Fritz Skowronnek
Der Dämon von Kolno
Erstes Kapitel.
Der alte Schleusenwärter Wnuk hatte es sich bequem gemacht. Den gepolsterten Lehnstuhl hatte er an den Ofen gerückt und den Tisch davor gestellt. Bequem in Handnähe stand in der Ofenröhre ein großer Topf voll heißen Wassers, und neben ihm am Stuhlfuß die Rumflasche. Der Alte war augenscheinlich nicht nur ein Liebhaber des ostpreußischen „Maitranks“, sondern auch ein Feinschmecker. Denn wenn er sich ein frisches Glas zurecht machte, zog von dem Rum ein köstlicher Duft, der ein wenig an den Geruch russischer Juchten erinnerte, durch die Stube und mischte sich mit dem Rauch der echten Havanna, die Herr Wnuk rauchte.
Eine eigenartige Persönlichkeit, dieser alte Schleusenwärter! Ein großer, hagerer Mann, auf dessen verwittertes Gesicht das wechselnde Schicksal eines stürmischen Lebens seine Runen eingeschrieben hatte. Der Kopf war kahl und glänzte wie geölt, aber unter den buschigen Brauen standen ein Paar scharfe, blitzende Augen, und ein mächtiger eisgrauer Bart wallte ihm bis auf die Brust herab.
Der Alte hatte ein Pack Zeitungen vor sich liegen, in denen er las. Von Zeit zu Zeit legte er den Kopf an die Lehne zurück und schloß die Augen.
„Es scheint zu tagen in der Welt! Vielleicht erlebe ich's noch, daß auch mir die Stunde schlägt...“, murmelte er vor sich hin. Dann griff er wieder nach den Blättern... Aber sein Blick sah nicht das bedruckte Papier, sondern verlor sich traumverloren ins Weite... Da sah er ein herrliches, weißschimmerndes Schloß. Auf der Veranda saß ein schönes, junges Weib mit einem Knaben im Schoß, dem das schwarze Gelock bis auf die Schultern hinabsiel... Über den Schloßhof kam auf prächtigem Rappen ein Reiter angesprengt, in reichverschnürter Pikesche... auf der Konfederatka wehte die weiße Reiherfeder... Windhunde umsprangen das Roß.
Aus seinen Träumen weckte ihn ein Knurren der Dogge, die zu seinen Füßen auf einem Wolfsfell lag. Der mächtige Kater hob den Kopf und spitzte die Ohren. Ein leises Pst! ließ ihn verstummen.
„Wahrscheinlich ein Grünrock, der auf ein Glas Grog Appetit hat“, dachte der Alte.
Doch draußen blieb alles still, nur der Hund fing wieder an zu knurren. Der Alte erhob sich. Jetzt wurde leise an den Fensterladen gepocht.
Wnuk ging auf seinen Filzschuhen mit unhörbaren Schritten zum Fenster.
„Wer ist da?“
„Gut Freund.“
„Das kann jeder sagen! Was willst Du?“
„Wir wollen einen Kahn schleusen. Bringt die Schlüssel.“
„Fällt mir gar nicht ein. In der Nacht wird nicht geschleust...“
„Wir kommen von Zocher Sareyski.“
„Das ist was anderes! Weshalb sagt Ihr das nicht gleich, Ihr dummen Kerle...?“
Er ging zur Haustür und stieß den Riegel zurück. Zwei Männer schlüpften schnell durch die halbgeöffnete Tür und traten vor ihm in die Stube. Kopfschüttelnd betrachtete sie der Alte von oben bis unten.
„Weshalb habt Ihr Eure Gesichter geschwärzt?“
„Damit nicht jeder Narr uns erkennt“, gab der eine grob zur Antwort. „Aber nun vorwärts, Alter, unsere Zeit ist knapp.“
„So... habt Ihr solche Eile? Ich nicht! Erst möchte ich das Zeichen von Zocher haben.“
„Ein Zeichen? Wir haben keins bekommen.“
„Na, dann sagt mir wenigstens das Paßwort.“
Die beiden Männer sahen sich ratlos an.
„Wir haben auch kein Paßwort. Der Zocher hat uns nur gesagt, wir sollen Euch seinen Namen nennen...“
„Ihr lügt! Weshalb redet Ihr nicht die Wahrheit?“
Jetzt flüsterte der eine der beiden Männer dem andern etwas aus russisch zu. Der andere antwortete ebenso. Zu ihrem Erstaunen lachte der Alte laut auf. Er hatte verstanden, was sie miteinander gesprochen, denn er sprach sie jetzt selbst russisch an.
„Ihr Hunde, Ihr russischen Räuber, Ihr wollt mich zwingen?“
Bei diesen drohend gesprochenen Worten hatte sich die Dogge aufgerichtet und mit gesträubtem Nackenhaar vor die Männer gestellt. Der Alte war gleichzeitig einen Schritt zurückgetreten und hatte eine Doppelflinte vom Nagel gerissen. Ganz langsam spannte er die beiden Hähne.
„Herr...“ begann jetzt auf polnisch der eine der nächtlichen Besucher... „Herr, wir sind keine Russen, wir sind Polen. Und mit dem Zocher Sareyski ist das auch wahr... er wollte Euch vorher Nachricht geben...“
„So...? Ihr seid Polen... das ist etwa? anderes! Weshalb habt Ihr's nicht gleich gesagt. Bloß den Zocher laßt aus dem Spiel.“
„Na ja... wenn Ihr's doch nicht glauben wollt... wir haben keinen Auftrag von ihm. Aber wir wollen Euch bezahlen, reich bezahlen, auf Geld kommt's nicht an. Was soll`s kosten, wenn Ihr uns die Schleuse öffnet?“
Der Alte schüttelte heftig den Kopf. „Mit Geld bin ich nicht zu kaufen. Da müßt Ihr Euch schon etwas anderes ausdenken.“
„Herr, habt ein Einsehen“, antwortete einer der Polen. „Wir müssen noch heute in der Nacht durch die Schleuse... Wir haben noch einen langen Weg. und die Sachen müssen noch heut` über die Grenze...“
„Was habt Ihr geladen? Seid offen... ohne Furcht... Ihr habt einen Landsmann vor Euch. Einen, der 1863 sein Blut für das Vaterland vergossen hat...“
Die Polen sahen sich an. Endlich begann der eine: „Herr, wir trauen Euch. Wir bringen, was man jetzt braucht in Rußland: Papier und altes Eisen.“
Der Alte lachte laut auf: „Sehr gut gesagt! Papier und altes Eisen! Aber das Papier ist hoffentlich bedruckt und das alte Eisen hat ein Loch, aus dem man schießen kann.“
Er trat zu den Männern und streckte ihnen die Hände hin.
„Ihr habt's heute eilig, wie Ihr sagt. Aber einer von Euch muß wiederkommen, muß mir erzählen, wie's drüben aussieht. Und wenn's Zeit ist, dann komme ich mit Euch. Dann soll ein Name aufleben, der in unserer Geschichte einen glanzvollen Klang hat...“
Er unterbrach sich und lauschte. Draußen ertönte ein kurzer, schriller Pfiff. „Das sind wohl Eure Genossen... Geht voraus... ich komme nach...“
Eilig fuhr er in einen Pelzrock und nahm die Schlüssel zur Schleuse an sich. Der Kahn war schon in der Schleuse, denn die unteren Flügel hatten offen gestanden. Der Maskierte trat dem Schleusenwärter entgegen und ersuchte ihn in wenig freundlicher Art, sich zu beeilen. Der Alte erhob die Laterne, die er bei sich trug und schob die Blende zurück, so daß der helle Schein auf den Mann fiel. Als der andere ärgerlich zurückprallte, deckte er das Licht wieder ab und trat näher.
„Ihr dient Eurer Sache schlecht, lieber Freund. Stolz und Energie sind sehr gut, wo sie am Platze sind, aber nicht hier! Hier habt Ihr zu bitten und zu danken! Denkt nicht, daß Ihr mich mit Gewalt zwingen könnt.“
In diesem Augenblick sprang einer der beiden, die den Alten geholt, zu dem Maskierten heran.
„Herr, das ist ja ein Landsmann, ein treuer Pole, wie wir. Er hilft uns aus gutem Herzen.“
„Ja, das tue ich“, fiel der Alte ein, „und ich will Euch noch einen guten Rat geben! Die Vermummung ist Unsinn! Wer Euch, Herr, einmal gesehen, erkennt Eure Gestalt unter Tausenden wieder, auch wenn Ihr Euer Gesicht verdeckt. Und weshalb fahrt Ihr nachts? Weshalb mit Heimlichkeit betreiben, was Ihr am hellen Tage tun könnt? Auf die Ladung kommt eine Schicht Holz und der Dampfer schleppt sie Euch, wohin Ihr wollt.“
Der Maskierte streckte ihm die Hand entgegen. „Wir danken Euch sehr für Euren Rat. Doch nun sperrt auf, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.“
Der Wärter schloß die beiden großen Vorlegeschlösser, mit denen die oberen Tore der Schleuse versichert waren, dann trat er wieder zu dem Maskierten.
„Herr, verzeiht die Frage... Wenn Ihr den Kanal ohne Unfall passiert, dann habt Ihr noch gut drei Stunden bis zu der Stelle, wo die Grenze am nächsten ist. Das Ausladen dauert auch einige Zeit“ — er sah zu den Sternen auf —, „Mitternacht ist vorüber, da wird Euch die Zeit zu knapp. Wo wollt Ihr die Ladung bergen?“
„Wir bleiben mit dem Kahn in einer kleinen Bucht und laden erst morgen nacht aus.“
Der Alte schüttelte den Kopf. „Und wenn Euch ein Förster oder Fischaufseher entdeckt? Es läuft so viel zweierlei Tuch hier herum... Ihr denkt vielleicht. Euch, wenn's nötig sein sollte, zu wehren? Das ist Unsinn! Eine Gewalttat versperrt Euch für immer den bequemen Wasserweg.“
„Wißt Ihr was Besseres?“
„Gewiß, sonst würde ich nicht sprechen! Der Dampfer bringt die nächste Ladung, die mit Holz zugedeckt wird, bis an die Stelle, die ich Euch zeigen werde. Wenn der Wind anders steht, noch eine Meile weiter. Natürlich müßt Ihr dem Kapitän und seinen Leuten den Mund mit einem bunten Papier verkleben. Dann richtet er es so ein, daß er mit Sonnenuntergang an Ort und Stelle ist. Ihr übernehmt den Kahn und bringt ihn in der Dunkelheit dahin, wo ihn kein Teufel entdeckt. Den Ort will ich Euch zeigen.“
Der Maskierte hatte aufmerksam zugehört. Der Rat war gut. Aber konnte es nicht auch eine Falle sein, die der rätselhafte Alte ihnen legte? Sein Vertrauter stieß ihn an.
„Herr, dem Manne können mir trauen.“
„Wenn Du es sagst, Gregor, will ich's glauben.“
Eine halbe Stunde später schoß der Kahn unter dem Druck der Segel auf den See hinaus. Den Kanal hatten sie mit Hilfe des Alten leicht überwunden. Mit einer Stimme, die den Sturm übertönte, hatte er die Männer kommandiert, daß sie bald hier, bald da die Stangen einstemmten, wenn der Wind in der schmalen, gewundenen Wasserstraße den Kahn gegen das Ufer zu drücken drohte.
Jetzt lagen dreißig Kilometer glatter Fahrt mit vollem Winde vor dem Fahrzeug. Etwa in einer Breite von anderthalb bis zwei Kilometer dringt der langgestreckte Nieder-See in die Heide ein. Die hohen Ufer sind zu beiden Seiten mit dichtem Wald bedeckt. Nur ab und zu tut sich eine Lichtung auf. Da liegt ein einsames Forsthaus oder ein paar strohgedeckte Hütten der Waldarbeiter... Im Sommer trifft man ab und zu einen Trupp emsig arbeitender Männer am Rande des Sees. Das sind die Flößer, die das angefahrene Holz vom Ufer hinab ins Wasser rollen und zu langen Flößen verbinden, die der Dampfer dann wegschleppt.
Jetzt lag der See ganz einsam... Der Schleusenwärter saß neben dem Maskierten, der das Steuer führte, auf einer Kiste. Die anderen Polen lagen neben ihnen auf dem bloßen Deck.
Der Alte zog eine kurze Pfeife hervor, schlug mit Stahl und Stein Funken und drückte den glimmenden Zunder auf den Tabak. Wie ein Bildnis aus Stein saß er stundenlang regungslos da. Ab und zu schaute er nach den Sternen und dann wieder nach dem dunklen Ufer. Endlich erhob er sich.
„Gebt mir das Steuer. Und achtet auf jeden Ruf. Ihr seid fünf starke Männer. Ihr könnt es zwingen.“
Gleich darauf warf er mit starker Hand die Steuerpinne herum, befahl, das Hauptsegel nachzulassen und die Fock straff anzuziehen. In einer Sekunde war sein Befehl ausgeführt. Der schwere Kahn drehte in den Wind und legte sich unter dem seitlichen Druck auf die Seite, um dann mit verstärkter Geschwindigkeit auf das dunkle Ufer loszuschießen.
In dem Maskierten war das Mißtrauen gegen den rätselhaften Alten noch nicht eingeschlafen. Er trat dicht an ihn heran und reckte die Arme. Wohin ging die tolle Fahrt? Wollte der Mensch etwa den Kahn auf den Strand setzen und sich bei der unausbleiblichen Verwirrung durch einen kühnen Sprung ans Ufer retten? Aber weshalb denn? Aus Geldgier? Die hätte man ihm doch schon vorher gestillt, wenn er gewollt hätte. Er hätte ja nur zu fordern brauchen! Und daß er ein echter Pole war, hörte man aus der Sprache... Wenn er auch einen masurischen Namen trug, kein Masur kann dem Polen, dessen Sprache er spricht, die eigentümliche Klangfarbe nachmachen...
Jetzt tauchte vor dem Kahn ein breiter Rohrgürtel auf... in demselben Augenblick schoß das Fahrzeug hinein... Man hörte trotz des Sturmes deutlich das Rauschen der unzähligen Halme, die von dem Kahn niedergedrückt wurden, man fühlte den Widerstand, der die rasende Fahrt verlangsamte, man merkte, daß der Sturm mit verdoppelter Kraft auf das Segel drückte.
Der Maskierte war zugesprungen und hatte das Steuer gepackt. In der nächsten Sekunde flog er rückwärts zu Boden, der Alte hatte ihn mit der Pinne niedergestoßen. Noch im Fall horte er ihn schreien: „Die Fock runter... Stangen zur Hand!“ Als er sich `aufrichtete, maß ihn der Alte mit funkelndem Blick.
„Du handelst wie ein dummes Kind... Jetzt marsch... eine Stange zur Hand, da kannst Du Dein bißchen Kraft besser anwenden.“
Noch halb betäubt von dem Fall. sah der Maskierte sich um. Zwischen hohen Baumwänden glitt der Kahn dahin, doch vergeblich suchte der Blick die Entfernung vom Kahn zum Ufer zu schätzen.
Jetzt dröhnte wieder die Kommandostimme des Alten mit eherner Gewalt: „Das Segel nach links rüber...!“
Mit rasender Schnelligkeit durchschnitt der Kahn eine offene Wasserfläche, um in der nächsten Sekunde wieder in die Dunkelheit eines engen Kanals einzutauchen. Halb mechanisch hatte der Maskierte eine Stange ergriffen...
Bald hier, bald dort mußten die Männer die Stangen gegen das Ufer stemmen, um das Auffahren des Kahnes zu verhüten. Jetzt erschallte der Befehl: „Segel ab!“
Mit verminderter Schnelligkeit schoß der Kahn noch einige hundert Meter vorwärts, dann kam das Kommando: „Anker nieder!“
Die Männer liefen nach vorn… Ein Rasseln der Kette, ein Quietschen der Winde... der Kahn stand in einer Sackgasse... Von allen Seiten ragten Bäume mir ihren Ästen zum Verdeck heran.
Der Alte stand hochaufgerichtet am Steuer. Seine Stimme hatte noch den harten Klang, mit dem er seine Befehle erteilte, als er die Männer zu sich rief.
„Wer ist der Maskierte, der Euch anführt?“
Einer der Polen schlug die Hand an die Brust und verbeugte sich tief, wie sich Untergebene vor dem Herrn verneigen.
„Herr, er ist unser Anführer, wir sind nur seine Knechte.“
„Wer ist hier Herr, wer Knecht?! Seit Ihr gemietet, daß Ihr so sprecht?“
Der Maskierte trat einen Schritt vor. Auch seine Stimme klang hart.
„Was soll das? Wollt Ihr über mich Gericht halten?“
„Ja... Weshalb habt Ihr mich vorhin wie ein toller Wolf angefallen? Wenn Euer bißchen Kraft nicht so gering wäre, dann säßen wir jetzt mit dem Kahn dort draußen auf dem Ufer. Wer hat Euch zum Anführer bestellt?...“
„Alter Mann, Ihr verkennt augenscheinlich Eure Aufgabe. Die Männer habe ich geworben! Und jetzt gebt Rechenschaft: wohin habt Ihr uns geführt?“
„Das will ich Dir allein sagen, wenn Du den Mut hast, mir zu folgen.“
In demselben Augenblick war der Alte mit einem Satz vom Kahn ans Ufer gesprungen. Man hörte Äste knacken... ein paar schnelle Schritte auf dem knirschenden Ufersand, dann war's still.
Verblüfft sahen die Polen sich an. Der Maskierte knirschte mit den Zähnen und stampfte mit dem Fuße auf.
„Verdammt! Der Kerl hat uns in eine Falle gelockt! Der ist wahrscheinlich schon unterwegs zum nächsten Förster oder Gendarm.“
Sein Vertrauter trat zu ihm heran.
„Nein, Herr, das glaube ich nicht. Wenn er uns schaden wollte, konnte er es bequemer haben. Er brauchte uns bloß nicht zu schleusen. Ich glaube, er steht nicht weit von uns und wartet. Ich werde mal rufen.“
Gregor trat dicht an den Bord, legte die Hände wie ein Trichter an den Mund und schrie in die Dunkelheit: „Heda, Alter, seid Ihr noch da?“
„Ja, ich warte auf den Maskierten... Euren Anführer.“
Eine Minute standen die Männer unentschlossen, dann sprang der Maskierte vor.
„Ich komme.“
Entschlossen sprang er in die Dunkelheit. Der Sprung war nicht hoch. Ein paar dünne Äste schlugen ihm ins Gesicht... Gleich darauf vernahm er die Stimme des Alten neben sich.
„Gebt mir die Hand, ich führe Euch.“
Langsam, Schritt für Schritt, ging's durchs dichte Gebüsch.
„So, jetzt vorsichtig... wir sind in einem schmalen, niedrigen Gang.“
Dem Polen wurde es unheimlich zu Mut. Jetzt war er völlig in der Gewalt des rätselhaften Alten. Leise griff er mit der rechten Hand in den Gürtel und zog den Revolver.
„Halt, keinen Schritt weiter, ehe ich nicht weiß, wohin Ihr mich führt.“
Gleichzeitig spannte er den Hahn seiner Waffe. In demselben Augenblick fühlte er sich losgelassen. Er hörte noch, wie sein Begleiter mit einem mächtigen Satz sich von ihm entfernte, dann war alles still.
Den Revolver schußbereit erhoben, begann der Maskierte langsam rückwärts zu schreiten. Er hatte noch nicht fünf Schritte getan, als durch die Finsternis ein Etwas rauschend und schnurrend gegen ihn angeflogen kam. Mit tausend Maschen umklammerte es ihn und umschlang seine Arme... beim nächsten Schritt verfingen sich auch die Füße in dem Netz. Er stolperte und schlug hin. Im nächsten Augenblick schon fühlte er sich vorwärts gezogen, über Sand und Steine geschleppt... Mit aller Kraft seiner Stimme schrie er um Hilfe. Da legte sich noch eine dicke Wolldecke um seinen Kopf und erstickte seine Stimme. Die in ihm aufsteigende Wut drohte ihm die Besinnung zu rauben! Mit Anspannung aller seiner Kräfte versuchte er seine Fesseln zu sprengen. Aber je heftiger er sich bewegte, desto fester schlang sich das Netz um seinen Körper.
Nach einer Weile wurde die Decke von seinem Kopfe gezogen. Der Alte stand mit brennender Laterne vor ihm. Jetzt griff er zu und riß dem Wehrlosen die Maske vom Gesicht. Ohne zu sprechen, betrachtete er die scharfgeschnittenen Züge seines Gefangenen.
„Wie heißt Du?“
Trotzig schwieg der Pole. Der Alte lachte kurz auf.
„Wenn Du nicht bald antwortest, gehe ich fort. Bis ich wiederkomme, wirst Du das Sprechen wohl gelernt haben. Also noch einmal, wie heißt Du?“
„Was wollt Ihr von mir? Weshalb habt Ihr mich heimtückisch überfallen?“
„Davon sprechen wir später. Erst will ich wissen, wie Ihr heißt. Aber schnell! Meine Geduld ist zu Ende.“
Nach einer Minute trotzigen Schweigens kam endlich die Antwort: „Ich heiße Kolokotronski, Theophil Kolokotronski.“
„Ich will nicht wissen wie Ihr Euch nennt, sondern wie Ihr heißt!“
„Ich schwöre bei meiner Seligkeit, daß ich keinen anderen Namen besitze.“
„Nun gut, dann sagt mir, was hattet Ihr... es sind jetzt zehn Jahre her... in Petersburg im Ministerium des Innern zu tun?“
Mit weit aufgerissenen Augen starrte der Pole den Alten an. Blitzschnell flogen ihm die Gedanken durch den Kopf.
„Ich habe wegen Rückgabe meiner Güter verhandelt.“
Mit einem unsäglich verächtlichen Tone in der Stimme erwiderte der Alte: „Gebettelt wollt Ihr sagen... Ein Pole, der bei der russischen Regierung betteln geht!...“
„Ihr irrt Euch. Es waren doch viele amnestiert... und mich hatte man vergessen. Weshalb sollte ich nicht fordern, was mir gehörte?“
„Ja, ja, wie man's auslegt! Wo lagen denn die Güter Eures Geschlechts?“
Das letzte Wort war in deutlicher Absicht betont. Kolokotronski zuckte die Achseln.
„Weshalb fragt Ihr mich aus wie einen Verbrecher?“
„Ich glaubte Einen zu finden, nach dem ich schon lange suche... Also Kolokotronski heißt Ihr und wohnt in Kolno?“
„Das kann mein Diener Gregor bestätigen.“
„So, das genügt mir vorläufig. Und jetzt schmuggelt Ihr Waffen und Schriften? Für unsere polnische Sache oder...?“
„Die Waffen sind für uns. Die Schriften werden mir von einem unbekannten Komitee so teuer bezahlt, daß ich viele Waffen dafür kaufen kann. Aber nun ist's genug mit dem Verhör. Gebt mich frei, dann will ich Euch verzeihen, daß Ihr...“
Der Alte ließ wieder sein kurzes Lachen hören. „Ihr seid großmütig, das muß ich sagen. Ich möchte aber lieber sicher gehen.“ Bei den letzten Worten trat er schnell mit dem Fuß auf die Stelle, wo die Hand des Polen, die den Revolver noch krampfhaft umspannt hielt, sich rührte. Ein Schuß entlud sich krachend, dann zerrissen die Hände des Alten schnell das darüber liegende Netz und packten die Waffe.
„So, jetzt könnt Ihr Euch langsam aus dem Netz wickeln; aber nehmt Euch Zeit. Bei solchen Dingen muß man Geduld haben.“
Nach vielem Wälzen und Zerren hatte Kolokotronski endlich das Netz abgestreift und sich aufgerichtet. Erstaunt sah er sich um. Er stand in einer geräumigen Höhle, die von dem Scheine der Laterne nur schwach erhellt war. Der Alte saß an einem rohgezimmerten Tisch und war gerade dabei, mit Stahl und Zunder seine Pfeife wieder in Brand zu setzen. Bei diesem Anblick wallte in dem Polen wieder der Ärger über die erlittene Behandlung auf. Sein Gegner schien es zu merken, denn er sagte gleichmütig: „Ihre Schuld, Herr Kolokotronski. Hättet Ihr mich nicht auf dem Kanal angefallen und nachher in der Dunkelheit das Schießeisen gezogen, dann hätten wir alles in Gemütlichkeit besprochen. Aber wenn Ihr solche Dummheiten macht, dann werde ich ungemütlich. Nun setzt Euch her und hört zu. Hier in dieses Versteck, das keine Spürnase findet, schafft Ihr heute nacht Eure Kisten und Ballen. Morgen früh bringt Ihr den Kahn ins Freie und laßt dort den Anker fallen.“
„Und wie schaffen wir die Kisten bis zur Grenze?“
„Das will ich Euch auch sagen. Ich werde noch heute bei meinem Freund Simon, der hier in der Bucht fischt, vier Kähne besorgen. Sie werden morgen abend gerade gegenüber der Einfahrt zu diesem Kanal am anderen Ufer stehen. Wenn der Wind nachläßt, kann jeder Eurer Männer einen beladenen Kahn regieren. Ihr fahrt am anderen Ufer entlang, bis Ihr auf eine schmale Landzunge stoßt. Gleich dahinter, durch Rohr verdeckt, mündet der alle Kanal, der zu der Eisenhütte Wondollek führt. Das alte Gemäuer steht verlassen, da könnt Ihr Eure Sache unterbringen. Die Kähne müßt Ihr aber wieder bis zur Landspitze zurückbringen. Doch, nun kommt.“
Er hob die Laterne und schritt voraus. Der schmale Gang, durch den sie eingetreten waren, der dem Polen in der Finsternis viel länger erschienen war, mündete schon nach etwa zwanzig Schritt ins Freie. Das trockene Buschwerk, das seine Mündung verdeckte, hatte der Alte vorhin beiseite geschoben. Zu seinem Erstaunen sah Kolokotronski, daß die Spitze des Frachtkahnes dicht vor dem Eingang stand. Bequemer konnte man sich's gar nicht wünschen.
Mit einem kurzen „Gute Nacht“ verschwand der Alte in der Dunkelheit. Mit sonderbaren Gedanken und Empfindungen sah der Pole ihm nach.
Zweites Kapitel.
Die kleine russische Stadt Kolno liegt zwei Werst von der Preußischen Grenze entfernt. Wer eins dieser Nester jemals gesehen, kennt sie alle Ein großer, quadratischer Marktplatz, von niedrigen, verwahrlosten Holzhäusern umgeben. Darauf tummelt alles Getier umher, das die Stadt besitzt. In den Wasserlachen, die nur bei großer Dürre eintrocknen, sielen und wühlen die Schweine, auf den Grasflächen weiden die Gänse in großen Scharen und dazwischen wandern, emsig nach Nahrung suchend, die buntfarbigen Hühner umher.
Das sogenannte Spritzenhaus ist zusammengebrochen, die Wasserkufen sind zusammengetrocknet und zerfallen... Auf der Seite, wo die gewaltige, weißschimmernde griechisch-katholische Kirche steht, schlagen am Morgen die jüdischen Händler ihre Verkaufsstände auf. Das heißt: sie breiten einige schmutzige Tücher auf den Erdboden, und legen darauf ihre Schätze aus, Gurken, Kohlköpfe, Äpfel, Zigaretten, grellbunte Tücher.
Einige hundert Schritte abseits von der Stadt liegen die Beamtenhäuser, fast alle im Datschenstil aus Rundhölzern erbaut. So einfach sie aussehen, so wohnlich sind sie im Innen… denn der Russe versteht es, sich sein Heim behaglich einzurichten. Nur das Haus des Kordonmajors ist zweistöckig und aus Steinen erbaut. Oben wohnt der Major, im untern Stock sind die Bureaus und die Wohnungen der unverheirateten Offiziere. Dahinter liegt die Kaserne der Grenzwache, aus Ziegeln erbaut und weiß beworfen.
Seit zwei Tagen hatte Kolno einen neuen Landrat, Herrn Fedor Maximowitsch Stroganoff. Er hatte bis dahin in Warschau in angenehmen dienstlichen Verhältnissen und in glänzender gesellschaftlicher Geselligkeit gelebt. Aber es war trotzdem keine Strafversetzung! Im Gegenteil: es war ein ehrenvoller Auftrag, dessen glückliche Lösung ihm eine schnelle Beförderung in Aussicht stellte. Er sollte die Leitung der revolutionären Bewegung, die allem Anschein nach in Kolno ihren Sitz hatte, ausfindig machen und außerdem dem Schmuggel ein Ende bereiten, der gerade in diesem Abschnitt des Grenzkordons mit unerhörter Frechheit betrieben wurde.
Und der Schmuggel war nicht harmlos. Er beschränkte sich nicht auf Tee und Seidenwaren, sondern dort kamen, wie man vermutete, die Waffen und Papierballen über die Grenze, die über das ganze Land hinflatterten und die Köpfe erhitzten. War doch erst vor kurzem ein Polizist, der, wie das seit jeher so üblich war, seinen Bedarf an Zigaretten bei dem Händler ohne Bezahlung decken wollte, auf offenem Markt von einem Polen erschossen worden...
Am dritten Tage machte der Landrat mit seiner Frau Serafine Alexandrowna seine Antrittsvisite bei dem Kommandeur der Grenzwache, Major Eduard von Adlersberg.
Der Major, ein großer Mann von massigen Körperformen, hatte bis vor wenigen Jahren noch in Petersburg bei der Garde gestanden. Da er aber die Vorsicht für den besseren Teil der Tapferkeit hielt, hatte er es vorgezogen, statt in den Krieg nach Ostasien zu ziehen, sich als Kordonmajor nach Kolno versetzen zu lassen. Seine Frau, ein stilles, sanftes Wesen, hatte in der Gesellschaft nie eine Rolle gespielt. Sie hatte sich deshalb auch leicht in den Wechsel gefunden.
Jetzt war sie innerlich von großer Unruhe erfüllt. Denn mit der Ankunft des neuen Landrats würde für ihren Mann das stille, beschauliche Leben aufhören. Ja, es konnte noch schlimmer kommen, wenn der Landrat ungünstige Berichte abschickte... Ihr Mann nahm den Wechsel im Landratsamt weniger tragisch. Gleichmütig meinte er, der neue Herr würde in den ersten acht Tagen ein Dutzend neue Verfügungen erlassen, in den nächsten acht Tagen von Dorf zu Dorf, von Gut zu Gut fahren, und nach vierzehn Tagen wäre alles beim alten.
Die Förmlichkeiten der ersten Begrüßung waren überwunden. Der Major hatte die Offiziere seiner Grenzwache bitten lassen, um sie bei dieser Gelegenheit dem neuen Landrat vorzustellen. Herr Stroganoff, ein kleiner Mann mit grauem Haar und großer Glatze, erwies sich bald als sehr umgänglich. Die wirklich gute, echte Zigarre, der Kognak, den Adlersberg ihm vorsetzte, fand seinen Beifall. Mehr noch die Auskunft, daß diese guten Dinge bequem zu erlangen wären. Man brauche nur über die Grenze sieben Kilometer weit nach der preußischen Kreisstadt fahren.
Und als nach dem Imbiß ein ganz vorzügliches Glas Königsberger Bier frisch vom Faß serviert wurde, da taute er ganz auf und meinte, er habe sich zwar trotz des ehrenvollen Auftrages über die Versetzung geärgert, aber wenn es sich an der Grenze so gut leben ließe, könne er sich wohl für die kurze Zeit, die er hier zuzubringen gedenke, trösten.
Ob seine Frau Serafine Alexandrowna sich so leicht über die Versetzung trösten würde, stand noch nicht fest. Sie hatte eben von Julia Feodorowna die Geschichte, die jeder neue Besucher in den ersten fünf Minuten vorgesetzt erhielt, weshalb ihr Mann statt mit seinem Regiment nach Ostasien zu gehen, nach Kolno gekommen wäre, gehört und mit der impertinenten Frage geantwortet, wie es ihr möglich gewesen sei, den Wechsel zwischen Petersburg und Kolno zu erwägen.
Die Erwiderung übernahm der Leutnant Juri Durnowo, ein schlankgewachsener, junger Mann mit blonden Haaren und luftigen blauen Augen.
„O, gnädigste Frau! Wir leben hier auch ganz vergnügt. Wir spielen Kricket, Lawn-Tennis, und in diesem Sommer haben wir angefangen, Golf zu spielen... Wenn jetzt unsere kleine Gesellschaft noch durch eine schöne junge Dame vergrößert wird...“
„Sie scheinen hier alles sehr energisch zu betreiben, auch das Komplimentemachen“, meinte Serafine Alexandrowna, indem sie dem Leutnant aus ihren dunklen Augen einen Blick zuwarf, aber sie lächelte geschmeichelt.
„Verzeihung, gnädigste Frau, aber ich habe nur ausgesprochen, was wir alle in diesem Augenblick denken.“ Die anderen Offiziere verbeugten sich zustimmend.
„Und da wir ganz genau fühlen“, fuhr Juri kühner fort, „was gnädige Frau durch den Umzug verloren haben, so ist es unsere Pflicht, Ihnen nicht nur unsere Herzen zu Füßen zu legen, sondern uns fortan an jedem Morgen die Köpfe zu zerbrechen, welch ein Vergnügungsprogramm für den Tag festgestellt werden könnte.“
„Sie versprechen viel, Herr Leutnant, ich werde sehen, ob Sie Wort halten. Was meinen Sie dazu, Julia Feodorowna?“ wandte sie sich an die Frau Major, die still neben ihr saß.
„Ich meine, die Herren werden in den nächsten Wochen nicht viel Zeit für solche Vergnügungen haben. Vielleicht wäre es auch besser, wie die Dinge hier liegen, sich nicht so viel in der Öffentlichkeit zu zeigen.“
Serafine Alexandrowna lachte laut auf. „Nehmen Sie mir's nicht übel, Julia Feodorowna, aber Sie scheinen wirklich sehr ängstlich zu sein! Nein, gerade! Dem Pöbel muß man zeigen, daß man ihn nicht fürchtet. Ich verachte das feige Gesindel, das aus dem Hinterhalt auf den einzelnen Beamten seine Mordanschläge ausübt! Man kann es nur durch Furcht in Schranken halten... Mein Mann denkt ebenso wie ich. Und wenn es nötig werden sollte, wird sofort Militär hierher gelegt und jeder Verdächtige aufgegriffen. Nicht wahr, Fedor Maximowitsch?“
Der Landrat, der mit dem Major ein sehr lustiges Gespräch führte, kam näher. „Gewiß, gewiß, Serafine Alexandrowna. Wir werden energische Maßregeln ergreifen. Übrigens muß hier im Kreise ein Mensch existieren, der über alles und alle, über die Beamten und Offiziere, nach Petersburg berichtet. Wer kann das sein?“
Die Männer zuckten die Achseln und schwiegen.
Da sagte Julia Feodorowna mit leiser Stimme, aber fest und bestimmt: „Kolokotronski!“
Ärgerlich rief der Major ihr zu: „Aber Julia Feodorowna! Ich begreife nicht, wie Du so etwas sagen kannst. Was berechtigt Dich zu solch einem Verdacht?“
„Bitte, Herr Major“, fiel jetzt Stroganoff ein, „die Frauen erraten oft durch ihr Gefühl Dinge, über die wir Männer uns vergeblich den Kopf zerbrechen. Nun sagen Sie mir mal: Wer ist dieser Kolokotronski?“
Leutnant Durnowo erwiderte: „Ein Pole, der Sohn eines Mannes, der in der Revolution von 1863 gefangen genommen wurde und erschossen werden sollte, aber den Soldaten förmlich unter den Händen spurlos verschwand.“
„Ob er wirklich der Sohn ist, möchte ich bezweifeln“, warf jetzt ein anderer Offizier, der Hauptmann Aksakow, ein. „Aber er hat die Papiere, und die Regierung hat ihm daraufhin vor etwa zehn Jahren einen Teil der Besitzungen zurückgegeben. Er wohnt nicht weit von der Stadt, von hier aus auf der anderen Seite. Ein mächtiges, altertümliches Schloß mit großem Park, der unmittelbar an den Wald anstößt...“
„Nun... und wie benimmt er sich?“
„Ja, Herr Landrat, das ist leicht zu beantworten. Er spielt den getreuen, loyalen Untertan, verkehrt in unserer Gesellschaft, spendet für jeden Wohltätigkeitszweck mit vollen Händen...“
„Wie alt ist der Mann?“
„Wir schätzen ihn auf etwa vierzig Jahre.“
„Wie sieht er denn aus?“ fragte jetzt Serafine Alexandrowna.
„Das wird Ihnen, gnädige Frau, am besten ein Vergleich mit mir klar machen“, antwortete Hauptmann Aksakow lachend. „Ich bin dick und klein, er ist groß und schlank, mit breiten Schultern und einer geradezu übermenschlichen Kraft ausgestattet. Ich habe kleine, graue Augen, er hat ein paar große, schwarze, rollende Augen. Mein Haarwuchs ist dünn und schwach, er hat einen Kopf voll schwarzer krauser Haare. Ich trage einen kleinen Bart, er einen mächtigen Wischer, den er nur Nacht hinter den Kopf zu einer Schleife bindet, um die Binde zu sparen.“
Alles lachte bei dieser launigen Schilderung, nur Serafine Alexandrowna meinte ganz ernsthaft, mit einem blitzartigen Aufleuchten ihrer dunklen Augen: „Den Mann muß ich kennen lernen.“
Ihr Mann mochte wohl fühlen, daß diese Bemerkung von den Anwesenden falsch gedeutet werden konnte und suchte sie schnell durch die lachende Erwiderung: „Du willst Herrn Kolokotronski wohl auch vor Deinen Triumphwagen spannen?“ abzumildern.
Serafine Alexandrowna zuckte die Achseln. „Ich meinte nur, daß es interessant wäre, solch einen Mann kennen zu lernen. Und vielleicht kann man ihn unschädlich machen, indem man ihn sich gesellschaftlich verpflichtet...“
„Das wird schwer halten“, warf jetzt Julia Feodorowna in ihrer leisen Sprechweise ein. „Er hat bis jetzt nur einen sehr formellen Verkehr mit den Beamten und Offizieren unterhalten. Er gibt im Sommer ein Gartenfest, wozu er unseren ganzen Kreis einladet, er kommt im Winter zu der Gesellschaft, die wir geben; aber sonst läßt er sich wenig sehen. Er ist auch viel abwesend...“
„Ja“, rief Leutnant Durnowo dazwischen, „jetzt ist er wieder seit mehreren Tagen unsichtbar, also können wir uns für die nächste Woche auf einige große Schmugglerzüge gefaßt machen.“
Jetzt brauste der Major auf. „Wie können Sie solch einen Verdacht hier offen aussprechen, Leutnant Durnowo?“
„Herr Major, ich muß noch weiter gehen. Wenn man das Haupt der Revolutionäre mit einem einzigen Schlage treffen will, dann braucht man nur Herrn Theophil Kolokotronski zu verhaften und sein Schloß zu durchsuchen.“
„Sie haben eine furchtbar rege Phantasie“, meinte der Major ärgerlich. „Der Mann denkt nicht an so etwas... das ist ein Lebemann... Wenn er hier verschwindet, fährt er nach Warschau oder Petersburg oder gar nach Berlin, um sich zu amüsieren, und fast immer bringt er sich... Pardon, gnädigste Frau, daß ich hier das ausspreche... Gesellschaft mit... weibliche natürlich.“
Jetzt lachte Stroganoff laut auf.
„Ich glaube auch, Herr Leutnant, daß Sie den Mann falsch beurteilen. Und wenn die Vermutung von Julia Feodorowna richtig ist, daß er zu amtlichen Kreisen in Petersburg Beziehungen unterhält, dann liegt es doch auf der Hand, daß er nebenbei keine Verschwörerkünste betreiben kann. Aber jetzt sehe ich doch, daß meine Frau recht hat, daß man diesen edlen Polen kennen lernen und wenn irgend möglich an unsere Gesellschaft heranziehen muß... So ein Mann, der geheime Verbindungen nach Petersburg hat, kann nutzen oder schaden... je nachdem...“
Drittes Kapitel.
Im Offizierkorps der Grenzwache herrschte geradezu stürmische Begeisterung für den neuen Landrat und seine schöne, junge Frau. Der Major war von Stroganoff entzückt.
„Wir werden so ruhig weiter leben, wie bisher! Fedor Maximowitsch liebt die Geselligkeit“, meinte er zu Aksakow. „Er hat mich schon gefragt, ob ich eine Partie aber nur feiner Spieler hier zusammenbringen könnte. Er will uns ein neues interessantes Spiel zeigen, das ein Bekannter von ihm eben erst aus Deutschland mitgebracht hat... Bridge, glaube ich, heißt es... Na, und für einen soliden Bak wird er auch zu haben sein...“
Dem Leutnant Durnowo hatte er gleich am nächsten Morgen eine energische Strafpredigt gehalten. Er hatte den flotten Offizier, der schon als Kind in seinem Hause verkehrt hatte, sehr gern, aber wenn er ärgerlich war, dann war es ihm ganz gleich, wer vor ihm stand, ein Offizier oder ein ganz gemeiner Straschnik.
„Juri, ich wollte Ihnen eigentlich acht Tage Stubenarrest für Ihren Vorwitz diktieren! Wie kann man so dumm sein und den Mund zur unrechten Zeit aufmachen!“
„Verzeihung, Herr Major, wenn ich mir die Bemerkung erlaube, daß Julia Feodorowna den Namen genannt hat.“
„Um so schlimmer! Das blieb im besten Fall inhaltsloses Weibergeschwätz, wenn keiner von uns beistimmte. Und weshalb dem Herrn Landrat auf die Nase binden, was wir — sagen wir mal — vermuten? Aber Unsinn! Logik, Juri, Logik! Wenn Kolokotronski geheime Verbindungen nach Petersburg hat, woher soll man dort wissen, daß gerade hier Waffen geschmuggelt werden? Wird er darüber berichten, wenn er selbst schmuggelt? Also eins könnte nur richtig sein... ich glaube aber, keins von beiden. Der Mann ist froh, wenn er ungestört sein Leben genießen kann.“
Juri hatte gleichmütig die Standpauke über sich ergehen lassen und die Achseln gezuckt, als der Major sich abwandte. Ihm war's in diesem Augenblick höchst gleichgültig, was der edle Pole Kolokotronski trieb. Sein ganzes Denken und Fühlen war seit gestern abend von den Gedanken an Serafine Alexandrowna erfüllt. Die ganze Nacht hatte er über das Verhältnis zwischen den beiden Ehegatten gegrübelt. Der alte, zum mindesten unschöne Mann, der sich den Schnurrbart wie eine Stiefelbürste beschnitt und das junge, herrliche Weib! Nach seiner Schätzung konnte sie höchstens ein paar Jahre über die Zwanzig hinaus sein.
Das war doch keine Liebesheirat gewesen! Wer weiß, aus welchen Gründen Serafine Alexandrowna den alternden Mann genommen hatte. Vielleicht war sie arm und wollte versorgt sein? Aber auch er schien gar nicht verliebt zu sein. Hatte er doch lächelnd die Bemerkung von dem Triumphwagen gemacht, aus der man zum mindesten schließen mußte, daß er sich darüber nicht aufregte, wenn jemand seiner Frau den Hof machte.
Die Hände in den Hosentaschen, die Zigarette im Mundwinkel schlenderte Juri auf dem Kasernenhof umher. Er hatte „Dienst“, d. h. er mußte die drei Unteroffiziere beaufsichtigen, von denen jeder zehn Mann mit Griffen und Zielübungen quälte. Also die schönste Zeit, sich mit verliebten Gedanken zu beschäftigen!
Da stürzt der Bursche des Landrats atemlos auf den Kasernenhof.
„Herr Leutnant! Krawall in der Stadt auf dem Markt. Herr Leutnant sollen gleich mit Wachkommando kommen.“
Der Leutnant schüttelt den Kopf. „Pascholl! Wenn Du was willst, geh' zum Herrn Major. Dort drüben wohnt er.“
„Aber nein, Herr Leutnant! Wachkommando soll sofort kommen... Gnädige Frau Landrat stehen ganz allein mitten im Krawall...“
„Du Hundesohn, das sagst Du erst jetzt?!“ Mit scharfer Stimme gab er ein Kommando. Sofort sammelten sich die drei Abteilungen vor ihm. Ohne weitere Erklärung setzte er sich an ihre Spitze und führte sie im Trab nach der Stadt.
Serafine Alexandrowna war früh mit dem Burschen, der einen großen Korb trug, zum Markt gegangen. Die anderen Frauen taten das nicht. Sie hatten einen Kommissionär, der sich des Morgens bei ihnen einfand, um die Aufträge in Empfang zu nehmen... Wenn's Not tat, konnte man die Bezahlung bei ihm anstehen lassen, natürlich gegen eine entsprechende Provision...
Die junge Frau mochte die Bequemlichkeit dieser Einrichtung noch nicht kennen. Oder suchte sie etwas darin, anders aufzutreten, als die übrigen Frauen?
Der Markt war gut besucht. Jetzt im Herbst hatten die Bauern alle etwas zu verkaufen. Eine ganze Wagenburg war aufgefahren. Schreiend, stoßend drängte die Menge sich durch die schmale Gasse. Überall wurde mit lautem Geschrei und heftigen Gestikulationen gehandelt.
Plötzlich nahmen die Auseinandersetzungen an einer Stelle einen stürmischen Charakter an. Es war von Worten zu Taten gekommen. Peitschen, Stöcke wurden geschwungen... von allen Seiten eilten Menschen hinzu. Und merkwürdig; der Polizist, dessen Helm man eben noch ganz in der Nähe hatte blinken sehen, war plötzlich verschwunden, als hätte die Erde ihn verschluckt...
Serafine Alexandrowna hatte anfangs die Prügelei, die sich dicht in ihrer Nähe entsponnen hatte, mit neugierigem Interesse verfolgt... So etwas hatte sie noch nicht gesehen. Erst als sie einen dicken Knüppel auf den Kopf eines Menschen niedersausen und das Blut aufspritzen sah, wurde ihr die Sache unheimlich... Und die Menschen, die herzuströmten, drohten sie mitzureißen. Mit Mühe wand sie sich aus dem Getümmel und schickte den Burschen ab, ein Kommando Straschniks aus der Kaserne zu holen.
Es war die höchste Zeit, daß Leutnant Durnowo eintraf. Aus der Schlägerei war ein großer Krawall geworden. Aber nicht nur das. Als wenn die Schlägerei nur ein Vorwand gewesen, hatten sich überall Banden von zehn, zwanzig Mann gebildet, die über die Verkaufsstände der jüdischen Händler herfielen, um sie zu plündern. Dicht neben ihr riß ein Haufe die Bude eines Juden auseinander, der Stoffe und Tücher ausgelegt hatte. Der Besitzer wurde zu Boden geworfen, getreten und seiner Barschaft beraubt. Deutlich hörte sie rufen:
„Schlagt doch den Hund tot!“
Juri Durnowo hatte von weitem ihren hellen Hut erblickt. Wie ein Rasender sprang er mit gezücktem Säbel in die Menge. Wer ihm nicht schnell aus dem Wege sprang, erhielt einen Hieb, der ihn zu Boden warf.
„Um Gottes willen, gnädige Frau, schnell mit mir aus dem Getümmel.“
Ohne zu fragen, ergriff er sie an der Hand und zog sie mit sich fort. Es war die höchste Zeit. Plötzlich waren in allen Händen Revolver... Schüsse knallten... Dazu das aufgeregte Schreien der Männer, das Kreischen der Weiber, die sich auf die Wagen geflüchtet hatten...
Serafine Alexandrowna zitterte an allen Gliedern. Aber es war nicht Furcht... nur eine grenzenlose Aufregung.
„Das ist ja unerhört! Ein richtiger Pogrom. Kaum daß mein Mann hier ist...“
Sie stampfte mit dem Fuß auf. „Weshalb greifen Sie mit ihren Leuten nicht ein?“
Juri Durnowo zuckte die Achseln.
„Gnädigste Frau, ich bin vom Exerzierplatz hierher geeilt... meine Leute haben nicht eine scharfe Patrone bei sich...“
„So schicken Sie nach der Kaserne und lassen Sie Patronen holen. Sie müssen wenigstens einige Kerle verhaften, damit mein Mann einen Anhalt hat. Das Übrige wird er schon besorgen...“
In diesem Augenblick ging ein hochgewachsener Mann in der Nationaltracht eines polnischen Edelmannes mit schnellen Schritten an ihnen vorbei. Auf dem krausen, schwarzen Haar saß keck die Rogatka, an die sporenklirrenden Schaftstiefel schlug der krumme Säbel...
Mit einem Satz sprang er in die Menge. Rechts und links flogen von seiner Hand geschleudert die Menschen zur Seite. Mit einer Stimme, die den Tumult übertönte, schrie er die Nächststehenden an: „Was geht hier vor? Seid Ihr wahnsinnig? Ruhe gebiete ich, Theophil Kolokotronski... Ruhe... sage ich...“
So schritt er weiter, von Gruppe zu Gruppe. Wie ein Lauffeuer ging sein Name von Mund zu Mund und wirkte Wunder. Die plündernden Banden stoben auseinander... Die Revolver verschwanden... Nach wenigen Minuten herrschte Totenstille auf dem ganzen Markt. Die Bauern strängten die Pferde an, schwangen sich auf ihre Wagen... Jetzt fuhr einer los... jetzt drei, vier auf einmal... Wer zu Fuß gekommen war, lief eiligst davon...
Es dauerte nicht lange, da war auf der Stelle, wo der Markt stattgefunden hatte, nichts weiter geblieben, als die traurigen Trümmer der geplünderten Buden und Gruppen jammernder Juden. Kolokotronski rief ein Paar von ihnen heran.
„Schreibt auf, was Euch abhanden gekommen ist... aber ohne Rebbach... es wird Euch ersetzt werden.“
Mit immer wachsendem Erstaunen hatte Serafine Alexandrowna das Eingreifen des Polen und seine Wirkung auf die eben noch so erregte Menge beobachtet. Ohne daß es ihr jemand zu sagen brauchte, wußte sie, wer es war. Kein anderer als Kolokotronski...
Jetzt kam er mit nicht übermäßig schnellen Schritten auf sie zu, zog die Rogatka und grüßte mit tiefer Verneigung.
„Verzeihung, gnädigste Frau, daß ich mir vorhin das Vergnügen einer wenn auch flüchtigen Reverenz versagen mußte. Ich bin Ihr ergebener Diener Kolokotronski, Theophil Kolokotronski, und habe wohl die Ehre, die Gemahlin des Herrn Landrat zu begrüßen...“
Mit einem schnellen Blick hatte Serafine Alexandrowna die ritterliche Gestalt des Polen, als er heranschritt, gemustert. Jetzt blitzte sie ihn aus ihren dunklen Augen herausfordernd an, ehe sie leicht den Kopf neigte.
„Ja, Herr Kolokotronski, aber Sie haben meinem Mann einen schlechten Dienst erwiesen. Hätten die Straschniks scharfe Patronen bei sich gehabt, dann hätten wir ein Dutzend der Aufrührer verhaftet. Das weitere hätte sich gefunden. Aber jetzt...“
„Vielleicht ist es doch besser, gnädige Frau, daß die Sache so verlaufen ist... Jetzt braucht kein Sterbenswörtchen darüber zu verlauten. Den Juden wird der Mund gestopft... es ist dann nichts weiter gewesen, als ein kleiner Streit, wie er öfter zwischen betrunkenen Bauern ausbricht.“
„Nein, es war ein richtiger Pogrom.“
„Das wird schwer zu beweisen sein, gnädige Frau...“
„Erlauben Sie, mein Herr... ich habe doch dabei gestanden, wie die Bude eines Juden geplündert wurde, wie der Mensch mit Füßen getreten und beraubt wurde...“
Kolokotronski verbeugte sich zustimmend.
„Ihr Zeugnis, gnädige Frau, wiegt schwer... aber wollen wir nicht dem Herrn Landrat überlassen, wie er den Vorfall beurteilen will? Ich stehe ihm jederzeit zur Verfügung.“
Jetzt konnte sich der Leutnant nicht mehr länger halten. Seitdem Kolokotronski auf der Bildfläche erschienen war, hatte Serafine Alexandrowna nicht ein Wort mehr mit ihm gesprochen. Sie schien nur Augen für den Polen zu haben. Und mit jeder Minute fühlte er immer mehr, welch eine überflüssige Rolle er hier spielte...
„Erlauben Sie, Herr Kolokotronski, wer gab Ihnen das Recht, hier einzugreifen und die Aufrührer zu verjagen?“
Der Pole maß den Offizier mit einem unsäglich hochmütigen Blick.
„Herr Leutnant werden gütigst verzeihen, daß ich allein zustande brachte, was Herr Leutnant mit dreißig Mann sich nicht zu unternehmen getraute. Über die Berechtigung meines Eingreifens wird der Herr Landrat zu befinden haben, nicht Sie... Ich habe die Ehre... Gnädigste Frau, darf ich bitten, mich Ihrem Herrn Gemahl zu empfehlen?“
Er schlug klirrend die Sporen zusammen, verneigte sich tief und wandte sich zum Gehen. Der Leutnant trat ihm in den Weg.
„Sie werden mit uns zur Kaserne gehen, wo der Herr Major darüber befinden wird, ob Sie auf freiem Fuß bleiben oder in die Kosa gesperrt werden... Sie haben Aufrührer der Strafe entzogen...“
Kolokotronski trat schnell einen Schritt zurück.
„Sie sind sich wohl nicht der Folgen bewußt, wenn Sie mich in feindlicher Absicht berühren, Herr Leutnant. Im übrigen wußte ich nicht, daß ein Offizier der Grenzwache hier Polizistendienst ausübt. Aber wenn's Ihnen Spaß macht, können wir ja zusammen zur Kaserne gehen.“
Er wandte sich zu Serafine Alexandrowna. „Verzeihen Sie, gnädigste Frau, den peinlichen Vorgang in Ihrer Gegenwart, den ich nicht provoziert habe. Sie, Herr Leutnant, können ruhig mit ihren Soldaten abmarschieren... ich werde folgen.“
Juri Durnowo biß die Zähne zusammen. Am liebsten hätte er den Polen von seinen Straschniks packen und mit Kolbenstößen vorwärts treiben lassen. Doch der kühle Blick, mit dem Serafine Alexandrowna ihn musterte, gab ihm seine Ruhe wieder. Er hatte in dem Streit den kürzeren gezogen... Mit einem kurzen Befehl schickte er die Soldaten nach Hause. Der Pole sollte wenigstens nicht den Triumph genießen, mit der schönen, jungen Frau allein hinterher zu wandern...
Viertes Kapitel.
Kolokotronski hatte sich auf dem Wege zur Kaserne nicht im geringsten darum gekümmert, daß Leutnant Durnowo ihn als seinen Gefangenen betrachtete. Mit bestrickender Liebenswürdigkeit hatte er Serafine Alexandrowna unterhalten.
„Gnädigste Frau haben bis jetzt in Warschau gelebt? Die Gesellschaft wird untröstlich sein über den Verlust.“
„Kennen Sie Warschau?“
„Gewiß, verehrte Frau! Und deshalb weiß ich auch den Unterschied zu bemessen, den Sie hier empfinden müssen.“
„Weshalb habe ich Sie in Warschau nicht kennen gelernt? Haben Sie nicht in der Gesellschaft verkehrt?“
„Ich war in den letzten Jahren nur einmal wenige Tage dort. Aber ich hörte von Ihnen, meine Gnädigste... man nannte sie die Königin der Feste... alle Kavaliere lagen Ihnen zu Füßen. Was können wir Ihnen hier als Ersatz bieten?“
Die polnische Sprache, deren sich Kolokotronski bediente, gleicht der französischen darin, daß sie über einen großen Schatz galanter Phrasen verfügt, aber die Kühnheit, mit der Kolokotronski der jungen schönen Frau huldigte, überstieg doch das landesübliche Maß von Galanterie um ein Bedeutendes. Juri Durnowo fühlte, wie die Eifersucht lodernd in ihm emporstieg und ihm die Selbstbeherrschung zu nehmen drohte. Und er konnte in das Gespräch nicht eingreifen, ohne gegen die Frau, um deren Gunst er sich selbst bemühte, unhöflich zu werden. Nur einmal warf er ein, daß alle Kavaliere Kolnos bereits ihre Herzen dem neuen Stern zu Füßen gelegt hätten und sich bemühen würden, den Wechsel des Aufenthalts durch doppelte Liebenswürdigkeit zu ersetzen...
Serafine Alexandrowna fühlte, wie es in dem Herzen des Leutnants aussehen mochte. Sie wußte, daß in dem großen Jungen, dessen treuherzige Augen so traurig blickten, eine rasende Leidenschaft emporwuchs, wahrscheinlich die erste große Liebe seines Lebens. Und es schmeichelte ihr, diese Liebe entzündet zu haben. Mit einem hinreißenden Lächeln wandte sie sich zu Durnowo: „Juri, Sie häufen feurige Kohlen auf mein Haupt. Aber ich bin nicht undankbar! Ich werde nie vergessen, daß Sie mich eben mit todesverachtender Kühnheit befreit haben.“
„Wie ein Held“ — so wandte sie sich an Kolokotronski — „sprang er mit gezücktem Degen in die rasende Menge. Wie der junge Kriegsgott sah er dabei aus... Werden Sie nicht rot, Juri! Ich sah zum ersten Male den Mut eines Mannes aufflammen...“
„Unter den Augen einer schönen Frau wird jeder Mann ein Held“, warf der Pole ein.
„Soll das auch für Sie gelten?“ fragte Serafine Alexandrowna in neckischem Ton.
„Gewiß, gnädigste Frau und in noch höherem Grade“, erwiderte Kolokotronski lachend, „denn ich hatte Sie ja kaum mit einem flüchtigen Blick gestreift, als ich auch schon meine Heldentaten ausführte. Ich bitte aber Ihre Anerkennung etwas einzuschränken. Ich wußte ganz genau, daß in dem Volk die alte Gewohnheit, schweigend zu gehorchen, noch fortwirkt. Das Gewand, das ihre ehemalige Herren trugen, ein scharfer Befehl... das wirkt noch immer...“
Vor dem Beamtenviertel verabschiedete sich Serafine Alexandrowna. Sie schien gar nicht daran zu zweifeln, daß der Pole aus dem Streit mit dem Leutnant als Sieger hervorgehen würde, denn sie lud ihn zu einem Besuch am Nachmittag ein. Die Beamten mit ihren Frauen, die Offiziere würden sich zur Begrüßung einfinden. Ohne Zögern sagte Kolokotronski mit einer galanten Redewendung zu.
Schweigend legten die Männer ihren Weg zur Kaserne zurück. Der Major war auf dem Hofe, Er hatte sich eben von den Unteroffizieren über den Krawall und sein Ende Bericht erstatten lassen. Schon von weitem grüßte er den Polen und streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich habe schon gehört, mein lieber Kolokotronski, daß Sie uns ohne scharfen Patronen eine sehr unangenehme Geschichte erspart haben.“
Der Pole verbeugte sich leicht, „Ich muß bitten, Herr Major, erst den Herrn Leutnant sprechen zu lassen. Er betrachtet mich als seinen Gefangenen.“
Adlersberg maß den jungen Offizier mit einem erstaunten, ja ärgerlichen Blick, „Vorbehaltlich Ihrer Genehmigung, Herr Major“, warf Juri in dienstlicher Haltung ein, „Herr Kolokotronski hat in unzulässiger Weise in meine dienstlichen Obliegenheiten eingegriffen und das aufrührerische Gesindel der verdienten Strafe entzogen. Ich beschwere mich darüber.“
Ein wohlwollendes Lächeln flog über das Gesicht des Majors.
„Juri, Sie sind noch immer der unverbesserliche Hitzkopf! Wir, die wir die Verantwortung tragen, denken anders darüber. Wollen Sie uns die Scherereien einer hochnotpeinlichen Untersuchung auf den Hals ziehen? Eine Kommission aus Warschau, womöglich Militär... ich danke dafür! Also: es war nichts weiter, als eine Zänkerei mit etwas Prügelei, wie sie an jedem Markttage vorkommt. Sie haben es wohl in der Erregung, die ja nach allem, was ich gehört habe, begreiflich erscheint, zu tragisch aufgefaßt, mein lieber Juri. Nicht wahr, Herr Kolokotronski, Sie fassen die Sache auch so auf… ich hoffe, daß wegen der kleinen Differenz zwischen den Herren keine Mißstimmung zurückbleiben wird...“
„Bei mir nicht“, beeilte sich der Pole mit höflichem Lächeln zu versichern. Auch Durnowo verbeugte sich zustimmend, obwohl es innerlich in ihm kochte.
„Dann darf ich wohl bitten, meine Herren. Ein kleines Protokoll muß für alle Fälle aufgenommen werden.“
Eine halbe Stunde später fuhr Kolokotronski in der Britschka des Majors nach Hause. Juri schritt nachdenklich und verstimmt über den Kasernenhof nach seiner Wohnung... Er machte sich allerlei Gedanken über die ausgesuchte Höflichkeit, mit der Adlersberg den Polen behandelte. Er war sich bewußt, korrekt gehandelt zu haben. Trotzdem hatte ihm der Major als Strafe einen Patrouillenritt längs der Grenze diktiert! Sonst hätte er sich mit dem leichten Sinn der Jugend darüber hinweggesetzt... jetzt kam als strafverschärfend der Gedanke hinzu, daß er in die Finsternis hinausreiten mußte, während sein Nebenbuhler den ganzen Abend mit Serafine Alexandrowna zusammen war... Es blieb ihm nur ein kurzes Stündchen zur Visite bei Stroganoffs, dann mußte er sich umkleiden und wegreiten...
Seine Verstimmung fiel natürlich den Kameraden beim Mittagsmahl im Kasino auf und gab ihnen Anlaß zu allerhand Neckereien, die ihn verletzten, weil sie den wunden Fleck in seinem Innern trafen. Sie wirkten noch nach, als er sich am Nachmittag in seinem Zimmer auf die Chaiselongue warf, um sich durch einige Stunden Schlaf für die Strapazen der Nacht zu stärken.
Früher, als nötig war, hatte er sich für den Besuch angekleidet, aber er mußte noch lange warten, bis die Kameraden aufbrachen. So blieben ihm nur wenige Minuten, und da war es mehr als zweifelhaft, ob er Serafine Alexandrowna auch nur einen Augenblick würde allein sprechen können. Doch das Glück war ihm günstig. Der Hausherr war nicht zu Hause. Er war am Morgen weggefahren, um seinen Kreis kennen zu lernen, und noch nicht zurückgekehrt. Wer weiß, was ihn aufgehalten haben mochte. Die Hausherrin nahm sofort die Dienste der jüngeren Offiziere in Anspruch. Juri erhielt den Auftrag, in einem Nebenzimmer die Spieltische zu arrangieren. Eine Minute später trat Serafine Alexandrowna ein.
„Weshalb so traurig, mein junger Held?“
Galant führte Juri ihre Hand an die Lippen. „Muß ich nicht traurig sein, wenn ein Befehl mich für den ganzen Abend von Ihnen fernhält? Ich bin nur gekommen, mich bei Ihnen zu entschuldigen und zu verabschieden.“
„Weshalb denn?“
„Ich muß die Posten längs der Grenze inspizieren.“
„Muß das wirklich sein? Und gerade heute? Ich will gleich mit Adlersberg sprechen, daß er den Befehl zurücknimmt. Mir zu Liebe wird er es schon tun. Oder glauben Sie nicht?“ fügte sie schelmisch hinzu.
„Um Gottes willen, Serafine Alexandrowna, ich muß dringend bitten, es nicht zu tun. Dienst ist Dienst. Aber ich danke Ihnen“, fügte er freudig hinzu, „es wird mir ein Trost sein, zu wissen, daß...“
„...Mein Ritter mutig in die Nacht hinaussprengt“, fiel Serafine Alexandrowna schnell mit erhobener Stimme ein, während sie sich abwandte. „Ich werde alle jungen Damen der Gesellschaft auffordern, Ihrer mit Teilnahme zu gedenken“, schloß sie lachend.
Die kleine Komödie war nicht überflüssig gewesen, denn in der Tür stand Kolokotronski. Er hatte das malerische Nationalkostüm mit einem schwarzen Gesellschaftsanzug vertauscht, aber seine außergewöhnliche Erscheinung kam auch in der schmucklosen Kleidung zur Geltung.
„Unser Freund“, fuhr sie fort, während Kolokotronski sich über ihre Hand beugte, „wird durch einen grausamen Befehl aus unserer Mitte gerissen. Er reitet in Nacht und Nebel hinaus, das Reich zu schützen, während wir scherzen und plaudern. Doch wir wollen sein gedenken...“
Mit einem Blick, der wunderbar aufleuchtete, schritt sie an der Seite des Polen davon.
Der Hausherr blieb länger aus, als er sich vorgenommen hatte. Die älteren Herren, der Major v. Adlersberg, der Hauptmann Aksakow, der Polizeimeister Nekrassow, der Telegrapheninspektor Pogodin spielten an einem Tisch ihr geliebtes Preference. An einem andern Tisch saßen ein Kollegienassessor Tolpiga, der Direktor der Grenzkammer Apuschkin und sein Gehilfe Marmeladow beim Sekt...
Die jüngeren Herren widmeten sich den Damen. An kleinen Tischen nahm man den Tee, zu dem Sandwichs und Näschereien gereicht wurden. Serafine Alexandrowna war als Wirtin die Aufmerksamkeit selbst. Bald saß sie bei den älteren Damen, die sich in dem blauen Zimmer niedergelassen hatten und hörte mit dem größten Ernst zu, wie die Frau Polizeimeister und die Gattin des Majors, Julia Feodorowna, sich über die Grundsätze einer gut geleiteten Kinderstube unterhielten, bald war sie bei den Herren, um ihnen einen Kirsch-Nalewka zu kredenzen, den sie selbst, wie sie behauptete, eigenhändig bereitet hatte. Das Ausbleiben ihres Mannes schien ihr keine Sorge zu bereiten. Wenigstens erklärte sie den älteren Herren, sie sei daran gewöhnt, daß ihr Gemahl die Pflicht des Amtes über das Vergnügen, ja selbst über die Pflichten des Gastgebers stelle. Er wisse wohl, daß seine Vertretung in guten Händen liege, erwiderte der Hauptmann Aksakow mit einem schwachen Versuch, galant zu werden.
Am liebsten hielt sich Serafine Alexandrowna natürlich bei der jungen Welt auf, zu der sich auch Kolokotronski gesellt hatte. Die Leutnants Walujew und Ssamarin flirteten eifrig mit zwei jungen Damen. Um den Polen hatte sich ein ganzer Kreis von jüngeren Frauen und Mädchen gebildet. Er erzählte von seiner letzten Reise nach Paris, von den Theaterstücken, die er gesehen. Er sprach französisch, das jedes Mitglied der guten Gesellschaft in Rußland beherrscht. Mit der größten Selbstverständlichkeit berichtete er von dem Schlafwagenkondukteur, der an jeder Endstation seiner Dienstreise eine Familie hatte, eine legitime und eine illegitime. Er schilderte so drastisch, daß die jungen Mädchen sich kichernd abwandten, während die Frauen verständnisvolle Blicke tauschten, „Ich protestiere dagegen, daß Sie unsere Jugend so schonungslos in die Mysterien des galanten Paris einweihen“, rief Serafine Alexandrowna dazwischen, „Wir brauchen es gar nicht zu ahnen, daß es Ehemänner gibt, die ihr Herz so genau zu halbieren verstehen.“
Alles lachte. Kolokotronski verbeugte sich schweigend. „Ich schlage eine harmlosere Unterhaltung vor“, fuhr die Hausherrin fort. „Da steht ein Klavier, dort hängt eine Gitarre. Auch ein Tänzchen ist erlaubt...“
Ohne eine weitere Aufforderung abzuwarten, nahm Kolokotronski die Gitarre von der Wand, präludierte kurz und begann zu singen... eines der uralten Lechenlieder, schwermütig und feurig zugleich. In glühenden Worten wird das Heldentum des Fürstensohnes gepriesen, der mit dem Sturm um die Wette über die Steppe fliegt, den Türken entgegen... Jetzt fällt die Begleitung in die eigentümlich melancholischen Töne der Balalaika... der Held kehrt zurück und erfährt, daß seine Liebste sich einem Unwürdigen zugewandt. Doch es ist nur Verleumdung. Der Held tötet den Nebenbuhler und zieht die Geliebte an seine Brust...
In atemloser Spannung hatten alle dem meisterhaften Gesang gelauscht. Ohne großes Kunstverständnis zu besitzen, fühlten sie, daß ein gottbegnadeter Künstler zu ihnen gesprochen hatte.
In geradezu atemloser Spannung hatte Serafine Alexandrowna an den Lippen Kolokotronskis und an seinen Augen, aus denen eine düstere Glut loderte, gehangen. Ihr war's, als habe er nur für sie gesungen. Wie eine unheimliche Macht war der Gesang auf sie eingedrungen und hatte ihre Nerven in fieberhafte Schwingungen versetzt. Als Kolokotronski jetzt ein keckes französisches Chanson begann, stand sie auf und ging schnell hinaus.
Als sie wieder in den Saal zurückkehrte, bot sich ihr ein anderes Bild. Der Pole unterhielt die Gesellschaft mit Kartenkunststücken, nicht mit den gewöhnlichen Fingerfertigkeiten, sondern mit einer Art Gedankenlesen. Er ließ eine junge Dame das Spiel Karten durchblättern und sich eine davon merken. Dann faßte er mit seiner Hand den linken Arm der Dame und legte sich mit geschlossenen Augen ihre Hand an seine Stirn... Nach einer kurzen Pause nannte er die Karte und stets, wie es schien, richtig.
Auch Serafine Alexandrowna ließ das Experiment mit sich vornehmen, weil sie glaubte, die anderen Damen hätten aus irgend einem Grunde die Richtigkeit zugegeben. Zu ihrem Erstaunen mußte sie gestehen, daß Kolokotronski ihr die richtige Karte genannt hatte.
Ein geheimes Grauen beschlich sie vor dem rätselhaften Menschen, in dem die schärfsten Gegensätze seines Inneren so unvermittelt beieinander zu liegen schienen. Heute vormittag war er ihr zuerst als ein kühner, aber ernster Mann erschienen, der einen erregten Volkshaufen mit seiner Stimme in die Flucht schlug. Dann hatte er sich ihr gegenüber als ein galanter Lebemann gegeben, der einer schönen Frau wie ein Jüngling die Cour schnitt. Und jetzt wieder die dämonische Kraft, die er zu Kunststücken benutzte. Behauptete er doch, als man von allen Seiten in ihn drang, sein Experiment zu erklären, allen Ernstes, er besitze die Kraft, die Gedanken eines anderen Menschen in sein Gehirn überzuleiten.
„Dann vermögen Sie es wohl auch, einem andern Ihre Gedanken, Ihren Willen aufzudrängen?“ rief Serafine Alexandrowna fast unwillkürlich aus.
„Gewiß, gnädige Frau, wenn ich ein geeignetes Medium finde.“
„Wäre ich zum Beispiel solch ein Medium?“
Der Pole verbeugte sich, indem er mit den Händen eine Bewegung des Zweifels machte.
„Das kann man vorher nicht wissen, gnädige Frau. Es kommt auch viel auf Ihren guten Willen an, denn ich muß Sie in einen künstlichen Schlaf versetzen.“
Von allen Seiten drang man in Serafine Alexandrowna, sich zu dem Experiment zu einschließen. Nur Julia Feodorowna — die älteren Damen waren schon bei den Gesangsvorträgen im Saal erschienen — trat zu ihr heran und flüsterte ihr zu: „Ich warne Sie... der Mensch hat die Gewalt.“
Laut erwiderte Serafine Alexandrowna mit Lachen: „Haben Sie keine Angst, Verehrteste, mein Wille ist stark und ich will mich wehren.“
Unter lautlosem Schweigen der Versammlung führte er die Hausfrau zu einem Sessel an der Schmalseite des Saales. Eine junge Dame, die sehr fertig Klavier spielte, hatte sich bereit erklärt, eine Anzahl Volkslieder in gedämpftem Ton dabei vorzutragen...
Einige Mädchen kicherten anfangs, als sie Kolokotronski regungslos vor Serafine Alexandrowna stehen sahen... dann wurden sie auch ernst. Eine schwüle Stimmung schien sich über die Gesellschaft zu legen...
Jetzt streckte Kolokotronski seine Hände gegen die sanft in den Stuhl Zurückgelehnte aus. Mit langsamen Bewegungen ließ er sie von der Höhe der Stirn bis zur Brust herabsinken. Immer langsamer wurden diese Striche durch die Luft... nun trat er zurück, wandte sich um, und ging festen Schrittes zu der Gesellschaft, die unwillkürlich beinahe bis zur Hälfte des Saales zurückgewichen war.
„Serafine Alexandrowna schläft... sie ist, wie ich gedacht, ein vorzügliches Medium. Jetzt können wir mit den Experimenten beginnen. Fürchten Sie nichts“, fügte er mit einem Blick auf die aufgeregten Mienen einiger älteren Damen hinzu, „es ist nichts Gefährliches dabei... es geht alles ganz natürlich zu mit Gedankenübertragung.“
„Wollen Sie mir Ihren Geburtstag ins Ohr flüstern?“ wandte er sich an eine kokette Brünette, die neben ihm stand. Das Jahr können Sie verschweigen.“
Die junge Dame nannte das Datum: „Am 15. April 1889.“
Kolokotronski trat einige Schritte vor. „Serafine Alexandrowna... hier ist Marfa Philippowna, die Sie heute zum ersten Male sehen... wollen Sie mir das Datum ihrer Geburt nennen?“
Serafine Alexandrowna richtete sich langsam im Stuhl auf und sprach mit leiser aber vernehmbarer Stimme: „Marfa Philippowna ist geboren am 15. April 1887.“
„Nein, nicht diese Zahl, die andere, die ich jetzt denke.“
Jetzt kam die Antwort: „1889.“
Lachend erklärte Kolokotronski, er sei so unhöflich gewesen, in Gedanken die junge Dame um zwei Jahre älter zu schätzen. Daher die erste, natürlich falsche Zahl.
Eine Bewegung ging durch die Gesellschaft. Aber schon hatte der Pole einen Apfel vom Tisch genommen und der Schlafenden gereicht.
„Sie wird ihn anbeißen, aber als Kartoffel ansehen und wegwerfen“, erklärte er halblaut. In demselben Augenblick hörte man Serafine Alexandrowna „Pfui“ rufen. „Das ist ja eine Kartoffel. Die schmeckt so schlecht.“ Und schon flog der Apfel in die Ecke.
Kolokotronski ließ sein Medium noch einige Handlungen ausführen, die er vorher den Anwesenden genannt hatte, natürlich, ohne daß Serafine Alexandrowna es hören konnte.
Sie stand auf und kam mit langsamen vorsichtigen Schritten auf die Gesellschaft zu. Ihre Augen mit seltsam starrem Ausdruck schienen in unbegrenzte Fernen zu blicken. Von einem Strauß brach sie eine Blume und steckte sie dem Leutnant Ssamarin ins Knopfloch. Einer jungen Dame brachte sie eine Handvoll Bonbon, die sie vom nächsten Tisch holte...
Plötzlich schrie Frau v. Adlersberg laut auf: „Serafine Alexandrowna wachen Sie auf! Es ist gräßlich...“
Die Angerufene hörte augenscheinlich nicht, was da vorging... langsam ging sie zum Sessel zurück, setzte sich und schloß die Augen. Kolokotronski trat vor.
„Es war vergeblich, wie Sie gesehen haben, Julia Feodorowna, nur ich kann die Schlafende wieder wecken. Und ich will es sofort tun... Sie dürften ja nun überzeugt sein, meine Herrschaften, daß so etwas, wie Gedanken und Willensübertragung möglich ist.“
Er schritt zu Serafine Alexandrowna und beugte sich über sie, doch so, daß sein Gesicht von der Gesellschaft nicht beobachtet werden konnte. Unter seinem glühenden Blick schlug sie die Augen auf... Hastig flüsterte er ihr fünf, sechs Sätze zu, dann nahm er sie bei der Hand, blies sie kurz und scharf an und rief laut: „Erwachen Sie!“
Sofort änderte sich der Ausdruck ihrer Augen, während Kolokotronski sich vor ihr verbeugte und lächelnd sagte: „Wir danken Ihnen alle, gnädige Frau, für die wundervollen Experimente... Sie sind ein vorzügliches Medium.“
Erstaunt ließ Serafine Alexandrowna ihre Blicke über die Gesellschaft schweifen. War es möglich? Was war mit ihr geschehen? Kopfschüttelnd hörte sie zu, als man ihr erzählte, was sie getan... sie hatte nicht die geringste Erinnerung daran. Scheu richtete sie ihre Blicke auf Kolokotronski, der zurückgetreten war. Er lächelte sie an, aber in seinen Augen stand ein seltsamer Glanz...
Fünftes Kapitel.
Schweigend ritt Juri in die dunkle Nacht hinaus. Es stand kein Mond am Himmel, auch die Sterne wurden nur ab und zu sichtbar, wenn die eilig dahinziehenden Wolken eine Lücke ließen. Ein starker Wind schien in den oberen Regionen zu herrschen. Unten auf der Erde war's dagegen still, beinahe unheimlich still. Und die Luft hatte, trotzdem man doch schon im Oktober stand, eine gewisse Schwüle an sich.
Der Wachtmeister, der ihn begleitete, war ein stumpfer, im Dienst ergrauter Mann. Früher hatte er manchen harten Strauß mit den Schmugglern durchgefochten, jetzt dachte er an nichts anderes als an die Ruhepause nach dem ersten Inspizierungsritt. Da konnte er sich in seinen grauen Mantel wickeln und ein paar Stunden schlafen. Das heißt, wenn nichts passierte. Und wenn es so still blieb, war nichts zu befürchten, wenigstens nichts Aufregendes. Man mußte ja das Knarren der Räder, das Rattern, der Wagen auf dem holperigen Wegen von weitem hören! Über die einzelnen Kerle, die zu Fuß sich durchzuschleichen suchten, regte sich kein Straschnick mehr auf. Was half es ihm auch, wenn er mit einem glücklichen Schuß einem solchen armseligen Schlucker das Lebenslicht ausblies! Selbst wenn er dabei einen Ballen Seide oder andere wertvolle Sachen erbeutete... auf ihn kamen doch, höchstens einige wenige Kopeken von dem Erlös. Das Übrige blieb anderswo hängen.
Die meisten derjenigen, die für geringen Lohn in jeder dunklen Nacht über die Grenze gingen, hatten ihre guten Freunde unter den Straschniks, an denen sie stets ungefährdet vorbeikamen, sie brauchten nur einen Wegesold in Gestalt von Schnaps und Tabak abzuliefern...
Still in sich gekehrt ritt Juri seines Weges. Er hatte, nur um seinen Gedanken zu entgehen, versucht, mit dem Wachtmeister ein Gespräch anzuknüpfen. Aber der Graubart war so stumpfsinnig und gab so einsilbige Antworten, daß er bald den Versuch aufgab.
Ab und zu bog er sich abwärts, um seinem Boyka, einem kleinen, muntern Terrier, ein paar Worte zuzuflüstern. Dann sprang der flinke Köter wieder voraus, als wenn er wüßte, daß er seinem Herrn einen großen Dienst erweisen konnte, wenn er bei einem verdächtigen Geräusch laut kläffend anschlug. An den Posten lief er still vorbei, er kannte ja alle, die da standen oder mit leisen Schritten hin und her gingen.
Im Schritt hatte Juri die lange Postenkette abgeritten und alles in Ordnung gefunden. Wie manchesmal schon hatte er statt des Postens nur das Gewehr, Säbel und Bandelier mit Patronentasche gefunden. Der Mann, der sie getragen, hatte die Sachen von sich getan und war lautlos davon geschlichen, der preußischen Grenze, der Freiheit zu. Dann mußte der Offizier zum nächsten Wachthäuschen reiten und einen Ersatzmann holen.
Etwa hundert Schritt hinter der Postenkette, gerade dem Walde gegenüber, der auf preußischer Seite lag, kannte Juri ein Plätzchen, wo man bei der milden Witterung sich für ein paar Stunden im Freien lagern konnte. An sanft geneigtem Abhang lag eine kleine Wiese von wenigen Schritt im Umfang, die nie gemäht wurde, denn das trockene Gras stand kniehoch. In der Nähe standen Sträucher, an die man die Zügel anbinden konnte.
Juri schnallte den Woylach vom Sattel, hüllte sich in die dicke warme Decke und warf sich ins Gras. Bis jetzt hatte der Dienst ihn in Anspruch genommen. Nun kamen die Gedanken über ihn. Er steckte sich eine Papiros an, legte sich auf den Rücken und schaute zu den Wolken hinauf. Da oben war alles in hastiger Bewegung. Mitunter fuhr ein tiefdunkler großer Flecken dahin. Dann kamen lichtere Stellen, die manchmal zerrissen und für einen Augenblick einen Stern aufleuchten ließen.
Die Luft war düsig, aber dabei so hellhörig, daß man von weit her jeden Hundeblaff vernahm. Auch Juri kam zu der Überzeugung, daß bei solch einem Wetter die Schmuggler keinen großen Schlag ausführen würden. Er konnte also ganz ruhig seinen Gedanken nachhängen. Sie führten ihn weit, weit weg, zurück in die Kinderzeit, in das Elternhaus. Er sah sich selbst, den wilden Jungen, der im Roßgarten die ungezähmten Hengste anlockte, ihnen einen Strick ins Maul zwängte, und sich auf ihren Rücken schwang...
Dann sah er den Vater auf dem Totenbett, die düstere Pracht seines Leichenbegängnisses... Mit diesem Ereignis fiel der große Umschwung seines Schicksals zusammen. Er wurde aus dem Hause gebracht, in das Kadettenkorps. Als er nach Jahr und Tag zum ersten Male auf Urlaub kam, hatte sich vieles geändert. Die Mutter hatte ihm einen Stiefvater gegeben. Fortan war er nur noch Gast im Elternhause, das für ihn verloren war. Denn das Gut sollte ein Stiefbruder bekommen. Er erhielt nur sein Erbteil. Es war zwar groß genug, ihm ein sehr behagliches Leben zu sichern, aber es entschädigte ihn nicht für den Verlust des väterlichen Gutes, an dem er mit allen Fasern seines empfindsamen Gemüts hing.
...Dann tauchten andere Erinnerungen auf. An ein rotblondes Mädel, die Tochter eines Nachbarn. Gleichaltrig waren sie miteinander aufgewachsen. Als Siebzehnjähriger war er zum letzten Male auf Urlaub gekommen. Wie immer waren sie unzertrennlich... Da, bei einem Spaziergang im Wald, sie hatten Beeren gepflückt und sich ins schwellende Moos niedergelassen, um die süßen Früchte zu verzehren, hatte Kasimira ihm die Arme um den Hals geschlungen und mit glühenden Lippen seinen Mund gesucht.
Vorüber! Die Erinnerung peinigte ihn... Erst nachträglich war es ihm zum Bewußtsein gekommen, wie dumm er sich gegenüber dem Mädel, das liebeglühend an seiner Brust gelegen, benommen haben mußte. Denn sie war schließlich aufgestanden, hatte ihn mit zornig funkelnden Augen einen dummen Jungen genannt und war davon gegangen... Jetzt wußte er, daß ein Strahl des Glückes ihm geleuchtet hatte und er hatte blöde die Augen davor geschlossen...
An das zweite Weib, das für eine kurze Zeit ihn beschäftigt hatte, dachte er nicht gern. Es war ein flüchtiger Sinnenrausch gewesen. Bei einem Ausflug nach Bialystock hatten ihn Kameraden eines Abends in ein Haus geführt. Es war halb Kneipe, halb noch etwas anderes. Ein wüstes Gelage begann. Da hatte sich ein glutäugiges, tiefbrünettes Mädel an ihn gehängt, hatte aus seinem Glase getrunken, an seinem Halse gehangen... Eine Ziganka war's, schlank wie ein Reh, aber wild wie ein ungezähmtes Raubtier...
Und nun Serafine Alexandrowna... Das Weib eines anderen... Zum ersten Male fiel ihm dieser Gedanke mit lähmender Schwere auf die Seele. Was wollte er denn von ihr, was konnte er von ihr wollen? Um ihre Gunst buhlen, bis sie seine Geliebte wurde?
Und dann, was dann?
Nein! Ihre Liebe wollte er erringen, ihre ehrliche Liebe. Dann konnte er vor den Mann treten, der ihrer Vereinigung im Wege stand, konnte sie mit dem Recht der gegenseitigen Liebe von ihm fordern, konnte... ja, was konnte er, wenn der Mann ihm die Tür wies...?
Er warf die Zigarette, die längst erloschen war, fort und lächelte bitter. Es war ihm eben zum Bewußtsein gekommen, wie seine Kameraden über Serafine Alexandrowna urteilten: ein schönes, gefallsüchtiges Weib, augenscheinlich geneigt, dem alternden Gatten einen recht kräftigen Kopfschmuck aufzusetzen! Und waren sie nicht alle hinter ihr her, wie die Fliegen hinter dem Honig? Hatte nicht selbst der dicke Aksakow angefangen, sich zu putzen, wie ein junger Fant? Noch heute mittag hatte er mit zynischem Lächeln gesagt, solche Weiber seien nicht wählerisch...
Er warf sich auf die Seite, zündete sich eine neue Papiros an und stützte den Kopf auf den Arm. Andere Gedanken wirbelten ihm durch den Sinn. Er sah Serafine Alexandrowna, strahlend, übermütig, wie sie die Huldigungen der Männer entgegennahm... Und der ver...dammte Pole, natürlich stets an ihrer Seite... Welche Blicke hatte sie ihm heute bei der ersten Begegnung zugeworfen!... Ja... ihm hatte sie ja auch einen Brocken zugeworfen... „junger Held...“ „Kriegsgott...“
Er biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten, denn die Eifersucht, rasende Eifersucht mit all ihren Qualen war über ihn gekommen und schüttelte ihn, wie ein heftiges Fieber.
Oben auf dem Abhang, daß er ihre dunklen Gestalten gegen den Abendhimmel sehen konnte, standen zwei Straschniks. Der eine stand still, während der andere fünfzig Schritt zur Seite ging. Wenn er zurückkehrte, machte der zweite den Gang nach der andern Seite. Dann standen sie wieder eine Weile regungslos nebeneinander...
„Ulas“, begann der eine, indem er das durch den Patrouillengang unterbrochene Gespräch wieder aufnahm, „ich sage Dir nochmals: Du bist ein Narr! Halt ruhig aus! Die sieben Jahre gehen herum! Wenn Du fleißig bist und sparsam lebst, kannst Du ein paar hundert Rubel sparen. Das ist ein Kapital, Brüderchen! Ein Kapital auf dem Dorfe!“
„Und Du Väterchen? Hast Du gespart?“
Mikifer brummte... „Ich? Weshalb sollte ich sparen? Für wen? Aber Du! Wenn Du heimkommst, baust Dir eine Chalupa, nimmst Dir ein Weib...“
„Ich will keine andere, als die, die jetzt auf mich wartet. Und wie lange wird sie warten? Bis ein reicher Bauernsohn kommt und sie an die Hand nimmt: Schönes Schätzchen, folge nur!'“
„Was willst Du machen, Ulas, wenn Du über die Grenze gehst? Dann kommst Du nicht wieder herein. Und wenn schon — kannst Du Dich im Dorfe sehen lassen?“
„Ich kann schreiben, ich werde schreiben. Meine Eltern werden auswandern, Warruscha wird mit ihnen kommen...“
„Wann willst Du gehen?“
„Morgen! Heute!“
„Heute ist kein Wetter dazu, aber...“ er blickte zum Himmel empor, „es sieht so sonderbar aus. Das kann noch Sturm und Regen und Finsternis geben. Dann kannst Du laufen.“
„Was wirst Du tun, Väterchen?“
„Du gehst dort nach der Seite... ich sehe erst, wenn Du läufst... ich muß schießen... ich werde schießen... aber nicht treffen... kann man denn in der Finsternis zielen?“
„Aber nicht jetzt“, fuhr er fort, „erst später... horch, wie es in der Luft braust... Das gibt ein Unwetter... schon fängt der Wind an zu brausen... Weißt Du, Ulas, bleib noch... vielleicht machen wir heute einen großen Fang... Das Wetter wird danach... Dann nimmst Du noch Geld mit... zehn, zwanzig Rubel.“
Unschlüssig stand Ulas... jetzt, wie er's ausführen sollte, fehlte ihm der Mut... Und das Wetter war so günstig! Eine dunkle Wolke hatte den Himmel bedeckt. Mit ihr kam der Sturm. Brausend und heulend fuhr er daher, große Regentropfen klatschten nieder. Kaum zehn Schritte konnte man sehen... wenn er jetzt nur fünfzig Meter nach rechts ging, wie es vorgeschrieben war...
Da tauchte vor ihm eine schwarze Gestalt auf, drei, vier folgten. Ganz mechanisch schrie er „Halt!“ und hob das Gewehr… Noch ehe er's an die Backe bringen konnte, blitzte es vor ihm auf.
Den Knall des Schusses vernahm er nicht mehr, vielleicht hatte er auch nicht mehr Zeit gehabt, den letzten Gedanken zu denken, denn die feindliche Kugel hatte ihn mitten in die Stirn getroffen. Seine Sehnsucht war gestillt...
Wie ein gefällter Baumstamm schlug er lang hin... aufs Gesicht... Im Fallen entlud sich sein Gewehr...
Mit großen Sätzen kam Mikifer von seinem Gang zurück, die Doppelposten von rechts und links kamen angestürmt... Wo war Ulas? Erst als einer mit dem Fuß an den leblosen Körper stieß, fand man ihn... Hier mußten Schmuggler durchgebrochen sein, man hatte doch zwei Schüsse gehört...
Jetzt kam Juri angesprengt. Mit großem Wortschwall erzählte Mikifer, daß sie noch eben beide einen Augenblick nebeneinander gestanden hätten... dann sei er nach Vorschrift seitwärts marschiert... Die Schmuggler müßten sich ganz dicht herangeschlichen haben, ehe Ulas sie gesehen... sonst hätte er zuerst geschossen... Aber an dem Knall war deutlich zu hören, daß der erste Schuß aus einem Revolver stammte...
Ärgerlich, aufgeregt schickte Juri den Wachtmeister, der sich inzwischen eingesunken hatte, zum nächsten Wachthaus. Alle Ersatzmannschaften sollten sofort eintreten und die Postenkette verdoppeln. Er wollte nach der andern Seite reiten und dort denselben Befehl erteilen...
Es war ein greuliches Wetter geworden. Ein heftiger Wind peitschte scharfe Regenschauer auf die Erde. Manchmal kam auch grober Hagel herunter, dessen Aufschlagen man fühlte. Und dabei eine Finsternis, daß man nicht die Hand vor Augen sehen konnte!
Plötzlich schlug der Hund an. Gleich darauf krachte ein Schuß, ein zweiter, dritter. Ohne sich zu besinnen, spornte Juri sein Pferd zum Galopp an. Jetzt vernahm er heftiges Geschrei... Schon tauchte vor ihm eine große dunkle Masse auf... Das konnten nur Wagen sein. Eine freudige Aufregung packte ihn! Wenn es ihm gelang, den Transport zu fassen. Den Revolver in der Linken, den blanken Säbel in der Rechten sprengte er darauf los... Aber wo waren die Straschniks?
Schon setzte sich der Wagenzug wieder in Bewegung... Hatte man nicht wenigstens ein paar Pferde erschossen, um die Wagen festzuhalten? Hochaufgerichtet in den Steigbügeln hob er den Revolver und schoß in die dunkle Masse... Am zweiten Wagen stürzte ein Vorderpferd. Ein halbes Dutzend Kerle sprang hinzu... Jetzt blitzte es auch drüben auf. Er fühlte, wie sein Pferd sich bäumte und dann zusammenbrach... Gewandt ließ er die Steigbügel fahren und schwang sich zur Seite aus dem Sattel.
Er stürzte auf Hände und Knie, doch schnell sprang er wieder auf. Keinen Augenblick zu früh, denn vor ihm stand mit geschwungenem Säbel ein riesenhafter Pole... das Gesicht geschwärzt oder mit einer Maske bedeckt... Eine wilde Freude, eine freudige Wut stieg in ihm auf. Das war doch kein anderer als Kolokotronski, der vor ihm stand! Weshalb er die Gesellschaft verlassen, wie er hierher gekommen sein mochte, darüber hatte er keine Zeit nachzudenken. Denn jetzt ging's ums Leben.
Den ersten Hieb hatte er geschickt pariert... im nächsten Augenblick mußte der Revolver zu seinen Gunsten entscheiden... Der Schuß krachte, aber er traf nicht den Gegner, sondern die Waffe zersprang in seiner Hand. Sie hatte sich beim Sturz voll Erde gestopft... gleichzeitig fühlte er einen rasenden Schmerz, der ihm den Arm entlang bis zum Kopfe lief und ihn zu lähmen drohte.
Und schon sauste wieder ein gewaltiger Hieb auf ihn nieder... er wurde nur halb pariert... Juri fühlte einen blitzschnellen Schmerz am Kopfe, er merkte noch, daß ihm das Blut heiß über das Gesicht rann, dann schwanden ihm die Sinne, er brach bewußtlos zusammen.
Sechstes Kapitel.
Es war hohe Zeit, das Abendessen aufzutragen, doch der Hausherr fehlte noch immer. Serafine Alexandrowna halte die Damen schon mehrmals um Entschuldigung gebeten und gefragt, ob man noch etwas warten wollte. Die spielenden Herren hatte sie durch eine reichliche Sakuska getröstet, aber das Essen wurde schlecht, wenn nicht bald angerichtet werden konnte.
Eben hatte sie sich entschlossen, nicht mehr länger zu warten, als ein Wagen auf den Hof rollte. Im Flur traf sie Stroganoff.
„Du kommst spät, mein Lieber, das Essen wartet.“
Er küßte sie flüchtig auf die Backe und öffnete die Tür zu seinem Amtszimmer.
„Es wird noch eine Viertelstunde warten müssen. Schick mir Adlersberg und Nekrassow. Ist Nekrassow da? Auch Apurschkin? Gut, sie sollen kommen.“
„Ist etwas passiert?“
„Ja, ja! Ich wünsche aber nicht, daß es gleich bekannt wird, ein Gutsbesitzer ist überfallen und beraubt worden.“
Stroganoff warf den Mantel ab und zündete selbst eine Lampe an.
„Meine Herren“, wandte er sich zu den Eintretenden, „etwas Unerhörtes ist passiert. Der Gutsbesitzer Scharner in Romanowko ist in seinem Hause überfallen und beraubt worden.“
„Zum Glück ein Deutscher ohne Verbindungen“, warf der Polizeimeister ein, „da wird das Geschrei nicht groß werden.“
„Mag sein, aber mich regt die Tatsache selbst auf. Aus der ganzen Art, wie der Überfall ausgeführt wurde, geht hervor, daß man es mit einer organisierten Bande zu tun hat, keiner Räuberbande, sondern Revolutionären, die planvoll vorgehen.“ —
„Ich hatte mich bei Scharner zu Mittag angesagt“, fuhr Stroganoff ruhiger fort. „Am Nachmittag wollte ich über Pamiontki und Kruzewo nach Hause fahren. Ich komme auf den Hof, alles still, kein Mensch zu sehen. Ich steige ab, das Haus ist verschlossen. Ich klopfe an, da kreischen ein paar Weiber auf. Es war ganz unheimlich. Mein Kutscher holte eine Leiter, wir knicken das Fenster ein und steigen ein... Die Tür zum nächsten Zimmer ist verschlossen. Um kurz zu sein, wir mußten eine Axt suchen und eine Türe nach der andern aufbrechen. In einer Stube fanden wir die Frau und Kinder, natürlich in sinnloser Angst... sie hielten uns zuerst auch für Räuber. Der Gutsbesitzer lag in einem anderen Zimmer neben seinem erbrochenen Schreibtisch. Die Weiber waren im Keller eingeschlossen. Jeden Schlüssel hatten die Banditen abgezogen und mitgenommen.“
„Wie viele mögen es gewesen sein?“ „Mehr als ein Dutzend, vielleicht fünfzehn, sechzehn! Mit Geschrei sprangen sie auf den Hof und schossen nach den Knechten, die aus den Ställen traten. Natürlich lief das Gesindel davon. In demselben Augenblick waren ein paar Kerle auch schon im Hause, denn als Scharner die Schüsse hörte und vorn Schreibtisch aufstand, stürmten sie schon in die Stube. Ehe er nach einer Waffe greifen konnte, war er überwältigt und gebunden...“
„Er konnte also wenigstens eine Beschreibung der Räuber geben.“
„Wo denken Sie hin, Adlersberg! Die Gesichter waren geschwärzt und durch falsche Bärte entstellt, die Röcke ausgekehrt.“
„Das ist doch ein sicheres Zeichen, daß die Kerle sich davor fürchten, erkannt zu werden, daß sie also hier aus der Gegend stammen“, meinte der Polizeimeister.
„Aber selbstverständlich! Und das ist das Unheimliche! Man hat das Gefühl, fortwährend beobachtet zu sein. Ich mache mich schon darauf gefaßt, daß ich bei meinen Fahrten über Land entweder überfallen — oder aus dem Hinterhalt abgeschossen werde. Ich werde natürlich sofort Militär requirieren.“
„Tun Sie das nicht, Fedor Maximowitsch“, fiel der Major ein, „ich stelle Ihnen, so oft Sie wollen, eine Begleitwache von der berittenen Abteilung, zehn, zwanzig Mann, so viel Sie wollen.“
„Mir wär's ja lieber“, erwiderte Stroganoff, „wenn wir ohne Hilfe auskämen. Man sieht es nicht gern, daß Militär in Anspruch genommen wird. Ich fürchte nur, die Gutsbesitzer werden selbst Schritte tun und um militärischen Schutz bitten. Es ist ihnen nicht zu verdenken. Wenn man so geschröpft wird, wie Scharner.“
„Um wieviel denn?“
„Er hatte 15000 Rubel Bargeld zu Hause liegen, er wollte eine Hypothek ablösen. Und das haben die Kerle gewußt. Sie haben ihn und die Familie im übrigen ganz anständig behandelt. Nach vollbrachter Tat schlossen sie alle Türen ab, zogen die Schlüssel ab und nahmen sie mit. Dann hielten sie Musterung unter den Pferden, suchten sich mit Kennerblick sechzehn der besten aus und ritten davon.“
„Sie haben natürlich sofort eine Untersuchung angestellt.“
„Selbstverständlich. Wir sind zuerst mit einem ganz vorzüglichen Hund den Spuren gefolgt.“
„Ausgezeichnet.“
„Ja, das sagen Sie! Bis zum Wald ritten die Kerle in einem Haufen. Dort trennten sie sich und ritten einzeln nach den verschiedensten Richtungen auseinander. Da war unsere Kunst zu Ende.“
„Es ist also nichts zu wollen“, meinte achselzuckend der Polizeimeister.
„Das ist es ja eben, was mich so aufregt. Ich kann nichts weiter melden, als die nackte Tatsache. Wenn Scharner einen der Kerle niedergeschossen hätte, daß man seine Person hätte feststellen können. Was ist hier übrigens in meiner Abwesenheit passiert? Ich hörte unterwegs von dem Gastwirt in Kurzewo, Sie hätten hier einen Krawall gehabt?“
„Das richtige Wort, Fedor Maximowitsch.“ fiel der Major ein. „Unter uns gesagt: es war ein kleiner Pogrom. Serafine Alexandrowna kann Ihnen die Sache ganz genau schildern, sie war mitten drin.“
„Meine Frau?“
„Ja! Es fing mit einer Prügelei an. Soviel ich gehört habe, sollen ein paar Aufkäufer einem Bauern, dem der gebotene Preis zu gering schien, das Getreide mit sanfter Gewalt vom Wagen genommen haben. Es kam zur Schlägerei... man fing an zu schreien: schlagt die Juden tot...` im nächsten Augenblick ging's los. Die Buden wurden geplündert...“
„Es soll doch Militär geholt sein? Sie haben doch ein Dutzend von den Kerlen hinter Schloß und Riegel?“
„Fedor Maximowitsch, regen Sie sich nicht auf“, erwiderte der Major gleichmütig. „Die Sache ist in Güte beigelegt. Leutnant Durnowo wurde mit 30 Mann vom Exerzierplatz geholt. Als er mit persönlicher Bravour Ihre Frau aus dem Getümmel gerettet halte, erschien Kolokotronski.“
„Ich hab's schon gehört, aber nicht glauben wollen!“
„Es ist doch wahr! Vor seiner Stimme sind die Kerle ausgerissen.“
Stroganoff schüttelte, den Kopf. „Das ist mir noch unangenehmer, als der Überfall in Romanowko.“
„Im Gegenteil! Über den Krawall hier braucht gar kein Bericht gemacht zu werden. Es war eine kleine Prügelei, nichts weiter. Kolokotronski hat schon mit den Juden verhandelt, sie werden kein Geschrei machen. Die paar hundert Rubel Schadenersatz wird er bezahlen.“
„Wie kommt er dazu?“
„Fedor Maximowitsch! Ein offenes Wort! Sie tun Kolokotronski mit Ihrem Mißtrauen Unrecht. Er steht auf unserer Seite, und wir können froh sein, daß er seinen Einfluß uns zur Verfügung stellt.“
Der Kammerdirektor, der bis dahin schweigend zugehört, nahm jetzt das Wort.
„Das hört sich ganz gut an, lieber Major. Aber ich frage: weshalb hat dieser Pole solch einen Einfluß auf die Leute?“
„Sehr einfach, lieber Direktor! Bei den Kerlen ist das noch die alte Gewöhnung. Sie sehen in ihm den Pan Starosta, dem sie durch Jahrhunderte gehorcht haben.“
„Oder den Befreier der Zukunft! Mir ist's, als wenn die ganze Bande organisiert ist…“
„Und Kolokotronski ihr Haupt...“
Der Major lachte laut auf. „Glauben Sie wirklich, daß Kolokotronski es jedem Polacken auf die Nase hängen würde, wenn er wirklich hinter den Kulissen die Drähte zieht.“
„Es genügt schon ein dunkles Gerücht... Ich möchte diesen Kolokotronski doch nun auch kennen lernen“, fiel Stroganoff ein.
„Das Vergnügen werden Sie gleich haben“, erwiderte der Major lachend. „Er ist unter Ihren Gästen, und ich glaube, die Damen haben sich noch nie so gut unterhalten...“
Die Vorstellung zwischen dem Landrat und dem Polen war sehr formell ausgefallen. Stroganoff hatte mit steifer Verbeugung das übliche „Sehr erfreut“ gemurmelt, Kolokotronski hatte sich schweigend verbeugt. Man hatte sich ganz zwanglos an die Tafel gesetzt. Natürlich führte der Major die Frau Landrat und Stroganoff die Frau Major, es war aber keine Bestimmung über die Platze getroffen. Die Stimmung war anfangs etwas gedrückt, bis Serafine Alexandrowna die Ereignisse des Vormittags zu schildern begann, natürlich etwas humoristisch.
Nach der Suppe brachte der Landrat, als der Höchststehende, die Gesundheit des Kaisers aus. Nach dem nächsten Gang erhob sich Kolokotronski. Er begann sehr ernst. Als einziger Vertreter des Grundbesitzes hieß er den neuen Landrat willkommen und sprach die Hoffnung aus, daß er mit fester Hand der einreißenden Unordnung steuern werde. Alle Wohlgesinnten würden dabei auf seiner Seite stehen, in erster Linie natürlich der Großgrundbesitz. Es sei aber bei einer Privatfestlichkeit eigentlich nicht der Ort, politische Dinge zu berühren. Namentlich in Gegenwart von Damen. Nun kam er mit einer geschickten Wendung auf Serafine Alexandrowna und brachte schließlich das Hoch auf die Hausherrin, die Königin des Festes aus.
Die kurze Rede war ein kleines Meisterwerk gewesen. Adlersberg nickte Stroganoff bedeutungsvoll zu, und die Damen, denen er insgesamt einige artige Schmeicheleien gesagt, waren entzückt.
Nach dem Essen gesellte sich Kolokotronski zu den Herren. Er entpuppte sich als ein fertiger Bridgespieler, und so setzten sich denn der Landrat und der Major mit ihm und dem Kammerdirektor zu einer Partie nieder. Die Regeln des Spiels wurden den beiden Neulingen erklärt, und bald war man sehr eifrig dabei.
Es dauerte aber nicht lange, da erschien Serafine Alexandrowna und reklamierte Kolokotronski für die Damen.
Ein Ersatzmann war sofort in dem Kollegienassessor, der das Spiel im Zusehen gelernt hatte, zur Stelle. Bald darauf hörte man den Polen im Saal Gitarre spielen und singen. Nach Beendigung des nächsten Spiels fragte Adlersberg: „Nun, Fedor Maximowitsch, was halten Sie von dem Mann? Ein vorzüglicher Gesellschafter, ein Lebemann, aber kein Verschwörer.“
„Es kann alles Maske sein. Der Mann ist nicht unbedeutend. Sollte er ohne Ehrgeiz sein?“
„Das ist allerdings die Frage, auf die es ankommt“, warf der Kammerdirektor ein. „Man müßte wirklich annehmen, daß einem Mann mit solchem Vermögen, mit den Verbindungen, die man ihm nachsagt, keinen Ehrgeiz besitzt, wenn er sich damit begnügt, hier in Kolno zu sitzen, anstatt in Warschau oder Petersburg eine Rolle zu spielen.“
„Oder er versteckt geheime Zwecke, die ihn hier fesseln, unter der Maske eines Lebemannes.“
„Sie haben einen Fehler in Ihrer Rechnung, meine Herren“, erwiderte der Major. „Seine Geldmittel sind ziemlich beschränkt, wie ich ganz genau weiß. Er muß ein halbes Jahr hier sparsam leben, um einen Monat in Paris als Grandseigneur aufzutreten...“
„Um so mehr sind 15000 Rubel wert, die von Helfershelfern eingebracht werden“, fiel der Landrat heftig ein. „Aber was nützen uns diese Auseinandersetzungen?“
Er wandte sich zu den Herren, die herum standen. „Ich setze natürlich strengste Diskretion voraus. Was hier gesprochen wurde, darf über unseren Kreis nicht hinausdringen. Ich muß aber bitten, wenn irgend etwas passiert, scharf und energisch zuzufassen. Und ich glaube, wir haben noch manches zu erwarten, wir stehen erst am Anfang der Dinge.“
Mitternacht war längst vorüber, die Herren am Spieltisch rechneten gerade Verlust und Gewinn auf, als die Tür sich öffnete und ein Ordonnanz ins Zimmer trat.
„Was gibt's?“
„Meldung: Herr Leutnant Durnowo haben Zusammenstoß mit Schmugglern gehabt und sind schwer verwundet. Vier Soldaten tot...“
Der Major fuhr auf. „Sind Schmuggler gefangen?“
„Nicht gemeldet, Herr Major. Der Wachtmeister kam voraus...“
„Ein bißchen viel auf einmal. Kein Wort zu der Gesellschaft, sie scheint auch aufzubrechen. Adlersberg, ich begleite Sie zum Verhör.“
Eine Viertelstunde später standen der Major, der Hauptmann Aksakow und Stroganoff an Juris Schmerzenslager.
Der Arzt war um ihn bemüht. Die stark zerfetzte Hand war bereits verbunden. Jetzt wusch er die Kopfwunde, um sie zu nähen. Juri hatte es abgelehnt, sich chloroformieren zu lassen. Mit eiserner Energie biß er die Zähne zusammen, aber als der Arzt die Knochensplitter entfernte und die Arterie unterband, wurde er ohnmächtig.
Währenddessen wurde der Wachtmeister vernommen. Er gab über den Tod des Wachtpostens ausführliche Auskunft. Über den Hauptpunkt, das Zusammentreffen des Leutnants mit einem Wagenzug der Schmuggler, wußte er wenig zu berichten. Zwei Pferde waren erschossen und liegen geblieben.
„Das wäre doch wenigstens ein Anhaltspunkt“, meinte der Landrat. „Man wird feststellen, wem die Pferde gehören.“
„Die Schmuggler hatten“, so erzählte der Wachtmeister weiter, „beim ersten Zusammenprall drei Straschniks erschossen, der vierte Mann von den beiden Doppelposten war zurückgelaufen, um Hilfe zu holen. In diesem Augenblick sei der Leutnant mit den Schmugglern zusammengestoßen, habe ein Pferd erschossen, aber gleich darauf den Säbelhieb erhalten.“
Erst lange nach der Operation war Juri wieder zum Bewußtsein gekommen. Trotz seiner großen Schwäche verlangte er sofort den Major zu sprechen. Mit leiser, aber deutlicher Stimme erzählte er den Vorfall kurz aber anschaulich.
„Und nun das Wichtigste, meine Herren. Der Pole, von dem ich den Säbelhieb erhalten, war kein anderer, als Kolokotronski. Dieselbe Größe, dieselbe Gestalt… Wenn möglich, lassen Sie ihn sofort verhaften, ich trage die Verantwortung.“
Verblüfft sahen sich die drei, die um sein Lager standen, an.
„Sie irren sich, Juri“, sagte endlich der Major. „Kolokotronski war den ganzen Abend bei uns, in unserer Gesellschaft, er kann es also nicht gewesen sein.“
Siebentes Kapitel.
Noch in der Nacht hatte Gregor seinem Herrn Bericht erstattet. Kolokotronski nickte befriedigt.
„Ich weiß, der Alte ist mit Euch gewesen.“
„Ja, Herr, wir fuhren mit Pferden und Wagen an der Kammer über die Grenze...“
„Habt Ihr Zoll bezahlen müssen?“
Gregor schüttelte grinsend den Kopf. „Ein paar Rubel zu Wodki! Der Direktor und seine Gehilfen waren doch beim Landrat zur Gesellschaft. Mit Dunkelwerden kamen wir zum Eisenwerk. Als wir anfangen aufzuladen, steht der Alte plötzlich neben uns, angezogen wie ein Starost. Und er hat uns kommandiert, als müsse das so sein. Aber es war gut, daß er dabei war. Er hat einem Leutnant eins auf den Kopf gegeben, daß er nicht sobald wieder aufstehen wird.“
Kolokotronski horchte auf. Das konnte doch nur Juri Durnowo gewesen sein. „Ist er tot?“
„Nein, sie haben ihn auf einer Tragbahre hereingetragen, aber ein schönes Loch im Schädel wird er haben.“
„Na, das ist ja nebensächlich. Wo ist der Alte?“
„Hier im Schloß, ich habe ihn in einem Gastzimmer untergebracht. Denkt Euch, Herr, er kannte in der Finsternis jeden Steg im Park.“
„So? Das ist ein merkwürdiger Kerl. Ist sonst noch was passiert?“
„Zwei Pferde sind erschlagen worden, Herr. Aber die Sielen haben wir mitgenommen, da können sie lange raten, wem die Pferde gehören.“
„Es ist gut. Sorg' morgen früh rechtzeitig für ein gutes Frühstück. Du brauchst nicht zu bedienen, ich habe mit dem Alten allein zu reden.“
Als Kolokotronski am andern Morgen in den Speisesaal trat, saß Wnuk schon am Tisch. Er hatte sich ein Buch genommen und gelesen. Er trug eine schwarze Pikesche, Sammethosen und Kniestiefel. Die Rogatka mit wallender Reiherfeder lag auf dem Nebentisch neben dem krummen Säbel, dessen Scheide schwer mit Gold beschlagen war.
Einen Augenblick stutzte Kolokotronski bei dem Anblick. So imposant, so ehrwürdig war ihm der Alte bei der ersten Begegnung nicht erschienen. Mit einer höflichen Gebärde lud der Gast den Hausherrn zum Niedersetzen ein.
„Ich wollte schon in der Nacht über die Grenze zurückgehen, es ist aber besser, wenn wir uns über manches noch verständigen.“
„Ich hörte schon, daß Sie den Zug geführt, und danke Ihnen dafür... Es wäre mir aber lieb, zu wissen, wem ich zu danken habe. Sie haben sich uns angeschlossen, ich möchte nicht sagen aufgedrängt, haben unsere allergeheimsten Unternehmungen kennen gelernt...“
„Davon werden wir später noch ausführlich sprechen. Zunächst muß Ihnen meine Kleidung, meine Waffe als Erklärung genügen. Daß ich Pole bin, wie Sie, haben Sie gewiß schon erkannt, und mit der nächtlichen Waffen tat — ein russischer Offizier ist von meiner Hand gefallen — dürfte jedes Mißtrauen beseitigt sein. Also nun das Nächstliegende: wann erwarten Sie den nächsten Transport?“
Kolokotronski ärgerte sich über die selbstverständliche Art, mit der sein Gast ihn darüber ausfragte. Aber hatte er im Grunde genommen sich das Recht dazu nicht durch die eifrige Mitwirkung bei dem ersten Transport erworben? Er bezwang den aufsteigenden Ärger und antwortete höflich: „In vierzehn Tagen.“
„Dann kann er noch auf dem Wasserwege kommen, aber, wie ich es Ihnen schon gesagt habe, ganz unauffällig. Der Dampfer bringt den beladenen Kahn, der oben mit Holz zugedeckt wird, bis an die Inseln, und verankert ihn dort. Beim dritten Transport können wir schon Eis haben.“
„Ja, was dann?“
„Sehr einfach! Die Kisten werden mit der Bahn bis Rudzanny geschafft und dort auf Wagen oder Schlitten gepackt. Als Deckadresse kann irgend ein Kaufmann dienen; den Namen werde ich Ihnen noch mitteilen. Und nun eine wichtige Frage: was geschieht mit den Waffen und der Munition? Wo bleiben sie, wo gehen sie hin?“
Diese Frage kam ganz unerwartet. In der ersten Überraschung antwortete Kolokotronski in schroffem Ton: „Darüber muß ich die Auskunft verweigern.“
Der Alte stand auf und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.
„Also nicht für unser Volk, sondern ein Handelsgeschäft, für das ich meine Haut zu Markt getragen habe.“
„Was ereifert Ihr Euch, aller Herr? Können wir jetzt etwas besseres tun, als den russischen Revolutionären Waffen zu liefern? Unsere ganze Hoffnung beruht doch darauf, daß Rußland über kurz oder lang innerlich zusammenbricht. Oder glauben Sie etwa“, fügte Kolokotronski mit bitterem Lächeln hinzu, „daß wir mit schlecht bewaffneten Bauern der gewaltigen Kriegsmacht, die hier liegt, auch nur eine Woche Widerstand leisten können? Sie wissen doch: hier von der Westgrenze ist nicht ein Regiment nach dem Kriegsschauplatz geschickt worden.“
Der Alte blieb stehen und schüttelte den Kopf. „Es ist schwer, sich an solche Gedanken zu gewöhnen, wenn das Blut in den Adern siedet. Wird denn gar nichts getan, um das Volk wieder mit der Sehnsucht für die Freiheit zu erfüllen, ihm zu sagen, daß wir die Freiheit im Notfall erkämpfen müssen?“
„Es. wird eifrig gearbeitet, aber die Hoffnungen sind gering. Die Handwerker in den Städten sind fett und behäbig geworden, ja selbst die Kerle auf dem Lande sagen, sie hätten es unter der Nagaika jetzt besser als früher unter ihren Starosten.“
Der Alte stampfte heftig mit dem Fuß auf die Erde. „Die Hundebande! Stellt ihnen einen vollen Fleischtopf vor die Nase, dann schlingen sie sich voll und gehen schlafen.“
„Nun, nun“, begütigte Kolokotronski. „An manchen Stellen regt es sich ganz stark, und wenn wir noch fleißig arbeiten, reißen wir im entscheidenden Augenblick auch die Unentschlossenen mit. Kommen Sie her und langen Sie zu. Auch der Körper verlangt sein Recht. Tun Sie mir in diesem feurigen Ungarwein Bescheid.“
Hell klangen die Gläser aneinander. „Unser Vaterland! Unsere Hoffnung!“
Jetzt trat Gregor ein. „Abraham Sareyski läßt dringend bitten, er möchte den gnädigen Herrn sprechen.“
Hastig stand der Alte aus. „Ich will mich solange entfernen.“
Es war zu spät. In der Tür stand Abraham Sareyski, der reichste jüdische Kaufmann der Stadt. Ein langer eisgrauer Patriarchenbart wallte ihm bis auf die Brust herab. Unter dem schwarzseidenen Käppchen, das den Kopf bedeckte, ringelten sich die grauen Stirnlocken; ein feiner seidener Kaftan, der bis zu den Füßen herabhing, deckte seine behäbige Gestalt. Im Eintreten legte er die rechte Hand auf die Brust und verbeugte sich tief. Als er sich emporrichtete, fiel sein Blick auf den Alten.
„Herr Graf, Sie hier?“
„Aber, lieber Sareyski“, fiel der Alte hastig ein, „weshalb diese Anrede, ich bin hier kein Graf, sondern der alte Wnuk...“
Der Kaufmann zuckte die Achseln und verbeugte sich. „Wie Euer Gnaden befehlen.“
„Nein, nein“, fiel Kolokotronski ein, „hier brauchen Sie die Maske nicht zu tragen. Ich schätze mich glücklich, einen der Edelsten unseres Volkes unter meinem Dach zu bewirten. Wollen Sie nicht jetzt mir Ihren Namen sagen?“
„Ich bitte, sich noch einen Augenblick zu gedulden, bis wir gehört haben, was Abraham Sareyski hierher geführt hat.“
Er ging um den Tisch und schüttelte dem Kaufmann kräftig die Hand, „Wie geht's, alter Freund? Was habt Ihr auf dem Herzen?“
„Wie soll es gehen, Herr Graf, wenn man in Rußland lebt? Aber ich bitte die Herren sich nicht stören zu lassen beim Frühstück. Ich kann dabei erzählen. Denken Sie sich, heute nacht haben die Herren, wie sie gekommen sind von der Gesellschaft beim Herrn Landrat, noch in der Cukierna gespielt.“ Er machte mit der Hand eine bezeichnende Bewegung.
„Rechts, links, meine Tante, deine Tante. Dabei hat der Herr Polizeimeister verloren. Morgens um halb vier klopft einer bei mir an. Wer ist's? Der Polizeimeister, er will mit mir sprechen. Ich hab' gesagt: morgen früh ist auch ein Tag, Herr Polizeimeister. Da hat er gelärmt und geschrien, er wird gleich wiederkommen mit der ganzen Polizei und mit Militär und wird das ganze Haus umkrempeln. Was soll ich Ihnen sagen, meine Herren, er hat verlangt fünfhundert Rubel; ich habe ihm gegeben dreihundert Rubel. Ist auch genug Geld.“
„Was wollen Sie jetzt tun, Sareyski?“
„Ich werde gehen zum Herrn Landrat und klagen.“
„Was hilft das? Die dreihundert Rubel kriegen Sie doch nicht wieder, die hat der Kerl doch noch in der Nacht wieder verspielt.“
„Das ist schon möglich. Aber ich werde doch sehen, wie der neue Landrat ist. Vielleicht läßt er mit sich reden. Wenn nicht, nehme ich meine Papiere und gehe nach Preußen. Wir haben schon in der Gemeinde besprochen: wir ziehen weg; die Häuser können hier bleiben, bis wir sie verkaufen oder auch nicht. Was liegt an einem Holzhaus, wenn man nicht mehr seines Lebens sicher ist, weder bei Tage noch bei Nacht.“
„Nun, darüber sprechen wir noch“, meinte Kolokotronski etwas von oben herab.
„Darüber können wir gleich sprechen, Panie Starosta. Ich bin bloß gekommen zu fragen, was ich dem Herrn Landrat sagen soll, wenn er mich fragt, was gestern auf dem Markt passiert ist. Soll ich sagen ein kleiner Krawall, oder ein richtiger Pogrom?“
„Darüber sind wir doch schon einig, lieber Sareyski? Den Schaden bezahl' ich.“
„Ich komme nicht wegen dem Gelde, Herr Kolokotronski, wir werden von Ihnen kein Geld nehmen. Ich will bloß fragen, können Sie uns eine Sicherheit schaffen gegen die Bauern?“
„Ich will's versuchen; ich will durch unsere Vertrauensleute auf den Dörfern ansagen lassen, daß...“
.Lassen Sie den Bauern sagen, Herr Kolokotronski, daß wir auf dem Markt keinen Scheffel Getreide mehr kaufen. Die Bauern werden mit den beladenen Wagen nach Hause fahren, wie sie gekommen sind. Nicht einmal oder zweimal... nein, den ganzen Winter. Was wir von Getreide brauchen, bekommen wir von den Gutsbesitzern. Ich habe die Ehre, mich zu empfehlen, Herr Kolokotronski. Es war mir eine große Freude, Herr Graf.“
Er verbeugte sich noch einmal und schritt hinaus. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen, stampfte Kolokotronski wütend mit dem Fuß auf.
„Das ist doch unerhört... Der Kerl kommt und droht mir. Die Frage wegen des gestrigen Krawalls war doch auch eine Drohung. Was er dem Landrat antworten soll! Ich habe mich ängstlich gehütet, mir von den Juden in die Karten sehen zu lassen, aber der alte Fuchs ist imstande, dem Landrat dunkle Andeutungen zu machen...“
„Das ist ausgeschlossen“, fiel der Alte mit Nachdruck ein. „Ich verbürge mich für Sareyski, er denkt nicht daran... Ich hätte ihm ruhig erzählen können, daß ich heute nacht den Schmugglerzug geführt habe.“
„Das ist mir sehr angenehm zu hören, Herr Graf... Doch nun ist wohl der Augenblick gekommen, wo ich wissen darf, wer unter meinem Dach als Gast weilt.“
Der Alte reckte sich hoch empor. „Ich habe schon viele Nächte unter diesem Dach geschlafen, Herr Kolokotronski, denn ich bin in diesem Hause geboren und aufgewachsen... Es war früher mein Eigentum, der alte Herrensitz meines Geschlechts... Ich bin Graf Fedor Iswolski.“
Mit durchdringendem Blick hatte er bei diesen feierlich ernst gesprochenen Worten Kolokotronskis Mienen beobachtet. Er sah zuerst ein grenzenloses Erstaunen sich auf seinem Gesicht malen, dann leuchtete in seinen Augen die Freude auf... Im nächsten Augenblick ließ sich Kolokotronski vor ihm auf ein Knie nieder und ergriff seine Hand.
„Die höchste Freude, die diesem Hause widerfahren kann“, rief er voll Ekstase aus. „Der rechtmäßige Besitzer kehrt in das Schloß seiner Väter zurück. Es ist Euer, Herr, mit allem, was liegt und steht... ich bin nur der Verwalter gewesen. Empfangt Euer Eigentum aus meinen Händen, ich habe es gut verwaltet.“
Er stand auf und füllte die Gläser. „Herr Graf, ich begrüße Sie in der Heimat, ich danke dem Himmel, der den Totgeglaubten uns wiedergegeben, unserer guten Sache einen Helfer, einen Führer.“
Die feurigen, überschwenglichen Worte hatten in dem Herzen des Alten Widerhall gefunden. Er hatte etwas anderes erwartet: hämische Zweifel, kalte Abweisung. Jetzt übermannte ihn für einen Augenblick die Rührung. Der Mann, in dem er bisher nichts anderes gesehen als einen unberechtigten Eindringling, den er als einen Räuber bewachtet, der mit unlauteren Mitteln fremdes Gut an sich gerissen, empfing ihn als seinen Herrn...
Er griff schnell zum Glase, um die Rührung zu verbergen. „Und Sie trauen allein meinem Wort... Sie verlangen keine Beweise, keine Papiere?“
„Ich bitte Sie, Herr Graf! Es wird außer Abraham Sareyski genug Leute geben, die Sie noch erkennen. Mich bewegt nur die Frage: wie sind Sie dem Tode entronnen, wo haben Sie sich so lange verborgen?...“
„Das ist eine lange Geschichte, lieber Freund. Wenn wir mal nachts in meiner Höhle sitzen werden, kann ich sie ausführlich erzählen.“
„So sagen Sie mir wenigstens, wie Sie gerettet wurden...“
„Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, als der Aufstand von 1863 ausbrach. Ich stand natürlich mit den Führern schon lange in Verbindung. Als sie mich riefen, reiste ich sofort ab. In der Gegend von Lublin traf ich den ersten Heerhaufen. Ich führte anfangs eine Schwadron Lanzenreiter. Dann wurde gelost. Ich wurde Anführer der Hänge-Gendarmen. Was das heißt, wissen Sie... Wir mußten alles hängen, was irgendwie verdächtig war, es mit den Russen zu halten. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß ich mein furchtbares Amt milde ausübte, daß ich nicht blindlings zugriff... In einem Dorfe sollte ich den Krugwirt und seinen Sohn hängen... Ich ließ nach Prüfung der Sachlage beide laufen... Es war Abraham Sareyski und sein Sohn. Die Tat hat mir reichen Lohn gebracht... Wenige Tage danach hat mich Abraham Sareyski vom Tode gerettet. Wir wurden nachts von Übermacht überfallen und gefangen genommen. Man sperrte uns in eine Kirche ein, in der schon mehrere hundert Gefangene saßen. In der zweiten Nacht wurde mir ein Zettel zugesteckt. Es gelang mir, ihn beim Scheine des vor dem Altar brennenden Feuers zu lesen. Ich sollte einem der Bauern, die in der Gefangenschaft an ihren Wunden gestorben waren, den Kittel ausziehen und mich damit bekleiden. In der Nacht noch würde ein für Sibirien bestimmter Transport abgeholt. Ich sollte mich mit einem falschen Namen unter sie drängen... Unterwegs würde ich befreit werden... Es gelang mir, in den Transport zu kommen, aber der Versuch, mich unterwegs zu befreien, mißlang.“
„Ich habe gehört, daß man Sie am andern Morgen gesucht hat, und sich Ihr spurloses Verschwinden nicht zu erklären vermochte.“
Mit einem jähen Ruck hob der Graf den Kopf. „So, das haben Sie gehört... Von wem, wenn ich fragen darf?“
„Von meiner Mutter, die mir viel erzählte.“
Iswolski nickte. „Ja so, ich vergaß, daß andere Menschen auch darum wissen können... Doch ich will kurz sein. Ich habe 35 Jahre in Sibirien gelebt... Zweimal versuchte ich zu fliehen, zweimal wurde ich zurückgebracht... Erst beim drittenmal, jetzt genau vor zehn Jahren, gelang es mir, zu entfliehen. Seitdem suche ich Frau und Kind...“
Er stützte den Kopf in die Hand und fuhr mit wehmütiger Stimme fort: „Als ich weg mußte, hatte ich meiner Frau befohlen, sofort über die Grenze durch Preußen nach Galizien zu gehen. Sie stammte von dort... Sie ist nicht hingekommen. Abraham Sareyski mit seinen großen Verbindungen hat mir suchen helfen. Ich bin selbst ein Jahr kreuz und quer durch Galizien gewandert, habe alte Freunds getroffen und in Bewegung gesetzt... Alles vergeblich... Es lebt keiner mehr, der meinen Namen tragen und mein Geschlecht fortsetzen wird...“
Nach einer Weile richtete er sich empor. „Ich hatte einen Freund... Mir ähnlich, nicht sowohl an Gesicht, wie an Gestalt und Kraft. Er war es, der uns verriet, der sich damit bei den Russen Begnadigung erkaufen wollte. Der Mann hieß... Stanislaus Kolokotronski?“
Als hätte ihm jemand einen Schlag ins Gesicht versetzt, fuhr Kolokotronski in die Höhe. „Herr Graf, mein Vater war kein Verräter. Man hat Sie falsch berichtet! Er ist mit dem Säbel in der Hand auf dem Schlachtfelde den Tod fürs Vaterland gestorben. Kennen Sie nicht das Lied, das wir noch jetzt singen: Bei Warschau schwuren tausend auf den Knien: kein Schuß im heil'gen Kampfe sei getan`? Mein Vater war einer von den Tausend. Ehre seinem Andenken.“
Der Graf erhob sich. „Verzeihen Sie, daß ich, durch falsche Nachricht verleitet, dem Toten über das Grab hinaus gezürnt habe. Es tut mir wohl, daß ich ohne Groll an ihn denken kann. Aber sie werden es verständlich finden, daß ich volle Klarheit wünsche. Wie sind Sie in den Besitz meiner Güter gelangt?“
„Sehr einfach, Herr Graf. Man hat mir diese Güter als Ersatz für den konfiszierten Familienbesitz gegeben. Ich bin in Krakau erzogen... Ich bin österreichischer Offizier gewesen und habe bei einem Kommando in Wien das Wohlwollen des russischen Gesandten am kaiserlich-königlichen Hofe gewonnen. Er verhalf mir durch seine Fürsprache dazu, daß mir diese Güter hier überwiesen wurden... Nach Ihrer Frage in der Höhle zu schließen, haben Sie mich gerade vor zehn Jahren in Petersburg gesehen. Ich kam, wie ich Ihnen schon sagte, aus dem Ministerium, wo man mir eben die Vollmachten ausgehändigt hatte. Von dem heutigen Tage ab betrachte ich Sie als den Herrn und mich nur als den Verwalter...“
Achtes Kapitel.
In der Nacht hatte sich bei Juri Durnowo ein heftiges Wundfieber eingestellt. Er phantasierte laut und focht mit der Rechten in der Lust. Die Linke lag im festen Verband. Sie war stark beschädigt, und es war nicht ausgeschlossen, daß ein paar Finger steif blieben.
Aus den wirren Reden, den heftigen Ausrufen konnte der junge Arzt. der an seinem Lager wachte, entnehmen, daß Juri Durnowo in seinen Träumen immer wieder den Kampf mit den Schmugglern durchlebte. Und immer wieder rief er: „Halt“ und „Kolokotronski.“
Erst am Morgen verfiel er in einen ruhigen Schlaf. Seine kräftige Natur hatte über das Fieber gesiegt. Als er gegen Mittag erwachte, fiel sein Blick auf einen prachtvollen Blumenstrauß. Er ahnte, nein er wußte, von wem er kam. Und diese Ahnung erfüllte sein Herz mit übermenschlicher Freude.
Juri Durnowo hatte richtig vermutet. Serafine Alexandrowna hatte am Vormittag den Diener im ganzen Beamtenviertel herumgeschickt und hatte überall um blühende Blumen bitten lassen. Und alle hatten freudig hergegeben, was sie hatten, denn der frische, flotte Offizier war allgemeiner Liebling der Gesellschaft.
Eine ganze Weile lag Juri Durnowo still sinnend. Er hatte Mühe, seine Gedanken zu ordnen. War es Wirklichkeit oder hatte es ihm seine Phantasie vorgespiegelt, daß Kolokotronski nicht derjenige sein konnte, von dem er den Säbelhieb über den Kopf erhalten? Er mußte Gewißheit haben. Als der Wärter den Kopf durch die Tür steckte, verlangte er den Major zu sprechen.
Nach einer Viertelstunde kam Herr von Adlersberg, aber nicht allein... mit ihm kam Kolokotronski. Der Pole streckte ihm die Hand entgegen.
„Ich komme, Herr Leutnant, um Ihnen meine Teilnahme auszudrücken, um Ihnen gleichzeitig zu zeigen, daß ich keinen Groll gegen Sie hege. Wie ich hörte, haben Sie, durch eine Ähnlichkeit getäuscht, angenommen, daß ich Ihnen in der Nacht gegenüber gestanden habe. Man hat Ihnen doch schon gesagt, daß ich zur Zeit des Zusammenstoßes einen friedlichen Kampf zu führen hatte... gegen die Damen, die meine kleinen gesellschaftlichen Talente völlig in Anspruch nahmen...“
Zögernd ergriff Juri Durnowo die ihm entgegengestreckte Hand. Ihm war in diesem Augenblick nichts unangenehmer als der Besuch des Polen... Der edle Freimut dieser Begrüßung erschien ihm als Verstellung.
Noch unangenehmer war es ihm, daß der Major ihn aufforderte, Bericht zu erstatten, d. h. wenn es seine Kräfte gestatteten. Juri Durnowo schwieg, und sein Schweigen war so auffällig, daß der Major den Grund erraten mußte.
„In Gegenwart Kolokotronskis brauchen Sie sich keine Zurückhaltung aufzuerlegen, er ist unser Freund, unser Verbündeter.“
Nun konnte Juri Durnowo nicht länger schweigen. Er schilderte den Tod des einzelnen Postens. Man konnte nur vermuten, daß dort ein Zug Schmuggler durchgebrochen sei. Als er gerade seinen Zusammenstoß mit dem Wagenzug zu schildern begann, erschien der Landrat. Er schien sehr aufgeregt, hörte aber nach kurzer Begrüßung still zu. Dann brach er los:
„Ich bin bei Tagesgrauen draußen gewesen. Es ist zum Verzweifeln! Der starke Regen hat alle Spuren verwischt. Es ist nicht möglich, festzustellen, ob und wo die Wagen von der Landstraße abgebogen oder ob sie bis zur Chaussee und dort weiter gefahren sind. Ich habe schon reitende Boten in alle Ortschaften, die in Betracht kommen, geschickt und 100 Rubel Belohnung anbieten lassen für irgend eine Nachricht über den Verbleib der Wagen. Vergebens! Niemand hat etwas gesehen. Entweder schweigt die Bande aus Furcht, oder die Schmuggler müssen hier in der Nähe ein Versteck haben.“
„Es sind auch, wie ich gehört habe, zwei Pferde erschossen worden. Gibt das nicht einen Anhalt?“ warf Kolokotronski ein.
Der Landrat schüttelte ärgerlich den Kopf. „Das ist ja eben das, was mich so aufregt! Niemand kennt die Pferde! Ich vermute, daß sie zu den bei Scharner geraubten gehören. Ein schlaues Gesindel!“
Er wandte sich zu Kolokotronski und fragte in scharfem, beinahe beleidigendem Tone: „Sollte es Ihnen nicht möglich sein, uns einen Fingerzeig zu geben? Wenn Sie unser Freund sind, wäre das jetzt die beste Gelegenheit, es zu beweisen.“
Der Pole runzelte die Stirn und zog die Augenbrauen zusammen. Aber der Ton, in dem er antwortete, war eisig kalt.
„Herr Landrat, ich muß sehr bitten, sich zu mäßigen, Ihre Frage ist beleidigend.“
„Weshalb denn?“
„Sie imputieren mir oder meinen Volksgenossen im allgemeinen, daß von unserer Seite die Hand im Spiele sei, daß ich davon Kenntnis haben könnte.“
„Wäre das so völlig ausgeschlossen?“ warf jetzt Juri Durnowo ein.
„Jawohl, meine Herren“, erwiderte Kolokotronski mit vollkommener Ruhe. „Ich will nicht bestreiten, daß in vielen Herzen meines Volkes noch die Sehnsucht nach nationaler Einigkeit schlummert. Aber wir haben gelernt... so schwer mir das Bekenntnis auch fällt... mit den Verhältnissen zu rechnen. Und Sie werden uns nicht für so töricht halten, einen aussichtslosen Ausstand beginnen zu wollen. Für mich persönlich will ich nur noch erklären, daß ich die Träume meiner Jugend eingesargt habe und mich als loyaler Untertan Seiner Majestät des Kaisers bewiesen habe...“
„Aber einen Fingerzeig kann ich Ihnen doch geben, Herr Landrat“, fuhr er mit eigentümlichem Lächeln fort. „Ihre Landsleute, die russischen Revolutionäre, sind es, die sich gegen die eigene Regierung bewaffnen. Vielleicht finden Sie eher Anhaltspunkte, wenn Sie Ihre Untersuchungen nach dieser Seite richten wollen.“
Stroganoff erhob sich. „Ich danke Ihnen für die so wünschenswerte Aufklärung, Herr Kolokotronski. Nur noch eine Frage: mir wurde erzählt, daß in den Händen der Bauern, der polnischen Bauern gestern früh Revolver gesehen worden sind.“
„Ist das so wunderbar, Herr Landrat? Waffen sind jetzt ein sehr gangbarer Artikel. Und es soll Leute genug geben, die an den mühelosen und großen Gewinn schon einen Schmugglerzug wagen. Im übrigen glaube ich nicht, daß man einen Kampf gegen das russische Militär mit Revolvern aufnehmen kann.“
Er griff nach seinem Hut. „Ich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen, meine Herren. Herr Leutnant, ich wünsche gute Besserung.“
Der Major stand auf und reichte ihm die Hand. „Seien Sie nicht empfindlich, lieber Kolokotronski. Die Ereignisse der letzten 24 Stunden haben uns alle etwas nervös gemacht. Am meisten natürlich den Herrn Landrat.“ Jetzt trat auch Stroganoff heran und bot ihm die Hand.
„Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt haben sollte. Aber ich bin froh über die rückhaltlose Aussprache und danke Ihnen dafür. Und ich bitte sehr, die angenehmen gesellschaftlichen Beziehungen, die sich zwischen uns angesponnen haben, darunter nicht leiden zu lassen.“
Kolokotronski verbeugte sich höflich. „Es soll mir eine Ehre sein, Sie, Herr Landrat, bald unter meinem Dache begrüßen zu können.“
Juri Durnowo hatte die ganze Szene mit einem bitteren Lächeln, das er sich gar nicht zu verbergen bemühte, beobachtet. Jetzt glaubte er den Polen völlig zu durchschauen.
Die Beleidigung, die in der brüsken Frage Stroganoffs lag, hatte er ruhig eingesteckt. Ob aus politischen Gründen, das schien ihm zweifelhaft. Es war viel wahrscheinlicher, daß das Interesse für die schöne junge Frau, für Serafine Alexandrowna, sein Handeln bestimmte. Und wieder stieg die Eifersucht in ihm empor.
Der Landrat war bald gegangen. Auf Juris Bitten blieb der Major noch einige Minuten. Er sollte ihm noch über den Verlauf der gestrigen Gesellschaft etwas erzählen. Adlersberg schilderte ausführlich, wie Kolokotronski die Damen mit allerlei Kunststücken und Vortragen unterhalten. Lächelnd fügte er hinzu: „Ich kenne die Ursachen Ihres Grolles gegen den Polen. Sie sind eifersüchtig auf ihn, lieber Juri... Aber zu Unrecht... Das sagt Ihnen doch dieser herrliche Strauß. Die Blumen hat Serafine Alexandrowna mit vieler Blühe zusammengebracht und eigenhändig mit Geschmack zu einem Strauß gewunden. Und nun will ich Ihnen einen Trost geben, der aus Erfahrung kommt; kokette Frauen flirten lieber mit der naiven Jugend als mit den routinierten Lebemännern vom Schlage Kolokotronskis. Aber engagieren Sie sich nicht zu sehr mit Ihrem Herzen, lieber Juri... Solch ein Flirt mit einer verheirateten Frau darf nur Episode bleiben, er darf nicht zu einer Schlinge werden, in der man mit dem Kopfe oder gar mit der Ehre hängen bleibt. Doch nun Schluß. Sie müssen jetzt etwas genießen und dann ruhen. Gute Besserung.“
Noch lange lag Juri und grübelte, bis Müdigkeit ihm die Augen schloß.
Als Stroganoff nach Hause kam, fand er Abraham Sareyski vor, der schon einige Zeit auf ihn gewartet hatte. Er ließ ihn ziemlich ungnädig an.
„Was wollt Ihr? Euch beklagen? Sagt mir lieber, wo die heute nacht geschmuggelten Waren geblieben sind.“
„Um Vergebung zu fragen, gnädigster Herr Landrat, wie soll ich wissen, wer geschmuggelt hat?“
„Ihr steckt alle unter einer Decke. Aber seht Euch vor! Unvermutet werde ich Eure Warenvorräte untersuchen, nicht ein-, nein zehn-, zwanzigmal.“
„Bei Abraham Sareyski können Sie alle Tage revidieren lassen! Ich handle nur mit Getreide und Fisch. Das Getreide geht nach Preußen, der Fisch kommt aus Preußen. Fragen Sie auf der Kammer: ich stehe sehr gut mit den Beamten. Und es ist vorteilhaft, gut zu stehen mit den Beamten.“
Stroganoff mußte unwillkürlich lächeln. „Das glaube ich. Aber erklärt es mir etwas näher.“
„Was soll ich sagen, Herr Landrat?“
„Schon gut. Ihr braucht mir Eure Geschäftsgeheimnisse nicht zu verraten. Ich will Euch nur warnen, mit den Polen unter einer Decke zu spielen.“
Sareyski hob mit bezeichnender Gebärde beide Hände. „Und der Pogrom gestern auf uns, Herr Landrat?“
„So, also war es doch ein Pogrom und kein harmloser Krawall? Weshalb habt Ihr nicht sofort Klage eingereicht?“
„Deshalb bin ich gekommen zu fragen den Herrn Landrat, ob wir sollen klagen.“
Als Stroganoff nicht sofort antwortete, fuhr Sareyski mit feinem Lächeln fort: „Für uns hat es keinen Zweck. Wir bekommen doch nicht wieder, was man uns genommen hat, und haben Laufereien. Und der Herr Landrat hat auch Scherereien. Deshalb bin ich gekommen zu fragen.“
Stroganoff wurde ärgerlich. Er glaubte zu fühlen, daß der Alte als Unterhändler seiner Glaubensgenossen vor ihm stand, daß er für ihr Stillschweigen etwas zu erreichen hoffte. Er wollte deshalb die Unterredung beendigen und erwiderte schroff: „Tut was Ihr wollt! Klagt oder klagt nicht, bis Euch die Bauern wieder schlagen und ausplündern. Dann will ich aber nichts hören. Versteht Ihr mich?“
„Die Bauern werden uns nichts mehr tun.“
„Wer wird Euch denn dabei helfen, etwa Kolokotronski?“
„Wieso Herr Kolokotronski? Weil er gestern auf die Bauern geschrien hat und sie haben ihm gehorcht? Nein, Herr Landrat, wir werden uns selbst helfen. Wir werden nicht mehr kommen auf den Markt... Wir werden nichts mehr kaufen.“
Stroganoff fuhr auf: „Wenn Ihr das tut, laß ich Euch alle in die Kosa sperren.“
Der Alte zuckte gleichmütig die Schultern. „Wenn wir in der Kosa sitzen, können wir auch nichts kaufen. Aber wir werden Klage führen in Petersburg.“
Der Landrat war bei dieser Antwort bleich vor Zorn geworden. So etwas war ihm in seiner Praxis noch nicht vorgekommen. Aber die Zeiten hatten sich geändert! Die stumme Unterwürfigkeit war verschwunden. Blitzschnell flogen ihm Gedanken durch den Kopf, die zu ruhiger Beherrschung mahnten. Die Klageführer würden zwar nicht recht bekommen, aber schaden konnte es ihm doch, wenn über alles, was hier in der letzten Zeit geschehen war, in richtiger Weise berichtet wurde. Es weht jetzt ein anderer Wind in der Reichshauptstadt. Man unterhandelte mit dem Ausland über eine große Anleihe und sah es deshalb nicht gern, wenn Klagen der Juden in die Öffentlichkeit drangen.
Der Landrat begnügte sich deshalb mit einem leichten Achselzucken. „Ihr glaubt doch selbst nicht daran, das; ich mich davor fürchte! Aber ich will Euch entgegenkommen, so weit ich kann. Ich werde an jedem Markttage ein starkes Kommando auf den Markt stellen. Seid Ihr jetzt zufrieden?“
Abraham Sareyski verneigte sich tief. „Wir danken sehr, Herr Landrat. Es wird nicht nötig sein.“
„Ich verstehe Euch, Ihr wollt es mit keinem verderben. Weshalb wollt Ihr Euch denn nicht auch mit mir gut stellen? Ich könnte in manchen Beziehungen beide Augen zudrücken, wenn Ihr mir gefällig sein wolltet.“
„Darf ich fragen worin, Herr Landrat?“
„Nun, Ihr könntet mir manchen Fingerzeig geben. Ihr und Eure Glaubensgenossen kennen doch auf Meilen in der Runde jeden Menschen. Und Ihr hört manches, was nicht zu unseren Ohren dringt... Von wem kann die Beraubung des Gutsbesitzers Scharner ausgegangen sein? Wer ist der große Pole, der heute nacht den Leutnant Durnowo verwundete?“
Der Kaufmann strich nachdenklich seinen langen Bart. „Einen Polen, der so groß ist wie Herr Kolokotronski, gibt es hier nicht. Auch mit Schmugglern, die in Wagen fahren, haben wir nichts zu tun. Wir hören nichts, wir erfahren auch nichts... Herr Landrat wissen ebensogut wie ich: die Polen sind uns feindlich, die russischen Revolutionäre sind uns feindlich.“
Stroganoff sah ein, daß mit dem Alten nichts zu machen war. Er erhob sich und winkte mit der Hand. „Sie können gehn.“
Abraham Sareyski räusperte sich.
„Ich habe noch eine Bitte, Herr Landrat.“
„Eine Bitte?“
„Jawohl, Herr Landrat, vielleicht möchten Sie haben die Güte, den Herrn Polizeimeister Nekrassow zu fragen, weshalb er ist heute nacht eingebrochen in meine Wohnung und hat verlangt Geld.“
Als Stroganoff betroffen schwieg, fuhr der Alte fort: „Die Herren Beamten sind sehr schlecht daran. Ihr Gehalt langt nicht zum Wein und Kartenspielen. Das wissen wir. Und wenn einer kommt am Tage und sagt: Abraham Sareyski, mir geht es schlecht`... nun, da läßt sich darüber reden... aber in der Nacht und mit einem Pistol in der Hand...“
Stroganoff bezwang mit Mühe seinen Ärger. Diese unbesonnene Tat des obersten Polizeibeamten der Stadt durfte nicht an die große Glocke kommen. „Wieviel habt Ihr ihm gegeben?“
„Dreihundert Rubel.“
„Die sollt Ihr noch heute zurückerhalten. Ich werde sorgen, daß so etwas nicht wieder vorkommt. Ist Eure Beschwerde damit erledigt?“
Sareyski verbeugte sich: „Wie der Herr Landrat befehlen. Ich habe die Ehre, mich dem Herrn Landrat zu empfehlen.“
In höchster Aufregung lief Stroganoff im Zimmer auf und ab. Das war ja zum Rasendwerden. Ein bißchen viel auf einmal und für den Anfang. Der, Überfall in Romanowko, der große Waffenschmuggel, der Übergriff des Polizeimeisters... Mit großen Hoffnungen und der festen Absicht, sich durch energische Tätigkeit die Beförderung ins Ministerium zu erringen, war er hierher gekommen. Und nun stand er ohnmächtig den Ereignissen gegenüber. Der alte Jude hatte ihm gedroht, hatte ihm Bosheiten gesagt und behielt die Möglichkeit in der Hand, ihm zu schaden.
Wenigstens dem Polizeimeister wollte er das Handwerk legen. Er ließ ihn rufen. In wenigen Minuten war Nekrassow zur Stelle. Aber er war mehr erstaunt als erschrocken über die heftigen Strafreden, die Stroganoff ihm hielt. Es fiel ihm gar nicht ein, sich zu entschuldigen. Er hatte den Juden um ein Darlehen gebeten... allerdings zu ungewöhnlicher Stunde... Er werde ihm sofort einen Schuldschein schicken, aber damit sei die Sache erledigt. Nun brauste der Landrat auf.
„Sie irren sich, Nekrassow. Das Geld werde ich sofort dem Juden schicken und Ihnen vom Gehalt abziehen. Und hüten Sie sich, Nekrassow! Wenn ich Sie jetzt nicht so dringend brauchte, würde ich Sie sofort einsperren lassen und die Untersuchung einleiten. Ich dulde solche Übergriffe nicht. Merken Sie sich das!“
Kopfschüttelnd ging der Polizeimeister nach Hause. Was war in den Landrat gefahren, daß er von einer solchen Sache so viel Aufhebens machte, anstatt den Sareyski rauszuwerfen oder in die Kosa zu sperren. Das war doch früher anders...
Neuntes Kapitel.
Gleich nach Mittag fuhr Stroganoff mit einer berittenen Eskorte von zwölf Mann weg. Serafine Alexandrowna legte sich auf eine Chaiselongue und las einen französischen Roman, bis ihr die Augen zufielen. Nach einer halben Stunde erwachte sie und stand sofort auf, um sich zu einem Spaziergange anzukleiden.
Sie wählte ein einfaches, einfarbiges Kleid mit einem enganliegenden Jäckchen von ebensolchem Stoffe. Dazu ein rundes Bolero-Hütchen. Als sie in ihrer schlichten Toilette vor den Spiegel trat, lächelte sie ihr Ebenbild wohlgefällig an. Gerade das enganschließende Gewand brachte alle Reize ihrer prachtvollen Gestalt zur vollen Geltung... und er hatte dafür sicherlich ein gutes Auge. Jetzt noch ein Paar Warschauer Handschuhe, einen passenden Fächer...
Gleich nach den ersten Schritten traf sie den Major. Er hatte, wie er es öfter tat, im Kasino zu Mittag gegessen und einen guten Tropfen dazu getrunken. Man konnte es ihm ansehen, daß er — gelinde ausgedrückt — in sehr behaglicher Laune war. Er küßte Serafine Alexandrowna galant die Hand und erkundigte sich nach dem Ziel ihres Spazierganges.
„In die Stadt gehe ich, lieber Adlersberg. Ich will mir einen Kommissionär suchen.“
„Aber gnädigste Frau, den läßt man sich holen und verhandelt mit ihm zu Hause.“
Serafine Alexandrowna schüttelte lachend den Kopf. „Nein, lieber Major, ich will doch nicht wie eine Gefangene in meinen vier Wänden sitzen... Ich will spazieren gehen... Es wird doch nicht jeden Tag einen Pogrom geben.“
„Das nicht. Aber nehmen Sie sich wenigstens den Diener mit.“
„Nicht nötig“, erwiderte sie mit blitzenden Augen, „ich schütze mich selbst.“
In der Stadt trat sie in das erste beste Haus und fragte nach der Adresse eines Kommissionärs. Mit einem Wortschwall von Höflichkeiten erklärte Moschek Tettenbaum sich bereit, der gnädigsten Frau Landrat alles zu liefern, was im Städtchen für Geld und gute Worte zu bekommen wäre. Und jeden Morgen würde er sich pünktlich bei der gnädigen Frau einstellen, um ihre Befehle entgegen zu nehmen. Nur alles das. was die Bauern zu Markte brächten, könnte er nicht liefern, denn es wäre beschlossen, wegen des gestrigen Pogroms den Bauern nichts mehr abzukaufen.
Serafine Alexandrowna nickte belustigt. „Das ist richtig, es freut mich. daß Ihr Euch wehrt.“ Sie gab gleich noch einige Bestellungen auf und schritt weiter. Nun war der Zweck ihres Ganges erreicht, nun konnte sie eigentlich nach Hause gehen. Langsam schritt sie über den Markt, der weißschimmernden Kirche zu, deren Tür weit offen stand. Hell lag der milde Schein der herbstlichen Sonne auf dem roten Dach und den Kupferplatten der zwiebelförmigen Türme.
Mit einem beinahe feierlichen Gefühl trat sie in den dämmrigen Raum. Durch die bunten Glasfenster fielen buntfarbige Streifen auf die zahlreichen Heiligenbilder und die grobgeschnitzten Holzfiguren. Es war so kühl in der Kirche, daß sie zusammenschauerte. Was wollte sie an diesem ernsten Ort? Er paßte nicht zu ihrer heiteren, lebensfreudigen Stimmung. Und doch war etwas in ihr, was sie zu ernstem Nachdenken mahnte... Ihr war, als hätte sie sich an etwas zu erinnern... Schon während des Lesens hatte sie darüber gegrübelt, was sie dazu trieb, sich anzukleiden und auszugehen... In die Stadt und weiter... Wie ein Zwang lag es auf ihren Gedanken. War sie nicht frei? Konnte sie nicht handeln, wie sie wollte? Ja, was wollte sie denn überhaupt? Nur der Langeweile entgehen, die schon wie ein Gespenst vor ihr sich aufrichtete...?
Mit einem übermütigen Lächeln auf den Lippen trat sie auf den Markt hinaus. Er lag so still und verträumt da... Nur seine Stammgäste tummelten sich darauf umher... Die Hühner und Borstenträger. Unschlüssig schaute sie sich um. Dort, das war die schmale Gasse, durch die sie gekommen war... Also mußte der Park nach dieser Richtung hin liegen. Dort ragten ja auch über die Dächer der niedrigen Holzkabachen die Gipfel uralter Eichen und Buchen auf...
Der Herr Polizeimeister Nekrassow, den man sonst sehr wenig in den Straßen der Stadt sah, entfaltete heute eine sehr energische Tätigkeit. Er wanderte von Haus zu Haus und fahndete mit scharfem Blick nach allem, was als eine Übertretung polizeilicher Vorschriften ausgelegt werden konnte. Das war das einfachste Mittel, die dreihundert Rubel einzutreiben, die Stroganoff ihm am nächsten Ersten vom Gehalt abziehen lassen wollte.
Er hatte sich eben in der Cukiernia, die der Kirche gerade gegenüber lag, für die Strapazen seiner Amtstätigkeit mit einem Glas Bier belohnt, als Serafine Alexandrowna aus der Kirche trat und nach kurzer Umschau in die schmale Gasse einbog, die nirgends anders hinführte als zum Schloß des Herrn Kolokotronski.
Das war ja sehr interessant! Die Frau Landrat spazierte am hellen lichten Tage durch die Stadt nach dem Schloß. Natürlich nur ein Spaziergang. Der Park stand ja — bis auf einige reservierte Teile — dem Publikum offen und wurde von den Bewohnern der Stadt gern aufgesucht... Aber junge Frauen pflegten doch nicht allein diesen Spaziergang zu unternehmen, vor allem nicht an Wochentagen. Was sollte man davon denken? Eigentlich wäre es sehr interessant zu wissen, ob die Frau Landrat und Herr Kolokotronski sich da treffen... Ganz zufällig natürlich... Das war dann eine Nachricht, die Fedor Maximowitsch unter Umständen mir dreihundert Rubeln bezahlen würde...
Er nahm seine Mühe und ging hinaus. Nicht quer über den Marktplatz, sondern an den Häusern entlang. Als er in die schmale Gasse einbog, sah er Serafine Alexandrowna vor sich gehen. Gleich, wo die letzten Häuschen der Stadt aufhörten, begann die uralte prächtige Allee. Sechs Reihen gewaltiger Bäume führten in gerader Linie auf das Schloß zu. Von dem breiten Fahrweg in der Mitte konnte man das Schloß ganz deutlich sehen. Ein gewaltiger massiver Bau mit runden Ecktürmen, deren Zinnen darauf hinwiesen, daß es von einem stolzen Geschlecht zu Schutz und Trutz errichtet war.
Jetzt führte zu dem Mittelbau eine breite hohe Rampe hinauf... Von dem breiten Graben, der das Schloß ehemals umgürtete, war nichts übrig geblieben, als ein länglicher Teich, auf dem einige Schwäne hin- und herschwammen. Serafine Alexandrowna schritt über den Reitweg zu dem schmalen Fußsteig, der zwischen den äußersten beiden Baumreihen entlang lief. Nach dem Felde zu war der Weg von einer dichten Tannenhecke eingeschlossen. Zitternde Lichtstreifen sielen durch die dichten Kronen der Bäume. Noch hing das Laub an den Bäumen: aber der Herbst hatte es bereits mit den bunten Farben geschmückt, die so gut zu einer heiteren Stimmung passen.
In gehobener Stimmung wandelte Serafine Alexandrowna dahin. Dicht vor dem Schloßtor bog der Fußpfad, auf dem sie schritt, nach links ab und führte au der hohen Parkmauer entlang. Immer schmaler wurde der Pfad, der durch dichtes Gebüsch führte. Jetzt mündete er auf eine schmale Pforte in der Mauer.
Sie stand offen. Zögernd trat Serafine Alexandrowna ein. Ein fester Kiesweg, auf dem ihr Schritt keine Spur zurückließ, zog sich in anmutigen Windungen durch dichtes Gebüsch. Bald nach rechts, bald nach links tat sich ein Ausblick auf... Man sah auf der einen Seite das Schloß, auf der anderen prächtige Baumgruppen und wohlgepflegte Rasenflächen.
Bei der nächsten Biegung des Ganges stand Kolokotronski vor ihr. Wie zu einem Feste hatte er sich geschmückt. Die enganliegende Ulanka war mit weißem Pelz besetzt und auf der Brust mit silbernen Litzen verschnürt. Auf der einen Schulter hing, von einer schweren goldenen Halskette gehalten, ein blauer Kalpak mit seidenem Futter. Über der pelzverbrämten Konfederatka wehte, von blitzender Agraffe gehalten, ein Busch Reiherfedern. An den glänzenden Kniestiefeln klirrten silberne Sporen...
Mit einem Blick hatte Serafine Alexandrowna die strahlende Erscheinung in allen Einzelheiten gemustert. Der Gedanke: er sieht wie ein Märchenprinz aus, lief ihr durch den Sinn, während sie seinen respektvollen Gruß mit einem leichten Kopfnicken erwiderte. Und ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, schmeichelte die festliche Kleidung des Polen ihrer Eitelkeit. Für wen konnte er sich so geschmückt haben, als für sie? Das lag doch auch in den ersten Worten seiner Begrüßung: „Ich danke Ihnen, Serafine Alexandrowna, daß Sie gekommen sind.“
Daß er sie dabei mit einer gewissen Vertraulichkeit bei ihrem Vornamen anredete, überhörte sie. Ihr schien es viel wichtiger, die in seiner Begrüßung liegende Annahme abzuwehren, als habe sie diesen Besuch zugesagt. Deshalb antwortete sie, während er ihre Hand an die Lippen zog: „Weshalb danken Sie? Habe ich denn versprochen zu kommen?“
„Pardon, gnädige Frau, wenn ich mich falsch ausgedrückt habe. Ich habe es gehofft, daß Sie kommen würden... Ich habe es so fest gehofft, daß Sie kommen würden, daß es mir keine Ruhe ließ... Ich mußte mich anziehen und in den Park gehen. Das ist auch eine Gedankenübertragung, Serafine Alexandrowna. Geheimnisvolle Mächte übertrugen Ihren Entschluß in meine Gedanken... Ich nehme es als ein günstiges Zeichen, als das Zeichen gegenseitiger Sympathie an. Menschen, die sich gleichgültig sind...“
Die junge Frau hielt es für geraten, diesen Gedankengang schnell abzuschneiden. „Schon gut, Herr Kolokotronski“, fiel sie schnell ein. „Sie müssen nicht einer zufälligen Begegnung eine Bedeutung beimessen, die ihr nicht zukommt. Verzeihen Sie, daß ich ohne Erlaubnis hier eingedrungen bin. Mich verlockte der wunderbare Gegensatz zu der anderen trostlosen Umgebung Kolnos dazu.“
„Aber ich bitte, gnädige Frau... mein Besitztum kann sich nur geehrt fühlen, wenn es Ihnen gefällt... Die Bäume, die Sträucher müßten sich vor Ihrer Schönheit und Anmut neigen...“
Lachend schlug sie ihm mit dem Fächer auf den Mund. „Kolokotronski, Sie sind ein unverbesserlicher Schmeichler. Auch dabei ist weniger oft mehr.“
„Gewiß, Serafine Alexandrowna, wenn meine Worte nichts weiter als leere Phrasen wären. Mein Mund spricht nur, was das Herz ihm befiehlt...“
„Kolokotronski, wenn Sie in dieser Weise fortfahren, drehe ich mich auf dem Absatz um und gehe nach Hause.“
Er nahm die Drohung nicht ernst, denn Frau Stroganoff schritt langsam an seiner Seite weiter... Aber er schlug doch ein anderes Thema an, er erkundigte sich nach ihrem Befinden, er fragte, ob die gestrige Gesellschaft kein Unbehagen bei ihr zurückgelassen hätte, er neckte sie mit dem Strauß, den er heute an Juris Bett gesehen.
Bei dem anregenden Gespräch hatte sie kaum auf den Weg geachtet, den er sie führte. Plötzlich standen sie vor einer dicht mit Efeu überzogenen Wand, die zu einem Gebäude gehören mochte, denn eine Tür war darin. Auf einen sanften Druck flog sie auf... Serafine Alexandrowna sah in ein eigenartiges, prächtig ausgestattetes Zimmer... Ein dicker Teppich bedeckte den Boden... Schwere seidene Draperien verhüllten die Wände, nur hier und da den Platz für ein Gemälde freilassend. Der Raum schien kein Fenster zu haben, und doch war er von einem sanften roten Licht erfüllt... Von grünen Topfgewächsen und blühenden Blumen waren hier und dort Nischen gebildet...
„Mein Buen retiro“, erklärte ihr Kolokotronski, indem er mit einer Handbewegung zum Eintritt einlud, „hier Pflege ich mich zurückzuziehen, um zu träumen.“
„Oder um ein galantes Abenteuer zu erleben“, meinte Serafine Alexandrowna beim Eintreten. Sie lächelte dabei, aber ihr war doch bang zu Mute. Die Tür war hinter ihnen mit einem scharfen Knack zugefallen, so daß sie sich hastig umwandte... Nirgends war ein Drücker zu sehen. Sie war in der Gewalt eines Mannes, den sie kaum 24 Stunden kannte. Um so mehr hatte sie Ursache, alle Geistesgegenwart zu entfalten.
Kolokotronski hatte auf ihre letzte Bemerkung nichts geantwortet Er war zu einem Tisch getreten, auf dem verschiedene Weinflaschen und wundervoll geschliffene Gläser standen. „Was befehlen Sie, gnädige Frau, einen milden Rheinwein, einen vollen Burgunder oder einen feurigen Ungar?“
„Ich danke, ich kann nichts trinken.“
„Unmöglich, gnädige Frau, Sie müssen mir Bescheid tun. Es ist weder ein Schlaftrunk, noch ein Zaubertrank.“ Er schob ihr einen Sessel an den Tisch und nötigte sie, Platz zu nehmen. Dann schenkte er ein. Mit dem vollen Glas in der Hand, ließ er sich vor ihr auf die Knie nieder. „Ich huldige Ihrer Schönheit und Anmut, teuerste Frau...“
Sie stieß mit ihm an und nippte. Dann stand sie schnell auf. „So, nun bin ich Ihr Gast gewesen... nun will ich gehen... bitte. Ich bin so unruhig... es könnte mich jemand gesehen haben.“
Auch Kolokotronski erhob sich. „Das wäre kein Unglück, es gehen viele Damen in meinem Park spazieren. Und überdies wird man Ihnen sagen, daß ich nicht zu Hause gewesen bin. Ich bin vor einer Stunde über die Grenze gefahren. Die Herren von der Kammer werden es Ihnen morgen selbst erzählen. Nehmen Sie an“, fuhr er schnell fort, als er ihren verwunderten Blick sah, „daß ich einen Doppelgänger habe.“
Jetzt vermochte Serafine Alexandrowna wieder zu scherzen. „Vielleicht sind Sie nicht Kolokotronski, sondern sein Doppelgänger.“
„Nein, gnädige Frau, ich bin es selbst. Ich bitte, Sie haben wirklich keine Eile... ein halbes Stündchen haben Sie noch Zeit, wenn Sie mit Sonnenuntergang hier weggehen.“
„Was soll ich hier?“ Sie… Sie sind so langweilig.“
„Sie sind grausam, Serafine Alexandrowna. Ich bebe vor Entzücken, Sie zu sehen, zu bewundern, und Sie langweilen sich?“
Er ergriff ihre Hand, streifte schnell den Ärmel ihres Jäckchens zurück und küßte ihren Arm, „Haben Sie Erbarmen mit Ihrem Sklaven.“
„Sklaven sind bescheiden und gehorsam, Sie sind weder das eine noch das andere… Deshalb muß ich gehen... Öffnen Sie die Tür... Ich bitte.“
Er drückte ihre Hand an seine Brust. „Sie wollen wirklich gehen, ohne mir ein freundliches Wort gesagt zu haben? Nicht irgend eine kalte Höflichkeit... Spricht denn in Ihrem Herzen nichts für mich?“
Serafine Alexandrowna wurde verlegen. „Man muß Sie doch schätzen als einen kühnen Mann, einen amüsanten Gesellschafter…“
„Weiter nichts? Vielleicht könnte ich auch ein feuriger Liebhaber sein.“
„Sie sprechen jedenfalls aus Erfahrung“, wiederholte die junge Frau mit einem Versuch, einen scherzhaften Ton anzuschlagen, „Und diese Wände haben sicherlich schon manchen Liebesseufzer von Ihnen gehört.“
Kolokotronski gab ihre Hand frei und trat einen Schritt zurück. „Das ist ein Irrtum von Ihnen, gnädige Frau.“ Ich pflege als Liebender nicht zu seufzen. Die Frauen wollen nicht gebeten, sie wollen erobert sein.“
Er trat ihr näher und sah ihr tief in die Augen, „Ich laß nicht mit mir spielen, Serafine Alexandrowna. Eine Frau, die zu mir kommt, die mich aufsucht, muß wissen, was sie tut... ich lege es mir so aus, wie es mich glücklich macht...“
Vor der Glut, die in seinen Augen loderte, wich die junge Frau zurück. Erschreckt strich sie mit der Hand über die Stirn, „Ich weiß nicht, weshalb ich gekommen bin... Mir war's, als müßte das so sein.“
„Weshalb sprechen Sie nicht aus, was mich glücklich machen würde?... Daß Ihr Herz Sie hierhergeführt...“
„Nein, nein, Kolokotronski... quälen Sie mich nicht. Lassen Sie mich hinaus, sonst müßte ich um Hilfe rufen.“
„Hier verhallt jeder Ruf ungehört... Aber beruhigen Sie sich, gnädige Frau, Sie sind hier so sicher wie unter Ihrem eigenen Dach... Ich lege keinen Wert darauf, etwas zu erzwingen, was mir nicht Ihr Herz gewährt...“
Jetzt wurde Serafine Alexandrowna wieder mutig. „Sie haben mich gestern verzaubert...“
„Ich hoffe, ich wünsche es... nur bis jetzt habe ich wenig davon bemerkt...“
„Ihr Wille hat mich hierher geführt... Sie haben mich gestern in Ihren Bann getan.“
Kolokotronski legte beide Hände auf die Brust und verbeugte sich: „Ich würde mich glücklich schätzen, gnädige Frau, wenn das der Fall wäre, wenn meine sehnsüchtigen Gedanken, die mich gestern abend keinen Augenblick verließen, diese Wirkung gehabt hätten...“
„Nein, Kolokotronski, Sie haben meinen Willen durch Ihre geheimnisvolle Kraft unterjocht.“
„Dann brauchte ich Ihnen ja nur zu befehlen, mich zu lieben. Wollen wir es nicht gleich nachholen... Sehen Sie mich an, Serafine Alexandrowna.“
Sie schloß die Augen und ballte krampfhaft die Hände. Dabei hörte sie ihn laut auflachen. „Ihr Verteidigungszustand sieht zu komisch aus, gnädige Frau. Aber fürchten Sie nichts... Selbst wenn ich solch' eine geheimnisvolle Kraft besäße, würde ich sie nicht zu solchem Zweck gebrauchen... Nein, demütig will ich um Ihre Liebe werben...“
Vorsichtig öffnete sie ein wenig die Augen, in denen bereits wieder der Schalk lachte. „Sie haben Langeweile, verehrter Herr und wollen sich die Zeit durch einen angenehmen Flirt vertreiben.“
Er ging sofort auf den Ton ein. „Sehr richtig, und ich glaube, daß auch Ihnen das Leben hier in Kolno nicht sehr viel Kurzweil bieten wird, abgesehen von den belehrenden Gesprächen mit Julia Feodorowna über die Grundsätze einer gutgeleiteten Kinderstube.“
Jetzt lachte die junge Frau laut auf. Kolokotronski aber trat näher und ergriff ihre beiden Hände. „Es tut mir wehe, daß Sie von Flirt und Zeitvertreib sprechen. Dazu habe ich keine Zeit... Mein armes, geknechtetes Vaterland hat mich gerufen... Mein Kopf ist erfüllt von großen bedeutsamen Plänen... Jede Sekunde meiner Zeit ist kostbar... Das sage ich Ihnen, der Gattin des kaiserlich russischen Landrats... Ich weiß, daß ich mit diesen Worten mein Schicksal in Ihre Hand lege... Mein Herz treibt mich dazu... Es spricht jetzt zu Ihnen, Serafine Alexandrowna... Ich liebe Sie... Ich bete Sie an... Ich kann mir kein Leben denken ohne Sie... Seien Sie nicht grausam...“
Er zog sie sanft an sich und legte den Arm um sie. Dann hob er mit der rechten Hand ihr Kinn und sah ihr tief in die Augen... Willenlos, wie gebannt, hing sie in seinem Arm. Sie schauderte nur zusammen, als er ihr mit einem glühenden Kuß den Mund schloß. Wie im Traum hörte sie noch die Worte: „Geliebte... Königin meines Herzens...“ Dann schwanden ihr die Sinne.
Als sie wieder zu sich kam, ruhte sie in einem Sessel... Kolokotronski kniete vor ihr und küßte ihre Hände. Noch einmal schloß sie die Augen. Sie mußte erst ihre Gedanken sammeln. War das wirklich Liebe, was sie für den Mann da empfand?... Es mußte wohl sein... Denn jetzt empfand sie das unwiderstehliche Verlangen, einen Kuß auf seine schwarzen Locken zu drücken... Aber nein, nein, sie durfte seine Kühnheit durch nichts ermutigen...
Jetzt erhob sie ihre Augen, um über ihn hinwegzusehen. Es war schon genug, daß sie seine weiche, schmeichelnde Stimme hörte...
„Serafine, Geliebte, sei nicht so grausam... Erbarme Dich meiner... nur ein Wort der Liebe...“ Sie schloß die Augen, beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm zu:
„Sie…“
„Du...“
„Nun gut... Du bist ein gefährlicher Mensch, ein Don Juan.“
In diesem Augenblick hatte er ihren Hals umfangen und sie stürmisch geküßt. Mitten unter seinen wilden Küssen bat sie: „Nun ist's genug, ich bitte Sie... ich bitte Dich... Man muß in allem Maß halten... auch in der Liebe… sonst, sonst ist sie keiner Steigerung fähig...“
„Eine weise Mahnung“, rief Kolokotronski lachend und sprang auf. „Ich fürchte nur, in der nächsten Zeit werden uns die Verhältnisse selbst zum Maßhalten nötigen. Doch heute über acht Tage... gleich nach Eintritt der Dunkelheit...“
„Du vergißt, daß ich noch einen Mann habe...“
„Nein, das habe ich nicht vergessen, aber ich habe Grund zu vermuten, daß er gerade an diesem Tage durch ein wichtiges Amtsgeschäft veranlaßt wird, abends wegzufahren und die Nacht über weg zu bleiben... Also bald nach Eintritt der Dunkelheit... Wenige Schritte vom Hause wird Dich ein Mann erwarten und Dir im Vorübergehen das Wort Patria` zuflüstern. Dem kannst Du ohne Bedenken folgen... Hundert Schritt weiter wartet eine Britschka... übrigens merk' Dir das Wort... Es könnten Fälle eintreten, in denen Du es nur auszurufen brauchst, um Dich zu schützen... Frage nicht, Geliebte...“
Mit einer unmerklichen Handbewegung hatte er neben der Tür auf einen von der Portiere verdeckten Knopf gedrückt... Geräuschlos tat sie sich vor ihnen auf... Stumm schritt sie hinaus. Die Sonne mußte bereits unter den Horizont gesunken sein, denn breite fächerförmige Lichtstrahlen schossen am westlichen Himmel bis zum Zenith empor und umsäumten die langgestreckten Wolken mit ihren feurigen Farben.
Im Gang war es bereits dunkel. Unwillkürlich schmiegte sie sich an ihn... Er legte seinen Arm um sie... So schritten sie langsam dahin... Kurz vor dem Ausgange drängte sie sich noch näher an ihn und flüsterte ihm zu: „Um Gottes willen, haben Sie gehört?!“
Kolokotronski hatte das sonderbare Geräusch, das Serafine Alexandrowna erschreckt hatte, wohl vernommen... Es klang, als wenn jemand einen Ausbruch des Hustenreizes gewaltsam unterdrückt hatte. Am liebsten wäre er gleich in das Dickicht gestürmt, um sich Gewißheit zu holen. Wer konnte das sein? Ein Lauscher, ein Spion, der hinter der Frau Landrat hergeschlichen war...
Obwohl er vor Erregung bebte, zwang er sich zu einer ruhigen Antwort: „Es ist nichts, Geliebte... Irgend ein Vogel, den wir vertrieben haben. Oder ein Kaninchen, das durch das Dickicht schlüpfte... Es ist viel von dem unnützen Zeug im Park.“
An der Pforte umfaßte er sie noch einmal und küßte sie. „Also auf Wiedersehen. Du kannst ohne Furcht gehen, ein vertrauter Mann geht mit Dir auf der anderen Seite der Allee in gleicher Höhe... Bis an die Stadt... Lebe wohl, habe Dank.“
Er schloß die Tür hinter sich und blieb stehen, um zu lauschen. Er fühlte, wie ihm das Blut in den Schläfen hämmerte... Wie ihm das Herz bis zum Halse hinauf schlug. So erregt war er noch nie gewesen. Es war aber auch zu toll... Wenn man Serafine Alexandrowna auf dem Gange beobachtet hätte... Ein harmloser Spaziergänger würde sich nicht verstecken... Man fürchtete sich vor ihm nicht, denn er sprach jeden freundlich an, den er im Park traf...
Wenige Schritte von ihm stand im dichten Gebüsch ein Mann, dem das Herz auch vor Erregung klopfte... Der Polizeimeister Nekrassow. Er wußte jetzt ganz genau, daß er eine ungeheure Dummheit begangen hatte, Serafine Alexandrowna nachzuspionieren. Er hatte es sich so schön ausgemalt, wenn er zum Landrat sagen würde: „Sie, Stroganoff, Ihre Frau ist gestern bei dem Herrn Kolokotronski zu Besuch gewesen. Mit meinen Augen habe ich sie in den Park treten sehen.“ Dann würde er seine Uhr ziehen. „Ich habe genau festgestellt... Länger als eine halbe Stunde blieb sie dort.“ Oder noch besser: Er würde Herrn Kolokotronski Andeutungen machen. Der würde ihm sofort Geld bieten, viel Geld.
Verwünscht, ging denn Kolokotronski noch nicht von der Tür weg? Sollte er trotz der beruhigenden Worte, die er zu der Frau Landrat gesprochen, Verdacht geschöpft haben? Es war hohe Zeit, daß er weg kam, denn nach Einbruch der Dunkelheit ging ein Wächter mit gefährlichen bissigen Hunden im Park umher. Und die Tür war verschlossen...
Kolokotronski hatte gewartet, bis Serafine Alexandrowna den halben Weg zur Stadt hinter sich haben mochte. Dann steckte er zwei Finger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff ertönen. Sofort antwortete ihm aus einiger Entfernung ein ähnlicher Pfiff. Nun rief er laut gegen das Dunkel des Dickichts: „Wer da drinnen ist, soll sofort herauskommen... Hier auf den Gang... Sofort... Der Wächter ist schon unterwegs mit den Hunden...“
In demselben Augenblick prasselte es in den Zweigen... Es hörte sich so an, als wenn ein Mensch mit eiligen Schritten davonging... Mit mächtigen Sätzen eilte Kolokotronski ihm nach... Unter den hohen Bäumen war es noch nicht völlig dunkel... Deutlich erkannte Kolokotronski die russische Uniform. Plötzlich blieb der Verfolgte stehen und drehte sich um. Er schien die Absicht zu haben, sich zu wehren, denn seine rechte Hand fuhr in die Brusttasche und zog den Revolver...
Einen Augenblick zu spät... Denn mit blitzschnellem Griff hatte Kolokotronski den sich ihm entgegenstreckenden Arm des Gegners dicht am Handgelenk gepackt. Und mit demselben Griff riß er den Mann zu sich heran, daß er nach vorn taumelte und ihm beinahe in den linken Arm fiel...
Nur eine Kleinigkeit brauchte der Pole sich nach links zu schieben... Jetzt stand er hinter dem Rücken des Russen und preßte ihn mit dem linken Arm an sich, daß ihm fast der Atem verging.
Der Polizeimeister wußte ganz genau, was ihm bevorstand. Mit heiserer Stimme winselte er um Gnade. Er werde schweigen wie ein Grab... Er habe ja auch nichts gesehen, rein gar nichts...
Er erhielt keine Antwort... Langsam schob sich die Hand des Polen an seinem Arm hinauf... Jetzt auf die Hand, die den Revolver umspannt hielt... Jetzt ein jäher Ruck... Kraftlos gab die Hand des Russen nach... Noch ein letzter Rest von Energie flackerte in ihm auf, als er die glatte Mündung seiner Waffe an der eigenen Schläfe fühlte... Krampfhaft streckte er den Zeigefinger, der am Abzug lag, aus... Vergebens... mit eiserner Gewalt drückte der Finger des Polen ihn nieder... Der Schuß krachte...
Langsam ließ Kolokotronski den toten Mann aus seinem Arm auf die Erde gleiten. Dann beugte er sich nieder und forschte in dem Gesicht des Toten... „Der Polizeimeister...! Zwei Fliegen mit der Klappe...! Der Kerl stand als erster auf der Liste...“
Jetzt nahten eilige Schritte... In großen Sätzen sprang Gregor heran, die rechte Hand am Halsband einer starken Dogge.
„Herr, was gibt's...?“
„Sieh ihn Dir an... Ich glaube, es ist der Polizeimeister. Nach einer halben Stunde gehst Du... Ja, zu wem... zum Landrat und meldest ihm, daß Nekrassow sich hier im Park erschossen hat...“
Mit einem Grinsen beugte sich Gregor über den Toten. „Der dumme Kerl hält noch den Revolver in der Hand... Aber Herr, es ist Zeit, daß Sie gehen...“
„Wo stehen heute unsere Freunde?“
„Die ersten Posten vor der zweiten Staniza sind es...“
„Gut! Doch nein... Ich muß jetzt auf einer anderen Stelle durch.“
Langsam schritt er davon...
Zehntes Kapitel.
Serafine Alexandrowna ging mit schnellen Schritten nach Hause. Sie graute sich, in der Dunkelheit allein zu gehen. Ihre Nerven waren sehr erregt. Trotz der beruhigenden Erklärung Kolokotronskis war sie überzeugt, daß ein Mensch im Gebüsch stand, als sie vorbeiging. Noch in der Erinnerung sagte es ihr Ohr, daß das vernommene Geräusch nichts anderes sein konnte, als ein mühsam unterdrückter Hustenanfall. Ein schrecklicher Gedanke, sich belauscht zu wissen! Und die scharfen Zungen der Beamtenfrauen hatte sie gestern zur Genüge kennen gelernt.
In solch einer kleiner Stadt blieb doch nichts verborgen. Man würde sich bald zuzischeln, daß sie sich mit Kolokotronski im Park getroffen habe... Womöglich hatte der Lauscher noch ein Stück ihres Gespräches vernommen, ihre vertrauliche Haltung beobachtet... Hastig schritt sie vorwärts... Schon tauchten vor ihr die ersten Häuser der Stadt auf, als sie hinter sich einen dumpfen Knall vernahm. Ihr erster Gedanke war: Da ist Kolokotronski mit dem Lauscher zusammengetroffen... der zweite: Es ist auf ihn geschossen worden, denn er selbst hatte doch keine Schußwaffe bei sich...
Einen Augenblick zögerte sie... Es war ihr, als müsse sie umkehren. Doch die Angst trieb sie weiter... Nach Hause. Als sie die ersten Beamtenhäuser erreicht hatte, kam von der anderen Seite ein Wagen angefahren... Ein Dutzend Reiter dahinter... Kein Zweifel, es war ihr Mann, der so früh schon nach Hause kam... An der Haustür empfing sie ihn.
„So früh? Du scheinst verstimmt zu sein? Hast Du nichts erreicht?“ Während er im Vorzimmer ablegte, berichtete er kurz, es seien in Starawies zwei Polen festgenommen, die sich im Dorfkrug durch große Geldausgaben und Redensarten verdächtig gemacht... Aber es sei eine falsche Spur gewesen... Die Kerle hatten einem Juden auf dem Markt die wohlgefüllte Börse geraubt... Natürlich gefunden, wie sie behaupteten.
„Und Du“, fuhr er fort, „wo bist Du gewesen?“
„Wie Du siehst, habe ich einen Spaziergang gemacht... Ich hatte etwas Kopfweh und mußte an die Luft gehen. Übrigens ein mäßiges Vergnügen, hier spazieren zu gehen.“
„Weshalb hast Du Dir nicht einen Diener oder ein Mädchen zur Begleitung mitgenommen?“
Serafine maß ihn mit erstauntem Blick. „Seit wann ist es bei uns üblich, vom andern über sein Tun und Treiben Rechenschaft zu verlangen?“
Stroganoff lächelte: „Du faßt meine Frage falsch auf... Es war nur Besorgnis von mir...“
Serafine Alexandrowna zuckte die Achseln. „Die ist völlig überflüssig...“
„Darf ich Dich wenigstens um etwas Essen bitten? Ich habe schönen Appetit mitgebracht...“
Als er nach wenigen Minuten in das Wohnzimmer trat, stand bereits der Samowar auf dem Tisch, der Diener trug eine Schüssel mit kaltem Fleisch auf... Seine Frau entzündete gerade die große Hängelampe. Es sah so behaglich, gemütlich aus. Ein weiches Sehnsuchtsgefühl stieg in ihm auf... Unsicher sah er seiner Frau nach, die langsam zur Tür ging: „Serafine...?“
„Wünschen Sie noch etwas, Fedor Maximowitsch?“
„Ja... Möchtest Du mir nicht etwas Gesellschaft leisten... Ich habe etwas mit Dir zu sprechen...“
Sie kehrte langsam um und setzte sich ihm gegenüber. „Nun, ich höre.“
„Ich bitte zunächst um ein Glas Tee.“
Als sie ihm das Glas hinreichte, erfaßte er ihre Hand und hielt sie fest. Sie entzog sie ihm heftig. „Was soll das heißen, Fedor Maximowitsch?“
„Es soll heißen, daß ich in meine kleine, süße Frau verliebt bin, richtig verliebt...“
Serafine Alexandrowna erhob sich und fragte mit eisiger Stimme: „War das alles, was Sie mir zu sagen hatten?“
„Nein, ich habe Dir noch viel mehr zu sagen. Und ich bitte, mich anzuhören... Serafine Alexandrowna!“ seine Stimme nahm einen weichen, bittenden Klang an... „Laß uns einen Strich unter die Vergangenheit ziehen... Schüttle nicht den Kopf, laß mich aussprechen... Wir haben uns ohne Neigung geheiratet... Das mußt Du bedenken, statt mich zu verurteilen... Nun ist es über mich gekommen... Mit einer Macht...“
Die Frau ließ sich nieder und verzog spöttisch die Lippen: „Ein Mann, der sich in seine eigene Frau verliebt...“
„Ja, Serafine, ich schäme mich nicht, es Dir zu gestehen... Ich bin verliebt wie ein Jüngling von zwanzig Jahren. Ich kann ja nicht hoffen, daß Du mich sofort wieder in Gnaden aufnimmst... Aber laß es Dir wenigstens gefallen, wenn ich in ehrerbietigster Form Dir huldige... Gestatte Deinem Mann, was Du jedem fremden Menschen gewährst...“
„Unser Vertrag lautet anders.“
„Das weiß ich, und deshalb müssen wir zuerst den Vertrag aufheben, der jedem von uns volle Freiheit gibt... Ich verzichte freiwillig darauf.“
Serafine Alexandrowna schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht daran, auf meine Freiheit zu verzichten... Und was gibt mir die Gewähr, daß Du meiner nicht wieder überdrüssig wirst, wie in dem ersten Jahr unserer Ehe... äh, ich mag nicht daran denken...“
Er stand auf und trat ihr näher. „Meine Liebe gibt Dir die Gewähr... Damals liebte ich Dich nicht...“
„Liebtest Du die Weiber, mit denen Du mich betrogst...?“ Sie lächelte bitter. „Solche Erfahrung soll eine kluge Frau nur einmal machen... Wäre ich damals schon so klug gewesen wie heute, dann hättest Du mich nach jener Szene nicht wiedergesehen... Aber ich war unerfahren, ich scheute mich so vor dem Skandal einer Ehescheidung, ich ließ mich beschwatzen, das Verhältnis zwischen uns äußerlich aufrecht zu erhalten, um Dir nicht die Protektion meiner Verwandten zu entziehen... Haben wir uns nicht ganz wohl dabei befunden... Wenigstens Du?... Weshalb hast Du nicht früher den Versuch gemacht, Dich mir zu nähern, als es...“ ihre Stimme stockte ein wenig... „vielleicht noch Zeit war... Weshalb hast Du nicht in Warschau mir vorgeschlagen, den Vertrag aufzuheben...? Ich will es Dir sagen, Fedor Maximowitsch... Weil Du dort fandest, was Du suchtest... Du bist ja nicht wählerisch... Jetzt, hier hast Du nun Langeweile... Hast keine Gelegenheit zu... zu... sagen wir: Liebeleien.“
„Du aber desto mehr.“
„Was hast Du mir vorzuwerfen? Oder richtiger gesagt, was geht Dich das an? Du hast Dich Deines Rechtes begeben, mir Vorwürfe zu machen...“
„Ich will Dich nur darauf hinweisen, daß wir nicht mehr in der großen Stadt leben, sondern in einer kleinen Stadt, in der ich der erste Beamte bin...“
„Sehr richtig, Fedor Maximowitsch! Und ich kann Dir nur raten, Dich sehr eifrig Deinen Amtsgeschäften zu widmen, dann werden auch diese Anwandlungen vorübergehen.“
„Was für Anwandlungen...?“
„Von Eifersucht... Ich habe übrigens nichts dagegen, wenn Du bald einmal nach Bjelostock oder Warschau in Amtsgeschäften verreist...“
Er lachte bitter auf. „Damit Du auch verreisen kannst...“
„Ich denke nicht daran. Aber nun wollen wir diese Auseinandersetzung beendigen... Es hat schon zweimal geklopft... Herein.“
Der Diener trat ein. „Gregor Lamanski, der Schloßverwalter des Herrn Kolokotronski, wünscht dem Herrn Landrat eine sehr wichtige Mitteilung zu machen.“
„Es ist gut, ich komme gleich... Steck' im Bureau die Lampe an...“
Als die Tür sich hinter dem Diener geschlossen, trat er noch einen Schritt naher heran. „Serafine, bedenke doch... Mein Leben schwebt hier täglich in Gefahr. Es ist leicht möglich, daß ich eines Tages nicht lebend zurückkehre... Ich möchte nicht stets von dem Gedanken gepeinigt werden, daß ich Deine Verzeihung nicht erlangt habe...“
Serafine Alexandrowna kräuselte spöttisch die Lippen. „Diese Pose steht Ihnen schlecht, Fedor Maximowitsch..., schlechter noch als die des liebenden Gatten... Ich bitte, keine Sentimentalitäten... Sonst müßte ich einen längeren Besuch bei meinem Onkel in Erwägung ziehen... Aus dem sich dann unsere völlige Trennung entwickeln könnte. Beherzigen Sie das.“
Ohne ihn anzusehen, schritt sie hinaus. Mit einem Blick, in dem Ärger und Liebe miteinander kämpften, sah Stroganoff ihr nach. Dann ging er hinaus in sein Bureau. Bei seinem Eintritt stand Gregor auf.
„Herr Landrat, melde gehorsamst, daß der Polizeimeister Nekrassow sich heute gegen abend bei uns im Park erschaffen hat.“
Stroganoff wollte seinen Ohren nicht trauen. „Der Polizeimeister. Und sich selbst erschaffen?“
„So ist es“, bestätigte Gregor in gleichmütigem Tone. „Vielleicht hat der Herr Polizeimeister Kummer gehabt, vielleicht auch Sorgen... Er kam und wollte Herrn Kolokotronski sprechen. Aber der Herr war leider nicht zu Hause...“
„Nicht zu Hause? Seit wann denn?“
„Er ist gleich nach Mittag über die Grenze gefahren... Nach Johannisburg... Ich glaube, es ist Theater oder eine Sängergesellschaft... Morgen nachmittag wird er nach Hause kommen.“
Der Landrat befahl seinen Wagen... Unterdessen erzählte Gregor, daß er bei einem Rundgang durch den Garten einen Schuß gehört. Als er hinzugekommen, habe der Mann schon kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben.
Der Militärarzt wurde geholt, unterwegs in der Stadt wurde noch ein Polizist mitgenommen. Am Schloßtor ließ Gregor den Wagen halten. Mit den beiden Wagenlaternen drang man in das Dickicht. In düsterem Schweigen standen die Männer um die Leiche, während der Arzt seine Untersuchung anstellte. Endlich erhob er sich.
„Der Tod ist vor einer Stunde eingetreten... Die Finger haben den Revolver vor der Tat umspannt... Es liegt unzweifelhaft Selbstmord vor.“
Stroganoff erteilte noch Anweisung, die Leiche in die Kaserne zu schaffen, dann fuhr man zurück. Makarew, der Arzt, erging sich in Vermutungen, was Nekrassow zum Selbstmord getrieben haben könnte. „Er ist immer heiter und lebenslustig gewesen... Man hat ihm auch nichts angemerkt...“
Für Stroganoff waren diese Worte eine Qual. Er grübelte auch über der Frage. Sollte sich der Mensch den kleinen Rüffel und die Ankündigung des Gehaltsabzuges so zu Herzen genommen haben?
Der Arzt wunderte sich über seine Schweigsamkeit. „Geht Ihnen das so zu Herzen, Herr Landrat? Dem Mann tut kein Zahn mehr weh.“
„Eine billige Philosophie, lieber Doktor. Wissen Sie nichts besseres?“
„Ja, man zieht daraus die Lehre, daß man die Sorgen abschütteln und das Leben genießen muß. Mich stört solch ein Intermezzo nicht. Ich werde heute abend bei Aksakow sehr vergnügt sein... Sie haben doch auch eine Einladung...?“
„Ich weiß nicht, ich war nicht zu Hause.“
„Aber selbstverständlich sind Sie eingeladen. Kommen Sie hin. Bei Sascha Aksakow ist es immer sehr gemütlich.“
Stroganoff erwiderte, er werde kaum in der Stimmung sein. Er habe noch einen schweren Gang vor... Er müßte selbst der armen Frau, die mit vier kleinen Kindern zurückblieb, den Tod des Mannes mitteilen…
Es war wirklich ein schwerer Gang. Die Worte blieben ihm in der Kehle stecken, als die Frau ihn schon bei der Einleitung mit verstörten Blicken ansah und bei der Mitteilung der Tatsache ohne einen Laut umsank. Als sie wieder zu sich gekommen war, saß sie da ohne Tränen... schüttelte ab und zu den Kopf, als könne sie die Tat nicht begreifen.
„...Er kam so lustig von Ihnen zurück, Herr Landrat... So lustig ging er auch weg... Mit Pfeifen... Und jetzt tot... Tot sagen Sie... Sich selbst erschossen... Das kann ich nicht glauben... Herr Landrat... Nein, das glaube ich nicht... Mein Mann war ein guter Vater... Er hat mich so lieb gehabt und seine Kinder... Weshalb sollte er aus dem Leben gehen?“
Die Nachricht, daß Nekrassow den Verweis nicht tragisch aufgenommen, war Stroganoff eine große Beruhigung. Aber sie vermehrte das rätselhafte der Tat...
In tiefen Gedanken ging er die wenigen Schritte zu seiner Wohnung. Seine Frau hatte sich zurückgezogen... Der Diener meldete, die gnädige Frau sei nicht wohl, sie werde sich gleich hinlegen... Stroganoff ließ sich die alte Warruscha, die Dienerin seiner Frau rufen.
„Sage der gnädigen Frau, der Polizeimeister Nekrassow hat sich vor einer Stunde bei Kolokotronski im Park erschossen... Es wäre mir lieb, wenn meine Frau hinübergehen wollte, um die Witwe zu trösten...“ Sofort erschien Serafine Alexandrowna. Sie hatte einen bequemen Hausrock angezogen und bereits ein Tuch umgenommen.
„Nekrassow hat sich erschossen...? Im Park von Kolokotronski?“
„Ich komme eben vom Tatort... Es ist leider kein Zweifel möglich... Ein ganz rätselhafter Fall... Doch was ist Dir?“
Er sprang schnell hinzu, um sie zu halten. Sie wehrte ihn ab. „Nichts... Nichts... Laß mich... Es geht schon vorüber... Es ist so entsetzlich zu denken, daß ein Mann, den man noch vor wenigen Stunden lebend und frisch gesehen hat...“
„Wenn Dich die Sache so ergreift, kannst Du nicht hingehen... Du sollst doch die Frau trösten.“
Serafine Alexandrowna zog schweigend das Tuch über die Schultern und ging. Stroganoff saß noch ein paar Minuten nachdenklich, dann nahm er seine Mütze und ging auch weg... Was sollte er allein zu Hause... Allein sich mit seinen Gedanken plagen... Nein, gerade heute brauchte er Gesellschaft...
Als er bei Aksakow eintrat, wurde er mit Hallo empfangen. Die Zimmer waren hell erleuchtet... Gleich im ersten Zimmer war ein kaltes Büfett aufgestellt... Auf dem einen Ende die Sakuska, eine reiche Auswahl der scharfen und sauren Sachen, mit denen der Russe den Appetit reizt... Dann ein paar saftige Braten. Die ersten Gäste waren schon erschienen. Der Kammerdirektor und sein Gehilfe, der Kollegienassessor.
Der Gastgeber war gerade dabei, aus mehreren Flaschen ein Schnäpschen zu mischen... Nach der Begrüßung fuhr er fort zu erzählen, daß er soeben Juri besucht... Er habe ihm eine kleine Kollation zusammengestellt... Es ginge dem braven Jungen schon ganz leidlich... Er sei aber von der fixen Idee beherrscht, daß er den Hieb von Kolokotronski erhalten habe.
„Wissen Sie, meine Herren, was ich denke? Der Pole hat einen Doppelgänger. Ich habe übrigens Kolokotronski auch bitten lassen... Er ist nicht zu Hause... Der Schwerenöter ist heute gleich nach Mittag über die Grenze gefahren. Er will sich in Johannisburg mit einer kleinen Sängerin amüsieren...“
„Ja, er fuhr heute an der Kammer vorbei“, bestätigte der Direktor.
„Haben Sie ihn selbst gesehen?“ fragte Stroganoff mit Nachdruck.
„Nein, aber meine Leute... er ist doch nicht zu verkennen.“
„Stieg er nicht ab, um den Paß visieren zu lassen?“
„Nein, er schickte, wie er es immer tut, vorher seinen Diener mit dem Paß, um keinen Aufenthalt zu haben.“
Jetzt trat der Arzt ein. „Wissen die Herren schon... Haben Sie schon erzählt, Herr Landrat?“
„Nein... Ein sehr trauriger Fall... Der Polizeimeister hat sich heute abend im Park des Schlosses erschossen. Eben hat man die Leiche in die Kaserne gebracht... Denken Sie sich, er hat vierhundert Rubel in der Tasche gehabt.“
Der Kollegienassessor lächelte. „Nekrassow war sehr fleißig heute nachmittag... Er revidierte`... Daher stammen die vierhundert Rubel... Ein betriebsamer Mann... Schade um den Kerl...“
Während des Essens wurde noch sehr eifrig die Frage erörtert, welche Grunde den Mann in den Tod getrieben haben könnten... Der Landrat erzählte, daß er ihm mittags wegen der Geschichte mit Sareyski einen kleinen Rüffel erteilt und einen Gehaltsabzug angedroht hatte. Aber davon sei die Tat auf keinen Fall beeinflußt oder gar veranlaßt worden, denn er habe von der Frau gehört, daß Nekrassow ganz vergnügt nach Hause gekommen und ebenso vergnügt weggegangen wäre...
Nach dem Essen, als die Spieltische aufgestellt wurden, war dies Thema erledigt...
Elftes Kapitel.
Der Hauptmann Aksakow war das Muster eines Gastgebers. Unaufhörlich nötigte er zum Trinken und jedesmal hatte er einen triftigen Grund aufzuführen. Seine beiden Diener waren ausgezeichnet geschult, es kam gar nicht vor, daß ein Glas auch nur eine Sekunde leer stand. So war es denn nicht wunderbar, daß bald eine etwas geräuschvolle Lustigkeit sich einstellte.
An den Mann, der bei solchen Anlässen stets unter ihnen geweilt, und der vor wenigen Stunden in das dunkle Schattenreich eingegangen war, dachte niemand mehr. Nur Stroganoff konnte seine Gedanken von der unangenehmen Erinnerung nicht freimachen. Er griff deshalb öfter, als es sonst seine Gewohnheit war, nach dem Glase, um sich zu betäuben. Es gelang ihm nicht. Es schien, als ob der Alkohol seine Wirkung verloren hätte.
Schon lange vor Mitternacht knallten die ersten Sektpfropfen. Als die Gläser herumgereicht wurden, erhob sich der Hauptmann und brachte in feurigen Worten einen Toast auf Serafine Alexandrowna aus. Mit stürmischer Begeisterung stimmte die Gesellschaft in das dreimalige Hoch ein.
Obwohl Aksakow seine Worte sehr geschickt gesetzt hatte, ärgerte sich Stroganoff über den Toast. Er empfand die Huldigung für seine Frau beinahe als eine persönliche Kränkung. Es war ihm, als wenn hinter der Stirn eines jeden, der mit ihm anstieß, der Gedanke stand: Dir möchte ich gern zu einem recht kräftigen Hörnerschmuck verhelfen... Ein Ärger stieg in ihm auf, der ihm einen gallebitteren Geschmack auf die Zunge trieb.
Noch häufiger griff er nach dem Glase und nun wirkte der Alkohol. Es war ihm sehr recht, daß von einem anderen Tisch der Vorschlag gemacht wurde, mit dem langweiligen Spiele aufzuhören und zu dem erregenden Oko überzugehen. Man sammelte sich um den größten Tisch... Ein neues Spiel Whist-Karten wurden aufgemacht und verteilt. Das Oko ist die russische Form des Pokerns, nur noch raffinierter in der Ausnutzung der Gewinn-Chancen... Und es waren alles gewiegte Spieler, die sich da zu einem harten Kampf rüsteten, Männer, aus deren Mienen sich auch nicht das geringste herauslesen ließ, die bei einem Vierer genau so undurchdringlich ernst aussahen wie bei dem kleinsten Paar, mit dem sie einen Bluff nach allen Regeln der Kunst versuchten und durchfochten.
Nur der Hauptmann Aksakow machte eine Ausnahme. Seine Methode bestand in einer geräuschvollen Geschwätzigkeit. Er tat bald so, als hätte er das größte Spiel in der Hand, bald setzte er eine trübselige Miene auf, als müßte er eigentlich passen und ginge nur aus reinem Leichtsinn mit. Seine Art brachte wenigstens etwas Leben in den feierlichen Ernst der Gesellschaft. Und dabei gewann er Schlag auf Schlag.
Auch Stroganoff war ein Meister dieses Spiels. Aber heute war das Glück gegen ihn. Und gab's mal eine Karte, aus der sich etwas machen ließ. dann kaufte er nichts zu. Ein brutaler Bluff, den er versuchte, mißglückte an der Zähigkeit des Majors, der seinen Gegner wohl durchschaut haben mochte.
Endlich hatte er einen Vullhand zusammengekauft... Mit gleichgültiger Handbewegung schob er zehn Rubel auf den Tisch. Zu seinem Erstaunen gingen Aksakow und Marmeladow mit demselben Betrag mit und der Kammerdirektor überstürzte ihn noch mit zehn Rubel...
Stroganoff setzte zu und warf noch zwanzig Rubel vor. Jetzt schied Marmeladow aus, der Hauptmann setzte nach, während der Direktor noch einen Versuch von zehn Rubeln wagte. Als Stroganoff ihm noch fünfzig Rubel vorsetzte, schied er aus... Man mußte annehmen, daß er einen Bluff versucht hatte...
Zum allgemeinen Erstaunen wurde jetzt Aksakow lebendig.
„Mein lieber Herr Landrat, jetzt beginnt erst bei uns der Kampf... Ich habe ja nicht viel, aber ich möchte wenigstens sehen... o nein... ich will zuerst noch hundert Rubel versuchen... Sie wollen schon Wasser trinken gehen?... Das tut mir leid...“
Die Art, in der Aksakow plauderte, reizte den Landrat. Er setzte die hundert Rubel, die er noch auf dem Tisch zu liegen hatte, und holte aus der Brieftasche ein Paket Banknoten heraus, um denselben Betrag vorzusetzen.
Der Hauptmann zuckte mit grotesk-prahlerischer Miene die Achseln. „Tut mir leid, Herr Landrat. ich möchte Sie so gern sehen, aber vorläufig scheinen Sie noch hartnäckig zu sein... Die hundert Rubel und noch hundert...“
Jetzt mischte sich der Major ein. „Lassen Sie jetzt genug sein, meine Herren...“
Aksakow lachte. „Wenn Sie befehlen, Herr Major... Hier sind hundert Rubel... Fedor Maximowitsch, nun decken Sie auf...“
Mit einem Ruck warf Stroganoff seine Karten auf den Tisch: „Vullhand vom As.“
Mit trübseliger Miene deckte Aksakow ein kleines Paar auf... dann noch ein Paar... aber sie waren beide gleich, also ein Vierer... Mit einem Griff raffte er die Kassenscheine zusammen und steckte sie in die Seitentasche seines Hausrockes.
Der starke Verlust wirkte anstachelnd auf den Landrat. Er trank viel und ging mit schlechten Karten mit... Ab und zu erwischte er einen kleineren Betrag, so daß er sich wenigstens hielt.
Schließlich wurde auch dieses Spiel langweilig. Jemand machte den Vorschlag, zur Abwechslung es mit der „Lustigen Sieben“ zu versuchen... Bald waren „Haut und Knochen“, wie Aksakow den Würfelbecher mit Inhalt nannte, und ein Pappbogen mit dem aufgezeichneten Tableau zur Stelle. Stroganoff übernahm die Bank. Eine Weile „arbeitete“ er ohne Gewinn oder Verlust. Aus reinem Übermut setzte Aksakow hundert Rubel auf die Sieben. Stroganoff hob den umgestülpten Becher: Die Sieben lag auf dem Tisch. Lachend erklärte Aksakow: „Wenn Sie es annehmen, bleiben die siebenhundert Rubel auf der Sieben stehen.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Stroganoff und schwenkte den Becher. Unter allgemeiner Spannung hob er ihn empor. Da lag wieder die Sieben. Er zog seine Brieftasche. Sie enthielt nicht soviel Geld mehr, als er zu bezahlen hatte.
Aksakow schob das Geld zurück. „Sie brauchen das kleine Geld zum Spielen, Herr Landrat. Ein Zettel mit der Summe und Ihrer Unterschrift genügt mir.“
Stroganoff riß ein Blatt aus seiner Brieftasche und schrieb auf: „Gut für 4900 Rubel.“
Das Spiel ging weiter... Aksakow schien das Glück gepachtet zu haben. Ob er auf die sechs oder acht ging, immer schlugen die Würfel für ihn. Drei-, viermal ließ er Gewinne stehen... Jetzt begannen auch die anderen seinem waghalsigen Spiel zu folgen... Ihre Einsätze vereinigten sich auf der Seite, die der Hauptmann wählte... Längst hatte Stroganoff sein Bargeld verspielt. Nun zahlte er mit Zetteln... Er hatte zuletzt gar keine Ahnung mehr, wieviel er von diesem eigenartigen Papiergeld ausgegeben haben mochte.
Und nun trat das ein, was man auch sonst bei solchen Gelegenheiten beobachten kann: er wurde mit jedem Zettel, den er ausschrieb, nüchterner...
Endlich schob er den Pappbogen von sich. „Ich habe genug für heute. Ich bitte die Herren, mir anzusagen, was ich Ihnen schuldig bin.“ Er nahm seine Brieftasche und schrieb die Beträge ein. Als er sie zusammenzählte, waren es rund 8000 Rubel.
„Ich reguliere in der üblichen Frist, meine Herren. Guten Morgen! Lassen Sie sich nicht stören, ich bin müde... Auf Wiedersehen.“
Auch bei den Zurückgebliebenen war das Interesse am Spiel erschöpft. Sie nahmen noch zum Abschied einen Starawodka, der nach Aksakows Versicherung die Geister des Weins niederschlagen sollte und gingen... Der Landrat war ja ein famoser Kerl, eine großartige Akquisition für die Gesellschaft... die noble Art, in der er jeden Einsatz angenommen... In den nächsten Tagen würde er Revanche verlangen. — Das gab wieder einen angeregten Abend... Oder vielmehr Nacht... Denn es ging schon stark gegen Morgen, als die Herren sich trennten...
Stroganoff hatte in seinem Bureau eine Lampe angesteckt und sich in den Armsessel vor dem Schreibtisch gesetzt. In einer Art dumpfer Betäubung starrte er vor sich hin. Die Geister des Alkohols hatten noch nicht völlig ihre Macht über ihn verloren: aber sie wichen allmählich vor den Gedanken, die durch seinen Kopf wirbelten... Sie drehten sich um einen Punkt, die Spielschuld. Dreimal vierundzwanzig Stunden hatte er Zeit, aber was half ihm diese Frist? Woher das Geld nehmen?
Er stand auf und schloß den Geldschrank auf. Da lagen an amtlichen Geldern zweitausend Rubel... Viel zu wenig. Irgend welche Zahlungen standen nicht in Aussicht... Was nun? Ein Hinausschieben der Zahlungsfrist verlangen? Unmöglich! In demselben Augenblick, in dem er die übliche Frist verstreichen ließ, war er erledigt. Nicht nur als Mensch für die Gesellschaft, sondern auch als Beamter... Minutenlang setzte sein Denken aus...
Im Wandschrank stand eine Flasche Kognak. Er holte sie heraus und stürzte ein Weinglas voll hinunter. Dabei fiel sein Blick auf die Browning-Pistole, die er auf seinen Ausfahrten mit sich zu führen pflegte. Unwillkürlich schauderte er beim Anblick der Waffe zurück. Stand ihm wirklich das Ende bevor, das der Polizeimeister heute gewählt hatte? Sollte es keine Möglichkeit geben, dem Verhängnis zu entfliehen?
In Gedanken begann er alle Bekannten durchzugehen, ob sich nicht einer darunter fände, der ihm die Summe für kurze Zeit vorschießen könnte... Vergeblich... Bei jedem Namen, der ihm in den Sinn kam, schüttelte er den Kopf... Schließlich versank er in stilles Brüten... Wie im Traum huschte manchmal vor seinem Bewußtsein eine Vorstellung vorüber, ohne sich zu klaren Gedanken zu entwickeln.
Einmal war es ihm, als wenn die Haustür gegangen wäre, er achtete nicht darauf. Jetzt öffnete sich leise die Tür des Zimmers, Serafine Alexandrowna stand im Zimmer. Selbst Stroganoff fiel es auf, daß sie furchtbar angegriffen aussah. Ihre Augen waren von dunklen Rändern umgeben und schienen tief im Kopf zu liegen. Um ihren sonst so fröhlichen Mund lag ein bitterer Zug.
„Aha, Fedor Maximowitsch... Noch so spät oder schon so früh auf... Wahrscheinlich bei der Arbeit...“
„Wo kommst Du her...? Bist Du nicht zu Hause gewesen?“
„Wie Du siehst... Ich war bei Olga Elisabetowna Nekrassow... Es muß doch furchtbar sein, einen Mann, den man liebt, zu... verlieren... Aber Sie, was ist mit Ihnen? Sie sehen ja so verstört aus?“
„Weshalb fragst Du? Dir ist es ja doch gleichgültig.“
„Selbstverständlich“, erwiderte Serafine Alexandrowna in hartem Ton. „Es macht nur einen so merkwürdigen Eindruck, wenn ich es erst von anderen erfahren muß. Bis jetzt haben wir unser eigentümliches Verhältnis vor der Welt verheimlicht... Aber mir ist's recht, wenn man es erkennt...“
„Nein, nein“, fuhr Stroganoff auf. „Ich will es Dir sagen... Ich habe Geld verspielt... Viel Geld... 8000 Rubel...“
„Eine gehörige Backpfeife, aber daß Dich das so aufregt... Ich dachte, eine kleine Gemütswallung dieser Art ist Dir nichts neues...“
Mit stierem Blick sah er sie an. „Ich glaube, Du freust Dich darüber?“ Serafine Alexandrowna zuckte verächtlich die Achsel. „Ich wüßte nicht, was mir gleichgültiger wäre. Ist es denn zum erstenmal, daß Du Dich betrinkst und im Spiel verlierst“?
Jetzt brauste Stroganoff auf. „Weißt Du auch, weshalb? Weil Du mich verrückt machst... Um zu vergessen, trinke ich...“
„Ein schlechtes Mittel.“
„Ja, besonders das Verspielen... Die 8000 Rubel sind eine Spielschuld, die ich in drei Tagen bezahlen muß...“
„Wie, verstehe ich recht? Diese kleine Summe macht Ihnen Sorgen, Fedor Maximowitsch? Ich dachte, Sie sind reich oder wenigstens wohlhabend...“
Als Stroganoff nichts erwiderte, tat sie einen tiefen, hörbaren Atemzug. „Ach so! Das hätte ich denken können. Daher die Versetzung hierher...“
„Du irrst Dich“, brauste Stroganoff auf. „Es sollte nur die Zwischenstation sein, um mich auszuzeichnen... Jetzt... Jetzt ist alles vorbei... Dort im Schrank liegt die Waffe, die meine Karriere beendigt...“
Die weinerliche Rührseligkeit, die alle Slaven nach reichlichem Alkoholgenuß so leicht befällt, kam über ihn. Mit schwimmenden Augen sah er seine Frau an.
„Serafine Alexandrowna, hast Du denn gar kein Mitleid mit mir?“
Ein eisiger, höhnischer Zug trat auf ihr Gesicht. „Ich Mitleid mit einem Narren, der ein schönes, junges Weib heiratete, bloß um sie mit Dirnen zu betrügen... der sein Geld zum Fenster hinauswirft...“
Sie lachte schrill auf.
„Hier hast Du keine andere Zerstreuung... als jenen... wie ein Wahnsinniger.“ Sie richtete sich hoch auf. „Es ist Zeit, daß wir uns trennen, Fedor Maximowitsch. Sie werden diese Schwierigkeit überwinden und... weiter leben wie bisher... Sie werden mir also bald einen Scheidungsgrund geben...“
Mit zusammengebissenen Zähnen stieß Stroganoff hervor: „Nie und nimmermehr.“
„So? Dann mußte ich mir also einen Scheidungsgrund schaffen...“
Er hatte augenblicklich den tieferen Sinn dieser Worte nicht verstanden, denn er setzte sich in seinen Stuhl und senkte den Kopf. Serafine Alexandrowna trat näher und beugte sich über den Schreibtisch. Ihre Augen loderten in düsterem Feuer, aber sie lächelte dazu... Ein eigentümliches Lächeln...
„Ich wußte ja, daß Sie damit einverstanden sein werden, Fedor Maximowitsch, denn unser Vertrag gibt ja jedem von uns völlige Freiheit... Ich habe leider damit auch auf die Handhabe verzichtet, die mir Ihre kleinen Liebesaffären für eine Scheidung gaben… Nun wollen wir den Vertrag aufheben... Damit gewinnen Sie, Fedor Maximowitsch, das Recht, auf Scheidung gegen mich zu klagen.“
Stroganoff hatte den Kopf gehoben und sie zuerst verständnislos angesehen. Dann kam ihm das Verständnis. In sein fahles Gesicht schoß ein jähes Rot. Das Blut stieg ihm nach dem Kopf. Er umklammerte mit beiden Händen die Stuhllehne, um seine Erregung zu bemeistern, aber sein Stimme zitterte: „Serafine Alexandrowna, ich warne Dich... geh nicht zu weit in Deiner unersättlichen Rache... Ich lasse mich nicht von Dir vernichten... Du sollst nicht triumphieren... Wenn ich...“ er hob langsam die Hand und zeigte nach oben, „von hier weg gehe... dann nehme ich Dich mit.“
Serafine Alexandrowna wurde bleich. Aber um ihren Mund spielte ein verächtliches Lächeln. „Endlich doch einmal eine Spur von Energie in Deinem Charakter, Fedor Maximowitsch. Aber sie richtet sich nach der falschen Seite. Ich habe keine Lust, Dich dorthin“, sie schwenkte bei diesen Worten ihre Hand mit charakteristischer Bewegung nach oben, „zu begleiten. Ich finde es hier ganz schön auf der Erde...“
Mit dem letzten Aufgebot seiner Selbstbeherrschung krampfte Stroganoff seine Hand um die Stuhllehne. In seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er hatte das Gefühl, daß er sich in dem Augenblick, wenn er den Halt losließ, auf sie stürzen müßte, um sie zu erwürgen... Dabei verschlang sein Auge das Weib mit glühender Leidenschaft.
...Dann war es ihm, als müßte er vor sie hinstürzen, ihre Knie umklammern und sie um Gnade, um Erbarmen anwinseln... Und in demselben Augenblick stieg eine rasende Eifersucht in ihm empor. Er mußte es ihr ins Gesicht schreien, daß die Männer sie alle wie eine leichte Beute betrachteten...
Serafine Alexandrowna zuckte die Achseln. „Die armen Narren... Sie tun mir leid, aber sie finden mich wenigstens begehrenswert.“
„Und der Pole?“ schrie Stroganoff auf.
„Kolokotronski? Ja, das ist ein Mann, der einer nach Liebe lechzenden Frau gefallen kann.“
„Weib, Du treibst mich zum Wahnsinn.“
Serafine Alexandrowna krauste spöttisch die Lippen. „Komödiant!“
Die Farbe wich mit einem Schlage aus Stroganoffs Gesicht... Die Knie wankten unter ihm, er fiel schwer in den Stuhl zurück. Er sagte sich, daß er jetzt aufspringen müßte, um das Weib zu erwürgen... Aber die überreizten Nerven versagten den Dienst. Und dann schien es ihm wieder, als wenn er sich selbst nur vorredete, daß er wütend sein müßte... In Wirklichkeit wallte es in ihm auf, wie von Rührung und Sehnsucht... Eine Erinnerung schoß in ihm auf an die ersten Wochen ihrer Ehe... Wie er Serafine Alexandrowna mit Zärtlichkeit überschüttete.
...Aber es war wohl der Alkohol, der ihn bezwang... Schluchzend legte er den Kopf auf den Tisch... Er hörte noch, wie seine Frau mit unsäglicher Verachtung das Wort „Schwächling“ aussprach... Dann ging die Tür... Nach einer Weile fühlte er eine Hand an seiner Schulter, die ihn rüttelte. Serafine Alexandrowna stand vor ihm.
„Fedor Maximowitsch, raffen Sie sich auf... Gehen Sie schlafen... Es ist nicht nötig, daß die Diener Sie hier in diesem Zustand finden.“ Er sah sie einen Augenblick verständnislos an, dann streckte er sehnsüchtig die Hände nach ihr aus. Sie sprang schnell zurück und huschte aus dem Zimmer.
Zwölftes Kapitel.
Zur gewohnten Stunde saß der Landrat wieder in seinem Bureau. Er war nach wenigen Stunden Schlaf aufgewacht und konnte im Bett keine Ruhe mehr finden. Die Gedanken hatten ihn bekrochen, wie man zu sagen pflegt. Um ihnen zu entgehen, hatte er sich angekleidet und an den Schreibtisch gesetzt. Aber während die Augen mechanisch auf den ihm vorgelegten Schriftstücken weilten, dachte sein Kopf an ganz etwas anderes. Er mußte jetzt so schnell wie möglich einen Entschluß fassen.
Wenn er nach Warschau fuhr...? Vielleicht war es doch möglich, das Geld dort auszuweiden. Wenn nicht, dann war es dort leicht, spurlos zu verschwinden... Er mußte hier nur noch das Notwendige erledigen, vor allem einen langen Bericht an den General-Gouverneur... Oder... Er suchte ihn persönlich auf... Ein Gedanke blitzte ihm durch den Kopf... Wenn es ihm gelang, die Ereignisse hier geschickt darzustellen... „Er brauchte einen Fonds, um einen zu erkaufen, der die geheime Organisation verraten konnte...“ Was weiter geschah, war ihm vorläufig gleichgültig...
Schon diese Möglichkeit beruhigte ihn... Er begann darüber nachzudenken, was er heute nacht mit Serafine Alexandrowna gesprochen haben mochte... Sein Gedächtnis war wie ausgelöscht... Kein Wunder... Nach seiner Schätzung hatte er einige Flaschen Ungarwein und ungezählte Gläser Sekt getrunken, ganz abgesehen von den Schnäpsen, die Aksakow immer dazwischen gab...
Ein kurzes, scharfes Anklopfen störte ihn in seinem Sinnen. Adlersberg trat ein. Bei der Begrüßung schüttelte er den Kopf. „Fedor Maximowitsch, wie sehen Sie aus?“
„Die Nacht hat mich angegriffen, ich bin nicht gewöhnt, so viel zu trinken.“
„So? Ich dachte schon, der starke Anschuß sei Ihnen in die Glieder gefahren. Ich will offen sein. Ich komme, mit Ihnen darüber zu sprechen. Es ist allen furchtbar unangenehm. Wir gehen sonst hier nicht so scharf ins Zeug. Und Aksakow hat nach meiner Überzeugung nur deshalb so waghalsig pointiert, um das gewonnene Geld wieder zu verlieren. Aber es war nichts zu machen. Verzeihung, Fedor Maximowitsch, wenn ich davon spreche. Es ist wahrscheinlich, daß Sie die Summe nicht zu liegen haben. Ich komme, Ihnen zu sagen, daß die Frist bei einem größeren Anschuß nicht einmal, sondern dreimal vierundzwanzig Stunden beträgt.“
„Nun ja“, gab Stroganoff leichthin zur Antwort, „mein Geld liegt in Hypotheken fest... Ich will abends nach Warschau fahren, um die Summe flüssig zu machen.“
„Fedor Maximowitsch, sagen Sie offen, wenn es Ihnen Schwierigkeiten macht… Sie werden zum mindesten hohe Prozente bezahlen oder an den Dokumenten etwas verlieren müssen.“
„Schon möglich.“
„Das wäre uns noch unangenehmer, vor allem Aksakow. Wir sprachen heute schon darüber. Er meinte, für solchen Fall läge es doch nahe, die Spielschuld durch einen Schuldschein in eine gewöhnliche Schuld umzuwandeln, die Sie bezahlen, wenn es ohne Schwierigkeiten oder Verluste möglich ist.“
Stroganoff schüttelte den Kopf. „Ein sehr liebenswürdiges Anerbieten, von dem ich nur im äußersten Notfalle Gebrauch machen würde.“ Lauernd fügte er hinzu: „Es bleiben doch dann immer noch gegen dreitausend Rubel, die ich sofort beschaffen müßte.“
„Eben dafür läßt sich hier Rat schaffen“, beeilte sich der Major zu erwidern. „Die lassen sich hier ausweiden.“
Der Landrat zuckte die Achseln. „Ich wüßte nicht, bei wem.“
„Sehr einfach: bei Abraham Sareyski.“
„Ausgeschlossen, lieber Freund, gänzlich ausgeschlossen. Der alte Herr war schon bei mir... Er lauert nur darauf, daß ich mich seinen Wünschen gefügig zeige. Natürlich würde er das Geld geben.“
Der Major stand auf und begann nachdenklich auf und ab zu gehen. „Schade, bei Sareyski hätten wir es ganz bequem. Der Mann ist billig... Ich kann es Ihnen ja sagen: er hat mir schon mehrmals ausgeholfen. Ich stehe leider bei ihm noch in der Kreide, sonst würde ich es für Sie machen.“
Nach einer Weile blieb er stehen und sah Stroganoff an. „Dann gehen wir zu Kolokotronski.“
Fedor Maximowitsch fühlte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. Er fragte hastig: „Ist das Ihr Ernst, Herr Major?“
„Weshalb nicht? Was haben Sie gegen den Mann? Er hat, wie ich ganz genau weiß, Ihrem Vorgänger manchmal ausgeholfen. In tadelloser Form, ohne ein Wort zu verlieren...“
„Auch diese Möglichkeit ist für mich ausgeschlossen, lieber Adlersberg. Aus persönlichen Gründen. Ich kann mich des Verdachtes nicht erwehren, daß wir schon in der nächsten Zeit ihm feindlich gegenüberstehen werden, daß ich durch einen dringenden Verdacht gezwungen werde, mich seiner Person zu versichern.“
Der Major schüttelte lachend den Kopf. „Das ist gänzlich ausgeschlossen. Aber vielleicht sind es andere Gründe, aus denen Sie einen Zusammenstoß mit dem Polen befürchten... Gründe persönlicher Natur...“
Als Stroganoff mit gut gespielter Verwunderung ihn fragend ansah, fuhr er lachend fort: „Ich glaube, Sie sind eifersüchtig auf Kolokotronski, lieber Fedor Maximowitsch. Pardon, wenn ich mich geirrt habe... Selbstverständlich ist jede Möglichkeit, daß Grund dazu vorliegt, ausgeschlossen. Aber die Männer schöner Frauen sind manchmal so eigentümlich, und Sie haben nach dieser Richtung Anlagen... Das sah ich Ihnen gestern abend an, als der Toast auf Serafine Alexandrowna ausgebracht wurde...“
Der Landrat runzelte die Stirn. „Ihre Offenheit ist unter Umständen wünschenswert, aber im Grunde genommen ist sie für mich beleidigend.“
„Nicht, daß ich wüßte. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß Kolokotronski sich als tadelloser Kavalier erwiesen hat. In unserem kleinen Kreis bleibt nichts verborgen... Da war hier ein junges nettes Frauchen... Die war geradezu in ihn vernarrt... Er brauchte nur den Finger nach ihr auszustrecken... Kein Gedanke daran... Er fuhr weg und blieb so lange fort, bis der Kollege seine Versetzung erhalten hatte.“
„Aller Ehren wert... Aber für mich ohne Bedeutung, da bei mir keine persönlichen Motive mitsprechen... Über die Verdachtsmomente gegen Kolokotronski kann ich Ihnen heute noch keine Mitteilung machen. Ich bitte auch um strengste Diskretion darüber. Für Ihre Hilfsbereitschaft besten Dank. Im äußersten Notfall darf ich doch auf Ihre Vorschläge zurückkommen?“
„Ich bitte darum.“
Mit gemischten Gefühlen sah Stroganoff dem Major nach. Das Arrangement, das im Notfall mit Aksakow getroffen werden konnte, befreite ihn ja von der Sorge, die ihn peinigte. Aber wie kamen die Herren darauf, daß die Bezahlung der Spielschulden ihm Schwierigkeiten bereiten konnte, und vollends, daß man bei ihm Eifersucht auf den Polen vermutete? War denn schon ein solches Geschwätz im Gange? Dann hatte doch das Benehmen der beiden schon Anlaß dazu gegeben... Was war es doch, was Serafine Alexandrowna ihm heute nacht erwidert hatte... Er saß und sann und sann...
Der Diener meldete jetzt Dr. Makarew, den Militärarzt.
„Nun, was führt Sie her?“
„Etwas sehr Wichtiges, Herr Landrat. Es ließ mir keine Ruhe, ich mußte heute noch einmal den Toten untersuchen. Olga Elisabetowna war gerade dabei, den Körper zu waschen und für die Bestattung einzukleiden. Dabei machte sie mich auf zweierlei aufmerksam. Auf dem Rücken trug der Waffenrock merkwürdige Eindrücke und Schrammen. Und zweitens: das rechte Handgelenk zeigte deutlich einige blutunterlaufene Flecke. Wenn man sie sich ergänzt denkt, muß man beinahe zu der Annahme kommen, daß eine andere Hand, die allerdings eine ungewöhnliche Kraft besessen haben muß, das Gelenk erfaßte und heftig preßte...“
Stroganoff fuhr auf. „Wissen Sie, was Ihre Mitteilung bedeutet?“
„Ja, daß die Möglichkeit eines Mordes nicht ausgeschlossen erscheint. Ich bitte, sich selbst von meinen Angaben zu überzeugen...“
In dem großen leeren Kasernenzimmer, in dem man die Leiche Nekrassows auf einen langen Tisch niedergelegt hatte, stand Olga Elisabetowna. Sie hatte ganz allein den schweren Körper entkleidet, gewaschen und mit seinem besten Anzug bekleidet. Jetzt stand sie und nahm Abschied von dem Toten. Ab und zu stahl sich eine Träne aus ihren Augen und rollte die Wangen hinab, die der Gram einer Nacht gebleicht hatte. Mit unendlicher Zärtlichkeit strich sie dem Toten über das Gesicht. Es hatte sich noch nicht verändert. Aber es war nicht das selbstzufriedene vergnügte Gesicht, das ihm im Leben nie verlassen hatte. Ein harter, finsterer Zug lag um den Mund... Mochten auch alle sagen, daß er von eigener Hand geendet, sie glaubte nicht daran. Jetzt wußte sie es ganz bestimmt: er war von Mörderhand gefallen. Sie nahm seinen Waffenrock zur Hand und hielt ihn schräg gegen das Licht.
„Da sehen Sie“, rief sie den Eintretenden zu... „da... diese Eindrücke, wie von den Hefteln, die jeder Pole an seiner Tuschurka oder Czamarka trägt... Und da... Wo die Wolle weggescheuert ist, da haben die Schnüre sich dagegen gepreßt... Und dicke schwere Schnüre sind es gewesen, wie sie nur von den vornehmen Polen getragen werden... Noch eins will ich Ihnen sagen, Herr Landrat... Der Mörder war nicht klein; mein Mann ist schon nicht klein, sein Mörder muß aber noch einen Kopf größer gewesen sein, denn der tiefste Eindruck liegt hier auf der Schulter...“
Sie warf den Rock auf den Stuhl und streifte dem Toten den rechten Ärmel auf... „Das sind Fingermale von einem starken Druck...“ Mit ausbrechenden Tränen fuhr sie fort: „Ich will es Ihnen sagen, wie mein Mann ums Leben gekommen ist... Ich sehe es vor mir, als wenn ich dabei gewesen wäre... Der Mörder hat ihn von hinten umfaßt und an sich gepreßt... Meinem Mann gelang es noch, den Revolver zu ziehen. Da erfaßte der andere ihm das Handgelenk und bog ihm die Hand zum Kopfe... Bei dem Ringen ging der Schuß los... Vielleicht hat auch der andere ihm die Hand erfaßt und selbst abgedrückt...“
Stroganoff wechselte mit dem Arzt einen Blick des Einverständnisses. Kein Zweifel: die Frau hatte recht... Wenn man nicht Selbstmord annahm, war dies die einzige Erklärung, wie die Tat vor sich gegangen sein konnte.
Olga Elisabetowna hatte den Blickwechsel wohl gemerkt. Sie fuhr mit gesteigerter Energie fort: „Ich will nicht, daß mein Mann als Selbstmörder begraben wird... Und ich werde nicht ruhen, bis der Mörder entdeckt wird.“
„Dafür lassen Sie mich sorgen, Olga Elisabetowna“, fiel der Landrat ein. „Ich bin vollkommen überzeugt, daß Nekrassow ermordet ist. Er wird mit militärischen Ehren begraben werden... Aber wenn wir den Mörder entdecken wollen, müssen Sie vorläufig schweigen...“
„Den Mörder entdecken, Fedor Maximowitsch? Verhaften, wollen Sie sagen. Es ist nur einer, der in Verdacht kommt... Nur einer, der einen Kopf größer ist als mein Mann... Kolokotronski!“
„Der Gedanke liegt nahe, Olga Elisabetowna“, pflichtete der Landrat bei. „Es ist nur ein Aber dabei... Kolokotronski ist gestern nachmittag, als Ihr Mann noch in der Stadt herumging, über die Grenze gefahren... Daran ist nicht zu zweifeln... Er hat seinen Paß vorher visieren lassen und ist dann an der Kammer vorbeigefahren, und er ist doch nicht zu verkennen. Aber ich will Ihnen etwas sagen: Wir nehmen an, daß Kolokotronski einen Doppelgänger hat... Es ist derselbe, dem Juri Durnowo seine Kopfwunde verdankt... Jetzt, nachdem der Mord im Schloßpark stattgefunden hat, liegt die Annahme nahe, daß der Doppelgänger mit Kolokotronski in irgend welchen Beziehungen steht... Verlassen Sie sich auf mich, ich werde zugreifen... sobald es möglich ist. Aber ich bitte nochmals um Verschwiegenheit...“
Auch dem Arzt legte Stroganoff Stillschweigen auf... Dann ging er in sein Bureau und setzte sich wieder an den Schreibtisch. Jetzt hatte er, was er wollte: eine Kette von Tatsachen, die, wenn man sie richtig beleuchtete, den Polen verdächtig machte... Der Doppelgänger, das war keine Erschwerung der Erklärung, sondern das Hauptbeweismittel. Irgendwo hatte Kolokotronski einen so langen Polen aufgegabelt... Wahrscheinlich hielt er ihn im Schloß verborgen... Ihn schickte er aus, während er sich gleichzeitig wo anders zeigte... Dadurch wurde der Verdacht entkräftet...
Er hatte gerade die Feder eingetaucht, um seinen Bericht zu beginnen, als der Major eintrat.
„Verzeihen Sie, daß ich störe... Aber der Teufel ist los. Durch Zufall finde ich eben einen Kerl im Lazarett... Man hat ihn mir verheimlichen wollen...“
„Wie denn, lieber Adlersberg.“
„Ja so... Ich will zu Juri, um ihn zu besuchen. In Gedanken irre ich mich in der Tür... Da liegt ein Kerl im Bett, mit verbundenem Kopfe, besinnungslos... Ich frage den Wärter: Hieb auf den Kopf... Heute nacht... Auf Posten`... Nun fahre ich mit dem Donnerwetter drein. Laß' mir den Wachtmeister und den zweiten Mann vom Doppelposten holen. Der sagt aus: Mein Nebenmann hier muß hinterrücks überfallen sein. Sein Angreifer hat versucht, ihm das Gewehr zu entreißen, dabei den Säbel gezogen und ihn mit einem furchtbaren Hieb niedergeschlagen. Ich war gerade die dreißig Schritte nach links gegangen, als ich das Keuchen und Ringen höre... Als ich mich umwende, fällt mein Kamerad gerade um, der Angreifer läuft weg. Ich schieße... Der Kerl stürzt nach zehn Schritten... Ich schieße noch mal... Als ich hinkomme, ist der Kerl weg... Er muß die wenigen Schritte bis zum Grenzgraben gekrochen sein, drüben beginnt der Wald...“
Der Landrat hatte ziemlich uninteressiert zugehört. „Das regt Sie auf, lieber Major...? Der Überfall eines Postens durch einen Schmuggler...“
„Allerdings... Fedor Maximowitsch, denn es sind zwei merkwürdige Nebenumstände dabei. Erstens muß der Mann, der Angreifer, kein Schmuggler, nicht von der Grenze her, sondern von hier, von der Stadtseite gekommen sein und zweitens: der Posten will beschwören, daß er Kolokotronski an der Figur erkannt hat... Natürlich ist es wieder der rätselhafte Doppelgänger gewesen, denn Kolokotronski ist heute nachmittag über die Grenze gefahren.“
Wie ein Blitz fuhr es Stroganoff durch den Kopf, ob nicht der Doppelgänger über die Grenze gefahren und Kolokotronski hier geblieben war. Er begnügte sich, den Kopf zu schütteln. Der Major berichtete noch mehrere unwesentliche Einzelheiten, dann ging er. Stroganoff fing an zu arbeiten... Er schrieb mit einzelnen Worten die Vorgänge hintereinander auf ein Blatt Papier und fing an nachzudenken... Es ließ sich alles so schön verknüpfen... Nur bei einem Punkt versagte die Schlußfolgerung.
Welch ein Grund konnte vorliegen, daß Kolokotronski oder sein Doppelgänger einen harmlosen, gutmütigen Menschen, wie den Polizeimeister töten mußte... Es war sogar unerfindlich, wie Nekrassow in den Schloßpark gekommen war. Wenn er sich ein stilles ungestörtes Plätzchen zum Selbstmord hatte aussuchen wollen, dann war die Sache erklärlich... Aber sonst? Er hatte Kolokotronski sprechen wollen, hatte der Schloßverwalter ausgesagt... Sollte er nicht gesehen haben, daß Kolokotronski wegfuhr?... Und der mußte doch durch die Stadt fahren...
Und wenn er ihn hatte wegfahren sehen... War er gegangen, um zu spionieren?... Ausgeschlossen... War er vielleicht einem verdächtigen Menschen nachgeschlichen...? Bei einigem Nachdenken schoß ihm eine Blutwelle zum Kopf... Serafine Alexandrowna? Sie war mit Sonnenuntergang zurückgekommen, also gerade zu derselben Zeit, in der dort im Schloß der tödliche Schuß fiel...
Mit Mühe kämpfte er seine Erregung nieder und klingelte nach dem Diener. „Ich bitte, das Mittagessen etwas früher anrichten zu lassen... Erkundigen Sie sich, wie sich die gnädige Frau befindet... Ja, noch eins, Jean, wann ging meine Frau gestern nachmittag aus?“
Der Diener grinste verlegen. „Ich weiß nicht genau, gnädiger Herr, es wird aber höchstens vier Uhr gewesen sein.“
„Es ist gut, Jean.“
Stroganoff fühlte, daß seine Stimme bei diesem Worte heiser klang. Er räusperte sich heftig. Etwas saß ihm in der Kehle... Es war, als wenn es ihm den Hals zuschnürte. Um vier war Serafine Alexandrowna weggegangen, um sechs war sie nach Hause gekommen... Sie war in der Stadt gewesen... Das war ein Gang von höchstens einer halben Stunde...
Dreizehntes Kapitel.
Fedor Maximowitsch mochte etwa eine Stunde eifrig geschrieben haben, als eine Troika an seinem Hause vorfuhr. In der Gabel ging ein gewaltiger Ukrainer von mindestens 14 Zoll, der die beiden unruhigen Jucker zu seinen Seiten ordentlich in Schweiß gebracht hatte. Das Gefährt wurde von einem unförmlich dicken Kutscher gelenkt, der den eigentümlich geformten Zylinder und den bauschigen Taillenrock des russischen Iswostschik trug. Unwillkürlich erhob sich Stroganoff und trat aus Fenster. Hier an der Grenze kannte man die Troika nicht, es konnte also nur ein Russe sein, der da vorfuhr. Womöglich ein hoher Beamter...
Der Anblick, der sich ihm bot, war etwas komisch. Auf dem Hintersitz saß ein Mann, der seinem Kutscher an Leibesumfang nichts nachgab... Er schälte sich zunächst aus einem groben Mantel und warf sich dann mit einiger Anstrengung aus dem unbequemen Korbwagen heraus. Stroganoff trat schnell vom Fenster zurück, denn der Gast kam bereits auf das Haus zu. Einen Augenblick später meldete der Diener Herrn Nikolai Nikolajewitsch Szumin, Gutsbesitzer aus Suwalki. Der Landrat bat erfreut, näher zu treten. Es war der größte Gutsbesitzer seines Kreises, der ihn aufsuchte, und dazu der einzige Russe…
Nikolai Nikolajewitsch, der im Vorzimmer ablegte, trocknete noch schnell die gewaltige Glatze, auf der die hellen Schweißtropfen standen, strich mit beiden Händen den langen grauen Bart glatt und trat ein.
„Gottes Segen, Fedor Maximowitsch, zu Ihrer Ankunft. Wir freuen uns sehr“, begann er, während er Stroganoff die Hand schüttelte. „Es sind schlimme Zeiten... Man ist in seinem eigenen Hause nicht mehr sicher... Wir freuen uns sehr“, vollendete er den unterbrochenen Gedankengang, „daß Sie hierher gekommen sind... Es wird mir gesagt, daß Sie ein sehr tüchtiger, energischer Mann sind.“
Der Landrat verbeugte sich und lud zum Sitzen ein. „Womit darf ich aufwarten...? Ein kleines Frühstück?“
„Danke, nein... Ich habe schon gefrühstückt... Gestern abend schoß ich auf dem Anstand ein paar wilde Enten... Es ist nicht viel daran, aber sie schmecken gut. Sind Sie auch Jäger, Fedor Maximowitsch?“
Stroganoff verneinte. Der Dicke fuhr kopfschüttelnd fort: „Wunderbar, unter den Offizieren ist auch kein Jäger... Schade... Ein schönes Vergnügen und es erhält den Menschen gesund... Ja... Wenn Sie ein gutes Glas Ungarwein im Hause haben…
Der Ungarwein wurde gebracht. Nikolai Nikolajewitsch fand ihn trinkbar. Dabei sprach er, obgleich seine Fettleibigkeit ihm augenscheinlich das Sprechen erschwerte, unaufhörlich weiter. Stroganoff mußte sich darauf beschränken, ab und zu ein zustimmendes Wort einzuwerfen... Er wartete vergeblich darauf, daß sein Gast endlich auf den Zweck seines Besuches kommen würde, oder war es nur ein freundschaftlicher Besuch? Dann konnte die Sache langweilig werden...
Und gerade heute brauchte er jede Minute Zeit... Er wollte noch mit dem Schloßverwalter ein Protokoll aufnehmen, den Bericht abschließen und sich zur Reise rüsten... Bereits um 5 Uhr nachmittags mußte er zur Bahn fahren... Es ging nicht anders, er mußte, selbst auf die Gefahr, unhöflich zu erscheinen, dem Redefluß des Gastes ein Ende machen. Das Mittel, mehrmals nach der Uhr zu sehen, half nichts. Schließlich erhob er sich.
„Verzeihen Sie, Nikolai Nikolajewitsch, tausendmal... Es tut mir unendlich leid. Ich habe noch ein Protokoll aufzunehmen, haben Sie vielleicht ein Anliegen?“
Der Gutsbesitzer nickte. Es war, als wenn in eine Sprechmaschine eine neue Walze eingelegt wird. Er erzählte, daß gestern eine ganze Anzahl Nachbarn bei ihm gewesen seien... Man hatte es für nötig, um Militär zu bitten... Auf jeden Gutshof müßten mindestens 15-20 Dragoner gelegt werden. Da habe er gesagt: „Aber nur durch den Herrn Landrat...“
Stroganoff fiel ein: „Ich fahre heute noch nach Warschau zum General-Gouverneur und werde mir erlauben, den Vorschlag zu machen... Es ist aber sehr wenig wahrscheinlich, daß man meiner Bitte entspricht...“
Nikolai Nikolajewitsch nickte und holte aus der Brusttasche ein dickes Kuvert hervor. „Das haben wir uns auch gedacht... Es wird nötig sein, hier und dort ein wenig nachzuhelfen. Hier, Fedor Maximowitsch, es sind 10000 Rubel... Sie werden ja sehen, wo Sie nachhelfen müssen... Es könnte ja auch einer von uns fahren... Aber wir wissen, daß Sie Einfluß haben... Verwenden Sie das Geld ganz nach Belieben...“
Stroganoff mußte sich zusammennehmen, um ruhig zu bleiben, als der Dicke ihm das Kuvert zureichte. Er fühlte, daß seine Hand zitterte, die er danach ausstreckte...
Noch eine Stunde hatte Nikolai Nikolajewitsch geplaudert und noch eine Flasche Ungarwein getrunken, ehe er sich verabschiedet hatte. Stroganoff begleitete ihn bis zum Wagen und versprach nochmals, all seinen Einfluß aufzubieten... Als er sich an seinen Schreibtisch setzte, mußte er auflachen. Die geeignete Stelle, das Geld zu verwenden, war bereits gefunden...
Er schloß das Geld ein und begann zu überlegen. Wenn er dem Major nicht gesagt hatte, daß die Beschaffung des Geldes ihm Schwierigkeiten mache, könnte er die Spielschuld sofort begleichen... Das würde einen guten Eindruck machen... Irgend ein Vorwand ließ sich schon finden... Wenn er sagte, daß seine Frau das Geld zu liegen hatte...
Seine Frau! Er mochte am liebsten gar nicht daran denken. Sie zur Rede stellen, sie zu fragen, wo sie die zwei Stunden geweilt... Das hatte keinen Zweck... Sie würde wahrscheinlich erklären, das ginge ihn nichts an... Oder ihm womöglich schonungslos ins Gesicht sagen: „Ich bin bei Kolokotronski gewesen...“
Der Gedanke regte ihn so auf, daß er mit der geballten Faust auf den Schreibtisch schlug... Das war ja das Beste, Serafine Alexandrowna so zu reizen, daß sie ihm mit der Wahrheit ins Gesicht sprang... Und sie würde es tun, bloß um ihn zu kränken, zu ärgern... Und war es denn so unwahrscheinlich, daß Kolokotronski mit Serafine Alexandrowna ein Stelldichein gehabt... Wenn er einen Doppelgänger hatte, konnte nicht der über die Grenze gefahren sein... Und Kolokotronski war des Abends bei dem Versuch, über die Grenze zu kommen, angeschossen...
Er stand auf und ging über den Korridor nach seiner Wohnung.
Serafine Alexandrowna war nicht zu Hause, sie war zu Olga Elisabetowna gegangen. Sie hatte hinterlassen, man möge nicht mit dem Mittag auf sie warten... Stroganoff setzte sich an seinen Schreibtisch und versuchte an dem Bericht weiter zu arbeiten... Unmöglich... Die Erregung ließ ihn: keine Ruhe. Er warf die Feder fort und legte sich nach hinten über. Was war jetzt zu tun?... Mit einem plötzlichen Entschluß klingelte er nach dem Diener: „Meinen Wagen zu 4 Uhr nachmittag, der Kutscher soll für zwei Tage Futter mitnehmen.“
Ja, das war das richtige. Er fuhr über die Grenze hinter Kolokotronski hinterdrein. Entweder er fand ihn in Johannisburg gesund und vergnügt, dann stürzten alle seine Kombinationen wie ein Kartenhaus zusammen. Nein, nicht ganz... Er konnte sich ja, ohne verwundet zu sein, hingeworfen haben, als der Posten nach ihm schoß... Oder er lag irgendwo verwundet... Vielleicht schwer verwundet... Dann fügte sich dem Beweis das Schlußstück ein...
Stroganoff beschloß, zu Mittag in das Offizier-Kasino zu gehen. Auf dem Wege dorthin konnte er im Lazarett vorsprechen und nachsehen, ob der verwundete Straschnik etwa vernehmungsfähig war. Das war nicht der Fall. Im Vorbeigehen trat Fedor Maximowitsch bei Leutnant Durnowo ein. Juri hatte trotz des Widerspruchs des Arztes das Bett verlassen. Er wollte sich, wenn die Besserung so weiter fortschritt, gegen Abend nach seiner Wohnung bringen lassen. Dem Eintretenden streckte er mit sichtlicher Freude die Hand entgegen.
„Ich wollte gerade zu Ihnen schicken und sie um Ihren Besuch bitten.“
„Was haben Sie denn auf dem Herzen? Hat sich in Ihrem Gedächtnis eine wichtige Erinnerung an die Unglücksnacht gefunden?“
„Das nicht, Herr Landrat, obwohl sich meine Gedanken nur um den rätselhaften Polen drehen, der nicht Kolokotronski gewesen sein soll. Nein, ich habe eine Bitte an Sie...“
„Sehr gern. Womit kann ich Ihnen helfen?“
„Herr Landrat, ich habe gehört, daß Sie heute Nacht stark angeschossen worden sind...“
„Es tut Ihnen wohl leid, daß Sie nicht dabei gewesen sind...“
„Das nicht... Ich fürchte nur, es werden hämische Glossen gemacht, wenn Sie die Spielschuld nicht in der kürzesten Zeit tilgen...“
Stroganoff machte eine verwunderte Bewegung und sah den Leutnant fragend an.
Juri fuhr mit leichter Verlegenheit fort: „Verzeihen Sie, daß ich die Sache überhaupt berühre...“
Der Landrat runzelte die Stirn. „Allerdings, wenn Sie mir nur einen guten Rat geben wollen...“
„Nein, nein, Herr Landrat“, fiel Juri hastig ein. „Ich weiß, daß es Ihnen Schwierigkeiten macht, das Geld aufzutreiben... Der Major hat es mir gesagt... Würden Sie mir erlauben, Ihnen das Geld zur Verfügung zu stellen?“
Fedor Maximowitsch hätte alles andere eher erwartet als dieses Anerbieten... Als Juri noch sprach, schoß ihm schon der Gedanke durch den Kopf, was den jungen Mann zu diesem Anerbieten bewogen haben könnte. Er konnte sich keinen Vers darauf machen. „Ich danke Ihnen sehr, mein lieber Juri, für das freundliche Anerbieten... Ich bin aber eben auf dem Wege zum Kasino, um die kleine Summe zu regulieren... Der Herr Major war wohl etwas zu sehr um mich oder um das Geld besorgt, sonst hätte er merken müssen, daß ich ihn ein wenig zum Besten hatte... Übrigens, was treibt Sie zu diesem Vorschlag?“
Der Leutnant wurde rot bis über die Ohren. „Ich wollte es verhindern, daß Sie womöglich die Gefälligkeit des Herrn Kolokotronski in Anspruch nehmen mußten. Sie wissen, wie ich über ihn denke.“
Stroganoff fand die Erklärung ganz plausibel, dankte nochmals für das Anerbieten und ging. Auf der Treppe schüttelte er einige Male den Kopf. Dabei lachte er laut auf... Ein Verehrer der Frau bietet aus Eifersucht gegen den Nebenbuhler dem Manne seine Hilfe an...
Die Tischgesellschaft im Kasino war über den Besuch des Landrats sehr erfreut. Auf seinen Vorschlag wurde der Major geholt. Stroganoff hatte sich im Billardzimmer an den kleinen Tisch gesetzt. „Ich bitte um die Scheine, meine Herren. So... Danke für gütige Strafe, und, um die Herren für den nächsten Kampf milder zu stimmen, bitte ich um die Erlaubnis, eine große Bowle stiften zu dürfen.“
Es wäre ein sehr vergnügtes Mittagsmahl gewesen, wenn nicht die leidige Frage nach der Todesart des Polizeimeisters die ganze Unterhaltung beherrscht hätte. Es war auf unerklärliche Art durchgesickert, daß geheimnisvolle Nebenumstände einen Selbstmord beinahe ausgeschlossen erscheinen ließen. Stroganoff sah sich veranlaßt, die näheren Umstände bekannt zu geben, allerdings mit der Bitte um strengste Diskretion. Es erschien ihm sonderbar, daß niemand einen Verdacht gegen Kolokotronski aussprach. Dagegen wurde die Frage aufgeworfen, ob der Erdboden an dem Tatorte oder in der Umgebung sorgfältig abgesucht worden sei... Die Frage mußte verneint werden. Er forderte deshalb nach dem Essen den Major auf, ihn nach dem Park zu begleiten.
Unterwegs ließ Adlersberg die Bemerkung fallen, Fedor Maximowitsch habe ihn vormittags bei der Frage nach der Geldbeschaffung etwas aufsitzen lassen. Stroganoff nickte.. „Ich bin Ihnen trotzdem dankbar, aber es war nicht nötig... Serafine Alexandrowna hatte das Geld liegen... Ich hatte im Augenblick nicht daran gedacht…
Ohne sich im Schloß anzumelden, gingen sie durch die kleine Seitenpforte in den Park... Das, was sie unterwegs als wahrscheinlich besprochen hatten, war eingetreten. Der Boden um den Tatort war stark von den Männern zertreten, die die Leiche weggeschafft hatten. Nun war höchstens noch nachzuforschen, ob sich nicht anderswo Anzeichen finden ließen, daß ein Kampf stattgefunden hatte. Freilich war auch diese Möglichkeit eigentlich ausgeschlossen, denn wenn wirklich ein Verbrechen vorlag, war genügend Zeit verflossen, um die Spuren verwischen zu können.
Der Landrat ging nach der einen Seite, der Major wollte das Gebüsch durchsuchen. Er hatte kaum einen Schritt getan, als sein Blick auf einen kleinen hellen Gegenstand fiel, der von dem zertretenen Laube beinahe ganz verdeckt wurde... Er dachte zuerst, es sei das Mundstück einer weggeworfenen Papiros. Auch ein so geringfügiger Gegenstand konnte von Bedeutung sein... Er bückte sich danach... Es war Metall... Ein Heftel, wie ihn die Polen an ihren Schnürröcken trugen. Mit schnellem Griff barg er den Gegenstand in seiner Hand und sah sich um. Der Landrat hatte augenscheinlich nicht gemerkt, daß er sich gebückt hatte.
Erst als er sich durch Gebüsch genügend gedeckt glaubte, betrachtete er den Heftel genauer. Entschieden Silber und dazu noch kunstvoll ziseliert... Kein Zweifel, wem das Beweisstück gehört haben mußte. Wenn man jetzt ins Schloß ging und die Garderobe Kolokotronskis einer Musterung unterzog... Wenn Stroganoff den Fund getan hätte! Er zog seine Geldtasche und barg den kleinen Gegenstand darin. Der war mehr wert als alles Gold, das schon jemals in der Tasche gelegen hatte...
Um der Form zu genügen, ging er in dem Gebüsch hin und her. Da wurde seine Aufmerksamkeit aufs neue gefesselt... Zwei Spuren waren es, die dicht nebeneinander hinliefen. In dem feuchten, halb vermoderten Laube standen tiefe Eindrücke. Auch ohne großen Spürsinn konnte man sehen, daß die Spuren von schneller Bewegung herrühren mußten. Die Schritte waren außergewöhnlich weit, die Fußspitzen waren tief in den Boden eingedrückt... Kein Zweifel: die beiden Personen, von denen die Spuren herrührten, waren nicht gegangen, sondern gelaufen, hatten stellenweise große Sätze gemacht...
Einen Augenblick überlegte Adlersberg, ob er Stroganoff heranrufen und ihm die Spuren zeigen sollte. Es blieb sich im Grunde ja gleich, ob noch ein den Verdacht bestärkendes Moment, das weiter keine Aufklärung gab, gefunden wurde. Aber wozu? Stroganoff war womöglich imstande, sich dadurch zu einer unbedachten Handlung hinreißen zu lassen. Und die Verwertung des gefundenen Heftels konnte darunter leiden...
Er ging langsam auf den beiden Spuren hin und her und drückte die scharfen Eindrücke zu... Jetzt waren aus den Spuren keine Schlüsse mehr zu ziehen... Am Tatort untersuchte er den Boden noch einmal ganz genau und scharrte das Laub mit den Füßen hin und her. Es war nichts mehr zu finden. Der Landrat war zurückgekehrt, er hatte nichts Verdächtiges bemerkt.
Vierzehntes Kapitel.
Gleich nach der Rückkehr fuhr Stroganoff weg. Serafine Alexandrowna war noch nicht zu Hause. Er ließ ihr nur sagen, daß er über Nacht fortbliebe und erst am nächsten Tage gegen Abend wiederkehren würde. Auch Herr Jean, der sehr geschickt eine Frage anbrachte, blieb über das Reiseziel im Dunkeln. Auf der Kammer wurde er natürlich von dem Direktor und Marmeladow angehalten. Mit verständnisvollem Schmunzeln nahmen sie seine Mitteilung entgegen, daß er in „Amtsgeschäften“ nach Preußen fahre und wünschten viel Vergnügen. Stroganoff machte gute Miene zum bösen Spiel und fuhr über die Grenze.
Sein Reiseziel war die kleine preußische Kreisstadt Johannisburg. Er hatte Zivil angezogen, um Inkognito zu bleiben, sonst hätte er dem preußischen Amtsbruder höflicher Weise seinen Antrittsbesuch machen müssen.
Von der Grenze führte eine ebene, gerade Chaussee in gerader Linie sieben Kilometer weit zur Stadt. Etwa auf der Mitte des Wegs lag ein Chausseehaus. Während er das Hebegeld bezahlte, fragte Stroganoff, ob Herr Kolokotronski aus Kolno gestern kurz nach Mittag durchgefahren sei.
Der Einnehmer, ein alter Mann, erklärte, er sitze den ganzen Tag am Fenster, und er kenne Herrn Kolokotronski, aber gestern sei er nicht durchgefahren, auch nicht sein Fuhrwerk. Auf der Weiterfahrt zog der Landrat die preußische Kreiskarte hervor, die er mit sich führte, und sah sie sich an. Auf der Strecke von der Grenze bis zum Chausseehaus gingen zwei Wege ab. Der eine führte zu einem unbedeutenden kleinen Dorfe, der andere in die Königliche Forst... Nach der Karte zu urteilen, schien es nur ein Holzabfuhrweg zu sein. Es war also ganz unerklärlich, wenn der alte Mann die Wahrheit sagte, daß Kolokotronski nicht durchgekommen war...
In der Stadt fahr Stroganoff an dem „Hotel de Russie“ vor, an dessen Front große grellfarbige Plakate verkündeten, daß die internationale Kabarett- und Artistengesellschaft Gebrüder Fiorentini dort ihr Heim aufgeschlagen hatte.
Stroganoff lächelte, als er den Namen las... Die Gesellschaft kannte er genau! Übrigens nicht unangenehm, Da war eine kleine fesche Ungarin, natürlich eine Zigeunerin, dabei... Ein kleiner Teufel mit einem Riesendurst, der nur durch Sekt und dann auch nur unvollkommen gestillt werden konnte...
Der Oberkellner, der dem Fuhrwerk ansah, daß es aus Rußland stammte, begrüßte den Gast mit einer unglaublichen Rückenverrenkung, die darauf hindeutete, daß er alle russischen Gäste sehr hoch einzuschätzen pflegte. Nach den ersten Worten fragte Stroganoff, ob sein Freund Kolokotronski da wäre. Der Befragte verbeugte sich tief, schüttelte aber während der ganzen Prozedur energisch den Kopf.
„Herr Kolokotronski ist nicht in Johannisburg. Er kehrt sonst immer bei uns ein... Ich würde es auch wissen, wenn er wo anders eingekehrt wäre. Er war auch gestern nicht zur Vorstellung, was er doch nicht versäumen würde.“
Die Auskunft war erschöpfend. Es war also anzunehmen, daß gestern nicht Kolokotronski, sondern sein Doppelgänger über die Grenze gefahren und vor dem Chausseehaus nach rechts oder links abgebogen war. Wo war dann aber Kolokotronski geblieben? War es so undenkbar, daß er irgendwo verwundet lag...? Natürlich in irgend einem guten Versteck... Vielleicht ließ sich von den beiden Ärzten der Stadt erfahren, ob sie einen Verwundeten heute behandelt hatten.
Herr Kulawy, der Oberkellner, zeigte vieles Verständnis für diskrete Angelegenheiten, als Stroganoff sich von ihm einen Hundertrubelschein wechseln ließ und mit einem Zehnmarkstück die gegenseitigen Beziehungen einleitete. Es war kein Gast im Hotel, im Notfall konnte auch der Pikkolo einen Schnitt Bier einzapfen. Er nahm also sofort seinen Hut und ging auf Kundschaft. Nach zehn Minuten kam er zurück. Die beiden Ärzte waren heute nicht weggefahren, sie hatten auch in der Stadt keinen Verwundeten behandelt.
Der erste Zweck der Reise schien also nicht erreicht zu sein, dagegen ergab die Frage, ob im Kreise ein Mann wohne, der Herrn Kolokotronski an Größe gleichkäme, ihm womöglich ähnlich sei, ein besseres Resultat. Herr Kulawy versicherte eifrig, an der Schleuse in Guszianka sei ein Mann angestellt, der dieser Beschreibung genau entspreche... Es sei allerdings ein starker Umweg, wenn man zur Grenze wolle...
Stroganoff dankte für die Auskunft und verlangte ein Zimmer. Er wollte ein paar Stunden schlafen. Ob er die Vorstellung versäumte, war ihm gleichgültig... Er war rechtschaffen müde und abgespannt. Die scharfe Sitzung der vergangenen Nacht, die vielfachen Aufregungen während des Tages..., wenn er mit der Künstlergesellschaft sich nach der Vorstellung ein paar Stunden amüsieren wollte, mußte er jetzt die versäumte Nachtruhe einholen...
Als er gegen zehn Uhr abends nach einem gesunden Schlaf herunterkam, war das Hotel gefüllt. Aber Herr Kulawy wußte, was er einem freigebigen Gast schuldig war. Er hatte ein bequemes Ecksofa mit einem runden Tisch davor reserviert. Stroganoff ließ sich die Speisekarte geben. Während er auswählte, hörte er zwei Förster am Nebentisch erzählen, daß ein Grenzkontrolleur gestern abend einen verwundeten Mann im Walde dicht an der Grenze gefunden habe, der sich mühsam fortschleppte. Wahrscheinlich ein russischer, von den Straschniks angeschossener Schmuggler, denn er habe kurz zuvor zwei Schüsse fallen hören.
Der Landrat horchte auf... Sollte ihn hier der Zufall auf die Spur des Gesuchten führen...? Am Nebentisch wurde weiter erzählt, der Verwundete, seiner Kleidung nach zu urteilen ein Pole, hätte den Steueraufseher gebeten, ihm ein Fuhrwerk aus der nächsten Ortschaft zu schicken, er werde es gut bezahlen... Aber als der Aufseher nach einer guten halben Stunde selbst mit dem Fuhrwerk zurückkehrte, war der Pole verschwunden.
Der Landrat stand auf und trat zu den Grünröcken.
„Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische. Mich würde es interessieren, den Aufenthalt des verwundeten Polen zu erfahren... Ich würde eine hohe Belohnung dafür aussetzen...“
Der ältere der beiden Grünröcke musterte den Fremden mit einem Blick von oben bis unten. „Wer sind Sie, was haben Sie sich in unser Gespräch zu mischen...?“
Stroganoff wurde ärgerlich. „Ich bin der Landrat von Kolno.“
„Und wenn Sie der Kaiser von Kolno wären! Wir verbitten uns jede Einmischung in unser Privatgespräch.“
Der Landrat sah ein, daß er dem alten Graubart auf andere Weise kommen mußte. „Entschuldigen Sie nochmals, ich hätte es nie getan, wenn es sich nicht um einen Verbrecher handelte, dessen Ergreifen von Wichtigkeit ist.“
„Was Sie dort drüben Verbrecher nennen, sind meistens Wohltäter der Menschheit“, erwiderte der Alte grob. „Und ich glaube, Sie werden hier wenig Leute finden, die sich für Geld dazu hergeben, der russischen Polizei Dienste zu leisten.“
Jetzt brauste Stroganoff auf... „Ich verbitte mir derartige Belehrungen... Im übrigen wird es Ihnen bekannt sein, daß ich Sie durch Ihre vorgesetzte Behörde um Auskunft ersuchen kann...“
„Tun Sie sich keinen Zwang an, Herr Landrat...“
Durch den Wortwechsel waren die andern Gäste des Hotels aufmerksam geworden, und Stroganoff konnte im Laufe der nächsten Viertelstunde manche Bemerkung hören, aus der er entnehmen mußte, daß die russischen Behörden sich gerade keiner besonderen Hochachtung bei der preußischen Grenzbevölkerung erfreuten.
Die Nachricht, die er auf so eigenartige Weise erfahren, tröstete ihn einigermaßen. Es würde ihm morgen nicht schwer werden, Namen und Wohnort des Grenzaufsehers festzustellen. Dann konnte er wenigstens erfahren, ob der Verwundete Kolokotronski gewesen... Ein Mann seiner Größe mußte doch jedem auffallen... Vielleicht war es auch möglich, den Aufenthaltsort des Verwundeten auszukundschaften.
...Es wurde noch ein sehr vergnügter Abend. Die soliden Gäste hatten sich verzogen, dafür waren andere erschienen, die mit den weiblichen Mitgliedern der Künstlergesellschaft anbändeln wollten... Sie hatten heute alle das Nachsehen, denn die ganze Gesellschaft hatte sich um Stroganoff geschart, dessen Freigebigkeit sie von früher her kannten.
Herr Kulawy hatte sofort die Situation erkannt. Den Künstlern reichte er die Speisekarte, dem Herrn Baron, wie er Stroganoff titulierte, die Weinkarte. Ehrfurchtsvoll vertraulich machte er auf einige empfehlenswerte Marken aufmerksam... Auch der Sekt sei gut... Zwar in Deutschland auf Flaschen gefüllt...
Er hatte sich nicht verrechnet... Die Künstler schmausten und tranken nach Herzenslust... Die paar Rubel, die das kostete, waren nicht der Rede wert... Auch die kleine Zigeunerin hatte die Situation erfaßt... Sie hatte schon in die ersten Begrüßungen beim Wiedersehen eine gewisse Zärtlichkeit gelegt... Jetzt hatte sie Stroganoff ganz mit Beschlag belegt..., schmiegte sich an ihn und flüsterte ihm zärtliche Worte ins Ohr... Mein Gott! Bei einer Gage, die den Luxus eines warmen Mittagbrotes von selbst verbot, mußte ein Verehrer, der warmes Abendessen und Champagner spendierte, schon sehr liebevoll behandelt werden... Da braucht man sich nicht zu genieren, seiner Dankbarkeit etwas Nachdruck zu geben...
Am andern Morgen zahlte Stroganoff die ziemlich reichliche Rechnung, ohne ein Wort zu verlieren, ja er fügte noch ein fürstliches Trinkgeld bei, denn Herr Kulawy hatte sich bei dem Aufbruch der Gesellschaft sehr diskret benommen und heute morgen den Steueraufseher ausfindig gemacht, der vorgestern abend den verwundeten Polen aufgefunden...
Zunächst fuhr der Landrat zur Schleuse nach Guszianka... Wenn es ihm gelang den Doppelgänger Kolokotronskis ausfindig zu machen...! Er wollte ihn nicht nur sehen, sondern auch sprechen. Das konnte doch kein gewöhnlicher Mensch sein, der mit der Aufgabe betraut wurde, einen gefährlichen Schmugglerzug zu leiten...
Es war kurz vor Mittag, als er dort anlangte. Ein idyllisch gelegener Erdenfleck… Ringsum hoher Wald... Auf der einen Seite uralte Eichen, auf der anderen dunkle Kiefern und Fichten... Nach Norden dehnte sich, soweit das Auge reichte, der breite Spiegel des Beldahnsees... Von der Schleuse nach Osten zog sich ein schmaler See durch den Wald... Hier und dort sah man den Spiegel aufleuchten...
Schon im Hotel hatte Stroganoff die Karte studiert... Wenn hier an der Schleuse ein vertrauter Mann saß, dann gab es keinen bequemeren Weg zum Transport von Schmugglerwaren als die Seekette, die in großem Bogen bis dicht an die Grenze reichte... Und dazu der Wald, der sich meilenweit längst der Grenze hinzog...
Eine mächtige Dogge lag vor der Tür des Häuschens, in dem der Schleusenwärter wohnen sollte. Es war geratener, nicht abzusteigen, sondern zu rufen... Nach einiger Zeit erschien von der Hinterseite des Hauses her ein Mann... Groß und kräftig in den Gliedern... Aber von einer Ähnlichkeit mit Kolokotronski, die eine Verwechslung möglich machen konnte, keine Spur. Mürrisch fragte er in dem breiten Dialekt der Masuren, was der Herr wünsche.
Stroganoff antwortete mit der Gegenfrage, ob er der Schleusenwärter sei.
Der Kerl grinste. „Ja... ob der Herr mit Pferd und Wagen geschleust sein wolle... Er möchte nur hineinfahren... Es sei tief genug, daß die Pferde schwimmen könnten...“
Ärgerlich befahl der Landrat dem Kutscher, zu wenden und zurückzufahren. Der Weg war vergeblich gemacht... Kopfschüttelnd sah der Masur dem Wagen nach. Das war doch sicherlich ein Russ`! An der Aufschirrung der Pferde und der Britschka konnte man es erkennen. Was der eigentlich hier wollte... Na, der alte Wnuk würde sich freuen, wenn er hörte, wie der Russ' abgefertigt worden war...
Hinter dem Chausseehause ließ Stroganoff abbiegen. Er wollte den Steueraufseher Kroll aufsuchen, der in dem kleinen Dorfe Turowken wohnte. Auch hier war das Resultat nicht zufriedenstellend. Der Aufseher, ein stiller höflicher Mann, bestätigte, daß er vorgestern abend einen Mann an der Grenze getroffen, der augenscheinlich infolge einer Verwundung sich mühsam vorwärts schleppte. Als aber Stroganoff nach der Größe und dem Aussehen des Mannes forschte, erhielt er eine ausweichende Antwort... Schließlich versuchte er Geld für genaue Auskunft zu bieten.
Die Folge war eine höfliche aber deutliche Zurückweisung... Ärgerlich fuhr er nach Hause... Im Grunde genommen hatte die Fahrt außer dem lyrischen Intermezzo mit der Zigeunerin keinen Erfolg gehabt...
Die anzüglichen Redensarten, mit denen sich Apuschkin und Marmeladow auf der Kammer nach dem Ausfall seiner „Amtsgeschäfte“ erkundigt hatten, waren auch nicht dazu angetan, seine Stimmung zu verbessern. Wie kamen die beiden dazu, ihm so etwas zuzutrauen? Sie wußten doch, daß er mit einer jungen schönen Frau verheiratet war. Sollte man auch in diesem Punkte schon klar sehen...?
Er befand sich gerade in der richtigen Stimmung zu einer gründlichen Aussprache mit Serafine Alexandrowna... Der Diener, der ihn empfing, bestätigte, daß die gnädige Frau zu Hause sei...
Serafine Alexandrowna empfing ihn, wie er es nicht anders erwartet hatte, kühl abweisend... Sie fragte, ob er etwas zu essen wünsche und wollte sich, als er verneinte, zurückziehen.
„Ich habe etwas mit Dir zu besprechen.“
„Was könnte das sein?“
„Einen Augenblick Geduld, meine Teuerste... Zuerst bitte ich mir die Frage zu beantworten, wo Du vorgestern von vier bis sechs Uhr nachmittags gewesen bist.“
Serafine Alexandrowna maß ihn mit einem kühlen Blick. „Wie kommen Sie dazu, mich danach zu fragen, Fedor Maximowitsch?“
Er zuckte die Achseln. „Persönlich würde mich das sehr gleichgültig lassen... Es handelt sich aber um ein Verbrechen, bei dem Du vielleicht Zeuge gewesen bist...“
„Bedaure lebhaft...“
„Ich muß Dich nochmals darauf aufmerksam machen, daß Du als Zeuge angegeben und eidlich vernommen werden wirst, wer Dich durch den Park begleitet hat, fünf Minuten vorher, ehe Nekrassow erschossen wurde.“
Etwas unsicher kam die Antwort. „Das sieht Ihnen ähnlich, Fedor Maximowitsch.“
„Auf persönliche Auseinandersetzungen kann ich mich in diesem Augenblick nicht einlassen... Deine Antwort enthält alles, was ich wollte… Ein Leugnen wäre in diesem Falle auch aussichtslos... Es sind Zeugen da, die Dich sowohl auf dem Hinweg wie auf dem Rückweg gesehen haben...“
Serafine Alexandrowna hatte ihren Mann, während er sprach, scharf beobachtet... Jetzt zuckte sie leicht die Achseln. „Nun also... Weshalb fragen Sie mich, Fedor Maximowitsch, wenn Sie schon Zeugen dafür haben...?“
„Allerdings, es war eigentlich überflüssig... Ich wollte bloß sehen, ob Du den Mut haben wirst, es einzugestehen.“
„Dazu würde kein Mut gehören... Im übrigen bin ich bereit alles auszusagen, was ich weiß... zum Beispiel, daß wir aus einem triftigen Grund übereingekommen sind, uns gegenseitig freizugeben... Der Anlaß würde sicherlich ganz allgemein interessieren, sowohl die hiesige Gesellschaft, wie Deine Vorgesetzten... Wann wünschen Sie, daß ich mich vernehmen lasse...?“
Da war schon wieder dieser höhnische Ton, der ihn so wahnsinnig erregte, daß er nur mit Mühe einen Wutausbruch unterdrückte. Aber jetzt hatte er auch einen Pfeil abzuschießen... „Ich habe es schon gestern gewußt... Deshalb wunderte ich mich gar nicht, daß Sie solange bei Olga Elisabetowna blieben, um sie zu trösten... Der armen Frau hat Ihr Spaziergang durch den Park den Mann geraubt... Er mußte sterben, weil er ein Liebespaar belauschte...“
„Das ist nicht wahr“, fuhr Serafine Alexandrowna auf... Aber sie fühlte in demselben Augenblick, daß diese Heftigkeit als ein Ausdruck des Schuldbewußtseins aufgefaßt werden konnte... und sofort fügte sie in kaltem Tone hinzu: „Zwingen Sie mich nicht zum Äußersten, Fedor Maximowitsch.“
„Und das wäre...?“
„Daß ich zu meinen Verwandten gehe und ihnen alles offenbare...“
„Vielleicht willst Du noch vorher schnell Herrn Kolokotronski besuchen... Er liegt jenseits der Grenze schwer verwundet... Ein Straschnik hat ihn angeschossen, als er abends über die Grenze wollte... Ich mußte deshalb gestern so plötzlich verreisen...“
Wenn Stroganoff geglaubt hatte, daß diese Mitteilung eine wahrnehmbare Wirkung ausüben würde, so hatte er sich geirrt... Sie fühlte zwar alles in sich wanken und merkwürdige Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf, aber sie verzog keine Miene.
„Fedor Maximowitsch, ich begreife Ihre Gefühle in diesem Fall vollkommen... Aber wäre es nicht in jedem Falle bequemer und praktischer, sich an die unbestreitbare Tatsache zu halten, daß Kolokotronski vorgestern nachmittag in seinem Wagen über die Grenze gefahren ist?“
„Das ist keine Tatsache, sondern ein Irrtum. Ich weiß, daß Herr Kolokotronski nicht über die Grenze gefahren ist..., daß er vorgestern nachmittag mit Serafine Alexandrowna Stroganoff... sagen wir... im Park spazieren ging... Daß er zu derselben Zeit oder etwas später mit dem Polizeimeister Nekrassow zusammenstieß, der tot aufgefunden wurde...“
„Erzählen Sie mir doch nicht die Märchen der Königin von Inowrazlaw! Ich habe es satt, mich von Ihnen in dieser Weise behandeln zu lassen. Ich fahre noch heute abend... Kann ich Ihr Fuhrwerk bekommen oder muß ich mir ein Fuhrwerk in der Stadt mieten?“
„Serafine Alexandrowna, wenn Sie das tun...“
„Dann? Beruhigen Sie sich, Fedor Maximowitsch. Die Gesellschaft wird sich nicht weiter darüber wundern, wenn Sie morgen oder vielleicht noch heute abend im Kasino erzählen, daß ich zu meinen Verwandten gefahren bin... Sie können ja sagen: zu Besuch, und man wird so höflich ein, zu tun, als ob man Ihnen glaubte... Weil man hier schon ganz genau weiß, wie wir miteinander stehen. Sie haben ja die Angewohnheit, auch die intimsten Dinge mit etwas starker Stimme zu besprechen...“
Stroganoff hatte bei diesen Worten schnell überlegt, was er tun sollte... Wenn seine Frau von ihm wegging, wenn es zum Bruch zwischen ihnen kam, dann zog er den kürzeren... Aber er konnte seine Rache befriedigen... Er konnte sie wirklich, wie er gedroht hatte, vernehmen lassen... Dann war es natürlich mit seiner Karriere vorbei... Dann wurde er in ein anderes kleines Grenznest gesteckt oder gar in das große, heilige Rußland, da, wo es am tiefsten ist... Und bei dem Gedanken an die Möglichkeit einer Trennung wallte wieder das dumme sehnsüchtige Gefühl in ihm auf...
„Serafine Alexandrowna, verzeihen Sie... Ich bin jetzt stets so erregt, weil ich eifersüchtig bin...“
„Um so mehr habe ich Grund, nicht hier zu bleiben...“
„Nein, ich gebe Ihnen mein Wort... Ich will nicht mehr versuchen, an unserem Vertrag zu rütteln... Ich schwöre Ihnen, daß ich Wort halten werde... Bedenken Sie, daß es sich um meine Zukunft handelt.“
Serafine Alexandrowna zuckte die Achseln und ging an ihm vorüber zur Tür hinaus... Er wußte ganz bestimmt, daß sie nichts gesprochen hatte und doch war's ihm, als hätte er wieder das Wort „Schwächling“ vernommen...
Fünfzehntes Kapitel.
Kolokotronski lag verwundet in der Höhle. Er konnte von Glück sagen, daß er bei dem Wagstück so leichten Kaufs davon gekommen war. Der Posten mußte ein ganz dummer Rekrut gewesen sein, daß er auf die ihm zugeflüsterten Worte: „Hier hast Du zwei Rubel, laß mich durchgehen“, nicht die Hand ausstreckte, um das Geld in Empfang zu nehmen, sondern das Gewehr hob. Und ein Glück war es, daß Kolokotronski dem Überraschten nicht nur das Gewehr erfassen, sondern auch den Säbel entreißen konnte. Auch der Schuß, der ihn niederstreckte, hätte leicht größeres Unheil anrichten können! Die Kugel war durch das dicke Fleisch des Oberschenkels gegangen, sie hätte ebensogut den Knochen zersplittern und eine Arterie zerreißen können.
Mit der größten Widerstandskraft hatte er sich aufgerafft und über die Grenze geschleppt, wo ihn der Wald schützte, denn auf freiem Felde hätten die Herren Straschniks den kleinen Graben, der ihrer Macht eine Grenze setzte, nicht respektiert. Ein Glück war es auch, daß sein Wagen mit dem Grafen Iswolski zur Stelle war, ehe der hilfsbereite preußische Steueraufseher mit Fuhrwerk zurückkehrte.
So war er fürs erste der Gefahr, entdeckt zu werden, entgangen. Dem Posten konnte nachher, wenn er mit dem Leben davon kam, der Mund mit einem Stück Geld gestopft werden. Aber unangenehm war es doch, daß er, zur Untätigkeit verurteilt, hier so liegen mußte. Der alte Graf pflegte ihn ja mit rührender Sorgfalt. Er hatte ihm ganz kunstgerecht die Wunde ausgewaschen und verbunden, aber es war doch nur ein Notbehelf. Und dazu die Langeweile mit all den Gedanken, die sie brachte! Serafine Alexandrowna war ihm wirklich mehr als ein Zeitvertreib für müßige Stunden.
Das Gefühl, das er für sie empfand, ging tiefer... Es war zwar nicht die erste große Leidenschaft seines Lebens, aber die stärkste. Nicht so lodernd wie das Feuer eines Jünglings, aber sie ging tiefer... Wenn Stroganoff in diesen unruhigen Zeiten irgendwie ums Leben kam... Sie brauchten ja nicht in Kolno zu bleiben... Sie würden einige Jahre in irgend einem schönen Erdenwinkel das Glück einer aus Liebe geschlossenen Ehe genießen...
Mit Kolno stand er natürlich in reger Verbindung. Gregor erschien ziemlich oft. Er brachte fertig zubereitete Speisen, die auf einer Spiritusflamme erwärmt wurden. Manchmal bereitete der Alte auch ein Gericht Fische zu, das er mit der Angel erbeutet hatte. Er war in dieser Kunst ein Meister. Nie kam er von einem Ausflug zurück, ohne einige gute Hechte oder Barsche gefangen zu haben.
An Serafine Alexandrowna war eine ganze Zahl Briefe abgegangen, umfangreiche Schriftstücke, die in blendender, meisterhafter Sprache die Liebesergüsse und Bekenntnisse eines geistreichen Mannes enthielten. Sie gingen durch den Kommissionär, Herrn Moschek, an die alte Dienerin Warruscha. Aber vergebens hatte Kolokotronski um einige Zeilen Antwort gebeten. Und daß die Frau, an die er mit grübelnder Sehnsucht dachte, nicht antwortete, beunruhigte ihn mehr als all die anderen Nachrichten, die Gregor ihm zutrug.
Der alte Graf sah diesen allerdings einseitigen Briefverkehr mit der Russin nicht gern. Er hatte wohl gemerkt, daß bei Kolokotronski die politischen Interessen hinter dieser Leidenschaft zurücktraten. Er hatte auch einmal die Bemerkung fallen lassen, daß eine Liebesgeschichte sich nicht mit der ernsten Tätigkeit zur Vorbereitung einer Volkserhebung vertrüge, aber eine entschiedene Zurückweisung erfahren.
Die Heilung schritt normal vorwärts. Kolokotronski humpelte bereits an zwei Stöcken in der Höhle umher, er saß auch schon stundenlang in der milden Herbstsonne am Seeufer, aber an eine Rückkehr nach Kolno war noch nicht zu denken. Wäre Kolokotronski gesund gewesen, hätte er keinen Augenblick gezaudert, zurückzukehren, nicht nur aus Sehnsucht nach Serafine Alexandrowna, sondern um der Gefahr, die ihm drohte, die Stirn zu bieten.
Er war ganz genau darüber unterrichtet, daß Stroganoff nicht nur nicht an den Selbstmord Nekrassows glaubte, sondern ihn, Kolokotronski, als den Täter im Verdacht hatte. Und derjenige, der ihn mit diesen Nachrichten versorgte, war kein anderer als Major von Adlersberg! Er hatte, als er nach Kolno versetzt wurde, „Schulden wie ein Major.“ Da war Kolokotronski eingesprungen und hatte ihm ein zinsfreies Darlehn gegeben, das „bei einem außergewöhnlichen Glücksfall“ zurückgegeben werden sollte... Mit dieser Bemerkung hatte Kolokotronski dem Major den Schuldschein zurückgeschickt, als er für seine Andeutung, daß die Posten an einigen Stellen der Grenze zu dicht aufgestellt seien, volles Verständnis fand. Seitdem standen an der Straße, die aus dem preußischen Wald über die Grenze führte, die Posten in recht großen Abständen, und zur Vorsicht wählte man Leute aus, die für einige Rubel Trinkgeld nichts sahen, noch hörten.
Beide Teile standen sich gut dabei. Kolokotronski verdiente bei dem Transport ein schweres Stück Geld und Adlersberg lebte herrlich und in Freuden...
Erst als es ruchbar wurde, daß große Wagenreihen ungehindert über die Grenze kamen, war das flottgehende Geschäft eingeschränkt worden... Man mußte doch auch abwarten, welch Geistes Kind der neue Landrat war...
Eines Tages erschien Gregor mit einem ganzen Sack wichtiger Nachrichten. Der reiche Gutsbesitzer Nikolai Nikolajewitsch Szumin war von einer großen Bande nachts überfallen und ermordet worden. Wie Vandalen hatten die Kerle gehaust. Das ganze große Gehöft war eingeäschert... Auf der Brandstätte hatten die Räuber ein großes Trinkgelage abgehalten, denn der Keller des Nikolai Nikolajewitsch war stets gut gefüllt...
Am anderen Tage hatte der Landrat mit großer Kriegsmacht in den umliegenden Dörfern Haussuchung abgehalten und eine ganze Menge Menschen verhaftet... Das Gefängnis in Kolno war von Gefangenen vollgestopft. Eine dichte Postenkette mit geladenem Gewehr bewachte sie Tag und Nacht. Der Landrat entfaltete eine fieberhafte Tätigkeit. Er verhörte die Gefangenen vom Morgen bis zum Abend, und, wie man sich erzählte, sollten mehrere zum Tode verurteilt und fast alle anderen nach Sibirien verschickt werden.
Einige Tage später brachte Gregor wieder zwei wichtige Nachrichten. Das Dragonerregiment von Stuczyn war nach Kolno verlegt worden. Die Hälfte war in Trupps von 15 bis 20 Mann auf die Güter und Dörfer des Kreises verteilt worden. Die andere Hälfte hatte man zwischen die Straschniks an die Grenze gestellt. Aber gleich in der ersten Nacht waren nicht weniger als 20 Mann desertiert.
In einem Trupp waren sie zu einem preußischen Dorfe gezogen und halten dort ihre Freiheit in einem gründlichen Schnapsgelage gefeiert. Ein Offizier war ihnen daraufhin nachgeritten und hatte sie zur Rückkehr zu überreden versucht. Natürlich vergeblich. Er hätte beinahe noch Prügel bekommen. Seitdem wurden die Dragoner als zweite Postenkette hinter den Straschniks aufgestellt. Es war also für die nächste Zeit gar keine Aussicht, die Warensendungen, die in den nächsten Tagen eintreffen mußten, über die Grenze zu bringen.
Doch der Alte wußte Rat. Bei jedem Fischtransport, der den Pissek, den Abfluß des Spirding-Sees, hinunterging, konnte ein Teil hinübergeschafft werden. Es war so einfach... Auf dem schmalen langen „Zaun“, der die Halter mit lebenden Fischen schleppte, lagen, in Fässern verpackt, die toten Fische. Die Zollabfertigung an der eigens für diesen Transport erbauten Abfertigungsstelle verlief stets sehr schnell und auch zu beiderseitiger Zufriedenheit, und die russischen Beamten hatten keine Neigung, das gute Einvernehmen mit dem preußischen General-Fischereipächter durch vorwitzige Neugier zu stören. Sie standen sich sehr gut dabei, wenn sie sich bei einigen Tonnen durch Abnahme des Deckels überzeugten, daß der angegebene Inhalt „kleine Fische“ wenigstens an der Oberfläche stimmte...
Die zweite Nachricht, die Gregor mitbrachte, war eigentlich ebenso wichtig wie interessant... Aus dem Ministerium in Petersburg war ein hoher Herr, ein Staatsrat, Iwan Piotrowitsch Chomjäkow, nach Kolno geschickt worden. Er sollte, wie man sich erzählte, ganz außerordentliche Vollmachten besitzen und den Auftrag haben, zu ermitteln, von wem die revolutionäre Bewegung geleitet würde. Er hatte auch sofort sehr energisch in die Untersuchung eingegriffen, und man erzählte sich in Kolno grauenhafte Dinge von den Mitteln, mit denen er von den Gefangenen ein Geständnis über die Leiter des Überfalls zu erzwingen suchte.
Auf einen fragenden Blick Kolokotronskis versicherte Gregor, von den Mitgliedern des Komitees sei kein einziges gefangen. Und die Gefangenen könnten über sie nichts aussagen, denn ihnen waren diejenigen, die sie zum Sturm auf das Gut geführt, weder dem Namen noch der Person nach bekannt... Gestern nacht habe das Komitee eine Sitzung abgehalten und einstimmig beschlossen, sowohl den Landrat Stroganoff wie den Staatsrat Chomjäkow „auf die Liste zu setzen.“ Man habe nicht zu losen brauchen, es hätten sich sofort drei Mann freiwillig gemeldet, die das Urteil an den beiden vollstrecken wollten.
Graf Iswolski hatte bisher schweigend zugehört. Jetzt fiel er hastig ein: „Es widerstrebt mir durchaus, daß mit solchen Mitteln, wie Meuchelmord, gekämpft wird. Das ist wie ein Kampf gegen die Hydra... Ein Kopf wird abgeschlagen und drei wachsen nach...“
Kolokotronski zuckte die Achseln. „Was wollen Sie dazu tun, Herr Graf? Das Komitee besteht zum größten Teil aus Russen und Litauern. Außer mir sitzen nur noch zwei Polen darin. Das Komitee erhält seine Weisungen von einer geheimen Zentralstelle... In den letzten Wochen kam der Befehl, daß die Lokalkomitees nicht nur selbst für ihren Unterhalt zu sorgen hätten, sondern recht erhebliche Beiträge für die Kriegskosten abliefern müßten... Darauf erfolgten die beiden Überfälle auf Scharner und Szumin, und so lange es nicht zu einer bewaffneten Erhebung kommen kann, ist der Terror wirklich das einzige Mittel, die Bewegung im Fluß zu erhalten...“
Der Graf nickte halb nachdenklich, halb zustimmend... „Mich beschäftigt nur die Frage, was mit den Gefangenen werden wird... Es sind doch alles unsere Landsleute.“
Jetzt fiel Gregor ein. „Erlauben Sie, Herr Graf, daß ich mich dazu äußere. Die Kerle verdienen es nicht besser... Es ist ihnen angesagt worden, daß sie nichts rauben und stehlen sollten, weil sie sich dadurch nur verraten würden, wie es auch tatsächlich geschehen ist. Vor den Weinkeller hatte sich einer vom Komitee mit dem Revolver in der Hand aufgestellt... Er wurde überwältigt und mußte noch bitten, daß die Kerle ihn nicht banden und liegen ließen. Eine Stunde später war die Bande knüppeldick besoffen... Viele wurden noch betrunken von den Straschniks aus den Betten geholt. Die Kerle verdienen es nicht besser...“
„Mag schon sein... Aber das Komitee mußte mit dieser Möglichkeit rechnen... Es darf unsere Bauern nicht zu solchen Raubzügen aufbieten... Jetzt trägt es die moralische Verantwortung, daß die Unglücklichen erschossen oder nach Sibirien verschickt werden. Es muß versucht werden, sie zu befreien...“
„Das wird schwer möglich sein“, meinte Kolokotronski. „Und wohin mit den Menschen, wenn es gelingen sollte, sie zu befreien? Hierher über die Grenze, das ist unmöglich.
...Die preußischen Behörden würden sie einfach ausliefern und man würde außerdem alle die Deserteure, die jetzt in Preußen als Arbeiter Unterschlupf gefunden haben, gefährden. Das einzige wäre, daß ich nach Kolno zurückkehre und mit Stroganoff, und falls nötig, mit dem Staatsrat verhandle...“
„Was heißt verhandeln?“
„Sehr einfach. Ich lasse mir vom Komitee einen Brief zustellen, worin es heißt, daß Stroganoff und Chomjäkow zum Tode verurteilt sind... Man würde sie begnadigen, wenn sie sich damit begnügen wollten, einige wenige Opfer nach Sibirien zu schicken.“
„Kolokotronski, ich warne Sie. Das ist ein ganz abenteuerlicher Plan. Sie wissen doch, daß Stroganoff Sie schon im Verdacht hat und daß er noch aus anderen Ursachen Ihnen ohne Bedenken an den Kragen fassen wird. Wenn er nicht ganz dumm ist, wird er Sie als Mitglied oder gar als Leiter der revolutionären Propaganda festnehmen lassen...“
„Ja, Herr“, fiel Gregor ein. „Ihr Plan ist ganz unsinnig... Wenn man dem Major den Brief zuschicken würde?“
„Das läßt sich hören. Ich glaube aber nicht, daß die Drohung wirken wird“, meinte der Graf. „Bei Stroganoff ist der Ehrgeiz sicherlich größer als die Furcht...“
„Und bei Chomjäkow erst recht... Man würde durch den Brief sie nur warnen und zu Vorsichtsmaßregeln veranlassen. Es bleibt also nur der Ausweg, daß die Todesurteile so schnell als möglich vollstreckt werden und daß sofort darauf in der unausbleiblichen Verwirrung und Bestürzung die Befreiung der Gefangenen gewaltsam durchgeführt wird. Wo die Kerle bleiben, ist eigentlich nicht unsere Sache. Mögen sie sich auf die Dörfer zerstreuen.
„Wenn man sich der Protokolle bemächtigte, könnte…“
„Ich sehe, lieber Kolokotronski, daß einer von uns beiden sofort hinüber muß... Sie können nicht, also gehe ich...“
„Aber wie... Über die Kammer können Sie nicht… Man würde Sie sofort verhaften...“
„Das weiß ich... Ich fahre mit der Bahn nach Prostken, gehe dort über die Grenze und fahre mit der Bahn weiter bis Stuczyn, von dort muß mich morgen nacht ein Wagen abholen... Abgemacht... Ich muß noch nach der Schleuse, um meinen Stellvertreter Verhaltungsmaßregeln zu geben... Gegen Abend bin ich wieder hier...“
Als der Alte gegangen war, holte Gregor zwei Briefe und ein kleines versiegeltes Schächtelchen hervor. Hastig griff Kolokotronski nach dem Briefe, der von Serafine Alexandrowna kam. Er enthielt nur wenige Sätze. Sie schrieb, daß sie auf seine Vorschläge nicht eingehen könne. Der Schatten des Mannes, der von seiner Hand und zum größten Teil durch ihre Schuld ums Leben gekommen sei, würde immer zwischen ihnen stehen. Durch das Ereignis aufgerüttelt, habe sie sich ernstlich geprüft und eingesehen, daß das Interesse, das sie ihm entgegengebracht, nicht die wahre tiefe Liebe sei, die er verlange. Sie führe ein fried- und freudenloses Leben, da werde jedes Herz durch ritterliche Huldigung in Wallung gesetzt... Er könne übrigens ruhig nach Kolno zurückkehren, ihr Mann würde ihn nicht belästigen. Das sei die Bedingung, unter der sie eingewilligt habe, länger bei ihm auszuharren.
Nachdenklich faltete Kolokotronski den Brief zusammen und steckte ihn ein. Ein feines Lächeln spielte um seine Lippen. Eine wie alle... Ein bißchen Flirt... Wenn's sich so machen ließ, setzte man dem Herrn Gemahl auch ganz gern einen soliden Kopfschmuck auf... Aber mit einem starken Entschluß die unwürdigen Fesseln brechen? Er war doch ein Narr, daß er das kleine kokette Weib, das sich in seine Höhle gewagt, mit der Großmut des Löwen behandelt hatte, anstatt zu nehmen, was die Gelegenheit ihm bot... Dann hätte er sie für immer in seiner Gewalt gehabt und der Vorfall, der ihr jetzt Gewissensbisse verursachte, hätte sie ihm vollständig in die Arme getrieben...
Er machte mit der Hand eine abwehrende Bewegung, als wollte er die Gedanken, die ihn bestürmten, verscheuchen. „Ach, was... Ich muß ihr nur eilst wieder gegenüberstehen und ihr ins Auge sehen... und wenn sie erst Witwe ist...“
Langsam öffnete er den zweiten Brief. Während er ihn aufbrach, wurde er bleich. Er lautete:
„Lieber Freund... Anbei erfolgt ein kleiner silberner Heftel von Ihrer Czamarka. Ich fand ihn, als ich mit Stroganoff die bewußte Stelle in Ihrem Schloßpark untersuchte... Ein Glück, daß Stroganoff das Ding nicht fand.
…Es würde sich sehr gut in die Kette von Indizien eingefügt haben, die er bereits zusammengetragen hat... Schätzen Sie den Fund selbst danach ein, was er für Sie wert ist.
Besten Gruß
Eduard.“
Hastig brach er das Kästchen auf, ein silberner Heftel lag darin. „Er wird sofort an meine Czamarka angenäht… Morgen früh nimmst Du dreitausend Rubel und bringst sie zum Major mit einem schönen Gruß von mir... Den Teufel noch einmal! Das hätte leicht schlimm verlaufen können! Das Ding hat Adlersberg im Park gefunden...“
„Herr“, erwiderte Gregor, „wäre es nicht besser, wenn wir ins Ausland gingen?“
„Weshalb denn? Langweilst Du Dich... Ich dächte, Du hast hier gerade genug zu tun... Was ficht Dich an?“
„Ach Herr, mir ist so unheimlich zu Mut... Ich kann ja nicht wissen, was in dem Briefchen von Serafine Alexandrowna stand, aber ich sage Ihnen: trauen Sie ihr nicht, wenn sie schreibt, daß Sie ohne Gefahr zurückkommen können. Frauen sind immer falsch und diese Russin ist die falscheste von allen. Der Leutnant Durnowo sitzt jetzt den ganzen Tag bei ihr, und sie sagt immer: Sie sind ein guter Junge, Juri...` Und der Leutnant ist eifersüchtig auf den Staatsrat Chomjäkow wie ein Mohr. Ja, Herr, das habe ich nicht von der alten Warruscha, sondern von dem Diener Jean. Er sagt, Chomjäkow sei kalt wie ein Eiszapfen, aber die Frau werde ihn schon mit ihren glühenden Augen zum Schmelzen bringen. Und der Alaun, der Stroganoff, steht dabei, rot wie ein Knurrhahn, aber er ist zu beiden ganz liebenswürdig, zu dem Leutnant, wie zu dem Staatsrat...“
Unwillkürlich mußte Kolokotronski bei der drastischen Schilderung lachen. „Da kann ich erst recht nicht weggehen... Ich muß mir die Komödie ansehen...“
„Nein, Herr..., hören Sie auf mich... Wir müssen hier weggehen... Nicht auf ein paar Wochen oder Monate... Nein, ganz...“
„Fürchtest Du Dich hier?“
„Ja, Herr.“
„Wovor denn?“
„Hier“, er holte ein Blatt Papier, das stark zerknittert war, aus der Tasche. „Hier, Herr... Das hat Jean im Papierkorb gefunden.“
Kolokotronski las mit steigendem Interesse... Es war ein Bericht an den Generalgouverneur, den Stroganoff aufgesetzt und in den Papierkorb geworfen hatte. In ganz raffinierter Weise war der Krawall, Kolokotronskis Eingreifen, der Überfall des Gutsbesitzers Scharner, der Schmugglerzug und zum Schluß der Tod des Polizeimeisters miteinander verknüpft... Und überall war Kolokotronski als der Urheber dieser Vorfälle, ja als der Mörder Nekrassows hingestellt... Zum Schluß hieß es, der Übeltäter sei aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Schuß des Postens verwundet und halte sich irgendwo in Preußen verborgen...
„Nun, was sagen Sie dazu, Herr?“ fragte Gregor mit einer gewissen Genugtuung, als Kolokotronski das Papier sinken ließ...
„Ein kluger Kopf, dieser Fedor Maximowitsch. Aber, der Bericht ist nicht abgeschickt worden... Er wird in dieser Fassung nie abgeschickt werden.“
Er reckte den Arm aus und ballte die Faust.. „Sag' dem Komitee... Ich verbitte mir, daß sie dem Landrat zu Leibe gehen... Mit dem Burschen will ich selbst abrechnen...“
„Und dann, Herr?“
„Dann verschwinden wir mit der Beute. Wir haben genug, um ein paar Jahre anständig zu leben... Nein... Oder doch... Nun, was starrst Du mich so an... Meinst Du, es ist leicht, alles hinter sich zu werfen?“
„Das brauchen Sie gar nicht, Herr... Überlassen Sie den Landrat doch dem Komitee... Es wird keine acht Tage dauern...“
„Du hast recht... Aber ich halte es hier nicht mehr aus... Morgen schickst Du mir den Wagen zum See, da wo wir immer mit dem Boot landen.“
„Möchten Sie nicht lieber auch den Umweg über Prostken und Stuczyn machen?“
„Und mich in der Nacht wie ein Dieb in mein Schloß schleichen? Nein, Gregor... Alles mag man von mir sagen, aber daß ich Furcht habe... Nein... Und in den nächsten Tagen laden wir die Herren alle zu einem gemütlichen Spielabend ein... Du sollst sehen, sie kommen alle... Auch der Herr Landrat... Und wir werden uns sehr interessant unterhalten... Über den rätselhaften Selbstmord des Polizeimeisters... Über den Doppelgänger, den ich haben muß... Es wird mir viel Spaß machen...“
Sechzehntes Kapitel.
Der Landrat hatte getobt, als zuerst ein dunkles Gerücht von einer furchtbaren Bluttat auftauchte und gleich darauf der entflohene Diener eintraf, der den Tod seines Herrn Nikolai Nikolajewitsch und die Plünderung des Gutshofes meldete. Er hatte sich sofort an den Tatort begeben und so energisch zugepackt, daß er seiner telegraphischen Meldung von dem Ereignis sofort die zweite folgen lassen konnte, daß der größte Teil der Räuber ergriffen sei. Trotzdem hatten die Gutsbesitzer, die sich nun alle bedroht fühlten, sofort nach Petersburg und Warschau telegraphiert und um militärischen Schutz gebeten. Und ihre Bitte hat gewirkt. Am dritten Tage war das Dragonerregiment da. Und nicht nur das... bald darauf kam die Depesche, daß der Staatsrat Chomjäkow mit der Untersuchung betraut sei... Kurz darauf hielt der Staatsrat seinen Einzug in Kolno, Er kam mit einem hochbepackten Gepäckwagen... Die beiden jüngsten Leutnants wurden ausquartiert und in die Kaserne gelegt. Ihre Wohnung bezog der Herr Staatsrat.
Eine eigenartige Erscheinung, dieser Herr Chomjäkow. Trotz seines echt russischen Namens hatte er nichts von der typischen Erscheinung des Russen. Er war groß, schlank.
…Ein feines, blasses Gesicht, von einem dünnen Vollbart umrahmt. Und dazu schwarzes Kopfhaar und kornblumenblaue Augen. Sein ganzes Wesen, die Art seines Auftretens halten so etwas weiches, weibliches an sich. Die Bewegungen seiner zarten Hände, die Stimme, alles ließ auf einen sanften Charakter schließen.
Aber das Äußere, so charakteristisch es schien, war bei Iwan Piotrowitsch nur Schein. Wenn Stroganoff auf die Gefangenen einschrie oder gar dem Aufsichtsbeamten die Nagaika aus der Hand nahm, um selbst dreinzuschlagen, dann befahl Chomjäkow mit sanfter Stimme, den Gefangenen hinauszuführen und ihn etwas einzureiben... und wenn ein Gefangener, dem man die Daumen mit einem Strick zusammengebunden, vor Schmerz aufheulte, wenn man den Knebel andrehte, dann konnte man ihn sagen hören: „Aber, mein Lieber... weshalb dies Geschrei! Es beleidigt mich... Es ist mir unangenehm... Mein Lieber, ich werde Dich noch etwas mehr kitzeln müssen... Aber weshalb... Es tut mir leid... Du brauchst nur ein paar Worte zu sprechen, dann bist Du erledigt... Sag' mir doch, wie heißt der Rotkopf, der Euch anführte?“
Und merkwürdig... er wußte fast alles... Und jeden Morgen ließ er sich zuerst einen zerlumpten Bettler vorführen, der kurz nach der Bluttat aufgegriffen und eingesperrt worden war. Wenn er diesen Bettler verhörte, mußte sogar der Aufseher abtreten... Selbst Stroganoff wußte nicht einmal, wer dieser Bettler war... Der gewiegteste Geheimpolizist, den es in Petersburg gab. Schon seit Tagen lag er nachts mit den Gefangenen auf dem kahlen Erdboden, aß die mehr als schlechte Kost, die ihnen gereicht wurde.
Aber was er zu berichten hatte, war eigentlich wenig. Es schien wirklich richtig zu sein, was die Gefangenen übereinstimmend aussagten, daß sie die Anführer nicht kannten. Abends waren in jedem Dorf zwei, drei Männer auf Rädern angekommen, waren von Haus zu Haus gegangen und hatten Befehl gegeben, daß die Männer sich dort am Eingang zu versammeln hätten. Dort war ihnen gesagt worden, jetzt ginge es gegen den dicken, reichen Nikolai Nikolajewitsch Szumin...
Die armen Kerle konnten also wirklich nichts verraten... Nur das, was sie selbst getan hatten. Sie hatten gesengt und geplündert nach Herzenslust... Jeder hatte genommen, was er fand, und was ihm gefiel... Silber, Kleider, Jagdgewehr, Uhren... In den ersten zwei Tagen ihrer Gefangenschaft hatten sie noch miteinander darüber gesprochen... Jetzt lagen und saßen sie stumm nebeneinander auf dem harten Erdboden oder den Pritschen... Angstvoll schreckten sie zusammen, wenn die Tür sich öffnete und die Aufseher einen von ihnen wegholten...
Stroganoff empfand eine geheime Freude darüber, daß die Vernehmungen nichts weiter ergaben, als was man auch ohne hochnotpeinliche Untersuchung gewußt hatte, daß die Bauern und Arbeiter sich von ihrem blinden Haß gegen die Gutsbesitzer hatten verleiten lassen, den unbekannten Anführern zu folgen... Wie im Schlaf waren sie hinterhergetrollt... Wenn der Staatsrat etwas erzielt hätte, wenn er dem Geheimkomitee auf die Spur gekommen wäre, dann hätte man ihm, Stroganoff, etwas am Zeuge flicken können. Jetzt war er gedeckt durch die erfolglosen Bemühungen des Herrn Staatsrat.
Der Mann war ihm ein Rätsel... Dieser Kontrast zwischen seinem Auftreten, zwischen seiner ganzen Erscheinung und der Kaltblütigkeit, ja grausamen Energie, die er entwickelte... Und dazu diese Verschlossenheit! Ein rechtes Gespräch war mit ihm gar nicht in Gang zu bringen. Wenn man ihm etwas erzählte, hörte er mit gleichgültiger Miene zu. Aber er verstand zu fragen... Solch ein Mensch war unbequem im Umgänge. Man konnte doch nicht stumm neben ihm sitzen... Man sprach, und man sprach mehr, als man eigentlich sagen wollte...
Auch als Gesellschafter war der Herr Staatsrat nicht zu brauchen... Er aß mittags im Offizierkasino, wo man ihn mit scheuer Ehrfurcht behandelte, denn Herr Chomjäkow stand in hohem militärischen Rang und hatte in einem der vornehmsten Garderegimenter gestanden, dem er noch jetzt à la suite angehörte. Also eine gewaltige Respektsperson... Glücklicherweise kam er nicht auch abends ins Kasino, sondern saß meistens in seinen vier Wänden, wie man wußte, mit Lesen oder Schreiben beschäftigt.
Bei Stroganoff und Frau hatte er natürlich gleich am ersten Tage Visite gemacht, aber eigentlich waren beide froh, daß er nicht öfter als auf eine direkte Einladung kam. Merkwürdig, der Mann schien es gar nicht als peinlich zu empfinden, wenn die Unterhaltung minutenlang stockte. Und das kam sehr oft vor, denn Stroganoff hatte nicht die Gabe, über nichts und alles mögliche zu plaudern. Und Serafine Alexandrowna schwieg hartnäckig, seitdem der Herr Staatsrat sie gleich beim ersten Besuch durch die Art seiner Antwort gekränkt, ja fast beleidigt hatte. Sie hatte mit einem bestrickenden Lächeln gefragt, wie es sich in Petersburg lebe... Darauf hatte Iwan Piotrowitsch die Schultern gehoben... „Man ißt, man trinkt, man amüsiert sich, geht abends ins Theater. Am Tage gibt's zur Abwechslung einen kleinen oder großen Krawall auf der Straße.“
„Ich meine, Herr Staatsrat, wie man in der Gesellschaft lebt und bei Hofe.“
„Ganz wie überall, meine Gnädige. Die Menschen sind sich überall gleich.“
Seitdem begnügte sich Serafine Alexandrowna, den Herrn Staatsrat nur dann anzureden, wenn sie ihm ein Glas Tee oder eine Papiros anbot... Er schien es gar nicht zu merken, daß sie eigentlich etwas unhöflich zu ihm war. Um so mehr war sie erstaunt, als Chomjäkow eines Abends unangemeldet erschien... Stroganoff war ins Kasino gegangen, die Dragoneroffiziere wollten eine „kleine Bowle“ stiften...
Serafine Alexandrowna begrüßte ihren Gast mit kalter Höflichkeit... „Herr Staatsrat...“
„Ich heiße Iwan Piotrowitsch.“
„Nun gut, Iwan Piotrowitsch… mein Mann ist ins Kasino gegangen. Ich werde ihn gleich rufen lassen.“
„Nicht nötig, Serafine Alexandrowna, es genügt mir, wenn Sie mir ein Stündchen Gesellschaft leisten wollten... Ich will mal sehen, ob Sie auch in Abwesenheit Ihres Mannes so schweigsam sind.“
Serafine Alexandrowna lachte hell auf. „Da müssen Sie sich auch schon ein wenig mit der Unterhaltung Mühe geben, Iwan Piotrowitsch, denn es ist schwer, Sie zu unterhalten. Man weiß nicht recht, ob es Ihnen recht ist, daß man spricht. Ja, ob Sie überhaupt zuhören...“
„So, bin ich Ihnen zu schweigsam? Ich habe leider früh lernen müssen, viel zu hören und wenig zu sprechen.“
In diesen schlicht gesprochenen Worten lag zum ersten Male ein menschliches Empfinden. Das klang wie eine Klage über eine freudlose Jugend...
„Nun, Iwan Piotrowitsch, ich will mein möglichstes tun. Ich weiß nur nicht, was ich Ihnen erzählen soll... Was könnte Sie interessieren? Unser Leben hier... Ach, es ist schrecklich... Wenn nicht die Hoffnung wäre, daß Fedor Maximowitsch bald in eine höhere Stellung kommt. Vielleicht nach Petersburg.“
„Wünschen Sie das?“
„Ja, sehr.“
„Glauben Sie daran?“
„Aber Iwan Piotrowitsch! Weshalb sollte ich nicht daran glauben...? Mein Mann ist klug, energisch, fleißig... Durch meine Familie hat er sehr gute Verbindungen.“
„Nun, diese Eigenschaften habe ich auch an Fedor Maximowitsch gefunden... Er muß aber noch andere Eigenschaften haben, die wahrscheinlich nur seine Frau kennt...“
„Wie meinen Sie das?“
„Weshalb sprechen Sie, Serafine Alexandrowna, nie mit Ihrem Mann? Sie sehen ihn nicht an, Sie vermeiden es sogar, selbst aus gleichgültigem Anlaß, eine Frage an ihn zu richten.“
„Sie sind ein feiner Beobachter“, erwiderte Serafine Alexandrowna mit einem Versuch zu lächeln, aber sie fühlte dabei, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Was wollte der Mann von ihr?
Chomjäkow nickte zustimmend. „Das will ich nicht bestreiten... In diesem Falle jedoch braucht man sich mit dem Beobachten gar nicht anzustrengen... Ich sage es Ihnen als Freund, Serafine Alexandrowna, es muß jedem auffallen, wie Sie Ihren Mann behandeln.“
Während er sprach, hatte Serafine Alexandrowna überlegt, was sie darauf antworten konnte. Es schien ihr das Beste, dem Gespräch die ernste Färbung zu nehmen. Sie warf ihm einen lustigen Blick zu und fragte schalkhaft: „Werden jetzt die Herren Staatsräte in die Provinz geschickt, um auch die ehelichen Verhältnisse der Beamten zu sondieren?“
Ein feines Lächeln flog über Chomjäkows Gesicht. „Sie sind sehr geschickt im Ausweichen, Serafine Alexandrowna, aber Sie haben nichts zu verbergen. Was ich wissen will, erfahre ich vom ersten besten, den ich hier danach frage... Aber verzeihen Sie... Ich will mich nicht in Ihr Vertrauen drängen... Ich will mich Ihnen nur zur Verfügung stellen, wenn Sie Hilfe oder Rat bedürfen...“
Er streckte ihr seine Hand hin, sie legte ihre Rechte zögernd hinein. „Stoßen Sie sich nicht mehr daran, wenn ich Ihnen wieder einmal zu schweigsam erscheine... Ich bin eine einsame Natur. Ich habe eine schwere Kindheit durchgemacht, und was meine glänzende Laufbahn mich innerlich gekostet hat... Vielleicht findet sich noch Gelegenheit, mit Ihnen darüber zu sprechen.“
„Weshalb nicht heute?“
„Nein, Serafine Alexandrowna, nicht heute... Ich bin vor mir selbst zu Ihnen geflohen... Sprechen Sie... Erzählen Sie... Wie lebt sich's hier?“
Es schwebte ihr auf der Zunge, zu antworten: „Wie in Petersburg“, aber sie bezwang den Anreiz, diese kleine Vergeltung zu üben. „Traurig, Iwan Piotrowitsch. In Warschau war ich sonst um diese Zeit in der Oper oder im Theater... Dann fuhren wir in die Ujazdowner Allee zu Boszinski und soupierten dort mit guten Freunden... Und hier? Ein paar Abfütterungen mit belehrenden Gesprächen über Kindererziehung, ab und zu ein freundschaftlicher Besuch, bei dem die Familienverhältnisse aller Abwesenden gründlich durchgesprochen werden.“
„Und dazu die unbefriedigende Häuslichkeit...“
„Ich weiß nicht, Iwan Piotrowitsch, weshalb Sie immer wieder darauf zurückkommen?“ fragte Serafine Alexandrowna etwas gereizt.
„Nehmen Sie an“, erwiderte Chomjäkow, ohne eine Spur von Empfindlichkeit, „daß mich aus rein psychologischen Gründen die Frage beschäftigt, wer von Ihnen beiden unrecht hat...“
Serafine Alexandrowna hatte sich wieder gefaßt. „Wenn Sie etwas Menschenkenner sind, könnten Sie die Antwort selbst finden.“
„Nehmen Sie an, daß für diesen Fall meine Menschenkenntnis nicht ausreicht.“
„Nun, dann nehmen Sie an, daß Fedor Maximowitsch mich gekränkt und beleidigt hat... Es soll Frauen geben, die solche Dinge verzeihen... Ich gehöre nicht dazu. Aber ich bitte wirklich, lassen wir dies Thema fallen, wenn wir gut Freund bleiben wollen, Iwan Piotrowitsch, und strengen Sie sich etwas an, mich zu unterhalten... Ich verlange es jetzt von Ihnen...“ Mit einem neckischen Lächeln fügte sie hinzu: „Also, wie lebt man in Petersburg? Ihre erste Antwort auf diese Frage war etwas sehr dürftig.“
Seitdem kam Iwan Piotrowitsch öfter abends auf ein Stündchen herüber. Fedor Maximowitsch pflegte sich dann stets, wenn er zu Hause war, mit dringenden Arbeiten zu entschuldigen, um in sein Büro verschwinden zu können. Er fürchtete sich vor dem Staatsrat... Deshalb war es ihm sehr recht, daß sich mit Hilfe seiner Frau gesellschaftliche Beziehungen zu dein Vorgesetzten entwickelten. Er war natürlich überzeugt, daß Chomjäkow auch unter die Verehrer seiner Frau gegangen war. Aber ihm gegenüber empfand er merkwürdigerweise gar keine Eifersucht.
Er hätte auch gar keine Ursache dazu gefunden, wenn er den Verkehr der beiden näher beobachtet hätte. Iwan Piotrowitsch reichte beim Eintreten Serafine Alexandrowna die Hand, bat um ein Glas Tee und um die Erlaubnis, sich eine Papiros drehen zu dürfen und setzte sich abseits vom Licht in einen Schaukelstuhl. Manchmal dauerte es eine ganze Weile, ehe er überhaupt ein Wort sprach. Und jetzt empfand Serafine Alexandrowna dies Schweigen nicht als peinlich. Sie hatte sich eine angefangene Handarbeit, eine feine Stickerei hervorgesucht und arbeitete fleißig daran. Dann fing Iwan Piotrowitsch an zu sprechen... Er erzählte von seinen Reisen, vom kaiserlichen Hofe, den er sehr genau kannte, denn der Kaiser hatte als Prinz in demselben Regiment gestanden und hielt noch jetzt mit den Offizieren des Regiments gute Kameradschaft. Und wie erzählte er! Man sah alles, was er schilderte.
Ein andermal überraschte er Serafine Alexandrowna durch die Frage nach ihrem Glaubensbekenntnis. Sie gestand ihm offen, daß sie kein Bedürfnis fühle, die Vermittlung des Popen für ihre Beziehungen zu Gott in Anspruch zu nehmen. Ob sie überhaupt an einen Schöpfer glaube?
So kamen sie in ein sehr ernstes Gespräch, bei dem die Frau natürlich den kürzeren zog. Denn sie hatte nur mit den Waffen ihres durchdringenden Verstandes gefochten, er mit dem ganzen Rüstzeug der Wissenschaft. Aber er hatte doch den Eindruck gewonnen, daß Serafine Alexandrowna imstande war, sich in die großen, uralten Fragen der Menschheit zu vertiefen. Er brachte es dahin, daß sie diesen Dingen Interesse abgewann. Er war aber auch ein vorzüglicher Lehrmeister. Gleich am nächsten Abend brachte er ihr ein Buch, erläuterte seinen Gedankengang und bat sie, es zu lesen. Beim nächsten Besuch besprachen sie es dann eingehend...
Ein andermal forschte er nach ihrer Lektüre. Sie hatte viel Theaterstücke gesehen und wußte klug darüber zu sprechen, aber von der großen Welt-Literatur, von den gewaltigen Geistesströmungen, die alle Kulturvölker der Welt verbinden, hatte sie kaum mehr als eine schwache Vorstellung.
So gewann ihr Verkehr allmählich eine rein geistige, aber feste Grundlage. Alles Persönliche schien ausgeschaltet. Und doch freute sich Serafine Alexandrowna am Tage schon auf die paar Stunden der Unterhaltung mit Chomjäkow. Ohne daß sie sich dessen bewußt war, hatte er ihr Leben mit neuem Inhalt erfüllt... Manchmal kam ihr wohl der Gedanke, weshalb Iwan Piotrowitsch so ganz anders war, als alle anderen Männer, die mit ihr in Berührung kamen. Da war doch kaum einer, der nicht in seine Worte eine zarte Huldigung oder eine kräftige Schmeichelei legte. Wenn Chomjäkow es getan hätte, hätte sie sich darüber gewundert. Er hatte ihr, obwohl es doch allgemeine Sitte war, erst einmal bei der Begrüßung die Hand geküßt. Manchmal, wenn sie über ihre Arbeit gebeugt eifrig stickte, fühlte sie, daß sein Blick auf ihr ruhte. Es war ihr nicht im geringsten unangenehm.
Am Tage war meistens das Gegenstück von Chomjäkow, — Juri Durnowo, zu Besuch. Er war soweit wieder hergestellt, daß er ausgehen durfte, tat aber noch keinen Dienst. Der Säbelhieb war verheilt, die starke Narbe, die sich bis auf die Stirn hinunterzog, gab seinem frischen Gesicht etwas kraftvoll Männliches. Die linke Hand trug er noch verbunden, es war aber Aussicht, daß er ihren völligen Gebrauch wieder erlangen würde.
Juri war überglücklich, wenn er nur ein Stündchen bei Serafine Alexandrowna sitzen konnte. Ihr Wesen hatte für ihn neuen Reiz gewonnen. Sie war so sinnend ernst... Es wehrte ganz von selbst jetzt leichtfertige Tändeleien ab. Wahrscheinlich würde die Unterhaltung nach Erledigung der von den Tagesereignissen gegebenen Fragen bald ins Stocken gekommen sein, wenn nicht Serafine Alexandrowna von Chomjäkow die Anregung zu einem tieferen Gespräch erhalten hätte, was ihr Lehrmeister des Abends mit ihr gesprochen, das benutzte sie jetzt mit Juri und sie freute sich darüber, daß er dafür Verständnis zeigte.
Der junge Mann war nicht besser und nicht schlechter als alle anderen, die als kaiserlich russische Leutnants in mehr oder minder schöner Uniform herumlaufen. Mit einer recht geringwertigen Bildung ausgerüstet, war Juri jung in das Offizierkorps getreten. Am Tage harter Dienst, und abends, als Gegenstück zu dem öden Einerlei des Dienstes, ein hastiger Genuß allergröbster Art: Wüste Trinkgelage, bei denen meistens heftig gejeut wurde... Zur Abwechslung ein kleiner Flirt, wenn in dem Kreise der Beamten eine Familie mit erwachsenen Töchtern auftauchte. Er durfte aus sehr triftigen Gründen nie zu einem ernsthaften Verhältnis ausarten, denn ein armer Leutnant und ein armes Mädchen ohne Vermögen können in Rußland ebensowenig zusammenkommen, wie anderswo.
In Juris Leben war nun die große, tiefe Leidenschaft für Serafine Alexandrowna getreten... Auf seinem Krankenlager hatte er viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Da hatte er zum ersten Male die Öde seines bisherigen Lebens empfunden. Langsam reiste in ihm der Entschluß, den bunten Rock auszuziehen und sich einen anderen Beruf zu schaffen... Ohnehin mußte er, wenn er das geliebte Weib errang, aus diesen Kreisen hinaus....
Ein eigentümliches Verhältnis hatte sich zwischen den beiden herausgebildet. Der junge Mann hatte auf die stürmischen Galanterien, mit denen er früher die schöne Frau überschüttete, verzichtet. Aber sein ganzes Wesen zeigte die tiefe, respektvolle Neigung, die er jetzt empfand… Er saß und plauderte von seinen Zukunftsplänen, bei denen er es als selbstverständlich empfand, daß Serafine Alexandrowna den Ausschlag für dies oder jenes Projekt gab... Und die junge Frau behandelte Juri wie ein liebes, großes Kind...
Es fiel beiden gar nicht ein, auf Fedor Maximowitsch Rücksicht zu nehmen. Er schien es auch gar nicht zu verlangen... Daß Iwan Piotrowitsch ein so reges Interesse für Serafine Alexandrowna zeigte, war ihm ganz angenehm… Damit gewann er einen Gönner, der ihm mit seinem Einfluß zu einer baldigen Beförderung verhelfen würde... Und Juri schien ihm ungefährlich.
Siebzehntes Kapitel.
Graf Iswolski weilte seit einigen Tagen im Schloß. Er hatte durch Gregor das Revolutionskomitee zu einer Besprechung einladen lassen. Die erste Antwort war, man hätte keine Zeit zu Besprechungen, überdies wüßten sie allein, was sie zu tun hätten. Bei der zweiten Aufforderung ließ man ihm sagen, man habe Wichtigeres zu tun als das Gefängnis zu stürmen. Doch der Alte ließ nicht nach. Er verlangte von Gregor, daß er ihn zu dem geheimen Versammlungsort des Komitees führte.
Gregor weigerte sich. Der Graf drohte. Gregor wurde frech... Darüber habe er allein zu bestimmen... In demselben Augenblick hatte der Alte ihn beim Kragen erwischt und ihn einige Male so unsanft hin- und hergeschlenkert, daß ihm der Kopf wackelte. Als er wieder auf die Beine zu stehen kam, griff er nach der Tasche, in der er den Revolver zu stecken hatte. Zu seinem Glück hatte er ihn nicht bei sich, denn es wäre ihm übel ergangen, wenn er ihn gezogen hätte. Nun seine Hand aus der Rocktasche zurückkehrte, hatte der Alte ihn am Rockkragen gepackt und hochgehoben: „Du Hundesohn, Du verdammter... Ich werde Dich gehorchen lehren.“
„Ich bin kein Knecht... Ich bin ein freier Mann, ein Freund des Schloßherrn...“
„Der Schlußherr bin ich... Zum Beweise sollst Du jetzt einige Stunden nachdenken an einem Ort, den weder Du noch Dein Freund kennen...!“
Ohne auf das Geschrei zu achten, das Gregor ausstieß, schleifte er ihn wie ein Bündel Lumpen hinter sich her zum Keller... Im Souterrain sprangen die Türen der Dienerzimmer auf... Drei zerlumpt aussehende Kerle stellten sich ihm in den Weg.
„Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier?“
„Das fragen wir: Wer seid Ihr? Augenblicklich lassen Sie unseren Freund los...“
Der Alte sah, wie die drei Kerle in die Taschen faßten und ihre Messer zogen. Fast mitleidig ruhten seine Augen auf den hohlwangigen schwächlichen Gestalten... Dir eine, ein rotköpfiger Mensch, schien ein ehemaliger Student zu sein, denn er trug noch die Überreste einer studentischen Uniform, der zweite war nach seinem Anzug und Aussehen zu urteilen ein kleinrussischer Bauer. Der dritte trug einen neuen Anzug, der eben erst im Laden erstanden war...
Jetzt bog sich der Student zusammen... Mit einem Sprunge wollte er sich auf den Alten werfen... Ein gewaltiger Fußtritt schleuderte ihn zurück... Er fiel hinterrücks über und schlug mit dem Kopfe hart auf die Ziegel des Fußbodens auf...
„Die Messer weg... Sonst... Bei der heiligen Mutter von Czenstochau, ich sperre Euch alle zusammen ein... Wer seid Ihr?...“
„Wir sind die Bevollmächtigten des russischen Volkes...“
„Ach so... Die Leiter des Komitees... Welche Ehre, meine Herren... Ich habe nicht gewußt, welche mächtigen Gäste ich unter meinem Dache beherberge... Da können wir ja gleich besprechen, was ich von Ihnen will...“
Er stellte Gregor, dem von der eiligen Treppenfahrt alle Glieder zitterten, auf die Beine. „So, nun kommt...“
Er schritt an den beiden, die noch immer mit dem blanken Messer in der Hand standen, vorüber und beugte sich zu dem Studenten nieder. Der arme Mensch saß da... mit der einen Hand hielt er sich den Kopf, mit der anderen den heftig schmerzenden Leib.
„Du bist etwas zu hitzig gewesen, mein Freund...“ Er wandte sich zu den anderen... „Hebt ihn auf und legt ihn aufs Bett... Ich will nachsehen, ob er Schaden genommen hat...
Schweigend taten die Männer, was er befahl. Die alte Gewohnheit des Gehorchens war wieder bei ihnen zum Durchbruch gekommen... In dem Zimmer, in dem die drei bis jetzt gelebt hatten, stand ein greulicher Tabaksqualm, auf dem Tisch lag ein zusammengeworfenes Spiel Karten... Leere Weinflaschen und Gläser zeigten, womit die Leiter der Revolution sich die Zeit vertrieben hatten.
Der Student hatte eine kalte Kompresse auf den Kopf und einen Umschlag auf den Leib bekommen. Er schlief bald ein. Mit den anderen beiden besprach der Alte, was nun zu geschehen habe. Gregor hatte er kurzerhand die Tür gewiesen, als er sich zur Beratung niedersetzen wollte. Eine Beratung konnte man es eigentlich nicht nennen. Der Graf fragte die beiden einfach aus. Sie wollten erst nicht recht mit der Sprache heraus, aber der Alte verstand sie zu behandeln. Er erklärte ihnen, daß er sie unweigerlich in einen Raum einsperren würde, aus dem noch niemand lebend herausgekommen wäre. Bei dem leisesten Widerstand würde er sie zertreten wie das Studentchen...
Das wirkte... Die Kerle gaben wenigstens Antwort... Sie prahlten mit ihrer Organisation, mit ihrer Macht... Der Alte schüttelte dazu nur den Kopf. Er hatte das Gefühl, drei Abenteurer vor sich zu haben, die sich hier als Revolutionskomitee niedergelassen hatten... Ganz gewöhnliches Raubgesindel, das sich den politischen Zweck als Deckmantel umgehängt hatte. Daß es ihnen gelungen war, die Mithilfe der Bauern bei der Plünderung von Romanowko und Suwalki zu gewinnen, war leicht erklärlich... Der alte Haß, der sich gegen die Großgrundbesitzer aufgespeichert hatte, war ihnen zustatten gekommen.
Während er mit ihnen verhandelte, überlegte der Graf, ob es überhaupt geraten wäre, sich ihrer Mithilfe zu bedienen... Aller Wahrscheinlichkeit nach wußte nicht einmal Kolokotronski, welche Gäste in seinem Hause weilten. Sie hatten sich augenscheinlich erst während seiner Abwesenheit hier einquartiert. Und sicherlich gehörten diese Kerle nicht zu den starken tapferen Männern, mit denen er die Schmugglerzüge unternommen hatte. Darüber mußte Gregor Auskunft geben... Er würde ihn schon zum Sprechen bringen...
Als er nach einer Stunde die Herren Verschwörer verließ, riet er ihnen, abends das Schloß zu verlassen und einen anderen Schlupfwinkel aufzusuchen. Er mochte mit den Kerlen nichts zu tun haben. Oben in den Wohnzimmern fand er Gregor nicht vor. Als er klingelte, erschien ein anderer Diener, der mit pfiffiger Miene meldete, Gregor habe sich einen Wagen anspannen lassen und sei fortgefahren... Über die Grenze... Der Alte nahm an, daß Gregor zu seinem „Freund“ Kolokotronski gefahren sei, um sich über die schlechte Behandlung zu beschweren... Das war ihm höchst gleichgültig. Er wußte nun aber nicht, an wen er sich zu wenden hatte, um mit den Vertrauten Kolokotronskis Fühlung zu gewinnen... Der Diener, den er vorsichtig ausforschte, schien nichts zu wissen...
***
Einige Tage später öffnete sich das Tor des Gefängnisses... Unter militärischer Bedeckung wurden fünf Gefangene hinausgeführt... Es war ein schöner klarer Herbstmorgen, still und kalt. Schweigend ging der kleine Zug durch die Stadt zu einem Platz, der seit Jahrhunderten wüst lag. Es war die alte Richtstätte. Der Galgen, der vor Zeiten hier gestanden, war verschwunden... Nur ein gewaltiger Stein, dessen Oberfläche seltsame Rinnen und Vertiefungen trug, zeigte, daß hier schon in vorchristlicher Zeit eine heidnische Opferstätte gewesen.
Es war, als wenn die Erde von all dem vergossenen Blut die Fähigkeit verloren habe, eine Pflanze zu ernähren. Nur ein dickes graues Moos bedeckte den Boden. Jetzt waren in der Nacht fünf flache Löcher eingegraben... Der ausgeschaufelte Sand leuchtete in den Strahlen der Morgensonne.
Die Gefangenen wußten, was sie erwartete... Auf dem Hofe des Gefängnisses hatte ein Aufseher ihnen das Urteil vorgelesen. Wegen Raub und Mord waren sie zum Tode verurteilt... Kein Priester begleitete sie auf ihrem letzten Gange. Außer dem Offizier, der die zur Exekution kommandierten Soldaten befehligte, ging nur der Aufseher mit. Er führte zwei Männer mit Spaten, die das traurige Werk vollenden sollten.
In stumpfsinniger Ergebung schritten die Verurteilten dahin. Die Mißhandlungen beim Verhör, die Qualen des Hungers hatten sie mürbe gemacht... Nur einer, ein junger, kräftiger Kerl, warf hin und wieder einen schnellen Blick zur Seite, als wenn er mit der Möglichkeit einer Flucht rechnete... und wirklich... Plötzlich sprang er aus der Reihe und begann zu laufen... Etwa 30 Schritt vom Wege hatte ein stark fließender Bach sich ein Bett gegraben... die steil abfallenden Ränder waren mit dichtem Gestrüpp bewachsen... Die auf den Rücken geschnürten Hände hinderten den Flüchtling am Laufen. Er stürzte nach den ersten zehn Sätzen, raffte sich auf und lief weiter...
Wütend schrie der Offizier die Soldaten, die gewohnheitsmäßig ihr Gewehr von der Schulter rissen, an, sie sollten schießen. Die Dragoner grinsten. Ihre Gewehre waren nie geladen. Der Offizier selbst hatte es versäumt, vor dem Ausmarsch den Befehl zum Laden zu geben. Und im Herzen waren die Kerle alle auf seiten des Flüchtlings... Ohne allzu große Hast knöpften sie ihre Patronentaschen auf, und als sie die Patronen in den Lauf schoben, hatte der Flüchtling bereits den steil abfallenden Hang erreicht...
Der Offizier hatte im letzten Augenblick seinen Revolver gezogen und zweimal geschossen, ohne jedoch zu treffen... Er war unentschlossen, was er tun sollte... Die Dragoner würden, wenn er sie hinterher schickte, keinen allzu großen Eifer entfalten... Und nahm er selbst die Verfolgung auf, dann war er nicht sicher, ob er bei seiner Rückkehr noch einen seiner Gefangenen vorfand... Und schließlich, was kam es darauf an, ob der Kerl totgeschossen wurde oder weglief... Er meldete einfach, daß der Befehl ausgeführt war...
„Vorwärts! Und Ihr haltet das Maul... Versteht Ihr?“
Die vier Gefangenen hatten ihrem glücklichen Gefährten, als er aus der Reihe sprang, Gottes Segen gewünscht und sich auf die Knie geworfen, um für sein Entkommen zu beten... Jetzt wurden sie mit Kolbenstößen weiter getrieben... Ihrem Schicksal entgegen... Wenige Minuten später war das Bluturteil vollzogen... Gefühllos wurden die noch warmen Körper in die Grube gezerrt... Von Grauen geschüttelt, wandte der Offizier, ein blutjunger Mensch, sich ab... Er hatte zum erstenmal Blut fließen sehn...
***
Graf Iswolski ging mit starken Schritten in einem Zimmer des Schlosses auf und ab. Er war in starker Erregung. Er hatte einen Diener zu Kolokotronski geschickt, und ihn gebeten, ihm wenigstens Nachricht zu geben, wie er die Verbindung mit seinen Helfershelfern bewerkstelligen könnte... Aber weder kam der Diener, noch eine Nachricht... Jetzt war das eingetreten, was er befürchtet hatte... Ein Bluturteil war vollstreckt... Das erste in ihrer Gegend... Aber weitere würden folgen... Und er saß im Schloß wie ein Gefangener... Zur Ohnmacht verurteilt... Jetzt reute es ihn schon, daß er die drei Verschwörer nicht im Schloß behalten hatte... In der ersten Nacht waren zwei davon gegangen, in der zweiten auch der Student...
Er war der einzige, den man ernst nehmen mußte. Der richtige Fanatiker, der ohne Bedenken sein Leben für seine Idee von Freiheit in die Schanze schlug. Aber er mochte dem Alten, der ihn so energisch behandelt hatte, nicht getraut haben, denn Iswolski hatte nicht eine Silbe aus ihm herausgebracht, als er ihn am anderen Tage aufsuchte...
Die Diener hatten inzwischen gelernt, den alten Herrn zu respektieren... Die Art, wie Gregor behandelt worden war, hatten sie sich gemerkt... Sie waren diensteifrig geworden. Der Graf hatte sich nach dem Mittagessen ein Buch genommen, um sich die Langeweile zu vertreiben, als ihm ein Mann gemeldet wurde, der ihn zu sprechen wünschte. Er ließ ihn eintreten. Ein junger Mann, das Gesicht zerschunden, zerkratzt... Der Anzug schmutzig, zerrissen... Erstaunt blieb er an der Tür stehen...
„Verzeihen Sie, gnädiger Herr. Ich möchte Herrn Kolokotronski sprechen.“
„Er ist nicht hier... Was wollen Sie von ihm?“
Der Mann schwieg verlegen.
„Du kannst offen zu mir sprechen... Was Herr Kolokotronski wissen soll, kann ich auch wissen...“
Nach einigem Zaudern fing der Mann an zu sprechen und erzählte, daß er derjenige sei, der auf dem Transport zur Richtstätte entsprungen war... Er hätte Herrn Kolokotronski bitten wollen, ihm mit etwas Geld zu helfen... Er wolle versuchen in der Nacht über die Grenze zu entkommen...
Der Graf trat auf ihn zu: „Gib mir die Hand, mein Sohn. Du bist ein tapferer Bursche... Solche Männer können wir brauchen. Du wirst hier bleiben und uns helfen, Deine Bruder zu befreien. Komm, Du wirst hungrig und müde sein. Wenn Du gegessen und geschlafen hast, sprechen wir weiter.“
Wie ein Vater für den Sohn, so sorgte der Graf für den flüchtigen Julian Niemcewicz. Er ließ ihm zu essen geben und schenkte ihm selbst einen guten Rotwein ein, dann ließ er ihn ein Bad nehmen, das sehr notwendig war und ihn von Kopf bis zu Fuß neu einkleiden. Gegen Abend kam Julian wieder zum Vorschein. Er hatte die Todesangst und die Strapazen vergessen und fühlte sich ganz frisch, nur die Handgelenke, die von den Fesseln wund gescheuert waren, schmerzten ihn noch... Er war damit einverstanden, was der Graf ihm vorschlug... Nachts hinauszugehen auf die Dörfer, um die Bauern zur Befreiung der Gefangenen aufzurufen... In der dritten Nacht sei Neumond... Mit zehn entschlossenen Männern sei das Werk zu vollbringen...
Als die Dunkelheit hinabsank, führte der Graf den jungen Polen selbst durch den Park zu einer kleinen Pforte, aus der man direkt in den Wald trat... Dort würde er ihn in der dritten Nacht erwarten... Aber sie sollten einzeln kommen, um keinen Verdacht zu erregen...
Als der Alte ins Schloß zurückging, hörte er einen Wagen vorfahren. Kolokotronski war gekommen. Er hatte den Umweg über Stuczyn gemacht und sich dort einen Wagen genommen. Seine erste Frage war nach Gregor...
„Ich dachte, er wäre bei Ihnen? Er ist doch über die Grenze gefahren.“
Ohne ein Wort zu erwidern, verschwand Kolokotronski. Es dauerte eine ganze Zeit, bis er wiederkam. Er sah so bleich und verstört aus, daß es auffallen mußte. Auf die verwunderte Frage Iswolskis reichte er ihm schweigend einen Zettel hin, der in hastiger Schrift mit Bleistift bekritzelt war. Der Graf las: „Du hast meine Warnung mißachtet... Der alte Narr hat mich mißhandelt wie einen Knecht... Zwei Ursachen, mich von Dir zu trennen. Das durch meine Mitwirkung gesammelte Kapital habe ich an mich genommen. Deiner Energie wird es gelingen, es schnell wieder zu ersetzen... Gregor.“
„Den Zettel habe ich in dem geheimen Versteck gefunden, wo ich meine Geldreserven aufbewahrte. Gregor hatte den zweiten Schlüssel... Er hat alles mitgenommen... Sie verstehen, Herr Graf, daß ich nicht erfreut darüber bin, daß der Verlust auf Ihr Verhalten gegen Gregor zurückzuführen ist...“
Jetzt brauste der Alte auf. „Ein Vorwurf, den ich zurückweise, Herr Kolokotronski... Ich weiß nicht, welche Geheimnisse Sie mit dem Kerl, dem Gregor, der doch nichts weiter war als ein Diener, verbanden. Das geht mich nichts an... Aber daß Sie mir nicht mehr Vertrauen schenkten, als ich hierher fuhr, war eine Unterlassung, die sich schwer gerächt hat... Da Sie wissen, wer ich bin, hätte es nahe gelegen, mich ins Vertrauen zu ziehen. Übrigens, beruhigen Sie sich... Wir stehen nicht ohne Bargeld da... Was ich hier ließ, als ich in den Kampf zog, hat Abraham Sareyski in Sicherheit gebracht... Wahrscheinlich in demselben Versteck, das auch Sie benutzt haben.“
Mit einem forschenden Blick auf Kolokotronski fuhr er fort... „Übrigens merkwürdig, daß Sie den in die Grundmauern eingelassenen und raffiniert verborgenen Geldschrank kennen...“
„Sehr einfach. Herr Graf... Die Bekleidung des Schlankes, die Tür war zerstört... Es war nicht schwer, das Versteck zu entdecken, ich habe es erst wieder neu herrichten lassen... als ich hier einzog...“
„So, so... Was gedenken Sie jetzt zu tun?... Wollen Sie den Spitzbuben ruhig laufen lassen?“
Kolokotronski zuckte die Achseln. „Was kann ich denn tun? Wer weiß, wo der Kerl schon ist... Abgesehen davon... Er ist doch Mitwisser alles dessen, was hier vorging... Soll ich ihn mir auf den Hals hetzen...?“
Der Graf mußte zugeben, daß dieser Grund sehr triftig war... Er begann zu berichten, was sich inzwischen hier zugetragen hatte. Kolokotronski hatte es bereits unterwegs erfahren. Er schien aber das Schicksal, das seinen Landsleuten, den gefangenen Bauern und Arbeitern drohte, nicht sehr tragisch zu nehmen. Und mit dem Vorhaben des Alten, die Befreiung der Gefangenen mit Gewalt durchzusetzen, wollte er sich gar nicht einverstanden erklären. Seine Bedenken dagegen waren allerdings schwerwiegend... Es würde Blut fließen.
Es sei auch nicht ausgeschlossen, daß der Putsch mißlang, daß einige der Teilnehmer lebend gefangen genommen würden... Könnte man sich darauf verlassen, daß sie unter den Martern des Verhörs standhaft bleiben und verschweigen würden, daß der Anschlag vom Schloß ausgegangen war...? Eher sei das Gegenteil anzunehmen. Und was dann? Das Ziel stehe also in gar keinem Verhältnis zur Gefahr... Er habe die Verpflichtung, sich der guten Sache zu erhalten... Wenn etwas unternommen werden sollte, dann könne es nur vom russischen revolutionären Komitee geschehen... Die Leute lassen sich eher in Stücke reißen, ehe sie den Mund auftun...
Bei diesen Worten lachte der Graf hell auf... „Verzeihen Sie, Kolokotronski..., obwohl es sich um eine so ernste Sache handelt, muß ich lachen... Die Kerle... Sie hatten sich während Ihrer Abwesenheit hier im Schlosse eingenistet und lebten in einem Dienerzimmer herrlich und in Freuden... Ich glaube, die Batterie Flaschen, die sie geleert haben, steht noch da...“
Kolokotronski fragte hastig, wer die Drei gewesen seien, wie sie ausgesehen hätten... Der Alte beschrieb sie ganz genau.
„Sie haben unrecht, Herr Graf, diese Menschen gering zu achten. Es sind alles einfache Leute, die ihr Leben an die Idee wagen... Man muß nur mit dem Begriff Verschwörer' oder Mitglied des Geheimen Komitees' nicht romantische Vorstellungen verknüpfen... Die Menschen leben gehetzt wie das Wild... Täglich und stündlich vom Tode bedroht... Sie sichern den Kleinkrieg gegen ihre Unterdrücker, wie sie es verstehen... Ihre Tätigkeit bringt es mit sich, daß sie nebenbei etwas vom Räuber an sich haben... Die beiden andern schätze ich auch nicht sehr hoch ein... Es sind brauchbare Werkzeuge, weiter nichts... Aber der Student, das ist der Kopf, der geistige Leiter... Er hat wirklich die Verbindung mit der Zentralleitung... Übrigens mit den zehn Mann, die der Julian werben soll, ist nichts anzufangen... Wir werden sie nach Hause schicken...“
Schweren Herzens hatte der Graf seine Zustimmung gegeben... Er mußte sich dem Gewicht der dagegen angeführten Gründe beugen... Er wollte fort... Hier, wo er wie ein Gefangener leben mußte, hielt er es nicht aus... In der größten Zeit seines Lebens hatte er wie ein Wilder in einer Hütte gehaust, im Kampf mit der Natur... Er wollte zurück in seinen Wald, auf seinen See... Kolokotronski bat ihn zu bleiben. Er sei hier sicherer als dort... Denn... Es sei dort etwas passiert, was man ihm in die Schuhe schieben könnte... Der Fischmeister Malloch sei von ihm ins Jenseits spediert worden.
Der Graf schauderte, als Kolokotronski ganz gelüsten erzählte, der „Kerl“ müsse ihn wohl vor der Höhle beobachtet haben... Er sei ihm nachgeschlichen... Es habe einen kurzen aber harten Kampf gegeben... Mit gleichgültiger Miene hatte Kolokotronski erzählt, als wenn er von einem Dritten sprach, nicht von sich selbst... Ein Menschenleben schien für ihn gar keine Bedeutung zu haben...
Nun war es allerdings geratener, wenigstens vorläufig, auf russischer Seite zu bleiben, bis durch Abraham Sareyski Nachrichten eingezogen waren, ob das Verschwinden des Fischmeisters zu Nachforschungen Anlaß gegeben hätte... Daß die Leiche des Mannes nicht so leicht aufgefunden werden würde, hatte er aus kurzen Andeutungen Kolokotronskis entnommen.
Achtzehntes Kapitel.
Die Kosa, das Gefängnis von Kolno, war nicht etwa ein großes steinernes Haus mit dicken schwedischen Gardinen und hoher Mauer, sondern ein aus Rundhölzern erbautes Blockhaus, wie es von den Russen dort an der Grenze errichtet wird. Es beherbergte sonst keine schweren Verbrecher, denn die wurden sofort weiter nach Stuczyn transportiert, wo ein mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattetes Hotel sie aufnahm. In die Kosa wurden nur diejenigen eingesperrt, die wegen eines leichteren Vergehens einige Zeit hinter Schloß und Riegel gesetzt werden mußten. Zwei alte ausgediente Straschniks, von denen der eine verheiratet war, führten die Aufsicht... Der Verheiratete hatte auch die Verpflichtung, die Gefangenen zu beköstigen.
Jetzt hatte sich die Sachlage geändert. Die beiden großen Räume der Kosa waren mit Menschen vollgepfropft... Die Feder sträubt sich, die Greuel eines solchen Gefängnisses zu schildern... Hoch oben an der Decke waren einige kleine Luftlöcher angebracht, durch die ein dämmriger Schein hineinfiel... Ohne Decke, viele halb bekleidet, hockten die Menschen dicht gedrängt nebeneinander... Manchmal öffnete sich einmal am Tage das Schiebefenster... Manchmal auch nicht... Einige Brote wurden hineingereicht... Viel zu wenig, um den Hunger zu stillen... Mit den kraftlosen Händen mußte man das harte Brot zerbrechen... Wasser gab es etwas reichlicher... Aber jeder mußte sich begnügen, sein hartes Brotstück einzutauchen... Zu einem tiefen Schluck langte es nicht...
Wenn das Schloß ging und die Tür sich öffnete, sprangen alle auf, streckten die Hände aus und bettelten: „Väterchen, nimm mich mit... Ich will aussagen... Alles... was ich weiß...“
Es war ihnen gleich, wohin es ging, ob zum Tod oder zum Verhör... Nur hinaus, hinaus aus der verpesteten Luft... Man beneidete die beiden alten Männer, die schon an Entkräftung gestorben waren... Ihre Körper hatte man sitzend gegen die Tür gelehnt... Als sie geöffnet wurde, fielen sie um, nach außen... Wohl oder übel mußten die Aufseher zupacken und sie hinausschleifen...
Die Bewachung der Kosa durch eine dichte Postenkette hatte aufgehört. Man hielt es wohl für ausgeschlossen, daß diese traurigen Gestalten versuchen könnten, auszubrechen... Nur zwei Posten waren geblieben. Der eine bewachte die Tür... Der andere ging langsam um das Gebäude herum...
Finster und regenschwer senkte sich die Nacht auf die Erde herab. Schwere Wolken verhüllten den Himmel... Der dichte Nebel, der schon am Tage die Luft erfüllt hatte, hatte sich bald nach Sonnenuntergang zu einem feinen Regen verstärkt...
Der eine Posten hatte sich ins Schilderhaus gestellt. Nur ab und zu trat er hinaus, um durch eine Spalte im Fensterladen in das Zimmer der Aufseher zu lugen... Die Kerle hatten es gut... Ein alter Kamerad war bei ihnen zu Besuch eingekehrt... Ein Wandersmann... Er zog hin und her durch das weite russische Reich... Manchmal arbeitete er... Meistens ernährte er sich durch Betteln. Die Bauern gaben noch immer einem Pilger, der eine Wallfahrt machte...
Der Pilger hatte Geld. Er hatte es gefunden, wie er sagte... Es lag allerdings ein Mensch dabei, aber der schlief so fest... Jetzt wollte er sich einmal ordentlich satt trinken und seine alten Kameraden sollten auch etwas davon haben... nicht Wodki, sondern Arbaty... Einen steifen Teepunsch von Rum. Bereitwillig hatte der eine Aufseher einige Flaschen geholt... Jetzt saßen die drei und tranken und erzählten sich von alten Zeiten... Vergeblich hatte der Posten schon einige Male an den Fensterladen gepocht... Die Kerle schienen gar nicht daran zu denken, daß er hier in Wind und Regen stand... Schließlich schlug er mit der Faust gegen den Laden und schrie: „Ihr Geizhälse... Ihr Raben... Wollt Ihr alles in Euren Hals gießen?“
Das Soldatenweib fühlte Mitleid mit dem Posten. Sie nahm die Schlüssel vom Nagel und schloß die Haustür auf... „Komm herein, es ist genug da... Nach einer Weile kam der andere Posten, der unter Wind gestanden hatte, um die Ecke. Jetzt sollte sein Kamerad spazieren gehen... Er wollte jetzt auch eine Weile im Schilderhaus stehen, oder vielmehr im Sitzen ein Schläfchen machen... Sein Kamerad war nicht da... Er schaute durch die Spalte... Donnerwetter... Da drinnen war's gemütlich...
Er drückte gegen die Haustür... Sie war nicht verschlossen... Bereitwillig spendete ihm Marinka von dem heißen Getränk...
Er lehnte sein Gewehr an die Wand und setzte sich zu den Männern.
Es war ein schnurriger Kerl, dieser alte Kamerad! Wo war er überall gewesen! Das ganze Reich kannte er, von Petersburg bis Odessa, von Kolno bis Astrachan! Und wie konnte er erzählen... Man vergaß alles bei dem Zuhören... Nur das Trinken nicht... Unaufhörlich forderte der Pilger dazu auf... „Marinka, Du Faultier... Schütt frische Kohlen auf, gieß Wasser nach... Der Samowar ist beinahe leer... Trink, Brüderchen, trink... Morgen werden wir alle nichts haben... Aber heute sind wir lustig...“ Er erzählte noch immer, als die anderen schon schliefen... Einem nach dem andern war der Kopf schwer geworden... Marinka hatte ihre Lagerstätte aufgesucht und schnarchte im tiefsten Baß... Die Männer hatten die Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf darauf...
Langsam stand der Pilger auf und schüttelte jeden der Schläfer... Eine unwillige Bewegung, ein blödes Lachen war das einzige, was sie von sich gaben... Langsam schritt der Pilger zur Tür hinaus... Zog das Schlüsselbund aus der Haustür... Das Schloß der ersten Tür kreischte und knarrte... Drinnen rührten sich die Schläfer...
Er schob den Riegel von dem Schiebefenster zurück und flüsterte hinein: „Haltet Euch ruhig, Freunde... Keinen Laut... Einzeln müßt Ihr hinauskommen... Ihr seid frei...“ Knarrend öffnete sich die Tür... Zu zweien, dreien taumelten die schwankenden Gestalten hinaus, dem schwachen dämmrigen Schein entgegen, der durch die geöffnete Haustür hineindrang... Sie fragten, sie sprachen nicht... Draußen hielten sie die Hände in den Regen und leckten das Naß von der Hand...
Ebenso still und geräuschlos leerte sich der zweite Raum... Langsam schritt der graubärtige Pilger davon... In weitem Bogen ging er um die Datschen des Beamtenviertels herum, dem Schloß zu...
In Kolokotronskis Zimmer brannte noch Licht. Unruhig ging der Pole auf dem dicken Teppich auf und ab... Er hatte zu lesen versucht, aber selbst der spannendste Roman war nicht imstande, ihn vor seinen Gedanken zu schützen. Er merkte, daß seine Augen die Seiten überflogen hatten, aber von dem Inhalt wußte er nichts; er hatte beim Lesen an ganz etwas anderes gedacht.
Nicht etwa, daß ihn der Tod der beiden Männer beschäftigte, die erst in der letzten Zeit von seiner Hand gefallen waren... Der Begriff „Gewissen“ existierte für ihn nicht... Das war ein Märchen aus der Kinderstube, das nur dazu erfunden war, um Schwächlinge zu schrecken. Für ihn existierte als oberster Grundsatz seiner Lebensregeln nur die selbstsüchtige Zweckmäßigkeit! Was in Befolgung dieses Grundsatzes geschehen mußte, war gut, denn es war notwendig.
Ihn beschäftigte nie der Gedanke an die Vergangenheit. Wenn er sich einmal darauf einließ, über die Zukunft nachzudenken, dann machte er sich auch nicht viel Kopfzerbrechen. Seine scharfen Gedanken durchliefen schnell die gegebenen Möglichkeiten und in demselben Augenblick war auch der Entschluß gefaßt... Diesmal war es anders... Diesmal kämpften in ihm zwei Vorstellungsreihen, von denen keine der anderen weichen wollte. Auf der einen Seite stand seine Leidenschaft für Serafine Alexandrowna. Sie war gegen alle Vernunftsgründe, sie wollte sich vom Verstand nicht überzeugen lassen, daß Stroganoff, wenn es zum Äußersten kam, sich mit allen Mitteln gegen den Nebenbuhler, der ihm sein Weib entreißen wollte, wehren würde. Die Möglichkeit, mit Serafine Alexandrowna heimlich ins Ausland zu fliehen, war jetzt durch den Verlust des Geldes, das Gregor geraubt hatte, abgeschnitten.
Kolokotronski war nicht reich... Die Güter trugen gerade soviel als er verbrauchte. Und in diesen unruhigen Zeiten eine Hypothek aufzunehmen, war nicht so leicht, zum mindestens gehörte Zeit dazu... Der Graf hatte ihm allerdings seine Beihilfe in Aussicht gestellt, aber er scheute sich, ihn darum anzugehen. Dann hatte er die Frage zu erwarten, wozu er das Geld brauche...
Eine verdammte Situation! In seinem Sinnen wurde er durch den Eintritt des Alten gestört. Der Graf hatte noch die zerlumpte Kleidung des Pilgers an... Sein Schritt schwankte etwas, seine Augen blickten starr. Er ließ sich schwer in einen Sessel fallen...
„Es ist alles gut gegangen, aber es war eine schwere Arbeit... Ich mußte meine ganze Willenskraft aufbieten, um nüchtern zu bleiben... Wenn es Ihnen möglich ist, sehen Sie zu, daß Adlersberg von den Straschniks das Äußerste abwendet... Gute Nacht, Kolokotronski, ich will schlafen... Und ich werde gut schlafen, ich habe ein gutes Werk getan...“
...Im Beamtenviertel gab's am anderen Morgen eine große Aufregung, als die Flucht der Gefangenen entdeckt wurde. Chomjäkow, Stroganoff und Adlersberg stellten ein scharfes Verhör mit den beiden Straschniks und den Aufsehern an. Der Tatbestand war bald festgestellt... Ein alter Mann mit grauem Bart, der sich als Kamerad ausgegeben, hatte sie alle betrunken gemacht und dann ohne jedes Hindernis die Gefangenen herausgelassen.
Nach der Beschreibung, die von den Aufsehern gegeben wurde, konnte es nur der rätselhafte Doppelgänger Kolokotronskis gewesen sein... Er trieb also noch hier sein Wesen... Und die Wahrscheinlichkeit lag nahe, daß er irgendwo in der Nähe seinen Unterschlupf hatte. Aber wo? Stroganoff meinte, es sei doch nicht ganz von der Hand zu weisen, daß man den trinkfesten Pilger im Schloß, bei Kolokotronski versteckt, finden könnte.
Der Major widersprach. Er erinnerte daran, daß Kolokotronski noch vor kurzem eine sehr loyale Erklärung abgegeben habe. Es hieße auch an seiner Intelligenz zweifeln, wenn man annehmen wollte, daß er seine Existenz durch eine Beteiligung an den Umtrieben der Revolutionäre aufs Spiel setzen könnte. Stroganoff zuckte dazu die Achseln, aber er widersprach nicht. Und Chomjäkow meinte, es liege demnach kein genügender Grund vor, um bei Kolokotronski eine Haussuchung abzuhalten... Man müßte sich also mit der Verfolgung der Entsprungenen begnügen. Die meisten würden sicherlich ihre Dörfer wieder aufgesucht haben, um sich einmal ordentlich satt zu essen und auszuschlafen. Er hatte schon mehrere Abteilungen Dragoner ausgeschickt. Stroganoff wollte gleich nach dem Frühstück ausführen, um selbst die Nachforschungen zu leiten.
Neunzehntes Kapitel.
Als die Herren, die Stroganoff zum Frühstück eingeladen hatte, aus dem Bureau in die Wohnung traten, fanden sie außer dem ständigen Besucher Juri auch Kolokotronski. Er war, wie er zu Serafine Alexandrowna sagte, gekommen, um sich zu entschuldigen, daß er so lange seine Ritterpflicht habe versäumen müssen. Stroganoff konnte sich bei diesen Worten ein höhnisches Lächeln nicht verbeißen.
„Sie mußten wohl einen kleinen Abstecher in das Reich Amors tun?“
„Bedaure, Herr Landrat, es war diesmal eine etwas wichtigere Angelegenheit. Ich kann es den Herren mitteilen, es wird Sie vielleicht interessieren. Wir haben durch einen Vertrauensmann, der sehr gut unterrichtet ist, erfahren, daß unser erhabener Kaiser, den Gott erhalte, aus Gnade dem russischen Reiche eine Verfassung verleihen wird.“
Kolokotronski weidete sich einen Augenblick an der Überraschung, die sich auf den Gesichtern der Anwesenden spiegelte, dann fuhr er fort: „Ja, es ist so... Man beratschlagt gegenwärtig an zwei Entwürfen, aber an dem Willen des Kaisers ist nicht mehr zu zweifeln. Sie können sich denken, meine Herren, daß diese Nachricht auch meine Standesgenossen angeht... Wir hatten deshalb mit einer ganzen Anzahl von Führern meines Volkes eine Besprechung auf preußischem Gebiet, deren Ergebnis bereits in ausführlicher Darlegung dem kaiserlichen Ministerium in Petersburg mitgeteilt worden ist. Ich kann es Ihnen also auch mitteilen. Wir haben beschlossen und, wie ich betonen möchte, als selbstverständlich beschlossen, daß wir uns an den bald zu erwartenden Wahlen mit aller Kraft beteiligen, um eine Partei zu schaffen, die in der Volksvertretung unsere Interessen wahrnimmt. Wir wollen auf dem Boden der Gesetze für Erweiterung unserer Rechte kämpfen, wir haben damit auch die auf Unkenntnis der Verhältnisse beruhende Anregung abgelehnt, die auch nicht von den Polen Rußlands voraussetzt, mit ungesetzlichen Mitteln die Bewegung zu fördern, die auf den Umsturz der gegenwärtigen Regierungsform hinarbeitet.“
Was Kolokotronski erzählte, war nicht aus der Luft gegriffen, er hatte es durch ein längeres Schreiben erfahren, das Graf Iswolski aus Galizien von seinen Freunden erhalten hatte. Chomjäkow dankte mit kühlen Worten für diese Mitteilung. Allerdings hätten sie hier augenblicklich ganz andere Sorgen. Und es sei leider Tatsache, daß die polnischen Bauern sich zu Gewalttätigkeiten aufstacheln ließen. „Wie ich mit Bestimmtheit annehme, von einem Komitee russischer Revolutionäre“, fiel Kolokotronski ein. „Und wenn ich bitten darf, gehen Sie mit meinen armen, verführten Landsleuten nicht zu scharf ins Gericht... Das erzeugt Verbitterung und verschärft nur die Gegensätze...“
Ohne eine Spur von Empfindlichkeit erwiderte Chomjäkow, er habe nur die Befehle der Regierung auszuführen, die ein schonungsloses Eingreifen verlangten; wenn er andere Befehle erhielte, werde er sich danach richten. Kolokotronski verbeugte sich zustimmend. Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu.
Gleich nach dem Essen fuhr Stroganoff fort. Iwan Piotrowitsch blieb. Ein dunkles Gefühl sagte ihm, daß der Pole derjenige sein mußte, der störend in die Ehe Stroganoffs eingegriffen hatte. Freilich, Serafine Alexandrowna behandelte Kolokotronski mit einer kühlen Zurückhaltung, die auch Juri mit stiller Freude fühlte. Es schmeichelte ihm, denn er nahm an, sein stilles Liebeswerben habe den Polen aus der Gunst der angebeteten Frau verdrängt.
Dem scharf beobachtenden Chomjäkow entging es nicht, daß Kolokotronski Serafine Alexandrowna mit einem Hauch von Vertraulichkeit behandelte, daß seine Worte mitunter einen Doppelsinn zu enthalten schienen, der ein geheimes Einverständnis zwischen beiden annehmen ließ... Er beteiligte nach seiner Gewohnheit sich sehr wenig an der Unterhaltung. Das schien den Polen gar nicht zu genieren, der mit spielender Leichtigkeit die Unterhaltung führte. Er schlug der Hausherrin vor, die schönen Tage zu Spazierritten zu benutzen. Über der Grenze, in Preußen gäbe es idyllisch schöne Landschaften. Serafine Alexandrowna lenkte kühl ab. Sie hätte augenblicklich kein Reitpferd... Als Kolokotronski ihr ein frommes, gut zugerittenes Pferd zur Verfügung stellen wollte, erwiderte sie mit derselben Zurückhaltung, sie sei jetzt nicht in der Stimmung, habe auch keine Zeit zu solchen Zerstreuungen... Sie müsse ihre Fürsorge der unglücklichen Frau Nekrassows widmen.
Auch aus diesen Worten, die etwas scharf klangen, glaubte Iwan Piotrowitsch einen geheimen Sinn, der nur dem Polen verständlich war, herauszufühlen. Die gleiche Empfindung hatte er bei der Antwort Kolokotronskis, der sofort eine Beihilfe für die Witwe und Waisen anbot...
Als Serafine Alexandrowna kühl erwiderte, sie habe bereits eingegriffen, hielt es Kolokotronski für geraten, sich zu verabschieden. Als er wie gewöhnlich ihre Hand zu den Lippen führen wollte, fühlte er deutlich ein Widerstreben... Nur unter einer tiefen Verbeugung konnte er den mißglückten Versuch zu einem Handkuß verbergen. Serafine Alexandrowna sah ihm scharf nach, als er zur Tür schritt... Und sie fand ihre Vermutung bestätigt... Schon bei seinem Eintritt hatte sie es zu sehen geglaubt, daß er mit dem rechten Fuß etwas anstieß... Ganz unmerklich für den, der es nicht vermutete, aber doch bemerkbar für den, der scharf darauf achtete. Es war also richtig, was Fedor Maximowitsch ihr mitgeteilt hatte...
Kolokotronski fuhr sehr verstimmt nach Hause. Er wußte nicht, ob die Anwesenheit der beiden andern Serafine Alexandrowna zu ihrem kühlen Verhalten bestimmt hatte. Es war ja wahrscheinlich, daß sie damit nur eine verdächtigende Vertraulichkeit abwehren wollte... Andererseits konnte ihr Verhalten auch als Bestätigung ihres Briefes aufgefaßt werden. Sie ließ sich wirklich davon bestimmen, was sie vermutete... Oder war ihr Interesse für ihn wirklich erloschen...? Sie hatte einen leichten unverbindlichen Flirt erwartet und schrak nun vor der Leidenschaft des Mannes zurück, der von ihr die letzten Konsequenzen einer ernsten Liebe verlangte...
Aber sie irrte sich, wenn sie glaubte, daß ihre Zurückhaltung genügen würde, die geknüpften Beziehungen zu lösen... Sie war es gerade, die Kolokotronskis Leidenschaft aufs Höchste anfachte... Während sie ihn mit flüchtigem, kühlen Blick streifte, fieberte in seinem Kopf die Vorstellung, daß er dies herrliche Weib in seinen Armen gehalten, daß er glühende Küsse von ihren Lippen gesogen. War es denkbar, daß sie nur unter einem unwiderstehlichen Zwange gehandelt hatte, von dem ihr Herz nichts wußte... Daß er die erste und einzige Begegnung mit ihr nur durch die geheimnisvolle Macht erzwungen hatte, die er über sie ausgeübt hatte…
Nun wohl... Dann mußte er Gelegenheit suchen, sie diese Macht wieder fühlen zu lassen. Konnte er ihr Herz nicht erobern, dann wollte er wenigstens ihren Willen unterjochen... War es auch nur der Widerhall seines eigenen Willens, seiner Leidenschaft... Er war auch damit zufrieden...
Nach Kolokotronskis Entfernung gingen auch die beiden anderen. Chomjäkow merkte, daß Serafine Alexandrowna verstimmt war... Der Besuch des Polen schien in ihr unangenehme Empfindungen ausgelöst zu haben, und er hielt es für geraten, diese Empfindungen in der jungen Frau nachwirken zu lassen. Sie würden die geheimen Fäden, die sich zwischen den beiden schon stark gelockert zu haben schienen, vollständig zerreißen... Er verneinte, deshalb auch, als Serafine Alexandrowna ihn beim Abschied fragte, ob sie ihn abends erwarten dürfe. Es war gut, wenn die junge Frau mit ihren Gedanken allein blieb.
...Stroganoff amüsierte sich mit einer Art von Galgenhumor über die drei Verehrer, die er bei seiner Frau zurückgelassen hatte. Eigentlich hatte sie in dem kleinen Grenznest eine reiche Auswahl. Einen schmachtenden Jüngling, einen stürmischen Eroberer und einen feinen Weltmann, der voll Raffinement seine Netze um sie warf. Denn daß auch Chomjäkow in Serafine Alexandrownas Banden lag, stand für ihn außer allem Zweifel. Und das war ihm gar nicht unangenehm. Wenn der Herr Staatsrat ein Interesse für Serafine Alexandrowna gewonnen hatte, würde er wahrscheinlich dafür sorgen, daß der Ehemann nach Petersburg versetzt wurde.
Die Flucht der Gefangenen war ja allerdings unangenehm, aber die Verantwortung dafür konnte man ihm nicht zuwälzen, die trug der Major, der nicht nur selbst sehr bequem im Dienst war, sondern auch die Zügel der Disziplin in seiner Truppe sehr locker hielt. Die Posten hatten sich augenscheinlich ganz sicher gefühlt, daß sie nicht revidiert werden würden... Er hatte sich in dieser Beziehung ganz rücksichtlos zu Chomjäkow geäußert und war überzeugt, daß der Major zum mindesten einen gehörigen Wischer bekommen würde. Vielleicht langte es auch zu einer Strafversetzung.
Er hatte sich eine Eskorte von 15 zuverlässigen Leuten durch Aksakow zusammenstellen lassen. Den Dragonern, die der Staatsrat ausgeschickt hatte, traute er nicht recht. Das Regiment rekrutierte sich aus einer Gegend, die jetzt gerade in hellem Aufstand begriffen war, und etwas von dieser Gesinnung war auch bei den Soldaten, die von dort stammten, zu spüren. Stroganoff hatte richtig vermutet. Gleich im ersten Dorfe erfuhr er, daß die Dragoner pflichtgemäß bei dem Dorfältesten nach den Flüchtlingen geforscht und sich mit der verneinenden Antwort begnügt hatten.
Der Landrat hatte besseren Erfolg... Er hatte sich aus den Akten eine Liste anfertigen lassen, in der Name und Wohnort der Flüchtlinge bezeichnet waren. Er ließ den Herrn Gemeindevorsteher sehr scharf an und ließ sich von ihm herumführen. Gleich im ersten Gehöft fand er einen, den er suchte. Der arme Kerl lag im Bett, er hatte sich bei dem hastigen Genuß der kräftigen Kost, an die er nicht mehr gewöhnt war, den Magen verdorben und war schwächer und elender, als er in der Kosa gewesen.
Stroganoff schärfte dem Ortsvorsteher ein, daß er selbst eingesperrt werden würde, wenn der Flüchtling entweiche und suchte weiter... Er fand noch mehrere, die er gleich mitnahm. Im nächsten Dorfe ging es ebenso. Auch im dritten. Gut ein Drittel aller Entsprungenen hatte er wieder in seiner Gewalt.
Bei den vielen Haussuchungen war die Zeit schnell vergangen. Es dämmerte bereits, als er sich auf den Rückweg machte. Der Zug mit den Gefangenen kam nur langsam vorwärts... Viele konnten sich kaum auf den Beinen halten, sie mußten förmlich geschleppt werden... Das Weinen und Jammern der Weiber und Kinder, denen man zum zweitenmal den Ernährer nahm, war ihm auf die Nerven gefallen... Er konnte die Jammergestalten, hinter denen er fuhr, um sie im Auge zu behalten, nicht mehr ansehen. Er ließ deshalb den Kutscher auf der breiten Landstraße an dem Zuge vorbeifahren und schärfte dem Unteroffizier ein, auf die Gefangenen ein gutes Auge zu haben. Am besten, wenn die Straschniks ihre Gewehre geladen in der Hand hielten, anstatt sie auf der Schulter zu tragen. Es sei nicht unmöglich, daß der Zug überfallen würde. Dann befahl er dem Kutscher, scharf zuzufahren. Die Straße führte durch freies Feld... Es war also kaum eine Gefahr zu befürchten.
Der Kutscher ließ sich das nicht zweimal sagen. Er fuhr nicht gern mit seinem Herrn durch die Dunkelheit... Nicht weit von der Stadt lief der Bach, der neulich Julian Niemcewicz bei der Flucht begünstigt, über den Weg... Um die Brücke zu sparen, hatte man seine Uferränder abgeschrägt, aber nicht sehr weit... Der Weg ging steil hinunter und stieg ebenso steil an der andern Seite hinauf. Der Kutscher mußte die schnelle Fahrt hemmen und vorsichtig fahren, denn die Pferde würden sich wahrscheinlich vor dem Wasser scheuen...
Als der Wagen mit den Vorderrädern in den Bach eintauchte, blitzte es in dem Ufergebüsch auf. Unmittelbar darauf krachte es auch von der andern Seite... Zwei Schüsse waren gefallen… In jähem Schreck schlug der Kutscher auf die sich bäumenden Pferde ein... Der Wagen raste den jenseitigen Abhang empor... Und weiter... Erst nach einer Weile wagte der Kutscher einen Blick nach hinten zu werfen... Der Landrat lag vornüber auf dem Spritzleder... Von Entsetzen erfaßt, schlug der Mensch wieder auf die Pferde ein, so daß sie in gestrecktem Galopp die wenigen Kilometer bis nach Hause zurücklegten...
Die Straschniks, die vor der Kaserne standen, einige Männer, die den Wagen vorbeirasen sahen, liefen ihm nach... Sie kamen gerade, als schon die Diener und Hausbeamten aus dem Hause traten... Man hob den Verwundeten, der nur manchmal leise stöhnte, vom Wagen und trug ihn auf die Chaiselongue des Wohnzimmers... Nach wenigen Augenblicken war der Arzt da... Der Major kam, der Hauptmann Aksakow, der Staatsrat...
In düsterem Schweigen standen sie um das Lager des Verwundeten. Rücksichtslos zerschnitt der Arzt die Kleider und das Hemd, um sie so schnell als möglich vom Körper zu entfernen. Als er Wunden erblickte, schüttelte er unwillkürlich den Kopf... Da war wenig Hoffnung... Von beiden Seilen war mit grobem Wolfshagel aus Schrotgewehren geschossen worden und wie es schien, aus nächster Nähe; denn die groben Hagel hatten nicht nur den dicken Mantel samt der Pelerine durchschlagen, sondern waren noch tief in den Körper eingedrungen...
Serafine Alexandrowna stand stumm und bleich neben Chomjäkow, jetzt kam der Arzt auf sie zu... „Gnädige Frau... ich darf Ihnen nicht verhehlen, daß ich wenig Hoffnung habe. Aber ich will alles versuchen. Wollen Sie nach Stuczyn telegraphieren, daß mein Kollege hinauskommt... Dann bitte ich den Tisch abräumen zu lassen, ich muß versuchen, ob ich nicht einige der Geschosse aus dem Körper entfernen kann... Ich bitte die Herrschaften, sich zurückzuziehen...“
Während der Arzt seine Operation vornahm, saßen die anderen stumm im Nebenzimmer. Die Schwere des Ereignisses lag mit beklemmender Schwere auf ihnen. Wenn sie von den Attentaten gelesen hatten, denen bald hier, bald dort ein Beamter zum Opfer gefallen war, dann hatten sie wohl ein Wort des Bedauerns oder des Entsetzens gesprochen, aber tiefer war die Empfindung nicht gegangen.
Sie hatten nicht gedacht, daß die unheimliche im Finstern schleichende Macht auch unter ihnen sich ein Opfer wählen könnte...
Keiner dachte daran, der Frau Trost zuzusprechen... Serafine Alexandrowna saß am Tisch, sie hatte den Kopf in die Hand gestützt, daß der Schatten auf ihr Gesicht fiel. Sie war von dem traurigen Geschick, das Fedor Maximowitsch getroffen hatte, erschüttert. Es widerstrebte ihr aber, eine Verzweiflung zu heucheln, die sie nicht empfand. Dazu hatte sie zuviel unter den Umständen gelitten, die ihre Ehe zerrüttet hatten... Jetzt war der Groll aus ihr weggewischt, das Mitleid trat an seine Stelle... Was er, dessen Leben jetzt mit dem rinnenden Blute davonfloß, ihr auch angetan, er war doch ihr Mann, er hatte ihr einmal süße Liebesworte in das Ohr geflüstert... Eine Träne trat aus ihren Augen. Sie achtete nicht darauf... Mit schnellem Entschluß erhob sie sich. „Verzeihen Sie, meine Herren, ich muß zu meinem Mann gehen.“
An der Tür kam ihr der Arzt entgegen. „Noch einen Augenblick, gnädige Frau, bis wir Fedor Maximowitsch zu Bett gebracht haben... Es ist nicht unmöglich, daß das Bewußtsein noch einmal zurückkehrt.“
Wohl eine Stunde saß Serafine Alexandrowna an dem Krankenlager ihres Mannes und blickte stumm in das vom Schmerz zerwühlte Gesicht. Eine Stunde ernster Selbstprüfung... wenn sie damals, als Fedor Maximowitsch sie zum erstenmal durch seine Untreue beleidigte, verziehen hätte... Wirklich verziehen... Wenn sie sich Mühe gegeben, ihn an sich zu fesseln... Ihren Reizen, ihrer Schönheit, der alle Männer so auffällig huldigten, wäre es sicher gelungen... Es widerstrebte ihr, mit der kleinen Schauspielerin, die schon vorher zu ihm in Beziehungen gestanden, um den Mann zu kämpfen, dessen Liebe ihr von Rechts wegen zukam... Statt dessen trieb sie ihn durch ihre Kälte, durch schroffe Abweisungen der Nebenbuhlerin in die Arme...
Und als diese sich von ihm abwandte und einem reichen jungen Liebhaber den Vorzug gab, da erst war er völlig steuerlos geworden. Vor der Welt stand sie völlig gerechtfertigt da, wenn sie bekannt gab, was Fedor Maximowitsch ihr angetan... Vor sich selbst in diesem Augenblick nicht... Da regte sich etwas in ihr, wie Schuldbewußtsein... Sie beugte sich vor und nahm die Hand des Kranken. Es war, als ob Stroganoff die heißen Hände, die seine kalten Finger umschlossen, fühlte... Er schlug die Augen auf... langsam trat ein Strahl der Besinnung in sie hinein. Und jetzt schien es ihr, als ob in ihnen ein Ausdruck von Freude, von Dankbarkeit stand. Die Lippen bewegten sich... Sie beugte sich zu ihm hinab... Wie ein Hauch kam es aus seinem Munde: „Ich danke Dir...“
Mit Tränen in den Augen küßte sie ihm die Stirn... Ein leiser, kaum merklicher Druck seiner Hand schien ihr dafür zu danken. Mit geschlossenen Augen lag Stroganoff noch einige Minuten, dann versuchte er den Kopf zu heben... Der Arzt sprang hinzu und legte die Hand unter den Nacken... Fedor Maximowitsch öffnete die Augen und schien mit ihnen jemand zu suchen... Dann sprach er deutlich: „Chomjäkow!“
Iwan Piotrowitsch trat an sein Bett und beugte sich über ihn. Mit einer sichtbaren Anstrengung flüsterte Stroganoff ihm zu: „Schützen Sie meine Frau... Kolokotronski... verhaften...“
Das letzte Wort hatte er mit dem letzten Aufgebot seiner Kräfte herausgestoßen... Ein krampfhafter Husten erstickte seine Stimme, ein Blutstrom brach aus seinem Munde... Einen Augenblick haftete noch sein Auge mit unaussprechlicher Zärtlichkeit auf Serafine Alexandrowna, die noch immer seine Hand hielt. Dann streckte sich der Körper... Die Augen brachen.
Erschüttert sank die junge zur Witwe gewordene Frau an dem Totenbett ihres Mannes nieder. Zum erstenmal hatte sie einen Menschen sterben sehen. Iwan Piotrowitsch hob sie auf und trug sie mit Hilfe des Arztes, der dem Toten die Augen zugedrückt hatte, in das Nebenzimmer... Während sie bewußtlos aus der Chaiselongue lag, fragte Chomjäkow den Arzt, was die letzten Worte Stroganoffs bedeuten könnten.
Makarew erwiderte, er könne nur Vermutungen aussprechen, und das sei doch bei der Schwere des Falles nicht angängig. Als der Staatsrat in ihn drang, erzählte er, daß der angebliche Selbstmord des Polizeimeisters Nekrassow aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mord oder juristisch ausgedrückt ein Totschlag gewesen sei... Die Anzeichen seien zwar kein Beweismittel, aber doch eine starke Begründung dieser Annahme.
„Merkwürdig, daß Stroganoff zu mir nicht davon gesprochen hat.“
Der Arzt wurde verlegen. „Ich möchte nicht gern Vermutungen aussprechen, die zu Mißdeutungen Anlaß geben könnten... Es handelt sich wahrscheinlich um persönliche Verhältnisse.“
Chomjäkow schüttelte heftig den Kopf. „Bedenken Sie, das letzte Wort Stroganoffs war verhaften`... Und ich bin entschlossen danach zu handeln, selbst auf die Gefahr hin, daß ich mir dadurch Unannehmlichkeiten zuziehe...“
„Auch auf die Gefahr hin, daß Serafine Alexandrowna dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird.“
„Wie meinen Sie das?“
Der Arzt zog den Staatsrat in die andere Ecke des Zimmers und flüsterte ihm zu: „Stroganoff war eifersüchtig auf Kolokotronski, man spricht davon, daß Serafine Alexandrowna fast zu derselben Zeit, in der Nekrassow den Tod erlitt, im Park des Schlosses gewesen sei…“
Chomjäkow ließ sich auf einen Stuhl nieder und stützte den Kopf in die Hand... In ihm wankte alles... er wußte, daß Serafine Alexandrowna eine lebensfrohe, auch etwas gefallsüchtige Frau war, die sich gern den Hof machen ließ. Sollte sie unter dem Druck ihrer ehelichen Verhältnisse weitergegangen sein? Sollte sie ihrem Mann begründete Ursache zur Eifersucht gegeben haben?...
Doktor Makarew hatte sich verabschiedet. Er hatte der alten Warruscha, die sich um ihre Herrin bemühte, noch die Anweisung gegeben, ihr kalte Kompressen auf den Kopf zu legen... Nach einer Stunde werde er nach ihrem Befinden sehen. Es war nicht nötig... Als Serafine Alexandrowna das Bewußtsein wieder erlangt hatte, erhob sie sich. Sie mußte doch die nötigen Anordnungen treffen... Fedor Maximowitsch mußte aufgebahrt werden... Man mußte das Zimmer dazu rüsten... Eine Abordnung des Regiments oder der Grenzwache mußte zur Totenwache geholt werden...
Iwan Piotrowitsch ging ihr entgegen. „Ich werde die nötigen Anordnungen treffen... Darf ich danach noch um eine kurze Unterredung bitten, Serafine Alexandrowna? Die letzten Worte Ihres verewigten Gemahls haben mir eine doppelte Pflicht auferlegt, deren Erfüllung keinen Aufschub duldet.“
Die Frau beugte zustimmend das Haupt...
„Fedor Maximowitsch wird mir verzeihen, wenn ich die Pflicht gegen ihn einen Augenblick hinausschiebe... Was haben Sie mir zu sagen, Iwan Piotrowitsch?“
Sie ließ sich am Tisch nieder und lud Chomjäkow mit einer Handbewegung zum Platz nehmen ein. Auf einen Wink von ihr schlich die alte Dienerin aus dem Zimmer. „Ich höre, Iwan Piotrowitsch.“
„Die letzten Worte Ihres Gemahls, die an mich gerichtet waren, lauteten: Schützen Sie meine Frau...` Selbstverständlich stelle ich mich Ihnen in jeder Beziehung zur Verfügung, Serafine Alexandrowna. Ich bitte Sie, mir in den nächsten Tagen Ihre Entschließungen mitzuteilen.“
„Ich danke Ihnen herzlich, Iwan Piotrowitsch. Ich werde mich gleich nach dem Begräbnis zu meinen Verwandten nach Warschau begeben. Sie würden mich verbinden, wenn Sie die Regulierung des Nachlasses übernähmen.“
Chomjäkow verbeugte sich zustimmend. „Die Worte Ihres Herrn Gemahls hatten nach meiner Auffassung einen tieferen Sinn, wenn man die beiden letzten Worte, mit denen sie doch in unmittelbarer Verbindung standen, dazu hält.“
Als die Frau schwieg, fuhr er zögernd fort: „Es fällt mir sehr schwer, die Angelegenheit zu berühren, Serafine Alexandrowna, aber ich bin es dem Toten schuldig. Seine Worte sind doch sinngemäß zu ergänzen: Schützen Sie meine Frau gegen Kolokotronski'. Ich will nicht in ein Geheimnis dringen... Ich frage nur, ob Sie meinen Schutz nach dieser Richtung annehmen, ob Sie ihn wünschen.“
Er sah forschend in die Augen der jungen Frau, die sich vor ihm senkten. „Ich muß Ihnen andeuten, daß sich ein böser Verdacht gegen Kolokotronski erhoben hat... Ich könnte ihn daraufhin verhaften lassen... Das würde vorläufig der beste Schutz für Sie sein. Es laufen aber Gerüchte um... Serafine Alexandrowna. Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, doch ich muß es aussprechen, daß der Tod des Polizeimeisters in einem gewissen Zusammenhang mit einem Spaziergang steht, den Sie gerade an jenem Unglückstage im Park des Schlosses unternommen haben sollen... dann wäre es für mich ausgeschlossen, gegen Kolokotronski vorzugehen... Bitte, Serafine Alexandrowna... ein einziges Wort genügt, um das Gerede zurückzuweisen.“
Serafine Alexandrowna hob den Kopf und sah ihm voll ins Gesicht... Ihre Augen leuchteten. „Nein, Iwan Piotrowitsch, ich will Ihnen alles sagen... Ja, ich war zu jener Stunde im Park... Ich war bei Kolokotronski, er begleitete mich zum Ausgange... Auf dem Rückwege zur Stadt hörte ich den Schuß fallen.“
Sie legte ihm die Hand auf den Arm, als sie sah, daß Chomjäkow sich anschickte, aufzustehen. „Ich habe Ihnen noch mehr zu gestehen. Kolokotronski hatte das Recht, den Lauscher zu töten.“
Sie sah, wie auf dem Gesicht Chomjäkows die Farbe wechselte... Erst stieg ein hastiges Rot in seine Wangen, dann wurde er bleich... Seine Augen funkelten vor Aufregung und seine Stimme zitterte als er sprach.
„Sie nehmen mir das Recht... den Polen persönlich zur Rechenschaft zu ziehen.“
„Nein, Iwan Piotrowitsch, ich beschwöre Sie... Hören Sie mich an... Ich handelte unter einem unwiderstehlichen Zwange... Ich war nicht frei... Sie scheinen mich mißzuverstehen... ich handelte nicht aus Leidenschaft... Dann würde ich Ihnen jetzt anders gegenüberstehen... Man wird es Ihnen schon erzählt haben... Als Kolokotronski zum ersten Male in meinem Hause war, unterhielt er uns mit magischen Experimenten... Ich ließ mich bestimmen, das Medium zu machen... Er schläferte mich durch seinen Blick, durch seine Handbewegungen ein, obwohl ich alle Willenskraft aufbot, um wach zu bleiben. Ich fühlte, wie mein Wille gelähmt wurde... In diesem Zustande habe ich Befehle ausgeführt, die er nur dachte...“
Chomjäkow schüttelte den Kopf. „Ich habe nie daran geglaubt.“
„Ich schwöre es Ihnen, Iwan Piotrowitsch, ich warf einen Apfel fort, weil ich ihn für eine Kartoffel hielt, ich tat, was er mir in Gedanken befahl... Er hat mich verzaubert... Er hat mir befohlen, was ich am anderen Tage tat... Ich zog mich an und ging in die Stadt... Ich trat in die Kirche, ich setzte mich hin und dachte nach... Ich konnte mich nicht entsinnen, ich fühlte nur, daß ich gehen mußte...“ Sie schwieg und holte tief Atem. „Wenn ich eine Spur von Leidenschaft für den Mann empfunden hätte, dann könnte sie nicht so spurlos verschwunden sein... Ich würde mich selbst entehren, wenn ich es Ihnen mitteilen würde, was ich eben gesagt... Nein, Iwan Piotrowitsch... es war mir eine Erlösung, als ich hörte, daß der unglückliche Mann, der Polizeimeister, gestorben war... Ohne, daß es mir einer sagte, wußte ich, daß er von Kolokotronskis Hand gefallen war... Da trat mir ein Grauen in die Seele... Der Bann war gebrochen... Ich fühlte es als Schmach, was der Mann mir angetan... Er hat mich umarmt, er hat mich geküßt...“
Mit kaum hörbarer Stimme fügte sie hinzu: „Eine gewisse Ritterlichkeit hielt ihn ab, mich ganz zu vernichten...“
Chomjäkow stand auf und faßte ihre beiden Hände.
„Ich danke Ihnen, Serafine Alexandrowna, daß Sie mir das Recht geben, den Herrn zur Rechenschaft zu ziehen.“
Er küßte ihre beiden Hände und schritt hocherhobenen Hauptes hinaus... Als die Tür sich hinter ihm schloß, brach die junge Frau lautlos zusammen. Erst nach einer ganzen Weile öffnete sich die Tür. Juri trat ein... Befremdet sah er sich im Zimmer um... Ehe er an die nächste Tür klopfte... da... am Tisch zusammengesunken, lag Serafine Alexandrowna. Er hob sie auf...
Er legte sie auf die Chaiselongue... Einen Augenblick sah er sie mit rührender Zärtlichkeit an... Sanft strich seine Hand über ihr Haar... Dann ging er hastig hinaus, um Hilfe zu holen...
Zwanzigstes Kapitel.
Iwan Piotrowitsch hatte auf dem kurzen Wege zu seiner Wohnung überlegt, was er zu tun hatte. Es war nichts anderes möglich, als daß er sich sofort selbst in das Schloß begab. Es war nicht üblich, daß man jemand, den man zur Rechenschaft ziehen wollte, zu sich einlud. Der andere Weg, Kolokotronski verhaften zu lassen, war um Serafine Alexandrownas willen ausgeschlossen. Es hätte ihm auch unter anderen Umständen widerstrebt, den Nebenbuhler durch amtliche Machtbefugnisse unschädlich zu machen...
Er dachte daran, irgend jemand, etwa den Major, mit Überbringung der Forderung zu betrauen... Das ging auch nicht an, weil er sonst dem Kartellträger den Grund der Forderung mitteilen mußte, und das war absolut ausgeschlossen... Er mußte Kolokotronski aufsuchen, ihm die Beleidigung ins Gesicht schleudern und dann seine Forderung abwarten.
Und wenn er nicht der war, für den man ihn hielt, war es dann ganz ausgeschlossen, daß er in die Höhle eines Löwen ging, in die viele Spuren hinein, aber nicht alle hinausführten?
Den Major von seinem Gange unterrichten...? Nein... das konnte nur als Furcht gedeutet werden... Es konnte auch zu Erörterungen im Kasino Anlaß geben, die er vermeiden mußte; denn Adlersberg war doch jetzt, um 9 Uhr abends, nicht zu Hause... Er saß doch sicherlich im Kasino, wo der tragische Tod Stroganoffs den Unterhaltungsstoff abgab. Aber damit vergab er sich nichts, wenn er eine Waffe einsteckte... Er wählte unter seiner ganzen Sammlung eine Browning-Pistole, versuchte, ob der Mechanismus gut spielte, lud sie sorgfältig und steckte noch einen Rahmen voll Patronen ein, dazu noch eine kleine elektrische Taschenlaterne. Dem Diener befahl er, die Lampe brennen zu lassen... Im Abgehen drehte er sich nach einmal um...
„Wenn ich um 12 Uhr, sagen wir 11 Uhr, nicht zu Hause bin, gehen Sie nach dem Kasino hinüber, lassen sich den Herrn Major von Adlersberg herausrufen und teilen Sie ihm unter vier Augen mit, ich wäre zu Herrn Kolokotronski ins Schloß gegangen... Er mochte danach handeln... Aber sonst natürlich keine Silbe davon zu niemand...“
Mit schnellen Schritten ging Chomjäkow durch die Stadt... Von dem Polizisten, der einsam auf dem Markt herumspazierte, ließ er sich den Weg zum Schloß zeigen... Seitdem er in Kolno weilte, war ein Pflichteifer in die Polizisten gefahren...
In den hohen Bäumen der Allee rauschte der Nachtwind... Eilig fuhren die Wolken am Himmel dahin. Nur ab und zu blinkte ein Stern auf... Es war dunkel unter den Bäumen, so dunkel, daß Chomjäkow mehrmals an einen Baum streifte. Das eiserne Gittertor war geschlossen. Er zog die Taschenlaterne, ließ sie aufleuchten und suchte den Eingang... Da stürmten ein paar gewaltige Doggen heran und tobten mit wütendem Geheul gegen das Gitter... Unwillkürlich mußte Chomjäkow daran denken, daß Herr Kolokotronski sich zur Nachtzeit unter sicherer Obhut befand... Wenn er ein gutes Versteck oder eine gesicherte Rückzugslinie durch den Park besaß, dann mochte es schwer sein, ihn zu überraschen...
Das Gebell der Hunde wirkte besser als die Klingel, die Iwan Piotrowitsch mit Hilfe der Laterne gefunden und gezogen hatte. Nach einiger Zeit wurde im Souterrain ein Fenster hell... Zwei Diener kamen langsam über den Kies des Vorplatzes zum Gitter und nahmen die Hunde am Halsband.
„Wer da?“
„Staatsrat Chomjäkow. Ich wünsche Herrn Kolokotronski zu sprechen.“
Schweigend öffneten die Diener die Pforte und ließen ihn eintreten. Durch einen Nebeneingang führten sie ihn in ein Zimmer, machten Licht und baten ihn, zu warten. Nach wenigen Minuten erschien der eine und meldete bedauernd, Herr Kolokotronski sei nicht zu Hause. Aber der alte Herr lasse bitten. Chomjäkow wußte zwar nicht, wer der alte Herr sei, aber er fühlte die Verpflichtung, sich wegen der späten Stunde seines Besuches mit einigen Redensarten zu entschuldigen... Dann erfuhr er jedenfalls, ob und wo er Kolokotronski noch heute treffen konnte.
Der andere Diener hatte inzwischen den Weg erleuchtet. Durch einen langen Korridor schritt der Staatsrat bis zu einer Doppeltür, die der Diener vor ihm aufstieß: „Der Herr Staatsrat Chomjäkow.“ Bei seinem Eintritt erhob sich am Tisch ein weißbärtiger alter Herr, der Kolokotronski wenigstens in der Gestalt vollkommen glich. Der Staatsrat wurde einen Augenblick etwas verlegen... Er glaubte zu wissen, daß Kolokotronskis Vater in der Revolution gefallen war...
Der alte Herr hatte das Buch, in dem er gelesen, beim Eintritt des Besuches auf den Tisch gelegt. Jetzt trat er einen Schritt näher... „Ich bedauere, daß der Schloßherr nicht anwesend ist... Ich habe die Gelegenheit benutzen wollen, Ihnen eine Angelegenheit zu unterbreiten, die mich angeht...“
Mitten im Sprechen hielt der Graf inne, denn jähe Röte schoß ihm ins Gesicht.
„Verzeihen Sie, Herr Staatsrat, mich verblüfft eine Ähnlichkeit, die Sie mit einer Dame haben, die ich sehr genau kannte... noch einmal... Verzeihen Sie...“
„O, bitte, es kommt manchmal vor, daß man durch eine Ähnlichkeit überrascht wird...“
„Ja... Bei mir ist es mehr als Überraschung... Für mich hängt vielleicht der Inhalt meines Lebens daran.
...Halten Sie es einem alten Manne zugute, der ein ganzes langes Leben von einer Hoffnung gezehrt hat, von einer unwahrscheinlichen Hoffnung, will ich hinzusetzen, wenn ihn eine Erinnerung überwältigt... Darf ich Sie fragen, ob Ihre Eltern noch leben?...“
Überrascht, erstaunt sah Iwan Piotrowitsch den alten Herrn an, der die Hände nach ihm ausgestreckt hatte...
In ihm wallte ein unerklärliches Gefühl auf... Unter anderen Umständen hätte er vielleicht eine solche Frage unbeantwortet gelassen. Jetzt trieb es ihn zu sagen: „Meine Eltern habe ich nie gekannt...“
Er sah ein blitzartiges Aufleuchten in dem Gesicht des Graubartes... Das bestimmte ihn, weiter zu sprechen.
„Ich bin von meiner frühesten Jugend an Waise.“
„Hat man Ihnen gesagt, wer Ihre Eltern waren?“
Chomjäkow schüttelte traurig den Kopf... „Man hat mir nur sagen können, daß ich in der polnischen Revolution von Soldaten gefunden wurde, neben einer reich gekleideten toten Frau, die wahrscheinlich meine Mutter war...“
Der Alte tastete mit der Hand nach dem Stuhl. Schwer fiel er hinein... „Entschuldigen Sie, wenn ich weiter frage... Es ist eine Möglichkeit, die mir die Knie wanken macht... Haben Sie keine Erinnerung an Ihre Mutter... Was frage ich... Sie können keine Erinnerung an Ihre Mutter haben, denn er war ja erst ein Jahr alt...“
„Ein Jahr, woher wissen Sie das?“
„Einen Augenblick... Lassen Sie mich erst nach Fassung ringen... Mich auf die Möglichkeit eines Irrtums vorbereiten...“ Langsam streifte er den linken Ärmel hoch und wies auf einen dunkelroten Fleck, der gerade in der Beuge des linken Ellenbogengelenks saß.
„Mein Sohn hat dasselbe Zeichen, das sich in unserem Geschlecht forterbt...“
Jetzt fühlte Iwan Piotrowitsch, wie es ihm siedend heiß aus der Brust zum Kopfe emporstieg... Er war in das Schloß gegangen, um einen Nebenbuhler zum Kampf auf Leben und Tod zu zwingen, und fand einen Mann... der...
Er wagte den Gedanken nicht zu Ende zu denken... Langsam streifte er den Ärmel auf und reckte seinen Arm dem Alten hin... Hastig griff er zu... Seine Augen wurden starr... Er fühlte, wie sie sich mit Tränen füllten.
„Wratislaw... mein Sohn...“
Chomjäkow fühlte, wie der Alte seinen Arm küßte, wie er ihn an sich zog... Seinen Kopf an sich preßte... Er dachte nichts... Er fühlte bloß... Dann schob ihn der Alte mit beiden Händen von sich ab und sah ihm forschend ins Gesicht... „Ja, Du bist es... Der Sohn meiner geliebten Stefania... Zug um Zug finde ich sie in Deinem Antlitz wieder... Hast Du denn gar nichts, kein Erinnerungszeichen an die Mutter? Als ich von Euch schied, hängte ich Dir an dünner goldener Kette ein Medaillon um den Hals, das die Züge Deiner Mutter im Bilde festhielt...“
Tief ergriffen riß Iwan Piotrowitsch seine Uniform auf... nestelte einen Augenblick am Halse... dann brachte seine Hand ein Medaillon hervor... Es sprang von selbst auf.... Gleichzeitig hatte der Alte seinen Schnurrock aufgerissen... Da hing auf seiner Brust dasselbe Medaillon… Mit demselben Bildnis... Aufschluchzend kniete Iwan Piotrowitsch nieder und barg sein Gesicht in dem Schoß des Alten...
Die Gewißheit, die so überraschend schnell gekommen war, überwältigte ihn. War es denn möglich...? Der Graubart, der sein dunkles Haar mit Küssen bedeckte, war sein Vater...? Er hob den Kopf, um seine Züge sich einzuprägen... Der Alte nahm seinen Kopf in seine beiden Hände... bog sich hinab und küßte ihn... Dabei liefen ihm die hellen Tränen über das Gesicht... Dann stand er auf... „Komm, mein Sohn... ich will Dir die Stätte zeigen, wo Du geboren bist...“
Wie ein Kind nahm er Iwan Piotrowitsch auf den Arm. „Du bist etwas größer und schwerer geworden, seitdem ich Dich zuletzt auf meinem Arm getragen...“
Mit der andern Hand nahm er die Lampe vom Tisch und mit seiner Bürde, die er kaum empfand, ging er durch mehrere Zimmer... „Hier hat Deine Wiege gestanden... Graf Wratislaw Iswolski... Du bist in dem Schloß Deiner Väter...“
Er ließ den Sohn auf den Boden herab... „Heute nacht träumte mir, ich schliefe dort in dem Bett, daß ich Deine Wiege gehen hörte. Sie hatte an der Gangel einen kleinen Fehler, der sie rumpeln machte... Deutlich hörte ich das Geräusch... Ich wachte auf... Ich fuhr mit der Hand durch die Luft... Allmählich erwachte ich... Jetzt weiß ich... Es war ein Zeichen des Himmels, das mir unser Wiedersehen ankündigte. Und es war eine Fügung des Himmels, die mir riet, Dich zu empfangen... Ich hätte den russischen Staatsrat fürchten müssen... Ich wußte kaum, was ich sagte, als ich Dich bitten ließ, einzutreten... Den Herrn Staatsrat Chomjäkow. Komm, wir wollen uns zueinander setzen, wollen uns an den Händen fassen und erzählen, wir müssen zusammenfügen, was ein grausames Schicksal zerrissen hat...“
Sie gingen in das Zimmer zurück... Der Graf rief durch ein Klingelzeichen den Diener herbei und ließ ihn eine Flasche des allerbesten Ungarweins bringen...
„Nun sprich... Aber erst lege Deine russische Uniform ab... Mich stört sie... Ich will Dir eine Tuschurka von mir bringen... Sie wird Dir zwar etwas zu groß sein...“
„Nein, Vater... ich trage die Uniform mit Ehren... Erst mußt Du erzählen...
„Ich... ich bin ein armer polnischer Flüchtling... Ein Empörer, der noch jetzt nicht begnadigt, ein Flüchtling, der 35 Jahre in Sibirien gelebt hat.“
In fliegender Hast, mit ganz knappen Worten erzählte er seine Lebensgeschichte. „Jetzt bist Du an der Reihe... Wir haben noch lange Zeit, miteinander zu sprechen... Nur die Hauptsachen...“
Leise begann Iwan Piotrowitsch. Er berichtete, „daß man ihm später erzählte, wie man ihn neben seiner toten Mutter gesunden. Sie sei überfallen und beraubt worden... Nicht von russischen Soldaten, sondern von einem Trupp polnischer Marodeure... Ein russischer Offizier habe sich seiner erbarmt, weil er zu Hause einen Knaben von demselben Alter hatte. An ihn habe er denken müssen, als die Kosaken den Findling aufhoben und ihm den Kopf gegen ein Wagenrad schmettern wollten... Ein paar Wochen habe ihn die Marketenderin auf ihrem Karren gefahren und ernährt... Ein mitleidiges Weib, für das er jetzt noch sorge...
Dann marschierte das Regiment in seine Garnison zurück... Der Offizier nahm mich in sein Haus auf...
Ich wurde, weil man meinen Namen nicht wußte, getauft: Iwan Piotrowitsch. Den Namen Chomjäkow gab man mir nach dem Ort, wo ich gefunden wurde... Das Geschick hatte mich in einer Art reich beschenkt... Ich war Pflegesohn des Fürsten Baratinski... Mit dem gleichaltrigen Sohn des Hauses wuchs ich auf, als wenn wir Zwillinge wären... Ich habe nie einen Unterschied gefühlt, den meine Pflegeeltern etwa zwischen mir und dem eigenen Sohn gemacht hätten...
Ich lernte mit ihm, ich ging mit ihm und unserem Hofmeister auf Reisen, ich trat mit ihm in dasselbe Regiment... Erst als wir beide in die diplomatische Laufbahn eintraten, riß uns das Geschick auseinander… Er ging nach London, ich nach Madrid... Er ist in der Laufbahn geblieben... Ich wurde nach Petersburg zurückgerufen ins Ministerium... Schnell stieg ich zu hohen Würden empor... Ich wurde à la suite meines Regiments gestellt, in dem ich mit dem Kaiser Schulter an Schulter gestanden habe... Ich stieg mit den Jahren in meinem militärischen Range... Ich bin jetzt Oberst der Garde... Ich stieg in meinem Range als Beamter... Ich bin der nächste dazu, Gehilfe eines Ministers zu werden... Ich habe Aussicht, im Namen des Kaisers einen gewaltigen Zweig des großes Reiches zu leiten...“
„Mit anderen Worten, Du bist ein Russe geworden... Freilich, Du hast nicht gewußt, daß Du ein Graf Iswolski bist, den kein russischer Kaiser zu Rang und Ämtern erheben kann...“
„Nein, Vater... Du kannst ein Leben von 46 Jahren nicht mit einem Wort auslöschen... Mit dem Namen, den Du mir gibst, verbindet sich für mich kein Begriff. Ich habe Rußland als mein Vaterland lieben gelernt... Tausend Beziehungen verknüpfen mich mit ihm, mit meinen Freunden... Mit dem Hause, das mir zum Elternhaus geworden ist...“
Der Alte nickte traurig… „Es wäre unklug von mir, wenn ich erwarten wollte, daß Du alles, was Dir lieb und wett geworden ist, von Dir werfen solltest... Im ersten Augenblick, wo ich Dir Deine Herkunft enthülle... Für mich verbinden sich mit dem Namen Baratinski bittere Erinnerungen. Ein Mann dieses Geschlechts schlug sich, als die fremden Mächte in unser von Parteien zerrissenes Vaterland mit gieriger Hand eingriffen, auf die Seite der Moskowiter... Er half den Schwächling von König wählen, der um den Preis seiner Schattenherrschaft die erste Teilung Polens gut hieß...
Ein Fürst Baratinski war es, der mir bei dem Überfall den Hieb versetzte, der meinen Arm kampfunfähig machte…“ Er streifte den rechten Ärmel zurück... „Hier ist die Narbe... dieselbe Hand, die meinen Sohn rettete, schlug dem Vater die Waffe aus der Hand...“
„Es war im Kampf, Vater...“
„Jawohl, mein Sohn Wratislaw... Du mußt es schon dulden, daß Dein Vater Dich so nennt, wie er Dich getauft hat... Es war im Kampf... im Kampf des Volkes, das seine Freiheit gegen die rohen Unterdrücker verteidigte... das sein Blut für das Vaterland vergoß... Hier steht Dein Vater, dessen Blut auch für das Vaterland geflossen ist... Mein graues Haupt neigt sich dem Grabe zu. Soll ich mit dem Bewußtsein scheiden, daß der einzige Sprößling des alten Geschlechts, das neben Sobieski gekämpft, auf der Seite des Volkes steht, das seinen Vater zum Tode verurteilte, das ihn 35 Jahre in harter Gefangenschaft hielt...“
„Vater, gib mir Zeit... Bedenke, ein Leben liegt hinter mir, das mir alles gab, was ein Mann sich wünscht und erstrebt. Laß mich erst den Gedanken fassen, mich an die Vorstellung gewöhnen, daß meine Geburt mir einen andern Platz zuweist... Bedenke doch, daß wir eines Stammes sind, daß wir alle Slawen sind, die Polen wie die Russen... Ein einziges großes Reich...“
Der Alte erhob sich... „Graf Wratislaw Iswolski, Sie vergessen, daß nicht slawisches, sondern Polenblut in Ihren Adern fließt... Daß Sie nicht mehr ein namenloser Findling sind, den man mit einem Namen, den der Zufall geboten hat, abspeist...“
In ausbrechendem Vatergefühl streckte er die Arme nach ihm aus... „Verzeihe mir, mein Sohn... mir wird es schwer, mich in Deinen Gedankenkreis einzuleben… Ich bin 24 Jahre älter als Du... Mich hat das Leben rauher angefaßt als Dich... Es hat mir einen untilgbaren Groll gegen das Volk ins Herz geschrieben, dem ich Dein Leben verdanke... Glaubst Du, daß 35 Jahre, die ich unter russischer Knute verlebte, so leicht auszutilgen sind? Und wenn ich alles vergessen wollte... Die Schläge, die ich von elenden Knechten erduldete, brennen mir noch jetzt auf der Haut...“
Er hob die geballten Fäuste... Der Zorn, der ihn packte, ließ ihn die Arme schütteln... Schweigend senkte Iwan Piotrowitsch den Kopf. Jetzt zum ersten Male fühlte er das, was seinen Vater bewegte... Er stand auf und umfaßte den Alten.
„Noch einmal, Vater, bitte ich Dich... gib mir Zeit...“
„Was willst Du mit der Zeit? Kannst Du noch den Schergen dienen, die Deinen Vater geschlagen? Fühlst Du nicht, daß diese Schmach nur durch Blut abgewaschen werden kann?... Einen habe ich getroffen... Der Säbelhieb, der den Leutnant Durnowo niederwarf, siel von meiner Hand...“
„Um Gottes willen, Vater...“
„Was ficht Dich an? Glaubst Du, ich werde still sitzen, wenn es gilt, dem Moskowiter zu schaden?... Ich habe den Schmugglerzug geführt... Ich bin der Pilger, der die Gefangenen befreit... Herr Oberst und Staatsrat Chomjäkow. Ein Staatsverbrecher gegen das heilige russische Reich steht vor Ihnen, tun Sie Ihre Pflicht... Sie sind doch nicht allein gekommen... Das Schloß ist doch umstellt... Morgen früh wird man mich hinausführen, wie die fünf, die der Herr Staatsrat Chomjäkow zum Tode verurteilt hat.“
Iwan Piotrowitsch glitt zu Boden und umklammerte die Knie des Alten. „Vater, schone mich... In mir ist alles zerbrochen... Zusammengestürzt... Hilf mir aufbauen...“
Graf Iswolski hob ihn mit starkem Arm zu sich empor. „Ich verzeihe Dir... Es war nicht Wratislaw Iswolski, es war der Staatsrat Chomjäkow, der seiner Pflicht folgte... Ich verlange nichts weiter von Dir, als daß Du still behältst, was ein furchtbares Geschick Dich lehrte... Morgen, übermorgen... nein, ich will nicht so lange warten, bis Du hier Gnade geübt hast... Wenn man Dir deshalb Vorwürfe macht, dann legst Du das Amt nieder... Auch ich will Dir ein Opfer bringen... Meine Stammesgenossen wollen Frieden schließen mit den Moskowitern... Sie wollen ihre Hoffnung auf einen Gnadenakt ihres Zwingherrn setzen... Ich könnte hier allein weiter kämpfen, die Feinde des russischen Kaisers unterstützen... Ich will diesen Traum meines Lebens zu Grabe wagen... Fünfundvierzig Jahre habe ich Dich entbehrt... Die paar Jahre, die ich noch zu leben habe, sind mir zu kostbar, um sie noch zu gefährden. Ich will noch das Glück auskosten, einen Sohn zu haben... Dem Vaterland haben siebzig Jahre meines Lebens gehört... Es kann mir die paar Jahre gönnen, die Dir gehören... Dir und mir.“
Einundzwanzigstes Kapitel.
Die Unterhaltung zwischen Vater und Sohn war in ruhigere Bahnen eingelenkt. Untergefaßt wandelten sie um den Tisch, der in der Mitte des Zimmers stand. Der Vater erzählte dem Sohn von der Mutter, mit der er kaum zwei Jahre in der glücklichsten Ehe gelebt... Er schilderte ihre Erscheinung, ihr Wesen... Dann sprach er von seinen Schicksalen in Sibirien... Iwan Piotrowitsch beschäftigte sich dabei mit praktischen Erwägungen. Er wollte seinen Einfluß aufbieten, um dem Vater Begnadigung zu erwirken. Bei seinen Konnexionen würde es ihm nicht schwer fallen, zumal wenn er sich seinem noch lebenden Pflegevater offenbarte und seine Fürsprache in Anspruch nahm.
Die Spannung der Seele hatte bei beiden nachgelassen... Sie fingen an, sich mit der Gestaltung ihrer Zukunft zu beschäftigen. Dabei vergaßen sie alles... Erst als die altertümliche Standuhr gerade in einer Gesprächspause Mitternacht schlug, erinnerte sich Chomjäkow der Ursache, die ihn hergeführt. Er wollte eben nach Kolokotronski fragen, als die Tür sich auftat und Adlersberg hastig eintrat und hinter ihm Kolokotronski.
Der Major prallte zurück, als er den Staatsrat mit einem alten Herrn in polnischer Tracht gemütlich bei einem Glase Wein zusammen sitzen sah. Beim ersten Blick schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß der alte würdige Herr kein anderer wäre als der Doppelgänger, denen Existenz sie alle vermuteten... War der Staatsrat so ahnungslos, daß er nicht wußte, wen er vor sich hatte... Oder hatte Stroganoff ihm nichts berichtet?...
Auch Kolokotronski war erstaunt, den Grafen in freundlicher Unterhaltung mit dem hohen russischen Beamten zu finden... Das war ein Rätsel, um dessen Lösung sich sein scharfer Verstand vergeblich bemühte... Aber er konnte darum die gesellschaftlichen Formen nicht vernachlässigen... Schnell trat er vor: „Herr Major, gestatten Sie, daß ich Sie mit dem Grafen Iswolski, einem alten Freunde meines Hauses, der aus Galizien zu Besuch gekommen ist, bekannt mache... Graf Iswolski... Major von Adlersberg...“
Nun wandle er sich zu Chomjäkow. „Herr Staatsrat, ich bedaure unendlich...“ Mitten im Satz brach er ab, denn Iwan Piotrowitsch war zurückgetreten und hatte die ihm dargebotene Hand nicht angenommen. Alle Anwesenden hatten wohl die Bewegung Chomjäkows, die eine Beleidigung für Kolokotronski bedeutete, gesehen. Der Major trat schnell dazwischen.
„Meine Herren... Es scheint sich hier um ein Mißverständnis zu handeln... Herr Staatsrat, ich konnte mir die Botschaft, die mir der Diener überbrachte, nicht erklären... Er meldete, Sie wären bei Herrn Kolokotronski auf dem Schloß. Ich sollte Sie dort aufsuchen... Herr Kolokotronski war bei uns im Kasino... Wir brachen sofort auf...“
„Die Botschaft ist ganz richtig bestellt, sie hatte allerdings einen anderen Zweck gehabt, der Ihnen später offenbar werden wird... Ich bin gekommen, Sie, Herr Kolokotronski wegen ehrloser Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen... Sie haben eine wehrlose Frau beleidigt... Dafür gehört Ihnen die Reitpeitsche.“
Auf alles andere war Kolokotronski gefaßt gewesen, darauf nicht... Er hatte gedacht, daß Chomjäkow gekommen sein könnte, um ihn zu verhaften, oder ihn wenigstens über die letzten Worte Stroganoffs, die ihm der Major auf dem Wege mitgeteilt hatte, zu interpellieren... Und nun war es nichts weiter als ein persönliches Rachegefühl, das den Herrn herführte... Er wollte mit dem Nebenbuhler ein gegenseitiges Scheibenschießen veranstalten, um sich auf diesem Wege seiner zu entledigen...
Sein Mund verzog sich zu einem höhnischen Lächeln... Dem Manne konnte geholfen werden... Aber erst mußte das Weib, das mit einer bewundernswürdigen Schnelligkeit es fertig gebracht hatte, sich in der ersten Stunde ihrer Witwenschaft einen Ersatzmann herbeizuholen, seine Strafe erhalten...
Der Staatsrat hatte kaum geendet, als er erwiderte: „Ich stelle vor den Herren fest, daß mich der Staatsrat Chomjäkow in einer Weise beleidigt hat, die nur durch Blut gesühnt werden kann. Vorher möchte ich aber vor Zeugen feststellen, ob Sie, Iwan Piotrowitsch Chomjäkow, befugt sind, im Auftrage der Witwe Frau Serafine Alexandrowna Stroganoff von mir Rechenschaft zu verlangen...“
Der Staatsrat mußte sich bei dieser Erwiderung gewaltsam zur Ruhe zwingen. „Herr Major... Ich bitte um Ihr Ehrenwort, daß der Name der Frau, der eben hier gefallen ist, für jeden Fall geheim gehalten wird. Es war eine entsetzlich gemeine Feigheit, den Namen hier hereinzuzerren...“
Bei den letzten Worten griff Kolokotronski unwillkürlich nach der Waffe, die er stets bei sich trug. Der Graf befaßte ihm den Arm. „Sind Sie ein Räuber oder ein Kavalier...?“
„Verzeihen Sie, Herr Graf... Es war eine unbewußte Bewegung... Die Unterhaltung mit Herrn Chomjäkow ist wohl beendigt... Darf ich Sie bitten, mir zu sekundieren?“
„Bedaure sehr, mein Sohn Wratislaw Iswolski hat nähere Anrechte auf mich...“
Durch nichts anderes hätte die Spannung dieser erregten Szene gesteigert werden können. Der Major hatte gänzlich die Fassung verloren und wäre die Stimmung nicht so ernst gewesen, dann hätte ein unbeteiligter Zuschauer über die Ratlosigkeit seiner Mienen lachen müssen. Kolokotronski verstand seine Verblüffung besser zu verbergen. Er wandte sich zu Adlersberg.
„Sie übernehmen wohl meine Vertretung bei dem Ehrenhandel?“ Der Major verbeugte sich zustimmend und folgte ihm in das Nebenzimmer. „Ich bitte um die schärfsten Bestimmungen... Zehn Schritt Barriere, Kugelwechsel bis zur Bewußtlosigkeit...“
Der Major nickte mechanisch, er hatte nur mit halbem Ohr zugehört... Die Neuigkeit, daß der kaiserlich russische Staatsrat Iwan Piotrowitsch Chomjäkow ein Sohn des alten Mannes, der so plötzlich aufgetaucht war, ein Graf Iswolski sein sollte, wirkte noch zu stark in ihm.
Die Sensationen drängten sich förmlich. Der Tod Stroganoffs... Das Duell... Das letzte war das Erfreulichste für ihn... Fiel der Pole, dann war er einen Mitwisser los, fiel Chomjäkow, dann mußte Kolokotronski verschwinden... Doch jetzt war keine Zeit zu solchen Gedanken... In den wenigen Stunden bis zum Morgen war noch vieles zu erledigen... Er trat ins Nebenzimmer, wo Vater und Sohn in ernstem Gespräch beieinander standen.
Mit stummer Verbeugung akzeptierte Chomjäkow die Bedingungen, die der Major überbrachte. Er bat sich nur mit Rücksicht auf die Geschäfte, die er noch zu erledigen hatte, einen etwas späteren Termin, neun Uhr vormittags, aus. Der Zweikampf sollte in einem abgelegenen Teile des Parkes stattfinden.
Nachdem die Formalitäten festgestellt, verabschiedete sich der Major. Er hoffte im Kasino noch die Herren zu finden, die er zu einem Ehrenrat versammeln mußte. Es war ja gänzlich ausgeschlossen, daß der vorgeschriebene Versuch einer Versöhnung der Gegner Erfolg haben könnte, aber er deckte sich damit den Rücken.
Bald nach ihm brachen die beiden Grafen auf. Der Vater begleitete den Sohn in seine Wohnung. Obwohl er das Schloß als sein Eigentum betrachtete, war es ihm nicht möglich, mit dem Manne, der morgen früh seinem Sohn mit der Waffe in der Hand gegenüber treten sollte, auch nur eine Stunde unter demselben Dach zu weilen. Er wußte, daß Kolokotronski ein vorzüglicher Pistolenschütze war... Und der alte Mann, der nie in seinem Leben den Begriff der Furcht gelernt hatte, zitterte jetzt für das Leben seines Sohnes.
Er machte ihm unterwegs Vorwürfe, daß er Kolokotronski durch eine so maßlos schwere Beleidigung zu den schwersten Bedingungen, die für einen Zweikampf zulässig sind, gezwungen hatte. Iwan Piotrowitsch blieb stehen und faßte ihn um.
„Vielleicht weißt Du nicht, daß die Erde, so groß sie ist, unter Umständen nicht Raum hat für zwei Menschen, daß einer von ihnen verschwinden muß.“
Der Alte bewegte traurig sein graues Haupt. „Wohl weiß ich es, mein Sohn. Doch es ist hart, von dem höchsten Glück in die Angst gestürzt zu werden.“
„Weshalb ängstigst Du Dich, Vater? Ich bin ohne Ruhmredigkeit ein sicherer Pistolenschütze und das Bewußtsein, daß ich die Ehre einer schutzlosen Frau verteidige, wird meine Hand ruhig machen, die Hoffnung, mir ein geliebtes Weib zu erringen, wird mein Auge scharf machen.“
In dem vollen Schmuck seiner prächtigen Nationaltracht war Graf Iswolski vor den Ehrenrat, der aus dem Oberst des Dragoner-Regiments, Graf Spiridiew, dem Kammer- Direktor Apuschkin und Hauptmann Aksakow gebildet war, getreten und halte erklärt, daß sein Sohn, Graf Wratislaw Iswolski, den Herren unter seinem bisherigen Namen Iwan Piotrowitsch Chomjäkow bekannt, jede Vermittlung ablehne. Er lasse auch bitten, nicht in eine Erörterung der Gründe des Duells einzutreten. Er verpflichtete sich mit seinem Ehrenwort, daß Ursachen vorlägen, die selbst eine Milderung der Bedingungen ausschlössen.
Im Kasino saß man noch lange in lebhafter Unterhaltung beisammen. Die Nachricht von dem Tode Stroganoffs hatte die ganze Gesellschaft zusammengeführt. Jetzt kam die neue Sensation hinzu. Der Major wurde mit Fragen nach dem Grafen Iswolski bestürmt. Er konnte nichts weiter berichten, als was er erlebt hatte. Über die pikanteste Neuigkeit, die Grunde des Zweikampfes, verbot ihm sein Ehrenwort zu sprechen. Natürlich wurden auch die Chancen der beiden Gegner erörtert... Von Kolokotronski wußte man, wie er schoß... Von Chomjäkow konnte man nur vermuten, daß er als Offizier diese Kunst nicht vernachlässigt haben würde...
In seinem Zimmer saß Iwan Piotrowitsch am Schreibtisch. Er mußte sich beeilen, um noch alles zu erledigen, was er sich vorgesetzt hatte. Zunächst einen Bericht an das Ministerium über die letzten Vorfälle... Einen zweiten, worin er das wunderbare Auffinden seines Vaters mitteilte und um seine Begnadigung bat. Er verschwieg nicht, daß Graf Iswolski unter einem angenommenen Namen seine Beteiligung am Aufstande von l863 mit einer Strafzeit von 35 Jahren in Sibirien gebüßt habe. Dann schrieb er einen langen Brief an seinen Pflegevater, berichtete ihm in herzbewegenden Worten das Zusammentreffen mit seinem Vater und bat um seine Verwendung beim Kaiser. Zum Schluß dankte er in rührenden Worten für alle Liebe, die seine Pflegeeltern ihm erwiesen und bat, es ihm nicht übel zu deuten, wenn er sich aus russischen Diensten zurückziehe, um die Gegensätze, die jetzt zwischen seinen Anschauungen und dem Nationalgefühl seines Vaters beständen, zu überbrücken.
Häufig entfiel der Federhalter seiner Hand. Schwere Seelenkämpfe, in denen Entschluß und Gegenentschluß aufeinanderprallten, erschütterten sein sonst so gefestetes Mannestum. Der schroffe Gegensatz der Anschauungen eines auf sein Vaterland stolzen russischen Patrioten und denen eines polnischen Magnaten, der seine ganze Kraft aufzubringen hatte, um sich von diesem Unterdrücker loszureißen, verlangte von ihm einen Umschwung aller Gedanken und Empfindungen ohne Übergang. Dort eine geliebte Wohltäterfamilie, Amt und Würden!... Hier nur der Vater, den er eben erst wiedergefunden und schon mit leidenschaftlicher Sohnesliebe umfing! — Iwan Piotrowitsch sprang empor und schritt unablässig im Zimmer auf und nieder. War er mit der plötzlichen Wendung, die ihn zum Grafen Iswolski, zum Herrn des stolzen Schlosses, der weiten Liegenschaften machte, nun wirklich Pole geworden? Warum haßte er Kolokotronski, der für die nationale Sache wirkte und willig seinem Vater Titel und Besitz zuerkannte? Warum war es ihm eine wilde Genugtuung, diesem Manne die Hand zu verweigern, ihn tödlich zu beleidigen?
Er hatte sich unwillkürlich dem Fenster genähert und schaute in die Nacht hinaus. Plötzlich flammte ein heller Lichtstrahl durch das Dunkel. Drüben im Landratsamte leuchteten zwei Scheiben nur schwach. Es war wohl das Zimmer, in dem man den ermordeten Stroganoff aufgebahrt hatte. Jetzt wurde es in dem Boudoir hell, in dem er so häufig mit Serafine Alexandrowna geplaudert und den reichen Geist der schönen Frau gebildet hatte. Dort steht sie jetzt, zur Witwe geworden, frei und allein, und vor ihr lag eine ungewisse Zukunft. Chomjäkow-Iswolski fühlte es wie von einem elektrischen Strom durch sich gehen, als seine Augen sehnsuchtsvoll die Finsternis zu durchdringen versuchten. Ohne daß seine Blicke sie erreichen konnten, sah er die schlanke Gestalt, das bleiche leidberührte Antlitz mit den leuchtenden Augen, den schwellenden Lippen vor sich. Und da kam die Klarheit über den einsamen Grübler. Da wußte er, daß er den Mann bis zur Vernichtung hassen mußte, der diese Lippen mit Küssen bedeckt, der dieses Weib wie ein Verbrecher heimlich unter seinen Willen gezwungen und sich zu eigen machen wollte. Iwan Piotrowitschs Hände ballten sich zur Faust. „Er oder ich!“ flüsterte er. „Und wenn ich am Leben bleibe, und ich will und werde leben, dann wirst Du mein, Serafine, mein Weib, meine Zukunft!“ Aufatmend und beruhigt durch die Gewißheit seines Selbsterkennens schrieb er noch einen Brief an die Frau da drüben, deren Leben bisher noch kein echtes Glück, keinen Frieden gekannt. Fiel er, so sollte sie wissen, daß er sie geliebt und für sie, ihre Ehre freudig in den Tod gegangen war. Blieb er am Leben, nun, so würde er selbst ihr mitteilen, daß er sie nach Ablauf des Trauerjahres als sein angebetetes Weib schützen wollte, wie er es ihrem sterbenden Gatten versprochen. — Er begab sich spät in der Nacht zur Ruhe; ein schneller Blick überzeugte ihn, daß auch Serafine Alexandrowna noch wach war. Fand auch sie keinen Schlaf, — dachte sie seiner oder ahnte sie etwa, welch neue Erregungen ihr bevorstanden? —
Kolno war ein zu kleiner Ort, als daß nicht jede auch noch so geringe Abweichung vom Alltag beobachtet worden wäre und Beobachtung gefunden hätte. Seit den ereignisreichen letzten Wochen, die soviel Unruhen und Menschenverluste gebracht, kam die Einwohnerschaft nicht mehr zur Ruhe. Der Zuzug des russischen Militärs, die Befreiung und Wiedergefangennahme der Plünderer aus der Kosa, Chomjäkows strenge Untersuchungen und nun noch der Mord des Landrats. der so rasch auf den des Polizeimeisters gefolgt war, hatten die Nerven ohnehin erregt. Die Leute kamen kaum von der Straße. Jeder wußte etwas zu erzählen. Auf unkontrollierbaren Wegen verbreitete sich mit unwahrem Klatsch und Tratsch auch manches Wahre. So erfuhr man, daß draußen im Schlosse der rechtmäßige Eigentümer, der Graf Iswolski, versteckt gelebt habe. Ja, man hatte seine stolze Gestalt in reichster polnischer Nationaltracht in das Offizierskasino hineingehen und herauskommen sehen. Viele von den alten Einwohnern hatten ihn wiedererkannt und ihm demütig die Rockzipfel geküßt. Der Jude Sareyski und die übrigen Kaftanträger, die in ihm einen Beschützer ehrten, hatten ihn glückselig umringt und mit Segnungen überhäuft. Jedoch der Graf, der tiefernst aussah, hatte sie ungeduldig alle abgewehrt und war schnell davongegangen. Aber sein Weg führte nicht vor die Stadt, sondern in das Beamtenhaus, in dem jetzt der Petersburger hauste.
Obgleich die beteiligten Offiziere völliges Schweigen über das bevorstehende Duell bewahrten und der Major von Adlerfeld keine Silbe preisgab von dem, was er im Schlosse draußen erlebt, war doch vieles durchgesickert. So hatte es sich herumgesprochen, daß Chomjäkow mit dem alten Grafen Iswolski in engster verwandtschaftlicher Beziehung stehen sollte. Leutnant Juri Durnowo, der zwar genesen war, aber immer noch seine Kopfbinde und eine Hand im Verband trug, sah am frühen Morgen die beiden Herren nebeneinander hinter dem Fenster ihres Zimmers stehen. Auch er hatte bereits von dem verwandtschaftlichen Verhältnis, dem rührenden Wiederfinden von Vater und Sohn vernommen. So fiel ihm auch jetzt sofort die Ähnlichkeit des Wuchses, der ganzen Erscheinung auf. Er erschrak aber fast, als der alte Graf sich ihm plötzlich zuwandte und seine Augen den seinen im Blick begegneten. — So groß wie dieser ihm fremde Herr war Kolokotronski, so düster brannten auch dessen schwarze Augen, so kühn war auch das Antlitz des Mannes geschnitten, den er für den Urheber nicht nur aller Verbrechen, sondern auch aller revolutionären antirussischen Erhebungen hielt! Im Schlosse Kolokotronskis sollte dieser plötzlich aufgetauchte polnische Graf gelebt haben, heimlich und versteckt? Warum? Weshalb verbarg er sich? Beabsichtigte er eine neue Empörung einzuleiten oder war er etwa... Durnowo wurde blaß vor Aufregung — war dies der berüchtigte Doppelgänger des dämonischen Polen, der seine Schandtaten deckte oder auch an seiner Statt ausführte? War dieser Mann da womöglich der Maskierte, der ihn selbst bei jener Schmugglerstreife überfallen und verwundet hatte?
Der rhythmische Trab eines nahenden Reiters ließ den jungen Offizier aufschauen und lenkte ihn einen Augenblick von seinen düsteren Gedankengängen ab. Von dem Vorort her jagte ein Pferd, und vor dem Landratsamt sprang ein Reiter ab, befestigte den Zaum am Gitter des Vorgartens und verschwand im Hause. Jedoch schon nach wenigen Minuten kam der Mann zurück und sprengte davon. Durnowo, der gerade auf dem Wege zu Serafine Alexandrowna war, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, fühlte eine wütende Eifersucht in sich aufkeimen. Was bedeutete das? Er vergaß seine Erwägungen über den Grafen Iswolski und eilte selbst auf das Gebäude zu.
Jean, der Diener, empfing ihn am Haustor. „Melden Sie mich sofort der gnädigen Frau!“ herrschte Durnowo ihm zu und fuhr, als dieser zögerte, fort: „Pascholl, ich muß Deine Herrin sprechen! Es ist zwar erst sieben Uhr; aber ich weiß, sie ist auf!“
Der Mann verschwand kopfschüttelnd und meldete nach einiger Zeit, daß die Gnädige den Herrn Leutnant bitten lasse, sich zu gedulden. Sie würde gleich kommen, sobald sie fertig sei. Dabei geleitete er Juri in das Empfangszimmer, welches an das Kabinett Stroganoffs stieß, in dem dieser aufgebahrt war. Dumpfes Murmeln, halb sprechen, halb singen, klang hinter der geschlossenen Tür. Der Pope und seine Gehilfen hielten eine Seelenmesse an der Bahre des Ermordeten ab.— Ernst und ergriffen ließ sich der junge Offizier auf einem Sessel nieder. Auch der Gatte Serafine Alexandrownas war ein Opfer des verhaßten Polen! Der Landrat war seine Beute geworden, während er selbst diesem furchtbaren Ende wie durch ein Wunder entgangen war. —
Tödlich abgespannt von all den maßlosen Erregungen und der wachend vergrübelten Nacht, hatte Serafine Stroganoff sich von ihrer Zofe bei der Toilette helfen lassen. In dem schwarzen Gewände, in dem sie die arme Witwe des ermordeten Polizeimeisters getröstet hatte, und das ihr nun selbst zur Trauer notwendig geworden, saß sie in ihrem Schlafzimmer und zwang sich, den starken belebenden Kaffee zu trinken, welchen ihr die Köchin geschickt hatte. Sie hatte kaum einige Schlucke genommen, als der Diener ihr den versiegelten Brief überreichte, welchen der Reiter abgegeben. Verwundert öffnete sie den starken Unischlag und entfaltete den Bogen. Mit flüchtigen, aber festen und charakteristischen Zügen waren folgende Zeilen niedergeworfen:
„Serafine Alexandrowna! In wenigen Stunden werde ich dem Manne im Zweikampfe gegenüberstehen, der es wagt, Sie zu lieben. Ich werde ihn töten, denn ich gönne Sie keinem andern und weiß, daß Sie mein geworden wären ohne den Eintritt dieses sogenannten Chomjäkow in Ihr Leben. Meine Leidenschaft für Sie ist grenzenlos und das einzige wahre Gefühl, welches mich beseelt. Ich bin kein Graf Iswolski, der Ehre und Leben für Polens Größe opfert. Ich war Insurgentenführer und habe Verbrechen begangen und begehen lassen, nicht aus reiner Liebe für mein Vaterland, sondern um herrschen, um reich werden zu können. Gewissensbisse oder Reue kenne ich nicht, ich bekenne Ihnen dies offen! Heute stehe ich vor einem Bankerott. Ich verliere meinen Besitz hier an seinen rechtmäßigen Eigentümer. Das Vermögen, welches ich mir — zusammenräuberte, ist mir gestohlen. So habe und bin ich nichts! — Aber in Ihrer Hand, schöne Serafine Alexandrowna, liegt jetzt alles: Ihre und meine und — seine Zukunft!... Wollen Sie den Mann retten, den Sie längst lieben, ich habe es aus Ihren Blicken gesehen und erraten, so seien Sie um sieben Uhr am Seiteneingang der Kirche. Als Witwe dürfen Sie gerade diesen Weg machen. Ich werde daraus ersehen, daß Sie auf Liebe verzichten aus Liebe! Das Duell wird nicht stattfinden...“
Bis dahin las die junge Frau, dann warf sie das Schreiben mit einem Aufschrei zu Boden und stürzte in einem Zustand, der dem Wahnsinn gleichkam, zu Durnowo in den Salon. Bei ihrem Nahen sprang er erschreckt empor, und ehe er noch einen Schritt tun konnte, stand sie neben ihm, packte seinen Arm und schrie mit kreischender Stimme: „Kolokotronski will Iwan Piotrowitsch töten! Helfen Sie, Juri, bei der heiligen Mutter von Kasan, helfen Sie, retten Sie ihn!“
Qual und Eifersucht tobten in dem Offizier, als er in das von Angst und Entsetzen entstellte Antlitz der geliebten Frau sah. Vielleicht bemerkte sie seine innere Abwehr, denn sie stürzte vor ihm auf die Knie nieder, hob flehend beide Hände und ächzte heiser: „Juri, Juri, wenn Sie mich lieben, retten Sie ihn!“
„Was geht denn vor, Serafine Alexandrowna, ich beschwöre Sie, werden Sie ruhiger! Warum glauben Sie, daß Kolokotronski Herrn Chomjäkow töten wird?“
Sie rang fassungslos die Hände, als er sie mit sanfter Gewalt emporhob. „Er, Kolokotronski... hat es nur selbst geschrieben. Soeben erhielt ich den Brief! Ein Zweikampf... ein Duell... um meinetwillen...“
Durnowo nagte an seiner Lippe: „Also darum!“ entfuhr es ihm. Und mit einem Schlage wurden ihm die Vorgänge klar, welche auch bei seinen Kameraden Vermutungen aller Art hervorgerufen. Die Einberufung des Ehrenrates, — die Beratung von Graf Spiridiew, Apuschkin und Aksakow hinter verschlossenen Türen. Keiner wurde zugezogen oder zugelassen außer dem fremden greisen Polen, der in Haltung und Magnatenkostüm schon den Aristokraten verriet. Wenn dieser wirklich ein naher Verwandter oder gar der Vater des hohen russischen Beamten war, so verstand er weder sein Verweilen bei Kolokotronski noch seine Vorladung vor den Ehrenrat, Der Major von Adlerfeld war im Schlöffe Zeuge des Zusammenstoßes gewesen...
„Juri, versäumen Sie keine Zeit! Eilen Sie, retten Sie, ehe es zu spät wird! Soll dieser Dämon, dieser Mörder und Verbrecher auch noch dieses, ach, so wertvolle Leben opfern?!“ wimmerte Serafine Stroganoff in Todesangst.
Seine Ritterlichkeit siegte über seine enttäuschte Liebe. Durnowo richtete sich straff auf und sah mit bitterem Lächeln auf seine verbundene Hand „Sie haben recht, Serafine Alexandrowna“, sagte er langsam und betont. „Nicht nur Sie und Chomjäkow, ganz Kolno muß befreit werden. Kolokotronski soll keine neue Schandtat begehen. Er ist es nicht wert, einem Ehrenmann im ehrlichen Zweikampfe gegenüber zu stehen. Das Duell muß um jeden Preis verhindert werden!“
Die junge Frau atmete wie erlöst auf. Mit raschem Griffe nahm sie seine Hand und drückte mit fiebernd heißen Lippen einen Kuß darauf. „Ich danke Ihnen, Juri, mein junger Held! Sie retten auch mich, auch meine Ehre! Aber eilen Sie, handeln Sie, ehe es zu spät wird. Die Zeit drängt!“
Durnowo warf einen Blick auf seine Armbanduhr und nickte mit dem Kopfe. Er wußte, daß diese Kämpfe in frühster Morgenstunde ausgefochten wurden. Wenn er irgend welche Schritte tun wollte, so war jede Minute wichtig. „Ich gehe, Serafine Alexandrowna“, sagte er mit flackernder Stimme, „aber ich bitte Sie, um Ihres Rufes willen, bleiben Sie daheim. Unternehmen Sie nichts, bis Sie von mir Nachricht haben!“
Sie konnte nur mit dem Kopfe nicken, denn in diesem Augenblick öffneten sich gleichzeitig beide Türen. Aus der rechten kam der Pope mit zwei Chorknaben, durch die linke trat Olga Elisabetowna Nekrassow. Mit weit geöffneten Armen eilte sie auf die junge Frau zu, preßte sie an sich und rief aufschluchzend: „Erst mein armer, geliebter Mann und nun auch Fedor Maximowitsch! O, wir beiden unglücklichen Witwen! Welcher Teufel hat uns das angetan!?“
Der junge Offizier entfernte sich hastig. Er kannte die geschwätzige Gattin des ermordeten Polizeimeisters und wußte, daß sie Serafine Alexandrowna so schnell nicht wieder verlassen würde. Dies beruhigte ihn. Aufatmend blieb er auf dem Platze zwischen den Beamtenhäusern, stehen. Noch herrschte morgendliche Ruhe. Nur ein Kommissionär in schmutzigem Kaftan ging von Blockhaus zu Blockhaus, um von den Köchinnen die Aufträge einzusammeln. Von der Ferne vernahm er militärische Signale. Dort drillten die Unteroffiziere wohl die Mannschaften. Durnowo seufzte unschlüssig. Was konnte er tun, um das Duell zu verhindern? Wo würde es stattfinden? Adlerfeld war sicher eingeweiht; aber schon häufig hatte der Major ihm Beweise dafür gegeben, daß er mit dem Polen, wenn nicht gar unter einer Decke steckte, so doch ihn schonte. In jedem Falle mußte er einen Versuch machen, ihn zu gewinnen, durfte er den Vorgesetzten nicht übergehen. — Hastig eilte er zu dem kleinen Hause, in dem der Major wohnte.
Der Bursche meldete, daß der Herr Major bereits vor einer Viertelstunde fortgeritten sei. Schon wollte Durnowo sich entfernen, als er sich angerufen hörte und zur Seite wendete. In der Tür stand im Schlafrock, eine schmutzige Haube auf dein ungekämmten Haar, blaß und erregt die Majorin. „Juri“, rief sie, „es muß etwas vorgehen. Ein Duell oder ähnliches. Mein Mann ist so sonderbar. Er hat nicht mit der Sprache herausgewollt. Jetzt ist er zu Kolokotronski geritten, wie er sagte, um mit diesem etwas zu besprechen; aber ich glaube nicht daran. Was ist bloß geschehen? Weißt Du denn nichts?“
„Nein, gnädigste Tante, da ich mich aus Gesundheitsrücksichten noch dem Kasino fernhalten muß, bin ich allen neuesten Vorgängen fern“, entgegnete er und drehte sich um. „Doch bitte ich, mich gütigst entlassen zu wollen. Mich... ruft der Dienst!“
„Damit entschuldigt Ihr Euch immer“, grollte sie und fand keine Gelegenheit zu weiterem Schelten, denn er salutierte hastig und stürzte davon. Aus einer kleinen Quergasse des Beamtenviertels sah er Aksakow und Apuschkin in großer Uniform in der Richtung nach dem Schloßpark abbiegen. „Zum Teufel!“ stieß er hervor. Da gingen sie schon. Die kostbare Zeit verstrich. Immer schneller vorwärts eilend kam er gerade bis zum Häuschen des Leutnants, in dem jetzt der Staatsrat Chomjäkow untergebracht war. Vor diesem stand eine Britschka, in der Doktor Makarew sowie ein anderer Zivilist saßen. Aus dem Portal schritt der hochgewachsene „Petersburger“ neben dem polnischen Grafen und umarmte diesen leidenschaftlich, ehe er sich auf den Wagen schwang. Noch ein Händedruck, dann zogen die Herren ernst die Hüte zum letzten Gruße. Das Gefährt zog an und fuhr langsam auf die Landstraße hinaus.
Der alte Graf, auch heute in stolzer Magnatentracht, sah den Davonfahrenden nach, legte die Hand über die Augen und wollte ins Haus zurückgehen, als der alte Sareyski zu ihm trat und unter unzähligen Bücklingen von ihm einen Auftrag entgegenzunehmen schien. Dann küßte er die ihm gebotene Hand, den Rockzipfel und eilte grade in der Richtung auf Durnowo zu, während der Graf im Innern verschwand.
Als der junge Offizier den greisen Juden vor sich erblickte, überkam ihn der rettende Gedanke. Er vertrat dem Alten, der unterwürfig grüßte, den Weg. „Halt“, schrie er ihm zu, „Du begleitest mich sofort ins Wachtlokal, Sareyski!“
Erschrocken strich dieser seinen langen weißen Bart. „Soll mich Gott beschützen, Herr Leutnant, warum? Seit wann verhaftet man ehrliche Leute am hellen Morgen? Mein Gewissen ist rein!“
„Das lügst Du, alter Jude“, donnerte Durnowo ihn an, „ich habe Beweise in der Hand, daß Du draußen im Schlosse mit dem Kolokotronski gemeinsame Sache gemacht hast! Du hast ihm beim Schmuggeln geholfen und bist der Polensache verbündet. An Dir klebt das Blut der letzten Überfälle und Morde!“ Sein Herz klopfte bei diesen Anklagen, die er ohne jeden Anhaltspunkt hervorbrachte. Aber das jähe Erschrecken, welches eine Sekunde über das schlaue Gesicht des Kaufmanns glitt, und dessen unruhiger Blick machten ihm Mut. „Vorwärts, marsch, Du Hundesohn, oder ich schieß Dich auf offener Straße nieder.“
„Ruhig, ruhig, junger Herr Offizier“, antwortete der Alte, der sich gefaßt hatte „ich geh' schon freiwillig mit. Ich hab' keine Furcht vor der Obrigkeit. Der Herr Graf Iswolski wird sein mein Fürsprecher bei seinem Sohn, dem Herrn Staatsrat, der kennt mich lang genug.“
Durnowo packte ihn beim Ärmel seines Kaftans und führte ihn selbst zu der Polizeistation. „Wir werden sehen, ob Dein Herr Graf selbst so unschuldig ist, daß er hier plötzlich auftreten darf, nachdem er sich ängstlich versteckt und mit dem Kolokotronski gemeinsame Sache gemacht hat. Ich weiß auch noch nicht, wem ich meine schweren Wunden verdanke von den beiden; aber das wird sich ja jetzt herausstellen!“ Er fühlte deutlich, daß Sareyski zusammenzuckte und ihn scheu von der Seite ansah. Also war er auf dem richtigen Wege. „Wir Russen kennen Euch Polen und Judengesindel hier an der Grenze und wissen, was wir von Euch zu erwarten haben. Aber, mein Ehrenwort, heute wird reiner Tisch gemacht! Ich weiß jetzt Bescheid, und ich werde nicht dulden, daß ein hoher russischer Beamter einem Spitzbuben und Mörder wie Deinem Kolokotronski zum Opfer fällt!“ Wieder zuckte der Jude zusammen. Aber diesmal aus einem anderen Grunde. —
Sareyski war dem alten Grafen Iswolski bis zur Selbstaufopferung ergeben und wußte, in welcher Seelenangst dieser grade jetzt um das Leben seines einzigen Kindes schwebte. Er kannte auch Kolokotronski und wußte, daß dieser unbedingt keine Schonung mehr üben würde, sondern den jungen Grafen, der ihn um das große Besitztum brachte, niederschießen würde wie einen tollen Hund. Heute, jetztgleich konnte er seinem Lebensretter seine Wohltat vergelten und ihm den Sohn retten, indem er den andern opferte. „Soll mir sein recht, Herr Leutnant“, sagte er daher, als sie vor dem Gebäude angelangt waren, „beim Gott meiner Väter, ich will sagen die volle Wahrheit!“
„Tue das“, antwortete Juri, „sonst könntest Du Dir und Deinen Glaubensgenossen sehr schaden. Diesmal wird mit Euch allen aufgeräumt.“ Er zog ihn mit sich in das Wachtlokal, wo zwei Schreiber arbeiteten. Im Nebenzimmer saßen der Gehilfe des ermordeten Polizeimeisters, der jetzt seine Geschäfte vertrat und der Rottenführer der Straschniks, der ihm einen Bericht erstattete. Durch das Fenster sah man auf einen weiten Hof, in dem zehn Berittene, Soldaten des Grenzkommandos, harrten. Beide Herren schauten erstaunt die Eintretenden an. „Herr Gehilfe“, begann Durnowo, „ich bitte mir sofort die draußen zufällig stehende Mannschaft anzuvertrauen, um eine Verhaftung vorzunehmen, die ein Unglück verhindern soll“
„Wie das? Was meinen Sie? Sprechen Sie sich deutlicher aus, Herr Leutnant!“ In dienstlicher Stellung fuhr Juri ernst fort: „In einer halben Stunde wird draußen im Park ein Duell zwischen Herrn Staatsrat Chomjäkow und Herrn Kolokotronski stattfinden. Das muß verhindert werden. Ein Mörder, Dieb und Verschwörer wie dieser Kolokotronski ist nicht satisfaktionsfähig, sondern hat sofort dem Gesetz zu verfallen. Hier, der Jude Sareyski, der Vorsteher der Kolnoer Gemeinde, ist mein Zeuge für die Verbrechen des Angeklagten!“
„Ich erhebe die Anklage und bin zur Aussage bereit“, erklärte dieser.
„So werde ich sogleich das Protokoll aufnehmen lassen...“
„Dazu ist keine Zeit mehr, Herr Gehilfe!“ unterbrach ihn Durnowo. „Höchste Eile tut not. Auf meine Verantwortung verlange ich sofortige Vollziehung der Verhaftung und bin bereit, diese selbst zu übernehmen.“
Zehn Minuten später sprengten die zehn Grenzsoldaten neben dem Wagen, in dem Durnowo, Sareyski, der Polizeibeamte und der Rottenführer saßen. Der Jude hatte ihnen die einsame Stelle verraten, an der der Zweikampf stattfinden sollte. Es war eine versteckte Lichtung hinter dem Schlosse, gerade dort, wo der Park in den Wald überging.
Kolokotronski und seine Sekundanten standen schweigend in Bereitschaft, während der Unparteiische die Entfernungen ausmaß und die Standorte fixierte. Doktor Makarew kniete neben dem Instrumentenkasten und bereitete alles Nötige vor. Wratislaw Iswolski, früher Iwan Piotrowitsch, sprach ernst mit Aksakow. Er hatte von seinem Gegner einen Blick unversöhnlichsten Hasses aufgefangen und wußte, daß er von ihm keine Schonung zu erwarten hatte. Als Beleidigter stand jenem der erste Schuß zu, und so würde er die nächste Stunde kaum mehr erleben! Männlich gefaßt und äußerlich ruhig gab er dem Offizier noch einige Anordnungen, während seine Gedanken Serafine Alexandrowna umkreisten.
Das Kommando: „Auf die Plätze!“ ertönte. —
Beide Duellanten schritten langsam auf die bezeichneten Stellen, Major von Adlersberg näherte sich ihnen mit den sorglich geprüften Pistolen. Gerade war er im Begriff, Kolokotronski die geloste Waffe zu überreichen, als Aufschlagen von Hufen, Wiehern von Pferden und das scharfe Rattern herbeirufender Räder alle aufhorchen ließen. Ehe noch jemand eine Frage zu stellen vermochte, brachen die Berittenen aus dem Gebüsch heraus und umringten sofort den Platz. Schon rollte auch die Britschka heran und hielt neben dem Verbandsplatz bei dem Arzte, Aus dem Wagen sprangen Durnowo und der Vertreter des Polizeimeisters, der allen bekannte Gehilfe. „Halt!“ schrie dieser. „Halt!“
„Halt im Namen des Kaisers!“ befahl Juri Durnowo und eilte, nachdem er den Soldaten einen Wink gegeben, auf den erbleichenden Polen zu. „Theophil Kolokotronski, Sie sind verhaftet!... Ergreift ihn, Leute, vorwärts!“
Kolokotronskis hohe, schlanke Gestalt richtete sich stolz noch höher empor. Über sein kühngeschnittenes, jetzt todblasses Gesicht glitt ein Zug von Verachtung. „Zurück!“ schrie er wild. „Zurück! Wage keiner mich zu berühren!“
Ehe noch Adlersberg und die anderen Anwesenden es zu hindern vermochten, ehe noch Durnowo furchtlos sich auf ihn stürzen konnte, hatte Kolokotronski aus seiner Tasche einen Revolver gerissen und sich an die Stirn gesetzt. Ein Druck, ein kaum hörbarer dumpfer Knall. Dann wankte er und sank rücklings zu Boden in das noch taufeuchte Gras, „Juri, Junge, was hast Du angerichtet? Wer ermächtigte Dich zu diesem?“ zürnte der Major, Durnowo kopfschüttelnd anschauend.
Der junge Offizier stellte sich in strammer Haltung auf und salutierte: „Ich habe Kolno von seinem Dämon befreit, Herr Major von Adlersberg und bin bereit, alle Folgen zu tragen“, meldete er dienstlich.
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