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in der Ubersetzung Wielands kennen lernte und, wie die ande-ren Stiirmer und Dranger, fur einen extremen Realisten hielt; darni wahrend der Arbeit am »Don Carlos« die erste starkere Einwirkung der franzosischen Tragódie, endlich in der zweiten Epoche des Schaffens, der wachsende Einfluss der Griechen und Shakespeares, in dem er jetzt den Typus eines »naiven« Ge-nies erblickte.
Die Tragodien Senecas, ais die einzigen erhaltenen romischen Tragodien, beeinflussfcen, sowohl durch ihren Inhalt ais durch ihre Form, sehr stark das neuere Drama im Zeitalter der Renais-sance und des Barocks. Von ihnen stammen einige feste Typen im neueren Drama, und zwar der grausame Tyrann, der stoische, das Leben und den Tod verachtende Weise, die edle Martyrerin, der rasende TTbermensch, die damonische, von Eifersuchfc und Hass getriebene Frau, endlich die feindlichen Briider und die frevlerische Verfuhrerin, die einen unschuldigen Jungling ins Ver-derben stiirzt.
Diese Personen aus dem Drama Senecas leben in zahllosen Umgestaltungen in der italienischen, spanischen, franzosischen, engli8chen, hollandischen und deutschen Tragódie des 16.—17. J ahrhunderts. Sie beherrschen das jesuitische und protestantische Schuldrama und dringen sogar in das volkstiimliche Drama ein. Unter dem Phnflusse des romischen Tragikers stehen die grossten dramatischen Dichter jener Zeit, wie Marlowe, Shakespeare, Calderon, Corneille, Yondel, Gryphius.
Erst Racine machte dieser Herrschaft Senecas ein Ende. Im 18. Jahrhundert nimmt dessen Einfluss bedeutend ab. Der romische Dichter wirkte jedoch noch durch das Medium der Schule, da einige seiner Tragodien zum Kanon der Lektiire gehórten. Es beschaftigen sich mit ihm noch sogar hervorragende Schriftsteller, wie Cróbillon, Lessing (in seiner »Theatralischen Bibliothek«, II. Stuck, 1754) und Diderot (»Essai sur la vie de Seneque«, Paris, 1779). Schiller lernte ihn schon friihzeitig kennen, wie dies zahl-reiche Erwahnungen und Zitate in seinen Jugendschriften be-weisen. Der jungę Dichter fiihlte sich von dera Stoizismus Senecas angezogen, welcher seinen damaligen, an der Popularphilosophio geschulten Anschauungen, entsprach.
Schiller plante schon in seiner fnihen Jugend ein Drama »Die Christen«, dessen Helden unerschrockene, stoische Martyrer