Das Vermächtnis
Ein polnischer Gutsroman
Original-Roman von Fritz Skowronnek
Johannes Knoblauch, Verlag, Berlin SW
Alle Rechte vorbehalten
Druck der Spannerschen Buchdruckerei in Leipzig
Erstes Kapitel
Die Nacht war bitter kalt. Der Herbststurm, der am Tage mit Heulen und Brausen die Wipfel der entlaubten Bäume geschüttelt hatte, war zur Nacht ruhiger geworden. Aber er hatte aus den Steppen Rußlands die Kälte mitgebracht. Wie mit Messern schnitt sie dem Reiter ins Gesicht, der einsam die Straße zog. Er war sonst gegen die Kälte wohl verwahrt. Der Kopf steckte bis über die Ohren in einer dicken Pelzmütze, der Oberkörper war mit einem unbezogenen Schafspelz bekleidet, wie ihn die Landleute in Galizien zu tragen pflegen. Der Pelz sah grau und verwittert aus, wie das Gesicht seines Trägers, das heute auch noch einen sehr ärgerlichen Ausdruck angenommen hatte. Trotzdem versäumte der Reiter nicht, seinem struppigen Gaul von Zeit zu Zeit ermunternd zuzusprechen. Da nickte das Pferd jedesmal mit dem Kopfe, als wenn es die Worte verstände, und beschleunigte seine Schritte — jedoch vorsichtig, denn der Weg war schwierig. Er führte ziemlich steil herab und war außerdem mit Steinen dicht besät. Wer nie eine richtige polnische Landstraße gesehen hat, konnte kaum glauben, daß dieses Trümmerfeld für die große Begüterung, die in der Nähe lag, die einzige Verbindung mit Lemberg, der nächsten großen Stadt, darstellte.
Wie oft hatte der alte Diener des Herrn von Poranski, jenes reichen Besitzers des wegen seiner vorzüglichen Bewirtschaftung weit und breit bekannten Rittergutes von Chmilowo, bei Tag und Nacht diesen Weg zurückgelegt. Heute aber war ihm der Auftrag, nach Lemberg zu reiten, sehr ungelegen gekommen. Von dem letzten Gelage des Neffen des Herrn von Poranski, der sich den reich besetzten Tisch seines Onkels sehr gut bekommen ließ, hatte er eine Flasche Rum beiseitegebracht, und der Topf mit dem kochenden Wasser hatte schon in der Ofenröhre gestanden. Da läßt sein Herr ihn plötzlich rufen und übergibt ihm einen Brief an seinen Freund, den Notar Kolakowski in Lemberg. Es war acht Uhr abends. Drei Stunden hin, drei Stunden zurück — zwei Stunden Ruhe fürs Pferd, da ist die Nacht herum.
Er bog sich vornüber und klopfte seinem Pferd auf die dichte Mähne. „Lauf, mein Braunes — wenn wir erst den Teufelsgraben heruntergeklettert sind, geht's eine ganze Weile besser, dann steige ich ab und laufe mit dir um die Wette, um mir die Beine warm zu laufen. Lauf, mein Braunes, lauf!“
Er schwieg und hing seinen Gedanken nach. Das heiße Wasser, das in der Ofenröhre nutzlos brodelte, hatte er vergessen. Er dachte an seine Zukunft. Sein Herr lag schwer krank. Wenn er die Augen zumachte, fing eine andere Wirtschaft auf Chmilowo an. Dann erbte der Neffe, der junge Herr Viktor, die ganze schöne Besitzung. Das würde ja wohl eine sehr lustige Geschichte werden, so etwa wie bei dem verstorbenen Vater des Herrn Viktor — jeden Tag Gäste und viele Gäste.
Er zog die Zügel an und ermunterte sein Pferd durch einen leichten Schenkeldruck zum Weitertraben.
„Geh vorsichtig, mein Braunes! — Hundertmal hast du mich schon den Teufelsgraben heruntergetragen. Er wird auch diesmal —“
Ein tiefes, zorniges Knurren schnitt ihm die letzten Worte ab. Mehr erstaunt, als erschreckt, bog sich der alte Diener zur Seite. Sein treuer Soldan, ein großer, starker Wolfshund, war ihm heimlich gefolgt und schon eine ganze Zeit unbemerkt in einiger Entfernung mitgelaufen. Jetzt heulte der Köter wütend auf und sprang grimmig gegen die dunkle Gestalt an, die eben hinter einem dichten Gebüsch hervortrat.
Der Reiter hatte noch kaum ein erschrockenes „Jesus Maria“ gemurmelt, als auch schon ein Schuß krachte und der Hund heulend zusammenbrach.
Der durch die Finsternis zuckende Lichtstrahl, die dicht vor seinen Füßen einschlagenden Schrote machten das Pferd stutzig. Erst tat es einen Satz zur Seite, dann raste es vorwärts den steilen Abhang hinunter, den es sonst langsam hinabkletterte.
Vergebens suchten die Hufe auf dem losen Geröll einen Halt zu finden — ein dumpfer Fall — ein Rollen — zuletzt ein heftiges Zacken, wie wenn das Tier im Todeskampfe mit den Füßen schnellt.
Dann wurde es still. — Nur der Wind zog pfeifend durch die Schlucht, auf deren Grund ein kleiner Bach munter dahinsprang.
Oben auf dem Felsen stand regungslos ein Mann und horchte mit fiebernden Pulsen und vorgebeugtem Körper in die Nacht hinaus. Trotz des kalten Windes standen ihm dicke Schweißtropfen auf dem Gesicht, dabei schlugen ihm die Zähne wie im Fieberfrost zusammen. Erst nach einer Weile hob er zögernd den Fuß, um vorsichtig dem Todesweg des Reiters nachzuklettern.
Schon nach wenigen Schritten machte er halt und lauschte wieder. Dann gab er sich einen Ruck und schritt vorsichtig weiter.
Je tiefer er stieg, desto mehr beugte er sich vornüber und forschte mit Auge und Ohr nach dem Reiter. Jetzt glaubte sein Auge eine dunkle Masse zu erkennen. Er blieb stehen und horchte. Alles war still. Zaghaft ging er näher. Das war der große Felsblock, um den herum der Weg die scharfe Biegung machte. Hier war wohl das Pferd zu Fall gekommen! Dann war es über den Weg hinaus den Abhang abwärts in die Schlucht gerollt.
Lange stand der Mann unentschlossen am Rande der Schlucht. Er fürchtete sich vor dem, was er dort unten finden mußte. Endlich schlich er weiter. Er legte sein Gewehr auf den Boden und begann rückwärts gewandt den Abstieg. In wenigen Minuten war er unten. Nun stand er wieder und lauschte. Sein Auge vermochte die Finsternis nicht zu durchdringen. Er griff in die Tasche und holte eine Schachtel Streichhölzer hervor. Mit einem ärgerlichen Laut steckte er sie jedoch wieder zu sich.
„Torheit!“ murmelte er. „Der Teufel könnte sein Spiel treiben! Der Lichtschein könnte mich verraten.“
Er biß die Zähne zusammen und haftete sich mit kleinen, vorsichtigen Schritten vorwärts. Jetzt stieß sein Fuß abermals gegen eine feste Masse. Zögernd streckte er die Hand vor, das war der Körper des toten Pferdes. Die Hand tastete weiter. Das war ein Fuß des Reiters; langsam ging die Hand am Körper hinauf, bis zum Arm — er war gebrochen.
Aber nun schien die Scheu von dem Manne, der diese traurige Untersuchung vornahm, geschwunden zu sein. Er beugte sich vor und flüsterte:
„Fedor, lebst du noch?“
Er erhielt keine Antwort. Der Mund des alten Mannes war geschlossen für immer.
Nun glitten die Hände weiter, knüpften den Pelz des Toten auf und suchten. Sie fanden einen dicken Brief. Er wanderte sofort in die Tasche des Mannes.
„Nur jetzt keine Überstürzung! Kaltes Blut! Die Knöpfe müssen wieder zugemacht werden — so!“
Er wandte sich zurück und kroch den Abhang zur Straße hinauf. Mechanisch schritt er weiter. Da traf ihn ein Gedanke wie ein Schlag.
„Mein Gewehr!“
Er kehrte zurück und begann zu suchen. Hier, wo das morsche Geländer des Weges von dem Anprall des Pferdes weggerissen war, mußte es liegen, aber vergeblich fuhr die Hand tastend den Boden entlang. Kalter Angstschweiß trat dem Suchenden auf die Stirne.
„Ohne das Gewehr kann ich nicht weggehen. Es würde mein Verräter.“ —
Wieder suchte er eine Weile vergeblich. Die Knie begannen ihm schon von dem langen Hocken zu schmerzen. Er setzte sich auf den Boden und begann zu überlegen.
„Da, wo das Geländer aufhörte, hatte ich mich hingesetzt. Dort muß auch das Gewehr liegen. Es könnte vielleicht abgerutscht sein nach der Schlucht.“
Bei diesem Gedanken schüttelte er sich vor Aufregung. Erst nach einer Weile hatte er sich so weit zusammengerafft, daß er langsam hinabzuklettern begann. Es war so, so wie er vermutet hatte. Das Gewehr war abgeglitten, hatte aber bald an einem Strauch einen Halt gefunden.
Tief aufatmend hing der Mann das Gewehr über den Rücken und klomm wieder empor. Das Schwerste war überstanden. Wenn er so unbemerkt ins Haus zurückgelangte, wie er weggegangen war, wenn der Onkel nicht zufällig während seiner Abwesenheit nach ihm geschickt hatte, dann hatte niemand seinen Weggang bemerkt. Und wenn schon, dann müßte die Ziganka schwören. Aber war das überhaupt nötig?
Was war denn geschehen? Der Fedor war in der Finsternis abgestürzt, nichts weiter. Daß er einen wichtigen Brief bei sich trug, wußte niemand außer der einen — der „Ziganka“, wie sie alle auf dem Gute das schwarzhaarige Mädchen nannten, das wegen seiner schmeichelnden Stimme und des weichen Wesens immer am meisten dem kranken Oheim Gesellschaft leisten mußte, und das dem alten Fedor wenige Stunden vorher den Brief zur Besorgung übergeben hatte. Der alte Diener aber pflegte nie mit einem Menschen über Aufträge, die ihn nach Lemberg führten, zu sprechen.
Ja, aber der Hund. Sicherlich war an der Stelle, wo er zusammengebrochen war, eine Blutlache. Man konnte, nein, man mußte den Zusammenhang zwischen dem gewaltsamen Tode des Hundes und dem Absturz des Reiters ahnen.
Er setzte sich auf einen Stein am Wege und begann zu überlegen. Es war doch besser, wenn er den Hund beiseite schaffte und in die Schlucht warf. Da kam den ganzen Winter keine Menschenseele hin, und bis zum Frühjahr würde das Raubzeug den Kadaver vertilgt haben.
Mit einer Anstrengung schleppte er den großen, schweren Körper des toten Hundes die wenigen Schritte über den Weg und warf ihn hinab. „Es wird auch keine Blutlache auf dem Wege sein, denn der Schutz war gut.“
„Und doch bist du ein Mörder!“ sprach eine Stimme in ihm.
„Nein, nein!“ flüsterte er heiser, als müßte er sich selbst die Antwort geben. „Nein, weshalb hatte der alte Mann den Hund bei sich, weshalb mußte der Köter mich anfallen? Sonst hätte ich den Alten angerufen, er hätte mich an der Stimme erkannt. Wir hätten miteinander über den Preis verhandelt. So dumm war der Alte nicht. Er wußte, daß ich bald hier der Herr sein werde, ich hätte ihm ein großes Stück Geld geboten. Aber es ist besser, daß es so gekommen ist. Das Schicksal hat es so gewollt! Wer kann mir eine Schuld vorwerfen an dem — Unglücksfall?“
So schnell als es der Weg gestattete, schritt er vorwärts. Seine Gedanken hatten ihn so beschäftigt, daß er heftig zusammenfuhr, als sein Ohr jetzt einen scharfen Laut vernahm. Ohne sich zu besinnen, sprang er seitwärts und kauerte sich hinter einem niedrigen Tannenbusch zusammen. Kein Zweifel, ein Reiter kam ihm auf der Straße entgegen. Hell klapperten die beschlagenen Hufe des Pferdes auf der hart gefrorenen Straße.
Wie ein Schatten zog der Reiter an ihm vorüber. Vergebens suchte das Auge die Gestalt zu erkennen. Es konnte nur ein neuer Bote aus Chmilowo sein! Neue Zweifel tauchten in ihm auf. Hatte sein Oheim sich besonnen, hatte er sein erstes Schreiben widerrufen, oder womöglich etwas Wichtiges hinzugefügt, was er vergessen? Die Knie zitterten ihm, als er sich aus der gebückten Stellung emporrichtete. Sie drohten, ihm den Dienst zu versagen. Doch mit starker Willenskraft raffte er sich zusammen und eilte weiter, bald gehend, bald laufend, als wenn ihn etwas jagte.
Zweites Kapitel
Im grünen Zimmer des Schlosses von Chmilowo lag Herr von Poranski lang ausgestreckt auf einer Chaiselongue. Jedes Zimmer im Schloß hatte seine eigene Farbe. Dieses allerdings hätte auch Jagdzimmer heißen können, denn seine Wände waren mit Jagdemblemen aller Art geschmückt. Da hingen gewaltige Geweihe und Rehkronen, dazwischen die ausgestopften Köpfe von Bären, Wölfen, Elchen; Jagdtrophäen, wie sie nur ein altes, auf der Scholle eingewurzeltes Geschlecht in solcher Fülle und Mannigfaltigkeit anzuhäufen vermag. Eine ganze Wand war mit Schießwaffen bedeckt, vom ältesten Radschloßgewehr bis zum modernen Hinterlader. Dazwischen blitzten Hirschfänger und Degen.
Für anderen Wandschmuck blieb daher wenig Platz. Einige Ölgemälde blickten freundlich aus der Einöde von Spießen und Jagdgewehren vor, Bilder ohne hohen künstlerischen Wert, die von befreundeter Hand gemalt zu sein schienen und anmutige Partien aus der Umgegend des Schlosses darstellten. Nur ein Porträt fiel unter den Bildern auf. Es war das Bildnis eines polnischen Freiheitshelden, das in seiner edlen Haltung und begeisterten Charakteristik eine schöne Wirkung auf den Beschauer ausübte.
Dagegen war die übrige Einrichtung des Zimmer durchaus geschmackvoll und gediegen. Die Möbel waren aus schwerem Eichenholz gezimmert, die Stühle waren mit Schnitzwerk reich verziert; sie gaben dem Zimmer etwas ungemein Vornehmes. Tiefgrüne Plüschvorhänge umhüllten die hohen, breiten Fenster. In der Mitte des Gemaches, dicht an dem Ruhebett des Schloßherrn, stand ein großer, runder Tisch, darauf eine von grünem Schirm bedeckte Lampe. Aber ihr Schein reichte nicht aus, um mehr als ein Halbdunkel im Zimmer zu verbreiten.
Der Schloßherr schlief, doch sein Schlaf war nicht der ruhige, traumlose Schlaf des Gesunden, der die Nerven beruhigt und den Körper stärkt. Wie tot, wie ein völlig Erschöpfter lag Herr von Poranski auf seinem Ruhebett.
Der Schloßherr war schwer krank. Die Gicht hatte ihn, den Lebensfreudigen, der das ganze Dasein bisher nur als einen einzigen Genuß aufgefaßt und seine Jugend ausgekostet hatte bis zum Rest, seit Monaten von neuem auf das Krankenlager geworfen. Tag und Nacht quälten ihn die Schmerzen und ließen ihn kein Auge schließen.
Heute hatte ihn auch noch eine Auseinandersetzung mit seinem Neffen Viktor so heftig ergriffen, daß er kraftlos in die Kissen gesunken und wie bewußtlos eingeschlafen war. Er hatte den Jungen einstmals geliebt und ihn sogar zum Erben seines großen Besitztums eingesetzt. Aber Leichtsinn und Verschwendung waren der Dank für alle seine Wohltaten.
Gestern abend nun hatte Viktor seine Freunde bei sich empfangen. Die ganze Nacht hindurch hatten die jungen Edelleute wieder getrunken und gespielt; auch den nächsten Tag waren sie im Schlosse geblieben. Als sie sich am späten Nachmittag endlich verabschiedeten, hatten sie vor den Fenstern des kranken Schloßherrn lärmend ein Hoch auf Viktor ausgebracht. — Das war Herrn von Poranski zuviel. Rasend vor Schmerz und Zorn hatte er sich ans Fenster geschleppt und so erregt an die Scheibe geschlagen, daß sie zersprang. Dann hatte er mit heftiger Handbewegung dem Neffen zugewinkt, heraufzukommen. In herausfordernder Haltung trat er dem Onkel entgegen. Der ganze Groll, der sich jahrelang in Herrn von Poranski gegen den leichtsinnigen jungen Menschen angesammelt hatte, kam nun zum Ausbruch. Ironisch hatte Viktor über alle Vorwürfe seines Onkels die Achseln gezuckt. „Sie wollen mir Vorhaltungen machen, Herr Onkel“, war seine Antwort. „Ich glaube nicht, daß Sie in Ihrer Jugend anders gewesen sind als ich!“ Damit hatte er das Zimmer verlassen.
Der Schloßherr war in furchtbarer Erregung! Jetzt war ihm klar geworden, was er schon lange befürchtet hatte, daß er den Händen dieses Verschwenders seine reichen Güter nicht anvertrauen konnte. Der Schmerz lähmte ihm die Glieder, aber in übermenschlicher Anstrengung hatte er es fertiggebracht, ein paar Zeilen auf ein Papier zu werfen, die den Neffen enterbten. Den Brief sollte Fedor, der alte Diener, noch heute nach Lemberg zum Notar bringen. Dann war Herr von Poranski bewußtlos in die Kissen gesunken. Laut stöhnend lag er da, seine Lippen bewegten sich, als wenn er fieberte.
Aber die Szene zwischen Herrn von Poranski und seinem Neffen hatte sich zwischen den beiden nicht ohne Zeugen abgespielt. Das junge Hausfräulein des Schlosses, Annuschka, die Herrn von Poranski während seiner Krankheit pflegte, und die man im Schlosse wegen ihres schwarzen Haares und ihrer dunklen, bald schwermütig hinträumenden, bald jäh aufflackernden Augen „Ziganka“, die Zigeunerin, nannte, hatte dabei gestanden und alles mit angehört!
Sie hatte gesehen, wie der Schloßherr nach dem Auftritte mit Viktor in höchster Erregtheit den Brief schrieb, der seinen Neffen enterbte. Sie selbst hatte dann dem alten Fedor den Brief übergeben müssen, damit er ihn nach Lemberg bringe.
Jetzt stand sie am Fenster des Zimmers und schaute mit lauernden Blicken in die Nacht hinaus.
„Er kommt noch immer nicht“, flüsterte sie angsterfüllt.
Es lag etwas Dämonisches in ihren Zügen. Sie liebte Viktor. Sie hatte ihn, gleich nachdem sie dem alten Diener den Brief übergeben hatte, auf dem Gange getroffen und ihn von der Absendung des Briefes unterrichtet.
Viktor hatte sie verstanden und war fortgeeilt, um den schwerwiegenden Entschluß seines Onkels noch zu verhindern. Vielleicht war der alte Fedor, wie alle im Schlosse, zu bestechen; ihm, als dem zukünftigen Schloßherrn, würde er den verhängnisvollen Brief schon aushändigen. Wenn nicht, dann — Er dachte nicht weiter, sondern riß sein Gewehr von der Wand und stürmte hinaus.
Nun stand Annuschka am Fenster und wartete. Ihr schmales, scharf geschnittenes Gesicht horchte in die Nacht hinaus.
Da machte der Kranke eine Bewegung. Die Schmerzen hatten ihn wieder heftig ergriffen.
„Ist Fedor fort?“ fragte er gequält.
„Schon seit einer Stunde“, antwortete sie tonlos.
„Viktor ist ein Lump!“ murmelte der Schloßherr mit bebenden Lippen.
Annuschka fuhr bei diesen Worten zusammen, doch in scheinbar kalter Ruhe schritt sie auf den Schloßherrn zu.
„Soll ich Ihnen etwas vorlesen, gnädiger Herr?“ fragte sie tonlos.
Und ohne auf eine Antwort zu warten, blätterte sie in dem Buche, aus dem sie Herrn Poranski die letzten Abende vorgelesen hatte. Ihre Stimme zitterte, und die Sätze und Worte kamen diesmal nicht so fließend aus ihrem Munde wie sonst. Es war ein polnischer Roman, den sie las. Von einem reich begabten Manne war da die Rede, der Reichtum und Ehre um einer unwürdigen Frau willen verloren hatte, und der nicht stark genug war, sich durch die Widersprüche seiner Seele durchzuarbeiten.
„Die Geschichte ist schlecht!“ sagte Herr von Poranski kurz.
„Ich werde morgen eine andere aus der Bibliothek holen —“ sagte Annuschka.
„Sie wird ebenso schlecht sein!“ entgegnete er mit einer lässigen Handbewegung.
Der Kranke hatte sich tief in seine Kissen zurückgelegt, seinem Gesichte sah man es an, daß seine Schmerzen wieder zugenommen hatten. Er blickte bald auf Annuschka, die vor ihm saß, bald im Zimmer umher. Die ganze heftige Szene mit seinem Neffen schien nochmals in ihm aufzusteigen.
Annuschka las nicht weiter. Sie horchte wieder mit gespannten Nerven, ob nicht Schritte die Straße heraufkämen. Nervös sprang sie auf und lief an das Fenster. Aber da lag nur, in unabsehbare Ferne gerückt, die weite Einöde des Poranskischen Besitzes vor ihr. Bis an den Horizont erstreckten sich die Felder; dort begrenzten sie langgedehnte Waldungen, die heute wie eine schwere, dunkle Last die Erde zu drücken schienen.
„Annuschka!“ rief der Schloßherr.
„Gnädiger Herr?“
Er preßte die Augen zusammen. Etwas ungemein Schmerzliches lag auf seinem Gesicht, das in gesunden Tagen so froh aufzulachen verstand.
„Die Geschichte war sehr schlecht!“ rief er noch einmal. „Ich habe einst eine bessere gelesen. Jung und lebenslustig muß man sein, um alles zu genießen, was die Welt für uns übrig hat. Der feige Bursche da in deiner Geschichte hat`s nicht verstanden. Ich hätt` es ihn lehren können. Aber wehe, wer ein Herz in der Welt zerbricht!“
Er sprach nicht weiter, sondern lachte laut auf. Die Sätze waren leidenschaftlich, stoßweise aus seinem Munde gekommen.
Annuschka sah ihn verwundert an. Die wenigen Worte hatten einen tiefen Eindruck auf sie gemacht. Mit brennenden Augen maß sie die Gestalt des Kranken. Das waren die schrecklichsten Augenblicke für sie, wenn der Kranke zu phantasieren begann. Sie wollte schon auf die Glocke drücken, um den Diener, der im Nebenzimmer saß, herbeizurufen. Da machte der Kranke in seinem Fiebertraum eine heftige Bewegung:
„Annuschka, was habe ich geschwatzt?“
Annuschka sah den Kranken groß an, sie antwortete ihm nicht.
„Nein, Kind, die Schmerzen sind unerträglich — schaff mir Linderung — gib die Morphiumspritze her!“
„Gnädiger Herr, der Arzt hat sie nur für den äußersten Notfall erlaubt.“
„Was nennst du Notfall? Hast du nicht gehört, daß ich vor Schmerzen irre rede? Du willst nicht? Schick` mir den Fedor herein!“
„Den Fedor haben der gnädige Herr fortgeschickt!“
„Na, wer ist denn da im Vorzimmer?“
„Der Woytek.“
„Er soll kommen!“
Annuschka drückte auf einen Klingelknopf, und einen Augenblick später stand ein junger, lang aufgeschossener Mensch auf der Türschwelle.
„Gnädiger Herr befehlen?“
„Komm her und kork` das Fläschchen dort auf. So, nun nimm die Spritze, die da liegt, und ziehe sie langsam voll.“
Der Bursche tat, wie ihm geheißen, und reichte das gefüllte Instrument seinem Herrn. Annuschka hatte sich an den Tisch gesetzt und den Kopf in beide Hände gestützt. Der Kranke hatte die Morphiumspritze in den Ärmel der linken Hand gesteckt und lag nun ruhig atmend da.
„Ach, wie das wohl tut! Woytek, mein Junge, füll` das Ding noch einmal!“
Annuschka war aufgesprungen.
Der Kranke hatte sich die zweite Morphiumeinspritzung gemacht. Er lag da mit glänzenden Augen. Er schien zu träumen.
Annuschka war jetzt zitternd einige Schritte vor ihm zurückgewichen. Sie empfand bebend die ganze Unheimlichkeit dieser Augenblicke. Sie wollte den Diener zurückholen, aber der war nicht mehr im Vorzimmer. Sie zündete den großen Kerzenleuchter an, um die Schwüle des Halbdunkels, die im Zimmer herrschte und die ihre erregte Stimmung nur steigerte, zu heben. Tiefe Stille lag über dem Gemach.
„Jelonka!“ klang es plötzlich aus des Schloßherrn Munde. Er streckte die Arme aus, als wenn er jemand beim Entweichen festhalten wollte. Dann schlug er die Augen auf und begann wieder verzweifelt zu stöhnen.
Annuschka war zu ihm getreten, sie zitterte am ganzen Körper.
„Jelonka!“ kam es gequält von ihren Lippen, und doch war es, als ob dieses Wort eine Erlösung für sie bedeutete.
„Was geschah mit Jelonka?“ fragte sie und sah den Schloßherrn durchdringend an.
Der sah den Blick nicht und wendete sich rasch dem Mädchen zu.
„Was geschah mit Jelonka?“ fragte Annuschka noch einmal.
Da bemerkte Herr von Poranski die tiefe Erregung des Mädchens.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er bestürzt.
„Sie belügen mich, Herr von Poranski!“ rief sie noch einmal.
Laut schluchzend brach sie vor dem Krankenlager des Schloßherrn zusammen.
Aber nach kurzer Zeit hatte sich Annuschka wieder erhoben. Sie stand jetzt hochaufgerichtet da. In ihren Zügen lag finsterer Haß. Gleich sengenden Flammen war der Ruf des Schloßherrn nach Jelonka in ihre Seele gefahren. Ein grelles Licht war auf Dinge gefallen, die sie bis dahin nur geahnt, aber nie hatte glauben wollen. — Jelonka, das war der Name ihrer Mutter! Jetzt war ihr alles klar. Heute hatte der Mann, der vor ihr lag und sich vor Schmerzen nicht rühren konnte, in seinen Phantasien ihre eigene Mutter vor sich gesehen, die er einst geliebt.
Aus den wenigen Papieren, die ihre Mutter bei sich trug, als die Leute von Chmilowo sie krank und elend vor den Schloßherrn geführt hatten, wußte sie nur, daß ihre Mutter Jelonka geheißen, und daß sie bei einem Wiener Vorstadttheater gewesen war. Jetzt wußte sie, weshalb die Ärmste sich verzweifelt hierher zu dem Schlosse des Herrn von Poranski geschleppt hatte: um Hilfe oder Sühne zu heischen von einem Manne, der ihr Lebensglück zerstört hatte. Klar war ihr jetzt auch, weshalb der Kranke sie in einem Testamente mit einem ansehnlichen Legat bedacht, wie er ihr vor einiger Zeit selbst mitgeteilt hatte. Und mit grauenhafter Deutlichkeit fühlte sie, was ihr bevorstand, wenn sie nicht fest blieb gegenüber dem stürmischen Liebeswerben, mit dem der Neffe und Erbe dieses Mannes, der junge Viktor von Poranski, sie verfolgte: dasselbe Schicksal, das ihre Mutter zu Tode gehetzt hatte.
Drittes Kapitel
Herr von Poranski war totenbleich geworden. Ihn hatte die Erinnerung fortgerissen. Die herbe Enttäuschung, die ihm sein Neffe bereitet, und die Krankheit, die ihn nun schon monatelang daran hinderte, das Schloß, in dem er sich seit seiner Krankheit wie ein überflüssiger Gast vorkam, mit einem ihm angenehmeren Aufenthalt zu vertauschen.
Er, der Lebensdurstige, war jetzt siech und elend an ein Krankenlager gefesselt, das ihn fern hielt von allen Freuden des Lebens, die er so sehr geliebt.
Wer konnte die Leidenschaft nachfühlen, mit der er einst Arm in Arm mit Jelonka durch den gesellschaftlichen Strudel Wiens getaumelt war, er, der junge Edelmann, dem sich im Hinblick auf das reiche Erbe, das er einmal nach dem Tode seines Vaters antreten würde, alle Salons der vornehmen Kaiserstadt öffneten.
Da hieß es plötzlich, sein Vater habe ihn unter Kuratel gestellt. Er aber nahm den schmalen Rest, den man ihm als Abfindungssumme lassen wollte, und ging über das große Wasser, um ganz mit der Vergangenheit zu brechen.
Einsam und heimatlos, kann der Mensch alles verlieren, nur nicht seine Sehnsucht. Die wächst und wird stärker und stärker und läßt ihn den Schein für ein Erlebnis und ein freundliches Wort für ein Gefühl hinnehmen.
Auf dem Auswandererschiff lernte er ein Mädchen kennen, eine Polin aus dem Süden Galiziens stammend. Die gemeinsame Muttersprache war Ursache genug, um sich einander zu nähern. Noch auf dem Schiffe verlobten sie sich, um ein neues Leben, das allein der Arbeit gewidmet war, im freien Amerika zu beginnen, das ja nach Rang und Stand und Herkommen nicht fragte. Seine Braut war das Kind einfacher Leute, und Herr von Poranski fühlte es, daß er eine moralische Stütze brauchte. Die aber hatte er in jenem anspruchslosem arbeitsamen Mädchen gefunden.
Zwei Monate darauf waren sie ein Paar. Im Heimatlande erfuhr niemand von dieser Ehe. Denn für einen Poranski war diese Heirat nicht „standesgemäß“, sie entsprach nicht den Familientraditionen. Das aber war hier in Amerika völlig bedeutungslos.
Zwei Jahre lang schwebte ein ungetrübtes Glück über dieser Verbindung. Ein Knabe entsproß der Ehe, und der junge Edelmann, der sich in der Heimat nie um den kommenden Tag zu kümmern pflegte, sah zum erstenmal die Pflicht und die Not auf sich zuschreiten. Er ließ das neugeborene Kind, trotz seiner ehelichen Abstammung, auf den Namen seiner Mutter eintragen, da er glaubte, daß ein bürgerlicher Name dem Fortkommen im freien Amerika förderlicher sein könnte als ein adeliger. Dann nahm er selbst mit großer Energie den Kampf ums Dasein auf. Er unterlag nicht, er arbeitete sich durch und beteiligte sich mit dem kleinen Kapital, das ihm sein Vater als Abfindungssumme durch seinen Anwalt hatte übergeben lassen, an einer Ölquelle. Er hatte Glück, das Unternehmen florierte. Da starb ihm seine junge Frau. Er mußte den Knaben fremden Händen anvertrauen, und fortan sah er ihn nur alle Monate einmal.
Von Jahr zu Jahr arbeitete sich Herr von Poranski immer weiter hinauf und war bereits im Besitz eines großen Vermögens.
Da bekam er die Nachricht, daß sein Vater inzwischen gestorben war und sein Bruder Anton die Erbschaft übernommen hatte. Wenn der Bruder so einschlug, wie er ihn vor nunmehr fünfzehn Jahren verlassen hatte, so mußte er sich darauf gefaßt machen, daß die Herrschaft Chmilowo für die Poranskis sehr bald zu existieren aufgehört haben würde. Und so kam es auch. Der Bruder wirtschaftete in wenigen Jahren den schönen Besitz in Grund und Boden, ungeheure Spielverluste beschleunigten den Untergang. Als er dann durch die Zeitungen den Tod seines Bruders erfuhr, trat an ihn die Frage, ob er als freier Mann in Amerika weiterleben und sich ganz von seiner Familie im Heimatlande trennen sollte, oder ob er den Familientraditionen ein Opfer bringen und den großen Familienbesitz von Chmilowo, der sich stets von Geschlecht zu Geschlecht vererbt hatte, für die Zukunft retten sollte.
Er wäre kein Pole, kein Poranski gewesen, wenn er lange im Zweifel über seinen Entschluß geblieben wäre. Er kündigte seine Papiere. Und er, der Ausgestoßene, schiffte sich als reicher Mann und Ehrenretter der verarmten Familie wieder in seine alte Heimat ein.
Die Neigung und Sehnsucht des Vaters teilte der Sohn jedoch nicht. Er hatte kein Verlangen nach einem Lande, das er nicht kannte. Er, der im freien Amerika groß geworden und seine Erziehung genossen hatte, empfand keinen Grund zur Rückkehr in die Heimat seiner Väter. Er hatte einen ihm sympathischen und sehr einträglichen Wirkungskreis gefunden und weigerte sich, seinem Vater zu folgen. Das heftige Temperament Herrn von Poranskis war aufgebraust und hatte mit Anwendung von Gewalt gedroht. Doch war das für den energischen jungen Mann, der in der fremden Umgebung, in die er durch den frühen Tod seiner Mutter schon als kleiner Knabe gekommen war, und der niemals den Einfluß seines Vaters tief innerlich gefühlt hatte, nur ein Grund mehr, hartnäckig auf seinem Willen zu bestehen.
Ein völliger Bruch zwischen Vater und Sohn war die Folge dieser Weigerung.
Als Herr von Poranski in einer grauen Novembernacht nach fast zwanzigjähriger Abwesenheit in Lemberg ankam und durch die wenig erleuchteten Straßen dem Hotel zuschritt, in dem er als flotter Kavalier oft gewohnt hatte, als er nun suchte und suchte und schließlich inne wurde, daß das Hotel nicht mehr bestand und sich an seinem Platz ein großes Kaufhaus mit breiten Schaufenstern erhob, da kam er sich fremder in der Heimat vor, als drüben in Amerika, wo seine Phantasie sich oft getreu und lebhaft das Land seiner Jugend hervorgezaubert hatte.
Er wollte schon am nächsten Morgen zu der Witwe seines Bruders hinausfahren, um wegen der Gutsübernahme zu verhandeln. Er sagte sich wohl mehrere Male, daß er ja der Ehrenretter der Familie sei, aber er scheute sich, die Reise anzutreten. Die Heimat lag zu schwer auf ihm. Ja, wenn er sie nach und nach erreicht hätte! Aber er war von Triest, wo er sich ausschiffen ließ, sofort nach Lemberg gefahren. Er hatte darauf gebrannt, so schnell als möglich unter heimatlichem Himmel zu stehen, und kam sich nun fremd und einsam vor. Was er in sich fühlte, setzte er auch bei den anderen voraus. Er wollte darum seine Schwägerin erst auf sein Kommen vorbereiten. Und wer weiß, bei ihr hieß es vielleicht sogar alte Wunden aufreißen! Er hatte dieser Frau in der Jugend einst nahegestanden. Vergangen und vergessen, aber gerade deshalb konnte die Erinnerung weher tun. Er wollte seiner Schwägerin schreiben und erst in einigen Tagen abreisen. Er fühlte, daß er ihr dann freier gegenübertreten könnte, als heute.
Fremd, von niemand erkannt, ging Herr von Poranski am nächsten Morgen durch die Straßen Lembergs. Nur der alte Stadtteil war größtenteils unverändert geblieben, die Neustadt war gar nicht wiederzuerkennen, durch die Ausdehnung, die sie in den zwanzig Jahren seiner Abwesenheit gewonnen hatte. Kein Wunder, denn zwei Jahrzehnte sind Spielraum genug für die Veränderung von Menschen und Dingen. Aber hier und da merkte Herr von Poranski doch, daß der eine oder der andere sich nach ihm umsah, als käme er ihnen bekannt vor. Herr von Poranski erkannte sie wohl, aber er scheute sich, an sie heranzutreten, um nicht neugierig ausgefragt zu werden. Der Ruin seines Hauses, den er aufzuhalten gekommen war, seine ganze amerikanische Vergangenheit, die in ihrer rastlosen Arbeitsamkeit den stolzen Geschlechtern der europäischen Kulturwelt wenig imponieren mochte, lösten in ihm Empfindungen aus, die sein Innerstes zu tief bewegten, um sie beim ersten Schritt in die Heimat jedem darzulegen. Er ahnte dabei selber nicht, wie schnell und einschneidend auf ihn, der sich hier als Fremder vorkam, die Luft der heimatlichen Erde schon eingewirkt hatte, denn seine Scheu bewies, daß er selber bereits wieder der stolze Aristokrat geworden war, als der er sich hier vor zwanzig Jahren alle Gesellschaftskreise und alle Herzen erobert hatte.
Wie einer, der die Ausführung eines schweren Entschlusses um Stunden, ja um Minuten verschieben möchte, ging Herr von Poranski durch die Straßen Lembergs. Er hatte gestern seiner Schwägerin geschrieben, daß er hier sei, daß er aber erst in einigen Tagen nach Chmilowo kommen könne. Diese Tage in seiner alten Vaterstadt zu bleiben, wo jeder Stein ihm eine Erinnerung an die Jugend zurückrief, und wo man ihn schließlich doch kennen mußte, dagegen sträubte sich sein Empfinden. Erst von Chmilowo aus sollten die Leute erfahren, daß der einst so leichtsinnige Junker von Poranski wieder in der Heimat war; mit einer Tat wollte er sich bei ihnen einführen. Denn von dem Ruin seines Bruders wußte hier natürlich jeder mehr, als nötig war.
Er entschloß sich schnell, er wollte nach Wien fahren. Er brauchte Lebensmut für Chmilowo. Er ahnte auch hier wieder nicht, wie ihn die Heimat bereits mit allen Banden umstrickte. Wratislaw von Poranski hatte sein leidenschaftliches Temperament in Amerika nicht verloren. Noch am selben Abend stieg er in Wien aus dem Eilzuge. Wie ein mit kräftigem Ruderschlage in volle See steuerndes Schiff fuhr er hinaus in das verlassene Traumland seiner Jugend und seiner Erinnerungen.
Er zauderte nicht lange. In einem Café überlegte er das Programm für den Abend. Er brauchte nicht lange nachzudenken, um alle die Orte vor seinem inneren Auge aufleuchten zu sehen, in denen er seine schönsten Stunden verlebt hatte. Das waren Zeiten! Lange, lange war das her. Er mußte wehmütig lächeln. Wie eine dichte Wolke verdeckte ihm heute die Gegenwart die funkelnden Sterne der Vergangenheit — damals — mit Jelonka am Arm.
An sie hatte er lange nicht gedacht.
Jelonka! Mit ihren siebzehn Jahren hatte er sie sich vom Tisch des Lebens genommen. Schön war sie, brennend schön wie eine Tropenblume. Den länglichen, schmalen Kopf krönten tiefschwarze, seidenfeine Haare. Die dunklen Augen konnten lieben und versengend hassen. Es steckte Rasse in diesem Mädchen, das die sichere Gleichförmigkeit des Alltagslebens dem blendenden Schein der Bühne geopfert hatte. Als gefeierte Sängerin eines Wiener Vorstadttheaters hatte Poranski sie kennengelernt. Vielleicht existierte das Theater noch; vielleicht wußte der Direktor, wo Jelonka jetzt gastierte?
Daß wir doch die Eindrücke der Jugend niemals vergessen können! Unerschütterlich fest, gleich dem Fundament unseres ganzen Lebens liegen sie in uns. Wer weiß, wieviel Wünsche und Entschlüsse sie unbewußt noch in unserem Alter weben oder zerstieben. —
Der Direktor des kleinen Theaters in der Wiener Vorstadt erinnerte sich der gefeierten Sängerin noch ganz genau. Aber was in der langen Zeit aus ihr geworden war, das konnte er Herrn von Poranski nicht sagen. Er teilte ihm nur mit, daß Jelonka noch vier Jahr bei ihm aufgetreten und dann an ein anderes Wiener Theater engagiert worden sei. Er nannte Herrn von Poranski auch den Namen dieses Theaters. Mit bestem Danke verabschiedete er sich von dem alten Manne, der ihn nicht wiedererkannt hatte, obwohl Herr von Poranski früher fast täglich sein Gast gewesen war.
Der Fiaker fuhr nun nach der Stadt zurück.
Und hier fand er sie wieder!
Nach jahrelangem Umherwandern in Prag, Budapest und Triest war Jelonka vor einem Jahre wieder in Wien gelandet und hatte an einer berühmten Bühne sofort ein Engagement gefunden. Sie wirkte, als Herr von Poranski in das Bureau des Theaters trat, gerade in einem großen Ausstattungsstück mit. Er hinterließ ihr ein kurzes Billett, worin er ihr mitteilte, daß ein alter Bekannter sie nach Schluß der Vorstellung bei Sacher erwarte.
Jelonka kam.
Poranski erkannte sie sofort, sie ihn aber erst, als er auf sie zugetreten und sie bei dem Kosenamen genannt, mit dem er sie in den früheren Zeiten angeredet hatte.
Da blitzten ihre Augen, die in den zwanzig Jahren nichts von ihrem tiefen Funkeln eingebüßt hatten, freudig auf. Auch ihre biegsame Gestalt war dieselbe geblieben. Nur ihr Gesicht war herber geworden. Es lag nicht mehr der feine Zug des Liebenswürdigen und Lebensfrohen darin, wie früher.
Diese Frau mußte in der langen Zeit viel erlebt haben. Und so gingen die ersten Stunden ihres Beisammenseins nicht so unbefangen und natürlich hin, wie Herr von Poranski es gehofft hatte. Erst der Wein beflügelte das Temperament der beiden. Wie ein Rausch kam es über sie, sich in die tolle Lustigkeit ihrer Jugend zurückzuversetzen. In dem Becher der Leidenschaft, den sie oft in durstigen Zügen an die Lippen gesetzt hatten, war noch ein Nest geblieben. Noch einmal ergriffen sie ihn. — — —
Gestählt zu festen Entschlüssen, traf Herr von Poranski in Chmilowo ein und trat vor Frau Maria, aus deren daseinsmüden Händen er das Besitztum seiner Väter entgegennehmen wollte. Ihre milde Erscheinung mit den edlen Zügen, ihre hoheitsvolle Gestalt, die all das Unglück, das sie an der Seite eines wenig liebenswerten Gemahls betroffen hatte, nicht niederzudrücken vermochte, war aus anderem Holze geschnitzt als Jelonka. Diese edle Frau hatte er einst tiefer geliebt als Jelonka, doch seine große Oberflächlichkeit und sein Leichtsinn hatten Maria, seine heutige Schwägerin, daran gehindert, seine Zuneigung zu erwidern. So wurde Maria die Frau seines Bruders, der es besser verstanden hatte, die in ihm schlummernden bösen Eigenschaften vor Maria zu verheimlichen. — Als sie beide sich nun nach zwanzig Jahren zum ersten Male wieder die Hände drückten und in die Augen sahen, tauschten sie in ihrer großen inneren Erregung nur höfliche, nichtssagende Redensarten aus. Dann erst besprachen sie alles sachlich und warm miteinander. Die finanziellen Angelegenheiten des Gutes standen schlimm, aber nicht so ungünstig, um den Besitz nicht noch retten zu können. Der Boden von Chmilowo war sehr ertragreich, eine tüchtige, energische Hand konnte hier bald Ordnung und neues Leben schaffen. Herr von Poranski hoffte schon mit der Hälfte seines in Amerika erworbenen Kapitals die Schulden regeln zu können. Der Witwe seines Bruders und ihren beiden Kindern, Viktor und Helene, sicherte er in vornehmster Form ihre Existenz in Lemberg. Viktor sollte später in ein vornehmes Reiterregiment eintreten, dann nach einigen Jahren zur Unterstützung seines Onkels aufs Gut kommen, um später die Erbschaft von Chmilowo anzutreten. Der Dank seiner Schwägerin begleitete den neuen Schloßherrn in seinen Wirkungskreis.
Neues Leben war wieder auf Chmilowo eingezogen. Unter der zielbewußten Leitung des neuen Herrn blühte das große Besitztum zusehends auf. Der Frühling ging mit großen Hoffnungen ins Land, die der Sommer glänzend erfüllte. Die Ernte war reich und vortrefflich ausgefallen. Auch die gesellschaftlichen Fäden zwischen Chmilowo und den alten Adelskreisen Lembergs und Krakaus hatten sich schnell wieder geknüpft.
Nach den anstrengenden Arbeiten des Winters und Frühjahrs hatte Herr von Poranski seinen alten und neuen Bekannten ein großes Sommerfest gegeben. Von weit und breit waren die vornehmsten Adelsfamilien der Umgegend auf Chmilowo zusammengeströmt. Da bat plötzlich der alte Fedor, der ergraute Diener des Hauses, seinen Herrn beiseite. Eine Frau wäre da, sagte er, die ihren Namen nicht nennen wollte und durchaus den gnädigen Herrn zu sprechen wünsche. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, und auf dem Arme trage sie ein Kind.
Herr von Poranski befahl dem Diener, die Frau in das Schloß zu führen, in das Vorzimmer der Bibliothek, die ziemlich abseits von den übrigen Räumen des Schlosses lag. Die fremde Frau war Jelonka, und die Unterredung, die zwischen den beiden stattfand, war eine sehr erregte. Jelonka stellte Bedingungen, die Herr von Poranski nicht erfüllen konnte. Schließlich verließ sie wie eine Rasende das Haus. Als die Gäste Herrn von Poranskis in später Nachtstunde das Fest verließen, fand man auf der Landstraße eine Frau mit durchschossenen Schläfen liegen. Ein Kind schlief fest in ihren Armen. Sofort wurde der Fund Herrn von Poranski mitgeteilt. Erschüttert befahl er, die Frau mit allen Ehren zu begraben und das Kind in Pflege zu nehmen. Das Kind war ein Mädchen. Annuschka nannten es die Leute im Schloß. Als dann das Mädchen heranwuchs und prächtige, schwarze Haare sein Gesicht umrahmten, erfand einer der Bediensteten des Schlosses für sie den Beinamen „Ziganka“, die Zigeunerin.
Viertes Kapitel
Noch immer lag der Schloßherr totenbleich auf seinem Ruhebett. Man sah ihm an, daß sein Körper schwer arbeitete und seine Pulse in heftiger Erregung schlugen. Sein ganzes Leben flog in diesen Minuten an seinem inneren Gesicht vorüber. Mit einem einzigen Worte, mit dem fiebernden Rufe nach Jelonka, hatte er den Schleier von seiner Vergangenheit gerissen. Noch mehr, er hatte damit Annuschka Gewißheit über Dinge gegeben, die sich in ihr nur selten an die Oberfläche drängten und die sie dann nur kurz beschäftigten, weil sie es schon zu oft aufgegeben hatte, sie jemals zu klären.
Sie, das Findelkind, was hatte sie denn für Rechte an Herrn von Poranski und ihre Umgebung? Dienend, immer mit der Last der Dankbarkeit beladen, hatte sie ihre zwanzig Jahre hier im Schlosse hingeschleppt. Zwar ihre Erziehung und ihre Veranlagung waren so, daß Poranski und sie selber sich nicht zu dem unteren Hauspersonal zählte. Sie war das „Fräulein“ im Schlosse, aß am herrschaftlichen Tische und hatte ihr besonderes Zimmer. Aber ihr ungezügeltes Temperament ertrug diese Stellung nur widerwillig. Sie wollte sich hier im Schlosse eine dauernde Position schaffen. Sie liebte Viktor, sie ahnte, daß sie ihm nicht gleichgültig war, sie wollte auf Chmilowo einmal Herrin werden!
Das alles waren bisher Träume gewesen, die ihr in gedrückten Stimmungen schier unerreichbar schienen. Da hatte ein Fieberwort die ganze Sachlage verändert. Jelonka war ihre Mutter, und der Mann, der totenbleich vor ihr lag, war ihr — Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. Er sollte seine Schuld bezahlen! Sie hatte jetzt Rechte an diesen Mann, und welche Rechte! Die Ehre ihrer Mutter, die Ehre ihres Namens, den Ersatz für ihr bisher verfehltes Leben, wollte sie wieder haben. Sie hatte die Papiere, die man bei ihrer Mutter fand, nie in Händen gehabt. Der alte Fedor nur, der die Papiere damals, als sie ihre Mutter von der Landstraße tot ins Schloß brachten, an sich genommen hatte, hatte ihr später einmal davon erzählt. Wo waren die Papiere? Sie wollte auf alle Fälle in ihren Besitz kommen. Mit vorgebeugtem Körper schritt sie erregt im Zimmer auf und nieder.
Ihr scharfer Tritt störte den Schloßherrn aus seinem bewußtlosen Zustande auf. Er öffnete die Augen und sah Annuschka nach.
„Annuschka!“ sprach er. Er erhob mühsam seinen rechten Arm und reichte ihr die Hand entgegen. „Verzeihe mir!“
Das Mädchen lachte hell auf. Das war nicht der richtige Weg, sie zu beruhigen.
„Annuschka!“ rief der Schloßherr. „Ich fühle mich sehr schlecht, mein Herz schlägt wie rasend. Wir wollen morgen darüber reden.“
„Nein, gnädiger Herr“, erwiderte Annuschka scharf, ohne in ihrem Auf- und Abgehen innezuhalten. „Ich habe schon zu lange auf diese Stunde gewartet. Sie sind krank, gnädiger Herr, schwer krank, und da soll man nichts verschieben. Ich aber muß mich beeilen, denn ich habe nun schon zwanzig Jahre die Sehnsucht, frei aufzuatmen Das kann ich jetzt endlich, gnädiger Herr! Den Tod meiner Mutter werden Sie mir nie bezahlen können. Und wenn ich alle Ihre Bitten, zu verzeihen, erfülle, werde ich doch noch immer die Fordernde sein. Und glauben Sie mir, daß ich es bleiben werde! So leicht ist ein Menschenleben nicht gesühnt. Und ich selber —— wer bin ich hier im Schlosse? Haben Sie je eine Träne gestillt, die ich um Glück und Heimat geweint? Dienen, dienen, das war das ewige Wort, die ewige Unterhaltung, die für mich übrig war. Wofür? Hatten Sie ein Recht dazu, es zu sprechen? Wo ist der Ersatz für das, was Sie mir genommen haben: Mutter, Namen, Jugend, Glück? Ich will es mir jetzt von Ihnen holen! Wo sind meine Papiere? Sie schweigen! Wissen Sie vielleicht nicht, was aus Jelonka geworden ist? Feigling! Wo sind meine Papiere?“ rief sie noch einmal und trat, an allen Gliedern bebend, an den Schloßherrn heran. „Geben Sie mir meine Papiere heraus!“ schrie sie.
Herr von Poranski starrte die Rasende entsetzt an. Er machte ein Zeichen, als wenn er reden wollte, aber das Wort stockte ihm im Munde. Lautlos sank er zurück.
„So werde ich mir sie selber suchen!“ rief Annuschka und schritt erregt zum Zimmer hinaus.
Der junge Diener Woytek, der sich inzwischen wieder im Vorzimmer eingefunden hatte, war durch das laute Gebahren Annuschkas auf das heftige Gespräch im Gemache seines Herrn aufmerksam geworden. Als er Annuschka nun, blaß und aufgeregt, an sich vorübereilen sah, ging er, ohne gerufen zu sein, in dem sicheren Gefühl, daß etwas Außerordentliches eben vorgegangen sein müsse, in das Krankenzimmer.
Und richtig, als er eintrat, sah er, wie Herr von Poranski mit dem Oberkörper von seinem Ruhebett gesunken war. Der Tisch, der vor der Chaiselongue stand, hatte ihn aufgehalten und verhindert, daß der Schloßherr vollends zu Boden geglitten war. Er hatte nach der Klingel greifen wollen, um den Diener zu rufen, und hatte in einem Anfall von Schwäche das Gleichgewicht verloren.
Woytek hob seinen Herrn sofort wieder in die richtige Lage. Dabei krampfte sich Herrn von Poranskis rechte Hand heftig um die des Dieners. Dicke Schweißtropfen standen dem Schloßherrn auf der Stirn. Ein furchtbares Stöhnen drang ihm aus der schwer arbeitenden Brust. Woytek stand ratlos.
„Gnädiger Herr, gnädiger Herr!“ rief er ängstlich. Dann riß er sich gewaltsam los und stürmte zur Tür hinaus.
„Mit dem gnädigen Herrn ist es schlechter, es muß sofort einer zum Doktor Dubois nach Lemberg reiten!“ rief er in die Gesindestube.
Der junge Verwalter erhob sich sofort, um sein Pferd zu satteln. Die Frauen und Mädchen folgten Woytek in neugieriger Spannung nach. Aus dem Krankenzimmer drang kein Laut. Woytek ging wiederum hinein. Sein Herr lag ruhig in derselben Lage, wie er ihn vorhin zurechtgebettet hatte.
„Gnädiger Herr!“ rief der Diener, als er an das Krankenlager getreten war. Dann sank er nieder und bekreuzigte sich dreimal. ——
Im oberen Stockwerk fiel eben eine Tür krachend ins Schloß. Viktor war nach Hause gekommen.
Gleich danach tönte das Sterbeglöcklein der Poranskis durch das Haus. Herr Wratislaw von Poranski hatte ausgelitten. Ein Schlaganfall hatte nach den Aufregungen des verflossenen Tages seinem Leben ein schnelles Ende bereitet.
Als Annuschka die Nachricht vernahm, sah sie den Boten starr an. Als sie dann hörte, daß Viktor wieder im Schlosse sei, atmete sie tief auf.
Ein paar Minuten später betrat Annuschka das Zimmer, in welchem der Tote lag. Ihr Gesicht sah ungemein ernst aus, und ihre Lippen waren fest aufeinandergepreßt. Sie hatte nicht gedacht, daß die Katastrophe so rasch kommen würde, und sie mußte sich sagen, daß sie durch ihr heftiges Auftreten, wie es nun einmal in ihrer leidenschaftlichen Natur lag, den Tod des alten Herrn, den sie niemals hatte Vater nennen dürfen, und der ihr doch am nächsten auf der Welt gestanden hatte, beschleunigt hatte.
Sie kniete nieder und verrichtete ein kurzes Gebet an dem Sterbebette. Dann ging sie in den anstoßenden Raum und rief eine Magd herbei, um mit ihr ein paar notwendige Anordnungen zu besprechen.
Kaum war sie wieder in ihren Gemächern angelangt, als der Diener Woytek erschien und sie fragte, ob Herr Viktor von Poranski, der neue Schloßherr, ihr seine Aufwartung machen dürfte.
„Ich lasse bitten“, sagte sie kurz.
Viktor von Poranski war durch die Trauernachricht, die ihm sofort nach seinem Eintreffen im Schloß mitgeteilt worden war, in tiefe Bestürzung versetzt worden. Wenn auch zwischen dem Tode seines Oheims und dem Diebstahl des verhängnisvollen Dokumentes kein unmittelbarer Zusammenhang bestand, so empfand er doch angesichts der plötzlichen Schicksalswendung, die ihm die Erfüllung seines Wunsches nach Unabhängigkeit so nahe rückte, eine Unruhe, die er nur schwer bemeistern konnte. Vor allem mußte er Annuschka sprechen, um von ihr zu erfahren, was vorgefallen war.
Als der neue Herr von Chmilowo bei dem Schloßfräulein eintrat, streckte ihm Annuschka mit einem halb schmerzlichen, halb freudigen Lächeln die Hand entgegen. Er ergriff ihre Hand und führte sie galant an die Lippen.
„Es ist rascher gekommen, als wir alle gedacht hatten, Herr von Poranski“, sagte das Mädchen. „Ihr Oheim hat ausgelitten. Gott sei seiner Seele gnädig und uns.“
Viktor schwieg einen Augenblick.
„Als ich das Schloß verließ, deutete doch aber noch nichts auf die Katastrophe hin“, sagte er verwirrt. „Man teilte mir mit, daß der Kranke sich aufgeregt habe. Sollte ich vielleicht die Ursache seines letzten Ärgers gewesen sein? Es täte mir leid, denn die Leute würden behaupten, daß ich ihm noch die letzte Stunde seines Lebens verbittert hätte.“
„Darüber kann ich Sie beruhigen“, sagte Annuschka kühl, „es war von mir die Rede.“
„Von Ihnen?“ meinte Viktor erstaunt.
„Ein Gespräch über die Vergangenheit, nichts weiter“, erwiderte Annuschka tonlos. „Ihr Onkel machte mir Andeutungen, die sich auf meine arme Mutter bezogen, Andeutungen, aus denen ich ersah, daß das arme Findelkind in diesem Hause eigentlich ein wärmeres Heim hätte beanspruchen dürfen, als es in der Tat erhalten hat.“
Annuschka, die ihre Augen zu Boden geschlagen hatte, sah nun Viktor wieder mit vollem Blick an.
„Die Stunde ist für einen Streifzug in die Vergangenheit nicht besonders geeignet“, meinte der junge Mann zögernd. „Aber ich kenne die Verhältnisse wohl, auf die Sie anspielen, und ich weiß, wie sehr Sie die Enthüllung über Ihre Vergangenheit geschmerzt haben muß. Seien Sie versichert, daß ich als Herr von Chmilowo trachten werde, gutzumachen, was mein Oheim gefehlt hat. Ich werde nicht vergessen, wie nahe Sie mir stehen, Annuschka, und wie oft Sie meinem Oheim gegenüber für mich Partei ergriffen haben. Wir sprechen noch darüber.“
In den Augen des jungen Mädchens leuchtete es für eine Sekunde frohlockend auf, dann legte sich wieder der rätselhafte Ausdruck über ihren Blick, hinter dem sie so gut ihre Empfindungen und Gedanken zu verbergen verstand.
Herr von Poranski erhob sich.
„Ich habe noch viel zu tun“, sagte er. „Der Eintritt der Katastrophe legt mir eine Anzahl von Verpflichtungen auf, denen ich mich nicht entziehen darf. Schade, daß ich mir die Leute nicht vom Halse schaffen kann, aber ich will zu keinem Gerede Anlaß geben. Also auf Wiedersehen, Fräulein Annuschka, und vergessen Sie nicht, daß wir beide Freunde sind, und es auch bleiben wollen.“
Mit eiligen Schritten begab sich Viktor von Poranski in seine Gemächer. Er mußte sich jetzt über seine Lage klar werden. Den Besitz der Güter und des gewaltigen Barvermögens, das sein Oheim hinterlassen hatte, konnte ihm nun niemand mehr streitig machen, denn den Brief, in dem Wratislaw von Poranski das zugunsten seines Neffen abgefaßte Testament umstieß, hatte Viktor in seiner Brusttasche. Von der Existenz dieses Briefes wußte nun, da Fedors Mund für immer verstummt war, nur noch Annuschka. Daß das Mädchen schweigen würde, daran zweifelte Viktor keinen Augenblick. War sie es doch gewesen, die ihn dazu veranlaßt hatte, dem Boten nachzueilen. Auch wußte Viktor, daß Annuschka mit einer leidenschaftlichen Liebe an ihm hing und in ihrer Klugheit niemals einen Schritt tun würde, der für ihn verhängnisvoll werden könnte. Nicht ohne Absicht hatte er ihr beteuert, daß er auch weiterhin gute Freundschaft mit ihr halten wollte. Freundschaft bedeutete in diesem Falle Bundesgenossenschaft.
Er hatte gleich vom ersten Tage an, da er nach Chmilowo gekommen war, dem schönen Mädchen aufs eifrigste den Hof gemacht, ohne indes über die Grenzen tändelnder Galanterie hinauszugehen oder sich gar mit ernsten Absichten zu tragen. Nun aber lagen die Dinge wesentlich anders. Nach dem, was vorgefallen war, fühlte er mit einem Male, wie vollkommen abhängig er von dem Mädchen geworden war. Sie hatte ihn ganz in ihrer Gewalt, und ein Wort von ihr konnte ihn verderben. Unter solchen Umständen gab es für ihn keinen anderen Ausweg als den, Annuschka für immer an sich zu fesseln. Er mußte sein Interesse an der Erhaltung des Besitzes zu dem ihrigen machen.
Freilich würden seine Verwandten über eine solche Verbindung, die ihn von der Gesellschaft seiner Standesgenossen schied, aufs höchste empört sein, sie würden alles aufbieten, um diese Heirat zu hintertreiben, aber unabhängig wie er war, konnte er dem Sturme, den er heraufbeschwören würde, ruhig entgegensehen.
Eines beunruhigte Viktor. Er hatte wohl vorausgesetzt, daß der Brief seines Oheims an den Notar in Lemberg ihn enterben würde, aber er hatte angenommen, daß das Vermögen des Oheims unter solchen Umständen seiner Mutter oder seiner Schwester zufallen sollte. Zu seiner nicht geringen Überraschung hatte er aber aus dem Briefe ersehen, daß die Erbschaft einem Unbekannten zugedacht war, von dessen Existenz er bisher keine Ahnung gehabt hatte.
Ein Mann namens Jedlinski, „zur Zeit in San Franzisko“, war als Universalerbe eingesetzt worden. Wer war dieser Jedlinski?
Natürlich handelte es sich um einen Mann, der dem Oheim während seines Aufenthaltes in Amerika, über den er niemals gern gesprochen hatte, nahegestanden haben mußte. Aber welcher Art waren diese Beziehungen gewesen? War Jedlinski ein einstiger Geschäftsfreund, den Wratislaw von Poranski nur deshalb zum Erben eingesetzt hatte, um seinen Verwandten einen Strich durch die Rechnung zu machen? Oder war er vielleicht — doch nein, wenn er ein illegitimer Sohn des Oheims gewesen wäre, dann hätte der alte Herr, der nach den Meinungen der Menschen ja nicht zu fragen brauchte, keinen Grund gehabt, seine Existenz zu verheimlichen.
Wie aber, wenn der Alte, der einen harten Kopf hatte, sich noch während seines amerikanischen Aufenthaltes mit seinem Sohne überworfen und ihn dann verstoßen hätte? Viktor lächelte. Er war lebenserfahren genug, um zu wissen, daß eine harmlose Liebesgeschichte unter Umständen eine Familientragödie heraufbeschwören kann. Wie leicht konnten auch hier ähnliche Vorgänge mitgespielt haben! Der alte Poranski war ein Starrkopf gewesen, und wer es mit ihm einmal verdorben hatte, mit dem war er ein für allemal fertig.
Für jeden Fall beschloß Viktor, auf der Hut zu sein, denn er witterte in diesem Jedlinski einen versteckten Feind. Vorläufig konnte er sich bei dem Gedanken beruhigen, daß der geheimnisvolle Unbekannte in Amerika weilte und von der ihm zugedachten Erbschaft wohl keine Ahnung hatte. Gelegentlich wollte Viktor bei dem Notar Kolakowski eine vorsichtige Anfrage wagen, da dieser als intimer Freund des verstorbenen Oheims von mancher Beziehung wissen mochte, die der alte Herr in seiner Verschlossenheit vor seinen Verwandten geheimgehalten hatte.
Als Viktor mit seinen Erwägungen so weit war, rief er sich noch einmal das Gespräch mit der Ziganka ins Gedächtnis. Jetzt erst fiel es ihm auf, daß sie ihn mit keinem Wort nach dem Brief gefragt hatte, trotzdem sie gesehen haben mußte, daß er dem Boten aufgelauert hatte. Offenbar wollte sie seinen Mitteilungen nicht vorgreifen und wartete, bis er selbst sprach. Um jeden Preis mußte er sich Gewißheit darüber verschaffen, wie sie über die Sache dachte.
Das beste war es wohl, wenn er die Aussprache mit ihr beschleunigte, denn ein Widerspruch zwischen ihren und seinen Angaben über den nächtlichen Ritt, sei es auch nur gegenüber der Dienerschaft, konnte fatal werden und bei den Leuten leicht Verdacht erregen.
Viktor schritt zur Tür und klingelte.
„Ich lasse das gnädige Fräulein bitten, hierherzukommen. Ich habe dringend mit ihr zu sprechen“, sagte Viktor zu dem eintretenden Diener.
Mit aufgesperrtem Mund und blödem Ausdruck sah der Bursche Viktor an: „Das gnädige Fräulein?“
„Nun ja, Fräulein Annuschka!“ wiederholte Viktor ungeduldig. „Ich würde es sehr übel vermerken, wenn das Schloßfräulein von der Dienerschaft nicht mit der ihr gebührenden Ehrerbietung angesprochen würde.“
Während der Diener Annuschka holte, überlegte Viktor, wie er den Vorgang im Walde möglichst harmlos darstellen könnte. Daß er den Brief an sich genommen hatte, sollte Annuschka wissen, aber daß Fedor durch einen unglücklichen Zufall ums Leben gekommen war, wollte er ihr nicht sagen, denn sie würde seinen Beteuerungen, daß er selbst an diesem tragischen Ausgang des nächtlichen Abenteuers keine Schuld habe, wenig Glauben schenken.
Als Annuschka eintrat, ging ihr Viktor einige Schritte entgegen.
„Fräulein Annuschka“, sagte er herzlich, „ich hatte das Bedürfnis, Sie heute noch einmal zu sehen. Ich fühlte mich so einsam in diesem Hause, in das der Tod eingezogen ist, und ich habe eine Unruhe, die ich nicht beherrschen kann. Ihre Gegenwart tut mir wohl.“
Er zog sie zu einem kleinen Ecksofa, setzte sich neben sie und nahm ihre Linke in seine beiden Hände.
Annuschka ahnte, worauf das Gespräch hinaus sollte und kam Viktor entgegen.
„Ich wußte, daß Sie noch einiges auf dem Herzen haben, Herr von Poranski“, sagte sie mit eigentümlicher Betonung. Ihre gespannten Gesichtszüge verrieten deutlich, mit welcher Ungeduld sie Viktors Eröffnungen entgegensah. Als aber Viktor noch immer zögerte und schwieg, ging sie noch einen Schritt weiter.
„Was ist mit dem Briefe geschehen, den Fedor zum Notar nach Lemberg bringen sollte?“ fragte Annuschka, den Blick ihrer dunklen Augen unverwandt auf Viktor gerichtet. „Ist der Brief in Ihrem Besitz, oder konnten Sie es nicht verhindern, daß er in die Hände des Adressaten gelangt ist?“
Während sie sprach, hatte Viktors Gehirn mit fieberhafter Schnelligkeit gearbeitet. Jetzt antwortete er ruhig:
„Der Brief ist in meinem Besitz.“
„Und Fedor? Warum ist er bisher noch nicht zurückgekehrt?“ forschte Annuschka weiter.
„Fedor wird wohl erst gegen Morgen nach Hause kommen“, bemerkte Viktor trocken. „Es wird Sie übrigens interessieren, zu erfahren, wie es mir gelang, den Brief in meine Gewalt zu bekommen. Ich traf Fedor in der Nähe der Teufelsschlucht und rief ihn an. Wir kamen ins Gespräch und ich bemerkte sehr ruhig, daß der Brief, den er nach Lemberg bringen sollte, in meinen Besitz kommen müßte; ich würde mich die Sache ein schönes Stück Geld kosten lassen. Er war klug genug, einzusehen, daß es nur sein Vorteil sein konnte, wenn er dem zukünftigen Herrn von Chmilowo einen kleinen Dienst erwies, und gab mir den Brief. Nur das eine Bedenken hatte er, daß er seine Stellung verlieren könnte, wenn der Brief nicht richtig abgegeben würde. Darüber beruhigte ich ihn. So wurden wir schließlich einig. Ich schlug ihm dann vor, trotzdem nach Lemberg weiterzureiten und dort in einer Herberge einzukehren, damit er beweisen könne, daß er in Lemberg gewesen sei. Bei seiner Rückkehr sollte er dem Onkel melden, er habe den Brief besorgt, und erst später, wenn der Brief vermißt würde, erzählen, er habe vergeblich im Hause des Notars Einlaß gesucht und deshalb den Brief in den Briefkasten geworfen.“
„Haben Sie den Brief vernichtet?“
„Selbstverständlich!“ erwiderte Viktor. „Übrigens“, fuhr er schnell fort, um Annuschka von weiteren Fragen über diesen Punkt abzuhalten und sich in ihren Augen zu entlasten, „haben Sie mir unnötige Angst eingejagt. Ihre Annahme, daß ich in dem Briefe enterbt wurde, war ein Irrtum. Er enthielt lediglich einige allgemeine Andeutungen, in denen die Möglichkeit einer Änderung des Testamentes ins Auge gefaßt wurde. Mein nächtlicher Gang wäre also nicht einmal notwendig gewesen.“
Annuschka hatte schon, während Viktor von den Vorgängen in der Schlucht erzählte, den Eindruck gehabt, daß seine Darstellung wohl in manchen Punkten von der Wahrheit abweiche. Jetzt, als er von dem Inhalt des Briefes sprach, wußte sie ganz genau, daß er sie belog. Sie ahnte sehr richtig den Grund. Er wollte die ganze Sache möglichst harmlos darstellen, um nicht die Empfindung in ihr aufkommen zu lassen, daß sie die Mitwisserin eines wichtigen Geheimnisses sei.
Er rechnete wohl nicht damit, daß sie selbst, während sie dem Oheim beim Schreiben die Kissen zurechtgerückt hatte, einen flüchtigen Blick in den Brief werfen konnte, der genügt hatte, um sie über den Inhalt völlig aufzuklären. Von dieser Kenntnis aber wollte sie sich vorläufig nichts merken lassen.
Viktor seinerseits hatte es sehr wohl herausgefühlt, daß seine Angaben von Annuschka nicht so gläubig hingenommen wurden, wie er es gewünscht hätte. Dieses Weib besaß durch ihre Intelligenz eine zu große Gewalt über ihn, als daß er ihr unbefangen eine Komödie vorspielen konnte. Aber solange er durch die Verhältnisse nicht dazu gezwungen würde, wollte er ihr nicht mehr anvertrauen, als unbedingt notwendig war.
„Ich habe noch einen wichtigen Punkt mit Ihnen zu besprechen, Fräulein Annuschka“, sagte er, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. „Ich wünsche, daß Sie von nun an eine andere Stellung im Schlosse einnehmen, als bisher. Ich will den Leuten auch nach außen hin zeigen, wie ich von Ihnen denke. Sie wissen, daß ich im Gegensatz zu meinem verstorbenen Oheim lebenslustig bin und gern meine Freunde empfange. Mit dieser Gewohnheit will ich auch in Zukunft nicht brechen, denn ich bin für das Trauern nicht geschaffen und muß fröhliche Menschen um mich sehen. Da Chmilowo noch keine Schloßherrin hat“ — bei diesen Worten sah Viktor Annuschka mit einem vielsagenden Blick an — „so werden Sie die Güte haben, die Repräsentationspflichten einer Schloßherrin auf sich zu nehmen. Ich habe der Dienerschaft bereits entsprechende Anweisungen gegeben und bitte Sie dringend, darauf zu achten, daß Ihnen mit der Ehrerbietung begegnet wird, die der ersten Dame des Schlosses zukommt.“
Annuschka neigte stumm ihr Haupt. In ihrem eng anliegenden schwarzen Kleide, das ihre schlanke Gestalt vortrefflich zur Geltung brachte, und mit dem leisen Ausdruck von Trauer in ihren noch kindlichen Zügen sah sie so reizend aus, daß Viktor, von ihrem Anblick hingerissen, weiter ging, als es ursprünglich in seiner Absicht gelegen hatte. Er zog Annuschka, die sich nur schwach sträubte, an sich und küßte sie auf die Stirn.
„Du weißt es längst, wie lieb ich dich habe“, flüsterte er ihr leidenschaftlich zu. „Warum soll ich das Geheimnis mit mir herumtragen? Um deinetwillen könnte ich alles tun — alles, verstehst du?“
Er nahm Annuschkas Rechte und umschloß sie mit einem zärtlichen Druck.
„Wir haben noch schwere Tage vor uns“, sagte er leise, „wenn wir die erst überwunden haben, dann spinnen wir uns in unser Glück ein, und dann, Annuschka, weißt du auch, wer die künftige Schloßherrin von Chmilowo ist?“
In Annuschkas Gesicht stieg eine jähe Röte auf. Es war das erstemal, daß Viktor so vertraut zu ihr sprach und eine solche Andeutung machte. Wenn sie seinen Worten glauben durfte, dann war sie der Erfüllung ihres heißesten Wunsches näher als je, aber sie gehörte bei aller Leidenschaftlichkeit nicht zu den Naturen, die unter dem Eindruck einer Gefühlsaufwallung jede Regung des Verstandes in sich unterdrücken können.
So hatte sie auch jetzt gegen Viktors Worte Mißtrauen und zwang sich deshalb im Augenblick zu einer Zurückhaltung, die ihren Gefühlen zu Viktor nicht entsprach.
Sie entzog ihm die Hand und erhob sich rasch mit der Bemerkung, daß sie nach den vorausgegangenen Aufregungen notwendig der Ruhe bedürfe. Mit einem kurzen Gutenachtgruß entfernte sie sich, und hätte Viktor nicht aus ihren Augen lesen können, wie es um ihr Herz bestellt war, er hätte glauben können, daß seine zärtlichen Worte keinen Widerhall bei ihr gefunden hätten.
Fünftes Kapitel
Gegen Mitternacht hatte ein heftiger Schneesturm eingesetzt. In wenigen Stunden war die ganze Ebene in der Umgebung des Schlosses mit einem weißen Tuch bedeckt, und in den Schluchten häufte sich der Schnee fußhoch an. Nur mit Mühe hatte der Verwalter des Schlosses, der den Arzt aus Lemberg holen sollte, die Stadt erreicht. Da es bei dem herrschenden Unwetter unmöglich war, noch in der Nacht die Schluchten und Berge, durch die der Weg nach Chmilowo führte, zu passieren, konnte man erst am nächsten Morgen, nachdem die Gewalt des Windes etwas aufgehört hatte, aufbrechen. Die Fahrt ging sehr langsam vonstatten, und es war bereits Mittag, als sich der Wagen Chmilowo näherte. Als das Schloß sichtbar war, wies der Verwalter stumm mit der Hand nach dem Giebel. Da wehte eine Flagge vom Sturme gepeitscht auf Halbmast!
***
Viktor von Poranski empfing den Doktor Dubois am Eingang des Schlosses. Viktor war schwarz gekleidet und bemühte sich, in seinem Auftreten eine feierliche Würde zur Schau zu tragen. Mit wenigen Worten teilte er dem Arzt das Ableben des Schloßherrn mit und führte dann den Doktor, der von dem Hinscheiden des Herrn von Poranski, der ihm auch als Freund nahegestanden hatte, tief erschüttert war, nach dem Sterbezimmer.
Nach kurzer Untersuchung stellte der Arzt Schlagfluß als Todesursache fest. Dann bat er Annuschka, ihm Näheres über die letzten Stunden seines alten Freundes Poranski mitzuteilen.
„Herr von Poranski hatte gestern während des Tages einen heftigen Anfall seines Gichtleidens“, sagte Annuschka mit ihrer schönen, klangvollen Stimme, „doch wir dachten an nichts Schlimmes. Erst gegen Abend steigerten sich die Schmerzen des Kranken so, daß er den alten Fedor mit der Bitte zu Ihnen schickte, sofort zu kommen und irgend etwas zur Linderung seiner Schmerzen mitzubringen.“
„Fedor ist nicht bei mir gewesen“, sagte Doktor Dubois erstaunt.
Viktor sah Annuschka fragend an. Sie wechselte mit einem kaum merkbaren Niederschlagen der Augen einen Blick des Einverständnisses mit ihm.
„Auch ich habe mich schon geängstigt, daß er nicht mit Ihnen zurückkehrte“, fuhr Annuschka fort, „wir müssen befürchten, daß er sich bei der Finsternis verirrt hat. Vielleicht hat ihn auch der Schneesturm überrascht.“
„Das ist sehr wahrscheinlich“, warf Viktor ein. Seine Stimme zitterte dabei ein wenig. Er hatte jetzt erst verstanden, daß Annuschka ihm zu Hilfe kommen wollte.
Die ganze Nacht hatte er darüber nachgegrübelt, wie er das Verschwinden des alten Dieners erklären sollte, und jetzt fand Annuschka eine so naheliegende Begründung.
In ruhigen, wohlüberlegten Worten schilderte Annuschka dem Arzte die Vorkommnisse des letzten Abends, verschwieg auch nicht, daß der Kranke sich zweimal Morphiumeinspritzungen hatte geben lassen. Ganz nebenbei, aber nicht ohne Absicht, flocht sie in ihre Erzählung auch die Bemerkung ein, daß der Kranke einige Male den Befehl gegeben, seinen Neffen zu rufen, um zu seiner Zerstreuung mit ihm Karten zu spielen, er habe jedoch den Befehl jedesmal wieder zurückgezogen. Der Diener Woytek, der sich gerade im Zimmer befand, bestätigte unaufgefordert alles, was Annuschka erzählte.
„Der Tod Ihres Herrn Onkels ist zweifellos durch die starke Dosis Morphium, die er seinem kranken Körper zuführte, beschleunigt worden“, sagte der Arzt zu Viktor, indem er sich erhob. „Sein Herz wäre vielleicht auch dieser Ausschreitung gewachsen gewesen, aber durch den vorausgegangenen Gichtanfall war die Widerstandskraft seines ganzen Organismus zu sehr geschwächt. Jede Aufregung ist doch von dem Kranken ferngehalten worden, wie ich es angeordnet hatte!“
„Sie dürfen über diesen Punkt vollkommen beruhigt sein, Herr Doktor“, sagte Viktor, der den Arzt in das Nebenzimmer begleitete, wo Annuschka die Frühstückstafel hatte decken lassen.
Kurz nach Mittag fuhr der Arzt ab. Viktor begleitete ihn nach Lemberg. Er mußte die Todesanzeigen drucken und verschicken lassen, Einkäufe besorgen und die zum Begräbnis notwendigen Vorkehrungen treffen.
***
Am Abend desselben Tages saßen in ihrem Stammlokal, einer kleinen gemütlichen Weinstube in Lemberg, der Notar Kolakowski und Doktor Dubois, die beiden alten Freunde des verstorbenen Herrn von Poranski. Der Stuhl, auf dem er so oft gesessen, war leer. —
„Ein stilles Glas unserem guten Wratislaw“, sagte der Notar, indem er mit dem Arzt anstieß. Nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: „Poranski war ein Mann von echtem Schrot und Korn, etwas polternd, aber eine gute, ehrliche Haut. Er allein hat Chmilowo in die Höhe gebracht. Unter seinem Neffen wird wohl wieder die alte, leichtsinnige, polnische Wirtschaft einreißen, und was gilt die Wette, daß er binnen Jahr und Tag das große, schöne Gut wieder unter den Hammer bringt?“
„Ich war heute auf dem Schloß“, meinte der Doktor. „Ich muß sagen, der Eindruck, den ich mitgenommen habe, war kein besonders guter. Der junge Schloßherr hat mir wenig gefallen.“
„Ich habe das Gefühl, als ob in Chmilowo nicht alles stimmt“, sagte der Notar nachdenklich. „Ich kann allerdings nicht sagen, woran das liegt, aber es scheint, als wäre Wratislaw bis in die letzte Zeit von Einflüssen umgeben gewesen, die ihn allzu einseitig für die Interessen Viktor von Poranskis und seiner Familie einzunehmen suchten. Es ist dir doch bekannt, daß Wratislaw einen Sohn hat, der sich jetzt ungerechterweise mit dem Namen seiner Mutter behelfen muß, obwohl er doch aus einer rechtmäßigen Ehe seines Vaters stammt.“
„Du meinst deinen jungen Freund Stanislaw Jedlinski?“
„Ganz recht! Er kam vor kurzer Zeit aus San Franzisko hierher, um sich mit seinem Vater zu versöhnen. Ich hatte ihm geschrieben, daß es mit dem alten Herrn nicht gut geht, und riet ihm, nach Lemberg zu kommen und seine Anwesenheit zunächst nur mir zu verraten. Vater und Sohn hatten sich vor Jahren entzweit, weil Stanislaw nicht den von seinem Vater vorgeschriebenen Weg einschlagen wollte. Die Kluft zwischen Vater und Sohn war, nachdem Wratislaw sich wieder in seiner alten Heimat niedergelassen hatte, größer geworden, so daß es Wratislaw nicht einmal für nötig hielt, seinen Verwandten gegenüber etwas von der Existenz seines Sohnes zu erwähnen. Nur mir, als seinem alten Freunde und Rechtsbeistand, durfte er dieses Kapitel aus seiner Lebensgeschichte nicht verheimlichen. Ich war natürlich der Ansicht, daß Wratislaw in seiner Erbitterung über die Selbständigkeit seines Sohnes zu weit gegangen war, und als ich in Stanislaw, der auf meine Veranlassung sich entschlossen hatte, nach Lemberg zu kommen, einen sympathischen und edelgesinnten jungen Menschen kennenlernte, der durchaus nichts von einem „verlorenen Sohne“ an sich hatte, da stand bei mir der Entschluß fest, daß ich ihm wieder zur Einsetzung in seine Rechte, die ihm von seinem Vater vorenthalten wurden, verhelfen müßte. Mein Plan war es, Wratislaw langsam auf die Anwesenheit seines Sohnes vorzubereiten, ihn von seiner unbegreiflichen Vorliebe für seinen leichtsinnigen Neffen Viktor abzubringen und ihn mit seinem eigenen Sohne wieder zu versöhnen. Der plötzliche Tod unseres alten Freundes hat diese Absicht leider durchkreuzt.“
„Und du hast in der letzten Zeit kein Anzeichen einer Sinnesänderung bemerkt?“ fragte Doktor Dubois gespannt.
„Doch!“ meinte der Notar. „Wratislaw machte mir erst kürzlich bei meinem Aufenthalt im Schloß davon Mitteilung, daß er das Testament, in dem Viktor als Universalerbe eingesetzt war. umstoßen würde, falls es ihm nicht gelingen sollte, seinen Neffen von der Spielleidenschaft zu heilen. Als Universalerbe wäre in diesem Falle zweifellos Stanislaw eingesetzt worden. Ich vertritt sie, daß Viktor in letzter Zeit wieder stark gespielt hat, und daß es zu heftigen Auftritten zwischen Onkel und Neffen gekommen ist, denn es wundert mich, daß Viktor an dem Abend, an dem die Katastrophe eintrat, das Krankenzimmer des Onkels gar nicht betreten hat.“
„Das ist noch kein Beweis für ein ernstes Zerwürfnis zwischen den beiden“, fiel der Arzt ein, „denn die Ziganka erzählte, daß Wratislaw noch kurz vor seinem Tode Viktor einige Male habe rufen lassen, um mit ihm Karten zu spielen.“
„Lieber Freund“, sagte der Notar erregt, „das glaube ich nicht! Wratislaw, der seit Jahren keine Karte anrührte, und der mit seinem Neffen gerade wegen des Spiels die heftigsten Auftritte hatte, sollte auf den Gedanken gekommen sein, ihn selbst zum Spiele aufzufordern? Das glaube, wer es glauben kann!“
Der Arzt wiegte bedenklich den Kopf.
„Die Launen eines Kranken entziehen sich vollständig unserer Kontrolle“, meinte er. „Immerhin wäre es möglich, daß die Phantasie der Ziganka hier etwas hinzugedichtet hat, um den guten Eindruck hervorzurufen, daß Viktor und sein Oheim bis zum letzten Augenblick ein Herz und eine Seele waren. Aber sehr auffallend erscheint es mir, daß Fedor, der mich an das Krankenbett holen sollte, weder bei mir eingetroffen, noch überhaupt nach dem Schlosse zurückgekehrt ist, und daß später der Verwalter nach mir geschickt wurde, trotzdem man doch annehmen mußte, daß Fedor bereits auf dem Wege war.“
„Das ist allerdings ein Umstand, der zu denken gibt“, meinte der Notar. „Und wenn Fedor überhaupt nicht nach dem Schlosse zurückkehrt?“
„Dann wären doch zwei Fälle möglich“, sagte der Arzt. „Entweder liegt er in irgendeiner Herberge fest und schläft seinen Rausch aus, oder er ist in den Bergen verunglückt.“
„Mit welchem Auftrag wurde er ausgeschickt?“ fragte der Notar.
„Wie mir die Ziganka erzählte, hat Wratislaw den Boten erst zu mir geschickt, als die Schmerzen heftiger wurden.“
„Ich habe zu der Ziganka kein Vertrauen“, sagte der Notar ärgerlich. „Du wirst es wohl schon längst gemerkt haben, daß sie ihr Herz an Viktor verloren hat und für ihn durchs Feuer geht. Ich kann das Gefühl nicht loswerden, daß der alte Fedor mit einer ganz anderen Botschaft von unserem Freunde weggeschickt wurde.“
Der Arzt lachte laut auf.
„Wenn wir uns in unsere Mutmaßungen noch weiter vertiefen“, sagte er, „dann kommen wir schließlich noch dazu, den jungen Herrn von Poranski zu verdächtigem und so weit möchte ich doch nicht gehen. Wozu zerbrechen wir uns den Kopf? Wir müssen doch erst abwarten, ob Fedor zurückkehrt!“
Der Notar saß in Gedanken verloren, auch der Arzt war nachdenklich geworden. Das Gespräch stockte. Endlich erhob er sich. „Wollen Schluß machen für heute“, sagte er. „Das Grübeln führt zu nichts. Du kommst doch übermorgen zum Begräbnis mit! Ich brauche dich.“
Sechstes Kapitel
Viktor von Poranski hatte dafür gesorgt, daß die Totenfeier für seinen Oheim unter großem Gepränge vor sich ging. Der mächtige Sarg stand, von Kränzen bedeckt, im Ahnensaal, von dessen Wänden die Gemälde vieler Generationen des alten Geschlechts herabschauten. Ein Halbrund von Tannen gruppierte sich um das Kopfende des Sarges, am Fuße waren mehrere Reihen Stühle für das Trauergefolge aufgestellt.
Unter den ersten Trauergästen, die in Chmilowo eintrafen, befanden sich der Notar und Doktor Dubois. Kurz darauf kam ein Schlitten mit zwei Damen: Viktors Mutter, Maria von Poranska, und seine Schwester Helene. Sie zogen sich nach kurzer Begrüßung bis zum Beginn der Trauerfeier in die Gemächer zurück, die Viktor für sie hatte herrichten lassen.
Aus Lemberg waren die Spitzen der Behörden, viele Offiziere, zahlreiche Mitglieder der adligen Familien erschienen, und auch die Gutsbesitzer der Umgegend hatten sich fast vollzählig eingefunden, um dem Verstorbenen als dem Angehörigen eines alten, hochangesehenen Geschlechts die letzte Ehre zu erweisen.
Heller Sonnenschein lag auf der weißen Landschaft, als der prachtvolle Sarg von den Inspektoren und Förstern des Gutes die kurze Strecke durch den Park nach dem Erbbegräbnis getragen wurde.
Dicht hinter dem Sarge schritt Viktor von Poranski einher. Viel mehr als auf ihn war die Aufmerksamkeit der Trauergäste auf einen jungen Mann gerichtet, der erst kurz vor Beginn der Trauerfeier in den Saal getreten war und sich dann als einer der letzten dem Zuge der Angehörigen hinter dem Sarge angeschlossen hatte. Niemand kannte den Fremden. Niemand, bis auf den Notar Kolakowski und Doktor Dubois, die einen stummen Händedruck mit ihm gewechselt hatten.
Frau von Poranska, die Mutter Viktors, betrachtete den Unbekannten mit steigender Teilnahme. Je länger sie ihn ansah, desto mehr kam ein Ausdruck von Wehmut und Rührung in ihre Züge. Der hochgewachsene, junge Mann mit den klaren Augen und dem dunklen, kurzen Vollbart hatte merkwürdige Erinnerungen in ihr wach gerufen. Genau so hatte Wratislaw von Poranski in jungen Jahren ausgesehen! Auch andere Trauergäste, die den Verstorbenen in seiner Jugend gekannt hatten, bemerkten die Ähnlichkeit.
Man erkundigte sich bei dem Notar nach dem Fremden, und alsbald ging der Name Stanislaw Jedlinski in der Trauerversammlung von Mund zu Mund.
Als Viktor den Namen hörte, zuckte er erschreckt zusammen. Nur einen haßsprühenden Blick warf er auf Jedlinski. Dem Notar war dieser Blick nicht entgangen.
„Herrn von Poranski scheint unser junger Freund nicht willkommen zu sein“, flüsterte er dem neben ihm gehenden Arzt zu.
Der Sarg war am Erbbegräbnis angelangt. Eine breite, bequeme Treppe mit sehr niedrigen Stufen führte zu dem Gewölbe, das den Toten des Geschlechtes als letzte Ruhestätte diente.
Stanislaw Jedlinski war in die Kapelle mit eingetreten. Der Zufall fügte es, daß er nur wenige Schritte von Viktor von Poranski entfernt stand. Hatte Viktor schon das plötzliche Auftreten dieses geheimnisvollen Jedlinski, den er in Amerika vermutet hatte, in großes Erstaunen versetzt, so fühlte er sich nun, wo er den Fremden von Angesicht zu Angesicht sah, noch lebhafter beunruhigt. Kein Zweifel! Jedlinski hatte sich schon längere Zeit in Lemberg aufgehalten, um im Falle des Ablebens des Herrn von Poranski seine Ansprüche als rechtmäßiger Erbe geltend zu machen. Doch nicht allein diese Wahrnehmung war es, die sein Inneres in Aufruhr versetzte, sondern vielleicht viel mehr noch — das Schuldbewußtsein, das jetzt zum erstenmal mit voller Kraft in ihm emporstieg.
Die Beisetzung war vorüber. Das Trauergefolge war durch die Kapelle an Frau von Poranska und Viktor vorübergeschritten, und jeder hatte mit einigen mehr oder weniger konventionellen Worten sein Beileid ausgedrückt.
Nur einer stand noch einsam über den Sarg gebeugt. Eine Träne stahl sich aus seinen Augen und fiel auf die Blumen, die den Sarg bedeckten. In diesem Augenblick schloß Jedlinski Frieden mit dem verstorbenen Vater. Seit Jahren hatte der Sohn sich ihm nicht nähern dürfen und auch kein Lebenszeichen von ihm erhalten. So schwer mußte er es büßen, daß er es einst gewagt hatte, sich aus eigener Kraft seinen Lebensweg gestalten zu wollen! Alles, was der Verstorbene ihm angetan, hatte Stanislaw verziehen, nur das eine nicht, daß sein Vater ihm den Namen, den er beanspruchen konnte, vorenthalten hatte. Denn damit heftete er seiner Mutter einen Makel an, den sie nicht verdient hatte. Seit gestern abend wußte er aus den Mitteilungen des Notars, daß sein Vater sich mit der Absicht getragen hatte, ihn als Erben einzusetzen, Der Vater hatte ihm verziehen! Das war ein Trost für ihn, den Einsamen, in dieser Stunde.
Gesenkten Hauptes ging Stanislaw Jedlinski hinaus aus der düsteren Kapelle in das helle Sonnenlicht. Auf dem durch den Schnee geschaufelten Wege, der zum Schloß führte, traf er den Notar und Doktor Dubois. Der junge Mann wollte nach kurzem Abschied seinen Schlitten aufsuchen und davonfahren, doch der Notar hielt ihn zurück. „Sie müssen hierbleiben“, sagte er. „Der Inhalt des Testaments legt Ihnen Pflichten auf, die Sie erfüllen müssen. Ich will nicht trügerische Hoffnungen in Ihnen erwecken, aber ich glaube, daß ich in Ihrem eigenen Interesse handle, wenn ich Sie hier festhalte.“
„Ich nehme von dem neuen Schloßherrn von Chmilowo keine Gastfreundschaft an“, sagte Jedlinski fast schroff.
„Das brauchen Sie auch nicht, junger Freund. Sie kommen mit mir auf mein Zimmer und sind mein Gast. Ich fahre nie ohne Wegzehrung ebenso wie mein alter Freund hier. Das bringt unser Geschäft so mit sich. Einige Stunden werden Sie sich schon gedulden müssen, bis der Schwarm der Gäste sich verlaufen hat. Pünktlich um vier Uhr habe ich die Eröffnung und Verkündung des Testaments angesetzt, und ich glaube nicht, daß einer der Beteiligten mich warten lassen wird.“
Der Ton dieser letzten Worte war etwas sarkastisch, und auch der Gesichtsausdruck des alten Notars zeigte deutlich, daß der Akt, den er in amtlicher Eigenschaft vorzunehmen hatte, ihm keine Freude bereitete.
Der Ahnensaal, in dem noch vor wenigen Stunden der Erblasser feierlich aufgebahrt war, hatte inzwischen sein Aussehen verändert. Die Gruppe junger Tannen war längs den Wänden verteilt, an der schmalen Wand, der Eingangstür gegenüber, stand ein mit einer dunklen Decke überzogener Tisch und mehrere Reihen von Stühlen waren aufgestellt worden.
Kurz vor der angesetzten Zeit füllte sich der Saal. Die Mienen der Anwesenden sahen nicht mehr so trübe und feierlich aus wie vor einigen Stunden. Dem Toten hatte man die letzte Ehre erwiesen, nun trat das Leben wieder in seine Rechte.
Mit dem Glockenschlage vier erschien der Notar, gefolgt von Jedlinski und Doktor Dubois, trat hinter den Tisch und öffnete seine Aktentasche.
Dicht vor ihm in der ersten Reihe saß Viktor mit seiner Mutter und seiner Schwester. Auf die übrigen Reihen verteilte sich die weitläufige und zum Teil recht wenig begüterte Verwandtschaft des Verstorbenen.
Annuschka hatte bescheiden in den Reihen der Beamten und des Schloßpersonals Platz genommen, trotzdem Viktor ihr einen Stuhl in den vordersten Reihen angeboten hatte.
Mit einem Blick überflog das scharfe Auge des Notars die Versammlung. Dann begann er mit lauter Stimme, der man die innere Bewegung anmerkte, zu sprechen. Sein Freund habe ihn zum Bewahrer, Verkünder und Vollstrecker seines letzten Willens bestellt. Zur Erfüllung dieser Pflicht stehe er hier.
Nun nahm er das Testament zur Hand und reichte es nacheinander mehreren Personen, damit sie die Unverletztheit des Siegels bekundeten. Während er dann das Dokument öffnete, teilte er mit, daß der Erblasser ihn sowohl mündlich wie durch eine beglaubigte Abschrift mit dem Inhalt des Testament bekannt gemacht habe. Er habe ihm auch freigestellt, nur die Hauptpunkte öffentlich zu verlesen und besondere Bemerkungen, soweit sie einzelne Erben angingen, den Betreffenden ohne Zeugen mitzuteilen.
Die Erwartung der Versammlung war durch diese einleitenden Worte aufs höchste gespannt. Und gleich die erste Bestimmung wirkte auf alle Anwesenden wie eine Sensation.
„Mit Genehmigung unseres Allergnädigsten Kaisers und Königs habe ich die Herrschaft Chmilowo, bestehend aus den Gütern Chmilowo, Dembno, Gollubki, Wielgilas, Kurzno, Christowo, den Vorwerken Chlust, Wisba und drei Millionen Gold bar, für ein unantastbares Majorat erklären lassen..“
Besonders die hohe Geldsumme, mit der das neue Majorat ausgestattet war, rief allgemeines Erstaunen hervor. Für so reich hatte man den Verstorbenen nicht gehalten. Alle Blicke flogen zu Viktor, der das Haupt gesenkt hielt, um die brennende Röte, die ihm ins Gesicht gestiegen war, zu verbergen. Auch ihn hatte die Höhe der Summe überrascht. Aber das war es nicht, was ihn erröten ließ. In seiner Brusttasche steckte noch das dem Diener Fedor abgenommene Schreiben des Verstorbenen an den Notar Kolakowski, das Viktor in einer abergläubischen Anwandlung noch immer nicht vernichtet hatte. Und es war ihm, als sähe ihn der Notar mit durchdringenden Blicken an, und als ahnte er das Verbrechen, das an dem Verstorbenen und an seinem rechtmäßigen Sohn und Erben begangen war.
Wie leere Worte klangen die weiteren Bestimmungen, in denen die Erbfolge für das neue Majorat geregelt wurde an sein Ohr. Erst als sein Name genannt wurde, horchte er auf. Der Notar las mit scharfer Stimme vor: „Das Majorat mit allen seinen Liegenschaften und dem Kapital, mit allem lebenden und toten Inventar vermache ich meinem Neffen Viktor von Poranski. Es vererbt in seiner Familie nach dem Recht der Erstgeburt unter Beobachtung der für die Erbfähigkeit geltenden gesetzlichen Bestimmungen.“
Nur die ersten Worte hatte Viktor verstanden, dann begann es in seinen Ohren zu brausen.
Mit feierlichen Schritten kam der Notar auf ihn zugeschritten, um ihm Glück zu wünschen. Dem alten Mann wurden die wenigen Schritte und der Händedruck sehr schwer, aber er mußte sich beherrschen und der Sitte folgen, wenn sein Benehmen nicht auffallen und zu Mißdeutungen Anlaß geben sollte. Viktor von Poranski hatte mechanisch den vielen, die an ihn herantraten, die Hand hingehalten. Er empfand es wie eine Erleichterung, als der Notar mit lauter Stimme fortfuhr:
„Jetzt folgen einige Bemerkungen, die ich dem Wunsche des Erblassers gemäß Herrn Viktor von Poranski persönlich vortragen werde.“
Er schlug mehrere Blätter um, dann las er wieder vor: „Herrn Viktor von Poranski wird bis zur Vollendung seines vierzigsten Lebensjahres ein jährlicher Betrag von dreißigtausend Gulden frei zur Verfügung überwiesen. Die Zinsen des Kapitals und die Erträge der Güter, die diesen Betrag übersteigen, werden dem Vermögen des Majorats zugeschrieben. Die Verwaltung des ganzen Güterkomplexes mit voller Verantwortung und Verfügungsfreiheit übernimmt Herr Ludwig Schneider, Administrator von Dembno. Die Kontrolle der Verwaltung übernimmt mein Freund, Herr Notar Kolakowski.“
Diese letzten Bestimmungen, die ein freies Verfügungsrecht über das Erbe aufhoben, kränkten Viktor, doch ein Gedanke schoß ihm durch den Kopf, und ein leichtes Lächeln zuckte um seine Mundwinkel.
Der alte Narr! Als ob es nicht Leute genug gäbe, die ihm, dem Majoratsherrn, ohne Bedenken jede beliebige Summe in den kommenden Jahren vorstrecken würden. Freilich war es eine Kränkung vor aller Welt, die ihm der Verstorbene angetan hatte! Er fühlte förmlich, wie die Blicke aller fragend auf ihn gerichtet waren. Ja, er glaubte selbst aus der Stimme des Notars etwas wie eine Genugtuung herauszuhören.
Seine Gedanken beherrschten ihn so, daß er von dem Inhalt der nachfolgenden Paragraphen fast gar nichts verstand. Er hörte wohl Namen und Zahlen, aber sie ließen ihn gleichgültig. Der Erblasser hatte auch seine Mutter und seine Schwester sehr reich bedacht. Auch die Beamten, die in seinen Diensten standen, waren nicht vergessen worden, selbst die Tagelöhner nicht.
Mit erhobener Stimme las der Notar jetzt weiter vor: „Das Gut Bninki mit seinen beiden Vorwerken Ostrow und Dlugikont sowie dem dazugehörigen Waldareal vermache ich Herrn Stanislaw Jedlinski, zur Zeit in San Franzisko.“ Dann folgte als letzte Bestimmung: „Meiner treuen Pflegerin Annuschka Adamka vermache ich ein Kapital von hunderttausend Gulden.“
Aller Augen wandten sich jetzt dem im Hintergrunde sitzenden, schwarz gekleideten Mädchen zu.
Der feierliche Akt der Testamentsverlesung war zu Ende. Die Erregung über die Enthüllungen, die das Testament gebracht hatte, machte sich in einem lebhaften Gedankenaustausch unter den Anwesenden vernehmbar.
Der Notar verschloß seine Mappe und trat zu dem Majoratsherrn.
„Uns liegt noch die Pflicht ob, den Geldschrank des Erblassers gemeinsam zu öffnen, um seinen Inhalt festzustellen“, sagte er.
Viktor verbeugte sich. Langsam leerte sich dann der Saal.
An der Tür blieb Stanislaw Jedlinski stehen und wartete, bis der Notar und Viktor herankamen. Er wollte dem Notar noch ein kurzes Lebewohl sagen. Der Stolz hatte sich in ihm aufgebäumt. Er wollte das Vermächtnis nicht annehmen. Er hatte erwartet, daß sein Vater wenigstens im Testament offen bekannt hätte, daß Stanislaw sein rechtmäßiger Sohn war. Das war ihm wichtiger als die ganze Erbschaft.
Es war Stanislaw unangenehm, daß der Notar seinen Begleiter durch eine Handbewegung auf ihn aufmerksam machte. In demselben Augenblick hörte er ihn auch schon sagen:
„Gestatten Sie, Herr von Poranski, daß ich Ihnen Ihren Vetter, Herrn Stanislaw Jedlinski, den Sohn Ihres verewigten Onkels, vorstelle.“
Für eine Sekunde verließ Viktor seine weltmännische Schlagfertigkeit. Er wandte sich hastig zum Notar, ein heftiges Wort schwebte ihm auf den Lippen, doch schnell bezwang er sich und förmlich begrüßte er den Fremden, der ihm als sein nächster Verwandter vorgestellt war. Die Blicke der beiden jungen Männer trafen sich. Wie zwei Feinde, die sich zum Kampf auf Leben und Tod anschicken, standen sie einander gegenüber.
Der alte Herr tat, als merkte er nichts. Mit einem liebenswürdigen Ton in der Stimme wandte er sich an Viktor.
„Sagen Sie doch selbst, Herr von Poranski, die Ähnlichkeit zwischen Herrn Stanislaw und seinem Vater ist doch unverkennbar. Das muß Sie, Herr Stanislaw, darüber trösten, daß die Papiere, die Ihre Abstammung klarstellen, bisher nicht aufgefunden werden konnten. Aber vielleicht hat sie der Verewigte in seinem Geldschrank verwahrt. Ich bitte Sie daher, mir zu folgen und der Öffnung des Schrankes beizuwohnen. Wir brauchen dabei ohnehin einige Zeugen. Ich werde meinen Freund, Doktor Dubois, noch dazu bitten. Vielleicht wünschen Sie auch einige Zeugen von Ihrer Seite heranzuziehen, Herr von Poranski?“
Viktor verneinte. Es war kein angenehmes Gefühl, mit dem er der Öffnung des Geldschrankes, den außer dem Verstorbenen nur der Notar öffnen konnte, entgegensah. Zwar hatte er nichts zu befürchten, da ja ein neues Testament nicht zum Vorschein kommen konnte, aber es war schon genug, wenn der Schrank, wie der Notar andeutete, Papiere enthielt, die den verhaßten Jedlinski als legitimen Sohn des Oheims beglaubigten.
Draußen war es dunkel geworden. Der Notar ließ in das Privatkabinett des Verstorbenen, in dem sich der Geldschrank befand, eine Lampe bringen und führte dann mit einer gewissen Feierlichkeit den Schlüssel ein, nachdem er den Anwesenden den Mechanismus des Schlosses erklärt hatte. Zum großen Erstaunen des Notars gelang es ihm jedoch nicht, das Schloß zu öffnen. Der alte Herr versuchte es noch einmal, aber auch diesmal versagte der Mechanismus. Nun wurde der Notar stutzig. Er zog den Schlüssel heraus und betrachtete ihn aufmerksam.
Auch Viktor war im höchsten Grade erregt, obwohl er sich mit aller Kraft beherrschte. Er fühlte, daß in diesem Augenblick ein böser Verdacht sich gegen ihn erhob.
„Ist es möglich, daß jemand das Schloß widerrechtlich geöffnet und mit einem anderen Kennwort geschlossen hat?“ fragte er mit sicherer Stimme.
„Das überlege ich eben auch“, entgegnete der Notar. „Es erscheint mir aber unwahrscheinlich, denn ich weiß, daß der Verstorbene unter keinen Umständen irgend jemand außer mir das Kennwort anvertraut haben würde. Wir wollen es noch einmal versuchen.“
Er nahm noch einmal langsam und bedächtig dieselbe Prozedur vor, einmal, zweimal — immer vergeblich.
„Nun müssen wir der Möglichkeit näher treten, daß jemand den Schrank widerrechtlich geöffnet hat“, bemerkte der Notar. Er sah, daß Stanislaw Jedlinski sich in großer Aufregung befand. Seine Hand hielt den Rand des neben ihm stehenden Tisches umklammert. Der Notar begriff die Ursache dieser Aufregung. Hatte er doch selbst in Jedlinski die Hoffnung erweckt, daß in dem Schrank die Papiere verwahrt liegen könnten, die für ihn so entscheidend waren. Vielleicht war der Versuch gemacht worden, gerade diese Papiere zu beseitigen.
„Wir wollen den Fall in aller Ruhe erörtern“, bemerkte der Notar nach einer Pause. „Wo ist der Schlüssel, den Herr Wratislaw in seinem Besitz hatte?“
Viktor zuckte die Achseln. „Darüber kann nur Fräulein Annuschka Auskunft geben.“
„Dann wollen wir das Fräulein herbitten lassen. Einige Augenblicke nur, meine Herren.“
Nach wenigen Minuten erschien Annuschka. Der Notar kam ihr fast bis zur Tür entgegen und nahm ihre Hand. —
„Zunächst meinen Glückwusch“, sagte er, „Zu dem Vermächtnis, das Ihnen unser edler Freund zugewendet hat. Ich habe Sie bitten lassen, in der Hoffnung, daß Sie uns helfen können. Wir können den Schrank hier nicht öffnen. Es ist nur denkbar, daß der Verstorbene irgend jemand mit der Öffnung des Schrankes betraut hat, und daß dabei mit einem falschen Kennwort geschlossen wurde. Können Sie uns vielleicht darüber Auskunft geben?“
Annuschka schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Notar, der Verstorbene ließ keinen Menschen an den Schrank. Er hat auch den Schlüssel nie aus der Hand gegeben.“
„Vielleicht aber wissen Sie, wo der Schlüssel geblieben ist?“
„Das allerdings, er liegt mit dem ganzen Bunde hier in dieser Kassette. Der Schlüssel zur Kassette befindet sich in diesem Ledertäschchen.“
Überrascht griff der Notar nach dem Täschchen, das ihm Annuschka reichte. „Wie kommen Sie dazu?“ fragte er.
„Es wurde bei dem Verstorbenen gefunden. Ich habe es an mich genommen, doch keinem Menschen davon Mitteilung gemacht.“
„Das ist sehr verständig von Ihnen, mein Fräulein. Doch nun können Sie uns wohl nichts weiter helfen. Ich danke Ihnen.“
Er grüßte mit höflicher Verbeugung und öffnete das Täschchen, das nichts weiter als einen kleinen Schlüssel enthielt. Damit schloß er die Kassette auf und entnahm ihr das Duplikat des Schlüssels, der sich stets im Besitz des Verstorbenen befunden hatte. Noch einmal wiederholte er den Versuch, den Schrank zu öffnen. Doch auch diesmal vergebens. Er wandte sich zu den Herren, die ihm mit gespannter Aufmerksamkeit zugesehen hatten.
„Meine Herren, ich stehe vor einem Rätsel. Sie werden schon gemerkt haben, daß wir ein Meisterwerk der Schlosserkunst vor uns haben, dessen Verschluß sich so unzählige Male verstellen läßt, daß es ein nutzloses Beginnen wäre, die richtige Buchstabenverbindung durch Zufall herausfinden zu wollen. Ich kann mir nur erklären, daß mein verstorbener Freund durch eine Unachtsamkeit, oder vielleicht in starker seelischer Erregung, die seine Krankheit verursacht hat, ein anderes Wort zum Verschluß gewählt hat, als das von uns vereinbarte. Jede andere Möglichkeit dürfte wohl ausgeschlossen sein.“
„Auffallend bleibt es doch“, warf Jedlinski in scharfem Ton ein, „daß die Dienerin den Schlüssel zur Kassette tagelang bei sich getragen hat.“
Ehe noch Viktor antworten konnte, hatte der Notar schon beschwichtigend die Hand auf den Arm Jedlinskis gelegt.
„Ich bemerke Ihnen, Herr Jedlinski“, sagte er ruhig, „daß Fräulein Annuschka keine Dienerin, sondern eine Angehörige des Hauses ist, die das uneingeschränkte Vertrauen Ihres verstorbenen Herrn Vaters genoß. Sie steht über jedem Verdacht.“ Und mit erhobener Stimme fügte er hinzu: „Ich wüßte auch nicht, gegen wen sich überhaupt ein Verdacht richten könnte.“
„Es wird nichts anderes übrigbleiben, als den Schrank gewaltsam öffnen zu lassen“, bemerkte Viktor, ohne auf die letzten Worte des Notars näher einzugehen.
„Ich weiß leider auch keinen anderen Ausweg, Herr von Poranski. Die Schlüssel muß ich an mich nehmen. In den nächsten zwei Tagen habe ich aber sehr viel zu tun. Wollen Sie übermorgen früh einen Schlitten nach der Stadt schicken, der einen Kunstschlosser mit seinen Werkzeugen nach dem Schloß bringt? Ich komme dann gleich mit. Die beglaubigte Abschrift des Testaments möchte ich schon jetzt in Ihre Hände niederlegen. Und noch eins, Herr von Poranski: Haben Sie über den Verbleib des alten Fedor noch nichts ermittelt?“
„Nein, morgen will ich gleich in aller Frühe energische Nachforschungen anstellen lassen. Die Aufregungen des Begräbnisses haben mir bis jetzt keine Zeit dazu gelassen.“
Siebentes Kapitel
Schon am Abend des nächsten Tages erhielt der Notar die Botschaft, daß der alte Fedor tot aufgefunden wurde, allem Anschein nach sei er verunglückt. Viktor schilderte die Expedition zur Auffindung des Toten, an der er selbst teilgenommen hatte, sehr ausführlich, und bat zum Schluß, das Gericht von diesem Unglücksfall zu benachrichtigen. Ganz nebenher kam Viktor auch auf seine eigene Angelegenheit zu sprechen und bemerkte, daß er sich freuen würde, wenn Herr Jedlinski der Öffnung des Geldschrankes beiwohnen wollte.
Der alte Notar las den Brief, der klug und wohlüberlegt geschrieben war, mehrmals. Er hatte die Empfindung, als suchte Viktor hinter den vielen Worten sein schlechtes Gewissen zu verbergen, aber er fand kein Wort, an das sich ein bestimmter Verdacht knüpfen ließ.
Am nächsten Morgen waren vor dem Hause des Notars in aller Frühe drei Schlitten aus Chmilowo zur Stelle. In dem einen fuhr der Notar mit Doktor Dubois und Herrn Jedlinski, in dem zweiten die Gerichtskommission, im dritten ein Kunstschlosser mit zwei Gesellen.
***
An der Stelle, an der Fedor verunglückt war, wartete Viktor von Poranski mit den Männern, die bei der Auffindung der Leiche zugegen gewesen waren, auf die Ankunft der Gerichtskommission. Viktor begrüßte die Ankommenden und machte die Herren in kurzen Worten mit dem Tatbestand bekannt.
Der Befund der Gerichtskommission ergab nichts Neues. Doktor Dubois, der der Kommission als medizinischer Sachverständiger beigegeben war, erkannte schon nach kurzer Untersuchung, daß hier nur ein Absturz vorliegen könne, und gab sein Gutachten in diesem Sinne ab. Die Gerichtskommission schloß sich dieser Auffassung an, nahm ein kurzes Protokoll auf und gab dann die Leiche frei. Mit einem warmen Händedruck verabschiedete sich Viktor von Poranski von den Herren vom Gericht, die wieder nach Lemberg zurückfuhren, während die beiden anderen Schlitten, denen sich jetzt Viktors Schlitten anschloß, den Weg nach Chmilowo einschlugen. —
Im Schlosse angelangt, führte Viktor seine Gäste sofort nach dem Arbeitszimmer des Verstorbenen, in dem der Geldschrank aufgestellt war.
Der Kunstschlosser, der sein Handwerk sehr gut verstand und weit in der Welt herumgekommen war, hatte rasch begriffen, um was es sich handelte, und machte sich sogleich an die Arbeit. Schon nach wenigen Minuten hielt er inne.
„Amerikanische Schwindelarbeit!“ brummte er vor sich hin. „Die Kennwörter sind Humbug, bin lange genug drüben gewesen, um die Arbeit zu beurteilen. Der Schlüssel paßt für jedes Wort, das man einstellt, wenn man nur diese versteckte Feder zurückschiebt, die selbsttätig nach dem Herausziehen des Schlüssels einspringt.“
Er steckte den Schlüssel ein und schloß mühelos auf.
„Das ganze Geheimnis beruht nur darauf“, sagte er lächelnd, „daß hinter jedem Wort ein Punkt gemacht wird. Der Knopf hier mit dem Punkt in der Mitte, das ist der einzige Verschluß.“
Der Notar trat auf den Kunstschlosser zu und reichte ihm die Hand. „Den Punkt habe ich vorgestern vergessen! Ich danke Ihnen, Meister.“
Der Kunstschlosser und seine beiden Gesellen packten ihr Handwerkzeug zusammen und verabschiedeten sich von den anwesenden Herren.
Mit einer gewissen Feierlichkeit zog jetzt der Notar die Schranktür auf. Es war nicht leicht, sich in der Menge von Papieren, die in dem Schranke regellos durcheinanderlagen, zurechtzufinden. Mit geübter Hand sichtete der Notar das Wichtige vom Unwichtigen, aber außer einigen Wertpapieren und Geschäftsbriefen, die sich auf die Verwaltung des Gutes bezogen, fand sich nichts vor, das einer besonderen Aufmerksamkeit wert war.
Der Notar war enttäuscht. Da fiel ihm ein Päckchen vergilbter Briefe in die Hände, das besonders sorgfältig verschnürt war. Es waren Briefe des verstorbenen Herrn von Poranski an seine Frau.
Der Notar durchflog diese Briefe, doch der Ausdruck in seinem Gesicht spiegelte deutlich seine Enttäuschung wieder. Stanislaw Jedlinski war in den Briefen zwar erwähnt, aber als Dokumente im gesetzlichen Sinne konnten sie trotzdem nicht gelten. Und doch mußte der Verstorbene Papiere, die sich auf die Abstammung seines Sohnes bezogen, hinterlassen haben! Der Notar durchsuchte noch einmal den ganzen Geldschrank, aber ohne Erfolg.
Er nahm nun ein Protokoll über die vorgefundenen Papiere auf, das er von den anwesenden Zeugen unterschreiben ließ.
Damit war auch diese Amtshandlung geschlossen, und da der Notar und seine Begleiter die Einladung, einen Imbiß im Schloß einzunehmen, ablehnten, fuhr alsbald der Schlitten vor, der die Gäste des Herrn von Poranski nach Lemberg zurückbringen sollte.
Auf dem Rückweg ließ sich der Notar nicht ohne Absicht mit dem Kutscher des Schlittens, einem alten Mann, der jahrelang in den Diensten des verstorbenen Schloßherrn gestanden hatte, in ein Gespräch ein. Er wußte, daß der klare Menschenverstand eines einfachen Mannes oft scharfsichtiger ist als der von mancherlei Begleiterscheinungen beeinflußte Blick des Juristen.
So erfuhr er, daß die Leute auf dem Schlosse über den Tod des alten Fedor allerlei orakelten. Er wurde darauf aufmerksam, daß der treue Hund des alten Mannes, der ihn auch auf seinem letzten Ritt begleitet hatte, verschwunden war. Wenn wirklich nur ein Unglücksfall vorlag, dann wäre doch der Hund nach dem Schloß zurückgekehrt! Der Notar mußte sich sagen, daß diese Auslegung des Volksempfindens manches für sich hatte.
Noch wichtiger war aber für den Notar eine zweite Tatsache, die der Kutscher im Gespräche erwähnte. Der alte Fedor hatte vor seinem Ritt nach Lemberg in der Schloßküche erzählt, daß er einen wichtigen Brief des alten Herrn von Poranski an den Notar Kolakowski in Lemberg bei sich trage. Dieser Brief war aber bei dem Toten nicht vorgefunden worden. Außerdem sollte Fedor doch nach den Worten Annuschkas zum Arzt und nicht zum Notar geschickt worden sein. Hier lagen Widersprüche vor, die noch aufgeklärt werden mußten.
Als der Schlitten in Lemberg vor der Wohnung des Notars angelangt war, gab der Notar dem Kutscher ein gutes Trinkgeld, bemerkte aber gleichzeitig, daß das, was die Leute sprächen, wohl nur müßiges Gerede sei.
Jedlinski und Doktor Dubois, die sich nun verabschieden wollten, wurden von dem alten Herrn festgehalten.
„Kommen Sie mit mir in meine Wohnung“, sagte er. „Wir haben heute noch ernste Dinge zu besprechen. Der Tod des alten Fedor hat jetzt eine Bedeutung gewonnen, die ich anfänglich kaum angenommen habe.“
Einige Minuten später saßen sie in dem einfachen, aber sehr behaglich ausgestatteten Arbeitszimmer des vielbeschäftigten Notars. Von den mit dunkelroter Tapete bezogenen Wänden hoben sich einige wertvolle Gemälde alter Meister wirkungsvoll ab. Über seinem Schreibtische hatte der Notar an der Wand eine entzückende Gruppe von kleinen Kupferstichen anbringen lassen, die er selbst mit großem Kunsteifer gesammelt hatte. Auf dem Schreibtisch standen einige kleine Bronzen, und in kostbarem Rahmen das Bild einer reizenden jungen Frau, der früh verstorbenen Gattin des Notars.
Der Notar hatte Wein und einen Imbiß kommen lassen und angeordnet, daß jede Störung fernzuhalten sei.
„Nach dem, was ich soeben gehört habe“, sagte der Notar ernst, „muß ich annehmen, daß Fedor keines natürlichen Todes gestorben ist.“
Doktor Dubois schüttelte den Kopf.
„Nach meinen Feststellungen ist der Tod des alten Dieners insofern natürlich, als er durch den Absturz des Pferdes herbeigeführt wurde. Eine Verletzung durch Schlag oder Schuß ist völlig ausgeschlossen.“
„Wäre es nicht möglich, daß das Pferd plötzlich scheu gemacht worden ist?“ warf Jedlinski ein. „Auch in diesem Falle würde doch wohl kein Unglücksfall, sondern ein Verbrechen vorliegen.“
Der Notar stutzte. „Sie haben eine lebhafte Phantasie, Herr Jedlinski. Wer sollte das Pferd scheu gemacht haben?“
„Ich will keinen Namen nennen“, meinte Jedlinski bitter.
Eine Zeitlang herrschte Schweigen unter den drei Männern. Endlich ergriff der Notar wieder das Wort.
„Nehmen wir an, Ihr Verdacht wäre gerechtfertigt, Herr Jedlinski, so bringt er uns doch um keinen Schritt weiter. Was wir bis jetzt wissen, gibt uns leider keine Handhabe, um in irgendeiner Weise einschreiten oder gar die Hilfe des Gerichts in Anspruch nehmen zu können. Aber wir müssen die Spur weiter verfolgen. Für die Zukunft heißt es, die Augen offen halten. Ich würde es — um auf Ihre Angelegenheit zurückzukommen, Herr Jedlinski — für einen groben Fehler halten, wenn Sie aus idealen Gründen auf das Ihnen zugefallene Vermächtnis verzichten wollten, wie Sie mir vorher andeuteten. Im Gegenteil, gerade Sie haben erst recht die Pflicht, auf dem Posten zu sein. Ziehen Sie nach dem Ihnen zugefallenen Gut Bninki, damit wir Sie in der Nähe haben. Verlegen Sie sich auf die Landwirtschaft, das wird Ihnen gut tun und Sie von Grübeleien, die zu nichts führen, fernhalten. Vielleicht kann Ihre Nähe zu der Aufklärung des Falles, der uns beschäftigt, etwas beitragen.“. Der Notar machte eine Pause und griff nach einer Zigarre. Dann fuhr er langsam fort, jedes Wort nachdrücklich hervorhebend:
„Eines ist sicher: Der Brief, der dem Toten unzweifelhaft abgenommen worden sein muß, war derartig wichtig, daß der Mann, den wir alle im Verdacht haben, an der Beseitigung dieses Briefes ein Interesse haben mußte. Noch deutlicher gesprochen: Der Brief, den der verstorbene Schloßherr an mich durch Fedor geschickt hat, enthielt nichts Geringeres, als die Herrn Viktor von Poranski angedrohte Enterbung. Und weiter: Der Brief ist dann durch Zufall oder durch ein Verbrechen in die Hände einer oder mehrerer Personen gekommen, die ihn vielleicht beseitigt oder vernichtet haben.“
Der Arzt schüttelte wieder den Kopf.
„Das sind doch nur Hypothesen, die gar nicht zu beweisen sind“, meinte er ärgerlich.
„Wollen abwarten“, sagte der Notar lebhaft. „Du weißt, daß ich kein Phantast bin, dazu ist mein Beruf zu trocken.
Übrigens braucht hier nicht einmal, wie ich schon sagte, ein Verbrechen vorzuliegen. Ist es denn nicht denkbar, daß der alte Fedor durch Drohung oder durch Bestechung dahin gebracht wurde, Herrn Viktor von Poranski oder seinem Helfershelfer den Brief auszuliefern? Und dann verunglückte er auf dem Heimwege. Vielleicht hat das Gewissen ihm geschlagen, und er hat auf den Weg nicht geachtet?“
„Und der Zwischenfall mit dem Geldschrank?“ fiel Jedlinski ein. „Messen Sie dem keine Bedeutung bei?“
Der Notar zuckte die Achseln.
„An der vorzeitigen Öffnung des Schrankes hatte doch niemand ein Interesse.“
„Ihre Ansicht befremdet mich“, entgegnete Jedlinski bitter. „Wie, wenn jemand in dem Schranke wichtige Papiere, die meine Person betrafen, vermutete, oder wenn das Schloßfräulein auf den Gedanken gekommen wäre, nach Papieren zu suchen, die sich auf ihre Vergangenheit beziehen?“
Der Notar war aufgesprungen und ging mit hastigen Schritten im Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Jedlinski stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter.
„Mit all unserem Scharfsinn“, bemerkte er, „kommen wir nicht weiter. Tatsachen müssen wir haben, Tatsachen! Wir müssen zunächst feststellen, wo der Hund geblieben ist, der Fedor begleitete. Wir müssen Zeugen aufbringen, die genau bekunden, ob Fedor einen Brief bei sich führte. Und was die Angelegenheit mit dem Schranke betrifft, so müssen wir uns vor allen Dingen darüber Gewißheit verschaffen, wie der neue Schloßherr und Fräulein Annuschka miteinander stehen.“
„Wie sollen wir das ermitteln?“ fragte Jedlinski niedergeschlagen.
„Lassen Sie das meine Sache sein!“ sagte der Notar aufmunternd. „Ich habe meinen Plan, den ich Ihnen anvertrauen will. Ich bringe einen tüchtigen Detektiv nach Chmilowo, der klug und geschickt genug ist, um unter der Maske eines Schloßbeamten unerkannt für uns zu wirken. Das Einfachste wäre es natürlich, Herr Jedlinski, wenn wir den letzten Brief Ihres Vaters in die Hand bekommen könnten, in dem Sie wahrscheinlich zum Erben eingesetzt wurden. Damit ist aber leider nicht zu rechnen, da dieser Brief, wenn er überhaupt je geschrieben wurde, wohl längst vernichtet ist. Die Hauptaufgabe des Detektivs wird es also sein müssen, die Papiere über Ihre legitime Geburt zu beschaffen. Sollten sich diese Dokumente finden, dann wären Sie wenigstens der rechtlich anerkannte Nachfolger Viktors im Majorat.“
„Wenn sich die Papiere im Schrank befanden, dann sind sie längst vernichtet.“
„Das ist durchaus nicht anzunehmen“, fiel Herrn Jedlinski der Notar ins Wort. „Falls der Geldschrank wirklich widerrechtlich geöffnet wurde, so könnte doch, wie ich nun auch glaube, nur Fräulein Annuschka als Täterin in Frage kommen, und wie ich sie kenne, würde sie sich hüten, ein so wichtiges Geheimnis aus den Händen zu geben. Sie ist klug genug, um zu erfassen, daß der Besitz der Papiere eine furchtbare Waffe ist, mit der sich das ehrgeizige Mädchen die dauernde Herrschaft über Viktor von Poranski sichern kann. Wissen Sie denn nicht, daß zwei Menschen, die durch eine Schuld aneinandergekettet sind, sich innerlich als Feinde gegenüberstehen? Aus diesem längst erprobten Erfahrungssatz ziehe ich als Jurist den Schluß, daß Annuschka die Papiere weder vernichtet, noch an Viktor von Poranski ausgeliefert hat — vorausgesetzt natürlich, daß unsere Annahme von der heimlichen Öffnung des Schrankes und der Entwendung der Dokumente überhaupt zutrifft.“
Stanislaw Jedlinski sah den Notar mit dankbarem Blick an.
„Der heutige Tag hat mir eine bittere Enttäuschung gebracht“, sagte er, indem er sich erhob. „Nun aber beginne ich wieder Mut zu fassen.“
„Sie haben keinen Grund zum Verzweifeln“, erwiderte der Notar warm, indem er dem jungen Mann freundlich die Hand schüttelte. „Morgen fahren wir nach Bninki zur Übergabe des Gutes. Sie werden in dem Verwalter einen erfahrenen Mann kennenlernen, der Ihnen in mancher Beziehung von Nutzen sein kann. Alles übrige überlassen Sie getrost der Zukunft und Ihrem klaren Blick. Und du, lieber Dubois“, wandte sich der Notar an den Arzt, der sich gleichfalls erhoben hatte, „laß dir unsere heutige Erörterung noch einmal durch den Kopf gehen, denn wir müssen alles noch einmal genau besprechen, ehe ich meinen Detektiv in unsere Dienste stelle.“
Achtes Kapitel
In Chmilowo war das Leben wieder in die alten Gleise zurückgekehrt. Viktor von Poranski hatte seine Mutter gebeten, ihre Wohnung in Lemberg aufzugeben und mit seiner Schwester Helene ganz nach Chmilowo überzusiedeln. Sie hatte es abgelehnt, sich aber entschlossen, wenigstens einige Wochen mit ihrer Tochter auf dem Gute zu verbringen.
Frau von Poranska stand ihrem einzigen Sohn fast fremd gegenüber. Er war nicht nur äußerlich seinem Vater ähnlich, der in das Leben dieser seelisch tief veranlagten Frau ein Übermaß von Bitterkeit gebracht hatte, sondern auch in seinem ganzen Charakter glich er seinem leichtfertigen Vater. Eine durchaus oberflächliche Natur, die jeder ernsteren Beschäftigung abgeneigt war, betrachtete er das Leben nur als eine Kette ständig wechselnder Vergnügungen.
Wiederholt hatte Frau von Poranska versucht, Viktor von seiner unseligen Leidenschaft für das Spiel, die schon seinen Vater zugrunde gerichtet hatte, zu heilen. Aber ihre ebenso eindringlichen wie herzlichen Vorstellungen hatten niemals auch nur den geringsten Eindruck auf ihn gemacht. So sah sie auch jetzt voraus, wie sich die Dinge auf Chmilowo in einiger Zeit entwickeln würden: Jeden Tag Jagdgäste, abends ein Trinkgelage und dann die Karten. Nein — diese Art von Leben wollte sie durch ihre Anwesenheit nicht noch decken. Sie verstand es sehr gut, daß ihr verstorbener Schwager Vorsorge getroffen hatte, daß der Besitz und das Kapital, das er hinterlassen hatte, nicht angetastet werden konnte. So war wenigstens der Möglichkeit vorgebeugt, daß das Majorat durch den Leichtsinn Viktors zugrunde gerichtet werden konnte. Die Güter warfen einen sehr hohen Reingewinn ab, denn die Inspektoren waren treu und fleißig, trotz ihres kärglichen Einkommens, und die zahlreichen Hofleute arbeiteten, ohne an den nächsten Tag zu denken, für einen Hungerlohn, doch der neue Gutsherr verpraßte und verspielte, was der Fleiß seiner Angestellten ihm erwarb.
***
Frau von Poranska und ihre Tochter lebten auf dem Schloß sehr zurückgezogen und waren fast den ganzen Tag sich selbst überlassen. Nur die Hauptmahlzeiten nahmen sie mit Viktor gemeinsam ein.
Gleich am ersten Tage nach dem Begräbnis war es Frau von Poranska aufgefallen, daß zum Diner vier Gedecke aufgelegt wurden. Sie nahm an, daß der Propst oder der Oberinspektor zum Essen hinzugezogen werden sollte, und war überrascht, als Annuschka an der Tafel Platz nahm.
Die alte Dame beobachtete ihren Sohn und das junge Mädchen mit dem scharfen Auge der sorgenden Mutter. Sie hatte nichts herausgefunden, was den in ihr auftauchenden Verdacht bestätigt hätte. Aber mit dem feinen Instinkt der Frau fühlte sie doch, daß es nicht richtig war, wenn dieses Mädchen, das durch die Erbschaft unabhängig geworden war, weiter im Hause blieb.
Sie hielt ihren Sohn zurück, als er sich nach dem Essen entfernen wollte, und sagte ihm offen ihre Ansicht.
Viktor zuckte die Achseln und schlug einen sentimentalen Ton an, mit dem er seiner Mutter gegenüber bisher immer Erfolg gehabt hatte.
„Liebe Mama“, sagte er, „der verstorbene Onkel hat Fräulein Annuschka das Hausrecht gegeben. Sie hat für alle seine persönlichen Bedürfnisse gesorgt und ihn in seiner schweren Krankheit mit Aufopferung gepflegt. Sie ist hier ausgewachsen und hat nirgend in der Welt Verwandte. Entscheide selbst, ob ich sie jetzt aus dem Hause jagen kann.“
Die Mutter sah ihrem Sohn besorgt ins Auge. „Viktor, was werden die Gutsnachbarn sagen, wenn ich von hier fort bin und du allein bist?“
„Fräulein Annuschka ist als Schloßfräulein die Repräsentantin meines Haushalts“, sagte Viktor etwas nervös. „Die Entscheidung deiner Frage hat übrigens Zeit, da ich die Absicht habe, nach deiner Abreise für längere Zeit nach dem Süden zu gehen.“
Frau von Poranska zog sich in ihre Gemächer zurück. Ihr Argwohn war nicht eingeschläfert. Vielleicht war durch den Tod des Onkels das Hindernis gefallen, das einer Annäherung bisher im Wege gestanden hatte.
Ihre Tochter Helene, ein hochgebildetes, junges Mädchen von neunzehn Jahren, mit blauen Augen und dunkelblondem Haar, hatte sich gerade an den Stickrahmen gesetzt, als die Mutter eintrat.
„Liebe Mama“, rief sie, der Mutter entgegengehend, „eine unglaubliche Neuigkeit! Lisette erzählte mir eben, Viktor wäre heimlich mit der interessanten jungen Dame, die von den Leuten hier Ziganka genannt wird, verlobt.“
Frau von Poranska wehrte lebhaft ab.
„Aber, Liebling, wer wird denn Dienstbotenklatsch nachsprechen“, sagte sie unwillig. „Schick doch einmal Lisette zu mir.“
Lisette war die kleine französische Zofe, die Frau von Poranska nach Chmilowo mitgenommen hatte. Sie sprach dem jungen Mädchen ins Gewissen und schärfte Lisette ein, sich von dem Gerede der Dienstboten fernzuhalten, überzeugte sich aber durch geschickt gestellte Zwischenfragen, daß die Dienerschaft des Schlosses aus Viktors Anordnungen und Äußerungen den Schluß ziehen mußte, daß Annuschka als spätere Schloßherrin zu betrachten sei.
Eine Woche noch verhielt sich Frau von Poranska abwartend. Als ihre Beobachtungen ihren Verdacht bestätigt hatten, ließ sie ihren Sohn zu sich bitten und machte ihm Vorstellungen darüber, daß ein geheimes Einverständnis zwischen ihm und der Ziganka bestände.
„Ich bin weit davon entfernt, mich zur Richterin über dein Privatleben zu machen“, meinte sie, „doch ich möchte dir zu bedenken geben, daß du dir auf diese Weise selbst ein schweres Hindernis für die Verbindung mit einer Dame deines Standes schaffst.“
Viktor hatte schweigend zugehört, jetzt zog er die Hand seiner Mutter an die Lippen, wie ein Kind, das Abbitte leistet.
„Liebste Mama, ich danke dir für deine Fürsorge, aber ich muß es dir offen bekennen, daß die Gefühle, die ich der jungen Dame“, — er legte auf diese Worte einen besonderen Nachdruck — „entgegenbringe, derartige sind, daß ich mit dem festen Entschluß umgehe, sie zu meiner Frau zu machen.“
Frau von Poranska war bleich geworden. Ihr ganzer Adelsstolz bäumte sich dagegen auf, daß ihr Sohn ein Mädchen ungewisser Herkunft zu seiner Frau machen wollte.
„Deine Worte kann ich nicht glauben“, sagte sie und versuchte zu lächeln.
„Es handelt sich bei mir um eine tiefe, ernste Neigung.“
Frau von Poranska lachte laut auf und streckte wie abwehrend die Hand gegen ihren Sohn aus.
„Ich glaube an deine tiefe Neigung nicht! Ich als deine Mutter weiß, daß du nur oberflächlicher Gefühle fähig bist. Ich habe allerdings kein Recht und leider auch nicht die Macht, deine Entschlüsse zu hindern, aber ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß eine solche Verbindung deiner unwürdig wäre und auch deine Nachkommen von dem Besitz des Majorats ausschließen würde.“
Viktor zuckte verächtlich die Achseln.
„Dieses Bedenken kann mich keinen Augenblick abhalten, meiner Neigung zu folgen. Ich werde trotzdem imstande sein, für die Zukunft meiner Kinder vielleicht besser zu sorgen, als es mein Vater für mich getan hat.“
„Nach der Art deiner bisherigen Lebensführung muß ich leider daran zweifeln, mein Sohn“, meinte Frau von Poranska ernst. „Auch wundert nur, daß du nicht den Ehrgeiz hast, den herrlichen Besitz deinen Nachkommen zu sichern. Oder fürchtest du vielleicht gar, daß dir der Besitz einmal streitig gemacht werden könnte?“
Viktor entfärbte sich. Mit einem Blick hatte die kluge Frau diese Wandlung seines Wesens erkannt und fuhr mit Nachdruck fort:
„Mein Sohn, es gehen hier unter den Bediensteten des Schlosses sehr böse Gerüchte um. Ich scheue mich, dich danach zu fragen, aber sie erfüllen mich mit Angst.“
„Seit wann horchst du auf das Gerede der Dienstboten?“ sagte Viktor mit lauerndem Blick.
„Ich danke dir für diese Belehrung, mein Sohn, doch du wirst es jetzt verstehen, wenn ich mit Helene sobald als möglich abreise.“
„Deine plötzliche Abreise würde nur zu neuem Gerede unter den Leuten Anlaß geben.“
„Das wird ganz von dir selbst abhängen, mein Sohn.“
Viktor war nachdenklich geworden. Mit hastigen Schritten ging er im Zimmer auf und ab. Plötzlich blieb er vor seiner Mutter stehen.
„Du mußt mir Zeit zur ruhigen Überlegung lassen“, sagte er. „Was meine Beziehungen zu Fräulein Annuschka anbelangt, so kann ich zu deiner Beruhigung dir offen bekennen, daß ich noch keinen bindenden Entschluß gefaßt habe, und daß diese Beziehungen ohne irgendwelche Erklärung aufhören können und werden, wenn ich mich für längere Zeit von hier entferne.“
Damit war die Unterredung zu Ende.
Frau von Poranska sah ihrem Sohn mit wehmütigen, mütterlichen Gefühlen nach. Sie hatte aus dem ganzen Gespräch herausgefühlt, daß ihr Sohn für sie noch nicht verloren war. Zuerst das Beteuern seiner großen Neigung, dann das überraschend schnelle Einlenken, das doch nur zu ihrer Beruhigung dienen sollte. Vielleicht konnte sie ihrem Sohn einen Dienst erweisen, wenn sie selbst mit Annuschka sprach.
Schon nach wenigen Tagen bot sich ihr hierzu die gewünschte Gelegenheit.
Sie war nach der Schloßbibliothek gegangen, um sich ein Buch zu holen, und traf dort ganz unerwartet mit Annuschka zusammen.
Die alte Dame mußte erst eine leichte Verlegenheit niederkämpfen, ehe sie sich dazu entschließen konnte, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Sie ließ sich in einem Ledersessel nieder und forderte Annuschka durch eine freundliche Handbewegung auf, das gleiche zu tun.
„Mein liebes Fräulein“, sagte sie, „ich benutze die Gelegenheit, um mit Ihnen über Dinge zu sprechen, die uns beide nahe berühren. Es ist mir nicht unbekannt, daß mein Sohn Ihnen Aufmerksamkeiten erweist, die über die Grenze einer konventionellen Höflichkeit hinausgehen, und ich glaube, daß unter solchen Umständen Ihr längeres Verweilen unter diesem Dache zu bedenklichen Deutungen Veranlassung gibt. Ich spreche nicht im Auftrage meines Sohnes, sondern ich spreche als Frau zu Ihnen. Ich beabsichtige auch nicht, Sie an Ihre Frauenwürde zu erinnern, will Sie aber darauf aufmerksam machen, daß mein Sohn Sie nie zu seiner Gattin erheben kann.“
Annuschka war bleich geworden. Sie antwortete nicht. Ihre Lippen waren zusammengepreßt, nur ihre dunklen Augen leuchteten.
Frau von Poranska fuhr nach einer kleinen Pause fort:
„Sie haben mich verstanden, mein liebes Fräulein? Sie sind ja jetzt Herrin Ihrer Entschlüsse, denn die bedeutende Summe, die Ihnen mein verstorbener Schwager in seinem Testament vermacht hat, ermöglicht es Ihnen, sorglos überall da zu leben, wo es Ihnen gefällt.“
„Das weiß ich, gnädige Frau, doch ich ziehe es vorläufig vor, hierzubleiben, weil ich ein Recht dazu habe. Sie können überzeugt sein, daß ich imstande bin, meine Frauenehre zu wahren. Im übrigen steht der Entschluß, ob Ihr Herr Sohn mein Gatte wird, nur mir zu.“
Frau von Poranska antwortete mit scharfer Betonung:
„Ihre Ansichten, mein liebes Fräulein, beruhen wohl nur auf einer völligen Unkenntnis der Verhältnisse. Der Majoratsherr von Chmilowo kann nur eine ebenbürtige Dame heiraten.“
„Ihr Herr Sohn wird mich heiraten, verlassen Sie sich darauf, gnädige Frau!“
Der Ton reizte die alte Dame.
„Soweit es an mir liegt, werde ich es niemals dulden, daß mein Sohn Viktor ein Mädchen heiratet, dessen Charakter mir nach allem, was ich höre, wenig vertrauenerweckend erscheint“, sagte sie in ihrer vornehmen Ruhe.
Die Antwort trieb der Ziganka das Blut ins Gesicht. Ihre wohlerzogene Zurückhaltung vergessend, stieß sie mit empörter Stimme hervor:
„Frau von Poranska! Ihre beleidigenden Worte zwingen mich, Ihnen zu sagen, daß Ihr Herr Sohn aufhört, Majoratsherr von Chmilowo zu sein, wenn ich es will!“
Annuschka schwieg einen Augenblick und beobachtete mit Genugtuung die Wirkung ihrer Worte. Frau von Poranska war wie gebrochen in ihren Lehnstuhl zurückgesunken.
Frau von Poranska versank in eine dumpfe Betäubung. Fast greifbar, wie Bilder, huschten die Gedanken an ihr vorüber. Was für eine Ehe mußte das werden, wenn ihr Sohn, von seinem Schuldbewußtsein gedrückt, zum willenlosen Sklaven dieser leidenschaftlichen Frau herabsank!
Nein — es durfte nicht so weit kommen! Sie mußte ihn veranlassen, in einer möglichst wenig Aufsehen erregenden Form auf das Majorat zu verzichten. Er würde dann noch genügend Barmittel behalten, um mit ihrer Unterstützung in irgendeiner Großstadt, wo ihn niemand kannte, ein neues Leben zu beginnen.
Sie schauderte und schrak empor. Der Tag war zur Neige gegangen. Schon war es dunkel geworden, und das Schweigen in dem unheimlich großen Raume des Bibliothekzimmers, in dem Frau von Poranska mit ihren Gedanken allein war, wirkte drückend und beängstigend auf sie.
Mühsam suchte sie sich zu erheben. Da ging die Tür auf und Viktor trat ein.
„Ach, Mama, du hier? Wir haben dich schon vermißt. Du bist wohl beim Lesen hier eingeschlummert?“
Er trat näher und erschrak, als er die schmerzverzerrten Züge seiner Mutter sah.
„Was ist dir, Mama?“ rief er erregt. „Bist du krank?“
Viktor zog ihre Hand an die Lippen. Da machte seine Mutter eine energische Bewegung, als wollte sie ihm ihre Hand entziehen. Plötzlich aber umfaßte sie seinen Kopf mit beiden Händen und weinte.
Viktor ahnte, was geschehen war. Annuschka hatte der Zofe gesagt, daß Frau von Poranska, mit der sie eine längere Unterredung gehabt habe, wahrscheinlich noch in der Bibliothek weile.
„Mein Sohn, mein Sohn, weshalb hast du mir das angetan?“ rief Frau von Poranska aufschluchzend. „Dein Vater hat durch seinen Leichtsinn uns zugrunde gerichtet. Er hat seinem Dasein mit eigener Hand ein Ende gemacht, aber niemals —“
Sie verstummte und forschte mit angstvollem Ausdruck in seinen Augen.
„Mein Sohn, hat dieses Mädchen die Wahrheit gesprochen?“
Viktor wandte den Blick ab, und die fahle Blässe seiner Züge verriet ihr mehr, als Worte sagen konnten. Mit einem tiefen Stöhnen gab sie seinen Kopf frei und schlug die Hände schluchzend vor das Gesicht.
„Es ist also wahr, daß mein Sohn zum Erbschleicher — zum Mörder herabsinken konnte!“ stieß sie verächtlich hervor.
„Mutter!“ unterbrach sie Viktor erregt. „Einen Mord habe ich nicht auf dem Gewissen, das schwöre ich dir bei der Ehre unserer Familie zu. Der alte Fedor verunglückte — ohne mein Verschulden.“
Die Mutter streckte die Hand gegen ihn aus.
„Du sprichst nicht die Wahrheit“, sagte sie. „Bist du so feig, nicht einmal deiner Mutter gegenüber ein offenes Bekenntnis abzulegen?“
Viktor war aschfahl geworden. Nun wiederholte er noch einmal leidenschaftlich:
„Du kannst meinen Worten glauben, Mutter! Einen Mord habe ich nicht auf dem Gewissen. Ich wartete auf den alten Fedor, um den Brief des Onkels an den Notar an mich zu bringen. Der Hund, der Fedor begleitete, fiel mich an — da schoß ich ihn nieder, das Pferd scheute und raste den Abhang hinab.“
„Weshalb hast du an jenem Abend ein Gewehr getragen? Zu welchem Zweck?“ fragte Frau von Poranska.
„Die Absicht ist noch keine böse Tat!“
„Manchmal mehr!“
„Mutter!“
Wie ein Schrei der Verzweiflung rang es sich aus seiner Brust.
„Was enthielt der Brief?“ fragte sie.
„Er vernichtete meine Zukunft. Er enthielt meine Enterbung und Einsetzung Jedlinskis zum Universalerben. Ich hielt mich für berechtigt, das Dokument, das der Onkel offenbar in einem Zustand der Unzurechnungsfähigkeit ausgesetzt und das er sicher am nächsten Tage widerrufen hätte, an mich zu bringen.“
Viktor schwieg.
Hochaufgerichtet stand seine Mutter ihm jetzt gegenüber.
„Was gedenkst du zu tun?“ fragte sie streng.
Viktor hatte seine Fassung wiedergefunden.
„Ich bin im Besitze des Majorats“, sagte er trotzig, „und denke nicht daran, mich zugunsten dieses Jedlinski, den der Oheim ja ohnehin reich bedacht hat, verdrängen zu lassen. Was du Verbrechen nennst, war im Grunde nur ein eigenmächtiger Eingriff eines launischen, alten Mannes in meine Rechte. Ich will die Verantwortung tragen.“
„Du denkst also, die Früchte deines Verbrechens zu genießen?“ fragte Frau von Poranska kurz.
„Wenn du es so nennst, ja!“
Frau von Poranska stieß einen kaum hörbaren Schrei aus.
„Lebe, wenn du kannst! Für mich bist du tot!“ sagte sie rauh und wandte sich der Tür zu.
Viktor versuchte nicht einmal, sie zurückzuhalten.
***
Viktor ging in sein Zimmer. Er ließ einige Flaschen Wein kommen, um sich zu betäuben und die unruhigen Gedanken zu verscheuchen, die sein Gehirn durchwühlten. Aber schon nach dem ersten Glase schob er den Wein widerwillig beiseite.
Dann begann er mit hastigen Schritten auf dem weichen Teppich hin und her zu gehen.
Ein oder zwei Stunden mochten vergangen sein — das Gefühl für die Zeit war ihm abhanden gekommen —, als er durch das Schellengeläute eines Schlittens aus seinem dumpfen Grübeln aufgeschreckt wurde. Er trat ans Fenster und sah, daß seine Mutter und seine Schwester in Reisekleidung einen Schlitten bestiegen, der vor dem Hause stand. Einen Augenblick durchzuckte ihn der Gedanke, hinunterzueilen, um vor den Leuten wenigstens den Schein zu retten. Dann aber lachte er bitter auf. —
„Lebe, wenn du kannst, für mich bist du tot!“ Die letzten Worte der Mutter kamen ihm in den Sinn. —
Er zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und nahm einen Revolver heraus. Lächelnd betrachtete er ihn von allen Seiten, zog die Sicherung heraus und legte die Mündung an die Schläfe —— erschauernd fühlte er den kalten Lauf der Waffe.
Da pochte es an die Tür. Der Diener trat ein und meldete, daß das Essen angerichtet sei.
Viktor stürzte schnell noch ein Glas Wein hinunter und ging nach dem Speisesaal. Nein, er wollte nicht an den Tod denken, er liebte das Leben.
Wenige Augenblicke nach ihm trat auch Annuschka ein.
Galant ging Viktor ihr entgegen und zog ihre Hand an seine Lippen. Mit gesuchter Förmlichkeit bot er ihr für die wenigen Schritte den Arm und führte sie an den Tisch.
Als der Diener den Saal verlassen hatte, zog er noch einmal Annuschkas Hand an die Lippen.
„Mein Lieb, ich hatte das Bedürfnis, dich noch heute zu sehen“, sagte er herzlich. „Du hast meine Mutter in die Flucht geschlagen und — ich kann dir nicht einmal ernstlich böse sein. Der Zwang, den wir uns auferlegen mußten, war unerträglich.“
Er füllte die Gläser und ließ sein Glas an das ihre anklingen.
„Auf eine glückliche Zukunft!“ sagte er und sah ihr in die Augen.
Zögernd fuhr er fort:
„Meine Mutter — wird wohl etwas aufgebracht gewesen sein — doch die Schuld liegt an mir. Ich habe ihr vor einigen Tagen erklärt, daß sie in dir meine zukünftige Gattin zu sehen und zu achten hätte. Ich habe sie gebeten, sich jeder Einmischung zu enthalten. Es tut mir leid, daß sie das nicht getan hat, und ich bitte dich um Verzeihung.“
Annuschka glaubte aus Viktors Worten eine leise Ironie herauszufühlen und unterbrach ihn mit erregter Stimme:
„Was hat deine Mutter mit dir gesprochen?“
„Sie ist nur durch deine Andeutung, daß ich dich heiraten müßte, beunruhigt. Und ich finde selbst, daß diese Äußerung etwas unvorsichtig von dir war.“
„Deine Mutter hat mich beleidigt“, entgegnete Annuschka schroff. „Deshalb habe ich ihr die einzig richtige Antwort gegeben. Es ist traurig genug, daß du dafür kein Verständnis hast.“
Viktor blickte nervös vor sich hin.
„Annuschka, weshalb diesen gereizten Ton?“ sagte er, freundlich zuredend. „Ich habe doch den Kampf für dich und mich ausgekämpft, und es ist doch für mich sehr bitter, daß meine Mutter in Unfrieden mein Haus verlassen hat.“
„Das weiß ich! Aber was ich getan habe, das tat ich aus Liebe zu dir. Ich gehe jetzt für einige Wochen weg, und du kündigst öffentlich unsere Verlobung an.“
Ein Blick, in dem sich Befremden und Mißtrauen mischten, traf Viktor, als er nicht sofort antwortete.
„Ich glaubte, das müßte doch auch dein sehnlichster Wunsch sein!“ setzte Annuschka hinzu.
„Gewiß, gewiß — ich halte es für ratsamer, jetzt noch eine längere Zeit zu warten; die Gründe brauche ich dir wohl nicht erst auseinanderzusetzen. Ich will für einige Monate nach Italien, und du bleibst hier — oder du gehst ebenfalls auf Reisen. Im Frühjahr treffen wir dann in Wien zusammen und feiern in aller Stille unsere Hochzeit.“
Annuschka sah Viktor mißtrauisch an.
„Und weshalb nicht vorher, Herr von Poranski?“ sagte sie kühl.
Viktor antwortete nicht.
Annuschka erhob sich. Die Mahlzeit, die sie sich aufgelegt hatte, lag noch unberührt auf ihrem Teller.
„Wir wollen diese Auseinandersetzung jetzt beendigen, Herr von Poranski“, sagte sie kühl. „Ich erwarte in den nächsten Tagen Ihren Bescheid.“
Viktor stand auf, machte eine formelle Verbeugung und sagte in demselben eisigen Tone wie sie: „Sie werden es sich noch überlegen — mein gnädiges Fräulein!“
***
Als die Türe sich hinter Annuschka geschlossen hatte, lachte Viktor laut auf. „Noch sind wir nicht so weit! Das könnte ja eine glückliche Ehe geben!“
Er leerte sein Glas und klingelte.
„Den kleinen Jagdschlitten mit den zwei Juckern! Ich fahre nach der Stadt!“
In seinem Zimmer zog er ein Schubfach auf und steckte eine mit Banknoten gefüllte Brieftasche zu sich.
Neuntes Kapitel
Nach einer beim Kartenspiel durchwachten Nacht war Viktor gegen Mittag des nächsten Tages nach Chmilowo zurückgekehrt.
Er hatte nicht nur seine ganze mitgenommene Barschaft verloren, sondern zur Deckung seiner Spielverluste auch noch Wechsel in beträchtlicher Höhe ausgestellt. Wieviel er verloren hatte, wußte er am nächsten Tage selbst nicht mehr genau, aber es mußte beinahe so viel wie das vom Onkel festgesetzte Jahreseinkommen sein.
Nach kurzem Schlaf, in dem Viktor von unruhigen Träumen heimgesucht wurde, erwachte er, ohne die gehoffte Erquickung gefunden zu haben. Er ließ sich schnell ein Bad bereiten, das ihn erfrischte, zog eine dicke Jagdjoppe und seine langen Jagdstiefel an und nahm das Gewehr zur Hand, um hinauszugehen in Feld und Wald. Das Wandern durch die kalte Luft, die Aufmerksamkeit, die er beim Pirschen entwickeln mußte, würde seine Gedanken ablenken.
Als Viktor einige Stunden später von dem Aufenthalt in der frischen Luft gestärkt zurückkehrte, war er sehr guter Laune. Er hatte einen starken Bock geschossen, der trotz der späten Jahreszeit noch das Gehörn trug. Dann hatte er noch eine Stunde am Waldrande gesessen und bei ziemlich schwachem Büchsenlicht einen Fuchs mit Erfolg aufs Korn genommen.
Ein gewisses Behagen am Dasein hatte sich wieder bei ihm eingestellt. Er war bei seiner einsamen Streiferei zu dem Entschluß gekommen, seine Abreise zu beschleunigen, denn die Veränderung seines Wohnortes war das sicherste Mittel, um aus der dumpfen Atmosphäre von Chmilowo hinauszukommen.
Annuschkas Nerven waren augenscheinlich stark überreizt. Sie würde während seiner Abwesenheit ruhiger werden, und sicher schadete es nichts, wenn er Zeit gewann, bevor er den Entschluß faßte, sich für immer an sie zu binden.
Als Viktor wieder sein Zimmer betrat, meldete ihm der Diener einen Mann, der schon längere Zeit gewartet hatte und ihn dringend zu sprechen wünsche.
Viktor bedachte einen Augenblick, dann befahl er, den Fremden vorzulassen.
Eine mittelgroße, gedrungene Gestalt trat mit gutem Anstand über die Schwelle, zog klappend die Hacken zusammen und verbeugte sich wie ein Kavalier.
Mit kurzem Kopfneigen erwiderte Viktor den Gruß, während sein Auge den Fremden langsam von oben bis unten musterte. Der Mann trug die schwarz verschnürte Pikesche, wie sie der niedrige polnische Adel zu tragen pflegt. Der Rock war ziemlich alt, aber von elegantem Schnitt und sauber gehalten.
Viktor bot dem Gast mit einer Handbewegung einen Stuhl an.
„Womit kann ich Ihnen dienen?“ sagte er nicht gerade freundlich, da er vermutete, daß der Fremde eine Unterstützung von ihm verlangen würde, und Viktor war nach den großen Verlusten der vergangenen Nacht nicht gerade in gebefreudiger Stimmung.
„Mit einem stillen Plätzchen unter Ihrem Dach, werter Herr von Poranski“, erwiderte der Fremde bescheiden, „würden Sie mich aus großer Not befreien. Ich bin, wie Sie aus meinen Papieren ersehen wollen, ein Edelmann von Geburt, der einst auch Haus und Hof besaß, sich aber durch seinen Leichtsinn um das Erbe seiner Väter brachte. Nun bin ich für die Welt tot und führe seit Jahren unter einem angenommenen Namen ein Wanderleben, auf dem ich die halbe Welt durchkreuzt habe.“
Der Fremde war aufgesprungen, legte gesenkten Hauptes die rechte Hand aufs Herz und fuhr fort:
„Ich weiß, daß mich nur mein großer Leichtsinn so weit gebracht hat, Herr von Poranski, aber denken Sie nicht, daß ich deshalb bereits zu den Verlorenen gehöre. Haben Sie Mitleid mit mir!“
Auf Viktor waren die Worte des Fremden nicht ohne Eindruck geblieben. Es war ihm, als würde ihm ein Spiegel seiner eigenen Zukunft vorgehalten. Mit einer größeren Wärme, als es sonst in seiner Art lag, sagte er:
„Wenn Ihr Herz Sie freigesprochen hat, kann ich nicht Ihr Richter sein.“
Langsam lenkte das Gespräch dann in ruhigere Bahnen ein, und Viktor konnte sich bald davon überzeugen, daß er es mit einem intelligenten Menschen zu tun hatte, der nebenbei auch ein ganz ausgezeichneter Gesellschafter zu sein schien.
Der Schloßherr von Chmilowo überdachte rasch, daß es für ihn nur von Vorteil sein konnte, wenn er während seiner Abwesenheit einen Mann auf dem Schlosse hatte, der ihm unbedingt ergeben war und auf den er sich unter allen Umständen verlassen konnte. Dieser ehemalige Standesgenosse — Saleski nannte er sich — würde ihm sicher dankbar sein, wenn er ihm eine Existenz gab, und es war vielleicht auch ganz gut, Annuschka, die in ihrer Leidenschaftlichkeit unberechenbar war, durch einen verschwiegenen Menschen überwachen zu lassen.
Viktor fragte Herrn Saleski, welche Fähigkeiten er denn besitze, um sich auf dem Schlosse nützlich zu machen und etwas großsprecherisch antwortete ihm Saleski:
„Ich kann alles, Herr von Poranski. Ich spreche Französisch, Russisch Deutsch, Englisch, Italienisch — ich singe Chansons und Balladen in allen diesen Sprachen, begleite mich selbst dazu auf der Gitarre — ich bin ein guter Reiter, ein vorzüglicher Schütze, ich kenne jedes Kartenspiel der Welt und — ich kann verschwiegen sein wie das Grab. Wenn Sie mich also als Ihren Sekretär oder in einer ähnlichen Stellung an Ihrer Seite behalten wollen, dann werden Sie sich meiner nicht zu schämen brauchen.“
An diesem Abend wurde Saleski als Gast des Schloßherrn bewirtet. Annuschka erschien nicht zum Abendbrot, und Viktor vermißte sie auch nicht einmal, so ausgezeichnet verstand es der Fremde, durch seine Unterhaltungsgabe den Schloßherrn von Chmilowo zu fesseln.
Impulsiv, wie Viktor war, entschloß er sich noch an demselben Abend, Saleski in seine Dienste zu stellen.
„Es ist abgemacht, daß Sie bei mir bleiben“, sagte er, bevor er sich zur Nachtruhe in sein Zimmer begab, indem er Saleski freundlich die Hand drückte. „Ich denke, wir werden gut miteinander auskommen. Ich beabsichtige allerdings, in den nächsten Tagen auf längere Zeit zu verreisen, und muß Sie hier allein lassen, aber gerade für diesen Fall können Sie mir wertvolle Dienste leisten. Als mein Sekretär werden Sie vorläufig ein Monatsgehalt von zweihundert Gulden beziehen, und wenn Sie Gelegenheit haben, mir noch besondere Gefälligkeiten zu erweisen, so kann sich dieses Einkommen im Laufe der Zeit noch erhöhen. Was ich in erster Linie erwarte, ist, daß Sie mir während meiner Abwesenheit über alles, was auf dem Schloß vorgeht, getreulich Bericht erstatten, und daß ich mich auf Ihre Verschwiegenheit völlig verlassen kann.“
So wurde Herr Severin Saleski Viktors Privatsekretär und Vertrauter. —
Zehnter Kapitel
Die nächsten Tage verliefen Viktor in Gesellschaft seines neuen Sekretärs sehr vergnüglich. Nur als der Schloßherr von Chmilowo zur Bezahlung seiner Spielschulden seinen Notar in Lemberg aufsuchen mußte, war er nicht besonders guter Laune.
Der alte Herr empfing ihn sehr höflich, wies ihm durch einen Scheck die ganze Jahressumme an und enthielt sich absichtlich jeder Frage, die Viktor hätte unbequem sein können.
Nur als Viktor die Bemerkung machte, er habe gehört, daß Jedlinski die Erbschaft nicht annehme und wieder nach Amerika zurückkehre, ging der alte Herr aus seiner Reserve heraus und sagte mit einem feinen Lächeln:
„Ich kann Ihnen aus bester Quelle versichern, daß dieses Gerücht nicht auf Wahrheit beruht. Herr Jedlinski wird die ihm zugefallene Erbschaft antreten, und daß er sich trotz der Schwierigkeiten, die mit dem Nachweis seiner Abstammung verbunden sind, die ihm gebührende Stellung unter dem polnischen Adel erringen wird, dafür birgt mir seine Persönlichkeit.“
„Nun — ich wünsche Ihrem Schützling viel Glück!“ sagte Viktor mit einem Unterton von Ironie in seiner Stimme und entfernte sich.
Die Spielverluste waren nicht ganz so hoch, wie Viktor angenommen hatte. Es blieb ihm nach Deckung seiner Wechselschulden noch so viel übrig, daß er ohne Sorge seine Reise nach dem Süden antreten konnte. Beinahe hätte er den Entschluß aufgegeben, denn mit einem Gesellschafter, wie Saleski es war, verliefen die Stunden auch auf Chmilowo, ohne daß man sich langweilte.
Viktor reiste ab, ohne sich von Annuschka zu verabschieden. In ein paar zurückgelassenen Zeilen sprach er die Hoffnung aus, daß er ihr auf diese Weise am leichtesten über den schweren Augenblick der Trennung hinübergeholfen habe. Um so freudiger würde das Wiedersehen sein.
Herr von Poranski hatte es für gut befunden, Saleski über seine Beziehungen zu Annuschka aufzuklären. Er stellte das Verhältnis so dar, als wenn das Mädchen, mit dem er nur harmlos geflirtet habe, die Sache ernst genommen hätte, und nun könne er aus Mitleid sie nicht im Stiche lassen, da sich Annuschka sonst ein Leid antun würde.
Um keine Unannehmlichkeiten zu haben, wollte Viktor seine jeweilige Adresse niemand außer Saleski mitteilen, der es verstanden hatte, sich in der kurzen Zeit das volle Vertrauen des Schloßherrn von Chmilowo zu erwerben. Um ganz sicher zu gehen, hatte Viktor seinem Sekretär das Versprechen abgenommen, für den Fall, daß Annuschka dringend nach seinem Aufenthaltsort fragen sollte, eine falsche Adresse anzugeben. In den ersten Wochen nach der Abreise Viktors kamen kurze Briefe an Annuschka. In diesen Briefen stand nichts weiter, als daß Herr von Poranski von der Schönheit des Südens entzückt sei, und daß er überall leicht Anschluß finde. Vergebens suchte Annuschka nach einem Wort der Liebe; Mit ein paar allgemeinen Redewendungen war die Gefühlsseite abgetan.
Schließlich blieben die Briefe an Annuschka ganz aus, und Viktor richtete nur kurze geschäftliche Mitteilungen an seinen Sekretär, aus denen hervorging, daß er in Neapel mit mehreren Landsleuten zusammengetroffen und in ein vornehmes Haus eingeführt war, in dem er sich sehr wohl fühlte.
Dieser Verkehr schien für Herrn von Poranski ziemlich kostspielig zu sein, denn eines Tages traf ein Brief aus Neapel ein, in dem Viktor schleunigst eine telegraphische Geldsendung verlangte. Vorsichtig, wie Viktor in solchen Fällen war, schickte er gleich mehrere, auf hohe Summen lautende Wechsel ein, die bei Lemberger Geldgebern flüssig gemacht werden sollten. Außerdem sollte Saleski versuchen, ob er nicht bei dem Notar in Lemberg einen Vorschuß für die Rente des nächsten Jahres erhalten könnte. Eine Quittung war beigefügt.
***
Eine Stunde nach Erhalt dieses Briefes war Saleski bereits auf dem Wege nach Lemberg zum Notar Kolakowski.
Der Notar empfing ihn sofort, und Saleski übergab ihm Viktors Brief. Der alte Herr las ihn und musterte dann den Überbringer.
Saleski ging dank der Freigebigkeit seines Herrn jetzt sehr elegant gekleidet, und dem aristokratisch auftretenden Mann hätte es niemand angesehen, daß er noch vor wenigen Wochen nicht gewußt hatte, wo er sein Haupt hinlegen sollte.
„Dem Angestellten scheint es ja besser zu gehen als dem Herrn“, sagte der Notar etwas sarkastisch. „Was bringen Sie sonst noch, Saleski?“
Saleski zuckte die Achseln.
„Nicht sehr viel, Herr Notar, ich muß erst noch festen Fuß fassen. Zwischen Herrn von Poranski und der Annuschka scheint ein ernstes Zerwürfnis zu bestehen. Am Abend vor meiner Ankunft haben sie zusammen gespeist, dabei gerieten sie, wie mir die Dienerschaft mitteilte, sehr heftig aneinander und standen vom Tisch auf, ohne die Speisen berührt zu haben, welche Szene der Abreise der alten Frau von Poranska und ihrer Tochter vorausging, konnte ich bis jetzt noch nicht feststellen.“
„Nun“, sagte der Notar nachdenklich, „jedenfalls haben Sie einen Fingerzeig, wo Ihre Tätigkeit einzusetzen hat. Tausend Gulden für Herrn von Poranski als Vorschuß für die Rente des nächsten Jahres sollen Sie sofort haben. Schreiben Sie ihm, ich hätte dieses eine Mal eine Ausnahme gemacht und das Geld persönlich, nicht in meiner Eigenschaft als Testamentsvollstrecker, geliehen. Und dann hoffe ich, bald mehr von Ihnen zu erfahren.“
„Sie können sich auf mich verlassen“, sagte Saleski. „Einen Auftrag, den ich übernommen habe, führe ich auch aus, wenn es mir auch persönlich oft recht schwer wird.“
Nachdem Saleski das Haus des Notars verlassen hatte, verwandelte sich der Detektiv wieder in den Privatsekretär des Herrn von Poranski. Er hatte noch die schwierige Aufgabe vor sich, bei den Geldleuten in Lemberg um jeden Preis eine größere Summe zu beschaffen.
Viktor von Poranski hatte seine Kreditwürdigkeit bei Lemberger Geldleuten zu hoch eingeschätzt. Dazu kam ferner, daß die Wechsel, die Viktor eingeschickt hatte, zu langfristig ausgestellt waren. Das Testament des alten Herrn von Poranski war zwar den Geldgebern genau bekannt, aber sie kannten auch das Vorleben Viktors, dessen Leichtsinn in Lemberg offenes Tagesgespräch war. Aus seinem Geldbedürfnis sahen sie, daß er schon nach wenigen Wochen die ganze erste Jahresrate seines Einkommens verbraucht hatte, und das erweckte Mißtrauen.
Schließlich kam Saleski der Gedanke, eine reiche Heirat Viktors den Geldgebern in nahe Aussicht zu stellen. Er erzählte, daß Herr von Poranski mit einer reichen Amerikanerin so gut wie verlobt sei. Durch diese glaubhaft vorgetragene Vorspiegelung gelang es ihm, allerdings unter schweren Bedingungen, zehntausend Gulden aufzutreiben.
Das Geld ging ab und gleichzeitig ein ausführlicher Brief, in dem die Zugkraft der erdichteten Verlobung humorvoll geschildert war.
Erst nach einigen Tagen kehrte Saleski aus Lemberg zurück. Er hatte es in der kurzen Seit seines Aufenthaltes verstanden, sich bei dem Schloßpersonal in Chmilowo beliebt zu machen. Er war nicht stolz und scherzte gern, wußte aber doch die Schranken zwischen sich und der Dienerschaft aufrechtzuerhalten. Auf diese Weise erfuhr er manches, was ihm in seiner Eigenschaft als Detektiv nützlich sein konnte. Erschwert wurde ihm seine Aufgabe dadurch, daß ein Teil des Hauspersonals erst nach dem Tode des alten Herrn eingetreten war. Was sie zu berichten wußten, stammte aus zweiter Hand und war deshalb unzuverlässig.
Am schwierigsten war für Saleski die Annäherung an Annuschka, für die es keine Empfehlung war, daß Saleski sich so rasch das Vertrauen Viktors erworben hatte. Sie empfand es als Demütigung daß ihr die Briefe Viktors durch Vermittlung seines Privatsekretärs zugingen, und machte kein Hehl daraus, daß sie gegen ihn ein tiefes Mißtrauen hegte. Nicht durch Zufall, sondern durch ständige Wachsamkeit war es Saleski einige Male geglückt, ihr zu begegnen, aber jeder Versuch, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen, scheiterte an ihrer Unnahbarkeit.
Einige Zeit nach Absendung des in Lemberg aufgegebenen Geldes erhielt Saleski Viktors Antwort. Sie war aus Venedig datiert.
Kurz und abgerissen, wie es seine Art war, schrieb Viktor:
„Habe mich über die Mitteilung von meiner angeblichen Verlobung sehr amüsiert. Übrigens — merkwürdiges Zusammentreffen! Habe eine junge Dame kennengelernt, die mich lebhaft interessiert. Landsmännin, altes Geschlecht, wohnt im Posenschen, Vater vornehmer, alter Herr; wollen sehen, was daraus wird. Erbitte strengstes Stillschweigen.“
Saleski lächelte und steckte dann befriedigt den Brief in seine Tasche.
Elftes Kapitel
Die vornehmen Kreise Lembergs hatten, wie alljährlich, ein großes Wohltätigkeitsfest veranstaltet, dessen Reinertrag für die Speisung armer polnischer Schulkinder bestimmt war. — Helene von Poranska hatte schon mehrere Jahre bei dieser Veranstaltung, die, wie man sich in eingeweihten Kreisen zuflüsterte, auch einen politischen Hintergrund hatte, mitgewirkt und als Blumenverkäuferin auf dem Feste durch ihren Liebreiz und ihr schalkhaftes Wesen reiche Einnahmen erzielt.
Diesmal wollte sie die Einladung des Komitees mit Rücksicht auf die Familientrauer ablehnen. Doch ihre Mutter bestand darauf, daß sie zusagte, indem sie bemerkte, daß es menschlich entschuldbar ist, im Dienste der Wohltätigkeit die Trauer auf einen Tag abzulegen. So hatte sich Helene von Poranska endlich entschlossen, auch in diesem Jahre an dem Fest teilzunehmen, und erschien wieder als Blumenverkäuferin in einem Kostüm, das ihr reizend zu Gesicht stand.
Eine gewaltige Menschenmenge wogte in den weiten Räumen des Prachtbaues, in dem die polnischen Edelleute der Umgegend ihre gesellschaftlichen Veranstaltungen in Lemberg abzuhalten pflegten. Vier große Säle, von weiten Hallen und geräumigen Zimmern umgeben, waren kunstvoll und mit Geschmack dekoriert. Die reiche, moderne Beleuchtung wurde durch unzählige Wachskerzen verstärkt, die intim wirkten und dem Licht einen warmen, rötlichen Ton gaben. Die künstlerisch ausgestatteten Verkaufsstände waren mit kostbaren Gegenständen reich beladen, die zu diesem Fest von menschenfreundlicher Seite eingeschickt worden waren.
Den Hauptanziehungspunkt für die Männerwelt bildeten aber die glutäugigen, jungen Mädchen aus den vornehmsten Kreisen Lembergs, die als Verkäuferinnen mitwirkten und es ausgezeichnet verstanden, mit schmeichelnder Rede ihre Waren zum höchsten Preise an den Mann zu bringen.
Von den Wänden schauten die Bilder und Gemälde der alten Könige und Helden Polens auf die bunte Menge herab. Die Gestalten im Saale selbst boten einen Anblick von seltener Farbenpracht. Wer sich zum polnischen Adel rechnen durfte, ob hoch, ob niedrig, trug die kleidsame Nationaltracht, die verschnürte Pikesche, dazu glänzende Stulpstiefel, an denen die silbernen Sporen klirrten, und auf den krausen Haaren als Kopfbedeckung die „Rogatka“ mit wallender Reiherfeder.
Auch die Damen trugen zum großen Teil Nationalkostüm. Die pelzbesetzten Baretts, die eng anschließenden Jäckchen, die kurzen Röcke, unter denen die Lackstiefelchen hervorlugten, die farbigen Schärpen — das gab ein anziehendes Gesamtbild.
Nur ganz vereinzelt sah man den schmucklosen Frack, die Offiziersuniform und die farbige Soutane der Geistlichen.
Auch Stanislaw Jedlinski war erschienen. Auf das Zureden seiner Freunde hatte auch er das Nationalkostüm angelegt. Das malerische Gewand hob seine mächtige Gestalt zu imposanter Wirkung.
Als er durch den ersten Saal schritt, erregte er Aufsehen. Man sah sich nach ihm um, steckte die Köpfe zusammen und flüsterte sich seinen Namen zu, den einige der Anwesenden schon beim Begräbnis in Chmilowo gehört hatten. Bald wußte man, daß Stanislaw der in Amerika aufgezogene Sohn des Herrn Wratislaw von Poranski war.
***
Suchend ging Stanislaw durch die Festsäle. Er hoffte, Helene von Poranska zu finden, die er beim Begräbnis seines Vaters zum erstenmal gesehen hatte.
Sie sah ihrem Bruder in keiner Weise ähnlich, und Stanislaw hatte die Überzeugung gewonnen, daß auch ihr Charakter dem ihrer Mutter gleichen müsse.
In den Straßen Lembergs war er dem jungen Mädchen, das einen tiefen und nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hatte, noch nicht begegnet, doch auf dem Feste hoffte er sie wiederzusehen, und nur dieses Gefühl hatte ihn heute dazu veranlaßt, seine Zurückgezogenheit aufzugeben und die Gesellschaft, die er sonst mied, aufzusuchen.
Langsam schob sich Stanislaw durch die Menge.
Er war so eigentümlich freudig und zugleich feierlich gestimmt. Zum erstenmal bewegte er sich unter seinen Standesgenossen. Eigenmächtig hatte er die Kleidung und die Abzeichen des polnischen Adels angelegt. Noch fehlten ihm ja die Dokumente, mit denen er seine Abstammung verbürgt nachweisen konnte, aber die Gesellschaft schien ihn dank der Bemühungen seiner Freunde schon jetzt als einen Gleichberechtigten aufgenommen zu haben, und das erfüllte ihn mit freudiger Genugtuung.
Seine beiden Freunde, den Notar und Doktor Dubois, hatte er bald nach seinem Eintritt in den Saal aus den Augen verloren. Die beiden Herren, die in ihrer Art stille und behagliche Lebemänner waren, hatten sich in einen ruhigen Winkel zurückgezogen, wo sie das bunte Bild des Festes an sich vorüberziehen lassen konnten, ohne selbst in das Gewoge der Festteilnehmer mit hineingerissen zu werden.
Stanislaw näherte sich einem aus blühenden Pflanzen aufgebauten Zelte, das ein besonderer Anziehungspunkt zu sein schien. Ein dichter Kreis von jungen Männern umlagerte diesen Verkaufsstand. Er trat hinzu und unterdrückte mit Mühe einen freudigen Ausruf. Ein leises Rot überzog sein Gesicht, als er Helene von Poranska gegenüberstand. Auch sie sah ihn an, und wie ein plötzliches Erkennen leuchtete es in ihren Augen auf. Verwandte Seelen knüpft der Augenblick des ersten Sehens mit diamantenen Banden.
Eine dunkle Röte stieg jetzt auch in ihren Wangen empor. Im nächsten Augenblick warf sie mit einer graziösen Handbewegung dem Ankömmling eine Rose entgegen. Der ungezwungene Ton, der das Fest allgemein beherrschte, gestattete ihr eine solche Begrüßung, ohne daß sie deshalb fürchten mußte, die gesellschaftlichen Formen zu verletzen.
Geschickt hatte Stanislaw die Rose aufgefangen. Neugierig, wem diese Auszeichnung gelte, wandte man sich um. Dieser fremde Herr war noch nie auf den Festen des polnischen Adels gesehen worden, aber Helene von Poranska mußte ihn kennen, denn sie streckte ihm, als er sich nun mit höflicher Entschuldigung durch die Reihen schob, freundlich die Hand entgegen.
„Ich danke Ihnen, daß Sie zu unserem Feste gekommen sind, Vetter Stanislaw“, sagte sie herzlich und ungezwungen.
Galant zog er ihre weiche Hand an seine Lippen. Dann entrichtete er seinen Tribut für die Rose, indem er zugunsten der Armen, denen dieses Fest gewidmet war, Helene eine Anzahl von Banknoten übergab, die sie freudestrahlend in ein zu diesem Zweck bereit gehaltenes zierliches Geldtäschchen steckte.
Nun suchten auch die Zuschauer dieser Szene die Bekanntschaft Jedlinskis zu machen. Die Herren stellten sich ihm vor, und er antwortete mit einer Verbeugung: „Stanislaw von Poranski, genannt Jedlinski.“
Lange Zeit stand er vor der Laube seiner Kusine. Ihm kam es wie ein beglückender Traum vor, daß dieses Mädchen ihn, dem sie doch erst einmal begegnet war, so freundlich und als nahen Verwandten begrüßt hatte. Er wollte ihr danken, doch dazu kam er nicht.
Immer neue Scharen junger Kavaliere drängten sich an ihn heran, und mit stolzer Bewunderung hörte und sah Stanislaw, wie Helene immer wieder ein neckisches oder ernstes Wort fand, mit dem sie ihre Besucher zum Kaufe veranlaßte.
Dazwischen fand Helene auch Zeit, ein vertrauliches Wort mit Stanislaw zu wechseln. Sie erzählte ihm, daß ihre Mutter, die seit dem Tode des Oheims sehr leidend sei, dem Feste fernbleiben müsse, und daß sie deshalb nach Beendigung des Basars sofort nach Hause zu fahren gedenke.
Stanislaw bat um die Erlaubnis, ihr seine Begleitung antragen zu dürfen, und sein fast schüchtern vorgebrachter Wunsch wurde von Helene mit freundlichem Dank angenommen.
Freudig bewegt schritt Stanislaw weiter. Hätte er dem Zuge seines Herzens folgen können, so wäre er an diesem Abend sicher nicht mehr von Helene gewichen, aber er wollte seine Huldigung für seine schöne Kusine nicht zu auffällig machen.
So ließ er fast teilnahmlos den Trubel des Festes an sich vorüberziehen. Er hörte nicht das Brausen der Stimmen, nicht die rauschenden Klänge der Musik. Es drängte ihn, jetzt seine alten Freunde aufzusuchen, um sie an seinem Glück teilnehmen zu lassen. Aber so schnell, wie er wollte, kam er in diesem Menschengewühl nicht vorwärts. Bald hier, bald dort mußte er sich von schönen Händen ein Glas Wein oder Sekt kredenzen lassen. Schließlich faßte ihn einer der Kavaliere, die er vor Helenes Zelt kennengelernt hatte, unter den Arm.
„Herr von Poranski —“
„Genannt Jedlinski“, fiel Stanislaw wohlgelaunt ein.
„Pardon, Herr von Jedlinski“, verbesserte sich der Kavalier, ein Graf Malczeski, „wenn es Ihnen recht ist, wollen wir ein wenig durch den Saal promenieren.“
Stanislaw konnte diese liebenswürdige Aufforderung, ohne unhöflich zu sein, nicht ablehnen. Der junge Graf wollte Stanislaw dazu bewegen, dem Klub der Edelleute beizutreten. Man finde dort stets Gesellschaft, und es gehe sehr gemütlich zu.
Stanislaw stellte seinen Eintritt in den Klub in Aussicht und war eben im Begriff, sich nach den Aufnahmebedingungen zu erkundigen als sein Begleiter ihn plötzlich festhielt.
„Sehen Sie!“
Sie standen vor einem geräumigen Zimmer. Kopf an Kopf drängten sich Herren und Damen vor einem niedrigen Podium zusammen. Darauf stand ein berückend schönes Weib; die langen, schwarzen Locken waren von einem silbernen Reif wie von einem Diadem zusammengehalten, und die leidenschaftlichen, schwarzen Augen lohten in einem fast übernatürlichen Feuer. Mit einer Kunst des Vortrages, wie Stanislaw sie noch nie gehört, sprach sie patriotische Verse voll Glut und Begeisterung. Ein alter Herr begleitete ihren Vortrag auf einem Harmonium.
Jedlinski war in wortloses Staunen versunken. Sein Begleiter flüsterte ihm zu: „Das ist Diotyma, wie sie sich mit ihrem Dichternamen nennt. In Wirklichkeit heißt sie Jadwiga Luszczewska, die gottbegnadete Dichterin.“
Jedlinski hörte eine Zeitlang die leidenschaftlich vorgetragenen Verse an, die sich mit ihrer flüssigen Sprache seinem Ohre einschmeichelten, seine Gedanken aber waren zu sehr mit Helene beschäftigt, um mit vollem Verständnis dem Vortrag folgen zu können. Er benutzte einen günstigen Moment, um sich mit einigen höflichen Worten vom Grafen Malczeski loszumachen, und ging seine eigenen Wege.
***
Jedlinski hatte seine beiden Freunde, Doktor Dubois und den Notar Kolakowski, endlich gefunden. Sie hatten es sich in einer Nische bei einem Glase Wein behaglich gemacht und rückten nun auseinander, um ihren jungen Freund in die Mitte zu nehmen.
In angeregter Stimmung erzählte Jedlinski, wie freundlich ihn Helene von Poranska begrüßt und ihn zum Mittelpunkt gemacht habe. Er gestand seinen Freunden offen ein, daß er sich schon lange nicht so behaglich und wohl wie an diesem Abend gefühlt habe.
Doktor Dubois drohte lächelnd mit dem Finger.
„Hoffentlich haben Sie unseren schönen Damen das Herz nicht allzu schwer gemacht!“
Der alte Notar sagte nichts und lächelte nur still vor sich hin.
Die Säle wurden ausgeräumt, der Tanz sollte beginnen. Da erhob sich Stanislaw und verabschiedete sich von seinen Freunden. Er wollte Helene, die sich mit Rücksicht auf die Krankheit ihrer Mutter an dem Tanz nicht beteiligen konnte, seinem Versprechen gemäß abholen und nach Hause geleiten.
Helene hatte schon auf Stanislaw gewartet. Er bahnte sich einen Weg durch das Menschengewühl zu ihrem Zelte und führte sie dann durch den Saal hindurch nach der Garderobe.
Vor dem Hause hielt der Schlitten. Stanislaw hüllte seine Kusine mit liebevoller Sorgfalt in eine Pelzdecke und ergriff dann die Zügel, während der Kutscher auf dem Hintersitz Platz nahm.
Eine Weile saßen die beiden stumm nebeneinander. Jeder war mit dem anderen beschäftigt, und doch wollte es sich keiner merken lassen. Endlich brach Stanislaw das Schweigen.
„Darf ich morgen bei deiner Mutter vorsprechen, liebe Kusine, um mich nach deinem und der Mutter Befinden zu erkundigen?“
Ganz unwillkürlich war ihm die vertraute Anrede über die Lippen gekommen.
„Dein Besuch wird uns willkommen sein, Stanislaw“, sagte Helene leise.
Nach kurzer Fahrt hielt der Schlitten. Stanislaw warf die Zügel dem Kutscher zu und half Helene beim Aussteigen. Sie streckte ihm zum Abschied die Hand hin. Er schüttelte schalkhaft den Kopf.
„Ich will mein Schlittenrecht!“ sagte er, auf einen landesüblichen Brauch anspielend, indem er ihr in die Augen blickte.
„Vetter, für die kurze Fahrt?“
Beide lachten, und ein herzlicher Händedruck ließ Stanislaw fühlen, daß die Abweisung nicht von Herzen kam.
Am nächsten Vormittag besuchte Stanislaw seine Tante. Die alte Dame empfing ihn wie einen alten Bekannten.
„Dein Anblick, lieber Neffe, erweckt in mir die Erinnerungen an die schönste Zeit meines Lebens. Sie war leider nur sehr kurz! Es ist edel und liebevoll von dir, daß du uns aufsuchst und uns nicht grollst. Leider habe ich viel zu spät von dir gehört. Ich hätte auf deinen Vater einwirken können, daß er dich in alle deine Rechte einsetzte.“
Sie sprach in kurzen Sätzen, als fürchte sie, durch jedes Wort ihre Gemütserregung zu verraten.
Stanislaw machte eine stumme Verbeugung und führte die Hand seiner Tante an seine vor tiefer seelischer Erregung zuckenden Lippen.
„Der große Besitz wird meinem Sohn keinen Segen bringen“, fuhr die alte Dame fort. „Ach, er ist nicht mehr mein Sohn!“
Stanislaw hatte seine Tante nur wenige Augenblicke bei dem Begräbnis gesehen, doch er war erschrocken, wie diese stattliche, herrliche Frau in der kurzen Zeit körperlich verfallen war. Er hatte gehört, daß seine Tante in heftigem Zerwürfnis mit ihrem Sohn Chmilowo verlassen habe, und sein Gefühl sagte ihm, daß die Sorge um Viktor die tiefere Ursache ihres Leidens sei. Er suchte zu trösten, doch Frau von Poranska wehrte ab.
„Der Riß ist zu weit und der Abgrund zu tief, er läßt sich nicht mehr überbrücken. Bemitleide mich, aber frage nicht.“
Sie sank in den Lehnstuhl zurück, überwältigt von ihren Gedanken, die wieder auf sie einstürmten. Zum Glück wurde die unangenehme Pause durch den Eintritt Helenes unterbrochen.
Stanislaw ergriff ihre beiden Hände.
Frau von Poranska erhob glückerfüllt ihre Augen, ihr matter Blick belebte sich. Ihr Empfinden sagte ihr, wie es um die beiden stand. Helene war gestern nach ihrer Heimkehr noch an ihr Bett gekommen und hatte ihr von dem Verlauf des Festes erzählt, eigentlich war es ja nur ein Bericht über Stanislaw gewesen.
Die Art, wie Stanislaw ihre Tochter Helene begrüßte, gab ihr die beseligende Gewißheit, daß die stillen Hoffnungen, die in ihrem mütterlichen Herzen aufgekeimt waren, nicht trügerisch waren. Frau Poranska betrachtete es als eine höhere Fügung des Schicksals, daß gerade der Mann, dem Viktor das schwerste Unrecht angetan, ihre Tochter liebte.
Ein ganz klein wenig Freude begann sich in ihrer Seele zu regen, als sie die beiden so vertraut miteinander plaudern hörte. Sie sprachen über die Einzelheiten des gestrigen Festes.
Erst am Nachmittag verabschiedete sich Stanislaw. Er hatte um die Erlaubnis gebeten, die Damen öfter in seinem Schlitten spazierenfahren zu dürfen, und dieser Wunsch wurde ihm auch gewährt; doch als er am nächsten Tage kam, war die Tante zu angegriffen, um mitfahren zu können. Das war ihm gar nicht so unlieb, denn nun hatte er Helene allein im Schlitten.
***
Stanislaw kam von nun an fast täglich, und jedesmal sagte ihm die Herzlichkeit, mit der er empfangen wurde, daß sein Besuch angenehm war.
Einmal fand er seine Tante allein zu Hause. Helene war zu einer Festlichkeit gegangen, die ein Wohltätigkeitsverein veranstaltet hatte. Er blieb, in der stillen Hoffnung, daß Helene nicht zu spät zurückkehren werde, und leistete seiner Tante Gesellschaft.
Sie wollte das Opfer nicht annehmen, denn sie wäre, so meinte sie, seit ihrer Krankheit eine schlechte Gesellschafterin. Stanislaw fragte, ob Sorgen sie drückten, und ob er ihr als Berater zur Seite stehen dürfe, doch Frau von Poranska schüttelte verneinend den Kopf.
„Ich will dir offen sagen, was mich bedrückt“, sagte sie. „Es ist das Verhältnis zwischen dir und meinem Sohne Viktor. Es bekümmert mich, daß du, als der rechtmäßige Sohn deines Vaters, mit einem Almosen abgefunden bist, und daß mein Sohn dich aus dem großen Erbe verdrängt hat.“
„Liebe Tante, du bist im Irrtum. Ich allein bin daran schuld; ich habe mich gegen den Willen meines Vaters aufgelehnt, als er meine Rückkehr nach Europa wünschte, und so war er auch berechtigt, mich zu enterben. Doch das Schlimmste weißt du wohl nicht?“
Frau von Poranska sah ihn mit ihren großen Augen fragend an, und Stanislaw fuhr nach längerer Pause fort:
„Die Papiere, die meine legitime Abkunft feststellen, fanden sich nicht in dem Nachlaß meines Vaters vor! Ich bin in Amerika auf den Namen meiner Mutter eingetragen worden, weil mein Vater glaubte, daß in dem freien Amerika ein bürgerlicher Name meinem Fortkommen nützlicher sein könnte als ein adliger. Er selbst war zu stolz, um seinen Adel aufzugeben. Ich weiß aber bestimmt, daß mein Vater Dokumente hinterließ, aus denen meine Abstammung und damit mein Anspruch auf den Namen meines Vaters zu erweisen war.“
Er hielt inne und sah fragend die Tante an.
Frau von Poranska hatte sich in ihren Sessel zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Ein schmerzlicher Zug lag über ihrem Gesicht. „Sollte Viktor vielleicht auch hierbei seine Hand im Spiele haben?“ Angstvoll lauschte sie, als Stanislaw nach einer Weile fortfuhr.
„Die Papiere lagen im Geldschrank meines Vaters. Der Schrank muß nach seinem Tode heimlich geöffnet sein, denn die Papiere sind verschwunden und — wie ich leider annehmen muß — auch vernichtet worden.“
Eine Totenblässe überzog das Gesicht der alten Dame.
Stanislaw sprang auf.
„Tante!“ rief er angstvoll und erfaßte ihre kalte Hand.
„Es ist nichts, es ist nichts, mein Kind, sprich weiter! Wie denkst du über den Täter?“
„Es kann nur das Gespenst sein, das in Chmilowo umgeht, das Gespenst in der Gestalt eines Weibes“, erwiderte Stanislaw wegwerfend.
Frau von Poranska richtete sich auf, und ihr Auge blitzte lebhaft auf.
„Das war das richtige Wort, lieber Stanislaw! Ein Dämon ist dieses Mädchen! Du weißt wohl auch, daß sie meinen Sohn in ihre Netze verstrickt hat. Ach — könntest du das Geheimnis lösen und uns alle erlösen.“
Sie sank kraftlos in den Sessel zurück und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
„Beste, liebste Tante“, sagte Stanislaw liebevoll, indem er seinen Arm um sie legte, „tröste dich! Die rätselhaften Vorfälle in Chmilowo sind von dem Notar und dem Arzt bereits untersucht worden. Auf Viktor fällt kein Verdacht. Das Schloßfräulein allein kann den Schrank geöffnet haben.“
„Du nimmst eine schwere Last von mir“, sagte Frau von Poranska, „und doch kann ich nicht frei aufatmen. Es bleibt noch immer die Möglichkeit!“
Fragend blickte Stanislaw seine Tante an, doch er wagte nicht, ihren Befürchtungen Ausdruck zu geben.
„Stanislaw! Antworte mir offen! Wäre es nicht möglich, daß dieser Dämon im Auftrage eines anderen gehandelt hat? Eines anderen, der ein großes Interesse an der Beseitigung dieser Papiere hatte!“
Angstvoll forschte sie in seinem Gesicht.
„Du schweigst? Du kannst mir nicht antworten?“
Stöhnend sank sie in den Sessel zurück. Dann sprang sie plötzlich auf, als habe eine höhere Eingebung ihr die Kraft zu entschlossenem Handeln gegeben.
„Und du sitzest noch untätig hier? Du weilst noch in dem Hause, über das bald die Schande hereinbrechen wird? Nimm dich in acht, die Schande färbt ab —“
Er faßte ihre beiden Hände und legte sie an seine heiße Stirn.
„Geliebte Tante, was auch immer über uns hereinbrechen mag, ich werde dir wie ein Sohn zur Seite stehen und darüber wachen, daß niemand die Ehre der Familie antastet.“
Sie hatten beide in ihrer Erregung nicht bemerkt, daß sich die Tür geöffnet hatte. Helene war ins Zimmer getreten, sie hatte die letzten Worte gehört, und nun flogen ihre Blicke mit banger Frage von der Mutter zum Vetter und von ihm wieder zur Mutter zurück. Aber beide waren zu erregt, um ein Wort der Aufklärung zu geben.
Da ging Helene stürmisch auf ihre Mutter zu und legte ihren Arm liebevoll um ihre Schulter.
„Mutter“, sagte sie unter Tränen, „ich weiß nicht, warum du dich grämst! Wir haben doch jetzt einen Beschützer, unter dessen Obhut wir uns geborgen fühlen!“
Nun erst reichte Helene errötend ihrem Vetter die Hand, und wie unter dem Banne seines Willens stehend, knieten sie beide vor der Mutter nieder, die sich mühsam erhob, um ihre Hände segnend auf das Haupt ihrer Kinder zu legen.
Zwölftes Kapitel
Der Detektiv Saleski führte als Sekretär des Herrn von Poranski in Chmilowo ein vergnügtes Leben. Er verstand es, sich das Dasein recht angenehm zu machen. Er fuhr spazieren, ging auf die Jagd, und nur die Abende wurden ihm etwas lang.
So hatte er reichlich Zeit, darüber nachzudenken, wie er mit Annuschka in Verbindung treten könnte. Ohne daß er es sich selbst eingestehen wollte, begann er an dem schönen Mädchen, das für ihn so völlig unnahbar war, ein persönliches Interesse zu nehmen. Er verstand es nur zu gut, daß Annuschka ihm, als Herrn von Poranskis Sekretär, mit Mißtrauen entgegenkam, und in ihrer verbitterten Gemütsstimmung wenig Lust hatte, sich ihm zu nähern. Aber ihn selbst reizte es jetzt, sie kennenzulernen. Daß dem lebenslustigen Mädchen das einsame Leben unerträglich werden mußte, glaubte er als welterfahrener Mann annehmen zu dürfen, und wenn sie das Bedürfnis nach Gesellschaft empfand, so mußte sie wohl oder übel eine Annäherung an ihn versuchen, da die übrigen Angestellten des Herrn von Poranski ohne höhere gesellschaftliche Bildung waren.
Und Saleski täuschte sich nicht. Eines Tages erschien Annuschka, die sich seit Herrn von Poranskis Abreise das Essen stets auf ihr Zimmer hatte kommen lassen, zu der gemeinsamen Tafel, die in einem großen Zimmer des Schlosses für die höheren Schloßbeamten gedeckt wurde.
Als sich Saleski ihr vorstellte, hob Annuschka hochmütig den Kopf. Zum Danke dafür entwickelte Saleski bei der Tafel eine vorzügliche Laune. Es lag ihm daran, seine gesellschaftlichen Fähigkeiten gerade vor Annuschka in ein vorteilhaftes Licht zu setzen, und manchmal glaubte er bei seinen drolligen Einfällen, durch die er die ganze Tafel erheiterte, auch über das Gesicht des Schloßfräuleins ein dankbares Lächeln huschen zu sehen.
Als Annuschka am nächsten Tage wieder zur gemeinsamen Tafel erschien, hatte Saleski seine Sonntagskleidung angelegt, und auch die anderen Beamten hatten sich, seiner Anregung folgend, so gekleidet, als wenn sie zur herrschaftlichen Tafel gebeten wären.
Das schmeichelte Annuschka, die derartigen Aufmerksamkeiten nicht unzugänglich war. Sie gab ihre Absicht kund, von nun ab regelmäßig an dem gemeinschaftlichen Diner teilzunehmen, da die Einsamkeit ihr nicht behage.
Damit war das Eis gebrochen. Annuschka wurde nun von Saleski so in das Gespräch gezogen, daß sie antworten mußte, wenn sie nicht unhöflich erscheinen wollte.
Im Laufe der Unterhaltung fragte einer der Inspektoren harmlos, wo sich Herr von Poranski zur Zeit aufhalte.
Der Sekretär, wie Saleski in Chmilowo allgemein genannt wurde, zuckte die Achseln.
„Da fragen Sie mich zuviel. Ich muß erst den nächsten Brief abwarten. Zuletzt war Herr von Poranski in Neapel. Er hat dort angenehme Gesellschaft getroffen, darunter einen Grafen aus der Provinz Posen, der eine sehr schöne Tochter haben soll. Er wollte sich den Herrschaften anschließen und wird mit ihnen wahrscheinlich nach Sizilien gegangen sein.“
So unauffällig wie irgend möglich hatte Saleski die Wirkung dieser Worte aus Annuschka beobachtet. Er sah, daß ihr Gesicht die Farbe wechselte, und daß sie die Lippen zusammenbiß. Doch schon im nächsten Augenblick setzte sie wieder ihre gleichgültige, hochmütige Miene auf und tat, als ginge sie die ganze Neuigkeit nichts an.
Die Inspektoren empfahlen sich nach Tisch, da der Dienst sie rief. Annuschka blieb mit Saleski allein im Zimmer zurück.
Saleski wußte nun, daß er die Wirkung seiner Worte richtig berechnet hatte.
„Wie lange wird Herr von Poranski ausbleiben?“ fragte Annuschka mit gleichgültiger Miene.
Saleski zuckte die Achseln.
„Gnädiges Fräulein, wenn ich das wüßte! Es hängt doch ganz davon ab, ob sich die Angelegenheit langsamer oder rascher entwickelt.“
„Welche Angelegenheit?“ fragte sie sichtbar erregt.
„Nun, wie ich zwischen den Zeilen gelesen habe, geht Herr von Poranski auf Freiersfüßen, und wenn mich nicht alles täuscht, scheint sein Herz gefunden zu haben, was es so lange vergeblich gesucht hat. Ich nehme an, daß es der Zweck seiner Reise war, Chmilowo eine Herrin zu geben.“
Annuschka hatte Saleski beim Sprechen scharf beobachtet. Es war ihr wohl der Gedanke gekommen, daß ihr diese Nachricht im Auftrage Viktors beigebracht werden sollte.
Aber der Mann, der sich jetzt so behaglich ein Glas Wein eingoß, war wohl nur ein harmloser Spaßmacher.
„Hat Ihnen Herr von Poranski seine Absichten in so bestimmter Form mitgeteilt?“ fragte sie lächelnd.
„Herr von Poranski ist nicht so mitteilsam, mein gnädiges Fräulein, wenigstens nicht mir gegenüber. Er machte mir nur in seinem letzten Brief eine Andeutung, die sich in der Richtung meiner Mutmaßungen bewegt.“
„Wollen Sie mir, wenn der nächste Brief eintrifft, die Adresse mitteilen?“ fragte Annuschka.
„Gnädiges Fräulein setzen mich in die größte Verlegenheit“, antwortete Saleski zögernd.
„In Verlegenheit? — Weshalb?“
„Ich weiß nicht, ob ich einen Fehler begehe, wenn ich die Wahrheit sage. Doch Herr Poranski hat mich durch Wort und Handschlag verpflichtet, keinem Menschen seine Adresse zu verraten.“
„Das war eine etwas übertriebene Vorsicht! Hat Herr von Poranski Ihnen etwa auch verboten, Briefe, die an ihn gerichtet sind, weiterzubefördern?“
„Keinesfalls, mein gnädiges Fräulein. Ich stehe ganz zur Verfügung. Ich schicke ihm jede Woche ein dickes Paket mit geschäftlichen Briefen, die hier einlaufen. Gnädiges Fräulein“, fuhr er entschuldigend fort, „verkennen wohl meine Stellung. Ich habe mir durch eine Empfehlung und wohl auch durch meine traurigen Lebensschicksale das Wohlwollen des Herrn von Poranski erworben und bin außerordentlich froh, in einen ruhigen Hafen eingelaufen zu sein. Da bin ich natürlich ängstlich besorgt, mir die Stellung nicht zu verscherzen.“
Am nächsten Tage ließ Saleski Annuschka mitteilen, daß er ein Paket mit Briefen an Herrn von Poranski absende. In ihrer Gegenwart tat er ihren Brief in ein separates Kuvert, verschloß es und ließ es durch den Diener dem Boten übergeben, der damit nach Lemberg fahren sollte.
Es war an einem prachtvollen Wintertag in der darauffolgenden Woche, als Saleski Annuschka den Vorschlag machte, Schlittschuh zu laufen. Nach einigem Zögern willigte Annuschka, die den Eissport leidenschaftlich liebte, ein. Schon eine halbe Stunde später erschien sie am Schloßteich. Statt des langen. schwarzen Gewandes, das sie sonst zu tragen pflegte, hatte sie das Nationalkostüm mit der pelzbesetzten Rogatka und dem enganschließenden, kurzen Rock angelegt.
Saleski betrachtete sie mit bewundernden Blicken. Er liebte das stolze Schloßfräulein, das fühlte er mit jedem Tage mehr, und deshalb freute er sich über Viktors letzten Brief. Wenn Herr von Poranski sich verlobte, wie es wahrscheinlich war, auch bald verheiratete, dann konnte er hoffen, sich dem schönen und nicht unvermögenden Mädchen mit mehr Aussicht auf Erfolg nähern zu dürfen.
Saleski bot Annuschka die Hand und glitt mit ihr über die glatte Eisfläche dahin. Er war ein eleganter Schlittschuhläufer, und als Annuschka endlich ermüdet um eine kleine Pause bat, da gab er ihre Hand frei und zog graziöse Kreise um sie. Er fühlte, daß er in seinem schmucken Jägerkostüm Eindruck auf sie machte, und war entschlossen, diesen kleinen Erfolg sich zu sichern.
Als beide wieder Hand in Hand dahinschwebten, begann er einen vertraulicheren Ton anzuschlagen.
„Wissen Sie auch, gnädiges Fräulein, daß ich mir neulich eine ernste Rüge zugezogen habe? Herr von Poranski hat mir einen sehr unfreundlichen Brief geschrieben, weil ich von seiner bevorstehenden Verlobung mit Ihnen gesprochen habe. Ihr Schreiben wird wohl eine Andeutung enthalten haben.“
„Allerdings!“
„Gnädiges Fräulein haben wohl etwas voreilig gratuliert?“
Sie hielt an und entzog ihm sichtlich verletzt ihre Hand.
„Sie wissen vielleicht nicht, daß Herr von Poranski und ich so gut wie verlobt sind?“
Saleski wurde ernst.
„Mein verehrtes Fräulein“, sagte er errötend, „Sie halten mich doch nicht für so unhöflich, daß ich die Kenntnis einer solchen Tatsache, die ich übrigens jetzt zum erstenmal aus Ihrem Munde erfahre, verleugnen würde?“
„Nehmen Sie sich in acht“, sagte Annuschka abweisend, „ich durchschaue Sie, Sie treiben ein Doppelspiel.“
Saleski sah Annuschka mit durchdringenden Blicken an, um auf dem Grund ihrer Seele zu lesen, ob dieses Mädchen wirklich einen Verdacht gegen ihn haben könnte.
„Mein gnädiges Fräulein“, sagte er, sich leise verbeugend, „ich tue nur meine Pflicht. Ich begreife jetzt das Interesse, das Sie an den persönlichen Verhältnissen des Herrn von Poranski nehmen, und werde von nun an doppelt vorsichtig sein, denn der Zwischenträger fällt oft bei beiden Parteien in Ungnade.“
„Wann schreiben Sie wieder an Herrn von Poranski?“ fragte Annuschka ärgerlich.
„Das hat leider für Sie, mein Fräulein, kein Interesse mehr, denn Herr von Poranski hat mir im letzten Briefe streng verboten, fernerhin Briefe von Ihnen entgegenzunehmen.“
Er griff in seine Brusttasche und holte einen Brief hervor, den er so entfaltete, daß Annuschka die betreffende Stelle selbst lesen konnte. Nun durfte sie nicht mehr daran zweifeln, daß Saleski die Wahrheit gesprochen hatte.
Ein plötzlicher Schwindelanfall ergriff Annuschka. Saleski mußte sie stützen und geleitete sie zur Bank. Eine Weile saß sie da mit fest zusammengepreßten Lippen, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Ein bitteres Gefühl stieg in ihr auf. Das war also das Ende! Beiseite geschoben in dem Augenblick, wo er ihrer nicht mehr bedurfte. Aber noch war das Spiel nicht verloren.
Saleski hatte das Schloßfräulein mit Spannung beobachtet. Er ahnte, was in ihr vorging. Eine kurze Zeit hing Annuschka noch ihren Gedanken nach, dann schien sie einen Entschluß gefaßt zu haben.
„Da mir der briefliche Verkehr verschlossen ist“, sagte sie, „so bin ich gezwungen, Ihnen einen Auftrag zu geben, den Sie Ihrem Herrn genau ausrichten werden. Schreiben Sie ihm noch heute, daß er sich der höchsten Gefahr aussetzt. Ich bin entschlossen, keine Rücksicht mehr zu nehmen. Er hat sich die Folgen selbst zuzuschreiben!“
Das Mitleid, das Saleski bisher mit Annuschka gehabt hatte, machte in diesem Augenblick einem Gefühl des Triumphes Platz. Endlich war ihm ein Fingerzeig für die Durchführung seiner Aufgabe gegeben. Kein Zweifel, Annuschka befand sich im Besitz eines wichtigen Geheimnisses, das Viktor verderben konnte. Und dieses Geheimnis mußte mit dem Testament seines Oheims im engsten Zusammenhange stehen. Jetzt hieß es vorsichtig handeln. Vorläufig wollte sich Saleski keine Neugierde anmerken lassen, um bei Annuschka keinen Verdacht zu erwecken.
„Ich werde Ihren Auftrag gewissenhaft ausrichten, gnädiges Fräulein“, sagte er, und zog galant seinen Hut, „aber ich glaube nicht, daß der scharfe Ton Ihrer Botschaft Herrn von Poranski in seinen Entschlüssen beeinflussen wird.“
„Das wollen wir abwarten!“ sagte Annuschka und erhob sich. „Für jeden Fall können Sie Herrn von Poranski noch mitteilen, daß ich selbst zu dem Mittel greifen würde, zur Feststellung seiner Adresse die Hilfe des Gerichts in Anspruch zu nehmen. Das wird wohl genügen!“
Eine Stunde später jagte Saleski im Schlitten nach Lemberg, um dem Notar von dem Vorgefallenen Mitteilung zu machen und sich weitere Instruktionen zu holen.
Dreizehntes Kapitel
Schweigend hörte der Notar Kolakowski den Bericht Saleskis über die letzten Vorgänge auf Chmilowo an. Nur als Saleski ihm mitteilte, daß Annuschka mit Hilfe des Gerichts Herrn von Poranskis Adresse ausfindig machen wollte, schüttelte er lebhaft den Kopf und meinte:
„Das wäre etwas voreilig von der jungen Dame. Aber so weit wird sie es wohl in ihrem eigenen Interesse nicht kommen lassen.“
Als Saleski mit seinem Bericht zu Ende war, schritt der Notar nachdenklich im Zimmer auf und ab.
„Ich glaube, es wird doch das Beste sein“, meinte er nach einer kleinen Pause, „wenn Sie Fräulein Annuschkas Auftrag wortgetreu Herrn von Poranski mitteilen. Ich vermute allerdings, daß er die Antwort nicht an Sie, sondern direkt an Fräulein Annuschka richten wird. Ihre Aufgabe wird es dann sein, den Inhalt dieser Antwort zu erfahren. Das dürfte Ihrer Geschicklichkeit nicht schwer fallen.“
„Ich fürchte leider das Gegenteil“, warf Saleski ein. „Fräulein Annuschka hält mir vor, daß ich ein Doppelspiel treibe, und ist überhaupt sehr mißtrauisch gegen mich, so daß ich nur wenig von ihr erfahren kann.“
„Es macht mir fast den Eindruck“, sagte der Notar, indem er Saleski prüfend ansah, „daß Sie Fräulein Annuschka nicht mehr so ganz unpersönlich gegenüberstehen, wie es die Durchführung Ihrer Aufgabe verlangt.“
Eine plötzliche Röte stieg in Saleskis Gesicht auf.
„Herr Notar, ich will gar nicht leugnen, daß das Fräulein mich lebhaft interessiert“, erwiderte er.
„Sagen Sie es doch offen: Sie haben sich in das schöne Mädchen verliebt! Mit einer solchen Möglichkeit habe ich allerdings nicht gerechnet, als ich Sie veranlaßte, nach Chmilowo zu gehen.“
Mit großen Schritten durchmaß der Notar den Raum. Schließlich blieb er vor Saleski stehen.
„Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Saleski“, sagte er, indem er den Detektiv freundlich auf die Schulter klopfte. „Sie versprechen mir, Ihre Aufgabe durchzuführen. Wenn Sie das Mädchen wirklich lieben — und Fräulein Annuschka wäre nicht die schlechteste Partie für Sie — dann kann es doch nur in Ihrem Interesse liegen, daß Viktor von Poranski entlarvt wird. Das einzige, was ich befürchte, ist, daß Sie die Mitwirkung des Fräulein Annuschka an den Vorgängen, die mit dem Testament im Zusammenhang stehen, zu verschleiern bemüht sein werden. Doch hierfür liegt kein Grund vor, denn Herr Jedlinski wird auf weitere Nachforschungen verzichten, wenn er nur die auf so rätselhafte Weise verschwundenen Papiere über seine Abstammung zurückerhält.“
Saleski hatte den Notar nicht unterbrochen. Nun streckte er ihm mit einer herzlichen Bewegung die Hand entgegen.
„Ihre Worte sind eine große Erleichterung für mich“, sagte er. „Ich hätte mich zwar unter allen Umständen nur von meinem Pflichtgefühl leiten lassen, aber nun kann ich doch mit freierem Herzen an meine schwere Aufgabe gehen.“
***
Am Abend dieses Tages saßen der Notar und Doktor Dubois nach langer Zeit wieder einmal in der kleinen Weinstube beisammen, wo sie mit Stanislaw Jedlinski eine Zusammenkunft vereinbart hatten.
Jedlinski war bis zum Abend bei seiner Braut gewesen. Ein Ausdruck ernster Besorgnis lag auf seinen Zügen.
Mit der Mutter seiner Braut ging es zu Ende; Der Verfall ihrer Kräfte nahm von Tag zu Tag in erschreckender Weise zu. Der große seelische Schmerz um den Sohn hatte die Widerstandskraft dieser noch vor kurzem so rüstigen Frau völlig gelähmt.
Helene war durch die Sorge um ihre Mutter in einer sehr traurigen Stimmung. Die Verlobung wurde vorläufig noch geheimgehalten, und nur die beiden alten Freunde des Bräutigams wußten darum.
Die Befürchtung des Notars, daß Jedlinski, nachdem er zur Familie Viktors in so enge Beziehungen getreten war, aus Rücksicht auf seine Braut und ihre Mutter keinen Standpunkt in der Frage des Vermächtnisses ändern würde, sollte sich bald bestätigen. Kaum hatte der Notar von dem letzten Besuch Saleskis erzählt, als Jedlinski ihm die Hand auf den Arm legte.
„Lieber Herr Notar! Sie werden es begreiflich finden, wie schwer es mir fällt, auf die Erfüllung meiner Hoffnungen zu verzichten, aber mit Rücksicht auf meine Braut möchte ich von jeder weiteren Verfolgung Abstand nehmen. Der Mann, den Sie nach Chmilowo geschickt haben, soll die ganze Summe erhalten, die ihm für eine erfolgreiche Tätigkeit versprochen ist, und möchte zurückkehren. Was wir erreichen könnten, steht jetzt in keinem Verhältnis zu dem, was ich verliere, wenn der Name der Familie befleckt wird.“
„Ihr Wunsch ist begreiflich, lieber Herr Jedlinski“, sagte der Notar freundlich. „Leider muß ich aber befürchten, daß wir die Dinge nicht mehr in der Gewalt haben. Die Katastrophe wird eintreten durch eine natürliche Entwicklung, auf die wir keinen Einfluß ausüben können. Das gespannte Verhältnis zwischen Fräulein Annuschka und Herrn von Poranski hat sich derartig verschärft, daß nur eine gewaltsame Lösung möglich ist.“
„Haben Sie denn neuere Nachrichten, auf die sich Ihre Vermutungen stützen?“
„Annuschka hat erfahren, daß Viktor auf Freiersfüßen geht, Saleski hat es ihr mitgeteilt, um ihren Trotz herauszufordern. Annuschka ist sehr ehrgeizig, und diese ihr widerfahrene Zurücksetzung hat das Gefühl der Rache allen anderen Erwägungen gegenüber in ihr die Oberhand gewinnen lassen. In einer ganz unbegreiflichen Verblendung hat Herr von Poranski keinen Versuch gemacht, sich Annuschkas Schweigen zu sichern. Nun wird sie wohl keinen anderen Preis dafür gelten lassen, als die Ehe mit Herrn von Poranski, der aber nicht Lust haben wird, von der in Italien angeknüpften, standesgemäßen Verbindung freiwillig zurückzutreten. Deshalb dürfte ein öffentlicher Skandal unvermeidlich sein!“
Jedlinski schwieg betroffen. Endlich meinte er:
„Könnten Sie nicht, Herr Notar, wenigstens den Versuch machen, auf das Mädchen einzuwirken? Wenn Sie ihr auf den Kopf zusagen, daß sie die Papiere aus dem Schrank entwendet hat, und ihr mit einer hohen Strafe drohen —“
„Dann ist die Katastrophe erst recht unausbleiblich!“, unterbrach ihn Kolakowski. „Ja, wenn die Triebfeder eine andere wäre. Das Mädchen hat aus leidenschaftlicher Liebe und aus Ehrgeiz gehandelt. Und verratene Liebe und verletzter Ehrgeiz lassen sich nicht mit Geld zum Schweigen bringen. Ich glaube, Fräulein Annuschka gehört auch zu den Naturen, die ihre Rache ausüben, und wenn sie sich selbst dadurch zugrunde richten.“
Doktor Dubois nickte zustimmend, und auch Jedlinski konnte sich der Richtigkeit dieser Ausführung nicht verschließen. Der Notar fuhr fort:
„Ich habe versucht, die Sache wenigstens so einzulenken, daß ich Fräulein Annuschka für den Fall, daß sie Ihnen die Papiere zurückgibt, bereits auf eigene Verantwortung Straflosigkeit in Aussicht gestellt habe.“
„Damit bin ich völlig einverstanden, lieber Herr Notar. Es liegt mir daran, Herrn von Poranski als dem Bruder meiner zukünftigen Frau zu beweisen, daß ich ihn und Personen, die ihm nahestehen, durchaus nicht gehässig verfolgen will. Mag er ruhig im Besitze des Majorats bleiben! Ich fürchte freilich, daß er sich trotzdem der Verbindung seiner Schwester mit mir widersetzen wird.“
„Das wäre ja heller Wahnsinn!“ warf der Arzt ein.
Der Notar zuckte die Achseln.
„Ich glaube, daß die Besorgnis unseres jungen Freundes nicht ganz ungerechtfertigt ist. Herr von Poranski wird den Gedanken nicht ertragen können, einen so unbequemen Mahner an seine böse Tat als nächsten Verwandten begrüßen zu müssen!“
Saleski kehrte erst kurz vor Mittag des nächsten Tages nach Chmilowo zurück. Er kleidete sich schnell um und ging zum Essen.
Fräulein Annuschka, die mit den beiden Inspektoren schon bei Tisch saß, begrüßte ihn mit einiger Zurückhaltung. Er gab sich auch sehr ernst und nahm sich nicht die Mühe, ein heiteres Gespräch in Gang zu bringen.
Nach dem Essen gingen Annuschka und Saleski zusammen die Treppe zu dem Hauptstockwerk hinauf.
Oben auf dem Korridor, wo sich ihre Wege trennten, blieb Annuschka stehen. „Nun, haben Sie Herrn von Poranski berichtet, was ich Ihnen auftrug?“ fragte sie kurz.
„Allerdings“, erwiderte Saleski. „Sogar auf die Gefahr hin, bei Herrn von Poranski in Ungnade zu fallen. Denn er wird natürlich annehmen, daß ich durch meine allzu große Offenheit Ihre Drohungen heraufbeschworen habe.“
„Und Sie hatten doch nur mein Bestes im Auge!“ meinte Annuschka ironisch.
„Es tut mir leid, daß ich Sie noch immer nicht davon überzeugen kann“, erwiderte Saleski warm.
Er legte zur Bekräftigung seiner Worte die Hand aufs Herz.
Ohne daß es sich Annuschka eingestehen oder gar merken lassen wollte. fühlte sie sich geschmeichelt. Es entging ihr nicht, daß sie auf Saleski Eindruck gemacht hatte, und vielleicht hätte sie seine Huldigungen, die sie gerade in dieser Zeit der Zurücksetzung wohltuend empfand, freundlicher aufgenommen, wenn der Gedanke an Viktors Treulosigkeit nicht jede weichere Regung in ihr unterdrückt hatte.
Die nächsten Tage verliefen sehr ruhig. Saleski hatte es durch seine sachlichen Vorstellungen erreicht, daß Annuschka wieder mit ihm Schlittschuh lief. Dabei wandte er all seine Unterhaltungskünste an und erzählte Annuschka Abschnitte aus seinem Leben, allerdings in etwas anderer Fassung als Herrn von Poranski.
Wenn nur die Antwort des Herrn von Poranski diese hoffnungsvolle Entwicklung nicht zerstörte! Es war ganz unklug von ihm gewesen, daß er ihm die Drohung Annuschkas mitgeteilt hatte. War es denn so unwahrscheinlich, daß ihre Liebe zu Viktor nicht mit der Zeit in unversöhnlichen Haß umschlug?
Einige Wochen vergingen, als die Antwort des Herrn von Poranski in einem an Saleski gerichteten Eilbrief endlich eintraf.
In seiner abgerissenen kurzen Weise schrieb Herr von Poranski, daß die Drohung Annuschkas durchaus nicht ernst zu nehmen wäre. Er dankte Saleski für seine besorgten Warnungen, wollte sie aber für die Zukunft nicht mehr lesen. Den einliegenden Brief bitte er Fräulein Annuschka mit dem Ausdruck seiner größten Hochachtung zu geben.
Unschlüssig überlegte Saleski, was er tun sollte, denn Herr von Poranski schien sich in seinem Leichtsinn über den Ernst seiner Lage hinwegzutäuschen.
Noch während er unentschlossen dastand, trat Annuschka auf ihn zu.
„Sie haben einen Eilbrief von Herrn von Poranski erhalten, Herr Sekretär?“ fragte sie erregt. „Und das Schreiben, das Sie in der Hand halten, ist wohl für mich bestimmt?“
„Allerdings, Fräulein Annuschka. Darf ich eine Bitte hinzufügen? Sie wissen, daß ich Ihnen unbedingt ergeben bin. Wollen Sie mich mit dem Inhalt des Briefes bekannt machen?“
„Ich wüßte nicht, weshalb“, sagte Annuschka hochmütig. „Hat Herr von Poranski Sie nicht so weit ins Vertrauen gezogen?“
Statt der Antwort reichte Saleski ihr den an ihn persönlich gerichteten Brief des Schloßherrn von Chmilowo, in dem Annuschkas Drohungen als harmlos hingestellt wurden. Sie durchflog den Brief schnell und warf dann einen überraschten Blick auf Saleski.
„Es wundert mich, daß Sie mir diesen, doch sicherlich nicht für mich bestimmten Brief zeigen“, sagte sie sichtbar verlegen. „Ob ich Ihr Vertrauen erwidern werde, kann ich Ihnen heute noch nicht sagen.“
Saleski verbeugte sich. Annuschka reichte ihm zum ersten Male ihre Hand, die er galant küßte. Dann ging sie rasch in ihr Zimmer, um Viktors Brief zu lesen.
Saleski überlegte einen Augenblick, ob er jetzt noch nach Lemberg fahren sollte. Aber wenn er nun, nach Empfang des Briefes, seine Reise aufschob, konnte Annuschka leicht Verdacht schöpfen, und das mußte er zu vermeiden suchen.
So fuhr Saleski nach Lemberg, kehrte aber noch am Abend desselben Tages zurück. Er erfuhr von den Bediensteten des Schlosses, daß Annuschka sich während des ganzen Tages in ihr Zimmer zurückgezogen hatte und für niemand zu sprechen gewesen war. Das machte ihn stutzig.
Auch am anderen Vormittag bekam er Annuschka nicht zu Gesicht. Erst zum Essen erschien sie. Auf ihrem Gesicht machte sich eine deutliche Erregung bemerkbar, ihre Augen waren gerötet. An dem Tischgespräch beteiligte sie sich so gut wie gar nicht.
Saleski. wußte nicht, wie er diese Symptome zu deuten hatte. Als die beiden Inspektoren gegangen waren, ergriff er Annuschkas Hand.
„Liebes, verehrtes Fräulein“, bat er, „darf ich Sie nur einen Augenblick um Gehör bitten? Sie sehen ja zum Erschrecken bleich aus. Wollen Sie sich mir nicht anvertrauen und mir sagen, was Herr von Poranski geschrieben hat? Sie müssen es doch empfinden, wie gut ich es mit Ihnen meine, und wie gern ich Ihnen raten und, wenn möglich, helfen möchte.“
„Es hat keinen Zweck, Herr Saleski. Herr von Poranski hat sein Spiel gewonnen. Ein Spiel freilich, bei dem das Glück eines Menschenlebens der Einsatz war.“
„Wie soll ich das verstehen, mein Fräulein? Wenn Sie sich offen zu mir aussprechen wollten, dann könnte ich Ihnen viel nützlicher sein, als Sie voraussetzen. Ich glaube zu wissen, welche Vorgänge im Mittelpunkt der zwischen Ihnen und Herrn von Poranski schwebenden Auseinandersetzungen stehen.“
„Was wissen Sie?“ fragte Annuschka betroffen und sah Saleski scharf an.
„Gnädiges Fräulein, es ist doch im Schlosse ein offenes Geheimnis, daß nach dem Ableben des Herrn Wratislaw von Poranski ein Brief abhanden gekommen ist, der wahrscheinlich wichtige Bestimmungen des verstorbenen Schutzherrn enthielt. Herr von Poranski, wie ich vom Hörensagen weiß, dabei seine Hand im Spiele gehabt haben. Nun — ich bin kein Untersuchungsrichter und weiß nicht, was an dem Gerede wahr ist. Aber für die Überführung des Herrn von Poranski wäre es sicher wichtig, wenn sich ein einwandfreier Zeuge fände, der den Brief gesehen hat und womöglich bezeugen könnte, daß Herr Wratislaw von Poranski ihn geschrieben hatte.“
„Der Zeuge ist vorhanden“, fiel Annuschka lebhaft ein. Dann besann sie sich und sagte mißtrauisch: „Nein, lassen Sie mich — was Sie als Tatsache hinstellen, ist ja doch nur müßiges Gerede.“
„Fräulein Annuschka“, meinte Saleski ernst, „Ihre Unentschlossenheit kann Ihnen jetzt nur wenig helfen. Es war zu wichtig, was Sie eben zugaben —“
„Was habe ich denn zugegeben?“
„Daß ein Zeuge vorhanden ist, und dieser Zeuge sind — Sie!“ Und mit leiser Stimme fügte er noch hinzu: „Sie haben Herrn Viktor von Poranski von dem Schreiben Kenntnis gegeben.“
„Das ist unmöglich, das habe ich nicht gesagt.“
„Aber getan.“
Eine Weile saß Annuschka in unbeschreiblicher Verwirrung da. Eindringlich fuhr Saleski fort:
„Weshalb wollen Sie mir das verheimlichen, gnädiges Fräulein? Gerade Ihre Zeugenschaft über diese wichtigen Vorgänge ist doch die größte Waffe, die Sie gegen Herrn Viktor von Poranski in Händen haben.“
Annuschka bedachte sich einen Augenblick, dann sagte sie zögernd:
„Ich will offen sein. Ich traf Viktor an dem kritischen Abend, als er eben weggehen wollte. Er fragte mich, wie es seinem Onkel ginge. Ich erzählte ihm, daß er soeben einen Brief geschrieben und den alten Fedor damit fortgeschickt habe. Das veranlaßte Viktor, dem Diener nachzueilen.“
Saleski wollte in seiner Überraschung über dieses offene Geständnis erwidern, daß es unklug von Annuschka gewesen war, dem Arzt am nächsten Tage eine von dieser Darstellung abweichende Auskunft zu geben. Aber er besann sich rechtzeitig, daß es Annuschka auffallen müßte, wenn er eine so genaue Kenntnis aller Vorgänge, die sich nach dem Tode des Schloßherrn abgespielt hatten, verriet.
Annuschka hatte sein Zögern bemerkt. Argwöhnisch fragte sie:
„Erscheinen Ihnen meine Worte etwa unglaubhaft?“
„Nein, nein, mein Fräulein, im Gegenteil. Ich überdachte nur, daß der Unfall des alten Dieners dadurch plötzlich in ein ganz anderes Licht gerückt ist.“
„Sie meinen, daß Fedor das Opfer eines Überfalles geworden ist? Das ist ausgeschlossen. Den Brief hat Herr von Poranski durch Unterredung an sich gebracht. Etwas anderes wird auch nie zu beweisen sein. Strafbar wird die Handlung Viktors erst durch die Vernichtung des Briefes. Mit meinen eigenen Augen las ich, daß Herr Wratislaw von Poranski in dem Schreiben an den Notar seinen Neffen Viktor enterbte, aber — es hilft mir doch nichts. Hier!“ Sie fuhr in die Tasche und holte Viktors Schreiben heraus. „Mit höhnischen Worten schickt er mir den Brief des Onkels im Original zur Einsichtnahme. Eine behördlich beglaubigte Abschrift habe er in Händen. Ich könne also mit dem Original anfangen, was ich wolle. Der Brief deckt sich im Inhalt zum Teil mit dem Schreiben an den Notar, das in meiner Gegenwart abgefaßt wurde, enthält aber keine Bemerkung über die Enterbung. Können Sie sich das erklären? Zum Schluß ersucht mich Herr von Poranski, sein Haus zu verlassen. Es könnte mir doch nur peinlich sein, mit ihm und seiner Gattin, die er demnächst heimzuführen gedenke, auf Schloß Chmilowo zusammenzutreffen.“
Saleski zeigte sich wenig erstaunt, als Annuschka ihm den Brief des Herrn Wratislaw, um den sich die ganze Sache drehte, hinreichte.
Dieser Brief war eine Fälschung, die mit seiner Unterstützung zustande gekommen war. Sie hing mit einem Vorgang zusammen, von dem Saleski bisher nicht einmal dem Notar Mitteilung gemacht hatte, da er es nicht liebte, sich vorzeitig in die Karten sehen zu lassen.
Wenn er jetzt geschickt vorging, konnte er die ganze Angelegenheit mit einem Schlage zur Entscheidung bringen. Herrn Jedlinski würde er seine Papiere verschaffen und damit die große Belohnung erlangen, die ihm für diesen Fall versprochen war. Gleichzeitig konnte er Annuschka für sich gewinnen und ihr zur Befriedigung ihrer Rache verhelfen. Er stand auf.
„Fräulein Annuschka, hier dürfte wohl nicht der geeignete Ort für eine weitere Besprechung sein. Ich schlage vor, wir gehen mit unseren Schlittschuhen zum Teich, denn dort sind wir vor jedem Lauscherohr sicher.“
Schon unterwegs begann Saleski:
„Ich kann Ihnen zu der von Ihnen gewünschten Genugtuung verhelfen. Und daß ich es gern tue, davon dürfen Sie bei dem warmen Interesse, das ich auch persönlich an Ihnen nehme, überzeugt sein. Ich bitte Sie, mir unbedingt zu vertrauen, selbst wenn ich eine Bedingung stelle, die Sie zunächst befremden wird. Ich spreche jetzt nicht von dem, was mein Herz wünscht“, fuhr er hastig fort, als er sah, daß sie eine abweisende Miene annahm, „sondern von einer Notwendigkeit, deren glatte Erledigung mehr in Ihrem als in meinem Interesse liegt. Geben Sie Herrn Jedlinski die auf so rätselhafte Weise in Verlust geratenen Papiere zurück.“
Erbleichend blieb Annuschka stehen. Saleski setzte mit energischer Stimme hinzu:
„Sprechen Sie, bitte, jetzt nicht, mein Fräulein, suchen Sie den Besitz der Papiere nicht abzuleugnen. Es ist die Vorbedingung, die Sie frei macht. Ich weiß bestimmt, daß Herr Jedlinski aus Freude über die Wiedererlangung der für ihn so wichtigen Dokumente von jeder Frage absehen wird, wie diese Papiere in Ihre Hände gekommen sind.“
Mit nervöser Spannung erwartete er ihre Antwort. Er hatte gehofft, durch die Schnelligkeit seines Angriffes zu siegen, doch er hatte sich getäuscht, denn mit ruhiger Stimme antwortete jetzt Annuschka:
„Sie sprechen für mich in Rätseln. Ich kehre sofort um, wenn Sie mich noch einmal in dieser empörenden Weise angreifen und beleidigen.“
Saleski trat einen Schritt zurück. Ihm war es, als hätte er einen Schlag ins Gesicht erhalten. Er sah, wie sie sich zum Gehen wandte, und vertrat ihr den Weg.
„Fräulein Annuschka, Sie handeln unklug — Sie müssen mir Rede stehen.“
„Ich rufe um Hilfe!“
„Das könnte Ihre Lage nur verschlimmern. Sie irren sich in meiner Person. Es ist Zeit, daß ich den Irrtum berichtige. Ich bin nicht der Sekretär des Herrn von Poranski, für den Sie mich halten. Ich bin hier, um die dunklen Vorgänge, die sich unmittelbar nach dem Tode des Herrn Wratislaw von Poranski abspielten, aufzuklären.“
„Also haben Sie doch nur Komödie mit mir gespielt!“ rief Annuschka leidenschaftlich erregt aus. „Ihr ganzes Werben um mein Vertrauen war nichts anderes als ein wohlüberlegter Plan, um ein Geständnis aus mir herauszubekommen.“
„Sie irren!“ fiel ihr Saleski erregt ins Wort. „Ich leugne nicht, daß es für die schwere Aufgabe, die ich übernommen habe, sehr wichtig ist, Ihr Vertrauen zu gewinnen. Aber das Gefühl, das Sie mir persönlich einflößten, verbietet es mir, dieses Vertrauen zu mißbrauchen. Ich denke nicht daran, ein Zugeständnis von Ihnen zu erpressen, dagegen liegt mir viel daran, daß Sie mir durch freiwilliges Entgegenkommen die Möglichkeit bieten, Ihre Teilnahme an allen diesen bösen Geschichten, zu denen Sie sich durch Ihre Liebe zu Herrn von Poranski hinreißen ließen, in den Hintergrund treten zu lassen.“
„Was gedenken Sie also zu tun?“ fragte Annuschka etwas gefaßter.
„Zunächst“, erwiderte Saleski, „will ich Ihnen beweisen, wie gut ich es mit Ihnen meine. Ich werde Ihnen eine Waffe gegen Herrn von Poranski in die Hand geben, für die Sie mir dankbar sein werden. Hier ist sie.“
Er zog ein Päckchen Briefe aus der Brusttasche und reichte sie ihr hin.
„Der Brief des alten Herrn von Poranski, den Herr Viktor Ihnen zuschickte, ist gefälscht. Hier haben Sie denselben Text und dieselbe Handschrift in mehrmaliger Wiederholung, und hier“ — er nahm einen Brief zur Hand, der in einem besonderen Kuvert verschlossen war — „hier haben Sie die Urschrift des Briefes in einer anderen Handschrift, die Ihnen indes nicht unbekannt sein wird.“
Es war die Handschrift Viktor von Poranskis.
Annuschka begriff nicht und sah ihn verständnislos an.
Der Detektiv lächelte. „Nun will ich Ihnen auch die Erklärung geben. Ich hatte Herrn Viktor von Poranski in den ersten Tagen meines Aufenthaltes auf dem Schlosse gesprächsweise erzählt, daß ich jede Handschrift mit unfehlbarer Sicherheit nachbilden könne. Das war übrigens keine Lüge, sondern ich kann mich tatsächlich dieser Fertigkeit rühmen, die ich mir in meiner jahrelangen kriminalistischen Tätigkeit angeeignet habe. Herr von Poranski schien sich für diese meine Fähigkeit besonders zu interessieren, denn er schlug mir eine Wette vor. Ich sollte einen von ihm abgefaßten Brief in der Handschrift seines verstorbenen Oheims, für die er mir eine Anzahl alter Briefe als Vorlage gab, nachahmen, und falls ich meine Wette gewönne, sollte ich eine beträchtliche Summe von ihm erhalten. Da ich nach seiner Ansicht mit den Verhältnissen auf dem Schlosse nicht vertraut war, glaubte er nicht zu fürchten, daß mich der Inhalt des Briefes stutzig machen könnte, oder daß ich ihn mit tatsächlichen Verhältnissen in Zusammenhang bringen würde. Die Probe fiel überraschend gut aus. Sie selbst, Fräulein Annuschka, haben sie in Händen. Ich gewann die Wette, und Herr von Poranski, der die ganze Sache als Scherz hinstellte, war leichtsinnig genug, meiner Versicherung, daß ich seine Vorlage verbrannt hätte, Glauben zu schenken. Ich ahnte schon damals den Zusammenhang. Den Brief ließ Herr von Poranski offenbar nur zu dem Zweck schreiben, um Ihnen denselben im geeigneten Augenblick als das in seinen Besitz gebrachte letzte Schreiben seines Oheims in die Hände zu spielen und dadurch den Verdacht der Erbschleicherei bei Ihnen hinfällig zu machen. Der wirkliche Brief des Herrn Wratislaw von Poranski, bei dessen Abfassung Sie zugegen waren, war wohl schon damals vernichtet.“
Annuschka hatte mit steigender Verwunderung zugehört.
„Ich bin Ihnen für Ihre Enthüllung sehr verbunden, Herr Saleski“, sagte sie nun aufatmend. „Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen. Jetzt, wo ich Herrn von Poranski in meiner Hand halte, soll er mich auf den Knien um Schonung bitten und es als eine besondere Gunst betrachten, wenn ich ihm die Rückkehr zu mir erleichtere —“
Sie brach mit einem schrillen Lachen ab. Saleski hatte die Arme verschränkt und sie mit unbeweglichem Gesicht betrachtet. Nun sagte er ruhig: „Einen Augenblick, mein Fräulein. Ich will nur noch einen kleinen Irrtum beseitigen. Es wäre töricht von Ihnen, wenn Sie von einem ungetrübten Glück an der Seite des Herrn von Poranski träumen würden. Herrn von Poranski ist vorläufig noch keine Straflosigkeit zugesichert, und so leichten Kaufes wie Sie zu glauben scheinen, kommen Sie selbst, mein gnädiges Fräulein, auch nicht davon. Ich nannte Ihnen bereits die Voraussetzung, unter der ich Sie schonend behandeln kann. Ich will Ihnen noch einige Tage Frist geben, sind aber bis dahin die Herrn Jedlinski gehörigen Dokumente nicht in meiner Hand, dann würde ich mich zu meinem Bedauern genötigt sehen, Sie als Mitschuldige des Herrn von Poranski verhaften zu lassen. Ich hoffe, Sie werden klug genug sein, den Ausweg, den Ihnen die Nachsicht des Herrn Jedlinski bietet, nicht von der Hand zu weisen.“
Mit einer schnellen Bewegung wandte er sich um und schlang wunderbare Bogen auf dem Eise — sich immer weiter von ihr entfernend.
Todesblässe auf den Wangen, blieb Annuschka zurück. Sie wollte Saleski nachrufen, aber ihre Stimme versagte. Kaum konnte sie sich fortbewegen. Die zitternden Knie versagten ihr den Dienst.
Im Kopfe hatte sie nur den einen dumpfen Gedanken: Verloren, alles verloren! Mit Aufbietung aller Kräfte wandte sie sich um und ging zum Schloß zurück.
Eine Viertelstunde später folgte ihr Saleski.
Am Schloßtor wurde ihm eine Depesche überreicht. Sie war von Herrn von Poranski und aus Krakau datiert:
„Kommen Sie sofort her, Hotel Basar. Muß Sie dringend sprechen.“
Saleski überlegte rasch, ob er in diesem kritischen Augenblick das Schloß verlassen dürfe. Vielleicht würde eine telegraphische Absage genügen. Schließlich entschied er sich doch für die Reise, denn er wollte einer persönlichen Zusammenkunft mit Herrn von Poranski gerade jetzt nicht aus dem Wege gehen. Er konnte ja bald zurück sein, und bis dahin würde Annuschka, der er gesagt hatte, daß sie ständig beobachtet werde, schon im eigenen Interesse das Schloß nicht verlassen. Daß sie die Papiere des Herrn Jedlinski, falls sie sich noch in ihrem Besitz befanden, vernichten könnte, war nicht zu befürchten, da sie nur durch deren Rückgabe sich ihre Straflosigkeit sicherte.
Saleski steckte sich Geld ein, ließ den Schlitten vorfahren und teilte dem Diener mit, daß er auf ein bis zwei Tage verreise.
Dann gab er dem Kutscher die Weisung, nach einer kleinen Eisenbahnstation zu fahren, die wenige Kilometer entfernt war. Von da aus hatte er direkte Verbindung mit Krakau und konnte noch am selben Abend dort eintreffen.
Vierzehntes Kapitel
Nach der Ankunft in Krakau nahm der Detektiv einen Wagen und fuhr direkt in das von Herrn von Poranski telegraphisch bezeichnete Hotel.
Herr von Poranski war nicht anwesend. Er hatte aber die Botschaft zurückgelassen, daß er im „Klub der jungen Kavaliere“ zu finden sei. Saleski wußte, was das zu bedeuten hatte.
Der „Klub der jungen Kavaliere“ war in eingeweihten Kreisen als eine Vereinigung bekannt, in der junge Leute aus den besten Gesellschaftskreisen Krakaus bei verschlossenen Türen sehr hoch zu spielen pflegten. Herr von Poranski hatte also wieder Gelegenheit gefunden, seiner alten Leidenschaft zu frönen.
Nur mit Mühe erhielt Saleski Zutritt, da man gegen fremde Personen, die spätabends erschienen, etwas mißtrauisch war. Er mußte einem Diener seine Karte geben und sich erst einem kleinen Verhör über den Zweck seines Besuches unterwerfen, bevor er in das behagliche Zimmer geführt wurde, wo Herr von Poranski mit einigen Offizieren am Kartentisch saß.
Herr von Poranski sprang auf, als Saleski eintrat. Er war nicht ganz angenehm davon berührt, im Spiele gestört zu werden. Etwas von oben herab stellte er den Anwesenden seinen Sekretär vor und setzte sich dann wieder an den Kartentisch, um das unterbrochene Spiel fortzusetzen, nachdem er Saleski mit einer höflichen Handbewegung aufgefordert hatte, an einem der Seitentische Platz zu nehmen. Im weiteren Verlaufs des Spieles hellten sich die Gesichtszüge des Herrn von Poranski immer mehr auf. Er hatte vor der Ankunft Saleskis mit wenig Glück gespielt, nun schienen sich die Karten zu seinen Gunsten zu wenden. Er gewann und wagte immer höhere Einsätze. Als er sich endlich nach einigen Stunden erhob, konnte er eine beträchtliche Summe als Gewinn dieses Abends einstreichen.
Auf der Straße nahm Herr von Poranski gutgelaunt seinen Sekretär unter den Arm.
„Ich habe Ihnen telegraphiert“, sagte er, „weil ich vor meinem Eintreffen in Chmilowo ein wenig über die Situation auf dem Schlosse durch Sie unterrichtet werden wollte. Sie haben ja genug Gelegenheit zu Beobachtungen gehabt und werden bemerkt haben, daß sich während meiner Abwesenheit manche Krise vollzogen hat. Was für Nachrichten bringen Sie?“
„Zum Teil recht gute“, sagte Saleski lächelnd. „Fräulein Annuschka, die bis in die letzte Zeit den Kopf sehr hoch trug, ist durch Ihren letzten Brief stark entmutigt worden. Auf mich als Unbeteiligten macht es fast den Eindruck, als hätten Sie ihr eine gefährliche Waffe, die das Fräulein gegen Sie in Händen hatte, unvermutet entrissen.“
Viktor blieb stehen und schlug lachend die Hände zusammen.
„Ausgezeichnet, Saleski!“ sagte er. „Das war ein Geniestreich, den ich da vollführt habe. Ich kann Ihnen heute noch nicht den Zusammenhang auseinandersetzen, aber Sie sollen später alles erfahren. Haben Sie noch mehr gute Nachrichten? Sehr hübsch wäre es, wenn Sie in weitblickender Voraussicht der Geldschwierigkeiten, in denen ich mich augenblicklich befinde, eine größere Anleihe zuwege gebracht hätten.“
„Damit kann ich leider nicht dienen“, erwiderte Saleski. „Es dürfte auch schwer fallen, noch etwas auszutreiben. Ich schrieb Ihnen schon bei einer ähnlichen Gelegenheit, daß Sie bei den Geldgebern leider keinen hohen Kredit genießen.“
„Dennoch muß Geld aufgetrieben werden“, sagte Herr von Poranski entschieden. „Ich bin verlobt und glücklicher Bräutigam der Komtesse Fedora Olizarowska auf Murawo in Posen. Die Hochzeit soll sobald wie möglich stattfinden. Ich brauche Geld zur Hochzeitsreise.“
Kein Zucken im Gesicht Saleskis verriet, wie angenehm ihn die Nachricht von der nun zur Tatsache gewordenen Verlobung des Herrn von Poranski berührte.
„Ich gratuliere, Herr von Poranski“, sagte er, „und wünsche Ihnen, daß Sie bei Ihrer Wahl in jeder Hinsicht vom Glück begünstigt wurden.“
„In jeder Hinsicht, lieber Saleski“, erwiderte Viktor, indem er seinem Sekretär einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken versetzte. „Sie können ganz beruhigt sein. Mein künftiger Schwiegervater ist reich genug, um alle meine Schulden zu bezahlen und mich in den Jahren, in denen ich nur auf die von meinem verstorbenen Oheim ausgesetzte Rente angewiesen bin, über Wasser zu halten. Aber nun berichten Sie mir — was gibt es sonst in Lemberg Neues? Ist der alte Notar Kolakowski während meiner Abwesenheit oft aus dem Schloß gewesen? Ich muß Ihnen offen gestehen, daß ich den alten Herrn nicht leiden mag, weil er seine Nase gern in Dinge steckt, die ihn nichts angehen. Ich hätte ihn längst durch einen anderen Anwalt ersetzt, wenn ich nicht durch die Testamentsklausel meines Oheims gezwungen wäre, ihn als Vermögensverwalter anzuerkennen.“
„Auf Schloß Chmilowo ließ sich der Notar während Ihrer Abwesenheit nicht sehen“, antwortete Saleski. „Dagegen habe ich ihn öfter in geschäftlichen Angelegenheiten in Lemberg aufgesucht und ihn stets sehr entgegenkommend gefunden.“
„Hat er Sie denn nicht über mich ausgefragt?“ fragte Herr von Poranski etwas argwöhnisch. „Wollte er nicht Näheres über meinen Geldbedarf und meine Heiratsabsichten wissen? Ich hoffe, Sie sind kein Plauderer gewesen.“
„Unsere Gespräche bewegten sich lediglich im Rahmen geschäftlicher Auseinandersetzungen“, erwiderte Saleski kurz.
Eine Zeitlang schritten beide Herren stumm nebeneinander her. Saleski hatte schon lange, und nicht ohne Spannung, auf eine Frage gewartet, die kommen mußte: die Frage nach Jedlinski.
In der Tat überlegte Herr von Poranski, wie er Saleski am unbefangensten über seinen Vetter ausholen könnte.
„Sie erzählen mir ja gar nichts von dem Gute Bninki“, sagte er endlich. „Es interessiert mich sehr, wie das Gut unter seinem neuen Besitzer gedeiht. Ich dachte bisher, daß Herr Jedlinski, der ja von der Landwirtschaft nichts versteht, das Gut verkaufen und mit dem Erlös wieder nach Amerika gehen würde.“
Ein Ausdruck gespannter Erwartung lag auf dem Gesicht des Herrn von Poranski. Saleski, der sehr wohl wußte, daß hier nur der Wunsch der Vater des Gedankens war, hatte Mühe, unbefangen zu erscheinen. Nach einer Pause sagte er:
„Bninki gedeiht ganz vorzüglich. Kein Zweifel — dieser Amerikaner hat etwas weg. Wenn er sich für eine Sache interessiert, ist er auch mit ganzer Energie dabei. Herr Jedlinski hat es durch seine Tatkraft verstanden, sich in der kurzen Zeit nicht nur in den Kreisen der Landwirte, sondern auch in den Lemberger Gesellschaftskreisen eine geachtete Stellung zu erwerben.“
„So — das hätte ich nicht gedacht“, sagte Viktor, dem die Enttäuschung vom Gesicht abzulesen war. „Der Herr soll ja mit mir verwandt sein“, setzte er verächtlich hinzu, in dem Bestreben, ihn bei Saleski herunterzusetzen.
„Herr Jedlinski wird allgemein als Ihr rechtmäßiger Vetter betrachtet“, entgegnete Saleski rasch. Dann fügte er mit seltsamer Betonung hinzu: „Übrigens wissen Sie ja selbst, daß das Verwandtschaftsverhältnis bald ein noch engeres werden wird.“
Viktor blieb überrascht stehen.
„Nichts weiß ich!“ stieß er hervor. „Was meinen Sie damit?“
Saleski fand seine Vermutung bestätigt, daß Frau von Poranska den schriftlichen Verkehr mit ihrem Sohn ganz abgebrochen haben mußte, was sie nicht ohne schwerwiegende Gründe getan haben konnte. Aus einer Andeutung des Notars Kolakowski wußte er, daß Jedlinski heimlich mit Helene von Poranski verlobt war. Frau von Poranski hatte es offenbar nicht für nötig gefunden, ihren Sohn von diesem wichtigen Familienereignis zu verständigen.
„Bitte um Entschuldigung Herr von Poranski“, sagte er lächelnd. „Ich möchte nicht gern der Zuträger leerer Gerüchte sein, aber es wird in Lemberg als sicher erzählt, daß sich Ihr Fräulein Schwester heimlich verlobt hat.“
„Helene verlobt? Und mit wem?“ fragte Herr von Poranski aufs äußerste gespannt.
„Mit Herrn Jedlinski.“
Viktor stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf.
„Da haben Sie sich einen Bären aufbinden lassen, lieber Saleski. Sie werden mir doch zugeben, daß ich auch etwas von der Geschichte wissen müßte.“
Saleski zuckte die Achseln und sagte:
„Ich begreife Ihre Aufregung nicht, Herr von Poranski. Es lag mir natürlich fern, Ihnen eine ärgerliche Nachricht zu überbringen. Ich hielt es nur für meine Pflicht, Ihnen das, was man sich in den Lemberger Gesellschaftskreisen erzählt, mitzuteilen. Herr Jedlinski fährt jeden Tag nach Lemberg, macht stundenlange Besuche im Hause Ihrer Frau Mutter und fährt mit Ihrem Fräulein Schwester häufig aus. Das Gerücht von einer bestehenden heimlichen Verlobung kann also nicht ganz unbegründet sein.“
Viktor antwortete nicht. Wenn Saleski die Wahrheit gesagt hatte, dann war ihm von seinen nächsten Verwandten ein Streich gespielt worden, gegen den er sich zur Wehr setzen mußte.
Unter allen Umständen wollte er es verhindern, daß ihm Jedlinski als Schwager aufgedrängt wurde. Er erkannte es jetzt als einen schweren Fehler, daß er überhaupt abgereist war und dadurch seinem so plötzlich aufgetauchten Vetter Gelegenheit gegeben hatte, sich seiner Familie zu nähern.
Viktor war eine rücksichtslose Natur, und nachdem er einmal den abschüssigen Weg beschritten hatte, gab es auch für ihn kein Zurück mehr. Wenn Jedlinski auch augenblicklich vielleicht nicht zu fürchten war, konnte er doch später als Schwager seine Ansprüche mit verdoppelter Energie geltend machen, und das mußte verhindert werden.
Viktor von Poranski und Saleski waren im hell erleuchteten Vestibül des Hotels angelangt. Viktor sah nach der Uhr. „Schon zwölf. Geht noch ein Zug nach Lemberg?“ fragte Viktor den auf ihn zutretenden Portier des Hotels. — „In einer halben Stunde geht ein Personenzug, der aber erst gegen acht Uhr morgens in Lemberg ist“, sagte er.
„Lassen Sie uns ein Abteil erster Klasse belegen, wir können im Zuge schlafen!“
Er bezahlte seine Rechnungen und fuhr mit Saleski zur Bahn. Unterwegs sprach er kein Wort, aber es war ihm anzusehen, wie die Nachricht der Verlobung seiner Schwester auf ihn wirkte.
Im Zuge machte es sich Viktor bequem und legte sich sofort zur Ruhe. Langes Grübeln war nicht seine Sache und die Natur verlangte ihre Rechte.
Saleski lag mit offenen Augen da, ohne Schlaf zu finden. Er beneidete den Mann, der so sorglos da neben ihm lag und sich so leicht über jede kritische Lage hinwegsetzen konnte. Mit einem Gefühl des Mitleids dachte er an Annuschka. Wie sonderbar doch die Wege der Liebe waren! Diesen leichtsinnigen Menschen, der in der Verfolgung seiner selbstsüchtigen Interessen brutal und rücksichtslos vorging, liebte Annuschka, trotz aller Demütigungen, und ihn, der es mit ihr ehrlich meinte, stieß sie zurück. Er sann und sann, wie er sie davor bewahren konnte, von dem Schicksal, das schon in den nächsten Tagen über Viktor hereinbrechen mußte, mitgerissen zu werden.
Nach der Ankunft in Lemberg fuhr Viktor nicht in den Klub, wie er sonst zu tun pflegte, sondern stieg in einem kleinen Hotel ab. Er wünschte nicht gesehen zu werden. Saleski hatte die Absicht, noch an demselben Tage nach Chmilowo zurückzukehren, falls ihn die Verhältnisse nicht zwingen würden, in Lemberg zu bleiben. Viktor wollte ihm folgen, sobald er seine Geldgeschäfte, die er diesmal persönlich zu erledigen wünschte, abgewickelt haben würde.
Vom Hotel ging Saleski langsamen Schrittes dem Hause des Notars zu. Unmittelbar vor dem Hause stieß er zu seinem großen Erstaunen mit Fräulein Annuschka zusammen.
„Sie hier, mein gnädiges Fräulein?“ fragte er betroffen.
„Ich wüßte nicht, daß irgend jemand das Recht hat, meine Bewegungsfreiheit zu hindern“, erwiderte Annuschka sehr erregt. „Übrigens war ich eben beim Notar und habe ihm wichtige Enthüllungen gemacht. Ihre Mission auf Chmilowo, Herr Saleski, dürfte somit bald zu Ende sein.“
„Sie geben mir Rätsel auf, mein Fräulein“, sagte Saleski. „Darf ich Sie ein paar Schritte begleiten?“
„Ich wollte Sie sogar darum ersuchen“, meinte Annuschka, „da auch ich einiges von Ihnen zu erfahren wünsche.“
Sie gingen zusammen die Straße hinunter. Saleskis Blicke hingen mit Spannung an ihrem Gesicht, das ungewöhnlich bleich aussah.
Viel Neues bekam Saleski nicht zu hören. Annuschka erzählte ihm, daß die letzte Unterredung mit ihm einen tiefen Eindruck auf sie gemacht habe, und daß sie sich nach schweren inneren Kämpfen entschlossen hätte, dem Notar wichtige Papiere zu übergeben. Alles übrige könne er vom Notar erfahren, setzte sie errötend hinzu.
Dann fragte sie unvermittelt: „Kennen Sie den augenblicklichen Aufenthalt des Herrn von Poranski?“
Saleski bedachte sich einen Augenblick Es war vielleicht besser, in Lemberg als in Chmilowo die entscheidende Auseinandersetzung herbeizuführen. Keinesfalls konnte es schaden, wenn er Annuschka erst über ihre Absichten befragte.
„Wünschen Sie eine Unterredung mit Herrn von Poranski?“ fragte er.
„Allerdings“, erwiderte Annuschka, „und zwar in vollem Einverständnis mit dem Notar Kolakowski, der mir diese Unterredung sogar als diplomatische Mission aufgetragen hat.“
„In diesem Falle“, bemerkte Saleski, „habe ich kein Recht, Ihnen die Adresse zu verheimlichen. Herr von Poranski ist heute morgen in meiner Begleitung in Lemberg eingetroffen.“
Dann nannte er die Adresse des Hotels, in dem Viktor abgestiegen war.
„Ich danke Ihnen“, sagte Annuschka. „Ich werde mich noch heute zu ihm begeben, denn unsere Unterredung verträgt keinen Aufschub. Ihre Zeit wird auch kostbar sein. Herr Saleski, ich will Sie nicht länger aufhalten.“
Sie reichte ihm die Hand, Saleski aber hielt sie zurück. „Sollte Ihre Unterredung nicht zu dem von Ihnen gewünschten Resultat führen, dann versprechen Sie mir, keinen verzweifelten Schritt zu tun. Der Stein kommt ins Rollen! Die Dinge spitzen sich immer mehr zu, so daß ich meine Rolle als Sekretär unmöglich weiterspielen kann. Nach Ihrer Unterredung mit Herrn von Poranski hat es keinen Sinn mehr, wenn ich nach Chmilowo zurückkehre. Von Herrn Notar Kolakowski können Sie jederzeit meine Adresse erfahren. Also vergessen Sie nicht, daß es nicht bloß einen Detektiv Saleski, sondern auch einen Menschen Saleski gibt, den Sie durch Ihre Zuneigung glücklich machen können.“
Mit einem herzlichen Händedruck verabschiedete sich Saleski von Annuschka und ging dann mit raschen Schritten wieder den Weg zum Hause des Notars zurück.
***
Herr von Poranski suchte einen Geldgeber auf, der ihm schon wiederholt aus der Not geholfen hatte. Er zweifelte keinen Augenblick daran, daß er als Majoratsherr die zehntausend Gulden, die er brauchte, ohne große Schwierigkeiten erhalten würde, wenn er sich persönlich darum bemühte. Für den äußersten Fall konnte er jetzt auf seine bevorstehende reiche Heirat hinweisen. Er steckte auf jeden Fall einige Briefe seines zukünftigen Schwiegervaters zu sich, in denen die Festsetzung des Hochzeitstermins besprochen wurde.
Der Geldgeber hörte Herrn von Poranski sehr kühl an und schlug ihm dann rundweg die Gewährung eines Darlehns ab. Herr von Poranski häufe Schulden auf Schulden, und der Bezug seiner Jahresrente, auf die er bis zur endgültigen Übergabe des Majorats angewiesen sei, biete unter solchen Umständen keine genügende Sicherheit für die Rückzahlung.
Als nichts half, führte Viktor, wie er es sich vorgenommen hatte, seine reiche Heirat ins Treffen und wies den Brief seines Schwiegervaters vor. Der vorsichtige Geldmann las den Namen und reichte den Brief dann schweigend zurück.
„Nun?“ fragte Viktor.
„Herr von Poranski, es tut mir leid — aber die Berufung auf den Namen Ihres zukünftigen Schwiegervaters kann mich in meiner ablehnenden Haltung nur bestärken. Ich verrate Ihnen vielleicht ein Geschäftsgeheimnis, aber es muß in dem Fall gesagt werden, daß Graf Olizarowski ein sehr stark verschuldeter Großgrundbesitzer ist. Er mußte es sich gefallen lassen, daß ihm ein Vertrauensmann seiner Gläubiger als Verwalter auf sein Gut gesetzt wurde, der über die Einkünfte und Ausgaben des Herrn Grafen den Gläubigern Rechenschaft ablegt.“
„Liegt hier kein Irrtum vor?“ fragte Herr von Poranski überrascht. „Ich habe mich doch persönlich davon überzeugt, daß Graf Olizarowski in glänzenden Verhältnissen lebt.“
„Der Schein trügt leider sehr oft“, meinte der Geschäftsmann trocken.
Als Viktor wieder die Straße betrat, war er wie betäubt. Hatte sich denn alles gegen ihn verschworen? Daß er die Summe, die er brauchte, jetzt nicht erhielt, hätte er verschmerzen können. Daß aber auch die Hoffnung auf den Reichtum seines künftigen Schwiegervaters eine verfehlte Spekulation war, konnte er nicht verwinden.
Die stolze Komtesse Fedora hatte ihm gut gefallen, mehr aber noch das in Aussicht stehende reiche Erbe. Der Graf hatte mit seiner Tochter auf der Reise ein glänzendes Leben geführt. Aber nicht bloß auf der Reise! Vor kurzem hatte Viktor den Grafen auf seinem Gute in Murawo besucht und dort einige Tage verkehrt. Er hatte den Eindruck gewonnen, daß die gräfliche Familie sehr reich sein müsse. Der Graf selbst hatte ihn mit seinem Automobil durch seine Besitzungen gefahren, die wirtschaftlich in der besten Verfassung waren. Und das sollte alles nur Schein gewesen sein? Vielleicht hatte der vorsichtige Geschäftsmann ihm nur etwas vorerzählt, um ihn loszuwerden. Aber das war wenig wahrscheinlich. Weshalb hätte der Mann nicht ein sicheres Geschäft mit kurzfristigen Wechseln machen sollen?
Herr von Poranski kehrte in sein Hotel zurück und ließ sich, übelgelaunt, das Essen auf sein Zimmer bringen.
Das Essen schmeckte ihm nicht, der Wein war schlecht und sauer, und die Bedienung war mangelhaft. Viktor war in einer sehr unfreundlichen Stimmung, als der Kellner ihm meldete, daß eine junge Dame ihn zu sprechen wünsche.
Herr von Poranski zuckte zusammen. Wer sollte ihn in diesem abgelegenen Hotel aufsuchen? Wer wußte überhaupt, daß er hier wohnte?
„Fragen Sie die Dame nach ihrem Namen“, sagte er schroff.
Noch bevor der Kellner diesem Befehl nachkommen konnte, wurde die Tür, die nur leicht angelehnt war, aufgestoßen, und Annuschka stand auf der Schwelle.
Viktor sprang auf und stieß einen Ausruf der Überraschung aus.
Der Kellner zog sich diskret zurück.
„Wie kommst du hierher?“ stammelte Viktor, der sich von seinem Erstaunen noch nicht erholt hatte.
„Durch Zufall, Herr von Poranski. Ich war nach Lemberg gefahren, um einige Besorgungen zu machen, und habe Sie heute morgen hier vorfahren sehen.“
„Und welchem Umstand verdanke ich die Ehre deines Besuches?“ fragte Viktor boshaft.
„Ich habe das Bedürfnis nach einer kleinen Auseinandersetzung“, sagte Annuschka ruhig, „von deren Verlauf vieles für Sie abhängt. Sie werden dieses Zimmer entweder als glücklicher Bräutigam verlassen, oder als ein entlarvtes Verbrechen mit dem sich das Gericht zu beschäftigen hat.“
Bei Annuschkas Eintritt war in Viktor der Verdacht aufgestiegen, daß sie vielleicht einen Gewaltstreich gegen seine Person plane, und er hatte sie scharf beobachtet, ob sie nicht etwa eine Schußwaffe bei sich führe. Als sie nun aber mit einer Drohung kam, von deren Ungefährlichkeit er überzeugt zu sein glaubte, atmete er erleichtert auf.
Er wollte ihr von vornherein zeigen, daß er die Sache nicht ernst nahm, und schlug deshalb einen scherzhaften Ton an.
„Wie soll ich mich denn als glücklicher Bräutigam fühlen, ohne auf dein Kommen vorbereitet zu sein?“ sagte er. „Das Glück muß doch mit Verstand genossen werden.“
Annuschka unterbrach ihn heftig.
„Wollen Sie mich nicht lieber ruhig anhören? Ich komme soeben von dem Notar Kolakowski, mit dem ich ein interessantes Gespräch hatte.“
„Ich habe für deine Privatgespräche mit Herrn Kolakowski kein Interesse“, sagte Herr von Poranski, noch immer bemüht, seine innere Unruhe zu verbergen. Dann schlug er sich gegen die Stirn. „Ich verstehe, das Gespräch betraf wohl deine Erbschaft?“
„Das nicht, Herr von Poranski“, sagte sie sehr ruhig. „Ich habe dem Notar nur das Schreiben vorgelegt, daß Sie mir als angeblichen letzten Brief Ihres Onkels zugeschickt haben. Er hat das Dokument für echt befunden, ich habe ihn aber eines Besseren belehrt. Der Brief ist genau so echt wie alle anderen, die Ihr Helfershelfer auf Ihren Wunsch angefertigt hat. Hier sind die Duplikate.“
Sie schleuderte ihm mit verächtlicher Bewegung ein Bündel Briefe zu. Es waren die Abschriften, die ihr Saleski übergeben hatte.
Viktor war bleich geworden, seine Sicherheit begann ihn zu verlassen. Wie kam Annuschka in den Besitz dieser Abschriften? Das konnte doch nur durch einen Verrat geschehen sein. Kein anderer als Saleski, den er in gutem Glauben als seinen Sekretär angestellt hatte, konnte Annuschka über den wahren Wert dieser geschickten Fälschungen aufgeklärt haben.
Nach der Auskunft, die Viktor über seinen zukünftigen Schwiegervater erhalten hatte, war seine Leidenschaft für die Komtesse Fedora erheblich abgekühlt. Er brachte also nicht einmal ein großes Opfer, wenn er von dieser Verlobung zurücktrat. Er änderte deshalb seine Taktik.
„Du bist erzürnt, mein Lieb“, sagte er. „Ich will zugeben, daß du dazu allen Grund hattest. Aber laß uns alles, was trennend zwischen uns lag, als einen bösen Traum betrachten. Ich will nicht leugnen, daß ich mit dem Gedanken gespielt habe, eine standesgemäße Ehe einzugehen. Nun aber, wo ich dir wieder gegenüberstehe, weiß ich, daß ich es doch nicht übers Herz bringen kann.“
Er suchte ihre Hand, um sie mit seinen Küssen zu bedecken, aber Annuschka entzog sie ihm.
„Ich kann deinen Beteuerungen keinen Glauben schenken“, sagte sie zurückhaltend. „Du wirst mir erst einen Beweis von der Uneigennützigkeit deiner Liebe geben müssen. Der Notar verlangt den Brief des Onkels Wratislaw. Ich weiß, daß du ihn noch nicht vernichtet hast. Der Rückzug wird dir erleichtert. Von Fedor soll überhaupt nicht die Rede sein, du kannst sagen, daß du den Brief erst jetzt in einem Geheimfach des Schreibtisches gefunden hättest. Daß dann dein Vetter Stanislaw als rechtmäßiger Erbe auf Chmilowo einzieht, wird sich nicht verhindern lassen. Aber er will dir, wie mir der Notar sagte, Bninki abtreten und dir auch sonst in jeder Weise entgegenkommen, um in Frieden mit dir zu leben.“
Viktor war auf den Stuhl gesunken und hatte das Gesicht mit beiden Händen bedeckt. Sein Gehirn arbeitete fieberhaft, um den richtigen Ausweg zu finden. Nun sprang er auf und lachte grell auf.
„Was mutest du mir zu? Ich soll unter dem Gelächter des polnischen Adels ganz von Chmilowo verschwinden und den reichen Besitz in andere Hände legen? Niemals!“
„Viktor“, sagte Annuschka, „sei vernünftig. Ich bin nicht die einzige Zeugin, die den Brief des Onkels Wratislaw gesehen hat. Wäre ich es, dann hätte ich vielleicht trotz meiner Empörung gegen dich geschwiegen. Überdies hast du dich durch deine Fälschung so verdächtig gemacht, daß dir auch dann der Prozeß gemacht werden wird, wenn der Brief des Onkels Wratislaw bereits vernichtet wäre. Du wirst dich also an den Gedanken gewöhnen müssen, auf Chmilowo zu verzichten. Aber vor der Welt wird man dich eine glänzende Rolle als Ehrenmann spielen lassen, der die Wahrheit über alles setzt.“
Ein bitteres Lächeln umspielte bei diesen Worten ihre Lippen. Es reizte ihn mehr als alles andere.
„Und du hast dir deine Rolle selbst zugeteilt“, stieß er hervor. „Eure verlassene Braut, die sich den Treulosen mit Gewalt zurückholt.“
„Viktor! Ich warne dich vor diesem Ton!“
„Weshalb? Ist es nicht besser, daß wir uns vorher gründlich aussprechen? Zunächst muß ein Punkt aufgeklärt werden: Wo sind die Jedlinski betreffenden Papiere aus dem Geldschrank meines Onkels geblieben?“
„Die habe ich an mich genommen, damit sie nicht dir in die Hände fallen“, sagte Annuschka.
„So bestätigen sich also meine Vermutungen! Doch ich will dir keinen Vorwurf machen, im Gegenteil, ich freue mich, daß du so klug gehandelt hast. Diese Papiere muß ich haben. Das ist die einzige Bedingung, unter der unsere Unterredung Aussicht auf Erfolg hat. Du brauchst mir die Papiere, wenn du willst, erst am Tage unserer Hochzeit zu geben.“
„Viktor, bedenke, was du verlangst. Ich kenne deine Absichten. Du willst Herrn Jedlinski die Möglichkeit nehmen, seine Ansprüche auf das Majorat geltend zu machen.“
„Und wenn ich das wollte — dann wäre es doch ebenso dein wie mein Interesse.“
„Du kommst zu spät!“ sagte Annuschka mit klangloser Stimme. „Deine Verlobung war eine zu grausame Herausforderung für mich. Die Dokumente habe ich heute vormittag dem Notar übergeben.“
Viktor mußte sich am Stuhle festhalten. Eine furchtbare, sinnlose Wut, die ihn für einige Augenblicke der Sprache beraubte, hatte ihn befallen. Endlich stammelte er:
„Du — du, das konntest du tun? Und da hoffst du noch, daß ich dich heiraten werde?“ Er lachte bitter auf. „Das würde eine schöne Ehe geben! Du hast mich zugrunde gerichtet, und nun soll ich dich zum Dank dafür heiraten?“ Er lachte grell auf, und mit einer herrischen Bewegung wies er nach der Tür. „Unsere Unterredung ist zu Ende!“
Annuschka, die in diesem Augenblicke fühlte, daß sie ihr Spiel verloren hatte, sah ein, daß jeder Versuch, Viktor zu beschwichtigen, fruchtlos war. Sie erhob sich und schritt stumm der Tür zu. Beim Ausgang sah sie sich noch einmal mit einem Blick, aus dem tiefes Herzweh sprach, nach ihm um und sagte leise: „Viktor, was ich getan habe, tat ich nur aus übergroßer Liebe zu dir.“
Viktor war an das Fenster getreten und würdigte sie keines weiteren Blickes.
Gebrochen wankte Annuschka die Treppe hinab. Planlos irrte sie durch die Straßen. Wohin sollte sie gehen? Sie hatte jetzt kein Heim mehr. Einen Augenblick dachte sie daran, sich bei Saleski Rat zu holen, wie sie es versprochen hatte, aber auch diesen Gedanken verwarf sie. Sie fühlte es — Saleski war eine ihr treu ergebene Seele, aber sie war zu stolz, um sich vor ihm zu demütigen.
Sie schlich noch durch ein paar Straßen, und mancher mitleidige Blick der Vorübergehenden streifte das junge Mädchen, auf dessen Gesicht die Verzweiflung so deutlich ausgeprägt war.
Plötzlich mußte sie sich an ein Haus lehnen. Vor ihren Augen wurde es dunkel, sie hörte ein fernes Klingen und Rauschen.
Im nächsten Augenblick brach sie ohnmächtig zusammen. Vorübergehende hoben sie auf und trugen sie in eine Gaststube, wo sich ein paar Frauen um sie bemühten. Ein rasch herbeigeholter Arzt ordnete an, daß das unbekannte Mädchen in ein Krankenhaus gebracht werden sollte.
Fünfzehntes Kapitel
Herrn von Poranskis Zorn war, nachdem Annuschka sein Zimmer verlassen hatte, so schnell verraucht, wie er gekommen war. Um so stärker war der Rückschlag auf seine Nerven, die Verzweiflung packte ihn.
Viktor fragte sich, welche Folgen die unzweideutige Abfertigung Annuschkas für ihn haben würde, Das schlimmste war, daß das leidenschaftliche Mädchen zu dem Notar ging und einen sofortigen Haftbefehl gegen ihn zu erwirken suchte, aber Viktor glaubte annehmen zu dürfen, daß Jedlinski dem Notar keine so weitgehende Vollmacht gegeben habe.
Und Jedlinski? Mit dem wollte er schon fertig werden. Der Gesellschaftskodex bot ihm ja ein sicheres Mittel, um sich dieses lästigen Gegners zu entledigen. Er wollte Jedlinski vor seine Pistole fordern. Eine Veranlassung zu einer Herausforderung würde sich schon finden lassen, und auf seine Treffsicherheit konnte sich Viktor verlassen.
Es kam nur darauf an, daß er Jedlinski heute noch stellen konnte. Dann war morgen früh, eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang, die ganze Angelegenheit erledigt. In diesem Falle konnte ihm selbst das Bekanntwerden der letztwilligen Verfügung des Oheims, durch die Jedlinski als Erbe eingesetzt wurde, nicht mehr schaden, denn dann war er, Viktor, der einzige Anwärter auf Chmilowo. Wie die Gesellschaft darüber urteilen würde, das war ihm jetzt gleichgültig.
Viktor sah auf die Uhr. Wenn er heute noch einen Zusammenstoß mit Jedlinski herbeiführen wollte, dann war es die höchste Zeit. Vielleicht traf er Jedlinski im Hause seiner Mutter. Es war ihm zwar unangenehm, dort eine aufregende Szene heraufzubeschwören, aber er schreckte auch davor nicht zurück. Traf er ihn dort nicht, dann mußte er sich dazu entschließen, nach Bninki hinauszufahren.
***
Jedlinski war mittlerweile zum Notar geeilt, der ihn durch ein dringendes Telegramm von dem Besuch Annuschkas und der Auffindung der in Verlust geratenen Dokumente in Kenntnis gesetzt hatte.
Nicht ohne eine gewisse innere Erregung nahm er die Papiere zur Hand, die ihn berechtigten, sich nun vor aller Welt Stanislaw von Poranski zu nennen. Es war ein gewichtiges Paket. Außer vielen Briefen seines Vaters und seiner Mutter enthielt es den Trauschein seiner Eltern, der im Zusammenhang mit dem Taufschein jeden Zweifel über seine legitime Abstammung ausschloß.
Nur mit halbem Ohre hörte jetzt Stanislaw der Erzählung des Notars zu, wie Annuschka in den Besitz dieser Papiere gekommen sei. Der alte Herr von Poranski hatte sie während seiner Krankheit einmal an den Schrank geschickt, um sich ein Päckchen Briefe herausholen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit erklärte er ihr den Mechanismus des Schlosses. Als ihr der Schloßherr dann später in seinen Fieberphantasien überraschende Andeutungen über ihre Abstammung machte, kam sie auf den Gedanken, daß in dem Schrank Papiere sein müßten, die ihre Herkunft aufhellen könnten. Nach dem Tode des Herrn von Poranski wurde ihr das Ledertäschchen mit den Schlüsseln übergeben, das man bei dem Toten gefunden hatte. Wie ein Fingerzeig des Schicksals war ihr das gewesen, und nun konnte sie der Versuchung nicht länger widerstehen. In einem Augenblick, in dem sie keine Überraschung zu fürchten hatte, öffnete sie den Schrank und griff unter den Papieren ein Paket heraus.
„Der Inhalt hat sie natürlich enttäuscht“, fuhr der Notar fort. „Sie wollte die Papiere in den Schrank zurücklegen, scheute sich aber, das Zimmer noch einmal zu betreten. Sie hat leider auch nicht den Mut gehabt, uns den Besitz der Papiere einzugestehen, als ich sie nach der Testamentseröffnung zum Schrank rufen ließ. Nun —, wir wollen froh sein, daß die Papiere in die richtigen Hände gekommen sind. Ich habe ihr in Ihrem Namen Straflosigkeit zugesichert. Aber jetzt, mein lieber Freund, will ich Sie nicht länger aufhalten. Ich sehe, daß Sie vor Ungeduld brennen, diese wichtige Nachricht Ihrer Braut mitzuteilen.“
Freude und Jubel im Herzen, fuhr Stanislaw zu Helene. Als er vom Schlitten stieg und eben das Haus seiner Braut betreten wollte, sah er sich plötzlich — Viktor gegenüber.
Viktor hatte soeben in der Wohnung seiner Mutter angefragt, ob Herr Jedlinski anwesend sei, und sich dann sofort zurückgezogen, als er von dem Diener einen verneinenden Bescheid erhielt, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, seine Mutter zu sprechen.
Die beiden Herren grüßten einander mit gemessener Höflichkeit. Jedlinski konnte einen Blick der Verwunderung über das plötzliche Erscheinen Viktors, den er noch immer in Italien vermutet hatte, nicht unterdrücken. Nun trat Viktor auf ihn zu.
„Ich muß Sie um eine Unterredung bitten“, sagte er, „die Straße ist dafür nicht der geeignete Ort. Ich schlage vor, daß wir uns in einer Viertelstunde im Adelsklub treffen.“
Stanislaw verbeugte sich zustimmend. Er glaubte den Zweck der Unterredung zu ahnen und wollte der Aufforderung Viktors Folge leisten.
Aber soviel Zeit wollte er sich noch nehmen, Helene von seinem und ihrem Glück in Kenntnis zu setzen.
Er eilte die Treppe hinauf und war über Helenes bleiches Aussehen sehr beunruhigt. Der Zustand der Mutter hatte sich verschlimmert. Die Nachricht, daß Viktor im Hause gewesen sei, sich nach Stanislaw erkundigt und sich bald wieder entfernt habe, ohne auch nur nach ihr zu fragen, hatte sie tief erschüttert.
Als Stanislaw seiner Braut die Freudenbotschaft mitteilte, daß die Dokumente über seine Abstammung gefunden seien und seiner Heirat nun auch vor der Welt nichts mehr im Wege stehe, schmiegte sich Helene zärtlich an ihn und sah ihm ängstlich fragend ins Gesicht. Sie hatte das Zusammentreffen der beiden vor dem Hause von ihrem Fenster aus beobachtet und konnte eine quälende Unruhe nicht loswerden.
„Was wollte Viktor von dir?“ fragte sie zaghaft, und ihre Stimme zitterte leise.
„Du kannst ganz ruhig sein, mein Lieb“, sagte Stanislaw. „Unsere geschäftliche Auseinandersetzung, die durch die Verhältnisse notwendig geworden ist, wird keinen für ihn unangenehmen Verlauf nehmen. Viktor wird zweifellos die Gelegenheit benutzen wollen, ein erträgliches Verhältnis mit mir anzubahnen. Vielleicht bringe ich ihn sogar mit mir. Es muß doch möglich sein, ihn mit der Mutter auszusöhnen.“
Einige Minuten später stand Stanislaw in einem Zimmer des Adelsklubs Viktor gegenüber. Er wollte sich ihm als Vetter vorstellen und ihm von der Auffindung seiner Papiere Mitteilung machen, da er annahm, daß Viktor der Tat Annuschkas völlig fernstehe.
Viktor unterbrach ihn gleich beim ersten Wort in herausfordernder Weise. Er sei es, der ihn zur Unterredung aufgefordert habe, und ihm stehe deshalb das erste Wort zu.
„Ich möchte von Ihnen, Herr Jedlinski“, sagte er, „Aufklärung haben über ein meine Familie beleidigendes Gerücht, das in der Stadt umgeht. Ich habe gehört, daß Sie in meiner Abwesenheit sich meiner Schwester genähert haben, daß Sie täglich im Hause meiner Mutter verkehren, ja es wird sogar behauptet, daß Sie es gewagt haben, um die Hand meiner Schwester anzuhalten.“
„Ja, ich habe es gewagt!“ sagte Stanislaw mit vornehmer Ruhe. „Ich kann Ihnen sogar mit aller Bestimmtheit mitteilen, daß ich der Verlobte Ihrer Schwester bin und möchte Sie nur noch bitten, daß Sie mich nicht weiter als Jedlinski anreden. Ich bin Ihr Vetter Stanislaw von Poranski, der rechtmäßige Sohn Ihres Onkels Wratislaw von Poranski. Den Namen Jedlinski habe ich auf Wunsch meines Vaters geführt, der mir durch Beilegung dieses bürgerlichen Namens ein besseres Fortkommen in dem demokratischen Amerika zu sichern glaubte. Dieser Grund fällt nun weg, und ich kann Ihnen die Dokumente vorlegen, aus denen ersichtlich ist, daß ich zur Führung des Namens Stanislaw von Poranski auch vor dem Gesetze berechtigt bin.“
„Diese Namensänderung ist mir sehr gleichgültig. Sie haben eben zugestanden, daß Sie sich um meine Schwester beworben haben, obwohl Sie wußten, daß auf Ihrer Geburt ein Makel lag. Das ist eine Infamie, die eine Züchtigung verdient.“
Blitzschnell erhob er die Hand zum Schlage. Aber noch ehe sie ihr Ziel erreichte, hatte Stanislaw den erhobenen Arm gepackt. Mit eiserner Kraft, deren Druck Viktor schmerzhaft empfand, drückte Stanislaw ihn nieder, bis sein Gegner vor ihm auf die Knie sank. Dann ließ er seinen Arm los, sah Viktor verächtlich ins Auge und wollte das Zimmer verlassen.
Mit vor Wut bebender Stimme rief Viktor ihm nach:
„Sie vergessen, mir Ihre Adresse zu hinterlassen, damit ich Sie zur Rechenschaft ziehen kann.“
„Ich bin hier im Klub zu finden“, sagte Stanislaw kurz.
Beim Verlassen des Zimmers stieß er auf den Grafen Malczeski. Er hielt ihn an, teilte ihm mit, daß Viktor von Poranski ihn soeben in der gröbsten Art beleidigt habe und bat den Grafen, ihm als Kartellträger zu dienen. Über die Ursache des Zwistes, die rein persönlicher Natur wäre, könnte er ihm nichts mitteilen. Er würde auch auf jeden Fall ein Ehrengericht ablehnen.
Wenige Minuten später erschien in einem Zimmer des Klubs, in das sich Stanislaw zurückgezogen hatte, ein Graf Wolski und überbrachte Viktors Forderung. Sie lautete auf die schwersten Bedingungen: Gezogene Pistolen, zehn Schritt Barriere, Kugelwechsel bis zur Abfuhr.
Ohne Zögern erklärte Stanislaw die Annahme der Bedingungen. Die Sekundanten verabredeten auf der Stelle Ort und Zeit des Zweikampfes. Eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, lag das Gut des Grafen Wolski; eine Lichtung mit hohem Kiefernbestand war zum Ort des Zusammentreffens, das für den frühen Morgen des nächsten Tages verabredet wurde, ausersehen.
Stanislaw gab seinem Sekundanten noch das Hotel an, wo er für die Nacht abzusteigen gedachte, bat ihn, morgen früh pünktlich zur Stelle zu sein, und entfernte sich mit freundlichem Dank.
Unterwegs versuchte er, seine Gedanken zu sammeln. Je mehr er nachdachte, desto wahrscheinlicher wurde es ihm, daß Viktor die Szene nur provoziert hatte, um sich durch die Pistole eines Gegners zu entledigen, der ihn jetzt nach seiner Legitimierung als ebenbürtiger Vetter in seinem Besitz von Chmilowo bedrohte.
Ein bitteres Gefühl stieg in ihm auf. Wie dicht liegen im menschlichen Leben höchstes Glück und tiefstes Elend beieinander! Noch vor einer Stunde konnte er sich für einen Günstling des Schicksals halten, dem das Leben ein reiches, volles Glück an der Seite eines schönen, geliebten Weibes versprach. Und jetzt zeigte es ihm den sicheren Tod in weniger als vierundzwanzig Stunden.
Alles, was ihn an das Leben fesselte, bäumte sich dagegen auf.
Sechzehntes Kapitel
Stanislaw war in dem Hotel angekommen, das er seinem Sekundanten angegeben hatte. Er hatte sich ein Zimmer anweisen und Schreibmaterial geben lassen und saß nun am Tisch, das weiße Papier vor sich, die Feder in der Hand und suchte seine Gedanken zu sammeln, um seine letzten Anordnungen treffen zu können. Das Gut Bninki sollte natürlich Helene erhalten. Weiter hatte er ja nichts zu vergeben.
Mit schnellen, kraftvollen Schriftzügen, denen man nicht die seelische Erregung anmerkte, schrieb er seinen letzten Willen nieder. Nun war er mit seinen Vorbereitungen fertig. Den Abschiedsbrief an Helene wollte er erst nachts schreiben. Dann besann er sich aber. Womit sollte er die langen Stunden bis zum Abend ausfüllen? Einen Augenblick kam ihm der Gedanke, sich eine Pistole zu kaufen und nach seinem Gute zu fahren, um sich dort in der Handhabung einer Schußwaffe zu üben. Sofort verwarf er aber diese Absicht. Die Fertigkeit, die er sich in den wenigen Stunden aneignen konnte, kam doch einem solchen Gegner gegenüber wirklich nicht in Betracht.
Er setzte sich wieder an den Tisch und schrieb einen langen Abschiedsbrief an Helene. Er dankte ihr für das Glück, das ihre Liebe ihm geschenkt, für die Hochherzigkeit, mit der sie ihn in einer Zeit, wo seine Abstammung noch nicht aufgeklärt war, vor aller Welt als Vetter begrüßt hatte.
Ein grausames Geschick, das er abzuwehren nicht imstande sei, habe ihn für den Tod bestimmt. Sie möge ihm in ihrem Herzen ein Plätzchen liebevoller Erinnerung aufbewahren.
Dann überlegte er, ob er nicht die Nachmittagsstunden bei ihr verleben könnte. Doch den Gedanken gab er gleich auf. Er würde nicht die Kraft haben, ihr seine Stimmung zu verbergen. Und selbst, wenn ihm das gelang, würde er sich nur den Abschied vom Leben erschweren. Nein. Aber er wollte sie wenigstens mit einigen liebevollen Worten über sein Ausbleiben beruhigen.
Er setzte sich hin und schrieb einige Zeilen, die er mit seinem Kutscher in ihre Wohnung schickte. Dann befahl er, den Schlitten anzuspannen und fuhr nach Bninki. Dort ließ er sich den Verwalter rufen und sagte ihm offen, daß er morgen früh einen Zweikampf zu bestehen habe. Falle er, dann gehöre das Gut seiner Cousine Helene von Poranska.
Stanislaw übergab seinem Verwalter das Schriftstück, in dem sein letzter Wille niedergelegt war. Das Dokument sollte dem Notar übergeben werden, falls er im Duell falle.
In das festliche Gewand seines Standes gekleidet, das er am Wohltätigkeitsball getragen, fuhr Stanislaw dann nach der Stadt zurück. Er wollte den Notar aufsuchen, um noch einige Stunden mit ihm zuzubringen.
Der Notar betrachtete ihn erstaunt, als er in der festlichen Tracht ins Zimmer trat. Er glaubte, daß Stanislaw seinen Glückstag im Adelsklub mit seinen Standesgenossen feiern wollte. Um so überraschter war er, als Stanislaw ganz unvermittelt fragte, ob er den Abend in des Notars und des Doktors Gesellschaft verleben dürfe. Erfreut sagte der Notar zu.
Für einen Augenblick trat die Versuchung an Stanislaw heran, mit einem Wort sein Leben zu erkaufen. Er brauchte den Notar nur aufzufordern, unverzüglich gegen Viktor vorzugehen, dann war er von aller Gefahr befreit. Noch in der Nacht würde Viktor verhaftet werden. Damit würde nicht nur für jetzt, sondern für immer der Austrag des Zweikampfes verhindert sein.
Der Notar las den inneren Kampf auf dem Gesicht Stanislaws. Er deutete ihn falsch.
„Wenn Sie den Abend lieber in der Gesellschaft Ihrer Standesgenossen verbringen wollen, Herr von Poranski“, sagte er, „so soll Sie die Rücksicht auf Ihre alten Freunde nicht zurückhalten. Ich verstehe es sehr gut, daß Jugend nach Jugend verlangt.“
Aber Stanislaw nahm ungestüm den Arm des Notars.
„Wir bleiben heute beisammen, lieber Herr Kolakowski“, sagte er. „Ich wüßte nicht, wo ich diesen Abend besser verbringen könnte.“
Im Augenblick, wo sie sich zum Gehen anschickten, meldete der Diener Herrn Saleski an. Er müsse dringend den Notar sprechen.
„Wir müssen ihn noch anhören. Er hat sicherlich eine wichtige neue Tatsache mitzuteilen“, meinte der Notar.
Saleski trat bei dem Notar ein. Er schien in großer Erregung. Nachdem er Stanislaw flüchtig begrüßt hatte, wandte er sich an ersteren mit der Frage: „Haben Sie Nachrichten von Fräulein Annuschka?“ Der Notar zuckte die Achseln. „Ich habe das Fräulein seit heute morgen nicht gesehen. Wie Sie wissen, hat sie mit meiner Zustimmung den Versuch unternommen, Herrn Viktor von Poranski zu einem Geständnis und, wenn möglich, zur Herausgabe des dem Diener Fedor abgenommenen Briefes zu bewegen. Ich nehme an, daß sie ihr Ziel erreicht hat, denn wäre ihre Mission mißglückt, so hätte sie schon etwas von sich hören lassen. Herr Viktor von Poranski und Fräulein Annuschka feiern in diesem Augenblick vielleicht ihre Versöhnung. Ihre Aufgabe, lieber Saleski, ist nun zu Ende. Herr Stanislaw von Poranski stimmt mit mir darin überein, daß wir mit Rücksicht auf den Skandal, den diese Geschichte auswirbeln müßte, von einer Verfolgung der beiden Schuldigen absehen wollen..“
„Was ist Ihnen?“ fuhr der Notar fort, als er sah, daß eine tiefe Blässe Saleskis Gesicht überzog. „Ihre Belohnung sollen Sie ungekürzt erhalten. Sie haben uns sehr wertvolle Dienste geleistet.“
„Auf die Belohnung würde ich gern verzichten“, sagte Saleski etwas erregt. „Aber wenn Herr Stanislaw von Poranski so großmütig ist, zu verzeihen, so kann mich das nicht davon abhalten, den Verbrecher Viktor von Poranski der strafenden Gerechtigkeit zuzuführen. Ich werde unverzüglich dafür sorgen, daß Herr von Poranski hinter Schloß und Riegel gesetzt wird.“
Er wandte sich zum Gehen. Stanislaw vertrat ihm den Weg.
„Sie werden das nicht tun. Ich verbiete es Ihnen. Durch eine unglückselige Verkettung von Umständen, über die ich nichts Näheres sagen kann, bin ich gezwungen, bis morgen vormittag keinen bindenden Entschluß zu fassen. Ich bitte auch Sie persönlich, bis dahin nichts zu unternehmen. Dann wollen wir noch einmal über die Sache sprechen. Vielleicht werde ich mich bis dahin zu Ihrer Sache bekehren. Sollte ich durch einen unglückseligen Zufall verhindert sein, dann wird der Herr Notar Ihnen näheren Bescheid sagen.“
„Ihre Belohnung“, so bemerkte Stanislaw zu Saleski weiter, „sollen Sie gleich ausgezahlt erhalten. Ich will sie zum Zeichen meiner Dankbarkeit verdoppeln. Es ist nur das äußere Zeichen meiner Dankbarkeit. Persönlich bin ich Ihnen für die Energie und Umsicht, mit der Sie in die dunklen Vorgänge beim Tode meines Vaters Licht gebracht haben, zu ewigem Dank verpflichtet und bleibe Ihr Schuldner.“
Er reichte Saleski die Hand und drückte sie kräftig. Der Notar hatte sich an den Schreibtisch gesetzt und eine Anweisung an die Bank ausgeschrieben. Mit gleichgültiger Miene nahm Saleski das Papier in Empfang.
Auf der Straße rief er einen Schlitten an und ließ sich zur Polizeidirektion fahren. Aufschub? Nein — die Sache duldete keinen Aufschub, dem Verbrecher durfte keine Zeit zur Flucht gelassen werden. Der Gedanke an Annuschka verließ ihn keinen Augenblick. Es war kein unedles Gefühl, das ihn die weitere Verfolgung des Herrn Viktor von Poranski mit aller Energie und gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Auftraggebers annehmen ließ. Er sagte sich, daß Annuschka an der Seite dieses Mannes niemals glücklich werden könne, und daß er vielleicht ein gutes Werk tat, wenn er eine gewaltsame Trennung herbeiführte.
Auf der Polizeidirektion ließ er sich zum wachthabenden Offizier führen. Er hatte auf seine Karte geschrieben, daß er im Auftrage des Notars Kolakowski in einer sehr dringenden Angelegenheit käme. Nach den ersten einleitenden Worten, es handle sich um die Aufdeckung einer Erbschleicherei, die auf Schloß Chmilowo verübt worden sei, ließ der Offizier die anwesenden Kriminalbeamten zu sich bitten.
Mit knappen Worten schilderte Saleski die ganze Sache. Er ersuchte, Herrn Viktor von Poranski, für dessen Schuld zahlreiche Beweise vorhanden seien, sofort zu verhaften. Herr von Poranski sei nur vorübergehend und zu kurzem Aufenthalt in Lemberg anwesend, um bei Geldleuten eine erhebliche Summe auf sein Majorat aufzunehmen. Er sei in einem abgelegenen Hotel abgestiegen, um seinen Bekannten aus dem Wege zu gehen. Die Annahme wäre nicht von der Hand zu weisen, daß er sich durch die Flucht ins Ausland seiner Bestrafung entziehen wolle. Er schilderte Stanislaw von Poranski als einen sehr edlen Charakter, der als naher Verwandter ein Interesse daran habe, daß das Verbrechen Viktors ungesühnt bleibe. Er habe Stanislaw im Verdacht, daß er Viktor von Poranski zur Flucht verhelfen wolle, da er in Gegenwart des Notars es ihm direkt verboten habe, bis morgen vormittag etwas gegen Viktor von Poranski zu unternehmen.
Der Polizeioffizier überlegte. Er scheute sich, gegen den Angehörigen eines alten, hochangesehenen Adelsgeschlechtes in so schroffer Form vorzugehen. Andererseits kannte er Saleski als einen sehr klugen und weitblickenden Kriminalbeamten, und er mußte annehmen, daß Saleski im Einverständnis mit dem Notar vorgehe.
Erst nach längerem Zögern und nachdem Saleski versichert hatte, daß er die volle Verantwortung übernehme, setzte sich der Beamte an den Schreibtisch und fertigte den Haftbefehl aus, gab aber gleichzeitig den Kriminalbeamten den Auftrag, die Verhaftung in möglichst unauffälliger Form zu vollziehen, um jedes Aufsehen zu vermeiden.
Saleski und seine Begleiter fuhren zunächst vor dem Hotel vor, in dem Herr Viktor von Poranski abgestiegen war. Vom Portier erfuhren sie, daß der Gesuchte gegen Abend einen Augenblick in seinem Zimmer gewesen und dann fortgegangen sei.
Die Beamten legitimierten sich und wurden in Viktors Zimmer hinaufgeleitet. Eine Durchsuchung der Briefschaften Viktors ergab zwar nicht die Auffindung des Briefes des verstorbenen Wratislaw von Poranski — Viktor hatte diesen Brief kurz vorher verbrannt —, dagegen fand sich im Koffer des Herrn von Poranski ein anderes, sehr interessantes Beweisstück: eine Brieftasche aus rohem Leder, wie sie die Leute aus dem Volk zu tragen pflegen. Aus den Erzählungen der Schloßdienerschaft wußte Saleski, daß der alte Fedor eine solche Brieftasche zur Aufbewahrung der ihm übergebenen Schriftstücke ständig bei sich trug. Im Gefühl der Sicherheit mußte Viktor von Poranski vergessen haben, diesen verräterischen Gegenstand beiseitezuschaffen.
„Meine Herren, die Haussuchung ist nicht ergebnislos verlaufen“, sagte Saleski triumphierend, indem er die Brieftasche an sich nahm. „Nun haben wir an diesem Ort nichts mehr zu suchen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.“
Einige Augenblicke später verließen die Beamten mit Saleski das Hotel.
Der Detektiv gab dem Kutscher des Schlittens den Auftrag, unverzüglich nach dem Adelsklub zu fahren.
Der Klubdiener zuckte die Achseln, als Saleski ihm seine Karte überreichte und Herrn von Poranski zu sprechen wünschte. Er hatte durch sein Logenfenster gesehen, daß noch zwei weitere Herren aus dem Schlitten gestiegen waren, die sich jetzt im Hintergrund hielten. Das machte ihn mißtrauisch.
„Herr von Poranski war noch vor einer Stunde hier“, sagte er. „Er ist dann mit einigen Freunden weggegangen.“
Während er antwortete. hatte er sich unauffällig auf den Tisch gestützt. Seine Hand suchte den elektrischen Knopf, der in allen Spielzimmern eine Alarmglocke in Bewegung setzte. Der Besuch konnte doch nichts anderes bedeuten, als den Versuch, in die Geheimnisse dieser Zimmer einzudringen. Aber gegen derartige Überraschungen waren Vorkehrungen getroffen.
Saleski war die Handbewegung des Klubdieners nicht entgangen. Mit einem Blick rief er die Kriminalbeamten heran, die sich sofort legitimierten. Höflich, aber mit einem kaum merkbaren Lächeln geleitete der Klubdiener die drei Herren durch die Zimmer. Er wußte, daß die Spieler schon lange, ehe die Besucher eintraten, bei einem harmlosen Kartenspiel sitzen würden.
Saleski war erstaunt, als er die Zimmer leer fand. Nur einige alte Herren, die sich in ihrer Partie nicht stören ließen, saßen da.
Mit einem enttäuschten Blick wandte sich Saleski an seine Begleiter.
„Es bleibt uns jetzt nichts anderes übrig“, flüsterte er ihnen zu, „als aufs Geratewohl die Stadt nach Herrn von Poranski zu durchsuchen. Eine undankbare und wenig aussichtsvolle Aufgabe!“
Stundenlang fuhr Saleski mit den Beamten nach verschiedenen Restaurants und Vergnügungslokalen, in denen er mit einiger Wahrscheinlichkeit Viktor von Poranski treffen konnte. Doch alle Bemühungen waren vergebens. Erst gegen Morgen stand Saleski von der fruchtlosen Verfolgung ab.
Siebzehntes Kapitel
Der Notar hatte mit Stanislaw von Poranski das Lokal aufgesucht, in dem sie Doktor Dubois treffen wollten.
Der Platz ihres alten Freundes war noch leer, als sie eintraten. Erst nach einiger Zeit erschien der Arzt, in dessen Augen sich freudiges Erstaunen aussprach, als er Stanislaw erblickte. Mit einer ungewöhnlichen Herzlichkeit begrüßte er die beiden Herren und nahm dann seinen Platz ein. Dabei sah er den Notar fragend an. Kolakowski faßte aber den Blick falsch auf.
„Ja, Doktor, du kannst unserem jungen Freunde Glück wünschen. Wir haben heute die Dokumente über seine legitime Geburt in Händen. Er heißt fortan Stanislaw von Poranski. Es ist sogar nicht unmöglich, daß wir auch den Brief seines Vaters, der unseren Freund zum Majoratsherrn von Chmilowo macht, morgen früh besitzen werden.“
Da begann er zu erzählen, was sich am Tage ereignet hatte. Als er zu Ende war, fragte Dubois mit seltsamer Betonung, ob er ihm nicht noch etwas mitzuteilen habe. Kolakowski lachte.
„Du bist sehr anspruchsvoll! Ich denke, was sich ereignete, ist für einen Tag doch gerade genug.“
„Wie man`s nimmt“, meinte der Doktor. „Ich an deiner Stelle würde die Wünsche unseres jungen Freundes nicht berücksichtigt und noch einen weiteren Schritt unternommen haben. Verzeihen Sie, lieber Herr von Poranski, aber daß Ihr Vetter Viktor ungestraft davonkommen soll, halte ich für eine Sünde an Ihrem verstorbenen Herrn Vater.“
Mit Mühe nur vermochte Stanislaw den alten Herrn zu beruhigen. Als Herr von Poranski einen Augenblick an das Büfett ging, um sich einige Zigarren auszusuchen, beugte sich Doktor Dubois zu seinem Freund hinüber und flüsterte ihm leise zu: „Hast du denn nichts davon gehört? Stanislaw hat morgen früh mit seinem Vetter ein Duell!“
Der Notar war bleich geworden.
„Unmöglich!“ stieß er hastig hervor. „Er hat mir nicht die leiseste Andeutung gemacht.“
In großer Erregung fuhr der Arzt fort:
„Ich wurde heute abend zu einem erkrankten Diener in den Klub gerufen. Da traf ich auch den Grafen Wolski. Er bat mich, morgen bei dem Duell zwischen Viktor und Stanislaw von Poranski als Arzt zu fungieren. Wenn du als Fernstehender es irgend vermagst, diesen Zweikampf, der den sicheren Tod unseres Freundes bedeutet, zu verhindern, so mußt du es tun.“
Stanislaw trat wieder an den Tisch, und das Gespräch mußte abgebrochen werden.
Trotzdem sich Stanislaw alle Mühe gab, eine lustige und harmlose Stimmung aufkommen zu lassen, geriet das Gespräch an diesem Abend doch jeden Augenblick ins Starken. Keiner wollte dem anderen seine innersten Gedanken verraten. Das nahende Verhängnis lag wie ein Bann über diesen drei Menschen, und Stanislaw wagte es nicht, seine alten Freunde nach dem Grunde ihrer augenscheinlichen Verstimmung zu fragen. Fürchtete er doch selbst jeden Augenblick, sich zu verraten!
Er brach früher auf, als er sich vorgenommen hatte, und drückte den beiden alten Herren zum Abschied mit ungewohnter Wärme die Hand.
Gleich nach Stanislaw verließen auch der Notar und der Doktor die Weinstube. Der Arzt hatte seinen Worten nicht mehr viel hinzuzufügen. Den Schauplatz des Duells durfte er nicht verraten, aber der Notar wußte genug, um sich über die weiteren Schritte, die unverzüglich getan werden mußten, schlüssig zu werden.
Er bestieg, nachdem er sich von Doktor Dubois mit einem herzlichen Händedruck verabschiedet hatte, an der nächsten Straßenecke eine Droschke und ließ sich nach der Polizeidirektion fahren.
Derselbe Polizeioffizier, der ein paar Stunden vorher den Haftbefehl ausgestellt hatte, empfing den Notar mit sichtlicher Befriedigung. Jetzt, wo der hochangesehene Mann ihn persönlich aufsuchte, war er gegen jede Unannehmlichkeit gedeckt. Vor einigen Minuten hatte er von seinen Beamten telephonisch die Nachricht erhalten, daß ein Viktor von Poranski höchst belastendes Beweisstück in seinem Koffer gefunden worden sei.
Erstaunt vernahm der Notar, daß Saleski den Stein ins Rollen gebracht hatte.
Der Polizeidirektor gab dem Notar die beruhigende Versicherung, daß das Duell unter allen Umständen verhindert werden würde. Das einfachste wäre wohl, Stanislaw von Poranski im Hotel aufzusuchen und ihn unauffällig zu überwachen.
Der Notar trug sich im stillen mit der Hoffnung, daß diese Vorbeugungsmaßnahmen sich als überflüssig erweisen würden. Sobald Viktor erfuhr, daß die Polizei ihn gesucht habe, dann hielt er es vielleicht für das Beste, die Flucht zu ergreifen, ohne erst den Ausgang des Duells abzuwarten. Stanislaw konnte eine solche Lösung mit Rücksicht auf seine Braut nur lieb sein.
Mit einem Gefühl der Beruhigung fuhr der Notar nach Hause. Es tat ihm weh, daß er seinem jungen Freunde die große seelische Erregung dieser Nacht nicht ersparen konnte.
***
Viktor von Poranski hatte am Nachmittage noch einige Geschäftsfreunde besucht und mit Mühe einige Tausend Gulden zusammengebracht. Dann hatte er sich nach seinem Hotel begeben und dort einen Brief an den Grafen Olizarowski, den Vater seiner Braut, geschrieben.
Er teilte ihm mit, daß er sich zu seinem Bedauern aus Gründen finanzieller Natur, die er nicht näher erörtern könne, genötigt sehe, von der Verlobung mit Komtesse Fedora zurückzutreten.
Er schloß den Brief und ließ ihn sofort durch einen Diener zur Post bringen. Dann nahm er einen Fahrplan zur Hand. Er wollte, falls das Duell einen für ihn glücklichen Ausgang nahm, woran er keinen Augenblick zweifelte, sofort nach der Austragung des Ehrenhandels ins Ausland reisen, um die Duellaffäre in Vergessenheit geraten zu lassen. Auch über die Erbschaftsgeschichte würde dann wohl mit der Zeit Gras wachsen.
Im Klub erwartete Viktor eine Anzahl junger Kavaliere. Die Nachricht von dem bevorstehenden Duell hatte sich bereits herumgesprochen. Viktor hatte seinem Sekundanten mitgeteilt, daß er einen Unverschämten, der sich während seiner Abwesenheit an seine Familie herangedrängt habe, „züchtigen“ wolle. Der Mann habe sich, durch eine merkwürdige Ähnlichkeit unterstützt, bei seiner Mutter als ein natürlicher Verwandter eingeführt.
Nur bei den Freunden Viktors fand diese Darstellung Glauben. Die übrigen wußten wohl, daß Stanislaw, der sich in kurzer Zeit die allgemeine Sympathie erworben hatte, keiner schlechten Handlung fähig sei, und daß die Ansprüche. mit denen er hervorgetreten war, gesetzliche Berechtigung hatten.
Viktor hatte seine Freunde im Klub als seine Gäste erklärt und Sekt bestellt. Ein Spiel war bald im Gange. Er selbst nahm die Bank und spielte mit einem Glück, das ihm als gute Vorbedeutung erschien.
Eine Masse Gold und Papiergeld hatte sich vor ihm angehäuft. Er sah, ruhig vor sich hinlächelnd, in die aufgeregten Gesichter der um ihn stehenden Herren.
„Meine Herren, geben Sie es auf, heute gegen mich zu kämpfen. Das Glück ist heute auf meiner Seite.“
„Möge es Ihnen auch morgen früh zur Seite stehen!“ rief einer der Umstehenden.
„Ich werde mich lieber auf meine Kunstfertigkeit und meine sichere Hand verlassen“, meinte Herr von Poranski sarkastisch. „Wollen Sie eine Probe?“
In angeregter Stimmung begab sich die Gesellschaft, der eine Unterbrechung des hohen Spiels nicht angenehm war, nach dem Keller, wo neben einigen Kegelbahnen auch ein Schießstand für Pistolen eingerichtet war.
Eine Flut von elektrischem Lichte verbreitete Tageshelle. Viktor ließ sich einige Pistolen laden und schoß nach der Scheibe. Dicht bei dicht saßen die Kugeln im Schwarzen. Mit selbstzufriedenem Lächeln hörte Viktor hinter und neben sich Rufe des Erstaunens und der Bewunderung.
„Ich denke, meine Herren“, sagte er, nachdem er genügende Proben seiner Treffsicherheit gegeben hatte, „wir können ruhig dem morgigen Tage entgegensehen. Für eine Stunde will ich Ihnen noch Revanche im Spiel geben, dann gestatten Sie wohl, daß ich mich auf einem Sofa ausstrecke, um ein paar Stunden zu schlafen.“ —
Die Gesellschaft begab sich nach den Spielzimmern zurück. Während Viktor seinen Freunden auf dem Schießstand im Keller seine Treffsicherheit zeigte, war Saleski mit den Kriminalbeamten dagewesen. Der Klubdiener hielt es nicht für nötig, die Herren von dem Besuche in Kenntnis zu setzen. Die Gefahr war ja vorüber.
Erst spät am Abend zog sich Viktor in sein Zimmer zurück, das für Mitglieder, die im Klub übernachten wollten, eingerichtet war.
Achtzehntes Kapitel
Ein klarer, herrlicher Wintermorgen brach an. Im feurigen Rot strahlten die lichten Wolken, die langgestreckt im Osten standen, von den ersten Strahlen der kommenden Sonne beleuchtet.
Rasch glitt der Schlitten dahin, in dem Stanislaw von Poranski mit seinem Sekundanten, dem Grafen Malczeski saß. Mit dürstendem Blick zog Stanislaw die Eindrücke der Natur in sich ein. Vielleicht war es das letztemal, daß er die aufgehende Sonne sah.
Sein Begleiter hatte versucht, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen, aber bald rücksichtsvoll geschwiegen als Stanislaw nur einsilbig antwortete.
Stanislaw hatte in diesen letzten Augenblicken keinen anderen Gedanken als Helene. Mit ihrem Namen auf den Lippen wollte er sterben.
Hinter ihm kamen auch schon die anderen Schlitten heran, die Viktor mit seinem Sekundanten, den Unparteiischen und den Doktor brachten.
Mit einem kräftigen Handschlag begrüßte Stanislaw den Arzt. Er war im Augenblick zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um sich über die Anwesenheit des Doktors Dubois zu wundern.
Auf beiderseitigen Wunsch wurde von dem vorgeschlagenen Versöhnungsversuch Abstand genommen. Die Sekundanten schritten den Raum ab und luden die Waffen. Der Unparteiische verloste die Plätze und die Pistolen. Doktor Dubois war in großer Unruhe In fieberhafter Ungeduld sah er nach dem Schlitten aus, den er erwartete.
Die Sekundanten hatten die beiden Gegner auf ihre Plätze geleitet und ihnen die Waffe in die Hand gegeben. Der Unparteiische lüftete seinen Hut.
„Meine Herren, ich werde kommandieren: Fertig, eins, zwei, drei —!“
In diesem Augenblick schritt Doktor Dubois mit eiligen Schritten zu ihm heran.
„Ich muß um einen kurzen Aufschub bitten. Mein wichtigstes Instrument, die Sonde, ist durch einen unbegreiflichen Zufall mit Rost überzogen. Ich kann es nicht verantworten, meines Amtes zu walten. — Ich bitte um einige Minuten Zeit.“
Die Überraschung über diesen eigenartigen Vorfall, der allen Beteiligten in ihrer Duellpraxis wohl noch nicht vorgekommen sein mochte, war so groß, daß alle mit erstaunten Blicken den alten Herrn ansahen, der achselzuckend zu dem Schlitten ging, wo er den Kasten mit seinen Instrumenten ausgepackt hatte. Sie sahen ihn an einem glänzenden Gegenstand eifrig putzen.
Der Unparteiische rief die Sekundanten durch einen Blick heran. Solange der Arzt seinen Einspruch nicht zurückgezogen hatte, konnte der Zweikampf nicht vor sich gehen.
Da jagte in schneller Fahrt ein Schlitten heran. Es war der Schlitten, auf welchem der Notar in Begleitung des Polizeioffiziers den Duellanten gefolgt war. Um nicht vorzeitig bemerkt zu werden, hatten die beiden Herren für den letzten Teil des Weges statt der Landstraße einen weniger gut fahrbaren Seitenweg benutzt, und so erklärte sich ihr versagtes Eintreffen.
Der Polizeioffizier sprang heraus, gefolgt von dem Notar Kolakowski.
„Halt! Im Namen des Gesetzes! Ich verbiete den Zweikampf und erkläre Sie, Herr Viktor von Poranski, unter dem Verdacht des Raubes und der Unterschlagung eines Testaments für verhaftet.“
Stanislaw fühlte, wie es ihm dunkel vor den Augen wurde. Die Erlösung von der Gewißheit des sicheren Todes kam zu jäh. Die Pistole entfiel seiner Hand und entlud sich mit lautem Knall. Er hörte ihn nicht mehr. Von einer tiefen Ohnmacht umfangen war er umgesunken.
Viktor wußte, als der Polizeioffizier aus dem Schlitten sprang, daß er das Spiel verloren hatte. Mit einem höhnischen Lächeln umkrampfte er die Pistole. Blitzschnell hob er die Waffe und zielte auf seinen verhaßten Gegner.
Da guckte plötzlich ein anderer Gedanke durch sein Gehirn. „Lebe, wenn du kannst, für mich bist du tot!“ Waren das nicht die letzten Worte seiner Mutter gewesen? Vor ihm lag ein langes Leben voll Schmach und Schande und Kerkermauern.
Er hatte das Spiel verloren! War es nicht besser, wenn er selbst das Strafgericht an sich vollzog? Zum ersten Male in seinem Leben sagte ihm ein dunkles Gefühl, daß es nichts Höheres gibt, als die Gerechtigkeit, und daß jede Schuld unerbittlich ihre Sühne heische.
Ehe es die Umstehenden verhindern konnten, hatte Viktor die Waffe, die er eben noch gegen seinen Vetter gebrauchen wollte, gegen die eigene Stirn gerichtet und abgedrückt.
Ein Schuß krachte. Viktor von Poranski hatte sich selbst gerichtet.
***
Frau Maria von Poranska war sanft entschlummert. Helene hatte ihr einige Tage vor ihrem Tode schonend das Ableben Viktors mitgeteilt. Die alte Frau hatte diese Nachricht fast wie eine Befreiung empfunden. Nun konnte sie mit versöhnlichen Gedanken an ihren Sohn denken, und das hatte ihr das Sterben leicht gemacht.
Einige Monate später schlossen Stanislaw und Helene still den Bund fürs Leben. Nur der Notar und Doktor Dubois waren Trauzeugen bei dem feierlichen Akt. Die Jungvermählten traten sofort eine Reise ins Ausland an. Während ihrer Abwesenheit sollte das Schloß Chmilowo nach dem Wunsche des neuen Majoratsherrn ausgebaut und neu eingerichtet werden.
Stanislaw von Poranski brachte dem bisherigen Sekretär seines Vetters großes Vertrauen entgegen und bat ihn, eine Stellung als Verwalter seiner Güter anzunehmen. Saleski, nunmehr glücklicher Bräutigam Annuschkas, zögerte nicht, dieses vorteilhafte Angebot anzunehmen, da auch seine Braut sich mit der veränderten Situation ausgesöhnt hatte. Die standhafte Liebe des sonst so gefühlskalten Mannes, der in den Monaten nach dem Tode Viktor von Poranskis, in denen Annuschka eine schwere Nervenkrisis durchzumachen hatte, kaum von ihrem Krankenbett gewichen war, hatte das Herz des schönen Mädchens bezwungen. Die Liebe Saleskis half ihr, den Weg zu sich selbst zurückzufinden und die Schatten der Vergangenheit für immer aus ihrem Leben zu bannen.
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