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Effi Briest

Wie viele Romane und Erzählungen Fontanes geht Effi Briest auf eine wahre Begebenheit zurück: die Geschichte von Armand Léon Baron von Ardenne und seiner Frau Elisabeth (Else), geborene Freiin von Plotho. Elisabeth heiratete ihn offenbar aufgrund einer Intervention ihrer Mutter, obwohl sie ihn zuvor abgewiesen hatte. Im Sommer 1881 übersiedelten die Eheleute nach Düsseldorf, wo Ardenne als Rittmeister bei den Husaren diente. Das gebildete, weltoffene Paar versammelte einen großen Freundeskreis um sich, zu dem auch der Amtsrichter Hartwich zählte. Zwischen diesem und Else entwickelte sich ein intimes Liebesverhältnis; beide hatten vor, sich von ihren Ehepartnern zu trennen und zu heiraten. Armand von Ardenne, der inzwischen von der Affäre erfahren hatte, verschaffte sich die Korrespondenz der beiden, reichte eine Scheidungsklage ein und forderte seinen früheren Freund zum Duell, das am 27. November 1887 stattfand. Hartwich erlag wenige Tage darauf seiner Schußverletzung, und am 15. März 1887 wurde die Ehe zwischen Armand und Else rechtskräftig geschieden. Ardenne wurde wegen des Duells zu Festungshaft verurteilt, bald darauf aber begnadigt und konnte seine militärische Karriere fortsetzen. Else durfte die gemeinsamen Kinder nicht wiedersehen; sie widmete sich für den Rest ihres Lebens humanitären Aufgaben und starb 1952, ein Jahr vor ihrem hundertsten Geburtstag.

Fontane, der von diesen Vorfällen angeblich bei einer Tischgesellschaft erfuhr, begann im Jahr 1888 mit Vorarbeiten zum Roman, den er allerdings erst sechs Jahre später beendete; übrigens verarbeitete sein Kollege Friedrich Spielhagen, seinerzeit ebenso bekannt wie Fontane, dieselben Ereignisse zu einem Roman mit dem Titel Zum Zeitvertreib.

Gegenüber den tatsächlichen Begebenheiten ist die Handlung des Romans stark verändert, und das offenbar nicht nur aus Gründen der Diskretion - angefangen beim großen Altersunterschied des Paares (Effi ist zum Zeitpunkt der Eheschließung 17, Innstetten 38) bis hin zum frühen Tod der Heldin. Effis Seitensprung ist weniger das Ergebnis ihres eigenen Willens als vielmehr ihrer Unfähigkeit, sich dem Willen des Majors Crampas zu widersetzen. Scheidung und Heirat ziehen Effi und Crampas nie ernsthaft in Erwägung, auch wenn Effi einmal von »Flucht« spricht. Innstetten sucht nicht mit Absicht nach Beweismaterial für eine Scheidung, sondern stolpert zufällig darüber und glaubt, der Pflicht zur Wiederherstellung seiner Ehre durch ein Duell genügen zu müssen. So ergibt sich, viel mehr als es in der Realität der Fall gewesen sein dürfte, das Bild einer verhängnisvollen Verstrickung, die Crampas und Effi das Leben kostet und auch Innstetten ohne wirkliche Genugtuung zurückläßt.

Aber wie kommt es zu dieser Katastrophe? Unübersehbar ist eine der Ursachen in Effis Charakter angelegt - denn obwohl ihr eindeutig die Sympathie des impliziten Erzählers gilt, ist sie doch ein typisches Beispiel für Fontanes im Alter zunehmend kritischer gewordene Sichtweise der bürgerlichen Frau. Einer Leserin schrieb er:

Ja, Effi! Alle Leute sympathisieren mit ihr und Einige gehen so weit, im Gegensatze dazu, den Mann als einen 'alten Ekel' zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, giebt mir aber auch zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten 'Moral' liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind. [...] Denn eigentlich ist er doch in jedem Anbetracht ein ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar, dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt.

Dem heutigen Leser, dem das Ritual des Duells völlig fremd ist, mag Innstetten noch unsympathischer erscheinen als den Zeitgenossen und Effi daher noch unschuldiger und bemitleidenswerter. Doch der Text präsentiert sie keineswegs ausschließlich als Opfer: weder einer besonderen Grausamkeit Innstettens noch der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Einer von Effis hervorstechenden Charakterzügen ist zweifellos ihre Eitelkeit. Allerdings wird schon zu Beginn des Romans deutlich gemacht, daß ihr Ehrgeiz, etwas Besonderes zu sein, ein von der Mutter übernommener Anspruch ist: Als Innstetten um Effis Hand anhält, treibt Luise von Briest ihre Tochter regelrecht in die Ehe: »[...] und wenn du nicht 'nein' sagst, was ich mir von meiner klugen Effi kaum denken kann, so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen. Du wirst deine Mama weit überholen.« Dieser Ratschlag fällt bei Effi auf fruchtbaren Boden. War sie vorher noch der Meinung, Innstetten sei »ältlich«, so verkündet sie kurz darauf: »Gewiß ist er der Richtige. [...]. Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.« Und als ihre Mutter sie fragt, ob sie Innstetten denn nicht liebe, antwortet sie: »Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen und gütig gegen mich sind und mich verwöhnen. Und Geert wird mich auch wohl verwöhnen. [...] Geert ist ein Mann, ein schöner Mann, ein Mann, mit dem ich Staat machen kann und aus dem was wird in der Welt.«

Effis Eitelkeit ist lediglich die einer 'Tochter aus gutem Hause'; im Grunde genommen begreift sie die Eheschließung nicht anders als ein neues Spiel. Das Bild des schaukelnden Mädchens im ersten Kapitel steht metaphorisch für die noch nicht erlangte Reife, die von vornherein eine partnerschaftliche Beziehung kaum zuläßt. So kann sie nur rein äußerlich die ihr zugewiesene gesellschaftliche Rolle als Ehefrau erfüllen. Immer noch Kind, sucht sie weniger nach einer emotionalen Bindung, sondern sehnt sich nach »Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile.«

Und was ihr Sorgen macht, ist die Tatsache, daß Innstetten ein »Mann von Grundsätzen« ist. »Ach, und ich ... ich habe keine.« In Effis Charakter sind moralische Normen noch so gut wie gar nicht verankert, ganz im Gegensatz zu Innstetten, der ein Ausbund von Pflichtbewußtsein und Korrektheit ist - und aus dieser Konstellation ergibt sich das spätere Verhängnis.

Die Eltern, genauer: die Mutter sehen sehr wohl den sich anbahnenden Konflikt. Luise von Briest weiß, daß Instetten Effis Bedürfnissen nicht gerecht werden kann: »Und was das Schlimmste ist, er wird sich nicht einmal recht mit der Frage beschäftigen, wie das wohl anzufangen sei.« Doch in Erfüllung der gesellschaftlich vorgegebenen Konvention befürwortet sie die standesgemäße Eheschließung der Tochter, ebenso wie sie selber achtzehn Jahre zuvor auf eine Heirat mit Instetten verzichtet hatte. Geschieht bei der Mutter die Unterdrückung der eigenen (und Effis) persönlichen Wünsche durchaus bewußt, so ist Effis Vater vollständig in der Konvention aufgegangen. Der Verlust einer individuellen Persönlichkeitsstruktur drückt sich nicht nur in der Unfähigkeit zu einer eigenen Meinung aus, sondern ist sinnbildhaft in der Wiederholung der Redewendung »Das ist ein weites Feld« auf sprachlicher Ebene kodiert.

Das gemeinsame Eheleben in der Kleinstadt Stettin gestaltet sich dann eigentlich erwartungsgemäß. Instetten, ganz mit seiner Karriere beschäftigt, verbringt einen Großteil seiner Zeit außer Haus und läßt Effi dabei weitgehend isoliert zurück, zumal sie auch im Ort selbst kaum standesgemäße Kontakte knüpfen kann. So verharrt sie in ihrer noch sehr kindlichen Vorstellungswelt, was sich an ihrer Empfänglichkeit für die Spukgeschichte zeigt, die ja von Innstetten als eindeutig erzieherisches Mittel eingesetzt wird.

Nach und nach baut sich Effi eine Kindheitskonstellation auf mit dem Apotheker Gieshübler als 'Ersatzvater', Roswitha als Kindermädchen und schließlich der eigenen Tochter als »liebes Spielzeug«.

Trotzdem wird Effi erwachsen. Auf Dauer kann diese Konstruktion ihre Bedürfnisse als Frau kaum befriedigen, und Innstetten ist aus offensichtlichen Gründen nicht der Mann, der die entstehende emotionale Lücke füllen könnte. Die Affäre mit Crampas erscheint unter diesen Umständen als geradezu vorprogrammiert: »die Kugel war im Rollen, und was an einem Tage geschah, machte das Tun des anderen zur Notwendigkeit«. Effis Kommentar bezieht sich zwar auf ihre Begegnungen mit Crampas, läßt sich aber durchaus auf die vorangegangene Entwicklung ausdehnen.

Doch im Grunde genommen ist die Figur Crampas' austauschbar, denn er füllt nur vorübergehend eine Leerstelle aus - und auch er ist keineswegs an einer dauerhaften Verbindung mit Effi interessiert. So gestaltet sich der Ehebruch ebenso konventionell wie vorher die Eheschließung, und als der Umzug nach Berlin das Verhältnis beendet, ist Effi eher erleichtert und identifiziert sich bald mit ihrer Rolle als Ehefrau und Mutter, die sie jetzt erst für sich annimmt.

Damit hätte die Geschichte ein harmloses Ende nehmen können, aber Innstettens zufälliges Entdecken der Briefe nach sechs Jahren setzt neue Mechanismen in Gang. Wieder ist 'die Kugel im Rollen', diesmal allerdings durch den rigiden Ehrenkodex, dem Innstetten verpflichtet ist. »Fühlen Sie sich so verletzt, beleidigt, empört, daß einer weg muß, er oder Sie?« fragt Wüllersdorf, und Innstetten verneint. Aber seine persönliche Bereitschaft, die Angelegenheit zu vergessen, zählt nichts gegen die Macht der gesellschaftlichen Norm. »Und dagegen zu verstoßen geht nicht; die Gesellschaft verachtet uns, und zuletzt tun wir es selbst und können es nicht aushalten und jagen uns die Kugel durch den Kopf.«

Mit der nun eintretenden Wende scheint das Schicksal als ideologisch motivierte Gerechtigkeitsinstanz zu wirken. Crampas fällt, Effi wird durch die Scheidung geächtet und stirbt schließlich. Damit wären die 'Täter' bestraft, und Effis spätes Verständnis für die Handlungsweise ihres Mannes käme einer Läuterung gleich: »Was sollt' er am Ende anderes tun? [...] Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist.«

Aber Fontanes Roman ist weit davon entfernt, eine derart vereinfachte Deutung zuzulassen. Schon die Tatsache, daß Effis Vater gegen den Willen der Mutter die kranke Tochter nach Hause holt, stellt den Sinn der starren Verhaltensmuster in Frage: »Aber das ist nun schon wieder eine halbe Ewigkeit her; soll ich hier bis an mein Lebensende den Großinquisitor spielen?«

Und vor allem die Entwicklung Innstettens entlarvt den Ehrbegriff und die an ihn geknüpften Konsequenzen als unmenschlich. »Rache ist nichts Schönes, aber was Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zuliebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komödie«.

Diese allerdings tödlich endende Komödie verschafft ihm keine Genugtuung - im Gegenteil, sein bitteres Fazit lautet: »Mein Leben ist verpfuscht«. Mögen seine Gedanken an ein Auswandern nach Afrika nicht wirklich ernst gemeint sein, so spiegeln sie doch seine tiefe Skepsis wider: »weg von hier, weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen. Denn gerade das, dieser ganze Krimskrams ist doch an allem schuld.«

Aber mit dieser Einsicht allein können die Verhältnisse nicht geändert werden. Das gesellschaftliche System bleibt erhalten, solange dessen Normen über die Generationen tradiert werden. In der beklemmenden Szene, in der Annie ihrer Mutter wiederbegegnet und gleichzeitig den Kontakt verweigert, wird deutlich, mit welcher Wirksamkeit die über die Erziehung vermittelten Verhaltensregeln ihre Gültigkeit behalten - selbst die engste aller menschlichen Verbindungen, diejenige zwischen Mutter und Kind, ist von der Erlaubnis der Gesellschaft abhängig. Und so erhält Effi nur die stereotype Antwort »O gewiß, wenn ich darf«.

Schach von Wuthenow

Wie die meisten Romane und Erzählungen Theodor Fontanes beruht auch Schach von Wuthenow auf einer wahren Begebenheit, die vom Autor allerdings stark verändert und völlig seinen künstlerischen Absichten untergeordnet wurde. Fontane hörte vermutlich im Jahre 1862 zum ersten Mal von der Geschichte des Majors Otto Friedrich Ludwig von Schack, der sich 1815 zur Behebung seiner Finanznöte, zur Heirat mit Victoire von Crayen entschloß. Major von Schack war ein leichtsinniger Lebemann und bekannter Frauenheld, Victoire von Crayen ein gebildetes und feinfühliges, doch leider nicht sehr schönes Mädchen. Noch bevor es zur Verlobung kam, brachte sich Major von Schack um, da er den Spott seiner Kameraden fürchtete.

Fontane hat daraus eine Erzählung gemacht, die mit den tatsächlichen Ereignissen wenig zu tun hat. Zunächst einmal hat er sie in eine andere Zeit verlagert: Die Handlung spielt im Jahre 1806, genauer gesagt beginnt sie Ende April 1806 und endet Mitte September desselben Jahres; den Abschluß bilden zwei Briefe, von denen der erste unmittelbar nach Schachs Tod verfaßt ist, der zweite ein knappes Jahr später. Auf den Tag genau einen Monat nach dem Datum des ersten dieser Briefe liegt eines der bedeutsamsten Ereignisse der preußischen Geschichte: Die Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806. Diese Schlacht bedeutete nicht nur eine Niederlage Preußens gegenüber Napoleon, sie bedeutete viel mehr. Die preußische Armee löste sich nach dieser Schlacht auf, die Festungen und Berlin kapitulierten, das Königspaar floh nach Memel, und Preußen wurde von Napoleons Truppen besetzt. Es war nicht nur der Untergang einer Armee, sondern der Untergang einer Staats- und Gesellschaftsform: Denn das Preußen, das sich nach dieser Schlacht wieder konsolidierte (und im Jahr 1813 den Sieg über Napoleon davontrug), war nicht mehr dasselbe Preußen Friedrichs des Großen, sondern es war das Preußen pragmatischer Staats- und Militärreformer.

Der Untergang des alten Preußens ist also über den ganzen Roman hinweg präsent, auch wenn die Schlacht und ihre Folgen mit keinem Wort erwähnt werden. Von vornherein steht die Geschichte unter dem Zeichen des nahenden Untergangs; schon der Untertitel »Erzählung aus der Zeit des Regiments Gensdarmes« siedelt die Handlung in einer vergangenen Epoche an: Das Regiment Gensdarmes wurde bei Jena und Auerstedt komplett gefangengenommen und nach 1806 nicht wieder aufgestellt.


Fontane beschränkt sich nicht darauf, den Zeitpunkt der Handlung in einer bestimmte historische Situation anzusetzen, er läßt die historische Situation in einer Vielzahl von Figuren lebendig werden, die der zeitgenössische Leser alle mehr oder weniger gut aus der Geschichte kennt. So hat nicht nur der Militärschriftsteller Bülow tatsächlich zu dieser Zeit gelebt, auch der Verleger Sander ist eine historische Persönlichkeit (wenn er auch nicht der Verleger der Schriften des historischen Bülow war). Auch Alvensleben, Nostiz und Zieten sind historische Figuren, das Drama Die Weihe der Kraft von Zacharias Werner wurde tatsächlich im Jahr 1806 aufgeführt; August Wilhelm Iffland war einer der berühmtesten Schauspieler dieser Zeit, ebenso gab es den Kapellmeister und Klaviervirtuosen Dussek. Auch die Großen der Geschichte haben ihre Auftritte in der Erzählung: Prinz Louis Ferdinand von Preußen, der vier Tage vor der Schlacht bei Jena und Auerstedt im Gefecht von Saalfeld fiel, die Königin Luise und natürlich König Friedrich Wilhelm III., der der Überlieferung zufolge tatsächlich mit seinen Untergebenen nur im Infinitiv sprach, wie er es mit Schach tut.

Dem Regiment Gensdarmes gehört auch der Titelheld der Erzählung an, und er nimmt innerhalb dieses Regiments eine Sonderstellung ein: Er ist, wie sein Kamerad Alvensleben formuliert, »einer unsrer Besten«. Schach unterscheidet sich von den meisten seiner Regimentskameraden durch seine unbedingte Ernsthaftigkeit und Loyalität. Es ist eine Loyalität aus Prinzip, Schach ist seinem ganzen Selbstverständnis nach ein Vertreter des alten, friderizianischen Preußen. Daß er nie an der militärischen Stärke Preußens zweifelt, sondern - wenige Monate vor dem Untergang - immer noch glaubt, »daß die Welt nicht sichrer auf den Schultern des Atlas ruht als Preußen auf den Schultern seiner Armee«, ist keine in der Realität begründete Überzeugung, sondern ein Ausdruck eben jener unbedingten Loyalität, die jeglichen Zweifel an der preußischen Überlegenheit schlicht verbietet. All das zeichnet Schach keineswegs als Mann von großen intellektuellen Fähigkeiten aus; er ist, wie Victoire sagt, ein Mann, der nur über eine »mittlere Gescheitheit« verfügt.

Bülow, der gleich im ersten Kapitel als Gegenspieler Schachs eingeführt wird, ist ihm zweifellos geistig weit überlegen. Bülow gehört zur Gruppe der »Frondeurs«, er opponiert prinzipiell gegen alle »preußischen Glaubensartikel« und ist überzeugt, daß Preußen gegen das napoleonische Frankreich nicht die geringste Chance hat. Er sieht nicht nur Staat und Militär, sondern auch den Protestantismus im Verfall begriffen. Seine Kritik basiert dabei auf einer reinen Fortschritts-Ideologie: Er sieht überall »Unnatur« und »Künstlichkeit«, und alle »künstlichen Größen« sind seiner Überzeugung nach zum Untergang verurteilt, weil es ihnen an »Kraft« fehlt.

Wie jeder historisch gebildete Leser der Fontane-Zeit weiß, wird Bülow mit seinen Prophezeihungen Recht behalten - Schach steht also mit seinen Überzeugungen von vornherein auf verlorenem Posten. Selbst wenn sein persönlicher Untergang vermeidbar wäre, so wäre doch sein Schicksal als Repräsentant des alten preußischen Staates besiegelt, denn alles, woran er glaubt und wofür er steht, ist zum Untergang verurteilt.

In dieser Situation des historischen Umbruchs ist nun die private Liebesgeschichte zwischen Schach und Victoire angesiedelt. Victoire verliebt sich in Schach, als sie einen Spaziergang in Tempelhof unternehmen, der, wie Victoire später an ihre Freundin schreiben wird, »in mehr als einer Beziehung einen Wendepunkt für uns bedeutete«. Gleichzeitig wird jedoch deutlich, daß Schach ganz eigentümlichen, unzeitgemäßen Idealen nachhängt: Vor dem Bildnis eines angeblichen Tempelritters drückt er seine volle Bewunderung für diese mönchischen Krieger aus, und behauptet, auch er hätte vermocht, als Templer zu leben und zu sterben. Victoire fragt ihn scherzhaft, ob ihn das prachtvolle Kleid der Templer gelockt hätte, »das noch kleidsamer war als die Supraweste der Gensdarmes«. Doch Schach verneint und antwortet: »Glauben Sie mir, in mir lebt etwas, das mich vor keinem Gelübde zurückschrecken läßt.«

Auf dem Heimweg wird noch ein anderer Charakterzug Schachs deutlich, seine Eitelkeit und seine Abhängigkeit vom Gerede der Leute. Als sie sich wieder dem Dorf nähern, wechselt er von Victoire zur Mutter über - denn Arm in Arm mit der liebenswürdigen, aber durch Blatternarben entstellten Victoire will er nicht gesehen werden. Victoire wird also, gleich nach dem Erwachen ihrer Gefühle für Schach, von ihm verletzt und gedemütigt.

Noch will sich Victoire ihre Gefühle für Schach nicht eingestehen; in ihrem Brief an die Freundin Lisette behauptet sie, immer noch eine Hochzeit Schachs mit ihrer Mutter Josephine zu wünschen. Doch in ihrem Antwortbrief sagt ihr Lisette auf den Kopf zu, daß dies eine Selbsttäuschung sei. Victoire ist durch diesen Brief aufgewühlt, hinzu kommt, daß sie ein leichtes Fieber hat. Daß Lisette ihr mit ihrem Brief Hoffnung machen will, stürzt sie nur noch mehr in Verzweiflung - und just in dieser Situation kommt Schach. Die folgende Szene - eine der intensivsten in Fontanes Romanwerk - wird beiden zum Verhängnis. Victoires Gefühle sind in Aufruhr, sie läßt die gewohnte Zurückhaltung fallen, ihre ganze Verbitterung bricht hervor: Sie sei ohnehin nicht in Gefahr, ihren guten Ruf zu verlieren, schließlich sei sie zu häßlich, als daß ein Mann sie begehren könnte. Schach ist irritiert, und zunächst reagiert er ausweichend. Doch Victoire insistiert, sie vergleicht sich mit Mirabeau, dessen Häßlichkeit sprichwörtlich war. Schach ist jetzt geradezu gezwungen, ihr zu widersprechen - nicht nur weil er Victoire tatsächlich gern hat, sondern auch weil sie an seine Ritterlichkeit appelliert. Zunächst will er sie nur trösten, doch dabei gerät er mehr und mehr in Fahrt. Er will ihr ausreden, daß sie häßlich sei, er zitiert eine Äußerung des Prinzen Louis - und ist schon beim Kompliment angelangt. Noch einmal versucht er in die Rolle des Trösters zurückzukehren, und fällt doch in die des Liebhabers hinein: »War ich denn blind? [...] Alles ist Märchen und Wunder an ihnen; ja Mirabelle, ja Wunderhold!«

Was nun geschieht, erfahren wir erst später, als Victoire ihrer Mutter beichtet, daß sie schwanger ist. Warum hat sich der zurückhaltende Schach, der, wie Victoire sagt, »etwas konsistorialrätlich Feierliches« hat, derart hinreißen lassen? Bülow hat eine eindeutige Antwort parat: »Wie lag es denn? Ein Offizier verkehrt in einem adligen Hause; die Mutter gefällt ihm, und an einem schönen Maitag gefällt ihm auch die Tochter, vielleicht, oder sagen wir lieber sehr wahrscheinlich, weil ihm Prinz Louis eine halbe Woche vorher einen Vortrag über 'beauté du diable' gehalten hat.«

Doch so einfach liegt der Fall bei Schach nicht: Dem seltsamen Vortrag von Prinz Louis hat Schach eher mit Widerwillen zugehört, es ist kaum anzunehmen, daß er von diesen Kapriolen sonderlich überzeugt wurde. In der gesamten Szene mit Victoire bleibt Schach - wie überhaupt in der ganzen Erzählung - der Reagierende, man kann sogar sagen: der Überwältigte. Erst als sie aus der Rolle fällt, gibt auch er seine Zurückhaltung auf, erst als ihre aufgewühlten Gefühle hervorbrechen, geraten auch Schachs Gefühle in Wallung, und erst dann sieht er die Worte des Prinzen in einem anderen Licht. Da Schach immer aufrichtig ist und niemandem etwas vorspielt, muß man auch davon ausgehen, daß sein Ausruf »War ich denn blind?« ehrlich gemeint ist: Er sieht Victoire tatsächlich mit anderen Augen, seine Wahrnehmung hat sich für einen Moment verändert. Die Intensität von Victoires hervorbrechenden Gefühlen ist dafür verantwortlich, so daß der Prinz schließlich tatsächlich recht hat mit seiner Behauptung: »wer die Kraft der Liebe hat, ist auch liebenswürdig«.

Wie falsch Bülow Schach sieht und wie wenig er in der Lage ist, seiner Persönlichkeit gerecht zu werden, wird vor allem deutlich, als er behauptet, »Schachs Eitelkeit hat ihn zeitlebens bei voller Herzenskühle gehalten«. Schach mag eitel sein, doch er hat kein kaltes Herz, im Gegenteil ist er mitfühlend und läßt sich viel zu leicht hinreißen.

So ist er durchaus bereit, einer Heirat zuzustimmen, doch das Erscheinen der Karikaturen wirft ihn völlig aus der Bahn, und er tritt eine regelrechte Flucht nach Wuthenow an. Dort treiben ihn die Motten - ein Symbol seiner quälenden Gedanken - aus dem Haus, und er findet erst wieder Schlaf, als er mit einem Boot auf dem See treibt. Diese Szene ist oft als symbolische Vorwegnahme seines Todes gedeutet worden - doch ein anderer Aspekt steht noch mehr im Vordergrund: Als er aufwacht, ist er wirklich erquickt, seine Kraft ist zurückgekehrt, und er nimmt die boshaften Angriffe auf seine Person zumindest für kurze Zeit nicht mehr so ernst. Das naturnahe Leben, so sehr es ihn schreckt, hätte also auch sein Gutes, denn die Natur kann ihn offenbar von dem Druck befreien, den die Gesellschaft ihm aufbürdet. Zurück in der Zivilisation, kommen die quälenden Gedanken bald wieder.

Aber erst ein weiteres Phantasiebild seiner Zukunft, das offensichtlich das erschreckendste für ihn ist, führt die Entscheidung herbei: Er stellt sich vor, daß Victoire und er selbst sich eines Tages für die Ahnengalerie malen lassen würden. Er würde im Rang eines kleinen Rittmeisters zwischen die Bilder seiner Vorfahren einrücken, die allesamt Generäle und Oberste waren, dekoriert mit dem Schwarzen Adlerorden oder dem Pour le Mérit, und das Bild der häßlichen Victoire würde zwischen denjenigen der schönen Frauen hängen. Und so sehr die Lebendigkeit und die kraftvolle Emotionalität Victoires ihn einmal bezaubern konnten - Schach weiß doch, daß der Porträtmaler nichts anderes fixieren könnte als die unschöne Oberfläche. Erst jetzt kommt es zur unwiderruflichen Entscheidung, dem eindeutigen »Nein, nein«.

Als der König ihn aufgrund des Bittgesuchs von Victoires Mutter zwingt, Victoire zu heiraten, bleibt er bei dieser Entscheidung. Er heiratet Victoire, gibt ihr damit seinen Namen und schützt ihre Ehre durch die Legitimation des Kindes. Liebevoll nimmt er von ihr Abschied, dann zieht er die tödliche Konsequenz.

Die beiden Briefe, die den Schluß der Erzählung bilden, reflektieren noch einmal die Person Schachs aus verschiedenen Perspektiven. Bülow, der ihn nie leiden konnte, sieht auch seinen Suizid aus einem verzerrten Blickwinkel. Seiner Überzeugung nach ist der »Schach-Fall« ein Symptom des allgemeinen Zustands der preußischen Gesellschaft, die künstlich und hohl geworden ist. Er sieht ihn als Teilnehmer an einem »Kultus der falschen Ehre«, als Repräsentant einer »Welt des Scheins«, an der auch der preußische Staat zugrunde gehen wird. Hinsichtlich der Gesellschaft und der militärischen Elite liegt Bülow offensichtlich richtig: Wie die von Schachs Kameraden inszenierte »Schlittenfahrt« beweist, geht es einem großen Teil der Offiziere des Eliteregiments wirklich nur darum, von sich reden zu machen. Für sie zählt nur der Effekt, für den sie bereit sind, alle Werte in den Schmutz zu ziehen. Bülow irrt sich nur darin, daß er Schach für einen typischen Repräsentanten dieses Gesellschaftszustands hält. Das Gegenteil ist der Fall: Schach nimmt an der Schlittenfahrt nicht teil, weil er mit der Herabwürdigung Luthers nichts zu tun haben will. Die Werte und Ideale, denen er sich verschrieben hat, verteidigt er nicht nur zum Schein, er will sie mit Leib und Seele verkörpern. Er will der absolut tadellose, in jeder Hinsicht perfekte preußische Offizier sein - und an diesem Perfektionismus geht er zugrunde.

Victoire nimmt ihn völlig anders wahr, sie sieht das Individuum Schach, wo Bülow ein typisches Symptom zu sehen vermeint. Sie ist daher in der Lage, seine wahren Motive zu erkennen: Es war kein verblendeter »Kultus«, dem Schach anhing, es war »die Stimme seiner eigensten und innersten Natur«, die ihn zu seiner Handlungsweise aufrief, denn er war »seiner ganzen Natur nach [...] auf mehr äußerliche Dinge« gestellt. Genau in diesem Punkt wird ihre Einschätzung von der Erzählinstanz, die sich sonst mit Erklärungen stark zurückhält, bestätigt: Schachs Suizid war die Lösung, »die dem Befehle seines Königs und dem Befehle seiner eigenen Natur gleichmäßig entsprach«. Was in Bülows Augen als Willkürakt erscheint, der das bloße Produkt eines allgemeinen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs ist, ist in Wahrheit der Ausdruck einer zutiefst empfundenen inneren Notwendigkeit, die in der individuellen Natur des Menschen Schach begründet liegt.

Das eigentliche Thema der Erzählung Schach von Wuthenow ist also die Würde und der Konflikt, der entsteht, wenn ein Mann seine Würde von der Lächerlichkeit bedroht sieht. Die zentrale Frage, um die der Text kreist, lautet: Ist diese Würde, die so sehr auf Äußerlichkeiten, auf Rang, Orden und schönes Äußeres bedacht ist, bloß Eitelkeit, ein hohles Fixiertsein auf den äußeren Schein? Die Antwort lautet: Nein, nicht in jedem Fall. Wo diese Würde ein innerstes Bedürfnis ist, Ausdruck der individuellen Natur eines Menschen, wo sie einem hohen Ideal entspringt, das auf wirklich geglaubten Werten beruht, dort ist sie kein leerer Wahn. Schach definiert seine Identität auch über Äußerliches, da diese Identität durch Bilder (nämlich die seiner Vorfahren) vorgegeben ist. Er kommt dem Zwang, seine Identität im Bereich des Kulturellen zu definieren, nicht aus - da er seine Identität nicht preisgeben will, bleibt die angedeutete Befreiung, die er im Raum der Natur erfährt, eine bloß theoretische Möglichkeit. Schach wird vom Text nicht als eitler Geck vorgeführt, seine Haltung ist kritikwürdig, da sie andere verletzt und für ihn selbst verhängnisvoll ist, dennoch bleibt er gerade aufgrund dieser Haltung eine eindrucksvolle, respektgebietende Figur.

Der Text zollt seinem Helden Schach diesen Respekt; für sein tragisches, aber notwendiges Geschick gilt letztlich das, was Schach selbst über die Tempelritter sagt: »Das Los und Schicksal aller Erscheinungen, die sich, auch da noch, wo sie fehlen und irren, dem Alltäglichen entziehn.«

Die Erzählung Schach von Wuthenow endet nicht mit einem Untergang, sie endet mit einem Neuanfang. Dieser Neuanfang findet nicht in Berlin statt, sondern in Rom, und er ist keine Fortsetzung der preußisch-protestantischen, sondern er kommt aus der südlichen, katholischen Kultur. Victoire hat sich dem Katholizismus zugewendet, Marienkult und Bilderverehrung sind ihr ebensowenig fremd wie der Wunderglaube. In gewisser Weise bekommt Bülow also noch einmal Recht mit seinen Prophezeihungen: Das Preußentum mitsamt seiner protestantischen Staatsreligion, die auf Rationalität und Nüchternheit festgelegt ist, ist zum Untergang verdammt, in der Emotionalität und im Mysterium des Katholizismus liegt die Zukunft. Die fremde, südliche Kultur kann das, was sonst nur die Natur kann: Sie ist »trostreich und labevoll, und kühl und schön«.



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