Bertolt Brecht
Die Mutter und der Tod
Es war eine trübe, rauhe Dezembernacht. Der Sturm fuhr tobend über die Dächer der Stadt, fing sich an den Schornsteinen, kroch dieselben hinunter mit Getöse und wirbelte die großen, weißen Schneeflocken durcheinander, die schon seit Mittag in ununterbrochener Aufeinanderfolge vom grauen Dezemberhimmel fielen.
In der kleinen Stube des Schlossermeisters Rottenbrocker war es in jener Nacht, als draußen der Sturm heulte, ganz gemütlich. In der kleinen, niederen Wohnstube saß am viereckigen Tische der Schlossermeister selbst, ein kleiner, beweglicher Mann mit charakteristischem Eisenkopf, stahlblauen Augen und struppigem Haupthaar, über dem festen Mund einen dicken, schön gepflegten Schnurrbart. Er hatte die nackten, braunen Arme mit aufgerollten Hemdärmeln aufgestützt und las im Scheine der hellen Petroleumlampe die Zeitung. In der rechten Ecke des Zimmers stand im Halbdunkel ein Bett, in dem Frau Marie Rottenbrocker lag, seit die Stunde der Entbindung jeden Augenblick eintreten konnte. Sie war eine ernste, schon ältere Frau, hager und lang, mit finsterem, verschlossenem Gesicht und harten Augen und mit einem gramvollen, verbitterten Zug. Sie war eine stille, arbeitsame Frau, Frau Marie Rottenbrocker. Sie sprach auch nicht viel. Sie hatte für ihren Mann nie Zeit, ertrug seine Liebkosungen nur widerwillig. Kosen und Küssen waren nicht ihre Sache. Jetzt endlich sollte ihr gemeinsamer Wunsch in Erfüllung gehen, die Geburt eines Sohnes. Seit Wochen schon warteten sie darauf, Ludwig ging schon lange nicht mehr ins Wirtshaus und in politische Versammlungen, um bei der Geburt da zu sein. Alles war schon bereit. Ludwig brauchte nur zur Hebamme zu springen und, wenn nötig, dem Doktor telefonieren. Während sie nun jetzt so dasaßen, der Schlossermeister am Tisch, die Frau Schlossermeisterin im Bett, dachten sie beide über das gleiche nach. Das war das Kind. Und die Frau bekam glänzende, gute Augen. Ein Kind hatten sie schon immer gewünscht, aber während der Meister eine Tochter vorgezogen hätte, war das Ideal seiner Frau ein schöner, tüchtiger Junge, der dereinst das Geschäft des Vaters übernehmen sollte. So saßen sie, in Gedanken versunken. Die Uhr tickte, und an den Fenstern rüttelte der Sturm. Es war so gemütlich in. der Stube. Da, plötzlich, tat Frau Marie einen Schrei und fiel hinunter, zurück ins Bett. Der Schlossermeister sprang erschrocken auf, und wie er sie so bleich und still daliegen sah, griff er den Hut vom Nagel und rannte davon, in die Nacht hinaus. Die Frau im Bett aber war allein. Und wie sie so einsam im Bett lag, die grobknochigen, zerschundenen Hände auf den wehen Bauch gepreßt, träumte sie plötzlich einen sonderbaren Traum.
Sie sah ihren Mann allein im Zimmer. Auf einem hohen Stühlchen ihm gegenüber saß ein blondhaariger Junge und spielte. Der Bub sah ihrem Manne gleich. Daraus schloß sie, daß es ihr Kind sei. Sie wunderte sich aber, daß sie nicht am Tische dabeisaß. Erstaunt fing sie einen Blick des Mannes auf, der über die leere Wand schweifte und dort haften blieb. Die Frau sah, daß es ein Bild war, und wie sie genauer hinblickte, war es ihr Bild. Diese Fotografie hatte sie an ihrem Hochzeitstag ihrem Manne geschenkt. Aber jetzt wand sich um das Bild ein grüner Efeukranz. Da wußte das einsame Weib, was das zu bedeuten habe: daß sie sterben würde. Sie erwachte aus ihrem Traum. Weil sie aber zeitlebens eine verständige Frau war, wußte sie auch jetzt, was noch zu tun war. Sie betete. Betete für ihren Mann und ihr Kind, das sie im Schoße hatte. Und während sie betete, rannen ihr die Tränen aus den guten, klugen Augen und vermischten sich mit dem Angstschweiß, der von der blassen Stirn troff.
Leiser wurde ihr Gebet, blässer ihr Gesicht. Da hatte die stille, leidende Frau nur noch den Wunsch, ihren Mann noch einmal küssen zu dürfen. - Stille war's im Zimmer. Die Uhr tickte leise an der Wand, und an den Fenstern rüttelte der Sturm. Als Ludwig Rottenbrocker heimkam, fand er sein Weib tot. Auf ihrer Brust aber lag weinend der Säugling.