Buchbesprechung:
Mit seinem Schelmenroman "Die Blechtrommel" löste Günter Grass 1959 teils heftige Abneigung, teils begeisterte Zustimmung aus und wurde über Nacht berühmt. Vierzig Jahre später erhielt er den Nobelpreis für Literatur.
Mit orientalischer Fabulierlust, erzählerischer Kunst und virtuoser Collagentechnik türmt Günter Grass in "Die Blechtrommel" Geschichte auf
Geschichte und schreckt dabei auch vor furios-ekelhaften Szenen nicht zurück. Häufig wechselt er innerhalb eines Satzes zwischen der ersten und der dritten Person ("Je dicker meine Geliebte wurde, um so mehr steigerte sich Oskars Hass"). Mit dem von Bruno Münsterberg verfassten Abschnitt der Memoiren und dem seitenlangen Zitat aus dem Protokoll über die Aussage Gottfried von Vittlars führt Grass zwei weitere Erzählperspektiven ein. Außerdem ist da noch der theatermäßige Dialog im Kapitel "Beton besichtigen - oder mystisch barbarisch gelangweilt".
Es ist wohl kein Zufall, dass Oskar Matzerath Ähnlichkeiten mit Günter Grass aufweist - der Geburtsort Danzig, die Eltern: der kleine Lebensmittelhändler Alfred Matzerath und dessen kaschubische Ehefrau Agnes, die Ausbildung als Steinmetz -, aber "Die Blechtrommel" ist keine Autobiografie. Auf grotesk verfremdete Weise beschäftigt Günter Grass sich mit dem Nationalsozialismus und der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft, dem Wirtschaftswunder und der kollektiven Verdrängung der jüngsten Vergangenheit.
Ob Günter Grass bei dem bösartigen, blasphemischen und verrückten Monstrum Oskar an Hitler gedacht hat? Jedenfalls hat dieser sich bis zu seiner Verhaftung im November 1923 (zum Beispiel 1922 gegenüber Arthur Moeller van den Bruck) als Trommler bezeichnet.
In der Zeit des Wirtschaftswunders ist Oskar dagegen einer der wenigen, die nichts verdrängen. Er bekennt sich zu seiner Schuld am Tod von Jan Bronski, Alfred Matzerath und Roswitha Raguna und lässt sich sogar von einem Freund als Verdächtiger in einem aktuellen Mordfall anzeigen, um sich in einem Irrenhaus von der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft distanzieren zu können.
Oskar Matzerath ist ein radikaler Neinsager und verkörpert die totale Verweigerung.
Vielleicht hätte Günter Grass den 700 Seiten dicken Roman besser mit dem zweiten Buch beendet - also mit der Abreise aus Danzig -, denn das folgende Drittel fällt m. E. gegenüber der Kraft und Geschlossenheit der Darstellung bis zum Kriegsende etwas ab.
So ist es nicht verwunderlich, dass Volker Schlöndorff sich bei der Verfilmung - "Die Blechtrommel" - auf die ersten beiden Bücher beschränkt.
Auf jeden Fall ist "Die Blechtrommel" ein großartiger, im Doppelsinn des Wortes fantastischer Roman. Hervorzuheben ist auch Günter Grass' unverwechselbare, wohltönende Sprache.