Der Vergdr�ngte
Roman aus der Ostmark
von
Fritz Skowronnek
Eulen-Verlag, Leipzig
Herrn Geh. Oberregierungsrat
Alfred v. Tilly
Pr�sident des Deutschen Ostbundes
in dankbarer Verehrung gewidmet
Erstes Kapitel
Das Ungeheuerliche war geschehen. Der Feindbund hatte den Polen die beiden preußischen Provinzen Posen und Westpreußen, auf die sie einen durch nichts begr�ndeten Anspruch erhoben hatten, zugesprochen. Zwei bl�hende Gebiete, die mit deutschem Fleiß ged�ngt, mit deutscher Tatkraft zur Kultur emporgehoben waren.
Polnische Banden �berfluteten das Land. Eine unf�hige Regierung, die den Schmachfrieden um jeden Preis erkaufen wollte, um sich in der angemaßten Macht zu behaupten, lahmte den zu energischer Abwehr entschlossenen Willen der Bev�lkerung und zerst�rte selbst die Machtmittel, die stark genug waren, den von Gr�ßenwahn beherrschten polnischen Staat in das Nichts zur�ckzuschaudern.
Die sp�rliche Intelligenz der Polen reichte nicht aus, die neuerworbenen L�nder zu verwalten und zu regeln. Unreife Burschen, ungebildete Menschen, deren Kenntnisse unter deutscher Herrschaft gerade noch zur Bekleidung einer untergeordneten Stellung hinreichten, stiegen zu leitenden Stellen in der Verwaltung empor.
Aber allen gemeinsam war der Haß gegen die deutsche Bildung und Kultur, die das Land aus der Barbarei emporgehoben hatte. Und noch gr�ßer die Gier nach dem Hab und Gut der Deutschen, nach den auf h�chster Stufe stehenden Ritterg�tern, nach den ihnen gleichstehenden Besitzungen der Ansiedler. Dazu kam noch der vor nichts zur�ckschreckende Wille, diese G�ter an sich zu reißen.
Hunderte von deutschen Schulen wurden in Jahresfrist geschlossen, die Lehrer vertrieben, die Kinder in polnische Schulen hineingezwungen, wo sie Haßges�nge gegen ihr Deutschtum, gegen ihr altes Vaterland lernen mußten. Asiatische Barbarei vernichtete deutsche Kultur.
Und die Deutschen? Ungebeugt von Not und Tr�bsal waren die meisten entschlossen, lieber Hab und Gut zu opfern, als ihre v�lkische Zugeh�rigkeit und ihr Deutschtum aufzugeben. Aber es gab auch nicht wenige, die diese G�ter geringachteten und bereit waren, sich durch willige Unterwerfung die Duldung der neuen Herrscher zu erkaufen.
***
Ein leuchtendes Vorbild f�r alle treugesinnten Deutschen war Frau Esther Dalkowski auf Hartenau. Eine stolze, achtunggebietende Pers�nlichkeit, �ber deren leicht ergrauten Scheitel schon siebenzig Jahre hinweggezogen sind. Schweres Leid hatte ihr der Weltkrieg zugef�gt. Ihr einziger Sohn war noch mit f�nfundvierzig Jahren eingezogen worden und bald darauf gefallen. Ihre Schwiegertochter war in Schmerz und Verzweiflung dahingesiecht, bis sie dem Gatten in das bessere Jenseits nachfolgte.
Ihr Enkel Robert, ein hochbegabter, hoffnungsvoller J�ngling, war mit neunzehn Jahren freiwillig zur Fahne geeilt. Mehrfach verwundet, war er bis zum Offizier emporgestiegen, bis er bei einem Gefecht im zweiten Kriegsjahr in die H�nde der Russen fiel. Ob er noch lebte oder gefallen war, wußte die Großmutter nicht. Nach Aussagen von Kameraden war er verwundet umgesunken, als die deutschen Truppen, vor der �bermacht weichend, das Schlachtfeld r�umen mußten. Schmachtete er, gesund geworden, in russischer Gefangenschaft, oder deckte ihn schon der k�hle Rasen? Keine Kunde war mehr von ihm gekommen.
Aber dieses Schicksal hatte die alte stolze Frau nicht zu ersch�ttern vermocht. Wie eine deutsche Eiche, die der Blitz wohl verwunden, aber nicht zerschmettern kann, stand sie ungebeugt, aufrecht im Leben. Mit fester Hand hielt sie die Z�gel ihrer Gutsherrschaft, die sie nur, von einem alten Vogt unterst�tzt, bewirtschaftete. Freunde und Verwandte aus dem Reich hatten ihr schon mehrfach den Rat gegeben, Hartenau so schnell wie m�glich und um jeden Preis zu verkaufen. Ja, es war die M�glichkeit vorhanden, ihre Besitzung gegen das Gut eines Polen, das in dem deutschgebliebenen Teil von Westpreußen lag, zu vertauschen.
Vergeblich. Sie wollte nicht freiwillig vor den Polen weichen, sie wollte bis zum �ußersten ausharren. Und dem Enkel wollte sie, wenn es m�glich war, das Erbe erhalten, auf dem seine Vorfahren seit Jahrhunderten saßen. Denn in einem verborgenen Winkel ihres Herzens glimmte noch die Hoffnung, daß er lebte und eines Tages zur�ckkehren w�rde.
In der ganzen Gegend wurde sie mit Liebe verehrt, denn es war kein Geheimnis, daß sie jedem Deutschen, der in wirtschaftliche Bedr�ngnis geraten war, half, soweit es in ihren Kr�ften stand, ohne zu fragen, ob der Schuldner imstande sein w�rde, sich von der Schuld zu l�sen. Aber ihre Schuldner wußten, daß sie, ohne daß ihnen die Bedingung auferlegt war, damit die Verpflichtung �bernahmen, treu an ihrem Deutschtum festzuhalten. Das gab ihr einen Einfluß, der weit �ber den Kreis hinausreichte. Sie verk�rperte gewissermaßen die Seele aller Treudeutschgesinnten. Das war wohl auch die Ursache, weshalb die Polen sie �ußerlich r�cksichtsvoll behandelten, obwohl sie „die alte Gn�dige“, wie sie in der ganzen Gegend genannt wurde, im geheimen zu allen Teufeln w�nschten.
Ihr Gegenst�ck in allen Dingen war ihr Gutsnachbar Wolfgang Ritter. Er war eine von den Naturen, die nichts Wichtigeres zu tun haben, als darauf zu merken, woher der Wind weht, um ihren Mantel nach dem Winde h�ngen zu k�nnen. Als die Polen Herren des Landes wurden, hatte er nichts Eiligeres zu tun, als den Namen seines Gutes, das bis dahin Strelkau hieß, in Strelkowo umzuwandeln. Er war ein Untertan nach dem Herzen der Polen, die bei ihm aus und ein gingen. Mit der gr�ßten Unbefangenheit erkl�rte er: ebenso wie die Polen unter deutscher Herrschaft in Posen und Westpreußen leben mußten, k�nne jetzt, da sich die Verh�ltnisse ge�ndert, auch ein Deutscher unter polnischer Herrschaft leben, ohne sich zu ihnen in einen Gegensatz zu stellen.
Ein sehr starker Anziehungspunkt seines Hauses war seine Tochter Gertrud, ein sehr h�bsches, blondes M�del von zwanzig Jahren. Es war kein Geheimnis, daß sie in ihrer Gesinnung zu ihrem Vater in einem scharfen Gegensatz stand. Das Verdienst daran geb�hrte der Frau Esther Dalkowski. Sie hatte das kleine M�del, das mit zehn Jahren bereits die Mutter verloren, an ihr Herz genommen. So kam es, daß Gertrud auf „die alte Gn�dige“ nicht nur „Großchen“ sagte, sondern auch in Hartenau ebenso heimisch war wie in Strelkowo.
Die beiden G�ter lagen so dicht nebeneinander an einem See, daß ihre Parks aneinanderstießen. Mehrmals kam Trudchen am Tage zu Großchen her�bergelaufen. Sie brachte sich eine Handarbeit mit oder suchte sich hier eine Besch�ftigung. Hing sie doch mit großer Liebe an der alten Frau, die ihr die Mutter ersetzt hatte und noch ersetzte. Zu Hause wurde sie nicht vermißt, denn ihrem Vater f�hrte eine �ltliche Person die Wirtschaft, die der Haustochter geflissentlich jeden Einfluß auf die h�uslichen Angelegenheiten vorenthielt.
Gertrud empfand diese Zur�cksetzung nicht, weil sie von klein auf daran gew�hnt war, und der Mangel in ihrer h�uslichen Erziehung wurde von ihrer m�tterlichen Freundin ausgeglichen, die sie das Kochen und Haushalten lehrte und ihr auch Anleitung zu feinen Handarbeiten gab. So war der alten Dame das M�del lieb geworden wie ein eigenes Kind.
Wenn Gertrud in der Schlummerstunde auf einem kleinen St�hlchen an ihrem Knie saß, begann sie sehr oft von Robert zu sprechen. Sie �ußerte nie Zweifel daran, daß er noch lebte und in russischer Gefangenschaft schmachtete. Wenn dann die alte Gn�dige in m�dem Tone erwiderte, sie h�tte alle M�glichkeiten ersch�pft, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen, um von ihm Nachricht zu erhalten, verwies Gertrud darauf, wieviel Kriegsgefangene gerade in den letzten Monaten aus dem tiefsten Sibirien zur�ckgekehrt w�ren, die von ihren Angeh�rigen bereits als tot betrauert worden waren. Sie h�tten sich in steter Gefahr und Not durchbetteln m�ssen, bis sie die Grenze der Heimat erreichten.
Dann warf die alte Gn�dige ein, Robert sei der russischen Sprache in Wort und Schrift m�chtig gewesen, es m�ßte ihm also leichter als anderen fallen, eine Nachricht nach Hause zu senden.
An diesem Punkt der Unterhaltung setzte Gertrud ihr schwerstes Gesch�tz ein. Das Beispiel des Joseph Kowalski, dessen Vater Vogt in Hartenau war. Der junge, sehr sch�chterne Mensch konnte nicht zusammenh�ngend erz�hlen, aber die beiden Frauen hatten ihn mehrmals ausgefragt, bis sie sein Leben in der Gefangenschaft und die Erlebnisse auf seiner Flucht bis in alle Einzelheiten kannten. So �hnlich w�rde wohl auch Roberts Schicksal sich abgespielt haben.
Sooft es ging, wiederholte Gertrud das Gespr�ch.
Sie f�hlte, daß es der alten Frau wohltat, von ihrem Enkel sprechen zu h�ren, daß es ihre geheime Hoffnung wachhielt und st�rkte.
Allerdings pflegte sie an dieser Stelle einzuwerfen: „Ja, mein liebes Kind, du k�nntest recht haben, wenn Robert wirklich noch lebte.“
Auch gegen diesen Zweifel k�mpfte Gertrud mit Erfolg; „aber Großchen, daran ist nicht zu zweifeln.“
„Wie kannst du das behaupten?“ fragte die alte Frau mit unsicherer Stimme, in der das Verlangen zitterte, die Gr�nde daf�r kennenzulernen.
„Aber Großchen, das liegt doch klar auf der Hand. Daß Robert verwundet worden ist, kann nicht bezweifelt werden. Er kann aber nur leicht verwundet worden sein, vielleicht durch einen Schuß ins Bein, der ihn hinderte, mit seinen Kameraden zur�ckzugehen. W�re er schwer verwundet gewesen, dann h�tten ihn die Russen nicht mitgenommen, und unsere Truppen, die das verlorene Gel�nde schon wieder nach wenigen Stunden zur�ckeroberten, h�tten ihn tot oder lebend gefunden. Sag' mal selbst, Großchen, ist das nicht ein zwingender Schluß?“
„Ja, mein Kind, Gott gebe, daß du recht beh�ltst.“
„Ich glaube fest daran. Ich rechne jeden Tag damit, daß von Robert Nachricht kommt, oder daß er selbst eintrifft.“ Dann lehnte sie ihren Kopf an die Knie der alten Frau, die ihr die Hand auf das reiche Haar legte. So verschmolzen ihre Seelen in Liebe und Hoffnung.
Eines Vormittags kam ein mit zwei feurigen Rappen bespannter Wagen auf den Hartenauer Gutshof gefahren und hielt vor der Freitreppe. Ein junger, elegant gekleideter Mann, dem der erste dunkle Flaum auf der Oberlippe sprießte, stieg aus und gab dem heraustretenden Dienstm�dchen seine Karte:
„Kasimir Lubomierski“
Kreischef.
Die alte Gn�dige empfing ihn hochaufgerichtet in ihrem Arbeitszimmer. Einem hohen, großen Raum, dessen W�nde mit Jagdtroph�en aller Art, die von ihren Vorfahren erbeutet worden waren, geschm�ckt waren. „Was steht zu Diensten?“
Der junge Mann, dem man es ansah, daß er unterwegs, also wahrscheinlich in Strelkowo reichlich gefr�hst�ckt hatte, verbeugte sich nach polnischer Weise. Er schlug die Hacken zusammen, daß die Sporen klirrten, legte die rechte Hand auf das Herz und neigte den Kopf. „Ich komme, um Ihnen pers�nlich eine wichtige Nachricht zu bringen.“
Mit einer Handbewegung wies Frau Esther auf den n�chsten Ledersessel. Sie blieb aufrecht am Schreibtisch stehen. „Was k�nnte das f�r eine Nachricht sein?“
„Gn�dige Frau werden gleich erfahren, wenn Sie mir gestatten wollten, eine Zigarette anzuz�nden.“
Er zog ein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche und entnahm ihm einen Glimmstengel, klopfte ihn auf den Nagel aus, z�ndete ihn umst�ndlich mit einem Streichholz an, dann legte er sich in den Stuhl zur�ck und schlug die Beine �bereinander.
„Ihr Herr Sohn...“
„Mein Sohn ist im Kriege gefallen,“ unterbrach ihn die alte Gn�dige. Noch ahnte sie nichts. Sie dachte an eine Getreidelieferung oder so etwas, die Hartenau aufbringen sollte.
„Ah, Pardon!“ fiel der Pole mit einer leichten Verbeugung ein, „war mir unbekannt. Es handelt sich um einen Herrn Robert Dalkowski, der aus russischer Gefangenschaft entflohen und in Schweden eingetroffen ist.“
Jetzt wankten der alten Frau die Knie, sie ließ sich langsam in den Stuhl vor dem Schreibtisch sinken, aber ihre Stimme verriet nicht im geringsten ihre Aufregung, als sie erwiderte, „das ist mein Enkel.“
„Ah, Enkel, bringe also große Freude in Ihr Haus. Nachricht kam schon gestern abend, als alle Bureaus geschlossen waren, habe sie erst heute morgen erfahren und mich gleich auf den Weg gemacht.“
„Die Nachricht h�tte mir auch schon heute fr�h durch den Fernsprecher mitgeteilt werden k�nnen,“ entgegnete Frau Esther mit harter Stimme, w�hrend der Groll in ihr aufstieg, daß der junge Mann die Nachricht ihr so lange vorenthalten hatte, um unterwegs zu fr�hst�cken.
„Verzeihung, gn�dige Frau,“ erwiderte der Pole mit einer Verbeugung, „mir widerstrebte diese formlose Art der Benachrichtigung, wollte selbst der �berbringer der Freudenbotschaft sein, von der ich hoffe, daß sie dazu beitragen wird, bessere Beziehungen zwischen Hartenau und der Beh�rde anzubahnen.“
„Darf ich um die Depesche bitten?“
Der junge Mann begann in seiner Brusttasche zu suchen. Als er das Papier dort nicht fand, stieß er den polnischen Lieblingsfluch „Pjoruni“ aus. Fuhr mit der Hand in noch mehrere andere Taschen, „Pjoruni, hab' ich vergessen, oder ist bei Herrn Ritter liegengeblieben. Aber an der Tatsache ist nicht zu zweifeln. Das Rote Kreuz hat aus Schweden telegraphiert, daß Ihr Herr Enkel dort eingetroffen und nach Hause geschickt wird, sobald er sich etwas erholt hat.“
Frau Esther Dalkowski erhob sich. „Ich danke Ihnen, Herr Lubomierski f�r Ihre Bem�hung, mir die Nachricht selbst zu �berbringen. Ich ersuche Sie jedoch, mir den Wortlaut der Depesche nach Ihrer R�ckkehr durch den Fernsprecher zu �bermitteln, und die Depesche selbst mir zuzusenden.“
Mit derselben Verbeugung wie beim Eintreten verabschiedete sich der junge Kreischef, der noch vor wenigen Jahren die B�nke des Gymnasiums in Posen gedr�ckt hatte. Als die T�re sich hinter ihm geschlossen hatte, sank Frau Esther in den Stuhl zur�ck, legte die H�nde auf den Schreibtisch und barg ihr Gesicht darin. Ein verhaltenes Schluchzen ersch�tterte ihren K�rper, w�hrend ihr die Tr�nen aus den Augen st�rzten.
Da wurde sie von zwei weichen Armen umschlungen, ein heißer Mund preßte sich auf ihren Scheitel: „Großchen,“ fl�sterte ihr Gertrud in das Ohr. „Ich habe es schon vor einer Stunde gewußt, aber der Vater ließ mich nicht an den Fernsprecher, ich mußte dem jungen Ekel Gesellschaft leisten. Großchen, ich zerspringe ja vor Freude. Denk' mal, Robert lebt und kommt nach Hause. Hab' ich nun recht behalten oder nicht?“
Zweites Kapitel
Die erste und gr�ßte Sorge der polnischen Machthaber war die Bek�mpfung und Unterdr�ckung der Kommunisten, die einen starken R�ckhalt am Sowjet-Rußland besaßen und von dort mit Geldmitteln unterst�tzt wurden. Die politische polnische Polizei, die sich in bezeichnender Weise „Defensive“ nannte, w�tete mit bestialischer Grausamkeit gegen jeden, der ihr als Kommunist bekannt oder als verd�chtig erschien. Sie wurde dabei von einem Heer von Agenten unterst�tzt, auf deren Anzeigen Hunderte von Arbeitern auf einen ungewissen und meist unbeweisbaren Verdacht eingekerkert, in der schauerlichsten Weise gemartert und ohne richterliches Urteil abgetan, d.h. ermordet wurden.
Ein Fall, der das gr�ßte Aufsehen der gebildeten Welt erregte, wurde durch Zufall bekannt. Wie eine kurze Notiz in polnischen Zeitungen gemeldet, hatte sich eine zwanzigj�hrige Julie Baraski im Lemberger Polizeigef�ngnis erh�ngt. Sie wurde ohne Leichenschau in aller Stille beerdigt. Erst eine Woche sp�ter erfuhr der Professor Lewicki, daß diese Tote seine f�nfunddreißigj�hrige Schwester Olga Bessarabow war, die der Spionage zugunsten eines Nachbarstaates beschuldigt war.
Die Exhumierung und Obduktion der Leiche ergab, daß die Ungl�ckliche in der bestialischsten Weise mit einem Riemen, an dem sich eine Schnalle befand, mißhandelt worden war. Obwohl die kommunistischen Abgeordneten im Seim L�rm schlugen, blieb das Verbrechen unges�hnt, wie noch viele andere, die unbekannt blieben. Das W�ten der Defensive, die soviel M�rtyrer schuf, blieb ohne Erfolg. Die Reihen der kommunistischen Arbeiter schlossen sich nicht nur wieder, sondern erhielten neuen Zuzug.
Die Furcht der Polen vor der damals noch kleinen Partei war sehr groß. Das war wohl auch eine der Ursachen, weshalb sie anf�nglich gegen die Deutschen noch nicht so scharf vorgingen, wie es in ihrer Absicht lag, die sp�ter mit voller R�cksichtslosigkeit zutage trat. Sie beschr�nkten sich anfangs nur auf „kleine“ �bergriffe, die Schließung deutscher Schulen, Vertreibung der Lehrer und Enteignung deutscher Ansiedler, die froh sein mußten, daß sie eine geringe Entsch�digung erhielten, wenn sie von Haus und Hof vertrieben wurden.
Daß man gegen die beiden G�ter Hartenau und Strelkowo nichts unternahm, hatte verschiedene Ursachen. Herr Ritter auf Strelkowo trug seine Polenfreundlichkeit und Unterw�rfigkeit so offen zur Schau, daß es unklug gewesen w�re, ihn schlecht zu behandeln. Er war schwer reich, denn er besaß �ber der Grenze in Preußen noch ein zweites großes Gut, hatte w�hrend des Krieges viel verdient und es verstanden, sein Kapital in Devisen anzulegen. F�r die Polen hatte er ein offenes Haus, und sie vers�umten nicht, davon Gebrauch zu machen. Außerdem war seine Tochter Gertrud nicht nur sehr h�bsch, sondern auch die reichste Erbin weit und breit. Das lockte die jungen Polen wie der bl�hende Lindenbaum die Bienen. Frau Esther Dalkowski auf Hartenau verdankte ihre schonende Behandlung weniger ihrem weitreichenden Einfluß als vielmehr der Tatsache, daß der junge Kreischef Lubomierski heftig in Trudchen Ritter verliebt war und sich um ihre Gunst bem�hte. Er wußte, wie Trudchen an der alten Gn�digen hing, und h�tete sich, die alte Frau gegen sich aufzubringen. Die h�heren Verwaltungsbeamten herrschten ja in ihrem Bezirk wie kleine K�nige, die nach ihrem Belieben schalten und walten konnten.
Aber einen kleinen Denkzettel sollte Frau Esther doch bekommen. Eines Morgens r�ckte eine polnische Bande unter Anf�hrung zweier Polizisten in das Dorf Hartenau, vertrieb erst die deutschen Kinder aus der Schule, in die sich sogleich eine polnische Lehrerin einquartierte, warf den Lehrer und seine Familie aus dem Hause und seine M�bel und allen Hausrat auf die Straße.
Der Vogt Kowalski, ein H�ne von Gestalt, hatte M�he, die V�ter und M�tter des Dorfes von T�tlichkeiten abzuhalten. Er konnte es aber nicht verhindern, daß die Bande eine alte Frau von zweiundsiebzig Jahren, die ihrer Emp�rung und Erregung in heftigen Worten Luft gemacht hatte, verhafteten und fortf�hrten. Die alte Gn�dige gab dem Lehrer in einer alten, leerstehenden Instwohnung Obdach und setzte Himmel und Erde in Bewegung, um die R�ckgabe der Schule, die ihr geh�rte, zu erreichen. Vergebens! Der Herr Kreischef, der sich erst nach mehreren Tagen sprechen ließ, bedauerte, dagegen nichts tun zu k�nnen. Die deutschen Abgeordneten im Seim erhoben Beschwerde, die kaltl�chelnd zur�ckgewiesen wurde.
Aber Herr Lubomierski wollte die Sache nicht bis zum �ußersten treiben. Er dr�ckte beide Augen zu, als Frau Dalkowski ein Scheunenabteil zur Schule einrichtete, wo die deutschen Kinder nach wie vor von ihrem Lehrer unterrichtet wurden.
Eines Tages erschien zur Kaffeezeit der Herr Kreischef auf Strelkowo zu Besuch. Er brachte einen Herrn Wladimir Kosinski mit, der weder Gutsbesitzer noch Beamter war. Es war jedoch in der ganzen Gegend ein offenes Geheimnis, daß er ein geheimer Agent der politischen Polizei war. Er war ein Mann in mitteren Jahren mit verlebtem Aussehen, aber stets hochelegant gekleidet. Sein Beruf ließ ihm viel freie Zeit, denn Kommunisten gab es in dieser rein deutschen Gegend nicht. Er f�hrte aber genau Buch �ber alles, was die Deutschen taten und unterließen.
Ritter schickte sofort nach Hartenau und ließ seine Tochter holen. Sie wollte dem Ruf nicht Folge leisten, aber Großchen redete ihr zu, dem Vater zu gehorchen. Sie kam nach Hause und mußte die G�ste ihres Vaters begr�ßen. Aber mit unbewegtem Gesicht h�rte sie die faustdicken Schmeicheleien der beiden Polen an, die sich gegenseitig den Rang abzulaufen suchten. Gegen Abend erschienen, durch den Fernsprecher herbeigerufen, noch zwei G�ste, Oberinspektoren der großen, feudalen Herrschaft Reisen, die fr�her dem F�rsten Sulkowski geh�rte und nach seinem Ableben vom preußischen Staat in Besitz genommen wurde. Jetzt geh�rte sie nat�rlich dem polnischen Staat.
Der eine, Hans Reichert, hatte seine Stellung seiner Polenfreundlichkeit zu verdanken, ein ungeschlachter Mensch mit groben Z�gen, die seine b�uerliche Abstammung verrieten. Der zweite war ein waschechter Pole, Joseph Dworski. Ein schlanker, br�netter J�ngling, der seine Stellung weniger seinen landwirtschaftlichen Kenntnissen und F�higkeiten als seiner einflußreichen Verwandtschaft zu danken hatte.
Gertrud war froh, als sie die Gesellschaft verlassen durfte, um f�r die reichliche Bewirtung der G�ste Sorge zu tragen. Beim Abendessen war die Stimmung schon sehr animiert. Zum Kaffee schon hatte man Lik�re getrunken, dann war man zum Ungarwein �bergegangen, und zum Abendbrot gab es Rotwein. Lubomierski war noch ziemlich n�chtern, er hatte sich beim Trinken zur�ckgehalten, um nicht Gertruds Mißfallen zu erregen. Er bem�hte sich auch in der Unterhaltung der Haustochter, deren Tischherr er war, nicht zu mißfallen. Aber sie merkte es doch, daß seine Zunge nicht ganz taktfest war und schon �fter anstieß. Seine liebensw�rdige Stimmung gab ihr den Mut zu fragen, ob er die Schule in Hartenau der alten Gn�digen nicht zur�ckgeben wollte. Das sei doch ein glatter Raub gewesen, denn die Schule sei von Frau Dalkowski erbaut und geh�re ihr. Sie habe auch den Lehrer besoldet.
Der junge Kreischef zuckte die Achseln: „So weit reicht meine Macht leider nicht, mein gn�digstes Fr�ulein. Das polnische Volk ist souver�n. Es hat die Schule in Besitz genommen, um sie f�r polnische Kinder zu benutzen. Selbst die Regierung ist gegen diese Bekundung des Volkswillens machtlos, und ich w�rde gegen die Absichten meiner vorgesetzten Beh�rde handeln, wenn ich diese Maßregel r�ckg�ngig machen wollte. Es geht wirklich nicht, gn�digstes Fr�ulein.“
Gertrud sah ein, daß bei Herrn Lubomierski nichts zu erreichen war. Nach dem letzten Gang hob sie die Tafel auf, wobei sie dulden mußte, daß ihr von jedem Gast die Hand gek�ßt wurde, und zog sich, nachdem sie in der K�che noch angeordnet hatte, was f�r die weitere Bewirtung der G�ste erforderlich war, auf ihr Zimmer zur�ck. Sie nahm ein Buch vor, aber es vermochte sie nicht zu fesseln. Die Gedanken kribbelten ihr wie Ameisen im Kopf. Nun w�rde da unten wieder ein Gelage anheben und sicherlich auch hoch gespielt werden, bis die G�ste, im Morgengrauen schwer bezecht in die Wagen geladen, nach Hause fuhren.
Nicht lange danach klopfte es, und ihr Vater trat in das Zimmer. „M�del, wo steckst du? Du wirst dich doch nicht unsern G�sten entziehen?“
„Wenn deine G�ste n�chtern w�ren, w�rde ich dir zuliebe noch eine Zeitlang unter ihnen bleiben, aber sie haben schon mehr oder weniger eins im Kr�nchen sitzen und legen sich bereits so wenig Zwang auf, daß ein junges M�dchen nicht in eine solche Gesellschaft paßt.“
„Mir zuliebe k�nntest du doch noch eine Stunde herunterkommen.“
„Nein, Vater, das tue ich nicht. Ihr werdet euch doch sehr bald an den Kartentisch setzen, und da bin ich �berfl�ssig.“
„Im Gegenteil, Herr Lubomierski hat mir selbst den Wunsch ausgesprochen, daß durch deine Anwesenheit das Kartenspiel verhindert oder wenigstens hinausgeschoben wird, er m�chte auch daran nicht teilnehmen, wenn du ihm Gesellschaft leistest.“
„Bedauere sehr, lieber Vater, aber ich halte mich f�r zu gut, einem angerauschten Manne die Zeit zu vertreiben. Ich weiß ja, daß du die Polen nur aus politischen Gr�nden so reichlich bewirtest. Du trinkst nicht gern, manchmal tagelang keinen Tropfen. Du jeust nicht gern, das tust du nur aus Berechnung, aber mich laß aus dem Spiel. Deine Tochter m�ßte dir f�r diesen Zweck zu gut sein.“
Herr Ritter brummte. „Ich habe besondere Ursache, mir gerade jetzt den Kreischef warm zu halten. Er soll mir die Bewilligung einer großen Ausfuhr von Getreide �ber die Grenze erwirken. Eine Bitte von dir w�rde sie mir sofort verschaffen.“
„Nein, Vater, das w�rde ich auf keinen Fall tun.“
Ritter wurde �rgerlich. „Ich befehle dir, sofort mit mir nach unten zu kommen.“
Gertrud stand auf und trat ihm gegen�ber. „Vater, ich muß dir in diesem Fall den Gehorsam verweigern.“
Jetzt wurde Ritter ganz b�se. „Du wirst es noch dahin bringen, daß die Polen mir den Stuhl vor die T�re setzen. Glaubst du, sie wissen nicht, daß du bei der alten Gn�digen aus und ein gehst, daß sie dich in deiner unfreundlichen Haltung gegen die Polen best�rkt? Vergiß nicht, daß sie jetzt die Herren hier sind, und daß wir uns ducken m�ssen, bis der erste, scharfe Wind gegen uns Deutsche vor�ber ist.“
„Darauf wirst du vergeblich warten, Vater, es wird noch viel schlimmer kommen, sobald die Polen die inneren und �ußeren Schwierigkeiten, in denen sie jetzt noch stecken, �berwunden haben werden. Bis dahin wirst du noch Schonzeit haben, weil du ihnen die Gurgel vollgießt.“
Sie trat ihm n�her und legte ihm den Arm um den Nacken. „Nicht wahr, Vater, du wirst mich nicht zwingen, mit dir runterzugehen, um mir von den betrunkenen M�nnern Schmeicheleien, die schlimmer sind als Grobheiten, sagen zu lassen.“
Brummend ging Ritter aus der T�r. Seine G�ste hatten inzwischen schon die Karten hervorgeholt und spielten Oko, eine Abart des Pokerns, aber noch raffinierter als die angels�chsische Urform. Nur Lubomierski stand noch und spielte nicht mit. Als Ritter erschien, trat er ihm entgegen.
„Kommt das gn�dige Fr�ulein nicht wieder?“
„Nein, Herr Kreischef, sie l�ßt sich entschuldigen, sie f�hlt sich nicht wohl.“
„In unserer Gesellschaft,“ erg�nzte Lubomierski. „Schade, ich hatte mich gefreut, noch ein St�ndchen mit ihr zu verplaudern, aber im Grunde genommen, kann ich es ihr nicht verdenken. Die Herren sind nicht mehr ganz taktfest und lassen sich in ihren Ausdr�cken zu sehr gehen.“
„Spielen Sie nicht mit, Herr Lubomierski?“
Der junge Mann zuckte die Achseln. „Ich habe seit einiger Zeit ungew�hnlich viel Pech im Spiel, und offen gesagt, ich stehe bei Kosinski noch mit tausend Gulden in seiner Schuld, die ich erst tilgen m�ßte.“
„Aber, Herr Lubomierski,“ fiel Ritter mit vorwurfsvollem Tone ein, „meine Kasse steht Ihnen doch jederzeit zur Verf�gung. Sie k�nnen jederzeit �ber mich verf�gen.“
Er f�hrte den jungen Mann in sein Arbeitszimmer und schloß seinen Geldschrank auf. Wenige Minuten sp�ter erschien der Herr Starost mit sehr vergn�gter Miene wieder, schob Kosinski ein P�ckchen Banknoten hin, setzte sich an den Tisch und ließ sich Karten geben. Es wurde mit einer langen Karte gespielt, aus der nur die Zweien und Dreien entfernt waren, und da kamen die ganz großen Spiele Fullhand oder gar ein Vierer sehr selten heraus. Und wer etwas wagte und vom Gl�cke beg�nstigt wurde, konnte schon mit einem kleinen Dreier die Gegner hinauswerfen. Auch Ritter hatte sich an den Tisch gesetzt und spielte mit, aber ohne jedes Interesse. Er wettete ab und zu zehn Gulden an und ließ sich selten auf einen Kampf ein. Am waghalsigsten spielte Kosinski, der jeden Satz eines Gegners verdoppelte und oft mit einem ganz schwachen Spiel den Gewinn einstrich, weil er seine Gegner durch hohe Eins�tze unsicher machte. Nur der Herr Kreischef hielt ihm Widerpart und setzte nach, so daß der Agent seine Karten aufdecken mußte, wobei sich mehrmals herausstellte, daß er mit einem kleinen Paar so scharf herangegangen war. Dadurch wurde Lubomierski k�hner und schließlich zu k�hn. Mit einem niedrigen Dreier ging er scharf ins Zeug und �bertrumpfte jeden Einsatz seines Gegners mit hundert Gulden. Schließlich zog Kosinski seine Brieftasche und warf tausend Gulden auf den Tisch.
„Ich bringe die tausend Gulden,“ rief der Kreischef, der nicht mehr so viel Geld vor sich liegen hatte, „ich will Sie sehen.“
„Das Vergn�gen k�nnen Sie haben,“ erwiderte der Agent hohnl�chelnd und deckte ein starkes Fullhand, drei K�nige und zwei Asse, auf.
Noch einmal f�hrte Ritter Herrn Lubomierski in sein Arbeitszimmer und lieferte ihm die Mittel zum Weiterspielen. Einige Stunden sp�ter hatte der Agent alles Geld, �ber das die anderen Spieler, mit Ausnahme des Hausherrn, verf�gten, der mit einigen hundert Gulden Verlust davongekommen war, in seinem Besitz. Den Vorschlag, nunmehr auf Schuldschein weiterzuspielen, lehnte er ab. Die Stimmung war allm�hlich ziemlich ungem�tlich geworden. Der Hausherr versuchte, sie mit Wein und Lik�r zu beleben, aber er hatte kein Gl�ck. Die beiden Inspektoren brachen bald auf und nicht lange danach auch Lubomierski mit seinem Gegner, der ihm eine respektable Summe abgenommen hatte.
Ritter war froh, als seine G�ste das Haus verlassen hatten. Die Nacht war ihm ziemlich teuer zu stehen gekommen, denn von den zwanzigtausend Gulden, die er dem Kreischef geborgt hatte, w�rde er keinen roten Heller wiedersehen. Daf�r hatte er die Ausfuhrbewilligung f�r f�nfhundert Zentner Getreide in der Tasche. Der ebenso junge wie gesch�ftst�chtige Beamte hatte das Formular schon abgestempelt vorsorglich mitgebracht.
Drittes Kapitel
Die drei Wochen, die vergingen, bis Robert seine Abreise aus Schweden telegraphisch meldete, erschienen der Großmutter l�nger als die Jahre der Ungewißheit. Er hatte ihr brieflich, aber nicht ausf�hrlich mitgeteilt, daß er durch die Strapazen der Flucht k�rperlich etwas geschw�cht sei. Frau Esther hatte ihm darauf mit einem langen Brief geantwortet, worin sie ihm in großen Umrissen die Lage der Deutschen unter polnischer Herrschaft schilderte und die Hoffnung aussprach, an ihm fortan eine St�tze zu finden.
Sie hatte ihm auch Geld �berweisen lassen. Dabei erwies sich Ritter in uneigenn�tziger Weise als hilfsbereiter Nachbar. Die polnische Mark, die als allgemeines Zahlungsmittel zu gelten hatte, stand sehr niedrig. Ritter, der sein Getreide durch Deutschland hindurch nach England verschickte, hatte fleißig Devisen gehamstert und hatte auch deutsches Geld in deutschen Banken aufgespeichert. Er stellte beides, ohne eine Gegenleistung oder eine Sicherheit zu fordern, Frau Esther zur Verf�gung.
Er war im Grunde genommen ein ehrlicher, braver Mann, er dachte nicht daran, sein Deutschtum aufzugeben, aber seine Gesch�ftsklugheit bestimmte ihn dazu, sich mit den Polen gut zu stellen. Im stillen kamen ihm jedoch manchmal Zweifel, ob er damit auf dem rechten Wege war. Nicht wegen der Ausgaben, die ihm der Verkehr der Polen in seinem Hause auferlegte, sondern weil er wußte, daß seine Tochter der Lockvogel war, der ihm die Gunst des Kreischefs verschaffte. �ber kurz oder lang w�rde Lubomierski um Gertruds Hand anhalten, und dann konnte sich das Bild mit einem Schlage �ndern, wenn sie, wie zu erwarten war, ihm einen Korb gab.
Er hielt es auch f�r seine Pflicht, Frau Esther den Verkauf Hartenaus anzuraten. Wenn Lubomierski mit einem Korb aus Strelkau abzog, dann h�rte damit auch die R�cksicht auf, die er bisher auf die alte Gn�dige genommen hatte.
Frau Esther erwiderte ihm auf seinen Vorschlag, sie habe dar�ber nicht zu bestimmen. Hartenau geh�re ihrem Enkel, und wie sie ihn zu kennen glaube, werde er auch entschlossen sein, durchzuhalten, und nur der Gewalt weichen. An einen Deutschen, etwa an ihn, d�rfe sie nicht verkaufen, und an einen Polen verkaufe sie freiwillig nicht.
Gertrud besuchte in dieser Zeit nach wie vor Großchen t�glich. Die alte Frau war, obwohl sie ihre Sorge unter einem unbewegten Antlitz verbarg, innerlich mit schwerer Sorge um ihren Enkel erf�llt. Was mußte der Junge durchgemacht haben, daß er drei Wochen brauchte, um einigermaßen zu Kr�ften zu kommen und die Reise nach und durch Deutschland antreten zu k�nnen. Es tat ihr wohl, wenn Gertrud ihr vorplauderte: Es seien gewiß allerlei F�rmlichkeiten zu erf�llen, damit Robert ungehindert durch Deutschland hindurch- und nach Polen hineinreisen d�rfe. Der Paß sei die gr�ßte Dummheit, die der Krieg hinterlassen habe, ja, es sei geradezu ein Verbrechen, daß die V�lker auf diese Weise sich voneinander abschlossen und jeden Menschen n�tigten, ein zweites papierenes „Ich“ mit sich herumzutragen.
Daß sie im stillen bef�rchtete, Robert k�nnte an der Grenze von den Polen an der Einreise gehindert werden, verschwieg sie, auch ihre Verwunderung, daß Robert Wochen zur Erholung brauchte, ehe er die Heimreise antreten konnte. Als er in den Krieg zog, war er ein bl�hender, kr�ftiger J�ngling gewesen, nicht sehr groß, aber von kr�ftiger Gestalt. So stand er noch heute in ihrer Erinnerung. Sie selbst war damals ein unbedeutendes, mageres G�nschen gewesen, das erst sp�ter erbl�hte. Sie hatte ihn auch w�hrend des Krieges nicht wiedergesehen, obwohl Robert zweimal nach einer Verwundung l�ngere Zeit zu Hause weilte, weil ihr Vater sie kurze Zeit nach Kriegsausbruch zu seiner Schwester nach Berlin gebracht hatte. Und als er sie von dort zur�ckholte, war Robert schon in russischer Gefangenschaft.
Trotzdem empfand sie ein ziemlich starkes Interesse f�r ihn, weil sie sich in dem vertrauten Umgang mit seiner Großmutter so viel und so oft mit seinem Schicksal besch�ftigt hatte.
Endlich meldete eine Depesche, daß Robert seine Heimreise angetreten habe. Eine seltsame Unruhe kam �ber die alte Frau, �ber deren Ursache sie sich selbst keine Rechenschaft geben konnte. Jetzt war doch nichts mehr zu bef�rchten. Sie rechnete aus, wann er zu Hause eintreffen k�nnte, ließ Kuchen backen und Girlanden flechten, mit denen die T�ren bekr�nzt werden sollten. Sie ging von ihrem Zimmer in die K�che, wo Trudchen das Backen und Schmoren �berwachte, sie wanderte mehrmals am Tage durch die St�lle und �ber den Hof, den sie aufr�umen und s�ubern ließ.
Frau Esther wie Trudchen nahmen an, daß Robert noch von unterwegs den genauen Zeitpunkt seines Eintreffens melden w�rde. Die Nachricht kam, aber sie besagte nicht das, was die beiden Frauen erwarteten. Robert telegraphierte von Berlin, daß er sich von der Reise angegriffen f�hlte und sich einige Tage dort ausruhen m�ßte. Wortlos reichte Großchen der jungen Freundin die Depesche hin, ihre Augen waren umflort, und um den Mund lag eine schwere Sorgenfalte.
Gertrud faßte sich schnell. „Das finde ich verst�ndig von Robert, daß er die anstrengende Fahrt nicht in einem Zuge zur�cklegt, sondern in Berlin Station macht. Weißt du, Großchen, was ich meine? Ich halte sein Bed�rfnis nach Erholung f�r einen Vorwand. Er wird sich Berlin ansehen wollen, das er meines Wissens noch nicht kennt und sich durch den Besuch eines Theaters oder Konzerts erholen wollen.“
Frau Esther l�chelte schmerzlich. „Du hast ein gl�ckliches Gem�t, mein Kind. Ich kann deine optimistische Auffassung nicht teilen. Robert braucht keinen Vorwand, wenn er einige Tage in Berlin bleiben will. Das liegt ihm auch fern, mir gegen�ber einen Vorwand anzuwenden. Nein, es wird schon so sein, wie ich bef�rchte. Er ist schwer krank, schwerer, als wir ahnen.“
„Aber, Großchen, wie kannst du dich mit solchen Bef�rchtungen qu�len? Es wird richtig sein, was er dir geschrieben hat, daß er durch unerh�rte Strapazen und Unterern�hrung k�rperlich geschw�cht ist. Dann werden wir es doch fertigbringen, ihn wieder hochzup�ppeln, und weißt was, telegraphier' ihm sofort, daß er sich von den ber�hmtesten und besten �rzten Berlins untersuchen l�ßt und dir sofort ihr Urteil meldet.“
„Das w�rde ich gerne tun, wenn Robert seine Adresse angegeben h�tte, was er leider nicht getan hat.“
„Das ist bedauerlich, Großchen, aber ich vermute, daß Robert selbst auf den Gedanken gekommen ist, sich in Berlin von einem Professor untersuchen zu lassen, wenn er sich wirklich krank f�hlt.“
„Vielleicht, mein Kind,“ erwiderte Frau Esther tonlos. „Gott gebe, daß du recht beh�ltst.“
Was sie wirklich dachte und bef�rchtete, sprach sie nicht aus. Die Gedanken waren zu schwer, sie wollten nicht �ber ihre Lippen. Sie f�rchtete, daß Robert schwer krank war, wom�glich an der Lunge, und daß er als ein vom Tode Gezeichneter nach Hause kam, um hier zu sterben, als Letzter seines Geschlechts und Namens. Sollte ihr das Schicksal noch diesen Schmerz, den gr�ßten ihres Lebens, zuf�gen wollen? Gertrud las ihr am Gesicht ab, daß die alte Frau von schweren Gedanken und Sorgen erf�llt war, aber sie h�tete sich, sie zum Sprechen zu veranlassen. Denn auch in ihr lebte die Furcht, daß die Heimkehr ihres Enkels der alten Gn�digen weniger Freude als schwere Sorge bereiten werde.
Eines Abends kam endlich die Nachricht, daß Robert am n�chsten Morgen mit dem ersten Zuge eintreffen werde. In der alten Frau kam keine Freude auf. Schlaflos verbrachte sie die Nacht, wie ein Alp lagen ihre Sorgen und Bef�rchtungen auf ihr. Sie versuchte ihn abzusch�tteln, sie schalt sich selbst aus, aber es half nichts. Als der Morgen graute, stand sie auf, zog sich an und wanderte ruhelos umher. Als der Wagen vorfuhr, genau auf die Minute, die sie bestimmt hatte, saß sie schon in Mantel und Kapuze, ungeduldig wartend.
Der Wagen schien ihr zu kriechen, obwohl der Kutscher die beiden Rappen t�chtig ausgreifen ließ. Ruhelos wanderte sie auf dem Bahnsteig umher, bis der Zug einlief. Als er hielt, stieg aus einem Abteil zweiter Klasse ein einzelner Reisender mit einem K�fferchen in der Hand. Das bleiche Gesicht von einem dunklen, krausen Bart umrahmt, der seine Bl�sse noch deutlicher hervortreten ließ. Die Augen lagen ihm tief im Kopf. Sollte das wirklich Robert, ihr Enkelsohn, sein? Mit m�dem Schritt kam er auf Frau Esther zu, streckte ihr die Hand entgegen und sagte mit schwacher Stimme: „Da bin ich, Großmutter.“
Wortlos zog sie ihn in ihre Arme und neigte ihren Kopf �ber ihn, w�hrend ihr die Tr�nen unaufhaltsam aus den Augen st�rzten. Sein Aussehen schien ihre schlimmsten Bef�rchtungen zu best�tigen. Das war ja ein v�llig gebrochener Mensch.
Mit M�he gewann sie ihre Beherrschung zur�ck. „Gott sei Dank, mein lieber Junge, daß ich dich endlich zu Hause habe. Jetzt werden wir dich hegen und pflegen, bis du wieder der alte wirst.“
Sie faßte ihn unter den Arm, nahm ihm das K�fferchen ab und f�hrte ihn zum Wagen, wo sie ihm in den großen Reisepelz seines Vaters half. Es war ein herber Vorfr�hlingsmorgen. Noch war die Natur nicht erwacht, aber ein gr�ner Schimmer an den B�umen und Str�uchern k�ndigte bereits an, daß die Herrschaft des Winters ihrem Ende zuging. Am wolkenlosen Himmel strahlte die Sonne, aber ihre Strahlen w�rmten nur wenig. Die Pferde zogen an, brausend rasselte der Wagen �ber das schlechte Steinpflaster der Stadt. Erst draußen, als der Wagen auf dem weichen Sommerweg ger�uschlos dahinrollte, bog sich Frau Esther zu ihrem Enkel hin�ber. „Du bist wohl sehr erm�det von der Reise?“
„Es geht, Großmutter, ich war die meiste Zeit allein im Abteil, habe gelegen und geschlafen.“
„So, das ist ja erfreulich. Wenn wir nach Hause kommen und gefr�hst�ckt haben, wirst du ein warmes Bad nehmen und dich noch f�r ein paar Stunden hinlegen.“
Vor dem Gutshaus hatte der Vogt Kowalski alle Gutsbewohner auf der einen Seite aufgestellt, auf der anderen Seite stand der Lehrer mit seinen Schulkindern, augenscheinlich bereit, den jungen Gutsherrn durch ein Lied zu begr�ßen. Ein weißgekleidetes M�dchen hatte einen Blumenstrauß in der Hand, den sie mit einem Vers Robert �berreichen sollte. Mit einer Handbewegung schnitt Frau Esther die geplante Feier ab, noch ehe sie begonnen hatte. Nur der Vogt Kowalski ließ sich nicht abschrecken. Er trat an den Schlag, streckte Robert die Hand hin und sagte, „Willkommen zu Hause, gn�diger Herr.“
Robert nahm f�r einen Augenblick seine Hand: „Ich danke Ihnen, lieber Kowalski, lassen Sie auch das kleine M�dchen ihren Gl�ckwunsch sagen.“
Die Kleine trat verlegen n�her, knickste, lispelte ein paar Worte, dann hob der Vogt Robert aus dem Wagen, nahm ihn wie eine Puppe auf die Arme und trug ihn die Freitreppe hinauf bis auf die Diele, wo er ihn behutsam niederstellte und aus dem Pelz sch�lte. Dann f�hrte Frau Esther Robert in das Eßzimmer, wo ein reichliches Fr�hst�ck aufgetragen war. „Nimmst du zuerst ein Glas Rotwein?“
„Wie du befiehlst, liebe Großmutter.“
„Aber, mein Junge, ich befehle doch nichts, das kommt doch nur auf dich an.“
„Dann w�re mir zuerst ein ordentlicher Schluck Schnaps lieber.“
Er griff zur Karaffe, die auf dem Tisch stand, goß sich ein halbes Weinglas voll ein und st�rzte es hinunter. Mit einem geheimen Grauen sah die alte Frau ihm zu, ein schrecklicher Verdacht stieg in ihr auf. War ihr Enkel dem Alkohol verfallen?
W�hrend Robert sich eine Scheibe Schinken auf den Teller legte und zerschnitt, begann sie mit ruhiger Stimme: „Nun sag' mir mal, mein lieber Junge, was fehlt dir eigentlich?“
„Ich bin mit meinen Nerven vollst�ndig auf dem Hund, und mein Magen ist so geschw�cht, daß er keine kr�ftige Speise annehmen will.“
„Aber, mein Junge, wie ist denn das gekommen?“
�ber Roberts bleiches Gesicht huschte ein bitteres L�cheln. „Sehr einfach, Großmutter. Wenn man sich ein paar Jahre in der Hauptsache von grobem Brot, das meist noch schlecht gebacken war, Heringen und Schnaps hat ern�hren m�ssen. Manchmal habe ich auch tagelang gehungert. Das h�lt kein Pferd auf die Dauer aus. Auf der Flucht, wo ich ewig in Angst schwebte, aufgegriffen und in ein Gef�ngnis geworfen zu werden, sind dann auch die Nerven kaputtgegangen.“
Mit Schrecken sah Frau Esther, wie es in seinem Gesicht zuckte, und wie sich die Augen mit Tr�nen f�llten. Auch seine Hand zitterte deutlich, als er ein St�ckchen Schinken zum Munde f�hrte.
„Was sagen die �rzte dazu? Du hast dich doch genau untersuchen lassen?“
„Selbstverst�ndlich haben mich die schwedischen Arzte untersucht und in Behandlung genommen. Sie haben mir auch eine genaue Di�t vorgeschrieben.“ Er zog seine Brieftasche und reichte ihr einen Zettel hin. Da stand darauf verzeichnet, was er essen durfte, bis sein Magen nach kr�ftiger Speise verlangte. Schleimsuppen, Milchsuppen, gequirltes rohes Ei, geschabter Schinken usw., ab und zu ein Gl�schen Kognak.
„Aber, mein lieber Junge, weshalb hast du mir das nicht gleich gesagt? Gleich nach dem Baden bekommst du einen Teller Haferschleim mit einem Ei abgezogen.“
Mit sichtlicher Anstrengung hatte Robert die Scheibe Schinken aufgegessen und dazu noch einen Kognak getrunken, dann ging er baden. Nachdem er danach seine Krankenkost genossen, legte er sich hin. Frau Esther saß an seinem Bett und hielt seine Hand, bis er fest eingeschlafen war. Dann schickte sie einen Jungen nach Strelkau und ließ Gertrud rufen. Sie brauchte eine menschliche Seele, der sie ihr Herz aussch�tten konnte.
„Na, siehst du, Großchen,“ rief Trudchen, nachdem ihr die alte Frau �ber Roberts Befinden ausf�hrlich berichtet hatte, „es ist alles nicht halb so schlimm, wie man es sich vorstellt. Das ist doch keine eigentliche Krankheit, sondern tiefe Ersch�pfung aller Lebensgeister, die du durch sorgsame Pflege beseitigen wirst.“
„Mir tut bloß das Herz weh, wenn ich denke, was der arme Junge durchgemacht haben muß. Wie der �rmste Bettler hat er von grobem Brot, Hering und Schnaps gelebt. Auf den Schnaps wird er wohl zuerst verzichten m�ssen.“
„Aber wenn sein Magen es verlangt?“
„Dann erh�lt er den feinsten Kognak, der aufzutreiben ist.“
„Der ist schon aufgetrieben,“ erwiderte Trudchen lachend. „Mein Vater hat noch ein paar Flaschen uralten Kognak, die werde ich ihm sofort f�r Robert ausspannen.“
Viertes Kapitel
Joseph Kowalski, der Sohn des Vogt von Hartenau, ein sehr stattlicher Bursche, der seinem Vater an Gr�ße und St�rke nichts nachgab, war heil und gesund aus Krieg und Gefangenschaft zur�ckgekehrt. Er hatte es nur zum Gefreiten gebracht, weil ihm die F�higkeiten, sich hervorzutun, mangelten. Er war aber ein t�chtiger Mensch, der unverdrossen seine Pflicht tat. Deshalb hatte Frau Esther ihn zum Stellvertreter seines Vaters ernannt, dessen Nachfolger er in absehbarer Zeit werden sollte.
Als er nach seiner R�ckkehr die alten Bekannten besuchte, war er auch zum Vogt von Strelkau, Michalcik, gegangen, mit dessen �ltester Tochter Marinka, die nur zwei Jahre j�nger war, er zusammen die Schule in Hartenau besucht hatte. Es war ein h�bsches, sauberes und adrettes M�dchen geworden, das einem jungen Mann wohl gefallen konnte. Und sie gefiel ihm so gut, daß er �fters abends nach Strelkau ging, um mit ihr zu plaudern. Marinkas Eltern merkten sehr bald, daß seine Besuche ihrer �ltesten Tochter galten. Das war ihnen nicht unlieb, denn Joseph war ein annehmbarer Schwiegersohn, nicht nur, weil er als Vogt ein gutes Einkommen hatte, sondern auch, weil seine fleißigen, ordentlichen Eltern f�r den Sohn ein St�ck Geld erspart hatten. Außerdem hatte er eine gute Aussteuer zu erwarten.
Marinka dagegen als �lteste von sieben Kindern, war arm wie eine Kirchenmaus, denn von ihren Eltern hatte sie nichts zu erwarten. Sie war katholisch und feierte nach polnischer Art sehr energisch jeden Feiertag, deren es im Jahre eine ganze Menge gab. Die Verschiedenheit des Glaubensbekenntnisses war zun�chst kein Hindernis f�r die beiden jungen Menschen, sich zusammenzufinden. Das geschah sehr bald. Marinka ging abends Joseph durch den Park entgegen und begleitete ihn auch ein St�ck auf dem R�ckwege. Da hatte er ihr eines Abends den Arm um die Schulter gelegt, und sie hatte es schweigend geduldet. Sie hatte den großen und unbeholfenen Menschen auch gern, aber sie zeigte es ihm nicht. Nichtsdestoweniger waren sich beide �ber ihr gemeinsames Ziel, sich zu heiraten, einig, und eines Abends wurde er so k�hn, daß er sie in seine Arme nahm, sich zu ihr hinunterbeugte und sie k�ßte. Nach dieser Bekundung ihrer Einigkeit sagte Joseph ruhig als wie selbstverst�ndlich: „Am n�chsten Sonntag werde ich mit deinen Eltern sprechen. Du bist zwar schon m�ndig, aber es ist doch besser, wenn die Eltern das erfahren.“
„Ach, Joseph, das hat ja noch Zeit. Ich werde erst mal im Vertrauen mit meiner Mutter sprechen.“
„Aber wozu? Glaubst du, daß ich ihnen nicht gut genug bin?“
„Man kann nicht wissen,“ erwiderte Marinka diplomatisch. „Fr�her war das ja nicht so, aber jetzt — der Vater ist doch polnisch und du bist deutsch.“
„Was geht ihn das an,“ fragte Joseph scharf, „ich denke, er kann froh sein, wenn du gut versorgt bist.“
Marinka schwieg, sie wollte ihm nicht widersprechen, weil sie derselben Meinung war. Daß Joseph evangelisch war, st�rte sie auch nicht. Sie war zwar im katholischen Glauben erzogen, befolgte die Gebote ihrer Kirche, ging auch zur Beichte, sooft es der Brauch verlangte, aber ein Herzensbed�rfnis war es ihr nicht.
Beim Abschied fiel es ihr ein, Joseph zu fragen, ob seine Eltern schon von ihrer Liebschaft w�ßten.
„Nein,“ erwiderte er, „das hat noch Zeit, bis ich mit deinen Eltern einig bin.“
„Glaubst du, daß sie einverstanden sein werden?“
Er zuckte die Achseln, „vielleicht — vielleicht auch nicht, aber wenn ich ihnen sage, daß wir uns sehr liebhaben und ich keine andere nehmen w�rde als dich.“
Wie Marinka es sich vorgenommen hatte, teilte sie ihrer Mutter unter vier Augen mit, daß Joseph demn�chst auf die Freite kommen werde. Die Frau, die von dem reichen Kindersegen und schwerer Arbeit k�rperlich wie geistig verbraucht war, zuckte nur die Achseln und schwieg.
„Ich dachte, du wirst dich freuen,“ fuhr Marinka fort, „eine bessere Partie kann ich doch nicht machen. Er hat eine gute Stellung, er bekommt Geld und eine gute Aussteuer von seinen Eltern, und er ist ein ruhiger, freundlicher Mensch. Ich werde es guthaben bei ihm.“
„Ach, Kind, das ist alles sehr gut und sch�n, aber was wird der Vater dazu sagen? Der Joseph ist doch deutsch und evangelisch.“
Jetzt fiel auch der Tochter dieser Unterschied schwer aufs Herz. Sie hatte oft genug geh�rt, daß ihr Vater, wenn er etwas im Kr�nchen hatte, auf die Deutschen schimpfte und sie zu allen Teufeln w�nschte.
Am n�chsten Tage ging Marinka ihrem Schatz bis zum Ausgang des Parkes entgegen, begr�ßte ihn z�rtlicher als sonst und raunte ihm zu: „Heute kannst du nicht zu uns kommen.“
„Weshalb denn nicht?“
„Herr Ritter hat den Vater ausgeschimpft, jetzt sitzt er hinter der Flasche und flucht auf die Deutschen.“
Joseph, der einsah, daß ein Besuch bei Michalcik unter diesen Umst�nden nicht ratsam sei, ließ sich von Marinka zu einer Bank f�hren, wo sie sich beide f�r eine Weile hinsetzten. Aber bald l�ste sich das M�del aus seinen Armen. „Ich muß nach Hause gehen, lieber Schatz, denn wenn ich nicht zu Hause bin, wenn der Vater nach mir fragt, kann es mir schlechtgehen.“
Sie gab ihm einen fl�chtigen Kuß und huschte davon.
Joseph blieb noch lange sitzen. Es waren keine klaren Gedanken, die in ihm wogten, sondern ein dumpfes Gef�hl, daß seine Liebschaft kein gutes Ende nehmen werde.
Marinka war doch etwas zu sp�t nach Hause gekommen. Der Vater hatte schon nach ihr gefragt und fuhr sie heftig an. „Du hast schon wieder mit dem verfluchten deutschen Hundsblut zusammengesteckt. Das werde ich dir austreiben. Ich breche dir alle Knochen im Leibe, wenn du ihm nochmal nachl�ufst.“
Furchtlos erwiderte Marinka: „Ich laufe ihm nicht nach, aber er mir, er will mich doch heiraten.“
„Und du, m�chtest du ihn nehmen?“ fragte der Vater lauernd.
„Ja, Vater, wenn er katholisch werden m�chte.“ Mit dieser Antwort entwaffnete sie den Vater vollst�ndig.
Er grinste und schlug sich mit der Hand auf den Schenkel. „Marinka, Tochter, das w�re ein feiner Kuchen aus grobem Mehl. Glaubst du, daß er es tun wird?“
Marinka l�chelte verschmitzt. „Wenn ich will, tut er alles, was ich von ihm verlange.“
Michalcik st�rkte sich mit einem großen Schnaps, dann erwiderte er mit einer gewissen Feierlichkeit: „Wenn er sich zu unserm Glauben bekehrt und sich taufen l�ßt, kannst du ihn heiraten.“
Von nun an ließ Marinka alle weiblichen K�nste springen, um Joseph daf�r zu gewinnen. Sie setzte sich auf seinen Schoß und k�ßte ihn mit aller Glut, deren sie f�hig war. Wenn sie dann f�hlte, wie er vor sehns�chtiger Liebe zitterte, malte sie ihm aus, wie sch�n es sein w�rde, wenn sie erst als Ehepaar zusammen lebten, wie ihre Liebe ihn verh�tscheln w�rde. Schließlich, als sie meinte, daß er hinreichend verliebt war, r�ckte sie mit ihrem Vorschlag heraus, daß er sich katholisch taufen lassen sollte. Das w�re der einzige Weg, um die Einwilligung ihres Vaters zu erreichen.
Joseph sch�ttelte den Kopf. „Das geht nicht, Liebste, damit w�rde ich meine Eltern aufs h�chste erz�rnen und mit ihnen ganz auseinanderkommen.“
„Sie k�nnen dich als ihr einzigstes Kind doch nicht enterben?“
„Das w�rde mir egal sein, aber die alte Gn�dige w�rde mich sofort entlassen.“
„Dann nimmt dich Herr Ritter als Vorarbeiter bei den Schnittern.“
Als Joseph nachdenklich schwieg, begann sie von der großen Pracht der katholischen Kirche zu erz�hlen. Als sie auch damit nichts erreichte, schlug sie den entgegengesetzten Weg ein. Sie behandelte Joseph kalt und abweisend. Dadurch kam sie ihrem Ziel bald n�her. Joseph fieberte vor Verlangen nach ihren heißen Liebkosungen, die sie ihm andauernd vorenthielt. Schließlich siegte seine Liebe �ber seine Bedenken. Als Marinka merkte, daß seine Einw�nde schw�cher wurden, �berh�ufte sie ihn wieder mit st�rmischer Glut, durch die sie ihm das Versprechen entlockte, zum Propst zu gehen und seinen �bertritt anzumelden.
Joseph hielt auch Wort, aber erst erschien er bei ihren Eltern und ließ sich von Vater Michalcik Marinkas Hand versprechen, wenn er sich taufen ließe.
In diesem Stadium kam der Liebeshandel mit seinen Folgen an die �ffentlichkeit. Marinkas j�ngere Schwester Selma, die vieles aufgeschnappt hatte, ließ ihrem flinken Z�nglein freien Lauf und verk�ndete der Welt von Strelkau und Hartenau die große Neuigkeit, daß der Sohn des deutschen Vogts von Hartenau Pole werden wollte und sich deshalb zum „katolicki Pan Jesus“ bekehren werde.
Die erste, die davon erfuhr und die Nachricht nach Hartenau brachte, war Gertrud. Die alte Gn�dige war zuerst sprachlos, weil sie an die M�glichkeit nicht glaubte. Erst als Gertrud ihr die n�heren Umst�nde schilderte, daß Joseph diesen Schritt unternehmen wollte, weil er arg in Michalciks Tochter verliebt w�re, und unternehmen m�ßte, wenn er sie von den Eltern zur Frau haben wollte, wurde die Sache erkl�rlich.
Frau Esther ließ sich sofort ihren Vogt rufen.
Der alte Mann war ganz starr vor Schrecken, als er die Nachricht vernahm. Er sch�ttelte den Kopf und brachte schließlich m�hsam die Worte heraus: „Das glaube ich nicht, das tut Joseph uns nicht an.“
„Lieber Kowalski,“ erwiderte Frau Esther ernst, „wenn es sich um ein M�del handelt, begehen die M�nner die gr�ßten Dummheiten.“
Der alte Mann mußte wohl die Wahrheit dieses Ausspruchs anerkennen, denn er senkte schweigend den Kopf. Dann ballte er die F�uste und hob sie bis zur Brust. „Das werde ich mit dem Jungen erst mal unter vier Augen besprechen, ich werde ihm die Mucken schon austreiben.“
„Machen Sie bloß keine Dummheiten, Kowalski,“ rief die alte Gn�dige, „Ihr Junge ist ein erwachsener, m�ndiger Mensch, der den Krieg mitgemacht hat, den behandelt man nicht wie einen kleinen Buben, dem man die Hosen stramm zieht. Ich glaube, Sie werden mit G�te und verst�ndiger Aussprache mehr erreichen, wenn Sie �berhaupt noch etwas erreichen.“
In ihren Augen blitzte es aus, ein unmerkliches L�cheln flog um ihren Mund. „Vielleicht ließe sich der Spieß sozusagen umdrehen. Die alten Michalciks k�nnten doch froh sein, ihre Tochter so gut versorgt zu sehen, und wenn die Marinka den Joseph wirklich liebhat, dann k�nnten auch die Eltern nichts dagegen haben, wenn sie ihm zuliebe evangelisch w�rde. Wirken Sie darauf hin. Wenn das geschieht, setzen Sie sich zur Ruhe und ich mache Joseph zu Ihrem Nachfolger. Im anderen Fall wird er sofort entlassen.“
In Wirklichkeit glaubte Frau Esther nicht daran, daß sich dieser Spieß noch umdrehen lassen w�rde. Wenn der junge Mann schon beim Propst gewesen war und seinen Willen kundgegeben hatte, w�rde sich die katholische Geistlichkeit mit Recht den Triumph, daß ein evangelischer Deutscher �bertreten und damit Pole werden wollte, nicht entgehen lassen. Das ergab einen heftigen Konfliktstoff, der die nationalen und konfessionellen Gegens�tze in der ganzen Gegend versch�rfen mußte.
Als Kowalski die b�se Nachricht seiner Frau brachte, sah sie ihn kopfsch�ttelnd an. „Wer hat dir das M�rchen aufgebunden, Kuba?“
„Das ist leider kein M�rchen, die alte Gn�dige hat mich extra rufen lassen, um es mir zu erz�hlen. Der Joseph ist schon beim Propst gewesen.“
„Unser Joseph soll katholisch und polnisch werden?“ fragte die Frau mit bebender Stimme. „Nein, das glaube ich nicht, das tut er uns nicht an.“
Als der �belt�ter zum Mittag nach Hause kam, saßen die Eltern vor dem unber�hrten Essen. Der Vater in finsterem Schweigen, die Mutter mit rotverweinten Augen. Er ahnte sogleich die Ursache ihrer Verst�rung, aber er schwieg. Erst als die Mutter ihn mit ersterbender Stimme fragte, ob es wahr w�re, was die Leute von ihm erz�hlten, gab er zur Antwort: „Ja, liebe Mutter, ich habe die Marinka so lieb, daß ich nicht von ihr lassen kann, und wenn ich sie heiraten will, muß ich mich katholisch taufen lassen.“
„Weißt du auch, was du uns, der alten Gn�digen, ja allen Deutschen, in dieser schweren Zeit damit antust?“ fragte der Vater mit dumpfem Groll in der Stimme.
„Ist es denn so schlimm, wenn ein Mann der Frau zuliebe seinen Glauben wechselt?“ erwiderte Joseph unsicher.
„Ja, das ist immer unter allen Umst�nden schlimm,“ donnerte der alte Vogt los. „Das Weib soll Vater und Mutter verlassen und dem Mann anhangen, den sie liebt, steht in der Bibel, aber nicht umgekehrt. Der Mann soll nicht dem Weibe nachlaufen, und gerade jetzt und hier, wo wir Deutschen und Evangelischen von den Polacken gepiesackt und wie die Hunde behandelt werden, da willst du alles fortwerfen, was uns Deutschen lieb und heilig sein muß?“
„Die Marinka hat dich gar nicht so lieb, wie es richtig sein m�ßte, die ist bloß von ihren Eltern aufgestachelt worden, dich zu �berreden,“ warf die Mutter ein. „Wenn sie dich so lieb h�tte, wie es zu einer richtigen Ehe geh�rt, dann m�ßte sie zu dir sprechen: `Wo du hingehst, da will ich auch hingehen, und wo du bleibst, will ich auch bleiben, dein Gott sei mein Gott`, so steht es in der Bibel geschrieben.“
„Hast du dich mit dem M�dchen so weit eingelassen, daß du sie als ehrlicher Kerl heiraten mußt,“ fragte der Vater scharf.
„Nein, Vater,“ erwiderte Joseph ehrlich.
„Na, dann gibt es nur einen Ausweg, wenn du sie durchaus heiraten willst, nicht du, sondern sie muß sich taufen lassen und unsern Glauben annehmen.“
Joseph zuckte die Achseln. „Das tut sie nicht, und das lassen auch ihre Eltern nicht zu.“
„Dann frage ich dich noch einmal, willst du von dem M�del lassen oder dich wirklich taufen lassen?“ fragte der Vater ernst, aber ruhig.
„Ich kann nicht mehr zur�ck, ich habe schon beim Propst meinen �bertritt angemeldet und muß bei ihm zum Unterricht gehen.“
Langsam erhob sich der alte Vogt. „So, du kannst nicht mehr zur�ck, du willst dich von deinen alten Eltern f�r immer trennen. Gut! Dann bist du von der gn�digen Frau sofort entlassen und wir, dein Vater und deine Mutter, die dich unter Schmerzen geboren hat, kennen dich von dieser Stunde ab nicht mehr. Wir haben keinen Sohn mehr. F�r dich ist kein Platz mehr unter meinem Dach. Pack' deine Sachen und sieh zu, wo du bleibst.“
„Vater!“ schrie Joseph auf.
Kowalski zog seine Frau, die vor Jammer und Herzeleid laut weinte, zu sich empor. „Heul' nicht, Frau! Der junge Mensch da hat das vierte Gebot vergessen, deshalb m�ssen wir ihn auch vergessen!“
„Vater!“ jammerte die Frau, „Vater, sei doch nicht so hart, laß ihm doch Zeit. Die alte Gn�dige hat doch auch gemeint, er soll die Marinka �berreden, sich taufen zu lassen.“
Der alte Vogt schwieg eine Weile, w�hrend Joseph das Gesicht auf die gekreuzten Arme gelegt hatte, um die Tr�nen zu verbergen, die ihm aus den Augen st�rzten. Erst nach einer Weile fragte er: „Joseph, willst du das versuchen?“
Der junge Mann hob den Kopf. „Es wird nichts n�tzen, Vater. Aber ich will sie zu euch bringen, redet ihr mit ihr.“
„Ach ja, tu du das,“ fiel die Mutter schnell ein, um ihrem Mann die Entscheidung vorwegzunehmen. „Wenn sie klug ist und dich liebhat, wird sie einsehen, daß du mehr zu verlieren hast als sie.“
„Ja,“ fuhr der Alte fort, „ich will dir noch acht Tage Zeit geben. Gegen das M�del habe ich nichts; sie soll sauber sein und hat sich, soviel ich weiß, bis jetzt anst�ndig gehalten. Also sieh zu, was du ausrichtest, sonst bleibt es bei dem, was ich gesagt habe.“ Schweigend, ohne Hunger, wurde gegessen. Dann erhob sich Joseph und ging auf den Hof, um die Mittagspause abzul�uten.
Noch an demselben Abend brachte Joseph seine Liebste zu seinen Eltern. Der Vater ging weg, als Marinka erschien, er wollte nicht durch seine Heftigkeit etwas verderben, was an und f�r sich wenig wahrscheinlich war. Er ging zum Lehrer Urbschat, mit dem er seit langem freundschaftlich verkehrte und klagte ihm sein Herzeleid. W�hrenddessen verhandelte Joseph und seine Mutter mit Marinka. Wie vorauszusehen war, wehrte sich die Kleine gegen die Zumutung, ihren Glauben zu wechseln. Ihr w�rde es ja nicht schwer werden, Josephs Glauben anzunehmen, meinte sie, aber der Vater w�rde sie zuschanden schlagen, und wenn der Joseph sich ihr zuliebe nicht taufen lassen wollte, dann wolle sie von ihm nichts mehr wissen, dann solle er sich eine andere suchen.
Vergebens stellte ihr Joseph vor, daß der Vater ihn verstoßen, und daß er noch �rmer als der einfachste Arbeiter sein werde, wenn er gegen seinen Willen handeln werde. Dann k�nnten sie f�rs erste noch lange nicht ans Heiraten denken, denn von ihren Eltern werde sie doch nicht so viel mitbekommen, daß sie sich, wenn auch notd�rftig, eine Wirtschaft einrichten k�nnten.
Sie sprachen noch immer und immer dasselbe, als der Vater erschien. Er hatte mit dem Lehrer den Fall durchgesprochen, und beide waren zu dem Ergebnis gekommen, daß es nicht nur unklug, sondern gef�hrlich w�re, wenn Marinka nachg�be und sich taufen lassen wollte. Das k�nnte f�r alle Deutsche in der ganzen Gegend die schlimmsten Folgen nach sich ziehen. Dem alten Vogt war es deshalb ganz recht, daß Marinka wie eine Verzweifelte weinte und heulte, w�hrend Joseph und seine Frau ihr mit d�steren Mienen gegen�bersaßen, als er in die Stube trat. „Nun, wie hat sich Marinka entschieden?“
Joseph zuckte die Achseln. „Sie will nicht, da ist auch nichts zu machen.“
„Also, du willst nicht, na, dann hast du auch hier nichts mehr zu suchen und kannst die T�re von draußen zumachen.“
Marinka sprang auf, wischte sich schnell mit der Sch�rze die Tr�nen vom Gesicht und lief aus der Stube, deren T�r sie krachend hinter sich zuschlug.
„An dem M�del kannst du dir ein Beispiel nehmen,“ fuhr der Alte fort, „die ist hart wie Stein und du bist weich wie ein Waschlappen. Nun gebe ich dir noch acht Tage Zeit, dich zu entscheiden, ob du von dem M�del lassen willst oder nicht.“
F�nftes Kapitel
Mittag war schon fertig und wartete, als Robert im Eßzimmer erschien. Die Großmutter stand auf, ging ihm entgegen und f�hrte ihn zu Tisch. Er sah etwas frischer aus, war aber still und in sich gekehrt. Er stellte auch keine Fragen, w�hrend die Großmutter ihm ausf�hrlich schilderte, wie die Deutschen unter polnischer Herrschaft behandelt, d. h. mißhandelt w�rden. Wie sie Renteng�ter den Ansiedlern wegn�hmen oder unter eine Zwangsverwaltung stellten, die mehr kostete, als die Einnahmen betr�gen. Sie schilderte ihm ausf�hrlich, wie ihre Schule in Hartenau von den Polen ohne jeden Rechtsgrund in Besitz genommen war, wie der Lehrer aus dem Geb�ude vertrieben wurde, nachdem seine M�bel und Sachen aus die Straße geworfen waren.
Da tat Robert die erste Frage: „Wie kommt es denn, daß du noch unangefochten geblieben bist?“
Die alte Gn�dige l�chelte bitter. „Anfechtungen habe ich gerade genug erlebt, aber daß ich noch nicht von Haus und Hof vertrieben worden bin, habe ich verschiedenen Umst�nden zu verdanken. In erster Linie wohl unserem Nachbar Ritter, der sich mit den Polen gutsteht und sie bis zur Bewußtlosigkeit voll Wein und Schnaps gießt, wenn sie ihn besuchen, was ziemlich oft geschieht. Wahrscheinlich verdanke ich diese R�cksichtnahme auch der Tatsache, daß Trudchen Ritter wie eine leibliche Tochter an mir h�ngt.“
Als Robert sie fragend ansah, fuhr sie fort: „Das hat eine ganz besondere Bewandtnis. Der Kreischef Lubomierski, ein junger Mann, bewirbt sich um Gertrud, die nicht nur sehr h�bsch und ein Prachtm�del geworden ist, sondern auch mit Recht als die reichste Erbin der ganzen Gegend gilt. Er f�rchtet meinen Einfluß auf Gertrud, wenn er mich erz�rnt.“
„W�re es nicht besser, du verkauftest Hartenau, solange es noch Zeit ist?“
Die alte Frau sah ihn erstaunt, ja vorwurfsvoll an: „Das h�tte ich fr�her vorteilhaft tun k�nnen, wenn ich es nicht f�r meine Pflicht gehalten h�tte, das Gut f�r dich zu bewahren, so lange, wie noch Hoffnung vorhanden war, daß du lebtest und zur�ckkehren k�nntest.“
Als Robert darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Ich habe es als selbstverst�ndlich betrachtet, daß wir Deutschen hier bis zum �ußersten aushalten und uns nur durch Gewalt verdr�ngen lassen. Wir Deutschen haben aus der W�stenei, die unsere Vorfahren hier vorfanden, ein fruchtbares Land geschaffen, das in hoher Kultur steht. Wir haben also nicht nur ein dingliches, sondern auch ein moralisches Recht an diesem Boden, der von unserer Arbeit befruchtet und mit unserem Schweiß ged�ngt ist.“
Die alte Frau empfand es schmerzlich, daß Robert ihr weder durch eine Miene noch durch Worte beistimmte. War das nur seelische Ermattung, die sich in Gleichg�ltigkeit �ußerte, oder stimmte ihr Enkel in seinen Ansichten nicht mit ihr �berein? Sie scheute sich, ihn direkt zu fragen, weil sie f�rchtete, eine Entt�uschung zu erleben. Sie glaubte auch, auf seine k�rperliche Verfassung R�cksicht nehmen zu m�ssen, und hoffte, daß er geistig regsamer werden w�rde, sobald seine Gesundung fortschritt.
Als er nach dem Essen keine Neigung zeigte, sich wieder hinzulegen, schlug sie ihm einen Gang durch den Hof und die St�lle vor. Voll Stolz zeigte sie ihm die ger�umigen, mit allen modernen Errungenschaften eingerichteten St�lle, wo Hunderte von K�hen schwarzweißen-ostfriesischen Schlages standen. W�hrend sie ihm einige der besten Milchk�he vorf�hren ließ, beobachtete sie ihn genau, ob und welches Interesse er daran nahm. Als Junge hatte er sich gerne in der Wirtschaft umgetan, hatte vom Sattel die viersp�nnigen Erntewagen von Hocke zu Hocke gelenkt und hatte stundenlang am Dreschkasten und der Lokomobile gestanden. Er war jedoch in die Welt, in den Krieg hinausgezogen, ehe das Interesse f�r die Landwirtschaft bei ihm tiefere Wurzeln hatte schlagen k�nnen.
Sie wunderte sich deshalb nicht, daß er auch an dem Wirtschaftsbetrieb, auf den sie stolz sein durfte, wenig Anteil nahm. Wenn sich das jedoch nicht �nderte, wenn er keine Neigung zur Landwirtschaft faßte, was dann? Sie plante bereits, ihm den Vorschlag zu machen, auf einem Gut in Deutschland als Eleve die Landwirtschaft zu erlernen. Es lag nahe, ihn auf das deutsche Gut des Nachbars Ritter, das eine Musterwirtschaft war und einen t�chtigen Oberinspektor hatte, zu schicken. Vorl�ufig schien es ihr f�r diesen Vorschlag noch nicht die geeignete Zeit zu sein. Jetzt hieß es, hoffen und warten, welche Einfl�sse G�te und Pflege und die Zeit auf ihn aus�ben w�rden.
Als sie ins Haus zur�ckkehrten, bat Robert um einen Kognak, dann nahm er ein Buch, setzte sich in einen tiefen Sessel und schlief bald beim Lesen ein. Leise schlich sich die Großmutter hinaus. Ihr war das Herz schwer von der Sorge um die Zukunft, und w�hrend sie �ber ihren Wirtschaftsb�chern saß, wartete sie mit Sehnsucht auf Trudchen, um sich zu ihr auszusprechen und von ihr tr�stlichen Zuspruch zu empfangen.
Sie erschien erst zum Kaffee. Mit einiger Spannung sah die alte Gn�dige dem Zusammentreffen der beiden jungen Menschenkinder entgegen. Sie waren miteinander aufgewachsen; aber der Altersunterschied von sechs Jahren hatte eine wirkliche Kinderfreundschaft, die so oft f�r das ganze Leben entscheidend wirkt, verhindert. Dazu kam, daß Gertrud ein zartes, schw�chliches Kind gewesen war, das gern mit Puppen spielte, w�hrend Robert von Kraft �bersch�umte.
Schon als Junge von zw�lf bis dreizehn Jahren war er allein in den Roßgarten gegangen, wo sich bis zu dreißig zwei- und dreij�hrige Fohlen — zuk�nftige Remonten — tummelten. Sie kannten und liebten ihn alle, weil er die Taschen voll Zucker hatte, mit dem er sie f�tterte. Wenn sie ihn dann umdr�ngten, schmeichelte er einem der G�ule einen Strick, der als Z�gel dienen sollte, in das Maul, legte ihm die Enden um den Hals, packte ihn in die M�hne und schwang sich mit einem Satz auf seinen R�cken. Dann brauste der junge Gaul mit ihm davon, die andern hinterdrein.
Mit f�nfzehn bis sechzehn Jahren war er manchmal allein imstande, einer ungeb�rdigen Remonte nicht nur Sattel und Zaum aufzulegen, sondern sie auch zu reiten. Unwillk�rlich waren der Großmutter diese Erinnerungen eingefallen, als sie ihm ihre Pferde vorf�hren ließ und er sich nicht veranlaßt f�hlte, ihnen den Hals oder das gl�nzende Fell zu streicheln.
Als Robert eintrat, sprang Gertrud auf und streckte ihm beide H�nde entgegen: „Willkommen in der Heimat und zu Hause, Robert!“
Er verbeugte sich formell, ber�hrte f�r einen Augenblick ihre H�nde, um sie gleich fallenzulassen, und erwiderte: „Danke, Fr�ulein Ritter!“
Einen Moment sah das M�del ihn erstaunt fragend an, dann fuhr sie mit einem leisen L�cheln fort: „Sie haben uns lange warten lassen, Herr Dalkowski!“
Mit einem grenzenlosen Erstaunen sah die alte Gn�dige auf die beiden. Sie vergaß, daß ihr Enkel eine erwachsene, junge Dame vor sich sah und sich nicht f�r berechtigt hielt, sie wie ehemals als Kind, mit „du“ anzureden.
„Nanu, was soll das heißen, ihr werdet euch doch nicht mit Fr�ulein und Herr titulieren?“ Es kam ihr unnat�rlich vor, weil ihr Gertrud ans Herz gewachsen war und sie nicht bedachte, daß Robert diese vertrauten Beziehungen nicht kannte.
Aus dieser peinlichen Stimmung fand Trudchen den Ausweg: „Wir k�nnen uns ja nach alter Weise mit den Vornamen nennen, Großchen! Ja, ich habe auch nichts dagegen, wenn er mich dutzt. Wie wollen wir es also halten?“
Er l�chelte ein wenig. „Wie du willst.“
Frau Esther stand auf, legte Gertrud den Arm um die Schulter und zog sie an sich. „Du bist ein liebes, gutes, verst�ndiges Kind. Wir m�ssen Nachsicht �ben mit unserm großen Jungen. Wir m�ssen annehmen, daß er sehr Schweres durchgemacht hat, was nicht nur seinen K�rper gesch�digt hat, sondern auch auf seine Seelenstimmung dr�ckt.“
„Hast du denn deiner Großmutter noch nichts von deinen Erlebnissen in deiner Gefangenschaft erz�hlt?“ fragte Trudchen.
Robert sch�ttelte den Kopf. „Das liegt hinter mir, weshalb soll ich euch damit das Herz beschweren.“
„Das ist nicht richtig,“ erwiderte Trudchen eifrig. „Dir wird es das Herz erleichtern und helfen, von den Erinnerungen loszukommen, wenn du es uns erz�hlst.“
Robert schwieg nachdenklich. Er legte die Fingerspitzen beider H�nde aneinander und starrte vor sich hin. Endlich begann er: „Die Verwundung war nicht schwer, ein Fleischschuß durch den linken Oberschenkel. Weil ich es schon im Gef�hl hatte, daß unsere Kompagnie vor der russischen �bermacht zur�ckgehen mußte, schleppte ich mich in ein dichtes Geb�sch, wo ich hoffte, von den Russen nicht entdeckt zu werden. Ich wußte, daß sie nicht selten, wenn sie zum Zur�ckgehen gezwungen wurden, deutsche Verwundete durch einen Schuß oder Bajonettstich zu erledigen pflegten. Auch darauf war ich gefaßt. Es kam jedoch anders. Eine russische Batterie war dicht hinter mir aufgefahren. Als sie den Befehl erhielt, zur�ckzugehen, packten zwei Kerle mich an den Beinen, schleppten mich aus dem Gestr�pp heraus, hoben mich auf die Protze und nahmen mich mit.“
Er sah, w�hrend er erz�hlte, sehns�chtig nach dem B�fett, wo die Flasche Kognak stand. Trudchen, die den Blick bemerkt hatte, stand auf und goß ihm ein Glas voll ein. Nachdem er es hinuntergest�rzt hatte, fuhr er fort: „Die Fahrt durch ganz Rußland bis Sibirien war wohl das Schlimmste, was ich erlebt habe. Der Viehwagen, in dem wir eingepfercht waren, ließ nur einigen wenigen von uns, die wir verwundet waren, Raum zum Sitzen oder Liegen. Meine Wunde brannte wie Feuer. Ich habe wohl laut gest�hnt. Da nahm sich ein Landsturmmann meiner an. Er sprach fertig russisch, weil er lange Jahre in Rußland gearbeitet hatte. Es gelang ihm, wenn wir auf einer Station hielten, Wasser, ja auch etwas Tee und Brot von den russischen Bewachungsmannschaften zu erhandeln. Ohne ihn w�re ich auf der Fahrt, die fast drei Wochen dauerte, bis wir in Sibirien, wo es am tiefsten ist, ausgeladen wurden, an meiner Verwundung eingegangen. Durch die Behandlung mit Wasser war sie, als wir ausstiegen, schon beinahe geheilt.“
„Wer war der Mann?“ fragte Gertrud, w�hrend sie ihm wieder ein Glas Kognak eingoß.
„Ein Viehh�ndler oder, richtiger gesagt, ein Schweinetreiber, der f�r eine deutsche Firma Vieh aufkaufte und zur Grenze brachte. Er hatte sich seiner Dienstpflicht im deutschen Heere entzogen, aber als der Krieg ausbrach, kehrte er in das Vaterland zur�ck und stellte sich zur Fahne.“
„Bravo!“ rief Gertrud dazwischen.
„Ja, ja“ fuhr Robert fort, „er hat sich um mich Gotteslohn verdient, denn er blieb freiwillig bei mir in demselben Dorf. Wir wurden in eine verfallene H�tte, schlimmer als eine polnische Kabach, einquartiert. Er holte Laub und Moos zusammen, um mich zu betten, er ging betteln, er nahm jede Arbeit an, die ihm geboten wurde, um f�r mich und sich den Lebensunterhalt zu erwerben. Als das Eis aufging und der Fluß frei wurde, lauschte er den Russen nicht nur die Kunst ab, Fische zu fangen, sondern verschaffte sich auch das dazugeh�rige Ger�t. Am Kohlenfeuer brieten wir die von ihm gefangenen Fische. Es war ein Festtag f�r uns, als er eines Tages einen Blechtopf und eine Flasche Schnaps nach Hause brachte. Das war der Lohn daf�r, daß er eine Uhr des Ortsvorstehers in Gang gebracht hatte.“
Nachdem er einen Kognak genehmigt hatte, den ihm Trudchen eingoß, fuhr er fort: „Zum Winter hatte mein Kamerad nicht nur unsere H�tte mit einem fußdicken Panzer von Moos bekleidet, sondern auch aus Lehm einen Ofen aufgestellt, der uns etwas gegen den Frost sch�tzte.“
„Wovon lebtet ihr denn?“ fragte Trudchen.
„Wir bekamen Kartoffeln und Hafer geliefert, aber trotzdem wir auch unter dem Eise Fische fingen, haben wir doch manchen Tag gefastet. Den Winter hindurch haben wir bei Kienlicht Netze gestrickt aus grobem Hanfgarn mit großen Maschen, in denen die Russen noch vom Eise aus die in dem Fluß aufsteigenden St�re und Lachse fingen.“
„Habt ihr denn nie erfahren, was in der Welt vorging?“ fragte die Großmutter.
„O ja, aber wir glaubten nicht daran. Alle zwei bis drei Monate kam der Pope aus der n�chsten Stadt und erz�hlte Wunderdinge von den Siegen der russischen Armeen. Sie standen schon alle in Berlin und Wien, wo sie mit den Franzosen zusammengetroffen waren. Er las Briefe von russischen Frontsoldaten vor, die dermaßen von �bertreibungen strotzten, daß es uns auffiel.
Eines Tages suchte bei uns ein Fl�chtling Unterschlupf, der aus dem fernen Osten kam und schon mehrere hundert Kilometer zu Fuß zur�ckgelegt hatte. Er wußte Besseres zu berichten, daß Deutschland allen Feinden unbesiegt standhielt, daß in Rußland eine Revolution ausgebrochen, die den Zaren gest�rzt und eine Republik aufgerichtet habe. Nachdem er sich zwei Tage bei uns sattgegessen, wanderte er weiter nach Westen, dort m�ßte nach seiner Meinung das Land der Freiheit liegen. Vergebens forderte er uns auf, mit ihm zu ziehen; wir waren f�r den Gedanken einer Flucht durch ganz Rußland noch nicht reif.“
Er nahm die Flasche, goß sich ein Glas ein und trank es aus. Seine Stimme wurde etwas lebhafter. „Wie der Gedanke zum Fliehen in uns Wurzel schlug, wie wir alles vorbereiteten und wie es uns auf der Flucht erging, erz�hle ich euch ein anderes Mal. Allein h�tte ich es nie gewagt, mein Kamerad war die treibende Kraft.“
„Weshalb verschweigst du uns den Namen deines Kameraden?“ warf die alte Gn�dige ein.
„Weil er ihn mir verschwiegen hat. Als ich ihn, sobald wir miteinander vertraut wurden, danach fragte, erwiderte er mir: mein Name ist wie Schall und Rauch. Nenne mich, wie du willst, oder kannst mich auch „Hax“ rufen, wie ich in meiner Kinderzeit genannt wurde.“
„Was ist das f�r ein Name?“ fragte Gertrud.
„Eine Abk�rzung von `Hasso', wie ich annehme.“ Er lehnte sich in den Stuhl zur�ck und schloß die Augen. Die beiden Frauen verst�ndigten sich durch einen Blick und standen auf.
„Trudchen muß jetzt nach Hause gehen,“ sagte Frau Esther halblaut.
Mit geschlossenen Augen hob Robert die Hand, ohne ein Wort zu sprechen. Trudchen umfaßte sie mit kr�ftigem Druck: „Auf Wiedersehen, Robert!“
Sechstes Kapitel
Draußen sahen sich die beiden Frauen best�rzt an. „Was ist das nun wieder?“ fragte Frau Esther.
„Ich glaube, infolge der Erinnerungen, die sein Bericht in ihm aufw�hlte, haben seine Nerven versagt,“ erwiderte Trudchen.
„Das kann schon sein, mir macht aber das Schnapstrinken mehr Sorge, ich f�rchte, er ist dem Alkohol verfallen.“
„Aber, Großchen, wer wird gleich das Schlimmste annehmen? Sobald sein K�rper sich kr�ftigt, wird auch das Bed�rfnis nach Alkohol aufh�ren.“
„Gott gebe es, mein Kind.“
Eine Stunde sp�ter sah Frau Esther ihren Enkel auf die Wohnung des Vogts zugehen. Sie wunderte sich dar�ber nicht, denn der alte Kowalski war dem Knaben von klein auf ein treuer Freund gewesen, und Joseph war sein Spielkamerad, der ihm bei allen Streichen Gefolgschaft leistete. Robert fand nur die alte Frau zu Hause, die ihn mit großer Freude begr�ßte. Bald darauf erschien auch der Vogt, der ihn hatte �ber den Hof gehen sehen. Er nahm Roberts Hand in seine m�chtige Pranke. „Gott sei Dank, junger Herr, daß Sie gl�cklich nach Hause gekommen sind. Wir waren schon ganz verzweifelt. Sie haben es wohl sehr schwer gehabt?“
„Ja, sehr schwer, mein lieber Alter. Ich erz�hle euch das sp�ter einmal. Wie ist es euch inzwischen ergangen?“
„Ach Gott, junger Herr, wir haben ja schwere Zeiten durchgemacht, als nach dem Krieg alles drunter und dr�ber ging und die Polacken hier die Herren wurden, aber sonst haben wir keine Not kennengelernt.“
„Wo ist denn der Joseph?“ Der Alte wandte sich schweigend ab, w�hrend der Frau sich die Augen mit Tr�nen f�llten.
„Er wird wohl dr�ben in Strelkau sein,“ erwiderte der Vogt auf den erstaunt fragenden Blick Roberts. „Sie werden es ja von der alten Gn�digen erfahren, was uns betroffen hat. Der Joseph ist toll geworden hinter der Marinka, der �ltesten Michalcik. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sie zu heiraten, aber der Alte will sie ihm nicht geben, wenn er sich nicht katholisch taufen l�ßt.“
„Will denn der Joseph �bertreten?“
Der Vogt zuckte die Achseln. „Er soll sich schon beim Propst angemeldet haben.“
Jetzt fuhr Robert empor. „Da h�rt sich denn doch alles auf!“ Im n�chsten Augenblick sank er in den Lehnstuhl zur�ck. Die zitternden H�nde umklammerten die Seitenlehne des Stuhles.
„Um Gottes willen, junger Herr!“ rief die Frau. Der Vogt hatte inzwischen eine Flasche, die noch zur H�lfte mit Schnaps gef�llt war, aus dem Wandspind genommen und ein Glas eingeschenkt, das er Robert hinhielt.
„Trinken Sie, junger Herr, das wird Ihnen gut tun.“ Mit zitternder Hand ergriff Robert das Glas. Er h�tte jedoch das meiste versch�ttet, wenn der Vogt ihm nicht die Hand zum Munde gef�hrt h�tte.
„Noch einen,“ dr�ngte der Alte.
Dann lehnte Robert den Kopf an die Lehne zur�ck und saß eine Weile mit geschlossenen Augen, bis er leise sagte: „Das w�re ja eine Schande f�r uns Deutsche, wenn Joseph sich durch den Glaubenswechsel zu den Polen schlagen w�rde.“
„Ja, junger Herr, dann wollen wir von ihm nichts wissen, dann ist er unser Sohn nicht mehr.“
„Gebt mir noch einen Schnaps,“ bat Robert. W�hrend der Vogt ausf�hrlich berichtete, trank Robert noch mehrere Gl�ser. Als er dann aufstehen wollte, versagten seine Beine ihm den Dienst. Der Vogt faßte ihn unter dem Arm um den Leib und f�hrte ihn in das Gutshaus zur�ck, wo die alte Gn�dige sie schon auf der Diele erwartete.
„Der junge Herr ist bei uns beschwiemt. Als er die Geschichte von Joseph erfuhr, da habe ich ihm ein paar Gl�schen Schnaps gegeben, die hat er wohl nicht vertragen.“
„Ja, der Junge ist noch sehr schwach.“ Frau Esther nahm Robert unter den Arm und f�hrte ihn in sein Schlafzimmer, wo sie ihn entkleidete und in sein Bett brachte. Lange saß sie noch bei ihm und weinte still vor sich hin.
Das war das Schrecklichste, was sie noch treffen konnte. Lieber h�tte sie ihn als tot betrauert, als ihn in dieser Verfassung zu sehen, bis zur Bewußtlosigkeit berauscht. Ihrem alten Vogt konnte sie nicht z�rnen, er hatte geglaubt, seinem jungen Herrn etwas Gutes anzutun. Lange erwog sie, was dagegen zu machen sei. Aber ehe sie ihn in eine Heilanstalt brachte, wollte sie erst auf ihn einzuwirken versuchen.
Am andern Morgen saß sie schon lange an seinem Bett, als er erwachte. Mit glasigen Augen starrte er zur Decke empor, bis sich seine Gedanken sammelten. Als die Großmutter seine Hand nahm, stieg eine leichte R�te in sein Gesicht. Leise sprach sie zu ihm, mild, g�tig: „Dir ist es gestern schlecht gegangen, mein armer Junge. Dich haben ein paar Glas Schnaps umgeworfen. Dein Magen vertr�gt nichts, der Schnaps ist f�r ihn Gift.“
Er nickte. „Ich hatte mich �ber die Geschichte mit dem Joseph so aufgeregt, daß ich die Herrschaft �ber meine Nerven verlor. Ich weiß wirklich nicht, wieviel ich getrunken habe.“
„Mußt du denn in solchem Zustand trinken?“
„Ja, Großmutter, dann f�hle ich ein brennendes Verlangen, dem ich nicht widerstehen kann.“
„Es w�re doch sehr traurig f�r dich und mich, wenn es bekannt w�rde, daß du als Trinker heimgekehrt bist.“
Er richtete sich im Bett auf. „Großmutter, ich werde meine ganze Willenskraft aufbieten, dieses krankhafte Verlangen zu �berwinden. Es wird mir ja sehr schwerfallen, aber... du gibst mir nur etwas zu trinken, wenn ich es nicht mehr aushalten kann, und ich gehe nicht eher aus dem Hause, bis ich ganz gesund bin.“
„Das soll ein Wort sein, mein lieber Junge.“
„Meine Hand darauf.“ Auf Zureden der Großmutter bezwang er sich, einen ganzen Teller Schleimsuppe auszuessen, dann legte er sich hin und schlief noch einmal ein.
Als Trudchen bald darauf f�r einen Augenblick her�bergehuscht kam, um sich nach Roberts Befinden zu erkundigen, erz�hlte ihr Frau Esther, wie es ihm gestern ergangen w�re, daß er aber den Entschluß gefaßt habe, diese krankhafte Sucht zu �berwinden, sie m�chte Robert bei ihrem Vater entschuldigen, wenn er ihm vorl�ufig noch keinen Besuch machte. Als Trudchen gerade fortgehen wollte, ließ sich Kowalski melden.
„Ich weiß schon, was er dir melden will. Zwischen Joseph und der Marinka ist es aus. Ihr Vater hat ihn gestern abend rausgeworfen.“
Einen Augenblick sp�ter erschien Kowalski. Sein Gesicht strahlte vor Freude. „Ich weiß schon, was Sie mir erz�hlen wollen, aber wird der Joseph auch Stange halten?“
„Wie ich meinen Sohn zu kennen glaube, wird er die Schwelle nicht mehr betreten, von der man ihn wie einen Hund weggejagt hat.“
Es war eine sehr b�se Szene, als Joseph bei Marinka erschien. Ihr Vater saß bei der Flasche und hatte schon stark getrunken. Trotzdem wagte es Joseph, mit seinem Verlangen herauszukommen, Marinka m�chte ihm zuliebe evangelisch werden. Sie h�tte doch mehr zu gewinnen oder zu verlieren als er. Darauf geriet Michalcik in sinnlose Wut: „Du Hundsblut, du deutscher Hund, du wagst mir anzubieten, daß meine Tochter ihren Glauben wechseln soll? Wenn du dich zehnmal katholisch taufen l�ßt, ich denke nicht mehr daran, dir mein Kind zu geben.“
Joseph war auch in Erregung geraten, aber er hielt noch an sich. Er wandte sich an Marinka: „Wie denkst du dar�ber? Du bist doch m�ndig.“
Mit zornspr�henden Augen und geballten Fausten stellte sich Marinka vor ihn. „Wie ich denke, fragst du? Hast du noch nicht begriffen? Ich denke wie mein Vater, daß du ein schlapper, feiger Bursche bist. Erst versprichst mir, dich taufen zu lassen, und dann l�ßt dich umdrehen.“ Sie spuckte vor ihm aus und stemmte die H�nde in die Seiten. „Solch einen Kerl wie du kriege ich noch jeden Tag.“
Joseph war so w�tend, daß er die Faust hob, dann besann er sich und sagte ruhig: „Nun, dann w�nsche ich dir viel Gl�ck,“ drehte sich um und ging aus der T�r.
Hinter ihm br�llte der Vogt: „Raus mit dir, du deutscher Hund!“
Er lief noch eine Weile im Park von Hartenau hin und her, ehe er nach Hause ging. Die Alten schliefen schon. Erst heute morgen hatte er ihnen kurz gesagt, daß es zwischen ihm und Marinka zu Ende sei. Sie habe ihn beschimpft und der Alte habe ihn rausgejagt. Da gab ihm der Vater die Hand, w�hrend die Mutter ihn umfaßte und an seiner Brust Freudentr�nen weinte.
In der Schummerstunde erschien Trudchen und erz�hlte Großchen, ihr Vater habe sich sehr �ber die Geschichte mit Joseph aufgeregt, die sicherlich noch ein Nachspiel haben werde, denn die polnische Geistlichkeit werde die Sache nicht steckenlassen. Und sie habe ein Recht darauf, weil Joseph sich freiwillig zum �bertritt gemeldet h�tte. Das k�nne f�r Frau Esther schlimme Folgen zeitigen. Die Polen lauerten ja bloß auf einen Grund, und wenn er noch so fadenscheinig w�re wie dieser, um gegen sie vorzugehen. Es w�re am besten, wenn Joseph von der Bildfl�che verschw�nde und bei Nacht und Nebel �ber die Grenze ginge, denn mit einem Paß w�rden ihn die Polen nicht hinauslassen. Er werde Joseph auf seinem deutschen Gut als Vorarbeiter aufnehmen. Noch besser w�re es freilich, wenn er beim Propst zum Unterricht ginge. Er lasse Frau Esther dringend raten, auf Joseph und seine Eltern in diesem Sinne einzuwirken.
Sofort ließ die alte Gn�dige ihren Vogt und seinen Sohn rufen, und Trudchen mußte ihnen wiederholen, was ihr Vater meinte. Beide zeigten sich st�rrisch. Kowalski wollte nichts davon wissen, daß sein Sohn zum katholischen Unterricht ginge, dann folgte darauf seine Taufe wie in der Kirche das Amen nach der Predigt. F�r den Fall wisse Joseph, was er zu erwarten habe. Es k�me ihm ja schwer an, aber er wolle sich damit abfinden, daß Joseph �ber die Grenze nach Deutschland ginge.
Joseph zeigte sich noch st�rrischer. Er wollte weder zum Unterricht gehen noch �ber die Grenze verschwinden. Da fuhr ihn sein Vater w�tend an: „Du hast uns die Suppe eingebrockt, jetzt mußt du sie auch ausessen. Aber ich weiß, was du willst, dir spukt noch immer das dumme Frauenzimmer im Kopf herum. Du hoffst noch immer, wieder mit ihr anbandeln zu k�nnen.“
„Nein, Vater, wenn ich das m�chte, dann w�rde ich zum katholischen Unterricht gehen. Was der Michalcik in der Betrunkenheit geschwatzt hat, w�rde er nicht wahrmachen, wenn ich mich taufen ließe, aber wie die Marinka mich beschimpft hat, das scheidet uns f�r immer.“
Robert war schon vor einer Weile ins Zimmer getreten und hatte stillschweigend die Verhandlung mit angeh�rt. Jetzt fuhr er mit einer Lebhaftigkeit und Energie, �ber die sich Frau Esther im stillen wunderte und freute, dazwischen. „Der Joseph hat recht, und ich stehe ganz auf seiner Seite. Er soll sich nicht ducken und auch vor den Polacken nicht ausreißen! Wenn es nach mir ginge, m�ßte er hierbleiben.“
„Mein lieber Junge, du kennst die hiesigen Verh�ltnisse noch nicht gen�gend, um zu �bersehen, was f�r uns daraus entstehen kann.“
„Wir haben doch mit der ganzen Geschichte nichts zu tun. Uns kann man ja nichts anhaben. Im schlimmsten Fall kann man den Joseph ausweisen, dann muß er sich dem Zwang f�gen, aber freiwillig soll er nicht das Feld r�umen.“
Frau Esther hatte kaum den Vogt und seinen Sohn fortgeschickt, als Nachbar Ritter erschien. Seitdem die Polen Herren im Lande waren, hatte er den Verkehr mit der alten Gn�digen abgebrochen und Hartenau nicht mehr besucht. Man sah es ihm an, daß er erregt war. Ganz kurz begr�ßte er Robert und w�nschte ihm Gl�ck zur Heimkehr, dann kam er jedoch gleich auf den Zweck seines Besuches zu sprechen.
„Ich komme, Sie zu warnen, verehrte Frau Nachbarin. Vor einer Stunde erschienen der Kreischef und der Kosinski bei mir. Der Starost ist im allgemeinen ein verst�ndiger, ruhiger Mensch, mit dem sich leben l�ßt, aber der Agent der Defensive ist ein ganz gef�hrlicher Patron. Er kannte schon die ganze Geschichte, die sich zwischen dem Joseph und der Marinka abgespielt hat. Wer ihm das zugetragen hat, kann man sich ungef�hr denken. Er ließ sich meinen Vogt und seine Tochter kommen und fragte sie bis aufs Blut aus. Mein Michalcik ist ja im allgemeinen ein ganz gutm�tiger Kerl, der bloß, wenn er einen unter der M�tze sitzen hat, rabiat werden kann. Er hatte wohl das Bewußtsein, in der Trunkenheit etwas Dummes angerichtet zu haben, denn er entschuldigte sich damit, daß er nicht n�chtern gewesen sei. Er h�tte gegen Joseph nichts und w�rde ihm seine Tochter geben, wenn er sich taufen ließe.
Ich ben�tzte die Gelegenheit, ihm vorzuwerfen, daß er durch seine Heftigkeit den Joseph vor den Kopf gestoßen habe und daran schuld sei, wenn der Freier seine Absicht, sich katholisch taufen zu lassen, aufgegeben habe. Das sah er denn auch ein, w�hrend Kosinski mit h�hnischem L�cheln meinte, da seien wohl noch andere Einfl�sse im Spiele, die den jungen Mann von seinem Vorhaben abgebracht h�tten.
Dann ließ er sich von Marinka ihren ganzen Liebeshandel erz�hlen. Joseph kann froh sein, daß er mit ihr gebrochen hat, denn das M�del ist listig wie ein Fuchs und falsch wie eine Schlange. Mit unheimlichem Zungenschlag erz�hlte sie, daß Joseph immer st�rmischer und zudringlicher zu ihr geworden sei. Sie habe sich nat�rlich dagegen gewehrt. Da habe er sich von selbst erboten, katholisch zu werden, wenn sie ihm ihr Kammerfenster �ffnen wollte.
„Das glaube ich von Joseph nicht,“ warf die alte Gn�dige ein, „das ist gelogen. Solch eine Canaille! Sie hat sich ja selbst ger�hmt, daß sie durch ihre K�lte den verliebten Bengel so lange gereizt hat, bis er sich zu seinem Versprechen hinreißen ließ. Und sie hat ihn so lange best�rmt, bis er ihr Verlangen zu erf�llen versprach und sogar zum Propst ging. An seiner Umkehr hat wohl sein Vater den gr�ßten Anteil. Er hat gedroht, ihn zu verstoßen und zu enterben, wenn er seinen Glauben wechselt.“
„Das habe ich dem Kosinski auch gesagt,“ fuhr Ritter fort. „Das paßte ihm aber nicht in den Kram. Er drohte, daß er den Bengel zur Vernunft bringen werde. Was das bedeutet, wissen wir wohl alle. Ich muß deshalb mit allem Nachdruck dazu raten, daß Joseph so schnell wie m�glich verschwindet und sich �ber die Grenze in Sicherheit bringt.“
„Was k�nnte ihm dann passieren, wenn er hierbleibt?“ fragte Robert.
„Dann heben ihn die Polen eines Tages aus und sperren ihn ein. Und ich halte es f�r sehr fraglich, ob wir oder seine Eltern ihn noch jemals wieder zu sehen bekommen.“ Er wandte sich an seine Tochter. „Willst du noch hierbleiben? Ich fahre nach der Stadt, ich muß heute wieder einige Flaschen Rotspon und Sekt springen lassen, die beiden Herren haben mich dringend dazu eingeladen.“
Siebentes Kapitel
Frau Esther begleitete ihren Gast bis auf die Freitreppe, wo sie ihm f�r seinen Besuch dankte. „Keine Ursache, Frau Nachbarin,“ erwiderte er. „Wir Deutschen m�ssen zusammenhalten. Aber wenn ich als ein soviel j�ngerer Mann mir erlauben d�rfte, Ihnen einen Rat zu geben, dann m�chte ich Ihnen empfehlen, den Polen in Kleinigkeiten nachzugeben. Sie sind doch nun mal die Herren im Lande und haben die Macht in H�nden.“
„Was nennen Sie Kleinigkeiten, Herr Ritter?“
„Na, zum Beispiel, wenn die Polen mit dem Verlangen an Sie herantreten, Hartenau einen polnischen Namen zu geben. Der Starost hat es mir heute gesagt, daß es ihm lieb w�re und Ihnen von Nutzen sein k�nnte, wenn Sie ihm darin entgegenk�men.“
„Wie soll denn mein altes Hartenau umgetauft werden?“
„Durch w�rtliche �bersetzung `Twardowo'.“
„Das ist doch keine Kleinigkeit, einen Namen aufzugeben, der mit unserem Geschlecht seit Jahrhunderten verwachsen ist,“ erwiderte die alte Gn�dige scharf.
„Aber ein Gebot der Klugheit, sich nicht dagegen zu stemmen, was die Polen durch eine Verf�gung erzwingen k�nnen.“
Als die beiden Frauen in das Zimmer zur�ckkehrten, ging Robert mit großen Schritten auf und ab. Sein l�ssiges Wesen, seine stille Duldermiene waren verschwunden. „Das sind doch v�llig unertr�gliche Zust�nde,“ brach er los. „Sind wir Deutsche denn unter diesem Gesindel v�llig recht- und schutzlos? Unsere Rechte sind doch durch Vertr�ge festgelegt.“
„Ja, mein lieber Robert,“ erwiderte Frau Esther, die sich �ber die Ver�nderung in seinem Wesen freute, „aber Macht geht vor Recht, und es liegt im Charakter der Polen, sich �ber Recht und Gesetz ohne Bedenken hinwegzusetzen. Durch die anderthalb Jahrhunderte, die sie von den Russen geknechtet worden sind, hat sich ein �bermaß von Energie in ihnen aufgespeichert, wozu jetzt noch ein �berspannter Nationald�nkel, der schon an Gr�ßenwahn grenzt, gekommen ist. Und durch die Zeit der Unterdr�ckung haben sie gelernt, jedes Gesetz geringzuachten und zu umgehen, um im geheimen ihren nationalen Zusammenhang aufrechtzuerhalten. Das trauen sie auch jetzt uns zu. Leider ist unser v�lkisches Selbstbewußtsein noch lange nicht so stark, aber vielleicht wird es erstarken und in uns die Energie erwecken, die n�tig sein wird, um unser Deutschtum zu verteidigen und zu erhalten.“
„Glaubst du wirklich, Großmutter,“ fragte Robert stehenbleibend, „daß wir Deutschen uns zu entschlossenem Widerstand aufraffen werden, um auf die Dauer unser Deutschtum mit Erfolg zu verteidigen?“
„Ja, ich glaube daran,“ erwiderte Frau Esther mit starker Stimme und feierlichem Tone. „Die Not wird uns zusammenschweißen. Die ersten Anzeichen daf�r sind schon vorhanden. Die deutschen Abgeordneten im Seim und Senat haben sich ohne R�cksicht auf ihre Parteirichtungen zu einer Fraktion zusammengeschlossen und gehen einm�tig gegen jeden �bergriff der Polen vor. Erst vor kurzem hat der Lehrer Utta im Seim gegen die Aufhebung deutscher Schulen Einspruch erhoben.“
„Und was hat das geholfen?“ fragte Robert heftig. „Haben die Polen nicht vor kurzem noch deine Schule weggenommen? Wie lange wird es dauern, dann zwingen sie die deutschen Kinder mit Gewalt in den polnischen Unterricht hinein, wie es ja in vielen Orten schon geschehen ist. Nein, Großmutter, ich halte diesen Kampf f�r aussichtslos. Wie ich neulich geh�rt habe, ist eine Agrarreform bereits in Vorbereitung, die ihnen sozusagen das Recht geben soll, die G�ter aufzuteilen. Nat�rlich werden sie die G�ter, die sich in H�nden von Deutschen befinden, zuerst aufteilen.“
Er ließ sich in einen Sessel fallen und umkrallte die Lehne, um das Zittern seiner H�nde zu verbergen. „Die verdammten Nerven. Gib mir einen Kognak, Großmutter. Ich brauche ihn als Arznei.“
Trudchen sprang auf und goß ihm ein Glas ein. Sie f�hrte ihm auch die Hand zum Munde. „Du darfst dich nicht so aufregen,“ mahnte sie.
„Ich habe nicht die Natur deines Vaters,“ erwiderte Robert rauh abweisend, „der mit den Polen freundschaftlich verkehrt und mit ihnen panje bratsche ist.“
Gertrud stieg eine feine R�te ins Gesicht. „Das geht mir auch wider den Strich,“ entgegnete sie ruhig, „aber er wird in seinen Herzen stets ein guter Deutscher bleiben.“
„Im Herzen,“ wiederholte Robert h�hnisch. „Was hilft uns das, wenn er seine Gesinnung in sich verschließt und durch sein nachgiebiges Verhalten, ja, durch seinen Verkehr mit den Polen ein schlechtes Beispiel gibt?“
Trudchen k�mpfte mit Tr�nen, die sich unaufhaltsam vordr�ngten. „Ich kann es doch nicht �ndern. Er h�lt es f�r klug und zweckm�ßig, sich nicht abweisend zu verhalten. Ich leide am meisten darunter, denn ich muß die Hausfrau spielen und den Polen Gesellschaft leisten. Sie sind schon von Natur zudringlich, wenn sie auch die �ußere Form wahren, solange sie n�chtern sind. Aber wenn sie etwas getrunken haben, werden sie ungezogen.“
„Und das l�ßt du dir gefallen?“ fragte Robert scharf.
„Nein,“ erwiderte Gertrud fest und trocknete ihre Tr�nen. „Der Vater hat mich so lieb, daß er mich nicht dazu zwingt. Den Polen ist auch, sobald sie einige Flaschen Rotwein im Leibe haben, weniger an meiner Gesellschaft gelegen als an den Karten.“
Robert stand auf und goß sich noch einen Kognak ein. „Sei nicht b�se, Großmutter, das soll heute der letzte sein und ihr werdet mich jetzt entschuldigen. Ich will noch eine Weile durch den Park laufen, um Ruhe zu finden.“ Er nickte ihnen zu und ging hinaus. Frau Esther stand auf und zog Trudchen an sich. „Hat er dich durch seine Fragen verletzt?“
„Nein, Großchen, ich habe mich im stillen �ber seine Lebhaftigkeit und Energie gefreut. Das ist meiner Meinung nach ein großer Schritt zur Besserung.“
„Gott gebe, daß du recht beh�ltst,“ erwiderte Frau Esther leise. „Ich f�rchtete schon, daß er gleichg�ltig gegen unser Schicksal geworden w�re.“
„Die Ereignisse des heutigen Nachmittags haben ihn aufger�ttelt, Großchen. Seine Apathie war nur Nervenschw�che.“
„Das nahm ich auch an. Aber h�ltst du es f�r gut, wenn seine Nerven so angestachelt werden? M�ssen wir nicht einen R�ckschlag bef�rchten?“
Gertrud zuckte die Achseln. „Darauf mußt du dich gefaßt machen. Aber nun wissen wir doch, daß sich die Nervenabspannung �berwinden l�ßt und wahrscheinlich auch �berwunden werden wird, sobald sein K�rper gen�gend gekr�ftigt ist.“
„Du bleibst doch zum Abend hier und leistest Robert Gesellschaft?“
„Ja, gern, Großchen. Vielleicht bringen wir ihn dazu, daß er uns von seiner Flucht erz�hlt.“
Erst als es dunkelte, kam Robert aus dem Park zur�ck. „Ich beantrage eine Flasche Rotspon zum Abendbrot. Wir haben ja noch nicht mal auf meine R�ckkehr angestoßen.“
„Aber selbstverst�ndlich, mein Junge; ich habe noch einen milden Rotwein im Keller liegen.“
„Und dann erz�hlst du uns von deiner Flucht,“ fiel Trudchen ein.
„Seid ihr so neugierig darauf? Ich will euch gern euren Wunsch erf�llen, aber viel Erfreuliches werdet ihr nicht zu h�ren bekommen.“
Nach dem Essen ließ Frau Esther in dem Kamin auf der Diele Feuer anz�nden, das lustig flackerte und knisterte. Die Jagdtroph�en an den weißget�nchten W�nden warfen Schatten, die sich hin und her bewegten. Da hingen einige ausgestopfte K�pfe von Elch, Keiler und B�r, dazwischen einige Geweihe und Schaufeln von Elch, Urstier, Wisent und Hirsch, sowie zahlreiche Rehkronen von seltener Gr�ße. Vor den tiefen, bequemen Sesseln lagen Wolfsfelle. Neben Roberts Sessel stellte Trudchen ein Tischchen mit der Flasche Rotwein und einem K�stchen Zigaretten. Nachdem er einige tiefe Z�ge getan, legte sich Robert behaglich zur�ck und begann:
„Gleich im ersten Herbst waren wir gen�tigt, f�r w�rmere Kleidung zu sorgen, da uns unsere verschlissenen Uniformen buchst�blich in Fetzen um den Leib hingen. Als Material stand uns nur Haferstroh zur Verf�gung. Die Einwohner, soweit sie nicht Felle zur Kleidung verwenden, stellen aus dem Stroh lange W�lste her, die sie mit Hanfschnur zusammenbinden und um den Leib, Arme und Beine wickeln. Wir wandten mehr Kunst an und stellten einen Panzer her, der �ber den Kopf gezogen wurde und bis zu den Schenkeln reichte. Auch f�r die Beine und Arme fertigten wir kleinere S�cke an. Unsere H�tte umkleideten wir mit einer zweiten dicken Moosschicht. Trotzdem wir unsere Strohpanzer nicht ablegten und uns in große Mooshaufen verkrochen, froren wir im ersten Winter j�mmerlich. Ja, an windigen Tagen war es im Freien nicht auszuhalten.“
Er nahm einen Schluck, z�ndete sich an einem Span eine neue Zigarette an und fuhr fort: „Die Hauptbesch�ftigung der Dorfbewohner bestand im Winter aus der Pelzjagd mit Fallen. Wir lernten ihnen ihre K�nste ab und fingen eine ganze Anzahl von F�chsen, Mardern, Hermelin und Eichk�tzchen. Als im Fr�hjahr der H�ndler kam, verkauften wir einen Teil der Felle und bekamen nicht nur einige Rubel daf�r, sondern auch unentbehrliche Kleinger�te, darunter ein Pack grobe Nadeln und Zwirn. Nun fertigten wir uns aus Fellen Kleider an. Ihr braucht dar�ber nicht zu lachen, sie waren auch im Aussehen nicht �bel und saßen gut, weil wir unsere alten Kleidungsst�cke als Modell und Futter benutzten. Im n�chsten Winter hat uns unsere Pelzkleidung sehr gute Dienste geleistet.
Wie es jetzt in der Welt aussah, davon hatten wir keine Ahnung. Der H�ndler hatte von einer großen Revolution erz�hlt. Der Zar w�re abgesetzt und mit seiner ganzen Familie gefangengenommen. Das wurde aber selbst von den Dorfbewohnern nicht geglaubt. Wir besch�ftigten uns den ganzen Sommer hindurch bereits mit dem Plan zur Flucht. Zu dem Zweck widmeten wir uns im n�chsten Winter sehr eifrig der Pelzjagd und hatten Erfolg. Als der H�ndler erschien, l�sten wir �ber hundert Rubel und behielten noch zwei ansehnliche B�ndel kleinerer Felle, die wir mitnehmen wollten.“
Gespannt lauschten die beiden Frauen seinen Worten, ohne ihn zu unterbrechen. Ohne ein Zeichen von Erregung oder Erm�dung erz�hlte er weiter. „Ich war daf�r, nach Osten zu wandern, um das Meer zu erreichen. Mein Kamerad war dagegen. Er meinte, daß wir dort schwerlich ein Schiff finden w�rden, das uns mitn�hme. Nach dem Westen k�nnten wir streckenweise die Eisenbahn benutzen und k�men schneller vorw�rts. Ich f�gte mich ihm. Als der Schnee geschmolzen und das Land etwas getrocknet war, machten wir uns auf den Weg. Der Ausdruck ist jedoch nur bildlich zu verstehen, denn gebahnte Wege gibt es dort nicht. Unsere Strohpanzer legten wir ab und ließen sie zur�ck.
Wir marschierten in m�glichst gerader Linie nach Westen. Die zahllosen Fl�sse und Fl�ßchen, die von S�den nach Norden ziehen, waren noch gefroren, so daß wir sie �berschreiten konnten. Unsere Stiefel waren schon dicht vor der Aufl�sung, aber wir gedachten, uns in der ersten Stadt, die wir erreichten, neue zu kaufen. So lange unser Mundvorrat an Brot und ged�rrten Fischen reichte, mieden wir jegliche Siedlungen. Als er zu Ende ging, mußten wir sie aufsuchen.“
Er lachte laut auf, so daß ihn die Frauen verwundert ansahen. „Wir gaben uns nicht etwa als Fl�chtlinge aus, sondern f�r Pilger, ein etwas vornehmerer Ausdruck f�r Bettler. Um unsern Charakter glaubhaft zu machen, war mein Kamerad auf eine ebenso einfache wie originelle Idee verfallen. Er sang vor den Bauernh�usern russische Chor�le. Sein Ged�chtnis f�r den Text und Geh�r waren ohne Zweifel gut, seine Stimme jedoch glich dem Tone einer schadhaften Trompete. Da ich g�nzlich unmusikalisch bin, beschr�nkte ich mich darauf, einen tiefen Ton mitzubrummen.“
Die Frauen lachten herzlich, w�hrend er sich ein neues Glas eingoß und einen Schluck nahm.
„Na ja, ich habe auch, besonders anf�nglich, �ber unsere Kunstaus�bungen mir kaum das Lachen verbeißen k�nnen, aber in diesem Fall heiligte wirklich der Zweck das Mittel, denn manche Bauerfrauen waren von unserm Gesang so ger�hrt, daß sie uns ins Haus einluden und uns bewirteten. Dabei kam meistens auch ein schnaps�hnliches Getr�nk zum Vorschein, das abscheulich schmeckte, an das wir uns jedoch bald so gew�hnten, daß wir ein Verlangen danach versp�rten.
Wo es not tat, erz�hlte mein Kamerad mit gel�ufiger Stimme ein M�rchen. In der h�chsten Not zu ertrinken, habe er die schwarze Jungfrau von Czenstochau angerufen, ihr die Wallfahrt und zwei dicke Kerzen gelobt, wenn sie ihm helfen w�rde, und sie habe ihm geholfen. Er habe jedoch die Erf�llung seines Gel�bdes hinausgez�gert, bis sie ihm dreimal im Traum hintereinander erschienen sei und immer drohender daran gemahnt habe. Nun habe er die weite Wallfahrt unternehmen m�ssen. Zum Dank f�r Speise und Trank versprach er f�r die Spenderin zu beten. Das trug uns fast immer noch eine Wegzehrung ein.
So fochten wir uns, ohne Not zu leiden, bis nach Jakutsk durch, wo wir uns jeder ein Paar alte, aber noch derbe Stiefel erstanden. Und noch etwas kauften wir uns, wie ich euch ehrlich gestehen will, einen riesigen Affen, der sich am n�chsten Morgen in einen gr�ulichen Kater verwandelte. Dort stiegen wir in einen Zug. Die Fahrt kostete uns nur ein paar Rubel f�r den Zugf�hrer. Es ging sehr langsam vorw�rts, denn die Maschine, die nur mit Holz geheizt wurde, entwickelte nicht viel Kraft und noch weniger Schnelligkeit. Wenn der Holzvorrat zur Neige ging, hielt der Zug in einem Walde an, alles mußte raus und helfen, Brennholz einzuschlagen und aufzuladen. Zur Nacht blieb der Zug auf einer kleinen Station liegen. Der Wartesaal war von Pilgern �berf�llt, von denen schon manche monatelang dort hausten. Am Tage klapperten sie weit und breit die Umgegend ab, zur Nacht kehrten sie zu ihrem Obdach zur�ck.
Drei Tage hielten wir im Zuge aus, dann zogen wir es vor, zu Fuß weiterzumarschieren. Wir wanderten zwischen den Schienenstr�ngen entlang. Eines abends kamen wir in ein großes Dorf. Wir beschlossen, im Wirtshaus einzukehren, um etwas zu trinken. Es war wohl einer der russischen Feiertage, denn die große Krugstube war �berf�llt. M�hsam dr�ngten wir uns zum Schenktisch vor, wo eine Rotte betrunkener Burschen stand, die uns auszufragen und zu h�nseln begann. Als einer von ihnen uns die gef�llte Flasche vor der Nase wegnahm, es war schon die zweite, ergrimmte mein Kamerad und streckte ihn durch einen Faustschlag unter das Kinn nieder. Im n�chsten Augenblick fielen zehn bis zw�lf �ber ihn her. Ich wurde von ihm abgedr�ngt und, da es heller Wahnsinn gewesen w�re, mich in den ungleichen Kampf zu st�rzen, verkr�melte ich mich in eine Ecke.“
Er machte eine Pause, um sich durch einen Schluck zu starken. Man sah es ihm an, wie ihn die Erinnerung aufregte, so daß ihn Trudchen bat, aufzuh�ren, und an einem anderen Tage weiterzuerz�hlen. Er sch�ttelte den Kopf.
„Von jetzt an begann meine Not. Mein Kamerad wurde mißhandelt, bis er blutend und bewußtlos am Boden lag. Dann riß ihm die Bande die Kleider aus und stahl nicht nur unsere gemeinsame Reisekasse, die er bei sich trug, sondern auch den deutschen Milit�rpaß, von dem er sich nicht hatte trennen k�nnen. Er wurde hinausgeschleppt und eingesperrt. Drei Tage trieb ich mich noch in der Gegend umher, konnte jedoch nichts �ber sein Schicksal in Erfahrung bringen. So mußte ich mich denn entschließen, weiterzuwandern. F�r den aller�ußersten Notfall hatte ich noch ein Dutzend Hermelinfelle bei mir. Die Gaben flossen sehr sp�rlich und bestanden meist nur aus einem St�ckchen Brot, selbst wenn ich das M�rchen von der schwarzen Jungfrau erz�hlte. Mir fehlte das Hauptmittel, Mitleid zu erregen: der Gesang.
Manche Tage habe ich mich nur von Waldbeeren oder R�ben ern�hrt, die ich aus dem Acker zog. Davon hat mein Magen den Knacks weggekriegt, was sich an einer Ruhrerkrankung zeigte. Ich mußte Alkohol als Arznei anwenden. Ich bettelte um Schnaps, und mein elendes Aussehen unterst�tzte wohl meine Bitte, denn ab und zu bekam ich ein Gl�schen voll. Einmal blieb ich vor Ersch�pfung im Walde liegen. Nun beschloß ich, meine Felle zu verkaufen. Der Erl�s war gering und wurde von mir in der Hauptsache in Schnaps angelegt.“
Die Großmutter nahm seine Hand, um sie zu streicheln, w�hrend Trudchen ihm das letzte Glas Wein eingoß. Dann stand sie auf, um eine neue Flasche zu holen. Als sie zur�ckkehrte, fuhr Robert fort:
„Ich will euch nicht weiter langweilen. Gegen den Herbst hin erreichte ich unter Not aller Art Petersburg oder wie es damals hieß, Petrograd. Ich verkroch mich in einen Winkel, wo ich nachts von einer Patrouille aufgest�bert und mitgeschleift wurde. Im Gef�ngnis erkannte man meinen Zustand und brachte mich am n�chsten Morgen ins Lazarett. Dort habe ich bis gegen Weihnachten eine schwere Krankheit durchgemacht. Als ich mich zu erholen begann, wußte ich mich durch kleine Dienstleistungen n�tzlich zu machen. Als ich wieder zu Kr�ften gekommen war, tat ich Dienst als Kalfaktor.
Das dauerte bis in den M�rz hinein, da wurde ich bei einer Revision an die Luft gesetzt. Nun habe ich noch einige Wochen eine sehr schwere Zeit durchgemacht, bis es mir gelang, �ber das Eis der Newa nach Finland hin�berzuwechseln. In der ersten Stadt, die ich antraf, ging ich aufs schwedische Konsulat, wo man mich bis aufs Blut ausfragte, und meinem Bericht, der sehr abenteuerlich klang, wenig Glauben schenkte. Aber man schaffte mich zu Schiff nach Stockholm, wo man mir so weit traute, daß man an dich, Großmutter, telegraphierte. Das Weitere wißt ihr.“
Achtes Kapitel
Die Frauen hatten mehrmals M�he gehabt, ihre Tr�nen zu verbergen, auch manchmal gel�chelt und sich �ber seinen Humor gefreut. Eine kleine Weile saß Robert, nachdem er zu erz�hlen aufgeh�rt hatte, zur�ckgelehnt mit geschlossenen Augen. Dann richtete er sich auf, warf einige Scheite in das heruntergebrannte Feuer und streckte nach beiden Seiten seine H�nde aus. „Nun werdet ihr wohl meinen k�rperlichen Zustand und meine Schw�che gegen�ber dem Alkohol etwas nachsichtiger beurteilen.“
Die Großmutter hielt ebenso wie Gertrud seine Hand warm umschlossen. „Das haben wir gleich von Anfang getan, ehe wir noch die ganze Schwere deines Schicksals kannten. Nach den Erfahrungen des heutigen Tages m�chte ich dir nahelegen, wenn dich das Bed�rfnis anwandelt, statt des Kognaks ein Gl�schen Rotwein zu trinken. Ich habe noch gen�gend Vorrat im Keller.“
„Das sagst du so in deinem jugendlichen Leichtsinn,“ erwiderte Robert lachend. „Wie lange w�rde denn dein Vorrat noch ausreichen?“
„So lange, wie er dir schmeckt, dann kommt eine andere Marke an die Reihe,“ erwiderte Frau Esther lachend.
„Strelkau hat auch noch etwas im Keller,“ warf Trudchen ein.
Robert dr�ckte beide H�nde stark. „Ihr Lieben, ihr Guten, ihr habt so viel Mitleid und Verst�ndnis f�r meinen Zustand. Ich habe mich gef�rchtet, als ich nach Hause fuhr, daß ihr mich verachten w�rdet, und nun seid ihr so gut zu mir.“
„Das ist doch nur selbstverst�ndlich,“ erwiderte Gertrud.
„Ich habe aber schon einen kleinen Schwips und m�chte doch noch ein Glas trinken.“
Ohne zu antworten f�llte Gertrud sein Glas und kredenzte es ihm durch einen kleinen Schluck. Er trank es auf einen Schluck leer. „So, nehmt es mir nicht �bel, wenn ich in die Baba gehe.“ Er gab Trudchen die Hand und k�ßte die Großmutter auf Stirn und H�nde und schritt hinaus.
Als die T�r sich hinter ihm geschlossen, stand Trudchen auf, um neben Großchen niederzuknien. Frau Esther umpfing sie mit ihren Armen, zog sie auf ihren Schoß und legte ihren Kopf an ihre Brust. Erst nach einer Weile sprach sie leise: „Weißt du, mein Liebling, weshalb ich so froh und gl�cklich bin?“
„Ich ahne es, Großchen.“
„Erstens, weil er sich so energisch zu unserem Deutschtum bekannt hat, und zweitens, weil seine Nerven dem Alkohol standgehalten haben. Ich glaube, der heutige Tag war eine Krisis. Von nun an geht es meiner Meinung nach aufw�rts, zum Besseren.“
„Das glaube ich auch, Großchen. Weißt du, daß ich mich kaum beherrschen konnte, um nicht laut loszuheulen? Tagelang hungernd, frierend und krank, mutterseelenallein im Walde zu liegen! Es ist ja kaum glaublich, was die menschliche Natur auszuhalten vermag.“
„Ja, mein Liebling, das Schicksal hat ihm �bel mitgespielt.“ —
Die Hoffnung, daß Roberts Krankheit �berwunden sei, erf�llte sich nicht. Es kamen noch mehrmals Tage, an denen er von solchem Widerwillen gegen jede Nahrung erf�llt war, daß er nicht imstande war, einen Bissen zu genießen. Selbst den milden Rotwein verschm�hte er, weil ihn ein unbesiegbares Verlangen nach Schnaps peinigte. Er sch�mte sich, er war tief ungl�cklich und w�tete in seinen Gedanken gegen diese Schw�che, aber es half nichts, er mußte trinken. Nach einem solchen Anfall war er dann still, traurig und in sich verschlossen.
Inzwischen war der Fr�hling mit all seiner Pracht und Macht ins Land gekommen. Unter dem Laubdach des Parkes tummelten sich die kleinen S�nger und schmetterten aus voller Kehle ihre Liebeslieder. Der Boden unter den B�umen war bes�t mit weißen und gelben Anemonen und blauen Leberbl�mchen. Am Rand des Baches, der durch den Park floß, wogten in dichten B�scheln Vergißmeinnicht. In dem klaren Wasser lief auf dem Grunde die Wasseramsel entlang, bis sie mit einem Gew�rm im Schnabel emportauchte und davonflog. Buntgesprenkelte Forellen huschten hin und her.
Dort lag Robert stundenlang auf einer Decke, die ihn vor der K�hle des Bodens sch�tzte. Allm�hlich besserte sich sein Zustand. Er aß mit Appetit, ging spazieren, ja, eines Tages ließ er sich ein Pferd satteln und ritt neben dem einsp�nnigen W�gelchen der Großmutter, mit dem sie das Feld abfuhr. Trudchen kam jeden Tag mehrmals nach Hartenau, manchmal nur f�r eine Viertelstunde, manchmal blieb sie auch l�ngere Zeit. Mit Robert verkehrte sie stillfreundlich wie eine Schwester.
Eines Tages kam der Herr Kreischef auf den Hof gefahren. Trudchen, die gerade in Hartenau war, raunte Frau Esther zu: „Ich werde Robert benachrichtigen, daß er sich nicht blicken l�ßt. Ich werde dir nachher sagen, weshalb. Und der Vater l�ßt dir raten, den jungen Mann als Gast zu empfangen und ihm eine Flasche Rotwein anzubieten.“
„Kind, das tue ich nicht gern, sondern sehr ungern.“
„Das weiß ich, Großchen, aber du vergibst dir damit nichts.“
Mit einem Seufzer erhob sich die alte Gn�dige, um den Kreischef auf der Diele zu empfangen. Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich tief. „Darf ich gn�dige Frau f�r einen Augenblick um Geh�r bitten?“
Sie neigte den Kopf und lud ihn durch eine Handbewegung ein, durch die offene T�r ins Wohnzimmer zu treten. Er blieb stehen, bis sie ihm vorangegangen war. Nachdem sie ihm einen Sessel angeboten hatte, trat Trudchen mit einer Flasche und zwei Gl�sern ein. Sichtlich erfreut sprang Lubomierski auf und verbeugte sich tief.
„Freue mich sehr, gn�diges Fr�ulein hier begr�ßen zu k�nnen. War schon bei Ihrem Herrn Vater.“ Er wandte sich an Frau Esther. „Werde ich auch die Ehre haben, Ihren Herrn Enkelsohn begr�ßen zu d�rfen?“
„Mein Enkel ist noch immer krank. Er hat in der Gefangenschaft und auf der Flucht so Schweres durchgemacht, daß er sich sehr langsam erholt.“
„Oh, bedauere sehr, gn�digste Frau.“ Trudchen hatte inzwischen die Gl�ser gef�llt und ihres gegen ihn erhoben. Er tat ihr mit einer Verbeugung Bescheid. „Ich trinke auf das Wohl der Damen.“
„Was f�hrt Sie heute hierher nach Hartenau?“ fragte jetzt Trudchen.
Der junge Mann wurde etwas verlegen. „Eine Anordnung meiner Regierung. Sie w�nscht Hartenau einen andern Namen zu geben. Wir folgen darin nur dem Beispiel Ihrer fr�heren Regierung, die polnische Ortsnamen verdeutscht oder v�llig umgetauft hat, wie z.B. Inowrazlow in Hohensalza.
„Welchen Namen schlagen Sie denn f�r Hartenau vor?“ fragte Frau Esther mit deutlich bebender Stimme.
„Die w�rtliche �bersetzung: `Twardowo'. Sind Sie damit einverstanden, gn�dige Frau?“
„Das k�nnen Sie von mir nicht erwarten,“ erwiderte Frau Esther offen. „Der Name Hartenau ist seit Jahrhunderten mit meinem Geschlecht verbunden und verwachsen. Aber wenn Ihre Regierung die Umbenennung anordnet, muß ich mich eben f�gen.“
„Wenn Sie es w�nschen, k�nnen Sie auf dem neuen Ortsschild unter Twardowo noch hinzuf�gen: �fr�her Hartenau.“
Mit einem bittenden Blick nahm Trudchen die Hand der alten Gn�digen. „Das ist doch nett von Herrn Lubomierski.“
Der junge Mann verbeugte sich zum Dank. „Ich m�chte bei dieser Gelegenheit noch die Angelegenheit des Joseph Kowalski zur Sprache bringen.“
„Die geht mich nichts an,“ erwiderte die alte Gn�dige scharf. „Der junge Mann ist m�ndig und steht in keinem anderen Abh�ngigkeitsverh�ltnis zu mir als alle meine Leute, die f�r ihre Arbeit entlohnt werden.“
„Gewiß, gewiß, gn�digste Frau. Ich wollte nur anheimstellen oder nahelegen, den jungen Mann darauf hinzuweisen, daß er sich einer sehr großen Gefahr aussetzt, wenn er sein Versprechen, das er dem Propst gegeben hat, nicht erf�llt. Soviel ich weiß, ist es aus freien St�cken erfolgt.“
„Die Voraussetzungen, unter denen er sein Versprechen abgab, haben sich inzwischen ge�ndert,“ warf Trudchen ein.
„Auch das weiß ich, das �ndert aber nichts an der Tatsache, daß die Kirche die Erf�llung seiner Anmeldung fordert und mit Recht fordern kann.“ Er erhob sich. „Leider habe ich in dieser Angelegenheit keinen Einfluß. Die Sache wird von anderer Seite betrieben. Ich habe mich nur verpflichtet gef�hlt, Sie darauf aufmerksam zu machen.“
Auch Frau Esther erhob sich. „Daf�r spreche ich Ihnen meinen Dank aus, Herr Starost. Ich muß es, wie schon gesagt, dem Joseph �berlassen, was er zu tun oder zu lassen gedenkt.“
Der junge Mann verbeugte sich… „Gn�digste Frau... gn�diges Fr�ulein.“
Als die T�r hinter ihm ins Schloß fiel, sprang Trudchen auf und umfaßte Frau Esther. „Bist du sehr traurig, Großchen? Der Vater wußte es schon seit einiger Zeit, daß die Umbenennung angeordnet war, und ich sollte dich schonend darauf vorbereiten.“
„Dein Vater hat es mir mitgeteilt, und das war gut, denn ich war darauf vorbereitet und habe mich damit abgefunden.“
„Es war dem jungen Mann augenscheinlich peinlich, es dir mitzuteilen. Findest du nicht auch, daß er sich dabei taktvoll benommen hat?“
„Ja, h�fliche Umgangsformen haben die Polen, wenn sie wollen.“
„Der edle Pole scheint also h�flich gewesen zu sein,“ rief Robert, der eben eintrat und die letzten Worte noch geh�rt hatte. „Was wollte er denn?“
„Er brachte mir eine sehr unangenehme Nachricht. Die polnische Regierung hat befohlen, daß Hartenau in Twardowo umgetauft wird.“
„Und du hast ihn als Gast empfangen und ihm Wein vorgesetzt?“ fragte er scharf.
„Das hat Großchen auf meine Bitte erlaubt,“ fiel Gertrud ein, „und dem kleinen Entgegenkommen verdankt sie es, daß auf dem Ortsschild auch der alte Name Hartenau stehen wird.“
„Das ist wirklich allerhand,“ spottete Robert. „Und weshalb sollte ich mich vor dem Polenj�ngling nicht blicken lassen?“
„Wenn du willst, werde ich es dir sagen.“
„Ich bitte darum.“
„Er will oder vielmehr, er soll dir nahelegen, in die polnische Armee einzutreten. Man legt Wert auf fr�here deutsche Offiziere, die auch, wie du, Kriegserfahrungen besitzen.“
Robert lachte schrill auf. „Das glaube ich, die Polen sind nicht dumm. Da h�tte ich ja Aussicht, zu den h�chsten W�rden- und Ehrenstellen emporzusteigen. Was meinst du dazu, Großmutter?“
„Ich denke nat�rlich ebenso wie du, mein Junge.“
„Na, dann sind wir ja einig, daß ich diesen Vorschlag h�flich ablehne, wenn er mir wirklich gemacht werden sollte.“
„Das wird wohl nicht ausbleiben,“ meinte Trudchen.
Einige Tage sp�ter wurde die ganze Gegend durch eine neue Gewalttat der Polen in Schrecken und Aufregung versetzt. Der Agent Kosinski erschien mit einem halben Dutzend Soldaten in Strelkowo. Ritter war nicht zu Hause. Er war f�r einige Tage auf sein deutsches Gut gefahren. Gertrud empfing den Agenten auf der Freitreppe. „Ich kann Sie leider nicht empfangen, mein Vater ist nicht zu Hause.“
„Sehr wohl, mein Fr�ulein, ich wollte Ihnen nur mitteilen, daß mein Erscheinen nicht Ihnen gilt, sondern dem Joseph Kowalski aus Twardowo, den ich Ihrem Vogt gegen�berstellen will.“
„Daran kann ich Sie nicht hindern.“
Die Familie Kowalski saß gerade bei Tisch, als zwei Soldaten mit aufgepflanzten Seitengewehren in die Stube traten. „Was wollt Ihr hier?“ fuhr der Vogt sie an.
„Befehl! Joseph Kowalski zur Vernehmung nach Strelkowo abzuholen.“
„F�llt mir gar nicht ein,“ sagte Joseph und wollte nach der T�r eilen. Die Soldaten versperrten ihm mit vorgehaltenen Bajonetten den Weg. Jetzt sprang der alte Vogt auf. Und den beiden Schaschken w�re es wohl �bel ergangen, wenn nicht die Mutter ihn mit ihren Armen umklammert h�tte. „Vater, bleib ruhig!“
„Ich breche den beiden L�mmeln die Knochen im Leibe entzwei.“
Einer der beiden Soldaten warf den Sicherungsfl�gel herum und legte sein Gewehr an.
„Sei doch vern�nftig, Vater,“ bat die Frau.
„Du richtest nur noch mehr Unheil an, und du, Joseph, geh mit den Soldaten!“
„Du hast recht, Mutter, ich gehe mit. Aber dann lebt wohl, ihr werdet mich wohl nicht mehr wiedersehen.“ Er reichte dem Vater die Hand und umfaßte die Mutter, die sich schluchzend an seine Brust warf. Schweigend sahen die beiden Soldaten zu, bis Joseph sich aus den Armen der Mutter l�ste und sie anrief: „Gehen wir!“
Vor dem Hause des Vogts in Strelkowo stand der Agent mit seinen vier Schaschken. Die Gutsarbeiter, von denen die meisten deutsch waren, hatten sich auf dem Hofe versammelt, drohende Worte, wurden ausgestoßen: „Was wollen die polnischen Banditen hier?“
„Sie holen den Joseph aus Hartenau,“ erwiderte der Vogt Michalcik, der zu den Arbeitern getreten war.
„Wenn sie dich bloß auch mitnehmen m�chten,“ rief eine kecke Dirn. Der Agent schien sich um die Leute nicht zu k�mmern. Langsam ging er vor den Soldaten auf und ab. Als Joseph auf den Hof gef�hrt wurde, kam Gertrud vom Gutshause schnell angegangen. Die Soldaten hatten inzwischen Joseph umringt, und w�hrend ihm vier die Bajonette vorhielten, schn�rten ihm zwei die Arme auf dem R�cken zusammen.
„Was geht hier vor, Herr Kosinski? Sie wollten doch den Joseph nur verh�ren?“
„Das ist nicht mehr n�tig,“ erwiderte der Agent mit h�hnischem L�cheln.
„Mit welchem Recht lassen Sie den Mann binden?“
„Das geht Sie nichts an, mein Fr�ulein. Aber ich will es Ihnen sagen. Auf Befehl der Defensive.“
„Wessen wird denn der Joseph beschuldigt?“
„Mir nicht bekannt. Habe nur Befehl auszuf�hren. Paschol!“
In der Haust�r erschien Marinka. H�hnisch grinsend rief sie Joseph nach: „Jetzt wirst du wohl gr�ndlich bekehrt werden.“
„Schlagt doch dem frechen Frauenzimmer aufs Maul!“ rief wieder die kecke Dirn aus dem Haufen. Marinka w�re wohl nicht ungeschoren davongekommen, wenn sie der Vater nicht in das Haus zur�ckgestoßen und die T�r hinter ihr zugeschlagen h�tte.
Gertrud lief gleich, wie sie ging und stand, nach Hartenau, um die neue Schandtat der Polen zu melden. Sie fand den Vogt und seine Frau schon bei der alten Gn�digen, die in heftiger Erregung auf der Diele auf und ab ging. Robert saß mit funkelnden Augen im Lehnstuhl. „Hast du schon geh�rt,“ rief er ihr entgegen.
„Ja, Robert, ich habe zugesehen, wie sie ihn gefesselt und fortgef�hrt haben.“
Laut aufschluchzend umklammerte Frau Kowalski ihren Mann. „Hast geh�rt, Vater?“
„Ich habe den Kosinski gefragt, mit welchem Recht und weshalb Joseph verhaftet wird,“ rief Trudchen. „Auf Befehl der Defensive, hat er mir geantwortet.“
„Das schl�gt doch dem Faß den Boden aus,“ rief Robert aufspringend. „Was l�ßt sich dagegen tun?“
„Nichts,“ erwiderte Frau Esther. „Wen die Defensive erst in ihren Krallen hat, ist verloren. Er verschwindet in ein Gef�ngnis f�r immer, oder es wird eine Anklage gegen ihn erhoben wegen Spionage oder Landesverrat, und m�gen die Beschuldigungen noch so unsinnig sein, er wird verurteilt und erschossen.“
„Wir wollen nicht gleich das Schlimmste annehmen,“ warf Trudchen ein. „Wenn bloß der Vater hier w�re, ich muß ihn gleich benachrichtigen.“
„Laß das, mein Kind. Er wird sich auch nicht die Finger verbrennen wollen. Uns bleibt nichts weiter �brig, als schweigend zu dulden.“
„Bis der Tag der Abrechnung kommt,“ f�gte Robert hinzu.
Neuntes Kapitel
Einige Zeit, nachdem Ritter aus seinem Gut Werben zur�ckgekehrt war, erschien der Herr Kreischef in Strelkowo. Der Empfang war sehr k�hl. Noch ehe er dem Gast einen Stuhl anbot, fragte der Hausherr, weshalb man sich Strelkau dazu ausgesucht habe, den jungen Vogt von Hartenau zu verhaften. Mit ehrlicher Miene erwiderte der junge Mann, er habe nicht den geringsten Anteil an dem Vorfall. Der Agent habe die Sache ganz heimlich ins Werk gesetzt. „Er hat auch mich bespitzelt und nach Warschau berichtet, daß ich zu milde und nachsichtig gegen die Deutschen bin.“
„Dann ist Ihre Stellung hier doch recht unsicher,“ meinte Ritter, der seinen �rger nicht zu verbergen vermochte.
Der junge Starost sch�ttelte den Kopf. „Meine Verwandten sind so einflußreich, daß solch ein Mensch mir nicht gef�hrlich werden kann. Wie ich mein Amt auffasse und verwalte, geht ihn gar nichts an. Ich habe mich bereits �ber ihn beschwert, er wird nicht mehr zur�ckkehren.“
„Dann kommt ein anderer, der wom�glich noch schlimmer ist,“ meinte Ritter.
„Das kann ich nicht hindern,“ erwiderte der Kreischef achselzuckend. „Die Defensive h�lt es eben f�r n�tig, in jedem Kreis einen oder mehrere Aufpasser zu haben, um die Deutschen zu beaufsichtigen.“
Inzwischen war Trudchen eingetreten und mit ihr ein M�dchen, das eine Flasche Wein und Gl�ser brachte. Sie wußte nicht, daß ihr Vater den Gast ohne Bewirtung abfahren lassen wollte. Er machte jedoch gute Miene zum b�sen Spiel, lud den Gast zum Platznehmen ein und schenkte die Gl�ser voll. Dabei meinte er mit deutlicher Absicht : „Wir werden wohl �ber kurz oder lang unsern guten Herrn Kreischef verlieren.“
„Ach, weshalb denn?“ fragte Trudchen �berrascht.
„Er ist bei seiner Regierung nicht gut angeschrieben.“
Lubomierski war bei diesen Worten erst rot, dann blaß geworden. Er f�hlte deutlich die Spitze, die sich gegen seine Bewerbung richtete, aber er beherrschte sich und erwiderte l�chelnd: „Ihr Herr Vater, gn�diges Fr�ulein, f�rchtet mich als Kreischef zu verlieren, weil ich von dem Agenten verd�chtigt worden bin, nicht scharf genug den Deutschen entgegenzutreten.“
„Das w�rde uns leid tun,“ erwiderte Trudchen arglos. „Nicht wahr, Vater?“
Der junge Mann verbeugte sich mit freudigem Aufleuchten seiner Augen. „F�r das freundliche Wort danke ich Ihnen, gn�diges Fr�ulein. Ich habe Ihrem Herrn Vater schon erkl�rt, daß er zu schwarz sieht. Meine Verwandtschaft ist so einflußreich, daß ich die Treppe hinauffallen w�rde, wenn ich hier abberufen werden sollte. Das w�rde jedoch nur mit meinem Einvernehmen geschehen.“
„Und Sie wollen hier nicht fort?“ fragte Trudchen.
„Nein, ich habe mir selbst diesen Kreis ausgesucht, der in der Mehrzahl von Deutschen bewohnt ist, weil ich es f�r falsch halte, sie zu bedr�cken und zu verdr�ngen. Ich hoffe vielmehr, sie durch freundliche Behandlung mit unserer Herrschaft auszus�hnen. Ich betrachte es als das Beste f�r beide Teile.“
„Das ist ein ehrliches Manneswort,“ erwiderte Ritter und reichte dem Gaste die Hand. „Sie haben es schon durch Ihr Verhalten bewiesen. Sie sind ein weißer Rabe, aber wir wollen uns doch keiner T�uschung hingeben. Es mag wohl in Ihrer Regierung Leute geben, die ebenso denken wie Sie. Sie k�nnen wohl etwas mildern und bremsen, aber die sch�rfere, ja sch�rfste Tonart ist maßgebend.“
Der Kreischef neigte sich zustimmend. „Das kann ich leider nicht bestreiten.“
„Ich halte es nicht nur f�r unrecht, sondern auch f�r unklug, gegen uns Deutsche so scharf vorzugehen,“ warf Trudchen ein.
„Ja,“ fuhr Ritter fort, „Ihre Landsleute sch�digen sich selbst, wenn Sie uns Deutsche verdr�ngen. Meine Landsleute sind fleißig und sparsam. Sie haben das Land in Flor gebracht. Wenn jetzt nach ihnen die polnische Wirtschaft, nehmen Sie es mir nicht �bel, Herr Lubomierski, einzieht, dann wird es Ihr Volk am eigenen Leibe sp�ren.“
„Lassen Sie mich ausreden,“ fuhr er energisch fort, als der junge Mann etwas erwidern wollte. „Wir Deutsche sind friedliche Leute. Wir werden bei halbwegs anst�ndiger Behandlung treue Staatsb�rger sein. Ihr Polen seid das niemals geworden. Ihr habt mit einer Energie und Z�higkeit, die ich, offen gestanden, bewundere, euren v�lkischen Gedanken und die Hoffnung auf eine staatliche Wiedergeburt, wie sie ja nun eingetreten ist, aufrechterhalten. Dazu sind wir Deutsche nicht imstande, wie ich offen gestehen will. Ist Ihre Regierung nicht klug genug, das einzusehen und danach zu handeln?“
Der Kreischef lachte etwas verlegen.
„So ganz zahm und friedfertig sind Ihre Abgeordneten im Seim doch nicht.“
„Weil sie leider zuviel Ursache haben, sich zu beschweren, daß unsere Rechte, die uns im Frieden gew�hrleistet sind, mit F�ßen getreten werden,“ rief Trudchen mit blitzenden Augen.
Der Starost neigte beistimmend den Kopf.
„Daß ich die Behandlung der Minderheiten, vor allem der Deutschen f�r unrichtig halte, wissen Sie. Aber das kann ich nicht billigen, daß in Deutschland immerfort in Wort und Schrift erkl�rt wird: `die Gebiete, die uns entrissen sind, m�ssen wir wieder haben.` Dadurch wird meines Erachtens die Haltung unserer Regierung bestimmt. Wir folgen darin nur dem Beispiel Ihrer Hakatisten, die den polnischen Großgrundbesitz in Posen und Pommerellen verdr�ngen wollten. Daß wir Polen darin energischer vorgehen, als es Ihre Regierung tat, liegt in unserem Charakter.“
Der Hausherr schwieg verstimmt.
Trudchen �berwand die unbehagliche Stimmung, indem sie die Gl�ser vollschenkte und l�chelnd meinte: „Es taugt zu nichts, wenn wir die Streitpunkte, wenn auch in freundlicher Form, miteinander er�rtern.“
„Lassen Sie mich nur noch eins sagen,“ bat Lubomierski l�chelnd. „Ich habe in einem Ihrer gr�ßten Dichter, in Gustav Freytag, etwas gelesen... Weshalb wundern Sie sich, gn�diges Fr�ulein?“ unterbrach er sich. „Ich kenne Ihre Literatur ziemlich genau und sch�tze sie. Also, Ihr großer Dichter l�ßt in einem Band der `Ahnen', der die K�mpfe zwischen Deutschen und Polen im Mittelalter schildert, den Begr�nder Ihres Glaubens, etwa folgendes sagen: `Die Erde gleicht einem Landgut, und wie ein Land mit Weizen und Hafer so s�et der Herrgott Deutsche und Polen nacheinander auf denselben Grund, gerade die Frucht, deren er f�r seine himmlische Wirtschaft bedarf.' Er h�lt es also f�r eine g�ttliche Bestimmung, daß uns wieder diese Gebiete, die uns fr�her geh�rten, zugefallen sind.“
„Ich staune �ber Ihr Ged�chtnis,“ erwiderte Trudchen. „Aber wenn ich mich recht erinnere, dann l�ßt unser Dichter den Dr. Luther weiter ausf�hren, daß der liebe Gott das Volk, das faul wird und schlechte Frucht bringt, austilgt. Das ist Ihnen schon einmal geschehen, und daraus sch�pfe ich die Hoffnung, daß der liebe Gott dies Land wieder mit Deutschen bes�en wird, wenn die Polen sich als untauglich erweisen.“
Ritter lachte vergn�gt. „Ich glaube, lieber Herr Lubomierski, Sie haben in dem Wortgefecht mit meiner Tochter den k�rzeren gezogen.“
Der junge Mann erhob l�chelnd die Schultern und H�nde. „Ich bekenne mich f�r besiegt.“ Als Lubomierski sich nach einiger Zeit erhob, um sich zu verabschieden, bot ihm Trudchen die Hand:
„Wir hoffen Sie noch recht lange als unsern Kreischef hierzubehalten.“
„Das liegt auch in meinem Willen, gn�diges Fr�ulein.“ Er beugte sich tief hinab aus ihre Hand. Solche Gunst war ihm noch nicht zuteil geworden.
„Halt, noch eins,“ rief Ritter dazwischen, „sagen Sie uns, wo der Joseph hingebracht worden ist.“
„Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, ich werde mir jedoch M�he geben, es zu erfahren.“
Kopfsch�ttelnd sah der Hausherr den Gast an. „Ist das nicht die richtige polnische Wirtschaft? Ohne Wissen des Kreischefs wird ein Mensch aus seinem Verwaltungsbezirk verhaftet und weggebracht, ohne daß er erf�hrt, wohin?“
Als der Starost abgefahren war, sah Trudchen ihren Vater erstaunt an. „Glaubst du wirklich, daß er es nicht weiß? Ich halte Lubomierski nicht f�r aufrichtig. Auch das, was er heute �ber das Verh�ltnis zwischen Polen und Deutschen und seine Vers�hnungspolitik sprach, entsprang nur aus kluger Berechnung. Und wenn nichts anderes, dann wollte er auf dich und mich einen guten Eindruck machen.“
„Du k�nntest recht haben,“ erwiderte der Vater l�chelnd. „Bis jetzt hat er sich doch recht verst�ndig benommen. Wir k�nnen froh sein, wenn wir ihn als Kreischef behalten.“
In demselben Sinne sprach sich Gertrud aus, als sie am Nachmittag in Hartenau die Unterredung mit dem Kreischef erz�hlte. Sie fand bei Robert volle Zustimmung. Er meinte, unter den Polen g�be es keine „weißen Raben“. Der junge Mann werde wohl besondere Gr�nde f�r sein Verhalten haben. Trudchen err�tete und l�chelte verlegen, als Frau Esther einfiel: „Du hast das Richtige getroffen, mein Junge. Der Starost wirft mit der Wurst nach der Speckseite. Er will sich Trudchens Wohlwollen und Gunst erwerben.“
Robert lachte laut auf. „Aber, Großmutter, wie kannst du Trudchen mit einer Speckseite vergleichen? Sie ist rundlich, aber...“
„Du mußt einen Vergleich in einer solchen Redensart nicht w�rtlich nehmen,“ erwiderte Frau Esther, jetzt auch lachend.
„Glaubst du, daß der junge Mann sich ernstlich um dich bewirbt,“ fragte Robert, ernst werdend.
„Ja, es hat den Anschein.“
„W�rde denn dein Vater damit einverstanden sein.“
Trudchen sch�ttelte energisch den Kopf. „So weit geht seine Polenfreundlichkeit nicht. Er hat schon einige Male deutlich abgewinkt. Auch heute hat er dem Lubomierski offen erkl�rt, daß er seine Stellung f�r sehr unsicher h�lt.“
„Der Meinung bin ich auch,“ fiel die alte Gn�dige ein, „und ich w�rde mich gar nicht wundern, wenn er eines Tages ohne Sang und Klang hier verschwindet.“
— — — Es war ein Zeichen zunehmender Gesundung, daß Robert sich in seinen Gedanken mit der Gestaltung seiner Zukunft zu besch�ftigen begann. Er vermutete mit Recht, daß seine Großmutter sich mit derselben Frage besch�ftigte, ihn jedoch damit noch verschonen wollte. Eines Abends, als er mit ihr vor dem Kaminfeuer in der Halle saß, begann er nach einer Gespr�chspause: „Sag' mal, Großmutter, hast du auch schon dar�ber nachgedacht, was nun eigentlich mit und aus mir werden soll?“
Frau Esther sah ihn erstaunt an. „Qu�lst du dich schon mit solchen Gedanken? Kommt Zeit, kommt Rat. Wollen wir nicht damit warten, bis du v�llig wieder zu Kr�ften gekommen bist?“
„Ich m�chte sobald wie m�glich dar�ber Klarheit schaffen und zu einem Entschluß kommen.“
„Das klingt so, als wenn du dich schon f�r einen Beruf entschieden hast?“
„Nein, Großmutter, das Gegenteil ist der Fall. Der Krieg und die Gefangenschaft haben mich doch v�llig aus der Bahn geworfen. Das N�chstliegende w�re ja f�r mich, Landwirt zu werden.“
„Das ist auch meine Meinung,“ stimmte Frau Esther lebhaft bei.
„Ich f�hle leider wenig Interesse daf�r. Ich habe mir schon innerlich Vorw�rfe dar�ber gemacht. Aber es ist eine Tatsache, die ich dir nicht verschweigen kann.“
„Das tut mir sehr leid, denn es trifft mich sehr hart. Ich bin ja noch so r�stig, daß ich noch ein paar Jahre durchhalten werde, bis du ausgelernt hast und mit meiner Hilfe Hartenau selbst�ndig bewirtschaften kannst. Dann m�chte ich aber ausspannen, denn ich habe in meinem langen Leben genug geschafft.“
„Ja, Großmutter, das f�llt auch f�r mich schwer ins Gewicht. Aber glaubst du denn, daß die Polen uns Hartenau lassen werden? Ich nicht. Ich bin davon �berzeugt, daß wir �ber kurz oder lang hier herausgeworfen werden und als Bettler hinausgehen.“
„Das haben wir leider zu bef�rchten,“ erwiderte Frau Esther.
„Darf ich fragen, ob du vielleicht etwas von unserem Verm�gen in Sicherheit gebracht hast?“
„Etwas, aber nicht viel, und in preußischen Staatspapieren angelegt. Aber das wird bei der zunehmenden Geldverschlechterung in Deutschland von Tag zu Tag wertloser.“
„Dann w�rde also meine Zukunft darin bestehen, daß ich zeit meines Lebens als Inspektor meine F�ße unter einen fremden Tisch stelle.“
Frau Esther saß eine Weile in schweren Gedanken. „Was k�me denn noch f�r ein Beruf in Frage? M�chtest du noch studieren?“
„Daran habe ich auch schon gedacht. Aber, Großmutter, dagegen sind die Bedenken noch viel gr�ßer. Meine Bildung war noch nicht abgeschlossen, als ich in den Krieg zog, und das meiste habe ich inzwischen vergessen. Ich m�ßte also erst noch zwei Jahre mindestens die Schulbank dr�cken, dann dauert es noch sieben bis acht Jahre, bis ich zu Brot komme. Ich muß dir alles sagen. Ich besitze nicht mehr die Energie und Ausdauer zu studieren und Examina abzulegen. Mein Leben ist eben von Grund auf verpfuscht.“ Er f�llte sein Glas mit Rotwein und trank es mit einem Zug leer. Aus den Augen der alten Frau strahlte tiefes herzliches Mitleid.
„Ich begreife deine Stimmung vollkommen, mein lieber Junge, aber verzag' nur nicht. Wenn dein Lebensmut jetzt auch noch gering ist, weil du k�rperlich noch nicht wieder v�llig hergestellt bist, sp�ter wird sich schon Rat finden lassen. Mir ist jetzt klar geworden, was wir zun�chst zu tun haben. Wir m�ssen versuchen, Hartenau noch jetzt, wenn irgend m�glich, gegen ein Gut �ber der Grenze zu vertauschen. Mir war die Gelegenheit schon mal geboten. Ich habe sie in meiner Kurzsichtigkeit unbenutzt vor�bergehen lassen.“
„Glaubst du denn, daß ein Deutscher sich finden wird, der sich jetzt noch nach Polen hineintraut?“
„Nein, es gibt noch Polen, die �ber der Grenze Grundbesitz haben. Wir w�rden allerdings dabei t�chtig Haare lassen m�ssen. Außerdem m�ssen wir versuchen, wenigstens einen Teil der M�bel und des Inventars �ber die Grenze zu schaffen. Ich habe auch noch ansehnliche Vorr�te an Getreide liegen, die w�rde mir Ritter abnehmen, der es fertiggebracht hat, sein Getreide �ber Deutschland hinweg nach dem Ausland zu verkaufen, wo es ihm mit Devisen bezahlt wird. Ich hoffe, so viel zu schaffen, daß wir uns dr�ben wenigstens eine Klitsche mit ein paar hundert Morgen kaufen k�nnen, damit wir ein Dach �ber dem Kopf haben und nicht zu hungern brauchen.“
„Daraus glaube ich entnehmen zu m�ssen,“ meinte Robert nach einer Weile, „daß du immer f�r das beste h�ltst, daß ich Landwirt werde.“
„Ja, mein Junge, f�r einen Kaufmann wirst du dich noch weniger eignen als f�r einen Juristen oder Mediziner.“
„Es gibt noch einen Ausweg, Großmutter, der uns aller Sorge enthebt: wenn ich in das polnische Heer eintrete.“
„Hast du wirklich jemals im Ernst daran gedacht?“ fragte Frau Esther scharf.
„Nein, liebe Großmutter, das ist f�r mich bei meiner Gesinnung v�llig ausgeschlossen. Ja, es w�rde mich wundern, wenn der Vorschlag auf irgendeinem Wege an mich herantreten sollte.“
„Das halte ich nicht f�r ausgeschlossen, und wir d�rfen es uns nicht verhehlen, daß deine Weigerung unsere Lage verschlechtern wird. Die Polen rechnen wahrscheinlich schon damit, denn sie bekommen dadurch eine Handhabe, gegen uns sch�rfer als bisher vorzugehen.“
Die Hoffnung der alten Gn�digen, ihr Getreide durch Ritters Hilfe gut zu verkaufen, erf�llte sich nicht. Schon am n�chsten Tage brachte Trudchen die Nachricht, die polnische Regierung werde demn�chst alle Getreidevorr�te beschlagnahmen, d.h. f�r geringen Preis enteignen. Der Vater habe gestern in der Stadt erfahren, daß Polen sich f�r einen Krieg mit Sowjet-Rußland r�stete. Bald kam die Best�tigung der Nachricht. Kommissare der Regierung reisten umher und beschlagnahmten �berall auf den G�tern die Vorr�te. Ritter �bernahm noch rechtzeitig einen Teil des Getreides aus Hartenau und erzielte durch seine Verbindungen einen etwas besseren Preis daf�r, den er seiner Nachbarin ohne Abzug aush�ndigte.
Zehntes Kapitel
Von nun an gab sich Robert redliche M�he, der Landwirtschaft Interesse abzugewinnen. Er fuhr mit der Großmutter aufs Feld, wobei sie ihm belehrende Vortrage hielt. Er stand �fters bei Tagesgrauen auf und sah zu, wie die Milch gewonnen und in der Meierei verarbeitet wurde. Dabei kr�ftigte sich sein K�rper zusehends, wodurch sich auch seine Stimmung hob. Ein kr�ftiges Gef�hl erwachte in ihm. Mit Trudchen verkehrte er nach wie vor wie ein Bruder. Aber wenn sie mal ausblieb, vermißte er ihre Gegenwart und ihr munteres Geplauder. Sie brachte stets Neuigkeiten mit, die nicht gerade weltersch�tternder Art waren, aber sein Interesse erregten.
So berichtete sie eines Tages, daß der Vogt Michalcik st�rker als je tr�nke. Er habe Marinka, die ihm vorwarf, er habe die Heirat mit Joseph verhindert und hintertrieben, heftig durchgepr�gelt. Aber auch Wichtigeres hatte sie zu berichten: daß die Kriegsgefahr immer n�her zu r�cken scheine, und daß deshalb eine Musterung und Aushebung der Pferde bevorst�nde. Ihr Vater habe schon �ber der Grenze Pferde aufgekauft, um seine Best�nde zu erg�nzen. Er werde es auch f�r Hartenau besorgen, wenn die alte Gn�dige es w�nsche.
Robert erfuhr auch von ihr, daß Ritter dem Kreischef abgeraten habe, den ehemals preußischen Leutnant zum Eintritt in das polnische Heer aufzufordern. Er habe darauf ihrem Vater erwidert, daß es ein Befehl der Regierung sei, den er ausf�hren m�sse, denn es sei ihm wieder ein Agent der Defensive auf den Nacken gesetzt, ein deutscher Renegat, der seinen ehrlichen Namen Wolschl�ger in Wolzlegier umgewandelt habe. Als der Kreischef eines Tages erschien, war Robert auf seinen Besuch vorbereitet. Er empfing den jungen Starost h�flich, aber k�hl, und bot ihm einen Stuhl an.
„Ich habe einen Auftrag meiner Regierung auszurichten,“ begann Lubomierski. „Sie w�nscht, daß Sie in unser Heer eintreten. Sie sind jetzt polnischer Staatsangeh�riger und beherrschen vollkommen unsere Sprache, Sie werden sich in unsern milit�rischen Dienstbetrieb, der von dem deutschen nicht wesentlich abweicht, leicht einarbeiten. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß wir Offiziere mit Kriegserfahrung hoch einsch�tzen und bevorzugen.“
„Ihre Aufforderung kommt mir nicht unerwartet, Herr Kreischef,“ erwiderte Robert ruhig. „Ich habe Zeit gehabt, mich darauf vorzubereiten. Und nun k�nnte ich ja meine Ablehnung mit dem Hinweis auf meine durch die Flucht und Gefangenschaft schwer gesch�digte Gesundheit begr�nden. Ich verzichte darauf, weil Sie es wahrscheinlich als bloßen Vorwand betrachten w�rden. Der wesentliche Grund, der mich zur Ablehnung zwingt, ist meine deutsche Gesinnung und Einstellung. Ich stehe dem polnischen Staat, dem wir gegen unsern Willen unterworfen worden sind, ablehnend gegen�ber. Ich werde ihm gegen�ber meine staatsb�rgerlichen Pflichten loyal erf�llen, aber ich vermag nicht, ihm Dienste zu leisten.“
„Ihre Gesinnung war mir nicht unbekannt,“ erwiderte der Kreischef mit einer leichten Verbeugung. „Das enthob mich jedoch nicht der Pflicht, den Auftrag meiner vorgesetzten Beh�rde auszuf�hren. Ich m�chte mir aber den Rat erlauben, Ihre geschw�chte Gesundheit als Grund der Ablehnung anzugeben und wom�glich durch ein �rztliches Attest zu belegen.“
�berrascht sah Robert seinen Gast an. „Was veranlaßt Sie, mir diesen Rat zu erteilen?“
„Ich m�chte nicht die unschuldige Ursache werden, daß Ihnen aus Ihrer Ablehnung Mißhelligkeiten erwachsen. Sie wissen jedenfalls schon, daß ich bestrebt bin, mit den Deutschen in meinem Bezirk in Ruhe und Frieden zu leben und m�chte nicht, daß man mir die Schuld in die Schuhe schiebt, wenn unsere Regierung scharf gegen Sie vorgeht.“
Robert dankte mit einer Verneigung. „Ich bin Ihnen f�r Ihren Rat sehr verbunden und werde ihn mit R�cksicht auf Sie befolgen.“
„Dann bitte ich noch, mit der Ausf�hrung nicht zu z�gern. Als eine geeignete Pers�nlichkeit erlaube ich mir, Ihnen den Kreisarzt Dr. Soyka in L... zu empfehlen. Sollte er Ihnen den Besuch eines deutschen Heilbades anraten, dann bitte ich, den Rat zu befolgen und um die Bewilligung einer Ausreiseerlaubnis bei mir einzukommen.“
„Auch f�r diese Ratschl�ge bin ich Ihnen sehr verbunden. Gestatten Sie mir noch die Frage, weshalb sie solche Eile f�r geboten halten?“
„Auch das will ich Ihnen offen sagen, allerdings mit der Bitte um v�llige Verschwiegenheit. Es besteht die Gefahr, daß sich noch jemand anderes in Ihre Angelegenheit einmischt, von dem Sie keine R�cksicht zu erwarten haben.“
„Wer sollte das sein?“
Der junge Kreischef erhob sich. „Sie w�rden es jedenfalls von anderer Seite auch erfahren, deshalb brauche ich damit nicht hinter dem Berge zu halten. Das ist der neue Agent der Defensive, mit dem fr�her deutschen Namen Wolschl�ger, ich m�chte ihm die Gelegenheit entziehen, sich in Verwaltungsangelegenheiten, die mich allein angehen, einzumischen.“
„Das ist ein weiterer Grund f�r mich, Ihren Rat sofort zu befolgen. Nehmen Sie meinen besten Dank, Herr Starost.“
„Keine Ursache. Ich habe ja nicht nur in Ihrem, sondern auch in meinem Interesse gehandelt.“
Gedankenvoll erschien Robert im Wohnzimmer, wo Trudchen, die eben eingetreten war, ihn mit der alten Gn�digen erwartete. „Was hatte der Herr Kreischef mit dir zu verhandeln?“
„Er brachte mir die Aufforderung seiner Regierung, in das polnische Heer einzutreten.“ Dann schilderte er ihre Unterredung und schloß: „Eigentlich bin ich �ber diese zarte R�cksichtnahme erstaunt.“
Trudchen l�chelte. „Etwas hast du sie meinem Vater und mir zu verdanken. Ich bat, auf dich nicht nur jede m�gliche R�cksicht zu nehmen, sondern dir auch mit einem guten Rat beizustehen. Und der Vater riet ihm, dir deinen Gesundheitszustand als Grund der Ablehnung nahezulegen, wie er es auch getan hat. Und dir l�ßt mein Vater durch mich raten, Lubomierskis Vorschlag schnell und genau zu befolgen.“
„Was meinst du dazu, Großmutter?“
„Dasselbe, was Freund Ritter dir anratet. Du f�hrst heute noch nach L., l�ßt dich untersuchen und dir ein Attest ausstellen. Der Dr. Soyka ist ein freundlicher, verst�ndiger Mann, der sicherlich von dem Kreischef von deinem Fall schon unterrichtet ist. Und wenn irgend m�glich, f�hrst du schon morgen fr�h �ber die Grenze.“
Eine halbe Stunde sp�ter saß Robert im Wagen und fuhr nach L. Der Kreisarzt, ein �lterer Mann, der aus deutschen Hochschulen studiert und sich politisch nie bet�tigt hatte, schien seinen Besuch erwartet zu haben. Er untersuchte Robert sehr gr�ndlich und stellte ihm ein ausf�hrliches Attest aus, worin auch der Rat enthalten war, in dem Sanatorium eines Dr. Kastner in Altheide einen l�ngeren Aufenthalt zu nehmen und sich einer strengen Entziehungskur zu unterwerfen. Robert bedankte sich und legte einen Briefumschlag mit einem ansehnlichen Honorar auf den Tisch, an den sich der Arzt wieder niedergelassen hatte, um noch einige Zeilen an den Kreischef zu schreiben. Beim Abschied riet er Robert, das �rztliche Gutachten und den Brief sofort im Kreisamt abzugeben.
Er wurde sofort von Lubomierski empfangen, der das Attest und den Brief schnell �berflog. Dann reichte er den Brief Robert hin. „Ich bitte Sie, davon Kenntnis zu nehmen.“
Robert las: „Der Zustand des Herrn Dalkowski ist sehr ernst. Seine schweren Herzst�rungen lassen eine schnelle durchgreifende Behandlung dringend erforderlich erscheinen. Deshalb bef�rworte ich, ihm die Ausreise zum Besuch von Altheide zu bewilligen.“
Als Robert ihm den Brief zur�ckgab, �berreichte ihm der Starost l�chelnd einen zusammengefalteten Bogen. Es war die Ausreisebewilligung. „Herr Dalkowski, der erste Zug geht schon morgen um f�nf Uhr. Ich empfehle Ihnen, ihn zu benutzen, dann haben Sie sofort in Glogau Anschluß.“
Mit einem kr�ftigen H�ndedruck dankte und verabschiedete sich Robert. Als er nach Hause kam, fand er die Großmutter schon beim Packen seiner Sachen, wobei ihr Trudchen half. Sie berichtete ihm, daß ihr Vater mit demselben Zug nach seinem Gut Werben fahren werde.
Als sie gegangen war, fragte Robert: „Sag' mal, Großmutter, was h�ltst du von dem geradezu merkw�rdigen Verhalten des Kreischefs? Der junge Mann setzt sich doch Unannehmlichkeiten aus, wenn er mir �ber die Grenze hilft.“
Frau Esther l�chelte. „So ganz uneigenn�tzig, wie du meinst, ist der junge Mann nicht. Er f�rchtet dich als Nebenbuhler.“
„Mich? Als Nebenbuhler? Wieso, weshalb?“
„Oh, du unschuldsvoller Junge du! Weißt du denn nicht, daß der Starost in Trudchen heftig verliebt ist und sich ernsthaft um sie bewirbt? Er m�chte es verhindern, daß sich zwischen euch beiden etwas anspinnt und sucht dich aus diese Weise f�r l�ngere Zeit auszuschalten.“
Robert sch�ttelte den Kopf. „Das w�re dann nichts weiter als ein sein ausgekl�gelter Schachzug gegen mich. Dann wundere ich mich aber, daß Trudchen dabei mitgewirkt hat.“
„Dar�ber brauchst du dich gar nicht zu wundern. Die Gefahr f�r dich, wenn du hierbliebst, ist gr�ßer, als du denkst. Lubomierski hat sie Ritter angedeutet. Es w�re nicht ausgeschlossen, daß du von dem Agenten verhaftet und zwangsweise in ein Milit�rlazarett gebracht w�rdest, um dort behandelt zu werden.“
Robert schlief wenig und unruhig in dieser Nacht. Wie ein Blitz war die Erkenntnis in ihn eingeschlagen, daß Trudchens Zukunft mit seinem Schicksal verkn�pft war. Sie war das Opferlamm, das f�r ihn geschlachtet werden sollte. Als er in den Krieg zog, war er fast noch ein Knabe und sie ein kleines M�dchen. Und als er jetzt zur�ckkehrte, hatte sein k�rperlicher Zustand ihn so niedergedr�ckt, daß er f�r ihre frische, jugendliche Sch�nheit kein Interesse aufzubringen vermochte. Ihre herzliche F�rsorge hatte er wie etwas Selbstverst�ndliches hingenommen. Ihre Besuche galten doch nur der Großmutter, an die sie sich in Liebe angeschlossen hatte. Und nun sollte er weg und das Feld dem Polen �berlassen? Gewiß, Lubomierski war kein �bler Mensch. Gebildet, gewandt, bekleidete er trotz seiner Jugend schon ein hohes Amt und w�rde wahrscheinlich noch weiter emporsteigen.
War es denn ausgeschlossen, daß Gertrud gegen diese Vorz�ge unempfindlich war, daß sie seine Neigung erwiderte und ihr Deutschtum einer gl�cklichen Ehe zum Opfer brachte? Was ging das ihn an? Weshalb bereitete ihm dieser Gedanke Pein? Was hatte er f�r ein Recht, sich dar�ber aufzuregen, daß ein deutsches M�dchen einen Polen heiratete? Das w�rde wohl ebensooft eintreten, wie daß ein Deutscher eine Polin zur Ehe bezehrte, wie er es bei Joseph erlebt hatte. Erst gegen morgen schlief er so fest ein, daß ihn das M�dchen nur durch heftiges Klopfen zu erwecken vermochte.
Auf dem Bahnhof traf er Ritter, der sich in Gegenwart der Bahnbeamten verwundert anstellte, mit ihm zusammenzutreffen. Sie bestiegen ein Abteil zweiter Klasse, in dem sie allein blieben. Als der Zug sich in Bewegung setzte, beugte sich Ritter vor und ergriff seine Hand. „Nun danken Sie Gott, daß Sie aus der H�hle der L�wen entronnen sind.“
„Aber, Herr Ritter, wir leben doch in einem Staat, der sich zu den europ�ischen Kulturnationen z�hlt.“
„So, meinen Sie? Man hat Rußland f�lschlich als Halbasien bezeichnet. Es war ein richtiges Asien, nur etwas �bert�ncht. F�r die Polen m�ßte man sich noch eine andere Bezeichnung ausdenken. Der Russe war wenigstens so ehrlich, das zu tun, was man von ihm mit einem H�ndedruck verlangte. Der Pole nimmt das Geld und lacht einen aus. Der Russe hielt versch�mt eine Hand nach hinten und ließ sie sich f�llen. Der Pole streckt beide wie Schaufeln nach vorn und z�hlt, was man ihm hineinlegt.“
„Und Lubomierski?“ warf Robert ein.
„Das ist ein weißer Rabe,“ erwiderte Ritter achselzuckend, „und außerdem zieht er einen Wechsel auf die Zukunft.“
„Werden Sie diesen Wechsel einl�sen?“
Ritter hob die H�nde und drehte die inneren Fl�chen nach oben. „Lieber Robert, ein Chilef ist ein Chalef. Er wird auch nicht auf mich gezogen, sondern zun�chst auf meine Gertrud.“
„Glauben Sie, daß sie ihn einl�sen wird?“
„Bin ich ein Prophet?“ erwiderte Ritter, der oft in eine j�delnde Sprechweise verfiel. „Soll ich nein sagen, wenn Gertrud den jungen Mann nehmen will?“
„Na ja,“ gab Robert etwas scharf zur Antwort. „Es ist immerhin etwas wert, wenn man einen hohen polnischen Beamten zum Schwiegersohn bekommt.“
Ritter setzte eine b�se Miene auf. „Robert, was geht das eigentlich Sie an? Habe ich mir f�r Sie den Pelz zerrissen, um mir von Ihnen Grobheiten sagen zu lassen?“
„Nein, nein, Herr Ritter, es ist mir nur so herausgefahren. Es w�rde mir leid tun, wenn ein so pr�chtiges, deutsches M�dchen durch ihre Heirat mit einem Polen ihr Deutschtum verlieren w�rde.“
„Sind Sie dessen so sicher? Ich w�rde eher annehmen, daß meine Gertrud aus dem Polenj�ngling einen verst�ndigen Deutschen macht.“ Robert zuckte die Achseln und schwieg. Kurz daraus bremste der Zug und hielt in Fraustadt.
Ritter stand auf. „Kommen Sie, Robert! Daß Sie nicht noch im letzten Augenblick verhaftet worden sind, wollen wir dadurch feiern, daß wir einen echten deutschen Weinbrand verhaften, und dann fahren wir nach Werben weiter. Das �rztliche Attest und der Brief des braven Kreisarztes waren Mumpitz. Sie sind ebenso gesund wie ich. Sie brauchen in kein Sanatorium zu gehen. Sie bleiben auf meinem Gut, Ihre Großmutter ist damit einverstanden. Und Sie werden sich da fleißig in der Wirtschaft bet�tigen.“
Es war, als wenn Ritter schon alles vorbereitet hatte. Ein Gep�cktr�ger erschien im Abteil und belud sich mit Roberts Handgep�ck. Ein zweiter ließ sich den Schein �ber das große Gep�ck geben. An dem Schanktisch im Wartesaal standen schon zwei Glas Kognak eingeschenkt. Dann f�hrte sie der Wirt in den kleinen Wartesaal zweiter Klasse, wo schon eine Flasche Sekt im Eisk�bel stand.
Ritter streckte, vergn�gt lachend, Robert die Hand hin. „Nun wollen wir mal Ihre R�ckkehr nach Deutschland mit einem Glas Knallk�mmel begießen, mein lieber Robert. In einer Stunde weiß die alte Gn�dige und Trudchen, daß ich Sie ungef�hrdet �ber die Grenze gebracht habe. Ihre Großmutter wollte Sie durchaus zum Bahnhof begleiten. Ich habe es ihr durch Gertrud widerraten lassen, und sie hat es eingesehen. Es wundert mich nur, daß Herr Wolschl�ger nicht auf dem Bahnhof war.“
„Das verstehe ich alles nicht,“ stammelte Robert betreten.
„Dann will ich es Ihnen erkl�ren. Dieser edle Pole mit dem merkw�rdigen Namen wollte Ihnen ans Leder. Sie w�ren ebenso wie der Joseph in einem polnischen Gef�ngnis auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Dem haben wir eine große Nase gedreht, und der Lubomierski hat wacker dabei mitgeholfen. Er hat ihn auf meine Kosten heute nacht so heftig unter Alkohol gesetzt, daß er das Aufstehen vergessen hat. Prost!“
Elftes Kapitel
Die alte Gn�dige saß gerade beim Morgenkaffee, als der Agent mit sechs Mann auf den Hof marschierte. Die Kerle waren mit abgetragenen grauen Uniformen bekleidet, die aus deutschem Besitz stammten und in ihrer Beschaffenheit einer f�nften Garnitur entsprachen. Nur zwei hatten einen Riemen an ihrem Gewehr, die andern trugen es an einer Schnur �ber der Schulter. Was ihr milit�risches Aussehen noch besonders unterstrich, war die Tatsache, daß sie barfuß marschierten. Es schien, als wenn die sparsame, polnische Verwaltung im Sommer eine Fußbekleidung f�r �berfl�ssig erachtete.
Der Vogt Kowalski begleitete den Agenten schon vom Hoftor an und war mit ihm in eine scharfe Auseinandersetzung geraten. Er begleitete ihn auch auf die Veranda zum Gutshaus empor, w�hrend die Soldaten sich unten aufstellten. Frau Esther stand schon auf der Freitreppe. Mit barschem Ton verlangte der Agent, der einen eleganten Anzug trug, w�hrend die Sauberkeit seiner W�sche alles zu w�nschen �brigließ, in schlechtem Polnisch Herrn Robert Dalkowski zu sprechen.
„Mein Enkel ist verreist,“ erwiderte die alte Gn�dige auf deutsch.
„Das glaube ich Ihnen nicht,“ erwiderte der Agent h�hnisch l�chelnd.
„Das ist doch mehr als unversch�mt,“ polterte der Vogt los, der mit geballten F�usten zwischen dem Polen und seiner Herrin stand.
Frau Esther wies ihn mit einer Handbewegung zur�ck. „Mischen Sie sich nicht ein, Kowalski. Gehen Sie an Ihre Arbeit. Ich werde mit diesem Herrn allein fertig werden!“ Sie wandte sich an den Agenten. „Ich weiß weder, wer Sie sind, noch was Sie berechtigt, mit bewaffneten Menschen meinen Hof zu betreten. Haben Sie einen Ausweis bei sich, der Sie dazu erm�chtigt?“
„Was, Sie wissen nicht, wer ich bin,“ erwiderte der Pole heftig. „Ich bin der Bevollm�chtigte der Defensive, der obersten milit�rischen Beh�rde. Ich habe den Auftrag, Herrn Robert Dalkowski wegen Landesverrat und Spionage zu verhaften.“
„Da sind Sie zu sp�t aufgestanden. Mein Enkel ist bereits mit dem ersten Zug �ber die Grenze gefahren.“
In sichtlicher Verbl�ffung br�llte der Agent: „Wie ist das m�glich? Wohin ist er gefahren?“
„Ich habe es zwar nicht n�tig, es Ihnen zu sagen, aber es ist ja kein Geheimnis. Mein Enkel ist auf �rztliche Anordnung nach Bad Altheide in Schlesien gefahren. Sie m�ssen sich also mit der Anklage gedulden, bis er wieder zur�ckkehrt.“
Der sarkastische Ton, mit dem die alte Gn�dige antwortete, trieb dem Agenten das Blut zu Kopf. Er schwieg einen Augenblick, dann schnauzte er die alte Dame in heftigster Weise an. Diesmal merkw�rdigerweise auf deutsch. „Auf Ihrer Ortstafel steht unter dem richtigen Namen Twardowo noch `fr�her Hartenau'. Das wird sofort entfernt.“
Die alte Gn�dige faßte den Vogt, der sich vorbog, als wollte er sich auf den Widersacher seiner Herrin st�rzen, am �rmel und zog ihn zur�ck. Mit strengem Ton befahl sie: „Kowalski, gehen Sie weg, Sie haben hier nichts zu suchen.“ Der Vogt gehorchte, aber nur zum Teil. Er blieb an der Treppe stehen. Dann wandte sich Frau Esther an den Agenten. „Die beiden Worte sind mit ausdr�cklicher Erlaubnis des Herrn Kreischefs auf meine Ortstafel gekommen. Sie m�ssen sich also an den Herrn Kreischef wenden, wenn Sie eine �nderung vornehmen wollen. Zu befehlen haben Sie mir nichts.“
„Das wird sich ja bald herausstellen,“ erwiderte der Agent w�tend, drehte sich kurz um und ging die Treppe hinunter.
Der Vogt wollte ihm folgen, Frau Esther rief ihn zur�ck. „Du alter dummer Kerl du. Du h�ttest bald Unheil angerichtet.“
Mit verbissener Wut erwiderte der alte Mann: „Der Kerl w�re nicht lebendig vom Hof gekommen, wenn er den jungen Herrn angetroffen und verhaftet h�tte. Und seine sechs Schaschken auch nicht. Unsere Knechte stehen schon mit den Forken in den Stallt�ren.“
„Um Gottes willen, Kowalski!“ rief die Gn�dige erschreckt.
„Meinen Sie, gn�dige Frau, wir w�rden unsern jungen Herrn fortschleppen lassen, wie sie meinen Jungen weggeschleppt haben?“ erwiderte der Alte grimmig. „Gn�dige Frau m�ssen es gleich dem Kreischef melden.“
Bei Frau Esther kam die Erregung erst hinterdrein, als es ihr bewußt wurde, welcher Gefahr Robert entronnen war. Als sie sich beruhigt hatte, versuchte sie den Kreischef anzurufen. Als sie die Auskunft erhielt, er sei weggefahren, sah sie von einer Mitteilung des Vorgefallenen ab.
Gegen Mittag kam Trudchen. „Robert ist mit Vater wohlbehalten und unangefochten �ber die Grenze und in Werben angekommen. Ich habe sie schon gesprochen. Beide lassen vielmals gr�ßen. Robert wird also vorl�ufig in Werben bleiben.“
„Aber Kind, wie ist es m�glich, daß du �ber die Grenze Fernsprechverbindung erh�ltst?“
Trudchen l�chelte. „Das ist unser Geheimnis. Dir kann ich es ja sagen. Vater hat rechtzeitig f�r eine Geheimverbindung gesorgt.“
„Das ist zwar sehr bequem, aber auch sehr gef�hrlich. Wenn das entdeckt wird, kann man deinem Vater einen Strick daraus drehen. Inzwischen war der Agent hier, um Robert zu verhaften.“
„Das weiß ich schon und habe es schon nach Werben gemeldet.“
Am Nachmittag rasselten der Agent und der Starost aneinander. Der Agent br�llte so, daß es durch das ganze Geb�ude schallte. Er beschuldigte den Kreischef, daß er dem fr�heren deutschen Offizier, der wegen Landesverrat und Spionage verhaftet werden sollte, zur Flucht �ber die Grenze verholfen habe. Der junge Kreischef erwiderte beherrscht, aber nicht minder scharf, das w�re eine schwere Beschuldigung, gegen die er sich mit allen Kr�ften wehren w�rde. Auf eine pers�nliche Genugtuung m�sse er wegen Wolzlegiers Vergangenheit verzichten.
Nun geriet der Agent in eine solche Wut, daß er sich heiser schrie und seine Stimme �berschnappte. „Sie sind der Regierung schon lange wegen Ihres Verhaltens gegen die Deutschen verd�chtig. Diese Sache wird Ihnen das Genick brechen.“
„Das �berlassen Sie meiner Sorge,“ erwiderte der Starost.
„Sie sind ja kein Pole, Sie sind ja ein halber Deutscher,“ br�llte der Agent.
„Sie sind weder das eine noch das andere,“ gab der Kreischef in sarkastischem Ton zur Antwort. „Ich werde Ihnen auch noch eins verraten. Renegaten Ihrer Sorte werden nirgends hochgesch�tzt, auch bei uns nicht. Man benutzt sie, aber man verachtet sie. Und nun nehmen Sie die T�r in die Hand und machen Sie sie von draußen zu, sonst lasse ich Sie rauswerfen.“
In h�chster Wut br�llte der Agent: „Das werde ich Ihnen gedenken,“ und st�rmte hinaus.
Noch an demselben Abend fuhr der Starost nach Posen. Er fand alles in gr�ßter Aufregung, denn der Ausbruch des Krieges mit Rußland war t�glich, ja st�ndlich zu erwarten. Es herrschte schon eine Art Kriegszustand. Der Bahnhof war mit Z�gen �berf�llt, die Truppen an die Front bringen sollten. In den Straßen biwakierte Milit�r aller Gattungen.
Die einflußreichen Verwandten zeigten Lubomierski die kalte Schulter. Sie hatten jetzt gr�ßere Sorgen als das Schicksal des jungen Verwandten. Ja, sein Onkel riet ihm, mit dem Agenten eine Verst�ndigung zu suchen. Die Defensive sei in fieberhafter T�tigkeit.
Trotzdem wagte sich Lubomierski in die H�hle des L�wen, in das Amtsgeb�ude der Defensive. Er wurde von einem Major empfangen, dem er seinen Zusammenstoß mit Wolzlegier vortrug. Obwohl er das Zeugnis und den Brief des Kreisarztes vorlegte, f�hlte er deutlich, daß man sein Verhalten mißbilligte. Da nahm er seine Zuflucht zur List und versicherte, Dalkowski habe sich nicht nur bereit erkl�rt, in das polnische Heer einzutreten, sondern habe sich auch durch Ehrenwort verpflichtet, zur�ckzukehren, sobald es sein Gesundheitszustand gestattet.
Deshalb habe er im Interesse des Staates zu handeln geglaubt, wenn er Dalkowski die M�glichkeit gew�hrte, seine Gesundheit wiederherzustellen. Durch die Verhaftung w�re der t�chtige Offizier dem polnischen Heer jedenfalls verlorengegangen. Nun wurde er etwas freundlicher entlassen als empfangen, aber seine volle Rechtfertigung werde erst durch die R�ckkehr des Dalkowski stattfinden. Beim Verlassen des Geb�udes begegnete ihm Wolzlegier, der ihn zuerst etwas betroffen ansah, dann jedoch h�hnisch l�chelte und ihn mit �bertriebener H�flichkeit gr�ßte. —
Robert hatte sich zu dem Aufenthalt in Werben entschlossen, weil er sich ernstlich in der Landwirtschaft bet�tigen wollte. Sein Entschluß wurde gleich dadurch belohnt, daß er mit Trudchen telephonisch sprechen und ihr Gr�ße an die Großmutter auftragen konnte. Ritter fuhr schon am n�chsten Morgen nach Strelkau zur�ck, nachdem er seinem Verwalter Maschke ans Herz gelegt hatte, sich mit Roberts Ausbildung besondere M�he zu geben.
Einige Zeit verlief in Ruhe. Ab und zu ging Frau Esther abends, wenn Ritter nach der Stadt gefahren war, nach Strelkau, um mit Robert zu sprechen. Er erfuhr durch die deutschen Zeitungen mehr von der drohenden Kriegsgefahr als die Bewohner des polnischen Staates. Danach stand der Krieg unmittelbar bevor. Die Mittel dazu mußte sich der polnische Staat durch eine Zwangsanleihe beschaffen. Ritter ließ der alten Gn�digen durch Trudchen anempfehlen, einen großen Betrag zu zeichnen, was er bereits getan habe. Frau Esther lehnte es rundweg ab.
Einige Tage sp�ter erschien der Kreischef in Hartenau. Er wurde freundlich empfangen und erhielt eine Flasche Wein vorgesetzt. Erst berichtete er, daß es ihm gelungen sei, die Inschrift auf der Ortstafel „fr�her Hartenau“, deren Entfernung von dem Agenten verlangt worden sei, zu behaupten. Dann erst r�ckte er mit der Hauptsache heraus und legte der alten Gn�digen nahe, einen Betrag f�r die Staatsanleihe zu zeichnen, wie es Ritter und mehrere andere Großgrundbesitzer des Kreises bereits getan h�tten.
Frau Esther lehnte h�flich, aber bestimmt ab. Sie sei dazu nicht in der Lage. Was sie noch an Kapital in deutschen Papieren bes�ße, sei v�llig entwertet. Ihr Getreide sei ihr enteignet worden und so schlecht bezahlt, daß sie kaum imstande sei, ihre Wirtschaft aufrechtzuerhalten.
„Ich m�chte Ihnen, gn�digste Frau, nochmals in Ihrem eigenen Interesse dringend dazu raten, einen, wenn auch m�ßigen Betrag, zu zeichnen,“ erwiderte der Kreischef in sichtlicher Verlegenheit. „Ich w�re sonst gezwungen, mit einem Strafbefehl gegen Sie vorzugehen, dessen H�he dem Betrag entsprechen w�rde, den man von Ihnen f�r die Anleihe erwartet.“ Die alte Gn�dige sah ihn erstaunt, ja fassungslos an.
„Strafbefehl? Das d�rfte ja selbst im polnischen Staat nicht m�glich sein.“
Der Kreischef zuckte die Achseln. „Meine Regierung sieht darin eine Bekundung polenfeindlicher Gesinnung. Es d�rfte Ihnen nicht unbekannt sein, daß wir vor einem Krieg stehen, der die Zusammenfassung aller wirtschaftlichen Kr�fte des Landes erfordert. Davon d�rfen sich auch nicht die polnischen Staatsb�rger deutscher Abstammung ausschließen.“
„Es handelt sich also um einen Zwang, der gegen uns Deutsche ausge�bt werden soll,“ erwiderte Frau Esther ruhig. „Das ist f�r mich ausschlaggebend, ich werde keine Staatsanleihe zeichnen, sondern es auf einen Strafbefehl ankommen lassen.“
Der Kreischef erhob sich. „Es ist nicht meines Amtes, gn�digste Frau, Sie darauf hinzuweisen, daß Sie die schwierige Lage, unter der Sie leben, durch Ihre Weigerung versch�rfen.“
Auch Frau Esther erhob sich. „Auch wir erkennen Ihr wohlwollendes Verhalten an, Herr Kreischef, aber ich muß und will es auf einen Strafbefehl ankommen lassen.“
Noch einmal versuchte es Ritter pers�nlich, sie von ihrer Weigerung abzubringen. Ja, er erbot sich, ihr einen erheblichen Betrag f�r die Anleihe zur Verf�gung zu stellen und in ihrem Namen mit der Begr�ndung zu zeichnen, daß seine Nachbarin augenblicklich �ber keine Mittel verf�ge. Auch dieser Vorschlag wurde mit Dank, aber bestimmt abgelehnt. Die Folge war ein Strafbefehl, dessen H�he deutlich zeigte, wie hoch man die Leistungsf�higkeit der alten Gn�digen einsch�tzte. Sie war entschlossen, die zwangsweise Eintreibung �ber sich ergehen zu lassen. Sie erfolgte jedoch nicht, weil Ritter, ohne daß Frau Esther vorher etwas davon erfuhr, die Summe bezahlte. Das tat er nicht nur im Interesse seiner Nachbarin, der er die wirtschaftliche Sch�digung ersparen wollte, sondern auch mit R�cksicht auf Lubomierski, damit er nicht gezwungen war, gegen einen seiner Kreisinsassen mit Gewaltmaßregeln vorzugehen.
Der junge Beamte besaß einen viel weiteren Blick als die Machthaber in Posen und Warschau. Er hatte mit Recht darauf hingewiesen, daß sein Kreis, in dem der Großgrundbesitz in deutschen H�nden vorherrschte, den weitaus gr�ßten Anteil an Getreide geliefert hatte. Vom Kleinbesitz, der sein Getreide verf�tterte, war nichts zu holen. Deshalb hatte er auch nicht verhindern k�nnen, obwohl er in seinem Kreis wie ein kleiner K�nig herrschte, daß die Enteignung von deutschen Ansiedlern betrieben wurde. Sie erhielten als Entsch�digung f�r die 60 Morgen den l�cherlich geringen Betrag von 1200 bis 1500 Mark, wovon noch eine erhebliche Emigrantensteuer abgezogen wurde, und verließen Haus und Hof, den sie in schwerer Arbeit erworben hatten, als Bettler.
Ein Vorgehen gegen den Großgrundbesitz in deutschen H�nden, so wie es bereits in anderen Kreisen erfolgt war, hatte Lubomierski bis jetzt verhindern k�nnen. Das Verhalten der alten Gn�digen h�tte leicht den Anlaß dazu geben k�nnen. Er vermutete wohl nicht mit Unrecht, daß Wolzlegier f�rmlich darauf lauerte. Und in seinem fanatischen Haß gegen seine ehemaligen Landsleute w�rde er der polnischen Regierung als brauchbares Werkzeug erscheinen. Zur Zeit hatte diese jedoch schwerere Sorgen.
Der Krieg war ausgebrochen und die russischen Truppen machten auf beiden Fl�geln rasche Fortschritte. Besonders der Nordfl�gel drang so schnell vor, daß einige polnische Regimenter, um der Gefangenschaft zu entgehen, gezwungen waren, auf ostpreußisches Gebiet �berzutreten. Ritter und die alte Gn�dige erfuhren die Nachricht durch Robert. Ja, er wußte eines Tages zu berichten, daß die polnischen Regimenter, die sich aus Posen und Westpreußen rekrutierten und zum großen Teil aus ehemals deutschen Soldaten bestanden, die den Weltkrieg mitgemacht hatten, schwierig geworden waren, um nicht einen st�rkeren Ausdruck zu gebrauchen, weil sie andauernd in der Front standen, w�hrend die aus Kongreß-Polen und Galizien stammenden Regimenter fast nie ins Feuer kamen.
Davon erfuhr man in Polen selbst so gut wie gar nichts, daß die Russen mit ihrem Nordfl�gel schon direkt vor Graudenz und Thorn standen. Ritter, der sich eines Tages vor Freude �ber die russischen Erfolge die Nase etwas begossen hatte, konnte nicht dichthalten, sondern kramte in der Weinstube die Neuigkeiten aus, die in der Gesellschaft große Erregung ausl�sten.
Der Starost, der noch n�chtern war, fragte, woher er diese Nachrichten habe, und als Ritter unvorsichtigerweise erwiderte, er habe sie dr�ben �ber der Grenze erfahren, erkl�rte er, Ritter w�rde gut tun, solche Nachrichten, die er f�r falsch hielte, f�r sich zu behalten, sonst m�sse er ihm die Ausreiseerlaubnis entziehen.
Wolzlegier, der in derselben Weinstube an einem Nebentisch saß, horchte auf. Die Grenze wurde sch�rfer als je bewacht, weil viele Deutsche, die zum Heeresdienst eingezogen zu werden f�rchteten, heimlich nach Deutschland zu entkommen versuchten. Und er wußte, daß Ritter schon seit drei Wochen nicht �ber die Grenze gefahren war. Woher hatte er also diese Nachrichten? Unterhielt dieser Polenfreund geheime Beziehungen nach Deutschland hin�ber? Aber wie? Wenn er, Wolzlegier, dahinterkam, dann k�nnte er nicht nur dem Deutschen, sondern auch seinem Feind, dem Starost, einen vernichtenden Schlag versetzen.
Eine Woche sp�ter hatte sich das Kriegsgl�ck gewendet. Die Mitte der polnischen Front hatte standgehalten. Der Nordfl�gel der Russen, der sich ohne R�cksicht auf Nachschub von Proviant und Munition zu weit vorgewagt hatte, wurde zum R�ckzug gezwungen. Ja, der gr�ßte Teil der Nordarmee — etwa 52000 Mann — mußte, um nicht abgeschnitten zu werden, bei Johannisburg auf ostpreußisches Gebiet �bertreten.
Ohne Zweifel h�tte sich diese ansehnliche Macht auf ostpreußischem Boden festsetzen und dort erheblichen Widerstand leisten k�nnen. Aber nach den R�ckschlag war bei den Russen eine Kriegsm�digkeit ausgebrochen. Die Verb�nde hatten sich aufgel�st. Wie die L�mmer kamen die Russen, die meisten im Leinenanzug, abgerissen und barfuß, ohne Gewehre, die sie unterwegs fortgeworfen hatten, �ber die Grenze, die nur von unserem schwachen Grenzschutz besetzt war. Die Russen f�hrten nur noch wenige leichte Gesch�tze und Maschinengewehre mit sich, aber um so mehr Wagen aller Art vom feinsten Landauer bis zum Panjewagen, auf denen Verwundete lagen und Weiber hockten. Nur zwei Regimenter Kubankosaken, die vorz�glich ausger�stet und ausgezeichnet beritten waren, verweigerten beim �bertritt die Ablieferung ihrer Waffen und Pferde. In straffer Ordnung durchzogen sie die Steinstraße und Johannisburg bis in das Truppenlager von Arys, wo sie sich verschanzten und erst durch Hunger zur �bergabe gezwungen werden konnten. Die große Masse der Fußg�nger lagerte sich in der ersten Nacht in der großen Heide, schlachtete Pferde, grub den ostpreußischen Bauern die Kartoffeln aus und z�ndete sich Feuer an, an denen sie sich ihr Mahl bereiteten. In der kleinen Stadt Johannisburg kauften sie alle L�den aus, in denen es Brot, Fleisch oder Schuhwerk gab, denn Geld aller Art besaßen sie. Oder sie zogen von Haus zu Haus und bettelten um Brot und Nachtlager. Denn zweimal am Tage wurden sie von einem heftigen Gewitterregen durchn�ßt. Am n�chsten Morgen zogen sie weiter nach Arys.
Die Nachrichten von diesem Erfolg wurden nat�rlich in Polen sofort bekanntgegeben. In stolzer Zuversicht hoben die Polen ihr Haupt, w�hrend bei den Deutschen die Hoffnung auf eine Erl�sung durch die Russen schwand.
Zw�lftes Kapitel
Nach dem Frieden von Riga am 18. M�rz 1921 kannte der �bermut und die Verfolgungswut der Polen gegen die nationalen Minderheiten keine Grenzen mehr. Die Russen hatten ihre Anspr�che auf Ostgalizien aufgeben m�ssen.
Jetzt setzte dort die brutalste Knechtung der Millionen Ruthenen ein, denen zuerst die Schulen genommen wurden. Noch mehr waren den edlen Sarmaten die Deutschen verhaßt, deren Kultur und Wirtschaftslage zu den wertvollsten Besitzt�mern des jungen Staates geh�rten. Staatsm�nnliche Klugheit h�tte geboten, sie schonend und pfleglich zu behandeln. Das Gegenteil war der Fall. Mit besonderem Eifer zerst�rten die Polen den deutschen Bauernstand. Tausende und aber Tausende gingen am weißen Stabe ins Elend, d.h. nach Deutschland, das nicht imstande war und auch keinen Eifer zeigte, die Verdr�ngten und Vertriebenen so weit zu unterst�tzen, daß sie sich eine neue Existenz schaffen konnten. Das h�tte nur durch eine großz�gige Siedlungspolitik geschehen k�nnen, von der Deutschland weiter denn je entfernt war.
Der siegreiche Krieg hatte die Zentralgewalt in Warschau gest�rkt. Die Woywoden und Starosten, die meistens auf eigene Faust ihre Politik betrieben hatten, wurden straff an die Kandare genommen. Soweit sie gegen die Deutschen gerichtet gewesen war, wurde sie nicht nur gutgeheißen, sondern mit allem Nachdruck gef�rdert. Der widerstrebende Beamte, der eine schonende Behandlung der Minderheit f�r richtiger hielt, mußte sich ducken und kuschen.
So erging es auch Lubomierski. Eines Tages stellte sich Wolzlegier in einer neuen W�rde vor. Er war zum Kommissar der Regierung ernannt worden, der die Aufgabe hatte, die Enteignung der deutschen Siedler und die Aufteilung der deutschen G�ter vorzubereiten und durchzuf�hren. Es widerstrebte dem jungen Kreischef bei Amtshandlungen mitzuwirken, die seinem bisherigen Verhalten ins Gesicht schlugen. Er beantragte seine Versetzung, die ihm sehr schnell bewilligt wurde und fiel dabei die Treppe hinauf. Er wurde als Rat in die Regierung nach Posen berufen, wodurch er sozusagen kaltgestellt war.
Mit der Nachricht erschien er eines Tages in Strelkau, um sich zu verabschieden. Ritter, der es schon erfahren hatte, empfing ihn mit großer Freundlichkeit. Er w�nschte ihm Gl�ck zu der Bef�rderung, sprach aber gleichzeitig sein Bedauern �ber sein Scheiden aus.
„Ich kann Ihnen nur beistimmen,“ erwiderte Lubomierski freim�tig, „wenn Sie meinen Weggang bedauern. Mein Nachfolger hat ohne Zweifel die Aufgabe, eine andere Tonart gegen die Deutschen anzuschlagen. Er wird mit dem neugebackenen Regierungskommissar, Herrn Wolzlegier, Hand in Hand gegen die Deutschen weiter vorgehen.“
„Wissen Sie schon, wer Ihr Nachfolger sein wird?“ fragte Gertrud, die Lik�r und Wein gebracht hatte.
„Ich glaube zu wissen, daß es ein Techniker Sznayda sein wird, dessen Verdienst darin besteht, daß sein Großvater, der fr�her Schneider hieß, ein polnischer General in der Revolutionszeit gewesen ist.“
„Also auch ein Renegat,“ meinte Ritter.
„Das k�nnten Sie in diesem Fall nicht sagen,“ erwiderte Lubomierski. „Es gibt auch unter den Deutschen viele mit echt polnischen Namen, wie z. B. Frau Dalkowski auf Hartenau, deren Vorfahren vor einigen Generationen ihre Nationalit�t gewechselt haben. Wie geht es �brigens Herrn Dalkowski?“
„Soweit wir unterrichtet sind,“ erwiderte Ritter, „gesundheitlich ganz gut. Jetzt lernt er auf meinem Gut in Werben die Landwirtschaft.“
„K�nnte der Herr nicht einen anderen Beruf w�hlen?“ fragte Lubomierski.
„Weshalb denn?“
„Er wird wohl kaum in die Lage kommen, Hartenau zu bewirtschaften.“
Ritter gab seiner Tochter einen Wink, sie allein zu lassen, indem er sie bat, f�r das Abendbrot zu sorgen. Herr Lubomierski werde hoffentlich die Einladung nicht ausschlagen, den Abend ihnen zu schenken. Als Trudchen gegangen war, fragte Ritter eindringlich: „Glauben Sie wirklich, daß man so scharf und schroff gegen uns vorgehen wird?“
„Gegen Sie vielleicht nicht, wenn Sie recht kr�ftig mit dem Daumen wackeln.“
Herr Ritter schnitt ein Gesicht. „Das wird ein sehr saurer Apfel werden, in den ich beißen muß. Und Sie meinen, der neue Kreischef wird f�r eine Lapowka empf�nglich sein?“
„Soviel ich geh�rt habe, sehr! Aber er soll nicht billig sein. Der alten Dame in Hartenau wird es wohl bald sehr schlecht gehen. Der fr�here Agent, Herr Wolzlegier, wird sich daf�r r�chen, daß sie ihn bei seinem mißgl�ckten Anschlag auf ihren Enkel so schlecht behandelt hat. Ihnen m�chte ich raten, einige Außenschl�ge freiwillig dem Herrn Kommissar anzubieten. Das w�rde die alte Gn�dige in Hartenau wahrscheinlich nicht tun. Es h�tte auch keinen Zweck. Der Wolzlegier geht aufs Ganze.“
Ritter wiegte den Kopf hin und her. „Das wird viel b�ses Blut machen, und es ist auch — verzeihen Sie unter vier Augen das harte Wort — das D�mmste, was Ihre Regierung tun kann, wenn sie die Deutschen verdr�ngt. Es liegen doch schon die Beweise vor, daß bei Ihren Siedlern, die Sie einsetzen, sofort das beginnt, was wir polnische Wirtschaft zu nennen pflegen. Der Acker wird liederlich bestellt und wenig ged�ngt, das Vieh verkommt in Schmutz.“
Lubomierski wurde rot und zuckte die Achseln. „Ich kann Ihnen leider nicht unrecht geben, aber der Haß meiner Landsleute gegen die Deutschen kennt keine Grenzen.“
Ritter lachte kurz und hart auf. „Ja, leider. In meinen Ohren klingen noch die Lieder wider, die mein Vater zur Laute sang: `Denkst du daran, mein tapferer Lagienka?' Nirgends hat der Pole wohl unter der russischen Knechtschaft so viel Sympathie gefunden wie in Deutschland. Und wer hat Ihnen denn den neuen Staat geschaffen? Unser damaliger Reichskanzler, der aller staatsm�nnischen Einsicht bar war wie alle M�nner, die damals bei uns in der Regierung saßen. Er wollte einen Pufferstaat zwischen Deutschland und Rußland schaffen. Zwischen Rußland, das auch unter dem Sowjet unser nat�rlicher Verb�ndeter w�re und sein m�ßte. Er ließ sich von den �sterreichern bet�lpeln und verf�hren, die sich mit der kindischen Hoffnung trugen, das neue Polenreich sich einzuverleiben. Verzeihen Sie, Herr Lubomierski, diesen Ausbruch meiner Gef�hle. Ich wollte Ihnen nicht weh tun.“
„Sie tun mir gar nicht weh, Herr Ritter,“ erwiderte der junge Mann. „Meine hohen Verwandten, die, wie Sie aus meinem Namen entnehmen k�nnen, K�nigsblut in ihren Adern tragen, wenn der Ursprung auch nicht gerade r�hmlich ist, geh�ren wie ich der Aktivistenpartei an, die von vornherein f�r ein enges Zusammengehen mit Deutschland gewesen ist. Vielleicht ringt sich bei uns noch mal die Erkenntnis durch, aber erst, wenn es zu sp�t sein wird.“
„Der Fehler war bei Friedensschluß mit Rußland noch wieder gutzumachen, wenn unsere Milit�rpartei nicht so verblendet gewesen w�re. Wir brauchten den Russen nur Polen wiederzugeben. Aber das hat jetzt keinen Zweck mehr, die Fehler der Vergangenheit zu bejammern. Ich w�nschte nur, Ihr Staat h�tte viele so vern�nftige Beamten wie Sie und Ihre Partei k�me bald an die Regierung. Auf jeden Fall danke ich Ihnen, wie ich wohl sagen darf, auch im Namen meiner Landsleute, die Sie mit Bedauern scheiden sehen.“
Er stand auf und sch�ttelte dem jungen Mann die Hand. �ber das Gesicht des Kreischefs flog eine leichte R�te.
„Ich danke Ihnen herzlich f�r Ihre Anerkennung, aber, Herr Ritter, ich bin noch in Ihrer Schuld. Sie haben mir �fter mit großen Betr�gen beim Jeuen ausgeholfen. Ich bin augenblicklich nicht in der Lage, Ihnen die Summe wieder zur�ckzugeben.“
„Wollen Sie mich zum Abschied noch erz�rnen?“ erwiderte Ritter mit grimmiger Miene. „Die Kleinigkeiten sind reichlich damit abgegolten, was Sie mir in dieser Zeit an Gef�lligkeiten erwiesen haben. Da stehe ich noch reichlich in Ihrer Schuld. Bitte, kein Wort weiter dar�ber!“ L�chelnd f�gte er hinzu: „Sie werden es mir nicht �belnehmen, wenn ich sage, daß ich jetzt nicht so billig wegkommen werde.“ Er hob sein Glas und stieß mit dem jungen Mann an. „Und vergessen Sie uns nicht ganz, Herr Lubomierski. Sie werden in Posen tiefer in das innere Getriebe der polnischen Politik hineinsehen als hier. Dann rechne ich darauf, daß ich mir bei Ihnen mal eine gute Auskunft und Rat einholen kann.“
„Das ist selbstverst�ndlich, Herr Ritter.“
Sie hatten es beide geh�rt, daß ein Wagen auf den Hof rollte, und wandten sich zum Fenster. Ein eleganter Landauer, mit zwei Oldenburger Rappen bespannt, fuhr vor, und heraus stieg Herr Kommissar Wolzlegier.
„Das ist doch schon eine Beute aus seiner neuen T�tigkeit,“ rief Ritter und eilte hinaus auf die Diele, um den Herrn Kommissar zu empfangen. Mit tiefer Verbeugung begr�ßte er den neuen Gast. „Herzlich willkommen, Herr Kommissar. Der aufgehende Stern trifft den untergehenden. Herr Lubomierski ist hier, um sich zu verabschieden. Bitte, treten Sie n�her.“ In Ritters freundlicher Miene war kein Arg zu lesen. Er �ffnete die T�r zum Wohnzimmer, wo sich die beiden Polen mit einer gemessenen Verbeugung begr�ßten.
„Der Herr Kreischef oder, wie man wohl schon sagen muß, Herr Regierungsrat hat mir die Ehre erwiesen, meine Einladung zum Abendbrot anzunehmen. Darf ich hoffen, daß auch Herr Kommissar mir die Ehre antun werden?“
„Ich werde Ihre Einladung annehmen, wenn Sie sich unserer Sprache bedienen wollen,“ erwiderte Wolzlegier in unh�flichem Tone.
„Wie Sie w�nschen,“ gab Ritter auf polnisch zur�ck. „Aber ich bitte, R�cksicht zu nehmen, ich spreche nicht so gut polnisch wie Sie deutsch.“
Der Kommissar schien die versteckte Bosheit nicht zu empfinden, w�hrend Lubomierski sich umwandte, um sein L�cheln zu verbergen. Ohne Umst�nde warf sich der Herr Kommissar in einen Sessel und streckte die Beine von sich. Inzwischen hatte ein M�dchen frische Gl�ser gebracht, die der Hausherr f�llte. „Ich erlaube mir, Sie freundlichst zu begr�ßen. Was verschafft mir das Vergn�gen Ihres Besuches?“
„Keine besondere Veranlassung. Ich wollte nur ein Viertelst�ndchen mit Ihnen plaudern. Sie sind �ber alle Vorg�nge in der Welt immer so gut unterrichtet, daß man von Ihnen mehr erf�hrt als Beamte von unserer Regierung.“
Gertrud, die eingetreten war, um zum Essen zu bitten, durchzuckte ein pl�tzlicher Argwohn. Sie erinnerte sich an einen Abend, als Ihr Vater etwas angeheitert aus der Stadt kam, da hatte er ihr lachend erz�hlt, daß er die Herren Polen durch die Nachricht der polnischen Niederlage in Erstaunen gesetzt h�tte. Das schien den Kommissar mißtrauisch gemacht zu haben.
„Mein Vater liest dr�ben, wenn er in Werben ist, deutsche Zeitungen und pumpt sich voll Neuigkeiten, die er immer noch hier los wird, wenn sie auch schon reichlich alt sind,“ fiel sie lachend ein. „Aber nun bitte ich zu Tisch.“
Wolzlegier sprach dem guten Rotwein, den Ritter ihm fleißig einschenkte, eifrig zu und wurde bald etwas redselig. Er sagte zuerst Gertrud faustdicke Schmeicheleien �ber ihre Kochkunst, w�hrend Lubomierski einsilbig neben ihr saß und sich �ber ihn �rgerte. Schließlich begann der Kommissar in brutaler Weise zu prahlen. Er werde im Kreise jetzt gr�ndlich aufr�umen und reinen Tisch machen, wie es von der Regierung angeordnet worden sei. Erst k�men die deutschen Siedler und Bauern heran, sie h�tten gar keinen Nutzen f�r den Staat. Sie h�tten w�hrend des Krieges kein Getreide und wenig Vieh geliefert. Dann k�men die Großgrundbesitzer an die Reihe.
Man h�rte ihm schweigend zu, um ihn nicht zu reizen. Bald nach dem Abendbrot verabschiedete sich Lubomierski und n�tigte dadurch auch den Kommissar zum Aufbruch. W�hrend dieser noch um einen Kognak bat und erhielt, reichte der junge Mann Gertrud die Hand. „Werden Sie mir ein freundliches Andenken bewahren, gn�diges Fr�ulein?“
„Ja, Herr Lubomierski. Wir werden immer freundlich an Sie denken. Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet.“ Er beugte sich �ber ihre Hand und k�ßte sie mit innigem Druck seiner Lippen.
„Ich habe Ihnen auch sehr viel zu danken, und ich bitte noch um eins. Wenn Ihr Herr Vater einen Rat braucht, werde ich ihm stets zu Diensten stehen. Vielleicht kann ich ihm auch einmal einen Dienst erweisen. Vergessen Sie mich nicht ganz. Ich werde Sie nie vergessen. Ich nehme Ihr Bild in meinem Herzen mit mir.“
Als die G�ste weg waren, teilte Gertrud ihrem Vater ihre Bef�rchtungen mit, daß der Kommissar eine geheime Verbindung zwischen Strelkau und Werben argw�hne. Ritter tat ihre Worte mit einer Handbewegung ab. „Da kann er lange suchen, bis er dahinterkommt. Ich habe jetzt andere Sorgen. Der Sznayda soll ein ganz fanatischer Bursche sein. Ich muß trotzdem an ihn heranzukommen versuchen. Die Lapowka, die er nimmt, wird wohl nicht ganz klein sein d�rfen. Der Kommissar wird billiger sein. Ich werde morgen in die Stadt fahren und freiwillig meine Außenschl�ge zur Besiedlung anbieten. Wahrscheinlich werde ich auch abends dem Wolzlegier die Gurgel mit Rotwein vollgießen m�ssen.“
Gertrud umfaßte ihn und lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Beschwips' dich aber nicht dabei und plaudere keine Nachrichten aus.“
Mit Nachrichten, die den polnischen Beamten neu und interessant sein mußten, war Ritter reichlich geladen, denn Trudchen, die t�glich mit Werben sprach, ließ sie sich von Robert mitteilen, der stets schon sehns�chtig am Fernsprecher auf ihre Stimme wartete. Er hatte große Sehnsucht nach der Großmutter und noch mehr nach Trudchen. Er wollte gerne, wenn auch nur f�r ein oder zwei Tage, zu Besuch nach Hause kommen. Der Krieg sei doch zu Ende und siegreich f�r Polen verlaufen. Nun werde man wohl kein zu großes Gewicht darauf legen, daß er polnischer Offizier w�rde.
Als er fast jeden Tag auf diesen Gedanken zur�ckkam und schließlich die Absicht aussprach, im geheimen �ber die gr�ne Grenze zu kommen, teilte ihm Trudchen mit, was sie ihm bisher absichtlich verschwiegen hatte, daß er noch am Tage seiner Abreise von dem Agenten verhaftet worden w�re, wenn er noch in Hartenau gewesen w�re. Auf ihre Bitte versprach er ihr, den Gedanken aufzugeben und sein Heimweh zu bezwingen.
Ritter kam am n�chsten Abend recht sp�t nach Hause. Er hatte dem Kommissar die freiwillige Abtretung seiner Außenschl�ge angeboten und mit ihm einen gewichtigen H�ndedruck gewechselt, ehe er ihn in die Weinkneipe f�hrte. Dort erschien auch Lubomierski mit seinem Nachfolger, der sich beim Wein ganz umg�nglich zeigte und Ritter versicherte, man wisse seine Polenfreundlichkeit zu sch�tzen. Ja, er versprach einen baldigen Besuch in Strelkau, wenn er die Gesch�fte �bernommen habe. Der bisherige Kreischef hielt sich v�llig zur�ck. Er hatte das Gef�hl, daß er von den beiden trotz seiner Bef�rderung als gefallene Gr�ße und abgetan betrachtet wurde.
Was Ritter f�r die alte Gn�dige bef�rchtet hatte, trat bald ein. Eines Tages erschien der Kommissar mit einem Stab von Helfern und Meßger�ten und teilte das Gutsgel�nde in der Gr�ße von Bauernstellen ein. Er hielt es nicht f�r n�tig, die Gutsherrin von diesem Vorgang zu benachrichtigen. Der alte Vogt erschien in großer Aufregung mit der Meldung. Ob man sich das gefallen lassen m�ßte? Frau Esther beruhigte ihn und nahm ihm das Versprechen ab, sich nicht um die polnische Gesellschaft auf dem Felde zu k�mmern. Am n�chsten Morgen erhielt sie von dem neuen Kreischef den schriftlichen Befehl: die Inschrift „fr�her Hartenau“ auf ihrer Ortstafel unverz�glich zu entfernen, widrigenfalls sie in Strafe genommen werden w�rde.
Trudchen mußte auf ausdr�cklichen Wunsch der alten Gn�digen diese Tatsache Robert mitteilen, mit der dringenden Bitte, nicht nach Hause zu kommen, er k�nne ihr doch nicht helfen. Sie werde sich bis zum �ußersten wehren. Seine R�ckkehr w�rde die Gefahr vergr�ßern. Erst als Trudchen von sich aus die Mahnung wiederholte und ihn bat, sich nicht in Gefahren zu begeben, er m�sse sich der Großmutter erhalten, versprach er schweren Herzens, nicht nach Hause kommen zu wollen. Sie d�rfe ihm jedoch nichts verheimlichen, was sie ihm auch versprach.
Dreizehntes Kapitel
Es war, wie Ritter behauptete, als wenn das Wetter im Himmel von einem kleinen Jungen gemacht w�rde, der nichts von der Landwirtschaft verstand. Im Fr�hjahr hatte nasse K�lte das Emporkommen der Saaten verz�gert, dann setzte ein Ostwind ein, der wochenlang mit unverminderter St�rke wehte. Mit Unterst�tzung der Sonne, die Tag f�r Tag �ber den wolkenlosen Himmel wanderte, d�rrte er das Erdreich so aus, daß er große Staubwolken vor sich hertrieb. Endlich, als das Getreide schon anfing gelb zu werden, kamen ein paar warme Regentage.
Die Landwirte begannen wieder zu hoffen, denn das Getreide erholte sich �berraschend schnell, trieb die �hren hervor und bl�hte. Aber kaum hatte es K�rner angesetzt, als es vom Himmel zu gießen begann. Mit und ohne Gewitter entluden sich wahre Wolkenbr�che. Schon nach wenigen Tagen lag das Getreide wie angewalzt auf dem Boden. Ein starker Wind h�tte es wieder aufgerichtet, als endlich die Regentage aufh�rten. Aber es war, als wenn auf der ganzen Welt keine Nase voll Wind mehr vorhanden war. Unbeweglich stand die feuchte, schw�le Luft. Bald begann das lagernde Getreide zu faulen.
Es konnte kein Zweifel mehr daran sein, daß eine v�llige Mißernte bevorstand. Selbst das Heu, das mit vieler M�he hereingebracht worden war, roch dumpfig. Mit schweren Sorgen fuhr die alte Gn�dige mit ihrem W�gelchen auf dem Felde umher. So etwas war ihr in ihrem langen Leben noch nicht vorgekommen. Sie mußte sich sagen, daß sie, selbst wenn das Sommergetreide noch etwas brachte, nicht so viel ernten w�rde, wie sie f�r ihre Leute und ihr Vieh brauchte. Auch ihr Vogt war derselben Ansicht. Das plattgewalzte Getreide ließ sich nicht mit der Maschine m�hen, und es mit der Sense abzuhauen, dazu fehlte es an Arbeitskr�ften. Ja, es war fraglich, ob es sich �berhaupt lohnte, das Getreide vom Felde in die Scheune zu bringen.
Da weite Strecken des Landes von demselben Wetter betroffen waren, also auch viele kleinere Landwirte, die wirtschaftlich v�llig von dem Ausfall der Ernte abhingen, mußte man mit einer allgemeinen Not rechnen, die sich von Monat zu Monat versch�rfen w�rde. Auf Hilfe war nicht zu hoffen. Denn von wem sollte sie kommen? Von der Regierung? Die wußte ja selbst nicht, wie sie sich �ber Wasser halten sollte. Und wenn nun noch erhebliche Steuerbetr�ge ausfielen und auf keine Weise einzutreiben waren, dann w�rde es noch schlimmer werden. Die Franzosen mußten wieder pumpen. Aber, was verschlugen die Millionen, wenn Polen f�r den gr�ßten Teil des Geldes minderwertiges Kriegsmaterial geliefert erhielt?
Es war der alten Gn�digen in dieser schweren Zeit eine Beruhigung und ein Trost, daß sie sich zu Trudchen aussprechen konnte. Sie erschien regelm�ßig am Vormittag, wenn sie mit Robert gesprochen hatte, und brachte Gr�ße von ihm. Nach dem Kaffee kam sie wieder und blieb bis zum Abend. Ihr Vater vermißte sie nicht, denn er fuhr fast jeden Tag in die Stadt, wo er eifriger als je mit den Polen verkehrte, und er brachte immer Neuigkeiten mit, die Trudchen ihm am n�chsten Morgen entlockte.
Sehr oft sprach Frau Esther von ihrem Enkel. Sie wußte, daß das liebe M�dchen Robert in ihr Herz geschlossen hatte. Sie hatte ihn nicht nur gern, sondern sorgte sich um ihn. Sollte sie Robert gleichg�ltig sein? Die alte Frau spann oft und gern diesen Gedanken aus, aber sie h�tete sich, auch nur mit einem Wort ihre geheimen W�nsche zu verraten. Solche Dinge mußten, wie sie richtig meinte, in der Stille reifen, sie vertrugen keine vorzeitige Ber�hrung. Wie leicht konnte sie das innige Freundschaftsverh�ltnis, das sie mit diesem lieben M�del verband, st�ren?
Sp�tabends, wenn Trudchen nach Hause gegangen war, setzte sich Frau Esther noch an ihren Schreibtisch und rechnete. Dann erschien regelm�ßig der Vogt, um mit ihr die Arbeitsverteilung f�r den n�chsten Tag zu besprechen. Der große starke Mann war in den letzten Wochen sichtlich verfallen. Das graue Haar war schlohweiß geworden. Kummer und Sorge hatten es gebleicht, und noch mehr zehrte die Ungewißheit �ber den Verbleib und das Schicksal seines einzigen Jungen an ihm. In sich zusammengesunken saß er still auf einem Stuhl an der T�r und wartete, bis seine Herrin das Wort an ihn richtete. Der alte Mann besaß ein ruhiges, sicheres Urteil. Sie konnte ihm in jeder Hinsicht vertrauen und alles mit ihm besprechen. Sie verschwieg ihm nicht, daß es ihr unm�glich erschien, die Leute den Winter �ber durchzuhalten. Wenn das Getreide keine Einnahmen brachte, dann fehlte das Geld f�r die L�hne. Auch das Deputat an Getreide und Mehl w�rde kaum bis Weihnachten reichen. F�r die Herbstbestellung m�ßte neues Saatgut gekauft werden. Es blieb ihr nichts anderes �brig, als einen großen Teil ihres wertvollen Viehbestandes so schnell wie m�glich zu verkaufen.
Der Vogt widersprach. Das w�re eine S�nde, das sch�ne Vieh zu Schleuderpreisen zu verkaufen. Die R�benernte w�rde gut ausfallen, auch der zweite Schnitt Klee werde so viel bringen, daß sie das Vieh bis zum Fr�hjahr durchf�ttern k�nnten.
Zu diesen neuen Sorgen kamen noch die alten. Eines Abends brachte der Vogt die Nachricht, der Lehrer habe ein amtliches Schreiben vom Kreisamt erhalten, worin ihm verboten werde, die deutschen Kinder zu unterrichten. Am n�chsten Morgen erschien der Lehrer selbst mit dem Schreiben und fragte die alte Gn�dige um Rat, ob er sich diesem Befehl widerspruchslos f�gen m�ßte.
„Es wird Ihnen wohl nichts anderes �brigbleiben,“ erwiderte Frau Esther. „Auch ich hatte heute ein Schreiben erhalten, wonach alle Kinder der polnischen Schule zugewiesen werden. Wenn wir uns nicht f�gen, werden die Kinder zwangsweise der polnischen Lehrerin zugef�hrt.“
„Gibt es keine Gerechtigkeit auf Erden mehr?“ rief der Lehrer aus. „D�rfen beschworene Vertr�ge von diesem brutalen Volk mit F�ßen getreten werden? Wissen Sie, gn�dige Frau, worin die T�tigkeit dieser polnischen Lehrerin besteht? Sie l�ßt die Kinder Haßges�nge gegen Deutschland auswendiglernen und singen. Ist das nicht himmelschreiendes Unrecht, das Gem�t unserer Kinder in dieser Weise zu vergiften?“
Gegen Mittag erschien Trudchen mit der Nachricht, daß auch die Strelkauer deutschen Kinder der polnischen Schule in Hartenau zugewiesen seien. Der Vater sei w�tend, er rate aber, den Befehl auszuf�hren. Er werde morgen nach Posen fahren und versuchen, die Anordnung r�ckg�ngig zu machen, habe jedoch wenig Hoffnung, daß es ihm gelingen werde. Die polnische Regierung ginge systematisch darauf aus, die deutsche Unterrichtssprache zu vernichten.
Es kam so, wie Ritter vermutet hatte. Er hatte in Posen Lubomierski aufgesucht, um sich von ihm eine Empfehlung an den betreffenden Dezernenten der Regierung geben zu lassen. Die Bitte wurde ihm rundweg abgeschlagen. Das habe gar keinen Zweck. Er w�rde sich nur mißliebig machen und die Aufmerksamkeit der Regierung auf sich lenken.
Acht Tage sp�ter wurde der Lehrer ausgewiesen, weil er entgegen dem Verbot noch weiter deutsche Kinder unterrichtet habe. Das war richtig. Er hatte zwei begabte Knaben, die Lehrer werden wollten, in seiner Wohnung abends f�r die Pr�parandenanstalt vorbereitet. Frau Esther versah ihn mit etwas Geld. Auch Ritter schickte durch Trudchen einen ansehnlichen Betrag. Frau und Kinder sollten vorl�ufig in Hartenau bleiben, bis er in Deutschland eine Anstellung oder eine Besch�ftigung gefunden haben w�rde. Das war nur das Vorspiel. Wenige Tage danach wurde die alte Gn�dige auf das Kreisamt vorgeladen. Sie konnte beim besten Willen keinen Grund f�r diese Vorladung ausfindig machen, aber ihr mußte Folge geleistet werden. Als sie auf dem Amt erschien, wurde sie in das Wartezimmer gewiesen, das von polnischen Bauern und Arbeitern �berf�llt war. Der Raum war von einem �belriechenden dicken Qualm erf�llt, denn fast jeder rauchte eine kurze Pfeife oder drehte sich Papieroßen aus Machorka, der �belsten Tabaksorte, die es gibt. Sie prallte zur�ck und bat einen Beamten, ihr ein anderes Zimmer anzuweisen. Als er es in barschem Tone ablehnte, entschloß sie sich zu einer Lapowka, die ihr die Erlaubnis verschaffte, auf dem Flur stehenzubleiben. Sie mußte sich noch zu einem zweiten H�ndedruck entschließen, der ihr Einlaß zum Kreischef verschaffte. Er empfing sie mit einer H�flichkeit, die sie nicht erwartet hatte, und bot ihr einen Stuhl an.
„Ich m�chte Ihnen, gn�dige Frau, einen Wunsch aussprechen und die Erf�llung nahelegen.“ Auf ihren fragenden Blick fuhr er fort: „Ich m�chte Ihnen empfehlen, freiwillig f�r Deutschland zu optieren.“ Die alte Gn�dige sch�ttelte verwundert den Kopf.
„Wie komme ich dazu? Ich bin polnische Staatsangeh�rige geworden und gedenke es zu bleiben.“
„Es w�rde in Ihrem Interesse liegen, meiner Anregung Folge zu leisten,“ erwiderte der Kreischef mit verbindlicher Miene.
Frau Esther zuckte die Achseln. „Der Zweck, den sie dabei verfolgen, bleibt mir durchaus unverst�ndlich.“
„Sie werden ihn sofort erfahren, gn�dige Frau. Die Regierung hat die Absicht, Twardowo aufzuteilen, man w�rde Ihnen weit entgegenkommen, wenn Sie uns durch Ihre Option die Verhandlungen erleichtern wollten.“
„Sie haben sich damit an die falsche Adresse gewandt,“ erwiderte Frau Esther ruhig. „Hartenau geh�rt nicht mir, sondern meinem Enkel, der sich augenblicklich zur Wiederherstellung seiner Gesundheit in Deutschland aufh�lt.“
Der Kreischef l�chelte boshaft. „Die Ausreiseerlaubnis ist unter einem falschen Vorwand erschlichen. Wir sind genau dar�ber unterrichtet, daß sich Ihr Enkel gar nicht in das Bad Altheide begab, sondern sich seit seiner Ausreise auf einem Gut dicht an der polnischen Grenze aufh�lt. Wir wissen auch, daß seine Gesundheit nichts zu w�nschen �brigl�ßt. Da somit der Zweck seines Aufenthaltes im Auslande hinf�llig geworden ist, wird er gut daran tun, sobald als m�glich zur�ckzukehren.“
Frau Esther erschrak bei diesen Worten, sie beherrschte sich jedoch und erwiderte ruhig: „Es ist richtig, daß der Gesundheitszustand meines Enkels sich gebessert hat, deshalb hat er sich entschlossen, auf dem Gut, wo er sich jetzt befindet, l�ngere Zeit zu bleiben und die Landwirtschaft zu erlernen, um Hartenau dann selbst �bernehmen zu k�nnen.“
„Das widerspricht den Voraussetzungen, unter denen ihm die Ausreise und der Aufenthalt in Deutschland gestattet worden ist. Er wird gut tun, sehr bald zur�ckzukehren. Andernfalls w�rde er f�r fahnenfl�chtig erkl�rt werden.“
„Fahnenfl�chtig?“ fragte Frau Esther scharf. „Wie kann mein Enkel f�r fahnenfl�chtig erkl�rt werden?“
„Er hat sein Ehrenwort gegeben, sich nach Wiederherstellung seiner Gesundheit in das polnische Heer zu stellen.“
Jetzt konnte die alte Frau ihre Erregung nicht mehr verbergen. Ihre Stimme bebte. „Das muß ein Irrtum sein. Das hat mein Enkel nicht getan. Er hat das Ansinnen ausdr�cklich mit Hinweis auf seine Gesinnung abgelehnt.“
„Wenn das zutrifft, was Sie sagen, und ich habe keinen Grund daran zu zweifeln, dann wird das f�r meinen Vorg�nger b�se Folgen haben, denn er hat Ihrem Enkel zur Flucht ins Ausland verholfen. Die Folgen k�nnten nur dann ausbleiben, wenn Ihr Enkel sehr bald zur�ckkehrt und sich stellt.“
Frau Esther erhob sich. „Ich werde ihn �ber diese Sachlage unterrichten, habe jedoch keinen Einfluß auf seine Entschließung. Die von Ihnen geforderte Option lehne ich nach wie vor ab.“
Ihr kaum merkliches Kopfnicken erwiderte der Kreischef mit einer Verbeugung.
Als Trudchen eine Stunde sp�ter in Hartenau erschien, saß die alte Frau am Schreibtisch. Das Gesicht sah wie erstarrt aus. Die H�nde lagen regungslos im Schoß, vor ihr lag ein angefangener Bries. Trudchen schmiegte sich an sie. „Großchen, was ist vorgefallen, was hast du auf dem Kreisamt erfahren?“
Da legte die alte Frau ihre Arme um sie und zog sie an ihre Brust, die von verhaltenem Schluchzen bebte. „Etwas sehr Schlimmes, mein Kind. Ich wollte es Robert schreiben, es w�re aber besser, wenn ich ihn sprechen und es ihm m�ndlich sagen k�nnte. Wird das m�glich sein?“
„Aber selbstverst�ndlich, Großchen. Ich gehe voraus und werde die Verbindung herstellen, du kommst gleich nach. Der Vater ist nicht zu Hause. Betrifft es Robert? Was will man von ihm? Man kann ihm doch nichts anhaben.“
„Du wirst alles erfahren, wenn ich mit Robert spreche.“
Als Frau Esther eine Viertelstunde sp�ter in Strelkau erschien, war die Verbindung schon hergestellt. Robert wartete schon am Fernsprecher. Die Großmutter erz�hlte ihm m�glichst wortgetreu ihre Unterredung mit dem Kreischef. Erst nach einer Weile fragte Robert, ob sie glaubte, daß Lubomierski sich das M�rchen von seinem Ehrenwort ersonnen habe, um die Ausreiseerlaubnis zu rechtfertigen.
„Das ist nicht ganz ausgeschlossen,“ erwiderte Frau Esther, „aber das geht uns ja gar nichts an. Wenn der junge Mann wirklich das M�rchen in die Welt gesetzt hat, mag er auch die Verantwortung daf�r tragen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß Sznayda sich das M�rchen aus den Fingern gesogen hat, um mich damit zu �ngstigen.“
„Steht Trudchen neben dir, wie ich vermute?“ fragte Robert, „dann soll sie mir ihre Meinung sagen.“
Gertrud nahm das H�rrohr. „Ich stimme v�llig mit Großchen �berein. Es ist v�llig gleichg�ltig, wer dir das Ehrenwort angedichtet hat. Von Lubomierski finde ich es abscheulich, wenn er es getan hat. Ich m�chte es ihm kaum zutrauen.“
„H�ltst du es unter diesen Umst�nden nicht f�r richtig, wenn ich sofort nach Hause komme?“
„Nein, das w�re das D�mmste, was du tun k�nntest. Großchen wird es dir auch gleich sagen. Deine R�ckkehr kann ihr auch nichts helfen, sondern nur schaden.“
Frau Esther nahm das H�rrohr. „Trudchen hat recht, mein Junge. Ich verbiete dir, nach Hause zu kommen. Dank' du Gott, daß du in Sicherheit bist.“
„Aber wenn ich mich zum Eintritt in das polnische Heer stellen m�chte?“
„Das w�re Wahnsinn. Man wird dich nicht mehr in das Heer einstellen, selbst nicht mal als Gemeinen. Man wird dich verhaften und du wirst ebenso verschwinden wie der Joseph. Also mach' mir keine Dummheiten und b�rd' mir nicht eine neue große Sorge auf. Ich will dir ganz offen sagen, daß ich mich vor der Aufteilung unseres Gutes nicht f�rchte. Die Ernte ist so schlecht ausgefallen, daß es mir wahrscheinlich nicht m�glich sein wird, Hartenau zu halten. Es ist auch ganz ausgeschlossen, daß ich es jetzt verkaufen k�nnte. Wenn der Staat es mir abnimmt, muß er mir wenigstens etwas zahlen. Ich werde mich noch mit Nachbar Ritter besprechen und dir durch Trudchen weitere Nachricht zugehen lassen.“
Vierzehntes Kapitel
Der Kreischef hatte in seinem blinden Eifer seine Befugnisse �berschritten. Er konnte amtlich gegen die Besitzerin von Hartenau nichts unternehmen. Er brauchte dazu einen Mittelsmann, der mit einem Kaufangebot an sie herantrat. Der war augenscheinlich nicht aufzutreiben, denn dazu geh�rte immerhin ein bedeutendes Kapital, weil der K�ufer verpflichtet war, den Unterschied zwischen dem Kaufpreis und der amtlichen deutschen Sch�tzung des Gutes zu hinterlegen, wodurch sich die polnische Regierung gegen die Nachforderungen, die durch das Ausw�rtige Amt in Berlin erfolgten, sicherte.
Ritter hatte dem Kreischef das Konzept verdorben. Er erz�hlte in der Stadt, jedem, den er traf, von dem Vorstoß gegen Frau Dalkowski. Er verbreitete auch die Nachricht, die alte Gn�dige habe sich sofort mit einer Beschwerde an das Ausw�rtige Amt nach Berlin gewandt. Das war zwar nicht der Fall, aber Ritters Eingreifen hatte doch die Wirkung, daß Frau Dalkowski unbehelligt blieb. Herr Sznayda schien eingesehen zu haben, daß er sich zu weit vorgewagt hatte.
Im ganzen Kreis entstand eine Aufregung, als man erfuhr, daß der Starost durch die Bedrohung mit der Enteignung Frau Esther zu n�tigen versucht hatte, f�r Deutschland zu optieren. Auf diesem Wege konnte man ja alle Deutschen vertreiben und ihren Grundbesitz enteignen.
Die Mißernte und die heftige Aufregung ließen in Frau Esther den Gedanken aufkeimen, ob sie nicht gut daran t�te, den b�sen Handel, in dem sie verstrickt war, dadurch zu beschleunigen, daß sie wirklich f�r Deutschland optierte. Ritter, der durch Trudchen von dieser Absicht erfuhr, riet dringend ab. Das g�be nur ein b�ses Beispiel. Ein K�ufer werde sich wegen der Mißernte wohl schwerlich finden lassen. Auch Robert, der von Trudchen unterrichtet worden war, ließ die Großmutter bitten, auszuhalten und abzuwarten.
Er verschwieg jedoch, daß er mit der Absicht k�mpfte, zur�ckzukehren. Der Gutsverwalter Maschke, mit dem er dar�ber sprach, redete ihm zu. Er d�rfe Lubomierski nicht im Stich lassen, der sich so edelm�tig gegen ihn benommen und sich selbst gef�hrdete, als er Robert die Ausreiseerlaubnis erteilte. Daß er sich durch das M�rchen von dem Ehrenwort zu sch�tzen versucht habe, k�nne man ihm nicht �belnehmen.
Robert ahnte nicht, daß der Mann ihn weghaben wollte, weil er ihm unbequem war. Er hatte bis dahin etwas in die eigne Tasche gewirtschaftet und war jetzt durch Roberts Anwesenheit daran gehindert. In geschickter Weise wirkte er Tag f�r Tag auf Robert ein, um ihn in seiner Absicht zu st�rken. Seine R�ckkehr und der Eintritt in das polnische Heer seien das einzige Mittel, der alten Gn�digen Ruhe und Sicherheit zu verschaffen. Als Robert darauf erwiderte, er w�rde dadurch seine Großmutter in ihren heiligsten Gef�hlen aufs tiefste verletzten, meinte er: Paris w�re eine Messe wert gewesen und Hartenau jedenfalls dieses Opfer. Nach ein oder zwei Jahren k�nne sich bei Robert die alte Krankheit wieder einstellen und ihn n�tigen, seinen Abschied zu nehmen.
Eines Tages brachte Ritter die Nachricht aus der Stadt mit, daß sich ein K�ufer f�r Hartenau gefunden habe. Woher der Mann, ein adliger, polnischer Hungerleider, die Mittel habe, sei ihm ein R�tsel. Er vermute, daß dahinter nicht nur ein reicher Geldmann, sondern auch die Regierung st�nde, der viel daran gelegen w�re, in den geschlossenen deutschen Grundbesitz des Kreises eine Bresche zu schlagen.
Als Trudchen am n�chsten Tage Robert diese Nachricht mitteilte, erwiderte er in energischem Tone, dann sei es seine Pflicht, unverz�glich nach Hause zu kommen und sich zum Eintritt in das polnische Heer zu melden.
Gertrud erschrak so heftig, daß ihr die Tr�nen kamen, und ihre Stimme bebte, als sie Robert beschwor, es nicht zu tun. Er werde ohne Zweifel gleich an der Grenze verhaftet werden und ebenso spurlos verschwinden wie der Joseph.
Eine heiße Freude wallte in Robert auf, als er an Trudchens Stimme erkannte, daß sie weinte. Mit bewegter Stimme fragte er: „Weinst du?“
„Ja, Robert, ich weine. Du willst uns zu allem, was wir hier durchzumachen haben, die große Sorge um dich noch aufb�rden.“
„Glaubst du wirklich, daß ich Gefahr laufe, verhaftet zu werden, wenn ich �ber die Grenze komme?“
„Ich glaube es nicht nur, ich weiß es. Der Vater hat es erfahren, daß Wolzlegier in der Betrunkenheit sich verschworen hat, er werde dich fangen, sobald du nur polnischen Boden betrittst. Wir vermuten, daß er auf deutscher Seite einen Aufpasser hat, wom�glich in Werben selbst, von dem er genau unterrichtet wird. Ich beschw�re dich nochmals, auch im Namen deiner Großmutter, ihr nicht das Herzeleid anzutun, daß du dich in diese Gefahr begibst, und daß du deinen Plan aufgibst.“
„Dann muß ich mich schon eurem Willen f�gen.“
„Ich danke dir. Ich gehe sofort zu Großchen, um ihr die Nachricht zu bringen.“
Den ganzen Tag ging Robert wie im Traume umher, von einer stillen Freude und Seligkeit erf�llt. Trudchen hatte aus Sorge um ihn geweint!
War dieses Mitgef�hl denkbar, wenn er ihr gleichg�ltig war? Auch er hatte sehns�chtig an sie gedacht. Jetzt schlug diese Sehnsucht wie eine Flamme in ihm empor. Jetzt f�hlte er, daß sein Herz ihr geh�rte, daß er sie innig und heiß liebte.
Erst abends, als er allein in seinem Zimmer saß, kamen ihm Bedenken. Er war nichts, er besaß nichts, er konnte ihr keine Existenz bieten. Wer weiß, ob ihm so viel �brigblieb, daß er sich eine Klitsche kaufen konnte, wenn ihm Hartenau genommen wurde, und sie war die reiche Erbtochter. Ach, das war ja alles so gleichg�ltig, wenn sie ihn wirklich liebte! Aber ob ihr Vater mit ihrer Wahl einverstanden sein w�rde? Es konnte ihm bei den Polen schaden, ihm ihre Feindschaft zuziehen, wenn der verfemte Enkel der alten Gn�digen sein Schwiegersohn wurde.
Wenn er sich bloß mit der Großmutter dar�ber aussprechen k�nnte! Durch den Fernsprecher w�rde es unm�glich sein, solche Dinge zu er�rtern. Wenn er es wagte, heimlich nachts �ber die Grenze nach Hartenau zu wandern? Sie war allerdings auf beiden Seiten scharf bewacht, um den Schmuggel zu unterbinden, der hin�ber und her�ber ging. Aber wenn er in einer finsteren, st�rmischen Nacht sich auf den Weg machte und sich vorsichtig hin�berpirschte?
Der Gedanke schlug in ihm Wurzel. Er malte sich aus, wie sich die Großmutter freuen w�rde. Sicherlich w�rde er auch Trudchen sehen und sprechen. Er lag in der Nacht lange wach und �berlegte hin und her. Die Gefahr war groß, aber wenn er auf polnischer Seite abgefaßt wurde, erkl�rte er eben, daß er gekommen sei, sich zu stellen. Wenn er nur Hartenau erreichte, dann war er f�rs erste geborgen. In dem großen, alten Geb�ude waren Fremdenzimmer, die alle Jubeljahre nur gel�ftet und ges�ubert wurden. Ja, er w�rde im Notfall auch mit einer abgelegenen Kammer vorlieb nehmen. Niemand brauchte von seiner Anwesenheit etwas zu wissen, als die Großmutter und Trudchen.
Er �berlegte weiter, ob er sich ganz heimlich entfernen oder dem Verwalter von seiner Absicht Mitteilung machen sollte, und kam zu dem Entschluß, sich ihm anzuvertrauen. Wenn ihm dann schon etwas auf dem Hinweg zustieß, dann w�rde die Großmutter und Trudchen wenigstens erfahren, daß er auf dem Weg zu ihnen gewesen war. Daß er Trudchen durch den Fernsprecher von seinem Vorhaben unterrichtete, war nat�rlich ausgeschlossen, sie w�rde ihn wieder beschw�ren, sich nicht in diese Gefahr zu begeben und fortan in Angst leben, daß er es doch auszuf�hren versuchen werde.
Am n�chsten Morgen fragte er mit harmloser Miene den Verwalter, ob er es f�r sehr gef�hrlich hielte, heimlich nachts die Grenze zu �berschreiten. Der Mann sah ihn verwundert an.
„Sie wollen doch nicht etwa heimlich nach Hause zur�ckkehren?“
„Nein, ganz zur�ckkehren will ich nicht,“ erwiderte Robert, „nur f�r einige Tage dr�ben mich heimlich aufhalten, um mich mit der Großmutter auszusprechen.“
„K�nnen Sie das nicht durch den Fernsprecher erledigen?“
„Nein, das geht nicht. Es handelt sich nicht nur um Hartenau, sondern auch um meine Zukunft. Das macht eine l�ngere Aussprache notwendig.“
Der Verwalter wiegte nachdenklich den Kopf. „Das sehe ich wohl ein, aber ich muß Ihnen entschieden abraten. Unsere Grenzw�chter werden Ihnen beim Zusammentreffen keine Schwierigkeiten in den Weg legen, wenn sie sehen, daß Sie nichts aus Deutschland hinaustragen wollen.“
„Aber Sie meinen die Polen?“
„Aber sehr! Die sind eklig auf dem Posten. Ein gef�lschter Ausweis w�rde Ihnen auch, falls Sie erwischt werden, nichts helfen, denn Sie werden immer verd�chtig erscheinen, wenn Sie heimlich �ber die Grenze kommen. Nein, Herr Dalkowski, ich muß Ihnen dringend abraten.“
Die Warnung hatte auf Robert Einfluß. Er war unschl�ssig. Die Ausf�hrung eilte auch noch nicht, denn die N�chte waren mondhell und still, aber seine Sehnsucht wuchs mit jedem Tag. Sie wurde stets aufs neue angefacht, wenn er Gertruds Stimme am Fernsprecher h�rte. Sie hatte jetzt meistens nichts von Belang zu berichten, sie bestellte nur Gr�ße von Großchen und erkundigte sich nach seinem Befinden. Einmal fragte er: „Sorgt ihr euch noch um mich?“
Da h�rte er sie lachen und erwidern: „Wir haben doch keinen Grund dazu. Du wirst doch, wie du uns versprochen hast, h�bsch verst�ndig sein und dr�ben in Sicherheit bleiben.“
Einmal erz�hlte sie ihm, der Vater sei manchmal jetzt sehr mißgestimmt. Die Betriebskosten seines Verkehrs mit den Polen seien ihm zu hoch.
Der Kreischef habe eine sehr feine Zunge, die nur auf den feinsten Rotspon eingestellt sei, und der Wolzlegier sei der reine Blutsauger. Bei jeder Gelegenheit werde er von ihm angepumpt, nat�rlich auf Nimmerwiedersehen. Wenn die Mißernte ihn nicht daran hinderte, w�rde er am liebsten Strelkau verkaufen und Polen den R�cken kehren.
Einen Tag sp�ter berichtete sie, ein K�ufer habe Hartenau besucht. Großchen habe ihn sehr k�hl empfangen und ihm reinen Wein eingeschenkt, daß die Ernte nicht ausreichte, den Gutsarbeitern das Deputat bis zum Fr�hjahr zu liefern. Darauf habe er sich ohne Angebot entfernt. Trudchen sprach im Anschluß daran die Hoffnung aus, daß ein Kaufangebot auch vorl�ufig nicht zu erwarten sei.
Es war f�r Robert eine Freude, die Stimme des geliebten M�dels zu vernehmen. Denn daß er Trudchen mit allen Fasern seines Herzens liebte, war ihm je l�nger, je klarer geworden. Seine Sehnsucht, sie wiederzusehen, stieg immer mehr. Die Besprechung mit seiner Großmutter war, wie er jetzt f�hlte, doch nur ein Vorwand, um Trudchen wiederzusehen und mit dem Gest�ndnis seiner Liebe um sie zu werben.
Mit dem abnehmenden Mond stieg seine innere Unruhe. Sein Entschluß festigte sich, je dunkler die N�chte wurden. Einen Tag vor Neumond fiel bei starkem Wind Regenwetter ein. Dunkle Wolken �berzogen den ganzen Himmel. Es war nachts so finster, daß man auf dem Hof ein Geb�ude erst erkannte, wenn man unmittelbar davor stand.
Jetzt stand sein Entschluß fest. Am n�chsten Abend erkl�rte er dem Verwalter, daß er den Marsch �ber die Grenze unternehmen werde. Es k�nnte ihn nichts mehr davon abhalten. Gleich nach dem Abendbrot zog er sich f�r den Marsch an. Eine dicke Hose, ein Paar Schaftstiefel und eine M�tze, die er fest auf den Kopf dr�cken konnte. Als Waffe nahm er nur einen dicken Kr�ckstock mit.
Bis zur Grenze hatte er eine knappe Stunde zu gehen. Aber jetzt brauchte er erheblich mehr Zeit, denn er mußte mitten auf dem aufgeweichten Landweg gehen, um ihn nicht zu verlieren. Die B�ume, die am Wege standen, sah er nicht. Nur der Himmel erschien ihm zwischen ihren Wipfeln als ein etwas weniger dunkler Streifen. Als er das W�ldchen erreichte, durch das der Weg �ber die Grenze f�hrte, bog er zur Seite ab. Der nasse Waldboden ließ kein Ger�usch unter seinen Schritten aufkommen. Wenn er still stand, um zu lauschen, h�rte er sein Blut in der Schlagader am Halse und in der Schl�fe pochen.
So �hnlich war ihm zumute gewesen, als er im Krieg zum ersten Male nachts auf Patrouille gehen mußte. War es denn ausgeschlossen, daß er einen stillstehenden Grenzw�chter anlief? F�r diesen Fall hatte er sich vorgenommen, Fersengeld zu geben. Es war sehr unwahrscheinlich, daß man ihn bei dieser Finsternis fangen k�nnte. Immer nach einigen Schritten blieb er stehen und lauschte. Die Wipfel der B�ume rauschten, und von den �sten tropfte es. Wenn sich zwei Menschen verst�ndigen wollten, mußten sie zum mindesten recht laut sprechen.
Da blitzte es vor ihm in geringer Entfernung auf. Im ersten Augenblick war sein Gedanke, daß es ein Schuß w�re, als jedoch kein Knall folgte, merkte er, daß er sich geirrt hatte. Nun blitzte es noch ein paarmal auf. Er sah kleine Funken spr�hen und wußte, daß jemand gar nicht weit von ihm mit Stahl und Stein Feuer schlug, um seine Pfeife anzuz�nden. Jetzt fiel ihm ein, daß der Wald die ungeeignetste Stelle war, die Grenze zu �berschreiten, denn er w�rde wohl auf beiden Seiten am sch�rfsten bewacht sein.
Er ging zur�ck und aus dem Wald bis aufs freie Feld hinaus. Als er die Grenze ziemlich nahe glaubte, ließ er sich nieder und kroch langsam auf allen vieren vorw�rts. Hinter einem Strauch hockte er l�ngere Zeit. Wieder kroch er vorw�rts. Jetzt glitten seine H�nde pl�tzlich nach unten, fanden jedoch bald Boden.
Es war ohne Zweifel der ziemlich flache Grenzgraben. Jetzt galt es noch vorsichtiger zu sein. Vielleicht war auch der Diensteifer der Grenzer nicht so groß, bei diesem Wetter besondere Aufmerksamkeit zu entwickeln, wenn sie �berhaupt auf Posten waren.
Aber besser zu viel Vorsicht als zu wenig. Erst nach einer Strecke stellte er sich auf die F�ße und tappte geb�ckt vorw�rts. Nach hundert Schritten richtete er sich auf und schritt schneller aus. Nun wußte er auch bereits, wo er war. Er umging ein Bauerngeh�ft, auf dem der Hofhund anschlug.
Jetzt war er auf Hartenauer Grund und Boden; eine Viertelstunde sp�ter war er in dem Park vor dem Gutshaufe angelangt. Es lag still und finster vor ihm.
Wie sollte er jedoch unbemerkt in das Haus gelangen? Vielleicht war die Großmutter noch auf? Aber ob er in der Finsternis das Fenster ihres Arbeitszimmers finden w�rde? Er tastete sich an der Wand bis zur Hausecke zur�ck, um mit der Hand die Fenster zu f�hlen und zu z�hlen. Dies mußte ihr Arbeitszimmer sein! Ein feiner Lichtstrahl best�tigte es ihm. Leise pochte er an. Zwei-, dreimal. Dann h�rte er einen Stuhl r�cken und gleich darauf die Großmutter den Laden �ffnen und fragen: „Wer ist da? Kowalski, sind Sie es?“
„Nein, Großmutter, ich bin es.“ Eine Minute sp�ter h�rte er die T�r des Gartenzimmers aufschließen und �ffnen. Er schob sich schnell hinein. „Ich bin es, Großmutter!“
„Junge, was treibt dich her?“
F�nfzehntes Kapitel
„Du siehst lecker aus, mein Junge.“ Das waren die ersten Worte, mit denen ihn die Großmutter begr�ßte, als er in das hellerleuchtete Arbeitszimmer trat. Er sah an sich herunter. Stiefel, Hosen, Joppe, auch die H�nde waren dick mit Lehm beschmiert.
„Ich bin streckenweise auf allen vieren gekrochen, habe auch lang gelegen.“
„Du bist also heimlich �ber die gr�ne Grenze gekommen?“
„Ja, Großmutter.“
„So kannst du nicht bleiben. Deine Kleider sind auch naß. Du mußt dich in deinem Schlafzimmer umziehen. Etwas W�sche und ein alter Anzug sind ja noch hier.“ Sie z�ndete Licht an und ging ihm voran. In seinem Schlafzimmer schloß sie erst die L�den, dann fragte sie: „Soll ich dir etwas zu essen bringen.“
„Nein, aber wenn du mir ein Glas Wein geben m�chtest, w�rde ich dir dankbar sein.“ Als er sich umgezogen hatte, tappte er sich im Dunkeln zur�ck. Sie war gerade dabei, ihm ein Glas Rotwein einzugießen. Er nahm es und leerte es auf einen Zug. „Ach, das tut wohl!“ Sie schob ihm eine Schachtel Zigaretten hin.
„Nun sag' mir bloß um alles in der Welt, was hat dich zu diesem Dummenjungenstreich verleitet?“
Er wurde rot wie ein gescholtener Schulbube. „Ich wollte mich pers�nlich davon �berf�hren, wie es hier steht.“
Frau Esther sch�ttelte den Kopf, als wenn sie diesen Grund nicht glaubte. „Du erh�ltst doch beinahe t�glich Nachricht durch Trudchen.“
„Ja, ich habe aber das Gef�hl, als wenn ihr mich nicht alles wissen laßt, als wenn ihr wom�glich mir das Wichtigste verschweigt.“
„Das h�tte doch keinen Zweck. Ich wollte gerade dadurch, daß ich dir alles mitteilen ließ, dich davon abhalten, nach Hause zu kommen. Nun hast du die Dummheit doch begangen. Wie willst du denn wieder zur�ck? Denn hier kannst du nicht bleiben.“
„Auf demselben Wege, Großmutter, vielleicht schon morgen nacht. Aber hier braucht niemand etwas von meiner Anwesenheit zu wissen. Nur Trudchen m�chte ich gern sprechen.“
„So, du m�chtest Trudchen sehen und sprechen. Hat dieser Wunsch etwa auch etwas mit deinem n�chtlichen Besuch zu tun?“
Er sah sie fest mit aufleuchtenden Augen an. „Ja, Großmutter, nicht nur die Sorge um euch, sondern auch die Sehnsucht hat mich Hergetrieben.“
Er sah ein schelmisches L�cheln um den Mund der alten Frau spielen. Da sprang er auf, kniete vor ihr nieder und barg sein Gesicht in ihren Schoß. Sanft strich ihm ihre weiche Hand �ber seinen Kopf. „Also die Sehnsucht nach Trudchen hat dich hergef�hrt. Hast du sie denn so lieb?“
Er richtete sich auf. „Ja, Großmutter, mehr als mein Leben.“
„Das hast du ja heute schon bewiesen. Wie ist denn das so pl�tzlich �ber dich gekommen? Als du abfuhrst, schien dir Trudchen noch ganz gleichg�ltig zu sein.“
„Ja und nein. Ich habe ihre Freundlichkeit wie etwas Selbstverst�ndliches hingenommen. Erst vor vierzehn Tagen, als sie mir das Versprechen abnahm, nicht �ber die Grenze zu kommen, schlug es wie ein Blitz in mich ein, als ich am Fernsprecher h�rte, daß sie weinte.“
„Dann muß sie dir ja sehr b�se sein, daß du dein Versprechen nicht gehalten hast.“
Robert sah betroffen zu ihr auf. „Ich habe ihr doch nur versprochen, nicht offen �ber die Grenzstation zur�ckzukommen. Dies ist doch etwas anderes.“
„Ja, mein Junge, dies ist ganz was anderes. Dies ist ein un�berlegter Jungenstreich, den sie dir noch mehr �belnehmen wird.“
„Aber, Großmutter, ich hielt es doch einfach nicht mehr aus. Schilt mich, soviel du willst. Ich konnte aber nicht anders.“ Er sah ihr fragend ins Gesicht. „Großmutter, sag' mir offen, glaubst du, daß Trudchen mich auch gern hat?“
„Die Frage kann ich dir ohne Bedenken bejahen.“
Er stand auf und begann in der Stube auf und ab zu gehen. Nach einer Weile blieb er vor der Großmutter stehen. „Ich habe mich nicht ganz richtig ausgedr�ckt. Mit dem Gernhaben meinte ich eigentlich viel mehr. Ich meinte, ob Trudchen mich auch so lieb hat, wie ich sie, ob sie einwilligen wird, meine Frau zu werden.“
„Du bist doch noch ein großes Kind, mein lieber Robert,“ erwiderte die alte Gn�dige lachend. „Das fragt man doch nicht seine alte Großmutter, sondern die Betreffende selbst.“
„Du meinst also, daß ich Trudchen fragen soll?“
„Es w�rde doch nichts n�tzen, deine Frage zu verneinen, denn jetzt ist es mir klar, daß du nur zu diesem Zweck hergekommen bist.“
Er nickte und wanderte wieder eine Weile hin und her. Er unterbrach seine Wanderung nur, um einen Schluck Wein zu trinken. Dann stellte er sich vor die alte Frau hin und nahm ihre rechte Hand in seine beiden H�nde. „Großmutter, qu�l' mich nicht so, du bist doch t�glich mit Trudchen zusammen, und du bist eine so kluge, erfahrene Frau. Du siehst in die Herzen der Menschen. Solltest du nicht wissen, wie es bei Trudchen, die mit solcher Liebe an dir h�ngt, in ihrem Herzen aussieht? Das err�t man doch bei einem so vertrauten Umgang, denn die Liebe verr�t sich immer!“
Frau Esther l�chelte schelmisch. „So? Woher hast du denn diese Weisheit? Aber, wenn dir so viel daran gelegen ist, dann will ich dir sagen: Ich vermute, daß Trudchen dich auch in ihrem Herzen tr�gt.“
„Nicht so ungest�m, du leichtsinniger Schlingel,“ wehrte sie ab, als Robert seinen Arm um sie schlang und sie abk�ßte. „Ich bin doch nicht Trudchen, sondern eine alte Frau und zudem deine Großmutter.“
„Meine einzige, liebe, trautste Großmutter,“ rief Robert. „Noch hundertmal will ich den Weg machen, wenn mir ein solches Gl�ck winkt.“
„Lieber nicht,“ erwiderte die alte Gn�dige trocken. „Das werden wir uns beide, Trudchen und ich, sehr energisch verbitten. Du hast uns durch dein Erscheinen eine neue große Sorge aufgehalst. Wir werden erst ruhig sein, wenn du uns aus Werben gemeldet hast, daß du wieder gl�cklich dort eingetroffen bist. Ja, was ich noch fragen wollte. Bist du dort ganz heimlich ausger�ckt?“
„Nein, das ging doch nicht. Ich habe dem Verwalter von meinem Vorhaben Mitteilung gemacht, damit er euch Nachricht geben k�nnte, wenn ich unterwegs verschwunden w�re. Trudchen muß ihm morgen mitteilen, daß ich gl�cklich hier angelangt bin.“
„Hat er dir nicht von dem Gang abgeraten?“
„Ja, dringend.“ Nun erst nahm Robert die Gelegenheit wahr, der alten Gn�digen die Einzelheiten seiner n�chtlichen Flucht zu schildern.
Sie sch�ttelte ab und zu den Kopf. „Dir ist das Herz mit dem Verstand durchgegangen. Hast du denn auch schon daran gedacht, ob Vater Ritter damit einverstanden sein wird, wenn Trudchen dir das Jawort geben sollte?“
Robert nickte und nahm nachdenklich einen Schluck Wein. „Glaubst du, daß ich ihm als Schwiegersohn nicht willkommen sein werde?“
„Ja, mein Sohn, das ist schwer zu beantworten. Ich werde offen gestanden aus Ritter nicht recht klug. Ich glaube, er h�tte Lubomierski als Schwiegersohn ganz gern angenommen, wenn Trudchen ihn gewollt h�tte. Er sucht mit den Polen Freundschaft zu halten und l�ßt sie sich etwas kosten. In letzter Zeit soll sie ihn sogar ziemlich viel kosten. Nun stehst du doch sozusagen bei den Polen auf der schwarzen Liste. Es wird Ritter also nicht angenehm sein, wenn die Polen erfahren, daß du sein Schwiegersohn werden sollst.“
„Das braucht ja vor der Hand niemand zu erfahren. Ja, vielleicht brauchte Trudchen ihrem Vater vorl�ufig nichts davon zu sagen, daß wir beide einig sind, d. h., wenn Trudchen mir wirklich ihr Jawort gibt.“
„Das wollen wir sie selbst entscheiden lassen,“ erwiderte die alte Gn�dige aufstehend. „Nun geh schlafen und tr�um' sch�n. Ich werde dich in deinem Zimmer einschließen. Ich muß unsere alte Auguste ins Vertrauen ziehen, die ist treu wie Gold und auch verschwiegen. Erschrick nicht, wenn morgen fr�h jemand deine T�r aufschließt, das wird außer mir nur Auguste sein, die dir den Kaffee bringt.“ Sie f�hrte ihn in sein Zimmer, z�ndete ihm das Licht an, w�nschte ihm nochmals gute Nacht und entfernte sich.
Er zog sich schnell aus und legte sich ins Bett. Er war sehr m�de, aber die Gedanken bekrochen ihn und ließen ihn nicht einschlafen. Er malte sich den Augenblick aus, wenn er Trudchen gegen�bertreten w�rde. Wie w�rde er das bloß anfangen, ihr seine Liebe zu gestehen? Er sann und sann. Endlich fiel ihm ein, daß sie ihn wohl gleich nach der Begr�ßung f�r sein Kommen ausschelten w�rde. Dann w�rde er ihr antworten, er habe es vor Sehnsucht nach ihr nicht ausgehalten. Er habe sie so unendlich lieb, daß er sich nicht mehr habe beherrschen k�nnen. Ja, das w�re der beste Weg. Und wenn sie sich auch b�se anstellen w�rde, gab ihm das erst recht den Anlaß, ihr zu versichern, daß er nur ihretwegen den gefahrvollen Gang angetreten habe.
Allm�hlich verwirrten sich seine Gedanken, aber kaum war er eingeschlafen, als ein w�ster Traum ihn qu�lte. Zwei polnische Schaschken hatten ihn gepackt und hielten ihn fest. Er rang mit ihnen und riß sich los. Er erwachte, in Schweiß gebadet. Nein, lebendig sollten ihn die Polen nicht fangen. Auf dem R�ckweg wollte er seinen Browning mitnehmen und gespannt in der Hand tragen. Und wenn er drei, vier Kerle �ber den Haufen schießen sollte, er gab sich nicht gefangen. Es dauerte lange, bis seine Nerven sich wieder beruhigten und er einschlief.
Er schlief noch fest, als Frau Esther seine T�r leise aufschloß und mit dem Fr�hst�ck eintrat. Mit einem z�rtlichen Blick auf den Langschl�fer stellte sie das Tablett auf den Tisch und schlich unh�rbar hinaus. Von dem Schließen der T�r erwachte er und sah das Fr�hst�ck auf dem Tisch stehen. Er sprang auf und fuhr in die Kleider. Dabei sah er, wie sch�big der Anzug war, den er gestern abend angezogen hatte. Er war sehr weit entfernt von einer festlichen Gewandung, wie sie sich f�r eine Brautwerbung ziemte. Mit gutem Appetit machte er sich �ber das Fr�hst�ck her. Er war gerade damit fertig, als die T�r aufgeschlossen wurde. Die Großmutter trat ein und hinter ihr der alte Vogt Kowalski. „Die alte, treue Seele will dich durchaus begr�ßen, er will dich auf dem R�ckweg zur Grenze begleiten.“
Robert stand auf und gab dem Alten, dessen Gesicht vor Freude strahlte, die Hand. „Das ist nicht n�tig, das nehme ich nicht an, Alter. Einer schl�gt sich leichter durch als zwei.“
„Sagen Sie das nicht, junger Herr! Es sind doch nie mehr als zwei Grenzw�chter auf einer Stelle. Mit denen werde ich noch immer fertig, und Sie verschwinden �ber die Grenze.“
„Nein, nein, Kowalski. Das kann ich nicht verantworten, wenn man Sie wom�glich festnimmt oder anschießt.“
„Aber die gn�dige Frau hat es doch gew�nscht,“ erwiderte der Alte in einem Ton, der deutlich verriet, daß der Wunsch seiner Herrin ihm Befehl war.
„Na, das werden wir uns noch �berlegen. Wie geht es sonst? Haben Sie Nachricht von Joseph?“
Der Vogt sch�ttelte mit trauriger Miene den Kopf. „Es wird wohl von ihm keine andere Nachricht mehr kommen, als daß er tot und irgendwo verscharrt ist. Vielleicht erfahre ich auch das nicht einmal, ehe ich abkratze.“
„Ach, Kowalski, das geht doch selbst in Polen nicht, daß man einen Menschen, der nichts verbrochen hat, ohne Urteil um die Ecke bringt.“
„Sagen Sie das nicht, junger Herr, bei Gott und den Polen ist nichts unm�glich. Neulich hat mir einer erz�hlt, daß �berall Deutsche verhaftet und weggeschleppt werden und niemand weiß, wo sie bleiben.“
Der Vogt war gegangen. Frau Esther erhob sich. „Jetzt kann Trudchen jeden Augenblick kommen. Soll ich ihr sagen, daß du hier bist, oder willst du sie �berraschen?“
Robert zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht, Großmutter, wie du meinst!“
„Nein, mein lieber Junge, das �berlaß ich dir zu bestimmen.“
„Na, dann f�hr' sie in Gottes Namen unter irgendeinem Vorwand hier ein.“
Als Frau Esther zur T�re ging, klopfte es leise. Auguste stand vor der T�r. „Gn�dige Frau, das Fr�ulein aus Strelkau ist gekommen.“
„Na, dann komm man gleich mit,“ wandte sich die alte Gn�dige an Robert „und mach' kein Gesicht wie ein armer S�nder. Sie wird dir nicht den Kopf abreißen.“
Im Wohnzimmer stand Trudchen. Sie r�hrte sich nicht von der Stelle, streckte ihm auch nicht die Hand entgegen. Ihre Augen funkelten. „Ich weiß schon, daß du hier bist, der Verwalter hat aus Werben angefragt, ob du schon hier angelangt bist. Deshalb bin ich hergekommen, um mich zu �berzeugen, ob du wirklich die ganz unverzeihliche Dummheit begangen hast, dich nachts �ber die Grenze zu schleichen. Hast du denn gar nicht daran gedacht, welch schweres Herzeleid du damit �ber deine Großmutter bringen kannst? Es ist dir ja gegl�ckt, einmal �ber die Grenze zu kommen, aber aus dem R�ckweg kannst du aufgegriffen werden. Oder willst du wom�glich hierbleiben?“
Die letzte Frage brachte Robert mehr aus der Fassung als ihr Benehmen. „Nein, ich will wieder zur�ck.“
„Na, dann w�nsche ich dir viel Gl�ck. Was hat denn Großchen zu deinem heimlichen Besuch gesagt? Hat sie dir wenigstens gr�ndlich den Kopf gewaschen?“
Jetzt regte sich in Robert der �rger �ber die Behandlung. „Nein, sie hat Verst�ndnis daf�r, daß mich die Sorge um sie und die Sehnsucht nach ihr hergetrieben hat.“ Seine Stimme wurde fester. „Ja, ich hielt es nicht mehr aus, ich mußte euch wiedersehen, die Großmutter und“... mit leiser Stimme f�gte er hinzu: „Auch dich.“
Sie sah ihn erstaunt, ja verbl�fft an, dann stieg eine starke R�te in ihr Gesicht. Das gab Robert neuen Mut. Er trat an sie heran und faßte ihre H�nde. „Trudchen, seitdem du �ber mich geweint hast — besinnst du dich, es sind heute gerade vierzehn Tage her — da ist es wie ein Blitz in mich eingeschlagen, wie lieb ich dich habe. Das hat mir keine Ruhe gelassen, und nur deshalb bin hergekommen. Ich muß wissen, ob du mich auch liebhast.“
Noch st�rker err�tend, senkte Trudchen den Kopf.
„Sieh nicht auf meinen Anzug,“ stammelte Robert, „ich habe keinen besseren hier vorgefunden. Sieh lieber auf mein Herz, das ist bis zum �berlaufen voll von Liebe zu dir. Sag' ja oder nein. Ich muß es wissen, ob du mich liebhast.“
Da hob das M�del nicht nur ihr Gesicht, sondern auch ihre Arme und legte sie um seinen Nacken. „Dann muß ich dir ja verzeihen, wenn dein Herz mit dem Verstand durchgegangen ist.“
Der Großmutter hatte es zu lange gedauert und sie hatte vergeblich gewartet, daß sie gerufen w�rde. Sie trat leise ein. Da standen die beiden jungen Menschenkinder vor ihr in inniger Umarmung. Sie umschloß beide mit ihren Armen. „Gott segne euren Herzensbund, meine lieben Kinder.“ Trudchen l�ste sich zuerst aus der doppelten Umarmung.
„Du hast also dem Schlingel gar nicht den Kopf gewaschen, Großchen? Das muß ich also noch besorgen.“
„Laß Gnade f�r Recht ergehen,“ erwiderte Frau Esther gl�ckselig l�chelnd.
„Das habe ich schon reichlich getan, aber ich muß noch nachtr�glich die Bedingung stellen, daß er gleich heute nacht noch nach Werben zur�ckf�hrt.“
„Willst du mir nicht wenigstens einen Tag voll Gl�ck schenken?“
„Nein, das ist kein Gl�ck f�r uns, in der Sorge zu leben, wie du den R�ckzug finden wirst. Das Gl�ck wird erst anfangen, wenn wir wissen, daß du gl�cklich wieder in Werben angelangt bist. Nicht wahr, Großchen?“
„Ja, du hast recht, mein liebes Kind.“
Sechzehntes Kapitel
Gertrud blieb bis kurz vor Mittag und kam, da ihr Vater nach der Stadt gefahren war, gleich nach Kaffee wieder. Vergeblich versuchte ihr Robert die Erlaubnis abzuschmeicheln, noch einen Tag in Hartenau bleiben zu d�rfen.
„Nein, du mußt heute gleich nach Abendbrot, sobald es dunkel geworden ist, weg. Es ist eine so seltsame Unruhe in mir, als wenn du hier nicht sicher bist.“
„Aber, Liebste, wie kommst du darauf?“
„Ich traue den Polen alles zu, auch daß sie in Werben einen Spion haben, durch den sie �ber dich unterrichtet werden.“
„Es weiß doch niemand, wohin ich gegangen bin.“
„Da du nicht offen weggefahren bist, liegt die Vermutung nahe, daß du heimlich �ber die Grenze gegangen bist. Es ist mir nur eine Beruhigung, daß der Kowalski mit im Bunde ist und aufpaßt. Er wird dich auch zur Grenze begleiten.“
„Es ist mir zwar nicht recht, aber ich f�ge mich, wenn es dein Wunsch ist.“
„Er braucht sich ja nicht in Gefahr zu begeben. Er wartet ein Ende r�ckw�rts, und wenn alles ruhig bleibt, kommt er zur�ck und bringt uns Nachricht. Dann haben wir doch schon die Hoffnung, daß du die Gefahr �berstanden hast.“
Das Brautpaar saß im sogenannten Salon, der fast nie benutzt wurde und meistens abgeschlossen war. Großchen saß in ihrem Arbeitszimmer, das davor lag. Die treue Auguste hatte es �bernommen, Roberts Anzug und Stiefel unbemerkt auf einer Bodenkammer zu reinigen.
Trotz der bei Verlobten nicht ungew�hnlichen Unterbrechungen, besprachen sie eingehend ihre Zukunft. Robert sprach wieder die Bef�rchtungen aus, daß Trudchens Vater die Verlobung nicht angenehm, ja, daß er dagegen sein k�nnte.
„Das glaube ich nicht,“ erwiderte Trudchen. „Der Vater hat mich viel zu lieb, um mir bei der Wahl meines Gatten Hindernisse in den Weg zu legen.“
„Ich bin doch ein richtiger Herr von Habenichts,“ klagte Robert. „Wie kannst du mich so liebhaben? Ich habe nichts, ich bin nichts, ich kann nichts. Die besten Jahre meines Lebens sind mir verlorengegangen.“
Trudchen umfaßte ihn und schmiegte sich an. „Aber nicht durch deine Schuld, sondern durch das furchtbare Schicksal, das �ber uns alle hereingebrochen ist. Du wirst ein t�chtiger Landwirt werden und wirst Werben �bernehmen, denn Hartenau werdet ihr wohl doch verlieren.“
„Du stellst das alles als selbstverst�ndlich hin.“
„Das ist es ja auch,“ versicherte Trudchen eifrig. „Der Vater wird sich freuen, daß wenigstens Werben nicht in fremde H�nde ger�t.“
„Hast du ihm gesagt, daß ich hier bin?“
„Nein, er h�tte sich vielleicht dar�ber ge�rgert und aufgeregt. Es ist genug, daß du uns Frauen diese Aufregung bereitet hast.“
„M�chtest du denn jetzt, daß ich nicht hier w�re?“ versuchte Robert zu scherzen.
„Offen gesagt, ja. Denn eine reine Freude kann ich doch nicht finden, ehe ich nicht die Sorge um deine R�ckkehr losgeworden bin.“
Als es dunkel wurde, zog Robert seinen gereinigten Anzug an. Gleich nach Abendbrot nahm er Abschied. Er kniete vor der Großmutter nieder, nahm ihre H�nde und barg sein Gesicht in ihrem Schoß. Sie legte segnend ihre H�nde auf seinen Kopf, dann beugte sie sich zu ihm nieder und k�ßte ihn herzlich.
„Gott beh�te und besch�tze dich, mein lieber Junge.“
Trudchen warf sich weinend an seine Brust. Dann nahm sie sein Gesicht in beide H�nde und k�ßte ihm Stirn, Augen und Mund. „Wir werden Gott bitten, daß er dich gl�cklich heimgeleitet. Aber, daß du mir nicht noch einmal diese Dummheit machst!“
„Nein, ich werde fortan mich mit deiner Stimme im Fernsprecher begn�gen.“
Sie geleitete ihn zur T�r, die nach dem Park f�hrte, schloß auf, gab ihm noch schnell einen Kuß und schloß hinter ihm wieder zu, dann ging sie zur�ck zu Großchen und schmiegte sich an sie. Eng umschlungen saßen die beiden Frauen und beteten still in ihrem Innern.
Die Nacht war nicht so dunkel wie gestern, denn das Wetter hatte sich aufgekl�rt, und die Sterne standen am Himmel. Auch der Sturm und der Regen fehlte. Aber daf�r war die Gefahr geringer, daß man ahnungslos auf die Grenzw�chter auflief. Bei vorsichtigem Schleichen mußte man sie bemerken und konnte ihnen ausweichen.
An der großen Eiche im Park stand der alte Vogt schon wartend. Er hatte einen dicken Kr�ckstock in der Hand. „Mensch, Kowalski, was wollen Sie mit dem Kn�ppel?“
„Ich will mich nicht von den Polacken greifen lassen,“ knurrte der Alte.
„Sie werden mich nicht so weit begleiten, daß Sie in Gefahr kommen. Sie begleiten mich nur, um der Großmutter berichten zu k�nnen, ob ich gut �ber die Grenze gekommen bin.“
Der Alte brummte etwas vor sich hin, was Robert nicht verstand.
***
Ritter trug sich schon seit einiger Zeit mit einem Plan, der, wenn er einschlug, reichen Verdienst bringen konnte. Dazu mußte er sich aber der Zustimmung des Kommissars versichern, um durch diesen an den Kreischef heranzukommen. Deshalb fuhr er in die Stadt. Nachdem er mehrere Gesch�ftsg�nge erledigt hatte, wanderte er zur „Feuchten Ecke“ am Markt, wo Wolzlegier in einer Zukierna mit weiblicher Bedienung jeden Abend anzutreffen war. Er war auch heute schon dort. Er hatte eine Flasche Rotwein vor sich stehen und eine der Holden auf dem Schoß. Mit fr�hlichem Handschwenken begr�ßte er Ritter, dessen Erscheinen ihm einen sehr tiefen und billigen Trunk in Aussicht stellte. Er schob die Schankmamsell vom Schoß und stand auf, um ihn durch Handschlag zu begr�ßen. „Wie ist Ihr Befinden, Herr Ritter?“
„Schlecht,“ erwiderte der Gutsbesitzer mit verdrießlicher Miene.
„Aber ich bitte sehr, wie kann es Ihnen schlecht gehen.“
Ritter nahm Platz und ließ sich ein Glas geben, das ihm der Kommissar sogleich vollschenkte. „Mir geht es ebenso schlecht, wie allen Landwirten in diesem Herbst. Keine Ernte, keine Einnahmen, aber Ausgaben mehr als zuviel. Ich weiß noch nicht, wie ich mein Vieh durch den Winter bringen werde.“ Er nahm einen Schluck, ehe er fortfuhr: „Es ist ein schwacher Trost, daß es allen Landwirten in der ganzen Gegend so geht. Wir werden die H�lfte unserer Viehbest�nde verkaufen und zu Schleuderpreisen weggeben m�ssen.“
Der Kommissar nickte. „Ja, sehr schlechte Zeiten.“
„Und wer soll uns das Vieh abkaufen?“ fuhr Ritter fort. „Die Kongressuskis haben ebensowenig Geld wie wir. Die Fleischer brauchen wenig und kaufen kein mageres Vieh. Wir m�ssen unseren K�hen und Ochsen mit der Axt vor den Kopf schlagen, solange sie noch etwas Fleisch auf den Knochen haben.“
Der Kommissar kniff die Augen zusammen. Er kannte Ritter. Das war ein schlauer Fuchs, der auf seinem Vorteil zu laufen verstand. Was bezweckte er mit dieser Klage?
„Das brauchen Sie doch nicht zu machen? Sie haben doch die Mittel, um so viel Futter zu kaufen, wie Sie brauchen.“ Er vermutete, daß Ritter auf eine Einfuhrerlaubnis hinsteuerte. Dabei w�rde nat�rlich f�r ihn eine Lapowka abfallen, und nicht zu knapp, denn er mußte doch auch die Instanz befriedigen, von der die Erlaubnis erteilt wurde.
„Das werde ich mir noch �berlegen,“ erwiderte Ritter.
„Wieso �berlegen, lieber Freund? Wissen Sie, was ich t�te, wenn ich �ber so viel Mittel verf�gte wie Sie? Ich w�rde, mir das beste Zugvieh, was billig zu haben sein wird, zusammenkaufen, um es im Fr�hjahr mit großem Vorteil wieder zu verkaufen. Die Einfuhrerlaubnis f�r Futtermittel wird doch zu beschaffen sein.“
Die Schankmamsell trat an den Tisch, nahm die leere Flasche weg und stellte eine neue hin. Ritter schenkte ein. „Das w�re ein verteufelt kluger Gedanke, wenn er nicht so dumm w�re.“
„Wieso dumm?“ fragte der Kommissar erstaunt.
„Weil das Vieh im Fr�hjahr ebenso billig, wenn nicht noch billiger sein wird.“
„Auch wenn man es ins Ausland verschiebt?“ fragte Wolzlegier mit verschmitzter Miene.
„Dazu braucht man es nicht bis zum Fr�hjahr zu f�ttern. Das k�nnte sich unter Umst�nden schon jetzt lohnen.“
„Was f�r Umst�nde, lieber Freund? Gar keine Umst�nde. Allerdings angemessene Beteiligung f�r Stellen, die das Risiko tragen.“
„Ich verstehe immer Risiko,“ erwiderte Ritter lachend. „Wer tr�gt denn ein Risiko dabei?“
Der Kommissar stellte sich �rgerlich. „Sie sind heute auf den Kopf gefallen, lieber Freund.“
„Na, dann will ich lieber fragen: was verstehen Sie unter angemessener Beteiligung?“
Wolzlegier hob die H�nde. „Sagen wir mal f�nfzig Prozent.“
Ritter lachte laut auf und rief, „Stefka! Bring mal dem Herrn Kommissar einen großen Kognak! Der wirkt niederschlagend auf die Phantasie, und mir bring auch einen zur St�rkung. Ich bin eben beinahe vom Stuhl gefallen.“
Der Kommissar schmollte, aber er trank den Kognak. Ritter lachte ihn an. „Sie wollten mich wohl von vornherein von dem Gesch�ft abschrecken? Ich soll das Risiko tragen und f�nfzig Prozent vom Reingewinn abgeben? Das w�re ja der helle Wahnsinn. Nein, lieber Wolzlegier, lassen Sie sich man den Appetit darauf vergehen, aus dem Gesch�ft wird nichts.“
„Was w�rden Sie denn anlegen wollen?“ fragte der Kommissar lauernd.
Ritter zuckte die Achseln. „Das m�ßte ich mir erst �berlegen. Ich habe doch bis heute nicht daran gedacht, Vieh zu kaufen. Das eilt auch nicht so.“
Er hielt es f�r richtig, das Gespr�ch abzubrechen, denn eben betraten sechs junge M�nner, meist h�here Beamte, und ein paar Offiziere das Lokal. Sie wurden von den M�deln freudig begr�ßt und bestellten Schn�pse und Wein. Dann kamen sie, den Kommissar respektvoll zu begr�ßen. Er war f�r jeden, auch f�r polnische Beamte, eine Respektsperson, mit der man sich gut stellen mußte.
Nachdem sie sich an einem Tisch niedergelassen hatten, bestellten sie einmal „Haut und Knochen“, wie sie den W�rfelbecher nannten, um die Zeche auszuknobeln. Als dies erledigt war, wurde von einem der Herren ein kleines gem�tliches Gesellschaftsspiel vorgeschlagen. Nach langem Hinundher einigte man sich auf die „lustige Sieben“. Das dazu erforderliche Ger�t, ein in elf Felder eingeteilter Pappbogen, war schnell zur Hand. Erzeigte die Zahlen zwei bis zw�lf. Ganz oben thronte die Sieben, von der das Spiel den Namen erhalten hatte. Wenn der Bankhalter mit zwei W�rfeln diese Zahl warf, dann erhielt derjenige, der sie besetzt hatte, seinen Einsatz siebenfach ausgezahlt.
Der Kommissar entschuldigte sich einen Augenblick bei Ritter und trat an den Spieltisch. Er sah nicht nur zu, sondern setzte auch. Nach einer Weile kam er zur�ck. „Verdammtes Pech. Habe mich leider nicht auf ein kleines Jeu eingerichtet, aber geborgtes Geld soll Gl�ck bringen. Wenn Sie mir mit hundert Zloty f�r ein paar Tage aushelfen wollten?“
„Ich habe mich auch nicht darauf eingerichtet. Aber die hundert Zloty kann ich Ihnen allenfalls noch geben.“
Der Kommissar nahm das Geld, trat wieder an den Spieltisch und warf die ganze Summe auf die Sieben. Der Bankhalter st�lpte den Becher um und hob ihn auf. Da lag die Sieben.
„Bleibt stehen,“ rief der Kommissar. Wieder fiel die Sieben. Der Bankhalter zog die Brieftasche. „Die Bank ist gesprengt, meine Herren. Hier haben Sie Ihr Geld, Herr Wolzlegier.“
Mit dem Pack Geldscheinen kehrte der Kommissar an den Tisch zur�ck, �berreichte Ritter die geborgten hundert Zloty und bestellte eine Flasche Sekt. Ritter machte gute Miene zum b�sen Spiel, obwohl er wußte, daß er auch diese Flasche bezahlen mußte. Aber sie stand jedenfalls auf dem Gesch�ft, das er plante. Der Kommissar w�rde mit sich handeln lassen. An den K�der hatte er schon gebissen. Nun mußte er noch eine Weile zappeln.
Aber Wolzlegier war auch mit allen Hunden gehetzt. Er glaubte zu wissen, daß Ritter ihn schon mit dem fertigen Plan aufgesucht h�tte. Deshalb tat er gut daran, sein Angebot abzuwarten. Er begann von gleichg�ltigen Dingen zu sprechen und erz�hlte, daß demn�chst eine Theatergesellschaft Vorstellungen geben werde, das sei mal eine Abwechslung. Die M�del vom Theater seien nur verdammt teuer.
Ritter h�rte ruhig zu. Er hatte eben beide Gl�ser gef�llt, als in der T�r ein Kerl erschien, der dem Kommissar zuwinkte. Er sprang auf, ging zu ihm und fl�sterte mit ihm. Dann kam er an den Tisch zur�ck und st�rzte sein Glas runter. Mit einem h�ßlichen Lachen, aus dem der Hohn klang, sagte er: „Sie m�ssen schon entschuldigen, lieber Freund, wir haben eben einen sehr guten Fang gemacht, wir haben einen seltenen Vogel gefangen. Ich will h�ren, wie er singt. Auf Wiedersehen.“
Wenn Ritter nicht gesehen h�tte, daß der Kerl erschien, dann h�tte er diesen eiligen Abschied f�r einen Trick gehalten, ihn zappeln zu lassen. Er zerbrach sich nat�rlich nicht den Kopf dar�ber, was f�r einen Vogel der Kommissar gefangen hatte, bezahlte die Zeche und ließ seinen Wagen vorfahren. Er war ganz zufrieden damit, daß sich die Sitzung nicht so lange wie sonst ausdehnte.
***
Schweigend schritten die beiden n�chtlichen Wanderer aus. Der Vogt f�hrte Robert auf einen schmalen Feldweg, der meist durch Wiesen f�hrte, bis zu einem Außenschlag, der jetzt nur als Viehweide benutzt wurde. Er reichte bis zur Grenze und war mit mannshohen Str�uchern bestanden. Hinter einem Strauch blieb der Alte stehen und fl�sterte Robert zu: „Wir wollen erst mal horchen.“
Nach einer Weile stieß er Robert an. „Wir k�nnen noch ruhig f�nfzig Schritt weitergehen, dann legen wir uns hin und passen auf. Hier geht's bergan. Wir k�nnen gegen den Himmel sehen, wenn Grenzw�chter vorbeikommen.“
Wieder ging es ein St�ck weiter. Jetzt hielt Robert den Alten an. „Hier bleiben Sie zur�ck, Kowalski.“
„Ach wo, junger Herr. Ich komme noch ein Ende mit, und wenn Sie angefallen werden, dann rufen Sie, dann komme ich Ihnen zu Hilfe. Mit zweien oder dreien von den Kerlen werden wir schon fertig werden.“
„Nein, Kowalski, das d�rfen Sie unter keinen Umst�nden. Ob ich erwischt werde oder nicht, Sie m�ssen unter allen Umst�nden nach Hartenau zur�ck und der Großmutter Nachricht bringen. Die alte Frau und Trudchen warten doch auf Sie.“
„Ich lasse mich nicht fangen, junger Herr.“
„Nein, Sie m�ssen gehorchen. Was soll denn die Großmutter ohne Sie anfangen? Und wenn ich gefangen werde, muß die Großmutter es erst recht wissen. Gute Nacht, Alter!“
Der Vogt nahm seine Hand. „Gehen Sie mit Gott, junger Herr.“
Geb�ckt schlich Robert, einige Str�ucher als Deckung benutzend, noch zwanzig Schritt weiter, dann warf er sich lang hin und sp�hte nach vorn. Der Grenzgraben lief oben auf der H�he entlang. Dicht davor standen zwei Str�ucher dicht nebeneinander. Wie er diese Str�ucher gegen den Himmel erblickte, w�rde er auch Menschen sehen, die sich dort bewegten. Langsam, �fter horchend und aussp�hend, kroch er auf allen vieren weiter. Zwei Schritt vor dem Grenzgraben wollte er aufspringen und mit ein paar S�tzen deutsches Gebiet erreichen.
In demselben Augenblick, als er dies dachte, warf sich ein Kerl auf ihn und stieß ihm durch einen Schlag auf den Kopf das Gesicht in den weichen Boden. Eine Sekunde sp�ter kniete ein zweiter Kerl auf seinen Beinen. Die H�nde wurden ihm nach hinten auf den R�cken gerissen und gefesselt. Von nicht weit her ert�nte der Ruf: „Habt ihr ihn?“
„Ja, wir haben ihn fest,“ rief einer der beiden Kerle. Nun kamen von beiden Seiten noch sechs bis sieben Mann zugelaufen.
Der Vogt war Robert noch ein Ende nachgeschlichen. Er h�rte die Rufe und sah die M�nner, die anscheinend Gewehre in den H�nden hatten, angelaufen kommen. Er stand hinter dem Strauch auf. Vor Wut und Aufregung bebend schwang er den wuchtigen Stock in der Hand, aber er mußte sich sagen, daß es heller Wahnsinn w�re, einzugreifen. Die Kerle w�rden ihn ohne Bedenken �ber den Haufen schießen. Nein, er mußte zur�ck, er mußte der Gn�digen so schnell wie m�glich die Nachricht bringen, wenn sie auch noch so traurig war.
Als der Haufen l�ngs der Grenze abgezogen war, trat der Alte den R�ckweg an. Zuerst ging er so schnell, wie er nur konnte. Je n�her er dem Gut kam, desto langsamer wurden seine Schritte.
Siebzehntes Kapitel
Schweigend saßen sich die beiden Frauen im Wohnzimmer an der Lampe gegen�ber. Jede mit einer Handarbeit besch�ftigt. Ab und zu gingen ihre Blicke zu der Wanduhr, deren Pendel in seinem Geh�use so w�rdevoll langsam hin und her schwankte.
Sein Ticktack warf mit lautem Ton eine Sekunde nach der anderen wie Tropfen in das Meer der Ewigkeit.
„Der Kowalski k�nnte schon zur�ck sein,“ meinte nach einer Weile die alte Gn�dige. Trudchen dachte dasselbe, aber sie erwiderte, wie um sich und der alten Frau Mut zu machen: „Sie warten wohl vor der Grenze einen g�nstigen Augenblick ab.“
Nach einer langen Weile sah Frau Esther wieder auf die Uhr. „Jetzt k�nnte er aber wirklich schon hier sein. Ich f�rchte, es war nicht richtig, daß wir den alten Mann mitschickten, der tr�gt eine solche Wut gegen die Polen in sich herum, daß ich ihm trotz seiner siebzig Jahre eine Unbesonnenheit zutraue. Wenn Robert in Gefahr ger�t, l�ßt er ihn nicht im Stich und dann verschwindet nicht nur einer, sondern alle beide.“
Wieder trat ein l�ngeres Schweigen ein, das nach einer Viertelstunde von der alten Gn�digen gebrochen wurde. „Es war eine ausgewachsene Dummheit von Robert.“
Trudchen stand auf, legte den Arm um Großchen und schmiegte ihre Wange an. „Schilt nicht auf Robert. Er hat jahrelang in der grauenhaften Einsamkeit leben m�ssen. Hier ist ihm das Gl�ck erschienen und ist vor ihm hergegaukelt. Da hat er sich nicht lange besonnen und gezaudert, sondern zugegriffen und hat es festgehalten. Auch mir hat er das Gl�ck gebracht.“
Frau Esther griff mit ihrer Hand nach oben und streichelte ihr die gl�hende Wange. „Ja, du mußt das bißchen Gl�ck durch Angst und Sorge bezahlen, und er wom�glich mit noch viel Schlimmerem.“
„Ja, Großchen, ein bißchen Gl�ck muß manchmal teuer bezahlt werden. Aber weißt du, daß ich Robert wegen seines dummen Streiches noch viel, viel lieber gewonnen habe? Er war immer so weich und tr�umerisch. Jetzt weiß ich, daß er Mut und Energie besitzt.“
Trudchen wollte sich gerade wieder auf ihren Platz setzen, als die T�r des Gartenzimmers aufgeklinkt wurde. Ungest�m sprang Trudchen zur n�chsten T�r und riß sie auf. Das Licht der Lampe fiel auf den alten Mann, der wie von einer schweren Last gedr�ckt, vorn �bergebeugt, den Kopf gesenkt, stehenblieb. Einen Blick auf den Boten gen�gte, um den Frauen zu sagen, welche Nachricht er brachte. So standen sie sich eine Minute in traurigem Schweigen gegen�ber, bis Frau Esther mit unsicherer Stimme fragte: „Kowalski, was ist mit meinem Enkel geschehen?“
„Ach Gott, gn�digste Frau, die Polacken haben ihn gefangen. Ich kann bei Gott nichts daf�r. Der junge Herr hat mir befohlen, zur�ckzubleiben, und ich mußt' doch gehorchen. Es waren auch zu viele und mit Gewehren.“
„Wir machen Ihnen ja keine Vorw�rfe, Kowalski. Setzen Sie sich. Trudchen, gib ihm einen Stuhl und schenk' ihm ein Glas Schnaps ein, ihm flattern ja die H�nde.“
„Erz�hlen Sie uns, wie ist es gekommen?“
„Ja, gn�dige Frau, als ich zur�ckkehren mußte, kroch der junge Herr allein weiter nach der Grenze, auf einen Strauch zu. Ich konnte ihn nicht sehen, ich h�rte auch nichts. Ich dachte schon, er w�re gl�cklich hin�ber. Da h�rte ich rufen: `Habt ihr ihn?' und dann liefen von beiden Seiten Kerle hinzu. Sie haben sich wohl, als er noch lag, auf ihn geworfen.“ Er trank noch den zweiten Schnaps aus, den Trudchen ihm eingoß. Stockend erz�hlte er weiter: „Gn�dige Frau sagen manchmal auf mich alter Esel. Das habe ich auf dem R�ckweg immerzu zu mir gesagt. Weshalb habe ich nicht vorher alles mit dem jungen Herrn besprochen. Ich h�tte allein voraus zur Grenze gehen sollen und mich scheinbar wehren sollen, und w�hrenddessen konnte der junge Herr seitw�rts �ber die Grenze laufen.“
Frau Esther trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Du alte, treue Seele! Ja, das h�ttest du f�r Robert getan.“
„Na ja, gn�digste Frau, was liegt schon an mir altem Kerl, und was h�tten die Polacken mir tun k�nnen? Ich h�tte ja sagen k�nnen, daß ich bloß einem Kerl nachgegangen sei, der einen Sack Getreide gestohlen hat, oder so was. Daß ich auf unserm Boden bis an die Grenze rangehe, ist doch kein Verbrechen.“
Er stand auf, machte langsam kehrt und wankte hinaus. „Ich danke Ihnen vielmals,“ rief Frau Esther ihm nach. Er nickte bloß und bewegte abwehrend die Hand, als wenn er den Dank nicht verdient h�tte. Als die T�r sich hinter ihm schloß, fielen die beiden Frauen sich wortlos weinend in die Arme. Es war, als wenn eine bei der andern Trost suchte. Dann setzte sich Frau Esther und zog Trudchen auf ihren Schoß. „Jetzt, mein Kind, f�ngt nicht bloß f�r Robert, sondern auch f�r uns beide ein schwerer Leidensweg an.“
„Was wollen sie ihm denn anhaben?“ erwiderte Trudchen.
„Ach, Kind, die Polen fragen doch nicht, ob sie das Recht auf ihrer Seite haben. Wenn sie einem etwas am Zeuge flicken wollen, dann tun sie es ohne Bedenken. Sie scheuen nicht einmal eine schwere Beschuldigung, f�r die sie keine Beweise haben. Er wird irgendwo in einem Gef�ngnis verschwinden, und wir werden nicht einmal erfahren, wo er geblieben ist.“
„Ja, Großchen, darauf m�ssen wir uns gefaßt machen. Ich vermute wohl nicht mit Unrecht, daß der Kommissar seine Hand im Spiele hat. Er muß doch gewußt haben, daß Robert hier war und wieder �ber die Grenze zur�ck wollte. Das sieht doch wie ein geplanter �berfall aus. Die Frage, die Kowalski geh�rt hat, l�ßt es mir als gewiß erscheinen, daß man Robert aufgelauert hat. Die Grenze muß also st�rker besetzt gewesen sein als gew�hnlich.“
„Aus Hartenau ist keine Nachricht hinausgedrungen,“ erwiderte Frau Esther.
„Bei uns hat auch außer mir niemand etwas davon gewußt. Die Nachricht kann nur von dr�ben, von Werben, gekommen sein, und dort hat es auch nur der Verwalter gewußt, wo Robert hinging. Wir haben doch keine Ursache, an seiner deutschen Gesinnung zu zweifeln. Ich stehe vor einem R�tsel.“
Noch lange sprachen die Frauen hin und her. Trudchen schlug vor, in die Stadt zu fahren und den Vater aufzusuchen. Die alte Gn�dige lehnte es rundweg ab. Sie wollte nicht, daß Ritter in die Sache hineingezogen wurde. Wenn er etwas f�r Robert tun wollte und konnte, dann m�ßte es unauff�lliger geschehen.
Um zehn Uhr schickte Frau Esther Gertrud nach Hause. So lieb ihr auch das M�del war und seit heute ihr noch viel lieber und inniger verbunden, so sehr verlangte sie, mit ihren Gedanken allein zu sein. Eine Begleitung durch Auguste lehnte Trudchen ab. Sie war den kurzen Weg so viele hundertmal ungef�hrdet allein gegangen. Frau Esther ging in ihr Arbeitszimmer, schaltete das Licht ein und setzte sich an ihren Schreibtisch. Mechanisch schlug sie ihr Wirtschaftsbuch auf, um wie immer die Ausgaben und kleinen Vorkommnisse des Tages einzutragen. Aber sie ergriff nicht die Feder, sondern legte die H�nde in den Schoß und beugte sich vorn �ber, bis ihre Stirn auf der Platte lag.
Ihr ganzes Leben zog an ihr vor�ber. Wie sie als armes M�dchen, als Tochter des Vogts in Hartenau das Wohlgefallen des Haussohnes erregte. Wie er ihr nachstellte und schließlich, als sie standhaft sich seinem Liebeswerben versagte, sich heimlich mit ihr verlobte. Wie er sie nach Posen schickte und sie unterrichten ließ. Sie dachte an die ersten Jahre ihrer jungen Ehe zur�ck, als die Schwiegereltern ihr das Leben sauer machten, bis der Vater starb und ihr Mann, der auch Robert hieß, das Gut erbte, und wie sie noch jahrelang das unfrohe, z�nkische Wesen der Schwiegermutter zu erdulden hatte.
Dann kamen Jahre des Gl�cks. Ihr Mann war immer lieb und gut zu ihr. Er war auch von Herzen gut und freundlich, aber sehr j�hzornig. Bei einem Streit der Knechte hatte er mit seinem Kr�ckstock eingegriffen — da hatte ihm einer der Burschen eine Forke in den Leib gerannt, und sterbend wurde er ihr ins Haus gebracht. Jahre hindurch hatte sie dann f�r ihren einzigen Jungen das Gut verwaltet. Er war aus der Art geschlagen. Er war weich und unschl�ssig und, obwohl sie es nicht wollte, schob er ihr die Leitung der Wirtschaft zu. So war es auch geblieben, bis er in den Krieg zog und nicht wiederkehrte. Und bald nach ihm zog der Enkel hinaus und kehrte auch nicht wieder.
In Minuten durchlebte sie die Jahre, in denen sie den Vermißten als verloren betrauerte. Wie das liebe M�del, das jetzt ihre Enkeltochter werden sollte, sich in ihrem Herzen einnistete und ihr eine Tochterliebe schenkte, die sie nie kennengelernt hatte. Wie dann ihre Hoffnung aus einen gl�cklichen Lebensabend auflebte, als Robert wiederkehrte.
Und nun war nach dem großen Gl�ck dieser Tage alles wieder in graue Asche versunken. Irgendwo lag ihr Enkel in schmutziger Zelle, die von Ungeziefer wimmelte, geschunden und zerschlagen, ein deutscher Mann, der Schweres f�r sein Vaterland erlitten. Gab es denn gar keine Gerechtigkeit mehr auf Erden? Keine ausgleichende Schicksalsmacht? — Sie richtete sich auf und blickte starr ins Weite. Was sollte, was wollte sie noch aus dieser Welt? Ihr Leben ging schon �ber das biblische Alter hinaus und es war nicht nur voll M�he und Arbeit gewesen, sondern auch voll Kummer und Sorgen. Sie war nicht nur seelisch m�de, sondern auch ihr K�rper verlangte nach Ruhe.
Und die Zeit, die ihr jetzt wieder bevorstand? Nicht nur die Sorge um Robert w�rde sie anfallen wie ein bissiger Hund, sondern es stand ihr auch der letzte und schwerste Kampf bevor... um Hartenau! Geballt legte sie die F�uste auf den Tisch. Zornig wallte es in ihr auf. Nein, so leicht sollten die Polen sie nicht unterkriegen. —
Durch den Park war Trudchen unbehelligt heimgekehrt. Sie hatte sich schon in ihr Schlafzimmer begeben, als der Wagen vorfuhr, der ihren Vater nach Hause brachte. Sie wunderte sich, daß er so fr�h heimkehrte, aber es war ihr lieb, denn nun konnte sie ihm doch noch alles mitteilen.
Vergn�gt trat Ritter in die nur schwach erhellte Diele, wo ihn Gertrud begr�ßte. „Na, noch auf, mein kleines M�dchen? Wunderst dich wohl, daß dein alter Herr so fr�h heimkehrt? Habe heute Gl�ck gehabt. Habe den Wolzlegier f�r meinen Plan, na, sagen wir mal anges�uert. Ist schon auf den Leim gekrochen. Wurde mir leider etwas zu fr�h untreu. Kriegte eine Botschaft, empfahl sich mit den Worten: `Er h�tte einen seltenen Vogel gefangen.`“
Trudchen hatte dem Vater den Mantel abgenommen. „Ja, die Polen haben Robert an der Grenze abgefangen.“
Der leichte Rausch, den Ritter heimgebracht, verflog. „Was sagst du, den Robert haben die Polen abgefangen? Wie kommt denn der Junge an die Grenze oder �ber die Grenze? Denn auf deutschem Boden k�nnen die Polacken ihn doch nicht festnehmen.“
„Er kam gestern nacht heimlich �ber die Grenze. Heute, als er zur�ckging, haben ihn die Polen erwischt.“
„Woher weißt du denn das?“
„Großmutter hatte den Kowalski mitgeschickt. Er hat geh�rt und gesehen, wie Robert gefangen und fortgef�hrt wurde.“
An seinem Arm war Trudchen in die hellerleuchtete Wohnstube getreten. „Soll ich dir noch etwas zu essen und zu trinken bringen?“
Das Beben in ihrer Stimme fiel ihm auf. Er faßte die Tochter an der Hand und sah ihr in die Augen. „Kind, M�del, was ist dir? Geht dir das so nahe?“ Sie warf sich an seine Brust und schluchzte auf. Er strich ihr liebkosend �ber das Haar. „Mir scheint, du hast den Jungen lieb!“
Sie hob das Gesicht und sah zu ihm auf. „Ja, Vater, ich habe Robert lieber als mein Leben. Ich habe mich heute mit ihm verlobt. Nur die Sehnsucht nach mir hatte ihn hergetrieben.“
Ritter ließ sich in einen Stuhl sinken. „Gib mir etwas zu trinken, mein Kind, was niederschl�gt. Mir ist schwach geworden.“ Er trank den Kognak aus, den Trudchen ihm einschenkte. „Also verlobt habt ihr euch? Fest verlobt mit Heiraten und ewiger Treue?“
„Vater!“ klagte Trudchen leise.
„Mußt nicht meine Worte auf die Wagschale legen, mein Kind. Ein bißchen spukt noch der biedere Alkohol in mir, den ich mit dem Herrn Kommissar genossen habe. Aber ich bin trotzdem n�chtern. Das ist also gewissermaßen mein zuk�nftiger Schwiegersohn, den die Polacken heute an der Grenze abgefangen haben.“
„Nicht bloß gewissermaßen, sondern gewiß und wahrhaftig,“ erwiderte Trudchen mit fester Stimme.
Ritter deutete mit der Hand auf sein Glas und ließ es neu f�llen, dann streckte er seine Hand nach der Tochter aus und zog sie an sich heran. „Also treue Liebe bis zum Grabe. Nanu, grans' bloß nicht. Was geschehen, ist geschehen. Nun soll der liebe Herr Schwiegervater das heiße Eisen aus dem Feuer holen? Traudelein, das wird nicht ganz leicht sein! Der Schuft! Ich wollte sagen, der Herr Kommissar scheint sich auf ihn gesetzt zu haben. Aus seinem Gesicht strahlte heute abend eine so geh�ssige Freude, als er sich verabschiedete, daß es mir auffiel. Wer dem Kerl in die Finger f�llt, der hat wenig zu hoffen.“
„Aber Robert hat doch nichts weiter verbrochen, als daß er �ber die Grenze wollte.“
„Kind, stell' dich nicht so an! Du weißt ebensogut wie ich, daß die Polen keine Skrupel, oder was man so Gewissensbisse nennt, kennen.“
„Das weiß ich, aber vielleicht w�re mit Geld etwas zu erreichen.“
„Ja, vielleicht mit so viel, wie Strelkau wert ist. Vielleicht wird es auch nicht langen, wenn der Halunke merkt, daß ich es f�r die Befreiung Roberts anlegen will. Daß die alte Gn�dige es nicht kann, weiß der Kerl nur zu genau.“
„Vater, und wenn es mein ganzes Erbteil kostet,“ rief Trudchen erregt.
„Kindchen, nicht zu hitzig. Nur immer ruhig reiten auf jungen Pferden und bei schlechten Nachrichten ruhig Blut bewahren. Gieß noch einmal ein und dann erz�hl' mir, wie alles gekommen ist.“
In knapper Form gab Gertrud Bescheid. Sie hatte sich dem Vater auf den Schoß gesetzt und sich an ihn geschmiegt. Sie schloß ihren Bericht: „Es ist doch ganz unerfindlich, wie der Kommissar von Roberts Besuch Kenntnis erhalten haben kann. Dr�ben hat nur unser Verwalter davon gewußt, was er beabsichtigte und wohin er ging.“
„Ja, das ist mir auch ein R�tsel, das wir vorl�ufig nicht l�sen k�nnen. Du hast doch nicht etwa einen Verdacht auf den Verwalter? Der Mann ist als Eleve eingetreten und jetzt schon zehn Jahre bei mir. Das mach' dir man ab.“
Gertrud schwieg eine Weile und reichte ihrem Vater das Glas. „Wir m�ssen doch alles daran setzen, Robert zu befreien.“
„Ja, mein Kind, aber stell' dir das nicht so leicht vor. Schon, um bloß zu erfahren, wo sie ihn hingebracht haben, wird eine schwere Sitzung kosten. Ehe ich den Wolzlegier nicht �ber die Schwelle des Bewußtseins hin�bergebracht habe, wird er nicht den Mund auftun und dann, was hilft uns das?“
„Weißt, was mir eben einf�llt, Vater? Du f�hrst zu Lubomierski, und dann gehst du in Posen zu einem Rechtsanwalt, der kein fanatischer Pole ist. Wenn der die Sache in die Hand nimmt...“
„Halt, stopp, mein Kind, so weit m�chte und kann ich mich mit der Sache nicht einlassen. Das m�ßte die alte Gn�dige tun.“
„Das wird sie nat�rlich gern tun, aber du mußt vorher durch Lubomierski Erkundigungen einziehen, daß man nicht an den Falschen ger�t.“
Gertrud stand von dem Knie des Vaters auf und nahm sein Gesicht in beide H�nde. „Vater, vergiß nicht, daß es sich um mein Lebensgl�ck handelt. Ich habe mit Robert immer Mitleid gehabt, ich habe aber nicht gewußt, daß ich ihn liebte. Jetzt weiß ich es, seitdem ich das erlebt habe, daß er die K�hnheit gehabt hat, sich f�r mich in Not und Gefahr zu begeben.“ W�hrend sie sein Gesicht mit K�ssen bedeckte, streichelte ihr der Vater die Arme und schob sie dann von sich ab.
„Nun geh mal schlafen, mein Kind. Morgen ist auch ein Tag. Und ich muß mir das alles mal ordentlich �berlegen. Ich glaube, es wird eine schwere Zeit f�r mich werden, wenn ich den Wolzlegier betrunken muß. Der Kerl vertr�gt unheimlich viel. Aber was muß, das muß!“
„Ach, lieber Vater, das wird dir doch nicht schwerfallen,“ erwiderte Gertrud mit einer kleinen Schelmerei im Auge.
„Nein, ich lasse mir gef�rbtes und ungef�rbtes Wasser geben wie die Schankm�del, die mit uns die ganze Nacht durchhalten m�ssen. Gute Nacht, mein Kind.“
Noch lange lag Trudchen wach und plagte sich mit ihren Gedanken, die Robert suchten, von ihm zu Großchen gingen und wieder zu ihm zur�ckkehrten. Er lag wahrscheinlich im Finstern auf einem harten Brett und dachte ebenfalls in tiefster Sehnsucht an sie. Vielleicht f�hlte er, daß ihre Gedanken, ihr heißes Mitgef�hl auch bei ihm waren. Sie faltete die H�nde und ihre Gedanken wurden ein langes, inbr�nstiges Gebet.
Achtzehntes Kapitel
Am andern Vormittag fuhr Ritter schon zeitig nach der Stadt. Er hatte noch keinen festen Plan, wie er es anfangen k�nnte, Roberts Aufenthalt auszukundschaften. Am Bahn�bergang wurde er von einem Mann angerufen, der ihn fragte, ob er Eier oder Butter zu verkaufen h�tte. Er kannte den Mann. Es war ein mit allen Hunden gehetzter Kerl, der alles �bernahm, woran er etwas verdienen konnte. Er fuhr f�r einen Fleischer aufs Land, Vieh aufzukaufen. Er handelte selbst mit allem m�glichen.
Er winkte ihn an den Wagen. „Kurek, wollen Sie sich ein St�ck Geld verdienen?“
„Aber allemal, Herr Rittergutsbesitzer!“
„Wo kann ich Sie ungest�rt sprechen?“
Kurek wies mit der Nase auf eine kleine Kneipe, die schr�g�ber am Anfang der Straße lag. Ritter stieg ab und schickte sein Fuhrwerk nach dem Gasthof, wo er immer einzukehren pflegte.
Nachdem sie sich etwas zu Trinken hatten geben lassen, machte Ritter den Aufk�ufer mit seinem Vorschlag bekannt und versprach ihm hundert deutsche Mark, wenn er Roberts Aufenthalt auskundschaftete. Er gab ihm auch den Fingerzeig, daß er wahrscheinlich nicht ins Gef�ngnis eingeliefert worden sei, sondern in einer der beiden Kasernen gefangengehalten werde. Kurek meinte, das sei nicht schwer zu erfahren, dazu brauchte er nur etwas Betriebskapital, um einige Gurgeln einzu�len. Nachdem ihn Ritter auch damit reichlich versehen, ging er in seinen Gasthof. Schon gegen Mittag erschien Kurek mit der Nachricht, Robert befinde sich in der ehemaligen Artilleriekaserne. Er sei gestern abend eingebracht und in der Nacht von Wolzlegier verh�rt worden. Eben habe er diesen wieder aus der Kaserne kommen sehen.
Ritter wollte eben seinen Wagen vorfahren lassen, als die alte Gn�dige eintrat. Trudchen war morgens bei ihr gewesen und hatte ihr im Auftrage des Vaters angeraten, erst den Kreischef aufzusuchen und sich bei ihm zu beschweren. Wenn der Gang, wie anzunehmen war, erfolglos w�re, m�ßte sie nach Posen fahren. Frau Esther war schon bei Sznayda gewesen. Er hatte sie mit glatter H�flichkeit abgewiesen. Er habe noch keine Meldung von der Verhaftung erhalten. Er habe auch nicht die Macht, sich in Maßregeln einzumischen, die von der Defensive im Interesse der Sicherheit des Landes f�r n�tig erachtet w�rden.
Nun war sie in den Gasthof gekommen, wo alle deutschen Gutsbesitzer einkehrten, in der Hoffnung, Ritter zu treffen. Er gab ihr die Adresse von Lubomierski, der ihr einen energischen und vertrauensw�rdigen Rechtsanwalt empfehlen w�rde. Vor allen Dingen m�ßte festgestellt werden, ob Robert seine deutsche Staatsangeh�rigkeit noch bes�ße. Er sei deutscher Offizier, eben erst aus der Gefangenschaft zur�ckgekehrt und unterst�nde, da er formell noch nicht entlassen sei, der deutschen Milit�rbeh�rde. Dann k�nne man sich an das Ausw�rtige Amt in Berlin wenden und von ihm Schutz und Hilfe verlangen. Frau Esther winkte resigniert mit der Hand. „Haben Sie noch Zutrauen zu der jetzigen Regierung in Berlin? Ich nicht. Die wird keinen Finger r�hren, kein Blatt Papier daran wenden. Und wenn schon? Glauben Sie, daß die Polen sich daran kehren werden? Nein, man m�ßte versuchen, ihn mit List und Bestechung zu befreien, wenn man nur w�ßte, wo er ist.“
„Das habe ich schon ausgekundschaftet. Er ist hier, aber in der Gewalt der Defensive. Wenn man es bloß durchsetzen k�nnte, daß er dem ordentlichen Gericht ausgeliefert und von einem Untersuchungsrichter vernommen wird. Aber daraus wage ich, offen gestanden, nicht zu hoffen. Wen die Defensive in ihren Klauen h�lt, den l�ßt sie nicht mehr los.“
Frau Esther bestand darauf, noch am Ort einen Rechtsanwalt aufzusuchen und zu befragen. Er w�re ihr von fr�her her als ein umg�nglicher, kluger Mann bekannt. Sie kam bald mit dem Bescheid zur�ck, daß er es von vornherein abgelehnt habe, sich mit der Angelegenheit, die von der Defensive ausgegangen sei, zu befassen. Wolzlegier habe als Agent das Recht, selbst�ndig Verhaftungen vorzunehmen. Die alte Frau war verbittert, aber nicht mutlos. Sie wollte gleich am Nachmittag nach Posen fahren und dort ihre Bem�hungen fortsetzen.
***
Mit Kolbenstoßen ins Kreuz und Genick wurde Robert, den zwei Mann an den Armen gepackt hielten, vorw�rtsgetrieben. Er hatte den ersten Schreck �berwunden und sich in sein Schicksal gefunden. Im Hundetrab ging es an der Grenze entlang bis zu einem Waldst�ck, wo ein Wagen auf sie wartete. Es war ein gew�hnlicher Kr�mperwagen ohne Federn, der auf dem holperigen Wege furchtbar stuckerte. Nach einer Stunde war die Stadt erreicht. Der Wagen hielt vor einem hohen dunklen Geb�ude, das er als Kaserne erkannte.
Er wurde aus dem Wagen gezerrt und in das Geb�ude gef�hrt. Dort erst wurde eine Laterne angez�ndet, mit der man ihm ins Gesicht leuchtete. Grinsend umstanden ihn die Kerle. Er f�hlte, daß sein Gesicht mit der schwarzen Erde bedeckt war und konnte sich ihre Heiterkeit bei seinem Anblick erkl�ren. Dann wurde er eine Treppe hinab in den Keller gef�hrt und in ein finsteres Loch gestoßen. Aber ohne daß man ihm die Fesseln von den Armen l�ste. Er begann, als die T�re sich hinter ihm schloß, den Raum mit den F�ßen abzutasten. Nirgend ein Schemel oder Gegenstand, auf dem man sich niederlassen konnte. In verzweifelter Stimmung setzte er sich auf den kalten Fußboden, der aus Ziegeln bestand, und lehnte sich gegen die Wand.
Jetzt erst kam ihm die Gefahr, in der er sich befand, zu vollem Bewußtsein. Wenn man ihn hier verhungern ließ? Aber nein, sagte er sich, man wird mich verh�ren, um von mir ein Gest�ndnis zu erpressen. Dann dachte er an Trudchen und die Großmutter. Die hatten doch durch Kowalski schon Nachricht �ber seine Verhaftung erhalten und w�rden alles aufbieten, um ihn zu befreien. Aber wie? Er versank in dumpfes Br�ten, aus dem ihn das Aufschließen der T�r aufst�rte. Zwei Kerle erschienen mit der Laterne, rissen ihn hoch und f�hrten ihn die Treppe empor in ein hellerleuchtetes Zimmer, wo der Agent am Tisch saß.
Er gebot: „Zieht ihn aus und untersucht ihn.“ Die Fesseln wurden ihm gel�st und seine Kleider in roher Weise vom K�rper gerissen. Bei der Untersuchung gingen die Kerle sehr genau vor. Sie nahmen alles aus den Taschen und legten es auf den Tisch. Jede Falte, jede Naht wurde von ihnen untersucht.
„Ich erhebe Einspruch gegen diese Behandlung. Ich verlange Auskunft, weshalb ich verhaftet worden bin.“
Der Agent grinste h�hnisch. „Wirst du alles erfahren, mein B�rschchen.“
Er nahm ein kleines Notizb�chlein in schwarzem Glanzleinenband, das Robert bei sich getragen hatte, in die Hand und bl�tterte darin. Da las er: „T. hat mich heute ausgescholten. Ich habe ihr versprechen m�ssen, nicht �ber die Grenze zu kommen. T. hat heute geweint. Ich habe es deutlich vernommen, und sie hat es mir auch gesagt. Um mich hat sie geweint...“
Mit einem teuflischen Grinsen sah der Agent auf. „Wer ist die `T.'“
„Eine Dame, die ich Ihnen nicht zu nennen brauche.“
„So, Sie wollen nicht? Na, das wird ja leicht festzustellen sein. Ziehen Sie sich an.“
„Ich verlange, wenn Sie mich nicht freilassen, ein menschenw�rdiges Lager. Ein anst�ndiges Zimmer f�r die Nacht.“
„Sie k�nnen viel verlangen. Vor allem haben Sie erst mal zu antworten. Weshalb sind Sie heimlich �ber die Grenze gekommen?“
„Um mich mit meiner Großmutter zu besprechen.“
„Sie sind �ber die gr�ne Grenze gekommen, haben also keine Einreiseerlaubnis gehabt?“
�ber Robert war eine Art grimmigen Humors gekommen. „Stimmt auffallend. Ich wollte auch auf demselben Wege nach Deutschland zur�ckkehren, wenn mich Ihre Banditen nicht daran gehindert h�tten.“
„Sie werden gut tun, sich in Ihrem Benehmen und Ausdr�cken zu m�ßigen, sonst werde ich Mittel anwenden, um Ihnen das abzugew�hnen. Sie sind erst mal fahnenfl�chtig.“
„Nein. Ich geh�re dem polnischen Heere nicht an.“
„Nicht? Sie haben doch Ihr Ehrenwort gegeben, in das polnische Heer einzutreten.“
„Nein. Das habe ich nicht gegeben. Das ist eine L�ge.“
„Wir haben einen Zeugen daf�r, dessen Wort mehr gilt als Ihres. Sie haben sich mit dem Ehrenwort die Erlaubnis erschlichen, zur Wiederherstellung Ihrer Gesundheit in das Ausland zu gehen.“
„Auch das muß ich bestreiten.“
„Daß Sie alles bestreiten m�ssen, ist klar, das wird Ihnen aber nichts helfen. Sie haben nicht das Bad aufgesucht, das Ihnen der Arzt vorgeschrieben hatte, sondern sich gleich nach Werben begeben.“
„Das ist doch kein Verbrechen. Mir war doch kein Ort zum Aufenthalt angewiesen.“
„Sie haben noch jetzt Verbindungen mit dem deutschen Generalstab, dem Sie Nachricht �ber polnisches Milit�rwesen liefern?“
Jetzt fuhr Robert auf. Er f�hlte die Schwere der Beschuldigung. „Das ist ein falscher Verdacht, den Sie mir nicht beweisen k�nnen.“
„Das ist eine ganz falsche Ansicht von Ihnen. Nicht wir haben Ihnen das zu beweisen, sondern Sie haben den Beweis zu f�hren, daß Sie unschuldig sind.“
„Das ist ja ein ganz neuer Grundsatz Ihrer sogenannten Rechtspflege.“
Der Agent bl�tterte wieder in dem Notizbuch, dann kniff er das linke Auge zu und sah Robert lauernd an. „Wer ist die T., deren �ußerungen Sie hier aufgezeichnet haben?“
„Dar�ber verweigere ich die Aussage.“
„Ist es nicht das Fr�ulein Ritter auf Strelkowo? Wie haben Sie mit ihr von Werben aus in Verbindung gestanden?“
Jetzt erschrak Robert heftig. Der Agent war augenscheinlich auf der richtigen F�hrte. In m�glichst gleichg�ltigem Tone gab er zur Antwort: „Das Fr�ulein Ritter kam t�glich zu meiner Großmutter, und daher habe ich Ihre �ußerungen nachtr�glich aufgezeichnet.“
„Sie wollen mir nicht die Wahrheit sagen. Ich werde Ihnen jetzt Zeit geben, sich zu besinnen. F�hrt ihn ab!“
Zwei Kerle nahmen ihn in die Mitte und f�hrten ihn wieder in sein Kellerloch. Eine Weile ging Robert unruhig in seiner Zelle hin und her und �berdachte seine Lage. Es kam ihm vor, als wenn er in einer Mausefalle saß, vor der die Katze saß, die ihre Krallen nach ihm ausstreckte. Am meisten beunruhigte ihn die Tatsache, daß der Agent augenscheinlich infolge der Eintragungen in sein Notizbuch auf eine geheime Verbindung zwischen Strelkau und Werben schloß. Wenn der Agent eine �berraschende Haussuchung in Strelkau vornahm und die geheime Fernsprechanlage entdeckte, dann waren auch Ritter und Trudchen verloren.
Nach einiger Zeit wurde sein Gef�ngnis wieder aufgeschlossen, zwei Kerle warfen ihm einen Strohsack und eine durchl�cherte Pferdedecke hinein und entfernten sich wieder. Er setzte sich auf den Strohsack und bedeckte sich die Knie mit der Decke. So saß er lange Zeit von zerm�rbenden Sorgen und Gedanken gequ�lt, bis ihn die M�digkeit umwarf und der Schlaf ihm wie ein Erl�ser nahte.
Am Morgen wurde er durch einen W�rter geweckt, der ihm eine Sch�ssel Mehlsuppe und ein St�ck Brot brachte. Das Brot aß er auf, denn sein Magen knurrte vernehmlich. Die Suppe ließ er unber�hrt. Von irgendwoher h�rte er eine Uhr schlagen. Er z�hlte die Schl�ge. Es war zehn Uhr. Gleich darauf wurde seine Zelle wieder ge�ffnet und er in dasselbe Zimmer gef�hrt, wo der Agent bereits auf ihn wartete. Als Robert vor ihm stand, begann er wieder in dem Notizbuch zu bl�ttern.
Robert benutzte die Pause: „Ich verlange eine menschenw�rdige Unterkunft und das Recht, mich selbst zu bek�stigen. Selbst nach Ihren Grunds�tzen bin ich ein politischer Gefangener, den man nicht wie einen gemeinen Verbrecher behandeln darf.“
Der Agent sah auf. „Das soll sich erst herausstellen. Vorl�ufig nehme ich an, daß diese Eintragungen eine Geheimschrift sind, deren Schl�ssel ich finden werde. Mich interessiert nur die Frage, auf welchem Wege Sie die Nachrichten von Strelkowo erhalten haben. Daß Sie �ußerungen, die in Ihrer Gegenwart gefallen sind, nachtr�glich aufgezeichnet haben, ist ein M�rchen. Ich lasse mir keine M�rchen aufbinden. Verstehen Sie, junger Mann?“
Nachdem der Agent noch eine Reihe von Fragen getan hatte, auf die Robert nichts erwiderte, herrschte er ihn an: „Weshalb antworten Sie nicht? Soll ich Ihnen die Zunge l�sen?“
„Ich weiß, daß Sie die Macht haben, mich mißhandeln zu lassen, aber trotzdem werde ich auf keine Frage mehr antworten.“
„Bedenken Sie, daß Sie wegen Fahnenflucht und Landesverrat angeklagt sind.“
„Das habe ich begriffen,“ erwiderte Robert trotzig, „aber ich verweigere trotzdem jede Antwort.“
Der Agent schlug mit der Faust auf den Tisch und br�llte: „F�hrt ihn ab!“ Vergeblich erwartete Robert im Laufe des Tages wieder zum Verh�r vorgef�hrt zu werden. Auch kein W�rter ließ sich mit Essen blicken. Er h�mmerte mit den F�usten gegen die T�re, aber ohne jeden Erfolg. Man wollte ihn also mit Hunger z�hmen. Als es dunkelte, trieb ihn sein Magen dazu, die kalt und dick gewordene Suppe auszuessen. Sie war scharf gesalzen und erregte seinen Durst. Aber auch Wasser, das man doch selbst den schwersten Verbrechern gew�hrt, wurde ihm vorenthalten. Sein Mut sank. Je l�nger, je mehr kam ihm zum Bewußtsein, daß er sich in der Hand eines b�swilligen, brutalen Feindes befand, von dem er nicht die geringste Schonung zu erwarten hatte.
Er war trotz seiner geistigen und k�rperlichen Beschwerde aus dem Strohsack sitzend eingeschlummert, als er wiederum durch das Schließen der T�re geweckt wurde. Zwei Soldaten erschienen mit einer Laterne und forderten ihn im barschen Tone auf, auszustehen und mitzukommen. Die Kerle sahen verdammt wenig vertrauenerweckend aus. Als er den Korridor entlang gef�hrt wurde und nicht in das Vernehmungszimmer, blieb er stehen und fragte, wohin er gef�hrt w�rde.
„Weg,“ erwiderte einer kurz.
„Dann verlange ich meine Sachen, meine Uhr und mein Geld wieder.“
Als sie ihn an den Armen faßten, um ihn vorw�rtszuschleppen, str�ubte er sich mit aller Kraft. Die Kerle br�llten, er schrie dagegen. Die T�r der Wachstube �ffnete sich, ein Sergeant kam heraus und gebot Ruhe. Robert wiederholte sein Verlangen. Der Wachhabende zuckte die Achseln. „Ich habe keinen Befehl, Ihre Sachen herauszugeben.“ Nach langem Hin und Her holte er sie jedoch aus der Schublade seines Tisches.
Nun f�hrten ihn die Schaschken durch die schwach erleuchtete Straße zum Bahnhof. Er fragte unterwegs, ob sie einen Rachenputzer und ein Glas Bier trinken wollten, was sie eifrig bejahten. Nun f�hrten sie ihn auf den Bahnhof. In dem Wartesaal dritter Klasse genehmigten sie einige Schn�pse und Bier und ließen auch Robert seinen Hunger und Durst stillen. Dann brachten sie ihn an einen G�terzug, dem ein Personenwagen angeh�ngt war. In einem Abteil nahmen sie mit ihm Platz. Jetzt waren sie zug�nglicher, und als Robert fragte, wohin die Reise ginge, erwiderte einer: „Nach Sczypiorno.“
„Was ist das?“
„War fr�her Gefangenlager.“
Die Fahrt dauerte ewig. Seine W�chter schliefen so fest, daß Robert auf einer der kleinen Stationen, auf denen der Zug hielt, ungehindert h�tte entweichen k�nnen. Das hatte doch keinen Zweck. Wohin sollte er sich wenden? Man w�rde ihn doch bald wieder aufgreifen. Nein, jetzt hieß es durchalten.
Der Tag begann zu grauen, als seine W�chter auf einer kleinen Station mit ihm ausstiegen und mit ihm abmarschierten. Es wurde ihm unheimlich zumute. Wenn die Kerle ihn jetzt um die Ecke brachten? Einige Stiche mit dem Bajonett, dann war er erledigt. Ohne den Kopf zu wenden, schielte er nach rechts und links. Beim geringsten Anzeichen, daß sie etwas gegen ihn unternehmen wollten, gedachte er die Flucht zu ergreifen.
Das schien nicht der Fall zu sein. Der eine fluchte von Zeit zu Zeit, daß er die Nacht durchfahren und dann noch so weit marschieren m�ßte. Der andere brummte vor sich hin. Dann nahm Robert eine Reiseflasche voll Schnaps, die er auf dem Bahnhof erstanden hatte, aus der Tasche, �ffnete sie und trank ihnen zu. Sie tranken mit vergn�gter Miene die Flasche aus. Nun schritt Robert mit gr�ßerer Ruhe mit ihnen dahin. So sahen nicht zwei B�sewichte aus, die ihn ums Leben bringen wollten. Nach einiger Zeit tauchten in der Dunkelheit vor ihnen einige niedrige Baracken aus. Die beiden Schaschken stießen mit dem Kolben gegen das Tor. Endlich nach langer Zeit ert�nte eine Stimme von innen. „Wer ist da?“
„Gefangentransport.“
Es antwortete ein langer Fluch: „Geht zum Teufel mit eurem Gefangenen!“
„Gefangener der Defensive. Schriftlicher Befehl.“
Die Stimme, die drinnen nochmals heftig fluchte, kam Robert merkw�rdig bekannt vor. Das Tor wurde ge�ffnet. „Kommt rein!“
Im n�chsten Augenblick stand Robert seinem Hax, seinem Kameraden aus der Gefangenschaft, gegen�ber. Er trug eine Rogatka mit ungeheurem Schirm, eine verschossene Tuschurka, einen dicken Schnurrbart unter der Nase, aber Robert erkannte ihn auf dem ersten Blick. Beinahe h�tte er in freudiger �berraschung „Hax“ gerufen, aber er wurde rechtzeitig durch einen abwehrenden Blick gewarnt.
Neunzehntes Kapitel
Die polnische Republik empfand wieder einmal das Bed�rfnis, ihre Kassen durch eine Zwangsanleihe zu f�llen. Sie hielt es jedenfalls f�r heilsamer, die Koscziuskos an sich zu nehmen, als immerfort neue zu drucken. Was jeder Staatsb�rger von dieser Anleihe aufbringen mußte, wurde nach Maßgabe seiner Steuerveranlagung eingesch�tzt. Sobald Ritter von dieser Tatsache erfahren hatte, beeilte er sich, das Steueramt aufzusuchen. Mit dem Vorsteher, mit dem er bei jedem Besuch einen inhaltreichen H�ndedruck wechselte, stand er im freundlichen Einvernehmen. Der alte Herr war gegen ihn so liebensw�rdig, deutsch zu sprechen, obwohl seine F�higkeiten dazu sehr gering waren. Ritter erlaubte sich den Scherz, hundert Koscziuskos, die er hartn�ckig „Koschnitzkis“ nannte, wie sie im Volksmund hießen, anzubieten.
Der Beamte l�chelte schmerzlich und sch�ttelte den Kopf. „Das w�ren etwa zwei deutsche Mark.“
Allm�hlich steigerte Ritter sein Angebot auf 500 Gulden. Auch das gen�gte nicht. Der alte Herr schlug ein B�chlein auf und zeigte ihm, daß er mit 50000 Gulden eingesch�tzt war. Er k�nne nichts davon abhandeln lassen, denn die Betr�ge seien „oben“ festgesetzt worden. Wohl oder �bel mußte Ritter sich dazu verstehen, die Summe zu zeichnen und anzuweisen. Als er sich verabschieden wollte, hielt ihn der Beamte fest und verlangte noch f�r ein halbes Jahr die „Zinsen“.
Ritter machte ein verbl�fftes Gesicht, dann lachte er laut auf. Das war ihm noch nicht vorgekommen! Ein Staat, der von seinen Untertanen eine Anleihe eintreibt, die er nach allgemeinem Brauch zu verzinsen hat, l�ßt sich umgekehrt von seinen Geldborgern Zinsen bezahlen. Das konnte doch nur ein schlechter Witz von dem Vorsteher sein. Aber nein, es war Ernst, bitterer Ernst. Es blieb ihm nichts anderes �brig, als auch diesen Betrag noch zu zahlen.
— — — Mit der Adresse des Herrn Regierungsrat Lubomierski versehen, fuhr Frau Esther nach Posen. Eine starre Ruhe war �ber sie gekommen. Sie hatte wenig oder gar keine Hoffnung, daß es ihr gelingen k�nnte, ihren Enkel aus den Krallen der Defensive zu befreien. Der Schlag, der gegen ihn gef�hrt wurde, galt nicht zum wenigsten auch ihr. Es war die Vergeltung f�r ihr mutiges Festhalten am Deutschtum. Lange hatte sie mit dem Gedanken gerungen, ob sie irgendeine Schuld an Roberts Ungl�ck trage und war zu dem Entschluß gekommen, daß es nicht der Fall war. Es war ihr ein unabweisbares Bed�rfnis, ja eine sittliche Pflicht, ihre �berzeugung zu bekennen und zu verteidigen. Der Junge war geradezu mutwillig in sein Ungl�ck hineingerannt, wenn es auch entschuldbar war, daß ihm das Herz mit dem Verstand durchgegangen war.
Und ein Entschluß stand in ihr fest. Sie wollte mit dem Lubomierski Abrechnung halten, der durch das M�rchen von Roberts Ehrenwort dem Agenten die Waffe in die Hand gegeben hatte, ihren Enkel als fahnenfl�chtig zu erkl�ren.
Der Herr Rat war sehr verlegen, als ihm Frau Dalkowski aus Hartenau gemeldet wurde. Er h�tte sich am liebsten verleugnen lassen, wenn der Diener ihr nicht schon seine Anwesenheit verraten h�tte. Die alte Dame kam doch sicherlich, um seinen Rat und seinen Einfluß in Anspruch zu nehmen. Und er mußte ihr sagen, daß er nicht mehr den geringsten Einfluß besaß, daß er durch seine Bef�rderung kaltgestellt worden war. Seine Frage: „Was verschafft mir die Ehre, gn�dige Frau?“ klang deshalb sehr k�hl.
„K�nnen Sie mir einen Rechtsanwalt nennen, der anst�ndig genug ist und auch den Mut besitzt, eine gerechte Sache gegen die Gewaltpolitik Ihrer Regierung durchzufechten?“
„O ja, gn�dige Frau. Es gibt solche M�nner bei uns. Worum handelt es sich denn?“
„Mein Enkel ist beim �berschreiten der Grenze im Auftrage des Agenten Wolzlegier verhaftet worden.“
„Ihr Enkel befand sich doch dr�ben in Sicherheit. Was trieb ihn �ber die Grenze hierher zur�ck?“
„Das geht Sie zwar nichts an, aber ich will es Ihnen sagen, Herr Lubomierski. Sein Herz trieb ihn nach Hause. Er kam, um sich mit Fr�ulein Ritter zu verloben.“
Der junge Mann wurde bleich und senkte den Kopf. Frau Esther saß ihm eine Weile schweigend gegen�ber. Sie sah, wie der Schmerz in ihm w�hlte. Ein leises Gef�hl von Mitleid stieg in ihr auf. Aber sie unterdr�ckte es. Als sie sah, daß er sich gesammelt und gefaßt hatte, fuhr sie fort: „Mein Enkel verlebte mit seiner Braut einen gl�cklichen Tag bei mir. Auf dem R�ckweg wurde er an der Grenze verhaftet. Der Agent beschuldigt ihn der Fahnenflucht. Diese Anklage haben Sie ihm verschafft.“
„Aber, gn�dige Frau, wie kommen Sie dazu, mir die Schuld in die Schuhe zu schieben?“
„Sie haben dem Agenten das M�rchen erz�hlt, mein Enkel h�tte Ihnen das Ehrenwort gegeben, zur�ckzukehren und sich zum Eintritt in das polnische Heer zu melden.“
„Das habe ich allerdings getan,“ erwiderte Lubomierski heftig. „Es war nur das Mittel zu dem Zweck, Ihrem Enkel die Ausreise zu erm�glichen. Ich habe es nicht f�r m�glich gehalten, daß Ihr Enkel so unvorsichtig sein k�nnte, nochmals �ber die Grenze zu kommen.“
„Das heißt,“ gab Frau Esther ruhig zur Antwort, „Sie wollten dadurch meinem Enkel unm�glich machen, sein Elternhaus wiederzusehen und sein Gut zu �bernehmen.“
Wortlos sch�ttelte der junge Mann den Kopf. Die alte Gn�dige fuhr mit scharfer Stimme fort:
„Wir sind der �berzeugung, daß Sie die Ausreiseerlaubnis nur deshalb erteilt haben, um sich meinen Enkel, der Ihnen als Nebenbuhler bei Fr�ulein Ritter gef�hrlich erschien, vom Halse zu schaffen. Und das angebliche Ehrenwort meines Enkels diente demselben Zweck.“
Der junge Mann sprang auf: „Gn�dige Frau schieben mir Beweggr�nde unter, die mir v�llig fernlagen. Ich habe damals das M�rchen von dem Ehrenwort, wie Sie es nennen, nur zu meiner eigenen Sicherheit erfunden, um mir dem Agenten gegen�ber den R�cken zu decken. Ich bedauere sehr, daß es zu der Anklage auf Fahnenflucht Veranlassung gegeben hat. Ich habe aus reinem Mitgef�hl Ihrem Enkel zur Ausreise verholfen. Ich wollte auch dem Agenten einen Strich durch die Rechnung machen, ihm sein Opfer entreißen. Das M�rchen hat uns damals beiden geholfen. Daß Ihr Enkel die Unvorsichtigkeit begehen w�rde...“
Mit einer Handbewegung schnitt ihm Frau Esther das Wort ab und stand auf. „Ihr Bedauern hilft uns nichts mehr. Ich bin nur hergekommen, um Sie zu fragen, ob Sie bereit sind und den Mut besitzen, vor Gericht zu bezeugen, daß mein Enkel Ihnen nie sein Ehrenwort gegeben hat, sich zum Eintritt in das polnische Heer zu stellen. Das verlange nicht nur ich von Ihnen, sondern auch Fr�ulein Ritter erwartet es von Ihrer Ehrenhaftigkeit, daß Sie der Wahrheit die Ehre geben.“
Aus dem Gesicht des jungen Mannes wechselten die Farben. Das Blut stieg ihm zu Kopf. Seine H�nde krampften sich zusammen und �ffneten sich wieder. Frau Esther stand ihm hochaufgerichtet gegen�ber und sah ihn scharf an: „Nun, Herr Rat?“
Er hob den Kopf und streckte ihr die Hand entgegen. „Sagen Sie Fr�ulein Ritter, daß sie sich nicht in mir get�uscht habe. Ich werde mein Zeugnis nicht verweigern. Aber, ob die Wahrheit, daß Ihr Enkel wegen seiner Gesinnung meine Aufforderung in das polnische Heer einzutreten, zur�ckgewiesen hat, ihm nicht schaden wird?“
„Das lassen Sie unsere Sorge sein,“ fiel ihm Frau Esther ins Wort. „Wenn man alle Deutschen wegen ihrer Liebe zum Vaterlande einsperren wollte, d�rften die polnischen Gef�ngnisse nicht ausreichen.“ Sie entzog ihm ihre Hand, die er bis dahin festgehalten hatte.
„Wollen gn�dige Frau sich nicht mehr den Namen eines Rechtsanwalts nennen lassen?“
„Ich bitte darum.“
„Es ist ein Vetter meines Vaters desselben Namens. Ich werde Ihnen eine Empfehlung mitgeben. Wenn er Ihren Auftrag, wie ich hoffe, annimmt, wird er ihn mit aller Energie durchf�hren.“ Er setzte sich und schrieb schnell einige Zeilen, die er in einen Umschlag steckte und mit der Adresse versah.
Frau Esther mußte bis zum Nachmittag warten, ehe sie den Justizrat sprechen konnte. Ein zierlicher, alter Herr mit eisgrauem Spitzbart. Er wies ihr einen bequemen Sessel an und h�rte aufmerksam zu, w�hrend Frau Esther kurz den Fall ihres Enkels berichtete. Ab und zu machte er sich eine Notiz. Sie schloß: „Es handelt sich f�r mich in erster Linie darum, meinen Enkel aus der Gewalt der Defensive zu befreien und vor ein ordentliches Gericht zu bringen. Sein ganzes Vergehen besteht doch nur darin, daß er heimlich �ber die Grenze gekommen ist und auf demselben Wege wieder nach Deutschland zur�ckkehren wollte. W�rden Sie bereit sein, seine Verteidigung zu �bernehmen?“
Der alte Herr wiegte bed�chtig den Kopf. „Ich nehme selbstverst�ndlich den Auftrag an. Ich zweifele nicht, daß Ihr Enkel unschuldig verhaftet worden ist und halte es f�r einen bedauerlichen Mißgriff des Agenten. Ich darf es Ihnen jedoch nicht verhehlen, daß ich eine sehr schwere Aufgabe �bernehme. Aber ich will es versuchen. Zun�chst muß ich mir von ihrem Enkel eine Vollmacht ausstellen lassen und den Antrag stellen, ihn pers�nlich sprechen zu d�rfen. Gelingt mir das nicht, dann muß ich den Auftrag zur�ckgeben.“
„W�rden Sie mir dann einen Rat erteilen, welche Schritte ich sonst noch unternehmen k�nnte?“
„Gern, gn�dige Frau. Ich glaube aber, so viel Einfluß zu haben, um bis zu Ihrem Enkel vordringen zu k�nnen.“
Die ruhige, sichere Art des alten Herrn gab Frau Esther etwas Hoffnung. Sie kehrte mit dem n�chsten Zug nach Hause zur�ck, wo Trudchen sie schon sehns�chtig erwartete, die sich schon einen Plan zur Befreiung ihres Verlobten zurechtgelegt hatte. Sie wollte nach Berlin fahren und Roberts Schicksal durch die Zeitungen an die �ffentlichkeit bringen. Da gab es auch eine große Organisation, die sich mit dem Schicksal der aus Posen und Westpreußen gefl�chteten Deutschen, der Vertriebenen und Verdr�ngten, sehr energisch besch�ftigte. Sie wollte das Ausw�rtige Amt und die Oberste Milit�rbeh�rde f�r Robert zu interessieren suchen. Wenn es gelang, Robert vor ein ordentliches Gericht zu bringen, was Großchen nach der Unterredung mit dem Rechtsanwalt hoffte, dann m�ßte seine Befreiung gelingen.
Am n�chsten Tage fuhr Ritter nach der Stadt, um f�r Trudchen die Ausreiseerlaubnis zu beschaffen. Am Bahn�bergang traf er wieder auf Kurek, der ihm mit der Hand winkte. Er ließ halten und stieg vom Wagen.
„Haben Sie mir etwas Neues mitzuteilen?“
„Jawohl, Herr Rittergutsbesitzer. Der junge Herr ist nicht mehr in der Kaserne, er ist in der Nacht weggebracht worden.“
Ganz best�rzt fragte Ritter: „Irren Sie sich auch nicht? Woher wissen Sie das?“
„Verlassen Sie sich darauf, daß es richtig ist. Ich habe es in der Kantine von dem Sergeanten erz�hlen h�ren, der ihm seine Uhr und sein Geld zur�ckgegeben hat. Er hat daf�r heute schon von dem Agenten einen geh�rigen Wischer gekriegt.“
„Haben Sie eine Ahnung, wohin er gebracht ist?“
Kurek zuckte die Achseln. „Das werde ich vielleicht herausbekommen, wenn die beiden Soldaten zur�ckkehren, die ihn weggebracht haben.“
„Geben Sie sich M�he, es zu erfahren. Sie k�nnen sich damit wieder ein St�ck Geld verdienen.“
Vom Gasthof ging Ritter sofort ins Kreisamt. Der Starost war weggefahren. Sein Gehilfe, der auf einen inhaltreichen H�ndedruck hoffte, war sehr gef�llig und bereit, die Ausreiseerlaubnis auszuf�llen, abzustempeln und in Vertretung seines Chefs zu unterschreiben. Es lagen doch keine Bedenken irgendwelcher Art vor, wenn eine junge Dame zu Verwandten auf Besuch fahren wollte. Eine halbe Stunde sp�ter ging Ritter aus alter Gewohnheit nach der „feuchten Ecke“. Er fand das Lokal leer. Eine der Mamsellen wußte ihm zu berichten, daß der Kommissar vor etwa einer Stunde vorbeigefahren sei. Er trank stehend am Schanktisch einen Kognak, ging zum Gasthof und ließ seinen Wagen vorfahren.
Unterwegs �berlegte er, ob er Trudchen mitteilen sollte, daß Robert weggebracht worden sei. Er beschloß es nicht zu tun, um sie nicht zu beunruhigen. Er fand seine Tochter in der h�chsten Aufregung. Der Kommissar war dagewesen und hatte ihr ein schwarzes B�chlein vorgelegt. Sie hatte es durchbl�ttert und sofort begriffen, daß es Aufzeichnungen waren, die sich Robert in Werben gemacht hatte.
„Kennen Sie das Buch,“ fragte Wolzlegier dabei.
„Nein, ich habe es nie gesehen.“
„Kennen Sie die Handschrift?“
„Nein, sie ist mir v�llig unbekannt.“
„Das glaube ich nicht. Sie werden doch, da Sie so viel in Twardowo verkehren, die Handschrift des Dalkowski kennen.“
Trudchen zuckte die Achseln. „Ich habe nie etwas Schriftliches von Herrn Dalkowski zu Gesicht bekommen.“
„Aber Sie werden doch wissen, wen er mit dem Buchstaben `T' bezeichnet? Ich glaube, Sie sind damit gemeint.“
„Ja, Herr Kommissar, erlauben Sie mal die Frage, was geht das mich an? Selbst, wenn Ihre Vermutung richtig sein sollte.“
„Sie ist richtig,“ erwiderte Wolzlegier h�hnisch l�chelnd. „Nun m�chte ich bloß von Ihnen wissen, wo diese Aufzeichnungen gemacht sind.“
„Dar�ber kann ich Ihnen beim besten Willen keine Auskunft geben.“
„Das wird sich noch alles aufkl�ren lassen,“ hatte der Kommissar zum Abschied gesagt.
Die kurze Unterredung hatte Trudchen in ihrer Annahme best�rkt, daß der Pole eine geheime Fernsprechverbindung zwischen Strelkau und Werben argw�hnte. Gleich nach seiner Abfahrt hatte sie den Apparat aus seinem Versteck, aus einer mit einem Bild verh�ngten Nische entfernt und den Leitungsdraht, der auf der andern Seite hinter dem Schrank zum Fußboden und durch ihn hindurch in den Keller ging, beseitigt. Nun war eine Entdeckung so gut wie ausgeschlossen.
Als der Vater eintrat, war sie gerade dabei, ihren Koffer zu packen. Sie begr�ßte ihn mit der Frage, ob er die Ausreiseerlaubnis erhalten habe. Als er bejahte, legte sich ihre Aufregung. Sie riet dem Vater, ihr die Depotscheine �ber das in Deutschland angelegte Kapital anzuvertrauen und ihr sobald wie m�glich nachzufolgen. Sie habe das Gef�hl, daß seine Sicherheit trotz seiner Polenfreundlichkeit und aller Opfer, die er gebracht habe, gef�hrdet sei.
„Du siehst Gespenster,“ erwiderte Ritter. „Auch die Polen schlachten nicht eine Henne, die ihnen goldene Eier legt.“
„Das haben Sie schon getan und werden es auch weiter tun.“
Kurz vor Mittag ging sie noch zu Großchen. Die alte Frau war sehr traurig, daß sie nun auch noch Trudchen verlieren sollte, an deren Liebe sie sich immer aufgerichtet hatte. Aber sie fand es verst�ndlich, daß das liebe Kind nach Deutschland fahren wollte, um dort alle Hebel f�r die Befreiung ihres Verlobten in Bewegung zu setzen. Sie schloß sie tief bewegt in ihre Arme und k�ßte sie wiederholt.
Eine Stunde sp�ter fuhr Trudchen in Begleitung ihres Vaters zur Bahn. Mit dem Beamten, mit denen er viel zu tun hatte, war er gut Freund. Ohne Schwierigkeit erhielt er die Fahrkarte f�r Trudchen und geleitete sie zum Zug, der schon eingefahren war. Ihr standen die Augen voll Tr�nen. Der Abschied von Großchen war ihr sehr schwer gefallen. Nun fuhr sie in eine ungewisse Zukunft mit der Sorge um den geliebten Mann im Herzen. Sollten die wenigen Stunden des einen Tages das ganze Gl�ck gewesen sein, das ihr vom Schicksal beschieden war?
Zwanzigstes Kapitel
Einige Tage vergingen, bis von Trudchen die Nachricht eintraf, daß sie gute Fahrt gehabt und wohlbehalten bei der Tante in Berlin gelandet sei. W�hrenddessen hatte die alte Gn�dige von ihrem Anwalt aus Posen die Nachricht erhalten, daß von der Defensive keine Auskunft �ber ihren Enkel zu bekommen sei. Man wisse dort von einer Verhaftung eines Gutsbesitzers Dalkowski nichts. Der fr�here Agent Wolzlegier sei nicht mehr in ihrem Dienst. Wenn eine Verhaftung stattgefunden habe, dann m�sse sie von einer anderen Beh�rde ausgegangen sein.
Ritter hatte inzwischen durch Kurek in Erfahrung gebracht, daß Robert wahrscheinlich nach dem fr�heren Internierungslager Sczypiorno gebracht worden sei und es Frau Esther mitgeteilt, die es ihrem Anwalt meldete, mit der Bitte festzustellen, ob ihr Enkel sich wirklich dort befinde. Auch dieser Versuch, Roberts Aufenthalt zu erfahren, erwies sich als vergeblich. Man mußte annehmen, daß die polnischen Beh�rden absichtlich seinen Aufenthalt nicht angeben wollten. Es war ja auch ein offenes Geheimnis, daß die polnischen Beamten l�gen, sooft sie den Mund auftun. Es schien ihnen gar nicht m�glich zu sein, selbst wenn es sich um unbedeutende, nebens�chliche Dinge handelte, die Wahrheit bekanntzugeben.
Eine m�de Resignation kam �ber die alte Frau. Sie begann sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, Hartenau preiszugeben und Polen zu verlassen, um irgendwo �ber der Grenze die paar Jahre, die ihr noch vom Schicksal beschieden waren, zu verleben. Sie besaß noch wertvolle Schmucksachen, durch deren Verkauf sie sich ein paar Jahre �ber Wasser halten konnte.
Sie ging jetzt �fter zu Ritter, der sich seit der Abreise seiner Tochter auch vereinsamt f�hlte. Den Plan, Vieh aufzukaufen, hatte er aufgegeben. Er wollte den Kommissar und den Starosten nicht das Geld verdienen lassen, das f�r sie dabei abfallen m�ßte. Er fuhr noch ab und zu in die Stadt, wenn ihm die Einsamkeit zu Hause unertr�glich wurde. Dabei erfuhr er eines Tages, daß der Kommissar verschwunden sei. Ob er von seinem Amt entfernt war oder es selbst aufgegeben hatte, wußten die Herren, von denen er die Nachricht erfuhr, nicht. Ebenso wußten sie nicht, wo er geblieben war. Damit schwand f�r Ritter auch die Hoffnung, durch eine gr�ßere Geldsumme von dem Kommissar den Aufenthalt Roberts zu erfahren und vielleicht durch eine noch gr�ßere seine Freilassung zu erkaufen.
Was die alte Gn�dige noch von dem Entschluß abhielt, ihr Gut der Regierung zum Kauf anzubieten, war die Sorge um ihre Leute, von denen die meisten Deutsche waren, vor allem um den alten Kowalski. Er verfiel sichtlich. Kummer und Sorge um den Sohn zehrten an seiner Lebenskraft. Frau Esther war deshalb nicht sehr �berrascht, als seine Frau eines Morgens weinend mit der Nachricht erschien, ihr Mann sei in der Nacht selig entschlafen. Sie habe nichts gemerkt. Erst jetzt, als sie ihn wecken wollte, habe sie ihn schon kalt und steif gefunden.
Am Tage nach dem Begr�bnis fuhr Frau Esther zum Starost und teilte ihm mit, daß sie f�r Deutschland optiere und ihr Gut der polnischen Regierung zum Kauf anbiete. Achselzuckend erkl�rte er ihr, die Regierung habe kein Interesse daran, das Gut zu erstehen, aber er werde zusehen, ob er nicht einen K�ufer f�nde. Er fand sich sehr bald. Es war nat�rlich ein Pole, dem die Regierung das sch�ne Gut in die H�nde spielen wollte. Er bot einen l�cherlich geringen Preis, der, wenn sie alle Unkosten, die mit dem Verkauf zusammenhingen und die Auswanderungssteuer bezahlte, ihr so gut wie gar nichts �brigließ. Sie stellte nur die Bedingung, einen Teil ihrer M�bel �ber die Grenze mitnehmen zu d�rfen. Das wurde ihr zugestanden.
Als sie ihren Leuten den Verkauf mitteilte, wurde ihr das Herz noch einmal schwer gemacht. M�nner und Frauen k�ßten ihr weinend die H�nde. Und die meisten erkl�rten, auch nicht l�nger in Polen bleiben zu wollen. Sie wollten f�r Deutschland optieren und sich ausweisen lassen.
Ritter suchte Frau Esther zu �berreden, nach Berlin zu fahren und dort mit Trudchen zusammenzuziehen. Sie lehnte ab, sie h�tte in Fraustadt eine befreundete Familie, die ihr ein St�bchen �berlassen wollte.
Er stand ihr in diesen Tagen getreulich zur Seite und besorgte jeden Gang, den er ihr abnehmen konnte. Er brachte sie zur Bahn und nahm dort tiefbewegt von ihr Abschied. Trug er sich doch ebenfalls schon mit dem Entschluß, Strelkau aufzugeben und nach Werben �berzusiedeln, wo er wieder mit seiner Tochter zusammenleben konnte.
— — —— — —— — —— — —
Die beiden Schaschken, die Robert nach Sczypiorno gebracht hatten, legten sich zun�chst mal aufs Ohr, nachdem sie ihren Gefangenen abgeliefert hatten, und schliefen in einer Baracke bis Mittag. Nachdem sie sich sattgegessen, marschierten sie wieder ab.
Robert wurde von seinem alten Kameraden in ein behaglich eingerichtetes Zimmer gef�hrt. Dort schloß ihn Hax in seine Arme. „Alter Junge, wie kommst du hierher — und als Gefangener?“
„Dasselbe wollte ich dich fragen, nur mit dem Unterschied, wie du hier Platzkommandant geworden bist?“
Hax lachte vergn�gt. „Ja, siehst du, Kamerad, ein kluger Kerl kann es jetzt zu etwas bringen. Aber erst will ich mal deine Erlebnisse h�ren.“
Robert berichtete ausf�hrlich, wie es ihm seit ihrer unfreiwilligen Trennung auf der Flucht ergangen war. Wie er nach Hause zur�ckgekehrt und schließlich dem Agenten der Defensive in die H�nde fiel.
„Es h�tte dir auch schlimmer ergehen k�nnen,“ meinte Hax, als Robert seinen Bericht beendet hatte. „Ich muß dich nat�rlich einspunden, denn du bist mir als politischer Verbrecher �berliefert worden, f�r den ich verantwortlich bin. Ich kann dich aber anst�ndig behandeln, weil ich mir vor einigen Tagen einen Aufpasser vom Halse geschafft habe, vor dem ich mich in acht nehmen mußte. Ich habe den durchtriebenen Betr�ger, der die Internierten erpreßte, eingelocht, und der Kerl tat mir den Gefallen, schon in der zweiten Nacht auszubrechen und zu verschwinden. — Was weiter mit dir geschehen wird, weiß ich noch nicht. Ich vermute jedoch, daß man dich hier eine Zeitlang gefangenhalten will.“
„Kannst du eine Eingabe weiterbef�rdern, worin ich verlange, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu werden?“
„Das k�nnte ich wohl, m�chte dir jedoch davon abraten. Aus welchem Grunde, sage ich dir sp�ter.“
„Ich m�chte aber, wenn irgend m�glich, meiner Großmutter und auch meiner Braut Nachricht �ber meinen Aufenthaltsort geben. Wurde das m�glich sein?“
„Das ist sogar sehr einfach. In der n�chsten Zeit wird wieder ein Schub Internierter ausgewiesen werden. Da finden wir sicherlich einen vertrauensw�rdigen Menschen darunter, der einen Brief von dir mitnimmt und bef�rdert.“
Robert streckte ihm die Hand entgegen: „Du bist noch immer, auch in dieser Verpuppung, mein alter treuer Kamerad. Aber nun bist du dran, zu erz�hlen.“
„Dann muß ich damit anfangen, wie wir beide auseinanderkamen. Der Dorf�lteste, der mich damals in Verwahrung nahm, wußte nicht, was er mit mir anfangen sollte, und ließ mich, wie ich ihm vorschlug, nach acht Tagen laufen. Ich pilgerte langsam weiter, bis ich nach Rußland hinein kam. Das gefiel mir in der neuen kommunistischen Verfassung gar nicht. Ich schlug mich weiter durch, um mir den neuen polnischen Staat aus der N�he anzusehen. Dort suchte ich Arbeit und fand Besch�ftigung in einer Fabrik.“
„Wolltest du denn nicht nach deiner Heimat, nach Deutschland, zur�ck?“
Hax sch�ttelte den Kopf. „Es zieht mich nichts mehr dahin. Und wie ich h�rte, daß es in dem neuen Deutschland noch schlechter aussehen soll, beschloß ich, in Polen mein Gl�ck zu versuchen. Es bestand darin, daß ich zwischen Baum und Borke geriet. Die Arbeiter in der Fabrik waren durch die Bank Kommunisten — sie dr�ngten mich, ihrem Geheimbund beizutreten. Sie wurden nat�rlich bespitzelt und eines Tages griff die Defensive zu und ich wurde mit einigen zwanzig Mann verhaftet. Ich tat das Beste, was ich tun konnte. Ich erz�hlte bei der ersten Vernehmung ganz offen, daß ich russischer Kriegsgefangener gewesen und aus Sibirien entflohen sei. Da auch einige der Genossen ehrlich bezeugten, daß ich mich mit ihnen nicht eingelassen h�tte, glaubte man mir und machte mir den Vorschlag, ebenso wie dir, ins polnische Heer einzutreten. Nat�rlich griff ich mit beiden H�nden zu, und da ich mir den Rang eines Unteroffiziers beigelegt hatte, den ich im deutschen Heer bekleidet haben wollte, wurde ich von den Polen gleich zu derselben W�rde bef�rdert.“
„Dann hast du auch den Russisch-Polnischen Krieg mitgemacht?“
„Aber ja doch, mein Junge! Ich war gl�cklicherweise in ein Regiment der Kongressuskis geraten, das wohlweislich hinter der Front blieb. Nur einmal habe ich etwas Pulver gerochen. Infolge meiner wilden Tapferkeit, die sich in heftigem Schnauzen kundgab, wurde ich bald bef�rdert. Ich bekam einen milit�rischen Rang, der sich etwa mit dem unserer Feldwebelleutnants deckt. Als ich nach dem Kriege den Wunsch �ußerte, mich ins Privatleben zur�ckzuziehen, wurde ich hier zum Platzkommandant ernannt. Merk' dir, daß ich jetzt Gorski heiße.“
„Und wie ist dein richtiger Name?“
„Mein lieber Kamerad! Danach frag' mich nicht. In dem Punkt bin ich empfindlich. Ich habe ihn schon vor zwanzig Jahren abgelegt, als ein Schuft durch einen gef�lschten Wechsel mich aus meiner Laufbahn warf. Ich war damals schon Degenf�hnrich in der Preußischen Garde. Meine Verwandten sagten sich von mir los, so daß ich vor dem Nichts stand. Da griff ich in meiner Not zu dem weniger ehrenvollen als eintr�glichen Beruf, f�r einen ostpreußischen Großh�ndler in Russisch-Polen Vieh aufzukaufen und bis zur Grenze zu treiben. Damit mein Charakterbild nicht vor dir schwankt, will ich dir noch verraten, daß ich meine Kenntnisse von den Standorten und Bewegungen der russischen Truppen nutzbringend verwertet habe. Das heißt, ich war als deutscher Spion in Rußland t�tig. Das Viehtreiben war nur der Deckmantel. Kurz vor Kriegsausbruch verf�gte ich mich nach Deutschland zur�ck und trat als Gemeiner unter falschem Namen in unser Heer ein. Das Weitere weißt du.“
Bewegt reichte Robert dem Freund die Hand. „Gedenkst du denn nun f�r immer in Polen und polnischen Diensten zu bleiben?“
Hax zuckte die Achseln. „Vorl�ufig ja, denn ich w�ßte nicht, was ich dr�ben in Deutschland anfangen soll. Aber nun komm. Jetzt muß ich dir deine Zelle anweisen. Du kannst frei im Lager umhergehen, aber laß dich nicht mit den Internierten in lange Gespr�che ein. Du kannst mich zu jederzeit besuchen, nur zur Nacht muß ich dich einschließen.“
Er f�hrte Robert in die halb in der Erde liegende Baracke. Als er eine T�r ausschloß, drang aus der Zelle aus der andern Seite des Ganges ein dumpfes St�hnen, das zu einem Schrei anschwoll.
„Was ist das?“ fragte Robert erschreckt.
„Das ist ein junger Bursche, der schon vor meiner Zeit eingeliefert worden ist. Ein H�ne von Gestalt. Tagelang sitzt er dumpf br�tend still. Von Zeit zu Zeit st�hnt und br�llt er, wie du es eben geh�rt hast.“
„Ob das nicht der Joseph ist?“ schoß es Robert durch den Kopf. „Du, Hax, das k�nnte der Sohn unseres Vogts aus Hartenau sein, der von einem Agenten der Defensive verhaftet wurde und spurlos verschwand. Kann ich ihn mal sehen?“
„Aber ja, du mußt dich nur etwas in acht nehmen, denn er wird manchmal ungem�tlich.“
Der Platzkommandant schloß die T�r auf. Mit dem ersten Blick erkannte Robert trotz des D�mmerlichts, das in dem engen Raum herrschte, seinen Jugendgespielen. Er saß am Tisch und hatte den Kopf auf die Arme gelegt. Robert rief ihn an: „Joseph... Joseph Kowalski.“
Der Gefangene sprang auf. Seine Augen weiteten sich, dann sank er auf die Knie und streckte die Arme aus: „Junger Herr!... Junger Herr, sind Sie es wirklich?“
Er rutschte auf den Knien n�her und umfaßte Roberts Beine. „Ja, mein lieber Joseph, ich bin heute als Gefangener der Defensive hier eingeliefert worden.“
„Ach Gott,“ klagte Joseph, „und ich dachte schon, Sie sind gekommen, um mich zu holen.“
Robert sah sich nach Hax um. Er war auf den Gang zur�ckgetreten und hatte die T�r angelehnt. Da bog er sich zu Joseph nieder und raunte ihm zu: „Verzag' nicht! Der Kommandant ist ein alter Kamerad von mir. Vielleicht kommen wir beide bald frei.“
Er konnte es nicht verhindern, daß Joseph seine H�nde ergriff und k�ßte. Dann �ffnete Hax die T�r. „Wenn Sie so vern�nftig sind, dann werde ich Ihre T�r nicht abschließen, dann k�nnen Sie hier oder dr�ben mit Ihrem jungen Herrn zusammenkommen.“
Die Zelle, die er Robert anwies, war klein und d�rftig ausgestattet. Er versprach jedoch f�r ein gutes Bett zu sorgen. Von einer der internierten Frauen werde er ihm Mittag bringen lassen und zum Abend erwarte er ihn zu einem Glase Grog.
Joseph war still und geduldig geworden. Robert verlebte diese Zeit in begreiflicher Erwartung und Spannung, ob und was die Defensive weiter gegen ihn unternehmen w�rde. Er benutzte die Zeit, um an die Großmutter einen ausf�hrlichen Brief zu schreiben. F�r Trudchen f�hrte er ein Tagebuch, das allm�hlich immer dicker wurde.
Der Befehl, die internierten deutschen Familien auszuweisen und zu entlassen, ließ auf sich warten, obwohl Hax seine vorgesetzte Beh�rde, den Woywoden, daran erinnert hatte. Robert wurde mit der Zeit ungeduldig und fragte seinen Freund, ob er nicht Joseph entlassen und nach Hause schicken k�nne, damit man in Hartenau und Strelkau von seinem Schicksal und Aufenthaltsort Nachricht erhielte.
„Daran habe ich auch schon gedacht und bin auf eine gute Idee verfallen. Ich werde ihn in eine alte Uniform stecken und mit einem Paß beurlauben. Es fragt sich nur, ob sich f�r seine Gr�ße eine passende Uniform finden wird. Ich habe genug davon liegen.“
Sie fand sich, und am n�chsten Tage fuhr Joseph in der Uniform eines polnischen Soldaten, die nat�rlich auch aus deutschem Besitz stammte, auf Urlaub nach Hause. Er versprach, wiederzukommen und Geld und Nachricht zu bringen. Dann wollte ihn der Kommandant ohne weiteres entlassen.
Im Abendgrauen kam Joseph von der Bahn nach Hartenau gewandert. Er wartete im Park, wo er so oft mit Marinka gesessen, bis es dunkel wurde, das hatte ihm Robert angeraten. Dann erst ging er auf das H�uschen seiner Eltern zu. Es war dunkel, die T�r war verschlossen. Das konnte er sich nicht erkl�ren. Dann suchte er die Frau des Lehrers auf, die noch immer in Hartenau wohnte. Sie gab ihm Nachricht, daß sein Vater gestorben und begraben war. Die Mutter w�re der alten Gn�digen nach Fraustadt nachgezogen und f�hrte ihr die Wirtschaft. Fr�ulein Trudchen sei nach Deutschland gefahren, nur der alte Herr Ritter sei noch in Strelkau.
Eine Stunde sp�ter wanderte Joseph weiter nach Strelkau. Es gelang ihm, ungesehen in das Gutshaus und Ritters Arbeitszimmer zu gelangen. Der Gutsherr glaubte seinen Augen nicht trauen zu d�rfen, als er den jungen Vogt aus Hartenau in polnischer Uniform eintreten sah. Er schloß hinter ihm die T�re ab und begann ihn auszufragen.
„Und du willst wieder in die polnische Gefangenschaft zur�ckkehren?“
„Ich muß dem jungen Herrn doch Nachricht und Geld bringen. Dann will mich der Kommandant, der ein guter Freund vom Herrn Robert ist, entlassen.“
„Na, dann sieh zu, daß er dich auch ausweist. Dann gehst du �ber die Grenze nach Werben auf mein Gut als Vorarbeiter.“
Jetzt erst zog Joseph Roberts Bries und Tagebuch heraus. Was er damit anfangen sollte? Ritter nahm beides an sich und versprach, es zu bef�rdern. Nachdem er Joseph ein Zimmer angewiesen hatte, setzte er sich hin und schrieb Robert ausf�hrlich, was sich alles in Hartenau ereignet hatte. Im Morgengrauen des n�chsten Tages weckte er Joseph, �bergab ihm den Bries und stattete ihn reichlich mit Geld aus. Am Abend traf Joseph wieder in Sczypiorno ein, wo seine Ankunft große Freude erregte. Robert regte sich dar�ber, daß Hartenau verkauft und ihm verloren war, nicht mehr auf. Er hatte sich damit als einer unausbleiblichen Notwendigkeit innerlich bereits abgefunden und freute sich dar�ber, daß Trudchen in Berlin und in Sicherheit war.
Acht Tage sp�ter ging ein Transport Internierter zur Grenze, in den Joseph eingereiht wurde. Robert hatte gehofft, auf demselben Wege freizukommen. Hax vertr�stete ihn auf den letzten Schub, wenn bis dahin, wie er annahm und hoffte, die Defensive nichts weiter gegen ihn unternommen h�tte.
Einundzwanzigstes Kapitel
Seit der Zerst�rung der Leitung zwischen Strelkau und Werben hatte Ritter von seinem Verwalter Maschke keine Nachricht erhalten. Es war nicht ausgeschlossen, daß Briefe von ihm am Grenz�bergang zur�ckgehalten und ge�ffnet wurden. Das war sogar wahrscheinlich, seitdem der Kommissar sich sogar gegen ihn feindlich eingestellt hatte. Als die zweite und dritte Woche verging, ohne daß er die �bliche Abrechnung erhielt, wurde er unruhig. Er glaubte zwar, sich auf seinen Verwalter verlassen zu d�rfen, aber die Ungewißheit war doch unangenehm.
Er entschloß sich daher, hin�berzufahren. Dazu mußte er jedoch, da sein Dauerpaß f�r ung�ltig erkl�rt und eingezogen worden war, sich eine Ausreiseerlaubnis zu erwirken suchen. Er fuhr nach der Stadt aufs Kreisamt, fand aber den Starost nicht vor. Sein Gehilfe, der so bereitwillig die Ausreiseerlaubnis f�r Trudchen ausgestellt hatte, weigerte sich, es auch f�r ihn zu tun. Er wand sich f�rmlich vor Verlegenheit, als Ritter mit nicht mißzuverstehender Absicht seine dicke Brieftasche zog. Er h�tte schon wegen der Erlaubnis f�r das Fr�ulein Unannehmlichkeiten gehabt.
Als noch eine Woche verging, ohne daß aus Werben Nachricht eintraf, hielt es Ritter nicht mehr l�nger aus. Da auch der Kommissar inzwischen verschwunden war, w�rde es ihm vielleicht m�glich sein, auch ohne Schein �ber die Grenze zu gelangen. Er nahm nur die n�tigsten Sachen f�r eine kurze Reise mit und fuhr zur Bahn. Der Vorsteher begr�ßte ihn so freundlich wie immer, und als er mit ihm den �blichen Gang zum Schanktisch antrat, fragte er teilnehmend, weshalb der Herr Gutsbesitzer so lange nicht nach Werben gefahren sei. Ritter schloß daraus, daß dem Vorsteher von der Entziehung des Dauerpasses nichts bekannt sei.
So war es auch. Der Beamte holte ihm selbst die Fahrkarte und geleitete ihn bis zum Wagen. Schon zeitig am Vormittag kam Ritter in Fraustadt an. Sein erster Gang war zur alten Gn�digen. Von der Sorge und Angst, in der sie lebte, war ihr wenig anzumerken. Nur ihr Haar war weiß geworden. Als der Nachbar eintrat, leuchtete es in ihrem Gesicht auf. Sie sah es ihm an, daß er keine schlechten Nachrichten brachte.
Er nahm ihre Hand in seine beiden. „Frau Esther, ich bringe gute Nachrichten. Robert ist sozusagen in Sicherheit. Er befindet sich wohl und hat Hoffnung, freizukommen. Hier, lesen Sie selbst. Er hat ausf�hrlich geschrieben.“
Mit zitternden H�nden �ffnete die alte Frau den Brief, dabei perlten ihr Tr�nen aus den Augen. „Hax,“ fl�sterte sie mehrmals, wenn sie immer wieder und wieder den Namen las. „Das muß doch ein guter Mensch sein.“ Mit einemmal sah sie aus. „Ist der Joseph wirklich bei Ihnen gewesen?“
„Ja, liebe Frau Esther! Das ist ein braver Junge. Er hat sich keinen Augenblick bedacht, nach Sczypiorno zur�ckzukehren, um Robert Nachricht und Geld zu bringen.“
Die alte Gn�dige sprang auf wie ein junges M�dchen. „Das muß ich doch meiner alten Maria sagen.“
Noch ehe sie die T�r ge�ffnet hatte, erklang aus der K�che der jauchzende Ruf aus einem Mutterherzen: „Joseph, mein Joseph!“
Einige Minuten sp�ter traten Mutter und Sohn freudestrahlend ins Zimmer. Joseph griff in die Tasche: „Ich bringe hier noch drei Briefe. Der junge Herr l�ßt auch vielmals gr�ßen. Er hat Ihnen geschrieben, daß er bald freikommen wird.“ Dann erz�hlte er, wie er mit einem Schub Ausgewiesener �ber die Grenze gebracht und in Schneidem�hl freigelassen worden war. Dort hatte er sich sofort auf die Bahn gesetzt und war nach Fraustadt gefahren.
Inzwischen hatte seine Mutter Fr�hst�ck aufgetragen. Dann ging Ritter weg, um sich durch den Fernsprecher ein Fuhrwerk aus Werben zu bestellen. Es dauerte sehr lange, bis sich jemand dort meldete. Es war eine weibliche Stimme, die er nicht kannte.
„Sitzt Ihr denn dort auf Euren Ohren?“ fragte Ritter �rgerlich. „Wo ist denn der Verwalter?“
„Der ist schon vorgestern weggefahren.“
„Dann rufen Sie die Mamsell an den H�rer.“
„Die ist schon �ber acht Tage weg.“
„Was ist denn dort los? Bestellen Sie dem Vogt, er soll gleich am Nachmittag ein Fuhrwerk herschicken. Er wird ja wohl wissen, wohin.“
Vorn Postamt ging Ritter zum Vorschußverein, der die Geldgesch�fte f�r Werben besorgte. Er wollte etwas von seinem Guthaben abheben.
„Das wird wohl nicht m�glich sein,“ erkl�rte ihm der Direktor. „Ihr Verwalter hat schon seit einiger Zeit nicht nur nichts eingezahlt, sondern alles abgehoben, was eingezahlt war.“
„Wie ist das m�glich?“
„Das geht uns nichts an. Ihr Verwalter hat doch Vollmacht.“
„Da scheint eine große Schweinerei vorzuliegen.“
Der Direktor zuckte die Achseln. „Ich habe mich auch gewundert, habe aber angenommen, daß Sie Ihre Gesch�ftsverbindungen mit uns abgebrochen haben, um sich andershin zu wenden.“
„Das ist mir nicht im Traum eingefallen. Das ist eine Eigenm�chtigkeit von Maschke.“
„Darf ich Ihnen einen Betrag zur Verf�gung stellen? Sie haben bei mir Kredit.“
„Ich werde von Ihrem Anerbieten Gebrauch machen, wenn es n�tig sein sollte. Besten Dank.“
In heller Aufregung kam er zu Frau Esther zur�ck und erz�hlte, was er eben erfahren hatte. Sie war auch der Meinung, daß in Werben etwas nicht in Ordnung sei. Bis zum Kaffee wartete Ritter auf sein Fuhrwerk. Dann ging er aus, besorgte sich ein Auto und fuhr mit Joseph nach Werben hinaus. Was er dort vorfand oder vielmehr nicht vorfand, �berstieg seine schlimmsten Bef�rchtungen. Er hatte angenommen, daß Maschke mit den bedeutenden Barmitteln, �ber die er als Bevollm�chtigter seines Gutsherrn verf�gte, das Weite gesucht habe.
Jetzt sah er, daß der ungetreue Verwalter das Gut kalt abgebrannt hatte. In den St�llen fehlte die H�lfte der K�he und gerade die besten Milchgeber. Ja, auch von den Gespannen war kaum die H�lfte vorhanden. Selbst die Schweine waren fast restlos verkauft. Die Meierei war geschlossen. Er fand die Meierin in der K�che sitzen. Sie erkl�rte achselzuckend: Das bißchen Milch, das sie jetzt erhalte, habe sie schon morgens verarbeitet.
Gegen Abend stellte sich auch der Vogt ein. Ritter fuhr ihn heftig an, wie er das habe zulassen k�nnen.
„Ja, gn�diger Herr,“ erwiderte der Mann verlegen, „was sollte ich machen? Der Herr Verwalter hatte doch zu befehlen, und wir mußten gehorchen.“
„Habt Ihr Euch denn nicht gewundert, daß so viel Vieh verkauft wurde und gerade die besten St�cke?“
„Jawohl, gn�diger Herr, wir haben auch gedacht, daß das nicht mit rechten Dingen zugeht, aber was sollten wir machen?“
„Habt Ihr denn nicht daran gedacht, mir Nachricht zu geben? Ihr solltet doch der Frau Dalkowski nach Fraustadt Kartoffeln und Mehl bringen, da h�ttet Ihr doch erz�hlen k�nnen, was hier vorging, und sie h�tte mir Nachricht gegeben.“
Der Vogt sch�ttelte den Kopf. „Wir haben der gn�digen Frau nichts nach Fraustadt gebracht.“
Ritter regte sich weniger �ber den Verlust auf, den er, wenn er auch recht erheblich war, verschmerzen konnte, als �ber den Vertrauensbruch seines Verwalters, den er vor zehn Jahren als Eleven aufgenommen und zu einem t�chtigen Landwirt ausgebildet hatte. Er war nicht nur anstellig und pflichttreu gewesen, sondern so umsichtig, daß ihm Ritter vor zwei Jahren die selbst�ndige Bewirtschaftung von Werben anvertraut und Vollmacht gegeben hatte, auch die Geldgesch�fte zu erledigen. Daß das Gut in den letzten Jahren weniger gebracht hatte als fr�her, hatte in ihm keinen Verdacht erregt. Jetzt mußte er annehmen, daß Maschke schon seit einiger Zeit in seine eigene Tasche gewirtschaftet hatte.
Mit Hilfe der Meierin, die sich als eine verst�ndige Person erwies, wurde ein einigermaßen gutes Abendbrot hergestellt, zu dem er sich und Joseph, den er zum Inspektor bef�rdern wollte, eine gute Flasche zu stiften gedachte. Da stellte sich heraus, daß nur noch einige Flaschen Bowlenwein vorhanden waren. Die Meierin meinte, die besseren Sorten habe Maschke mit dem H�ndler ausgetrunken. Den Namen konnte sie nicht angeben, aber sie erkl�rte, der Mann habe wie ein Pole ausgesehen, und beschrieb ihn so genau, daß Ritter mit aller Bestimmtheit auf Wolzlegier verfiel. Also hatte der Kerl auch hier seine Hand im Spiel gehabt, und Maschke hatte mit ihm Kaprusche gemacht. Jetzt glaubte er auch die inneren Zusammenh�nge zu verstehen. War es denn nicht denkbar, ja wahrscheinlich, daß der Agent ihn ebenso verschwinden lassen wollte, wie er Joseph und Robert beseitigt hatte?
Damit hatte er wahrscheinlich Maschke, der schon nicht mehr taktfest war, gek�dert. Die Ausf�hrung dieses Planes war nur dadurch vereitelt worden, daß der Kommissar pl�tzlich aus seinem Wirkungskreis verschwinden mußte. Das hatte Maschke erfahren und war dann auch ausger�ckt.
Noch an demselben Abend schrieb Ritter seiner Tochter ausf�hrlich alles, was in Werben vorgefallen war. Er wollte, nachdem er hier einigermaßen Ordnung geschafft, nach Strelkau. zur�ckkehren und es unter allen Umst�nden losschlagen. Umgehend antwortete Trudchen durch ein Telegramm, worin sie ihn bat, nicht eher abzureisen, bis sie sich mit ihm besprochen h�tte. Sie k�me mit dem n�chsten Zug. Am n�chsten Morgen holte sie Ritter von der Bahn ab. Es war selbstverst�ndlich, daß sie erst Großchen aufsuchte und begr�ßte.
Als die erste große Freude des Wiedersehens vor�ber war, machte Ritter den Vorschlag: Die alte Gn�dige m�chte mit ihrer getreuen Maria nach Werben �bersiedeln. Dann w�re sie mit ihrer zuk�nftigen Enkeltochter und die Mutter Kowalski mit ihrem Sohn vereint. Getrennte Wirtschaft sei nichts Ganzes und nichts Halbes. Sie seien doch nun eine Familie.
Nach langem Str�uben gab die alte Gn�dige nach. Aber erst, nachdem ihr Ritter das Versprechen gegeben, nicht mehr nach Polen zur�ckkehren zu wollen. Der Verkauf von Strelkau k�nne durch einen Vermittler, der dr�ben gute Beziehungen hatte, bewerkstelligt werden.
Ritter bem�hte sich einige Zeit hindurch vergeblich, herauszubekommen, wohin sein Vieh und die Pferde verschoben waren. Die K�he und Ochsen waren nach Berlin verladen worden, die Pferde wahrscheinlich �ber die Grenze nach Posen gegangen. Er mußte seinen Verlust mit der Ofenkr�cke in den Schornstein schreiben.
***
Robert saß mit seinem Freunde am Schachbrett. Hax war ein Meister des k�niglichen Spiels, der seinen Gegner regelm�ßig �berwand, obwohl er ihn auf jeden Fehler aufmerksam machte und schlechte Z�ge zur�cknehmen ließ. Mitten im Spiel wurden sie durch das Tuten eines Autos am Tor gest�rt. Robert stand sofort auf und verschwand nach seiner Zelle. Gleich darauf trat Wolzlegier bei dem Kommandant Gorski ein und stellte sich als Agent der Defensive und Kommissar der Regierung vor.
Hax hatte ihn auf den ersten Blick erkannt. Das war der Schuft, der ihn ins Ungl�ck gest�rzt hatte — sein leiblicher Vetter Gustav. Daß er Hax nicht erkannte, war erkl�rlich. Die Uniform, der m�chtige Schnauzbart und die Runen, die ihm das Schicksal ins Gesicht gemeißelt, hatten ihn sehr ver�ndert.
Der Kommandant bebte an allen Gliedern. Am liebsten h�tte er sich mit einem Wutschrei auf seinen Feind gest�rzt und ihn an der Gurgel gepackt. Er verbeugte sich zun�chst, ohne ein Wort zu sagen, um Zeit zur �berlegung und Ruhe zu finden. Jetzt, wo ihm das Schicksal den Schuft in die H�nde gegeben hatte, brauchte und durfte er durch eine �bereilung nichts verderben. Er wollte die Rache kalt genießen und mit ruhiger �berlegung, schon aus R�cksicht auf Robert, dem ohne Zweifel der Besuch galt.
Mit merkw�rdig heiserer Stimme ersuchte er den Kommissar, sich auszuweisen.
„Das habe ich zwar nicht n�tig,“ erwiderte Wolzlegier hochfahrend, „aber ich will es tun, damit Sie wissen, daß Sie meinem Befehl unterstehen und sich meinen Anordnungen zu f�gen haben.“
„Das ist ein Irrtum von Ihnen,“ erwiderte Hax beherrscht, „denn ich unterstehe nur dem Woywoden. Ich m�chte zun�chst wissen, was Sie hier wollen.“
„Ich will den politischen Verbrecher Dalkowski verh�ren und ersuche Sie, mir ihn in einem Raum, wo ich ihn ungest�rt vernehmen kann, vorzuf�hren.“
Dabei zog er seine Brieftasche und reichte Hax ein Papier, worin seine Bestallung von der Defensive bezeugt war. Vorher hatte er ein Papier entfaltet und, nachdem er einen Blick darauf geworfen, mit finsterer Miene wieder eingesteckt, was Hax auffiel. Er f�hrte den Kommissar in einen Raum derselben Baracke, wo er ihm Robert vorzuf�hren versprach. „Ich w�nsche jedoch, den Gefangenen ohne Zeugen zu vernehmen.“ Hax hatte M�he, ein eigent�mliches L�cheln zu verbergen.
In dem Raum, in den er den Kommissar f�hrte, war in der d�nnen Bretterwand, die allein schon ein Belauschen erm�glichte, eine viereckige �ffnung, die durch ein Bild verh�ngt war.
„Laß dich auf nichts ein und verweigere jede Aussage,“ raunte er Robert zu, nachdem er ihm gesagt, daß er durch den Kommissar Wolzlegier verh�rt werden sollte. „Ich habe nichts dagegen, daß du ihm ganz frech antwortest, er habe hier nichts zu suchen.“
Es war nur nat�rlich, daß Robert sein Verhalten danach einstellte. Mit l�chelnder Miene begr�ßte er den Kommissar. „Ach, Herr Wolzlegier gibt mir die Ehre, mich hier zu besuchen.“
„Sie scheinen ja ganz aufger�umt zu sein,“ fuhr ihn Wolzlegier an, „Sie vergessen wohl, vor wem Sie stehen?“
„Durchaus nicht. Wenn ich nicht irre, soll ich hier von einem Agenten der Defensive vernommen werden.“
„Sie scheinen ja hier ein sehr vergn�gtes Dasein zu f�hren. Das kann ich sehr schnell �ndern. Wir haben auch Orte, wo es weniger angenehm zugeht, wo ich Sie bald kirre machen kann. Sie wissen doch, unter welcher schweren Anklage Sie stehen?“
„Die Anklage, die nur von Ihnen allein ausgeht, steht auf sehr schwachen F�ßen. Die Großmutter hat mir bereits einen sehr energischen Rechtsbeistand besorgt. Ich habe Mittel und Wege gefunden, ihm meine Vollmacht zuzusenden. Er wird es bald durchsetzen, daß ich Ihrer Macht entr�ckt und vor ein ordentliches Gericht gestellt werde.“
Der Kommissar spielte eine Weile nachdenklich mit dem Bleistift, den er in der Hand hielt, dann sah er auf. „Herr Dalkowski, daran glaube ich nicht. Sie werden mir aber glauben, daß ich imstande bin, Sie in einem anderen Gef�ngnis sehr schlecht behandeln und verurteilen zu lassen. Ich bin jedoch kein Unmensch. Ich w�re imstande, Ihnen Ihre Freiheit wiederzugeben, wenn Sie f�r einen verst�ndigen Vorschlag empf�nglich w�ren.“
Als Robert schwieg, fuhr der Kommissar fort:
„Ihre Freiheit d�rfte Ihnen doch wohl so viel wert sein, daß Sie geneigt sein m�ßten, ihr ein kleines Opfer zu bringen!“
„Worin sollte das bestehen?“ fragte Robert, der hellh�rig geworden war.
„Sehr einfach darin, daß Ihre Frau Großmutter mir auf Ihre Anweisung hin einen Betrag �berweist, der mich sicherstellt, wenn ich von Ihrer Freilassung Unannehmlichkeiten habe, ja, meine Stellung verlieren sollte. Ich w�re mit hunderttausend deutschen Reichsmark zufrieden.“
„Sie haben sich in Ihrer Voraussetzung get�uscht, Herr Wolzlegier,“ erwiderte Robert. „Weder meine Großmutter noch ich sind in der Lage, auch nur den zehnten Teil dieser Summe aufzubringen.“
„Dann wird ohne Zweifel ihr zuk�nftiger Schwiegervater, Herr Ritter in Strelkowo, gern f�r Sie einspringen.“
„Ich bedauere sehr. Herr Ritter wird sich h�ten, Ihnen diese Summe in den Rachen zu werfen.“
Wie ein Stichwort auf der B�hne trat Hax ein. Der Kommissar sprang auf und trat hinter den Tisch. Er hatte in der Miene des Kommandanten gelesen, daß ihm Unheil drohte.
„Ich verhafte Sie wegen Erpressung an dem Gefangenen Dalkowski.“
Mit einem Griff in die Hosentasche zog Wolzlegier eine Browningpistole. In dem Augenblick sprang Robert zu und dr�ckte ihm den Arm herunter, und im n�chsten Moment hatte ihn Hax durch einen Faustschlag gegen die Schl�fe niedergeschmettert. Als Wolzlegier aus seiner Bet�ubung erwachte, war er an den H�nden gefesselt. Hax hatte seine Brieftasche in der Hand und hielt ihm ein Papier entgegen:
„Du Lump! Besitzt ja nicht mehr die geringste Berechtigung, als Agent oder Kommissar aufzutreten. Hier das Papier ist deine Entlassung und Vorladung zur verantwortlichen Vernehmung wegen Veruntreuung von Staatsgeldern.“ Als Wolzlegier den Kopf senkte und nichts erwiderte, fuhr Hax fort:
„Erkennst du mich wirklich nicht? Weißt du nicht, wer ich bin?“
Jetzt sah der Agent auf. In seine Augen trat ein starker Ausdruck. Ein j�hes Erkennen ließ ihn erbleichen. „Hasso,“ st�hnte er.
„Ja, dein Vetter Hasso, den du mit dem gef�lschten Wechsel ins Ungl�ck gebracht hast. Gestehe, daß du die Unterschrift deines Vaters gef�lscht hast, sonst lasse ich dich krummschließen und hungern, bis du die Engel im Himmel singen h�rst.“
Es gab noch eine sehr unerquickliche Szene. Hasso ließ den Verbrecher erst mal das Gest�ndnis niederschreiben, daß er die Unterschrift gef�lscht und seinen Vetter f�lschlich beschuldigt habe. Dann mußte er schriftlich noch ein zweites Gest�ndnis ablegen, daß er den Herrn Robert Dalkowski ohne jeden Grund verhaftet und unter vier Augen zu erpressen versucht habe.
Das zweite Schriftst�ck reichte Hax mit seiner Beglaubigung als Ohrenzeuge dem Woywoden ein. Schon nach wenigen Tagen kam der Befehl zur�ck, den Dalkowski zu entlassen. Der pp. Wolzlegier werde unverz�glich f�r das Staatsgef�ngnis in Posen abgeholt werden.
Tiefbewegt nahmen die alten Kameraden Hax und Robert voneinander Abschied. Vergeblich hatte Robert seinen Freund best�rmt, seine Stellung zu verlassen und mit ihm �ber die Grenze nach Deutschland zu gehen... Er wollte durchaus noch auf seinem Platze bleiben, bis die letzten Internierten abgeschoben seien. Er wollte sie nicht in die H�nde eines Polens fallen lassen. Dann sei es nicht ausgeschlossen, daß er nach Deutschland zur�ckkehre.
Unangefochten kam Robert �ber die Grenze. In Fraustadt erfragte er mit M�he die Wohnung seiner Großmutter. Als er dort erfuhr, daß sie nach Werben verzogen sei, wanderte er zu Fuß weiter. Im Abendgrauen traf er dort ein. Kaum hatte er die T�r zur Diele ge�ffnet, da hing Trudchen an seinem Halse.
„Mein Robert!“
Dann knieten sie vor Großchen, die ihnen ihre H�nde auf den Scheitel legte. Vater Ritter stand dabei und schneuzte sich heftig, wobei er auch die Augen wischen mußte. Dann polterte er los: „Nun h�rt mal auf mit R�hrung und laßt mich auch an eurer Freude teilnehmen. Komm an mein Herz, mein lieber Sohn. Und nun wollen wir alle Gott danken, daß wir wieder in Deutschland sind, in unserem alten, lieben Vaterland!“
Ende.
2