Zweig Brief einer Unbekannten


Stefan Zweig

Brief einer Unbekannten

Die Hochzeit von Lyon

Der Amoklдufer

Fischer

Bibliothek

FISCHER BIBLIOTHEK

Stefan Zweig

BRIEF EINER UNBEKANNTEN

DIE HOCHZEIT VON LYON

DER AMOKLДUFER

Drei Erzдhlungen

S. Fischer Verlag

›Brief einer Unbekannten‹ erschien erstmals  in dem

Band ›Amok. Novellen einer Leidenscha‹ im Insel-Verlag, Leipzig,

und, als Faksimile-Druck des Manuskripts, in den von

Hanns Martin Elster herausgegebenen

›Deutschen Dichterhandschrien‹

in der Lehmannschen Verlagsbuchhandlung, Dresden.

›Die Hochzeit von Lyon‹ wurde zuerst im August 

veröffentlicht im . He des . Jahrgangs der Zeitschri ›Uhu.

Das neue Monatsmagazin‹, Berlin.

›Der Amokläufer‹ wurde  erstmals publiziert und ebenfalls

in den Band ›Amok, Novellen einer Leidenscha‹, Insel-Verlag,

Leipzig, aufgenommen.

Für diese Ausgabe:

©  S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Satz und Druck; Wagner GmbH, Nördlingen

Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen

Printed in Germany 

 ---

INHALT

Brief einer Unbekannten 

Die Hochzeit von Lyon 

Der Amokläufer 

BRIEF EINER UNBEKANNTEN

Als der bekannte Romanschristeller R. frühmorgensvon dreitägigem erfrischendem Ausflug ins Gebirgewieder nach Wien zurückkehrte und am Bahnhof eineZeitung kaue, wurde er, kaum daß er das Datumьberflog, erinnernd gewahr, daЯ heute sein Geburts-tag sei. Der einundvierzigste, besann er sich rasch,und diese Feststellung tat ihm nicht wohl und nichtweh. Flьchtig ьberblдtterte er die knisternden Seitender Zeitung und fuhr mit einem Mietautomobil inseine Wohnung. Der Diener meldete aus der Zeitseiner Abwesenheit zwei Besuche sowie einige Tele-phonanrufe und ьberbrachte auf einem Tablett dieangesammelte Post. Lдssig sah er den Einlauf an, riЯein paar Kuverts auf, die ihn durch ihre Absenderinteressierten; einen Brief, der fremde Schrizügetrug und zu umfangreich schien, schob er zunächstbeiseite. Inzwischen war der Tee aufgetragen worden,bequem lehnte er sich in den Fauteuil, durchblättertenoch einmal die Zeitung und einige Drucksachen;dann zündete er sich eine Zigarre an und griff nunnach dem zurückgelegten Briefe.

Es waren etwa zwei Dutzend hastig geschriebeneSeiten in fremder, unruhiger Frauenschri, ein Manu-skript eher als ein Brief. Unwillkürlich betastete ernoch einmal das Kuvert, ob nicht darin ein Begleit-schreiben vergessen geblieben wäre. Aber der Um-schlag war leer und trug so wenig wie die Blätter

selbst eine Absenderadresse oder eine Unterschri.Seltsam, dachte er, und nahm das Schreiben wiederzur Hand. »Dir, der Du mich nie gekannt«, stand obenals Anruf, als Überschri. Verwundert hielt er inne:galt das ihm, galt das einem erträumten Menschen?Seine Neugier war plötzlich wach. Und er begann zulesen:

Mein Kind ist gestern gestorben - drei Tage und dreiNächte habe ich mit dem Tode um dies kleine, zarteLeben gerungen, vierzig Stunden bin ich, wдhrend dieGrippe seinen armen, heiЯen Leib in Fieber schьttelte,an seinem Bette gesessen. Ich habe Kьhles um seineglьhende Stirn getan, ich habe seine unruhigen, klei-nen Hдnde gehalten Tag und Nacht. Am drittenAbend bin ich zusammengebrochen. Meine Augenkonnten nicht mehr, sie fielen zu, ohne daЯ ich eswuЯte. Drei Stunden oder vier war ich auf dem hartenSessel eingeschlafen, und indes hat der Tod ihn ge-nommen. Nun liegt er dort, der sьЯe arme Knabe, inseinem schmalen Kinderbett, ganz so wie er starb; nurdie Augen hat man ihm geschlossen, seine klugen,dunkeln Augen, die Hдnde ьber dem weiЯen Hemdhat man ihm gefaltet, und vier Kerzen brennen hochan den vier Enden des Bettes. Ich wage nicht hinzuse-hen, ich wage nicht mich zu rьhren, denn wenn sieflackern, die Kerzen, huschen Schatten ьber sein Ge-sicht und den verschlossenen Mund, und es ist dannso, als regten sich seine Zьge, und ich kцnnte meinen,er sei nicht tot, er wьrde wieder erwachen und mitseiner hellen Stimme etwas Kindlich-Zärtliches zu

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mir sagen. Aber ich weiß es, er ist tot, ich will nichthinsehen mehr, um nicht noch einmal zu hoffen, nichtnoch einmal enttäuscht zu sein. Ich weiß es, ich weißes, mein Kind ist gestern gestorben - jetzt habe ichnur Dich mehr auf der Welt, nur Dich, der Du vonmir nichts weißt, der Du indes ahnungslos spielst odermit Dingen und Menschen tändelst. Nur Dich, derDu mich nie gekannt und den ich immer geliebt.

Ich habe die füne Kerze genommen und hier zu demTisch gestellt, auf dem ich an Dich schreibe. Denn ichkann nicht allein sein mit meinem toten Kinde, ohnemir die Seele auszuschreien, und zu wem sollte ichsprechen in dieser entsetzlichen Stunde, wenn nicht zuDir, der Du mir alles warst und alles bist! Vielleichtkann ich nicht ganz deutlich zu Dir sprechen, viel-leicht verstehst Du mich nicht - mein Kopf ist ja ganzdumpf, es zuckt und hдmmert mir an den Schlдfen,meine Glieder tun so weh. Ich glaube, ich habe Fieber,vielleicht auch schon die Grippe, die jetzt von Tьr zuTür schleicht, und das wäre gut, denn dann ginge ichmit meinem Kinde und müßte nichts tun wider mich.Manchmal wirds mir ganz dunkel vor den Augen,vielleicht kann ich diesen Brief nicht einmal zu Endeschreiben - aber ich will alle Kra zusammentun, umeinmal, nur dieses eine Mal zu Dir zu sprechen, Dumein Geliebter, der Du mich nie erkannt.

Zu Dir allein will ich sprechen, Dir zum erstenmalalles sagen; mein ganzes Leben sollst Du wissen, dasimmer das Deine gewesen und um das Du nie ge-wuЯt. Aber Du sollst mein Geheimnis nur kennen,wenn ich tot bin, wenn Du mir nicht mehr Antwort



geben mußt, wenn das, was mir die Glieder jetzt sokalt und heiß schüttelt, wirklich das Ende ist. Muß ichweiterleben, so zerreiße ich diesen Brief und werdeweiter schweigen, wie ich immer schwieg. Hältst Duihn aber in Händen, so weißt Du, daß hier eine ToteDir ihr Leben erzдhlt, ihr Leben, das das Deine warvon ihrer ersten bis zu ihrer letzten wachen Stunde.Fьrchte Dich nicht vor meinen Worten; eine Tote willnichts mehr, sie will nicht Liebe und nicht Mitleid undnicht Trцstung. Nur dies eine will ich von Dir, daЯDu mir alles glaubst, was mein zu Dir hinflьchtenderSchmerz Dir verrдt. Glaube mir alles, nur dies einebitte ich Dich: man lьgt nicht in der Sterbestundeeines einzigen Kindes.

Mein ganzes Leben will ich Dir verraten, dies Leben,das wahrha erst begann mit dem Tage, da ich Dichkannte. Vorher war bloß etwas Trübes und Verwor-renes, in das mein Erinnern nie mehr hinabtauchte,irgendein Keller von verstaubten, spinnverwebten,dumpfen Dingen und Menschen, von denen meinHerz nichts mehr weiß. Als Du kamst, war ich drei-zehn Jahre und wohnte im selben Hause, wo Du jetztwohnst, in demselben Hause, wo Du diesen Brief,meinen letzten Hauch Leben, in Hдnden hдltst, ichwohnte auf demselben Gange, gerade der Tьr DeinerWohnung gegenьber. Du erinnerst Dich gewiЯ nichtmehr an uns, an die дrmliche Rechnungsratswitwe(sie ging immer in Trauer) und das halbwьchsige,magere Kind - wir waren ja ganz still, gleichsamhinabgetaucht in unsere kleinbьrgerliche Dьrigkeit- Du hast vielleicht nie unseren Namen gehört, denn

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wir hatten kein Schild auf unserer Wohnungstür, undniemand kam, niemand fragte nach uns. Es ist ja auchschon so lange her, fünfzehn, sechzehn Jahre, nein, Duweißt es gewiß nicht mehr, mein Geliebter, ich aber,oh, ich erinnere mich leidenschalich an jede Einzel-heit, ich weiß noch wie heute den Tag, nein, dieStunde, da ich zum erstenmal von Dir hörte, Dichzum erstenmal sah, und wie sollte ichs auch nicht,denn damals begann ja die Welt für mich. Dulde,Geliebter, daЯ ich Dir alles, alles von Anfang erzдhle,werde, ich bitte Dich, die eine Viertelstunde von mirzu hцren nicht mьde, die ich ein Leben lang Dich zulieben nicht mьde geworden bin.

Ehe Du in unser Haus einzogst, wohnten hinter Dei-ner Tьr hдЯliche, bцse, streitsьchtige Leute. Arm wiesie waren, haЯten sie am meisten die nachbarlicheArmut, die unsere, weil sie nichts gemein habenwollte mit ihrer herabgekommenen, proletarischenRoheit. Der Mann war ein Trunkenbold und schlugseine Frau; o wachten wir auf in der Nacht vomGetöse fallender Stühle und zerklirrter Teller, einmallief sie, blutig geschlagen, mit zerfetzten Haaren aufdie Treppe, und hinter ihr grölte der Betrunkene, bisdie Leute aus den Türen kamen und ihn mit derPolizei bedrohten. Meine Mutter hatte von Anfang anjeden Verkehr mit ihnen vermieden und verbot mir,zu den Kindern zu sprechen, die sich dafьr bei jederGelegenheit an mir rдchten. Wenn sie mich auf derStraЯe trafen, riefen sie schmutzige Worte hinter mirher und schlugen mich einmal so mit harten Schnee-ballen, daЯ mir das Blut von der Stirne lief. Das ganze

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Haus haßte mit einem gemeinsamen Instinkt dieseMenschen, und als plötzlich einmal etwas geschehenwar - ich glaube, der Mann wurde wegen einesDiebstahls eingesperrt - und sie mit ihrem Kramausziehen mußten, atmeten wir alle auf. Ein paar Tagehing der Vermietungszettel am Haustore, dann wurdeer heruntergenommen, und durch den Hausmeisterverbreitete es sich rasch, ein Schristeller, ein einzel-ner, ruhiger Herr, habe die Wohnung genommen.Damals hörte ich zum erstenmal Deinen Namen.

Nach ein paar Tagen schon kamen Maler, Anstreicher,Zimmerputzer, Tapezierer, die Wohnung nach ihrenschmierigen Vorbesitzern reinzufegen, es wurde ge-hämmert, geklop, geputzt und gekratzt, aber dieMutter war nur zufrieden damit, sie sagte, jetzt werdeendlich die unsaubere Wirtscha drüben ein Ende ha-ben. Dich selbst bekam ich, auch während der Über-siedlung, noch nicht zu Gesicht: alle diese Arbeitenüberwachte Dein Diener, dieser kleine, ernste, grau-haarige Herrschasdiener, der alles mit einer leisen,sachlichen Art von oben herab dirigierte. Er impo-nierte uns allen sehr, erstens, weil in unserem Vorstadt-haus ein Herrschasdiener etwas ganz Neuartiges war,und dann, weil er zu allen so ungemein höflich war,ohne sich deshalb mit den Dienstboten auf eine Stufezu stellen und in kameradschaliche Gespräche einzu-lassen. Meine Mutter grüßte er vom ersten Tage an re-spektvoll als eine Dame, sogar zu mir Fratzen war erimmer zutraulich und ernst. Wenn er Deinen Namennannte, so geschah das immer mit einer gewissen Ehr-furcht, mit einem besonderen Respekt - man sah

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gleich, daß er Dir weit über das Maß des gewohntenDienens anhing. Und wie habe ich ihn dafür geliebt,den guten alten Johann, obwohl ich ihn beneidete, daßer immer um Dich sein dure und Dir dienen.

Ich erzähle Dir all das, Du Geliebter, all diese kleinen,fast lдcherlichen Dinge, damit Du verstehst, wie Duvon Anfang an schon eine solche Macht gewinnenkonntest ьber das scheue, verschьchterte Kind, dasich war. Noch ehe du selbst in mein Leben getreten,war schon ein Nimbus um Dich, eine Sphдre vonReichtum, Sonderbarkeit und Geheimnis - wir alle indem kleinen Vorstadthaus (Menschen, die ein engesLeben haben, sind ja immer neugierig auf alles Neuevor ihren Tьren) warteten schon ungeduldig auf Dei-nen Einzug. Und diese Neugier nach Dir, wie stei-gerte sie sich erst bei mir, als ich eines Nachmittagsvon der Schule nach Hause kam und der Möbelwagenvor dem Hause stand. Das meiste, die schwerenStücke, hatten die Träger schon hinauefördert, nuntrug man einzeln kleinere Sachen hinauf; ich blieb ander Tьr stehen, um alles bestaunen zu kцnnen, dennalle Deine Dinge waren so seltsam anders, wie ich sienie gesehen; es gab da indische Gцtzen, italienischeSkulpturen, ganz grelle, groЯe Bilder, und dann zumSchluЯ kamen Bьcher, so viele und so schцne, wie iches nie fьr mцglich gehalten. An der Tьr wurden siealle aufgeschichtet, dort ьbernahm sie der Diener undschlug mit Stock und Wedel vorsichtig den Staub ausjedem einzelnen. Ich schlich neugierig um den immerwachsenden StoЯ herum, der Diener wies mich nichtweg, aber er ermutigte mich auch nicht; so wagte ich

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keines anzurühren, obwohl ich das weiche Leder vonmanchen gern befühlt hätte. Nur die Titel sah ichscheu von der Seite an: es waren französische, engli-sche darunter und manche in Sprachen, die ich nichtverstand. Ich glaube, ich hдtte sie stundenlang alleangesehen: da rief mich die Mutter hinein.

Den ganzen Abend dann muЯte ich an Dich denken;noch ehe ich Dich kannte. Ich besaЯ selbst nur einDutzend billige, in zerschlissene Pappe gebundeneBьcher, die ich ьber alles liebte und immer wieder las.Und nun bedrдngte mich dies, wie der Mensch seinmьЯte, der all diese vielen herrlichen Bьcher besaЯund gelesen hatte, der alle diese Sprachen wuЯte, derso reich war und so gelehrt zugleich. Eine Art ьberir-discher Ehrfurcht verband sich mir mit der Idee dieservielen Bьcher. Ich suchte Dich mir im Bilde vorzu-stellen: Du warst ein alter Mann mit einer Brille undeinem weiЯen langen Bart, дhnlich wie unser Geogra-phieprofessor, nur viel gьtiger, schцner und milder -ich weiЯ nicht, warum ich damals schon gewiЯ war,Du mьЯtest schцn sein, wo ich noch an Dich wieeinen alten Mann dachte. Damals in jener Nacht undnoch ohne Dich zu kennen, habe ich das erstemal vonDir getrдumt.

Am nдchsten Tage zogst Du ein, aber trotz allenSpдhens konnte ich Dich nicht zu Gesicht bekommen- das steigerte nur meine Neugier. Endlich, am drittenTage, sah ich Dich, und wie erschьtternd war dieЬberraschung fьr mich, daЯ Du so anders warst, soganz ohne Beziehung zu dem kindlichen Gottvater-bilde. Einen bebrillten gьtigen Greis hatte ich mir



geträumt, und da kamst Du - Du, ganz so, wie Dunoch heute bist, Du Unwandelbarer, an dem die Jahrelässig abgleiten! Du trugst eine hellbraune, entzük-kende Sportdreß und liefst in Deiner unvergleichlichleichten knabenhaen Art die Treppe hinauf, immerzwei Stufen auf einmal nehmend. Den Hut trugstDu in der Hand, so sah ich mit einem gar nicht zuschildernden Erstaunen Dein helles, lebendiges Ge-sicht mit dem jungen Haar: wirklich, ich erschrak vorErstaunen, wie jung, wie hьbsch, wie federnd-schlankund elegant Du warst. Und ist es nicht seltsam: indieser ersten Sekunde empfand ich ganz deutlich das,was ich und alle andern an Dir als so einzig mit einerArt Ьberraschung immer wieder empfinden: daЯ Duirgendein zwiefacher Mensch bist, ein heiЯer, leichtle-biger, ganz dem Spiel und dem Abenteuer hingegebe-ner Junge, und gleichzeitig in Deiner Kunst ein uner-bittlich ernster, pflichtbewuЯter, unendlich belesenerund gebildeter Mann. UnbewuЯt empfand ich, wasdann jeder bei Dir spьrte, daЯ Du ein Doppellebenfьhrst, ein Leben mit einer hellen, der Welt offenzugekehrten Flдche, und einer ganz dunkeln, die Dunur allein kennst - diese tiefste Zweiheit, das Geheim-nis Deiner Existenz, sie fьhlte ich, die Dreizehnjдh-rige, magisch angezogen, mit meinem ersten Blick.

Verstehst Du nun schon, Geliebter, was für ein Wun-der, was für eine verlockende Rätselhaigkeit Du fürmich, das Kind, sein mußtest! Einen Menschen, vordem man Ehrfurcht hatte, weil er Bücher schrieb,weil er berühmt war in jener andern großen Welt,plötzlich als einen jungen, eleganten, knabenha hei-

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teren, fünfundzwanzigjährigen Mann zu entdecken!Muß ich Dir noch sagen, daß von diesem Tage an inunserem Hause, in meiner ganzen armen Kinderweltmich nichts interessierte als Du, daß ich mit demganzen Starrsinn, der ganzen bohrenden Beharrlich-keit einer Dreizehnjдhrigen nur mehr um Dein Leben,um Deine Existenz herumging. Ich beobachtete Dich,ich beobachtete Deine Gewohnheiten, beobachtete dieMenschen, die zu Dir kamen, und all das vermehrtenur, statt sie zu mindern, meine Neugier nach Dirselbst, denn die ganze Zwiefдltigkeit Deines Wesensdrьckte sich in der Verschiedenheit dieser Besucheaus. Da kamen junge Menschen, Kameraden von Dir,mit denen Du lachtest und ьbermьtig warst, abgeris-sene Studenten, und dann wieder Damen, die in Au-tos vorfuhren, einmal der Direktor der Oper, dergroЯe Dirigent, den ich ehrfьrchtig nur am Pulte vonfern gesehen, dann wieder kleine Mдdel, die noch indie Handelsschule gingen und verlegen in die Tьrhineinhuschten, ьberhaupt viel, sehr viel Frauen. Ichdachte mir nichts Besonderes dabei, auch nicht, als icheines Morgens, wie ich zur Schule ging, eine Dameganz verschleiert von Dir weggehen sah - ich war jaerst dreizehn Jahre alt, und die leidenschaliche Neu-gier, mit der ich Dich umspähte und belauerte, wußteim Kinde noch nicht, daß sie schon Liebe war.

Aber ich weiß noch genau, mein Geliebter, den Tagund die Stunde, wann ich ganz und für immer an Dichverloren war. Ich hatte mit einer Schulfreundin einenSpaziergang gemacht, wir standen plaudernd vor demTor. Da kam ein Auto angefahren, hielt an, und schon

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sprangst Du mit Deiner ungeduldigen, elastischenArt, die mich noch heute an Dir immer hinreißt,vom Trittbrett und wolltest in die Tür. Unwillkürlichzwang es mich, Dir die Tьr aufzumachen, und so tratich Dir in den Weg, daЯ wir fast zusammengerieten.Du sahst mich an mit jenem warmen, weichen, ein-hьllenden Blick, der wie eine Zдrtlichkeit war, lдchel-test mir - ja, ich kann es nicht anders sagen als:zдrtlich zu und sagtest mit einer ganz leisen und fastvertraulichen Stimme: »Danke vielmals, Frдulein.«

Das war alles, Geliebter; aber von dieser Sekunde, seitich diesen weichen, zдrtlichen Blick gespьrt, war ichDir verfallen. Ich habe ja spдter, habe es bald erfahren,daß Du diesen umfangenden, an Dich ziehenden,diesen umhüllenden und doch zugleich entkleidendenBlick, diesen Blick des gebornen Verführers, jederFrau hingibst, die an Dich strei, jedem Ladenmäd-chen, das Dir verkau, jedem Stubenmädchen, dasDir die Tьr цffnet, daЯ dieser Blick bei Dir gar nichtbewuЯt ist als Wille und Neigung, sondern daЯ DeineZдrtlichkeit zu Frauen ganz unbewuЯt Deinen Blickweich und warm werden lдЯt, wenn er sich ihnenzuwendet. Aber ich, das dreizehnjдhrige Kind, ahntedas nicht: ich war wie in Feuer getaucht. Ich glaubte,die Zдrtlichkeit gelte nur mir, nur mir allein, und indieser einen Sekunde war die Frau in mir, der Halb-wьchsigen, erwacht und war diese Frau Dir fьr im-mer verfallen.

»Wer war das?« fragte meine Freundin. Ich konnte ihrnicht gleich antworten. Es war mir unmöglich, Dei-nen Namen zu nennen: schon in dieser einen, dieser

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einzigen Sekunde war er mir heilig, war er meinGeheimnis geworden. »Ach, irgendein Herr, der hierim Hause wohnt«, stammelte ich dann ungeschicktheraus. »Aber warum bist du denn so rot geworden,wie er dich angeschaut hat?« spottete die Freundin mitder ganzen Bosheit eines neugierigen Kindes. Undeben weil ich fьhlte, daЯ sie an mein Geheimnisspottend rьhre, fuhr mir das Blut noch heiЯer in dieWangen. Ich wurde grob aus Verlegenheit. »BlцdeGans«, sagte ich wild: am liebsten hдtte ich sie erdros-selt. Aber sie lachte nur noch lauter und hцhnischer,bis ich fьhlte, daЯ mir die Trдnen in die Augenschцssen vor ohnmдchtigem Zorn. Ich lieЯ sie stehenund lief hinauf.

Von dieser Sekunde an habe ich Dich geliebt. Ichweiß, Frauen haben Dir, dem Verwöhnten, o diesesWort gesagt. Aber glaube mir, niemand hat Dich sosklavisch, so hündisch, so hingebungsvoll geliebt wiedieses Wesen, das ich war und das ich für Dich immergeblieben bin, denn nichts auf Erden gleicht der unbe-merkten Liebe eines Kindes aus dem Dunkel, weil sieso hoffnungslos, so dienend, so unterwürfig, so lau-ernd und leidenschalich ist, wie niemals die begeh-rende und unbewußt doch fordernde Liebe einer er-wachsenen Frau. Nur einsame Kinder können ganzihre Leidenscha zusammenhalten: die andern zer-schwätzen ihr Gefühl in Geselligkeit, schleifen es ab inVertraulichkeiten, sie haben von Liebe viel gehört undgelesen und wissen, daß sie ein gemeinsames Schick-sal ist. Sie spielen damit, wie mit einem Spielzeug, sieprahlen damit, wie Knaben mit ihrer ersten Zigarette.



Aber ich, ich hatte ja niemand, um mich anzuver-trauen, war von keinem belehrt und gewarnt, warunerfahren und ahnungslos: ich stürzte hinein in meinSchicksal wie in einen Abgrund. Alles, was in mirwuchs und aurach, wußte nur Dich, den Traum vonDir, als Vertrauten: mein Vater war längst gestorben,die Mutter mir fremd in ihrer ewig unheiteren Be-drücktheit und Pensionistenängstlichkeit, die halbver-dorbenen Schulmädchen stießen mich ab, weil sie soleichtfertig mit dem spielten, was mir letzte Leiden-scha war - so warf ich alles, was sich sonst zersplit-tert und verteilt, warf ich mein ganzes zusammenge-preßtes und immer wieder ungeduldig aufquellendesWesen Dir entgegen. Du warst mir - wie soll ich esDir sagen? jeder einzelne Vergleich ist zu gering - Duwarst eben alles, mein ganzes Leben. Alles existiertenur insofern, als es Bezug hatte auf Dich, alles inmeiner Existenz hatte nur Sinn, wenn es mit Dirverbunden war. Du verwandeltest mein ganzes Le-ben. Bisher gleichgьltig und mittelmдЯig in derSchule, wurde ich plцtzlich die Erste, ich las tausendBьcher bis tief in die Nacht, weil ich wuЯte, daЯ Dudie Bьcher liebtest, ich begann, zum Erstaunen mei-ner Mutter, plцtzlich mit fast stцrrischer Beharrlich-keit Klavier zu ьben, weil ich glaubte, Du liebtestMusik. Ich putzte und nдhte an meinen Kleidern, nurum gefдllig und proper vor Dir auszusehen, und daЯich an meiner alten Schulschьrze (sie war ein zuge-schnittenes Hauskleid meiner Mutter) links einen ein-gesetzten viereckigen Fleck hatte, war mir entsetzlich.Ich fьrchtete, Du kцnntest ihn bemerken und mich

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verachten; darum drückte ich immer die Schultaschedarauf, wenn ich die Treppe hinauflief, zitternd vorAngst, Du würdest ihn sehen. Aber wie töricht wardas: Du hast mich ja nie, fast nie mehr angesehen.

Und doch: ich tat eigentlich den ganzen Tag nichts alsauf Dich warten und Dich belauern. An unserer Tьrwar ein kleines messingenes Guckloch, durch dessenkreisrunden Ausschnitt man hinьber auf Deine Tьrsehen konnte. Dieses Guckloch - nein, lдchle nicht,Geliebter, noch heute, noch heute schдme ich michjener Stunden nicht! - war mein Auge in die Welthinaus, dort, im eiskalten Vorzimmer, scheu vor demArgwohn der Mutter, saЯ ich in jenen Monaten undJahren, ein Buch in der Hand, ganze Nachmittage aufder Lauer, gespannt wie eine Saite und klingend,wenn Deine Gegenwart sie berьhrte. Ich war immerum Dich, immer in Spannung und Bewegung; aberDu konntest es so wenig fьhlen wie die Spannung derUhrfeder, die Du in der Tasche trдgst und die gedul-dig im Dunkel Deine Stunden zдhlt und miЯt, DeineWege mit unhцrbarem Herzpochen begleitet und aufdie nur einmal in Millionen tickender Sekunden Deinhastiger Blick fдllt. Ich wuЯte alles von Dir, kanntejede Deiner Gewohnheiten, jede Deiner Krawatten,jeden Deiner Anzьge, ich kannte und unterschied baldDeine einzelnen Bekannten und teilte sie in solche, diemir lieb, und solche, die mir widrig waren: vonmeinem dreizehnten bis zu meinem sechzehnten Jahrehabe ich jede Stunde in Dir gelebt. Ach, was fьrTorheiten habe ich begangen! Ich kьЯte die Tьr-klinke, die Deine Hand berьhrt hatte, ich stahl einen



Zigarrenstummel, den Du vor dem Eintreten wegge-worfen hattest, und er war mir heilig, weil DeineLippen daran gerührt. Hundertmal lief ich abendsunter irgendeinem Vorwand hinab auf die Gasse, umzu sehen, in welchem Deiner Zimmer Licht brenne,und so Deine Gegenwart, Deine unsichtbare, wissen-der zu fьhlen. Und in den Wochen, wo Du verreistwarst - mir stockt immer das Herz vor Angst, wennich den guten Johann Deine gelbe Reisetasche hinab-tragen sah -, in diesen Wochen war mein Leben totund ohne Sinn. Mьrrisch, gelangweilt, bцse ging ichhemm und muЯte nur immer achtgeben, daЯ dieMutter an meinen verweinten Augen nicht meineVerzweiflung merke.

Ich weiЯ, das sind alles groteske Ьberschwдnge, kin-dische Torheiten, die ich Dir da erzдhle. Ich solltemich ihrer schämen, aber ich schäme mich nicht, dennnie war meine Liebe zu Dir reiner und leidenschali-cher als in diesen kindlichen Exzessen. Stundenlang,tagelang könnte ich Dir erzählen, wie ich damals mitDir gelebt, der Du mich kaum von Angesicht kann-test, denn begegnete ich Dir auf der Treppe und gabes kein Ausweichen, so lief ich, aus Furcht vor Dei-nem brennenden Blick, mit gesenktem Kopf an Dirvorbei wie einer, der ins Wasser stьrzt, nur daЯ michdas Feuer nicht versenge. Stundenlang, tagelangkцnnte ich Dir von jenen Dir lдngst entschwundenenJahren erzдhlen, den ganzen Kalender Deines Lebensaufrollen; aber ich will Dich nicht langweilen, willDich nicht quдlen. Nur das schцnste Erlebnis meinerKindheit will ich Dir noch anvertrauen, und ich bitte



Dich, nicht zu spotten, weil es ein so Geringes ist,denn mir, dem Kinde, war es eine Unendlichkeit. Aneinem Sonntag muß es gewesen sein. Du warst ver-reist, und Dein Diener schleppte die schweren Teppi-che, die er geklop hatte, durch die offene Wohnungs-tьr. Er trug schwer daran, der Gute, und in einem An-fall von Verwegenheit ging ich zu ihm und fragte, obich ihm nicht helfen kцnnte. Er war erstaunt, aber lieЯmich gewдhren, und so sah ich - vermцchte ich Dirsdoch nur zu sagen, mit welcher ehrfьrchtigen, ja from-men Verehrung! - Deine Wohnung von innen, DeineWelt, den Schreibtisch, an dem Du zu sitzen pflegtestund auf dem in einer blauen Kristallvase ein paar Blu-men standen, Deine Schrдnke, Deine Bilder, DeineBьcher. Nur ein flьchtiger, diebischer Blick war es inDein Leben, denn Johann, der Getreue, hдtte mir ge-wiЯ genaue Betrachtung gewehrt, aber ich sog mit die-sem einen Blick die ganze Atmosphдre ein und hatteNahrung fьr meine unendlichen Trдume von Dir imWachen und Schlaf.

Dies, diese rasche Minute, sie war die glьcklichstemeiner Kindheit. Sie wollte ich Dir erzдhlen, damitDu, der Du mich nicht kennst, endlich zu ahnenbeginnst, wie ein Leben an Dir hing und verging. Siewollte ich Dir erzдhlen und jene andere noch, diefьrchterlichste Stunde, die jener leider so nachbarlichwar. Ich hatte - ich sagte es Dir ja schon - umDeinetwillen an alles vergessen, ich hatte auf meineMutter nicht acht und kьmmerte mich um nieman-den. Ich merkte nicht, daЯ ein дlterer Herr, ein Kauf-mann aus Innsbruck, der mit meiner Mutter entfernt



verschwägert war, öer kam und länger blieb, ja, eswar mir nur angenehm, denn er führte Mama manch-mal in das eater, und ich konnte allein bleiben, anDich denken, auf Dich lauern, was ja meine höchste,meine einzige Seligkeit war. Eines Tages nun riefmich die Mutter mit einer gewissen Umstдndlichkeitin ihr Zimmer; sie hдtte ernst mit mir zu sprechen. Ichwurde blaЯ und hцrte mein Herz plцtzlich hдmmern:sollte sie etwas geahnt, etwas erraten haben? Meinerster Gedanke warst Du, das Geheimnis, das michmit der Welt verband. Aber die Mutter war selbstverlegen, sie kьЯte mich (was sie sonst nie tat) zдrtlichein- und zweimal, sie zog mich auf das Sofa zu sichund begann dann zцgernd und verschдmt zu erzдhlen,ihr Verwandter, der Witwer sei, habe ihr einen Hei-ratsantrag gemacht, und sie sei, hauptsдchlich ummeinetwillen, entschlossen, ihn anzunehmen. HeiЯerstieg mir das Blut zum Herzen: nur ein Gedankeantwortete von innen, der Gedanke an Dich. »Aberwir bleiben doch hier?« konnte ich gerade noch stam-meln. »Nein, wir ziehen nach Innsbruck, dort hatFerdinand eine schцne Villa.« Mehr hцrte ich nicht.Mir ward schwarz vor den Augen. Spдter wuЯte ich,daЯ ich in Ohnmacht gefallen war; ich sei, hцrte ichdie Mutter dem Stiefvater leise erzдhlen, der hinterder Tьr gewartet hatte, plцtzlich mit aufgespreiztenHдnden zurьckgefahren und dann hingestьrzt wie einKlumpen Blei. Was dann in den nдchsten Tagengeschah, wie ich mich, ein machtloses Kind, wehrtegegen ihren ьbermдchtigen Willen, das kann ich Dirnicht schildern: noch jetzt zittert mir, da ich daran



denke, die Hand im Schreiben. Mein wirkliches Ge-heimnis konnte ich nicht verraten, so schien meineGegenwehr bloß Starrsinn, Bosheit und Trotz. Nie-mand sprach mehr mit mir, alles geschah hinterrücks.Man nutzte die Stunden, da ich in der Schule war, umdie Übersiedlung zu fördern: kam ich dann nachHause, so war immer wieder ein anderes Stück ver-räumt oder verkau. Ich sah, wie die Wohnung unddamit mein Leben verfiel, und einmal, als ich zumMittagessen kam, waren die Möbelpacker dagewesenund hatten alles weggeschleppt. In den leeren Zim-mern standen die gepackten Koffer und zwei Feldbet-ten fьr die Mutter und mich: da sollten wir noch eineNacht schlafen, die letzte, und morgen nach Inns-bruck reisen.

An diesem letzten Tag fьhlte ich mit plцtzlicher Ent-schlossenheit, daЯ ich nicht mehr leben konnte ohneDeine Nдhe. Ich wuЯte keine andere Rettung alsDich. Wie ich mirs dachte und ob ich ьberhaupt klarin diesen Stunden der Verzweiflung zu denken ver-mochte, das werde ich nie sagen kцnnen, aber plцtz-lich - die Mutter war fort - stand ich auf im Schul-kleid, wie ich war, und ging hinьber zu Dir. Nein, ichging nicht: es stieЯ mich mit steifen Beinen, mitzitternden Gelenken magnetisch fort zu Deiner Tьr.Ich sagte Dir schon, ich wuЯte nicht deutlich, was ichwollte: Dir zu FьЯen fallen und Dich bitten, mich zubehalten als Magd, als Sklavin, und ich fьrchte, Duwirst lдcheln ьber diesen unschuldigen Fanatismuseiner Fьnfzehnjдhrigen, aber - Geliebter, Du wьrdestnicht mehr lдcheln, wьЯtest Du, wie ich damals drau-

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ßen im eiskalten Gange stand, starr vor Angst unddoch vorwärts gestoßen von einer unfaßbaren Macht,und wie ich den Arm, den zitternden, mir gewisser-maßen vom Leib losriß, daß er sich hob und - es warein Kampf durch die Ewigkeit entsetzlicher Sekunden- den Finger auf den Knopf der Tьrklingel drьckte.Noch heute gellts mir im Ohr, dies schrille Klingel-zeichen, und dann die Stille danach, wo mir das Herzstillstand, wo mein ganzes Blut anhielt und nurlauschte, ob Du kдmest.

Aber du kamst nicht. Niemand kam. Du warst offen-bar fort an jenem Nachmittage und Johann auf Besor-gung; so tappte ich, den toten Ton der Klingel imdrцhnenden Ohr, in unsere zerstцrte, ausgerдumteWohnung zurьck und warf mich erschцp auf einenPlaid, müde von den vier Schritten, als ob ich stun-denlang durch tiefen Schnee gegangen sei. Aber unterdieser Erschöpfung glühte noch unverlöscht die Ent-schlossenheit, Dich zu sehen, Dich zu sprechen, ehesie mich wegrissen. Es war, ich schwöre es Dir, keinsinnlicher Gedanke dabei, ich war noch unwissend,eben weil ich an nichts dachte als an Dich: nur sehenwollte ich Dich, einmal noch sehen, mich anklam-mern an Dich. Die ganze Nacht, die ganze lange,entsetzliche Nacht habe ich dann, Geliebter, auf Dichgewartet. Kaum daЯ die Mutter sich in ihr Bett gelegthatte und eingeschlafen war, schlich ich in das Vor-zimmer hinaus, um zu horchen, wann Du nach Hausekдmest. Die ganze Nacht habe ich gewartet, und eswar eine eisige Januarnacht. Ich war mьde, meineGlieder schmerzten mich, und es war kein Sessel

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mehr, mich hinzusetzen: so legte ich mich flach aufden kalten Boden, über den der Zug von der Türhinstrich. Nur in meinem dünnen Kleide lag ich aufdem schmerzenden kalten Boden, denn ich nahmkeine Decke; ich wollte es nicht warm haben, ausFurcht, einzuschlafen und Deinen Schritt zu ьberhц-ren. Es tat weh, meine FьЯe preЯte ich im Krampfezusammen, meine Arme zitterten: ich muЯte immerwieder aufstehen, so kalt war es im entsetzlichenDunkel. Aber ich wartete, wartete, wartete auf Dichwie auf mein Schicksal.

Endlich - es muЯ schon zwei oder drei Uhr morgensgewesen sein - hцrte ich unten das Haustor aufsperrenund dann Schritte die Treppe hinauf. Wie abgesprun-gen war die Kдlte von mir, heiЯ ьberflogs mich, leisemachte ich die Tьr auf, um Dir entgegenzustьrzen,Dir zu FьЯen zu fallen… Ach, ich weiЯ ja nicht, wasein tцrichtes Kind damals getan hдtte. Die Schrittekamen nдher, Kerzenlicht flackte herauf. Zitterndhielt ich die Klinke. Warst Du es, der da kam?

Ja, Du warst es, Geliebter - aber Du warst nicht allein.Ich hцrte ein leises, kitzliches Lachen, irgendein strei-fendes seidenes Kleid und leise Deine Stimme - Dukamst mit einer Frau nach Hause …

Wie ich diese Nacht ьberleben konnte, weiЯ ich nicht.Am nдchsten Morgen, um acht Uhr, schleppten siemich nach Innsbruck; ich hatte keine Kra mehr,mich zu wehren.

Mein Kind ist gestern nacht gestorben - nun werdeich wieder allein sein, wenn ich wirklich weiterleben

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muß. Morgen werden sie kommen, fremde, schwar-ze, ungeschlachte Mдnner, und einen Sarg bringen,werden es hineinlegen, mein armes, mein einzigesKind. Vielleicht kommen auch Freunde und bringenKrдnze, aber was sind Blumen auf einem Sarg? Siewerden mich trцsten und mir irgendwelche Wortesagen, Worte, Worte; aber was kцnnen sie mir helfen?Ich weiЯ, ich muЯ dann doch wieder allein sein. Undes gibt nichts Entsetzlicheres, als Alleinsein unter denMenschen. Damals habe ich es erfahren, damals injenen unendlichen zwei Jahren in Innsbruck, jenenJahren von meinem sechzehnten bis zu meinem acht-zehnten, wo ich wie eine Gefangene, eine VerstoЯenezwischen meiner Familie lebte. Der Stiefvater, einsehr ruhiger, wortkarger Mann, war gut zu mir,meine Mutter schien, wie um ein unbewuЯtes Un-recht zu sьhnen, allen meinen Wьnschen bereit, jungeMenschen bemьhten sich um mich, aber ich stieЯ siealle in einem leidenschalichen Trotz zurück. Ichwollte nicht glücklich, nicht zufrieden leben abseitsvon Dir, ich grub mich selbst in eine finstere Welt vonSelbstqual und Einsamkeit. Die neuen, bunten Klei-der, die sie mir kauen, zog ich nicht an, ich weigertemich, in Konzerte, in eater zu gehen oder Ausflügein heiterer Gesellscha mitzumachen. Kaum daß ichje die Gasse betrat: würdest Du es glauben, Geliebter,daß ich von dieser kleinen Stadt, in der ich zwei Jahregelebt, keine zehn Straßen kenne? Ich trauerte und ichwollte trauern, ich berauschte mich an jeder Entbeh-rung, die ich mir zu der Deines Anblicks noch auf-erlegte. Und dann: ich wollte mich nicht ablenken

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lassen von meiner Leidenscha, nur in Dir zu leben.Ich saß allein zu Hause, stundenlang, tagelang, und tatnichts, als an Dich zu denken, immer wieder, immerwieder die hundert kleinen Erinnerungen an Dich,jede Begegnung, jedes Warten, mir zu erneuern, mirdiese kleinen Episoden vorzuspielen wie im eater.Und darum, weil ich jede der Sekunden von einst mirunzählige Male wiederholte, ist auch meine ganzeKindheit mir in so brennender Erinnerung geblieben,daß ich jede Minute jener vergangenen Jahre so heißund springend fühle, als wäre sie gestern durch meinBlut gefahren.

Nur in Dir habe ich damals gelebt. Ich kaue mir alleDeine Bücher; wenn Dein Name in der Zeitungstand, war es ein festlicher Tag. Willst Du es glauben,daß ich jede Zeile aus Deinen Büchern auswendigkann, so o habe ich sie gelesen? Würde mich einernachts aus dem Schlaf aufwecken und eine losgeris-sene Zeile aus ihnen mir vorsprechen, ich kцnnte sieheute noch, heute noch nach dreizehn Jahren, weiter-sprechen wie im Traum: so war jedes Wort von Dirmir Evangelium und Gebet. Die ganze Welt, sie exi-stierte nur in Beziehung auf Dich: ich las in denWiener Zeitungen die Konzerte, die Premieren nach,nur mit dem Gedanken, welche Dich davon interes-sieren mцchten, und wenn es Abend wurde, begleiteteich Dich von ferne: jetzt tritt er in den Saal, jetzt setzter sich nieder. Tausendmal trдumte ich das, weil ichDich ein einziges Mal in einem Konzert gesehen.

Aber wozu all dies erzählen, diesen rasenden, gegensich selbst wütenden, diesen so tragischen hoffnungs-

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losen Fanatismus eines verlassenen Kindes, wozu eseinem erzählen, der es nie geahnt, der es nie gewußt?Doch war ich damals wirklich noch ein Kind? Ichwurde siebzehn, wurde achtzehn Jahre - die jungenLeute begannen sich auf der StraЯe nach mir umzu-blicken, doch sie erbitterten mich nur. Denn Liebeoder auch nur ein Spiel mit Liebe im Gedanken anjemanden andern als an Dich, das war mir so uner-findlich, so unausdenklich fremd, ja die Versuchungschon wдre mir als ein Verbrechen erschienen. MeineLeidenscha zu Dir blieb dieselbe, nur daß sie andersward mit meinem Körper, mit meinen wacheren Sin-nen, glühender, körperlicher, frauenhaer. Und wasdas Kind in seinem dumpfen unbelehrten Willen, dasKind, das damals die Klingel Deiner Türe zog, nichtahnen konnte, das war jetzt mein einziger Gedanke:mich Dir zu schenken, mich Dir hinzugeben.

Die Menschen um mich vermeinten mich scheu,nannten mich schьchtern (ich hatte mein Geheimnisverbissen hinter den Zдhnen). Aber in mir wuchs eineiserner Wille. Mein ganzes Denken und Trachtenwar in eine Richtung gespannt: zurьck nach Wien,zurьck zu Dir. Und ich erzwang meinen Willen, sounsinnig, so unbegreiflich er den andern scheinenmochte. Mein Stiefvater war vermцgend, er betrach-tete mich als sein eigenes Kind. Aber ich drang inerbittertem Starrsinn darauf, ich wolle mir mein Geldselbst verdienen, und erreichte es endlich, daß ich inWien zu einem Verwandten als Angestellte eines gro-ßen Konfektionsgeschäes kam.

Muß ich Dir sagen, wohin mein erster Weg ging, als

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ich an einem nebligen Herbstabend - endlich! endlich!- in Wien ankam? Ich lieЯ die Koffer an der Bahn,stьrzte mich in eine StraЯenbahn - wie langsam schiensie mir zu fahren, jede Haltestelle erbitterte mich -und lief vor das Haus. Deine Fenster waren erleuchtet,mein ganzes Herz klang. Nun erst lebte die Stadt, diemich so fremd, so sinnlos umbraust hatte, nun erstlebte ich wieder, da ich Dich nahe ahnte, Dich, mei-nen ewigen Traum. Ich ahnte ja nicht, daЯ ich inWirklichkeit Deinem BewuЯtsein ebenso ferne warhinter Tдlern, Bergen und Flьssen als nun, da nur diedьnne leuchtende Glasscheibe Deines Fensters zwi-schen Dir war und meinem aufstrahlenden Blick. Ichsah nur empor und empor: da war Licht, da war dasHaus, da warst Du, da war meine Welt. Zwei Jahrehatte ich von dieser Stunde getrдumt, nun war sie mirgeschenkt. Ich stand den langen, weichen, verhange-nen Abend vor Deinen Fenstern, bis das Licht erlosch.Dann suchte ich erst mein Heim.

Jeden Abend stand ich dann so vor Deinem Haus. Bissechs Uhr hatte ich Dienst im Geschд, harten, an-strengenden Dienst, aber er war mir lieb, denn dieseUnruhe ließ mich die eigene nicht so schmerzhafühlen. Und geradewegs, sobald die eisernen Rollbal-ken hinter mir niederdröhnten, lief ich zu dem gelieb-ten Ziel. Nur Dich einmal sehen, nur einmal Dirbegegnen, das war mein einziger Wille, nur wiedereinmal mit dem Blick Dein Gesicht umfassen dürfenvon ferne. Etwa nach einer Woche geschahs dannendlich, daß ich Dir begegnete, und zwar gerade ineinem Augenblick, wo ichs nicht vermutete: während

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ich eben hinauf zu Deinen Fenstern spähte, kamst Duquer über die Straße. Und plötzlich war ich wiederdas Kind, das dreizehnjährige, ich fühlte, wie das Blutmir in die Wangen schoß; unwillkürlich, wider mei-nen innersten Drang, der sich sehnte, Deine Augen zufühlen, senkte ich den Kopf und lief blitzschnell wiegehetzt an Dir vorbei. Nachher schämte ich michdieser schulmädelhaen scheuen Flucht, denn jetztwar mein Wille mir doch klar: ich wollte Dir jabegegnen, ich suchte Dich, ich wollte von Dir erkanntsein nach all den sehnsüchtig verdämmerten Jahren,wollte von Dir beachtet, wollte von Dir geliebtsein.

Aber Du bemerktest mich lange nicht, obzwar ichjeden Abend, auch bei Schneegestöber und in demscharfen, schneidenden Wiener Wind in Deiner Gassestand. O wartete ich stundenlang vergebens, ogingst Du dann endlich vom Hause in Begleitung vonBekannten fort, zweimal sah ich Dich auch mitFrauen, und nun empfand ich mein Erwachsensein,empfand das Neue, Andere meines Gefühls zu Dir andem plötzlichen Herzzucken, das mir quer die SeelezerriЯ, als ich eine fremde Frau so sicher Arm in Armmit Dir hingehen sah. Ich war nicht ьberrascht, ichkannte ja diese Deine ewigen Besucherinnen aus mei-nen Kindertagen schon, aber jetzt tat es mir miteinmal irgendwie kцrperlich weh, etwas spannte sichin mir, gleichzeitig feindlich und mitverlangend ge-gen diese offensichtliche, diese fleischliche Vertraut-heit mit einer andern. Einen Tag blieb ich, kindlichstolz wie ich war und vielleicht jetzt noch geblieben

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bin, von Deinem Hause weg: aber wie entsetzlich wardieser leere Abend des Trotzes und der Auflehnung.Am nächsten Abend stand ich schon wieder demütigvor Deinem Hause wartend, wartend, wie ich meinganzes Schicksal lang vor Deinem verschlossenen Le-ben gestanden bin.

Und endlich, an einem Abend bemerktest Du mich.Ich hatte Dich schon von ferne kommen sehen undstrae meinen Willen zusammen, Dir nicht auszu-weichen. Der Zufall wollte, daß durch einen abzula-denden Wagen die Straße verengert war und Du ganzan mir vorbei mußtest. Unwillkürlich streie michDein zerstreuter Blick, um sofort, kaum daß er derAufmerksamkeit des meinen begegnete - wie er-schrak die Erinnerung in mir! -, jener Dein Frauen-blick, jener zärtliche, hüllende und gleichzeitig enthül-lende, jener umfangende und schon fassende Blick zuwerden, der mich, das Kind, zum erstenmal zur Frau,zur Liebenden erweckt. Ein, zwei Sekunden lang hieltdieser Blick so den meinen, der sich nicht wegreiЯenkonnte und wollte - dann warst Du an mir vorbei.Mir schlug das Herz: unwillkьrlich muЯte ich meinenSchritt verlangsamen, und wie ich aus einer nicht zubezwingenden Neugier mich umwandte, sah ich, daЯDu stehengeblieben warst und mir nachsahst. Und ander Art, wie Du neugierig interessiert mich beobach-tetest, wuЯte ich sofort: Du erkanntest mich nicht.

Du erkanntest mich nicht, damals nicht, nie, nie hastDu mich erkannt. Wie soll ich Dir, Geliebter, dieEnttäuschung jener Sekunde schildern - damals wares ja das erstemal, daß ichs erlitt, dies Schicksal, von

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Dir nicht erkannt zu sein, das ich ein Leben durchlebthabe, und mit dem ich sterbe; unerkannt, immer nochunerkannt von Dir. Wie soll ich sie Dir schildern,diese Enttдuschung! Denn sieh, in diesen zwei Jahrenin Innsbruck, wo ich jede Stunde an Dich dachte undnichts tat, als mir unsere erste Wiederbegegnung inWien auszudenken, da hatte ich die wildesten Mцg-lichkeiten neben den seligsten, je nach dem Zustandmeiner Laune, ausgetrдumt. Alles war, wenn ich sosagen darf, durchgetrдumt; ich hatte mir in finsternMomenten vorgestellt, Du würdest mich zurücksto-ßen, würdest mich verachten, weil ich zu gering, zuhäßlich, zu aufdringlich sei. Alle Formen Deiner Miß-gunst, Deiner Kälte, Deiner Gleichgültigkeit, sie allehatte ich durchgewandelt in leidenschalichen Visio-nen - aber dies, dies eine hatte ich in keiner finsternRegung des Gemьts, nicht im дuЯersten BewuЯtseinmeiner Minderwertigkeit in Betracht zu ziehen ge-wagt, dies Entsetzlichste: daЯ Du ьberhaupt von mei-ner Existenz nichts bemerkt hattest. Heute versteheich es ja - ach, Du hast michs verstehen gelehrt! -, daЯdas Gesicht eines Mдdchens, einer Frau etwas unge-mein Wandelhaes sein muß für einen Mann, weil esmeist nur Spiegel ist, bald einer Leidenscha, baldeiner Kindlichkeit, bald eines Müdeseins, und so leichtverfließt wie ein Bildnis im Spiegel, daß also einMann leichter das Antlitz einer Frau verlieren kann,weil das Alter darin durchwandelt mit Schatten undLicht, weil die Kleidung es von einemmal zum andernanders rahmt. Die Resignierten, sie sind ja erst diewahren Wissenden. Aber ich, das Mädchen von da-

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mals, ich konnte Deine Vergeßlichkeit noch nichtfassen, denn irgendwie war aus meiner maßlosen,unauörlichen Beschäigung mit Dir der Wahn inmich gefahren, auch Du müßtest meiner o gedenkenund auf mich warten; wie hätte ich auch nur atmenkönnen mit der Gewißheit, ich sei Dir nichts, nierühre ein Erinnern an mich Dich leise an! Und diesErwachen vor Deinem Blick, der mir zeigte, daЯnichts in Dir mich mehr kannte, kein SpinnfadenErinnerung von Deinem Leben hinreiche zu meinem,das war ein erster Sturz hinab in die Wirklichkeit, eineerste Ahnung meines Schicksals.

Du erkanntest mich nicht damals. Und als zwei Tagespдter Dein Blick mit einer gewissen Vertrautheit beierneuter Begegnung mich umfing, da erkanntest Dumich wiederum nicht als die, die Dich geliebt unddie Du erweckt, sondern bloЯ als das hьbsche acht-zehnjдhrige Mдdchen, das Dir vor zwei Tagen ander gleichen Stelle entgegengetreten. Du sahst michfreundlich ьberrascht an, ein leichtes Lдcheln um-spielte Deinen Mund. Wieder gingst Du an mir vorbeiund wieder den Schritt sofort verlangsamend: ichzitterte, ich jauchzte, ich betete, Du wьrdest michansprechen. Ich fьhlte, daЯ ich zum erstenmal fьrDich lebendig war: auch ich verlangsamte den Schritt,ich wich Dir nicht aus. Und plцtzlich spьrte ich Dichhinter mir, ohne mich umzuwenden, ich wuЯte, nunwьrde ich zum erstenmal Deine geliebte Stimme anmich gerichtet hören. Wie eine Lähmung war dieErwartung in mir, schon fürchtete ich stehenbleibenzu müssen, so hämmerte mir das Herz - da tratest Du

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an meine Seite. Du sprachst mich an mit Deinerleichten heitern Art, als wären wir lange befreundet -ach, Du ahntest mich ja nicht, nie hast Du etwas vonmeinem Leben geahnt! - so zauberha unbefangensprachst Du mich an, daß ich Dir sogar zu antwortenvermochte. Wir gingen zusammen die ganze Gasseentlang. Dann fragtest Du mich, ob wir gemeinsamspeisen wollten. Ich sagte ja. Was hдtte ich Dir gewagtzu verneinen?

Wir speisten zusammen in einem kleinen Restaurant -weiЯt Du noch, wo es war? Ach nein, Du unterschei-dest es gewiЯ nicht mehr von andern solchen Aben-den, denn wer war ich Dir? Eine unter Hunderten, einAbenteuer in einer ewig fortgeknьpen Kette. Wassollte Dich auch an mich erinnern: ich sprach jawenig, weil es mir so unendlich beglückend war,Dich nahe zu haben, Dich zu mir sprechen zu hören.Keinen Augenblick davon wollte ich durch eineFrage, durch ein törichtes Wort vergeuden. Nie werdeich Dir von dieser Stunde dankbar vergessen, wie vollDu meine leidenschaliche Ehrfurcht erfülltest, wiezart, wie leicht, wie taktvoll Du warst, ganz ohneZudringlichkeit, ganz ohne jene eiligen karessantenZärtlichkeiten, und vom ersten Augenblick von einerso sicheren freundschalichen Vertrautheit, daß Dumich auch gewonnen hättest, wäre ich nicht schonlangst mit meinem ganzen Willen und Wesen Deingewesen. Ach, Du weißt ja nicht, ein wie UngeheuresDu erfülltest, indem Du mir fünf Jahre kindischerErwartung nicht enttäuschtest!

Es wurde spät, wir brachen auf. An der Tür des

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Restaurants fragtest Du mich, ob ich eilig wäre odernoch Zeit hätte. Wie hätte ichs verschweigen können,daß ich Dir bereit sei! Ich sagte, ich hätte noch Zeit,Dann fragtest Du, ein leises Zцgern rasch ьbersprin-gend, ob ich nicht noch ein wenig zu Dir kommenwollte, um zu plaudern. »Gerne«, sagte ich ganz ausder Selbstverstдndlichkeit meines Fьhlens heraus undmerkte sofort, daЯ Du von der Raschheit meinerZusage irgendwie peinlich oder freudig berьhrtwarst, jedenfalls aber sichtlich ьberrascht. Heute ver-stehe ich ja dies Dein Erstaunen; ich weiЯ, es ist beiFrauen ьblich, auch wenn das Verlangen nach Hin-gabe in einer brennend ist, diese Bereitscha zu ver-leugnen, ein Erschrecken vorzutäuschen oder eineEntrüstung, die durch eindringliche Bitte, durch Lü-gen, Schwüre und Versprechen erst beschwichtigtsein will. Ich weiß, daß vielleicht nur die Professionel-len der Liebe, die Dirnen, eine solche Einladung miteiner so vollen freudigen Zustimmung beantworten,oder ganz naive, ganz halbwьchsige Kinder. In miraber war es - und wie konntest Du das ahnen - nurder wortgewordene Wille, die geballt vorbrechendeSehnsucht von tausend einzelnen Tagen. Jedenfallsaber: Du warst frappiert, ich begann Dich zu interes-sieren. Ich spьrte, daЯ Du, wдhrend wir gingen, vonder Seite her wдhrend des Gesprдches mich irgendwieerstaunt mustertest. Dein Gefьhl, Dein in allemMenschlichen so magisch sicheres Gefьhl wittertehier sogleich ein Ungewöhnliches, ein Geheimnis indiesem hübschen zutunlichen Mädchen. Der Neugie-rige in Dir war wach, und ich merkte, aus der umkrei-

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senden, spürenden Art der Fragen, wie Du nach demGeheimnis tasten wolltest. Aber ich wich Dir aus: ichwollte lieber tцricht erscheinen als Dir mein Geheim-nis verraten.

Wir gingen zu Dir hinauf. Verzeih, Geliebter, wennich Dir sage, daЯ Du es nicht verstehen kannst, wasdieser Gang, diese Treppe fьr mich waren, welcherTaumel, welche Verwirrung, welch ein rasendes, quд-lendes, fast tцdliches Glьck. Jetzt noch kann ich kaumohne Trдnen daran denken, und ich habe keine mehr.Aber fьhl es nur aus, daЯ jeder Gegenstand dortgleichsam durchdrungen war von meiner Leiden-scha, jeder ein Symbol meiner Kindheit, meinerSehnsucht: das Tor, vor dem ich tausende Male aufDich gewartet, die Treppe, von der ich immer DeinenSchritt erhorcht und wo ich Dich zum erstenmalgesehen, das Guckloch, aus dem ich mir die Seelegespäht, der Türvorleger vor Deiner Tür, auf dem icheinmal gekniet, das Knacken des Schlüssels, bei demich immer aufgesprungen von meiner Lauer. Dieganze Kindheit, meine ganze Leidenscha, da nistetesie ja in diesen paar Metern Raum, hier war meinganzes Leben, und jetzt fiel es nieder auf mich wie einSturm, da alles, alles sich erfьllte und ich mit Dir ging,ich mit Dir, in Deinem, in unserem Hause. Bedenke-es klingt ja banal, aber ich weiЯ es nicht anders zusagen -, daЯ bis zu Deiner Tьr alles Wirklichkeit,dumpfe tдgliche Welt ein Leben lang gewesen war,und dort das Zauberreich des Kindes begann, AladinsReich, bedenke, daЯ ich tausendmal mit brennendenAugen auf diese Tьr gestarrt, die ich jetzt taumelnd

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durchschritt, und Du wirst ahnen - aber nur ahnen,niemals ganz wissen, mein Geliebter! -, was diesestürzende Minute von meinem Leben wegtrug.

Ich blieb damals die ganze Nacht bei Dir. Du hast esnicht geahnt, daß vordem noch nie ein Mann michberührt, noch keiner meinen Kцrper gefьhlt odergesehen. Aber wie konntest Du es auch ahnen, Ge-liebter, denn ich bot Dir ja keinen Widerstand, ichunterdrьckte jedes Zцgern der Scham, nur damit Dunicht das Geheimnis meiner Liebe zu Dir erratenkцnntest, das Dich gewiЯ erschreckt hдtte - denn Duliebst ja nur das Leichte, das Spielende, das Gewicht-lose, Du hast Angst, in ein Schicksal einzugreifen.Verschwenden willst Du Dich, Du, an alle, an dieWelt, und willst kein Opfer. Wenn ich Dir jetzt sage,Geliebter, daЯ ich mich jungfrдulich Dir gab, so fleheich Dich an: miЯversteh mich nicht! Ich klage Dich janicht an, Du hast mich nicht gelockt, nicht belogen,nicht verfьhrt - ich, ich selbst drдngte zu Dir, warfmich an Deine Brust, warf mich in mein Schicksal.Nie, nie werde ich Dich anklagen, nein, nur immerDir danken, denn wie reich, wie funkelnd von Lust,wie schwebend von Seligkeit war fьr mich dieseNacht. Wenn ich die Augen auat im Dunkeln undDich fühlte an meiner Seite, wunderte ich mich, daßnicht die Sterne über mir waren, so sehr fühlte ichHimmel - nein, ich habe niemals bereut, mein Gelieb-ter, niemals um dieser Stunde willen. Ich weiß noch:als Du schliefst, als ich Deinen Atem hörte, DeinenKörper fühlte und mich selbst Dir so nah, da habe ichim Dunkeln geweint vor Glück.

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Am Morgen drängte ich frühzeitig schon fort. Ichmußte in das Geschä und wollte auch gehen, ehe derDiener käme: er sollte mich nicht sehen. Als ichangezogen vor Dir stand, nahmst Du mich in denArm, sahst mich lange an; war es ein Erinnern, dunkelund fern, das in Dir wogte, oder schien ich Dir nurschцn, beglьckt, wie ich war? Dann kьЯtest du michauf den Mund. Ich machte mich leise los und wolltegehen. Da fragtest Du: »Willst Du nicht ein paarBlumen mitnehmen?« Ich sagte ja. Du nahmst vierweiЯe Rosen aus der blauen Kristallvase am Schreib-tisch (ach, ich kannte sie von jenem einzigen diebi-schen Kindheitsblick) und gabst sie mir. Tagelanghabe ich sie noch gekьЯt.

Wir hatten zuvor einen andern Abend verabredet. Ichkam, und wieder war es wunderbar. Noch eine dritteNacht hast Du mir geschenkt. Dann sagtest Du, DumьЯtest verreisen - oh, wie haЯte ich diese Reisen vonmeiner Kindheit her! - und versprachst mir, michsofort nach Deiner Rьckkehr zu verstдndigen. Ich gabDir eine Poste restante-Adresse - meinen Namenwollte ich Dir nicht sagen. Ich hьtete mein Geheim-nis. Wieder gabst Du mir ein paar Rosen zum Ab-schied - zum Abschied.

Jeden Tag wдhrend zweier Monate fragte ich … abernein, wozu diese Hцllenqual der Erwartung, der Ver-zweiflung Dir schildern. Ich klage Dich nicht an, ichliebe Dich als den, der Du bist, heiЯ und vergeЯlich,hingebend und untreu, ich liebe Dich so, nur so, wieDu immer gewesen und wie Du jetzt noch bist. Duwarst lдngst zurьck, ich sah es an Deinen erleuchteten

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Fenstern, und hast mir nicht geschrieben. Keine Zeilehabe ich von Dir in meinen letzten Stunden, keineZeile von Dir, dem ich mein Leben gegeben. Ich habegewartet, ich habe gewartet wie eine Verzweifelte.Aber Du hast mich nicht gerufen, keine Zeile hast Dumir geschrieben … keine Zeile …

Mein Kind ist gestern gestorben - es war auch DeinKind. Es war auch Dein Kind, Geliebter, das Kindeiner jener drei Nдchte, ich schwцre es Dir, und manlьgt nicht im Schatten des Todes. Es war unser Kind,ich schwцre es Dir, denn kein Mann hat mich berьhrtvon jenen Stunden, da ich mich Dir hingegeben, biszu jenen andern, da es aus meinem Leib gerungenwurde. Ich war mir heilig durch Deine Berьhrung:wie hдtte ich es vermocht, mich zu teilen an Dich, dermir alles gewesen, und an andere, die an meinemLeben nur leise anstreien? Es war unser Kind, Ge-liebter, das Kind meiner wissenden Liebe und Deinersorglosen, verschwenderischen, fast unbewußtenZärtlichkeit, unser Kind, unser Sohn, unser einzigesKind. Aber Du fragst nun - vielleicht erschreckt,vielleicht bloЯ erstaunt -, Du fragst nun, mein Gelieb-ter, warum ich dies Kind Dir alle diese langen Jahreverschwiegen und erst heute von ihm spreche, da eshier im Dunkel schlafend, fьr immer schlafend liegt,schon bereit fortzugehen und nie mehr wiederzukeh-ren, nie mehr! Doch wie hдtte ich es Dir sagen kцn-nen? Nie hдttest Du mir, der Fremden, der allzuBereitwilligen dreier Nдchte, die sich ohne Wider-stand, ja begehrend, Dir aufgetan, nie hдttest Du ihr,

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der Namenlosen einer flüchtigen Begegnung, ge-glaubt, daß sie Dir die Treue hielt, Dir, dem Untreuen- nie ohne Mißtrauen dies Kind als das Deine erkannt!Nie hättest Du, selbst wenn mein Wort Dir Wahr-scheinlichkeit geboten, den heimlichen Verdacht ab-tun kцnnen, ich versuchte, Dir, dem Begьterten, dasKind fremder Stunde unterzuschieben. Du hдttestmich beargwцhnt, ein Schatten wдre geblieben, einfliegender, scheuer Schatten von MiЯtrauen zwischenDir und mir. Das wollte ich nicht. Und dann, ich kenneDich; ich kenne Dich so gut, wie Du kaum selber Dichkennst, ich weiЯ, es wдre Dir, der Du das Sorglose, dasLeichte, das Spielende liebst in der Liebe, peinlich ge-wesen, plцtzlich Vater, plцtzlich verantwortlich zusein fьr ein Schicksal. Du hдttest Dich, Du, der Du nurin Freiheit atmen kannst, Dich irgendwie verbundengefьhlt mit mir. Du hдttest mich - ja, ich weiЯ es, daЯDu es getan hдttest, wider Deinen eigenen wachenWillen -, Du hдttest mich gehaЯt fьr dieses Verbun-densein. Vielleicht nur stundenlang, vielleicht nurflьchtige Minuten lang wдre ich Dir lдstig gewesen,wдre ich Dir verhaЯt worden - ich aber wollte in mei-nem Stolze, Du solltest an mich ein Leben lang ohneSorge denken. Lieber wollte ich alles auf mich nehmenals Dir eine Last werden, und einzig die sein unter allenDeinen Frauen, an die Du immer mit Liebe, mit Dank-barkeit denkst. Aber freilich, Du hast nie an mich ge-dacht, du hast mich vergessen.

Ich klage Dich nicht an, mein Geliebter, nein, ichklage Dich nicht an. Verzeih mirs, wenn mir manch-mal ein Tropfen Bitternis in die Feder flieЯt, verzeih



mirs - mein Kind, unser Kind liegt ja da tot unter denflackernden Kerzen; ich habe zu Gott die Fäuste ge-ballt und ihn Mörder genannt, meine Sinne sind trübund verwirrt. Verzeih mir die Klage, verzeihe sie mir!Ich weiß ja, daß Du gut bist und hilfreich im tiefstenHerzen, Du hilfst jedem, hilfst auch dem Fremdesten,der Dich bittet. Aber Deine Gьte ist so sonderbar, sieist eine, die offen liegt fьr jeden, daЯ er nehmen kann,soviel seine Hдnde fassen, sie ist groЯ, unendlich groЯ,Deine Gьte, aber sie ist - verzeih mir - sie ist trдge. Siewill gemahnt, will genommen sein. Du hilfst, wennman Dich ru, Dich bittet, hilfst aus Scham, ausSchwäche und nicht aus Freudigkeit. Du hast - laß esDir offen sagen - den Menschen in Notdur undQual nicht lieber als den Bruder im Glück. UndMenschen, die so sind wie Du, selbst die Gütigstenunter ihnen, sie bittet man schwer. Einmal, ich warnoch ein Kind, sah ich durch das Guckloch an derTьr, wie Du einem Bettler, der bei Dir geklingelthatte, etwas gabst. Du gabst ihm rasch und sogar viel,noch ehe er Dich bat, aber Du reichtest es ihm miteiner gewissen Angst und Hast hin, er mцchte nurbald wieder fortgehen, es war, als hдttest Du Furcht,ihm ins Auge zu sehen. Diese Deine unruhige, scheue,vor der Dankbarkeit flьchtende Art des Helfens habeich nie vergessen. Und deshalb habe ich mich nie anDich gewandt. GewiЯ, ich weiЯ, du hättest mir da-mals zur Seite gestanden auch ohne die Gewißheit, essei Dein Kind, Du hättest mich getröstet, mir Geldgegeben, reichlich Geld, aber immer nur mit dergeheimen Ungeduld, das Unbequeme von Dir weg-

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zuschieben; ja, ich glaube, Du hättest mich sogarberedet, das Kind vorzeitig abzutun. Und dies fьrch-tete ich vor allem - denn was hдtte ich nicht getan, soDu es begehrtest, wie hatte ich Dir etwas zu verwei-gern vermocht! Aber dieses Kind war alles fьr mich,war es doch von Dir, nochmals Du, aber nun nichtmehr Du, der Glьckliche, der Sorglose, den ich nichtzu halten vermochte, sondern Du fьr immer - someinte ich - mir gegeben, verhaet in meinem Leibe,verbunden in meinem Leben. Nun hatte ich Dich jaendlich gefangen, ich konnte Dich, Dein Leben wach-sen spüren in meinen Adern, Dich nähren, Dich trän-ken, Dich liebkosen, Dich küssen, wenn mir die Seeledanach brannte. Siehst du, Geliebter, darum war ichso selig, als ich wuЯte, daЯ ich ein Kind von Dir hatte,darum verschwieg ich Dirs: denn nun konntest dumir nicht mehr entfliehen.

Freilich, Geliebter, es waren nicht nur so selige Mo-nate, wie ich sie voraus fьhlte in meinen Gedanken, eswaren auch Monate voll Grauen und Qual, voll Ekelvor der Niedrigkeit der Menschen. Ich hatte es nichtleicht. In das Geschд konnte ich während der letztenMonate nicht mehr gehen, damit es den Verwandtennicht auffällig werde und sie nicht nach Hause berich-teten. Von der Mutter wollte ich kein Geld erbitten -so fristete ich mir mit dem Verkauf von dem bißchenSchmuck, den ich hatte, die Zeit bis zur Niederkun.Eine Woche vorher wurden mir aus einem Schrankevon einer Wäscherin die letzten paar Kronen gestoh-len, so mußte ich in die Gebärklinik. Dort, wo nur dieganz Armen, die Ausgestoßenen und Vergessenen

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sich in ihrer Not hinschleppen, dort, mitten im Ab-hub des Elends, dort ist das Kind, Dein Kind geborenworden. Es war zum Sterben dort: fremd, fremd,fremd war alles, fremd wir einander, die wir da lagen,einsam und voll HaЯ eine auf die andere, nur vomElend, von der gleichen Qual in diesen dumpfen, vonChloroform und Blut, von Schrei und Stцhnen voll-gepreЯten Saal gestoЯen. Was die Armut an Ernie-drigung, an seelischer und kцrperlicher Schande zuertragen hat, ich habe es dort gelitten an dem Beisam-mensein mit Dirnen und mit Kranken, die aus der Ge-meinsamkeit des Schicksals eine Gemeinheit machten,an der Zynik der jungen Ärzte, die mit einem ironi-schen Lächeln der Wehrlosen das Bettuch aufstreienund sie mit falscher Wissenschalichkeit antasteten,an der Habsucht der Wärterinnen - oh, dort wird dieScham eines Menschen gekreuzigt mit Blicken undgegeiЯelt mit Worten. Die Tafel mit deinem Namen,das allein bist dort noch du, denn was im Bette liegt,ist bloЯ ein zuckendes Stьck Fleisch, betastet vonNeugierigen, ein Objekt der Schau und des Studierens- ah, sie wissen es nicht, die Frauen, die ihrem Mann,dem zдrtlich wartenden, in seinem Hause Kinderschenken, was es heiЯt, allein, wehrlos, gleichsam amVersuchstisch, ein Kind zu gebдren! Und lese ich nochheute in einem Buche das Wort Hцlle, so denke ichplötzlich wider meinen bewußten Willen an jenenvollgepfropen, dünstenden, von Seufzer, Gelächterund blutigem Schrei erfüllten Saal, in dem ich gelittenhabe, an dieses Schlachthaus der Scham.

Verzeih, verzeih mirs, daß ich davon spreche. Aber

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nur dieses eine Mal rede ich davon, nie mehr, niemehr wieder. Elf Jahre habe ich geschwiegen davon,und werde bald stumm sein in alle Ewigkeit: einmalmußte ichs ausschreien, einmal ausschreien, wie teuerich es erkaue, dies Kind, das meine Seligkeit war unddas nun dort ohne Atem liegt. Ich hatte sie schonvergessen, diese Stunden, lдngst vergessen im Lд-cheln, in der Stimme des Kindes, in meiner Seligkeit;aber jetzt, da es tot ist, wird die Qual wieder lebendig,und ich muЯte sie mir von der Seele schreien, dieseseine, dieses eine Mal. Aber nicht Dich klage ich an,nur Gott, nur Gott, der sie sinnlos machte, diese Qual.Nicht Dich klage ich an, ich schwцre es Dir, und niehabe ich mich im Zorn erhoben gegen Dich. Selbst inder Stunde, da mein Leib sich krьmmte in den We-hen, da mein Kцrper vor Scham brannte unter dentastenden Blicken der Studenten, selbst in der Se-kunde, da der Schmerz mir die Seele zerriЯ, habe ichDich nicht angeklagt vor Gott; nie habe ich jeneNдchte bereut, nie meine Liebe zu Dir gescholten,immer habe ich Dich geliebt, immer die Stunde ge-segnet, da Du mir begegnet bist. Und mьЯte ich nocheinmal durch die Hцlle jener Stunden und wьЯtevordem, was mich erwartet, ich tдte es noch einmal,mein Geliebter, noch einmal und tausendmal!

Unser Kind ist gestern gestorben - Du hast es niegekannt. Niemals, auch in der flüchtigen Begegnungdes Zufalles, hat dies blühende, kleine Wesen, DeinWesen, im Vorübergehen Deinen Blick gestrei. Ichhielt mich lange verborgen vor Dir, sobald ich dies

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Kind hatte; meine Sehnsucht nach Dir war wenigerschmerzha geworden, ja ich glaube, ich liebte Dichweniger leidenschalich, zumindest litt ich nicht so anmeiner Liebe, seit es mir geschenkt war. Ich wolltemich nicht zerteilen zwischen Dir und ihm; so gab ichmich nicht an Dich, den Glьcklichen, der an mir vor-beilebte, sondern an dies Kind, das mich brauchte, dasich nдhren muЯte, das ich kьssen konnte und umfan-gen. Ich schien gerettet vor meiner Unruhe nach Dir,meinem Verhдngnis, gerettet durch dies Dein anderesDu, das aber wahrha mein war - selten nur mehr,ganz selten drängte mein Gefühl sich demütig heran anDein Haus. Nur eines tat ich: zu Deinem Geburtstagsandte ich Dir immer ein Bündel weiße Rosen, genaudieselben, wie Du sie mir damals geschenkt nach unse-rer ersten Liebesnacht. Hast Du je in diesen zehn, indiesen elf Jahren Dich gefragt, wer sie sandte? Hast DuDich vielleicht an die erinnert, der Du einst solche Ro-sen geschenkt? Ich weiЯ es nicht und werde Deine Ant-wort nicht wissen. Nur aus dem Dunkel sie Dir hinzu-reichen, einmal im Jahre die Erinnerung aulühen zulassen an jene Stunde - das war mir genug.

Du hast es nie gekannt, unser armes Kind - heuteklage ich mich an, daß ich es Dir verbarg, denn duhättest es geliebt. Nie hast Du ihn gekannt, den armenKnaben, nie ihn lächeln gesehen, wenn er leise dieLider auob und dann mit seinen dunklen klugenAugen - Deinen Augen! - ein helles, frohes Licht warfüber mich, über die ganze Welt. Ach, er war so heiter,so lieb: die ganze Leichtigkeit Deines Wesens war inihm kindlich wiederholt, Deine rasche, bewegte

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Phantasie in ihm erneuert: stundenlang konnte erverliebt mit Dingen spielen, so wie Du mit demLeben spielst, und dann wieder ernst mit hochgezoge-nen Brauen vor seinen Bьchern sitzen. Er wurdeimmer mehr Du; schon begann sich auch in ihm jeneZwiefдltigkeit von Ernst und Spiel, die Dir eigen ist,sichtbar zu entfalten, und je дhnlicher er Dir ward,desto mehr liebte ich ihn. Er hat gut gelernt, er plau-derte Franzцsisch wie eine kleine Elster, seine Heewaren die saubersten der Klasse, und wie hübsch warer dabei, wie elegant in seinem schwarzen Samtkleidoder dem weißen Matrosenjäckchen. Immer war er derEleganteste von allen, wohin er auch kam; in Grado amStrande, wenn ich mit ihm ging, blieben die Frauenstehen und streichelten sein langes blondes Haar, aufdem Semmering, wenn er im Schlitten fuhr, wandtensich bewundernd die Leute nach ihm um. Er war sohübsch, so zart, so zutunlich: als er im letzten Jahre insInternat des eresianums kam, trug er seine Uniformund den kleinen Degen wie ein Page aus dem achtzehn-ten Jahrhundert - nun hat er nichts als sein Hemdchenan, der Arme, der dort liegt mit blassen Lippen undeingefalteten Hдnden.

Aber Du fragst mich vielleicht, wie ich das Kind so imLuxus erziehen konnte, wie ich es vermochte, ihmdies helle, dies heitere Leben der obern Welt zu ver-gцnnen. Liebster, ich spreche aus dem Dunkel zu Dir;ich habe keine Scham, ich will es Dir sagen, abererschrick nicht, Geliebter - ich habe mich verkau.Ich wurde nicht gerade das, was man ein Mädchenvon der Straße nennt, eine Dirne, aber ich habe mich

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verkau. Ich hatte reiche Freunde, reiche Geliebte:zuerst suchte ich sie, dann suchten sie mich, denn ichwar - hast Du es je bemerkt? - sehr schön. Jeder, demich mich gab, gewann mich lieb, alle haben mirgedankt, alle an mir gehangen, alle mich geliebt - nurDu nicht, nur Du nicht, mein Geliebter!

Verachtest Du mich nun, weil ich Dir es verriet, daßich mich verkau habe? Nein, ich weiß, Du verachtestmich nicht, ich weiЯ, Du verstehst alles und wirstauch verstehen, daЯ ich es nur fьr Dich getan, fьrDein anderes Ich, fьr Dein Kind. Ich hatte einmal injener Stube der Gebдrklinik an das Entsetzliche derArmut gerьhrt, ich wuЯte, daЯ in dieser Welt derArme immer der Getretene, der Erniedrigte, das Op-fer ist, und ich wollte nicht, um keinen Preis, daЯDein Kind, Dein helles, schцnes Kind da tief untenaufwachsen sollte im Abhub, im Dumpfen, im Ge-meinen der Gasse, in der verpesteten Lu eines Hin-terhausraumes. Sein zarter Mund sollte nicht die Spra-che des Rinnsteins kennen, sein weißer Leib nicht diedumpfige, verkrümmte Wäsche der Armut - DeinKind sollte alles haben, allen Reichtum, alle Leichtig-keit der Erde, es sollte wieder aufsteigen zu Dir, inDeine Sphäre des Lebens.

Darum, nur darum, mein Geliebter, habe ich michverkau. Es war kein Opfer für mich, denn was mangemeinhin Ehre und Schande nennt, das war mirwesenlos: Du liebtest mich nicht, Du, der Einzige,dem mein Leib gehörte, so fühlte ich es als gleichgül-tig, was sonst mit meinem Körper geschah. Die Lieb-kosungen der Männer, selbst ihre innerste Leiden-

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scha, sie rührten mich im Tiefsten nicht an, obzwarich manche von ihnen sehr achten mußte und meinMitleid mit ihrer unerwiderten Liebe in Erinnerungeigenen Schicksals mich o erschütterte. Alle warensie gut zu mir, die ich kannte, alle haben sie michverwöhnt, alle achteten sie mich. Da war vor allemeiner, ein älterer, verwitweter Reichsgraf, derselbe,der sich die Füße wundstand an den Türen, um dieAufnahme des vaterlosen Kindes, Deines Kindes, imeresianum durchzudrücken - der liebte mich wieeine Tochter. Dreimal, viermal machte er mir denAntrag, mich zu heiraten - ich könnte heute Gräfinsein, Herrin auf einem zauberischen Schloß in Tirol,könnte sorglos sein, denn das Kind hätte einen zärtli-chen Vater gehabt, der es vergötterte, und ich einenstillen, vornehmen, gütigen Mann an meiner Seite -ich habe es nicht getan, so sehr, so o er auch drängte,so sehr ich ihm wehe tat mit meiner Weigerung.Vielleicht war es eine Torheit, denn sonst lebte ichjetzt irgendwo still und geborgen, und dies Kind, dasgeliebte, mit mir, aber - warum soll ich Dir es nichtgestehen - ich wollte mich nicht binden, ich wollteDir frei sein in jeder Stunde. Innen im Tiefsten, imUnbewuЯten meines Wesens lebte noch immer deralte Kindertraum, Du wьrdest vielleicht noch einmalmich zu Dir rufen, sei es nur fьr eine Stunde lang.Und fьr diese eine mцgliche Stunde habe ich allesweggestoЯen, nur um Dir frei zu sein fьr Deinenersten Ruf. Was war mein ganzes Leben seit demErwachen aus der Kindheit denn anders als ein War-ten, ein Warten auf Deinen Willen!



Und diese Stunde, sie ist wirklich gekommen. AberDu weißt sie nicht, Du ahnst sie nicht, mein Geliebter!Auch in ihr hast Du mich nicht erkannt - nie, nie, niehast du mich erkannt! Ich war Dir ja schon früher obegegnet, in den eatern, in den Konzerten, imPrater, auf der Straße - jedesmal zuckte mir das Herz,aber Du sahst an mir vorbei: ich war ja äußerlich eineganz andere, aus dem scheuen Kinde war eine Fraugeworden, schцn, wie sie sagten, in kostbare Kleidergehьllt, umringt von Verehrern: wie konntest Du inmir jenes schьchterne Mдdchen im dдmmerigen LichtDeines Schlafraumes vermuten! Manchmal grьЯteDich einer der Herren, mit denen ich ging. Du dank-test und sahst auf zu mir: aber Dein Blick war hцflicheFremdheit, anerkennend, aber nie erkennend, fremd,entsetzlich fremd. Einmal, ich erinnere mich noch,ward mir dieses Nichterkennen, an das ich fast schongewohnt war, zu brennender Qual: ich saЯ in einerLoge der Oper mit einem Freunde und Du in derNachbarloge. Die Lichter erloschen bei der Ouver-tьre, ich konnte Dein Antlitz nicht mehr sehen, nurDeinen Atem fьhlte ich so nah neben mir, wie damalsin jener Nacht, und auf der samtenen Brьstung derAbteilung unserer Logen lag Deine Hand aufgestьtzt,Deine feine, zarte Hand. Und unendlich ьberkammich das Verlangen, mich niederzubeugen und diesefremde, diese so geliebte Hand demьtig zu kьssen,deren zдrtliche Umfassung ich einst gefьhlt. Ummich wogte aufwühlend die Musik, immer leiden-schalicher wurde das Verlangen, ich mußte michankrampfen, mich gewaltsam aufreißen, so gewalt-



sam zog es meine Lippen hin zu Deiner geliebtenHand. Nach dem ersten Akt bat ich meinen Freund,mit mir fortzugehen. Ich ertrug es nicht mehr, Dichso fremd und so nah neben mir zu haben im Dun-kel.

Aber die Stunde kam, sie kam noch einmal, ein letztesMal in mein verschьttetes Leben. Fast genau voreinem Jahr ist es gewesen, am Tage nach DeinemGeburtstage. Seltsam: ich hatte alle die Stunden anDich gedacht, denn Deinen Geburtstag, ihn feierte ichimmer wie ein Fest. Ganz frьhmorgens schon war ichausgegangen und hatte die weiЯen Rosen gekau, dieich Dir wie alljährlich senden ließ zur Erinnerung aneine Stunde, die Du vergessen hattest. Nachmittagsfuhr ich mit dem Buben aus, führte ihn zu Demel indie Konditorei und abends ins eater, ich wollte,auch er sollte diesen Tag, ohne seine Bedeutung zuwissen, irgendwie als einen mystischen Feiertag vonJugend her empfinden. Am nдchsten Tage war ichdann mit meinem damaligen Freunde, einem jungen,reichen Brьnner Fabrikanten, mit dem ich schon seitzwei Jahren zusammenlebte, der mich vergцtterte,verwцhnte und mich ebenso heiraten wollte wie dieandern und dem ich mich ebenso scheinbar grundlosverweigerte wie den andern, obwohl er mich und dasKind mit Geschenken ьberschьttete und selbst lie-benswert war in seiner ein wenig dumpfen, knechti-schen Gьte. Wir gingen zusammen in ein Konzert,trafen dort heitere Gesellscha, soupierten in einemRingstraßenrestaurant, und dort, mitten im Lachenund Schwätzen, machte ich den Vorschlag, noch in



ein Tanzlokal, in den Tabarin, zu gehen. Mir warendiese Art Lokale mit ihrer systematischen und alkoho-lischen Heiterkeit wie jede »Drahrerei« sonst immerwiderlich, und ich wehrte mich sonst immer gegenderlei Vorschlдge, diesmal aber - es war wie eineunergrьndliche magische Macht in mir, die michplцtzlich unbewuЯt den Vorschlag mitten in die freu-dig zustimmende Erregung der andern werfen lieЯ -hatte ich plцtzlich ein unerklдrliches Verlangen, als obdort irgend etwas Besonderes mich erwarte. Ge-wohnt, mir gefдllig zu sein, standen alle rasch auf, wirgingen hinьber, tranken Champagner, und in michkam mit einemmal eine ganz rasende, ja fast schmerz-hae Lustigkeit, wie ich sie nie gekannt. Ich trank undtrank, sang die kitschigen Lieder mit und hatte fastden Zwang, zu tanzen oder zujubeln. Aber plötzlich -mir war, als hätte etwas Kaltes oder etwas Glьhend-heiЯes sich mir jдh aufs Herz gelegt - riЯ es mich auf:am Nachbartisch saЯest Du mit einigen Freunden undsahst mich an mit einem bewundernden und begeh-renden Blick, mit jenem Blicke, der mir immer denganzen Leib von innen aufwьhlte. Zum erstenmal seitzehn Jahren sahst Du mich wieder an mit der ganzenunbewuЯt-leidenschalichen Macht Deines Wesens.Ich zitterte. Fast wäre mir das erhobene Glas ausden Händen gefallen. Glücklicherweise merkten dieTischgenossen nicht meine Verwirrung: sie verlorsich in dem Dröhnen von Gelächter und Musik.

Immer brennender wurde Dein Blick und tauchtemich ganz in Feuer. Ich wußte nicht: hattest Du michendlich, endlich erkannt, oder begehrtest Du mich



neu, als eine andere, als eine Fremde? Das Blut flogmir in die Wangen, zerstreut antwortete ich denTischgenossen: Du mußtest es merken, wie verwirrtich war von Deinem Blick. Unmerklich fьr die ьbri-gen machtest Du mit einer Bewegung des Kopfes einZeichen, ich mцchte fьr einen Augenblick hinaus-kommen in den Vorraum. Dann zahltest Du ostenta-tiv, nahmst Abschied von Deinen Kameraden undgingst hinaus, nicht ohne zuvor noch einmal angedeu-tet zu haben, daЯ Du drauЯen auf mich warten wьr-dest. Ich zitterte wie im Frost, wie im Fieber, ichkonnte nicht mehr Antwort geben, nicht mehr meinaufgejagtes Blut beherrschen. Zufдlligerweise beganngerade in diesem Augenblick ein Negerpaar mit knat-ternden Absдtzen und schrillen Schreien einen abson-derlichen neuen Tanz: alles starrte ihnen zu, und dieseSekunde nьtzte ich. Ich stand auf, sagte meinemFreunde, daЯ ich gleich zurьckkдme, und ging Dirnach.

DrauЯen im Vorraum vor der Garderobe standest Du,mich erwartend: Dein Blick ward hell, als ich kam.Lдchelnd eiltest Du mir entgegen; ich sah sofort, Duerkanntest mich nicht, erkanntest nicht das Kind voneinst und nicht das Mдdchen, noch einmal griffest Dunach mir als einem Neuen, einem Unbekannten. »Ha-ben Sie auch fьr mich einmal eine Stunde?« fragtestDu vertraulich - ich fьhlte an der Sicherheit DeinerArt, Du nahmst mich fьr eine dieser Frauen, fьr dieKдufliche eines Abends. »Ja«, sagte ich, dasselbe zit-ternde und doch selbstverstдndliche einwilligende Ja,das Dir das Mдdchen vor mehr als einem Jahrzehnt



auf der dämmernden Straße gesagt. »Und wannkönnten wir uns sehen?« fragtest Du. »Wann immerSie wollen«, antwortete ich - vor Dir hatte ich keineScham. Du sahst mich ein wenig verwundert an, mit-derselben mißtrauisch-neugierigen Verwunderung wiedamals, als Dich gleichfalls die Raschheit meines Ein-verstдndnisses erstaunt hatte. »Kцnnten Sie jetzt?« frag-test Du, ein wenig zцgernd. »Ja«, sagte ich, »gehenwir.«

Ich wollte zur Garderobe, meinen Mantel holen.

Da fiel mir ein, daЯ mein Freund den Garderobenzet-tel hatte fьr unsere gemeinsam abgegebenen Mдntel.Zurьckzugehen und ihn verlangen, wдre ohne um-stдndliche Begrьndung nicht mцglich gewesen, an-derseits die Stunde mit Dir preisgeben, die seit Jahrenersehnte, dies wollte ich nicht. So habe ich keineSekunde gezцgert: ich nahm nur den Schal ьber dasAbendkleid und ging hinaus in die nebelfeuchteNacht, ohne mich um den Mantel zu kьmmern, ohnemich um den guten, zдrtlichen Menschen zu kьm-mern, von dem ich seit Jahren lebte und den ich vorseinen Freunden zum lдcherlichsten Narren ernied-rigte, zu einem, dem seine Geliebte nach Jahren weg-lдu auf den ersten Pfiff eines fremden Mannes. Oh,ich war mir ganz der Niedrigkeit, der Undankbarkeit,der Schändlichkeit, die ich gegen einen ehrlichenFreund beging, im Tiefsten bewußt, ich fühlte, daßich lächerlich handelte und mit meinem Wahn einengütigen Menschen für immer tödlich kränkte, fühlte,daß ich mein Leben mitten entzweiriß - aber was warmir Freundscha, was meine Existenz gegen die Un-

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geduld, wieder einmal Deine Lippen zu fühlen, DeinWort weich gegen mich gesprochen zu hören. Sohabe ich Dich geliebt, nun kann ich es Dir sagen, daalles vorbei ist und vergangen. Und ich glaube, riefestDu mich von meinem Sterbebette, so käme mir plötz-lich die Kra, aufzustehen und mit Dir zu gehen.

Ein Wagen stand vor dem Eingang, wir fuhren zuDir. Ich hörte wieder Deine Stimme, ich fьhlte Deinezдrtliche Nдhe und war genau so betдubt, so kindisch-selig verwirrt wie damals. Wie stieg ich, nach mehr alszehn Jahren, zum erstenmal wieder die Treppe empor- nein, nein, ich kann Dirs nicht schildern, wie ichalles immer doppelt fьhlte in jenen Sekunden, vergan-gene Zeit und Gegenwart, und in allem und allemimmer nur Dich. In Deinem Zimmer war wenigesanders, ein paar Bilder mehr, und mehr Bьcher, daund dort fremde Mцbel, aber alles doch grьЯte michvertraut. Und am Schreibtisch stand die Vase mit denRosen darin - mit meinen Rosen, die ich Dir tagsvorher zu Deinem Geburtstag geschickt als Erinne-rung an eine, an die Du Dich doch nicht erinnertest,die Du doch nicht erkanntest, selbst jetzt, da sie Dirnahe war, Hand in Hand und Lippe an Lippe. Aberdoch: es tat mir wohl, daЯ Du die Blumen hegtest: sowar doch ein Hauch meines Wesens, ein Atem meinerLiebe um Dich.

Du nahmst mich in Deine Arme. Wieder blieb ich beiDir eine ganze herrliche Nacht. Aber auch im nacktenLeibe erkanntest Du mich nicht. Selig erlitt ich Deinewissenden Zärtlichkeiten und sah, daß Deine Leiden-scha keinen Unterschied macht zwischen einer Ge-

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liebten und einer Käuflichen, daß Du Dich ganz gibstan Dein Begehren mit der unbedachten verschwende-rischen Fülle Deines Wesens. Du warst so zärtlich undlind zu mir, der vom Nachtlokal Geholten, so vor-nehm und so herzlich-achtungsvoll und doch gleich-zeitig so leidenschalich im Genießen der Frau; wie-der fühlte ich, taumelig vom alten Glück, diese einzigeZweiheit Deines Wesens, die wissende, die geistigeLeidenscha in der sinnlichen, die schon das Kind Dirhörig gemacht. Nie habe ich bei einem Manne in derZärtlichkeit solche Hingabe an den Augenblick ge-kannt, ein solches Ausbrechen und Entgegenleuchtendes tiefsten Wesens - freilich um dann hinzulцschen ineine unendliche, fast unmenschliche VergeЯlichkeit.Aber auch ich vergaЯ mich selbst: wer war ich nun imDunkel neben Dir? War ichs, das brennende Kind voneinst, war ichs, die Mutter Deines Kindes, war ichs,die Fremde? Ach, es war so vertraut, so erlebt alles,und alles wieder so rauschend neu in dieser leiden-schalichen Nacht. Und ich betete, sie möchte keinEnde nehmen.

Aber der Morgen kam, wir standen spät auf, Duludest mich ein, noch mit Dir zu frühstücken. Wirtranken zusammen den Tee, den eine unsichtbar die-nende Hand diskret in dem Speisezimmer bereitge-stellt hatte, und plauderten. Wieder sprachst Du mitder ganzen offenen, herzlichen Vertraulichkeit DeinesWesens zu mir und wieder ohne alle indiskreten Fra-gen, ohne alle Neugier nach dem Wesen, das ich war.Du fragtest nicht nach meinem Namen, nicht nachmeiner Wohnung: ich war Dir wiederum nur das

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Abenteuer, das Namenlose, die heiße Stunde, die imRauch des Vergessens spurlos sich löst. Du erzähltest,daß Du jetzt weit weg reisen wolltest, nach Nord-afrika für zwei oder drei Monate: ich zitterte mitten inmeinem Glück, denn schon hämmerte es mir in denOhren: vorbei, vorbei und vergessen! Am liebstenwдre ich hin zu Deinen Knien gestьrzt und hдttegeschrien: »Nimm mich mit, damit Du mich endlicherkennst, endlich, endlich nach so vielen Jahren!«Aber ich war ja so scheu, so feige, so sklavisch, soschwach vor Dir. Ich konnte nur sagen: »Wie schade.«Du sahst mich lдchelnd an: »Ist es Dir wirklichleid?«

Da faЯte es mich wie eine plцtzliche Wildheit. Ichstand auf, sah Dich an, lange und fest. Dann sagte ich:»Der Mann, den ich liebte, ist auch immer wegge-reist.« Ich sah Dich an, mitten in den Stern DeinesAuges. »Jetzt, jetzt wird er mich erkennen!« zitterte,drдngte alles in mir. Aber Du lдcheltest mir entgegenund sagtest trцstend: »Man kommt ja wieder zurьck.«»Ja«, antwortete ich, »man kommt zurьck, aber dannhat man vergessen.«

Es muЯ etwas Absonderliches, etwas Leidenschali-ches in der Art gewesen sein, wie ich Dir das sagte.Denn auch Du standest auf und sahst mich an, ver-wundert und sehr liebevoll. Du nahmst mich bei denSchultern. »Was gut ist, vergißt sich nicht, Dichwerde ich nicht vergessen«, sagtest Du, und dabeisenkte sich Dein Blick ganz in mich hinein, als wollteer dies Bild sich festprägen. Und wie ich diesen Blickin mich eindringen fühlte, suchend, spürend, mein

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ganzes Wesen an sich saugend, da glaubte ich endlich,endlich den Bann der Blindheit gebrochen. Er wirdmich erkennen, er wird mich erkennen! Meine ganzeSeele zitterte in dem Gedanken.

Aber Du erkanntest mich nicht. Nein, Du erkanntestmich nicht, nie war ich Dir fremder jemals als indieser Sekunde, denn sonst - sonst hдttest Du nie tunkцnnen, was Du wenige Minuten spдter tatest. Duhast mich gekьЯt, noch einmal leidenschalich ge-küßt. Ich mußte mein Haar, das sich verwirrt hatte,wieder zurechtrichten, und während ich vor demSpiegel stand, da sah ich durch den Spiegel - und ichglaubte hinsinken zu müssen vor Scham und Entset-zen - da sah ich, wie Du in diskreter Art ein paargrцЯere Banknoten in meinen Muff schobst. Wie habeichs vermocht, nicht aufzuschreien, Dir nicht ins Ge-sicht zu schlagen in dieser Sekunde - mich, die ichDich liebte von Kindheit an, die Mutter Deines Kin-des, mich zahltest Du fьr diese Nacht! Eine Dirne ausdem Tabarin war ich Dir, nicht mehr - bezahlt, bezahlthast Du mich! Es war nicht genug, von Dir vergessenzu werden, ich muЯte noch erniedrigt sein.

Ich tastete rasch nach meinen Sachen. Ich wollte fort,rasch fort. Es tat mir zu weh. Ich griff nach meinemHut, er lag auf dem Schreibtisch neben der Vase mitden weiЯen Rosen, meinen Rosen. Da erfaЯte es michmдchtig, unwiderstehlich: noch einmal wollte ich esversuchen, Dich zu erinnern. »Mцchtest Du mir nichtvon Deinen weiЯen Rosen eine geben?« »Gern«, sag-test Du und nahmst sie sofort. »Aber sie sind Dir viel-leicht von einer Frau gegeben, von einer Frau, die Dich

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liebt?« sagte ich. »Vielleicht«, sagtest Du, »ich weiß esnicht. Sie sind mir gegeben, und ich weiß nicht vonwem; darum liebe ich sie so.« Ich sah Dich an. »Viel-leicht sind sie auch von einer, die Du vergessen hast!«

Du blicktest erstaunt. Ich sah Dich fest an. »Erkennemich, erkenne mich endlich!« schrie mein Blick. AberDein Auge lдchelte freundlich und unwissend. DukьЯtest mich noch einmal. Aber Du erkanntest michnicht.

Ich ging rasch zur Tьr, denn ich spьrte, daЯ mirTrдnen in die Augen schцssen, und das solltest Dunicht sehen. Im Vorzimmer - so hastig war ich hin-ausgeeilt - stieЯ ich mit Johann, Deinem Diener, fastzusammen. Scheu und eilfertig sprang er zur Seite, riЯdie Haustьr auf, um mich hinauszulassen, und da - indieser einen, hцrst Du? in dieser einen Sekunde, da ichihn ansah, mit trдnenden Augen ansah, den gealtertenMann, da zuckte ihm plцtzlich ein Licht in den Blick.In dieser einen Sekunde, hцrst Du? in dieser einenSekunde, hat der alte Mann mich erkannt, der michseit meiner Kindheit nicht gesehen. Ich hдtte hinknienkцnnen vor ihm fьr dieses Erkennen und ihm dieHдnde kьssen. So riЯ ich nur die Banknoten, mitdenen Du mich gegeiЯelt, rasch aus dem Muff undsteckte sie ihm zu. Er zitterte, sah erschreckt zu mirauf - in dieser Sekunde hat er vielleicht mehr geahntvon mir als Du in Deinem ganzen Leben. Alle, alleMenschen haben mich verwöhnt, alle waren zu mirgütig - nur Du, nur Du, Du hast mich vergessen, nurDu, nur Du hast mich nie erkannt!

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Mein Kind ist gestorben, unser Kind - jetzt habe ichniemanden mehr in der Welt, ihn zu lieben, als Dich.Aber wer bist Du mir, Du, der Du mich niemals,niemals erkennst, der an mir vorьbergeht wie aneinem Wasser, der auf mich tritt wie auf einen Stein,der immer geht und weiter geht und mich lдЯt inewigem Warten? Einmal vermeinte ich Dich zu hal-ten, Dich, den Flьchtigen, in dem Kinde. Aber es warDein Kind: ьber Nacht ist es grausam von mir gegan-gen, eine Reise zu tun, es hat mich vergessen undkehrt nie zurьck. Ich bin wieder allein, mehr allein alsjemals, nichts habe ich, nichts von Dir - kein Kindmehr, kein Wort, keine Zeile, kein Erinnern, undwenn jemand meinen Namen nennen wьrde vor Dir,Du hцrtest an ihm fremd vorbei. Warum soll ich nichtgerne sterben, da ich Dir tot bin, warum nicht weiter-gehen, da Du von mir gegangen bist? Nein, Geliebter,ich klage nicht wider Dich, ich will Dir nicht meinenJammer hinwerfen in Dein heiteres Haus. Fьrchtenicht, daЯ ich Dich weiter bedrдnge - verzeih mir, ichmuЯte mir einmal die Seele ausschreien in dieserStunde, da das Kind dort tot und verlassen liegt. Nurdies eine Mal muЯte ich sprechen zu Dir - dann geheich wieder stumm in mein Dunkel zurьck, wie ichimmer stumm neben Dir gewesen. Aber du wirstdiesen Schrei nicht hцren, solange ich lebe - nur wennich tot bin, empfдngst Du dies Vermдchtnis von mir,von einer, die Dich mehr geliebt als alle und die Dunie erkannt, von einer, die immer auf Dich gewartetund die Du nie gerufen. Vielleicht, vielleicht wirst Dumich dann rufen, und ich werde Dir ungetreu sein



zum erstenmal, ich werde Dich nicht mehr hören ausmeinem Tod: kein Bild lasse ich Dir und kein Zei-chen, wie Du mir nichts gelassen; nie wirst Du micherkennen, niemals. Es war mein Schicksal im Leben,es sei es auch in meinem Tod. Ich will Dich nichtrufen in meiner letzten Stunde, ich gehe fort, ohne daЯDu meinen Namen weiЯt und mein Antlitz. Ich sterbeleicht, denn Du fьhlst es nicht von ferne. Tдte es Dirweh, daЯ ich sterbe, so kцnnte ich nicht sterben.

Ich kann nicht mehr weiter schreiben … mir ist sodumpf im Kopfe … die Glieder tun mir weh, ich habeFieber … ich glaube, ich werde mich gleich hinlegenmьssen. Vielleicht ist es bald vorbei, vielleicht ist mireinmal das Schicksal gьtig, und ich muЯ es nicht mehrsehen, wenn sie das Kind wegtragen … Ich kann nichtmehr schreiben. Leb wohl, Geliebter, leb wohl, ichdanke Dir … Es war gut, wie es war, trotz alledem …ich will Dirs danken bis zum letzten Atemzug. Mir istwohl: ich habe Dir alles gesagt, Du weiЯt nun, nein,Du ahnst nur, wie sehr ich Dich geliebt, und hast dochvon dieser Liebe keine Last. Ich werde Dir nichtfehlen - das trцstet mich. Nichts wird anders sein inDeinem schцnen, hellen Leben … ich tue Dir nichtsmit meinem Tod … das trцstet mich, Du Geliebter.

Aber wer … wer wird Dir jetzt immer die weiЯenRosen senden zu Deinem Geburtstag? Ach, die Vasewird leer sein, der kleine Atem, der kleine Hauch vonmeinem Leben, der einmal im Jahre um Dich wehte,auch er wird verwehen! Geliebter, hцre, ich bitte Dich… es ist meine erste und letzte Bitte an Dich … tumirs zuliebe, nimm an jedem Geburtstag - es ist ja



Tag, wo man an sich denkt - nimm da Rosen und tusie in die Vase. Tu's, Geliebter, tu es so, wie andereeinmal im Jahre eine Messe lesen lassen für eine liebeVerstorbene. Ich aber glaube nicht an Gott mehr undwill keine Messe, ich glaube nur an Dich, ich liebe nurDich und will nur in Dir noch weiterleben … ach, nureinen Tag im Jahr, ganz, ganz still nur, wie ich nebenDir gelebt … Ich bitte Dich, tu es, Geliebter … es istmeine erste Bitte an Dich und die letzte … ich dankeDir … ich liebe Dich, ich liebe Dich … lebe wohl …

Er legte den Brief aus den zitternden Hдnden. Dannsann er lange nach. Verworren tauchte irgendeinErinnern auf an ein nachbarliches Kind, an ein Mдd-chen, an eine Frau im Nachtlokal, aber ein Erinnern,undeutlich und verworren, so wie ein Stein flimmertund formlos zittert am Grunde fließenden Wassers.Schatten strömten zu und fort, aber es wurde keinBild. Er fühlte Erinnerungen des Gefühls und erin-nerte sich doch nicht. Ihm war, als ob er von all diesenGestalten geträumt hätte, o und tief getrдumt, aberdoch nur getrдumt.

Da fiel sein Blick auf die blaue Vase vor ihm auf demSchreibtisch. Sie war leer, zum erstenmal leer seitJahren an seinem Geburtstag. Er schrak zusammen:ihm war, als sei plцtzlich eine Tьr unsichtbar aufge-sprungen, und kalte Zuglu ströme aus anderer Weltin seinen ruhenden Raum. Er spürte einen Tod undspürte unsterbliche Liebe: innen brach etwas auf inseiner Seele, und er dachte an die Unsichtbare körper-los und leidenschalich wie an eine ferne Musik.

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DIE HOCHZEIT VON LYON

Am zwölen November  brachte Barrère imfranzösischen Nationalkonvent gegen das abtrünnigeund endlich erstürmte Lyon jenen tödlichen Antragein, der mit den lapidaren Worten endigte: »Lyonbekämpe die Freiheit, Lyon ist nicht mehr.« DieGebäude der volksaufrьhrerischen Stadt sollten, soforderte er, dem Erdboden gleichgemacht, seine Mo-numente in Asche verwandelt und selbst der Nameihr genommen werden. Acht Tage zцgerte der Kon-vent, so vцlliger Vernichtung der zweitgrцЯten StadtFrankreichs zuzustimmen, und selbst nach der Unter-zeichnung fьhrte der Volksbeauragte Couthon, desgeheimen Einverständnisses Robespierres gewiß, je-nen herostratischen Befehl nur lässig aus. Um derForm zu genügen, versammelte er mit großem Pompdas Volk auf dem Platz von Bellecourt und klopemit silbernem Hammer symbolisch gegen die derVernichtung bestimmten Hдuser, aber nur zцgerndbrach dann der Spaten in die herrlichen Fassaden ein,und die Guillotine ьbte noch sparsam ihren dumpfdrцhnenden Niederfall. Von dieser unerwartetenMilde beruhigt, begann die vom Bьrgerkrieg undmonatelanger Belagerung grausam erregte Stadtschon wieder ersten Atem der Hoffnung zu wagen,als plцtzlich der human zцgernde Tribun abberufenwurde und statt seiner Collot d'Herbois und Fouchйin Ville Affranchie - denn so hieЯ von nun ab Lyon in

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den Dekreten der Republik - mit der Schärpe derVolksbeauragten geschmückt erschienen. Nunwurde über Nacht, was bloß als pathetisch abschrek-kendes Dekret vermeint war, grimmige Wirklichkeit.»Man hat hier bisher nichts getan«, meldete ungedul-dig, die eigene patriotische Energie zu erweisen undden milderen Vorgдnger zu verdдchtigen, der ersteBericht der neuen Tribunen an den Konvent, undsofort setzten jene furchtbaren Exekutionen ein, andie sich Fouchй, der »mitrailleur de Lyon«, als spдte-rer Herzog von Otranto und Verteidiger aller legiti-men Prinzipien nur ungern mehr erinnern lieЯ.

Statt des langsam aufmцrtelnden Spatens sprengtenjetzt Pulverminen reihenweise die herrlichsten Ge-bдude nieder, statt der »unzuverlдssigen und unzu-lдnglichen« Guillotine erledigten Massenfusilladenund Kartätschen Hunderte von Verurteilten mit einerSalve. Geschär durch täglich neue und schneidendeDekrete mähte die Justiz weitausholend wie eineSense Tag um Tag ihre riesige Menschengarbe; längstschon besorgte die rasch wegschwemmende Rhônedas zu langsame Geschä des Einsargens und Grä-bergrabens, längst genügten die Gefängnisse nichtmehr für die Fülle der Verdächtigen. So wurden dieKeller der öffentlichen Gebäude, Schulen und Klösterden Verurteilten zum Aufenthalt bestimmt, freilich zuflüchtigem bloß, denn die Sense hieb rasch zu, undselten wärmte das gleiche Stroh denselben Leib mehrals eine einzige Nacht.

Zu so tragisch verkürzter Gemeinsamkeit war aneinem scharffrostigen Tage jenes blutigen Monats

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wieder ein Trupp Verurteilter in die Keller des Stadt-hauses getrieben worden. Mittags hatte man sie Mannfьr Mann vor die Kommissare gefьhrt und in fliegen-dem Fragespiel ihr Schicksal erledigt; nun saЯen dievierundsechzig Verurteilten, Frauen und Mдnner,wirr durcheinander in dem niedergewцlbten, nachWeinfдssern und Moder dьnstenden Dunkel, das imVorderraum ein kдrgliches Kaminfeuer eher durch-fдrbte als durchwдrmte. Die meisten hatten sich le-thargisch auf ihre Strohsдcke hingeworfen, andereschrieben an dem einzig bewilligten Holztisch beiwackeligem Wachslicht hastige Abschiedsbriefe, wuЯ-ten sie doch, daЯ ihr Leben eher zu Ende sein wьrdeals die im kalten Rдume blauschauernde Kerze. Kei-ner von ihnen aber sprach anders als flьsternd, undso drцhnte deutlich in die gefrorene Stille von derStraЯe her die dumpfe Explosion der Minen und dasrasch ihr folgende Niederkrachen der Hдuser. Dochschon war durch die schmetternde Geschwindigkeitder Geschehnisse alle Fдhigkeit des Gefьhls und desdeutlichen Denkens den Geprьen genommen; reglosund wortlos lehnten die meisten im Dunkel wie ineinem Vortraum ihres Grabes, nichts mehr erwartendund mit keiner Regung mehr dem Lebendigen zuge-wandt.

Da dröhnte gegen die siebente Abendstunde plötzlichenergisch-harter Schritt an der Türe, Kolben klirrten,der rostige Riegel kreischte zurück. Unwillkürlichschreckten alle auf: sollte gegen die triste Gewohnheiteiner sonst verstatteten Nacht schon jetzt ihre Stundegekommen sein? Im kalten Luzug der aufgerissenen

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Tür sprang die Flamme blau von der Kerze, als wolltesie dem wдchsernen Leib entfliehen, und mit ihraufzuckend warf Angst sich dem Unbekannten entge-gen. Aber bald beruhigte sich der jдh aufgerisseneSchrecken, brachte der Kerkermeister doch nichts alseinen neuen nachtrдglichen Schub Verurteilter, etwazwanzig an der Zahl, die er wortlos und ohne ihnenim ьberfьllten Raum besonderen Platz anzuweisen,die Treppe herabfьhrte. Dann stцhnte die schwer-eiserne Tьr wieder zu.

Unfreundlich blickten die Gefangenen den Ankцmm-lingen entgegen, denn dies Seltsame ist ja der mensch-lichen Natur zu eigen, ьberall eilig sich einzupassenund selbst im Flьchtigen sich zu Hause zu fьhlen wiein einem Recht. So betrachteten die frьher Gekomme-nen den dumpfen modrigen Raum, den schimmeligenStrohsack, den Platz um das Feuer unwillkьrlichschon als ihr Eigentum, und jeder der Neueingelang-ten erschien ihnen ein unberufener und schmдlernderEindringling. Die eben Eingelieferten wiederummochten jene kalte Feindseligkeit ihrer Vorgдnger, sounsinnig sie auch in tцdlicher Stunde war, deutlichempfunden haben, denn - sonderbar - sie wechseltenmit den Schicksalsgenossen weder GruЯ noch Wort,forderten nicht Teil an Tisch und Stroh, sonderndrьckten sich nur wortlos und mьrrisch in eine Ecke.Und war vordem die Stille schon grausam ьber demGewцlbe gelegen, so mutete sie nun noch finsterer andurch diese Gespanntheit eines sinnlos herausgefor-derten Gefьhls.

Um so klingender, heller und gleichsam wie von

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anderer Welt hereingeschlagen fuhr nun plötzlich einSchrei diese Stille durch, ein heller, beinahe zuckenderSchrei, der unwiderstehlich selbst den Teilnahmslose-sten aus Ruhe und Gedrücktheit riß. Ein Mädchen,neu angekommen mit den anderen, plötzlich undruckha war sie aufgesprungen, und sie war es auch,die sich, die Arme wie eine Stürzende vorgebreitet,mit dem zuckenden Ruf »Robert, Robert« einemjungen Menschen entgegenwarf, der abseits von denandern an dem Fenstergitter gelehnt hatte und nunseinerseits ihr entgegenfuhr. Und schon loderten wiezwei Flammen eines Feuers diese beiden jungen Ge-stalten Kцrper an Kцrper, Mund an Mund sich entge-gen, so innig zusammenbrennend, daЯ die jдh ausstrц-menden Trдnen der Entzьckung eine des anderenWangen ьberstrцmten und ihr Schluchzen wie auseiner einzigen berstenden Kehle drang. Wenn sie sichlieЯen fьr einen Augenblick, unglдubig, sich wirklichzu fьhlen und vom ЬbermaЯ des Unwahrscheinli-chen erschreckt, so schlug im nдchsten Augenblickschon wieder neue Umfangung sie womцglich nochglьhender zusammen. Sie weinten und schluchztenund sprachen und schrien in einem Atem, ganz mitsich allein im Unendlichen des Gefьhls und vollkom-men achtlos der Mitgefдhrten, die erstaunt und durchdieses Staunen belebt sich ungewiЯ den beiden nдher-ten.

Das junge Mдdchen war mit Robert de L. dem Sohneines hohen Magistratsbeamten, seit Kindheit erstbefreundet, seit Monaten dann verlobt gewesen.Schon war in der Kirche ihr Aufgebot erfolgt und



gerade jener blutige Tag, da die Truppen des Kon-vents in die Stadt einbrachen, ihrer Vermählung be-stimmt, da gebot es die Pflicht ihrem Verlobten, derin der Armee Percys gegen die Republik gekämphatte, den Royalisten-General bei seinem verzweifel-ten Durchbruch zu begleiten. Wochenlang blieb dannjede Nachricht von ihm aus, und schon wagte sie zuhoffen, er habe sich glücklich über die SchweizerGrenze gerettet, als plötzlich ein Stadtschreiber ihrmeldete, Angeber hätten sein Versteck auf einemGehöe ausgekundschaet, und gestern sei er demRevolutionstribunal überliefert worden. Kaum hattedas kühne Mädchen von der Gefangennahme undzweifellosen Verurteilung ihres Verlobten erfahren,als sie mit jener magisch unbegreiflichen Energie,welche die Natur Frauen in Augenblicken höchsterGefahr zuteilt, das Unmögliche durchsetzte, persön-lich bis zu dem unnahbaren Volksbeauragten vorzu-dringen, um dort Gnade für ihren Verlobten zu erbit-ten. Collot d'Herbois, dem sie zuerst sich zu Füßenwarf, hatte sie herb abgewiesen, er kenne keine Gnadefьr Verrдter. Darauf war sie zu Fouchй geeilt, dernicht minder hart als jener, aber verschlagener in denMitteln, sich der Rьhrung, die ihn beim Anblickdieses verzweifelten jungen Mдdchens ьbermannte,dadurch erwehrte, daЯ er log, gern hдtte er zugunstenihres Verlobten eingegriffen, aber er sehe - und dabeiwarf der geьbte Seelenbetrьger einen lockern Blickdurch das Lorgnon auf irgendein gleichgьltigesBlatt -, daЯ schon heute vormittag Robert de L. aufden Feldern von Brotteaux fьsiliert worden sei. Die

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Täuschung des jungen Mädchens gelang dem Listigenvollkommen: sie glaubte sofort ihren Bräutigam tot.Aber statt einem wehrlosen Schmerz sich weibischhinzugeben, riß sie, gleichgültig gegen ihr nun sinnlo-ses Leben, die Kokarde sich aus dem Haar, trat sie mitFьЯen, nannte lautschreiend, daЯ es durch alle offenenTьren drцhnte, Fouchй und seine rasch herbeigeeiltenLeute erbдrmliche Blutsдufer, Henker und feige Ver-brecher. Und noch wдhrend die Soldaten sie fesseltenund aus dem Zimmer schleppten, konnte sie bereitshцren, wie Fouchй ihren Verhaungsbefehl seinempockennarbigen Sekretär diktierte.

Dies alles habe sie - so erzählt die Leidenschalichebeinahe freudig den Umstehenden - aber nicht mehrals wirklich und wesenha empfunden, im Gegenteil,ein rauschendes Gefühl der Befriedigung hätte sie beidem Gedanken erfaЯt, rasch dem hingerichtetenBrдutigam folgen zu dьrfen. Bei dem Verhцr habe sieauf alle Fragen gar nicht mehr Antwort gegeben, sostark hдtte sie schon innen das Gefьhl des nahenEndes mit Freude durchklungen, ja, sie habe nichteinmal die Augen recht erhoben, als man sie mitjenem verspдteten Trupp hier ins Gefдngnis hinein-stieЯ. Denn was hдtte sie in dieser Welt noch weiterbeschдigen können, da sie ihren Geliebten tot wußteund sich selbst ihm in diesem Tode schon selig nah.Darum habe sie sich auch vollkommen anteilslos indie Ecke gelagert, bis ihr Blick, kaum der Dunkelheitgewöhnt, von der Haltung eines jungen Menschenbefremdet worden sei, der nachdenklich am Fensterlehnte, ganz sonderbar ähnlich der Art, mit der ihr



Verlobter vor sich hinzublicken pflegte. Gewaltsamhabe sie sich verboten, einer so sinnlos trügerischenHoffnung nachzugeben, immerhin aber sei sie aufge-standen. Und gerade in diesem Augenblick sei jenerfast gleichzeitig an den Lichtkreis der Kerze herange-treten. Sie verstehe aber nicht, fьgte sie in noch nach-hallender Erschьtterung bei, daЯ sie nicht gestorbensei in jener schneidenden Sekunde des Erschreckens,denn sie habe deutlich gefьhlt, daЯ das Herz wie einLebendiges ihr aus der Brust sprang, als sie plцtzlichihn, den lдngst Aufgegebenen, vor sich lebendigsah.

Wдhrend sie dies in fliegender Eile erzдhlte, lieЯ nichtfьr einen Augenblick ihre Hand jene des Geliebten.Unverwandt, gleichsam noch immer ungewiЯ seinerGegenwart, drдngte sie immer wieder von neuem inseine Umfangung zurьck, und dieser rьhrende An-blick jugendlicher Innigkeit erschьtterte auf wunder-bare Weise ihre Schicksalsgenossen. Eben noch lethar-gisch, mьde, gleichgьltig und jeder Empfindungverschlossen, umdrдngten sie nun auf einmal das sosonderbar vereinigte Paar mit leidenschalicher Leb-haigkeit. Jeder vergaß über diesem außerordentli-chen sein eigenes Geschick, jeder gab willig demströmenden Bedürfnis nach, ihnen ein Wort der Teil-nahme, der Zustimmung oder auch des Mitleids zusagen, aber in einer Art rauschhaem Stolz wehrte dasfeurige Mädchen jedes Bedauern ab. Nein, sie seiglücklich, restlos glücklich, da sie nun wisse, daß siezu gleicher Stunde mit ihrem Geliebten sterbe undkeiner den andern betrauern müsse. Und nur eines

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mindere ihr Glück, daß sie mit noch fremdem Namenund nicht als seine angetraute Frau gemeinsam mitihm vor Gott hintreten kцnne.

Sie hatte dies ausgesprochen, vollkommen arglos undabsichtslos und beinahe des Gesprochenen schon ver-gessen, immer wieder sich der Umfangung des Ge-liebten hingebend; deshalb wurde sie auch nicht ge-wahr, daЯ, von diesem ihrem Wunsche tieewegt,unterdessen ein Kriegskamerad Roberts vorsichtigzur Seite schlich und mit einem älteren Mann leise zuflüstern begann. Jenen aber schienen die zugeflüster-ten Worte sehr zu erschüttern, denn sofort rae ersich empor und mühte sich zu den beiden hin. Erwдre, wandte er sich ihnen zu, was seine bдuerlicheKleidung wohl nicht erkennen lasse, ein eidverwei-gernder Priester aus Toulon und sei erst hier in-folge einer Denunziation festgenommen worden. Aberwenn das priesterliche Gewand ihm jetzt fehle, sofьhle er doch unverдndert in sich sein Amt und seinepriesterliche Macht. Und da der beiden Aufgebotlдngst erfolgt sei, andererseits das Urteil einen Auf-schub nicht verstatte, so wolle er sich gerne unter-fangen, ihr durchaus redliches Begehren sofort zuerfьllen und sie hier vor der Zeugenscha ihrer Mit-gefährten und jenes allerorts gegenwärtigen Gottesehelich zu vereinigen.

Erstaunt von dieser nochmaligen und nie erhoenWunscherfüllung blickte das junge Mädchen fragendihren Verlobten an. Der antwortete nur mit einemstrahlenden Blick. Da beugte das junge Mädchen ihreKnie auf die harten Fliesen, küßte die Hand des Prie-

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sters und bat, auch in diesem unwürdigen Räume dieVermählung zu vollziehen, denn sie fühle sich reinesSinnes und ganz von der Heiligkeit der Stunde erfьllt.Die andern, tieferschьttert, daЯ dieser dumpfe Todes-raum fьr einen Augenblick zur Kirche werden sollte,wurden unwillkьrlich von der Erregung der Brautberьhrt und verdeckten sie mьhsam durch vielfдltigeund hastige Tдtigkeit. Die Mдnner reihten die weni-gen Sessel heran, stellten die Wachslichter in geraderReihe um ein eisernes Kruzifix und nдherten so denTisch einem Altar an, die Frauen flochten indes hastigdie wenigen Blumen, die ihnen mitleidige Hдnde aufden Weg gegeben hatten, zu einem schmalen Kranz,den sie dem Mдdchen auf das Haupt drьckten; unter-dessen war der Priester mit dem ihr zubestimmtenGatten in den Nebenraum getreten und hatte erst ihmund dann ihr die Beichte abgenommen, und wie diebeiden nun vor den improvisierten Altar traten, ent-stand fьr einige Minuten eine so erfьllte und so auffдl-lige Stille, daЯ plцtzlich der Wachsoldat, irgendeinVerdдchtiges vermutetend, die Tьr aufriЯ und eintrat.Als er die sonderbare Vorbereitung bemerkte, wurdeunwillkьrlich sein dunkles Bauerngesicht ernst undehrfьrchtig. Er blieb, ohne zu stцren, an der Tьrstehen und ward so selber schweigsamer Zeuge derungewцhnlichen Vermдhlung,

Der Priester trat vor den Tisch und erklдrte in weni-gen Worten, daЯ ьberall eine Kirche und ein Altar sei,wo Menschen sich in Demut Gott verbinden wollten.Dann kniete er hin, und alle Anwesenden mit ihm; esblieb so still, daЯ keine der schmalen Flammen sich

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bewegte. Dann fragte der Priester in das Schweigenhinein, ob die beiden sich in Leben und Tod vereinenwollten. Mit fester Stimme antworteten sie: »In Lebenund Tod«, und dieses Wort Tod - eben noch als einGrauen gefühlt - schwang hell und klar und vonkeiner Furcht mehr durchzittert quer in den schwei-genden Raum. Da einte der Priester ihre Hдnde undsprach die bindenden Worte: »Ego auctoritate sanctaematris Ecclesiae qua fungor, conjungo vos in matri-moniam in nomine Patris et Filii et Spiritus sancti.«

Damit war die Zeremonie beendet. Die Neuvermдhl-ten kьЯten dem Priester die Hand, und jeder von denVerurteilten drдngte einzeln zu, ein besonderes Wortder Herzlichkeit ihnen zu sagen. Niemand dachte indieser Sekunde an den Tod, und die ihn fьhlten,empfanden seine Schrecknis nicht mehr.

Unterdessen hatte jener Freund, der bei der Vermäh-lung als Zeuge gedient, mit einigen andern leise ge-flüstert, und bald merkte man neuerdings eine son-derbare Geschäigkeit beginnen. Die Männer trugendie Strohsäcke aus dem kleinen Nebengemach, undnoch hatten die Neuverbundenen, ganz dem traum-haen Geschehen hingegeben, nichts von den Vor-bereitungen bemerkt, als jener zu ihnen trat undlächelnd mitteilte, gerne hätten er und seine Schick-salsgenossen dem Paare ein Geschenk zu ihrem brдut-lichen Tage geboten, doch welche irdische Gabe geltenoch jenen, die ihr eigenes Leben nicht zu haltenvermцchten. So wollten sie das einzige bieten, wasNeuvermдhlten erfreulich und kostbar sein kцnnte:die abgesonderte Stille einer brдutlichen und letzten

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Nacht, und lieber selber etwas gedrängter im äußerenRaum zusammenrücken, damit jenen das kleinere Ge-mach vollkommen gehöre. »Nützt die wenigen Stun-den«, fügte er bei, »kein Atemzug Leben wird unsnochmal zurückgegeben, und wem in solchem Au-genblicke noch Liebe gegцnnt ist, der soll sie genie-Яen.«

Das junge Mдdchen errцtete bis tief ins Haar, ihrGatte aber sah frank dem Freunde in die Augen undschьttelte ergriffen die brьderliche Hand. Sie sprachenkein Wort, blickten einander nur an. Und so geschahes, daЯ ohne eine laute Anordnung unwillkьrlich dieMдnner sich um den Brдutigam, die Frauen um dieBraut reihten und mit feierlich erhobenen Lichtern siehineingeleiteten in das vom Tode geliehene GelaЯ,unbewuЯt derart uralten Hochzeitsbrauch wieder er-findend aus dem ЬbermaЯ teilnehmenden Gefьhls.

Leise lehnten sie die Tьr dann zu hinter den Vermдhl-ten, keiner aber wagte ein unziemliches oder unsauberscherzendes Wort ьber dies nahe und brдutliche Zu-sammensein, denn ein sonderbar feierliches Empfin-den faltete stumme Flьgel ьber sie alle, seit sie, ohn-mдchtig selber gegen das Schicksal, andern eineHandvoll Glьck noch hatten zuteilen kцnnen. Und imgeheimen war jeder dankbar fьr die wohltдtige Ab-lenkung von dem eigenen unvermeidlichen Los. Solagen, im Dunkel verstreut, wach oder träumend, dieVerurteilten auf ihren Strohsäcken bis zur Frühe, undselten nur durchwogte ein Seufzer den vom verlore-nen Atem dicht erfüllten Raum.

Als dann am nächsten Morgen die Soldaten eintraten,

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um die vierundachtzig Verurteilten zur Richterstatt zufьhren, fanden sie alle schon wach und vцllig bereit.Nur im Nebenraum, wo die Vermдhlten weilten,blieb es still: selbst der harte StoЯ der Kolben hatte dieErmьdeten nicht geweckt. So eilte der Brautfьhrerleise hinьber, damit nicht der Henker es sei, der dieGlьcklichen gewaltsam erwecke. Sie lagen locker um-schlungen, ihre Hand wie vergessen unter seinemrьcklings geneigten Nacken; selbst in der weichenErstarrung des Schlafes glдnzten ihre Gesichter soselig entspannt, daЯ es dem Mitfьhlenden schwerward, solchen Frieden zu stören. Aber er dure nichtzögern und rührte mit drängender Mahnung erst ihnan, der taumelnd aulickte, mit einem Riß aber dieLage besann und zärtlich die Gefährtin vom Lagerauob. Sie blickte empor, kindha erschreckt, dochnur von dem allzu jähen Auauchen in die eisigeWirklichkeit: dann lächelte sie ihm einverständlich zu:»Ich bin bereit.«

Unwillkürlich machten alle, als die beiden Hand inHand eintraten, ihnen Platz, und so ergab es sich ohneAbsicht, daß die Neuvermählten den Todesgang derVerurteilten erцffneten. Obwohl den tдglichen An-blick jener traurigen Trupps schon gewohnt, blicktendiesmal die Leute doch staunend dem sonderbarenZuge nach, denn von diesen beiden Menschen, die ihnerцffneten, dem jungen Offizier und der mit brдutli-chem Kranze geschmьckten Frau, strahlte eine soungewohnte Heiterkeit und fast selige Sicherheit aus,daЯ selbst dumpfe Seelen hier ein hohes Geheimnisehrfьrchtig fьhlten. Aber auch die andern Verurteil-

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ten stapen nicht den sonst schlürfenden Trott derzum Tode Geführten, sondern jeder von ihnen starr-te auf die beiden, denen dreimal so unvermuteteWunscherfüllung geworden war, brennenden Blicksund mit dem verzweifelt angekrallten Vertrauen,noch einmal mьsse, noch einmal werde an diesenbeiden Glьcklichen ein letztes Wunder sich ereignenund sie alle damit vom sichern Tode erretten.

Aber das Leben liebt nur das Wunderbare und spartmit dem wirklichen Wunder: einzig das in Lyondamals Tagtдgliche geschah. Der Zug wurde ьber dieBrьcke auf die sumpfigen Felder von Brotteaux ge-fьhrt, dort erwarteten ihn zwцlf Pelotons Infanterie,je drei Flintenlдufe fьr den einzelnen Mann. Manstellte sie in Reih und Glied: eine einzige Salve krachtealle nieder. Dann warfen die Soldaten die noch bluten-den Leichen in die Rhфne, deren rasche StrцmungAntlitz und Schicksal dieser Unbekannten gleichgьl-tig in sich hinunternahm. Nur der hochzeitlicheKranz, der sich vom Haupte der Sinkenden leichtergelцst hatte, schwamm einige Zeit noch sinnlos undfremd auf den weiterwandernden Wellen. SchlieЯlichentschwand auch er und mit ihm fьr lange Zeit dasGedдchtnis jener von den Lippen des Todes gelцstenund darum denkwьrdigen Liebesnacht.

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DER AMOKLÄUFER

Im März des Jahres  ereignete sich im Hafen vonNeapel bei dem Ausladen eines großen Übersee-dampfers ein merkwürdiger Unfall, über den die Zei-tungen umfangreiche, aber sehr phantastisch ausge-schmückte Berichte brachten. Obzwar Passagier der›Oceania‹, war es mir ebensowenig wie den anderenmцglich, Zeuge jenes seltsamen Vorfalles zu sein, weiler sich zur Nachtzeit wдhrend des Kohlenladens undder Lцschung der Fracht abspielte, wir aber, um demLдrm zu entgehen, alle an Land gegangen waren unddort in Kaffeehдusern oder eatern die Zeit ver-brachten. Immerhin meine ich persönlich, daß man-che Vermutungen, die ich damals nicht öffentlichäußerte, die wirkliche Aulärung jener erregendenSzene in sich tragen, und die Ferne der Jahre erlaubtmir wohl, das Vertrauen eines Gespräches zu nutzen,das jener seltsamen Episode unmittelbar vorausging.

Als ich in der Schiffsagentur von Kalkutta einen Platzfьr die Rьckreise nach Europa auf der ›Oceania‹ be-stellen wollte, zuckte der Clerk bedauernd die Schul-tern. Er wisse noch nicht, ob es mцglich sei, mir eineKabine zu sichern, das Schiff wдre jetzt knapp vordem Einbruch der Regenzeit immer schon von Au-stralien her ausverkau, er müsse erst das Telegrammvon Singapore abwarten. Am nächsten Tage teilte ermir erfreulicherweise mit, er könne mir noch einen



Platz vormerken, freilich sei es nur eine wenig kom-fortable Kabine unter Deck und in der Mitte desSchiffes. Ich war schon ungeduldig, heimzukehren: sozцgerte ich nicht lange und lieЯ mir den Platz zu-schreiben.

Der Clerk hatte mich richtig informiert. Das Schiffwar ьberfьllt und die Kabine schlecht, ein kleinergepreЯter, rechteckiger Winkel in der Nдhe derDampfmaschine, einzig vom trьben Blick der kreis-runden Glasscheibe erhellt. Die stockende, verdickteLu roch nach Öl und Moder: nicht für einen Augen-blick konnte man dem elektrischen Ventilator entge-hen, der wie eine toll gewordene stählerne Fledermauseinem surrend über der Stirne kreiste. Von unten herratterte und stöhnte wie ein Kohlenträger, der unab-lässig dieselbe Treppe hinaueucht, die Maschine,von oben hörte man unauörlich das schlurfende Hinund Her der Schritte vom Promenadendeck. So flüch-tete ich, kaum daß ich den Koffer in das muffige Grabaus grauen Traversen verstaut hatte, wieder zurückauf Deck, und wie Ambra trank ich, aufsteigend ausder Tiefe, den sьЯlichen weichen Wind, der vomLande her ьber die Wellen wehte.

Aber auch das Promenadendeck war voll Enge undUnruhe: es flatterte und flirrte von Menschen, die mitder flackernden Nervositдt eingesperrter Untдtigkeitunausgesetzt plaudernd auf und nieder gingen. Daszwitschernde Geschдker der Frauen, das rastlos krei-sende Wandern auf dem EngpaЯ des Decks, wo vorden Stьhlen der Schwдrm in schwatzhaer Unruhevorbeiwogte, um sich unablässig zu begegnen, tat mir

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irgendwie weh. Ich hatte eine neue Welt gesehen,rasch ineinanderstürzende Bilder in rasender Jagd inmich eingetrunken. Nun wollte ich mirs übersinnen,zerteilen, ordnen, nachbildend das heiß in den BlickGedrдngte gestalten, aber hier auf dem gedrдngtenBoulevard gab es nicht eine Minute Ruhe und Rast.Die Zeilen in einem Buch zerrannen vor den flьchti-gen Schatten der Vorьberplaudernden. Es war un-mцglich, mit sich selbst auf dieser schattenlosen wan-dernden Schiffsgasse allein zu sein.

Drei Tage lang versuchte ichs, sah resigniert auf dieMenschen, auf das Meer, aber das Meer blieb immerdasselbe, blau und leer, nur im Sonnenuntergangplцtzlich mit allen Farben jдh ьbergossen. Und dieMenschen, sie kannte ich auswendig nach dreimalvierundzwanzig Stunden. Jedes Gesicht war mir ver-traut bis zum ЬberdruЯ, das scharfe Lachen derFrauen reizte, das polternde Streiten zweier nachbarli-cher hollдndischer Offiziere дrgerte nicht mehr. Soblieb nur Flucht: aber die Kabine war heiЯ unddunstig, im Salon produzierten unablдssig englischeMдdchen ihr schlechtes Klavierspiel bei abgehacktenWalzern. SchlieЯlich drehte ich entschlossen die Zeit-ordnung um, tauchte in die Kabine schon nachmittagshinab, nachdem ich mich zuvor mit ein paar GläsernBier betäubt, um das Souper und den Tanzabend zuüberschlafen.

Als ich aufwachte, war es ganz dunkel und dumpf indem kleinen Sarg der Kabine. Den Ventilator hatte ichabgestellt, so schwälte die Lu fettig und feucht an dieSchläfen. Meine Sinne waren irgendwie betäubt: ich



brauchte Minuten, um mich an Zeit und Ort zurück-zufinden. Mitternacht mußte jedenfalls schon vorbeisein, denn ich hörte weder Musik noch den rastlosenSchlurf der Schritte: nur die Maschine, das atmendeHerz des Leviathans, stieß keuchend den knisterndenLeib des Schiffes fort ins Unsichtbare.

Ich tastete empor auf Deck. Es war leer. Und wie ichden Blick auob über den dünstenden Turm desSchornsteins und die geisterha glänzenden Spieren,drang mit einmal magische Helle mir in die Augen.Der Himmel strahlte. Er war dunkel gegen die Sterne,die ihn weiЯ durchwirbelten, aber doch: er strahlte; eswar, als verhьllte dort ein samtener Vorhang unge-heures Licht, als wдren die sprьhenden Sterne nurLuken und Ritzen, durch die jenes unbeschreiblichHelle vorglдnzte. Nie hatte ich den Himmel gesehenwie in jener Nacht, so strahlend, so stahlblau hart unddoch funkelnd, triefend, rauschend, quellend vonLicht, das vom Mond verhangen niederschwoll undvon den Sternen und das irgendwie aus einem ge-heimnisvollen Innern zu brennen schien. WeiЯerLack, flimmerten im Monde alle Randlinien des Schif-fes grell gegen das samtdunkle Meer, die Taue, dieRahen, alles Schmale, alle Konturen waren aufgelцstin diesem flutenden Glanz: gleichsam im Leeren schie-nen die Lichter auf den Masten und darьber das rundeAuge des Ausgucks zu hдngen, irdische gelbe Sternezwischen den strahlenden des Himmels.

Gerade aber zu Hдupten stand mir das magischeSternbild, das Sьdkreuz, mit flimmernden diamante-nen Nдgeln ins Unsichtbare gehämmert, schwebend

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scheinbar, indes nur das Schiff Bewegung schuf, dasleise bebend sich mit atmender Brust nieder und auf,nieder und auf, ein gigantischer Schwimmer, durchdie dunklen Wogen stieß. Ich stand und sah empor:mir war wie in einem Bade, wo Wasser warm vonoben fallt, nur daЯ dies Licht war, das mir weiЯ undauch lau die Hдnde ьberspьlte, die Schultern, dasHaupt mild umgoЯ und irgendwie nach innen zudringen schien, denn alles Dumpfe in mir war plцtz-lich aufgehellt. Ich atmete befreit, rein, und jдh bese-ligt spьrte ich auf den Lippen wie ein klares Getrдnkdie Lu, die weiche, gegorene, leicht trunken ma-chende Lu, in der Atem von Früchten, Du vonfernen Inseln war. Nun, nun zum ersten Male, seit ichdie Planken betreten, überkam mich die heilige Lustdes Träumens, und jene andere sinnlichere, meinenKörper weibisch hinzugeben an dieses Weiche, dasmich umdrдngte. Ich wollte mich hinlegen, den Blickhinauf zu den weiЯen Hieroglyphen. Aber die Ruhe-sessel, die Deckchairs waren verrдumt, nirgends fandsich auf dem leeren Promenadendeck ein Platz zutrдumerischer Rast.

So tastete ich weiter, allmдhlich dem Vorderteil desSchiffes zu, ganz geblendet vom Licht, das immerheiger aus den Gegenständen auf mich zu dringenschien. Fast tat es schon weh, dies kalkweiße, grellbrennende Sternenlicht, ich aber hatte Verlangen,mich irgendwo im Schatten zu vergraben, hinge-streckt auf eine Matte, den Glanz nicht an mir zufühlen, sondern nur über mir, an den Dingen gespie-gelt, so wie man eine Landscha sieht aus verdunkel-

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tem Zimmer. Endlich kam ich, über Taue stolperndund vorbei an den eisernen Gewinden, bis an den Kielund sah hinab, wie der Bug in das Schwarze stieß undgeschmolzenes Mondlicht schäumend zu beiden Sei-ten der Schneide aufsprühte. Immer wieder hob, im-mer wieder senkte sich der Pflug in die schwarzflu-tende Scholle, und ich fühlte alle Qual des besiegtenElements, fühlte alle Lust der irdischen Kra in die-sem funkelnden Spiel. Und im Schauen verlor ich dieZeit. War es eine Stunde, daЯ ich so stand, oder warenes nur Minuten: im Auf und Nieder schaukelte michdie ungeheure Wiege des Schiffes ьber die Zeit hinaus.Ich fьhlte nur, daЯ in mich Mьdigkeit kam, die wieeine Wollust war. Ich wollte schlafen, trдumen unddoch nicht weg aus dieser Magie, nicht hinab inmeinen Sarg. Unwillkьrlich ertastete ich mit meinemFuЯ unter mir ein Bьndel Taue. Ich setzte mich hin,die Augen geschlossen und doch nicht Dunkels voll,denn ьber sie, ьber mich strцmte der silberne Glanz.Unten fьhlte ich die Wasser leise rauschen, ьber mirmit unhцrbarem Klang den weiЯen Strom dieserWelt. Und allmдhlich schwoll dieses Rauschen mir insBlut: ich fьhlte mich selbst nicht mehr, wuЯte nicht,ob dies Atmen mein eigenes war oder des Schiffesfernpochendes Herz, ich strцmte, verstrцmte in die-sem ruhelosen Rauschen der mitternдchtigen Welt.

Ein leises, trockenes Husten hart neben mir lieЯ michauffahren. Ich schrak aus meiner fast schon trunkenenTrдumerei. Meine Augen, geblendet vom weißen Ge-leucht über den bislang geschlossenen Lidern, tasteten

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auf: mir knapp gegenüber im Schatten der Bordwandglänzte etwas wie der Reflex einer Brille, und jetztglühte ein dicker, runder Funke auf, die Glut einerPfeife. Ich hatte, als ich mich hinsetzte, einzig nieder-blickend in die schaumige Bugschneide und emporzum Sьdkreuz, offenbar diesen Nachbarn nicht be-merkt, der regungslos hier die ganze Zeit gesessenhaben muЯte. Unwillkьrlich, noch dumpf in denSinnen, sagte ich auf deutsch: »Verzeihung!« »Oh,bitte …« antwortete die Stimme deutsch aus demDunkel.

Ich kann nicht sagen, wie seltsam und schaurig daswar, dies stumme Nebeneinandersitzen im Dunkeln,knapp neben einem, den man nicht sah. Unwillkьr-lich hatte ich das Gefьhl, als starre dieser Mensch aufmich, genau wie ich auf ihn starrte: aber so stark wardas Licht ьber uns, das weiЯflimmernd flutende, daЯkeiner von keinem mehr sehen konnte als den UmriЯim Schatten. Nur den Atem meinte ich zu hцren unddas fauchende Saugen an der Pfeife.

Das Schweigen war unertrдglich. Ich wдre am lieb-sten weggegangen, aber das schien doch zu brьsk, zuplцtzlich. Aus Verlegenheit nahm ich mir eine Ziga-rette heraus. Das Zьndholz zischte auf, eine Sekundelang zuckte Licht ьber den engen Raum. Ich sah hinterBrillengläsern ein fremdes Gesicht, das ich nie anBord gesehen, bei keiner Mahlzeit, bei keinem Gang,und sei es, daß die plötzliche Flamme den Augenwehtat, oder war es eine Halluzination: es schiengrauenha verzerrt, finster und koboldha. Aber eheich Einzelheiten deutlich wahrnahm, schluckte das

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Dunkel wieder die flüchtig erhellten Linien fort, nurden Umriß sah ich einer Gestalt, dunkel ins Dunkelgedrückt, und manchmal den kreisrunden roten Feu-erring der Pfeife im Leeren. Keiner sprach, und diesSchweigen war schwül und drückend wie die tropi-sche Lu.

Endlich ertrug ichs nicht mehr. Ich stand auf undsagte höflich »Gute Nacht«.

»Gute Nacht«, antwortete es aus dem Dunkel, eineheisere harte, eingerostete Stimme.

Ich stolperte mich mühsam vorwärts durch das Ta-kelwerk an den Pfosten vorbei. Da klang ein Schritthinter mir her, hastig und unsicher. Es war der Nach-bar von vordem. Unwillkьrlich blieb ich stehen. Erkam nicht ganz nah heran, durch das Dunkel fьhlteich ein Irgendetwas von Angst und Bedrьcktheit inder Art seines Schrittes.

»Verzeihen Sie«, sagte er dann hastig, »wenn ich eineBitte an Sie richte. Ich … ich …« - er stotterte undkonnte nicht gleich weitersprechen vor Verlegenheit - »ich … ich habe private … ganz private Grьnde, michhier zurьckzuziehen … ein Trauerfall … ich meide dieGesellscha an Bord … Ich meine nicht Sie … nein,nein … Ich möchte nur bitten … Sie würden michsehr verpflichten, wenn Sie zu niemandem an Borddavon sprechen würden, daß Sie mich hier gesehenhaben … Es sind … sozusagen private Gründe, diemich jetzt hindern, unter die Leute zu gehen … ja …nun … es wäre mir peinlich, wenn Sie davon Erwäh-nung täten, daß jemand hier nachts … daß ich …« DasWort blieb ihm wieder stecken, ich beseitigte rasch

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seine Verwirrung, indem ich ihm eiligst zusicherte,seinen Wunsch zu erfьllen. Wir reichten einander dieHдnde. Dann ging ich in meine Kabine zurьck undschlief einen dumpfen, merkwьrdig verwьhlten undvon Bildern verwirrten Schlaf.

Ich hielt mein Versprechen und erzдhlte niemandeman Bord von der seltsamen Begegnung, obzwar dieVersuchung keine geringe war. Denn auf einer See-reise wird das Kleinste zum Geschehnis, ein Segel amHorizont, ein Delphin, der aufspringt, ein neuent-deckter Flirt, ein flьchtiger Scherz. Dabei quдlte michdie Neugier, mehr von diesem ungewцhnlichen Pas-sagier zu wissen: ich durchforschte die Schiffslistenach einem Namen, der ihm zugehцren konnte, ichmusterte die Leute, ob sie zu ihm in Beziehung stehenkцnnten: den ganzen Tag bemдchtigte sich meinereine nervцse Ungeduld, und ich wartete eigentlichnur auf den Abend, ob ich ihm wieder begegnenwьrde. Rдtselhae psychologische Dinge haben übermich eine geradezu beunruhigende Macht, es reiztmich bis ins Blut, Zusammenhänge aufzuspüren, undsonderbare Menschen können mich durch ihre bloßeGegenwart zu einer Leidenscha des Erkennenwol-lens entzünden, die nicht viel geringer ist als jene desBesitzenwollens bei einer Frau. Der Tag wurde mirlang und zerbrцckelte leer zwischen den Fingern. Ichlegte mich frьh ins Bett: ich wuЯte, ich wьrde umMitternacht aufwachen, es wьrde mich erwecken.

Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stundewie gestern. Auf dem Radiumzifferblatt der Uhr

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deckten sich die beiden Zeiger in einem leuchtendenStrich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in dienoch schwülere Nacht.

Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten eindiffuses Licht über das zitternde Schiff, hoch obenflammte das Kreuz des Südens. Alles war wie gestern- in den Tropen sind die Tage, die Nächte zwillings-haer als in unseren Sphären - nur in mir war nichtdies weiche, flutende, träumerische Gewiegtsein wiegestern. Irgend etwas zog mich, verwirrte mich, undich wußte, wohin es mich zog: hin zu dem schwarzenGewind am Kiel, ob er wieder dort starr sitze, derGeheimnisvolle. Von oben her schlug die Schiffs-glocke. Dies riЯ mich fort. Schritt fьr Schritt, wider-willig und doch gezogen, gab ich mir nach. Noch warich nicht am Steven, da zuckte plцtzlich dort etwas aufwie ein rotes Auge: die Pfeife. Er saЯ also dort.

Unwillkьrlich schreckte ich zurьck und blieb stehen.Im nдchsten Augenblick wдre ich gegangen. Da regtees sich drьben im Dunkel, etwas stand auf, tat zweiSchritte, und plцtzlich hцrte ich knapp vor mir seineStimme, hцflich und gedrьckt.

»Verzeihen Sie«, sagte er, »Sie wollen offenbar wiederan Ihren Platz, und ich habe das Gefьhl, Sie flьchtetenzurьck, als Sie mich sahen. Bitte, setzen Sie sich nurhin, ich gehe schon wieder.«

Ich eilte, ihm meinerseits zu sagen, daЯ er nur bleibensolle, ich sei bloЯ zurьckgetreten, um ihn nicht zustцren. »Mich stцren Sie nicht«, sagte er mit einergewissen Bitterkeit, »im Gegenteil, ich bin froh, ein-mal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein

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Wort gesprochen … eigentlich seit Jahren nicht …und da geht es so schwer, eben vielleicht weil manschon erstickt daran, alles in sich hineinzuwürgen …Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem …diesem Sarg … ich kann nicht mehr … und dieMenschen ertrage ich wieder nicht, weil sie den gan-zen Tag lachen … Das kann ich nicht ertragen jetzt …ich hцre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir dieOhren zu … freilich, sie wissen ja nicht, daЯ … nunsie wissens eben nicht, und dann, was geht das dieFremden an …«

Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plцtzlich undhastig: »Aber ich will Sie nicht belдstigen … verzei-hen Sie meine Geschwдtzigkeit.«

Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich wider-sprach ihm dringlich. »Sie belдstigen mich durchausnicht. Auch ich bin froh, hier ein paar stille Worte zuhaben … Nehmen Sie eine Zigarette?«

Er nahm eine. Ich zьndete an. Wieder riЯ sich das Ge-sicht flackernd vom schwarzen Bordrand los, aber jetztvoll mir zugewandt: die Augen hinter der Brilleforschten in mein Gesicht, gierig und mit einer irrenGewalt. Ein Grauen ьberlief mich. Ich spьrte, daЯ die-ser Mensch sprechen wollte, sprechen muЯte. Und ichwuЯte, daЯ ich schweigen mьsse, um ihm zu helfen.

Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deck-chair dort, den er mir anbot. Unsere Zigaretten fun-kelten, und an der Art, wie der Lichtring der seinenunruhig im Dunkel zitterte, sah ich, daß seine Handbebte. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragteplötzlich seine Stimme leise: »Sind Sie sehr müde?«



»Nein, durchaus nicht.«

Die Stimme aus dem Dunkel zцgerte wieder. »Ichmцchte Sie gerne um etwas fragen … das heiЯt, ichmцchte Ihnen etwas erzдhlen. Ich weiЯ, ich weiЯgenau, wie absurd das ist, mich an den ersten zuwenden, der mir begegnet, aber … ich bin … ich binin einer furchtbaren psychischen Verfassung … ichbin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandemsprechen muЯ … ich gehe sonst zugrunde … Siewerden das schon verstehen, wenn ich … ja, wenn ichIhnen eben erzдhle … Ich weiЯ, daЯ Sie mir nichtwerden helfen kцnnen … aber ich bin irgendwiekrank von diesem Schweigen … und ein Kranker istimmer lдcherlich fьr die andern …«

Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zuquдlen. Er mцge mir nur erzдhlen … ich kцnne ihmnatьrlich nichts versprechen, aber man habe doch diePflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn manjemanden in einer Bedrдngnis sehe, da ergebe sichdoch natьrlich die Pflicht zu helfen …

»Die Pflicht … seine Bereitwilligkeit anzubieten …die Pflicht, den Versuch zu machen … Sie meinen alsoauch, Sie auch, man habe die Pflicht … die Pflicht,seine Bereitwilligkeit anzubieten.«

Dreimal wiederholte er den Satz. Mir graute vordieser stumpfen, verbissenen Art des Wiederholens.War dieser Mensch wahnsinnig? War er betrunken?

Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippenausgesprochen hдtte, sagte er plцtzlich mit einer ganzandern Stimme: »Sie werden mich vielleicht fьr irrhalten oder fьr betrunken. Nein, das bin ich nicht -

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noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich somerkwürdig berührt … so merkwürdig, weil es ge-rade das ist, was mich jetzt quält, nämlich ob man diePflicht hat … die Pflicht …«

Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz abund begann mit einem neuen Ruck.

»Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es o solche Fälle,solche verhängnisvolle … ja, sagen wir Grenzfälle, woman nicht weiß, ob man die Pflicht hat … nämlich, esgibt ja nicht nur eine Pflicht, die gegen den andern,sondern eine für sich selbst und eine für den Staat undeine für die Wissenscha … Man soll helfen, natür-lich, dazu ist man doch da … aber solche Maximensind immer nur theoretisch … Wie weit soll man dennhelfen? … Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ichbin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigendarьber, daЯ Sie mich gesehen haben … gut, Sieschweigen, Sie erfьllen diese Pflicht … Ich bitte Sie,mit mir zu sprechen, weil ich krepiere an meinemSchweigen … Sie sind bereit, mir zuzuhцren … gut… Aber das ist ja leicht … Wenn ich Sie aber bittenwьrde, mich zu packen und ьber Bord zu werfen …da hцrt sich doch die Gefдlligkeit, die Hilfsbereitschaauf. Irgendwo endets doch … dort, wo man anfängtmit seinem eigenen Leben, seiner eigenen Verantwor-tung … irgendwo muß es doch enden … irgendwomuß diese Pflicht doch auören … Oder vielleichtsoll sie gerade beim Arzt nicht auören dürfen? Mußder ein Heiland, ein Allerweltshelfer sein, bloß weil erein Diplom in lateinischen Worten hat, muß der wirk-lich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut

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schütten, wenn irgendeine … irgendeiner kommt undwill, daß er edel sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwohört die Pflicht auf … dort, wo man nicht mehr kann,gerade dort …«

Er hielt wieder inne und riß sich auf.

»Verzeihen Sie … ich rede gleich so erregt … aber ichbin nicht betrunken … noch nicht betrunken … auchdas kommt jetzt o bei mir vor, ich gestehe es Ihnenruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit … BedenkenSie, ich habe sieben Jahre fast nur zwischen Eingebore-nen und Tieren gelebt … da verlernt man das ruhigeReden. Wenn man sich dann auut, flutets gleich über… Aber warten Sie … ja, ich weiß schon … ich wollteSie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob mandie Pflicht habe zu helfen … so ganz engelha rein zuhelfen, ob man … Übrigens ich fürchte, es wird langwerden. Sind Sie wirklich nicht müde?«

»Nein, durchaus nicht.«

»Ich … ich danke Ihnen … Nehmen Sie nicht?«

Er hatte irgendwo hinter sich ins Dunkel getappt.Etwas klirrte gegeneinander, zwei, drei, jedenfallsmehrere Flaschen, die er neben sich gestellt. Er botmir ein Glas Whisky an, an dem ich flьchtig nippte,wдhrend er mit einem Ruck das seine hinabgoЯ.Einen Augenblick stand Schweigen zwischen uns. Daschlug die Glocke: halb eins.

»Also … ich mцchte Ihnen einen Fall erzдhlen. Neh-men Sie an, ein Arzt in einer … einer kleineren Stadt… oder eigentlich am Lande … ein Arzt, der … einArzt, der …«

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Er stockte wieder. Dann riß er sich plötzlich denSessel heran zu mir.

»So geht es nicht. Ich muß Ihnen alles direkt erzählen,von Anfang an, sonst verstehen Sie es nicht … Das,das läßt sich nicht als Exempel, als eorie entwickeln… ich muß Ihnen meinen Fall erzдhlen. Da gibt eskeine Scham, kein Verstecken … vor mir ziehen sichauch die Leute nackt aus und zeigen mir ihren Grind,ihren Harn und ihre Exkremente … wenn man gehol-fen haben will, darf man nicht herumreden und nichtsverschweigen … Also ich werde Ihnen keinen Fallerzдhlen von einem sagenhaen Arzt … ich ziehemich nackt aus und sage: ich … das Schämen habe ichverlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesemverfluchten Land, das einem die Seele auffrißt und dasMark aus den Lenden saugt.«

Ich mußte irgendeine Bewegung gemacht haben,denn er unterbrach sich.

»Ach, Sie protestieren … ich verstehe, Sie sind begei-stert von Indien, von den Tempeln und den Palmen-bäumen, von der ganzen Romantik einer Zweimo-natsreise. Ja, so sind sie zauberha, die Tropen, wennman sie in der Eisenbahn, im Auto, in der Rikschadurchstrei: ich habe das auch nicht anders gefühlt,als ich zum erstenmal herüber kam vor sieben Jahren.Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ichlernen und die heiligen Bücher im Urtext lesen, dieKrankheiten studieren, wissenschalich arbeiten, diePsyche der Eingeborenen ergründen - so sagt man jaim europäischen Jargon - ein Missionar der Mensch-lichkeit, der Zivilisation werden. Alle, die kommen,

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träumen denselben Traum. Aber in diesem unsichtba-ren Glashaus dort geht einem die Kra aus, das Fieber- man kriegts ja doch, mag man noch so viel Chininin sich fressen - grei einem ans Mark, man wirdschlapp und faul, wird weich, eine Qualle. Irgendwieist man als Europäer von seinem wahren Wesen abge-schnitten, wenn man aus den großen Stдdten weg inso eine verfluchte Sumpfstation kommt: auf kurz oderlang hat jeder seinen Knax weg, die einen saufen, dieandern rauchen Opium, die dritten prьgeln und wer-den Bestien - irgendeinen SchuЯ Narrheit kriegt jederab. Man sehnt sich nach Europa, trдumt davon, wie-der einen Tag auf einer StraЯe zu gehen, in einemhellen steinernen Zimmer unter weiЯen Menschen zusitzen, Jahr um Jahr trдumt man davon, und kommtdann die Zeit, wo man Urlaub hдtte, so ist man schonzu trдge, um zu gehen. Man weiЯ, drьben ist manvergessen, fremd, eine Muschel in diesem Meer, aufdie jeder tritt. So bleibt man und versump undverkommt in diesen heißen, nassen Wäldern. Es warein verfluchter Tag, an dem ich mich in dieses Dreck-nest verkau habe …

Übrigens: ganz so freiwillig war das ja auch nicht. Ichhatte in Deutschland studiert, war recte Medizinergeworden, ein guter Arzt sogar, mit einer Anstellungan der Leipziger Klinik; irgendwo in einem verschol-lenen Jahrgang der Medizinischen Blätter haben siedamals viel Auebens gemacht von einer neuen In-jektion, die ich als erster praktiziert hatte. Da kam eineWeibergeschichte, eine Person, die ich im Kranken-haus kennenlernte: sie hatte ihren Geliebten so toll

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gemacht, daß er sie mit dem Revolver anschoß, undbald war ich ebenso toll wie er. Sie hatte eine Art,hochmьtig und kalt zu sein, die mich rasend machte -mich hatten immer schon Frauen in der Faust, dieherrisch und frech waren, aber diese bog mich zusam-men, daЯ mir die Knochen brachen. Ich tat, was siewollte, ich - nun, warum soll ichs nicht sagen, es sindacht Jahre her - ich tat fьr sie einen Griff in dieSpitalskasse, und als die Sache aufflog, war der Teufellos. Ein Onkel deckte noch den Abgang, aber mit derKarriere war es vorbei. Damals hцrte ich gerade, diehollдndische Regierung werbe Дrzte an fьr die Kolo-nien und biete ein Handgeld. Nun, ich dachte gleich,es mьЯte ein sauberes Ding sein, fьr das man Hand-geld biete, ich wuЯte, daЯ die Grabkreuze auf diesenFieberplantagen dreimal so schnell wachsen als beiuns, aber wenn man jung ist, glaubt man, das Fieberund der Tod springt immer nur auf die andern. Nun,ich hatte da nicht viel Wahl, ich fuhr nach Rotterdam,verschrieb mich auf zehn Jahre, bekam ein ganz nettesBьndel Banknoten, die Hдle schickte ich nach Hausean den Onkel, die andere Häle jagte mir eine Persondort im Hafenviertel ab, die alles von mir heraus-kriegte, nur weil sie jener verfluchten Katze so ähnlichwar. Ohne Geld, ohne Uhr, ohne Illusionen bin ichdann abgesegelt von Europa und war nicht sonderlichtraurig, als wir aus dem Hafen steuerten. Und dannsaЯ ich so auf Deck wie Sie, wie alle saЯen, und sahdas Sьdkreuz und die Palmen, das Herz ging mir auf-ah, Wдlder, Einsamkeit, Stille, trдumte ich! Nun - anEinsamkeit bekam ich gerade genug. Man setzte mich

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nicht nach Batavia oder Surabaya, in eine Stadt, wo esMenschen gibt und Klubs und Golf und Bücher undZeitungen, sondern - nun, der Name tut ja nichts zurSache - in irgendeine der Distriktstationen, zwei Ta-gereisen von der nächsten Stadt. Ein paar langweilige,verdorrte Beamte, ein paar Halfcast, das war meineganze Gesellscha, sonst weit und breit nur Wald,Plantagen, Dickicht und Sumpf.

Im Anfang wars noch erträglich. Ich trieb allerhandStudien; einmal, als der Vizeresident auf der Inspek-tionsreise mit dem Automobil umgeworfen und sichein Bein zerschmettert hatte, machte ich ohne Gehil-fen eine Operation, über die viel geredet wurde, ichsammelte Gie und Waffen der Eingeborenen, ichbeschäigte mich mit hundert kleinen Dingen, ummich wach zu halten. Aber all dies ging nur, solangdie Kra von Europa her in mir noch funktionierte;dann trocknete ich ein. Die paar Europäer langweiltenmich, ich brach den Verkehr ab, trank und träumte inmich hinein. Ich hatte ja nur noch zwei Jahre, dannwar ich frei mit Pension, konnte nach Europa zurьck-kehren, noch einmal ein Leben anfangen. Eigentlichtat ich nichts mehr als warten, stilliegen und warten.Und so sдЯe ich heute noch, wenn nicht sie … wenndas nicht gekommen wдre.«

Die Stimme im Dunkeln hielt inne. Auch die Pfeifeglimmte nicht mehr. So still war es, daЯ ich mit einemMale wieder das Wasser hцrte, das sich schдumendam Kiel brach, und den fernen, dumpfen HerzstoЯ derMaschine. Ich hдtte mir gern eine Zigarette angezьn-

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det, aber ich hatte Furcht vor dem grellen Aufschlagdes Zündholzes und dem Reflex in seinem Gesicht. Erschwieg und schwieg. Ich wußte nicht, ob er zu Endesei, ob er duselte, ob er schlief, so tot war seinSchweigen.

Da schlug die Schiffsglocke einen geraden, kräigenSchlag: ein Uhr. Er fuhr auf; ich hörte wieder das Glasklingen. Offenbar tastete die Hand suchend zumWhisky hinab. Ein Schluck gluckste leise - dannplötzlich begann die Stimme wieder, aber jetzt gleich-sam gespannter, leidenschalicher.

»Ja also … warten Sie … ja also, das war so. Ich sitzeda droben in meinem verfluchten Nest, sitze wie dieSpinne im Netz regungslos seit Monaten schon. Eswar gerade nach der Regenzeit, Wochen und Wochenhatte es auf das Dach geplдtschert, kein Mensch wargekommen, kein Europдer, tдglich, tдglich hatte ichdagesessen mit meinen gelben Weibern im Haus undmeinem guten Whisky. Ich war damals gerade ganz›down‹, ganz europakrank; wenn ich irgendeinen Ro-man las von hellen StraЯen und weiЯen Frauen, be-gannen mir die Finger zu zittern. Ich kann Ihnen denZustand nicht ganz schildern, es ist eine Art Tropen-krankheit, eine wütige, fiebrige und doch kraloseNostalgie, die einen manchmal packt. So saß ichdamals, ich glaube über einem Atlas, und träumte mirReisen aus. Da klop es aufgeregt an die Tür, der Boysteht draußen und eines von den Weibern, beide ha-ben die Augen ganz aufgerissen vor Erstaunen. Siemachen große Gebärden: eine Dame sei hier, eineLady, eine weiße Frau.



Ich fahre auf. Ich habe keinen Wagen kommen gehört,kein Automobil. Eine weiЯe Frau hier in dieser Wild-nis?

Ich will die Treppe hinab, reiЯe mich aber noch zurьck.Ein Blick in den Spiegel, hastig richte ich mich ein we-nig zurecht. Ich bin nervцs, unruhig, irgendwie ge-quдlt von unangenehmem Vorgefьhl, denn ich weiЯniemanden auf der Welt, der aus Freundscha zu mirkäme. Endlich gehe ich hinunter.

Im Vorraum wartet die Dame und kommt mir hastigentgegen. Ein dicker Automobilschleier verhüllt ihrGesicht. Ich will sie begrüßen, aber sie fängt mir raschdas Wort ab. ›Guten Tag, Doktor‹, sagt sie auf englischin einer flieЯenden (etwas zu leicht flieЯenden und wieim voraus eingelernten) Art. ›Verzeihen Sie, daЯ ich sieьberfalle. Aber wir waren gerade in der Station, unserAuto hдlt drьben‹ - warum fдhrt sie nicht bis vorsHaus, schieЯt es mir blitzschnell durch den Kopf - ›daerinnerte ich mich, daЯ Sie hier wohnen. Ich habeschon so viel von Ihnen gehцrt, Sie haben ja eine wirk-liche Zauberei mit dem Vizeresidenten gemacht, seinBein ist wieder tadellos allright, er spielt Golf wie frь-her. Ah, ja, alles spricht noch davon drunten bei uns,und wir wollten alle unseren brummigen Surgeon undnoch die zwei andern hergeben, wenn Sie zu uns kд-men. Ьberhaupt, warum sieht man Sie nie drunten, Sieleben ja wie ein Joghi …‹

Und so plappert sie weiter, hastig und immer hasti-ger, ohne mich zu Worte kommen zu lassen. EtwasNervцses und Fahriges ist in diesem talkigen Ge-schwдtz, und ich werde selbst unruhig davon. Warum



spricht sie so viel, frage ich mich innerlich, warumstellt sie sich nicht vor, warum nimmt sie den Schleiernicht ab? Hat sie Fieber? Ist sie krank? Ist sie toll? Ichwerde immer nervöser, weil ich die Lächerlichkeitempfinde, so stumm vor ihr zu stehen, übergös-sen von ihrer prasselnden Geschwätzigkeit. Endlichstoppt sie ein wenig, und ich kann sie hinauitten. Siemacht dem Boy eine Bewegung, zurückzubleiben,und geht vor mir die Treppe empor.

›Nett haben Sie es hier‹, sagt sie, in meinem Zimmersich umsehend. ›Ah, die schцnen Bьcher! die mцchteich alle lesen!‹ Sie tritt an das Regal und mustert dieBьchertitel. Zum erstenmal, seit ich ihr entgegenge-treten, schweigt sie fьr eine Minute.

›Darf ich Ihnen einen Tee anbieten?‹ frage ich.

Sie wendet sich nicht um und sieht nur auf die Bь-chertitel. ›Nein, danke, Doktor … wir mьssen gleichwieder weiter … ich habe nicht viel Zeit … war ja nurein kleiner Ausflug … Ach, da haben Sie auch denFlaubert, den liebe ich so sehr … wundervoll, ganzwundervoll, die ‹Education sentimentale›, … ich sehe,Sie lesen auch franzцsisch … Was Sie alles kцnnen! …ja, die Deutschen, die lernen alles auf der Schule …Wirklich groЯartig, so viel Sprachen zu kцnnen! …Der Vizeresident schwцrt auf Sie, sagt immer, Sieseien der einzige, dem er unter das Messer ginge …unser guter Surgeon drьben taugt gerade zumBridgespiel … Ьbrigens wissen Sie - (sie wendetesich noch immer nicht um) heute kams mir selbst inden Sinn, ich sollte Sie einmal konsultieren … undweil wir eben vorьberfuhren, dachte ich … nun, Sie



haben jetzt wohl zu tun … ich komme lieber einandermal.‹

›Deckst du endlich die Karten auf!‹ dachte ich mirsofort. Aber ich ließ nichts merken, sondern versi-cherte ihr, es würde mir nur eine Ehre sein, jetzt undwann immer sie wolle, ihr zu dienen.

›Es ist nichts Ernstes‹, sagte sie, sich halb umwendendund gleichzeitig in einem Buch blдtternd, das sie vomRegal genommen hatte, ›nichts Ernstes … Kleinigkei-ten … Weibersachen … Schwindel, Ohnmachten.Heute frьh schlug ich, als wir eine Kurve machten,plцtzlich hin, raide morte … der Boy muЯte michaufrichten im Auto und Wasser holen … nun, viel-leicht ist der Chauffeur zu rasch gefahren … meinenSie nicht, Doktor?‹

›Ich kann das so nicht beurteilen. Haben Sie цerderlei Ohnmachten?‹

›Nein …. das heißt ja … in der letzten Zeit … geradein der allerletzten Zeit … ja … solche Ohnmachtenund Übelkeiten.‹

Sie steht schon wieder vor dem Bücherschrank, tutdas Buch hinein, nimmt ein anderes heraus und blät-tert darin. Merkwьrdig, warum blдttert sie immer so… so nervцs, warum schaut sie unter dem Schleiernicht auf? Ich sage mit Absicht nichts. Es reizt mich,sie warten zu lassen. Endlich fдngt sie wieder an inihrer nonchalanten, plapperigen Art.

›Nicht wahr, Doktor, nichts Bedenkliches das? KeineTropensache … nichts Gefдhrliches …‹

›Ich mьЯte erst sehen, ob Sie Fieber haben. Darf ichum Ihren Puls bitten …‹



Ich gehe auf sie zu. Sie weicht leicht zur Seite.

›Nein, nein, ich habe kein Fieber … gewiß, ganzgewiß nicht … ich habe mich selbst gemessen, jedenTag, seit… seit diese Ohnmachten kamen. Nie Fie-ber, immer tadellos , auf den Strich. Auch meinMagen ist gesund.‹

Ich zцgere einen Augenblick. Die ganze Zeit schonprickelt in mir ein Argwohn: ich spьre, diese Frau willetwas von mir, man kommt nicht in eine Wildnis, umьber Flaubert zu sprechen. Eine, zwei Minuten lasseich sie warten. ›Verzeihen Sie‹, sage ich dann gerade-wegs, ›darf ich einige Fragen ganz frei stellen?‹

›GewiЯ, Doktor! Sie sind doch Arzt‹, antwortete sie,aber schon wendet sie mir wieder den Rьcken undspielt mit den Bьchern.

›Haben Sie Kinder gehabt?‹

›Ja, einen Sohn.‹

›Und haben Sie … haben Sie vorher … ich meinedamals … haben Sie da дhnliche Zustдnde gehabt?‹

›Ja.‹

Ihre Stimme ist jetzt ganz anders. Ganz klar, ganzbestimmt, gar nicht mehr plapprig, gar nicht mehrnervцs. ›Und wдre es mцglich, daЯ Sie … verzeihenSie die Frage … daЯ Sie jetzt in einem дhnlichenZustande sind?‹

›Ja.‹

Wie ein Messer scharf und schneidend lдЯt sie dasWort fallen. In ihrem abgewandten Kopf zuckt nichteine Linie.

›Vielleicht wдre es da am besten, gnдdige Frau, ichnehme eine allgemeine Untersuchung vor … darf ich



Sie vielleicht bitten, sich … sich in das andere Zimmerhinüber zu bemühen?‹

Da wendet sie sich plötzlich um. Durch den Schleierfühle ich einen kalten, entschlossenenen Blick mirgerade entgegen. ›Nein … das ist nicht nötig … ichhabe volle Gewißheit über meinen Zustand.‹«

Die Stimme zцgerte einen Augenblick. Wieder blin-kert im Dunkel das gefьllte Glas.

»Also hцren Sie … aber versuchen Sie zuerst einen Au-genblick sich das zu ьberdenken. Da drдngt sich zu ei-nem, der in seiner Einsamkeit vergeht, eine Frau her-ein, die erste weiЯe Frau betritt seit Jahren das Zimmer… und plцtzlich spьre ichs, es ist etwas Bцses im Zim-mer, eine Gefahr. Irgendwie ьberliefs mich: mir grautevor der stдhlernen Entschlossenheit dieses Weibes, dieda mit plapprigen Reden hereingekommen war unddann mit einemmal ihre Forderung zьckt, wie ein Mes-ser. Denn was sie von mir wollte, wuЯte ich ja, wuЯteich sofort - es war nicht das erstemal, daЯ Frauen soetwas von mir verlangten, aber sie kamen anders, ka-men verschдmt oder flehend, kamen mit Trдnen undBeschwцrungen. Hier aber war eine … ja, eine stдh-lerne, eine mдnnliche Entschlossenheit … von der er-sten Sekunde spьrte ichs, daЯ diese Frau stдrker war alsich … daЯ sie mich in ihren Willen zwingen konnte,wie sie wollte … Aber … aber … es war auch etwasBöses in mir … der Mann, der sich wehrte, irgendeineErbitterung, denn … ich sagte es ja schon … von derersten Sekunde, ja, noch ehe ich sie gesehen, empfandich diese Frau als Feind.



Ich schwieg zunächst. Schwieg hartnäckig und erbit-tert. Ich spьrte, daЯ sie mich unter dem Schleier ansah- gerade und fordernd ansah, daЯ sie mich zwingenwollte zu sprechen. Aber ich gab nicht so leicht nach.Ich begann zu sprechen, aber … ausweichend … jaunbewuЯt ahmte ich ihre plapprige, gleichgьltige Artnach. Ich tat, als ob ich sie nicht verstьnde, denn - ichweiЯ nicht, ob Sie das nachfьhlen kцnnen - ich wolltesie zwingen, deutlich zu werden, ich wollte nichtanbieten, sondern … gebeten sein … gerade von ihr,weil sie so herrisch kam … und weil ich wuЯte, daЯich bei Frauen nichts so unterliege als dieser hochmь-tigen kalten Art.

Ich redete also herum, dies sei ganz unbedenklich,solche Ohnmachten gehцrten zum regulдren Lauf derDinge, im Gegenteil, sie verbьrgten beinahe eine guteEntwicklung. Ich zitierte Fдlle aus den klinischenZeitungen … ich sprach, ich sprach, lдssig und leicht,immer die Angelegenheit ganz wie eine Banalitдtbetrachtend und … wartete immer, daЯ sie michunterbrechen wьrde. Denn ich wuЯte, sie wьrde esnicht ertragen.

Da fuhr sie schon scharf dazwischen, mit einer Hand-bewegung gleichsam das ganze beruhigende Geredewegstreifend.

›Das ist es nicht, Doktor, was mich unsicher macht.Damals, als ich meinen Buben bekam, war ich inbester Verfassung … aber jetzt bin ich nicht mehrallright … ich habe Herzzustдnde …‹

›Ach, Herzzustдnde‹, wiederholte ich, scheinbar beun-ruhigt, ›da will ich doch gleich nachsehen.‹ Und ich



machte eine Bewegung, als ob ich aufstehen und dasHörrohr holen wollte.

Aber schon fuhr sie dazwischen. Die Stimme war jetztganz scharf und bestimmt - wie am Kommando-platz.

›Ich habe Herzzustände, Doktor, und ich muß Siebitten, zu glauben, was ich Ihnen sage. Ich mцchtenicht viel Zeit mit Untersuchungen verlieren - Siekцnnten mir, meine ich, etwas mehr Vertrauen entge-genbringen. Ich wenigstens habe mein Vertrauen zuIhnen genug bezeugt.‹

Jetzt war es schon Kampf, offene Herausforderung.Und ich nahm sie an.

›Zum Vertrauen gehцrt Offenheit, rьckhaltlose Of-fenheit. Reden Sie klar, ich bin Arzt. Und vor allem,nehmen Sie den Schleier ab, setzen Sie sich her, lassenSie die Bьcher und die Umwege. Man kommt nichtzum Arzt im Schleier.‹

Sie sah mich an, aufrecht und stolz. Einen Augenblickzцgerte sie. Dann setzte sie sich nieder, zog denSchleier hoch. Ich sah ein Gesicht, ganz so wie ich es - gefьrchtet hatte, ein undurchdringliches Gesicht, hart,beherrscht, von einer alterslosen Schцnheit, ein Ge-sicht mit grauen englischen Augen, in denen allesRuhe schien und hinter die man doch alles Leiden-schaliche träumen konnte. Dieser schmale, ver-preßte Mund gab kein Geheimnis her, wenn er nichtwollte. Eine Minute lang sahen wir einander an - siebefehlend und fragend zugleich, mit einer so kalten,stählernen Grausamkeit, daß ich es nicht ertrug undunwillkürlich zur Seite blickte.



Sie klope leicht mit dem Knöchel auf den Tisch.Also auch in ihr war Nervosität. Dann sagte sie plötz-lich rasch: ›Wissen Sie, Doktor, was ich von Ihnen will,oder wissen Sie es nicht?‹

›Ich glaube es zu wissen. Aber seien wir lieber ganzdeutlich. Sie wollen Ihrem Zustand ein Ende bereiten… Sie wollen, daЯ ich Sie von Ihrer Ohnmacht, IhrenЬbelkeiten befreie, indem ich … indem ich die Ursa-che beseitige. Ist es das?‹

›Ja.‹

Wie ein Fallbeil zuckte das Wort.

›Wissen Sie auch, daЯ solche Versuche gefдhrlich sind… fьr beide Teile …?‹

›Ja.‹

›DaЯ es gesetzlich mir untersagt ist?‹

›Es gibt Mцglichkeiten, wo es nicht untersagt, son-dern sogar geboten ist.‹

›Aber diese erfordern eine дrztliche Indikation.‹

›So werden Sie diese Indikation finden. Sie sindArzt.‹

Klar, starr, ohne zu zucken, blickten mich ihre Augendabei an. Es war ein Befehl, und ich Schwдchlingbebte in Bewunderung vor der dдmonischen Her-rischkeit ihres Willens. Aber ich krьmmte mich noch,ich wollte nicht zeigen, daЯ ich schon zertreten war. -›Nur nicht zu rasch! Umstдnde machen! Sie zur Bittezwingen‹, funkelte in mir irgendein Gelьst.

›Das liegt nicht immer im Willen des Arztes. Aber ichbin bereit, mit einem Kollegen im Krankenhaus …‹

›Ich will Ihren Kollegen nicht … ich bin zu Ihnengekommen.‹



›Darf ich fragen, warum gerade zu mir?‹

Sie sah mich kalt an.

›Ich habe keine Bedenken, es Ihnen zu sagen. Weil Sieabseits wohnen, weil Sie mich nicht kennen - weil Sieein guter Arzt sind, und weil Sie …‹ - jetzt zögerte siezum ersten Male - ›wohl nicht mehr lange in dieserGegend bleiben werden, besonders wenn Sie … wennSie eine grцЯere Summe nach Hause bringen kцn-nen.‹

Mich ьberliefs kalt. Diese eherne, diese Merchant-,diese Kaufmannsklarheit der Berechnung betдubtemich. Bisher hatte sie ihre Lippen noch nicht zur Bitteaufgetan - aber alles lдngst auskalkuliert, mich erstumlauert und dann aufgespьrt. Ich spьrte, wie dasDдmonische ihres Willens in mich eindrang, aber ichwehrte mich mit all meiner Erbitterung. Noch einmalzwang ich mich, sachlich - ja fast ironisch zu sein.

›Und diese groЯe Summe wьrden Sie … wьrden Siemir zur Verfьgung stellen?‹

›Fьr Ihre Hilfe und sofortige Abreise.‹

›Wissen Sie, daЯ ich dadurch meine Pension ver-liere?‹

›Ich werde sie Ihnen entschдdigen.‹

›Sie sind sehr deutlich … Aber ich will noch mehrDeutlichkeit. Welche Summe haben Sie als Honorarin Aussicht genommen?‹

›Zwцlausend Gulden, zahlbar auf Scheck in Amster-dam.‹

Ich … zitterte … ich zitterte vor Zorn und … ja auchvor Bewunderung. Alles hatte sie berechnet, dieSumme und die Art der Zahlung, durch die ich zur



Abreise genötigt war, sie hatte mich eingeschätzt undgekau, ohne mich zu kennen, hatte über mich ver-fügt im Vorgefühl ihres Willens. Am liebsten hätte ichihr ins Gesicht geschlagen … Aber wie ich zitterndaufstand - auch sie war aufgestanden - und ihr geradeAuge in Auge starrte, da überkam mich plötzlich beidem Blick auf diesen verschlossenen Mund, der nichtbitten, auf ihre hochmьtige Stirn, die sich nicht beu-gen wollte … eine … eine Art gewalttдtiger Gier. SiemuЯte irgend etwas davon fьhlen, denn sie spannteihre Augenbrauen hoch, wie wenn man jemand Lдsti-gen weg weisen will: der HaЯ zwischen uns war plцtz-lich nackt. Ich wuЯte, sie haЯte mich, weil sie michbrauchte, und ich haЯte sie, weil … weil sie nicht bittenwollte. Diese eine, diese eine Sekunde Schweigen spra-chen wir zum erstenmal ganz aufrichtig zueinander.Dann biЯ sich plцtzlich wie ein Reptil mir ein Gedankeein, und ich sagte ihr … ich sagte ihr …

Aber warten Sie, so wьrden Sie es falsch verstehen,was ich tat … was ich sagte … ich muЯ Ihnen ersterklдren, wie … wieso dieser wahnsinnige Gedanke inmich kam …«

Wieder klirrte leise im Dunkel das Glas. Und dieStimme wurde erregter.

»Nicht, daЯ ich mich entschuldigen will, mich recht-fertigen, mich reinwaschen … Aber Sie verstehen essonst nicht … Ich weiЯ nicht, ob ich je so etwas wieein guter Mensch gewesen bin, aber … ich glaube,hilfreich war ich immer … In dem dreckigen Leben dadrьben war das ja die einzige Freude, die man hatte,



mit der Handvoll Wissenscha, die man sich ins Hirngepreßt, irgendeinem Stück Leben den Atem erhaltenzu können … so eine Art Herrgottsfreude … Wirk-lich, es waren meine schönsten Augenblicke, wenn soein gelber Bursch kam, blauweiß vor Schrecken, ei-nen SchlangenbiЯ im hochgeschwollenen FuЯ, undschon heulte, man solle ihm das Bein nicht abschnei-den, und ich kriegte es noch fertig, ihn zu retten.Stundenweit bin ich gefahren, wenn irgendein Weibim Fieber lag - auch so wie diese es wollte, habe ichgeholfen, schon in Europa drьben in der Klinik. Aberda spьrte mans wenigstens, daЯ dieser Mensch einenbrauchte, da wuЯte mans, daЯ man jemand vom Toderettete oder vor der Verzweiflung - und das brauchtman eben selbst zum Helfen, dies Gefьhl, daЯ derandere einen braucht.

Aber diese Frau - ich weiЯ nicht, ob ich es Ihnenschildern kann - sie regte mich auf, reizte mich vondem Augenblick, da sie scheinbar promenierend her-einkam, durch ihren Hochmut zu einem Widerstand,sie reizte alles - wie soll ichs sagen - sie reizte allesGedrьckte, alles Versteckte, alles Bцse in mir zurGegenwehr. DaЯ sie Lady spielte, unnahbar kьhl einGeschд entrierte, wo es um Tod und Leben ging, dasmachte mich toll … Und dann … dann … schließlichwird man doch nicht schwanger vom Golfspielen …ich wußte … das heißt, ich mußte plötzlich mit einer - und das war jener Gedanke - mit einer entsetzlichenDeutlichkeit mich daran erinnern, daß diese Kühle,diese Hochmütige, diese Kalte, die steil die Augen-brauen über ihre stählernen Augen hochzog, als ich sie



nur abwehrend … ja fast wegstoßend anblickte, daßsie sich zwei oder drei Monate vorher heiß im Bettmit einem Mann gewдlzt hatte, nackt wie ein Tier undvielleicht stцhnend vor Lust, die Kцrper ineinanderverbissen wie zwei Lippen … Das, das war der bren-nende Gedanke, der mich ьberfiel, als sie mich sohochmьtig, so unnahbar kьhl, ganz wie ein englischerOffizier anblickte … und da, da spannte sich alles inmir … ich war besessen von der Idee, sie zu erniedri-gen … von dieser Sekunde sah ich durch das Kleidihren Kцrper nackt … von dieser Sekunde an lebte ichnur im Gedanken, sie zu besitzen, ein Stцhnen ausihren harten Lippen zu pressen, diese Kalte, dieseHochmьtige in Wollust zu fьhlen so wie jener, jenerandere, den ich nicht kannte. Das … das wollte ichIhnen erklдren … Ich habe nie, so verkommen ichwar, sonst als Arzt die Situation zu nutzen gesucht …Aber diesmal war es ja nicht Geilheit, nicht Brunst,nichts Sexuelles, wahrhaig nicht … ich würde es jaeingestehen … nur die Gier, eines Hochmuts Herr zuwerden … Herr als Mann … Ich sagte es Ihnen,glaube ich, schon, daß hochmütige, scheinbar kühleFrauen von je über mich Macht hatten … aber jetzt,jetzt kam noch dies dazu, daß ich sieben Jahre hierlebte, ohne eine weiЯe Frau gehabt zu haben, daЯ ichWiderstand nicht kannte … Denn diese Mдdchen hier,diese zwitschernden kleinen zierlichen Tierchen, diezittern ja vor Ehrfurcht, wenn ein WeiЯer, ein ›Herr‹,sie nimmt … sie lцschen aus in Demut, immer sind sieeinem offen, immer bereit, mit ihrem leisen, gluck-senden Lachen einem zu dienen … aber gerade diese



Unterwürfigkeit, dieses Sklavische verschweint ei-nem den Genuß … Verstehen Sie jetzt, verstehen Siees, wie das dann auf mich hinschmetternd wirkte,wenn da plötzlich eine Frau kam, voll von Hochmutund Haß, verschlossen bis an die Fingerspitzen, zu-gleich funkelnd von Geheimnis und beladen mit frü-herer Leidenscha … wenn eine solche Frau in denKäfig eines solchen Mannes, einer so vereinsamten,verhungerten, abgesperrten Menschenbestie frecheintritt … Das … das wollte ich nur sagen, damit Siedas andere verstehen … das, was jetzt kam. Also …voll von irgendeiner bösen Gier, vergiet von demGedanken an sie, nackt, sinnlich, hingegeben, ballteich mich gleichsam zusammen und täuschte Gleich-gültigkeit vor. Ich sagte kühl: ›Zwölausend Gulden?… Nein, dafür werde ich es nicht tun.‹

Sie sah mich an, ein wenig blaЯ. Sie spьrte wohlschon, daЯ in diesem Widerstand nicht Geldgier war.Aber doch sagte sie:

›Was verlangen Sie also?‹

Ich ging auf den kьhlen Ton nicht mehr ein. ›Spielenwir mit offenen Karten. Ich bin kein Geschдsmann… ich bin nicht der arme Apotheker aus Romeo undJulia, der für ›corrupted gold‹ sein Gi verkau … ichbin vielleicht das Gegenteil eines Geschäsmannes …auf diesem Wege werden Sie Ihren Wunsch nichterfüllt sehen.‹

›Sie wollen es also nicht tun?‹

›Nicht für Geld.‹

Es wurde ganz still für eine Sekunde zwischen uns. Sostill, daß ich sie zum erstenmal atmen hörte.



›Was können Sie denn sonst wünschen?‹

Jetzt hielt ich mich nicht mehr.

›Ich wünsche zuerst, daß Sie … daß Sie zu mir nichtwie zu einem Krämer reden, sondern wie zu einemMenschen. DaЯ Sie, wenn Sie Hilfe brauchen, nicht… nicht gleich mit Ihrem schдndlichen Geld kommen… sondern bitten … mich, den Menschen, bitten,Ihnen, dem Menschen, zu helfen … Ich bin nicht nurArzt, ich habe nicht nur Sprechstunden … ich habeauch andere Stunden … vielleicht sind Sie in einesolche Stunde gekommen …‹

Sie schweigt einen Augenblick. Dann krьmmt sichihr Mund ganz leicht, zittert und sagt rasch:

›Also wenn ich Sie bitten wьrde … dann wьrden Siees tun?‹

›Sie wollen schon wieder ein Geschä machen - Siewollen nur bitten, wenn ich erst verspreche. Erstmüssen Sie mich bitten - dann werde ich ihnen ant-worten.‹

Sie wir den Kopf hoch wie ein trotziges Pferd.Zornig sieht sie mich an.

›Nein - ich werde Sie nicht bitten. Lieber zugrundegehen!‹

Da packte mich der Zorn, der rote, sinnlose Zorn.

›Dann werde ich fordern, wenn Sie nicht bitten wol-len. Ich glaube, ich muЯ nicht erst deutlich sein - Siewissen, was ich von Ihnen begehre. Dann - dannwerde ich ihnen helfen.‹

Einen Augenblick starrte sie mich an. Dann - oh, ichkann, ich kann nicht sagen, wie entsetzlich das war -dann spannten sich ihre Zьge, und dann… dann lachte



sie mit einem Male … lachte sie mir mit einer unsag-baren Verächtlichkeit ins Gesicht … mit einer Ver-ächtlichkeit, die mich zerstäubte … und die michberauschte zugleich … Es war wie eine Explosion, soplötzlich, so aufspringend, so mächtig losgesprengtvon einer ungeheuren Kra, dieses Lachen der Ver-ächtlichkeit, daß ich … ja, daß ich hätte zu Bodensinken können und ihre Füße küssen. Eine Sekundedauerte es nur … es war wie ein Blitz, und ich hattedas Feuer im ganzen Körper … da wandte sie sichschon und ging hastig auf die Tür zu.

Unwillkürlich wollte ich ihr nach … mich entschuldi-gen … sie anflehen … meine Kra war ja ganzzerbrochen … da kehrte sie sich noch einmal um undsagte … nein, sie befahl:

›Unterstehen Sie sich nicht, mir zu folgen oder nach-zuspьren … Sie wьrden es bereuen.‹

Und schon krachte hinter ihr die Tьre zu.«

Wieder ein Zцgern. Wieder ein Schweigen … Wiedernur dies Rauschen, als ob das Mondlicht strцmte.Und dann endlich wieder die Stimme.

»Die Tьr schlug zu … aber ich stand unbeweglich ander Stelle … ich war gleichsam hypnotisiert von demBefehl … ich hцrte sie die Treppe hinabsteigen, dieHaustьr zumachen … ich hцrte alles, und mein ganzerWille drдngte ihr nach … sie … ich weiЯ nicht was …sie zurьckzurufen oder zu schlagen oder zu erdrosseln… aber ihr nach … ihr nach … Und doch konnte ichnicht. Meine Glieder waren gleichsam gelähmt wievon einem elektrischen Schlag … ich war eben getrof-



fen, getroffen bis ins Mark hinein von dem herrischenBlitz dieses Blickes … Ich weiß, das ist nicht zuerklдren, nicht zu erzдhlen … es mag lдcherlich klin-gen, aber ich stand und stand … ich brauchte Minu-ten, vielleicht fьnf, vielleicht zehn Minuten, ehe icheinen FuЯ wegreiЯen konnte von der Erde …

Aber kaum daЯ ich einen FuЯ gerьhrt, war ich schonheiЯ, war ich schon rasch … im Nu eilte ich dieTreppe hinab … Sie konnte ja nur die StraЯe hinabge-gangen sein zur Zivilstation … ich stьrzte in denSchuppen, das Rad zu holen, sehe, daЯ ich den Schlьs-sel vergessen habe, reiЯe den Verschlag auf, daЯ derBambus splittert und kracht … und schon schwingeich mich auf das Rad und sause ihr nach … ich muЯsie … ich muЯ sie erreichen, ehe sie zu ihrem Auto-mobil gelangt … ich muЯ sie sprechen …

Die StraЯe staubt an mir vorbei … jetzt merke icherst, wie lange ich oben gestanden haben muЯte … da… auf der Kurve im Wald knapp vor der Station seheich sie, wie sie hastig mit steifem geradem Schritthineilt, begleitet von dem Boy … Aber auch sie muЯmich gesehen haben, denn sie spricht jetzt mit demBoy, der zurьckbleibt, und geht allein weiter … Waswill sie tun? Warum will sie allein sein? … Will sie mitmir sprechen, ohne daЯ er es hцrt? … Blindwьtigtrete ich in die Pedale hinein … Da springt mirplцtzlich quer von der Seite etwas ьber den Weg …der Boy … ich kann gerade noch das Rad zur SeitereiЯen und krache hin …

Ich stehe fluchend auf … unwillkьrlich hebe ich dieFaust, um dem Tцlpel eines hinzuknallen, aber er



springt zur Seite … Ich rüttle mein Fahrrad hoch, umwieder aufzusteigen … Aber da springt der Halunkevor, faßt das Rad und sagt in seinem erbärmlichenEnglisch: ›You remain here.‹

Sie haben nicht in den Tropen gelebt … Sie wissennicht, was das für eine Frechheit ist, wenn ein solchergelber Halunke einem weiЯen ›Herrn‹ das Rad faЯtund ihm, dem ›Herrn‹, befiehlt, dazubleiben. Statt allerAntwort schlage ich ihm die Faust ins Gesicht … ertaumelt, aber er hдlt das Rad fest … seine Augen,seine engen, feigen Augen sind weit aufgerissen insklavischer Angst … aber er hдlt die Stange, hдlt sieteuflisch fest … ›You remain here‹, stammelt er nocheinmal. Zum Glьck hatte ich keinen Revolver bei mir.Ich hдtte ihn sonst niedergeknallt. ›Weg, Kanaille!‹sage ich nur. Er starrt mich geduckt an, lдЯt aber dieStange nicht los. Ich schlage ihm noch einmal auf denSchдdel, er lдЯt noch immer nicht. Da faЯt mich dieWut … ich sehe, daЯ sie schon fort, vielleicht schonentkommen ist … und versetze ihm einen regelrech-ten Boxerschlag unters Kinn, daЯ er hinwirbelt. Jetzthabe ich wieder mein Rad … aber wie ich aufspringe,stockt der Lauf … bei dem gewaltsamen Zerren hatsich die Speiche verbogen … Ich versuche mit fie-bernden Hдnden sie geradezudrehen … Es geht nicht… so schmeiЯe ich das Rad quer auf den Weg nebenden Halunken hin, der blutend aufsteht und zur Seiteweicht … Und dann - nein, Sie kцnnen nicht fьhlen,wie lдcherlich das dort vor allen Menschen ist, wennein Europдer … nun, ich wuЯte nicht mehr, was ichtat … ich hatte nur den einen Gedanken: ihr nach, sie



erreichen … und so lief ich, lief wie ein Rasender dieLandstraße entlang vorbei an den Hütten, wo dasgelbe Gesindel staunend sich vordrängte, einen wei-ßen Mann, den Doktor, laufen zu sehen.

Schweißtriefend kam ich in der Station an … Meineerste Frage: Wo ist das Auto? … Eben weggefahren… Verwundert sehen mich die Leute an: als RasendermuЯ ich ihnen erscheinen, wie ich da naЯ und schmie-rig ankam, die Frage voranschreiend, ehe ich nochstand … Unten an der StraЯe sehe ich weiЯ denQualm des Autos wirbeln … es ist ihr gelungen …gelungen, wie alles ihrer harten, grausam harten Be-rechnung gelingen muЯ.

Aber die Flucht hil ihr nichts … In den Tropen gibtes kein Geheimnis unter den Europäern … einer kenntden andern, alles wird zum Ereignis … Nicht um-sonst ist ihr Chauffeur eine Stunde im Bungalow derRegierung gestanden … in einigen Minuten weiß ichalles … Weiß, wer sie ist … daЯ sie unten in - nun inder Regierungsstadt wohnt, acht Eisenbahnstundenvon hier … daЯ sie - nun sagen wir, die Frau einesGroЯkaufmannes ist, rasend reich, vornehm, eineEnglдnderin … ich weiЯ, daЯ ihr Mann jetzt fьnfMonate in Amerika war und nдchster Tage eintreffensoll, um sie mit nach Europa zu nehmen …

Sie aber - und wie Gi brennt sich mir der Gedanke indie Adern hinein - sie kann höchstens zwei oder dreiMonate in anderen Umständen sein …«

»Bisher konnte ich Ihnen noch alles begreiflich ma-chen … vielleicht nur deshalb, weil ich bis zu diesem



Augenblicke mich noch selbst verstand … mir alsArzt immer die Diagnose meines Zustandes selbststellte. Aber von da an begann es wie ein Fieber in mir… ich verlor die Kontrolle ьber mich … das heiЯt, ichwuЯte genau, wie sinnlos alles war, was ich tat; aberich hatte keine Macht mehr ьber mich … ich verstandmich selbst nicht mehr … ich lief nur in der Besessen-heit meines Zieles vorwдrts … Ьbrigens, warten Sie… vielleicht kann ich es Ihnen doch begreiflich ma-chen … Wissen Sie, was Amok ist?«

»Amok? … ich glaube mich zu erinnern … eine ArtTrunkenheit bei den Malaien …«

»Es ist mehr als Trunkenheit … es ist Tollheit, eineArt menschlicher Hundswut … ein Anfall mörderi-scher, sinnloser Monomanie, der sich mit keiner ande-ren alkoholischen Vergiung vergleichen läßt … ichhabe selbst während meines Aufenthaltes einige Fallestudiert - fьr andere ist man ja immer sehr klug undsehr sachlich - ohne aber je das furchtbare Geheimnisihres Ursprungs freilegen zu kцnnen … Irgendwiehдngt es mit dem Klima zusammen, mit dieserschwьlen, geballten Atmosphдre, die auf die Nervenwie ein Gewitter drьckt, bis sie einmal losspringen …Also Amok … ja, Amok, das ist so: Ein Malaie,irgendein ganz einfacher, ganz gutmьtiger Mensch,trinkt sein Gebrдu in sich hinein … er sitzt da, stumpf,gleichmьtig, matt … so wie ich in meinem Zimmersaß … und plötzlich springt er auf, faßt den Dolchund rennt auf die Straße … rennt geradeaus, immernur geradeaus … ohne zu wissen wohin … Was ihmin den Weg tritt, Mensch oder Tier, das stößt er nieder



mit seinem Kris, und der Blutrausch macht ihn nurnoch hitziger … Schaum tritt dem Laufenden vor dieLippen, er heult wie ein Rasender … aber er rennt,rennt, rennt, sieht nicht mehr nach rechts, sieht nichtnach links, rennt nur mit seinem gellen Schrei, seinemblutigen Kris in dieses entsetzliche Geradeaus … DieLeute in den Dцrfern wissen, daЯ keine Macht einenAmoklдufer aualten kann … so brüllen sie warnendvoraus, wenn er kommt: ›Amok! Amok!‹, und allesflüchtet … er aber rennt, ohne zu hören, rennt, ohnezu sehen, stößt nieder, was ihm begegnet … bis manihn totschießt wie einen tollen Hund oder er selbstschäumend zusammenbricht…

Einmal habe ich das gesehen, vom Fenster meinesBungalows aus … es war grauenha … aber nurdadurch, daß ichs gesehen habe, begreife ich michselbst in jenen Tagen … denn so, genau so, mitdiesem furchtbaren Blick geradeaus, ohne nach rechtsoder links zu sehen, mit dieser Besessenheit stьrmteich los … dieser Frau nach … Ich weiЯ nicht mehr,wie ich alles tat, in so rasendem Lauf, in so unsinnigerGeschwindigkeit flog es vorbei … Zehn Minuten,nein, fьnf, nein zwei … nachdem ich alles von dieserFrau wuЯte, ihren Namen, ihr Haus, ihr Schicksal,jagte ich schon auf einem rasch geborgten Rad inmein Haus zurьck, warf einen Anzug in den Koffer,steckte Geld zu mir und fuhr zur Station der Eisen-bahn mit meinem Wagen … fuhr, ohne mich abzu-melden beim Distriktbeamten … ohne einen Vertre-ter zu ernennen, ließ das Haus offen stehen und liegen,wie es war … Um mich standen Diener, die Weiber



staunten und fragten, ich antwortete nicht, wandtemich nicht um … fuhr zur Eisenbahn und mit demnächsten Zug hinab in die Stadt … Eine Stunde imganzen, nachdem diese Frau in mein Zimmer getre-ten, hatte ich meine Existenz hinter mich geworfenund rannte Amok ins Leere hinein …

Geradeaus rannte ich, mit dem Kopf gegen die Wand… um sechs Uhr abends war ich angekommen … umsechs Uhr zehn war ich in ihrem Haus und lieЯ michmelden … Es war … Sie werden es verstehen … dasSinnloseste, das Stupideste, was ich tun konnte …aber der Amoklдufer rennt ja mit leeren Augen, ersieht nicht, wohin er rennt … Nach einigen Minutenkam der Diener zurьck … hцflich und kьhl … diegnдdige Frau sei nicht wohl und kцnne nicht empfan-gen …

Ich taumelte die Tьre hinaus … Eine Stunde schlichich noch um das Haus herum, besessen von derwahnwitzigen Hoffnung, sie wьrde vielleicht nachmir suchen … dann nahm ich mir erst ein Zimmer imStrandhotel und zwei Flaschen Whisky auf das Zim-mer … die und eine doppelte Dosis Veronal halfenmir … ich schlief endlich ein … und dieser dumpfe,schlammige Schlaf war die einzige Pause in diesemRennen zwischen Leben und Tod.«

Die Schiffsglocke klang. Zwei harte, volle Schläge,die noch im weichen Teich der fast reglosen Luzitternd weiterschwangen und dann verebbten in dasleise, unauörliche Rauschen, das unter dem Kieleund zwischen der leidenschalichen Rede beharrlich



mitlief. Der Mensch im Dunkeln mir gegenьbermuЯte erschreckt aufgefahren sein, seine Redestockte. Wieder hцrte ich die Hand hinab zur Flaschefingern, wieder das leise Glucksen. Dann begann er,gleichsam beruhigt, mit einer festeren Stimme.

»Die Stunden von diesem Augenblick an kann ichIhnen kaum erzдhlen. Ich glaube heute, daЯ ich da-mals Fieber hatte, jedenfalls war ich in einer ArtЬberreiztheit, die an Tollheit grenzte - ein Amoklдu-fer, wie ich Ihnen sagte. Aber vergessen Sie nicht, eswar Dienstag nachts, als ich ankam, Samstag abersollte - dies hatte ich inzwischen erfahren - ihr Gattemit dem P. & O.-Dampfer von Yokohama eintreffen,es blieben also nur drei Tage, drei knappe Tage fьrden EntschluЯ und fьr die Hilfe. Verstehen Sie das:ich wuЯte, daЯ ich ihr sofort helfen muЯte, undkonnte doch kein Wort zu ihr sprechen. Und geradedieses Bedьrfnis, mein lдcherliches, mein tollwьtigesBenehmen zu entschuldigen, das hetzte mich weiter.Ich wuЯte um die Kostbarkeit jedes Augenblickes, ichwuЯte, daЯ es fьr sie um Leben und Tod ginge, undhatte doch keine Mцglichkeit, mich nur mit einemFlьstern, mit einem Zeichen ihr zu nдhern, denngerade das Stьrmische, das Tolpische meines Nach-rennens hatte sie erschreckt. Es war … ja, warten Sie… es war, wie wenn einer einem nachrennt, um ihnzu warnen vor einem Mцrder, und der andere hдlt ihnselbst fьr den Mцrder, und so rennt er weiter in seinVerderben… sie sah nur den Amoklдufer in mir, dersie verfolgte, um sie zu demьtigen, aber ich … daswar ja der entsetzliche Widersinn … ich dachte gar



nicht mehr an das … ich war ja schon ganz vernichtet,ich wollte ihr nur helfen, ihr nur dienen … einenMord hätte ich getan, ein Verbrechen, um ihr zuhelfen … Aber sie, sie verstand es nicht. Als ichmorgens aufwachte und gleich wieder hinlief zu ih-rem Haus, stand der Boy vor der Tьr, derselbe Boy,den ich ins Gesicht geschlagen, und wie er mich vonferne sah - er muЯte auf mich gewartet haben -,huschte er hinein in die Tьr. Vielleicht tat er es nur,um mich im geheimen anzumelden … vielleicht …ah, diese UngewiЯheit, wie peinigt sie mich jetzt …vielleicht war schon alles bereit, mich zu empfangen… aber da, wie ich ihn sah, mich erinnerte an meineSchmach, da war ich es wieder, der nicht wagte, nocheinmal den Besuch zu wiederholen … Die Knie zitter-ten mir. Knapp vor der Schwelle drehte ich mich umund ging wieder fort … ging fort, wдhrend sie viel-leicht in дhnlicher Qual auf mich wartete.

Ich wuЯte jetzt nicht mehr, was tun in der fremdenStadt, die an meinen Fersen wie Feuer glьhte …Plцtzlich fiel mir etwas ein, schon rief ich einenWagen und fuhr zum Vizeresidenten, zu demselben,dem ich damals in meiner Station geholfen, und lieЯmich melden … Irgend etwas muЯ schon in mei-nem дuЯern Wesen befremdend gewesen sein, denner sah mich mit einem gleichsam erschreckten Blickan, und seine Höflichkeit hatte etwas Beunruhigtes… vielleicht erkannte er schon den Amokläufer inmir … Ich sagte ihm kurz entschlossen, ich erbätemeine Versetzung in die Stadt, ich könne auf mei-nem Posten nicht mehr länger existieren … ich



müsse sofort ьbersiedeln … Er sah mich … ichkann Ihnen nicht sagen, wie er mich ansah … sowie eben ein Arzt einen Kranken ansieht … ›EinNervenzusammenbruch, lieber Doktor‹, sagte erdann, ›ich verstehe das nur zu gut. Nun, es wirdsich schon richten lassen; aber warten Sie … sagenwir vier Wochen … ich muЯ erst einen Ersatz fin-den.‹ ›Ich kann nicht warten, nicht einen Tag‹, ant-wortete ich. Wieder kam dieser merkwьrdige Blick.›Es muЯ gehen, Doktor‹, sagte er ernst, ›wir dьrfendie Station nicht ohne Arzt lassen. Aber ich verspre-che Ihnen, daß ich noch heute alles einleite.‹ Ichblieb stehen, mit verbissenen Zähnen: zum ersten-mal spürte ich deutlich, daß ich ein verkauerMensch, ein Sklave sei. Schon ballte sich alles zueinem Trotz zusammen, aber er, der Geschmeidige,kam mir zuvor: ›Sie sind menschenentwцhnt, Dok-tor, und das wird schlieЯlich eine Krankheit. Wirhaben uns alle gewundert, daЯ Sie nie herkamen, nieUrlaub nahmen. Sie brauchen mehr Geselligkeit,mehr Anregung. Kommen Sie doch wenigstens die-sen Abend, wir haben heute Empfang bei der Re-gierung, Sie finden die ganze Kolonie, und manchemцchten Sie lдngst kennenlernen, haben o nachIhnen gefragt und Sie hierhergewünscht.‹

Das letzte Wort riß mich auf. Nach mir gefragt? Solltesie es gewesen sein? Ich war plötzlich ein anderer:sofort dankte ich ihm höflichst für seine Einladungund sicherte mein Kommen pünktlich zu. Und ichwar auch pünktlich, viel zu pünktlich. Muß ich Ihnenerst sagen, daß ich, von meiner Ungeduld gejagt, der



erste in dem großen Saale des Regierungsgebäudeswar, schweigend umgeben von den gelben Dienern,die mit ihren nackten Sohlen wippend hin und hereilten und mich - wie mir in meinem verwirrtenBewuЯtsein dьnkte - hinterrьcks belдchelten. EineViertelstunde war ich der einzige Europдer inmittenall der gerдuschlosen Vorbereitungen und so alleinmit mir, daЯ ich das Ticken der Uhr in meinerWestentasche hцrte. Dann kamen endlich ein paarRegierungsbeamte mit ihren Familien, schlieЯlichauch der Gouverneur, der mich in ein lдngeres Ge-sprдch zog, in dem ich beflissen und, wie ich glaube,geschickt antwortete, bis … bis ich plцtzlich, voneiner geheimnisvollen Nervositдt befallen, alle Ge-schmeidigkeit verlor und zu stammeln begann. Ob-zwar mit dem Rьcken gegen die Saaltьr gelehnt,spьrte ich mit einem Male, daЯ sie eingetreten, daЯ sieanwesend sein mьЯte: ich kцnnte Ihnen nicht sagen,wieso mich diese plцtzliche GewiЯheit verwirrendfaЯte, aber noch wдhrend ich mit dem Gouverneursprach, den Klang seiner Worte im Ohr, spьrte ich imRьcken irgendwo ihre Gegenwart. Glьcklicherweiseendete der Gouverneur bald das Gesprдch - ichglaubte, ich hдtte mich sonst plцtzlich brьsk umge-wandt, so stark war dieses geheimnisvolle Ziehen inmeinen Nerven, so brennend gereizt meine Begier.Und wirklich, kaum daЯ ich mich umwandte, sah ichsie schon ganz genau an jener Stelle, wo sie unbewuЯtmein Gefьhl geahnt. Sie stand in einem gelben Ball-kleid, das ihre schmalen, reinen Schultern wie mattesElfenbein vorleuchten lieЯ, plaudernd inmitten einer



Gruppe. Sie lächelte, aber doch, mir war, als hätte ihrGesicht einen gespannten Zug. Ich trat näher - siekonnte mich nicht sehen oder wollte mich nicht sehen- und blickte in dieses Lächeln, das gefällig und höflichum die schmalen Lippen zitterte. Und dieses Lächelnberauschte mich von neuem, weil es … nun weil ichwußte, daß es Lüge war, Kunst oder Technik, Mei-sterscha der Verstellung. Mittwoch ist heute, fuhrmir durch den Kopf, Samstag kommt das Schiff mitdem Gatten … wie kann sie so lächeln, so … so sicher,so sorglos lдcheln und den Fдcher lдssig in der Handspielen lassen, statt ihn zu zerkrampfen in Angst?Ich … ich, der Fremde … ich zitterte seit zwei Tagenvor jener Stunde … ich, der Fremde, lebte ihre Angst,ihr Entsetzen mit allen Exzessen des Gefьhls mit …und sie ging auf den Ball und lдchelte, lдchelte, lд-chelte …

Rьckwдrts setzte die Musik ein. Der Tanz begann.Ein дlterer Offizier hatte sie aufgefordert, sie lieЯ miteiner Entschuldigung den plaudernden Kreis undschritt an seinem Arm gegen den andern Saal zu, anmir vorbei. Wie sie mich erblickte, spannte sich plцtz-lich ihr Gesicht gewaltsam zusammen - aber nur eineSekunde lang, dann nickte sie mir mit einem hцflichenErkennen (ehe ich mich noch zu grьЯen oder nicht-grьЯen entschlossen hatte) wie einem zufдlligen Be-kannten zu: ›Guten Abend, Doktor‹ und war schonvorbei. Niemand hдtte ahnen kцnnen, was in diesemgraugrьnen Blick verborgen war, und ich, ich selbstwuЯte es nicht. Warum grьЯte sie … warum erkanntesie mich nun mit einmal an? … War das Abwehr, war



es Annäherung, war es nur die Verlegenheit derÜberraschung? Ich kann Ihnen nicht schildern, inwelcher Erregtheit ich zurückblieb, alles war aufge-wühlt, war explosiv in mir zusammengepreßt, undwie ich sie so sah, lässig walzend am Arme desOffiziers, auf der Stirne den kьhlen Glanz der Sorglo-sigkeit, indes ich doch wuЯte, daЯ sie … daЯ sie so wieich nur daran … daran dachte … daЯ wir zwei hierallein ein furchtbares Geheimnis gemeinsam hatten …und sie walzte … in diesen Sekunden wurde meineAngst, meine Gier und meine Bewunderung nochmehr Leidenscha als jemals. Ich weiß nicht, ob michjemand beobachtet hat, aber gewiß verriet ich mich inmeinem Verhalten noch viel mehr, als sie sich verbarg- ich konnte eben nicht in eine andere Richtungschauen, ich mußte … ja, ich mußte sie ansehen, ichsog, ja, ich zerrte von ferne an ihrem verschlossenenGesicht, ob die Maske nicht fьr eine Sekunde fallenwollte. Und sie muЯte diesen starren Blick unange-nehm empfunden haben. Als sie am Arme ihres Tдn-zers zurьckschritt, sah sie mich im Blitzlicht einerSekunde an, scharf befehlend, wie wegweisend: wie-der spannte sich jene kleine Falte des hochmьtigenZornes, die ich schon von damals kannte, bцse ьberihrer Stirn.

Aber … aber … ich sagte es Ihnen ja … ich lief Amok,ich sah nicht nach rechts und nicht nach links. Ichverstand sie sofort - dieser Blick hieß: sei nicht auffäl-lig! bezähme dich! - ich wußte, daß sie … wie soll iches sagen? … daß sie Diskretion des Benehmens hierim offenen Saal von mir wollte… ich verstand, daß,



wenn ich jetzt heimginge, ich morgen gewiß seinkцnne, von ihr empfangen zu werden … daЯ sie esnur jetzt, nur jetzt vermeiden wollte, meiner auffдlli-gen Vertraulichkeit ausgesetzt zu sein, daЯ sie - undwie sehr mit Recht - von meinem Ungeschick eineSzene fьrchtete … Sie sehen … ich wuЯte alles, ichverstand diesen befehlenden grauen Blick, aber …aber es war zu stark in mir, ich muЯte sie sprechen.Und so schwankte ich hin zu der Gruppe, in der sieplaudernd stand, schob mich - obwohl ich nur einigeder Anwesenden kannte - ganz an den lockeren Kreisheran nur aus Begier, sie sprechen zu hören, und dochimmer scheu mich duckend wie ein geprügelter Hundvor ihrem Blick, wenn er kalt an mir vorbeistreie,als sei ich eine der Leinenportieren, an der ich lehnte,oder die Lu, die sie leicht bewegte. Aber ich stand,durstig nach einem Wort, das sie zu mir sprechensollte, nach einem Zeichen des Einverstдndnisses,stand und stand starren Blickes inmitten des Geplau-ders wie ein Block. Unbedingt muЯte es schon auffдl-lig geworden sein, unbedingt, denn keiner richtete einWort an mich, und sie muЯte leiden unter meinerlдcherlichen Gegenwart.

Wie lange ich so gestanden hдtte, ich weiЯ es nicht …eine Ewigkeit vielleicht … ich konnte ja nicht fort ausdieser Bezauberung des Willens. Gerade die Hartnдk-kigkeit meiner Wut lahmte mich … Aber sie ertrug esnicht länger … plötzlich wandte sie sich mit derprachtvollen Leichtigkeit ihres Wesens gegen die Her-ren und sagte: ›Ich bin ein wenig müde … ich willheute einmal früher zu Bett gehen … Gute Nacht!‹ …



und schon streie sie mit einem gesellschalich frem-den Kopfnicken an mir vorbei … ich sah noch diehochgezogene Falte auf der Stirn und dann nur mehrden Rücken, den weißen, kühlen, nackten Rücken.Eine Sekunde lang dauerte es, bevor ich begriff, daßsie fortging … daß ich sie nicht mehr sehen, nichtmehr sprechen kцnnte diesen Abend, diesen letztenAbend der Rettung … einen Augenblick lang alsostand ich noch starr, bis ichs begriff … dann …dann …

Aber warten Sie … warten Sie … Sie werden sonstdas Sinnlose, das Stupide meiner Tat nicht verstehen… ich muЯ Ihnen erst den ganzen Raum schildern …Es war der groЯe Saal des Regierungsgebдudes, ganzvon Lichtern erhellt und fast leer, der ungeheure Saal… die Paare waren zum Tanz gegangen, die Herrenzum Spiel … nur an den Ecken plauderten einigeGruppen … der Saal war also leer, jede Bewegungauffдllig und im grellen Licht sichtbar … und diesengroЯen weiten Saal schritt sie langsam und leicht mitihren hohen Schultern durch, ab und zu einen GruЯmit ihrer unbeschreiblichen Haltung erwidernd …mit dieser herrlichen erfrorenen hoheitlichen Ruhe,die mich an ihr so entzьckte … Ich … ich warzurьckgeblieben, ich sagte es Ihnen ja, ich war gleich-sam gelдhmt, bevor ich es begriff, daЯ sie fortging …und da, als ich es begriff, war sie schon am andernEnde des Saales knapp vor der Türe … Da … oh, ichschäme mich jetzt noch, es zu denken … da packte esmich plötzlich an und ich lief - hören Sie: ich lief …ich ging nicht, ich lief mit polternden Schuhen, die



laut widerhallten, quer durch den Saal ihr nach … Ichhörte meine Schritte, ich sah alle Blicke erstaunt aufmich gerichtet … ich hдtte vergehen kцnnen vorScham … noch wдhrend ich lief, war mir schon derWahnsinn bewuЯt … aber ich konnte … ich konntenicht mehr zurьck … Bei der Tьr holte ich sie ein …Sie wandte sich um … ihre Augen stieЯen wie eingrauer Stahl in mich hinein, ihre Nasenflьgel zittertenvor Zorn … ich wollte eben zu stammeln anfangen …da … da … lachte sie plцtzlich hellauf … ein helles,unbesorgtes, herzliches Lachen, und sagte laut … solaut, daЯ es alle hцren konnten … ›Ach, Doktor, jetztfällt Ihnen erst das Rezept für meinen Buben ein … ja,die Herren der Wissenscha …‹ Ein paar, die in derNähe standen, lachten gutmütig mit … ich begriff, ichtaumelte unter der Meisterscha, mit der sie die Situa-tion gerettet hatte … griff in die Brieasche und rißein leeres Blatt vom Block, das sie lässig nahm, ehe sie… noch einmal mit einem kalten, dankenden Lächeln… ging … Mir war leicht in der ersten Sekunde … ichsah, daß mein Irrsinn durch ihre Meisterscha gutge-macht, die Situation gewonnen … aber ich wuЯteauch sofort, daЯ alles fьr mich verloren sei, daЯ dieseFrau mich um meiner hitzigen Narrheit haЯte …haЯte mehr als den Tod … daЯ ich nun hundertmalund hundertmal vor ihre Tьr kommen kцnnte und siemich wegweisen wьrde wie einen Hund.

Ich taumelte durch den Saal … ich merkte, daЯ dieLeute auf mich blickten … ich muЯ irgendwie sonder-bar ausgesehen haben … Ich ging zum Bьfett, trankzwei, drei, vier Glдser Kognak hintereinander … das



rettete mich vor dem Umsinken … meine Nervenkonnten schon nicht mehr, sie waren wie durchgeris-sen … Dann schlich ich bei einer Nebentür hinaus,heimlich wie ein Verbrecher … Um kein Fürstentumder Welt hätte ich jenen Saal nochmals durchschreitenkönnen, wo ihr Lachen noch gell an allen Wдndenklebte … ich ging … genau weiЯ ichs nicht mehr zusagen, wohin ich ging … in ein paar Kneipen und soffmich an … soff mich an wie einer, der sich allesWache wegsaufen will … aber … es ward mir nichtdumpf in den Sinnen … das Lachen stak in mir, schrillund bцse … das Lachen, dieses verfluchte Lachenkonnte ich nicht betдuben … Ich irrte dann noch amHafen herum … meinen Revolver hatte ich zu Hausegelassen, sonst hдtte ich mich erschossen. Ich dachtean nichts anderes, und mit diesem Gedanken ging ichauch heim … nur mit diesem Gedanken an das Schub-fach links im Kasten, wo mein Revolver lag … nurmit diesem einen Gedanken.

DaЯ ich mich dann nicht erschoЯ … ich schwцreIhnen, das war nicht Feigheit … es wдre fьr mich eineErlцsung gewesen, den schon gespannten kaltenHahn abzudrьcken … aber wie soll ich es Ihnenerklдren … ich fьhlte noch eine Pflicht in mir … ja,jene Pflicht, zu helfen, jene verfluchte Pflicht … michmachte der Gedanke wahnsinnig, daЯ sie mich nochbrauchen kцnnte, daß sie mich brauchte … es war jaschon Donnerstag morgens, als ich heimkam, undSamstag … ich sagte es Ihnen ja … Samstag kam dasSchiff, und daß diese Frau, diese hochmütige, stolzeFrau die Schande vor ihrem Gatten, vor der Welt



nicht überleben würde, das wuЯte ich … Ah, wiemich solche Gedanken gemartert haben an die sinnlosvertane kostbare Zeit, an meine irrwitzige Ьberei-lung, die jede rechtzeitige Hilfe vereitelt hatte …stundenlang, ja stundenlang, ich schwцre es Ihnen,bin ich im Zimmer niedergegangen, auf und ab, undhabe mir das Hirn zermartert, wie ich mich ihr nд-hern, wie ich alles gutmachen, wie ich ihr helfenkцnnte … denn daЯ sie mich nicht mehr vorlassenwьrde in ihrem Haus, das war mir gewiЯ … ich hattedas Lachen noch in allen Nerven und das Zucken desZornes um ihre Nasenflügel … stundenlang, wirklichstundenlang bin ich so die drei Meter des schmalenZimmers auf und ab gerannt … es war schon Tag, eswar schon Vormittag…

Und plötzlich schmiß es mich hin zu dem Tisch … ichriß ein Bündel Brielätter heraus und begann ihr zuschreiben … alles zu schreiben … einen hьndischwinselnden Brief, in dem ich sie um Vergebung bat,in dem ich mich einen Wahnsinnigen, einen Verbre-cher nannte … in dem ich sie beschwor, sich miranzuvertrauen … Ich schwor, in der nдchsten Stundezu verschwinden, aus der Stadt, aus der Kolonie,wenn sie wollte: aus der Welt … nur verzeihen solltesie mir und mir vertrauen, sich helfen zu lassen in derletzten, der allerletzten Stunde … Zwanzig Seitenfieberte ich so hinunter … es muЯ ein toller, einunbeschreiblicher Brief wie aus einem Delirium ge-wesen sein, denn als ich aufstand vom Tisch, war ichin Schweiß gebadet … das Zimmer schwankte, ichmußte ein Glas Wasser trinken … Dann erst versuchte



ich den Brief noch einmal zu überlesen, aber mirgraute nach den ersten Worten … zitternd faltete ichihn zusammen, faЯte schon ein Kuvert … Da plцtzlichfuhrs mich durch. Mit einem Male wuЯte ich daswahre, das entscheidende Wort. Und ich riЯ nocheinmal die Feder zwischen die Finger und schrieb aufdas letzte Blatt: ›Ich warte hier im Strandhotel auf einWort der Verzeihung. Wenn ich bis sieben Uhr keineAntwort habe, erschieЯe ich mich.‹

Dann nahm ich den Brief, schellte einem Boy undhieЯ ihn das Schreiben sofort ьberbringen. Endlichwar alles gesagt - alles!«

Etwas klirrte und kollerte neben uns. Mit einer hei-gen Bewegung hatte er die Whiskyflasche umgesto-ßen; ich hörte, wie seine Hand ihr suchend am Bo-den nachtastete und sie dann mit einem plötzlichenSchwung faßte: in weitem Bogen warf er die geleerteFlasche ьber Bord. Einige Minuten schwieg dieStimme, dann fieberte er wieder fort, noch erregterund hastiger als zuvor.

»Ich bin kein glдubiger Christ mehr … fьr mich gibtes keinen Himmel und keine Hцlle … und wenn eseine gibt, so fьrchte ich sie nicht, denn sie kann nichtдrger sein als jene Stunden, die ich von vormittag bisabends erlebte … Denken Sie sich ein kleines Zim-mer, heiЯ in der Sonne, immer glьhender im Mittags-brand … ein kleines Zimmer, nur Tisch und Stuhlund Bett … Und auf diesem Tisch nichts als eine Uhrund einen Revolver und vor dem Tisch einen Men-schen … einen Menschen, der nichts tut als immer auf



diesen Tisch, auf den Sekundenzeiger der Uhr starreneinen Menschen, der nicht ißt und nicht trinkt undnicht raucht und sich nicht regt … der immer nur…hören Sie: immer nur, drei Stunden lang … auf denweißen Kreis des Zifferblattes starrt und auf denZeiger, der tickend den Kreis umläu … So … so …habe ich diesen Tag verbracht, nur gewartet, gewar-tet, gewartet … aber gewartet wie … wie eben einAmoklдufer etwas tut, sinnlos, tierisch, mit dieserrasenden, geradlinigen Beharrlichkeit.

Nun … ich werde Ihnen diese Stunden nicht schilderndas lдЯt sich nicht schildern … ich verstehe ja selbstnicht mehr, wie man das erleben kann ohne … ohnewahnsinnig zu werden … Also … um drei Uhr zwei-undzwanzig Minuten … ich weiЯ es genau, ich starrteja auf die Uhr … klope es plötzlich an die Tür … Ichspringe auf. - springe, wie ein Tiger auf seine Beutespringt, mit einem Ruck durch das ganze Zimmer zurTür, reiße sie auf … ein ängstlicher kleiner Chinesen-junge steht draußen, einen zusammengefalteten Zettelin der Hand, und wдhrend ich gierig danach greife,huscht er schon weg und ist verschwunden.

Ich reiЯe den Zettel auf, will ihn lesen … und kann ihnnicht lesen … Mir schwankt es rot vor den Augen…denken Sie die Qual, ich habe endlich, endlich dasWort von ihr … und nun zittert und tanzt es mir vorden Pupillen … Ich tauche den Kopf ins Wasser …nun wirds mir klarer … Nochmals nehme ich denZettel und lese:

›Zu spдt! Aber warten Sie zu Hause. Vielleicht rufe ichSie noch.‹



Keine Unterschri auf dem zerknüllten Papier, dasvon irgendeinem alten Prospekt abgefetzt war …hastige, verworrene Bleistizüge einer sonst sicherenSchri … ich weiß nicht, warum mich das Blatt soerschütterte … Irgend etwas von Grauen, von Ge-heimnis haete ihm an, es war wie auf einer Fluchtgeschrieben, stehend an einer Fensternische oder ineinem fahrenden Wagen … Etwas Unbeschreiblichesvon Angst, von Hast, von Entsetzen schlug kalt vondiesem heimlichen Zettel mir in die Seele … und doch… und doch, ich war glücklich: sie hatte mir geschrie-ben, ich mußte noch nicht sterben, ich dure ihrhelfen … vielleicht … ich dure … oh, ich verlormich ganz in den wahnwitzigsten Konjekturen undHoffnungen … Hundertemal, tausendemal habe ichden kleinen Zettel gelesen, ihn gekьЯt … ihn durch-forscht nach irgendeinem vergessenen, ьbersehenenWort … immer tiefer, immer verworrener wurdemeine Trдumerei, ein phantastischer Zustand vonSchlaf mit offenen Augen … eine Art Lдhmung,irgend etwas ganz Dumpfes und doch Bewegtes zwi-schen Schlaf und Wachsein, das vielleicht Viertelstun-den dauerte, vielleicht Stunden …

Plцtzlich schreckte ich auf … Hatte es nicht geklop?… Ich hielt den Atem an … eine Minute, zwei Minu-ten reglose Stille … Und dann wieder ganz leise, sowie eine Maus knabbert, ein leises aber heiges Po-chen … Ich sprang auf, noch ganz taumelig, riß dieTür auf - draußen stand der Boy, ihr Boy, derselbe,dem ich den Mund damals mit der Faust zerschlagen… sein braunes Gesicht war aschfahl, sein verwirrter



Blick sagte Unglück … Sofort spürte ich Grauen …›Was … was ist geschehen?‹ konnte ich noch stam-meln. ›Come quickly‹, sagte er … sonst nichts …sofort raste ich die Treppe herunter, er mir nach…Ein Sado, so ein kleiner Wagen, stand bereit, wirstiegen ein … ›Was ist geschehen?‹ fragte ich ihn … Ersah mich zitternd an und schwieg mit verbissenenLippen … Ich fragte nochmals - er schwieg undschwieg. - Ich hдtte ihm am liebsten wieder insGesicht geschlagen mit der Faust, aber … gerade seinehьndische Treue zu ihr rьhrte mich … so fragte ichnicht mehr … Das Wдgelchen trabte so hastig durchdas Gewirr, daЯ die Menschen fluchend auseinander-stoben, lief aus dem Europдerviertel am Strand in dieniedere Stadt und weiter, weiter ins schreiende Ge-wirr der Chinesenstadt … Endlich kamen wir in eineenge Gasse, ganz abseits lag sie … vor einem niedernHaus hielt er an … Es war schmutzig und wie in sichzusammengekrochen, vorne ein kleiner Laden miteinem Talglicht … irgendeine dieser Buden, in diesich die Opiumhдuser oder Bordelle verstecken, einDiebsnest oder ein Hehlerkeller … Hastig klope derBoy an … Hinter dem Türspalt zischelte eine Stimme,fragte und fragte … Ich konnte es nicht mehr ertra-gen, sprang vom Sitz, stieß die angelehnte Tür auf …ein altes chinesisches Weib flüchtete mit einem klei-nen Schrei zurück … hinter mir kam der Boy, führtemich durch den Gang … klinkte eine andere Tür aufeine andere Türe in einen dunklen Raum, der übelroch von Branntwein und gestocktem Blut … Irgend-etwas stöhnte darin … ich tappte hin …«



Wieder stockte die Stimme. Und was dann ausbrach,war mehr ein Schluchzen als ein Sprechen.

»Ich … ich tappte hin … und dort … dort lag auf einerschmutzigen Matte … verkrьmmt vor Schmerz …ein stцhnendes Stьck Mensch … dort lag sie …

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen im Dunkel …Meine Augen waren noch nicht gewцhnt … so tasteteich nur hin … ihre Hand … heiЯ … brennend heiЯ …Fieber, hohes Fieber … und ich schauerte … ichwuЯte sofort alles … sie war hierher geflьchtet vormir … hatte sich verstьmmeln lassen von irgendeinerschmutzigen Chinesin, nur weil sie hier mehrSchweigsamkeit erhoe … hatte sich morden lassenvon irgendeiner teuflischen Hexe, lieber als mir zuvertrauen … nur weil ich Wahnsinniger … weil ichihren Stolz nicht geschont, ihr nicht gleich geholfenhatte … weil sie den Tod weniger fürchtete alsmich …

Ich schrie nach Licht. Der Boy sprang: die abscheuli-che Chinesin brachte mit zitternden Hдnden eine ru-Яende Petroleumlampe … ich muЯte mich halten, umder gelben Kanaille nicht an die Gurgel zu springen …sie stellten die Lampe auf den Tisch … der Lichtscheinfiel gelb und hell ьber den gemarterten Leib … Undplцtzlich … plцtzlich war alles weg von mir, alleDumpeit, aller Zorn, all diese unreine Jauche vonaufgehäuer Leidenscha … ich war nur mehr Arzt,helfender, spürender, wissender Mensch … ich hattemich vergessen … kämpe mit wachen, klaren Sin-nen gegen das Entsetzliche … Ich fühlte den nacktenLeib, den ich in meinen Träumen begehrt, nur mehr



als … wie soll ich es sagen … als Materie, als Organis-mus … ich spürte nicht mehr sie, sondern nur dasLeben, das sich gegen den Tod wehrte, den Men-schen, der sich krümmte in mörderischer Qual … IhrBlut, ihr heißes, heiliges Blut ьberstrцmte meineHдnde, aber ich spьrte es nicht in Lust und nicht inGrauen … ich war nur Arzt … ich sah nur das Leiden… und sah …

Und sah sofort, daЯ alles verloren war, wenn nicht einWunder geschehe … sie war verletzt und halb verblu-tet unter der verbrecherisch ungeschickten Hand …und ich hatte nichts, um das Blut zu stillen in dieserstinkenden Hцhle, nicht einmal reines Wasser … alles,was ich anrьhrte, starrte vor Schmutz …

›Wir mьssen sofort ins Spital‹, sagte ich. Aber kaumdaЯ ichs gesagt, bдumte sich krampfig der gemarterteLeib auf. ›Nein … nein … lieber sterben … niemandes erfahren … niemand es erfahren … nach Hause …nach Hause …‹

Ich verstand … nur mehr um das Geheimnis, um ihreEhre rang sie … nicht um ihr Leben … Und - ichgehorchte … Der Boy brachte eine Sдne … wirbetteten sie hinein … und so … wie eine Leiche schon,matt und fiebernd … trugen wir sie durch die Nachtnach Hause … die fragende, erschreckte Diener-scha abwehrend … wie Diebe trugen wir sie hineinin ihr Zimmer und sperrten die Türen… Und danndann begann der Kampf, der lange Kampf gegenden Tod …«



Plötzlich krampe sich eine Hand in meinen Arm, daßich fast aufschrie vor Schreck und Schmerz. Im Dun-keln war mir das Gesicht mit einemmal fratzenhanah, ich sah die weißen Zähne, wie sie sich bleckten inplцtzlichem Ausbruch, sah die Augenglдser im fahlenReflex des Mondlichts wie zwei riesige Katzenaugenglimmen. Und jetzt sprach er nicht mehr - er schrie,geschьttelt von einem heulenden Zorn:

»Wissen Sie denn, Sie fremder Mensch, der Sie hierlдssig auf einem Deckstuhl sitzen, ein Spazierfahrerdurch die Welt, wissen Sie, wie das ist, wenn einMensch stirbt? Sind Sie schon einmal dabeigewesen,haben Sie es gesehen, wie der Leib sich aurümmt,die blauen Nägel ins Leere krallen, wie die Kehleröchelt, jedes Glied sich wehrt, jeder Finger sichstemmt gegen das Entsetzliche, und wie das Augeaufspringt in einem Grauen, für das es keine Wortegibt? Haben Sie das schon einmal erlebt, Sie Müßig-gänger, Sie Weltfahrer, Sie, der Sie vom Helfen redenals von einer Pflicht? Ich habe es o gesehen als Arzt,habe es gesehen als … als klinischen Fall, als Tatsache… habe es sozusagen studiert - aber erlebt habe ichsnur einmal, miterlebt, mitgestorben bin ich nur da-mals in jener Nacht … in jener entsetzlichen Nacht,wo ich saЯ und mir das Hirn zerpreЯte, um etwas zuwissen, etwas zu finden, zu erfinden gegen das Blut,das rann und rann und rann, gegen das Fieber, das sievor meinen Augen verbrannte … gegen den Tod, derimmer nдher kam und den ich nicht wegdrдngenkonnte vom Bett. Verstehen Sie, was das heiЯt, Arztzu sein, alles wissen gegen alle Krankheiten - die



Pflicht haben, zu helfen, wie Sie so weise sagen - unddoch ohnmächtig bei einer Sterbenden zu sitzen, wis-send und doch ohne Macht … nur dies eine, diesEntsetzliche wissend, daß man nicht helfen kann, obman sich auch jede Ader aus seinem Körper aufreißenmцchte … einen geliebten Kцrper zu sehen, wie erelend verblutet, gemartert von Schmerzen, einen Pulszu fьhlen, der fliegt und zugleich verlischt … dereinem wegflieЯt unter den Fingern … Arzt zu seinund nichts zu wissen, nichts, nichts, nichts … nurdazusitzen und irgendein Gebet zu stammeln wie einHutzelweib in der Kirche, und dann wieder die Fдusteballen gegen einen erbдrmlichen Gott, von dem manweiЯ, daЯ es ihn nicht gibt … Verstehen Sie das?Verstehen Sie das? … Ich … ich verstehe nur einesnicht, wie … wie man es macht, daЯ man nichtmitstirbt in solchen Sekunden … daЯ man dann nocham nдchsten Morgen von einem Schlaf aufsteht undsich die Zдhne putzt und eine Krawatte umbindet …daЯ man noch leben kann, wenn man das miterlebte,was ich fьhlte, wie dieser Atem, dieser erste Mensch,um den ich rang und kдmpe, den ich halten wolltemit allen Kräen meiner Seele … wie der wegglittunter mir … irgendwohin, immer rascher wegglitt,Minute um Minute, und ich nichts wußte in meinemfiebernden Gehirn, um diesen, diesen einen Menschenfestzuhalten …

Und dazu, um teuflisch noch meine Qual zu verdop-peln, dazu noch dies … Während ich an ihrem Bettsaß - ich hatte ihr Morphium eingegeben, um dieSchmerzen zu lindern, und sah sie liegen, mit heißen



Wangen, heiß und fahl - ja … während ich so saß,spürte ich vom Rücken her immer zwei Augen aufmich gerichtet mit einem fьrchterlichen Ausdruck derSpannung … Der Boy saЯ dort auf den Boden gekau-ert und murmelte leise irgendwelche Gebete … Wennmein Blick den seinen traf, so … nein, ich kann esnicht schildern … so kam etwas so Flehendes, so … soDankbares in seinen hьndischen Blick, und gleichzei-tig hob er die Hдnde zu mir, als wollte er michbeschwцren, sie zu retten … verstehen Sie: zu mir, zumir hob er die Hдnde wie zu einem Gott … zu mir …dem ohnmдchtigen Schwдchling, der wuЯte, daЯ allesverloren … daЯ ich hier so unnцtig sei wie eineAmeise, die am Boden raschelt … Ah, dieser Blick,wie er mich quдlte, diese fanatische, diese tierischeHoffnung auf meine Kunst … ich hдtte ihn anschreienkцnnen und mit dem FuЯ treten, so weh tat er mir …und doch, ich spьrte, wie wir beide zusammenhingendurch unsere Liebe zu ihr … durch das Geheimnis …Ein lauerndes Tier, ein dumpfes Knдuel, saЯ er zu-sammengeballt knapp hinter mir … kaum daЯ ichetwas verlangte, sprang er auf mit seinen nacktenlautlosen Sohlen und reichte es zitternd … erwar-tungsvoll her, als sei das die Hilfe … die Rettung …Ich weiЯ, er hдtte sich die Adern aufgeschnitten, umihr zu helfen … so war diese Frau, solche Macht hattesie ьber Menschen … und ich … ich hatte nicht dieMacht, ein Quentchen Blut zu retten … O dieseNacht, diese entsetzliche Nacht, diese unendlicheNacht zwischen Leben und Tod!

Gegen Morgen ward sie noch einmal wach … sie



schlug die Augen auf … jetzt waren sie nicht mehrhochmütig und kalt … ein Fieber glitzerte feuchtdarin, als sie, gleichsam fremd, das Zimmer abtasteten… Dann sah sie mich an: sie schien nachzudenken,sich erinnern zu wollen an mein Gesicht … undplötzlich… ich sah es… erinnerte sie sich … dennirgendein Schreck, eine Abwehr … etwas … etwasFeindliches, Entsetztes spannte ihr Gesicht … sie ar-beitete mit den Armen, als wollte sie flьchten … weg,weg, weg von mir … ich sah, sie dachte an das … andie Stunde von damals … Aber dann kam ein Besin-nen … sie sah mich ruhiger an, atmete schwer … ichfьhlte, sie wollte sprechen, etwas sagen … Wiederbegannen die Hдnde sich zu spannen … sie wollte sichaueben, aber sie war zu schwach … Ich beruhigtesie, beugte mich nieder … da sah sie mich an miteinem langen, gequälten Blick … ihre Lippen regtensich leise … es war nur ein letzter erlöschender Laut,wie sie sagte …

›Wird es niemand erfahren? … Niemand?‹

›Niemand‹, sagte ich mit aller Kra der Überzeu-gung, ›ich verspreche es Ihnen.‹

Aber ihr Auge war noch unruhig … Mit fiebrigerLippe ganz undeutlich arbeitete sie's heraus.

›Schwören Sie mir … niemand erfahren … schwö-ren.‹

Ich hob die Finger wie zum Eid. Sie sah mich an …mit einem … einem unbeschreiblichen Blick … weichwar er, warm, dankbar … ja, wirklich, wirklich dank-bar … Sie wollte noch etwas sprechen, aber es wardihr zu schwer. Lang lag sie, ganz matt von der An-



strengung, mit geschlossenen Augen. Dann beganndas Entsetzliche … das Entsetzliche … eine ganzschwere Stunde kämpe sie noch: erst morgens wares zu Ende …«

Er schwieg lange. Ich merkte es nicht eher, als vomMitteldeck die Glocke in die Stille schlug, ein, zwei,drei harte Schläge - drei Uhr. Das Mondlicht warmatter geworden, aber irgendeine andere gelbe Hellezitterte schon unsicher in der Lu, und Wind flogmanchmal leicht wie eine Brise her. Eine halbe, eineStunde mehr, und dann war es Tag, war dies Grauenausgelöscht im klaren Licht. Ich sah seine Züge jetztdeutlicher, da die Schatten nicht mehr so dicht undschwarz in unsern Winkel fielen - er hatte die Kappeabgenommen, und unter dem blanken Schädel schiensein verquältes Gesicht noch schreckhaer. Aberschon wandten sich die glitzernden Brillengläser wie-der mir zu, er strae sich zusammen, und seineStimme hatte einen höhnischen, scharfen Ton.

»Mit ihr wars nun zu Ende - aber nicht mit mir. Ichwar allein mit der Leiche - aber allein in einemfremden Haus, allein in einer Stadt, die kein Geheim-nis duldet, und ich … ich hatte das Geheimnis zuhüten … Ja, denken Sie sich das nur aus, die ganzeSituation: eine Frau aus der besten Gesellscha derKolonie, vollkommen gesund, die noch abends zuvorauf dem Regierungsball getanzt hat, liegt plötzlich totin ihrem Bett … ein fremder Arzt ist bei ihr, denangeblich ihr Diener gerufen … niemand im Haus hatgesehen, wann und woher er kam … man hat sie



nachts auf einer Säne hereingetragen und dann dieTüren geschlossen … und morgens ist sie tot … dannerst hat man die Diener gerufen, und plцtzlich gelltdas Haus von Geschrei … im Nu wissen es dieNachbarn, die ganze Stadt … und nur einer ist da, derdas alles erklдren soll … ich, der fremde Mensch, derArzt aus einer entlegenen Station … Eine erfreulicheSituation, nicht wahr? …

Ich wuЯte, was mir bevorstand. Glьcklicherweise warder Boy bei mir, der brave Bursche, der mir jedenWink von den Augen las - auch dieses gelbe dumpfeTier verstand, daЯ hier noch ein Kampf ausgetragenwerden mьsse. Ich hatte ihm nur gesagt: ›Die Frauwill, daЯ niemand erfдhrt, was geschehen ist.‹ Er sahmir in die Augen mit seinem hьndisch feuchten unddoch entschlossenen Blick: ›Yes, Sir‹, mehr sagte ernicht. Aber er wusch die Blutspuren vom Boden,richtete alles in beste Ordnung - und gerade seineEntschlossenheit gab mir die meine wieder.

Nie im Leben, das weiЯ ich, habe ich eine дhnlichzusammengeballte Energie gehabt, nie werde ich siewieder haben. Wenn man alles verloren hat, dannkдmp man um das Letzte wie ein Verzweifelter -und das Letzte war ihr Vermächtnis, das Geheimnis.Ich empfing voll Ruhe die Leute, erzählte ihnen allendie gleiche erdichtete Geschichte, wie der Boy, den sieum den Arzt gesandt hatte, mich zufällig auf demWege traf. Aber während ich scheinbar ruhig redete,wartete … wartete ich immer auf das Entscheidende… auf den Totenbeschauer, der erst kommen mußte,ehe wir sie in den Sarg verschließen konnten und das



Geheimnis mit ihr … Es war, vergessen Sie nicht,Donnerstag, und Samstag kam ihr Gatte …

Um neun Uhr hцrte ich endlich, wie man den Amts-arzt anmeldete. Ich hatte ihn rufen lassen - er warmein Vorgesetzter im Rang und gleichzeitig meinKonkurrent, derselbe Arzt, von dem sie seinerzeit soverдchtlich gesprochen und der offenbar meinenWunsch nach Versetzung bereits erfahren hatte. Beiseinem ersten Blick spьrte ichs schon: er war mirFeind. Aber gerade das strae meine Kra.

Im Vorzimmer fragte er schon: ›Wann ist Frau … - ernannte ihren Namen - gestorben?‹

›Um sechs Uhr morgens.‹

›Wann sandte sie zu Ihnen?‹

›Um elf Uhr abends.‹

›Wußten Sie, daß ich ihr Arzt war?‹

›Ja, aber es tat Eile not … und dann … die Verstor-bene hatte ausdrьcklich mich verlangt. Sie hatte ver-boten, einen andern Arzt rufen zu lassen.‹

Er starrte mich an: in seinem bleichen, etwas verfette-ten Gesicht flog eine Rцte hoch, ich spьrte, daЯ ererbittert war. Aber gerade das brauchte ich - allemeine Energien drдngten sich zu rascher Entschei-dung, denn ich spьrte, lange hielten es meine Nervennicht mehr aus. Er wollte etwas Feindliches erwidern,dann sagte er lдssig: ›Wenn Sie schon meinen, michentbehren zu kцnnen, so ist es doch meine amtlichePflicht, den Tod zu konstatieren und … wie er einge-treten ist.‹

Ich antwortete nicht und ließ ihn vorangehen. Danntrat ich zurück, schloß die Tür und legte den Schlüssel



auf den Tisch. Überrascht zog er die Augenbrauenhoch: ›Was bedeutet das?‹

Ich stellte mich ruhig ihm gegenьber:

›Es handelt sich hier nicht darum, die Todesursachefestzustellen, sondern - eine andere zu finden. DieseFrau hat mich gerufen, um sie nach … nach denFolgen eines verunglьckten Eingriffes zu behandeln… ich konnte sie nicht mehr retten, aber ich habe ihrversprochen, ihre Ehre zu retten, und das werde ichtun. Und ich bitte Sie darum, mir zu helfen!‹

Seine Augen waren ganz weit geworden vor Erstau-nen. ›Sie wollen doch nicht etwa sagen‹, stammelte erdann, ›daЯ ich, der Amtsarzt, hier ein Verbrechendecken soll?‹

›Ja, das will ich, das muЯ ich wollen.‹

›Fьr Ihr Verbrechen soll ich …‹

›Ich habe Ihnen gesagt, daЯ ich diese Frau nicht be-rьhrt habe, sonst … sonst stьnde ich nicht vor Ihnen,sonst hдtte ich lдngst mit mir SchluЯ gemacht. Sie hatihr Vergehen - wenn Sie es so nennen wollen -gebьЯt, die Welt braucht davon nichts zu wissen. Undich werde es nicht dulden, daЯ die Ehre dieser Fraujetzt noch unnцtig beschmutzt wird.‹

Mein entschlossener Ton reizte ihn nur noch mehrauf. ›Sie werden nicht dulden … so … nun, Sie sind jamein Vorgesetzter … oder glauben es wenigstensschon zu sein … Versuchen Sie nur, mir zu befehlen… ich habe mirs gleich gedacht, da ist Schmutziges imSpiel, wenn man Sie aus Ihrem Winkel herru … einesaubere Praxis, die Sie da anfangen, ein sauberes Pro-bestück … Aber jetzt werde ich untersuchen, ich, und



Sie können sich darauf verlassen, daß ein Protokoll,unter dem mein Name steht, richtig sein wird. Ichwerde keine Lüge unterschreiben.‹

Ich war ganz ruhig.

›Ja - das müssen Sie diesmal doch. Denn frьher wer-den Sie das Zimmer nicht verlassen.‹

Ich griff dabei in die Tasche - meinen Revolver hatteich nicht bei mir. Aber er zuckte zusammen. Ich trateinen Schritt auf ihn zu und sah ihn an.

›Hцren Sie, ich werde Ihnen etwas sagen … damit esnicht zum ДuЯersten kommt. Mir liegt an meinemLeben nichts … nichts an dem eines andern - ich binnun schon einmal soweit … mir liegt einzig daran,mein Versprechen einzulцsen, daЯ die Art dieses To-des geheim bleibt … Hцren Sie: ich gebe Ihnen meinEhrenwort, daЯ, wenn Sie das Zertifikat unterferti-gen, diese Frau sei an … nun an einer Zufдlligkeitgestorben, daЯ ich dann noch im Laufe dieser Wochedie Stadt und Indien verlasse … daЯ ich, wenn Sie esverlangen, meinen Revolver nehme und mich nieder-schieЯe, sobald der Sarg in der Erde ist und ich sichersein kann, daЯ niemand … Sie verstehen: niemand - mehr nachforschen kann. Das wird Ihnen wohl genь-gen - das muЯ Ihnen genьgen.‹

Es muЯ etwas Drohendes, etwas Gefдhrliches in mei-ner Stimme gewesen sein, denn wie ich unwillkьrlichnдhertrat, wich er zurьck mit jenem aufgerissenen Ent-setzen, wie … wie eben Menschen vor dem Amok-lдufer flьchten, wenn er rasend hinrennt mit geschwun-genem Kris … Und mit einemmal war er anders …irgendwie geduckt und gelдhmt … seine harte Haltung



brach ein. Er murmelte mit einem letzten ganz weichenWiderstand: ›Es wäre das erstemal in meinem Leben,daß ich ein falsches Zertifikat unterzeichnete … im-merhin, es wird sich schon eine Form finden lassen…man weiß ja auch, was vorkommt … Aber ich duredoch nicht so ohne weiteres …‹

›Gewiß duren Sie nicht‹, half ich ihm, um ihn zubestärken - (›Nur rasch! Nur rasch!‹ tickte es mir inden Schläfen) - ›aber jetzt, da Sie wissen, daß Sie nureinen Lebenden kränken würden und einer Toten einEntsetzliches täten, werden Sie doch gewiß nicht zö-gern.‹

Er nickte. Wir traten zum Tisch. Nach einigen Mi-nuten war das Attest fertig (das dann auch in der Zei-tung veröffentlicht wurde und glaubha eine Herz-lähmung schilderte). Dann stand er auf, sah michan:

›Sie reisen noch diese Woche, nicht wahr?‹

›Mein Ehrenwort.‹

Er sah mich wieder an. Ich merkte, er wollte streng,wollte sachlich erscheinen. ›Ich besorge sofort einenSarg‹, sagte er, um seine Verlegenheit zu decken. Aberwas war das in mir, das mich so … so furchtbar … sogequдlt machte - plцtzlich streckte er mir die Handhin und schьttelte sie mit einer aufspringenden Herz-lichkeit. ›Ьberstehen Sie's gut‹, sagte er - ich wuЯtenicht, was er meinte. War ich krank? War ich …wahnsinnig? Ich begleitete ihn zur Tьr, schloЯ auf-aber das war meine letzte Kra, die hinter ihm die Türschloß. Dann kam dies Ticken wieder in die Schläfen,alles schwankte und kreiste: und gerade vor ihrem



Bett fiel ich zusammen … so … so wie der Amokläu-fer am Ende seines Laufs sinnlos niederfällt mit zer-sprengten Nerven.«

Wieder hielt er inne. Irgendwie frцstelte michs: wardas erster Schauer des Morgenwinds, der jetzt leisesausend ьber das Schiff lief? Aber das gequдlte Gesicht- nun schon halb erhellt vom Widerschein der Frьhe -spannte sich wieder zusammen:

»Wie lang ich so auf der Matte gelegen hatte, weiЯ ichnicht. Da rьhrte michs an. Ich fuhr auf. Es war derBoy, der zagha mit seiner devoten Geste vor mirstand und mir unruhig in den Blick sah.

›Es will jemand herein … will sie sehen …‹

›Niemand darf herein.‹

›Ja … aber …‹

Seine Augen waren erschreckt. Er wollte etwas sagenund wagte es doch nicht. Das treue Tier litt irgendwieeine Qual.

›Wer ist es?‹

Er sah mich zitternd an wie in Furcht vor einemSchlag. Und dann sagte er - er nannte keinen Namen… woher ist in solch einem niedern Wesen mit einmalso viel Wissen, wie kommt es, daЯ in manchen Sekun-den ein unbeschreibliches Zartgefьhl derlei ganzdumpfe Menschen beseelt? … dann sagte er … ganz,ganz дngstlich …

›Er ist es.‹

Ich fuhr auf, verstand sofort und war sofort ganz Gier,ganz Ungeduld nach diesem Unbekannten. Denn se-hen Sie, wie sonderbar … inmitten all dieser Qual, in



diesem Fieber von Verlangen, von Angst und Hasthatte ich ganz an ›ihn‹ vergessen … vergessen, daß danoch ein Mann im Spiele war … der Mann, den dieseFrau geliebt, dem sie leidenschalich das gegeben,was sie mir verweigert … Vor zwölf, vor vierund-zwanzig Stunden hдtte ich diesen Mann noch gehaЯt,ihn noch zerfleischen kцnnen … Jetzt … ich kann, ichkann Ihnen nicht schildern, wie es mich jagte, ihn zusehen … ihn … zu lieben, weil sie ihn geliebt.

Mit einem Ruck war ich bei der Tьr. Ein junger, ganzjunger blonder Offizier stand dort, sehr linkisch, sehrschmal, sehr blaЯ. Wie ein Kind sah er aus, so … sorьhrend jung … und unsдglich erschьtterte michsgleich, wie er sich mьhte, Mann zu sein, Haltung zuzeigen … seine Erregung zu verbergen … Ich sahsofort, daЯ seine Hдnde zitterten, als er zur Mьtzefuhr … Am liebsten hдtte ich ihn umarmt … weil erganz so war, wie ich mirs wьnschte, daЯ der Mannsein sollte, der diese Frau besessen … kein Verfьhrer,kein Hochmьtiger … nein, ein halbes Kind, ein reines,zдrtliches Wesen, dem sie sich geschenkt.

Ganz befangen stand der junge Mensch vor mir. Meingieriger Blick, mein leidenschalicher Aufsprungmachten ihn noch mehr verwirrt. Das kleine Schnurr-bärtchen über der Lippe zuckte verräterisch … dieserjunge Offizier, dies Kind mußte sich bezwingen, umnicht herauszuschluchzen.

›Verzeihen Sie‹, sagte er dann endlich. ›Ich hätte gerneFrau … gerne noch … gesehen.‹

Unbewußt, ganz ohne es zu wollen, legte ich ihm,dem Fremden, meinen Arm um die Schulter, führte



ihn, wie man einen Kranken führt. Er sah mich er-staunt an mit einem unendlich warmen und dankba-ren Blick … irgendein Verstehen unserer Gemein-scha war schon in dieser Sekunde zwischen unsbeiden … Wir gingen zu der Toten … Sie lag da,weiß, in den weißen Linnen - ich spürte, daß meineNähe ihn noch bedrückte … so trat ich zurück, umihn allein zu lassen mit ihr. Er ging langsam näher mit… mit so zuckenden, ziehenden Schritten … an seinenSchultern sah ichs, wie es in ihm wьhlte und riЯ … erging so wie … wie einer, der gegen einen ungeheurenSturm geht … Und plцtzlich brach er vor dem Bett indie Knie … genau so, wie ich hingebrochen war.Ich sprang sofort vor, hob ihn empor und fьhrte ihn zueinem Sessel. Er schдmte sich nicht mehr, sondernschluchzte seine Qual heraus. Ich vermochte nichts zusagen - nur mit der Hand strich ich ihm unbewuЯt ьbersein blondes, kindlich weiches Haar. Er griff nach mei-ner Hand … ganz lind und doch дngstlich … und miteinemmal fьhlte ich seinen Blick an mir hдngen …

›Sagen Sie mir die Wahrheit, Doktor‹, stammelte er,›hat sie selbst Hand an sich gelegt?‹

›Nein‹, sagte ich.

›Und ist … ich meine … ist irgend … irgend jemandschuld an ihrem Tode?‹

›Nein‹, sagte ich wieder, obwohl mirs aufquoll in derKehle, ihm entgegenzuschreien: ›Ich! Ich! Ich! … Unddu! … Wir beide! Und ihr Trotz, ihr unseliger Trotz!‹Aber ich hielt mich zurьck. Ich wiederholte nocheinmal: ›Nein … niemand hat schuld daran … es warein Verhängnis!‹



›Ich kann es nicht glauben‹, stöhnte er, ›ich kann esnicht glauben. Sie war noch vorgestern auf dem Balle,sie lächelte, sie winkte mir zu. Wie ist das möglich,wie konnte das geschehen?‹

Ich erzählte eine lange Lьge. Auch ihm verriet ich ihrGeheimnis nicht. Wie zwei Brьder sprachen wir zu-sammen alle diese Tage, gleichsam ьberstrahlt vondem Gefьhl, das uns verband … und das wir einandernicht anvertrauten, aber wir spьrten einer vom an-dern, daЯ unser ganzes Leben an dieser Frau hing …Manchmal drдngte sichs mir wьrgend an die Lippen,aber dann biЯ ich die Zдhne zusammen - nie hat ererfahren, daЯ sie ein Kind von ihm trug… daЯ ich dasKind, sein Kind, hдtte tцten sollen, und daЯ sie es mitsich selbst in den Abgrund gerissen. Und doch spra-chen wir nur von ihr in diesen Tagen, wдhrend dererich mich bei ihm verbarg … denn - das hatte ichvergessen, Ihnen zu sagen - man suchte nach mir …Ihr Mann war gekommen, als der Sarg schon ge-schlossen war … er wollte den Befund nicht glaubendie Leute munkelten allerlei … und er suchte michAber ich konnte es nicht ertragen, ihn zu sehen,ihn, von dem ich wuЯte, daЯ sie unter ihm gelitten …ich verbarg mich … vier Tage ging ich nicht aus demHause, gingen wir beide nicht aus der Wohnung … ihrGeliebter hatte mir unter einem falschen Namen einenSchiffsplatz genommen, damit ich flьchten kцnne …wie ein Dieb bin ich nachts auf das Deck geschlichen,daЯ niemand mich erkennt … Alles habe ich zurьck-gelassen, was ich besitze … mein Haus mit der ganzenArbeit dieser sieben Jahre, mein Hab und Gut, alles



steht offen für jeden, der es haben will … und dieHerren von der Regierung haben mich wohl schongestrichen, weil ich ohne Urlaub meinen Posten ver-ließ … Aber ich konnte nicht leben mehr in diesemHaus, in dieser Stadt … in dieser Welt, wo alles michan sie erinnert … wie ein Dieb bin ich geflohen in derNacht … nur ihr zu entrinnen … nur zu vergessen …Aber … wie ich an Bord kam … nachts … mitter-nachts … mein Freund war mit mir … da … da …zogen sie gerade am Kran etwas herauf … rechteckig,schwarz … ihren Sarg … hцren Sie: ihren Sarg … siehat mich hierher verfolgt, wie ich sie verfolgte … undich muЯte dabeistehen, mich fremd stellen, denn er,ihr Mann, war mit … er begleitet ihn nach England …vielleicht will er dort eine Autopsie machen lassen …er hat sie an sich gerissen … jetzt gehцrt sie wiederihm … nicht uns mehr, uns … uns beiden … Aber ichbin noch da … ich gehe mit bis zur letzten Stunde …er wird, er darf es nie erfahren … ich werde ihrGeheimnis zu verteidigen wissen gegen jeden Versuch… gegen diesen Schurken, vor dem sie in den Todgegangen ist … Nichts, nichts wird er erfahren … ihrGeheimnis gehцrt mir, nur mir allein …

Verstehen Sie jetzt… verstehen Sie jetzt… warumich die Menschen nicht sehen kann … ihr Gelдchternicht hцren … wenn sie flirten und sich paaren …denn da drunten … drunten im Lagerraum zwischenTeeballen und Paranьssen steht der Sarg verstaut …Ich kann nicht hin, der Raum ist versperrt … aber ichweiЯ es mit allen meinen Sinnen, weiЯ es in jederSekunde … auch wenn sie hier Walzer spielen und



Tango … es ist ja dumm, das Meer da schwemmtüber Millionen Tote, auf jedem Fußbreit Erde, denman tritt, fault eine Leiche … aber doch, ich kann esnicht ertragen, ich kann es nicht ertragen, wenn sieMaskenbälle geben und so geil lachen … diese Tote,ich spьre sie, und ich weiЯ, was sie von mir will … ichweiЯ es, ich habe noch eine Pflicht … ich bin nochnicht zu Ende … noch ist ihr Geheimnis nicht gerettet… sie gibt mich noch nicht frei …«

Vom Mittelschiff kamen schlurfende Schritte, klat-schende Laute: Matrosen begannen das Deck zu scheu-ern. Er fuhr auf wie ertappt: sein zerspanntes Gesichtbekam einen дngstlichen Zug. Er stand auf und mur-melte: »Ich gehe schon … ich gehe schon.«

Es war eine Qual, ihn anzuschauen: seinen verwьste-ten Blick, die gedunsenen Augen, rot von Trinkenoder Trдnen. Er wich meiner Anteilnahme aus: ichspьrte aus seinem geduckten Wesen Scham, unendli-che Scham, sich verraten zu haben an mich, an dieseNacht. Unwillkьrlich sagte ich:

»Darf ich vielleicht nachmittags zu Ihnen in die Kabinekommen …«

Er sah mich an - ein hцhnischer, harter, zynischerZug zerrte an seinen Lippen, etwas Bцses stieЯ undverkrьmmte jedes Wort.

»Aha … Ihre famose Pflicht, zu helfen … aha … Mitder Maxime haben Sie mich ja glьcklich zum Schwat-zen gebracht. Aber nein, mein Herr, ich danke. Glau-ben Sie ja nicht, daß mir jetzt leichter sei, seit ich mirdie Eingeweide vor Ihnen aufgerissen habe bis zum



Kot in meinen Därmen. Mein verpfuschtes Lebenkann mir keiner mehr zusammenflicken … ich habeeben umsonst der verehrlichen holländischen Regie-rung gedient … die Pension ist futsch, ich komme alsarmer Hund nach Europa zurück … ein Hund, derhinter einem Sarg herwinselt … man läu nicht langeungestra Amok, am Ende schlägts einen doch nie-der, und ich hoffe, ich bin bald am Ende … Nein,danke, mein Herr, fьr Ihren gьtigen Besuch … ichhabe schon in der Kabine meine Gefдhrten … ein paargute alte Flaschen Whisky, die trцsten mich manch-mal, und dann meinen Freund von damals, an den ichmich leider nicht rechtzeitig gewandt habe, meinenbraven Browning … der hil schließlich besser alsalles Geschwätz … Bitte, bemühen Sie sich nicht …das einzige Menschenrecht, das einem bleibt, ist doch:zu krepieren wie man will … und dabei ungeschorenzu bleiben von fremder Hilfe.«

Er sah mich noch einmal höhnisch … ja herausfor-dernd an, aber ich spьrte: es war nur Scham, grenzen-lose Scham. Dann duckte er die Schultern, wandtesich um, ohne zu grьЯen, und ging merkwьrdigschief und schlurfend ьber das schon helle Verdeckden Kabinen zu. Ich habe ihn nicht mehr gesehen.Vergebens suchte ich ihn nachts und die nдchsteNacht an der gewohnten Stelle. Er blieb verschwun-den, und ich hдtte an einen Traum geglaubt oder aneine phantastische Erscheinung, wдre mir nicht inzwi-schen unter den Passagieren ein anderer aufgefallen,mit einem Trauerflor um den Arm, ein holländischerGroßkaufmann, der, wie man mir bestätigte, eben



seine Frau an einer Tropenkrankheit verloren hatteIch sah ihn ernst und gequält abseits von den andernauf und ab gehen, und der Gedanke, daß ich um seinegeheimste Sorge wußte, gab mir eine geheimnisvolleScheu: ich bog immer zur Seite, wenn er vorьberkam,um nicht mit einem Blick zu verraten, daЯ ich mehrvon seinem Schicksal wuЯte als er selbst.

Im Hafen von Neapel ereignete sich dann jener merk-wьrdige Unfall, dessen Deutung ich in der Erzдhlungdes Fremden zu finden glaube. Die meisten Passagierewaren abends von Bord gegangen, ich selbst in dieOper und dann noch in eines der hellen Cafйs an derVia Roma. Als wir mit einem Ruderboot zu demDampfer zurьckkehrten, fiel mir schon auf, daЯ einigeBoote mit Fackeln und Azetylenlampen das Schiffsuchend umkreisten, und oben am dunklen Bord warein geheimnisvolles Gehen und Kommen von Karabi-nieris und Gendarmerie. Ich fragte einen Matrosen,was geschehen sei. Er wich in einer Weise aus, diesofort zeigte, daЯ Aurag zum Schweigen gegebensei, und auch am nächsten Tage, als das Schiff wiederfriedfertig und ohne Spur eines Zwischenfalles nachGenua weiterfuhr, war nichts an Bord zu erfahrenErst in den italienischen Zeitungen las ich dann ro-mantisch ausgeschmückt, von jenem angeblichen Un-fall im Hafen von Neapel. In jener Nacht sollte, soschrieben sie, in unbelebter Stunde, um die Passagierenicht durch den Anblick zu beunruhigen, der Sargeiner vornehmen Dame aus den hollдndischen Kolo-nien von Bord des Schiffes auf ein Boot gebracht



werden, und man ließ ihn eben in Gegenwart desGatten die Strickleiter herab, als irgend etwas Schwe-res vom hohen Bord niederstürzte und den Sarg mitden Trägern und dem Gatten, die ihn gemeinsamniederhißten, mit sich in die Tiefe riß. Eine Zeitungbehauptete, es sei ein Irrsinniger gewesen, der sich dieTreppe hinab auf die Strickleiter gestürzt habe, eineandere beschönigte, die Leiter sei von selbst unterdem übergroßen Gewicht gerissen: jedenfalls schiendie Schiffahrtsgesellscha alles getan zu haben, umden genauen Sachverhalt zu verschleiern. Man rettetenicht ohne Mьhe die Trдger und den Gatten derVerstorbenen mit Booten aus dem Wasser, der Blei-sarg aber ging sofort in die Tiefe und konnte nichtmehr geborgen werden. DaЯ gleichzeitig in einerandern Notiz kurz erwдhnt wurde, es sei die Leicheeines etwa vierzigjдhrigen Mannes im Hafen ange-schwemmt worden, schien fьr die Цffentlichkeit inkeinem Zusammenhang mit dem romantisch repor-tierten Unfall zu stehen; mir aber war, kaum daЯ ichdie flьchtige Zeile gelesen, als starre plцtzlich hinterdem papierenen Blatt das mondweiЯe Antlitz mit denglitzernden Brillenglдsern mir noch einmal gespen-stisch entgegen.

»Ich bin fest ьberzeugt,daЯ der Kьnstler fast nie so vielgroben und faktischen Lebensstoffverkonsumiert als der Abenteurerund bloЯe GenuЯmensch,aber darin fuЯt ja sein Genie,daЯ er aus dem Tropfen das Meer,aus der Andeutung die vollendete Form,aus dem Zufall dieNotwendigkeit erscha.«

Stefan Zweig

 ---



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