Gen Taten und Gefiihlen - das ist bloG ein Schwindel, von den Schullehrem erfunden, fiir Bildungszwecke und damli die Kinder wahrend der yorgeschriebenen Jahre doch mit etwas beschaftigt sind. Immer ist es so gewesen und wirtl immer so sein, daG die Zcit und die Welt, das Geld und die Macht den Kleinen und Flachen gehórt, und den an dern, den eigentlichen Menschcn, gehórt nichts. Nichts ab der Tod.“
„Sonst gar nichts?"
„Doch, die Ewigkeit."
„Du meinst den Namen, den Ruhm bei der Nachwelt?" „Nein, Wólfchen, nicht den Ruhm - hat denn der eincn Wert? Und glaubst du denn, daG alle wirklich echten und vollen Menschen beriihmt geworden und der Nachwelt be kannt seien?"
„Nein, natiirlich nicht."
„Also, der Ruhm ist es nicht. Der Ruhm existiert nur so fiir die Bildung, er ist eine Angelegenheit der Schullehrer. Der Ruhm ist es nicht, o nein! Aber das, was ich Ewigkeit nenne. Die Frommen nennen es Reich Gottes. Ich denkr mir: wir Menschen alle, wir Anspruchsvolleren, wir mit det Sehnsucht, mit der Dimension zuviel, kónnten gar nicht Ir ben, wenn es nicht auGer der Luft dieser Welt auch noch eine andere Luft zu atmen gabe, wenn nicht auGer der Zcit auch noch die Ewigkeit bestunde, und die ist das Reich dri Echten. Dazu gehórt die Musik von Mozart und die Go dichte deiner groGen Dichter, es gehóren die Heiligen dazu, die Wunder getan, die den Martyrertod erlitten uml den Menschen ein glroGes Beispiel gegeben haben. Aber c» gehórt zur Ewigkeit ebenso das Bild jeder echten Tat, du Kraft jedes echten Gefuhls, auch wenn niemand davott weiG und es sieht und aufschreibt und fur die Nachwelt aufbewahrt. Es gibt in der Ewigkeit keine Nachwelt, nm Mitwelt."
„Du hast recht", sagte ich.
„Die Frommen", fuhr sie nachdenklich fon, „haben doili am meisten davon gewuGt. Sie haben darum die Heiligen aufgestellt und das, was sie ,die Gemeinschaft der Heiligen heiGen. Die Heiligen, das sind die echten Menschen, die jiingeren Briider des Heilands. Zu ihnen unterwegs sind wli unser Leben lang, mit jeder guten Tat, mit jedem tapferrn
(iedanken, mit jeder Liebe. Die Gemeinschaft der Heili gen, die wurde in friiheren Zeiten von den Malem darge stellt in einem goldenen Himmel, strahlend, schón tirnl friedvoll - sie ist nichts andres ais das, was ich vorher die .Ewigkeit* genannt habe. Es ist das Reich jenseits der Zeii und des Scheins. Dorthin gehóren wir, dort ist unsre Hei mat, dorthin strebt unser Herz, Steppenwolf, und darum sehnen wir uns nach dem Tod. Dort findest du deinen (ioethe wieder und deinen Novalis und den Mozart, und ich meine Heiligen, den Christoffer, den Philipp von Ncri und alle. Es gibt viele Heilige, die zuerst arge Sunder wa-ren, auch die Siinde kann ein Weg zur Heiligkeit sein, die Sunde und das Laster. Du wirst lachen, aber ich denke mir oft, daG vielleicht auch mein Freund Pablo ein verstecktet 1 leiliger sein kónnte. Ach Harry, wir miissen durch so vicl Dreck und Unsinn tappen, um nach Hause zu kommen! Und wir haben niemand, der uns fiihrt, unser einziger iiihrer ist das Heimweh."
Ihre letzten Worte hatte sie wieder ganz leise gesprochen, und jetzt war es friedlich still im Zimmer, die Sonne war am llntergehen und machte die Goldschriften auf den vielcn Iłucherriicken meiner Bibliothek schimmern. Ich nahm Her-tnines Kopf in meine Hande, kuGte sie auf die Stirn und Ichnte ihn Wange an Wange zu mir, geschwisterlich, so hlicben wir einen Augenblick. Am liebsten ware ich so ge-blieben und heute nicht mehr ausgegangen- Aber fiir diese Nacht, die letzte vor dem groGen Bali, hatte Maria sich mir versprochen.
Auf dem Wege zu ihr aber dachte ich nicht an Maria, son-lern nur an das, was Hermine gesagt hatte. Dies alles wa-ren, so schien mir, vielleicht nicht ihre eigenen Gedanken, (indem die meinigen, die die Hellsichtige gelesen und ein-gcatmet hatte und die sie mir wiedergab, so daG sie nun Ge-•talt hatten und neu vor mir standen. DaG sie den Gedan-len der Ewigkeit ausgesprochen hatte, besonders dafiir war ich ihr in jener Stundc tief dankbar. Ich brauchtc ihn, ich konnte ohne ihn nicht leben und auch nicht sterben. Das heilige Jenseits, das Zeitlose, die Welt des ewigen Wertes,
■ ler gottlichen Substanz war mir heute von meiner Freundin mid Tanzlehrerin wiedergeschenkt worden. Ich muGte an ueinen Goethetraum denken, an das Bild des alten Weisen,
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