Fritz Skowronnek Þr Verdrängte


Der Vergdrängte

Roman aus der Ostmark

von

Fritz Skowronnek

Eulen-Verlag, Leipzig

Herrn Geh. Oberregierungsrat

Alfred v. Tilly

Präsident des Deutschen Ostbundes

in dankbarer Verehrung gewidmet

Erstes Kapitel

Das Ungeheuerliche war geschehen. Der Feindbund hatte den Polen die beiden preußischen Provinzen Posen und Westpreußen, auf die sie einen durch nichts begründeten Anspruch erhoben hatten, zugesprochen. Zwei blühende Gebiete, die mit deutschem Fleiß gedüngt, mit deutscher Tatkraft zur Kultur emporgehoben waren.

Polnische Banden überfluteten das Land. Eine unfähige Regierung, die den Schmachfrieden um jeden Preis erkaufen wollte, um sich in der angemaßten Macht zu behaupten, lahmte den zu energischer Abwehr entschlossenen Willen der Bevölkerung und zerstörte selbst die Machtmittel, die stark genug waren, den von Größenwahn beherrschten polnischen Staat in das Nichts zurückzuschaudern.

Die spärliche Intelligenz der Polen reichte nicht aus, die neuerworbenen Länder zu verwalten und zu regeln. Unreife Burschen, ungebildete Menschen, deren Kenntnisse unter deutscher Herrschaft gerade noch zur Bekleidung einer untergeordneten Stellung hinreichten, stiegen zu leitenden Stellen in der Verwaltung empor.

Aber allen gemeinsam war der Haß gegen die deutsche Bildung und Kultur, die das Land aus der Barbarei emporgehoben hatte. Und noch größer die Gier nach dem Hab und Gut der Deutschen, nach den auf höchster Stufe stehenden Rittergütern, nach den ihnen gleichstehenden Besitzungen der Ansiedler. Dazu kam noch der vor nichts zurückschreckende Wille, diese Güter an sich zu reißen.

Hunderte von deutschen Schulen wurden in Jahresfrist geschlossen, die Lehrer vertrieben, die Kinder in polnische Schulen hineingezwungen, wo sie Haßgesänge gegen ihr Deutschtum, gegen ihr altes Vaterland lernen mußten. Asiatische Barbarei vernichtete deutsche Kultur.

Und die Deutschen? Ungebeugt von Not und Trübsal waren die meisten entschlossen, lieber Hab und Gut zu opfern, als ihre völkische Zugehörigkeit und ihr Deutschtum aufzugeben. Aber es gab auch nicht wenige, die diese Güter geringachteten und bereit waren, sich durch willige Unterwerfung die Duldung der neuen Herrscher zu erkaufen.

***

Ein leuchtendes Vorbild für alle treugesinnten Deutschen war Frau Esther Dalkowski auf Hartenau. Eine stolze, achtunggebietende Persönlichkeit, über deren leicht ergrauten Scheitel schon siebenzig Jahre hinweggezogen sind. Schweres Leid hatte ihr der Weltkrieg zugefügt. Ihr einziger Sohn war noch mit fünfundvierzig Jahren eingezogen worden und bald darauf gefallen. Ihre Schwiegertochter war in Schmerz und Verzweiflung dahingesiecht, bis sie dem Gatten in das bessere Jenseits nachfolgte.

Ihr Enkel Robert, ein hochbegabter, hoffnungsvoller Jüngling, war mit neunzehn Jahren freiwillig zur Fahne geeilt. Mehrfach verwundet, war er bis zum Offizier emporgestiegen, bis er bei einem Gefecht im zweiten Kriegsjahr in die Hände der Russen fiel. Ob er noch lebte oder gefallen war, wußte die Großmutter nicht. Nach Aussagen von Kameraden war er verwundet umgesunken, als die deutschen Truppen, vor der Übermacht weichend, das Schlachtfeld räumen mußten. Schmachtete er, gesund geworden, in russischer Gefangenschaft, oder deckte ihn schon der kühle Rasen? Keine Kunde war mehr von ihm gekommen.

Aber dieses Schicksal hatte die alte stolze Frau nicht zu erschüttern vermocht. Wie eine deutsche Eiche, die der Blitz wohl verwunden, aber nicht zerschmettern kann, stand sie ungebeugt, aufrecht im Leben. Mit fester Hand hielt sie die Zügel ihrer Gutsherrschaft, die sie nur, von einem alten Vogt unterstützt, bewirtschaftete. Freunde und Verwandte aus dem Reich hatten ihr schon mehrfach den Rat gegeben, Hartenau so schnell wie möglich und um jeden Preis zu verkaufen. Ja, es war die Möglichkeit vorhanden, ihre Besitzung gegen das Gut eines Polen, das in dem deutschgebliebenen Teil von Westpreußen lag, zu vertauschen.

Vergeblich. Sie wollte nicht freiwillig vor den Polen weichen, sie wollte bis zum Äußersten ausharren. Und dem Enkel wollte sie, wenn es möglich war, das Erbe erhalten, auf dem seine Vorfahren seit Jahrhunderten saßen. Denn in einem verborgenen Winkel ihres Herzens glimmte noch die Hoffnung, daß er lebte und eines Tages zurückkehren würde.

In der ganzen Gegend wurde sie mit Liebe verehrt, denn es war kein Geheimnis, daß sie jedem Deutschen, der in wirtschaftliche Bedrängnis geraten war, half, soweit es in ihren Kräften stand, ohne zu fragen, ob der Schuldner imstande sein würde, sich von der Schuld zu lösen. Aber ihre Schuldner wußten, daß sie, ohne daß ihnen die Bedingung auferlegt war, damit die Verpflichtung übernahmen, treu an ihrem Deutschtum festzuhalten. Das gab ihr einen Einfluß, der weit über den Kreis hinausreichte. Sie verkörperte gewissermaßen die Seele aller Treudeutschgesinnten. Das war wohl auch die Ursache, weshalb die Polen sie äußerlich rücksichtsvoll behandelten, obwohl sie „die alte Gnädige“, wie sie in der ganzen Gegend genannt wurde, im geheimen zu allen Teufeln wünschten.

Ihr Gegenstück in allen Dingen war ihr Gutsnachbar Wolfgang Ritter. Er war eine von den Naturen, die nichts Wichtigeres zu tun haben, als darauf zu merken, woher der Wind weht, um ihren Mantel nach dem Winde hängen zu können. Als die Polen Herren des Landes wurden, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als den Namen seines Gutes, das bis dahin Strelkau hieß, in Strelkowo umzuwandeln. Er war ein Untertan nach dem Herzen der Polen, die bei ihm aus und ein gingen. Mit der größten Unbefangenheit erklärte er: ebenso wie die Polen unter deutscher Herrschaft in Posen und Westpreußen leben mußten, könne jetzt, da sich die Verhältnisse geändert, auch ein Deutscher unter polnischer Herrschaft leben, ohne sich zu ihnen in einen Gegensatz zu stellen.

Ein sehr starker Anziehungspunkt seines Hauses war seine Tochter Gertrud, ein sehr hübsches, blondes Mädel von zwanzig Jahren. Es war kein Geheimnis, daß sie in ihrer Gesinnung zu ihrem Vater in einem scharfen Gegensatz stand. Das Verdienst daran gebührte der Frau Esther Dalkowski. Sie hatte das kleine Mädel, das mit zehn Jahren bereits die Mutter verloren, an ihr Herz genommen. So kam es, daß Gertrud auf „die alte Gnädige“ nicht nur „Großchen“ sagte, sondern auch in Hartenau ebenso heimisch war wie in Strelkowo.

Die beiden Güter lagen so dicht nebeneinander an einem See, daß ihre Parks aneinanderstießen. Mehrmals kam Trudchen am Tage zu Großchen herübergelaufen. Sie brachte sich eine Handarbeit mit oder suchte sich hier eine Beschäftigung. Hing sie doch mit großer Liebe an der alten Frau, die ihr die Mutter ersetzt hatte und noch ersetzte. Zu Hause wurde sie nicht vermißt, denn ihrem Vater führte eine ältliche Person die Wirtschaft, die der Haustochter geflissentlich jeden Einfluß auf die häuslichen Angelegenheiten vorenthielt.

Gertrud empfand diese Zurücksetzung nicht, weil sie von klein auf daran gewöhnt war, und der Mangel in ihrer häuslichen Erziehung wurde von ihrer mütterlichen Freundin ausgeglichen, die sie das Kochen und Haushalten lehrte und ihr auch Anleitung zu feinen Handarbeiten gab. So war der alten Dame das Mädel lieb geworden wie ein eigenes Kind.

Wenn Gertrud in der Schlummerstunde auf einem kleinen Stühlchen an ihrem Knie saß, begann sie sehr oft von Robert zu sprechen. Sie äußerte nie Zweifel daran, daß er noch lebte und in russischer Gefangenschaft schmachtete. Wenn dann die alte Gnädige in müdem Tone erwiderte, sie hätte alle Möglichkeiten erschöpft, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen, um von ihm Nachricht zu erhalten, verwies Gertrud darauf, wieviel Kriegsgefangene gerade in den letzten Monaten aus dem tiefsten Sibirien zurückgekehrt wären, die von ihren Angehörigen bereits als tot betrauert worden waren. Sie hätten sich in steter Gefahr und Not durchbetteln müssen, bis sie die Grenze der Heimat erreichten.

Dann warf die alte Gnädige ein, Robert sei der russischen Sprache in Wort und Schrift mächtig gewesen, es müßte ihm also leichter als anderen fallen, eine Nachricht nach Hause zu senden.

An diesem Punkt der Unterhaltung setzte Gertrud ihr schwerstes Geschütz ein. Das Beispiel des Joseph Kowalski, dessen Vater Vogt in Hartenau war. Der junge, sehr schüchterne Mensch konnte nicht zusammenhängend erzählen, aber die beiden Frauen hatten ihn mehrmals ausgefragt, bis sie sein Leben in der Gefangenschaft und die Erlebnisse auf seiner Flucht bis in alle Einzelheiten kannten. So ähnlich würde wohl auch Roberts Schicksal sich abgespielt haben.

Sooft es ging, wiederholte Gertrud das Gespräch.

Sie fühlte, daß es der alten Frau wohltat, von ihrem Enkel sprechen zu hören, daß es ihre geheime Hoffnung wachhielt und stärkte.

Allerdings pflegte sie an dieser Stelle einzuwerfen: „Ja, mein liebes Kind, du könntest recht haben, wenn Robert wirklich noch lebte.“

Auch gegen diesen Zweifel kämpfte Gertrud mit Erfolg; „aber Großchen, daran ist nicht zu zweifeln.“

„Wie kannst du das behaupten?“ fragte die alte Frau mit unsicherer Stimme, in der das Verlangen zitterte, die Gründe dafür kennenzulernen.

„Aber Großchen, das liegt doch klar auf der Hand. Daß Robert verwundet worden ist, kann nicht bezweifelt werden. Er kann aber nur leicht verwundet worden sein, vielleicht durch einen Schuß ins Bein, der ihn hinderte, mit seinen Kameraden zurückzugehen. Wäre er schwer verwundet gewesen, dann hätten ihn die Russen nicht mitgenommen, und unsere Truppen, die das verlorene Gelände schon wieder nach wenigen Stunden zurückeroberten, hätten ihn tot oder lebend gefunden. Sag' mal selbst, Großchen, ist das nicht ein zwingender Schluß?“

„Ja, mein Kind, Gott gebe, daß du recht behältst.“

„Ich glaube fest daran. Ich rechne jeden Tag damit, daß von Robert Nachricht kommt, oder daß er selbst eintrifft.“ Dann lehnte sie ihren Kopf an die Knie der alten Frau, die ihr die Hand auf das reiche Haar legte. So verschmolzen ihre Seelen in Liebe und Hoffnung.

Eines Vormittags kam ein mit zwei feurigen Rappen bespannter Wagen auf den Hartenauer Gutshof gefahren und hielt vor der Freitreppe. Ein junger, elegant gekleideter Mann, dem der erste dunkle Flaum auf der Oberlippe sprießte, stieg aus und gab dem heraustretenden Dienstmädchen seine Karte:

„Kasimir Lubomierski“

Kreischef.

Die alte Gnädige empfing ihn hochaufgerichtet in ihrem Arbeitszimmer. Einem hohen, großen Raum, dessen Wände mit Jagdtrophäen aller Art, die von ihren Vorfahren erbeutet worden waren, geschmückt waren. „Was steht zu Diensten?“

Der junge Mann, dem man es ansah, daß er unterwegs, also wahrscheinlich in Strelkowo reichlich gefrühstückt hatte, verbeugte sich nach polnischer Weise. Er schlug die Hacken zusammen, daß die Sporen klirrten, legte die rechte Hand auf das Herz und neigte den Kopf. „Ich komme, um Ihnen persönlich eine wichtige Nachricht zu bringen.“

Mit einer Handbewegung wies Frau Esther auf den nächsten Ledersessel. Sie blieb aufrecht am Schreibtisch stehen. „Was könnte das für eine Nachricht sein?“

„Gnädige Frau werden gleich erfahren, wenn Sie mir gestatten wollten, eine Zigarette anzuzünden.“

Er zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche und entnahm ihm einen Glimmstengel, klopfte ihn auf den Nagel aus, zündete ihn umständlich mit einem Streichholz an, dann legte er sich in den Stuhl zurück und schlug die Beine übereinander.

„Ihr Herr Sohn...“

„Mein Sohn ist im Kriege gefallen,“ unterbrach ihn die alte Gnädige. Noch ahnte sie nichts. Sie dachte an eine Getreidelieferung oder so etwas, die Hartenau aufbringen sollte.

„Ah, Pardon!“ fiel der Pole mit einer leichten Verbeugung ein, „war mir unbekannt. Es handelt sich um einen Herrn Robert Dalkowski, der aus russischer Gefangenschaft entflohen und in Schweden eingetroffen ist.“

Jetzt wankten der alten Frau die Knie, sie ließ sich langsam in den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken, aber ihre Stimme verriet nicht im geringsten ihre Aufregung, als sie erwiderte, „das ist mein Enkel.“

„Ah, Enkel, bringe also große Freude in Ihr Haus. Nachricht kam schon gestern abend, als alle Bureaus geschlossen waren, habe sie erst heute morgen erfahren und mich gleich auf den Weg gemacht.“

„Die Nachricht hätte mir auch schon heute früh durch den Fernsprecher mitgeteilt werden können,“ entgegnete Frau Esther mit harter Stimme, während der Groll in ihr aufstieg, daß der junge Mann die Nachricht ihr so lange vorenthalten hatte, um unterwegs zu frühstücken.

„Verzeihung, gnädige Frau,“ erwiderte der Pole mit einer Verbeugung, „mir widerstrebte diese formlose Art der Benachrichtigung, wollte selbst der Überbringer der Freudenbotschaft sein, von der ich hoffe, daß sie dazu beitragen wird, bessere Beziehungen zwischen Hartenau und der Behörde anzubahnen.“

„Darf ich um die Depesche bitten?“

Der junge Mann begann in seiner Brusttasche zu suchen. Als er das Papier dort nicht fand, stieß er den polnischen Lieblingsfluch „Pjoruni“ aus. Fuhr mit der Hand in noch mehrere andere Taschen, „Pjoruni, hab' ich vergessen, oder ist bei Herrn Ritter liegengeblieben. Aber an der Tatsache ist nicht zu zweifeln. Das Rote Kreuz hat aus Schweden telegraphiert, daß Ihr Herr Enkel dort eingetroffen und nach Hause geschickt wird, sobald er sich etwas erholt hat.“

Frau Esther Dalkowski erhob sich. „Ich danke Ihnen, Herr Lubomierski für Ihre Bemühung, mir die Nachricht selbst zu überbringen. Ich ersuche Sie jedoch, mir den Wortlaut der Depesche nach Ihrer Rückkehr durch den Fernsprecher zu übermitteln, und die Depesche selbst mir zuzusenden.“

Mit derselben Verbeugung wie beim Eintreten verabschiedete sich der junge Kreischef, der noch vor wenigen Jahren die Bänke des Gymnasiums in Posen gedrückt hatte. Als die Türe sich hinter ihm geschlossen hatte, sank Frau Esther in den Stuhl zurück, legte die Hände auf den Schreibtisch und barg ihr Gesicht darin. Ein verhaltenes Schluchzen erschütterte ihren Körper, während ihr die Tränen aus den Augen stürzten.

Da wurde sie von zwei weichen Armen umschlungen, ein heißer Mund preßte sich auf ihren Scheitel: „Großchen,“ flüsterte ihr Gertrud in das Ohr. „Ich habe es schon vor einer Stunde gewußt, aber der Vater ließ mich nicht an den Fernsprecher, ich mußte dem jungen Ekel Gesellschaft leisten. Großchen, ich zerspringe ja vor Freude. Denk' mal, Robert lebt und kommt nach Hause. Hab' ich nun recht behalten oder nicht?“

Zweites Kapitel

Die erste und größte Sorge der polnischen Machthaber war die Bekämpfung und Unterdrückung der Kommunisten, die einen starken Rückhalt am Sowjet-Rußland besaßen und von dort mit Geldmitteln unterstützt wurden. Die politische polnische Polizei, die sich in bezeichnender Weise „Defensive“ nannte, wütete mit bestialischer Grausamkeit gegen jeden, der ihr als Kommunist bekannt oder als verdächtig erschien. Sie wurde dabei von einem Heer von Agenten unterstützt, auf deren Anzeigen Hunderte von Arbeitern auf einen ungewissen und meist unbeweisbaren Verdacht eingekerkert, in der schauerlichsten Weise gemartert und ohne richterliches Urteil abgetan, d.h. ermordet wurden.

Ein Fall, der das größte Aufsehen der gebildeten Welt erregte, wurde durch Zufall bekannt. Wie eine kurze Notiz in polnischen Zeitungen gemeldet, hatte sich eine zwanzigjährige Julie Baraski im Lemberger Polizeigefängnis erhängt. Sie wurde ohne Leichenschau in aller Stille beerdigt. Erst eine Woche später erfuhr der Professor Lewicki, daß diese Tote seine fünfunddreißigjährige Schwester Olga Bessarabow war, die der Spionage zugunsten eines Nachbarstaates beschuldigt war.

Die Exhumierung und Obduktion der Leiche ergab, daß die Unglückliche in der bestialischsten Weise mit einem Riemen, an dem sich eine Schnalle befand, mißhandelt worden war. Obwohl die kommunistischen Abgeordneten im Seim Lärm schlugen, blieb das Verbrechen ungesühnt, wie noch viele andere, die unbekannt blieben. Das Wüten der Defensive, die soviel Märtyrer schuf, blieb ohne Erfolg. Die Reihen der kommunistischen Arbeiter schlossen sich nicht nur wieder, sondern erhielten neuen Zuzug.

Die Furcht der Polen vor der damals noch kleinen Partei war sehr groß. Das war wohl auch eine der Ursachen, weshalb sie anfänglich gegen die Deutschen noch nicht so scharf vorgingen, wie es in ihrer Absicht lag, die später mit voller Rücksichtslosigkeit zutage trat. Sie beschränkten sich anfangs nur auf „kleine“ Übergriffe, die Schließung deutscher Schulen, Vertreibung der Lehrer und Enteignung deutscher Ansiedler, die froh sein mußten, daß sie eine geringe Entschädigung erhielten, wenn sie von Haus und Hof vertrieben wurden.

Daß man gegen die beiden Güter Hartenau und Strelkowo nichts unternahm, hatte verschiedene Ursachen. Herr Ritter auf Strelkowo trug seine Polenfreundlichkeit und Unterwürfigkeit so offen zur Schau, daß es unklug gewesen wäre, ihn schlecht zu behandeln. Er war schwer reich, denn er besaß über der Grenze in Preußen noch ein zweites großes Gut, hatte während des Krieges viel verdient und es verstanden, sein Kapital in Devisen anzulegen. Für die Polen hatte er ein offenes Haus, und sie versäumten nicht, davon Gebrauch zu machen. Außerdem war seine Tochter Gertrud nicht nur sehr hübsch, sondern auch die reichste Erbin weit und breit. Das lockte die jungen Polen wie der blühende Lindenbaum die Bienen. Frau Esther Dalkowski auf Hartenau verdankte ihre schonende Behandlung weniger ihrem weitreichenden Einfluß als vielmehr der Tatsache, daß der junge Kreischef Lubomierski heftig in Trudchen Ritter verliebt war und sich um ihre Gunst bemühte. Er wußte, wie Trudchen an der alten Gnädigen hing, und hütete sich, die alte Frau gegen sich aufzubringen. Die höheren Verwaltungsbeamten herrschten ja in ihrem Bezirk wie kleine Könige, die nach ihrem Belieben schalten und walten konnten.

Aber einen kleinen Denkzettel sollte Frau Esther doch bekommen. Eines Morgens rückte eine polnische Bande unter Anführung zweier Polizisten in das Dorf Hartenau, vertrieb erst die deutschen Kinder aus der Schule, in die sich sogleich eine polnische Lehrerin einquartierte, warf den Lehrer und seine Familie aus dem Hause und seine Möbel und allen Hausrat auf die Straße.

Der Vogt Kowalski, ein Hüne von Gestalt, hatte Mühe, die Väter und Mütter des Dorfes von Tätlichkeiten abzuhalten. Er konnte es aber nicht verhindern, daß die Bande eine alte Frau von zweiundsiebzig Jahren, die ihrer Empörung und Erregung in heftigen Worten Luft gemacht hatte, verhafteten und fortführten. Die alte Gnädige gab dem Lehrer in einer alten, leerstehenden Instwohnung Obdach und setzte Himmel und Erde in Bewegung, um die Rückgabe der Schule, die ihr gehörte, zu erreichen. Vergebens! Der Herr Kreischef, der sich erst nach mehreren Tagen sprechen ließ, bedauerte, dagegen nichts tun zu können. Die deutschen Abgeordneten im Seim erhoben Beschwerde, die kaltlächelnd zurückgewiesen wurde.

Aber Herr Lubomierski wollte die Sache nicht bis zum Äußersten treiben. Er drückte beide Augen zu, als Frau Dalkowski ein Scheunenabteil zur Schule einrichtete, wo die deutschen Kinder nach wie vor von ihrem Lehrer unterrichtet wurden.

Eines Tages erschien zur Kaffeezeit der Herr Kreischef auf Strelkowo zu Besuch. Er brachte einen Herrn Wladimir Kosinski mit, der weder Gutsbesitzer noch Beamter war. Es war jedoch in der ganzen Gegend ein offenes Geheimnis, daß er ein geheimer Agent der politischen Polizei war. Er war ein Mann in mitteren Jahren mit verlebtem Aussehen, aber stets hochelegant gekleidet. Sein Beruf ließ ihm viel freie Zeit, denn Kommunisten gab es in dieser rein deutschen Gegend nicht. Er führte aber genau Buch über alles, was die Deutschen taten und unterließen.

Ritter schickte sofort nach Hartenau und ließ seine Tochter holen. Sie wollte dem Ruf nicht Folge leisten, aber Großchen redete ihr zu, dem Vater zu gehorchen. Sie kam nach Hause und mußte die Gäste ihres Vaters begrüßen. Aber mit unbewegtem Gesicht hörte sie die faustdicken Schmeicheleien der beiden Polen an, die sich gegenseitig den Rang abzulaufen suchten. Gegen Abend erschienen, durch den Fernsprecher herbeigerufen, noch zwei Gäste, Oberinspektoren der großen, feudalen Herrschaft Reisen, die früher dem Fürsten Sulkowski gehörte und nach seinem Ableben vom preußischen Staat in Besitz genommen wurde. Jetzt gehörte sie natürlich dem polnischen Staat.

Der eine, Hans Reichert, hatte seine Stellung seiner Polenfreundlichkeit zu verdanken, ein ungeschlachter Mensch mit groben Zügen, die seine bäuerliche Abstammung verrieten. Der zweite war ein waschechter Pole, Joseph Dworski. Ein schlanker, brünetter Jüngling, der seine Stellung weniger seinen landwirtschaftlichen Kenntnissen und Fähigkeiten als seiner einflußreichen Verwandtschaft zu danken hatte.

Gertrud war froh, als sie die Gesellschaft verlassen durfte, um für die reichliche Bewirtung der Gäste Sorge zu tragen. Beim Abendessen war die Stimmung schon sehr animiert. Zum Kaffee schon hatte man Liköre getrunken, dann war man zum Ungarwein übergegangen, und zum Abendbrot gab es Rotwein. Lubomierski war noch ziemlich nüchtern, er hatte sich beim Trinken zurückgehalten, um nicht Gertruds Mißfallen zu erregen. Er bemühte sich auch in der Unterhaltung der Haustochter, deren Tischherr er war, nicht zu mißfallen. Aber sie merkte es doch, daß seine Zunge nicht ganz taktfest war und schon öfter anstieß. Seine liebenswürdige Stimmung gab ihr den Mut zu fragen, ob er die Schule in Hartenau der alten Gnädigen nicht zurückgeben wollte. Das sei doch ein glatter Raub gewesen, denn die Schule sei von Frau Dalkowski erbaut und gehöre ihr. Sie habe auch den Lehrer besoldet.

Der junge Kreischef zuckte die Achseln: „So weit reicht meine Macht leider nicht, mein gnädigstes Fräulein. Das polnische Volk ist souverän. Es hat die Schule in Besitz genommen, um sie für polnische Kinder zu benutzen. Selbst die Regierung ist gegen diese Bekundung des Volkswillens machtlos, und ich würde gegen die Absichten meiner vorgesetzten Behörde handeln, wenn ich diese Maßregel rückgängig machen wollte. Es geht wirklich nicht, gnädigstes Fräulein.“

Gertrud sah ein, daß bei Herrn Lubomierski nichts zu erreichen war. Nach dem letzten Gang hob sie die Tafel auf, wobei sie dulden mußte, daß ihr von jedem Gast die Hand geküßt wurde, und zog sich, nachdem sie in der Küche noch angeordnet hatte, was für die weitere Bewirtung der Gäste erforderlich war, auf ihr Zimmer zurück. Sie nahm ein Buch vor, aber es vermochte sie nicht zu fesseln. Die Gedanken kribbelten ihr wie Ameisen im Kopf. Nun würde da unten wieder ein Gelage anheben und sicherlich auch hoch gespielt werden, bis die Gäste, im Morgengrauen schwer bezecht in die Wagen geladen, nach Hause fuhren.

Nicht lange danach klopfte es, und ihr Vater trat in das Zimmer. „Mädel, wo steckst du? Du wirst dich doch nicht unsern Gästen entziehen?“

„Wenn deine Gäste nüchtern wären, würde ich dir zuliebe noch eine Zeitlang unter ihnen bleiben, aber sie haben schon mehr oder weniger eins im Krönchen sitzen und legen sich bereits so wenig Zwang auf, daß ein junges Mädchen nicht in eine solche Gesellschaft paßt.“

„Mir zuliebe könntest du doch noch eine Stunde herunterkommen.“

„Nein, Vater, das tue ich nicht. Ihr werdet euch doch sehr bald an den Kartentisch setzen, und da bin ich überflüssig.“

„Im Gegenteil, Herr Lubomierski hat mir selbst den Wunsch ausgesprochen, daß durch deine Anwesenheit das Kartenspiel verhindert oder wenigstens hinausgeschoben wird, er möchte auch daran nicht teilnehmen, wenn du ihm Gesellschaft leistest.“

„Bedauere sehr, lieber Vater, aber ich halte mich für zu gut, einem angerauschten Manne die Zeit zu vertreiben. Ich weiß ja, daß du die Polen nur aus politischen Gründen so reichlich bewirtest. Du trinkst nicht gern, manchmal tagelang keinen Tropfen. Du jeust nicht gern, das tust du nur aus Berechnung, aber mich laß aus dem Spiel. Deine Tochter müßte dir für diesen Zweck zu gut sein.“

Herr Ritter brummte. „Ich habe besondere Ursache, mir gerade jetzt den Kreischef warm zu halten. Er soll mir die Bewilligung einer großen Ausfuhr von Getreide über die Grenze erwirken. Eine Bitte von dir würde sie mir sofort verschaffen.“

„Nein, Vater, das würde ich auf keinen Fall tun.“

Ritter wurde ärgerlich. „Ich befehle dir, sofort mit mir nach unten zu kommen.“

Gertrud stand auf und trat ihm gegenüber. „Vater, ich muß dir in diesem Fall den Gehorsam verweigern.“

Jetzt wurde Ritter ganz böse. „Du wirst es noch dahin bringen, daß die Polen mir den Stuhl vor die Türe setzen. Glaubst du, sie wissen nicht, daß du bei der alten Gnädigen aus und ein gehst, daß sie dich in deiner unfreundlichen Haltung gegen die Polen bestärkt? Vergiß nicht, daß sie jetzt die Herren hier sind, und daß wir uns ducken müssen, bis der erste, scharfe Wind gegen uns Deutsche vorüber ist.“

„Darauf wirst du vergeblich warten, Vater, es wird noch viel schlimmer kommen, sobald die Polen die inneren und äußeren Schwierigkeiten, in denen sie jetzt noch stecken, überwunden haben werden. Bis dahin wirst du noch Schonzeit haben, weil du ihnen die Gurgel vollgießt.“

Sie trat ihm näher und legte ihm den Arm um den Nacken. „Nicht wahr, Vater, du wirst mich nicht zwingen, mit dir runterzugehen, um mir von den betrunkenen Männern Schmeicheleien, die schlimmer sind als Grobheiten, sagen zu lassen.“

Brummend ging Ritter aus der Tür. Seine Gäste hatten inzwischen schon die Karten hervorgeholt und spielten Oko, eine Abart des Pokerns, aber noch raffinierter als die angelsächsische Urform. Nur Lubomierski stand noch und spielte nicht mit. Als Ritter erschien, trat er ihm entgegen.

„Kommt das gnädige Fräulein nicht wieder?“

„Nein, Herr Kreischef, sie läßt sich entschuldigen, sie fühlt sich nicht wohl.“

„In unserer Gesellschaft,“ ergänzte Lubomierski. „Schade, ich hatte mich gefreut, noch ein Stündchen mit ihr zu verplaudern, aber im Grunde genommen, kann ich es ihr nicht verdenken. Die Herren sind nicht mehr ganz taktfest und lassen sich in ihren Ausdrücken zu sehr gehen.“

„Spielen Sie nicht mit, Herr Lubomierski?“

Der junge Mann zuckte die Achseln. „Ich habe seit einiger Zeit ungewöhnlich viel Pech im Spiel, und offen gesagt, ich stehe bei Kosinski noch mit tausend Gulden in seiner Schuld, die ich erst tilgen müßte.“

„Aber, Herr Lubomierski,“ fiel Ritter mit vorwurfsvollem Tone ein, „meine Kasse steht Ihnen doch jederzeit zur Verfügung. Sie können jederzeit über mich verfügen.“

Er führte den jungen Mann in sein Arbeitszimmer und schloß seinen Geldschrank auf. Wenige Minuten später erschien der Herr Starost mit sehr vergnügter Miene wieder, schob Kosinski ein Päckchen Banknoten hin, setzte sich an den Tisch und ließ sich Karten geben. Es wurde mit einer langen Karte gespielt, aus der nur die Zweien und Dreien entfernt waren, und da kamen die ganz großen Spiele Fullhand oder gar ein Vierer sehr selten heraus. Und wer etwas wagte und vom Glücke begünstigt wurde, konnte schon mit einem kleinen Dreier die Gegner hinauswerfen. Auch Ritter hatte sich an den Tisch gesetzt und spielte mit, aber ohne jedes Interesse. Er wettete ab und zu zehn Gulden an und ließ sich selten auf einen Kampf ein. Am waghalsigsten spielte Kosinski, der jeden Satz eines Gegners verdoppelte und oft mit einem ganz schwachen Spiel den Gewinn einstrich, weil er seine Gegner durch hohe Einsätze unsicher machte. Nur der Herr Kreischef hielt ihm Widerpart und setzte nach, so daß der Agent seine Karten aufdecken mußte, wobei sich mehrmals herausstellte, daß er mit einem kleinen Paar so scharf herangegangen war. Dadurch wurde Lubomierski kühner und schließlich zu kühn. Mit einem niedrigen Dreier ging er scharf ins Zeug und übertrumpfte jeden Einsatz seines Gegners mit hundert Gulden. Schließlich zog Kosinski seine Brieftasche und warf tausend Gulden auf den Tisch.

„Ich bringe die tausend Gulden,“ rief der Kreischef, der nicht mehr so viel Geld vor sich liegen hatte, „ich will Sie sehen.“

„Das Vergnügen können Sie haben,“ erwiderte der Agent hohnlächelnd und deckte ein starkes Fullhand, drei Könige und zwei Asse, auf.

Noch einmal führte Ritter Herrn Lubomierski in sein Arbeitszimmer und lieferte ihm die Mittel zum Weiterspielen. Einige Stunden später hatte der Agent alles Geld, über das die anderen Spieler, mit Ausnahme des Hausherrn, verfügten, der mit einigen hundert Gulden Verlust davongekommen war, in seinem Besitz. Den Vorschlag, nunmehr auf Schuldschein weiterzuspielen, lehnte er ab. Die Stimmung war allmählich ziemlich ungemütlich geworden. Der Hausherr versuchte, sie mit Wein und Likör zu beleben, aber er hatte kein Glück. Die beiden Inspektoren brachen bald auf und nicht lange danach auch Lubomierski mit seinem Gegner, der ihm eine respektable Summe abgenommen hatte.

Ritter war froh, als seine Gäste das Haus verlassen hatten. Die Nacht war ihm ziemlich teuer zu stehen gekommen, denn von den zwanzigtausend Gulden, die er dem Kreischef geborgt hatte, würde er keinen roten Heller wiedersehen. Dafür hatte er die Ausfuhrbewilligung für fünfhundert Zentner Getreide in der Tasche. Der ebenso junge wie geschäftstüchtige Beamte hatte das Formular schon abgestempelt vorsorglich mitgebracht.

Drittes Kapitel

Die drei Wochen, die vergingen, bis Robert seine Abreise aus Schweden telegraphisch meldete, erschienen der Großmutter länger als die Jahre der Ungewißheit. Er hatte ihr brieflich, aber nicht ausführlich mitgeteilt, daß er durch die Strapazen der Flucht körperlich etwas geschwächt sei. Frau Esther hatte ihm darauf mit einem langen Brief geantwortet, worin sie ihm in großen Umrissen die Lage der Deutschen unter polnischer Herrschaft schilderte und die Hoffnung aussprach, an ihm fortan eine Stütze zu finden.

Sie hatte ihm auch Geld überweisen lassen. Dabei erwies sich Ritter in uneigennütziger Weise als hilfsbereiter Nachbar. Die polnische Mark, die als allgemeines Zahlungsmittel zu gelten hatte, stand sehr niedrig. Ritter, der sein Getreide durch Deutschland hindurch nach England verschickte, hatte fleißig Devisen gehamstert und hatte auch deutsches Geld in deutschen Banken aufgespeichert. Er stellte beides, ohne eine Gegenleistung oder eine Sicherheit zu fordern, Frau Esther zur Verfügung.

Er war im Grunde genommen ein ehrlicher, braver Mann, er dachte nicht daran, sein Deutschtum aufzugeben, aber seine Geschäftsklugheit bestimmte ihn dazu, sich mit den Polen gut zu stellen. Im stillen kamen ihm jedoch manchmal Zweifel, ob er damit auf dem rechten Wege war. Nicht wegen der Ausgaben, die ihm der Verkehr der Polen in seinem Hause auferlegte, sondern weil er wußte, daß seine Tochter der Lockvogel war, der ihm die Gunst des Kreischefs verschaffte. Über kurz oder lang würde Lubomierski um Gertruds Hand anhalten, und dann konnte sich das Bild mit einem Schlage ändern, wenn sie, wie zu erwarten war, ihm einen Korb gab.

Er hielt es auch für seine Pflicht, Frau Esther den Verkauf Hartenaus anzuraten. Wenn Lubomierski mit einem Korb aus Strelkau abzog, dann hörte damit auch die Rücksicht auf, die er bisher auf die alte Gnädige genommen hatte.

Frau Esther erwiderte ihm auf seinen Vorschlag, sie habe darüber nicht zu bestimmen. Hartenau gehöre ihrem Enkel, und wie sie ihn zu kennen glaube, werde er auch entschlossen sein, durchzuhalten, und nur der Gewalt weichen. An einen Deutschen, etwa an ihn, dürfe sie nicht verkaufen, und an einen Polen verkaufe sie freiwillig nicht.

Gertrud besuchte in dieser Zeit nach wie vor Großchen täglich. Die alte Frau war, obwohl sie ihre Sorge unter einem unbewegten Antlitz verbarg, innerlich mit schwerer Sorge um ihren Enkel erfüllt. Was mußte der Junge durchgemacht haben, daß er drei Wochen brauchte, um einigermaßen zu Kräften zu kommen und die Reise nach und durch Deutschland antreten zu können. Es tat ihr wohl, wenn Gertrud ihr vorplauderte: Es seien gewiß allerlei Förmlichkeiten zu erfüllen, damit Robert ungehindert durch Deutschland hindurch- und nach Polen hineinreisen dürfe. Der Paß sei die größte Dummheit, die der Krieg hinterlassen habe, ja, es sei geradezu ein Verbrechen, daß die Völker auf diese Weise sich voneinander abschlossen und jeden Menschen nötigten, ein zweites papierenes „Ich“ mit sich herumzutragen.

Daß sie im stillen befürchtete, Robert könnte an der Grenze von den Polen an der Einreise gehindert werden, verschwieg sie, auch ihre Verwunderung, daß Robert Wochen zur Erholung brauchte, ehe er die Heimreise antreten konnte. Als er in den Krieg zog, war er ein blühender, kräftiger Jüngling gewesen, nicht sehr groß, aber von kräftiger Gestalt. So stand er noch heute in ihrer Erinnerung. Sie selbst war damals ein unbedeutendes, mageres Gänschen gewesen, das erst später erblühte. Sie hatte ihn auch während des Krieges nicht wiedergesehen, obwohl Robert zweimal nach einer Verwundung längere Zeit zu Hause weilte, weil ihr Vater sie kurze Zeit nach Kriegsausbruch zu seiner Schwester nach Berlin gebracht hatte. Und als er sie von dort zurückholte, war Robert schon in russischer Gefangenschaft.

Trotzdem empfand sie ein ziemlich starkes Interesse für ihn, weil sie sich in dem vertrauten Umgang mit seiner Großmutter so viel und so oft mit seinem Schicksal beschäftigt hatte.

Endlich meldete eine Depesche, daß Robert seine Heimreise angetreten habe. Eine seltsame Unruhe kam über die alte Frau, über deren Ursache sie sich selbst keine Rechenschaft geben konnte. Jetzt war doch nichts mehr zu befürchten. Sie rechnete aus, wann er zu Hause eintreffen könnte, ließ Kuchen backen und Girlanden flechten, mit denen die Türen bekränzt werden sollten. Sie ging von ihrem Zimmer in die Küche, wo Trudchen das Backen und Schmoren überwachte, sie wanderte mehrmals am Tage durch die Ställe und über den Hof, den sie aufräumen und säubern ließ.

Frau Esther wie Trudchen nahmen an, daß Robert noch von unterwegs den genauen Zeitpunkt seines Eintreffens melden würde. Die Nachricht kam, aber sie besagte nicht das, was die beiden Frauen erwarteten. Robert telegraphierte von Berlin, daß er sich von der Reise angegriffen fühlte und sich einige Tage dort ausruhen müßte. Wortlos reichte Großchen der jungen Freundin die Depesche hin, ihre Augen waren umflort, und um den Mund lag eine schwere Sorgenfalte.

Gertrud faßte sich schnell. „Das finde ich verständig von Robert, daß er die anstrengende Fahrt nicht in einem Zuge zurücklegt, sondern in Berlin Station macht. Weißt du, Großchen, was ich meine? Ich halte sein Bedürfnis nach Erholung für einen Vorwand. Er wird sich Berlin ansehen wollen, das er meines Wissens noch nicht kennt und sich durch den Besuch eines Theaters oder Konzerts erholen wollen.“

Frau Esther lächelte schmerzlich. „Du hast ein glückliches Gemüt, mein Kind. Ich kann deine optimistische Auffassung nicht teilen. Robert braucht keinen Vorwand, wenn er einige Tage in Berlin bleiben will. Das liegt ihm auch fern, mir gegenüber einen Vorwand anzuwenden. Nein, es wird schon so sein, wie ich befürchte. Er ist schwer krank, schwerer, als wir ahnen.“

„Aber, Großchen, wie kannst du dich mit solchen Befürchtungen quälen? Es wird richtig sein, was er dir geschrieben hat, daß er durch unerhörte Strapazen und Unterernährung körperlich geschwächt ist. Dann werden wir es doch fertigbringen, ihn wieder hochzupäppeln, und weißt was, telegraphier' ihm sofort, daß er sich von den berühmtesten und besten Ärzten Berlins untersuchen läßt und dir sofort ihr Urteil meldet.“

„Das würde ich gerne tun, wenn Robert seine Adresse angegeben hätte, was er leider nicht getan hat.“

„Das ist bedauerlich, Großchen, aber ich vermute, daß Robert selbst auf den Gedanken gekommen ist, sich in Berlin von einem Professor untersuchen zu lassen, wenn er sich wirklich krank fühlt.“

„Vielleicht, mein Kind,“ erwiderte Frau Esther tonlos. „Gott gebe, daß du recht behältst.“

Was sie wirklich dachte und befürchtete, sprach sie nicht aus. Die Gedanken waren zu schwer, sie wollten nicht über ihre Lippen. Sie fürchtete, daß Robert schwer krank war, womöglich an der Lunge, und daß er als ein vom Tode Gezeichneter nach Hause kam, um hier zu sterben, als Letzter seines Geschlechts und Namens. Sollte ihr das Schicksal noch diesen Schmerz, den größten ihres Lebens, zufügen wollen? Gertrud las ihr am Gesicht ab, daß die alte Frau von schweren Gedanken und Sorgen erfüllt war, aber sie hütete sich, sie zum Sprechen zu veranlassen. Denn auch in ihr lebte die Furcht, daß die Heimkehr ihres Enkels der alten Gnädigen weniger Freude als schwere Sorge bereiten werde.

Eines Abends kam endlich die Nachricht, daß Robert am nächsten Morgen mit dem ersten Zuge eintreffen werde. In der alten Frau kam keine Freude auf. Schlaflos verbrachte sie die Nacht, wie ein Alp lagen ihre Sorgen und Befürchtungen auf ihr. Sie versuchte ihn abzuschütteln, sie schalt sich selbst aus, aber es half nichts. Als der Morgen graute, stand sie auf, zog sich an und wanderte ruhelos umher. Als der Wagen vorfuhr, genau auf die Minute, die sie bestimmt hatte, saß sie schon in Mantel und Kapuze, ungeduldig wartend.

Der Wagen schien ihr zu kriechen, obwohl der Kutscher die beiden Rappen tüchtig ausgreifen ließ. Ruhelos wanderte sie auf dem Bahnsteig umher, bis der Zug einlief. Als er hielt, stieg aus einem Abteil zweiter Klasse ein einzelner Reisender mit einem Köfferchen in der Hand. Das bleiche Gesicht von einem dunklen, krausen Bart umrahmt, der seine Blässe noch deutlicher hervortreten ließ. Die Augen lagen ihm tief im Kopf. Sollte das wirklich Robert, ihr Enkelsohn, sein? Mit müdem Schritt kam er auf Frau Esther zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte mit schwacher Stimme: „Da bin ich, Großmutter.“

Wortlos zog sie ihn in ihre Arme und neigte ihren Kopf über ihn, während ihr die Tränen unaufhaltsam aus den Augen stürzten. Sein Aussehen schien ihre schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Das war ja ein völlig gebrochener Mensch.

Mit Mühe gewann sie ihre Beherrschung zurück. „Gott sei Dank, mein lieber Junge, daß ich dich endlich zu Hause habe. Jetzt werden wir dich hegen und pflegen, bis du wieder der alte wirst.“

Sie faßte ihn unter den Arm, nahm ihm das Köfferchen ab und führte ihn zum Wagen, wo sie ihm in den großen Reisepelz seines Vaters half. Es war ein herber Vorfrühlingsmorgen. Noch war die Natur nicht erwacht, aber ein grüner Schimmer an den Bäumen und Sträuchern kündigte bereits an, daß die Herrschaft des Winters ihrem Ende zuging. Am wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne, aber ihre Strahlen wärmten nur wenig. Die Pferde zogen an, brausend rasselte der Wagen über das schlechte Steinpflaster der Stadt. Erst draußen, als der Wagen auf dem weichen Sommerweg geräuschlos dahinrollte, bog sich Frau Esther zu ihrem Enkel hinüber. „Du bist wohl sehr ermüdet von der Reise?“

„Es geht, Großmutter, ich war die meiste Zeit allein im Abteil, habe gelegen und geschlafen.“

„So, das ist ja erfreulich. Wenn wir nach Hause kommen und gefrühstückt haben, wirst du ein warmes Bad nehmen und dich noch für ein paar Stunden hinlegen.“

Vor dem Gutshaus hatte der Vogt Kowalski alle Gutsbewohner auf der einen Seite aufgestellt, auf der anderen Seite stand der Lehrer mit seinen Schulkindern, augenscheinlich bereit, den jungen Gutsherrn durch ein Lied zu begrüßen. Ein weißgekleidetes Mädchen hatte einen Blumenstrauß in der Hand, den sie mit einem Vers Robert überreichen sollte. Mit einer Handbewegung schnitt Frau Esther die geplante Feier ab, noch ehe sie begonnen hatte. Nur der Vogt Kowalski ließ sich nicht abschrecken. Er trat an den Schlag, streckte Robert die Hand hin und sagte, „Willkommen zu Hause, gnädiger Herr.“

Robert nahm für einen Augenblick seine Hand: „Ich danke Ihnen, lieber Kowalski, lassen Sie auch das kleine Mädchen ihren Glückwunsch sagen.“

Die Kleine trat verlegen näher, knickste, lispelte ein paar Worte, dann hob der Vogt Robert aus dem Wagen, nahm ihn wie eine Puppe auf die Arme und trug ihn die Freitreppe hinauf bis auf die Diele, wo er ihn behutsam niederstellte und aus dem Pelz schälte. Dann führte Frau Esther Robert in das Eßzimmer, wo ein reichliches Frühstück aufgetragen war. „Nimmst du zuerst ein Glas Rotwein?“

„Wie du befiehlst, liebe Großmutter.“

„Aber, mein Junge, ich befehle doch nichts, das kommt doch nur auf dich an.“

„Dann wäre mir zuerst ein ordentlicher Schluck Schnaps lieber.“

Er griff zur Karaffe, die auf dem Tisch stand, goß sich ein halbes Weinglas voll ein und stürzte es hinunter. Mit einem geheimen Grauen sah die alte Frau ihm zu, ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. War ihr Enkel dem Alkohol verfallen?

Während Robert sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte und zerschnitt, begann sie mit ruhiger Stimme: „Nun sag' mir mal, mein lieber Junge, was fehlt dir eigentlich?“

„Ich bin mit meinen Nerven vollständig auf dem Hund, und mein Magen ist so geschwächt, daß er keine kräftige Speise annehmen will.“

„Aber, mein Junge, wie ist denn das gekommen?“

Über Roberts bleiches Gesicht huschte ein bitteres Lächeln. „Sehr einfach, Großmutter. Wenn man sich ein paar Jahre in der Hauptsache von grobem Brot, das meist noch schlecht gebacken war, Heringen und Schnaps hat ernähren müssen. Manchmal habe ich auch tagelang gehungert. Das hält kein Pferd auf die Dauer aus. Auf der Flucht, wo ich ewig in Angst schwebte, aufgegriffen und in ein Gefängnis geworfen zu werden, sind dann auch die Nerven kaputtgegangen.“

Mit Schrecken sah Frau Esther, wie es in seinem Gesicht zuckte, und wie sich die Augen mit Tränen füllten. Auch seine Hand zitterte deutlich, als er ein Stückchen Schinken zum Munde führte.

„Was sagen die Ärzte dazu? Du hast dich doch genau untersuchen lassen?“

„Selbstverständlich haben mich die schwedischen Arzte untersucht und in Behandlung genommen. Sie haben mir auch eine genaue Diät vorgeschrieben.“ Er zog seine Brieftasche und reichte ihr einen Zettel hin. Da stand darauf verzeichnet, was er essen durfte, bis sein Magen nach kräftiger Speise verlangte. Schleimsuppen, Milchsuppen, gequirltes rohes Ei, geschabter Schinken usw., ab und zu ein Gläschen Kognak.

„Aber, mein lieber Junge, weshalb hast du mir das nicht gleich gesagt? Gleich nach dem Baden bekommst du einen Teller Haferschleim mit einem Ei abgezogen.“

Mit sichtlicher Anstrengung hatte Robert die Scheibe Schinken aufgegessen und dazu noch einen Kognak getrunken, dann ging er baden. Nachdem er danach seine Krankenkost genossen, legte er sich hin. Frau Esther saß an seinem Bett und hielt seine Hand, bis er fest eingeschlafen war. Dann schickte sie einen Jungen nach Strelkau und ließ Gertrud rufen. Sie brauchte eine menschliche Seele, der sie ihr Herz ausschütten konnte.

„Na, siehst du, Großchen,“ rief Trudchen, nachdem ihr die alte Frau über Roberts Befinden ausführlich berichtet hatte, „es ist alles nicht halb so schlimm, wie man es sich vorstellt. Das ist doch keine eigentliche Krankheit, sondern tiefe Erschöpfung aller Lebensgeister, die du durch sorgsame Pflege beseitigen wirst.“

„Mir tut bloß das Herz weh, wenn ich denke, was der arme Junge durchgemacht haben muß. Wie der ärmste Bettler hat er von grobem Brot, Hering und Schnaps gelebt. Auf den Schnaps wird er wohl zuerst verzichten müssen.“

„Aber wenn sein Magen es verlangt?“

„Dann erhält er den feinsten Kognak, der aufzutreiben ist.“

„Der ist schon aufgetrieben,“ erwiderte Trudchen lachend. „Mein Vater hat noch ein paar Flaschen uralten Kognak, die werde ich ihm sofort für Robert ausspannen.“

Viertes Kapitel

Joseph Kowalski, der Sohn des Vogt von Hartenau, ein sehr stattlicher Bursche, der seinem Vater an Größe und Stärke nichts nachgab, war heil und gesund aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt. Er hatte es nur zum Gefreiten gebracht, weil ihm die Fähigkeiten, sich hervorzutun, mangelten. Er war aber ein tüchtiger Mensch, der unverdrossen seine Pflicht tat. Deshalb hatte Frau Esther ihn zum Stellvertreter seines Vaters ernannt, dessen Nachfolger er in absehbarer Zeit werden sollte.

Als er nach seiner Rückkehr die alten Bekannten besuchte, war er auch zum Vogt von Strelkau, Michalcik, gegangen, mit dessen ältester Tochter Marinka, die nur zwei Jahre jünger war, er zusammen die Schule in Hartenau besucht hatte. Es war ein hübsches, sauberes und adrettes Mädchen geworden, das einem jungen Mann wohl gefallen konnte. Und sie gefiel ihm so gut, daß er öfters abends nach Strelkau ging, um mit ihr zu plaudern. Marinkas Eltern merkten sehr bald, daß seine Besuche ihrer ältesten Tochter galten. Das war ihnen nicht unlieb, denn Joseph war ein annehmbarer Schwiegersohn, nicht nur, weil er als Vogt ein gutes Einkommen hatte, sondern auch, weil seine fleißigen, ordentlichen Eltern für den Sohn ein Stück Geld erspart hatten. Außerdem hatte er eine gute Aussteuer zu erwarten.

Marinka dagegen als älteste von sieben Kindern, war arm wie eine Kirchenmaus, denn von ihren Eltern hatte sie nichts zu erwarten. Sie war katholisch und feierte nach polnischer Art sehr energisch jeden Feiertag, deren es im Jahre eine ganze Menge gab. Die Verschiedenheit des Glaubensbekenntnisses war zunächst kein Hindernis für die beiden jungen Menschen, sich zusammenzufinden. Das geschah sehr bald. Marinka ging abends Joseph durch den Park entgegen und begleitete ihn auch ein Stück auf dem Rückwege. Da hatte er ihr eines Abends den Arm um die Schulter gelegt, und sie hatte es schweigend geduldet. Sie hatte den großen und unbeholfenen Menschen auch gern, aber sie zeigte es ihm nicht. Nichtsdestoweniger waren sich beide über ihr gemeinsames Ziel, sich zu heiraten, einig, und eines Abends wurde er so kühn, daß er sie in seine Arme nahm, sich zu ihr hinunterbeugte und sie küßte. Nach dieser Bekundung ihrer Einigkeit sagte Joseph ruhig als wie selbstverständlich: „Am nächsten Sonntag werde ich mit deinen Eltern sprechen. Du bist zwar schon mündig, aber es ist doch besser, wenn die Eltern das erfahren.“

„Ach, Joseph, das hat ja noch Zeit. Ich werde erst mal im Vertrauen mit meiner Mutter sprechen.“

„Aber wozu? Glaubst du, daß ich ihnen nicht gut genug bin?“

„Man kann nicht wissen,“ erwiderte Marinka diplomatisch. „Früher war das ja nicht so, aber jetzt — der Vater ist doch polnisch und du bist deutsch.“

„Was geht ihn das an,“ fragte Joseph scharf, „ich denke, er kann froh sein, wenn du gut versorgt bist.“

Marinka schwieg, sie wollte ihm nicht widersprechen, weil sie derselben Meinung war. Daß Joseph evangelisch war, störte sie auch nicht. Sie war zwar im katholischen Glauben erzogen, befolgte die Gebote ihrer Kirche, ging auch zur Beichte, sooft es der Brauch verlangte, aber ein Herzensbedürfnis war es ihr nicht.

Beim Abschied fiel es ihr ein, Joseph zu fragen, ob seine Eltern schon von ihrer Liebschaft wüßten.

„Nein,“ erwiderte er, „das hat noch Zeit, bis ich mit deinen Eltern einig bin.“

„Glaubst du, daß sie einverstanden sein werden?“

Er zuckte die Achseln, „vielleicht — vielleicht auch nicht, aber wenn ich ihnen sage, daß wir uns sehr liebhaben und ich keine andere nehmen würde als dich.“

Wie Marinka es sich vorgenommen hatte, teilte sie ihrer Mutter unter vier Augen mit, daß Joseph demnächst auf die Freite kommen werde. Die Frau, die von dem reichen Kindersegen und schwerer Arbeit körperlich wie geistig verbraucht war, zuckte nur die Achseln und schwieg.

„Ich dachte, du wirst dich freuen,“ fuhr Marinka fort, „eine bessere Partie kann ich doch nicht machen. Er hat eine gute Stellung, er bekommt Geld und eine gute Aussteuer von seinen Eltern, und er ist ein ruhiger, freundlicher Mensch. Ich werde es guthaben bei ihm.“

„Ach, Kind, das ist alles sehr gut und schön, aber was wird der Vater dazu sagen? Der Joseph ist doch deutsch und evangelisch.“

Jetzt fiel auch der Tochter dieser Unterschied schwer aufs Herz. Sie hatte oft genug gehört, daß ihr Vater, wenn er etwas im Krönchen hatte, auf die Deutschen schimpfte und sie zu allen Teufeln wünschte.

Am nächsten Tage ging Marinka ihrem Schatz bis zum Ausgang des Parkes entgegen, begrüßte ihn zärtlicher als sonst und raunte ihm zu: „Heute kannst du nicht zu uns kommen.“

„Weshalb denn nicht?“

„Herr Ritter hat den Vater ausgeschimpft, jetzt sitzt er hinter der Flasche und flucht auf die Deutschen.“

Joseph, der einsah, daß ein Besuch bei Michalcik unter diesen Umständen nicht ratsam sei, ließ sich von Marinka zu einer Bank führen, wo sie sich beide für eine Weile hinsetzten. Aber bald löste sich das Mädel aus seinen Armen. „Ich muß nach Hause gehen, lieber Schatz, denn wenn ich nicht zu Hause bin, wenn der Vater nach mir fragt, kann es mir schlechtgehen.“

Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß und huschte davon.

Joseph blieb noch lange sitzen. Es waren keine klaren Gedanken, die in ihm wogten, sondern ein dumpfes Gefühl, daß seine Liebschaft kein gutes Ende nehmen werde.

Marinka war doch etwas zu spät nach Hause gekommen. Der Vater hatte schon nach ihr gefragt und fuhr sie heftig an. „Du hast schon wieder mit dem verfluchten deutschen Hundsblut zusammengesteckt. Das werde ich dir austreiben. Ich breche dir alle Knochen im Leibe, wenn du ihm nochmal nachläufst.“

Furchtlos erwiderte Marinka: „Ich laufe ihm nicht nach, aber er mir, er will mich doch heiraten.“

„Und du, möchtest du ihn nehmen?“ fragte der Vater lauernd.

„Ja, Vater, wenn er katholisch werden möchte.“ Mit dieser Antwort entwaffnete sie den Vater vollständig.

Er grinste und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. „Marinka, Tochter, das wäre ein feiner Kuchen aus grobem Mehl. Glaubst du, daß er es tun wird?“

Marinka lächelte verschmitzt. „Wenn ich will, tut er alles, was ich von ihm verlange.“

Michalcik stärkte sich mit einem großen Schnaps, dann erwiderte er mit einer gewissen Feierlichkeit: „Wenn er sich zu unserm Glauben bekehrt und sich taufen läßt, kannst du ihn heiraten.“

Von nun an ließ Marinka alle weiblichen Künste springen, um Joseph dafür zu gewinnen. Sie setzte sich auf seinen Schoß und küßte ihn mit aller Glut, deren sie fähig war. Wenn sie dann fühlte, wie er vor sehnsüchtiger Liebe zitterte, malte sie ihm aus, wie schön es sein würde, wenn sie erst als Ehepaar zusammen lebten, wie ihre Liebe ihn verhätscheln würde. Schließlich, als sie meinte, daß er hinreichend verliebt war, rückte sie mit ihrem Vorschlag heraus, daß er sich katholisch taufen lassen sollte. Das wäre der einzige Weg, um die Einwilligung ihres Vaters zu erreichen.

Joseph schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, Liebste, damit würde ich meine Eltern aufs höchste erzürnen und mit ihnen ganz auseinanderkommen.“

„Sie können dich als ihr einzigstes Kind doch nicht enterben?“

„Das würde mir egal sein, aber die alte Gnädige würde mich sofort entlassen.“

„Dann nimmt dich Herr Ritter als Vorarbeiter bei den Schnittern.“

Als Joseph nachdenklich schwieg, begann sie von der großen Pracht der katholischen Kirche zu erzählen. Als sie auch damit nichts erreichte, schlug sie den entgegengesetzten Weg ein. Sie behandelte Joseph kalt und abweisend. Dadurch kam sie ihrem Ziel bald näher. Joseph fieberte vor Verlangen nach ihren heißen Liebkosungen, die sie ihm andauernd vorenthielt. Schließlich siegte seine Liebe über seine Bedenken. Als Marinka merkte, daß seine Einwände schwächer wurden, überhäufte sie ihn wieder mit stürmischer Glut, durch die sie ihm das Versprechen entlockte, zum Propst zu gehen und seinen Übertritt anzumelden.

Joseph hielt auch Wort, aber erst erschien er bei ihren Eltern und ließ sich von Vater Michalcik Marinkas Hand versprechen, wenn er sich taufen ließe.

In diesem Stadium kam der Liebeshandel mit seinen Folgen an die Öffentlichkeit. Marinkas jüngere Schwester Selma, die vieles aufgeschnappt hatte, ließ ihrem flinken Zünglein freien Lauf und verkündete der Welt von Strelkau und Hartenau die große Neuigkeit, daß der Sohn des deutschen Vogts von Hartenau Pole werden wollte und sich deshalb zum „katolicki Pan Jesus bekehren werde.

Die erste, die davon erfuhr und die Nachricht nach Hartenau brachte, war Gertrud. Die alte Gnädige war zuerst sprachlos, weil sie an die Möglichkeit nicht glaubte. Erst als Gertrud ihr die näheren Umstände schilderte, daß Joseph diesen Schritt unternehmen wollte, weil er arg in Michalciks Tochter verliebt wäre, und unternehmen müßte, wenn er sie von den Eltern zur Frau haben wollte, wurde die Sache erklärlich.

Frau Esther ließ sich sofort ihren Vogt rufen.

Der alte Mann war ganz starr vor Schrecken, als er die Nachricht vernahm. Er schüttelte den Kopf und brachte schließlich mühsam die Worte heraus: „Das glaube ich nicht, das tut Joseph uns nicht an.“

„Lieber Kowalski,“ erwiderte Frau Esther ernst, „wenn es sich um ein Mädel handelt, begehen die Männer die größten Dummheiten.“

Der alte Mann mußte wohl die Wahrheit dieses Ausspruchs anerkennen, denn er senkte schweigend den Kopf. Dann ballte er die Fäuste und hob sie bis zur Brust. „Das werde ich mit dem Jungen erst mal unter vier Augen besprechen, ich werde ihm die Mucken schon austreiben.“

„Machen Sie bloß keine Dummheiten, Kowalski,“ rief die alte Gnädige, „Ihr Junge ist ein erwachsener, mündiger Mensch, der den Krieg mitgemacht hat, den behandelt man nicht wie einen kleinen Buben, dem man die Hosen stramm zieht. Ich glaube, Sie werden mit Güte und verständiger Aussprache mehr erreichen, wenn Sie überhaupt noch etwas erreichen.“

In ihren Augen blitzte es aus, ein unmerkliches Lächeln flog um ihren Mund. „Vielleicht ließe sich der Spieß sozusagen umdrehen. Die alten Michalciks könnten doch froh sein, ihre Tochter so gut versorgt zu sehen, und wenn die Marinka den Joseph wirklich liebhat, dann könnten auch die Eltern nichts dagegen haben, wenn sie ihm zuliebe evangelisch würde. Wirken Sie darauf hin. Wenn das geschieht, setzen Sie sich zur Ruhe und ich mache Joseph zu Ihrem Nachfolger. Im anderen Fall wird er sofort entlassen.“

In Wirklichkeit glaubte Frau Esther nicht daran, daß sich dieser Spieß noch umdrehen lassen würde. Wenn der junge Mann schon beim Propst gewesen war und seinen Willen kundgegeben hatte, würde sich die katholische Geistlichkeit mit Recht den Triumph, daß ein evangelischer Deutscher übertreten und damit Pole werden wollte, nicht entgehen lassen. Das ergab einen heftigen Konfliktstoff, der die nationalen und konfessionellen Gegensätze in der ganzen Gegend verschärfen mußte.

Als Kowalski die böse Nachricht seiner Frau brachte, sah sie ihn kopfschüttelnd an. „Wer hat dir das Märchen aufgebunden, Kuba?“

„Das ist leider kein Märchen, die alte Gnädige hat mich extra rufen lassen, um es mir zu erzählen. Der Joseph ist schon beim Propst gewesen.“

„Unser Joseph soll katholisch und polnisch werden?“ fragte die Frau mit bebender Stimme. „Nein, das glaube ich nicht, das tut er uns nicht an.“

Als der Übeltäter zum Mittag nach Hause kam, saßen die Eltern vor dem unberührten Essen. Der Vater in finsterem Schweigen, die Mutter mit rotverweinten Augen. Er ahnte sogleich die Ursache ihrer Verstörung, aber er schwieg. Erst als die Mutter ihn mit ersterbender Stimme fragte, ob es wahr wäre, was die Leute von ihm erzählten, gab er zur Antwort: „Ja, liebe Mutter, ich habe die Marinka so lieb, daß ich nicht von ihr lassen kann, und wenn ich sie heiraten will, muß ich mich katholisch taufen lassen.“

„Weißt du auch, was du uns, der alten Gnädigen, ja allen Deutschen, in dieser schweren Zeit damit antust?“ fragte der Vater mit dumpfem Groll in der Stimme.

„Ist es denn so schlimm, wenn ein Mann der Frau zuliebe seinen Glauben wechselt?“ erwiderte Joseph unsicher.

„Ja, das ist immer unter allen Umständen schlimm,“ donnerte der alte Vogt los. „Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Mann anhangen, den sie liebt, steht in der Bibel, aber nicht umgekehrt. Der Mann soll nicht dem Weibe nachlaufen, und gerade jetzt und hier, wo wir Deutschen und Evangelischen von den Polacken gepiesackt und wie die Hunde behandelt werden, da willst du alles fortwerfen, was uns Deutschen lieb und heilig sein muß?“

„Die Marinka hat dich gar nicht so lieb, wie es richtig sein müßte, die ist bloß von ihren Eltern aufgestachelt worden, dich zu überreden,“ warf die Mutter ein. „Wenn sie dich so lieb hätte, wie es zu einer richtigen Ehe gehört, dann müßte sie zu dir sprechen: `Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, und wo du bleibst, will ich auch bleiben, dein Gott sei mein Gott`, so steht es in der Bibel geschrieben.“

„Hast du dich mit dem Mädchen so weit eingelassen, daß du sie als ehrlicher Kerl heiraten mußt,“ fragte der Vater scharf.

„Nein, Vater,“ erwiderte Joseph ehrlich.

„Na, dann gibt es nur einen Ausweg, wenn du sie durchaus heiraten willst, nicht du, sondern sie muß sich taufen lassen und unsern Glauben annehmen.“

Joseph zuckte die Achseln. „Das tut sie nicht, und das lassen auch ihre Eltern nicht zu.“

„Dann frage ich dich noch einmal, willst du von dem Mädel lassen oder dich wirklich taufen lassen?“ fragte der Vater ernst, aber ruhig.

„Ich kann nicht mehr zurück, ich habe schon beim Propst meinen Übertritt angemeldet und muß bei ihm zum Unterricht gehen.“

Langsam erhob sich der alte Vogt. „So, du kannst nicht mehr zurück, du willst dich von deinen alten Eltern für immer trennen. Gut! Dann bist du von der gnädigen Frau sofort entlassen und wir, dein Vater und deine Mutter, die dich unter Schmerzen geboren hat, kennen dich von dieser Stunde ab nicht mehr. Wir haben keinen Sohn mehr. Für dich ist kein Platz mehr unter meinem Dach. Pack' deine Sachen und sieh zu, wo du bleibst.“

„Vater!“ schrie Joseph auf.

Kowalski zog seine Frau, die vor Jammer und Herzeleid laut weinte, zu sich empor. „Heul' nicht, Frau! Der junge Mensch da hat das vierte Gebot vergessen, deshalb müssen wir ihn auch vergessen!“

„Vater!“ jammerte die Frau, „Vater, sei doch nicht so hart, laß ihm doch Zeit. Die alte Gnädige hat doch auch gemeint, er soll die Marinka überreden, sich taufen zu lassen.“

Der alte Vogt schwieg eine Weile, während Joseph das Gesicht auf die gekreuzten Arme gelegt hatte, um die Tränen zu verbergen, die ihm aus den Augen stürzten. Erst nach einer Weile fragte er: „Joseph, willst du das versuchen?“

Der junge Mann hob den Kopf. „Es wird nichts nützen, Vater. Aber ich will sie zu euch bringen, redet ihr mit ihr.“

„Ach ja, tu du das,“ fiel die Mutter schnell ein, um ihrem Mann die Entscheidung vorwegzunehmen. „Wenn sie klug ist und dich liebhat, wird sie einsehen, daß du mehr zu verlieren hast als sie.“

„Ja,“ fuhr der Alte fort, „ich will dir noch acht Tage Zeit geben. Gegen das Mädel habe ich nichts; sie soll sauber sein und hat sich, soviel ich weiß, bis jetzt anständig gehalten. Also sieh zu, was du ausrichtest, sonst bleibt es bei dem, was ich gesagt habe.“ Schweigend, ohne Hunger, wurde gegessen. Dann erhob sich Joseph und ging auf den Hof, um die Mittagspause abzuläuten.

Noch an demselben Abend brachte Joseph seine Liebste zu seinen Eltern. Der Vater ging weg, als Marinka erschien, er wollte nicht durch seine Heftigkeit etwas verderben, was an und für sich wenig wahrscheinlich war. Er ging zum Lehrer Urbschat, mit dem er seit langem freundschaftlich verkehrte und klagte ihm sein Herzeleid. Währenddessen verhandelte Joseph und seine Mutter mit Marinka. Wie vorauszusehen war, wehrte sich die Kleine gegen die Zumutung, ihren Glauben zu wechseln. Ihr würde es ja nicht schwer werden, Josephs Glauben anzunehmen, meinte sie, aber der Vater würde sie zuschanden schlagen, und wenn der Joseph sich ihr zuliebe nicht taufen lassen wollte, dann wolle sie von ihm nichts mehr wissen, dann solle er sich eine andere suchen.

Vergebens stellte ihr Joseph vor, daß der Vater ihn verstoßen, und daß er noch ärmer als der einfachste Arbeiter sein werde, wenn er gegen seinen Willen handeln werde. Dann könnten sie fürs erste noch lange nicht ans Heiraten denken, denn von ihren Eltern werde sie doch nicht so viel mitbekommen, daß sie sich, wenn auch notdürftig, eine Wirtschaft einrichten könnten.

Sie sprachen noch immer und immer dasselbe, als der Vater erschien. Er hatte mit dem Lehrer den Fall durchgesprochen, und beide waren zu dem Ergebnis gekommen, daß es nicht nur unklug, sondern gefährlich wäre, wenn Marinka nachgäbe und sich taufen lassen wollte. Das könnte für alle Deutsche in der ganzen Gegend die schlimmsten Folgen nach sich ziehen. Dem alten Vogt war es deshalb ganz recht, daß Marinka wie eine Verzweifelte weinte und heulte, während Joseph und seine Frau ihr mit düsteren Mienen gegenübersaßen, als er in die Stube trat. „Nun, wie hat sich Marinka entschieden?“

Joseph zuckte die Achseln. „Sie will nicht, da ist auch nichts zu machen.“

„Also, du willst nicht, na, dann hast du auch hier nichts mehr zu suchen und kannst die Türe von draußen zumachen.“

Marinka sprang auf, wischte sich schnell mit der Schürze die Tränen vom Gesicht und lief aus der Stube, deren Tür sie krachend hinter sich zuschlug.

„An dem Mädel kannst du dir ein Beispiel nehmen,“ fuhr der Alte fort, „die ist hart wie Stein und du bist weich wie ein Waschlappen. Nun gebe ich dir noch acht Tage Zeit, dich zu entscheiden, ob du von dem Mädel lassen willst oder nicht.“

Fünftes Kapitel

Mittag war schon fertig und wartete, als Robert im Eßzimmer erschien. Die Großmutter stand auf, ging ihm entgegen und führte ihn zu Tisch. Er sah etwas frischer aus, war aber still und in sich gekehrt. Er stellte auch keine Fragen, während die Großmutter ihm ausführlich schilderte, wie die Deutschen unter polnischer Herrschaft behandelt, d. h. mißhandelt würden. Wie sie Rentengüter den Ansiedlern wegnähmen oder unter eine Zwangsverwaltung stellten, die mehr kostete, als die Einnahmen betrügen. Sie schilderte ihm ausführlich, wie ihre Schule in Hartenau von den Polen ohne jeden Rechtsgrund in Besitz genommen war, wie der Lehrer aus dem Gebäude vertrieben wurde, nachdem seine Möbel und Sachen aus die Straße geworfen waren.

Da tat Robert die erste Frage: „Wie kommt es denn, daß du noch unangefochten geblieben bist?“

Die alte Gnädige lächelte bitter. „Anfechtungen habe ich gerade genug erlebt, aber daß ich noch nicht von Haus und Hof vertrieben worden bin, habe ich verschiedenen Umständen zu verdanken. In erster Linie wohl unserem Nachbar Ritter, der sich mit den Polen gutsteht und sie bis zur Bewußtlosigkeit voll Wein und Schnaps gießt, wenn sie ihn besuchen, was ziemlich oft geschieht. Wahrscheinlich verdanke ich diese Rücksichtnahme auch der Tatsache, daß Trudchen Ritter wie eine leibliche Tochter an mir hängt.“

Als Robert sie fragend ansah, fuhr sie fort: „Das hat eine ganz besondere Bewandtnis. Der Kreischef Lubomierski, ein junger Mann, bewirbt sich um Gertrud, die nicht nur sehr hübsch und ein Prachtmädel geworden ist, sondern auch mit Recht als die reichste Erbin der ganzen Gegend gilt. Er fürchtet meinen Einfluß auf Gertrud, wenn er mich erzürnt.“

„Wäre es nicht besser, du verkauftest Hartenau, solange es noch Zeit ist?“

Die alte Frau sah ihn erstaunt, ja vorwurfsvoll an: „Das hätte ich früher vorteilhaft tun können, wenn ich es nicht für meine Pflicht gehalten hätte, das Gut für dich zu bewahren, so lange, wie noch Hoffnung vorhanden war, daß du lebtest und zurückkehren könntest.“

Als Robert darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Ich habe es als selbstverständlich betrachtet, daß wir Deutschen hier bis zum Äußersten aushalten und uns nur durch Gewalt verdrängen lassen. Wir Deutschen haben aus der Wüstenei, die unsere Vorfahren hier vorfanden, ein fruchtbares Land geschaffen, das in hoher Kultur steht. Wir haben also nicht nur ein dingliches, sondern auch ein moralisches Recht an diesem Boden, der von unserer Arbeit befruchtet und mit unserem Schweiß gedüngt ist.“

Die alte Frau empfand es schmerzlich, daß Robert ihr weder durch eine Miene noch durch Worte beistimmte. War das nur seelische Ermattung, die sich in Gleichgültigkeit äußerte, oder stimmte ihr Enkel in seinen Ansichten nicht mit ihr überein? Sie scheute sich, ihn direkt zu fragen, weil sie fürchtete, eine Enttäuschung zu erleben. Sie glaubte auch, auf seine körperliche Verfassung Rücksicht nehmen zu müssen, und hoffte, daß er geistig regsamer werden würde, sobald seine Gesundung fortschritt.

Als er nach dem Essen keine Neigung zeigte, sich wieder hinzulegen, schlug sie ihm einen Gang durch den Hof und die Ställe vor. Voll Stolz zeigte sie ihm die geräumigen, mit allen modernen Errungenschaften eingerichteten Ställe, wo Hunderte von Kühen schwarzweißen-ostfriesischen Schlages standen. Während sie ihm einige der besten Milchkühe vorführen ließ, beobachtete sie ihn genau, ob und welches Interesse er daran nahm. Als Junge hatte er sich gerne in der Wirtschaft umgetan, hatte vom Sattel die vierspännigen Erntewagen von Hocke zu Hocke gelenkt und hatte stundenlang am Dreschkasten und der Lokomobile gestanden. Er war jedoch in die Welt, in den Krieg hinausgezogen, ehe das Interesse für die Landwirtschaft bei ihm tiefere Wurzeln hatte schlagen können.

Sie wunderte sich deshalb nicht, daß er auch an dem Wirtschaftsbetrieb, auf den sie stolz sein durfte, wenig Anteil nahm. Wenn sich das jedoch nicht änderte, wenn er keine Neigung zur Landwirtschaft faßte, was dann? Sie plante bereits, ihm den Vorschlag zu machen, auf einem Gut in Deutschland als Eleve die Landwirtschaft zu erlernen. Es lag nahe, ihn auf das deutsche Gut des Nachbars Ritter, das eine Musterwirtschaft war und einen tüchtigen Oberinspektor hatte, zu schicken. Vorläufig schien es ihr für diesen Vorschlag noch nicht die geeignete Zeit zu sein. Jetzt hieß es, hoffen und warten, welche Einflüsse Güte und Pflege und die Zeit auf ihn ausüben würden.

Als sie ins Haus zurückkehrten, bat Robert um einen Kognak, dann nahm er ein Buch, setzte sich in einen tiefen Sessel und schlief bald beim Lesen ein. Leise schlich sich die Großmutter hinaus. Ihr war das Herz schwer von der Sorge um die Zukunft, und während sie über ihren Wirtschaftsbüchern saß, wartete sie mit Sehnsucht auf Trudchen, um sich zu ihr auszusprechen und von ihr tröstlichen Zuspruch zu empfangen.

Sie erschien erst zum Kaffee. Mit einiger Spannung sah die alte Gnädige dem Zusammentreffen der beiden jungen Menschenkinder entgegen. Sie waren miteinander aufgewachsen; aber der Altersunterschied von sechs Jahren hatte eine wirkliche Kinderfreundschaft, die so oft für das ganze Leben entscheidend wirkt, verhindert. Dazu kam, daß Gertrud ein zartes, schwächliches Kind gewesen war, das gern mit Puppen spielte, während Robert von Kraft überschäumte.

Schon als Junge von zwölf bis dreizehn Jahren war er allein in den Roßgarten gegangen, wo sich bis zu dreißig zwei- und dreijährige Fohlen — zukünftige Remonten — tummelten. Sie kannten und liebten ihn alle, weil er die Taschen voll Zucker hatte, mit dem er sie fütterte. Wenn sie ihn dann umdrängten, schmeichelte er einem der Gäule einen Strick, der als Zügel dienen sollte, in das Maul, legte ihm die Enden um den Hals, packte ihn in die Mähne und schwang sich mit einem Satz auf seinen Rücken. Dann brauste der junge Gaul mit ihm davon, die andern hinterdrein.

Mit fünfzehn bis sechzehn Jahren war er manchmal allein imstande, einer ungebärdigen Remonte nicht nur Sattel und Zaum aufzulegen, sondern sie auch zu reiten. Unwillkürlich waren der Großmutter diese Erinnerungen eingefallen, als sie ihm ihre Pferde vorführen ließ und er sich nicht veranlaßt fühlte, ihnen den Hals oder das glänzende Fell zu streicheln.

Als Robert eintrat, sprang Gertrud auf und streckte ihm beide Hände entgegen: „Willkommen in der Heimat und zu Hause, Robert!“

Er verbeugte sich formell, berührte für einen Augenblick ihre Hände, um sie gleich fallenzulassen, und erwiderte: „Danke, Fräulein Ritter!“

Einen Moment sah das Mädel ihn erstaunt fragend an, dann fuhr sie mit einem leisen Lächeln fort: „Sie haben uns lange warten lassen, Herr Dalkowski!“

Mit einem grenzenlosen Erstaunen sah die alte Gnädige auf die beiden. Sie vergaß, daß ihr Enkel eine erwachsene, junge Dame vor sich sah und sich nicht für berechtigt hielt, sie wie ehemals als Kind, mit „du“ anzureden.

„Nanu, was soll das heißen, ihr werdet euch doch nicht mit Fräulein und Herr titulieren?“ Es kam ihr unnatürlich vor, weil ihr Gertrud ans Herz gewachsen war und sie nicht bedachte, daß Robert diese vertrauten Beziehungen nicht kannte.

Aus dieser peinlichen Stimmung fand Trudchen den Ausweg: „Wir können uns ja nach alter Weise mit den Vornamen nennen, Großchen! Ja, ich habe auch nichts dagegen, wenn er mich dutzt. Wie wollen wir es also halten?“

Er lächelte ein wenig. „Wie du willst.“

Frau Esther stand auf, legte Gertrud den Arm um die Schulter und zog sie an sich. „Du bist ein liebes, gutes, verständiges Kind. Wir müssen Nachsicht üben mit unserm großen Jungen. Wir müssen annehmen, daß er sehr Schweres durchgemacht hat, was nicht nur seinen Körper geschädigt hat, sondern auch auf seine Seelenstimmung drückt.“

„Hast du denn deiner Großmutter noch nichts von deinen Erlebnissen in deiner Gefangenschaft erzählt?“ fragte Trudchen.

Robert schüttelte den Kopf. „Das liegt hinter mir, weshalb soll ich euch damit das Herz beschweren.“

„Das ist nicht richtig,“ erwiderte Trudchen eifrig. „Dir wird es das Herz erleichtern und helfen, von den Erinnerungen loszukommen, wenn du es uns erzählst.“

Robert schwieg nachdenklich. Er legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander und starrte vor sich hin. Endlich begann er: „Die Verwundung war nicht schwer, ein Fleischschuß durch den linken Oberschenkel. Weil ich es schon im Gefühl hatte, daß unsere Kompagnie vor der russischen Übermacht zurückgehen mußte, schleppte ich mich in ein dichtes Gebüsch, wo ich hoffte, von den Russen nicht entdeckt zu werden. Ich wußte, daß sie nicht selten, wenn sie zum Zurückgehen gezwungen wurden, deutsche Verwundete durch einen Schuß oder Bajonettstich zu erledigen pflegten. Auch darauf war ich gefaßt. Es kam jedoch anders. Eine russische Batterie war dicht hinter mir aufgefahren. Als sie den Befehl erhielt, zurückzugehen, packten zwei Kerle mich an den Beinen, schleppten mich aus dem Gestrüpp heraus, hoben mich auf die Protze und nahmen mich mit.“

Er sah, während er erzählte, sehnsüchtig nach dem Büfett, wo die Flasche Kognak stand. Trudchen, die den Blick bemerkt hatte, stand auf und goß ihm ein Glas voll ein. Nachdem er es hinuntergestürzt hatte, fuhr er fort: „Die Fahrt durch ganz Rußland bis Sibirien war wohl das Schlimmste, was ich erlebt habe. Der Viehwagen, in dem wir eingepfercht waren, ließ nur einigen wenigen von uns, die wir verwundet waren, Raum zum Sitzen oder Liegen. Meine Wunde brannte wie Feuer. Ich habe wohl laut gestöhnt. Da nahm sich ein Landsturmmann meiner an. Er sprach fertig russisch, weil er lange Jahre in Rußland gearbeitet hatte. Es gelang ihm, wenn wir auf einer Station hielten, Wasser, ja auch etwas Tee und Brot von den russischen Bewachungsmannschaften zu erhandeln. Ohne ihn wäre ich auf der Fahrt, die fast drei Wochen dauerte, bis wir in Sibirien, wo es am tiefsten ist, ausgeladen wurden, an meiner Verwundung eingegangen. Durch die Behandlung mit Wasser war sie, als wir ausstiegen, schon beinahe geheilt.“

„Wer war der Mann?“ fragte Gertrud, während sie ihm wieder ein Glas Kognak eingoß.

„Ein Viehhändler oder, richtiger gesagt, ein Schweinetreiber, der für eine deutsche Firma Vieh aufkaufte und zur Grenze brachte. Er hatte sich seiner Dienstpflicht im deutschen Heere entzogen, aber als der Krieg ausbrach, kehrte er in das Vaterland zurück und stellte sich zur Fahne.“

„Bravo!“ rief Gertrud dazwischen.

„Ja, ja“ fuhr Robert fort, „er hat sich um mich Gotteslohn verdient, denn er blieb freiwillig bei mir in demselben Dorf. Wir wurden in eine verfallene Hütte, schlimmer als eine polnische Kabach, einquartiert. Er holte Laub und Moos zusammen, um mich zu betten, er ging betteln, er nahm jede Arbeit an, die ihm geboten wurde, um für mich und sich den Lebensunterhalt zu erwerben. Als das Eis aufging und der Fluß frei wurde, lauschte er den Russen nicht nur die Kunst ab, Fische zu fangen, sondern verschaffte sich auch das dazugehörige Gerät. Am Kohlenfeuer brieten wir die von ihm gefangenen Fische. Es war ein Festtag für uns, als er eines Tages einen Blechtopf und eine Flasche Schnaps nach Hause brachte. Das war der Lohn dafür, daß er eine Uhr des Ortsvorstehers in Gang gebracht hatte.“

Nachdem er einen Kognak genehmigt hatte, den ihm Trudchen eingoß, fuhr er fort: „Zum Winter hatte mein Kamerad nicht nur unsere Hütte mit einem fußdicken Panzer von Moos bekleidet, sondern auch aus Lehm einen Ofen aufgestellt, der uns etwas gegen den Frost schützte.“

„Wovon lebtet ihr denn?“ fragte Trudchen.

„Wir bekamen Kartoffeln und Hafer geliefert, aber trotzdem wir auch unter dem Eise Fische fingen, haben wir doch manchen Tag gefastet. Den Winter hindurch haben wir bei Kienlicht Netze gestrickt aus grobem Hanfgarn mit großen Maschen, in denen die Russen noch vom Eise aus die in dem Fluß aufsteigenden Störe und Lachse fingen.“

„Habt ihr denn nie erfahren, was in der Welt vorging?“ fragte die Großmutter.

„O ja, aber wir glaubten nicht daran. Alle zwei bis drei Monate kam der Pope aus der nächsten Stadt und erzählte Wunderdinge von den Siegen der russischen Armeen. Sie standen schon alle in Berlin und Wien, wo sie mit den Franzosen zusammengetroffen waren. Er las Briefe von russischen Frontsoldaten vor, die dermaßen von Übertreibungen strotzten, daß es uns auffiel.

Eines Tages suchte bei uns ein Flüchtling Unterschlupf, der aus dem fernen Osten kam und schon mehrere hundert Kilometer zu Fuß zurückgelegt hatte. Er wußte Besseres zu berichten, daß Deutschland allen Feinden unbesiegt standhielt, daß in Rußland eine Revolution ausgebrochen, die den Zaren gestürzt und eine Republik aufgerichtet habe. Nachdem er sich zwei Tage bei uns sattgegessen, wanderte er weiter nach Westen, dort müßte nach seiner Meinung das Land der Freiheit liegen. Vergebens forderte er uns auf, mit ihm zu ziehen; wir waren für den Gedanken einer Flucht durch ganz Rußland noch nicht reif.“

Er nahm die Flasche, goß sich ein Glas ein und trank es aus. Seine Stimme wurde etwas lebhafter. „Wie der Gedanke zum Fliehen in uns Wurzel schlug, wie wir alles vorbereiteten und wie es uns auf der Flucht erging, erzähle ich euch ein anderes Mal. Allein hätte ich es nie gewagt, mein Kamerad war die treibende Kraft.“

„Weshalb verschweigst du uns den Namen deines Kameraden?“ warf die alte Gnädige ein.

„Weil er ihn mir verschwiegen hat. Als ich ihn, sobald wir miteinander vertraut wurden, danach fragte, erwiderte er mir: mein Name ist wie Schall und Rauch. Nenne mich, wie du willst, oder kannst mich auch „Hax“ rufen, wie ich in meiner Kinderzeit genannt wurde.“

„Was ist das für ein Name?“ fragte Gertrud.

„Eine Abkürzung von `Hasso', wie ich annehme.“ Er lehnte sich in den Stuhl zurück und schloß die Augen. Die beiden Frauen verständigten sich durch einen Blick und standen auf.

„Trudchen muß jetzt nach Hause gehen,“ sagte Frau Esther halblaut.

Mit geschlossenen Augen hob Robert die Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Trudchen umfaßte sie mit kräftigem Druck: „Auf Wiedersehen, Robert!“

Sechstes Kapitel

Draußen sahen sich die beiden Frauen bestürzt an. „Was ist das nun wieder?“ fragte Frau Esther.

„Ich glaube, infolge der Erinnerungen, die sein Bericht in ihm aufwühlte, haben seine Nerven versagt,“ erwiderte Trudchen.

„Das kann schon sein, mir macht aber das Schnapstrinken mehr Sorge, ich fürchte, er ist dem Alkohol verfallen.“

„Aber, Großchen, wer wird gleich das Schlimmste annehmen? Sobald sein Körper sich kräftigt, wird auch das Bedürfnis nach Alkohol aufhören.“

„Gott gebe es, mein Kind.“

Eine Stunde später sah Frau Esther ihren Enkel auf die Wohnung des Vogts zugehen. Sie wunderte sich darüber nicht, denn der alte Kowalski war dem Knaben von klein auf ein treuer Freund gewesen, und Joseph war sein Spielkamerad, der ihm bei allen Streichen Gefolgschaft leistete. Robert fand nur die alte Frau zu Hause, die ihn mit großer Freude begrüßte. Bald darauf erschien auch der Vogt, der ihn hatte über den Hof gehen sehen. Er nahm Roberts Hand in seine mächtige Pranke. „Gott sei Dank, junger Herr, daß Sie glücklich nach Hause gekommen sind. Wir waren schon ganz verzweifelt. Sie haben es wohl sehr schwer gehabt?“

„Ja, sehr schwer, mein lieber Alter. Ich erzähle euch das später einmal. Wie ist es euch inzwischen ergangen?“

„Ach Gott, junger Herr, wir haben ja schwere Zeiten durchgemacht, als nach dem Krieg alles drunter und drüber ging und die Polacken hier die Herren wurden, aber sonst haben wir keine Not kennengelernt.“

„Wo ist denn der Joseph?“ Der Alte wandte sich schweigend ab, während der Frau sich die Augen mit Tränen füllten.

„Er wird wohl drüben in Strelkau sein,“ erwiderte der Vogt auf den erstaunt fragenden Blick Roberts. „Sie werden es ja von der alten Gnädigen erfahren, was uns betroffen hat. Der Joseph ist toll geworden hinter der Marinka, der ältesten Michalcik. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sie zu heiraten, aber der Alte will sie ihm nicht geben, wenn er sich nicht katholisch taufen läßt.“

„Will denn der Joseph übertreten?“

Der Vogt zuckte die Achseln. „Er soll sich schon beim Propst angemeldet haben.“

Jetzt fuhr Robert empor. „Da hört sich denn doch alles auf!“ Im nächsten Augenblick sank er in den Lehnstuhl zurück. Die zitternden Hände umklammerten die Seitenlehne des Stuhles.

„Um Gottes willen, junger Herr!“ rief die Frau. Der Vogt hatte inzwischen eine Flasche, die noch zur Hälfte mit Schnaps gefüllt war, aus dem Wandspind genommen und ein Glas eingeschenkt, das er Robert hinhielt.

„Trinken Sie, junger Herr, das wird Ihnen gut tun.“ Mit zitternder Hand ergriff Robert das Glas. Er hätte jedoch das meiste verschüttet, wenn der Vogt ihm nicht die Hand zum Munde geführt hätte.

„Noch einen,“ drängte der Alte.

Dann lehnte Robert den Kopf an die Lehne zurück und saß eine Weile mit geschlossenen Augen, bis er leise sagte: „Das wäre ja eine Schande für uns Deutsche, wenn Joseph sich durch den Glaubenswechsel zu den Polen schlagen würde.“

„Ja, junger Herr, dann wollen wir von ihm nichts wissen, dann ist er unser Sohn nicht mehr.“

„Gebt mir noch einen Schnaps,“ bat Robert. Während der Vogt ausführlich berichtete, trank Robert noch mehrere Gläser. Als er dann aufstehen wollte, versagten seine Beine ihm den Dienst. Der Vogt faßte ihn unter dem Arm um den Leib und führte ihn in das Gutshaus zurück, wo die alte Gnädige sie schon auf der Diele erwartete.

„Der junge Herr ist bei uns beschwiemt. Als er die Geschichte von Joseph erfuhr, da habe ich ihm ein paar Gläschen Schnaps gegeben, die hat er wohl nicht vertragen.“

„Ja, der Junge ist noch sehr schwach.“ Frau Esther nahm Robert unter den Arm und führte ihn in sein Schlafzimmer, wo sie ihn entkleidete und in sein Bett brachte. Lange saß sie noch bei ihm und weinte still vor sich hin.

Das war das Schrecklichste, was sie noch treffen konnte. Lieber hätte sie ihn als tot betrauert, als ihn in dieser Verfassung zu sehen, bis zur Bewußtlosigkeit berauscht. Ihrem alten Vogt konnte sie nicht zürnen, er hatte geglaubt, seinem jungen Herrn etwas Gutes anzutun. Lange erwog sie, was dagegen zu machen sei. Aber ehe sie ihn in eine Heilanstalt brachte, wollte sie erst auf ihn einzuwirken versuchen.

Am andern Morgen saß sie schon lange an seinem Bett, als er erwachte. Mit glasigen Augen starrte er zur Decke empor, bis sich seine Gedanken sammelten. Als die Großmutter seine Hand nahm, stieg eine leichte Röte in sein Gesicht. Leise sprach sie zu ihm, mild, gütig: „Dir ist es gestern schlecht gegangen, mein armer Junge. Dich haben ein paar Glas Schnaps umgeworfen. Dein Magen verträgt nichts, der Schnaps ist für ihn Gift.“

Er nickte. „Ich hatte mich über die Geschichte mit dem Joseph so aufgeregt, daß ich die Herrschaft über meine Nerven verlor. Ich weiß wirklich nicht, wieviel ich getrunken habe.“

„Mußt du denn in solchem Zustand trinken?“

„Ja, Großmutter, dann fühle ich ein brennendes Verlangen, dem ich nicht widerstehen kann.“

„Es wäre doch sehr traurig für dich und mich, wenn es bekannt würde, daß du als Trinker heimgekehrt bist.“

Er richtete sich im Bett auf. „Großmutter, ich werde meine ganze Willenskraft aufbieten, dieses krankhafte Verlangen zu überwinden. Es wird mir ja sehr schwerfallen, aber... du gibst mir nur etwas zu trinken, wenn ich es nicht mehr aushalten kann, und ich gehe nicht eher aus dem Hause, bis ich ganz gesund bin.“

„Das soll ein Wort sein, mein lieber Junge.“

„Meine Hand darauf.“ Auf Zureden der Großmutter bezwang er sich, einen ganzen Teller Schleimsuppe auszuessen, dann legte er sich hin und schlief noch einmal ein.

Als Trudchen bald darauf für einen Augenblick herübergehuscht kam, um sich nach Roberts Befinden zu erkundigen, erzählte ihr Frau Esther, wie es ihm gestern ergangen wäre, daß er aber den Entschluß gefaßt habe, diese krankhafte Sucht zu überwinden, sie möchte Robert bei ihrem Vater entschuldigen, wenn er ihm vorläufig noch keinen Besuch machte. Als Trudchen gerade fortgehen wollte, ließ sich Kowalski melden.

„Ich weiß schon, was er dir melden will. Zwischen Joseph und der Marinka ist es aus. Ihr Vater hat ihn gestern abend rausgeworfen.“

Einen Augenblick später erschien Kowalski. Sein Gesicht strahlte vor Freude. „Ich weiß schon, was Sie mir erzählen wollen, aber wird der Joseph auch Stange halten?“

„Wie ich meinen Sohn zu kennen glaube, wird er die Schwelle nicht mehr betreten, von der man ihn wie einen Hund weggejagt hat.“

Es war eine sehr böse Szene, als Joseph bei Marinka erschien. Ihr Vater saß bei der Flasche und hatte schon stark getrunken. Trotzdem wagte es Joseph, mit seinem Verlangen herauszukommen, Marinka möchte ihm zuliebe evangelisch werden. Sie hätte doch mehr zu gewinnen oder zu verlieren als er. Darauf geriet Michalcik in sinnlose Wut: „Du Hundsblut, du deutscher Hund, du wagst mir anzubieten, daß meine Tochter ihren Glauben wechseln soll? Wenn du dich zehnmal katholisch taufen läßt, ich denke nicht mehr daran, dir mein Kind zu geben.“

Joseph war auch in Erregung geraten, aber er hielt noch an sich. Er wandte sich an Marinka: „Wie denkst du darüber? Du bist doch mündig.“

Mit zornsprühenden Augen und geballten Fausten stellte sich Marinka vor ihn. „Wie ich denke, fragst du? Hast du noch nicht begriffen? Ich denke wie mein Vater, daß du ein schlapper, feiger Bursche bist. Erst versprichst mir, dich taufen zu lassen, und dann läßt dich umdrehen.“ Sie spuckte vor ihm aus und stemmte die Hände in die Seiten. „Solch einen Kerl wie du kriege ich noch jeden Tag.“

Joseph war so wütend, daß er die Faust hob, dann besann er sich und sagte ruhig: „Nun, dann wünsche ich dir viel Glück,“ drehte sich um und ging aus der Tür.

Hinter ihm brüllte der Vogt: „Raus mit dir, du deutscher Hund!“

Er lief noch eine Weile im Park von Hartenau hin und her, ehe er nach Hause ging. Die Alten schliefen schon. Erst heute morgen hatte er ihnen kurz gesagt, daß es zwischen ihm und Marinka zu Ende sei. Sie habe ihn beschimpft und der Alte habe ihn rausgejagt. Da gab ihm der Vater die Hand, während die Mutter ihn umfaßte und an seiner Brust Freudentränen weinte.

In der Schummerstunde erschien Trudchen und erzählte Großchen, ihr Vater habe sich sehr über die Geschichte mit Joseph aufgeregt, die sicherlich noch ein Nachspiel haben werde, denn die polnische Geistlichkeit werde die Sache nicht steckenlassen. Und sie habe ein Recht darauf, weil Joseph sich freiwillig zum Übertritt gemeldet hätte. Das könne für Frau Esther schlimme Folgen zeitigen. Die Polen lauerten ja bloß auf einen Grund, und wenn er noch so fadenscheinig wäre wie dieser, um gegen sie vorzugehen. Es wäre am besten, wenn Joseph von der Bildfläche verschwände und bei Nacht und Nebel über die Grenze ginge, denn mit einem Paß würden ihn die Polen nicht hinauslassen. Er werde Joseph auf seinem deutschen Gut als Vorarbeiter aufnehmen. Noch besser wäre es freilich, wenn er beim Propst zum Unterricht ginge. Er lasse Frau Esther dringend raten, auf Joseph und seine Eltern in diesem Sinne einzuwirken.

Sofort ließ die alte Gnädige ihren Vogt und seinen Sohn rufen, und Trudchen mußte ihnen wiederholen, was ihr Vater meinte. Beide zeigten sich störrisch. Kowalski wollte nichts davon wissen, daß sein Sohn zum katholischen Unterricht ginge, dann folgte darauf seine Taufe wie in der Kirche das Amen nach der Predigt. Für den Fall wisse Joseph, was er zu erwarten habe. Es käme ihm ja schwer an, aber er wolle sich damit abfinden, daß Joseph über die Grenze nach Deutschland ginge.

Joseph zeigte sich noch störrischer. Er wollte weder zum Unterricht gehen noch über die Grenze verschwinden. Da fuhr ihn sein Vater wütend an: „Du hast uns die Suppe eingebrockt, jetzt mußt du sie auch ausessen. Aber ich weiß, was du willst, dir spukt noch immer das dumme Frauenzimmer im Kopf herum. Du hoffst noch immer, wieder mit ihr anbandeln zu können.“

„Nein, Vater, wenn ich das möchte, dann würde ich zum katholischen Unterricht gehen. Was der Michalcik in der Betrunkenheit geschwatzt hat, würde er nicht wahrmachen, wenn ich mich taufen ließe, aber wie die Marinka mich beschimpft hat, das scheidet uns für immer.“

Robert war schon vor einer Weile ins Zimmer getreten und hatte stillschweigend die Verhandlung mit angehört. Jetzt fuhr er mit einer Lebhaftigkeit und Energie, über die sich Frau Esther im stillen wunderte und freute, dazwischen. „Der Joseph hat recht, und ich stehe ganz auf seiner Seite. Er soll sich nicht ducken und auch vor den Polacken nicht ausreißen! Wenn es nach mir ginge, müßte er hierbleiben.“

„Mein lieber Junge, du kennst die hiesigen Verhältnisse noch nicht genügend, um zu übersehen, was für uns daraus entstehen kann.“

„Wir haben doch mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Uns kann man ja nichts anhaben. Im schlimmsten Fall kann man den Joseph ausweisen, dann muß er sich dem Zwang fügen, aber freiwillig soll er nicht das Feld räumen.“

Frau Esther hatte kaum den Vogt und seinen Sohn fortgeschickt, als Nachbar Ritter erschien. Seitdem die Polen Herren im Lande waren, hatte er den Verkehr mit der alten Gnädigen abgebrochen und Hartenau nicht mehr besucht. Man sah es ihm an, daß er erregt war. Ganz kurz begrüßte er Robert und wünschte ihm Glück zur Heimkehr, dann kam er jedoch gleich auf den Zweck seines Besuches zu sprechen.

„Ich komme, Sie zu warnen, verehrte Frau Nachbarin. Vor einer Stunde erschienen der Kreischef und der Kosinski bei mir. Der Starost ist im allgemeinen ein verständiger, ruhiger Mensch, mit dem sich leben läßt, aber der Agent der Defensive ist ein ganz gefährlicher Patron. Er kannte schon die ganze Geschichte, die sich zwischen dem Joseph und der Marinka abgespielt hat. Wer ihm das zugetragen hat, kann man sich ungefähr denken. Er ließ sich meinen Vogt und seine Tochter kommen und fragte sie bis aufs Blut aus. Mein Michalcik ist ja im allgemeinen ein ganz gutmütiger Kerl, der bloß, wenn er einen unter der Mütze sitzen hat, rabiat werden kann. Er hatte wohl das Bewußtsein, in der Trunkenheit etwas Dummes angerichtet zu haben, denn er entschuldigte sich damit, daß er nicht nüchtern gewesen sei. Er hätte gegen Joseph nichts und würde ihm seine Tochter geben, wenn er sich taufen ließe.

Ich benützte die Gelegenheit, ihm vorzuwerfen, daß er durch seine Heftigkeit den Joseph vor den Kopf gestoßen habe und daran schuld sei, wenn der Freier seine Absicht, sich katholisch taufen zu lassen, aufgegeben habe. Das sah er denn auch ein, während Kosinski mit höhnischem Lächeln meinte, da seien wohl noch andere Einflüsse im Spiele, die den jungen Mann von seinem Vorhaben abgebracht hätten.

Dann ließ er sich von Marinka ihren ganzen Liebeshandel erzählen. Joseph kann froh sein, daß er mit ihr gebrochen hat, denn das Mädel ist listig wie ein Fuchs und falsch wie eine Schlange. Mit unheimlichem Zungenschlag erzählte sie, daß Joseph immer stürmischer und zudringlicher zu ihr geworden sei. Sie habe sich natürlich dagegen gewehrt. Da habe er sich von selbst erboten, katholisch zu werden, wenn sie ihm ihr Kammerfenster öffnen wollte.

„Das glaube ich von Joseph nicht,“ warf die alte Gnädige ein, „das ist gelogen. Solch eine Canaille! Sie hat sich ja selbst gerühmt, daß sie durch ihre Kälte den verliebten Bengel so lange gereizt hat, bis er sich zu seinem Versprechen hinreißen ließ. Und sie hat ihn so lange bestürmt, bis er ihr Verlangen zu erfüllen versprach und sogar zum Propst ging. An seiner Umkehr hat wohl sein Vater den größten Anteil. Er hat gedroht, ihn zu verstoßen und zu enterben, wenn er seinen Glauben wechselt.“

„Das habe ich dem Kosinski auch gesagt,“ fuhr Ritter fort. „Das paßte ihm aber nicht in den Kram. Er drohte, daß er den Bengel zur Vernunft bringen werde. Was das bedeutet, wissen wir wohl alle. Ich muß deshalb mit allem Nachdruck dazu raten, daß Joseph so schnell wie möglich verschwindet und sich über die Grenze in Sicherheit bringt.“

„Was könnte ihm dann passieren, wenn er hierbleibt?“ fragte Robert.

„Dann heben ihn die Polen eines Tages aus und sperren ihn ein. Und ich halte es für sehr fraglich, ob wir oder seine Eltern ihn noch jemals wieder zu sehen bekommen.“ Er wandte sich an seine Tochter. „Willst du noch hierbleiben? Ich fahre nach der Stadt, ich muß heute wieder einige Flaschen Rotspon und Sekt springen lassen, die beiden Herren haben mich dringend dazu eingeladen.“

Siebentes Kapitel

Frau Esther begleitete ihren Gast bis auf die Freitreppe, wo sie ihm für seinen Besuch dankte. „Keine Ursache, Frau Nachbarin,“ erwiderte er. „Wir Deutschen müssen zusammenhalten. Aber wenn ich als ein soviel jüngerer Mann mir erlauben dürfte, Ihnen einen Rat zu geben, dann möchte ich Ihnen empfehlen, den Polen in Kleinigkeiten nachzugeben. Sie sind doch nun mal die Herren im Lande und haben die Macht in Händen.“

„Was nennen Sie Kleinigkeiten, Herr Ritter?“

„Na, zum Beispiel, wenn die Polen mit dem Verlangen an Sie herantreten, Hartenau einen polnischen Namen zu geben. Der Starost hat es mir heute gesagt, daß es ihm lieb wäre und Ihnen von Nutzen sein könnte, wenn Sie ihm darin entgegenkämen.“

„Wie soll denn mein altes Hartenau umgetauft werden?“

„Durch wörtliche Übersetzung `Twardowo'.“

„Das ist doch keine Kleinigkeit, einen Namen aufzugeben, der mit unserem Geschlecht seit Jahrhunderten verwachsen ist,“ erwiderte die alte Gnädige scharf.

„Aber ein Gebot der Klugheit, sich nicht dagegen zu stemmen, was die Polen durch eine Verfügung erzwingen können.“

Als die beiden Frauen in das Zimmer zurückkehrten, ging Robert mit großen Schritten auf und ab. Sein lässiges Wesen, seine stille Duldermiene waren verschwunden. „Das sind doch völlig unerträgliche Zustände,“ brach er los. „Sind wir Deutsche denn unter diesem Gesindel völlig recht- und schutzlos? Unsere Rechte sind doch durch Verträge festgelegt.“

„Ja, mein lieber Robert,“ erwiderte Frau Esther, die sich über die Veränderung in seinem Wesen freute, „aber Macht geht vor Recht, und es liegt im Charakter der Polen, sich über Recht und Gesetz ohne Bedenken hinwegzusetzen. Durch die anderthalb Jahrhunderte, die sie von den Russen geknechtet worden sind, hat sich ein Übermaß von Energie in ihnen aufgespeichert, wozu jetzt noch ein überspannter Nationaldünkel, der schon an Größenwahn grenzt, gekommen ist. Und durch die Zeit der Unterdrückung haben sie gelernt, jedes Gesetz geringzuachten und zu umgehen, um im geheimen ihren nationalen Zusammenhang aufrechtzuerhalten. Das trauen sie auch jetzt uns zu. Leider ist unser völkisches Selbstbewußtsein noch lange nicht so stark, aber vielleicht wird es erstarken und in uns die Energie erwecken, die nötig sein wird, um unser Deutschtum zu verteidigen und zu erhalten.“

„Glaubst du wirklich, Großmutter,“ fragte Robert stehenbleibend, „daß wir Deutschen uns zu entschlossenem Widerstand aufraffen werden, um auf die Dauer unser Deutschtum mit Erfolg zu verteidigen?“

„Ja, ich glaube daran,“ erwiderte Frau Esther mit starker Stimme und feierlichem Tone. „Die Not wird uns zusammenschweißen. Die ersten Anzeichen dafür sind schon vorhanden. Die deutschen Abgeordneten im Seim und Senat haben sich ohne Rücksicht auf ihre Parteirichtungen zu einer Fraktion zusammengeschlossen und gehen einmütig gegen jeden Übergriff der Polen vor. Erst vor kurzem hat der Lehrer Utta im Seim gegen die Aufhebung deutscher Schulen Einspruch erhoben.“

„Und was hat das geholfen?“ fragte Robert heftig. „Haben die Polen nicht vor kurzem noch deine Schule weggenommen? Wie lange wird es dauern, dann zwingen sie die deutschen Kinder mit Gewalt in den polnischen Unterricht hinein, wie es ja in vielen Orten schon geschehen ist. Nein, Großmutter, ich halte diesen Kampf für aussichtslos. Wie ich neulich gehört habe, ist eine Agrarreform bereits in Vorbereitung, die ihnen sozusagen das Recht geben soll, die Güter aufzuteilen. Natürlich werden sie die Güter, die sich in Händen von Deutschen befinden, zuerst aufteilen.“

Er ließ sich in einen Sessel fallen und umkrallte die Lehne, um das Zittern seiner Hände zu verbergen. „Die verdammten Nerven. Gib mir einen Kognak, Großmutter. Ich brauche ihn als Arznei.“

Trudchen sprang auf und goß ihm ein Glas ein. Sie führte ihm auch die Hand zum Munde. „Du darfst dich nicht so aufregen,“ mahnte sie.

„Ich habe nicht die Natur deines Vaters,“ erwiderte Robert rauh abweisend, „der mit den Polen freundschaftlich verkehrt und mit ihnen panje bratsche ist.“

Gertrud stieg eine feine Röte ins Gesicht. „Das geht mir auch wider den Strich,“ entgegnete sie ruhig, „aber er wird in seinen Herzen stets ein guter Deutscher bleiben.“

„Im Herzen,“ wiederholte Robert höhnisch. „Was hilft uns das, wenn er seine Gesinnung in sich verschließt und durch sein nachgiebiges Verhalten, ja, durch seinen Verkehr mit den Polen ein schlechtes Beispiel gibt?“

Trudchen kämpfte mit Tränen, die sich unaufhaltsam vordrängten. „Ich kann es doch nicht ändern. Er hält es für klug und zweckmäßig, sich nicht abweisend zu verhalten. Ich leide am meisten darunter, denn ich muß die Hausfrau spielen und den Polen Gesellschaft leisten. Sie sind schon von Natur zudringlich, wenn sie auch die äußere Form wahren, solange sie nüchtern sind. Aber wenn sie etwas getrunken haben, werden sie ungezogen.“

„Und das läßt du dir gefallen?“ fragte Robert scharf.

„Nein,“ erwiderte Gertrud fest und trocknete ihre Tränen. „Der Vater hat mich so lieb, daß er mich nicht dazu zwingt. Den Polen ist auch, sobald sie einige Flaschen Rotwein im Leibe haben, weniger an meiner Gesellschaft gelegen als an den Karten.“

Robert stand auf und goß sich noch einen Kognak ein. „Sei nicht böse, Großmutter, das soll heute der letzte sein und ihr werdet mich jetzt entschuldigen. Ich will noch eine Weile durch den Park laufen, um Ruhe zu finden.“ Er nickte ihnen zu und ging hinaus. Frau Esther stand auf und zog Trudchen an sich. „Hat er dich durch seine Fragen verletzt?“

„Nein, Großchen, ich habe mich im stillen über seine Lebhaftigkeit und Energie gefreut. Das ist meiner Meinung nach ein großer Schritt zur Besserung.“

„Gott gebe, daß du recht behältst,“ erwiderte Frau Esther leise. „Ich fürchtete schon, daß er gleichgültig gegen unser Schicksal geworden wäre.“

„Die Ereignisse des heutigen Nachmittags haben ihn aufgerüttelt, Großchen. Seine Apathie war nur Nervenschwäche.“

„Das nahm ich auch an. Aber hältst du es für gut, wenn seine Nerven so angestachelt werden? Müssen wir nicht einen Rückschlag befürchten?“

Gertrud zuckte die Achseln. „Darauf mußt du dich gefaßt machen. Aber nun wissen wir doch, daß sich die Nervenabspannung überwinden läßt und wahrscheinlich auch überwunden werden wird, sobald sein Körper genügend gekräftigt ist.“

„Du bleibst doch zum Abend hier und leistest Robert Gesellschaft?“

„Ja, gern, Großchen. Vielleicht bringen wir ihn dazu, daß er uns von seiner Flucht erzählt.“

Erst als es dunkelte, kam Robert aus dem Park zurück. „Ich beantrage eine Flasche Rotspon zum Abendbrot. Wir haben ja noch nicht mal auf meine Rückkehr angestoßen.“

„Aber selbstverständlich, mein Junge; ich habe noch einen milden Rotwein im Keller liegen.“

„Und dann erzählst du uns von deiner Flucht,“ fiel Trudchen ein.

„Seid ihr so neugierig darauf? Ich will euch gern euren Wunsch erfüllen, aber viel Erfreuliches werdet ihr nicht zu hören bekommen.“

Nach dem Essen ließ Frau Esther in dem Kamin auf der Diele Feuer anzünden, das lustig flackerte und knisterte. Die Jagdtrophäen an den weißgetünchten Wänden warfen Schatten, die sich hin und her bewegten. Da hingen einige ausgestopfte Köpfe von Elch, Keiler und Bär, dazwischen einige Geweihe und Schaufeln von Elch, Urstier, Wisent und Hirsch, sowie zahlreiche Rehkronen von seltener Größe. Vor den tiefen, bequemen Sesseln lagen Wolfsfelle. Neben Roberts Sessel stellte Trudchen ein Tischchen mit der Flasche Rotwein und einem Kästchen Zigaretten. Nachdem er einige tiefe Züge getan, legte sich Robert behaglich zurück und begann:

„Gleich im ersten Herbst waren wir genötigt, für wärmere Kleidung zu sorgen, da uns unsere verschlissenen Uniformen buchstäblich in Fetzen um den Leib hingen. Als Material stand uns nur Haferstroh zur Verfügung. Die Einwohner, soweit sie nicht Felle zur Kleidung verwenden, stellen aus dem Stroh lange Wülste her, die sie mit Hanfschnur zusammenbinden und um den Leib, Arme und Beine wickeln. Wir wandten mehr Kunst an und stellten einen Panzer her, der über den Kopf gezogen wurde und bis zu den Schenkeln reichte. Auch für die Beine und Arme fertigten wir kleinere Säcke an. Unsere Hütte umkleideten wir mit einer zweiten dicken Moosschicht. Trotzdem wir unsere Strohpanzer nicht ablegten und uns in große Mooshaufen verkrochen, froren wir im ersten Winter jämmerlich. Ja, an windigen Tagen war es im Freien nicht auszuhalten.“

Er nahm einen Schluck, zündete sich an einem Span eine neue Zigarette an und fuhr fort: „Die Hauptbeschäftigung der Dorfbewohner bestand im Winter aus der Pelzjagd mit Fallen. Wir lernten ihnen ihre Künste ab und fingen eine ganze Anzahl von Füchsen, Mardern, Hermelin und Eichkätzchen. Als im Frühjahr der Händler kam, verkauften wir einen Teil der Felle und bekamen nicht nur einige Rubel dafür, sondern auch unentbehrliche Kleingeräte, darunter ein Pack grobe Nadeln und Zwirn. Nun fertigten wir uns aus Fellen Kleider an. Ihr braucht darüber nicht zu lachen, sie waren auch im Aussehen nicht übel und saßen gut, weil wir unsere alten Kleidungsstücke als Modell und Futter benutzten. Im nächsten Winter hat uns unsere Pelzkleidung sehr gute Dienste geleistet.

Wie es jetzt in der Welt aussah, davon hatten wir keine Ahnung. Der Händler hatte von einer großen Revolution erzählt. Der Zar wäre abgesetzt und mit seiner ganzen Familie gefangengenommen. Das wurde aber selbst von den Dorfbewohnern nicht geglaubt. Wir beschäftigten uns den ganzen Sommer hindurch bereits mit dem Plan zur Flucht. Zu dem Zweck widmeten wir uns im nächsten Winter sehr eifrig der Pelzjagd und hatten Erfolg. Als der Händler erschien, lösten wir über hundert Rubel und behielten noch zwei ansehnliche Bündel kleinerer Felle, die wir mitnehmen wollten.“

Gespannt lauschten die beiden Frauen seinen Worten, ohne ihn zu unterbrechen. Ohne ein Zeichen von Erregung oder Ermüdung erzählte er weiter. „Ich war dafür, nach Osten zu wandern, um das Meer zu erreichen. Mein Kamerad war dagegen. Er meinte, daß wir dort schwerlich ein Schiff finden würden, das uns mitnähme. Nach dem Westen könnten wir streckenweise die Eisenbahn benutzen und kämen schneller vorwärts. Ich fügte mich ihm. Als der Schnee geschmolzen und das Land etwas getrocknet war, machten wir uns auf den Weg. Der Ausdruck ist jedoch nur bildlich zu verstehen, denn gebahnte Wege gibt es dort nicht. Unsere Strohpanzer legten wir ab und ließen sie zurück.

Wir marschierten in möglichst gerader Linie nach Westen. Die zahllosen Flüsse und Flüßchen, die von Süden nach Norden ziehen, waren noch gefroren, so daß wir sie überschreiten konnten. Unsere Stiefel waren schon dicht vor der Auflösung, aber wir gedachten, uns in der ersten Stadt, die wir erreichten, neue zu kaufen. So lange unser Mundvorrat an Brot und gedörrten Fischen reichte, mieden wir jegliche Siedlungen. Als er zu Ende ging, mußten wir sie aufsuchen.“

Er lachte laut auf, so daß ihn die Frauen verwundert ansahen. „Wir gaben uns nicht etwa als Flüchtlinge aus, sondern für Pilger, ein etwas vornehmerer Ausdruck für Bettler. Um unsern Charakter glaubhaft zu machen, war mein Kamerad auf eine ebenso einfache wie originelle Idee verfallen. Er sang vor den Bauernhäusern russische Choräle. Sein Gedächtnis für den Text und Gehör waren ohne Zweifel gut, seine Stimme jedoch glich dem Tone einer schadhaften Trompete. Da ich gänzlich unmusikalisch bin, beschränkte ich mich darauf, einen tiefen Ton mitzubrummen.“

Die Frauen lachten herzlich, während er sich ein neues Glas eingoß und einen Schluck nahm.

„Na ja, ich habe auch, besonders anfänglich, über unsere Kunstausübungen mir kaum das Lachen verbeißen können, aber in diesem Fall heiligte wirklich der Zweck das Mittel, denn manche Bauerfrauen waren von unserm Gesang so gerührt, daß sie uns ins Haus einluden und uns bewirteten. Dabei kam meistens auch ein schnapsähnliches Getränk zum Vorschein, das abscheulich schmeckte, an das wir uns jedoch bald so gewöhnten, daß wir ein Verlangen danach verspürten.

Wo es not tat, erzählte mein Kamerad mit geläufiger Stimme ein Märchen. In der höchsten Not zu ertrinken, habe er die schwarze Jungfrau von Czenstochau angerufen, ihr die Wallfahrt und zwei dicke Kerzen gelobt, wenn sie ihm helfen würde, und sie habe ihm geholfen. Er habe jedoch die Erfüllung seines Gelübdes hinausgezögert, bis sie ihm dreimal im Traum hintereinander erschienen sei und immer drohender daran gemahnt habe. Nun habe er die weite Wallfahrt unternehmen müssen. Zum Dank für Speise und Trank versprach er für die Spenderin zu beten. Das trug uns fast immer noch eine Wegzehrung ein.

So fochten wir uns, ohne Not zu leiden, bis nach Jakutsk durch, wo wir uns jeder ein Paar alte, aber noch derbe Stiefel erstanden. Und noch etwas kauften wir uns, wie ich euch ehrlich gestehen will, einen riesigen Affen, der sich am nächsten Morgen in einen gräulichen Kater verwandelte. Dort stiegen wir in einen Zug. Die Fahrt kostete uns nur ein paar Rubel für den Zugführer. Es ging sehr langsam vorwärts, denn die Maschine, die nur mit Holz geheizt wurde, entwickelte nicht viel Kraft und noch weniger Schnelligkeit. Wenn der Holzvorrat zur Neige ging, hielt der Zug in einem Walde an, alles mußte raus und helfen, Brennholz einzuschlagen und aufzuladen. Zur Nacht blieb der Zug auf einer kleinen Station liegen. Der Wartesaal war von Pilgern überfüllt, von denen schon manche monatelang dort hausten. Am Tage klapperten sie weit und breit die Umgegend ab, zur Nacht kehrten sie zu ihrem Obdach zurück.

Drei Tage hielten wir im Zuge aus, dann zogen wir es vor, zu Fuß weiterzumarschieren. Wir wanderten zwischen den Schienensträngen entlang. Eines abends kamen wir in ein großes Dorf. Wir beschlossen, im Wirtshaus einzukehren, um etwas zu trinken. Es war wohl einer der russischen Feiertage, denn die große Krugstube war überfüllt. Mühsam drängten wir uns zum Schenktisch vor, wo eine Rotte betrunkener Burschen stand, die uns auszufragen und zu hänseln begann. Als einer von ihnen uns die gefüllte Flasche vor der Nase wegnahm, es war schon die zweite, ergrimmte mein Kamerad und streckte ihn durch einen Faustschlag unter das Kinn nieder. Im nächsten Augenblick fielen zehn bis zwölf über ihn her. Ich wurde von ihm abgedrängt und, da es heller Wahnsinn gewesen wäre, mich in den ungleichen Kampf zu stürzen, verkrümelte ich mich in eine Ecke.“

Er machte eine Pause, um sich durch einen Schluck zu starken. Man sah es ihm an, wie ihn die Erinnerung aufregte, so daß ihn Trudchen bat, aufzuhören, und an einem anderen Tage weiterzuerzählen. Er schüttelte den Kopf.

„Von jetzt an begann meine Not. Mein Kamerad wurde mißhandelt, bis er blutend und bewußtlos am Boden lag. Dann riß ihm die Bande die Kleider aus und stahl nicht nur unsere gemeinsame Reisekasse, die er bei sich trug, sondern auch den deutschen Militärpaß, von dem er sich nicht hatte trennen können. Er wurde hinausgeschleppt und eingesperrt. Drei Tage trieb ich mich noch in der Gegend umher, konnte jedoch nichts über sein Schicksal in Erfahrung bringen. So mußte ich mich denn entschließen, weiterzuwandern. Für den alleräußersten Notfall hatte ich noch ein Dutzend Hermelinfelle bei mir. Die Gaben flossen sehr spärlich und bestanden meist nur aus einem Stückchen Brot, selbst wenn ich das Märchen von der schwarzen Jungfrau erzählte. Mir fehlte das Hauptmittel, Mitleid zu erregen: der Gesang.

Manche Tage habe ich mich nur von Waldbeeren oder Rüben ernährt, die ich aus dem Acker zog. Davon hat mein Magen den Knacks weggekriegt, was sich an einer Ruhrerkrankung zeigte. Ich mußte Alkohol als Arznei anwenden. Ich bettelte um Schnaps, und mein elendes Aussehen unterstützte wohl meine Bitte, denn ab und zu bekam ich ein Gläschen voll. Einmal blieb ich vor Erschöpfung im Walde liegen. Nun beschloß ich, meine Felle zu verkaufen. Der Erlös war gering und wurde von mir in der Hauptsache in Schnaps angelegt.“

Die Großmutter nahm seine Hand, um sie zu streicheln, während Trudchen ihm das letzte Glas Wein eingoß. Dann stand sie auf, um eine neue Flasche zu holen. Als sie zurückkehrte, fuhr Robert fort:

„Ich will euch nicht weiter langweilen. Gegen den Herbst hin erreichte ich unter Not aller Art Petersburg oder wie es damals hieß, Petrograd. Ich verkroch mich in einen Winkel, wo ich nachts von einer Patrouille aufgestöbert und mitgeschleift wurde. Im Gefängnis erkannte man meinen Zustand und brachte mich am nächsten Morgen ins Lazarett. Dort habe ich bis gegen Weihnachten eine schwere Krankheit durchgemacht. Als ich mich zu erholen begann, wußte ich mich durch kleine Dienstleistungen nützlich zu machen. Als ich wieder zu Kräften gekommen war, tat ich Dienst als Kalfaktor.

Das dauerte bis in den März hinein, da wurde ich bei einer Revision an die Luft gesetzt. Nun habe ich noch einige Wochen eine sehr schwere Zeit durchgemacht, bis es mir gelang, über das Eis der Newa nach Finland hinüberzuwechseln. In der ersten Stadt, die ich antraf, ging ich aufs schwedische Konsulat, wo man mich bis aufs Blut ausfragte, und meinem Bericht, der sehr abenteuerlich klang, wenig Glauben schenkte. Aber man schaffte mich zu Schiff nach Stockholm, wo man mir so weit traute, daß man an dich, Großmutter, telegraphierte. Das Weitere wißt ihr.“

Achtes Kapitel

Die Frauen hatten mehrmals Mühe gehabt, ihre Tränen zu verbergen, auch manchmal gelächelt und sich über seinen Humor gefreut. Eine kleine Weile saß Robert, nachdem er zu erzählen aufgehört hatte, zurückgelehnt mit geschlossenen Augen. Dann richtete er sich auf, warf einige Scheite in das heruntergebrannte Feuer und streckte nach beiden Seiten seine Hände aus. „Nun werdet ihr wohl meinen körperlichen Zustand und meine Schwäche gegenüber dem Alkohol etwas nachsichtiger beurteilen.“

Die Großmutter hielt ebenso wie Gertrud seine Hand warm umschlossen. „Das haben wir gleich von Anfang getan, ehe wir noch die ganze Schwere deines Schicksals kannten. Nach den Erfahrungen des heutigen Tages möchte ich dir nahelegen, wenn dich das Bedürfnis anwandelt, statt des Kognaks ein Gläschen Rotwein zu trinken. Ich habe noch genügend Vorrat im Keller.“

„Das sagst du so in deinem jugendlichen Leichtsinn,“ erwiderte Robert lachend. „Wie lange würde denn dein Vorrat noch ausreichen?“

„So lange, wie er dir schmeckt, dann kommt eine andere Marke an die Reihe,“ erwiderte Frau Esther lachend.

„Strelkau hat auch noch etwas im Keller,“ warf Trudchen ein.

Robert drückte beide Hände stark. „Ihr Lieben, ihr Guten, ihr habt so viel Mitleid und Verständnis für meinen Zustand. Ich habe mich gefürchtet, als ich nach Hause fuhr, daß ihr mich verachten würdet, und nun seid ihr so gut zu mir.“

„Das ist doch nur selbstverständlich,“ erwiderte Gertrud.

„Ich habe aber schon einen kleinen Schwips und möchte doch noch ein Glas trinken.“

Ohne zu antworten füllte Gertrud sein Glas und kredenzte es ihm durch einen kleinen Schluck. Er trank es auf einen Schluck leer. „So, nehmt es mir nicht übel, wenn ich in die Baba gehe.“ Er gab Trudchen die Hand und küßte die Großmutter auf Stirn und Hände und schritt hinaus.

Als die Tür sich hinter ihm geschlossen, stand Trudchen auf, um neben Großchen niederzuknien. Frau Esther umpfing sie mit ihren Armen, zog sie auf ihren Schoß und legte ihren Kopf an ihre Brust. Erst nach einer Weile sprach sie leise: „Weißt du, mein Liebling, weshalb ich so froh und glücklich bin?“

„Ich ahne es, Großchen.“

„Erstens, weil er sich so energisch zu unserem Deutschtum bekannt hat, und zweitens, weil seine Nerven dem Alkohol standgehalten haben. Ich glaube, der heutige Tag war eine Krisis. Von nun an geht es meiner Meinung nach aufwärts, zum Besseren.“

„Das glaube ich auch, Großchen. Weißt du, daß ich mich kaum beherrschen konnte, um nicht laut loszuheulen? Tagelang hungernd, frierend und krank, mutterseelenallein im Walde zu liegen! Es ist ja kaum glaublich, was die menschliche Natur auszuhalten vermag.“

„Ja, mein Liebling, das Schicksal hat ihm übel mitgespielt.“ —

Die Hoffnung, daß Roberts Krankheit überwunden sei, erfüllte sich nicht. Es kamen noch mehrmals Tage, an denen er von solchem Widerwillen gegen jede Nahrung erfüllt war, daß er nicht imstande war, einen Bissen zu genießen. Selbst den milden Rotwein verschmähte er, weil ihn ein unbesiegbares Verlangen nach Schnaps peinigte. Er schämte sich, er war tief unglücklich und wütete in seinen Gedanken gegen diese Schwäche, aber es half nichts, er mußte trinken. Nach einem solchen Anfall war er dann still, traurig und in sich verschlossen.

Inzwischen war der Frühling mit all seiner Pracht und Macht ins Land gekommen. Unter dem Laubdach des Parkes tummelten sich die kleinen Sänger und schmetterten aus voller Kehle ihre Liebeslieder. Der Boden unter den Bäumen war besät mit weißen und gelben Anemonen und blauen Leberblümchen. Am Rand des Baches, der durch den Park floß, wogten in dichten Büscheln Vergißmeinnicht. In dem klaren Wasser lief auf dem Grunde die Wasseramsel entlang, bis sie mit einem Gewürm im Schnabel emportauchte und davonflog. Buntgesprenkelte Forellen huschten hin und her.

Dort lag Robert stundenlang auf einer Decke, die ihn vor der Kühle des Bodens schützte. Allmählich besserte sich sein Zustand. Er aß mit Appetit, ging spazieren, ja, eines Tages ließ er sich ein Pferd satteln und ritt neben dem einspännigen Wägelchen der Großmutter, mit dem sie das Feld abfuhr. Trudchen kam jeden Tag mehrmals nach Hartenau, manchmal nur für eine Viertelstunde, manchmal blieb sie auch längere Zeit. Mit Robert verkehrte sie stillfreundlich wie eine Schwester.

Eines Tages kam der Herr Kreischef auf den Hof gefahren. Trudchen, die gerade in Hartenau war, raunte Frau Esther zu: „Ich werde Robert benachrichtigen, daß er sich nicht blicken läßt. Ich werde dir nachher sagen, weshalb. Und der Vater läßt dir raten, den jungen Mann als Gast zu empfangen und ihm eine Flasche Rotwein anzubieten.“

„Kind, das tue ich nicht gern, sondern sehr ungern.“

„Das weiß ich, Großchen, aber du vergibst dir damit nichts.“

Mit einem Seufzer erhob sich die alte Gnädige, um den Kreischef auf der Diele zu empfangen. Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich tief. „Darf ich gnädige Frau für einen Augenblick um Gehör bitten?“

Sie neigte den Kopf und lud ihn durch eine Handbewegung ein, durch die offene Tür ins Wohnzimmer zu treten. Er blieb stehen, bis sie ihm vorangegangen war. Nachdem sie ihm einen Sessel angeboten hatte, trat Trudchen mit einer Flasche und zwei Gläsern ein. Sichtlich erfreut sprang Lubomierski auf und verbeugte sich tief.

„Freue mich sehr, gnädiges Fräulein hier begrüßen zu können. War schon bei Ihrem Herrn Vater.“ Er wandte sich an Frau Esther. „Werde ich auch die Ehre haben, Ihren Herrn Enkelsohn begrüßen zu dürfen?“

„Mein Enkel ist noch immer krank. Er hat in der Gefangenschaft und auf der Flucht so Schweres durchgemacht, daß er sich sehr langsam erholt.“

„Oh, bedauere sehr, gnädigste Frau.“ Trudchen hatte inzwischen die Gläser gefüllt und ihres gegen ihn erhoben. Er tat ihr mit einer Verbeugung Bescheid. „Ich trinke auf das Wohl der Damen.“

„Was führt Sie heute hierher nach Hartenau?“ fragte jetzt Trudchen.

Der junge Mann wurde etwas verlegen. „Eine Anordnung meiner Regierung. Sie wünscht Hartenau einen andern Namen zu geben. Wir folgen darin nur dem Beispiel Ihrer früheren Regierung, die polnische Ortsnamen verdeutscht oder völlig umgetauft hat, wie z.B. Inowrazlow in Hohensalza.

„Welchen Namen schlagen Sie denn für Hartenau vor?“ fragte Frau Esther mit deutlich bebender Stimme.

„Die wörtliche Übersetzung: `Twardowo'. Sind Sie damit einverstanden, gnädige Frau?“

„Das können Sie von mir nicht erwarten,“ erwiderte Frau Esther offen. „Der Name Hartenau ist seit Jahrhunderten mit meinem Geschlecht verbunden und verwachsen. Aber wenn Ihre Regierung die Umbenennung anordnet, muß ich mich eben fügen.“

„Wenn Sie es wünschen, können Sie auf dem neuen Ortsschild unter Twardowo noch hinzufügen: »früher Hartenau.“

Mit einem bittenden Blick nahm Trudchen die Hand der alten Gnädigen. „Das ist doch nett von Herrn Lubomierski.“

Der junge Mann verbeugte sich zum Dank. „Ich möchte bei dieser Gelegenheit noch die Angelegenheit des Joseph Kowalski zur Sprache bringen.“

„Die geht mich nichts an,“ erwiderte die alte Gnädige scharf. „Der junge Mann ist mündig und steht in keinem anderen Abhängigkeitsverhältnis zu mir als alle meine Leute, die für ihre Arbeit entlohnt werden.“

„Gewiß, gewiß, gnädigste Frau. Ich wollte nur anheimstellen oder nahelegen, den jungen Mann darauf hinzuweisen, daß er sich einer sehr großen Gefahr aussetzt, wenn er sein Versprechen, das er dem Propst gegeben hat, nicht erfüllt. Soviel ich weiß, ist es aus freien Stücken erfolgt.“

„Die Voraussetzungen, unter denen er sein Versprechen abgab, haben sich inzwischen geändert,“ warf Trudchen ein.

„Auch das weiß ich, das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Kirche die Erfüllung seiner Anmeldung fordert und mit Recht fordern kann.“ Er erhob sich. „Leider habe ich in dieser Angelegenheit keinen Einfluß. Die Sache wird von anderer Seite betrieben. Ich habe mich nur verpflichtet gefühlt, Sie darauf aufmerksam zu machen.“

Auch Frau Esther erhob sich. „Dafür spreche ich Ihnen meinen Dank aus, Herr Starost. Ich muß es, wie schon gesagt, dem Joseph überlassen, was er zu tun oder zu lassen gedenkt.“

Der junge Mann verbeugte sich… „Gnädigste Frau... gnädiges Fräulein.“

Als die Tür hinter ihm ins Schloß fiel, sprang Trudchen auf und umfaßte Frau Esther. „Bist du sehr traurig, Großchen? Der Vater wußte es schon seit einiger Zeit, daß die Umbenennung angeordnet war, und ich sollte dich schonend darauf vorbereiten.“

„Dein Vater hat es mir mitgeteilt, und das war gut, denn ich war darauf vorbereitet und habe mich damit abgefunden.“

„Es war dem jungen Mann augenscheinlich peinlich, es dir mitzuteilen. Findest du nicht auch, daß er sich dabei taktvoll benommen hat?“

„Ja, höfliche Umgangsformen haben die Polen, wenn sie wollen.“

„Der edle Pole scheint also höflich gewesen zu sein,“ rief Robert, der eben eintrat und die letzten Worte noch gehört hatte. „Was wollte er denn?“

„Er brachte mir eine sehr unangenehme Nachricht. Die polnische Regierung hat befohlen, daß Hartenau in Twardowo umgetauft wird.“

„Und du hast ihn als Gast empfangen und ihm Wein vorgesetzt?“ fragte er scharf.

„Das hat Großchen auf meine Bitte erlaubt,“ fiel Gertrud ein, „und dem kleinen Entgegenkommen verdankt sie es, daß auf dem Ortsschild auch der alte Name Hartenau stehen wird.“

„Das ist wirklich allerhand,“ spottete Robert. „Und weshalb sollte ich mich vor dem Polenjüngling nicht blicken lassen?“

„Wenn du willst, werde ich es dir sagen.“

„Ich bitte darum.“

„Er will oder vielmehr, er soll dir nahelegen, in die polnische Armee einzutreten. Man legt Wert auf frühere deutsche Offiziere, die auch, wie du, Kriegserfahrungen besitzen.“

Robert lachte schrill auf. „Das glaube ich, die Polen sind nicht dumm. Da hätte ich ja Aussicht, zu den höchsten Würden- und Ehrenstellen emporzusteigen. Was meinst du dazu, Großmutter?“

„Ich denke natürlich ebenso wie du, mein Junge.“

„Na, dann sind wir ja einig, daß ich diesen Vorschlag höflich ablehne, wenn er mir wirklich gemacht werden sollte.“

„Das wird wohl nicht ausbleiben,“ meinte Trudchen.

Einige Tage später wurde die ganze Gegend durch eine neue Gewalttat der Polen in Schrecken und Aufregung versetzt. Der Agent Kosinski erschien mit einem halben Dutzend Soldaten in Strelkowo. Ritter war nicht zu Hause. Er war für einige Tage auf sein deutsches Gut gefahren. Gertrud empfing den Agenten auf der Freitreppe. „Ich kann Sie leider nicht empfangen, mein Vater ist nicht zu Hause.“

„Sehr wohl, mein Fräulein, ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß mein Erscheinen nicht Ihnen gilt, sondern dem Joseph Kowalski aus Twardowo, den ich Ihrem Vogt gegenüberstellen will.“

„Daran kann ich Sie nicht hindern.“

Die Familie Kowalski saß gerade bei Tisch, als zwei Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren in die Stube traten. „Was wollt Ihr hier?“ fuhr der Vogt sie an.

„Befehl! Joseph Kowalski zur Vernehmung nach Strelkowo abzuholen.“

„Fällt mir gar nicht ein,“ sagte Joseph und wollte nach der Tür eilen. Die Soldaten versperrten ihm mit vorgehaltenen Bajonetten den Weg. Jetzt sprang der alte Vogt auf. Und den beiden Schaschken wäre es wohl übel ergangen, wenn nicht die Mutter ihn mit ihren Armen umklammert hätte. „Vater, bleib ruhig!“

„Ich breche den beiden Lümmeln die Knochen im Leibe entzwei.“

Einer der beiden Soldaten warf den Sicherungsflügel herum und legte sein Gewehr an.

„Sei doch vernünftig, Vater,“ bat die Frau.

„Du richtest nur noch mehr Unheil an, und du, Joseph, geh mit den Soldaten!“

„Du hast recht, Mutter, ich gehe mit. Aber dann lebt wohl, ihr werdet mich wohl nicht mehr wiedersehen.“ Er reichte dem Vater die Hand und umfaßte die Mutter, die sich schluchzend an seine Brust warf. Schweigend sahen die beiden Soldaten zu, bis Joseph sich aus den Armen der Mutter löste und sie anrief: „Gehen wir!“

Vor dem Hause des Vogts in Strelkowo stand der Agent mit seinen vier Schaschken. Die Gutsarbeiter, von denen die meisten deutsch waren, hatten sich auf dem Hofe versammelt, drohende Worte, wurden ausgestoßen: „Was wollen die polnischen Banditen hier?“

„Sie holen den Joseph aus Hartenau,“ erwiderte der Vogt Michalcik, der zu den Arbeitern getreten war.

„Wenn sie dich bloß auch mitnehmen möchten,“ rief eine kecke Dirn. Der Agent schien sich um die Leute nicht zu kümmern. Langsam ging er vor den Soldaten auf und ab. Als Joseph auf den Hof geführt wurde, kam Gertrud vom Gutshause schnell angegangen. Die Soldaten hatten inzwischen Joseph umringt, und während ihm vier die Bajonette vorhielten, schnürten ihm zwei die Arme auf dem Rücken zusammen.

„Was geht hier vor, Herr Kosinski? Sie wollten doch den Joseph nur verhören?“

„Das ist nicht mehr nötig,“ erwiderte der Agent mit höhnischem Lächeln.

„Mit welchem Recht lassen Sie den Mann binden?“

„Das geht Sie nichts an, mein Fräulein. Aber ich will es Ihnen sagen. Auf Befehl der Defensive.“

„Wessen wird denn der Joseph beschuldigt?“

„Mir nicht bekannt. Habe nur Befehl auszuführen. Paschol!“

In der Haustür erschien Marinka. Höhnisch grinsend rief sie Joseph nach: „Jetzt wirst du wohl gründlich bekehrt werden.“

„Schlagt doch dem frechen Frauenzimmer aufs Maul!“ rief wieder die kecke Dirn aus dem Haufen. Marinka wäre wohl nicht ungeschoren davongekommen, wenn sie der Vater nicht in das Haus zurückgestoßen und die Tür hinter ihr zugeschlagen hätte.

Gertrud lief gleich, wie sie ging und stand, nach Hartenau, um die neue Schandtat der Polen zu melden. Sie fand den Vogt und seine Frau schon bei der alten Gnädigen, die in heftiger Erregung auf der Diele auf und ab ging. Robert saß mit funkelnden Augen im Lehnstuhl. „Hast du schon gehört,“ rief er ihr entgegen.

„Ja, Robert, ich habe zugesehen, wie sie ihn gefesselt und fortgeführt haben.“

Laut aufschluchzend umklammerte Frau Kowalski ihren Mann. „Hast gehört, Vater?“

„Ich habe den Kosinski gefragt, mit welchem Recht und weshalb Joseph verhaftet wird,“ rief Trudchen. „Auf Befehl der Defensive, hat er mir geantwortet.“

„Das schlägt doch dem Faß den Boden aus,“ rief Robert aufspringend. „Was läßt sich dagegen tun?“

„Nichts,“ erwiderte Frau Esther. „Wen die Defensive erst in ihren Krallen hat, ist verloren. Er verschwindet in ein Gefängnis für immer, oder es wird eine Anklage gegen ihn erhoben wegen Spionage oder Landesverrat, und mögen die Beschuldigungen noch so unsinnig sein, er wird verurteilt und erschossen.“

„Wir wollen nicht gleich das Schlimmste annehmen,“ warf Trudchen ein. „Wenn bloß der Vater hier wäre, ich muß ihn gleich benachrichtigen.“

„Laß das, mein Kind. Er wird sich auch nicht die Finger verbrennen wollen. Uns bleibt nichts weiter übrig, als schweigend zu dulden.“

„Bis der Tag der Abrechnung kommt,“ fügte Robert hinzu.

Neuntes Kapitel

Einige Zeit, nachdem Ritter aus seinem Gut Werben zurückgekehrt war, erschien der Herr Kreischef in Strelkowo. Der Empfang war sehr kühl. Noch ehe er dem Gast einen Stuhl anbot, fragte der Hausherr, weshalb man sich Strelkau dazu ausgesucht habe, den jungen Vogt von Hartenau zu verhaften. Mit ehrlicher Miene erwiderte der junge Mann, er habe nicht den geringsten Anteil an dem Vorfall. Der Agent habe die Sache ganz heimlich ins Werk gesetzt. „Er hat auch mich bespitzelt und nach Warschau berichtet, daß ich zu milde und nachsichtig gegen die Deutschen bin.“

„Dann ist Ihre Stellung hier doch recht unsicher,“ meinte Ritter, der seinen Ärger nicht zu verbergen vermochte.

Der junge Starost schüttelte den Kopf. „Meine Verwandten sind so einflußreich, daß solch ein Mensch mir nicht gefährlich werden kann. Wie ich mein Amt auffasse und verwalte, geht ihn gar nichts an. Ich habe mich bereits über ihn beschwert, er wird nicht mehr zurückkehren.“

„Dann kommt ein anderer, der womöglich noch schlimmer ist,“ meinte Ritter.

„Das kann ich nicht hindern,“ erwiderte der Kreischef achselzuckend. „Die Defensive hält es eben für nötig, in jedem Kreis einen oder mehrere Aufpasser zu haben, um die Deutschen zu beaufsichtigen.“

Inzwischen war Trudchen eingetreten und mit ihr ein Mädchen, das eine Flasche Wein und Gläser brachte. Sie wußte nicht, daß ihr Vater den Gast ohne Bewirtung abfahren lassen wollte. Er machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel, lud den Gast zum Platznehmen ein und schenkte die Gläser voll. Dabei meinte er mit deutlicher Absicht : „Wir werden wohl über kurz oder lang unsern guten Herrn Kreischef verlieren.“

„Ach, weshalb denn?“ fragte Trudchen überrascht.

„Er ist bei seiner Regierung nicht gut angeschrieben.“

Lubomierski war bei diesen Worten erst rot, dann blaß geworden. Er fühlte deutlich die Spitze, die sich gegen seine Bewerbung richtete, aber er beherrschte sich und erwiderte lächelnd: „Ihr Herr Vater, gnädiges Fräulein, fürchtet mich als Kreischef zu verlieren, weil ich von dem Agenten verdächtigt worden bin, nicht scharf genug den Deutschen entgegenzutreten.“

„Das würde uns leid tun,“ erwiderte Trudchen arglos. „Nicht wahr, Vater?“

Der junge Mann verbeugte sich mit freudigem Aufleuchten seiner Augen. „Für das freundliche Wort danke ich Ihnen, gnädiges Fräulein. Ich habe Ihrem Herrn Vater schon erklärt, daß er zu schwarz sieht. Meine Verwandtschaft ist so einflußreich, daß ich die Treppe hinauffallen würde, wenn ich hier abberufen werden sollte. Das würde jedoch nur mit meinem Einvernehmen geschehen.“

„Und Sie wollen hier nicht fort?“ fragte Trudchen.

„Nein, ich habe mir selbst diesen Kreis ausgesucht, der in der Mehrzahl von Deutschen bewohnt ist, weil ich es für falsch halte, sie zu bedrücken und zu verdrängen. Ich hoffe vielmehr, sie durch freundliche Behandlung mit unserer Herrschaft auszusöhnen. Ich betrachte es als das Beste für beide Teile.“

„Das ist ein ehrliches Manneswort,“ erwiderte Ritter und reichte dem Gaste die Hand. „Sie haben es schon durch Ihr Verhalten bewiesen. Sie sind ein weißer Rabe, aber wir wollen uns doch keiner Täuschung hingeben. Es mag wohl in Ihrer Regierung Leute geben, die ebenso denken wie Sie. Sie können wohl etwas mildern und bremsen, aber die schärfere, ja schärfste Tonart ist maßgebend.“

Der Kreischef neigte sich zustimmend. „Das kann ich leider nicht bestreiten.“

„Ich halte es nicht nur für unrecht, sondern auch für unklug, gegen uns Deutsche so scharf vorzugehen,“ warf Trudchen ein.

„Ja,“ fuhr Ritter fort, „Ihre Landsleute schädigen sich selbst, wenn Sie uns Deutsche verdrängen. Meine Landsleute sind fleißig und sparsam. Sie haben das Land in Flor gebracht. Wenn jetzt nach ihnen die polnische Wirtschaft, nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Lubomierski, einzieht, dann wird es Ihr Volk am eigenen Leibe spüren.“

„Lassen Sie mich ausreden,“ fuhr er energisch fort, als der junge Mann etwas erwidern wollte. „Wir Deutsche sind friedliche Leute. Wir werden bei halbwegs anständiger Behandlung treue Staatsbürger sein. Ihr Polen seid das niemals geworden. Ihr habt mit einer Energie und Zähigkeit, die ich, offen gestanden, bewundere, euren völkischen Gedanken und die Hoffnung auf eine staatliche Wiedergeburt, wie sie ja nun eingetreten ist, aufrechterhalten. Dazu sind wir Deutsche nicht imstande, wie ich offen gestehen will. Ist Ihre Regierung nicht klug genug, das einzusehen und danach zu handeln?“

Der Kreischef lachte etwas verlegen.

„So ganz zahm und friedfertig sind Ihre Abgeordneten im Seim doch nicht.“

„Weil sie leider zuviel Ursache haben, sich zu beschweren, daß unsere Rechte, die uns im Frieden gewährleistet sind, mit Füßen getreten werden,“ rief Trudchen mit blitzenden Augen.

Der Starost neigte beistimmend den Kopf.

„Daß ich die Behandlung der Minderheiten, vor allem der Deutschen für unrichtig halte, wissen Sie. Aber das kann ich nicht billigen, daß in Deutschland immerfort in Wort und Schrift erklärt wird: `die Gebiete, die uns entrissen sind, müssen wir wieder haben.` Dadurch wird meines Erachtens die Haltung unserer Regierung bestimmt. Wir folgen darin nur dem Beispiel Ihrer Hakatisten, die den polnischen Großgrundbesitz in Posen und Pommerellen verdrängen wollten. Daß wir Polen darin energischer vorgehen, als es Ihre Regierung tat, liegt in unserem Charakter.“

Der Hausherr schwieg verstimmt.

Trudchen überwand die unbehagliche Stimmung, indem sie die Gläser vollschenkte und lächelnd meinte: „Es taugt zu nichts, wenn wir die Streitpunkte, wenn auch in freundlicher Form, miteinander erörtern.“

„Lassen Sie mich nur noch eins sagen,“ bat Lubomierski lächelnd. „Ich habe in einem Ihrer größten Dichter, in Gustav Freytag, etwas gelesen... Weshalb wundern Sie sich, gnädiges Fräulein?“ unterbrach er sich. „Ich kenne Ihre Literatur ziemlich genau und schätze sie. Also, Ihr großer Dichter läßt in einem Band der `Ahnen', der die Kämpfe zwischen Deutschen und Polen im Mittelalter schildert, den Begründer Ihres Glaubens, etwa folgendes sagen: `Die Erde gleicht einem Landgut, und wie ein Land mit Weizen und Hafer so säet der Herrgott Deutsche und Polen nacheinander auf denselben Grund, gerade die Frucht, deren er für seine himmlische Wirtschaft bedarf.' Er hält es also für eine göttliche Bestimmung, daß uns wieder diese Gebiete, die uns früher gehörten, zugefallen sind.“

„Ich staune über Ihr Gedächtnis,“ erwiderte Trudchen. „Aber wenn ich mich recht erinnere, dann läßt unser Dichter den Dr. Luther weiter ausführen, daß der liebe Gott das Volk, das faul wird und schlechte Frucht bringt, austilgt. Das ist Ihnen schon einmal geschehen, und daraus schöpfe ich die Hoffnung, daß der liebe Gott dies Land wieder mit Deutschen besäen wird, wenn die Polen sich als untauglich erweisen.“

Ritter lachte vergnügt. „Ich glaube, lieber Herr Lubomierski, Sie haben in dem Wortgefecht mit meiner Tochter den kürzeren gezogen.“

Der junge Mann erhob lächelnd die Schultern und Hände. „Ich bekenne mich für besiegt.“ Als Lubomierski sich nach einiger Zeit erhob, um sich zu verabschieden, bot ihm Trudchen die Hand:

„Wir hoffen Sie noch recht lange als unsern Kreischef hierzubehalten.“

„Das liegt auch in meinem Willen, gnädiges Fräulein.“ Er beugte sich tief hinab aus ihre Hand. Solche Gunst war ihm noch nicht zuteil geworden.

„Halt, noch eins,“ rief Ritter dazwischen, „sagen Sie uns, wo der Joseph hingebracht worden ist.“

„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich werde mir jedoch Mühe geben, es zu erfahren.“

Kopfschüttelnd sah der Hausherr den Gast an. „Ist das nicht die richtige polnische Wirtschaft? Ohne Wissen des Kreischefs wird ein Mensch aus seinem Verwaltungsbezirk verhaftet und weggebracht, ohne daß er erfährt, wohin?“

Als der Starost abgefahren war, sah Trudchen ihren Vater erstaunt an. „Glaubst du wirklich, daß er es nicht weiß? Ich halte Lubomierski nicht für aufrichtig. Auch das, was er heute über das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen und seine Versöhnungspolitik sprach, entsprang nur aus kluger Berechnung. Und wenn nichts anderes, dann wollte er auf dich und mich einen guten Eindruck machen.“

„Du könntest recht haben,“ erwiderte der Vater lächelnd. „Bis jetzt hat er sich doch recht verständig benommen. Wir können froh sein, wenn wir ihn als Kreischef behalten.“

In demselben Sinne sprach sich Gertrud aus, als sie am Nachmittag in Hartenau die Unterredung mit dem Kreischef erzählte. Sie fand bei Robert volle Zustimmung. Er meinte, unter den Polen gäbe es keine „weißen Raben“. Der junge Mann werde wohl besondere Gründe für sein Verhalten haben. Trudchen errötete und lächelte verlegen, als Frau Esther einfiel: „Du hast das Richtige getroffen, mein Junge. Der Starost wirft mit der Wurst nach der Speckseite. Er will sich Trudchens Wohlwollen und Gunst erwerben.“

Robert lachte laut auf. „Aber, Großmutter, wie kannst du Trudchen mit einer Speckseite vergleichen? Sie ist rundlich, aber...“

„Du mußt einen Vergleich in einer solchen Redensart nicht wörtlich nehmen,“ erwiderte Frau Esther, jetzt auch lachend.

„Glaubst du, daß der junge Mann sich ernstlich um dich bewirbt,“ fragte Robert, ernst werdend.

„Ja, es hat den Anschein.“

„Würde denn dein Vater damit einverstanden sein.“

Trudchen schüttelte energisch den Kopf. „So weit geht seine Polenfreundlichkeit nicht. Er hat schon einige Male deutlich abgewinkt. Auch heute hat er dem Lubomierski offen erklärt, daß er seine Stellung für sehr unsicher hält.“

„Der Meinung bin ich auch,“ fiel die alte Gnädige ein, „und ich würde mich gar nicht wundern, wenn er eines Tages ohne Sang und Klang hier verschwindet.“

— — — Es war ein Zeichen zunehmender Gesundung, daß Robert sich in seinen Gedanken mit der Gestaltung seiner Zukunft zu beschäftigen begann. Er vermutete mit Recht, daß seine Großmutter sich mit derselben Frage beschäftigte, ihn jedoch damit noch verschonen wollte. Eines Abends, als er mit ihr vor dem Kaminfeuer in der Halle saß, begann er nach einer Gesprächspause: „Sag' mal, Großmutter, hast du auch schon darüber nachgedacht, was nun eigentlich mit und aus mir werden soll?“

Frau Esther sah ihn erstaunt an. „Quälst du dich schon mit solchen Gedanken? Kommt Zeit, kommt Rat. Wollen wir nicht damit warten, bis du völlig wieder zu Kräften gekommen bist?“

„Ich möchte sobald wie möglich darüber Klarheit schaffen und zu einem Entschluß kommen.“

„Das klingt so, als wenn du dich schon für einen Beruf entschieden hast?“

„Nein, Großmutter, das Gegenteil ist der Fall. Der Krieg und die Gefangenschaft haben mich doch völlig aus der Bahn geworfen. Das Nächstliegende wäre ja für mich, Landwirt zu werden.“

„Das ist auch meine Meinung,“ stimmte Frau Esther lebhaft bei.

„Ich fühle leider wenig Interesse dafür. Ich habe mir schon innerlich Vorwürfe darüber gemacht. Aber es ist eine Tatsache, die ich dir nicht verschweigen kann.“

„Das tut mir sehr leid, denn es trifft mich sehr hart. Ich bin ja noch so rüstig, daß ich noch ein paar Jahre durchhalten werde, bis du ausgelernt hast und mit meiner Hilfe Hartenau selbständig bewirtschaften kannst. Dann möchte ich aber ausspannen, denn ich habe in meinem langen Leben genug geschafft.“

„Ja, Großmutter, das fällt auch für mich schwer ins Gewicht. Aber glaubst du denn, daß die Polen uns Hartenau lassen werden? Ich nicht. Ich bin davon überzeugt, daß wir über kurz oder lang hier herausgeworfen werden und als Bettler hinausgehen.“

„Das haben wir leider zu befürchten,“ erwiderte Frau Esther.

„Darf ich fragen, ob du vielleicht etwas von unserem Vermögen in Sicherheit gebracht hast?“

„Etwas, aber nicht viel, und in preußischen Staatspapieren angelegt. Aber das wird bei der zunehmenden Geldverschlechterung in Deutschland von Tag zu Tag wertloser.“

„Dann würde also meine Zukunft darin bestehen, daß ich zeit meines Lebens als Inspektor meine Füße unter einen fremden Tisch stelle.“

Frau Esther saß eine Weile in schweren Gedanken. „Was käme denn noch für ein Beruf in Frage? Möchtest du noch studieren?“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber, Großmutter, dagegen sind die Bedenken noch viel größer. Meine Bildung war noch nicht abgeschlossen, als ich in den Krieg zog, und das meiste habe ich inzwischen vergessen. Ich müßte also erst noch zwei Jahre mindestens die Schulbank drücken, dann dauert es noch sieben bis acht Jahre, bis ich zu Brot komme. Ich muß dir alles sagen. Ich besitze nicht mehr die Energie und Ausdauer zu studieren und Examina abzulegen. Mein Leben ist eben von Grund auf verpfuscht.“ Er füllte sein Glas mit Rotwein und trank es mit einem Zug leer. Aus den Augen der alten Frau strahlte tiefes herzliches Mitleid.

„Ich begreife deine Stimmung vollkommen, mein lieber Junge, aber verzag' nur nicht. Wenn dein Lebensmut jetzt auch noch gering ist, weil du körperlich noch nicht wieder völlig hergestellt bist, später wird sich schon Rat finden lassen. Mir ist jetzt klar geworden, was wir zunächst zu tun haben. Wir müssen versuchen, Hartenau noch jetzt, wenn irgend möglich, gegen ein Gut über der Grenze zu vertauschen. Mir war die Gelegenheit schon mal geboten. Ich habe sie in meiner Kurzsichtigkeit unbenutzt vorübergehen lassen.“

„Glaubst du denn, daß ein Deutscher sich finden wird, der sich jetzt noch nach Polen hineintraut?“

„Nein, es gibt noch Polen, die über der Grenze Grundbesitz haben. Wir würden allerdings dabei tüchtig Haare lassen müssen. Außerdem müssen wir versuchen, wenigstens einen Teil der Möbel und des Inventars über die Grenze zu schaffen. Ich habe auch noch ansehnliche Vorräte an Getreide liegen, die würde mir Ritter abnehmen, der es fertiggebracht hat, sein Getreide über Deutschland hinweg nach dem Ausland zu verkaufen, wo es ihm mit Devisen bezahlt wird. Ich hoffe, so viel zu schaffen, daß wir uns drüben wenigstens eine Klitsche mit ein paar hundert Morgen kaufen können, damit wir ein Dach über dem Kopf haben und nicht zu hungern brauchen.“

„Daraus glaube ich entnehmen zu müssen,“ meinte Robert nach einer Weile, „daß du immer für das beste hältst, daß ich Landwirt werde.“

„Ja, mein Junge, für einen Kaufmann wirst du dich noch weniger eignen als für einen Juristen oder Mediziner.“

„Es gibt noch einen Ausweg, Großmutter, der uns aller Sorge enthebt: wenn ich in das polnische Heer eintrete.“

„Hast du wirklich jemals im Ernst daran gedacht?“ fragte Frau Esther scharf.

„Nein, liebe Großmutter, das ist für mich bei meiner Gesinnung völlig ausgeschlossen. Ja, es würde mich wundern, wenn der Vorschlag auf irgendeinem Wege an mich herantreten sollte.“

„Das halte ich nicht für ausgeschlossen, und wir dürfen es uns nicht verhehlen, daß deine Weigerung unsere Lage verschlechtern wird. Die Polen rechnen wahrscheinlich schon damit, denn sie bekommen dadurch eine Handhabe, gegen uns schärfer als bisher vorzugehen.“

Die Hoffnung der alten Gnädigen, ihr Getreide durch Ritters Hilfe gut zu verkaufen, erfüllte sich nicht. Schon am nächsten Tage brachte Trudchen die Nachricht, die polnische Regierung werde demnächst alle Getreidevorräte beschlagnahmen, d.h. für geringen Preis enteignen. Der Vater habe gestern in der Stadt erfahren, daß Polen sich für einen Krieg mit Sowjet-Rußland rüstete. Bald kam die Bestätigung der Nachricht. Kommissare der Regierung reisten umher und beschlagnahmten überall auf den Gütern die Vorräte. Ritter übernahm noch rechtzeitig einen Teil des Getreides aus Hartenau und erzielte durch seine Verbindungen einen etwas besseren Preis dafür, den er seiner Nachbarin ohne Abzug aushändigte.

Zehntes Kapitel

Von nun an gab sich Robert redliche Mühe, der Landwirtschaft Interesse abzugewinnen. Er fuhr mit der Großmutter aufs Feld, wobei sie ihm belehrende Vortrage hielt. Er stand öfters bei Tagesgrauen auf und sah zu, wie die Milch gewonnen und in der Meierei verarbeitet wurde. Dabei kräftigte sich sein Körper zusehends, wodurch sich auch seine Stimmung hob. Ein kräftiges Gefühl erwachte in ihm. Mit Trudchen verkehrte er nach wie vor wie ein Bruder. Aber wenn sie mal ausblieb, vermißte er ihre Gegenwart und ihr munteres Geplauder. Sie brachte stets Neuigkeiten mit, die nicht gerade welterschütternder Art waren, aber sein Interesse erregten.

So berichtete sie eines Tages, daß der Vogt Michalcik stärker als je tränke. Er habe Marinka, die ihm vorwarf, er habe die Heirat mit Joseph verhindert und hintertrieben, heftig durchgeprügelt. Aber auch Wichtigeres hatte sie zu berichten: daß die Kriegsgefahr immer näher zu rücken scheine, und daß deshalb eine Musterung und Aushebung der Pferde bevorstände. Ihr Vater habe schon über der Grenze Pferde aufgekauft, um seine Bestände zu ergänzen. Er werde es auch für Hartenau besorgen, wenn die alte Gnädige es wünsche.

Robert erfuhr auch von ihr, daß Ritter dem Kreischef abgeraten habe, den ehemals preußischen Leutnant zum Eintritt in das polnische Heer aufzufordern. Er habe darauf ihrem Vater erwidert, daß es ein Befehl der Regierung sei, den er ausführen müsse, denn es sei ihm wieder ein Agent der Defensive auf den Nacken gesetzt, ein deutscher Renegat, der seinen ehrlichen Namen Wolschläger in Wolzlegier umgewandelt habe. Als der Kreischef eines Tages erschien, war Robert auf seinen Besuch vorbereitet. Er empfing den jungen Starost höflich, aber kühl, und bot ihm einen Stuhl an.

„Ich habe einen Auftrag meiner Regierung auszurichten,“ begann Lubomierski. „Sie wünscht, daß Sie in unser Heer eintreten. Sie sind jetzt polnischer Staatsangehöriger und beherrschen vollkommen unsere Sprache, Sie werden sich in unsern militärischen Dienstbetrieb, der von dem deutschen nicht wesentlich abweicht, leicht einarbeiten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß wir Offiziere mit Kriegserfahrung hoch einschätzen und bevorzugen.“

„Ihre Aufforderung kommt mir nicht unerwartet, Herr Kreischef,“ erwiderte Robert ruhig. „Ich habe Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten. Und nun könnte ich ja meine Ablehnung mit dem Hinweis auf meine durch die Flucht und Gefangenschaft schwer geschädigte Gesundheit begründen. Ich verzichte darauf, weil Sie es wahrscheinlich als bloßen Vorwand betrachten würden. Der wesentliche Grund, der mich zur Ablehnung zwingt, ist meine deutsche Gesinnung und Einstellung. Ich stehe dem polnischen Staat, dem wir gegen unsern Willen unterworfen worden sind, ablehnend gegenüber. Ich werde ihm gegenüber meine staatsbürgerlichen Pflichten loyal erfüllen, aber ich vermag nicht, ihm Dienste zu leisten.“

„Ihre Gesinnung war mir nicht unbekannt,“ erwiderte der Kreischef mit einer leichten Verbeugung. „Das enthob mich jedoch nicht der Pflicht, den Auftrag meiner vorgesetzten Behörde auszuführen. Ich möchte mir aber den Rat erlauben, Ihre geschwächte Gesundheit als Grund der Ablehnung anzugeben und womöglich durch ein ärztliches Attest zu belegen.“

Überrascht sah Robert seinen Gast an. „Was veranlaßt Sie, mir diesen Rat zu erteilen?“

„Ich möchte nicht die unschuldige Ursache werden, daß Ihnen aus Ihrer Ablehnung Mißhelligkeiten erwachsen. Sie wissen jedenfalls schon, daß ich bestrebt bin, mit den Deutschen in meinem Bezirk in Ruhe und Frieden zu leben und möchte nicht, daß man mir die Schuld in die Schuhe schiebt, wenn unsere Regierung scharf gegen Sie vorgeht.“

Robert dankte mit einer Verneigung. „Ich bin Ihnen für Ihren Rat sehr verbunden und werde ihn mit Rücksicht auf Sie befolgen.“

„Dann bitte ich noch, mit der Ausführung nicht zu zögern. Als eine geeignete Persönlichkeit erlaube ich mir, Ihnen den Kreisarzt Dr. Soyka in L... zu empfehlen. Sollte er Ihnen den Besuch eines deutschen Heilbades anraten, dann bitte ich, den Rat zu befolgen und um die Bewilligung einer Ausreiseerlaubnis bei mir einzukommen.“

„Auch für diese Ratschläge bin ich Ihnen sehr verbunden. Gestatten Sie mir noch die Frage, weshalb sie solche Eile für geboten halten?“

„Auch das will ich Ihnen offen sagen, allerdings mit der Bitte um völlige Verschwiegenheit. Es besteht die Gefahr, daß sich noch jemand anderes in Ihre Angelegenheit einmischt, von dem Sie keine Rücksicht zu erwarten haben.“

„Wer sollte das sein?“

Der junge Kreischef erhob sich. „Sie würden es jedenfalls von anderer Seite auch erfahren, deshalb brauche ich damit nicht hinter dem Berge zu halten. Das ist der neue Agent der Defensive, mit dem früher deutschen Namen Wolschläger, ich möchte ihm die Gelegenheit entziehen, sich in Verwaltungsangelegenheiten, die mich allein angehen, einzumischen.“

„Das ist ein weiterer Grund für mich, Ihren Rat sofort zu befolgen. Nehmen Sie meinen besten Dank, Herr Starost.“

„Keine Ursache. Ich habe ja nicht nur in Ihrem, sondern auch in meinem Interesse gehandelt.“

Gedankenvoll erschien Robert im Wohnzimmer, wo Trudchen, die eben eingetreten war, ihn mit der alten Gnädigen erwartete. „Was hatte der Herr Kreischef mit dir zu verhandeln?“

„Er brachte mir die Aufforderung seiner Regierung, in das polnische Heer einzutreten.“ Dann schilderte er ihre Unterredung und schloß: „Eigentlich bin ich über diese zarte Rücksichtnahme erstaunt.“

Trudchen lächelte. „Etwas hast du sie meinem Vater und mir zu verdanken. Ich bat, auf dich nicht nur jede mögliche Rücksicht zu nehmen, sondern dir auch mit einem guten Rat beizustehen. Und der Vater riet ihm, dir deinen Gesundheitszustand als Grund der Ablehnung nahezulegen, wie er es auch getan hat. Und dir läßt mein Vater durch mich raten, Lubomierskis Vorschlag schnell und genau zu befolgen.“

„Was meinst du dazu, Großmutter?“

„Dasselbe, was Freund Ritter dir anratet. Du fährst heute noch nach L., läßt dich untersuchen und dir ein Attest ausstellen. Der Dr. Soyka ist ein freundlicher, verständiger Mann, der sicherlich von dem Kreischef von deinem Fall schon unterrichtet ist. Und wenn irgend möglich, fährst du schon morgen früh über die Grenze.“

Eine halbe Stunde später saß Robert im Wagen und fuhr nach L. Der Kreisarzt, ein älterer Mann, der aus deutschen Hochschulen studiert und sich politisch nie betätigt hatte, schien seinen Besuch erwartet zu haben. Er untersuchte Robert sehr gründlich und stellte ihm ein ausführliches Attest aus, worin auch der Rat enthalten war, in dem Sanatorium eines Dr. Kastner in Altheide einen längeren Aufenthalt zu nehmen und sich einer strengen Entziehungskur zu unterwerfen. Robert bedankte sich und legte einen Briefumschlag mit einem ansehnlichen Honorar auf den Tisch, an den sich der Arzt wieder niedergelassen hatte, um noch einige Zeilen an den Kreischef zu schreiben. Beim Abschied riet er Robert, das ärztliche Gutachten und den Brief sofort im Kreisamt abzugeben.

Er wurde sofort von Lubomierski empfangen, der das Attest und den Brief schnell überflog. Dann reichte er den Brief Robert hin. „Ich bitte Sie, davon Kenntnis zu nehmen.“

Robert las: „Der Zustand des Herrn Dalkowski ist sehr ernst. Seine schweren Herzstörungen lassen eine schnelle durchgreifende Behandlung dringend erforderlich erscheinen. Deshalb befürworte ich, ihm die Ausreise zum Besuch von Altheide zu bewilligen.“

Als Robert ihm den Brief zurückgab, überreichte ihm der Starost lächelnd einen zusammengefalteten Bogen. Es war die Ausreisebewilligung. „Herr Dalkowski, der erste Zug geht schon morgen um fünf Uhr. Ich empfehle Ihnen, ihn zu benutzen, dann haben Sie sofort in Glogau Anschluß.“

Mit einem kräftigen Händedruck dankte und verabschiedete sich Robert. Als er nach Hause kam, fand er die Großmutter schon beim Packen seiner Sachen, wobei ihr Trudchen half. Sie berichtete ihm, daß ihr Vater mit demselben Zug nach seinem Gut Werben fahren werde.

Als sie gegangen war, fragte Robert: „Sag' mal, Großmutter, was hältst du von dem geradezu merkwürdigen Verhalten des Kreischefs? Der junge Mann setzt sich doch Unannehmlichkeiten aus, wenn er mir über die Grenze hilft.“

Frau Esther lächelte. „So ganz uneigennützig, wie du meinst, ist der junge Mann nicht. Er fürchtet dich als Nebenbuhler.“

„Mich? Als Nebenbuhler? Wieso, weshalb?“

„Oh, du unschuldsvoller Junge du! Weißt du denn nicht, daß der Starost in Trudchen heftig verliebt ist und sich ernsthaft um sie bewirbt? Er möchte es verhindern, daß sich zwischen euch beiden etwas anspinnt und sucht dich aus diese Weise für längere Zeit auszuschalten.“

Robert schüttelte den Kopf. „Das wäre dann nichts weiter als ein sein ausgeklügelter Schachzug gegen mich. Dann wundere ich mich aber, daß Trudchen dabei mitgewirkt hat.“

„Darüber brauchst du dich gar nicht zu wundern. Die Gefahr für dich, wenn du hierbliebst, ist größer, als du denkst. Lubomierski hat sie Ritter angedeutet. Es wäre nicht ausgeschlossen, daß du von dem Agenten verhaftet und zwangsweise in ein Militärlazarett gebracht würdest, um dort behandelt zu werden.“

Robert schlief wenig und unruhig in dieser Nacht. Wie ein Blitz war die Erkenntnis in ihn eingeschlagen, daß Trudchens Zukunft mit seinem Schicksal verknüpft war. Sie war das Opferlamm, das für ihn geschlachtet werden sollte. Als er in den Krieg zog, war er fast noch ein Knabe und sie ein kleines Mädchen. Und als er jetzt zurückkehrte, hatte sein körperlicher Zustand ihn so niedergedrückt, daß er für ihre frische, jugendliche Schönheit kein Interesse aufzubringen vermochte. Ihre herzliche Fürsorge hatte er wie etwas Selbstverständliches hingenommen. Ihre Besuche galten doch nur der Großmutter, an die sie sich in Liebe angeschlossen hatte. Und nun sollte er weg und das Feld dem Polen überlassen? Gewiß, Lubomierski war kein übler Mensch. Gebildet, gewandt, bekleidete er trotz seiner Jugend schon ein hohes Amt und würde wahrscheinlich noch weiter emporsteigen.

War es denn ausgeschlossen, daß Gertrud gegen diese Vorzüge unempfindlich war, daß sie seine Neigung erwiderte und ihr Deutschtum einer glücklichen Ehe zum Opfer brachte? Was ging das ihn an? Weshalb bereitete ihm dieser Gedanke Pein? Was hatte er für ein Recht, sich darüber aufzuregen, daß ein deutsches Mädchen einen Polen heiratete? Das würde wohl ebensooft eintreten, wie daß ein Deutscher eine Polin zur Ehe bezehrte, wie er es bei Joseph erlebt hatte. Erst gegen morgen schlief er so fest ein, daß ihn das Mädchen nur durch heftiges Klopfen zu erwecken vermochte.

Auf dem Bahnhof traf er Ritter, der sich in Gegenwart der Bahnbeamten verwundert anstellte, mit ihm zusammenzutreffen. Sie bestiegen ein Abteil zweiter Klasse, in dem sie allein blieben. Als der Zug sich in Bewegung setzte, beugte sich Ritter vor und ergriff seine Hand. „Nun danken Sie Gott, daß Sie aus der Höhle der Löwen entronnen sind.“

„Aber, Herr Ritter, wir leben doch in einem Staat, der sich zu den europäischen Kulturnationen zählt.“

„So, meinen Sie? Man hat Rußland fälschlich als Halbasien bezeichnet. Es war ein richtiges Asien, nur etwas übertüncht. Für die Polen müßte man sich noch eine andere Bezeichnung ausdenken. Der Russe war wenigstens so ehrlich, das zu tun, was man von ihm mit einem Händedruck verlangte. Der Pole nimmt das Geld und lacht einen aus. Der Russe hielt verschämt eine Hand nach hinten und ließ sie sich füllen. Der Pole streckt beide wie Schaufeln nach vorn und zählt, was man ihm hineinlegt.“

„Und Lubomierski?“ warf Robert ein.

„Das ist ein weißer Rabe,“ erwiderte Ritter achselzuckend, „und außerdem zieht er einen Wechsel auf die Zukunft.“

„Werden Sie diesen Wechsel einlösen?“

Ritter hob die Hände und drehte die inneren Flächen nach oben. „Lieber Robert, ein Chilef ist ein Chalef. Er wird auch nicht auf mich gezogen, sondern zunächst auf meine Gertrud.“

„Glauben Sie, daß sie ihn einlösen wird?“

„Bin ich ein Prophet?“ erwiderte Ritter, der oft in eine jüdelnde Sprechweise verfiel. „Soll ich nein sagen, wenn Gertrud den jungen Mann nehmen will?“

„Na ja,“ gab Robert etwas scharf zur Antwort. „Es ist immerhin etwas wert, wenn man einen hohen polnischen Beamten zum Schwiegersohn bekommt.“

Ritter setzte eine böse Miene auf. „Robert, was geht das eigentlich Sie an? Habe ich mir für Sie den Pelz zerrissen, um mir von Ihnen Grobheiten sagen zu lassen?“

„Nein, nein, Herr Ritter, es ist mir nur so herausgefahren. Es würde mir leid tun, wenn ein so prächtiges, deutsches Mädchen durch ihre Heirat mit einem Polen ihr Deutschtum verlieren würde.“

„Sind Sie dessen so sicher? Ich würde eher annehmen, daß meine Gertrud aus dem Polenjüngling einen verständigen Deutschen macht.“ Robert zuckte die Achseln und schwieg. Kurz daraus bremste der Zug und hielt in Fraustadt.

Ritter stand auf. „Kommen Sie, Robert! Daß Sie nicht noch im letzten Augenblick verhaftet worden sind, wollen wir dadurch feiern, daß wir einen echten deutschen Weinbrand verhaften, und dann fahren wir nach Werben weiter. Das ärztliche Attest und der Brief des braven Kreisarztes waren Mumpitz. Sie sind ebenso gesund wie ich. Sie brauchen in kein Sanatorium zu gehen. Sie bleiben auf meinem Gut, Ihre Großmutter ist damit einverstanden. Und Sie werden sich da fleißig in der Wirtschaft betätigen.“

Es war, als wenn Ritter schon alles vorbereitet hatte. Ein Gepäckträger erschien im Abteil und belud sich mit Roberts Handgepäck. Ein zweiter ließ sich den Schein über das große Gepäck geben. An dem Schanktisch im Wartesaal standen schon zwei Glas Kognak eingeschenkt. Dann führte sie der Wirt in den kleinen Wartesaal zweiter Klasse, wo schon eine Flasche Sekt im Eiskübel stand.

Ritter streckte, vergnügt lachend, Robert die Hand hin. „Nun wollen wir mal Ihre Rückkehr nach Deutschland mit einem Glas Knallkümmel begießen, mein lieber Robert. In einer Stunde weiß die alte Gnädige und Trudchen, daß ich Sie ungefährdet über die Grenze gebracht habe. Ihre Großmutter wollte Sie durchaus zum Bahnhof begleiten. Ich habe es ihr durch Gertrud widerraten lassen, und sie hat es eingesehen. Es wundert mich nur, daß Herr Wolschläger nicht auf dem Bahnhof war.“

„Das verstehe ich alles nicht,“ stammelte Robert betreten.

„Dann will ich es Ihnen erklären. Dieser edle Pole mit dem merkwürdigen Namen wollte Ihnen ans Leder. Sie wären ebenso wie der Joseph in einem polnischen Gefängnis auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Dem haben wir eine große Nase gedreht, und der Lubomierski hat wacker dabei mitgeholfen. Er hat ihn auf meine Kosten heute nacht so heftig unter Alkohol gesetzt, daß er das Aufstehen vergessen hat. Prost!“

Elftes Kapitel

Die alte Gnädige saß gerade beim Morgenkaffee, als der Agent mit sechs Mann auf den Hof marschierte. Die Kerle waren mit abgetragenen grauen Uniformen bekleidet, die aus deutschem Besitz stammten und in ihrer Beschaffenheit einer fünften Garnitur entsprachen. Nur zwei hatten einen Riemen an ihrem Gewehr, die andern trugen es an einer Schnur über der Schulter. Was ihr militärisches Aussehen noch besonders unterstrich, war die Tatsache, daß sie barfuß marschierten. Es schien, als wenn die sparsame, polnische Verwaltung im Sommer eine Fußbekleidung für überflüssig erachtete.

Der Vogt Kowalski begleitete den Agenten schon vom Hoftor an und war mit ihm in eine scharfe Auseinandersetzung geraten. Er begleitete ihn auch auf die Veranda zum Gutshaus empor, während die Soldaten sich unten aufstellten. Frau Esther stand schon auf der Freitreppe. Mit barschem Ton verlangte der Agent, der einen eleganten Anzug trug, während die Sauberkeit seiner Wäsche alles zu wünschen übrigließ, in schlechtem Polnisch Herrn Robert Dalkowski zu sprechen.

„Mein Enkel ist verreist,“ erwiderte die alte Gnädige auf deutsch.

„Das glaube ich Ihnen nicht,“ erwiderte der Agent höhnisch lächelnd.

„Das ist doch mehr als unverschämt,“ polterte der Vogt los, der mit geballten Fäusten zwischen dem Polen und seiner Herrin stand.

Frau Esther wies ihn mit einer Handbewegung zurück. „Mischen Sie sich nicht ein, Kowalski. Gehen Sie an Ihre Arbeit. Ich werde mit diesem Herrn allein fertig werden!“ Sie wandte sich an den Agenten. „Ich weiß weder, wer Sie sind, noch was Sie berechtigt, mit bewaffneten Menschen meinen Hof zu betreten. Haben Sie einen Ausweis bei sich, der Sie dazu ermächtigt?“

„Was, Sie wissen nicht, wer ich bin,“ erwiderte der Pole heftig. „Ich bin der Bevollmächtigte der Defensive, der obersten militärischen Behörde. Ich habe den Auftrag, Herrn Robert Dalkowski wegen Landesverrat und Spionage zu verhaften.“

„Da sind Sie zu spät aufgestanden. Mein Enkel ist bereits mit dem ersten Zug über die Grenze gefahren.“

In sichtlicher Verblüffung brüllte der Agent: „Wie ist das möglich? Wohin ist er gefahren?“

„Ich habe es zwar nicht nötig, es Ihnen zu sagen, aber es ist ja kein Geheimnis. Mein Enkel ist auf ärztliche Anordnung nach Bad Altheide in Schlesien gefahren. Sie müssen sich also mit der Anklage gedulden, bis er wieder zurückkehrt.“

Der sarkastische Ton, mit dem die alte Gnädige antwortete, trieb dem Agenten das Blut zu Kopf. Er schwieg einen Augenblick, dann schnauzte er die alte Dame in heftigster Weise an. Diesmal merkwürdigerweise auf deutsch. „Auf Ihrer Ortstafel steht unter dem richtigen Namen Twardowo noch `früher Hartenau'. Das wird sofort entfernt.“

Die alte Gnädige faßte den Vogt, der sich vorbog, als wollte er sich auf den Widersacher seiner Herrin stürzen, am Ärmel und zog ihn zurück. Mit strengem Ton befahl sie: „Kowalski, gehen Sie weg, Sie haben hier nichts zu suchen.“ Der Vogt gehorchte, aber nur zum Teil. Er blieb an der Treppe stehen. Dann wandte sich Frau Esther an den Agenten. „Die beiden Worte sind mit ausdrücklicher Erlaubnis des Herrn Kreischefs auf meine Ortstafel gekommen. Sie müssen sich also an den Herrn Kreischef wenden, wenn Sie eine Änderung vornehmen wollen. Zu befehlen haben Sie mir nichts.“

„Das wird sich ja bald herausstellen,“ erwiderte der Agent wütend, drehte sich kurz um und ging die Treppe hinunter.

Der Vogt wollte ihm folgen, Frau Esther rief ihn zurück. „Du alter dummer Kerl du. Du hättest bald Unheil angerichtet.“

Mit verbissener Wut erwiderte der alte Mann: „Der Kerl wäre nicht lebendig vom Hof gekommen, wenn er den jungen Herrn angetroffen und verhaftet hätte. Und seine sechs Schaschken auch nicht. Unsere Knechte stehen schon mit den Forken in den Stalltüren.“

„Um Gottes willen, Kowalski!“ rief die Gnädige erschreckt.

„Meinen Sie, gnädige Frau, wir würden unsern jungen Herrn fortschleppen lassen, wie sie meinen Jungen weggeschleppt haben?“ erwiderte der Alte grimmig. „Gnädige Frau müssen es gleich dem Kreischef melden.“

Bei Frau Esther kam die Erregung erst hinterdrein, als es ihr bewußt wurde, welcher Gefahr Robert entronnen war. Als sie sich beruhigt hatte, versuchte sie den Kreischef anzurufen. Als sie die Auskunft erhielt, er sei weggefahren, sah sie von einer Mitteilung des Vorgefallenen ab.

Gegen Mittag kam Trudchen. „Robert ist mit Vater wohlbehalten und unangefochten über die Grenze und in Werben angekommen. Ich habe sie schon gesprochen. Beide lassen vielmals grüßen. Robert wird also vorläufig in Werben bleiben.“

„Aber Kind, wie ist es möglich, daß du über die Grenze Fernsprechverbindung erhältst?“

Trudchen lächelte. „Das ist unser Geheimnis. Dir kann ich es ja sagen. Vater hat rechtzeitig für eine Geheimverbindung gesorgt.“

„Das ist zwar sehr bequem, aber auch sehr gefährlich. Wenn das entdeckt wird, kann man deinem Vater einen Strick daraus drehen. Inzwischen war der Agent hier, um Robert zu verhaften.“

„Das weiß ich schon und habe es schon nach Werben gemeldet.“

Am Nachmittag rasselten der Agent und der Starost aneinander. Der Agent brüllte so, daß es durch das ganze Gebäude schallte. Er beschuldigte den Kreischef, daß er dem früheren deutschen Offizier, der wegen Landesverrat und Spionage verhaftet werden sollte, zur Flucht über die Grenze verholfen habe. Der junge Kreischef erwiderte beherrscht, aber nicht minder scharf, das wäre eine schwere Beschuldigung, gegen die er sich mit allen Kräften wehren würde. Auf eine persönliche Genugtuung müsse er wegen Wolzlegiers Vergangenheit verzichten.

Nun geriet der Agent in eine solche Wut, daß er sich heiser schrie und seine Stimme überschnappte. „Sie sind der Regierung schon lange wegen Ihres Verhaltens gegen die Deutschen verdächtig. Diese Sache wird Ihnen das Genick brechen.“

„Das überlassen Sie meiner Sorge,“ erwiderte der Starost.

„Sie sind ja kein Pole, Sie sind ja ein halber Deutscher,“ brüllte der Agent.

„Sie sind weder das eine noch das andere,“ gab der Kreischef in sarkastischem Ton zur Antwort. „Ich werde Ihnen auch noch eins verraten. Renegaten Ihrer Sorte werden nirgends hochgeschätzt, auch bei uns nicht. Man benutzt sie, aber man verachtet sie. Und nun nehmen Sie die Tür in die Hand und machen Sie sie von draußen zu, sonst lasse ich Sie rauswerfen.“

In höchster Wut brüllte der Agent: „Das werde ich Ihnen gedenken,“ und stürmte hinaus.

Noch an demselben Abend fuhr der Starost nach Posen. Er fand alles in größter Aufregung, denn der Ausbruch des Krieges mit Rußland war täglich, ja stündlich zu erwarten. Es herrschte schon eine Art Kriegszustand. Der Bahnhof war mit Zügen überfüllt, die Truppen an die Front bringen sollten. In den Straßen biwakierte Militär aller Gattungen.

Die einflußreichen Verwandten zeigten Lubomierski die kalte Schulter. Sie hatten jetzt größere Sorgen als das Schicksal des jungen Verwandten. Ja, sein Onkel riet ihm, mit dem Agenten eine Verständigung zu suchen. Die Defensive sei in fieberhafter Tätigkeit.

Trotzdem wagte sich Lubomierski in die Höhle des Löwen, in das Amtsgebäude der Defensive. Er wurde von einem Major empfangen, dem er seinen Zusammenstoß mit Wolzlegier vortrug. Obwohl er das Zeugnis und den Brief des Kreisarztes vorlegte, fühlte er deutlich, daß man sein Verhalten mißbilligte. Da nahm er seine Zuflucht zur List und versicherte, Dalkowski habe sich nicht nur bereit erklärt, in das polnische Heer einzutreten, sondern habe sich auch durch Ehrenwort verpflichtet, zurückzukehren, sobald es sein Gesundheitszustand gestattet.

Deshalb habe er im Interesse des Staates zu handeln geglaubt, wenn er Dalkowski die Möglichkeit gewährte, seine Gesundheit wiederherzustellen. Durch die Verhaftung wäre der tüchtige Offizier dem polnischen Heer jedenfalls verlorengegangen. Nun wurde er etwas freundlicher entlassen als empfangen, aber seine volle Rechtfertigung werde erst durch die Rückkehr des Dalkowski stattfinden. Beim Verlassen des Gebäudes begegnete ihm Wolzlegier, der ihn zuerst etwas betroffen ansah, dann jedoch höhnisch lächelte und ihn mit übertriebener Höflichkeit grüßte. —

Robert hatte sich zu dem Aufenthalt in Werben entschlossen, weil er sich ernstlich in der Landwirtschaft betätigen wollte. Sein Entschluß wurde gleich dadurch belohnt, daß er mit Trudchen telephonisch sprechen und ihr Grüße an die Großmutter auftragen konnte. Ritter fuhr schon am nächsten Morgen nach Strelkau zurück, nachdem er seinem Verwalter Maschke ans Herz gelegt hatte, sich mit Roberts Ausbildung besondere Mühe zu geben.

Einige Zeit verlief in Ruhe. Ab und zu ging Frau Esther abends, wenn Ritter nach der Stadt gefahren war, nach Strelkau, um mit Robert zu sprechen. Er erfuhr durch die deutschen Zeitungen mehr von der drohenden Kriegsgefahr als die Bewohner des polnischen Staates. Danach stand der Krieg unmittelbar bevor. Die Mittel dazu mußte sich der polnische Staat durch eine Zwangsanleihe beschaffen. Ritter ließ der alten Gnädigen durch Trudchen anempfehlen, einen großen Betrag zu zeichnen, was er bereits getan habe. Frau Esther lehnte es rundweg ab.

Einige Tage später erschien der Kreischef in Hartenau. Er wurde freundlich empfangen und erhielt eine Flasche Wein vorgesetzt. Erst berichtete er, daß es ihm gelungen sei, die Inschrift auf der Ortstafel „früher Hartenau“, deren Entfernung von dem Agenten verlangt worden sei, zu behaupten. Dann erst rückte er mit der Hauptsache heraus und legte der alten Gnädigen nahe, einen Betrag für die Staatsanleihe zu zeichnen, wie es Ritter und mehrere andere Großgrundbesitzer des Kreises bereits getan hätten.

Frau Esther lehnte höflich, aber bestimmt ab. Sie sei dazu nicht in der Lage. Was sie noch an Kapital in deutschen Papieren besäße, sei völlig entwertet. Ihr Getreide sei ihr enteignet worden und so schlecht bezahlt, daß sie kaum imstande sei, ihre Wirtschaft aufrechtzuerhalten.

„Ich möchte Ihnen, gnädigste Frau, nochmals in Ihrem eigenen Interesse dringend dazu raten, einen, wenn auch mäßigen Betrag, zu zeichnen,“ erwiderte der Kreischef in sichtlicher Verlegenheit. „Ich wäre sonst gezwungen, mit einem Strafbefehl gegen Sie vorzugehen, dessen Höhe dem Betrag entsprechen würde, den man von Ihnen für die Anleihe erwartet.“ Die alte Gnädige sah ihn erstaunt, ja fassungslos an.

„Strafbefehl? Das dürfte ja selbst im polnischen Staat nicht möglich sein.“

Der Kreischef zuckte die Achseln. „Meine Regierung sieht darin eine Bekundung polenfeindlicher Gesinnung. Es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, daß wir vor einem Krieg stehen, der die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen Kräfte des Landes erfordert. Davon dürfen sich auch nicht die polnischen Staatsbürger deutscher Abstammung ausschließen.“

„Es handelt sich also um einen Zwang, der gegen uns Deutsche ausgeübt werden soll,“ erwiderte Frau Esther ruhig. „Das ist für mich ausschlaggebend, ich werde keine Staatsanleihe zeichnen, sondern es auf einen Strafbefehl ankommen lassen.“

Der Kreischef erhob sich. „Es ist nicht meines Amtes, gnädigste Frau, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie die schwierige Lage, unter der Sie leben, durch Ihre Weigerung verschärfen.“

Auch Frau Esther erhob sich. „Auch wir erkennen Ihr wohlwollendes Verhalten an, Herr Kreischef, aber ich muß und will es auf einen Strafbefehl ankommen lassen.“

Noch einmal versuchte es Ritter persönlich, sie von ihrer Weigerung abzubringen. Ja, er erbot sich, ihr einen erheblichen Betrag für die Anleihe zur Verfügung zu stellen und in ihrem Namen mit der Begründung zu zeichnen, daß seine Nachbarin augenblicklich über keine Mittel verfüge. Auch dieser Vorschlag wurde mit Dank, aber bestimmt abgelehnt. Die Folge war ein Strafbefehl, dessen Höhe deutlich zeigte, wie hoch man die Leistungsfähigkeit der alten Gnädigen einschätzte. Sie war entschlossen, die zwangsweise Eintreibung über sich ergehen zu lassen. Sie erfolgte jedoch nicht, weil Ritter, ohne daß Frau Esther vorher etwas davon erfuhr, die Summe bezahlte. Das tat er nicht nur im Interesse seiner Nachbarin, der er die wirtschaftliche Schädigung ersparen wollte, sondern auch mit Rücksicht auf Lubomierski, damit er nicht gezwungen war, gegen einen seiner Kreisinsassen mit Gewaltmaßregeln vorzugehen.

Der junge Beamte besaß einen viel weiteren Blick als die Machthaber in Posen und Warschau. Er hatte mit Recht darauf hingewiesen, daß sein Kreis, in dem der Großgrundbesitz in deutschen Händen vorherrschte, den weitaus größten Anteil an Getreide geliefert hatte. Vom Kleinbesitz, der sein Getreide verfütterte, war nichts zu holen. Deshalb hatte er auch nicht verhindern können, obwohl er in seinem Kreis wie ein kleiner König herrschte, daß die Enteignung von deutschen Ansiedlern betrieben wurde. Sie erhielten als Entschädigung für die 60 Morgen den lächerlich geringen Betrag von 1200 bis 1500 Mark, wovon noch eine erhebliche Emigrantensteuer abgezogen wurde, und verließen Haus und Hof, den sie in schwerer Arbeit erworben hatten, als Bettler.

Ein Vorgehen gegen den Großgrundbesitz in deutschen Händen, so wie es bereits in anderen Kreisen erfolgt war, hatte Lubomierski bis jetzt verhindern können. Das Verhalten der alten Gnädigen hätte leicht den Anlaß dazu geben können. Er vermutete wohl nicht mit Unrecht, daß Wolzlegier förmlich darauf lauerte. Und in seinem fanatischen Haß gegen seine ehemaligen Landsleute würde er der polnischen Regierung als brauchbares Werkzeug erscheinen. Zur Zeit hatte diese jedoch schwerere Sorgen.

Der Krieg war ausgebrochen und die russischen Truppen machten auf beiden Flügeln rasche Fortschritte. Besonders der Nordflügel drang so schnell vor, daß einige polnische Regimenter, um der Gefangenschaft zu entgehen, gezwungen waren, auf ostpreußisches Gebiet überzutreten. Ritter und die alte Gnädige erfuhren die Nachricht durch Robert. Ja, er wußte eines Tages zu berichten, daß die polnischen Regimenter, die sich aus Posen und Westpreußen rekrutierten und zum großen Teil aus ehemals deutschen Soldaten bestanden, die den Weltkrieg mitgemacht hatten, schwierig geworden waren, um nicht einen stärkeren Ausdruck zu gebrauchen, weil sie andauernd in der Front standen, während die aus Kongreß-Polen und Galizien stammenden Regimenter fast nie ins Feuer kamen.

Davon erfuhr man in Polen selbst so gut wie gar nichts, daß die Russen mit ihrem Nordflügel schon direkt vor Graudenz und Thorn standen. Ritter, der sich eines Tages vor Freude über die russischen Erfolge die Nase etwas begossen hatte, konnte nicht dichthalten, sondern kramte in der Weinstube die Neuigkeiten aus, die in der Gesellschaft große Erregung auslösten.

Der Starost, der noch nüchtern war, fragte, woher er diese Nachrichten habe, und als Ritter unvorsichtigerweise erwiderte, er habe sie drüben über der Grenze erfahren, erklärte er, Ritter würde gut tun, solche Nachrichten, die er für falsch hielte, für sich zu behalten, sonst müsse er ihm die Ausreiseerlaubnis entziehen.

Wolzlegier, der in derselben Weinstube an einem Nebentisch saß, horchte auf. Die Grenze wurde schärfer als je bewacht, weil viele Deutsche, die zum Heeresdienst eingezogen zu werden fürchteten, heimlich nach Deutschland zu entkommen versuchten. Und er wußte, daß Ritter schon seit drei Wochen nicht über die Grenze gefahren war. Woher hatte er also diese Nachrichten? Unterhielt dieser Polenfreund geheime Beziehungen nach Deutschland hinüber? Aber wie? Wenn er, Wolzlegier, dahinterkam, dann könnte er nicht nur dem Deutschen, sondern auch seinem Feind, dem Starost, einen vernichtenden Schlag versetzen.

Eine Woche später hatte sich das Kriegsglück gewendet. Die Mitte der polnischen Front hatte standgehalten. Der Nordflügel der Russen, der sich ohne Rücksicht auf Nachschub von Proviant und Munition zu weit vorgewagt hatte, wurde zum Rückzug gezwungen. Ja, der größte Teil der Nordarmee — etwa 52000 Mann — mußte, um nicht abgeschnitten zu werden, bei Johannisburg auf ostpreußisches Gebiet übertreten.

Ohne Zweifel hätte sich diese ansehnliche Macht auf ostpreußischem Boden festsetzen und dort erheblichen Widerstand leisten können. Aber nach den Rückschlag war bei den Russen eine Kriegsmüdigkeit ausgebrochen. Die Verbände hatten sich aufgelöst. Wie die Lämmer kamen die Russen, die meisten im Leinenanzug, abgerissen und barfuß, ohne Gewehre, die sie unterwegs fortgeworfen hatten, über die Grenze, die nur von unserem schwachen Grenzschutz besetzt war. Die Russen führten nur noch wenige leichte Geschütze und Maschinengewehre mit sich, aber um so mehr Wagen aller Art vom feinsten Landauer bis zum Panjewagen, auf denen Verwundete lagen und Weiber hockten. Nur zwei Regimenter Kubankosaken, die vorzüglich ausgerüstet und ausgezeichnet beritten waren, verweigerten beim Übertritt die Ablieferung ihrer Waffen und Pferde. In straffer Ordnung durchzogen sie die Steinstraße und Johannisburg bis in das Truppenlager von Arys, wo sie sich verschanzten und erst durch Hunger zur Übergabe gezwungen werden konnten. Die große Masse der Fußgänger lagerte sich in der ersten Nacht in der großen Heide, schlachtete Pferde, grub den ostpreußischen Bauern die Kartoffeln aus und zündete sich Feuer an, an denen sie sich ihr Mahl bereiteten. In der kleinen Stadt Johannisburg kauften sie alle Läden aus, in denen es Brot, Fleisch oder Schuhwerk gab, denn Geld aller Art besaßen sie. Oder sie zogen von Haus zu Haus und bettelten um Brot und Nachtlager. Denn zweimal am Tage wurden sie von einem heftigen Gewitterregen durchnäßt. Am nächsten Morgen zogen sie weiter nach Arys.

Die Nachrichten von diesem Erfolg wurden natürlich in Polen sofort bekanntgegeben. In stolzer Zuversicht hoben die Polen ihr Haupt, während bei den Deutschen die Hoffnung auf eine Erlösung durch die Russen schwand.

Zwölftes Kapitel

Nach dem Frieden von Riga am 18. März 1921 kannte der Übermut und die Verfolgungswut der Polen gegen die nationalen Minderheiten keine Grenzen mehr. Die Russen hatten ihre Ansprüche auf Ostgalizien aufgeben müssen.

Jetzt setzte dort die brutalste Knechtung der Millionen Ruthenen ein, denen zuerst die Schulen genommen wurden. Noch mehr waren den edlen Sarmaten die Deutschen verhaßt, deren Kultur und Wirtschaftslage zu den wertvollsten Besitztümern des jungen Staates gehörten. Staatsmännliche Klugheit hätte geboten, sie schonend und pfleglich zu behandeln. Das Gegenteil war der Fall. Mit besonderem Eifer zerstörten die Polen den deutschen Bauernstand. Tausende und aber Tausende gingen am weißen Stabe ins Elend, d.h. nach Deutschland, das nicht imstande war und auch keinen Eifer zeigte, die Verdrängten und Vertriebenen so weit zu unterstützen, daß sie sich eine neue Existenz schaffen konnten. Das hätte nur durch eine großzügige Siedlungspolitik geschehen können, von der Deutschland weiter denn je entfernt war.

Der siegreiche Krieg hatte die Zentralgewalt in Warschau gestärkt. Die Woywoden und Starosten, die meistens auf eigene Faust ihre Politik betrieben hatten, wurden straff an die Kandare genommen. Soweit sie gegen die Deutschen gerichtet gewesen war, wurde sie nicht nur gutgeheißen, sondern mit allem Nachdruck gefördert. Der widerstrebende Beamte, der eine schonende Behandlung der Minderheit für richtiger hielt, mußte sich ducken und kuschen.

So erging es auch Lubomierski. Eines Tages stellte sich Wolzlegier in einer neuen Würde vor. Er war zum Kommissar der Regierung ernannt worden, der die Aufgabe hatte, die Enteignung der deutschen Siedler und die Aufteilung der deutschen Güter vorzubereiten und durchzuführen. Es widerstrebte dem jungen Kreischef bei Amtshandlungen mitzuwirken, die seinem bisherigen Verhalten ins Gesicht schlugen. Er beantragte seine Versetzung, die ihm sehr schnell bewilligt wurde und fiel dabei die Treppe hinauf. Er wurde als Rat in die Regierung nach Posen berufen, wodurch er sozusagen kaltgestellt war.

Mit der Nachricht erschien er eines Tages in Strelkau, um sich zu verabschieden. Ritter, der es schon erfahren hatte, empfing ihn mit großer Freundlichkeit. Er wünschte ihm Glück zu der Beförderung, sprach aber gleichzeitig sein Bedauern über sein Scheiden aus.

„Ich kann Ihnen nur beistimmen,“ erwiderte Lubomierski freimütig, „wenn Sie meinen Weggang bedauern. Mein Nachfolger hat ohne Zweifel die Aufgabe, eine andere Tonart gegen die Deutschen anzuschlagen. Er wird mit dem neugebackenen Regierungskommissar, Herrn Wolzlegier, Hand in Hand gegen die Deutschen weiter vorgehen.“

„Wissen Sie schon, wer Ihr Nachfolger sein wird?“ fragte Gertrud, die Likör und Wein gebracht hatte.

„Ich glaube zu wissen, daß es ein Techniker Sznayda sein wird, dessen Verdienst darin besteht, daß sein Großvater, der früher Schneider hieß, ein polnischer General in der Revolutionszeit gewesen ist.“

„Also auch ein Renegat,“ meinte Ritter.

„Das könnten Sie in diesem Fall nicht sagen,“ erwiderte Lubomierski. „Es gibt auch unter den Deutschen viele mit echt polnischen Namen, wie z. B. Frau Dalkowski auf Hartenau, deren Vorfahren vor einigen Generationen ihre Nationalität gewechselt haben. Wie geht es übrigens Herrn Dalkowski?“

„Soweit wir unterrichtet sind,“ erwiderte Ritter, „gesundheitlich ganz gut. Jetzt lernt er auf meinem Gut in Werben die Landwirtschaft.“

„Könnte der Herr nicht einen anderen Beruf wählen?“ fragte Lubomierski.

„Weshalb denn?“

„Er wird wohl kaum in die Lage kommen, Hartenau zu bewirtschaften.“

Ritter gab seiner Tochter einen Wink, sie allein zu lassen, indem er sie bat, für das Abendbrot zu sorgen. Herr Lubomierski werde hoffentlich die Einladung nicht ausschlagen, den Abend ihnen zu schenken. Als Trudchen gegangen war, fragte Ritter eindringlich: „Glauben Sie wirklich, daß man so scharf und schroff gegen uns vorgehen wird?“

„Gegen Sie vielleicht nicht, wenn Sie recht kräftig mit dem Daumen wackeln.“

Herr Ritter schnitt ein Gesicht. „Das wird ein sehr saurer Apfel werden, in den ich beißen muß. Und Sie meinen, der neue Kreischef wird für eine Lapowka empfänglich sein?“

„Soviel ich gehört habe, sehr! Aber er soll nicht billig sein. Der alten Dame in Hartenau wird es wohl bald sehr schlecht gehen. Der frühere Agent, Herr Wolzlegier, wird sich dafür rächen, daß sie ihn bei seinem mißglückten Anschlag auf ihren Enkel so schlecht behandelt hat. Ihnen möchte ich raten, einige Außenschläge freiwillig dem Herrn Kommissar anzubieten. Das würde die alte Gnädige in Hartenau wahrscheinlich nicht tun. Es hätte auch keinen Zweck. Der Wolzlegier geht aufs Ganze.“

Ritter wiegte den Kopf hin und her. „Das wird viel böses Blut machen, und es ist auch — verzeihen Sie unter vier Augen das harte Wort — das Dümmste, was Ihre Regierung tun kann, wenn sie die Deutschen verdrängt. Es liegen doch schon die Beweise vor, daß bei Ihren Siedlern, die Sie einsetzen, sofort das beginnt, was wir polnische Wirtschaft zu nennen pflegen. Der Acker wird liederlich bestellt und wenig gedüngt, das Vieh verkommt in Schmutz.“

Lubomierski wurde rot und zuckte die Achseln. „Ich kann Ihnen leider nicht unrecht geben, aber der Haß meiner Landsleute gegen die Deutschen kennt keine Grenzen.“

Ritter lachte kurz und hart auf. „Ja, leider. In meinen Ohren klingen noch die Lieder wider, die mein Vater zur Laute sang: `Denkst du daran, mein tapferer Lagienka?' Nirgends hat der Pole wohl unter der russischen Knechtschaft so viel Sympathie gefunden wie in Deutschland. Und wer hat Ihnen denn den neuen Staat geschaffen? Unser damaliger Reichskanzler, der aller staatsmännischen Einsicht bar war wie alle Männer, die damals bei uns in der Regierung saßen. Er wollte einen Pufferstaat zwischen Deutschland und Rußland schaffen. Zwischen Rußland, das auch unter dem Sowjet unser natürlicher Verbündeter wäre und sein müßte. Er ließ sich von den Österreichern betölpeln und verführen, die sich mit der kindischen Hoffnung trugen, das neue Polenreich sich einzuverleiben. Verzeihen Sie, Herr Lubomierski, diesen Ausbruch meiner Gefühle. Ich wollte Ihnen nicht weh tun.“

„Sie tun mir gar nicht weh, Herr Ritter,“ erwiderte der junge Mann. „Meine hohen Verwandten, die, wie Sie aus meinem Namen entnehmen können, Königsblut in ihren Adern tragen, wenn der Ursprung auch nicht gerade rühmlich ist, gehören wie ich der Aktivistenpartei an, die von vornherein für ein enges Zusammengehen mit Deutschland gewesen ist. Vielleicht ringt sich bei uns noch mal die Erkenntnis durch, aber erst, wenn es zu spät sein wird.“

„Der Fehler war bei Friedensschluß mit Rußland noch wieder gutzumachen, wenn unsere Militärpartei nicht so verblendet gewesen wäre. Wir brauchten den Russen nur Polen wiederzugeben. Aber das hat jetzt keinen Zweck mehr, die Fehler der Vergangenheit zu bejammern. Ich wünschte nur, Ihr Staat hätte viele so vernünftige Beamten wie Sie und Ihre Partei käme bald an die Regierung. Auf jeden Fall danke ich Ihnen, wie ich wohl sagen darf, auch im Namen meiner Landsleute, die Sie mit Bedauern scheiden sehen.“

Er stand auf und schüttelte dem jungen Mann die Hand. Über das Gesicht des Kreischefs flog eine leichte Röte.

„Ich danke Ihnen herzlich für Ihre Anerkennung, aber, Herr Ritter, ich bin noch in Ihrer Schuld. Sie haben mir öfter mit großen Beträgen beim Jeuen ausgeholfen. Ich bin augenblicklich nicht in der Lage, Ihnen die Summe wieder zurückzugeben.“

„Wollen Sie mich zum Abschied noch erzürnen?“ erwiderte Ritter mit grimmiger Miene. „Die Kleinigkeiten sind reichlich damit abgegolten, was Sie mir in dieser Zeit an Gefälligkeiten erwiesen haben. Da stehe ich noch reichlich in Ihrer Schuld. Bitte, kein Wort weiter darüber!“ Lächelnd fügte er hinzu: „Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich sage, daß ich jetzt nicht so billig wegkommen werde.“ Er hob sein Glas und stieß mit dem jungen Mann an. „Und vergessen Sie uns nicht ganz, Herr Lubomierski. Sie werden in Posen tiefer in das innere Getriebe der polnischen Politik hineinsehen als hier. Dann rechne ich darauf, daß ich mir bei Ihnen mal eine gute Auskunft und Rat einholen kann.“

„Das ist selbstverständlich, Herr Ritter.“

Sie hatten es beide gehört, daß ein Wagen auf den Hof rollte, und wandten sich zum Fenster. Ein eleganter Landauer, mit zwei Oldenburger Rappen bespannt, fuhr vor, und heraus stieg Herr Kommissar Wolzlegier.

„Das ist doch schon eine Beute aus seiner neuen Tätigkeit,“ rief Ritter und eilte hinaus auf die Diele, um den Herrn Kommissar zu empfangen. Mit tiefer Verbeugung begrüßte er den neuen Gast. „Herzlich willkommen, Herr Kommissar. Der aufgehende Stern trifft den untergehenden. Herr Lubomierski ist hier, um sich zu verabschieden. Bitte, treten Sie näher.“ In Ritters freundlicher Miene war kein Arg zu lesen. Er öffnete die Tür zum Wohnzimmer, wo sich die beiden Polen mit einer gemessenen Verbeugung begrüßten.

„Der Herr Kreischef oder, wie man wohl schon sagen muß, Herr Regierungsrat hat mir die Ehre erwiesen, meine Einladung zum Abendbrot anzunehmen. Darf ich hoffen, daß auch Herr Kommissar mir die Ehre antun werden?“

„Ich werde Ihre Einladung annehmen, wenn Sie sich unserer Sprache bedienen wollen,“ erwiderte Wolzlegier in unhöflichem Tone.

„Wie Sie wünschen,“ gab Ritter auf polnisch zurück. „Aber ich bitte, Rücksicht zu nehmen, ich spreche nicht so gut polnisch wie Sie deutsch.“

Der Kommissar schien die versteckte Bosheit nicht zu empfinden, während Lubomierski sich umwandte, um sein Lächeln zu verbergen. Ohne Umstände warf sich der Herr Kommissar in einen Sessel und streckte die Beine von sich. Inzwischen hatte ein Mädchen frische Gläser gebracht, die der Hausherr füllte. „Ich erlaube mir, Sie freundlichst zu begrüßen. Was verschafft mir das Vergnügen Ihres Besuches?“

„Keine besondere Veranlassung. Ich wollte nur ein Viertelstündchen mit Ihnen plaudern. Sie sind über alle Vorgänge in der Welt immer so gut unterrichtet, daß man von Ihnen mehr erfährt als Beamte von unserer Regierung.“

Gertrud, die eingetreten war, um zum Essen zu bitten, durchzuckte ein plötzlicher Argwohn. Sie erinnerte sich an einen Abend, als Ihr Vater etwas angeheitert aus der Stadt kam, da hatte er ihr lachend erzählt, daß er die Herren Polen durch die Nachricht der polnischen Niederlage in Erstaunen gesetzt hätte. Das schien den Kommissar mißtrauisch gemacht zu haben.

„Mein Vater liest drüben, wenn er in Werben ist, deutsche Zeitungen und pumpt sich voll Neuigkeiten, die er immer noch hier los wird, wenn sie auch schon reichlich alt sind,“ fiel sie lachend ein. „Aber nun bitte ich zu Tisch.“

Wolzlegier sprach dem guten Rotwein, den Ritter ihm fleißig einschenkte, eifrig zu und wurde bald etwas redselig. Er sagte zuerst Gertrud faustdicke Schmeicheleien über ihre Kochkunst, während Lubomierski einsilbig neben ihr saß und sich über ihn ärgerte. Schließlich begann der Kommissar in brutaler Weise zu prahlen. Er werde im Kreise jetzt gründlich aufräumen und reinen Tisch machen, wie es von der Regierung angeordnet worden sei. Erst kämen die deutschen Siedler und Bauern heran, sie hätten gar keinen Nutzen für den Staat. Sie hätten während des Krieges kein Getreide und wenig Vieh geliefert. Dann kämen die Großgrundbesitzer an die Reihe.

Man hörte ihm schweigend zu, um ihn nicht zu reizen. Bald nach dem Abendbrot verabschiedete sich Lubomierski und nötigte dadurch auch den Kommissar zum Aufbruch. Während dieser noch um einen Kognak bat und erhielt, reichte der junge Mann Gertrud die Hand. „Werden Sie mir ein freundliches Andenken bewahren, gnädiges Fräulein?“

„Ja, Herr Lubomierski. Wir werden immer freundlich an Sie denken. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.“ Er beugte sich über ihre Hand und küßte sie mit innigem Druck seiner Lippen.

„Ich habe Ihnen auch sehr viel zu danken, und ich bitte noch um eins. Wenn Ihr Herr Vater einen Rat braucht, werde ich ihm stets zu Diensten stehen. Vielleicht kann ich ihm auch einmal einen Dienst erweisen. Vergessen Sie mich nicht ganz. Ich werde Sie nie vergessen. Ich nehme Ihr Bild in meinem Herzen mit mir.“

Als die Gäste weg waren, teilte Gertrud ihrem Vater ihre Befürchtungen mit, daß der Kommissar eine geheime Verbindung zwischen Strelkau und Werben argwöhne. Ritter tat ihre Worte mit einer Handbewegung ab. „Da kann er lange suchen, bis er dahinterkommt. Ich habe jetzt andere Sorgen. Der Sznayda soll ein ganz fanatischer Bursche sein. Ich muß trotzdem an ihn heranzukommen versuchen. Die Lapowka, die er nimmt, wird wohl nicht ganz klein sein dürfen. Der Kommissar wird billiger sein. Ich werde morgen in die Stadt fahren und freiwillig meine Außenschläge zur Besiedlung anbieten. Wahrscheinlich werde ich auch abends dem Wolzlegier die Gurgel mit Rotwein vollgießen müssen.“

Gertrud umfaßte ihn und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Beschwips' dich aber nicht dabei und plaudere keine Nachrichten aus.“

Mit Nachrichten, die den polnischen Beamten neu und interessant sein mußten, war Ritter reichlich geladen, denn Trudchen, die täglich mit Werben sprach, ließ sie sich von Robert mitteilen, der stets schon sehnsüchtig am Fernsprecher auf ihre Stimme wartete. Er hatte große Sehnsucht nach der Großmutter und noch mehr nach Trudchen. Er wollte gerne, wenn auch nur für ein oder zwei Tage, zu Besuch nach Hause kommen. Der Krieg sei doch zu Ende und siegreich für Polen verlaufen. Nun werde man wohl kein zu großes Gewicht darauf legen, daß er polnischer Offizier würde.

Als er fast jeden Tag auf diesen Gedanken zurückkam und schließlich die Absicht aussprach, im geheimen über die grüne Grenze zu kommen, teilte ihm Trudchen mit, was sie ihm bisher absichtlich verschwiegen hatte, daß er noch am Tage seiner Abreise von dem Agenten verhaftet worden wäre, wenn er noch in Hartenau gewesen wäre. Auf ihre Bitte versprach er ihr, den Gedanken aufzugeben und sein Heimweh zu bezwingen.

Ritter kam am nächsten Abend recht spät nach Hause. Er hatte dem Kommissar die freiwillige Abtretung seiner Außenschläge angeboten und mit ihm einen gewichtigen Händedruck gewechselt, ehe er ihn in die Weinkneipe führte. Dort erschien auch Lubomierski mit seinem Nachfolger, der sich beim Wein ganz umgänglich zeigte und Ritter versicherte, man wisse seine Polenfreundlichkeit zu schätzen. Ja, er versprach einen baldigen Besuch in Strelkau, wenn er die Geschäfte übernommen habe. Der bisherige Kreischef hielt sich völlig zurück. Er hatte das Gefühl, daß er von den beiden trotz seiner Beförderung als gefallene Größe und abgetan betrachtet wurde.

Was Ritter für die alte Gnädige befürchtet hatte, trat bald ein. Eines Tages erschien der Kommissar mit einem Stab von Helfern und Meßgeräten und teilte das Gutsgelände in der Größe von Bauernstellen ein. Er hielt es nicht für nötig, die Gutsherrin von diesem Vorgang zu benachrichtigen. Der alte Vogt erschien in großer Aufregung mit der Meldung. Ob man sich das gefallen lassen müßte? Frau Esther beruhigte ihn und nahm ihm das Versprechen ab, sich nicht um die polnische Gesellschaft auf dem Felde zu kümmern. Am nächsten Morgen erhielt sie von dem neuen Kreischef den schriftlichen Befehl: die Inschrift „früher Hartenau“ auf ihrer Ortstafel unverzüglich zu entfernen, widrigenfalls sie in Strafe genommen werden würde.

Trudchen mußte auf ausdrücklichen Wunsch der alten Gnädigen diese Tatsache Robert mitteilen, mit der dringenden Bitte, nicht nach Hause zu kommen, er könne ihr doch nicht helfen. Sie werde sich bis zum Äußersten wehren. Seine Rückkehr würde die Gefahr vergrößern. Erst als Trudchen von sich aus die Mahnung wiederholte und ihn bat, sich nicht in Gefahren zu begeben, er müsse sich der Großmutter erhalten, versprach er schweren Herzens, nicht nach Hause kommen zu wollen. Sie dürfe ihm jedoch nichts verheimlichen, was sie ihm auch versprach.

Dreizehntes Kapitel

Es war, wie Ritter behauptete, als wenn das Wetter im Himmel von einem kleinen Jungen gemacht würde, der nichts von der Landwirtschaft verstand. Im Frühjahr hatte nasse Kälte das Emporkommen der Saaten verzögert, dann setzte ein Ostwind ein, der wochenlang mit unverminderter Stärke wehte. Mit Unterstützung der Sonne, die Tag für Tag über den wolkenlosen Himmel wanderte, dörrte er das Erdreich so aus, daß er große Staubwolken vor sich hertrieb. Endlich, als das Getreide schon anfing gelb zu werden, kamen ein paar warme Regentage.

Die Landwirte begannen wieder zu hoffen, denn das Getreide erholte sich überraschend schnell, trieb die Ähren hervor und blühte. Aber kaum hatte es Körner angesetzt, als es vom Himmel zu gießen begann. Mit und ohne Gewitter entluden sich wahre Wolkenbrüche. Schon nach wenigen Tagen lag das Getreide wie angewalzt auf dem Boden. Ein starker Wind hätte es wieder aufgerichtet, als endlich die Regentage aufhörten. Aber es war, als wenn auf der ganzen Welt keine Nase voll Wind mehr vorhanden war. Unbeweglich stand die feuchte, schwüle Luft. Bald begann das lagernde Getreide zu faulen.

Es konnte kein Zweifel mehr daran sein, daß eine völlige Mißernte bevorstand. Selbst das Heu, das mit vieler Mühe hereingebracht worden war, roch dumpfig. Mit schweren Sorgen fuhr die alte Gnädige mit ihrem Wägelchen auf dem Felde umher. So etwas war ihr in ihrem langen Leben noch nicht vorgekommen. Sie mußte sich sagen, daß sie, selbst wenn das Sommergetreide noch etwas brachte, nicht so viel ernten würde, wie sie für ihre Leute und ihr Vieh brauchte. Auch ihr Vogt war derselben Ansicht. Das plattgewalzte Getreide ließ sich nicht mit der Maschine mähen, und es mit der Sense abzuhauen, dazu fehlte es an Arbeitskräften. Ja, es war fraglich, ob es sich überhaupt lohnte, das Getreide vom Felde in die Scheune zu bringen.

Da weite Strecken des Landes von demselben Wetter betroffen waren, also auch viele kleinere Landwirte, die wirtschaftlich völlig von dem Ausfall der Ernte abhingen, mußte man mit einer allgemeinen Not rechnen, die sich von Monat zu Monat verschärfen würde. Auf Hilfe war nicht zu hoffen. Denn von wem sollte sie kommen? Von der Regierung? Die wußte ja selbst nicht, wie sie sich über Wasser halten sollte. Und wenn nun noch erhebliche Steuerbeträge ausfielen und auf keine Weise einzutreiben waren, dann würde es noch schlimmer werden. Die Franzosen mußten wieder pumpen. Aber, was verschlugen die Millionen, wenn Polen für den größten Teil des Geldes minderwertiges Kriegsmaterial geliefert erhielt?

Es war der alten Gnädigen in dieser schweren Zeit eine Beruhigung und ein Trost, daß sie sich zu Trudchen aussprechen konnte. Sie erschien regelmäßig am Vormittag, wenn sie mit Robert gesprochen hatte, und brachte Grüße von ihm. Nach dem Kaffee kam sie wieder und blieb bis zum Abend. Ihr Vater vermißte sie nicht, denn er fuhr fast jeden Tag in die Stadt, wo er eifriger als je mit den Polen verkehrte, und er brachte immer Neuigkeiten mit, die Trudchen ihm am nächsten Morgen entlockte.

Sehr oft sprach Frau Esther von ihrem Enkel. Sie wußte, daß das liebe Mädchen Robert in ihr Herz geschlossen hatte. Sie hatte ihn nicht nur gern, sondern sorgte sich um ihn. Sollte sie Robert gleichgültig sein? Die alte Frau spann oft und gern diesen Gedanken aus, aber sie hütete sich, auch nur mit einem Wort ihre geheimen Wünsche zu verraten. Solche Dinge mußten, wie sie richtig meinte, in der Stille reifen, sie vertrugen keine vorzeitige Berührung. Wie leicht konnte sie das innige Freundschaftsverhältnis, das sie mit diesem lieben Mädel verband, stören?

Spätabends, wenn Trudchen nach Hause gegangen war, setzte sich Frau Esther noch an ihren Schreibtisch und rechnete. Dann erschien regelmäßig der Vogt, um mit ihr die Arbeitsverteilung für den nächsten Tag zu besprechen. Der große starke Mann war in den letzten Wochen sichtlich verfallen. Das graue Haar war schlohweiß geworden. Kummer und Sorge hatten es gebleicht, und noch mehr zehrte die Ungewißheit über den Verbleib und das Schicksal seines einzigen Jungen an ihm. In sich zusammengesunken saß er still auf einem Stuhl an der Tür und wartete, bis seine Herrin das Wort an ihn richtete. Der alte Mann besaß ein ruhiges, sicheres Urteil. Sie konnte ihm in jeder Hinsicht vertrauen und alles mit ihm besprechen. Sie verschwieg ihm nicht, daß es ihr unmöglich erschien, die Leute den Winter über durchzuhalten. Wenn das Getreide keine Einnahmen brachte, dann fehlte das Geld für die Löhne. Auch das Deputat an Getreide und Mehl würde kaum bis Weihnachten reichen. Für die Herbstbestellung müßte neues Saatgut gekauft werden. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als einen großen Teil ihres wertvollen Viehbestandes so schnell wie möglich zu verkaufen.

Der Vogt widersprach. Das wäre eine Sünde, das schöne Vieh zu Schleuderpreisen zu verkaufen. Die Rübenernte würde gut ausfallen, auch der zweite Schnitt Klee werde so viel bringen, daß sie das Vieh bis zum Frühjahr durchfüttern könnten.

Zu diesen neuen Sorgen kamen noch die alten. Eines Abends brachte der Vogt die Nachricht, der Lehrer habe ein amtliches Schreiben vom Kreisamt erhalten, worin ihm verboten werde, die deutschen Kinder zu unterrichten. Am nächsten Morgen erschien der Lehrer selbst mit dem Schreiben und fragte die alte Gnädige um Rat, ob er sich diesem Befehl widerspruchslos fügen müßte.

„Es wird Ihnen wohl nichts anderes übrigbleiben,“ erwiderte Frau Esther. „Auch ich hatte heute ein Schreiben erhalten, wonach alle Kinder der polnischen Schule zugewiesen werden. Wenn wir uns nicht fügen, werden die Kinder zwangsweise der polnischen Lehrerin zugeführt.“

„Gibt es keine Gerechtigkeit auf Erden mehr?“ rief der Lehrer aus. „Dürfen beschworene Verträge von diesem brutalen Volk mit Füßen getreten werden? Wissen Sie, gnädige Frau, worin die Tätigkeit dieser polnischen Lehrerin besteht? Sie läßt die Kinder Haßgesänge gegen Deutschland auswendiglernen und singen. Ist das nicht himmelschreiendes Unrecht, das Gemüt unserer Kinder in dieser Weise zu vergiften?“

Gegen Mittag erschien Trudchen mit der Nachricht, daß auch die Strelkauer deutschen Kinder der polnischen Schule in Hartenau zugewiesen seien. Der Vater sei wütend, er rate aber, den Befehl auszuführen. Er werde morgen nach Posen fahren und versuchen, die Anordnung rückgängig zu machen, habe jedoch wenig Hoffnung, daß es ihm gelingen werde. Die polnische Regierung ginge systematisch darauf aus, die deutsche Unterrichtssprache zu vernichten.

Es kam so, wie Ritter vermutet hatte. Er hatte in Posen Lubomierski aufgesucht, um sich von ihm eine Empfehlung an den betreffenden Dezernenten der Regierung geben zu lassen. Die Bitte wurde ihm rundweg abgeschlagen. Das habe gar keinen Zweck. Er würde sich nur mißliebig machen und die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich lenken.

Acht Tage später wurde der Lehrer ausgewiesen, weil er entgegen dem Verbot noch weiter deutsche Kinder unterrichtet habe. Das war richtig. Er hatte zwei begabte Knaben, die Lehrer werden wollten, in seiner Wohnung abends für die Präparandenanstalt vorbereitet. Frau Esther versah ihn mit etwas Geld. Auch Ritter schickte durch Trudchen einen ansehnlichen Betrag. Frau und Kinder sollten vorläufig in Hartenau bleiben, bis er in Deutschland eine Anstellung oder eine Beschäftigung gefunden haben würde. Das war nur das Vorspiel. Wenige Tage danach wurde die alte Gnädige auf das Kreisamt vorgeladen. Sie konnte beim besten Willen keinen Grund für diese Vorladung ausfindig machen, aber ihr mußte Folge geleistet werden. Als sie auf dem Amt erschien, wurde sie in das Wartezimmer gewiesen, das von polnischen Bauern und Arbeitern überfüllt war. Der Raum war von einem übelriechenden dicken Qualm erfüllt, denn fast jeder rauchte eine kurze Pfeife oder drehte sich Papieroßen aus Machorka, der übelsten Tabaksorte, die es gibt. Sie prallte zurück und bat einen Beamten, ihr ein anderes Zimmer anzuweisen. Als er es in barschem Tone ablehnte, entschloß sie sich zu einer Lapowka, die ihr die Erlaubnis verschaffte, auf dem Flur stehenzubleiben. Sie mußte sich noch zu einem zweiten Händedruck entschließen, der ihr Einlaß zum Kreischef verschaffte. Er empfing sie mit einer Höflichkeit, die sie nicht erwartet hatte, und bot ihr einen Stuhl an.

„Ich möchte Ihnen, gnädige Frau, einen Wunsch aussprechen und die Erfüllung nahelegen.“ Auf ihren fragenden Blick fuhr er fort: „Ich möchte Ihnen empfehlen, freiwillig für Deutschland zu optieren.“ Die alte Gnädige schüttelte verwundert den Kopf.

„Wie komme ich dazu? Ich bin polnische Staatsangehörige geworden und gedenke es zu bleiben.“

„Es würde in Ihrem Interesse liegen, meiner Anregung Folge zu leisten,“ erwiderte der Kreischef mit verbindlicher Miene.

Frau Esther zuckte die Achseln. „Der Zweck, den sie dabei verfolgen, bleibt mir durchaus unverständlich.“

„Sie werden ihn sofort erfahren, gnädige Frau. Die Regierung hat die Absicht, Twardowo aufzuteilen, man würde Ihnen weit entgegenkommen, wenn Sie uns durch Ihre Option die Verhandlungen erleichtern wollten.“

„Sie haben sich damit an die falsche Adresse gewandt,“ erwiderte Frau Esther ruhig. „Hartenau gehört nicht mir, sondern meinem Enkel, der sich augenblicklich zur Wiederherstellung seiner Gesundheit in Deutschland aufhält.“

Der Kreischef lächelte boshaft. „Die Ausreiseerlaubnis ist unter einem falschen Vorwand erschlichen. Wir sind genau darüber unterrichtet, daß sich Ihr Enkel gar nicht in das Bad Altheide begab, sondern sich seit seiner Ausreise auf einem Gut dicht an der polnischen Grenze aufhält. Wir wissen auch, daß seine Gesundheit nichts zu wünschen übrigläßt. Da somit der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande hinfällig geworden ist, wird er gut daran tun, sobald als möglich zurückzukehren.“

Frau Esther erschrak bei diesen Worten, sie beherrschte sich jedoch und erwiderte ruhig: „Es ist richtig, daß der Gesundheitszustand meines Enkels sich gebessert hat, deshalb hat er sich entschlossen, auf dem Gut, wo er sich jetzt befindet, längere Zeit zu bleiben und die Landwirtschaft zu erlernen, um Hartenau dann selbst übernehmen zu können.“

„Das widerspricht den Voraussetzungen, unter denen ihm die Ausreise und der Aufenthalt in Deutschland gestattet worden ist. Er wird gut tun, sehr bald zurückzukehren. Andernfalls würde er für fahnenflüchtig erklärt werden.“

„Fahnenflüchtig?“ fragte Frau Esther scharf. „Wie kann mein Enkel für fahnenflüchtig erklärt werden?“

„Er hat sein Ehrenwort gegeben, sich nach Wiederherstellung seiner Gesundheit in das polnische Heer zu stellen.“

Jetzt konnte die alte Frau ihre Erregung nicht mehr verbergen. Ihre Stimme bebte. „Das muß ein Irrtum sein. Das hat mein Enkel nicht getan. Er hat das Ansinnen ausdrücklich mit Hinweis auf seine Gesinnung abgelehnt.“

„Wenn das zutrifft, was Sie sagen, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln, dann wird das für meinen Vorgänger böse Folgen haben, denn er hat Ihrem Enkel zur Flucht ins Ausland verholfen. Die Folgen könnten nur dann ausbleiben, wenn Ihr Enkel sehr bald zurückkehrt und sich stellt.“

Frau Esther erhob sich. „Ich werde ihn über diese Sachlage unterrichten, habe jedoch keinen Einfluß auf seine Entschließung. Die von Ihnen geforderte Option lehne ich nach wie vor ab.“

Ihr kaum merkliches Kopfnicken erwiderte der Kreischef mit einer Verbeugung.

Als Trudchen eine Stunde später in Hartenau erschien, saß die alte Frau am Schreibtisch. Das Gesicht sah wie erstarrt aus. Die Hände lagen regungslos im Schoß, vor ihr lag ein angefangener Bries. Trudchen schmiegte sich an sie. „Großchen, was ist vorgefallen, was hast du auf dem Kreisamt erfahren?“

Da legte die alte Frau ihre Arme um sie und zog sie an ihre Brust, die von verhaltenem Schluchzen bebte. „Etwas sehr Schlimmes, mein Kind. Ich wollte es Robert schreiben, es wäre aber besser, wenn ich ihn sprechen und es ihm mündlich sagen könnte. Wird das möglich sein?“

„Aber selbstverständlich, Großchen. Ich gehe voraus und werde die Verbindung herstellen, du kommst gleich nach. Der Vater ist nicht zu Hause. Betrifft es Robert? Was will man von ihm? Man kann ihm doch nichts anhaben.“

„Du wirst alles erfahren, wenn ich mit Robert spreche.“

Als Frau Esther eine Viertelstunde später in Strelkau erschien, war die Verbindung schon hergestellt. Robert wartete schon am Fernsprecher. Die Großmutter erzählte ihm möglichst wortgetreu ihre Unterredung mit dem Kreischef. Erst nach einer Weile fragte Robert, ob sie glaubte, daß Lubomierski sich das Märchen von seinem Ehrenwort ersonnen habe, um die Ausreiseerlaubnis zu rechtfertigen.

„Das ist nicht ganz ausgeschlossen,“ erwiderte Frau Esther, „aber das geht uns ja gar nichts an. Wenn der junge Mann wirklich das Märchen in die Welt gesetzt hat, mag er auch die Verantwortung dafür tragen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Sznayda sich das Märchen aus den Fingern gesogen hat, um mich damit zu ängstigen.“

„Steht Trudchen neben dir, wie ich vermute?“ fragte Robert, „dann soll sie mir ihre Meinung sagen.“

Gertrud nahm das Hörrohr. „Ich stimme völlig mit Großchen überein. Es ist völlig gleichgültig, wer dir das Ehrenwort angedichtet hat. Von Lubomierski finde ich es abscheulich, wenn er es getan hat. Ich möchte es ihm kaum zutrauen.“

„Hältst du es unter diesen Umständen nicht für richtig, wenn ich sofort nach Hause komme?“

„Nein, das wäre das Dümmste, was du tun könntest. Großchen wird es dir auch gleich sagen. Deine Rückkehr kann ihr auch nichts helfen, sondern nur schaden.“

Frau Esther nahm das Hörrohr. „Trudchen hat recht, mein Junge. Ich verbiete dir, nach Hause zu kommen. Dank' du Gott, daß du in Sicherheit bist.“

„Aber wenn ich mich zum Eintritt in das polnische Heer stellen möchte?“

„Das wäre Wahnsinn. Man wird dich nicht mehr in das Heer einstellen, selbst nicht mal als Gemeinen. Man wird dich verhaften und du wirst ebenso verschwinden wie der Joseph. Also mach' mir keine Dummheiten und bürd' mir nicht eine neue große Sorge auf. Ich will dir ganz offen sagen, daß ich mich vor der Aufteilung unseres Gutes nicht fürchte. Die Ernte ist so schlecht ausgefallen, daß es mir wahrscheinlich nicht möglich sein wird, Hartenau zu halten. Es ist auch ganz ausgeschlossen, daß ich es jetzt verkaufen könnte. Wenn der Staat es mir abnimmt, muß er mir wenigstens etwas zahlen. Ich werde mich noch mit Nachbar Ritter besprechen und dir durch Trudchen weitere Nachricht zugehen lassen.“

Vierzehntes Kapitel

Der Kreischef hatte in seinem blinden Eifer seine Befugnisse überschritten. Er konnte amtlich gegen die Besitzerin von Hartenau nichts unternehmen. Er brauchte dazu einen Mittelsmann, der mit einem Kaufangebot an sie herantrat. Der war augenscheinlich nicht aufzutreiben, denn dazu gehörte immerhin ein bedeutendes Kapital, weil der Käufer verpflichtet war, den Unterschied zwischen dem Kaufpreis und der amtlichen deutschen Schätzung des Gutes zu hinterlegen, wodurch sich die polnische Regierung gegen die Nachforderungen, die durch das Auswärtige Amt in Berlin erfolgten, sicherte.

Ritter hatte dem Kreischef das Konzept verdorben. Er erzählte in der Stadt, jedem, den er traf, von dem Vorstoß gegen Frau Dalkowski. Er verbreitete auch die Nachricht, die alte Gnädige habe sich sofort mit einer Beschwerde an das Auswärtige Amt nach Berlin gewandt. Das war zwar nicht der Fall, aber Ritters Eingreifen hatte doch die Wirkung, daß Frau Dalkowski unbehelligt blieb. Herr Sznayda schien eingesehen zu haben, daß er sich zu weit vorgewagt hatte.

Im ganzen Kreis entstand eine Aufregung, als man erfuhr, daß der Starost durch die Bedrohung mit der Enteignung Frau Esther zu nötigen versucht hatte, für Deutschland zu optieren. Auf diesem Wege konnte man ja alle Deutschen vertreiben und ihren Grundbesitz enteignen.

Die Mißernte und die heftige Aufregung ließen in Frau Esther den Gedanken aufkeimen, ob sie nicht gut daran täte, den bösen Handel, in dem sie verstrickt war, dadurch zu beschleunigen, daß sie wirklich für Deutschland optierte. Ritter, der durch Trudchen von dieser Absicht erfuhr, riet dringend ab. Das gäbe nur ein böses Beispiel. Ein Käufer werde sich wegen der Mißernte wohl schwerlich finden lassen. Auch Robert, der von Trudchen unterrichtet worden war, ließ die Großmutter bitten, auszuhalten und abzuwarten.

Er verschwieg jedoch, daß er mit der Absicht kämpfte, zurückzukehren. Der Gutsverwalter Maschke, mit dem er darüber sprach, redete ihm zu. Er dürfe Lubomierski nicht im Stich lassen, der sich so edelmütig gegen ihn benommen und sich selbst gefährdete, als er Robert die Ausreiseerlaubnis erteilte. Daß er sich durch das Märchen von dem Ehrenwort zu schützen versucht habe, könne man ihm nicht übelnehmen.

Robert ahnte nicht, daß der Mann ihn weghaben wollte, weil er ihm unbequem war. Er hatte bis dahin etwas in die eigne Tasche gewirtschaftet und war jetzt durch Roberts Anwesenheit daran gehindert. In geschickter Weise wirkte er Tag für Tag auf Robert ein, um ihn in seiner Absicht zu stärken. Seine Rückkehr und der Eintritt in das polnische Heer seien das einzige Mittel, der alten Gnädigen Ruhe und Sicherheit zu verschaffen. Als Robert darauf erwiderte, er würde dadurch seine Großmutter in ihren heiligsten Gefühlen aufs tiefste verletzten, meinte er: Paris wäre eine Messe wert gewesen und Hartenau jedenfalls dieses Opfer. Nach ein oder zwei Jahren könne sich bei Robert die alte Krankheit wieder einstellen und ihn nötigen, seinen Abschied zu nehmen.

Eines Tages brachte Ritter die Nachricht aus der Stadt mit, daß sich ein Käufer für Hartenau gefunden habe. Woher der Mann, ein adliger, polnischer Hungerleider, die Mittel habe, sei ihm ein Rätsel. Er vermute, daß dahinter nicht nur ein reicher Geldmann, sondern auch die Regierung stände, der viel daran gelegen wäre, in den geschlossenen deutschen Grundbesitz des Kreises eine Bresche zu schlagen.

Als Trudchen am nächsten Tage Robert diese Nachricht mitteilte, erwiderte er in energischem Tone, dann sei es seine Pflicht, unverzüglich nach Hause zu kommen und sich zum Eintritt in das polnische Heer zu melden.

Gertrud erschrak so heftig, daß ihr die Tränen kamen, und ihre Stimme bebte, als sie Robert beschwor, es nicht zu tun. Er werde ohne Zweifel gleich an der Grenze verhaftet werden und ebenso spurlos verschwinden wie der Joseph.

Eine heiße Freude wallte in Robert auf, als er an Trudchens Stimme erkannte, daß sie weinte. Mit bewegter Stimme fragte er: „Weinst du?“

„Ja, Robert, ich weine. Du willst uns zu allem, was wir hier durchzumachen haben, die große Sorge um dich noch aufbürden.“

„Glaubst du wirklich, daß ich Gefahr laufe, verhaftet zu werden, wenn ich über die Grenze komme?“

„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Der Vater hat es erfahren, daß Wolzlegier in der Betrunkenheit sich verschworen hat, er werde dich fangen, sobald du nur polnischen Boden betrittst. Wir vermuten, daß er auf deutscher Seite einen Aufpasser hat, womöglich in Werben selbst, von dem er genau unterrichtet wird. Ich beschwöre dich nochmals, auch im Namen deiner Großmutter, ihr nicht das Herzeleid anzutun, daß du dich in diese Gefahr begibst, und daß du deinen Plan aufgibst.“

„Dann muß ich mich schon eurem Willen fügen.“

„Ich danke dir. Ich gehe sofort zu Großchen, um ihr die Nachricht zu bringen.“

Den ganzen Tag ging Robert wie im Traume umher, von einer stillen Freude und Seligkeit erfüllt. Trudchen hatte aus Sorge um ihn geweint!

War dieses Mitgefühl denkbar, wenn er ihr gleichgültig war? Auch er hatte sehnsüchtig an sie gedacht. Jetzt schlug diese Sehnsucht wie eine Flamme in ihm empor. Jetzt fühlte er, daß sein Herz ihr gehörte, daß er sie innig und heiß liebte.

Erst abends, als er allein in seinem Zimmer saß, kamen ihm Bedenken. Er war nichts, er besaß nichts, er konnte ihr keine Existenz bieten. Wer weiß, ob ihm so viel übrigblieb, daß er sich eine Klitsche kaufen konnte, wenn ihm Hartenau genommen wurde, und sie war die reiche Erbtochter. Ach, das war ja alles so gleichgültig, wenn sie ihn wirklich liebte! Aber ob ihr Vater mit ihrer Wahl einverstanden sein würde? Es konnte ihm bei den Polen schaden, ihm ihre Feindschaft zuziehen, wenn der verfemte Enkel der alten Gnädigen sein Schwiegersohn wurde.

Wenn er sich bloß mit der Großmutter darüber aussprechen könnte! Durch den Fernsprecher würde es unmöglich sein, solche Dinge zu erörtern. Wenn er es wagte, heimlich nachts über die Grenze nach Hartenau zu wandern? Sie war allerdings auf beiden Seiten scharf bewacht, um den Schmuggel zu unterbinden, der hinüber und herüber ging. Aber wenn er in einer finsteren, stürmischen Nacht sich auf den Weg machte und sich vorsichtig hinüberpirschte?

Der Gedanke schlug in ihm Wurzel. Er malte sich aus, wie sich die Großmutter freuen würde. Sicherlich würde er auch Trudchen sehen und sprechen. Er lag in der Nacht lange wach und überlegte hin und her. Die Gefahr war groß, aber wenn er auf polnischer Seite abgefaßt wurde, erklärte er eben, daß er gekommen sei, sich zu stellen. Wenn er nur Hartenau erreichte, dann war er fürs erste geborgen. In dem großen, alten Gebäude waren Fremdenzimmer, die alle Jubeljahre nur gelüftet und gesäubert wurden. Ja, er würde im Notfall auch mit einer abgelegenen Kammer vorlieb nehmen. Niemand brauchte von seiner Anwesenheit etwas zu wissen, als die Großmutter und Trudchen.

Er überlegte weiter, ob er sich ganz heimlich entfernen oder dem Verwalter von seiner Absicht Mitteilung machen sollte, und kam zu dem Entschluß, sich ihm anzuvertrauen. Wenn ihm dann schon etwas auf dem Hinweg zustieß, dann würde die Großmutter und Trudchen wenigstens erfahren, daß er auf dem Weg zu ihnen gewesen war. Daß er Trudchen durch den Fernsprecher von seinem Vorhaben unterrichtete, war natürlich ausgeschlossen, sie würde ihn wieder beschwören, sich nicht in diese Gefahr zu begeben und fortan in Angst leben, daß er es doch auszuführen versuchen werde.

Am nächsten Morgen fragte er mit harmloser Miene den Verwalter, ob er es für sehr gefährlich hielte, heimlich nachts die Grenze zu überschreiten. Der Mann sah ihn verwundert an.

„Sie wollen doch nicht etwa heimlich nach Hause zurückkehren?“

„Nein, ganz zurückkehren will ich nicht,“ erwiderte Robert, „nur für einige Tage drüben mich heimlich aufhalten, um mich mit der Großmutter auszusprechen.“

„Können Sie das nicht durch den Fernsprecher erledigen?“

„Nein, das geht nicht. Es handelt sich nicht nur um Hartenau, sondern auch um meine Zukunft. Das macht eine längere Aussprache notwendig.“

Der Verwalter wiegte nachdenklich den Kopf. „Das sehe ich wohl ein, aber ich muß Ihnen entschieden abraten. Unsere Grenzwächter werden Ihnen beim Zusammentreffen keine Schwierigkeiten in den Weg legen, wenn sie sehen, daß Sie nichts aus Deutschland hinaustragen wollen.“

„Aber Sie meinen die Polen?“

„Aber sehr! Die sind eklig auf dem Posten. Ein gefälschter Ausweis würde Ihnen auch, falls Sie erwischt werden, nichts helfen, denn Sie werden immer verdächtig erscheinen, wenn Sie heimlich über die Grenze kommen. Nein, Herr Dalkowski, ich muß Ihnen dringend abraten.“

Die Warnung hatte auf Robert Einfluß. Er war unschlüssig. Die Ausführung eilte auch noch nicht, denn die Nächte waren mondhell und still, aber seine Sehnsucht wuchs mit jedem Tag. Sie wurde stets aufs neue angefacht, wenn er Gertruds Stimme am Fernsprecher hörte. Sie hatte jetzt meistens nichts von Belang zu berichten, sie bestellte nur Grüße von Großchen und erkundigte sich nach seinem Befinden. Einmal fragte er: „Sorgt ihr euch noch um mich?“

Da hörte er sie lachen und erwidern: „Wir haben doch keinen Grund dazu. Du wirst doch, wie du uns versprochen hast, hübsch verständig sein und drüben in Sicherheit bleiben.“

Einmal erzählte sie ihm, der Vater sei manchmal jetzt sehr mißgestimmt. Die Betriebskosten seines Verkehrs mit den Polen seien ihm zu hoch.

Der Kreischef habe eine sehr feine Zunge, die nur auf den feinsten Rotspon eingestellt sei, und der Wolzlegier sei der reine Blutsauger. Bei jeder Gelegenheit werde er von ihm angepumpt, natürlich auf Nimmerwiedersehen. Wenn die Mißernte ihn nicht daran hinderte, würde er am liebsten Strelkau verkaufen und Polen den Rücken kehren.

Einen Tag später berichtete sie, ein Käufer habe Hartenau besucht. Großchen habe ihn sehr kühl empfangen und ihm reinen Wein eingeschenkt, daß die Ernte nicht ausreichte, den Gutsarbeitern das Deputat bis zum Frühjahr zu liefern. Darauf habe er sich ohne Angebot entfernt. Trudchen sprach im Anschluß daran die Hoffnung aus, daß ein Kaufangebot auch vorläufig nicht zu erwarten sei.

Es war für Robert eine Freude, die Stimme des geliebten Mädels zu vernehmen. Denn daß er Trudchen mit allen Fasern seines Herzens liebte, war ihm je länger, je klarer geworden. Seine Sehnsucht, sie wiederzusehen, stieg immer mehr. Die Besprechung mit seiner Großmutter war, wie er jetzt fühlte, doch nur ein Vorwand, um Trudchen wiederzusehen und mit dem Geständnis seiner Liebe um sie zu werben.

Mit dem abnehmenden Mond stieg seine innere Unruhe. Sein Entschluß festigte sich, je dunkler die Nächte wurden. Einen Tag vor Neumond fiel bei starkem Wind Regenwetter ein. Dunkle Wolken überzogen den ganzen Himmel. Es war nachts so finster, daß man auf dem Hof ein Gebäude erst erkannte, wenn man unmittelbar davor stand.

Jetzt stand sein Entschluß fest. Am nächsten Abend erklärte er dem Verwalter, daß er den Marsch über die Grenze unternehmen werde. Es könnte ihn nichts mehr davon abhalten. Gleich nach dem Abendbrot zog er sich für den Marsch an. Eine dicke Hose, ein Paar Schaftstiefel und eine Mütze, die er fest auf den Kopf drücken konnte. Als Waffe nahm er nur einen dicken Krückstock mit.

Bis zur Grenze hatte er eine knappe Stunde zu gehen. Aber jetzt brauchte er erheblich mehr Zeit, denn er mußte mitten auf dem aufgeweichten Landweg gehen, um ihn nicht zu verlieren. Die Bäume, die am Wege standen, sah er nicht. Nur der Himmel erschien ihm zwischen ihren Wipfeln als ein etwas weniger dunkler Streifen. Als er das Wäldchen erreichte, durch das der Weg über die Grenze führte, bog er zur Seite ab. Der nasse Waldboden ließ kein Geräusch unter seinen Schritten aufkommen. Wenn er still stand, um zu lauschen, hörte er sein Blut in der Schlagader am Halse und in der Schläfe pochen.

So ähnlich war ihm zumute gewesen, als er im Krieg zum ersten Male nachts auf Patrouille gehen mußte. War es denn ausgeschlossen, daß er einen stillstehenden Grenzwächter anlief? Für diesen Fall hatte er sich vorgenommen, Fersengeld zu geben. Es war sehr unwahrscheinlich, daß man ihn bei dieser Finsternis fangen könnte. Immer nach einigen Schritten blieb er stehen und lauschte. Die Wipfel der Bäume rauschten, und von den Ästen tropfte es. Wenn sich zwei Menschen verständigen wollten, mußten sie zum mindesten recht laut sprechen.

Da blitzte es vor ihm in geringer Entfernung auf. Im ersten Augenblick war sein Gedanke, daß es ein Schuß wäre, als jedoch kein Knall folgte, merkte er, daß er sich geirrt hatte. Nun blitzte es noch ein paarmal auf. Er sah kleine Funken sprühen und wußte, daß jemand gar nicht weit von ihm mit Stahl und Stein Feuer schlug, um seine Pfeife anzuzünden. Jetzt fiel ihm ein, daß der Wald die ungeeignetste Stelle war, die Grenze zu überschreiten, denn er würde wohl auf beiden Seiten am schärfsten bewacht sein.

Er ging zurück und aus dem Wald bis aufs freie Feld hinaus. Als er die Grenze ziemlich nahe glaubte, ließ er sich nieder und kroch langsam auf allen vieren vorwärts. Hinter einem Strauch hockte er längere Zeit. Wieder kroch er vorwärts. Jetzt glitten seine Hände plötzlich nach unten, fanden jedoch bald Boden.

Es war ohne Zweifel der ziemlich flache Grenzgraben. Jetzt galt es noch vorsichtiger zu sein. Vielleicht war auch der Diensteifer der Grenzer nicht so groß, bei diesem Wetter besondere Aufmerksamkeit zu entwickeln, wenn sie überhaupt auf Posten waren.

Aber besser zu viel Vorsicht als zu wenig. Erst nach einer Strecke stellte er sich auf die Füße und tappte gebückt vorwärts. Nach hundert Schritten richtete er sich auf und schritt schneller aus. Nun wußte er auch bereits, wo er war. Er umging ein Bauerngehöft, auf dem der Hofhund anschlug.

Jetzt war er auf Hartenauer Grund und Boden; eine Viertelstunde später war er in dem Park vor dem Gutshaufe angelangt. Es lag still und finster vor ihm.

Wie sollte er jedoch unbemerkt in das Haus gelangen? Vielleicht war die Großmutter noch auf? Aber ob er in der Finsternis das Fenster ihres Arbeitszimmers finden würde? Er tastete sich an der Wand bis zur Hausecke zurück, um mit der Hand die Fenster zu fühlen und zu zählen. Dies mußte ihr Arbeitszimmer sein! Ein feiner Lichtstrahl bestätigte es ihm. Leise pochte er an. Zwei-, dreimal. Dann hörte er einen Stuhl rücken und gleich darauf die Großmutter den Laden öffnen und fragen: „Wer ist da? Kowalski, sind Sie es?“

„Nein, Großmutter, ich bin es.“ Eine Minute später hörte er die Tür des Gartenzimmers aufschließen und öffnen. Er schob sich schnell hinein. „Ich bin es, Großmutter!“

„Junge, was treibt dich her?“

Fünfzehntes Kapitel

„Du siehst lecker aus, mein Junge.“ Das waren die ersten Worte, mit denen ihn die Großmutter begrüßte, als er in das hellerleuchtete Arbeitszimmer trat. Er sah an sich herunter. Stiefel, Hosen, Joppe, auch die Hände waren dick mit Lehm beschmiert.

„Ich bin streckenweise auf allen vieren gekrochen, habe auch lang gelegen.“

„Du bist also heimlich über die grüne Grenze gekommen?“

„Ja, Großmutter.“

„So kannst du nicht bleiben. Deine Kleider sind auch naß. Du mußt dich in deinem Schlafzimmer umziehen. Etwas Wäsche und ein alter Anzug sind ja noch hier.“ Sie zündete Licht an und ging ihm voran. In seinem Schlafzimmer schloß sie erst die Läden, dann fragte sie: „Soll ich dir etwas zu essen bringen.“

„Nein, aber wenn du mir ein Glas Wein geben möchtest, würde ich dir dankbar sein.“ Als er sich umgezogen hatte, tappte er sich im Dunkeln zurück. Sie war gerade dabei, ihm ein Glas Rotwein einzugießen. Er nahm es und leerte es auf einen Zug. „Ach, das tut wohl!“ Sie schob ihm eine Schachtel Zigaretten hin.

„Nun sag' mir bloß um alles in der Welt, was hat dich zu diesem Dummenjungenstreich verleitet?“

Er wurde rot wie ein gescholtener Schulbube. „Ich wollte mich persönlich davon überführen, wie es hier steht.“

Frau Esther schüttelte den Kopf, als wenn sie diesen Grund nicht glaubte. „Du erhältst doch beinahe täglich Nachricht durch Trudchen.“

„Ja, ich habe aber das Gefühl, als wenn ihr mich nicht alles wissen laßt, als wenn ihr womöglich mir das Wichtigste verschweigt.“

„Das hätte doch keinen Zweck. Ich wollte gerade dadurch, daß ich dir alles mitteilen ließ, dich davon abhalten, nach Hause zu kommen. Nun hast du die Dummheit doch begangen. Wie willst du denn wieder zurück? Denn hier kannst du nicht bleiben.“

„Auf demselben Wege, Großmutter, vielleicht schon morgen nacht. Aber hier braucht niemand etwas von meiner Anwesenheit zu wissen. Nur Trudchen möchte ich gern sprechen.“

„So, du möchtest Trudchen sehen und sprechen. Hat dieser Wunsch etwa auch etwas mit deinem nächtlichen Besuch zu tun?“

Er sah sie fest mit aufleuchtenden Augen an. „Ja, Großmutter, nicht nur die Sorge um euch, sondern auch die Sehnsucht hat mich Hergetrieben.“

Er sah ein schelmisches Lächeln um den Mund der alten Frau spielen. Da sprang er auf, kniete vor ihr nieder und barg sein Gesicht in ihren Schoß. Sanft strich ihm ihre weiche Hand über seinen Kopf. „Also die Sehnsucht nach Trudchen hat dich hergeführt. Hast du sie denn so lieb?“

Er richtete sich auf. „Ja, Großmutter, mehr als mein Leben.“

„Das hast du ja heute schon bewiesen. Wie ist denn das so plötzlich über dich gekommen? Als du abfuhrst, schien dir Trudchen noch ganz gleichgültig zu sein.“

„Ja und nein. Ich habe ihre Freundlichkeit wie etwas Selbstverständliches hingenommen. Erst vor vierzehn Tagen, als sie mir das Versprechen abnahm, nicht über die Grenze zu kommen, schlug es wie ein Blitz in mich ein, als ich am Fernsprecher hörte, daß sie weinte.“

„Dann muß sie dir ja sehr böse sein, daß du dein Versprechen nicht gehalten hast.“

Robert sah betroffen zu ihr auf. „Ich habe ihr doch nur versprochen, nicht offen über die Grenzstation zurückzukommen. Dies ist doch etwas anderes.“

„Ja, mein Junge, dies ist ganz was anderes. Dies ist ein unüberlegter Jungenstreich, den sie dir noch mehr übelnehmen wird.“

„Aber, Großmutter, ich hielt es doch einfach nicht mehr aus. Schilt mich, soviel du willst. Ich konnte aber nicht anders.“ Er sah ihr fragend ins Gesicht. „Großmutter, sag' mir offen, glaubst du, daß Trudchen mich auch gern hat?“

„Die Frage kann ich dir ohne Bedenken bejahen.“

Er stand auf und begann in der Stube auf und ab zu gehen. Nach einer Weile blieb er vor der Großmutter stehen. „Ich habe mich nicht ganz richtig ausgedrückt. Mit dem Gernhaben meinte ich eigentlich viel mehr. Ich meinte, ob Trudchen mich auch so lieb hat, wie ich sie, ob sie einwilligen wird, meine Frau zu werden.“

„Du bist doch noch ein großes Kind, mein lieber Robert,“ erwiderte die alte Gnädige lachend. „Das fragt man doch nicht seine alte Großmutter, sondern die Betreffende selbst.“

„Du meinst also, daß ich Trudchen fragen soll?“

„Es würde doch nichts nützen, deine Frage zu verneinen, denn jetzt ist es mir klar, daß du nur zu diesem Zweck hergekommen bist.“

Er nickte und wanderte wieder eine Weile hin und her. Er unterbrach seine Wanderung nur, um einen Schluck Wein zu trinken. Dann stellte er sich vor die alte Frau hin und nahm ihre rechte Hand in seine beiden Hände. „Großmutter, quäl' mich nicht so, du bist doch täglich mit Trudchen zusammen, und du bist eine so kluge, erfahrene Frau. Du siehst in die Herzen der Menschen. Solltest du nicht wissen, wie es bei Trudchen, die mit solcher Liebe an dir hängt, in ihrem Herzen aussieht? Das errät man doch bei einem so vertrauten Umgang, denn die Liebe verrät sich immer!“

Frau Esther lächelte schelmisch. „So? Woher hast du denn diese Weisheit? Aber, wenn dir so viel daran gelegen ist, dann will ich dir sagen: Ich vermute, daß Trudchen dich auch in ihrem Herzen trägt.“

„Nicht so ungestüm, du leichtsinniger Schlingel,“ wehrte sie ab, als Robert seinen Arm um sie schlang und sie abküßte. „Ich bin doch nicht Trudchen, sondern eine alte Frau und zudem deine Großmutter.“

„Meine einzige, liebe, trautste Großmutter,“ rief Robert. „Noch hundertmal will ich den Weg machen, wenn mir ein solches Glück winkt.“

„Lieber nicht,“ erwiderte die alte Gnädige trocken. „Das werden wir uns beide, Trudchen und ich, sehr energisch verbitten. Du hast uns durch dein Erscheinen eine neue große Sorge aufgehalst. Wir werden erst ruhig sein, wenn du uns aus Werben gemeldet hast, daß du wieder glücklich dort eingetroffen bist. Ja, was ich noch fragen wollte. Bist du dort ganz heimlich ausgerückt?“

„Nein, das ging doch nicht. Ich habe dem Verwalter von meinem Vorhaben Mitteilung gemacht, damit er euch Nachricht geben könnte, wenn ich unterwegs verschwunden wäre. Trudchen muß ihm morgen mitteilen, daß ich glücklich hier angelangt bin.“

„Hat er dir nicht von dem Gang abgeraten?“

„Ja, dringend.“ Nun erst nahm Robert die Gelegenheit wahr, der alten Gnädigen die Einzelheiten seiner nächtlichen Flucht zu schildern.

Sie schüttelte ab und zu den Kopf. „Dir ist das Herz mit dem Verstand durchgegangen. Hast du denn auch schon daran gedacht, ob Vater Ritter damit einverstanden sein wird, wenn Trudchen dir das Jawort geben sollte?“

Robert nickte und nahm nachdenklich einen Schluck Wein. „Glaubst du, daß ich ihm als Schwiegersohn nicht willkommen sein werde?“

„Ja, mein Sohn, das ist schwer zu beantworten. Ich werde offen gestanden aus Ritter nicht recht klug. Ich glaube, er hätte Lubomierski als Schwiegersohn ganz gern angenommen, wenn Trudchen ihn gewollt hätte. Er sucht mit den Polen Freundschaft zu halten und läßt sie sich etwas kosten. In letzter Zeit soll sie ihn sogar ziemlich viel kosten. Nun stehst du doch sozusagen bei den Polen auf der schwarzen Liste. Es wird Ritter also nicht angenehm sein, wenn die Polen erfahren, daß du sein Schwiegersohn werden sollst.“

„Das braucht ja vor der Hand niemand zu erfahren. Ja, vielleicht brauchte Trudchen ihrem Vater vorläufig nichts davon zu sagen, daß wir beide einig sind, d. h., wenn Trudchen mir wirklich ihr Jawort gibt.“

„Das wollen wir sie selbst entscheiden lassen,“ erwiderte die alte Gnädige aufstehend. „Nun geh schlafen und träum' schön. Ich werde dich in deinem Zimmer einschließen. Ich muß unsere alte Auguste ins Vertrauen ziehen, die ist treu wie Gold und auch verschwiegen. Erschrick nicht, wenn morgen früh jemand deine Tür aufschließt, das wird außer mir nur Auguste sein, die dir den Kaffee bringt.“ Sie führte ihn in sein Zimmer, zündete ihm das Licht an, wünschte ihm nochmals gute Nacht und entfernte sich.

Er zog sich schnell aus und legte sich ins Bett. Er war sehr müde, aber die Gedanken bekrochen ihn und ließen ihn nicht einschlafen. Er malte sich den Augenblick aus, wenn er Trudchen gegenübertreten würde. Wie würde er das bloß anfangen, ihr seine Liebe zu gestehen? Er sann und sann. Endlich fiel ihm ein, daß sie ihn wohl gleich nach der Begrüßung für sein Kommen ausschelten würde. Dann würde er ihr antworten, er habe es vor Sehnsucht nach ihr nicht ausgehalten. Er habe sie so unendlich lieb, daß er sich nicht mehr habe beherrschen können. Ja, das wäre der beste Weg. Und wenn sie sich auch böse anstellen würde, gab ihm das erst recht den Anlaß, ihr zu versichern, daß er nur ihretwegen den gefahrvollen Gang angetreten habe.

Allmählich verwirrten sich seine Gedanken, aber kaum war er eingeschlafen, als ein wüster Traum ihn quälte. Zwei polnische Schaschken hatten ihn gepackt und hielten ihn fest. Er rang mit ihnen und riß sich los. Er erwachte, in Schweiß gebadet. Nein, lebendig sollten ihn die Polen nicht fangen. Auf dem Rückweg wollte er seinen Browning mitnehmen und gespannt in der Hand tragen. Und wenn er drei, vier Kerle über den Haufen schießen sollte, er gab sich nicht gefangen. Es dauerte lange, bis seine Nerven sich wieder beruhigten und er einschlief.

Er schlief noch fest, als Frau Esther seine Tür leise aufschloß und mit dem Frühstück eintrat. Mit einem zärtlichen Blick auf den Langschläfer stellte sie das Tablett auf den Tisch und schlich unhörbar hinaus. Von dem Schließen der Tür erwachte er und sah das Frühstück auf dem Tisch stehen. Er sprang auf und fuhr in die Kleider. Dabei sah er, wie schäbig der Anzug war, den er gestern abend angezogen hatte. Er war sehr weit entfernt von einer festlichen Gewandung, wie sie sich für eine Brautwerbung ziemte. Mit gutem Appetit machte er sich über das Frühstück her. Er war gerade damit fertig, als die Tür aufgeschlossen wurde. Die Großmutter trat ein und hinter ihr der alte Vogt Kowalski. „Die alte, treue Seele will dich durchaus begrüßen, er will dich auf dem Rückweg zur Grenze begleiten.“

Robert stand auf und gab dem Alten, dessen Gesicht vor Freude strahlte, die Hand. „Das ist nicht nötig, das nehme ich nicht an, Alter. Einer schlägt sich leichter durch als zwei.“

„Sagen Sie das nicht, junger Herr! Es sind doch nie mehr als zwei Grenzwächter auf einer Stelle. Mit denen werde ich noch immer fertig, und Sie verschwinden über die Grenze.“

„Nein, nein, Kowalski. Das kann ich nicht verantworten, wenn man Sie womöglich festnimmt oder anschießt.“

„Aber die gnädige Frau hat es doch gewünscht,“ erwiderte der Alte in einem Ton, der deutlich verriet, daß der Wunsch seiner Herrin ihm Befehl war.

„Na, das werden wir uns noch überlegen. Wie geht es sonst? Haben Sie Nachricht von Joseph?“

Der Vogt schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. „Es wird wohl von ihm keine andere Nachricht mehr kommen, als daß er tot und irgendwo verscharrt ist. Vielleicht erfahre ich auch das nicht einmal, ehe ich abkratze.“

„Ach, Kowalski, das geht doch selbst in Polen nicht, daß man einen Menschen, der nichts verbrochen hat, ohne Urteil um die Ecke bringt.“

„Sagen Sie das nicht, junger Herr, bei Gott und den Polen ist nichts unmöglich. Neulich hat mir einer erzählt, daß überall Deutsche verhaftet und weggeschleppt werden und niemand weiß, wo sie bleiben.“

Der Vogt war gegangen. Frau Esther erhob sich. „Jetzt kann Trudchen jeden Augenblick kommen. Soll ich ihr sagen, daß du hier bist, oder willst du sie überraschen?“

Robert zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, Großmutter, wie du meinst!“

„Nein, mein lieber Junge, das überlaß ich dir zu bestimmen.“

„Na, dann führ' sie in Gottes Namen unter irgendeinem Vorwand hier ein.“

Als Frau Esther zur Türe ging, klopfte es leise. Auguste stand vor der Tür. „Gnädige Frau, das Fräulein aus Strelkau ist gekommen.“

„Na, dann komm man gleich mit,“ wandte sich die alte Gnädige an Robert „und mach' kein Gesicht wie ein armer Sünder. Sie wird dir nicht den Kopf abreißen.“

Im Wohnzimmer stand Trudchen. Sie rührte sich nicht von der Stelle, streckte ihm auch nicht die Hand entgegen. Ihre Augen funkelten. „Ich weiß schon, daß du hier bist, der Verwalter hat aus Werben angefragt, ob du schon hier angelangt bist. Deshalb bin ich hergekommen, um mich zu überzeugen, ob du wirklich die ganz unverzeihliche Dummheit begangen hast, dich nachts über die Grenze zu schleichen. Hast du denn gar nicht daran gedacht, welch schweres Herzeleid du damit über deine Großmutter bringen kannst? Es ist dir ja geglückt, einmal über die Grenze zu kommen, aber aus dem Rückweg kannst du aufgegriffen werden. Oder willst du womöglich hierbleiben?“

Die letzte Frage brachte Robert mehr aus der Fassung als ihr Benehmen. „Nein, ich will wieder zurück.“

„Na, dann wünsche ich dir viel Glück. Was hat denn Großchen zu deinem heimlichen Besuch gesagt? Hat sie dir wenigstens gründlich den Kopf gewaschen?“

Jetzt regte sich in Robert der Ärger über die Behandlung. „Nein, sie hat Verständnis dafür, daß mich die Sorge um sie und die Sehnsucht nach ihr hergetrieben hat.“ Seine Stimme wurde fester. „Ja, ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte euch wiedersehen, die Großmutter und“... mit leiser Stimme fügte er hinzu: „Auch dich.“

Sie sah ihn erstaunt, ja verblüfft an, dann stieg eine starke Röte in ihr Gesicht. Das gab Robert neuen Mut. Er trat an sie heran und faßte ihre Hände. „Trudchen, seitdem du über mich geweint hast — besinnst du dich, es sind heute gerade vierzehn Tage her — da ist es wie ein Blitz in mich eingeschlagen, wie lieb ich dich habe. Das hat mir keine Ruhe gelassen, und nur deshalb bin hergekommen. Ich muß wissen, ob du mich auch liebhast.“

Noch stärker errötend, senkte Trudchen den Kopf.

„Sieh nicht auf meinen Anzug,“ stammelte Robert, „ich habe keinen besseren hier vorgefunden. Sieh lieber auf mein Herz, das ist bis zum Überlaufen voll von Liebe zu dir. Sag' ja oder nein. Ich muß es wissen, ob du mich liebhast.“

Da hob das Mädel nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Arme und legte sie um seinen Nacken. „Dann muß ich dir ja verzeihen, wenn dein Herz mit dem Verstand durchgegangen ist.“

Der Großmutter hatte es zu lange gedauert und sie hatte vergeblich gewartet, daß sie gerufen würde. Sie trat leise ein. Da standen die beiden jungen Menschenkinder vor ihr in inniger Umarmung. Sie umschloß beide mit ihren Armen. „Gott segne euren Herzensbund, meine lieben Kinder.“ Trudchen löste sich zuerst aus der doppelten Umarmung.

„Du hast also dem Schlingel gar nicht den Kopf gewaschen, Großchen? Das muß ich also noch besorgen.“

„Laß Gnade für Recht ergehen,“ erwiderte Frau Esther glückselig lächelnd.

„Das habe ich schon reichlich getan, aber ich muß noch nachträglich die Bedingung stellen, daß er gleich heute nacht noch nach Werben zurückfährt.“

„Willst du mir nicht wenigstens einen Tag voll Glück schenken?“

„Nein, das ist kein Glück für uns, in der Sorge zu leben, wie du den Rückzug finden wirst. Das Glück wird erst anfangen, wenn wir wissen, daß du glücklich wieder in Werben angelangt bist. Nicht wahr, Großchen?“

„Ja, du hast recht, mein liebes Kind.“

Sechzehntes Kapitel

Gertrud blieb bis kurz vor Mittag und kam, da ihr Vater nach der Stadt gefahren war, gleich nach Kaffee wieder. Vergeblich versuchte ihr Robert die Erlaubnis abzuschmeicheln, noch einen Tag in Hartenau bleiben zu dürfen.

„Nein, du mußt heute gleich nach Abendbrot, sobald es dunkel geworden ist, weg. Es ist eine so seltsame Unruhe in mir, als wenn du hier nicht sicher bist.“

„Aber, Liebste, wie kommst du darauf?“

„Ich traue den Polen alles zu, auch daß sie in Werben einen Spion haben, durch den sie über dich unterrichtet werden.“

„Es weiß doch niemand, wohin ich gegangen bin.“

„Da du nicht offen weggefahren bist, liegt die Vermutung nahe, daß du heimlich über die Grenze gegangen bist. Es ist mir nur eine Beruhigung, daß der Kowalski mit im Bunde ist und aufpaßt. Er wird dich auch zur Grenze begleiten.“

„Es ist mir zwar nicht recht, aber ich füge mich, wenn es dein Wunsch ist.“

„Er braucht sich ja nicht in Gefahr zu begeben. Er wartet ein Ende rückwärts, und wenn alles ruhig bleibt, kommt er zurück und bringt uns Nachricht. Dann haben wir doch schon die Hoffnung, daß du die Gefahr überstanden hast.“

Das Brautpaar saß im sogenannten Salon, der fast nie benutzt wurde und meistens abgeschlossen war. Großchen saß in ihrem Arbeitszimmer, das davor lag. Die treue Auguste hatte es übernommen, Roberts Anzug und Stiefel unbemerkt auf einer Bodenkammer zu reinigen.

Trotz der bei Verlobten nicht ungewöhnlichen Unterbrechungen, besprachen sie eingehend ihre Zukunft. Robert sprach wieder die Befürchtungen aus, daß Trudchens Vater die Verlobung nicht angenehm, ja, daß er dagegen sein könnte.

„Das glaube ich nicht,“ erwiderte Trudchen. „Der Vater hat mich viel zu lieb, um mir bei der Wahl meines Gatten Hindernisse in den Weg zu legen.“

„Ich bin doch ein richtiger Herr von Habenichts,“ klagte Robert. „Wie kannst du mich so liebhaben? Ich habe nichts, ich bin nichts, ich kann nichts. Die besten Jahre meines Lebens sind mir verlorengegangen.“

Trudchen umfaßte ihn und schmiegte sich an. „Aber nicht durch deine Schuld, sondern durch das furchtbare Schicksal, das über uns alle hereingebrochen ist. Du wirst ein tüchtiger Landwirt werden und wirst Werben übernehmen, denn Hartenau werdet ihr wohl doch verlieren.“

„Du stellst das alles als selbstverständlich hin.“

„Das ist es ja auch,“ versicherte Trudchen eifrig. „Der Vater wird sich freuen, daß wenigstens Werben nicht in fremde Hände gerät.“

„Hast du ihm gesagt, daß ich hier bin?“

„Nein, er hätte sich vielleicht darüber geärgert und aufgeregt. Es ist genug, daß du uns Frauen diese Aufregung bereitet hast.“

„Möchtest du denn jetzt, daß ich nicht hier wäre?“ versuchte Robert zu scherzen.

„Offen gesagt, ja. Denn eine reine Freude kann ich doch nicht finden, ehe ich nicht die Sorge um deine Rückkehr losgeworden bin.“

Als es dunkel wurde, zog Robert seinen gereinigten Anzug an. Gleich nach Abendbrot nahm er Abschied. Er kniete vor der Großmutter nieder, nahm ihre Hände und barg sein Gesicht in ihrem Schoß. Sie legte segnend ihre Hände auf seinen Kopf, dann beugte sie sich zu ihm nieder und küßte ihn herzlich.

„Gott behüte und beschütze dich, mein lieber Junge.“

Trudchen warf sich weinend an seine Brust. Dann nahm sie sein Gesicht in beide Hände und küßte ihm Stirn, Augen und Mund. „Wir werden Gott bitten, daß er dich glücklich heimgeleitet. Aber, daß du mir nicht noch einmal diese Dummheit machst!“

„Nein, ich werde fortan mich mit deiner Stimme im Fernsprecher begnügen.“

Sie geleitete ihn zur Tür, die nach dem Park führte, schloß auf, gab ihm noch schnell einen Kuß und schloß hinter ihm wieder zu, dann ging sie zurück zu Großchen und schmiegte sich an sie. Eng umschlungen saßen die beiden Frauen und beteten still in ihrem Innern.

Die Nacht war nicht so dunkel wie gestern, denn das Wetter hatte sich aufgeklärt, und die Sterne standen am Himmel. Auch der Sturm und der Regen fehlte. Aber dafür war die Gefahr geringer, daß man ahnungslos auf die Grenzwächter auflief. Bei vorsichtigem Schleichen mußte man sie bemerken und konnte ihnen ausweichen.

An der großen Eiche im Park stand der alte Vogt schon wartend. Er hatte einen dicken Krückstock in der Hand. „Mensch, Kowalski, was wollen Sie mit dem Knüppel?“

„Ich will mich nicht von den Polacken greifen lassen,“ knurrte der Alte.

„Sie werden mich nicht so weit begleiten, daß Sie in Gefahr kommen. Sie begleiten mich nur, um der Großmutter berichten zu können, ob ich gut über die Grenze gekommen bin.“

Der Alte brummte etwas vor sich hin, was Robert nicht verstand.

***

Ritter trug sich schon seit einiger Zeit mit einem Plan, der, wenn er einschlug, reichen Verdienst bringen konnte. Dazu mußte er sich aber der Zustimmung des Kommissars versichern, um durch diesen an den Kreischef heranzukommen. Deshalb fuhr er in die Stadt. Nachdem er mehrere Geschäftsgänge erledigt hatte, wanderte er zur „Feuchten Ecke“ am Markt, wo Wolzlegier in einer Zukierna mit weiblicher Bedienung jeden Abend anzutreffen war. Er war auch heute schon dort. Er hatte eine Flasche Rotwein vor sich stehen und eine der Holden auf dem Schoß. Mit fröhlichem Handschwenken begrüßte er Ritter, dessen Erscheinen ihm einen sehr tiefen und billigen Trunk in Aussicht stellte. Er schob die Schankmamsell vom Schoß und stand auf, um ihn durch Handschlag zu begrüßen. „Wie ist Ihr Befinden, Herr Ritter?“

„Schlecht,“ erwiderte der Gutsbesitzer mit verdrießlicher Miene.

„Aber ich bitte sehr, wie kann es Ihnen schlecht gehen.“

Ritter nahm Platz und ließ sich ein Glas geben, das ihm der Kommissar sogleich vollschenkte. „Mir geht es ebenso schlecht, wie allen Landwirten in diesem Herbst. Keine Ernte, keine Einnahmen, aber Ausgaben mehr als zuviel. Ich weiß noch nicht, wie ich mein Vieh durch den Winter bringen werde.“ Er nahm einen Schluck, ehe er fortfuhr: „Es ist ein schwacher Trost, daß es allen Landwirten in der ganzen Gegend so geht. Wir werden die Hälfte unserer Viehbestände verkaufen und zu Schleuderpreisen weggeben müssen.“

Der Kommissar nickte. „Ja, sehr schlechte Zeiten.“

„Und wer soll uns das Vieh abkaufen?“ fuhr Ritter fort. „Die Kongressuskis haben ebensowenig Geld wie wir. Die Fleischer brauchen wenig und kaufen kein mageres Vieh. Wir müssen unseren Kühen und Ochsen mit der Axt vor den Kopf schlagen, solange sie noch etwas Fleisch auf den Knochen haben.“

Der Kommissar kniff die Augen zusammen. Er kannte Ritter. Das war ein schlauer Fuchs, der auf seinem Vorteil zu laufen verstand. Was bezweckte er mit dieser Klage?

„Das brauchen Sie doch nicht zu machen? Sie haben doch die Mittel, um so viel Futter zu kaufen, wie Sie brauchen.“ Er vermutete, daß Ritter auf eine Einfuhrerlaubnis hinsteuerte. Dabei würde natürlich für ihn eine Lapowka abfallen, und nicht zu knapp, denn er mußte doch auch die Instanz befriedigen, von der die Erlaubnis erteilt wurde.

„Das werde ich mir noch überlegen,“ erwiderte Ritter.

„Wieso überlegen, lieber Freund? Wissen Sie, was ich täte, wenn ich über so viel Mittel verfügte wie Sie? Ich würde, mir das beste Zugvieh, was billig zu haben sein wird, zusammenkaufen, um es im Frühjahr mit großem Vorteil wieder zu verkaufen. Die Einfuhrerlaubnis für Futtermittel wird doch zu beschaffen sein.“

Die Schankmamsell trat an den Tisch, nahm die leere Flasche weg und stellte eine neue hin. Ritter schenkte ein. „Das wäre ein verteufelt kluger Gedanke, wenn er nicht so dumm wäre.“

„Wieso dumm?“ fragte der Kommissar erstaunt.

„Weil das Vieh im Frühjahr ebenso billig, wenn nicht noch billiger sein wird.“

„Auch wenn man es ins Ausland verschiebt?“ fragte Wolzlegier mit verschmitzter Miene.

„Dazu braucht man es nicht bis zum Frühjahr zu füttern. Das könnte sich unter Umständen schon jetzt lohnen.“

„Was für Umstände, lieber Freund? Gar keine Umstände. Allerdings angemessene Beteiligung für Stellen, die das Risiko tragen.“

„Ich verstehe immer Risiko,“ erwiderte Ritter lachend. „Wer trägt denn ein Risiko dabei?“

Der Kommissar stellte sich ärgerlich. „Sie sind heute auf den Kopf gefallen, lieber Freund.“

„Na, dann will ich lieber fragen: was verstehen Sie unter angemessener Beteiligung?“

Wolzlegier hob die Hände. „Sagen wir mal fünfzig Prozent.“

Ritter lachte laut auf und rief, „Stefka! Bring mal dem Herrn Kommissar einen großen Kognak! Der wirkt niederschlagend auf die Phantasie, und mir bring auch einen zur Stärkung. Ich bin eben beinahe vom Stuhl gefallen.“

Der Kommissar schmollte, aber er trank den Kognak. Ritter lachte ihn an. „Sie wollten mich wohl von vornherein von dem Geschäft abschrecken? Ich soll das Risiko tragen und fünfzig Prozent vom Reingewinn abgeben? Das wäre ja der helle Wahnsinn. Nein, lieber Wolzlegier, lassen Sie sich man den Appetit darauf vergehen, aus dem Geschäft wird nichts.“

„Was würden Sie denn anlegen wollen?“ fragte der Kommissar lauernd.

Ritter zuckte die Achseln. „Das müßte ich mir erst überlegen. Ich habe doch bis heute nicht daran gedacht, Vieh zu kaufen. Das eilt auch nicht so.“

Er hielt es für richtig, das Gespräch abzubrechen, denn eben betraten sechs junge Männer, meist höhere Beamte, und ein paar Offiziere das Lokal. Sie wurden von den Mädeln freudig begrüßt und bestellten Schnäpse und Wein. Dann kamen sie, den Kommissar respektvoll zu begrüßen. Er war für jeden, auch für polnische Beamte, eine Respektsperson, mit der man sich gut stellen mußte.

Nachdem sie sich an einem Tisch niedergelassen hatten, bestellten sie einmal „Haut und Knochen“, wie sie den Würfelbecher nannten, um die Zeche auszuknobeln. Als dies erledigt war, wurde von einem der Herren ein kleines gemütliches Gesellschaftsspiel vorgeschlagen. Nach langem Hinundher einigte man sich auf die „lustige Sieben“. Das dazu erforderliche Gerät, ein in elf Felder eingeteilter Pappbogen, war schnell zur Hand. Erzeigte die Zahlen zwei bis zwölf. Ganz oben thronte die Sieben, von der das Spiel den Namen erhalten hatte. Wenn der Bankhalter mit zwei Würfeln diese Zahl warf, dann erhielt derjenige, der sie besetzt hatte, seinen Einsatz siebenfach ausgezahlt.

Der Kommissar entschuldigte sich einen Augenblick bei Ritter und trat an den Spieltisch. Er sah nicht nur zu, sondern setzte auch. Nach einer Weile kam er zurück. „Verdammtes Pech. Habe mich leider nicht auf ein kleines Jeu eingerichtet, aber geborgtes Geld soll Glück bringen. Wenn Sie mir mit hundert Zloty für ein paar Tage aushelfen wollten?“

„Ich habe mich auch nicht darauf eingerichtet. Aber die hundert Zloty kann ich Ihnen allenfalls noch geben.“

Der Kommissar nahm das Geld, trat wieder an den Spieltisch und warf die ganze Summe auf die Sieben. Der Bankhalter stülpte den Becher um und hob ihn auf. Da lag die Sieben.

„Bleibt stehen,“ rief der Kommissar. Wieder fiel die Sieben. Der Bankhalter zog die Brieftasche. „Die Bank ist gesprengt, meine Herren. Hier haben Sie Ihr Geld, Herr Wolzlegier.“

Mit dem Pack Geldscheinen kehrte der Kommissar an den Tisch zurück, überreichte Ritter die geborgten hundert Zloty und bestellte eine Flasche Sekt. Ritter machte gute Miene zum bösen Spiel, obwohl er wußte, daß er auch diese Flasche bezahlen mußte. Aber sie stand jedenfalls auf dem Geschäft, das er plante. Der Kommissar würde mit sich handeln lassen. An den Köder hatte er schon gebissen. Nun mußte er noch eine Weile zappeln.

Aber Wolzlegier war auch mit allen Hunden gehetzt. Er glaubte zu wissen, daß Ritter ihn schon mit dem fertigen Plan aufgesucht hätte. Deshalb tat er gut daran, sein Angebot abzuwarten. Er begann von gleichgültigen Dingen zu sprechen und erzählte, daß demnächst eine Theatergesellschaft Vorstellungen geben werde, das sei mal eine Abwechslung. Die Mädel vom Theater seien nur verdammt teuer.

Ritter hörte ruhig zu. Er hatte eben beide Gläser gefüllt, als in der Tür ein Kerl erschien, der dem Kommissar zuwinkte. Er sprang auf, ging zu ihm und flüsterte mit ihm. Dann kam er an den Tisch zurück und stürzte sein Glas runter. Mit einem häßlichen Lachen, aus dem der Hohn klang, sagte er: „Sie müssen schon entschuldigen, lieber Freund, wir haben eben einen sehr guten Fang gemacht, wir haben einen seltenen Vogel gefangen. Ich will hören, wie er singt. Auf Wiedersehen.“

Wenn Ritter nicht gesehen hätte, daß der Kerl erschien, dann hätte er diesen eiligen Abschied für einen Trick gehalten, ihn zappeln zu lassen. Er zerbrach sich natürlich nicht den Kopf darüber, was für einen Vogel der Kommissar gefangen hatte, bezahlte die Zeche und ließ seinen Wagen vorfahren. Er war ganz zufrieden damit, daß sich die Sitzung nicht so lange wie sonst ausdehnte.

***

Schweigend schritten die beiden nächtlichen Wanderer aus. Der Vogt führte Robert auf einen schmalen Feldweg, der meist durch Wiesen führte, bis zu einem Außenschlag, der jetzt nur als Viehweide benutzt wurde. Er reichte bis zur Grenze und war mit mannshohen Sträuchern bestanden. Hinter einem Strauch blieb der Alte stehen und flüsterte Robert zu: „Wir wollen erst mal horchen.“

Nach einer Weile stieß er Robert an. „Wir können noch ruhig fünfzig Schritt weitergehen, dann legen wir uns hin und passen auf. Hier geht's bergan. Wir können gegen den Himmel sehen, wenn Grenzwächter vorbeikommen.“

Wieder ging es ein Stück weiter. Jetzt hielt Robert den Alten an. „Hier bleiben Sie zurück, Kowalski.“

„Ach wo, junger Herr. Ich komme noch ein Ende mit, und wenn Sie angefallen werden, dann rufen Sie, dann komme ich Ihnen zu Hilfe. Mit zweien oder dreien von den Kerlen werden wir schon fertig werden.“

„Nein, Kowalski, das dürfen Sie unter keinen Umständen. Ob ich erwischt werde oder nicht, Sie müssen unter allen Umständen nach Hartenau zurück und der Großmutter Nachricht bringen. Die alte Frau und Trudchen warten doch auf Sie.“

„Ich lasse mich nicht fangen, junger Herr.“

„Nein, Sie müssen gehorchen. Was soll denn die Großmutter ohne Sie anfangen? Und wenn ich gefangen werde, muß die Großmutter es erst recht wissen. Gute Nacht, Alter!“

Der Vogt nahm seine Hand. „Gehen Sie mit Gott, junger Herr.“

Gebückt schlich Robert, einige Sträucher als Deckung benutzend, noch zwanzig Schritt weiter, dann warf er sich lang hin und spähte nach vorn. Der Grenzgraben lief oben auf der Höhe entlang. Dicht davor standen zwei Sträucher dicht nebeneinander. Wie er diese Sträucher gegen den Himmel erblickte, würde er auch Menschen sehen, die sich dort bewegten. Langsam, öfter horchend und ausspähend, kroch er auf allen vieren weiter. Zwei Schritt vor dem Grenzgraben wollte er aufspringen und mit ein paar Sätzen deutsches Gebiet erreichen.

In demselben Augenblick, als er dies dachte, warf sich ein Kerl auf ihn und stieß ihm durch einen Schlag auf den Kopf das Gesicht in den weichen Boden. Eine Sekunde später kniete ein zweiter Kerl auf seinen Beinen. Die Hände wurden ihm nach hinten auf den Rücken gerissen und gefesselt. Von nicht weit her ertönte der Ruf: „Habt ihr ihn?“

„Ja, wir haben ihn fest,“ rief einer der beiden Kerle. Nun kamen von beiden Seiten noch sechs bis sieben Mann zugelaufen.

Der Vogt war Robert noch ein Ende nachgeschlichen. Er hörte die Rufe und sah die Männer, die anscheinend Gewehre in den Händen hatten, angelaufen kommen. Er stand hinter dem Strauch auf. Vor Wut und Aufregung bebend schwang er den wuchtigen Stock in der Hand, aber er mußte sich sagen, daß es heller Wahnsinn wäre, einzugreifen. Die Kerle würden ihn ohne Bedenken über den Haufen schießen. Nein, er mußte zurück, er mußte der Gnädigen so schnell wie möglich die Nachricht bringen, wenn sie auch noch so traurig war.

Als der Haufen längs der Grenze abgezogen war, trat der Alte den Rückweg an. Zuerst ging er so schnell, wie er nur konnte. Je näher er dem Gut kam, desto langsamer wurden seine Schritte.

Siebzehntes Kapitel

Schweigend saßen sich die beiden Frauen im Wohnzimmer an der Lampe gegenüber. Jede mit einer Handarbeit beschäftigt. Ab und zu gingen ihre Blicke zu der Wanduhr, deren Pendel in seinem Gehäuse so würdevoll langsam hin und her schwankte.

Sein Ticktack warf mit lautem Ton eine Sekunde nach der anderen wie Tropfen in das Meer der Ewigkeit.

„Der Kowalski könnte schon zurück sein,“ meinte nach einer Weile die alte Gnädige. Trudchen dachte dasselbe, aber sie erwiderte, wie um sich und der alten Frau Mut zu machen: „Sie warten wohl vor der Grenze einen günstigen Augenblick ab.“

Nach einer langen Weile sah Frau Esther wieder auf die Uhr. „Jetzt könnte er aber wirklich schon hier sein. Ich fürchte, es war nicht richtig, daß wir den alten Mann mitschickten, der trägt eine solche Wut gegen die Polen in sich herum, daß ich ihm trotz seiner siebzig Jahre eine Unbesonnenheit zutraue. Wenn Robert in Gefahr gerät, läßt er ihn nicht im Stich und dann verschwindet nicht nur einer, sondern alle beide.“

Wieder trat ein längeres Schweigen ein, das nach einer Viertelstunde von der alten Gnädigen gebrochen wurde. „Es war eine ausgewachsene Dummheit von Robert.“

Trudchen stand auf, legte den Arm um Großchen und schmiegte ihre Wange an. „Schilt nicht auf Robert. Er hat jahrelang in der grauenhaften Einsamkeit leben müssen. Hier ist ihm das Glück erschienen und ist vor ihm hergegaukelt. Da hat er sich nicht lange besonnen und gezaudert, sondern zugegriffen und hat es festgehalten. Auch mir hat er das Glück gebracht.“

Frau Esther griff mit ihrer Hand nach oben und streichelte ihr die glühende Wange. „Ja, du mußt das bißchen Glück durch Angst und Sorge bezahlen, und er womöglich mit noch viel Schlimmerem.“

„Ja, Großchen, ein bißchen Glück muß manchmal teuer bezahlt werden. Aber weißt du, daß ich Robert wegen seines dummen Streiches noch viel, viel lieber gewonnen habe? Er war immer so weich und träumerisch. Jetzt weiß ich, daß er Mut und Energie besitzt.“

Trudchen wollte sich gerade wieder auf ihren Platz setzen, als die Tür des Gartenzimmers aufgeklinkt wurde. Ungestüm sprang Trudchen zur nächsten Tür und riß sie auf. Das Licht der Lampe fiel auf den alten Mann, der wie von einer schweren Last gedrückt, vorn übergebeugt, den Kopf gesenkt, stehenblieb. Einen Blick auf den Boten genügte, um den Frauen zu sagen, welche Nachricht er brachte. So standen sie sich eine Minute in traurigem Schweigen gegenüber, bis Frau Esther mit unsicherer Stimme fragte: „Kowalski, was ist mit meinem Enkel geschehen?“

„Ach Gott, gnädigste Frau, die Polacken haben ihn gefangen. Ich kann bei Gott nichts dafür. Der junge Herr hat mir befohlen, zurückzubleiben, und ich mußt' doch gehorchen. Es waren auch zu viele und mit Gewehren.“

„Wir machen Ihnen ja keine Vorwürfe, Kowalski. Setzen Sie sich. Trudchen, gib ihm einen Stuhl und schenk' ihm ein Glas Schnaps ein, ihm flattern ja die Hände.“

„Erzählen Sie uns, wie ist es gekommen?“

„Ja, gnädige Frau, als ich zurückkehren mußte, kroch der junge Herr allein weiter nach der Grenze, auf einen Strauch zu. Ich konnte ihn nicht sehen, ich hörte auch nichts. Ich dachte schon, er wäre glücklich hinüber. Da hörte ich rufen: `Habt ihr ihn?' und dann liefen von beiden Seiten Kerle hinzu. Sie haben sich wohl, als er noch lag, auf ihn geworfen.“ Er trank noch den zweiten Schnaps aus, den Trudchen ihm eingoß. Stockend erzählte er weiter: „Gnädige Frau sagen manchmal auf mich alter Esel. Das habe ich auf dem Rückweg immerzu zu mir gesagt. Weshalb habe ich nicht vorher alles mit dem jungen Herrn besprochen. Ich hätte allein voraus zur Grenze gehen sollen und mich scheinbar wehren sollen, und währenddessen konnte der junge Herr seitwärts über die Grenze laufen.“

Frau Esther trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Du alte, treue Seele! Ja, das hättest du für Robert getan.“

„Na ja, gnädigste Frau, was liegt schon an mir altem Kerl, und was hätten die Polacken mir tun können? Ich hätte ja sagen können, daß ich bloß einem Kerl nachgegangen sei, der einen Sack Getreide gestohlen hat, oder so was. Daß ich auf unserm Boden bis an die Grenze rangehe, ist doch kein Verbrechen.“

Er stand auf, machte langsam kehrt und wankte hinaus. „Ich danke Ihnen vielmals,“ rief Frau Esther ihm nach. Er nickte bloß und bewegte abwehrend die Hand, als wenn er den Dank nicht verdient hätte. Als die Tür sich hinter ihm schloß, fielen die beiden Frauen sich wortlos weinend in die Arme. Es war, als wenn eine bei der andern Trost suchte. Dann setzte sich Frau Esther und zog Trudchen auf ihren Schoß. „Jetzt, mein Kind, fängt nicht bloß für Robert, sondern auch für uns beide ein schwerer Leidensweg an.“

„Was wollen sie ihm denn anhaben?“ erwiderte Trudchen.

„Ach, Kind, die Polen fragen doch nicht, ob sie das Recht auf ihrer Seite haben. Wenn sie einem etwas am Zeuge flicken wollen, dann tun sie es ohne Bedenken. Sie scheuen nicht einmal eine schwere Beschuldigung, für die sie keine Beweise haben. Er wird irgendwo in einem Gefängnis verschwinden, und wir werden nicht einmal erfahren, wo er geblieben ist.“

„Ja, Großchen, darauf müssen wir uns gefaßt machen. Ich vermute wohl nicht mit Unrecht, daß der Kommissar seine Hand im Spiele hat. Er muß doch gewußt haben, daß Robert hier war und wieder über die Grenze zurück wollte. Das sieht doch wie ein geplanter Überfall aus. Die Frage, die Kowalski gehört hat, läßt es mir als gewiß erscheinen, daß man Robert aufgelauert hat. Die Grenze muß also stärker besetzt gewesen sein als gewöhnlich.“

„Aus Hartenau ist keine Nachricht hinausgedrungen,“ erwiderte Frau Esther.

„Bei uns hat auch außer mir niemand etwas davon gewußt. Die Nachricht kann nur von drüben, von Werben, gekommen sein, und dort hat es auch nur der Verwalter gewußt, wo Robert hinging. Wir haben doch keine Ursache, an seiner deutschen Gesinnung zu zweifeln. Ich stehe vor einem Rätsel.“

Noch lange sprachen die Frauen hin und her. Trudchen schlug vor, in die Stadt zu fahren und den Vater aufzusuchen. Die alte Gnädige lehnte es rundweg ab. Sie wollte nicht, daß Ritter in die Sache hineingezogen wurde. Wenn er etwas für Robert tun wollte und konnte, dann müßte es unauffälliger geschehen.

Um zehn Uhr schickte Frau Esther Gertrud nach Hause. So lieb ihr auch das Mädel war und seit heute ihr noch viel lieber und inniger verbunden, so sehr verlangte sie, mit ihren Gedanken allein zu sein. Eine Begleitung durch Auguste lehnte Trudchen ab. Sie war den kurzen Weg so viele hundertmal ungefährdet allein gegangen. Frau Esther ging in ihr Arbeitszimmer, schaltete das Licht ein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Mechanisch schlug sie ihr Wirtschaftsbuch auf, um wie immer die Ausgaben und kleinen Vorkommnisse des Tages einzutragen. Aber sie ergriff nicht die Feder, sondern legte die Hände in den Schoß und beugte sich vorn über, bis ihre Stirn auf der Platte lag.

Ihr ganzes Leben zog an ihr vorüber. Wie sie als armes Mädchen, als Tochter des Vogts in Hartenau das Wohlgefallen des Haussohnes erregte. Wie er ihr nachstellte und schließlich, als sie standhaft sich seinem Liebeswerben versagte, sich heimlich mit ihr verlobte. Wie er sie nach Posen schickte und sie unterrichten ließ. Sie dachte an die ersten Jahre ihrer jungen Ehe zurück, als die Schwiegereltern ihr das Leben sauer machten, bis der Vater starb und ihr Mann, der auch Robert hieß, das Gut erbte, und wie sie noch jahrelang das unfrohe, zänkische Wesen der Schwiegermutter zu erdulden hatte.

Dann kamen Jahre des Glücks. Ihr Mann war immer lieb und gut zu ihr. Er war auch von Herzen gut und freundlich, aber sehr jähzornig. Bei einem Streit der Knechte hatte er mit seinem Krückstock eingegriffen — da hatte ihm einer der Burschen eine Forke in den Leib gerannt, und sterbend wurde er ihr ins Haus gebracht. Jahre hindurch hatte sie dann für ihren einzigen Jungen das Gut verwaltet. Er war aus der Art geschlagen. Er war weich und unschlüssig und, obwohl sie es nicht wollte, schob er ihr die Leitung der Wirtschaft zu. So war es auch geblieben, bis er in den Krieg zog und nicht wiederkehrte. Und bald nach ihm zog der Enkel hinaus und kehrte auch nicht wieder.

In Minuten durchlebte sie die Jahre, in denen sie den Vermißten als verloren betrauerte. Wie das liebe Mädel, das jetzt ihre Enkeltochter werden sollte, sich in ihrem Herzen einnistete und ihr eine Tochterliebe schenkte, die sie nie kennengelernt hatte. Wie dann ihre Hoffnung aus einen glücklichen Lebensabend auflebte, als Robert wiederkehrte.

Und nun war nach dem großen Glück dieser Tage alles wieder in graue Asche versunken. Irgendwo lag ihr Enkel in schmutziger Zelle, die von Ungeziefer wimmelte, geschunden und zerschlagen, ein deutscher Mann, der Schweres für sein Vaterland erlitten. Gab es denn gar keine Gerechtigkeit mehr auf Erden? Keine ausgleichende Schicksalsmacht? — Sie richtete sich auf und blickte starr ins Weite. Was sollte, was wollte sie noch aus dieser Welt? Ihr Leben ging schon über das biblische Alter hinaus und es war nicht nur voll Mühe und Arbeit gewesen, sondern auch voll Kummer und Sorgen. Sie war nicht nur seelisch müde, sondern auch ihr Körper verlangte nach Ruhe.

Und die Zeit, die ihr jetzt wieder bevorstand? Nicht nur die Sorge um Robert würde sie anfallen wie ein bissiger Hund, sondern es stand ihr auch der letzte und schwerste Kampf bevor... um Hartenau! Geballt legte sie die Fäuste auf den Tisch. Zornig wallte es in ihr auf. Nein, so leicht sollten die Polen sie nicht unterkriegen. —

Durch den Park war Trudchen unbehelligt heimgekehrt. Sie hatte sich schon in ihr Schlafzimmer begeben, als der Wagen vorfuhr, der ihren Vater nach Hause brachte. Sie wunderte sich, daß er so früh heimkehrte, aber es war ihr lieb, denn nun konnte sie ihm doch noch alles mitteilen.

Vergnügt trat Ritter in die nur schwach erhellte Diele, wo ihn Gertrud begrüßte. „Na, noch auf, mein kleines Mädchen? Wunderst dich wohl, daß dein alter Herr so früh heimkehrt? Habe heute Glück gehabt. Habe den Wolzlegier für meinen Plan, na, sagen wir mal angesäuert. Ist schon auf den Leim gekrochen. Wurde mir leider etwas zu früh untreu. Kriegte eine Botschaft, empfahl sich mit den Worten: `Er hätte einen seltenen Vogel gefangen.`“

Trudchen hatte dem Vater den Mantel abgenommen. „Ja, die Polen haben Robert an der Grenze abgefangen.“

Der leichte Rausch, den Ritter heimgebracht, verflog. „Was sagst du, den Robert haben die Polen abgefangen? Wie kommt denn der Junge an die Grenze oder über die Grenze? Denn auf deutschem Boden können die Polacken ihn doch nicht festnehmen.“

„Er kam gestern nacht heimlich über die Grenze. Heute, als er zurückging, haben ihn die Polen erwischt.“

„Woher weißt du denn das?“

„Großmutter hatte den Kowalski mitgeschickt. Er hat gehört und gesehen, wie Robert gefangen und fortgeführt wurde.“

An seinem Arm war Trudchen in die hellerleuchtete Wohnstube getreten. „Soll ich dir noch etwas zu essen und zu trinken bringen?“

Das Beben in ihrer Stimme fiel ihm auf. Er faßte die Tochter an der Hand und sah ihr in die Augen. „Kind, Mädel, was ist dir? Geht dir das so nahe?“ Sie warf sich an seine Brust und schluchzte auf. Er strich ihr liebkosend über das Haar. „Mir scheint, du hast den Jungen lieb!“

Sie hob das Gesicht und sah zu ihm auf. „Ja, Vater, ich habe Robert lieber als mein Leben. Ich habe mich heute mit ihm verlobt. Nur die Sehnsucht nach mir hatte ihn hergetrieben.“

Ritter ließ sich in einen Stuhl sinken. „Gib mir etwas zu trinken, mein Kind, was niederschlägt. Mir ist schwach geworden.“ Er trank den Kognak aus, den Trudchen ihm einschenkte. „Also verlobt habt ihr euch? Fest verlobt mit Heiraten und ewiger Treue?“

„Vater!“ klagte Trudchen leise.

„Mußt nicht meine Worte auf die Wagschale legen, mein Kind. Ein bißchen spukt noch der biedere Alkohol in mir, den ich mit dem Herrn Kommissar genossen habe. Aber ich bin trotzdem nüchtern. Das ist also gewissermaßen mein zukünftiger Schwiegersohn, den die Polacken heute an der Grenze abgefangen haben.“

„Nicht bloß gewissermaßen, sondern gewiß und wahrhaftig,“ erwiderte Trudchen mit fester Stimme.

Ritter deutete mit der Hand auf sein Glas und ließ es neu füllen, dann streckte er seine Hand nach der Tochter aus und zog sie an sich heran. „Also treue Liebe bis zum Grabe. Nanu, grans' bloß nicht. Was geschehen, ist geschehen. Nun soll der liebe Herr Schwiegervater das heiße Eisen aus dem Feuer holen? Traudelein, das wird nicht ganz leicht sein! Der Schuft! Ich wollte sagen, der Herr Kommissar scheint sich auf ihn gesetzt zu haben. Aus seinem Gesicht strahlte heute abend eine so gehässige Freude, als er sich verabschiedete, daß es mir auffiel. Wer dem Kerl in die Finger fällt, der hat wenig zu hoffen.“

„Aber Robert hat doch nichts weiter verbrochen, als daß er über die Grenze wollte.“

„Kind, stell' dich nicht so an! Du weißt ebensogut wie ich, daß die Polen keine Skrupel, oder was man so Gewissensbisse nennt, kennen.“

„Das weiß ich, aber vielleicht wäre mit Geld etwas zu erreichen.“

„Ja, vielleicht mit so viel, wie Strelkau wert ist. Vielleicht wird es auch nicht langen, wenn der Halunke merkt, daß ich es für die Befreiung Roberts anlegen will. Daß die alte Gnädige es nicht kann, weiß der Kerl nur zu genau.“

„Vater, und wenn es mein ganzes Erbteil kostet,“ rief Trudchen erregt.

„Kindchen, nicht zu hitzig. Nur immer ruhig reiten auf jungen Pferden und bei schlechten Nachrichten ruhig Blut bewahren. Gieß noch einmal ein und dann erzähl' mir, wie alles gekommen ist.“

In knapper Form gab Gertrud Bescheid. Sie hatte sich dem Vater auf den Schoß gesetzt und sich an ihn geschmiegt. Sie schloß ihren Bericht: „Es ist doch ganz unerfindlich, wie der Kommissar von Roberts Besuch Kenntnis erhalten haben kann. Drüben hat nur unser Verwalter davon gewußt, was er beabsichtigte und wohin er ging.“

„Ja, das ist mir auch ein Rätsel, das wir vorläufig nicht lösen können. Du hast doch nicht etwa einen Verdacht auf den Verwalter? Der Mann ist als Eleve eingetreten und jetzt schon zehn Jahre bei mir. Das mach' dir man ab.“

Gertrud schwieg eine Weile und reichte ihrem Vater das Glas. „Wir müssen doch alles daran setzen, Robert zu befreien.“

„Ja, mein Kind, aber stell' dir das nicht so leicht vor. Schon, um bloß zu erfahren, wo sie ihn hingebracht haben, wird eine schwere Sitzung kosten. Ehe ich den Wolzlegier nicht über die Schwelle des Bewußtseins hinübergebracht habe, wird er nicht den Mund auftun und dann, was hilft uns das?“

„Weißt, was mir eben einfällt, Vater? Du fährst zu Lubomierski, und dann gehst du in Posen zu einem Rechtsanwalt, der kein fanatischer Pole ist. Wenn der die Sache in die Hand nimmt...“

„Halt, stopp, mein Kind, so weit möchte und kann ich mich mit der Sache nicht einlassen. Das müßte die alte Gnädige tun.“

„Das wird sie natürlich gern tun, aber du mußt vorher durch Lubomierski Erkundigungen einziehen, daß man nicht an den Falschen gerät.“

Gertrud stand von dem Knie des Vaters auf und nahm sein Gesicht in beide Hände. „Vater, vergiß nicht, daß es sich um mein Lebensglück handelt. Ich habe mit Robert immer Mitleid gehabt, ich habe aber nicht gewußt, daß ich ihn liebte. Jetzt weiß ich es, seitdem ich das erlebt habe, daß er die Kühnheit gehabt hat, sich für mich in Not und Gefahr zu begeben.“ Während sie sein Gesicht mit Küssen bedeckte, streichelte ihr der Vater die Arme und schob sie dann von sich ab.

„Nun geh mal schlafen, mein Kind. Morgen ist auch ein Tag. Und ich muß mir das alles mal ordentlich überlegen. Ich glaube, es wird eine schwere Zeit für mich werden, wenn ich den Wolzlegier betrunken muß. Der Kerl verträgt unheimlich viel. Aber was muß, das muß!“

„Ach, lieber Vater, das wird dir doch nicht schwerfallen,“ erwiderte Gertrud mit einer kleinen Schelmerei im Auge.

„Nein, ich lasse mir gefärbtes und ungefärbtes Wasser geben wie die Schankmädel, die mit uns die ganze Nacht durchhalten müssen. Gute Nacht, mein Kind.“

Noch lange lag Trudchen wach und plagte sich mit ihren Gedanken, die Robert suchten, von ihm zu Großchen gingen und wieder zu ihm zurückkehrten. Er lag wahrscheinlich im Finstern auf einem harten Brett und dachte ebenfalls in tiefster Sehnsucht an sie. Vielleicht fühlte er, daß ihre Gedanken, ihr heißes Mitgefühl auch bei ihm waren. Sie faltete die Hände und ihre Gedanken wurden ein langes, inbrünstiges Gebet.

Achtzehntes Kapitel

Am andern Vormittag fuhr Ritter schon zeitig nach der Stadt. Er hatte noch keinen festen Plan, wie er es anfangen könnte, Roberts Aufenthalt auszukundschaften. Am Bahnübergang wurde er von einem Mann angerufen, der ihn fragte, ob er Eier oder Butter zu verkaufen hätte. Er kannte den Mann. Es war ein mit allen Hunden gehetzter Kerl, der alles übernahm, woran er etwas verdienen konnte. Er fuhr für einen Fleischer aufs Land, Vieh aufzukaufen. Er handelte selbst mit allem möglichen.

Er winkte ihn an den Wagen. „Kurek, wollen Sie sich ein Stück Geld verdienen?“

„Aber allemal, Herr Rittergutsbesitzer!“

„Wo kann ich Sie ungestört sprechen?“

Kurek wies mit der Nase auf eine kleine Kneipe, die schrägüber am Anfang der Straße lag. Ritter stieg ab und schickte sein Fuhrwerk nach dem Gasthof, wo er immer einzukehren pflegte.

Nachdem sie sich etwas zu Trinken hatten geben lassen, machte Ritter den Aufkäufer mit seinem Vorschlag bekannt und versprach ihm hundert deutsche Mark, wenn er Roberts Aufenthalt auskundschaftete. Er gab ihm auch den Fingerzeig, daß er wahrscheinlich nicht ins Gefängnis eingeliefert worden sei, sondern in einer der beiden Kasernen gefangengehalten werde. Kurek meinte, das sei nicht schwer zu erfahren, dazu brauchte er nur etwas Betriebskapital, um einige Gurgeln einzuölen. Nachdem ihn Ritter auch damit reichlich versehen, ging er in seinen Gasthof. Schon gegen Mittag erschien Kurek mit der Nachricht, Robert befinde sich in der ehemaligen Artilleriekaserne. Er sei gestern abend eingebracht und in der Nacht von Wolzlegier verhört worden. Eben habe er diesen wieder aus der Kaserne kommen sehen.

Ritter wollte eben seinen Wagen vorfahren lassen, als die alte Gnädige eintrat. Trudchen war morgens bei ihr gewesen und hatte ihr im Auftrage des Vaters angeraten, erst den Kreischef aufzusuchen und sich bei ihm zu beschweren. Wenn der Gang, wie anzunehmen war, erfolglos wäre, müßte sie nach Posen fahren. Frau Esther war schon bei Sznayda gewesen. Er hatte sie mit glatter Höflichkeit abgewiesen. Er habe noch keine Meldung von der Verhaftung erhalten. Er habe auch nicht die Macht, sich in Maßregeln einzumischen, die von der Defensive im Interesse der Sicherheit des Landes für nötig erachtet würden.

Nun war sie in den Gasthof gekommen, wo alle deutschen Gutsbesitzer einkehrten, in der Hoffnung, Ritter zu treffen. Er gab ihr die Adresse von Lubomierski, der ihr einen energischen und vertrauenswürdigen Rechtsanwalt empfehlen würde. Vor allen Dingen müßte festgestellt werden, ob Robert seine deutsche Staatsangehörigkeit noch besäße. Er sei deutscher Offizier, eben erst aus der Gefangenschaft zurückgekehrt und unterstände, da er formell noch nicht entlassen sei, der deutschen Militärbehörde. Dann könne man sich an das Auswärtige Amt in Berlin wenden und von ihm Schutz und Hilfe verlangen. Frau Esther winkte resigniert mit der Hand. „Haben Sie noch Zutrauen zu der jetzigen Regierung in Berlin? Ich nicht. Die wird keinen Finger rühren, kein Blatt Papier daran wenden. Und wenn schon? Glauben Sie, daß die Polen sich daran kehren werden? Nein, man müßte versuchen, ihn mit List und Bestechung zu befreien, wenn man nur wüßte, wo er ist.“

„Das habe ich schon ausgekundschaftet. Er ist hier, aber in der Gewalt der Defensive. Wenn man es bloß durchsetzen könnte, daß er dem ordentlichen Gericht ausgeliefert und von einem Untersuchungsrichter vernommen wird. Aber daraus wage ich, offen gestanden, nicht zu hoffen. Wen die Defensive in ihren Klauen hält, den läßt sie nicht mehr los.“

Frau Esther bestand darauf, noch am Ort einen Rechtsanwalt aufzusuchen und zu befragen. Er wäre ihr von früher her als ein umgänglicher, kluger Mann bekannt. Sie kam bald mit dem Bescheid zurück, daß er es von vornherein abgelehnt habe, sich mit der Angelegenheit, die von der Defensive ausgegangen sei, zu befassen. Wolzlegier habe als Agent das Recht, selbständig Verhaftungen vorzunehmen. Die alte Frau war verbittert, aber nicht mutlos. Sie wollte gleich am Nachmittag nach Posen fahren und dort ihre Bemühungen fortsetzen.

***

Mit Kolbenstoßen ins Kreuz und Genick wurde Robert, den zwei Mann an den Armen gepackt hielten, vorwärtsgetrieben. Er hatte den ersten Schreck überwunden und sich in sein Schicksal gefunden. Im Hundetrab ging es an der Grenze entlang bis zu einem Waldstück, wo ein Wagen auf sie wartete. Es war ein gewöhnlicher Krümperwagen ohne Federn, der auf dem holperigen Wege furchtbar stuckerte. Nach einer Stunde war die Stadt erreicht. Der Wagen hielt vor einem hohen dunklen Gebäude, das er als Kaserne erkannte.

Er wurde aus dem Wagen gezerrt und in das Gebäude geführt. Dort erst wurde eine Laterne angezündet, mit der man ihm ins Gesicht leuchtete. Grinsend umstanden ihn die Kerle. Er fühlte, daß sein Gesicht mit der schwarzen Erde bedeckt war und konnte sich ihre Heiterkeit bei seinem Anblick erklären. Dann wurde er eine Treppe hinab in den Keller geführt und in ein finsteres Loch gestoßen. Aber ohne daß man ihm die Fesseln von den Armen löste. Er begann, als die Türe sich hinter ihm schloß, den Raum mit den Füßen abzutasten. Nirgend ein Schemel oder Gegenstand, auf dem man sich niederlassen konnte. In verzweifelter Stimmung setzte er sich auf den kalten Fußboden, der aus Ziegeln bestand, und lehnte sich gegen die Wand.

Jetzt erst kam ihm die Gefahr, in der er sich befand, zu vollem Bewußtsein. Wenn man ihn hier verhungern ließ? Aber nein, sagte er sich, man wird mich verhören, um von mir ein Geständnis zu erpressen. Dann dachte er an Trudchen und die Großmutter. Die hatten doch durch Kowalski schon Nachricht über seine Verhaftung erhalten und würden alles aufbieten, um ihn zu befreien. Aber wie? Er versank in dumpfes Brüten, aus dem ihn das Aufschließen der Tür aufstörte. Zwei Kerle erschienen mit der Laterne, rissen ihn hoch und führten ihn die Treppe empor in ein hellerleuchtetes Zimmer, wo der Agent am Tisch saß.

Er gebot: „Zieht ihn aus und untersucht ihn.“ Die Fesseln wurden ihm gelöst und seine Kleider in roher Weise vom Körper gerissen. Bei der Untersuchung gingen die Kerle sehr genau vor. Sie nahmen alles aus den Taschen und legten es auf den Tisch. Jede Falte, jede Naht wurde von ihnen untersucht.

„Ich erhebe Einspruch gegen diese Behandlung. Ich verlange Auskunft, weshalb ich verhaftet worden bin.“

Der Agent grinste höhnisch. „Wirst du alles erfahren, mein Bürschchen.“

Er nahm ein kleines Notizbüchlein in schwarzem Glanzleinenband, das Robert bei sich getragen hatte, in die Hand und blätterte darin. Da las er: „T. hat mich heute ausgescholten. Ich habe ihr versprechen müssen, nicht über die Grenze zu kommen. T. hat heute geweint. Ich habe es deutlich vernommen, und sie hat es mir auch gesagt. Um mich hat sie geweint...“

Mit einem teuflischen Grinsen sah der Agent auf. „Wer ist die `T.'“

„Eine Dame, die ich Ihnen nicht zu nennen brauche.“

„So, Sie wollen nicht? Na, das wird ja leicht festzustellen sein. Ziehen Sie sich an.“

„Ich verlange, wenn Sie mich nicht freilassen, ein menschenwürdiges Lager. Ein anständiges Zimmer für die Nacht.“

„Sie können viel verlangen. Vor allem haben Sie erst mal zu antworten. Weshalb sind Sie heimlich über die Grenze gekommen?“

„Um mich mit meiner Großmutter zu besprechen.“

„Sie sind über die grüne Grenze gekommen, haben also keine Einreiseerlaubnis gehabt?“

Über Robert war eine Art grimmigen Humors gekommen. „Stimmt auffallend. Ich wollte auch auf demselben Wege nach Deutschland zurückkehren, wenn mich Ihre Banditen nicht daran gehindert hätten.“

„Sie werden gut tun, sich in Ihrem Benehmen und Ausdrücken zu mäßigen, sonst werde ich Mittel anwenden, um Ihnen das abzugewöhnen. Sie sind erst mal fahnenflüchtig.“

„Nein. Ich gehöre dem polnischen Heere nicht an.“

„Nicht? Sie haben doch Ihr Ehrenwort gegeben, in das polnische Heer einzutreten.“

„Nein. Das habe ich nicht gegeben. Das ist eine Lüge.“

„Wir haben einen Zeugen dafür, dessen Wort mehr gilt als Ihres. Sie haben sich mit dem Ehrenwort die Erlaubnis erschlichen, zur Wiederherstellung Ihrer Gesundheit in das Ausland zu gehen.“

„Auch das muß ich bestreiten.“

„Daß Sie alles bestreiten müssen, ist klar, das wird Ihnen aber nichts helfen. Sie haben nicht das Bad aufgesucht, das Ihnen der Arzt vorgeschrieben hatte, sondern sich gleich nach Werben begeben.“

„Das ist doch kein Verbrechen. Mir war doch kein Ort zum Aufenthalt angewiesen.“

„Sie haben noch jetzt Verbindungen mit dem deutschen Generalstab, dem Sie Nachricht über polnisches Militärwesen liefern?“

Jetzt fuhr Robert auf. Er fühlte die Schwere der Beschuldigung. „Das ist ein falscher Verdacht, den Sie mir nicht beweisen können.“

„Das ist eine ganz falsche Ansicht von Ihnen. Nicht wir haben Ihnen das zu beweisen, sondern Sie haben den Beweis zu führen, daß Sie unschuldig sind.“

„Das ist ja ein ganz neuer Grundsatz Ihrer sogenannten Rechtspflege.“

Der Agent blätterte wieder in dem Notizbuch, dann kniff er das linke Auge zu und sah Robert lauernd an. „Wer ist die T., deren Äußerungen Sie hier aufgezeichnet haben?“

„Darüber verweigere ich die Aussage.“

„Ist es nicht das Fräulein Ritter auf Strelkowo? Wie haben Sie mit ihr von Werben aus in Verbindung gestanden?“

Jetzt erschrak Robert heftig. Der Agent war augenscheinlich auf der richtigen Fährte. In möglichst gleichgültigem Tone gab er zur Antwort: „Das Fräulein Ritter kam täglich zu meiner Großmutter, und daher habe ich Ihre Äußerungen nachträglich aufgezeichnet.“

„Sie wollen mir nicht die Wahrheit sagen. Ich werde Ihnen jetzt Zeit geben, sich zu besinnen. Führt ihn ab!“

Zwei Kerle nahmen ihn in die Mitte und führten ihn wieder in sein Kellerloch. Eine Weile ging Robert unruhig in seiner Zelle hin und her und überdachte seine Lage. Es kam ihm vor, als wenn er in einer Mausefalle saß, vor der die Katze saß, die ihre Krallen nach ihm ausstreckte. Am meisten beunruhigte ihn die Tatsache, daß der Agent augenscheinlich infolge der Eintragungen in sein Notizbuch auf eine geheime Verbindung zwischen Strelkau und Werben schloß. Wenn der Agent eine überraschende Haussuchung in Strelkau vornahm und die geheime Fernsprechanlage entdeckte, dann waren auch Ritter und Trudchen verloren.

Nach einiger Zeit wurde sein Gefängnis wieder aufgeschlossen, zwei Kerle warfen ihm einen Strohsack und eine durchlöcherte Pferdedecke hinein und entfernten sich wieder. Er setzte sich auf den Strohsack und bedeckte sich die Knie mit der Decke. So saß er lange Zeit von zermürbenden Sorgen und Gedanken gequält, bis ihn die Müdigkeit umwarf und der Schlaf ihm wie ein Erlöser nahte.

Am Morgen wurde er durch einen Wärter geweckt, der ihm eine Schüssel Mehlsuppe und ein Stück Brot brachte. Das Brot aß er auf, denn sein Magen knurrte vernehmlich. Die Suppe ließ er unberührt. Von irgendwoher hörte er eine Uhr schlagen. Er zählte die Schläge. Es war zehn Uhr. Gleich darauf wurde seine Zelle wieder geöffnet und er in dasselbe Zimmer geführt, wo der Agent bereits auf ihn wartete. Als Robert vor ihm stand, begann er wieder in dem Notizbuch zu blättern.

Robert benutzte die Pause: „Ich verlange eine menschenwürdige Unterkunft und das Recht, mich selbst zu beköstigen. Selbst nach Ihren Grundsätzen bin ich ein politischer Gefangener, den man nicht wie einen gemeinen Verbrecher behandeln darf.“

Der Agent sah auf. „Das soll sich erst herausstellen. Vorläufig nehme ich an, daß diese Eintragungen eine Geheimschrift sind, deren Schlüssel ich finden werde. Mich interessiert nur die Frage, auf welchem Wege Sie die Nachrichten von Strelkowo erhalten haben. Daß Sie Äußerungen, die in Ihrer Gegenwart gefallen sind, nachträglich aufgezeichnet haben, ist ein Märchen. Ich lasse mir keine Märchen aufbinden. Verstehen Sie, junger Mann?“

Nachdem der Agent noch eine Reihe von Fragen getan hatte, auf die Robert nichts erwiderte, herrschte er ihn an: „Weshalb antworten Sie nicht? Soll ich Ihnen die Zunge lösen?“

„Ich weiß, daß Sie die Macht haben, mich mißhandeln zu lassen, aber trotzdem werde ich auf keine Frage mehr antworten.“

„Bedenken Sie, daß Sie wegen Fahnenflucht und Landesverrat angeklagt sind.“

„Das habe ich begriffen,“ erwiderte Robert trotzig, „aber ich verweigere trotzdem jede Antwort.“

Der Agent schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte: „Führt ihn ab!“ Vergeblich erwartete Robert im Laufe des Tages wieder zum Verhör vorgeführt zu werden. Auch kein Wärter ließ sich mit Essen blicken. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Türe, aber ohne jeden Erfolg. Man wollte ihn also mit Hunger zähmen. Als es dunkelte, trieb ihn sein Magen dazu, die kalt und dick gewordene Suppe auszuessen. Sie war scharf gesalzen und erregte seinen Durst. Aber auch Wasser, das man doch selbst den schwersten Verbrechern gewährt, wurde ihm vorenthalten. Sein Mut sank. Je länger, je mehr kam ihm zum Bewußtsein, daß er sich in der Hand eines böswilligen, brutalen Feindes befand, von dem er nicht die geringste Schonung zu erwarten hatte.

Er war trotz seiner geistigen und körperlichen Beschwerde aus dem Strohsack sitzend eingeschlummert, als er wiederum durch das Schließen der Türe geweckt wurde. Zwei Soldaten erschienen mit einer Laterne und forderten ihn im barschen Tone auf, auszustehen und mitzukommen. Die Kerle sahen verdammt wenig vertrauenerweckend aus. Als er den Korridor entlang geführt wurde und nicht in das Vernehmungszimmer, blieb er stehen und fragte, wohin er geführt würde.

„Weg,“ erwiderte einer kurz.

„Dann verlange ich meine Sachen, meine Uhr und mein Geld wieder.“

Als sie ihn an den Armen faßten, um ihn vorwärtszuschleppen, sträubte er sich mit aller Kraft. Die Kerle brüllten, er schrie dagegen. Die Tür der Wachstube öffnete sich, ein Sergeant kam heraus und gebot Ruhe. Robert wiederholte sein Verlangen. Der Wachhabende zuckte die Achseln. „Ich habe keinen Befehl, Ihre Sachen herauszugeben.“ Nach langem Hin und Her holte er sie jedoch aus der Schublade seines Tisches.

Nun führten ihn die Schaschken durch die schwach erleuchtete Straße zum Bahnhof. Er fragte unterwegs, ob sie einen Rachenputzer und ein Glas Bier trinken wollten, was sie eifrig bejahten. Nun führten sie ihn auf den Bahnhof. In dem Wartesaal dritter Klasse genehmigten sie einige Schnäpse und Bier und ließen auch Robert seinen Hunger und Durst stillen. Dann brachten sie ihn an einen Güterzug, dem ein Personenwagen angehängt war. In einem Abteil nahmen sie mit ihm Platz. Jetzt waren sie zugänglicher, und als Robert fragte, wohin die Reise ginge, erwiderte einer: „Nach Sczypiorno.“

„Was ist das?“

„War früher Gefangenlager.“

Die Fahrt dauerte ewig. Seine Wächter schliefen so fest, daß Robert auf einer der kleinen Stationen, auf denen der Zug hielt, ungehindert hätte entweichen können. Das hatte doch keinen Zweck. Wohin sollte er sich wenden? Man würde ihn doch bald wieder aufgreifen. Nein, jetzt hieß es durchalten.

Der Tag begann zu grauen, als seine Wächter auf einer kleinen Station mit ihm ausstiegen und mit ihm abmarschierten. Es wurde ihm unheimlich zumute. Wenn die Kerle ihn jetzt um die Ecke brachten? Einige Stiche mit dem Bajonett, dann war er erledigt. Ohne den Kopf zu wenden, schielte er nach rechts und links. Beim geringsten Anzeichen, daß sie etwas gegen ihn unternehmen wollten, gedachte er die Flucht zu ergreifen.

Das schien nicht der Fall zu sein. Der eine fluchte von Zeit zu Zeit, daß er die Nacht durchfahren und dann noch so weit marschieren müßte. Der andere brummte vor sich hin. Dann nahm Robert eine Reiseflasche voll Schnaps, die er auf dem Bahnhof erstanden hatte, aus der Tasche, öffnete sie und trank ihnen zu. Sie tranken mit vergnügter Miene die Flasche aus. Nun schritt Robert mit größerer Ruhe mit ihnen dahin. So sahen nicht zwei Bösewichte aus, die ihn ums Leben bringen wollten. Nach einiger Zeit tauchten in der Dunkelheit vor ihnen einige niedrige Baracken aus. Die beiden Schaschken stießen mit dem Kolben gegen das Tor. Endlich nach langer Zeit ertönte eine Stimme von innen. „Wer ist da?“

„Gefangentransport.“

Es antwortete ein langer Fluch: „Geht zum Teufel mit eurem Gefangenen!“

„Gefangener der Defensive. Schriftlicher Befehl.“

Die Stimme, die drinnen nochmals heftig fluchte, kam Robert merkwürdig bekannt vor. Das Tor wurde geöffnet. „Kommt rein!“

Im nächsten Augenblick stand Robert seinem Hax, seinem Kameraden aus der Gefangenschaft, gegenüber. Er trug eine Rogatka mit ungeheurem Schirm, eine verschossene Tuschurka, einen dicken Schnurrbart unter der Nase, aber Robert erkannte ihn auf dem ersten Blick. Beinahe hätte er in freudiger Überraschung „Hax“ gerufen, aber er wurde rechtzeitig durch einen abwehrenden Blick gewarnt.

Neunzehntes Kapitel

Die polnische Republik empfand wieder einmal das Bedürfnis, ihre Kassen durch eine Zwangsanleihe zu füllen. Sie hielt es jedenfalls für heilsamer, die Koscziuskos an sich zu nehmen, als immerfort neue zu drucken. Was jeder Staatsbürger von dieser Anleihe aufbringen mußte, wurde nach Maßgabe seiner Steuerveranlagung eingeschätzt. Sobald Ritter von dieser Tatsache erfahren hatte, beeilte er sich, das Steueramt aufzusuchen. Mit dem Vorsteher, mit dem er bei jedem Besuch einen inhaltreichen Händedruck wechselte, stand er im freundlichen Einvernehmen. Der alte Herr war gegen ihn so liebenswürdig, deutsch zu sprechen, obwohl seine Fähigkeiten dazu sehr gering waren. Ritter erlaubte sich den Scherz, hundert Koscziuskos, die er hartnäckig „Koschnitzkis“ nannte, wie sie im Volksmund hießen, anzubieten.

Der Beamte lächelte schmerzlich und schüttelte den Kopf. „Das wären etwa zwei deutsche Mark.“

Allmählich steigerte Ritter sein Angebot auf 500 Gulden. Auch das genügte nicht. Der alte Herr schlug ein Büchlein auf und zeigte ihm, daß er mit 50000 Gulden eingeschätzt war. Er könne nichts davon abhandeln lassen, denn die Beträge seien „oben“ festgesetzt worden. Wohl oder übel mußte Ritter sich dazu verstehen, die Summe zu zeichnen und anzuweisen. Als er sich verabschieden wollte, hielt ihn der Beamte fest und verlangte noch für ein halbes Jahr die „Zinsen“.

Ritter machte ein verblüfftes Gesicht, dann lachte er laut auf. Das war ihm noch nicht vorgekommen! Ein Staat, der von seinen Untertanen eine Anleihe eintreibt, die er nach allgemeinem Brauch zu verzinsen hat, läßt sich umgekehrt von seinen Geldborgern Zinsen bezahlen. Das konnte doch nur ein schlechter Witz von dem Vorsteher sein. Aber nein, es war Ernst, bitterer Ernst. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auch diesen Betrag noch zu zahlen.

— — — Mit der Adresse des Herrn Regierungsrat Lubomierski versehen, fuhr Frau Esther nach Posen. Eine starre Ruhe war über sie gekommen. Sie hatte wenig oder gar keine Hoffnung, daß es ihr gelingen könnte, ihren Enkel aus den Krallen der Defensive zu befreien. Der Schlag, der gegen ihn geführt wurde, galt nicht zum wenigsten auch ihr. Es war die Vergeltung für ihr mutiges Festhalten am Deutschtum. Lange hatte sie mit dem Gedanken gerungen, ob sie irgendeine Schuld an Roberts Unglück trage und war zu dem Entschluß gekommen, daß es nicht der Fall war. Es war ihr ein unabweisbares Bedürfnis, ja eine sittliche Pflicht, ihre Überzeugung zu bekennen und zu verteidigen. Der Junge war geradezu mutwillig in sein Unglück hineingerannt, wenn es auch entschuldbar war, daß ihm das Herz mit dem Verstand durchgegangen war.

Und ein Entschluß stand in ihr fest. Sie wollte mit dem Lubomierski Abrechnung halten, der durch das Märchen von Roberts Ehrenwort dem Agenten die Waffe in die Hand gegeben hatte, ihren Enkel als fahnenflüchtig zu erklären.

Der Herr Rat war sehr verlegen, als ihm Frau Dalkowski aus Hartenau gemeldet wurde. Er hätte sich am liebsten verleugnen lassen, wenn der Diener ihr nicht schon seine Anwesenheit verraten hätte. Die alte Dame kam doch sicherlich, um seinen Rat und seinen Einfluß in Anspruch zu nehmen. Und er mußte ihr sagen, daß er nicht mehr den geringsten Einfluß besaß, daß er durch seine Beförderung kaltgestellt worden war. Seine Frage: „Was verschafft mir die Ehre, gnädige Frau?“ klang deshalb sehr kühl.

„Können Sie mir einen Rechtsanwalt nennen, der anständig genug ist und auch den Mut besitzt, eine gerechte Sache gegen die Gewaltpolitik Ihrer Regierung durchzufechten?“

„O ja, gnädige Frau. Es gibt solche Männer bei uns. Worum handelt es sich denn?“

„Mein Enkel ist beim Überschreiten der Grenze im Auftrage des Agenten Wolzlegier verhaftet worden.“

„Ihr Enkel befand sich doch drüben in Sicherheit. Was trieb ihn über die Grenze hierher zurück?“

„Das geht Sie zwar nichts an, aber ich will es Ihnen sagen, Herr Lubomierski. Sein Herz trieb ihn nach Hause. Er kam, um sich mit Fräulein Ritter zu verloben.“

Der junge Mann wurde bleich und senkte den Kopf. Frau Esther saß ihm eine Weile schweigend gegenüber. Sie sah, wie der Schmerz in ihm wühlte. Ein leises Gefühl von Mitleid stieg in ihr auf. Aber sie unterdrückte es. Als sie sah, daß er sich gesammelt und gefaßt hatte, fuhr sie fort: „Mein Enkel verlebte mit seiner Braut einen glücklichen Tag bei mir. Auf dem Rückweg wurde er an der Grenze verhaftet. Der Agent beschuldigt ihn der Fahnenflucht. Diese Anklage haben Sie ihm verschafft.“

„Aber, gnädige Frau, wie kommen Sie dazu, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben?“

„Sie haben dem Agenten das Märchen erzählt, mein Enkel hätte Ihnen das Ehrenwort gegeben, zurückzukehren und sich zum Eintritt in das polnische Heer zu melden.“

„Das habe ich allerdings getan,“ erwiderte Lubomierski heftig. „Es war nur das Mittel zu dem Zweck, Ihrem Enkel die Ausreise zu ermöglichen. Ich habe es nicht für möglich gehalten, daß Ihr Enkel so unvorsichtig sein könnte, nochmals über die Grenze zu kommen.“

„Das heißt,“ gab Frau Esther ruhig zur Antwort, „Sie wollten dadurch meinem Enkel unmöglich machen, sein Elternhaus wiederzusehen und sein Gut zu übernehmen.“

Wortlos schüttelte der junge Mann den Kopf. Die alte Gnädige fuhr mit scharfer Stimme fort:

„Wir sind der Überzeugung, daß Sie die Ausreiseerlaubnis nur deshalb erteilt haben, um sich meinen Enkel, der Ihnen als Nebenbuhler bei Fräulein Ritter gefährlich erschien, vom Halse zu schaffen. Und das angebliche Ehrenwort meines Enkels diente demselben Zweck.“

Der junge Mann sprang auf: „Gnädige Frau schieben mir Beweggründe unter, die mir völlig fernlagen. Ich habe damals das Märchen von dem Ehrenwort, wie Sie es nennen, nur zu meiner eigenen Sicherheit erfunden, um mir dem Agenten gegenüber den Rücken zu decken. Ich bedauere sehr, daß es zu der Anklage auf Fahnenflucht Veranlassung gegeben hat. Ich habe aus reinem Mitgefühl Ihrem Enkel zur Ausreise verholfen. Ich wollte auch dem Agenten einen Strich durch die Rechnung machen, ihm sein Opfer entreißen. Das Märchen hat uns damals beiden geholfen. Daß Ihr Enkel die Unvorsichtigkeit begehen würde...“

Mit einer Handbewegung schnitt ihm Frau Esther das Wort ab und stand auf. „Ihr Bedauern hilft uns nichts mehr. Ich bin nur hergekommen, um Sie zu fragen, ob Sie bereit sind und den Mut besitzen, vor Gericht zu bezeugen, daß mein Enkel Ihnen nie sein Ehrenwort gegeben hat, sich zum Eintritt in das polnische Heer zu stellen. Das verlange nicht nur ich von Ihnen, sondern auch Fräulein Ritter erwartet es von Ihrer Ehrenhaftigkeit, daß Sie der Wahrheit die Ehre geben.“

Aus dem Gesicht des jungen Mannes wechselten die Farben. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Seine Hände krampften sich zusammen und öffneten sich wieder. Frau Esther stand ihm hochaufgerichtet gegenüber und sah ihn scharf an: „Nun, Herr Rat?“

Er hob den Kopf und streckte ihr die Hand entgegen. „Sagen Sie Fräulein Ritter, daß sie sich nicht in mir getäuscht habe. Ich werde mein Zeugnis nicht verweigern. Aber, ob die Wahrheit, daß Ihr Enkel wegen seiner Gesinnung meine Aufforderung in das polnische Heer einzutreten, zurückgewiesen hat, ihm nicht schaden wird?“

„Das lassen Sie unsere Sorge sein,“ fiel ihm Frau Esther ins Wort. „Wenn man alle Deutschen wegen ihrer Liebe zum Vaterlande einsperren wollte, dürften die polnischen Gefängnisse nicht ausreichen.“ Sie entzog ihm ihre Hand, die er bis dahin festgehalten hatte.

„Wollen gnädige Frau sich nicht mehr den Namen eines Rechtsanwalts nennen lassen?“

„Ich bitte darum.“

„Es ist ein Vetter meines Vaters desselben Namens. Ich werde Ihnen eine Empfehlung mitgeben. Wenn er Ihren Auftrag, wie ich hoffe, annimmt, wird er ihn mit aller Energie durchführen.“ Er setzte sich und schrieb schnell einige Zeilen, die er in einen Umschlag steckte und mit der Adresse versah.

Frau Esther mußte bis zum Nachmittag warten, ehe sie den Justizrat sprechen konnte. Ein zierlicher, alter Herr mit eisgrauem Spitzbart. Er wies ihr einen bequemen Sessel an und hörte aufmerksam zu, während Frau Esther kurz den Fall ihres Enkels berichtete. Ab und zu machte er sich eine Notiz. Sie schloß: „Es handelt sich für mich in erster Linie darum, meinen Enkel aus der Gewalt der Defensive zu befreien und vor ein ordentliches Gericht zu bringen. Sein ganzes Vergehen besteht doch nur darin, daß er heimlich über die Grenze gekommen ist und auf demselben Wege wieder nach Deutschland zurückkehren wollte. Würden Sie bereit sein, seine Verteidigung zu übernehmen?“

Der alte Herr wiegte bedächtig den Kopf. „Ich nehme selbstverständlich den Auftrag an. Ich zweifele nicht, daß Ihr Enkel unschuldig verhaftet worden ist und halte es für einen bedauerlichen Mißgriff des Agenten. Ich darf es Ihnen jedoch nicht verhehlen, daß ich eine sehr schwere Aufgabe übernehme. Aber ich will es versuchen. Zunächst muß ich mir von ihrem Enkel eine Vollmacht ausstellen lassen und den Antrag stellen, ihn persönlich sprechen zu dürfen. Gelingt mir das nicht, dann muß ich den Auftrag zurückgeben.“

„Würden Sie mir dann einen Rat erteilen, welche Schritte ich sonst noch unternehmen könnte?“

„Gern, gnädige Frau. Ich glaube aber, so viel Einfluß zu haben, um bis zu Ihrem Enkel vordringen zu können.“

Die ruhige, sichere Art des alten Herrn gab Frau Esther etwas Hoffnung. Sie kehrte mit dem nächsten Zug nach Hause zurück, wo Trudchen sie schon sehnsüchtig erwartete, die sich schon einen Plan zur Befreiung ihres Verlobten zurechtgelegt hatte. Sie wollte nach Berlin fahren und Roberts Schicksal durch die Zeitungen an die Öffentlichkeit bringen. Da gab es auch eine große Organisation, die sich mit dem Schicksal der aus Posen und Westpreußen geflüchteten Deutschen, der Vertriebenen und Verdrängten, sehr energisch beschäftigte. Sie wollte das Auswärtige Amt und die Oberste Militärbehörde für Robert zu interessieren suchen. Wenn es gelang, Robert vor ein ordentliches Gericht zu bringen, was Großchen nach der Unterredung mit dem Rechtsanwalt hoffte, dann müßte seine Befreiung gelingen.

Am nächsten Tage fuhr Ritter nach der Stadt, um für Trudchen die Ausreiseerlaubnis zu beschaffen. Am Bahnübergang traf er wieder auf Kurek, der ihm mit der Hand winkte. Er ließ halten und stieg vom Wagen.

„Haben Sie mir etwas Neues mitzuteilen?“

„Jawohl, Herr Rittergutsbesitzer. Der junge Herr ist nicht mehr in der Kaserne, er ist in der Nacht weggebracht worden.“

Ganz bestürzt fragte Ritter: „Irren Sie sich auch nicht? Woher wissen Sie das?“

„Verlassen Sie sich darauf, daß es richtig ist. Ich habe es in der Kantine von dem Sergeanten erzählen hören, der ihm seine Uhr und sein Geld zurückgegeben hat. Er hat dafür heute schon von dem Agenten einen gehörigen Wischer gekriegt.“

„Haben Sie eine Ahnung, wohin er gebracht ist?“

Kurek zuckte die Achseln. „Das werde ich vielleicht herausbekommen, wenn die beiden Soldaten zurückkehren, die ihn weggebracht haben.“

„Geben Sie sich Mühe, es zu erfahren. Sie können sich damit wieder ein Stück Geld verdienen.“

Vom Gasthof ging Ritter sofort ins Kreisamt. Der Starost war weggefahren. Sein Gehilfe, der auf einen inhaltreichen Händedruck hoffte, war sehr gefällig und bereit, die Ausreiseerlaubnis auszufüllen, abzustempeln und in Vertretung seines Chefs zu unterschreiben. Es lagen doch keine Bedenken irgendwelcher Art vor, wenn eine junge Dame zu Verwandten auf Besuch fahren wollte. Eine halbe Stunde später ging Ritter aus alter Gewohnheit nach der „feuchten Ecke“. Er fand das Lokal leer. Eine der Mamsellen wußte ihm zu berichten, daß der Kommissar vor etwa einer Stunde vorbeigefahren sei. Er trank stehend am Schanktisch einen Kognak, ging zum Gasthof und ließ seinen Wagen vorfahren.

Unterwegs überlegte er, ob er Trudchen mitteilen sollte, daß Robert weggebracht worden sei. Er beschloß es nicht zu tun, um sie nicht zu beunruhigen. Er fand seine Tochter in der höchsten Aufregung. Der Kommissar war dagewesen und hatte ihr ein schwarzes Büchlein vorgelegt. Sie hatte es durchblättert und sofort begriffen, daß es Aufzeichnungen waren, die sich Robert in Werben gemacht hatte.

„Kennen Sie das Buch,“ fragte Wolzlegier dabei.

„Nein, ich habe es nie gesehen.“

„Kennen Sie die Handschrift?“

„Nein, sie ist mir völlig unbekannt.“

„Das glaube ich nicht. Sie werden doch, da Sie so viel in Twardowo verkehren, die Handschrift des Dalkowski kennen.“

Trudchen zuckte die Achseln. „Ich habe nie etwas Schriftliches von Herrn Dalkowski zu Gesicht bekommen.“

„Aber Sie werden doch wissen, wen er mit dem Buchstaben `T' bezeichnet? Ich glaube, Sie sind damit gemeint.“

„Ja, Herr Kommissar, erlauben Sie mal die Frage, was geht das mich an? Selbst, wenn Ihre Vermutung richtig sein sollte.“

„Sie ist richtig,“ erwiderte Wolzlegier höhnisch lächelnd. „Nun möchte ich bloß von Ihnen wissen, wo diese Aufzeichnungen gemacht sind.“

„Darüber kann ich Ihnen beim besten Willen keine Auskunft geben.“

„Das wird sich noch alles aufklären lassen,“ hatte der Kommissar zum Abschied gesagt.

Die kurze Unterredung hatte Trudchen in ihrer Annahme bestärkt, daß der Pole eine geheime Fernsprechverbindung zwischen Strelkau und Werben argwöhnte. Gleich nach seiner Abfahrt hatte sie den Apparat aus seinem Versteck, aus einer mit einem Bild verhängten Nische entfernt und den Leitungsdraht, der auf der andern Seite hinter dem Schrank zum Fußboden und durch ihn hindurch in den Keller ging, beseitigt. Nun war eine Entdeckung so gut wie ausgeschlossen.

Als der Vater eintrat, war sie gerade dabei, ihren Koffer zu packen. Sie begrüßte ihn mit der Frage, ob er die Ausreiseerlaubnis erhalten habe. Als er bejahte, legte sich ihre Aufregung. Sie riet dem Vater, ihr die Depotscheine über das in Deutschland angelegte Kapital anzuvertrauen und ihr sobald wie möglich nachzufolgen. Sie habe das Gefühl, daß seine Sicherheit trotz seiner Polenfreundlichkeit und aller Opfer, die er gebracht habe, gefährdet sei.

„Du siehst Gespenster,“ erwiderte Ritter. „Auch die Polen schlachten nicht eine Henne, die ihnen goldene Eier legt.“

„Das haben Sie schon getan und werden es auch weiter tun.“

Kurz vor Mittag ging sie noch zu Großchen. Die alte Frau war sehr traurig, daß sie nun auch noch Trudchen verlieren sollte, an deren Liebe sie sich immer aufgerichtet hatte. Aber sie fand es verständlich, daß das liebe Kind nach Deutschland fahren wollte, um dort alle Hebel für die Befreiung ihres Verlobten in Bewegung zu setzen. Sie schloß sie tief bewegt in ihre Arme und küßte sie wiederholt.

Eine Stunde später fuhr Trudchen in Begleitung ihres Vaters zur Bahn. Mit dem Beamten, mit denen er viel zu tun hatte, war er gut Freund. Ohne Schwierigkeit erhielt er die Fahrkarte für Trudchen und geleitete sie zum Zug, der schon eingefahren war. Ihr standen die Augen voll Tränen. Der Abschied von Großchen war ihr sehr schwer gefallen. Nun fuhr sie in eine ungewisse Zukunft mit der Sorge um den geliebten Mann im Herzen. Sollten die wenigen Stunden des einen Tages das ganze Glück gewesen sein, das ihr vom Schicksal beschieden war?

Zwanzigstes Kapitel

Einige Tage vergingen, bis von Trudchen die Nachricht eintraf, daß sie gute Fahrt gehabt und wohlbehalten bei der Tante in Berlin gelandet sei. Währenddessen hatte die alte Gnädige von ihrem Anwalt aus Posen die Nachricht erhalten, daß von der Defensive keine Auskunft über ihren Enkel zu bekommen sei. Man wisse dort von einer Verhaftung eines Gutsbesitzers Dalkowski nichts. Der frühere Agent Wolzlegier sei nicht mehr in ihrem Dienst. Wenn eine Verhaftung stattgefunden habe, dann müsse sie von einer anderen Behörde ausgegangen sein.

Ritter hatte inzwischen durch Kurek in Erfahrung gebracht, daß Robert wahrscheinlich nach dem früheren Internierungslager Sczypiorno gebracht worden sei und es Frau Esther mitgeteilt, die es ihrem Anwalt meldete, mit der Bitte festzustellen, ob ihr Enkel sich wirklich dort befinde. Auch dieser Versuch, Roberts Aufenthalt zu erfahren, erwies sich als vergeblich. Man mußte annehmen, daß die polnischen Behörden absichtlich seinen Aufenthalt nicht angeben wollten. Es war ja auch ein offenes Geheimnis, daß die polnischen Beamten lügen, sooft sie den Mund auftun. Es schien ihnen gar nicht möglich zu sein, selbst wenn es sich um unbedeutende, nebensächliche Dinge handelte, die Wahrheit bekanntzugeben.

Eine müde Resignation kam über die alte Frau. Sie begann sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, Hartenau preiszugeben und Polen zu verlassen, um irgendwo über der Grenze die paar Jahre, die ihr noch vom Schicksal beschieden waren, zu verleben. Sie besaß noch wertvolle Schmucksachen, durch deren Verkauf sie sich ein paar Jahre über Wasser halten konnte.

Sie ging jetzt öfter zu Ritter, der sich seit der Abreise seiner Tochter auch vereinsamt fühlte. Den Plan, Vieh aufzukaufen, hatte er aufgegeben. Er wollte den Kommissar und den Starosten nicht das Geld verdienen lassen, das für sie dabei abfallen müßte. Er fuhr noch ab und zu in die Stadt, wenn ihm die Einsamkeit zu Hause unerträglich wurde. Dabei erfuhr er eines Tages, daß der Kommissar verschwunden sei. Ob er von seinem Amt entfernt war oder es selbst aufgegeben hatte, wußten die Herren, von denen er die Nachricht erfuhr, nicht. Ebenso wußten sie nicht, wo er geblieben war. Damit schwand für Ritter auch die Hoffnung, durch eine größere Geldsumme von dem Kommissar den Aufenthalt Roberts zu erfahren und vielleicht durch eine noch größere seine Freilassung zu erkaufen.

Was die alte Gnädige noch von dem Entschluß abhielt, ihr Gut der Regierung zum Kauf anzubieten, war die Sorge um ihre Leute, von denen die meisten Deutsche waren, vor allem um den alten Kowalski. Er verfiel sichtlich. Kummer und Sorge um den Sohn zehrten an seiner Lebenskraft. Frau Esther war deshalb nicht sehr überrascht, als seine Frau eines Morgens weinend mit der Nachricht erschien, ihr Mann sei in der Nacht selig entschlafen. Sie habe nichts gemerkt. Erst jetzt, als sie ihn wecken wollte, habe sie ihn schon kalt und steif gefunden.

Am Tage nach dem Begräbnis fuhr Frau Esther zum Starost und teilte ihm mit, daß sie für Deutschland optiere und ihr Gut der polnischen Regierung zum Kauf anbiete. Achselzuckend erklärte er ihr, die Regierung habe kein Interesse daran, das Gut zu erstehen, aber er werde zusehen, ob er nicht einen Käufer fände. Er fand sich sehr bald. Es war natürlich ein Pole, dem die Regierung das schöne Gut in die Hände spielen wollte. Er bot einen lächerlich geringen Preis, der, wenn sie alle Unkosten, die mit dem Verkauf zusammenhingen und die Auswanderungssteuer bezahlte, ihr so gut wie gar nichts übrigließ. Sie stellte nur die Bedingung, einen Teil ihrer Möbel über die Grenze mitnehmen zu dürfen. Das wurde ihr zugestanden.

Als sie ihren Leuten den Verkauf mitteilte, wurde ihr das Herz noch einmal schwer gemacht. Männer und Frauen küßten ihr weinend die Hände. Und die meisten erklärten, auch nicht länger in Polen bleiben zu wollen. Sie wollten für Deutschland optieren und sich ausweisen lassen.

Ritter suchte Frau Esther zu überreden, nach Berlin zu fahren und dort mit Trudchen zusammenzuziehen. Sie lehnte ab, sie hätte in Fraustadt eine befreundete Familie, die ihr ein Stübchen überlassen wollte.

Er stand ihr in diesen Tagen getreulich zur Seite und besorgte jeden Gang, den er ihr abnehmen konnte. Er brachte sie zur Bahn und nahm dort tiefbewegt von ihr Abschied. Trug er sich doch ebenfalls schon mit dem Entschluß, Strelkau aufzugeben und nach Werben überzusiedeln, wo er wieder mit seiner Tochter zusammenleben konnte.

— — —— — —— — —— — —

Die beiden Schaschken, die Robert nach Sczypiorno gebracht hatten, legten sich zunächst mal aufs Ohr, nachdem sie ihren Gefangenen abgeliefert hatten, und schliefen in einer Baracke bis Mittag. Nachdem sie sich sattgegessen, marschierten sie wieder ab.

Robert wurde von seinem alten Kameraden in ein behaglich eingerichtetes Zimmer geführt. Dort schloß ihn Hax in seine Arme. „Alter Junge, wie kommst du hierher — und als Gefangener?“

„Dasselbe wollte ich dich fragen, nur mit dem Unterschied, wie du hier Platzkommandant geworden bist?“

Hax lachte vergnügt. „Ja, siehst du, Kamerad, ein kluger Kerl kann es jetzt zu etwas bringen. Aber erst will ich mal deine Erlebnisse hören.“

Robert berichtete ausführlich, wie es ihm seit ihrer unfreiwilligen Trennung auf der Flucht ergangen war. Wie er nach Hause zurückgekehrt und schließlich dem Agenten der Defensive in die Hände fiel.

„Es hätte dir auch schlimmer ergehen können,“ meinte Hax, als Robert seinen Bericht beendet hatte. „Ich muß dich natürlich einspunden, denn du bist mir als politischer Verbrecher überliefert worden, für den ich verantwortlich bin. Ich kann dich aber anständig behandeln, weil ich mir vor einigen Tagen einen Aufpasser vom Halse geschafft habe, vor dem ich mich in acht nehmen mußte. Ich habe den durchtriebenen Betrüger, der die Internierten erpreßte, eingelocht, und der Kerl tat mir den Gefallen, schon in der zweiten Nacht auszubrechen und zu verschwinden. — Was weiter mit dir geschehen wird, weiß ich noch nicht. Ich vermute jedoch, daß man dich hier eine Zeitlang gefangenhalten will.“

„Kannst du eine Eingabe weiterbefördern, worin ich verlange, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden?“

„Das könnte ich wohl, möchte dir jedoch davon abraten. Aus welchem Grunde, sage ich dir später.“

„Ich möchte aber, wenn irgend möglich, meiner Großmutter und auch meiner Braut Nachricht über meinen Aufenthaltsort geben. Wurde das möglich sein?“

„Das ist sogar sehr einfach. In der nächsten Zeit wird wieder ein Schub Internierter ausgewiesen werden. Da finden wir sicherlich einen vertrauenswürdigen Menschen darunter, der einen Brief von dir mitnimmt und befördert.“

Robert streckte ihm die Hand entgegen: „Du bist noch immer, auch in dieser Verpuppung, mein alter treuer Kamerad. Aber nun bist du dran, zu erzählen.“

„Dann muß ich damit anfangen, wie wir beide auseinanderkamen. Der Dorfälteste, der mich damals in Verwahrung nahm, wußte nicht, was er mit mir anfangen sollte, und ließ mich, wie ich ihm vorschlug, nach acht Tagen laufen. Ich pilgerte langsam weiter, bis ich nach Rußland hinein kam. Das gefiel mir in der neuen kommunistischen Verfassung gar nicht. Ich schlug mich weiter durch, um mir den neuen polnischen Staat aus der Nähe anzusehen. Dort suchte ich Arbeit und fand Beschäftigung in einer Fabrik.“

„Wolltest du denn nicht nach deiner Heimat, nach Deutschland, zurück?“

Hax schüttelte den Kopf. „Es zieht mich nichts mehr dahin. Und wie ich hörte, daß es in dem neuen Deutschland noch schlechter aussehen soll, beschloß ich, in Polen mein Glück zu versuchen. Es bestand darin, daß ich zwischen Baum und Borke geriet. Die Arbeiter in der Fabrik waren durch die Bank Kommunisten — sie drängten mich, ihrem Geheimbund beizutreten. Sie wurden natürlich bespitzelt und eines Tages griff die Defensive zu und ich wurde mit einigen zwanzig Mann verhaftet. Ich tat das Beste, was ich tun konnte. Ich erzählte bei der ersten Vernehmung ganz offen, daß ich russischer Kriegsgefangener gewesen und aus Sibirien entflohen sei. Da auch einige der Genossen ehrlich bezeugten, daß ich mich mit ihnen nicht eingelassen hätte, glaubte man mir und machte mir den Vorschlag, ebenso wie dir, ins polnische Heer einzutreten. Natürlich griff ich mit beiden Händen zu, und da ich mir den Rang eines Unteroffiziers beigelegt hatte, den ich im deutschen Heer bekleidet haben wollte, wurde ich von den Polen gleich zu derselben Würde befördert.“

„Dann hast du auch den Russisch-Polnischen Krieg mitgemacht?“

„Aber ja doch, mein Junge! Ich war glücklicherweise in ein Regiment der Kongressuskis geraten, das wohlweislich hinter der Front blieb. Nur einmal habe ich etwas Pulver gerochen. Infolge meiner wilden Tapferkeit, die sich in heftigem Schnauzen kundgab, wurde ich bald befördert. Ich bekam einen militärischen Rang, der sich etwa mit dem unserer Feldwebelleutnants deckt. Als ich nach dem Kriege den Wunsch äußerte, mich ins Privatleben zurückzuziehen, wurde ich hier zum Platzkommandant ernannt. Merk' dir, daß ich jetzt Gorski heiße.“

„Und wie ist dein richtiger Name?“

„Mein lieber Kamerad! Danach frag' mich nicht. In dem Punkt bin ich empfindlich. Ich habe ihn schon vor zwanzig Jahren abgelegt, als ein Schuft durch einen gefälschten Wechsel mich aus meiner Laufbahn warf. Ich war damals schon Degenfähnrich in der Preußischen Garde. Meine Verwandten sagten sich von mir los, so daß ich vor dem Nichts stand. Da griff ich in meiner Not zu dem weniger ehrenvollen als einträglichen Beruf, für einen ostpreußischen Großhändler in Russisch-Polen Vieh aufzukaufen und bis zur Grenze zu treiben. Damit mein Charakterbild nicht vor dir schwankt, will ich dir noch verraten, daß ich meine Kenntnisse von den Standorten und Bewegungen der russischen Truppen nutzbringend verwertet habe. Das heißt, ich war als deutscher Spion in Rußland tätig. Das Viehtreiben war nur der Deckmantel. Kurz vor Kriegsausbruch verfügte ich mich nach Deutschland zurück und trat als Gemeiner unter falschem Namen in unser Heer ein. Das Weitere weißt du.“

Bewegt reichte Robert dem Freund die Hand. „Gedenkst du denn nun für immer in Polen und polnischen Diensten zu bleiben?“

Hax zuckte die Achseln. „Vorläufig ja, denn ich wüßte nicht, was ich drüben in Deutschland anfangen soll. Aber nun komm. Jetzt muß ich dir deine Zelle anweisen. Du kannst frei im Lager umhergehen, aber laß dich nicht mit den Internierten in lange Gespräche ein. Du kannst mich zu jederzeit besuchen, nur zur Nacht muß ich dich einschließen.“

Er führte Robert in die halb in der Erde liegende Baracke. Als er eine Tür ausschloß, drang aus der Zelle aus der andern Seite des Ganges ein dumpfes Stöhnen, das zu einem Schrei anschwoll.

„Was ist das?“ fragte Robert erschreckt.

„Das ist ein junger Bursche, der schon vor meiner Zeit eingeliefert worden ist. Ein Hüne von Gestalt. Tagelang sitzt er dumpf brütend still. Von Zeit zu Zeit stöhnt und brüllt er, wie du es eben gehört hast.“

„Ob das nicht der Joseph ist?“ schoß es Robert durch den Kopf. „Du, Hax, das könnte der Sohn unseres Vogts aus Hartenau sein, der von einem Agenten der Defensive verhaftet wurde und spurlos verschwand. Kann ich ihn mal sehen?“

„Aber ja, du mußt dich nur etwas in acht nehmen, denn er wird manchmal ungemütlich.“

Der Platzkommandant schloß die Tür auf. Mit dem ersten Blick erkannte Robert trotz des Dämmerlichts, das in dem engen Raum herrschte, seinen Jugendgespielen. Er saß am Tisch und hatte den Kopf auf die Arme gelegt. Robert rief ihn an: „Joseph... Joseph Kowalski.“

Der Gefangene sprang auf. Seine Augen weiteten sich, dann sank er auf die Knie und streckte die Arme aus: „Junger Herr!... Junger Herr, sind Sie es wirklich?“

Er rutschte auf den Knien näher und umfaßte Roberts Beine. „Ja, mein lieber Joseph, ich bin heute als Gefangener der Defensive hier eingeliefert worden.“

„Ach Gott,“ klagte Joseph, „und ich dachte schon, Sie sind gekommen, um mich zu holen.“

Robert sah sich nach Hax um. Er war auf den Gang zurückgetreten und hatte die Tür angelehnt. Da bog er sich zu Joseph nieder und raunte ihm zu: „Verzag' nicht! Der Kommandant ist ein alter Kamerad von mir. Vielleicht kommen wir beide bald frei.“

Er konnte es nicht verhindern, daß Joseph seine Hände ergriff und küßte. Dann öffnete Hax die Tür. „Wenn Sie so vernünftig sind, dann werde ich Ihre Tür nicht abschließen, dann können Sie hier oder drüben mit Ihrem jungen Herrn zusammenkommen.“

Die Zelle, die er Robert anwies, war klein und dürftig ausgestattet. Er versprach jedoch für ein gutes Bett zu sorgen. Von einer der internierten Frauen werde er ihm Mittag bringen lassen und zum Abend erwarte er ihn zu einem Glase Grog.

Joseph war still und geduldig geworden. Robert verlebte diese Zeit in begreiflicher Erwartung und Spannung, ob und was die Defensive weiter gegen ihn unternehmen würde. Er benutzte die Zeit, um an die Großmutter einen ausführlichen Brief zu schreiben. Für Trudchen führte er ein Tagebuch, das allmählich immer dicker wurde.

Der Befehl, die internierten deutschen Familien auszuweisen und zu entlassen, ließ auf sich warten, obwohl Hax seine vorgesetzte Behörde, den Woywoden, daran erinnert hatte. Robert wurde mit der Zeit ungeduldig und fragte seinen Freund, ob er nicht Joseph entlassen und nach Hause schicken könne, damit man in Hartenau und Strelkau von seinem Schicksal und Aufenthaltsort Nachricht erhielte.

„Daran habe ich auch schon gedacht und bin auf eine gute Idee verfallen. Ich werde ihn in eine alte Uniform stecken und mit einem Paß beurlauben. Es fragt sich nur, ob sich für seine Größe eine passende Uniform finden wird. Ich habe genug davon liegen.“

Sie fand sich, und am nächsten Tage fuhr Joseph in der Uniform eines polnischen Soldaten, die natürlich auch aus deutschem Besitz stammte, auf Urlaub nach Hause. Er versprach, wiederzukommen und Geld und Nachricht zu bringen. Dann wollte ihn der Kommandant ohne weiteres entlassen.

Im Abendgrauen kam Joseph von der Bahn nach Hartenau gewandert. Er wartete im Park, wo er so oft mit Marinka gesessen, bis es dunkel wurde, das hatte ihm Robert angeraten. Dann erst ging er auf das Häuschen seiner Eltern zu. Es war dunkel, die Tür war verschlossen. Das konnte er sich nicht erklären. Dann suchte er die Frau des Lehrers auf, die noch immer in Hartenau wohnte. Sie gab ihm Nachricht, daß sein Vater gestorben und begraben war. Die Mutter wäre der alten Gnädigen nach Fraustadt nachgezogen und führte ihr die Wirtschaft. Fräulein Trudchen sei nach Deutschland gefahren, nur der alte Herr Ritter sei noch in Strelkau.

Eine Stunde später wanderte Joseph weiter nach Strelkau. Es gelang ihm, ungesehen in das Gutshaus und Ritters Arbeitszimmer zu gelangen. Der Gutsherr glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen, als er den jungen Vogt aus Hartenau in polnischer Uniform eintreten sah. Er schloß hinter ihm die Türe ab und begann ihn auszufragen.

„Und du willst wieder in die polnische Gefangenschaft zurückkehren?“

„Ich muß dem jungen Herrn doch Nachricht und Geld bringen. Dann will mich der Kommandant, der ein guter Freund vom Herrn Robert ist, entlassen.“

„Na, dann sieh zu, daß er dich auch ausweist. Dann gehst du über die Grenze nach Werben auf mein Gut als Vorarbeiter.“

Jetzt erst zog Joseph Roberts Bries und Tagebuch heraus. Was er damit anfangen sollte? Ritter nahm beides an sich und versprach, es zu befördern. Nachdem er Joseph ein Zimmer angewiesen hatte, setzte er sich hin und schrieb Robert ausführlich, was sich alles in Hartenau ereignet hatte. Im Morgengrauen des nächsten Tages weckte er Joseph, übergab ihm den Bries und stattete ihn reichlich mit Geld aus. Am Abend traf Joseph wieder in Sczypiorno ein, wo seine Ankunft große Freude erregte. Robert regte sich darüber, daß Hartenau verkauft und ihm verloren war, nicht mehr auf. Er hatte sich damit als einer unausbleiblichen Notwendigkeit innerlich bereits abgefunden und freute sich darüber, daß Trudchen in Berlin und in Sicherheit war.

Acht Tage später ging ein Transport Internierter zur Grenze, in den Joseph eingereiht wurde. Robert hatte gehofft, auf demselben Wege freizukommen. Hax vertröstete ihn auf den letzten Schub, wenn bis dahin, wie er annahm und hoffte, die Defensive nichts weiter gegen ihn unternommen hätte.

Einundzwanzigstes Kapitel

Seit der Zerstörung der Leitung zwischen Strelkau und Werben hatte Ritter von seinem Verwalter Maschke keine Nachricht erhalten. Es war nicht ausgeschlossen, daß Briefe von ihm am Grenzübergang zurückgehalten und geöffnet wurden. Das war sogar wahrscheinlich, seitdem der Kommissar sich sogar gegen ihn feindlich eingestellt hatte. Als die zweite und dritte Woche verging, ohne daß er die übliche Abrechnung erhielt, wurde er unruhig. Er glaubte zwar, sich auf seinen Verwalter verlassen zu dürfen, aber die Ungewißheit war doch unangenehm.

Er entschloß sich daher, hinüberzufahren. Dazu mußte er jedoch, da sein Dauerpaß für ungültig erklärt und eingezogen worden war, sich eine Ausreiseerlaubnis zu erwirken suchen. Er fuhr nach der Stadt aufs Kreisamt, fand aber den Starost nicht vor. Sein Gehilfe, der so bereitwillig die Ausreiseerlaubnis für Trudchen ausgestellt hatte, weigerte sich, es auch für ihn zu tun. Er wand sich förmlich vor Verlegenheit, als Ritter mit nicht mißzuverstehender Absicht seine dicke Brieftasche zog. Er hätte schon wegen der Erlaubnis für das Fräulein Unannehmlichkeiten gehabt.

Als noch eine Woche verging, ohne daß aus Werben Nachricht eintraf, hielt es Ritter nicht mehr länger aus. Da auch der Kommissar inzwischen verschwunden war, würde es ihm vielleicht möglich sein, auch ohne Schein über die Grenze zu gelangen. Er nahm nur die nötigsten Sachen für eine kurze Reise mit und fuhr zur Bahn. Der Vorsteher begrüßte ihn so freundlich wie immer, und als er mit ihm den üblichen Gang zum Schanktisch antrat, fragte er teilnehmend, weshalb der Herr Gutsbesitzer so lange nicht nach Werben gefahren sei. Ritter schloß daraus, daß dem Vorsteher von der Entziehung des Dauerpasses nichts bekannt sei.

So war es auch. Der Beamte holte ihm selbst die Fahrkarte und geleitete ihn bis zum Wagen. Schon zeitig am Vormittag kam Ritter in Fraustadt an. Sein erster Gang war zur alten Gnädigen. Von der Sorge und Angst, in der sie lebte, war ihr wenig anzumerken. Nur ihr Haar war weiß geworden. Als der Nachbar eintrat, leuchtete es in ihrem Gesicht auf. Sie sah es ihm an, daß er keine schlechten Nachrichten brachte.

Er nahm ihre Hand in seine beiden. „Frau Esther, ich bringe gute Nachrichten. Robert ist sozusagen in Sicherheit. Er befindet sich wohl und hat Hoffnung, freizukommen. Hier, lesen Sie selbst. Er hat ausführlich geschrieben.“

Mit zitternden Händen öffnete die alte Frau den Brief, dabei perlten ihr Tränen aus den Augen. „Hax,“ flüsterte sie mehrmals, wenn sie immer wieder und wieder den Namen las. „Das muß doch ein guter Mensch sein.“ Mit einemmal sah sie aus. „Ist der Joseph wirklich bei Ihnen gewesen?“

„Ja, liebe Frau Esther! Das ist ein braver Junge. Er hat sich keinen Augenblick bedacht, nach Sczypiorno zurückzukehren, um Robert Nachricht und Geld zu bringen.“

Die alte Gnädige sprang auf wie ein junges Mädchen. „Das muß ich doch meiner alten Maria sagen.“

Noch ehe sie die Tür geöffnet hatte, erklang aus der Küche der jauchzende Ruf aus einem Mutterherzen: „Joseph, mein Joseph!“

Einige Minuten später traten Mutter und Sohn freudestrahlend ins Zimmer. Joseph griff in die Tasche: „Ich bringe hier noch drei Briefe. Der junge Herr läßt auch vielmals grüßen. Er hat Ihnen geschrieben, daß er bald freikommen wird.“ Dann erzählte er, wie er mit einem Schub Ausgewiesener über die Grenze gebracht und in Schneidemühl freigelassen worden war. Dort hatte er sich sofort auf die Bahn gesetzt und war nach Fraustadt gefahren.

Inzwischen hatte seine Mutter Frühstück aufgetragen. Dann ging Ritter weg, um sich durch den Fernsprecher ein Fuhrwerk aus Werben zu bestellen. Es dauerte sehr lange, bis sich jemand dort meldete. Es war eine weibliche Stimme, die er nicht kannte.

„Sitzt Ihr denn dort auf Euren Ohren?“ fragte Ritter ärgerlich. „Wo ist denn der Verwalter?“

„Der ist schon vorgestern weggefahren.“

„Dann rufen Sie die Mamsell an den Hörer.“

„Die ist schon über acht Tage weg.“

„Was ist denn dort los? Bestellen Sie dem Vogt, er soll gleich am Nachmittag ein Fuhrwerk herschicken. Er wird ja wohl wissen, wohin.“

Vorn Postamt ging Ritter zum Vorschußverein, der die Geldgeschäfte für Werben besorgte. Er wollte etwas von seinem Guthaben abheben.

„Das wird wohl nicht möglich sein,“ erklärte ihm der Direktor. „Ihr Verwalter hat schon seit einiger Zeit nicht nur nichts eingezahlt, sondern alles abgehoben, was eingezahlt war.“

„Wie ist das möglich?“

„Das geht uns nichts an. Ihr Verwalter hat doch Vollmacht.“

„Da scheint eine große Schweinerei vorzuliegen.“

Der Direktor zuckte die Achseln. „Ich habe mich auch gewundert, habe aber angenommen, daß Sie Ihre Geschäftsverbindungen mit uns abgebrochen haben, um sich andershin zu wenden.“

„Das ist mir nicht im Traum eingefallen. Das ist eine Eigenmächtigkeit von Maschke.“

„Darf ich Ihnen einen Betrag zur Verfügung stellen? Sie haben bei mir Kredit.“

„Ich werde von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen, wenn es nötig sein sollte. Besten Dank.“

In heller Aufregung kam er zu Frau Esther zurück und erzählte, was er eben erfahren hatte. Sie war auch der Meinung, daß in Werben etwas nicht in Ordnung sei. Bis zum Kaffee wartete Ritter auf sein Fuhrwerk. Dann ging er aus, besorgte sich ein Auto und fuhr mit Joseph nach Werben hinaus. Was er dort vorfand oder vielmehr nicht vorfand, überstieg seine schlimmsten Befürchtungen. Er hatte angenommen, daß Maschke mit den bedeutenden Barmitteln, über die er als Bevollmächtigter seines Gutsherrn verfügte, das Weite gesucht habe.

Jetzt sah er, daß der ungetreue Verwalter das Gut kalt abgebrannt hatte. In den Ställen fehlte die Hälfte der Kühe und gerade die besten Milchgeber. Ja, auch von den Gespannen war kaum die Hälfte vorhanden. Selbst die Schweine waren fast restlos verkauft. Die Meierei war geschlossen. Er fand die Meierin in der Küche sitzen. Sie erklärte achselzuckend: Das bißchen Milch, das sie jetzt erhalte, habe sie schon morgens verarbeitet.

Gegen Abend stellte sich auch der Vogt ein. Ritter fuhr ihn heftig an, wie er das habe zulassen können.

„Ja, gnädiger Herr,“ erwiderte der Mann verlegen, „was sollte ich machen? Der Herr Verwalter hatte doch zu befehlen, und wir mußten gehorchen.“

„Habt Ihr Euch denn nicht gewundert, daß so viel Vieh verkauft wurde und gerade die besten Stücke?“

„Jawohl, gnädiger Herr, wir haben auch gedacht, daß das nicht mit rechten Dingen zugeht, aber was sollten wir machen?“

„Habt Ihr denn nicht daran gedacht, mir Nachricht zu geben? Ihr solltet doch der Frau Dalkowski nach Fraustadt Kartoffeln und Mehl bringen, da hättet Ihr doch erzählen können, was hier vorging, und sie hätte mir Nachricht gegeben.“

Der Vogt schüttelte den Kopf. „Wir haben der gnädigen Frau nichts nach Fraustadt gebracht.“

Ritter regte sich weniger über den Verlust auf, den er, wenn er auch recht erheblich war, verschmerzen konnte, als über den Vertrauensbruch seines Verwalters, den er vor zehn Jahren als Eleven aufgenommen und zu einem tüchtigen Landwirt ausgebildet hatte. Er war nicht nur anstellig und pflichttreu gewesen, sondern so umsichtig, daß ihm Ritter vor zwei Jahren die selbständige Bewirtschaftung von Werben anvertraut und Vollmacht gegeben hatte, auch die Geldgeschäfte zu erledigen. Daß das Gut in den letzten Jahren weniger gebracht hatte als früher, hatte in ihm keinen Verdacht erregt. Jetzt mußte er annehmen, daß Maschke schon seit einiger Zeit in seine eigene Tasche gewirtschaftet hatte.

Mit Hilfe der Meierin, die sich als eine verständige Person erwies, wurde ein einigermaßen gutes Abendbrot hergestellt, zu dem er sich und Joseph, den er zum Inspektor befördern wollte, eine gute Flasche zu stiften gedachte. Da stellte sich heraus, daß nur noch einige Flaschen Bowlenwein vorhanden waren. Die Meierin meinte, die besseren Sorten habe Maschke mit dem Händler ausgetrunken. Den Namen konnte sie nicht angeben, aber sie erklärte, der Mann habe wie ein Pole ausgesehen, und beschrieb ihn so genau, daß Ritter mit aller Bestimmtheit auf Wolzlegier verfiel. Also hatte der Kerl auch hier seine Hand im Spiel gehabt, und Maschke hatte mit ihm Kaprusche gemacht. Jetzt glaubte er auch die inneren Zusammenhänge zu verstehen. War es denn nicht denkbar, ja wahrscheinlich, daß der Agent ihn ebenso verschwinden lassen wollte, wie er Joseph und Robert beseitigt hatte?

Damit hatte er wahrscheinlich Maschke, der schon nicht mehr taktfest war, geködert. Die Ausführung dieses Planes war nur dadurch vereitelt worden, daß der Kommissar plötzlich aus seinem Wirkungskreis verschwinden mußte. Das hatte Maschke erfahren und war dann auch ausgerückt.

Noch an demselben Abend schrieb Ritter seiner Tochter ausführlich alles, was in Werben vorgefallen war. Er wollte, nachdem er hier einigermaßen Ordnung geschafft, nach Strelkau. zurückkehren und es unter allen Umständen losschlagen. Umgehend antwortete Trudchen durch ein Telegramm, worin sie ihn bat, nicht eher abzureisen, bis sie sich mit ihm besprochen hätte. Sie käme mit dem nächsten Zug. Am nächsten Morgen holte sie Ritter von der Bahn ab. Es war selbstverständlich, daß sie erst Großchen aufsuchte und begrüßte.

Als die erste große Freude des Wiedersehens vorüber war, machte Ritter den Vorschlag: Die alte Gnädige möchte mit ihrer getreuen Maria nach Werben übersiedeln. Dann wäre sie mit ihrer zukünftigen Enkeltochter und die Mutter Kowalski mit ihrem Sohn vereint. Getrennte Wirtschaft sei nichts Ganzes und nichts Halbes. Sie seien doch nun eine Familie.

Nach langem Sträuben gab die alte Gnädige nach. Aber erst, nachdem ihr Ritter das Versprechen gegeben, nicht mehr nach Polen zurückkehren zu wollen. Der Verkauf von Strelkau könne durch einen Vermittler, der drüben gute Beziehungen hatte, bewerkstelligt werden.

Ritter bemühte sich einige Zeit hindurch vergeblich, herauszubekommen, wohin sein Vieh und die Pferde verschoben waren. Die Kühe und Ochsen waren nach Berlin verladen worden, die Pferde wahrscheinlich über die Grenze nach Posen gegangen. Er mußte seinen Verlust mit der Ofenkrücke in den Schornstein schreiben.

***

Robert saß mit seinem Freunde am Schachbrett. Hax war ein Meister des königlichen Spiels, der seinen Gegner regelmäßig überwand, obwohl er ihn auf jeden Fehler aufmerksam machte und schlechte Züge zurücknehmen ließ. Mitten im Spiel wurden sie durch das Tuten eines Autos am Tor gestört. Robert stand sofort auf und verschwand nach seiner Zelle. Gleich darauf trat Wolzlegier bei dem Kommandant Gorski ein und stellte sich als Agent der Defensive und Kommissar der Regierung vor.

Hax hatte ihn auf den ersten Blick erkannt. Das war der Schuft, der ihn ins Unglück gestürzt hatte — sein leiblicher Vetter Gustav. Daß er Hax nicht erkannte, war erklärlich. Die Uniform, der mächtige Schnauzbart und die Runen, die ihm das Schicksal ins Gesicht gemeißelt, hatten ihn sehr verändert.

Der Kommandant bebte an allen Gliedern. Am liebsten hätte er sich mit einem Wutschrei auf seinen Feind gestürzt und ihn an der Gurgel gepackt. Er verbeugte sich zunächst, ohne ein Wort zu sagen, um Zeit zur Überlegung und Ruhe zu finden. Jetzt, wo ihm das Schicksal den Schuft in die Hände gegeben hatte, brauchte und durfte er durch eine Übereilung nichts verderben. Er wollte die Rache kalt genießen und mit ruhiger Überlegung, schon aus Rücksicht auf Robert, dem ohne Zweifel der Besuch galt.

Mit merkwürdig heiserer Stimme ersuchte er den Kommissar, sich auszuweisen.

„Das habe ich zwar nicht nötig,“ erwiderte Wolzlegier hochfahrend, „aber ich will es tun, damit Sie wissen, daß Sie meinem Befehl unterstehen und sich meinen Anordnungen zu fügen haben.“

„Das ist ein Irrtum von Ihnen,“ erwiderte Hax beherrscht, „denn ich unterstehe nur dem Woywoden. Ich möchte zunächst wissen, was Sie hier wollen.“

„Ich will den politischen Verbrecher Dalkowski verhören und ersuche Sie, mir ihn in einem Raum, wo ich ihn ungestört vernehmen kann, vorzuführen.“

Dabei zog er seine Brieftasche und reichte Hax ein Papier, worin seine Bestallung von der Defensive bezeugt war. Vorher hatte er ein Papier entfaltet und, nachdem er einen Blick darauf geworfen, mit finsterer Miene wieder eingesteckt, was Hax auffiel. Er führte den Kommissar in einen Raum derselben Baracke, wo er ihm Robert vorzuführen versprach. „Ich wünsche jedoch, den Gefangenen ohne Zeugen zu vernehmen.“ Hax hatte Mühe, ein eigentümliches Lächeln zu verbergen.

In dem Raum, in den er den Kommissar führte, war in der dünnen Bretterwand, die allein schon ein Belauschen ermöglichte, eine viereckige Öffnung, die durch ein Bild verhängt war.

„Laß dich auf nichts ein und verweigere jede Aussage,“ raunte er Robert zu, nachdem er ihm gesagt, daß er durch den Kommissar Wolzlegier verhört werden sollte. „Ich habe nichts dagegen, daß du ihm ganz frech antwortest, er habe hier nichts zu suchen.“

Es war nur natürlich, daß Robert sein Verhalten danach einstellte. Mit lächelnder Miene begrüßte er den Kommissar. „Ach, Herr Wolzlegier gibt mir die Ehre, mich hier zu besuchen.“

„Sie scheinen ja ganz aufgeräumt zu sein,“ fuhr ihn Wolzlegier an, „Sie vergessen wohl, vor wem Sie stehen?“

„Durchaus nicht. Wenn ich nicht irre, soll ich hier von einem Agenten der Defensive vernommen werden.“

„Sie scheinen ja hier ein sehr vergnügtes Dasein zu führen. Das kann ich sehr schnell ändern. Wir haben auch Orte, wo es weniger angenehm zugeht, wo ich Sie bald kirre machen kann. Sie wissen doch, unter welcher schweren Anklage Sie stehen?“

„Die Anklage, die nur von Ihnen allein ausgeht, steht auf sehr schwachen Füßen. Die Großmutter hat mir bereits einen sehr energischen Rechtsbeistand besorgt. Ich habe Mittel und Wege gefunden, ihm meine Vollmacht zuzusenden. Er wird es bald durchsetzen, daß ich Ihrer Macht entrückt und vor ein ordentliches Gericht gestellt werde.“

Der Kommissar spielte eine Weile nachdenklich mit dem Bleistift, den er in der Hand hielt, dann sah er auf. „Herr Dalkowski, daran glaube ich nicht. Sie werden mir aber glauben, daß ich imstande bin, Sie in einem anderen Gefängnis sehr schlecht behandeln und verurteilen zu lassen. Ich bin jedoch kein Unmensch. Ich wäre imstande, Ihnen Ihre Freiheit wiederzugeben, wenn Sie für einen verständigen Vorschlag empfänglich wären.“

Als Robert schwieg, fuhr der Kommissar fort:

„Ihre Freiheit dürfte Ihnen doch wohl so viel wert sein, daß Sie geneigt sein müßten, ihr ein kleines Opfer zu bringen!“

„Worin sollte das bestehen?“ fragte Robert, der hellhörig geworden war.

„Sehr einfach darin, daß Ihre Frau Großmutter mir auf Ihre Anweisung hin einen Betrag überweist, der mich sicherstellt, wenn ich von Ihrer Freilassung Unannehmlichkeiten habe, ja, meine Stellung verlieren sollte. Ich wäre mit hunderttausend deutschen Reichsmark zufrieden.“

„Sie haben sich in Ihrer Voraussetzung getäuscht, Herr Wolzlegier,“ erwiderte Robert. „Weder meine Großmutter noch ich sind in der Lage, auch nur den zehnten Teil dieser Summe aufzubringen.“

„Dann wird ohne Zweifel ihr zukünftiger Schwiegervater, Herr Ritter in Strelkowo, gern für Sie einspringen.“

„Ich bedauere sehr. Herr Ritter wird sich hüten, Ihnen diese Summe in den Rachen zu werfen.“

Wie ein Stichwort auf der Bühne trat Hax ein. Der Kommissar sprang auf und trat hinter den Tisch. Er hatte in der Miene des Kommandanten gelesen, daß ihm Unheil drohte.

„Ich verhafte Sie wegen Erpressung an dem Gefangenen Dalkowski.“

Mit einem Griff in die Hosentasche zog Wolzlegier eine Browningpistole. In dem Augenblick sprang Robert zu und drückte ihm den Arm herunter, und im nächsten Moment hatte ihn Hax durch einen Faustschlag gegen die Schläfe niedergeschmettert. Als Wolzlegier aus seiner Betäubung erwachte, war er an den Händen gefesselt. Hax hatte seine Brieftasche in der Hand und hielt ihm ein Papier entgegen:

„Du Lump! Besitzt ja nicht mehr die geringste Berechtigung, als Agent oder Kommissar aufzutreten. Hier das Papier ist deine Entlassung und Vorladung zur verantwortlichen Vernehmung wegen Veruntreuung von Staatsgeldern.“ Als Wolzlegier den Kopf senkte und nichts erwiderte, fuhr Hax fort:

„Erkennst du mich wirklich nicht? Weißt du nicht, wer ich bin?“

Jetzt sah der Agent auf. In seine Augen trat ein starker Ausdruck. Ein jähes Erkennen ließ ihn erbleichen. „Hasso,“ stöhnte er.

„Ja, dein Vetter Hasso, den du mit dem gefälschten Wechsel ins Unglück gebracht hast. Gestehe, daß du die Unterschrift deines Vaters gefälscht hast, sonst lasse ich dich krummschließen und hungern, bis du die Engel im Himmel singen hörst.“

Es gab noch eine sehr unerquickliche Szene. Hasso ließ den Verbrecher erst mal das Geständnis niederschreiben, daß er die Unterschrift gefälscht und seinen Vetter fälschlich beschuldigt habe. Dann mußte er schriftlich noch ein zweites Geständnis ablegen, daß er den Herrn Robert Dalkowski ohne jeden Grund verhaftet und unter vier Augen zu erpressen versucht habe.

Das zweite Schriftstück reichte Hax mit seiner Beglaubigung als Ohrenzeuge dem Woywoden ein. Schon nach wenigen Tagen kam der Befehl zurück, den Dalkowski zu entlassen. Der pp. Wolzlegier werde unverzüglich für das Staatsgefängnis in Posen abgeholt werden.

Tiefbewegt nahmen die alten Kameraden Hax und Robert voneinander Abschied. Vergeblich hatte Robert seinen Freund bestürmt, seine Stellung zu verlassen und mit ihm über die Grenze nach Deutschland zu gehen... Er wollte durchaus noch auf seinem Platze bleiben, bis die letzten Internierten abgeschoben seien. Er wollte sie nicht in die Hände eines Polens fallen lassen. Dann sei es nicht ausgeschlossen, daß er nach Deutschland zurückkehre.

Unangefochten kam Robert über die Grenze. In Fraustadt erfragte er mit Mühe die Wohnung seiner Großmutter. Als er dort erfuhr, daß sie nach Werben verzogen sei, wanderte er zu Fuß weiter. Im Abendgrauen traf er dort ein. Kaum hatte er die Tür zur Diele geöffnet, da hing Trudchen an seinem Halse.

„Mein Robert!“

Dann knieten sie vor Großchen, die ihnen ihre Hände auf den Scheitel legte. Vater Ritter stand dabei und schneuzte sich heftig, wobei er auch die Augen wischen mußte. Dann polterte er los: „Nun hört mal auf mit Rührung und laßt mich auch an eurer Freude teilnehmen. Komm an mein Herz, mein lieber Sohn. Und nun wollen wir alle Gott danken, daß wir wieder in Deutschland sind, in unserem alten, lieben Vaterland!“

Ende.

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