49761 Obraz7 (16)

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Grenze des Ertragbarcn, das war alles. Starker wirkten die andern Erlebnisse jenes Abends nach. Den Traktat vom Steppenwolf las ich noch manchmal durch, bald mit Hin-gabe und Dankbarkeit, ais wisse ich einen unsichtbaren Magier mein Schicksal weise leiten, bald mit Hohn und Ver-achtung gegen die Niichternheit des Traktats, der mir die spezifische Stimmung und Spannung meines Lebens gar nicht zu verstehen schien. Was da von Steppenwólfen und Selbstmórdem geschrieben stand, mochte ganz gut und klug sein, es galt fur die Gattung, fiir den Typus, war geist-reiche Abstraktion; meine Person hingegen, meine eigentli-che Seele, mein eigenes, einmaliges Einzeischicksal schfen mir mit so grobem Netz doch nicht einzufangen.

Tiefer ais alles andre aber beschaftigte mich jene Halluzina-tion oder Vision an der Kirchenmauer, die verheifiungs-volle Ankundigung jener tanzenden Lichtschrift, die mit Andeutungen des Traktates ubereinstimmte. Viel war mir da versprochen worden, gewaltig hatten die Stimmen jener fremden Welt meine Neugierde angestachelt, oft sann ich lange Stunden ganz versunken daruber nach. Und immer deutlicher sprach dann die Warnung jener Inschriften zu mir: „Nicht fur jedermann!" und „Nur fiir Verriickte!“ Ver-ruckt also rnufite ich sein und weit abgeriickt von „jeder-mann“, wenn jene Stimmen mich erreichen, jene Welten zu mir sprechen sollten. Mein Gott, war ich denn nicht langst weit genug entfernt vom Leben jedermanns, vom Dasein und Denken der Normalen, war ich nicht langst reichlich abgesondert und verriickt? Und dennoch verstand ich im Innersten den Zuruf recht wohl, die Aufforderung zum Verriicktsein, zum Wegwerfen der Vernunft, der Hem-mung, der Biirgerlichkeit, zur Hingabe an die flutende ge-setzlose Weit der Seele, der Phantasie.

Eines Tages, nachdem ich wieder einmal vergeblich StraGen und Platze nach dem Mann mit der Plakatstange abgesucht hatte und mehrmals lauernd an der Mauer mit dem unsichtbaren Tor vorbeigestreift war, begegnete ich in der Marti ns-vorstadt einem Leichenzug. Indem ich die Gesichter der Leidtragenden betrachtete, die hinter dem Sargwagen hcr trottelten, war mein Gedanke: Wo in dieser Stadt, wo in dieser Weit lebt der Mensch, dessen Tod mir einen Verlust bedeuten wiirde? Und wo der Mensch, dem mein Tod et-was bedeuten kónnte? Da war zwar Erika, meine Gclicbte, nun ja; aber wir lebten seit langem in sehr loser Verbin-dung, sahen uns selten, ohne Streit zu bekommen, und zur Zeit wuBte ich nicht einmal ihren Aufenthaltsort. Sie kam zuweilen zu mir, oder ich reiste zu ihr, und da wir beide einsame und schwierige Menschen sind, irgendwo in der Secie und iń der Seelenkrankheit einander verwandt, blieb trotz allem eine Bindung zwischen uns bestehen. Aber wurde sie nicht yielleicht aufatmen und sich erleichtert fiih-len, wenn sie meinen Tod erfiihre? Ich wuBte es nicht, wufite auch nichts tiber die Zuverlassigkeit meiner eigenen Gefiihle. Man mufi im Normalen und Móglichen leben, um iiber solche Dinge etwas wissen zu kónnen.

Unterdessen hatte ich mich, einer Laune folgend, dem Trauerzug angeschlossen und trabte hinter den Leidtragen-den her zum Friedhof mit, einem modernen zementenen Patentfriedhof mit Krematorium und allen Schikanen. Un-ser Toter wurde aber nicht verbrannt, sondern sein Sarg vor einem schlichten Erdloch abgeladen, und ich sah dem Pfar-rer und den iibrigen Aasgeiern, Angestellten einer Begrab-nisanstalt, bei ihren Verrichtungen zu, welchen sie den An-schein einer Feierlichkeit und Trauer zu geben suchten, so da8 sie sich vor lauter Theater und Verlegenheit und Verlo-genheit iiberanstrengten und ins Komische gerieten, sah, wie die schwarze Berufsuniform an ihnen niederwallte und wie sie sich Miihe gaben, die Trauergesellschaft in Stim-mung zu bringen und zur Kniebeuge vor der Majestat des Todes zu zwingen. Es war vergebiiche Miihe, niemand weinte, der Tote schien allen enrbehrlich zu sein. Auch war niemand zu frommen Stimmungen zu iiberreden, und ais der Pfarrer die Gesellschaft immer wieder ais „liebe Mitchri-sten“ anredete, sahen alle die schweigsamen Geschaftsge-sichter dieser Kaufleute und Backermeister und ihrer Frauen in krampfhaftem Ernst vor sich nieder, verlegen und verlogen und von keinem andern Wunsche bewegt, ais daC diese unbehagliche Veranstaltung bald ihr Ende finden móchte. Nun, sie ging zu Ende, die beiden vordersten un-ter den Mitchristen druckten dcm Redner die Hand, rieben sich am nachsten Rasenbord den feuchten Lehm, in den sie ihren Toten gelegt hatten, von den Schuhen, die Gesichter wurden unverweih wieder gewóhnlich und menschlich,

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