Fritz Skowronnek Grenzkrieg


Fritz Skowronnek

Grenzkrieg

Es war ein bitterkalter Novemberabend. Im Westen war das Tagesgestirn eben unter dem Horizont verschwunden. Nur die letzten Strahlen schossen noch zum Zenit empor und färbten die dicken Wolkenmassen, die dort den Himmel deckten.

Tief unten am östlichen Himmel stand der Vollmond und schaute gleichgültig auf den müden Mann, der vom Grenzwald dem nahen Dorf zuwanderte. Mühsam stemmte der Wanderer sich gegen den Ostwind, der ihm den Atem benahm und gegen sein Gesicht die scharfen Eisnadeln warf.

Ab und zu wandte er sich um, wenn ein heftiger Windstoß Schneewolken von den Hecken und Bäumen riß und ihm ins Gesicht peitschte. Kaum hundert Schritte vor ihm lag das Dorf. Gleich vorn an der Straße ein großes Gehöft; aus den Fenstern des stattlichen Hauses strömte ihm der helle Lichtschein entgegen.

Der Jüngling biß die Zähne zusammen, die zitternd aneinanderschlugen, obwohl die Ermattung ihm den kalten Schweiß auf die Stirne trieb. Ab und zu griff er nach dem Kopf, den unter der großen Pudelmütze ein schmutziges Tuch umhüllte. Manchmal taumelte er, wie vom Schwindel gefaßt, aber mit ungewöhnlicher Energie kämpfte er gegen die Schwäche an, die ihn zu kurzer Rast im weichen Schneelager lockte. Jetzt stand er am Hoftor. Die Hunde schlugen an. Vergebens krampfte sich seine Hand um den Riegel. Seine Kraft war zu Ende. Über den zusammengesunkenen Körper warf der Wind die weiße Decke.

In der großen Wohnstube des Bauernhauses ging es gemütlich zu. In dem schwarzen Kachelofen prasselten und knallten die brennenden Birkenscheite. Auf dem Herde flackerte das Kienfeuer, bald stieg es hell empor, bald kroch es unter der Wucht eines Windstoßes in sich zusammen.

In der Mitte des großen Raumes saßen die Margellen am Spinnrocken. Vor jeder hing in mannshohem Gestell ein „Schibber“, ein meterlanges, dünnes Tannenscheit, das mit heller Flamme brannte. Auf der Ofenbank saßen die beiden Knechte und spalteten aus den im Rauchfang gedörrten Blöcken die dünnen, fingerbreiten Scheite. Am weißgescheuerten Eßtisch in der Ecke strickte die Hausfrau, eine stattliche Witwe, bei dünnem Talglicht eifrig an einem langen Strumpf.

Gegen das Hoftor stürmten die Hunde. „Willst du nicht nachsehen, Jons, weshalb die Köter bellen?“

Der alte Knecht erhob sich mürrisch von der Bank.

„Gute Herrin, wozu, wenn ich fragen darf? Wer soll jetzt zu uns kommen?“

„Auf Leute aus dem Dorf bellen die Hunde nicht.“

„Eben darum, Herrin, meine ich, brauche ich gar nicht nachzusehen.“

Frau Joneleit antwortete nicht mehr, ein Wink mit dem Finger —, der Knecht sprang hinaus. Im nächsten Augenblick war er zurück.

„Abrys, Annutte, helft, kommt schnell, am Hoftor liegt ein erfrorener Mann im Schnee!“

Sie trugen ihn hinein und legten ihn auf die Ofenbank. Ein Hund leckte ihm die herabhängende Hand. Annutte brachte einen Korb voll Schnee.... Damit rieben sie ihm Gesicht, Hände und Brust, bis er die Äugen aufschlug.

Einen Augenblick sah er verstört um sich, dann warf er sich mit einem plötzlichen Ruck von der Bank auf die Knie und ergriff den Rock der Hausherrin.

„Goldne, gute Frau, ich küsse deine weißen Hände, schütze mich, verbirg mich vor den russischen Bluthunden!“

„Weshalb bist du ausgerückt?“

„Meine süße Herrin, weshalb fragst du? Ob ich dies sage oder jenes, wirst du es mir nicht glauben... o rettet mich doch…“

Er sah wild von einem zum anderen, dann sprang er auf und wollte zur Tür. Er kam nicht weit; nach dem zweiten Schritt brach er zusammen.

„Dem täte besser, im Bett zu liegen, als Geschichten zu erzählen“, brummte der alte Jons.

„Du hast recht, Alter“, erwiderte die Hausfrau, „komm, Jons, hilf mir, ihn tragen.“

Während der Fremdling in dem kleinen Schlafzimmer, neben der Wohnstube, zu Bett gebracht wurde, spannen die Mädchen ihre Vermutungen.

„Hast du seine weißen Hände und die kleinen Füße gesehen?“

„Gewiß! Das ist ein Herrensohn, einer von den polnischen Schlachzizen.“

„Und das Gesicht wie Milch und Blut!“ — Jetzt kam Jons zurück.

„Laßt eure Mühlen nicht so laut klappern, sondern setzt einen Topf mit Wasser ans Feuer!“

„Ist er aufgewacht? Hat er gesprochen?“

„Die Frau wird euch gleich die Antwort sagen, wenn ihr nicht still seid!“

Das half. Annutte erhob sich, legte Holz nach und setzte Wasser auf. Die anderen steckten sich neue Schibber an und fingen wieder an zu spinnen. Ab und zu flüsterten sie sich halblaut eine Bemerkung zu, während ihre Augen von der Arbeit zu der Kammer wanderten, wo der Jüngling sich in wirrem Fiebertraum in den hochgetürmten Kissen umherwarf.

Er war mitten im Kampfgetümmel, kommandierte, fluchte und schlug mit den Händen um sich. Manchmal griff er nach der Binde am Kopf und stöhnte.

Frau Enute hatte versucht, ihm das Tuch abzunehmen, aber dann stöhnte der Kranke und wehrte sich dagegen, denn die schmutzige Leinwand war mit dem geronnenen Blut zusammengetrocknet. Endlich gelang es der Frau, mit Hilfe von warmem Wasser das Tuch loszuweichen.

Mitten über den Kopf zog sich eine augenscheinlich von einem Säbelhieb herrührende Wunde; die geschwollenen Ränder klafften weit auseinander. Sorgfältig wurde die Wunde mit warmem Wasser gereinigt, dann ließ sich Frau Enute die Salbe bringen, die jedes Jahr im Mai aus heilbringenden Kräutern frisch bereitet wird. Sanft strich sie die kühlende Mischung in den klaffenden Spalt und bedeckte ihn mit alter, weicher Leinwand.

Der Kranke ließ alles ruhig mit sich geschehen, er atmete ruhiger. Inzwischen war der heiße Pfefferminztee fertig. Nur mit Widerstreben nahm der Jüngling das Getränk zu sich. Aber es tat trotzdem seine Wirkung. Immer dichter traten die Schweißtropfen aus dem zarten Gesicht hervor, das sich leicht gerötet hatte. Unermüdlich trocknete seine Pflegerin ihm das Gesicht und wehrte die Hände ab, die das schwere Deckbett zurückstreifen wollten.

Da klang neben ihr ein leichter Schritt. Ein junges Mädchen, das kaum der Schule entwachsen schien, trat hastig ein und sah aus den großen, blauen Augen teilnahmsvoll auf den Fremdling.

„Wird er gesund werden, Mutter?“ fragte sie flüsternd.

„Gewiß, Madeline, ich hoffe es; ein junger Körper verträgt viel. Aber nun geh, nimm noch ein paar Lichte raus und sag' den Mädchen, sie dürfen zu keinem Menschen darüber sprechen, daß wir einen polnischen Überläufer im Hause haben. Die Grenze ist zu nah, da konnten wir eines Nachts russischen Besuch bekommen. Wer schabbert, dem schneide ich die Zunge aus!“

Als das Gesinde Abendbrot gegessen und zur Ruhe gegangen war, wurde der Kranke in ein anderes, frisch bezogenes Bett gebracht.

Jetzt saß die Frau im bequemen Lehnstuhl an seinem Bett und strickte. Auf einem kleinen Tisch neben ihr brannte mit mühseliger Flamme das dünne Talglicht. Jons hatte sich auf der Ofenbank sein Lager gemacht und schnarchte, daß die Wände zitterten.

Langsam kroch der Zeiger der alten Uhr von Stunde zu Stunde. Frau Enute hatte den Kopf zurückgelegt. Die Augen waren ihr zugefallen. Da schreckte sie auf. Der Kranke lag ruhig, aber von draußen kam ein Geräusch, als ob ein Trupp Reiter auf der harten Straße vorbeisauste. Die Hunde schlugen an. In demselben Augenblick hatte die Frau das Licht gelöscht. Aus der Wohnstube kam Jons angetappt. „Frau, die Straschniks reiten hinter ihm.“

„Ich habe es schon gehört, Jons.“ Eine Weile horchten sie. Die Reiter hielten an.

„Jetzt fragen sie den Nachtwächter, er hat eben dicht bei uns die Stunde gepfiffen.“

Nach einer kleinen Weile stoben die Russen davon.

„Geh raus, Jons, und hör' zu, was los ist. Die Nachbarn werden auch aufgewacht sein, da wird es nicht auffallen.“ Der Alte fuhr in seine „Kürbisse“, die großen Holzschuhe, die er sich an Winterabenden eigenhändig schnitzte, und ging hinaus. Nach einer Weile kam er zurück.

„Herrin, du hast recht. Ein ganzer Pulk Kosaken ist dagewesen. Die Bande hat gedroht, das ganze Dorf niederzubrennen, wenn der Pole hier gefunden wird.“

„Was hat der Gwildis gesagt, als sie ihn fragten?“

„Er hat gesagt, wenn der Überläufer im Dorf wäre, würde es das ganze Dorf wissen, also auch er. Aber er wußte nichts. Da hat der russische Wachtmeister geflucht und gemeint, der Junge könne nicht weit gegangen sein, denn sie hätten ihn schon drei Tage gehetzt, und das könne niemand mit einem solchen Loch auf dem Schädel aushalten. Da hat der Gwildis gemeint, sie sollten ihn lieber in der Forst suchen, da würde der Mann wohl erfroren hinter einer Tanne liegen.“

„Ob sie wieder durchs Dorf zurückkommen?“

„Ich glaube, ja, denn auf den anderen Straßen reiten doch auch Straschniks hinter ihm.“

„Weißt du was, Jons, du gehst zum Gendarm und weckst ihn auf, wenn er den Spektakel noch nicht gehört hat. Und dann sagst du ihm: ich, Enute Joneleit, laß ihm sagen, er soll die Männer zusammentrommeln und die Straße sperren. Mit zwei, drei Wagen ist es gemacht. Dann halten wir die Räuber an.“

„Ach, Frau, das wird der Herr Gendarm nicht tun.“

„Dann geh ich. Das wäre ja schlimm, wenn wir uns dieser Bande nicht erwehren könnten. Die Regierung tut nichts, man erfährt nicht mal, ob einer von den Banditen bestraft wird, wenn er einen preußischen Untertan nach Rußland verschleppt, oder Menschen auf dem Felde totschießt. Wieviel Mann waren es?“

„Etwa zwölf bis fünfzehn.“

„Und davor sollen wir uns fürchten?“

Während der letzten Worte hatte die Frau unter das Bett gelangt und ein Paar Mannesstiefel hervorgeholt. Eilig fuhr sie hinein und lief hinaus.

„Du bleibst bei dem Kranken!“

An den Toren ihrer Gehöfte standen die Männer und unterhielten sich über den Vorfall.

„Was schwatzt ihr alten Weiber, anstatt zu handeln?“

„Was sollen wir denn tun, Enute?“

„Hat nicht jeder von euch eine geladene Flinte an der Wand hängen? Meint ihr, die geht bloß auf Rehböcke los?“

Die Dorfstraße entlang kam der Gendarm. Sein Helm blinkte im hellen Mondenlicht.

„Das ist ungesetzlich, Frau Joneleit, wir können nicht auf die Russen schießen.“

„So, meinst du? Wer ist hier Herr im Land? Unser König oder die russischen Banditen?“

Die Bauern traten hinzu.

„Wollt ihr euch das wirklich gefallen lassen?“ fuhr die Frau auf sie ein. „Dann kriecht in euer Bett und zieht die Decke über die Ohren.“

In den baumlangen Litauern begann sich das Blut zu regen.

„Wir wollen schon, aber wie?“

„Ist gut, ist schon gut, wenn ihr nur wollt. Hier, gerade hier, wo die Straße umbiegt, müssen wir den Weg sperren. Holt die Wagen vom Hof. Und dort auf den kleinen Feldweg müssen wir auch ein paar Wagen querüber stellen. Und sowie sie hier halten, müssen dort beim Druskus die Wagen über die Straße gestellt werden.“

Inzwischen waren immer mehr Leute dazugeströmt. Kaum hörten sie, was geschehen sollte, als sie auch schon davoneilten, um sich zu bewaffnen. Es hatte nur dieser Anregung bedurft, um den alten, durch zahllose Übergriffe der russischen Grenzsoldateska erzeugten Groll in Flammen zu setzen.

Eine Viertelstunde später schien der Mond auf eine erregte Szene. Auf der Straße kamen die russischen Reiter angesprengt. Hinter den Hoftoren sprangen die Litauer hervor und fielen den Pferden in die Zügel. Die letzten wollten ihre Gäule zur Flucht wenden, aber da rasselten zu beiden Seiten ein paar Wagen quer über die Straße und sperrten den Weg auch rückwärts.

„Reißt die Räuber vom Pferd, wer sich wehrt, wird totgeschossen!“ rief eine helle Frauenstimme dazwischen.

Nun gab's ein furchtbares Getümmel, ledige Pferde bäumten sich und rannten gegen die Zäune. Die Straschniks waren im Nu überwältigt. Einer und der andere hatte blank gezogen und einen Hieb geführt, aber ein Schlag mit dem Flintenkolben oder einer Wagenrunge bereitete seinem Kampfesmut ein jähes Ende. — Da, wo der Verhau rückwärts die Straße sperrte, hielt ein junger Reiter. Er hatte eine doppelläufige Pistole gezogen und hielt sich damit die Bauern vom Leibe. Da sprang Enute vor.

„Schießt dem Hund doch das Pferd unter dem Leibe tot!“ Drei, vier Schüsse krachten, der Gaul stürzte und begrub den Reiter unter sich. Ehe er sich erheben konnte, war er unter den Fäusten der Bauern.

„Rührt mich nicht an, ich bin ein Offizier!“

„Das ist ja noch schöner! Da wird sich dein Kaiser freuen, wenn er hört, daß du deinen Rock ausziehst, um verkleidet in ein befreundetes Land einzubrechen.“

Mit Stricken gefesselt wurden die Gefangenen in das Schulhaus geführt. Bei einer trübseligen Talgkerze saßen und lagen die Russen, zum größten Teil verwundet, auf den Bänken, wo sonst die fröhliche Jugend den Worten des Lehrers lauschte.

Sorgenvoll ging der Gendarm vor den Bänken auf und ab. Er dachte an das Gesicht des Herrn Landrats, wenn er morgen mit dem Trupp vor ihn treten würde.

Da trat Enute ein. Sie ließ sich vom Lehrer Wasser bringen und verband die gefangenen Straschniks. Als sie fertig war und gehen wollte, folgte ihr der Gendarm vor die Tür.

„Hast du auch bedacht, Enute, was du uns eingebrockt hast?“

„Wenn du dich fürchtest, geh nach Hause. Ich hol' den Schulzen und meine Knechte. Die Bande soll uns nicht entkommen.“

„Aber Frau, ich komm' in Deuwels Küche!“

„So, du Bangbür du? Ich dachte, du bist auch manchmal zu unserem Schutz da. Aber wie mir scheint, hast du nichts anderes zu tun, als uns anzuzeigen, wenn mal ein Feuereimer fehlt.“

„Ich verliere mein Amt.“

„Dann kannst du bei mir zur Arbeit kommen. Soviel trägt meine Wirtschaft noch, um dich durchzufüttern.“

„Ich sag' dir noch einmal, ich habe kein Recht, die Leute hier festzuhalten.“

„Du willst sie laufen lassen?“

„Ja! Enute, sei vernünftig! Das ganze Dorf kommt in Deuwels Küche, wenn die Geschichte bis an die Regierung geht.“

„So, meinst du? Ich meine, wir haben was Gutes getan. Sind das russische Soldaten? Räuber sind es! Kein einziger hat `ne Uniform an mit irgendeinem Abzeichen.“

„Aber sie haben doch nichts getan! Sie sind bloß durchs Dorf geritten.“

„Das wird sich schon feststellen lassen, was die Banditen sind. Der eine hat sich ja selbst als Offizier ausgegeben.“

„Siehst du! Ich habe recht. Mein Gott, mein Gott! Das wird `ne schöne Geschichte werden. Für jeden, der dabei gewesen ist, fallen mindestens ein paar Jahre Gefängnis ab. Meinst du, daß die Regierung es leiden wird, daß wir mit Rußland Krieg anfangen? Lach' nicht, Enute, ihr habt die Leute vom Pferde gerissen und sie gebunden. Und du bist der Anstifter, der Rädelsführer! Ich möchte nicht in deiner Haut stecken. Für dich wird noch was extra gebraten!“

Die Frau wurde nachdenklich.

„Die Sache läßt sich doch nicht mehr aus der Welt schaffen. Was wir uns eingebrockt, müssen wir ausessen.“

„Sag' nicht, Enute! Die Kerle werden froh sein, wenn wir sie loslassen.“

„Und wenn sie heute oder morgen nacht wiederkommen und uns die Dächer über dem Kopf anstecken?“

„Glaubst du das wirklich? Nein, Enute, du hast mal eine traurige Erfahrung gemacht und deinen Mann dabei verloren.“

„Meinst du, daß ich's vergessen kann?“

„Nein, das kann dir keiner zumuten. Aber du bist in deinem Haß gegen die Russen zu weit gegangen und hast das ganze Dorf mit dir fortgerissen. Jetzt seht, wie ihr damit fertig werdet.“

Die Straße herauf kam ein Trupp Bauern. Man hörte sie von weitem darüber streiten, was mit den Gefangenen geschehen sollte. Jetzt standen sie vor dem Schulhause. Aus dem dunklen Flur trat ihnen Frau Enute entgegen.

„Kommt rein, wir haben zu sprechen.“ Die große Stube der Lehrerwohnung füllte sich mit Männern. Geschäftig trug der Lehrer Stühle herzu, während seine Frau Gläser verteilte und aus einer mächtigen Kanne „Alaus“ einschenkte, das gelbe, schwere Bier, das jede Hausfrau damals noch zu bereiten verstand.

Donalies, der Schulze, klopfte auf den Tisch.

„Ich habe euch heute nicht mit dem Krawall geladen. Wer weiß, ob ihr auf mein Zeichen gekommen wär't, aber wenn Enute Joneleit pfeift, dann tanzt ihr!“

Enute trat aus dem Hintergrund an den Tisch.

„Donalies, dreimal haben wir dich zum Schulzen gemacht, das viertemal wird's nicht geschehen. Darauf verlaß dich, so wahr ich deiner Schwester Tochter bin! Solch ein Dorf, wie Serbenten, braucht einen Mann, aber nicht ein altes Weib!“

„Dann werden wir dich zum nächsten Mal als Schulzen wählen.“

„Das könnt ihr tun. Dann habt ihr wenigstens einen, der russische Räuber nicht ungestraft durch das Dorf reiten läßt. Ja, ich, ich bin es gewesen, die die Männer zusammengetrommelt hat. Du nicht, Donalies, du hast zu Hause hinter dem Ofen gesessen, aber deine Jungen waren dabei, der Abrys und der Erkmann!“

„Meine Jungen sind alt genug, um zu wissen, was sie tun.“

„Das meine ich auch, deshalb waren sie da, wo das ganze Dorf war.“

„Laßt doch das Streiten!“ rief der Gendarm dazwischen. „Wir haben Wichtigeres zu besprechen! Was soll mit den Straschniks geschehen? Wollt ihr sie morgen mit mir zur Stadt bringen? Wenn nicht, dann sagt, dann fahre ich noch in der Nacht zum Landrat!“

Einen Augenblick herrschte Stille im Zimmer. Dann fing Donalies an:

„Du, Enute, du hast ja den Krieg mit Rußland angestiftet, möchtest du nicht auch bestimmen, was weiter geschehen soll?“

„Wenn ihr auf mich hören wollt, warum nicht! Aber ich fürchte, daß euch allen schon wieder das Herz in die Hosen gefallen ist, weil ihr euch mal selbst geholfen habt. Ich will vertreten, was ich getan habe. Meint ihr, ich könnte es vergessen, was mir geschehen ist? Deine Tochter war es, Onkel, für die mein Mann in den Tod gehen mußte. Vielleicht wäre es besser, du hättest jetzt einen Enkel, der seinen Vater unter den Straschniken suchen muß. Der ärmste Knecht würde zuspringen, wenn eine litauische Herrentochter von einem russischen Banditen ins Roggenfeld geschleppt wird. Und das sollen wir uns gefallen lassen? Ist nicht der Kerl, der meinen Mann erschossen hat, noch monatelang an der Grenze herumspaziert? Wer schützt uns davor? Die Regierung etwa?“

Beifälliges Gemurmel ließ sich ringsum vernehmen.

„Und wird das anders werden?“ fuhr die resolute Frau fort. „Wenn wir uns nicht helfen, hilft uns kein Gott und kein Deuwel! Du, Josupeit, erzähl' mal, wie dir's in Rußland gegangen ist, als du im vorigen Winter nachts im Walde dich verfuhrst und über die Grenze gerietst. Nicht wahr, du hast täglich dreimal Kuchen und Braten in der Kosa gekriegt. Und du, Usdraweit, wo hast du deine beiden Füchse, die jetzt zur Remonte gehen sollten? Ich glaube, der eine ist heute nacht totgeschossen worden.“

Mit blitzenden Augen sah sich die Frau im Kreise um.

„Tut, was ihr wollt. Wenn ihr Schlafmützen seid, dann geht rüber, bittet die Herren Straschniks vielmal um Verzeihung, legt ihnen noch ein papiernes Pflaster auf und bringt sie höflich zur Grenze. Aber seht zu, daß sie euch nicht mitnehmen. Ich bleibe hier. Gute Nacht!“

Im Schulzimmer sahen die Männer noch lange in ernster Beratung. Nur allmählich gelang es dem Schulzen und dem Gendarmen, den Einfluß der Enute Joneleit aus dem Felde zu schlagen. Aber schließlich wirkte der fortwährende Hinweis auf die möglichen Folgen des Vorfalles doch bei den Männern.

Nach einer weiteren Stunde hatten die Russen ihre Pferde und Sättel wieder, nur die Waffen waren spurlos verschwunden. Der junge Offizier, der die Sachlage richtig erfaßte, hatte patzig ein neues Pferd oder 300 Rubel verlangt. Sonst würde er bleiben und sich morgen zum Landrat führen lassen. Da hatte Usdraweit zugegriffen und den frechen Burschen „so `n bißchen abgeschlackert“. Als der also Behandelte wieder zur Besinnung gekommen war, war seine Frechheit verflogen. Er warf einen seiner Leute vom Pferde, sprang in den Sattel und stob davon. Hinter ihm seine Leute. Der unfreiwillige Fußgänger nahm die Beine in die Hand und lief seinen Gefährten nach.

Enute saß wieder im Lehnstuhl am Bett ihres Schützlings, der jetzt sanft schlief. Ihr waren gerade die Augen zugefallen, als die Russen davonritten. Verstört horchte sie auf, und als sie das Geräusch erkannte, krampfte sich ihr vor Ärger das Herz zusammen. Erst gegen Morgen, als schon der graue Schein sich durch den herzförmigen Ausschnitt der Fensterladen stahl, schlummerte sie wieder ein. Das Licht war fast bis zum letzten Stümpfchen abgebrannt; es begann bereits zu zucken. Da öffnete sich leise die Tür zur Kammer. Madeline trat ein und beugte sich über den Kranken. In diesem Augenblick erwachte der Jüngling und starrte zuerst verständnislos die beiden Frauengestalten an. Langsam kehrte ihm das Bewußtsein zurück. Er griff nach seinem Kopf, aus dem der Schmerz geschwunden war, dann streckte er die Hand dem jungen Mädchen hin, das einen Schritt zurückgetreten war.

„Ich falle dir zu Füßen, ich küsse deine süßen Händchen, du schönes Mädchen, die du einen Unglücklichen vom Tode gerettet hast.“

Mit dem Kopfe wies Madeline auf ihre Mutter, die eben erwachte.

„Bedank' dich bei der Mutter, die hat dich aufgenommen und deine Wunde verbunden.“

Nun erschöpfte sich der Pole in glühenden Danksagungen gegen Enute. Dann fing er an zu erzählen, was ihm geschehen. Er, Fedor Graf Jedlinsky, war gerade von einer großen Reise durch Europa nach Hause gekommen, als sein Volk zu den Waffen griff, um die verhaßten Russen aus dem Lande zu treiben. Natürlich hatte er sich sofort einreihen lassen. Aus jedem Regiment wurde ein Trupp ausgelost, der die Exekutionen an den Verrätern und den als Spionen verdächtigen jüdischen Gastwirten zu vollziehen hatte. Das Los teilte ihn diesem Trupp zu, machte ihn sogar zum Anführer der „Hängegendarmen“. Bei der letzten Expedition, die einem Kaczmarz galt, wurde er mit seinen Leuten von den Russen überfallen. Der Hieb über den Kopf warf ihn vom Pferde. Während des Getümmels gelang es ihm, den nahen Wald zu erreichen. Zwei Tage und zwei Nächte hatte er sich durch das Land geschlagen. Am Tage saß er im Waldesdickicht, nachts wanderte er. Seine einzige Nahrung war ein Stück Brot, das er in einer einsamen Hütte von einer Frau erhalten hatte, deren Mann sich ebenfalls den Insurgenten angeschlossen hatte. Vor der Grenze hatte er auf einem Berge gelegen, um eine günstige Gelegenheit zur Flucht nach Preußen zu erwischen. Mehrmals waren Kosakenpatrouillen neben seinem Versteck vorbeigeritten. Vor Kälte und Hunger war ihm das Bewußtsein geschwunden. Als er wieder zu sich kam, machte er sich ohne Rücksicht auf die Gefahr auf den Weg. Es gelang ihm, den mit dichtem Wacholdergebüsch bestandenen Grenzwald auf preußischem Gebiet zu erreichen. Von dem letzten Stück Weg bis zum Dorf habe er kaum noch einen Schimmer von Erinnerung.

Erschöpft schloß Fedor nach Beendigung seiner Erzählung die Augen. Auf einen Wink der Mutter sprang Madeline hinaus und brachte nach einer Weile Schinken und ein paar weichgekochte Eier sowie ein Glas Ungarwein. Nachdem der Kranke etwas gegessen, entschlummerte er sofort wieder.

Leise verließen die Frauen die Kammer. Frau Enute schärfte den Mädchen und Knechten noch einmal Verschwiegenheit ein, dann warf sie sich auf ein Bett, um noch ein paar Stunden Schlaf zu finden.

Am Nachmittag kam der Landrat vorgefahren. Der Gendarm war bei ihm gewesen und hatte die Vorfälle der Nacht berichtet. Als der alte Herr vom Schlitten stieg, stand Enute in der Sonntagstracht einer reichen litauischen Witwe auf der Schwelle.

„Herr, kommst du als Gast oder als Richter?“

„Enute Joneleit, ich will als Gast Ihre Schwelle überschreiten.“

Mit freundlicher Miene griff die Frau nach der Hand des Mannes.

„Sei willkommen in meinem Hause, Pons Landratis; seit dem Begräbnis meines Mannes hast du diese Schwelle nicht betreten.“

Sie führte ihn über den weiten Flur, der mit weißem Sand und gehackten Tannenzweigen bestreut war, in die nach städtischer Art eingerichteten Gasträume. Auf der weißgedeckten Tafel stand das schwere Silbergeschirr; dazwischen geschliffene Kristallgläser. In hohen Leuchtern standen zwei dicke Wachskerzen auf dem Tisch.

Frau Enute füllte zwei Gläser mit Ungarwein und stieß mit dem alten Herrn an, der sich auf dem Sofa niedergelassen hatte.

„Nimm vorlieb, Herr, mit dem Gruß einer Witwe, die sich freut, dich in ihrem Hause bewirten zu können.“

Mit höflicher Redensart erwiderte der Landrat die Bewillkommnung. Dann folgte er der wiederholten Aufforderung, etwas zu essen, und langte zu. Die meilenweite Fahrt durch die Winterluft hatte ihm Appetit gemacht.

Ein gleichgültiges Gespräch über Enute und Dorfangelegenheiten lief nebenher. Als er Gabel und Messer und die Serviette von sich gelegt und die gute Havanna angezündet, die ihm die Wirtin aus echter Kiste bot, legte sich der alte Herr behaglich in die Ecke des Sofas zurück und lachte Enute vergnügt an.

„Nun wollen wir mal ein vernünftiges Wort miteinander reden, Frau Enute. Nun erzählen Sie mir mal ganz offen, was heute nacht hier passiert ist. Aus dem Gendarmen bin ich nicht klug geworden.“

Enute füllte ihm das Glas und sah ihn offen an.

„Hättest du nicht gefragt, Herr, hätte ich angefangen. Und wärst du heute nicht gekommen, dann wäre ich morgen bei dir gewesen, um Klage zu führen. Vielleicht wäre ich auch weitergefahren bis nach Gumbinnen zur Regierung, vielleicht fahre ich auch jetzt noch, wenn du nicht helfen kannst. Und wenn's sein muß, fahre ich bis Berlin zum Herrn König. Denn ich glaube, er weiß nicht, was hier an der Grenze vorgeht?“

Der alte Herr sah prüfend die heftig sprechende Frau an. Er kannte ihre Energie und wußte, daß sie durchführte, was sie aussprach.

„Frau Enute, und wenn Sie zum König fahren! Meinen Sie, daß es was hilft?“

Mit großen Augen sah die Witwe den Mann an, der ihr bisher als die Verkörperung der staatlichen Macht erschienen war und der ihr jetzt den Glauben an die Macht ihres Königs nahm.

„Pons Landratis, was sprichst du von unserm König! Soll er nicht die Macht haben, uns die Russen vom Halse zu halten? Er nimmt unsere Steuern und lebt in Berlin wie... wie... ein König. Und an der Grenze schießen die Straschniks unsere Männer tot oder schleppen sie weg. Wozu stehen die Soldaten in Gumbinnen, weshalb stehen sie nicht an der Grenze? Dann werden die Russen nicht wie Räuber nachts in unsere Dörfer einbrechen. Weißt du nicht, daß sie erst in voriger Woche in Giewerlauken gewesen sind und den Krugwirt mitgenommen haben, und heute nacht bei uns! Soll das immer so gehen?“

„Frau Enute, Sie sind eine kluge Frau, hören Sie mir mal zu. Sie wissen, der Mensch kann nicht immer das tun, was er gern möchte. So kann auch der König nicht immer alles tun. Sehen Sie, er muß jetzt mit Rußland Freundschaft halten. Er kann sich nicht wegen der Vorfälle hier an der Grenze mit Rußland erzürnen. Er muß sogar den Russen helfen, die Polen zu bezwingen. Sonst geht ihm die ganze Provinz Posen verloren, vielleicht auch noch ein Stück von Westpreußen. Da müßt ihr hier an der Grenze schon mal die Ohren ankneifen und dem König nicht noch Angelegenheiten bereiten.“

Die Frau stand auf und ging erregt im Zimmer auf und ab.

„Na, da werden wir wohl auch noch bestraft wegen der vergangenen Nacht.“

„Ich weiß ja nicht, was vorgefallen ist.“

„Dann will ich's dir erzählen, Herr. Gegen Mitternacht kamen die Russen ins Dorf geritten und fragten den Nachtwächter aus, ob ein polnischer Überläufer hier versteckt sei. Dann ritten sie weiter in unser Land hinein, als wenn sie hier zu befehlen hätten. Sie drohten zurückzukommen und das Dorf zu verbrennen, wenn der Pole gefunden würde. Sollen wir uns das gefallen lassen? Sollen wir ruhig stillhalten, Herr? Nein, das kann auch der König nicht von uns verlangen! Als ich den Spektakel hörte, lief ich hinaus und schrie die Männer an. Na, und da haben wir die Straße gesperrt und die Räuber vom Pferd gerissen. Ja, Herr, Räuber waren es, denn kein einziger war in Uniform. Im Schulhaus haben wir sie eingesperrt, dort hab' ich sie verbunden.... Da ist denn der Donalies gekommen und noch ein Dutzend ebensolcher alter Weiber, und die haben dann die Räuber losgelassen. Dem Usdraweit sein Fuchshengst, der ihm im Sommer gestohlen wurde, ist hiergeblieben; der Leutnant, der die Banditen führte, ritt selbst darauf. Aber in Rußland war er nicht zu finden, trotzdem du, Herr, selbst drüben warst.“

Eine Weile herrschte unbehagliches Schweigen. Der alte, gewandte Mann fand der Frau gegenüber nicht das Wort zur Entgegnung. Dann fing Enute wieder an:

„Pons Landratis, wenn wir bestraft werden sollen, dann will ich die Schuld tragen. Hätte ich nicht die Männer ausgeschimpft, dann wären die Russen wieder ruhig durchs Dorf geritten. Oder sie hätten die Häuser durchsucht, die Weiber und Mädchen aus den Betten gerissen und mit dem Karbatsch die Männer geschlagen. Wenn das ein Verbrechen ist, daß wir uns das nicht gefallen lassen, dann wollen wir bestraft werden.

Ich meine, die Russen werden keine Klage erheben“, fuhr die Frau nach einer kleinen Pause fort. „Mußt du schreiben an die Regierung, dann schreib'!“

„Ich werde nicht schreiben, Frau Enute. Aber ich will Ihnen was Gutes erzählen, weswegen ich eigentlich hergekommen bin. Die Regierung wird die Grenze mit Soldaten besetzen. Hier ins Dorf soll eine halbe Kompagnie mit zwei Offizieren kommen.“

Erstaunt sah der alte Herr auf Enute, die augenscheinlich keine Freude über die Nachricht zeigte.

„Ich dachte, Sie würden sich darüber freuen, Frau Joneleit.“

„Pons Landratis, du weißt ganz genau, was ich denke. Wozu kommen die Soldaten? Um dem Russen zu helfen. Sollen wir uns darüber freuen? Und wenn unsere Soldaten weg sind, dann wird es schlimmer als zuvor.“

„Das tut mir leid, daß Sie so denken, Frau Enute. Ich kam zuerst zu Ihnen, weil ich Sie bitten wollte, die beiden Offiziere aufzunehmen. Es ist das beste Quartier, das ich ihnen besorgen könnte. Unkosten werden Sie nicht haben, nur die kleine Unbequemlichkeit. Die Regierung bezahlt alles gut.“

Die Frau fuhr heftig auf.

„Ich nehm' keine Bezahlung, wenn ich einem Menschen Essen und Trinken gebe. Aber ich nehm' auch die Offiziere nicht auf. Lieber die ganze Kompagnie Soldaten. Meinen Sie, Herr, ich könnte das ertragen, wenn die russischen Offiziere hier zu Besuch kommen, in mein Haus, zu mir! Auf den Knien habe ich vor den Herren gelegen und sie angefleht, den Mörder zu bestrafen, der meinen Mann erschoß. Gelacht haben die Herren und gemeint, es sei nicht erwiesen, daß ein Straschnik die Tat verübt. Und dabei spazierte der Hund noch monatelang an der Grenze herum. Oh, Pons Landratis, ich geb' mein ganzes Vermögen darum, wenn ich Gerechtigkeit finden könnte!“

Erstaunt blickte der alte Herr auf die erregte Frau.

„Ich dachte, über die Geschichte ist nun Gras gewachsen und wieder verdorrt.“

„Ja, Herr, aber was in mir frißt, das verdorrt nicht. In seine kalte Hand habe ich meinem Mann geschworen, Vergeltung zu üben, wie ich's kann. Und dann sollen die in mein Haus kommen, die ebensoviel Schuld tragen wie der Mörder?“

Der Landrat erhob sich.

„Ihr vergeßt, Frau, daß die Regierung nicht zu bitten braucht, wo sie befehlen kann. Und ich deute, Ihr habt mehr Grund, der Regierung zu Willen zu sein als sie Euch.“

Er faßte ihre Hand.

„Frau Enute, seien Sie vernünftig! Morgen kommt der Quartiermeister des Regiments. Meinen Sie, er wird die Offiziere in ein Bauernhaus legen, anstatt ins Herrenhaus?“

Kalt sah Enute den alten Herrn an.

„Den Offizieren werde ich Quartier geben, wenn ich muß. Aber wenn die russischen Räuber kommen, dann sollen sie mein Haus verschlossen finden.“

„Liebe Frau Joneleit, es wird kein Brei so heiß gegessen, wie er gekocht ist. Sie werden sich doch wohl selbst sagen, daß Sie dem Besuch, den die Offiziere sich einladen, nicht die Haustüre zusperren können. Nicht wahr?“

„Ist das nicht mehr mein Haus?“

„Nein, Frau Enute, wenn die Offiziere hier in diesem Zimmer wohnen, dann haben Sie darüber nichts mehr zu bestimmen, wer hier ein und aus gehen darf.“

„Was geschieht, geschieht durch Gottes Willen, Herr! Ich kann's nicht ändern. Ich habe gesagt, was ich denke. Was geschehen muß, wird geschehen.“

Mit einem Scherzwort suchte sich der alte Herr über die peinliche Situation hinwegzuhelfen.

„Sie werden die Sache bald anders ansehen, Frau Enute. Der Hauptmann ist ein junger, flotter Mann, noch unverheiratet... Hüten Sie Ihr schönes Töchterlein, Frau Joneleit! Und damit Gott befohlen! Schönen Dank für Speis' und Trank! Wenn Sie gestatten, komme ich bald wieder, sowie die Offiziere hier sind... Guten Abend, Frau Joneleit... Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen... Bemühen Sie sich nicht!“

Enute ergriff einen Leuchter und begleitete ihren Gast bis zur Haustür.

Als sie die Kerze wieder auf den Tisch setzte, zitterte ihre Hand wie im Fieber. Sie ließ sich in den nächsten Lehnstuhl fallen und schloß die Augen, während ihre Brust vor Aufregung wogte. So fand sie Madeline.

„Muttchen, liebes Muttchen, was ist dir. Hat der Landrat dir Angst gemacht?“

„Nein, mein Kind, ängstige dich nicht. Mich hat nur die Erinnerung übernommen, wir sprachen von deinem Vater... und von dem Mörder, der monatelang unbestraft an der Grenze spazieren ging...“

Sie strich sanft mit der Hand über den Kopf des Mädchens, das vor ihr niedergekniet war und in ihrem Schoß bitterlich weinte.

„Weine nicht, mein Kind, wenn bei den Menschen nicht Gerechtigkeit zu erlangen ist, wird mir der liebe Gott zur Vergeltung helfen. Und nun steh auf und pack deine Sachen in die großen Koffer, du mußt auf ein paar Wochen zur Tante nach Pillkallen. Noch heute nacht. Morgen bekommen wir Einquartierung. Keine Widerrede, Kind, es geht nicht, daß du hierbleibst.“

„Und der Pole?“

„Den bringen wir auch weg. Vorläufig auch zur Tante Amalie. In ein paar Tagen wird er so weit sein, daß er weiter kann. Dafür werde ich sorgen, daß er den Russen nicht in die Hände fällt.“

Eine halbe Stunde später fuhr Jons mit einem flotten Einspänner zum Hoftor hinaus. Als er gegen Mitternacht wiederkehrte, stand der große Verdeckschlitten reisefertig und gepackt im Hofe. Eben führte der Jungknecht die vier Trakehner aus dem Stall. Auf dem reich beschlagenen Geschirr, an dem die Glocken klirrten, wehten die rot-weiß-grün gefärbten Roßschweife.

„Bist du toll, Junge, das beste Geschirr!“

„Die Frau hat befohlen.“

Im Wohnzimmer saßen Mutter und Tochter reisefertig. Fedor Jedlinsky ging im Sonntagsstaat des Jungknechts in der Stube auf und ab. Erwartungsvoll wandten sich alle drei dem Eintretenden zu.

„Alles in Ordnung, Frau; aber ich denke, wir nehmen die Glocken ab.“

„Weshalb denn, Alter? Ich will nicht wie ein Dieb durchs Dorf schleichen.“

Fünf Minuten später brauste das prächtige Gespann die Dorfstraße entlang, daß die Funken von den Kufen stoben, wenn der schwere Schlitten die dünne Schneedecke bis an den Sand der Straße durchschnitt. Zwei Stunden später hielten die Rappen dampfend und prustend vor einem stattlichen Hause des kleinen Landstädtchens. Aus den geschlossenen Läden drang ein schwacher Lichtschimmer. In der geöffneten Haustür erschien Tante Amalie, ein verschrumpeltes, altes Frauchen... Schnell eilte der Pole ins Haus, langsam folgten die Frauen. Indessen schaffte Jons mit Hilfe des Mädchens die Koffer ins Haus und deckte die Pferde zu.

Frau Enute wies dem jungen Grafen das kleine, nach dem Hofe gelegene Stübchen an, das ihm für die nächste Zeit zum Aufenthalt dienen sollte. Mit Mühe entzog sie sich den feurigen Dankesbeteuerungen des Jünglings, der wieder und immer wieder ihre Hände küßte.

Dann schloß sie im Wohnzimmer noch einmal ihre Tochter ans Herz, empfahl dem Mädchen mit Hilfe eines harten Talers Verschwiegenheit über die Anwesenheit des Flüchtlings und fuhr davon.

Madeline saß noch lange Zeit mit Tante Amalie wach, die nicht eher ruhte, bis sie alle Einzelheiten von der Ankunft des Flüchtlings bis zum Besuch des Landrats dreimal gehört hatte.

Am nächsten Vormittag ging Enute zum Schulzen Donalies. Sie fand dort bereits den Feldwebel der Kompagnie, der mit dem Gemeindevorstand die Quartiere verteilte. Schon bei ihrem Eintritt rief ihr der Alte entgegen:

„Du mußt die Herren Offiziere aufnehmen.“

„Das weiß ich eher wie du, Onkel, der Landrat hat mich gestern darum gebeten.“

„So? Gebeten hat er dich... Ich dachte, wir haben die Einquartierung als Belohnung für deinen Krieg mit den Kosaken gekriegt.“

„Da bist du im Irrtum, Donalies. Die Soldaten schickt der König, damit wir vor den Russen Schutz haben. Nicht wahr, Pons Feldwebel?“

Sie sah dem Mann lächelnd ins Gesicht. „Ei, jemine, bist du nicht der Jons Kaperlat, der ungezogene Schlingel, der dem Alten nichts Gutes tun wollte und davonlief mitten in der Ernte?“

„Jawohl, Frau Enute, das bin ich, aber wie du siehst, habe ich's inzwischen zu was gebracht beim Militär... nach dem Hauptmann und dem Leutnant bin ich der oberste bei der Kompagnie.“

„Na, dann will ich dir gleich was sagen, mein Jungchen, der letzte Bauer, der auf seinem Eigenen sitzt, ist besser als der höchste Herr, der seine Füße unter fremder Leute Tisch steckt. Dein Väterliches hat die Schwester, aber, wenn du willst, könntest du wohl hier eine Haustochter finden, die dich nimmt...“

Lächelnd meinte der Angeredete, er werde sich's überlegen. Dann fuhr Enute fort:

„Eigentlich bin ich gekommen, dir eine Bestellung an deinen Herrn Hauptmann aufzutragen. Sag' ihm, daß in Küche und Keller für ihn immer das Beste vorhanden sein wird. Bringt er mir aber russische Offiziere ins Haus, dann erhält er nichts mehr, als was ihm zusteht; für die Räuber kann er Essen und Trinken aus dem Wirtshaus holen.“

„Aber Enute, das kann Kaperlat doch nicht bestellen!“

„Tut er's nicht, dann werde ich's ihm sagen, übrigens in meine Instkaten kannst auch ein paar Mann legen, Donalies, für Verpflegung will ich sorgen. Und du, Jons, sieh zu, daß deine Schaschken nicht zu viel hinter den Schürzen herlaufen, sonst gibt's Krieg im Dorfe. Podedis!

Damit ging sie.

Am andern Tag rückte die Kompagnie ein. Am Hoftor empfing Jons die Offiziere und führte sie in die für sie bestimmten Gasträume. Frau Enute blieb unsichtbar.

Als die Herren sich gesäubert und sich's bequem gemacht, erschien Annutte in schmucker Sonntagstracht und fragte an, ob sie auftragen dürfe. Der Hauptmann kniff der drallen Margell in die Backen und fragte, ob er nicht der Herrin seine Aufwartung machen dürfe. Die Frau sei ausgegangen. Das Fräulein sei in Pillkallen und werde dort bleiben, bis die Herren wieder aus dem Hause seien.

Der Hauptmann sah den Leutnant an, einen blutjungen Menschen, der eben erst aus dem Kadettenkorps gekommen war.

„Kann nicht sagen, daß mir der Empfang gefällt.“

„Man scheint uns für gefährlich zu halten, Herr Hauptmann.“

„Glauben Sie das, Kamerad? Ich meine, wir sind ungebetene Gäste und werden danach behandelt.“

„Das kann uns ja bei einer Bauernfrau egal sein.“

„Sie sind in einem großen Irrtum befangen, mein lieber Leutnant. Sie tun unrecht, wenn Sie unsere Wirtin eine Bauernfrau nennen. Denn erstens besitzt sie, wie mir der Landrat auseinandergesetzt hat, ein Rittergut von mehr als dreitausend Morgen und dazu mehr Bargeld als unsere Regimentsdamen zusammen.“

„Aber mit der Bildung?...“

„Lieber Leutnant, was heißt Bildung? Bildung kommt mit dem Besitz. Unsere Wirtin hat noch keine höhere Töchterschule besucht, aber ihre Tochter, die übrigens ein ganz scharmantes Persönchen sein soll, hat alles gelernt, was man in Pillkallen oder Gumbinnen den jungen Damen der besten Gesellschaft eintrichtert. Sehen Sie da“ — der Hauptmann wies nach dem Fenster — „da kommt Frau Joneleit über den Hof... Sieht sie wie eine Bauernfrau aus?...“

Wenige Minuten später sprang Annutte ins Zimmer und fragte, ob die Frau die Herren begrüßen dürfe.

Galant öffnete der Hauptmann der eintretenden Frau die Tür. Freundlich streckte Enute ihm die Hand entgegen.

„Mußt nicht übelnehmen, Herr Hauptmann, wenn ich dich und deinen Leutnant nach unserer alten litauischen Art anrede.“

„Aber ich bitte, meine verehrte, gnädige Frau, meine Litauer in der Kompagnie sagen auch du` zu mir.“

„Dann mußt du, Herr, auch nicht gnädige Frau` sagen, das kommt mir nicht zu. Entweder Frau Joneleit oder Frau Enute...“

„Schön, wie Sie befehlen, Frau Enute.“

Dann reichte die Hausfrau dem Leutnant die Hand.

„Siehst du noch sehr jung aus, Herr Leutnant, und mußt schon Soldat spielen.“

Der Leutnant wußte nicht recht, ob er die Anrede für eine Schmeichelei halten sollte oder nicht.

Der Hauptmann dagegen hatte die Art der Frau begriffen: er lachte laut auf.

„Mein Kamerad ist sehr fleißig gewesen, darum ist er so jung Offizier geworden. Er hat's nur bedauert, daß er bei dem Krieg, den Sie vorgestern nachts mit den Russen geführt haben, nicht unter Ihrem Kommando gestanden hat.“

Frau Enute sah finster drein.

„Ein paar Männer hätte ich schon gebrauchen können bei dem Krieg. Vielleicht hätten wir den Räubern das Wiederkommen abgewöhnt.“

Der Hauptmann merkte, daß das Thema zu einer peinlichen Situation führen könnte, er brach schnell ab und fragte nach Madeline. Er hätte gehört, das Fräulein sei nach Pillkallen gefahren... er könne doch nicht annehmen, daß ihre Ankunft die junge Dame vertrieben hätte.

„Das Kind sollte sowieso nach der Stadt, um noch etwas zu lernen, außerdem hat es eine alte Tante zu pflegen, bei der es schon während der Schulzeit gewohnt hat. Und dann, Herr, was soll das Kind hier unter den Männern?“

In diesem kritischen Augenblick öffnete Annutte dir Flügeltüren zum Speisezimmer. Erstaunt sah der Leutnant Mac Lean, der selbst aus einem wohlhabenden Hause stammte, die reiche Pracht des Tafelgeschirres. Der Hauptmann dagegen bemerkte mit Wohlgefallen, daß sich die Voraussage des Landrats, der ihm einen guten Tropfen bei Frau Joneleit in Aussicht gestellt hatte, zu bewahrheiten schien. Denn auf dem Kredenztisch standen mehrere Flaschen, die sein Kennerblick als etwas ganz Exquisites taxierte.

Auch das Essen ließ nichts zu wünschen übrig. Und als Frau Enute zum Schluß zu der Tasse ganz vorzüglichen Kaffees eine wirklich „Echte“ spendierte, da bat der Hauptmann ihr im stillen den schnöden Verdacht ab, den er beim Eintritt geäußert hatte. Ja, er hatte schon angefangen, der stattlichen Witwe die Cour zu schneiden.

Das Gespräch war nicht einen Augenblick ins Stocken geraten. Geschickt wie eine Weltdame hatte die Hausfrau die Unterhaltung geleitet. Ihre Kunst bestand darin, den Hauptmann, der sich gern sprechen hörte, zum Reden zu bringen. Sie ließ sich von Berlin erzählen, vom Königshof, von der Krönung in Königsberg, der sie selbst von Anfang bis zu Ende an bevorzugtem Platz beigewohnt hatte. Der Hauptmann bekam keinen kleinen Schreck, als er später erfuhr, daß die Frau, der er mit mehr Phantasie als Wissen die Vorgänge bei der Krönung geschildert, selbst in der Deputation gestanden, die dem königlichen Ehepaar die Huldigung der Litauer in Nationaltracht dargebracht.

Die beiden Offiziere fanden ihr Quartier bald sehr behaglich. So gut hatten sie es in Gumbinnen, der Regierungshauptstadt, nicht gehabt. Mit dem alten Jons hatten sie sich bald angefreundet. Des Hauptmanns Braune „Lise“ stand im Stall und wurde vom goldgelben Hafer täglich dicker und fauler, denn wenn der Hauptmann ausreiten mußte, fand er stets einen flotten Trakehner gesattelt. Auch Mac Lean fand das Leben in der Wildnis gar nicht so öde, wie er gefürchtet hatte. Er hatte sich mit dem Oberförster und dem jungen Forstkandidaten in Weßkallen angefreundet, und wenn er am Vormittag die paar Männlein, die nicht zum Patrouillieren an der Grenze kommandiert waren, zwei Stunden „geknutscht“ hatte, dann zog er sein Jagdzivil an und ritt zum Forsthaus nach Weßkallen, wo ein halbes Dutzend luftiger, junger Mädchen seinem Kommen mit Sehnsucht entgegenharrte.

Der Hauptmann zeigte eine merkwürdige Vorliebe für Häuslichkeit. Er hielt nachmittags seinen Appell auf dem geräumigen Hof ab, dann ritt er aus, um die Patrouillen und Posten zu inspizieren, und wenn er zurückkam und den Waffenrock mit der bequemeren Jagdjoppe vertauscht hatte, konnte man ihn regelmäßig bei Frau Enute in der litauischen Wohnstube finden. Mit Jons hielt er lange Gespräche über Landwirtschaft, die Mägde mußten ihm litauische Volkslieder, die uralten „Dainos“, vorsingen, und mit der Hausfrau war er bald so vertraut, daß sie ihm den Tod ihres Mannes mit allen begleitenden Nebenumständen erzählte.

Jetzt verstand er auch, weshalb die stolze Frau so heftig werden konnte, wenn von den Russen gesprochen wurde.

Eines Tages, es war etwa Mitte Juni vor zwei Jahren, hatte ihr Mann im Dorfe alles zusammengetrommelt, was ein Paar Hände und eine Harke hatte, um das Heu, das trocken dalag, vor dem drohenden Regen in feste Keppsen zu bringen. Auch die Tochter ihres Onkels, die Marge Donalies, ein blitzsauberes, junges Ding, war gekommen, um mitzuhelfen. Sie harkte allein mit einem noch jüngeren Scharwerksmädel auf einer kleinen Wiese, dicht am Grenzwald.

Gegen Mittag hatte sich Frau Enute auf einem Einspänner mit einem Faß voll Milch und einem Korb voll Butterbroten aufgemacht, um die fleißigen Arbeiter zu stärken. Unterwegs traf sie ihren Mann, der von einem Gang durchs Feld zurückkam. Sie nahm ihn mit auf den Wagen. Als sie eben um die letzte Ecke des Waldes bogen, wo das kleine Nebenflüßchen der Szeszuppe zum Feld ausbiegt, lief ihnen das kleine Mädel schreiend und jammernd entgegen. Nicht dreißig Schritt vor ihnen hatte ein Straschnik, ein russischer Grenzkosak, Marge Donalies überwältigt und schleppte das Mädchen, das sich mit Händen und Füßen wehrte, dem nahen Roggenfeld zu.

Im Nu war Joneleit vom Wagen. Er hatte keine Waffe bei sich, aber er war ein starker Mann und zögerte keinen Augenblick, den Russen zu packen, der bei seinem Herannahen sein Opfer losließ und nach der Büchse sprang, die er nicht weit davon im Grase niedergelegt hatte. Ohne Besinnen war Joneleit ihm nachgeeilt, und schon hatte er die Hand ausgestreckt, um die Mündung des Gewehres wegzuschlagen, da krachte der Schuß. Durch die Brust getroffen sank Joneleit zurück, während der Russe über das Flüßchen sprang und im nahen Grenzwald verschwand.

Frau Enute hatte reichlich Tränen vergossen, während sie das traurige Ereignis erzählte.

„Weißt du, Herr“, fuhr sie dann fort, „das Schlimmste für mich kam erst hinterdrein. Ich zeigte den Mord bei unserem Gericht an, ich fuhr, noch ehe mein Mann unter der Erde war, zum russischen Kordonmajor und versprach ihm tausend Rubel, wenn er den Schuldigen zur Bestrafung bringen würde. Die tausend Rubel nahm er mit Freuden, dann ließ er seine Räuber antreten, ich sollte den Mörder raussuchen, Herr, glaub mir, der Kerl war nicht darunter... den hatten sie irgendwo versteckt. Aus den Knien habe ich den Major hinterher auf der Kommorra angefleht, sie möchten mir den Schuldigen nicht verstecken.... Es hat nichts geholfen. Unter einer Million Menschen würde ich ihn wiedererkennen.“

„Hat denn das Einschreiten unserer Regierung nichts geholfen?“

Frau Enute lachte verächtlich. „Zehnmal habe ich angezeigt, daß der Kerl hier noch an der Grenze herumspazierte, ich habe sogar den Namen genannt, er hieß Piotr Semenowitsch Nadrenko... half alles nichts. Es hieß, das müsse ein Polack gewesen sein, der sich mit einem Gewehr zum Wilddieben `rumtrieb...

„Das wäre doch unerhört, wenn der Verbrecher noch immer unbestraft hier `rumlaufen sollte!“

Frau Enute bog sich zu ihm dicht heran. „Herr, der läuft nicht mehr auf seinen Füßen. Im vorigen Winter kam ein Forstaufseher hierher... ein Deuwelskerl, der schwarze Wolf. Dem stach die Marge in die Augen. Am Tage nach der Hochzeit erzählte ich ihm, was vorgefallen. Und ein paar Tage darauf konnte ich ihm den Piotr Semenowitsch zeigen, wie er an der Kammer Posten stand. Mehr war nicht nötig, der dumme Kerl lief ja am hellen lichten Tage jeder Schürze nach, die an der Grenze zu sehen war. Da hat ihn der Wolf angerufen, und als er sein Gewehr von der Schulter reißen wollte... da war die Sache erledigt. Mitten zwischen die Augen hatte er ihm die Kugel gesetzt. Was hat der Wolf für Scherereien davon gehabt! Und er war doch in seinem Recht. Wenn unser alter Oberförster in Weßkallen nicht ein so energischer Mann wäre, wer weiß, man hätte den Wolf vielleicht noch den Russen ausgeliefert!“

Nach einer kleinen Weile fuhr sie fort:

„Sieh, Herr, deshalb wollte ich Euch nicht zu mir ins Quartier nehmen, denn ich fürchtete, daß Ihr mit den russischen Offizieren dicke Freundschaft halten und sie mir ins Haus bringen würdet. Und dann, Herr, gäbe es ein Unglück.“

„Aber Frau Enute, wie können Sie nur so sprechen!“

„Herr Hauptmann, du kennst mich noch lange nicht genug. Wenn ich was sage, dann geschieht es auch. Der russische Offizier, der nicht als mein Gast diese Schwelle betritt und die Hand nach einem Happen Essen ausstreckt, ißt sich den Tod. Wir Litauer wissen mit Rattengift umzugehen.“

Ihre Stimme hatte dabei einen so harten Klang, daß der Offizier die Überzeugung gewann, der Frau da vor ihm war es heiliger Ernst mit dem, was sie sagte. Ein Blick in das Gesicht bestätigte seine Annahme. Er nahm ihre Hand.

„Frau Joneleit, der Himmel bewahre Sie davor, daß Sie mal in die Verlegenheit kommen, die Russen in Ihrem Hause zu sehen. Was ich dazu tun kann, um es zu verhindern, wird geschehen.“

***

Einige Tage danach, an einem milden Wintertage, ließ Enute sich einen kleinen Schlitten anspannen und fuhr nach Pillkallen. Dort fuhr sie zuerst bei dem Getreidehändler vor, der ihr nicht nur alles Getreide abkaufte, sondern auch in Geldsachen ihr Berater war. Als sie vom Schlitten stieg, stand der alte Samel Veilchenstein gerade zum Ausgehen gerüstet vor der Tür. Es war die Zeit, wo er täglich zum Frühschoppen in das Löffkesche Hotel ging, um mit den Herren Rittergutsbesitzern seine Getreide- und Spiritusbörse abzuhalten.

Als das Fuhrwerk hielt, trat er hinzu: „Welch eine Freude, welch eine große Freude, liebe Frau Joneleit. Die Ewigkeit kann nicht länger dauern als wie die Zeit, da Sie zum letztenmal bei mir zum Besuch gewesen sind.“

Frau Enute sprang aus dem Schlitten und reichte ihm die Hand.

„Nicht übertreiben, Samel, aber ein Vierteljahr ist's wirklich her.“

Sie traten ins Haus. Samel Veilchenstein wollte ihr den Mantel abnehmen.

„Ich kann mich nicht aufhalten, Samel, ich will mir nur etwas Geld holen.“

„Nun, und wenn schon. Werden Sie doch nicht hinausgehen vom alten Samel Veilchenstein, ohne ihm Bescheid zu tun in einem Glase Wein. Rosalchen“, rief er durch die Mitteltür nach der Hinterstube, „bring schnell eine Flasche Met und die Gläser... Frau Joneleit aus Serbenten schenkt uns die Ehre...“

„Nun, Frau Joneleit“, wandte er sich wieder zu Enute, „mit wieviel kann ich dienen?“

„Gib mir 500 Taler, Veilchenstein. Aber in Papier.“

„Was hab' ich gekriegt for'n Schreck, Frau Joneleit, wie Sie haben gesagt 500, hab' ich geglaubt, es sollen sein 500 000 Taler. Da hätt' ich sagen müssen, ich bedaure, ich habe sie nicht im Hause... Aber 500 Taler... da langt's noch gerade.“

Frau Enute lachte.

„Wie steht's mit dem Raps und dem Weizen?“

„Das Geld für'n Raps habe ich schon vor drei Wochen bekommen. Ich hab's angelegt in meinem Geschäft und es Ihnen gutgeschrieben. Sie verdienen damit fünf Prozent bei mir... mehr kann ich nicht geben.“

„Darüber sind wir einig, Samel... Wie ist's mit dem Weizen?“

„Frau Joneleit, Sie haben Zeit zu warten, und ich habe Zeit; das Angebot, was gestern gekommen ist aus Königsberg, werden wir noch nicht annehmen. Die Preise werden steigen, sie werden noch mehr steigen von wegen dem Krieg in Rußland.“

Während Veilchenstein das Geld aufzählte, kam seine Frau mit dem Wein.

„Denk dir, Rosalie, ich krieg den Schreck, als Frau Joneleit von mir 500 Taler verlangt.“

„Nun, die Herren Offiziere machen große Kosten.“

„Ach nein. Soviel wie sie essen und trinken, habe ich noch zu Hause.“

„Das hab' ich ja auch gesagt, Rosalchen. Die Frau Joneleit wird helfen wollen dem jungen Grafen, der bei dem Fräulein Amalie krank liegt, daß er weiterkommt von der Grenze weg.“

„Um Gottes willen, Samel, was wißt Ihr davon?“

„Nu, werden wir nicht wissen, was die ganze Stadt weiß! Bei Sinnhubers liegt auch einer, das weiß jeder Mensch, aber es ist Zeit, daß sie wegkommen. Der Herr Landrat hat gestern erzählt, daß die russische Regierung schon hat gestellt den Antrag, sie auszuliefern.“

Frau Joneleit sah einen Augenblick nachdenklich da.

„Samel, du wirst mir nachmittags dein Fuhrwerk geben zum Nachhausefahren, mein Einspänner bleibt hier...“

„Was wollen Sie wenden Ihr gutes Pferd an die Sache! Ich werde anschaffen `nen Gaul für zehn Taler und einen kleinen Kastenschlitten, mit dem kann er fahren bis Berlin...“

„Aber Papiere?“

„Was braucht der junge Mann Papiere? Wenn er möcht' zu Fuß gehen und hätte kein Geld, dann müßte er haben Papiere.“

Als Samel seinen Besuch hinausbegleitete und der Frau die Hand zum Abschied reichte, fing er noch mal an:

„Wollen Sie erlauben, Frau Joneleit, einem alten Mann zu tun eine Frage? Ihr Mann war ein guter Freund zu mir, da wird die Witwe mir nicht übelnehmen, was ich zu sagen habe.“

Erstaunt sah Enute den Alten an.

„Was soll das heißen, Samel.“

„Daß ich die Frau Joneleit mit Verlaub möchte fragen, ob Sie wünscht zu haben den Grafen als Schwiegersohn?“

„Wie kommst du darauf?“

„Nun, ich will nichts gesagt haben, aber die Leute sprechen schon, daß die beiden jungen Menschen sind ein Herz und eine Seele. Nun, was regen Sie sich auf, Frau Joneleit? Sie haben genug Geld, um einen Grafen als Schwiegersohn zu ernähren. Und wenn er ist ein guter Mensch, ein anständiger Mensch, wieso sollt ihn das Fräulein Madeline nicht haben lieb?“

Enute bezwang mit Gewalt ihre Erregung.

„Ich danke dir, alter Freund Samel, für die Mitteilung... aber daran habe ich wirklich nicht gedacht. Madeline ist noch ein halbes Kind.“

„Wie können Sie sagen, Frau Joneleit, auf ein Mädchen von siebzehn Jahren, es sei noch ein Kind. Wie Sie sind gewesen siebzehn Jahre, haben Sie das nicht gedacht.“

In starker Erregung schritt Enute von dannen. Sie zweifelte nicht einen Augenblick an der Richtigkeit dessen, was ihr ihr Geschäftsfreund erzählt hatte. Daran hatte sie, die erfahrene Frau, nicht einen Augenblick gedacht, daß es so kommen könnte. Ihr einziges Kind, ihr Augapfel, und der junge Pole, von dem sie nicht einmal wußte, ob seine Angaben über Namen und Stand richtig wären.

Als Enute wenige Minuten später bei Tante Amalie ins Haus trat, war sie mit sich noch gar nicht im reinen. Niemand kam ihr entgegen, als sie im Flur Mantel und Kapotte ablegte. Aus dem Vorderzimmer tönte ihr der sanfte Klang einer Gitarre entgegen. Dazu sang Fedor mit weicher Stimme eines der schwermütigen Lieder, das den Kampf des weißen Adlers mit dem russischen Bären schildert. Unwillkürlich zog Enute die Hand zurück, die sie schon nach dem Türdrücker ausgestreckt hatte, und wartete, bis der letzte Ton verklungen war.

Als sie dann leise die Tür öffnete, bot sich ihr ein Bild, das sie nicht erwartet Hatte. Der junge Pole saß in einem niedrigen Sessel; neben ihm stand Madeline und strich leise mit der Hand über seinen dunklen, krausen Kopf, den er wie in schwermutsvoller Erinnerung abwärts geneigt hatte.

In tiefer Verwirrung, wie schuldbewußt, standen die jungen Menschenkinder einen Augenblick vor der eintretenden Frau. Dann warf sich Madeline an die Brust der Mutter, die ihr Kind fest umfaßte, als wollte sie es nimmer von sich lassen.

Endlich löste sich Madeline aus ihren Armen.

„Mutter, geliebte Mutter, ich habe dir viel zu erzählen“,

„Das weiß ich schon, mein Kind“ was du mir zu sagen hast.“

Nun trat Fedor heran und küßte Enute die Hand.

Dann schickte Enute ihre Tochter hinaus und hatte mit dem jungen Grafen eine lange, ernste Unterredung, die damit begann, daß Frau Joneleit ihm ankündigte, er müsse schon in der nächsten Nacht aus seinem sicheren Zufluchtsort hinaus in die Welt. Bitterlich weinend schlug der Jüngling die Hände vors Gesicht.

„Mein armes Vaterland wird von den Russen geknechtet, und ich darf nicht dabei sein, ich muß fliehen, von dem Besitztum meiner Väter gehen als ein Bettler!“ Nach einer Weile begann er wieder:

„O gute Herrin, ich laß` noch mehr zurück... das Glück meines Lebens, das herrliche Mädchen, das an meiner Schulter mir mein Unglück hat beklagen helfen... Aber was bin ich? Ein namenloser Flüchtling, der morgen nicht wissen wird, wo er sein Haupt wird niederlegen! Und wenn er erwacht, dann ist er vielleicht schon gefesselt, um seinen Henkern ausgeliefert zu werden.“

Enute beruhigte den Aufgeregten. Er werde Pferd und Schlitten erhalten, damit er quer durchs Land an die Bahn gelangen könne. Von dort müsse er in einer Tour durchführen, womöglich bis zur belgischen oder französischen Grenze, bis er in Sicherheit sei. Dabei legte sie das Paket mit Kassenscheinen vor ihm auf den Tisch. Und nun gab es einen Wettstreit zwischen beiden. Jedlinsky wollte das Geld nicht nehmen. Er habe keine Hoffnung, seine Güter zurückzuerhalten, Hängegendarmen würden niemals begnadigt. Er könne keine Sicherheit bieten, daß er das Geld wiedererstatten werde. Da wurde Enute heftig.

„Du willst mir meine Tochter nehmen und scheust dich, diese kleine Summe von mir anzunehmen? Wenn du so zartfühlend bist, weshalb raubst du meinem Kinde die Ruhe? Oder sollte es dir nur zum Spielzeug dienen?“

„Gute Herrin, zürne nicht! Die Liebe ist über uns gekommen wie der Dieb in der Nacht. Wir haben zusammen geweint und geklagt, dann fanden sich unsere Hände und unsere Herzen. Ach, und ich Elender habe dabei nicht gedacht, daß ich ein Bettler bin, ich glaubte, ich sei Graf Fedor, der Besitzer von hunderttausend Morgen Land und Herr von mehr als zweitausend Seelen.“

„Es ist vielleicht besser, daß du es nicht mehr bist, denn dann könnte dir die Liebe meines Kindes nicht mehr sein als ein Zeitvertreib für langweilige Tage.“

Da sprang der Pole exaltiert auf und hob die Hand zum Schwur:

„Ich schwöre, Herrin, daß sie mir lieber ist als meine Seele und mein Vaterland. Nichts kann die Liebe zu ihr aus meinem Herzen reißen. Ich bin nichts, ich habe nichts, aber wenn Madeline mir treu bleibt, dann wird mir keine Arbeit zu schwer sein, um sie zu erringen.“

Enute reichte dem Erregten die Hand. „Graf Fedor, ich kenne dich zu wenig, drum kannst du von mir keine Antwort heute verlangen. Bist du nach Jahr und Tag noch derselben Meinung wie heute, dann können wir weiter darüber sprechen. Bis dahin gedulde dich. Ich will nicht dagegen sein, daß ihr euch schreibt und euch als ein paar Menschen betrachtet, die sich heiraten wollen. Und wenn ich das tue, dann wirst du es auch als selbstverständlich ansehen, daß ich für dich sorge wie für meinen Sohn. Du wirst nicht Mangel leiden, denn das würde sich für den zukünftigen Mann der Madeline Joneleit nicht schicken.“

Mit Mühe wehrte Enute den Ausbruch der Dankbarkeit ab; der Jüngling hatte sich ihr zu Füßen geworfen und küßte ihre Hände. Als er sich erhob, leuchteten seine Augen.

„Du mußt nicht glauben, daß ich nichts gelernt habe. Ich habe in Frankreich regelrecht Medizin studiert und kann jederzeit mein Examen ablegen. Und wenn ich mir eine Existenz gegründet habe, dann komme ich, Madeline zu holen.“

In ruhigerer Stimmung wurden dann alle Einzelheiten der Flucht besprochen. Enute fand es für besser, Jons holen zu lassen, der mit Fedor fahren sollte. Auch einen Paß wollte sie zur Sicherheit besorgen.

Kurz entschlossen machte sie sich auf den Weg. Samel Veilchenstein, bei dem sie zuerst ansprach, zuckte die Achseln, er hatte keinen auf Lager. Ohne sich lange zu besinnen, ging Enute zum Landrat. Ohne Umschweife erklärte sie ihm, sie brauche einen Paß für Graf Fedor Jedlinsky, der durch Preußen nach Frankreich reisen wolle. Als der alte Herr die Achseln zuckte, meinte sie gleichmütig, der Paß könne ja auch auf einen anderen Namen ausgestellt werden, z. B. Abrys Donalies, ihren Schwestersohn... der Graf werde in kurzer Zeit ihr Schwiegersohn werden, und da müßte er eigentlich ein Einsehen haben und ihn vor der Gefahr, ausgeliefert zu werden, schützen.

Da das Auslieferungsgesuch der russischen Regierung noch nicht vorlag und eine angesehene Person seines Kreises sich verbürgte, überwand der alte Herr seine Bedenken und erfüllte das Verlangen.

In der Dämmerstunde saß Enute mit ihrer Tochter allein zusammen. Sie hatte den Kopf des Kindes sich an ihr Herz gelegt und lauschte den zaghaften Worten, mit denen das junge Mädchen ihr die kurze Geschichte ihrer Liebe schilderte. Wie sie ihn bleich in den Kissen liegen sah, wie das Mitleid in ihr erwachte und die Teilnahme an dem Unglücklichen von Tag zu Tag wuchs… „Und er war immer so traurig, liebes Muttchen. Manchmal erzählte er mir von seinen Eltern, die schon tot sind, am meisten aber von seiner Mutter, die so stolz und so schön gewesen sei wie du. Und in der Welt ist er herumgekommen! Bis nach England und Frankreich.“

„Hat er dir seine Liebe gestanden?“

„Wo denkst du hin, Muttchen! Eines Tages, ich glaube, es war heute vor acht Tagen, hatte er das Kreisblatt gelesen, und da stand drin, daß die Russen wieder ein polnisches Heer geschlagen hatten bei dem Schloß Wieromierce, bei seinem Schloß, und dann haben die Russen sein Schloß verbrannt. Den ganzen Tag hatte er sich eingeschlossen. Abends fand ich ihn im Wohnzimmer.... Er saß am Ofen und spielte Gitarre und sang dazu. Da konnte ich mich nicht halten. Ich mußte zu ihm treten und ihm das Haar streicheln. Da faßte er meine Hand, wir faßten uns um, küßten uns und weinten zusammen.“

Enute mußte unwillkürlich über diese sonderbare Art, sich zu verloben, lächeln. Aber sie unterdrückte diese Anwandlung und fragte ernst:

„Dann hat euch nur das Mitgefühl zusammengeführt. Oder glaubst du wirklich, daß du nicht von ihm lassen kannst?

Statt der Antwort umfaßte Madeline die Mutter und preßte sie an sich.

„Fedor kann vorerst nicht hierbleiben, mein Kind. Er muß weg. Das soll für euch die Probezeit sein. Wird er dir untreu oder findest du einen anderen, der dir besser gefällt, dann habt ihr euch eben geirrt.“

In den letzten Stunden ihres Zusammenseins durften sich Madeline und Fedor als Verlobte betrachten. Enute glaubte zu sehen, daß sich zwischen den beiden eine Neigung entwickelt hatte, die auch eine längere Trennung überdauern würde. Spät am Abend kam Jons. Er aß und trank tüchtig, und schlief noch ein paar Stunden bis zur Abfahrt. Um Mitternacht hielt der Schlitten vor der Tür. Ein herzzerreißender Abschied, — dann eilte Fedor hinaus. Der Gaul zog an, und langsam verklang die kleine, schrille Glocke in der Ferne.

***

Am anderen Morgen fuhr Madeline mit der Mutter nach Hause. Sie hatte nicht nachgelassen zu bitten, bis die Mutter einwilligte, sie mit sich zu nehmen. Der kleine Schwerenöter von Leutnant konnte jetzt ihrem Herzen nicht gefährlich werden. Zu Hause empfing sie der Hauptmann mit komischen Vorwürfen über ihr langes Ausbleiben. Er habe es vor langer Weile nicht aushalten können und schließlich mit sich selbst Sechsundsechzig gespielt.

Es berührte Enute angenehm, daß er Madeline in einem sozusagen väterlichen Tone begrüßte und sie einfach „mein Kind“ ansprach.

Auch in der Folge behielt er mit sicherem Takt diesen Ton bei, der viel dazu beitrug, Herrn Mac Lean in Schranken zu halten, der sofort seine sechs Oberförstertöchter verließ, um Madeline die Cour zu schneiden. Er hatte aber kein Glück damit. Madeline war wie umgewandelt. Früher lustig bis zur Ausgelassenheit, war sie jetzt ernst und zurückhaltend; die Liebe hatte sie gereift.

Der Hauptmann bewarb sich immer deutlicher um Enute. Er erzählte ihr, wie er, als jüngerer Sohn eines recht kleinen Majorats früh ins Kadettenkorps gesteckt, aufgewachsen sei, ohne das Elternhaus und Elternliebe recht kennen gelernt zu haben. Als Leutnant hatte er das Törichtste getan, was er anstellen konnte, er hatte sich in eine Dame verliebt, die so unerreichbar hoch über ihm stand wie die Sterne. Da war er eben Junggeselle geblieben und mit Gottes Hilfe siebenunddreißig Jahre alt geworden.

„Da bist du bald so alt wie ich“, bemerkte Enute trocken dazwischen, „ich bin zwei Jahre älter.“

Mit feinem Takt warf Madeline, die bei dem dürftigen Schein eines Lichts an einer feinen Stickerei arbeitete, ein:

„Aber, nicht wahr, Herr Hauptmann, Mutter sieht so aus, als ob sie noch nicht dreißig wäre.“ Natürlich beeilte sich der Hauptmann, ihr zuzustimmen.

Madeline hatte sofort erkannt, mit welchen Absichten sich der Gast ihrer Mutter näherte, und mit weiblichem Gefühl hatte sie auch beobachtet, daß das stille, aber beharrliche Werben des stattlichen Mannes auf ihre Mutter nicht ohne Eindruck geblieben war. Im ersten Augenblick trat das Andenken an ihren Vater störend dazwischen, als sie aber sah, wie es um ihre Mutter stand, da hatte sie dieses Gefühl tapfer niedergekämpft und ihrer Sympathie für den Mann, der ihr Stiefvater werden wollte, offen Ausdruck gegeben. Sie glaubte es ihrer geliebten Mutter schuldig zu sein, dies Bedenken, das in einer Rücksicht auf sie bestehen konnte, hinwegzuräumen.

Eines Tages kam Jons zurück. Er brachte einen langen Brief von Fedor, eigentlich ein Tagebuch, das auf jeder Station seines Weges bis zur Bahn sich um einen reichlichen Beitrag vermehrt hatte. Der Hauptmann überraschte sie eines Tages, als sie mit hochgeröteten Wangen das Schriftstück zum zehntenmal studierte.

Das Gerücht von der Verlobung Madelines mit dem polnischen Flüchtling war ihm auch zu Ohren gekommen, daher schlug er deutlich, aber taktvoll auf den Busch. Ohne Rückhalt gab Madeline die Tatsache zu und schloß daran die Bitte, dem Herrn Leutnant den Besuch der Oberförster wieder nahe zu legen. Der junge Herr hatte in der letzten Zeit die Taktik seines Vorgesetzten befolgt und die große Stube auf dem litauischen Ende des Hauses auffallend oft besucht, um den Frauen Gesellschaft zu leisten.

Der Hauptmann lachte.

„Mac Lean wird untröstlich sein, wenn Sie ihn aus dem Paradies vertreiben. Zu den schnöde verlassenen Oberförstertöchtern kann er nicht mehr zurück, obwohl sie ihn wieder mit offenen Armen aufnehmen würden. Da wird er wohl unsolide werden müssen.“

„Ich kann dem jungen Herrn leider nicht helfen! Weshalb meidet er das gastliche Haus, das ihm so freundlich ohne jeden Hintergedanken Zerstreuung bot.“

Nach einer kleinen Pause fuhr sie fort, während ihre Augen den Hauptmann schalkhaft anblitzten:

„Ihnen war er doch auch hier im Wege, Herr Hauptmann?“

„Sie sind eine scharfe Beobachterin, kleine Madeline. Aber ich weiß nicht, wie ich Ihre Äußerung deuten soll... Darf ich annehmen, daß Sie... nun, sagen wir offen… daß Sie mir nicht im Wege sein werden?“

Offen sah das Mädchen dem Mann ins Auge und reichte ihm die Hand.

„Nein, Herr Hauptmann! Erst habe ich ein sonderbares Gefühl überwinden müssen, aber dann habe ich mir gesagt: wenn mein geliebtes Muttchen von einem guten Mann geliebt wird, welches Recht hätte ich, mich dazwischen zu stellen.“

Bewegt küßte der Offizier ihr die Hand.

„Mein liebes Kind, Sie haben eben das einzige Bedenken beseitigt, das mich bisher noch störte.“

Dann fuhr er mit lustiger Miene fort: „Ist es nicht sonderbar, daß ich bei der Tochter um die Hand der Mutter anhalte?“

Auch Madeline mußte über diese Auffassung der Situation lächeln.

Am Abend war der Hauptmann ausnahmsweise nicht zu Hause. Die russischen Offiziere vom Grenzkordon hatten ihren Besuch angesagt. Durch einen reitenden Boten hatte der Hauptmann sie sofort nach dem Wirtshaus des Dorfes eingeladen. Das große Honoratiorenzimmer war einer besonders eingehenden Säuberung unterzogen worden, obwohl die dicke Georginne, die Wirtin, erklärt hatte, die Russen würden sich darin unbehaglich fühlen.

Am Abend brauste eine Reiterschar durchs Dorf, die russischen Offiziere hatten zu dem freundschaftlichen Besuch einen ganzen Pulk Kosaken als Eskorte mitgebracht. Die armen Kerle! Die ganze Nacht hindurch saßen sie in der großen Gaststube umher oder lagen in der Einfahrt bei ihren Pferden. Der Morgen graute bereits, als die Gaste Abschied nahmen. Der eine und der andere mußte freilich aufs Pferd gehoben werden, aber sowie die Füße im Steigbügel standen, saßen die Kerle wie angeklebt.

Es war schon ziemlich spät am Nachmittag, als der Hauptmann zum Vorschein kam. Die Haare taten ihm weh, und vorsichtig ließ er sich nicht den Trakehner satteln, sondern seine alte „Liese“, mit Rücksicht auf seine schmerzhaften Haare. Als er später wie gewöhnlich nach Hause kam, sprang ihm Madeline entgegen.

„Das war `ne scharfe Sitzung, nicht wahr?“

„Ja, mein Kind, mit den Russen mag der Teufel mithalten. Die Kerle bekamen zuletzt nur noch aufgekochten Rum, während wir reinen Tee tranken, aber trotzdem hielten sie aus bis zum Morgen.“

Dann wandte er sich an Enute, die ihm eben einen großen Krug mit Alaus hinstellte.

„Das soll ich austrinken, bei meinem Zustand?“ Aber er überwand sich und tat einen Trunk, der sich ziemlich lange ausdehnte. Der säuerliche Geschmack tat ihm wohl. Er merkte dabei, wie Frau Enute ihn mit einem Blick anschaute, in dem mehr als Teilnahme lag.

„Sie haben noch Mitleid mit mir?“

„Eigentlich sollte ich es nicht haben, denn wer mit solchen Banditen die ganze Nacht trinkt... nimm nicht übel, Herr, aber ich glaube, du bist zu gut dazu, mit den Russen die Nacht zu — trinken.“

„Zum Vergnügen habe ich's wirklich nicht getan... Das sind die unangenehmen Folgen unserer freundschaftlichen Beziehungen. Schön war's nicht... das gebe ich gerne zu. Die Herren Kameraden haben kein anderes Interesse als die Pferde und die Hunde. Man kann mit ihnen nicht einmal über militärische Dinge sprechen, denn ihre Kunst geht nicht über die paar Griffe und Schwenkungen hinaus. Und mit dem Gesindel soll man noch monatelang Freundschaft hallen!“ Madeline hatte sich still entfernt, die Margellen hatten ihre Schibber gelöscht und mit einem Knix „Gute Nacht“ gewünscht. Im Kamin flackerte noch ein bläulicher Schein über den Kohlen. Der Offizier hatte den Kopf in die Hand gestützt und sah nachdenklich vor sich hin.

„Jetzt begreife ich auch, daß Sie die Russen nicht leiden können. Wenn nur die Hälfte davon wahr ist, was ich heute nacht gehört habe, dann müssen hier greuliche Zustände herrschen.“

„Sie haben dir nicht alles erzählt, Herr, denn sonst hättest du nicht mit ihnen zusammen sitzen können.“

„Frau Enute, ich bin froh, daß Sie mir vorher die Augen geöffnet haben, sonst hätte ich die Herren Kameraden womöglich hier im Hause empfangen.“

Enute stand auf, ihre Augen leuchteten. „Nein, Herr, ich danke dir, ich danke dir vielmal von Herzen, daß du mir das erspart hast.“

„Frau Enute, das war selbstverständlich; es tut mir nur leid, daß ich aus Rücksicht auf meine Stellung hier den Besuch nicht ablehnen konnte. Aber erwidert wird er nicht, eher ziehe ich den bunten Rock aus...“

„Herr, willst du das noch einmal sagen?“

„Gewiß, das ist mein voller Ernst. Mit solchem Gesindel freundschaftlichen Umgang pflegen — das steht mir nicht an.“ Er stand auf und faßte ihre Hände.

„Erstens bin ich als preußischer Offizier nicht gewohnt, mit Leuten zu verkehren, die sich in der Betrunkenheit aller möglichen Schuftereien rühmen... und zweitens kann ich's nicht vergessen, daß es die Lumpen sind, die Ihnen das Recht verweigert haben, als Sie den Mörder suchten.“

Er setzte sich wieder hin. Da fragte Enute mit seltsamem Klang in der Stimme: „Und was gedenkst du zu tun, wenn du den Dienst aufgibst?“

Er zuckte die Achseln. Da fragte sie noch einmal:

„Hast du nicht soviel Mut, auszusprechen, was du denkst?“

Zweifelnd sah der Hauptmann die Frau an, die in sichtlicher Erregung vor ihm stand. Dann zog er sie zu sich heran und umfaßte sie.

„Enute, ist's möglich?“

„Ja, wenn du dir solch ein altes Weib antrauen lassen willst. Aber erst möchte ich dich fragen, ob du wirklich den bunten Rock ausziehen willst. Du kannst als Offizier keine Bauerfrau heiraten, die nichts gelernt hat, und ich kann das Gut nicht verkaufen. Da müßtest du schon lernen, Bauer spielen.“

„Alles, was du willst, werde ich lernen!“

Der Hauptmann wollte sofort seinen Abschied einreichen, doch Enute war dagegen. Sie bat ihn, diesen Schritt erst zu tun, wenn das Kommando an der Grenze beendigt wäre. Als der Mann die Notwendigkeit, noch Monate damit zu warten, nicht einsehen wollte, erklärte ihm Enute lachend, sie möchte keinen anderen Hauptmann für die Zeit im Hause haben. Und sie wären alt genug, um auch als heimlich Verlobte noch einige Zeit unter einem Dache leben zu können. Eben hatten sie beschlossen, Madeline von dem Ereignis in Kenntnis zu setzen, als sie selbst eintrat. Sie machte keine Worte, sondern trat auf die Mutter zu, gab ihr einen Kuß, und dann küßte sie dem Hauptmann die Hand wie eine Tochter. Dann wandte sie sich um und glitt still zum Zimmer hinaus.

Es mochten etwa vierzehn Tage verflossen sein, da gab es großen Trara auf dem Hofe. Leutnant Mac Lean hatte vormittags in dienstlicher Angelegenheit über die Grenze reiten müssen. Gegen Abend kehrte er zurück, aber nicht allein. Sechs russische Offiziere begleiteten ihn, darunter der Kordonmajor. Ihrem Auftreten konnte man es deutlich anmerken, daß sie alle nicht mehr ganz nüchtern waren. Mac Lean ging hinüber in die Wohnstube und bat Frau Enute, sie möchte ihm für seinen Besuch einige Flaschen Wein ablassen und etwas zu essen besorgen. Höflich, aber bestimmt wurde sein Verlangen abgeschlagen. Er bat noch einmal in der Annahme, daß man ihn nicht verstanden habe. Umsonst. Er erhielt dieselbe Antwort.

In seiner Bestürzung über den ihm unerklärlichen Fall schickte der junge Mann nicht ohne weiteres nach dem Dorfkrug zur Frau Georginne, die in diesen Kriegsläuften außer dem landesüblichen Muskateller einen ganz trinkbaren Rotwein angeschafft hatte, sondern er ging hinüber zu den Russen und bat sie um Entschuldigung, daß er sie einladen müsse, mit ihm in den Dorfkrug zu kommen, da seine Wirtin ihm nichts verabfolgen könnte oder wollte.

Der dicke Major, der sich's gerade in der Sofaecke bequem gemacht hatte, sprang empor.

„Oh, bitte, Herr Kamerad, das ist eine Unmöglichkeit. Ich kenne Ihre Wirtin! Eine forsche Frau! Eine scharmante Frau! Werde ich `rüber gehen und bitten. Bekomme ich keinen Korb.“

Frau Enute stand gerade am Kamin, als der Russe eintrat.

Ehe sie sich versah, hatte er ihre Hand ergriffen und einen Kuß darauf gedrückt.

„Süße, goldene Herrin, komme ich mit großer Bitte. Werden Sie nicht dürsten lassen Ihre Gäste!“

„Ihr seid nie meine Gäste gewesen und werdet es nie sein.“

Der Ton war so deutlich, daß der Russe ihn trotz seines Zustandes verstand. Aber er bezwang sich und wiederholte seine Bitte, allerdings in nicht mehr ganz höflicher Form. Da flammte es in der Frau auf.

„Wenn Ihr zu dem preußischen Offizier kommt, kann ich es nicht hindern. Aber wenn Ihr hier meine Stube betretet, dann rufe ich meine Knechte und lasse Euch `rausbringen... Dort ist die Tür!“

Da verlor der Russe die Selbstbeherrschung und faßte Frau Enute mit hartem Griff übers Handgelenk.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, der Hauptmann trat ein.

Mit einem Sprung war er neben dem Russen.

„Was soll das heißen, Herr Major?“

Hinter ihm war Jons eingetreten. Der machte nicht so viel Umstände. Ehe der Russe sich's versah, hatte der Alte ihn zu Boden geworfen und ihn am Halse gepackt, daß ihm unter dem Griff die Augen aus dem Kopfe quollen.

Der Hauptmann hatte Mühe, den Alten wegzureißen.

Kreidebleich erhob sich der Russe und rief im Abgehen der Hausfrau ein schmutziges Schimpfwort zu. Der Hauptmann verstand leider das Wort. Seiner Erregung nicht mächtig, vertrat er dem Major die Tür. Der Russe hielt es für praktischer, laut um Hilfe zu rufen, über den Flur stürmten die anderen Russen, hinter ihnen die Kosaken, die draußen bei den Pferden Posten standen. In der Flurtür stand Mac Lean und rief mit lauter Stimme die Soldaten an, die der russische Besuch herbeigelockt hatte.

In diesem kritischen Augenblick wandte sich der Hauptmann in französischer Sprache an die russischen Offiziere.

„Meine Herren, es ist soeben ein Ehrenhandel entstanden zwischen mir und dem Herrn Major, der die Dame des Hauses tätlich beleidigt hat. Ich bitte Sie, die überflüssigen Zeugen dieses Auftritts zu entfernen, damit wir Offiziere die Sache unter uns austragen können. Leutnant Mac Lean“, fuhr er in deutscher Sprache fort, „schicken Sie die Leute zurück.“

Einige Minuten später hatte ein blutjunger russischer Leutnant dem Hauptmann eine Forderung des Majors auf Pistolen unter den allerschwersten Bedingungen überbracht. Mac Lean ging mit der Antwort zurück, der Hauptmann akzeptiere im Prinzip die Forderung, aber er sei nicht imstande, eine bindende Antwort zu geben, da er gemäß seiner Instruktion dem Regimentskommandeur und dem Ehrenrat die Entscheidung in solchen Fällen überlassen müsse. Von diesen Instanzen würde der Herr Major Antwort erhalten.

Enute war von dem Vorfall aufs tiefste erschüttert. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie die Tragweite ihres Verhaltens nicht erkannt hätte. Der Hauptmann beruhigte sie, aber dann schloß er sich in sein Zimmer ein, um die Berichte zu verfassen, die noch in der Nacht durch einen reitenden Boten nach Gumbinnen befördert werden mußten.

Hundertmal schlich Enute auf den Hof, um zu sehen, ob noch Licht aus den Fenstern des Hauptmanns schimmerte. Endlich griff sie Mac Lean auf, der die Briefe zum Schulzen getragen hatte, wo der Gendarm schon lange wartete. Als er zurückkam, zog ihn Enute in die Stube und ließ sich alles erklären, vor allem, an wen und weshalb der Hauptmann geschrieben.

Eine Viertelstunde später jagte der mit zwei Trakehnern bespannte Schlitten zum Hof hinaus. Beim Aufsteigen sagte Enute zu Jons:

„Laß laufen, was Zeug und Riemen hält. Pferdefleisch hat heute keinen Wert.“

„Die paar Meilen!“ brummte der Alte und ließ den jungen, gegen die Zügel stürmenden Rappen freien Lauf. Kurz hinter Pillkallen überholten sie den Gendarmen, der auf seinem steifen Dienstpferd in der tiefen Schneebahn schlecht vorwärts kam.

Der alte Oberst in Gumbinnen erstaunte nicht wenig, als kurz vor Mitternacht eine hochgewachsene Frau in das Spielzimmer des Hotels trat, wo er mit einem Regierungsrat und dem Präsidenten seinen gewohnten L'hombre drosch, und ihn in dringender Angelegenheit zu sprechen verlangte. Aber noch mehr erstaunte er, als er erfuhr, was sich zugetragen. Enute hatte rücksichtslos von der Leber gesprochen. Als sie zum Schluß kam, fragte der alte Herr höflich, aber doch mit deutlicher Abweisung, ob sie glaubte, daß der Bericht des Hauptmanns, der noch nicht angelangt sei, weniger enthalten würde oder weswegen sie sich bemüht hätte.

Enute sah den Oberst von oben bis unten an.

„Vor drei Jahren warst du höflicher, Herr, als du mich und die anderen litauischen Frauen zum Könige führtest.“

Dem alten Herrn war das Gesicht zwar gleich bekannt vorgekommen, er hatte sich aber nicht entsinnen können. Jetzt erinnerte er sich: das war die reiche Litauerin, an der der Monarch ein ganz außerordentliches Interesse genommen hatte. Sofort änderte sich sein Ton; er fragte, ob irgendein Wunsch die Dame zu ihm geführt hätte.

„Das hättest du dir schon früher denken können, sonst hätte ich nicht in der Nacht den weiten Weg hierher gemacht. Der Hauptmann soll sich mit dem Russen schießen. Das kann nicht geschehen. Ein ehrlicher Mann kann die Ehre nicht einem Lumpen erweisen.“

Vom Oberst aufgefordert, erzählte nun Enute, daß sie dem russischen Major tausend Rubel in die Hand gedrückt, damit er ihr helfe, den Mörder ihres Mannes zu entdecken.

Ob sie ihre Aussage beschworen könne, fragte der Oberst.

„Du meinst wohl, Herr, ob ich schwören will. Oder glaubst du, ich komme hierher, um dir etwas vorzulügen?“

Der alte Herr merkte, daß er seine Worte dieser einfachen Frau gegenüber doch etwas vorsichtiger abwägen müsse als in der besten Gesellschaft der Regierungsstadt. Er bat Enute, eine Weile zu verzeihen, bis er den Bericht des Hauptmanns empfangen und den Ehrenrat versammelt habe. Vor den Herren wiederholte Enute ihre Aussage. Dann brach sie auf. Die Pferde hatten vier Stunden geruht, jetzt konnten sie wieder die fünf Meilen laufen. Galant begleitete der Oberst Frau Enute an den Schlitten und versicherte ihr nochmals, es sei undenkbar, daß der Ehrenrat seine Einwilligung zu der Schießerei gäbe. Aber der Hauptmann könne sich darauf gefaßt machen, daß er nach Gumbinnen zurückbeordert würde. Während der Schlitten davonflog, sah der Oberst ihm nachdenklich nach. Ihm war so, als wenn er annehmen müßte, sein bester Hauptmann werde nicht lange mehr beim Regiment bleiben. Und als er die Treppe zum Hotel emporstieg, da hatte er den Gedanken, daß er einer solchen Frau wegen auch den Rock des Königs ausgezogen hätte, vorausgesetzt, daß ihn das Schicksal in eine solche Situation gebracht.

Mit einem starken Gefühl innerer Befriedigung kam Enute zu Hause an. Der Hauptmann hatte sich in sein Zimmer eingeschlossen und schrieb. Am Abend ritt er wie gewöhnlich weg, aber als er zurückkehrte, suchte er nicht die Frauen auf. Enute sagte nichts, aber sie litt darunter, weil sie sich gar nicht erklären konnte, weshalb der Hauptmann sich zurückzog. Daß ihr Eingreifen die Ursache sein könnte, kam ihr gar nicht in den Sinn. Schließlich brachte ihr Mac Lean die Erklärung. Sein Chef befürchtete, daß man ihn als den intellektuellen Urheber ihrer Fahrt und sein Abschiedsgesuch als Bestätigung ansehen könnte.

„Aber nach meinem Gefühl haben Sie richtig gehandelt, Frau Joneleit! Wiewohl ich dem Russen die Kugel gönne, so ist es doch unmöglich, daß ein Ehrenmann solch einem Lumpen gegenübertritt.“

Am anderen Abend kam ein Stabsoffizier aus Gumbinnen an, der lange mit einem russischen höheren Offizier im Dorfkruge verhandelte. Schließlich wurde Enute geholt. Sie wiederholte ihre Aussage, daß sie dem Kordonmajor tausend Rubel in die Hand gedrückt.

Als sie sich zum Gehen wandte, trat ein junger russischer Offizier ein, der seinem Vorgesetzten eine kurze schriftliche Mitteilung überbrachte.

In peinlichster Verlegenheit erhob sich der Russe: Die Angelegenheit sei erledigt, sein Kamerad habe eben durch einen Pistolenschuß selbst seinem Leben ein Ende gemacht.

Eine kurze, gemessene Verbeugung... die Sache war aus —

***

Im Mai des nächsten Jahres trat der Hauptmann a. D. mit seiner Frau Enute die Hochzeitsreise nach Paris an. Madeline begleitete die Eltern; sie sollte in der französischen Hauptstadt ihre Hochzeit mit Fedor Jedlinsky feiern.

Die Litauer duzen jedermann.

Herr.

Guten Tag!

Grenzwache.

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