Bertolt Brecht

Der Freiwillige

Der breitbrüstige, starke Mann, der mitten in dem ausmar­schierenden Bataillon dahinschritt, mit großen, zügigen Schritten, fiel unter den um die Hälfte jüngeren Soldaten allgemein auf. Auf seinen mächtigen Schultern tanzte der Tornister wie ein Spielzeug. Sein offenes Gesicht zeigte kaum Spuren von Schweiß, der den anderen Soldaten in glänzenden Tropfen im gebräunten Gesicht perlte. Es konnte nicht körperliche Anstrengung, Ermattung sein, was den wehen Zug der Beklemmung auf dieses reife Gesicht zwang.

Rings zitterte die Luft von dem Hurrageschrei der am Wege Stehenden. Die Leute standen mit steil vorgebeugten Ober­körpern und schrien und winkten den in den Krieg Ziehen­den zu. Sie warfen Blumen, blühende Rosen, weiße Lilien über die Soldaten.

Ab und zu fiel auch eine Blume vor dem stillen Mann nieder. Aber er bückte sich nicht. Wohl schien es einmal einen Augen­blick lang, als wolle er eine Aster auflesen. Er richtete sich jedoch gleich wieder auf, wie wenn ihm der Gedanke gekom­men sei, die Blumen gehörten nicht ihm.

Ab und zu sah er zur Seite und sah das Abschiedwinken von den vielen, vielen Leuten. Er antwortete nicht. Sein Blick leuchtete nicht auf. Sein Gesicht war das einzige traurige unter allen Soldatengesichtern.

Wenn man diesem Mann, der so still und in sich gekehrt dahinmarschierte, hinter die breite, knochige Stirn gesehen hätte, würde man ein seltsames Bild erblickt haben, eine eigen er­grei­fende Vision: eine graue Gefängniszelle. Und in dieser Zelle sitzt ein junger Bursch, zusam­mengekauert und elend. Dieser Mensch hat viel Ähnlichkeit mit dem alten Soldaten. Die beiden gleichen sich wie Vater und Sohn. -

Nun ist der Weg nicht mehr weit bis zum Bahnhof. Am Stra­ßenrand stehen jetzt hauptsächlich die Angehörigen der Fort­ziehenden. Man sieht viele tränende Augen, viele mit zittern­der Hand geschwenkte Tücher, hört viele erstickte Schreie. Die Soldaten spähen nach rechts und links. Der stille Mann marschiert weiter, ruhig, einsam in diesem Gewühl, mit Schritten, groß und wuchtig, als ob er einen unendlich weiten Weg machen müsse.

Hinter seiner Stirn hätte man jetzt, wäre sie gläsern gewesen, das Bild einer armen Stube gefunden. Eine einfache Frau ist darinnen und schneidet Brot. Zwei Kinder zwischen zwölf und sechzehn Jahren sehen ihr zu.

Und in dem Gewühl und Gelärm der Straße überdenkt der Mann noch einmal alles; daß er seine Familie verlassen müsse, um dieses einen willen, in der dumpfen Zelle, dem sein Vater die Ehre holen muß aus der Hand des Todes vielleicht. Der Bahnhof ragt grau und düster in den goldenen Tag. Ein klein wenig schaut der Mann auf. Nur ein weniges will er sehen. - Da hängt plötzlich sein Blick wie gebannt in den Zuschauerreihen.

Dort stehen fünf Männer. Sie sind von keineswegs überna­türlicher Art. Fast ein wenig komisch schauen sie aus, die Vorstände des Liederkranzes.

Aber diese fünf Leute hatten ihn nimmer angeschaut seit zwei Jahren. Seit sein Sohn im Zuchthaus saß. Und nun -nun winken sie ihm zu wie besessen, schreien, jubeln. »Wie­derse­hen, Kettner!« klingt's herüber. Rosen werfen sie. »Gewehr bei Fuß! Stillgestanden!« gellt das Kommando. Da greift einer, ehe er den Befehl ausführt, hoch in die Luft und fängt mit verklärtem Gesicht eine fliegende Rose. -

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