Eingesperrt im Gefängnis des Schweigens
"Ich begegnete Gustav im Kindergarten. Gustav fuhr mit einem Tretauto herum und wollte hupen. Dabei klemmte er sich den Mittelfinger so unglücklich in der kaputten Plastikhupe ein, dass er ihn nicht mehr herausbekam.
Der Finger sah schlimm aus: gequetscht, geschwollen und blutig. Es muss ihn unglaublich geschmerzt haben. Er verzerrte das Gesicht, riss seinen Mund auf – es sah aus, als würde er unheimlich laut schreien. Aber es kam kein Ton aus seinem Mund."
Das war die erste Begegnung der Wiener Psychotherapeutin Gabriele Biegler-Vitek mit einem selektiv mutistischen Kind. Seither fokussiert sie sich als Psychotherapeutin auf diese Kinder, die nur mit der engsten Kernfamilie sprechen und sonst eisern schweigen.
Selektiver Mutismus ("mutus" ist das lateinische Wort für "stumm") heißt diese seltene Kommunikationsstörung. Experten schätzen, dass weniger als ein Prozent aller Kinder davon betroffen sind. Da aber in Deutschland bislang allerdings nur wenige Menschen von der Störung gehört haben, ist eine hohe Dunkelziffer wahrscheinlich.
Anders als bei echter Stummheit sind bei selektiv mutistischen Kindern die Sprechorgane und die Sprechmotorik intakt. Ihre Stummheit ist meistens rein psychologisch bedingt. Zu Hause reden selektiv mutistische Kinder oft sogar besonders viel – als müssten sie ihr Schweigen in der Außenwelt kompensieren. Weil sie immer im gleichen sozialen Kontext verstummen, bezeichnet man dieses Phänomen als "selektiv".
Besonders häufig verschlägt es selektiv mutistischen Kindern in Kindergarten und Schule die Sprache. Aber manchmal genügt es auch schon, dass die Großeltern zu Besuch kommen und das eben noch lebhaft und laut mit den Geschwistern spielende Kind erstarrt.
Die Körpersprache selektiv mutistischer Kinder ähnelt sich stark, weiß Gabriele Biegler-Vitek: "Die Kinder verstummen, ziehen die Schultern hoch und schauen zu Boden. Oft verdecken noch die Haare das Gesicht. Sie verschränken die Beine und bewegen sich nicht. Sie vermeiden selbst Geräusche wie Räuspern und mit Stimme lachen. Ich habe einmal ein siebenjähriges Mädchen behandelt – sie sah aus wie ein kleiner blonder Engel. Sie war temperamentvoll, hat Hip-Hop getanzt. Aber wenn man sie ansprach und ansah, war da nichts: Ihr Gesicht war ausdruckslos wie eine Maske."
Biegler-Vitek hat in einer aktuellen Studie die Erfahrung von mehr als zwanzig Jahren Arbeit mit selektiv mutistischen Kindern zusammengefasst und beschreibt mögliche Therapien.
Der erste entscheidende Schritt ist die richtige Diagnose – und die ist gerade beim Frühmutismus im Kindergartenalter schwierig. Denn nicht jedes Kind hat ein offenes Wesen, stürzt sich sofort mitten ins Getümmel und findet problemlos Freunde.
Oft wird daher der Mutismus im Kindergarten noch als extreme Schüchternheit verharmlost: "Das wächst sich aus", trösten Pädagogen die ratlosen Eltern. Tut es aber nicht. Leider. Es gibt klare Kriterien für selektiven Mutismus: In den immer gleichen, genau definierten Situationen spricht das Kind absolut niemals, und die Störung dauert mindestens einen Monat. Dabei kann das Kind prinzipiell völlig normal sprechen und alles verstehen.
Nach der Einschulung wird der Alltag für mutistische Kinder zunehmend problematisch. Johanna war ein selektiv mutistisches Kind: "Für meine Eltern war ich ein unglaublich peinliches Kind. Zu Hause war ich aufmüpfig und frech. Aber in der Schule versteckte ich mich unter dem Tisch, wenn es mir zu viel wurde. Ich habe in der Schule nie geredet. Außer in Mathe. Da war ich immer gut – und man musste nicht in ganzen Sätzen antworten."
Selektiv mutistische Kinder sind bei Mitschülern und Lehrern häufig zunächst sehr beliebt. Für die Gesamtdynamik der Klasse kann ein ruhiges Kind angenehm sein.
"Es ist erstaunlich, wie lange diese Kinder manchmal mit ihrem Schweigen durchkommen", sagt Biegler-Vitek. "Oft während der ganzen Grundschulzeit. Sie finden immer einen oder zwei Freunde, die sich zu ihrem Sprachrohr machen lassen.
Auch die Lehrer stellen sich schnell auf diese Kinder ein: Sie stellen ihnen oft nur geschlossene Fragen, die leicht mit Kopfnicken oder Kopfschütteln zu beantworten sind. Der Umgang mit einem mutistischen Kind braucht zwar den notwendigen Respekt vor der Angst – gleichzeitig aber auch den Mut, das Kind zu fordern.
‚Ich kann sie doch nicht zwingen zu reden – sie schaute so ängstlich', meinte einer der Lehrer, mit denen ich zusammengearbeitet habe. Wenn die Lehrer aber merken, dass nett sein auch nicht weiterhilft, sind sie nach einer Weile enttäuscht und irritiert." Das Schweigen werde dann als Trotz interpretiert, die Lehrer würden kapitulieren. Dadurch könne das Kind schulisch und somit auch beruflich in einer Sackgasse landen.
Dabei ist das Schweigen eine emotionale Lösung, keine bewusste Entscheidung. Das Kind wählt diesen Ausweg, weil es keinen besseren kennt. Steht die Diagnose selektiver Mutismus erst einmal fest, suchen die Eltern oft die Schuld bei sich selbst: "Was habe ich falsch gemacht?" Schuldgefühle sind aber komplett fehl am Platz.
Die Ursachen für selektiven Mutismus sind vielfältig, und in diesem Punkt sind sich die Experten einig: Erziehungsfehler sind nie der Grund für selektiven Mutismus. Jedoch liegt auffallend häufig eine genetische Prädisposition vor. Bei mehr als 70 Prozent der Kinder ist zumindest ein Elternteil schüchtern und gehemmt.
Oft erinnern sich Eltern an mutistisch anmutende Phasen in der eigenen Entwicklung. Immer wieder hört Gabriele Biegler-Vitek Sätze wie: "Mir ging es als Kind genauso wie meiner Tochter. Ich habe erst mit 16 Jahren im Internat gelernt, mit anderen zu sprechen."
Das Schweigen an sich ist aber nur ein geringeres Problem. Denn die Konsequenzen können weit reichen: "Diese Kinder sind ausgezeichnete Beobachter – aber sie machen selten aktiv etwas von sich aus", sagt Gabriele Biegler-Vitek. Und wer nicht mitmacht, hat auch keine Erinnerung.
Das bestätigt Johanna: "All diese Erinnerungen an eine schöne Kindheit, an viele Erlebnisse, die andere haben, die habe ich nicht. Ich habe nie zu irgendwelchen festen Gruppen dazugehört – das fand ich immer schrecklich."
Die Welt dieser Kinder ist klein. Die fehlende Kommunikationserfahrung verhindert eine altersgerechte Identitätsbildung. Denn die Fähigkeit, über sich selbst zu erzählen, dient der Ausbildung eines autobiografischen Bewusstseins für die eigene Lebensgeschichte.
Für Johanna ist die Zeit zwischen zwölf und sechzehn Jahren wie ein schwarzes Loch, sie hat kaum eine Erinnerung an einzelne Erlebnisse. Danach schaffte sie es selbstständig, aus dem Schweigen herauszufinden – und konnte so wieder mit ihrem sozialen Umfeld etwas erleben. Dies gelingt nicht jedem Betroffenen ohne professionelle Hilfe.
"Ich wusste immer, irgendwann kann ich das, ich bin völlig normal, ich brauche keine Hilfe. Außerhalb der Schule, auf einem Workcamp, traute ich mich offener zu sein. Ich wusste, nach dem Camp sieht man diese Leute nie mehr wieder. So traf ich jemanden, der meine Gedanken in die richtige Reihenfolge brachte. Der mir erklärte, wie Kommunikation funktioniert. Wir sind heute noch befreundet", sagt Johanna.
Ihre eigene Geschichte führte Johanna zu ihrer Berufswahl: Sie machte eine Ausbildung als Atem-, Sprech- und Stimmlehrerin und sie setzte sich im Rahmen dieser Ausbildung intensiv mit Selbstwahrnehmung auseinander. "Da kam dann der Moment, als ich das erste Mal mein Spiegelbild in einem Schaufenster sah und dachte: "Aha, das bin ja ich."
So vielschichtig die Ursachen sind, so individuell sind auch die Therapieansätze. Sie richten sich nach der Hauptursache des Schweigens und lassen sich, vereinfacht gesagt, in zwei Stufen einteilen: Im ersten Schritt muss die Sprache selbst wieder aufgebaut werden. Das kann damit beginnen, dass das Kind eine Feder wegblasen oder ein Wort flüstern muss. Später werden dann in Spielsituationen einzelne Buchstaben und einzelne Worte gesprochen.
Wenn das Kind zumindest im therapeutischen Umfeld spricht, muss im zweiten Schritt die Sprache wieder in den Alltag integriert werden. Entscheidend sind hier die Auseinandersetzung mit den Ängsten des Kindes und das Aufbrechen von Rollenfixierungen.
Im Laufe der Jahre richten es sich die Kinder in ihrem Umfeld oft hervorragend mit ihrer Schweigerolle ein. Sie zupfen die Eltern am Ärmel und flüstern ihnen etwas ins Ohr, wenn sie im Geschäft etwas haben möchten. Sie warten, bis die aufmerksame Erzieherin errät, dass sie auf Toilette müssen. Sie finden in jeder Gruppe rücksichtsvolle Kinder, die sie mitspielen lassen und vor den kritischen Blicken anderer Kinder schützen.
Das Aufbrechen der Rollenfixierung kann nur gelingen, wenn Eltern und Lehrer in den Therapieverlauf einbezogen werden. Eine Psychotherapie kann durch Musik-, Ergo- oder Reittherapie ergänzt werden. Gabriele Biegler-Vitek arbeitet durchschnittlich vier Jahre mit den Kindern: "Am Ende steht dann das Vergessen, wie schlimm das Nichtsprechen war. Die Kinder sind dann einfach weg. Es ist, als sei nie etwas gewesen."