Das schleichende Gift
Masuren-Roman von Fritz Skowronnek
6.-9. Tausend
Gebrüder Enoch
Hamburg :: Verlagsbuchhandlung :: Leipzig
1919
Die kleine Stadt Johannisburg war zum Empfang des Ministers festlich geschmückt und in freudiger Erregung... Der Landungssteg, wo der Regierungsdampfer Kermusa anlegen sollte, war mit Tannengirlanden bekränzt. Am Eingang zum Marktplatz erhob sich eine Ehrenpforte, wo der Herr Bürgermeister den Herrn Minister mit einer schwungvollen Rede begrüßen wollte. Auf dem Landungssteg wartete der Herr Landrat mit den Kreisbeamten.
Die liebe Schuljugend hatte natürlich frei. Sie durfte sich aber ihrer Freiheit noch nicht erfreuen, sondern mußte in festlicher Kleidung Spalier bilden. Vom wolkenlosen Himmel lachte die Sonne auf das freundliche Bild herab...
Jetzt machte einer der Beamten den Landrat darauf aufmerksam, daß über dem Roschsee eine Rauchwolke zu sehen sei... Das konnte doch nur die Kermusa sein... Und sie war es wirklich. In flotter Fahrt näherte sich der kleine weiße Dampfer, drehte mit elegantem Bogen quer durch den Strom bei und legte sich sanft an den Landungssteg. Die Herren Beamten hatten ihre Häupter entblößt und die Frackweste mit einem energischen Ruck zurechtgezogen. Jetzt verneigten sie sich tief, während der Herr Minister die Verbindungsbrücke betrat. Ein mittelgroßer, älterer Herr mit blitzenden Augen und jovialer Miene, dem man den alten General auf zehn Schritt ansah... Jetzt winkte er mit der Hand.
„Moin, meine Herren, weshalb so feierlich... Das ist bei einer kleinen Dienstreise nicht erforderlich... .“
„Verzeihen, Exzellenz, es ist die Freude der Bevölkerung, die in dieser Begrüßung zum Ausdruck kommen will...“ erwiderte der Landrat.
„Na, dann los. Ich füge mich in mein Schicksal, aber macht’s nicht zu umständlich, ich habe Hunger.“
Der Herr Minister, der als Husarengeneral erst einige Jahre die deutsche Reichspost verwaltet und jetzt das Landwirtschaftsministerium übernommen hatte, war dafür bekannt, daß er sich sehr jovial und burschikos zu geben pflegte. Er schüttelte den höheren Beamten, die ihm vom Landrat vorgestellt wurden, kräftig die Hand und schritt mit ihnen durch das Spalier... Als er vor dem Markt die Schar der Stadtverordneten mit ihrem Oberhaupt erblickte, wandte er sich mit vorwurfsvollem Blick an den Landrat. „Auch das noch“... und als der Bürgermeister loslegte. „Exzellenz, die Bürgerschaft freut sich“... streckte er ihm die Hand entgegen. „Das ist sehr nett und freut mich auch. Ich danke Ihnen allen, daß Sie sich diese Mühe gemacht haben. Guten Morgen.“
Ohne sich um die verdutzten Gesichter der Bürger zu kümmern, schritt er weiter. Der Bürgermeister rief hinter ihm aus allen Leibeskräften. „Seine Exzellenz, der Herr Minister für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, er lebe hoch!“ Mit komischer Handbewegung nach rückwärts wartete Seine Exzellenz die Ovation ab...
In Johannisburg und Umgegend herrschte in den nächsten Tagen große Aufregung über das Benehmen des Ministers. War es denkbar, daß einer der höchsten Staatsbeamten die loyalen Untertanengefühle einer ganzen Stadt in dieser Weise mißachtete, daß er eine ganze Stadtverordnetenversammlung vor den Kopf stieß? Die Demokraten feixten und sprachen von Servilismus, der den gebührenden Fußtritt erhalten hatte... An allem war nur der Herr Landrat schuld. Er hatte sich bei dem Herrn Minister schustern wollen, und nur aus diesem Grunde, ohne sich vorher zu vergewissern, ob ein festlicher Empfang angenehm sei, den Bürgermeister zu dieser feierlichen Veranstaltung veranlaßt... Nun lachte man in allen anderen Städten, die der Minister noch besuchen wollte, über den Reinfall der Johannisburger... Die Verstimmung wurde noch verschärft, als man erfuhr, daß der Herr Minister eine Förderung des masurischen Kanalprojektes, das eine Verbindung der masurischen Seen mit dem Pregel plante, ganz energisch abgelehnt und dabei den denkwürdigen Ausspruch getan hatten „Ich werde mir doch mit dem Lausekanal nicht vor den Bauch stoßen lassen“. Wieder ein Beweis, daß Ostpreußen und vor allem Masuren nur das Stiefkind der preußischen Regierung war, die für die kulturelle Bedeutung des Grenzstrichs kein Verständnis besaß. Hatte sich doch der Minister darüber gewundert, daß die schmucken Bauerndörfer und die wohlbestellten Acker sich in nichts von einer mitteldeutschen Landschaft unterschieden... Es schien, als wenn er geglaubt hatte, hier ein Seitenstück zu Sibirien zu finden.
Zu alledem paßte die Tatsache, daß er sich über die unaussprechlichen masurischen Ortsnamen geärgert hatte. Deshalb herrschte am Abend bei der Festtafel eine schlecht verhehlte kühle Stimmung in der Gesellschaft, und man war gar nicht erstaunt, als man den Herrn Minister zu dem Landrat sagen hörten „Die verflixten masurischen Dorfnamen verschandeln die ganze Gegend. Wir sind doch hier auf deutschem Boden. Weshalb haben die Dörfer nicht schon lange deutsche Namen? Es ist unmöglich, solch einen Namen wie Pietrzyken auszusprechen“... Der Herr Minister sprach das Wort etwa wie Bieterschicken aus. „Machen Sie mir in den nächsten Tagen Vorschläge auf eine Verdeutschung dieser Ortsnamen, ich werde sie sofort genehmigen.“
„Entschuldigen Sie, Exzellenz“, wandte unter tiefem Schweigen der Festtafel der Gutsbesitzer Kochann ein, „wenn ich davon abraten möchte. Es handelt sich um uralte Namen, mit denen die Behörden jahrhundertelang ausgekommen sind. Die meisten lassen sich nicht verdeutschen. Es müßten also ganz willkürlich neue Namen gewählt werden.“
„Was schadet das denn?“ erwiderte der Minister.
„Die masurische Bevölkerung wird sich verletzt fühlen. Fast in jedem Dorf leben einige Familien, deren Vorfahren mit dem Landbesitz begabt worden sind, wie zum Beispiel die Familie Pietrzyk in Pietrzyken. Diese Familien sind stolz auf die alte Überlieferung, die sie mit den Dorfnamen verknüpft.“
Der Minister winkte lachend abwehrend mit der Hand. „Wenn es gute Deutsche sind, dann müssen die Familien sich freuen, daß sie einen deutschen Ortsnamen bekommen. Also, wie gesagt, Herr Landrat, ich erwarte Ihre Vorschläge, wenn ich wieder in Berlin bin.“
Am nächsten Tage war Wochenmarkt in Johannisburg. Der große Marktplatz und alle Straßen waren gefüllt von Bauernwagen... zwischen ihnen hindurch wandten sich mühsam die Scharen der Käufer, die Getreide, Ferkel, Butter, Eier und all’ das Gute, was ein kräftiger Bauernstand hervorbringt, einhandelten. Etwas später zogen die Bauernfrauen scharenweise von Laden zu Laden, um selbst einzukaufen. Mit behender Zunge handelten sie um einen Stoff zum Kleid oder um ein farbiges Kopftuch und zogen befriedigt weiter, wenn sie schwarzlockigen Ladenjünglingen einige Groschen abgehandelt hatten.
Die Männer saßen schon lange in den Schankstuben, um sich an Bier und Schnaps gütlich zu tun. Lauter und hastiger als sonst klang Rede und Gegenrede, denn wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitet, daß alle masurischen Namen verdeutscht werden sollten. Es war nicht einer unter den Bauern, der sich nicht mit vollem Fug und Recht als ein guter Deutscher hätte bezeichnen können. Viele von den hochgewachsenen Männern hatten ihre Militärzeit bei der Garde in Berlin oder Potsdam abgedient und sprachen geläufig deutsch, wenn sie auch im Umgang mit den Volksgenossen die masurische Sprache bevorzugten. Und wenn jemand ihre deutsche Gesinnung und Treue in Zweifel gezogen hätte, wäre er wohl an die Unrechten gekommen und mit schlagenden Gründen eines Besseren belehrt worden. „Das ist ein dummes Gerede“, meinte ein alter Bauer. „So gemein kann die Regierung nicht sein, uns unsere alten Namen zu nehmen.“
„Ach red’ doch nicht so, wie ein altes Weib“, fuhr ihn ein anderer an, „hat die Regierung uns nicht verboten, in Versammlungen in unserer masurischen Sprache zu reden? Weshalb tut sie das? Weiß sie nicht, daß wir treue Untertanen und gute Deutsche sind? Aber sie verbietet uns den Mund, damit wir bei den Wahlen nicht reden dürfen...“
„Kannst ja deutsch reden“, rief ein Dritter dazwischen.
„Ja, ich kann deutsch reden, aber nicht vor vielen Menschen.“
„Dann lern’ dir das.“
„Ei nee, aber ich weiß, was ich bei der nächsten Wahl tun werde. Da gebe ich nicht den Wahlzettel ab, den der Herr Landrat schickt, sondern einen anderen. Sie fliegen einem ja ins Haus.“
„Das ist ein Vorschlag, der läßt sich hören“, erwiderte der alte Bauer. „Aber erst müssen wir wissen, ob das Gerede wahr ist.“
Er stand auf und ging hinaus. Auf dem Markt, der sich schon zu lichten begann, fand er seinen Vetter Sparka aus Sparken. „Hast schon das Neuste gehört?“
„Nee, was denn?“
„Der Herr Minister, der gestern hier war, hat dem Landrat befohlen, alle unsere masurischen Namen deutsch zu machen.“
„Ach je, red’ nicht solch dummes Zeug.“
„Es ist dummes Zeug, da hast du recht, aber der Kochann aus Niedzwetzken hat es gestern bei dem Festessen selbst gehört und dagegen gesprochen.“
„Da schlag’ doch Gott den Deuwel dot“, rief Sparka.
„Das muß ich mir doch gleich befragen... Wart’ mal, da drüben geht der Zabludowski. Herr Kreissekretär“, rief er laut, „ein Wort“.
„‘nen Tag, Herr Sparka, wie geht’s?...“
„Na, wie soll’s gehn... immer auf zwei Beinen. Sagen Sie ‘mal, Herr Kreissekretär, ist es wahr, daß unsere Namen abgeändert werden sollen?“
Der Sekretär nickte. „Ja, lieber Freund, der Herr Minister hat das gestern befohlen, und das müssen wir tun. Wir haben heute schon eine Anzahl Namen aufgestellt...“
„Wie sollt ihr denn das machen?“
„Na, für Pietrzyken, das den Minister am meisten geärgert hat, werden wir Wiesental sagen. Der Name paßt doch fein... Es liegt doch im Tal zwischen Wiesen. Für Niedzwetzken sagen wir Bärendorf... für Rakowen Königstal usw.“
„Ihr seid ganz dwatsch“, brach Sparka los.
„Ja, lieber Sparka, was ist dabei zu machen, wenn der Minister doch befohlen hat.“
„Ihr werdet schon sehen, was wir Masuren dabei machen werden. Treff’ ich noch den Landrat im Amt?“
„Ja, er hat noch einige Sachen zu unterschreiben.“
Mit langen Schritten eilte Sparka zum Amt. Da standen schon die Türen der Arbeitsräume weit offen, um die bösen Dünste zu vertreiben, die sich bei Menschenansammlungen zu entwickeln pflegen. Der alte Bürodiener Kruppa kam gerade mit einer Aktenmappe aus dem Zimmer des Herrn Landrats. „Na, was willst du denn noch?“
„Ich will den Herrn Landrat sprechen.“
„Hättst früher kommen sollen. Der Herr Landrat wollen eben weggehen.“
„Dann kann ich ihn doch noch einen Augenblick sprechen... Geh’ mal rein und meld’ mich an.“
„Ich werde dem Deuwel tun und mir die Nas‘ verbrennen... Der Dienst ist zu Ende.“
„Du bist ein alter Schafskopp“, sagte Sparka und schob Kruppa zur Seite. Dann klopfte er energisch an die Tür...
Der Herr Landrat hatte sich schon die Handschuhe angezogen und den Hut aufgesetzt und war gerade noch dabei, sich eine Zigarre anzustecken, als Sparka ins Zimmer trat... „Herr Landrat, darf ich Sie noch einen Augenblick sprechen?“
„Ist es denn so dringend? Und mit wem habe ich denn das Vergnügen?“
„Ich dachte, der Herr Landrat kennen mich. Ich bin der Gemeindevorsteher von Sparken... Mein Name ist Sparka.“
„Ach ja, jetzt erinnere ich mich... Was haben Sie denn so Dringendes auf dem Herzen? Hat das nicht Zeit bis morgen?“
„Ich glaube nein, Herr Landrat... Ich habe gehört, daß unsere masurischen Ortsnamen verdeutscht werden sollen.“
Der Landrat nahm seinen Hut ab, setzte sich und bot seinem Gast mit einer Handbewegung einen Stuhl an. „Das interessiert mich. Haben Sie was dagegen?“
„Eh ja, sehr viel, Herr Landrat. Die Sache wird unter uns Masuren viel böses Blut machen.“
„Aber wieso denn, lieber Herr Sparka? Ihr seid doch alles biedere gute Deutsche, und es kann euch doch nur angenehm sein, wenn die ganze Gegend durch die neuen Namen, die wir vorschlagen sollen, ein deutsches Gepräge bekommt. Weiter bezweckt der Herr Minister nichts mit seiner Anordnung.“
„Was der Herr Landrat von unserer deutschen Gesinnung sagen“, erwiderte der Gemeindevorsteher bedächtig, „das ist ganz richtig. Ich möchte bloß dagegen sagen, daß diese alten Namen mit uns verwachsen sind. Mein Älter-Vater hat im Jahre 1435 das Dorf gegründet, das nach ihm Sparken genannt wurde. Ich habe die Handfeste, die Verschreibung des Ordens, noch jetzt und bewahre sie wie ein Heiligtum auf. Und das ist mein Stolz, Herr Landrat, daß mein Geschlecht noch in dem Dorf auf Besitz wohnt, das mein Älter-Vater gegründet hat. Und so, wie mir, geht es vielen masurischen Bauern.“
„Ich ehre Ihre Gesinnung, Herr Sparka, und weiß, was solche Gefühle bedeuten. Aber hier liegt nun einmal der strikte Befehl des Herrn Ministers vor...“
„Der Herr Minister ist doch nicht allmächtig... Wenn man das dem Herrn Reichskanzler richtig vorstellt...“
Der Landrat lächelte. „Der Herr Reichskanzler hat damit nichts zu tun, und er hat auch wohl wichtigere Geschäfte.“
„Dann gehen wir bis zum Kaiser. Ich habe mit ihm zusammen bei der ersten Kompagnie des ersten Garderegiments zu Fuß gestanden, und er kennt mich ganz genau. Wenn ich eine Bittschrift an ihn aufsetzen lasse, oder selbst nach Berlin fahre...“
Der Landrat erhob sich. „Wenn Ihnen wirklich soviel daran liegt, Ihren alten Ortsnamen zu behalten, Herr Sparka, dann will ich Ihnen persönlich gern den Gefallen tun und den Namen nicht abändern.“
„Dafür bedanke ich mich sehr, Herr Landrat, aber ich spreche nicht bloß für mich, sondern für alle meine Landsleute... Das wird viel böses Blut machen. Und bei den nächsten Wahlen werden Sie die Quittung dafür bekommen.“
„Ach, lieber Sparka... bis dahin hat sich die Erregung längst gelegt.“
„Sie können sich auch irren, Herr Landrat, Das ist nicht das einzige, worüber wir unzufrieden sind. Jetzt sollen wir auch nicht den Lausekanal bekommen, wie der Herr Minister gesagt hat.“
„Ja, das finde ich auch bedauerlich, daß wir so stiefmütterlich von der Regierung behandelt werden. Und Sie meinen, daß sich auch die Bauern darüber ärgern?“
„Aber, Herr Landrat, ich habe schon als kleiner Junge meinen Vater darüber sprechen hören, was der Kanal uns bringen würde. Wir können unser Getreide, unser Holz, unsere Steine wegschaffen, wir bekommen billig Futter- und Düngemittel. Da wird sich mancher Bauer rausrappeln, wenn er bloß die Steine von seinem Acker los wird.“
„Das ist schon richtig, lieber Sparka, aber die Regierung scheint wirklich jetzt nicht über die Mittel zum Kanalbau zu verfügen. In der anderen Sache werde ich noch mal beim Herrn Minister vorstellig werden... Vielleicht einigen wir uns, daß bloß die schlimmsten
Namen, die so schwer auszusprechen sind, verdeutscht werden...“
„Na ja, Herr Landrat, sehen Sie man zu, was sich machen läßt.“
In schweren Gedanken ging der Landrat nach Hause. Wenn die Bauern bei der nächsten Wahl Sperenzchen machten und eine Menge roter Stimmen abgaben oder gar einen liberalen Kandidaten durchbrachten, dann war die Versetzung nach dem Westen, auf die er stark hoffte, für die nächsten Jahre ausgeschlossen... Er konnte hier in Masuren versauern... und er hatte schon von einer Berufung ins Ministerium geträumt...
Am Sonntag fuhren bei dem Bauern Wrona in Wronken zwei Wagen vor. Rudolf Wrona war, trotzdem sein Besitz einem kleinen Rittergut nahe kam, ein richtiger masurischer Bauer. Ruhig und bedächtig, aber auch zäh und eigensinnig, mit klugen Augen in dem glatt rasierten, breiten Gesicht. Er begrüßte seine Gäste im Flur.
„Na nu, was ist denn los? Weshalb kommt ihr allein? Warum habt ihr die Frauen und Kinder nicht mitgebracht?“
„Weil wir Männer allein unter uns was zu besprechen haben“, erwiderte Sparka. „Ich habe auch dem Sarka in Sarken sagen lassen, er hat aber heute keine Zeit.“
„Na, dann kommt rein.“ Er öffnete die Tür zu den Staatsgemächern. Fast jeder masurische Bauer hat zwei bis drei Zimmer, die ganz modern, mit guten Möbeln, Teppichen und Bildern eingerichtet sind. Sie werden aber nur bei festlichen Gelegenheiten benutzt. Für gewöhnlich spielt sich das Leben der Familie in einer einzigen großen Stube ab, die noch nach alter Weise mit weißgescheuerten Tischen und Bänken ausgerüstet ist und meistens auch den Herd enthält...
Nachdem er seinen Gästen eine sehr rauchbare Zigarre angeboten hatte, fragte er: „Na, nu sagt mal, was ist denn los?“
„Hast du das noch nicht gehört?“ erwiderte Pietrzyk, ein großer, hagerer Graubart, „der Herr Minister hat sich über meinen Namen geärgert, und nun will man uns unsere alten Namen nehmen.“
Jetzt warf Sparka lachend ein:. „Der Johann nimmt den Mund zu voll. Unsere Namen kann man uns nicht nehmen, aber unsere Dörfer will man umtaufen. Pietrzyken soll Wiesental heißen usw...“
Kopfschüttelnd blieb Wrona, der eine Flasche Kognak inzwischen entkorkt hatte, vor dem Tisch stehen. „Ach Kinder, das ist ja bloß ein Märchen. Denkt bloß, wenn in allen Akten, in den Grundbüchern usw. die Namen geändert werden sollen... was macht das für Arbeit...“
„Und die Kosten werden wir tragen.“
„Na, das wäre doch ausgeschlossen“, erwiderte Wrona, „wenn sie das verlangen, dann gehe ich bis zum Kaiser.“
„Herrschaften, laßt mich mal jetzt reden“, fiel Sparka ein. „Ich habe schon mit dem Rechtsanwalt darüber gesprochen, der meint, es hat gar keinen Zweck, wenn wir drei als Deputation nach Berlin fahren. Wir kriegen den Kaiser nicht zu sehen. Und wenn wir eine Eingabe an den Reichskanzler machen, dann gibt er sie an den Minister, der die Namensänderung befohlen hat... und dann kriegen wir den Bescheid: Auf Ihre Eingabe vom soundso vielten wird erwidert... Das habe ich erst im vorigen Jahr bei meinem Prozeß wegen der Wiese ausprobiert. Jede Eingabe kriegte ich von dem zurück, über den ich mich beschwert habe. Nein, wir müssen uns anders wehren.“
Er nahm den Kognak, den ihm Wrona eingeschenkt hatte, und fuhr fort. „Ich weiß auch schon, wie. Da ist beim Balk in Lipinsken ein Neffe zu Besuch. Der berichtet für die Zeitungen. Er soll darüber schreiben. Ich glaube, wenn das an die große Glocke kommt, dann werden sie sich vielleicht genieren, solche Dummheit zu machen.“
„Und wenn das nicht hilft?“ fiel Pietrzyk ein. „Die Regierung wird sich viel daran kehren, was die Zeitungen schreiben.“
„Das ist auch möglich“, erwiderte Sparka. „Dann wählen wir gegen die Regierung. Ich war schon beim Landrat, und wie ich ihm mit dem Zaunpfahl winkte, war er wie umgewandelt. Ich habe auch mit Zabludowski gesprochen. Ich habe ihm ein Stück Geld geboten, wenn er den Brief an den Minister verschwinden läßt... Dann kommt die Geschichte vielleicht in Vergessenheit, und inzwischen können wir auch einen anderen Minister bekommen. Aber der Kerl hat zuviel Angst. Ja, zu mir zur Jagd kommen und Böckchen schießen oder Häsken, das kann er, aber das hat aufgehört... Gieß’ noch einen ein, Wrona, ich reg’ mich dabei auf...“
„Also du meinst, wir sollten mal anders wählen“, nahm Wrona jetzt das Wort. „Weißt, ich habe auch schon daran gedacht. Der Kaiser will doch wissen, wie wir denken, ob wir mit der Regierung zufrieden sind. Aber kriegt er das zu wissen, wenn wir immer bloß so wählen, wie der Herr Landrat befiehlt? Keine Versammlung, wo man sich aussprechen kann. Da brauchen wir doch keinen zu wählen, da kann doch der Landrat hinfahren und sagen, was er will.“
„Ja, darüber habe ich mir auch schon meine Gedanken gemacht“, meinte Sparka bedachtsam. „Aber, wenn bloß wir paar Mann einen anderen Zettel abgeben, dann hilft das nichts... Da müßten wir schon einen Mann aufstellen, über den sich die Regierung ärgert.“
„Aber Herrschaften, darüber brauchen wir uns nicht den Kopf zu zerbrechen, wir haben doch hier schon einen Kandidaten, der auf die Regierung wirkt wie das rote Tuch auf den Bullen“, rief Pietrzyk dazwischen...
„Ach, du meinst den Eberhard-Komerow“, fiel Wrona ein. „Das möcht’ ich denn doch nicht. Mit den Roten, die den Kaiser wegjagen und alles teilen wollen, möchte ich keine Gemeinschaft haben.“
„Wir wollen’s doch bloß dem Landrat heimzahlen“, erwiderte Pietrzyk.
„Wenn auch... Nein, nein, für den Roten kriegen wir keine hundert Stimmzettel zusammen... Nein, wir müssen einen Kandidaten haben, den wir auch durchbringen, daß wir wirklich etwas davon haben“, meinte Wrona...
„Herrschaften, das eilt ja nicht. Die nächste Wahl ist in zwei Jahren. Bis dahin wird noch viel Wasser vom Berg laufen. Wir müssen aber jetzt was tun. Also zunächst wird der Balk an die Zeitungen schreiben. Dann werde ich mit dem Rechtsanwalt reden. Der ist liberal, wie mir sein Bürovorsteher gesagt hat. Wenn wir ein paar hundert Mark zusammenlegen, dann läßt er so einen Redner von seiner Partei aus Königsberg kommen, und der muß in jeder Versammlung immer davon reden, daß man uns unsere Dorfnamen nehmen will, und dann steht einer von uns auf und fragt, ob seine Partei dagegen ist, und wenn er ja sagt, dann bitten wir ihn um einen Kandidaten, den werden wir wählen. Seid ihr einverstanden?“
„Ja“, erwiderte Wrona, „hundert Gulden will ich an die Sache wenden.“
„Und ich gebe zweihundert“, rief Pietrzyk, „und du auch, Sparka.“
„Na, denn sind wir ja einig, und nu kommt rüber in die andere Stube. Die Mutter hat wohl schon was zum Frühstück gemacht...“
Frau, Sohn und die zwei Töchter des Hausherrn saßen schon in der großen Stube am Tisch. Sie standen auf, die Gäste zu begrüßen. Der Sohn, ein stattlicher Jüngling, hatte auf seiner linken Backe einen Schmiß, der ihn als Student auswies. Das ist in Masuren wohl ebenso wie in anderen Gegenden keine Seltenheit, daß reiche Bauern einem Sohn höhere Schulbildung angedeihen lassen und ihn auf die Universität schicken. Wrona hatte es nicht gewollt, weil es sein einziger Sohn war, der ‘mal das Gut übernehmen sollte, aber er hatte seiner Frau nachgegeben, die ihren Sohn durchaus im Talar auf der Kanzel sehen und predigen hören wollte. Die ältere der beiden Töchter, Frieda, hatte auch in Johannisburg die Töchterschule besucht und trug sich städtisch gekleidet. Sie hatte keine Lust, einen Bauern zu heiraten und sich in der Wirtschaft abzurackern, wie sie zu sagen pflegte. Bei der zweiten Tochter, die eben erst sechzehn Jahre alt geworden war, hatten die Eltern den Fehler vermieden und sie ganz einfach zu Hause erzogen. Sie sollte einen Bauern heiraten und den Hof verschrieben bekommen... „Na, wie geht’s dir denn, Studiosus, auf der Hochschule?“ fragte Sparka bei der Begrüßung. „Wirst bald dein Examen machen. Dann kannst dich schön in ein warmes Nest setzen, wenn der alte Bogdan in Kumilsko Pension nimmt.“
Der Student zuckte etwas verlegen die Achseln. „Ich weiß nicht, Onkel Gottlieb, ich möchte am liebsten zu Hause bleiben und Bauer werden.“
Wrona drehte sich um und sah erstaunt, ja verblüfft seinen Sohn an. „Na nu... das ist ja das erste, was ich höre.“
„Ach, das sind solche Redensarten“, beschwichtigte die Mutter, „die kommen bloß aus Langerweile...“
„Das meine ich auch“, erwiderte der Vater... „Ich habe all’ die Jahre das viele Geld für dich bezahlt, und das soll jetzt rausgeschmissen sein?“
„Ach, nu laß das doch“, fiel die Mutter ein. „Nehmt Platz und langt zu, ich habe auch Grog gemacht...“ Während sie die Gläser füllte, fragte sie: „Was habt ihr denn heute so Wichtiges vorgehabt?“
„Ach, frag’ nicht, Mutter, das sind Männersachen“, warf Wrona ein. „Aber Rudolf, weshalb sollen die Frauen das nicht wissen?“ meinte Pietrzyk. „Unsere Dorfnamen sollen verdeutscht oder richtiger gesagt, umgetauft werden. Und dagegen wollen wir uns stemmen.“
„Aber Onkel“, meinte der Student erstaunt, „weshalb wollt ihr euch dagegen stemmen? Wir sind doch schon einige Jahrhunderte gute Deutsche, weshalb sollen wir denn nicht auch deutsche Ortsnamen haben?“
„Na, nu seht mir einer den Jungen an“, rief Wrona mit deutlichem Ärger in der Stimme. „Unsere Dorfnamen sind den Herren bis jetzt gut gewesen, und mit einem Male, wie sich der Herr Minister daran die Zunge zerbrochen hat, sollen sie schlecht sein!“
„Mich wundert das gar nicht, daß dein Adolf so denkt“, meinte Sparka, „der ist auf die hohe Schule gegangen und hat verlernt, so zu denken, wie wir denken. Ich wundere mich bloß, daß die Regierung so gar keine Achtung vor dem hat, was von altersher von unseren Vorfahren stammt. Die Namen sind doch ein Zeugnis dafür, daß unsere Vorfahren treu zu ihrer Herrschaft gestanden haben. Und wenn man uns die Namen nimmt, dann, meine ich, ist es der Regierung ganz egal, wie wir uns zu ihr stellen. Aber nun wollen wir davon aufhören. Wie geht’s dir, Frieda? Hast schon ‘nen Schatz?“
Das stattliche hübsche Mädchen lachte laut auf.
„Onkel, mehr als einen, wenn ich wollen möchte. Aber ich will nicht, bis der Richtige kommt.“
„Das muß wohl ganz was Feines sein?“
„Den ersten besten nehm’ ich nicht... Ich will bloß in die Stadt heiraten.“
„Meinst du, daß du es dort besser haben wirst?“
„Ja, das meine ich.“
„Und du, Anna, willst du auch nach der Stadt?“ Die zierliche Blondine schürzte die Lippen...
„Ich denke nicht daran. Ich bleibe das, was meine Eltern sind. Ich will im eigenen Haus wohnen und nicht bei fremden Menschen zur Miete.“
„Da hast du recht, mein Kind“, meinte Vater Wrona. „Ich möchte es auch nicht aushalten in der Stadt... Ja, mal zum Theater oder zu einem Vergnügen, aber immer zwischen den Steinhäusern leben...“
Wrona hatte seine Gäste an die Wagen geleitet und trat wieder ein. Seine Frau sah es ihm an, daß der Ärger in ihm saß. Sie faßte ihn um. „Vater... heute gibt’s was Gutes zu Mittag.“
Er schob sie zur Seite. „Laß man, Mutter, ich habe erst mit dem Adolf zu reden. Was hast du da vorhin gesagt? Du möchtest nicht mehr weiter studieren?“
„Ja, Vater, das habe ich gesagt. Es fuhr mir so heraus... aber nun weißt du, wie mir zumut ist.“
„Zumut ist?“, wiederholte der Alte spottend. „Mir ist auch manchmal nicht zum Arbeiten zumut, aber dann beiß’ ich die Zähne zusammen und dann geht’s...“
„Ja, Vater, bei dir ist das was anderes. Ihr habt mich gar nicht gefragt, ob ich Pastor werden will.“
„Das sollten wir dich erst fragen?“
„Lieber Vater, reg’ dich nicht auf“, bat der Student mit Tränen in den Augen. „Du bist so klug, du wirst mich verstehen, wenn ich dir sage, daß ich nicht mehr daran glaube, was ich als Pastor den Leuten vorpredigen soll.“
„Adolf!“, schrie die Mutter auf, „kannst du mir das antun? Du willst nicht mehr an Gott glauben?“ Sie schlug die Hände vors Gesicht, ließ sich auf die Bank nieder und weinte still vor sich hin.
Vater Wrona wiegte nachdenklich sein graues Haupt. „Ja, das wäre ein großes Unglück für dich und für die Mutter...“
„Und du, Vater... wie denkst du darüber?“
„Ich meine, das ist unrecht von dir gehandelt, daß du mir das erst jetzt sagst...“
„Ich bin mir ja erst in den letzten Wochen klar darüber geworden, daß das meiste, was ich die Menschen als Religion lehren soll, von Menschen erdichtet ist... Ich glaube, das hast du auch schon durchschaut oder wenigstens gefühlt.“
Der Alte strich sich mehrmals mit der Hand von der Stirn über den Kopf. „Ich will dir sagen, von wem ich das habe. Von meinem Vetter Gottlieb Soyka, dem früheren Lehrer... Ich war im vorigen Herbst mit ihm drei Tage auf der Hochzeit in Bogumillen zusammen, da hat er mir alles auseinandergesetzt. Ich weiß, daß der Gottlieb ein ehrlicher, treuer Mensch ist und, daß keine Lüge aus seinem Munde geht. Ich weiß auch, daß er mehr gelernt hat und weiß, als mancher studierte Herr... Seitdem geht mir die Sache im Kopf rum, und ich habe dich schon danach fragen wollen, habe mich aber nicht getraut... Also ich weiß, mein Sohn, wie dir zumute ist...“
Er stand auf und bot dem Sohn die Hand. „Von mir aus kannst du weiterstudieren oder nicht, wenn mir auch das viele Geld leid tut, was du gekostet hast...“ Frieda, die am Tisch sitzengeblieben war, mischte sich jetzt ins Gespräch. „Das Geld muß natürlich auf sein Erbteil abgerechnet werden.“
Der Vater fuhr herum, als wenn er einen Schlag erhalten hätte. „Was meinst du?“
„Vater, die Frieda hat recht“, fiel Adolf ein. „Ich betrachte es auch als selbstverständlich, daß die anderen Geschwister nicht durch mich in ihrem Erbteil benachteiligt werden.“
„Darüber habe ich zu bestimmen“, erwiderte Wrona heftig. „Ich habe mich heute schwer über dich geärgert. Das Elternhaus ist dir nicht gut genug...“
„Ich bekomme es ja nicht. Ihr wollt es ja der Anna verschreiben. Und weshalb habt ihr mich nach Johannisburg geschickt und was lernen lassen? Nu gefällt’s mir nicht mehr auf dem Lande.“
Jetzt brauste Wrona auf. „Was, du willst deinen Eltern Vorwürfe machen, daß wir dich haben was lernen lassen? Haben wir dir etwa befohlen, hochmütig zu werden, wie eine Prinzeß, und die Arbeit zu verachten, von der wir Bauern leben? Daran hast du bloß schuld“, fuhr er seine Frau an, „dich hat immer der Hochmut geritten. Es war dir nicht gut genug, daß dein Sohn Bauer wurde... Und aus der Margell hast ein feines Finatchen gemacht, die ihre Finger nicht in kaltes Wasser stecken will. Aber das sage ich dir, Frieda, von morgen an wirst du arbeiten, wie jeder andere hier im Hause... und wenn du nach der Stadt heiratest, werde ich dein Erbteil danach bemessen...“
Frieda, die wohl wußte, daß mit dem Vater nicht zu spaßen war, wenn er zornig wurde, stand auf und ging aus der Stube. „Ein Jammer“, stöhnte Wrona... „ein Jammer, wenn man so was an seinen Kindern erlebt... Und was wird nu aus dir werden?“
Adolf zuckte die Achseln. „Lieber Vater, die Sache ist mir so plötzlich über den Kopf gekommen, daß ich noch mit keinem Gedanken daran habe denken können...“
„Na ja, das müssen wir uns dann überlegen. Das Gut kann ich dir nicht verschreiben. Wir beide Alten sind noch so rüstig, daß wir noch acht bis zehn Jahre wirtschaften können. Dann kann das Keichel, die Anna, heiraten und mit ihrem Mann Wronken übernehmen. Ich werde für uns ein Stück Land kaufen und ein Häuschen aufbauen, wo wir uns als Altsitzer murksen können bis wir zum letztenmal mit den Füßen voran spazieren gefahren werden.“
„Ich bin mit allem einverstanden, Vater, was du für gut befindest“, meinte Adolf.
Die Mutter war aufgestanden und hatte ihm den Arm um den Nacken gelegt. „Adolf, möchtest du nicht wenigstens erst dein Examen machen? Fahr’ doch mal zum alten Bogdan nach Kumilsko... Der ist in seiner Jugend ein doller Heiland gewesen, und was ist das für ein guter Pastor geworden. Von weit und breit fährt jeder zu ihm, der was auf dem Herzen hat. Sprich dich mit ihm aus... Und wenn der sagt, du sollst mit dem Studium aufhören, dann will ich nicht dagegen sein. Am liebsten möchte ich mit dir fahren.“
„Ja, Mutter, ich will dir den Gefallen tun. Aber das muß ich allein abmachen. Verzeihe mir, daß ich dir den Kummer bereitet habe, aber, wenn sowas über einen Menschen kommt...“
„Mein Sohn“, erwiderte Vater Wrona, „ich weiß, wie dir zumut ist... mir ist das genau so gegangen, wie dir... Aber ich kann ja, was ich denke, für mich behalten und brauche es keinem auf die Nase zu binden.“
Grau und trotzig, wie ein uralter Herrensitz, liegt der Dorfkrug von Lipinsken an der Dorfstraße, die mit sanfter Neigung herunter zu der Wassermühle führt, die jetzt die Nährmutter des Dorfkrugs geworden ist, seitdem die neue Steinstraße diesen Teil des Dorfes vom Verkehr abgeschnitten hat. Das Haus soll vor undenklichen Zeiten von einem adligen Herrn gebaut worden sein. Dafür sprechen auch die großen, zum Teil gewölbten Räume, sowie der Laubengang, der das überspringende zweite Stockwerk trägt.
Eine jüngere Zeit hat das alte Herrenhaus für den Gastwirtschaftsbetrieb hergerichtet und ihm einen häßlichen Saalbau angeklebt, der zu dem alten Gebäude zwar wie die Faust aufs Auge paßt, aber sich sehr einträglich erweist, denn fast jeden Sonnabend und Sonntag drehen sich dort die jüngeren Bewohner des Dorfes im Tanz, zu dem die jungen Mädchen und Burschen der naheliegenden Kreisstadt Lyck in Scharen hinausziehen.
Schon seit Jahren bewirtschaftet die Witwe Balk das große Anwesen, zu dem auch einige hundert Morgen Land gehören, allein mit ihrem ältesten Sohn Martin. Ein nüchterner, fleißiger Mensch, auf den jede Mutter stolz sein durfte... Frau Balk hatte noch einen zweiten Sohn, der war jedoch nicht zu Hause... Der trieb sich, weiß Gott wo, in der Welt umher.
Von ihm wußte man im Dorf ganz genau, daß er der Liebling der Mutter war. Sie hatte es bei ihrem Mann, der sehr nüchtern und sparsam veranlagt war, durchgesetzt, daß Jakob das Gymnasium in Lyck besuchen durfte... Aber schon der kleine Kuba hielt nicht viel vom Lernen. Doch seine Abneigung gegen die Wissenschaften hielt vor der Energie der Mutter nicht stand. Wenn auch langsam und unter Zugabe einiger überflüssiger Jahre, erklomm er die Stufenleiter der Klassen, und nach einem vergeblichen Ansatz bestand er auch die Reifeprüfung.
Nun war aber der Ehrgeiz der Mutter erst zur Hälfte befriedigt. Jetzt sollte er in Königsberg studieren. Was, das war der Mutter gleichgültig, wenn sie nur einen studierten Herrn zum Sohne hatte. Das Studium zog sich jedoch etwas sehr in die Länge. Natürlich war Kuba, der sich aus eigener Machtvollkommenheit den romantischen Vornamen Bogislav zugelegt hatte, sofort in eine Burschenschaft eingetreten und hatte darin mit Eifer und Erfolg gewirkt, wie die Schmisse in seinem Gesicht und sein Bierbäuchlein auswiesen.
Als er die übliche Semesterzahl durchgemacht hatte, nach der die meisten Studiosi ins Examen zu steigen pflegen und das bunte Band ablegen, ergab es sich, daß er, um ein sehr tüchtiger Jurist zu werden, noch einige Semester in einer anderen Universitätsstadt studieren mußte.
Der Vater war bereits tot, als diese Notwendigkeit eintrat, und die Geduld und die Liebe der Mutter war so groß, daß sie bei keiner Geldforderung des Lieblingssohnes versagte. Zu Lebzeiten ihres Mannes war die Beschaffung des Geldes für Kuba der Mutter nicht ganz leicht gefallen. Jetzt war sie die alleinige Herrin und brauchte sich keinen Zwang anzutun. Und es war ja da im Überfluß.
Der ältere Sohn, der nur die Dorfschule besucht und von seiner Einsegnung an wie ein Knecht in der Wirtschaft gearbeitet hatte, war, seitdem er erwachsen war, mit den vielen und oft recht beträchtlichen Geldsendungen an Kuba durchaus nicht einverstanden. Wie groß sie waren, wußte er nicht genau, aber er konnte sich nach den Einnahmen und Ausgaben in der Wirtschaft ein ziemlich richtiges Bild machen.
Jetzt war er an die Dreißig heran und hielt die Zeit für gekommen, sich zu beweiben und die Wirtschaft zu übernehmen. Doch die Mutter wollte davon nichts wissen, und wenn Martin sie drängte, erwiderte sie stets dazu sei noch immer Zeit, sobald Kuba ausstudiert habe und versorgt sei. Äußerlich ruhig, aber innerlich verstimmt und verärgert, standen sich Mutter und Sohn gegenüber. Der Sohn empfand deutlich, daß die Mutter ein Unrecht an ihm beging und ihn hinter dem jüngeren Bruder zurücksetzte... und die Mutter ärgerte sich, daß Martin von ihrer Erlaubnis, zu heiraten und die Schwiegertochter ins Haus zu bringen, keinen Gebrauch machte... daß kein Mädchen zu der alten störrischen Frau ins Haus ziehen und von ihrer Gnade abhängig sein wollte, sah sie nicht ein.
In diese gespannte Stimmung schlug wie eine Bombe die Nachricht ein, daß Kuba schon nach wenigen Tagen in sein Elternhaus zurückkehren werde... Mit geheimem Ingrimm sah Martin, wie die Mutter ein großes Reinmachen veranstaltete und zu backen und zu schlachten begann.
„Du tust ja gerade so, als wenn der König dich besuchen will“, sagte er ärgerlich zur Mutter.
„Der König nicht, aber mein Sohn kommt nach Hause... dein Bruder. Und darüber freue ich mich.“
„Und empfängst ihn, wie den verlorenen Sohn aus der Heiligen Schrift. Na, das letzte wird wenigstens stimmen.“
„Wenn du das weißt, was in der Bibel steht, dann könntest dir daran ein Beispiel nehmen. Da haben die Eltern auch nicht gefragt, wie und als was der Sohn nach Hause kommt, sondern haben ihn mit offenen Armen aufgenommen und seine Wiederkehr gefeiert“, erwiderte die Mutter.
„Na ja, ich habe ja auch nichts dagegen, daß er nach Hause kommt, dann können wir uns doch endlich auseinandersetzen und aufrechnen, was er von seinem Erbteil schon bekommen hat.“
„Darüber habe ich bei Heller und Pfennig Buch geführt. Er hat mich noch nicht so viel gekostet, wie du mal bekommen wirst.“
Einige Tage später kam eine Depesche, worin Kuba bat, ihn vom Bahnhof in Lyck abzuholen. Die Mutter zog ihr bestes Staatskleid an, die Pferde wurden mit den besten Sielen vor den feinen Tafelwagen geschirrt. So fuhr die Mutter ab und erwiderte würdevoll mit ernster Zurückhaltung die Grüße der Dorfbewohner, die alle bereits wußten, welch ein freudiges Ereignis dem Hause Balk bevorstand. Auf dem Bahnhof erfuhr Frau Balk zu ihrem Erstaunen, daß zu der in der Depesche angegebenen Zeit kein Zug aus Königsberg eintraf, aber einer von der anderen Richtung, von der Grenze her... Unschlüssig stand sie auf dem Bahnsteig, als der Zug einfuhr... Und dort, das war doch Kuba, der aus dem Abteil zweiter Klasse ausstieg. Ihr Herz sprang vor Freude. Wie ein feiner Herr sah er aus. Aber seine Kleidung, seine Mütze, die blanken Schaftstiefel hatten einen polnischen Zuschnitt...
In überströmender Freude schlang die Mutter die Arme um den Sohn und küßte ihn. Mit beiden Händen schob er sie danach von sich ab und sah sie lächelnd an. „Mutter, du siehst noch so jung und stattlich aus, ich glaube, du möchtest noch mal heiraten.“
„Mein Sohn, wenn ich das gewollt hätte, ich habe Anträge genug gehabt. Und die Ursina aus Nikossen hat mir deswegen das Haus eingelaufen. Aber ich habe immer daran gedacht, daß ich zwei erwachsene Söhne habe, für die ich sorgen muß...“
„Das ist sehr nett von dir, Mutter. Was macht der Martin?“
„Na, der ist fleißig und tüchtig... Er möcht’ am liebsten heiraten, und ich soll aufs Altenteil gehen...“
„Alt genug ist er dazu und du auch...“
Die Mutter fuhr förmlich zurück. „Kuba, das sagst du mir?“
„Ja, Mutter, ich werde dir noch mehr sagen, aber erst wollen wir mein Gepäck aufladen lassen und uns in den Wagen setzen...“
Als der Wagen aus der Stadt heraus war und auf dem Sommerweg der Steinstraße geräuschlos rollte, setzte Kuba das Gespräch fort. „Ja, Mutter, ich meine wirklich, daß du dich zur Ruhe setzen und dem Martin den Krug verschreiben sollst. Er kann doch nicht alt und grau werden, ehe er heiratet.“
„Aber ich bin noch so rüstig und kann doch nicht schon meine Hände in den Schoß legen.“
„Mutter, das geht vielen Frauen so. Sie können sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß die erwachsenen Kinder auch ihr Recht am Leben haben. Auch ich will mich mit dir und Martin auseinandersetzen. Ich meine, wir lassen den ganzen Besitz abschätzen... Kriege ich noch was raus, dann ist es gut, wenn nicht, ist es auch noch so.“
„Also geht es dir gut, mein Junge?“
Kuba lachte. „Mutter, mir ist es immer gut gegangen, das weißt du am besten.“
„Na ja, du hast in der letzten Zeit auch fast gar kein Geld mehr gebraucht...“
„Weil ich gut verdient habe, und ich hoffe, noch viel mehr zu verdienen.“
„Na so red’... Was hast du jetzt und woher kommst du eigentlich?“
„Das letzte will ich dir zuerst beantworten. Du weißt, daß ich das letzte Jahr in Lemberg in Galizien gewesen bin. Da bin ich durch Polen gefahren, das ist etwas näher...“
„Und was hast du dort gemacht?“
„Eine Zeitung, Mutter... Ich war an einer Zeitung angestellt und habe ein sehr gutes Gehalt bekommen.“
Frau Balk schüttelte den Kopf. „Das kann ich mir gar nicht vorstellen, was dabei zu machen ist.“ Kuba lachte. „Mutter, du liest ja auch keine Zeitung.“
„Was soll ich alte Frau Zeitung lesen?“ — —
Martin war verschwunden, als der Wagen vorfuhr. Er ließ sich auch den ganzen Nachmittag nicht blicken und kam erst abends müde und hungrig vom Felde heim. Gleichmütig reichte er dem heimgekehrten Bruder die Hand zur Begrüßung, aber im stillen fraß an ihm der Ärger und der Neid auf den Bruder, der so fein gekleidet, lachend vor ihm stand.
„Du sagst nicht mal: ,Willkommen zu Hause, Bruder‘?“ fragte die Mutter.
Schweigend wandte Martin sich ab. Er mußte an sich halten, um nicht heftig zu werden. Da faßte ihn der Jüngere von hinten um und hielt ihn fest. „Bruder, ärger dich nicht, ich bin nicht gekommen, um was zu holen, ich bringe noch was. Ich denke, wir beide werden noch gute Freunde werden.“
Mit leisem Groll in der Stimme fragte Martin: „Na, was willst du denn zu Hause?“
Kuba lachte laut auf. „Habe keine Angst, ich werde euch nicht auf der Pelle und dem Geldbeutel liegen. Ich wollte mal mein Elternhaus wiedersehen, und dann wollte ich mit dir verschiedene sehr wichtige Sachen besprechen. Mutter, steck’ in der kleinen Stube Licht an und du, Martin, hol’ ‘ne gute Flasche Rotspon rauf und laß sie anwärmen. Ich denke, das wird auf dem Geschäft stehen...“
Erwartungsvoll setzte sich die Mutter, nachdem sie eine Lampe angesteckt hatte, aufs Sofa. Da trat Kuba neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. „Mutter, wir können dich dabei nicht brauchen, das sind Männersachen, was wir zu besprechen haben.“
„Was, ich als Mutter soll nicht hören, was ihr miteinander sprecht?“
„Da siehst du, Mutter... Ich habe dir das schon mal gesagt. Du kannst dich nicht darin finden, daß deine Söhne erwachsene Männer sind, die nicht mehr an deiner Schürze hängen. Aber ich gebe dir mein Wort. Wenn wir deinen Rat brauchen, werden wir dich rufen lassen.“
Tief gekränkt stand Frau Balk auf. Zwei Tränen stahlen sich aus ihren Augen. Kuba umfaßte sie und küßte sie auf die Backe. „Ja Mutter, es ist sehr traurig, daß du deinen Jungens nicht mehr die Hosen stramm ziehen kannst.“
„Das wär’ bei dir wohl manchmal sehr nötig gewesen“, erwiderte Frau Balk im Gehen.
Es dauerte ziemlich lange, bis Martin erschien. Er hatte sich erst gewaschen und gut angezogen. Bedächtig stellte er die Flasche Rotwein und eine Kiste Zigarren auf den Tisch und schenkte ein. Kuba hob sein Glas. „Nun stoß’ mal mit mir an und sag’: ‚Willkommen, Bruder‘.“
Martin nickte und trank. Kuba schnalzte mit der Zunge und sagte schmunzelnd. „Aus der Marke, die du mir vorsetzt, glaube ich zu entnehmen, daß du mir doch noch ein bißchen gut bist, Martin. Sieh mal, Bruder, du mußt doch bedenken, daß ich für mein Schicksal nichts kann. Die Mutter hat es so gewollt und bestimmt, und ich habe gehorchen müssen. Ich denke, du wirst doch auch noch darauf besinnen können, daß ich ein paarmal aus der Schule nach Hause gelaufen bin und gebrüllt habe, daß ich Bauer werden wolle.“ Martin nickte. „Ja, von dem Lernen hast du nichts gehalten.“
„Ich halte auch jetzt noch nichts von dem, was dem Menschen auf der Schule eingetrichtert wird. Das ist alles für die Katz, was er nie im Leben braucht. Weißt, womit ich jetzt mein Geld verdien?. Mit der Kenntnis der masurischen Sprache, die ich aus dem Elternhause mitgebracht habe, mit meinem natürlichen Grips und der angeborenen Fähigkeit, etwas schnell aufzufassen und in Worte zu kleiden.“
„Na, was bist denn jetzt?“
„Das werde ich dir nachher auseinandersetzen. Erst das rein Geschäftliche. Also, ich habe die Mutter gefragt, wieviel ich verbraucht habe. Sie hat mir eine genaue Aufstellung vorgelegt, die du auch sehen wirst. Ich habe lange noch nicht die Hälfte von dem gebraucht, was die väterliche Besitzung bei richtiger Abschätzung wert ist. Ich würde sogar noch einige tausend Taler herausbekommen. Ich will dir aber gleich sagen, daß ich darauf keinen Wert lege und dir das ruhig überlasse, ob du mir noch was rauszahlen willst...?“
„Mir?“ fragte Martin verwundert.
„Ja, dir“... erwiderte Kuba belustigt. „Mach nicht so’n miespetriges Gesicht, Bruderherz. Die Sache ist in Ordnung. Ich habe ihr ordentlich ins Gewissen geredet. Sie wird dir schon in den nächsten Tagen den Krug und die Besitzung verschreiben, und dann bist du ein gemachter Mann.“
„Nu reg dich nicht weiter auf“, fuhr Kuba gemütlich fort, als er sah, daß dem Bruder die Hände flatterten. „Die Sache ist im Lot. Ich bin deswegen nach Hause gekommen, um dir dein Recht zu verschaffen. Die Mutter hat zuerst sehr gebarmt aber sich zuletzt gefügt.“ Er lachte laut auf. „Ich habe allerdings schweres Geschütz auffahren müssen. Ich setzte eine ernste Miene auf und sagte ihr, als Jurist müsse ich ihr erklären, daß wir beide sie zu einer Auseinandersetzung über das väterliche Vermögen zwingen könnten und, daß ich morgen gleich aufs Gericht fahren würde. Da hat sie mit dem Kopf gewackelt und sich gefügt.“
Jetzt stand Martin auf und ergriff das Glas.
„Bruder, nimm mir nicht übel, was ich dir sage. Ich bin neidisch auf dich gewesen. Na ja, das kannst du mir nicht verdenken... Du warst immer gut gekleidet, und wenn du nach Hause kamst, dann gingst du angeln, während ich die Pferde hüten mußte... Und dann habe ich mir gedacht, du bekommst viel mehr als ich... Und heute dacht’ ich, du kommst als Stromer nach Hause und... und...“
Kuba schlang den Arm um den Bruder. „Da hast du vorbei gedacht, Martin.“
Da legte der andere seinen Arm um ihn und küßte ihn herzlich. „Nein, wie ich mich freue, Kuba...“
„Tue mir den einzigen Gefallen, Martin, und nenne mich nicht mehr Kuba. Ich heiße schon lange Bogislav... das klingt feiner.“
Jetzt lachte auch Martin. „Also Bruder Bogislav.“
„Nun setz’ dich mal friedfertig auf deine vier Buchstaben und höre mir zu. Ich werde so schnell wie möglich in Lyck eine Zeitung herausgeben.“
„Mensch, Bruder, da sind ja schon zwei...“
„Ja, aber keine masurische. Wir Masuren leben so dahin, wie die Stiesel. Vielleicht einer oder der andere hält sich eine Berliner Zeitung, aber um das, was uns alle angeht, kümmert sich kein Mensch.“
„Entschuldige mal, wenn ich dich unterbreche“, fiel Martin ein. „So ‘ne Zeitung kostet doch gewiß viel Geld. Hast du das liegen?“
Kuba tippte sich mit der Hand an die Stirn. „Ich bin doch kein Frosch. Ach, du meinst, ich werde dich oder die Mutter anhauchen und euer Geld in die Kiste steckend... Nein, Bruder... ich bekomme das Geld von anderer Seite... Na, du wirst es ja doch erfahren... von polnischer Seite. Nun setz dich mal hin und halt dich fest: Ich habe das letzte Jahr in Lemberg an einer polnischen Zeitung gearbeitet. Da hat sich ein polnischer Graf an mich herangemacht und hat gefragt, ob ich nicht in meiner Heimat, in Masuren, eine Zeitung gründen und herausgeben wollte. Warum nicht, habe ich geantwortet. Ich ahnte schon, daß das dicke Ende nachkommen würde. Und das kam auch. Die Zeitung soll daran arbeiten, die Masuren mit der Regierung unzufrieden zu machen. In dem Punkt haben die Polen recht. Unsere Landsleute sind wie die Schafe. Sie lassen sich alles gefallen, und sie wählen, wie der Landrat befiehlt...“
„Meinst du, daß das jemals anders werden wird?“
„Wollen’s abwarten, Martin. Die Hauptsache ist fürs erste, daß die Masuren zur Erkenntnis kommen, daß bei uns in Preußen auch nur mit Wasser gekocht wird, und, daß vielleicht schon bei der nächsten Wahl ein paar tausend Stimmen für einen anderen Kandidaten abgegeben werden.“
„Was geht das aber die Polacken in Galizien an?“
„Das will ich dir erklären... Du weißt doch, daß die Polen schon mehrmals einen Aufstand gegen Rußland versucht haben, obwohl sich doch jeder vernünftige Mensch sagen mußte, daß das heller Wahnsinn war, mit ein paar tausend Sensenmännern gegen das große Rußland zu kämpfen... Jetzt sind sie schlauer geworden. Sie haben sich eine geheime Organisation geschaffen, die über alle ehemals polnischen Gebiete reicht. Sie sammeln Geld und Waffen...“
„Aber das ist doch noch derselbe Wahnsinn, wie früher.“
„Nein, Martin, hör’ zu. Sie rechnen damit, daß Frankreich und Rußland Deutschland angreifen und besiegen werden.“
„Dann werden die Russen den Deuwel tun und Polen frei geben.“
„Die Russen werden wohl keine große Lust dazu haben, aber die Franzosen werden darauf bestehen.“
Martin lachte laut auf. „Die Polacken sind dumm geboren und haben nichts zugelernt. Die Franzosen werden sich ihretwegen den Pelz zerreißen.“
Kuba ergriff sein Glas und lachte. „Das freut mich, Martin, daß du auch so denkst... Aber nun liegt noch eine zweite Möglichkeit vor. Wenn wir Deutschen siegen...“
„Aber selbstverständlich“, rief Martin dazwischen. „Die Russen kriegen ihre Keile, daß sie nicht aus den Augen sehen werden.“
„Das meine ich auch und Gott geb’s... Aber dann, so meinen die Polen, wird Deutschland Polen freigeben, um zwischen sich und Rußland einen Pufferstaat zu errichten...“
Jetzt tippte Martin mit dem Finger an die Stirn. „Glaubst, daß wir solch eine Eselei begehen werden?“
„Nein, Bruderherz... ein Minister, der das dem Kaiser anraten würde, müßte als Ochse vor den Pflug gespannt werden. Nein, die Polacken müssen mit Sporn, Kandare und Peitsche zugeritten werden, bis sie die Engel singen hören und den Himmel für einen Dudelsack ansehen... Ich habe sie in Galizien kennengelernt. Nichts wie die große Schnauze...“
„Und für die willst du arbeiten?“
„Mensch, Martin, ich bin doch auch deiner Mutter Sohn. Hälst du mich für so dämlich? Ich nehme ihr Geld und lebe einen guten Tag davon... Daß unsere Landsleute ein bißchen aufgeklärt werden, halte ich für keinen Schaden. Es riecht hier zu muffig. Da muß mal ein frischer Wind reinkommen, und den will ich bringen. Ich will eine masurische Partei gründen mit dem Wahlspruch ,Masuren den Masuren!“
„Aber Kuba, entschuldige, Bogislav wollte ich sagen, es leben doch ebenso viele, wenn nicht mehr geborene Deutsche unter uns... Wir sind doch auch von deutscher Abstammung.“
„Nee, das schadet doch nichts, das ist bloß der Zweck. Hier bei dir soll unser Hauptquartier sein...“
Jetzt lachte Martin auf. „Du red’st schon von Hauptquartier...“
„Na, wirst ja sehen... Ich habe schon Nachricht, daß die Bauern sich den Schlaf aus den Augen reiben. Die Geschichte mit der Umtaufung der Dörfer und, daß sie nicht den Kanal bekommen, hat sie aufgeweckt... Ja, Bruder, ich weiß alles, was hier vorgeht, wir haben hier schon einige Vertrauensleute. Und, daß sie in Versammlungen nicht masurisch sprechen dürfen.“
„Darüber hat sich noch niemand aufgeregt.“
„Na, dann werden sie sich darüber aufregen, das werde ich schon mit meiner Zeitung besorgen. Und nun noch eins. Du sollst auch Geld dabei verdienen und nicht zu knapp. Wenn du irgendwo hörst, daß ein Bauer Geld braucht, gehst du zu ihm und bietest ihm eine Hypothek an. Und wenn sie noch so faul ist, darauf kommt’s gar nicht an. Der Mann bekommt sein Geld und du verdienst deine Provision... Die Polen gründen von Posen aus eine Filiale der Polnischen Landbank, der bringst du den Auftrag und nimmst dein Geld in Empfang... Der Landrat wird dich, sobald das bekannt wird, schikanieren und piesacken, aber das wird dir alles reichlich vergütet.“
„Das ist alles sehr schön“, erwiderte Martin und kratzte sich den Kopf, „aber...“
„Na, wenn schon, denn schon. Und, ob er von den Güterschlächtern oder den Polacken abgegurgelt wird, ist doch schließlich egal... Und wenn die Polacken schon an seine Stelle einen ihrer Landsleute setzen... was macht das aus, wenn in zehn Jahren tausend Polacken hier unter uns wohnen? Die verdauen wir noch, wie wir, das heißt wir Deutsche, die Salzburger und Franzosen und Holländer und all’ die anderen verdaut haben, die sich hier angesiedelt haben... Und nun noch eins, Bruder. In Lyck existiert ein Blättchen, ,Die Heimat‘, das steht schon lange auf wackligen Füßen und der Besitzer auch... Das wollen wir kaufen... Dabei kannst du auch ein Stück Geld verdienen... Du fährst rein und...“
„Aber Kuba, davon verstehe ich doch nichts.“
„Ist auch gar nicht nötig. Du fragst ihn, was die Druckerei kosten soll, er wird schon fordern. Dann bietest du ihm zwei Drittel davon, bar auszuzahlen. Und wenn er, wie ich bestimmt annehme, zugreift, dann schließt du ab, Haus und Blatt und Druckerei. Aber die Mutter darf davon nichts erfahren.“
„Ist ja gar nicht nötig.“
„Na, dann wollen wir sie rufen lassen und mit ihr die Verschreibung festmachen. Und nun sag’ mir mal, wie heißt meine zukünftige Schwägerin?“
Martin lachte verlegen. „Das weiß ich noch nicht...“
„Mensch, Martin, du wirst doch mit dreißig Jahren schon ‘ne Braut haben... Wahrscheinlich auch schon was Kleines...“
„Das zweite... das kommt ja ohne unser Gebet von ihm selbst... Aber ‘ne Braut habe ich noch nicht... Ich habe mich schon ein paarmal mit einer gebrautet, aber jede wollte erst, daß die Mutter mir verschreiben sollte... Na, und wenn sie es nicht tat, dann ging die Sache aus dem Leim.“
Die Mutter war hereingekommen und hatte sich mit einer sehr zurückhaltenden Miene aufs Sofa gesetzt. „Was habt ihr mir denn zu sagen?“
Kuba setzte sich neben sie und legte den Arm um sie. „Muttchen, sieh doch nicht so traurig aus... Freu’ dich ein bißchen, daß deine beiden Jungens wieder ein Herz und eine Seele sind, wie zwei richtige Brüder... Wir haben uns ausgesprochen...“
„Das hat ja sehr lange gedauert.“
„Ja, denn nachher kamen wir ins Erzählen... Mach’ doch nicht solch ein Gesicht... Du bist doch so herzensgut...“
„So, meinst du? Na, du mußt es ja wissen... Nun sag‘ mir schon, was ihr beschlossen habt.“
„Beschlossen, Muttchen? Das ist wohl nicht das richtige Wort. Nein, wir wollen dich bitten, morgen mit uns nach der Stadt zu fahren und dem Martin zu verschreiben.“
„Morgen schon?“
„Ja, morgen schon, so was soll man nicht auf die lange Bank schieben. Übermorgen fährt Martin auf die Freit’, und wenn Gott will, hast du übers Jahr schon einen Enkel. Denke mal, Mutter, wenn du erst solch einen kleinen Jungen wiegen wirst...“
„Ich dachte, ich muß aus dem Hause, wenn ich dem Martin übergebe.“
„Darüber haben wir noch nicht gesprochen, Mutter, aber besser wäre es, wenn du dir selbst ein kleines Anwesen kauftest, wo du noch weiter wirtschaften kannst“, erwiderte Kuba.
„Ja, Mutter, der Duda will verkaufen... Das könnte dir passen... ein hübsches Häuschen und ein paar Morgen Gartenland...“
Die Mutter schwieg und nickte ein paarmal mit dem Kopf. „Wie ihr wollt, Kinder... Alte Leute sind wie altes Eisen... Das wird fortgeworfen und verrostet im Dreck...“
„Mutter, so mußt du nicht reden. Du wirst auch allein ganz vergnügt leben, wenn du bloß was zu tun hast... Und der Martin wird auch aufleben. Was ist er bei dir bis jetzt gewesen? Nichts weiter als ein Knecht, der sich abgerackert hat, ohne zu wissen, wofür...“
„Ach, das hat er schon gewußt.“
„Nein, Mutter, er hat immer in der Angst gelebt, daß du mir verschreibst, selbst, wenn ich als verbummelter Student nach Hause komme... Und das hätte dir auch besser gepaßt, denn ich gedenke mich nicht zu beweiben, oder erst später, wenn ich mein Schäflein geschoren habe. Dann hättest noch zehn Jahre hier wirtschaften können...“
Frau Balk erwiderte nichts darauf. Sie ergriff die Flasche und hob sie auf... „Ihr habt beide so blanke Augen... Das ist wohl schon die zweite?...“
„Nein, Mutter, das ist die erste... Aber die zweite wird sogleich folgen. Bruder, geh’ runter in den Keller und hol’ eine Weißkuppe rauf... aber was Gutes... Wir wollen darauf anstoßen, daß wir drei wieder uns zusammengefunden haben... Und du, Martin, gib der Mutter einen Kuß... und küß’ ihr beide Hände. Sie haben auch für dich gearbeitet.“
Dreieinhalb Jahre schon stand Otto Pietrzyk bei den Gardekürassieren in Potsdam, ohne das Bedürfnis zu fühlen, auf Urlaub zu kommen. Er mußte wohl ein sehr tüchtiger Soldat sein, denn nach dem ersten Jahr war er Gefreiter, nach dem zweiten Unteroffizier geworden, und jetzt verhandelte sein Rittmeister mit ihm, ob er nicht kapitulieren und beim Militär bleiben wollte. Dann würde er ihn im Herbst zum Vizewachtmeister machen. Als Otto zögerte, gab er ihm drei Wochen Urlaub und schickte ihn nach Hause, um die Sache mit den Eltern zu besprechen.
Kein Mensch hatte eine Ahnung, daß Otto jetzt, zu so ungewöhnlicher Zeit nach Hause kommen würde. Der Vater war aber zufällig in der Stadt, um ein paar Tonnen Zement abzuholen. Mit Staunen sah er einen hochgewachsenen Kürassier mit weißem Waffenrock, langen Stulpenstiefeln, den glänzenden Stahlhelm auf dem Kopf über den Markt gehen. Jeder, der ihm begegnete, blieb stehen, um der prächtigen Gestalt nachzusehen... Pietrzyk hielt ihn für einen Offizier... Daß er seinen Sohn nicht auf den ersten Blick erkannte, war erklärlich, denn Otto war, als er zur Aushebung ging, wohl ein ziemlich lang aufgeschossener, aber sehr schmächtiger Bursche gewesen, und das da war ein starker Mann mit breiten Schultern... Und ein stattlicher Schnurrbart stand unter kühn gebogener Nase...
Er sah den Kürassier in den Kaufladen von Wimmer hineingehen. Da ging er ihm nach, um ihn sich in der Nähe anzusehen... Als er in den Laden eintrat, hörte er den Ladendiener sagen: „Ja, Ihr Vater ist hier... da kommt er schon...“
In seiner Herzensfreude ließ Pietrzyk eine Flasche Rotspon auffahren und setzte sich mit seinem Sohn ins Herrenstübchen, um ungestört die Freude des Wiedersehens auszukosten. Doch davon wurde nichts.
Im Nu hatte sich das Stübchen mit Bekannten gefüllt, die den Kürassier begrüßen oder auch bloß ansehen wollten... Erst auf dem Heimwege kam Pietrzyk dazu, den Sohn zu fragen, was ihn zu so ungewöhnlicher Zeit nach Hause führe...
„Mein Rittmeister will mich zum Vizewachtmeister machen und noch ein paar Jahre bei der Schwadron behalten. Deshalb hat er mich nach Hause geschickt, mit dir das zu besprechen.“
„Na, wenn du dazu Lust hast... Ich bin noch rüstig und möchte noch einige Jahre wirtschaften...“
„Ja, Vater, ich weiß nicht recht, was ich tun soll. Ich habe es ja nicht schlecht bei meinem Rittmeister, aber wie ich so heute durch die große Heide fuhr und rechts und links die Seen im Sonnenschein aufleuchten sah, da ist mir das Herz schwer geworden. Ich möchte doch lieber im Herbst nach Hause kommen. Sieh mal, Vater, ich verlerne das Wirtschaften und Arbeiten beim Militär...“
„Da kannst du recht haben...“
„Ich denke mir jetzt das so, daß ich noch ein Jahr bei dir in der Wirtschaft bleibe. Dann möchte ich mir eine Klitsche kaufen, wo ich lerne, wieder zu arbeiten... Dann kannst du meinetwegen so lange wirtschaften, wie du lustig bist...“
Der Alte zwinkerte listig mit den Augen. „Damit bin ich vollkommen einverstanden... Du möchtest wohl bald heiraten?“
„Ach wo, Vater, daran habe ich noch nicht gedacht. Ich habe wohl dort verschiedene nette und feine Mädel kennengelernt, nach denen ich bloß die Hand auszustrecken brauchte, aber die würden sich nicht zu einer Bauersfrau eignen.“
„Na, dann ist ja alles in schönster Ordnung... Hier wirst ein Mädel finden, die zu dir paßt.“
Jetzt lachte Otto. „Ihr habt wohl schon eine für mich auf Lager?“
„Das nicht... Aber da wäre zum Beispiel die Anna aus Wronken... die hat sich fein rausgemacht... Sie ist aber erst sechzehn Jahre...“
Vor dem Dorf stieg Otto ab und ging neben dem Wagen... Die kleinen Buben und Mädel, die auf der Straße im Sande spielten, blieben stehen, steckten vor Erstaunen den Finger in den Mund und zogen hinter ihm drein... Aus den Hoftoren kamen die Frauen und Mädchen gelaufen... „Das ist der Otto...“
„Ach Gott, was ist das für ein Mann geworden... ‘nen Tag Otto, Mensch, wo kommst du her“... „Nein, was aus einem Jungchen werden kann...“
Frau Pietrzyk stand am Waschfaß, als ein paar Schlingel in die Tür stürzten. „Der Otto ist nach Hause gekommen... Ach, ist der groß geworden.“
Schnell trocknete Frau Pietrzyk die nassen Hände an der Schürze ab... Da trat er auch schon in die Tür. Er mußte den Stahlhelm abnehmen und sich bücken, um nicht mit dem Kopf anzustoßen. Tief mußte er sich herabbeugen, um der kleinen rundlichen Mutter, die einen so großen Sohn hatte, einen Kuß zu geben. Da warf sie die Hände um seinen Hals und hielt ihn lange umschlungen...
„Dem Jungen muß ja das Kreuz weh tun, Mutter, wenn du ihn nicht losläßt“, sagte Vater Pietrzyk mit gerührter Stimme.
Nun strömten auch schon die Nachbarn herein, die Otto begrüßen wollten... Er setzte sich und gab Antwort auf alle Fragen, während die Mutter emsig zwischen Kammer, Herd und Tisch hin- und herlief, um ihm Essen aufzutragen...
Eine der ersten Fragen war, ob er auch den Kaiser gesehen hätte. „Aber fast jeden Tag, wenn er in Potsdam ist. Er kennt mich sogar bei Namen und hat mir für einen Sprung, den ich in voller Ausrüstung von hinten aufs Pferd machte, eine Doppelkrone geschenkt.“
Er öffnete seine Geldtasche und entnahm ihr ein in Seidenpapier gewickeltes Geldstück, das von Hand zu Hand ging und mit ehrfurchtsvollem Staunen betrachtet wurde, obwohl es sich durch nichts von einer gewöhnlichen Doppelkrone unterschied...
Nach dem Essen, als sich die Menge der Besucher verlaufen hatte, ging Pietrzyk in seine Kammer und zog sich seinen Bratenrock an. Dann schloß er sein Spind auf und steckte sich einen blauen Lappen ein. Der sollte heute noch im Kruge draufgehen, wenn er die Heimkehr seines einzigen Sohnes feierte. Bald war das Herrenstübchen im Kruge gerammelt voll, und vor der Tür zur großen Schankstube standen Kopf an Kopf die Dorfbewohner und reckten die Hälse und spitzten die Ohren, um kein Wort von dem zu verlieren, was Otto von Berlin und Potsdam und vor allem vom Kaiser erzählte. Natürlich mußte auch das Goldstück wieder gezeigt werden, aber Vater Pietrzyk behielt es scharf im Auge, damit es sich nicht etwa verkrümelte.
Wie Otto erzählte, daß der Kaiser ihn bei Namen genannt habe, rief der Vater dazwischen: „Sag’ mal, kann er denn unseren Namen aussprechen?“
„Aber ganz richtig...“
Da schlug Vater Pietrzyk mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten. „Na, nu hört ihr’s! Dem Kaiser ist unser Name nicht zu schwer auszusprechen, aber der Minister zerbricht sich daran die Junge und will uns unsern Namen nehmen, das heißt dem Dorf...“
„Das ist das erste, was ich höre“, rief ein alter Bauer. „Das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen.“
„Wir gehen bis an den Kaiser“, rief ein zweiter.
„Wißt ihr was, Herrschaften“, warf Otto ein, „ich erzähl’ das dem Grafen, meinem Rittmeister, der sagt es das nächstemal dem Kaiser... Da wird der Minister schön eins auf die Mütze kriegen.“
„Ja, der Otto hat recht“... riefen mehrere.
Ziemlich früh brach Vater Pietrzyk die Sitzung ab. Morgen war Freitag, da wollte er mit Otto zum Markt nach der Stadt fahren, um ihn der Verwandtschaft zu zeigen... da würde es noch heißer zugehen als heute abend...
Auf dem Markt und in den Kaufläden der Stadt wurde am folgenden Tage, solange der Markt dauerte, von nichts anderem gesprochen als von Otto Pietrzyk. Überall wurde er umdrängt und zum Trinken genötigt. Er hatte, wie man so zu sagen pflegt, schon einen Kleinen sitzen, als er über den Markt ging, um für die Mutter ein Kopftuch zu kaufen. Der weite Platz hatte sich schon ziemlich geleert, nur ab und zu stand noch ein Wagen... Da traten ihm zwei Mädel in den Weg. Die Kleinere stellte sich vor ihn und fragte: „Du kennst uns wohl nicht mehr?“
Kopfschüttelnd musterte Otto das zierliche Mädel. „Ich bin doch die Anna aus Wronken...“
„Ei sieh da, aus dem Gissel ist ‘ne Gans geworden.“
„Und aus dem Kalb ein richtiger Ochse“, erwiderte das Mädel mit flinker Zunge.
„Du bist nicht aufs Maul gefallen“, sagte Otto lachend.
„Aber das deine geht schon auf Schlorren, du scheinst in Berlin das Trinken gelernt zu haben.“
Jetzt trat Frieda heran. „Wie geht’s, Otto?“
„Gut, und dir?... Hast schon ‘nen Bräutigam?“
„Was fragst? Du nimmst mich ja doch nicht.“
„Nein, du bist mir zu alt... Ich will was Jüngeres haben, ein frisches Gemüse, woran noch keiner geleckt hat.“
Anna lachte laut auf, während Frieda sich beleidigt abwandte... Mit einem nachlässigen Gruß schritt Otto weiter...
Nach einem langen tiefen Schlaf ging Otto gegen Abend aufs Feld, um seinen noch etwas rauchenden Schädel auszulüften... Auf der Straße begegnete ihm die Witwe Ursina. Sie war in der ganzen Gegend dafür bekannt, daß sie die meisten Ehen zusammenbrachte. Nicht nur die heiratslustigen Burschen vertrauten ihr ihre Wünsche und Absichten an, sondern man munkelte, daß auch die jungen Mädchen, die ein Auge auf einen Mann geworfen hatten, ihre Hilfe in Anspruch nahmen, um die Wahl des heimlich Erkorenen auf sich zu lenken...
Die Ursina blieb stehen und sprach Otto an. „Na, hast dir in Berlin auch schon eine Braut zugelegt?“
„In Berlin keine, aber in Potsdam drei, eine zum Kochen, eine zum...“
„Schon gut, ich weiß schon“, lachte die Ursina, „aber heiraten wirst keine von den dreien.“
„Ich glaube nicht... Ich brauch’ eine Frau, die Kühe melken und Schweine füttern kann.“
„Da könnte ich dir hier eine tüchtige Frau zufreien.“
„Muß das sein?“, fragte Otto lachend.
„Na, wenn du warten sollst, bis dein Vater dir das Gut verschreibt, kannst du alt und grau werden. Und hier kannst dich sofort ins warme Nest setzen. Der Vater ist tot, sie wirtschaftet mit der Mutter, die sofort aufs Altenteil gehen will, wenn die Tochter Hochzeit macht, und ein ordentlicher Knubbs Bargeld ist auch noch dabei“... Sie trat näher an ihn heran... „Sie hat doch heute in der Stadt gesehen und mir anvertraut, daß sie dich nehmen möchte... Zum Herbst könnte schon Hochzeit sein...“
„Das geht ja wie am Schnürchen... Aber weißt du, Ursina, das muß ich mir doch erst überlegen. Die Sache scheint mir bei der doch einen Haken zu haben, sonst wäre sie längst weggeschnappt...“
„Kein Gedanke daran... Nein, nein, sie ist bloß zu wählerisch... Die nimmt nicht jeden, der anklopft.“
„Laß gut sein, Ursina... Ich habe heute auf dem Markt ein Mädel getroffen, die hat mir in die Augen gestochen. Die will ich mir erst näher ansehen.“
„Ich weiß es schon.“
Otto sah sie verblüfft an. „Den Deuwel weißt du.“
„Verlaß dich darauf. Die ist noch zu jung für dich, und wenn die Alten ihr auch verschreiben wollen, so wird es doch seine acht bis zehn Jahre dauern… Wenn du solange warten willst... In Potsdam drei Bräute und hier keine.“
„Das laß meine Sorge sein... bei mir ist vorläufig nichts zu verdienen.“ Er legte die Hand an die Mütze und ging weiter...
Am Sonntagnachmittag fuhr das Ehepaar Pietrzyk mit dem Sohn nach Wronken zum Besuch. Otto saß auf dem Bock und kutschierte. Die Pferde, ein paar junge forsche Tiere, machten ihm viel zu schaffen... Nach einer Weile drehte er den Kopf. „Vater, weshalb hast du die beiden nicht als Remonten gestellt?“
„Weil ich kein Rittergutsbesitzer, sondern ein Bauer bin.“
„Wie meinst du das?“
„Na, wenn ich sie der Kommission vorstelle, kriege ich im besten Falle zweitausend Gulden, und wenn der Herr Rittergutsbesitzer Livonius in Borken sie vorstellt, kriegt er viertausend. Dafür wohnt die Kommission auch in seinem Hause und hält auf seinem Hof den Markt ab. Nein, ich verkaufe sie lieber an den Händler, wenn sie ein Jahr älter sind...“
In Wronken wurde Otto von beiden Töchtern des Hauses nicht gerade sehr freundlich begrüßt. Frieda nahm von ihm nur soviel Notiz, wie es der Anstand gegen einen Gast erforderte, und Anna fragte ihn schnippisch, ob er schon vom Freitag ausgeschlafen hätte. Er lachte. „Das soll der Deuwel aushalten, wenn man von sieben Uhr morgens bis 1 Uhr mittags mit hundert Bekannten anstoßen und trinken muß. Ich kann mich kaum noch erinnern, daß ich euch auf dem Markt getroffen habe.“
„Wir haben das noch nicht vergessen“, warf Frieda spitz ein.
„Das freut mich“, erwiderte Otto mit scheinheiliger Miene, wobei Anna laut auflachte, während Frieda die Achseln zuckte und hinausging.
„Bist du mir auch noch böse, Annchen?“
„Na, ein bißchen noch... Du weißt wohl gar nicht mehr, was du gesagt hast? Mich hast eine Gans genannt und die Frieda ein altes Gemüse, an dem schon jeder geleckt hat.“
Otto brachte ein sehr reuevolles Gesicht fertig und kratzte sich hinter dem Ohr. „Das ärgert mich. Ich bin sonst nicht so grob zu jungen hübschen Mädchen.“
„Du hast wohl in Berlin viel Bekanntschaften mit Mädchen?“, fragte Anna neugierig und trat ihm näher.
„Ehrlich und offen gesagt: Ja. Man lernt sich beim Tanzen kennen und trifft sich wieder.“
„Und die Mädchen sind wohl sehr freundlich zu einem forschen Soldaten?“
Das Gespräch wurde zu Annas Verdruß gerade in diesem Augenblick vom Vater Wrona gestört, der Otto holen kam. Er wolle ihm seine Remonten zeigen...
Als die Männer nach einem Rundgang durch die Wirtschaft ins Haus zurückkamen, war Besuch aus der Stadt gekommen. Der Kreissekretär Zabludowski mit einem jungen, feinen, schlanken Herrn, der ihnen als der zukünftige Kreiswiesenbaumeister Karl Gruner vorgestellt wurde. Er saß schon mit Frieda in angeregter Unterhaltung und erzählte, daß er vom Minister hergeschickt sei, um überall Genossenschaften zur Melioration der Wiesen zu gründen. Bei der nächsten Kreisausschußsitzung werde er aller Wahrscheinlichkeit nach zum Kreiswiesenbaumeister gewählt werden.“
„Na, dann kann man Sie wohl schon jetzt Herr Baumeister anreden?“, meinte Frieda lächelnd... „Wo stammen Sie her? Doch nicht aus Ostpreußen?“
„Nein, ich bin Ostfriese... Mein Vater ist auch Bauer.“
„Sagen Sie mal, wie ist die Landwirtschaft dort?“, fragte Pietrzyk.
Otto schien die Unterhaltung nicht zu interessieren. Er stand auf und ging hinaus... Er ging über den Flur in die große Stube. Anna war nicht dort... Sie wird wohl beim Viehfüttern oder Melken sein, dachte er und ging auf den Hof... Richtig, da stand sie mit einer großen Schürze über dem hellen Kleid und fütterte ihr Federvieh... Er trat an sie heran und sah ihr zu. „Du Anna, mir scheint, der Wiesenbaumeister ist wohl zur Freit bei Frieda gekommen?“ Sie drehte ihm ihr lachendes Gesicht zu und nickte. „Das habe ich auch schon gedacht. Ein hübscher, forscher Mann. Und die Frieda will ja bloß in die Stadt heiraten...“
„Du wohl auch, was?“
Sie kräuselte die Lippen und schüttelte den Kopf. „Nein, ich will zu Hause bleiben und wirtschaften...“
„Das will ich auch. Ich bleibe nicht in Potsdam, ich komme zum Herbst nach Hause.“
„Solltest du denn dort bleiben?“
„Ja, mein Rittmeister redet mir zu, ich soll kapitulieren, er will mich zum Vizewachtmeister machen.“ Mit einem bewundernden Blick sah sie zu ihm auf. „Na, möchtest nicht doch?“
„Nein, Annchen, ich komme nach Hause und bleibe ein Jahr noch beim Vater. Dann kaufe ich mir eine kleine Klitsche und heirate.“
Er griff nach ihrer Hand, die sie eben an der Schürze abgewischt hatte. „Sag’ mir mal offen und ehrlich: brautest dich schon mit einem Burschen?“ Anna wurde rot bis unter die Schläfen, aber sie ließ ihm die Hand und schüttelte den Kopf.
„Du gefällst mir sehr gut, Annchen, ich denke, wir möchten gut zusammenpassen...“
Und wieder nickte Annchen. „Na, möchtest mich nehmen?“
„Aber Otto, das eilt doch nicht... Wenn du zum Herbst wiederkommst.“
„Na, dann wollen wir uns die Hand darauf geben...“
Sie reichte ihm die Hand mit festem Druck. Da beugte er sich schnell zu ihr nieder und raubte ihr einen Kuß.
Noch lange, als die Mutter schlafen gegangen war, saß Martin Balk mit seinem Bruder zusammen.
Er hatte die beste Flasche Rotspon, die er im Keller hatte, heraufgeholt und sich allmählich die Nase etwas begossen. Er fing an, weich zu werden und faßte den Bruder um. „Kuba, nimm’s mir nicht übel, aber meine Zunge gewöhnt sich nicht daran, dich Bogislav zu nennen... Bruder, was mach’ ich bloß mit der Trine?“
„Ach, du hast ein Mädel...“
„Ja und auch schon zwei Jungen von ihr... Mensch, Kuba, der älteste, drei Jahr ist er alt, das ist ein Staatsjunge... der schlacht nach mir...“
„Aber Bruder, weshalb machst dir darüber Sorgen? Wenn du den Krug hast, kannst du doch tun und lassen, was du willst... Du brauchst doch nach Geld nicht zu fragen.“
Martin schob die Mütze, die er nach alter Gewohnheit auch in der Stube trug, nach hinten und kratzte sich den Kopf. „Das sagst du so, Bruder... Aber man möcht’ doch nicht so was heiraten...“
„So was... so was?“... wiederholte Kuba, der auch schon etwas im Krönchen zu sitzen hatte, „was ist sie denn?“
„Na, was wird sie schon sein? Die Tochter vom Nachtwächter Kluppa, der bei mir auf dem Hof paslakt... Sie ist jetzt erst zwanzig Jahre...“
„Da hat sie ja früh angefangen, und du hast es sehr bequem gehabt... Wenn der Alte die Nacht draußen war... Na, Bruder, das muß man nicht machen... das ist eine Dummheit... Dazu fährt man nach der Stadt in eine Kneipe und läßt einen blauen Lappen springen.“
„Du hast gut reden“, erwiderte Martin etwas bekümmert... „die blauen Lappen habe ich bloß nie zu sehen bekommen. Die hast du alle gekriegt.“
„Ach red’ doch nicht so’n dummes Zeug, Martin. Es fragt sich bloß, ob du dem Mädel die Ehe versprochen hast.“
„Was hab’ ich ihr versprochen? Ach, du meinst, daß ich sie heiraten will... Nee, Bruderherz, so dumm bin ich denn doch nicht. Ich glaube, die Mutter weiß alles, aber sie hat nie mit mir ein Wort darüber gesprochen.“
„Ja, die Mutter ist klug, die ist sehr klug, Bruder... die weiß ganz genau, daß der Affe irgendwo zum Fenster hinausspringen muß...“
„Ja, ja, aber die Trine...“ Er faßte den Bruder um und sah mit schwimmenden Augen zu ihm auf.
„Weißt du, Kuba, mir wird es doch sehr schwer fallen. Die Trine ist so druglich, wie Milch und Blut, sag’ ich dir, und wenn ich zu ihr komme, wie Honig und Zucker. Kein böses Wort hab’ ich noch von ihr gehört.“
„Na, Mensch, Bruder, dann heirat’ sie doch...“
Martin schüttelte den Kopf. „Nee, Kuba, das geht nicht. Eine Frau im Haus muß Respekt haben... Ich kann mir doch keine Frau nehmen, die mit den Margellen, mit denen sie zur Schule gegangen ist, auf Du und Du steht, und dann bei der Trauung, wenn sie mit dem offenen Kranz gehen muß...“
„Na, dann findst sie ab und für die Jungen setz’ ein Stück Geld aus, und dann ist die Sache in Ordnung.“
Martin hatte den Kopf niedergebeugt und mehrmals genickt. „Das sagst du so... aber sie tut mir so leid, und wenn ich eine andere heirate und meine Frau dahinter kommt...“
„Nein, Martin, das muß vorher alles klar sein... und wenn’s dich tausend Taler kostet... Das Mädel kriegt seine Abfindung, und für die beiden Jungen setzst du auch was aus, daß sie gut erzogen werden, aber sie darf nicht hier in Lipinsken bleiben... sonst gehst ans Ende doch noch mal zu ihr, und dann ist der Deuwel los... Aber nun Schluß, Martin... Ich habe schon lange nicht so guten Rotspon getrunken wie heute bei dir... Hast noch mehr davon im Keller?“
„Wohl noch achtzig, neunzig Flaschen.“
„Na, dann gnad’ dir Gott, wenn du ihn verkaufst, daß ich nicht dabei bin. Die Sorte kostet unter Brüdern mindestens doch ihre sechs Gulden.“
„Ach wo, nicht ganz zwei Gulden habe ich dafür gegeben, und ich verkaufe sie zum Taler...“
„Du bist ein Narr, Martin... Na, dann Gute Nacht, Bruder, ich weiß schon, wo ich schlafe...“
Am nächsten Morgen fuhr Frau Balk mit beiden Söhnen nach Lyck, um vor dem Notar die Verschreibung vorzunehmen. „Das Bargeld erhalte ich“, erklärte sie dem Rechtsanwalt, „aber der Martin kriegt zehntausend zum Betrieb und der Kuba fünftausend... Was der Martin ihm abgeben will, ist seine Sache.“
Martin räusperte sich und stand auf. „Wenn ich sagen darf, Herr Rechtsanwalt... ich meine, ‘ne neue Schätzung wird auch was kosten... und wir sind ja einig... Wenn du, Kuba, damit zufrieden bist, möcht’ ich dir noch zehntausend auszahlen... gleich bar... das von der Mutter... ich will keine Hypothek aufnehmen...“
Der Notar rieb sich die Hände. „Die Herrschaften sind ja in einer erfreulichen Eintracht...“ Er sah seinen Bürovorsteher an, der mit gezückter Feder dasaß... „Schreiben Sie. Vor dem unterzeichneten Rechtsanwalt und vereidigten Notar erschienen — — —erstens die Witwe — — — haben Sie? — — — v.g.u. ... Haben Sie?... So, meine Herrschaften... Lesen Sie vor, Kleinert... So, meine Herrschaften, wollen Sie jetzt unterschreiben?“
Frau Balk zog ihre Brille aus der Tasche, setzte sie umständlich auf, nahm die Feder und schrieb mit ungelenker Schrift ihren Namen unter das Dokument... Etwas mühsam malte Martin seinen Namen darunter, und dann warf Kuba mit flotter Hand seine Unterschrift auf das Papier.
Auf der Straße führte Kuba seine Mutter am Arm. Im „Königlichen Hof“ wollte man ein Frühstück einnehmen und ein Glas Wein dazu trinken. Dann ging die Mutter in die Stadt, ihre Besorgungen zu machen. Auch Martin erhob sich. „Willst du nicht mitkommen?“
„Nein, Bruderherz... es ist besser, wenn du allein gehst.“
Der Buchdruckereibesitzer, der trotz der Wärme ein wollenes Tuch um die Schultern trug, empfing Martin mit der üblichen Zurückhaltung. „Was steht zu Diensten, mein Herr?“
„Ich möcht’ mich nach dem Preis für Ihre Druckerei erkundigen.“
Der Besitzer lächelte und hüstelte ein wenig. „Ich habe doch das Vergnügen mit dem Gastwirt aus Lipinsken, Herrn Balk?...“
„Das stimmt auffallend...“
„Na, wollen Sie denn für sich die Druckerei kaufen?“
„Nein, für mich nicht, aber für meinen Bruder.“
„Ach so, für Ihren jüngeren Bruder... Versteht denn der was von unserer schwarzen Kunst?“
„Ob er etwas versteht oder nicht, kann Ihnen doch gleichgültig sein“, erwiderte Martin grob und stand auf. „Wenn Sie nicht wollen, dann brauchen Sie bloß zu sagen.“
„Aber, lieber Herr Balk, ich habe ja nur gefragt. Jawohl, ich will gern verkaufen, ich bin ein kranker schwacher Mensch und will Ihnen deshalb einen anständigen Preis machen.“
„Na, sagen Sie schon, was der Schwank kosten soll.“
„Mit Gebäude und allem Inventar rund hundert Mille...“
„Was, hundert Mille? Aber Herr Kruschwitz... ich kenne Ihre alte Kabach, und was die paar Maschinen kosten, kann ich mir ungefähr auch ausrechnen... Die können neu nicht mehr gekostet haben, als eine bessere Nähmaschine... und wir zahlen bar aus bis auf den letzten Pfennig.“
Der Druckereibesitzer schmunzelte. „Lieber Herr Balk, handeln besteht aus vorschlagen und abhandeln.“
„Selbstverständlich, Herr Kruschwitz, aber ich kaufe keine Katze im Sack.“
Wohl eine halbe Stunde waren sie durch das ganze Haus gewandert... Neugierig sah Martin den beiden Lehrlingen auf die Finger, die gemächlich aus den Kästen einen Buchstaben nach dem anderen nahmen und in den Winkelhaken legten.
„Wissen Sie was, Herr Kruschwitz“, sagte Martin, als sie wieder im Besuchszimmer sich gegenüber saßen, „das Haus ist unter Brüdern zwanzigtausend Mark wert, und wenn wir die Maschinen noch mit zehntausend anrechnen, dann ist der ganze Krempel sehr reichlich bezahlt...“
„Aber Herr Balk, Sie vergessen, daß es sich um ein altes guteingeführtes Geschäft handelt... Ich habe die beste Kundschaft, und wenn ein junger kräftiger Mensch die Sache übernimmt...“
„Herr Kruschwitz“, erwiderte Martin ruhig, „ich bin auch nicht von heute und gestern, ich kenne Ihr Geschäft doch schon feit zwanzig Jahren... Was Sie einnehmen, stammt doch in der Hauptsache aus dem Ladenverkauf an Papier und Schulbüchern. Ich werde Ihnen was sagen. Auf den Verkauf legt mein Bruder kein Gewicht... Sie können ruhig nebenan einen Papierladen aufmachen und den ganzen Kram mitnehmen. Für das andere biete ich Ihnen... na sagen wir mal rund vierzigtausend Gulden... bar auf den Tisch, wenn Sie keine Hypotheken darauf haben...“
„Nicht zu machen, Herr Balk... unter fünfzig kann ich es nicht weggeben...“
„Das hört sich schon anders an, Herr Kruschwitz... Ich will noch zwei Mille rauflegen, aber dann ist es Schluß.“
„Teilen wir uns denn doch wenigstens die zehn Wille auf die Hälfte.“
„Nicht einen Pfennig mehr, als wie ich gesagt habe.“
„Ist das Ihr letztes Wort?“
Martin hielt ihm die Hand hin. „Schlagen Sie ein... Übermorgen haben Sie das Geld.“
„Weißt, was er gefordert hat?“, erzählte Martin vergnügt dem Bruder, „hundert Wille... Ich bot ihm vierzig und habe schließlich noch zwei zugelegt... Das Haus ist gut gebaut, da kann noch ein zweiter Stock aufgesetzt werden... Was die Maschinen kosten, habe ich keine Ahnung... die kannst du dir ja morgen ansehen...“
Am dritten Tage fand die Übergabe statt, und vierzehn Tage später zog Kuba, oder, wie er sich beim Bürgermeister anmeldete, Herr Bogislav Balk, in das Haus ein. Einige Tage später trafen sechs junge Männer ein, denen man die polnische Abstammung auf zehn Schritt an dem Zuschnitt der Kleidung ansah.
Die Nachricht, daß Frau Balk dem Sohn die Wirtschaft verschrieben hatte, lief wie Strohfeuer durch das Dorf. Äußerlich hatte sich in dem Wirtschaftsbetrieb nichts geändert, denn die Mutter hatte sich verpflichtet, im Hause zu bleiben und für den Sohn weiter zu arbeiten, bis er Hochzeit gemacht haben würde. Eine Unrast war über die alte Frau gekommen. Mit dem ersten Morgengrauen stand sie auf und schäfferte im Hause und auf dem Hof umher, als habe sie viel versäumt, was sie jetzt nachholen müßte. Obwohl sie dazu nicht verpflichtet war, hatte sie dem Sohn auf Heller und Pfennig Rechnung gelegt, was sie in der Zeit ihrer Witwenschaft eingenommen und ausgegeben hatte. Und sie hatte gut gewirtschaftet, und Martin ersah aus den Büchern, daß sie noch ein anständiges Stück Geld in Hypotheken und Wertpapieren hinter sich hatte.
Martin ging mit schwerem Kopf umher. Er hatte das Mädel lieb, das ihm alles geopfert und zwei prächtige Buben geschenkt hatte, ohne zu fragen, ob er sie ehrlich zu machen gedenke. Aber als Frau? Nein! In die große Wirtschaft gehörte eine feste Hand.
Eines Tages kam die Ursina angewandert. Mutter Balk empfing sie sehr freundlich... Sie wußte ja, was der Gast im Schilde führte. Auch Martin wußte es, und er ging nicht ins Haus, als er sie kommen sah, sondern mit schwerem Herzen querfeldein. Aber als er abends nach Hause kam, saß die Frau noch immer da... Nicht eine Spur war ihr anzumerken, daß sie sich über ihn geärgert hatte. Als er eintraf, stand die Mutter auf und ließ ihn mit Ursina allein.
„Herr Balk, ich habe schon ein paar Stunden auf Sie gewartet, aber das schadet nichts, wenn man ein Geschäft machen will, muß man manchmal viel Geduld haben. Und was lange währt, wird gut... Also ohne Umschweifen ich habe eine gute Frau für Sie...“
„Liebe Frau“, erwiderte Martin abweisend, „Sie hätten sich die Mühe sparen können.“
„Das sagen Sie, Herr Balk. Ich bin anderer Meinung. Sie müssen jetzt heiraten, damit Ihre Frau Mutter sich zur Ruhe setzen kann. Nu werden Sie bloß nicht ungeduldig, ich weiß alles... Sie haben von der Trine Kruk zwei Jungens... Schön, ich kenne die Jungen... sind ein paar prächtige kleine Kerle... Aber was will das sagen? Wenn man dreißig Jahre alt wird und nicht heiraten kann, dann kommt so was von so was... Nein, Herr Balk, nun lassen Sie mich erst mal ausreden... Der Trine besorg ich einen guten Mann, ich habe schon was auf dem Kieker... nicht mehr ganz jung... aber sie hat ja ihr bestes Teil weg... Sie müssen allerdings ein bißchen mit dem Daumen wackeln... Na, sagen wir mal tausend Taler für die Trine und ebensoviel für jeden von den Jungens. Sie können auch mehr tun, lieber Herr Balk, der Wohltätigkeit sind keine Schranken gesetzt, und es ist doch Ihr eigen Fleisch und Blut...“
„Ja, ich weiß nicht, ob die Trine...“
„Seien Sie ganz unbesorgt, Herr Balk, ich habe schon mit der Trine gesprochen. Das ist ein sehr verständiges Mädel... Sie sieht selbst ein, daß sie nicht hier in den Krug paßt... Und um die paar tausend Taler soll es Ihnen nicht leid tun, Sie kriegen mehr mit Ihrer Zukünftigen mit. Aber sie will vorher reinen Tisch haben... Die Trine zieht mit ihrem Vater weg, noch ein Ende über Lyck hinaus... dann ist alles in Ordnung, und Sie können ruhig heiraten...“
„Ursina, Sie sind eine... Na, ich hätte bald was gesagt…“
„Sprechen Sie ruhig aus, ich weiß ja, was Sie denken. Ich bin eine kluge Frau, die nicht ins Blaue hineinarbeitet.“
Martin lachte und nickte... „Und wer soll die Zukünftige sein?“
„Ein tüchtiges, fleißiges Mädchen, die ihren Mann steht und in eine Gastwirtschaft paßt...“
„Nu sagen Sie schon.“
„Die Jette Sparka...“
Als hätte ihn die Ameise gebissen, so sprang Martin auf. „Aber Ursina!...“
„Setzen Sie sich man ruhig wieder hin, Herr Balk, und hören Sie zu. Die Jette kriegt gut und gern ihre hunderttausend Gulden mit. Jawohl... Das haben Sie nicht gedacht... Nun will ich ruhig zugeben, daß sie schon sechsundzwanzig und keine große Schönheit ist. Aber gesund und kräftig, und was sie will, das will sie.“
„Na, diesmal haben Sie vorbeigehauen“, erwiderte Martin und stand auf. „Sie sollen für Ihre Bemühung wegen der Trine nicht leer ausgehen, aber erst will ich noch auf einer anderen Stelle anklopfen.“
Auch die Ursina erhob sich. „Soll ich nicht vorher anfragen, damit Sie sich nicht einen Korb zu holen brauchen?“
„Das wird nicht nötig sein.“
„Na, Herr Balk, wenn Sie sich man nicht täuschen. Und wenn Sie in Wronken anklopfen wollen, dann möcht ich Ihnen doch abraten.“
„Frau, Sie sind ja der Leibhaftige...“
„Nein, ich halt’ bloß meine Augen offen... Und da habe ich gesehen, daß Sie schon ein paarmal der Frieda nachgegangen sind auf dem Markt und haben sich im Laden mit ihr an denselben Tisch gesetzt und haben Wein bestellt... Nein, Herr Balk, lassen Sie die Hände davon... Die hat drei alte Weiber, die flechten Tag und Nacht bloß Körbe für ihre Verehrer, und den größten werden Sie bekommen.“
„Das möcht’ ich ausprobieren...“
Frau Ursina zuckte die Achseln und reichte ihm die Hand zum Abschied. „Wem nicht zu raten ist, dem ist nicht zu helfen... Wenn Sie sich den Korb bei der Frieda geholt, komme ich wieder.“
Einige Tage ging Martin in schweren Gedanken umher. Dann ließ er anspannen und fuhr nach Wronken. Es kam so, wie es ihm die Ursina vorausgesagt hatte. Die Alten waren, nachdem er ihnen seine wirtschaftliche Lage auseinandergesetzt hatte, mit der Werbung einverstanden, aber Frieda wollte nicht.
„Ich stoße mich daran, Herr Balk, daß Sie im Dorf ein Mädel mit zwei Kindern sitzen haben... Die würde ich mir vom Halse schaffen , aber ich will nicht im Krug stehen und betrunkenen Bauern Schnaps einschenken.“
„Das haben Sie gar nicht nötig als meine Frau“, wagte Martin schüchtern zu erwidern.
„Nein, nein, Herr Balk, es tut mir sehr leid, daß Sie sich vergebens bemüht haben, aber ich will nicht aufs Dorf heiraten, wo ich mich wie eine Margell abrackern muß... Ich will nach der Stadt... Und Sie hätten sich die Mühe sparen können, wenn Sie vorher die Ursina gefragt hätten.“
Damit stand sie auf und ließ den abgewiesenen Freier sitzen... Mit trübseliger Miene sah er ihr nach... Er dachte an Jette Sparka... und dann sah er seine kleine mollige Trine und seine zwei Jungens... Das Herz ward ihm schwer... Was brauchte er jetzt schon zu heiraten, wenn die Mutter noch im Hause blieb und ihm die Wirtschaft führte?
Frau Balk erfuhr sofort von der Ursina, daß sich ihr Ältester bei Frieda einen Korb geholt hatte. Er tat ihr leid, aber ein bißchen Schadenfreude war doch dabei, weil er ganz auf eigene Faust gehandelt und sich bei ihr nicht Rat geholt hatte. Sie sprach nicht davon zu ihm, aber es schien ihr, als ob er die Lust zum Heiraten verloren hatte. Das war ihr im Grunde genommen nicht recht, denn seitdem sie sich entschlossen hatte, dem Martin die Besitzung zu verschreiben, und seitdem sie den Entschluß ausgeführt hatte, wollte sie sich wirklich zur Ruhe setzen und nicht noch monatelang ihm die Wirtschaft führen. Das Häuschen, in dem sie ihre alten Tage verbringen wollte, war gekauft, die bisherigen Bewohner wollten bald wegziehen, da wollte sie es nicht leer stehen lassen. Die Möbel, die sie brauchte, waren teils dem Krug entnommen, teils neu gekauft.
Eines Tages kam die Ursina mit einem kleinen Anliegen. Als es ihr erfüllt war, blieb sie sitzen und begann von allem möglichen zu sprechen, sodaß Frau Balk fragte, ob sie dem Martin was zu sagen hätte.
„Eigentlich wollte ich mit Ihnen noch was besprechen, aber ich traue mich nicht recht... es hat ja auch noch Zeit... Aber wissen Sie schon, daß der Hegemeister wieder hierher zurückkommt?“
„Wer, der Fuchs?“
„Ja, liebe Frau Balk... Er war doch, als er Pension nahm, zu seiner Schwester gezogen, er kann sich aber mit seinem Schwager nicht recht stellen, und die Menschen in Litauen sind so ganz anders... Seit acht Tagen ist er bei seinem Sohn in der Stadt, aber da sind die kleinen Kinder, und die Schwiegertochter hat ‘ne sehr scharfe Zunge...“
„Ja, ja, so’n alter Mann ohne Frau ist wie ein Schatten... Springt er übern Zaun, ist er auf der anderen Seite“, meinte Frau Balk teilnehmend.
„Ach, der Fuchs springt noch lange nicht übern Zaun, der ist mit seinen sechzig Jahren noch wie ein anderer von vierzig, er hat noch nicht mal graue Haare. Ich habe ihm, wie ich ihn am Freitag in der Stadt traf, gesagt, er solle noch mal heiraten.“
Frau Balk lachte laut auf.
„Was lachen Sie? Er soll doch nicht ein junges Mädchen heiraten, sondern eine Frau in gesetzten Jahren, die im Alter zu ihm paßt. Aber bloß keine alte Jungfer, am besten eine rüstige Witwe, die ihn gut pflegt.“
„Eben, deswegen lache ich... Nachtigall, ich hör dir trappsen.“
„Na, wär’ das schlimm, wenn Sie ihn nehmen möchten?“
„Schlimm nicht, aber verrückt... Wenn ein alter Mann, der Pflege braucht, sich noch eine zweite Frau nimmt, dann ist das sehr verständig, aber ein altes Weib, das mit grauen Haaren freien geht...“
„Na, erlauben Sie mal, Frau Balk, Sie sind mit Ihren Fünfzig doch noch ‘ne stattliche, forsche Frau...“
„Ja, liebe Ursina, weshalb haben Sie denn nicht schon lange zum zweitenmal geheiratet?“
„Ich? Ich möchte mir lieber heute wie morgen einen Mann nehmen, wenn ich einen kriegen könnte.“
„Na, nu schlag’ Gott den Deuwel tot!“, lachte die Wirtin und schlug die Hände zusammen. „Das ist zu spaßig, Ursina, Sie stiften in jedem Jahr ein paar Dutzend Ehen und für sich selbst...“
„Ja, für andere was besorgen, das ist gar nicht so schwer, aber ich kann doch nicht zu einem Mann gehen und ihm sagen: Heirat’ mich. Aber überlegen Sie sich das mal mit dem Fuchs... Seine Kinder sind versorgt, ihr beide habt auch zu leben...“
„Ich möchte mal sehen, was meine Jungen dazu sagen würden...“
„Was wollen sie denn eigentlich sagen? Natürlich getrennte Güter, und zur Sicherheit machen Sie vorher ein Testament und stellen Ihr Geld den Söhnen sicher...“
„Nun sagen Sie mal offen und ehrlich, Ursina, hat der Fuchs Sie zu mir geschickt?“
„Ja und nein. Wie er zu mir sagte, daß er noch ‘mal heiraten möcht’, da habe ich gleich an Sie gedacht und Ihren Namen genannt. Da ist er mit beiden Füßen in die Sache reingesprungen und hat mir Auftrag gegeben, bei Ihnen vorzufühlen... Ich brauch’ Ihnen ja nicht zu erzählen, daß er ein guter, freundlicher Mann ist... Er hat ja bei Ihnen zu Lebzeiten Ihres Mannes viel verkehrt... Sie kennen ihn also ganz genau...“
„Ja, gutmütig und ordentlich ist er.“
„Na, was meinen Sie, soll er mal rauskommen?“
„Ach, Ursina, Sie sind unausstehlich... Nun denkt man, man wird sich zur Ruhe setzen und still und friedlich seine Tage verleben...“
„Das würden Sie gerade vertragen, so mutterseelenallein in Ihrer Kabach zu sitzen und Grillen zu fangen. Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, steht in der Bibel. Auch Ihnen kann mal was zustoßen, wo Sie Hilfe brauchen...“
„Es steht aber auch geschrieben: Heiraten ist gut, nicht heiraten noch besser.“
„Das kommt ganz auf die Umstände an, Frau Balk... Bei Ihnen beiden paßt alles gut zusammen. Überlegen Sie sich das... Ich komme in acht Tagen wieder nachfragen... Sie können ja mal so im Spaß bei Ihren Jungen antippen, wie die darüber denken?“ Die Mutter saß noch in tiefen Gedanken, wobei sie manchmal nickte, manchmal aber auch den Kopf schüttelte, als Kuba eintrat...
„Was simmelierst du so?“
„Ach Unsinn... eben war die Ursina bei mir.“
„Will sie dich womöglich auch noch mal verheiraten?“
„Jawohl...“
„Mutter, weshalb nicht... was sollen wir dagegen haben, wenn du einen netten, guten Mann bekommst... Das Geld wirst du uns natürlich sicherstellen...“
„Das ist doch selbstverständlich. Ich werde unser Geld nicht unter fremde Leute bringen.“
„Na, dann sag’ ich in Gottes Namen. Wer soll es denn sein?“
„Der Hegemeister Fuchs...“
„Ein stattlicher Mann... Also Mutter, tu, was du willst, ich habe nichts dagegen. Wo ist der Martin?“
„Ich glaube, auf dem Hof...“
„Ich werde ihn mir suchen.“
Martin saß in der Geschirrkammer und bastelte an einer zerbrochenen Egge... „Martin...“
„Tag Kuba, was bringst Neues?“
„Einen ganzen Sack voll... Wie geht’s dir? Bist schon auf der Freit gewesen?“
Martin stand auf und kratzte sich den Kopf... „Ja, aber auf der falschen Stelle, wo ich mir einen Dreischeffelkorb geholt habe.“
„Bei wem denn?“
„Bei der Frieda Wrona.“
„Aber Mensch, das läßt man doch von der Ursina besorgen.“
„Ja, ja, aber ich wollt’ erst mal auf meinen Kopp bestehen... Es ist mir auch ja bekommen, wie dem Hund das Gras fressen... Nu werde ich wohl in den sauren Apfel beißen müssen.“
Kuba lachte. „Wie heißt denn der saure Apfel?“
„Jette Sparka.“
„Was, die einzige Tochter von dem Sparka? Mensch, Bruderherz, da hängt was raus.“
„Danach brauche ich doch nicht zu sehen...“
„Aber zu verachten ist es auch nicht, wenn’s dran bammelt... Und das wäre großartig, wenn du die Jette kriegst... Der alte Sparka ist unser Mann, der ist ganz fuchsteufelswild auf die Regierung... Erst gestern hat er im Kreisausschuß einen furchtbaren Krach gemacht mit dem Landrat wegen der Umtaufung der Dörfer... Wenn wir den Sparka auf unsere Seite kriegen, dann haben wir die ganze Gegend bis hinter Johannisburg... Überall sitzt seine Verwandtschaft. Alles wohlhabende Bauern. Wieweit ist die Sache mit der Jette?“
„Wenn sie mir das nicht übelnimmt, daß ich erst bei der Frieda angeklopft habe, dann könnt’ ich wohl jeden Tag hinfahren. Sie ist ja nicht mehr die Jüngste, ich denke, sie wird beinahe in einem Alter mit mir sein... Es ist noch ein viel jüngerer Bruder da... so’n Junge von fünfzehn Jahren, der soll mal das Gut übernehmen...“
„Also denn los, Martin.“
„Na und du? Denkst du nicht ans Heiraten?“
„Bruder, so’n Zugvogel, wie ich, der tut am besten, wenn er sich keinen Stein ans Bein bindet...“
„Du tust ja so, als wenn das hier nichts wird.“ Kuba zuckte die Achseln. „Wer kann wissen, wie lange hier der Karren gehen wird.“
„Ist dir was schief gegangen, daß du so red’st?“
„Nein, jetzt geht’s wie ans Schnürchen, aber es sieht so aus, als wenn es bald Krieg geben wird. Dann ist es natürlich hier mit allem zu Ende...“
„Ach geh, spuk’ nicht vor... Weshalb sollen wir Krieg führen? Der Kaiser will nicht, und dann müssen die anderen kuschen.“
„Bruder, Bruder, das sagst du so in deinem jugendlichen Unverstand... Es kann der Beste nicht im Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“
„Ach du meinst, die Russen werden anfangen und die Franzosen... Davon wird schon seit mehr als zehn Jahren geredet, und es bleibt doch alles beim alten...“
„Gott geb’s... Ich möchte gern vier, fünf Jahre hier in Ruhe arbeiten und Geld verdienen, dann kann’s meinetwegen losgehen. Nächste Woche bringe ich eine Probenummer raus... sie ist schon so gut wie fertig... Am letzten Tage bringe ich noch die neuesten Nachrichten rein... Mir fehlen bloß noch Adressen, und die sind nicht so leicht zu beschaffen...“
„Aber Kuba, nichts leichter als das. Du brauchst bloß an die Ortsschulzen und die Gastwirte je zehn, zwölf Stück zu schicken. Die verteilen sie...“
„Bruder, du hast recht. Das werde ich machen. Ich bin bloß neugierig, was die Herren Landräte machen werden, wenn sie die Nummer in die Hand kriegen.“
„Das werden wir schon erfahren...“
„Ich glaube, die werden Feuer und Fett spucken... Ich habe den Bauern so schön auseinander amüsiert, daß sie bei der nächsten Wahl nicht einen Grafen, der von Gott weiß woher kommt, wählen sollen, sondern am besten einen richtigen masurischen Bauern...“
Martin grinste und kratzte sich nach seiner Gewohnheit den Kopf. „Da werde ich auch was abkriegen... Ich werde man gleich in den nächsten Tagen alles in Ordnung bringen, Feuerleiter und Eimer, sonst hagelt’s Strafverfügungen...“
„Das wär’ für mich ein gefundenes Fressen für die nächste Nummer. Übrigens die Sache läßt sich ganz gut an, die Kaufleute in Lyck und Johannisburg sind alle rangegangen, wie Seebach an die Klöße...“
„Wie meinst du das?“
„Mit Inseraten... mit Anzeigen... Das bringt Geld, sag’ ich dir... so vier Seiten voll á 200 Mark, und dann jede Woche drei Nummern...“
„Das scheint also ein ganz gutes Geschäft zu sein, Zeitungen zu machen.“
„Wenn’s einschlägt. Ich habe vorerst bei jeder Seite meine fünfzig Gulden verdient... Ein gutes Gehalt bekomme ich auch... Alle Unkosten krieg’ ich ersetzt.“
„Das ist ja fein...“
„Meinst, ich werde so was unternehmen, wenn ich nicht grob Geld dabei verdiene? Sobald die Probenummer raus ist, feiere ich die Einweihung des Hauses bei mir... Vielleicht können wir schon bis dahin einige Bauern festmachen... Aus der Stadt lad’ ich auch ein paar Herren ein“... Er lachte laut auf. „Weißt was? Ich werde auch den Landrat einladen.“
„Kuba, mach’ doch nicht solche Geschichten... Wenn er dann aber wirklich kommt...“
„Ach wo, er wird sich bloß ärgern... und das ist ja auch der Zweck der Sache. In der nächsten Zeit wird übrigens ein Vertrauensmann meiner Geldgeber herkommen, ein Apotheker aus Gnesen, Vollblutpole natürlich. Ich werde ihn aber erst zurechtstutzen, damit er uns das Kind nicht mit dem Bade ausschüttet, und dann wollen wir bei dir eine große Versammlung von Vertrauensmännern abhalten, in Form einer Gesellschaft, die du zur Feier deiner Verlobung gibst... Es wird natürlich alles bezahlt... Auch für meine Gesellschaft wirst du den Wein liefern, nicht zu knapp, daß für mich auch noch ein paar Flaschen übrigbleiben... Aber erst muß die Mutter aus dem Hause sein. Also sorg’, daß du deine Braut kriegst und bald Hochzeit machen kannst... Übrigens das Allerneueste: die Mutter will wieder heiraten...“
„Ach geh“, erwiderte Martin halb lachend, halb unwillig, „wer hat dir das aufgebunden?“
„Sie hat es mir vor einer halben Stunde selbst gesagt, und ich habe ihr zugeredet... Weshalb nicht, wenn sie uns sicherstellt?“
„Na, wen denn?“
„Hegemeister Fuchs.“
„Bruder, das paßt mir nicht, das ist wirklich ein alter Fuchs, wenn der mir hier auf der Pelle sitzt und rumspioniert...“
„Aber Martin, den halfterst dir gleich vorher ab... Das ist ganz leicht... Du sagst nicht ja, nicht nein, wenn die Mutter dich fragt, und gehst nicht zur Hochzeit... Dann wird nie eine dicke Freundschaft mit dem Stiefvater...“
Einige Tage später, nachdem Ursina ihm versichert hatte, daß alles in Ordnung sei, fuhr Martin nach Sparken. Kuba hatte ihm einen Abzug der Probenummer, die bis auf die neuesten Nachrichten fertig war, geschickt. Die sollte er dem alten Sparka, wenn er die Gelegenheit für günstig hielt, zu lesen geben.
Die Ursina hatte gut vorgearbeitet. Martin wurde sofort in die Gasträume geführt... Einige Minuten später erschienen die alten Sparkas in Feiertagskleidung. Ohne Umschweife ging Martin auf sein Ziel los. Er legte seine Vermögensumstände dar, und als seine Erklärung beifällig aufgenommen wurde, bat er um die Erlaubnis, um die Hand der Tochter anhalten zu dürfen...
„Von unserer Seite steht Ihnen nichts im Wege“, erwiderte Sparka feierlich, „obwohl es uns leid tut, die Tochter zu verlieren. Ich denk’, sie wird einverstanden sein... Mutter, ruf’ sie mal her.“
„Sagen Sie mal, Balk“, fuhr der Alte fort, „ist das Ihr Bruder, der in Lyck eine masurische Zeitung herausgeben will... Was soll das eigentlich werden? In Landwirtschaft oder in Politik oder...“
„Ich glaube, es wird alles drinstehen, was für uns masurische Bauern gut zu wissen ist... Ich habe zufällig einen Abzug von der Probenummer bei mir, wenn Sie vielleicht reinsehen wollen.“
„Geben Sie her.“
Er setzte seine Brille auf und begann zu lesen... Schon nach den ersten Sätzen schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief: „Richtig! Sehr gut... sehr richtig...“ Dann lachte er laut auf. „Da steht ja schon drin, was ich im Kreisausschuß gesprochen habe...“
Er las so eifrig, daß er gar nicht aufsah, als seine Frau und Tochter eintraten. Er hörte auch nicht zu, wie Martin an Jette herantrat und fragte, ob sie ihm Hand und Herz schenken wolle... Diese Frage hatte ihm die Ursina eingetrichtert.
„Wenn die Eltern einverstanden sind, Herr Balk, dann möchte ich auch ja sagen...“
Jetzt stieß Frau Sparka ihren Mann an. „Vater... kümmere dich doch hier um die Kinder.“
„Ach so... Na, ich sehe schon, ihr seid einig... Unseren Segen habt ihr...“ Er schüttelte Martin die Hand. „Und du, mein Kind, gehst in ein gutes Haus und kriegst einen tüchtigen Mann... Das ist die Hauptsache... Mutter, bringe mal Wein, daß wir darauf anstoßen. Ich werde inzwischen das Blatt zu Ende lesen.“
Das Brautpaar hatte sich die Hand gegeben und aufs Sofa gesetzt. Jetzt saßen sie mit feierlicher Miene nebeneinander, wie es sich für verständige Menschen in gesetztem Alter schickt. Dann zog Martin eine Schachtel aus der hinteren Rocktasche, öffnete sie und überreichte seiner Braut eine schwere goldene Uhr mit langer goldener Kette. Ein glückliches Lächeln verklärte ihr Gesicht. „Aber Martin, das ist zu kostbar für mich.“
„Für meine Braut ist mir nichts zu kostbar.“
Der Wein kam, es wurde angestoßen, aber Sparka las noch immer. Nach einer Weile erhob sich Jette.
„Willst dir mal unsere Wirtschaft ansehen?“
Sie hakte ihn unter und führte ihn auf den Hof. Während Martin mit Kennermiene die stattlichen Kühe musterte, stieß sie ihn an. „Martin, ich habe mit dir noch was zu besprechen. Du hast bei Euch im Dorf ein Mädel mit zwei Jungens sitzen... Das muß in Ordnung gebracht sein, ehe ich ins Haus komme.“
„Selbstverständlich, das Mädel zieht weg nach der Stadt. Ich habe für sie und die Jungens gesorgt, daß sie keine Not leiden.“
„Na, dann bin ich zufrieden... Dann können wir wieder reingehen.“
Als das Brautpaar eintrat, legte Vater Sparka gerade die Brille weg. „Martin, dein Bruder ist ein Deuwelskerl. Ich unterschreibe jedes Wort, was in der Zeitung steht. Kann ich das Blatt behalten?“
„Ich weiß nicht, Vater... Vielleicht ist es nicht gut, wenn Sie das Blatt, ehe es rauskommt, einem anderen zeigen.“
„Bloß meinen nächsten Freunden, dem Pietrzyk und dem Wrona und ganz im Vertrauen. Und Ihr beide habt Euch inzwischen ausgesprochen?“
„Ja, Vater, es ist alles in Ordnung“, erwiderte Jette.
„Na, und wann soll die Hochzeit sein?“
„Sobald wie möglich... Die Mutter will endlich in ihr Haus einziehen, und ich möchte doch nicht ohne Frau dasitzen.“
„Von mir aus steht nichts im Wege“, sagte Jette. „Meine Aussteuer liegt fix und fertig, und das Brautkleid ist in acht Tagen gemacht.“
„So schnell braucht’s gerade nicht zu gehen... Erst müßt ihr Eure Zeit im Kasten hängen... Kinder, nicht wahr, Ihr besprecht das alles mit der Mutter, ich möchte mal schnell zum Pietrzyk rüberrutschen... Der wird sich diebisch freuen...“
Die Probenummer „Der Masur“, schlug wie eine Bombe ein. Sie enthielt außer dem Leiter noch einen längeren Aufsatz mit der Überschrift. „Die vierte Bitte“. Der Verfasser war ein alter Lehrer, der wegen seiner Gesinnung, die er durch das Lesen der verpönten „Volkszeitung“ bekundet hatte, von der Regierung andauernd gemaßregelt worden war. Schließlich hatten sie ihm aus kleinen Verfehlungen... er hatte mal die älteren Schulkinder eine Stunde in der Wirtschaft beschäftigt und dergleichen... unter ungeheuerlicher Aufbauschung einen Strick gedreht und ihn ohne Pension entlassen. Dann war ihm noch ein zweites Unrecht angetan worden. Eine alte Gutsbesitzerwitwe, der er jahrelang die Bücher geführt, hatte ihm auf dem Sterbebett ein kleines Kruggrundstück verschrieben. Der Wortlaut dieser Verschreibung war aber so verschmitzt abgefaßt, daß es den Erben gelang, ihm durch einen Prozeß das Grundstück wegzunehmen. Der Prozeß hatte jahrelang gedauert, bis er in letzter Instanz entschieden war und ihm schweres Geld gekostet, das... er nicht hatte... Fast in jeder Woche besuchte ihn der Hauslehrer mit dem blauen Kragen, mit dem er auf so vertrautem Fuß stand, wie weiland die Gräfin Kwilischka, daß er sich mit kleinen Abschlagszahlungen begnügte. Jetzt ernährte er sich schlecht auf ein paar Morgen Land, auf denen er aus Holz eine Chalupp ausgesteckt hatte, und rückte fleißig mit einem Gespann in der Forst Holz... Das schwere Schicksal hatte ihn weder gebrochen, noch seinen unverwüstlichen Optimismus und Humor beeinträchtigt. Aber schreiben konnte er deutsch und masurisch. Und wenn die Behörden eine Beschwerde von irgendwem erhielten, die in glänzender Sprache die niederträchtigsten Bosheiten enthielt, denen nicht beizukommen war, dann wußten sie sofort, daß sie vom alten Soyka in Wiersba ausging.
Auf Martins Anraten hatte sich Kuba mit der Bitte an ihn gewandt, ihm einen Beitrag für sein neues, demnächst erscheinendes Blatt zu liefern... Und gerade noch zur rechten Zeit erschien eines Tages der Alte, ein großer hagerer Mann mit weißem Bart, bei Balk und brachte ihm einen ziemlich langen Artikel, der mit Bogumil unterzeichnet war.
Es war „Die vierte Bitte“. Das heißt, es war eine ausführliche Umschreibung der Lutherischen Erklärung. „Was heißt denn unser täglich Brot?“ „Alles, was zur Leibesnahrung und Notdurft gehört“... Jeder Satz, jedes Wort der Erklärung wurde in dem Artikel einer Betrachtung unterzogen... Der größte Teil entfiel auf die Forderung „Gut Regiment“. Er strotzte von offenen Bosheiten gegen die Regierung und den heiligen Bürokratismus. Natürlich waren auch die beiden Fälle seiner Vergewaltigung durch Schulbehörde und Gerichte gebührend behandelt. Durch biblische Redewendungen und Zitate war das ganze den frommen und kirchenfreundlichen Masuren mundgerecht gemacht. Balk bewirtete den neuen Mitarbeiter, der wegen Überfluß an Geldmangel fünfzig Kilometer Weges in der Nacht zu Fuß zurückgelegt hatte, reichlich und zahlte ihm ein anständiges Honorar aus. Er solle alle anderen Bitten ebenso behandeln.
Das war der Teil der Probenummer, der bei den Masuren wie eine Bombe einschlug. Kuba hatte den Rat seines Bruders befolgt und jedem Dorfschulzen und Gastwirt ein Pack Nummern geschickt. Dazu ein gedrucktes Anschreiben, worin höflich gebeten wurde, die Nummern an die Dorfbewohner zu verteilen. Das hatten sie denn auch ohne jeden Arg getan...
Als Balk die Probenummer der Polizei, in diesem Falle dem Bürgermeister, einreichte, waren die Zeitungen schon am Ziel und in festen Händen. Der Bürgermeister, der auch nichts Böses ahnte, übergab die Nummer einem Schreiber zur Registrierung...
Eine Viertelstunde später kam der Schreiber aufgeregt zurück und las dem etwas verdutzt dreinschauenden Oberhaupt der Stadt einige der Kraftstellen in deutscher Übersetzung vor... Nun nahm der Bürgermeister das Blatt an sich und eilte damit spornstreichs zum Herrn Landrat, der sich von seinem Dolmetscher den Inhalt ins Deutsche übertragen ließ.
Am nächsten Morgen erhielt Balk ein Schreiben vom Landratsamt, worin er aufgefordert wurde, ungesäumt vor dem gestrengen Herrn Landrat zu erscheinen... Mit geheimer Freude entsprach Kuba dieser Aufforderung. Geflissentlich kehrte er in seinem Äußeren den mit Schmissen geschmückten alten Studenten heraus, und als er ins Amt trat, klemmte er sein Monokel, das er manchmal abends zu tragen pflegte, ins Auge. Ein dienender Geist wies ihn an, auf einer Bank Platz zu nehmen und zu warten. „Bedauere sehr“, erwiderte Kuba so laut, daß man es in allen Schreibstuben, deren Türen offen standen, vernehmen mußte, „wenn der Herr Landrat nicht Zeit hat, mich zu empfangen, dann verzichte ich auf das Vergnügen.“
Der Erfolg war verblüffend... Fast unmittelbar darauf erschien ein älterer Sekretär, der ihn sehr höflich bat, einen Augenblick zu verzeihen, der Herr Landrat werde gleich bereit sein, ihn zu empfangen... Wenige Minuten später wurde ihm das Allerheiligste geöffnet, wo der Beherrscher des Kreises thronte... Ein älterer Herr, dem man eine stürmisch verlebte Jugend deutlich ansah.
Mit gemessener Verneigung streckte Kuba dem Landrat die Vorladung hin. „Darf ich erst fragen, in welcher Angelegenheit ich hierher berufen worden bin?“
„Wegen der Probenummer, die Sie in die Welt gesetzt haben.“
„Ich bedauere sehr, aber ich habe durchaus keinen Anlaß, mich mit Ihnen darüber zu unterhalten… Soviel ich weiß, hat nach der Verfassung jeder Preuße und Deutsche das Recht, in Wort und Schrift seine Meinung frei zu äußern... Wenn in der Nummer etwas Strafbares enthalten ist, gehört das vor das Gericht, aber nicht vor das Landratsamt.“
Der alte Herr, der auf einen so scharfen Gegner nicht gefaßt war, nahm ihm verlegen das Schriftstück aus der Hand... „Entschuldigen Sie, das ist ein Versehen meiner Kanzlei. Man sollte Sie nicht vorladen, sondern freundlich um eine Rücksprache bitten.“
„Das ist etwas anderes, Herr Landrat... Dazu bin ich gern bereit...“
Mit höflicher Handbewegung wies der Landrat nach einem Sessel, der seinem Schreibtisch gegenüberstand. „Darf ich mir die Frage erlauben, welchen Zweck Ihr Blatt verfolgt?“
Kuba lächelte. „Das steht mit klaren Worten in der Probenummer. Es soll den berechtigten Interessen meiner Heimat und meiner Landsleute dienen, die von der Regierung zu stiefmütterlich und von anderen etwas zu väterlich behandelt werden.“
„Ich glaube nicht, daß ich in meiner langen Amtstätigkeit etwas versäumt habe, was die Interessen meiner Kreiseingesessenen berührte.“
„Meine Kritik richtet sich ja auch nicht gegen eine Person, sondern gegen das System“, erwiderte Kuba verbindlich mit höflicher Verbeugung.
„Ja, Sie werden damit bloß Unzufriedenheit erregen.“
„Das ist allerdings mein sehnlichster Wunsch, Herr Landrat... Eine Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen ist überall und immer die Triebfeder jeglichen Fortschritts.“
„Diese Weisheiten sind mir nicht ganz unbekannt“, erwiderte der Landrat spitz. „Stammen Sie hier aus der Gegend?“
„Jawohl, Herr Landrat, ich bin in Lipinsken geboren und habe hier in Lyck mein Examen gemacht... Mein Bruder ist der Gasthofbesitzer in Lipinsken...“
„So, na dann brauche ich mich ja nicht zu wundern, daß Sie die hiesigen Verhältnisse so gut kennen.“
„Danke vielmals für die Anerkennung, die Sie meinem Blatt zuteil werden lassen.“
Der Landrat lächelte etwas säuerlich. „So war es nicht gemeint. Ich muß Ihnen aber zugestehen, daß das Blatt mit sehr großem Geschick hergestellt ist. Würden Sie auch Entgegnungen aufnehmen? Für Entgelt natürlich.“
„Herr Landrat, ich bitte“... fuhr Kuba mit gut gespielter Entrüstung auf. „Das letztere ist natürlich völlig ausgeschlossen... Das erste kann nur von Fall zu Fall entschieden werden.“
Der alte Herr nickte beistimmend. „Es wäre mir lieb, wenn kein feindseliges Verhältnis zwischen uns entstände. Ich bin gern bereit, eine begründete Beschwerde von Ihnen entgegenzunehmen und sofort für Abhilfe zu sorgen.“
„Ich werde mir erlauben, Ihnen mein Blatt regelmäßig zuzuschicken.“
„So habe ich das nicht gemeint, Herr Balk, die Beschwerde braucht gar nicht erst abgedruckt zu werden.“
„Bedauere sehr, Herr Landrat, das würde gegen die Pflicht der Presse verstoßen, Übelstände an die Öffentlichkeit zu ziehen und zu rügen.“
Mit einem Achselzucken erhob sich der Landrat.
„Ich fürchte, Herr Balk, wir werden nicht recht miteinander auskommen.“
„Ach, weshalb nicht, Herr Landrat... Wenn wir bei der nächsten Wahl hier einen liberalen Abgeordneten durchbekommen, der die Interessen seiner Heimat energisch vertritt, dann wird auch hier in das dunkle Masuren ein neuer Geist einziehen...“
Er machte dem Landrat eine gemessene Verbeugung an der Tür, wie es in guter Gesellschaft üblich ist, und ging hinaus. Auf dem Flur hörte er aus einer Stube eine heftige Stimme erschallen. Er blieb stehen und lauschte. Irgendein Beamter schnauzte einen Bauern an. „Wie kommen Sie dazu, in Ihrer Eigenschaft als Gemeindevorsteher eine Zeitung zu verteilen?“
„Ach, Panie Kreissekretär, wir bekommen doch von Ihnen immer Blätter zugeschickt, die wir verteilen müssen. Da habe ich gedacht...“
„Ach was, Sie haben nichts zu denken. Das Denken besorgen wir... Wenn das noch mal vorkommt, dann nehme ich Sie in eine Ordnungsstrafe, aber gleich ganz gehörig.“
Lachend steckte Kuba seinen Kopf in die Tür. „Ach, Herr Pelka aus Seeligen. Wenn Sie weiter hier nichts zu tun haben, dann kommen Sie mit mir. Empfehle mich, Herr Kreissekretär.“
Der Bauer, der mit einer wahren Armensündermiene vor dem gestrengen Herrn gestanden hatte, drehte sich um. Ein pfiffiges Lächeln flog über sein Gesicht. „Ei, ei, Herr Balk, was haben Sie gemacht... Die platzen ja auf dem Landratsamt vor Ärger über den „Masur“.
„Na und ihr?“
Der Bauer grinste. „‘ne feine Sache, Herr Balk... das hat uns gefehlt.“
„Sagen Sie mal, Herr Pelka, würden Sie die nächste Nummer wieder verteilen?“
„Aber, lieber Herr Balk, wieso nicht? Ich fürcht’ mich doch nicht vor dem Herrn Landrat.“
„Sobald Sie in Strafe genommen werden, müssen Sie es mir sofort mitteilen, dann steigen wir dem Herrn Landrat aufs Dach.“
„Wird gemacht, Herr Balk...“
Diese Auflehnung gegen die geheiligte Person des Landrats und seines irdischen Stellvertreters, des Kreissekretärs, wäre früher undenkbar gewesen, meinte Kuba, als er allein nach Hause ging. Sollte das schon ein Erfolg der Probenummer sein? Von Martin hatte er schon erfahren, daß Sparka in Begeisterung darüber geraten war und mit dem Blatt seine ganze große Verwandtschaft und alle Bekannten abklapperte. Und am nächsten Tage, als in Lyck Markt war, stand die Tür seines Ladens nicht still, und Balk mußte seine Maschinen in Bewegung setzen, um soviel Exemplare zu haben, wie verlangt wurden. In den Kaufläden wurde das Blatt laut vorgelesen. Es war das Ereignis des Tages, das große Freude erregte, an der auch die Arbeiter und Handwerker der Stadt, von denen die meisten masurisch verstanden, teilnahmen.
In einem Laden hatte ein übereifriger Polizist einem jungen Bauern, der das Blatt vorlas, den Mund verboten. Und als der es sich nicht gefallen ließ, hatte er den Mann verhaftet und unter großem Hallo und unter Menschenauflauf zur Wache geführt, wo der Bauer von dem Bürgermeister sofort entlassen wurde und der Polizist einen Rüffel erhielt. Aber das gab einen guten Stoff für die nächste Nummer...
Einige Tage später schickte Balk Einladungen zur Einweihungsfeier seines Geschäftes aus und adressierte mit besonderem Vergnügen eine an den Herrn Landrat. Prompt traf die Absage ein, der Herr Landrat sei leider durch dringende Geschäfte verhindert. Von den Bauern hatte niemand abgesagt. Martin hatte für einen kalten Imbiß und die nötigen Getränke gesorgt. Auch Soyka war erschienen. Er brachte zwei wichtige Nachrichten mit. Ein Förster hatte ihm mitgeteilt, daß die Regierung eine Verfügung erlassen habe, daß vom nächsten Frühjahr ab die Waldweide verboten sein sollte.
„Mein Gott, ist denn die Regierung ganz unklug“, rief Sparka dazwischen. „Damit treibt sie ja die Leute aus dem Lande. Was sollen denn die kleinen Eigenkätner mit zwei, drei Morgen Land anfangen, wenn sie sich keine Kuh mehr halten dürfen? Die ziehen weg nach Westfalen, und wir sind unsere Arbeiter los.“
„Uns Bauern wird es auch nicht besser gehen, all’ die Dörfer rings um die Heide haben mageren Sandboden und können nur bestehen, wenn sie ihr Vieh in die Forst treiben dürfen.“
„Ja, die Regierung scheint es darauf anzulegen, die Masuren von ihrem Grund und Boden zu vertreiben“, warf Soyka ein. „Ich habe Euch aber noch was zu erzählen. Hört zu. Die Generalkommission in Bromberg hat gegen mich einen Prozeß wegen der Fischereiberechtigung angestrengt. Wie ich meine Sitzstelle in der Subhastation kaufte, stand im Kreisblatt in der Anzeige... und so ist es auch im Grundbuch eingetragen... Daß an der Sitzstelle die Fischereiberechtigung haftet. Und jetzt auf einmal bekomme ich eine Klage. Ich will gar nicht klagen, aber ich muß...“
„Dazu kann ich Ihnen was erzählen“, rief der Dorfschulze Pelka aus Seligen. „Bei uns will die Regierung die Fischereiberechtigung zwangsweise ablösen. Wir alle, vierzehn Bauern, haben von der Generalkommission ein gleichlautendes Schreiben bekommen, daß wir angeben sollen, was wir für die Ablösung der Berechtigung fordern. Wir denken gar nicht daran, die Berechtigung zu verkaufen. Jetzt fangen wir jeder in jeder Woche zweimal nachts ‘nen ordentlichen Korb voll Fische, daß wir und unsere Leute reichlich satt zu essen haben. Zum Winter werden auch noch ein paar Säcke voll getrocknet. Und was werden sie dafür bieten? Vielleicht ein paar tausend Mark... Ich brauche das Geld nicht, ich brauche Fische, die der Pächter nicht verkauft, sondern nach Polen schickt. Und wir sitzen unmittelbar am See und müssen uns den Mund abwischen.“
„Was meinst“, rief Pietrzyk, „was Eure Grundstücke dadurch entwertet werden?“
„Na, Herrschaften, ist das nicht gut, daß ich Euch hier ‘ne Zeitung gegründet habe?“
„Herr Balk“, meinte ein alter Bauer, „der liebe Gott hätte uns nichts Besseres schenken können als das Blatt. Vielleicht wird es nicht viel helfen, was Sie schreiben, aber man freut sich doch, wenn die Regierung eins auf die Nase kriegt.“
„Ja, Herrschaften, Ihr seid allein daran schuld, wenn ihr so behandelt werdet. Ihr habt Euch nie darum gekümmert, was der Graf, der Euren Wahlkreis schon seit zwanzig Jahren im Reichstag oder Landtag vertritt, für Euch tun will und soll. Ihr laßt Euch die Zettel vom Landrat in die Hand drücken und gebt sie ab, und dann ist die Sache in Ordnung, wie Ihr meint. Nein, Ihr müßt Euch einen Mann aussuchen, der für Euch steht und redet, und der Regierung, wenn sie solche Dummheiten machen will, eins ordentlich auf den Kasten gibt.“
„Der Balk hat recht“, fiel Soyka ein. „Was versteht der Graf von dem, was Euch nottut? Vor jeder Wahl kommt er einmal her und redet mit ein paar Dutzend Vertrauensmännern über hohe Politik und weiß Gott was, aber durch’s Land ist er noch kein einziges Mal gefahren...“
Balk konnte mit dem Ergebnis dieser Feier sehr zufrieden sein. Das erste Samenkorn war schon auf fruchtbaren Boden gefallen und üppig ins Kraut geschossen. Unter den Masuren war eine Bewegung entstanden, wie der Kunstausdruck lautet, die sehr schnell sich fortpflanzte und immer höhere Wellen schlug. Von überall her wurden ihm die Namen der Bauern mitgeteilt, die die zweite Nummer verteilen wollten. Und als die zweite Nummer erschien, da forderte die Post schon tausend Exemplare für ebensoviel Besteller an...
Bald darauf erschien der Vertrauensmann seiner Geldgeber, ein Apotheker Zielinski aus Gnesen, ein alter, bedächtiger Herr, der mit großem Interesse den Inhalt beider Nummern prüfte.
„Ich vermisse nur eins, Herr Balk“, sagte er, die Blätter weglegend, „den Hinweis auf die eigentlichen Ziele des Blattes.“
„Herr Zielinski, dazu ist es noch zu früh. Ich halte es für richtiger, damit vorerst nicht rauszukommen.“
„Aber weshalb denn nicht? Ich komme eben aus Ortelsburg, wo wir auch ein Blatt gegründet haben. Da ist in der ersten Nummer ganz offen die Wiederherstellung Polens und die Angliederung Masurens gefordert worden...“
„Entschuldigen Sie, Herr Zielinski, wenn ich erwidere, daß die Masuren darüber nur lachen und die Achseln zucken würden... Der Masur hat nichts für die Polen übrig, auch nicht das geringste... Das müssen Sie nun schon so hinnehmen, das ist mal Tatsache... und die Masuren sind nicht katholisch, sondern evangelisch. Das ist ein großer Unterschied. Das Pfaffentum hat hier gar keine Macht. Im Gegenteil, wenn den Gemeinden ihr Pfarrer nicht paßt, dann lösen sie sich von der Kirche und bilden eine Sekte, die sich einen eigenen Pfarrer hält. Sehen Sie, ich habe mit der ersten Nummer schon über tausend Besteller geworben und habe für die zweite Nummer, obwohl der Landrat bei den Kaufleuten dagegen arbeitet, drei Seiten Anzeigen... Und was haben Sie in Ortelsburg?“
„Da ist noch kein sichtbarer Erfolg.“
„Na, sehen Sie... ich habe recht...“
„Ja, aber die Herren werden es nicht billigen. Ich fürchte, man wird Ihnen die Unterstützung entziehen und einen anderen hier hinsetzen.“
„Das ist ein Irrtum, Herr Zielinski. Ich habe das Haus gekauft und die Zeitung gegründet, und ich pfeife mit Respekt gemeldet, auf eurer Geld... Ich brauche es nicht... Und wenn Sie mir nicht für die Zukunft freie Hand lassen, dann blase ich in der nächsten Nummer gegen die polnischen Umtriebe in Ortelsburg. Dann können Sie sich hier auf den Kopf stellen, dann kommen Sie hier nicht mehr herein. Kommen Sie ‘mal runter und sehen Sie mal zu, wie die Nummer geht.... Stück für Stück ein Dittchen, das macht neun Pfennige Verdienst...“
„Ich werde Ihre Ansicht zu vertreten suchen“, sagte er schließlich nach einer langen Aussprache. „Ich kann Ihnen aber nicht versprechen, daß ich Erfolg haben werde.“
„Das ist mir ziemlich egal. Wenn ich die Unterstützung weiter behalte, dann gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich Sie bei der nächsten Wahl hier durchbringe. Selbstverständlich müssen Sie mit Ihren polnischen Zielen hinter dem Berge halten. Und Sie — dürfen auch nicht der Polenfraktion beitreten, sondern müssen wild bleiben. Stimmen können Sie ja, wie Sie wollen.“
Der Köder saß. „Glauben Sie wirklich, dafür garantieren zu können?“
„Ich will meine Hand dafür ins Feuer legen, daß der Kandidat gewählt wird, der von mir im Einverständnis mit den Bauern aufgestellt wird. Wenn Sie nach einigen Wochen wiederkommen, dann will ich Ihnen eine Versammlung einberufen, vor der Sie sprechen können... Und wenn die Sie aufstellt, dann sind Sie so gut wie gewählt. Für die Organisation sorge ich.“
Der Zufall fügte es, daß Soyka gerade einen Artikel brachte. Der Post wagte er ihn nicht anzuvertrauen. Er bestätigte alles, was Balk gesagt hatte. Von dem Endziel des Gastes erfuhr er natürlich nichts...
Adolf Wrona ging nach der Unterredung mit den Eltern wie ein Traumwandler im Hause umher. Eine Unentschlossenheit war über ihn gekommen, die seinen Willen lähmte. Die Mutter ließ ihn nicht aus den Augen, weil sie befürchtete, daß er Hand an sich legen könnte. Daran jedoch dachte Adolf am allerwenigsten oder gar nicht. Er „kämpfte“ auch nicht mit sich... Nein, es war ein Zustand, der jeden Menschen überall, wenn er plötzlich vor eine folgenschwere Entscheidung gestellt wird...
Eines Morgens sagte die Mutter schüchtern zu ihm: „Adolfchen, mein lieber Junge, du hast wohl vergessen, was du mir versprochen hast. Heute ist der Einspänner frei... Wenn du vielleicht heute zum Pfarrer fahren wolltest.“
Der Student gab sich einen Ruck. „Ja, Mutter, laß anspannen, ich fahr’ nach Kumilsko. Ich allein werde nicht fertig.“ Gegen Mittag kam er zurück. Die Mutter war trotz eiliger Arbeiten schon ein dutzendmal auf der Lucht gewesen, wo sie durch ein Dachfenster den Weg zum Walde überschauen konnte. Als sie den Wagen kommen sah, lief sie hinaus ans Hoftor. Ängstlich forschte sie in den Zügen des Sohnes, welche Entscheidung er brachte. Adolf stieg bedächtig ab, faßte sie um und sagte ihr ins Ohr. „Ich fahre wieder nach Königsberg und werde mein Examen machen.“
Mit Tränen in den Augen zog die Mutter ihn an sich. „Na, Gott sei Dank, dann ist alles in Ordnung.“
Der Vater gab sich nicht so leicht zufrieden. Er wollte wissen, was der Pastor mit ihm gesprochen hätte.
„Ja, Vater“, erwiderte Adolf, „das kann ich dir wirklich nicht mehr wiedererzählen, denn wir haben zwei Stunden hin und hegeredet. Die Hauptsache für mich war, daß er mir sagte: Fast alle, die Theologie studieren, müßten solch eine Zeit der Zweifel durchmachen. Das sei wie eine Kinderkrankheit. Da wolle der Verstand das Herz meistern. Die Religion sei aber nicht Sache des Verstandes, sondern des Herzens, des Gefühls... Es komme nur darauf an, daß man sich klar darüber werde, daß Religion für jeden Menschen nötig sei. Dann habe man gewonnen. Und darin muß ich ihm recht geben. Er meinte auch, man solle sich doch nicht an Einzelheiten stoßen, sondern auf die großen Heilswahrheiten sehen, die unser Heiland der Menschheit geschenkt hat. Das will ich versuchen.“
Einige Tage später fuhr Adolf nach Königsberg ab. Seine alte Bude, in der er seine ganze Studentenzeit über gehaust hatte, war besetzt. Ohne Mühe fand er auf dem Anger ein großes freundliches Zimmer bei einer Witwe, die recht und schlecht von einer kleinen Pension lebte.
Er ließ sich Exmatrikel und die Examensarbeit geben und setzte sich auf die Hosen. Nur zu Mittag ging er in ein nahe gelegenes Wirtshaus und wanderte dann eine Stunde heraus, nach dem Oberteich.
Eines Abends in der Dämmerstunde, als er schon die Feder weggelegt hatte und in Gedanken versunken in der Sofaecke saß, hörte er nebenan im Zimmer seiner Wirtin Klavier spielen. Er verstand nicht viel von Musik, aber das Spiel gefiel ihm. Die Hände, die dort die Tasten rührten, spielten heitere und ernste Volksweisen, die durch einen kurzen Übergang miteinander verknüpft wurden. Als die Töne verstummten, stand er auf, um sich die Lampe von Frau Becker zu holen. Er war auch neugierig, wer so schön gespielt hatte. Nach leisem Klopfen trat er ein. Seine Wirtin sprang auf. „Ach Gott, Herr Kandidat, ich habe ganz vergessen, Ihnen die Lampe zu bringen. Die Lieschen hat aber auch zu schön gespielt.“
Am Klavier erhob sich eine schlanke Gestalt. Adolf konnte ihr Gesicht nicht erkennen, weil es im Schatten lag. Er sah nur die Umrisse ihres Kopfes. „Ich habe Sie wohl beim Arbeiten gestört?“
„Nein, Fräulein, im Gegenteil, Ihr Spiel hat mir Genuß bereitet.“ Er verbeugte sich und nannte seinen Namen. Frau Becker, die mit der Lampe beschäftigt war, fiel ein. „Und das ist Lieschen Springer, sie wohnt bei ihrer Tante nebenan... Die hat kein Klavier, und Lieschen spielt so gern... Wenn es Sie nicht stört, möchte sie abends öfter mal bei mir spielen.“
„Aber nicht im geringsten“, beeilte sich Adolf zu erwidern. Das Licht flammte in diesem Augenblick auf, und er sah ein zartes, regelmäßiges Gesicht mit dunklen, etwas traurigen Augen... „Ich würde mich freuen, wenn Fräulein noch etwas spielen wollten.“
„Aber gern, nicht wahr, Lieschen?“ fiel Frau Becker ein. Sie neigte nur das Haupt und setzte sich wieder ans Klavier, während Adolf sich am Tisch niederließ... Was das junge Mädchen spielte, wußte er nicht... das war ihm auch völlig gleichgültig. Er sah nur ihre schlanken, weißen Hände über die Tasten hin und her fahren...
Als das Spiel zu Ende war, erhob sich Adolf. „Ich danke Ihnen, Fräulein, das war sehr schön.“ Lieschen lächelte. „Sie scheinen sehr bescheiden zu sein in Ihren Ansprüchen, Herr Kandidat. Ich habe nur ein Jahr Unterricht gehabt.“
Am nächsten Tage, als Adolf von einem Gang zur Bibliothek zurückkehrte, traf er Frau Becker in seinem Zimmer. „Das war nicht nett von Ihnen, Herr Kandidat, daß Sie uns gestern abend allein ließen. Am Sonntag können Sie sich doch wenigstens ein bißchen Ruhe und Erholung gönnen.“
„Ja, wenn Sie mich eingeladen hätten zu bleiben.“
„Ich wußte ja nicht, ob Ihnen das recht sein würde, Herr Kandidat... Ich glaube, die Lieschen hätte sich sehr gefreut.“
„Was ist denn das für ein Mädel?“
„Ach, Herr Kandidat, ein liebes, gutes Wesen... und hat es so schwer im Leben. Die Eltern sind beide jung gestorben, und vom Vermögen ist so gut wie gar nichts übrig... Eine Schwester ihrer Mutter hat sie erzogen. Ich glaube, sie hat mehr Schläge bekommen als Essen. Jetzt ist sie in einem Schuhgeschäft an der Kasse... schwere Arbeit und schlechtes Gehalt... Ich glaube, die ißt sich manchmal abends nicht satt...“
Das Wort ging Adolf nicht aus dem Sinn. Und als Mitte der Woche ein Paket von Hause kam mit all’ den guten Sachen, die ein großes Bauerngut zu liefern vermag, da ging er zu seiner Wirtin und lud sie zu einem kräftigen Imbiß ein für den Abend. „Vielleicht könnten Sie auch das Fräulein Lieschen einladen?“
„Das läßt sich machen.“
Frau Becker hatte schon aufgetafelt, als Lieschen erschien. Ein feines Rot stieg in ihr Gesicht, als sie den weiß gedeckten Tisch mit all’ den Herrlichkeiten darauf erblickte.
„Haben Sie Geburtstag, Frau Becker?“
„Nein, Fräulein, ich habe die schönen Sachen von Hause geschickt bekommen. Ich habe mir erlaubt, Sie dazu einzuladen“, warf Adolf schnell ein.
„Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber wie soll ich mich revanchieren?“
„Durch ein bißchen Klavierspielen.“
Es wurde ein sehr vergnügter Abend. Adolf saß rauchend in der Sofaecke, Lieschen spielte. Allerhand schöne Gedanken und Bilder stiegen vor ihm auf. Wenn er erst Pastor wäre und solch ein freundliches liebes Wesen säße an seiner Seite... Und wenn er sein Examen bestand, woran ja nicht zu zweifeln war, konnte er bei dem großen Mangel an evangelischen Geistlichen, die, wie er deutsch und masurisch predigen konnten, in einem Jahre behaglich auf einer guten Pfarre sitzen... Und... und... neben ihm...
Diese Zukunftsträume gaben ihm den Gedanken ein, Lieschen zu fragen, ob sie nicht am nächsten Sonntag mit ihm und Frau Becker einen Ausflug machen wollte. Sie errötete und erwiderte, die Tante würde es wohl nicht erlauben, wenn sie hörte, daß ein junger Herr dabei wäre...
„Das brauchen Sie ihr doch nicht auf die Nase zu binden, Lieschen“, erwiderte Frau Becker.
So kam es, daß die drei sich am nächsten Sonntag gleich nach Mittag, als Lieschen aus dem Geschäft kam, in froher Stimmung zur Bahn begaben, um nach Metgethen hinauszufahren. Adolf war schon in den letzten Tagen in gehobener Stimmung gewesen. Die Zweifel in ihm waren wie Spreu vor dem Winde zerstoben, seitdem ihm das Ziel erschienen war, das er nur durch Verkündung der christlichen Wahrheiten erringen konnte.
Der Ausflug verlief so schön, daß Adolf darauf drängte, ihn öfter zu wiederholen. Frau Becker, die mit Freuden erkannte, was sich zwischen den beiden jungen Leuten anspann, fand es in der Folge für richtiger, wenn Adolf und Lieschen allein hinausfuhren. Vergebens hatte Lieschen sich dagegen gesträubt, ein bittender Blick Adolfs überwand ihre Bedenken...
Frau Wrona war nicht wenig erstaunt, als sie eines Tages von ihrem Sohn einen langen Brief erhielt, worin er ihr schrieb, daß er ein Mädchen kennengelernt, mit dem er sich verloben würde, wenn sie ihn nehmen wollte und die Eltern nichts dagegen hätten... Sie sei arm wie eine Kirchenmaus, aber lieb und gut. Und nun kam eine ausführliche Schilderung von Lieschens Lebensschicksalen und Eigenschaften... Die Mutter sollte sich mit dem Vater besprechen und ihm bald schreiben, ob sie damit einverstanden wären. Er stände dicht vor dem Examen, das er hoffentlich bestehen werde, und dann hoffe er, bald eine Pfarre zu bekommen, die ihn und eine Frau ernähren könne...
Die Mutter war ganz krieselig vor Freude, namentlich über die letzten Worte. Sie ahnte mit dem feinen Instinkt der Frau und Mutter, daß die Liebe, die in ihres Sohnes Herz eingezogen war, seine Zweifel besiegt hatte und ihm das Ziel steckte... Vater Wrona war völlig einverstanden, und als praktischer Mann bat er seine Frau, dem Sohn zu schreiben, daß das Mädchen doch vor der Hochzeit noch etwas von der Wirtschaft lernen müsse. Sie sollte zu ihnen kommen und bis zur Hochzeit im Hause ihrer zukünftigen Schwiegereltern bleiben.
Zwei Tage trug Adolf den Brief der Mutter in der Tasche herum, bis er es nicht mehr aushielt. Er ging in die Küche zu Frau Becker und fragte sie, ob sie nicht bei Lieschen auf den Busch klopfen wolle. Er habe sie sehr lieb und seine Eltern wären damit einverstanden, daß er sie als Schwiegertochter ihnen ins Haus brächte.
Frau Becker tat sehr überrascht und schlug vor Freude die Hände zusammen. „Das freut mich für das gute Mädel, die verdient es wirklich, daß es ihr wieder mal gut geht... Aber auf den Busch klopfen?... Nee, Herr Kandidat, das übernehme ich nicht, das muß jeder junge Mann selbst ausfechten. Dabei jeht ja das Schönste verloren, wenn er weiß, daß die zukünftige Braut einverstanden ist... Ich denke, heute abend kommt sie. Ich werde mich zur rechten Zeit dünne machen, damit Sie ungestört mit ihr reden können.“
Es war sehr gut, daß Adolf als Student schon sehr fleißig gewesen war und seine schriftliche Arbeit auch schon fertig hatte, denn in den letzten vierzehn Tagen war von ernsthaftem Arbeiten nicht mehr die Rede gewesen. Wenn er eine Seite heruntergelesen hatte, ertappte er sich dabei, daß er kein Wort davon wußte, was da gedruckt stand. Er versuchte, laut zu lesen, aber plötzlich hörte er auf und ließ seine Gedanken spazieren gehen. Und dann horchte er, ob er nicht die Flurtür gehen hörte...
Als die Uhr acht schlug, kam ihm der Gedanke, Lieschen auf dem Wege zum Geschäft entgegenzugehen. Und das war sehr gut, sonst hätte er sie heute nicht mehr zu Gesicht bekommen. Sie sah sehr niedergeschlagen aus und schien es nicht gern zu sehen, daß er mit ihr umkehrte und sie begleitete. „Ist Ihnen etwas Schlimmes passiert, Lieschen?“
„Ja, Herr Kandidat, eine Freundin, die mich gestern abend besuchte, hat der Tante erzählt, daß ich jeden Sonntag mit einem Studenten wegfahre... Da ist sie sehr böse geworden und hat mich furchtbar ausgeschimpft. Und ich darf nicht mehr zu Frau Becker gehen.“
„Dann ist es ein Wink des Schicksals gewesen, daß ich Ihnen heute entgegenging. Nun müssen Sie gegen den Willen der Tante noch einmal zu Frau Becker mitkommen, ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.“
„Nein, Herr Kandidat, das kann ich nicht. Können Sie es mir nicht hier sagen?“
„Nein, Lieschen, Sie müssen mir schon gehorchen, ich will es vor der Tante vertreten.“
Sie ahnte, was ihr bevorstand. Adolf sah so feierlich aus, und dann wieder lief ein so sonniges Lächeln über sein Gesicht... Als sie in den Flur traten, rief Frau Becker aus der Küche: „Geh’n Sie man rein, meine Herrschaften, ich habe noch ein Weilchen hier zu tun.“ Adolf hielt sich nicht mit der Vorrede auf. Sobald sie in die Stube getreten waren, umfaßte er das Mädel, zog sie an sich und fragte. „Lieschen, haben Sie mich ein wenig lieb?“
Sie wurde puterrot, ihre Augen füllten sich mit Tränen, aber ihr Kopf nickte. „Haben Sie mich so lieb, daß Sie meine Frau werden wollen?“
„Herr Wrona, ich bin ein ganz armes Mädchen, ich habe nicht ‘mal eine Aussteuer...“
„Danach habe ich noch gar nicht gefragt. Ich will nur wissen, ob Sie meine Frau werden wollen.“
Sie befreite sich aus seinen Armen und sah ihn traurig, aber fest an. „Ich habe Sie sehr lieb, und es könnte für mich kein größeres Glück geben, aber es geht nicht. Meine Tante hat das bißchen, was sie besaß, für meine Erziehung ausgegeben, jetzt ist sie auf das angewiesen, was ich verdiene, und ich habe die Pflicht, für sie zu arbeiten. Sie könnten mich nicht achten, wenn ich die Tante im Stich ließe.“
„Darin bin ich mit Ihnen vollkommen einverstanden, Sie könnten aber besser für die Tante sorgen, wenn Sie erst meine Frau sind. Das ist also kein Hinderungsgrund. Es handelt sich nur darum, ob Sie mich so lieb haben, daß Sie meine Frau werden wollen.“
„Das habe ich Ihnen doch schon gesagt.“
„Na, dann sind wir ja einig“, rief Adolf, umfaßte sie und wirbelte mit ihr herum... Und dann zog er sie an sich und küßte sie.
„Und jetzt kommt die Überraschung. Hier, lies den Brief von meiner Mutter... Das ist eine einfache Bauersfrau und steht mit der Rechtschreibung auf dem Kriegsfuß, aber der Ton macht die Musik, wie du mal gesagt hast.“
Er zog sie aufs Sofa und gab ihr den Brief der Mutter. Als Frau Becker leise die Tür öffnete, sah sie ihren Zimmerherrn mit Lieschen auf dem Sofa sitzen, er hatte den Arm um sie gelegt und las mit ihr zusammen den Brief...
Nur ein halbes Stündchen schenkte Lieschen dem Verlobten, dann ging sie nach Haus, wo sie von der Tante, einer vergrämten alten Jungfer, mit heftigen Scheltworten empfangen wurde. Sie erwiderte nichts, sondern ging in ihr Kämmerchen und legte sich hin.
Am anderen Tage wollte sie ihren Brotherrn um baldige Entlassung bitten. Adolf schrieb noch abends einen langen Brief an die Eltern und trug ihn selbst zum Kasten. Gegen Mittag zog er sich seinen Frack an, den er sich zum Examen hatte bauen lassen, und ging nebenan zur Tante. Er hatte einen schweren Stand der alten Dame gegenüber. Zuerst sagte sie glattweg nein. Sie habe ihre paar Notpfennige an Lieschen gewandt und...
Adolf ließ sie nicht ausreden. „Bitte, wieviel haben Sie für Lieschen ausgegeben?“
„Na, an die tausend Mark.“
„Die werde ich Ihnen in den nächsten Tagen wiedererstatten. Um Ihre Einwilligung bitte ich Sie nicht mehr. Lieschen ist mündig und meine Braut. Sie wird so schnell wie möglich zu meinen Eltern fahren. Empfehle mich.“
Als er die Tür in die Hand nahm, erschien Lieschen. Sie warf sich an seine Brust und gab ihm einen Kuß. „Hast du mit meiner Tante gesprochen?“
„Ja, das ist eine verbitterte alte Jungfer... Du begleitest mich sofort zu Frau Becker, und ich ziehe für die acht Tage, die es noch bis zu meinem Examen dauert, in ein Hotel...“
„Ach, Liebster, das geht doch nicht... Laß mich mal mit der Tante sprechen. Ich bin schon frei, mein Chef hat mich sofort gehen lassen.“
„Um so besser, dann fährst du morgen früh schon zu meinen Eltern.“
Die Tante hatte sich inzwischen die Sache überlegt und erschien im Flur, um das Brautpaar in die Stube zu rufen.
Frau Wrona geriet in freudige Aufregung, als der Brief eintraf und eine Depesche auf dem Fuße folgte, daß die Braut ihres Sohnes nachmittags auf dem Bahnhof eintreffen und abgeholt werden solle. Sie kleidete sich sofort um, ließ die besten Pferde vor den Tafelwagen spannen und fuhr ab. Erwartungsvoll stand sie auf dem Bahnsteig. Aus einem Abteil zweiter Klasse stieg ein schlankes, zierliches Mädchen mit einem mageren Handköfferchen. „Ach, wenn sie das doch wäre, die möchte mir gefallen“, dachte Frau Wrona und schritt auf das junge Mädchen zu, die sich hilflos umsah... „Vielleicht Fräulein Lieschen?“
„Ja...“
„Na, dann herzlich willkommen, Kind, meine liebe Tochter, wir freuen uns schon alle auf dich.“
Sie legte den Arm um sie, bog ihr den Kopf zurück und sah ihr in die Augen, die sich mit Tränen füllten. Dann küßte sie sie... „Also du bist das Mädchen, das unseren Jungen so lieb hat. Dafür will ich dich auch sehr lieb haben, und nun sagst du Mutter auf mich.“
Jettes Hochzeit mit Martin Balk wurde mit großem Aufwand nach alter masurischer Weise ausgerichtet. Es wurde ein alter Mann aufgetrieben, der noch die alten Sprüche kannte, mit denen man Verwandte und Bekannte zu Familienfesten einlud. Er wurde altväterisch gekleidet und sein Hut mit Bändern geschmückt. Dem kleinen Pferdchen, auf dem er bis in die Stube hineinritt, waren Mähne und Schweif ebenfalls mit bunten Bändern durchflochten.
Seine Tätigkeit beschränkte sich jedoch meist nur auf den Vormittag, weil er sich infolge der allzu reichlichen Bewirtung nicht mehr im Sattel halten konnte. Die Hauptsache besorgte Ursina, die schön gestochene, mit Goldrand verzierte Einladungen austrug.
Auf der Fahrt zur Kirche wurde der Brautwagen von einer Schar berittener junger Burschen begleitet, die aus Pistolen und Schrotspritzen heftig knallten. Die Sitte war schon lange nicht geübt worden, sodaß der Herr Amtsvorsteher sie nicht kannte und infolgedessen alle Burschen mit Ordnungsstrafen belegte. Da das Haus kaum die Menge der erschienenen Gäste zu fassen vermochte, wurde auf der Tenne, die mit Girlanden geschmückt war, getanzt. Drei Tage und Nächte trudelte die Hochzeitsgesellschaft im Hause der Brauteltern, dann fuhr die ganze Gesellschaft nach Lipinsken, um die junge Frau im Hause ihres Mannes abzuliefern. Auf dem ersten Wagen die Musik, dahinter ein großer Leiterwagen, der die Neuvermählten und ihren Hausrat trug. In Lipinsken wurde auch noch zwei Tage gefeiert.
Einige Tage vorher hatte Frau Balk in aller Stille sich mit dem Hegemeister Fuchs standesamtlich trauen lassen. Martin hatte genau nach den Anweisungen seines Bruders gehandelt und eine deutliche Abneigung gegen den zukünftigen Stiefvater bekundet. Ja, er war auch nicht zur Hochzeitsfeier, die im engsten Kreise stattfand, gegangen, während Kuba sich als liebevoller Sohn erwies und auch mit dem Stiefvater ein freundschaftliches Verhältnis anbahnte. Trotzdem war die Mutter zu Martins Trauung in der Kirche erschienen und hatte der Schwiegertochter ein reiches Geschenk geschickt.
Ein Verkehr, wie er zwischen den beiden so naheverwandten Familien selbstverständlich gewesen wäre, entwickelte sich nicht, denn die junge Frau benahm sich der Mutter ihres Mannes gegenüber so schroff, daß an ein freundschaftliches Zusammenleben nicht zu denken war.
Dafür lebten die beiden Alten um so harmonischer zusammen. Der Hegemeister wurde als eifriger Jäger und alter Schütze sehr viel zur Jagd eingeladen und war sehr oft den ganzen Tag abwesend. Und stets brachte er einen Hasen oder ein paar Rebhühner mit, die von seiner „jungen Frau“ gut zubereitet, köstlich mundeten. Ja, Frau Fuchs war wieder jung geworden. Die kleine Hauswirtschaft, die sie sich eingerichtet hatte, nahm sie nicht sehr in Anspruch, und infolge der mangelnden Bewegung rundeten sich ihre hageren Formen. Ihr Ehemann war stets sehr freundlich und höflich zu ihr. Er las ihr aus der Zeitung vor und erklärte ihr, was sie nicht verstand. Und sie verdolmetschte ihm aus Kubas „Masur“ die interessantesten Artikel.
Der Dorfkrug von Lipinsken war das Hauptquartier der Bauern geworden, die sich um den „Masur“ scharten. Die Bewegung hatte bereits die drei Kreise Johannisburg, Lyck und Oletzko ergriffen, die einen Wahlbezirk bildeten. Und der Plan, eine eigene masurische Partei zu bilden, nahm immer festere Gestalt an...
Eines Tages hatten sich die Führer der Bewegung, unter ihnen Sparka, Wrona, Pietrzyk und der alte Soyka bei Martin eingefunden, um mit Kuba eine Besprechung abzuhalten. Jeder hatte ein paar Freunde mitgebracht, sodaß einige zwanzig Mann versammelt waren. Man faß in der großen Krugstube schwatzend und trinkend beisammen. An einigen Tischen wurde Skat gespielt.
Man war noch keine Stunde beisammen, als zu allgemeiner Überraschung der Gendarm erschien und Martin, der hinter dem Schanktisch stand, in barschem Ton fragte, ob die Versammlung angemeldet sei. Der Gastwirt sah ihn einen Augenblick verdutzt an, dann lachte er laut auf. „Mensch, Neureiter, mach’ doch keine schlechten Witze. Nimm lieber deinen Militärhut ab und setz’ dich zu uns.“
„Herr Balk, ich bin hier im dienstlichen Auftrag und habe strengen Befehl, die Versammlung aufzulösen.“
„Nu schlag’ Gott den Deuwel dot! Wo hast du hier ‘ne Versammlung?“
„Ich sehe hier Herren, die ich nicht kenne, die also zum Zweck einer politischen Besprechung sich hier versammelt haben.“
Der Gendarm war ein kluger, verständiger Mann, der einen guten Trunk über alles liebte. Da sein Durst stets im umgekehrten Verhältnis zur Niedrigkeit seines Gehalts stand, pflegte er sich mit den Gastwirten seines Bezirks gut zu stellen. Die behandelten ihn denn auch nicht als Amtsperson, sondern als lieben Gast, der für Essen und Trinken nichts zu zahlen hatte. Auch mit den Bauern stand er auf dem besten Fuße. Und die Masuren in ihrer unendlichen Gutmütigkeit und Gastfreundschaft pflegen den Gendarmen bei jeder Gelegenheit gut zu bewirten, und für die Frau Wachtmeister wird auch noch etwas eingepackt, ein Pfündchen Butter, ein Stück Speck oder eine Mandel Eier.
Eine tiefe Stille trat nach diesen Worten in der Versammlung ein. „Sie irren sich, Neureiter“, sagte Pietrzyk ruhig, „wir sind hier zusammengekommen, um die Gründung einer landwirtschaftlichen Genossenschaft zu besprechen. Im schlimmsten Falle kann es also eine Besprechung, nicht aber eine Versammlung sein. Wir haben keinen Vorsitzenden und auch keine Redner.“
Der Gendarm zuckte die Achseln. „Tut mir sehr leid, aber ich habe den Befehl, jede Versammlung von Menschen, die ich hier finde, aufzulösen.“
„Das möchte ich mir doch verbitten, Neureiter“, rief Martin heftig, „daß Sie mir meine Gäste aus dem Hause treiben. Da könnten Sie ja jedesmal, wenn ein paar Leute aus dem Dorfe bei mir im Krug sind, kommen und eine Versammlung auflösen. Wissen Sie, was das ist? Das ist Geschäftsstörung, und ich werde Sie oder vielmehr den Herrn Landrat verklagen.... auf Schadenersatz.“
„Sehr richtig!“ rief Sparka. „Herrschaften, das sind Zustände... so sieht unsere Freiheit in Deutschland aus...“
„Erlauben Sie auch mir ein Wort“, rief Kuba dazwischen. „Wie Ihr wißt, habe ich Jura studiert, und als Jurist sage ich Ihnen, Herr Neureiter, daß der Befehl des Landrats, die Gäste meines Bruders hier aus diesem Lokal zu entfernen, ungesetzlich ist. Dadurch verlieren Sie Ihre Eigenschaft als Beamter. Wir befinden uns außerdem im Zustande der Notwehr und machen uns keines Widerstandes gegen die Staatsgewalt schuldig, wenn wir Ihnen nicht gehorchen. So, und nun versuchen Sie mal, einen von uns hier mit Gewalt aus dem Lokal zu entfernen... Oder noch besser wäre es, wenn Sie sofort zum Landrat nach Lyck reiten und ihm berichten wollten, was ich Ihnen eben erzählt habe.“
Der Gendarm war in tödlicher Verlegenheit... In seinem Gewissen kämpfte der Gehorsam gegen den Vorgesetzten und die Furcht, sich mit den Bauern zu verfeinden, einen harten Kampf... „Was du gesagt hast, Kuba“, meinte Wrona, „ist durchaus richtig, und wir lassen uns nicht rausschmeißen. Ich mache dir, Neureiter, aber einen anderen Vorschlag: Setz’ dich ruhig zu uns und überwach’, was wir reden. Du kannst dem Herrn Landrat ruhig berichten, was du hier gehört hast. Habe ich nicht recht?“
Der Gendarm gab sich einen Ruck. „Na ja, meine Herren, wenn die anderen nicht zu Ihnen gehören... Sie vier oder fünf können doch keine Versammlung sein.“
„Na also, dann sind wir ja einig... Kommen Sie her und setzen Sie sich zu uns. Martin, mach’ ‘n paar Buddeln Rotspon auf. Die Sache muß begossen werden.“
Neureiter nahm den Helm ab und setzte sich an den Tisch. „Was hat der Landrat bloß gegen uns?“ meinte Sparka.
„Er meint, hier ist eine große politische Verschwörung für die nächsten Wahlen in Vorbereitung. Und aus Berlin ist ihm geschrieben, daß hier für die Polen gearbeitet wird.“
„Was nicht ist, kann noch werden“, erwiderte Pietrzyk, „ich meine bloß wegen der Wahlen. Das vergessen Sie nicht, dem Herrn Landrat zu sagen. Aber mit den Polacken haben wir nichts zu tun, das können Sie ihm auch sagen. Wir sind Masuren, und als Masuren gute Deutsche. Aber nun wollen wir fortfahren, das heißt, eigentlich sind wir schon fertig. Du, Kuba, wirst so gut sein, uns die Satzungen von einer landwirtschaftlichen Genossenschaft zu besorgen für Einkauf und Verkauf, und dann erläßt du im „Masur“ einen Aufruf, und wenn sich genügend Menschen gemeldet haben, berufen wir eine große Versammlung ein und machen die Sache fertig. Einverstanden, ja? Na, dann prost auf unsere bäuerliche Genossenschaft.“ Während man anstieß, fuhr ein Wagen vor. Martin ging sofort hinaus, um die Gäste zu empfangen und vorzubereiten, damit sie nicht durch eine dumme Frage den mit der Staatsgewalt geschlossenen Frieden störten.
Zwei dem Anschein nach wohlhabende Bauern stiegen ab, die er nicht kannte. „Na, meine Herren, woher kommen Sie?“
„Ach, Sie sind wohl der Gastwirt Balk? Finden wir vielleicht Ihren Bruder bei Ihnen und auch ein paar Besitzer?“
„Jawohl, alles vorhanden... Es ist ja nicht so, wie bei armen Leutnants. zwei Augen und ein Glas.“
„Das haben wir also gut getroffen. Wir kommen aus dem Kreis Ortelsburg. Hier, mein Freund Kruppa, ist aus Groß-Romahnken, und ich bin aus Schön-Damerau. Wir wollten uns mal hier erkundigen, ob Ihr schon einen Bauernverein habt?“
„Gerade fertig geworden, aber unter polizeilicher Aussicht... Der Gendarm wollte uns sogar als Versammlung auflösen...“
„Also genau so, wie bei uns.“
Die beiden Bauern, Ludwig Kempa und Johann Kruk machten sich der Tafelrunde bekannt. „Na, wie sieht’s denn in eurer Gegend aus?“ fragte Sparka.
„Ach, da ist der Deuwel los“, erwiderte Kempa, ein stattlicher Mann in mittleren Jahren. „Bei uns haben sich die Polacken eingenistet... Zuerst kam ein Kerl, der geht immer rum, wie ein polnischer Schlachzitz mit Schnürrock und langen Lackstiebeln. Der gibt bei uns eine Zeitung raus. Da steht bloß drin, daß die Masuren eigentlich Polen sind und mit ihrem Vaterland wieder vereinigt werden müßten. Und seit einigen Monaten ist eine ganze Bande von solchen Kerlen in unserer Gegend. Die ziehen von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus und reden den Leuten Löcher in den Kopp. Sie würden von den Deutschen schlecht behandelt. Wenn sie erst wieder mit Polen vereinigt wären, dann würde die Regierung dafür sorgen, daß Waldweide, Holz und Fischerei frei wären. Und wer eine Kuh hätte, würde noch zwei dazu bekommen. Und die großen Güter sollten unter die Bauern und Eigenkätner und Arbeiter aufgeteilt werden.“
„Da hört sich doch alles auf“, rief Neureiter.
„Ja, Herr Wachtmeister, das sagen wir auch. Aber es gibt Dumme genug, die den Kerlen glauben und die polnischen Leitungen lesen. Aber, was noch schlimmer ist, die Polen kaufen alles Land auf, was zu haben ist. Drei oder vier Güter sind allein in den letzten Wochen an sie verkauft worden. Die Polacken haben Geld. Die Regierung hat ihnen in Westpreußen und Posen ihre Güter für einen wahnsinnigen Preis abgekauft, und nun kommen sie hierher nach Ostpreußen und kaufen sich hier an.“
„Na, die paar Kaninchen werden den Kohl nicht auffressen“, meinte Kuba. „Die paar Gutsbesitzer nicht“, erwiderte der Bauer. „Aber uns Bauern geht’s ebenso. Wer sich mit den Polen einläßt und von ihnen Geld nimmt, wird abgegurgelt. Und wir haben schon so viele im Kreis, daß sie sich erst in Mensguth eine große katholische Kirche gebaut haben, und jetzt wird auch in Ortelsburg eine gebaut. Ich frage, wo kommen all’ die Katholiken her? Jeder Beamte, der nach Ostpreußen versetzt wird, ist katholisch... Ist das hier auch so?“
„Na, ganz so schlimm ist es noch nicht“, erwiderte Pietrzyk, „aber seitdem sie das Regiment aus Metz hier nach Lyck verlegt haben, sind so viel katholische Soldaten hier, daß die kleine Kapelle nicht ausreicht, und eine Kirche soll gebaut werden. Viele von den im vorigen Herbst entlassenen Soldaten sind hier geblieben und haben sich verheiratet... So kriegen wir hier die Katholiken her.“
„Was ist dagegen zu machen?“ meinte Sparka achselzuckend. „Aber wer in Posen oder Westpreußen gewesen ist, der weiß, daß dort evangelisch ebensoviel ist wie deutsch und katholisch wie polnisch. Das wird womöglich auch hier so kommen.“
„Deshalb meine ich“, fiel Wrona ein, „daß wir zeigen müssen, daß masurisch auch ebensoviel wie deutsch ist. Und deswegen müssen wir einen masurischen Bauernverein gründen.“
„Herrschaften, laßt bloß die Politik aus dem Spiel. Ihr wißt doch, weswegen ich hier bin“, meinte der Gendarm.
„Aber Neureiter“, erwiderte Wrona lachend, „ich meine doch bloß unseren landwirtschaftlichen Verein. Das müßt Ihr bei Euch auch machen. Wenn wir soweit sind, kommt Ihr her, seht es Euch an und macht es ebenso... Und dann haltet Ihr Euch unsere Zeitung, den „Masur“, da werdet Ihr sehen, was wir wollen.“
Es wurde noch viel hin und her gesprochen an diesem Abend. Auch von den Wahlen und anderen politischen Dingen, denn der reich genossene Rotspon hatte bei Neureiter die Abneigung gegen Gespräche dieser Art völlig abgestumpft.
Die politische Erregung unter den Masuren nahm in der nächsten Zeit noch andauernd zu. Nicht nur durch die Artikel des „Masur“, in denen Bogumil alle sieben Bitten des Vaterunsers in seiner packendem aufreizenden Art erläuterte, sondern auch durch die Maßnahmen der Regierung, die das Ablösen der Fischereiberechtigung mit großer Eile und Energie betrieb. Und diese Berechtigungen, die noch aus der Zeit des Deutschen Ritterordens stammten, waren eine Lebensnotwendigkeit für Masuren. Denn fast jedes Dorf lag, entweder am Ufer eines kleineren oder größeren Sees oder in der nächsten Nähe eines Gewässers. Und jede Bauernstelle war im Besitz der uralten Berechtigung, die allerdings nicht nur energisch ausgenutzt, sondern auch mißbraucht wurde, indem die Bauern, die nur zu ihres Tisches Notdurft fischen durften, den Überschuß an gefangenen Fischen in die Städte verkauften. Das war aber nur die Folge des Fiskalismus der Regierung, die die Seen außerdem noch an Ausländer, meistens waren es polnische Juden, verpachtete, die jeden Fisch über die Grenze nach Rußland verschickten, wo er weitaus höhere Preise erzielte... Außerdem fischten noch die kleinen Eigenkätner und die besitzlosen Arbeiter ganz unberechtigterweise. Bei ihrem niedrigen Lebensstand war der Fisch manchmal in Monaten nur die einzige Fleischnahrung, die auf ihren Tisch kam.
Ein genauer Kenner der Verhältnisse hatte der Regierung wiederholt den Vorschlag gemacht, die Verpachtung der Seen aufzugeben, die Berechtigungen abzulösen und dann jedem Anwohner eines Sees das Recht zu geben, gegen ein bestimmtes Entgelt mit einer von der Regierung festzusetzenden Anzahl von Netzen zu fischen.
Von diesem durchaus vernünftigen Vorschlag griff die Regierung nur die Ablösung der Berechtigungen auf, um nach ihrer Durchführung von den Pächtern höhere Pachtsätze erzwingen zu können. Die Bauern wurden vorgeladen, und wenn sie die lächerlich geringe Abfindungssumme zurückwiesen, wurde eine gerichtliche Entscheidung herbeigeführt, wobei sie öfter noch weniger zugesprochen erhielten.
Die Entwertung ihrer Grundstücke durch die Maßregel der Regierung war so groß, daß viele von den Bauern verkauften und nach dem Westen zogen, um als Lohnarbeiter in Bergbau und Industrie sich eine neue Existenz zu gründen. Ein Gutsbesitzer oder ein Pole war als Käufer immer vorhanden...
Die Eigenkätner und die freien Arbeiter, von denen die meisten zwei, drei Morgen Land besaßen, wurden durch den Verlust der Waldweide geradezu aus der Heimat vertrieben. Die Milchkühe waren sozusagen der Grundstock ihrer Wirtschaft, eine Weisheit, die schon die Kinder in der Schule an dem ergreifenden Gedicht. „Frau Magdalis weint auf ihr letztes Stück Brot“ lernten. Bloß der Regierung war das unbekannt.
Eines Tages erhielt Kuba einen Brief von Herrn Zielinski, worin er sich für die nächste Woche anmeldete und die Abhaltung einer Versammlung vorschlug. Vorsichtshalber meldete Kuba sofort die Versammlung an. Was er erwartet hatte, geschah. Der Herr Landrat verbot ohne jede Veranlassung die Versammlung, die in Lipinsken bei Martin stattfinden sollte. Das war die Rache für einen Artikel des „Masur“, der in spöttisch-sarkastischer Form den Vorfall in Lipinsken schilderte, über den sich die Bauern außerdem noch beim Regierungspräsidenten in Allenstein beschwert hatten. Es hieß darin „Nur der Klugheit und Besonnenheit des Unterbeamten war es zu danken, daß der gesetzwidrige Befehl des Landrats nicht zu einem folgenschweren Zusammenstoß führte...“
Das Verbot der Versammlung kam so zeitig, daß Kuba seine engeren Freunde zusammentrommeln konnte. Er machte ihnen den Vorschlag, nach Allenstein zu fahren und sich persönlich beim Präsidenten zu beschweren. Pietrzyk, Sparka und Wrona waren sofort dazu bereit. In der Regierungsstadt wurden sie erst von Pontius zu Pilatus geschickt, bis irgendein Regierungsrat sich bereit erklärte, sie zu empfangen und anzuhören. Doch die drei Bauern verlangten hartnäckig und durchaus nicht demütig bittend, sondern energisch fordernd, den Präsidenten selbst zu sprechen und drohten, sofort weiter nach Berlin fahren zu wollen, wenn man ihnen nicht Gehör schenkte. Der Präsident empfing sie schließlich und versprach ihnen, das Verbot der Versammlung aufzuheben, wenn der Saal nicht durch seine Bauart zu Versammlungen ungeeignet sei. Sparka bat, dem Herrn Präsidenten vortragen zu dürfen, wodurch sie sich sonst beschwert und beunruhigt fühlten; aber dazu hatte der hohe Herr nicht mehr Zeit übrig...
Nach einigen Tagen, nachdem Neureiter sich davon überzeugt hatte, daß der Saal massiv bedacht war und die Türen sich nach außen öffneten, wurde die Versammlung genehmigt. Kuba erhob sofort Einspruch gegen die Form des Schreibens und vor allem gegen den Ausdruck „genehmigt“. Das Landratsamt habe nichts zu genehmigen, sondern nur die Bescheinigung über die erfolgte Anmeldung auszustellen. Mit Herrn Zielinski hatte Kuba vor der Versammlung noch eine sehr energische Unterredung, worin er ihn nachdrücklich ermahnte, seine wirklichen Ziele nicht zu entschleiern. Sonst müßte er öffentlich und sehr energisch gegen ihn Stellung nehmen.
Der Saal war schon lange vor Beginn der Versammlung gefüllt. Außer den Bauern, die in großer Mehrzahl waren, hatten sich zahlreiche Arbeiter aus der Stadt eingefunden. Und auch der Herr Landrat war mit zwei Gendarmen erschienen.
Kuba, der die Versammlung eröffnete und leitete, konnte sich die kleine Bosheit nicht versagen, den Landrat als Gast zu begrüßen und ihn auf die Bühne hinauf zu bitten, wo eine Anzahl Bauern an zwei Tischen saß. Sofort darauf erschallte aus dem Hintergrunde des Saales der Ruf: „Zur Geschäftsordnung!“
Es war der Sprecher der sozialdemokratischen Arbeiter, der Bürowahl verlangte. Kuba erwiderte ihm, daß ausdrücklich zu der Versammlung nur masurische Bauern eingeladen seien. Er werde die Arbeiter aus Lyck aber so lange im Saale dulden, wie sie sich ruhig und manierlich verhielten, andernfalls würden sie auf Grund seines Hausrechts unweigerlich an die Luft gesetzt werden, und er hoffe, daß der Herr Landrat ihm dazu seine beiden Beamten zur Verfügung stellen werde...
Sofort erhob sich der Landrat, meldete sich zum Wort und erklärte, daß Balk durchaus im Recht sei. Er werde bei Ruhestörungen seine Beamten einschreiten lassen.
Nun erhielt Zielinski das Wort. Er begann mit der Behauptung, daß die deutsche und noch mehr die preußische Regierung kein Geschick hätte, fremde Völkerschaften, die durch Zufall oder Gewalt gezwungen innerhalb ihrer Grenze lebten, zu behandeln. Er nannte als Beispiele, die er näher beleuchtete, die Polen, die Dänen und die Masuren. Er wolle es nicht aussprechen, daß die preußische Regierung es förmlich darauf anzulegen scheine, die geduldigen, ruhigen Masuren in Aufregung und Unzufriedenheit hineinzutreiben. Er könnte das nicht behaupten, denn da wäre eine schwere Beleidigung der Regierung. Er setze sogar bei der Regierung den guten Willen voraus. Um so schwerer wiege ihre Verständnislosigkeit, die schon die Grenze des polizeilich Erlaubten überschritte. Und dann brachte er alles, was die Masuren damals bewegte und erregte, in scharf zugespitzter Form zur Sprache.
Als er schloß, brach bei den Bauern ein tosender Beifall aus, während die Sozialdemokraten hinten pfiffen und johlten. Als der Sturm sich gelegt hatte, erhielt der Sprecher der Sozialdemokraten das Wort. Er traktierte unter dem Beifallsgeschrei seiner Genossen die Versammlung eine halbe Stunde mit unverdauten, blutrünstigen Phrasen, mit denen damals die Roten die Gehirne der urteilslosen Massen umnebelten.
Kuba stand während der ganzen Zeit mit der Hand an der Glocke und erteilte dem Redner mit großem Geschick und Energie mehrere Ordnungsrufe. Dann ging ihm die Geduld aus. Er läutete heftig und erklärte den verdutzt dreinschauenden Genossen, er entziehe dem Redner das Wort. „Dann verlassen wir unter Protest das Lokal.“
Als die Radaubrüder sich verzogen hatten, bat Sparka ums Wort. „Es würde mir ja leichter sein masurisch zu sprechen, und Ihr würdet es auch leichter verstehen, Herrschaften, aber das ist uns verboten“, begann er. „Ich habe heute zum erstenmal einen Roten sprechen hören. Ich habe nicht alles verstanden, was der Redner gesprochen hat...“
„Wir auch nicht“, riefen mehrere Bauern.
„Aber was ich verstanden habe, hat mir gezeigt, daß wir Bauern uns mit den Roten nie verbrüdern können, wir wollen behalten, was wir von unseren Vätern ererbt haben. Umsomehr stimme ich dem zu, was Herr Zielinski gesagt hat. Und ich möchte den Herrn Landrat bitten, das alles genau der Regierung zu berichten, damit sie Abhilfe schafft. Wir aber brauchen nicht zu bitten, sondern wir wollen und fordern, daß die Regierung Abhilfe schafft. Unsere Arbeiter laufen uns fort. Sollen wir Polacken als Arbeiter nehmen? Das wollen wir nicht. Deshalb schlage ich vor, daß wir einen Bauernverein gründen, einen richtigen, politischen Verein, und wenn der Herr Landrat und die Regierung uns nicht Abhilfe schaffen, dann müssen wir ihr bei der nächsten Wahl mit dem Stimmzettel Antwort geben.“
Nachdem der Beifall sich gelegt, schlug Kuba vor, sofort die Gründung des Vereins vorzunehmen. Die Bauern, die er als Mitglieder des Vorstandes vorschlug, wurden durch begeisterte Zurufe gewählt, und eine Viertelstunde später hatten sich fast alle Teilnehmer der Versammlung als Mitglieder eingezeichnet. Währenddessen hatte sich der Landrat mit kaltem Gruß entfernt.
Der Winter hatte in Masuren früher eingesetzt als gewöhnlich. Schon Mitte Oktober, wenn sonst noch die weißen Fäden des Altweibersommers im leisen Wind über Land und See dahinsegeln, fiel scharfer Frost ein. Nachts funkelten die Sterne, als wenn sie frisch geputzt wären. Über den Spiegeln der Seen standen dichte Nebelwände und jeden Morgen waren die Bäume am Ufer mit köstlichem Rauhreif geschmückt, den die Sonne leider immer zerstörte, sobald sie ein Ende am Himmel emporgestiegen war...
Eines Morgens war der Nebel von den kleinen flachen Gewässern verschwunden. Der Frost hatte sie mit einer kristallklaren Decke gebändigt, die in der Morgensonne rötlich glänzte. Sofort sammelte sich die Dorfjugend am Rande. War das ein Vergnügen, wenn die dünne, zähe Decke unter dem Fußtritt knisterte und krachte und mit dem Riß, der über den See lief, sich auch der krachende Ton bis ans andere Ufer fortpflanzte.
Die Größeren und Klügeren schlichen am Ufer entlang, bis sie unter dem Eise im seichten Wasser einen Fisch, einen Hecht oder Barsch erblickten. Dann pirschten sie mit vorsichtigen Schritten heran... Ein Schlag mit dem Eispachtel betäubte den Fisch, der sofort durch Aufhacken des Eises erbeutet wurde.
Einige Tage später wich die Nebelwand auch von dem großen tiefen See. Ohne Furcht befuhren sofort die eifrigen Angler das kaum daumendicke Eis mit leichten Birkenschlitten, die ihre Last auf eine breite Fläche verteilten. Sie wußten aus Erfahrung, daß kurz nach dem Zufrieren sich die großen Barsche an den Untiefen des Sees sammelten und gierig auf den Zinnfisch der Tibberangel bissen.
Doch nicht lange dauerte diese blinkende Herrlichkeit... Graue, schwere Wolken zogen herauf und hüllten Himmel und Erde in ein dichtes Schneegestöber.... Und als auch dieses eines Tages ein Ende nahm, da lag See und Wald unter einer hohen weißen Decke... Lustig begannen die Schlittenglocken zu klingeln...
In Wronken herrschte lebhafte Tätigkeit. Da wurde die Aussteuer für Frieda genäht. Sie hatte sich mit dem Wiesenbaumeister Karl Gruner verlobt. Beide waren sehr zufrieden und glücklich, denn beide hatten gefunden, was sie suchten. Er eine wohlhabende, kluge Frau und sie einen stattlichen Mann, der als Beamter in der Stadt eine geachtete Stellung einnahm. Der Tertius gaudens1 war die Ursina, deren Freude nur dadurch etwas getrübt wurde, daß sie ihren reichlichen Verdienst mit dem Herrn Kreissekretär teilen mußte, der die Bekanntschaft vermittelt hatte.
Eine ganze Schar junger Mädchen nähte lachend und schwatzend an Leibwäsche und Kleidern. Der leitende Geist war eine kleine bucklige Nähmamsell, von der wohl nur die wenigsten wußten, daß sie eigentlich Luwise Motek hieß, denn niemand nannte sie anders als „Garbata“, die Bucklige. Das körperliche Gebrechen beeinträchtigte jedoch weder ihre äußerliche Geschicklichkeit als Schneiderin, noch ihren angeborenen Frohsinn. Stets war sie zu Scherz und Schimpf aufgelegt, und wenn die Stimmung nachzulassen drohte, stimmte sie mit ihrer hellen, klaren Stimme ein altes masurisches Volkslied an.
Eben war das Brautkleid fertig geworden. Frieda wurde zur letzten Ankleideprobe hereingerufen. Garbata stieg auf einen Stuhl, um ihr beim Überstreifen behilflich zu sein. Mit geschickter Hand zog sie die Trakelfäden aus dem Kleide und warf sie in die Luft. Auf wen solch ein Faden sich niederließ, der wurde noch im Laufe dieses Jahres Braut. Der Zufall fügte es, daß ein Faden sich in Garbatas reichem Haar verfing. Die Mädchenschar jubelte laut. „Garbata, du wirst Braut.“
Sie schüttelte wehmütig den Kopf. „Ich, die Garbata, wie sollt’ ich zu einem Mann kommen?“
„Ach, tu bloß nicht so“, erwiderte Anna Wrona lachend. „Wir wissen doch, daß der Ludwig Stopka dich gern hat. Und du ihn auch. Du sitzst doch manchmal monatelang bei den beiden Mannsleuten, dem Ludwig und seinem Vater...“
„Weil der Alte doch mein Onkel ist“, verteidigte sich Garbata. „Und die beiden sind so unbeholfen in der Wirtschaft, daß sie mich wirklich brauchen.“
„Na, dann stimmt es ja“...
„Ach, geht doch mit Eurem Geplapper“, erwiderte Garbata ärgerlich. „Ihr wißt doch ebenso gut wie ich, daß der Ludwig so viel an die Geschwister ausgezahlt hat, daß er nur eine Frau brauchen kann, die ihm ein gehöriges Stück Geld ins Haus bringt.“
„Aber Garbata“, sagte Frieda vorwurfsvoll, „du hast doch vor kurzem eine Erbschaft von der verstorbenen Tante aus Berlin gemacht. Es hieß, du hast dreißigtausend Gulden geerbt.“
Ehe Garbata antworten konnte, fuhr ein Schlitten mit lautem Glockenklang auf den Hof. Die forschen Gäule trugen silberbeschlagene Sielen, eine abgestimmtes Glockengeläut auf dem Kopf, Federbüsche in den masurischen Farben blau-weiß-rot. Mit solchem Aufputz fährt am Alltag nur ein Freier... Die Mädchen kreischten auf. „Garbata, der Freier kommt schon.“
Aus dem großen Wolfspelz schälte sich ein junger Mann. „Der Ludwig Stopka... Garbata, der Ludwig kommt dich holen.“
Die Bucklige hatte nur einen Blick durchs Fenster geworfen. Sie war weiß geworden wie der Schnee draußen und ihre Hände flatterten. Eilig wollte sie aus dem Zimmer schlüpfen, aber die jungen Mädchen umringten sie, tanzten um sie herum und sangen übermütig. „Garbata, der Freier ist da.“
Mitten in den Trubel hinein trat Frau Wrona. „Seid mal still. Garbata, komm’ mal rüber in die andere Stube, der Ludwig Stopka möcht’ dich sprechen.“
„Aber mach’ ein anderes Gesicht. Mit solch einer Trauermiene empfängt man doch nicht ‘nen Bräutigam.“
Wie eine Sünderin schlich die Bucklige hinter Frau Wrona über den Flur... In der Stube stand Ludwig, ein stattlicher junger Mann mit treuherzigen Augen, aus denen die Freude der Erwartung leuchtete. Mit siegessicherer Miene trat er auf sie zu und nahm ihre beiden Hände.
„Garbata, mir hat es keine Ruhe gelassen, und der Vater hat mich jeden Tag ausgescholten, daß ich dich von uns weggehen ließ, ohne mit dir gesprochen zu haben.“
„Was wolltest oder solltest du denn mit mir sprechen?“ fragte Garbata äußerlich ruhig, aber ihre Stimme bebte.
„Aber Lowiska, das weißt du doch, daß ich dich schon immer sehr lieb habe... Und wie du das letztemal bei uns warst, da sagte der Vater. einer von uns beiden muß heiraten... Wenn du nicht willst, sagt er zu mir, dann muß ich heiraten, denn wir beide Mannsleut ohne Frau im Hause sind so, wie ein Hund ohne Schwanz.“
„Na, dann heirat’ doch... Ich habe dir ja eine Frau zugefreit, die viel Geld hat. Weshalb nimmst du sie nicht?“
„Weil sie mir nicht gefällt... ich... ich... ich will dich heiraten.“
„So? Na, dann sag’ mir mal erst, aber ganz ehrlich, Ludwig. Hast du davon gehört, daß ich eine Erbschaft gemacht habe?“
Er nickte. „Ja, Lowiska, das habe ich wohl gehört.“
„Hast du auch gehört, daß ich viel Geld für meine Verhältnisse geerbt habe?“
„Ja“, gab Ludwig kleinlaut zu...
Mit einem Ruck entzog ihm Garbata ihre Hände. „Ja, Ludwig, dann kann ich dich nicht nehmen. Ich habe gar nichts geerbt... Wie ich vom Gericht kam und alle Menschen mich neugierig fragten, wieviel ich geerbt habe, da hat mich der Hafer gestochen, und ich habe immer geantwortet: ich bin sehr zufrieden. Ich habe wirklich nichts mehr als die paar hundert Taler, die ich mir erspart habe... Und eine arme Frau kannst du nicht heiraten. Also kann ich dich nicht nehmen.“
Der Freier starrte sie verdutzt an... „Ach, Lowiska, das schadet doch nichts, wir werden uns auch so durchfressen.“
„Nein, Ludwig“, erwiderte die Bucklige mit bitterem Ton, „zwischen uns beiden ist es aus. Wenn du mir das gesagt hättest, wie ich bei Euch war, wie du noch nichts von der Erbschaft wußtest, da hätte ich mit Freuden ja gesagt... Ja, Ludwig, denn ich habe dich sehr lieb. Da hast du den Mund nicht aufgemacht. Jetzt kommst du, wie du gehört hast, daß ich Geld habe... Jetzt will ich nicht...“
Die Mädchen kicherten schon hinter der Tür. Nun wurde sie aufgerissen. „Na, seid Ihr einig? Wir wollen doch gratulieren.“
Ludwig stand wie ein Pfahl... alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen. An den Mädchen vorbei schritt Garbata mit tränenden Augen... Oben auf ihrer Kammer kniete sie vor ihrem Bett, drückte den Kopf in die Kissen und schluchzte zum Herzbrechen... Nach einer Weile kam Frieda herauf... „Aber Garbata, was ist dir? Weißt du nicht, daß das eine unglückliche Ehe gibt, wenn auf das Brautkleid Tränen fallen? Weshalb hast du den Ludwig nicht genommen?“
Die Bucklige stand auf und trocknete ihre Tränen. „Weil er eine reiche Frau braucht und ich keine Erbschaft gemacht habe. Und dein Brautkleid ist fertig, dem schaden meine Tränen nichts mehr.“
Frieda war feinfühlig genug, um zu merken, daß hier keine Trostworte angebracht waren. „Na, denn komm, Garbata, du kriegst immer noch einen guten Mann.“
Eine Stunde verging. Da fuhr wieder ein Schlitten auf den Hof. Die Pferde noch reicher geschirrt, der blitzblanke Schlitten mit gemalten Griffen... Von dem gewölbten Vorderteil zog sich ein weißes Schutznetz bis zu dem Rücken der Pferde... Aus dem Schlitten stieg ein hochgewachsener junger Mann. „Der Otto Pietrzyk“, kreischten die Mädchen. „Zu wem kommt denn der?“
Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür. Otto sah im bürgerlichen Rock ebenso forsch und stattlich aus, wie in der Uniform. Seine Augen suchten Anna, die tief errötend unter den Mädchen stand.
„Anna...“ Seine tiefe, klangvolle Stimme bebte nicht. Sie war klar und fest, und eine ruhige Zuversicht lag in dem Ton. Und die Liebe, die große, tiefe Liebe.
Jetzt hob Anna den Kopf. Mitten durch die jungen Mädchen schritt sie auf Otto zu, und als er sie in seine Arme schloß, legte sie ihr Gesicht mit seliger Zufriedenheit an seine breite Brust.
Mit atemloser Spannung verfolgten die jungen Mädchen den Vorgang… Jetzt erst brachen sie jubelnd los. „Die Anna ist verlobt! Wir gratulieren!“
„Was tut Ihr hier, was kreischt Ihr so?“
Otto drehte sich ein wenig zur Seite und streckte der eintretenden Tante die Hand entgegen. „Ich habe mich eben mit Annchen verlobt...“
„Aber Otto, wir wissen doch davon noch nichts.“
„Ist ja auch nicht nötig... Die Annchen hat’s schon gewußt, wir haben uns im Frühjahr, als ich auf Urlaub war, die Hand darauf gegeben.“
„Aber Otto, wir können ja der Anna noch lange nicht verschreiben.“
„Ist auch gar nicht nötig, Tantchen. Ich habe mir in Lipinsken ein Grundstück gekauft von einhundertzwanzig Morgen... Da werden wir wirtschaften, bis Ihr alt und müde seid... Das kann Euch doch nur recht sein, nicht wahr?“
„Aber ja, mein lieber Junge, wenn die Anna will.“
„Tante, ich glaube, sie will... Aber wo steckt denn der Onkel?“
„Ach, der ist wieder nach Lipinsken gefahren, der hat ja jetzt nichts anderes im Kopf als seinen Bauernverein...“
Ludwig Stopka war sehr traurig und kleinlaut nach Hause gekommen. Sein Vater fragte nicht, wie es ihm ergangen war, denn er las es aus seiner Miene. Er ging in der Stube auf und ab und paffte mächtige Rauchwolken aus seiner Pfeife. Endlich fragte er: „Weshalb hat die Garbata nein gesagt?“
„Weil ich erst gekommen bin, als ich von der Erbschaft gehört hatte.“
„Ist dir ganz recht geschehen. Weshalb hast nicht früher den Mund aufgemacht? Und die Garbata hat das Herz auf dem rechten Fleck, daß sie als Bucklige dich nicht nimmt, weil sie glaubt, daß du bloß nach ihrem Geld kommst... Nun sieh zu, wie du fertig wirst. Ich ziehe in mein Altenteil, vielleicht zieht die Garbata zu mir, oder, wenn nicht, dann nehme ich mir ein altes Weib, was mir kocht und wäscht.“
Das schöne stille Wetter schlug um. Ganz plötzlich trat Tauwetter ein. Der Schnee auf dem See verwandelte sich erst in einen breiigen Matsch, dann in Wasser, das auf dem Eis einen See bildete. Dann schlug über Nacht der Wind um. Ein scharfer Nordost trat ein, der heftigen Frost brachte... Nun lag der See wieder spiegelblank. Und wenn nachts der Frost schärfer einsetzte, barst die Eisdecke... Handbreite Spalten klafften auf und über den See krachte und donnerte es, wie bei einem heftigen stundenlang dauernden Gewitter.
Als der Wind nachließ, wimmelte es auf dem See von Schlittschuhläufern. Die meisten blieben auf dem mit Fichtenbäumen abgesteckten Platz, wo jung und alt fröhlich durcheinander wogte. Aber einzelne wagten sich weiter hinaus. Und es lag ein eigener Reiz darin, auf dem jungfräulichen Eis dahinzugleiten, das noch von keinem Stahlschuh geritzt war.
Der schöne Tag verlockte auch Kuba Balk, sich ein paar Schlittschuhe zu kaufen und nach Lipinsken hinaus zu laufen. Er war in seiner Jugend ein sehr geschickter Läufer gewesen. Und schon nach den ersten Schritten fühlte er, daß er die Kunst noch nicht verlernt hatte. Mit kühnem Bogen fuhr er durch das Gewimmel und weiter hinaus. Er wollte die Mutter besuchen, die sich jedesmal freute, wenn er zu ihr kam... Als es zu dämmern begann, ging er hinab zum See und schnallte sich die Schlittschuhe an. Es war ein hoher Genuß, so in der Stille der Nacht unter dem funkelnden Sternenhimmel dahinzugleiten. Und die Sterne funkelten nicht bloß oben am Himmel, sondern sie spiegelten sich auch in der blanken Eisfläche. Als er die See-Enge an der Bariner Spitze erreichte, glaubte er am anderen Ufer eine dunkle Gestalt zu erblicken. Und jetzt ein halbunterdrückter Schmerzenslaut. So schnell, wie er konnte, lief er auf die Gestalt zu. Beim Näherkommen sah er eine Frau, die regungslos stand... Er schoß auf sie zu. „Kann ich Ihnen mit etwas behilflich sein? Ach, Fräulein Grundmoser...“
„Herr Balk... Ach, das ist ein großes Glück, daß Sie gekommen sind... Ich bin mit dem linken Fuß in einen Spalt geraten und habe mir dabei einen Knöchel verrenkt... Wenigstens habe ich so heftige Schmerzen, da nicht ich ‘mal den Schlittschuh aus dem Spalt ziehen kann... Ich stehe hier schon mindestens eine Stunde so und kann mich kaum noch aufrecht halten. Ich habe mich auch schon heiser gerufen.“
Balk kniete nieder und löste behutsam die Riemen des Schlittschuhs an dem schmerzenden Fuß. Dann warf er seinen Mantel auf das Eis. „Wenn Sie erst ein Weilchen ausruhen wollen...“
Sie lächelte ihn traurig an. „Das bringe ich allein nicht fertig...“
Kuba umfaßte sie und ließ sie langsam auf den Mantel niedergleiten.
Dankbar schaute sie zu ihm auf. „Ach, das tut wohl... Ich glaubte schon, ich werde umfallen und mir dabei den Fuß brechen. Aber nun werden Sie frieren.“
„Ach nein, liebes Fräulein... Ich überlege eben, wie ich Sie nach Hause bringen kann. Na, irgendwie wird es schon gehen. Erst will ich mal Ihren Schlittschuh befreien.“
Mit Mühe zog er das Eisen aus der Spalte.
„Glauben Sie, daß Sie auf beiden Füßen stehen können?“
„Ganz ausgeschlossen, ich habe heftige Schmerzen im Knöchel.“
„Dann werde ich Sie aufrichten und Sie müssen versuchen, auf einem Fuß zu stehen... Ich werde Sie ziehen.“
Er mußte Hannchen ganz fest umfassen und seine ganze Kraft aufwenden, um sie auf den Fuß zu stellen... Und während er ihr noch seinen Mantel umlegte, mußte sie sich an ihm halten. Dann faßte er ihre Hand und zog sie langsam vorwärts.
„Ach, Herr Balk“, sagte sie leise, „das wird nicht gehen, ich falle um... halten Sie mich.“? Er drehte sich schnell um und faßte zu.
„Was machen wir da bloß?“ fragte Hannchen.
„Ich muß Sie fest umfassen und vor mich herschieben... Wenn Ihr Fuß müde wird, sagen Sie es, dann ruhen Sie sich wieder aus.“
Er nahm sie in seinen Arm und schob sie langsam vor sich her. Er war keine ganz kleine Anstrengung, aber trotzdem überkam ihn ein süßes, wohliges Gefühl... Er kannte das schöne schlanke Mädel, die Tochter des Bürgermeisters, nur vom Sehen. Sie hatte in der Stadt den Ruf, daß sie sehr stolz und unnahbar war und schon manchen Korb ausgeteilt hatte. Jetzt hing sie hilflos in seinem Arm. Er hörte, wie sie hastig atmete und schloß daraus, daß sie Schmerzen litt. Und doch sagte sie leise: „Ach, Herr Balk... nun müssen Sie sich meinetwegen so anstrengen...“
„Das ist nur Menschenpflicht, mein liebes Fräulein, und ich bin glücklich, daß ich Ihnen den kleinen Dienst erweisen kann. Ich habe glücklicherweise auch die Kraft dazu.“
„Nun möchte ich aber ein Weilchen ausruhen.“
Noch mindestens ein dutzendmal mußte er sie niederlassen und wieder aufheben, bis sie die Brücke erreichten, die von der Stadt zur Schloßinsel hinüberführt. Dort trafen sie ein paar Jungen, die trotz der Dunkelheit noch auf dem Eise schlidderten. Er schickte sie hinauf zum Rathaus, der Herr Bürgermeister möchte schnell einen Schlitten besorgen und das Fräulein abholen, sie habe sich den Fuß verknaxt. Hannchen hatte er den Mantel auf einem Stein am Ufer untergebreitet und sie darauf niedergelassen. Dann zog er sein Taschentuch und trocknete sich die Schweißtropfen von der Stirn.
„Wie soll ich Ihnen bloß dafür danken, Herr Balk“, sagte Hannchen mit warmer Stimme und streckte ihm die Hand entgegen.
„Den Dank gibt mir schon das freudige Bewußtsein, daß ich Sie aus einer bösen Lage habe retten können. Es war ein Glück, daß ich Sie erblickte, denn Sie standen von mir abgewandt und Sie hätten mich wahrscheinlich erst zu spät gesehen, wenn mich Ihre Hilferufe nicht mehr erreicht hätten...“
Hannchen nickte. „Ja, ich war schon ganz mutlos. Ich wollte tapfer sein, aber die Tränen liefen mir über die Wangen, ohne, daß ich es wollte.“
„Und wie geht es mit Ihrem Fuß?“
Hannchen lächelte. „Nicht besonders, ich glaube, er schwillt noch mehr an...“
„Ich werde das Schuhband lösen...“ Er kniete vor ihr nieder... Trotz aller Sorgfalt zuckte sie zusammen, als er den Senkel aus den Ösen zog.
„Ach, das tut wohl“, sagte sie. „Nun habe ich noch eine Bitte.“
„Aber gern, liebes Fräulein...“
„Wenn ich Sie bitten dürfte, nicht darüber zu sprechen.“
Kuba fühlte, weshalb es ihr peinlich war, wenn über den Vorfall gesprochen wurde und die ganze Stadt erfuhr, daß er sie gut eine ganze Stunde fest in den Armen gehalten hatte.
„Das ist doch selbstverständlich, mein liebes Fräulein. Wenn ich mich ab und zu nach Ihrem Befinden erkundigen darf?“
Sie neigte das Haupt.
Nach einer Weile kam der Bürgermeister mit einem Schlitten, um seine Tochter nach Hause zu holen. Er grüßte Balk flüchtig und etwas von oben herab. Dann hob er seine Tochter in den Schlitten und fuhr mit ihr davon. Langsam ging Kuba die steile Straße hinauf zum Markt. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um das Gefühl zu empfinden, als wenn er den warmen, weichen Mädchenkörper noch in seinen Armen hielt. Ein paarmal, wenn die Anstrengung und die Schmerzen sie zu überwältigen drohten, war ihr Köpfchen nach hinten an seine Brust gesunken. Dann fühlte er ihr weiches Pelzbarett an seinem Kinn und atmete den leisen Duft ihrer üppigen braunen Haare, die unter der Mütze hervorqvollen...
Am Abend hatte er sich mit ein paar Freunden zum Skatspiel verabredet. Er war so zerstreut dabei, daß man ihn neckte, er sei wahrscheinlich verliebt.
„Vielleicht“, erwiderte er träumerisch.
Am anderen Morgen ging er aufs Rathaus, um sich nach Hannchens Befinden zu erkundigen. Der Bürgermeister streckte ihm beide Hände entgegen.
„Ich habe es erst nachher erfahren, welch einen großen Dienst Sie unserer Tochter erwiesen haben. Wir sind Ihnen zu großem Dank verbunden, und wenn ich Ihnen ‘mal einen Gefallen erweisen kann, stehe ich Ihnen mit dem größten Vergnügen zu Diensten.“
„Ich wollte nur fragen, wie es Ihrem Fräulein Tochter geht?“
„Nach Umständen, Herr Balk. Sie hat gestern abend noch heftige Schmerzen ausstehen müssen, als der Arzt den Knöchel einrenkte. Jetzt muß sie ganz ruhig liegen und kühlen... Ein paar Wochen wird es wahrscheinlich dauern.“
„Ich wünsche gute Besserung.“
„Danke, danke... Darf ich Ihnen eine Zigarre anbieten? Bitte nehmen Sie doch Platz... Ich verfolge mit großem Interesse das Aufblühen Ihres Unternehmens.“
„Oh, ich kann sehr zufrieden sein“, erwiderte Kuba. „Die Zahl der festen Bezieher wächst sehr schnell, seitdem wir den Bauernverein gegründet haben, der sich mit fabelhafter Schnelligkeit ausbreitet. Und trotz der Gegenwirkung des Herrn Landrats steigen die Inserate... Die Kaufleute wissen den Wert eines Blattes zu schätzen, das in jeder Bauernfamilie gelesen wird.“
Der Bürgermeister lächelte. „Ja, das war eine böse Überraschung für den Landrat, als Sie hier erschienen und die verwahrloste Druckerei kauften... Sie haben mit sicherem Griff den richtigen Zeitpunkt erfaßt... Ist das aber nicht bloß ein vorübergehender Erfolg?“
„Ich glaube nicht, Herr Bürgermeister“, erwiderte Kuba. „Die Politik der Regierung ist so ungeschickt, daß die Unzufriedenheit der Bauern täglich neue Nahrung erhält.“
„Und Sie blasen tüchtig in das Feuer hinein... Ich lasse mir jede Nummer von meinem Sekretär auf deutsch übersetzen.“
„Weshalb soll ich nicht? Ich will doch meinen Landsleuten helfen und nützen. Und ich glaube, auch das Bürgertum der Städte wird mit uns zusammengehen, wenn wir einen liberalen Kandidaten aufstellen.“
Herr Grundmoser nickte. „Das ist schon möglich... Der alte Herr, der unseren Wahlkreis im Reichstag vertritt, hat sich bis jetzt wenig um unsere Interessen und Wünsche gekümmert. Ich kann Ihnen vertraulich mitteilen, daß auch unter den Gutsbesitzern die Neigung besteht, einen anderen Kandidaten aufzustellen. Es sind manche darunter, die die agrarische Interessenpolitik nicht ganz aus freien Stücken mitmachen. Ja, sagen Sie mal, Herr Balk, weshalb geben Sie Ihr Blatt nicht in deutscher Sprache heraus?“
„Weil es zunächst für die masurischen Bauern bestimmt ist. Aber ich danke Ihnen für die Anregung... ‚Der Masur‘ kann nebenbei auch in deutscher Sprache erscheinen... Die Unkosten werden nicht so groß sein.“
„Um Gotteswillen, Herr Balk, wenn der Landrat erfährt, daß ich...“
Kuba erhob sich. „Das ist völlig ausgeschlossen, Herr Bürgermeister... Sie haben bloß der Idee, die schon in mir lebte, zum Durchbruch verholfen.“
Die Erklärung der sieben Bitten und einige andere Aufsätze von Soyka hatte Balk zu einer Broschüre vereinigt, die für einen billigen Preis rasenden Absatz fand. Eines Tages erschien der alte Lehrer, der jetzt für den Bauernbund herumreiste und Mitglieder warb, mit einem Sack voll Neuigkeiten und einem Artikel bei Balk.
Bei dieser Gelegenheit erzählte er: „Mein Neffe Franz kommt in nächster Zeit, wahrscheinlich zwischen Weihnachten und Neujahr, hierher nach Masuren, um einen Streit zwischen Verwandten zu schlichten.“
Erstaunt sah ihn Balk an. „Das ist Ihr Neffe, der die kleinen, netten Erzählungen aus Masuren schreibt?“
„Ja, er war bisher Redakteur an einer Berliner Zeitung, hat jedoch nach dem Erfolg seines ersten Buches die Stellung aufgegeben und will nur noch von der Schriftstellerei leben.“
„Und weshalb kommt er her?“
„Ich sagte Ihnen ja schon... Sein Vater ist das Haupt unserer großen Sippe, zu der sich alles hält, was von Schwert- und Spindelseite mit uns verwandt ist. Und wir sind nicht gewöhnt, unsere Streitigkeiten vor Gericht auszutragen, wir fahren besser und billiger dabei, wenn wir sie durch unseren Älter-Vater entscheiden lassen. Da er jedoch nach Litauen verzogen ist, hat er seinen ältesten Sohn Franz mit der Schlichtung des Streits beauftragt.“
„Worum handelt es sich denn?“
„Ach, da sind zwei Brüder... von denen hat der eine etwas strak’ gebrannt, und seine junge Frau viel allein zu Hause gelassen. Da hat sie mit dem jüngeren Bruder schön getan... Etwas Schlimmes ist wohl nicht passiert. Aber der ältere Bruder hat die Frau aus dem Hause gejagt, der jüngere ist auch gegangen, und nun soll Franz die Sache wieder ins reine bringen.“
„Das wird nicht ganz leicht halten...“
„Er wird es schon fertig kriegen. Er hat eine wunderbare Art, mit Menschen umzugehen, und die ganze Verwandtschaft hängt an ihm... Die Parteien müssen sich natürlich von vornherein seinem Schiedsspruch unterwerfen.“
„Hören Sie mal, alter Freund“, fiel Balk ein, „könnten Sie mich nicht mit Ihrem Neffen zusammenbringen?“
„Das wäre nicht schwer... Er kommt doch hier durch... Wollen Sie ihn bloß kennenlernen oder...?“ Balk lächelte verschmitzt. „Ich habe etwas vor, wobei mir Ihr Neffe sehr nützlich sein könnte... Ich bitte aber um strengste Verschwiegenheit. Also ich plane, unseren ,Masur‘ auch in deutscher Sprache herauszugeben, um in weitere Kreise einzudringen.“
„Das ist eine sehr gute Idee...“
„Das meine ich auch. Und wenn Ihr Neffe, wie ich annehmen muß, in reger Verbindung mit seiner Heimat steht, kann er auch etwas für sie tun... Er soll mir Artikel schreiben.“
„Das wäre eine feine Sache. Er hat in seinem Blatt, das ich natürlich auch gehalten habe, fast täglich einen Artikel gebracht, und die hatten Hand und Fuß... Das wäre auch der beste Kandidat für uns...“
„Das wird sich leider nicht machen lassen. Sie wissen doch, daß Zielinski zum großen Teil das Geld gegeben hat, und der will hier kandidieren.“
„Ja, lieber Balk, das ist eine Sache, die mir schon lange im Kopf herumgeht. Lassen Sie mich offen reden. Wie kommt dieser polnische Apotheker aus Gnesen dazu, sich hier so offen für Masuren ins Zeug zulegen? Seine Rede damals hat mir, offen gestanden, auch nicht gefallen. Wir Masuren gehören doch nicht zu den fremden Völkern in Deutschland, die schlecht behandelt werden.“
„Na, erlauben Sie mal“, fiel Balk ein, „unsere Bewegung und mein Blatt leben doch nur von dieser schlechten Behandlung.“
„Das stimmt, aber wir Masuren gehören nicht zu den Fremdvölkern, und sind doch nicht mit den Polen und Dänen auf eine Stufe zu stellen... Wir sind trotz des slavischen Dialekts, den wir noch sprechen, mit unserem Fühlen und Denken restlos im Deutschtum aufgegangen.“
„Halten Sie es nicht für möglich, daß darin eine Änderung eintritt, wenn Ihnen von polnischer Seite eine bessere Behandlung zuteil wird?“
„Ganz ausgeschlossen, lieber Balk. Der Masur hat nicht nur eine tiefe Abneigung gegen die Polacken, wie er sie nennt, sondern er fühlt sich auch als Angehöriger einer höheren Kulturstufe, als weit über den Polen stehend.“
„Dazu hat der Masur meines Erachtens kein Recht.“
„Was sagen Sie?“ ereiferte sich der Alte, „der Masur soll dazu kein Recht haben? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist einfach lachhaft. In ganz Masuren werden Sie mit Ausnahme einiger sehr alter Leute keinen Menschen finden, der nicht lesen und schreiben kann. In Polen können Sie unter dem Landvolk diejenigen, die über solche Kenntnisse verfügen, mit der Laterne suchen... Und abgesehen von den Dummheiten, die unsere Regierung jetzt uns gegenüber begeht, stehen wir auch wirtschaftlich auf einer Stufe, mit der sich die Polen nicht vergleichen können. Man braucht ja bloß eine halbe Meile über die Grenze zu fahren, um den Unterschied zu sehen.“
„Selbstverständlich muß ich den Unterschied zugeben... Wenn Polen aber selbständig wird und seine Entwicklung beginnt...“
Der Alte lachte laut auf. „Der Himmel bewahre Ihnen Ihren Glauben und die polnische Nation... Aber uns Masuren müssen Sie damit nicht kommen. In dem Punkt sind wir etwas kitzlich. Und ich fürchte, daß der Herr Zielinski hier als Kandidat nicht sehr viel Stimmen bekommen wird. Er hat in Ortelsburg seine Hand im Spiel. Jawohl, er ist mehrmals dort mit dem Redakteur der polnischen Zeitung gesehen worden. Nehmen Sie es mir nicht übel, aber es wäre für Sie und uns besser, wenn Sie uns diesen polnischen Apotheker vom Halse halten wollten. Das Geld, was Sie brauchen, bringen die Bauern zusammen.“
„Wenn Sie das zustande bringen können, mir soll’s recht sein.“
„Ich will’s versuchen... Nun schicken Sie mal zunächst einige Nummern des ,Masur‘ an meinen Neffen. Er kann’s lesen, und schreiben Sie ihm, daß er Sie bei seiner Anwesenheit hier besucht. Ich werde es ihm auch schreiben.“
... Am dritten Weihnachtsfeiertag traf Franz Soyka aus Berlin in der Heimat ein. Er hatte die streitenden Verwandten zu seinem Vetter Samel nach Barannen eingeladen. Als er im Schlitten von der Bahn dort eintraf, war das ganze Haus voller Gäste. Ein Duft von Braten, Fischen und Kuchen schlug ihm auf dem Flur entgegen. Die Parteien saßen gesondert in den Zimmern. Die junge Frau, die das Unheil angerichtet hatte, saß im Altenstübchen allein mit ihren Eltern... Er ging nach der allgemeinen Begrüßung zuerst zu ihr und ließ sich den Hergang erzählen. Unter reichlichen Tränen gestand sie, daß der Schwager, mit dem sie jeden Abend allein saß, sich mit ihr geneckt und geschäkert habe und ihr zuletzt gegen ihren Willen einen Kuß geraubt hätte... Das war von einer neugierigen Margell durchs Fenster beobachtet und dem Mann hinterbracht worden. Weiter sei auch nicht das geringste vorgefallen.
Dann nahm er sich unter vier Augen den Gatten vor und hielt ihm eine sehr energische Standpauke. Er sei durch sein Trinken und Im-Wirtshaus-Liegen der allein schuldige Teil. Er hätte es verdient, wenn seine Frau ihm ein ordentliches Geweih aufgesetzt hätte. Der jüngere Bruder war nicht erschienen, er war in der Zwischenzeit nach Westfalen gegangen.
Es dauerte nicht lange, bis er den Ehegatten, der seine hübsche junge Frau lieb hatte und sich schon nach ihr sehnte, davon überzeugt hatte, daß der Vorfall nicht ausreiche, um sich von ihr scheiden zu lassen. Dann nahm er ihn an der Hand und führte ihn hinüber zu seiner Frau. Ihre Eltern nahm er mit sich hinaus...
Nun begann erst der schwerste Teil. Er mußte die nähere Verwandtschaft des Mannes, die gegen die junge Frau Partei genommen hatte, wobei zwei alte Tanten sich durch ihre scharfen Zungen hervortaten, davon überzeugen, daß eine Versöhnung das beste sei. Die junge Frau hatte nach der Ansicht der Tanten ihrem Manne zu wenig zugebracht. Jetzt war der beste Zeitpunkt, sie loszuwerden und eine wohlhabendere Frau zu nehmen. Die junge Frau sei auch nicht rührig genug in der Wirtschaft.
Vergebens verhandelte Franz mit den beiden scharfen Zungen. Schließlich ging ihm die Geduld aus. Er wurde grob und erwiderte den beiden Weibern, sie seien nur angeheiratet und hätten in solch einer Familiensache das Maul zu halten, darüber hätten nur die Männer zu befinden. Und auch nur die von der nächsten Verwandtschaft, weil der jüngere Bruder des Ehemannes der allein schuldige Teil sei. „Das Ehepaar ist einig“, schloß er. „Ihr habt kein Recht, den Frieden in der Ehe zu stören. Was sagst du dazu, Onkel Ludwig?“
„Ich meine, du hast recht“, erwiderte der alte Bauer. „Wenn die beiden einig sind...“
„Na, dann ist die Sache in Ordnung. Samel, bringe die frisch milchende Kuh...“ So hat der Bauernwitz ein Fäßchen Bier getauft... „und stech’ sie an, ich habe Durst von dem vielen Gerede... Wie geht es Euch, Herrschaften? Ich habe gehört, daß Ihr endlich aus Eurem Schlaf aufgewacht seid...“ Nach einer Weile, als ein friedliches Gespräch im Gange war, ging er hinüber zu den jungen Eheleuten. Die saßen zärtlich aneinander geschmiegt, Hand in Hand, im besten Einvernehmen. Die junge Frau sprang auf und reichte ihm die Hand. „Ich danke dir, daß du uns wieder zusammengebracht hast. Was sagen seine Tanten?“
Franz lachte. „Die haben sich das Maul mit Kaffee und Kuchen gestopft und sind schon ganz friedlich. Nun kommt rüber und fahrt bald nach Hause.“ Lachend nickten ihm beide zu.
Am nächsten Morgen fuhr Franz nach der Stadt. Er wollte sich mit einigen Schulfreunden treffen und mit ihnen in Jugenderinnerungen schwelgen. Vorher wollte er noch Balk einen Besuch abstatten. Er klopfte an und trat ein. Trotz der für solche Genüsse noch etwas frühen Tageszeit saß Kuba mit einem Gast schon bei einer Flasche Rotspohn. Das Zimmer war blau von Zigarettenrauch...
Franz stellte sich vor. „Ich habe Ihren Brief und die Zeitungen erhalten und Ihnen geschrieben, daß ich mich lebhaft für Ihr Blatt und die von Ihnen in meiner Heimat entfachte Bewegung interessiere.“
„Ja, aber er muß Farbe bekennen“, rief der Gast, der an seiner Kleidung und der harten Aussprache des Deutschen sofort den Nationalpolen erkennen ließ.
„Mein Kollege Malecki aus Ortelsburg“, stellte Balk vor.
Franz entging nicht die leichte Verlegenheit, mit der Balk ihn dem anderen Gast vorstellte. „Wenn ich störe... ich komme gern später wieder...“
„Oh bitte, nein, mir sogar angenehm“, fiel Malecki ein. „Ich möchte wiederholen. Kollege Balk muß Farbe bekennen.“
Währenddessen nahm Kuba ein Glas aus dem Wandschrank und füllte es. „Ach lassen Sie doch, Herr Kollege, ich möchte erst meinen Gast begrüßen. Ich heiße Sie hier in der Heimat willkommen.“
„Wir haben hier ein tüchtiges Stück Arbeit geleistet“, fuhr er fort. „Und Ihr alter Onkel Bogumil hat fleißig mitgearbeitet.“
„Dazu ist er sehr gut zu gebrauchen. Ich habe schon gestern abend von meinen Verwandten alles gehört und für den Bauernverein gewirkt... Hier bringe ich Ihnen neun neue Mitglieder.“
„Sehr schön, sehr schön“, rief Malecki dazwischen. „Sehr geschickt angefangen. Aber nun wäre es Zeit, auf Ihr Ziel loszugehen. Kollege Balk schreibt nur für Masuren... Warum schreibt Kollege nicht auch für uns Polen? Masuren und Polen sind eines Stammes. Das muß immer betont werden.“
Franz hatte schon bei den ersten Worten des Polen, Balk müsse Farbe bekennen, die die Sache blitzartig beleuchteten, alles durchschaut. Die Zeitung war mit polnischem Gelde gegründet, um unter den Masuren für die Ziele der Polen Propaganda zu treiben. Balk hatte als geborener Masur, der seine Landsleute kannte, klugerweise bisher vermieden dies zu tun und wurde nun von Herrn Malecki, der im Interesse oder vielleicht gar im Auftrage seiner Geldgeber sprach, dazu gedrängt, „Farbe zu bekennen“, wie der Kollege aus Ortelsburg sich ausdrückte... Der Wein hatte ihm augenscheinlich schon die Zunge gelöst... „Ja, Herr Malecki“, warf Franz ruhig ein, „was soll das für einen Zweck haben?“
„Oh bitte, Herr Doktor... Durch die ganze Welt geht große Bewegung aller Nationen, die durch Abstammung und Sprache zueinander gehören, auch politisch sich zu einigen.“
„Ihre Nation hat dieses Ziel ja schon erreicht“, erwiderte Franz sarkastisch. „Ihre Nation ist wenigstens zum größten Teil schon mit den Russen vereinigt... Meine Landsleute, die Masuren, haben gar keine Sehnsucht nach einer Vereinigung mit einem panslavistischen Zarenreich.“
„Sie haben mich, wie ich glaube, etwas absichtlich mißverstanden, Herr Doktor“, meinte Malecki gereizt. „Ich spreche natürlich nur von der Vereinigung mit Polen... mit einem befreiten Polen natürlich... unter der freiesten Verfassung der Welt.“
„Die jedem Schlachzitz das Recht gibt, durch einen nie poswolam jeden parlamentarischen Beschluß zu vereiteln.“
„Bitte, Herr Doktor, Sie müssen uns nicht Fehler der Vergangenheit vorwerfen. Wir haben durch lange Leidenszeit gelernt.“
„Aber noch nicht genug“, erwiderte Franz brüsk und stand auf. „Sonst würden Sie nicht den gänzlich aussichtslosen Versuch machen, meine Landsleute für Ihre großpolnischen Ziele, die in unerreichbarer Ferne liegen, zu gewinnen. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht. Von uns Masuren ist nur der kleinste Teil slavischer Abstammung, und auch der hat sich restlos dem Deutschtum angeschlossen. Für Ihre national-polnischen Bestrebungen ist hier durchaus kein Boden vorhanden.“
Er wandte sich, um zu gehen. „Bitte noch ein Wort, Herr Doktor“, rief Malecki. „Ich habe im Kreise Ortelsburg für meine Zeitung eine große Anhängerschaft.“
„Ja, Kollege“, warf jetzt Balk ein. „Aber die Mittel, die Sie anwenden, kann ich nicht gutheißen. Sie suchen die Leute mit Versprechungen zu gewinnen, die sich wenig oder gar nicht von der sozialdemokratischen Agitation unterscheiden... An die Bauern, auf die es allein ankommt, kommen Sie nicht heran... Die sind zum größten Teil schon unserem Bauernbund beigetreten.“
Herr Malecki sprang auf, als hätte er einen Schlag ins Gesicht bekommen. „Dann muß ich Ihnen sagen, Herr Balk, daß Ihre Auftraggeber mit Ihrer Haltung nicht einverstanden sind. Ich habe Auftrag, Ihnen ausdrücklich zu erklären, daß Änderung herbeigeführt wird, wenn Sie nicht einlenken.“
Balk war hochrot geworden. Auf seiner Stirn schwoll eine Ader. Seine Stimme bebte. „Dann sagen Sie bitte Ihren Auftraggebern, daß ich nicht anders handeln werde, wie ich es für richtig halte.“
Der Pole verbeugte sich, nahm seine Mütze vom Haken und ging. Eine Weile standen sich Franz und Kuba schweigend gegenüber. Balk kämpfte augenscheinlich und schien nicht das richtige Wort zu finden. Erst als Franz nach seinem Hut griff, stieß er heftig hervor: „Ich bitte Sie, noch einen Augenblick mir Gehör zu schenken. Ich möchte nicht, daß Sie mich falsch beurteilen. Ich habe in einer Beziehung etwas leichtsinnig, ja, ich will sagen, unverantwortlich gehandelt, als ich den Auftrag und die Mittel erhielt, hier in Masuren eine Zeitung zu gründen in der für die Annäherung der Masuren an Polen gewirkt werden sollte. Mich reizte die Aussicht, einige Jahre hier in meiner Heimat ein angenehmes, sorgenloses Leben zu führen, in der Nähe meiner Mutter. Das ist meine Schuld, daß ich meinen Auftrag mit dem Hintergedanken übernahm, daß meine Bemühungen in dieser Richtung nicht nur aussichtslos wären, sondern auch keinen Schaden anrichten würden. Gegen meine Landsleute habe ich kein Unrecht begangen. Ich habe nur ihre Interesse vertreten.“
„Das wird nach meiner Voraussicht zu einem Bruch mit Ihren Auftraggebern führen.“
„Das ist nicht unwahrscheinlich“, erwiderte Balk achselzuckend. „Es wäre mir natürlich lieb, wenn ich diese Fessel abstreifen könnte. Ich plane jetzt, eine deutsche Ausgabe des ,Masur‘ zu bringen, wozu ich mir Ihre Mitarbeit erbitten möchte.“
„Ganz ausgeschlossen, Herr Balk“, erwiderte Franz, „wenigstens unter den jetzigen Umständen. Ich bin jedoch nicht abgeneigt, dem Gedanken näher zu treten, sobald Sie mir die ehrenwörtliche Versicherung geben können, daß Sie mit den Polen gebrochen haben.“
„Ich habe noch eine Bitte an Sie, Herr Doktor... Wollen Sie die Tatsachen, die Sie heute durch die Unterredung mit dem Herrn Malecki erfahren haben, als vertraulich behandeln?“
„Selbstverständlich, Herr Balk... Ich würde es sehr bedauern, wenn meine Landsleute Ihr Blatt verlieren sollten, das bisher so geschickt und energisch ihre Interessen verfochten hat. Sollten Sie jedoch im Sinne Ihrer Auftraggeber umschwenken, dann muß ich zu meinem Bedauern öffentlich gegen Sie Stellung nehmen... Den Bauernbund nehme ich Ihnen dann mit Leichtigkeit aus den Fingern...“
„Verlassen Sie sich darauf, daß ich bei der Stange bleiben werde.“ — —
Kurz nach Neujahr verreiste Balk für einige Zeit. Der alte Soyka übernahm für die Zeit seiner Abwesenheit die Leitung des „Masur“...
Garbata ging, nachdem ihre Arbeit in Wronken beendigt war, zu einer Familie Joswig nach Rackow, wo sie mehrmals im Jahre einige Wochen zubrachte. Ihre Kunst beschränkte sich nicht auf die Weiblichkeit, sondern umfaßte auch die männlichen Sprößlinge kinderreicher Familien, denen sie aus abgetragenen Kleidungsstücken des Vaters oder älteren Bruders die schönsten neuen Anzüge zurechtschneiderte. Ludwigs verunglückte Brautwerbung hatte sich natürlich herumgesprochen und Garbata wurde viel damit geneckt, daß sie einen so stattlichen Freier abgewiesen hatte. Allen fiel es auf, daß Garbata ihre übermütige Fröhlichkeit eingebüßt hatte.
Ludwig, der nebenan wohnte, kam jeden Tag einigemal zu Joswigs herübergelaufen. Er bekam jedoch Garbata nicht zu Gesicht, denn sie hatte sich in das kleine Altsitzerstübchen einquartiert, und wenn sie Ludwig durch das Hoftor kommen sah, schob sie an ihrer Tür den Riegel vor. Von Frau Joswig erfuhr sie, daß die Ursina dem Ludwig eine sehr wohlhabende Bauerntochter zugefreit hatte, die ihn gern zum Manne haben wollte. Er hatte sich jedoch geweigert, mit ihr zusammen zu kommen, obwohl ihm das Messer sozusagen an der Kehle saß. Er mußte seinen Schüttboden rein fegen und sein Saatgut, ja sogar die Schweine, die er für seinen Hausgebrauch schlachten wollte, und alles Jungvieh verkaufen, um einen Schwager, der ihn wegen des Erbteils verklagt hatte, zu befriedigen. Wegen des schlechten Essens lief ihm das Gesinde fort, nur ein altes Weib, das ihn schon in der Kindheit betreut hatte, hielt noch bei ihm aus. In seiner Not wandte er sich an die in Lyck neugegründete Landbank, von der er gehört hatte, daß sie auch zur letzten Stelle ohne viel zu prüfen Hypotheken auslieh. Er erhielt den Bescheid, in einigen Tagen wieder vorzusprechen, man müsse sich erst über seine Verhältnisse erkundigen. Ziemlich verzagt fuhr Ludwig mit zwei mageren Kleppern, denn die forschen Gäule, mit denen er zur Brautwerbung nach Wronken gefahren war, hatte er auch verkaufen müssen, in die Stadt... Ohne Umstände wurde das gewünschte Kapital bewilligt und gegen Mittag kam er in gehobener Stimmung nach Hause.
Schon am Nachmittag desselben Tages erschien der alte Stopka bei Joswigs. Garbata erschrak, als er unvermutet in ihr Stübchen trat...
„Was bringst du Gutes, Onkel?“
„Ich komme zu dir wegen des Ludwig zu reden.“
„Das hat keinen Zweck, Onkel. Ich habe einmal nein gesagt und dabei bleibt es.“
„Wie du willst, Lowiska. Aber du tust dem Ludwig unrecht. Er hat dich sehr lieb, er ist nicht bloß deines Geldes wegen gekommen, sondern weil er dich haben wollte. Es war doch kein Fehler, daß du inzwischen Geld geerbt hattest, wie die Leute erzählten.“
Garbata schwieg.
„Er könnte jetzt ein so wohlhabendes Mädchen heiraten... Du kennst sie auch... die Marie Mertinat... Die Ursina hat sie ihm zugefreit, aber er will nicht.“
„Er soll nicht dumm sein“, erwiderte Garbata heftig, „und die Marie heiraten. Was will er mit einer buckligen Frau, die ihm nichts zubringt?“
„Ja, das wird er wohl tun müssen, wenn du nicht willst. Es ist bloß schade um den Jungen. Du weißt, daß er fleißig und nüchtern ist. Ich glaube, er geht mir vor die Hunde. Den ganzen Tag rackert er sich ab und abends sitzt er im Dunkeln und grübelt.“
„Er soll sich Licht anstecken und nicht grübeln.“
Der Alte erhob sich. „Das sagst du so... Na, was nicht ist, das ist nicht. Ich dachte, du hast ihn auch ein bißchen lieb.“ Mit einem Seufzer wandte sich Vater Stopka zur Tür und ging weg... Der Buckligen stahlen sich zwei Tränen aus den Augenwinkeln und rollten die Backen herunter...
Gegen Abend, als es zu schummern anfing, nahm sie sich ein großes Tuch um und huschte hinaus. Das war die einzige Stunde, in der sie sich etwas Erholung gönnte. Der Schnee war weggetaut, aber der Frost hatte den Weg schon wieder getrocknet. Sie mußte daran denken, wie sie noch im letzten Sommer, als sie bei Stopkas arbeitete, mit den jungen Mädchen nach Feierabend durchs Dorf auf- und abgezogen war. Sie sang mit heller Kehle lustige Lieder. Hinter ihnen in langer Reihe gingen die jungen Burschen, manches Scherzwort flog hin und her...
Als sie ein Ende aus dem Dorf heraus war, hatte sie das Gefühl, als wenn jemand ihr nachkäme. Sie drehte den Kopf. Kein Zweifel, das war Ludwig, der mit großen Schritten sie einzuholen suchte. Sofort kehrte sie um. Er blieb stehen und vertrat ihr den Weg. „Ludwig, was willst du von mir?“
„Ach, Lowiska, ich möcht’ noch mal mit dir reden.“
„Das ist gar nicht nötig. Ich habe schon heute nachmittag deinem Vater gesagt, daß...“
„Ich weiß schon... Ich will dir bloß noch sagen, daß ich nach Wronken gekommen wäre auch ohne deine Erbschaft. Du weißt, daß ich ‘n bißchen langsam bin mit meinen Gedanken... na, und wie ich von deiner Erbschaft hörte, da dacht’ ich um so besser, dann wird sie weniger Sorgen haben und wird nicht wie eine Margell arbeiten brauchen.“
Garbata sah verwundert in sein treuherziges Gesicht. Sie hatte ihm unrecht getan, als sie sich durch seine Werbung beleidigt fühlte... Er war nicht bloß ihres Geldes wegen gekommen. Und er begriff es noch immer nicht, weshalb sie ihn damals abgewiesen hatte. Heiß wallte es in ihr empor. Langsam ging sie weiter. Er dicht an ihrer Seite. Sie drehte den Kopf zu ihm. „Ludwig, nimm doch die Marie Mertinat, dann bist du alle Sorgen los.“
Er schüttelte den Kopf.
„Ja, Ludwig, das ist doch eine Dummheit, wenn wir heiraten... Du kannst dich ohne Geld auf dem Grundstück nicht halten.“
Er blieb stehen und legte den Arm um sie. „Lowiska, sind wir nicht beide jung und können arbeiten?... Wir beide werden nicht umkommen...“
„Das nicht, aber...“
Weiter kam sie nicht, denn Ludwig beugte sich zu ihr nieder und gab ihr einen Kuß... Da regte sich der Schelm in ihr. Sie blitzte ihn mit ihren Augen an und flüsterte: „Ludwig, sieh dich vor, du kriegst ‘ne bucklige Frau, wenn du mich heiratest.“
„Die habe ich ja gewollt... Und nun werde ich dir was Gutes erzählen — ich habe von der Landbank in Lyck eine Hypothek bekommen... Wenn ich man früher hingegangen wäre, anstatt alles zu verkaufen. Den ganzen Nachmittag habe ich schon mit dem Vater gesessen und gerechnet, was wir für die Wirtschaft am nötigsten brauchen...“
„Ist das wirklich wahr, Ludwig?“
„Ich werde dir doch keine Lüge erzählen.“
„Na, dann werden wir beide auch noch mal rechnen.“
„Lowiska, wann kann die Hochzeit sein?“
„Sobald du willst... Meine Aussteuer und Wäsche liegt fertig. Ein Kleid mache ich mir in drei Tagen. Laß uns morgen in den Kasten hängen.“
In drei Tagen hatte Garbata die dringendsten Arbeiten bei Joswigs vollendet. Sie blieb dort wohnen und ging jeden Morgen zu Ludwig hinüber, um ihm die Wirtschaft zu führen. Die beiden Knechte kamen sofort zurück, als sie hörten, daß Garbata wirtschaftete, und ein paar Margellen waren bald besorgt. Auch Vater Stopka kam und half in der Wirtschaft, sobald die Bucklige das Regiment im Hause an sich genommen hatte. Die Hochzeit wurde von Joswigs ausgerichtet, sehr schlicht und sparsam, aber man war doch sehr vergnügt miteinander. — — —
Kuba Balk blieb fast vierzehn Tage weg. Er fuhr zuerst nach Gnesen zu Herrn Zielinski. Es fiel ihm nicht schwer, den Apotheker, der aus eigener Erfahrung die Masuren kannte, zu überzeugen, daß es unklug wäre, jetzt schon mit den polnischen Zielen hervorzutreten. Der Bauernbund würde sofort dagegen Stellung nehmen, und dadurch wäre auch der Bestand der Zeitung gefährdet. Nun mußten jedoch beide noch nach Posen fahren, denn Zielinski war auch nur eine von den Geldgebern vorgeschobene Person.
Wieder stießen Beide auf hartnäckigen Widerstand. Die Herren von dem polnischen Ausschuß glaubten Balk und Zielinski nicht, was sie über die Enttäuschung der Masuren berichteten, weil sie durch Malecki in der frechsten Weise angelogen worden waren. Er schrieb stets, die masurischen Bauern hätten die polnischen Sendboten, die auf den Dörfern herumzogen, wie die Erlöser begrüßt und aufgenommen. Sie würden aber von den preußischen Behörden durch allerlei Schreckmittel so arg bedrückt, daß sie es nicht wagten, sein Blatt bei der Post zu bestellen, weshalb er es unter Streifband durch die Post verschicken müßte, diese sei jedoch auch unter staatlicher Aufsicht, und viele Sendungen erreichten nicht ihr Ziel.
Balk erklärte sehr energisch alle diese Berichte für Märchen. Sein „Masur“ sei unter den Bauern im Ortelsburger Kreis schon stark verbreitet, und die Ortelsburger Zeitung sei seines Wissens nur in einigen hundert Exemplaren unter den besitzlosen Arbeitern verbreitet, die von den polnischen Sendboten durch unerfüllbare Versprechungen geködert seien.
Trotzdem verlief die Verhandlung ergebnislos. Am nächsten Tage erklärten ihm die Herren, sie müßten erst einem geheimnisvollen Zentralausschuß berichten und seine Weisung einholen. In Wirklichkeit hatten sie bereits einen Vertrauensmann nach Ortelsburg geschickt, der im stillen den von Balk erhobenen Anschuldigungen nachgehen sollte. Ohne, daß Kuba es wußte, hatte Zielinski noch eine lange Besprechung mit den Herren vom Ausschuß. Er äußerte den Verdacht, daß Malecki seine Auftraggeber nach jeder Richtung betrüge und die großen Unkosten, die er jeden Monat einfordere, in seine eigene Tasche steckte. Mehr Wirkung erzielte er mit der Behauptung, daß er, wenn man Balk ungehindert weiterarbeiten ließe, ohne Zweifel bei der nächsten Wahl den Kreis mit Hilfe der masurischen Bauern erobern werde. Er werde allerdings nicht nur seine wirklichen Ziele verschweigen, sondern auch nach der Wahl im Reichstag wild bleiben müssen. Aber darauf käme es doch nicht an, deshalb könnte er doch mit seinen polnischen Freunden bei jeder Abstimmung zusammengehen.
Ein Heißsporn erwiderte, auf eine Stimme mehr oder weniger käme es im Reichstag nicht an, von Bedeutung sei nur die Tatsache, daß ein national-polnischer Abgeordneter in Masuren gewählt werde.
„Das ist nach meiner Kenntnis der Verhältnisse völlig ausgeschlossen“, erwiderte Zielinski energisch. „Die Herren haben nur zu entscheiden, ob sie mich mit Hilfe der masurischen Bauern in den Reichstag bringen oder alles, was bis jetzt dort geleistet worden ist, zerstören wollen.“
Darauf entschied sich die Mehrzahl dafür, Balk bis nach der nächsten Wahl, die in zwei Jahren stattfinden sollte, freie Hand zu lassen. Dann müsse er jedoch im „Masur“ Farbe bekennen, denn ein gutgeleitetes Blatt müsse imstande sein, seine Leser zu sich hinüberzuziehen... Obwohl nun alles im Sinne Balks entschieden war, ließ man ihn warten, bis der Vertrauensmann aus Ortelsburg zurückgekehrt war. Er hatte unerkannt einer von Malecki abgehaltenen Versammlung beigewohnt und dort die sozialdemokratischen Redner gehört. Die „Genossen“ waren in großer Mehrzahl erschienen und hatten Malecki die Leitung der Versammlung aus der Hand genommen. Wahrscheinlich aus Bosheit hatten sie ihm jedoch das Wort gegeben. Als er polnisch zu sprechen begann, hatte ihn der überwachende Gendarm schon nach den ersten Worten unterbrochen und ihm den Gebrauch der polnischen Sprache verboten. Dann hatte er einige Sätze deutsch gesprochen, bis die Sozi ihn durch wüsten Lärm zum Schweigen brachten.
Auf einem Dorf war er mit einem von Maleckis Sendboten zusammengetroffen, einem verkrachten Handwerker. Den hatte er mit Schnaps und Bier aufgefüllt, bis er Hals gab. Er erzählte ihm, daß bei den Bauern nichts zu machen sei. Die kleinen Eigenkätner und Arbeiter ließen sich durch Versprechungen beschwatzen, das Blatt anzunehmen, aber bezahlen wollten sie dafür nichts. Es müsse ihnen umsonst zugeschickt werden. Er habe jeden Tag einige Adressen dem Malecki geschickt, aber bis jetzt hätten die Leute noch keine Zeitung bekommen. Der Kerl hatte in der Trunkenheit die Wahrheit gesprochen und geklagt, daß er mit fünf Gulden täglich nicht auskommen würde, wenn die Masuren, bei denen er vorspräche, ihn nicht als Gast behandeln und satt machten.
Am nächsten Tage konnte Balk mit dem Bescheid abreisen, er könne so weiterarbeiten wie bisher. Sofort nach seiner Rückkehr machte er einen Besuch beim Bürgermeister. Er wurde sehr freundlich empfangen. Hannchen saß im Lehnstuhl, den verletzten Fuß auf einem Stühlchen in weiche Kissen gehüllt. Er erzählte ihr, er sei verreist gewesen, um sich den Betrieb einer Schnellpresse anzusehen. Seine Maschinen genügten nicht mehr für den Druck des „Masur“, und jetzt wolle er noch eine deutsche Ausgabe herausbringen, da müsse er unter allen Umständen eine Rotationsmaschine aufstellen und eine Gießerei einrichten.
Sie fragte, was das sei, und ließ sich mit großem Interesse die Sache erklären. Dann fragte er, ob ihr Fuß noch nicht gesund sei. Er habe sich zur Aufnahme in die Bürgerressource gemeldet und sei schon aufgenommen. Er möchte doch auf dem Fastnachtsball mit ihr tanzen.
Hannchen lächelte. „Das ist ziemlich zweifelhaft, ob ich bis dahin schon wieder tanzen kann... Ich mache mühsam die ersten Gehversuche. Wollen Sie mal sehen?“
Sie erhob sich. „Wenn Sie mir Ihren Arm geben wollen.“ In der rechten Hand einen Stock, humpelte sie mühsam durch das Zimmer. „Das war doch eine böse Geschichte“, plauderte sie. „Ich habe noch oft davon geträumt, und ich habe nicht nur furchtbar gestöhnt, sondern auch laut aufgeschrien: ‚Hilfe, Hilfe, Hilfe!‘ Und noch jetzt überläuft es mich kalt, wenn ich daran denke, was daraus hätte werden sollen, wenn Sie mich nicht gefunden hätten.“
„Ach, Fräulein Hannchen, Sie müssen sich nicht mit solchen Gedanken plagen.“
„Ich kann doch nicht dafür, daß ich immer daran denken muß. Die Eltern glaubten, ich sei noch zu einer Freundin gegangen. Wahrscheinlich wären sie erst unruhig geworden, wenn ich zum Schlafengehen nicht gekommen wäre... Es ist gar nicht auszudenken... Wo hätte der Vater in der Nacht so viel Leute herbekommen, um den ganzen großen See abzusuchen? Und wer weiß, ob man mich gefunden hätte, wenn ich ohnmächtig geworden wäre, mir wurde schon ganz grün und gelb vor den Augen. Und dann hätte ich mich zu Tode erkältet.“
„Aber, Fräulein Hannchen, es ist doch alles anders gekommen.“
„Ja, und jetzt weiß ich erst, daß Sie mir das Leben gerettet haben.“
„Durch Zufall“, wehrte Kuba ab. Mit geheimer Freude hörte er ihr zu. Er fühlte, daß Hannchen ihm auf diese Weise noch einmal ihren Dank abstattete. Das machte ihn so kühn, daß er seine Linke auf ihre in seinem Arm ruhende Hand legte. Sie schien es nicht zu merken. „Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen, Herr Balk?“
„Ich bin Jakob getauft und wurde als Junge Kuba gerufen.“
„Der Name ist nicht schön.“
„Nein, deshalb habe ich mich schon als Student Bogislav genannt.“
„Ach, das ist ein schöner Name, der gefällt mir. Bogislav.“
„Ja, Fräulein Hannchen, was wünschen Sie?“ Sie errötete leicht. „Ich habe den Namen bloß so ausgesprochen.“
„Möchten Sie mir nicht die Freude bereiten, mich so zu nennen, bloß ein einziges Mal?“
Eine leichte Röte stieg wieder in ihrem Gesicht empor. Dann flüsterte sie leise . „Bogislav.“ In überströmender Freude beugte er sich nieder und zog ihre Hand an seine Lippen. „Hannchen, das Schicksal hat uns auf so wunderbare Weise zusammengeführt. Darf ich diese Hand für mein ganzes Leben festhalten?“
Sie schwieg und senkte verschämt den Kopf. „Hannchen“, flüsterte er aufgeregt, „ich kann es nicht vergessen, daß ich Sie in meinen Armen gehalten und getragen habe. Dabei habe ich mich rettungslos in Sie verliebt. Ich werde Sie auf meinen Händen durchs Leben tragen. Sprechen Sie nur ganz leise ein Wort. Sie wissen, was ich meine.“
Da flüsterte sie leise mit zärtlichem Ausdruck: Bogislav“.
Schnell küßte er noch einmal ihre Hand. Mehr wagte er nicht, denn die Frau Bürgermeister, die einen großen Haushalt zu versorgen hatte, ging ab und zu durchs Zimmer.
„Wann darf ich mit Ihren Eltern sprechen?“
„Vorläufig noch nicht. Der Vater hat neulich in meiner Gegenwart mit der Mutter über Sie gesprochen. Er meinte, die ganze Herrlichkeit werde eines Tages bei Ihnen zusammenbrechen, Sie wirtschaften nur mit fremdem Geld. Das war natürlich bloß für mich bestimmt.“
„Nun, dann gebe ich Ihnen die Versicherung, daß ich in wenigen Jahren das fremde Geld bis auf den letzten Pfennig zurückgezahlt haben werde. Und jetzt werde ich noch einmal so fleißig sein, wie bisher, seitdem ich weiß, welches Ziel mir winkt...“
Im Reichstage stand gerade zu dieser Zeit eine große Militärvorlage zur Beratung. Angesichts der großen Truppenmengen, die Rußland an seiner Westgrenze anhäufte, sah sich die deutsche Reichsregierung genötigt, eine sehr beträchtliche Vermehrung des Friedenspräsenzstandes beim Reichstag zu beantragen, obwohl sie wußte, daß sie in solchen Fragen eine Mehrheit, die sich aus Zentrum, Sozialdemobraten und Freisinnigen zusammensetzte, gegen sich haben würde... Wohl gab sie in der Ausschußsitzung hinter verschlossenen Türen vertrauliche Mitteilungen über die Versteifung des Bündnisses zwischen Frankreich und Rußland, aber die Mehrheit hielt, entweder das Bündnis der beiden Mächte nicht für bedrohlich, oder unsere Truppenmacht für ausreichend zu einem Krieg gegen zwei Fronten, denn bei der zweiten Lesung der Vorlage wurden die grundlegenden Punkte abgelehnt.
Trotzdem hielt die Regierung an ihrer Vorlage fest und drohte mit Auflösung des Reichstags... Sie hoffte, dadurch die Freisinnige Partei zu spalten und den rechten Flügel, der in Marinefragen die Regierung stützte, zu sich hinüberzuziehen. So wurden denn zwischen der ersten und zweiten Lesung hinter den Kulissen eifrige Verhandlungen gepflogen, bei denen sich die Regierung bereit zeigte, auf einen Teil ihrer Forderung zu verzichten, um die Hauptsache, worauf es ihr ankam, durchzubringen.
Endlich kam der Tag der dritten Lesung heran. Schon lange vor Beginn der Sitzung waren die Portale des Reichstagsgebäudes von dichten Menschenmassen belagert, die auf einen Zufall hofften, der ihnen Einlaß verschaffen könnte. Denn die Tribünenkarten waren schon mehrere Tage vorher völlig vergriffen. Im Sitzungssaal wogten die Abgeordneten aufgeregt durcheinander. Die Parteien hatten alle ihre Mitglieder durch dringende Telegramme nach Berlin beordert, und wer durch Krankheit verhindert war, wurde, wie es üblich war, durch Vereinbarung mit der Gegenseite „abgepaart.“
Auf den Bänken der Presse herrschte qualvolle Enge, denn es waren die zahlreichen Vertreter der ausländischen Blätter erschienen, die sich nur bei ganz außergewöhnlichen Anlässen einfinden. Mühsam wanden sich die Stenographen der Leitungen und Bureaus zu ihren Plätzen auf den vordersten Bänken durch und wieder zurück zu ihren Arbeitszimmern, wo sie die angenommene Stenogramme in die Schreibmaschine abdiktierten...
Unter allgemeiner Unaufmerksamkeit wurden von den Schriftführern die täglichen Eingänge verlesen. Erst als der Präsident energisch die Glocke schwang und dem ersten Redner das Wort erteilte, trat Stille ein. Aber aus den heftigen Zwischenrufen, die bei dem kleinsten Anlaß ertönten, konnte man herausfühlen, wie aufgeregt die Stimmung des Hauses war. Unter allgemeiner Spannung nahm der Führer der Freisinnigen das Wort. Schon aus den ersten Worten konnte man entnehmen, daß er die Ablehnung der Regierungsvorlage für sicher hielt und mit seiner Rede seinen Anhängern im Lande die künftige Wahlparole geben wollte.
Mit eherner Miene saßen die Vertreter der Reichsregierung und des Bundesrats auf ihren Plätzen. Tiefe Stille und so etwas wie Gewitterschwüle lagerte über dem Saal, als die namentliche Abstimmung, die durch Aufruf geschah, begann... Eifrig wurden auf der Journalistentribüne die abgegebenen Stimmen gezählt. Noch ehe der Präsident nach heftigem Schwingen der Glocke das Resultat verkündigte, wußte man oben auf der Tribüne, daß die Vorlage mit wenigen Stimmen Mehrheit abgelehnt war... Ein brausendes Stimmengewirr erhob sich im Saal, das der Präsident vergeblich mit seiner Glocke bekämpfte.
Jetzt erhob sich der Reichskanzler und entnahm aus einer roten Mappe, die schon die ganze Zeit vor ihm gelegen hatte, einen Bogen Papier. Jeder Mensch im Hause wußte, was er enthielt. Unter lautloser Stille begann er. „Meine Herren, ich habe dem Hause eine Allerhöchste Botschaft mitzuteilen.“
Während sich die Abgeordneten der bürgerlichen Parteien erhoben, verließen die Sozialdemokraten fluchtartig den Saal, um dem Kaiserhoch zu entgehen, das der Auflösung des Reichstags folgen würde.
Als das dreifache Hoch verklungen war, begann sich der Saal zu leeren. Eilig rafften die Abgeordneten ihre Papiere zusammen, die sie in ihre Mappen stopften. An ihnen vorbei drangen schon die Scheuerfrauen ein, die den Saal mit Besen und Schaufel zu reinigen hatten.
In Ostpreußen, wie in allen Grenzbezirken, schlug die Nachricht von der Ablehnung der Militärvorlage wie eine Bombe ein. Dort an der Grenze wußte man, daß nicht nur die russisch-polnischen Städte und Städtchens von Truppen wimmelten, sondern, daß ganze Divisionen mit großen Kavalleriemassen in besonderen Lagern vereinigt waren, die bei einer Kriegserklärung sofort über die Grenze fluten würden. Demgegenüber hatte Deutschland auf der ganzen Strecke von Memel bis Illowo nur zwei Bataillone eines Infanterieregiments in Lyck, und ein Jägerbataillon in Ortelsburg stehen. Mit anderen Worten: Der ganze Grenzstrich bis zu der masurischen Seenplatte war schutzlos dem Einbruch der asiatischen Horden preisgegeben. Denn hinter der deutsch-russischen Grenze fängt nicht etwa „halb Asien“ an, sondern das unverfälschte Asien.
Die masurischen Bauern, die durch den „Masur“ und ihren Verein zu politischem Leben erwacht waren, hatten die Vorlage mit Freuden begrüßt und ihr Schicksal mit großem Interesse verfolgt. Mit zauberhafter Schnelligkeit verbreitete sich die Nachricht der Ablehnung und rief allgemeine Bestürzung hervor. Die gleiche Stimmung herrschte in den Städten. Zu der Furcht vor den Russen kam noch die Enttäuschung, denn man hatte gehofft, daß all‘ die kleinen Grenzstädte nach der Heeresvermehrung Garnison erhalten würden.
Balk erkannte sofort, welche Gefahr die politische Lage seinem Blatt und dem Bauernverein bereitete. Bei dieser Stimmung hatte ein Kandidat, der sich gegen die Heeresforderung der Regierung erklärte, die dem nächsten Reichstag sofort wieder vorgelegt werden würde, keine Aussicht gewählt zu werden. Selbst der geschickteste Redner konnte vor den Wählern sich nicht um ein klares Ja oder Nein herumdrücken. Nein, hier mußte offen Farbe bekannt werden. Daß Zielinski sich unter den obwaltenden Umständen bereit finden würde, von der Kandidatur zurückzutreten, war nicht anzunehmen. Und sicher war er ein Gegner der Vorlage, denn seine Parteifreunde hatten im Reichstag mit Nein gestimmt.
Noch vor wenigen Wochen hatten ihn diese Dinge ziemlich kalt gelassen. Wenn der Wahlsturm den „Masur“ hinwegfegte, dann nahm er seinen Wanderstab und zog davon. Bei irgendeinem politischen Blatt fand er sicher wieder ein Unterkommen. Jetzt, seit dem er Hannchens Schicksal mit dem seinigen verknüpft hatte, bangte er um seine Existenz. Es war die erste große Liebe, die ihn ergriffen hatte. War ihre Liebe groß genug, um eine längere Trennung und eine schwere Prüfungszeit zu überstehen, wenn er hier herausgerissen. einer ungewissen Zukunft entgegenging? Wenn er sie in schicklichen Zwischenräumen besuchte, war sie sehr zärtlich und liebevoll und benutzte jede Gelegenheit, es ihm zu zeigen. Aber ihm bangte doch vor dem Augenblick, wenn er sagen mußte, daß seine Existenz hier vernichtet sei und er sich von ihr trennen müsse.
War es unter diesen Umständen besser, bei den Eltern um sie zu werben, oder war es ratsamer, nur sie allein vor die Entscheidung zu stellen? Im ersten Fall würde sie selbst, wenn die Eltern einwilligten, manche Anfechtung zu bestehen haben, und wenn sie nein sagten, schweren Kämpfen ausgesetzt sein, vorausgesetzt, daß sie an ihm festhielt. So kam zu den politischen und wirtschaftlichen Sorgen noch der Liebesgram...
In gedrückter Stimmung fuhr er zu seinem Bruder Martin nach Lipinsken. Der war, seitdem er geheiratet hatte, immer in sehr vergnügter Stimmung. Seine Frau hatte ihn stark am Bündel, aber das empfand er nicht, weil er es von seiner Mutter gewohnt war bevormundet zu werden. Als Kuba ihm davon sprach, daß doch durch die Ablehnung der Militärvorlage die Russengefahr vergrößert sei, meinte er gleichgültig: „Ach, das sind auch Menschen... ich rückt nicht aus... Ich gieß’ ihnen die Gurgel voll und dann sind sie auch friedlich. Und weshalb soll’s denn nu mit einemmal Krieg geben? Schon seit zwanzig Jahren wird immerzu von Krieg geredet, und es bleibt immer beim alten.“
„Jetzt sieht die Sache doch etwas sengerig aus. Sonst hätte die Regierung nicht die große Heeresvermehrung gefordert.“
„Na ja, sie hat sie gefordert. Aber bis sie durchgeführt wird, vergehen doch mindestens vier, fünf Jahre. Für solange hält denn doch unsere Regierung den Frieden für gesichert.“
„Du kannst recht haben, aber die dumme Wahl, die jetzt kommt...“
„Was geht dich die Wahl an? Du brauchst dir doch dabei die Finger nicht zu verbrennen. Laß doch die Bauern wählen, wen sie wollen. Berufe eine Versammlung bei mir ein und laß den Zielinski zu ihnen reden. Sind sie mit ihm einverstanden, dann sollen sie ihn aufstellen. Wenn nicht, dann ist die Sache erledigt.“
„Das sagst du so.“
„Aber Kuba, ich habe doch schon mehr als eine Wahl erlebt. Vor der Wahl wollen sich die Leute gegenseitig den Kopp abreißen, und nachher geht alles wieder friedlich seinen Geschäften nach. Das ist so wie ein Gewitterregen.“
Auf eine telegraphische Anfrage erklärte Zielinski sich bereit, am nächsten Sonnabend zu erscheinen und eine Versammlung abzuhalten. Kuba hatte sie anberaumt und angemeldet, ohne den Vorstand des Bauernvereins vorher zu befragen. Er nahm Zielinski, der schon mittags eintraf, auf der Bahn in Empfang und fragte ihn ohne alle Umschweife, wie er sich zu der kommenden Militärvorlage stelle.
„Die würde ich ohne Bedenken glattweg ablehnen.“
„Wollen Sie das in der Versammlung offen zugeben?“
„Selbstverständlich!“
„Ja, Herr Zielinski, dann muß ich erklären, daß Sie keine Aussicht haben gewählt zu werben, und wenn ich im ,Masur’ Ihren Standpunkt vertrete, verliere ich alle meine Leser.“
„Malen Sie doch nicht so schwarz.“
„Was ich Ihnen sage, ist Tatsache. Die ganze Grenzbevölkerung lebt in Angst vor den Russen, und in den Städten kommt noch die Enttäuschung hinzu, daß man keine Garnisonen bekommen wird.“
„Man muß es den Leuten nur richtig erklären, welch eine Belastung mit der Militärvorlage verknüpft ist.“
„Sie können es ja heute abend versuchen.“
Der Saal bei Martin war überfüllt, die Bauern und alle besonnenen Elemente in der Minderzahl. Sofort nach der Eröffnung wurde Bureauwahl verlangt, und Kuba mußte den Vorsitz an einen Genossen abtreten, der so höflich war, Zielinski eine halbe Stunde Redezeit zu gewähren. Er sprach über alles mögliche hin und her, bis ihn erregte Zurufe. „Militärvorlage“ nötigten, das Thema anzuschneiden. Als er erklärte, daß die Heeresvorlage, wie sie von der Regierung im verflossenen Reichstag eingebracht worden war, für ihn unannehmbar sei, schwiegen die Bauern, während die Mehrzahl lärmend Beifall spendete. Als er jedoch fortfuhr, die Regierung werde sich hoffentlich mit ihren Forderungen wesentlich bescheiden, alsdann könnte man im neuen Reichstag darüber reden, erfuhr er von derselben Mehrheit heftigen Widerspruch.
Nach ihm kam ein Sozialdemokrat zum Wort, der in maßloser Weise die Regierung angriff. Während seiner Rede verließen die Bauern einzeln oder in kleineren Trupps den Saal. Vergeblich suchte Martin sie zurückzuhalten.
Nach der Versammlung verlangte Zielinski von Kuba, er sollte einen Ausschuß zusammenbringen, der ihn als Kandidaten aufstellte.
„Ich werde es versuchen“, erwiderte Kuba, „und ich werde auch Ihren Standpunkt in meinem Blatt vertreten, aber für die Folgen stehe ich nicht ein.“
Gleich am nächsten Tage berief Kuba eine Vorstandssitzung des Bauernvereins zusammen. Mit Aufbietung aller Beredsamkeit stellte er den Bauern vor, sie könnten sich nicht auf Gnade oder Ungnade der Regierung ergeben und konservativ wählen, dann würden sie noch mehr geschuhriegelt werden als bisher, weil man keinen Respekt mehr vor ihnen hätte. Zielinskis Standpunkt sei der richtige, nur das zu bewilligen, was unumgänglich nötig sei. Wenn sich die Regierung damit zufrieden gäbe, dann sei es doch klar, daß sie auch mit weniger Soldaten auskommen könnte. Und wenn nicht, dann solle sie auch den nächsten Reichstag auflösen... Dann werde man wissen, was zu tun sei. Die jetzt geforderte Vermehrung würde die ganze Bevölkerung mit dreißig Mark pro Kopf belasten, einen Haushalt mit sechs Personen also mit etwa einhundertundachtzig Mark.
„Soviel ist uns unsere Sicherheit schon wert“, erwiderte Sparka ruhig. „Ich gebe meine Stimme nur einem Kandidaten, der die ganze Vorlage bewilligt. Meinetwegen auch noch mehr. Wenn die Russen bei uns einbrechen und alles verbrennen und zerstören, dann kostet uns der Spaß viel mehr... Ich gebe dem Herrn Zielinski meine Stimme nicht.“
Wrona stimmte ihm bei. Pietrzyk, den die Regierung gerade in diesen Tagen schwer gekränkt hatte, daß sie das Dorf in Wiesenthal umtaufte, schloß sich Kuba an. Mit seiner Hilfe gelang es Kuba, ans den nenn Dörfern, die ebenfalls umgetauft waren, die dreißig Unterschriften zusammenzubringen, mit denen er Zielinski im „Masur“ zum Kandidaten proklamierte. Um die Bauern nicht zu erzürnen, nahm er in derselben Nummer eine Mitteilung des Bauernvereins auf, der seine Mitglieder aufforderte, konservativ zu wählen.
Einige Tage später erfuhr er, daß Zielinski sich auch in Ortelsburg-Sensburg hatte als Kandidat aufstellen lassen, und, daß dort Massen von polnischen Flugblättern verteilt wurden, in denen nicht nur die bekannte Forderung der Polen erhoben, sondern auch die Militärvorlage glattweg abgelehnt wurde.
„Dieser Regierung keinen Mann und keinen Groschen...“
Balk konnte sich der Notwendigkeit nicht entziehen, für den Kandidaten einzutreten, dem er seine Unterschrift gegeben hatte. Er fuhr auf den Dörfern umher, verteilte Flugblätter und Stimmzettel, aber wie er sich selbst eingestehen mußte, ohne jeden Erfolg... Die Bauern ließen ihn reden, ohne ja oder nein zu sagen, und bei den kleinen Leuten liefen ihm die Sozialdemokraten den Rang ab. Ihr Kandidat war ein Großgrundbesitzer des Kreises, der nicht nur als ausgezeichneter Landwirt, sondern auch als Volksfreund bekannt war, und der seine Leute so stellte, daß sie von allen Hintersassen der Bauern und Gutsbesitzer beneidet wurden. Und seine Leute fuhren im Einspänner zu zweien im Kreise umher und warben für ihren Herrn.
Kuba verhehlte sich nicht, daß er sich auf dem Holzwege befand. Und mit geheimer Sorge sah er von Nummer zu Nummer die Inserate in seiner Zeitung abnehmen. Eines Tages teilte ihm ein Kaufmann, der ein Inserat für das ganze Vierteljahr aufgegeben hatte, mit, er verzichte auf den weiteren Abdruck im „Masur“. Diese Verkürzung des Auftrages brauchte Kuba sich nicht gefallen zu lassen, er zog es jedoch vor, den Kaufmann aufzusuchen um sich mit ihm in irgendeiner Form zu einigen. Der Empfang war schon niederschmetternd.
„Oh, Sie kommen wohl wegen des Geldes? Also was macht der ganze Auftrag? Hier ist das Geld.“
„Dann darf ich also das Inserat weiter bringen?“
„Bedauere sehr... ich lege Wert darauf, meine Firma nicht mehr in Ihrem Blatt genannt zu sehen.“
„Darf ich fragen, aus welchen Gründen?“
„Weil Ihr Kandidat, wie aus seinem Auftreten in Ortelsburg und aus seinen Flugblättern hervorgeht, ein Pole ist. Ich fürchte, Herr Balk, Sie haben sich zwischen zwei Stühle und außerdem noch in die Nesseln gesetzt. Mit einem Polen wollen wir Masuren nichts zu tun haben. Dasselbe wird man Ihnen auch auf dem Lande gesagt haben.“
„Herr Zielinski hat ausdrücklich die Erklärung abgegeben, daß er, falls er gewählt werden sollte, im Reichstag wild bleiben wird.“
„Bedaure sehr, Herr Balk, auf weitere politische Auseinandersetzungen möchte ich mich mit Ihnen nicht einlassen.“
Als er nach Hause kam, fand er zu seiner freudigen Überraschung Hannchen im Laden vor, die Papier einkaufte... Er bediente sie selbst, und als sie versorgt war, schlug er ihr vor, seine Geschäftsräume zu besichtigen. Nach einigem Zögern willigte sie ein. Schon im nächsten Zimmer schloß er sie in seine Arme. Sie ließ sich einen Kuß rauben und fragte dann: „Sag’ mal, Bogislav, was machst du für Geschichten? Der Vater ist furchtbar aufgebracht über dich, daß du für einen Polen agitierst.“
„Liebes Kind, ich bin leider in der Zwangslage, das tun zu müssen, weil er mein Geldgeber ist. Aber gleich nach der Wahl will ich mich von ihm freimachen.“
„Ich fürchte, das wird zu spät sein. Die Kaufleute wollen dein Blatt boykottieren, und der Vater meint, von den Bauern allein kannst du nicht existieren... Und die werden dir auch abspringen.“
„Und was sagst du dazu?“
„Nimm es mir nicht übel, Bogislav, aber ich glaube, du hast auf das falsche Pferd gesetzt und wirst verlieren. Aber nun laß mich gehen, daß kein Gerede entsteht.“
Solch einen heftigen Wahlkampf hatten die Masuren noch nicht erlebt. Die Konservativen hatten diesmal einen anderen Kandidaten aufgestellt, einen Großgrundbesitzer aus der Gegend von Neidenburg, der als agrarischer Heißsporn und guter Redner bekannt war. Er fuhr von Dorf zu Dorf und hielt Versammlungen ab. Die Bauern strömten in Massen herbei, um ihm zuzuhören, nicht etwa aus innerer Überzeugung oder gar Begeisterung für die konservative Partei, sondern weil eine Rede für sie ein Stück geistiger Nahrung war, woran sie noch lange zehrten. Wie alle Menschen, die wenig lesen, haben auch die Masuren ein sehr gutes Gedächtnis. Und wenn sie dann unter sich zusammenkamen, sprachen sie die ganze Rede noch einmal durch.
Außerdem arbeiteten die Konservativen diesmal in sehr freigebiger Weise mit Freibier und Schnaps, und mancher, der sonst nicht hingegangen wäre, erschien in der Versammlung, um sich kostenlos ordentlich satt zu trinken. Wenn dann Zielinski oder ein Sozialdemokrat eine Versammlung abhielt, fand er im besten Falle ein kleines Häuflein Menschen vor, die ihn schweigend anhörten, ohne ein Zeichen des Beifalls oder der Ablehnung von sich zu geben, und die sich dann ebenso still entfernten.
Der Ausfall der Wahl war mit Sicherheit vorauszusehen. Nach alter bewährter Weise waren die Wahllokale, wo es irgend anging, auf die Gutshöfe gelegt, und die Gutsbesitzer waren die Wahlvorsteher... Um Beeinflussungen oder gar noch Schlimmeres nach Möglichkeit zu verhüten, schickten die Sozialdemokraten am Wahltage je zwei Mann in jedes Wahllokal zur Überwachung. Auf den meisten Stellen wurden sie einfach hinausgebissen, ja sogar der Aufenthalt vor dem Lokal wurde ihnen verboten. In vierspännigem Leiterwagen brachten die Gutsbesitzer ihre Instleute und Tagelöhner vor das Wahllokal gefahren. Jedermann erhielt seinen konservativen Zettel und wurde unter strenger Aussicht zur Urne geleitet Kein Wunder, daß der konservative Kandidat mit überwältigender Stimmenmehrheit gewählt wurde! In weitem Abstand folgte der von dem liberalen Bürgertum aufgestellte Zählkandidat, meistens ein angesehener Parlamentarier, für den jedoch so gut wie gar nicht gearbeitet worden war. Dann kam der Sozialdemokrat und an letzter Stelle mit einigen hundert Stimmen Zielinski. In Ortelsburg-Sensburg hatte er auch nicht viel mehr erhalten.
Am dritten Tage nach der Wahl, als das Resultat bekannt geworden war, kam Zielinski nach Lyck. Er schäumte vor Wut über seine doppelte Niederlage. Der alte Soyka war gerade bei Balk, und der geigte ihm gehörig die Wahrheit vor.
„Sie sind ganz allein daran schuld“, sagte er ihm. „In dem Augenblick, wo hier bekannt wurde, daß Sie in Ortelsburg als Nationalpole auftreten, waren Sie hier unten durch. Sie haben sich nicht nur selbst geschadet, sondern auch unseren masurischen Bauernverein aufs schwerste geschädigt. Sie haben so gehandelt, wie ein kleiner Junge, der die Pflaumen vom Baume schlägt, ehe sie reif sind. Ich sage Ihnen. lassen Sie die Hand davon, die Pflaumen werden für Sie überhaupt nicht reif.“
In polnischer Sprache erwiderte Zielinski heftig. „Ihr Masuren seid ja nicht wert, daß man sich um Euch kümmert. Ihr habt keine Galle. Die Regierung behandelt Euch wie die Hunde, und wie es zur Wahl kommt, leckt ihr die Hand, die Euch schlägt.“
„Sprechen Sie deutsch, Herr Zielinski“, erwiderte der Alte ruhig. „Wir Masuren verwenden unsere Muttersprache nur zu unserem Sprachgebrauch. Wenn wir uns mit einem Gegner auseinanderzusetzen haben, sprechen wir als Deutsche deutsch. Jawohl, unsere Regierung behandelt uns sehr schlecht, und wir wehren uns dagegen. Wenn es sich jedoch wie bei der jetzigen Wahl darum handelt, durch Bewilligung einer Heeresvermehrung unser Vaterland gegen die russischen Horden zu schützen, die uns bedrohen, dann stehen wir geschlossen, wie ein Mann, hinter der Regierung.“
„Ich habe Herrn Zielinski dasselbe gesagt, als es noch Zeit war.“
„Ach“, fuhr der Pole an, „das ist mir ja alles Nebensache. Mir kam es nur darauf an, Ihrer Regierung einen Schrecken einzujagen und ihr zu zeigen, daß wir in Masuren Fuß gefaßt haben.“
„Die Trauben sind sauer“, bemerkte Soyka spitz.
„Ja, sehr sauer“, fuhr Balk fort. „Sie haben der Regierung auch nicht den leisesten Schrecken eingejagt. Im Gegenteil, sie triumphiert jetzt, weil es sich gezeigt hat, daß polnische Bestrebungen hier keinen Boden haben.“
„Warten Sie ab“, erwiderte Zielinski bissig. „Wir werden Masuren wirtschaftlich erobern, zwei Güter haben wir schon hier in der Hand, das dritte wird dieser Tage gekauft.“
Soyka machte eine abwehrende Handbewegung. „Die paar Güter machen den Kohl nicht fett. Aber nun sagen Sie mal, Herr Zielinski, was wollt Ihr Polen eigentlich? Glaubt Ihr, daß in absehbaren Zeiten eine Umkrempelung der Weltgeschichte stattfinden wird, die Euch obenauf bringt und, sagen wir mal, ihnen ihre wirtschaftliche und politische Selbständigkeit wiedergibt?“
„Das glauben wir nicht nur, das nehmen wir als ganz sicher an. Über kurz oder lang muß der große Krieg kommen, der Deutschland zu Boden wirft. Dann wird Polen frei werden. Wir haben bindende Zusagen von Frankreich.“
Jetzt lachte der Alte laut auf. „Herr Zielinski, Sie sollten doch eigentlich die Russen besser kennen. Die versprechen alles und halten nichts.“
„Ich habe ja gesagt: die Franzosen.“
„Die sind genau so, wie die Russen. Haben Sie schon vergessen, wie Napoleon I. sie behandelt hat? Er nahm eine schöne Frau mit sich nach Paris, die sich ihm für ihr Vaterland opferte, aber für Polen hat er nicht das geringste getan.“
„Weil er es nicht konnte. Er hat nur unsertwegen den Krieg mit Rußland begonnen, und unser Unglück war es, daß er unterlag.“
„Gott stärke Ihren Glauben, Herr Zielinski“, erwiderte Soyka ironisch. „Ich habe eben einen Artikel für den „Masur“ geschrieben, in dem ich den Nachweis führe, daß die Polen die Aufteilung ihres Landes selbst verschuldet haben, und, daß es die größte Torheit wäre, bei irgendeiner Weltlage aus irgendwelcher Ursache hier ein selbständiges Polenreich zu errichten.“
„Der Artikel wird im ‚Masur‘ nicht erscheinen, Herr Balk“, fiel Zielinski energisch ein.
„Na na, wie kommen Sie dazu, Balk Vorschriften zu machen, was er im ,Masur‘ drucken soll oder nicht?“ fragte Soyka erstaunt.
„Herr Zielinski hat ein Mitbestimmungsrecht über den Inhalt des ,Masur‘“, gab Kuba etwas kleinlaut zu.
Der alte Herr erhob sich. „Das habe ich leider bis jetzt nicht gewußt. Ja, Herr Balk, dann werden Sie sich zwischen Herrn Zielinski und uns Masuren entscheiden müssen.“
„Mein Gott, Herrschaften“, rief Balk aus, „Ihr tut ja alle so, als wenn diese Frage von heute auf morgen gelöst werden müsse. Damit werden sich noch unsere Kinder und Kindeskinder den Kopf zerbrechen.“
„Ich glaube, solange wird es nicht mehr dauern“, meinte der Apotheker spöttisch.
„Ich hätte Ihren Artikel, lieber Freund, auch sowieso nicht aufgenommen. Solche geschichtlichen Betrachtungen haben gar keinen Zweck. Meines Erachtens kommt es jetzt darauf an, die Bauern wieder scharf zu machen. Da ist gerade in diesen Tagen einem ganzen Dorf die Fischereiberechtigung abgenommen worden. Aus mehreren Dörfern an der Johannisburger Heide habe ich Zuschriften, daß sie in diesem Jahre schon keine Erlaubnis mehr bekommen, in der Forst Streu zu machen, das heißt, das Futter für ihre Kühe zu werben. Setzen Sie sich in mein Kontor und schreiben Sie darüber einen Artikel.“
„Tut mir leid, Herr Balk“, erwiderte der alte Herr ruhig, er nahm Hut und Stock, verbeugte sich und ging.
„Jetzt haben wir noch ein Wort miteinander zu sprechen, Herr Balk“, sagte Zielinski. Kuba verbeugte sich. „Ich stehe zu Diensten. Ich möchte Sie bloß darauf aufmerksam wachen, daß der alte Herr nur das ausgesprochen hat, was alle masurischen Bauern denken. Sollten Sie jetzt verlangen, daß ich offen mit Ihren politischen Bestrebungen hervortrete, dann zerstören Sie alles, was ich bisher hier geschaffen habe. Der ,Masur’ verliert alle Inserate und alle Bezieher.“
„Allerdings wollen wir das. Der ,Masur’ soll nicht bloß ein Kampfblatt der Masuren gegen ihre Regierung sein, sondern er soll durch seine Tendenzen wie ein Stachel in die Köpfe der Beamten vom Landrat bis zum Reichskanzler einbohren.“
„Ich glaube, der Stachel wird unserer Regierung weder gefährlich noch schmerzhaft erscheinen nach der Niederlage, die Sie erlitten haben.“
„Darüber sind wir anderer Ansicht. Uns genügt es, daß in Masuren zwei polnische Zeitungen erscheinen. Das macht in einer gewissen Entfernung den Eindruck, den wir an allen Stellen hervorrufen wollen. Der Kostenpunkt geht Sie nichts an. Sie behalten Ihr Gehalt als Geschäftsführer und leiten das Blatt in unserem Sinne... das heißt, die Artikel, auf die es uns ankommt, erhalten Sie von uns zugeschickt. In dem übrigen Teil können Sie, wie bisher, die Interessen der masurischen Bauern wahrnehmen. Selbstverständlich ohne jede Spitze gegen die Partei.“
„Das muß ich mir noch sehr reiflich überlegen, ob ich mir diese Bedingung auferlegen lasse.“
„Ich wüßte nicht, was Sie noch zu überlegen hätten“, erwiderte der Pole kühl. „Sie haben sich dazu durch Vertrag verpflichtet.“
„Erlauben Sie mal“, fuhr Balk auf, „ich habe das Haus und die Druckerei auf meinen Namen gekauft und bin als Eigentümer gerichtlich eingetragen. Das gibt mir ohne Zweifel das Recht, den Vertrag mit Ihnen zu kündigen und Ihnen das Geld, das Sie mir vorgestreckt haben, zurückzuzahlen.“
„Da befinden Sie sich in einem großen Irrtum, Herr Balk. Sie sind von uns bei dem Kauf nur vorgeschoben, und wir haben uns durch einen Vertrag mit Ihnen gesichert, daß uns das Anwesen und die Zeitung gehört.“
„Das ist zum mindesten eine sehr verwickelte Rechtslage. Bis die durch alle Instanzen gelaufen und entschieden ist, werden ohne Zweifel einige Jahre vergehen. Bis dahin bleibe ich Eigentümer und werde mein Blatt so leiten, wie ich es für richtig halte.“
„Auch darin sind Sie im Irrtum. Ich denke, die Sache wird sehr schnell entschieden sein“, erwiderte der Pole höhnisch. „Wir werden vor allen Dingen erst einmal Sie an die Luft setzen und einen anderen mit der Leitung des Geschäfts betrauen. Dann können Sie meinetwegen jahrelang wegen des Besitzrechts prozessieren. Jetzt möchte ich Ihnen anheimstellen, sich die Sache noch ‘mal gründlich zu überlegen. Vielleicht sehen Sie ein, daß es besser ist, sich mit uns im guten zu einigen, dann würden wir Sie vorläufig als Geschäftsführer belassen.“
„Das ist zwar sehr gütig von Ihnen“, erwiderte Kuba mit offenem Hohn, „aber ich glaube nicht, daß unsere Gerichte sich beeilen werden, Ihrem Verlangen zu entsprechen.“
„Da habe ich doch ein besseres Zutrauen zu den preußischen Richtern, bei denen Sie gerade auch nicht auf Wohlwollen zu rechnen haben. Die werden uns nach dem Wortlaut des Vertrages ohne weiteres das Recht geben müssen, Sie hier ohne Kündigung zu entlassen. Wollen Sie es darauf ankommen lassen?“
„Jawohl, Herr Zielinski.“
„Ihr letztes Wort?“
„Mein allerletztes Wort.“
Kaum hatte sich die Tür hinter dem Polen geschlossen, als Kuba die Ruhe verließ, die er bis jetzt zur Schau getragen hatte. Er suchte den Vertrag hervor, den er seinerzeit frohen Mutes mit drei polnischen Herren in Lemberg abgeschlossen hatte. Danach verpflichtete er sich, in Lyck eine Zeitung herauszugeben und in nationalpolnischem Sinne zu leiten... Die drei Herren verpflichteten sich, alle Kosten zu übernehmen und ihm monatlich tausend Gulden Gehalt zu zahlen. Von einem eventuellen Überschuß sollte er die Hälfte behalten...
Er grübelte hin und her, ob dieser Vertrag seinen Geldgebern das Recht verleiht, ihn zu entlassen. Ein Rechtsanwalt würde ihm sicherlich diese Frage beantworten. Er genierte sich aber, einen dritten in diese Verhältnisse hineinblicken zu lassen. Und der Vertrag, der in polnischer Sprache ausgefertigt war, mußte erst von einem vereidigten Dolmetscher übersetzt und beglaubigt werden. Dabei fiel ihm ein, daß er mit einem Winkelkonsulenten, einem Linksanwalt, der jahrelang das Bureau eines Justizrats geleitet hatte, zusammen die Schulbank gedrückt hatte. Er beschloß ihn aufzusuchen und sich bei ihm Rat zu holen.
Nach einigem Suchen fand er ihn in einer kleinen Kneipe am polnischen Tor, wo er an Markttagen seine ländliche Kundschaft abzufertigen pflegte. „Na, was führt dich altes Haus in diese Spelunke? Bist ein großer Herr geworden und ich ein armes Luder, aber zu einem Schnaps langt‘s noch.“
Er goß aus einer vor ihm stehenden Flasche das Glas voll und schob es Kuba hin.
„Ich mag das Zeug nicht. Heda, Mädel, können Sie uns eine Flasche Rotspon geben?“
„Mensch, Kuba, Rotspon willst du schmeißen? Das ist recht von dir“, grinste der Linksanwalt „Dann hast du gewiß was auf dem Herzen.“
„Allerdings. Du sollst mir in einer wichtigen Frage einen juristischen Rat erteilen.“
„Wird gemacht.“
„Aber unter strengster Diskretion.“
„Selbstverständlich... über Sachen, die ich durch meinen Beruf erfahre, bewahre ich unverbrüchliches Schweigen. Schieß’ mal los...“
„Kannst du polnisch lesen?“
„Das habe ich doch schon mit der Muttermilch eingesogen. Gib her den Wisch.“
Während er las, pfiff er durch die Zähne. „Na, was meinst du?“ fragte Kuba gespannt, als jener das Papier zusammenfaltete.
„Hm, die Geschichte ist etwas sengerig.“
„Ich bin aber als Eigentümer des Geschäfts eingetragen.“
„So? Dann werde ich dir etwas sagen. Du verkaufst an einen dritten, der nicht mit dir verwandt ist. Das tust du in dem guten Glauben, daß der Krempel dir gehört Du wirst auch noch einen Überschuß erzielen. Dann können deine Gegner lange mit deinem Nachfolger prozessieren.“
„Das wäre sehr nett, aber wo kriege ich so schnell einen Käufer her?“
„Aber Mensch, Kuba, du wirst doch unter deinen Bauern einen finden, der als Strohmann einspringt und dich mit der Geschäftsführung und Leitung der Zeitung beauftragt. Dann müssen die Polacken gegen dich und deinen Rechtsnachfolger klagen, und bis die Sache entschieden ist, wird noch viel Wasser vom Berg laufen. Du setzst dich noch heute hin und schreibst den Kerlen einen eingeschriebenen Brief, daß du das Grundstück samt Druckerei an einen dritten verkaufst, den du nicht zu nennen brauchst, und teilst ihnen mit, daß du ihnen für das Geld, das sie dir gegeben haben, gerade stehst... Dadurch verhinderst du es unter allen Umständen, daß sie, was ich allerdings nicht für sehr wahrscheinlich halte, einen Gerichtsbeschluß erwirken, mit dem sie dich hier rausschmeißen.“
„Ist das aber auch ganz sicher?“
„Aber Mensch, ich habe doch sieben Jahre für den alten Justizrat alle Prozesse geführt und ihn höchst selten mal um etwas fragen brauchen. Ich verstehe von der Juristerei mindestens ebensoviel wie ein studierter Rechtsanwalt. Ja, noch eins. Laß deine Bücher von einem Revisor aufrechnen und einen Abschluß machen, den er dir beglaubigt... Und wenn du willst, werde ich dir auch noch einen vorläufigen Kaufvertrag aufsetzen, in den du bloß den Namen des Käufers einzutragen brauchst. Die Auflassung braucht ja erst zu erfolgen, wenn du wirklich einen Käufer hast. Im Notfall gehst du zu dem Gurgelabschneider, dem Straßburger. Der macht solche Sachen, wenn er tausend Taler daran verdient.“
„Das ist wohl ein bißchen viel...“
„Ja, solche reinlichen Geschäfte sind nicht ganz billig.“
Er nahm einen Bogen Papier und schrieb eifrig, während Kuba nachdachte. Als er fertig war, reichte er seinem Kunden das Papier, während der fragte. „Wieviel bin ich dir schuldig?“
„Der Wohltätigkeit sind keine Schranken gesetzt“, sagte der Linksanwalt.
Kuba schob ihm zwei Doppelkronen hin. „Bist damit zufrieden?“
„Ein Hundsfott gibt mehr, als er hat. Du kommst natürlich sofort zu mir, wenn deine Gegner etwas unternehmen. Wir werden sie schon klein kriegen.“
Frohen Mutes ging Kuba nach Hause, um den Brief zu schreiben. Dann wollte er beim Bürgermeister einen Besuch machen und sich erkundigen, ob Hannchen den Ball in der Bürgerressource mitmachen würde. Der Vater war Vorstandsmitglied. Da konnten doch Frau und Tochter nicht zu Hause bleiben.
Er fand den alten Soyka vor, der auf ihn wartete. „Sie sind wohl neugierig, wie ich mich mit dem Polacken auseinandergesetzt habe? Alles in Ordnung, alter Freund. Ich habe den edlen Polen in die Polackei zurückgeschickt, wo er hingehört. Haben Sie Ihren Artikel noch bei sich? Her damit, der kommt in die nächste Nummer. Jetzt wollen wir den Kerlen mal zeigen, was ‘ne Harke ist... und dann will ich Ihnen reinen Wein einschenken in der Wirklichkeit und mit Worten. Jetzt nehme ich den Kampf mit den Polen auf... Darauf wollen wir anstoßen...“
Als letztes Vergnügen in der Saison veranstaltete die Bürgerressource einen Ball. Alle Räume im Königlichen Hof waren für diesen Abend beschlagnahmt denn die Bürgerressource vereinigte den ganzen wohlhabenden Mittelstand der Stadt, dem sich die kleineren Gutsbesitzer des ganzen Kreises anschlossen. Der Himmel war der Veranstaltung nicht günstig, denn es goß seit Mittag in Strömen. Viel früher als sonst war der Winter gewichen. Der Schnee war geschmolzen und auf der dunklen, feuchten Erde trippelte die Lerche umher. Ab und zu schwang sie sich in die Luft empor, aber nicht, um aus voller Kehle ein fröhliches Lied zu schmettern, sondern um leise einige zaghafte Töne erschallen zu lassen. Auf den Seen lag das Eis noch, doch der Regen hatte es bläulich dunkel gefärbt und daneben auf dem Acker zog der Pflug seine Furche.
Die Mitglieder und Gäste der Ressource ließen sich durch das schlechte Wetter nicht abschrecken. Die Lohnfuhrwerke der Stadt rasten zwischen dem Hotel und den Wohnungen hin und her und brachten ganze Ladungen von weißgekleideten Frauen, die schnell aus dem Wagen in das Hotel huschten. Wer keinen Wagen erwischen konnte, der zog einen Rock über das lichte Festgewand und derbe Schuhe an und wanderte unter dem Regenschirm wohlgemut zum Hotel.
Pünktlich um neun Uhr brausten die Tonwellen der „schönen blauen Donau“ durch den Saal. Kuba war die Ehre zuteil geworden, mit Hannchen Grundmoser den Ball als erstes Paar zu eröffnen. Die große Zahl der tanzenden Paare machte es erforderlich, daß sie sich in einer langen Schlange anstellen mußten. Dann zählte der Tanzordner mit seinem Klapphut ein dutzend Paare ab und ließ sie walzen...
Die erste Runde war noch nicht vollendet, als Hannchen stehen blieb. Ihr Knöchel war der Anstrengung noch nicht gewachsen und schmerzte so heftig, daß sie mühsam an Balks Arm zum Platz humpelte. Die Mutter hatte sich mit einer Anzahl anderer Damen auf die mit Topfgewächsen geschmückte Bühne begeben, wo man das Gewühl der tanzenden Paare besser überschauen konnte als von der Stuhlreihe an der Saalwand. Dicht vor ihnen stand die Reihe der tanzlustigen Paare.
„Holen Sie sich eine andere Tänzerin“, sagte Hannchen, „Sie brauchen meinetwegen nicht auf das Vergnügen zu verzichten.“
„Aber Hannchen, ich werde doch nicht tanzen, wenn du mit Schmerzen allein sitzt?“
„Ach, die Schmerzen sind nicht so schlimm, sie haben schon nachgelassen, aber tanzen kann ich nicht.“
„Wollen wir nicht lieber nach vorn in die Gastzimmer gehen? Da können wir ein Glas Wein trinken und uns ungestört unterhalten.“
„Ja, kommen Sie, geben Sie mir Ihren Arm.“
„Wenn es mir nicht leid täte, daß dir durch den dummen Fuß das Vergnügen gestört ist, möchte ich mich fast freuen, daß wir dadurch Gelegenheit finden, ungestört zu sprechen... Du bleibst doch hier?“
„Um Gotteswillen, Bogislav, seien Sie vorsichtig und sagen Sie nicht du zu mir. Wenn das einer aufschnappt…“
Im vordersten Zimmer, das ganz leer war, nahmen sie in einer Nische Platz. Kuba benutzte die Gelegenheit, Hannchen einen Kuß zu rauben. Dann ging er ins Nebenzimmer an den Schanktisch, um eine Flasche Wein zu bestellen. In der Zwischenzeit war die Mutter auf das Verschwinden des jungen Paares aufmerksam geworden und kam es suchen...
Endlich fand sie Hannchen allein sitzen.
„Mein Gott, Kind, was ist mit dir?“
„Mutter, mein Fuß hat versagt. Ich bekam solche Schmerzen im Knöchel, daß ich aufhören mußte zu tanzen. Da hat mich Herr Balk hierher geführt. Er ist bloß gegangen, eine Flasche Wein zu holen. Du bleibst bei uns, und wir plaudern gemütlich.“
„Es wäre mir lieber, wenn Herr Balk tanzen ginge, als bei uns zu sitzen. Eben hat mich Frau Zander gefragt, ob es wahr ist, daß du dich für ihn interessiert?“
„Und was hast du geantwortet Mutter?“
„Ich habe ihr gesagt, es kommt öfter, daß sich ein junger Mann für ein junges Mädchen interessiert. Das Umgekehrte braucht nicht immer der Fall zu sein.“ Hannchen sah die Mutter lächelnd an. „Wenn es aber doch der Fall ist?“ Sie ergriff die Hand der Mutter, um sie zu küssen. „Geliebte, einzige Mutter, darf ich dir etwas gestehen?... Ich liebe Bogislav und habe mich mit ihm verlobt!“
„Um Gotteswillen, Kind, wie kannst du bloß so voreilig handeln?“
Hannchen schmiegte sich zärtlich an sie. „Nicht böse sein, Muttchen, ich bin doch alt genug, um zu wissen, was ich tue... Und du weißt doch, daß ich Bogislav Leben und Gesundheit verdanke. Mutter, sei gut... ich habe ihn so sehr lieb.“
In diesem Augenblick kam Kuba mit der Flasche Wein. Mit einer etwas süß-sauren Miene begrüßte er die Frau Bürgermeister. „Es tut mir so unendlich leid, daß Ihr Fräulein Tochter nicht tanzen kann...“
„Wir gar nicht“, erklärte Hannchen freudestrahlend. „Ich habe der Mutter eben gestanden, daß wir heimlich verlobt sind. Nun küß’ ihr die Hand und bedanke dich bei ihr, sie wird uns helfen, den Vater rumzukriegen, wenn er Lust haben sollte, nein zu sagen.“
„Ach, verehrte, gnädige Frau, wie soll ich Ihnen für Ihre Güte danken?“ rief Kuba und küßte der Mutter die Hand, die nicht recht wußte, was sie zu der Überrumpelung sagen sollte. „Ich liebe Hannchen seit dem Abend, wo ich sie eine Stunde in den Armen und nach Hause getragen habe.“
„Ja, Kinder, das ist ja erklärlich, daß dieser Vorfall euch zusammengeführt hat. Es ist aber doch so manches dabei zu bedenken. Sie haben sich durch Ihr Auftreten bei der Wahl sehr geschädigt, Herr Balk, und meinem Manne wird es sehr verdacht werden, wenn er Sie jetzt in unsere Familie aufnimmt. Ich rate dringend dazu, dem Vater jetzt noch nichts zu sagen. Und Ihnen, Herr Balk, möchte ich anheimstellen, in den Saal zu gehen und eifrig zu tanzen, damit nicht darüber gesprochen wird, daß Sie hier mit uns zusammensitzen.“
„Ach, Mutter, noch ein Weilchen. Wir müssen doch erst anstoßen... Ich bin dir so dankbar... Und du wirst uns schon beistehen... Der Vater tut doch schließlich alles, was du willst...“
Sie hatten angestoßen und getrunken, als der Bürgermeister im Zimmer erschien. „Ich habe euch gesucht wie ‘ne Stecknadel im Fuder Heu... Weshalb habt ihr euch hier zurückgezogen?“
„Mein Fuß hat versagt ich kann nicht tanzen“, erwiderte Hannchen.
„Ach je, das ist aber traurig.“ Er reichte Kuba die Hand und nahm bei ihm Platz. „Na, Sie edler Polenhäuptling? Wie ist Ihnen jetzt zumut? Das war ein schönes Reinfall von Ihnen. Ich begreife bloß nicht, wie Sie auf das falsche Geleise geraten konnten.“
„Ach, Vater“, fiel Hannchen schnell ein, „laß doch die dumme Wahl aus dem Spiel. Herr Balk hat doch nach seiner Überzeugung nur das Beste gewollt.“
„Nein, Fräulein Hannchen, es ist mir lieb, daß ich Gelegenheit finde, Ihrem Herrn Vater zu erklären, daß ich nicht aus freien Stücken für den Herrn Zielinski eingetreten bin. Ich bin ihm geschäftlich verpflichtet. Außerdem hielt ich es für ganz wünschenswert durch die Aufstellung eines solchen Kandidaten auf das schärfste gegen die falsche Regierungspolitik zu protestieren.“
„Das ist Ihnen völlig vorbeigelungen“, erwiderte der Bürgermeister, der sehr guter Laune war, lachend.
„Ach, Vater, laß doch die Politik“, bat die Frau Bürgermeister. „Und Sie, Herr Balk, gehen tanzen. Ich setze mich mit Hannchen auf die Bühne, wo wir etwas sehen... Du hast doch wohl schon deine Whistpartie zusammen?“
„Allerdings... Na, dann bis nachher... Ich habe zum Essen einen Tisch für uns bestellt. Für Sie haben wir auch einen Platz, Herr Balk.“
Er grüßte mit der Hand und ging. „Ach, Mutter“, meinte Hannchen, „ich traute mich bloß nicht recht... Das wäre jetzt die beste Gelegenheit gewesen, den Vater zu überrumpeln... Wenn du gesagt hättest die beiden haben sich eben in meiner Gegenwart verlobt...“
„Nein, Kind, das hätte schief abgehen können... überlaß es mir, den Vater vorzubereiten. Kommen Sie, Herr Balk, Sie können uns noch bis zur Bühne begleiten, und dann tanzen Sie recht fleißig.“
„Wo haben Sie den Ausreißer erwischt?“ fragte Frau Zander mit malitiösem Lächeln, als Frau Bürgermeister mit Hannchen auf der Bühne erschien.
„Ich habe nach kaum einer Runde aufhören müssen, zu tanzen, weil mein Knöchel es nicht aushielt“, erwiderte Hannchen.
„Ach, das ist aber traurig. Was sagt denn Ihr Tänzer dazu? Sie tanzten doch mit Herrn Balk, wenn ich recht gesehen habe.“
„Ja, Sie haben recht gesehen, gnädige Fran. Ich habe es mir vom Vater erbeten, mit ihm den Ball eröffnen zu dürfen, weil wir ihm großen Dank schuldig sind.“
„War es wirklich so schlimm? Es wird erzählt, Sie hätten mit seiner Unterstützung noch nach Hause laufen können.“
„Nein. Laufen bestand darin, daß ich mich mühsam in seinen Armen auf dem rechten Fuß aufrecht hielt, während er mich halb trug und vor sich her schob. Ich war mehrmals dicht davor, ohnmächtig zu werden.“
„Ach, das ist aber interessant. Da verstehe ich es, daß Sie ihn sich heute zum bevorzugten Tänzer erwählten.“
Frau Bürgermeister warf der Tochter einen warnenden Blick zu. Was Hannchen erzählt hatte, würde nun sofort wie ein fliegendes Feuer durch den Saal laufen. „War es Ihnen denn nicht sehr peinlich, sich von einem fremden jungen Mann so umfassen zu lassen?“ fragte Frau Zander spitz.
„Nein, gnädige Frau, ich war infolge meiner Hilflosigkeit und Schmerzen so verzweifelt, daß ich nur das wohltuende Gefühl der Kettung und des Geborgenseins empfand. Es war mir nur peinlich, daß Herr Balk sich so furchtbar dabei anstrengen mußte.“
„Da können Sie ihm wirklich dankbar sein.“
Das Lächeln, mit dem Frau Zander diese Worte unterstrich, wurde von allen herumsitzenden Damen verstanden. Schon nach dem nächsten Tanz erhoben sich einige Mütter, um nach ihren Töchtern zu sehen, in Wirklichkeit um die hochinteressante Neuigkeit brühwarm weiterzutragen.
„Du hast was Schönes angerichtet“ flüsterte Frau Bürgermeister ihrer Tochter zu.
„Ich habe es mit voller Absicht getan“, erwiderte Hannchen. „Es soll bekannt werden, wieviel Dank ich Bogislav schulde.“
Schon in der nächsten Tanzpause erschienen einige junge Mädchen, um Hannchen ihr Bedauern auszusprechen, daß sie nicht tanzen könne, und eine fügte hinzu: „Wir haben ja gar nicht gewußt, daß du so völlig hilflos warst, daß Herr Balk dich auf den Armen nach Hause tragen mußte.“
Beim Abendessen in der großen Pause wurde Hannchen von allen Seiten bedauert, und mancher verständnisvolle Blick streifte Kuba, der neben ihr saß... Es würde sich niemand gewundert haben, wenn der Herr Bürgermeister in diesem Augenblick die Verlobung der beiden kundgegeben hätte. Das war aber eine ausgemachte Sache, daß die Verlobung in den nächsten Tagen erfolgen mußte.
Bald nach dem Essen fuhr der Bürgermeister mit Frau und Tochter nach Hause. Er war in ärgerlicher Stimmung, weil sogar die Freunde am Spieltisch ihn gefragt hatten, ob er wirklich Balk zu so großem Dank verpflichtet sei, wie seine Tochter selbst erzählt habe. „Weshalb mußte Hannchen gerade heute die Geschichte aufwärmen?“ fragte er seine Frau, als Hannchen zu Bett gegangen war.
„Ich habe mich auch darüber geärgert, lieber Gustav, aber es läßt sich nun mal nichts daran ändern. Die beiden haben sich lieb und haben sich im stillen verlobt.“
Wider Erwarten blieb der Bürgermeister bei dieser Eröffnung ganz ruhig. „Ich habe es auch schon befürchtet, daß so was in der Luft lag. Ich hatte allerdings Hannchen für vernünftiger gehalten. Die Zeitung, die sich Balk hier geschaffen hat ist nach meiner Schätzung ziemlich unsicher. Und durch die Wahl hat er sich überall mißliebig gemacht. Von einer öffentlichen Verlobung kann also keine Rede sein. Wir machen gute Miene zum bösen Spiel... Ich glaube, die Sache wird sich verbluten, wenn Balk, wie ich annehme, hier weg muß, um sich anderswo eine neue Existenz zu gründen. Wenn er morgen kommen sollte, läßt du mich aus dem Bureau rufen, ich werde alles mit ihm in Ruhe besprechen, und Hannchen muß sich darin fügen. Das kann ich von ihr verlangen.“
Schon zeitig am Morgen schickte Kuba Hannchen einen prachtvollen Blumenstrauß. Gegen 11 Uhr erschien er selbst. Hannchen empfing ihn freudestrahlend im Beisein der Mutter. „Der Vater hat nicht nein gesagt er will dir aber erst auf den Zahn fühlen, wie du geschäftlich stehst...“
„Ja, Herr Balk“, sagte der Bürgermeister, der im Eintreten die letzten Worte gehört hatte, „ich muß Sie um eine Rücksprache unter vier Augen bitten.“
„Wir sind Ihnen zu sehr großem Dank verpflichtet“, fuhr er fort als sie in seinem Arbeitszimmer Platz genommen hatten, „und ich wundere mich nicht darüber, daß der Vorfall auf dem Eise eure Herzen zusammengeführt hat. Als Vater bin ich jedoch verpflichtet, Sie danach zu fragen, welch eine Zukunft Sie meiner Tochter bieten können.“
„Sie haben ein Recht danach zu fragen, Herr Bürgermeister, und ich will Ihnen gern meine Verhältnisse offen klar legen. Der Ausfall der Wahl hat mir einen empfindlichen Rückschlag gebracht. Ja, ich will Ihnen noch weiter sagen, daß ich wegen des Besitzrechts des Hauses und der Druckerei einen Streit mit meinen bisherigen Geldgebern auszutragen habe, bei dem ich zu siegen hoffe.“
„Das heißt mit anderen Worten: Sie schweben jetzt sozusagen in der Luft. Sie sind, wie ich annehmen muß, nichts weiter als Geschäftsführer Ihrer Auftraggeber. Nun wollen Sie das Geschäft selbst übernehmen. Haben Sie auch die Mittel dazu?“
„Ich werde sie beschaffen können... von meiner Mutter und meinem Bruder.“
„Ich möchte davon abraten... Das Unternehmen hat durch die Vorfälle bei der Wahl einen Knax bekommen. Die Inserate, von denen die Zeitung lebt, werden ausbleiben...“
„Ich meine, das wird sich wieder einrenken. In der Nummer, die morgen früh erscheint nehme ich sehr energisch gegen das Polentum Stellung... Und wenn Sie mich durch Fürsprache etwas unterstützen wollten.“
„Das muß ich unbedingt ablehnen... das würde mir in der Bürgerschaft sehr verdacht werden. Aus demselben Grunde kann ich jetzt auch nicht in eine öffentliche Verlobung einwilligen. Das würde wie eine Stellungnahme für Sie aussehen gerade in dem Augenblick, wo Sie, na sagen wir mal offen, hier etwas unten durch sind. Ja, ich muß aus demselben Grunde bitten, Ihre Besuche in meinem Haus für die nächste Zeit ganz einzustellen. Die Verlobung kann meinetwegen im stillen weiterbestehen, Sie müssen jedoch beide eine Prüfungszeit durchmachen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Sie Ihre Tätigkeit hier aufgeben müssen, dann müssen Sie sich doch erst anderswo eine auskömmliche Existenz schaffen, in der Sie eine Frau ernähren können.“
„Das sehe ich alles ein, Herr Bürgermeister, ich hoffe jedoch, hier durchhalten zu können. Ich will das Papiergeschäft nicht nur vergrößern, sondern auch noch einen Buchladen anfügen. Eine Stadt wie kann zwei solcher Geschäfte ernähren... Und wenn ich mit der Zeitung durchhalte, kann ich hoffen, nach Jahr und Tag wieder vor Sie treten zu können mit der Versicherung, daß ich eine Frau ernähren kann.“ Er erhob sich. „Darf ich Hannchen noch für einige Minuten sprechen?“ .
Ehe der Bürgermeister antworten konnte, sprang Hannchen herein und warf sich ihrem Vater an die Brust „Lieber, einziger Papa, du hast doch ja gesagt... Ich sterbe schon vor Ungeduld und Sehnsucht.“
Der Bürgermeister schob sie sanft von sich. „Ja und nein... Ihr dürft euch im stillen als verlobt betrachten, aber ihr müßt warten, bis Balk eine sichere Existenz hat.“
„Schon dafür danke ich dir. Nicht wahr, Bogislav, wir werden die Prüfungszeit überstehen, und du wirst alles daran setzen, meine Hand zu erringen.“
Die Tatsache, daß Balk in das Haus des Bürgermeisters gegangen war, wurde natürlich bemerkt... und bald erschienen auch einige junge Mädchen... Da wurde doch wahrscheinlich Verlobung gefeiert. Sie waren sehr enttäuscht. Balk saß mit der Familie des Bürgermeisters um einen Tisch... ohne Wein und Kuchen... man sprach vom gestrigen Ball... Bald darauf ging er mit förmlichem Abschied davon...
In den nächsten Tagen entfaltete Balk eine sehr rührige Tätigkeit. Er fuhr zu Martin nach Lipinsken und fragte ihn unter vier Augen, ok er ihm zu dem Kauf des Hauses und der Druckerei mit etwas Kapital aushelfen könnte. Er werde es ihm natürlich als Hypothek eintragen lassen. Martin schob die Mütze aufs Ohr und kratzte sich den Kopf. „Das kann ich nicht allein auf mich nehmen. Ich lebe mit Jette in Gütergemeinschaft und die hat die ganzen Geldgeschäfte an sich genommen. Ich werde sie dir mal reinschicken.“
Die junge Frau hörte den Schwager geduldig an, dann schüttelte sie energisch den Kopf. „Nimm es mir nicht übel, Kuba, das ist eine Dummheit, daß du das Geschäft jetzt kaufen willst. Ich gebe für den ganzen Krempel keinen gebogenen Dreier mehr. Die Zeitung ist tot. In der heutigen Nummer sind ganze drei Annoncen. Ihr werdet also ordentlich Geld zusetzen müssen, wenn ihr durchhalten wollt. Laß doch die Polacken ihr Geld reinstecken.“
In gedrückter Stimmung ging er zur Mutter. Sie freute sich sehr über seinen Besuch und trug sofort zu essen und zu trinken auf. Kuba merkte es ihr jedoch an, daß sie was auf dem Herzen hatte. Und richtig. Während sie ihn zum Essen nötigte, fing sie an: „Was wird nu mit dir, wenn die Geschichte mit der Zeitung zu Ende ist?“
„Wie kommst du darauf, Mutter? Ich will gerade jetzt das Haus kaufen und einen Buchladen einrichten. Dann ist es mir ziemlich egal, ob die Leitung weitergeht oder nicht.“
„Das ist leicht gesagt, du willst kaufen. Aber womit?“
„Na, Mutter, ich dachte, du wirst mir dazu helfen.“
„Was ich noch habe, steht fest eingetragen an sicherer Stelle. Und die Zinsen brauche ich selbst. Ich will nicht von meinem Mann abhängig sein.“
„Ich wurde dir das Geld auch eintragen lassen.“
„Ja, mein Junge, wollen dir denn die Polacken das Haus verkaufen? Die Leute erzählen, daß du mit ihnen einen Vertrag hast, daß du bloß so was wie Geschäftsführer bei ihnen bist.“
„Die Leute reden viel“, erwiderte Kuba unwirsch. „Ich bin als Besitzer gerichtlich eingetragen, und die Geldgeber können bloß das Geld zurückverlangen, das sie mir zum Ankauf gegeben haben.“
„Ist das viel?“
„Rund dreißigtausend Mark, und zehntausend habe ich im ersten halben Jahre Überschuß gehabt...“
„Ach, mein Junge, wenn du dich bloß nicht mit den Polacken eingelassen hättest. Wenn du gekommen wärst, wie ich noch die Wirtschaft hatte, und hättest gesagt: ,Mutter, ich will die Druckerei kaufen und eine Zeitung herausgeben‘, dann hätte ich dir das Geld gegeben, und dann wärst du heute ein gemachter Mann.“
Kuba nickte traurig. „Du hast recht Mutter, das war die größte Dummheit meines Lebens. Ich würde mir auch jetzt noch nichts daraus machen und irgend woanders unterkriechen, aber jetzt habe ich mich im stillen mit einem Mädel verlobt... mit der einzigen Tochter des Bürgermeisters.“
„Wissen die Eltern davon?“
„Ja, sie sind einverstanden. Wenn ich eine gesicherte Stellung habe, können wir heiraten. Weshalb möchte ich nicht hier weg, sondern versuchen festzuhalten.“
„Ja, wenn dir das möglich ist... Ist das Mädel wohlhabend?“
„Ich glaube ja, ihre Mutter soll aus vermögender Familie stammen.“
„Könnten dir denn nicht deine zukünftigen Schwiegereltern helfen?“
„Nein, Mutter, das will ich nicht.“
„Ja, mein Junge, was soll ich dir denn raten? Wie stehst du mit den Bauern? Die sind, wie wir mein Mann erzählt hat zum Teil auf dich sehr ärgerlich, weil du den Polacken zur Wahl aufgestellt hast.“
„Ach, Mutter, das wird sich verbluten. Ich habe ganz offen gegen die polnischen Bestrebungen Stellung genommen.“
„Zu spät, mein Jungchen... Erst mal so schreiben und dann so... Ich habe mich auch furchtbar geärgert, und mein Mann, dem ich jetzt die Zeitung auf deutsch vorlesen muß, hat auf dich geschimpft... als wenn du kein Deutscher bist, sondern ein Polack... Jetzt traut man dir nicht mehr. Das kommt davon, wenn man nicht ehrlich ist.“
Für den nächsten Tag hatte Kuba eine Vorstandssitzung des Bauernvereins nach Lipinsken einberufen. Trotz der dringenden Feldarbeiten waren alle erschienen, und Kuba merkte schon bei der Begrüßung, daß die Stimmung gegen ihn war. Sparka eröffnete als Vorsitzender die Besprechung. Er wüßte nicht, so führte er aus, weshalb Balk sie heute hier zusammenberufen habe. Er sei aber gekommen, um mit Balk ein Wort deutsch zu reden... Der „Masur“ habe ja heute gerade einen scharfen Artikel von Bogumil gegen die Polen gebracht.
„Um so weniger verstehe ich es, daß Balk uns hier einen Polacken als Kandidaten auf die Nase gesetzt hat. Wenn wir einen einfachen Bauern aufgestellt hätten oder meinetwegen einen liberalen Gutsbesitzer, dann hätten wir ihn wahrscheinlich durchgebracht. Aber für den Zielinski haben wir keinen Finger gerührt. Erstens, weil er nicht die Militärvorlage bewilligen wollte und zweitens, weil wir nicht von einem Polacken im Reichstag vertreten sein wollen. Wir haben schon zuviel Polacken und Katholiken unter uns. Auf dem Wochenmarkt sah man früher ab und zu ein paar Polen, die über die Grenze kamen. Jetzt wohnen sie unter uns... In der Allensteiner Gegend ist ganz der Deuwel los. Da haben sie ein großes Gut aufgeteilt und Ansiedler angesetzt ohne einen Pfennig Kapital... Jawohl... Wer sich meldete, wurde angenommen. Jetzt geht einer nach dem anderen koppheister, und jede Stelle wird mit polnischem Geld angekauft und mit einem Polen besetzt.. Da müssen wir doch fragen, Herr Balk, was bezwecken Sie damit, daß Sie den Polen hier reinbringen und für seine Wahl arbeiten? Wollen Sie uns polnisch machen?“
„Ich will euch ein offenes Geständnis oblegen, liebe Landsleute. Ich habe die große Dummheit begangen, daß ich von den Polen Geld genommen habe, um hier eine Zeitung zu gründen. Ihr habt sie alle von Anfang an gelesen und müßt mir das Zeugnis ausstellen, daß ich tapfer eure Interessen vertreten habe. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, polenfreundliche Artikel aufzunehmen. Daß ich den Zielinski hier aufgestellt habe, war auch eine Dummheit von mir. Ich bin dazu gezwungen worden, und ich mußte es tun, um die Zeitung euch und mir zu erhalten. Ich habe auch geglaubt, daß Zielinski mehr Stimmen erhalten würde, dann hätte das auf die Regierung einen sehr starken Eindruck gemacht. Jawohl, hättet ihr dem Zielinski Mann für Mann eure Stimme gegeben, dann würde sich die Regierung fragen müssen: Ist die Unzufriedenheit wirklich so groß, daß masurische Bauern einem Polen ihre Stimme geben? Das habt ihr nicht getan, und nun lacht man in den Landratsämtern über uns.“
„Ja, über Sie, über uns nicht“ rief Wrona dazwischen.
„Nun gut über mich. Und ich will euch offen sagen? Im Grunde genommen freue ich mich, daß es so gekommen ist. Aber nun frage ich euch: Wollt ihr den ,Masur’ weiter halten oder nicht? Wenn ich ihn eingehen lasse, dann wird es wieder so wie früher, wo ihr die Faust in der Tasche gemacht habt. Ja, ich plane sogar, das heißt, wenn es mir möglich sein wird, eine deutsche Ausgabe des ,Masur‘. Dann schicke ich jede Nummer an die Regierung und die Minister und an alle Abgeordneten und die großen Zeitungen, damit die das an die große Glocke hängen, was hier vorgeht. Ich bitte euch, macht unter alles, was vorgefallen ist, einen dicken Strich und werbt von neuem für den ,Masur’ und euren Bund. Ihr werdet euch nicht mehr über mich zu beklagen haben.“
„Na ja, Herr Balk, wir wollen uns darüber besprechen, aber Sie dürfen nicht dabei sein.“ Eine Stunde dauerte die Besprechung. Dann sah Kuba, der mit Martin im Wohnzimmer saß, daß die meisten Bauern wegfuhren. Dann kam Sparka mit Wrona zu ihm herein. „Herr Balk, ich kann Ihnen eigentlich nichts sagen. Ich habe einen Aufruf an die Bauern vorgeschlagen, daß sie dem ,Masur’ treu bleiben sollten... Der ist nicht durchgegangen... Die meisten meinen, daß Sie erst reinen Tisch schaffen sollen. Solange Sie mit polnischem Geld arbeiten, werden sie so tanzen müssen, wie die Polen pfeifen. Vielleicht nehmen sie Ihnen auch das Blatt ab und setzen einen anderen hier rein, der so wie der Malecki schreibt.“
„Ja, Herrschaften, da liegt doch der Knüppel beim Hunde. Wenn ihr mir nicht den Bücken steift, hat es keinen Zweck, den Polen das Geld hinzuschmeißen. Dann muß ich die Zeitung eingehen lassen, so leid es mir tut. Ich habe mich für euch mit der Regierung rumgeschlagen, ich habe mich mit den Polen rumgezankt, anstatt das Blatt so zu leiten, wie sie es haben wollten. Ich habe also nicht für meinen Geldbeutel gearbeitet, sondern bloß für euch...“
„Das sehen wir ja ein“, erwiderte Wrona, „aber wir sind alle kopfscheu geworden. Wissen Sie denn überhaupt, ob Sie hier bleiben?“
„Ja, es kommt bloß darauf an, daß einer oder mehrere von euch sich zusammentun und mir das Haus und die Zeitung abkaufen, damit ich den Polen das Geld zurückgeben kann.“
„Wieviel haben Sie denn bekommen?“ fragte Sparka.
„Dreißigtausend Mark.“
„Das ist ein Pappenstiel, das mache ich zur Not allein. Aber lieber ist es mir, wenn Wrona und Pietrzyk jeder einen Teil nimmt.“
„Das wäre prächtig, wenn ihr das tun wolltet“, fiel Kuba ein. „Dann erlaßt ihr an der Spitze des ,Masur’ einen großen Ausruf, daß die Zeitung euch gehört und, daß sie fortan nach eurer Weisung im Sinne des Bauernvereins geleitet werden soll. Verlieren könnt ihr daran nichts... nur gewinnen, denn ich habe im ersten halben Jahre zehntausend Mark Überschuß erzielt.“
„Das läßt sich hören“, meinte Sparka. „Wir werden uns das mit Pietrzyk besprechen...“
„Ja, Herrschaften, aber laßt mich nicht zu lange warten.“
In froher Hoffnung fuhr Kuba abends nach Hause. Er fand zwei Schreiben vor. Das eine vom Gericht worin ihm mitgeteilt wurde, daß die Zeitungsgesellschaft m.b.H., vertreten durch Herrn Zielinski in Gnesen, ihn seiner Stellung als Geschäftsführer enthob und den Gerichtsbeschluß erwirkt habe, sich jeden Eingriffs in die Rechte und das Vermögen der Gesellschaft zu enthalten. In dem zweiten Brief teilte ihm Zielinski mit, daß er schon am nächsten Tage zur Übergabe erscheinen werde und forderte ihn auf, alles dazu vorzubereiten...
In der heftigsten Bestürzung nahm Kuba seinen Vertrag heraus und las ihn mehrmals mit gespanntester Aufmerksamkeit durch. War es möglich, daß die Polen daraufhin einen Gerichtsbeschluß durchsetzen konnten, der ihnen das Recht gab, ihn hinauszusetzen und das Geschäft als ihr Eigentum zu betrachten? Das beunruhigte ihn am meisten. Er mußte sich unter allen Umständen Gewißheit verschaffen, ob und was er dagegen tun konnte. Er steckte die Briefe zu sich und ging zum polnischen Tor, wo er den Linksanwalt zu treffen hoffte. Er fand ihn auch, aber in einer Verfassung, die nichts Gutes erwarten ließ. Mit lallender Stimme rief er Balk entgegen: „‘nen Tag, altes Haus, läßt dich auch mal wieder blicken? Hast ‘nen Käufer? Dann gratuliere ich.“
Kuba setzte sich zu ihm. „Mensch, das brauchst doch nicht ins Lokal zu schreien, daß ich einen Käufer suche. Ich muß dich unter vier Augen sprechen, das heißt, wenn du noch verhandlungsfähig bist.“
„Allemal... Meinst, mein Verstand ist nicht mehr klar, wenn ich einen sitzen habe? Gib her, was du hast...“
Er warf zuerst einen Blick in den Gerichtsbeschluß. „Mensch, Kuba, das ist ‘ne faule Kiste. Die Kerle müssen einen unanfechtbaren Besitztitel von dir in Händen haben, sonst hätte das Gericht nicht verfügen können. Du wirst wohl noch ein zweites Schriftstück unterschrieben haben.“
„Daß ich nicht wüßte... Ich habe allerdings den Vertrag in zwei Exemplaren unterschrieben.“
Der Linksanwalt grinste. „Hast dir auch das zweite Exemplar ordentlich durchgelesen? Nein, na, dann hast du nicht denselben Vertrag unterschrieben, sondern einen zweiten... Dagegen ist nichts zu machen... Du bist wohl nicht mehr ganz nüchtern gewesen?“
„Wir hatten natürlich den Vertrag ordentlich begossen...“
Der Linksanwalt schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser wackelten. „Der verfluchte Alkohol, der hat mich auch um die Ecke gebracht... Aber es ist das einzige Mittel, um über den Schlamassel wegzukommen. Laß ‘ne Buddel Rotspon kommen und pump‘ dich voll, bis zum Halse voll... Heda, Wirt, bringen Sie mal erst jedem einen großen Leuchtturm.“ Er zwinkerte ihn mit den Augen verschmitzt an. „Hast du deine Bücher in Ordnung?“
„Die stimmen bis auf Heller und Pfennig.“
„Mensch, du hast mich nicht verstanden... Du wirst doch den Polacken nicht das ganze Geld in den Rachen schmeißen. Bücher lassen sich frisieren, und ich verstehe mich auf das Geschäft...“
Kuba fühlte sich von dem halbbetrunkenen Burschen angewidert. Er trank nur ein Glas von dem sauren Rotwein, zahlte und ging. Zu Hause setzte er sich in einen Lehnstuhl, zündete sich eine Zigarre an und grübelte. Sie hatten den Vertrag schon gehörig begossen, da zog einer der Herren, wer er war, konnte er sich nicht mehr entsinnen, ein Schriftstück aus der Tasche und sagte, Balk müsse den Vertrag noch einmal unterschreiben, das Exemplar solle für alle Fälle an einen Vertrauensmann nach Posen geschickt werden. Ohne einen Blick in das Papier zu tun, hatte Balk die Feder genommen, die man ihm reichte, und seinen Namen geschrieben... Jetzt glaubte er sich auch zu entsinnen, daß das zweite Schriftstück länger war wie das erste.
Wie ein dummer Junge kam er sich vor, den man über den Löffel barbiert hatte. Er stöhnte laut, als er daran dachte, daß er morgen um diese Zeit hier nicht mehr sitzen würde... Wie ein Lauffeuer würde es morgen durch die Stadt gehen, daß er hier hinausgeworfen wurde wie ein ungetreuer Knecht. Wenn Grundmoser und Hannchen das erfuhren, das war doch eine Blamage für ihn, wie sie größer nicht gedacht werden konnte. Er ging an den Wandschrank und nahm eine Flasche Rotwein heraus, um sich nach dem Rezept des Linksanwalts Bettschwere zu verschaffen. Dann holte er sich seine Geschäftsbücher und begann, die Eintragungen mit den Belegen zu vergleichen. Da war alles in Ordnung. Sechstausend Mark Gehalt, von dem er schon mehr als die Hälfte verbraucht hatte, und viertausend Mark Gewinnanteil mußten ihm die Polen auszahlen. Damit ließ sich nichts anfangen, aber es hielt ihn für einige Zeit über Wasser.
Am besten, wenn er jetzt noch alles einpackte, was sein persönliches Eigentum war. Dann konnte er morgen nach der Auseinandersetzung sofort das Haus verlassen... Er packte und trank. Dabei fiel ihm ein, daß er doch vielleicht gut daran täte, sich von einem wirklichen Rechtskundigen Gewißheit zu holen, ob gegen den Gerichtsbeschluß nichts zu machen war... Er wußte, daß ein junger Rechtsanwalt mit dem er auf der Schule zusammen gewesen war, fast jeden Abend in einer etwas zweifelhaften Kneipe mit Damenbedienung zu finden war. Er beschloß den Versuch zu machen, ihn zu sprechen...
Beim Eintreten sah er sofort, daß er auch hier an den Unrechten gekommen war. Der Herr Rechtsanwalt saß mit einigen Kumpanen zusammen, die sich, wie er, schon in ziemlich vorgerückter Stimmung befanden. Kuba ließ sich ein Glas Bier geben und wehrte die Kellnerin ab, die ihm gern Gesellschaft geleistet hätte, wenn er ein Glas Wein spendierte, auf das sie gerade einen gewaltigen Appetit verspürte. Am anderen Morgen ging er schon um neun Uhr zum Rechtsanwalt „Weshalb haben Sie uns heute nacht geschnitten?“
„Ich hatte den Kopf voll Sorgen und war nicht in der Stimmung. Ich komme, Sie um Rat zu bitten. Wollen Sie sich mal diese Papiere ansehen?“
Der Rechtsanwalt warf einen Blick hinein. „Gegen den Gerichtsbeschluß ist nichts zu machen. Eine Beschwerde hat keine aufschiebende Wirkung. Sie können nur klagen.“
Als Kuba nach Hause kam, war Zielinski schon da... Er hatte einen ältlichen Herrn mitgebracht, der wie ein Geistlicher aussah und ihm auch als solcher und mit dem Namen Wolzlegier vorgestellt wurde. Ohne ein Wort zu sagen, brachte Kuba seine Bücher und legte sie den Herren vor. Eine halbe Stunde später war die Übergabe vollzogen... „Haben Sie sonst noch einen Wünsch, Herr Balk?“ fragte Zielinski mit eisiger Höflichkeit.
„Ja, der Titel ,Masur’ gehört mir... Ich verlange...“
„Wir verzichten auf den Titel“, unterbrach ihn Zielinski. „Unser Blatt wird ,Gazeta ludowa‘ heißen.“
Noch eine höfliche Verbeugung von beiden Seiten, dann schlug Kuba die Tür hinter sich zu.
Jeder wußte etwas und jeder was anderes. Einer erzählte, Balk habe das Geschäft an Zielinski verkauft und habe mindestens fünftausend Taler dabei verdient. Ein anderer behauptete, er sei bloß Geschäftsführer gewesen und von den Polen ohne einen Pfennig Geld auf die Straße gesetzt worden, weil er in der letzten Nummer einen sehr heftigen Artikel gegen die Polen gebracht habe. Das ältliche Mädchen, das im Papierladen die Kunden bediente, konnte keine Auskunft geben. Sie wußte nur die nackten Tatsachen zu berichten, daß Balk den Herren die Bücher übergeben und das Geschäft abgetreten habe. Dann sei Herr Zielinski zu ihr hereingekommen und habe ihr gesagt, daß alles beim alten bliebe, und habe ihr Herrn Wolzlegier als den neuen Geschäftsführer vorgestellt. Wo Balk geblieben sei, wisse sie nicht. Bald nach seinem Weggehen habe ein Fuhrwerk seinen Koffer abgeholt. Dann seien drei Bauern gekommen. Die habe der Herr Wolzlegier in das Kontor geführt und mit Schnaps und Rotwein bewirtet Sie hätten auch sehr laut miteinander gesprochen, aber auf polnisch, was sie nicht verstehe.
Die letzte Tatsache machte den Bewohnern der Stadt viel Kopfzerbrechen. Was hatten die Bauern bei dem katholischen Pfarrer zu tun, den die Polen eingesetzt hatten?
Die Sache war sehr einfach. Sparka hatte sich mit Wrona zu Pietrzyk begeben, und nach langem Hin- und Herreden waren sie zu der Überzeugung gekommen, daß es das Beste sei, Haus und Druckerei von Balk zu erwerben und ihn die Zeitung weiter herausgeben zu lassen. Sie waren nicht wenig verblüfft, als sie anstatt Balk einen alten Herrn vorfanden, der sie mit großer Zuvorkommenheit in sein Kontor nötigte und ihnen ohne große Einleitung zunächst einen sehr guten Likör und dann eine Flasche Rotwein vorsetzte.
Da es bei den Masuren Sitte ist, daß man den Gast nicht sofort nach dem Zweck seines Besuches fragt, sondern ihn erst bewirtet, hatten die Bauern sich nicht nötigen lassen. Dann hatte Sparka gefragt, ob sie nicht Herrn Balk sprechen könnten.
„Nein, Herr Balk ist nicht mehr bei uns angestellt. Ich habe wohl den Vorstand vom Bauernverein vor mir?“
„Ja, wir sind auch vom Bauernverein, aber wir wollten mit Herrn Balk etwas persönlich besprechen.“
„Ja, da sind Sie zu spät gekommen. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wo Balk geblieben ist. Er hat uns nicht mitgeteilt, wo er sich hinzubegeben gedenkt.“
„Hat denn Herr Balk hier gar nichts mehr zu sagen?“ fragte Wrona. „Wir dachten, ihm gehört das Geschäft?“
„Nein, meine Herren, da sind Sie im Irrtum. Das Haus und die Druckerei gehören dem Herrn Zielinski, den Sie ja wohl bei der Wahl kennengelernt haben. Wir geben auch die Zeitung wieder heraus, aber unter anderem Namen. Sie wird jetzt ,Gazeta ludowa‘’ heißen. Ich werde es mir angelegen sein lassen, ihre Interessen und Forderungen ebenso energisch zu vertreten, wie es im ,Masur’ geschehen ist. Ich hoffe, die Herren werden mich dabei unterstützen. Das Blatt wird Ihnen ein Vierteljahr ganz kostenlos geliefert, damit Sie sich erst ein Urteil bilden können. Ich würde Ihnen zu Dank verbunden sein, wenn Sie mir die Mitgliederliste des Bauernvereins zur Verfügung stellen wollen, dann erhält jeder von Ihnen die ,Gazeta ludowa‘ zugeschickt.“
Sparka gab den anderen beiden mit den Augen ein Zeichen. Sie tranken erst ihre Gläser leer, ehe sie sich erhoben. „Noch eine Frage, Herr Wolzlegier“, sagte Sparka. „Sie werden doch in Ihrem Blatt für die Polen schreiben?“
„Selbstverständlich, meine Herren, wir gehören doch zusammen. Sie sprechen unsere Sprache, wir sind ein und demselben Stamm entsprossen.“
„Es ist bloß ein Unterschied“, erwiderte Sparka ruhig, „wir sind schon seit fünfhundert Jahren Preußen und jetzt auch Deutsche, nicht bloß mit dem Verstand, sondern mit unserer Überzeugung, und ich glaube nicht, daß Ihre ,Gazeta ludowa‘ viele Leser finden wird.“
Etwas verdutzt sah der alte Herr den Bauern nach, die ihm zum Abschied nicht mal die Hand gereicht hatten. Eine Ahnung stieg in ihm auf, als wenn er hier eine vergebliche, erfolglose Arbeit leisten werde. Die Bauern waren innerlich heftig erregt, als sie auf die Straße traten. „Das ist doch eine ausgemachte Schweinerei von Balk, erst redet er uns vor, ihm gehört das Geschäft und heute ist er schon rausgeschmissen“, sagte Sparka heftig.
„Vielleicht kann er auch nicht dafür“, meinte Wrona begütigend. „Er hat doch gesagt, daß er das Geld den Polen zurückzahlen muß, und die haben es nicht genommen. Ich denke, wir fahren jetzt gleich nach Lipinsken raus, da werden wir ihn wohl beim Bruder finden.“
Martin war sehr erstaunt als die Bauern bei ihm erschienen und ihn fragten, wo Kuba geblieben sei. Gleichzeitig aber stieg eine geheime Freude in ihm auf, daß er oder vielmehr seine Frau so klug gewesen war, die Hand auf dem Geldbeutel zu halten...
Bei Grundmosers wurden die Vorgänge erst gegen Abend bekannt. Hannchens intimste Freundin kam atemlos an. „Hast du schon gehörte Der Balk ist heute vormittag von seinem Posten als Geschäftsführer der Zeitung abgesetzt und seitdem spurlos verschwunden.“ Hannchen wechselte die Farbe, was der Freundin nicht entging, aber sie wußte sich so zu beherrschen, daß sie in gleichgültigem Tone erwidern konnte: „So, das ist das neueste, was ich höre.“
„Ich dachte, du würdest es schon wissen. Er hat doch soviel bei euch verkehrt.“
„Viel verkehrt? Er ist manchmal bei uns gewesen, wie andere junge Leute auch.“
„Ach, Hannchen, mir machst du doch nichts vor. Wir haben alle angenommen, daß du schon im stillen mit ihm verlobt bist.“
„Da seid ihr alle auf dem Holzwege. Ich glaube mich jetzt erinnern zu können, daß er mal davon gesprochen hat, entweder das Geschäft zu kaufen oder die Stellung aufzugeben.“
„Aber Hannchen“, rief die Freundin ganz verdutzt aus, „er war doch als Besitzer eingetragen.“
„So? Da weißt du ja mehr als ich.“ In diesem Augenblick trat der Bürgermeister ins Zimmer. Hannchen sah ihm an, daß er etwas auf dem Herzen hatte. Sie warnte ihn durch einen Blick. „Weißt du schon, Vater, Lieschen erzählt mir eben, daß Herr Balk aus seiner Stellung weg ist.“
„Ja, ich habe es auch gehört. Aber mir ist die Sache nicht ganz klar. Er hat sich wohl zu tief mit den Polen eingelassen, und das ist ihm schlecht bekommen. Schade um den Menschen, er war ein ganz tüchtiger Geschäftsmann.“
Als die Freundin gegangen war, warf sich Hannchen dem Vater an die Brust. Ihre Fassung verließ sie. Sanft strich ihr der Vater über den Wuschelkopf. „Ja, mein Kind, es ist sehr traurig für dich. Aber jetzt heißt es, die Zähne zusammenzubeißen und den Kopf hoch zu halten, damit niemand etwas merkt. Es ist doch eine entsetzliche Blamage für den Mann.“
„Vater, er kann wohl nichts dafür...“
„Das ist sehr schön, daß dein Herz ihn zu entschuldigen sucht, aber ich komme um die Tatsache nicht herum, daß er von den Polen Geld und den Auftrag angenommen hat, hier in seiner Heimat für das Polentum, in dem wir unseren schlimmsten Feind zu sehen haben, zu wirken. Das ist eine Unehrlichkeit gewesen, die ihn schließlich zu Fall gebracht hat. Jetzt können wir sehr froh sein, daß ich seine Werbung auf geschickte Weise zurückgewiesen habe.“ Mit einem Ruck richtete Hannchen sich auf, „Du irrst dich, Vater, ich bin mit ihm verlobt... Mit eurer Einwilligung.“
„Kind, das war ja doch nur ein Ausweg. Ich glaube, er wird sich nicht mehr bei uns sehen lassen. Sein erster Gang hätte zu dir sein müssen, damit wir nicht die Neuigkeit von anderen zu hören bekommen.“
„Das hat er bloß aus Rücksicht auf dich unterlassen. Das wüßte doch jetzt schon die ganze Stadt, wenn er sofort nach seiner Entlassung zu uns gekommen wäre. Das andere hätte man sich hinzugedacht.“
„Darin kannst du vielleicht recht behalten... Aber du mußt auch an deine Zukunft denken. Er ist nichts, er hat nichts. Er kann im besten Falle vielleicht eine kleine Stellung als Redakteur an einer Zeitung bekommen... Das sind doch keine Aussichten für die Zukunft.“
Mit großer Anstrengung drängte Hannchen die Tränen zurück. „Vater, ich habe ihm Treue gelobt und werde sie halten.“
„Vorläufig wissen wir ja noch nicht, ob er dich nicht aufgibt entweder, weil er sich scheut dir und uns gegenüberzutreten, oder weil er als kluger Kopf eine Fessel abstreifen will, die ihn an seinem Fortkommen hindern muß.“
„Das erste glaube ich nicht und das zweite verstehe ich nicht. Das Bewußtsein, daß ich treu zu ihm halte und, daß er für unsere Zukunft arbeiten muß, kann ihm doch nur ein Ansporn sein.“
„Das kann vielleicht der Fall sein. Aber wir brauchen uns jetzt darüber den Kopf nicht zu zerbrechen, ehe wir nicht einmal wissen, wo er geblieben ist und was er zu tun gedenkt.“
Vier Tage vergingen für Hannchen in unerträglicher Pein. Dann kam ein Brief aus Berlin, worin Kuba rückhaltlos seine Schuld eingestand, die er durch einen Vertrag mit den Polen sich aufgeladen habe. Das sei eine Dummheit, die er aus Leichtsinn begangen habe. Die zweite Schuld sei, daß er nicht freiwillig von seinem Posten zurückgetreten sei, als Zielinski sich ihm als Kandidat andrängte. Ob sie ihm vergeben könne und treu zu ihm halten wolle? Er hoffe, bald wieder festen Grund unter den Füßen zu haben, denn er sei bereits in einem großen Zeitungsbetrieb in der Expedition mit einem allerdings recht bescheidenen Gehalt angestellt. Er wolle sich jedoch nebenbei auf die Akquisition von Inseraten werfen, womit viel Geld zu verdienen sei. Unterschrieben war der Brief: Jakob Balk.
Hannchen zeigte den Brief den Eltern, die sie gewähren ließen, als sie sich hinsetzte und Kuba in einem langen Brief antwortete.
Nach wenigen Wochen war die Episode Balk in der masurischen Hauptstadt vergessen. Auch das Gerede über Beziehungen Hannchens zu dem spurlos verschwundenen Balk war verstummt. Desto eifriger beschäftigte man sich mit seinem Nachfolger. Der alte Herr, der regelmäßig jeden Morgen in die vor dem polnischen Tor gelegene katholische Kapelle ging und dort öfter die Messe las, verrichtete eine Danaidenarbeit. Zuerst versuchte er, die Post zu bewegen, seine ,Gazeta ludowa‘ die bisherigen Bezieher des „Masur“ weiterzugeben, natürlich ohne Erfolg. Dann sammelte er mühsam Adressen von Bauern und verschickte das Blatt unter Streifband. Die meisten Sendungen kamen mit dem Vermerk zurück. „Annahme verweigert“, denn der Bauernverein hatte auf Sparkas Betreiben an seine Mitglieder die Weisung ausgehen lassen, das Blatt nicht zu halten... Darauf trat Pietrzyk mit seinem Anhang aus dem Verein aus. Er war der Meinung, daß selbst ein polnisches Blatt, wenn es nur scharf gegen die Regierung schrieb, besser sei als gar keins. Auch Bogumil war dieser Ansicht und lieferte der „Gazeta ludowa“ Artikel, die ihm sehr gut bezahlt wurden. Als das neue Vierteljahr kam, waren einige sechzig Exemplare bei der Post bestellt. Und da es auch nicht das kleinste Inserat aufzuweisen hatte, erforderte die Drucklegung erhebliche Zuschüsse. Selbst die Kundschaft im Papierladen blieb aus, sie beschränkte sich auf die Kinder, die beim kleinsten Einkauf mit Abziehbildern und einigen Kinkerlitzchen beschenkt wurden...
Nach einiger Zeit brachte die „Gazeta ludowa“ auf der ersten Seite die Mitteilung, daß Bogumil die Leitung des Blattes übernommen habe und es in rein masurischem Sinne leiten werde. Der Pfarrer Wolzlegier gab daneben noch ein Wochenblättchen „Evangelik“ heraus, das auf die kirchenfrommen Masuren Einfluß zu gewinnen suchte. Es fand auch keine Abnehmer...
Alle diese Dinge schrieb Hannchen mit geheimer Freude ihrem Schatz nach Berlin. Sie hatte erfahren, daß die Polen das Geschäft verkaufen und die beiden Blätter eingehen lassen wollten, weil sie an der Erreichung ihrer Ziele verzweifelten. Ob Kuba — sie nannte ihn nicht mehr Bogislav — nicht zurückkommen und das Haus samt Druckerei kaufen wolle? Ihre Mutter sei bereit, das dazu erforderliche Kapital herzugeben, und der Vater sei damit einverstanden. Im Vertrauen könne sie ihm auch mitteilen, daß der Landrat es nicht ganz ungern sehen würde, wenn die ,Gazeta‘ wieder durch den „Masur“ abgelöst würde. Kuba erwiderte umgehend, er habe sich über die Nachrichten, die ihm eine große Genugtuung bereitet hätten, sehr gefreut. Er gedenke aber nicht mehr nach Lyck zurückzukehren. Er stehe schon auf festen Füßen. Er habe sich mit einem alten Herrn zusammengetan, der schon dreißig Jahre für eine ganze Anzahl der besten Zeitschriften Inserate werbe und sehr viel dabei verdiene.
„Das ist ein ruhiges, sicheres Geschäft mit bester Kundschaft“, schrieb er, „wie jedes andere... Mein Freund Gorski — kein Pole, sondern ein echter Deutscher — hat eine ganz beträchtliche Anzahl großer Firmen an der Hand, die sich von ihm bei der Verteilung ihrer Inseratenaufträge beraten und ihn eine Provision, die bis zu 25 Prozent beträgt, daran verdienen lassen. Er will sich zur Ruhe setzen und führt mich jetzt schon bei seiner Kundschaft ein. Ich brauche jedoch zur Übernahme des Geschäfts etwa dreißigtausend Mark. Wenn deine Mutter mir das Geld für diesen Zweck zur Verfügung stellen will, werde ich es mit Dank annehmen. Vielleicht hat dein Vater einen Bekannten hier, der als sein Vertrauensmann meine Bücher prüft... Noch besser wäre es, wenn er selbst käme und dich mitbrächte.“
Der Bürgermeister schmunzelte, als er den Brief las. „Da hopst dein Herz wohl vor Freude? Na, ich freue mich auch, daß du recht behalten hast.“ Hannchen legte ihm den Arm um die Schultern und schmiegte ihre Backe an seine. „Wann fahren wir nach Berlin, lieber Vater?“
„Nicht so stürmisch, Kind, nicht so stürmisch, das will überlegt sein. Ich kann doch hier nicht so an den Plutz wegfahren und mein Amt an den Nagel hängen. Aber im Juli oder August findet eine Sitzung des Raiffeisenverbandes in Berlin statt. Da müßte ich eigentlich dabei sein. Bis dahin mußt du dich schon gedulden. Schreibe ihm und frag ihn an, ob die Sache mit dem Geld noch solange Zeit hat. Wenn nicht, dann muß ich einen Freund in Berlin damit beauftragen.“
„Aber wir fahren doch trotzdem hin?“
„Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben.“
Vierzehn Tage später hatte Kuba das Geld erhalten und das Geschäft übernommen. Er schrieb, daß der größte Teil der Kundschaft ihm treu geblieben sei. Die anderen werde er sich auch noch heranholen...
So langsam wie diese Sommerwochen war Hannchen noch nie die Zeit vergangen. Die Mutter hatte ihre gütige Hand weit aufgetan und die Tochter für den Besuch der Reichshauptstadt neu eingekleidet. Endlich kam der Tag der Abreise heran. Hannchen hatte außer einer Fahrt nach Königsberg noch nichts von der Welt gesehen. Ihre empfängliche Seele öffnete sich weit, als sie abends bei Thorn über den majestätischen Weichselstrom fuhren, der mit Holzflößen dicht bedeckt war. Die Flosseken in ihrer malerischen Kleidung saßen um die Ufer, auf denen sie ihr Abendessen kochten.
Im Morgengrauen kamen sie in Berlin an. Kuba erwartete sie auf dem Bahnhof und brachte sie nach zärtlicher Begrüßung in ein kleines Hotel, das nicht weit von seiner Wohnung in der Friedrichstraße lag. Dann ging er ins Geschäft. Er hoffte heute einen großen Auftrag abzuschließen. Gegen Mittag erschien er wieder mit sehr vergnügter Miene, um sie zum Essen abzuholen, das sie in einer Weinstube einnehmen wollten. Hannchen bat, ihr zuerst sein Geschäft zu zeigen.
„Das ist nicht viel zu sehen...“ erwiderte Kuba lachend. In einer Seitenstraße des Berliner Zeitungsviertels lag der kleine Laden, der mit sehr einfachen Bureaumöbeln ausgestattet war. Dahinter befand sich ein mäßig großes Zimmer, in dem Kuba wohnte...
„Das sieht allerdings sehr bescheiden aus“, meinte Hannchen.
„Aber hier“, rief Kuba freudestrahlend und holte aus dem Geldschrank sein Hauptbuch heraus. „Willst du dich mal überzeugen, wieviel ich im letzten Monat verdient habe?... Und heute kommen noch dreitausend Mark hinzu.“
Er zog eine Anzahl Zettel aus der Tasche. „Das sind die unterschriebenen Aufträge. Das Geld erhalte ich von den Zeitungen, sobald sie die Beträge für die Inserate eingezogen haben.“
Die acht Tage, die der Bürgermeister in Berlin bleiben konnte, vergingen wie im Fluge. Am Vormittag wurde Kuba von seinem Geschäft in Anspruch genommen, aber die Nachmittage und Abende verlebte er mit Hannchen und ihrem Vater. Von den Zeitungen, für die er arbeitete, erhielt er Eintrittskarten für alle Theater... An dem dazwischenliegenden Sonntag fuhren sie nach Potsdam hinaus und wanderten durch den Park von Sanssouci... Hannchen schwamm in Seligkeit, die nur durch die bevorstehende Trennung etwas getrübt wurde. Der Vater tröstete sie mit der Zusage, daß sofort nach ihrer Rückkehr die Verlobung öffentlich bekannt gegeben werden sollte. Kuba sollte zu Weihnachten kommen und die Hochzeit am dritten Weihnachtstag stattfinden.
Beim Abschied quetschte Hannchen ein Tränchen ab. Der Trennungsschmerz war jedoch nicht so groß, denn sie dachte an die erstaunten Gesichter ihrer Freundinnen, wenn sie die Verlobungsanzeige erhielten.
Das Ehepaar Stopka führte eine sehr glückliche Ehe. Der Vater, der noch sehr rüstig war, zog wieder zu ihnen und half fleißig in der Wirtschaft. Garbata war der Kopf, der alles übersah und leitete... Wie manchesmal sagte der Alte, wenn sie nach Feierabend rauchend vor der Tür saßen, während die junge Frau noch die Milch aufmaß und nach dem Keller brachte: „Ludwig, du hast einen guten Griff getan. Wenn ihr man mit dem Geld durchhaltet...“
„Aber Vater, was fehlt uns denn, wenn wir die Zinsen aufbringen und zu leben haben.“
„Dazu wird es schon reichen, wenn nicht ‘mal ein ganz schlechtes Jahr kommt.“
„Da müßt‘ es schon Tag und Nacht regnen, wenn unser Boden ganz versagen sollte.“
Es war rein, als wenn der Alte vorgespukt hatte. Das Frühjahr ließ sich sehr gut an, daß Ludwig schon meinte, es würde eine Ernte geben, wie seit zwanzig Jahren nicht... Aber schon Mitte Mai setzte der Regen ein. Auf dem ganz leichten Sandboden, wo es jeden Tag zweimal und am Sonntag dreimal regnen kann, stand das Getreide so hoch und dicht wie ein Rohrwald... Auf Ludwigs schwerem Boden stand es womöglich noch besser. Aber es war zu früh und zu üppig emporgeschossen, denn es begann sich noch vor der Blüte zu lagern. Und jeden Tag kam ein Regenguß, der es noch fester anklatschte...
Sorgenvoll kam Ludwig vom Felde heim. „Lowiska, wenn das Wetter sich nicht bald ändert, wird es uns in diesem Jahre sehr knapp werden. Außer Futter und Kartoffeln, die auf dem Stück leichten Boden stehen, werden wir nichts ernten. Das Getreide fault schon auf dem Halm. Ach, bloß drei, vier Tage ein ordentlicher Wind, dann möcht es wieder aufstehen...“
Statt Wind kam Hitze, und fast jeden Nachmittag zog ein Gewitter an.
Schon vor Johanni mußte die Wiese gemäht werden. Solche dicken Schwaden hatte es schon lange nicht gegeben. Aber was half das, wenn man das Gras nicht trocken bekam? Hatte man es glücklich so weit trocken, daß man es in kleine Kepse setzen konnte, dann kam ein Gewitter, daß die Haufen wieder völlig durchnäßten, so, daß sie ausgestreut werden mußten. Das Heu war dabei ganz dunkel geworden und roch dumpfig. Es war also nicht mehr zum Füttern zu gebrauchen.
Garbata tröstete ihren Mann. Sie würden sich schon das nächste Jahr durchquälen. „Gott gebe, daß du recht behältst. Ich fürchte, das wird das letzte Jahr sein, daß wir hier auf Rackow wirtschaften. Mit dem Heu geht es allen so wie uns. Das Futter wird gar nicht zu bezahlen sein. Es lohnt sich nicht mal, Torf zu stechen, denn der wird auch nicht trocken werden. Auf dem leichten Boden sieht es auch nicht gut aus. Paß auf, das Getreide wird nicht zu bezahlen sein.“
Eines Morgens, als der Briefträger eben dagewesen war, fand Garbata ihren Mann fassungslos mit einem Brief in der Hand im Wohnzimmer sitzen. „Was hast du denn, Ludwig?“
„Ach, frag’ nicht“ erwiderte er unwirsch... Dann brach er los. „Das sind Geschwister! Erst kommt die eine, na, die hat‘s wohl gebraucht in der Stadt, aber nun kommt auch die andere... Da lies, die Male kündigt uns die Hypothek. Sie will was nachlassen, wenn wir ihr das Geld schon zum Herbst auszahlen. Ich mochte wissen, wovon, wenn wir selbst Brotgetreide kaufen werden. Ich rühr’ keinen Finger mehr.“
Garbata legte ihm den Arm um die Schultern und streichelte seine Backe. „Aber Ludwig, wer wird so verzagt sein? Laß anspannen und fahr’ zur Male. Sag’ ihr, daß wir nicht können. Wenn sie darauf besteht dann soll sie Rackow übernehmen, oder sie soll es verkaufen lassen.“
„Verkaufen?“ fuhr Ludwig auf. „Und was soll aus uns werden? Soll ich als Tagelöhner gehen?“
Sie setzte sich auf sein Knie und legte den Kopf an seine Brust „Mein guter Ludwig, das ist ganz egal, wie man sein Brot verdient... Und wir beide werden nicht verschwinden.“
„Ja, du kannst wieder nähen und ich geh’ als Knecht.“
„Soll das für mich ein Vorwurf sein? Ich habe mich lange genug gesträubt aber du wolltest ja nicht anders. Hättest dir lieber die Marie heiraten sollen, dann hättest nicht solche Sorgen...“
Er legte den Arm um sie und zog sie fest an sich. „Aber Lowiska, ich habe nicht mit einer Silbe daran gedacht. Ich will lieber mit dir trockenes Brot essen, als...“
„Na, dann ist ja alles in Ordnung. Erst fahr’ du zur Male, und wenn du nichts ausrichtest, dann müssen wir uns umsehen... Wir werden doch für die Hypothek, die an sicherer Stelle steht eine andere bekommen. Oder biete ihr ein Prozent Zinsen mehr...“
Am Abend kam Ludwig ganz mutlos nach Hause. Die Schwester hatte ihm die Ohren voll gestöhnt. Mit der Ernte sah es bei ihnen auch so schlecht aus. Das Heu war völlig verdorben, und die Kartoffeln, die auf schwerem Boden standen, faulten schon, obwohl sie kaum so groß wie Walnüsse waren. Sie brauchte ihr Geld, um durchzuhalten. Und der Schwager hatte hinzugefügt, sie müßten die Zwangsversteigerung beantragen, wenn er das Geld nicht zur rechten Zeit zurückzahlte.
Garbata tröstete ihn wieder, so gut sie es konnte. Er solle gleich am nächsten Tage zur Bank fahren, von der er die letzte Hypothek bekommen hatte. Ludwig kam noch mutloser zurück als am ersten Tage. Die Herren hätten ihm rundweg erklärt, sie hätten kein Geld. Sie würden wahrscheinlich sogar genötigt sein, die unsicheren Hypotheken zu kündigen... „Versuch’ doch noch mal anderswo...“
„Na, wo denn? Die wohlhabenden Bauern haben auch kein bares Geld liegen. Ich habe heute den Wrona in der Stadt getroffen, der hat mir erzählt, daß er von der Landschaft dreißigtausend Mark aufgenommen hat, bloß um durchzuhalten.“
Auf Garbatas Zureden fuhr Ludwig noch auf mehrere Stellen und kehrte jedesmal ohne Erfolg zurück. Überall erhielt er die Antwort: „Das wird ein Hunger werden. Wir wissen noch selbst nicht, wie wir unser Vieh und unsere Leute durchhalten werden.“
Als Mitte August die entsetzliche Regenzeit aufhörte, standen die Landwirte vor dem Nichts. Fast überall wurde das gelagerte Getreide nicht gemäht, sondern untergepflügt... Das Vieh wurde auf die Äcker getrieben, um sich dort satt zu fressen, denn das Heu wurde von ihm verschmäht.
Eines Tages, gegen Ende August meinte Garbata beim Abendbrot: „Ludwig, wir müssen uns jetzt besprechen, was wir tun sollen. Hierzubleiben hat keinen Zweck. Ich habe die paar hundert Mark, die ich mir erspart habe, wie in Zangen festgehalten. Wir konnten damit die Zinsen bezahlen. Aber das hat keinen Zweck.“
„Nein, Lowiska, da hast du recht. Aber wo sollen wir bleiben, wenn wir hier rausgehen? Ich habe schon gedacht, wir gehen nach Westfalen. Da grabe ich Kohlen und du schneiderst.“
„Nein, Ludwig, ich gehe nicht weg aus der Heimat. Wir werden auch hier unser Brot essen. Ich muß morgen nach der Stadt fahren. Kann ich ‘nen Einspänner bekommen?“
„Aber selbstverständlich, die Pferde haben nichts zu tun. Was willst denn in der Stadt? Hast Eier und Butter zu verkaufen?“
„Das auch. Aber die Hauptsache ist, daß ich eine Wohnung für uns mieten will.“
„Aber Lowiska, wir können doch nicht hier weg und alles stehen lassen.“
„Wir müssen. Die beiden Knechte wollen nach Westfalen gehen, eine von den Margellen hat sich in der Stadt vermietet. Du schreibst morgen gleich an die Landschaft und die anderen Hypothekengläubiger einen Brief, daß sie sich einigen und spätestens zum ersten Oktober einen Verwalter herschicken sollen, der die Wirtschaft übernimmt. Du bist nicht imstande, die fälligen Zinsen zu zahlen und die Wirtschaft aufrecht zu erhalten. Du mußt weggehen und für dein Brot arbeiten.“
Sie sah, wie ihrem Mann die Tränen in die Augen schossen. Sanft zog sie seinen Kopf an ihre Brust „Ja, mein lieber Ludwig, das ist traurig, wenn man gewohnt ist, auf seinem eigenen Grund und Boden zu stehen, und dann mit dem weißen Stab in der Hand aus dem Hause gehen muß, wo man geboren ist. Das kann ich dir nachfühlen. Aber der Mensch soll nicht rückwärts schauen, sondern vorwärts. Wir werden es in der Stadt auch schwer haben, aber dort arbeiten wir für uns und nicht bloß für die Gläubiger.“
Früh am anderen Morgen fuhr Garbata weg und kam erst spät abends heim. „Es ist alles in Ordnung“, rief sie schon vom Wagen ihrem Manne entgegen. „Komm’ rein, laß dir erzählen. Also zuerst: Ich war auf der Bank. Die Herren haben furchtbar geschimpft, aber ich ließ nicht locker, bis sie mir zusagten, daß sie einen Verwalter schicken wollten. In drei, vier Tagen kann er hier sein. Dann übergibst du ihm die Wirtschaft. Laß ihn sehen, wie er damit fertig wird.“ Sie lachte kurz auf. „Weißt, was sie mir vorgeschlagen haben? Sie wollten uns die Hypothek für die Male geben.“
„Aber Lowiska, dann ist ja alles gut.“
„Nein, Ludwig, ich will mich nicht mehr den Winter hier durchhungern, denn zum Frühjahr können wir die Zinsen ebensowenig zahlen wie jetzt. Und dann haben wir keine Leute, kein Vieh, kein Saatkorn und kein Geld... Nein, nein, ich habe auch schon Wohnung für uns gemietet. Zwei Stuben und Küche und eine kleine Kammer, wo der Vater schlafen kann.“
„Wollen wir den auch mitnehmen?“
„Aber Ludwig“, erwiderte Garbata vorwurfvoll, „sollen wir den alten Mann hier hungern lassen? Sein Altenteil wird er doch nicht bekommen, und wo zwei sich satt essen, wird er auch noch satt werden. Und hier“, sie legte ein Paket auf den Tisch und öffnete es „das sind meine Geschäftskarten, die ich mir habe drucken lassen. ,Frau Luise Stopka, geborene Mottek, gibt sich die Ehre, Ihnen anzuzeigen, daß sie am 10. September in Lyck, Falkstraße 1, eine Schneiderei eröffnet. Ich bitte Sie, mich mit Ihren Aufträgen zu beehren. Alle Bestellungen werden prompt und geschmackvoll ausgeführt.‘“
Ludwig saß schwer atmend ihr gegenüber. „Aber Lowiska, ich kann mich doch nicht von dir ernähren lassen.“
„Das brauchst du auch nicht. Ich habe mich schon erkundigt. Du gehst auf die Bahn arbeiten.“
Es erregte überall Ansehen, daß Ludwig Stopka seinen Bauernhof, der schon seit Jahrhunderten in der Familie war, aufgeben mußte. Die Hauptschuld trug ja das schlechte Jahr, aber auch der alte Stopka war nicht ohne Schuld. Wieso mußte er die beiden Töchter zu gleichen Teilen erben lassen und den Sohn so belasten, daß er nicht durchhalten konnten. Und schließlich Ludwig auch. Weshalb suchte er sich nicht eine Frau mit Geld, anstatt eine buckliche Schneiderin zu heiraten?
Garbata hörte auch von dem Gerede, aber sie kehrte sich nicht daran. Sie hatte mit ihrem Gespann erst die Möbel nach der Stadt schaffen lassen und die kleine Mahnung ganz behaglich eingerichtet. Einige Tage später kam Ludwig, der noch bis zur Übergabe in Rackow geblieben war. Die Bank hatte natürlich einen Polen geschickt, der greulich fluchte und wetterte, womit er denn hier wirtschaften solle...
Die Lampe brannte auf dem Tisch. Ein köstlicher Duft von gekochten Fischen schlug Ludwig entgegen, als er seine neue Wohnung betrat. Der Vater saß schon erwartungsvoll vor seinem Teller und rief ihm einen Willkomm zu. Garbata kam aus der Küche und faßte ihn um. „Herzlich willkommen, mein lieber Ludwig, in unserer neuen Wohnung. Setz’ dich gleich an den Tisch, ich trage auf.“
Am nächsten Tage ging Garbata auf den Wochenmarkt. Als sie zurückkam, brachte sie schon Kundschaft mit Frau Wrona, die sich eben Zeug zu einem neuen Staaskleid gekauft hatte, das sie auf der Doppelhochzeit tragen wollte, war ihr in die Arme gelaufen. Nun saßen die beiden Frauen lange in eifriger Beratung. Garbata sollte die ganze Aussteuer für Annchen, die ihren Otto Pietrzyk heiratet und für die Schwiegertochter, die von Wronas wie ihr eigenes Kind ausgestattet wurde, nähen. Nicht bloß die Kleider, sondern auch die feine Wäsche, wie sie sich für eine Pfarrersfrau geziemte. Ihr Adolf, der schon über ein Jahr Prediger in Ukta war, hatte die vorzügliche Pfarrstelle in Orlowen bekommen.
„Ja, Garbata“, sagte sie mit freudestrahlendem Gesicht „unsere Kinder sind alle gut eingeschlagen. Die Frieda lebt ganz gut mit ihrem Mann. Die beiden haben sich gesucht und gefunden. Ich dachte, sie wird ein bißchen leicht mit dem Geldausgeben sein, aber nein, kein Gedanke. Die sparen, wo und wie sie können. Sie wollen sich durchaus eine Villa bauen. Ich habe schon gesagt: In Gottes Namen... Na, und der Adolf, der macht erst ein Glück! Du weißt doch, daß er sich kurz vor dem Examen in den Kopf gesetzt hatte, was anderes zu werden. Aber wie er die Lieschen kennengelernt hat, war er wie umgedreht. Wir sind ein paarmal nach Ukta gefahren, um ihn predigen zu hören. Tränen habe ich geweint vor Freude. Rein wie unser alter Pastor in Kumilsko.“
„Na, und die Annchen?“
„Ach, das ist ‘ne Viejuchel. Dies Jahr zu heiraten, ist doch ein reiner Unsinn. Aber sie will doch nu durchaus. Na, da wird der Schwiegervater und wir werden auch helfen müssen, damit sie durchhalten, denn geerntet hat der Otto doch nichts.“
Als Ludwig gegen Mittag nach Hause kam, hörte er seine Frau in der Küche mit lauter Stimme singen.
„Du bist ja so vergnügt.“
„Ich habe auch alle Ursache dazu. Frau Wrona war hier. Ich habe die ganze Aussteuer für Tochter und Schwiegertochter zu nähen. Ich muß mir schon Hilfe dazu annehmen. Und was hast du ausgerichtet?“
„Ich gehe schon morgen an die Bahn arbeiten. Zwei Mark fünfzig den Tag.“
Garbata faßte ihren Mann um und schwenkte ihn um sich herum. „Da siehst du, Ludwig, ist das nicht besser, als in Rackow sich mit Sorgen zu quälen? In drei, vier Jahren haben wir so viel gespart, daß wir uns eine Chalupp und ein paar Morgen Land kaufen können.“
***
Mit der Polenherrlichkeit nahm es in Masuren ein unrühmliches Ende. Das schleichende Gift, das die Polen den Masuren einimpfen wollten, ließen sie gar nicht an sich herankommen. Die „Gazeta ludowa“ und der „Evangelik“, aus dem der Pferdefuß nur zu deutlich hervorguckte, erschienen einige Monate unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Auch Pietrzyk mit seiner Sippe war schon nach kurzer Zeit abgesprungen. Den Polen wurde das Vergnügen, bei dem sie ein gehöriges Stück Geld zugesetzt hatten, auf die Dauer zu teuer. Um so mehr, als sich auch nicht der geringste Erfolg einstellte. Auch Bogumil hatte sich zurückgezogen. Das Anwesen wurde wie sauer Bier ausgeboten, bis es ein Kaufmann für einen Spottpreis kaufte, um es niederzureißen und an seiner Stelle ein großes Kaufhaus aufzubauen...
In Ortelsburg dauerte die Komödie noch etwas länger. Bis Herr Malecki wegen einiger Artikel angeklagt wurde und es vorzog, spurlos zu verschwinden...
Langsam schied der masurische Bauernstand die Fremdkörper, die polnischen Grundbesitzer wieder aus... Die meisten hatten mit geringen Mitteln gekauft und sich dabei auf eine tatkräftige Unterstützung ihrer Landsleute verlassen. Aber der Pole ist auch krumm, wenn er sich bückt. Die Hilfe blieb aus. Ein paar schlechte Jahre und mageren Saatboden kann nur gesunder Grundbesitz vertragen. Und die Masuren waren und sind gesund. Sie sind ebenso genügsam, ja in manchen Dingen noch genügsamer als der Pole, und viel fleißiger... Als der Weltkrieg ausbrach, waren kaum noch ein paar Bauerngüter in polnischer Hand. Der Sturm des Weltbrandes raste über die Masuren hinweg und vertrieb sie von Herd und Hof, aber kaum war der deutsche Boden von den Feinden gesäubert als sie wieder in der Heimat erschienen und mit Unterstützung aller deutschen Stämme an den Wiederaufbau ihrer zerstörten und verbrannten Gehöfte gingen.
— — — Und wieder kam das schleichende Gift ins Land, als Polen durch den Unverstand seiner Befreier zu einem selbständigen Königreich erklärt wurde. Schärfer und energischer als bisher, haben sich die Masuren auch gegen diesen Ansturm gewehrt. Ich weiß von keinem, der abtrünnig geworden ist. Nein, meine geliebte Heimat, mein schönes Masurenland ist kerndeutsch... und soll es bleiben!
Ende.
1 Die lachende Dritte.