem Strudel unterhalb des Wehres verschwand.

Sobald das Eis zu schwinden begann, hatte der alte Fährmann Gwildis mit seinem Gehilfen Matthies den Prahm instand gesetzt. Alle Ritzen wurden mit Werg verstopft und mit Teer verstrichen. Zwanzig Männer mußten ihm dabei helfen, das ungefüge Fahrzeug, das zwei vierspännige Wagen zu gleicher Zeit aufnehmen konnte, umzuwenden und ins Wasser zu bringen. Die Kette, an der es über den Fluß hin und her gezogen wurde, hatte Erkmann Kurat schon im Winter gründlich untersucht und schwache Glieder durch neue ersetzt.

Die Scheschupp, die im Sommer friedlich träg in ihrem nicht allzu breiten Bett dahinfloß, hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt, der die Uferhöhen bis zum Rande füllte. Und noch immer rann von den höher liegenden Feldern neues Wasser hinzu. Jede Furche hatte sich in einen kleinen Bach verwandelt, der eilig dem Flusse zulief...

Am Sonnabend vor Ostern fiel stilles klares Wetter ein, das einen starken Nachtfrost brachte. Die Mädchen im Dorf tuschelten miteinander. Sie würden morgen früh ein Beil mitnehmen müssen, wenn sie das Osterwasser holten, um das Eis am Rande aufzuhacken. Das war ein uralter, heiliger Brauch, den kein Mädchen mitzumachen versäumte. Schweigend, ohne ein Wort zu sprechen, mußte der hinweg zurückgelegt werden, und sobald der erste Sonnenstrahl über die Erde hinblitzte, mußte das Wasser geschöpft werden. Dreimal sprang die Sonne am Ostermorgen vor Freude über die Auferstehung des Gekreuzigten. Deshalb war das Wasser, was sie in diesem Augenblick bestrahlte, heilbringend für das ganze nächste Jahr...

Noch ehe der Tag graute, kamen die Scharen der Mädchen mit ihren Krügen zum Flußufer gewandert. In seltsamen Vermummungen suchten die jungen Burschen des Dorfes sie zu überraschen und ihnen ein Wort, das der Schreck so leicht auf Mädchenlippen treibt, zu entreißen. Aber die Zunge war wohl behütet.

Jetzt blitzte der erste Sonnenstrahl auf. Zu gleicher Zeit tauchten all die Krüge ins Wasser, das schon vorher vom Eise befreit war, und auch der Bann, der die Zunge im Zaume hielt, war gebrochen. „Hast gesehen, Auguste, wie die Sonnche gesprungen ist?“

„Ja, Dore, ich habe es deutlich gesehen, ich habe genau aufgepaßt.“

Ein paar Stunden später kamen die ersten Kirchgänger an die Fähre, die zum litauischen Gottesdienst hinübergefahren werden wollten. Es war eine schwere Arbeit für die beiden alten Männer. Der Strom drückte so heftig gegen den Prahm, daß die Fährleute sich energisch in die Ziehgurte legen mußten, um das Fahrzeug Zoll für Zoll vorwärts zu bekommen. Die Frauen in ihrem Sonntagsstaat dachten nicht daran, zu helfen. Nach zwei Stunden brachte der Prahm die Kirchgänger wieder zurück. Noch einmal sollte er den Weg machen, um die deutschen Frauen und Kinder hinüberzuschaffen. Schon hatte sich eine ganze Menge am Ufer versammelt, die mit Ungeduld auf die Fähre wartete. Doch Gwildis weigerte sich, noch einmal zu fahren. Das Wasser war in der letzten Viertelstunde auffallend schnell gefallen. Also mußte nicht weit oberhalb eine Eisverstopfung entstanden sein, die das Wasser nicht durchließ.

„Gaht man to Hus,“ erwiderte er gleichmütig, „morgen is ock noch Gottesdeenst. De lewe Herrgottke ward ju dat nich äwel nähme, wenn ju hiede nich kömmt, ick fahr' nich.“

In diesem Augenblick kam Madeline Miltaler angegangen, die Tochter des Amtsvorstehers. Sie wollte auch zur Kirche hinüber.

„Aber, Gwildis,“ sagte sie freundlich, „es ist doch Ostern heute, man mochte doch in die Kirche gehen, und wenn das Wasser so fällt, dann sind wir doch in zehn Minuten drüben.“

Der Alte schob seine Mütze zur Seite und kratzte sich hinterm Ohr. „Dat wet ick ok, Fräuleinke. Awer dat is steit gar nich wied von hier, hinner de Eck, wo de Barg is, dat kann in einem Nu hier sind und dann sprängt dat uns de Kätt und wir driewe äwer dat Wehr.“

Die Frauen und Mädchen drängten sich um Madeline. „Rede Se em man god to, Fräuleinke. Wenn Se em sägge, mott he fahre.“

„Na dann rinn im Prahm.“

Schwerfällig setzte sich das Fahrzeug in Bewegung, das außer den beiden Männern dreiunddreißig Frauen, Mädchen und Kinder trug.

Es war noch nicht bis zur Hälfte des Flusses gekommen, als von oberhalb her ein donnerähnliches Krachen ertönte.

„Packt alle an“, schrie der alte Mann. „Dat es kömmt.“ Er und sein Gehilfe legten sich in die Ziehgurte, daß ihnen die Adern an der Stirn anschwollen. Ein paar Frauen griffen beherzt an die eiskalte Kette, um ziehen zu helfen. Die anderen drängten sich schreiend und jammernd an der unteren Seite des Prahms zusammen.

In der nächsten Minute raste ein mannshoher Wasserberg heran. Es gab einen Ruck, daß die Kette klirrte. Eine Masse Wasser stürzte über den Prahm und füllte ihn fußhoch. Aber die Kette hielt und das Wasser hob den Prahm und rauschte unter ihm hindurch...

Doch keine hundert Meter dahinter kam die zweite, die größere Gefahr... ein Berg von Eisschollen, die krachend aneinanderstießen, sich hoch aufbäumten und übereinanderschoben.

„Wollen beten“, rief Madeline und kniete in dem eiskalten Wasser nieder.

„Kömmt lewer alle und packt de Kät!“ schrie Gwildis.

Fünf, sechs Frauen sprangen hinzu, klammerten sich an die Kette und stemmten ihre Knie gegen die Bordwand. Vom Dorf aus war die Gefahr erkannt worden, in der die fünfunddreißig Menschen schwebten. Männer liefen schreiend am Ufer hin und her, fluchend und tobend, daß ihnen jedes Mittel fehlte, Hilfe zu leisten. Denen im Prahm konnte niemand helfen als Gott allein.

Der Eisberg war herangekommen und hatte sich auf den Prahm gestürzt. Schollen schoben sich über die Kette und die Bordwand und zermalmten mehrere der Unglücklichen. Die Kette hatte sich zum Bersten straff gespannt und immer schossen neue Schollen heran, die den Druck der Eismassen verstärkten.

Jetzt sprang sie mit lautem Knall. Der alte Matthies, der durch seinen Ziehgurt mit der Kette verbunden war, wurde hinausgerissen und zur Tiefe gezogen. Gwildis war niedergekniet, hielt seine Pelzmütze vor das Gesicht und betete laut. In rasender Fahrt trieb der Prahm auf das Wehr zu. Hier hoben ihn die Eisschollen, dort drückten sie ihn herab. Die Kinder hatten ihre Köpfe im Schoß der Mütter vergraben, die in irrsinniger Todesangst schrien und jammerten. Nur Madeline stand aufrecht in der Mitte des Fahrzeugs, den Kopf gesenkt. In stillem Gebet empfahl sie ihre Seele Gott. Jetzt hoben die Wasser den Prahm hoch empor, dann neigte er sich mit der Breitseite abwärts über das Wehr... Noch ein vielstimmiger Schrei... Man sah einzelne dem Fahrzeug voraus ins Wasser stürzen... dann schoß es in den Strudel hinab. Als es hundert Schritt weiter wieder zum Vorschein kam, war es leer. Mit Windeseile hatte sich die Nachricht von dem Unglück im Dorf verbreitet. An beiden Ufern standen dichtgedrängt Hunderte von Menschen. Viele Frauen lagen auf den Knien und beteten laut. Im letzten Augenblick stieg aus der Menge ein qualvoller Aufschrei zum Himmel empor. Viele schrien und weinten laut. Auf dem Südufer drängte sich der Amtsvorsteher Miltaler durch die Menge. „Habt ihr mein Kind gesehen?“

„Ja, Herr Amtsvorsteher, sie war auf dem Prahm, sie stand ganz allein bis zuletzt. Ich hab' ihr ganz genau gesehen“, rief einer aus der Menge.

„Und meine Frau mit der kleinen Urrte war auch darauf“, rief ein anderer. „Meine auch!...“ „meine auch!...“

„Steht nicht hier,“ rief Miltaler den Männern zu, „nehmt Feuerhaken und lange Stangen und sucht unterhalb das Ufer ab.“

„Das ist unnütz“, wurde ihm von mehreren Seiten zugleich erwidert. „Die Scheschupp gibt keinen `raus.“

„Ich werde euch Beine machen. Wer war das, der so dumm gesprochen hat? Marsch, sage ich...“

„Der Herr Amtsvorsteher hat recht,“ rief jetzt einer, „wir müssen unterhalb suchen.“

Jetzt eilten die Männer hinweg, die Frauen blieben stehen. In ihnen brannte außer dem Mitleid und Entsetzen schon wieder die Neugier, wer alles auf dem Prahm gewesen war...

Langsam stieg Miltaler den Uferberg empor. Er glaubte auch nicht daran, daß die Scheschupp jetzt bei diesem Hochwasser einen Körper herausgab. Die Strudel und Wirbel zogen jeden Menschen, der da hineingeriet, in die Tiefe und hielten ihn fest. Er dachte an seine Frau, seine arme, unglückliche Frau... Als die alte Dore mit dem Schreckensruf hereingestürzt war: „De Prahm geit äwer dat Wehr!“ da hatte sie mit einem Schrei nach dem Herzen gegriffen und war umgesunken. Ihn hatte die Nachricht hinausgetrieben. Mit wankenden Knien war er die Dorfstraße entlang gelaufen, bis ihm der Atem ausging.

Er scheute sich davor, in sein Haus zu treten. Er konnte seiner Frau doch nur die grausame Bestätigung bringen, daß Madeline auf dem Prahm gewesen und die Todesfahrt mitgemacht hatte. Leute liefen vorüber, die jetzt erst von dem Unglück erfahren hatten und grüßten. Er dankte, mechanisch mit dem Kopf nickend und bewegte wie abwehrend die Hand.

Frau Enute lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa. Ihr Herz klammerte sich noch an die Hoffnung, Madeline wollte doch ihre Freundin am anderen Ende des Dorfes abholen... die Liese Obermoser. Vielleicht war sie zu spät gekommen...

Leise trat Miltaler ein, setzte sich neben sie und ergriff ihre Hand.

„Faß' dich, Enute, sei stark, es ist Gottes Wille gewesen. Er hat es zu sich genommen in den Himmel, unser Kind.“

Die Stimme schlug ihm über. Er stand auf und ging ans Fenster. Enute richtete sich auf. „Ferdinand, schick' doch `runter zu Obermosers. Madeline wollte die Liese abholen, vielleicht haben sich die Mädchen verspätet oder zu morgen verabredet.“

Miltaler winkte abwehrend mit der Hand. „Laß die Hoffnung, liebes Weib, sie ist auf dem Prahm gewesen, die Menschen haben sie gesehen. Bis zum letzten Augenblick hat sie aufrechtgestanden. Sie hat uns ihre letzten Grüße geschickt und gebetet.“

Schluchzend schlug Enute die Hände vors Gesicht. Nach einer Weile richtete sie sich auf. „Ferdinand, was stehst du noch hier? Vielleicht wird sie gerettet. Der Fluß spült sie ans Ufer…“

„Ja, du hast recht, ich muß suchen gehen.“

Barhäuptig lief er hinaus. Am Ufer waren schon die Männer in voller Tätigkeit. Mit den langen, eisenbeschlagenen Feuerhaken suchten sie vorsichtig tastend das Wasser ab. Sie bogen die überhängenden Gebüsche zurück.

„Wir müssen weiter unten suchen“, rief Miltaler ihnen zu.

„Mancher wird auch vom Rückstau ans Ufer gedrückt“, erwiderte ein Arbeiter. „Mein Bruder, der vor drei Jahren ertrank, lag auch dicht am Ufer. Aber wer solange in dem eiskalten Wasser liegt, der ist schon tot, wenn wir ihn `rausfischen.“

Erst gegen Mittag kehrte Miltaler müde, in verzweifelter Stimmung nach Hause zurück. Die Scheschupp hatte keins ihrer Opfer herausgegeben. Frau Enute saß völlig gebrochen und teilnahmslos in ihrem Lehnstuhl. Sie hatte noch nichts gegessen. Mit milder Gewalt nötigte ihr Miltaler einige Bissen ein. Manchmal sah sie mit kläglicher Miene ihren Mann an und sagte mit gebrochener Stimme: „Ferdinand, nun sind wir allein auf unser Alter. Unsere Madeline ist im Himmel... mit achtzehn Jahren.“

„Enute, wir wollen nicht undankbar sein. Wieviel Freude hat uns das Kind bereitet. Nie war sie ungehorsam oder ungezogen. Mit jeder liebevollen Fürsorge hat sie uns umgeben. Jetzt hätte sie mir doch schon längst die weichen Schuhe gebracht und die lange Pfeife, und den Fidibus hat sie mir immer gehalten.“

Er senkte den Kopf und schwieg. „Wenn der Fluß sie bloß herausgeben möchte“, flüsterte Enute. „Der Gedanke ist mir schrecklich, daß wir ihr nicht mal ein ordentliches, anständiges Begräbnis ausrichten können.“

„Ich werde gleich an die Kollegen, die unterhalb wohnen, schreiben. Auch die Anzeige an das Landratsamt muß ich machen. Dazu muß ich aber wissen, wer alles auf dem Prahm gewesen ist. Ich werde mal ins Dorf gehen.“

Den ganzen Nachmittag saß Miltaler schreibend an seinem Arbeitstisch. Er hatte sich eine Pfeife angezündet und dampfte mächtig. Zuerst kam es ihm wie eine Entheiligung seines Schmerzes vor, als sich die Sehnsucht nach dem gewohnten Genuß in ihm regte. Aber Enute redete ihm zu.

In der Schummerstunde kamen Abrys und Erdmute. Der große, stattliche Mann war völlig gebrochen. Stöhnend ließ er sich in einen Stuhl fallen und vergrub das Gesicht in den Händen. Frau Enute stand auf und strich ihm leise über das helle Haar. „Wir wissen, was du verloren hast, mein guter Abrys... Ja, Erdmute, ich habe ihr erzählt, was für ein großartiges Hochzeitsgeschenk du ihr zugedacht hattest. Sie wollte sich noch nicht binden, das will ich dir offen sagen, Abrys, sie wollte sich noch ein Jahr als junges Mädchen fühlen, aber sie hatte dich lieb, du hättest nicht vergebens an ihrem Herzen angepocht.“

Der junge Mann stöhnte schwer auf. „Ich kann es noch nicht fassen. Zuerst habe ich geschrien und getobt; jetzt bin ich schon ein bißchen ruhiger geworden, aber hier...“

Er schlug an seine breite Brust. „Hier tut's weh, da brennt's drin, als wenn ich Feuer geschluckt hätte.“

„Ich gebe noch nicht die Hoffnung auf“, warf Erdmute ein. „Sie kann auf der anderen Seite hochgekommen und gerettet sein. Man kann sich durch nichts mit den Leuten drüben verständigen. Die Eisschollen machen einen Lärm. Kannst du nicht im Kahn `rüberfahren?“

Abrys zuckte unwillig die Schultern. „Wenn das möglich wäre, säße ich nicht hier. Da kommt mit dem Kahn keiner durch. Aber Erdmute hat recht. Die Möglichkeit, daß sie drüben gerettet ist, liegt noch vor...“

„Ach, mein Gott“, flüsterte Enute mit gefalteten Händen, die Augen emporgerichtet, „wie wollte ich dir auf den Knien danken, wenn du ihr das Leben geschenkt hättest. Ferdinand, könnte man nicht wo hintelegraphieren? Giwerlauken liegt doch auch auf der anderen Seite, vielleicht könnten sie von dort einen Boten schicken und Antwort geben.“

„Nein, das geht nicht, liebe Enute, ehe die Depesche hinkommt und die einen Boten schicken... Aber doch, wenn du willst, ich glaube nicht daran.“

Er hielt inne und horchte auf. „Was mag da auf der Straße sein? Vielleicht haben sie eine — eine Leiche gefunden?“

5. Kapitel

„Ich weiß nicht, was das zu bedeuten hat,“ sagte Jons zu Erkmann, als er hereinkam, „das Wasser fällt mit einemmal so geschwind.“

„Das kann ich dir sagen. Das russische Eis steht irgendwo fest und laßt wenig Wasser durch. Das dauert manchmal zwei, drei Tage, manchmal auch nur ein paar Stunden. Der Gwildis wird doch nicht etwa schon die Fähre gehen lassen.“

„Aber jadoch“, erwiderte Jons. „Die Weiber müssen doch heute in die Kirche. Die Litauer hat er schon `rüber und wieder zurückgebracht. Jetzt wird er wohl die Deutschen fahren.“

„Das ist doch die reine Unvernunft“, rief Erkmann und sprang auf.

„Was soll er machen, wenn die Weiber durchaus zur Kirche wollen? Dagegen kannst du doch eigentlich gar nichts sagen.“

„De oll Gwildis fährt nich, wenn Gefahr is“, warf Mutter Urrte ein.

„Ei, wenn dem de Wiwer so tosette, daß he mott?“ fragte Jons grinend. „Du wörschst doch auch hied in de Kirch tom bete.“

„Hied is doch Fierdag, da mott en Mensch bete gähn, wenn he alldags keen Tid dato hätt.“

„Herr Gott, wat is dat?“ rief Jons und sprang auf. Vom Fluß kam ein Krachen und Donnern.

„Das ist das russische Eis. Wenn bloß der Prahm nicht unterwegs ist“, rief Erkmann und stürmte hinaus. Jons humpelte hinter ihm drein. Vom hohen Uferrand erblickten sie den Prahm und das heranbrausende Eis. Sie sahen und durchlebten den entsetzlichen Vorgang. Erkmann war niedergekniet und betete laut. Jons stand neben ihm mit geballten Fäusten und funkelnden Augen. „Bist du bald mit dem Beten fertig? Ein Mann darf nicht heulen, sondern er muß handeln.“

Langsam aufstehend, erwiderte Erkmann mit trauriger Stimme: „Du bist ein greulicher Heide, Jons. Ich habe für das Seelenheil der Unglücklichen gebetet. Zu handeln gibt es hierbei nichts. All die Menschen hat Gott zu sich in den Himmel genommen.“

„Na, mir ist das doch etwas zweifelhaft. Ein paar von den Weibern wird sich wohl auch der Schwarze geholt haben. Aber vielleicht können wir ihm doch die eine oder die andere Seel' aus den Klauen reißen. Komm mit, Erkmann, wenn die Scheschupp einen `rausgibt, dann kommt er hier hinter unserer Spitze im Rückstau zum Vorschein.“

Er lief zurück zum Hause und brachte zwei lange Feuerhaken mit. Trotz seines lahmen Fußes sprang er wie ein Jüngling die steile Uferböschung hinab. Eben tauchte dicht am Ufer eine große Scholle auf. Langsam begann sie, sich in dem am Ufer zurückströmenden Wasser zu drehen, bis sie wieder von der Strömung erfaßt und weggerissen wurde. Drei, vier kleinere Schollen nahmen denselben Weg. Dann kam eine, auf der man schon im trüben Wasser einen dunklen Fleck sah. „Das ist ein Mensch!“ schrie Jons... „eine Frau... das ist Madeline Miltaler... Komm `ran... wir müssen sie anhaken.“

Schon stand Erkmann neben ihm und schlug mit dem Ende des Hakens ins Wasser. Die Scholle war dicht neben der Strömung aufgetaucht, die sie langsam umdrehte und fortzuführen begann. Ohne Besinnen watete Erkmann in das Wasser. Sein Fuß glitt auf dem schlüpfrigen, abschüssigen Boden aus. Aber schon hatte Jons ihn von hinten in dem Hosenbund gefaßt. Jetzt warf Erkmann zum zweiten Male die Stange. Sie faßte mit dem spitzen Haken die Scholle. Langsam, vorsichtig wurde sie herangezogen. Dann griff Erkmann zu und riß das bewußtlose Mädchen an sich. Fuß um Fuß schritt er rückwärts, von Jons gehalten und gezogen. Im Sturmschritt trugen beide Männer den leblosen Körper das Ufer empor und liefen mit ihm ins Haus.

„Jetzt geh `raus, wir müssen sie ausziehen und ins Bett bringen“, sagte Jons keuchend zu Erkmann. „Ich bin ein alter Kerl, aber für dich schickt sich das nicht.“

Schweigend ging Erkmann zu seiner Kammer. In der Tür drehte er sich um. „Mutter, koch' ihr einen heißen Fliedertee. Ihr müßt sie auch zuerst rollen und mit Bürsten reiben.“

„Das weiß ich alles“, erwiderte Jons, der schon niedergekniet war und die Kleider zu lösen begann. „Schade um das junge Blut, wenn das vor die Hunde gehen sollte“, brummte er, während Urrte schon in der Küche einen Topf Wasser aufs Feuer setzte. Mehr als eine halbe Stunde arbeitete Jons schweigend an dem leblosen Körper herum, daß ihm der Schweiß in großen Tropfen vom Gesicht fiel. Er rollte den kalten Körper, aus dem schon das Leben entflohen zu sein schien, auf der Stube; er rieb die Brust und den Rücken mit einer steifen Bürste. Urrte kniete neben ihm und rieb die Beine. Etwas Wasser floß aus dem halbgeöffneten Mund. „Mir ist, als wenn sie sich ein bißchen warm anfühlt“, meinte Urrte.

„Mir auch“, erwiderte Jons. Plötzlich kam ein Ausstoßen, zugleich mit einem leisen Stöhnen. „Jetzt haben wir's geschafft“, rief der Alte mit fröhlicher Stimme Erkmann zu, der aus seiner Kammer schon mehrmals gefragt hatte, ob noch kein Lebenszeichen wahrzunehmen sei.

Fünf Minuten später, nachdem der Körper noch eine Menge Wasser von sich gegeben hatte, lag Madeline im Bett von Betten bepackt. „Jetzt wollen wir ihr Tee einflößen“, meinte Erkmann, der jetzt in die Stube getreten war. Er kostete selbst das Getränk, ob es nicht zu heiß wäre, dann flößte er der Kranken einen Löffel voll ein. „Sie schluckt, dann ist alles gut.“

„So schnell geht das nicht“, erwiderte Jons. „Sie hat ihre fünf Schweinchen noch nicht beisammen und von der Erkältung wird auch noch was nachkommen.“

„Freuen wir uns und danken wir Gott, daß sie lebt und atmet.“

„Das kannst nachher tun, erst gib ihr mal so viel Tee, wie sie schluckt.“

Während Erkmann, über sie gebeugt, ihr den heißen Tee einflößte, schlug Madeline die Augen auf. Doch der Ausdruck des Blickes ließ erkennen, daß ihr Geist noch nicht erwacht war. Im nächsten Augenblick schon schlossen sich ihre Augen wieder.

„Wenn wir sie bloß zum Schwitzen bringen, dann kann noch alles gut werden“, meinte Jons. „Wir wollen ihr noch mehr Betten aufpacken.“

Eine Stunde saßen die drei schweigend am Bett und beobachteten das Gesicht der Kranken, das sich allmählich zu röten begann.

„Sie hat Fieber“, flüsterte Jons, „aber sie schwitzt nicht.“

Er hatte richtig beobachtet, und das Fieber stieg. Madeline öffnete für Minuten die Augen, in denen noch die Angst lag, sie murmelte unverständliche Worte, ein paarmal schrie sie auch laut auf.

„Das beste wär', ihr möcht' sie `rüberschaffen, daß der Doktor sie in Behandlung nimmt“, meinte Urrte.

Schweigend stand Erkmann auf und ging hinaus. Als er nach einer Weile wiederkam, schüttelte er den Kopf. „Es ist keine Möglichkeit, `rüberzukommen. Oberhalb des Wehrs kommen die Schollen so dicht, daß sie sich hochheben und überschlagen.“

„Aber vielleicht unterhalb, wo der Fluß breiter wird?“ fragte Urrte.

„Da wird es auch nicht gehen. Eine einzige Scholle kann den Kahn umwerfen. Die Verantwortung nehme ich nicht auf mich. Dabei können wir alle ertrinken und sie mit.“ Wieder verlief eine Stunde. Urrte steckte ihre Hand unter das Deckbett. „Mein Gott, was machen wir bloß? Sie glüht wie eine Kohle und keine Spur von Schweiß.“

„Wir müssen sie in ein nasses Laken wickeln“, meinte Jons. „Um Gottes willen,“ brauste Erkmann auf, „sie hat schon lange genug im kalten Wasser gelegen.“

Er trat ans Bett und legte Madeline die Hand auf die Stirn. Da schlug sie für einen Moment die Augen auf und blickte ihn groß an. Es schien ihm, als wenn schon Bewußtsein in dem Blick läge. Auch Jons war hinzugetreten. „Urrte, dat hälpt nuscht, wi mote se inwickle.“

Die alte Frau stand auf und kam nach einiger Zeit mit einem nassen Laken zurück. Erkmann ging schweigend nach seiner Kammer.

„Mi lett“, meinte Urrte nach einer Weile, „de Hitz lätt nah.“

„Mi lett ok so“, bestätigte Jons. Nach einer halben Stunde wurde der nasse Umschlag erneuert. Die Wirkung war augensichtlich. Madeline begann ruhiger zu atmen, der Puls wurde langsamer, sie schien zu schlafen. Nach einiger Zeit schlug sie die Augen auf, die erstaunt umherschweiften. „Wo bin ich?“ flüsterten ihre Lippen.

Urrte beugte sich über sie und strich ihr über die Stirn. „Bei uns, Madelinchen. Sie leben, Sie sind gerettet.“

Mit einem tiefen Atemzug schloß Madeline die Augen. Jetzt schien sie fest zu schlafen. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Stirn und Nase.

„Nu haben wir ihr überm Berg“, flüsterte Jons.

Diesmal hatte er sich geirrt. Bald nach Mittag begann das Fieber wieder zu steigen, und jetzt schien der nasse Umschlag nicht mehr zu wirken. Urrte jammerte leise. „Könntet ihr nicht den Doktor `rüberholen?“

„Wenn wir den Doktor holen wollen, dann können wir auch mit ihr fahren. Das bleibt sich gleich“, erwiderte Erkmann.

Er nahm seine Mütze und ging hinaus. Als er nach einer Stunde wiederkam, saß Urrte weinend am Bett. Sie hatte Madeline wieder und wieder in das nasse Laken eingehüllt. Nach wenigen Minuten war es heiß, daß es dampfte. Aber das Fieber ließ nicht nach. Die Kranke sprach laut und schrie oft auf.

„Ich weiß mir keinen Rat mehr, Erkmann. Jons muß zur Frau Pfarrer gehen, daß sie herkommt, sie kuriert doch die Leute mit ihren kleinen weißen Kügelchen.“

„Is nicht mehr nötig. Der Donalis will mit mir `rüberfahren. Seine beiden Jungen, er und ich, ich denke, wir werden's schaffen. Wenn es geht, zieht sie an und wickelt sie ordentlich ein. Ich muß sie hintragen.“

Eine Viertelstunde später war Madeline angezogen und in mehrere Decken eingehüllt. Erkmann nahm sie wie eine Puppe auf den Arm.

„Geh mit Gott, mein Sohn. Ich werde zu ihm beten, daß er euch glücklich hinüberbringt und zurückkommen läßt.“

Tausend Schritte unterhalb dicht am Fluß lag das ausgebaute Gehöft des Bauern Donalis. Er hatte sich zuerst geweigert, die gefährliche Fahrt zu übernehmen. Die Strömung sei zu scharf und das Eis könnte den Kahn umwerfen oder zerdrücken. Da hatte sich die Frau, die zu Erkmann beten ging, ins Mittel gelegt und Erkmann zugestimmt, daß das Mädchen unter allen Umständen nach Hause geschafft werden müßte.

Die drei Männer, hochgewachsene Litauer, hatten zur Fahrt einen großen Fischerkahn ausgewählt und zugerüstet. Der Boden war mit Brettern und einer Lage Stroh bedeckt. Darauf wurde Madeline sanft gebettet. Erkmann stand vorn im Kahn, um mit einem Feuerhaken die Schollen abzuwehren, die beiden Söhne saßen an den Schlagrudern und der Alte stand am Steuer.

Ein paar Minuten wartete er, bis sich zwischen dem Eis eine offene Rinne bildete, dann stieß er das Boot in die Strömung und sprang hinein. Sofort drehte er es mit der Spitze gegen den Strom, denn nur so konnte es gelingen, die Schollen nach rechts und links vorbeizustoßen. Auch die beiden Söhne hatten die Ruder weggelegt und Haken zur Hand genommen. In gerader Linie quer über den Fluß zu fahren, war unmöglich. Aber was schadete es, wenn sie ein Stück abwärts getrieben wurden, wenn sie nur hinüberkamen. Länger als eine Stunde brauchten die Männer, um mit schwerer, schweißtreibender Arbeit die wenigen hundert Schritt zurückzulegen. Mehr als einmal hob eine Scholle, die unvermutet aus dem Wasser auftauchte, den Kahn und legte ihn halb auf die Seite.

Endlich war die Arbeit geschafft. Hinter einer Biegung des Flusses, wo die Strömung zurückflutete, landete das Boot. Vorsichtig nahm Erkmann die Kranke, deren Fieberglut er trotz der Umhüllung spürte, auf seine starken Arme und trug sie die Uferböschung empor. Die beiden jungen Burschen begleiteten ihn, um ihm abwechselnd das Mädchen tragen zu helfen, denn der Weg war mehr als eine halbe Meile weit.

Gleich aus den ersten Häusern des Dorfes kamen ein paar Menschen gestürzt. „Habt ihr wen aufgefischt? Madeline Miltaler? Lebt sie? Was, sie lebt? Das ist ein Wunder Gottes.“ So schwirrten die Fragen und Rufe durcheinander.

Immer mehr Menschen traten aus den Häusern und schlossen sich dem Haufen an. Erkmann schickte ein paar flinke Jungen voraus, die den Doktor benachrichtigen und in das Haus des Amtsvorstehers bestellen sollten.

Mit einem Satz kam Abrys aus dem Hause gestürmt. „Erkmann, du? Ist das möglich?“

„Sie lebt!“ riefen mehrere Stimmen. „Der Erkmann hat sie aus dem Wasser aufgefischt.“

Jetzt kamen auch Erdmute und Miltaler herbeigestürzt. Frau Enute war von dem freudigen Schreck wie gelähmt. Sie mußte sich hinsetzen. Mit Tränen in den Augen streckte sie Erkmann beide Hände entgegen, hinter dem schon der Arzt eintrat. „Hier hinein“, befahl Erdmute und öffnete die Tür zum Schlafzimmer. Leise legte Erkmann seine Last auf das Bett, dann trat er zurück und zog das Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ihm war ganz übel zumute. Den ganzen Tag über hatte er nichts gegessen, dann die schwere Arbeit im Boot, und jetzt war er so schnell gegangen...

Abrys faßte ihn um den Leib, führte ihn in das Wohnzimmer und setzte ihn auf einen Stuhl. Mit einer Stimme, in der Lachen und freudige Rührung miteinander kämpften, sagte er: „Erkmann, Mensch, du mit deiner Bärenkraft, du wirst doch nicht schlapp machen? Tante, habt ihr nicht ein Glas Wein?“

Erkmann wehrte ab. „Du weißt, ich trinke doch nichts.“

„Ach Unsinn,“ rief Erdmute, „in solch einem Ausnahmefall soll man ein Geschenk Gottes nicht verschmähen. Hier trinken Sie.“ Sie hielt ihm das Glas vor. Mit Überwindung nahm Erkmann es ihr aus der Hand und trank es hastig aus.

„Nun erzählen Sie doch, wie ist das möglich gewesen?“

Aus dem Nebenzimmer trat der Doktor Meyhöfer ein. „Fräulein Erdmute, ich bitte Sie, mir zu helfen, und die Herrschaften bitte ich, nicht so laut zu sein. Die Kranke hat vor allem Ruhe nötig.“

Während Erdmute mit dem Arzt im Schlafzimmer verschwand, erzählte Erkmann, wie er Madeline von der Eisscholle geholt, wie seine Mutter ihr kalte Umschläge gemacht und heißen Tee eingeflößt.

„Hättet ihr nicht ein Zeichen `rübergeben können?“ fragte Abrys vorwurfsvoll. „Ihr konntet euch doch denken, in welcher Angst und Trauer wir hier waren.“

„Ehrlich gestanden,“ erwiderte Erkmann ein bißchen verlegen, „wir haben nicht daran gedacht, wir waren wohl alle so aufgeregt und in Sorge.“

„Daraus wollen wir euch keinen Vorwurf machen,“ warf Miltaler ein, „denn ich glaube nicht, daß es möglich gewesen wäre, irgendeine Nachricht hier 'rüberzugeben.“ Er ging auf Erkmann zu. „So, nun geben Sie mir Ihre Hand, damit ich Ihnen so recht von ganzem Herzen danken kann. Wir stehen tief in Ihrer Schuld, lieber Kurat.“

„Nicht mir gebührt der Dank, sondern dem Höchsten, der mich zu seinem Werkzeug machte und mir die Kraft verlieh“, wehrte Erkmann ab.

„So schroff wollen wir das nicht hinstellen, lieber Erkmann“, warf Abrys ein. „Nach deiner Ansicht würde ja für den Menschen gar kein Verdienst übrigbleiben, wenn er was Gutes tut.“

„Und auch keine Schuld“, meinte Miltaler. „Dann sind wir ja bloß noch Puppen, die an unsichtbaren Fäden tanzen. Nein, Erkmann, was Sie getan haben, bleibt Ihr Verdienst. Ich bin Ihnen manchmal schroff gegenübergetreten, aber ich kann nichts dafür, die Regierung hat befohlen, daß jede Ihrer Betversammlungen angemeldet werden muß, und ich habe genaue Vorschriften, unter welchen Umständen ich Ihnen die Versammlung verbieten muß. Ich kann nichts dafür. Ich habe es auch nicht zu oft getan, Erkmann, aber ich bin auch Beamter und muß mir den Rücken decken. Ich weiß, daß Sie nichts Unrechtes tun und Frömmigkeit hat den Leuten noch nie geschadet.“

„Ich verstehe vollkommen, Herr Amtsvorsteher, daß Sie nicht anders handeln können, und ich habe es Ihnen auch nicht nachgetragen. Jetzt freut es mich, daß Sie mein Tun mit freundlichen Augen betrachten.“

„Ja, Erkmann, das tue ich, das tue ich wirklich.“ —

6. Kapitel

„Tante, Onkel, kommt `rein, Madeline ist bei Bewußtsein“, rief Erdmute gedämpft durch die geöffnete Tür.

„Kann ich nicht auch `reinkommen?“ fragte Abrys.

„Nein, Brüderchen, du mußt draußen bleiben. Madeline ist noch sehr schwach.“

„Nu wollen wir beide mal ein vernünftiges Wort miteinander reden“, sagte Abrys aufstehend. „Aber erst sag' mir mal, ist Madeline schon bei euch zur Besinnung gekommen?“

„Ich glaube nicht, Abrys; zuerst hat der Jons mit meiner Mutter wohl eine Stunde gearbeitet, bis wieder etwas Leben und Wärme in den Körper kam.“

„Wie lange hat sie denn im Wasser gelegen?“

„Na, das können schon zehn Minuten gewesen sein, und ein paar Minuten hat's auch gedauert, bis ich die Scholle anhakte. Nachher kam das Fieber. Ja, einmal hat sie vorher die Augen aufgemacht und mich groß angesehen. Sie hat auch gefragt: Wo bin ich?“

„Ja, Erkmann, das ist mehr als ein Wunder. Von all den Menschen Madeline allein gerettet.“

„Wir hatten sie noch nicht `rübergebracht, weil wir das nicht für möglich hielten“, fuhr Erkmann fort. „Aber Nachmittag, als das Fieber nicht `runtergeh'n wollte trotz der kalten Umschläge, da bin ich zu Donalis gegangen, und er hat mit seinen beiden Jungen das Wagstück unternommen.“

„Du auch, du auch, Erkmann, brauchst dein Verdienst nicht unter den Scheffel zu stellen. Daran ändert all deine Bescheidenheit nichts, daß du Madeline das Leben gerettet hast, und daß wir dir alle zum größten Dank verpflichtet sind. Nu wollen wir mal vergessen, was zwischen uns gestanden hat.“

Erkmann hob den Kopf und erwiderte kühl abweisend: „Ich weiß nicht, was das damit zu tun haben soll. Wir gehen beide unseren Weg weiter, wie bisher. Du, der reichste Besitzer des Dorfes, ärgerst dich nach wie vor über den Muckerpfaff, und ich — ich tue, was ich nicht lassen kann... ich predige weiter.“

Abrys lachte: „Du bist doch immer ein Kribbelkopf gewesen und bist es heute noch. Aber beruhige dich nur. Meinetwegen kannst du predigen, so lange und so oft du willst. Ja, ich möchte dir noch dazu helfen.“

Erkmann stand auf. Sein Gesicht drückte ehrliche Verwunderung aus. „Wie meinst du das?“

„Wir wollen mal offen miteinander reden, Erkmann“, erwiderte Abrys mit Wärme. „Im Herbst geht dein Vertrag mit der Gemeinde zu Ende, und ich sage dir doch wohl nichts Neues, daß die Bauern unter keinen Umständen den Vertrag mit dir erneuern werden. Sie lauern ja bloß darauf, daß du wieder wegkommst.“

„Das weiß ich.“

„Na siehst du. Selbst wenn Onkel Miltaler seinen ganzen Einfluß für dich einsetzt, kann er dich nicht hier in der Schmiede halten. Da gibt's nur einen Weg. Du mußt dir ein paar Morgen Land kaufen, eine Kate und eine Schmiede aufbauen.“

Der Muckerpfaff lachte bitter auf und zuckte die Achseln. „Dazu habe ich nicht das Geld.“

Der junge Gutsbesitzer, der sich wieder hingesetzt hatte, schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. „Na siehst du, mein Kerlchen, dahin wollte ich dich haben.“ Er streckte ihm die Hand entgegen. „Schlag' ein, Erkmann! Die paar tausend Mark, die dazu gehören, will ich dir geben.“

Mit finsterer Miene trat Erkmann einen Schritt zurück. Abrys fragte erstaunt: „Ist dir das nicht recht?“

„Nein,“ erwiderte der Muckerpfaff heftig, „behalt' dein Geld für dich. Ich will mir die Dankbarkeit, die ihr mir schuldig seid, nicht abkaufen lassen. Aber so seid ihr alle! Alles wollt ihr mit Geld abmachen... und wenn ihr auf den Armen herumtrampelt! Ihr könnt's ja bezahlen.“

Kopfschüttelnd hatte Abrys seine Hand zurückgezogen. „Na, wenn nicht, denn nicht... Es ist übrigens eine falsche Annahme von dir, daß ich dir deine Tat mit Geld habe abkaufen wollen, wie du dich ausdrückst. Es hat mir nur leid getan um dich, daß du hier so vor die Hunde gehen sollst, denn du bist trotz deiner Muckerei ein guter Kerl und ein anständiger Mensch.“

„Ich habe dich weder um dein Mitleid, noch um deine Hilfe gebeten“, erwiderte Erkmann schroff. „Aber ich möchte fragen, was du dich hier `reinzumischen hast. Du bist nicht mal mit Miltalers verwandt...“

Abrys lächelte. „Was mich das angeht? Na, dir kann ich es ja sagen, es wird bald auch kein Geheimnis mehr sein. Madeline wird meine Braut... die Eltern haben schon eingewilligt.“

Mit einer Heftigkeit, die keinen Grund zu haben schien, fragte Erkmann: „Und was sagt Madeline dazu? Ist sie damit einverstanden?“

Jetzt maß ihn der junge Gutsbesitzer mit einem erstaunten Blick von oben bis unten. „Mensch, was geht denn dich das an?“

Der Muckerpfaff schien die Frage mit Absicht zu überhören, denn er fuhr fort: „Sogar die Frau willst du dir mit deinem Geldsack kaufen. Die Eltern haben eingewilligt, aber Madeline nicht, sonst würdest es schon gesagt haben. Ihr glaubt sie mürbe zu machen, bis sie einwilligt.“

Kopfschüttelnd hatte Abrys ihn angesehen und zugehört. In ihm kochte schon der Ärger, aber er bezwang sich und erwiderte ruhig: „Wenn dir soviel daran gelegen ist, es zu hören, dann will ich dir auch das verraten. Madeline weiß es, daß ich um sie werbe, und hat sich nur noch ein Jahr ausbedungen, in dem sie nicht gebunden sein will. Mir genügt das, und ich betrachte sie als meine Braut.“

„Mir genügt das auch.“

Mit einem Schritt war Abrys bei ihm und faßte ihn mit zwei Fingern an der Rockklappe. „Was genügt dir?“

Während des Sprechens war Erkmann etwas zurückgetreten. Abrys streckte seine Hand drohend gegen ihn aus. „Du, Erkmann, ich sag' dir in allem guten, laß die Hände davon. Ich will keinem raten, mir ins Gehege zu kommen.“ Seine Stimme nahm einen drohenden Klang an. „Ich bin sonst ein sehr gutmütiger Mensch, aber in der Sache verstehe ich keinen Spaß. Bildest dir wohl ein, daß Onkel Miltaler dir sein Kind geben muß, weil du es aus dem Wasser gezogen hast. Nein, mein Kerlchen, die Rosinen puhl dir man aus dem Kopf. Auch das wird mit Geld abgemacht, wenn's nötig ist.“

Er nahm Mütze und Stock und wandte sich zum Gehen. Als er die Tür öffnete, stand Erdmute vor ihm. Sie hatte eine Flasche Wein und drei Gläser in der Hand. Erstaunt sah sie ihren Bruder an, der mit finsterer Miene an ihr vorüberschritt. Auch auf Erkmanns Gesicht stand noch Unmut und Ärger zu lesen.

„Was ist denn hier los?“ fragte Erdmute, während sie die Flasche und die Gläser auf den Tisch stellte. „Habt ihr euch gezankt?“

„Ihr Bruder hat mir Geld angeboten“, erwiderte Kurat. Erdmute sah ihn mit vorwurfsvollem Lächeln an und schüttelte den Kopf. „Darüber haben Sie sich geärgert? Nehmen Sie es mir nicht übel, Erkmann, Sie sind ein zu komischer Kerl. Der Abrys hat einen guten Gedanken gehabt. Was soll denn aus Ihnen werden, wenn Ihnen die Bauern zum Herbst die Schmiede nehmen? Wollen Sie als Geselle nach Tilsit gehen? Und was wird aus Ihrer Mutter?“

Der Muckerpfaff hatte zur Antwort nur ein paarmal mit dem Kopf genickt. Erdmute fuhr fort: „Na, sehen Sie, daran haben Sie wohl noch nicht gedacht? Sie werden doch die arme Frau nicht ins Armenhaus stecken lassen? Nein, Erkmann, man muß zuweilen auch mal an sich und an seine nächsten Angehörigen denken, nicht bloß immer an fremde Leute. Und schließlich, wenn Sie hier weggehn, dann fällt doch alles zusammen, was Sie hier unter Not und Entbehrung aufgebaut haben. Habe ich recht oder nicht?“

„Leider Gottes haben Sie recht.“

„Wer hält denn Ihre Gemeinde hier zusammen?“ fuhr Erdmute eindringlich fort. „Doch nur Sie! Sowie Sie den Rücken kehren, ist alles vorbei. Also nun `raus mit der Sprache: Was hat Ihnen Abrys angeboten?“

„Er wollte mir Geld geben, damit ich mir ein paar Morgen Land kaufe und eine Schmiede aufbaue.“

„Das wäre das einzig Richtige. Nun fahren Sie bloß nicht gleich wieder aus der Haut, wenn ich Ihnen denselben Vorschlag mache. Ich will Ihnen nicht die Dankbarkeit abkaufen, denn ich wüßte nicht, daß ich Ihnen welche schuldig bin. Ich freue mich sehr, daß Madeline gerettet ist, aber das hätte jeder andere ebensogut getan und tun müssen wie Sie.“

„Da haben Sie ganz recht, Fräulein Erdmute.“

„Nun setzen Sie sich mal hin und hören Sie mir einen Augenblick ruhig zu. Ich habe das Haus vom Potzka gekauft, der zum Herbst wegzieht. Da bauen wir daneben eine Schmiede und einen Schuppen auf. Sie fahren nach Königsberg, besorgen ein Lager von landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten, und wir fangen damit einen Handel an unter der Firma: Kurat & Co.“

„Fräulein Erdmute, was treibt Sie, mir diesen Vorschlag zu machen?“

Mit einem Lachen in der Stimme erwiderte Erdmute: „Ach so, das müssen Sie vorher wissen. Na, nehmen Sie an, ich möchte Geld verdienen und Sie erscheinen mir dazu als der geeignete Kompagnon.“

Der Muckerpfaff schüttelte den Kopf. „Es soll nur eine andere Form sein, mir eine Belohnung aufzudrängen.“

Mit einem leisen Arger im Ton erwiderte Erdmute: „Mann Gottes, sind Sie aber hartnäckig! Na, dann muß ich schon einen anderen Grund angeben! Nehmen Sie an, ich interessiere mich für Ihre Tätigkeit als... na, sagen wir ruhig... Muckerpfaff. Mir tut es leid, daß ein Mann, der so selbstlos alles daran setzt, den Ärmsten der Armen beizustehen, aus dem Brot geworfen werden soll. Erkmann, überlegen Sie sich das noch einmal. Wenn Sie hier was durchsetzen wollen, dann müssen Sie sicher auf eigenen Füßen stehen und nicht von der Gnade der Bauern abhängen, denen Sie verhaßt sind wie der...,“ sie machte mit der Hand drei Kreuze in die Luft, „wie der leibhaftige Gottseibeiuns.“

„Ich kann nichts dafür“, erwiderte Kurat, der innerlich zu bewegt und zu erstaunt war, um etwas anderes sagen zu können.

„Na, wie man's nimmt“, meinte Erdmute mit einem ganz leisen Spott in der Stimme. „Ich habe Sie ja noch nicht predigen hören, aber meine Agusche ist jedesmal in Ihrem Gottesdienst.“

„Dann kann Sie Ihnen nichts anderes berichten, als daß ich die Leute ermahne, nüchtern und ordentlich zu leben und ihre Arbeit ohne Murren zu verrichten.“

„Ganz richtig“, fiel Erdmute lebhaft ein. „Sie vertrösten die armen geplagten Menschen auf ein besseres Jenseits. Wenn die Bauern nicht so dumm wären, müßten sie tief in ihren Beutel greifen, Ihnen ein schönes Haus aufbauen und ein ebenso hohes Gehalt zahlen wie unserem Pastor hier. Ja, Erkmann, das meine ich in vollem Ernst. Was tun Sie denn anderes als alle anderen Pfaffen? Sie beschwichtigen die hungrigen Magen mit einem mageren Trost auf das Himmelreich. Woher wissen Sie denn, daß es nach diesem Leben noch ein besseres Jenseits gibt?“

„Aber, Fräulein Erdmute,“ erwiderte Erkmann erregt, mit trauriger, vorwurfsvoller Stimme, „wie können Sie so sprechen? Das sagt jedem Menschen sein Bewußtsein, daß er etwas Höheres ist als ein unvernünftiges Tier, daß seine Seele nicht verlorengehen kann und darf. Alle Völker stimmen in diesem Glauben, in dieser Gewißheit überein, die uns von der Heiligen Schrift verbürgt wird.“

„Was wissen Sie von der Bibel?“ fragte Erdmute scharf. „Das ist ein Geschäftsbuch, wie es sich alle Pfaffen auf der Erde angelegt haben. Das wollen Sie nicht hören? Ja, so seid ihr alle! Wenn man euch an euren Kinderglauben rührt, dann steckt ihr den Kopf in den Sand wie der Vogel Strauß. Stecken Sie Ihre Nase lieber in die Bücher, die unsere großen Männer über die Bibel geschrieben haben. Lesen Sie erst mal, wie Ihr heiliges Buch entstanden ist. Ja, sehen Sie mich nur so an, Erkmann. Sie haben nicht gewußt, wie es in mir aussieht, und meine nächsten Angehörigen auch nicht. Deshalb habe ich mich ja für Sie interessiert, für Ihr Tun und Treiben. Es tut mir leid, daß so ein klarer Kopf, wie Sie, auf falschem Wege wandelt.“

„Ich, Fräulein Erdmute, ich auf falschem Wege?“ stieß Kurat heftig heraus.

„Ja, Sie! Wissen Sie, was ich tun möchte an Ihrer Stelle? Ich möchte die Leute zusammenrufen und ihnen sagen: Wir haben das Nächstliegende vergessen. Was danach kommt, wenn wir tot sind, das wissen wir nicht. Aber hier auf der Erde, da wissen wir, daß es uns schlecht geht. Wir werden gestoßen und getreten, wir werden manchmal schlimmer als ein Vieh behandelt. Wir müssen uns zusammentun, müssen Schulter an Schulter, Rücken an Rücken stehen. Dann können wir durchsetzen, was wir wollen, denn wir sind die Vielen und jene sind die Wenigen. Und was tun Sie? Sie geben ihnen Steine statt Brot.“

Wie abwehrend hatte der Muckerpfaff seine Hand gegen das Mädchen ausgestreckt, das in heftiger Erregung vor ihn getreten war. „Fräulein Erdmute, was tun Sie! Sie machen mich unglücklich.“

„Nein, Erkmann, ich möchte nur etwas anderes aus Ihnen machen, als den Muckerpfaff, über dessen Tätigkeit jeder dumme Bauer im stillen lacht und mit Recht lacht. Haben Sie denn gar keinen Ehrgeiz? Mensch, bedenken Sie doch bloß, daß Sie hier unabhängig dastehen könnten, daß alle Arbeiter in meilenweitem Umkreis zu Ihnen aufsehen wie zu ihrem Heiland und Retter! Aber das erreicht man nicht, wenn man sie auf ein besseres Jenseits vertröstet.“

Sie machte eine Pause und fuhr dann ruhiger fort: „Ich will heute von Ihnen keine Antwort haben. Überlegen Sie sich das ruhig, was ich Ihnen gesagt habe. Die Sache eilt ja nicht so sehr. In der Zwischenzeit werde ich Ihnen Bücher schicken. Die lesen Sie aufmerksam durch, und dann gehen Sie mal mit Ihrem Bruder Innerlich ins Gericht.“

Kurat war aufgesprungen. „Und dann, Fräulein Erdmute? Was dann, wenn ich mir meine Überzeugung, meinen Glauben nicht nehmen lasse?“

„Mein Vorschlag gilt für alle Fälle.“

„Dann nehme ich ihn schon heute an, aber nur unter einer Bedingung. Sie müssen mich bei sich predigen lassen. Sie müssen mir den großen Saal einräumen und alle Leute Ihres Bruders dazu einladen.“

Erdmute sah ihn erst einen Moment verblüfft an, dann lachte sie laut auf. „Das nenne ich energisch.“

„Weshalb lachen Sie? Mir ist das heiliger Ernst.“

„Ich habe auch nicht darüber gelacht. Mir fiel nur ein, daß man Ihnen da, wo Sie zuerst predigen, ein funkelnagelneues, selbstgefertigtes Hemd schenkt, das Sie zum Gottesdienst an- oder überziehen, nicht wahr, als Symbol der Reinheit?“

„Jawohl, das ist eine schöne Sitte, über die Sie nicht lachen sollten.“

Jetzt wurde das Mädchen ernst. „Erkmann, ich weiß wirklich nicht, was ich darauf erwidern soll. Sie vergessen wohl, daß ich unverheiratet bin. Ich steuere zwar schon stark auf die alte Jungfer zu. Aber Sie glauben doch nicht etwa, daß ich mir einen Mann kaufen will?“

„Nein, Fräulein Erdmute,“ erwiderte Kurat schlicht und ernst, „der Gedanke ist mir wirklich nicht gekommen.“

Um den Mund des Mädels spielte der Schelm: „Dann wollen wir also auf das neue Hemd verzichten.“

„Aber die Versammlung werden Sie mir ermöglichen?“

„Nicht so stürmisch, lieber Erkmann, das ist eine Sache, die ich mir noch sehr reiflich überlegen muß.“

Ehe sie mehr sagen konnte, erschien Miltaler im Zimmer. „Gott sei Dank, jetzt schläft sie, aber wir werden uns wohl noch auf ein böses Nachspiel gefaßt machen müssen. Sie hat nur ein paar Worte gesprochen, sie scheint keine Erinnerung an das Unglück zu haben.“

Hinter ihm war der Arzt eingetreten. „Wir wollen das Beste hoffen, lieber Freund. Übrigens, Herr Kurat, das war ein Kunststück, was Sie heute vollbracht haben, ich meine, daß Sie das Leben in den völlig erstarrten Körper zurückgebracht haben. Wie haben Sie das angestellt?“

„Meine Mutter und der Geselle, der alte Jons, Sie kennen ihn wohl auch, haben sie mit Tüchern und Bürsten gerieben, dann wurde sie ins Bett gelegt, gehörig eingepackt, und bekam heißen Fliedertee zu trinken.“

„Gut, sehr gut. Und nachher, als das Fieber kam?“

„Da hat meine Mutter sie solange in ein nasses Laken gewickelt, bis das Fieber zurückging.“

„Ausgezeichnet, sehr gut, dann bestellen Sie Ihrer Mutter einen schönen Gruß von mir und sagen Sie ihr: sie hat damit Fräulein Madeline zum zweitenmal das Leben gerettet. Guten Abend, meine Herrschaften. Vor der Nacht komme ich noch mal wieder.“

„Nun geben Sie mir noch einmal Ihre Hand, Erkmann. Was kann ich für Sie tun, womit kann ich Ihnen meine Dankbarkeit beweisen?“ sagte Miltaler warm.

„Ich verlange nichts, Herr Amtsvorsteher. Bitte, machen Sie keine Worte mehr darüber. Sie haben mir ja das Leben hier manchmal sehr sauer gemacht, aber ich weiß jetzt, daß Sie nicht anders handeln konnten. Aber müssen Sie wirklich verbieten, daß abends zwanzig, dreißig Menschen zusammenkommen, um in der Religion Trost zu suchen? Ich habe immer geglaubt, daß man jedem Menschen überlassen soll, wie er seinem Gott dienen will.“

„Ich sage Ihnen noch mal, Erkmann, daß ich dafür nichts kann. Ich habe strenge Anweisung, die Versammlungen der Mucker, wo es geht zu verbieten. Wenn das Haus mit Stroh gedeckt ist, wenn die Haustür nach innen aufgeht, muß ich es verbieten, merken Sie sich das. Ich stecke zwischen Hammer und Amboß und habe schon manchen Rüffel vom Landrat dafür eingesteckt, daß ich Ihnen nicht jede Versammlung verbiete. Ich werde wie bisher ein Auge zudrücken und, wo es geht, auch beide.“

„Das verlange ich nicht, Herr Miltaler. Nur um eins möchte ich Sie bitten. Belasten Sie Ihr Kind nicht mit dem Gefühl einer Dankesschuld, die uns allen lästig werden muß. Sie braucht nicht mehr zu wissen, als daß ich sie nach Hause gebracht habe.“

Mit einem Ruck streckte Miltaler dem Muckerpfaff beide Hände hin. „Erkmann, jetzt habe ich Sie erst wirklich kennengelernt. Sagen Sie, was kann ich für Sie tun? Mein Einfluß in der Gemeinde wird hoffentlich hinreichen, Ihnen die Schmiede zu erhalten.“

„Onkelchen, damit kommst du zu spät“, rief Erdmute lachend. „Ich habe soeben mit Erkmann die Firma Kurat & Co. gegründet. Wir verkaufen landwirtschaftliche Maschinen en gros und bauen uns eine kleine Fabrik.“

7. Kapitel

Es war nicht möglich, in der Dunkelheit die Rückfahrt zu wagen, denn die Nacht war finster und stürmisch geworden und das Eis trieb noch immer in dichten Schollen den Fluß hinab. Der Bauer Donalis blieb mit seinen Söhnen bei Verwandten zu Besuch, während Erkmann bei einem guten Bekannten, dem Tischlermeister Pählke, Unterschlupf suchte.

„Du hast wohl einen gehörigen Krebsch voll Geld dafür gekriegt?“ meinte er lachend zu seinem Gast.

„Dafür lasse ich mich nicht bezahlen“, erwiderte Erkmann trotzig.

„Das sehe ich nicht ein“, meinte Pählke. „Der Miltaler ist ja nicht reich, aber ein paar braune Lappen könnte er schon schmeißen, und erst der Abrys, der könnte bis zum Ellbogen in seinen großen Beutel greifen.“

„Wieso denn der Abrys?“

„Aber Mensch, weißt du das nicht? Du hast ihm doch seine Braut aus dem Wasser gezogen.“

„Ich glaube nicht, daß es schon so weit ist.“

„Kannst schon glauben, der Abrys ist ganz erpicht auf das kleine Mädel, und wenn Madeline nicht schon einen anderen im Kopf hat, dann nimmt sie ihn. Die Erdmute ist auch für die Heirat. Sie will der Madeline sogar die Hälfte des Hauses, die ihr gehört, zur Hochzeit schenken und aus dem Hause gehn.“

„Von wem weißt du denn das alles?“

„Die alte Dore hat es schon überall im Dorf erzählt. Die erfährt doch alles, was im Hause vorgeht, von ihrer Frau.“

„Dann wird es schon seine Richtigkeit haben“, erwiderte Erkmann. „Er hat das Geld, und das lockt.“

„Na erlaube mal, Erkmann,“ erwiderte der Tischlermeister eifrig, „ich weiß nicht, wie du so reden kannst. Er ist doch auch ein guter, lieber Mensch und ein forscher Kerl, der jedem Mädchen gefällt. Weshalb soll er nicht auch der Madeline gefallen? Der Abrys könnte überall anklopfen und würde keinen Korb bekommen. Aber nein, er freit um ein armes Mädchen. Das ist doch sehr anständig von ihm.“

Erkmann nickte, in Gedanken verloren. Das erste Mädel, das er lieb hatte, hatte er heute mit Lebensgefahr dem Tode abgerungen. Aber da stand schon ein anderer, nahm es ihm aus der Hand und bot ihm ein Trinkgeld als Lohn.

Die Erinnerung stieg qualvoll bitter in ihm auf. Es war etwa vor drei Jahren. Madeline trug noch Hängezöpfe. Da war er eines Tages die Dorfstraße entlang gegangen. Plötzlich hörte er wütendes Hundegebell und den Angstschrei einer weiblichen Stimme. Da war er schnell hinzugelaufen und war eben noch zur rechten Zeit gekommen, um von Madeline einen bösen Hund abzuwehren, der ihr schon mit ein paar Bissen das Kleid zerrissen und sie am Bein verletzt hatte. Den Anblick, wie sie ihm mit tränenden Augen dankte, konnte er nicht vergessen. Eine stille, aber tiefe Neigung zu dem lieblichen Mädchen war in ihm emporgewachsen.

Er hatte sie tief in sein Herz geschlossen und kein Mensch ahnte, daß jeder Gang zum Amtsvorsteher Miltaler, um eine Versammlung anzumelden, ihm eine schmerzlich süße Freude bereitete. In seinen kühnsten Träumen hatte er nie daran gedacht, um Madeline zu werben. Sie stand gesellschaftlich zu hoch über ihm, denn sie gehörte zu der Schicht, die über seinem Stand lag. Der alte Miltaler würde verwunderte Augen machen und lächelnd den Kopf schütteln, wenn er, Erkmann Kurat, der Dorfschmied, als Freier erscheinen wollte.

„Nein, mein lieber Kurat“, würde er sagen, „Sie haben sich wohl in der Tür geirrt. Sie denken doch nicht im Ernst daran, daß meine Tochter Sie nehmen wird.“

Jetzt zum erstenmal fühlte Erkmann, daß seine Tätigkeit als Muckerpfaff ihn von diesem Ziel absperrte. Selbst wenn er nicht ein armer Dorfschmied, sondern ein wohlhabender Mann wäre, seine „Muckerei“, wie man es nannte, würde Miltaler veranlassen, glattweg nein zu sagen.

Heute war in ihm die stille Neigung zu einer verzehrenden Leidenschaft aufgeflammt. Wie er Madeline auf der Eisscholle erkannte, wie er sie in seinen Armen in sein Haus trug. Mit fiebernden Pulsen hatte er hinter seiner Kammertür gestanden und auf jeden Laut gelauscht, der aus dem anderen Zimmer drang. Mit ungeduldiger, angsterfüllter Stimme hatte er immer und immer wieder gefragt, ob noch kein Lebenszeichen sich bemerkbar mache. Und dann, wie er an ihrem Bett sitzen, ihr den Tee einflößen durfte, und auf dem Gang durch das Dorf, wo er sie wieder auf seinen Armen trug, da war etwas wie Hoffnung in ihm aufgekeimt. Eine ganz kleine leise Hoffnung. Eine Viertelstunde später war sie geknickt, noch ehe sie die schüchternen ersten Knospen getrieben hatte. Da stand schon der reiche, stolze Mann und streckte die Hand nach seinem Schatz aus, den ihm der arme Handwerker zurückbrachte.

„Das ist meine Braut, die du gerettet hast. Das ist sehr nett von dir, und da du so ein armes Luderchen bist, will ich dir ein paar tausend Mark schenken, dann sind wir quitt.“

Er blieb einsilbig den ganzen Abend und bat gleich nach dem Abendbrot, ihm seine Liegestatt anzuweisen, er sei müde von der Anstrengung.

Am anderen Morgen wurde der Prahm eine Meile weiter unterhalb aufgegriffen und festgehalten. Er trug zwei Frauenleichen. Das waren die einzigen, die der Fluß herausgab.

Bei Madeline war das vom Arzt vorausgesehene böse Nachspiel eingetreten. Sie war in eine schwere Krankheit verfallen, die man dort und auch anderswo früher Nervenfieber nannte. Sie lag tagelang in hohem Fieber, das oft in der Nacht eine beängstigende Hohe erreichte. Sie phantasierte viel und mußte wohl in ihren wirren Fieberträumen die grausige Todesfahrt noch öfter durchleben, denn sie jammerte und betete laut.

Wenn sie ab und zu zum Bewußtsein erwachte, klagte sie über fürchterliche Kopfschmerzen. Das schöne lange Haar ging ihr aus, bis der Arzt eines Tages eine Schere nahm und es ihr dicht am Kopf abschnitt.

Die Mutter, Erdmute und Dore teilten sich in ihre Pflege. Immer zwei mußten an ihrem Bett weilen, denn manchmal fuhr sie wild auf und wollte aus dem Bett springen. Nur mit Gewalt konnte sie festgehalten werden. Abrys kam jeden Tag zehnmal und fragte mit bekümmertem Gesicht, wie es stände. Er war in der Frühjahrsbestellung und konnte nie lange weilen, aber bei jedem Gang, der ihn nach Hause oder aufs Feld führte, sprach er an.

Endlich kam die Krise, die zur Genesung führte. Aber die Gefahr war noch nicht vorbei, denn das Leben war in dem zierlichen Körperchen wie eine schwach zuckende Flamme, die jeden Augenblick zu erlöschen droht. Jetzt griff Abrys energisch ein. Er ließ Tag für Tag ein Huhn schlachten, er fuhr nach der Stadt, brachte den teuersten Wein, den der Arzt für nützlich bezeichnete, er brachte das schönste Rindfleisch, aus dem mit besonderem Verfahren ein kräftigender Tee destilliert werden mußte.

Langsam, sehr langsam nahmen die Kräfte zu. Erst Mitte Mai durfte Madeline zum erstenmal das Bett verlassen. Erdmute trug sie wie ein Püppchen auf ihrem Arm in das Wohnzimmer und setzte sie auf das Sofa. Abrys durfte sie sehen. Auf den Zehenspitzen schlich er hinzu und küßte ihre schmale, blasse Hand, die so klein aussah, als wenn sie einem achtjährigen Kinde gehörte. Dabei liefen ihm die Tränen über die Backen. Sie stammten zu einem Teil aus dem Herzweh, das ihn beim Anblick des geliebten Mädchens überfiel, und zum anderen aus der schüchternen, noch sehr zaghaften Freude, daß sie dem Tode abgerungen und dem Leben wiedergegeben war.

Ganz langsam schritt die Genesung weiter. Erst drei Wochen später durfte Madeline an einem schönen warmen Tage in den Garten gebracht werden, um sich in einem Liegestuhl ein Stündchen von der Sonne bescheinen zu lassen. Ihr Kopf war von einem Gewirr kurzer krauser Haare bedeckt, das ihrem schmalen Gesicht, aus dem die dunkelblauen Augen übernatürlich groß leuchteten, einen eigenartigen Reiz verlieh. Niemand sollte bei ihr sein, sie sollte ganz still allein liegen und sich langweilen. Nur eine Glocke stand für alle Fälle dicht neben ihrer Hand. Da kam jemand leise durch das Pförtchen, das den Miltalerschen Garten mit dem Garten der Geschwister Endrulat verband. Abrys schlich leise näher. Er wollte sie unbemerkt ansehen. Aber Madeline hatte seine leisen Schritte gehört und wandte den Kopf. Mit den Augen winkte sie ihm, näherzukommen.

„Setz' dich hier neben mich ins Gras, Abrys, ich mochte mit dir ein bißchen plaudern. Die anderen find ja so maulfaul, ich soll still sein und mich langweilen.“

„Ja, Madelinchen, es ist gut, wenn du deinen Geist nicht so anstrengst, erst muß sich der Körper kräftigen.“

„Aber daran denkt ihr nicht, daß ich mich mit Gedanken quäle.“ Sie richtete sich plötzlich auf. „Abrys, wie bin ich gerettet worden? Wer hat mich gerettet?“

„Siehst du, Puppchen, du regst dich schon dabei auf.“

„Nein, ich rege mich nur darüber auf, daß mich alle, die ich frage, mit einer halben Antwort abspeisen.“

Die Erregung, die sie ergriffen hatte, erpreßte ihr Tränen.

„Ich kann nicht ansehen, daß du darüber weinst“, stöhnte Abrys. „Ich will dir alles sagen. Also: der Kurat hat dich aus dem Wasser gezogen, als du auf einer Eisscholle hoch kamst.“

„Na, und weiter?“

„Seine Mutter hat dich ins Leben zurückgerufen und dich gepflegt. Gegen Abend hat dich der Kurat mit dem Donalis und seinen Jungen über den Fluß nach Hause gebracht.“

„So, nun weiß ich doch, weshalb mich immer im Traum das Bild verfolgt hat. Ich sah eine kleine, verräucherte Stube. Ich lag in einem großen Himmelbett. Erkmann beugte sich über mich und gab mir etwas zu trinken, was abscheulich schmeckte. Dann bin ich also wahrscheinlich für einen Augenblick aufgewacht und das Bild ist mir im Gedächtnis haftengeblieben.“

Nach einer Weile sagte sie leise: „Dann habe ich also dem Erkmann und seiner Mutter mein Leben zu verdanken.“

„Ja, er war, wie er selbst sagt, das Werkzeug in der Hand Gottes, der dir das Leben erhalten wollte.“

„Und abends hat er mich im Kahn `rübergebracht? Das war wohl eine sehr gefährliche Fahrt?“

„Ja, das war es“, bestätigte Abrys ehrlich, während ihm die hellen Schweißtropfen auf die Stirn traten.

„Er muß doch ein energischer Mensch sein. Weißt du noch, wie er mich von dem bösen Hund gerettet hat? Ich sehe noch, wie er den Hund mit einer Hand im Genick packte, seine Augen blitzten, der Hund heulte auf und schlich davon. Nicht lange darauf zog er weg. Erst im letzten Jahr habe ich ihn wieder ein paarmal gesehen. Er ist immer so rührend bescheiden. Selbst wenn ihm der Vater eine Versammlung verbot, sagte er kein Wort, sondern ging still davon. Habt ihr ihn auch für seine Tat belohnt?“

„Wir konnten nichts weiter tun, als ihm danken. Alles andere wies er zurück. Er tut mir leid, er ist ein ordentlicher Mensch, der sein Handwerk versteht, und würde auch vorwärtskommen, wenn ihm die Muckerei nicht soviel Zeit stehlen würde. Ich wollte ihm helfen und bot ihm ein paar tausend Mark an, damit er sich auf eigene Füße stellen kann.“

Madeline streckte ihm die Hand hin. „Das war sehr schön, Abrys.“

„Er hat es nicht genommen, sondern schroff zurückgewiesen. Ich habe es bei Gott aus gutem Herzen tun wollen und aus Dankbarkeit. Er war aber so verletzt. Ich wollte ihm die Dankbarkeit abkaufen. Wir Reichen erledigten ja alles mit unserem Geld. Das hat mich geärgert.“

„Ich verstehe das“, erwiderte Madeline weich. „Das ist der Stolz der Armut. Na, sobald ich gesund bin, muß ich ihm noch herzlich danken.“

„Das will er auch nicht. Wir sollten dir gar nicht erzählen, daß du ihm soviel Dank schuldest.“

Langsam wandte Madeline den Kopf und sah Abrys freundlich an. „Das ist sehr edel von ihm. Aber du bist auch ein guter, edler Mensch, Abrys, du hast mir alles offen und ehrlich erzählt. Ich danke dir dafür.“

Er nahm die winzige Hand, die sich ihm entgegenstreckte, in seine beiden Bärentatzen und küßte sie leise, zärtlich.

Über Madelines Gesicht huschte ein Lächeln. „Das darfst du eigentlich noch nicht, Abrys.“

„Ich konnte nichts dafür,“ gestand er ehrlich, „du weißt doch, wie lieb ich dich habe.“

Madeline nickte. „Ja, das weiß ich. Aber was willst du mit einem solchen kleinen, schwächen Püppchen, wie ich jetzt bin?“

„Auf Händen werde ich dich tragen mein Leben lang.“

„Ach, Abrys, aus mir wird doch nicht mehr was Rechtes. Ich weiß, wie du für mich sorgst, aber es hilft doch nichts, es schlägt doch nicht an. Meine Arme sind wie ein Paar Stocke.“

„So darfst du nicht sprechen, Madelinchen. `Runter geht's schnell, aber `rauf langsam. Wenn du erst wieder selbst gehen kannst, dann wird es auch schneller gehen.“

„Aber ich glaube, ich habe für mein ganzes Leben einen Knacks weg. Mir ist alles so gleichgültig, ich kann mich gar nicht mehr freuen.“

„Das kommt wieder, Madelinchen, du hast doch auch heute schon mich ausgefragt. Du wirst davon müde sein, ich werde mich leise wegschleichen.“

Ganz leise hauchte er noch einen Kuß auf ihre Hand und umfing sie mit einem langen Blick voll zärtlicher Liebe. Ihre Augen folgten ihm, bis er hinter dem Zaun verschwand. Dann legte sie den Kopf zurück und schloß die Augen. Langsam spann sie in Gedanken das Gespräch weiter: „Also der Erkmann hat mich gerettet. Weshalb hat man mir das verhehlt? Hielt man mich für zu schwach oder wollte man die Erinnerung nicht wecken? Oder?...“

Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf, der ihr das Blut in die bleichen Wangen trieb. Sie griff nach der Glocke und läutete. Die alte Dore kam gelaufen.

„Madelinchen, was willst, mein Kindchen, soll ich dir was bringen?“

„Ja, bring' mir ein bißchen Wasser mit Saft, ich habe Durst.“

„Bleib' mal ein bißchen bei mir, Dore. Sag' mal, wer hat mich ausgezogen und ins Bett gebracht, als der Erkmann mich aus dem Wasser gezogen hatte?“

Die Alte schlug die Hände zusammen. „Mein Gott, Madelinchen, woher weißt du das, daß der Kurat dich aus dem Wasser geholt hat?“

„Ich bin doch ein paarmal aufgewacht, als ich schon im Bett lag und habe alle gesehen und erkannt.“

„Ach Gott, Madelinchen, jetzt weiß ich, was du denkst. Nee, nee, die Urrte und der Jons haben dich ausgezogen und gerieben, bis du wieder warm wurdest. Der Erkmann mußte in seine Kammer gehen und durfte erst wieder `reinkommen, als du schon im Bett lagst. Und nachher, wie sie dich immer in die nassen Laken einwickelten, ist er jedesmal `rausgegangen. Nein, so was darfst du von dem Erkmann nicht denken. Das ist ein Mensch, rein wie Gold und klar wie Wasser. Er hat bloß immer aus seiner Kammer gerufen, sie mochten doch nicht nachlassen mit Reiben und Kullern. Er hat auch gefragt, ob sie dir eine warme Decke untergelegt haben und ob du noch nicht das Wasser von dir gegeben hast, was du geschluckt hättest.“

„Von wem weißt du denn das alles?“

„Mein Gott, Madelinchen, von wem soll ich das anders wissen als von der Urrte. Deine Mutter hat mich doch gleich mit einem Korb voll `rübergeschickt, wie die Fähre wieder ging. Schinken und Wurst und Käse und Speck hatten wir eingepackt. Nicht einmal bin ich mit dem Korb voll drüben gewesen, sondern mindestens zehnmal schon.“

„Das freut mich, Dore, daß die Mutter daran gedacht hat. Wenn du das nächste Mal hingehst und den Erkmann siehst, dann bestell' ihm einen schönen Gruß von mir, und wenn ich erst gesund bin, dann werde ich selbst kommen und mich bei ihm bedanken. Wie geht es ihm? Hat er viel zu tun?“

„Na, es geht ihm ja so einigermaßen. Die Erdmute sorgt ja wohl dafür, daß er von den Bauern Arbeit bekommt. Sie hat ja die meisten am Bündel mit einer Hypothek oder einem Wechsel.“

„Das ist nett von der Erdmute.“

„Ja, und sie will ihm ja auch zum Herbst das Haus von Potzka geben und ihm eine Fabrik aufbauen.“

In das Gesicht der Kranken stieg ein leises Rot. „Nimmt er denn das von ihr an?“

„Die Frau meinte ja, daß er es annehmen wird. Ich meine, die beiden haben sich gesucht und gefunden. Die werden auch noch auf andere Weise zusammenkommen. Sie will ihn ja auch bekehren von seinem Glauben, aber ich glaube eher, daß er sie bekehren wird, sie will ihn ja wohl auch schon bei sich predigen lassen.“

8. Kapitel

Im hellen Sonnenschein lag die Straße. Die Schmiede stand unter uralten Lindenbäumen tief im Schatten. Aus der breiten Tür strahlte die Glut der Esse. Erkmann hatte ein Stück Eisen, das noch rot glühte, in der Zange und hämmerte eifrig darauf los. Jons stand nicht weit davon am Schraubstock und feilte. Ein listiges Lächeln flog über sein Gesicht, als der Meister das Eisen, das kalt und dunkel geworden war, wieder in die Glut schob.

„Du hast recht, das Eisen muß man schmieden, solange es heiß ist. Weshalb tust du nicht danach?“ fragte er mit scharfer Betonung.

„Was hast du nun schon wieder, was soll ich denn tun?“

„Du sollst zu Erdmute gehn und mit ihr den Vertrag abschließen, solange sie noch heiß ist.“

Er hatte litauisch gesprochen und für das Wort „heiß“ einen Ausdruck angewendet, der gleichzeitig auch die Liebessehnsucht bei Mensch und Tier bezeichnet. Als Erkmann schwieg, fügte er auf deutsch hinzu: „Wer schrevt, der blevt“.

Erkmann zog noch ein paarmal den Blasebalg, ehe er antwortete: „Bei Erdmute gilt: ein Mann ein Wort.“

Der Alte grinste. „Ich habe noch nicht gewußt, daß Erdmute ein Mann ist. Nein, Gott sei Dank, sie ist ein Weib, ein schönes, forsches Weib. Donnerwetter, wie sie gestern hier vorbeigeritten kam, das freut noch so einen alten Knaben wie mich, so was zu sehen. Glaubst du wirklich, daß sie nichts weiter will, als dich von der Muckerei bekehren? Allerdings, du hast recht, einen Muckerpfaff kann sie nicht heiraten, deshalb muß sie dich zuerst bekehren.“

Der Schmied zog wieder das glühende Eisen aus der Glut und hämmerte darauf los. Erst als er es in den Eimer Wasser gesteckt hatte, wo es zischend seine Glut als weißen Dampf entweichen ließ, gab er zur Antwort: „Du bist nicht recht bei Trost, Jons. Die hat schon so manchen Freier abgewiesen, junge, forsche und reiche Männer, und die sollte sich auf einen armen Handwerker verleckern?“

„Wo die Liebe hinfällt, da fällt sie“, erwiderte der Alte lachend. „Und wenn der Herr Kurat erst den Muckerpfaff an den Nagel gehängt hat und ein Fabrikbesitzer oder ein Gutsbesitzer geworden ist, dann kann er wohl seine Hand nach einer Erdmute Endrulat ausstrecken.“

Mit einer Handbewegung versuchte Erkmann, den Gedanken von sich abzuwehren. „Du bist ein Versucher, hebe dich weg von mir.“

Jons lachte. „Fällt mir gar nicht ein. Ich bleibe hier und werde dir das so lange vorpredigen, bis du es glaubst und Mut kriegst. Mensch, Erkmann, hast du denn gar keinen Ehrgeiz? Ich weiß, daß du ein absonderlicher Mensch bist. Du siehst kein Weib an; ich glaube, du hast noch keinem Mädel einen Kuß gegeben. Brauchst nicht rot zu werden, ich glaube es dir ja, aber heiraten mußt du doch einmal. Du willst doch nicht als Einspänner durch die Welt laufen, das tut nicht gut, das kann ich dir am besten sagen. Man nimmt auch nicht die erste beste, die einem in den Weg läuft, sondern man sucht sich ein Weib, das Kleingeld hat, und wenn es dann noch so forsch und hübsch ist wie Erdmute, dann greift man mit beiden Händen zu.“

Erkmann zuckte die Achseln. „Gib dir keine Mühe, Alter, aber du hast recht, ich kann ja bei Endrulats ansprechen und anfragen.“

„Ach so, du willst weggehn?“

„Ja, eine dringende Arbeit liegt ja nicht vor. Du kannst noch ein paar Hufeisen schmieden. Ich muß zum Amtsvorsteher, eine Versammlung in Augstutschen anmelden, ich muß wieder mal sprechen, ich muß mir was von der Seele reden.“

Der Alte lächelte pfiffig. „Hat die Medizin schon gewirkt, die Erdmute dir eingegeben hat?“

„Das ist keine Medizin, das ist Gift“, erwiderte Erkmann heftig. „Aber es hat mir nichts geschadet, Gott sei Dank.“

„Weshalb hast du denn überhaupt die Bücher gelesen?“

„Das war meine Pflicht. Ein Glaube, der keine Prüfung besteht, ist nichts wert.“

„Was stand denn so Schlimmes in den Büchern drin?“

„Denke dir, ein Professor schreibt: Die Menschen haben Gott gemacht. Sie haben sich ein Bild gemacht und mit allen höchsten Eigenschaften ausgestattet und dann haben sie sich vor ihm niedergeworfen und haben gesagt: Das ist unser Gott.“

„Du, Erkmann, das läßt sich hören. Woher sollen wir denn wissen, daß es einen Gott gibt, wir können ihn nicht sehen, nicht hören.“

„Jawohl, das können wir“, fiel Erkmann energisch ein. „Wir sehen ihn täglich in seinen Werken, in der ganzen Natur, wir hören ihn im Rauschen des Waldes, im Brausen des Windes.“ Er hob wie beschwörend die Hand. In Eifer geratend fuhr er fort: „Sieh die Sterne an, die Millionen Welten, das kann nur ein Schöpfer hervorbringen, dessen Kraft und Macht und Herrlichkeit so überwältigend groß ist, daß wir sie uns gar nicht vorstellen können. Aber wir haben noch bessere Zeugnisse. Wir haben die Heilige Schrift, in der er sich selbst uns offenbart hat. Da kommt ein anderer Professor her und beweist, daß alles, was auf der Erde lebt und webt, aus der Urzelle entstanden ist. Gut, der Mann soll recht haben, das wäre auch groß und wunderbar, aber ich frage ihn: 'Herr Professor, haben Sie diese Urzelle geschaffen?' Nein! wird er sagen. Also muß eine Macht vorhanden sein, die auch die Urzelle geschaffen hat, denn aus nichts wird nichts, jedes Ding, jedes Wesen hat seine Ursache.“

Jons neigte nachdenklich den Kopf. „Wär' es nicht richtiger zu sagen: 'Wir wissen nicht, wie das alles entstanden ist? Wir werden das auch nie erkennen und begreifen.' Du sagst: ein höchstes Wesen, das wir als Gott verehren müssen, hat das alles geschaffen. Andere sagen: die Kraft ist schon immer dagewesen, die steckte in jedem Keim.“

„Gut, die soll in jedem Keim stecken, aber wer hat sie in den Keim hineingelegt? Da habe ich dich schon wieder, und du vergißt ganz, daß Gott sich uns in der Heiligen Schrift offenbart hat. Wir wissen von ihm selbst durch seinen Heiligen Geist, daß er Himmel und Erde und alles, was darin ist, geschaffen hat.“

„Merkwürdig, daß er das bloß den Juden vor Tausenden von Jahren nach Erschaffung der Welt gesagt hat.“

„Lästere nicht, Jons, uns steht kein Urteil darüber zu, was Gott in seiner Weisheit zu beschließen für gut befindet.“

Der Alte hob abwehrend die Hand. „Reg' dich nicht auf und glaub', was du willst, ich kann dich daran nicht hindern. Aber mich laß ungeschoren. Ich weiß jetzt, daß es auch noch andere Leute, kluge, gelehrte Männer gibt, die derselben Meinung sind wie ich, die an keinen Gott glauben, der sich um uns arme, geplagte Menschen kümmert.“

Er wandte sich ab und trat an seinen Schraubstock. Während er ein Stück Eisen aufnahm und von allen Seiten betrachtete, warf er leichten Tones die Frage hin: „Hast auch in dem anderen Buch gelesen, daß es wahrscheinlich gar keinen Jesus gegeben hat?“

In Erkmanns Gesicht stieg eine starke Röte auf. „Hast du auch das Gift in dich eingesogen? Es ist eine Schande, daß so was gedruckt werden darf.“

„Das sehe ich nicht ein. Es hat mir viel Spaß gemacht, zu lesen, daß die Menschen vier Jahrhunderte hindurch nicht gewußt haben, daß Jesus Christus Gottes Sohn ist. Selbst seine Jünger haben das nicht gewußt. Das muß doch wahr sein, denn das soll in der Weltgeschichte stehen, daß die eine Partei, die den Menschensohn zum Gottessohn machen wollte, nur deshalb Recht bekommen hat, weil der Kaiser sich auf ihre Seite stellte. Nun frag' ich dich, wieso haben das nicht schon seine Jünger gewußt und gelehrt, daß nicht ein edler Mensch...“

Mit geballten Fäusten war der Meister auf ihn zugetreten. Tief aufatmend blieb er vor Jons stehen. Die Hände sanken herab. Ein Ausdruck des Mitleids trat auf sein Gesicht, während der Alte ihn aus halb zugekniffenen Augen mit spöttischer Miene musterte.

„Es ist nicht recht, daß ich zornig werde. Ich trauere um dich, Jons, aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß du auch den Weg zu Gott suchen und einen gütigen, milden Richter in ihm finden wirst.“

„Wer sagt dir, daß ich den Weg nicht gegangen und... Nein, deinen gütigen Gott habe ich nicht gefunden, sondern eine grause, gefühllose Macht, die den Menschen zertritt wie einen Wurm. Tag und Nacht habe ich auf dem Krankenlager zu ihm gerufen, er möchte mir doch Kraft und Gesundheit erhalten und wiedergeben. Jawohl, als Krüppel kam ich `raus, siech und elend habe ich mich in die Heimat zurück durchgebettelt. Mein Herz schrie nach dem Mädel, das mir Treue geschworen hatte, als ich in die Welt ging, um für uns beide zu arbeiten. Jawohl, sie wollte von dem Krüppel nichts mehr wissen, sie nahm einen anderen. Soll ich dir noch mehr erzählen? Von meiner Kindheit? Ich war ein fröhliches Kind von zehn Jahren. Da wurde ich ungewollt Zeuge, wie mein Vater seinen Nebenbuhler erschlug. Mit meinem Mund lieferte ich ihn dem Gericht aus. Seitdem wurde mir das Elternhaus zur Hölle, und als erst der Vater aus dem Gefängnis zurückkam, da hat er mich geschlagen, daß ich tagelang wie ein Hund in meiner Kammer lag. Bei Nacht und Nebel bin ich ausgerückt und bin fortgegangen, solange mich meine Füße trugen. Ist das ein gütiger Gott, der einem unschuldigen Kind solch ein Schicksal auf den Rücken legt?“

Unwillkürlich war Erkmann zu dem Alten getreten und hatte ihm seinen Arm um die Schultern gelegt. „Gott hat dir Schweres auferlegt, er wird dir im Himmel alles vergelten, denn dein Herz ist gut geblieben, er wird dein Herz mit süßem Trost füllen, wenn du gläubig zu ihm aufblickst.“

Mit einer unmutigen Bewegung machte der Alte sich von ihm los. „Das kann ich nicht, ich glaube nicht an deinen Gott, ich tue als Mensch meine Pflicht und Schuldigkeit und... Nun laß mich, ich muß so verbraucht werden, wie ich bin, du wirst mich nicht mehr umkrempeln.“

Er spannte das Eisen in den Schraubstock und machte mit der Feile ein Getöse, als wolle er damit jede weitere Unterhaltung abschneiden. Kopfschüttelnd ging Erkmann aus der Schmiede. Da kam ihm auf der Straße ein sonderbares Paar entgegen, ein Mann in schmutziger Kleidung, als wenn er eben erst aus dem Straßengraben aufgestanden wäre, das Haar verwildert, der Gang schwankend. Eine Frau zerrte ihn am Ärmel. „Komm man mit, du versoffener Kerl.“

„Ich komme ja. Meinst, ich fürcht' mich vor deinem Muckerpfaff?“

Erkmann war vor ihnen stehengeblieben. „Was wollt ihr? Habt ihr euch gezankt? Dann geht zum Pfarrer.“

Der Mann richtete sich auf. „Ich gehe nicht zum Pfarrer.“

Die Frau hatte währenddessen nach Kurats Hand gehascht, um sie zu küssen. Er zog sie unwillig zurück. „Laßt das, Agusche, das leid' ich nicht. Hat's wieder Streit zwischen euch gegeben?“

„Ja, Herr Kurat,“ erwiderte das Weib weinerlich, „daran ist bei uns kein Mangel. Aber was zu toll ist, ist zu toll.“

„Das sag' ich auch“, fiel der Mann ein. „So ein Schandmaul.“

Erkmann schnitt ihm das Wort ab. „Ruhig, Sinnhuber, lassen Sie erst Ihre Frau reden, nachher kommen Sie an die Reihe. Also was hat's bei euch gegeben, Agusche?“

„Ach Gott, Herr Kurat, ich halt's nicht mehr länger mit ihm aus. Am Sonnabend hat er wieder seinen ganzen Lohn versoffen. Mir hat schon so was geahnt den ganzen Tag. Ich wär' auch wohl auf den Hof gegangen, ihn abzuholen, wenn der kleine Junge nicht krank gewesen wär'. Wie er um zehn noch nicht zu Hause ist, laufe ich in meiner Herzensangst nach dem Krug. Ja, prost Mahlzeit, mit den Giwerlaukern ist er mitgezottelt. Und wissen Sie, wann er nach Hause gekommen ist? Nachts zwei Uhr und steif wie ein Knüppel! Wenn er hätt' reden können, hätt' er mit mir noch Skandal angefangen. Ich revidier' ihm nachher, wie er eingeschlafen ist, die Taschen... Nicht einen Pfennig hat er nach Hause gebracht, und ich habe auf das bißchen Geld gewartet, wie auf den lieben Herrgott. Wir haben kein Brot im Hause, nicht soviel, wie Schwarzes unter dem Nagel... kein Salz, keinen Speck. Trockene Kartoffeln ohne Salz haben die Kinder zum Frühstück gekriegt. Nachher bin ich zur Frau Miltaler gegangen, die hat mir `n Taler geborgt.“

„Du Saufsack, du,“ schrie Erkmann den Mann an, „so sorgst du für Frau und Kinder?“

„Ach Gott, Herr Kurat,“ fuhr die Frau fort, „das ist noch nicht alles. Am Sonntag nachmittag hat er den kleinen Jungen ausgefragt, wo ich das Geld verwahrt habe. Zwölf Dittchen hatt' ich übrigbehalten, damit hat er sich weggeschlichen. Heute morgen ist er nach Hause gekommen, wie ein Schwein, im Chausseegraben hat er gelegen.“

„Sinnhuber, das schreit zum Himmel“, fuhr Erkmann den Mann an.

„Es kommt noch besser“, rief die Frau erregt dazwischen und riß ihr buntes Kopftuch ab. „So hat er mich zugerichtet. Den ältesten Jungen, der sich vor mich gestellt hat, den hat er an die Ofenbank geschmissen, daß ich dacht', er bricht ihm alle Knochen im Leibe.“

„O weh, o weh, Sinnhuber, das geht nicht länger so mit euch, das habe ich dir nicht zugetraut.“

Der Mann hatte sich inzwischen auf die Deichsel eines vor der Schmiede stehenden Wagens gesetzt und den Kopf gesenkt. Jetzt hob er ihn langsam empor. „Wenn ich nüchtern gewesen wär', hätt' ich's nicht getan. Aber weshalb besauf' ich mich? Weil ich's mit dem Weib nicht mehr aushalt'! Habe ich nicht früher die Ohren angekniffen, wenn ich mir einen angedudelt hatte? Aber was hilft's? Sie gibt ja keinen Frieden. Tagaus, tagein schimpft das und tauscht das, daß man Gott dankt, wenn man das nicht hört. Schließlich gewöhnt man sich auch daran, aber er stand auf und sah drohend Kurat an, „seitdem sie zu Ihnen in die Betstunde geht, ist ganz der Deuwel los, und das sag' ich: wenn's nicht anders wird, dann nimmt's kein gutes Ende zwischen uns.“

Er drehte sich um und wollte gehen. Erkmann faßte ihn am Ärmel. „Sinnhuber, möcht' Ihr nicht hören, was ich Euch und Eurer Frau sagen will?“

„Na, darauf bin ich neugierig“, erwiderte der Mann trotzig.

„Also zunächst: Ihr wollt mir die Schuld zuschieben, daß Ihr Euch besaust... sehr bequem! Aber das nehme ich nicht an, und wenn Ihr Euer Wort nicht zurücknehmt, dann sollt Ihr sehen, was daraus folgt.“

„Na, was denn? Sie können mir...“

„Dann wird Eure Frau Euch beim Landratsamt als unverbesserlichen Trunkenbold anzeigen. Dann kommt Ihr auf die schwarze Liste, so daß niemand Euch noch einen einzigen Schnaps verkaufen darf.“

„Das tue ich, Herr Kurat, das tue ich, so wahr mir Gott helfe“, fiel die Frau ein.

„Das möcht' dir so passen“, erwiderte Sinnhuber höhnisch. „Meint Ihr, ich kann mir nicht durch irgendwen soviel Schnaps nach Hause holen lassen, wie ich will?“

„Dann müßte ich Ihrer Frau noch was anderes anraten“, fuhr Erkmann fort. „Es fällt mir schwer, es auszusprechen. Aber was nicht geht, das geht nicht. Es ist besser, daß Ihr allein hinter dem Zaun krepiert, als daß Eure ganze Familie zugrunde geht. Agusche, gehen Sie noch heute zum Pfarrer wegen des Sühneversuchs. Aber nein, das hat keinen Zweck mehr. Ich werde Euch gleich die Scheidungsklage schreiben. Er läßt Euch ohne Brot, mißhandelt Frau und Kinder in der Betrunkenheit... ich denke, das wird genügen.“

Mit erhobener Stimme fuhr er fort: „Was aus Euch wird, Sinnhuber, ist mir gleich. Weint nicht, Frau, das ist er nicht wert. Und den Kindern ist es besser, keinen Vater zu haben, als einen, der sie in der Betrunkenheit blutig schlägt.“

Der Mann schien seinen Trotz eingebüßt zu haben. Er nahm die Mütze ab und kraute sich hinter dem Ohr. „Das wollen Sie wirklich tun, Herr Kurat?“

„Sinnhuber, Ihr seid doch sonst ein ganz vernünftiger Mensch, wenn Euch der Fusel nicht unterkriegt“, sagte jetzt Erkmann mit warmer Stimme. „Ist Euch denn der verdammte Schnaps lieber als Eure Frau und Eure Kinder? Denkt Ihr nicht daran, daß sie hungern müssen, wenn Ihr den Wochenlohn versauft?“

„Ja, Herr Kurat, wenn ich allein daran schuld wär'.“

„Ach Gott, reden Sie ihm doch gut zu“, fiel die Frau weinerlich ein. „Vielleicht wird er doch noch anders.“

„Sinnhuber, hören Sie, Ihre Frau will es noch einmal mit Ihnen versuchen.“

„Ja, ja, Herr Kurat, wenn sie nicht immer ihr Maul aufreißen möcht'.“ Seine Stimme schlug auch ins Weinerliche über. „Bin ich denn so `n schlechter Kerl? Weshalb geh' ich denn in die Kneipe? Weil ich mal Ruhe haben will, und wenn ich erst einen unter der Mütze sitzen habe...“

Mit strenger Miene wandte sich Erkmann jetzt zu der Frau. „Agusche, jetzt mit dir ein Wörtchen. Hast du gehört, was er sagt? Du treibst ihn aus dem Hause mit deiner bösen Zunge. Hast du das bei mir gelernt? Habe ich euch Weibern nicht hundertmal gesagt, ihr sollt Nachsicht haben mit euren Männern? Mit Liebe und Freundlichkeit sollt ihr euren Mann aufnehmen, selbst, wenn er mal auf Abwege gerät. Er soll gern nach Hause kommen. Er soll sich freuen darauf, nicht sich fürchten vor der bösen Zunge seiner Frau. Was sollen denn die Kinder von ihren Eltern denken?“

In den Augen des Mannes war es aufgeleuchtet. „Ich danke Ihnen, Herr Kurat, das haben Sie gut gesagt.“

„Also, Agusche, willst du deine Zunge im Zaum halten?“

Die Frau hatte die Hände gefaltet und wie bittend zu Kurat erhoben. „Ach Gott, wenn's bloß helfen möcht', dann will ich den Mund nicht auftun.“

„Sinnhuber, haben Sie es gehört? Wollen Sie das Trinken lassen?“

„Ja, Herr Kurat. Wenn sie Frieden gibt im Hause, dann rühr' ich keinen Tropfen mehr an.“

Erkmann streckte ihm seine Hand hin. „Schlagen Sie ein, Sinnhuber, ein Mann, ein Wort! Und du, Agusche, dir sag' ich: wenn Sinnhuber jetzt kommt und klagt, daß du nicht den Mund hältst, dann trägst du die Schuld vor Gott und den Menschen.“

„Ja, ich weiß, Herr Kurat.“ Mit Tränen in den Augen reichte sie ihrem Manne die Hand. „Sinnhuber, wollen wir wieder gut miteinander leben?“

„Wenn du willst, ich will schon.“

„Na, dann geht mit Gott, Kinder“, sagte Kurat warm. „Vergeßt nicht, was ihr mir in die Hand gelobt habt. Und du, Agusche, kannst ihm ab und zu ein paar Flaschen Bier aus dem Krug holen. Meinetwegen auch ein Bummchen Schnaps, wenn's nicht anders geht.“

9. Kapitel

Unter Dankesworten hatte sich das Ehepaar verabschiedet. Die Frau schien aber noch etwas auf dem Herzen zu haben, denn nach wenigen Schritten kehrte sie um und kam zurück. Jons, der von der Tür der Schmiede aus alles mit angesehen und gehört hatte, lachte, weil er schon wußte, was noch kommen würde. Und er hatte richtig geraten. Die Frau druckste ein wenig, als wenn ihr die Worte nicht über die sonst so flinke Zunge wollten. Dann sagte sie schüchtern: „Ich wollte man fragen, Herr Kurat, ist das richtig mit dem Schnaps? Soll ich ihm wirklich `nen Bummchen holen?“

„Das ist bloß die Einleitung“, dachte Jons vergnügt schmunzelnd. „Die Hauptsache kommt nach.“

„Ja, das habe ich gesagt. Agusche“, erwiderte Erkmann ruhig. „Er wird um so lieber nach Hause kommen, wenn er weiß, daß er einen Schluck vorfindet, nachher können wir ihm auch das noch abgewöhnen.“

„Mein Gott, ja, Herr Kurat, das möchte ich ja gern tun, aber Sie wissen doch, daß ich keinen Pfennig Geld unter der Seel' habe. Vielleicht könnten Sie mir wo zehn Mark borgen...“

Erkmann stand in peinlicher Verlegenheit. Mechanisch fuhr die Hand nach der Hosentasche, obwohl er wußte, daß sein ganzer Geldvorrat in einem Taler bestand. Da kam Jons schnell von der Schmiede her angehumpelt. „Agusche, das ist zuviel verlangt. Erst muß der Meister zwischen euch Frieden stiften und dann soll er euch auch noch Geld borgen. Das tragen unsere Hufen nicht. Er hat schon so viel verborgt und kriegt nichts wieder.“

„Ich könnte jeden Sonnabend zwei Mark abstoßen“, erwiderte die Frau kleinmütig.

„Ich werde dir einen guten Rat geben“, fuhr Jons mit listigem Augenzwinkern fort. „Du gehst jetzt gleich zur Erdmute Endrulat, bestellst ihr einen schönen Gruß vom Meister: er läßt sie bitten, dir mit zehn Gulden auszuhelfen.“

Schweigend hatte Erkmann sich abgewandt. Aber als die Frau mit nochmaligem Dank sich entfernt hatte, fuhr er Jons an. „Wie kommst du dazu, dich einzumischen? Das ist ja gerade so, als wenn ich sie anpumpen will.“

Jons lachte laut auf. „Das nu gerade nicht, aber wir schlagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Wie ich die Erdmute kenne, wird sie der Agusche die zehn Gulden nicht borgen, sondern schenken, und dabei wird sie sich daran erinnern, daß du auch Geld brauchst, und daß sie versprochen hat, dich aus der Bredulge zu ziehen.“

„Du glaubst doch nicht, daß ich von ihr einen Pfennig Geld annehmen werde?“ erwiderte Erkmann heftig.

Kopfschüttelnd sah Jons ihn an. „Mit dir könnt' man Wände einrennen. Ich wundere mich bloß, daß dein Schädel das noch immer aushält. Ihr wollt doch zusammengehen, `ne Schmiede aufbauen und Maschinen anschaffen. Da geht man doch zu seinem Partner hin und bespricht sich. Jetzt, wo die Arbeit noch nicht so dringend ist, hättest du Zeit, nach Königsberg zu fahren und dich umzusehen. Die Zeit verläuft rasch. Nachher, wenn der Herbst `rankommt, sitzen wir auf dem Pfropfen.“

„Ja, ja, du hast recht, aber...“

„Du hast keine Courage, oder dir steckt was anderes im Kopf. Na, mach', was du willst. Ich werde ja irgendwo einen Unterschlupf finden, wenn die Geschichte hier zu Ende ist.“

Schweigend wandte Erkmann sich ab und ging ins Haus. „Es ist ein Jammer mit dem Menschen“, brummte Jons, während er in die Schmiede zurückhumpelte. „Für seine Muckerei, da geht er durch Speck und Dreck, und wenn er ein bißchen was für sich tun soll, dann ist er so zach wie eine Jungfer von sechzehn Jahren. Wenn ihm bloß nicht die andere im Kopp steckt. Dann adieu, Fido! Dann rührt die Erdmute keinen Finger, sowie sie was merkt. Na laß ihn. Vielleicht kommt er zur Vernunft, wenn der Miltaler ihn `rausschmeißt.“

Erkmann hatte zum Gang ins Dorf seinen besten Anzug angelegt. „Als wenn er zur Freit geht“, brummte Jons, der ihn aus dem Hause gehen sah. Daran dachte Erkmann nun gerade nicht, aber er hatte die frohe Hoffnung, Madeline zu sehen und vielleicht auch zu sprechen. Der Amtsvorsteher war heute morgen an der Schmiede vorbeigefahren. Er war also nicht zu Hause. Madeline war schon wieder aufgestanden. Sie machte schon kleine Gänge über die Straße. Sie saß am Fenster im Lehnstuhl und las. Der Doktor hatte ihr ein paar lustige Bücher gebracht, die sie anregen und erheitern sollten. Aber sie hatte keinen Sinn für Lustigkeit. Die schweren Stunden, die sie durchlebt hatte, hatten sie ernst, beinahe schwermütig gemacht.

Als Erkmann in die Tür trat, stand sie auf und streckte ihm beide Hände entgegen.

„Erkmann, ich dachte schon, Sie wollten überhaupt nicht mehr zu uns kommen. Sie müssen mich für undankbar halten, aber ich konnte noch nicht zu Ihnen kommen. Ich kann mich noch nicht an den Gedanken gewöhnen, über den Fluß zu fahren. Nun lassen Sie mich Ihnen sagen.“

Erstaunt sah Erkmann Madeline an. Wie hatte sie sich verändert! Das prachtvolle lange Haar war verschwunden, ihr Kopf war mit kurzen, krausen Haaren bedeckt, die dem Gesicht einen neuen Reiz verliehen. Und die Augen, die sonst so lustig, ja übermütig in die Welt geblickt hatten, waren ernst geworden. Mit einem Gefühl, das ihm beinahe die Sprache verschlug, nahm er ihre Hand. „Sie haben mir nichts zu danken, Fräulein Madeline, ich war nur das Werkzeug in der Hand Gottes. Ihm allein gebührt Ihr Dank.“

„Nein, Erkmann, ich weiß, daß Sie Ihr Leben daran gesetzt haben, mich zu retten, nicht einmal, sondern zweimal. Und Ihrer Mutter und Jons habe ich auch zu danken. Sobald ich mich überwinden kann, über den Fluß zu fahren, komme ich zu Ihnen. Inzwischen grüßen Sie Ihre Mutter und Jons herzlich von mir. Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir und erzählen Sie. Ich habe erst jetzt erfahren, daß Ihrem Mütterchen das Augenlicht knapp wird. Können Sie nicht ein Mädchen zur Hilfe annehmen?“

Erkmann nickte. „Ja, das wär' wohl nötig. Aber mein Verdienst ist gering. Wir müssen uns schon so behelfen, bis es besser geht.“

„Das wird hoffentlich nicht zu lange dauern, wenn Sie mit Erdmute die Fabrik aufmachen. Ich halte das für einen sehr guten Gedanken, wenn die Besitzer nicht erst nach Tilsit oder Königsberg zu fahren brauchen, um eine Maschine oder ein Ackergerät zu kaufen.“

„Ja, ich weiß nicht, ob noch was daraus werden wird. Fräulein Erdmute hat noch nichts weiter von sich hören lassen.“

„Da brauchen Sie keine Angst zu haben“, erwiderte Madeline lebhaft. „Erdmute hält Wort, wenn sie was verspricht. Aber Sie müssen zu ihr gehen und sich mit ihr besprechen.“

„Ich fürchte, Sie wird dabei eine Bedingung stellen, die ich nicht erfüllen kann.“

„Ach, Sie meinen wegen Ihres Predigens? Das glaube ich nicht.“

Erkmann zuckte die Achseln. „Sie hat schon mit mir darüber gesprochen. Sie hat mir auch Bücher geschickt, die mich bekehren sollten, zum... Unglauben...“

Mit deutlicher Spannung sah Madeline ihm ins Gesicht. „Na und?“

Er schüttelte den Kopf. „Die Bücher haben mich meinem Glauben nicht abspenstig gemacht.“

„Das ist schon, das ist recht von Ihnen, Erkmann. Werden Sie Ihrer großen Aufgabe nicht untreu. Ich habe schon lange das Bedürfnis, Gott für meine Rettung zu danken, aber ich kann nicht über den Fluß zur Kirche. Können Sie nicht auf dieser Seite eine Betversammlung abhalten? Dann möchte ich dazu hinkommen.“

Eine jähe Freude trieb Erkmann das Blut vom Herzen zum Kopf. „Das wollen Sie tun, Fräulein Madeline? Zu mir wollen Sie kommen, zum Muckerpfaff?“

Sie reichte ihm die Hand. „Ja, Erkmann, das will ich tun. Ich habe bisher gedankenlos in den Tag hineingelebt. Ich bin zwar öfter zur Kirche gegangen, weil es so Sitte ist. Aber jetzt hat Gott mich gerufen, hat mir allein das Leben geschenkt, mir allein von so vielen...“

In stummer Freude hielt Erkmann ihre Hand. Das hatte er in seinen kühnsten Träumen nie zu hoffen gewagt. Die Tochter des Amtsvorstehers wollte zu ihm kommen, sich zu seiner Gemeinde halten? Aber was würde ihr Vater dazu sagen?

Madeline hatte ihm den Gedanken vom Gesicht abgelesen. „Mein Vater ist nicht fromm in Ihrem Sinn. Er wird mir aber nichts in den Weg legen, wenn ich Gott danken und loben will. Dazu hat er mich viel zu lieb. Sprechen Sie nur mit Erdmute. Vielleicht gibt sie Ihnen den Saal zur Versammlung, vielleicht noch in dieser Woche. Dann kann er nichts dagegen haben, wenn ich hinkomme. Wenn nicht, dann können Sie vielleicht anderswo eine Versammlung abhalten?“

„Morgen spreche ich in Augstutschen, ich wollte die Versammlung anmelden.“

„Gehen Sie hin, ich will das auf meine Kappe nehmen.“

Sie nahm ihm das Papier aus der Hand und bescheinigte die Anmeldung durch einen Stempel. „So, und nun gehen Sie gleich zu Erdmute, bestellen Sie ihr einen Gruß von mir. Sie würde mir damit einen Gefallen erweisen.“

Wie im Traum ging Erkmann die Dorfstraße entlang. Jetzt gab es kein Besinnen, kein Zagen mehr, jetzt mußte er zu Erdmute gehen. Aus dem Vorgarten, wo sie Gemüse geweedet hatte, kam ihm Agusche entgegen. „Ach, Herr Kurat, ich muß Ihnen nochmal danken. Das war mal schön, daß Sie mich zu Fräulein Erdmute schickten. Nein, wie hat sie sich gefreut, daß ich ihr den Gruß von Ihnen brachte. Und Geld hat sie mir auf der Stelle gegeben, nicht zehn, sondern zwanzig Mark, und nicht geborgt, nein geschenkt. Nun kriegt der Sinnhuber heute abend, wenn er von der Arbeit kommt, sein Bummchen.“

Eine Zuversicht war über Erkmann gekommen... Nach wenigen Minuten schlug sie in das Gegenteil um. Wenn das wahr war, was Jons angedeutet hatte, wenn Erdmute wirklich die Absicht hatte, ihn für sich zu gewinnen? Dann mußte er ihr reinen Wein einschenken, daß er nicht gewillt war, sich von ihr einfangen zu lassen. Weil... sein Herz nicht mehr frei war. Eine selige Hoffnung keimte in ihm auf. Wie hatte Madeline ihn angesehen... so lieb... so freundlich... so vertrauensvoll. Zu ihm wollte sie kommen, ihn predigen hören, mit ihm zu Gott beten...

Das mußte er Erdmute sagen, selbst auf die Gefahr hin, daß sie von ihrem Anerbieten zurücktrat.

Als er über den Hof auf das Gutsgebäude zuschritt, kam ihm Erdmute aus dem Hausgarten entgegen, im einfachen Hauskleid, einen großen Strohhut auf dem Kopf, in der linken Hand ein Bündel Gemüse. „Na, Sie ungetreuer Seladon, lassen Sie sich auch mal bei uns blicken? Ich dachte schon, Sie wollen von unserm Kompaniegeschäft nichts mehr wissen.“

„Ich wollte gerade heute mit Ihnen sprechen, Fräulein Erdmute. Ich habe jetzt Zeit, nach Königsberg zu fahren, wenn es Ihnen recht wäre.“

„Aber selbstverständlich! Treten Sie näher. Darf ich Ihnen was anbieten? Nicht? Na, dann nehmen Sie Platz und sprechen Sie. Wäre es nicht besser, wenn wir uns direkt an die Fabriken selbst wenden würden?“

„In Königsberg sind ja zwei große Fabriken und mündlich erledigt sich so was viel schneller und besser.“

„Abgemacht. Sie fahren morgen nach Königsberg und kaufen ein, was Sie für gut halten. Das Reisegeld wird Ihnen unsere Kasse noch heute zuschicken. Das geht auf Geschäftsunkosten.“

„Morgen kann ich noch nicht, ich habe morgen abend in Augstutschen eine Versammlung“, erwiderte Erkmann etwas betreten.

„Ach so, aber nachher müssen Sie als Fabrikdirektor diesen Frömmigkeitsbetrieb doch wohl etwas einschränken. Am besten wäre es, wenn Sie ihn ganz aufstecken wollten.“

„Das kann ich nicht, Fräulein Erdmute“, erwiderte er fest. „Wenn das eine Bedingung sein soll, dann müßte ich von unserm Vertrag zurücktreten.“

„Nur nicht so hitzig“, meinte Erdmute lachend. „Sie wollen gleich wieder das Kind mit dem Bade ausschütten. Lassen Sie uns mal ganz ruhig darüber sprechen. Es ist doch ganz sicher, daß in erster Linie Ihre Leute bei uns Arbeit suchen und finden werden.“

„Sicher, und wir werden treue, fleißige und nüchterne Arbeiter bekommen.“

„Das weiß ich, lieber Kurat, aber dann wird es doch eine mißliche Sache, wenn Sie abends mit den Leuten singen und beten, denen Sie am Tage als Herr zu befehlen haben.“

„Im Gegenteil, Fräulein Erdmute“, widersprach Erkmann eifrig, „ich habe sie dann um so fester in der Hand und sie werden mir stets freudig gehorchen.“

Das Mädel neigte den Kopf. „Das läßt sich hören. Die Sache ist also erledigt. Haben Sie die Bücher gelesen, die ich Ihnen geschickt habe?“

Erkmann lächelte. „Ja, Fräulein, aber sie haben ihren Zweck verfehlt. Sie wollten mich durch die Bücher bekehren. Das ist Ihnen nicht gelungen. Sie haben nicht den geringsten Zweifel in mir aufsteigen lassen. Im Gegenteil, sie haben mich nur noch fester gemacht.“

Lachend erwiderte Erdmute: „Ihr Glauben wäre nicht einen Pfifferling wert gewesen, wenn er von den paar Büchern wie ein Kartenhaus zusammengestürzt wäre. Das war auch nicht der Zweck der Übung. Ich wollte bloß Ihren Blick erweitern. Sie sollten erfahren, daß diese großen, schweren Fragen, an denen sich die Menschheit schon seit Jahrtausenden die Zähne ausbeißt, auch von einer anderen Seite betrachtet werden können. Sie müssen noch mehr lesen. Ihre Tätigkeit ist einseitig, lieber Kurat, wie ich Ihnen schon einmal gesagt habe. Sie vergessen, daß das Leben hier auf der Erde auch Ziel und Zweck hat und daß man, wenn man sich um die Armen und Ärmsten kümmert, auch für die Verbesserung ihrer Lage etwas tun muß. Wenn es nach mir geht, werden wir unsere Arbeiter so stellen, daß sie bei vernünftiger Lebensweise keine Not zu leiden brauchen.“

„Damit bin ich sehr einverstanden, Fräulein Erdmute“, erwiderte Erkmann lebhaft. „Und ich bin der letzte, der es ihnen nicht gönnt. Aber das wird uns Feindschaft eintragen.“

„Die wollen wir gern in den Kauf nehmen. Also Sie fahren dann übermorgen. Die Rechnungen lassen Sie an mich schicken.“

„Wollen wir nicht erst einen Vertrag abschließen?“

„Einen Vertrag? Ist das nötig, mein Freund? Auch der schönste Vertrag kann gebrochen werden, wenn einer ein Hundsfott ist. Und das wollen wir doch von uns beiden nicht annehmen. Ich denke mir den Vertrag so: ich gebe das Kapital. Sie bekommen ein Gehalt als Geschäftsleiter von... na sagen wir mal vorläufig dreihundert Mark monatlich. Werden Sie damit auskommen?“

„Aber, Fräulein Erdmute, das ist ja mehr, als ich verlangen kann.“

„Also abgemacht. Den Geschäftsgewinn teilen wir bei Jahresschluß zu gleichen Teilen.“

„Und wenn wir nicht soviel verdienen, wie ich Gehalt bekomme?“

„Dann gehen wir mit Mut und Gottvertrauen ins nächste Jahr hinein. Haben Sie keine Furcht. Mein Geldbeutel hält das schon aus. Haben Sie noch was auf dem Herzen?“ fragte sie, als Kurat zögernd nach seiner Mütze griff und verlegen stehenblieb.

„Ja, Fräulein Erdmute, ich wollte noch wegen der Versammlung bei Ihnen sprechen.“

Das Mädel lachte. „Versteifen Sie sich noch darauf? Ich dachte, Sie hätten den Plan aufgegeben?“

„Nein, es wäre sehr gut, wenn die Menschen sehen, daß wir auch in dieser Beziehung einig sind.“

„Hm, das muß ich erst mal mit Abrys besprechen, ich möchte das doch nicht ohne seine Einwilligung tun.“

„Fräulein Madeline läßt Sie auch darum bitten.“

Mit dem Ausdruck grenzenlosen Erstaunens sah Erdmute ihn an. „Madeline? Was hat die damit zu tun?“

„Sie will zu Gott beten und ihm für ihre Rettung danken. Und da sie noch nicht über das Wasser zur Kirche gehen kann, will sie es in einer Andacht meiner Gemeinde tun.“

„Das kann sie auch im stillen Kämmerchen tun, wie es in der Bibel heißt“, erwiderte Erdmute mit deutlicher Schärfe im Ton.

„Jawohl, und das wird sie Wohl auch schon getan haben. Sie sucht aber Gelegenheit, Gott zu loben und zu preisen und sich an frommen Gedanken zu erbauen, und dazu halten wir Christen unsere Andachten ab.“

Sie reichte ihm die Hand zum Abschied. „Wir wollen heute nicht darüber streiten, lieber Freund. Ihnen wäre es ja sehr erwünscht, wenn die Tochter des Amtsvorstehers Ihre Andachten besuchen würde, aber ob Onkel Miltaler dazu seine Einwilligung geben wird, ist mir doch sehr zweifelhaft. Ich will mal auf den Busch klopfen. Wenn Sie aus Königsberg zurückkommen, werde ich Ihnen schon Bescheid geben können.“

„Ich danke Ihnen aus bewegtem Herzen, Fräulein Erdmute. Sie verpflichten mich zu großem Dank.“

„Nur keine großen Worte, lieber Kurat. Ich habe noch nichts fest zugesagt.“

10. Kapitel

Als die Tür sich hinter Kurat geschlossen hatte, stand Erdmute auf und strich sich mit den Händen über die Schläfen. „Das fehlte noch, daß mir das kleine dumme Ding in die Quere kommt!“ meinte sie nachdenklich. „Es wird schon so sein, wie ich meine. Den Sack schlägt sie und den Esel meint sie. Für den Abrys hat sie nichts übrig. Sie ist mit ihm gut Freund, aber weiter auch nichts. Jetzt ist ihr die romantische Geschichte mit ihrem Lebensretter zu Kopf gestiegen. Und Erkmann? Den schmeichelt es doch, wenn die Tochter des Amtsvorstehers zu ihm beten kommt.“

Sie nahm ihr Körbchen mit der Handarbeit und ging durch den Garten hinüber zu Miltalers. Madeline saß noch im Stuhl am Fenster. Sie nickte ihr zu und ließ sich ihr gegenüber nieder. „Sag' mal, Puppchen, ist das wahr? Willst du wirklich unter die Mucker gehen?“

Überrascht sah Madeline auf. Eine feine Röte war ihr ins Gesicht gestiegen. „Woher weißt du das?“

„Kurat war eben bei mir und hat es mir erzählt. Heut' abend weiß es das ganze Dorf.“

Mit einer Handbewegung wies Madeline diesen Gedanken zurück. „Er hat es dir gesagt, weil ich ihn damit beauftragt hatte. Wie ich ihn zu kennen glaube, wird er zu keinem Menschen darüber sprechen.“

„Aber Linchen, das geht doch nicht, daß du dich unter die Losweiber und Dienstmädchen hinsetzt!“

Madeline sah sie groß an. „Vor Gott und dem Tod sind wir alle gleich“, erwiderte sie ernst. „In der Kirche sitzen wir auch alle durcheinander.“

„Mein Gott, ja. Aber dies ist sozusagen eine Privatgesellschaft.“

„Du willst ihn doch in deinem Hause predigen lassen.“

Erdmute zuckte die Achseln. „Das hat er von mir verlangt, und ich habe es ihm nicht rundweg abgeschlagen, um ihn nicht zu kränken. Es ist doch auch etwas anderes, wenn ich ihm für eine Versammlung den Raum gewähre oder selbst mich unter seine Gemeinde mische. Ich mochte bloß wissen, wie du auf den Gedanken gekommen bist.“

„Ich will ihn einmal predigen hören und mich im Gebet erbauen. Ich fühle das Bedürfnis dazu.“

„Das glaube ich dir, Linchen, aber was wird Abrys dazu sagen?“

„Wir sind doch nicht verlobt“, erwiderte Madeline scharf. „Ich weiß bis jetzt bloß durch die Eltern, daß er mich lieb hat und sich auf meine Hand Hoffnung macht.“

„Das ist doch schon genug, um auf ihn ein bißchen Rücksicht zu nehmen.“

Madeline schüttelte den Kopf. „Nein, selbst wenn ich schon mit ihm verlobt wäre, würde ich es tun.“

„Du, Linchen, das ist eine zweischneidige Sache. Abrys wird denken, daß du dich für deinen Lebensretter interessierst. Daß du bloß hingehen willst, um zu beten, wird er nicht glauben.“

Jetzt errötete Madeline stark, und ihre Stimme klang ein wenig unsicher. „Wenn ich ganz offen sein soll: ja, er interessiert mich. Er muß doch ein nicht ganz gewöhnlicher Mensch sein, wenn er das fertig kriegt, daß so viele Menschen mit Liebe und Vertrauen an ihm hängen und ihm blindlings ergeben sind.“

Erdmute nickte eifrig. In ihren Augen blitzte es auf. „Das ist er ohne Zweifel. Er wirkt durch seinen tiefen Glauben. Er muß wohl auch gut sprechen. Ich hätte fast Lust, ihm die Versammlung in meinem Hause zu gestatten, bloß um ihn predigen zu hören.“

Schnell streckte Madeline ihr die Hand entgegen. „Ach ja, Mütchen, tu das. Dann fällt es nicht auf, wenn ich auch hinkomme.“ Ein schelmischer Zug spielte um ihren Mund. „Wirst ihm dazu auch ein neues Hemd schenken?“

Erdmute lachte laut auf. „Wenn es durchaus nötig sein sollte, weshalb nicht?“

„Du mußt es aber selbst nähen und ihm selbst anziehen, sonst wirkt es nicht.“

Lachend wehrte Erdmute mit beiden Händen ab. „Das ist zuviel verlangt.“

Auch Madeline lachte. „Die Sache hört sich gefährlicher an als sie ist. Unsere Dore hat es mir erzählt. Er legt vor der Versammlung seinen schwarzen Rock ab und streift das Hemd, das wie ein Talar bis zur Erde reichen muß, über, gewissermaßen als Zeichen der Reinheit.“

„Die Ausgabe würde ich schon riskieren.“

„Bei dir ist es aber etwas anderes, Erdmute“, fuhr Madeline ernster fort. „Wenn eine ledige Litauerin einem jungen Mann ein Hemd schenkt, dann ist das so gut wie eine Verlobung.“

„Ich weiß nichts davon, aber wenn du es sagst, wird es wohl wahr sein. Na, dann muß Erkmann bei mir auf das Hemd verzichten.“

Um Madelines Lippen spielte wieder ein Schelm. „Aber weshalb, Mütchen? Das ist doch die beste Gelegenheit, den entscheidenden Schritt zu tun.“

„Wie meinst du das?“ fuhr Erdmute auf. „Soll das eine Bosheit sein?“

Madeline schüttelte den Kopf. „Nein, Erdmute, ich will mich nicht in deine Geheimnisse drangen. Aber im Dorf wird, wie mir unsere Dore erzählt hat, schon darüber gesprochen, daß du den Erkmann lieb hast.“

Erdmute hatte eine eisige Miene aufgesetzt. „Davor ist niemand sicher, daß die Klatschmäuler über einen herfallen, wenn man was Gutes tut.“

„Offen gesagt, Mütchen, ich habe das auch angenommen und meine Eltern auch. Du willst doch sein Kompagnon werden und ihm eine Fabrik bauen.“

„Das tue ich nur, um ihn nicht an dem Haß und Neid der Bauern zugrunde gehen zu lassen. Das verdient er nicht.“

„Nein, das verdient er wirklich nicht“, erwiderte Madeline lebhaft. „Aber man schließt doch daraus, daß du dich für ihn interessierst,“ schelmisch lächelnd fügte sie hinzu, „ebenso wie ich.“

„Selbstverständlich“, gab Erdmute mit tiefer Stimme zurück, „interessiere ich mich für den Mann. Ich habe ihn beobachtet von dem ersten Tage an, wo er hierher zurückkam. Er ist ein Idealist von reinstem Wasser, selbstlos bis zur Unklugheit.“

Mit einem Aufleuchten in den Augen hatte Madeline dazu genickt. „Ja, so beurteile ich ihn auch. Aber was wissen wir sonst noch von ihm? So gut wie gar nichts. Deshalb möchte ich ihn näher kennenlernen.“

Sie wurde rot und beugte sich schnell über ihre Handarbeit. Erdmute betrachtete sie mit spöttischer Miene. Sie wußte genug. Das war bei Madeline keine keimende Neigung mehr, das war Liebe, die sie zu dem gewagten Schritt trieb, seine Versammlung zu besuchen. Genau dasselbe dachte in diesem Augenblick Madeline von Erdmute. „Sie liebt ihn schon lange. Das Zusammentreffen der beiden nach meiner Rettung hat bloß den Anstoß dazu gegeben, ihm näherzutreten.“ Und so wenig war Madeline sich ihrer Neigung bewußt, daß sie sich darüber freute.

Erdmute war in anderer Stimmung. In ihr bohrte und gärte es. Der Backfisch da ihr gegenüber hatte ihr mit lächelndem Munde Bosheiten gesagt. Das wollte sie heimzahlen, denn sie blieb, wie sie manchmal von sich zu sagen pflegte, keinem Menschen etwas schuldig, weder im Guten, noch im Bösen. Sie hatte auch schon den Pfeil in der Hand, den sie abschießen wollte.

„Sag' mal, Linchen,“ begann sie nach eurer Weile, von ihrer Handarbeit aufsehend, „was war das eigentlich für eine Frau, die damals im Winter so plötzlich `reingeschneit kam?“

Madeline sah einen Augenblick fragend zu ihr auf, bis ihr die Erinnerung kam. „Ach so, du meinst die Frau Kruk? Ich weiß auch nichts weiter, als daß sie früher in unserem Hause gedient hat. Sie war auf der Fahrt zu Verwandten, um sich ein Kind zu holen, das sie als ihr eigenes annehmen wollte.“

Erdmute schüttelte den Kopf, als wenn ihr die Antwort nicht genügte. „Sie benahm sich so merkwürdig zu mir. Ich war doch gerade bei euch, als sie ankam. Deine Mutter ging `raus, den Vater zu wecken. Da trat sie an mich heran, sah mich so eigentümlich an und fragte mit zitternder Stimme: 'Bist du Madeline?' Die Frage kam mir so komisch vor, daß ich an mich halten mußte, um nicht laut aufzulachen.“

„Das wäre nicht nett von dir gewesen. Die Frau hatte eben ihr letztes Kind, ein Mädchen, verloren.“

„Das weiß ich alles. Mir fiel nur auf, daß solche Erregung und zugleich auch solche Freude in den paar Worten lag, als wenn...“

„Darüber brauchst dich nicht zu wundern. Sie hat mich doch ein Jahr genährt und ein Jahr auf ihren Armen getragen. Es soll sehr oft vorkommen, daß eine Amme ihr Nährkind ebenso liebgewinnt wie ihr eigenes.“

Erdmute nickte. „Ja, das wird es sein. Ich hatte in dem Augenblick die Empfindung, als wenn die Madeline, nach der sie fragte, ihr eigenes Kind sein müßte.“

Madeline war vor Ärger rot geworden. „Ich verstehe dich sehr gut und weiß, was du mit deinen Worten bezweckst. Du willst mir andeuten, daß ich nicht das Kind meiner Eltern bin.“

„Das wär' doch kein Unglück“, erwiderte Erdmute in gleichgültigem Ton. „Ich glaube nicht, daß Abrys sich daran stoßen würde. Wir Litauer pflegen allerdings Wert darauf zu legen, daß in der Familie alles klar und sauber ist. Reg' dich nicht auf, Linchen, es war ja bloß eine Vermutung von mir. Der Taufschein muß das ja klipp und klar ausweisen.“

Sie erhob sich. „Du bist noch furchtbar nervös, Linchen, man kann wirklich mit dir kein vernünftiges Wort sprechen.“

Madeline erwiderte nichts. Sie hatte sich über ihre Arbeit gebeugt. Die Tränen perlten aus ihren Augen und fielen auf die Stickerei. Achselzuckend ging Erdmute davon. Ob ihre Vermutung sich als richtig herausstellte oder nicht, war ihr im Grunde genommen gleichgültig. Aber sie hatte ihren Zweck erreicht und Vergeltung geübt für die Bosheit, die der Backfisch ihr angetan hatte. Solch ein junges dummes Ding wagte ihr mit verblümten Worten anzudeuten, daß sie, Erdmute Endrulat, sich einen Mann kaufen wollte! Und dabei war das dumme Mädel selbst bis über die Ohren in Kurat verliebt und verstand es nicht mal zu verbergen. Eine Nebenbuhlerin? Sie warf höhnisch die Lippen auf und zuckte die Achseln. Das würden ihr die Eltern schon abgewöhnen, sobald sie nur das geringste merkten. Sie selbst war frei und selbständig und konnte tun und lassen, was sie wollte. Was die Welt von ihr sprach, war ihr gleichgültig.

Im Garten traf sie die alte Dore, die beim Kartoffelhacken war. Ein Gedanke fuhr ihr durch den Kopf. Durch die Alte, die mit Miltalers aus Masuren gekommen war, konnte sie sich Gewißheit verschaffen. „Komm mal, ich werde dir was für die Frau mitgeben.“

Gehorsam stand die Alte auf und ging hinter ihr her. Plötzlich blieb Erdmute stehen. „Ist das wahr, müssen Miltalers der Frau Kruk die Madeline zurückgeben?“

Fassungslos starrte die Alte zu Erdmute empor. Dann hob sie wie beschwörend die Hände. „Ach Gott, Erdmutchen, woher wissen Sie das?“

„Reg' dich nicht auf, Dore“, erwiderte Erdmute begütigend. „Da ist ja weiter nichts Schlimmes dabei. Ich habe bloß gedacht, daß die Mutter ihr Kind wiederhaben will.“

„Das möchte sie wohl, aber das gibt's nicht. Die Herrschaften haben es doch als eigenes angenommen. Ich kriegte auch erst einen Schreck, wie ich sie reden hörte und ihre Stimme erkannte.“

„Du hast also gehorcht.“

„Mein Gott, ja, Fräuleinchen, man hat doch auch `n Herz. Aber der Herr Miltaler sagte gleich: nein, Lowisa, das gibt es nicht. Madeline bleibt bei uns. Du hast dich so lange nicht um sie gekümmert. Da gab sie klein bei und fuhr auch gleich wieder ab. Unser Linchen weiß gar nichts. Sie soll es auch nicht erfahren, Erdmute. Sie werden ihr doch auch nichts sagen?“

„Mich geht ja die Sache nichts an“, erwiderte Erdmute achselzuckend. „Ich begreife bloß nicht, weshalb Miltalers daraus ein Hehl gemacht haben. Das kommt über kurz oder lang doch mal `raus. Ich nehme bloß den Fall an, daß Madeline in der Kirche aufgeboten wird.“

„Na, da weiß ich nicht Bescheid damit, Fräulein“, erwiderte die Alte. „Aber was der Bräutigam ist“, ein pfiffiges Lächeln spielte über ihr Gesicht, „der wird sich doch nicht daran stoßen, wenn er sie man recht lieb hat.“ Madeline war in großer Aufregung zurückgeblieben. Sie glaubte nicht an die Möglichkeit, die Erdmute ausgesprochen hatte. Das war doch nur ein Stich gewesen, der sie kränken und ärgern sollte. Aber der Pfeil, den Erdmute abgeschossen hatte, besaß Widerhaken. Die blieben haften und schmerzten. Wenn ihr geliebtes, gutes Mütterchen wirklich nicht ihre Mutter war, sondern die fremde Person... Erdmute hatte recht. Sie war so merkwürdig gewesen und auch die Eltern. Damals hatte sie sich mit der Erklärung begnügt, die ihr die Eltern gaben. Jetzt fing sie an, darüber zu grübeln. Weshalb sollten ihr die Eltern das verheimlicht haben? Sicherlich würden sie spätestens bei ihrer Einsegnung die Wahrheit gesagt haben, und sie würde sie dann bloß noch lieber gehabt haben. Nein, das konnte nicht wahr sein.

Sie hatte ihre Tränen getrocknet und sich über ihre Arbeit gebeugt, als die Mutter eintrat. Sie brachte ein belegtes Brötchen und ein Ei. „Nun leg' mal die Arbeit weg und komm essen.“

„Ach, Muttchen,“ erwiderte Madeline, ohne aufzublicken, „ich habe gar keinen Appetit.“

„Das schadet nichts, du mußt dich zum Essen zwingen. hat der Doktor gesagt.“ Sie sah schärfer hin. „Mein Gott, Linchen, was ist dir? Hast du dich über etwas aufgeregt? Du hast ja Tränen in den Augen.“

„Ach nichts. Mütterchen“, wehrte Madeline ab, „das sind Stimmungen, die bloß von meinen Nerven herrühren.“

Die Stimme versagte ihr. Unaufhaltsam rannen ihre Tränen. Mit ein paar Schritten war Frau Enute bei ihr und nahm sie an die Brust. „Kindchen, Linchen, was ist dir? Sag' mir doch! Du hast dich über etwas aufgeregt.“ Sie fühlte, wie Madeline bebte. „Hast du denn kein Vertrauen zu mir? Weshalb sprichst du nicht?“

„Ach Gott, Muttchen, mir wird das so schwer, ich traue mich nicht, zu fragen.“

„Aber Kind, was soll ich davon denken?“ erwiderte Frau Enute ratlos. „Hast du einen Wunsch? Wir wollen ihn dir gern erfüllen.“

Madeline richtete sich auf. „Wirst mir auch die Wahrheit sagen, wenn ich dich was frage?“

„Aber Linchen, sei doch nicht so komisch, das ist doch selbstverständlich.“

„Nun denn, Muttchen, bin ich... deine richtige Tochter... oder nicht?“

Mit ihren großen Augen, aus denen die Angst sprach, sah Madeline zu ihr auf. Frau Enute erschrak heftig. Wer konnte in ihr die Zweifel erregt haben? Oder hatte sie es aus sich selbst? Und wie kam sie darauf?

„Wie kommst du darauf, mein Kind, so was zu fragen? Ich begreife dich nicht. Haben wir dir schon jemals Ursache gegeben, daran zu zweifeln?“

„Die Menschen vermuten es, daß ich Euer Pflegekind bin, und sie haben es mir gesagt.“

„Die Menschen? Wer ist das gewesen? Das wirst du mir sagen. Denen wird der Vater auf den Kopf steigen.“

„Also ist es nicht wahr?“ fiel Madeline mit freudiger Stimme ein. In demselben Augenblick las sie in den angstvollen Augen ihrer Mutter die Wahrheit. „Weshalb habt ihr mir das verheimlicht?“ sagte sie noch leise mit einem deutlichen Vorwurf in der Stimme. Dann schwand ihr das Bewußtsein.

Als sie erwachte, lag sie auf dem Sofa, ein nasses Tuch auf der Stirn. Frau Enute saß neben ihr und hielt ihre Hand. Sie hörte ihren Vater im Zimmer auf und ab wandern. Sie fühlte nichts als einen dumpfen Schmerz in der Brust. Langsam ordnete sie ihre Gedanken. Leise erwiderte sie den Druck der Mutterhand.

„Muttchen,“ wisperte sie, „ich habe dich ebenso lieb... nein, ich habe dich noch viel lieber als früher, auch dich, Vater. Ich habe euch ja viel mehr zu danken, als wenn ihr meine rechten Eltern wäret.“

Frau Enute beugte sich über sie. „Ja, mein Kind, das glauben wir. Lieg' nur ganz still und reg' dich nicht wieder auf. Am besten, du legst dich zu Bett und versuchst zu schlafen. Du bist ja unser liebes Kind. Du bleibst bei uns... kein Mensch kann dich uns nehmen.“

„Ich muß bloß daran denken, daß meine richtige Mutter so traurig ist, sie hat nun gar kein Kindchen mehr, und ich bin hier bei euch.“

Mit einem Gesicht, aus dem die Angst alles Blut vertrieben hatte, wandte sich Frau Enute ihrem Mann zu, der an den Tisch getreten war, um zu hören, was Madeline sprach. In ihren Augen lag eine bange Frage.

„Das ist schön, daß du dich so um deine Mutter sorgst. Nicht wahr, Miltaler, wir wollen ihr eine große Freude bereiten? Sowie Linchen kräftig genug ist, fahren wir zu ihr und besuchen sie. Aber dann mußt du auch vernünftig sein und alles tun, damit du bald wieder zu Kräften kommst. Komm, leg' dich hin, ich bringe dir das Essen ans Bett.“

„Aber Frau, wie kannst du bloß solch einen Vorschlag machen?“ fragte Miltaler vorwurfsvoll, als Frau Enute nach einer Weile zurückkehrte.

„Es ist das beste, was wir tun können, Miltaler. Es ist doch nur natürlich, daß in Madeline sich das Mitleid mit der Frau regt, die sie so tief unglücklich und traurig gesehen hat. Das kann sich leicht zu einer großen Sehnsucht auswachsen. Wenn wir hinfahren, sieht sie den Unterschied der Verhältnisse. Glaubst du, daß sie sich in dem ländlichen Dorfkrug wohlfühlen wird? Nein, davor habe ich keine Furcht. Sie wird nicht daran denken, dort zu bleiben. Selbst wenn wir sie ein paar Wochen dort lassen müssen, wird sie von selbst zu uns zurückkommen.“

„Vorläufig ist an die Fahrt nicht zu denken, ehe sie nicht wieder ganz frisch und gesund ist.“

„Sie wird keine Ruhe haben, Miltaler.“

„Na, dann laß sie schreiben. Ich werde jetzt gleich mal zu Abrys gehen und mit ihm ein vernünftiges Wort sprechen.“

„Mit der Erdmute auch, die hat das Unheil angerichtet.“

11. Kapitel

Erdmute war eben dabei, den Tisch zum Schweinevesper zu decken, als Miltaler eintrat. Sie streckte ihm die Hand entgegen. „Du hast einen guten Riecher, Onkel. Ich habe `ne Spickgans aus der Rauchkammer `runtergeholt.“

„Ich bin durchaus nicht abgeneigt, einen guten Happen zu essen. Aber erst muß ich dir den Kopf waschen. Sag' mal, Kind, weshalb beunruhigst du unser Mädel?“

„Lieber Onkel, ich habe mir doch nicht denken können, daß sie das nicht schon lange wissen sollte. Ich verstehe gar nicht, wie ihr so was verheimlichen könnt.“

„Wir haben es doch mal getan und wir haben unsere Gründe dazu. Nun hast du uns Madeline ganz verstört. Ihre Nerven vertragen das noch nicht.“

Erdmute zuckte die Achseln. „Das tut mir sehr leid. Wenn ich das hätte ahnen können, hätte ich den Mund gehalten. Ich dachte, was Gutes zu tun, denn ich wollt' ihr sagen, daß wir uns daran nicht stoßen. Dem Abrys hättet ihr es doch sagen müssen.“

„Selbstverständlich hätten wir das getan.“

„Eigentlich hättet ihr es doch tun müssen, als Abrys euch sagte, daß er Madeline lieb hat.“

Miltaler nickte. „Ja, mein Kind, du hast recht. Ich habe nicht daran gedacht.“

„Na, dann nimm inzwischen Platz, ich werde den Abrys holen.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit ihrem Bruder zurückkam. Abrys ging auf Miltaler zu, gab ihm die Hand und sagte mit tiefem Atemholen: „Onkel, ihr hättet es mir ruhig sagen können. Ich stoße mich nicht daran. Es wäre mir bloß lieb, wenn die Sache beim Aufgebot nicht vor der ganzen Gemeinde bekannt wird. Aber ich denke, das wird sich machen lassen. Wenn wir mit dem Pastor sprechen, verkündet er einfach Madeline als eure Pflegetochter.“

„Aber wie wird es auf dem Aushang beim Standesbeamten?“ warf Erdmute ein.

„Das laß meine Sorge sein“, erwiderte Miltaler. „Das Gitter vor dem Kasten ist so dicht und der Kasten hängt so hoch, daß kein Mensch meine kleine Schrift lesen kann. Und ihr werdet hoffentlich nicht darüber sprechen. Auch du nicht, Erdmute.“

„Das ist doch selbstverständlich, Onkel.“

Miltaler gab sich damit zufrieden. Er hatte der Auseinandersetzung doch mit einiger Besorgnis entgegengesehen und war froh, daß sie so glatt verlaufen war. Deshalb gab er sich zufrieden und forschte nicht danach, auf welche Weise Erdmute in den Besitz des Geheimnisses geraten war.

Abrys mußte gleich nach dem Essen zu einer Sitzung des Gemeinderates gehen, in der über den geplanten Bau einer festen Brücke beraten werden sollte. Der Gemeindevorsteher hatte ein Schreiben vom Landrat bekommen, worin das Dorf aufgefordert wurde, einen Betrag zu den Kosten beizusteuern. Er las das Schreiben den Vertretern der Gemeinde vor und bat, sich dazu zu äußern.

Nach alter Sitte nahm Abrys Endrulat als größter Grundbesitzer zuerst das Wort. Er hob hervor, daß der Bau einer festen Brücke über den Scheschupp eine Lebensfrage für die Gemeinde wäre und daß man deshalb einen Beitrag zu den Kosten bewilligen müsse. Während er sprach, sah er, daß der Schulze bereits dagegen gearbeitet hatte. Die paar Bauern, die bei solchen Anlässen das Wort zu ergreifen pflegten, schüttelten mißbilligend den Kopf.

„Wir sind anderer Meinung“, nahm der Schulze das Wort. „Wir sind bis jetzt ganz gut mit der Fähre ausgekommen und solch ein Unglück, wie dies Jahr mit der Fähre, kommt alle tausend Jahr mal vor. Selbstverständlich haben wir nichts dagegen, wenn die Regierung die Brücke bauen will, aber daß wir dafür einen Teil der Kosten übernehmen, halte ich für unbillig.“

„Das kann ich nicht finden,“ erwiderte Abrys, „wir haben fast alle auf jener Seite ein Stück Feld. Das bekommt doppelten Wert, wenn wir zur Bestellung und zur Ernte auf einer festen Brücke hin und her fahren können.“

„Da muß ich dir doch widersprechen“, warf der Besitzer Raudonat ein. „Die paar Tage zur Bestellung bleiben die Pferde drüben und das Getreide setzen wir in Stoggen, bis wir es im Winter `rüberholen können; ich bin dagegen, daß wir einen Beitrag bewilligen.“

Während der nächste Redner sich in demselben Sinne aussprach, lief Abrys über die Straße zu Miltaler. „Onkel, du mußt gleich mit mir zur Gemeinderatssitzung kommen. Da ist der Deuwel los. Der Berger hat die Bauern angestiftet, den Beitrag zum Brückenbau zu verweigern.“

Miltaler pflegte sich um die Gemeindeangelegenheiten nur so weit zu kümmern, als es ihm sein Amt gebot. In diesem Fall mußte er aber eine Ausnahme machen, um einen Beschluß, den er für dumm und schädlich hielt, zu verhindern. Als die beiden in die Tür traten, ließ der Schulze bereits abstimmen. Es war ihm sichtlich unangenehm, daß der Amtsvorsteher, vor dem sie alle einen großen Respekt hatten, erschien. „Lieber Berger, Sie dürfen die Sache nicht so übers Knie brechen. An dem Beschluß der Gemeinde hängt viel mehr, als Sie annehmen. Ich muß euch dazu ein paar Worte sagen, Herrschaften. Wir verlangen von der Provinz eine Chaussee und vom Staat eine Bahn. Glaubt ihr, daß wir beides bekommen, wenn wir uns beim Brückenbau so kleinlich zeigen?“

„Der Kreis baut die Chaussee, und die kann nicht an dem großen Kirchdorf vorbeigeführt werden, auch die Bahn nicht“, erwiderte der Gemeindevorsteher.

„Das gebe ich zu. Aber eine Hand wäscht die andere. Wenn wir uns beim Brückenbau kleinlich zeigen, dann kann das mit dem Bau der Bahn noch zehn Jahre dauern. Ich halte es für klüger, wenn wir jetzt mit der Wurst nach dem Schinken werfen. Was der Brückenbau für das Dorf bedeutet, scheint ihr nicht zu wissen. Auf dieser Seite kann nicht mehr gebaut werden, das Dorf kann nicht noch länger werden, aber drüben, da habt ihr alle… er nannte schnell ein halbes Dutzend Namen von anwesenden Gemeindevertretern, „Land, das bebaut werden kann. Und wenn wir die Chaussee und die Bahn bekommen, dann kriegen wir großen Zuzug. Überlegt euch das. Ja, noch eins: glaubt ihr, daß der Landrat euch das hingehen lassen wird, wenn ihr euch jetzt bockbeinig zeigt? Er kann euch die Hölle heiß machen, daß ihr die Engel im Himmel werdet singen hören. So, nun redet ihr.“

Einer der Bauern, der sonst nicht zu den Rednern gehörte, stand auf, kratzte sich hinter dem Ohr im Haar und stammelte: „Ich wär' jetzt für die Bewilligung.“

„Ich auch, ich auch“, riefen ein paar Stimmen, und Miltaler wendete sich zum Gemeindevorsteher. „So, lieber Berger, jetzt können Sie abstimmen lassen.“

Die Abstimmung ergab, daß nur der Schulze mit seinem engsten Anhang gegen die Bewilligung war. Er rief Miltaler der sich schon zum Gehen anschickte, nach: „Wir wollten noch über die Schmiede und den Muckerpfaff sprechen. Wenn Sie das auch interessiert, Herr Amtsvorsteher.“

„Selbstverständlich. Was habt ihr denn zu besprechen?“

„Wir haben da manches auf dem Herzen, Herr Miltaler. Sie verbieten dem Kurat jetzt keine Versammlung mehr, seitdem er Ihre Tochter aus dem Wasser gezogen hat.“

„Das geht Sie einen Quarg an, Berger“, erwiderte Miltaler. „Was ich tue, habe ich allein zu verantworten und werde es vor dem Herrn Landrat verantworten. Ich darf solch eine Gebetsversammlung nur verbieten, wenn polizeiliche Gründe der öffentlichen Sicherheit vorhanden sind.“

„Eben deswegen wollen wir den Muckerpfaff `raus haben aus unserm Dorf. Er soll uns wenigstens hier nicht die Leute aufsässig machen.“

„Das tut er nicht“, warf Abrys ein. „Wir müßten ihm eher noch dankbar sein, daß er die Leute zu ordentlichen, nüchternen Menschen macht. Erst jetzt wieder den Sinnhuber. Der Mensch ist wie umgewandelt, nüchtern und fleißig.“

„Bis er wieder zu saufen anfängt“, rief Raudonat dazwischen. „Aber die Kerle und vor allem die Weiber werden immer obstinatscher. Da gebe ich einem Lorbas von Knecht eins hinter die Löffel, was er reichlich verdient hatte. Was tut der Bengel? Er ladet mich zum Sühneversuch vor den Muckerpfaff, und als ich nicht hingehe, verklagt er mich und ich muß dreißig Gulden Strafe und die Kosten bezahlen.“

„Das Prügeln der Leute werdet ihr euch wohl abgewöhnen müssen“, fiel Miltaler ein. „Dafür habt ihr willige, tüchtige Arbeiter.“

„Ja, und wenn wir einen schief ansehen, dann packt er sich auf und geht nach Westfalen“, meinte der Schulze. „Ich habe allen meinen Leuten den Lohn erhöhen müssen.“

„Das liegt in der Zeit, Berger,“ erwiderte Miltaler, „die Leute wissen, daß sie im Westen bei der Industrie mehr verdienen. Da müßt ihr schon in den sauren Apfel beißen und sie so stellen, daß sie euch nicht weggehn.“

„Ach, was redet ihr solange davon“, rief Raudonat dazwischen. „Wir wollen den Muckerpfaff `raus haben. Anstatt unsere Arbeit zu machen, hält der Kerl Versammlungen ab. Bei dir, Abrys, soll ja nächstens auch eine stattfinden.“

„Das ist das erste, was ich höre“, erwiderte Abrys verblüfft.

„Hat dir deine Schwester noch nichts davon gesagt? Sie hat ihn sich ja eingeladen. Ich meine, wenn sie den Muckerpfaff durchaus heiraten will, braucht sie sich nicht erst was von ihm vorpredigen zu lassen.“

Abrys stand auf. Die Adern auf der Stirn waren dick geworden. „Laß meine Schwester aus dem Spiel, Raudonat, sonst schmeiß' ich dich aus dem Fenster, daß du die Knochen brichst.“

Eine peinliche Stille entstand. Raudonat duckte sich. Sie kannten ihn alle, den Abrys Endrulat. Wenn ihn etwas aus der Ruhe brachte, dann war mit ihm nicht gut Kirschen essen. „Ich sag' doch bloß, was alle Leute sagen“, brummte Raudonat.

„Dann werde ich allen Leuten das Maul stopfen“, erwiderte Abrys. Miltaler faßte ihn am Ärmel und zog ihn auf seinen Stuhl zurück. „Reg' dich nicht auf, mein Junge.“

„Ein bißchen geht das auch Sie an, Herr Amtsvorsteher“, meinte der Schulze hämisch. „Die Mutter erzählen ja schon überall `rum, daß Ihre Tochter zur nächsten Betversammlung gehen wird, und daß die Erdmute Endrulat bloß deswegen die Versammlung in ihrem Haus erlauben will.“

„Darüber werde ich doch wohl noch etwas zu bestimmen haben“, erwiderte Miltaler ärgerlich. „Sie könnten auch was Besseres tun, Berger, als solch dummes Gerede weiterzutragen.“

„Wo Rauch ist, da ist auch Feuer“, gab Berger zur Antwort. „Etwas muß doch daran sein, denn die Mucker werden sich so etwas nicht aus den Fingern saugen. Es wird noch viel mehr geredet, was ich nicht nachsprechen will. Aber eins muß ich doch zur Sprache bringen. Es heißt, daß die Erdmute dem Kurat eine große Schmiede bauen und eine Fabrik einrichten will, dann sind wir mit unserer Schmiede ganz aufgeschmissen, dann kriegen wir keinen Schmied hierher und müssen in der schlimmsten Zeit, wenn täglich Ausbesserungen nötig sind, mit unseren Sachen über Land fahren.“

„Das wär' euch nicht mehr als recht und billig“, fiel Abrys ein. „Den ganzen Winter setzt ihr ihn auf den Pfropfen und bringt alle eure Arbeit nach der Stadt. Nachher im Sommer, dann kommt ihr alle zu ihm, daß er Tag und Nacht arbeiten müßte, um euch zu befriedigen. Natürlich bedient er denjenigen zuerst, der immer bei ihm arbeiten läßt.“

„Das ist nun ganz egal. Wir müssen zusehen, daß wir in diesem Sommer nicht in die schlimmste Verlegenheit kommen. Ich schlage vor, wir stellen ihm die Bedingung, daß er das Predigen aufgibt, und wenn er das nicht tut, setzen wir ihn beizeiten `raus, damit wir noch einen tüchtigen Schmied ins Dorf bekommen.“

„Ich gebe euch den guten Rat, das nicht zu tun“, rief Miltaler dazwischen, während drei, vier Bauern laut dem Vorschlag des Schulzen zustimmten. „Eine Schmiede ist in acht bis vierzehn Tagen aufgebaut, und wie ich mein Mündel, die Erdmute, kenne, läßt sie gleich morgen mit dem Bau anfangen. Ihr geht wie die Bullen aufs rote Tuch auf den Kurat los. Ich weiß, daß ihr ihm Unrecht tut, aber mit euch ist ja heute nicht zu reden. Nachher, wenn ihr in der Patsche sitzt, werdet ihr zu mir kommen. Aber dann bin ich nicht zu sprechen. Komm, Abrys.“

Die Stimmung unter den zurückbleibenden Gemeindevertretern war sehr geteilt, als Miltaler sich mit Abrys entfernt hatte. In manchen waren doch Bedenken aufgestiegen, ob es angebracht wäre, gegen den Muckerpfaff so scharf vorzugehen. Nach einer hitzigen Auseinandersetzung löste sich die Versammlung auf, ohne den von dem Gemeindevorsteher vorgeschlagenen Beschluß gegen Kurat gefaßt zu haben.

„Das ist ja eine Rasselbande“, meinte Miltaler grimmig, als sie auf die Straße traten. „Dieser Raudonat.“

„Der ist nur eine Puppe, die der Berger tanzen läßt“, erwiderte Abrys. „Aber wenn ich das der Erdmute erzähle, dann läßt sie ihn bei der nächsten Gelegenheit über die Klinge springen. Sie hat die letzte Hypothek auf seinem Grundstück und er ist ein sehr säumiger Zinsenzahler.“

„Glaubst du wirklich, Abrys, daß die Erdmute den Kurat heiraten will?“

Abrys zuckte die Achseln. „Wer kann das wissen, Onkelchen? Sie ist ja unberechenbar. Vielleicht unternimmt sie die ganze Geschichte mit dem Kurat bloß, um den Bauern einen Possen zu spielen, vielleicht aber will sie ihn auch heiraten.“

„Wie stellst du dich denn zu dieser Möglichkeit?“

„Ach, Onkel, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Mir wär' ja jeder andere als Schwager lieber, aber wenn sie es will und tut, dann sag' ich: In Gottes Namen. Je eher sie aus dem Hause geht, desto besser.“

„Gegen den Erkmann als Menschen ist ja nichts einzuwenden, er ist doch ein hochanständiger Kerl. Und wenn sie sich mit seiner Muckerei abfindet...“

„Das ist es ja eben, was ich nicht begreife“, erwiderte Abrys. „Die Erdmute glaubt doch an gar nichts, die ist seit Jahr und Tag nicht zur Kirche gegangen. Ich glaube, sie hofft, ihm die Muckerei abgewöhnen zu können.“

„Das beste wär's“, erwiderte Miltaler lachend. „Schlau genug hat sie's angefangen. Wenn der Kurat erst Fabrikbesitzer ist... Noch eine Frage, Abrys. Wie stellst du dich dazu, wenn Erdmute ihm euer Haus zu einer Betversammlung geben will? Soll ich eingreifen und die Versammlung verbieten?“

„Lieber nicht, Onkel. Sie hat dasselbe Anrecht auf das Haus wie ich. Und ich möchte jetzt jedem Streit mit ihr aus dem Wege gehen.“

„Na, dann nicht, mein lieber Junge. Ich halte es auch für das Vernünftigste, ihr darin nachzugeben.“

„Aber der Madeline wirst du doch nicht erlauben, in die Versammlung zu gehen?“

„Ja so, das hatte ich ganz vergessen. Das halte ich ganz für ausgeschlossen, daß Linchen auch nur den Wunsch hat.“

„Sag' das nicht, Onkel, sie ist jetzt immer in einer so merkwürdigen Stimmung. Das Unglück hat doch mächtig auf sie eingewirkt. Ich möchte fast glauben, daß sie wirklich zu den Muckern gehen will. Sie sagte mir neulich, sie möchte sehr gern wieder mal zur Kirche gehen, aber sie kann nicht über den Fluß. Der Gedanke, schon wieder über dasselbe Wasser zu fahren, regt sie auf.“

„Ach so, du meinst, deshalb will sie zu den Muckern beten gehen? Na, sei mal ganz ruhig. Sobald es geht, schicke ich sie mit der Mutter nach Masuren, zu... zu ihrer richtigen Mutter. Die Erdmute muß mit ihrer Betversammlung so lange warten, bis sie weg ist.“

„Hältst du das für gut, sie dahin zu schicken, Onkel?“

„Ja, mein Junge, sie wird gern wieder zurückkommen, wenn sie dort die Verhältnisse eingesehen hat. Und wenn ich dir einen guten Rat geben darf, dann komm heut' abend zu uns und sag' der Madeline ein paar freundliche Worte, etwa, daß du dich freust, daß sie zu ihrer Mutter fährt, um sie zu trösten.“

„Ja, Onkel, das will ich gern tun.“

12. Kapitel

Schon in den nächsten Tagen schrieb Miltaler an Frau Lowisa Kruk und teilte ihr mit, daß Madeline durch einen Zufall erfahren habe, was sie ihr bis dahin sorgfältig verschwiegen hätten und daß sie nun den Wunsch habe, ihre richtige Mutter zu besuchen. Umgehend kam die Antwort, die um recht baldigen Besuch bat. Die freudige Erregung, in der Madeline die nächste Zeit verlebte, übte einen sehr wohltätigen Einfluß auf ihre Gesundheit aus. Sie wurde wieder frisch und lebhaft. Abrys ließ es sich nicht nehmen, die beiden Frauen in seinem feinsten Wagen zur Bahn zu bringen.

Auf dem kleinen Bahnhof in Gutten waren Frau Enute und Madeline die einzigen Fahrgäste, die ausstiegen. Aber vergebens hielten sie nach dem Fuhrwerk, das sie abholen sollte, Umschau. Erst als der Zug wieder abgefahren war, kam vom Dorf her ein schöner Tafelwagen, mit zwei jungen mutigen Pferden bespannt, angebraust.

Auf dem Bock saß der Gastwirt Kruk aus Lisken, ein untersetzter, breitschultriger Mann in guter Kleidung. Er zog den Hut und bat um Entschuldigung, daß die Damen einen Augenblick hätten warten müssen. Er hätte wegen der jungen Pferde im Dorf bleiben müssen, bis der Zug weg war. Als die Frauen eingestiegen, bestellte er noch viele Grüße von seiner Frau und ließ die Pferde angehen.

Schon nach kurzer Fahrt wies Frau Enute auf ein langgestrecktes Dorf, das mit seinen roten Dächern einen freundlichen Eindruck machte. „Das ist Lisken, meine Heimat, und deine.“

Ach, wie vieles hatte sich in den Jahren, die sie fortgewesen war, verändert. Aus dem altersgrauen, strohgedeckten Dorfkrug war ein stattliches massives Gebäude geworden. Frau Lowisa stand vor der Tür und streckte den Ankommenden die Hände entgegen. In ihren Armen hob sie Madeline vom Wagen und trug sie wie eine Puppe ins Haus, in ein fein eingerichtetes und behagliches Zimmer. Verwundert und etwas beklommen sah Frau Enute sich um. Das hatte sie der Lowisa nicht zugetraut.

Wie ein Kind hatte die Frau ihre Tochter auf den Schoß genommen und aus den Reisehüllen geschält. Jetzt streichelte sie ihr das Gesicht und das Haar, küßte sie mit Tränen in den Augen und drückte sie fest an sich. „Mein Kind, mein Linchen.“

Madeline hatte ihre Mutter umgefaßt und ihr Gesicht an ihrem Busen geborgen. Ihr war so wunderbar zumut. Eine heiße Liebe zu der Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, wallte in ihr auf. Auch Frau Enute hatte Tränen in den Augen. Und schon rührte sich in ihr die Besorgnis, daß die Stimme des Blutes über die Liebe der Pflegemutter siegen konnte. Aber sie scheute sich, das Wiederfinden von Mutter und Kind zu stören.

Gleich nach dem Kaffee, der auf alle beruhigend gewirkt hatte, schlug Frau Lowisa einen Gang durch das Dorf vor. Von den älteren Frauen, die neugierig aus den Fenstern schauten, erkannten die meisten Frau Miltaler und kamen herausgelaufen, um sie zu begrüßen. Nach der Rückkehr wurden das Haus und die Wirtschaft besichtigt, und dann holte Frau Lowisa die Bilder ihrer Kinder hervor und begann von ihnen zu erzählen. Von dem Pärchen, das ganz jung, wenige Tage nach der Geburt, gestorben war, hatte sie nur eine undeutliche Erinnerung. Aber die beiden anderen waren ihr ans Herz gewachsen, und in der Erinnerung vergoß sie bittere Tränen. Und dazwischen lächelte sie Madeline an und streichelte ihr das Gesicht.

„Ach lieber Gott,“ sagte sie dann leise, während sie die Bilder wegpackte, „ich will nicht mehr traurig sein. Ich weiß doch jetzt, daß ich noch ein Kind habe, und daß es mich auch ein bißchen lieb hat. Wie geht es denn deinem Bräutigam, Linchen? Werdet ihr bald Hochzeit machen?“

Madeline schüttelte lächelnd den Kopf. „So weit ist es noch nicht, Mutter. Ich weiß bloß von den Eltern, daß Abrys mich sehr lieb hat und mich haben will, ich weiß wirklich nicht, ob ich ihn nehmen werde. Ich bin ihm ja ganz gut, aber weißt du, Mutter, so wie einem Bruder. Und wenn er mich fragt, dann muß er mindestens noch ein Jahr warten, bis ich mich mit ihm verlobe.“

„Das ist ganz vernünftig von dir, mein Kind“, erwiderte Lowisa. „Du bist noch sehr jung und kannst noch ruhig ein paar Jahre mit dem Heiraten warten. Dann haben wir doch noch was von dir, deine Eltern und ich auch. Du kommst doch, mich mal auf längere Zeit besuchen? Ich will dich deinen Eltern nicht abspenstig machen, aber sie werden mir doch gönnen, daß ich mich auch ein bißchen an dir erfreuen darf.“

Bald nach dem Abendbrot wollten die Frauen, die von der Reise ermüdet waren, schlafen gehen. Frau Lowisa führte sie in ein sauberes, behaglich eingerichtetes Zimmer im Giebel und verabschiedete sich von Madeline mit einem innigen Kuß. Jetzt schloß Frau Enute Madeline in die Arme, bog ihr den Kopf zurück und sah ihr in die Augen. „Wirst du uns untreu werden?“

Madeline zog die Mutter innig an sich: „Nein, Muttchen, ich bleibe bei euch. Ich habe euch lieb und weiß, was ich euch schuldig bin. Ihr könnt mir ruhig erlauben, daß ich meine Mutter mal auf einige Zeit allein besuche. Ich werde immer wieder voll Sehnsucht und Liebe zu euch zurückkehren.“

Am anderen Morgen, als die Sonne ins Zimmer lachte, stand Madeline früh auf, zog sich leise an und ging hinunter. Unten auf der Treppe stand ihre Mutter, als wenn sie schon auf ihr Kind gewartet hätte; wieder nahm sie Madeline auf den Arm und trug sie bis auf das Sofa in die Wohnstube. Dann brachte sie Kaffee und Kuchen, den sie eigens für den Besuch gebacken hatte. „Möchtest nicht bei mir bleiben, Linchen?“

Traurig, mit bittendem Ton erwiderte Madeline: „Nein, Mutter, das kann ich nicht. Das wäre undankbar gegen die Eltern, und dein Mann ist mir doch ganz fremd.“

„Er ist mit mir einverstanden und würde sich sehr freuen. Ich will aber nicht in dich dringen, mein Kind, ich weiß, daß dich dein Herz zu deinen Pflegeeltern zieht. Du mußt mir nur versprechen, daß du im Herbst mich auf ein paar Wochen besuchst, dann bin ich schon zufrieden. Hier sind ein paar nette Mädchen. mit denen du dich anfreunden kannst.“

„Wenn bloß der Krug nicht wäre“, erwiderte Madeline lachend. „Das war ja gestern ein greulicher Spektakel unten.“

„Ja, Kindchen, das ist unser Brot. In der Woche ist es auch meistens still. Bloß am Sonnabend und Sonntag kommen die polnischen Erntearbeiter und die lassen immer ein schönes Stück Geld draufgehn. Na, lange wollen wir auch nicht mehr auf dem Krug sitzen. Mein Mann will im nächsten Jahr auf unserem Land aufbauen. Obstbäume haben wir schon seit Jahren dort stehen und einen Garten angelegt. Sobald das Haus fertig ist, ich denke zum nächsten Jahr im Herbst, verkaufen wir den Krug. Kindchen, hast du auch schon daran gedacht, daß du alles erben sollst?“

Vor Überraschung ließ Madeline die Tasse sinken, die sie eben zum Munde fuhren wollte. „Ich, Mutter?“

„Na ja, Linchen, wer soll denn das von uns erben? Der Kruk hat keine näheren Verwandten. Da bist du doch die einzige, die dabei in Frage kommt. Ich habe das noch alles gestern abend mit meinem Mann besprochen. Er ist ja so gut und so tüchtig, und wir haben so gut miteinander gelebt und was hinter uns gebracht. Ja, mein Kind, dreißigtausend Taler haben wir auf die hohe Kante gelegt. Der Krug bringt mindestens seine zehntausend Taler ein, na, und das Gut wird, wenn es ausgebaut ist, auch was wert sein.“

Mit weit geöffneten Augen sah Madeline die Mutter an. „Und das soll ich alles von euch bekommen?“

„Ja, Kindchen, ja. Am liebsten wär' es uns, wenn du einen Mann heiraten möchtest, der das Gut übernehmen kann. Den, wie heißt er doch, den Abrys wirst du nicht heiraten, das habe ich so im Gefühl. Dann kannst du uns einen Schwiegersohn bringen, er kann viel haben, oder wenig, oder gar nichts, wenn er bloß ein ordentlicher, guter Mensch ist. Er könnte vielleicht zur Probe ein Jahr oder zwei den Krug übernehmen.“

Gespannt sah sie Madeline an, über deren Gesicht in diesem Augenblick ein leichtes Lächeln huschte. „Was hast du eben gedacht?“

Madeline wurde rot und stockte. Da setzte sich ihre Mutter zu ihr aufs Sofa und nahm sie in den Arm. „Nun sprich mal ganz offen mit mir. An wen hast du eben gedacht?“

„Ich habe an einen Menschen gedacht, der, wie ich glaube, mich auch lieb hat. Das ist der Erkmann Kurat, der mich aus dem Wasser gezogen hat.“

„Und weshalb mußtest du lachen?“

„Ach, Mutter, das ist ja ein Muckerpfaff, das ist ein Prediger der frommen Sekte, die wir dort Mucker nennen.“ Sie lachte laut auf. „Wenn der den Krug übernehmen sollte.“

Jetzt lachte auch Frau Lowisa herzlich. „Das wär' ja wie die Sau im Judenhaus. Das ist aber jedenfalls ein ordentlicher, nüchterner Mensch. Was ist er sonst?“

„Er hat die Dorfschmiede gepachtet. Aber die Bauern wollen ihn weg haben, sie meinen, er hetzt ihnen die Leute auf.“

„Dann soll er herkommen. Wir haben hier auch viele Fromme, die wir Gromadki heißen, hier wird er keine Feindschaft finden, denn die meisten Bauern sind hier auch Gromadkis, er könnte sich hier eine Schmiede aufbauen. Arbeit würde er genug haben.“

„Das kann er nicht, er ist ganz arm, und jetzt will ihm dort eine Freundin von mir, die Schwester von Abrys, weißt du, die Große, die bei uns war, als du ankamst, die will ihm eine Schmiede aufbauen und eine Fabrik einrichten.“

„So, so, die will ihm helfen.“

„Ja, Mutter,“ fuhr Madeline eifrig fort, „ich begreife das eigentlich nicht von ihm, daß er das annimmt. Er ist sonst so stolz. Er muß sich doch sagen, daß die Erdmute einen Zweck dabei verfolgt. Ich weiß auch schon, welchen. Sie will ihn haben. Daß er sie nicht liebt, das glaube ich zu wissen.“

Ihre Wangen hatten sich gerötet. Lächelnd hatte ihre Mutter zugehört. Sie wußte jetzt alles. Sie wußte, daß Madeline den Muckerpfaff lieb hatte, wenn es ihr auch noch nicht zum Bewußtsein gekommen war. „Das wäre doch schade um den Mann, wenn er sich an die Person verkaufen würde.“

„Ja, verkaufen,“ fiel Madeline ein, „das ist das richtige Wort. Aber, Mutter, ich glaube nicht daran. Er geht ihr doch noch durch die Lappen. Sowie er merkt, was die Erdmute will, läßt er alles im Stich und geht aus der Schmiede.“

„Das würde mich freuen, wenn der Mann solchen Stolz hätte. Du wirst mir doch öfter schreiben? Dann vergiß nicht, daß ich gern wissen möchte, wie es dem Muckerpfaff weitergeht. Wenn Not am Mann ist, springt mein Mann ein. Das ist gar kein schlechter Gedanke, hier `ne Schmiede aufzubauen und einen tüchtigen Menschen `reinzusetzen.“

„Aber er konnte hier nicht predigen, er kann doch nicht Masurisch.“

„Das ist auch gar nicht nötig, mein Kind. Die Masuren sprechen bis auf ein paar alte Weiber alle gut Deutsch.“

Frau Enute war gerade beim Ankleiden, als Madeline hastig ins Zimmer trat. „Muttchen, weißt du ganz was Neues? Weißt du, daß ich eine reiche Erbin bin? Die Mutter hat mir eben gesagt, daß ich alles von ihr und ihrem Manne erben soll. Mir schwindelt der Kopf von all den Zahlen. Freust du dich gar nicht?“

„Ja, ja, Linchen, ich habe auch schon daran gedacht, daß das alles so kommen wird. Aber du brauchst nicht arme Verwandte von dem Kruk zu schädigen.“

„Er hat keine Verwandte, und die Mutter beerbe ich doch sowieso. Freu' dich doch ein bißchen mit mir.“

„Mein Gott ja, Kind. Dem Abrys wird es ja nicht unangenehm sein, wenn du ihm was mitbringst, aber er nimmt dich, wenn du auch gar nichts hast.“

Madeline ließ den Kopf hängen. „Du denkst bloß immer an den Abrys. Muttchen, es hat wirklich keinen Zweck, daß ihr mich zu der Heirat drängen wollt. Wenn er so lange warten will und ich in der Zeit keinen anderen lieber habe als ihn, dann will ich ihn nehmen. Aber quälen müßt ihr mich nicht. Die Mutter meint auch, daß ich bloß einen Mann heiraten soll, den ich wirklich sehr liebhabe.“

Frau Enute seufzte. Sie fühlte, wie Lowisa auf ihr Kind Einfluß zu gewinnen suchte und anscheinend schon gefunden hatte. „Mein Kind, Geld allein macht nicht glücklich.“

„Nein, Muttchen, man muß es auch haben“, erwiderte Madeline lachend. „Und bei mir steht es noch im weiten Felde. Aber schön ist es doch, zu wissen, daß man solchen Rückhalt hat.“ Sie trat an Frau Enute heran, schlang den Arm um sie und fuhr ihr mit der Hand über die Stirn. „Nun mach' mal ein fröhliches Gesicht, Muttchen, ich bleibe doch euer Linchen. Bist du nun zufrieden?“

Am Vormittag gingen alle drei Frauen zur Kirche. Im Dorf wußte es natürlich schon jeder, wer das junge Mädchen war, das zwischen den beiden Frauen saß. Am Nachmittag fuhr Kruk mit ihnen auf sein Land. Die Hofstätte war schon abgezäunt, auch eine Scheune stand schon. Es fehlten bloß noch ein Wohnhaus und ein paar Ställe. Lowisa führte und erklärte. Der Bau war schon vergeben und sollte noch in diesem Herbst im Rohbau fertig sein. Im nächsten Frühjahr sollte die Inneneinrichtung kommen.

„Wir mochten ja für uns zwei Menschen kleiner bauen, aber nun haben wir vorgestern doch das größere Haus gewählt. Vielleicht, daß Linchen doch mal hier mit ihrem Mann einzieht...“

Frau Enute schwieg. Sie hatte diese Erklärung erwartet und sich gesagt, daß sie dagegen keine Einwendung vorbringen konnte. Wenn die Mutter ihrer rechten Tochter das Gut verschrieb, was konnten sie als Adoptiveltern dagegen haben?

Am nächsten Tage fuhren sie ab. Frau Lowisa brachte sie selbst im Einspänner zur Bahn. Dort hob sie ein großes Paket aus dem Wagen und übergab es Madeline mit der Bitte, es erst zu Hause zu öffnen. Ein kurzer Abschied mit einer Träne. Madeline beugte sich aus dem Fenster und rief: „Auf baldiges Wiedersehen!“

Unterwegs war sie lustig und gesprächig und wunderte sich, daß Muttchen so trüb und sorgenvoll aussah. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten. Sie schmiegte sich an sie und fragte: „Muttchen, bist du mir böse, daß ich meine Mutter liebhabe? Ich kann doch nicht dafür und sie ist so herzensgut... und jetzt ist sie wieder ganz allein.“

„Nein, nein, Linchen, du mußt mich nicht mißverstehen. Sieh mal, ich habe dich so lieb, daß es mir schwerfällt, deine Liebe mit einer anderen zu teilen, und wenn es auch deine richtige Mutter ist. Ich muß mich erst daran gewöhnen.“

„Ich will dich dafür doppelt liebhaben.“

Ab und zu schielte Madeline zu dem Paket empor, das über ihnen im Netz lag. Gar zu gern hätte sie es schon unterwegs aufgemacht, wenn es nicht so fest verschnürt gewesen wäre. Abrys hatte sie auch wieder von der Bahn geholt. Zu Hause war es ihr erstes, daß sie das Paket öffnete. Zu oberst lag ein Briefumschlag. Sie riß ihn auf. Eine Handvoll Papiergeld fiel heraus, und ein Blatt Papier, auf dem mit großer, ungelenker Hand geschrieben stand: „Zu einer Uhr und Kette, von Vater Kruk.“ Dann nahm sie das deckende Papier ab. Oben ein wunderschönes, weißes Wollkleid, darunter feine Leibwäsche mit Spitzenbesatz. Laut jubelnd lief sie ins andere Zimmer. Da stand Muttchen mit Vater. Beide sahen sehr trübe und traurig aus.

„Ja, das habe ich vorausgesehen, daß Lowisa versuchen wird, uns das Kind aus der Hand zu nehmen“, hatte Miltaler gemeint, als seine Frau ihm über ihre Reise Bericht erstattet hatte. „Man sieht, daß du eine reiche Erbin geworden bist“, sagte er, mit einem Versuch zu lächeln, als Madeline ihre Schätze vor ihm ausbreitete.

„Ich glaube, ihr freut euch nicht darüber, das habe ich nicht verdient. Haltet ihr mich für so undankbar, daß ich je vergessen könnte, was ihr an mir getan habt?“

Weinend wandte sie sich ab. Da trat Frau Enute an sie heran und schloß sie in die Arme. „Wir gönnen dir alles, mein Kind. Wir werden uns auch daran gewöhnen, daß wir von nun an deine Liebe mit deiner Mutter teilen müssen.“

13. Kapitel

Als einige Tage später Frau Enute einen Korb mit Lebensmitteln packte, den die Dore zu Mutter Urrte bringen sollte, erklärte Madeline, mitfahren zu wollen. „Traust du dir auch nicht zu viel zu, mein Kind?“ fragte Frau Enute besorgt.

„Nein, Muttchen, ich fühle mich so kräftig, daß du mich ganz ruhig mitgehen lassen kannst. Ich muß doch endlich zu der Frau gehen, der ich Leben und Gesundheit verdanke.“

Es war ein schöner, warmer Sommertag. Die Sonne war durch einen dünnen Wolkenschleier verdeckt. Ein lauer Wind strich liebkosend über die Fluren, auf denen das Getreide blühte. Von den Roggenfeldern stieg der Blütenstaub in dünnen Wölkchen auf. Am Wegrain in dem welken Gras musizierten die kleinen Heuschrecken. Vergnügt wanderte Madeline neben Dore die Straße entlang.

Als sie den Weg, der von der Uferhöhe zum Fluß hinabführte, erreichten, schloß Madeline für einen Augenblick die Augen. Doch tapfer kämpfte sie die Anwandlung von Schwäche nieder. Die Scheschupp war ganz klein geworden. Kaum, daß sie noch ihr altes Bett füllte. Das grüne Ufer, die weißleuchtende Kirche, die sie vom Berge herab grüßte, alles sah so anders aus als damals, als sie in Wasserschwall und Eis die Todesfahrt machte.

Mutter Urrte, die am Fenster saß, erkannte sie erst, als Madeline dicht vor ihr stand. „Gott segne dich, mein liebes Linchen, daß du mich alte Frau nicht vergessen hast. Und wieder einen ganzen Korb voll guter Sachen.“

„Ich muß mich doch endlich bedanken kommen, Mutter Urrte.“

„Ach, das war ja nicht der Rede wert, das tut man doch als Mensch und Christ. Ich freue mich, daß du wieder ganz gesund bist. Alles munter und gesund zu Hause?“

„Ja, Mutter Urrte, mein Muttchen läßt vielmals grüßen.“

„Na, dann setz' dich, Linchen, Dore, du auch, ich werde euch ein Täßchen Kaffee kochen, das Wasser ist heiß. Meine Mannsleute müssen auch gleich zum Vesper kommen.“

Mit langsamen, vorsichtigen Schritten ging sie durch die Stube nach der Küche. Kopfschüttelnd sah Dore ihr nach. „Das ist doch ein Jammer, daß die blinde Frau Wirtschaften muß. Linchen, sag' doch dem Kurat, daß er seiner Mutter `ne Hilfe schafft. So geht das doch nicht länger.“

Eben traten Erkmann und Jons hemdärmelig, wie sie aus der Schmiede kamen, in die Stube. Erkmanns Augen leuchteten freudig auf. „Fräulein Madeline, ist das eine Überraschung und eine Freude. Ich will nur schnell...“

„Nein, nein, Erkmann,“ fiel Madeline ein, „bleiben Sie ruhig in Ihrem Arbeitskleid. Ich bin bloß gekommen, um mich bei Ihrer Mutter zu bedanken und auch bei Ihnen, Jons.“

Sie stand auf und reichte dem Alten ihre weiße, zarte Hand und wartete lachend, bis Jons seine schwielige, von der Arbeit berußte Hand an seinen Hosen abrieb, ehe er sie ihr gab.

„Hat nichts zu sagen, Fräuleinchen“, erwiderte der Graubart schmunzelnd. „Es war ja ein Stück Arbeit, bis wir Sie wieder warm kriegten. Na, hoffentlich ist nichts bei Ihnen nachgeblieben.“

„Ich hoffe nein. Sie waren in Königsberg, Erkmann?“

„Ja, Fräulein Madeline. Ich habe Maschinen eingekauft und bestellt. Ich denke, nächste Woche wird schon die erste Sendung eintreffen. Sie waren auch ein paar Tage verreist?“

Madeline errötete. „Ja, Erkmann, wir waren in der Heimat meiner Eltern, in Masuren bei Verwandten.“ Lebhafter fuhr sie fort: „Wissen Sie, Erkmann, daß es dort auch eine fromme Sekte gibt? Gromadki nennen sie sich, das soll auf deutsch ein Häuflein bedeuten. Aber der Name soll nicht mehr stimmen, denn in jedem Dorf fast gehört die Mehrzahl zu der Sekte. Auch die meisten Bauern. Wenn Sie dort hingingen, würden Sie keine Feindschaft finden, sondern allgemeine Anerkennung und Liebe.“

„Schade, daß ich das nicht früher gewußt habe.“

„Ja, und in dem Dorf, wo meine Verwandten wohnen, fehlt sehr ein Schmied. Die Bauern würden Ihnen gleich eine Schmiede aufbauen, und Sie würden von allen Dörfern ringsum Arbeit bekommen.“

„Woher wissen Sie das, Fräulein Madeline?“

„Sehr einfach. Ich habe mit Verwandten darüber gesprochen.“

„An mich haben Sie dort auch gedacht?“

„Ja, Erkmann, wir haben über Sie gesprochen. An Ihrer Stelle würde ich mich morgen auf die Bahn setzen und hinfahren.“

Kurat wiegte nachdenklich den Kopf. „Das geht jetzt nicht mehr. Ich bin hier gebunden durch meinen Vertrag mit Fräulein Erdmute. Ich habe die Maschinen und Geräte bestellt und Fräulein Erdmute hat sie schon bezahlt.“

„Nein, davon kann Erkmann nicht mehr ab“, warf Jons ein, der mit Mißbehagen das Gespräch zwischen den beiden angehört hatte. Das mußte doch ein Blinder mit dem Krückstock fühlen, wie die beiden zueinander standen. Wie sie sich ansahen. „Das wäre auch eine ausgewachsene Dummheit. Was meinen Sie, Fräulein, was die Firma Kurat & Co. für ein Geschäft machen wird. Gestern waren schon zwei Mann hier. Der eine wollte einen Pflug kaufen und der andere einen Tigerrechen. Für ein paar Mark vergessen die Bauern alle Feindschaft.“

Er erhob sich, um in die Schmiede an seine Arbeit zu gehen. Auch Dore nahm den leeren Korb und begab sich auf den Heimweg. Erkmann wollte Madeline nachher bis über den Fluß begleiten. Eine Weile saß Madeline schweigend am Tisch. Eine starke Röte war in ihr Gesicht gestiegen. „Erkmann, ich habe Ihnen vorhin nicht die volle Wahrheit gesagt, als ich von meinen Verwandten sprach, die wir besucht haben. Ich war... bei... meiner Mutter.“

Mit grenzenlosem Erstaunen sah Kurat sie an. „Bei Ihrer Mutter?“

„Ja, ich bin bloß das Pflegekind von Miltalers. Meine richtige Mutter hat mich ihnen abgegeben, wie ich noch ganz klein war. Sie ist in Lisken an einen Gastwirt verheiratet. Ich habe es auch erst vor kurzem erfahren. Ihnen und Ihrer Mutter kann ich das nicht verschweigen.“

„War das eine Enttäuschung oder eine Freude für Sie?“ fragte Erkmann mit einer Stimme, der man die innere Bewegung anhörte.

„Beides, Erkmann. Meine Mutter hat mich an meine Pflegeeltern abgegeben, als sie noch nicht verheiratet war. Nachher hat sie noch vier Kinder gehabt. Die sind ihr alle gestorben. Da war sie sehr traurig und kam hierhergefahren, aber sie hat sich mir nicht zu erkennen gegeben. Das habe ich erst von meinen Eltern erfahren. Da ließ ich ihnen keine Ruhe, bis Muttchen mit mir hinfuhr. Wie sich meine Mutter darüber gefreut hat, das kann ich Ihnen gar nicht beschreiben. Sie ist so herzensgut, Erkmann, die hat mir das von der Schmiede gesagt. Sie sollten sich das wirklich noch mal überlegen. Meine Mutter will Sie gern dort haben. Sie will Ihnen sofort die Schmiede bauen.“

Kurat schüttelte den Kopf. „Es geht wirklich nicht mehr. Ich bin hier durch den Vertrag gebunden.“

„Vielleicht auch noch durch was anderes“, erwiderte Madeline leise.

Erkmann fuhr auf. „Wie meinen Sie das, Madeline?“

„Sie werden schon wissen, was ich meine, Erkmann.“

„Nein, wirklich nicht, Sie müssen mir schon offen sagen, was Sie meinen.“

Einen Augenblick kämpfte Madeline mit sich, dann sah sie Erkmann offen ins Gesicht. „Wir meinen das alle, nicht bloß ich allein, daß Erdmute Sie sehr lieb hat...“

Kurat sah sie mit großen Augen verblüfft an. „Wird darüber schon gesprochen?“

„Ja, Erkmann, und meine Eltern meinen, das wäre das Beste für Sie.“

Mutter Urrte hatte sich schweigend erhoben und war hinausgegangen. Erkmann atmete laut und schwer. „Und Sie, Madeline, sagen Sie das auch?“ Madeline hatte den Kopf gesenkt. Auf ihrem Gesicht flammte eine jähe Röte auf. Aber sie antwortete nicht. Erkmann setzte sich neben sie und faßte ihre Hand. „Madeline, antworten Sie mir. Halten Sie das für möglich, daß ich mich von Erdmute kaufen lasse? Ja, kaufen, das ist das einzig richtige Wort.“

„Wenn Sie Erdmute lieben.“

„Ach, nein, Madeline, nein, ich liebe eine andere... eine, die mein ganzes Denken und Fühlen erfüllt, seitdem ich sie auf meinen Armen getragen habe.“

Er zog sie an sich, und sie neigte wortlos ihren Kopf an seine Schulter. Sie fühlte, wie sein Herz hämmerte, wie er zitterte... Leise legte er den Arm um sie. „Madeline, ist es möglich?“

„Ja, Erkmann, ich habe dich lieb, sehr lieb.“

„Meine Liebe, mein Glück, mein Alles...“ In stummer Seligkeit saßen sie aneinandergeschmiegt. bis sich ihre Lippen zum ersten Kuß fanden.

Mutter Urrte hatte eine Weile in der Küche gestanden. Sie hatte nicht in den Mienen lesen können, aber ihr Ohr hatte es ihr gesagt, daß die beiden Menschenkinder, die da drin so still beieinander saßen, sich gut waren. War Madeline schon gegangen? Leise tappte sie in die Stube zurück. Da standen die beiden auf und traten vor sie. „Mutter, das ist deine Tochter.“

Ein paar große Tränen lösten sich aus den Augen der alten Frau und rollten über ihre runzligen Backen herab. Langsam hob sie ihre Hände. „Gott segne euch, meine Kinder. Gottes Ratschluß hat euch zusammengefügt. Er wird euch auch die Kraft geben, alle das Schwere zu überwinden, was noch vor euch liegt.“ Sie schloß Madeline in ihre Arme und küßte sie auf den Scheitel. „Ja, mein liebes Linchen, was werden deine Eltern dazu sagen? Sie wollen doch, daß du den Abrys heiratest.“

Madeline schüttelte den Kopf. „Das wünschen sie, aber ich habe ihnen schon erklärt, daß ich den Abrys bloß nehmen würde, wenn ich keinen anderen finde, den ich mehr lieb habe.“

„Aber was werden sie zu mir, zum Muckerpfaff sagen?“

„Das laß meine Sorge sein“, erwiderte Madeline, sich an ihn schmiegend. „Die Eltern sind ja so lieb und gut. Wenn sie sehen, daß ich dich so lieb habe, dann werden sie ihre Einwilligung nicht versagen.“

„Ja, aber ich muß mir erst eine neue Existenz schaffen.“

„Glaubst du, daß Erdmute zurücktritt, wenn sie erfährt, daß wir uns versprochen haben?“

„Das nehme ich als ganz sicher an. Und wenn sie es nicht tut, dann muß ich es tun; ich kann keine Wohltaten von ihr annehmen.“

„Sie sucht und hat doch ihren Vorteil davon.“

„Nein, Linchen, Erkmann hat recht“, fiel die Mutter ein.

„Nun stehst du schon deinem Sohn gegen mich bei“, rief Madeline lachend. „Aber ich will zugeben, daß ihr recht habt. Mir paßt das auch nicht, daß du von ihr Geld annimmst, wenn du es dir schließlich auch ehrlich verdienst. Wenn hier alle Stränge reißen, fährst du zu meiner Mutter und läßt dich in Lisken als Meister nieder.“ Sie lachte laut auf. „Nehmt es mir nicht übel, aber mir ist eben etwas sehr Lächerliches eingefallen. Meine Mutter meinte, ihr Schwiegersohn konnte den Krug übernehmen. Du, Erkmann, als Krugwirt...“

Nun lachten auch die beiden. „Ja, Linchen,“ meinte Erkmann, „das wäre zu komisch, wenn ich Gastwirt werden sollte. Nein, ich bleibe der Muckerpfaff.“

„Weißt du denn schon, mein Sohn, wie deine Braut darüber denkt?“

„Mutter Urrte, das ist doch selbstverständlich. Ich bin stolz darauf, daß Erkmann der Muckerpfaff ist, daß so viele Menschen voll Liebe und Vertrauen an ihm hängen. Ich will ja selbst zu seinen Andachten gehen. Nein, Mutter, in dem Punkt sind wir völlig einig.“

„Das ist ein großes Glück für ihn und für dich.“

Noch lange sprachen sie miteinander über alles, was ihre Herzen bewegte. Mit voller Absicht verschwieg Madeline, daß ihre Mutter sehr wohlhabend war und daß sie mal ein bedeutendes Erbteil zu erwarten habe. Erkmann sollte in dem Glauben bleiben, daß sie vorläufig wenigstens außer einer Aussteuer nichts zu erwarten habe. Er sollte sich erst wieder eine Existenz schaffen. Dazu war es am besten, wenn er nach Lisken ging. Ihrer Mutter wollte sie gleich schreiben. Sie sollte Erkmann nicht verraten, was er mit ihrer Hand zu erwarten hätte.

Als es zu schummern begann, brach Madeline auf. Erkmann begleitete sie über den Fluß bis in die Dorfstraße. „Morgen vormittag komme ich, mit deinen Eltern sprechen“, sagte er ihr beim Abschied. Wie ein Wirbelwind flog Madeline zu Hause ins Zimmer, faßte Muttchen um, gab ihr einen Kuß und flüsterte ihr ins Ohr: „Ich bin so froh und glücklich.“ Dann verschwand sie in ihrem Zimmer, um einen langen Brief an ihre Mutter nach Lisken zu schreiben. Sie teilte ihr alles mit, daß sie sich mit dem Muckerpfaff verlobt habe, von dem sie ihr erzählt, daß sie unendlich glücklich sei, und daß Erkmann wahrscheinlich bald nach Lisken kommen würde. Er dürfe aber vorläufig nicht erfahren, daß seine Braut eine reiche Erbtochter sei.

Als sie den Brief zum Kasten getragen hatte und zurückkam, war der Vater schon weggegangen, um mit drei Altersgenossen seine Partie Boston zu spielen. Frau Enute setzte ihr das Abendbrot vor und sah mit Vergnügen zu, wie Madeline mit gutem Appetit aß. „Na, wie geht es denn der Mutter Urrte?“

„Sie läßt dir wieder vielmals danken. Es geht ihr nicht sehr gut, sie kann schon fast gar nichts mehr sehen. Mich hat sie erst an der Stimme erkannt, als ich dicht vor ihr stand. Na, vielleicht bekommt sie bald eine Schwiegertochter, die ihr die Arbeit abnimmt.“

Frau Enute nickte und nahm ihr Strickzeug zur Hand. „Ich habe schon mit dem Vater darüber gesprochen, daß er um Gottes willen die Versammlung nicht verbietet, wenn Erdmute ihn bei sich predigen läßt. Ich glaube, sie näht ihm schon dazu das neue Hemd. Na und das ist doch so gut wie Verlobung…“

„Davon ist gar keine Rede“, erwiderte Madeline energisch und schob ihren Teller zurück.

Frau Enute sah sie über die Brille hinweg an. „Dann weißt du mehr als ich.“

„Ja, Mutter, ich weiß, daß Erkmann nicht daran denkt, Erdmute zu heiraten.“

„So, so, hat er dir das anvertraut?“ fragte die Mutter etwas ironisch.

„Ja, Muttchen, das hat er mir vor einer Stunde gesagt.“

Die Antwort schien Frau Enute zu belustigen. „Wie kam er denn darauf, dir das zu sagen?“

Madeline stand auf. Sie war etwas verlegen und suchte es zu verbergen. „Er... er fragte mich um Rat.“

Jetzt lachte Frau Enute auf. „Kind, was geht dich das an?“

„Mutter, mehr, als du denkst. Wenn der Erkmann die Erdmute heiraten wollte...“

Frau Enute ließ ihre Tochter nicht ausreden. Sie stand schnell auf und legte Madeline den Arm um die Schultern. „Linchen, ist das möglich? Mein gutes Kind. Ja, du hast recht, die Erdmute muß erst aus dem Hause, ehe der Abrys daran denken kann, sich eine Hausfrau zu nehmen. Aber du meinst, der Erkmann will trotzdem, daß sie jetzt so für ihn sorgt, nichts von ihr wissen?“

„Nein, Mutter, sie ist ihm völlig gleichgültig. Er ist sehr froh, daß er im Gutshause predigen wird, aber wenn Erdmute sich seinetwegen dem Gerede aussetzt, so kann er nichts dafür.“

Frau Enute setzte sich wieder und begann eifrig zu stricken. „Das müßte man der Erdmute eigentlich sagen.“

„Weshalb denn? Sie ist alt genug, um zu wissen, was sie tut. Ach, Mutter...“ Sie gab sich einen Ruck und trat vor sie hin. „Weshalb sollen wir beide Verstecken spielen? Ich habe mich heute mit dem Erkmann versprochen.“

Mit einem Ruck fielen Frau Enute die Hände in den Schoß. Ganz ratlos sah sie ihre Tochter an. Ihre Stimme zitterte. „Madeline, was sagst du? Du hast dich mit dem Kurat versprochen? Du mit dem Kurat?“ Sie schüttelte den Kopf, als wenn ihr der Gedanke unfaßbar erschien. „Kind, mein Kind, wie kannst du uns das antun?“

Madeline war an sie herangetreten und hatte sich an sie geschmiegt. „Muttchen, weil ich ihn so furchtbar lieb habe. Seitdem ich wußte, daß er mir das Leben gerettet hat, habe ich Tag und Nacht an ihn denken müssen. Und die Dore, wenn sie an meinem Bett saß, hat mir von ihm erzählen müssen, wie die Leute an ihm hängen. Du weißt doch, wie gut er ist.“

„O mein Gott, mein Gott“, stöhnte Frau Enute. „Was wird der Vater dazu sagen? Er liebt den Abrys wie seinen Sohn, er kennt keinen anderen Wunsch, als aus euch beiden ein Paar zu machen.“

„Das weiß ich, Mutter, und wenn ich nicht den Erkmann liebgewonnen hätte... vielleicht hätte ich den Abrys genommen. Damit ist es nun vorbei, für immer.“ Frau Enute hatte nicht gehört, was Madeline erwiderte. Sie wiegte den Kopf hin und her und seufzte. „Was wird bloß der Vater dazu sagen?“

14. Kapitel

Sie hatten beide in ihrer Aufregung nicht gehört, daß es geklopft hatte und die Tür aufging. Abrys trat ein. „Guten Abend, Tante, guten Abend, Linchen. Was habt ihr beide? Darf ich das wissen?“ Mit einem Blick auf Madeline, die sich abwandte, erwiderte Frau Enute schnell gefaßt: „Wir sprachen von der Versammlung, die der Kurat bei euch abhalten will. Weißt du das schon?“

„Ich hab's vom Onkel gehört.“

„Und was sagst du dazu?“

„Ich? In Gottes Namen! Wenn sie bloß erst aus dem Hause wär'!“

„Du meinst also auch, daß...?“

„Aber gewiß, Tantchen. Erdmute geht stark auf Freiersfüßen. Und hoffentlich mit Erfolg. Ich würde mir ja einen anderen Menschen als Schwager wünschen. Aber meinetwegen, ich will auch mit dem zufrieden sein.“

Madeline, die sich ihr Nähzeug vorgenommen hatte, sah auf. „Abrys, weshalb gefällt dir der Erkmann nicht? Was hast du an ihm auszusetzen?“

Frau Enute sah sie warnend und strafend an. „Kind, laß doch solche Fragen.“

„Laß mich doch, Mutter. Ich möchte gern wissen, wie du, Abrys, über ihn urteilst.“

Der junge Gutsbesitzer lehnte sich in dem Stuhl zurück und streckte seine Beine von sich. Er sah so zufrieden, so glücklich aus. „Linchen, das ist schwer zu sagen.“

„Ist dir sein Predigen zuwider?“

„Nein, Linchen, das soll er halten, wie er will. Das geht mich nichts an. Es liegt mir nur im Gefühl, er gefällt mir nicht.“

„Du läßt dich von einem Vorurteil leiten, für das du keine Gründe hast.“

„Mag sein, du sollst recht haben, Linchen. Ich habe sonst nichts gegen ihn und sage gern ja und amen, wenn die beiden sich heiraten, meinetwegen in sechs Wochen. Die Aussteuer liegt fix und fertig.“

Madeline lächelte ein wenig. Sie fühlte sich so sicher, so frei. Ihr war's, als wenn sie mit dem großen, gutmütigen Menschen spielen konnte, wie die Katze mit der Maus. „Aber Abrys, weshalb willst du denn deine Schwester durchaus aus dem Hause jagen?“

„Nun sieh mal an, Tantchen,“ erwiderte er unmutig, „wie die Madeline so was fragen kann. Ist das `ne Wirtschaft mit der Schwester? Kann ich eine Frau ins Haus bringen, solange Erdmute bei mir ist? Das gäbe `ne schöne Zucht im Hause. Selbst wenn meine zukünftige Frau ein Lamm wäre, würde ich ihr das nicht zumuten.“

„Da hast du recht, mein Jungchen“, erwiderte Frau Enute. „Die Erdmute ist als Haustochter das Kommandieren gewöhnt.“

Madeline lachte laut auf. „Das würde ich ihr bald abgewöhnen. Aber du mußt ihr doch das Erbteil auszahlen, wenn sie heiratet.“

„Gewiß, wenn sie's verlangt.“

„Na, dann brauchst du doch `ne Frau, die einen ordentlichen Knubbs Geld mitbringt. Ich weiß eine für dich... die Agusche Abromeit. Die hat Dittchen, und sie wartet bloß auf dich.“

„Aber, Kind, wie kannst du bloß so sprechen?“ rief Frau Enute ärgerlich. „Ich begreife dich nicht.“

„Laß ihr doch das Vergnügen, Tantchen“, begütigte Abrys. „Was sich liebt, das neckt sich.“

„Wenn du dich bloß nicht irrst“, erwiderte Madeline scharf, warf ihre Handarbeit auf den Tisch und ging hinaus.

Betreten sah ihr Abrys nach. „Sag' mal, Tantchen, was ist das heute mit der Madeline? Sie ist doch sonst immer freundlich zu mir?“

Frau Enute zuckte die Achseln. „Ach, Kind, was wird das sein? Eine kleine Laune. Junge Mädchen haben manchmal solche Anwandlungen.“

„Nein, Tante Enute. Keine Ausrede. Ich kenne Madeline zu genau. Da steckt was dahinter.“

„Mach' dir doch keine Gedanken! Was soll denn dahinterstecken?“

„Du weißt es. Du willst es mir verheimlichen. Ich habe sie doch nicht gekränkt.“

Frau Enute wußte in ihrer Verlegenheit nicht, was sie sagen sollte. „Mein guter Abrys. Du hast es schon von ihr gehört. Sie bildet sich ein, daß du ein Mädchen mit Geld heiraten mußt.“

Abrys tat einen tiefen Atemzug. „Wenn's weiter nichts ist, Tantchen! Wie ich meine Wirtschaft jetzt im Zuge habe, bekomme ich die Hypothek überall. Na, und wenn nicht, dann soll Erdmute das Gut übernehmen und mir mein Erbteil auszahlen. Ach, Tantchen, wie ich mich danach sehne, Madeline als mein Weib heimzuführen. Ich kann es dir gar nicht sagen.“

Frau Enute sah ihn mitleidig teilnahmsvoll an und nickte. „Das glaube ich dir, mein guter Abrys. Aber es hilft nichts. Du mußt dich schon noch ein Jahr gedulden. Sie hat es sich in den Kopf gesetzt, und es wäre unklug von uns, sie zu drängen. Sie ist dir gut und immer freundlich zu dir.“

„Freundschaftlich willst du sagen, Tante“, warf Abrys traurig ein. „Wie zu einem Bruder, mehr nicht. Und was war das heute? Was hat sie gegen mich? Sag' es mir doch, Tante. Mir ist, als wenn etwas zwischen mich und Madeline getreten wäre. Sag' es mir, ich kann viel tragen auf meinem breiten Rücken.“

Einen Augenblick zögerte Frau Enute mit der Antwort. „Sorg' dafür, daß aus Erdmute und Kurat bald ein Paar wird.“

Dem Mann schoß eine jähe Röte ins Gesicht. „Hältst du das für möglich, daß Madeline sich für den Muckerpfaff interessiert?“

„Junge Mädchen haben manchmal solche sonderbare Ideen. Selbstverständlich würde der Vater nie seine Einwilligung dazu geben.“

Erregt sprang Abrys auf. „So weit ist es schon gekommen, daß du glaubst, der Erkmann wird um Madeline anhalten? Und Madeline würde ja sagen? Da könnte man ja den Verstand verlieren. Madeline und der Muckerpfaff! Aber er soll sich vorsehen. Wer dem Abrys Endrulat ins Gehege kommt...“

„Mein Gott, Abrys, reg' dich doch nicht so auf, das sind doch bloß Vermutungen.“

„Nein, Tante, jetzt verstehe ich ihr Benehmen. Das war zu deutlich.“

„Sei vernünftig“, mahnte Frau Enute. „Durch Heftigkeit verdirbst du alles. Der Erkmann kann gar nicht um ein armes Mädchen freien. Es kostet den Vater nur ein Wort, dann werfen ihn die Bauern aus der Schmiede. Wenn er nicht weggehen will, muß er die Hand festhalten, die Erdmute ihm gereicht hat. Und dann nehmen die Dinge ihren Lauf, wie wir es wünschen. Die Erdmute wird nicht locker lassen, die weiß, was sie will. Und was sie will, das setzt sie durch. Er ist ja schon in Königsberg gewesen und hat eingekauft. Nun laß sie ihm noch die Versammlung veranstalten und ihm das neue Hemd nähen.“

Abrys hatte sich nach vorn übergebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt und die Hände aneinandergelegt. „Ich will ruhig sein und stillhalten. Mag sie tun und lassen, was sie will. Aber... nein, ich kann den Gedanken nicht fassen.“

Während er sprach, trat Miltaler ein.

„Mann, was treibt dich nach Hause?“ rief Frau Enute ihm entgegen.

„Unsere Partie ist nicht zustande gekommen. Der Dreihaupt ist krank geworden.“

Er ging an den Eckschrank, nahm sich seine lange Pfeife und zündete sie an. Behaglich dampfend begann er, in der Stube auf und ab zu gehen. „Worüber hast du dich so aufgeregt, Abrys, was kannst du nicht fassen?“

„Wir sprachen darüber,“ fiel Enute schnell ein, „daß Erdmute den Kurat bei sich predigen lassen will.“

Miltaler lachte. „Laß sie doch, sie will ihn einfangen und heiraten.“

„Siehst du, Abrys, der Onkel meint es auch.“

„Das kann doch ein Blinder mit dem Stock fühlen. Sie hat so lange gewählt, bis sie achtundzwanzig Jahre alt geworden ist, und nun kriegt sie es mit der Angst, daß sie nicht unter die Haube kommt. Ich würde mich an deiner Stelle gar nicht einmischen, sondern ihr ruhig den Willen lassen. Mit dem Gedanken, daß Kurat dein Schwager wird, mußt du dich abfinden. Er ist doch im Grunde genommen ein sehr anständiger Kerl, und wenn sie sich erst ein Gut gekauft haben, wird der Gutsbesitzer Herr Kurat den Muckerpfaff an den Nagel hängen.“

„Dann wird sie mir ihr Erbteil kündigen.“

„Und wenn schon! Dann wird es eben beschafft. Einmal muß das doch geschehen. Spring mal `rüber und hol' sie her. Ich will gleich mit ihr darüber sprechen.“

Abrys erhob sich. „Ja, Onkel, ich möchte auch Klarheit haben. Es wird aber besser sein, wenn ich nicht dabei bin. Gute Nacht.“

Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wandte sich Miltaler zu seiner Frau. „Mutter, was ist denn heute dem Abrys in die Krone gefahren? Er war so unruhig, so aufgeregt, er ist doch sonst die Ruhe selbst.“

„Glaubst du, das Heiratsprojekt der Erdmute ist ihm gleichgültig? Und alles, was drum und dran hängt?“

„Ach geh doch, das kann ihm doch nur angenehm sein, wenn Erdmute aus dem Hause kommt.“ Er sah seine Frau scharf an. „Alte, das war nur eine Ausrede, ich seh' es dir an. Was ist vorgefallen? Hat die Madeline mit dem Abrys was vorgehabt? Wo steckt denn unser Linchen? Unser Hausmütterchen, wie geschaffen für den Abrys. Er ist ja eine Bärennatur und ein bißchen schwerfällig.“

„Einen besseren Schwiegersohn können wir uns gar nicht wünschen“, fiel Enute ein.

„Das meine ich auch. Aber nun mal `raus mit der Sprache. Was hat es zwischen den beiden gegeben?“

„Ach gar nichts. Dummheiten. Die Madeline hat ihm gesagt, er müsse eine reiche Frau heiraten.“

„Das dumme Ding.“

„Sie hat ihm sogar die Agusche Abromeit vorgeschlagen.“

„Na so was! Der werde ich mal die Leviten lesen. Dir auch, mein Kind“, wandte er sich an Erdmute, die rasch eingetreten war. „Was machst du für Geschichten?“

„Was meinst du damit, Onkelchen?“

Miltaler faßte sie an der Hand und führte sie zum Sofa. „So, setz' dich mal neben Tante und hör' zu. Als dein alter Vormund, der so viele Jahre bei dir Vaterstelle vertreten hat, will ich mit dir sprechen.“

„Hast du mich etwa holen lassen, um mir Vorwürfe zu machen, Onkel? Über das Alter bin ich hinaus.“

„Nein, mein Kind“, erwiderte Enute. „Onkel will nur wegen des Abrys mit dir sprechen, wenn du heiraten solltest.“

Erstaunt fiel Erdmute ihr ins Wort. „Wie kommt ihr darauf, daß ich heiraten will?“

„Du bist doch kein Kind mehr, Erdmute“, meinte Miltaler ernst. „Wenn du dir den Kurat einladest und ihm das neue Hemd schenkst, mußt du ihn auch heiraten.“

„Das sehe ich nicht ein.“

„Das ist doch aber klar. Sowie Kurat bei dir predigt, hält euch jeder für verlobt. Was würde da für ein Gerede entstehen, wenn nichts daraus werden sollte.“

„Das müßte ich eben tragen.“

„Nun sag' mal offen, hast du ihn gern? Würdest du ihn wirklich nehmen?“

„Ja, Onkel“, erwiderte Erdmute fest.

„Dann allerdings, dann sag' ich kein Wort weiter, mein Geschmack wär' er nicht.“

„Das weiß ich. Ihr könnt ihn alle nicht leiden? Warum? Weshalb? Weil er den Mut hat, für seine Meinung und seinen Glauben einzutreten. Habt ihr ihm sonst was vorzuwerfen?“

„Nein, Erdmute,“ erwiderte Miltaler ernst, „ich halte ihn für einen ehrbaren Menschen.“

„Also bloß, weil er der Muckerpfaff ist?“ fuhr Erdmute erregt fort. „Und darum gerade will ich euch zeigen, daß mir gerade das an ihm gefällt. Und wie behandelt ihr ihn? Ihr hetzt ihn ja förmlich. Kein Besitzer gibt ihm Arbeit. Ihr treibt ihn ja dazu, daß er euch die Leute aufsässig macht.“

„Mich treffen die Vorwürfe nicht“, erwiderte Miltaler kühl.

Frau Enute legte ihr den Arm um die Schultern und fragte freundlich: „Du hast ihn wohl sehr lieb, mein Kind?“

„Ja, Tante, weshalb soll ich es euch nicht sagen? Ich habe ihn schon sehr lange lieb. Seinetwegen habe ich alle Anträge abgelehnt, obwohl ich nicht wußte, ob und wie ich mal mit ihm zusammenkommen würde.“

„Kind, das haben wir ja nicht geahnt. Na, Gott gebe dir Glück.“ Nach einer Weile fuhr sie lächelnd fort: „Und nicht wahr, dann gewöhnst du ihm die Muckerei ab?“

Erdmute zuckte die Achseln. „Vielleicht, aber erst soll er den Triumph erleben, daß die vor ihm zittern, die ihn jetzt treten. Die Genugtuung will ich ihm verschaffen.“

„Du nimmst dir viel vor, mein Kind, da wird auch dein Bruder darunter leiden.“

„Du meinst wegen meines Erbteils, Onkel? Da hab' keine Angst. Das Geld kann ruhig stehenbleiben. Die Hypotheken, die ich hier auf anderen Grundstücken stehen habe, genügen vorläufig. Aber die Kerle sollen purzeln, der Raudonat, der Joneleit, der Kerut.“

„Wie kannst du nur so sein, Erdmute“, fiel Frau Enute vorwurfsvoll ein. „Was haben die Leute dir getan?“

„Das sind Erkmanns Feinde, die wollen ihn hier aus dem Brot werfen. Aber sie haben nicht mit mir und meinem Geld gerechnet, dagegen kommen sie nicht auf.“

„Wenn dir bloß der Kurat selbst nicht einen Strich durch die Rechnung macht“, meinte Miltaler. „Mir scheint, du weißt noch nicht mal, ob der Erkmann dich haben will.“

Erdmute stand auf. „Das ist vorläufig für mich die Nebensache. Ich gehe meinen Weg. Ich stelle ihn auf meinen Geldsack, daß niemand an ihn heran kann. Ich lasse ihn bei mir predigen, und...“ ihre Stimme wurde ganz scharf und hart, „wenn's nötig ist, nähe ich ihm das neue Hemd. Dann wird er wissen, was er zu tun hat. Gute Nacht.“

Kopfschüttelnd sah Miltaler ihr nach. Frau Enute hatte die Hände zusammengeschlagen. „Nein, so was! Miltaler, hast du dir das träumen lassen?“

„Nein, das habe ich ihr nicht zugetraut. Die ist ja heftig verliebt. Und ich glaube, die setzt ihr Stück durch.“

Frau Enute lächelte geheimnisvoll. „Nein, Miltaler, in ihrer Rechnung ist ein Fehler. Der Erkmann denkt nicht an sie. Der hat ganz andere Absichten.“

Mit einem Ruck blieb Miltaler stehen und drehte sich um. „Andere Absichten? Doch nicht etwa auf unser Kind?“

Frau Enute senkte den Kopf.

„Weshalb wird mir das verheimlicht?“ fuhr Miltaler heftig auf. „Weshalb erfahre ich nicht, was in meinem Hause vorgeht?“

„Ich habe es auch erst heute erfahren, Miltaler“. erwiderte Frau Enute kläglich. „Madeline war doch heute bei Mutter Urrte. Da hat es sich angesponnen...“

„Was heißt angesponnen? Ich will klar sehen.“

„Mein Gott, reg' dich doch nicht so auf, ich weiß auch nichts weiter, als daß Madeline mir heute abend, als du weggegangen warst, erklärt hat: 'Ich habe mich eben mit Erkmann versprochen'. Gleich darauf kam der Abrys. Dem hat sie es ja nicht gesagt, aber sie hat ihm doch zu verstehen gegeben, daß er ein reiches Mädel heiraten müßte.“

„Sie wird doch mal mehr haben als die Agusche Abromeit. Das war nur ein Vorwand.“

„Weißt du, Miltaler, ich sehe die Sache jetzt schon viel ruhiger an. Der Abrys braucht von der ganzen Sache nichts zu erfahren. Du sagst einfach: Nein, ich gebe Ihnen mein Kind nicht`, und damit basta. Der Kurat wird sich hüten, das auszuposaunen, daß er sich bei dir einen Korb geholt hat. Damit arbeiten wir der Erdmute in die Hände.“

„Und Madeline?“

„Ach, Miltaler, das gibt sich. Das ist nichts weiter als eine unklare Schwärmerei für ihren Lebensretter. Sie wird sich damit abfinden, und nach Jahr und Tag, wenn der Abrys ernst macht...“

Miltaler wiegte zweifelnd den Kopf. „Wenn du dich bloß nicht irrst, wenn es bei ihr die große, tiefe Liebe ist. Ich möchte auch darin klar sehen. Sieh mal nach, ob sie noch auf ist. Ich mochte mit ihr sprechen.“

„Ja, Vater, aber du wirst nicht heftig werden, sie ist doch noch nicht ganz taktfest mit ihren Nerven.“

„Ich denke nicht daran, das wäre auch unklug. Bei solchen Dingen kommt man mit Ruhe und Freundlichkeit weiter, als mit bösen Worten. Ruf' sie mal her.“

15. Kapitel

Mit einer Handarbeit beschäftigt hatte Madeline in ihrem Zimmer gesessen und von ihrer Zukunft geträumt. Der Erkmann durfte vor der Hochzeit nicht erfahren, daß er ein so wohlhabendes Mädchen zur Frau bekam. Erst sollte er sich mit Hilfe ihrer Mutter in Lisken eine Existenz gründen. Er würde ja nicht zurücktreten, wenn er erfuhr, daß seine Braut eine reiche Erbin war. Aber sicher ist sicher, dachte Madeline. Dann müßten auch ihre Eltern in die alte Heimat zurückkehren... Sie erschrak, als die Mutter eintrat und sie zum Vater rief.

„Hast du es ihm schon gesagt, Muttchen?“

„Ja, Linchen, er hat es mir so `rausgelockt.“

„Das ist nun egal, Muttchen. Morgen früh wollte ich es ihm sowieso sagen.“

Ohne Befangenheit oder Scheu ging sie auf ihren Vater zu, faßte ihn um und gab ihm einen Kuß auf die Backe. „Ich wußte nicht, daß du zu Hause bist, sonst wäre ich schon `reingekommen.“

„Sag' mal. mein Kind,“ begann Miltaler, „was hast du heute abend mit Abrys vorgehabt?

„Ich habe ihm einen guten Rat gegeben. Er soll die Agusche Abromeit heiraten.“

„Aber Kind, du weißt doch, daß er dich liebt und dich zur Frau haben will.“

Madeline sah ruhig und fest ihren Vater an. „Daraus kann nun nichts mehr werden. Ich habe einen anderen liebgewonnen, so lieb, daß ich nicht mehr von ihm lassen kann.“

„Das würde mir sehr weh tun, wenn du den Abrys ausschlagen wolltest.“

„Ja, Vater, das weiß ich, und es tut mir leid, daß ich dir diese Enttäuschung bereiten muß. Aber ich kann doch nur den Mann heiraten, den ich wirklich liebhabe. Mit euch ist es doch auch so gegangen. Muttchen sollte einen reichen Besitzer heiraten, nicht wahr? Aber sie nahm dich, weil sie dich liebte.“

„Ja, mein Kind, das ist richtig. Die Mutter wird es dir wohl schon mehrmals erzählt haben. Aber nun sag' mir mal, wer hat den Abrys bei dir ausgestochert“

„Der Erkmann Kurat.“

„Also doch. Wie weit ist denn die Sache gediehen? Hast du dich, ohne die Einwilligung deiner Eltern einzuholen, mit ihm versprochen?“

„Ja, Vater, das ist doch das Natürliche, daß man dem Mann, den man lieb hat, sein Wort gibt, wenn er einen darum bittet.“

„Das war nicht recht. Du mußtest wissen, daß wir sehr erhebliche Bedenken gegen den Erkmann haben.“

„Bitte, Vater, sag' mir offen, was hast du gegen ihn?“, erwiderte Madeline ruhig und bestimmt. Erstaunt sah sie der Vater an. Was hatten die wenigen Stunden aus Madeline gemacht? Er dachte, sie würde sich an ihn hängen, ihn mit leidenschaftlichen Bitten bestürmen und in Tränen ausbrechen, wenn er nein sagte. Nun saß sie so ruhig, ohne ein Zeichen von Erregung, als wenn es sich von selbst verstand, daß er ja und amen sagte. Das reizte ihn.

„Das ist mit wenigen Worten zu sagen. Ich finde es unverzeihlich, um nicht ein stärkeres Wort zu gebrauchen, daß er um dich wirbt, wo er weiß, wie unsicher seine Existenz ist. Daß du mal viel Geld erben wirst, weiß er doch nicht. Oder hast du es ihm gesagt?“

„Nein, Vater, ich will auch nicht, daß er es erfährt.“

„Na, dann ist es ein sehr starkes Stück, daß er ein armes Mädchen betört und an sich kettet.“

„Lieber Vater, du tust mir weh, wenn du solche harten Worte gegen ihn brauchst. Das ist nicht wahr. Er hat mich nicht betört. Daß ich einen Mann liebgewinne, der mir zweimal das Leben gerettet hat, ist doch nicht wunderbar. Und ebensowenig, daß er sich in mich verliebt. Wie wir uns heute ansahen, da wußten wir beide, daß wir uns fürs Leben angehören wollten und mußten. Und da kam es wie eine höhere Macht über uns...“

„Na, gut,“ erwiderte Miltaler seufzend, „den Vorwurf will ich ihm nicht machen. Ihr habt beide gehandelt wie törichte Kinder.“

„Nein, Vater. Er wird morgen vormittag kommen und mit vollem Recht um mich werben.“

„So, worauf wollt ihr denn heiraten, wenn du dich nicht auf die Hilfe deiner Mutter verläßt? Die Erdmute tritt in demselben Augenblick zurück, wenn sie erfährt, daß du mit ihm verlobt bist.“

Madeline schüttelte den Kopf. „Nein, Vater, das glaube ich nicht. Ich halte sie nicht für so unedel.“

Miltaler lachte grimmig. „Du Keuchel, du! Vor ein paar Minuten noch hat Erdmute uns beiden hier gesagt, daß sie den Kurat glühend liebt und alles tun will, um seine Liebe und seine Hand zu erringen.“

„Bedaure sehr“, gab Madeline kühl zur Antwort. „Das ist jetzt vergebliche Liebesmühe. Der Erkmann liebt mich und wird nie an eine andere denken. Er braucht auch die Erdmute nicht. Die Mutter hat mir gesagt, daß sie in Lisken einen Schmied brauchen. Sie hat mir auch versprochen, dem Erkmann eine Schmiede aufzubauen und ihn einzusetzen. Dann hat er eine Existenz und kann nach Jahr und Tag eine Frau ernähren.“ Der alte Herr zuckte zusammen wie unter einem Schlage. „Also doch! Du spielst deine Mutter und ihr Geld gegen uns aus. Du hast schon gut vorgesorgt“, sagte er bitter mit deutlichem Vorwurf.

„Bei Gott, Vater, ich habe, als ich mit der Mutter darüber sprach, noch nicht gewußt und auch nicht daran gedacht, daß Erkmann mich liebt, und daß ich auch für meine Zukunft sorge, wenn ich ihm helfe, sich anderswo eine Existenz zu gründen. Ich habe es dir offen gesagt, aber nicht, um meine Mutter gegen euch auszuspielen. Ich habe heute allerdings sofort der Mutter geschrieben, wie die Sache steht, und sie gebeten, ihr Versprechen zu erfüllen. Das kannst du mir nicht verdenken.“

„O ja, das verdenken wir dir sehr, nicht wahr, Enute?“

„Ja, mein Kind, das verdenken wir dir sehr“, wiederholte Frau Enute. „Du handelst eigenmächtig, ohne uns zu fragen.“

„Ich habe doch nichts anderes getan als die Erdmute.“

„Mein Kind,“ erwiderte Miltaler, der sich nur noch mit Mühe beherrschte, „Erdmute ist mündig und keinem Menschen Rechenschaft schuldig. Aber du hast Eltern, denen du Liebe und Rücksicht schuldig bist. Die auch das Recht haben, nein zu sagen, wenn sie es für richtig halten. Und ich muß nein sagen.“

„Vater!“ schrie Madeline auf.

„Ja, Madeline, ich will keinen Muckerpfaff als Schwiegersohn. Er soll wie wir alle und wie jeder rechtschaffene Mensch zur Kirche und zu Gottes Tisch gehen und seine Muckerei lassen. Fügt er sich dieser Bedingung, dann will ich, wenn auch schweren Herzens, ja und amen sagen.“

„Das wird er nicht“, erwiderte Madeline fest und stand auf. „Und ich will es auch nicht. Er tut nichts Unrechtes, Vater. Er folgt seiner Überzeugung, und deshalb achte ich ihn so hoch und würde es für eine Sünde halten, ihn davon abzubringen. Ich bitte dich, und auch dich, Muttchen, überlegt euch das noch mal in aller Ruhe. Glaubt nicht, daß ich ihn aufgebe, wenn ihr nein sagt. Ich werde treu zu ihm halten und auf ihn warten, bis ich mündig bin und meinen eigenen Willen haben kann. Gute Nacht.“

Stumm saßen die beiden Alten und sahen sich an, bis Frau Enute mit tränenerfüllter Stimme fragte: „Was nun, Miltaler? Willst du hart bleiben und uns das Kind entfremden? Ich sehe schon kommen, daß sie eines Tages sich aufsetzt und zur Lowisa fährt, und dort bleibt.“

„Das erlaube ich einfach nicht.“

„Miltaler“, fragte Frau Enute vorwurfsvoll, „willst du sie einsperren?“

„Nein, sie muß sich fügen und sie wird sich fügen. Laß mal erst ein Jahr oder zwei vergehen.“

„Wenn ich so gedacht hätte, Miltaler, wie du das jetzt von der Madeline erwartest? Sie ist zwar nicht mein Kind, aber sie scheint doch aus demselben Holz zu sein wie ich. Ich habe hierbei nichts zu sagen und will mich auch nicht weiter einmischen. Ich verstehe wohl, daß dir der Kurat als Schwiegersohn nicht paßt. Ein armer Handwerker, der von den Bauern und Gutsbesitzern über die Achsel angesehen wird, anstatt eines wohlhabenden, allgemein geachteten Gutsbesitzers. Noch dazu, wo wir beide den Abrys so liebhaben und wissen, daß er ein guter, tüchtiger Mensch ist, dem wir unser Kind mit vollem Vertrauen zur Frau geben konnten.“

„Ja, Frau, du hast recht, das ist bitter. Und da soll ich als Vater nicht das Recht haben, sie vor einer solchen Verirrung zu bewahren? Ich habe sogar die Pflicht, sie davor zu bewahren. An gebrochenem Herzen wird sie nicht sterben. Das sind Ammenmärchen. Wenn alle Menschen gestorben wären, die einer Liebe haben entsagen müssen, dann gäbe es nicht viel Menschen in der Welt. Wir haben sie emporgehoben, wir haben ihr mit unserem Namen auch die Stellung gegeben, sie soll nicht wieder ein paar Stufen abwärtssteigen.“

Mit einem Seufzer stand Frau Enute auf. „Tu, wie du willst. Du hast die Verantwortung.“

„Ja, die habe ich, und ich will sie tragen. Ich muß morgen früh über Land, komme aber bald zurück. Sollte der Kurat früher kommen, dann fertigst du ihn ab. Ich will nicht, daß die beiden in meiner Abwesenheit eine Liebesszene aufführen.“

Erkmann hatte Miltaler früh vorbeifahren sehen und wartete, bis er zurückkam. Dann zog er sich um und machte sich auf den Weg. Miltaler empfing ihn ruhig und ernst. Er hoffte, ihn mit einer vernünftigen Auseinandersetzung von seiner Werbung abzubringen. „Ja, Kurat, wir wissen schon, weshalb Sie kommen; Sie wollen uns um die Hand unserer Tochter bitten.“

„Ja, Herr Miltaler, Gott hat mir das Herz Ihrer Tochter zugewendet, und ich liebe sie schon lange.“

„Ja, ein ungewöhnliches Schicksal hat in das Leben meiner Tochter eingegriffen und wir schulden Ihnen großen Dank. Aber wenn zwei sich heiraten wollen, dann gehört meiner Meinung nach dazu, daß der Mann seiner Frau einen Unterschlupf und den nötigen Unterhalt bieten kann. Unsere Madeline ist mit Ansprüchen aufgewachsen, die Sie ihr nicht bieten können. Sie wissen ja selbst am besten, wie unsicher Ihre Zukunft ist. Nun haben Sie die Hoffnung, daß Erdmute Ihnen helfen wird, sich eine neue Existenz aufzubauen. Glauben Sie, daß sie das tun wird, wenn sie hört, daß Sie Madeline lieben und um sie werben?“

Etwas unsicher erwiderte Erkmann: „Was sollte das für einen Einfluß auf ein Geschäftsunternehmen haben?“

„Sie vergessen, lieber Kurat, daß Ihr Kompagnon bei diesem Geschäft ein unverheiratetes Mädchen ist. Ich will Ihnen noch mehr sagen. Erdmute hat es mir und meiner Frau gestern selbst gesagt: sie liebt Sie, sie will Sie für sich gewinnen.“

Als Erkmann betroffen schwieg, fuhr er energisch fort: „Ihre Rechnung hat also ein Loch und ein sehr großes Loch.“

„Das sehe ich ein, Herr Miltaler. Ich muß selbst unter diesen Umständen von dem Geschäft mit Fräulein Erdmute zurücktreten.“

„Nun, und wenn Sie zum Herbst hier die Schmiede verlieren? Wie denken Sie sich Ihre Zukunft? Sie nehmen es mir nicht übel, daß ich mich danach erkundige. Ich muß doch wissen, ob Sie meiner Tochter eine sichere und auskömmliche Existenz zu bieten vermögen.“

„Nein, Herr Miltaler, durchaus nicht. Aber Sie können mir vertrauen. Ich bin ein geschickter Arbeiter und verstehe mein Handwerk. Ich kann in Königsberg oder in Tilsit eine Stelle als Werkmeister in einer Fabrik bekommen.“

„Das ist wohl möglich, lieber Kurat, aber ehe Sie nicht vor mich hintreten und sagen können: ich habe ein gutes sicheres Auskommen, ich kann eine Frau ernähren... eher werden Sie von mir keine Zustimmung erwarten dürfen.“

Erkmann erhob sich. „Ich füge mich Ihren Gründen, Herr Miltaler, weil ich sie als richtig anerkennen muß. Ich nehme die Hoffnung mit mir, die mich antreiben wird, daß ich meine Werbung wiederholen darf, wenn ich Ihre Bedingung erfüllt habe.“

„Gut, lieber Kurat. Sie sind ein verständiger Mensch. Ich habe aber noch eine Bedingung. Sie müssen den Muckerpfaff an den Nagel hängen.“

„Herr Miltaler, wie können Sie das von mir verlangen?“

„Ich kann Ihnen nie mein Kind anvertrauen, wenn Sie das Muckern und Predigen nicht lassen. Sie soll in der Gemeinschaft meines Glaubens bleiben.“

„Das wäre ein Gewissenszwang, Herr Miltaler.“

„Mag sein, ich will mit Ihnen darüber nicht streiten. Ich habe aber noch einen anderen, wichtigeren Grund. Sie hätten hier ruhig sitzen und Ihr sicheres Auskommen haben können, wenn Sie sich nicht durch Ihr Predigen mit den Bauern verfeindet hätten. Und wenn Sie das nicht lassen, dann wird es Ihnen überall ebenso gehen.“

Erkmann richtete sich auf. „Herr Miltaler, das Opfer kann ich Ihnen nie und nimmer bringen.“

„Das Opfer sollen Sie nicht mir bringen,“ erwiderte der alte Herr scharf, „sondern dem Mädchen, um dessen Hand Sie sich bewerben.“

„Aber, Herr Miltaler, Madeline verlangt ja gar nicht, daß ich auf das Predigen verzichte. Sie würde mich nicht achten können, wenn ich Ihnen darin zu Willen wäre, bloß, um mir dadurch Ihre Einwilligung zu erringen. Herr Miltaler,“ seine Stimme nahm einen warmen Ton an, „ich möchte gern alles tun, um mir Ihre väterliche Einwilligung zu erringen. Nur das verlangen Sie nicht von mir. Das kann ich vor meinem Gewissen nicht verantworten.“

„Und ich kann von meiner Bedingung nicht abgehen.“

„Herr Miltaler, Sie werden Ihre Tochter unglücklich machen.“

„Nein, Herr, Sie werden sie unglücklich machen, wenn ich so schwach wäre, nachzugeben. Geben Sie sich damit zufrieden. Ich sage nein. Bei der Erdmute brauchen Sie bloß zuzugreifen. Sie veranstaltet Ihnen die Versammlung.“

„Ja, Herr Miltaler, eine Versammlung will ich bei ihr abhalten, aber eine politische. Die werde ich hoffentlich schon nächster Tage bei Ihnen anmelden.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ich hätte es Ihnen heute sowieso gesagt. Mit mir ist eine Wandlung vorgegangen.“ Er erhob die Stimme. „Ich habe bisher die armen Leute, die mir anhingen, immer auf das bessere Jenseits vertröstet. Ich habe dafür nur Hohn und Spott geerntet und vielleicht mit Recht. Denn ich habe eine große Pflicht versäumt, die Pflicht, ihnen auch in den Nöten des irdischen Lebens beratend zur Seite zu stehen.“

„Ach so, jetzt verstehe ich, was Sie meinen. Jetzt wollen Sie an den Bauern Rache nehmen, jetzt wollen Sie ihnen die Leute aufhetzen.“

Erkmann brauste auf. „Herr Miltaler!“

„Weshalb regen Sie sich auf? Weil ich das Ding beim rechten Namen nenne? Herr, das ist eine Gewissenlosigkeit sondergleichen. Heute kommen Sie her und halten um meine Tochter an und im Innern tragen Sie sich schon mit dem Gedanken, bei dem Mädel, daß Sie für sich einfangen will, eine Versammlung abzuhalten, um die Leute gegen Recht und Gesetz aufzuhetzen.“

„Herr Miltaler, sehen Sie nach Ihren Worten“, erwiderte Kurat scharf. „Ich habe noch nie etwas Ungesetzliches begangen, und über meine Lippen wird nie ein Wort kommen, das ich nicht vor Gott und dem Gesetz verantworten kann.“

„Das ist meine Sache, wie ich das beurteile. Es tut mir nur leid, daß Sie das nicht gleich zu Anfang gesagt haben, dann wären wir sofort miteinander fertig gewesen. Aber Gott sei Dank ist es noch nicht zu spät, mein Kind vor dem Schicksal zu bewahren, das es an Ihrer Seite erwartet hätte.“

„Ich will Ihre Worte nicht auf die Wagschale legen, Herr Miltaler, denn Sie sind der Vater meiner Madeline.“

Der alte Herr lachte höhnisch auf. „Ihrer Madeline, das wäre ja noch besser, so weit sind wir noch lange nicht.“

„Nein, Sie können uns für ein paar Jahre trennen, aber weiter reicht Ihre Macht nicht, als bis Madeline Ihrer Gewalt entwachsen ist.“

„So, meinen Sie? Das lassen Sie ruhig meine Sorge sein. Ich denke, wir sind miteinander fertig. Mehr lasse ich mir in meinem Hause nicht sagen, Herr Kurat, ich ersuche Sie, mein Haus zu verlassen und es auch für die Zukunft zu meiden.“

„Sie... Sie verweisen mir Ihr Haus?“

„Bitte.“ Der alte Herr machte eine Handbewegung nach der Tür. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen.“

Mit klopfendem Herzen hatte Madeline hinter der Tür gestanden und gelauscht. Was hatten die beiden solange miteinander zu verhandeln? War das ein gutes Zeichen oder ein schlechtes? Jetzt hoben die beiden Männer da drinnen ihre Stimmen. Sie verstand auch jetzt kein Wort, aber sie hörte an dem Ton, daß sie heftig aneinandergerieten. Da hielt sie es nicht länger aus. Sie stieß die Tür auf und trat ein. „Erkmann...“

Er schlang den Arm um sie und zog sie an sich. „Sei ruhig, mein Herz, ich halte an dir fest.“

Mit ein paar Schritten war Miltaler herangetreten, hatte Madeline an sich genommen und mit der Hand auf die Tür gewiesen.

„Ich gehe schon, Herr Miltaler, aber wir sprechen uns noch.“

16. Kapitel

Mit einem merkwürdigen Blick maß Madeline ihren Vater. „So behandelst du den Mann, den ich liebe?“

„Madeline, was ist das für eine Sprache zu deinem Vater?“

„Ach du meinst, ich soll schmeicheln und bitten und Tränen vergießen? Nein, Vater, wo ich im Recht bin, brauche ich nicht zu bitten.“

„So, du bist im Recht? Du erlaubst doch, daß ich anderer Meinung bin. Und ich habe die Macht, euch zu trennen und den Menschen von dir fernzuhalten.“

„Drei Jahre... drei kurze Jahre... Ihr beide habt ja noch zwei Jahre länger warten müssen. Wenn ich nicht irre, haben dich deine Schwiegereltern ebenso behandelt, wie du den Erkmann. Trotzdem hat Muttchen fest zu dir gehalten. Das werde ich auch tun.“

Miltaler lachte auf. „Es ist ein Jammer, daß man sich so etwas von seinem eigenen Kind vorhalten lassen muß. Bei euch liegt die Sache doch etwas anders. Ich habe dem Kurat in aller Ruhe und Freundschaft vorgehalten, daß er erst dann um dich werben darf, wenn er mir eine sichere Existenz nachweisen kann. Das hat er eingesehen. Dazu mußte ich ihm aber die Bedingung stellen, daß er das Predigen aufgibt.“

„Das darfst du nicht. Das ist ein Eingriff in seine persönliche Freiheit.“

„Ach Kind, laß mich mit den Redensarten in Ruhe. Willst du nicht begreifen, daß ich gegen eure Verbindung nichts einzuwenden habe, wenn Kurat die Bedingung erfüllt, die ich ihm in deinem Interesse stellen mußte. Und das kann er nicht, solange er sich als Muckerpfaff betätigt. Das ist meine ehrliche Überzeugung. Er vernachlässigt seine Arbeit, er schafft sich Feinde. Meinetwegen kann er so fromm sein, wie es irgend geht, nur, er soll nicht `raustreten.“

„Und wie er nein sagte, bist du heftig zu ihm geworden“, warf Madeline vorwurfsvoll ein.

„O nein, erst seine Antwort hat mich aus der Ruhe geworfen. Er antwortete mir, daß er nicht bloß Betversammlungen abhalten will, sondern auch politische. Er will die Leute aufklären, er will ihnen auch in den irdischen Nöten als Berater zur Seite stehen, das heißt auf deutsch: er will sie gegen ihre Brotherren aufhetzen. Aus dem Muckerpfaff entpuppte sich ein politischer Agitator, da habe ich ihn `rausgeworfen. Jetzt weißt du, welch ein Glück dir an seiner Seite blühen wird. Wenn du nicht Vernunft annehmen willst, werde ich meine Pflicht tun, solange mir das Gesetz das Recht dazu gibt. Weitere Auseinandersetzungen über diesen Punkt können wir uns ersparen. Ich will Ruhe in meinem Hause haben.“

Er nahm Hut und Stock und ging weg, auf dem geradesten Weg durch den Garten zu Endrulats.

„Was bringst du Gutes, Onkel?“ rief Erdmute ihm entgegen. „Aber wie siehst du aus? Ist dir die Petersilie verhagelt?“

„Na, so ungefähr. Ich muß dir etwas mitteilen, was dir wohl auch sehr unangenehm sein wird. Der Kurat hat eben bei mir um Madeline angehalten. Was sagst du dazu?“

Keine Muskel zuckte in ihrem Gesicht. Nur die Augenbrauen zog sie etwas zusammen und ihr Gesicht nahm einen eiskalten Ausdruck an. „Was ich dazu sage?“ wiederholte sie mit einem tiefen Atemzug. „Ich halte es für eine Geschmacksverirrung. Entschuldige, Onkel, ich will Madeline nicht zu nahe treten, aber mein Geschmack wäre sie nicht.“

„Fragst du gar nicht, wie ich seine Werbung aufgenommen habe?“

„Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Du bist ihm gerührt um den Hals gefallen, hast Madeline `reingerufen und hast ihnen deinen Segen gegeben“, erwiderte sie mit deutlichem Hohn in der Stimme.

„Nein, ich habe ihn `rausgeworfen. Ich denke, jetzt wird er wohl auch für dich erledigt sein.“

„Weshalb soll er für mich erledigt sein? Wie meinst du das?“

„Weil er mir offen erklärt hat, daß er nicht bloß predigen, sondern die Leute auch politisch aufklären wolle, das heißt aufhetzen will.“

„Das freut mich, Onkel, das ist der erste Schritt zur Besserung. Nun wird er mich brauchen, und da soll ich meine Hand von ihm abziehen, weil er die Dummheit begangen hat, sich in Madeline zu verlieben? Nein, Onkel, ich weiß selbst am besten, daß man seinem Herzen nicht gebieten kann. Das kleine, dumme Ding tut, was es will, ohne sich an den Verstand zu kehren. Aber jetzt ist diese Dummheit erledigt, jetzt wird ihm sein Verstand den richtigen Weg weisen.“

„Gott gebe, daß du recht behältst, mein Kind. Du bist frei und unabhängig und reich genug, einen Mann zu ernähren, der nichts hat und nichts tut. Aber eins muß ich dir sagen: die Versammlung bei dir muß ich verbieten.“

„Wieso, Onkel? Dann müßte ich mich über dich beim Landrat beschweren.“

„Tu das, mein Kind, bis die Beschwerde erledigt ist, vergehen Wochen...“

„Ach, dafür gibt es auch einen Ausweg. Ich gebe eine große Gesellschaft mit Tee, Kaffee, Kuchen, Schokolade und kaltem Abendbrot und lade mir ein Schock Menschen ein. Du wirst auch freundlichst eingeladen, auch Madeline, auch seine Freunde, die Bauern, werde ich einladen. Dann plaudern wir gemütlich, wie gut es die Tagelöhner bei den Bauern haben.“ Ihre Augen blitzten und ihre Stimme bebte.

Während Miltaler sie erstaunt und kopfschüttelnd ansah, fuhr sie fort: „Ich halte es für unpraktisch von dir, die Versammlung zu verbieten. Du erreichst doch damit nichts. Ich kann mir ja ungefähr vorstellen, was dein Zweck ist. Du wirst ihn von den Bauern aus der Schmiede werfen lassen und willst ihm hier das Leben so sauer machen, daß er den Staub Lasdehnens von seinen Füßen schüttelt. Immerzu. Ich bin damit vollkommen einverstanden.“

„Wenn du auf diese Weise dein Ziel zu erreichen hoffst, Erdmute, dann wirst du dich wohl täuschen. Sie haben mir beide gedroht, daß sie aneinander festhalten wollen, bis Madeline mündig wird.“

„Madeline ist wohl heftig in ihn verliebt?“

„In wen ist Madeline verliebt?“ fragte Abrys, der beim Eintreten die letzten Worte gehört hatte.

„In dich nicht,“ erwiderte Erdmute, „sondern in den Muckerpfaff. Sie muß sich doch wohl heimlich mit ihm getroffen und versprochen haben, denn heute vormittag ist der Kurat beim Onkel gewesen und hat um ihre Hand angehalten.“

Abrys wandte sich ab und trat ans Fenster. Das hatte er nicht für möglich gehalten. Bitter quoll es in ihm empor. Seitdem Madeline erwachsen war, hatte er sie mit seiner treuen Liebe umworben, und da kommt so ein Mensch, dem fliegt ihr Herz zu. Gestern abend hatte er schon deutlich gespürt, daß sie von ihm nichts wissen wollte, aber sein Herz wollte von der Hoffnung nicht lassen. Sein Glück lag in Scherben.

„Ja, was ist da zu machen, mein lieber Abrys?“ sagte Miltaler leise. „Wo die Liebe fällt, da fällt sie...“

„Du hast deine Einwilligung gegeben, Onkel?“

„Nein, mein Junge, das kann kein Mensch von mir verlangen, daß ich mein Kind einem Menschen gebe, der nicht für den nächsten Tag zu leben hat.“

„Was wird nun?“ fragte Abrys mühsam.

„Ja, wer kann das wissen? Wollen mal erst die erste Aufregung vorübergehen lassen. Am besten wäre es, wenn wir ihn hier aus dem Dorf `rausbekämen. Aber Erdmute will davon nichts wissen. Und wenn ich mir die Sache recht überlege, ist das vielleicht auch nicht der richtige Weg. Vielleicht nimmt er Vernunft an. Ich habe ihn mit der Nase daraufgestoßen.“

„Worauf, Onkel?“ fragte Erdmute gespannt.

Der alte Herr wurde sichtlich verlegen. Er merkte, daß er sich verplappert hatte. „Daß du ihn trotz der Dummheit, die er begangen hat, nicht fallen lassen wirst.“

„Ich danke dir für deine gute Meinung von mir, Onkel, und ich werde ihr alle Ehre machen. Ich meine aber, du hast ihm noch etwas mehr gesagt.“

„Es fuhr mir in der Aufregung so `raus. Ich habe ihm angedeutet, daß du ihn gern hast, und daß er klüger daran täte, sich um dich zu bewerben.“

„Und was hat er dir darauf erwidert?“

Miltaler zuckte die Achseln. „Ich kann mich nicht auf jedes einzelne Wort besinnen. Ich war schon sehr aufgeregt.“

„Schon gut, Onkel, ich kann es mir schon denken. Er wird dir gesagt haben, daß er Madeline liebt und nicht von ihr lassen kann. Damit hast du es mir aber furchtbar schwer gemacht, ihm weiter zu helfen. Doch das will ich auch überwinden.“

„Tu du, was du nicht lassen kannst.“ Er erhob sich. Abrys war schon vorher still aus dem Zimmer gegangen. „Ich werde auch alles tun, um Madeline vor dieser Verirrung zu bewahren.“

*

Ganz verstört war Erkmann gegen Mittag nach Hause gekommen, nachdem er über eine Stunde ziel- und zwecklos herumgelaufen war, um sich etwas Ruhe zu holen. Er machte sich selbst Vorwürfe, daß er gegen Miltaler heftig geworden war. Seiner Mutter brauchte er nichts zu erzählen. Sie wußte alles. Sie hatte ihn in der Kammer beim Umkleiden stöhnen und seufzen gehört. Sie fragte auch nicht, als er sich in der Stube an den Tisch setzte und den Kopf auf die geballten Fäuste legte. Sie trat zu ihm und strich ihm leise zärtlich mit der Hand über das Haar. Sie fühlte, wie seine Brust von verhaltenem Schluchzen erschüttert wurde.

„Der Traum war kurz, Mutter“, sagte er leise.

„Ich habe es vorher gewußt. Aber ich wollte dir die Freude und den Mut nicht nehmen.“

Erkmann hob den Kopf und sah zu ihr empor. „Den Mut, Mutter, den werde ich nie verlieren. Jetzt brauche ich ihn erst recht.“

„Hast du schon mit der Erdmute gesprochen? Davor habe ich die meiste Angst, daß sie jetzt zurückzuppt, wenn sie das erfährt.“

„Ich habe mir das überlegt, Mutter. Ich habe keine Veranlassung, von dem Geschäft zurückzutreten. Tut sie es, dann bin ich um eine Erfahrung reicher. Dann weiß ich, welchen Zweck sie damit verfolgt hat.“ Er erhob sich. „Habt ihr schon Mittag gegessen?“

„Ja, mein Junge, der Jons ist gleich wieder in die Schmiede gegangen. Die Bauern haben Arbeit gebracht.“

Erkmann lachte verächtlich. „Es geht schon los, Mutter, weißt auch, daß die Bauern mich aus der Schmiede herauswerfen wollen?“

„Ja, mein Sohn. Die Agusche Sinnhuber war Vormittag hier und erzählte mir, daß die Bauern in der letzten Gemeindeversammlung davon gesprochen haben. Der Amtsvorsteher hat dagegen gesprochen.“

„Das wird er jetzt wohl nicht mehr tun. Ich muß mal nachfragen, wo du unterkriechen kannst.“

„Glaubst wirklich, daß sie jetzt, wo deine Arbeit ihnen so nötig ist wie ein Stückchen Brot, was unternehmen werden?“

„Man kann nicht wissen. Vielleicht haben sie einen wandernden Gesellen aufgegriffen, den sie hier `reinsetzen wollen.“

Er lachte laut auf, als er aus dem Hause trat. Da standen auf dem Platz vor der Schmiede Wagen und Ackergeräte.

„Ja, du staunst“, rief ihm Jons entgegen. „Jetzt haben wir Arbeit, mehr, als wir bewältigen können.“

„Was hast du im Feuer?“

„Kleinigkeiten, wie ich sie allein schaffen kann. Ich wußt' doch nicht, ob du dich noch heute in der Schmiede sehen lassen wirst.“

„Hast recht, Jons, und weshalb strengst du dich so an?“

„Na, von deinem Predigen werden wir doch nicht satt.“

„Nun knurrst auch du schon deswegen.“

„Fällt mir gar nicht ein“, erwiderte der Alte brummig. „Habe ich dir schon mal gesagt, du sollst nicht predigen? Nein, mein Jungchen, wenn ich könnte, möcht' ich für zwei arbeiten. Aber der Mensch wird alt.“

Erkmann trat in die Schmiede, zog den Eisenstab, der im Feuer lag, heraus und klopfte mit dem Handhammer vier-, fünfmal auf den Ambos. Jons sprang zu und ergriff den großen Zuschlaghammer. Aber auf halber Höhe ließ er ihn wieder sinken und lachte laut auf. „Kaltes Eisen schmieden und auf die falsche Stelle freien gehen, das ist einerlei.“

Erkmann stieß das Eisen in das Feuer zurück. „Du bist ja ein gefährlich kluger Kerl.“

„Auch der dümmste Ochs gibt `nen guten Braten, wenn er man fett ist.“

„Geh, Alter, laß mich heute zufrieden.“

Jons faßte nach dem Griff des Blasebalgs und zog ihn herab. „Ih, wo werd' ich. Gerade heute mußt du mir unter den Hammer. Heute bist du heiß genug.“

Anmutig erwiderte Erkmann: „Jons, ich bitte dich! Laß mich heute in Ruhe. In die Sache red' mir nicht hinein.“

„Soll ich nicht gleich mein Bündel schnüren und losgehen?“

„Ach red' doch nicht solch dummes Zeug.“

„Na, ich dacht' schon, es wär' das beste. Da hat man den Jungen aufgezogen, hat ihm die Arbeit beigebracht...“

„Ja, Alter, und dann hast du mit meiner Mutter all die Jahre hindurch gewirtschaftet, während ich weg war, hast sie, offen gesagt, ernährt und...“

„Und jetzt soll ich den Mund nicht aufmachen, soll zusehen, wie du Dummheiten machst und nicht reden...?“

„Jons, alter Jons, ich weiß, du bist zu mir wie ein Vater, aber darin... nein, da mußt mir nicht dreinreden.“

„Du willst mir den Mund verbieten? Du, Erkmann, du?“

„Na, so red' schon, du wirst doch daran nichts ändern.“

„Wollen mal abwarten. Du bist heute vormittag beim Miltaler gewesen und hast dir `nen ordentlichen Korb geholt?“

„Ja, von ihm…“

„Na, Gott sei Dank, dann ist die Dummheit noch glücklich abgelaufen. Wirst du nun das Mädel in Ruhe lassen?“

Erkmann brauste auf. „Was geht dich das an? Ich will alles von dir ertragen, aber damit hörst du mir jetzt auf, sonst…“

„Sonst? Nicht wahr, dann jagst du den alten Jons aus dem Hause? Nicht nötig, mein Jungchen, er wird mit dir zugleich gehen, wenn die Bauern dich hier `rausschmeißen. Erkmann, willst du mit dem Kopf durch die Wand?“

„Ich habe der Madeline Treue gelobt, und sie wird auch nicht von mir lassen.“

„Ach, glaub' doch das nicht! Die Weiber sind alle über einen Leisten geschlagen, eine wie die andere. Deine Mutter hat sich auch getröstet, als ihr der Schatz abhanden kam, und Madeline wird sich auch von einem anderen trösten lassen. Ich glaube, er heißt Abrys.“

„Nie, Jons, nie!“

„Werden wir leben, werden wir sehen. Na, und wenn sie auf dich wartet und du sie kriegst, was hast du denn? Mehr als das bißchen Aussteuer kriegt sie doch nicht mit. Und dann, dann? Dann hast du Frau und Kinder und mich und die Mutter auf dem Hals, und wenn der alte Miltaler die Augen zumacht, auch noch die Schwiegermutter.“

„Hab' keine Angst, ich werde euch alle ernähren.“

Jons lachte höhnisch. „Das glaub' ich, du brauchst ja bloß das Predigen zu lassen.“

„Das wollte Miltaler mir auch zur Bedingung machen.“

Jons bog sich vor, faßte ihn am Ärmel und schüttelte ihn. „Und du willst darauf eingehen? Erkmann, wegen einer Margell willst du vor den Bauern zu Kreuz kriechen? Einer Margell zuliebe willst du die Flinte ins Korn werfen?“

„Ich denke nicht daran. Madeline ist völlig mit mir einverstanden.“

„Madeline! Immer bloß Madeline. Ach, hätten wir die Margell damals nicht aus dem Wasser gezogen. Das ist ja zum Blasen. Jetzt, wo dir das Glück in die Arme läuft, du brauchst bloß die Hand ausstrecken und zufassen. Aber du hast ja kein Blut, du hast ja Wasser in den Adern.“

„Kurat, komm mal `raus!“ rief in diesem Augenblick draußen eine grobe Stimme.

„Wieder Kundschaft“, grinste Jons. Erkmann trat in die Tür. Da stand der Bauer Raudonat. „Ich habe dir meine Jocheisen vom Schälpflug gebracht, die müssen frisch verstahlt werden. Morgen muß ich sie haben.“

„Unmöglich, du siehst ja, was hier für Arbeit `rumsteht. In vierzehn Tagen vielleicht“, gab Erkmann ruhig zur Antwort.

„In vierzehn Tagen? Du bist wohl nicht recht bei Trost? Nimm dir nicht soviel Arbeit an, unsere Arbeit geht vor.“

Ohne ein Wort zu erwidern, drehte Erkmann sich um und trat an den Amboß, wo Jons schon mit dem glühenden Eisen wartete. „Du wirst ja sehen, was daraus folgt“, schrie der Bauer ihm nach. Jons lachte über das ganze Gesicht, als Erkmann den schweren Hammer niedersausen ließ. Jetzt war er heiß genug. „Kocht dir nicht das Blut, wenn so `n Kerl es nicht mal für nötig hält, dir die Zeit zu bieten?“

„Ja, Jons, dem werde ich von heute ab gehörig einheizen.“

„Ja, und dann trommelt dein zukünftiger Schwiegervater die Bande zusammen und macht ihnen klar, daß sie dich so schnell als möglich aus der Schmiede `rausschmeißen müssen.“

„Das wird sowieso geschehen.“

„Und das willst du dir so ruhig gefallen lassen, ohne dich zu wehren? Wo du bloß zugreifen brauchst, um die ganze Bande unterzukriegen?“

„Nun hast es mir schon dreimal gesagt. Nun ist es aber wirklich genug.“

17. Kapitel

Eine Stunde hatte Erkmann schwer gearbeitet, daß ihm der Schweiß auf der Stirn stand. Jetzt verspürte er einen gesunden Hunger. Er warf das Schurzfell ab. „Ich will bloß auf einen Augenblick ins Haus gehen und einen Happen in den Mund stecken. Ich habe heute kein Mittag gegessen.“

Als er vor die Tür trat, kam Madeline auf der Straße angegangen.

Er ging ihr schnell entgegen und wollte sie in seine Arme schließen. Sie wehrte ihn ab. „Nein, Erkmann, solange die Eltern ihre Einwilligung nicht gegeben haben, wollen wir still nebeneinander hergehen.“

Er trat zurück. „Wo kommst du her? Wo gehst du hin?“

„Ich komme von Hause und will zu deiner Mutter. Ich bringe dir schlechte Nachricht. Die Bauern sind bei meinem Vater versammelt, es handelt sich natürlich um dich.“

„Das kann ich mir denken. Sieh mal, was ich mit einemmal für Arbeit bekommen habe. Das kann ich selbstverständlich beim besten Willen nicht in ein paar Tagen schaffen.“

„Ich würde keinen Finger mehr rühren für die Bauern. Du mußt dich morgen aufsetzen und nach Lisken zu meiner Mutter fahren. Sie wird dir helfen.“

„Nein, Madeline. Ich weiß, du meinst es gut, aber ich kann hier nicht weg. Meine Gemeinde läuft mir auseinander, wenn ich hier weggehe. Soll ich das ohne Kampf aufgeben, was ich mit Mühe und Not aufgebaut habe?“

„Daran habe ich nicht gedacht. Aber wovon willst du leben, wenn du hier dein Brot verlierst?“

„Ich wollte heute abend noch zur Erdmute gehen, einen Waggon Maschinen haben wir doch schon eingekauft.“

„Erdmute?“ fragte Madeline tonlos. „Ach ja, daran habe ich nicht gedacht. Du hast ja keine Verpflichtung mehr gegen mich. Mein Vater hat dich hinausgeworfen.“

„Aber, Madeline, wie kannst du so sprechen?“

„Nein, nein, Erkmann, ich sehe ein, daß ich dir im Wege bin. Und ich will der Stein an deinem Fuß nicht sein.“ Mit Kraft bemeisterte sie ihre Erregung. „Wenn du hierbleiben und dich deiner Gemeinde erhalten kannst, meinetwegen brauchst du dir keine Gedanken zu machen.“

„Madeline, was denkst du von mir?“

„Laß mich, Erkmann, das mußt du mit dir allein ausmachen und so handeln, wie du mußt. Auf mich nimm keine Rücksicht.“

Sie reichte ihm die Hand zum Abschied. Ihre Stimme zitterte. „Leb' wohl, Erkmann. Ich will bloß deiner Mutter noch einen Kuß geben. Vielleicht ist es das letztemal. Laß mich allein zu deiner Mutter gehen.“ Sie entzog ihm ihre Hand und ging ins Haus. Stöhnend hob Erkmann die Arme. „Du wirst so handeln, wie du mußt“, wiederholte er ihre Worte. „Kannst du mir nicht was anderes sagen? Dich an mich hängen und weinen?“

Jons kam aus der Schmiede angehumpelt. „Mir scheint, das Mädel ist vernünftiger als du. Nur ein Hund kriecht zum zweitenmal vor die Tür, wo er einen Fußtritt gekriegt hat.“

„Ich dachte, du wolltest dein Bündel schnüren“, erwiderte Erkmann finster.

Langsam band der Alte sein Schurzfell ab. „Hast recht, mein Jungchen, ich bin hier überflüssig, bin dir lästig, weil ich dir die Wahrheit sage. Wenn hier gehungert werden soll, dann brauche ich nicht dabei zu sein. Ich kann auf meine eigene Faust allein hungern. Ins Armenhaus laß ich mich nicht sperren. Da kommen bloß alte Weiber `rein wie deine Mutter.“ Er hängte sein Schurzfell wieder über. „Hat ja auch Zeit bis morgen. Ich möchte doch dabei sein, wenn die Bauern kommen...“

„Morgen werden wir `rausgeworfen.“

„Das könnte dem zukünftigen Schwager von Abrys Endrulat ziemlich gleichgültig sein. Wollen wir nicht wenigstens dem zukünftigen Schwager das Wagenrad zurechtmachen? Er ist doch unser bester Kunde.“

Schweigend wandte Erkmann sich ab und ging in die Schmiede.

Jons fing an, von dem Wagen das schadhafte Rad abzunehmen. Da kam Abrys angegangen. „Guten Lag, Jons, wann bekomme ich meinen Wagen? Ich brauch' ihn bald. Ich fange noch diese Woche an, den Roggen zu hauen.“

„Ich wollte ihn eben in Arbeit nehmen.“

„Könnt ihr mir auch noch einen Pflug zurechtmachen? Ich werde ihn euch heute gegen Abend schicken.“

Erkmann trat aus der Schmiede. „Die Mühe kannst du dir sparen. Ich werde in dieser Schmiede nicht mehr viel Arbeit verrichten.“

„Wieso denn?“

„Ach tu doch nicht so. Du kommst doch eben aus der Gemeindeversammlung bei Miltaler, wo ihr mir den Stuhl vor die Tür gesetzt habt.“

„Ich? Nein! Davon weiß ich nichts. Ich hätt' es auch nicht zugelassen, wenn ich dagewesen wäre.“

Kurat lächelte ironisch. „Das glaube ich. Du bist ein praktischer Mensch. Jetzt in der Ernte, jetzt gibt's soviel dringende Arbeit, da wäre es ja eine Dummheit, den Schmied aus dem Dorf zu jagen.“

„Nein, Erkmann, ich habe auch noch andere Gründe. Daß du um Madeline angehalten hast, das kann ich dir nicht verdenken, seitdem ich weiß, daß sie dich lieb hat. Aber du willst bei meiner Schwester eine Versammlung abhalten.“

„Das hast du mit deiner Schwester abzumachen.“

„Aber du weißt doch, was das bedeutet, wenn eine unverheiratete Person dich einladet, dir das neue Hemd schenkt.“

„Das verlange ich gar nicht.“

„Erkmann,“ erwiderte Abrys ärgerlich, „mit dir ist heute nicht zu reden. Du bringst meine Schwester in den Mund der Leute. Es ist doch kein Mensch im Dorf, der nicht schon darüber redet.“

„Laß doch die Leute reden. Du weißt doch, daß nichts daran ist.“

„O nein, Erkmann, so geht das nicht. Ich will unseren ehrlichen Namen nicht von den Klatschmäulern in den Schmutz ziehen lassen.“

„Na, dann tu doch, was du nicht lassen kannst, wirf die Leute `raus, wenn sie zur Versammlung kommen, mich auch.“

„Red' nicht solch dummes Zeug. Du weißt doch sehr gut, daß ich das nicht kann. Erdmute hat ihre Hälfte des Hauses für sich und darin habe ich nichts zu sagen.“

„Na also, was willst du denn?“

„Erkmann, ich halte dich für einen ehrlichen, anständigen Menschen. Wenn du die Versammlung bei uns abhältst, dann mußt du meine Schwester heiraten.“

„Du willst mich zum Schwager haben? Ich soll deine Schwester heiraten? Ja, damit du nachher bei Madeline freie Hand hast.“

„Erkmann,“ rief Abrys drohend, „misch das Mädel nicht wieder `rein.“

Kurat lachte höhnisch. „Du willst mir verbieten, von Madeline zu sprechen, von meiner Madeline?“

Abrys knirschte mit den Zähnen. „Was sagst du? Von deiner Madeline?“

„Ja, sie wird mein, sobald ich es will, heute... morgen...“

Mit einem Griff packte Abrys seinen Gegner an der Brust, mit der rechten Hand hob er den Stock. „Du Lump... du... frommer Mann!“

Jons sprang zu und befaßte Abrys den rechten Arm. „Aber Herrschaften, was soll das heißen? Seid doch vernünftig. Ihr zukünftigen Schwägersleute werdet euch doch nicht hier auf der Straße prügeln wie zwei dumme Jungen. Abrys, laß los.“

Er trat zwischen beide und schob sie mit den Händen auseinander. „Schämt euch was! Ihr werdet euch wie zwei dumme Jungen prügeln wegen einer Margell. Als wenn nicht Unterröcke mit zwei Beinen genug auf der Welt `rumlaufen.“

Abrys hob wieder die Faust gegen Erkmann. „Mit dir, Bursche, rechne ich noch ab.“ Jons trat vor ihn und schob ihn weiter zurück. „Du, Abrys, ich verstehe, daß du wütend bist, weil der Erkmann dir ins Gehege gekommen ist. Aber er hat ganz ehrlich gehandelt. Er hat die Margell lieb und ist zu ihren Eltern gegangen. Frag' ihn man, wie ihm das bekommen ist! `rausgeschmissen hat ihn der alte Miltaler. Ich hätt's auch getan.“

„Das hätte ich ihm voraussagen können“, höhnte Abrys.

„Irr' dich nicht, ich hätte heute Verlobung feiern können, wenn ich auf mein Predigen verzichten wollte.“

„Na, dann seid ihr ja einig“, rief Jons. „Du, Erkmann, gehst zur Erdmute predigen und verlobst dich mit ihr, und du, Abrys, heiratest Madeline.“

Erkmann wandte sich ab und rief über die Schulter zurück: „Wenn du mein Vormund bist, Jons, kannst du das weitere ja mit Herrn Endrulat besprechen.“

„Mußt nicht jedes Wort von ihm auf die Goldwaage legen, Abrys. Die Geschichte hat ihn heute aus dem Gleichgewicht geworfen, und sag' dem Miltaler, er möcht' auf das Mädel aufpassen, daß sie nicht hierher angezuckelt kommt. Sie ist schon wieder hier gewesen und hat mit ihm gesprochen.“

Abrys schüttelte den Kopf. „Madeline ist hier gewesen?“

„Ich sage es dir doch. Am besten, wenn der Alte die Margell für einige Zeit irgendwohin wegbringen möcht', bis die erste Aufregung vorbei ist.“

„Ja, das wär' das beste. Ich werde es ihm sagen.“

Als Jons nach der Schmiede zurückging, kam Erkmann ihm entgegen und fragte spöttisch: „Na, was hast du denn mit meinem Herrn Schwager abgemacht?“

„Ach, schabber doch nicht dummes Zeug. Wenn ich nicht dazwischengetreten wär', hättet ihr euch gehauen wie zwei rotznäsige Jungens.“

„Ich hab' nicht angefangen.“

„Nein, aber du hast ihn bis aufs Blut gereizt. Du weißt doch, daß der Abrys schon jahrelang hinter dem Mädel her ist. Und da prahlst du vor ihm damit, daß dir das Mädel nachläuft.“

Als die beiden Männer zum Vesper ins Haus kamen, war Madeline schon fort. Schweigend wurde die Mahlzeit eingenommen. „Ich hab' nachher noch mit dir zu sprechen, Erkmann“, sagte Mutter Urrte. Schweigend erhob sich Jons und ging hinaus.

„Was hast du mir zu sagen, Mutter?“

„Madeline läßt dir sagen, daß du die Sache mit der Erdmute in Ordnung bringen sollst. Du hast sie ins Gerede gebracht. Entweder sollst du dich mit ihr verloben oder die Versammlung absagen. Eins von beiden.“

„Das läßt Madeline mir sagen?“

„Ja, Erkmann, und das liebe Mädel hat recht. Entweder so oder so. Wenn du an Madeline festhalten willst, dann mußt du mit der Erdmute Schluß machen. Auch mit dem Geschäft. Das war doch nur der Vorwand, mit dir anzubändeln.“

„Weißt du, Mutter, was das heißt? Das heißt, mein Werk aufgeben.“

„Ich kann dir da nicht raten, mein Sohn. Du bist alt genug, um dich selbst zu entscheiden.“

Als er heraustrat, prallte er vor Überraschung zurück. Da kam Erdmute angeritten. Jons stand schon bei ihr und hielt ihr Pferd. Langsam humpelte er mit ihm davon. Zögernd schritt Erkmann auf Erdmute zu. Sie hatte sich auf eine Deichsel gesetzt und klopfte mit der Reitgerte auf die Spitze ihres Schuhs. „Guten Tag, Erkmann. Ich habe mit Ihnen Verschiedenes zu besprechen, und wenn der Berg nicht zum Propheten kommt...“

„Ich wollte heute abend zu Ihnen kommen.“

„Das wußte ich nicht. Ich wollte Ihnen bloß sagen, daß ich heute mit Onkel Miltaler über die politische Versammlung, die Sie bei mir abhalten wollen, gesprochen habe. Er möchte sie am liebsten verbieten. Dem will ich vorbeugen. Ich gebe eine Gesellschaft und lade mir die Leute ein. Ich werde auch unsere Arbeiter dazu auffordern. Ich glaube, das wird Sie reizen.“

„Ich will Sie nicht täuschen, Fräulein Erdmute. Wir stimmen mit unseren Ansichten nicht zusammen. Den Glauben an Gott haben mir Ihre Bücher nicht genommen. Ich bin noch immer der Muckerpfaff.“

„Aber?“ fragte Erdmute gespannt.

„In einem hatten Sie ja recht. Ich habe den Leuten Steine statt Brot gegeben. Ich muß mich mehr darum kümmern, wie es ihnen hier auf Erden geht.“

„So bleiben Sie man bei, das Weitere wird sich schon finden, wenn Sie mal erst den Anfang gemacht haben. Bei mir haben Sie dazu die beste Gelegenheit.“

„Ich glaube, ich werde heute oder morgen hier aus der Schmiede geworfen.“

„Das weiß ich schon und deshalb bin ich hergekommen, um mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich habe eine Instkate leerstehen. Da ziehen Sie vorläufig 'rein.“

„Und dann soll ich wochenlang aus Ihrer Tasche leben?“

„Fällt Ihnen das so schwer, Erkmann? Wollen Sie lieber wie ein geprügelter Hund hier davonschleichen, als meine Hilfe annehmen?“

„Als ehrlicher Mensch kann ich weder Ihre Hilfe annehmen, noch bei Ihnen predigen“, erwiderte Erkmann gequält.

Erdmute hob den Blick zu ihm. „Ach, jetzt verstehe ich Sie. Weil Sie um Madeline angehalten haben. Sie haben ja einen Korb bekommen, das heißt vom Alten.“

„Weil ich seine Bedingung nicht erfüllen kann. Ich lasse mir das Predigen nicht verbieten.“

„So? Dann ist die Geschichte also aus?“

„Nein, Madeline wird auch gegen den Willen ihrer Eltern zu mir halten, wenn ich...“ Erdmute ließ ihn nicht aussprechen. Sie stand auf. „Und Sie wollen wirklich das Mädel dazu verleiten? Nein, Erkmann, wenn Sie Madeline wirklich lieben, dann müßten Sie ihr das Opfer bringen und auf das Predigen verzichten. Darin hat der alte Miltaler recht.“

Mit grenzenlosem Erstaunen sah Erkmann sie an. „Fräulein Erdmute, das sagen Sie mir?“

„Ja, das sage ich Ihnen“, erwiderte Erdmute nachdrücklich. „Wer wirklich liebt, muß dem anderen jedes Opfer bringen können. Erkmann, Sie haben heute eine ausgewachsene Dummheit begangen. Der Onkel Miltaler hätte Ihnen beim besten Willen nicht aus der Patsche helfen können.“

„Fräulein Erdmute, Sie tun mir unrecht. Der Gedanke ist mir nicht einen Augenblick gekommen.“

„Also die reine Gefühlskiste“, lachte Erdmute spöttisch. „Lebensrettung, Dankbarkeit, Liebe.“

„Spotten Sie nicht.“

„Na, erlauben Sie mal, Erkmann. Sie fangen ein Techtelmechtel mit Madeline an, während Sie mich drängen, Ihnen die Versammlung bei mir zu veranstalten. Glauben Sie, daß mir das gleichgültig ist? Als ehrlicher Mensch mußten Sie zu mir kommen und mir sagen: 'Ich liebe die Madeline und will um sie anhalten. Aus der Versammlung bei Ihnen kann deshalb nichts werden'. Nun haben Sie die Dummheit gemacht, nun müßte ich zurücktreten. Aber ich will Ihnen das nicht nachtragen. Für Sie muß die Sache mit Madeline ein für allemal erledigt sein. Dann will ich Ihnen auch dies Opfer noch bringen. Ich gebe die Gesellschaft, nur das neue Hemd lassen wir weg.“ Während sie sprach, sah sie auf. Da sah sie drei Männer auf der Straße angewandert kommen. Sie erkannte den kleinen dicken Onkel Miltaler und den langen dürren Gemeindevorsteher Berger. Mit halbem Ohr hörte sie, wie Erkmann antwortete: „Das Opfer kann ich Von Ihnen nicht annehmen.“

„Darüber sprechen wir später, Erkmann, jetzt bleiben Sie ruhig; das Verhängnis naht.“

Der Gemeindevorsteher kam näher und zog den Hut vor Erdmute. Dann wandte er sich an Erkmann. „Herr Kurat, wir haben uns eines Auftrages der Gemeindevertretung zu entledigen. Infolge der Beschwerden, die über Sie eingelaufen sind, tritt die Gemeinde von dem Vertrag zurück, sie macht von dem Paragraph fünf Gebrauch, wonach sie jederzeit von dem Vertrag ohne Kündigung zurücktreten kann, wenn Sie die Reparaturen unordentlich oder unpünktlich ausführen. Nach unserer Auffassung genügt es, wenn Sie einen Punkt dieses Paragraphen verletzen.“

Jetzt trat der Bauer Kerut heran. „Ach, Berger, red' doch nicht so lange Streifen. Sie haben heute die Schmiede zu räumen und morgen das Haus.“

Erkmann brauste auf. „Sie wollen mich hier `rauswerfen, ohne mich gehört zu haben?“

„Das haben wir gar nicht nötig“, erwiderte der Gemeindevorsteher. „Die Beweise liegen vor, daß Gemeindemitglieder wochenlang auf eine kleine Ausbesserung haben warten müssen. Wenn es Ihnen nicht paßt, klagen Sie. Wenn Sie nicht gutwillig die Schmiede räumen, müssen wir den Amtsdiener schicken!“

Jetzt trat Erdmute vor. „Nicht nötig. Kurat wird ohne Zwang die Schmiede räumen, nicht wahr, Erkmann?“

Kurat nickte stumm. „Na, dann seid ihr hier wohl fertig, nicht wahr?“

Als die drei sich zum Gehen wandten, rief sie: „Ach, Herr Kerut, noch ein Wort. Wie ist das mit den Julizinsen?“

„Liebes Fräulein, ich wollte in diesen Tagen zu Ihnen kommen...“

„Nicht nötig, bei unpünktlicher Zinsenzahlung ist die Hypothek ohne Kündigung fällig. Ich beantrage morgen die Zwangsversteigerung.“

„Sobald ich gedroschen habe, bringe ich Ihnen die Zinsen.“

„Zu spät, Herr Kerut.“

„Aber Erdmute, wie kannst du bloß!“ rief Miltaler. „Das ist ja unglaublich.“

„Ja, das habt ihr nicht geglaubt. Ihr wolltet den Muckerpfaff zertreten und rennt mit dem Schädel gegen den Geldsack der Erdmute Endrulat.“

18. Kapitel

Von Erkmanns verunglückter Werbung um Madeline hatte niemand, außer den acht Personen, die darum wußten, etwas erfahren. Um so eifriger beschäftigten sich alle Klatschmäuler mit dem Verhältnis zwischen Erkmann und Erdmute. Sie galten allgemein als im stillen verlobt. Eine andere und näherliegende Erklärung dafür gab es nicht, daß Erdmute ihm und seiner Mutter ein leerstehendes Insthaus, das in der Zwischenzeit sauber hergerichtet war, als Wohnung überlassen. Jons sorgte eifrig dafür, daß die Leute seinen Meister und Erdmute als ein zukünftiges Ehepaar ansahen. Er war inzwischen bei der Firma Kurat & Co. Werkführer geworden.

Als die Abordnung der Gemeindevertretung mit langer Nase abgezogen war, hatte sie Erkmann die Hand hingestreckt und er hatte schweigend eingeschlagen. Dann hatte sie Jons herbeigerufen und ihn gefragt: „Sie bleiben doch bei uns, das heißt bei der Firma Kurat & Co.“, und als er freudig zugestimmt hatte, rief sie ihm vom Pferd herab zu: „Sie werden also Werkmeister bei uns. Das Gehalt werde ich mit Erkmann festsetzen. Ich denke, Sie werden zufrieden sein.“

Das Wort „Gehalt“ hatte dem alten Graubart am meisten Freude bereitet. Jetzt bekam er nicht mehr Lohn, sondern Gehalt. Es war selbstverständlich, daß er Erdmutens Lob, wo er hinkam, in allen Tonarten sang.

Auch bei den Bauern war die Stimmung gegen Erkmann umgeschlagen. Der Kerut, gegen den Erdmute wirklich die Zwangsversteigerung beantragt hatte, war nicht der einzige, der von ihr Geld geliehen hatte. Vor vier Jahren, als die Ernte sehr schlecht geraten war, hatten fast alle, die nicht sehr fest auf ihren Füßen standen, bei ihr Hilfe gesucht, und sie hatte gegeben und das geliehene Geld zur letzten Stelle eintragen lassen, ohne viel nach der Sicherheit zu fragen.

Jetzt schreckte sie das Schicksal des Kerut, der vergeblich von Pontius zu Pilatus lief, um das Geld aufzutreiben. Und Erdmute hatte noch nie so pünktlich die Zinsen einbekommen, als in diesen Tagen.

Abrys hatte sich beruhigt und eingesehen, daß es für seine Hoffnung auf Madeline das beste war, wenn er seiner Schwester in allem freie Hand ließ. Er hatte ihr auch die Wagen gestellt, um die Maschinen und Geräte, die auf dem Bahnhof in Stallupönen angekommen waren, abzuholen. Und das Geschäft ließ sich gut an. Kaum war die erste Annonce im Kreisblatt erschienen, als auch schon die ersten Käufer aus den umliegenden Dörfern sich einstellten. Sie bekamen den Pflug, den sie brauchten, ebenso billig wie von der Fabrik und hatten weiter keine Mühe dabei. Auch Abrys hatte seiner Schwester einiges abgekauft.

Das Häuschen, das Erkmann mit seiner Mutter und Jons bezogen hatte, genügte vollkommen ihren Ansprüchen. Gleich daneben wurde bereits an der Schmiede gebaut.

Erdmute hatte schon in den ersten Tagen, nachdem Erkmann die Schmiede hatte räumen müssen, einen großen Triumph gefeiert. Der Landrat hatte auf einer Fahrt über Land nicht weit von der alten Schmiede ein kleines Malheur gehabt. Von einem Hinterrad seines Wagens war der Reifen abgegangen. Der Kutscher, den er fortgeschickt hatte, Hilfe zu holen, war mit der Meldung zurückgekommen, daß die Schmiede geschlossen und das Haus leer sei. Nun mußte er selbst sich zu Fuß auf den Weg machen, um sich im Dorf einen Wagen zu besorgen. Er war zu Abrys Endrulat gegangen, der ihm persönlich gut bekannt war. Da hatte er Erdmute getroffen, und die hatte ihm die Vertreibung des Dorfschmiedes als eine von persönlichem Haß eingegebene Dummheit des Gemeindevorstehers geschildert.

Nun entlud sich ein heftiges Donnerwetter über den Gemeindevorsteher, und als der sich auf Miltaler berief, auch über den Amtsvorsteher, der die Gemeindevertretung zu der Dummheit verführt hatte, statt sie zu verhindern. Das war natürlich im Dorf nicht unbekannt geblieben und die Bauern gaben dem Landrat recht. Es war wirklich ein unerträglicher Zustand, daß das Dorf gerade in der Zeit, wo man ihn am nötigsten brauchte, ohne Schmied war.

Madeline war zu ihrer Mutter nach Lisken gefahren. Die Eltern erhoben keinen Einspruch, obwohl sie befürchteten, Madeline ganz zu verlieren. Es war das beste, wenn sie jetzt nicht in Lasdehnen blieb, wo sie Erkmann, der jetzt nur wenige Häuser von ihr wohnte, auf Schritt und Tritt begegnen mußte. Das konnte nur beiden Teilen unangenehm sein.

Frau Enute hatte schon wieder Hoffnung gefaßt. Madeline hatte ihr, als sie das Gespräch auf Erkmann und Erdmute brachte, ruhig erklärt: „Der Herr Kurat ist für mich für immer erledigt. Ich habe ihm durch seine Mutter bestellen lassen, daß er zwischen mir und Erdmute wählen müßte. Er hat Erdmute gewählt. Ich kann es euch ja jetzt sagen: ich hatte ihm den Vorschlag gemacht, nach Lisken zu gehen. Die Mutter wollte ihm helfen. Er hat es nicht getan, weil er, wie mir Mutter Urrte gesagt hat, seine Gemeinde nicht im Stich lassen wollte. Ob das bloß ein Vorwand war, kann ich nicht beurteilen. Ich nehme zu seiner Ehre an, daß es kein Vorwand war. Ich habe ihn ja selbst darin bestärkt.“

Frau Enute hatte ihr eifrig beigestimmt und gemeint, die Verlobung zwischen Erkmann und Erdmute würde nicht lange auf sich warten lassen. „Und dann kommst du wieder, Linchen. Du wirst uns doch nicht vergessen?“

„Nein, Muttchen, aber ich komme nicht eher wieder, als bis die beiden verheiratet sind. Oder vielleicht ist es noch besser, wenn ihr zu mir nach Lisken zieht. Der Vater hat nach dem Auftritt mit dem Landrat große Lust, seinen Abschied zu nehmen. So viel, wie ihr auf dem Dorf zum Leben braucht, habt ihr ja, für mich wird meine Mutter sorgen.“

Abrys hatte es auch für das beste gehalten, daß Madeline für einige Zeit wegfuhr. Seine Liebe hatte auch diesen Stoß überdauert und die Hoffnung in ihm aufleimen lassen, an Madelines Seite doch noch ein bescheidenes Glück zu finden. Er hatte sich erboten, sie zur Bahn zu bringen, und sie hatte es angenommen. Sie hielt eine Aussprache mit ihm für unvermeidlich. Und auf der Fahrt zur Bahn hatten sie genug Zeit dazu.

Er hatte sein Reitpferd, einen großen Braunen, vor den Wagen gespannt. Auf Madelines Sitz lag ein großer Strauß. Durch das Dorf, wo der Wagen auf dem Steinpflaster rasselte, saßen sie schweigend nebeneinander. Erst auf der Chaussee, wo Abrys den Braunen auf den Sommerweg lenkte, war eine Unterhaltung möglich.

„Wie lange gedenkst du zu bleiben, Linchen?“ fragte Abrys.

„Das ist noch unbestimmt, mein lieber Abrys. Ich komme auf jeden Fall nicht eher zurück, als bis die beiden ein Paar geworden sind. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß ich noch länger bleibe, noch viel länger, bis ich selbst meine Ruhe wiedergefunden habe.“

„Geht es dir so nahe, Linchen?“

„Ja, Abrys, ich muß es dir sagen, wenn es dir auch weh tut. Ich kann ja nichts dafür.“

Er strich ihr sanft über die Hand, die den Strauß hielt. Sie fühlte, wie rührend diese Liebe war, die der Mann an ihrer Seite in seinem Herzen trug. Mit keinem Wort, mit keinem Blick hatte er es sie entgelten lassen, daß sie ihm einen so großen Schmerz bereitet hatte.

„Ja, Abrys“, sagte sie mit leiser Stimme. „Du kannst auch nichts dafür, daß du mich so lieb hast. Mir ist es auch so gegangen. Wie ich erfahren hatte, daß er zweimal an einem Tage sein Leben für mich eingesetzt hatte, da wurde plötzlich ein Bild in mir lebendig. Ich sah ihn, wie er sich über mich beugte und wie seine Augen angstvoll und mit einem Ausdruck unendlicher Liebe auf mir ruhten.“

Mit einem leisen Lächeln fuhr sie fort: „Unsere alte Dore ist die Kupplersche gewesen. Die hat stundenlang an meinem Bett gesessen und hat mir soviel von ihm vorgeschwärmt, wie die Leute an ihm hängen und ihn verehren, wie der Sinnhuber mit seiner Frau zu ihm ging und das Trinken abschwor. Da habe ich auf meinem Krankenlager viel und zuletzt mit großer Sehnsucht an ihn gedacht. Und er tat mir so leid...“

„Brauchst mir das nicht zu erzählen, Linchen. Irgendwie ist es ja gekommen.“

„Du hast recht, Abrys. Ich will nicht mehr daran denken.“

Schweigend saßen sie eine Weile nebeneinander. Zu ihrer Linken hatte die Forst begonnen, ein schöner, gemischter Wald, mit alten Eichen und Buchen und Fichten, dazwischen helles Unterholz. Nach rechts sah man weit über ebenes Ackerland, das mit Getreide bestanden war. Und hier hatte die Ernte bereits begonnen. In langen Reihen zogen die Schnitter über das Feld, ihre Sensen blitzten im Schein der Morgensonne.

„Das Getreide steht überall gut“, meinte Abrys. „Ich werde dies Jahr eine vorzügliche Ernte haben. Ich will mir eine Lokomobile und einen Dreschsatz anschaffen. Da brauche ich nicht mit dem Flegel den ganzen Winter über klappern zu lassen.“

„Es hört sich immer so traulich an, ich höre es gern.“

„Ich auch, Linchen, aber man muß mit der Zeit fortschreiten. Den Winter über trocknet viel ein und geht durch Mäusefraß verloren. Ich bekomme ein paar tausend Mark mehr `raus, wenn ich es schnell ausdresche. Vielleicht ist es auch besser, wenn Erdmute den Dreschsatz kauft und ich ihn nur miete. Dann kann ich ihr in diesem Jahre einen gehörigen Posten von ihrem Erbteil auszahlen. Zum nächsten Jahr wird sie wohl bauen wollen.“

„Weshalb denn?“

„Aber Linchen, sie wird doch nicht mit dem Kurat in die kleine Kate gehen, und wenn ich im nächsten Jahr heiraten sollte, muß sie das Haus räumen.“

Er sah sie dabei von der Seite an und begegnete ihrem Blick. Unbefangen freundlich sah sie ihn an. „Daran tust du recht. Weshalb sollst du noch länger als Einspänner `rumlaufen.“

Dem Mann an ihrer Seite wich das Blut aus dem Gesicht. Er hatte verstanden, was sie meinte. Er sollte sich eine andere zur Frau nehmen. „Ich dachte, du wirst mich jetzt nehmen. Ich will ja geduldig warten, bis du das überwunden hast.“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, mein lieber Abrys. Das wollte ich dir unterwegs beibringen, daß du dir keine Hoffnung auf mich machen sollst, ich kann das nicht verwinden. Mein Herz ist tot für immer. Und eine Frau ohne Herz wirst du doch nicht nehmen.“

Er faßte ihre Hand und drückte sie. „Madeline, ich will ruhig warten, mag es ein oder zwei oder drei Jahre dauern. Ich habe Geduld, weil ich dich so liebhabe.“

Madeline schüttelte wieder den Kopf. „Nein, Abrys. Das wäre eine Sünde, wenn ich dich heiraten wollte und an den anderen denken müßte. Ich habe eben die Unwahrheit gesagt. Mein Herz ist nicht tot, es schmerzt bei dem leisesten Gedanken an ihn, gib die Hoffnung auf.“

„Nein, Linchen, das tu ich nicht. Was du mir eben gesagt hast, schmerzt mich, aber es raubt mir nicht die Hoffnung. Vielleicht wirst du mich nie so liebgewinnen wie den anderen, aber du wirst mit der Zeit ruhiger werden und anders darüber denken.“

Madeline entzog ihm ihre Hand. „Du hast keinen Stolz, Abrys. Was der andere weggeworfen hat, willst du aufheben.“

„Nein, dir gegenüber habe ich keinen Stolz“, erwiderte er leise, und die Liebe strahlte ihm aus den Augen und verklärte sein Gesicht, „Es ist auch nicht richtig, was du sagst. Er hat dich nicht fortgeworfen. Im Gegenteil, er hat versagt und sich schlecht benommen. Ich an seiner Stelle wäre auf jede Bedingung eingegangen, die der Vater stellte.“

„Ich habe gestern abend mit Erdmute lang und breit darüber gesprochen“, fuhr er nach einer Pause fort, als Madeline nicht antwortete. „Sie ist trotz ihrer Liebe nicht blind gegen seine Fehler und Schwächen. Sie meint aber, und mit Recht, daß das bei ihm nicht die richtige Liebe gewesen ist. Die Liebe, die nach dem Wort der Heiligen Schrift alles trägt und alles duldet. Ihm fehlt die sittliche Kraft. Als die Not auf ihn einstürmte, ließ er dich im Stich und griff nach der Hand, die Erdmute ihm reichte, obwohl er genau wußte, was das bedeutete.“

„Glaubst du wirklich, Abrys, daß er deine Schwester heiraten will?“

„Ja, Linchen, darüber kann wohl kein Zweifel mehr herrschen. Und wenn er ein Ehrenmann ist, dann kann er nicht mehr zurück.“

Ein paar große Tränen traten in ihre Augen und stahlen sich die Backen hinab. Abrys wandte den Kopf weg und sah zur Seite. Da kam ihre Hand und legte sich weich und warm auf seinen Arm. „Verzeih, Abrys, ich kann nichts dafür. Mir ist das Herz so schwer.“

„Wein' dich ruhig aus, Linchen, dann wird dir leichter werden.“

Ein Wagen kam ihnen entgegen. Er zog die Leine an und ließ das Pferd in Schritt fallen, um Madeline Zeit zu geben, ihre Tränen zu trocknen. „Nimm dich ein bißchen zusammen, Linchen, es sind Bekannte. Petrenz aus Laukelischken.“ Der Wagen hielt. Die Insassen grüßten. „Wo fahrt ihr hin? Zur Bahn? Wollen Sie verreisen, Fräulein Miltaler? Ach deshalb macht Abrys solch ein trauriges Gesicht. Na, Sie kommen ja wohl bald wieder? Glückliche Reise.“

Eine Stunde fuhren sie schweigend. Was sie sich zu sagen hatten, war gesagt, und zu einer gleichgültigen Unterhaltung hatten beide keine Lust. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt.

Erst kurz vor der Stadt faßte Abrys nach ihrer Hand. „Linchen, willst du mir nicht ein bißchen Hoffnung geben?“

„Abrys, das fragst du noch nach allem, was ich dir gesagt habe?“ Sie wandte sich zu ihm. Und als sie ihm in die guten, treuen Augen sah, die so innig baten, da erwiderte sie leise: „Nach einem Jahr kannst wieder anfragen.“

„Nach einem Jahr erst?“

Sie versuchte zu lächeln. „Das hatte ich mir bei den Eltern ausgemacht. Ein Jahr solltest du noch unter allen Umständen warten.“

„Gut, Linchen, ich werde geduldig warten. Und sollte der Fall eintreten, daß du früher mit dir ins reine kommst, dann laß es mich wissen. Jeder Tag, den du mir ersparst, ist für mich ein Freudentag.“

Sie gab ihm die Hand. „Ich verspreche es dir.“

„Ich danke dir, Linchen.“ Mit einer schnellen Bewegung zog er ihre Hand an sich, beugte sich vor und küßte sie. —

Auf dem Bahnhof in Gutten wurde sie von ihrer Mutter erwartet, die allein mit einem Einspänner gekommen war, sie abzuholen. „Weshalb hast nicht deinen Schatz gleich mitgebracht?“

„Mutter, ich erzähl' dir alles zu Hause. Von meinen Eltern bringe ich dir viele Grüße. Du sollst mich nicht ganz behalten.“

„Na, wie lange willst du bei mir bleiben?“

„Ein paar Monate, Mutter, bis... zum Winter. Zu Weihnachten möchte ich wieder zu Hause sein.“

„Kind, Linchen, das habe ich nicht zu hoffen gewagt, und wie wird mein Kruk sich freuen. Du mußt nicht mehr Sie` zu ihm sagen. Sag' du und Onkel, oder noch besser wär' schon, wenn du gleich Vater zu ihm sagen würdest. Er hat dich sehr lieb, und für wen arbeitet er jetzt? Doch bloß für dich und deinen Schatz.“

„Ich werde es versuchen, Mutter. Aber von dem Schatz sprich nicht mehr. Das ist vorbei, das ist aus.“

„So ein dummer Kerl. Verschmäht unser Linchen, wo er sich bei uns in das warme Nest setzen konnte. Ich habe mit meinem Mann sofort die Sache besprochen, und der hat wieder mit den Bauern und Gutsbesitzern gesprochen. Er hat schon den Platz ausgesucht. Nun sag' bloß, wieso ist nichts daraus geworden? Du hast ihn sehr lieb gehabt, ich habe es dir angemerkt.“

„Ja, Mutter, das ist aber eine lange Geschichte, die werde ich dir zu Hause erzählen.“

„Solange werde ich meine Neugier schon beherrschen. Ich habe auch eine Überraschung für dich, der Kruk, der Vater hat mich darauf gebracht. Wir haben dir ein Zimmerchen eingerichtet. Es ist nicht groß. aber hoffentlich wird es dir gefallen. Für meinen Mann war nichts gut genug.“

Es war wirklich eine große, freudige Überraschung. Das Zimmer war wie für ein Prinzeßchen eingerichtet. Ein schönes Bett mit Baldachin, ein entzückender Schreibtisch, auf dem eine Reihe neuer Bücher stand. Ein kleines Sofa mit zwei Sesseln, hinter einem Vorhang der Waschtisch mit dreifachem Spiegel. „Unser Lieschen, die Tochter unseres Pastors, hat mir geholfen, alles auszusuchen“, erklärte die Mutter. „Wir hätten das ja wohl nicht so verstanden. Das ist ein liebes Mädchen, mit dem mußt du Freundschaft schließen.“

Als Madeline abgelegt und den Reisestaub abgewaschen hatte, war Kruk vom Felde nach Hause gekommen. Madeline reichte ihm die Hand. „Ich danke dir, Vater. Du hast mir eine sehr große Freude bereitet. Das Zimmer ist ja wie ein Schmuckkästchen.“

Der einfache Mann strahlte vor Freude. „Wir haben ja sonst für niemand zu sorgen als für dich.“

„Ja, Mann, und jetzt haben wir wieder ein Kind im Hause. Sie bleibt bis Weihnachten. Aber mit dem Schwiegersohn ist es nichts geworden.“

„Schade“, erwiderte Kruk. „Ich hatte mir das so schön ausgemacht. Aber weißt du, Frau, die Schmiede bau ich doch. Einen Schmied müssen wir uns jetzt suchen, oder soll ich noch mal an den Meister in Lasdehnen schreiben?“

„Nein, nein, Vater, der ist Fabrikbesitzer geworden und heiratet eine andere.“

19. Kapitel

Der Herr Werkführer Jons Druskus war eine gewichtige Persönlichkeit in Lasdehnen geworden. Er führte die Käufer, die bei Erdmute Endrulat vorsprachen, auf den Platz, wo die Maschinen standen und wußte sie durch seinen trockenen Humor und seine drastischen Redensarten dahin zu bringen, daß sie meist mehr kauften, als sie beabsichtigt hatten. Eines Tages erschien auch der Gemeindevorsteher Berger bei ihm.

Er wollte nichts kaufen, aber er hatte ein größeres Anliegen. Jons sollte während der Ernte- und Saatzeit in der alten Schmiede die nötigsten Reparaturen ausführen.

„Da müssen Sie schon meine Brotgeber fragen, ob sie das erlauben, den Kurat und die Co.“

Berger hatte von den Bauern schon so viel Vorwürfe einstecken müssen, daß er auch in diesen sauren Apfel biß.

„Aber ihr müßt alle mitkommen und euch vergleichen, was zuerst gemacht werden soll, damit ihr mich nachher nicht auch noch `rausschmeißt“, meinte Jons, als er die Erlaubnis bekommen hatte.

Erkmann hatte sich in diesen Tagen sehr verändert. Er hatte wohl nicht die Gabe, mit den Menschen freundlich und zuvorkommend umzugehen und stand still und maulfaul dabei, wenn ein Kauflustiger erschien, anstatt ihn auf dieses oder jenes aufmerksam zu machen und die Vorzüge einer Maschine oder eines Gerätes anzupreisen. Es war, als wenn irgend etwas in ihm zerbrochen und ihm dabei die Energie abhanden gekommen wäre.

Erdmute schien es nicht zu bemerken. Sie konnte sich seinen Seelenzustand erklären und war klug genug, ihn nicht zu einer Entscheidung zu drängen. Deshalb erinnerte sie Erkmann auch nicht an die Versammlung oder Gesellschaft, die sie für ihn geben wollte. Sie wußte, daß er fast jeden Abend wegging, um auf irgendeinem Dorf der Umgegend eine Andacht abzuhalten. Meistens unangemeldet. Seine Anhänger waren ja bald zusammengerufen. Man sang auch nicht, um sich nicht zu verraten.

Es dauerte nicht lange, da fing man an, über diese Andachten zu munkeln. Er sollte jetzt ganz anders predigen als früher... Der Erdmute wurden diese Dinge von ihrem Dienstmädchen zugetragen, das sich auch zu den Frommen hielt und alles von Miltalers Dore, wo täglich viele Menschen aus- und eingingen, erfuhr.

Wie und was der Muckerpfaff jetzt predigte, sollte bald an den Tag kommen. Eines Morgens kam der Gutsbesitzer Petrenz aus Laukelischken in voller Karriere zum Amtsvorsteher angesprengt. Seine Leute sollten früh anfangen, den reifen Weizen zu mähen. Statt dessen waren sie vor das Gutshaus gekommen und hatten eine beträchtliche Lohnerhöhung gefordert. Als er sie nicht bewilligte, hatten sie die Arbeit verweigert.

Bei dem Verhandeln hatten die Leute sich auf Kurat berufen, der ihnen gesagt hätte, sie brauchten nicht mehr so dumm zu sein, für einen so billigen Lohn zu arbeiten. Jeder Arbeiter sei seines Lohnes wert.

„Damit hat er mir vor einiger Zeit gedroht“, erwiderte Miltaler in heller Aufregung. „Aber jetzt werden wir dem Burschen das Handwerk legen.“

„Mir kommt es erst darauf an, daß die Leute die Arbeit aufnehmen“, meinte der Gutsbesitzer. „Den Leuten muß der Kopf zurechtgesetzt werden, und das kann nur der Muckerpfaff. Ich meine, wir müssen ihm das alles in aller Ruhe vorstellen, und er muß mit uns `rauskommen. Ich habe den Wagen nachbestellt.“

„Sie haben was Schönes angerichtet, Kurat“, fuhr Miltaler Erkmann an, der zwischen seinen Maschinen stand. „Die Leute bei Petrenz verlangen höheren Lohn und haben die Arbeit eingestellt.“

Erkmann erschrak. „Bei Gott, das habe ich nicht gewollt. Ich habe ihnen nur gesagt, daß sie im Aufblick zum Himmel und bei aller Frömmigkeit ihr irdisches Wohl nicht zu vergessen brauchen.“

„Da haben wir es ja“, unterbrach ihn Miltaler. „Sie werden wohl auch noch ein bißchen deutlicher geworden sein, und jetzt sehen Sie die Folgen. Sie haben sich damit `ne schöne Suppe eingebrockt.“

„Vor allen Dingen kommt es für mich darauf an,“ fiel der Gutsbesitzer ein, „daß die Leute zur Vernunft gebracht werden. Mein Weizen ist todreif, der muß heute `runter.“

„Wissen Sie auch, daß das `ne Sache für den Staatsanwalt ist?“ warf Miltaler dazwischen.

„Ach, lassen Sie das doch jetzt, Miltaler“, wehrte Petrenz ärgerlich ab. „Getrauen Sie sich, die Leute wieder zur Vernunft zu bringen?“

„Ich glaube wohl, Herr Petrenz.“

„Na dann los. Da kommt schon mein Wagen. Steigen Sie ein, wie Sie gehn und stehn.“

Die Arbeiter standen noch auf dem Hof versammelt. Es waren einige besonnene Männer darunter, die schon zur Aufnahme der Arbeit mahnten. Ein paar junge Weiber hetzten dagegen. Der Herr werde schon nachgeben. Er werde doch nicht den Weizen auf dem Felde umkommen lassen.

„Und wenn er den Gendarmen mitbringt?“ meinte einer.

„Na, was ist denn schon? Laß er euch doch mitnehmen und einspunden! Was haben wir denn verbrochen? In der Stadt machen sie es doch ebenso. Wenn sie nicht genug Lohn bekommen, hören sie auf zu arbeiten.“

„Nanu, was ist denn jetzt los?“ rief dasselbe Weib, als der Wagen mit Kurat auf den Hof fuhr. „Da kömmt ja uns' Kurat. De ward doch nich jejen uns sind?“

„Kinder, was tut ihr?“ rief Erkmann den Leuten entgegen. „Ihr vergeht euch gegen Gesetz und Ordnung.“

„Nu hört ihm reden“, erwiderte das Weib, das mit einem flinken Maulwerk gesegnet zu sein schien. „Alles ward dürer... dat bätken Fleesch, de Kaffee, dat Schmoll, de Zichorie und wi solle ewig för dat sölwige Lohn ränge und ruckse?“

„Willst du wohl dein Maul halten!“ donnerte Erkmann sie an. „Ihr Frauen geht nach Hause. Hier haben nur Männer zu reden.“

Murrend folgten die Frauen dem Befehl, dem die meisten Männer beistimmten. Dann begann Erkmann den Männern auseinanderzusetzen, daß sie unrecht und ungesetzlich handelten, wenn sie ihren Herrn mit Zwang zur Lohnerhöhung bringen wollten. Sie könnten in Ruhe mit ihm darüber unterhandeln, und wenn es ihnen nicht paßte, zu Martini kündigen. Was sie getan hätten, darauf stände schwere Strafe.

Der Gutsbesitzer war einsichtig genug, sich im Hintergrund zu halten. Er kam erst heran, als er merkte, daß Erkmann die Männer zur Vernunft gebracht hatte. „Kinder, seid nun vernünftig, nehmt eure Sensen, holt eure Weiber und geht an die Arbeit. Heut' abend können wir ja in aller Ruhe darüber reden.“

„Und Sie werden die Leute nicht bestrafen lassen?“ fragte Erkmann. als die Männer gegangen waren.

„Ich denke nicht daran, ich bin froh, daß die Sache so abgelaufen ist. Aber Sie können sich `ne Lehre daraus nehmen. Herr Kurat. Ihre Worte sind bei den Leuten wie der Funke in trockenes Stroh gefallen.“

„Und wer trägt die Schuld an der Stimmung der Leute, Herr Petrenz?“

Gedankenvoll wandte er sich nach Lasdehnen zurück. Den Wagen, den der Gutsbesitzer ihm höflicherweise angeboten hatte, schlug er aus. Er sah ein, daß er Unheil angerichtet hatte und fühlte die Verpflichtung, sich dagegen zu stemmen. Am besten, wenn er schon für den nächsten Tag, einen Sonntag, in Giwerlauken eine große Versammlung einberief. Dazu würden die Menschen von weit und breit kommen.

Miltaler machte ein verblüfftes Gesicht, als Erkmann bei ihm eintrat. „Na, wie ist die Sache abgelaufen?“

„Die Leute sind sofort an die Arbeit gegangen.“

„Das ist Ihr Glück, Kurat.“

„Ja, Herr Amtsvorsteher, ich wollte gerade für morgen eine große Versammlung in Giwerlauken anmelden.“

„Mensch, Kurat! Sind Sie bei Trost? Ich soll Ihnen jetzt eine Versammlung gestatten?“

„Gerade deswegen, Herr Amtsvorsteher, ich will morgen den Leuten die Kopfe zurechtsetzen.“

„So so, das ist allerdings etwas anderes. Aber ich komme selbst hin. Wo soll denn die Kiste steigen?“

„Ich dacht', wenn ich die Erlaubnis vorzeigen kann, möchte mir der Gastwirt seinen Saal geben.“

„Einverstanden... Schicken Sie mir die Anmeldung `rüber.“

Wie ein Lauffeuer war es durch die Dörfer gegangen, daß der Muckerpfaff am nächsten Tage in Giwerlauken eine Versammlung abhalten wolle. Die Konfirmanden, die in Lasdehnen zum Unterricht gewesen waren, hatten die Nachricht gebracht. Erkmann hatte es ihnen selbst gesagt.

Schon eine Stunde vor der festgesetzten Zeit füllte sich der Saal. In der Gaststube saß der Gendarm, den Miltaler zur Aufsicht hinbestellt hatte. Er selbst saß mitten in der Versammlung. Als Erkmann auf die kleine Bühne trat und anfangen wollte zu sprechen, stand er auf und rief: „Die Versammlung muß von einem Vorsitzenden geleitet werden, der auf Ordnung hält.“ Erkmann war auch darauf vorbereitet. Unter seinen Anhängern hatte er einen älteren Mann, der damit Bescheid wußte. „Dann bitte ich dich, Naujoks, die Versammlung zu leiten.“

Der Aufgerufene betrat die Bühne und begann: „Ich eröffne die Versammlung. Die Anmeldung ist richtig erfolgt und vom Amtsvorsteher bescheinigt. Ich erteile das Wort..

„Zur Geschäftsordnung!“ rief ein Mann aus der Menge.

„Ihren Namen, bitte...“

„Max Josupeit aus Lasdinelen.“

„Herr Max Josupeit zur Geschäftsordnung!“

„Ich wollte bloß wissen, ob das eine Betversammlung oder eine politische Versammlung sein soll?“

Jetzt erhob sich Miltaler. „Herr Kurat hat meines Wissens eine politische Versammlung angemeldet.“

„Dann möchte ich wissen, ob eine freie Aussprache stattfindet.“

„Das ist ein Sozialdemokrat“, flüsterte Miltaler seinem Nachbar zu.

Der Vorsitzende erhob sich. „Das ist in einer politischen Versammlung selbstverständlich. Und jetzt erteile ich das Wort Herrn Kurat aus Lasdehnen.“

„Verehrte Anwesende!“ begann Erkmann. „Ich habe Sie zusammenberufen, um mit Ihnen ein betrübendes Ereignis zu besprechen. Gestern früh haben beim Gutsbesitzer Petrenz in Laukelischken die Arbeiter...“

„Von Ihnen aufgehetzt!“ rief ein Mann dazwischen, dem man schon von weitem den reichen Bauer ansah.

Der Vorsitzende, der sich eine Glocke verschafft hatte, stand auf und läutete heftig. „Ich bitte, den Redner nicht zu unterbrechen, Sie können sich ja zum Wort melden.“

„Die Leute haben die Arbeit eingestellt, weil ihnen eine Erhöhung des Lohnes verweigert wurde. Sie haben sich für ihr Verhalten auf mich berufen.“

„Und das mit Recht“, rief derselbe Bauer dazwischen.

Unbeirrt fuhr Erkmann fort. „Ich lehne hier vor aller Welt die Verantwortung für ein solches ungesetzliches Vorgehen ab. Meine Freunde in dieser Versammlung wissen, daß ich stets zu christlicher Ergebung und Geduld ermahnt habe. Wenn ich jetzt nebenbei auch betone, daß man sein irdisches Wohl nicht vernachlässigen darf...“

„Dann heirat' man `ne Erdmute und macht `ne Fabrik opp“, rief jetzt ein Arbeiter.

„Meine persönlichen Verhältnisse haben damit nichts zu tun.“

„Ruhe! Weiterreden lassen!“ riefen einige Stimmen. Von der Gegenseite wurde unter lautem Gelächter gerufen: „Du sitzt schön im Fett.“

Vergebens versuchte der Vorsitzende, den Tumult zu beschwichtigen.

Miltaler wollte aufstehen und eingreifen. Sein Nachbar zog ihn auf den Sitz nieder. „Lassen Sie doch, Herr Amtsvorsteher. Die Mucker kriegen heut' ihr Fett.“

Endlich stand ein alter graubärtiger Mann auf, ging zur Bühne herauf und hob die Hand.

„Ruhe! Ruhe!“ rief es von allen Seiten, „der alte Riedelsberger will reden.“

„Laß mich sprechen, Naujoks.“

„Ja, Naujoks, ich trete das Wort an Riedelsberger ab“, sagte auch Erkmann, der ganz ratlos geworden war. Er war, wie alle geistlichen Herren, es gewöhnt, daß jedermann lautlos zuhörte, wenn er sprach. Die Zurufe und das Gelächter verwirrten ihn.

„Ich bin man ein Halbhufner,“ begann der Alte, „und habe im Brot einen Knecht und einen Instmann. Aber wozu soll das führen, wenn der Knecht des Morgens kommt und zu mir sagt: ich nehme die Sense nicht in die Hand, wenn du mir nicht fünfzig Taler Lohn gibst, statt dreißig. Und der Instmann kommt und sagt: ich arbeit' nicht mehr für zwei Mark den Tag. Ich will drei haben. Wovon soll denn ein kleiner Wirt bestehen?“

Ein Arbeiter rief dazwischen: „Dat wär' man richtig, wi kriege to wenig Lohn.“

„Du sei man still, Kaluddrigkeit, du trägst jeden Tag fünf Dittchen in den Krug.“

„Wat geit di dat an? Ick gah nach Westfale, da giwt dat mehr Lohn. De Baltruschat ut Bagdohne schickt sine Fru jede Woch so veel Göld na Hus, dat se nich dem Finger in kolt Water to stecke brukt.“

„Hast du nu genug gered't?“ fragte der Alte ruhig. „Dann will ich auch dazu was sagen. Ist das nicht eine Sünde und Schande, daß solch ein gesundes Frauenzimmer von dreißig Jahren zu Hause auf der faulen Haut liegt, anstatt zu arbeiten? Da gehört ein ordentlicher Päsdrick dazu und dann von obendahl, solange man den Arm rühren kann.“

„Dat Schlage ware wi ju ok noch abgewähne“, schrie Kaluddrigkeit.

Erkmann sprang vor. „Jetzt red' ich. Nein, sage ich, der Riedelsberger hat recht, es ist eine Sünde und Schande, auf der faulen Haut zu liegen und dem lieben Gott den Tag zu stehlen. Ich habe euch immer ermahnt, fleißig und ordentlich zu sein und zu leben und euch in allem Leid und in Sorgen damit zu trösten, daß Gott im Himmel euch dafür entlohnen wird. Das schließt nicht aus, daß wir hier auf Erden rüstig schaffen und auch für unser irdisches Wohl Sorge tragen.“

„Das haben wir schon mal gehört!“ rief der Bauer.

„Aber was die Leute in Laukelischken getan haben, das war gegen Recht und Gesetz. Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Und die von Gott eingesetzte Obrigkeit verbietet es den Landarbeitern, sich zusammenzurotten und durch Zwang Lohnerhöhung zu erpressen. Wohin soll das führen, wenn mitten in der Ernte die Instleute ihre Arbeit niederlegen?“

„Sehr richtig!“ riefen Bauern dazwischen.

„Die Ernte ist Gottes Segen. Wir sind nur die Mühewalter, die sie hereinbringen“, fuhr Kurat fort.

Einer aus seiner Gemeinde, ein ordentlicher, nüchterner Mann, sprang auf und schrie ihn an: „Und wer nimmt das Geld dafür? Der Bauer und der Gutsbesitzer! Und wir, die wir von Sonnenaufgang bis -untergang raksen, wir bekommen einen Hundelohn, einen Dreck.“

Wütend schreiend erhoben sich die Bauern, die auf einer Seite beisammen saßen. Auf der anderen Seite standen die Arbeiter auf und schrien dagegen. Ein Arbeiter, der keine Andacht versäumte, trat vor die Bühne, hob drohend die Faust und schrie Erkmann zu: „Komm' du man noch mal beten, wir ware di schon utlüchte.“ Hinter ihm drängten sich fünf, sechs Mann und schüttelten die Fauste gegen Erkmann. „Du hast eine gespaltene Zunge wie die Schlange, die Eva verführte“, rief einer. „Dir hat die Erdmute mit ihrem Geldbeutel gekauft.“

Blaß wie der Kalk an der Wand trat Erkmann zurück. Alles Blut drängte sich zu seinem Herzen und verursachte ihm einen körperlichen Schmerz. Alles was er in Jahren unter Sorgen und Entbehrungen aufgebaut hatte, lag in Trümmern... Er hatte das Vertrauen der Leute verloren, die seine treuesten Anhänger gewesen waren. Er hörte, wie sie sich erzählten, daß er die Leute in Laukelischken angeschnauzt und mit Strafe bedroht hatte.

Miltaler war langsam auf die Bühne gestiegen. Sein Erscheinen schon wirkte beruhigend. Als der Tumult sich zu legen begann, rief er: „Im Namen des Gesetzes, ich löse die Versammlung auf und fordere Sie auf, sich ruhig zu entfernen!“

Langsam begann sich der Saal zu leeren. Als Erkmann heraustrat, stand noch ein Menschenhaufen vor dem Gasthaus. Schimpfworte und höhnische Redensarten wurden ihm nachgerufen. Er zuckte die Achseln und ging davon. Vor dem Dorf holte ihn Miltaler, der zu Wagen gekommen war, ein. Er ließ halten. „Steigen Sie auf, Erkmann.“

„Ich danke, Herr Amtsvorsteher, ich kann auch zu Fuß gehen.“

„Nu machen Sie keine Geschichten. Ich wollte Ihnen bloß sagen, daß in Bagdohnen derselbe Spektakel gewesen ist wie in Laukelischken. Der Heidenreich hat sofort den Landrat benachrichtigt und sich ein halbes Dutzend Gendarmen schicken lassen. Die haben acht Mann festgenommen und abgeführt. Das fällt auch auf Ihr Konto.“

„Kann sein, Herr Amtsvorsteher.“ Er lachte laut auf. „Wie ich als Muckerpfaff den Leuten Ruhe und Zufriedenheit gepredigt habe, da wurde ich aus dem Brot geworfen.“

„Das Predigen ging Sie auch nichts an. Dazu bestellt der Staat Männer, die sich über ihre wissenschaftliche Bildung und ihre sittliche Reife ausweisen müssen, ehe sie ein Pfarramt erhalten. Sie haben mit dem Feuer gespielt und sich die Finger verbrannt. Ich fürchte, das dicke Ende wird für Sie noch nachkommen. Auch in Bagdohnen haben die Leute sich auf Sie berufen. Der Landrat hat schon bei der Staatsanwaltschaft gegen Sie Anzeige erstattet.“

„Ja, Herr Amtsvorsteher, was ich mir eingebrockt habe, muß ich ausessen.“

20. Kapitel

Die gerichtliche Untersuchung ließ nicht lange auf sich warten. Eines Tages erhielt Ermann die schriftliche Aufforderung, sich zu seiner Vernehmung in dem gegen ihn anhängigen Strafverfahren auf dem Amtsgericht in Pillkallen einzufinden. Er war so bestürzt, daß er keinem Menschen ein Wort davon sagte, sondern Geschäfte vorschützte, die ihn nötigten, nach der Stadt zu gehen.

Der Untersuchungsrichter war ein alter, verknöcherter Jurist, der mit großer Umständlichkeit und Pedanterie zu Werke ging. Es dauerte gut eine Stunde, bis er nur mit den Rückfragen nach dem Alter, den Eltern, Lebenslauf usw. fertig war und Erkmanns Antworten zu Papier gebracht hatte. Dann erst machte ihn mit der Anzeige des Landrats bekannt, die ihn beschuldigte, die Landarbeiter von Laukelischken und Bagdohnen zum Klassenhaß aufgereizt und zur Zusammenrottung angestiftet zu haben. Das wären Vergehen, auf die schwere Strafe stände.

Erkmanns Antworten befriedigten ihn nicht. Er stellte unaufhörlich Fragen, die ihn in Verlegenheit bringen und ihm weitere Zugeständnisse abringen sollten. Ja, wiederholt legte er es ihm nahe, ein offenes Geständnis abzulegen und sich dadurch der Milde seiner Richter zu empfehlen.

Schließlich riß Erkmann die Geduld. „Ich erkläre Ihnen nochmals, Herr Richter, daß ich die Leute zu keiner Handlung aufgefordert habe. Ich habe ihnen nicht den Rat gegeben, sich zusammenzurotten und ihre Brotgeber zu nötigen, ihnen höhere Löhne zu bewilligen. Auf jede weitere Frage verweigere ich die Antwort.“

„Dann werde ich Ihnen die Aussagen der Leute vorhalten, die mit großer Bestimmtheit ausgesagt haben, daß Sie Ihrem ganzen früheren Verhalten entgegengesetzt sie aufgefordert haben, sich bessere Löhne zu erringen... ja zu erzwingen.“

Er las Erkmann einige Aussagen vor, aus denen deutlich hervorging, daß die einfachen Menschen, deren Muttersprache litauisch war, wenn sie auch deutsch verstanden, den Sinn der meisten Fragen nicht begriffen und vieles zugegeben hatten, was in sie hineingefragt worden war. Er hielt sich für berechtigt, es dem Richter zu sagen.

Der alte Herr brauste auf. „Damit werden Sie nicht durchkommen. Die Aussagen sind durchaus klar und ergeben ein deutliches Bild Ihrer Tätigkeit, das Sie schwer belastet. Und da die Gefahr vorliegt, daß Sie versuchen könnten, die Leute zu einer Abschwörung ihrer Aussagen zu veranlassen, sehe ich mich genötigt, Sie in Untersuchungshaft zu nehmen.“

An diese Möglichkeit hatte Erkmann nicht gedacht. Was würden Erdmute, Jons und die Mutter sagen und denken, wenn er nicht wieder nach Hause käme. Sie wußten nicht einmal, wo er geblieben war. „Herr Richter, wenn Sie mich kennen würden, würden Sie wissen, daß mir solch ein Versuch vollkommen fernliegt. Ich habe eine Fabrik in Lasdehnen, ich habe keine Nachricht hinterlassen.“

„Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Sie können Ihre Angehörigen von Ihrer Verhaftung benachrichtigen. Außerdem liegt bei der Nähe der russischen Grenze Fluchtverdacht vor. Ich muß meine Pflicht tun und Sie festhalten.“

„So ungefähr muß einem Verbrecher zumute sein, der zum Tode verurteilt ist“, dachte Erkmann, als er von einem Gerichtsdiener abgeführt und in eine Zelle eingesperrt wurde, die außer einer hochgeklappten Pritsche, einem Tisch und einem Stuhl nichts enthielt.

Sein Kopf brannte. Wirre Gedanken schossen ihm durch das Gehirn. Dazu das dumpfe Gefühl der Schmach und Schande. Er, Erkmann Kurat, der Muckerpfaff, zu dem Hunderte von Menschen mit Vertrauen und Hochachtung aufgeschaut hatten, saß hinter Schloß und Riegel. Und das war bloß das Vorspiel! Nach dem, was er heute erlebt hatte, mußte er als sicher annehmen, daß er zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt werden würde…

Ruhelos begann er, in seiner Zelle hin- und herzugehen. Es waren nur ein paar Schritte von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand, in der hoch oben ein vergittertes kleines Fenster angebracht war. Vor Jahren hatte er mal eine herumziehende Menagerie gesehen und sich darüber amüsiert, wie die Raubtiere vor ihrem Gitter ruhelos unermüdlich hin- und hergingen. Jetzt fiel ihm dieser Vergleich ein.

Er setzte sich an den Tisch und stützte den Kopf in beide Hände. Hatte er sich wirklich gegen die Gesetze vergangen? War er schuld daran, daß die Leute sich gegen Gesetz und Ordnung erhoben hatten? Weshalb war den Arbeitern auf dem Lande verboten, was den Arbeitern in der Stadt und den Industriebezirken erlaubt war? Hatte er und hatten die Arbeiter ein Recht, sich gegen die von der Obrigkeit erlassenen Gesetze aufzulehnen und sie zu verletzen? Nein, das war Sünde. Wenn er es auch nicht gewollt hatte, jetzt mußte er die Folgen seiner Handlung tragen.

Er sank neben dem Schemel, auf dem er gesessen, auf die Knie und betete lange und inbrünstig. Als er sich erhob, war er ruhig geworden. Als der Schließer ihm die sehr einfache Mittagskost brachte, verlangte er Feder und Papier. Er wollte an Erdmute schreiben und ihr mitteilen, wo er sich befinde.

In Lasdehnen wunderten sich die Nächstbeteiligten, als Erkmann am Abend von seiner Reise nicht zurückkehrte. Als er auch den nächsten Tag verschwunden blieb, wurde man unruhig. Sollte ihm ein Unglück zugestoßen sein? Dann würde man aber schon Nachricht haben. Erdmute sprach es nicht aus, aber sie war geneigt, anzunehmen, daß er auf und davon gegangen sei. Sie hatte ihn die ganze Zeit schon mit liebevoller Besorgnis beobachtet. Sein gedrücktes Wesen erklärte sie sich sehr richtig mit dem Fehlschlagen seiner Bewerbung. Sie wußte, daß er heftig in Madeline verliebt war und schwer mit sich zu kämpfen hatte.

Sie war klug genug, darauf mit keinem Blick, mit keinem Wort und keiner Miene anzuspielen. Die Wunde mußte sich ausbluten, ehe sie heilen konnte. Sie wollte ruhig warten.

Erst am dritten Morgen brachte ein Brief von Erkmann die Nachricht, daß er in Untersuchungshaft genommen sei. Mit dem Brief ging Erdmute sofort zu Onkel Miltaler. „Du mußt mir helfen. Was kann ich tun, daß ich ihn freibekomme?“

„Sehr einfach, du mußt eine Kaution anbieten. Setz' dich auf und fahr' nach Pillkallen, da mußt du den Untersuchungsrichter aufsuchen.“

„Onkel, kannst du mir nicht den Gefallen tun, mitzukommen? Ich als alleinstehendes Mädchen... Du wirst doch gewiß den Richter kennen und er dich auch, und wenn du ein gutes Wort für Erkmann einlegst.“

„Dir zuliebe will ich es tun, mein Kind.“

Erdmute hatte alles, was sie an Kapital und Wertpapieren zu Hause hatte, mitgenommen. Der Richter weigerte sich zuerst, Kurat gegen eine Kaution freizulassen. Von seinem Standpunkt aus mit Recht, denn er kannte Erkmann nicht und hielt ihn für einen gewissenlosen Agitator, der im Auftrage einer Partei die ländlichen Arbeiter gegen ihre Brotgeber zu verhetzen trachtete.

Miltaler gab ihm ein Bild von der ganzen eigenartigen Persönlichkeit des „Muckerpfaff“. Zum Schluß meinte er, seine Begleiterin trage einen Teil der Schuld, denn sie habe, um den Kurat seiner Muckerei abspenstig zu machen, ihm den Gedanken eingegeben, sich auch um das leibliche Wohl seiner Anhänger zu kümmern. Sie werde jetzt aber ihren Einfluß auf Kurat geltend machen, um ihn von dieser Art Seelsorge zurückzuhalten. Erdmute war, als der alte Herr dabei verständnisvoll lächelte, verlegen geworden, was nicht oft bei ihr vorkam. Sie fühlte, daß Onkel Miltaler recht hatte. Sie war es gewesen, die den Gedanken in seine Seele geworfen.

„Die Befürchtung, daß Kurat versuchen könnte, auf die Leute zur Änderung ihrer Aussagen einzuwirken, ist ganz unbegründet“, fuhr Miltaler fort. „Er ist ein durchaus ehrenhafter Mensch, der einer solchen Handlung nicht fähig ist. Dafür will ich mich persönlich verbürgen.“

„Nun, dann will ich Ihre Bitte erfüllen und seine Haftentlassung gegen eine Sicherheitsleistung von dreitausend Mark verfügen.“

Als die Formalitäten erfüllt waren und Erdmute das Geld auf der Gerichtskasse eingezahlt hatte, verabschiedete sich Miltaler. „Es ist besser, wenn du ihn allein aus dem Kitschchen holst. Meine Gegenwart würde euch nur stören.“

„Ach, Onkel, was du meinst, daran ist noch lange nicht zu denken.“

„Ich habe zwar das nicht gemeint, was du meinst,“ gab Miltaler lachend zur Antwort, „aber es ist doch besser, wenn ich euch allein lasse. Wie ich Erkmann kenne, wird er sehr niedergeschlagen oder vielleicht ganz verzweifelt sein. Du wirst ihm gut zureden müssen, damit er wieder ein bißchen Mut bekommt.“

Miltaler hatte Kurats Zustand richtig eingeschätzt. Er war in den wenigen Tagen körperlich auf den Hund gekommen, weil er sich nicht hatte überwinden können, das Gefängnisessen anzurühren. Und geistig war er in einer Verfassung, daß Erdmute förmlich erschrak.

„Was machen Sie für Geschichten?“ sprach ihn Erdmute an, als er auf die Straße trat. Sie lachte dabei und hatte in ihre Stimme einen scherzhaften Ton gelegt.

„Ja, Fräulein Erdmute, ich müßte Ihnen ja eigentlich danken, daß Sie mich aus dem Gefängnis befreit haben. Aber besser wäre es gewesen, wenn Sie mich drin gelassen hätten. Ich habe mir mein Leben zerstört und Schande auf meinen Kopf gehäuft.“

„Lieber Erkmann, Sie sind aufgeregt. Vor allen Dingen kann von Schande nicht die Rede sein. Sie sind vom besten Willen beseelt gewesen und haben nichts Unehrenhaftes begangen. Sie können jedem Menschen frei in die Augen sehen. Außerdem bin ich Ihre Mitschuldige.“

„Sie, Fräulein Erdmute?“

„Ja, ich. Ich habe Ihnen den Vorwurf gemacht, daß Sie durch Ihr Predigen den Leuten Steine anstatt Brot geben.“

Erkmann neigte den Kopf. „Ich kann nicht leugnen, daß gerade dieses Wort den Brand in meine Seele geworfen hat.“

„Also hätte ich statt Ihrer ins Kitschchen spazieren müssen. Nun kommen Sie. Wir wollen erst mal was Ordentliches essen und dann fahren wir nach Hause. Wir waren gestern nicht schlecht in Angst um Sie. Wir konnten uns gar nicht denken, weshalb Sie nicht nach Hause kamen und wo Sie geblieben waren. Dabei hatten wir gestern alle Hände voll zu tun. Das Geschäft blüht. Vier Besitzer kamen gestern, um Mähmaschinen zu kaufen. Wir haben keine einzige mehr auf Lager. Außerdem habe ich eine ganze Molkerei-Einrichtung nach Giwerlauken verkauft. Ich habe den drei Bauern, die als Abgesandte der neugegründeten Genossenschaft kamen, die Preisbücher und Bilderbücher vorgelegt, der Jons hat sehr viel dabei geholfen. Der alte Kerl hat ein gesegnetes Maulwerk. Ich denke, wir machen ihn zum Geschäftsführer.“

„Wie Sie wollen, Fräulein Erdmute. Sie werden an ihm eine bessere Stütze haben als an mir.“

„Nanu, Erkmann, was soll das heißen?“

„Ja, Fräulein Erdmute, ich habe mich in den einsamen Stunden, die ich durchlebt habe, zu dem Entschluß durchgerungen, Sie um Entlassung aus unserem Geschäftsvertrag zu bitten. Ich bin nicht mehr imstande, mit den Menschen hier, die mich alle kennen, zu verkehren und zu sprechen, als wenn nichts vorgefallen wäre. Ich muß weg, wo mich niemand kennt.“

„Vorläufig müssen Sie noch hierbleiben, Erkmann, bis diese dumme Geschichte erledigt ist. Dann können und dann sollen Sie auch weg. Sie stecken sich ein paar braune Lappen ein und fahren in der Welt spazieren. Sie müssen die großen Fabriken in Magdeburg und im Rheinland besuchen und persönlich mit den Leuten verhandeln.“

„Nein, Fräulein Erdmute, dazu bin ich nicht imstande. Ich werde doch sicherlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden, und dann bin ich für immer erledigt. Haben Sie keine Angst, daß ich eine Dummheit begehen könnte. Mein Glaube verbietet mir, Hand an mich selbst zu legen. Nein, das tue ich nie und nimmermehr. Aber ich werde irgendwo als Geselle unterkriechen und...“

„Ach, Unsinn, Erkmann. Sie sind hungrig und erschöpft und Ihre Nerven sind auf den Hund gekommen. Erst wollen wir mal Ihren Körper in Behandlung nehmen und dann wollen wir weitersprechen. Ich habe jetzt nicht nur die Pflicht, sondern auch das Recht, Sie vor Dummheiten zu behüten.“

Eine Viertelstunde später saßen sie in Löffkes Hotel am gedeckten Tisch. Erdmute war selbst zu der ihr bekannten Wirtin in die Küche gegangen, um ein gutes, reichliches Essen zu bestellen. Als sie die Suppe gegessen hatten, brachte der Kellner zwei große hohe Spitzgläser, wie man sie zum Ausschank von Grätzer Bier zu benutzen pflegt, mit einer kristallklaren, perlenden Flüssigkeit gefüllt. Erkmann, der noch keinen Sekt in seinem Leben getrunken hatte, griff nach dem Glas und tat einen tiefen Trunk.

„Das schmeckt angenehm“, meinte er, als er sich den Mund gewischt hatte. „Was ist das für ein Getränk?“

„Das ist eine Brauselimonade“, erwiderte Erdmute mit dem ehrlichsten Gesicht von der Welt. Der Kellner, der den Braten auftrug, hatte Mühe, seine Lachlust zu unterdrücken.

Der Champagner tat bald seine Wirkung. Erkmann wurde gesprächig und zuletzt ganz vergnügt. Er wußte nicht, daß es nur die Wirkung des Alkohols war, daß er mit einem Schlage die Welt mit ganz anderen Augen ansah.

„Glauben Sie wirklich, Fräulein Erdmute“, fragte er, „daß die Menschen mich nicht verachten werden, weil ich im Gefängnis gesessen habe?“

„Sie sind noch das reine Kind, Erkmann. Sie haben doch nicht gestohlen oder gemordet, sondern Sie haben Ihre Überzeugung vertreten. Das kommt jeden Tag und überall in der Welt vor, daß ein Mensch aus den idealsten Absichten beim Vertreten seiner Überzeugung mit den Gesetzen in Konflikt gerät und dafür gestraft wird, ohne daß er darum auch nur das geringste in der Achtung seiner Mitmenschen einbüßt. Denken Sie nur an die ersten Christen, die für ihren Glauben den Märtyrertod erleiden mußten.“

„Damit ist mein Fall nicht zu vergleichen, Fräulein Erdmute, aber daß ich meiner Überzeugung gefolgt bin, das stimmt.“

Erkmann war ein ganz anderer Mensch, als er neben Erdmute auf dem Wagen saß und heimfuhr. Er nahm ihr die Zügel aus der Hand und scherzte. „Das bedeutet Krieg, Fräulein Erdmute, wenn eine Frau die Zügel führt.“

„Aber höchstens einen häuslichen Krieg“, gab Erdmute lachend zurück. Nach einer Weile fragte sie: „Wissen Sie wirklich nicht, was Sie getrunken haben, Erkmann?“

Er sah sie erstaunt an. „Sie sagten, daß es Brauselimonade wäre.“

„Ja, und das war es auch, aber aus Weintrauben hergestellt. Mit einem Wort: es war Champagner.“

„Das war nicht recht von Ihnen, Fräulein Erdmute, meine Unerfahrenheit so zu mißbrauchen.“

„Ich gestehe reumütig meine Schuld ein,“ antwortete sie lachend, „aber ich will dasselbe Verbrechen noch sehr oft begehen, wenn es den Erfolg hat, Sie wie heute Ihrer verzweifelten Stimmung zu entreißen. Der Wein ist eine Gottesgabe, die man nicht verachten darf.“

„Dann müssen Sie auch Bier und Schnaps eine Gottesgabe nennen.“

„Das sind sie auch. Ich weiß ja, wie Sie darüber denken. Aber das halte ich für eine Übertreibung. Wer geistig frei ist, soll sich ruhig den Genuß eines Glases Wein oder Bier oder Schnaps gönnen, solange es wie Arznei wirkt und wohltätig auf Körper und Geist einwirkt. Wer geistig unfrei ist und im Genuß nicht Maß halten kann, für den ist es am besten, völlig sich des Alkohols zu enthalten, um nicht in Abhängigkeit zu verfallen. In diesem Sinne war ich mit Ihrer Tätigkeit als Muckerpfaff einverstanden. Aber weshalb sollen Sie nicht ein Gläschen Wein trinken, wenn es Ihrem Körper so wohl tut, wie der Sekt heute?“

„Sie stellen mich als den Fuchs hin, der den Gänsen das Wassertrinken predigt.“

„Nein, ich meine nur, das ist nur ein Notbehelf, wenn man die Menschen mit Hilfe des Glaubens oder Aberglaubens zur Enthaltsamkeit bringt. Nein, man muß allgemein die Bildung und Sittlichkeit heben und auch die Lebensbedingungen, damit die Menschen nicht von der Not getrieben werden, in dem Alkohol Betäubung zu suchen.“

„Das ist nur zum Teil richtig, was Sie sagen, Fräulein Erdmute. Es gibt so viele gebildete Männer, die sich mit Alkohol bis zur Bewußtlosigkeit berauschen.“

„Ich sehe schon, wir werden diese Frage nicht lösen. Sie müssen aber in der nächsten Zeit regelmäßig ein Glas Wein zum Frühstück trinken als Arznei. Ihre Mittel erlauben Ihnen das jetzt, lieber Erkmann. Sie haben mit den gestrigen Verkäufen ein Guthaben von über zweitausend Mark bei der Firma.“

„Um Gottes willen, das kann ich ja gar nicht annehmen.“

„Sie sind zu komisch, Erkmann. Ich habe gestern abend alles aufgerechnet. Ich habe die Zinsen des Anlagekapitals abgerechnet, ich habe für die Schmiede, Handwerkszeug und Ihr Häuschen einen ansehnlichen Betrag abgeschrieben, ich habe dem Jons sogar für seine Hilfe beim Verkauf eine Provision gezahlt, trotzdem ist noch ein Überschuß geblieben, den wir nach unserem Vertrag zur Hälfte teilen. Sie haben gar kein Recht, sich dagegen zu sträuben. Übrigens ist in den nächsten Tagen die Schmiede fertig, dann können Sie nach Herzenslust hämmern. Den Verkauf werde ich mit Jons besorgen.“

21. Kapitel

Es ging schon zum Herbst, als die Gerichtsverhandlung gegen Erkmann stattfinden sollte. Er lebte still vor sich hin und arbeitete mit zwei Gesellen fleißig in der Schmiede. Wenn im Geschäft nichts zu tun war, nahm auch der Herr Geschäftsführer Jons Druskus sein Schurzfell um und arbeitete mit. Mutter Urrte hatte auf Erdmutes Betreiben ein tüchtiges Mädchen gemietet, das ihr alle Arbeit abnahm, so daß die alte Frau jetzt ruhig und behaglich ihre Tage zubrachte. Erdmute hielt darauf, daß gut und reichlich gekocht wurde und sorgte dafür, daß jeden Tag ein tüchtiges Stück Fleisch in den Topf getan wurde. Oft holte sie Erkmann zum Frühstück zu sich und nötigte ihm ein Glas leichten Rotwein auf.

Von der Verlobung zwischen Erdmute und Erkmann war es still geworden. Die Welt gewöhnte sich allmählich daran, daß zwei unverheiratete Menschen verschiedenen Geschlechts gemeinsam ein Geschäft betrieben, ohne verlobt oder verheiratet zu sein. Das allgemeine Urteil ging jetzt dahin, daß Erdmute einen sehr gescheiten Gedanken gehabt hatte, als sie mit ihrem Gelde und Erkmanns Sachkenntnis die Firma Kurat & Co. gründete. Von der Versammlung, die soviel Staub aufgewirbelt hatte, war nichts mehr zu hören. Es schien, als wenn Erkmann seine Tätigkeit als Muckerpfaff eingestellt hatte.

Das war in der Tat der Fall. Die wüste Art, in der ihn Angehörige seiner Gemeinde auf der Versammlung in Giwerlauken beschimpft hatten, hatte ihm jede Lust benommen. Was konnte er noch den Leuten sein und sagen? Wenn er jetzt nach alter Weise die Leute zu einem ordentlichen Leben und zu christlicher Ergebung ermahnte, dann würden sie ihn auslachen und ihm vorhalten, was er von der Besserung ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse gepredigt hatte.

Dazu kam noch, daß er sich verpflichtet fühlte, jeden Anlaß, mit einem der Leute aus Laukelischken oder Bagdohnen zusammenzukommen, zu vermeiden. Er wußte nicht, daß Erdmute nach dieser Richtung für ihn tätig war, sonst hätte er dagegen Einspruch erhoben. Sie fuhr zu den ihr befreundeten Besitzern zu Besuch und fand Gelegenheit, mit den Leuten zu sprechen. Sie müßten bei der Gerichtsverhandlung gegen Kurat die reine Wahrheit aussagen und beschwören. Er hätte doch nur ganz allgemein gesprochen, daß sie ihre Wirtschaft in Ordnung halten und ordentlich und sparsam leben sollten, um einen Notgroschen für das Alter zurückzulegen. Sie sollten auch an ihre Kinder denken und die Gelegenheit wahrnehmen, wenn sie sich in ihrem Lohn verbessern könnten. Sie müßten doch der Wahrheit die Ehre geben und vor Gericht bezeugen, daß er sie mit keinem Wort dazu aufgefordert hatte, mit Gewalt von ihrem Brotgeber eine Lohnerhöhung zu erpressen.

Dann war sie noch unter einem Vorwand nach Königsberg gefahren und hatte einen berühmten und in kleinen Städten gefürchteten Anwalt für die Verteidigung Erkmanns gewonnen. Die Gerichtsverhandlung, die auf dem Landgericht in Stallupönen stattfand, war natürlich ein Ereignis allerersten Ranges für die ganze Umgegend. Erdmute fuhr mit Erkmann voraus. Abrys und Miltaler folgten in einem zweiten Wagen. Erdmute hatte Onkel Miltaler veranlaßt, sich als Zeugen zu melden. Er sollte bezeugen, daß Kurat sich in der Versammlung in Giwerlauken energisch dagegen verwahrt hatte, die Leute zu ungesetzlichen Handlungen aufgereizt zu haben.

„Sie müssen freigesprochen werden, Erkmann. Ihr Anwalt..

„Anwalt? Was für ein Anwalt?“ fragte Erkmann erstaunt und überrascht.

„Nun, Sie denken doch nicht, daß ich Sie ohne Schutz und Rechtsbeistand in die Verhandlung gehen lassen werde. Sie werden von dem Justizrat Meßner aus Königsberg verteidigt werden.“

Erkmann schüttelte den Kopf. „Das ist überflüssig. Ich fühle mich schuldig. Ich habe gewußt, daß die Leute mit ihrem Lohn und Brot unzufrieden waren und mit Recht unzufrieden waren. Da sind meine Worte wie ein Funken ins Pulverfaß gefallen.“

Erdmute seufzte und schüttelte den Kopf. „Sie sind ein ganz unberechenbarer Mensch, Erkmann. Sie wollen wohl mit Gewalt ins Kitschchen? Das wäre ja noch schöner, wenn Sie auf die Frage des Vorsitzenden: 'Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?' mit Ja antworten wollten. Selbst wenn Sie das Gefühl haben, dürfen Sie das nicht zugeben. Bedenken Sie, worum Sie kämpfen. Das Gericht soll Ihnen doch erst beweisen, daß Sie ein Verbrechen begangen haben. Warten Sie doch erst ab, was die Leute heute aussagen werden, wo sie ihre Aussage beschwören müssen. Sie haben doch selbst das Gefühl gehabt, daß der Untersuchungsrichter die Aussagen in die Leute hineingefragt hat, wie Sie mir gesagt haben. Das ist einfach ein Gebot der Selbsterhaltung, daß Sie auf die Frage des Vorsitzenden mit Nein antworten.“

Den ganzen Weg über sprach sie auf Erkmann ein, bis er ihr schließlich weniger aus innerer Überzeugung als um ihr einen Gefallen zu tun, das Versprechen gab, mit Nein zu antworten.

Der ziemlich große Saal war schon vor Beginn der Verhandlung überfüllt. Erkmann wurde abwechselnd blaß und rot, als er auf der Anklagebank hinter der Schranke Platz nehmen mußte. Sein Verteidiger, ein würdiger Herr mit wallendem grauen Bart, sprach ihm Mut zu. Mit leiser Stimme beantwortete Erkmann die Fragen zur Feststellung seiner Persönlichkeit.

Dann kam die Schicksalsfrage des Vorsitzenden: „Angeklagter, bekennen Sie sich schuldig?“ Erdmute, die auf der vordersten Bank im Zuschauerraum saß, stockte der Atem, als sie sah, wie Erkmann mit sich kämpfte. Der Verteidiger raunte ihm etwas zu. Man sah, wie Erkmann schluckte, ehe er leise erwiderte: „Nein, ich bekenne mich nicht schuldig.“

Hätte der Vorsitzende gefragt: Sind Sie schuldig oder fühlen Sie sich schuldig, dann hätte er nicht anders gedurft als mit Ja zu antworten. Aber diese Antwort, daß er sich nicht schuldig bekannte, glaubte er vor seinem Gewissen verantworten zu können.

Gleich beim ersten Zeugen gab es eine Störung. Der Mann verlangte, obwohl er ganz gut deutsch sprach, einen litauischen Dolmetscher. Er könne zwar etwas deutsch sprechen, aber er verstände nicht soviel, um eine richtige Antwort geben zu können. Den Herrn Untersuchungsrichter habe er gar nicht verstanden, auch nicht das, was er ihm als seine Aussage vorgelesen habe. Der Verteidiger unterstützte natürlich den Antrag des Zeugen. Es dauerte eine Weile, bis der vereidigte Dolmetscher zur Stelle war. Inzwischen hatte der Vorsitzende einige deutschsprechende Leumundszeugen vernommen, die auf Betreiben Erdmutens geladen waren und sehr günstig für Kurat aussagten.

Die Leute hätten es ihm manchmal verdacht, daß er sie nur immer zur Geduld ermahnt hätte. Er habe, obwohl er selbst nichts übrig hatte, den Frauen auch mit Geld geholfen, wenn ihre Männer den Wochenlohn vertrunken hatten. Auch Sinnhuber kam als Zeuge vor. Er schilderte offen, daß er früher ein Trunkenbold gewesen wäre und erst durch Kurat zur Nüchternheit und ordentlichem Leben bekehrt worden sei.

Nun wurde mit Hilfe des Dolmetschers der Mann aus Laukelischken vernommen. Gleich bei der ersten Antwort machte Erkmann seinen Verteidiger darauf aufmerksam, daß die Übertragung des Dolmetschers ungenau wäre und mehr enthielte, als der Mann gesagt hätte. Auch der Zeuge erhob Einspruch gegen die Übersetzung.

„Sie können ja ganz gut Deutsch, wir wollen es erst mal ohne Dolmetscher versuchen“, meinte der Vorsitzende, der ein freundlicher, wohlwollender Mann war und es auch verstand, seine Redeweise dem Verständnis des einfachen Mannes anzupassen.

Die Zeugenaussagen fielen alle zugunsten Erkmanns aus. Jedesmal, wenn der Vorsitzende ihnen ihre abweichenden Aussagen vor dem Untersuchungsrichter vorhielt, erwiderten sie darauf, daß sie nicht verstanden hätten, was sie gefragt worden wären, und daß sie das nicht hätten sagen sollen, was in dem Protokoll stand.

Der Untersuchungsrichter, der auch als Zeuge vernommen wurde, wehrte sich wohl dagegen, aber ohne Erfolg. Nach ziemlich kurzer Zeit wurde die Beweisaufnahme geschlossen. Die Rede des Staatsanwalts war matt und ohne innere Überzeugung. Er wies auf den Unterschied zwischen den früheren und heutigen Aussagen hin und hielt die ersten für beachtenswert, weil sie unter dem frischen Eindruck abgegeben wären. Es sei immerhin so viel erwiesen, daß der Angeklagte die Unzufriedenheit der Leute geschürt habe. Schließlich beantragte er die Verurteilung zu vier Wochen Gefängnis.

Der Verteidiger hatte leichtes Spiel. „Es werden dem Angeklagten nicht Handlungen, sondern Verhältnisse zur Last gelegt, an denen er nicht die mindeste Schuld trägt. Er hat, wie Sie aus den Zeugenaussagen entnommen haben, jahrelang in selbstlosester Weise seine ganze Kraft in den Dienst der ärmsten Bevölkerungsschicht, der Hintersassen der Gutsbezirke und Bauern eingesetzt. Er hat, wie die Zeugen in einer geradezu seltenen Übereinstimmung ausgesagt haben, sie durch die Religion über ihr Los getröstet und sie zu christlicher Ergebung und Geduld ermahnt. Anstatt ihm dafür dankbar zu sein, haben ihn die großen und kleinen Grundbesitzer deswegen angefeindet und mehrmals aus dem Brot vertrieben.

Schließlich ist er zu der Einsicht gekommen, daß seine Tätigkeit einseitig war und der Lage seiner Anhänger nicht gerecht wurde. Da hat er sie darauf verwiesen, daß sie auch auf die Besserung ihrer Lage bedacht sein müßten. Er wußte nicht, daß es verboten ist, diese Aufforderung an Leute zu richten, deren Lage einer Aufbesserung dringend bedarf. Daß der Angeklagte die Leute zu ungesetzlichen Handlungen aufgefordert hat, ist nicht im geringsten erwiesen.

Daß seine Tätigkeit zu solchen Folgen führen würde, konnte er nicht voraussehen, das lag an den Verhältnissen. Die müssen Sie dafür verantwortlich machen, nicht den Angeklagten, der durch sein Verhalten bewiesen hat, daß ihm jede Ungesetzlichkeit himmelweit entfernt liegt. Er ist sofort, wie Sie aus der Aussage des Gutsbesitzers Petrenz wissen, hinausgefahren. Er hat mit gerechter Entrüstung den Leuten ihr Unrecht vorgehalten, er hat in öffentlicher Versammlung den Vorwurf, als ob er an den Ausbrüchen der Unzufriedenheit unter den Landarbeitern schuld sei, mit gerechter Entrüstung von sich gewiesen. Aus allen diesen Gründen beantrage ich die kostenlose Freisprechung des Angeklagten.“

Auf einen fragenden Blick des Vorsitzenden hatte der Staatsanwalt auf eine Erwiderung verzichtet und damit sein Spiel verloren gegeben. Zur rechten Zeit drehte sich der Anwalt zu seinem Schützling um und sah es ihm an, daß er sich erheben und sprechen wollte.

„Halten Sie gefälligst Ihren Mund“, raunte er ihm noch rechtzeitig zu.

Der Gerichtshof zog sich zurück. Der Justizrat unterhielt sich lachend mit dem Staatsanwalt. Erkmann kam die ganze Sache wie eine große Komödie vor. Und darum hatte er sich zersorgt und sich mit Gewissensbissen gequält!

Schon nach wenigen Minuten erschien der Gerichtshof wieder und verkündete die Freisprechung. Erdmute stand auf und winkte Erkmann zu. Er war wie betäubt. Der Verteidiger verabschiedete sich von ihm mit einem Händedruck. Draußen auf dem Korridor kamen Erdmute, Abrys und Miltaler auf ihn zu und nahmen ihn in ihre Mitte, nachdem sie ihm die Hand gedrückt und ihn zu seiner Freisprechung beglückwünscht hatten.

Dann saßen die vier im Gasthof zusammen. „Der Staatsanwalt hat schon gesagt, daß er keine Berufung einlegen wird,“ begann Miltaler, „haben Sie vielleicht Lust dazu, Erkmann?“

„Onkel, du mußt Erkmann nicht necken,“ erwiderte Erdmute, „er hat sich selbst genug damit gequält und mehr gestraft, als wenn er ins Kitschchen geflogen wäre. Es freut mich sehr, daß du mitgekommen bist und geholfen hast, Erkmann zu verteidigen. Deine Aussage hat großen Eindruck gemacht, und ich denke, ihr begrabt jetzt das Kriegsbeil und vertragt euch miteinander.“

„Von mir aus steht dem nichts im Wege, Erkmann, ich will gern mit Ihnen anstoßen und Ihnen bezeugen, daß Sie ein anderer, ein vernünftiger Mensch geworden sind. Was trinkt ihr denn da?“ fragte er erstaunt, als Erkmann und Erdmute zwei große Spitzgläser vorgesetzt erhielten, während die beiden anderen ihre Gläser schon mit Rotwein gefüllt hatten.

„Eine Brauselimonade, Onkel...“

Erkmann wurde verlegen und rot, aber er hob das Glas und stieß mit Miltaler und Abrys an.

„Ein verfluchter Kerl, der Justizrat“, meinte Abrys, nachdem sie getrunken hatten. „Er hat uns Gutsbesitzern heftig eingeheizt. Aber der Mann hat recht. Ich werde sofort, wenn ich nach Hause komme, mit meinen Leuten sprechen und sie gehörig aufbessern. Vier Mann haben mir gekündigt. Ich denke, ich werde sie behalten, wenn ich sie besser stelle. Solchen Lohn wie die Industrie können wir ja nicht zahlen, aber etwas mehr als jetzt können wir ihnen schon geben.“

„Das ist sehr klug und gerecht von dir, Abrys“, erwiderte Erkmann. „Du hast auch schon bisher deine Leute gut behandelt.“

„Und was wird nun aus der Versammlung oder Gesellschaft, die du, Erdmute, für Erkmann abhalten wolltest?“

Mit einem Lachen, das ihre Verlegenheit bemänteln sollte, erwiderte Erdmute: „Darüber habe ich doch nicht zu bestimmen, Onkel, da mußt du schon Erkmann fragen.“

Sie sah ihn dabei fragend an, und er las neben der Frage noch eine Bitte in ihren Augen. Erst holte er tief Atem, ehe er antwortete. Er fühlte, was Erdmute aus seiner Antwort entnehmen wollte. „Sie müssen mir noch etwas Zeit lassen, Fräulein Erdmute. Ich bin mit mir noch nicht im reinen. Ich muß mir darüber klar werden, ob es sich lohnt, meine Arbeit noch einmal von vorn zu beginnen. Was ich bisher erreicht hatte, ist durch die Ereignisse der letzten Wochen gründlich zerstört. Ich habe das Vertrauen der Leute verloren, und die heutige Verhandlung hat nicht dazu beigetragen, es wiederherzustellen. Ich habe es wohl gefühlt. Die Leute wollten mich nicht `reinfallen lassen und verurteilen lassen.“

„Ich habe das Gegenteil herausgehört“, meinte Erdmute. Miltaler und Abrys stimmten ihr zu.

„Es wird ja wohl noch ein paar Dutzend geben, die zu mir halten“, fuhr Erkmann fort. „Aber bin ich sicher, daß nicht auch Gegner eine Versammlung oder Andacht besuchen? Ich möchte nicht mehr solche häßlichen Szenen erleben wie in Giwerlauken.“

„Da stimme ich Ihnen vollkommen bei, Erkmann“. nahm Miltaler das Wort. „Die Leute verdienen es gar nicht, daß Sie sich darum den Pelz zerreißen. Das ist ein wetterwendisches Pack. Heute rufen sie: 'Hosianna!' und morgen 'kreuziget ihn!' Sie haben auf beiden Seiten Undank geerntet, Erkmann, hängen Sie den Muckerpfaff an den Nagel. Die Sache, bei der ich Ihnen zum erstenmal den Rat gab oder vielmehr die Bedingung stellte, ist für immer erledigt. Kinder, warum sollen wir uns nicht auch darüber ruhig aussprechen?“

„Ich weiß, daß meine Tochter nicht mehr an eine Verbindung mit Ihnen denkt, obwohl Sie meine Bedingung jetzt erfüllen und auch, dank dem Eingreifen unserer lieben Erdmute in der Lage sind, ihr eine auskömmliche Existenz zu bieten. Sie können mir glauben, Erkmann, und ich muß es Ihnen sagen, so schmerzlich es für Sie auch sein mag. Sie kennen Madeline nicht. Sie hat sich innerlich von Ihnen gelöst, in dem Augenblick, als Sie Erdmutes Vorschlag annahmen. Kein Mensch macht Ihnen daraus einen Vorwurf. Sie haben so gehandelt, wie jeder kluge Mensch in ähnlicher Lage handeln mußte.“

„Ich habe unrecht an Madeline gehandelt, das sehe ich ein. Ich habe unsere Liebe verraten“, erwiderte Erkmann leise.

„Ja, lieber Erkmann, geschehene Dinge sind nicht mehr rückgängig zu machen. Man muß nur sich damit abfinden und sich überwinden. Ihr Lebensweg weist Ihnen jetzt andere Bahnen. Ich will hoffen, daß Sie den Mut finden, entschlossen den Weg zu beschreiten, der Sie zur Höhe des Lebens und zu einem ruhigen Glück führen kann.“ Mit einem Blick auf Erdmute fügte er hinzu: „Mehr kann und will ich nicht sagen. Sie werden mich verstanden haben. Und nun wollen wir mit Ihrer Brauselimonade auf eine glückliche Zukunft anstoßen.“

Bewegt, mit einem verlegenen Augenaufschlag, hob Erdmute ihr Glas und stieß zuerst mit Onkel Miltaler und dann mit Erkmann an, der ebenso verlegen Bescheid tat.

Dann brachen bei ihr der Schalk und der Frohsinn durch. „Ich denke, wir nehmen noch für alle solch eine Flasche Brauselimonade.“

„Was Deuwel trinkt ihr denn da?“ fragte Onkel Miltaler und nippte aus Erdmutes Glas. „Na solch ein Rackerzeug. Wir denken, ihr trinkt Sekt in Zivil und das ist richtiggehender Schampus. Erkmann, jetzt stoße ich noch einmal mit Ihnen an. Das Wunder hast du auch zuwege gebracht?“

„Ja, Herr Miltaler, beim erstenmal, als Fräulein Erdmute mich aus dem Gefängnis holte, hat sie mich mit der Brauselimonade überlistet, und jetzt hat sie mich dazu bekehrt, daß ich ab und zu ein Glas Wein genieße.“

Schmunzelnd stieß Miltaler mit Erdmute an.

22. Kapitel

Auf dem Rückweg war Erdmute in weicher, träumerischer Stimmung. Sie hatte die Hoffnung, dicht vor ihrem Ziel zu stehen. Am ein gleichgültiges Gespräch anzuknüpfen, war ihr Herz zu voll. Ab und zu warf sie einen Blick auf ihren Reisegefährten, der ernst, aber nicht trüb gestimmt, geradeaus sah.

„Woran denken Sie, Erkmann?“

„Ich habe mir eben überlegt, ob ich Ihnen das sagen muß, was ich vorhabe. Ich habe noch eine Pflicht zu erfüllen, damit ich vollkommen mit meinem bisherigen Leben abschließen kann.“

Erst nach einer längeren Pause erwiderte Erdmute: „Ich glaube zu wissen, was Sie vorhaben. Weshalb sprechen Sie sich nicht offen zu mir aus? Ich habe Ihnen doch bewiesen, daß meine...“ sie suchte nach einem Ersatz, weil sie das richtige entscheidende Wort nicht aussprechen wollte, „meine Geduld unerschöpflich ist. Ich vertraue Ihnen. Nicht wahr, Sie wollen zu Madeline fahren?“

Erkmann nickte stumm. „Dann bestellen Sie ihr einen Gruß von mir und sagen Sie ihr, daß ich mit allem einverstanden bin. Mit allem, wie sie sich auch entscheidet.“

Doch nun war es mit ihrer Beherrschung zu Ende und sie wandte sich ab, um ihre Erregung und ihre Tränen zu verbergen, die ihr wider Willen in die Augen getreten waren.

„Erdmute, Sie irren sich“, erwiderte Erkmann leise. „Sie irren sich. Ich will von Madeline nichts weiter als mir ihre Verzeihung holen. An etwas anderes denke ich nicht.“

„Und wenn sie Ihnen verzeiht und Sie erkennen, daß die Liebe noch in ihrem Herzen lebt?“

Ihre Stimme zitterte, obwohl sie sich Mühe gab, ruhig zu scheinen. Erkmann schüttelte den Kopf. „Die Gefahr liegt nicht vor. Ihr Vater hat mir ja heute deutlich genug zu verstehen gegeben, daß Madeline ihre Neigung für mich überwunden hat. Ich glaube, sie auch überwunden zu haben, und anbetteln werde ich sie nicht. So viel müssen Sie mich doch kennen. Und ich weiß, was mir jetzt die Pflicht gebietet.“

Mit zuckenden Lippen fragte Erdmute: „Pflicht, Erkmann?“

„Haben Sie Geduld mit mir, Erdmute. Wenn Sie wüßten, wie es in mir arbeitet und gärt. Ich weiß, was Sie aus Liebe zu mir für Opfer gebracht haben. Ich verdanke Ihnen alles, nicht nur die gesicherte Existenz, die Sie mir geschaffen haben, sondern auch die völlige Umwandlung in meinem Innern. Die Bücher, die Sie mir gegeben haben, konnten mir meinen Glauben nicht nehmen. Aber sie haben mich Bescheidenheit gelehrt. Ich habe mit Beschämung erkannt, wie gering und lückenhaft mein Wissen ist. Darin stehen Sie turmhoch über mir.“

Mit einem Versuch zu lächeln, erwiderte Erdmute: „Der Unterschied ist nicht so groß, wie Sie denken. Was wir Mädchen in der Schule lernen, trägt die Katz auf dem Zagel weg. Ich habe aber sehr viel gelesen, und das soll ja den Gesichtskreis des Menschen erweitern. Das können Sie nachholen. Im Winter werden Sie genug Zeit haben.“

„Ja, das werde ich tun. Und nun bitte ich Sie noch einmal: haben Sie Geduld mit mir und vertrauen Sie mir. Ich hoffe bestimmt, daß die Zeit kommen wird, wo ich außer der Dankbarkeit noch mehr für Sie empfinden werde. Mit einem leeren Herzen will ich nicht vor Sie treten, ich will auch in diesem Punkt wahrhaftig sein.“

Schweigend reichte ihm Erdmute ihre Hand und erwiderte kräftig seinen Händedruck.

Einige Tage später fuhr Erkmann nach Lisken.

Madeline hatte sich noch am ersten Abend mit ihrer Mutter ausgesprochen und ihr alles erzählt. Dabei hatte sie sich an ihrer Brust ausgeweint.

Die einfache Frau begriff nicht, daß Madeline sich über Kurats Verhalten so aufregen und empören konnte. „Das war doch das Klügste, was er tun konnte. Du mußt nicht so hart über ihn urteilen. Ihm saß das Messer an der Kehle. Da greift mancher in der Verzweiflung wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm. Und hier reichte ihm ein reiches Mädchen einen tüchtigen Stab, an dem er sich aufrichten konnte.“

Madeline richtete sich auf und legte ihren Arm um den Hals der Mutter. „Mich wundert, daß du nicht empfindest, was er mir damit angetan hat. Ich wäre mit ihm bis ans Ende der Welt gegangen, ich hätte treu zu ihm gehalten, wenn er sich selbst treu geblieben wäre. Darauf allein kommt es ja bloß an. Die Sache lag doch so, daß er genau wußte, aus welchen Gründen ihm Erdmute ihre Hilfe anbot. Wenn er sie annahm, entschied er sich für Erdmute und brach mir die Treue. Darüber komme ich nicht hinweg und das würde immer zwischen uns stehen.“

„Ich habe das nie begreifen können, daß ihr Menschen, die ihr soviel lernt, auch anders denkt als wir, die bloß mit ihrer Arbeit zu tun haben. Sieh mal, Kindchen, ich hätte mir gesagt: was kümmert mich das andere Mädel? Wenn die ihm auch nachläuft, wenn er bloß zu mir hält. Dann soll er doch ruhig zugreifen, ihr Geld annehmen und sich in die Höhe rappeln. Sie hat doch nicht gesagt: ich gebe dir das Geld nur, wenn du mich heiratest. Was einer im Sinn hat, darum braucht man sich nicht zu kümmern.“

„Nein, Mutter“, erwiderte Madeline, heftig den Kopf schüttelnd. „Darin bin ich ganz anderer Meinung. Der Erkmann übernahm in dem Augenblick die moralische Verpflichtung, Erdmute zu heiraten, wo er von ihr das Geld annahm, weil er gewußt hat, daß sie ihn liebte und mit dem Geld für sich gewinnen wollte. Solche Sachen brauchen nicht ausgesprochen zu werden. Es genügt schon ein stillschweigendes Einverständnis. Ich habe unwillkürlich Vergleiche anstellen müssen mit einem anderen. Ich glaube, der wäre eher vor Hunger gestorben, als daß er von einem Mädchen, das er nicht liebte, einen Pfennig angenommen hätte.“

Frau Lowisa lächelte. „Ich weiß, wen du meinst, den Bruder der Erdmute.“

Madeline wurde ein bißchen rot. „Ja, Mutter, der liebe, gute Abrys tut mir leid. Er hatte mich schon lieb, als ich noch auf seinem Schoß saß.“

Sehr schnell hatte Madeline sich bei ihrer Mutter eingewöhnt. Es machte ihr Spaß, in dem kleinen Kramladen, der mit der Gastwirtschaft verbunden war, die Kunden zu bedienen, und sie lernte eifrig Masurisch, um sich mit den Leuten zu verständigen. Sie hatte auch einen netten Umgang gefunden, zwei gleichaltrige Mädchen, Lieschen, die Tochter des Pfarrers, und Trudchen, die Tochter des Gutsbesitzers. Bald waren die drei ein Herz und eine Seele.

Kruk und Lowisa waren stolz darauf, daß Madeline im Pfarr- und Gutshause verkehrte. Das Ehepaar fühlte sich dadurch gehoben. Wenn erst der Krug verkauft war, dann war Kruk nicht mehr der Krugwirt des Dorfes, sondern Gutsbesitzer. Die Schmiede hatten sie aufgebaut und auch bald einen Schmied gefunden, der sein gutes Auskommen gehabt hätte, wäre er nicht so entsetzlich dem Trunke ergeben gewesen.

Wenn er mal „auf dem Gang war“, zog er tagelang von einem Dorfkrug zum andern und ließ die Arbeit liegen.

Madeline amüsierte sich über den Gegensatz zwischen Lasdehnen und Lisken. Dort waren die Bauern mit ihrem Schmied unzufrieden, weil er nicht nur nüchtern war, sondern auch ihre Leute zur Nüchternheit anhielt; hier mußten sie sich darüber ärgern, daß ihr Schmied den Fusel in sich hineingoß wie in ein hohles Faß.

Von ihrem Muttchen erhielt Madeline sehr oft lange Briefe, in denen Frau Enute gewissenhaft über jedes kleine Vorkommnis aus Lasdehnen und Umgegend berichtete. Nur über Erkmann schrieb sie nichts, bis Madeline sie darum bat. Seitdem erfuhr sie alles, was in Lasdehnen sich abspielte. Sehr ausführliche Nachrichten enthielten die Briefe immer über Abrys. Er hatte eine vorzügliche Ernte gehabt, hatte sich einen Dreschsatz mit Lokomobile angeschafft und all das überschüssige Getreide mit großem Vorteil verkauft. Er kam jeden Tag zu ihren Eltern auf ein Stündchen, meist im Schummern, wenn ihn seine Wirtschaft frei gab.

„Mit dem Erkmann lebt er ganz friedlich zusammen“, schrieb Frau Enute in einem Briefe. „Er ist ja von Natur ruhig und friedlich und räumt alle Hindernisse weg, die der Erdmute und dem Kurat im Wege stehen könnten. Dazu gehört auch sein Zerwürfnis mit dem Kurat. Der scheint wirklich die Muckerei aufzugeben. Seitdem seine eigenen Leute ihm in Giwerlauken so bös mitgespielt haben, hat er keine Andacht mehr abgehalten. Unsere Dore ist untröstlich, sie möchte gern beten gehen und geniert sich, in die Kirche zu gehen, weil sie solange weggeblieben ist. Aber viele von den Muckern gehen schon wieder regelmäßig zur Kirche. Der Pastor ist natürlich sehr erfreut darüber und hat vorigen Sonntag über den verlorenen Sohn gepredigt, über den im Himmel mehr Freude sein soll, als über tausend Gerechte. Das haben ihm die Bauern übelgenommen. Aber er kehrt sich nicht daran. Den Kerut hat die Erdmute wieder zu Gnaden aufgenommen und die Zwangsversteigerung aufheben lassen. Das Beste, was sie tun konnte, sonst hätte sie das Grundstück übernehmen und selbst bewirtschaften müssen. Ja, was das bißchen Geld macht! Du sollst mal sehen, wie die Bauern den Herrn Kurat von weitem grüßen. Und das Geschäft blüht. Damit hat die Erdmute einen guten Griff getan. Der Jons ist Geschäftsführer geworden und sieht aus wie ein Herr. Der Kurat arbeitet mehr in der Schmiede oder Fabrik, wie man wohl sagen muß, denn er hat mehrere Gesellen und Lehrlinge. Noch eins muß ich dir schreiben, was dich wundern wird. Der Kurat trinkt... das heißt, er läßt sich von Erdmute zum Frühstück ein Glas Rotwein aufnötigen. Das ist ein tolles Mädel, daß sie das fertig gekriegt hat. Ich mein', es wird nicht mehr lange dauern, bis die beiden ganz einig sind. Dann kommst du wieder nach Hause, mein Kind. Wir beiden Altchen sind immer so traurig, wir bangen uns nach dir. Du fehlst uns an allen Ecken und Kanten. Ich stopfe ja dem Vater die Pfeife, aber ich kann es ihm nicht zu Dank machen. Er meint, du verstehst das viel besser.“

Dann kam ein Brief, den Frau Enute, wie ihrer Handschrift deutlich anzusehen war, in großer Aufregung geschrieben hatte: „Abrys hat mir eben erzählt, daß der Kurat dich besuchen will. Ich habe große Angst, daß er wieder mit dir anbandeln will. Er hat doch nun die Bedingungen, die der Vater ihm gestellt hatte, erfüllt. Er muckert nicht mehr, er hat seine auskömmliche Existenz. Denke dir, Linchen, der Kurat hat allein auf sein Teil in dem ersten Vierteljahr dreitausend Mark verdient. Ich begreife gar nicht, wie Erdmute das zulassen kann, das heißt, daß er zu dir fährt. Aber der Abrys hat mir gesagt, daß sie damit einverstanden ist. Unser guter Abrys ist natürlich sehr traurig und aufgeregt. Er meint, wenn du den Kurat wirklich geliebt hast, dann wirst du dich womöglich wieder von ihm beschwatzen lassen. Dem Vater habe ich es noch nicht erzählt. Offen gesagt, ich traue ihm nicht. Sie haben alle vier in Pillkallen nach der Gerichtsverhandlung zusammengesessen und sich vertragen und Wein getrunken. Das muß ich noch nachholen. Der Kurat ist freigesprochen worden. Die Erdmute hatte einen Rechtsanwalt aus Königsberg kommen lassen. Sie meint aber, das wäre nicht nötig gewesen, denn die Zeugen haben alle sehr gut für Kurat ausgesagt. Das hat sie so unter der Hand besorgt. Sie zerrebbelt sich für den Menschen und weiß nicht einmal, ob er es ihr danken wird. Ich habe gestern abend bei ihr ein bißchen angetippt, ob der Kurat denn noch nicht bald Ernst machen wird. Weißt, was sie mir geantwortet hat? 'Wollt Ihr mich denn nicht begreifen? Daß man Gutes tun kann, ohne einen Lohn dafür zu erwarten?' Das Gerede hat auch aufgehört. Jetzt sagen die Menschen, die Erdmute will bloß Geld zusammenscharren. Na, wir wissen es ja besser. Ach Gott, wenn ich bloß erst wieder Nachricht von dir hätte.“

Die Nachricht, daß Erkmann kommen wollte, hatte Madeline mehr aufgeregt, als sie sich selbst eingestehen wollte. Sie glaubte das Gefühl schon überwunden zu haben und nun stürmte es auf sie ein, daß ihr die Hände zitterten, als sie den Brief in ihrem Schreibtisch verschloß. Sie hatte sich in den letzten Wochen sichtlich erholt. Sie hatte ein rundes, blühendes Gesicht mit frischen Farben bekommen, das Haar war stark gewachsen und ringelte sich in natürlichen Locken um ihren Kopf. Auch ihre Figur war voller und rundlicher geworden.

Geistig hatte sie jetzt ihre volle Frische wiedergewonnen. Sie war mit ihren Freundinnen munter und lustig und zu Scherz und Schimpf aufgelegt. Nur ab und zu flog ein Hauch von Schwermut über ihr Gesicht, wenn das alte, dumme Herz ihr eine Erinnerung heraufbeschwor...

Was wollte Erkmann noch von ihr? Wollte er sie mit Bitten bestürmen und aufs neue um sie werben? Hatte Erdmute ihm einen Korb gegeben? Das war doch undenkbar? Dabei fiel ihr ein, was Erdmute alles für den Muckerpfaff getan hatte, als alle anderen gegen ihn waren.

Für Erkmanns Absicht, sie zu besuchen, gab es doch nach ihrer Ansicht jetzt keine andere Erklärung, als daß er sie noch immer liebte und sich nicht überwinden konnte, Erdmute zu heiraten. Würde sie stark genug sein, ihm zu widerstehen, wenn er reumütig um Verzeihung bat? In diesem Augenblick stieg wie eine Vision Abrys Gesicht vor ihr auf, wie seine guten, treuen Augen so traurig und doch mit dem Ausdruck unendlicher Liebe sie angesehen hatten. Sie lehnte den Kopf zurück und schloß die Augen, um das Bild festzuhalten. Doch es war wie im Nebel verschwunden. Nur die Wirkung blieb, die freundlichen Gedanken an den anderen. Sie versuchte, sich auszumalen, was Abrys sagen oder tun würde, wenn sie sich aufs neue mit Erkmann verloben und ihn heiraten würde. Dann würde er sein Gut verkaufen und wegziehen. Und sie würde für ihn tot sein.

Es dauerte lange, bis sie sich so weit beruhigt hatte, daß sie hinuntergehen konnte in die Wohnstube, wo die Mutter die Zeitung las. „Ich habe schon auf dich gewartet, Linchen. Hör' mal zu, was in der Zeitung steht. Nach Johannesburg kommt heute eine Theatergesellschaft und gibt im Deutschen Haus' drei Vorstellungen. Ich verstehe ja nichts davon, denn ich habe noch nie ein Theaterstück gesehen. Sieh dir mal an, was du sehen möchtest. Dann fahren wir hin.“

Madeline überflog die Annonce. „Da fällt die Wahl schwer, liebe Mutter. Ich habe alle drei Stücke noch nicht gesehen.“

„Na, dann sehen wir uns alle drei an. Wir können ja im Deutschen Hause' wohnen. Am Tage machen wir Ausflüge in die Umgegend. Unser Masuren ist viel schöner als euer Litauen, wo es keine Berge und keine Seen gibt.“

Mit stürmischem Jubel fiel Madeline der Mutter um den Hals. „Mutter, ich habe auch erst einmal Theaterspielen gesehen. Das war so fürchterlich komisch... nicht das Stück, sondern die Schauspieler.“

„Nun geh `mal zu Trudchen und Lieschen, ob sie mitkommen wollen. Ich lad' sie dazu ein.“

Bald nach Mittag fuhr die Gesellschaft ab. Erstens wollte man sich gute Plätze sichern und zweitens wollten die jungen Mädchen sich zum Theater nett anziehen.

Wie eine Ballmutter kam sich Frau Lowisa vor, als sie die drei jungen Mädchen in den Saal führte. Sie sah in ihrem schwarzen Seidenkleid, das im Laufe der Jahre völlig aus der Mode gekommen war, etwas altfränkisch aus. Um so mehr stachen die drei jungen Mädchen in ihren hellen, duftigen Kleidern von ihr ab. Madeline war unstreitig die Schönste von ihnen. Der Saal war schon gedrängt voll, denn eine Theatervorstellung war für den Bürgerstand der kleinen Stadt ein weltbewegendes Ereignis, das sich niemand entgehen ließ.

Madeline errötete und schlug die Augen nieder, als sie die bewundernden Blicke der jungen Leute, die hinter den Sitzreihen standen, auf sich ruhen fühlte. Die beiden anderen Mädel hatten Freunde und Bekannte in der Stadt, denen sie vertraut zunickten. Aber wer mochte die dritte sein?

Ihre Plätze lagen in der ersten Reihe, und das verdarb ihnen den ganzen Genuß. Sie sahen die grell aufgetragene Schminke auf den Gesichtern, sie sahen den Ansatz der Perücke auf der Stirn, und was das Unangenehmste war, sie hörten aus der linken Kulisse herausgezischt jedes Wort vorher, was die Schauspieler nachsprachen. Nicht ganz selten kam es vor, daß die zischende Stimme den Satz wiederholen mußte.

Der Mutter Lowisa war die ganze Illusion zerstört. „Wie wollen die Menschen denn die Personen spielen, die sie bedeuten wollen, wenn sie nicht mal wissen, was sie zu sagen haben?“ meinte sie in der ersten Pause.

„Aber sie halten ja vorher Proben ab, Mutter“, erwiderte Madeline leise.

„Dann sollen sie nicht eher spielen, als bis sie ihre Rollen auswendig wissen“, erklärte Frau Lowisa mit lauter Stimme.

Nach der Vorstellung gab es noch ein gemütliches Beisammensein. Trudchen und Lieschen und natürlich auch ihre Freundin mit ihrer Mutter waren von ein paar befreundeten Familien dazu eingeladen worden. Ein paar junge Leute waren auch dabei, von denen einer, ein junger Baumeister, Madeline sofort in auffälliger Weise den Hof machte.

Beim Schlafengehen wurde Madeline von den Freundinnen damit geneckt. „Das ist nicht recht von dir, Linchen,“ sagte Lieschen, „daß du hierher kommst, um uns die besten Partien wegzufischen.“

„Morgen abend kannst du es ihm ja stecken, daß ich schon versagt bin“, erwiderte Madeline lachend.

„Du bist schon heimlich verlobt und erzählst es uns nicht? Du bist ein Heimtücker.“

„Ganz soweit ist es noch nicht, aber beinahe; ich glaube schon zu wissen, wen ich mal heiraten werde.“

„Das wird dem Jüngling leid tun“, meinte Trude. „Aber unsere Aussichten steigen.“

23. Kapitel

Gegen Abend kam Erkmann zu Fuß von der Bahn nach Lisken. Ein Junge, den er auf der Straße anhielt und nach dem Gasthaus fragte, teilte ihm unaufgefordert mit, daß Frau Kruk mit Linchen und Lieschen und Trudchen weggefahren sei, ins Theater. Solche Ereignisse pflegen sich in einem Dorf unter allgemeiner Teilnahme zu vollziehen.

Es war ihm komisch zumute, als er in das Gasthaus trat und sich an den weißgescheuerten Tisch in der großen Krugstube setzte. Solange er sich erinnern konnte, war er in keinen Dorfkrug eingetreten, um etwas zu verzehren. Am Nebentisch saßen drei Männer, von denen zwei, wie er deutlich sah, eine Flasche Selterwasser vor sich stehen hatten. Der dritte stand auf, kam an ihn heran und fragte dienstbeflissen: „Was kann ich Ihnen geben? Ein Bummchen Kornus oder ein Glas Grog?“

„Ich bitte um eine Flasche Brauselimonade.“

Er goß sich ein Glas ein und trank es aus. Unwillkürlich horchte er auf das Gespräch am Nebentisch.

„Du mußt den Kerl `rausschmeißen, das geht so nicht länger. Wenn er ins Saufen kommt, hört er ja nicht mehr auf.“

„Ja, es geht nicht länger so, Kruk“, sagte der zweite. „Wie wir noch keinen Schmied im Dorf hatten, da mußte man sich darauf einrichten und mit jedem Stück in die Stadt fahren. Aber jetzt haben wir doch einen und dann wird man im Stich gelassen. Ich muß wirklich das schadhafte Rad abholen und nach der Stadt bringen, denn ich brauch' den Wagen zum Dungfahren.“

Erkmann mußte lächeln. Das schien ein Kollege von ihm zu sein, dem es ebenso ging wie ihm, aber aus entgegengesetzten Ursachen.

„Es wird wohl nicht anders gehen“, erwiderte Kruk. „Ich habe ihm zugeredet wie einem kranken Schimmel. Ich habe ihm auch keinen Schnaps mehr gegeben. Dann geht er nach Sawadden oder Poseggen und säuft sich die Huck voll. Wir müssen uns umsehen, daß wir einen Gromadki bekommen.“

Nach einer Weile stand Kruk auf und setzte sich zu Erkmann. Er fühlte als ordentlicher Krugwirt die Verpflichtung, dem einsamen Gast Gesellschaft zu leisten. Ein bißchen war er wohl auch neugierig, was den gutgekleideten Fremdling auf das von jeder Verbindung abgeschnittene Dorf führte. „Was haben Sie für Profession?“ fragte er naiv.

„Ich bin ein Schmied“, erwiderte Erkmann lächelnd und freute sich schon auf die Wirkung, die diese Worte ausüben würden. Richtig... die beiden Männer am Nebentisch sahen sich nach ihm um. Kruk wurde lebhaft. „Schmied sagen Sie? Gesell oder Meister?“

„Na, ich bin Meister.“

„Darf ich fragen, was Sie hergeführt hat? Haben Sie vielleicht davon gehört, daß wir einen tüchtigen, nüchternen Schmied brauchen?“

„Das habe ich eben aus Ihrem Gespräch entnommen.“

„Na, dann darf ich wohl dreist fragen, ob Sie nicht bleiben wollen, Meister? Fragen Sie man die beiden, ob das hier `ne gute Stell' ist oder nicht.“

„Ja, ein ordentlicher, nüchterner Mensch hat hier sein gutes Auskommen“, rief einer der Männer vom Nebentisch herüber.

„Ich müßte mir die Sache erst überlegen“, erwiderte Erkmann, um nicht durch eine Ablehnung Fragen nach dem Zweck seiner Reise wachzurufen. „Kann ich Nachtquartier und etwas zu essen bekommen?“

„Selbstverständlich können Sie im Gasthaus unterkommen. Und zu essen können Sie bekommen, was wir auf dem Lande haben. Eier, Schinken, Wurst und Käse. Wollen wir vorher einen abbeißen? Ich habe einen sanften Heinrich mit Gewehrüber.“

Erkmann lachte. Das war doch nur ein Fühler, den der Gastwirt ausstreckte. „Ich danke, ich trinke nur Limonade und mal ausnahmsweise ein Glas Rotwein. Darf ich die Herren zu einer Flasche einladen?“

Ohne weitere Förmlichkeiten setzten sich die beiden Bauern zu ihm, während Kruk verschwand, um eine Flasche Wein zu holen. „Mein Name ist Podleschny,“ stellte sich der eine vor, „und das ist mein Freund und Nachbar Joswig. Sie haben wohl anderswo schon eine Schmiede?“

Jetzt erschien Kruk wieder, in jeder Hand eine Flasche. „Ich habe hier ganz was Gutes, wenn mal der Herr Landrat kommt. Die kostet aber sechs Mark; die gewöhnliche kostet nur `nen Taler.“

„Dann nehmen wir schon die bessere Sorte.“ Als sie angestoßen und getrunken hatten, sagte Erkmann: „Ich will Sie nicht im unklaren lassen, meine Herren. Ich habe in einem Kirchdorf in Litauen eine Schmiede, wo ich mit vier Gesellen und ebenso vielen Lehrlingen arbeite.“

„Dann werden Sie sich nicht auf unsere Schmiede verleckern“, meinte Podleschny. „Schade, ich glaube, Sie wären unser Mann gewesen.“

„Herrgott,“ rief Kruk, „wo habe ich bloß meine Gedanken gehabt. Dann sind Sie wohl der Bekannte von unserm Linchen? Meine Frau hat mir heute davon gesagt, daß Sie kommen wollten. Und da setzen Sie sich hier hin und sagen keinen Ton. Nun müssen meine Frauensleut' gerade wegfahren und drei Tage wegbleiben. Also dann herzlich willkommen.“

Auch die beiden Bauern reichten ihm mit einer gewissen Feierlichkeit die Hand. „Entschuldigen Sie, wenn ich frage, Sie sind wohl auch Gromadki?“

„Ja, ich lebe enthaltsam. Erst in letzter Zeit habe ich meiner Gesundheit wegen angefangen, etwas Rotwein zu trinken.“

„Rotwein dürfen wir auch trinken, wir haben bloß den Schnaps und das Bier abgeschworen.“

„Ach, Kinder!“ rief Kruk dazwischen, „das hilft ja alles nichts. Wenn einer saufen will, dann säuft er. Der Maschlanka hat den Schnaps abgeschworen. Und was tut er jetzt? Er säuft Likör'. Mitridat mit Krumpholzöl und Doppelneunkraft. Likör hat er nicht abgeschworen, sagt er. Es kommt bloß darauf an, ob es einer ehrlich meint und die Kraft dazu hat. Ich habe ja den Schaden davon. Wenn die ganze Umgegend nicht voll Gromadki wär', könnte ich für meinen Krug fünftausend Taler mehr fordern. Na, ich werde auch so bestehen.“

Er wollte, als die Flasche ausgetrunken war, durchaus noch eine zweite ausgeben, aber Erkmann erhob dagegen Einspruch und auch die Bauern standen auf und gingen nach Hause. „Wenn ich noch ein Glas trinke,“ meinte Podleschny, „dann hör' ich nicht mehr auf, bis ich ganz duhn bin, und das möcht' ich nicht. Morgen abend kommen wir bei mir zur Andacht zusammen. Wenn Sie hinkommen wollen. Wir sind wie ein Volk Bienen ohne Weisel.“

Im Laufe des Abends war Kruk, der sich öfter einen „sanften Heinrich mit Gewehrüber“ leistete, redselig geworden. „Sagen Sie mal“, fragte er und stieß Erkmann vertraulich mit dem Ellenbogen an: „Sind Sie vielleicht der... der Muckerpfaff?“

„Ja, der bin ich“, erwiderte Erkmann.

Kruk lachte verschmitzt. „Na, dann könnte doch noch was daraus werden. Den Krug verkaufen wir unter allen Umständen. Unser Linchen braucht nicht hinterm Litt zu stehen, wenn sie das schuldenfreie Gut und fünfzigtausend Taler bar mitbekommt. Aber Sie könnten die Schmiede mitnehmen. Sie brauchen ja bloß einen tüchtigen Gesellen `reinsetzen.“

„Wie meinen Sie das, Herr Kruk?“

„Na, ich denke, Sie wissen das schon alles. Ich habe keine Verwandten, die Lowisa auch nicht. Wem sollen wir denn das vermachen, was wir zusammengekratzt haben? Und Sie gefallen mir. Ja, das sag' ich frei heraus. Sie hätten schon früher zu uns herkommen sollen. Mit mir ist besser auskommen als mit dem Miltaler, das muß ja ein Kribbelkopf sein.“

„Er ist ein verständiger, kluger, alter Herr.“

„Ja, das kann schon sein. Aber wissen Sie was?“ fuhr Kruk fort, dessen Gedanken schon unstet herumflunkerten, „Sie hätten mich ruhig die zweite Flasche aufmachen lassen sollen. Das wäre ja ein Heidenspaß gewesen, wenn die beiden Gromadki sich heute einen angedudelt hätten. Na, morgen abend werden Sie beim Podleschny Ihr blaues Wunder erleben.“

„Weshalb denn, Herr Kruk?“

„Na, Herr Muckerpfaff, ich weiß nicht, ob ich das sagen soll. Können Sie reinen Mund halten? Gut! Dann will ich mal frei von der Leber weg sprechen. Also: für die Weiber wird vom halben Zentner Weizen Fladen gebacken und ein Kessel voll Kaffee gekocht. Dann gehen die Männer, wenn die Weiber Kaffee trinken, in die andere Stube zum Schweinevesper. Und was meinen Sie, was dabei getrunken wird? Mein Krumpholzöl mit Mitridat?“

„Was ist das eigentlich?“

„Das ist erst ein verrückter Name. Den hat hier ein alter Förster, der alte Adam, wie wir ihn nannten, aufgebracht. Aber sonst ist es nichts weiter als gewöhnlicher Kartoffelinski mit einem Schuß Himbeer und etwas Zucker. Aber sechzig Grad muß er haben, sonst schmeckt er nicht.“ Er stand auf und ging ans Litt, um sich einen Schnaps einzugießen. Dann kam er zurück und setzte sich. „Ich habe heut' ein Leben, wie die Laus im Schorf. Wenn meine Olle zu Hause ist, dann muß ich kuschen. Na, ich muß schon so verbraucht werden, wie ich bin. Ich bin doch mal Zwiebelkocher gewesen.“

„Was ist das, Zwiebelkocher?“ fragte Erkmann verblüfft.

„Mensch, Sie sind als Muckerpfaff ein bißchen schwer von Begriff. Ich bin gelernter Brennereiführer und habe mein Handwerk verstanden. Sagen Sie bloß, was soll aus unserer Landwirtschaft werden, wenn wir keinen Schnaps mehr brennen wollten? Sie schütteln den Kopf und Sie trinken Rotwein. Das ist ganz egal. Ob das aus Kartoffeln oder Trauben gemacht wird, es muß zu Kopp steigen und den Menschen lustig machen. Der Wein ist für die Reichen, der Schnaps für die Armen. Sie werden das nicht aus der Welt schaffen. Die Menschen haben getrunken und sie werden trinken, solange es Menschen und Alkohol gibt.“

Als Erkmann schwieg, fuhr er fort: „Die Linchen hat mir neulich aus einem Buch vorgelesen, daß die alten Griechen sogar einen Weingott gehabt haben. Wir haben einen Biergott, den ollen Gambrinus, und mit der Zeit werden wir noch einen Schnapsgott kriegen.“

Noch eine Stunde hielt es Erkmann aus, während Kruk in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen einen hinter die Binde goß und in derselben Weise weiterschwatzte. Dann bat er um etwas zu essen, und als er sich gesättigt hatte, um ein Nachtlager. Er bekam ein freundliches Stübchen mit einem sauberen Bett. Lange noch lag er wach. Konnte Madeline sich hier wohlfühlen, wenn die Mutter so war, wie der Mann? Aber freilich, wenn man solch ein reiches Erbe damit gewann?

Das hatte sie doch gewußt, als er um sie warb. Weshalb hatte sie es ihm nicht gesagt? Er fühlte, wie ihm bei diesem Gedanken eine brennende Scham in die Backen stieg. Er fühlte nicht das leiseste Bedauern, daß er mit Madeline ein für seine Begriffe sehr reiches Mädchen verloren hatte. Er fühlte nur, daß sie ihn durch das Verschweigen ihrer Mitgift auf die Probe gestellt hatte, und er hatte die Probe nicht bestanden. Er hatte ihr gesagt, daß er seine Gemeinde nicht im Stich lassen könne. Hatte er damals es wirklich so ehrlich gemeint, wie sie es annahm? Oder hatte er sich selbst belogen und betrogen?...

Schlaflos wälzte er sich auf seinem Lager, bis er endlich aus Übermüdung einschlief. Am anderen Morgen stand er, wie er gewöhnt war, früh auf. Als er in die Gaststube kam, bat ihn das Dienstmädchen in das Wohnzimmer und setzte ihm den Kaffee vor. Der Herr wäre schon mit Tagesgrauen aufs Feld zu den Kartoffelgräbern. Als er gegessen und getrunken hatte, ließ er sich von dem Mädchen beschreiben, wo Kruks Gut lag und machte sich auf den Weg. Er hatte sich das überlegt. Er wollte sich ein Fuhrwerk mieten und nach der Stadt fahren, um dort Madeline aufzusuchen. Auf seinem Wege kam er durch ein Stück Wald. Schon von weitem sah er einen Mann, der zwischen den Bäumen hin und her ging und sich häufig bückte. Beim Näherkommen sah er, daß es ein alter Herr war mit grauem, langem, wallendem Haar und glattrasiertem Gesicht, der Pilze sammelte.

Erkmann mußte dicht an ihm vorbeigehen. Er zog den Hut und grüßte. Der alte Herr dankte und kam näher. „Der Zufall, ach Unsinn, es gibt keinen Zufall, es gibt bloß Schickung, die Gott lenkt. Also diese Schickung hat uns beide zusammengeführt. Ich bin der Pastor Loci Brzesinski, und Sie sind, wie ich annehme, mein Kollege in partibus infidelium.“

„Mein Name ist Kurat. Ich habe das Letzte nicht verstanden, Herr Pastor.“

Der alte Herr lachte. „Ich meine, entschuldigen Sie das harte Wort, der Muckerpfaff aus Litauen, der heute abend bei den Gromadki predigen wird. Sie brauchen sich nicht darüber zu wundern, daß ich das weiß. Podleschny hat es gestern abend noch überall ansagen lassen.“

„Ich habe wirklich nicht die Absicht ausgesprochen, hier zu predigen.“

„Das müssen Sie mir näher erklären. Wissen Sie was, Herr Kollege von der anderen Fakultät, wir gehen friedlich miteinander zu mir nach Hause und sprechen uns gründlich aus. Ich weiß ziemlich gut mit Ihren litauischen Verhältnissen Bescheid. Ihre Muckergemeinden trennen sich fast alle von der Landeskirche, obwohl sie in den Glaubenssätzen nicht im geringsten von den Grundlehren der evangelischen Kirche abweichen. Warum tun Sie das?“

„Das will ich Ihnen offen sagen, Herr Pastor. Das tun sie, um nicht doppelte Kirchensteuern zu zahlen, an den Staat und an ihren Prediger.“

„So freigebig sind unsere Masuren nicht. Die treten nicht aus der Landeskirche aus, weil die Kirchensteuern billiger sind als der Unterhalt für einen Prediger.“

„Ich habe nie etwas von meiner Gemeinde genommen. Außerdem habe ich die Tätigkeit als Muckerpfaff aufgegeben, aus verschiedenen Gründen.“

„Ach, das ist mir sehr interessant. Sie wollen also auch hier nicht predigen?“

„Nein, Herr Pastor.“

„Schade, Sie scheinen ein vernünftiger Mann zu sein. Wir hätten uns sonst ins Einvernehmen setzen können, um den Zwiespalt in der Gemeinde zu beseitigen.“

Sie waren in das Pfarrhaus getreten. Der alte Herr holte eine Zigarrenkiste hervor und bot sie Erkmann an. „Sie rauchen nicht? Ich bin der Ansicht, daß man sich auch als Seelsorger einen mäßigen Genuß der Gottesgaben nicht zu versagen braucht. Dann darf ich Ihnen wohl auch nicht ein Glas Wein anbieten?“

„Ein Glas Wein nehme ich mit Dank an, Herr Pastor.“

„Das ist recht. Mir scheint, Sie haben die übertriebene Muckerei überwunden?“

„Ja, Herr Pastor, und ich betrachte es auch als eine Schickung Gottes, daß mein Weg mich heute mit Ihnen zusammengeführt hat. Wollen Sie mich als Beichtkind annehmen und mich eine Weile anhören? Ich habe ein wunderbares Zutrauen zu Ihnen gefaßt.“

Eine Stunde hatte Erkmann gesprochen. Erst zögernd und schüchtern, dann immer freier. Alles, was sein Leben ihm gebracht und auferlegt, alles, was sein Herz mit Zweifeln erfüllt. Die Geschichte seiner Verlobung und Trennung schüttete er vertrauensvoll in das Herz des alten Mannes aus, der ihn mit keinem Wort unterbrach.

Und dann sprach der alte Seelsorger. Er nahm die Hand seines Beichtkindes und legte seine Linke darauf. „Ich habe keine Veranlassung, als Seelsorger zu Ihnen zu sprechen. Aber wenn Sie mich anhören wollen, wie einen älteren Freund, der viel im Leben durchgemacht und erfahren hat, dann will ich Ihnen meine Ansicht nicht vorenthalten. Es war eine schwere Verfehlung, als Sie das Anerbieten des reichen Mädchens annahmen, obwohl Sie wußten, mit welcher Absicht sie es tat. Ich verstehe das, daß Sie das Bedürfnis empfinden, Ihre frühere Braut, deren Liebe Sie damit verraten haben, um Verzeihung zu bitten. Dabei darf kein Wort, kein Ton unterlaufen, der mehr verlangt. Ihre Pflicht weist Sie zu der anderen, die Ihretwegen so große Opfer gebracht hat. Wir Menschen haben alle mehr oder weniger Narben in unserer Seele auszuweisen. Narben, die mit Recht noch nach dreißig Jahren schmerzen. Wir müssen alle durch Irrtum zur Wahrheit reifen. Ihre frühere Braut ist ein junges, lebensfrisches Mädchen, das diese erste Enttäuschung überwinden wird.“

„Ein guter, tüchtiger Mann liebt sie schon von klein auf. Er wartet mit Sehnsucht auf sie.“

„Um so besser. Aber nun wollen wir uns doch die Flasche kommen lassen und auf eine fröhliche Zukunft anstoßen. Wissen Sie, lieber Herr Kurat, ich habe mir nie über unsere Sektierer ein graues Haar wachsen lassen. Die Bewegung nimmt zu und ebbt wieder ab. Man hat uns Geistlichen die Schuld dafür in die Schuhe schieben wollen. Das muß ich ablehnen. Das ist wie ein Bazillus, der durch die Luft fliegt und sich bloß im kranken Körper entfaltet. Ja, ich muß es als eine Krankheit bezeichnen. Sobald die erste aufrichtige Begeisterung verrauscht ist, stellen sich üble Nebenerscheinungen ein. In manchen Dörfern sind die Andachten nur Veranlassung zur Völlerei. Die Weiber schlemmen in Kaffee und Kuchen und die Männer vespern mit Likör, daß sie auf dem Nachhauseweg torkeln. Anderswo ist es noch schlimmer. Da sind die Andachten nichts weiter als eine neue Auflage der Spinnstube mit ihren üblen Folgen. Danken Sie Gott, daß Sie diese Erfahrung nicht zu machen brauchten.“ Er hob sein Glas und stieß mit Erkmann an. „Nicht wahr, das ist ein Tropfen, für den man dem lieben Gott auf den Knien danken muß, daß er so etwas wachsen läßt.“

Als Erkmann Bescheid getan hatte, fuhr er fort: „Jetzt wollen wir auf das Mädel trinken, das so tapfer in Ihr Leben eingegriffen hat. Das ist die Frau, die zu Ihnen paßt, ruhig, klar und bestimmt, und nicht zu vergessen die Liebe, die sie Ihnen schenkt. Das ist ein Geschenk, das man mit ganzer Seele und aus ganzem Gemüt erwidern muß.“

24. Kapitel

Am Nachmittag fuhr Erkmann nach Johannisburg, um Madeline aufzusuchen. Die vier Vergnügungsreisenden waren gerade von einem Ausflug nach Rudzanny und dem Niedersee zurückgekehrt. Linchens Freundinnen warfen sich einen verständnisvollen Blick zu und kicherten, als Kurat an ihren Tisch trat, sich vorstellte und Frau Lowisa um die Erlaubnis bat, Madeline allein sprechen zu dürfen. Sie führte ihn auf ihr Zimmer. Sie nahm auf dem Sofa Platz und wies ihm einen Stuhl an. „Nun, Erkmann, was bringen Sie mir?“

„Ich habe Ihnen Grüße von Erdmute zu bestellen“, begann er schüchtern und verlegen. „Sie weiß, daß ich zu Ihnen gefahren bin und läßt Ihnen sagen, daß sie mit allem einverstanden ist, was Sie beschließen.“

Madeline schüttelte stumm den Kopf. „Sie befindet sich im Irrtum“, fuhr Erkmann fort. „Ich bin nur gekommen, um Ihre Verzeihung zu erbitten. Ich habe unrecht an Ihnen gehandelt, das läßt mir keine Ruhe, bis ich nicht weiß, daß Sie mir vergeben haben.“

„Ja, Erkmann, daran ist meine Liebe gestorben. Versetzen Sie sich in meine Lage. Sie hatten die Bedingung abgelehnt, die mein Vater Ihnen gestellt hatte, Sie hatten meinen Vorschlag, nach Lisken zu gehen, wo meine Mutter Ihnen helfen wollte, auch abgelehnt. In demselben Augenblick nahmen Sie von Erdmute die Hilfe an, die Sie von mir ausgeschlagen haben. Daraus mußte ich den Schluß ziehen, daß Sie mich aufgaben, mich und unsere Liebe. Das war eine Kränkung für mich, die ich nicht überwinden kann.“

Erkmann hatte wiederholt dazu mit dem Kopf genickt. „Ja, Madeline, Sie müssen sich aber auch in meine Lage versetzen. Ich war verzweifelt, weil ich meine Gemeinde im Stich lassen sollte.“ Er hob den Kopf und sah sie fest an. „Sie können mir glauben, daß das, was mich zum Muckerpfaff gemacht hat, sich in mir sträubte, mein Werk untergehen zu lassen. Erdmute trägt auch einen Teil meiner Schuld. Sie hat mir gesagt, daß sie mir ihre Hilfe ohne jeden Hintergedanken gewähren wollte, daß sie alles über sich ergehen und auf sich nehmen wollte.“

„Das durften Sie nicht annehmen, weil Sie wußten, daß Erdmute Sie liebte und daß das die Triebfeder ihres Handelns war.“

„Sie haben recht, Madeline, und ich will die Schuld nicht auf andere abwälzen. Aber ich habe schwer dafür gebüßt. Sie werden wissen, wie es mir ergangen ist, daß meine Leute sich von mir abwandten und mich beschimpften, daß ich im Gefängnis gesessen habe.“

Madeline reichte ihm die Hand. „Ja, Erkmann, ich weiß es und habe herzliches Mitleid mit Ihnen empfunden. Ich trage keinen Groll mehr gegen Sie in meinem Herzen.“

Sie stand auf und gab ihm nochmals die Hand. „Grüßen Sie Erdmute, ich stehe ihr nicht mehr im Wege. Und Sie, Erkmann, nicht wahr, Sie werden Ihre Pflicht gegen sie erfüllen? Sie hat es um Sie verdient.“

„Ja, Madeline, aber es ist doch nicht die Liebe... die...“

„Nein, Erkmann, daran wollen wir nicht mehr zurückdenken. Unsere Wege haben sich geschieden für immer. Aber wir können gute Freunde bleiben.“ Sie ging ihm voran aus dem Zimmer. Auf der Treppe wandte sie sich zu ihm um. „Sie bleiben natürlich heute abend mit uns zusammen. Wir gehen ins Theater. Es wird ein lustiges Stück gegeben.“

„Ich habe noch nie Theaterspielen sehen. Das hätte ich früher für eine Sünde gehalten. Aber ich bin ja nicht mehr der Muckerpfaff. Ja, Madeline, auch darüber bin ich hinausgekommen. Ich sehe die Welt jetzt mit anderen Augen an.“

*

„Ich bringe Ihnen Grüße von Madeline“, sagte Erkmann mit heiterer Miene zu Erdmute, als er sie am Morgen nach seiner Rückkehr besuchte. „Sie hat mir verziehen.“

Mühsam beherrschte Erdmute ihre Erregung. „Wie soll ich das verstehen?“

„Sie hat Ihnen noch etwas sagen lassen, was ich Ihnen aber erst später sagen kann.“

„Weshalb wollen Sie es mir nicht gleich bestellen?“

„Erdmute, lassen Sie mir noch ein paar Tage Zeit.“ Sie wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. Da wallte es heiß in ihm auf. Er faßte nach ihrer Hand. „Erdmute, wo soll ich den Mut hernehmen, Ihnen das zu sagen, was Sie von mir erwarten? Ich bin ein armer Schlucker, den Sie aus dem Nichts emporgezogen haben, ich habe Ihnen, während Sie mir Ihre Hilfe schenkten, schweres Herzeleid bereitet. Sie werden mich für undankbar und herzlos halten müssen. Darf ich Ihnen jetzt bestellen, was Madeline Ihnen sagen läßt? Sie steht Ihnen nicht mehr im Wege, nein, Erdmute, in keiner Beziehung.“

Sie wandte sich um und lächelte unter Tränen. „Na, Erkmann, so ganz haben Sie sie doch noch nicht vergessen?“

„Nicht, wie Sie es meinen, Erdmute. Aber das Gefühl, das mich zu ihr trieb, ist überwunden. Und aus der Dankbarkeit, die ich für Sie immer empfunden habe, ist eine herzliche Zuneigung aufgewachsen. Erdmute, wollen Sie es mir glauben?“

„Ja, Erkmann“, sagte sie leise und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Du hast mir viel Kummer und Herzeleid bereitet. Zum Glück habe ich die Kraft, so was in mich zu verschließen und es keinem Menschen zu zeigen.“

Sie legte den Arm um ihn und bot ihm ihren heißen Mund. „Nun ist alles gut, nun habe ich dich.“ Sie zog ihn zum Sofa und schmiegte sich an ihn. „Die Menschen haben immer geglaubt, ich bin stolz und hochmütig und habe alle Anträge ausgeschlagen, weil mir die Bewerber nicht paßten. Ja, sie paßten mir nicht, weil ich dich liebte. Du hast mich damals wohl noch kaum gekannt, aber ich hatte dich gesehen und du gefielst mir. Eines Tages war ich in Grumkowkeiten zu Besuch. Da wurde viel von dir gesprochen. Du hattest den Tag vorher in einer Muckerversammlung gepredigt und die Leute schwärmten von dir. Da bin ich abends in die Versammlung gegangen, ein großes Tuch über dem Kopf, die Beleuchtung war ja auch nicht gerade feenhaft, und habe dich gehört. Du weißt, daß ich deinen Glauben nicht teile, aber dein Eifer, deine tiefe Frömmigkeit rührten mich.“

Er zog sie an sich. Ihm standen die Tränen in den Augen. „Von allen, die mir anhingen, bist du allein übriggeblieben.“

Sie richtete sich auf. „Du irrst dich, Erkmann. Wenn ich jetzt für dich die Versammlung veranstalte und dir das neue Hemd anziehe, das kann ich ja jetzt tun, dann wird unser Saal gedrückt voll sein von Menschen, die dir in Treue ergeben sind und sich nach deinem Wort sehnen.“

„Nein, Erdmute, damit ist es vorbei, für immer. Den Muckerpfaff habe ich an den Nagel gehängt, wie Onkel Miltaler sich ausdrückt. Ich habe eingesehen, daß ich nichts mehr und nichts besseres bin, als ein sündiger Mensch, der gar kein Recht hat, sich über die anderen hinauszuheben. Und ich muß dir jetzt gleich eine Bedingung stellen. Ich will kirchlich getraut werden und neben dir in die Kirche gehen.“

Erdmute lachte. „Das Opfer ist nicht groß, das ich dir damit bringe. Aber nun will ich mein Glück der Welt zeigen. Komm; zuerst zu Abrys, dem bereiten wir eine große Freude. Dann zu Miltalers, da wird die Freude noch größer sein, und dann gehen wir Arm in Arm durchs Dorf. Der Kurat mit seiner Co. Weißt du, daß die Leute mich nicht anders als die 'Co.' nennen?“

Lachend gab Erkmann es zu.

Abrys hatte die Verlobten herzlich beglückwünscht, dann fragte er gleich: „Wann wollt Ihr heiraten?“

„Na bald“, erwiderte Erdmute. „Weshalb sollen wir noch lange warten? Ans steht ja nichts im Wege. Meine Aussteuer liegt fix und fertig im Kasten.“

„Und wie wird es mit dem Hause?“

„Na, vorläufig werden wir uns schon beräumen.“

„Aber wenn ich auch bald heirate?“

„Dann könnten wir schon zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen und eine Doppelhochzeit ausrichten.“

„Ja, aber dann?“

„Ach, wir wollen uns heute nicht den Kopf darüber zerbrechen. Kommt Zeit, kommt Rat“, erwiderte Erdmute. „Jetzt gehen wir mal erst zu Onkel und Tante. Komm mit, Abrys.“

„Bedaure, ich habe keine Zeit, ich habe etwas sehr Wichtiges vor.“

Eine halbe Stunde später saß Abrys im Wagen und fuhr nach der Bahn.

Die drei Freundinnen in Lisken saßen im Pfarrhaus zusammen und schwärmten von ihren jüngsten Erlebnissen. Da wurde Madeline, die am Fenster saß, blutrot und wandte sich ab. Die beiden anderen stürzten zum Fenster und sahen hinaus. Da ging ein hochgewachsener junger Mann vorüber, der mit freundlichem Gesicht die Mädchenköpfe am Fenster anlachte und höflich grüßte.

„Weshalb wirst du so rot, Linchen? Nun beicht' mal. Ist das auch so ein Jugendfreund, wie der, dem du in der Stadt den Korb gegeben hast?“

„Na, diesem gibt sie doch keinen Korb“, ergänzte Trudchen Lettner.

„Ach, seid nicht so neugierig“, erwiderte Madeline.

„Weshalb bist du so schnippisch?“ fragte Lieschen.

„Ihr seid unausstehlich“, erwiderte Madeline. „Ich habe euch doch auch nicht mit den jungen Leuten geneckt, die euch in Johannisburg den Hof machten.“

„Na, das ist noch besser“, meinte Trude. „Wir haben dagesessen wie die Mauerblümchen.“

„Ich sehe schon, die Neugier frißt euch das Herz ab. Also ja, das ist ein Jugendfreund von mir, der um mich anhalten kommt.“

„Und da bist du so ruhig? So kalt wie ein Eiszapfen?“

„Ich weiß es doch schon lange, und halb und halb sind wir schon einig.“

Eine Viertelstunde später kam das Mädchen, Madeline nach Hause zu holen. Es sei Besuch da.

Mutter Lowisa gefiel der zweite Freier noch besser als der erste. Sie hatte ihm gleich in der ersten Minute alles abgefragt, denn Abrys trug das Herz auf der Zunge.

„Die alten Miltalers sind mit mir einverstanden und ich glaube jetzt, daß mir Madeline keinen Korb geben wird. Auch Sie, verehrte Frau, bitte ich um Ihre Einwilligung.“

„Mir bleibt doch nichts anderes übrig, als ja und amen zu sagen.“

„Ich danke Ihnen herzlich.“ Er stand auf und schüttelte Frau Lowisa und Kruk, der dabei saß, die Hand. „Ich habe ein großes Gut von tausend Morgen, wovon ich allerdings meiner Schwester ein großes Erbteil auszahlen muß. Aber der Morgen kostet bei uns achthundert Mark.“

„Donnerwetter, dafür können wir hier in Masuren zwei, auch drei kaufen“, warf Kruk ein. „Wie ist's, möchten Sie nicht verkaufen und zu uns ziehen? Ich habe vierhundert Morgen. Im nächsten Jahre wollen wir bauen.“

„Das ist mir zu wenig“, erwiderte Abrys.

„Dafür kann auch Rat geschafft werden. Mein Nachbar Lettner will schon lange verkaufen. Er ist krank und will in die Stadt ziehen.“

„Ob er solange warten wird, bis ich verkaufe?“

„Das ist gar nicht nötig. Das Geld zum Kauf haben wir Hochkant liegen. Die Gebäude sind gut, der Boden mittel. Wir können es uns ja schon morgen ansehen.“

„Erst muß ich doch wissen, was Madeline sagen wird.“

Mit unbefangener Miene trat sie ein und streckte dem Gast die Hand entgegen. „Abrys, was führt dich her?“

„Ach, frag' doch nicht so dumm. Der Erkmann hat sich heute früh mit der Erdmute verlobt.“

„Du solltest doch aber noch ein Jahr wenigstens warten.“

Ihr Ton sollte bloß vorwurfsvoll klingen, aber es schwang noch etwas anderes darin mit.

„Aber wozu denn, Linchen?“ Er hatte ihre Hand festgehalten und zog sie daran zu sich heran. „Linchen, ich habe doch schon lange genug auf dich gewartet.“

Mutter Lowisa war aufgestanden und hatte Kruk durch einen Wink mit dem Kopf mitgenommen.

„Abrys, du weißt doch...“

„Nichts weiß ich, ja, alles weiß ich. Ich weiß bloß, daß ich vor Sehnsucht nach dir vergehe, Linchen!“

„Abrys!“... Es sollte eine Abwehr in dem Worte liegen. Aber der standhafte Freier hörte noch etwas mehr heraus. Stürmisch schloß er sie in seine Arme und küßte sie. „Endlich, Linchen, endlich... Du brauchst mich bloß ein klein bißchen lieb zu haben. Hast du mich ein bißchen lieb? Sag' es mir doch.“

„Ich lass' mich doch schon von dir küssen.“

*

Es war die größte Doppelhochzeit, die seit langer Zeit in Lasdehnen gefeiert worden war. Und die stattlichsten Brautpaare, die vor Glück strahlten, dahinter die Ehepaare Kruk und Miltaler und Jons mit Mutter Urrte. Es war ein Ereignis für die ganze Umgegend, daß der Muckerpfaff mit seiner Braut zur Kirche ging.

Es war eine richtige litauische Hochzeit, wozu die ganze Umgegend eingeladen war. Die meisten jungen Burschen und Mädchen in farbigem Nationalkostüm, die Pferde mit grün-weiß-roten Bändern aufgeputzt. Und unaufhörlich knallten die Freudenschüsse der jungen Burschen.

Erkmann Kurat fuhr mit seiner „Co.“ gleich am nächsten Morgen weg. Das junge Paar machte eine Hochzeitsreise über Berlin nach dem Rheinland. Das Ehepaar Endrulat blieb zu Hause, bis das Wohnhaus auf Gut Lisken, das Kruk für das junge Paar gekauft hatte, neu eingerichtet war. Zum Frühjahr sollten auch Miltalers in die alte Heimat übersiedeln.

Das Gut übernahm Erdmute und wollte es behalten. Sie war in der Landwirtschaft aufgewachsen und hoffte, mit der Zeit aus ihrem Muckerpfaff einen tüchtigen Landwirt zu machen.

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