Dichtungen kónnen auf manche Arten verstanden und miflverstandcn werden. In den meisten Fallen ist der Ver-fasser einer Dichtung nicht die Instanz, welcher eine Hm-scheidung dariiber zusteht, wo bei dereń Lesern das Ver standnis aufhóre und das MiCverstehen beginne. Schon mancher Autor hat Leser gefunden, denen sein Werk durchsichtiger war ais ihm selbst. Aufierdem kónnen ja auch MiCverstandnisse unter Umstanden fruchtbar sein. Immerhin scheint mir der „Steppenwolf" dasjenige meiner Biicher zu sein, das ófter und heftiger ais irgendein anderes miGverstanden wurde, und haufig waren es gerade die zu stimmenden, ja die begeisterten Leser, nicht etwa die ableh nenden, die sich iiber das Buch auf eine mich befremdende Art geaufiert haben. Zum Teil, aber nur zum Teil, kommi die Haufigkeit dieser Falle davon her, daB dieses Buch, von einem Fiinfzigjahrigen geschrieben und von den Próbie men eben dieses Alters handelnd, sehr haufig ganz jungen Lesern in die Hande fiel.
Aber auch unter den Lesern meines Alters fand ich haufig solche, denen mein Buch zwar Eindruck machte, denen aber merkwiirdigerweise nur die Halfte seiner Inhalte sicht bar wurde. Diese Leser haben, so scheint mir, im Steppenwolf sich selber wiedergefunden, haben sich mit ihm identi fiziert, seine Leiden und Traume mitgelitten und mitge-traumt, und haben dariiber ganz iibersehen, daB das Buch auch noch von anderem weiC und spricht ais von Harry Haller und seinen Schwierigkciten, dafi iiber dem Steppenwolf und seinem problematischen Leben sich eine zweite, hó-here, unvergangliche Welt erhebt und dafi der „Traktat" und alle jene Stellen des Buches, welche vom Geist, von der Kunst und von den „Unsterblichen" handeln, der Leidens-
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