ls bertolt brecht leben des galilei(volumen)

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LEKTÜRESCHLÜSSEL FÜR SCHÜLER

Bertolt Brecht

Leben des Galilei

Von Franz-Josef Payrhuber

Philipp Reclam jun. Stuttgart

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Alle Rechte vorbehalten
© 2002, 2004 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
Made in Germany 2004

RECLAM

und

UNIVERSAL-BIBLIOTHEK

sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart
ISBN 3-15-950102-7
ISBN der Buchausgabe 3-15-015320-4

www.reclam.de

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Inhalt

1.

Erstinformation zum Werk 5

2.

Inhalt 8

3.

Personen 23

4.

Aufbau und Form 30

5.

Wort- und Sacherläuterungen 34

6.

Interpretation 43

7.

Ausformung der Thematik durch
andere Autoren 57

8.

Autor und Zeit 64

9.

Checkliste 80

10.

Lektüretipps 84

Anmerkungen 88

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1. Erstinformation zum Werk

Bertolt Brecht war einer der großen Dichter des zwanzigs-
ten Jahrhunderts, der heute zu den anerkannten ›Klassikern‹
zählt. Sein literarischer Rang war jedoch nicht immer un-
umstritten, denn er war oft unbequem in seinem Bekenntnis
zum Marxismus und seinem politischen Engagement für
eine humanere Welt, die sein Werk prägen. Gerieben hat
man sich auch an seinen Widersprüchen, an den biografi-
schen nicht weniger als an den literarischen. Doch diese sind
für Brecht gerade kennzeichnend. Er selbst hat seine Arbei-
ten nie als abgeschlossen betrachtet und darum seine Ant-
worten auf die Probleme der Zeit, trotz seines optimis-
tischen Glaubens an die Veränderbarkeit der Welt, immer
wieder befragt. Er wollte, wie er in seinem Gedicht Ich
benötige keinen Grabstein
selbst sagte, »Vorschläge« ma-
chen

1

oder, wie es sein Freund Lion Feuchtwanger in einem

Nachruf ausdrückt, »anregen, […] sich mit den andern aus-
einandersetzen und ihnen denken helfen«

2

.

Brecht schuf ein umfangreiches literarisches Werk, das

aus rund fünfzig abgeschlossenen Stücken, aus zahlreichen
Erzählungen und Romanen und aus über zweitausend Ge-
dichten besteht, nicht gerechnet die unterschiedlichen Text-
fassungen zu vielen Werken, die Tagebücher und Briefe. Im
Mittelpunkt seines künstlerischen Schaffens stand aber im-
mer das Drama und, abgesehen von den Jahren des Exils, die
praktische Theaterarbeit. Nicht von ungefähr bezeichnete
er sich selbst als »Stückeschreiber«. Wenngleich seit einigen
Jahren auch die Lyrik Brechts zunehmendes Interesse fin-
det, bleiben doch nach wie vor seine Stücke im Blick der
Theater, der Literaturwissenschaft und der Schule.

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Das Drama Leben des Galilei, das unter dem Eindruck

atomarer Bedrohung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg
entstanden ist und die Problemstellungen und Verhaltens-
weisen thematisiert, die ein Wissenschaftler bei seinen For-
schungen bedenken und verantworten muss, gilt als eines
der bedeutendsten Stücke Brechts, wenn nicht überhaupt als
sein bedeutendstes. Der Stückeschreiber hat sich mit der
Galilei-Thematik seit den dreißiger Jahren immer wieder
beschäftigt, drei Bühnenfassungen hat er dazu zwischen
1938 und 1955/56 fertig gestellt. Bedingt durch die biografi-
schen und politischen Zeitumstände des Exils und des Krie-
ges, wurde das Stück bis zur Berliner Uraufführung der
dritten Fassung am 15. Januar 1957 nur selten im Theater ge-
spielt und konnte daher kaum Wirkung entfalten. Die erste
in Deutschland gezeigte Aufführung in Köln im Jahre 1955,
die sich weitgehend an das Modell einer amerikanischen
Inszenierung von 1947 hielt, war dann zwar schon ein be-
achtlicher Erfolg, aber erst die Berliner Inszenierung wurde
zu einem Theaterereignis mit großer Resonanz auch im
Ausland. Brecht selbst hat diese Aufführung im Theater am
Schiffbauerdamm, an der er mit dem Berliner Ensemble
mehrere Monate intensiv gearbeitet hatte, allerdings nicht
mehr erlebt.

Die Aufnahme des Stücks in der literarischen Öffentlich-

keit war nicht unbeeinflusst von der politischen Frontstel-
lung beider deutscher Staaten. Nach dem Aufstand der Ber-
liner Arbeiter am 17. Juni 1953, der von den sowjetischen
Truppen niedergeschlagen wurde, war in der Bundesrepu-
blik über das gesamte Werk Brechts ein Boykott verhängt
worden, von dem auch das Stück Leben des Galilei betrof-
fen war. Seine Rückkehr auf die Bühne musste sich deshalb
von der Thematik und der literarischen Qualität her recht-

6

1 . E R S T I N F O R M AT I O N Z U M W E R K

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fertigen lassen. Die zeitgenössische Kritik lobte denn auch
die dramatische Potenz des Stücks, und hob, übereinstim-
mend in beiden Teilen Deutschlands, seine Aktualität vor
dem Hintergrund des Kalten Krieges hervor.

Auch fast fünfzig Jahre später darf das Stück noch – oder
wieder – Aktualität beanspruchen. Es erhellt keineswegs
nur die historischen Zusammenhänge. Die Galilei-Pro-
blematik darf angesichts der gegenwärtigen ethischen,
wissenschaftlichen bzw. wissenschaftspolitischen und ge-
sellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Möglich-
keiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbei-
tung oder, mehr noch, der Biomedizin und der Gentech-
nik neue Aufmerksamkeit erwarten. Die Antworten, die
es gibt, mögen sich heute relativiert oder gar erledigt ha-
ben, mit seinen Fragen aber reicht sein Sinnpotential in
die Gegenwart hinein und vermag anzuregen, sich mit
den aktuellen Problemen intensiv auseinander zu setzen.

Dem Lektüreschlüssel zu Brechts Stück wird die dritte

so genannte »Berliner Fassung« zugrunde gelegt. Sie ist die
einzige, die 1955 auch gedruckt wurde, und gilt seither
als authentischer Text. Zum Verständnis soll zunächst eine
ausführliche Inhaltsangabe Hilfen bieten. Sie weist bereits
auf alle Einzelheiten hin, die sodann unter den für eine In-
terpretation zentralen Gesichtspunkten behandelt werden:
Thematik, Personencharakteristik, Werkaufbau, ästhetische
Form und Wirkungsabsicht. Wort- und Sacherklärungen
erläutern die Bedeutung von Wörtern und klären über Per-
sonen und Dinge auf, die dem heutigen Leser nicht unmit-
telbar bekannt sind. Ein Vergleich mit der Ausformung der
Thematik durch andere Dramatiker sowie biografisches
Hintergrundwissen zum Autor und seinem Gesamtwerk
geben dem Leser zusätzliche Verständnishilfen.

1 . E R S T I N F O R M AT I O N Z U M W E R K

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2. Inhalt

In fünfzehn Szenen zeigt das »Schauspiel« (Untertitel) Sta-
tionen aus dem Leben des italienischen Mathematikers und
Physikers Galileo Galilei, der im 17. Jahrhundert das neue,
kopernikanische Weltbild mit der Sonne im Mittelpunkt des
Alls durchsetzen wollte und darüber mit einer der herr-
schenden Mächte, der Kirche, in Konflikt geriet. Denn die-
se sah ihre Anschauung der Welt, die ihr als biblisch über-
liefert und philosophisch beglaubigt galt, gefährdet.

Die Handlung spielt zwischen 1609 und 1637 in Padua,

Venedig, Florenz, Rom und Arcetri, sie erstreckt sich also
über einen großen Zeitraum und mehrere Orte.

1. Szene (Padua 1609: Studierzimmer). Galilei, Lehrer der
Mathematik an der zur Republik Venedig gehörenden Uni-
versität von Padua, erklärt Andrea, dem elfjährigen Sohn
seiner Haushälterin Sarti, auf anschauliche Weise das ko-
pernikanische Weltsystem: Die Erde ist nicht, wie bisher ge-
lehrt wurde, Mittelpunkt der Welt, sie dreht sich vielmehr
um die Sonne.

Galilei ist überzeugt davon, dass das neue Weltbild selbst

von Kindern verstanden werden kann. Sei-
ne Lehrmethode basiert auf dem Gebrauch
der Vernunft und zielt auf den Zweifel am
bloßen Augenschein. Daher antwortet er auf

Frau Sartis entsetzte Frage, was in aller Welt er mit den Ex-
perimenten bezwecke, die er mit ihrem Jungen anstelle: »Ich
lehre ihn sehen« (12).

3

Er meint damit nicht die bloße Wahr-

nehmung bzw. ein »Glotzen« (11), wie er sich ausdrückt,
sondern »ein unsinnliches, abstraktes Sehen im Medium des
anschaulichen Experiments«

4

.

Galileis
Lehrmethode

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Geradezu emphatisch begrüßt Galilei das neue Zeitalter,

das mit den Entdeckungen angebrochen ist.
Er ist überzeugt davon, dass sich den Men-
schen nun, da die Wissenschaft aus den Fes-
seln des ptolemäischen Weltbildes befreit
ist, ungeahnte Möglichkeiten eröffnen. Das
alte Denken, das die Erklärung der Wirklichkeit aus den
Lehrsätzen der philosophischen und theologischen Auto-
ritäten und aus der Spekulation gewann, gehört der Vergan-
genheit an. An die Stelle des blinden Vertrauens tritt der
Zweifel, der Glaube wird durch die auf Vernunft gegründe-
te Wahrheitssuche ersetzt und die Religion verliert ihren
Sinn: »Die Himmel, hat es sich herausgestellt, sind leer. Dar-
über ist ein fröhliches Gelächter entstanden« (10).

Frau Sarti unterbricht Galileis optimistische Zukunftsvi-

sion mit dem alltagspraktischen Hinweis auf seine Schulden
und kündigt ihm in dem jungen und nicht besonders klugen
Adligen Ludovico Marsili einen potentiellen neuen Schüler
an. Galileis Geldnot zwingt ihn nämlich, reiche aber unin-
teressierte Privatschüler zu unterrichten. Von
Ludovico erfährt Galilei, dass in Holland ge-
rade das neu erfundene Fernrohr auf den
Markt gekommen ist. Die Information macht
ihn höchst neugierig, er rechnet sich eine
Chance aus, mit Hilfe dieses Instruments,
dessen Konstruktionsprinzip er nach den Angaben Ludovi-
cos auf einem Blatt flüchtig skizziert, einträgliche Geschäf-
te zu machen.

Die Verbesserung seiner finanziellen Lage ist um so drän-

gender, als der Kurator der Universität die Nachricht bringt,
dass die von Galilei beantragte Gehaltserhöhung nicht be-
willigt wurde; denn die Mathematik sei gegenüber der Phi-

2 . I N H A LT

Erwartung eines
neuen Zeitalters
der Vernunft

Galilei
erfährt von
der Erfindung
des Fernrohrs

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losophie und der Theologie eine unnütze »brotlose Kunst«
(16). Die Gedankenfreiheit, die die Republik Venedig der
Wissenschaft gewähre, habe ihren Preis. Andernorts zahle
man vielleicht mehr, da aber regiere die Kirche, und die dul-
de keinen Gegensatz zwischen Wissenschaft und kirchlicher
Lehre. Er empfiehlt Galilei, doch wieder einmal etwas Prak-
tisches wie den Proportionalzirkel, eine Art Rechenmaschi-
ne, zu erfinden, was den Rat von Venedig erfreuen könne.
Das bringe wenigstens etwas ein.

Im Grunde ist Galilei mit der Verwertung seiner For-

schungsergebnisse durch den Staat einver-
standen, er wehrt sich nur gegen überzogene
Erfolgserwartungen, weil dadurch seine For-
schungen behindert werden. Drastisch for-
muliert er sein Argument: »Ihr verbindet

dem Ochsen, der da drischt, das Maul« (20).

2. Szene (Venedig 1609: Das große Arsenal). Sich auf die Be-
schreibungen Ludovicos stützend, hat Galilei das Fernrohr
nachgebaut. Er hat es zwar nur verbessert, gibt es aber vor
dem Rat von Venedig als seine Erfindung aus. Die Begeiste-

rung ist groß, denn die Vorteile scheinen
außerordentlich. Mit Hilfe des Fernrohrs
kann man, wie der Kurator die Ratsherren
wissen lässt, »im Krieg die Schiffe des Feinds
nach Zahl und Art volle zwei Stunden früher

erkennen […] als er die unsern, so dass wir, seine Stärke wis-
send, uns zur Verfolgung, zum Kampf oder zur Flucht zu
entscheiden vermögen« (24). Galilei hat mit der Übergabe
des Fernrohrs an den Staat sein angestrebtes Ziel erreicht,
sein Gehalt wird verdoppelt.

10

2 . I N H A LT

Der wirtschaft-
liche Nutzen der
Wissenschaft

Der militärische
Wert des
Fernrohrs

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2 . I N H A LT

11

3. Szene (Padua 1610: Studierzimmer). Sehr bald kommt der
Rat von Venedig dahinter, dass Galilei gar nicht der Erfinder
des Fernrohrs ist. An allen Straßenecken werden billige Ex-
emplare aus Holland angeboten. Galilei lässt sich aber von
den Vorhaltungen des wütenden Kurators nicht beein-
drucken. Das Fernrohr ist ihm inzwischen für seine wis-
senschaftlichen Forschungen von größtem
Nutzen. Mit seiner Hilfe entdeckt er nicht
nur die materielle Gleichartigkeit von Erde
und Mond, er sieht auch die Monde, die um
den Planeten Jupiter kreisen. Diese bahnbrechende Ent-
deckung bedeutet einen entscheidenden Beweis für das von
Kopernikus theoretisch formulierte Weltsystem. Jupiter
kann nicht an einer kristallenen Schale befestigt sein, wie
bisher behauptet und gelehrt wurde, denn wie sollten sonst
Monde um ihn kreisen können.

Galileis Freund Sagredo ahnt die theologische Brisanz der

jetzt bestätigten kopernikanischen Hypo-
these und fragt irritiert: Wenn sich alle Ge-
stirne frei im Raum bewegen, wo »ist dann
Gott?« (33). Galilei antwortet zunächst aus-
weichend, dann zitiert er Giordano Bruno,
der Gott zu einer bloßen Vorstellung des Menschen ge-
macht und gesagt hatte: Gott ist »in uns oder nirgends« (33).
Das heißt, im neuen Weltbild ist kein Platz mehr für einen
transzendenten Gott, der außerhalb der menschlichen Seele
existiert.

Sagredos Warnungen, seinen Hinweis auf

das Schicksal Brunos, der auf dem Scheiter-
haufen der Inquisition endete, weist Galilei
als unbegründet zurück. Seine eigene Situati-
on sei damit nicht vergleichbar, denn anders

Entdeckung der
Jupitermonde

Theologische
Brisanz des
neuen Weltbildes

Galileis Vertrauen
auf die Über-
zeugungskraft
der Vernunft

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als Bruno könne er beweisen, was er behaupte. Er vertraut
auf die Überzeugungskraft der Vernunft, ihrer »sanfte[n]
Gewalt« (34) werde sich auf Dauer niemand verschließen
können, selbst die Theologen nicht und nicht einmal der
Papst.

Doch Galilei ist sich auch bewusst, dass das Wahrnehm-

bare noch nicht das sicher Gewusste ist. Dies ist vielmehr an
die schlussfolgernde, rechnende, abstrahierende Wissens-
logik gebunden, an die unsichtbare Beweiskraft der physi-
kalisch-mathematischen Formel.

5

Er plant daher, die unab-

hängige Republik Venedig zu verlassen und sich um einen

Ruf an den Florentiner Hof zu bewerben,
weil er dort auf bessere Bezahlung hofft und
dadurch Zeit für seine Beweisführungen ge-
winnen will. Seine Begründung lautet: »Ich
brauche Muße. Ich brauche Beweise. Und

ich will die Fleischtöpfe« (37). Körperliches Wohlbehagen
und Genuss sind ihm Bedingungen produktiven Schaffens.

Sagredo rät ihm nachdrücklich von Florenz ab, denn an

dem der römischen Kirche eng verbundenen
Hof der Mediceer wache die Inquisition
streng über die Einhaltung der kirchlichen
Lehren. Diese werde sich die Existenz des
Himmels nicht ohne Gegenwehr zerstören
lassen und der Papst werde »nicht einfach in

sein Tagebuch einschreiben: 10. Januar 1610 – Himmel ab-
geschafft« (38). Doch Galilei schlägt alle Warnungen in den
Wind.

4. Szene (Florenz: Haus des Galilei). Galileis Bewerbung
war erfolgreich. Voller Erwartung sieht er nun einer De-
monstration seiner Entdeckungen vor dem Großherzog

12

2 . I N H A LT

Hoffnung auf
mehr Zeit
für Forschungen

Sagredos vergeb-
liche Warnung
vor der Reaktion
der Kirche

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2 . I N H A LT

13

und den führenden Gelehrten des Florentiner Hofs entge-
gen. Während er noch unterwegs ist, trifft der neunjährige
Großherzog Cosmo de Medici bereits in seinem Haus ein,
wo ihm Andrea die beiden Weltsysteme an zwei Holzmo-
dellen erklärt. Cosmo zeigt sich mäßig interessiert, er sieht
in den Modellen nur Spielzeug, das er nicht
wieder hergeben will. Es kommt zu einer
handfesten Rauferei, bei der das Modell des
Ptolemäischen Systems zerbricht – eine sym-
bolische Vorausdeutung auf den Zusammen-
bruch des alten Weltbildes und auf die neue Erkenntnis, die
Galilei den Mathematikern und Philosophen darzulegen
beabsichtigt.

Trotz Aufbietung all seiner, auch mit viel Unterwürfigkeit

gepaarten Überzeugungskraft, stößt Galilei
jedoch auf totale Ablehnung. Die Hofgelehr-
ten weigern sich, überhaupt einen Blick
durch das Fernrohr auf die Jupitermonde zu
werfen, weil sie keine Sterne sehen wollen,
die es nach der herrschenden Lehre der Kir-
che gar nicht gibt. Die Heilige Schrift kann
ihrer Überzeugung nach nicht irren, ebensowenig der ›gött-
liche Aristoteles‹ (45). Gegen das bornierte Beharren auf
der unumstößlichen Autorität des Aristoteles kommt Gali-
lei auch nicht mit dem Argument an, der antike Philosoph
habe noch kein Fernrohr gehabt. Ihm wird daraufhin nur
die böse Absicht unterstellt, er wolle eine über allen Zweifel
erhabene Autorität »in den Kot« (48) ziehen.

Die Kontrahenten trennen sich ohne ein Anzeichen der

Annäherung. Der Hofmarschall teilt Galilei im Weggehen
lediglich mit, dass seine Behauptungen dem an der Päpstli-
chen Universität in Rom lehrenden Pater Christopher Cla-

Symbolischer
Kampf zweier
Weltsysteme

Unversöhnlicher
Gegensatz
zwischen alter
Lehre und neuer
Erkenntnis

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vius, dem »größten lebenden Astronomen« (50), zur Prü-
fung vorgelegt werden sollen.

5. Szene (Florenz: Die Pest). Galilei lässt sich durch die ab-
lehnende Haltung der Florentiner Hofgelehrten weder ein-
schüchtern noch erschüttern. Er setzt, obwohl in Florenz
eine Pestepedemie ausbricht, seine Forschungen unbeirrt
fort, um weitere Beweise für die neue Lehre vorlegen zu
können. Frau Sarti und Andrea harren an seiner Seite aus
und entscheiden sich gegen die rettende Flucht.

6. Szene (Rom 1616: Collegium Romanum). In einem Saal
der Päpstlichen Universität im Vatikan wartet Galilei, der
sich fast unbemerkt unter die versammelten Geistlichen
und Gelehrten gemischt hat, auf das Prüfungsergebnis des

päpstlichen Hauptastronomen. Eine Gruppe
Geistlicher spottet über die »Dummheit«
(58) jener, die an das neue Weltbild glauben,
aber die Existenz des Teufels bezweifeln. Ein
Mönch spielt die durch Beobachtung gewon-

nenen Erkenntnisse Galileis gegen ein wörtliches Verständ-
nis der biblischen Texte aus. Ein sehr alter Kardinal droht
Galilei gar wegen seiner angeblich ketzerischen Behauptun-
gen mit dem Scheiterhaufen. Angesichts dieser Anhäufung
von Ignoranz und Arroganz wirkt das Urteil von Pater
Clavius, das die Richtigkeit von Galileis Entdeckungen be-
stätigt, um so einschneidender. Die Wahrheit scheint sich
durchzusetzen.

7. Szene (Rom 1616: Haus des Kardinals). Ein Fastnachts-
ball führt die großen Familien Italiens im Hause des Kar-
dinals Bellarmin in Rom zusammen. Auch Galilei, nun

14

2 . I N H A LT

Denkweise der
konservativen
Geistlichkeit

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2 . I N H A LT

15

ein berühmter Mann, ist eingeladen, zusammen mit seiner
Tochter Virginia und ihrem Verlobten Ludovico. Die Kar-
dinäle Bellarmin und Barberini, die ihr Gesicht hinter den
Masken von Lamm und Taube verstecken, begrüßen ihn
heuchlerisch als Freund, während sie ihn in Wahrheit als
ihren Gegner betrachten. Nach einigem un-
verbindlichen Geplauder konfrontieren sie
ihn mit der Nachricht, dass die Inquisition
die kopernikanische Lehre trotz des Clavius-
Gutachtens für »töricht, absurd und ketze-
risch« (69) erklärt und auf den Index gesetzt
habe: Für Galilei das Gebot, weitergehende Forschungen zu
unterlassen und seine Forschungsergebnisse nicht zu ver-
breiten. Als mathematische Hypothese ohne Beweiskraft
dürfe seine Lehre bestehen bleiben.

Der zum Schluss der Szene hinzukommende Inquisitor

macht den wahren Charakter der Auseinan-
dersetzung ganz deutlich. Die Kirche sieht
durch die neue Lehre ein neues Zeitalter im
Zeichen des Zweifels anbrechen und dadurch
ihren universellen Machtanspruch gefährdet.
Angesichts dieser Position ist Galileis Vertrauen auf die
Macht vernünftiger Beweise nichts als pure Illusion.

8. Szene (Rom 1616: Im Palast des florentinischen Gesand-
ten). Ein kleiner Mönch aus der Untersuchungskommission
des Päpstlichen Astronoms Clavius sucht das
Gespräch mit Galilei. Der Sohn armer Bau-
ern macht sich zum Anwalt des alten Weltbil-
des, weil es dem ausgebeuteten Volk wenig-
stens die Hoffnung auf den Lohn Gottes und
auf ein besseres Jenseits lasse, während die neue Lehre es der

Vorgehensweise
der kirchlichen
Behörden gegen
Galilei

Bedrohung des
kirchlichen
Machtanspruchs

Religiöse
Begründung der
alten Ordnung

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puren Verzweiflung aussetze. Denn indem sie die Erde aus
der Mitte des Kosmos an den Rand rücke, widerlege sie die
göttliche Weltordnung und nehme damit dem Leiden der
Armen seinen Sinn.

Galilei widerspricht heftig der von dem kleinen Mönch

unausgesprochen mitgemeinten Auffassung, dass die Le-
bensform der Bauern, sprich ihre Armut, natürlich, das
heißt gottgegeben sei. Sie sei vielmehr die Folge der Macht-
politik der römischen Kurie, weil die Bauern deren Kriege
mit ihrer Arbeitsleistung bezahlen müssten. Doch die-
ser Zustand ließe sich ändern, zum Beispiel mit Hilfe der

Wasserpumpe, einer seiner neuen Erfindun-
gen, die die Feldarbeit erheblich erleich-
tere. Auf das zur Diskussion stehende Pro-
blem übertragen, heißt das: »Wir können
nicht Maschinerien für das Hochpumpen
von Flußwasser erfinden, wenn wir die größ-
te Maschinerie, die uns vor Augen liegt, die
der Himmelskörper, nicht studieren sollen«

(78). Und noch ein Zusammenhang sei offenkundig: Wie das
neue Weltbild nicht verschwiegen werden dürfe, dürften
auch die Bauern nicht im alten Zustand verharren, das aus-
gebeutete Volk müsse in »Bewegung kommen und denken
lernen« (79).

Die Argumente überzeugen den kleinen Mönch. Augen-

blicklich vertieft er sich in eine neue Schrift Galileis über die
Entstehung von Ebbe und Flut, um die frisch erwachte Lust
an der Erkenntnis zu stillen.

9. Szene (Florenz 1623: Haus des Galilei). Zum Stillhalten
gezwungen, schweigt Galilei über acht Jahre hin. Er be-
schäftigt sich mit seinen Schülern, zu denen neben dem in-

16

2 . I N H A LT

Die sozial-
revolutionäre
Wirkung der
neuen wissen-
schaftlichen
Erkenntnisse

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2 . I N H A LT

17

zwischen erwachsenen Andrea der Linsenschleifer Feder-
zoni und der kleine Mönch gehören, mit den Eigenschaften
schwimmender Körper, also alltäglichen Forschungsarbei-
ten, die ihn nicht in Konflikt mit der Kirche bringen kön-
nen. Trotzdem stößt er auch hier immer wieder auf neue Er-
kenntnisse, die in Widerspruch zur Lehre des Aristoteles
stehen.

Ludovico, der seit Jahren mit Galileis Tochter Virginia

verlobt ist, kommt auf der Durchreise zu Besuch. Mehr bei-
läufig erwähnt er, dass der Papst im Sterben liege und der
mathematisch und naturwissenschaftlich ge-
bildete und Galilei angeblich freundlich ge-
neigte Kardinal Barberini als sein möglicher
Nachfolger im Gespräch sei. Aufgrund dieser
Nachricht beginnt Galilei voller Hoffnung sofort, die un-
tersagten Forschungen wieder aufzunehmen und auf das
Feld der Sonnenflecken auszudehnen. Damit entzweit er
zugleich Ludovico und seine Tochter. Weil
Ludovico, ein Repräsentant der die Bauern
ausbeutenden Oberschicht, durch Galileis
erneute Forschungsarbeiten die bestehende
Gesellschaftsordnung gefährdet glaubt, löst er die Verlo-
bung mit Virginia.

10. Szene (Italien Fastnacht 1632: Marktplatz). Im folgen-
den Jahrzehnt finden Galileis Forschungs-
ergebnisse Eingang ins Volk und versetzen
es in die längst erhoffte »Bewegung«. Überall
– in der Szene ist es der Marktplatz einer
oberitalienischen Stadt – greifen »Pamphletisten und Balla-
densänger […] die neuen Ideen auf« (94) und verhöhnen die
kirchlichen Autoritäten auf Fastnachtsumzügen.

Hoffnung auf
den neuen Papst

Bruch Galileis
mit Ludovico

Verbreitung der
neuen Lehre

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11. Szene (Florenz 1633: Im Palast der Medici). Galileis
Hoffnungen auf die wissenschaftliche Aufgeschlossenheit
des neuen Papstes erfüllen sich nicht. Der ehemalige Kardi-
nal Barberini, der sich jetzt Urban VIII. nennt, beugt sich
dem Druck der Inquisition. Während der »weltbekannte
Forscher« (99) zusammen mit seiner Tochter auf eine Audi-
enz beim Großherzog von Florenz wartet, dem er sein neu-
es Buch mit »Dialogen über die beiden größten Weltsyste-
me« (103) überreichen möchte, sucht ihn der Eisengießer
Vanni zur Flucht zu überreden. Vanni, Repräsentant des
bürgerlichen Mittelstandes, versichert Galilei, die oberitali-

enischen Städte stünden hinter ihm, weil sie
ohne Männer wie ihn, die sich für die Frei-
heit einsetzten, nicht bestehen könnten. Ga-
lilei weist das Hilfsangebot brüsk zurück. Er
misstraut der Macht des Bürgertums und be-

streitet außerdem die Verantwortung für die sozialrevolu-

tionären Folgen seiner Lehre: Er habe ledig-
lich ein Buch über die Mechanik des Univer-
sums geschrieben. Was daraus gemacht
werde oder nicht gemacht werde, gehe ihn
nichts mehr an (103). Erst als der Großher-
zog sein Buch nicht annimmt, begreift Gali-

lei den Ernst der Lage. Für eine Flucht ist es jetzt aber zu
spät, er wird verhaftet, um nach Rom gebracht zu werden.

12. Szene (Rom 1633: Gemach des Vatikans). Hinter ver-
schlossenen Türen im Gemach des Vatikans diskutiert der
neue Papst mit dem Kardinal Inquisitor über den Fall Gali-
lei. Während der Audienz wird er in seine liturgischen Ge-
wänder gekleidet und ist am Ende »in vollem Ornat« (108).
Symbolisch wird mit diesem Vorgang auf die einbindenden

18

2 . I N H A LT

Galilei verkennt
die ihm
drohende Gefahr

Galilei bestreitet
die gesellschaft-
lichen Auswirkun-
gen seiner
Wissenschaft

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Rollenzwänge verwiesen, die ihm sein Amt auferlegt. So
hält er dem Inquisitor zunächst zwar noch wissenschaftliche
Argumente entgegen, die für Galilei sprechen, widersetzt
sich aber nicht mehr, als dieser die Gefähr-
lichkeit der neuen Lehre für den Glauben
anspricht. Die beabsichtigte Bedrohung der
Glaubenswahrheiten zeige sich schon darin,
dass Galilei seine Schriften in der Volksspra-
che und nicht mehr in der Wissenschaftsspra-
che Latein verfasse. Wenn die einfachen Leu-
te erst einmal gelernt hätten, sich ihrer Ver-
nunft zu bedienen, würden sie auch vor der kritischen
Befragung der Glaubensaussagen nicht zurückschrecken.

Der Papst überantwortet Galilei schließ-

lich der Inquisition mit der Anweisung, »daß
man ihm«, sollte er den geforderten Widerruf
seiner Lehre verweigern, im äußersten Fall
»die Folterinstrumente zeigt«, d. h. mit der
Folter droht.

13. Szene (Rom 1633: Im Palast des florentinischen Ge-
sandten). Galileis Schüler, die auf den Ausgang des Inquisi-
tionsprozesses warten, sind überzeugt, dass
er nicht widerrufen wird. Doch er unterwirft
sich der Macht und schwört »am 22. Juni
1633« (109) seiner Lehre ab. Maßlos enttäuscht ruft Andrea
aus: »Unglücklich das Land, das keine Helden hat!« (113).
Er beschimpft Galilei und bezichtigt ihn, er habe nur seine
Haut retten und sein angenehmes Leben sichern wollen.
Dieser, vom Prozess sichtlich gezeichnet, vermag zunächst
gar nichts zu erwidern, hält dann aber Andrea entgegen:
»Nein. Unglücklich das Land, das Helden nötig hat« (114).

2 . I N H A LT

19

Befürchtete
Folgen der
neuen Lehre
für den Glauben
der einfachen
Leute

Galileis Widerruf

Galileis
Aushändigung
an die Inquisition

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14. Szene (Arcetri, nach 1633: Landhaus). Galilei lebt als

Gefangener der Inquisition mit Virginia in
der Nähe von Florenz. Virginia, verbittert
durch Ludovicos Aufkündigung der Verlo-
bung, wacht darüber, dass ihr Vater keine

verbotenen Forschungen veröffentlicht. Alles, was er ihr
diktiert, übergibt sie der Kirche, die es beschlagnahmt, auch
die Discorsi, eine dialogisierte Abhandlung über die Mecha-
nik und die Fallgesetze.

Jahre später besucht Andrea, der auf dem Weg nach

Holland ist, den halberblindeten Galilei. Die Unterredung
der beiden verläuft zunächst zäh, zumal Virginia anwesend
ist. Andrea ist sehr distanziert, er berichtet mit sichtlich ge-
gen Galilei gerichteter Vorwurfshaltung von den durch sei-
nen Widerruf entstandenen Schwierigkeiten der Wissen-

schaftler. Erst nachdem Virginia sich entfernt
hat, wird das Gespräch offener. Galilei über-
gibt Andrea schließlich die heimlich gefertig-
te Abschrift seines Buchs, der Discorsi. Nun-
mehr bejaht Andrea Galileis Widerruf, weil

er glaubt, er habe ihn aus List vollzogen, um sich die Mög-
lichkeit zu verschaffen, seine wissenschaftlichen Forschun-
gen fortzusetzen. Galilei belehrt ihn jedoch, dass er aus
Angst vor der Tortur der Folter widerrufen habe.

Andrea sucht das Eingeständnis mit dem Argument

herunterzuspielen, letztlich zähle nicht das Motiv des Wis-

senschaftlers, sondern das Ergebnis seiner
Forschungen. Er fordert damit jedoch den
entschiedenen Widerspruch Galileis heraus
und veranlasst ihn, seine Auffassung von
der Ethik des Wissenschaftlers darzulegen.

Durch ihre Methode des kritischen Zweifels an überkom-

20

2 . I N H A LT

Leben in
Gefangenschaft

Unterschiedliche
Begründungen
des Widerrufs

Sozialethischer
Zweck der
Wissenschaft

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menen Lehrmeinungen sei die Wissenschaft auch ein Instru-
ment der Kritik an den überlieferten Strukturen einer aus-
beuterischen Klassengesellschaft. Das einzige Ziel der Wis-
senschaft habe darin zu bestehen, »die Mühseligkeit der
menschlichen Existenz zu erleichtern« (125), anders gesagt,
das Wissen in den Dienst einer Veränderung der sozialen
Herrschaftsverhältnisse zu stellen. Eindringlich warnt Ga-
lilei davor, zweckfreie Wissenschaft zu betreiben oder das
Wissen gar »selbstsüchtige[n] Machthaber[n]« (125) zu
übereignen. Dann könnte eines Tages die Kluft zwischen
der breiten Masse des Volkes und den Wissenschaftlern so
groß werden, dass ihr »Jubelschrei über irgendeine neue Er-
rungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei be-
antwortet« werde (126).

Galilei schließt mit dem Bekenntnis, er habe, an diesem

Maßstab gemessen, versagt und als einfluss-
reicher Wissenschaftler »eine einzigartige
Möglichkeit« des folgenreichen Widerstands
und der Solidarisierung der Wissenschaftler
vertan. Hätte er »widerstanden, hätten die
Naturwissenschaftler etwas wie den hippo-
kratischen Eid der Ärzte entwickeln können, das Gelöbnis,
ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden«
(126). Er aber habe sein »Wissen den Machthabern« überge-
ben und seinen »Beruf verraten« (126). Sein Fazit lautet:
»Ein Mensch, der das tut, was ich getan habe, kann in den
Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden« (126).

15. Szene (1637: Grenzstadt). Das Stück endet damit, dass
Andrea die Discorsi über die Grenze bringt. Mittels der List,
das Manuskript ganz offen in der Hand zu behalten, entgeht
er erfolgreich den Kontrollen der Grenzwächter.

2 . I N H A LT

21

Galilei bezichtigt
sich des Verrats
an der
Wissenschaft

background image

Die letzte Szene schlägt den Bogen zur ersten, in der

Galilei voller Optimismus eine neue Zeit
gekommen sah. Andrea, der Repräsentant ei-
ner neuen Wissenschaftlergeneration, knüpft
hier an, wenngleich sein Optimismus verhal-
tener erscheint. Sein Satz »Wir stehen wirk-
lich erst am Beginn« (131) ist aber zugleich

der Schlusssatz des Dramas.

Bemerkenswert ist freilich, dass Brecht darauf verzichtet

hat, seine Berliner Inszenierung des Stücks mit dieser opti-
mistischen Zukunftsperspektive statt mit der Selbstverurtei-
lung Galileis enden zu lassen. Die Szene steht ›nur‹ in der
Buchausgabe.

22

2 . I N H A LT

›Bedingt‹
optimistische
Zukunfts-
perspektive

background image

3. Personen

Das Personenverzeichnis weist drei unterschiedliche
Kategorien
auf: In der ersten sind die Fi-
guren durch einen Namen identifizierbar
– neben Galilei selbst beispielsweise seine
Tochter Virginia und ihr zeitweiliger Ver-
lobter Ludovico, Andrea Sarti und dessen Mutter oder
Galileis Freund Sagredo –, in der zweiten sind sie nur in
ihrer Funktion benannt – der Doge etwa oder der Kar-
dinal Inquisitor
, der Theologe, der Philosoph oder der
Mathematiker
–, und in der dritten finden sich solche,
die bestimmte gesellschaftliche Gruppen repräsentie-
ren – zum Beispiel Ratsherren, Mönche oder Gelehrte.

Das klassische Drama legte großen Wert darauf, das Han-

deln und Verhalten der Figuren aus ihrem Charakter heraus
sichtbar zu machen und zu erklären. Da-
durch konnte ein Konflikt individualisiert
und die Identifikation des Zuschauers mit
den agierenden ›Helden‹ bewirkt werden.
Brecht, der in seinem episch-dialektischen
Theater die Empathie des Zuschauers durch
Distanz ersetzen wollte, hat zwar gerade in
Leben des Galilei nicht darauf verzichtet, sei-
ne Hauptfigur als Persönlichkeit zu gestalten,
bei den anderen Figuren war es ihm aber meist wichtiger, sie
als Vertreter einer bestimmten Position erkennbar zu ma-
chen, als ihren individuellen Charakter herauszuarbeiten.

Lässt man Galileis Familie unberücksichtigt, zu der ne-
ben Virginia auch Frau Sarti gezählt werden darf, sind
zwei gegensätzliche Figurengruppen auszumachen: Auf

Figuren-
kategorien

Figuren als
Repräsentanten
weltanschau-
licher, gesell-
schaftlicher
und politischer
Positionen

background image

der einen Seite stehen die Repräsentanten der alten Zeit,
die Vertreter der Kirche, die Gelehrten am Florentiner
Hof und der adlige Großgrundbesitzer Ludovico. Auf
der anderen Seite gruppieren sich die Repräsentanten der
neuen Zeit, Andrea Sarti, der Linsenschleifer Federzoni,
der Eisengießer Vanni und, nach einigen inneren Kämp-
fen, der kleine Mönch Fulganzio.

Bei solch polarisierender Zuordnung der Figuren ist je-

doch zu beachten, dass diese Konstellation sich nur vom
Gesamtbild her erschließt, während sich bei genauerer Be-
trachtung vielfache Differenzierungen und auch dialekti-
sche Umbrüche ergeben.

Am eindeutigsten repräsentieren die Florentiner Gelehr-

ten, die Mitglieder des Inquisitionsgerichts
und Ludovico die alte Zeit. Bei einigen Ver-
tretern der Kirche ist die eindeutige Zu-
ordnung hingegen schwieriger. Zur Kirche

gehören nicht nur die Inquisition, sondern gleichermaßen
der Päpstliche Hauptastronom Christopher Clavius, der
Galileis Lehre bestätigt, und Kardinal Barberini, der auf-
grund seiner naturwissenschaftlichen Bildung für Galilei
eintritt. Zum Papst geworden, überlässt er Galilei erst der
Inquisition, als sein Amt ihn zur Verteidigung des Glaubens
zwingt, der durch die Verbreitung der neuen Lehre unter
dem Volk höchst gefährdet erscheint.

Eine besondere Rolle in Brechts Dramen-
konzeption kommt dem kleinen Mönch zu.
Bei ihm verlegt Brecht den Zwiespalt zwi-
schen den Positionen der alten und der neu-
en Zeit in die Figur selbst. »Ich wußte nicht,
wie ich das Dekret, das ich gelesen habe, und
die Trabanten des Jupiter, die ich gesehen ha-

24

3 . P E R S O N E N

Repräsentanten
der alten Zeit

Der kleine
Mönch:
Widerstreit
zwischen altem
Weltbild und
neuer Erkenntnis

background image

3 . P E R S O N E N

25

be, in Einklang bringen sollte« (74), bekennt er eingangs sei-
nes Gesprächs mit Galilei. Als Priester und Mann der Kir-
che deutet er den Erlass des Heiligen Offiziums als Aus-
druck höherer Weisheit, die den armen Menschen immerhin
die Gewissheit gibt, »daß in ihrem Unglück eine gewisse
Ordnung verborgen liegt« (75). Galilei entlarvt die angeb-
lich sinnstiftende Ordnung als Ausbeutungsinstrument der
herrschenden Klasse und setzt dem Willen, an ihr festzuhal-
ten, die Forderung nach revolutionärer Veränderung entge-
gen. Weil er den kleinen Mönch davon überzeugen kann,
dass seine Wissenschaft Antriebskraft und Stütze dieser not-
wendigen Umwälzungen ist, gewinnt er in ihm einen neuen
Schüler und Anhänger der neuen Lehre. »Er symbolisiert
die Hoffnung, dass die unteren sozialen Schichten sich dem
Neuen öffnen, durch wissenschaftliche Betrachtungsweise
die Ursachen ihres Elends erkennen und durch aktive wis-
senschaftliche Arbeit sich daraus befreien.«

6

Angesichts des durchlaufenen Entwicklungsprozesses

trifft es den kleinen Mönch umso härter, dass Galilei seine
Lehre unter dem Druck der Inquisition widerruft. Seine
Rückkehr in den Schoß der Kirche erscheint daraufhin fol-
gerichtig.

Mindestens ebenso hart wie der kleine Mönch sieht An-

drea Sarti sich vom Widerruf Galileis betroffen. Brecht hat
ihm die Rolle des wissbegierigen Schülers zu-
gewiesen, und als dieser hat er von Anfang an
den Forschungen und Entdeckungen seines
Lehrers Anteil nehmen dürfen. Die enge Be-
ziehung, die daraus erwachsen ist, reicht bis
in den persönlichen Bereich hinein; keine an-
dere Figur steht Galilei so nahe wie Andrea.
Er wird Physiker, wie er es sich bereits als kleiner Junge

Schüler
Galileis und
Repräsentant
der neuen
Wissenschaft

background image

wünschte, bleibt während der Pest an Galileis Seite und
traut sich bald sogar eigene Forschungsaktivitäten zu. Der
Widerruf seines bewunderten und verehrten Lehrers führt
dann aber zu einem Bruch, der bis zum Besuch bei dem in

Arcetri Arretierten anhält. Erst als Andrea von Galilei er-
fährt, dass er heimlich eine Abschrift von den Discorsi an-
gefertigt habe, deren Original er der Kirche hatte über-
lassen müssen, wandelt sich seine Haltung wieder von
Ablehnung zu Anerkennung. Dass er damit den Wider-
spruch Galileis auslöst und ihn zur Selbstanalyse und
anschließender Darlegung seiner Ethik veranlasst, ihn al-
so gewissermaßen das Fazit seines Lebens ziehen lässt,
verweist auf seine besondere Stellung in der Dramaturgie
des Stücks. Unterstrichen wird diese noch in zweierlei
Hinsicht: Indem er in den Dialog die Argumentation ein-
bringt, die Wissenschaft sei voraussetzungslos und wert-
frei, sie kenne »nur ein Gebot: den wissenschaftlichen
Beitrag« (124), wird er zum Sprachrohr einer Position,
die Brecht aus den historischen Geschehnissen heraus
den Wissenschaftlern seiner Gegenwart zum Vorwurf
macht. Indem ihm andererseits die Aufgabe zufällt, die
Discorsi über die Grenze zu schaffen, was ihm mit einer
klugen List gelingt, wird er zum Hoffnungsträger einer
neuen Zeit, in der das Werk Galileis endlich zur Wirkung
kommen kann.

Die Rolle Andreas im Stück zeigt am deutlichsten, wie

Brecht alle handlungstragenden Figuren in
ihrer Beziehung auf Galilei hin anordnet. Er
ist, worauf ja bereits der Titel hinweist, die

zentrale Figur, um die sich alles dreht. Diese Bühnenfigur zu
erfassen, ist jedoch nicht einfach, weil Brecht sie reichlich
widersprüchlich gestaltet hat.

26

3 . P E R S O N E N

Hauptfigur

background image

In Dingen der Wissenschaft ist Galilei vernünftig und

vorsichtig-prüfend, ist der methodische Zweifel Grundlage
seines Denkens, in der Einschätzung des Verhaltens der
Mächtigen aber ist er naiv und unvernünftig. Sagredo analy-
siert kühl: »So mißtrauisch in deiner Wissenschaft, bist du
leichtgläubig wie ein Kind in allem, was dir
ihr Betreiben zu erleichtern scheint« (39).
Galilei verachtet die ›Filze‹ der Republik Ve-
nedig, übergibt ihnen aber »mit tiefer Freu-
de und aller schuldigen Demut« (23) das angeblich von ihm
entwickelte Fernrohr, und mit der gleichen »unterwür-
fig[en] […] Demut« (48) dient er sich auch dem Herzog von
Florenz an. Er äußert Einsichten über den wahren, macht-
politischen Charakter des kirchlichen Dekrets, schweigt
aber acht Jahre lang. Er weiß um die revolutionäre Spreng-
kraft seiner Forschungen und fördert diese, indem er in der
Volkssprache schreibt, leugnet aber im Angesicht drohender
Gefahr eine solche Bedeutung seines Werks. Er zeigt Mut
und Unerschrockenheit gegenüber der Pest, um sein wis-
senschaftliches Forschen nach Beweisen für seine Ent-
deckungen nicht unterbrechen zu müssen, versagt aber vor
der Inquisition und gibt mit seinem Widerruf die Wahrheit
seiner Lehren dem Angriff seiner Feinde preis.

Weil er sich der Macht unterworfen hat, um für seine Ar-

beit die erforderlichen Mittel und Ruhe zu haben und
außerdem ein einigermaßen angenehmes Leben liebte, und
weil er seine Lehren widerrufen hat, um Fol-
ter und Tod zu entgehen, steht Galilei am
Ende des Stücks als Negativ-Held da. Dies
um so mehr, als er am Anfang durchaus als
positive Gestalt erscheint. Er vertritt da »mit
der Haltung des Zweifelns, des Experimen-

3 . P E R S O N E N

27

Widersprüch-
lichkeit Galileis

Zweifel
als wissenschaft-
liches
Forschungsprinzip

background image

tierens, der kritischen Infragestellung aller überkommenen
Wahrheiten, des Glaubens an die menschliche Vernunft und
des lustvollen Lehrens den Optimismus einer neuen Zeit,
die im Zeichen der Naturbeherrschung zu einem Zeitalter
werden könnte, ›in dem zu leben eine Lust ist‹ (12)«

7

. Doch

dieser Fortschrittsoptimismus hält nicht vor, er wird Schritt
für Schritt zu der Erkenntnis aufgebraucht, »daß die Wahr-
heit nicht autonom und die Wissenschaft in ihrer Entfaltung
durch die Interessen der Mächtigen eingeschränkt ist«

8

. An

deren Widerstand aber erkennt Galilei den sozialen Zusam-
menhang seiner Einsichten. Der wissenschaftliche Zwei-

fel, Motor seiner Forschungsaktivitäten, be-
mächtigt sich zunehmend auch seiner Hoff-
nungen und Gewissheiten, bis er schließlich
den naiven Glauben an die selbsttätige Wirk-
kraft der Vernunft aufgibt: »Es setzt sich nur
so viel Wahrheit durch als wir durchsetzen;

der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen
sein« (78).

Indem Brecht derart »die Erwartungen und Lebensper-
spektiven Galileis von Mal zu Mal heftiger in ihr Ge-
genteil umschlagen« lässt, »rückt er den Betrachter in
›epische Distanz‹ zu seiner Hauptfigur« und fordert seine
»reflexive Aufmerksamkeit« heraus.

9

Solche in der Figurenperspektive angelegte Distanz wi-
derspricht der von mehreren Interpreten vorgebrachten
These, dass dieses Stück im Stile der konventionellen
›aristotelischen‹ Einfühlungsdramatik geschrieben sei.

10

Zweifellos kann die Hauptfigur beim Betrachter mit-
fühlende Empfindungen auslösen, das hat Brecht auch
nicht verhindern wollen. Er zeichnete in dem Wissen-
schaftler und Lehrer Galilei eine große Einzelfigur, die

28

3 . P E R S O N E N

Zweifel
an der Durchset-
zungskraft
der Wahrheit

background image

bahnbrechende Entdeckungen macht, soziale Bewegun-
gen in Gang setzt, in der Konfrontation mit der Kirche
aber vor der Inquisition ihr Wissen verrät. Dieser Ent-
wicklungsprozess bleibt nicht ohne Wir-
kung auf den Zuschauer. Anders jedoch als
im klassischen Drama ist er nicht als aus-
weglos tragischer Konflikt gestaltet, son-
dern als bewusste Entscheidung, die auch
hätte anders ausfallen können. Das Stück
Leben des Galilei ist daher, wie Brecht
selbst in seinen Anmerkungen feststellte, auch »keine
Tragödie«

11

, die den Zuschauer ganz in ihren Bann zieht.

Gerade die Widersprüchlichkeit der Hauptfigur hält ihn
vielmehr auf Distanz und gibt ihm ständig Gelegenheit,
sich mit seinen eigenen Gedanken gleichsam einzumi-
schen. Genau diese aktive Rezeption ist von Brecht beab-
sichtigt.

3 . P E R S O N E N

29

Distanz
zur Hauptfigur
als erstrebtes
Zuschauer-
verhalten

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4. Aufbau und Form

Die fünfzehn Szenen des Stücks, die in arabischen Zahlen
durchnummeriert sind, scheinen auf den ersten Blick in
lockerer Folge aneinander gereiht zu sein. Genauer besehen,
sind sie jedoch äußerst kunstvoll miteinander verzahnt, und
jede Szene steht in einem mehrfachen Spannungsverhält-

nis zu den vorangehenden und nachfolgen-
den wie auch zum Ganzen des Stücks. Was
sich zunächst als einfache, chronikartige
Abfolge von Lebensstationen Galileo Gali-

leis ausnimmt, erweist sich als wohl überlegt komponierter
Aufbau.

12

Die ersten drei Szenen dienen der Entfaltung von Gali-

leis Persönlichkeit und schildern die Entste-
hungsbedingungen der neuen wissenschaftli-
chen Erkenntnis. Die Szenen vier und fünf
zeigen die Demonstration des neuen Wissens

und vertiefende Forschungen, die Galilei selbst angesichts
der lebensbedrohenden Pestepidemie nicht unterbricht, die
Szenen sechs und sieben bringen die höchste Anerkennung
durch das Collegium Romanum und das Verbot durch die
Inquisition. Der achten Szene mit dem Gespräch zwischen
Galilei und dem kleinen Mönch kommt eine eigene Stellung
zu. Sie steht zeitlich am Ende des ersten Handlungsverlaufs,
nachdem Galileis Lehre auf den Index kam, und vor dem
neuen Anfang mit der Wiederaufnahme der Forschung. In-
haltlich rückt sie mit der Frage nach dem Zusammenhang
von Wissenschaft und Gesellschaft das Thema in den Vor-
dergrund, das im weiteren Verlauf im Mittelpunkt stehen
wird. Die Szenen neun bis dreizehn zeigen die Verschär-

Keine Lebens-
chronik Galileis

Strukturierung
der Handlung

background image

4 . A U F B A U U N D F O R M

31

fung der Entwicklung bis zur Auslieferung Galileis an die
Inquisition und zu seinem Widerruf. Die beiden letzten
Szenen
handeln von dessen Folgen, der Gefangenschaft in
Arceti, der Selbstanalyse und -verurteilung Galileis und
schließlich vom Beginn der grenzüberschreitenden Weiter-
verbreitung der neuen Lehre.

Inhaltlich ist die Szenenfolge nach dem Prinzip von Par-

allele und Kontrast strukturiert. Wird das
Fernrohr in der zweiten Szene von den Ve-
neziern als Quelle künftiger militärischer
und wirtschaftlicher Überlegenheit begeistert
aufgenommen, lehnen es die Florentiner in
der vierten Szene als Instrument wissen-
schaftlicher Forschung radikal ab. Während Galilei in der
zehnten Szene von Balladensängern als Sozialrevolutionär
gefeiert wird, liefern ihn seine adligen Geldgeber nicht zu-
letzt aus diesem Grund an die Inquisition aus. Vertraut er in
der dritten Szene bei seinem Wechsel nach Florenz auf die
»sanfte Gewalt der Vernunft«, veranlasst der sich im Volk
ausbreitende Vernunftglaube den Papst, ihn zum Widerruf
zu zwingen. Unübersehbar sind die Parallelen zwischen der
ersten und der letzten Szene. Begrüßte Galilei zu Anfang
den Morgen einer neuen Zeit, ist es am Schluss Andrea, der
den Beginn einer neuen Zeit gekommen sieht.

In dem kunstvoll gestalteten Aufbau haben manche Inter-

preten Ähnlichkeiten mit der Struktur des konventionellen
Dramas erkennen wollen; es fehlte auch nicht der Versuch,
die Szenenfolge in das fünfaktige Schema der
klassischen Dramaturgie pressen zu wollen.

13

Gegen solche Analysen sprechen jedoch ei-
ne Reihe von Formmerkmalen, die sich un-
schwer Brechts Konzept des episch-dialekti-

Parallele und
Kontrast
als inhaltliches
Bauprinzip

Gestaltungsmittel
des episch-dialek-
tischen Theaters

background image

schen Theaters zuordnen lassen. Aus dem Repertoire der
stückimmanenten Episierungstechniken fehlen zwar Ele-
mente wie eine Erzählerfigur, Chöre und Songs; die soge-
nannten V(erfremdungs)-Effekte wie Szenentitel, Projek-
tionen und kommentierende Epigramme sind jedoch vor-
handen.

Die Texte, die jede Szene einleiten, sind keine Regiean-

weisungen, sie sollen vielmehr in die Aufführung des Stücks

einbezogen werden. Die Szenentitel, die im
Theater auf den Bühnenvorhang projiziert
werden können, informieren knapp über den
Inhalt der jeweils folgenden Handlung und
haben darüber hinaus die wichtige Funktion,

den »Fluß« der dargestellten »Geschehnisse« zu unterbre-
chen und die »Fabel« in Teile zu zerlegen.

14

Dies soll dem

Fortgang der Handlung seine Spannung nehmen, die Ein-
fühlung des Zuschauers verhindern und die Aufmerksam-
keit des Betrachters vom ›Was‹ auf das ›Wie‹ der Darstellung
lenken.

Die epigrammartigen Verse am Anfang der Szenen sollen

nach der Vorstellung von Brecht von einem Kinderchor ge-
sungen werden. Sie ähneln auch in ihrer Diktion zuweilen
einfachen Kinderliedern. Meist kommentieren sie das kom-
mende Geschehen und weisen auf ganz bestimmte Aspekte
voraus.

Alle diese szenischen Mittel »reflektieren auf je eigene

Weise das Prinzip der Verfremdung«

15

. Die-

ses hat in Brechts Konzeption des episch-
dialektischen Theaters die Funktion, einem

»Vorgang« oder einem »Charakter das Selbstverständliche,
Bekannte, Einleuchtende« zu nehmen und »über ihn Stau-
nen und Neugierde« zu erzeugen.

32

4 . A U F B A U U N D F O R M

Funktion von
Szenentiteln und
Epigrammen

Verfremdung

background image

Brecht hat die großen Stücke episch-dialektischen Thea-
ters als Parabeln gestaltet, weil er mit Hilfe der Gleichnis-
form »Weltbilder« entwerfen konnte, das heißt »Modelle
des Zusammenlebens der Menschen, die es dem Zuschau-
er ermöglichen […], seine soziale Umwelt zu verstehen
und sie verstandesmäßig und gefühlsmäßig zu beherr-
schen«

16

. Gleichnisse erhoffen vom Zu-

hörer bzw. Zuschauer immer, dass er aus
ihnen Konsequenzen ziehe und etwas für
sein eigenes Leben lerne. Der Parabel-
erzähler setzt sie ein, um die Zuhörer
von seiner Sicht der Dinge zu überzeugen und für sei-
ne Handlungsvorschläge zu gewinnen. Nichts anderes
macht Brecht mit den Parabeln des episch-dialektischen
Theaters. Unter Einsatz der Mittel der Verfremdung, mit
deren Hilfe er die theatralische Illusion zerstört, die das
klassische Drama sich zum Ziel gesetzt hatte, provoziert
er die kritische Reflexion des Zuschauers und fordert ihn
zu Konsequenzen für sein eigenes gesellschaftliches Han-
deln auf.
Diese dramaturgische Praxis und die ihr innewohnende
Intention gilt unverändert auch für das
Stück Leben des Galilei, obwohl Brecht es

selbst im Untertitel als »Schauspiel« ausgibt.
Die Kennzeichnung »Parabel« verbietet sich
nur, weil er den Stoff bereits in der Geschich-
te vorfand und folglich nicht mehr völlig frei erdichten und
gestalten konnte.

4 . A U F B A U U N D F O R M

33

Beabsichtigtes
Zuschauer-
verhalten

Ähnlichkeiten
mit dramatischen
Parabeln

background image

5. Wort- und Sacherläuterungen

7,3 das neue kopernikanische Weltsystem: Bezeichnung

für das heliozentrische Weltbild (Sonne als Mittelpunkt
des Planetensystems). Sein Begründer ist Nikolaus Ko-
pernikus (11,3).

7,28 Ptolemäischen Systems: Bezeichnung für das geozen-

trische Weltbild (Erde als Mittelpunkt des Planetensy-
stems). Sein Begründer ist der ägyptische Astronom
Claudius Ptolemäus (ca. 100–180). Da es auch mit den
Aussagen der Bibel in Übereinstimmung gebracht wer-
den konnte, galt es noch zu Galileis Zeit als unumstößli-
che Lehre.

8,1 Astrolab: von den Arabern erfundenes Gerät zur Be-

rechnung von Gestirnpositionen; hier: Sphärenmodell
des Universums.

8,10 kristallnen Sphären: Sphäre: (griech.) Kugel, Kugel-

schale. Nach der Lehre des Aristoteles (19,11) sind die
Gestirne fest mit kristallenen Schalen verbunden, auf de-
nen sie sich in Kreisbahnen um die Erde drehen.

8,30 kristallenen Kugel: Wiederum nach der Lehre des

Aristoteles dachten sich die Menschen das Weltall als
große undurchdringliche Kugel aus ineinanderliegenden
Kristallschalen, in deren Mittelpunkt die Erde ruht.

9,22 Disput: Streitgespräch.
9,34 Prälaten: höhere Geistliche der römisch-katholischen

Kirche.

10,4 Spinnrocken: Teil eines Spinnrades.
11,3 Kippernikus: eigentlich Kopernikus. Das Wortspiel

mit dem Namen soll deutlich machen, dass er die alten
Vorstellungen »kippt«, d. h. stürzt. Der Domherr Niko-

background image

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

35

laus Kopernikus (1473–1543) zu Frauenburg (Ermland)
hatte in Bologna, Padua und Ferrara juristische und na-
turwissenschaftliche Studien betrieben und dann ein
heliozentrisches Weltmodell mit der Sonne als Mittel-
punkt entworfen. Sein Hauptwerk De revolutionibus or-
bium coelestium
(Über die Kreisbewegungen der Welt-
körper) wurde erst in seinem Todesjahr veröffentlicht.

13,1 Fakt: nachprüfbare Tatsache.
14,19 Campagna: fruchtbares Landwirtschafts- und Wein-

baugebiet in der Nähe von Rom.

14,26 Skudi: alte italienische Silbermünzen (Einzahl: Sku-

do).

15,10 kosmische Rohr: das Teleskop des holländischen

Linsenschleifers Hans Lippershey (vgl. 23,6).

15,13 konkave: nach innen gewölbte.

konvexe: nach außen gewölbte.

15,35 tote Sprache: nicht mehr gesprochene Sprache: Alt-

griechisch, Latein.

16,6 Kurator: Vermögensverwalter, Leiter der Univer-

sitätsverwaltung.

16,22 die Republik: Gemeint ist die Republik Venedig, die

im 7. Jahrhundert entstand und bis 1797 existierte. Sie
wurde von mehreren adeligen Familien beherrscht, die
aus ihrem Kreis die Vertreter der Regierung (Signoria,
18,14) stellten und den Dogen (23,8), das jeweilige Staats-
oberhaupt, wählten.

16,34f. siebengescheit: spöttisch: besonders klug. Anspie-

lung auf die »Sieben Weisen« des Altertums, bedeutende
Männer in Politik, Philosophie und Naturwissenschaften.

17,5f. Hypothesen: zunächst unbewiesene Annahmen, die

später durch Beweise gesichert werden sollen.

17,15 Cremonini, Caesare C. (1550–1631), Professor für

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Philosophie und Mathematik an der Universität Padua.
Wegen seiner wissenschaftlichen Arbeiten wurde er
mehrmals bei der Inquisition angezeigt, von der Republik
Venedig aber nicht an Rom ausgeliefert.

17,16 Inquisition: (lat. inquisitio) Untersuchung. Gericht

der katholischen Kirche, das seit dem 13. Jahrhundert al-
lein dem Papst unterstellt war und mit strafrechtlicher
Gewalt (auch unter Einsatz von Folter, Kerker und Tod)
über die Einhaltung der Glaubenslehre wachte. Im Ge-
gensatz zu den italienischen Fürstentümern, in denen die
Macht der Inquisition unbeschränkt war, unterstand sie in
Venedig der Oberaufsicht der Republik.

17,25 Giordano Bruno: italienischer Philosoph (1548–

1600), der sich auf die Erkenntnisse von Kopernikus be-
rief, die Einheit Gottes mit der Natur lehrte, deshalb we-
gen Ketzerei angeklagt und am 17. Februar 1600 in Rom
öffentlich verbrannt wurde.

18,14 Signoria: (ital.) Herrschaft. Vertreter der Regierung

der Republik Venedig.

18,25 Colombe: Ludovice delle C. (1565–1616): Florenti-

ner Mathematiker und Philosoph, der Galilei bekämpfte.

19,11 Aristoteles: antiker Philosoph (384–322 v. Chr.), des-

sen wissenschaftliches System vom Christentum über-
nommen wurde. Es wurde dadurch im christlichen Mit-
telalter zur herrschenden Lehrmeinung und galt als unan-
tastbare, unumstößliche Wahrheit.

19,32 Proportionalzirkel: eine Art Rechenmaschine, mit

deren Hilfe sich vielfältige mathematische Operationen
durchführen ließen. Galilei entwickelte das Gerät zur
Vereinfachung geometrischer Berechnungen im Militär-
wesen.

20,7 Stefano Gritti: nicht nachweisbar, vermutlich fiktiv.

36

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

background image

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

37

20,21 Arsenal: die staatlichen Schiffswerften und Waffen-

schmieden der Republik Venedig.

22,2 Campanile: frei stehender Glockenturm.
22,3 Gracia dei: (lat.) zum Lob Gottes / Gnade Gottes.
23,6 Teleskop: Fernrohr. Das erste Linsenfernrohr wird

1608 von dem holländischen Linsenschleifer Hans Lip-
pershey gebaut. Das von Galilei nachkonstruierte und
zunächst als eigene Erfindung ausgegebene Instrument
erreichte bereits eine zwanzigfache Vergrößerung und
war somit erstmals für astronomische Beobachtungen
einsetzbar.

23,8 Doge: auf Lebenszeit gewähltes Staatsoberhaupt der

Republik Venedig.

28,32 Journal: (veraltet) Tagebuch.
31,6 Filzen: (umgangssprachl.) Geizhälsen.
31,13 Klafter: alte deutsche Maßeinheit; hier Raummaß,

ca. 3 m

3

; auch Längenmaß, das etwa der Spannweite zwi-

schen den ausgestreckten Armen eines erwachsenen Man-
nes entspricht.

32,29 der andere: Giordano Bruno (17,25).
37,1 »Mediceischen Gestirne«: Jupitermonde, die Galilei

den Medici, der regierenden Familie im Großherzogtum
Toskana, widmete.

40,18 Monsignore: (ital.) Hochwürden; Titel und Anrede

der Prälaten (9,34).

41,6 Hofmarschall: Beamter des fürstlichen Hofs, der das

Hauswesen leitet.

43,34 Miasmen: giftige Ausdünstungen der Erde, nach der

mittelalterlichen Auffassung Ursache von Seuchen.

44,24 epizyklische Bahn: Kreis, dessen Mittelpunkt sich

auf einem anderen Kreis um die Erde bewegt.

45,5 applizieren: anwenden.

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45,22f. Aristotelis divini universum: (lat.) das Weltall des

göttlichen Aristoteles.

46,7 des celestialen Globus: der Himmelskugel.
46,24 Phänomen: Erscheinung; durch Beobachtung be-

wahrheiteter Sachverhalt.

49,30 offerierte: bot an.
50,28 Päpstlichen Collegium, auch (69,31): Collegium

Romanum: päpstliche Universität, die vom Jesuitenor-
den getragen wurde. Sie galt in allen Fragen der Wissen-
schaft als höchste Instanz der Kirche.

51,31 grassierenden: sich ausbreitenden.
51,34 Kalesche: leichte Kutsche.
53,25 Englischen Gruß: Gruß des Engels Gabriel an Ma-

ria; katholisches Gebet; lateinisches Ave Maria.

56,11 Ursulinerinnen: Anfang des 16. Jahrhunderts ge-

gründete Frauengemeinschaft, die sich nach der heiligen
Ursula benannte und der Fürsorge und Erziehung von
Mädchen widmete. Später entwickelte sie sich zu einem
Schulorden.

58,21 Schusser: Murmel.
58,21f. Sancta simplicitas: (lat.) heilige Einfalt.
59,32 Tycho Brahe: dänischer Astronom (1546–1601). Ob-

wohl noch ohne Fernrohr, war er der erste exakt beob-
achtende Astronom. 1572 entdeckt er in der Cassiopeia
einen neuen Stern, eine sogenannte »Nova«.

60,9 Principiis obsta!: (lat.) Wehre den Anfängen!
61,16 Kardinal: höchster Würdenträger in der katholischen

Kirche nach dem Papst.

62,4 Eminenz: Hoheit. Ehrentitel und Anrede der Kar-

dinäle.

63,15 Kardinal Inquisitor: Oberster Gerichtsherr der In-

quisition (17,16).

38

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

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5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

39

64,3 Index: (lat.) Verzeichnis. Liste der [aus religiösen

Gründen] in der katholischen Kirche verbotenen Bücher.

64,9 Vestibül: Vorhalle.
65,4 Adonis: in der griechischen Mythologie schöner Jüng-

ling und Geliebter der Liebesgöttin Aphrodite.

65,31 Lorenzo di Medicis: Großherzog von Toscana

(1449–1492). Er galt zu seiner Zeit als einer der bedeu-
tendsten Dichter Italiens.

67,9 zwei Knäblein … Wölfin: Anspielung auf die Zwil-

lingsbrüder Romulus und Remus, die der römischen Sage
nach von einer Wölfin gesäugt wurden und Rom gegrün-
det haben.

69,9 das Heilige Offizium: Officium: (lat.) Amt, Behörde;

hier: Kardinalskongregation (d. i. Behörde) der Inquisi-
tion an der römischen Kurie.

70,1 Heilige Kongregation: Bezeichnung für wichtige Ge-

meinschaften und Behörden der römischen Kurie (78,24);
hier: Gemeinschaft der Kardinäle unter dem Vorsitz des
Papstes.

74,20 Dekret: behördliche Verfügung oder richterlicher

Beschluss.

76,29 Soutane: Obergewand katholischer Geistlicher.
77,2 Stuhl Petri: Thron des Papstes. Im übertragenen Sinn

die päpstliche Regierung.

78,2 Priap: griechisch-römischer Fruchtbarkeitsgott.
78,7 Horaz: römischer Dichter (65–8 v. Chr.).
78,24 Kurie: Gesamtheit der päpstlichen Behörden und ih-

rer Amtsträger.

80,33 Schaff: großes offenes Holzgefäß.
82,21 Horoskop: Voraussage über kommende Ereignisse

aufgrund von Sternkonstellationen.

82,27 Aszendenten: in der Astrologie verwendeter Begriff.

background image

Er steht jeweils für das Tierkreiszeichen, das zum Zeit-
punkt, für den das Horoskop gestellt wird, gerade über
dem Horizont des Beobachtungsortes erscheint.

83,17 Traktat: Abhandlung über ein religiöses, moralisches

oder wissenschaftliches Problem.
Fabrizius, Johann: niederländischer Theologe und Astro-
nom (1587–1616), der 1610 die Sonnenflecken entdeckte.

90,8 »Observationen«: Beobachtungen; hier im naturwis-

senschaftlichen Sinne gebraucht.

90,13f. Mariae Empfängnis: katholischer Feiertag am 8.

Dezember.

91,4 heiligen Doktrinen: heilige Doktrine: allgemeingülti-

ge und unveränderliche, von der Bibel hergeleitete Glau-
bensgrundsätze der Kirche.

94,3 Pamphletisten: Verfasser von Pamphleten (100,13),

Schmähschriften.

95,9f. ordo ordinum: (lat.) Ordnung aller Ordnungen.
95,10 regula aeternis: (lat.) ewig gültige Regel.
95,17 creatio dei: (lat.) Schöpfung Gottes.
96,13 Brotkipf: länglich geformtes Brot.
97,30 exaltiert: aufgeregt.
98,7 Blache: Leinentuch, Plane bzw. Zelttuch.
100,13 Pamphlete: Schmähschriften.
100,16 Homer: griechischer Dichter (8. Jh. v. Chr.), dem

die beiden großen Epen Ilias und Odyssee zugeschrieben
werden.

100,19 Manufaktur: frühe Form eines industriellen Groß-

betriebes, der auf arbeitsteiliger Handarbeit basiert.

100,23 mechanischer Kultivator: mechanisch verbessertes

Ackergerät.

100,33 regelmäßig erscheinende Zeitungen: Anfang des

17. Jahrhunderts erschienen die ersten Zeitungen im heu-

40

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

background image

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

41

tigen Sinne, sie unterlagen aber strengster staatlicher
Zensur.

101,12 Schwarzröcke: abwertender Ausdruck für Geist-

liche.

101,33 Buch: Galileis Schrift Dialog (1632) über die beiden

großen Weltsysteme.

106,30 Kollekten: Kirchenspenden der Gläubigen.
107,10 Idiom: Sprechweise; hier: die Sprache des Volkes,

Italienisch, gegenüber dem Latein als offizieller Kirchen-
und Wissenschaftssprache.

108,23 Ornat: feierliche, liturgische Amtstracht der kirch-

lichen Funktionsträger.

108,24 Instrumente: Folterwerkzeuge.
109,19 Discorsi: (ital.) Unterredungen. Hauptwerk Gali-

leis: Lehren von der Fall- und Wurfbewegung und von
der Festigkeit der Körper, in der Form eines wissen-
schaftlichen Streitgesprächs.

110,25f. hieme et aestate, et prope et procul, usque dum

vivam et ultra: (lat.) im Winter und im Sommer, nah und
fern, solange ich lebe und darüber hinaus.

114,4 Ellen: Elle: altes Längenmaß, entspricht etwa der

Länge des Unterarms.

117,8f. Sintemalen: (veraltet) da, weil.
117,29 unnachahmbaren Imitatio: Anspielung auf das

Buch De imitatione Christi (Die Nachfolge Christi) des
Thomas von Kempen (1379–1471).

118,2 Jargon: Sondersprache einer Berufsgruppe oder Ge-

sellschaftsschicht.

119,4 Hydraulik: Lehre von der Bewegung der Flüssigkei-

ten, deren Erkenntnisse vor allem im Grund- und Was-
serbau Verwendung finden.

119,29 Descartes, René (1596–1650): französischer Philo-

background image

soph und Mathematiker. Er gilt mit seiner Forderung
nach methodischer Strenge und rationaler, d. i. vernünfti-
ger Begründung aller Erkenntnisse als ›Vater‹ des moder-
nen wissenschaftlichen Denkens.

121,26 Unze: auf die Antike zurückgehende Maß-, Ge-

wichts- und Münzeinheit.

123,25 Gloriole: Heiligenschein.
124,10 Die Große Babylonische: die ›große Hure‹ Baby-

lon. Sie ist im Neuen Testament Sinnbild der gottesfeind-
lichen Weltmacht.

125,1 Machinationen: Machenschaften.
126,9f. den hippokratischen Eid: die moralisch-ethische

Grundlage für den Beruf des Arztes, auf die Mediziner
noch heute vereidigt werden. Er geht auf den griechischen
Arzt Hippokrates (460–375 v. Chr.) zurück, der als Be-
gründer der wissenschaftlichen Heilkunde gilt.

42

5 . W O RT- U N D S A C H E R L Ä U T E R U N G E N

background image

6. Interpretation

Entstehungshintergrund

Das Galilei-Projekt hat Brecht länger und intensiver als alle
seine anderen Stücke beschäftigt. Er hat davon drei Fassun-
gen geschrieben, von denen vor allem die beiden ersten
deutlich unterschiedliche Akzente setzen, ohne dass er aber
zu einer endgültigen Lösung gelangt wäre.
Die erste Fassung, die 1938/39 im dänischen
Exil entstand und am 9. September 1943 am
Züricher Schauspielhaus uraufgeführt wur-
de, war vom Erschrecken über die Nachricht
veranlasst, dass deutschen Physikern die
Spaltung des Uran-Atomkerns gelungen war. Denn dies be-
deutete, dass die Voraussetzung für die Entwicklung der
Atombombe geschaffen war, mit deren Bau die Machthaber
des »Dritten Reiches« über ein ungeheures Vernichtungspo-
tential verfügen würden. In dieser ersten Fassung widerruft
Galilei seine Lehre, forscht aber im Verborgenen weiter und
sorgt dafür, dass die Ergebnisse das Ausland erreichen.
Brecht wollte in einer weltpolitischen Situation, in der ein
Krieg absehbar war, an dem als Vorbild für die deutschen
Atomphysiker gemeinten Verhalten Galileis zeigen, dass
nur der Wissenschaftler verantwortlich handle, der dem
Druck der Staatsmacht durch vorgetäuschte Unterwerfung
begegne.

Unter dem Eindruck der Atombombenabwürfe auf die

japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im Jahre 1945
hielt es Brecht dann aber nicht länger für möglich, Galileis
Widerruf als kluge List zu deuten. Er überarbeitete deshalb

Zeitgeschicht-
licher Hinter-
grund der
ersten Fassung

background image

sein Stück noch während des amerikanischen Exils und ver-

schärfte den Konflikt Galileis mit der Obrig-
keit in Richtung einer Selbstanklage des
Wissenschaftlers. Brecht warf Galilei nun
Verantwortungslosigkeit vor, weil er seine
Forschungen nicht in den Dienst des Volkes
gestellt habe. Damit bezog er dessen histo-
rischen Fall auf die Wissenschaftler seiner
Gegenwart, deren Versagen seiner Überzeu-

gung nach die Atombombe ermöglicht habe. Die Urauf-
führung dieser amerikanischen Version des Leben des Gali-
lei
fand am 30. Juli 1947 in Beverly Hills statt.

Die dritte Fassung, an der Brecht seit 1954 arbeitete, ist

genau genommen keine eigenständige Version, sondern die
Rückübersetzung der zweiten ins Deutsche. Allerdings ver-
schärfte er in ihr noch die Frage nach Verantwortung und

Schuld des Wissenschaftlers, weil er sie auf
neue Weise für aktuell hielt. Die weltpoli-
tische Lage war geprägt von dem angespann-
ten Verhältnis der Großmächte USA und
Sowjetunion, das mehrfach, nicht zuletzt
durch den Krieg der USA in Korea, eine ge-
fährliche Zuspitzung erfuhr. Ein dritter

Weltkrieg mit dem Einsatz atomarer Verichtungswaffen er-
schien in diesen Nachkriegsjahren nicht ausgeschlossen.

17

Im September 1949 war der Sowjetunion ein Atomwaffen-
test gelungen, 1952 erprobten die USA zum ersten Mal eine
Wasserstoffbombe, über die dann ein Jahr später auch die
Sowjetunion verfügte. Als angebliche Atomspione für die
Sowjetunion wurden 1953 in den USA trotz weltweiter
Proteste Ethel und Julius Rosenberg unter dem Vorwurf des
Landesverrats hingerichtet. 1954 begann in den USA die

44

6 . I N T E R P R E TAT I O N

Galilei als Modell
für den aktuellen
›Sündenfall der
Wissenschaft‹
in der zweiten
Fassung

Ost-West-
Konflikt als
weltpolitischer
Hintergrund der
dritten Fassung

background image

Untersuchung gegen J. Robert Oppenheimer, den »Vater
der Atombombe«, der von 1943 bis 1945 die Laboratorien
im amerikanischen Kernforschungszentrum Los Alamos
geleitet hatte. Oppenheimer musste sich dem Vorwurf stel-
len, ein verkappter Sowjetagent zu sein und die Entwick-
lung der Wasserstoffbombe verhindert zu haben. Er galt da-
her in den USA als »Sicherheitsrisiko«. Oppenheimer legte
eine Verteidigungsschrift vor, in der er seine Neutralität in
Fragen der amerikanischen Rüstungspolitik bekundete und
sich dabei als Beweggrund auf sein Entsetzen über den
Bombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki berief. Der
Fall erregte weltweites Interesse, und Brecht notierte in sei-
nem Arbeitsjournal am 8. Juli 1954: »seine schrift liest sich
wie die eines mannes, der von einem kannibalenstamm an-
geklagt wird, er habe sich geweigert, fleisch zu besorgen.
und der jetzt, sich zu entschuldigen, vorbringt, er sei
während der menschenjagd beim holzsammeln für den
kochkessel gewesen! was für eine finsternis!«

18

Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse rückte Brecht in
der neuen »Berliner Fassung« des Leben des Galilei das
Problem der Verantwortung des Wissenschaftlers noch
näher an die Gegenwart heran, als dies in der amerikani-
schen Fassung geschehen war. Er führte nun einen Wis-
senschaftler vor, den nur seine Forschungsarbeit, nicht
aber die gesellschaftlichen Folgewirkungen seiner Er-
kenntnisse interessieren und der dadurch seine soziale
Verantwortung schuldhaft versäumt.

6 . I N T E R P R E TAT I O N

45

background image

Dramatische Gestaltung der Geschichte

Zahlreiche Einzelheiten der dramatischen Handlung, ins-

besondere die biografischen Daten Galileis,
sind historisch belegt. Der Mathematiker,
Physiker und Astronom wurde 1564 in Pisa
geboren und starb 1642 in der Verbannung in

Arcetri. Er wurde bekannt durch seine Fall- und Pendelge-
setze, seinen Proportionalzirkel, die hydrostatische Waage,
die Entdeckung von vier Jupitermonden (von insgesamt
zwölf), der Venusphasen und des Saturnringes. Vor allem
aber bekannte er sich zur heliozentrischen Lehre des Ko-
pernikus, deren Anerkennung die katholische Kirche offizi-
ell lange verweigerte. Wegen seiner Dialoge (1630) kam er
vor die Inquisition; die Discorsi (1636) schrieb er während
seines Hausarrests in Arcetri.

Brecht hielt sich bei der Wiedergabe der Fakten meist sehr

genau an die Überlieferung und an die Quellen. In Bezug

auf Galileis Verhältnis zur Kirche beispiels-
weise notiert er in den Anmerkungen zum
Stück: »Es entspricht der historischen Wahr-
heit, wenn der Galilei des Stückes sich nie-
mals direkt gegen die Kirche wendet. Es gibt

keinen Satz Galileis in dieser Richtung. Hätte es einen gege-
ben, so hätte eine so gründliche Untersuchungskommission
wie die Inquisition ihn zweifellos zutage gefördert.«

19

Gali-

lei brauchte darum auch nicht »in den Schoß der Kirche«
zurückzukehren, er hat sich »niemals daraus entfernt. Er
versucht lediglich seinen Frieden mit den Herrschenden zu
machen.«

20

»Und es entspricht ebenfalls der historischen

Wahrheit, daß der größte Astronom des päpstlichen römi-
schen Kollegs, Christopher Flavius Galileis Entdeckungen

46

6 . I N T E R P R E TAT I O N

Der historische
Galilei

Historisch
korrekte Darstel-
lung der Kirche

background image

bestätigte […]. Ebenso stimmt es, daß unter seinen Schülern
Geistliche waren […].«

21

Trotz Verwendung eines historischen Stoffs entwarf

Brecht kein Historiengemälde. Davon über-
zeugt, dass sich die Lehren der Geschichte
für die Bewältigung der Gegenwart fruchtbar
machen lassen, projizierte er vielmehr ein
zeitgenössisches Problem auf die Geschichte.
Um dessen Substanz herauszuarbeiten, ge-
staltete er die Tendenz des dramatischen Geschehens und
insbesondere das Verhalten der Hauptfigur daher auf Ko-
sten der Geschichtstreue. Es lag ihm nichts daran, »Galileis
Biografie nachzuzeichnen, wenn er das Abbild nicht zu-
gleich als Vor-Bild (mit negativen oder positiven Vorzei-
chen) darstellen« konnte.

22

Brechts Gestaltungsabsicht zeigt sich, worauf bei den Er-

läuterungen zur Form bereits kurz hingewiesen wurde, in
der Abgrenzung des »Schauspiels« Leben des Galilei von
seinen Parabelstücken. In seinem Arbeitsjournal notierte er
am 30. Juli 1945: »so ist der GALILEI in meiner produktion
immerhin interessant als gegenbeispiel zu den parabeln.
Dort werden ideen verkörpert, hier eine materie gewisser
ideen entbunden.«

Diese Bemerkung lässt die Deutung zu, dass die erfun-

dene Handlung beim Parabelstück nur ein Gleichnis für
die gesellschaftliche Wirklichkeit ist, das
als Erkenntnismodell der Wirklichkeit dient.
Die Handlung kann also schon von dieser
Erkenntnisfunktion her vom Stückeschreiber
konzipiert werden. Bei einem Drama, das
einen historischen Stoff aufgreift, muss der
Autor jedoch von einer Handlung ausgehen, die durch die

6 . I N T E R P R E TAT I O N

47

Angleichung
des Geschichts-
dramas an
die Parabel

Parallele
Problemfälle in
Gegenwart und
Geschichte

background image

reale Geschichte gleichsam schon vorgeprägt ist, und dieser
Geschichte bedeutsame Erkenntnisse abgewinnen.

Die realen historischen Ereignisse sind nicht mehr zu än-

dern; verändern kann das Drama allerdings den Blick des
Zuschauers auf die Geschichte. Diese Möglichkeit aufgrei-
fend, deutet Brecht bekannte Ereignisse der Geschichte neu,
kritisiert damit überkommene Vorstellungen von histori-
schen Ereignissen und entlarvt sie als falsches Bewusstsein.

Unter dieser Perspektive kommt auch ein Aspekt ins
Spiel, der für das episch-dialektische Theater Brechts von

großer Bedeutung ist: die Historisierung.
Historisieren heißt für ihn »Vorgänge und
Personen als historisch, also als vergäng-
lich« darzustellen,

23

damit sie beim Publi-

kum Erstaunen hervorrufen, neu wahrgenommen wer-
den und kritische, bis in das eigene Handeln hinein wir-
kende Einsichten nach sich ziehen. In solcher Absicht
zeigt das Stück Leben des Galilei nach Brechts Selbstaus-
kunft »den Ausbruch einer neuen Zeit und versucht, ei-
nige Vorurteile über den Ausbruch einer neuen Zeit zu
revidieren«

24

.

In dialektischer Formulierung schlägt Brecht mit die-
ser Aussage den Bogen von der »neuen Zeit« Galileis im
siebzehnten Jahrhundert zu seiner Gegenwart im zwan-
zigsten, in der die nationalsozialistischen Machthaber den
Anbruch einer »neuen Zeit« verkündet hatten. Um diese
Gegenwart geht es Brecht, nicht um die Vergangenheit.
Durch die Wahl Galileis zum Protagonisten hat er die ak-
tuelle Thematik seines Stückes nur historisch verfremdet.

Diese Verfahrensweise erklärt auch, dass der Galilei des

Dramas über Einsichten verfügt, die der historische Galilei
noch nicht haben konnte, und Perspektiven aufzeigt, die de-

48

6 . I N T E R P R E TAT I O N

Historisierung als
Erkenntnisform

background image

nen des Autors Brecht entsprechen. Dazu gehören vor allem
die Selbstverurteilung, die Idee des hippokratischen Eides
der Naturwissenschaftler und der warnende Blick in die Zu-
kunft. In seinem großen Schlussmonolog sagt
Galilei zu Andrea: »Ihr mögt mit der Zeit
alles entdecken, was es zu entdecken gibt,
und euer Fortschritt wird doch nur ein Fort-
schreiten von der Menschheit weg sein. Die
Kluft zwischen euch und ihr kann eines Tages
so groß werden, daß euer Jubelschrei über irgendeine neue
Errungenschaft von einem universalen Entsetzensschrei be-
antwortet werden könnte« (126). Diese Zukunftsvision Ga-
lileis richtet sich zweifelsohne unmittelbar an die Adresse
des Publikums und warnt es vor dem Missverständnis, Ga-
lileis Verhalten als einen einmaligen historischen Fall zu be-
trachten. Brecht konfrontiert das Publikum vielmehr mit ei-
nem dramatischen Modell, in dem ein »Problem von histo-
risch übergreifender Qualität«

25

sichtbar wird.

Politisch-gesellschaftliche Bedingungen
der Wissenschaft

Der Wissenschaftler Galilei trifft sowohl auf Vertreter ver-
schiedener sozialer Gruppen als auch auf Repräsentanten
verschiedener politischer Systeme. Für jeden
von ihnen stellt die Wissenschaft eine ent-
schiedene Herausforderung dar. Ihre Reak-
tionen darauf lassen die unterschiedlichen In-
teressenlagen erkennbar werden. Die neue
bürgerliche Schicht, als deren Repräsentant
beispielsweise der Eisengießer Vanni fungiert, betrachtet die

6 . I N T E R P R E TAT I O N

49

Betrachtung der
Geschichte vom
Standpunkt der
Gegenwart

Reaktionen gesell-
schaftlicher Grup-
pen auf die neue
Wissenschaft

background image

Wissenschaft durchaus als Mittel des Fortschritts. Sie ver-
spricht sich von ihr durch technische Verbesserungen der
Produktionsmittel nicht nur eine Steigerung des Profits,
sondern auch die Erringung bürgerlicher Freiheiten wie
Freihandel und Gewerbefreiheit. In einer republikanischen
Staatsform stoßen gesellschaftskritische Tendenzen hinge-
gen auf erbitterten Widerstand, hier behält die Wissenschaft
bloßen Warenwert. Der reaktionären Schicht der Groß-
grundbesitzer dient sie, wie das Beispiel Ludovicos zeigt,
lediglich als zeitgemäß-modischer Inhalt gesellschaftlich er-
forderlicher Konversation.

Vielschichtiger stellt sich die Reaktion der Kirche dar. Sie

ist zwar nicht generell wissenschaftsfeindlich, in ihren
führenden Repräsentanten erscheint sie aber als politisch-
gesellschaftliche Macht. In Florenz steht offensichtlich auch
der Großherzog unter der Vorherrschaft der Geistlichkeit;
widerstandslos liefert er seinen Untertan und langjähri-
gen Hofmathematiker an die Inquisition aus. Diese Herr-
schaftsrolle bestimmt auch das Verhältnis der Kirche zur
Wissenschaft.

Brecht ist als Marxist ein »Gegner der Kirche«

26

, weil sie

den Menschen im ungerechten Diesseits ein besseres Jen-
seits verspricht, sich dadurch auf die Seite der herrschenden
Ausbeutungssysteme schlägt und politisch-soziale Verände-
rungen verhindert. Dennoch ist ihm wichtig zu betonen, er

wolle in Leben des Galilei keine gehässige
»antiklerikale Tendenz«

27

darstellen und

den Kampf Galileis um die Freiheit der For-

schung zu einer religiösen Angelegenheit machen. Die Kir-
che fungiere, auch wo sie der freien Forschung entgegentre-
te, »einfach als Obrigkeit«

28

. Einen »Freispruch«

29

bedeute

dies allerdings nicht. Auch habe die Kirche keinen An-

50

6 . I N T E R P R E TAT I O N

Rolle der Kirche

background image

spruch darauf, »die menschlichen Schwächen ihrer Mitglie-
der überschminkt zu bekommen«.

30

Das Stück zeigt, einer materialistischen Geschichtsdeu-
tung folgend, dass der Konflikt Galileis mit der Kurie in
Wahrheit kein wissenschaftlich-theologischer Streit, son-
dern ein Kampf zwischen reaktionären und fortschrittli-
chen gesellschaftlichen Kräften war.

Wissenschaftliche und soziale Verantwortung

Die Verantwortung des Wissenschaftlers gegenüber den
Ergebnissen seiner Arbeit ist das Hauptthema des Stücks.

Es erschließt sich wesentlich aus dem Verhalten Galileis,
wiewohl diese Figur sich nicht widerspruchsfrei darstellt.
Einmal scheint unzweifelhaft der Nachweis intendiert, Ga-
lilei habe ohne echte Lebensgefahr der Obrigkeit Wider-
stand leisten können, da er eine Zeit lang
stärker gewesen sei als sie; dann würde nahe
liegen, den Widerruf (wie in der ersten Fas-
sung beabsichtigt) als kluge List zu verste-
hen. Zum anderen ist der Widerruf aber mit der Angst vor
»dem körperlichen Schmerz« (123) und der Furcht vor dem
Tode (124) motiviert; dann problematisierte das Stück
primär einen persönlichen Konflikt seines Protagonisten.
Der innere Widerspruch, dass Galilei die neue Wahrheit
begründet und zugleich verrät, ist derart freilich nicht auf-
lösbar.

Entscheidend für eine Beurteilung ist,

dass Galilei seinen Widerruf als Verrat
begriffen hat, der Konsequenzen für sein
Ethos als Wissenschaftler haben musste.

6 . I N T E R P R E TAT I O N

51

Beurteilung des
Widerrufs

Ethos des
Wissenschaftlers

background image

Gegenüber seinem Schüler Andrea, der die neue Wissen-
schaftlergeneration verkörpert und die Discorsi über die
Grenze bringen wird, erklärt er: »Ich hatte als Wissen-
schaftler eine einzigartige Möglichkeit. In meiner Zeit er-
reichte die Astronomie die Marktplätze. Unter diesen ganz
besonderen Umständen hätte die Standhaftigkeit eines
Mannes große Erschütterungen hervorrufen können. Hätte
ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas
wie den hippokratischen Eid der Ärzte entwickeln können,
das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit
anzuwenden! Wie es nun steht, ist das Höchste, was man er-
hoffen kann, ein Geschlecht erfinderischer Zwerge, die für
alles gemietet werden können« (126).

Galilei sieht seine Schuld nicht so sehr darin, der wissen-

schaftlichen Wahrheit abgeschworen und sie öffentlich eine
Lüge genannt zu haben, als vielmehr in seinem gesellschaft-

lichen Desinteresse. »Ich halte dafür, daß
das einzige Ziel der Wissenschaft darin be-
steht, die Mühseligkeit der menschlichen

Existenz zu erleichtern« (125), lässt der Autor seinen Prot-
agonisten sagen. Weil der mit seinem Widerruf eben dieser
sozialen Verantwortung nicht gerecht geworden ist, bezich-
tigt er ihn des Verrats an seinem Beruf, zwingt ihm die Hal-
tung »eines sozialen Verbrechertums«

31

auf und nötigt ihn

zu einer »prinzipielle[n] Selbstverklagung«.

32

In Galileis Schuldbekenntnis kommt Brechts Überzeu-
gung zum Ausdruck, dass der Wissenschaftler mehr als
andere Menschen über Einsichten in zeitübergreifende
politisch-historische Zusammenhänge verfügen müsse,
an denen er sein Handeln auszurichten habe. Und unge-
achtet aller persönlichen Bedrohungen und äußeren
Zwänge müsse von ihm erwartet werden, dass er die ge-

52

6 . I N T E R P R E TAT I O N

Galileis Schuld

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sellschaftliche Kontrolle über sein Wissen behalte, weil
nur er dessen Auswirkungen beurteilen könne.

Brecht verurteilt Galilei, weil sein Verhalten diesen An-

spruch nicht erfüllt habe. Durch die Unterwerfung unter
die durch die Kirche repräsentierte Macht
wurde, so der Vorwurf Brechts, die Wissen-
schaft für Jahrhunderte isoliert und damit
prinzipiell der Verfügungsgewalt der Herr-
schenden ausgeliefert. »Ihre öffentliche Kontrolle war nicht
mehr gewährleistet, weil die wenigsten verstehen konnten
und durften, was die Wissenschaftler ausheckten. Aus dem
Dienst an der Wahrheit war die Unterwerfung unter ihre in-
teressengebundene Ausbeutung geworden.«

33

Unschwer lässt sich erkennen, dass Brechts ganze Argu-
mentation darauf gerichtet ist, in der Verurteilung Gali-
leis das Versagen der Wissenschaftler seiner Gegenwart
vor den politischen Herausforderungen
der Zeit zu treffen. Die den Vorwurf an
Galilei begründende These, es habe in
dessen Macht gestanden, den Geschichts-
prozess umzukehren und durch einen entsprechenden
Offenbarungseid seine naturwissenschaftlichen Erkennt-
nisse für immer dem gesellschaftlichen Fortschritt dienst-
bar machen können, ist allerdings nicht unwidersprochen
geblieben. Sie setzt nicht nur den – anderen Zeitgenossen
nicht mehr so selbstverständlichen – Glauben an die indi-
viduelle Verantwortung des einzelnen Forschers und an
den Fortschritt der Menschheit durch Wissenschaft vor-
aus. Sie verkennt, nach der begründeten Auffassung Gert
Sautermeisters, auch die Macht des modernen Staates, die
kein Einzelner je zu untergraben vermochte. »Der Schei-

terhaufen der Inquisition, auf dem ein Giordano Bruno le-

6 . I N T E R P R E TAT I O N

53

Überforderung
Galileis?

Soziale Folgen von
Galileis Versagen

background image

5 4

6 . I N T E R P R E TAT I O N

bendigen Leibes verbrannte, hätte seine Flammen auch über
einem Galilei zusammenschlagen lassen, ohne dass daraus
das Feuer der sozialen Revolution entstanden wäre.«

34

Produktive Rezeption

In seinen Schriften zum Theater hat Brecht immer wie-

der auf die aktiv-schöpferische Leistung des
Zuschauers hingewiesen. Die Darstellungen
auf der Bühne sollen ihn zur denkenden
Mitarbeit anregen, ihn eingreifendes Den-

ken lehren. Er soll produktiv werden ȟber das Schauen
hinaus«

35

, über die Kunst hinaus in die gesellschaftliche Pra-

xis hineinwirken. Das Spiel vom Leben des Galilei zeigt ein
in dieser Intention gestaltetes Modell.

Es lässt sich leicht denken, dass gegen den Vorschlag eines

hippokratischen Eides der Naturwissenschaftler, den Brecht
durch seinen Protagonisten Galilei unterbreitet, Einwände
erhoben worden sind. Denn die Probleme der Aufgabenbe-

stimmung wie vor allem der Grenzen wis-
senschaftlichen Forschens wären mit ihm al-
lein nicht gelöst. Müsste der Eid nicht die
Einrichtung einer moralischen oder poli-
tischen Instanz einschließen, die die For-

schung im Sinne einer Vorgabe der von ihr zu verfolgenden
Ziele begrenzt? Würde dies aber nicht auf eine abermalige
Gerichtsbarkeit hinauslaufen, die der Inquisition zur Zeit
Galileis gleichkäme? Anwendbar scheint der hippokratische
Eid allenfalls auf die Fälle, in denen die Forschung mehr
oder weniger offensichtlich von vornherein einer Menschen
verachtenden oder menschheitsvernichtenden Zielvorgabe

Dramaturgie
des Zuschauers

Problematik des
hippokratischen
Eides

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unterworfen wird. Aber selbst hier ist nicht nur daran zu er-
innern, dass der hippokratische Eid die KZ-Ärzte, auf deren
Tätigkeit sich Brecht in einer seiner Anmerkungen zum
Stück bezieht, nicht an ihren menschenfeindlichen Versu-
chen gehindert hat. Auch die aktuellen Nachrichten über
biomedizinische Forschungen, inbesondere jene an em-
bryonalen Stammzellen, mahnen zur Skepsis.

Dass der Eid andererseits nicht reine Utopie bedeuten

muss, zeigen – ungeachtet der Tatsache, ob von Brecht be-
einflusst oder nicht – Reaktionen einer Reihe
von Physikern auf die atomare Bedrohung.
Es gab nachhaltige Bemühungen gegen den
ungehemmten Bau von Atombomben, bei-
spielsweise den »Göttinger Appell« von acht-
zehn deutschen Atomphysikern im Jahr 1957 oder die inter-
nationale Konferenz »Atome für den Frieden« 1958 in
Genf. Es gab aber auch Überlegungen wie die des einfluss-
reichen Philosophen Karl Jaspers von 1961, die eine harte
Konfrontation des Westens gegen den Osten befürworteten,
in der Hoffnung, die Gefahr der totalen Selbstvernichtung
würde die Menschheit zur Vernunft kommen lassen.

Die historisch konkrete Situation, für die das Stück
Leben des Galilei gedacht war, ist Vergangenheit; als
Spiel, das Phänomene unserer politisch-gesellschaftlichen
Wirklichkeit erhellt und möglicherweise Korrekturen
notwendig erscheinen lässt, mag es jedoch wirksam blei-
ben können.
Besonders deutlich wird dies am Problem der sozialen
und ethischen Verantwortbarkeit wissen-
schaftlicher Forschung. Gegenüber dem
Zeitalter Brechts ist dieses Thema des
Stücks wegen einer rasanten und zunehmend brisanten

6 . I N T E R P R E TAT I O N

55

Eingreifendes
Verhalten von
Wissenschaftlern

Gegenwartsbezug

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Entwickung, auf den Gebieten der Biomedizin, der Gen-
forschung oder der elektronischen Datenverarbeitung
etwa, eher noch drängender geworden. Der Deutsche

Bundestag und die Regierung haben als Reaktion darauf
Ethik-Kommissionen eingerichtet, die Maßstäbe für politi-
sche Entscheidungen erarbeiten sollen. Letztlich verdecken
diese Kommissionen aber nur die Ratlosigkeit, die ange-
sichts eines nahezu ungebremsten »Fortschreitens« (125)
von Wissenschaft und Forschung allenthalben vorherrscht.

56

6 . I N T E R P R E TAT I O N

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7. Ausformung der Thematik

durch andere Autoren

Im deutschen Drama der Gegenwart finden sich vier Stücke,
die eine ähnliche Thematik wie Brechts Leben des Galilei
haben: Carl Zuckmayers auf dem Fall des Atomspions
Klaus Fuchs fußendes Spiel Das kalte Licht (1955), dessen
Protagonist westliche Atomgeheimnisse an Russland verrät,
um ein Machtgleichgewicht zwischen Ost und West herbei-
zuführen, Hans Henny Jahnns Stück Der staubige Regen-
bogen
(1961), das ein Plädoyer gegen jegliche Forschung zu
Vernichtungszwecken darstellt, Friedrich Dürrenmatts Ko-
mödie Die Physiker (1962) und Heinar Kipphardts Doku-
mentarstück In der Sache J. Robert Oppenheimer (1964).
Während die Physikerdramen Zuckmayers und Jahnns al-
lenfalls noch literaturhistorisch interessant sind, kann ein
Vergleich mit den beiden anderen, insbesondere mit dem
Drama Dürrenmatts, erhellende Einsichten zum Verständ-
nis von Brechts Leben des Galilei beitragen.

Dürrenmatts Komödie spielt im Sanatorium der buck-

ligen Irrenärztin Mathilde von Zahnd. Dort
halten sich neben nervenleidenden Millio-
nären und anderen Personen aus der noblen
Gesellschaft auch drei ehemalige Physiker
auf: Beutler, der sich als Newton ausgibt, Ernesti, der sich
für Einstein hält, sowie Möbius, der vorgibt, seine Einge-
bungen von König Salomo zu erhalten. Doch Möbius spielt
nur den Geisteskranken. Er ist in die Irrenanstalt geflüchtet,
nachdem er erkennen musste, dass die Formel für das
»System aller möglichen Erfindungen«, die er gefunden hat,
zur Weltkatastrophe führen würde, wenn sie in die falschen

Dürrenmatt:
Die Physiker

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Hände fiele. Möbius glaubt, durch den Rückzug ins Irren-
haus seine Forschungen besser verheimlichen zu können
und hat dafür auch die Trennung von seiner Familie in Kauf
genommen. Doch die Geheimdienste zweier feindlicher
Machtblöcke sind bereits auf den genialen Wissenschaftler
aufmerksam geworden. Die eine Seite hat den Physiker
Kilton alias Beutler auf ihn angesetzt, die andere den Phy-
siker Eisler alias Ernesti. Beide Agenten haben versucht,
Möbius zu entführen, doch ihre Krankenschwestern hatten
die wahre Identität der ›Patienten‹ entdeckt und wurden
deshalb von ihnen ermordet. Auch Möbius musste ›seine‹
Krankenschwester, die ihn zu lieben begann, töten, um sein
Geheimnis zu bewahren.

Die sich abzeichnende Aussicht, als verrückte Mörder für

immer im Irrenhaus gefangen zu bleiben, veranlasst Kilton
und Eisler, ihre wahre Identität preiszugeben. Möbius führt
ihnen daraufhin mit großer Eindringlichkeit das Widersin-
nige wissenschaftlicher Arbeit im Zeitalter totaler Ausbeu-
tung durch die Herrschenden vor Augen: Im Dienste poli-
tischer Mächte könne die Physik nur Teil einer globalen
Vernichtungsmaschinerie sein. Er appelliert an sie, aus Ver-
antwortung gegenüber der Menschheit seine Entdeckungen
vor dem jeweiligen Machtapparat geheim zu halten und
als »Verrückte« weiterhin bei ihm in der Anstalt zu blei-
ben. Ihre Mission sei ohnehin erfolglos, denn er habe be-

reits die Konsequenz gezogen und sein Wis-
sen »zurückgenommen«; das heißt, er habe
die Manuskripte seiner Entdeckungen ver-
brannt. Sein Fazit ist von ebenso paradoxer
wie zwingender Logik: »Nur im Irrenhaus
sind wir noch frei. Nur im Irrenhaus dürfen

wir noch denken. In der Freiheit sind unsere Gedanken

58

7 . A U S F O R M U N G D E R T H E M AT I K

Entscheidung
der Physiker
für den Verbleib
im Irrenhaus

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Sprengstoff.«

36

Und dies bedeutet: »Entweder bleiben wir

im Irrenhaus oder die Welt wird eines.«

37

Mit dem Argu-

ment, dass es im Kern aber nicht mehr um die Freiheit der
Physik oder um ihre Unterordnung unter die Machtpolitik
eines Landes gehe, dass es vielmehr einzig darauf ankomme,
Vernunft walten zu lassen, um die Welt vor dem Untergang
zu bewahren, gelingt Möbius das Unerwartete, die beiden
auf ihn angesetzten Physiker-Agenten zu seinem Stand-
punkt zu bekehren: »Verrückt, aber weise.« – »Gefangen,
aber frei.« – »Physiker, aber unschuldig.«

38

Die vernünftig erscheinende Entscheidung der Physi-

ker erweist sich jedoch als völlig folgenlos;
denn das dramatische Geschehen nimmt am
Schluss die »schlimmstmögliche Wendung«
(Dürrenmatt): Die im Machtrausch und
Zerstörungstrieb selbst verrückt gewordene
Irrenärztin offenbart, längst alles durchschaut und mit den
von Möbius gestohlenen Forschungsergebnissen einen Rüs-
tungskonzern aufgebaut zu haben, der ihr die Weltherr-
schaft sichert.

Mit diesem pessimistischen Ausgang seines Physiker-
Dramas, das er gleichwohl als Komödie verstanden wis-
sen will, ist Dürrenmatt weit entfernt von dem Optimis-
mus, der Brechts literarisches Werk kennzeichnet. Er ver-
zichtet auch darauf, das Theater wie dieser zum Ort der
Diskussion um Lösungsmöglichkeiten zu machen, weil
er an die Veränderungsmöglichkeit des Menschen so we-
nig glaubt wie an die Wirkungsmöglichkeit von Kunst.
Dürrenmatts Intention heißt, die Diagnose zu stellen, oh-
ne die Therapie vorzuschlagen.

Im dramatischen Modell Leben des Galilei zeigt Brecht

hingegen nicht nur, wie er die Wirklichkeit wahrnimmt, er

7 . A U S F O R M U N G D E R T H E M AT I K

59

Die »schlimmst-
mögliche
Wendung«

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will mit diesem Stück nicht weniger als mit seinen anderen
auch eingreifend in die Wirklichkeit hinein wirken und

diese verändern. Seine harsche Verurteilung
Galileis resultiert aus dem Vorwurf, dass
dieser zu solcher Veränderung nichts beige-
tragen habe und den Wissenschaftlern seiner
Zeit kein Vorbild gewesen sei. In der Deu-

tung Brechts wurde Galilei schuldig, weil er mit seinem Wi-
derruf seiner sozialen Verantwortung nicht gerecht gewor-
den ist. Durch seine Unterwerfung unter die durch die
Kirche repräsentierte Macht sei die Wissenschaft für Jahr-
hunderte isoliert und damit prinzipiell der Verfügungsge-
walt der Herrschenden ausgeliefert worden.

In der Selbstkritik, die Brecht seinem Protagonisten am

Schluss immerhin zubilligt, formuliert er seine eigene Kritik
am Versagen der modernen Wissenschaft vor den politi-
schen Herausforderungen der Zeit. Sie ist allerdings in die-

ser Form nur möglich, weil Brecht, trotz ge-
genteiliger Erfahrungen während und nach
dem Zweiten Weltkrieg, noch an die indi-
viduelle Verantwortung des einzelnen For-
schers und an den sozialen Fortschritt der

Menschheit durch die Wissenschaft glaubt.

Dürrenmatt kann den Optimismus Brechts nicht mehr

mitvollziehen. Er fordert die Physiker durch seinen Prot-
agonisten Möbius auf, ihr Wissen zurückzunehmen, weil es

für sie nur noch die Kapitulation vor der
Wirklichkeit gebe. »Sie ist uns nicht gewach-
sen. Sie geht an uns zugrunde.«

39

Für sich

hat Möbius bereits die Konsequenz aus die-
ser Einsicht gezogen: Er verweigert sich und

seine Wissenschaft jeglicher Indienstnahme und geht, als

60

7 . A U S F O R M U N G D E R T H E M AT I K

Brechts
Begründung der
Schuld Galileis

Brechts
Fortschritts-
optimismus

Möbius’ Scheitern
in Dürrenmatts
Physikern

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Ausdruck einer höheren, ja höchsten Vernunft, bis zur
Selbstverleugnung seines Verstandes.

40

Nur: Wie das Stück

lehrt, nützt Möbius das alles nichts mehr. Er verfügt nur
scheinbar über die Freiheit, sein Wissen vor der Ausbeutung
durch die Mächtigen zurückzuziehen. Tatsächlich versklavt
die Irrenärztin Mathilde von Zahnd nicht nur sein Wissen,
sondern auch ihn selbst, indem sie das Irrenhaus in ein Ge-
fängnis verwandelt, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.
Sein höchst anerkennenswerter moralischer Entschluss er-
weist sich darum am Ende als sinnlos. Da der Irrsinn selbst-
tätig läuft, hat der Einzelne, wie mutig er immer handeln
möge, keine Eingriffsmöglichkeit mehr.

Möbius hat folglich, auch wenn es anfangs danach aus-

sieht, den freien Entscheidungsspielraum nicht mehr, den
Brecht seinem Galilei noch zubilligt und auf den er den Ver-
ratsvorwurf gründet. Die »schlimmstmögliche Wendung«
in den Physikern bringt diesen entscheidenden Unterschied

signifikant zum Ausdruck. Brecht demonstriert am ›Fall‹
Galilei seine Überzeugung, dass der wissenschaftliche
Fortschritt nicht aufhaltbar, der Ablauf der Geschichte
rational beeinflussbar und die gesellschaftlichen Verhält-
nisse veränderbar sind. Dürrenmatt zeigt demgegenüber
am ›Fall‹ Möbius, dass der wissenschaftliche Fortschritt
verhindert werden müsse, weil für ihn Chaos und Zufall
allein den Geschichtsprozess regieren
und somit die aus dem Fortschritt resul-
tierende Katastrophe nicht verhinderbar
ist. In dem – wenn auch gescheiterten –
Versuch, sein Wissen zurückzunehmen,
ist Möbius ein Anti-Galilei, sind Die Physiker eine »Zu-
rücknahme Brechts«.

Den Konflikt des modernen Naturwissenschaftlers zwi-

7 . A U S F O R M U N G D E R T H E M AT I K

61

Dürrenmatts
»Zurücknahme
Brechts«

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schen zweckfreier Forschung und politisch-militärischer

Aneignung der Ergebnisse thematisiert, zwei
Jahre nach Dürrenmatt, Heinar Kipphardts
Dokumentarspiel In der Sache J. Robert Op-
penheimer
, dem das Verfahren gegen den
Physiker vor der amerikanischen Atomener-

giekommission zugrunde liegt. Das Stück diskutiert das
Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, Schuld und

Loyalitätsverpflichtung eines Forschers. Kipphardt inter-
essierte an dem Fall Oppenheimer, ähnlich wie Brecht in
seinem Leben des Galilei und Dürrenmatt in seinem
Physiker-Stück, vor allem die Frage nach dem Ethos des
Wissenschaftlers und der daraus resultierenden verant-
wortungsbewussten Verwendung wissenschaftlicher Er-

kenntnisse zugunsten der Gesellschaft. Er
kritisiert den Glauben an die Zweckfreiheit
der Forschung und lässt seinen Protagonis-
ten in der Schlussrede, die der historische
Oppenheimer nie gehalten hat, sich fragen,

»ob wir Physiker unseren Regierungen nicht zuweilen ei-
ne zu große, eine zu ungeprüfte Loyalität gegeben haben,
gegen unsere bessere Einsicht«.

41

Dies soll doch wohl

heißen, dass ein Wissenschaftler sein möglicherweise ge-
fährliches Wissen vor dem Zugriff der Mächtigen schüt-
zen muss. Die Vision von den Gefahren durch eine ver-
sklavte Wissenschaft, von der Galilei in der vierzehnten
Szene spricht, nimmt Kipphardt auf, wenn er Oppenhei-
mer sagen lässt: »So finden wir uns in einer Welt, in der
die Menschen die Entdeckungen der Gelehrten mit
Schrecken studieren, und neue Entdeckungen rufen neue
Todesängste bei ihnen hervor

42

Oppenheimer zieht in dem Dokumentarstück für sich die

Kipphardts Kritik
der Zweckfreiheit
der Wissenschaft

62

7 . A U S F O R M U N G D E R T H E M AT I K

Kipphardt: In der
Sache J. Robert
Oppenheimer

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Konsequenz, an Kriegsprojekten nicht mehr mitarbeiten
und sich stattdessen wieder ausschließlich der Forschung
widmen zu wollen. Dieser Entschluss erscheint als muti-

ger und allein sinnvoller Schritt eines Wissen-
schaftlers, der seine Verantwortung gegen-
über der Menschheit kennt. Er bleibt aber
mit der ganzen Problematik behaftet, die
schon in den Werken Brechts und Dürren-
matts begegnet. Was heißt schließlich ›Rück-
kehr zur reinen Forschung‹? Ist wissenschaftliches For-
schen unter den gegebenen Zeitumständen eigentlich noch
gutzuheißen, oder sollte der Wissenschaftler sich nicht statt-
dessen als Widerstandskämpfer engagieren oder wie Dür-
renmatts Möbius sich aus der Öffentlichkeit zurückziehen
und sein Wissen zurücknehmen?

7 . A U S F O R M U N G D E R T H E M AT I K

Rückkehr
zur ›reinen
Forschung‹
möglich?

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8. Autor und Zeit

Bertolt Brechts Lebenszeit fiel in jene Hälfte des vorigen
Jahrhunderts, die den Menschen zwei Weltkriege gebracht
hat. Am Schluss des Ersten wurde er als Zwanzigjähriger
noch zum Lazarettdienst verpflichtet, den Zweiten erlebte
er vom Ausland her mit, weil ihn das Naziregime für vier-
zehn Jahre ins Exil gezwungen hatte. Im Grunde blieben
ihm nur das anderthalbe Jahrzehnt bis 1933 und die neun
Jahre nach seiner Rückkehr aus Amerika bis zu seinem Tod
für eine künstlerische Produktion, die von den politischen
Ereignissen nicht beeinträchtigt oder behindert war. Umso
beachtlicher ist das Werk, das er geschaffen hat.

Brecht, der früh zu schreiben begann, zweifelte nie ernst-

haft an seiner Befähigung zum Dichter, und
die Resonanz beim Publikum gab ihm Recht.
1922 hatte er mit Trommeln in der Nacht sei-
nen ersten Theatererfolg, die Hauspostille,

seine 1927 veröffentlichte erste Lyriksammlung, fand er-
freuliche Beachtung und die bejubelte Uraufführung der
Dreigroschenoper im Jahre 1928 machte den gerade Dreißig-
jährigen weltberühmt.

Die zwanziger Jahre, die er überwiegend in Berlin ver-

brachte, waren für Brecht eine intensive Zeit des Lernens
und der Selbstklärung. Als Resultat seiner Auseinanderset-
zung mit den aktuellen politischen, wirtschaftlichen und ge-

sellschaftlichen Fragen seiner Zeit – Welt-
wirtschaftskrise, hohe Arbeitslosigkeit, so-
ziales Elend – wurde er zum Marxisten, und
diese weltanschauliche ›Wende‹ hat fortan

sein künstlerisches Schaffen geprägt. Je eingehender er mit

Marxistische
Wende

Schriftstellerische
Anfänge

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der marxistischen Interpretation der politisch-ökonomi-
schen Phänomene der modernen Gesellschaft vertraut wur-
de, umso mehr wuchs in ihm die Einsicht, dass diese Wirk-
lichkeit mit den traditionellen Formen der Dichtung nicht
mehr beschrieben und dargestellt werden könne. So begann
er, insbesondere mit dem Drama und auf dem Theater, in-
tensiv zu experimentieren und erarbeitete als Ergebnis die
Form des episch-dialektischen Theaters. Er ersetzte darin
die bislang dominierende Tendenz zu genussvoller Unter-
haltung durch eine gesellschaftliche, politische und pädago-
gische Funktion. Weil letztlich nur die Menschen die Ge-
sellschaft ändern können, will sein Theater fortan das Leben
beeinflussen; indem es die menschlichen Verhältnisse, Ver-
fahren, Verhaltensweisen und Institutionen als veränderbar
darstellt, soll es den Zuschauer zum Eingreifen in die Wirk-
lichkeit motivieren und zu veränderndem Handeln veran-
lassen.

Die nationalsozialistische »Machtergreifung« führte in

Brechts Leben und Werk zu einer harten Zäsur. Marxist aus
Überzeugung, der er war, ohne jemals der kommunistischen
Partei beigetreten zu sein, hatte er sich mit seinen Arbeiten
früh den Hass der Nationalsozialisten zugezogen. Unmit-
telbar nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 ent-
zog er sich darum ihrer absehbaren Verfol-
gung und floh über Prag, Wien und Paris
nach Dänemark. Seine literarischen Werke
wurden bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in die
Flammen geworfen.

Nach Ausbruch des Krieges veranlasste ihn der siegreiche

Vormarsch der deutschen Wehrmacht, »öfter als die Schuhe
die Länder« zu wechseln und zuerst nach Finnland, 1941
dann über die Sowjetunion in die USA zu fliehen.

8 . A U T O R U N D Z E I T

65

Exil

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In der Hoffnung, zur Stärkung der antifaschistischen

Kräfte in Deutschland beizutragen, sodass sie den Zusam-
menbruch der Diktatur herbeiführen könnten, investierte
Brecht, insbesondere in der ersten Phase des Exils, viel Kraft
in den Kampf gegen den Hitler-Faschismus, was Themen
und Sprache seiner Werke bestimmte. In keinem seiner
Gastländer richtete er sich auf Dauer ein, immer blieb die
Rückkehr nach Deutschland sein Ziel, und diese Grundein-
stellung erhielt ihm auch seine Kraft zu literarischer Pro-
duktion von beachtlichem Ausmaß. Er schrieb vor allem
Lyrik und Prosa, aber auch zahlreiche Theaterstücke. Alle
seine großen Dramen – Mutter Courage, Der gute Mensch
von Sezuan, Leben des Galilei, Der kaukasische Kreidekreis
und Herr Puntila und sein Knecht Matti – sind im Exil ent-
standen. Freilich wurden sie nur selten gespielt und konnten
ihre Wirkung erst nach dem Krieg entfalten. Im Exil hat er
auch seine Dramen- und Theatertheorie ausgearbeitet, die
seine Versuche mit einem episch-dialektischen Theater im
Konzept einer »nichtaristotelischen« Dramatik zusammen-
fasste.

Nach der Rückkehr aus dem Exil entschied sich Brecht

für den Osten des geteilten Deutschlands.
Seine Option für das sozialistische System
ließ ihn jedoch nicht übersehen, dass die
Idee der sozialistischen Gesellschaft in der
Realität der DDR keineswegs schon umge-
setzt, vielmehr nur erst als Ziel sichtbar war.

Davon sprechen insbesondere die im Umfeld der Ereignis-
se des 17. Juni 1953 entstandenen Gedichte der Buckower
Elegien.

Die letzten Jahre Brechts galten – neben dem Engagement

in der Akademie der Künste und im PEN-Zentrum – im

66

8 . A U T O R U N D Z E I T

Entscheidung
für den
sozialistischen
Teil Deutschlands

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Wesentlichen der praktischen Theaterarbeit
im Berliner Ensemble. Er konzentrierte sich
auf die Bearbeitung klassischer Stücke (z. B.
von Shakespeare, Molière, Sophokles) sowie
auf die modellhafte Inszenierung der eigenen Werke. Die
Neuinszenierung von Leben des Galilei konnte er aber nicht
mehr zu Ende bringen, er starb noch während der Pro-
ben am 14. August 1956 an den Folgen eines Herzinfarkts.
Wunschgemäß wurde er am 17. August ›in aller Stille‹ auf
dem Dorotheenstädtischen Friedhof neben seiner Wohnung
in der Chausseestraße beigesetzt.

Kurzbiografie

1898 Eugen Berthold Friedrich Brecht wird am 10. Februar

in Augsburg geboren.

1917–19 Studium der Medizin und der Philosophie in

München, unterbrochen durch vier Monate Lazarett-
dienst.

1919 Geburt von Brechts und Paula »Bi« Banholzers Sohn

Frank (gefallen 1943).

1922 Heirat mit der Opernsängerin Marianne Zoff (Schei-

dung 1927).

1923 Geburt von Brechts und Marianne Zoffs Tochter

Hanne.

1924 Geburt von Brechts und Helene Weigels Sohn Stefan.

Übersiedlung von München nach Berlin.

1929 Heirat mit Helene Weigel.
1930 Geburt von Brechts und Helene Weigels Tochter Bar-

bara.

1933–47 Exil mit den Stationen Dänemark (bis 1939),

Schweden (1939/40), Finnland (1940/41), USA (1941–

8 . A U T O R U N D Z E I T

67

Arbeitsschwer-
punkt Theater

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1947). 1935 wird Brecht und seinen Kindern die deut-
sche Staatsbürgerschaft aberkannt.

1947 Rückkehr aus den USA über Paris nach Zürich.
1949 Übersiedlung nach Ost-Berlin. Gründung des Berli-

ner Ensembles unter der Leitung von Helene Weigel.
Brecht ist als Erster Spielleiter für die künstlerische
Arbeit des Theaters verantwortlich.

1950 Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft.
1953 Wahl Brechts zum Präsidenten des PEN-Zentrums

(Ost und West).

1954 Das Berliner Ensemble zieht in das Theater am Schiff-

bauerdamm. Brecht wird Vizepräsident der Deutschen
Akademie der Künste.

1956 Brecht stirbt am 14. August an den Folgen eines Herz-

infarkts.

Werktabelle

1914 Die Bibel. Erstes, in der Schülerzeitschrift Die Ernte

veröffentlichtes Drama Brechts.

1923 Baal. Erstes großes Stück Brechts. Es erzählt die Ge-

schichte eines asozialen Dichters, wüsten Säufers und
Landstreichers, der sein »Glücksverlangen« (Brecht)
hemmungslos und selbstzerstörerisch auslebt, seine
Mitmenschen ausnutzt und zum Mörder an seinem
Freund wird.
Trommeln in der Nacht. Das Stück handelt von dem
totgesagten Kriegsheimkehrer Kragler, der sich mit
den Profitmachern der Nachkriegszeit und der Un-
treue seiner Braut Anna auseinander setzen muss. Als
Anna sich wieder zu ihm bekennt, gibt er den Plan auf,

68

8 . A U T O R U N D Z E I T

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Bertolt Brecht, 1951

Foto: Gerda Goedhardt

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sich der Revolution anzuschließen, und zieht sich in
sein privates Glück zurück.

1923 Im Dickicht der Städte. Drama über den »Kampf

zweier Männer in der Riesenstadt Chicago« (Unter-
titel).

1926 Mann ist Mann. »Lustspiel« über »Die Verwandlung

des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kil-
koa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig« (Un-
tertitel) zu einem »Kollektivmenschen« (Herbert Ihe-
ring), einer menschlichen Kampfmaschine ohne eigene
Identität.

1927 Bertolt Brechts Hauspostille. Eine Sammlung der

(meisten) frühen Gedichte Brechts. Parodistisch-sati-
rische Nachahmung eines christlichen Erbauungsbu-
ches in fünf »Lektionen«, das mit dem Rollengedicht
Vom armen B.B. schließt.

1928 Dreigroschenoper. Das »Stück mit Musik« von Kurt

Weill war der größte Theatererfolg der zwanziger Jah-
re und machte Brecht weltberühmt. Es aktualisiert ei-
ne Oper aus der Zeit des Barock und handelt vom
Straßenräuber Macheath, genannt Mackie Messer, der
mit dem Polizeichef im Bunde steht, auf Betreiben des
Bettlerkönigs Peachum, seines Schwiegervaters, bei-
nahe an den Galgen kommt und doch gerettet wird.

1929 Der Flug der Lindberghs, später in Der Ozeanflug

umbenannt, und Das Badener Lehrstück vom Einver-
ständnis
waren Brechts erste Experimente mit der
Form des politischen Lehrstücks. Zu diesen zählen
u. a. noch die »Schulopern« Der Jasager und Der
Neinsager
(1930) und das Spiel Die Maßnahme (1930).
In diesen Stücken wollte Brecht nicht die Zuschauer,
sondern die Darsteller (meist Schüler) in ein politi-

70

8 . A U T O R U N D Z E I T

background image

sches Verhalten einüben, das auf dem Vorrang des Kol-
lektivs gegenüber dem Individuum gründete. Am radi-
kalsten ist diese ›Lehre‹ in Die Maßnahme realisiert:
Die Tötung eines Genossen wird dadurch gerechtfer-
tigt, dass er die Gemeinschaft, d. i. die kommunistische
Bewegung, gefährdet habe.

1930 Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. »Oper« mit

der Musik von Kurt Weill. Seit ein Hurrikan die von
Kriminellen gegründete Stadt bedrohte, herrscht in ihr
das Gesetz der Anarchie, ist alles erlaubt, auch die
Selbstzerstörung. Das wird in vier Szenen exempla-
risch vorgeführt: »Essen«, »Lieben«, »Kämpfen«,
»Saufen«. Doch »Mangel an Geld« gilt in dieser kapi-
talistischen Gesellschaft als »das größte Verbrechen«.

1931 Die Mutter. Nach einem Roman von Maxim Gorki

dramatisierte Biografie einer Arbeiterfrau, die sich von
der apathischen, unwissenden Mutter zur bewussten
und aktiven Revolutionärin (in der Zeit des zaristi-
schen Russland) wandelt. Erstes konsequent marxis-
tisch orientiertes Stück Brechts.

1932 Die heilige Johanna der Schlachthöfe. Erstes Stück in

der von Brecht entwickelten Form des »epischen«,
später auch »dialektisch« genannten Theaters. Johan-
na Dark, Leutnant der Heilsarmee, wird Opfer des
Machtkampfs zwischen den durch eine große Börsen-
spekulation arbeitslos gewordenen Arbeitern und den
Schlachthofbesitzern Chicagos. Die von ihr angestreb-
te ›rein menschliche‹ Lösung erweist sich als Illusion,
ungewollt wird sie zur Mithelferin der Repression.

1934 Lieder, Gedichte, Chöre. Zusammen mit Hanns Eis-

ler erarbeitete Sammlung politischer Lieder für den
Kampf gegen den Nazismus.

8 . A U T O R U N D Z E I T

71

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Der Dreigroschenroman. Prosaversion des Stoffs der
Dreigroschenoper. Die Räuberphase Macheaths bildet
hier aber nur die Vorgeschichte zu seiner Karriere als
Geschäftsmann, die er mit allen verbrecherischen Mit-
teln organisiert, ohne sich dabei selbst die Hände
schmutzig zu machen. Die Parallelen zum (aufhalt-
baren) Aufstieg Hitlers sind beabsichtigt.

1936 Die Rundköpfe und die Spitzköpfe. »Ein Greuelmär-

chen« über Rassenhass und ethnische Verfolgung, für
das Hitlers Rassentheorie Modell stand. Die rundköp-
figen Machthaber des Landes machen die Spitzköpfe
für das wirtschaftliche Elend verantwortlich und ver-
folgen sie. Am Ende tafeln die reichen Rundköpfe mit
den reichen Spitzköpfen und die Armen beider ›Ras-
sen‹ baumeln gemeinsam am Galgen.

1938 Furcht und Elend des Dritten Reiches. Die Szenenfol-

ge zeichnet ein Bild von der Situation der Menschen
unter der nationalsozialistischen Diktatur. Thema ist
die Deformation ihres Lebens durch Lüge, Anpas-
sung, Misstrauen, Feigheit, Angst, Denunziation und
Verrat, die alltägliche Schande und Erniedrigung.

1939 Svendborger Gedichte. Der in sechs Abschnitte geglie-

derte Zyklus der Gedichte der ersten Exilzeit enthält
u. a. die antifaschistischen Texte der Deutschen Kriegs-
fibel
und die für den deutschen Freiheitssender in
Moskau geschriebenen Deutschen Satiren, aber auch
eine erste Sammlung von Kinderliedern. Den Ab-
schluss bildet das berühmt gewordene Gedicht An die
Nachgeborenen.

1940 Flüchtlingsgespräche. Dialog zwischen dem Intellektu-

ellen Ziffel, einem Physiker, und dem Metallarbeiter
Kalle im Bahnhofsrestaurant von Helsinki. Beide sind

72

8 . A U T O R U N D Z E I T

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aus Deutschland vertriebene Opfer des Nationalsozia-
lismus. Ihre Gespräche kreisen um die Heimat und die
Frage, wie es mit dieser Heimat so weit hat kommen
können.

1941 Mutter Courage und ihre Kinder. Diese »Chronik aus

dem Dreißigjährigen Krieg« (Untertitel) über die
Sinnlosigkeit des Krieges gilt als eines der epischen
Musterdramen Brechts. Die Marketenderin Anna
Fierling, genannt Courage, die sich den Zeiten anpasst
und nach der Devise handelt, dass gut ist, was dem Ge-
schäft nützt, verliert durch den Krieg ihre drei Kinder.
Doch sie bleibt unbelehrt und zieht weiter mit ihrem
Planwagen von einem Kriegsschauplatz zum anderen.
Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Parabelstück,
in dem die Geschichte des Hitlerfaschismus von der
Weltwirtschaftskrise bis zur Okkupation Österreichs
in das Milieu amerikanischer Gangstersyndikate ver-
fremdet ist.

1943 Der gute Mensch von Sezuan. Typischstes Parabel-

stück Brechts. Am Verhalten der von drei Göttern auf
der Suche nach einem guten Menschen entdeckten
Prostituierten Shen Te wird gezeigt, dass es unmöglich
ist »gut zu sein und doch zu leben«. Shen Te vermag
ihre Güte nur dadurch durchzusetzen, dass sie sich als
ihr »schlechter« Vetter verkleidet und durch ihn ihre
Geschäfte auf immer brutalere Weise tätigt. Auch die
Götter wissen keine »Lösung« für das Dilemma, diese
ist im Epilog den Zuschauern aufgegeben.
Leben des Galilei.

1944 Der kaukasische Kreidekreis. Eines der konsequentes-

ten und dichterisch gelungensten Beispiele des epi-
schen Theaters Brechts. Das als Spiel im Spiel konzi-

8 . A U T O R U N D Z E I T

73

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pierte Parabelstück stellt die Frage, wem der Boden,
den die Bauern bestellen, gehören soll. Als Beispiel ei-
ner Lösung spielt eine Theatergruppe die Salomoni-
sche Kreidekreisprobe aus der Bibel. Das Urteil wird
allerdings umgekehrt: Nicht die leibliche Mutter erhält
das Kind, sondern die Magd, die die Verantwortung
und Sorge übernommen hat. Diese soziale Bestim-
mung des Muttertums gilt entsprechend für das Eigen-
tum der Bauern.

1948 Herr Puntila und sein Knecht Matti. »Volksstück«

(Untertitel). In nüchternem Zustand ist Puntila grob,
unausstehlich und hartherzig, menschlich ist er nur im
Rausch. Matti verlässt ihn, denn Knechte haben es nur
dann erträglich, »wenn sie erst ihre eignen Herren
sind«.
Kalendergeschichten. Sammlung von acht Erzählun-
gen, denen alternierend Gedichte aus dem Zyklus
der Svendborger Gedichte gegenüberstehen. Aufge-
nommen sind außerdem 39 Geschichten vom Herrn
Keuner
.
Kleines Organon für das Theater. Essay, in dem Brecht
seine Theorie des episch-dialektischen Theaters dar-
legt.

1950 Neue Kinderlieder. In diesen Texten konkretisiert

Brecht zum ersten Mal nach dem Krieg wieder seinen
Glauben an eine neue sozialistische Wirklichkeit, die
auf humanen Verhaltensweisen und neuen Gefühlen
und Gedanken beruht.

1951 Die Verurteilung des Lukullus. »Oper«. Der Eroberer

Lukullus wird von dem Totenrichter »ins Nichts« ver-
stoßen, weil seine Kriege die Menschen ins Unglück
gestürzt haben.

74

8 . A U T O R U N D Z E I T

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1953 Buckower Elegien. Sammlung von »epigrammatischen

Kurzgedichten« (Peter Paul Schwarz), in denen Brecht
den eigenen Standort und die gesellschaftliche und po-
litische Situation der DDR nach dem Aufstand vom
17. Juni 1953 reflektiert. Klage und Betroffenheit über
die ostdeutsche Wirklichkeit, die aufgrund einer büro-
kratisch erstarrten Führung noch nicht zum erstrebten
Ziel der sozialistischen Gesellschaft gelangt ist.
Turandot oder Der Kongreß der Weißwäscher. Nach
einem Chinesischen Märchen gestaltetes Stück über
die Verführbarkeit und Anpassung des Intellektuellen
in der Zeit des Nationalsozialismus.

Literaturgeschichtliche Bezüge und Rezeption

Brechts episch-dialektisches Theater wurde lange Zeit als
das beispielgebende Muster der modernen
Dramatik des zwanzigsten Jahrhunderts
angesehen. Das theoretische Konzept dazu
hat er nicht systematisch ausgearbeitet,
sondern in engem Zusammenhang mit sei-
ner praktischen Theaterarbeit entwickelt. Es besteht im
Kern aus einer neuen Dramaturgie des Zuschauers.
Brecht will auf dem Theater Modelle für praktikable ge-
sellschaftliche Lösungen zeigen; dafür muss er den Men-
schen ihre eigene Wirklichkeit erst wieder sichtbar ma-
chen, und zwar als eine Lebenswelt, die veränderbar ist.

43

Das heißt, er muss ihnen das Bekannte als fremd zeigen,
damit sie es in einer distanziert-kritischen Haltung wahr-
nehmen und nicht wie im illusionistischen Theater der
aristotelischen Traditionslinie am dramatischen Gesche-
hen emotional beteiligt sind.

8 . A U T O R U N D Z E I T

75

Das Konzept
des episch-dialek-
tischen Theaters

background image

Die Darstellungsform, mit der Brecht derartige Zuschau-
erreaktionen glaubt erreichen zu können, ist die »Ver-

fremdung«, die inhaltlich durch die Histo-
risierung und theaterpraktisch durch schau-
spielerische und bühnentechnische Maßnah-

men bewirkt wird. Sie hat die Theorie und Praxis des
episch-dialektischen Theaters so sehr geprägt, dass sie als
bestimmende »Grundstruktur« des Brechtschen Werkes
bezeichnet wurde.
Ziel der Dramaturgie Brechts ist eine »Emanzipation des
Zuschauers«

44

. Anders als das traditionelle ›dramatische‹

Theater verlangt er von ihm eine erhebliche aktiv-schöp-
ferische Leistung. Die Darstellungen auf der Bühne sollen
ihn zur denkenden Mitarbeit anregen, ihn eingreifendes
Denken lehren. Er soll produktiv werden über das Zu-
schauen hinaus, über die Kunst hinaus in die gesellschaft-
liche Praxis hineinwirken, seine im Theater gewonnenen
Einsichten zur Veränderung der politisch-sozialen Wirk-
lichkeit nutzen.
In seiner späten Schaffensphase präzisiert Brecht die Dia-

lektik auf dem Theater als Genuss und das eingreifende
Denken als Lust. Dadurch kann er Unterhaltung und Be-
lehrung, die beiden Grundfunktionen der Kunst, bruchlos

in sein dramaturgisches Konzept integrieren.
Den Katzgraben-Notaten (1953), Anmer-
kungen zu einem Stück von Erwin Strittmat-
ter, stellte er das Motto voraus: »Es ist nicht

genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse,
aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser
Theater muss die Lust am Erkennen wecken, den Spaß an
der Veränderung der Wirklichkeit organisieren.«

45

Für Brecht hat die heutige Welt nicht nur Änderungen

76

8 . A U T O R U N D Z E I T

Verfremdung

Unterhaltung
und Belehrung

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nötig, er hält sie auch für veränderbar und be-
trachtet das Theater als ein wichtiges Movens
dieser Veränderung. In diesem Sinne prak-
tiziert das episch-dialektische Theater eine
»Dramaturgie der Veränderung«

46

, versteht es sich als Dra-

ma des gesellschaftlichen Eingriffs.

Als Brecht nach fünfzehn Jahren Exil ›nach Hause‹

zurückkehrte, war nicht sicher, ob er an seine erfolgreiche
Theaterarbeit in der Weimarer Zeit wieder anknüpfen kön-
ne. Zu lange und zu radikal war er von ›seinem‹ Publikum
abgeschnitten gewesen. Mit dem Ost-Berliner »Theater am
Schiffbauerdamm« und dem von ihm begründeten »Berliner
Ensemble« schuf er sich dann jedoch ein einzigartiges In-
strument, um seine Werke wie seine Theorie
konsequent an der praktischen Theaterarbeit
zu überprüfen und zu modifizieren. In den
fünfziger und vor allem in den sechziger
Jahren war Brechts Stellung als Bühnenautor
dominierend, seine Autorität als Theoretiker
unbestritten. Es existierte keine Dramentheo-
rie, die über die seine hinausgewiesen hätte, es
gab kein Werk, das nicht an seinem gemessen worden wäre.
Kein zeitgenössischer Dramatiker konnte sich der Ausein-
andersetzung mit Brecht entziehen, und »sei es durch Mo-
difikation, durch Widerspruch oder durch Absage«

47

.

Abgesehen von einer ganzen Generation von DDR-Dra-
matikern wie Peter Hacks, Volker Braun
und Heiner Müller beeinflusste Brecht
auch die Entwicklung des Theaters in der
Bundesrepublik. Herausragende Beispiele
einer produktiv-kritischen Rezeption fin-
den sich im Werk Max Frischs, der wie Brecht Parabel-

8 . A U T O R U N D Z E I T

77

Dramaturgie der
Veränderung

Brechts
dominierende
Stellung in der
deutschsprachi-
gen Nachkriegs-
dramatik

Literatur-
geschichtliche
Wirkung

background image

stücke schrieb, sie aber, wie etwa Biedermann und die
Brandstifter
, als »Lehrstücke ohne Lehre« gegen ihn ab-
grenzte und, noch intensiver, bei Friedrich Dürrenmatt
mit seiner Komödientheorie. Dürrenmatt setzte Brechts

zentraler dramaturgischer Forderung, die Welt sei auf dem
Theater »als veränderbar« darzustellen, die These entgegen,
dieser »alte Glaubenssatz der Revolutionäre, daß der
Mensch die Welt verändern könne«, sei »für den einzelnen
unrealisierbar geworden, außer Kurs gesetzt, […] nur noch
für die Menge brauchbar, als Schlagwort, als politisches Dy-
namit, als Antrieb für die Massen, für die grauen Armeen
der Hungernden«.

48

Während Frisch und Dürrenmatt Distanz zu Brecht
suchten, knüpften die westdeutschen Autoren des politi-
schen Theaters der sechziger Jahre mehr oder weniger
ausdrücklich an Brechts Theaterkonzeption an: beispiels-
weise Martin Walser mit kritischen Zeitstücken, Heinar
Kipphardt und Peter Weiss mit Stücken dokumentari-
schen Theaters und Franz Xaver Kroetz mittels der Form
des neuen, kritischen Volksstücks. Wie selbstverständlich
nehmen sie Stilmittel des epischen Theaters auf, seine
Verfremdungsverfahren, seine musikalischen Elemente,
seinen lehrhaft-pädagogischen Charakter. Vor allem aber
machen sie ernst mit Brechts Anspruch einer eingreifen-
den, gesellschaftliche und politische Veränderung bewir-
kenden Kunst.

Brechts Theaterarbeit war also nicht so folgenlos, wie er

es selbst einmal in einer Bemerkung gegenüber dem Thea-
terwissenschaftler Ernst Schumacher skeptisch zum Aus-
druck brachte, indem er die berühmte Zeile aus der Drei-
groschenoper
»Erst kommt das Fressen, dann kommt die
Moral« als den Satz bezeichnete, der ihm einen dauerhaften

78

8 . A U T O R U N D Z E I T

background image

Platz in der Literaturgeschichte verschaffen werde. Auch
Max Frischs berühmt gewordener Spruch von der »durch-
schlagenden Wirkungslosigkeit« des Klassikers Brecht muss
nicht zum Nennwert genommen werden. Zwar hat es, vor
allem in den fünfziger und sechziger Jahren, vor dem Hin-
tergrund der Ost-West-Konfrontation und des Kalten Krie-
ges Phasen des Widerstands oder der Abstinenz gegenüber
Brecht gegeben, diese Einstellungen sind jedoch Geschich-
te. Auch heute stößt Brechts Werk weiter auf
das Interesse von Lesern und Theaterbesu-
chern, und keineswegs nur, weil etwa sein
vor wenigen Jahren gefeierter hundertster
Geburtstag Anlass zur Wiederentdeckung
gab. Auf die Rezeption seiner Werke verzichten hieße »ei-
nen Fundus menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten in den
Wind schlagen«

49

, den seine literarischen Modelle, nicht zu-

letzt ein Stück wie Leben des Galilei, noch immer bereit-
halten.

8 . A U T O R U N D Z E I T

79

Aktualität der
›dramatischen
Bilder‹ Brechts

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9. Checkliste

1. Welche zeitgeschichtlichen Ereignisse haben Brecht zur

mehrfachen Beschäftigung mit dem Galilei-Stoff veran-
lasst?
Beschreiben Sie die Auswirkungen der jeweiligen histori-
schen Situation auf die drei Fassungen des Stücks.

2. Vergleichen Sie (evtl. mit Hilfe weiterer Informationen)

die historische Gestalt Galileis mit Brechts dramatischer
Figur.
Warum ist das Stück keine Lebenschronik Galileis?
Mit welcher Absicht nimmt Brecht in dem Stück eine
Neubewertung der historischen Figur vor?

3. Beschreiben Sie Galileis wissenschaftliche Arbeitsweise

im Stück.
Was versteht er unter »vernünftigem Sehen«?
Welche Rolle spielt der Zweifel in seinem Forschungs-
programm?

4. Aus welchen Gründen bewirbt sich Galilei um eine Stelle

am Hof von Florenz? Beschreiben Sie die Konsequenzen
dieser Entscheidung.

5. In welcher Weise wandelt sich Galilei vom Helden zum

Anti-Helden? Warum widerruft er?
Erklären Sie Galileis Replik »Unglücklich das Land, das
Helden nötig hat« auf Andreas Vorwurf »Unglücklich
das Land, das keine Helden hat«.

6. Wie definiert Galilei das Ethos des Wissenschaftlers?

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7. Worin besteht Galileis Versagen gegenüber den eigenen

Ansprüchen?
Erklären Sie, warum Brecht Galileis Widerruf als »Ver-
brechen« darstellt?

8. Wie begründet Brecht Galileis Selbstvorwurf, die Wis-

senschaftler hätten aufgrund seines Widerrufs die histo-
rische Chance nicht genutzt, einen Moralkodex (eine
Art hippokratischen Eid) zu entwickeln?

9. Wie berurteilt Galilei die Folgen dieses Versagens für die

Menschheit? Welche Konsequenz zieht Brecht aus Gali-
leis Verhalten für seine eigene Gegenwart?

10. Entspricht Brechts Vorwurf der schuldhaft versäumten

Einflussnahme Galileis auf die Entwicklung der Wissen-
schaft den politisch-sozialen Gegebenheiten der Zeit?
Unter welchen Bedingungen wären seine Erwartungen
an die dramatische Figur von ihr erfüllbar gewesen?

11. Das Stück schließt mit einer bedingt optimistischen

Zukunftsperspektive. Beschreiben Sie die Voraussetzun-
gen von Brechts Fortschrittsoptimismus.

12. Beschreiben Sie die Funktion der Kirche in dem Stück.

Welche Rollen weist Brecht ihren verschiedenen Reprä-
sentanten zu?
Welche besondere Stellung hat der »kleine Mönch«?

13. Beschreiben Sie den Konflikt zwischen der neuen Wis-

senschaft und der Religion.
Wodurch unterscheiden sich die Beweisführungen für
die Wahrheit des alten und des neuen Wissens?

9 . C H E C K L I S T E

81

background image

Worin besteht die theologische Brisanz des durch Ga-
lileis Forschungen bestätigten kopernikanischen Welt-
bildes?

14. Beschreiben Sie den Konflikt zwischen der neuen Wis-

senschaft und der Gesellschaft.
Welche sozialen Auswirkungen haben die Forschungen
und Entdeckungen Galileis?
Wie reagieren die Mächtigen und Besitzenden – zum
Beispiel Ludovico – auf die absehbaren Folgen des wis-
senschaftlichen Fortschritts?

15. Was macht Andrea zum Repräsentanten der neuen Zeit?

16. Die künstlerischen Gestaltungsmittel Brechts

Wie unterscheidet sich Leben des Galilei in der Gestal-
tung von Ort, Zeit und Handlung von einem klassischen
Drama?
Welche Wirkungen gehen von dem parallelen und kon-
trastiven Aufbau des Stückes aus?
Was versteht Brecht unter »verfremden«?
Wie verwendet er die Verfremdungsmittel in Leben des
Galilei
?

17. Was versteht Brecht unter »historisieren«?

Beschreiben Sie die Formen der Historisierung in Leben
des Galilei
.

18. Welche ›Dramaturgie des Zuschauers‹ verfolgt Brecht?

Beschreiben Sie die beabsichtigte Wirkung von Verfrem-
dung und Historisierung auf die Zuschauer.

19. Ist Leben des Galilei ein Geschichtsdrama oder eine Pa-

rabel?

82

9 . C H E C K L I S T E

background image

Welche Auswirkungen hat die Dramenform auf die Pro-
blemstellung des Stücks?

20. Zeigt das Stück eine aktuelle Thematik? Reicht sein

Sinnpotential in die Gegenwart hinein?

21. Friedrich Dürrenmatts Stück Die Physiker

Erklären Sie den Rückzug von Möbius ins Irrenhaus.
Welche Begründungen gibt er für seinen Entschluss?
Warum scheitert Möbius mit seinem Entschluss, die
Welt vor den Auswirkungen seiner Entdeckungen zu
retten?
Welche Folgen hat die »schlimmstmögliche Wendung«
der Ereignisse des Stücks?

22. Worin besteht die »Zurücknahme Brechts« in Die Phy-

siker?

23. Sind Möbius und Oppenheimer »mutige« Wissenschaft-

ler?

24. Vergleichen Sie Brechts Haltung zur sozialethischen

Verantwortung der Wissenschaft mit den Positionen von
Dürrenmatt und Kipphardt.

25. Welche Wirkungen gingen von Brechts dramatischem

Schaffen und seiner Theorie des episch-dialektischen
Theaters auf das Drama und Theater der Gegenwart
aus?

9 . C H E C K L I S T E

83

background image

10. Lektüretipps

Textausgaben

Bertolt Brecht: Leben des Galilei. Frankfurt a. M.: Suhr-

kamp Verlag, 1965 [u. ö.]. (edition suhrkamp, 1.) – Text
der 3., sogenannten Berliner Fassung des Stücks. Nach die-
ser Ausgabe wird zitiert
.

Bertolt Brecht: Leben des Galilei. In: B. B., Werke. Stücke 5.

Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe.
Hrsg. von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mitten-
zwei, Klaus-Detlef Müller. Bd. 5. Berlin/Weimar: Auf-
bau-Verlag. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1988. S. 187–289
und 331–449. – Nach wissenschaftlichen Kriterien bear-
beitete, sogenannte historisch-kritische Textausgabe mit
Erläuterungen zur Entstehung, zu den verschiedenen
Textfassungen, zur Wirkung und mit einem Zeilenkom-
mentar.

Zum Nachschlagen von Sachbegriffen

Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen.

Hrsg. von Günther und Irmgard Schweikle. 2., überarb.
Aufl. Stuttgart: Metzler, 1990. – Vorzügliches einbändiges
Sachwörterbuch zu allen wichtigen Begriffen.

Theater-Lexikon. Kompaktwissen für Schüler und junge

Erwachsene. Hrsg. von Lothar Schwab und Richard We-
ber. Frankfurt a. M.: Cornelsen Scriptor, 1991. – Zuver-
lässiges und verständlich geschriebenes Nachschlagewerk
über die Geschichte des Theaters, Theaterformen, drama-
turgische Begriffe.

background image

Zur Einführung in das Drama

Asmuth, Bernhard: Einführung in die Dramenanalyse. 5.,

aktualisierte Aufl. Stuttgart: Metzler, 1997. – Vorwiegend
theorieorientierte Darstellung der Aspekte und Elemente
des Dramas von seiner literarischen Form bis zur Bühnen-
aufführung.

Zu Bertolt Brecht

Allgemeinverständlich

Hecht, Werner (Hrsg.): Bertolt Brecht. Sein Leben in Bil-

dern und Texten. Mit einem Vorwort von Max Frisch.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1978. Frankfurt a. M.: Suhr-
kamp Taschenbuch Verlag 2000.– Umfängliche, vorzüg-
lich zusammengestellte und kommentierte Bildbiografie.

Hecht, Werner (Hrsg.): alles, was Brecht ist … Fakten –

Kommentare – Meinungen – Bilder. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp, 1997. – Aus Anlass des hundertsten Todestages
erschienenes Brecht-»Medienhandbuch« mit informati-
ven Materialien zu Brechts dramatischem Werk auf der
Bühne und zu seinen Werken im deutschsprachigen Hör-
spiel sowie in Film und Fernsehen.

Lattmann, Dieter: Kennen Sie Brecht? Stationen seines Le-

bens. Stuttgart: Reclam, 1988. [u. ö.]. – Aus subjektiver
Perspektive geschriebene knappe, thematisch strukturierte
Biografie, mit Daten zu Leben und Werk und Literatur-
hinweisen.

Völker, Klaus: Bertolt Brecht. München: Deutscher Ta-

schenbuch Verlag, 1978. – Sehr informative Biografie, in
der Brechts Leben und Werk ineinander verwoben darge-
stellt werden.

1 0 . L E K T Ü R E T I P P S

85

background image

Literaturwissenschaftliche Darstellungen

Interpretationen: Brechts Dramen. Hrsg. von Walter Hin-

derer. Stuttgart: Reclam, 1995 [u. ö.]. – Gute Einführung
in die Theatertheorie und das dramatische Werk Brechts
in Form von Einzelinterpretationen zu
Baal und den
großen zeitüberdauernden Bühnenstücken.

Knopf, Jan: Bertolt Brecht. Stuttgart: Reclam, 2000. – Kom-

petenter Überblick über Brechts Biografie und Gesamt-
werk, mit ausführlicher Bibliografie der Primär- und Se-
kundärliteratur.

Müller, Klaus Detlef (Hrsg.): Bertolt Brecht. Epoche – Werk

– Wirkung. München: C. H. Beck, 1985. – Sehr gute, als
wissenschaftliches Arbeitsbuch konzipierte Gesamtdar-
stellung von Brechts Werk, mit einer Einführung in den
zeitgeschichtlichen Hintergrund und in die Rezeption.

Payrhuber, Franz-Josef: Literaturwissen Bertolt Brecht.

Stuttgart: Reclam, 1995 [u. ö.]. – Einführung in das Ge-
samtwerk Brechts, überwiegend in Form von Einzelinter-
pretationen.

Zur literaturwissenschaftlichen Interpretation
von Leben des Galilei

Materialien

Erläuterungen und Dokumente: Bertolt Brecht: Leben des

Galilei. Von Peter Langemeyer. Stuttgart: Reclam, 2001. –
Ausführliche Wort- und Sacherklärungen, Materialien
zum Stoff und seiner Geschichte, zu Entstehungsgeschich-
te und den verschiedenen Fassungen, Dokumente zum
Werk auf der Bühne und zur Rezeptionsgeschichte.

86

1 0 . L E K T Ü R E T I P P S

background image

Brechts Leben des Galilei. Hrsg. von Werner Hecht. Frank-

furt a. M.: Suhrkamp, 1981 [u. ö.]. – Informativer Mate-
rialienband mit einem Fassungsvergleich, Selbstaussagen
Brechts, Dokumenten zur Theaterarbeit und Interpreta-
tionen.

Interpretationen

Knopf, Jan: Bertolt Brecht Leben des Galilei. Sichtbarma-

chen des Unsichtbaren. In: Interpretationen: Dramen des
20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart: Reclam, 1996. S. 7–26.
Aufschlussreiche, vom Motiv des ›Neuen Sehens‹ gelei-
tete Interpretation.

Knust, Herbert: Leben des Galilei. Frankfurt a. M.: Diester-

weg 1982. – Grundlagen zur Interpretation und kompak-
ter Überblick über die Positionen der literaturwissen-
schaftlichen und theatergeschichtlichen Rezeption, mit
Abdruck repräsentativer Theaterkritiken.

Sautermeister, Gert: Leben des Galilei. In: Interpretationen:

Brechts Dramen. Hrsg. von Walter Hinderer. Stuttgart:
Reclam, 1995 [u. ö]. S. 51–92. – Kenntnisreiche Interpre-
tation auf der Grundlage neuerer Forschungen.

1 0 . L E K T Ü R E T I P P S

87

background image

Anmerkungen

1

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-

kamp, Bd. 10, Frankfurt a. M. 1967, S. 1029.

2

Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, in: Werner Hecht (Hrsg.),

Bertolt Brecht. Leben und Werk im Bild, Frankfurt a. M.

2

1986,

S. 271–277, hier: S. 271f.

3

Zitiert wird, mit Angabe der Seitenzahl, nach der Ausgabe in

edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 1965 [u. ö.].

4

Gert Sautermeister, »Leben des Galilei«, in: Interpretationen:

Brechts Dramen, hrsg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1995
[u. ö.], S. 51–92, hier: S. 59.

5

Sautermeister (Anm. 4), S. 59.

6

Wolfgang Hallet, Bertolt Brecht: »Leben des Galilei«, München

2

2000, S. 65.

7

Klaus Detlef Müller, Bertolt Brecht. Epoche – Werk – Wirkung,

München 1985, S. 275.

8

Müller (Anm. 7), S. 276.

9

Sautermeister (Anm. 4), S. 64.

10

Vgl. u. a. Ernst Schumacher, Drama und Geschichte. Bertolt

Brechts »Leben des Galilei« und andere Stücke, Berlin 1968.

11

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-

kamp, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1967, S. 1109.

12

Vgl. Rémy Charbon, Die Naturwissenschaften im modernen

deutschen Drama, München 1974, S. 151f.

13

Vgl. Friedrich Diekmann, »Galilei-Komplikationen«, in: Wei-

marer Beiträge 1988, H. 2, S. 213–229. Hallet übernimmt Diek-
manns Schema in seinen schulpraktischen Kommentar; vgl. Hal-
let (Anm. 6), S. 85.

14

Vgl. Bertolt Brecht, Kleines Organon für das Theater, in: Brecht

(Anm. 11), S. 659–708, hier: S. 693ff.

15

Müller (Anm. 7), S. 228.

16

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-

kamp, Bd. 15, Frankfurt a. M. 1967, S. 294f.

17

Zum Folgenden vgl. den Kommentar in: Bertolt Brecht, Werke,

Stücke 5. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausga-
be, Berlin / Weimar / Frankfurt a. M. 1988, S. 351.

18

Bertolt Brecht, Arbeitsjournal 1942 bis 1955. Frankfurt a. M.

1993, S. 602.

background image

19

Brecht (

Anm. 11

), S. 1110 f.

20

Brecht (

Anm. 11

), S. 1132.

21

Brecht (

Anm. 11

), S. 1111.

22

Charbon (

Anm. 12

), S. 138.

23

Brecht (

Anm.16

), S. 302.

24

Brecht (

Anm. 11

), S. 1110.

25

Detlev Schöttker, Bertolt Brechts Ästhetik des Naiven, Stuttgart

1989, S. 287.

26

Brecht (

Anm. 11

), S. 1132.

27

Brecht (

Anm. 11

), S. 1132.

28

Brecht (

Anm. 11

), S. 1110.

29

Brecht (

Anm. 11

), S. 1111.

30

Brecht (

Anm. 11

), S. 1110.

31

Wolfgang Frühwald, »Eine Moritat vom Ende des Individuums:

Das Theaterstück Baal«, in: Walter Hinderer (Hrsg.), Brechts
Dramen
, Stuttgart 1984, S. 33–47, hier: S. 40.

32

Sautermeister (

Anm. 4

), S. 69.

33

Jan Knopf, Der Dramatiker Friedrich Dürrenmatt, Berlin 1987,

S. 113.

34

Sautermeister (

Anm. 4

), S. 69.

35

Bertolt Brecht, Gesammelte Werke. werkausgabe edition suhr-

kamp, Bd. 16, Frankfurt a. M. 1967, S. 700.

36

Friedrich Dürrenmatt: Die Physiker, in: F. D., Werkausgabe in

dreißig Bänden, Bd. 7, Zürich 1988, S. 75.

37

Dürrenmatt (Anm. 36), S.76.

38

Dürrenmatt (Anm. 36), S. 77.

39

Dürrenmatt (Anm. 36), S. 74.

40

Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit

1945, Stuttgart 1995, S. 185.

41

Heinar Kipphardt, In der Sache J. Robert Oppenheimer, Frank-

furt a. M. 1964 [u. ö.], S. 147.

42

Kipphardt (Anm. 41), S. 146.

43

Vg. Florian Vaßen, »Bertolt Brecht«, in: Alo Allkemper / Nor-
bert Otto Eke (Hrsg.), Deutsche Dramatiker des 20. Jahrhun-
derts
, Berlin 2000, S. 267–286, hier S. 277.

44

Walter Hinck, Alle Macht den Lesern, in: W. H., Von Heine

zu Brecht. Lyrik im Geschichtsprozess, Frankfurt a. M. 1978,
S. 105–124, hier S. 106.

45

Brecht (Anm. 35), S. 774.

46

Müller (

Anm. 7

), S. 209.

A N M E R K U N G E N

89

background image

47

Walter Hinck, Das moderne Drama in Deutschland. Vom ex-

pressionistischen zum dokumentarischen Theater, Göttingen
1973, S. 159.

48

Friedrich Dürrenmatt, Friedrich Schiller, in: F. D.,Werkausgabe

in dreißig Bänden, Bd. 26, Zürich 1980, S. 82–102, hier S. 96f.

49

Theo Buck, »Der kaukasische Kreidekreis. Der Garten des

Azdak. Von der Ästhetik gesellschaftlicher Produktivität«, in:
Interpretationen Brechts Dramen, hrsg. von Walter Hinderer,
Stuttgart 1995, S. 146–177, hier S. 166.

90

A N M E R K U N G E N


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