Jagiellonen-Universität
Institut für Germanistik
WS 2004/2005
Vorlesung: Deskriptive Grammatik des Deutschen - Genus Verbi
Leiter: Andrzej S. Feret Ph.D.
Im Deutschen unterscheidet man in der Regel drei Genera Verbi: Aktiv, Vorgangspassiv und Zustandspassiv. Mitunter wird aber die Existenz eines weiteren Genus angenommen, nämlich des sog. Rezipientenpassiv. Als ein weiterer Passivtyp wird auch das deutsche gehören-Passiv erwähnt. Als Passivhilfsverben werden als werden, sein, bekommen angesehen. Die Genera Verbi im Deutschen ergeben als das folgende Paradigma (siehe Anhang).
Das Vorgangspassiv wird mit Hilfe des Partizips II des Vollverbs und des Hilfsverbs werden gebildet, das in allen sechs Tempora auftreten kann. Im Perfekt, Plusquamperfekt sowie Futur II wird dabei das Partizip II von werden um das Präfix ge- reduziert.
Das Zustandspassiv wird mit Hilfe des Partizips II des Vollverbs und des Hilfsverbs sein gebildet, das in allen sechs Tempora auftreten kann. Im Perfekt, Plusquamperfekt sowie Futur II wird die vollständige Form des Partizips II verwendet - gewesen.
Das Rezipientenpassiv wird mit Hilfe des Partizips II des Vollverbs und des Hilfsverbs bekommen gebildet, das auch in allen sechs Tempora auftreten kann.
Das Aktiv ist das meist gebrauchte Genus Verbi, es bezeichnet eine Handlung oder ein Geschehen. Das Aktiv ist täterzugewandt bzw. agensorientiert, denn das Subjekt des Aktivsatzes wird als tätig ausgewiesen. Im Aktiv wird folglich ein Sachverhalt vom Subjekt her gesehen: z. B. Der Junge füttert den Hund.
Derselbe Sachverhalt wird im Passiv vom Objekt bzw. Patiens her gesehen, und zwar entweder als Vorgang (Vorgangspassiv) oder als Resultat des Vorgangs (Zustandspassiv). Im prozessualen Passiv wird folglich ein Sachverhalt als geschehensbezogen und im Verlauf befindlich ausgewiesen, während derselbe Sachverhalt im statalen Passiv als abgeschlossener Zustand erscheint. Im Passiv liegt im Vergleich zum Aktiv nicht die Inaktivität im Blickpunkt, sondern eine Richtungsumkehrung des Geschehens. Das Passiv ist folglich täterabgewandt: z. B. Der Hund wird von Jungen gefüttert. vs. Der Hund wird gefüttert.
Dem nach erscheint das Passiv als eine ökonomische Ausdrucksweise, in welcher der Handelnde nicht genannt werden muss. Die Agensangabe ist jedoch jede Zeit möglich, und zwar als Präpositionalphrase mit von oder durch. Die erstgenannte Präposition wird verwendet:
wenn der Täter ein Lebewesen, vornehmlich eine Person ist: z. B. Der Hund wird von Jungen gefüttert.
wenn als Ursache eines Geschehens keine Person erscheint: z. B. Wir wurden von unseren Gefühlen getäuscht. Dabei kommt die Verwendung der Präpositionen von und durch zur Deckung: z. B. Wir wurden durch unsere Gefühle getäuscht.
Die Präposition durch findet dagegen dann ihre Verwendung, wenn kein eigentlicher Urheber oder Träger des Geschehens genannt wird: z. B. Sie wird durch große Angst aufgehalten. Zweitens erscheint durch dort, wo der Urheber eines Geschehens im Auftrag eines Anderen handelt: z. B.
Das Stadion wird durch Polizisten gesichert. ≈ Die Polizisten handeln im Auftrag einer zuständigen Behörde.
gegenüber:
Das Stadion wird von Polizisten gesichert. ≈ Die Polizisten handeln vom eigenen Antrieb.
Daneben kommen im Passiv andere Präpositionen vor wie mit, seitens.
In den meisten Passivsätzen wird das Agens jedoch nicht angegeben. Dies ist der Fall dort, wo der Urheber oder die Ursache erschlossen werden kann bzw. unwichtig ist bzw. nicht genannt werden kann oder soll: z. B. Gestern wurde meinem Onkel sein Wagen gestohlen.
Im Hinblick auf die Anzahl von Elementen, die innerhalb einer Passivkonstruktion vorkommen können, wird unterschieden zwischen:
eingliedriger Passivkonstruktion, die ausschließlich aus Passivform des Verbs besteht: z. B. Es wird getanzt.
zweigliedriger Passivkonstruktion, in der neben der Passivform des Verbs auch ein substituierbares, persönliches syntaktisches Subjekt angegeben wird: z. B. Der Lehrling wird gelobt.
dreigliedriger Passivkonstruktion, in der neben der Passivform des Verbs und des substituierbaren, persönlichen syntaktischen Subjekts auch das Agens angegeben wird: z. B. Der Lehrling wird von seinem Meister gelobt.
Eindeutig passivfähig kommen Verben mit einem solchen Subjekt vor, das dem Prototyp einer aktiven, kontrollfähigen oder verursachenden Instanz am nächsten steht bzw. diesen vertritt. Dennoch lassen sich bei der Bildung des Vorgangspassivs folgende Einschränkungen nennen:
Wenn beim Verb eine akkusativische Nominalphrase steht, die als Adverbialbestimmung fungiert, wird diese nicht zum Subjektsnominativ im Passivsatz: z. B. Sie tanzt den ganzen Abend. ≈ Den ganzen Abend wird von ihr getanzt. ≠ *Der ganze Abend wird von ihr getanzt.
AcI-Konstruktionen können nicht passiviert werden: z. B. Sie hört ihn schnarchen. ≠ *Er wird von ihr schnarchen gehört.
Modalverben können nicht passiviert werden. Bei einem Modalverb kann jedoch der Infinitiv Passiv stehen: z. B. Das dürfen wir nicht. ≠ *Das wird von uns nicht gedurft. vs. Wir dürfen nicht schnarchen. ≈ Von uns darf nicht geschnarcht werden.
Reflexive Verben können nicht passiviert werden: z. B. Er erholt sich. ≠ *Von ihm wird sich erholt.
Mittelverben sowie allgemein Verben der haben-Relation können nicht passiviert werden: z. B. Er besitzt ein schickes Handy. ≠ *Ein schickes Handy wird von ihm besessen.
Unpersönliche Verben können nicht passiviert werden: z. B. Es gibt noch eine Menge Arbeit. ≠ *Es wird noch eine Menge Arbeit gegeben.
Verben, dessen Subjekt kein Agens ist (kennen, wissen, ähneln, abhängen), können nicht passiviert werden: z. B. Die Note hängt von der Leistung ab. ≠ *Die Note wird von der Leistung abgehangen.
Kopulaverben können nicht passiviert werden: z. B. Er ist reich. ≠ *Von ihm wird reich gewesen.
Verben mit einem Akkusativobjekt, das einen Körperteil bezeichnet (Teil-Ganzes-Relation), können nicht passiviert werden: z. B. Er schüttelt den Kopf. ≠ *Der Kopf wird von ihm geschüttelt.
Verben mit dem Objekt, das einen Betrag oder Inhalt bezeichnet, können nicht passiviert werden: z. B. Der Wagen kostet 1 000 Euro. ≠ *1 000 Euro wird von dem Wagen gekostet.
Verben mit dem Objekt, das einen Zustandsträger bezeichnet, können nicht passiviert werden: z. B. Mich friert. ≠ *Ich werde gefroren.
Verben mit dem Objekt, das in der Bedeutung des Verbs enthalten ist (inneres Objekt), können nicht passiviert werden: z. B. Er starb eines tragischen Todes. ≠ *Eines tragischen Todes wurde von ihm gestorben.
Das Zustandspassiv kann auch nicht ausnahmslos bei allen Verben gebildet werden. Dabei gelten folgende Restriktionen:
Wo das Vorgangspassiv nicht möglich ist, kann es auch kein Zustandspassiv geben.
Intransitive Verben kommen im ZP nicht vor: z. B. Wir danken euch. ≠ *Euch ist gedankt.
Reflexive Verben bilden kein ZP. Es gibt jedoch Verbindungen von sein + Partizip II: z. B. Er ist erholt., die sich auf ein entsprechendes Aktiv zurückführen lassen. Für solche Vorkommen findet man die Bezeichnung Zustandsreflexiv. Dieses lässt einen Sachverhalt als abgeschlossenen Zustand erscheinen, der nun als Resultat eines ihn vorausgegangenen Geschehens andauert. Solche Konstruktionen können aber oft ambig sein, d. h. sie lassen sich nicht nur auf ein entsprechendes Aktiv, sondern auch auf das VP zurückführen. Somit treffen auf sie zugleich zwei unterschiedliche Interpretationen zu: z. B. Er ist rasiert. → Er hat sich rasiert. (ZR) vs. Er ist rasiert. → Er ist rasiert worden. (ZP)
Transitive durative Verben können nicht im ZP verwendet werden. (Das bezeichnete Geschehen hinterlässt keinen dauerhaften Resultat.): z. B. Die Kinder singen ein Lied. ≠ *Das Lied ist gesungen.
Transitive perfektive Verben, deren Objekt einen schwachen Grad der Affiziertheit aufweist (Affizierung des Objekts tritt bei Verben auf, die ein Versetzen in einen neuen Zustand bezeichnen. Affiziert ist ein Objekt, das durch die Verbalhandlung direkt betroffen ist, so dass sich seine Qualität ändert: z. B. den Acker pflügen): z. B. Der Meister lobt den Lehrling. ≠ *Der Lehrling ist gelobt.
In die Peripherie der Passivkonstruktionen gehört das Rezipienten- bzw. Adressatenpassiv. Es ist in so weit ungewöhnlich, als es von Verben mit personalem Dativobjekt gebildet wird, das im Passivsatz zum Subjekt wird. Die Bedeutung des bekommen-Passivs ist um die Personenorientiertheit bereichert, die am ursprünglichen Dativobjekt realisiert wird: z. B. Bisher habe ich meine Arbeiten noch immer erledigt bekommen, auch wenn ich viele Maschinen nicht selbst besaß. Die Konstruktion wird mancherorts als Passivparaphrase angesehen. Zum bekommen-Passiv gibt es auch ein entsprechendes haben-Passiv, das sich dem Erstgenannten genauso verhält wie das sein-Passiv zum werden-Passiv. Man vergleiche das folgende Beispielpaar: Das kranke Pferd hat die Beine bandagiert. ← Das kranke Pferd bekam die Beine bandagiert. Das haben-Passiv erscheint demnach als ein Zustandspassiv zum Rezipientenpassiv.
Zu Passivparaphrasen werden solche aktivischen Konstruktionen gezählt, bei denen als Subjekt nicht das Agens (wie gewöhnlich im Aktiv), sondern eben das Patiens erscheint. Dabei unterscheidet man zwischen Passivparaphrasen ohne modale Nebenbedeutung und jenen mit Modalfaktor der Nezessitativität bzw. Potentialität. Die erstgenannte Gruppe bilden:
bekommen / erhalten / kriegen + Partizip II: z. B. Er bekam die Fräße lackiert. ≈ Ihm wurde die Fräße lackiert.
Funktionsverbgefüge: z. B. Das Buch gerät allmählich in Vergessenheit. ≈ Das Buch wird allmählich vergessen.
reflexive Formen, dessen Subjekt kein Agens ist: z. B. Der gestohlene Wagen findet sich nicht. ≈ Der gestohlene Wagen wird nicht gefunden.
Aktivformen mit reduzierter Valenz (Das Subjekt ist Patiens oder Resultat.): z. B. Die Tür öffnet. ≈ Die Tür wird öffnet.
Dagegen zu den Passivparaphrasen mit modaler Nebenbedeutung gehören:
sein + zu + Infinitiv I: z. B. Die Schuld des Angeklagten ist nicht zu leugnen. ≈ Die Schuld des Angeklagten kann / darf nicht geleugnet werden.
sein + abgeleitetes (deverbales) Adjektiv auf -bar, -lich und -fähig: z. B. Der Test ist bei weitem lösbar. ≈ Der Test kann bei weitem gelöst werden.
es gibt + zu + Infinitiv I: z. B. Es gibt noch eine Menge zu erklären. ≈ Eine Menge muss noch erklärt werden.
bleiben + zu + Infinitiv I: z. B. Hier bleibt doch nicht zu tun. ≈ Hier muss / kann doch nicht getan werden.
lassen + es + sich + Infinitiv I + Modal- und Lokalbestimmung: z. B. In dem Sessel lässt es sich bequem sitzen. ≈ In dem Sessel kann bequem gesessen werden. Dabei kann die Konstruktion um lassen reduziert werden, ohne dass sich deren Bedeutung verändert: z. B. In dem Sessel sitzt es sich bequem. Bedingt kann auch die modale Adverbialbestimmung weggelassen werden: z. B. In dem Sessel lässt es sich sitzen.
gehören + Partizip II: z. B. Das Haus gehört abgerissen. ≈ Das Haus muss / soll abgerissen werden.
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