Lew Tolstoy Anna Karenina




Lew Tolstoy


Anna Karenina



Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie aber ist auf ihre Art unglücklich.

Im Hause Oblonsky war alles in Verwirrung. Die Frau des Hauses hatte erfahren, dass ihr Mann mit der früher angestellten französischen Gouvernante eine Liebschaft unterhielt, und sie hatte daher ihrem Mann erklärt, sie wolle nicht mehr mit ihm unter einem Dach wohnen. Es war schon der dritte Tag, dass dieser gespannte Zustand fortdauerte und sowohl den Ehegatten als allen Gliedern der Familie und der Dienerschaft peinlich fühlbar wurde. Alle fühlten, dass Herr und Frau einander jetzt ferner standen als Leute, die zufällig in einem Gasthause zusammentrafen. Die Frau verließ ihre Gemächer nicht, der Herr war seit drei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen; die Kinder liefen wie verloren im Hause umher, die englische Gouvernante zankte sich mit der Wirtschafterin und schrieb einer Freundin, sie möge ihr eine andere Stelle besorgen. Der Koch war schon gestern Abend fortgegangen, und die Waschfrau und der Kutscher baten um ihre Entlassung.

Am dritten Tage nach dem Streit erwachte der Fürst Stepan Arkadjewitsch Oblonsky – oder Stiwa, wie er unter Bekannten hieß – um acht Uhr morgens, aber nicht im gemeinsamen Schlafzimmer, sondern in seinem Arbeitszimmer, auf einem Ledersofa. Er reckte seinen wohlgenährten Körper, als wünsche er noch weiterzuschlafen, umarmte das Kopfkissen und drückte seine Wange darauf. Plötzlich aber sprang er auf, setzte sich auf dem Sofa aufrecht und öffnete die Augen.

Ja, wie war das doch gleich?‹ dachte er, sich an seinen Traum erinnernd. ›Ja, Alabin gab ein Diner in Darmstadt! Nein, nicht in Darmstadt, es war etwas Amerikanisches! Nun ja, Darmstadt lag in Amerika! Ja, Alabin gab ein Diner auf gläsernen Tischen, und die Tische sangen: ›Il mio tesoro‹, oder nein, nicht ›Il mio tesoro‹, sondern etwas Besseres! Und da waren auch kleine Fläschchen die wie Frauenzimmer aussahen.‹

Die Augen Oblonskys leuchteten fröhlich auf, und lächelnd sammelte er seine Erinnerungen. ›Ja, es war hübsch, sehr hübsch!‹ Als er das Tageslicht durch die Vorhänge hereinschimmern sah, schnellte er die Füße vom Sofa herab und tastete damit nach seinen gestickten Pantoffeln, ein Geschenk seiner Frau zu seinem letzten Geburtstage, und nach alter neunjähriger Gewohnheit streckte er, ohne aufzustehen, den Arm nach der Stelle aus, wo in seinem Schlafzimmer sein Schlafrock hätte hängen müssen. Nun erst erinnerte er sich plötzlich, warum er nicht im Schlafzimmer, sondern in seinem Arbeitszimmer war. Das Lächeln erstarb, und er runzelte die Stirn.

»Ach! Ach! Ach!« seufzte er und erinnerte sich wieder aller Einzelheiten seines Zanks mit seiner Frau, seiner hilflosen Lage und, was noch peinlicher war als alles dies, seiner eigenen Schuld, die ihn am meisten quälte.

Ja, sie wird und kann mir nicht vergeben, und das schrecklichste ist, dass ich selbst schuld bin. Ich bin schuld, und kann doch nichts dafür. Darin liegt eben der Knoten des Dramas‹, dachte er. »Ach! Ach! Ach!« wiederholte er trübselig.

Am unangenehmsten war der Augenblick gewesen, als er vergnügt und zufrieden aus dem Theater zurückkehrte, mit einer prächtigen französischen Birne für seine Frau in der Hand, sie aber nicht im Wohnzimmer traf und zu seiner Verwunderung auch nicht im Kabinett, sondern endlich im Schlafzimmer mit dem unglücklichen Brief in den Händen, der ihr alles entdeckt hatte. Sie, diese ewig unruhige, sorgenvolle und, wie er geglaubt hatte, beschränkte Dolly saß, unbeweglich da mit dem Brief in der Hand und sah ihn mit dem Ausdruck des Erstaunens, des Zornes und des Entsetzens an.

»Was ist das? Das da?« fragte sie, auf den Brief deutend, und am peinlichsten war Oblonsky in der Erinnerung weniger die ganze Szene selbst als die Art, wie er auf diese Worte seiner Frau geantwortet hatte.

Anstatt sich beleidigt zu stellen, zu leugnen, sich zu rechtfertigen, um Verzeihung zu bitten, oder auch ganz gleichgültig zu bleiben – alles das wäre besser gewesen als das, was er wirklich tat –, war auf seinem Gesicht ganz unwillkürlich plötzlich das gewohnte gutmütige und darum alberne Lächeln erschienen. (›Hirnreflexe!‹ dachte Oblonsky, der für Physiologie schwärmte.) Dieses blöde Lächeln konnte er sich nicht verzeihen. Als Dolly es bemerkt hatte, war sie aufgefahren, wie bei einem körperlichen Schmerz, und mit der ihr eigenen Heftigkeit hatte sie ihn mit einem Strom bitterböser Worte überschüttet und dann das Zimmer verlassen. ›An allem ist dieses alberne Lächeln schuld!‹ dachte Oblonsky. »Aber was tun? Was tun?« wiederholte er kläglich und fand keine Antwort.

Stepan Arkadjewitsch war immer aufrichtig gegen sich selbst. Er vermochte nicht, sich selbst vorzuheucheln, dass er sein Vergehen bereue. Er machte sich auch keine Vorwürfe darüber, dass er, ein vierunddreißigjähriger, verliebter Mensch, nicht in seine Frau verliebt war, die Mutter seiner fünf lebenden und der zwei gestorbenen Kinder, welche nur ein Jahr jünger war als er, sondern nur darüber, dass er es seiner Frau nicht besser zu verbergen verstanden hatte. Aber er empfand die ganze Schwere seiner Lage und bedauerte seine Frau, seine Kinder und sich selbst. Vielleicht hätte er es doch möglich gemacht, seinen Fehltritt vor seiner Frau geheim zu halten, wenn er geahnt hätte, dass diese Entdeckung eine so starke Wirkung auf sie hervorbringen werde. Er hatte diese Frage noch nie klar überlegt, aber in der unklaren Vorstellung gelebt, dass seine Frau schon lange erraten habe, dass er ihr nicht treu sei. Es hatte ihm sogar geschienen, dass sie, die etwas gealterte, nicht mehr schöne Frau, nur eine gutmütige, einfache Familienmutter war, die deshalb schon aus Gerechtigkeitsgefühl nachsichtig sein wollte. Aber nun war es so ganz anders gekommen.

»Ach, schrecklich! Ach, ach, ach, wie entsetzlich!« wiederholte Oblonsky und konnte an nichts anderes mehr denken. »Und wie gut ist alles bisher gegangen! Wie gut haben wir gelebt! Sie war zufrieden und glücklich mit den Kindern, und ich ließ sie in ihrer Wirtschaft machen, was sie wollte. Es ist wahr, es ist nicht hübsch, dass jene Person eigentlich Gouvernante im Hause war! Das ist nicht hübsch! Es liegt etwas Niedriges in einer Liebschaft mit der eigenen Gouvernante! (Er erinnerte sich wieder lebhaft an die schwarzen Schelmenaugen von Mademoiselle Roland und ihr gefühlvolles Lächeln.) Aber solange sie bei uns im Hause war, habe ich mir nichts erlaubt! Und am schlimmsten ist, dass sie schon... Dass dies alles auch so kommen musste! Ach, ach, ach! Was tun? Was fang ich nun an?«

Oblonsky stand auf, warf seinen grauen Schlafrock um die Schultern, knüpfte die Quastenschnur um und zog in langen Zügen die Luft in seinen breiten Brustkasten ein. Dann ging er ans Fenster, zog das Rouleau auf und klingelte. Sogleich erschien sein alter Freund und Kammerdiener Matwej, der die Kleider, Stiefel und ein Telegramm brachte, gefolgt von dem Barbier.

»Sind Papiere vom Amt gekommen?« fragte Oblonsky, während er das Telegramm ergriff und sich wieder setzte.

»Auf dem Tisch«, erwiderte Matwej mit einem fragenden Blick auf seinen Herrn. Nach einer Weile fügte er verschmitzt lächelnd hinzu: »Es war auch jemand vom Spediteur da.«

Oblonsky gab keine Antwort und blickte nur durch den Spiegel auf Matwej. An dem Blick, den sie im Spiegel wechselten, war zu erkennen, wie sie sich miteinander standen. Oblonskys Blick fragte: »Warum sagst du das? Weißt du nicht...?«

Matwej legte die Hand auf die Brusttasche und blickte seinen Herrn mit einem gutmütigen, kaum merklichen Lächeln an. »Ich sagte ihm, er solle am nächsten Sonntag wiederkommen und Sie bis dahin nicht weiter belästigen.«

Oblonsky öffnete das Telegramm, und sein Gesicht strahlte.

»Matwej, meine Schwester Anna Arkadjewna wird morgen ankommen«, sagte er, indem er einen Augenblick die glänzende, fette Hand des Barbiers festhielt.

»Gott sei Dank!« sagte Matwej, und bewies damit, dass er, ebenso wie sein Herr, begriffen hatte, dass Anna Arkadjewna, die Lieblingsschwester seines Herrn, eine Versöhnung der Ehegatten zustande bringen könne.

»Allein oder mit ihrem Gemahl?« fragte Matwej.

Oblonsky konnte nicht antworten, da der Barbier seine Oberlippe bearbeitete, und hob einen Finger auf. Matwej nickte mit dem Kopf durch den Spiegel.

»Allein. Soll man das Zimmer oben bereitmachen?«

»Sage es meiner Frau, und tue, was sie befiehlt!«

»Der gnädigen Frau?« wiederholte Matwej zweifelnd.

»Ja. Nimm das Telegramm mit, und melde mir, was sie gesagt hat.«

Er will einen Versuch machen‹, dachte Matwej, sagte aber nur: »Zu Befehl, gnädiger Herr!«

Oblonsky war schon gewaschen und frisiert und begann sich anzukleiden, als Matwej langsam mit seinen knarrenden Stiefeln und dem Telegramm in der Hand zurückkam.

»Die gnädige Frau lässt Ihnen sagen, sie werde verreisen. Ihr möchtet tun, wie es euch beliebt, hat sie gesagt«, meldete er, nur mit den Augen lachend. Oblonsky schwieg. Darauf erschien wieder ein gutmütiges und trauriges Lächeln auf seinem hübschen Gesicht.

»Höre, Matwej, was nun?« fragte er, den Kopf wiegend.

»Es wird sich schon machen!« erwiderte Matwej.

»Meinst du! Wer ist da?« fragte Stepan Arkadjewitsch, als er vor der Tür das Rauschen eines Kleides hörte.

»Ich bin's!« sagte eine feste und angenehme weibliche Stimme, und in der Tür erschien das strenge, pockennarbige Gesicht von Matrena Filimonowna, der Kinderwärterin.

»Was gibt's, Matrena?« fragte Stepan Arkadjewitsch.

Obgleich Oblonsky seiner Frau gegenüber im Unrecht war und das auch selbst fühlte, waren doch fast alle im Hause auf seiner Seite.

»Nun? Was?« fragte er weinerlich.

»Gehen Sie hin, Herr, und bitten Sie um Verzeihung! Gott wird helfen! Die gnädige Frau quält sich sehr, es ist ein Jammer, anzusehen, und alles im Hause geht drunter und drüber! Man muss mit den Kindern Mitleid haben, Herr!«

»Aber sie wird mich nicht einlassen!«

»Dann haben Sie das Ihrige getan! Gott ist gnädig!«

»Nun gut, geh nur!« sagte Oblonsky plötzlich errötend. »Hilf mir ankleiden«, wandte er sich zu Matwej und warf entschlossen den Schlafrock weg.

Als Stepan Arkadjewitsch sich fertig angekleidet hatte, parfümierte er sich, steckte die Zigarettenbüchse, Brieftasche und Uhr ein. Er fühlte sich frisch und gesund und ging trotz seines Unglücks in vergnügter Stimmung in das Speisezimmer, wo der Kaffee bereit stand; daneben lagen die Briefe von der Behörde.

Er las zuerst die Briefe. Der eine war sehr unangenehm, von einem Kaufmann, der den Wald auf dem Gut seiner Frau kaufen wollte. Der Wald musste verkauft werden. Jetzt aber, vor einer Aussöhnung mit seiner Frau, konnte davon nicht die Rede sein, und der Gedanke, dass eine Geldfrage in seine Beziehungen zu seiner Frau auftauchte, war ihm peinlich.

Als er mit den Briefen fertig war, griff Oblonsky nach den Papieren, durchblätterte rasch zwei Aktenstücke, machte mit einem Bleistift einige Notizen, schob sie beiseite und trank seinen Kaffee. Darauf entfaltete er ein Morgenblatt und begann zu lesen. Oblonsky hielt eine liberale Zeitung. Er war eher liberal als konservativ, wie viele seiner Bekannten, nicht, weil er die Liberalen vernünftiger fand, sondern weil ihre Meinung besser zu seiner Lebensweise passte. Die liberale Partei behauptete, in Russland sei alles schlecht, und das passte sehr gut auf Oblonskys Umstände, denn er hatte viel Schulden und wenig Geld. Die liberale Partei sagte, die Ehe sei eine abgelebte Institution, die notwendig reformiert werden müsse, und Oblonsky war ebenfalls für Toleranz in der Ehe. Als er mit der Zeitung und seiner zweiten Tasse Kaffee fertig war, stand er auf, dehnte seine breite Brust aus und lächelte. Bald aber wurde er wieder gedankenvoll.

Die Kinderstimmen von Grischa, seinem jüngeren Sohn, und von Tanja, seiner älteren Tochter, wurden draußen hörbar.

Alles ist in Unordnung!‹ dachte Oblonsky. ›Die Kinder laufen ohne Aufsicht umher!‹ Er ging zur Tür und rief sie an. Sie warfen eine Schachtel weg, die einen Eisenbahnzug vorstellte, und gingen zu ihrem Vater. Das Mädchen, des Vaters Liebling, kam zuversichtlich herbeigelaufen, umarmte ihn und hängte sich lachend um seinen Hals. Nachdem sie ihn geküsst hatte, wollte sie davonlaufen, aber ihr Vater hielt sie zurück.

»Was macht Mama?« fragte er, indem er mit der Hand über den glatten, zarten Hals des Töchterchens fuhr. »Bon jour!« sagte er kurz, dem derben Knaben zulächelnd. Er war sich bewusst, dass er den Jungen weniger liebte, und bemühte sich immer, gegen beide gleich zu sein. Aber der Knabe bemerkte es wohl und erwiderte sein Lächeln nicht.

»Mama? Sie ist aufgestanden«, erwiderte das Mädchen.

Stepan Arkadjewitsch seufzte. ›Das heißt, sie hat wieder die ganze Nacht nicht geschlafen‹, dachte er.

»Ist sie heute gut gestimmt?«

Das Mädchen wusste, dass zwischen Papa und Mama etwas vorgefallen war, und dass die Mutter nicht heiter sein konnte, dass aber der Vater das wissen musste. Sie errötete über ihren Vater. Er begriff sie sogleich und errötete gleichfalls.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Mama ließ uns heute keine Lektion geben und sagte, wir sollen zur Großmutter gehen.«

»Gut, gut, geht nur dahin. Tanja, warte!« sagte er, indem er sie immer noch zurückhielt und ihr zartes Patschchen strich. Er holte eine Büchse mit Konfekt und wählte zwei Stücke aus.

»Für Grischa?« fragte das Mädchen, indem es das eine emporhielt.

»Ja, ja.« Er küsste sie auf den Hals und entließ sie.

»Der Wagen ist bereit!« sagte Matwej.

Oblonsky ergriff seinen Hut und sah sich um, ob er nichts vergessen hatte. Er ließ den Kopf sinken, und auf seinem hübschen Gesicht erschien wieder ein kummervoller Ausdruck. »Soll ich? Soll ich nicht?« sagte er, und eine innere Stimme riet ihm, es sei besser, nicht zu seiner Frau zu gehen, weil außer Falschheit nichts dabei herauskommen könne, weil eine Verbesserung ihrer Beziehungen nicht möglich sei.

Aber irgendeinmal muss doch etwas geschehen, so kann es nicht bleiben‹, dachte er und bemühte sich, seinen Mut zu sammeln. Er richtete sich auf, zündete eine Zigarette an, machte zwei Züge, warf sie dann wieder auf den Aschenbecher und begab sich mit raschen Schritten durch den Salon, worauf er die andere Tür zu dem Schlafzimmer seiner Frau öffnete.

Darja Alexandrowna trug ein Morgenkleid, die Flechten ihres schon spärlich gewordenen, einst so dichten und schönen Haares im Nacken aufgesteckt; ihr hageres Gesicht zeigte einen erschreckten Ausdruck. Sie stand mitten im Zimmer zwischen umher geworfenen Sachen vor einer offenen Kommode. Als sie die Schritte ihres Mannes vernahm, blickte sie nach der Tür und bemühte sich, ihrem Gesicht einen Ausdruck der Strenge und Verachtung zu geben. Sie fühlte, dass sie ihn und das bevorstehende Zusammentreffen fürchtete. Zum zehnten mal während dieser drei Tage war sie damit beschäftigt, ihre Sachen und die der Kinder zusammenzupacken, um sie zu ihrer Mutter mitzunehmen – und immer wieder konnte sie sich nicht dazu entschließen. Jetzt eben wiederholte sie sich, das könne nicht so bleiben, sie müsse etwas tun, ihn strafen, ihn demütigen, und sich wenigstens für einen kleinen Teil des Schmerzes rächen, den er ihr zugefügt hatte.

Dabei sagte sie immer, sie werde ihn verlassen, obgleich sie fühlte, dass es unmöglich sei, weil sie nicht aufhören konnte, ihn als ihren Mann zu betrachten und zu lieben. Außerdem wusste sie, wenn ihr schon hier in ihrem Hause die Aufsicht über ihre Kinder schwergefallen war, es dort, wo sie mit ihnen hin wollte, noch schwieriger sein würde. Während dieser drei Tage war der Jüngste krank geworden, weil man ihm verdorbene Bouillon gegeben hatte, und die anderen hatten gestern beinahe nichts zum Mittagessen bekommen. Als sie ihren Mann erblickte, versenkte sie ihre Hände in die Kommode, als ob sie etwas suchte, und blickte sich erst dann nach ihm um, als er neben ihr stand. Aber ihr Gesicht, dem sie einen strengen und entschiedenen Ausdruck geben wollte, zeigte nur Hilflosigkeit und Kummer.

»Dolly!« sagte er mit leiser, schüchterner Stimme und zog den Kopf zwischen die Schultern, um sich ein bekümmertes, demütiges Aussehen zu geben, dabei strahlte er aber in Frische und Gesundheit.

Er ist glücklich und zufrieden‹, dachte sie, ›und ich...‹ »Was wünschen Sie?« fragte sie mit hastiger, fremd klingender Stimme.

»Dolly«, wiederholte er mit zitternder Stimme, »Anna kommt heute an.«

»Was kümmert das mich? Ich kann sie nicht empfangen!«

»Aber es ist nötig, Dolly!«

»Gehen Sie! Gehen Sie!« rief sie, ohne ihn anzusehen.

Oblonsky hatte ruhig die Zeitung lesen und Kaffee trinken können, aber als er das betrübte Gesicht seiner Frau sah und diesen hoffnungslosen Ton in ihrer Stimme hörte, stockte ihm der Atem, und in seinen Augen glänzten Tränen.

»Mein Gott, was habe ich getan? Dolly! Um Gottes willen!... Aber...« Er konnte nicht weitersprechen, Tränen erstickten seine Stimme.

Sie schlug die Kommode zu und blickte ihn an.

»Dolly! Was soll ich sagen? Ich kann nur eins sagen: Vergib! Denk an die Vergangenheit. Sollen etwa neun Lebensjahre wegen einiger Minuten... Minuten...«

Sie schlug die Augen nieder und horchte, was er sagen werde, gleichsam als ob sie ihn anflehen wollte, ihre Überzeugung zu erschüttern.

»Minuten der Unbedachtsamkeit...«, sagte er, und wollte fortfahren, aber bei diesen Worten schlossen sich wieder ihre Lippen, und ihre Halsmuskeln zuckten.

»Gehen Sie! Gehen Sie!« rief sie in noch schärferem Tone. »Und kein Wort mehr von Ihren Nichtswürdigkeiten!«

Sie wollte gehen, aber schwankend griff sie nach einem Stuhl. Ihre Lippen zuckten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Dolly!« sagte er weinerlich. »Um Gottes willen, denke an die unschuldigen Kinder! Ich bin zu allem bereit. Ich bin schuldig, es ist kein Wort dagegen zu sagen, aber, Dolly, vergib!« Sie setzte sich. Er hörte ihr lautes Schluchzen und fühlte ein unaussprechliches Bedauern. Mehrmals versuchte sie, zu sprechen, aber vergebens. Er wartete.

»Du denkst an die Kinder, nur um mit ihnen zu spielen. Ich aber denke an sie, weil ich weiß, was sie jetzt verloren haben«, sagte sie. Offenbar war das eine Redewendung, die sie während dieser drei Tage sich oft wiederholt hatte.

Sie hatte »du« gesagt! Er blickte sie dafür dankbar an und wollte ihre Hand ergreifen, aber sie wandte sich mit Abscheu von ihm weg.

»Ich denke an die Kinder und würde alles in der Welt für sie tun, um sie zu retten«, sagte sie, »aber ich weiß selbst nicht, wie ich sie retten soll. Soll ich sie von ihrem Vater fortnehmen, oder soll ich sie bei ihrem liederlichen Vater lassen? Ja, bei ihrem liederlichen Vater! Und nach dem, was geschehen ist... ist es etwa noch möglich, dass wir beisammen leben? Sagen Sie doch, ist das etwa möglich?«

»Aber was tun? Was tun?« sagte er mit kummervoller Stimme. Er wusste selbst nicht, was er sagte und ließ den Kopf immer tiefer hängen.

»Sie sind mir zum Ekel geworden!« rief sie, immer hitziger werdend, »Sie und Ihre Krokodils tränen! Sie haben mich nie geliebt! Sie haben weder Herz noch Dankbarkeit! Von jetzt an sind Sie mir fremd, ganz fremd!«

Er sah sie an, erstaunt und erschrocken über die Bosheit, die aus ihrem Gesicht sprach, und begriff nicht, dass sein Bedauern sie noch mehr reizte. Sie sah, dass er nur Mitleid, aber keine Liebe mehr für sie hatte.

Nein, sie haßt mich! Sie wird mir nicht vergeben!‹ dachte er. ›Es ist schrecklich! Schrecklich!‹

In diesem Augenblick begann im Nebenzimmer das kleine Kind zu schreien, wahrscheinlich, weil es gefallen war. Darja Alexandrowna hörte es, und sogleich milderte sich ihr Gesichtsausdruck. Rasch erhob sie sich und ging zur Tür.

Sie liebt ja noch mein Kind!‹ dachte er, ›mein Kind! Wie kann sie mich verabscheuen?‹

»Dolly, auf ein Wort!« sagte er, auf sie zutretend.

»Wenn Sie mir näher kommen, so rufe ich die Leute und die Kinder! Mögen es alle wissen, dass Sie ein – Schuft sind! Ich verlasse das Haus, dann können Sie hier mit Ihrer Geliebten wohnen!« Dann ging sie und schlug die Tür hinter sich zu. Stepan Arkadjewitsch seufzte und ging leise aus dem Zimmer.

»Matwej sagte doch, das werde sich alles machen! Aber wie? Ich sehe keine Möglichkeit! Ach, ach! Welch ein Jammer! Und wie gemein hat sie geschrien!« sagte er zu sich selbst, als er sich an die Worte »Schuft« und »Geliebte« erinnerte. »Vielleicht haben es auch noch die Mädchen gehört. Schrecklich trivial! Schrecklich!«

»Matwej!« rief er. »Also mache du mit Marie das Zimmer bereit für Anna Arkadjewna!« befahl er dem erscheinenden Matwej.

»Sehr wohl, gnädiger Herr!«

Oblonsky zog sich den Pelz an und trat aus der Haustür.

Stepan Arkadjewitsch hatte dank seiner Fähigkeiten die Schule leicht absolviert; aber er war faul und mutwillig, und deshalb wurde er schließlich einer der letzten. Aber ungeachtet seines immer geräuschvollen Lebens, seines kleinen Ranges und der jugendlichen Jahre nahm er doch schon einen angesehenen Posten bei einer der Behörden in Moskau ein. Diesen Posten hatte er durch den Mann seiner Schwester Anna, Alexej Alexandrowitsch Karenin, erhalten, der eine der wichtigsten Stellen in dem gleichen Ministerium bekleidete. Hätte indessen Karenin seinem Schwager nicht zu dieser Stelle verholfen, so würde dieser durch hundert andere Verwandte irgendein ähnliches Amt mit sechstausend Rubel Gehalt erhalten haben. Dieses Einkommen war ihm sehr nötig, da seine Verhältnisse ungeachtet des beträchtlichen Vermögens seiner Frau ganz zerrüttet waren.

Halb Moskau und Petersburg waren mit ihm verwandt. Er war inmitten jener Leute aufgewachsen, die zu den Gewaltigen dieser Erde gehören. Ein Drittel waren alte Beamte, Freunde seines Vaters, gewesen und kannten ihn von Kindheit an, ein anderes Drittel stand mit ihm auf »du«, und das dritte Drittel waren gute Bekannte. Folglich waren alle diejenigen, die irdische Güter zu vergeben haben, seine Freunde. Und Oblonsky brauchte nur die Annahme eines guten Postens nicht zu verweigern, niemand zu beneiden, keinen zu beleidigen, was er in seiner Herzensgüte auch niemals tat.

Oblonsky war nicht nur beliebt, sowohl seiner Gutherzigkeit wie seiner unzweifelhaften Ehrenhaftigkeit wegen, sondern sein schönes, heiteres Äußere, seine schwarzen Augenbrauen und Haare, sein zartes und rotes Gesicht zugleich wirkten vorteilhaft und heiter auf alle ein, die ihm begegneten. Schon seit drei Jahren bekleidete er die Stelle eines Präsidenten einer der Behörden in Moskau, und wer mit ihm zu tun hatte, liebte und achtete ihn.

Nachdem Oblonsky in der Kanzlei angekommen war, ging er, von dem ehrerbietigen Pförtner mit der Mappe begleitet, in sein kleines Büro, zog die Uniform an und begab sich in das allgemeine Amtszimmer. Alle Schreiber und Beamten erhoben sich und verbeugten sich ehrerbietig. Stepan Arkadjewitsch ging eilfertig, wie immer, nach seinem Platz, drückte seinen Kollegen die Hände und setzte sich. Er scherzte und unterhielt sich mit ihnen gerade so lange, als es der Anstand erforderte, und widmete sich dann seiner Beschäftigung. Der Sekretär kam heiter und ehrerbietig, wie alle in Gegenwart von Oblonsky sich benahmen, mit Papieren und sprach in jenem familiär liberalen Ton, den Oblonsky eingeführt hatte.

»Wir haben also die Nachricht von der Gouvernements Regierung in Pensa erhalten. Ist es Ihnen gefällig...«

»Endlich!« sagte Oblonsky. »Nun also, meine Herren...« Und die Sitzung begann.

Wenn sie wüssten‹, dachte er, mit würdiger Miene den Kopf beugend, während der Bericht vorgelesen wurde, ›was für ein schuldbewusster Knabe ihr Präsident vor einer halben Stunde war!‹ Und seine Augen lachten während der Vorlesung des Berichtes. Bis zur Frühstückspause um zwei Uhr sollte die Arbeit ohne Unterbrechung fortgesetzt werden.

Kurz vor zwei Uhr wurde die große Glastür des Saales aufgerissen, und jemand trat ein. Alle blickten nach der Tür hin. Der Gerichtsdiener aber, der dort stand, brachte den Eingetretenen sogleich wieder hinaus und schloss hinter ihm die Glastür.

Als das Aktenstück verlesen war, stand Oblonsky auf, reckte sich, zog eine Zigarette hervor und verließ das Amtszimmer. Seine beiden Räte, alte Beamte, Nikitin und Kammerjunker Grinewitsch, folgten ihm.

»Wer ist vorhin eingetreten?« fragte er den Diener.

»Ein Fremder ist ohne zu fragen eingetreten, Exzellenz, als ich mich kaum umgewendet hatte. Er hat nach Ihnen gefragt. Ich sagte ihm, wenn die Mitglieder gehen, dann...«

»Wo ist er?« »Er ging eine Zeitlang im Vorzimmer auf und ab. Dort ist er!« sagte der Diener, indem er auf einen starkgebauten, breitschulterigen Mann mit krausem Bart wies, der, ohne seine Lammfellmütze abzunehmen, rasch und leicht die ausgetretenen Stufen der Steintreppe heraufstieg.

Oblonsky stand an der Treppe. Sein gutmütiges Gesicht strahlte aus dem Kragen der Uniform noch mehr hervor, als er den Ankommenden erkannte.

»Bist du's wirklich? Lewin«, sagte er mit freundlichem, etwas spöttischem Lächeln, »du hast es also nicht verschmäht, mich in dieser Hölle aufzusuchen. Bist du schon lange da?«

»Ich kam eben an und wünschte sehr, dich zu sehen«, erwiderte Lewin, indem er sich misstrauisch und unruhig umsah.

»Nun komm in mein Kabinett«, sagte Oblonsky, der die empfindliche und etwas misstrauische Eigenliebe seines Freundes kannte. Er zog ihn fort, als ob er ihn durch Gefahren führe. Oblonsky stand fast mit allen seinen Bekannten auf »du«, mit sechzigjährigen Greisen, mit zwanzigjährigen jungen Leuten, mit Schauspielern, Ministern, Kaufleuten und Generaladjutanten. Er war mit allen auf »du«, mit welchen er Champagner trank, und er trank mit allen Champagner. Wenn er nun in Gegenwart seiner Untergebenen mit einem seiner »verschämten Du« zusammentraf, wie er scherzend viele seiner Freunde nannte, so verstand er es, mit feinem Takt den unangenehmen Eindruck auszugleichen. Lewin gehörte nicht zu diesen Leuten, aber Oblonsky glaubte in seinem Taktgefühl, Lewin könne denken, dass er vor seinen Untergebenen möglicherweise seine Vertraulichkeit mit ihm nicht merken lassen wolle, und deshalb beeilte er sich, ihn in sein Kabinett zu führen. Lewin war fast von gleichem Alter wie Oblonsky und sein Freund und Gefährte aus frühester Jugend. Sie liebten einander, ungeachtet des Unterschiedes ihrer Charaktere und Geschmacksrichtung, wie sich nur Freunde lieben, die in der ersten Jugend sich gefunden haben. Lewin erschien in Moskau stets aufgeregt, geschäftig, etwas eingeschüchtert und ärgerlich über diese Schüchternheit und brachte meist ganz unerwartete Ansichten mit. Oblonsky spottete über ihn und liebte ihn, und Lewin verachtete ganz ebenso das Stadtleben und den Dienst Oblonskys und spottete auch seinerseits darüber.

»Wir haben dich schon seit langem erwartet«, sagte Oblonsky, als sie ins Kabinett traten, und ließ Lewins Arm los, gleichsam, als ob er dadurch andeuten wollte, die Gefahr sei hier vorüber. »Ich freue mich sehr, sehr, dich zu sehen! Aber wie geht's mit dir? Wann bist du gekommen?«

Lewin betrachtete schweigend die ihm unbekannten beiden Kollegen Oblonskys und besonders die Hände des eleganten Grinewitsch mit den weißen, langen Fingern. Oblonsky bemerkte es und lächelte.

»Ach ja, erlauben Sie mir, Sie vorzustellen: Meine Kollegen Philipp Iwanitsch Nikitin, Michail Stanislawitsch Grinewitsch«, und zu Lewin gewandt: »ein Gutsbesitzer, ein Athlet, welcher fünf Pud mit einer Hand aufhebt, ein Viehzüchter und Jäger, und mein Freund Konstantin Dmitrijewitsch Lewin, der Bruder von Sergej Iwanowitsch Kosnyschew!«

»Sehr angenehm!« sagte der Alte.

»Ich habe die Ehre, mit Ihrem Bruder Sergej Iwanowitsch bekannt zu sein«, sagte Grinewitsch und reichte Lewin seine dünne Hand mit den langen Nägeln.

Lewins Gesicht verfinsterte sich. Er drückte kalt die gebotene Hand und wandte sich sogleich wieder Oblonsky zu. Obgleich er seinen Bruder, einen Schriftsteller, verehrte, konnte er es doch nicht ausstehen, wenn man ihn nicht als Konstantin Lewin, sondern als Bruder des berühmten Kosnyschew anredete.

»Nein, ich wirke nicht mehr für das öffentliche Wohl, ich habe mich mit allen gezankt und gehe nicht mehr in die Versammlung«, sagte er, zu Oblonsky gewendet.

»Schon?« sagte Oblonsky lächelnd. »Aber wie kam das?«

»Das ist eine lange Geschichte! Ich werde sie dir einmal erzählen«, sagte Lewin, begann aber sogleich zu berichten. »Nun, kurz gesagt, ich überzeugte mich, dass für das öffentliche Wohl dort nichts zu machen ist. Das ist nur Spielerei! Früher gab es Vormundschaften und Gerichte, jetzt aber ist der Provinziallandtag da, nicht gerade, um sich bestechen zu lassen, sondern um unverdiente Gagen einzustecken!« Das alles sprach er so hitzig, als ob einer der Anwesenden seine Meinung bestreiten wollte.

»Aha, wie ich sehe, bist du wieder in einer neuen Phase, du bist konservativ geworden. Doch davon später!«

»Ja, später! Aber ich musste dich sehen«, sagte Lewin mit einem Blick des Abscheus auf die Hände von Grinewitsch.

»Aber du hast ja gesagt, du werdest, nie wieder europäische Kleider tragen?« bemerkte Oblonsky, indem er Lewins neue 17 Kleidung, die augenscheinlich von einem französischen Schneider gefertigt war, betrachtete. »Ich sehe, du bist wirklich in eine neue Phase getreten.«

Lewin errötete wie ein Knabe, der fühlt, dass er sich lächerlich macht, und eben darüber noch mehr errötet. Es war ein so seltsamer Anblick, dieses kluge, männliche Gesicht mit solchem kindlichen Ausdruck, dass Oblonsky zur Seite blickte.

»Nun, wo werden wir uns sehen? Ich habe sehr, sehr nötig, mit dir zu sprechen«, sagte Lewin.

Oblonsky dachte nach. »Am besten, wir frühstücken bei Gurin, dort können wir uns bequem besprechen. Bis drei Uhr bin ich frei.«

»Nein«, erwiderte Lewin, nachdem er etwas nachgedacht hatte, »ich muss noch eine Besorgung machen.«

»Nun gut, dann speisen wir miteinander.«

»Speisen? Nun, ich habe ja nichts Besonderes zu sagen, nur zwei Worte. Über anderes sprechen wir dann später.«

»Nun, dann sprich doch gleich deine zwei Worte!«

»Die zwei Worte sind folgende«, sagte Lewin. »Übrigens, es ist nichts Besonderes...« Sein Gesicht nahm plötzlich einen zornigen Ausdruck an, infolge seiner Bemühung, eine gewisse Verlegenheit zu überwinden. »Was machen Schtscherbatzkys? Ist alles noch wie früher?« fragte er.

Oblonsky wusste schon lange, dass Lewin in seine Schwägerin Kitty verliebt war, und seine Augen glänzten vergnügt.

»Du hast zwei Worte gesagt, aber ich kann nicht in zwei Worten antworten, weil... Entschuldige mich eine Minute!«

In diesem Augenblick trat ein Sekretär mit Papieren ein und näherte sich Oblonsky. Mit der vertraulichen Ehrerbietigkeit und einem gewissen bescheidenen Selbstbewusstsein seiner geschäftskundigen Überlegenheit begann er, eine kleine Schwierigkeit zu besprechen. Aber Oblonsky hörte ihn nicht bis zu Ende an und legte seine Hand auf den Ärmel des Sekretärs.

»Nein, machen Sie das nur so, wie ich gesagt habe«, erwiderte er, indem er die Bemerkung durch ein Lächeln milderte. Dann erklärte er kurz, wie er die Sache ansehe, schob die Papiere zurück und sagte: »Machen Sie es gefälligst so, Sachar Nikitisch.«

Etwas verdutzt entfernte sich der Sekretär. Lewin hatte sich von seiner Verwirrung erholt und alles mit spöttischer Aufmerksamkeit beobachtet. »Das verstehe ich nicht, was ihr da macht«, sagte Lewin. »Wie kannst du dabei so ernsthaft bleiben?«

»Wieso?«

»Nun, weil das alles Unsinn ist!«

»Das glaubst du, aber wir sind mit Geschäften überhäuft.«

»Papierverschwendung! Und du hast eine besondere Gabe dafür«, fügte Lewin hinzu.

»Das heißt, meinst du, mir fehle es an Fähigkeiten?«

»Vielleicht«, sagte Lewin, »aber dennoch gefällt mir dein majestätisches Wesen, und ich bin stolz darauf, einen so bedeutenden Mann zum Freund zu haben. Aber du hast mir nicht auf meine Frage geantwortet«, fügte er hinzu, indem er Oblonsky gespannt anblickte.

»Nun gut, gut! Warte ein wenig! Das kommt noch! Sei du froh, dass du dreitausend Deßjatinen im Kreise Karasin hast, und dabei solche Muskeln und eine solche Frische wie ein zwölfjähriges Mädchen! Und was das betrifft, wonach du fragst – es ist keine Veränderung eingetreten, aber es ist schade, dass du so lange ausgeblieben bist.«

»Wieso?« fragte Lewin erschrocken.

»Nun – nichts!« erwiderte Oblonsky. »Wir sprechen noch darüber. Aber warum bist du eigentlich gekommen?«

»Ach, davon sprechen wir auch später«, sagte Lewin, wieder bis über die Ohren errötend.

»Schön, ich verstehe«, sagte Oblonsky. »Siehst du, ich hätte dich zu mir eingeladen, aber meine Frau ist nicht ganz wohl. Wenn du sie sehen willst (er betonte das sie), sie ist jetzt wahrscheinlich im Zoologischen Garten von vier bis fünf Uhr. Kitty liebt das Schlittschuhlaufen. Fahre dahin, ich komme später nach, und dann werden wir miteinander irgendwo speisen.«

»Vortrefflich! Also auf Wiedersehen!«

»Aber höre! Ich kenne dich! Du vergisst dich manchmal und fährst plötzlich wieder aufs Land«, rief ihm Oblonsky lachend nach.

»Nein, wirklich nicht.«

Dann verließ Lewin das Kabinett, und erst hinter der Tür fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sich von den Kollegen Oblonskys zu verabschieden.

Als Oblonsky an Lewin die Frage richtete, warum er eigentlich nach Moskau gekommen sei, errötete Lewin und ärgerte sich sogleich selbst darüber. Aber er konnte doch nicht antworten: »Ich kam, um deiner Schwägerin einen Heiratsantrag zu machen«, obgleich dies sein einziger Zweck war. Die Familien Lewin und Schtscherbatzky waren von altem moskauischen Adel und hatten immer in freundschaftlichem Verkehr gestanden, der während der Studienzeit Lewins noch lebhafter wurde. Er trat zugleich mit dem jungen Fürsten Schtscherbatzky, dem Bruder von Dolly und Kitty, in die Universität ein. Zu dieser Zeit war Lewin oft im Hause Schtscherbatzky, in das er sich ganz und gar verliebte. Er war wirklich in das Haus, in die Familie und besonders in die weibliche Hälfte derselben verliebt. Lewin konnte sich seiner Mutter nicht mehr erinnern, und seine einzige Schwester war älter als er, so dass er im Hause Schtscherbatzky zum ersten mal das Leben einer altadligen, gebildeten und vornehmen Familie kennenlernte. Alle Glieder dieser Familie, besonders die weiblichen, erschienen ihm wie von einem geheimnisvollen, poetischen Schleier verhüllt, und er bemerkte nicht nur an ihnen keinerlei Mängel, sondern hielt sie auch der erhabensten Gefühle für fähig.

Warum diese drei Damen an einem Tage französisch, an einem anderen englisch sprachen – warum sie zu gewissen Stunden abwechselnd Klavier spielten, was er bei ihrem Bruder oben hörte, wo die beiden Studenten hausten – warum Lehrer der Literatur, des Französischen, der Musik, der Zeichenkunst und des Tanzes fortwährend ein- und ausgingen – warum zu gewissen Stunden alle drei Fräulein mit Mademoiselle Linon in der Kalesche über den Twerschen Boulevard fuhren, warum sie nötig hatten, in Begleitung eines Lakaien mit einer goldenen Kokarde am Hute auf dem Twerschen Boulevard spazieren zu gehen – alles dies und noch vieles andere, was in dieser geheimnisvollen Welt geschah, begriff er nicht.

Während seiner Studentenzeit hatte er sich beinahe in die älteste, Dolly, verliebt. Aber diese wurde bald an Oblonsky verheiratet. Dann ging seine Liebe auf die zweite über, weil er fühlte, dass er sich notwendig in eine der Schwestern verlieben müsse. Aber kaum war Natalie in die große Welt eingetreten, als sie den Diplomaten Lwow heiratete. Kitty war noch ein Kind, als Lewin die Universität verließ. Der junge Schtscherbatzky trat in die Flotte ein und ertrank in der Ostsee, und so wurden Lewins Besuche bei der Familie Schtscherbatzky etwas seltener. Aber als er am Anfang des letzten Winters nach langem Landaufenthalt wieder nach Moskau kam und die Familie Schtscherbatzky wiedersah, begriff er sofort, in welche von den dreien er sich nach dem Willen des Schicksals wirklich verlieben sollte.

Nichts erschien einfacher für einen jungen Mann von zweiunddreißig Jahren, aus guter Familie und von ansehnlichem Vermögen, als der Fürstin Schtscherbatzky einen Heiratsantrag zu machen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre er sofort als gute Partie anerkannt worden. Aber Lewin war verliebt, und darum erschien ihm Kitty mit so zahlreichen Vorzügen ausgerüstet und so erhaben über alles Irdische und er sich selbst als ein so irdisches, niedriges Wesen, dass er es nicht für möglich hielt, ihrer für würdig gehalten zu werden. Nachdem er zwei Monate in Moskau wie im Traum verlebt und fast jeden Tag Kitty in der vornehmen Welt gesehen hatte, kam er plötzlich zu dem Schluss, es könne nicht sein, und fuhr wieder auf sein Gut. Während von seinen Bekannten der eine Oberst und Flügeladjutant, ein anderer Professor, Bankdirektor oder Vorsitzender einer Behörde war, wie zum Beispiel Oblonsky, war er nur ein Gutsbesitzer, der sich mit der Viehzucht, der Jagd und der Landwirtschaft beschäftigte, ein talentloser junger Mensch, der nach den Begriffen der Gesellschaft nur das betrieb, was Leute tun, die zu nichts anderem taugen. Wie könnte die geheimnisvolle, entzückende Kitty einen jungen Menschen lieben, der ein so wenig einnehmendes Äußere hatte wie er?

Aber nachdem er zwei Monate einsam auf dem Gute verlebt hatte, erkannte er, dass seine Liebe ihm keine Ruhe mehr lassen werde, und dass er nicht leben könne, ohne die Frage zu lösen, ob sie seine Frau werde oder nicht. Er fuhr nach Moskau mit dem festen Entschluss, einen Antrag zu machen und zu heiraten, wenn er angenommen werde. Was anderenfalls aus ihm werden solle, konnte er sich nicht vorstellen.

Lewin kam mit dem Frühzug in Moskau an und stieg bei seinen Halbbruder Kosnyschew ab. Nachdem er sich umgekleidet hatte, trat er in das Kabinett seines Bruders.

»Es freut mich, dich zu sehen! Wirst du lange hierbleiben?« fragte Kosnyschew. »Wie geht es mit der Wirtschaft?«

Lewin war mit der Absicht gekommen, seinem Bruder seine Pläne betreffs seiner Verheiratung mitzuteilen und ihn um Rat zu fragen. Aber als er den herablassenden Ton vernahm, mit dem sein Bruder nach seinen Wirtschaftsangelegenheiten fragte, war es ihm nicht mehr möglich, von seinem Heiratsplan zu sprechen.

»Und wie geht's mit der Semstwo bei euch?« fragte Sergej Iwanowitsch weiter, der sich sehr für die neue Landschaftsverfassung interessierte.

»Ich weiß wirklich nicht.«

»Wie? Bist du nicht ein Mitglied der Verwaltung?«

»Nein, ich bin ausgetreten«, erwiderte Lewin, »ich gehe auch nicht mehr in die Versammlungen.« Um sich zu rechtfertigen, erzählte er, was in den Versammlungen in seinem Kreise vorging.

»So ist es immer«, unterbrach ihn Sergej Iwanowitsch. »So sind wir Russen immer! Ich sage dir nur, wenn man einem anderen europäischen Volk – dem deutschen oder englischen – solche Rechte verleihen würde wie unsere Landschaftsverfassung, so würde es sich die Freiheit daraus erarbeiten. Wir aber verstehen nur zu spotten.«

»Was ist zu machen?« fragte Lewin mit schuldbewusster Miene. »Es war ein letzter Versuch. Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber ich kann nichts machen, ich bin unfähig.«

»Nein, nicht unfähig«, sagte Sergej Iwanowitsch. »Du siehst die Sache nicht richtig an.«

»Vielleicht«, erwiderte Lewin nachgiebig.

»Weißt du, dass unser Bruder Nikolai wieder hier ist?«.

Nikolai war ein älterer Bruder von Konstantin Lewin und ein Halbbruder von Sergej Iwanowitsch. Er war ein verlorener Mensch, der den größten Teil seines Vermögens verschwendet und sich mit seinen Brüdern überworfen hatte und in schlechter Gesellschaft verkehrte.

»Was sagst du?« rief Lewin mit Schrecken. »Woher weißt du das?«

»Prokofy hat ihn auf der Straße gesehen.«

»Hier in Moskau? Wo ist er? Weißt du es?«

»Es tut mir leid, dass ich dir das sagte«, bemerkte Sergej, als er die Aufregung seines jüngeren Bruders bemerkte. »Ich ließ nachforschen, wo er wohnt, und sandte ihm den Wechsel Trubins zu, den ich bezahlt hatte. Hier ist seine Antwort.«

Dabei reichte Sergej seinem Bruder einen Brief.

Lewin las die seltsame, ihm bekannte Handschrift:

»Ich bitte ergebenst, mich in Ruhe zu lassen! Das ist das einzige, was ich von meinen liebenswürdigen Brüdern verlange.

Nikolai Lewin.«

In Lewin kämpfte der Wunsch, den unglücklichen Bruder für jetzt zu vergessen, mit dem Bewusstsein, dass das nicht recht sei.

»Augenscheinlich will er mich beleidigen«, fuhr Sergej Iwanowitsch fort. »Ich wünschte von Herzen, ihm helfen zu können, aber ich weiß nicht, wie ich das anfangen soll.«

»Ja, ja«, bemerkte Lewin, »ich werde zu ihm fahren.«

»Ich rate dir, das nicht zu tun«, sagte Sergej Iwanowitsch. »Ich fürchte nicht, dass er dich mit mir entzweien könnte, aber du kannst nichts helfen. Übrigens mach, was du willst.«

»Vielleicht kann ich nichts helfen, aber ich fühle, besonders in diesem Augenblick, dass ich nicht ruhig sein kann.«

»Nun, das verstehe ich nicht«, sagte Sergej Iwanowitsch. »Aber eins weiß ich – das ist eine Lektion der Demut für uns. Ich sehe jetzt nachsichtiger an, was man Nichtswürdigkeit nennt, nachdem aus unserem Bruder Nikolai ein solcher Mensch geworden ist!... Du weißt, was er getan hat!«

»Ach, es ist schrecklich! Schrecklich!« seufzte Lewin.

Nachdem er die Adresse seines Bruders erhalten hatte, machte er sich sogleich auf den Weg zu ihm, aber nach kurzem Überlegen beschloss er, diesen Besuch bis zum Abend aufzuschieben. Um wieder zu innerlicher Ruhe zu gelangen, musste er vor allem seine eigene Angelegenheit zur Entscheidung bringen. Von seinem Bruder fuhr er daher in die Kanzlei zu Oblonsky und von dort nach der Stelle, wo er, wie ihm gesagt worden war, Kitty treffen konnte.

Um vier Uhr stieg Lewin beim Zoologischen Garten mit klopfendem Herzen aus der Droschke. Er ging gleich nach den Rutschbergen und der Eisbahn, wo er sicher war, die Damen Schtscherbatzky anzutreffen, da er ihren Wagen an der Pforte gesehen hatte.

Es war ein klarer Frosttag. Eine lange Reihe von Wagen und Schlitten, von Dienern und Gendarmen stand an der Eingangspforte. Die Volksmenge drängte sich beim Eingang und auch auf den gefegten Wegen zwischen Bauernhäusern im nationalrussischen Stil mit Holzschnitzereien. Die alten Birken des Gartens waren mit Schnee bedeckt.

In seltsamer Aufregung ging Lewin der Schlittschuhbahn zu. ›Nur kaltes Blut jetzt! Was hast du denn? Schweig Dummkopf‹ sagte er zu seinem eigenen Herzen, und je mehr er sich zu beruhigen suchte, desto schwerer atmete er. Bald hörte er lautes Lachen von den Schneebergen her, und nach wenigen Schritten erblickte er vor sich die Schlittschuhbahn, wo er in der Menge sofort Kitty erkannte. Sie stand am entgegengesetzten Ende der Schlittschuhbahn und sprach mit einigen Damen. An ihrer Kleidung und ihrer Stellung war nichts Auffallendes, aber alles war hell um ihn, sie war das Lächeln, das alles bezauberte.

Wie soll ich es wagen, mich ihr zu nähern?‹ dachte er. Die Stelle, auf der sie stand, erschien ihm wie ein unerreichbares Heiligtum, er bezwang sich aber und ging hinab, wobei er es vermied, sie anzusehen.

An diesem Wochentag und zu dieser Tageszeit versammelten sich auf der Eisbahn Leute eines Kreises, die sich alle kannten. Dort waren Meister des Schlittschuhlaufens, die mit ihrer Kunst glänzten, und andere, die an Stühlen ihre ersten Versuche machten. Alle erschienen Lewin als glückliche Auserwählte, weil sie in Kittys Nähe waren.

Nikolai Schtscherbatzky, ein Vetter von Kitty, mit einer kurzen Jacke und engen Beinkleidern, saß mit den Schlittschuhen an den Füßen auf einer Bank, und als er Lewin erblickte, rief er ihm zu: »Ah, da ist der beste russische Schlittschuhläufer! Sind Sie auf lange hier? Vortreffliche Bahn! Legen Sie Schlittschuhe an!«

»Ich habe keine Schlittschuhe bei mir«, erwiderte Lewin, verwundert über diese Dreistigkeit und Unbefangenheit in ihrer Gegenwart. Er fühlte, wie seine Sonne sich ihm näherte. Mit sichtlicher Unsicherheit lief sie auf ihn zu. Sie lief nicht sehr gewandt, nahm ihre Hände aus dem kleinen Muff, den sie an einer Schnur umgehängt hatte, und hielt sie bereit, sich im Notfall an irgend etwas anzuklammern. Als sie Lewin erkannte, lächelte sie ihm zu. Nach einer glücklichen Wendung erreichte sie Schtscherbatzky, hielt sich an seinem Arm und nickte Lewin zu; sie erschien ihm schöner als je.

»Sind Sie schon lange hier?« fragte sie und reichte ihm die Hand, während er das Taschentuch aufhob, das aus ihrem Muff gefallen war.

»Ich? Nein, noch nicht lange, gestern... das heißt heute... bin ich angekommen«, erwiderte Lewin, der in der Aufregung ihre Frage nicht sogleich verstand. »Ich wollte Sie besuchen«, sagte er, und als er sich dabei seines Zweckes erinnerte, wurde er verlegen und errötete. Sie blickte ihn aufmerksam an, als ob sie die Ursache seiner Verlegenheit erforschen wollte. »Hier hat sich die Tradition erhalten, dass Sie der beste Schlittschuhläufer seien.«

»Ja, früher habe ich einmal das Schlittschuhlaufen mit Leidenschaft betrieben. Ich wollte es bis zur Vollkommenheit bringen.«

»Es scheint, Sie tun alles mit Leidenschaft«, sagte sie lachend. »Ich möchte so gern sehen, wie Sie laufen! Legen Sie Schlittschuhe an, und dann wollen wir gemeinsam laufen!«

Miteinander laufen? Ist denn das möglich?‹ dachte Lewin, sie anblickend. »Sogleich werde ich bereit sein«, sagte er und ging, um Schlittschuhe anzulegen.

»Sie sind lange nicht bei uns gewesen, Herr!« sagte der Eispächter, indem er den Absatz festschraubte. »Keiner der Herren ist ein solcher Meister wie Sie! Ist's so gut?« fragte er und zog den Riemen fest.

»Gut, gut! Aber, bitte, schnell!« erwiderte Lewin, der mit Mühe ein glückliches Lächeln zurückhielt. ›Ja‹, dachte er, ›das ist ein Leben! Das ist Glück! ›Wir wollen miteinander Schlittschuh laufen‹, hat sie gesagt. Soll ich es ihr jetzt sagen? Ich fürchte mich, davon zu sprechen, aber es muss sein! Fort mit der Schwachheit!‹

Lewin stand auf, nahm den Paletot ab, umlief zur Probe das kleine Haus und flog dann über die glatte Eisfläche hin. Schüchtern näherte er sich ihr, aber ihr Lächeln beruhigte ihn wieder. Sie reichte ihm die Hand, und sie liefen nebeneinander, und je schneller sie liefen, desto fester drückte sie seine Hand.

»Mit Ihrer Hilfe würde ich es bald lernen! Ich habe Vertrauen zu Ihnen«, sagte sie.

»Und ich habe Vertrauen zu mir selbst, wenn Sie sich auf mich stützen«, sagte er. Sogleich aber errötete er, erschrocken über seine eigenen Worte. Und wirklich, gleich darauf verschwand die Freundlichkeit aus ihrer Miene, und auf ihrer glatten Stirn erschien eine Falte.

»Es ist Ihnen doch nichts Unangenehmes begegnet? Übrigens habe ich nicht das Recht, danach zu fragen«, sagte er hastig.

»Warum nicht? Nein, es ist nichts Unangenehmes vorgefallen«, erwiderte sie kühl. »Haben Sie Mademoiselle Linon gesehen?«

»Nein, noch nicht.«

»Kommen Sie zu ihr! Sie hat Sie sehr gern.«

Was ist das? Ich habe sie erzürnt! Der Himmel helfe mir!‹ dachte Lewin und lief auf die alte Französin mit den grauen Locken zu, die auf der Bank saß. Lachend zeigte sie ihre falschen Zähne und begrüßte ihn als alten Freund.

»Wir wachsen, nicht wahr?« sagte sie, mit den Augen nach Kitty deutend. »Nun gehen Sie! Laufen Sie! Und unsere Kitty läuft auch schon gut, nicht wahr?«

Als Lewin sich wieder Kitty näherte, war ihre Miene nicht mehr streng, ihre Augen blickten so aufrichtig und freundlich wie früher. Nachdem sie von ihrer Gouvernante und deren Absonderlichkeiten gesprochen hatte, fragte sie ihn nach seinem Leben.

»Ist es im Winter nicht sehr langweilig auf dem Lande?« fragte sie.

»O nein, ich bin sehr, beschäftigt«, erwiderte er. Er fühlte, dass ihr ruhiger Ton sie in Fesseln schlug, die er nicht würde abstreifen können.

»Bleiben Sie länger in Moskau?« fragte Kitty.

»Ich weiß noch nicht«, erwiderte er. Lewin dachte kaum an das, was er sagte. Ihn beherrschte der Gedanke, dass er wieder ohne Entscheidung nach Hause fahren werde, wenn er sich diesem ruhigen Ton der Freundschaft fügte, und er beschloss, sich dagegen aufzulehnen.

»Sie wissen es nicht? Wieso?«

»Nein, ich weiß es nicht! Das hängt von Ihnen ab«, sagte er, und sogleich entsetzte er sich über seine eigenen Worte.

Vielleicht hatte sie ihn nicht verstanden oder wollte nicht hören. Plötzlich stolperte sie, stieß zweimal mit ihrem Füßchen auf und lief rasch von ihm fort. Sie wandte sich zu Mademoiselle Linon, sagte ihr etwas und begab sich dann in das Häuschen, wo die Damen die Schlittschuhe ablegten.

»Mein Gott, was habe ich getan! Herr, mein Gott, hilf mir, stehe mir bei!« betete Lewin. Dabei empfand er das Bedürfnis nach starker Bewegung und beschrieb in raschem Lauf große Kreise auf dem Eis.

Ein braver, guter Mensch!‹ dachte Kitty, als sie in Begleitung von Mademoiselle Linon aus dem Häuschen trat und ihm mit einem Lächeln ruhiger Freundlichkeit, wie einem geliebten Bruder, nachsah. ›Habe ich unrecht getan? Ich weiß, dass ich ihn nicht liebe, aber dennoch bin ich heiter in seiner Nähe. Aber warum hat er das gesagt?‹ dachte sie.

Als Lewin Kitty bei ihrer Mutter sah, die ihr an den Stufen entgegenkam, hielt er an. Er nahm die Schlittschuhe ab und erreichte, gerötet vom raschen Lauf, Mutter und Tochter beim Eingang des Gartens.

»Sehr erfreut, Sie zu sehen!« sagte die Fürstin. »Wir empfangen Donnerstag, wie immer.«

»Also heute?«

»Wir werden sehr erfreut sein, Sie zu sehen«, erwiderte die Fürstin trocken.

Diese Art missfiel Kitty, und sie konnte den Wunsch nicht unterdrücken, die Kälte der Mutter wieder gutzumachen. Sie wandte den Kopf und sagte mit einem freundlichen Lächeln: »Auf Wiedersehen!«

In diesem Augenblick trat Oblonsky, den Hut schief auf dem Kopf, mit strahlendem Gesicht, heiter und triumphierend in den Garten. Aber als er seine Schwiegermutter traf, beantwortete er mit kummervoller, schuldbewusster Miene ihre Frage nach Dollys Befinden. Dann richtete er sich auf und nahm Lewin unter den Arm. ,

»Nun, gehen wir?« fragte er. »Ich habe immer an dich gedacht und freue mich sehr, dass du gekommen bist.«

»Ja, gehen wir!« erwiderte der glückliche Lewin, der noch immer den Widerhall der Worte »Auf Wiedersehen!« vernahm und das Lächeln sah, das sie begleitete.

»Ins ›Hotel d'Angleterre‹ oder in die ›Eremitage‹?«

»Mir ist alles gleichgültig.«

»Nun, also nach England!« sagte Oblonsky. Er wählte England, weil er dort mehr schuldig war als in der »Eremitage«, und es deshalb für unrecht hielt, dieses Gasthaus zu vernachlässigen.

Als Lewin mit seinem Freunde in das Restaurant eintrat, konnte er nicht umhin, einige Absonderlichkeiten im Wesen Oblonskys zu bemerken, etwas wie ein verhaltenes Wetterleuchten auf seinem Gesicht und in seiner ganzen Gestalt. Oblonsky ging durch das Speisezimmer und erteilte dem gebückt neben ihm im Frack und mit Serviette her schreitenden Tataren seine Befehle. Er grüßte nach rechts und links, da er auch hier von seinen Bekannten freudig begrüßt wurde, trat ans Büfett und trank ein Glas Schnaps zu einem Bissen Kaviar. Dann widmete er seine Aufmerksamkeit der Dame des Büfetts und sagte ihr einige Worte, worüber sie laut lachte. Lewins Herz war übervoll von der Erinnerung an Kitty, und in seinen Augen glänzte ein Lächeln des Triumphes und des Glückes.

»Hierher, wenn es Euer Durchlaucht gefällig ist! Hier wird Euer Durchlaucht nicht gestört!« sagte der diensteifrige alte Tatar.

»Belieben Sie einzutreten, Durchlaucht«, sagte er auch zu Lewin aus Verehrung für Oblonsky. Der Tatar legte ein frisches Tischtuch über den kleinen, runden Tisch, schob Samtstühle herbei und blieb vor Stepan Arkadjewitsch mit der Serviette und der Speisekarte in der Hand stehen, in Erwartung seiner Befehle.

»Wenn Euer Durchlaucht ein besonderes Kabinett wünscht, so wird sogleich eins frei werden. Der Fürst Galizin mit einer Dame wird es gleich verlassen. Wir haben auch frische Austern erhalten.«

»Ah, Austern!« Stepan Arkadjewitsch dachte nach. »Sind sie auch gut?«

»Flensburger, Durchlaucht, von Ostende haben wir keine!«

»Nun, sollen wir nicht mit Austern anfangen? Was meinst du?«

»Mir ist alles gleichgültig, was du willst, wird gut sein. Ich habe Appetit vom Schlittschuhlaufen. Aber glaube nicht«, fügte er hinzu, als er auf Oblonskys Gesicht einen Ausdruck von Missvergnügen bemerkte, »dass ich deine Wahl nicht zu schätzen weiß.«

»Nun, Brüderchen, dann bringe uns Austern! Zwei Dutzend, oder wenn es zu wenig ist, drei, und eine Suppe mit Gemüse! Dann Steinbutte mit einer dicken Soße, dann Roastbeef, aber es muss gut sein, dann einen Kapaun mit eingemachten Früchten.«

Der Tatar legte Oblonsky die Weinkarte vor.

»Was werden wir trinken?«

»Was du willst, aber nur wenig! Meinetwegen Champagner!« sagte Lewin.

»Wie? Zum Anfang? Meinetwegen. Liebst du die weiße Marke?«

»Cachet blanc!« wiederholte der Tatar.

»Nun, dann bringe diese Marke mit den Austern, und dann werden wir sehen.«

»Sogleich, gnädiger Herr! Und welchen Tischwein befehlen Sie?«

»Bringe Nuits! Nein, besser den klassischen Chablis!«

»Sogleich, gnädiger Herr! Befehlen Sie Käse?« »Nun ja, Camembert! Oder liebst du einen anderen?«

»Nein, mir ist es ganz gleichgültig«, sagte Lewin, der ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. Der Tatar lief mit flatternden Frackflügeln davon, und nach fünf Minuten flog er herbei mit einer Platte geöffneter Austern und einer Flasche zwischen den Fingern.

Oblonsky zerknitterte seine Serviette, steckte sie in seine Weste und griff nach den Austern. »Nicht übel!« sagte er, indem er mit einer kleinen silbernen Gabel die Austern von der Schale losmachte und behaglich einschlürfte.

Lewin aß auch Austern, obgleich er Schwarzbrot mit Käse vorgezogen hätte. Aber er bewunderte Oblonsky. Auch der Tatar, der die Flasche öffnete und den schäumenden Wein in dünne Gläser eingoss, betrachtete Oblonsky mit einem Lächeln der Befriedigung.

»Du liebst Austern nicht«, sagte Oblonsky, »oder bist du nachdenklich, wie?« Er wünschte Lewin heiter zu sehen. Aber dieser war nicht heiter, sondern eher gedrückt. Mit dem, was er auf dem Herzen hatte, fühlte er sich unbehaglich in diesem geräuschvollen Restaurant.

»Ich? Ja, ich bin nachdenklich, und außerdem geniert mich das alles!« sagte er. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie einem Landbewohner wie mir das alles sonderbar erscheint, ebenso wie die Fingernägel jenes Herrn, den ich bei dir gesehen habe.«

»Ja, ich sah, dass die Fingernägel des armen Grinewitsch dich sehr interessierten«, sagte Oblonsky lachend.

»Ich kann nicht anders«, erwiderte Lewin. »Wir auf dem Dorfe beschneiden uns die Fingernägel, um arbeiten zu können, und schlagen zuweilen auch die Ärmel auf. Aber hier lassen sich die Leute die Fingernägel so lang wachsen, dass sie nichts anfassen können.«

Oblonsky lachte vergnügt. »Das bedeutet, dass er keine grobe Arbeit zu verrichten braucht, er arbeitet mit dem Geist.«

»Kann sein. Aber es ist doch sonderbar. Wir Landbewohner suchen uns so schnell wie möglich zu sättigen, um uns instand zu setzen, unsere Arbeit zu verrichten. Hier aber sitzen wir und suchen so lange als möglich zu speisen, ohne uns zu sättigen, und deswegen essen wir Austern.«

»Nun, versteht sich! Das ist ja das Ziel der Bildung, aus allem einen Genuss zu machen.« »Nun, wenn das das Ziel ist, so will ich lieber ein Barbar bleiben.«

»Du bist auch ein Barbar! Ihr seid alle Barbaren, die ganze Familie.«

Lewin seufzte, indem er an seinen Bruder Nikolai dachte. Aber Oblonsky begann jetzt von etwas anderem, das ihn sogleich interessierte.

»Nun, wie ist's? Kommst du heute Abend zu uns, das heißt, zur Gesellschaft bei Schtscherbatzky?« fragte er, schob die leeren Austernschalen beiseite und griff mit glänzenden Augen nach dem Glase.

»Ja, ich komme jedenfalls«, erwiderte Lewin, »obgleich es mir schien, dass mich die Fürstin nicht sehr gnädig eingeladen hat.«

»Was fällt dir ein? Welcher Unsinn! Das ist so ihre Art als grande dame! – Nun bringe Suppe, Brüderchen! – Ich werde auch kommen, aber ich muss zuvor zu einer Gesangprobe, die bei der Gräfin Bonin stattfindet. Nun, bist du etwa kein Wilder? Womit erklärst du dein plötzliches Verschwinden aus Moskau? Man fragte mich beständig nach dir, als ob ich es wissen müsse.«

»Ja«, sagte Lewin langsam und widerstrebend, »du hast recht, ich bin ein Wilder. Der Beweis dafür liegt aber nicht darin, dass ich fortreiste, sondern darin, dass ich jetzt wiederkam. Jetzt bin ich gekommen ...«

»Ach, was bist du für ein Glückspilz!« rief Oblonsky.

»Warum?«

»Die Verliebten kennt man an den Augen! Alles liegt noch vor dir!«

»Nun, und du hast schon alles hinter dir?«

»Nein, wenn auch nicht gerade hinter mir, aber dir gehört die Zukunft und mir nur die Gegenwart! Und die – ist nicht nach Wunsch.«

»Wieso das?«

»Nun, es geht nicht gut. Aber ich wollte nicht von mir sprechen und kann auch jetzt nicht alles erklären«, sagte Oblonsky. »Aber warum bist du nach Moskau gekommen?«

»Errätst du es?« fragte Lewin.

»Ja, aber es ist nicht meine Sache, davon anzufangen. Daran kannst du auch schon sehen, ob ich richtig geraten habe«, sagte Oblonsky mit einem feinen Lächeln.

»Nun, was sagst du dazu?« sagte Lewin mit zitternder Stimme. »Wie siehst du die Sache an?«

Oblonsky trank langsam sein Glas Chablis aus, ohne seinen Blick von Lewin abzuwenden. »Ich würde nichts sehnlicher wünschen«, sagte er, »das ist das beste!«

»Aber irrst du dich nicht? Glaubst du, es sei möglich?«

»Gewiss glaube ich das. Warum sollte es nicht möglich sein?«

»Nein, glaubst du sicherlich, es sei möglich? Ich bitte dich, sage mir alles, was du denkst. Nun, und wenn ich ... wenn ich einen Korb erhalte? ... Ich bin sogar überzeugt ...«

»Warum glaubst du das?« fragte Oblonsky, lächelnd über Lewins Aufregung.

»Nun, zuweilen scheint es mir so. Es wäre entsetzlich, sowohl für mich als für sie!«

»Aber für ein Mädchen liegt darin nichts Entsetzliches. Jedes Mädchen ist stolz darauf, einen Antrag zu erhalten.«

»Ja, jedes Mädchen, aber nicht sie.«

Oblonsky lächelte. Er wusste sehr gut, was Lewin fühlte, und wusste, dass es für ihn nur zweierlei Arten von Mädchen auf der Welt gab. Die erste Sorte, das waren alle Mädchen der Welt, außer ihr; die andere Sorte – das war sie allein.

»Warte doch! Nimm Soße!« sagte er, indem er Lewins Hand anhielt, der die Soße zurückschob. Gehorsam nahm Lewin Soße, ließ aber Oblonsky nicht essen.

»Nein, warte doch! Warte doch«, sagte er. »Begreife doch, dass das für mich eine Lebensfrage ist! Ich habe niemals mit jemand darüber gesprochen als mit dir. Aber um Gottes willen, sei ganz aufrichtig.«

»Ich habe dir ja schon gesagt, was ich denke«, erwiderte Oblonsky lachend, »aber ich will dir noch mehr sagen. Meine Frau ist die wunderbarste Frau der Welt!« Oblonsky seufzte, indem er sich daran erinnerte, wie er mit seiner Frau stand, und schwieg eine Weile.

»Sie hat die Gabe des Voraussehens«, fuhr er fort, »sie durchschaut die Menschen, aber noch mehr – sie weiß, was geschehen wird, besonders in Heiratsangelegenheiten. Sie hat vorausgesagt, dass die junge Schachowskoi den Baron Brenteln heiraten werde. Niemand wollte es glauben, und es ist doch so gekommen. Und sie ist auf deiner Seite!«

»Wie ist das zu verstehen?«

»Sie sagt, Kitty werde jedenfalls deine Frau werden.«

Bei diesen Worten strahlte Lewins Gesicht. Er war Tränen der Rührung nahe.

»Das hat sie gesagt?« rief er. »Ich habe immer behauptet, deine Frau sei ein Engel. Nun genug! Kein Wort mehr!« sagte er und stand auf.

»Gut, aber bleibe doch sitzen!«

»Verstehe wohl, das ist nicht Liebe! Früher war ich verliebt, aber jetzt ist's anders. Ich bin damals davongefahren, weil ich zu dem Schluss kam, es könne nicht sein – verstehst du? – Wie ein Glück, das auf der Welt nicht möglich ist! Aber ich hielt es nicht aus und habe eingesehen, dass ohne sie das Leben keinen Wert hat, und ich muss einen Entschluss fassen.«

»Warum aber bist du denn fortgefahren?«

»Ach, warte doch! Ach, wie viele Gedanken bestürmen mich! Wie viel habe ich zu fragen! Du kannst dir nicht vorstellen, wie viel deine Worte für mich bedeuten! Heute habe ich gehört, dass mein Bruder Nikolai hier ist, du kennst ihn ... und ich habe ihn ganz vergessen! Ich möchte, dass auch er glücklich werde! Es ist eine Art Wahnsinn. Eins aber ist schrecklich! ... Du hast auch geheiratet, du kennst das Gefühl! ... Es ist schrecklich, dass wir alten Leute, die wir schon eine Vergangenheit hinter uns haben, uns nun einem reinen, unschuldigen Wesen nähern. Das ist abscheulich, und unwillkürlich fühlt man sich unwürdig.«

»Nun, du hast ja nicht viele Sünden auf dem Gewissen.«

»0 doch«, sagte Lewin, »darum blicke ich mit Ekel und bitterem Bedauern auf mein Leben zurück... Ja...«

»Was ist zu machen? Das ist der Lauf der Welt«, sagte Oblonsky. »Der einzige Trost liegt in dem Gebet, das ich immer geliebt habe: ›Vergib mir nicht nach meinem Verdienst, sondern nach deiner Gnade!‹ Nur so kann auch sie mir vergeben.«

Lewin trank sein Glas aus, und beide schwiegen.

»Eins muss ich dir noch sagen. Du kennst Wronsky?« fragte Oblonsky.

»Nein, ich kenne ihn nicht. Warum fragst du?«

»Bringe noch eine Flasche Wein«, sagte Oblonsky zu dem Tataren. – »Du musst wissen, Wronsky ist einer deiner Konkurrenten.«

»Wer ist dieser Wronsky?« fragte Lewin, und sein Gesicht verlor den bisherigen Ausdruck kindlichen Entzückens.

»Wronsky ist einer der Söhne des Grafen Kiril Iwanowitsch Wronsky und ein Muster der goldenen Jugend Petersburgs. Ich habe ihn in Twer kennengelernt, als ich dort diente, und er zur Aushebung hinkam. Er ist unmenschlich reich, hübsch, hat große Verbindungen, ist Flügeladjutant und dabei doch ein sehr guter, lieber Junge. Wie ich erfahren habe, ist er auch gebildet und geistreich und ein Mensch, der es weit bringen wird.«

Lewin schwieg finster.

»Er erschien hier bald nach deiner Abreise, und wie ich höre, ist er bis über die Ohren in Kitty verliebt, und du wirst begreifen, dass die Mutter...«

»Entschuldige mich, ich begreife gar nichts«, sagte Lewin finster.

»Warte doch! Warte!« sagte Oblonsky lachend. »Ich habe dir gesagt, was ich weiß, und ich wiederhole, dass in dieser delikaten Sache nach meiner Ansicht der Vorteil auf deiner Seite ist.«

Lewin legte sich mit bleichem Gesicht zurück.

»Aber ich möchte dir raten, die Entscheidung so schnell wie möglich herbeizuführen«, fuhr Oblonsky fort, indem er Lewins Glas füllte.

»Nein, ich danke! Ich kann nicht mehr trinken«, sagte Lewin, »sonst werde ich betrunken!... Nun, wie lebst du?« fuhr er fort, augenscheinlich in dem Wunsche, das Gespräch abzulenken.

»Noch ein Wort. In jedem Fall rate ich dir, die Frage schnell zur Entscheidung zu bringen. Heute sprich noch nicht davon, aber fahre morgen früh hin, um deinen Antrag zu machen, und Gott gebe dir seinen Segen.«

»Warum bist du nicht zu mir auf die Jagd gekommen? Komme doch dieses Frühjahr.« Lewin bereute von ganzem Herzen, dass er dieses Gespräch mit Oblonsky begonnen hatte. Sein erhabenes Gefühl wurde entweiht durch das Gespräch über die Konkurrenz eines Petersburger Offiziers und durch die Ratschläge Oblonskys.

Der lächelte. Er wusste, was in Lewins Seele vorging. »Ich werde dich besuchen«, sagte er. »Ja, Brüderchen, die Frauen – das ist die Schraube, um die sich alles dreht. Aber mir geht's schlecht! Sehr schlecht! Und immer wegen den Frauen. Sage du mir aufrichtig«, fuhr er fort, indem er eine Zigarre herausnahm und nach dem Glase griff, »gib du mir einen Rat!«

»Worüber?« »Nun höre. Angenommen, du bist verheiratet, du liebst deine Frau, aber eine andere hat dich hingerissen...«

»Entschuldige mich, aber das verstehe ich entschieden nicht. Das kommt mir vor, als ob ich jetzt, nachdem ich gespeist habe, bei einem Bäckerladen vorübergehen und ein Weißbrot stehlen wollte.«

Oblonskys Augen glänzten stärker als gewöhnlich.

»Wieso? Ein Weißbrot duftet zuweilen so schön, dass man sich nicht zurückhalten kann.«

Oblonsky lächelte fein bei diesen Worten; Lewin aber blieb finster.

»Nun Scherz beiseite«, fuhr Oblonsky fort. »Stelle dir vor, dass ein liebes, hübsches, liebendes Wesen alles geopfert hat und nun arm und einsam ist. Und jetzt, nachdem das Malheur geschehen ist, soll man sie verlassen? Angenommen, man muss sich trennen, um nicht den Frieden der Familie zu stören. Aber soll man sie nicht bedauern, ihre Zukunft sichern und ihren Kummer lindern?«

»Nun, entschuldige mich, du weißt, für mich gibt es nur zwei Sorten von Frauen... oder vielmehr, es gibt Frauen und... Übrigens sage ich nicht, was ich denke, sondern was ich fühle. Ich habe einen Widerwillen gegen gefallene Frauen, wie du vor Spinnen. Dazu hast du wahrscheinlich nicht erst das Leben der Spinnen studiert, sowenig wie ich das dieser Geschöpfe.«

»Es ist sehr bequem, so zu urteilen, aber die Ableugnung einer Tatsache ist keine Antwort. Was tun? Sage mir, was tun ? Stelle dir vor, die Frau altert, und du bleibst voll Lebenskraft, du fühlst, dass du die Frau nicht mit Leidenschaft lieben kannst, so sehr du sie auch achtest. Und da plötzlich stellt sich eine Liebe ein, und das Malheur ist geschehen!« sagte Oblonsky mit kläglicher Verzweiflung.

Lewin lachte.

»Ja, das Unglück ist geschehen«, fuhr Oblonsky fort. »Aber was soll man nun machen?«

»Kein Weißbrot stehlen!«

Stepan Arkadjewitsch lachte. »Oh, du Moralist! Aber bedenke doch, es gibt zweierlei Frauen. Die eine besteht nur auf ihrem Recht, und sie hat ein Recht auf deine Liebe, die du ihr nicht geben kannst. Die andere aber opfert alles und verlangt nichts. Was soll man da tun? Es ist eine furchtbare Tragödie!« »Wenn du meine Meinung wissen willst, so sage ich dir, ich glaube nicht daran, dass das eine Tragödie ist, und ich werde dir sagen warum. Nach meiner Ansicht dient die Liebe... beide Arten von Liebe, die Plato in seinem Gastmahl beschreibt, zum Prüfstein für die Menschen. Die einen verstehen nur die eine, die anderen nur die andere Liebe. Und diejenigen, die nur die nichtplatonische Liebe verstehen, haben keinen Grund, von einer Tragödie zu sprechen. ›Ich danke ergebenst für das genossene Vergnügen und empfehle mich!‹ Das ist die ganze Tragödie! Aber auch für die platonische Liebe kann es keine Tragödie geben, weil in dieser alles klar und rein ist, weil...«

In diesem Augenblick erinnerte sich Lewin seiner Sünden und der innerlichen Kämpfe, die er durchgemacht hatte, und fügte plötzlich hinzu: »Übrigens kann es auch sein, dass du recht hast. Es ist sehr möglich, aber ich weiß wirklich nicht...«

»Siehst du«, sagte Oblonsky, »du bist ein Mensch aus einem Stück, das ist dein Vorzug und zugleich dein Fehler. Du bist selbst ein Charakter aus einem Stück und verlangst, dass auch das Leben sich aus Erscheinungen von einem Stück zusammensetzen soll, aber das ist nicht möglich. Du verachtest die Tätigkeit im Staatsdienst, weil du verlangst, dass eine Sache beständig einem Zweck entsprechen soll – aber das ist auch nicht möglich. Du willst auch, dass die Tätigkeit eines Menschen immer einen Zweck haben soll, dass Liebe und Eheleben immer eins seien – aber auch das ist nicht möglich. Alle Mannigfaltigkeit, alle Freuden und Schönheiten des Lebens bestehen aus Licht und Schatten.«

Lewin seufzte und schwieg. Er war in Gedanken versunken und hörte nicht mehr auf das, was Oblonsky sagte.

Beide erkannten, dass jeder nur seinem eigenen Ideengang folgte, obgleich sie Freunde waren und das gemeinsame Diner sie einander hätte näherbringen sollen.

»Zahlen!« rief Oblonsky und ging in den nächsten Saal, wo er sogleich einen bekannten Adjutanten traf, mit dem er sich über eine bekannte Schauspielerin und ihren Beschützer unterhielt. Dieses Gespräch gewährte Oblonsky Erleichterung und Erholung von der Unterhaltung mit Lewin, die ihm immer eine geistige Anspannung auferlegte.

Als der Tatar mit einer Rechnung von sechsundzwanzig Rubeln ohne das Trinkgeld erschien, zahlte Lewin, ohne eine Miene zu verziehen. Dann begab er sich nach Hause, um sich umzukleiden und zu Schtscherbatzky zu fahren, wo sich sein Schicksal entscheiden sollte.

Die junge Fürstin Kitty Schtscherbatzky war achtzehn Jahre alt und erschien in diesem Winter zum ersten mal in der Gesellschaft. Ihre Erfolge waren größer als die ihrer beiden älteren Schwestern, und größer, als die Fürstin erwartet hatte. Alle Tänzer der Moskauer Bälle waren in Kitty verliebt, und schon im ersten Winter erschienen zwei wirkliche Bewerber, Lewin und gleich nach seiner Abreise der Graf Wronsky.

Das Erscheinen Lewins am Anfang des Winters, seine häufigen Besuche und seine augenscheinliche Liebe für Kitty veranlassten die erste ernstliche Besprechung zwischen den Eltern Kittys über ihre Zukunft und führte zu Streitigkeiten. Der Fürst war auf Lewins Seite und sagte, er wünschte nichts Besseres für Kitty. Die Fürstin aber sagte, Kitty sei noch zu jung, Lewin zeige durch nichts, dass er ernste Absichten habe, Kitty habe keine Neigung für ihn. Aber die Hauptsache sprach sie nicht aus, nämlich, dass sie eine bessere Partie für ihre Tochter erwartete, und dass Lewin ihr nicht sympathisch war. Über die plötzliche Abreise Lewins war sie erfreut und sagte triumphierend zu ihrem Manne: »Siehst du, ich hatte recht!« Wronskys Erscheinen erfreute sie noch mehr, denn sie wollte für Kitty nicht nur eine gute, sondern auch eine glänzende Partie haben.

Für die Mutter war kein Vergleich zwischen Wronsky und Lewin möglich. Die seltsamen und scharfen Urteile Lewins, sein linkisches Wesen und das einsame Landleben missfielen ihr. Sie war auch sehr unzufrieden darüber, dass er, in ihre Tochter verliebt, anderthalb Monate lang das Haus besuchte, immer wartete, beobachtete, und dass er nicht begriff, dass man sich deutlich erklären muss, wenn man in einer Familie mit einer heiratsfähigen Tochter verkehrt. Und dann die plötzliche Abreise, ohne darüber eine Aufklärung zu geben.

Wronsky dagegen entsprach allen Wünschen der Mutter. Er war sehr reich, vornehm, geistreich, hatte eine glänzende Laufbahn am Hofe und im Heer vor sich. Es blieb nichts zu wünschen übrig. Auf den Bällen machte er Kitty sichtlich den Hof, tanzte mit ihr, machte Besuche, so dass man an seinen ernsten Absichten nicht zweifeln konnte. Aber dennoch war

die Fürstin diesen ganzen Winter über in schrecklicher Unruhe und Aufregung.

Ihre eigene Heirat war vor dreißig Jahren das Werk einer Tante gewesen. Der Bräutigam, über den schon alles im voraus bekannt war, machte einen Besuch, sah die Braut und sie sah ihn, die beiderseitigen Eindrücke wurden von der Tante erforscht und mitgeteilt, sie waren günstig. Dann, am bestimmten Tage, wurde den Eltern der Heiratsantrag in aller Form gemacht, alles verlief ganz leicht und einfach, wenigstens erschien es der Fürstin so. Aber an ihren eigenen Töchtern machte sie die Erfahrung, wie wenig leicht und einfach diese anscheinend so gewöhnliche Sache ist – die Töchter zu verheiraten. Wie viel Angst musste sie erleben, wie viel Szenen mit ihrem Mann hatte sie durchzumachen bei der Heirat ihrer älteren Töchter Dolly und Natalie! Jetzt aber wiederholten sich bei ihrer jüngsten Tochter alle diese Sorgen.

Der alte Fürst war besonders anspruchsvoll in bezug auf die Ehre und Reinheit seiner Töchter und besonders in bezug auf Kitty, seinen Liebling, und bei jedem Schritt machte er der Fürstin Szenen darüber, dass sie ihre Tochter kompromittiere. Die Fürstin bemerkte, dass in letzter Zeit sich vieles in dem gesellschaftlichen Leben geändert hatte, dass die Freundinnen Kittys Gesellschaften veranstalteten, sich an Wettrennen beteiligten, unbefangen mit Herren verkehrten und allein spazieren fuhren. Alle waren fest überzeugt, es sei ihre eigene Sache und nicht die der Eltern, sich einen Mann zu wählen. ›Jetzt wird nicht mehr geheiratet wie früher‹, dachten und sagten alle diese jungen Mädchen und selbst ältere Leute. Aber wie man jetzt heirate, das konnte die Fürstin von niemand erfahren, und sie konnte nicht daran glauben, dass die jungen Leute selbst ihr Schicksal entscheiden sollten und war deshalb um Kitty mehr besorgt als um ihre älteren Töchter.

Jetzt fürchtete sie, Wronsky werde sich darauf beschränken, ihrer Tochter den Hof zu machen. Sie bemerkte, dass Kitty schon in ihn verliebt war, tröstete sich aber damit, dass er ein ehrenhafter Mensch und deshalb ihre Furcht unbegründet sei.

Unlängst hatte Kitty ihrer Mutter mitgeteilt, was sie mit Wronsky während einer Masurka gesprochen hatte, und dies beruhigte die Fürstin teilweise. Wronsky hatte gesagt, er und sein Bruder seien so sehr daran gewöhnt, sich ihrer Mutter unterzuordnen, dass sie nichts Wichtiges unternehmen, ohne sich zuvor mit ihr zu beraten. »Und jetzt eben erwarte ich als besonderes Glück die Ankunft meiner Mutter aus Petersburg«, hatte er hinzugefügt.

Kitty erzählte das, ohne diesen Worten besondere Bedeutung beizulegen. Aber die Mutter wusste, dass die alte Gräfin täglich erwartet wurde, und dass sie über die Wahl ihres Sohnes erfreut sein werde. Warum also machte er keinen Antrag? Der heutige Tag hatte ihr mit dem Erscheinen Lewins neue Sorge gebracht. Sie fürchtete, dass Kitty, die früher einmal, wie ihr schien, für Lewin Neigung empfunden hatte, aus überflüssigem Zartgefühl Wronsky absagen werde, und dass überhaupt die Ankunft Lewins die dem Ziel so nahe Angelegenheit verwirren könnte.

»Wann ist er angekommen?« fragte die Fürstin, als sie zu Hause angelangt waren.

»Heute, Mama.«

»Eins will ich dir sagen«, begann die Fürstin, und Kitty erriet an ihrem ernsten Gesicht, wovon sie sprechen wollte.

»Mama«, sagte sie seufzend, »ich bitte dich, sprich nicht davon! Ich weiß alles, alles!«

Sie wünschte dasselbe wie ihre Mutter. Aber die Motive der Wünsche ihrer Mutter verletzten sie.

»Ich wollte nur sagen, dass, wenn du dem einen Hoffnung machst...«

»Mama! Um Gottes willen, sprich nicht weiter! Dieses Gespräch ist mir so schrecklich!«

»Nein, nein«, sagte die Fürstin, als sie Tränen in Kittys Augen erblickte. »Aber vergiss nicht, mein Herzchen, du hast mir versprochen, dass du vor mir nie ein Geheimnis haben wirst! Nicht wahr?« !

»Niemals, Mama! Niemals!« erwiderte Kitty errötend und blickte ihrer Mutter aufrichtig ins Gesicht. »Aber ich habe jetzt nichts zu sagen, ich ... ich ... wüsste nicht, was ich sagen sollte auch wenn ich wollte.«

Nein, mit diesen Augen kann sie keine Unwahrheit sprechen‹, dachte die Mutter, lächelnd über die Aufregung ihres Kindes. Sie wusste, wie wichtig und bedeutungsvoll der armen Kleinen das erscheinen musste, was jetzt in ihrer Seele vorging.

Während des Nachmittags war Kitty unfähig, ihren Gedanken eine bestimmte Richtung zu geben.

Sie fühlte, dass der heutige Abend, an dem beide Männer zum ersten mal zusammenkommen sollten, ihr Schicksal entscheiden musste, und fortwährend stellte sie sich beide vor, bald einzeln, bald zusammen. Mit Rührung dachte sie an die Vergangenheit und ihr freundschaftliches Verhältnis zu Lewin. Die Erinnerung an ihre Kindheit und an die Freundschaft Lewins mit ihrem verstorbenen Bruder verliehen ihren Beziehungen zu ihm einen besonderen Zauber. Seine Liebe zu ihr, an der sie nicht zweifelte, war ihr schmeichelhaft, und sie erinnerte sich mit Vergnügen an Lewin. In ihre Gedanken an Wronsky aber mengte sich immer ein irgendwie peinliches Gefühl. Es lag etwas Gezwungenes – nicht in ihm, denn er war sehr einfach und liebenswürdig – aber in ihr selbst, während sie sich in Gegenwart von Lewin ganz unbefangen und heiter fühlte. Dafür aber erschien ihr die Zukunft mit Wronsky glänzend und glücklich, mit Lewin aber nebelhaft.

Sie ging nach oben, um sich für den Abend umzukleiden, und sah mit Freuden im Spiegel, dass sie heute einen ihrer guten Tage hatte. Als sie kurz nach sieben Uhr in den Salon getreten war, meldete ein Lakai: »Konstantin Dmitritsch Lewin!«

Die Fürstin befand sich noch in ihrem Zimmer, und auch der Fürst war noch nicht erschienen.

Alles Blut strömte Kitty zum Herzen. Sie erschrak über ihr bleiches Gesicht, als sie in den Spiegel blickte.

Jetzt wusste sie wohl, dass er eben deshalb früher gekommen war, um sie allein zu treffen und ihr einen Antrag zu machen; jetzt erst begriff sie, dass die Frage – mit wem sie glücklich sein könne und wen sie liebe – nicht sie allein betraf, sondern dass sie im nächsten Augenblick genötigt sein werde, einen Mann grausam zu verletzen, dem sie gut war. Und warum ? Weil er in sie verliebt war! Aber es gab keinen Ausweg, es musste sein.

Mein Gott, muss ich es ihm selbst sagen?‹ dachte sie. ›Soll ich ihm sagen, dass ich ihn nicht liebe? Aber das wäre nicht wahr! Was sonst soll ich ihm sagen? Dass ich einen anderen liebe? Nein, das geht nicht. Ich fürchte mich!‹ Sie näherte sich schon der Tür, als sie seine Schritte hörte. ›Nein, das ist nicht ehrlich. Und warum sollte ich mich fürchten ? Ich habe ja nichts Böses getan. Was geschehen soll, muss geschehen. Ich werde die Wahrheit sagen. Da ist er!‹ sagte sie sich selbst, als sie seine kräftige Gestalt mit den glänzenden, auf sie gerichteten Augen erblickte. Sie sah ihm gerade ins Gesicht, als ob sie um Schonung flehen wollte, und reichte ihm die Hand.

»Ich komme zu früh, wie es scheint«, sagte er. Indem er sich in dem leeren Saal umblickte und fand, dass seine Erwartung sich erfüllte und dass ihn nichts hinderte, sich auszusprechen, wurde seine Miene noch ernster.

»0 nein«, sagte Kitty und setzte sich an den Tisch.

»Das wollte ich eben, um Sie allein anzutreffen«, begann er, ohne sich zu setzen, noch sie anzusehen, um den Mut nicht zu verlieren.

»Mama wird sogleich kommen! Sie war gestern sehr ermüdet... Gestern...« Sie sprach, ohne zu wissen, was ihre Lippen sagten, und wandte ihren bittenden und freundlichen Blick nicht von ihm ab. Er sah sie an, sie errötete und schwieg.

»Ich sagte Ihnen gestern, dass es von Ihnen abhänge, wie lange ich bleiben würde.«

Sie beugte den Kopf immer tiefer und wusste nicht, was sie auf das Kommende antworten sollte.

»Dass es von Ihnen abhänge«, wiederholte er. »Ich wollte damit sagen... um... werden Sie meine Frau! ... ich wollte sagen ... ich bin deshalb gekommen ... um ...« fuhr er fort, ohne selbst zu wissen, was er sagte. Er fühlte nur, dass das Schrecklichste nun ausgesprochen war. Er hielt an und blickte in ihr Gesicht.

Kitty seufzte schwer, ohne ihn anzusehen. Sie empfand eine Art von Entzücken, ihr Herz floss über vor Glück. Sie hatte nicht erwartet, dass eine Liebeserklärung einen so starken Eindruck auf sie machen werde. Aber das dauerte nur einen Augenblick. In der Erinnerung an Wronsky richtete sie ihre hellen ehrlichen Augen auf Lewin, und als sie sein verzweifeltes Gesicht erblickte, erwiderte sie hastig: »Es kann nicht sein! ... Vergeben Sie mir!« Wie nahe hatte sie ihm vor einem Augenblick gestanden, wie wichtig war sie für sein Leben gewesen, und wie fremd und fern stand sie ihm jetzt!

»Das konnte nicht anders sein!« sagte er, ohne sie anzublicken. Er verbeugte sich und wollte gehen.

In diesem Augenblick trat die Fürstin ein. Bestürzung drückte sich in ihrer Miene aus, als sie die beiden allein und in sichtlicher Verwirrung sah. Lewin verbeugte sich stumm, Kitty schwieg und hatte die Augen niedergeschlagen.

Gott sei Dank, sie hat ihm abgesagt!‹ dachte die Fürstin. Ihr gewöhnliches Lächeln, mit dem sie stets Gäste empfing,

erschien wieder; sie setzte sich und begann, Lewin über sein Leben auf dem Lande auszufragen. Er nahm gleichfalls Platz und wartete auf die Ankunft von Gästen, um unbemerkt verschwinden zu können.

Nach fünf Minuten trat eine Freundin von Kitty ein, die sich im vorigen Sommer verheiratet hatte, die Gräfin Northstone. Sie war eine trockene, gelbe, krankhaft nervöse Dame mit glänzenden schwarzen Augen. Sie liebte Kitty, und ihre Liebe drückte sich, wie immer die Liebe einer Verheirateten zu einem Mädchen, in dem Wunsche aus, Kitty nach ihrem Ideal des Glückes zu verheiraten. Für Kitty wünschte sie Wronsky. Lewin, dem sie am Anfang des Winters oft hier begegnet war, hatte ihr nicht besonders gefallen.

Sie fiel sogleich über Lewin her. »O Konstantin Dmitritsch! Sind Sie wieder in unser verworfenes Babylon gekommen?« sagte sie, indem sie ihm ihre zierliche, gelbe Hand reichte. Dann begann sie sogleich ein Gespräch mit Kitty.

So unpassend es auch für Lewin gewesen wäre, jetzt zu gehen, es wäre ihm doch leichter gefallen, diese Ungeschicklichkeit zu begehen, als den ganzen Abend zu bleiben.

Es ist etwas mit ihm vorgefallen‹, dachte die Gräfin Northstone, indem sie sein strenges, ernstes Gesicht beobachtete. ›Aber ich werde ihn schon zum Sprechen bringen!‹

In diesem Augenblick trat eine Dame ins Zimmer, und Lewin erhob sich. Er sah nach dem Offizier, welcher hinter der Dame eintrat. ›Das muss Wronsky sein‹, dachte Lewin, und um sich zu überzeugen, sah er nach Kitty. Sie hatte Wronsky schon erblickt und schaute sich darauf nach Lewin um, und an diesem Blick ihrer unwillkürlich aufleuchtenden Augen sah Lewin, dass sie diesen Mann liebte, so deutlich, als hätte sie es ihm mit Worten gesagt. Jetzt musste Lewin, wohl oder übel, bleiben, er musste erfahren, wer jener Mensch war, den sie liebte.

Wronsky war nicht hoch von Wuchs, kräftig gebaut, mit gutmütigem, gerötetem, außerordentlich festem Gesicht. Alles an ihm, die kurzgeschnittenen schwarzen Haare, das frisch rasierte Kinn und die nagelneue Uniform, alles war einfach und zugleich elegant. Wronsky begrüßte die Fürstin und dann Kitty. In dem Augenblick, als er sich ihr näherte, zeigten seine hübschen Augen einen besonders zärtlichen Glanz, und mit einem kaum merklichen, glücklichen und bescheiden triumphierenden Lächeln, wie es Lewin erschien, verbeugte er sich vor ihr ehrerbietig und förmlich und streckte ihr seine kleine, aber breite Hand entgegen. Nachdem er einige Worte mit seinen Bekannten gesprochen hatte, setzte er sich, ohne von Lewin die geringste Notiz zu nehmen, der keinen Blick von ihm abwandte.

»Erlauben Sie mir, Sie bekannt zu machen«, sagte die Fürstin, auf Lewin deutend. »Konstantin Dmitritsch Lewin, Graf Alexej Kirilowitsch Wronsky!«

Wronsky stand auf, sah Lewin freundlich an und reichte ihm die Hand.

»Ich sollte diesen Winter, glaube ich, mit Ihnen speisen«, sagte er mit seinem einfachen und ehrlichen Lächeln, »aber unerwartet waren Sie aufs Land gereist.«

»Konstantin Dmitritsch verachtet und verabscheut die Stadt und uns Städter«, sagte die Gräfin Northstone.

»Meine Worte scheinen stark auf Sie eingewirkt zu haben, weil Sie sie offenbar nicht vergessen können«, sagte Lewin und errötete, indem er sich erinnerte, dass er das schon früher bemerkt hatte.

Wronsky sah die Fürstin und die Gräfin Northstone an und lächelte.

»Und Sie leben immer auf dem Lande?« sagte er. »Ich glaube, im Winter ist's langweilig.«

»Keineswegs, wenn man zu tun hat, und auch allein ist's nicht langweilig«, erwiderte Lewin scharf.

»Ich liebe das Landleben«, sagte Wronsky, der Lewins Ton bemerkte und tat, als ob er ihn überhört habe.

»Aber ich hoffe, Graf, Sie werden nicht immer auf dem Lande leben wollen«, sagte die Gräfin Northstone.

»Ich weiß nicht, ich habe es nicht auf lange versucht. Ich empfand einmal ein seltsames Gefühl«, fuhr er fort, »ich habe mich nirgends so nach dem Lande, nach einem russischen Dorf, nach Bauern mit Bastschuhen gesehnt, wie in jenem Winter, den ich mit meiner Mutter in Nizza verlebt habe. Es ist wie . . .« Er richtete seinen ruhigen, freundlichen Blick bald auf Kitty, bald auf Lewin, und sprach offenbar, was ihm in den Kopf kam.

Als er bemerkte, dass die Gräfin Northstone etwas sagen wollte, hielt er an und hörte ihr aufmerksam zu.

Lewin wollte nicht an der allgemeinen Unterhaltung teilnehmen. Jeden Augenblick sagte er sich: jetzt werde ich gehen; aber er ging nicht, gerade, als ob er etwas erwarte. Das Gespräch kam auch auf das Tischrücken und auf Geister, und die Gräfin Northstone, die an Spiritismus glaubte, erzählte Wunder, die sie selbst gesehen hatte. Wronsky stand auf, um ein kleines Tischchen zu suchen. Auch Kitty erhob sich, und als sie bei Lewin vorüberging, begegneten sich ihre Blicke.

Wenn Sie es können, so verzeihen Sie mir! schien ihr Blick zu sagen.

Ich verachte euch alle und mich selbst, antwortete sein Blick. Aber es war ihm noch nicht beschieden, zu gehen, denn als man sich um das Tischchen versammelte, und Lewin gehen wollte, trat der alte Fürst ein, begrüßte die Damen und wandte sich dann an Lewin.

»Ah! Bist du schon lange hier?« fragte er. »Ich wusste nicht, dass du da bist. Ich freue mich sehr, Sie zu sehen!« Der alte Fürst redete Lewin bald mit »Du«, bald mit »Sie« an. Er umarmte ihn und ließ Wronsky unbeachtet, der aufgestanden war und ruhig wartete, bis der Fürst sich zu ihm wenden werde. Kitty fühlte heraus, dass nach dem Vorgefallenen die Freundlichkeit ihres Vaters Lewin peinlich sein müsse, sie sah auch, wie kühl ihr Vater endlich die Verbeugung Wronskys erwiderte, und wie erstaunt Wronsky ihren Vater anblickte, und sie errötete.

»Fürst, geben Sie uns Konstantin Dmitritsch frei«, sagte die Gräfin Northstone. »Wir wollen einen Versuch machen.«

»Was für einen Versuch? Tischrücken? Nun, entschuldigen Sie mich, meine Damen und Herren«, sagte der alte Fürst, »nach meiner Ansicht ist das Ringchenspiel unterhaltender, darin liegt noch einigermaßen Sinn.«

Wronsky blickte den Fürsten verwundert an und lächelte unmerklich. Dann begann er mit der Gräfin Northstone von einem großen Ball zu sprechen, der in der nächsten Woche stattfinden sollte.

»Ich hoffe, Sie werden auch dort sein«, wandte er sich an Kitty.

Lewin verschwand unbemerkt, sobald der alte Fürst sich von ihm abwandte, und der letzte Eindruck, den er von der Gesellschaft mitnahm, war das glücklich lächelnde Gesicht Kittys, als sie Wronskys Frage über den Ball beantwortete.

Noch am selben Abend erzählte Kitty ihrer Mutter, was zwischen ihr und Lewin vorgegangen war, und obgleich sie darüber traurig war, ihn verletzt zu haben, war sie doch über

den Gedanken erfreut, dass man ihr einen Heiratsantrag gemacht habe. Sie zweifelte nicht daran, recht gehandelt zu haben, aber lange konnte sie nicht einschlafen.

»Es ist traurig, traurig! Aber was soll ich machen! Ich bin unschuldig!« sagte sie zu sich selbst. Doch eine innere Stimme sprach anders, ihr Glück wurde durch Zweifel verdunkelt.

Während dieser Zeit ging unten im Kabinett des Fürsten zwischen den Eltern eine Szene vor, wie sie sich in letzter Zeit oft wiederholte.

»Was es gibt? Das will ich dir sagen!« schrie der Fürst, im Schlafrock, mit den Händen fechtend. »Du hast keinen Stolz, keine Würde! Du wirst deine Tochter blamieren mit deinen dummen und lächerlichen Heiratsplänen!«

»Aber um des Himmels willen, was habe ich denn getan?« sagte die Fürstin, beinahe weinend. Sie war nach dem Gespräch mit ihrer Tochter glücklich und zufrieden zum Fürsten gekommen. Ohne die Absicht, von dem Heiratsantrag Lewins zu sprechen, sagte sie zu ihrem Manne, die Sache mit Wronsky scheine ihr vollkommen abgemacht, es werde sich entscheiden, sobald seine Mutter ankomme.

Bei diesen Worten war der Fürst plötzlich aufgefahren und hatte sie grob angeschrien: »Was du getan hast? Erstens hast du einen Freier herangezogen, und ganz Moskau wird mit Recht darüber sprechen! Wenn du eine Abendgesellschaft geben willst, so lade alle ein. Aber nicht so wie heute! – Lewin ist tausendmal besser als solch ein Petersburger Stutzer.«

»Wenn ich auf dich hören wollte«, sagte die Fürstin, »so würden wir niemals unsere Tochter verheiraten. «Es wäre besser, aufs Gut zu fahren.« »Ja, das wäre sicher besser! So machen wir Kitty nur unglücklich.«

»Warum denkst du das?«

»Ich denke nicht, ich weiß es! Darum haben wir Männer Augen im Kopfe, die alten Weiber aber nicht. Ich sehe einen Menschen, der ernste Absichten hat, das ist Lewin, und ich sehe einen Laffen, wie diesen da, der sich nur amüsieren will. Du wirst es einsehen, wenn es zu spät ist, wie bei Dolly!«

»Nun gut, sprechen wir nicht mehr davon«, unterbrach ihn die Fürstin, die sich an die unglückliche Dolly erinnerte. Sie bekreuzigten sich einander und küssten sich, dann trennten sie

sich, aber mit dem Gefühl, dass jedes bei seiner Meinung geblieben sei.

Die Fürstin war anfangs fest überzeugt gewesen, der heutige Abend habe Kittys Schicksal entschieden, und an den Absichten Wronskys sei kein Zweifel möglich. Aber die Worte ihres Mannes hatten sie mit Besorgnis vor der unbekannten Zukunft erfüllt, und seufzend wiederholte sie: »Herr, erbarme dich! Herr, erbarme dich!«

Wronsky hatte niemals ein Familienleben gekannt. Seine Mutter war in ihrer Jugend eine glänzende Weltdame gewesen, die während ihrer Ehe und besonders nachher viele romantische Erlebnisse gehabt hatte. Seines Vaters konnte er sich kaum noch erinnern.

Er war im Pagenkorps erzogen worden und sehr jung, als glänzender Offizier, in die Kreise der reichen Petersburger Jugend getreten.

In Moskau empfand er zum ersten mal nach seinem luxuriösen Petersburger Genuss leben den Reiz des Umgangs mit einem liebenswürdigen, unschuldigen Mädchen aus vornehmem Hause, das ihn liebte. Es kam ihm nicht in den Sinn, dass in seinen Beziehungen zu Kitty etwas Unpassendes liege. Auf den Bällen tanzte er vorzugsweise mit ihr, er besuchte ihr Elternhaus und redete mit ihr über oberflächliche Dinge. Aber obgleich er ihr nichts sagte, was er nicht in Gegenwart aller sagen konnte, bemerkte er doch mit Vergnügen, dass sie sich immer mehr an ihn anschloss. Nach seiner Meinung war das, was ihm und vor allem auch ihr so großes Vergnügen gewährte, keineswegs etwas Verwerfliches, und noch weniger hätte er eingesehen, dass er verpflichtet sei, sie zu heiraten.

Er hatte niemals an die Ehe gedacht, und von seinem Standpunkt aus, als Junggeselle, sah er im Familienleben und besonders in einem Ehemann etwas Fremdes, Feindseliges und vor allem Lächerliches. Aber als Wronsky heute das Haus Schtscherbatzky verließ, fühlte er, dass dieser Abend das geistige Band zwischen ihm und Kitty noch verstärkt hatte und dass etwas geschehen müsse. Aber was geschehen solle, das war ihm ganz und gar unklar.

»Das eben ist so entzückend«, sagte er auf dem Heimwege zu sich selbst, »dass wir uns in diesem lautlosen Gespräche der Blicke verstanden haben! Ohne ein Wort gesprochen zu haben, sagte sie mir heute deutlicher als jemals, sie liebe mich! Diese lieben, verliebten Augen!«

Er überlegte, wo er den Abend beschließen sollte. »Im Klub beim Kartenspiel und Champagner mit Ignatow? Nein, ich gehe nicht dahin. Ich gehe nach Hause!« – Sobald er den Kopf in die Kissen gelegt hatte, verfiel er in tiefen Schlaf.

Am anderen Morgen um elf Uhr fuhr Wronsky auf den Petersburger Bahnhof, um seine Mutter zu empfangen, und die erste Person, die ihm auf der großen Treppe vor dem Gebäude begegnete, war Oblonsky, der mit demselben Zug seine Schwester erwartete.

»Ah, Durchlaucht!« rief Oblonsky. »Wen holst du ab?«

»Meine Mutter«, erwiderte er lächelnd. »Sie muss heute aus Petersburg ankommen. Und wen erwartest du?«

»Ich? Eine hübsche Dame!« sagte Oblonsky. »Meine Schwester Anna.«

»Ah! Frau Karenin!«

»Du kennst sie wohl?«

»Ich glaube! Ich erinnere mich wirklich nicht genau«, erwiderte Wronsky zerstreut.

»Aber Alexej Alexandrowitsch, meinen berühmten Schwager, wirst du wohl kennen! Die ganze Welt kennt ihn.«

»Ja, nach seinem Ruf und seinem Aussehen! Ich weiß, dass er ein großer, gelehrter, bedeutender Mensch ist. Aber das ist not in my line«, sagte Wronsky.

»Ja, er ist ein sehr merkwürdiger Mensch! Zwar etwas konservativ, aber ein vortrefflicher Mensch!« bemerkte Oblonsky.

»Um so besser für ihn«, sagte Wronsky lächelnd. »Übrigens am Sonntag veranstalten wir ein Diner für die Diva«, fuhr er fort, indem er lächelnd Oblonskys Arm ergriff.

»Ich weiß es, ich sammle Unterschriften. Ach, hast du gestern meinen Freund Lewin kennengelernt?«

»Gewiss, aber er verschwand sehr bald.«

»Er ist ein vortrefflicher Junge«, fuhr Oblonsky fort. »Nicht wahr?«

»Ich weiß nicht«, sagte Wronsky, »warum alle Moskauer – natürlich die Anwesenden ausgeschlossen – so etwas Scharfes haben. Sie sind immer auf ihrer Hut, werden zornig und wollen stets allen Anwesenden eine Lektion geben.«

»So ist's wirklich!« erwiderte Oblonsky lachend.

Man erkannte die Annäherung des Zuges an der Bewegung, die auf dem Bahnhof entstand. Gepäckträger sammelten sich, Gendarmen und Beamte nahmen ihre Posten ein, und der Perron füllte sich mit Leuten, die Ankommende erwarteten.

»Nein«, sagte Oblonsky, der Wronsky von Lewins Absichten auf Kitty zu unterrichten wünschte, »nein, du hast meinen Freund Lewin nicht richtig beurteilt. Er ist ein sehr nervöser Mensch und wird zuweilen unangenehm, das ist wahr, aber dafür ist er oft auch sehr liebenswürdig. Er ist eine ehrliche aufrichtige Natur und hat ein goldenes Herz. Aber gestern lag eine besondere Veranlassung vor«, fuhr Oblonsky mit bedeutsamen Lächeln fort, indem er ganz jene aufrichtige Sympathie vergaß, die er gestern für seinen Freund empfunden hatte. »Ja, es war ein besonderer Grund vorhanden, weshalb er entweder besonders glücklich oder besonders unglücklich aussehen musste.«

Wronsky blieb stehen und fragte geradezu: »Was war das? Hat er vielleicht gestern deiner Schwägerin einen Heiratsantrag gemacht?«

»Das ist möglich«, sägte Oblonsky. »Aber wenn er früh fortging und nicht bei Laune war, so ist daraus zu schließen . . . Er ist schon lange in Kitty verliebt, und es tut mir leid um ihn!«

»Merkwürdig! Ich glaube übrigens, sie könnte auf eine bessere Partie rechnen«, sagte Wronsky. »Ja, das ist eine schwierige Lage – – doch da kommt der Zug!«

Wirklich hörte man in der Ferne das Pfeifen. Nach wenigen Augenblicken erbebte der Perron, und die Lokomotive trat aus einer Rauchwolke hervor. Dann kam der Gepäckwagen, und endlich folgten die Personenwagen, und der Zug hielt an.

Ein stutzerhafter Kondukteur sprang herab und gab ein Signal mit der Pfeife, und ihm nach folgten die ungeduldigen Passagiere, Gardeoffiziere in ernster und strenger Haltung, ein Krämer mit einem vergnügten Lächeln, Bauern mit Säcken auf der Schulter, und so weiter.

Wronsky stand neben Oblonsky, musterte die Wagen und die Aussteigenden und vergaß ganz seine Mutter. Was er eben über Kitty erfahren hatte, versetzte ihn in freudige Aufregung; er fühlte sich als Sieger.

»Die Gräfin Wronsky ist in jenem Coupé«, sagte der Kondukteur, auf Wronsky zutretend.

Diese Worte weckten Wronsky aus seiner Träumerei und erinnerten ihn an seine Mutter, der er zwar nicht in Liebe, aber in Ehrerbietigkeit zugetan war.

Wronsky folgte dem Kondukteur an den Wagen und blieb am Eingang desselben stehen, um einer aussteigenden Dame den Weg freizugeben. An dem Äußeren der Dame erkannte er mit einem Blick ihre Zugehörigkeit zur höchsten Gesellschaft. Er entschuldigte sich und ging auf den Wagen zu, fühlte sich aber veranlasst, sich noch einmal nach ihr umzublicken – nicht weil sie sehr schön war, sondern weil in dem Ausdruck ihres lieblichen Gesichtes etwas besonders Freundliches und Einnehmendes lag, als sie an ihm vorüberging. Als er sich umblickte, wandte sie gleichfalls den Kopf nach ihm um. Ihre glänzenden grauen Augen mit dichten Augenbrauen ruhten freundlich und wohlwollend auf seinem Gesicht, als ob sie ihn erkannt hätten, und wandten sich dann suchend der vorübergehenden Menge zu.

Wronsky stieg in den Wagen. Seine Mutter, eine hagere, alte Dame mit schwarzen Augen, blickte lächelnd ihren Sohn an. Sie erhob sich von ihrem Sitz, übergab der Kammerfrau ihre Reisetasche und reichte ihrem Sohne ihre kleine trockene Hand, indem sie ihn auf die Stirn küsste. »Hast du mein Telegramm erhalten? Bist du gesund? Gott sei Dank!«

»Haben Sie eine glückliche Fahrt gehabt?« fragte der Sohn und setzte sich neben sie, horchte aber auf die weibliche Stimme vor der Tür. Er wusste, dass das die Stimme jener Dame war, die eben ausgestiegen war.

»Ich kann Ihnen nicht beipflichten«, sagte die Stimme der Dame.

»Das sind Petersburger Ansichten, gnädige Frau.«

»Nein, nicht Petersburger, sondern einfach weibliche«, erwiderte sie.

»Nun, erlauben Sie mir, Ihre Hand zu küssen!«

»Auf Wiedersehen, Iwan Petrowitsch! Wenn Sie meinen Bruder sehen, schicken Sie ihn zu mir!« sagte die Dame draußen und stieg wieder ins Coupé.

»Nun, haben Sie Ihren Bruder gefunden?« sagte die Gräfin Wronsky.

Jetzt erinnerte sich Wronsky, dass das Frau Karenin sei. »Ihr Bruder ist hier!« sagte er, aufstehend. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht sogleich erkannt habe, aber unsere Bekanntschaft war so kurz, dass Sie sich wahrscheinlich meiner nicht erinnern?«

»O doch«, erwiderte sie, »ich würde Sie erkannt haben, denn ich habe mit Ihrer Frau Mama den ganzen Weg über nur von Ihnen gesprochen. Aber mein Bruder ist noch nicht hier!«

»Rufe ihn doch, Alescha!«

Wronsky trat auf den Perron und rief Oblonsky heran.

Als die junge Frau ihren Bruder erblickte, ging sie ihm mit leichtem Schritt entgegen, und sobald sie Oblonsky erreicht hatte, umfasste sie mit einer Bewegung, deren Grazie und Entschiedenheit Wronsky in Erstaunen versetzte, seinen Hals, zog ihn rasch an sich und küsste ihn herzlich. Wronsky beobachtete sie und lächelte, ohne zu wissen worüber. Dann erinnerte er sich, dass seine Mutter ihn erwarte und stieg wieder in den Wagen.

»Nicht wahr, sehr niedlich?« sagte die Gräfin. »Ihr Mann führte sie mir zu, und ich war sehr erfreut darüber, den ganzen Weg habe ich mich mit ihr unterhalten.«

Die junge Frau kam wieder an den Wagen, um von der Gräfin Abschied zu nehmen.

»Nun, Gräfin, Sie haben Ihren Sohn getroffen und ich meinen Bruder«, sagte sie vergnügt, »und alle meine Geschichten sind zu Ende, ich hätte Ihnen nichts mehr zu erzählen.«

»Nein«, sägte die Gräfin, ihre Hand ergreifend, »mit Ihnen würde ich um die Welt reisen und mich niemals langweilen. Aber denken Sie nun nicht immerfort an Ihren Sohn! Es ist unmöglich, immer jede Trennung zu vermeiden!«

Die junge Frau stand unbeweglich in außerordentlich gerader Haltung und ihre Augen lachten.

»Die junge Frau«, sagte die Gräfin erklärend zu Wronsky, »hat ein Söhnchen von acht Jahren, von dem sie sich niemals getrennt hat, und jetzt sehnt sie sich nach ihm.«

»Ja, ich habe die ganze Zeit über mit der Gräfin gesprochen, ich von meinem und sie von ihrem Sohn!« Und wieder erhellte sich ihr Gesicht, das sich mit freundlichem Lachen ihm zuwandte.

»Wahrscheinlich war Ihnen das sehr langweilig?« sagte er, aber sie wollte augenscheinlich das Gespräch nicht in diesem Ton fortsetzen, und wandte sich zur alten Gräfin.

»Ich danke Ihnen sehr! Ich weiß nicht, wie mir der gestrige Tag vergangen ist. Auf Wiedersehen, Gräfin!«

»Leben Sie wohl, meine Liebe«, erwiderte die Gräfin, »ich sage Ihnen nach altmodischer Weise geradeheraus, dass ich in Sie verliebt bin!«

Die junge Frau errötete, reichte Wronsky die Hand und ging mit raschen, leichten Schritten hinaus.

»Sehr niedlich!« sagte die alte Dame. Dasselbe dachte auch ihr Sohn, der ihr nachsah, bis sie ihren Bruder erreichte, ihm die Hand drückte und lebhaft mit ihm sprach.

»Nun, Mama, Sie sind ganz gesund ?« wiederholte Wronsky.

»Ja, vortrefflich! Alexander war sehr liebenswürdig, und Marie ist sehr hübsch geworden und sehr interessant.« Und wieder begann sie davon zu sprechen, was sie am meisten interessierte, von der Taufe ihres Enkels, zu der sie nach Petersburg gefahren war, und von der besonderen Gnade des Kaisers gegen ihren älteren Sohn.

»Da ist auch Lawrenty!« sagte Wronsky, als ein Lakai näherkam.

Als sie eben aus dem Wagen stiegen, lief ein Mann mit entsetztem Gesicht vorüber, gleich darauf dann auch der Bahnhofsinspektor mit seiner roten Mütze. Augenscheinlich war etwas Ungewöhnliches geschehen.

»Was gibt's? Was? Wo?« hörte man unter den Vorübergehenden. Auch Oblonsky und seine Schwester waren mit erschreckten Gesichtern umgekehrt und standen wieder bei der Wagentür. Die Damen stiegen wieder in das Coupe, und Wronsky ging mit Oblonsky, um sich über die Einzelheiten des Unglücksfalls zu erkundigen. Ein Wächter, entweder betrunken oder weil er sich wegen der Kälte zu sehr eingehüllt und den zurückgehenden Zug nicht gehört hatte, war überfahren worden. Die Damen hatten dies soeben schon von dem Diener erfahren, als die beiden Herren zurückkehrten. Diese hatten die entstellte Leiche gesehen, und Oblonsky war sichtlich ergriffen und dem Weinen nahe.

»Ach, wie schrecklich! Ach, Anna, wie entsetzlich!«

Wronsky schwieg. Sein schönes Gesicht war ernst, aber ganz ruhig.

»Ach, wenn Sie gesehen hätten, Gräfin!« sagte Oblonsky. »Und seine Frau war auch da! Sie warf sich über die Leiche. Man sagt, er habe ganz allein eine große Familie erhalten! Es ist schrecklich!«

»Kann man nicht etwas für sie tun?« fragte Frau Karenin aufgeregt. Wronsky blickte sie an und verließ sogleich den Wagen.

»Ich komme gleich zurück, Mama!« sagte er noch an der Tür. Als er nach einigen Minuten zurückkehrte, sprach Oblonsky mit der Gräfin schon von der neuen Sängerin, und die Gräfin blickte ungeduldig zum Fenster nach ihrem Sohn hinaus.

»Nun wollen wir gehen!« sagte Wronsky eintretend. Sie stiegen rasch aus, Wronsky ging mit seiner Mutter voran, dann folgte Frau Karenin mit ihrem Bruder. Am Ausgang wurde Wronsky von dem Bahnhofsinspektor eingeholt.

»Sie haben meinem Gehilfen zweihundert Rubel eingehändigt, belieben Sie mir anzugeben, für wen sie bestimmt sind?«

»Für die Witwe!« sagte Wronsky, die Achseln zuckend. »Ich begreife nicht, was es da noch zu fragen gibt!«

»Du hast ihr das gegeben?« rief von hinten her Oblonsky. »Ein vortrefflicher Junge!« sagte er zu seiner Schwester.

Dann hielt er an, um ihr Mädchen zu erwarten. Als sie vor das Gebäude hinaustraten, war Wronskys Equipage schon abgefahren. Die herausströmenden Menschen sprachen noch von dem Unglücksfall.

Als die junge Frau in den Wagen stieg, bemerkte Oblonsky, dass ihre Lippen zuckten und sie nur mit Mühe ihre Tränen zurückhielt.

»Was ist dir, Anna?« fragte er. »Ein böses Vorzeichen!«

»Welcher Unsinn! Du bist gekommen, das ist die Hauptsache. Du kannst dir nicht vorstellen, welch große Hoffnungen ich auf dich, setze!«

»Kennst du Wronsky schon lange?« fragte sie.

»Ja, du weißt, wir hoffen, dass er Kitty heiraten wird.«

»Ja«, sagte Anna leise, »aber jetzt wollen wir von dir sprechen. Ich habe deinen Brief erhalten, Und deswegen bin ich gekommen.«

»Ja, meine ganze Hoffnung beruht auf dir!« sagte Oblonsky.

»Nun erzähle mir alles!«

Und Oblonsky begann zu erzählen. Als sie am Hause angekommen waren, drückte er mit einem Seufzer ihre Hand, stieg aus und ging in sein Arbeitszimmer.

Als Anna ins Zimmer trat, saß Dolly in dem kleinen Salon mit einem blondlockigen Knaben, einem Ebenbild seines Vaters, und überhörte seine französische Lektion. Während der Knabe las, drehte er einen Knopf seiner Jacke und bemühte sich, ihn abzureißen.

»Lass doch deine Hände in Ruhe, Grischa!« sagte die Mutter und, griff wieder nach einer Decke, einer Handarbeit, die sie stets in schweren Minuten vornahm. Obgleich sie gestern ihrem Mann hatte sagen lassen, es sei ihr gleichgültig, ob seine Schwester komme oder nicht, hatte sie doch alles vorbereitet und erwartete den Besuch voll Aufregung.

Trotzdem Dolly ganz in ihren Gram versunken war, bedachte sie doch, dass Anna, ihre Schwägerin, die Frau einer der vornehmsten Persönlichkeiten in Petersburg war. ›Schließlich ist ja Anna auch ganz unschuldig‹, dachte Dolly, ›ich weiß nur Gutes von ihr, und sie hat sich immer freundlich gegen mich benommen. Und warum soll ich sie denn nicht empfangen? Wenn sie sich nur etwa nicht einfallen lässt, mich trösten zu wollen! Ich habe schon genug von Trost und christlichem Vergeben.‹

Alle diese Tage hatte Dolly bei ihren Kindern zugebracht. Sie wollte nicht von ihrem Kummer sprechen, aber mit diesem Gram im Herzen über gewöhnliche Dinge zu reden, war ihr auch unmöglich.

Endlich hörte sie im Vorzimmer leichte Schritte und das Rascheln eines Kleides. Sie stand auf und umarmte ihre Schwägerin.

»Dolly! Wie ich mich freue, dich zu sehen!«

»Ich bin auch erfreut!« sagte Dolly mit einem schwachen Lächeln und suchte auf Annas Gesicht zu lesen, ob sie schon alles wisse.

»Nun komm, ich führe dich in dein Zimmer!«

»Das ist Grischa? Mein Gott, wie er gewachsen ist!« sagte Anna und küsste ihn, ohne von Dolly die Augen abzuwenden. »Nein, lass mich lieber hierbleiben!« Sie nahm Tuch und Hut ab, der in ihren schwarzen Haaren sich verwickelte. Sie schüttelte den Kopf und machte den Hut los.

»Du strahlst in Glück und Gesundheit!« sagte Dolly fast neidisch.

»Ich? Ja«, sagte Anna. .»Mein Gott, da ist Tanja! Sie ist so alt wie mein Sergej!« Sie ging dem herbeilaufenden Mädchen entgegen und küsste es. »Ein prächtiges Mädchen! Zeige mir alle Kinder!«

Sie nannte alle bei Namen und erinnerte sich nicht nur an ihr Alter, sondern auch an ihre Charaktere und Kinderkrankheiten, worüber Dolly ganz gerührt wurde.

»Nun, dann wollen wir zu ihnen gehen! Wasja schläft jetzt, es ist schade!«

Nachdem sie die Kinder, gesehen hatten, setzten sie sich wieder allein in den Salon zum Kaffee nieder.

»Dolly!« sagte Anna. »Er hat mit mir gesprochen.«

Diese blickte Anna kühl an. Sie erwartete jetzt Redensarten, voll von falschem Mitgefühl.

»Liebe Dolly«, sagte Anna, »ich will nicht für ihn sprechen oder dich trösten, das ist nicht möglich! Ach, mein Seelchen, es tut mir nur leid um dich! Von ganzem Herzen.«

Unter den Wimpern ihrer glänzenden Augen erschienen Tränen. Sie setzte sich näher zu Dolly und ergriff ihre Hand. Dolly zog sie nicht zurück, aber ihr Gesicht behielt denselben kalten, trockenen Ausdruck.

»Trösten kann man da nicht!« sagte sie. »Nach dem, was vorgefallen, ist alles verloren!« Dabei aber milderte sich ihr Gesichtsausdruck.

Anna hob Dollys hagere Hand auf und küsste sie.

»Aber, Dolly, was ist zu tun?« sagte sie. »Was ist in dieser schrecklichen Situation zu machen? Daran muss man doch denken.«

»Es ist alles zu Ende!« sagte Dolly. »Und das schlimmste ist, dass ich ihn nicht verlassen kann wegen der Kinder! Ich bin gebunden, aber mit ihm leben kann ich nicht mehr!«

»Dolly, mein Täubchen, er hat mir alles erzählt, aber ich möchte es von dir hören! Sage mir alles!«

Dolly blickte sie fragend an. Ungeheuchelte Teilnahme und Liebe waren auf Annas Gesicht zu lesen.

»Meinetwegen«, sagte sie plötzlich. »Aber ich werde von Anfang an erzählen. Du weißt, wie ich heiratete. Durch Mamas unvernünftige Erziehung war ich nicht nur unwissend, sondern geradezu dumm; ich wusste gar nichts! So lebte ich acht Jahre. Ich hatte nicht nur keinen Verdacht, dass er untreu sei, sondern ich hielt es auch für ganz unmöglich! Und nun stelle dir vor, plötzlich die ganze Abscheulichkeit zu erfahren... Stelle dir vor, vollständig von seinem Glück überzeugt zu sein, und plötzlich« – Dolly hielt mit Mühe ihre Tränen zurück – »einen Brief zu entdecken, einen Brief von ihm an seine Geliebte, meine Gouvernante! Nein, es ist entsetzlich!«

Sie zog ihr Taschentuch heraus und bedeckte damit ihr Gesicht. »Ich könnte noch eine Verirrung begreifen«, fuhr sie nach kurzem Schweigen fort, »aber mich mit Vorbedacht und listig zu betrügen ... Mit wem ? ... Und dabei noch immer mein Mann zu sein, zugleich mit ihr, das ist entsetzlich! Das kannst du nicht begreifen!«

»O ja, ich begreife es! Ich begreife es, liebe Dolly!« sagte Anna, ihre Hand drückend.

»Und glaubst du, dass er Gefühl hat für meinen Kummer?« fuhr Dolly fort. »Nicht im geringsten! Er ist glücklich und zufrieden.«

»O nein«, unterbrach sie Anna hastig, »er ist sehr betrübt und reuevoll...«

»Ist er der Reue fähig?« unterbrach sie Dolly, indem sie ihre Schwägerin gespannt ansah.

»Ja. Ich kenne ihn. Wir kennen uns beide. Er ist gut, aber stolz und jetzt ganz vernichtet! Was mich am meisten rührte« – Anna hatte erraten, was Dolly rühren konnte – »er schämt sich vor den Kindern, und dann ist er auch tief betrübt darüber, dass er, der dich so sehr liebt... ja, ja, mehr als alles auf der Welt!« unterbrach sie hastig Dolly, die etwas erwidern wollte, »dich gekränkt und dir so tiefen Kummer verursacht hat! ›Nein, nein, sie wird nicht vergeben!‹ wiederholt er fortwährend.«

Dolly hörte gedankenvoll zu.

»Ja, ich verstehe, dass seine Gewissensqualen schrecklich sein müssen«, sagte sie, »weil er fühlt, dass er allein an dem ganzen Unglück schuld ist.«

Tränen unterbrachen ihre Worte, aber immer, wenn sie milder gestimmt wurde, begann sie wieder davon zu sprechen, was ihre Entrüstung hervorgerufen hatte. »Er ist jung, und sie ist auch hübsch«, fuhr sie fort. »Du verstehst, Anna, dass ich meine Jugend und Schönheit verloren habe, und durch wen? Durch ihn und seine Kinder! Beide haben wahrscheinlich von mir gesprochen, oder noch schlimmer, ganz über mich geschwiegen – verstehst du?« In ihren Augen glühte das Feuer der Eifersucht. »Wie sollte ich ihm nun glauben, was er sagt? Niemals! Nein, es ist alles zu Ende, alles! Wozu ertrage ich alle Mühe mit den Kindern? Es ist entsetzlich, dass meine Seele sich plötzlich umgewandt hat und anstatt Liebe und Zärtlichkeit immer nur Groll und Wut für ihn übrigbleiben!«

»Liebste Dolly! Ich verstehe das alles! Aber quäle dich nicht selbst! Du bist so erzürnt und empört, dass du vieles nicht richtig ansiehst!«

Einige Minuten schwiegen beide.

»Was ist zu machen ? Rate mir, Anna! Ich habe immer darüber nachgedacht, aber ich weiß keinen Rat.«

Anna fiel nichts ein, aber ihr Herz antwortete auf jedes Wort, auf jede Miene ihrer Schwägerin.. .

»Höre mich an!« sagte sie. »Ich bin seine Schwester, ich kenne seinen Charakter. Ich weiß, er ist imstande, alles zu vergessen und sich hinreißen zu lassen, aber ich weiß auch, dass er tiefer Reue fähig ist! Er glaubt und versteht jetzt selbst nicht, wie er das tun konnte...«

»O doch, er versteht es sehr wohl!« unterbrach Dolly sie, »Aber ich? Du vergisst mich!«

»Warte noch! Ich gestehe dir, als er mir erzählte, begriff ich noch nicht deine schreckliche Lage. Ich bedauerte ihn. Jetzt aber, wo ich mit dir gesprochen habe, sehe ich noch mehr; ich sehe dein Leiden, und ich kann dir nicht sagen, wie mich das bekümmert! Aber, liebste Dolly, ich verstehe vollkommen deinen Schmerz; nur eins weiß ich nicht... ich weiß nicht, wie viel Liebe für ihn noch in deinem Herzen übrig ist! Du weißt es, ob noch soviel übrig ist, dass du ihm verzeihen kannst.«

»Nein«, begann Dolly. Aber Anna unterbrach sie und küsste nochmals ihre Hand.

»Ich kenne die Welt besser als du! Ich kenne die Menschen von Stiwas Art und wie sie das ansehen! Du sagst, er habe mit ihr über dich gesprochen? Glaube das nicht! Viele Männer begehen Untreue, aber ihre Familie und ihre Frau sind ihnen heilig. Sie ziehen eine unübersteigbare Grenzlinie zwischen der Familie und solchen Wesen!«

»Ja, aber er hat sie doch geküsst!«

»Dolly, mein Seelchen! Ich habe Stiwa gesehen, als er in dich verliebt war. Ich erinnere mich, wie er damals zu mir kam und weinte, wenn er von dir sprach. Welches poetische, erhabene Wesen warst du für ihn! Und ich weiß, dass er, je länger er mit dir lebte, dich immer höher stellte. Wir haben zuweilen über ihn gelacht, wenn er bei jedem Wort hinzufügte: ›Dolly ist eine wunderbare Frau!‹ Du warst immer für ihn eine Göttin und bist es auch jetzt noch. Diese Verirrung hat sein Herz nicht ergriffen, das ist dir geblieben!«

»Aber wenn eine solche Verirrung sich wiederholt?«

»Das ist nicht möglich, wie ich ihn kenne!«

»Ja, würdest du verzeihen?«

»Ich weiß nicht, ich kann darüber nicht urteilen!... Doch ja, ich kann es«, sagte Anna, und nach kurzem Nachdenken fuhr sie fort: »Ja, ich kann es wohl! Ja, ich würde verzeihen! Ich wäre vielleicht nicht mehr dieselbe, aber ich würde verzeihen, und ich würde so verzeihen, als ob nichts vorgefallen wäre...«

»Nun, versteht sich!« unterbrach sie Dolly hastig, als ob sie ausspreche, was sie schon so oft selbst gedacht. – »Sonst wäre es auch keine Verzeihung! Wenn man verzeiht, dann ganz und gar! Aber komm, ich werde dich in dein Zimmer führen!« sagte sie aufstehend und umarmte Anna. »Ach, Teuerste, wie bin ich froh, dass du gekommen bist! Mir ist viel, viel leichter geworden!«

Diesen ganzen Tag brachte Anna im Hause zu und nahm keinen Besuch von ihren Bekannten an, die ihre Ankunft erfahren hatten und zur Begrüßung kamen. Den Morgen brachte Anna mit Dolly und den Kindern zu; ihrem Bruder schrieb sie einige Zeilen, er solle jedenfalls zu Mittag daheim speisen.

Oblonsky speiste zu Hause. Das Gespräch wurde allgemein, und seine Frau sprach zu ihm und nannte ihn »du«, was vorher nicht der Fall gewesen war. Zwischen den Gatten blieb noch dieselbe Entfremdung, aber es war nicht mehr von Trennung die Rede, und Stepan sah wenigstens die Möglichkeit einer Versöhnung voraus.

Sogleich nach dem Essen erschien Kitty. Sie kannte Anna Arkadjewna, wenn auch sehr wenig, und kam jetzt zu ihrer Schwester, nicht ohne Bangen, wie diese Petersburger Weltdame sie empfangen werde. Aber sie sah sogleich, dass sie Anna Arkadjewna gefiel. Anna war angenehm berührt von ihrer Schönheit und Jugend, und Kitty fühlte sich nicht nur von ihrem Einfluss beherrscht, sondern war auch verliebt in sie. Kitty erkannte, dass Anna vollkommen einfach und unbefangen war und nichts verbarg, dass aber in ihr eine andere, höhere Welt existierte, welche ihren, Kittys Begriffen unzugänglich war.

Nach Tisch, als Dolly in ihr Zimmer gegangen war, stand Anna hastig auf und ging zu ihrem Bruder, der eine Zigarre angezündet hatte.

»Stiwa«, sagte sie mit vergnügtem Augenblinzeln, »geh zu ihr! Und Gott helfe dir!« Dabei bekreuzigte sie ihn und deutete mit den Augen nach der Tür.

Als er gegangen war, kehrte sie zu dem Diwan zurück, wo sie von den Kindern umringt wurde.

»Nun, nun, setzt euch, wie wir vorhin saßen!« sagte Anna Arkadjewna. Und wieder schob Grischa seinen Kopf unter ihre Hand und strahlte vor Glück und Stolz.

»Es wird also bald ein Ball stattfinden?« wandte sie sich an Kitty.

»Ja, nächste Woche. Und ein schöner Ball! Einer von den Bällen, auf denen man immer heiter ist.«

»Gibt es auch solche Bälle, auf denen man sich amüsiert?« fragte Anna lachend.

»Ja, wirklich! Bei Bobrischtschews ist's immer heiter, bei Nikitins auch, aber bei Meschkows ist's immer langweilig.«

»Für mich gibt's nicht solche Bälle, wo man sich amüsiert«, sagte Anna, und Kitty erblickte in ihren Augen jene besondere Welt, die ihr verschlossen war. »Für mich gibt's nur solche Bälle, wo man sich mehr oder weniger langweilt.«

»Wie können Sie sich auf einem Ball nur langweilen?«

»Warum nicht?« fragte Anna.

Kitty bemerkte, dass Anna wusste, welche Antwort folgen werde.

»Weil Sie doch immer die Schönste von allen sind!«

Anna errötete. »Erstens ist das nicht der Fall«, sagte sie, »und wenn es auch so wäre, was läge mir daran?«

»Sie werden aber doch diesen Ball besuchen?« fragte Kitty.

»Ich glaube, ich kann nicht anders.«

»Es wird mich sehr freuen, wenn Sie hingehen! Ich wünsche so sehr, Sie auf einem Ball zu sehen.«

»Nun, wenn ich gehen muss, so wird mich wenigstens der Gedanke trösten, dass es Ihnen Vergnügen macht.«

»Ich stelle Sie mir auf dem Balle in Lila vor.«

»Warum gerade in Lila?« fragte Anna lachend. »Nun, Kinder, geht, geht! Hört ihr, Miß Gool ruft euch!« sagte sie, die Kinder von sich abwehrend, und schickte sie in das Speisezimmer.

»Ich weiß, warum Sie wünschen, ich solle diesen Ball besuchen. Sie erwarten viel von ihm und wollen, dass alle dort seien, um Anteil zu nehmen.«

»Wie wissen Sie das? Ja, es ist so.«

»Ach, wie schön sind Ihre Jahre!« fuhr Anna fort. »Ich erinnere mich und kenne diesen himmelblauen Nebel, der alles bedeckt, er ist eine wonnige Zeit. Wer ist diesen Pfad nicht gewandelt?«

Kitty lächelte still. Sie dachte: ›Aber wie ist sie selbst diesen Weg gewandelt? Wie sehr wünschte ich ihren ganzen Roman zu kennen!‹ und sie erinnerte sich an das wenig poetische Äußere von Alexej Alexandrowitsch, dem Gatten Annas.

»Ich weiß etwas. Stiwa hat mir davon gesagt. Ich wünsche Ihnen Glück! Er gefällt mir sehr«, fuhr Anna fort, »ich begegnete Wronsky auf dem Bahnhof.«

»Ach, er war dort?« fragte Kitty errötend. »Was hat Ihnen Stiwa gesagt?«

»Alles, und ich war sehr erfreut darüber«, erwiderte Anna. »Ich reiste gestern mit Wronskys Mutter, und diese sprach unaufhörlich von ihrem Sohne.«

»Was hat Ihnen die Mutter gesagt?«

»Ach, vieles. Ich weiß, dass er ihr Liebling ist, und dass Mütter nicht unparteiisch sind; aber dennoch erkennt man in allem sein ritterliches Wesen. Mit einem Wort, er ist ein Held!« sagte Anna lächelnd und dachte an jene zweihundert Rubel, die er der unglücklichen Frau auf dem Bahnhof gegeben.

»Die Gräfin Wronsky bat mich sehr, sie zu besuchen«, fuhr Anna fort, »und ich freue mich, die alte Dame wiederzusehen. Morgen werde ich sie besuchen. Aber, Gott sei Dank, Stiwa bleibt lange bei Dolly!« bemerkte Anna und erhob sich.

Zur Teestunde kam Dolly aus ihrem Zimmer.

»Ich fürchte, du wirst es oben kalt haben«, sagte sie zu Anna. »Ich möchte dich hier unten einquartieren, und dann sind wir uns auch näher.«

»Ach, bitte, sorge nicht um mich!« erwiderte Anna. Dabei sah sie Dolly ins Gesicht und suchte zu erforschen, ob eine Versöhnung stattgefunden habe oder nicht. »Ich kann überall und immer fest schlafen.«

»Wovon ist die Rede?« fragte Oblonsky seine Frau, während er eintrat. An seinem Ton bemerkten Kitty und Anna sogleich, dass die Versöhnung zustande gekommen war.

»Ich möchte Anna hier unten einlogieren, aber man muss zuvor andere Vorhänge aufstecken. Das muss ich selbst machen«, erwiderte ihm Dolly.

»Ach, Dolly, du hast schon Mühe genug!« sagte er. »Wenn du willst, ich werde alles machen!« ›Ja, sie haben sich ausgesöhnt‹, dachte Anna. ›Gott sei Dank!‹ Und in ihrer Freude, dass sie dies zustande gebracht hatte, ging sie auf Dolly zu und küsste sie.

Den ganzen Abend behandelte Dolly ihren Mann etwas spöttisch und von oben herab; Oblonsky jedoch war heiter und zufrieden, aber nur in gewissen Grenzen, um zu zeigen, dass ihn das Schuldbewusstsein trotz der Verzeihung nicht verlassen habe.

Um halb elf Uhr wurde dieser heitere Familienabend durch ein höchst unbedeutendes Ereignis gestört, das allen seltsam erschien.

Nachdem Anna von gemeinschaftlichen Bekannten in Petersburg gesprochen hatte, stand sie rasch auf.

»Ich habe sie im Album!« sagte sie, »und bei dieser Gelegenheit werde ich euch auch meinen Sergej zeigen«, fügte sie mit mütterlichem Stolz hinzu. Um diese Zeit, gegen zehn Uhr, wo sie sich gewöhnlich von ihrem Sohne verabschiedete und ihn oft selbst zu Bett brachte, beschlich sie eine Traurigkeit darüber, dass sie so fern von ihm sei, und während ihres Gespräches kehrten ihre Gedanken zu ihm zurück. Sie benutzte die erste Gelegenheit, aufzustehen, um das Album zu holen. Die Treppe, die zu ihrem Zimmer hinaufführte, mündete auf einen Absatz der großen Eingangstreppe. Im Augenblick, als sie aus dem Salon trat, hörte man im Vorzimmer klingeln.

»Wer kann das sein?« fragte Dolly.

»Wahrscheinlich bringt jemand Papiere«, bemerkte Oblonsky, und als Anna an der Treppe vorüberging, eilte ein Diener hinauf, um den Ankommenden zu melden, der im Vorzimmer bei einer Lampe stand, Anna blickte hinab und erkannte sogleich Wronsky. Ein seltsames Gefühl von Freude und zugleich eine unbestimmte Angst regten sich in ihrem Herzen, Er blieb stehen, ohne seinen Überrock abzunehmen und nahm etwas aus der Tasche. In diesem Augenblick, als sie die Mitte der Treppe erreicht hatte, erhob er die Augen, erblickte sie und schien verlegen zu werden. Sie ging vorüber mit leicht gebeugtem Kopf und hörte hinter sich die laute Stimme von Stepan Arkadjewitsch, der ihm zurief, einzutreten, worauf die weiche, ruhige Stimme Wronskys ablehnend antwortete.

Als Anna mit dem Album zurückkehrte, war er nicht mehr da, und Oblonsky erzählte, er sei gekommen, um sich nach einem Diner zu erkundigen, das morgen einer ausländischen Berühmtheit gegeben werden sollte. »Und dabei wollte er keinesfalls eintreten. Er ist so ein sonderbarer Mensch!« fügte Oblonsky hinzu.

Kitty errötete. Sie glaubte allein zu verstehen, warum er gekommen sei und warum er nicht eintreten wollte. ›Er ist bei uns gewesen‹, dachte sie, ›und hat mich nicht getroffen und glaubte, ich sei hier. Aber er trat nicht ein, weil er wahrscheinlich dachte, es sei zu spät, und weil Anna hier ist.‹

Alle blickten sich gegenseitig an und betrachteten dann Annas Album.

Es lag nichts Ungewöhnliches darin, dass jemand in der zehnten Stunde zu einem Freunde kam, um sich über ein Diner zu erkundigen, und dann nicht eintreten wollte; aber allen erschien es sonderbar, am meisten Anna.

Der Ball hatte eben begonnen, als Kitty mit ihrer Mutter die große, mit Blumen geschmückte, hellerleuchtete Treppe emporstieg. Während sie vor einem großen Spiegel die Frisur und die Toilette musterten, vernahmen sie aus dem Saal ein summendes Geräusch und dabei die Klänge der Violine, die zum ersten Walzer gestimmt wurde. An der Tür stand ein Offizier, der seine Handschuhe zuknöpfte, einen bewundernden Blick auf Kitty warf und seinen Schnurrbart strich. Ein junger Mann lud Kitty zu einer Quadrille ein. Die erste hatte sie Wronsky versprochen, und die zweite musste sie dem jungen Mann bewilligen. Kitty hatte einen ihrer glücklichsten Tage, ihr Kleid drückte sie nirgends, so wenig wie ihre rosaroten Tanzschuhe mit hohen Absätzen. Ihre Schultern und Arme erschienen ihr wie von kaltem Marmor, ein Gefühl, das sie besonders liebte. Ihre Augen glänzten und ihre Lippen lächelten im Bewusstsein ihrer Schönheit. Kaum hatte sie den Saal betreten und sich in die Reihe der mit Spitzen, Bändern und Blumen geschmückten Damen begeben, die den Tanz erwarteten, als sie schon zum Walzer aufgefordert wurde, und zwar von dem besten Kavalier, dem berühmten Leiter der Bälle, einem verheirateten, hübschen und stattlichen Herrn, Jegor Korsunsky.

»Wie schön, dass Sie frühzeitig gekommen sind!« sagte er.

Sie legte ihren linken Arm auf seine Schulter, und die kleinen Füßchen bewegten sich schnell und leicht im Takt der Musik auf dem glatten Parkett.

»Es ist eine Erholung, mit Ihnen zu walzen, welche Leichtigkeit! « fuhr er fort, ganz dasselbe, was er allen seinen schönen Tänzerinnen sagte. Sie lachte und blickte über seine Schulter weg sich im Saale um. In der linken Ecke des Saales sah sie die schöne Lydia, die Frau Korsunskys, unglaublich dekolletiert, dort war auch die Dame des Hauses, dort sah sie Oblonsky, und dann auch die entzückende Gestalt Annas im schwarzen Samtkleide. Auch er war dort. Kitty hatte ihn seit jenem Abend, als sie Lewin abgesagt hatte, nicht mehr gesehen. Sie sah, wie er nach ihr hinblickte.

»Noch eine Tour?« fragte Korsunsky. »Sind Sie nicht ermüdet?«

»Nein, ich danke.«

»Wohin darf ich Sie führen?«

»Ich glaube, Frau Karenin ist da, führen Sie mich zu ihr!«

»Wie Sie befehlen.«

Korsunsky wälzte immer weiter mit gewandten Schritten gerade auf die Gruppe in der linken Ecke des Saales zu und hielt mit einer raschen Wendung an. Korsunsky verbeugte sich und reichte ihr den Arm, um sie zu Anna Arkadjewna zu führen. Anna Arkadjewna war nicht in Lila, sondern in einem schwarzen, tief ausgeschnittenen Samtkleid erschienen, das ihre vollen Schultern, Arme und Büste sehen ließ. In ihren schwarzen Haaren trug sie eine kleine Girlande von Vergissmeinnicht und eine ebensolche an ihrem Gürtel zwischen weißen Spitzen. Ihren schönen Hals umschloß ein Perlenhalsband.

Kitty hatte Anna jeden Tag gesehen und war von ihr entzückt. Sie hatte sie sich durchaus in Lila auf dem Balle vorgestellt, jetzt aber, in diesem Samtkostüm, erschien sie ihr ganz neu, jetzt begriff sie, dass Annas höchster Reiz gerade darin bestand, dass sie aus ihrer Toilette hervortrat, dass man ihre Toilette immer über sie selbst vergaß.

Anna bemerkte Kitty und empfing sie mit einem zärtlich-gönnerhaften Lächeln.

»Einen Walzer, Anna Arkadjewna?« fragte Korsunsky.

»Ich tanze nicht, wenn ich es vermeiden kann.«

»Aber das ist jetzt nicht möglich!« sagte Korsunsky.

In diesem Augenblick näherte sich Wronsky.

»Nun, wenn man durchaus tanzen muss, so kommen Sie«, sagte Anna, und ohne auf die Verbeugung Wronskys zu achten, legte sie rasch ihren Arm auf Korsunskys Schulter. ›Was hat sie gegen ihn?‹ dachte Kitty, der es nicht entgangen war, dass Anna absichtlich Wronskys Verbeugung nicht erwidert hatte.

Wronsky trat auf Kitty zu, erinnerte sich an die erste Quadrille und sprach sein Bedauern aus, dass er die ganze Zeit über nicht das Vergnügen gehabt habe, sie zu sehen.

Kitty erwartete, dass er sie zum Walzer auffordern werde, aber das geschah nicht, und sie blickte ihn verwundert an. Er errötete und forderte sie dann hastig zum Tanz auf, aber kaum hatten sie einige Schritte gemacht, als plötzlich die Musik aufhörte.

»Pardon! Pardon! Walzer! Walzer!« rief von der anderen Seite des Saales her Korsunsky, bemächtigte sich der ersten Dame in seiner Nähe und begann zu tanzen.

Wronsky tanzte mit Kitty einen Walzer, dann ging sie zu ihrer Mutter, und kaum hatte sie einige Worte mit der Gräfin Northstone gesprochen, als Wronsky sie zur ersten Quadrille abholte. Während dieser wurde nichts Besonderes gesprochen. Er erzählte in humoristischer Weise von Korsunsky und seiner Frau, dann von einem Liebhabertheater, das gebildet werden sollte, und nur einmal fühlte sie sich lebhaft erregt, als er fragte, ob Lewin noch hier sei, und gleichzeitig versicherte, er habe ihm sehr gefallen.

Kitty hatte von der Quadrille nicht viel erwartet. Mit klopfendem Herzen aber sah sie dem Kotillon entgegen, sie glaubte, hier müsse sich alles entscheiden. Sie wunderte sich nicht darüber, dass er sie während der Quadrille nicht zum Kotillon aufforderte, sie war überzeugt, dass er, wie auf früheren Bällen, diesen nur mit ihr tanzen werde, und lehnte fünf Einladungen ab, indem sie sagte, sie sei schon engagiert. Als sie die letzte Quadrille mit einem der langweiligsten jungen Leute tanzte, dem sie nicht absagen konnte, fand sie sich Wronsky und Anna gegenüber. Seit dem Beginn des Balles hatte sie sich Anna nicht genähert, und jetzt zeigte diese sich plötzlich in ganz neuem Licht. Kitty bemerkte an ihr die ihr selbst so bekannten Anzeichen der Erregung, die der Erfolg hervorruft. Sie kannte dieses Gefühl und seine Merkmale, sie bemerkte den zitternden, funkelnden Glanz in ihren Augen, das glückliche Lächeln des Triumphes und die berechnete Anmut ihrer Bewegungen.

»Wer mag es sein?« fragte sie sich. »Alle oder einer?« Sie überließ es ihrem unglücklichen Tänzer, den abgerissenen Faden des Gesprächs wiederzufinden, und folgte dann weiter dem lauten Kommando Korsunskys, welcher bald »grand rond« bald »chaîne anglaise« in den Kreis der Tanzenden hineinrief.

»Nein, es ist nicht die Bewunderung der Menge, die sie trunken macht, sondern die eines einzigen? Und wer ist dieser einzige? Ist es nicht er?«

Sooft Wronsky mit Anna sprach, leuchtete in ihren Augen ein heller Glanz auf, und ein Lächeln des Glücks erschien auf ihren purpurroten Lippen.

»Nun und er?« Kitty sah nach ihm und entsetzte sich. Verschwunden war sein ruhiges, festes Wesen; sooft er mit ihr sprach, beugte er den Kopf, als ob er vor ihr niederfallen wolle, und sein Blick zeigte nur Unterwürfigkeit und Demut.

Nie zuvor hatte sie einen solchen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen.

Der ganze Ball, die ganze Welt verschwand vor Kitty in einem Nebel. Nur die strenge Erziehung, die sie erhalten hatte, hielt sie aufrecht, um das Erforderliche zu tun, das heißt zu tanzen, auf Fragen zu antworten, zu sprechen, sogar zu lächeln. Aber beim Beginn des Kotillons befand sich Kitty in Verzweiflung. Sie hatte fünf Einladungen abgelehnt, und jetzt hatte sie keinen Tänzer. Es war auch keine Hoffnung mehr, dass ein solcher sich finden werde, denn bei ihrem großen Erfolg konnte niemand sich vorstellen, dass sie noch nicht eingeladen war. Es blieb ihr nur übrig, ihrer Mutter zu sagen, sie sei unwohl und wünsche nach Hause zu fahren. Aber dazu hatte sie keine Kraft. Sie flüchtete in ein Nebenzimmer und ließ sich auf einen Lehnstuhl nieder.

Vielleicht irre ich mich? Vielleicht ist das alles nur Täuschung?‹ Und dann erinnerte sie sich wieder an alles, was sie gesehen hatte.

»Kitty! Aber was ist das?« sagte die Gräfin Northstone, die sich auf dem Teppich lautlos genähert hatte. »Das begreife ich nicht.«

Kitty stand rasch auf, ihre Lippen zuckten.

»Kitty! Du tanzest den Kotillon nicht mit?«

»Nein! Nein!« sagte Kitty, die vor Tränen kaum sprechen konnte.

»Vor meinen Augen hat er sie zum Kotillon aufgefordert!« sagte die Gräfin, die wohl wusste, dass Kitty begriff, wen sie meinte. »Sie fragte ihn, ob er denn nicht mit der Fürstin Schtscherbatzky tanzen werde.« »Ach, es ist mir alles ganz gleich!« erwiderte Kitty. Niemand außer ihr begriff ihre Lage, niemand wusste, dass sie noch gestern einen Mann, welcher sie vielleicht liebte, abgewiesen hatte, weil sie an einen anderen glaubte.

Die Gräfin Northstone suchte Korsunsky auf, mit dem sie den Kotillon tanzen wollte, und veranlasste ihn, Kitty zu diesem Tanz aufzufordern.

Zum Glück hatte Kitty nicht nötig, viel zu sprechen, weil Korsunsky immer mit der Leitung des Tanzes beschäftigt war. Wronsky und Anna saßen ihr beinahe gegenüber, und je länger sie diese beobachtete, desto mehr überzeugte sie sich davon, dass ihr Unglück vollkommen war; sie sah, dass beide sich wie allein in diesem vollen Saal fühlten.

Wenn Anna lächelte, so teilte sich ihr Lächeln auch ihm mit, wenn sie nachdenklich wurde, so wurde auch er ernst. Eine geheimnisvolle Kraft lenkte Kittys Augen nach Anna hin. Sie war verführerisch in ihrem einfachen schwarzen Kleid, mit ihren vollen, geschmückten Armen, entzückend war der schöne Hals mit der Perlenschnur, entzückend die graziösen Bewegungen der kleinen Füße und Hände. Aber es lag etwas Schreckliches und Grausames in diesem Zauber.

Nach dem Kotillon wollte Anna nicht zum Souper bleiben.

»Aber ich bitte, Anna Arkadjewna!« sagte Korsunsky, indem er ihren bloßen Arm unter den Ärmel seines Frackes nahm.

»Nein, ich kann nicht bleiben«, erwiderte Anna lächelnd, aber trotz dieses Lächelns fühlten Korsunsky und der Herr des Hauses, dass sie nicht bleiben werde. »Nein, ich habe in Ihrem Moskau auf diesem einen Ball schon weit mehr getanzt als den ganzen Winter in Petersburg!« sagte Anna. »Ich muss mich für die Reise stärken.«

»Und Sie fahren wirklich morgen ab?« fragte Wronsky.

»Ja, ich denke so!« erwiderte Anna, wie erstaunt über die Kühnheit dieser Frage.

Anna Arkadjewna blieb wirklich nicht zum Souper und fuhr nach Hause.

Ich muss doch etwas Abstoßendes an mir haben‹, dachte Lewin, als er das Haus Schtscherbatzky verließ, um zu Fuß zu seinem Bruder zu gehen. ›Ich passe nicht zu anderen Leuten. Man sagt, es sei Stolz, aber wenn es Stolz wäre, würde ich

mich nicht in eine solche Lage gebracht haben. Nun, ich darf mich nicht beklagen, sie musste ihn vorziehen!‹

Dann erinnerte er sich an seinen Bruder Nikolai.

Während der langen Fahrt zu ihm fielen ihm verschiedene Vorfälle im Leben seines Bruders Nikolai ein. Er erinnerte sich, wie Nikolai auf der Universität und noch ein Jähr nachher wie ein Mönch gelebt hatte, ungeachtet des Spottes seiner Genossen fastete und alle Vergnügungen mied, besonders die Frauen, und wie er dann plötzlich mit Leuten der schlechtesten Sorte umging und ein ausschweifendes Leben führte. Dann dachte er an die Geschichte mit einem Spieler, an den er Geld verloren und dem er dafür einen Wechsel gegeben hatte, worauf er ihn vor Gericht wegen Betrug verklagte. Das war der Wechsel, den sein Bruder Sergej Iwanowitsch bezahlte. Dann erinnerte er sich auch, wie er eine Nacht auf der Polizeiwache wegen Ruhestörung zugebracht hatte, und wie er später einen Prozess mit seinem Bruder Sergej Iwanowitsch begonnen hatte, weil dieser ihm seinen Teil aus dem mütterlichen Vermögen nicht ausgezahlt habe. Alles das war schrecklich gemein, aber Lewin erschien es nicht so abscheulich wie Leuten, die das frühere Leben Nikolais und sein Herz nicht kannten.

Lewin dachte daran, dass zu jener Zeit, als Nikolai in der Religion einen Zügel für seine leidenschaftliche Natur suchte, niemand ihn unterstützt, sondern alle ihn verspottet hatten.

»Ich werde ihn zum Sprechen zu bewegen suchen und ihm zeigen, dass ich ihn liebe und deshalb mich seiner erinnert habe«, sagte Lewin zu sich selbst, als er um elf Uhr vor dem Gasthaus ankam, wo Nikolai wohnte.

»Oben, Nummer zwölf und dreizehn«, erwiderte der Portier auf Lewins Frage.

Die Tür von Nummer zwölf war halb offen, ein Lichtschein drang daraus hervor und ein Qualm von schlechtem Tabak. Lewin hörte eine ihm unbekannte Stimme und dann auch das Husten seines Bruders.

»Alles hängt davon ab, wie die Sache geführt wird«, sagte die fremde Stimme. Lewin blickte durch die halb offene Tür hinein und sah, dass der Sprechende ein junger Mann in ärmlicher Kleidung war mit einer ungeheuren Mütze. Ein junges Frauenzimmer in einem Kattunkleid saß auf dem Diwan. Sein Bruder Nikolai war nicht sichtbar. Lewins Herz zuckte schmerzlich bei dem Gedanken, in welcher Umgebung sein Bruder lebte.

Niemand bemerkte den Ankommenden. Lewin hörte, was der junge Mann sagte. Er sprach von irgendeinem Unternehmen.

»Zum Teufel mit den privilegierten Klassen!« sagte Nikolai mit heiserer Stimme. »Mascha, besorge uns Abendessen und gib Wein her!«

Das Mädchen stand auf, um zu gehen, und erblickte dabei Lewin.

»Da ist ein Herr, Nikolai Dmitritsch!« sagte sie.

»Wer ist da?« schrie Nikolai.

»Ich bin's!« erwiderte Konstantin Lewin.

»Wer ist ich?« rief Nikolais Stimme noch zorniger. Man hörte, wie er rasch aufstand, an etwas anstieß, und dann erblickte Lewin vor sich die wohlbekannte, hohe, etwas gebückte Gestalt seines Bruders, dessen wildes und krankhaftes Aussehen ihn erschreckte.

Er war noch hagerer als vor drei Jahren, als Lewin ihn zum letzten mal gesehen hatte.

»Ah, Kostja!« rief er plötzlich, als er seinen Bruder erkannte, und seine Augen glänzten freudig. Dabei machte er die Konstantin wohlbekannte krampfhafte Bewegung mit Kopf und Hals, als ob seine Krawatte ihn drückte. Aber dann erschien ein ganz anderer, wilder, leidenschaftlicher und verbissener Ausdruck auf seinem abgezehrten Gesicht.

»Ich habe dir und Sergej geschrieben, dass ich nichts von euch wissen will!« sagte er. »Was willst du also?«

»Ich wollte dich nur sehen!« erwiderte Lewin schüchtern.

»So, so«, sagte Nikolai etwas besänftigt. »Nun, komm herein! Setze dich! Willst du speisen? Mascha, bringe drei Portionen! Nein, warte noch! Weißt du, wer das ist?« wandte er sich an seinen Bruder, indem er auf den fremden Herrn deutete. »Das ist Herr Krizki, mein Freund, noch von Kiew her. Ein sehr bedeutender Mensch! Natürlich wird er von der Polizei verfolgt, weil er kein Schurke ist! – Dieses Mädchen, ist meine Lebensgefährtin, Maria Nikolaijewna. Ich habe sie aus einem gewissen Hause genommen, aber ich liebe und verehre sie und alle, die mit mir umgehen wollen, müssen sie lieben und achten. Sie ist ganz wie meine Frau. Nun weißt du, mit wem du zu tun hast, und wenn du stolz bist, so steht es dir frei, zu gehen.«

»Ich bin nicht stolz, keineswegs.«

«Nun gut! Dann geh, Mascha, und lasse Essen bringen! Drei Portionen, Schnaps und Wein.«

»Siehst du«, redete Nikolai weiter – er wusste augenscheinlich nicht, was er sagen oder tun sollte – »siehst du ...« Er deutete in die Ecke des Zimmers, wo einige Eisenstücke lagen. »Siehst du das? Das ist der Anfang eines neuen Unternehmens, Es handelt sich um eine Genossenschaft von Arbeitern.«

Konstantin blickte betrübt dieses krankhafte, schwindsüchtige Gesicht an. Er wusste, dass diese Genossenschaft nur ein Rettungsanker für Nikolai war, um sich nicht selbst zu verachten.

»Du weißt, das Kapital erdrückt den Arbeiter, der alle Mühe zu ertragen hat und so gestellt ist, dass er trotz aller Anstrengung nicht aus der Lage eines Lasttieres herauskommen kann. Das muss anders werden!« Er blickte fragend seinen Bruder an.

»Ja, versteht sich!« sagte Konstantin.

»Und deshalb gründen wir eine Schlossergenossenschaft, in der alles gemeinsam sein wird, die Produkte, der Gewinn und sogar die Arbeitswerkzeuge.«

»Wo wird die Genossenschaft gegründet?«

»Im Dorfe Wosdrema, im Gouvernement Kasan.«

»Warum aber auf einem Dorfe? Dort gibt es doch genug zu tun.«

»Deshalb, weil die Bauern jetzt ebensolche Sklaven sind wie früher. Dir und Sergej ist es unangenehm, dass sie aus ihrer Sklaverei sich befreien wollen, wie er in seinem Artikel deutlich sagt.«

Lewin überblickte mit einem Seufzer das öde und schmutzige Zimmer.

»Warum sprichst du von Sergej?« fragte Lewin lächelnd.

»Sergej? Nun, das will ich dir sagen!« schrie Nikolai, der bei dem Namen Sergej in Wut geriet. »Aber was ist da zu reden? Warum bist du zu mir gekommen? Du verachtest mich! Nun gut, dann geh!« schrie er und sprang auf. »Fort mit dir! Fort!«

»Ich verachte dich gar nicht«, erwiderte Konstantin schüchtern, »und ich will nicht mit dir streiten!«

In diesem Augenblick erhob sich Maria Nikolaijewna. Nikolai sah sie zornig an, sie ging rasch auf ihn zu und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Ich bin krank und reizbar«, sagte er, ruhiger werdend, mit einem schweren Seufzer.

»Haben Sie den Artikel von Sergej gelesen?« fragte er Krizki.

»Nein«, erwiderte dieser mürrisch, augenscheinlich nicht geneigt, an der Unterhaltung teilzunehmen. »Ich will damit keine Zeit verschwenden.«

»Aber erlauben Sie, wie wissen Sie, dass Sie damit Ihre Zeit verlieren? Vielen ist dieser Artikel unverständlich, das heißt, zu hoch, aber ich durchschaue seine Gedanken.«

Alle schwiegen. Krizki stand rasch auf und griff nach seinem Hut.

Kaum war Krizki gegangen, als Nikolai spöttisch lächelte.

»Der ist auch schwach«, sagte er.

Aber in diesem Augenblick rief ihn Krizki von der Tür her.

»Was gibt's noch?« sagte er und ging auf den Flur hinaus.

»Sind Sie schon lange bei meinem Bruder?« fragte Lewin das Mädchen.

»Ja, schon im zweiten Jahre. Seine Gesundheit hat sich sehr verschlimmert! Er trinkt zu viel Branntwein, das ist ihm schädlich!«

»Wovon sprecht ihr?« fragte Nikolai, wieder ins Zimmer tretend, mit finsterem Blick.

»Von nichts Besonderem«, erwiderte Konstantin.

»Willst du nicht antworten, ist's gut. Aber du hast nichts mit ihr zu sprechen!« sagte er und reckte wieder krampfhaft den Hals. »Ich sehe, du hast nur Mitleid und Verachtung für mich!«

»Nikolai! Nikolai Dmitritsch!« flüsterte wieder das Mädchen ihm zu.

»Nun gut, gut!... Was ist's mit dem Essen? Ah, da kommt er!« sagte er, als ein Kellner mit einem Tragbrett eintrat.

»Hierher! Hierher!« Sogleich griff er nach dem Branntwein, goss ein Glas voll und trank es gierig aus.

»Trink! Willst du?« fragte er Lewin, gleichsam neu auflebend. »Nun, jedenfalls bin ich erfreut, dich zu sehen. Nun trink doch, und erzähle mir, was du machst. Wie lebst du?«

»Ich lebe allein auf dem Gute, wie immer!« erwiderte Konstantin.

»Warum heiratest du nicht?«

»Es hat sich nicht gemacht«, erwiderte Lewin errötend.

Konstantin beeilte sich, das Gespräch abzulenken.

»Und weißt du, dass Wanjuschka bei mir in Pokrowsk als Schreiber dient?« sagte er. '

Nikolai reckte wieder den Hals und dachte nach.

»Erzähle mir, wie es in Pokrowsk zugeht«, sagte er. »Steht das alte Haus noch? Lebt der alte Gärtner Philipp noch?« »Komme doch zu mir!« sagte Lewin. »Wie würden wir zusammen alles hübsch einrichten!«

»Ich würde kommen, wenn ich wüsste, dass ich Sergej nicht bei dir finden werde.«

»Du findest ihn nicht dort, ich lebe ganz unabhängig von ihm.«

»Du magst sägen, was du willst, du musst wählen zwischen mir und ihm!« erwiderte Nikolai mit einem schüchternen Blick, der Lewin rührte.

»Willst du meine Meinung wissen über deinen Streit mit Sergej, so sage ich dir: ihr habt beide unrecht. Dein Unrecht liegt mehr im Äußeren und das seinige mehr im Inneren.«

»Aha, das hast du richtig verstanden!« rief Nikolai mit geräuschvoller Freude.

»Genug, Nikolai Dmitritsch!« sagte Maria Nikolaijewna, indem sie ihren bloßen, vollen Arm nach der Flasche ausstreckte.

»Weg da! Ärgere mich nicht, oder du erhältst Schläge!« schrie er.

Maria sah ihn mit einem milden, gutmütigen Lächeln an, das Nikolai besänftigte, und nahm ihm die Flasche weg.

»Sie waren früher noch nie in Moskau?« fragte Lewin das Mädchen, nur um etwas zu sagen.

»Sprich sie nicht mit ›Sie‹ an, davor fürchtet sie sich! Niemand hat sie mit ›Sie‹ angeredet, außer der Friedensrichter, der sie dafür bestrafte, dass sie aus dem Hause des Lasters fortwollte. Mein Gott, welcher Unsinn herrscht doch in der Welt!« rief er plötzlich.

Bei diesen Reden wurde seine Zunge schwer, und er sprang von einem Gegenstand auf den anderen über. Lewin gelang es mit Hilfe Maries, ihn zu überreden, zu Hause zu bleiben, und er legte ihn ganz betrunken zu Bett.

Marie versprach, an Konstantin im Falle der Not zu schreiben und Nikolai zu überreden, zu seinem Bruder auf das Land zu kommen.

Am anderen Morgen verließ Lewin Moskau und traf abends wieder zu Hause ein. Während der Reise hatte er sich mit seinen Reisegefährten über Politik unterhalten, und wie in Moskau fühlte er sich von Beschämung bedrückt, ohne zu wissen, weshalb. Erst als er die gebeugte Gestalt seines Kutschers Ignaz bemerkte und seinen Schlitten, der mit einem Teppich bedeckt war, heiterte sich seine Stimmung etwas auf. Er hoffte auf kein außerordentliches Glück mehr und begnügte sich mit der Wirklichkeit. Er gab sich das Versprechen, seinen Bruder Nikolai nicht zu vergessen und ihm zu helfen, sobald es nötig wäre.

Ein schwacher Lichtschein erhellte die Fenster des Stübchens seiner alten Amme Agafja Michailowna. Kusma, der Diener, eilte barfuß und halb verschlafen heraus, um die Tür zu öffnen. Laska, die Jagdhündin, lief ihrem Herrn entgegen.

»Sie sind rasch zurückgekommen, Väterchen«, sagte Agafja Michailowna.

»Ich habe mich in Moskau gelangweilt, Agafja! Zu Hause ist's am besten«, sagte er und ging in sein Schreibzimmer.

Es war ein großes, altertümliches Haus, das Lewin allein bewohnte. Dieses Haus, in dem seine Eltern gelebt hatten und gestorben waren, war seine Welt.

Er trat in den kleinen Salon, ließ sich in einem Lehnstuhl nieder und ergriff ein Buch, während Agafja ihm Tee brachte und sich darauf wie gewöhnlich am Fenster niedersetzte. Dann erzählte sie ihm die kleinen Neuigkeiten dieser eng beschränkten Welt, in der sie lebte, und bald fühlte sich Lewin wieder heimisch. Er empfing seinen Verwalter und versenkte sich mit ihm in die Sorgen für die Wirtschaft.

Am Morgen nach dem Ball benachrichtigte Anna Arkadjewna ihren Mann durch ein Telegramm, dass sie an demselben Tage von Moskau abreisen werde.

»Nein, ich muss durchaus abreisen«, sagte sie zu ihrer Schwägerin in einem Ton, als ob sie sich plötzlich erinnere, dass zahlreiche Arbeiten sie erwarteten.

Oblonsky speiste nicht zu Hause, hatte aber versprochen, seine Schwester um sieben Uhr zum Bahnhof zu begleiten.

Auch Kitty war nicht gekommen und hatte sich durch ein Billett entschuldigt, worin sie Kopfschmerzen vorschützte. Dolly und Anna speisten allein mit den Kindern und der Engländerin. Anna war den ganzen Morgen mit Reisevorbereitungen beschäftigt und schrieb einige Abschiedsbriefe an Bekannte in Moskau. Dolly glaubte zu bemerken, dass ihre Schwägerin sich in einem Zustand der Sorge und Unruhe befand. Nach Tisch ging Anna in ihr Zimmer, um sich anzukleiden, und Dolly folgte ihr dorthin. »Wie seltsam du jetzt bist!« sagte Dolly.

»Ich? Findest du das? Ich bin nicht seltsam, aber traurig. Das kommt bei mir zuweilen vor, ich möchte immer weinen, Das ist sehr dumm, aber es geht vorüber«, sagte Anna hastig. Ihre Augen funkelten in seltsamem Glanz und füllten sich beständig mit Tränen. »Aus Petersburg wollte ich nicht abreisen, und jetzt möchte ich nicht wieder von hier fort.«

»Hier hast du ein gutes Werk vollbracht«, sagte Dolly.

Anna blickte sie mit tränenfeuchten Augen an.

»Sage das nicht, Dolly! Was konnte ich tun! In deinem eigenen Herzen fand ich so viel Liebe, dass du vergeben konntest...«

»Gott weiß, was geworden wäre ohne dich! Wie glücklich du bist, Anna!« sagte Dolly. »In deiner Welt ist alles hell und schön!«

»Jeder hat sein Skelett im Hause, sagt der Engländer.«

»Was für ein Skelett hast du? Bei dir ist alles so heiter!«

»Ich habe auch eins«, sagte Anna plötzlich, und ganz unerwartet erschien ein listiges, spöttisches Lächeln auf ihren Lippen.

»Nun, dann ist es lächerlich, dein Skelett, aber nicht grausig«, sagte Dolly lachend.

»Nein, es ist grausig! Weißt du, warum ich schon heute fahre? Das ist ein Geständnis, das mich niederdrückt, aber du sollst es hören«, sagte Anna, indem sie sich leicht im Stuhl zurückwarf und Dolly in die Augen blickte.

»Ja«, fuhr Anna fort, »weißt du, warum Kitty nicht zugegen ist, um hier zu speisen? Sie ist eifersüchtig auf mich. Ich bin die Veranlassung dazu gewesen, dass dieser Ball ihr eine Qual anstatt eine Freude geworden ist. Aber wirklich, ich bin unschuldig daran oder nur sehr wenig schuldig«, sagte sie.

»Oh, wie sehr glichst du eben Stiwa, während du das sagtest«, rief Dolly lachend.

»Nein, nein, ich bin nicht Stiwa«, sagte Anna. »Ich sage dir das deshalb, weil ich mir nicht erlaube, auch nur einen Augenblick an mir selbst zu zweifeln.« Aber während sie diese Worte sprach, fühlte sie, dass sie unwahr waren. Nicht nur zweifelte sie an sich selbst, sie empfand auch eine Erregung bei dem Gedanken an Wronsky, und nur, um nicht mehr mit ihm zusammenzutreffen, reiste sie früher ab.

»Ja, Stiwa hat mir gesagt, du habest mit Wronsky den Kotillon getanzt, und er...« »Du kannst dir nicht vorstellen, wie das alles gekommen ist! Ich hatte nur daran gedacht, ihre Heirat zu fördern, und nun ist es ganz anders gekommen. Vielleicht habe ich sogar gegen meinen Willen...« Sie stockte errötend. »Ich wäre in Verzweiflung, wenn die Sache ernsthafte Folgen hätte, aber ich bin überzeugt, alles wird bald in Vergessenheit geraten, und Kitty wird aufhören, mir zu zürnen.«

»Übrigens, Anna, im Vertrauen gesagt, wünsche ich für Kitty nicht diese Heirat, und es ist besser, dass sie nicht zustande käme, da Wronsky sich schon am ersten Tage in dich verlieben konnte.«

»Ach, mein Gott, das wäre so unsinnig!« sagte Anna, und wieder erschien eine tiefe Röte der Befriedigung auf ihrem Gesicht. »Und so habe ich mir nun Kitty zur Feindin gemacht, die ich doch sehr liebte.«

Erst kurz vor der Abreise kam Oblonsky, der sich verspätet hatte, mit rotem, vergnügtem Gesicht und einen Duft von Wein und Zigarren um sich verbreitend. Annas Empfindsamkeit teilte sich auch Dolly mit, und als sie sich zum letzten mal umarmten, flüsterte sie: »Denke daran, Anna, was du für mich getan hast, ich werde es niemals vergessen, und denke daran, dass ich dich immer lieben werde!«

»Nun ist alles zu Ende, Gott sei Dank!« war der erste Gedanke Annas, als sie zum letzten mal von ihrem Bruder Abschied genommen hatte, der bis zum dritten Zeichen die Tür des Eingangs versperrt hatte. Sie setzte sich auf ihren Platz nieder neben ihrer Zofe Annuschka und blickte sich in dem Halbdunkel des Schlafwagens um.

»Gott sei Dank, morgen werde ich Serescha und meinen Mann wiedersehen, und mein Leben wird wieder ins alte Geleise kommen.«

Anna nahm aus ihrer kleinen Tasche ein Kopfkissen heraus, das sie auf ihre Knie legte, hüllte die Füße sorgsam ein und lehnte sich bequem zurück. Eine kranke Dame richtete sich schon für die Nacht ein. Zwei andere Damen suchten ein Gespräch mit ihr. Sie antwortete einige Worte, ließ sich von Annuschka den kleinen Reiseleuchter reichen, befestigte ihn an der Rücklehne und nahm ein Papiermesser und einen englischen Roman aus ihrer Tasche. Anna begann zu lesen. Der Held des Romans war schon nahe daran, sein englisches Glück zu erreichen, nämlich einen Baronstitel und ein Gut, und Anna wünschte im Halbschlummer, mit ihm zusammen auf jenes Landgut zu reisen. Sie ließ ihr Buch sinken, lehnte sich zurück und erfasste das Papiermesser. Sie durchlief alle ihre Erinnerungen aus Moskau, alle waren gut und angenehm. Die Erinnerung an den Ball, an Wronsky, seine demütige, verliebte Miene zogen in Gedanken an ihr vorüber. Sie dachte an ihre Verwandten und fand nichts Beschämendes. Aber dennoch verstärkte sich bei dieser Stelle ihrer Erinnerungen das Gefühl der Beschämung.

Was bedeutet das?‹ fragte sie sich selbst und richtete sich entschlossen auf. ›Was ist das? Können etwa zwischen mir und diesem jungen Offizier irgendwelche andere Beziehungen bestehen als solche wie zwischen gewöhnlichen Bekannten?‹ Sie lachte verächtlich und begann wieder zu lesen, konnte aber das Gelesene nicht mehr verstehen. Die Spannung ihrer Nerven stieg, und ihre Finger zuckten. Um ihre Selbstbeherrschung wiederzuerlangen, erhob sie sich und nahm ihre Pelerine ab. Sogleich fasste sie sich wieder und begriff, dass der eintretende hagere Mensch der Ofenheizer war und nach dem Thermometer sah. Dann aber verwirrte sich alles wieder. Der Mann begann etwas an der Wand zu kratzen, die alte Dame streckte ihre Beine aus durch die ganze Länge des Wagens hin und umhüllte sie vollkommen mit einer schwarzen Wolke. Die Stimme eines vermummten, mit Schnee bedeckten Mannes schrie ihr etwas ins Ohr. Indem sie sich erhob und ermunterte, begriff sie, dass das der Kondukteur war, der die Einfahrt in eine Station ausrief. Sie legte mit Annuschkas Hilfe wieder ihre Pelerine und ihren Plaid um und ging der Tür zu.

»Die gnädige Frau will hinausgehen?« fragte Annuschka.

»Ja! ich muss etwas Luft schöpfen! Hier ist's sehr heiß!«

Anna öffnete die Tür, der Schneesturm schlug ihr entgegen und ließ sie kaum die Tür öffnen. Sie ging hinaus. Der Sturm schien nur sie erwartet zu haben. Mit einem vergnügten Pfeifen wollte er sie ergreifen und entführen. Aber sie erfasste mit der Hand die kalte, eiserne Stange an der Treppe, stieg auf den Perron hinab und ging längs des Wagens hin. Hinter dem Wagen, vor dem Sturm etwas geschützt, atmete sie mit Entzücken die frische Winterluft ein und blickte nach dem hell erleuchteten Bahnhof hinüber.

Zwei Herren mit Zigaretten im Munde gingen an ihr vorüber. Sie holte noch einmal tief Atem und streckte schon die Hand aus, um in den Wagen zu steigen, als ein Herr in einem Offizierspaletot neben ihr das flackernde Licht der Laterne verdeckte. Sie blickte sich um und erkannte in demselben Augenblick Wronsky. Er legte die Hand an die Mütze, verbeugte sich und fragte, ob er ihr mit etwas dienen könne.

Sie blickte ihn ziemlich lange an, ohne antworten zu können, und trotz der Dunkelheit, in der sie stand, glaubte sie den Ausdruck seines Gesichts und seiner Augen deutlich zu sehen. Das war dieselbe ehrerbietige Bewunderung, die gestern so mächtig auf sie eingewirkt hatte. Mehr als einmal hatte sie sich in diesen Tagen und sogar noch eben wiederholt, Wronsky sei für sie nichts als einer jener Hunderte von jungen Leuten, die immer und überall gleich seien, und sie werde sich niemals erlauben, auch nur an ihn zu denken. Jetzt, aber im ersten Augenblick des Wiedersehens, befiel sie ein Gefühl freudigen Stolzes.

»Ich wusste nicht, dass Sie reisen wollten«, sagte sie und ließ die Hand vom Griff der Wagentür sinken. Eine Freude, die sie nicht verbergen konnte, erschien auf ihrem Gesicht. »Warum reisen Sie?«

»Warum ich reise?« fragte er und blickte ihr gerade in die Augen. »Sie wissen, ich reise nur, um da zu sein, wo Sie sind! Ich kann nicht anders.«

In diesem Augenblick brach der Sturm hervor, als hätte er alle Bande gesprengt. Er häufte Schnee auf die Dächer der Wagen und rasselte mit einem Stück Blech, das er irgendwo losgerissen hatte, und von vorn her ertönte der klagende Pfiff der Lokomotive. Jetzt erschien ihr die grausige Wildheit des Schneesturms noch schöner. Wronsky hatte ausgesprochen, was ihr Herz wünschte und ihr Verstand fürchtete. Sie gab keine Antwort, und auf ihrem Gesicht erblickte er die Anzeichen eines inneren Kampfes.

»Vergeben Sie mir, wenn Ihnen meine Worte unangenehm waren«, sagte er unterwürfig. Er sprach höflich, aber in festem Tone.

Lange vermochte sie nicht zu antworten.

»Das ist schlecht, was Sie gesagt haben, und ich bitte Sie, wenn Sie ein guter Mensch sind, vergessen Sie, was Sie gesprochen haben, wie auch ich es vergessen werde«, sagte sie endlich.

»Kein Wort, keine Bewegung von Ihnen werde ich jemals vergessen! Und ich kann nicht ...«

»Genug! Genug!« rief sie und bemühte sich, ihrem Gesicht einen strengen Ausdruck zu verleihen, während er mit Spannung

ihre Mienen beobachtete. Sie griff nach der eisernen Stange an der Treppe, schritt die Stufen hinauf und verschwand rasch im Wagen.

Einige Augenblicke blieb sie stehen, dann nahm sie ihren Platz wieder ein. Die Spannung, die sie früher gequält hatte, kehrte wieder und steigerte sich so sehr, dass sie fürchtete jeden Augenblick könne etwas in ihrem Innern reißen, aber ihre Phantasiebilder hatten nichts Unangenehmes und Düsteres, im Gegenteil, es war etwas Freudiges und Erhebendes darin.

Gegen Morgen schlief Anna endlich ein, und als sie erwachte, war es schon hell und der Zug nahe bei Petersburg. Sie dachte an ihr Haus, ihren Mann, ihren Sohn und an die Sorgen des heutigen und der folgenden Tage.

Als sie in Petersburg den Zug verließ, war das erste Gesicht, das sie erblickte, das ihres Mannes.

Ach, mein Gott, warum hat er solche abstehende Ohren?‹ dachte sie, als sie seine kalte und vornehme Gestalt und besonders die ihr jetzt so auffallenden Ohren erblickte, die unter dem runden Hut hervor sahen.

Als er sie gewahrte, ging er ihr sogleich entgegen, das ihr wohlbekannte spöttische Lächeln lag auf seinem Gesicht, und müde blickte er sie mit seinen großen Augen an. Ein unangenehmes Gefühl beschlich sie, als ob sie ihn anders zu finden erwartet hätte. Besonders war sie verwundert über ihr eigenes Gefühl der Unzufriedenheit, das sie bei seinem Anblick empfand und das in Verbindung stand mit der Unaufrichtigkeit ihrer Beziehungen zu ihrem Manne. Früher hatte sie dies Gefühl nicht bemerkt, jetzt aber wurde sie sich desselben klar und schmerzlich bewusst.

»Nun, wie du siehst, ein zärtlicher Ehemann, wie im ersten Jahr nach der Hochzeit! Ich brannte vor Verlangen, dich zu sehen!« sagte er mit seiner langsamen, dünnen Stimme.

»Ist Serescha gesund?« fragte sie.

»Und das ist mein ganzer Lohn für meine Glut?« fragte er. »Ja, er ist gesund.«

Wronsky dachte während der ganzen Fahrt nicht daran, auch nur einen Versuch zu machen, um einzuschlafen. Er saß in seiner Ecke und beobachtete teilnahmslos die Ein- und Aussteigenden. Er sah nichts und niemand. Er fühlte sich als Held, nicht, weil er glaubte, schon einen Eindruck auf Anna gemacht zu haben, daran zweifelte er selbst noch, sondern weil der Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte, ihn glücklich machte und mit Stolz erfüllte.

Was daraus werden sollte, wusste er nicht und dachte auch nicht daran. Er wusste nur, dass er ihr die Wahrheit gesagt hatte, dass er dahin strebte, wo sie war, dass er sein ganzes Lebensglück, den einzigen Sinn seines Lebens jetzt darin fand, sie zu sehen und zu hören. Als er auf der Station Bologoje den Wagen verließ und Anna erblickte, sprach unwillkürlich sein erstes Wort das aus, was er dachte. Und er war zufrieden darüber, dass er es ihr gesagt hatte, und dass sie es jetzt wusste und daran denken werde.

Als er in Petersburg den Zug verließ, fühlte er sich trotz der schlaflosen Nacht frisch und lebhaft. Er blieb bei seinem Wagen stehen, um sie zu erwarten.

»Noch einmal muss ich sie sehen«, sagte er sich. »Ich werde ihren Gang und ihre Gestalt betrachten, sie wird etwas sagen, den Kopf wenden, mich ansehen und vielleicht lächeln.«

Aber noch ehe er sie sah, erblickte er ihren Mann.

»Ach ja, ihr Mann!« Jetzt erst begriff Wronsky zum ersten mal, welche Bedeutung ihr Mann in ihrem Dasein hatte. Er hatte gewusst, dass sie einen Mann hatte, aber nicht an seine Existenz geglaubt, bis er ihn vor sich sah. Jetzt, da er Karenin mit seinem frischen Petersburger Gesicht, mit diesem strengen und selbsbewussten Ausdruck, den runden Hut und seinen etwas gebogenen Rücken erblickte, musste er an ihn glauben. Wronsky befahl seinem Diener, der aus der zweiten Klasse auf ihn zueilte, sein Gepäck abzuholen. Dann beobachtete er die erste Begegnung zwischen Mann und Frau. Mit dem Scharfblick eines Verliebten bemerkte er eine leichte Schattierung von Zwang, während sie mit ihrem Manne sprach. »Nein, sie liebt ihn nicht und kann ihn nicht lieben!« sagte er zu sich selbst. Noch während er sich Anna Arkadjewna näherte, bemerkte er zu seiner Freude, dass sie seine Annäherung fühlte, sich umblickte und ihn erkannte, worauf sie sich wieder an ihren Mann wandte.

»Haben Sie die Nacht gut verbracht?« fragte er, sich vor ihr und ihrem Mann zugleich verneigend. Er überließ es letzterem, diese Verbeugung auf sich zu beziehen.

»Ich danke Ihnen. Sehr gut!« erwiderte sie. Sie sah ermüdet aus, aber als sie ihn anblickte, erschien in ihren Augen ein flüchtiger Glanz, und obgleich er sofort wieder erlosch, war Wronsky glücklich darüber. Sie sah ihren Mann fragend an, ob er Wronsky kenne. Karenin erinnerte sich seiner mit missvergnügter und zerstreuter Miene.

»Graf Wronsky! Ah, ich glaube wir kennen uns!« sagte er und reichte ihm gleichgültig die Hand.

»Du bist abgereist mit der Mutter und kommst zurück mit dem Sohne«, sagte er mit Nachdruck.

»Sie kehren wahrscheinlich von einem Urlaub zurück ?« fragte er Wronsky, und ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich in scherzendem Tone an seine Frau: »Hat es denn viel Tränen gegeben bei der Trennung in Moskau?« Indem er sich an seine Frau wandte, gab er Wronsky zu verstehen, dass er allein zu bleiben wünschte. Mit einer Verneigung gegen diesen berührte er den Hut, aber Wronsky wandte sich nochmals an Anna Arkadjewna. ;

»Ich hoffe, die Ehre zu haben, mich nach Ihrem Befinden erkundigen zu dürfen«, sagte er.

Alexis Alexandrowitsch blickte Wronsky mit müden Augen an.

»Sehr erfreut!« sagte er kalt. »Wir empfangen montags.« Darauf verließ er Wronsky.

Unwillkürlich horchte Anna auf die Schritte Wronskys hinter sich. ›Aber was habe ich mich darum zu kümmern?‹ dachte sie, und fragte ihren Mann, wie Serescha während ihrer Abwesenheit die Zeit verbracht habe.

»Oh, vortrefflich! Marietta sagt, er sei sehr artig gewesen und habe sich nicht nach dir gesehnt, nicht so wie dein Mann! Kondraty wird dich jetzt nach Hause fahren, und ich gehe ins Komitee ...« Er drückte ihr lange die Hand und half ihr mit einem Lächeln in den Wagen.

Zu Hause begegnete Anna zuerst ihrem Sohn. Er sprang die Treppe herab, lief ihr entgegen, rief mit lautem Entzücken: »Mama! Mama!« und umfasste ihren Hals.

»Ich habe es gesagt, es ist Mama!« rief er der Gouvernante zu. »Ich wusste es!«

Ebenso wie ihr Mann brachte auch ihr Sohn bei Anna ein Gefühl wie Enttäuschung hervor. Sie hatte sich ihn hübscher vorgestellt, als er in Wirklichkeit war. Aber auch so war er entzückend mit seinen blonden Locken, seinen blauen Augen und seinen kräftigen, schlanken Beinchen. Sie brachte Geschenke mit von den Kindern Dollys und erzählte ihrem Sohn von Tanja, die schon zu lesen verstehe. »Wie, bin ich schlechter als sie?« fragte Serescha.

»Für mich bist du mehr als alles auf der Welt.«

»Das weiß ich!« sagte Serescha.

Die Zeit bis zum Essen brachte Anna bei ihrem Sohne zu, der allein zu Mittag aß. Dann las sie die Briefe, die sich auf ihrem Schreibtisch angehäuft hatten, und beantwortete sie.

Das Gefühl einer grundlosen Beschämung, das sie unterwegs empfunden hatte, und ihre Erregung darüber waren gänzlich geschwunden. Unter den gewohnten Lebensumständen fühlte sie sich wieder fest und vorwurfsfrei. Sie wunderte sich über ihren gestrigen Zustand. »Was war denn nur geschehen? Nichts!«

Alexis Alexandrowitsch kam um vier aus dem Ministerium nach Hause zurück. Aber wie es oft geschah, fand er nicht Zeit, seine Frau zu begrüßen, sondern ging in sein Kabinett, um einige Papiere zu unterzeichnen, die ihm von seinem Kanzleichef gebracht wurden. Bei Tisch speisten immer einige Gäste. Heute erschienen eine alte Kusine von Alexis Alexandrowitsch sowie der Doktor des Departements und dessen Frau und ein junger Mensch, der Karenin zur Anstellung empfohlen worden war. Anna ging in den Salon, um die Gäste zu empfangen. Schlag fünf Uhr trat Karenin im Frack, mit weißer Halsbinde und zwei Ordenssternen ein, da er sogleich nach Tisch ausfahren musste. Jede Minute war besetzt und vorher bestimmt, und um stets ausführen zu können, was jeder Tag brachte, befliss er sich der strengsten Pünktlichkeit. Er trat in den Saal, verbeugte sich gegen alle und nahm sogleich Platz, indem er seiner Frau zulächelte.

»Nun hat meine Einsamkeit ein Ende!« sagte er. »Du glaubst nicht, wie trübselig es ist, allein speisen zu müssen.«

Bei Tisch sprach er mit seiner Frau über die Moskauer Angelegenheit und fragte mit spöttischem Lächeln nach Oblonsky. Nach Tisch verbrachte er eine halbe Stunde mit seinen Gästen, drückte wieder lächelnd seiner Frau die Hand und fuhr zu einer Sitzung.

Anna besuchte an diesem Tage weder die Fürstin Betsy Twerskaja, welche von ihrer Ankunft erfahren und sie eingeladen hatte, noch das Theater, wo für sie eine Loge reserviert war, sondern ging in das Kinderzimmer, brachte den Abend bei ihrem Sohne zu und legte ihn endlich schlafen. Sie war in heiterer, ruhiger Stimmung und sah so klar, dass alles, was ihr unterwegs so bedeutsam erschienen war, nur einer der bedeutungslosen Vorfälle des gesellschaftlichen Lebens gewesen und dass sie sich vor niemand, auch nicht vor sich selbst, zu schämen hatte. Sie saß mit dem englischen Roman am Kamin und wartete auf ihren Mann, der genau um halb zehn Uhr ins Zimmer trat.

»Endlich bist du da!« sagte sie, ihm die Hand entgegenstreckend. Er küsste diese und setzte sich neben sie, und sie erzählte ihm von ihrer Reise mit der Gräfin Wronsky, sprach von ihrer Ankunft und dem Unglücksfall auf dem Bahnhof. Dann sprach sie von dem Mitleid, das sie zuerst für ihren Bruder und dann für Dolly empfunden habe.

»Ich weiß nicht, wie man einen solchen Menschen entschuldigen kann, wenn er auch dein Bruder ist«, sagte er streng. Anna lächelte. Sie wusste, dass er diese Äußerung tat, um zu beweisen, dass die verwandtschaftlichen Gefühle ihn nicht abhalten können, seine Meinung offen auszusprechen. Dieser Zug an ihrem Manne gefiel ihr.

»Ich freue mich, dass es gut geendigt hat und du wieder hier bist«, sagte er. »Und was sagt man dort über meine neue Reform ?«

Anna hatte nichts davon gehört und fühlte sich beschämt darüber, dass sie so leicht vergessen konnte, was für ihn so wichtig war.

»Hier hat sie viel Aufsehen gemacht«, sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln. Und er berichtete von den Ovationen, die man ihm dafür gebracht hatte. Nachdem er Tee getrunken hatte, erhob er sich, um in sein Kabinett zu gehen.

»Nun, Gott mit dir!« sagte sie an der Tür des Kabinetts, wo schon die Kerzen, eine Flasche Wasser und der Lehnstuhl bereitstanden. »Ich werde jetzt nach Moskau schreiben.«

Er drückte ihr die Hand und küsste sie wieder.

»Er ist doch ein guter, rechtschaffener und bedeutender Mensch in seiner Sphäre«, sagte sich Anna, als ob sie ihn gegen jemand verteidigen wollte. »Aber warum sind seine Ohren so schrecklich abstehend? Oder hat er sich das Haar zu kurz schneiden lassen?«

Um Mitternacht, als Anna noch am Schreibtisch saß, hörte sie leise Schritte, und ihr Mann trat auf sie zu, rein gewaschen und gekämmt, mit einem Buch unter dem Arm.

»Es ist Zeit, es ist schon spät!« sagte er mit einem eigentümlichen Lächeln und ging in das Schlafzimmer. ›Und welches Recht hatte Wronsky, ihn so anzublicken?‹ dachte Anna.

Sie entkleidete sich und ging in das Schlafzimmer. Aber jene Lebenslust, die in Moskau in ihren Augen geglänzt hatte, war verschwunden. Alles Feuer schien erloschen zu sein.

Als Wronsky von Petersburg abreiste, hatte er seine große Wohnung auf der Morskaja seinem Freunde und Kameraden Petrizky überlassen. Das war ein junger Leutnant aus nicht sehr vornehmer Familie und bis über die Ohren verschuldet. Dennoch war er bei seinen Kameraden und Vorgesetzten beliebt. Als Wronsky um zwölf Uhr von der Eisenbahn in seiner Wohnung ankam, fand er eine bekannte Kutsche vor. Schon vor der Tür, als er klingelte, vernahm er lautes Lachen und eine weibliche Stimme.

»Ist es wieder einer von den Halunken, so lassen Sie ihn nicht ein!« rief Petrizky. Wronsky befahl dem Diener, nichts von seiner Ankunft zu sagen, und ging mit leisen Schritten in das erste Zimmer. Die Baronin Shilton, eine Freundin Petrizkys, gekleidet in eine lila Atlasrobe und mit gerötetem Gesichtchen, erfüllte wie ein Kanarienvogel das ganze Zimmer mit ihrer Pariser Zungenfertigkeit. Sie saß an dem runden Tisch und kochte Kaffee. Neben ihr hatten Petrizky und der Rittmeister Kamerowsky Platz genommen. Dieser war wahrscheinlich eben vom Dienst gekommen.

»Bravo, Wronsky!« rief Petrizky, indem er geräuschvoll aufsprang. »Der Herr des Hauses! Baronesse, geben Sie ihm Kaffee aus der neuen Kanne! Das ist ein unerwartetes Vergnügen. Ich hoffe, du bist zufrieden über die Verschönerung deines Kabinetts?« sagte er, nach der Baronesse deutend. »Ihr seid wohl schon bekannt?«

»Gewiss«, sagte Wronsky mit vergnügtem Lächeln, indem er das kleine Händchen der Baronesse drückte, »wir sind alte Bekannte.«

»Sie kommen von der Reise?« fragte die Dame. »Ach, ich gehe diesen Augenblick, wenn ich störe.«

»Durchaus nicht, meine Gnädige«, sagte Wronsky. »Bitte, tun Sie wie zu Hause!«

»Sie verstehen niemals, etwas so Hübsches zu sagen, Pierre«, wandte sich die Baronesse an Petrizky. Sie nannte Petrizky nach seinem Familiennamen Pierre und gab sich keine Mühe, ihre Beziehungen zu verbergen. »Nun, und wo ist Ihre Frau?« fragte sie plötzlich Wronsky. »Wir haben Sie hier verheiratet. Haben Sie sie mitgebracht?«

»Nein, Gnädigste, ich bin als Zigeuner geboren und werde als Zigeuner sterben.«

»Um so besser! Um so besser! Geben Sie Ihre Hand her!«

Und die Dame erzählte ihm unter Scherzen und Lachen ihre neuesten Lebenspläne und fragte ihn um Rat.

»Er will nicht in die Scheidung einwilligen! Was soll ich machen?« (»Er« war ihr Mann.) »Ich will jetzt einen Prozess anfangen, was raten Sie mir? Kamerowsky, sehen Sie nach dem Kaffee! – Er läuft über! Sie sehen, ich bin mit wichtigen Angelegenheiten beschäftigt. Ich will also einen Prozess anfangen, weil ich mein Vermögen haben muss. Begreifen Sie den Unsinn, er sagt, ich sei ihm untreu?« rief sie mit Verachtung, »und deshalb will er sich mein Vermögen aneignen.«

Wronsky hörte mit Vergnügen dieses heitere Geschwätz der hübschen Dame an, reizte sie noch mehr auf, gab ihr scherzhafte Ratschläge und nahm sogleich seinen im Verkehr mit Damen dieser Art gewohnten Ton an.

Nur im ersten Augenblick stand Wronsky noch unter dem Einfluss einer ganz anderen Welt, von der er neue Eindrücke aus Moskau mitgebracht hatte. Sobald er aber die Füße in seine alten Pantoffel gesteckt hatte, fand er sich in seiner früheren, heiteren und angenehmen Welt sofort wieder zurecht.

Der Kaffee kochte über, überfloss einen teuren Teppich und das Kleid der Baronin und gab Anlass zu geräuschvoller Heiterkeit.

»Nun aber empfehle ich mich, sonst kommen Sie nicht dazu, Ihre Toilette zu machen. Sie raten mir also, ihm das Messer an die Kehle zu setzen?«

»Entschieden. Und versäumen Sie nicht, dabei Ihr Händchen seinen Lippen nahezubringen. Er wird es küssen, und alles wird sich in Wohlgefallen auflösen«, erwiderte Wronsky.

»Also heute Abend im französischen Theater!« Unter dem Rauschen ihres Kleides verschwand die Baronesse.

Kamerowsky erhob sich auch, aber Wronsky reichte ihm die Hand, ohne sein Weggehen abzuwarten, und begab sich in sein Ankleidezimmer.

Während er sich wusch, beschrieb ihm Petrizky im Umriss seine Lage, soweit sie sich während der Abwesenheit Wronskys verändert hatte. Von Geld keine Spur. Sein Vater hatte erklärt, er wolle ihm nichts geben und bezahle keine Schulden mehr. Der Oberst hatte ihm die Mitteilung gemacht, wenn diese Skandale, nicht aufhören, so müsse er seinen Abschied nehmen. Die Baronin langweilt ihn wie ein bitterer Rettich, besonders damit, dass sie ihm immer Geld anbietet. Da ist aber noch eine andere, die er Wronsky zeigen wird, eine wunderbare, entzückende Erscheinung in streng orientalischem Stil. Bei den Erzählungen Petrizkys empfand Wronsky das angenehme Gefühl der Rückkehr zu dem gewohnten, sorgenlosen Petersburger Leben.

Nachdem er alle Neuigkeiten erfahren hatte, legte er mit Hilfe des Dieners seine Uniform an und fuhr aus, um sich zu melden. Dann wollte er seinen Bruder und Betsy besuchen und noch einige Visiten machen, um in jenen Kreisen Beziehungen anzuknüpfen, wo er Frau Karenina begegnen konnte.

Gegen Ende des Winters fand im Hause Schtscherbatzky eine Beratung über die Gesundheit Kittys statt. Sie war krank, und als das Frühjahr kam, verschlimmerte sich ihr Zustand. Der Hausarzt hatte ihr Lebertran, dann Eisen verordnet. Da aber alles nichts half und er zu einer Reise ins Ausland riet, so wurde ein berühmter Arzt zugezogen.

Dieser, ein noch junger, hübscher Mann, erklärte, er müsse die Kranke untersuchen. Er fand es ganz natürlich, wenn ein noch nicht alter Arzt den halbnackten Körper eines noch jungen Mädchens betastete.

Man musste sich fügen, denn im Hause der Fürstin herrschte die Überzeugung, dieser berühmte Doktor sei etwas Besonderes und er allein könne Kitty retten. Nachdem er die in Verwirrung und Beschämung geratene Kranke sorgfältig untersucht und beklopft hatte, sprach er im Salon mit dem Fürsten. Dieser hörte den Arzt hustend und mit finsterer Miene an und ärgerte sich innerlich über die ganze Komödie, um so mehr, als er allein die Ursache von Kittys Krankheit begriffen hatte. Der Doktor erkannte, dass die Hauptperson in diesem Hause die Mutter sei. Vor ihr wollte er die Schleuse seiner Beredsamkeit öffnen. Die Fürstin trat ins Zimmer. Der Fürst entfernte sich. Die Fürstin wusste nicht, was sie tun sollte, und fühlte sich Kitty gegenüber schuldig.

Darauf beschrieb der berühmte Doktor der Fürstin, als einer besonders geistreichen Dame, auf gelehrte Weise Kittys Zustand und schloss mit genauer Anweisung darüber, wie sie ein Mineralwasser trinken solle, das für sie ganz unnütz war. Zum Schluss empfahl er ins Ausland zu reisen, aber den Scharlatanen nicht zu trauen und sich in allem nur an ihn zu wenden.

Nachdem er sich entfernt hatte, kehrte die allgemeine Heiterkeit wieder. Sogar Kitty verstellte sich, wozu sie jetzt oft Veranlassung hatte.

»Wirklich, ich bin gesund, Mama! Aber wenn du reisen willst, so reisen wir!« sagte sie, und darauf wurden die Reisevorbereitungen besprochen.

Bald nach dem Arzt kam Dolly. Sie wusste, dass an diesem Tage die Beratung stattfinden sollte, und obgleich sie erst vor kurzem vom Wochenbett aufgestanden war – gegen Ende des Winters hatte sie einem Mädchen das Leben gegeben – und obwohl sie viel Kummer und Sorge hatte, war sie doch gekommen, um sich nach Kittys Schicksal zu erkundigen.

»Nun, wie ist's?« fragte sie, indem sie den Hut abnahm. »Alle sind vergnügt, es steht also gut?«

Man wollte ihr mitteilen, was der Doktor gesagt hatte, aber obgleich er sehr lange und bedächtig gesprochen hatte, zeigte es sich, dass niemand imstande war, zu berichten, welcher Ansicht er war. Das wichtigste war, dass die Reise nach dem Ausland beschlossen war.

Dolly seufzte unwillkürlich bei dem Gedanken, dass sie ihre Schwester, ihre beste Freundin, verlieren sollte. Ihr Leben war so wenig erfreulich. Die Beziehungen zu ihrem Manne wurden nach der Versöhnung demütigend. Die Versöhnung, die Anna zustande gebracht hatte, war von kurzer Dauer, und der häusliche Friede wurde immer wieder von denselben Gefahren bedroht. Dolly wurde immer noch von Verdacht gequält, aber nachdem sie die Qualen der Eifersucht kennengelernt hatte, zog sie es vor, sieh betrügen zu lassen und ihn zu verachten.

»Was machen deine Kinder?« fragte die Mutter.

»Ach, Mama, ich habe viel Kummer. Lilly ist krank geworden, und ich fürchte, es ist Scharlach. Deshalb bin ich jetzt noch schnell gekommen, um mich zu erkundigen. Denn wenn es, was Gott verhüte, Scharlach ist, so muss ich zu Hause sitzen und kann nicht mehr ausgehen.«

Nach der Abfahrt des Arztes kam auch der alte Fürst aus seinem Kabinett, begrüßte Dolly und wandte sich an seine Frau. »Was hast du beschlossen? Werdet ihr reisen? Nun, und was soll aus mir werden?«

»Ich glaube, es ist am besten, Alexander, du bleibst zu Hause.«

»Wie du willst.« ,

»Mama, warum soll Papa nicht mit uns reisen?« fragte Kitty. »Es wird für ihn wie für uns heiterer sein!«

Der alte Fürst stand auf und strich mit der Hand zärtlich über ihr Haar. Kitty erhob ihr Gesicht mit einem gezwungenen Lächeln. Sie hatte immer gefühlt, dass er sie besser als alle anderen verstand, obgleich er wenig über sie sprach. Er sagte: »Kitty, du wirst eines schönen Tages erwachen und dir selbst sagen: ›Ich bin ganz gesund und vergnügt und werde wieder mit Papa frühmorgens bei heiterem Frostwetter spazieren gehen.‹ Nicht wahr?«

Die Worte des Vaters schienen sehr einfach, aber Kitty wurde ganz verwirrt. ›Er weiß alles und begreift alles, er sagt mir mit diesen Worten, ich müsse meine Demütigung ertragen.‹ Sie konnte keine Antwort finden, brach plötzlich in Tränen aus und lief aus dem Zimmer.

»Das sind deine Scherze!« sagte die Fürstin. »Immer hast du ...« Damit begann eine lange, vorwurfsvolle Rede.

Der Fürst hörte ziemlich lange geduldig zu, aber seine Miene verdüsterte sich.

»Sie ist so betrübt, die Arme, und du begreifst nicht, dass ihr jede Anspielung schmerzlich ist. Ach, wie kann man sich in den Menschen täuschen!« schloss die Fürstin in verändertem Tone, aus welchem Dolly und der Fürst sogleich verstanden, dass sie jetzt von Wronsky sprach.

»Ach, wenn ich doch davon nichts mehr hören müsste!« bemerkte finster der Fürst, indem er sich erhob, als ob er gehen wollte. An der Tür aber hielt er an. »Mütterchen, wenn du mich herausforderst, so werde ich dir sagen, wer an allem schuld ist! Jetzt aber fängt man an, zu kurieren und sich mit diesen Scharlatanen zu beraten.«

Der Fürst schien noch viel auf dem Herzen zu haben, sobald aber die Fürstin seinen strengen Ton vernahm, wurde sie sogleich gefügig, wie immer bei ernsten Lebensfragen.

»Alexander! Alexander!« flüsterte sie und ging weinend auf ihn zu. Sobald der Fürst ihre Tränen sah, verstummte er und ging ihr entgegen.

»Nun genug! Genug! Du bist auch bekümmert, ich weiß es. Was ist zu machen? Das Unglück ist nicht groß, Gott ist barmherzig! ...« sagte er. Dann verließ er das Zimmer.

Schon als Kitty in Tränen aus dem Zimmer geeilt war, hatte Dolly in ihrem hausmütterlichen Gefühl sogleich erkannt, dass hier weibliche Arbeit bevorstehe und sich auf dieselbe vorbereitet. Als der Vater gegangen war, erhob sie sich; um zu Kitty zu gehen und sie zu beruhigen.

»Ich wollte dich schon lange fragen, Mama, weißt du, dass Lewin unserer Kitty einen Antrag machen wollte, als er das letztemal hier war? Er hat es Stiwa gesagt.«

»Nun, was ist das? Ich begreife nicht ...«

»Kitty hat ihn also wahrscheinlich abgewiesen. Hat sie dir nichts gesagt?«

»Nein, kein Wort, weder über das eine noch über das andere, sie ist zu stolz. Aber stelle dir vor, wenn sie Lewin abgesagt hat! – das hätte sie aber niemals getan, wenn nicht der andere gewesen wäre, das weiß ich, und nun hat dieser sie so schändlich betrogen.« Die Fürstin dachte mit Schrecken an ihren Missgriff und wurde darüber zornig.

»Ach, ich begreife nichts mehr! Jetzt wollen alle nach ihrem eigenen Kopf handeln, der Mutter sagt man nichts mehr, und dann ...« .

»Mama, ich gehe zu ihr!«

»Gehe! Habe ich es dir etwa verboten?« fragte die Mutter.

Als Dolly in das kleine, hübsche, rosenrote, mit Nippessachen von kostbarem Porzellan geschmückte Boudoir trat, zuckte ihr Herz zusammen, als sie Kitty erblickte, die auf einem Lehnstuhl nahe der Tür saß und mit leeren Blicken vor sich hinstarrte.

»Ich gehe jetzt, um dann eingesperrt zu Hause zu sitzen, und ich werde dich so lange nicht sehen können«, sagte Darja Alexandrowna, indem sie neben ihr Platz nahm. »Vorher aber, wollte ich noch mit dir sprechen.«

»Worüber?« fragte Kitty hastig.

»Von nichts anderem als von deinem Kummer.«

»Ich habe keinen Kummer.«

»Kitty, glaubst du etwa, ich wisse es nicht? Ich weiß alles, und glaube mir, es ist so unbedeutend ... Das haben wir alle durchgemacht.«

Kitty schwieg, und ihr Gesicht nahm einen strengen Ausdruck an. »Er ist es nicht wert, dass du dich um ihn grämst«, fuhr Dolly fort, indem sie gerade auf das Ziel losging.

»Ja, weil er mich verschmäht hat«, erwiderte Kitty mit zitternder Stimme. »Sprich nicht mehr davon, kein Wort!«

Sie wandte sich errötend ab, und ihre Finger zerrten in nervöser Hast an der Schnalle ihres Gürtels. »Was willst du mir begreiflich machen? Was?« rief Kitty hastig. »Dass ich sterblich verliebt sei in einen Menschen, der von mir nichts wissen will ? Und das sagt mir meine Schwester, die glaubt, dass sie ... dass sie ... mir damit ihre Teilnahme beweise! Dieses Mitleid mag ich nicht!«

»Kitty, du bist ungerecht!«

»Warum quälst du mich?«

»Im Gegenteil, ich sehe, dass du zornig bist ...«

Aber Kitty hörte sie in ihrer Aufregung nicht an. »Ich habe mich über nichts zu grämen oder zu trösten! Ich bin zu stolz, um jemals einen Menschen zu lieben, der mich nicht liebt!«

»Das sage ich auch nicht ... Aber sprich die Wahrheit, sage mir, hat Lewin mit dir gesprochen?«

Die Erwähnung Lewins schien Kitty des letzten Restes von Selbstbeherrschung zu berauben. Sie sprang auf, warf die Schnalle heftig auf den Boden und begann mit lebhaften Gebärden zu sprechen.

»Warum sprichst du nun noch von Lewin? Ich begreife nicht, was du von mir willst! Ich sage und wiederhole, ich bin zu stolz und würde niemals, niemals das tun, was du getan hast – zu einem Manne zurückkehren, der dich betrügt und eine andere liebt! Das verstehe ich nicht. Du kannst es, aber mir wäre es unmöglich!«

Als sie sah, dass Dolly schwieg und kummervoll den Kopf senkte, setzte sich Kitty bei der Tür nieder, anstatt das Zimmer zu verlassen, wie sie es gewollt hatte, und verhüllte ihr Gesicht mit dem Taschentuch. Ein langes Schweigen trat ein. Dolly dachte an ihren Kummer und ihre Demütigung. Sie hatte von ihrer Schwester einen so grausamen Ausbruch nicht erwartet und war darüber sehr gekränkt. Plötzlich aber vernahm sie das Rascheln eines Kleides und unterdrücktes Schluchzen und fühlte, wie weiche Arme ihren Hals umfassten. Kitty lag vor ihr auf den Knien.

»Dollinka, ich bin so unglücklich!« flüsterte sie und verbarg ihr Gesicht an Dollys Schulter. Die Tränen schienen die Schwestern versöhnt zu haben. Sie verstanden einander, obgleich sie nicht von dem sprachen, was sie beschäftigte. Kitty begriff, dass die Worte, die sie ihrer Schwester über die Untreue ihres Mannes und ihre Demütigung gesagt hatte, das Herz der armen Schwester erschüttern mussten, diese ihr aber nichtsdestoweniger vergeben habe. Dolly begriff, was sie wissen wollte und dass sie richtig geraten hatte – dass Kitty eben darüber tief betrübt war, Lewins Antrag zurückgewiesen zu haben, und dass sie jetzt bereit war, Lewin zu lieben und Wronsky zu verabscheuen, weil dieser sie betrogen hatte.

»Ich habe keinen Kummer«, sagte Kitty, nachdem sie sich beruhigt hatte. »Aber du wirst begreifen, dass mir alles hässlich und widerlich erscheint, und ich mir selbst am meisten. Früher war es mir ein Vergnügen, auf einen Ball zu gehen, jetzt ist es mir beschämend und peinlich. Nur bei den Kindern und bei dir ist mir wohl zumute.«

»Schade, dass du nicht mehr bei mir sein kannst.«

»0 doch, ich komme! Ich habe schon Scharlach gehabt und werde Mama darüber beruhigen.«

Kitty blieb hartnäckig und besuchte ihre Schwester, bei deren Kindern wirklich der Scharlach ausbrach. Während der Krankheit pflegte sie die Kinder, aber Kittys Zustand besserte sich nicht, und vor Ostern fuhr die Familie ins Ausland.

Der Kreis der höchsten Petersburger Gesellschaft ist eng begrenzt. Alle kennen und besuchen einander. Aber dieser hohe Kreis hat verschiedene Unterabteilungen.

Anna Arkadjewna Karenina hatte Freunde und intime Verbindungen in drei verschiedenen Kreisen. Der erste Kreis war der offizielle ihres Mannes. Anna konnte sich kaum jenes Gefühl fast göttlicher Verehrung vorstellen, das sie in der ersten Zeit für diese hohen Würdenträger gehegt hatte. Jetzt kannte sie alle, gerade wie man sich in einem kleinen Städtchen gegenseitig kennt. Aber an diesem Kreise dienstlicher Interessen konnte sie niemals Geschmack finden.

Der zweite Kreis, der Anna am nächsten stand, war derjenige, durch den Oblonsky seine Karriere gemacht hatte. Das Zentrum dieses Kreises war die Gräfin Iwanowna. Er umfasste alte, hässliche, tugendhafte und gottesfürchtige Damen und kluge, gelehrte, ehrgeizige Männer. Ihr Mann schätzte diesen Kreis sehr hoch, und Anna, die sich so leicht anzupassen verstand, hatte in der ersten Zeit ihres Petersburger Lebens auch in diesem Kreise Freunde gefunden.

Der dritte Kreis endlich, in dem Anna Verbindungen hatte, war die eigentliche Welt – die Welt der Bälle, der Diners, der glänzenden Toiletten. Mit dieser Gesellschaft stand sie durch die Fürstin Betsy Twerskaja in Verbindung, der Frau ihres Kusins, die hundertzwanzigtausend Rubel jährliche Einkünfte hatte und Anna gleich von Anfang an zugetan war.

Anfangs suchte Anna soviel als möglich diese Welt der Fürstin Twerskaja zu meiden, da dieser Verkehr Ausgaben erforderte, die ihre Mittel überstiegen. Überdies gab sie innerlich dem ersten Kreis den Vorzug. Aber nach ihrer Rückkehr aus Moskau ging eine Veränderung in ihr vor, und sie besuchte mehr die große Welt. Dort begegnete ihr Wronsky, und sie empfand eine freudige Aufregung bei diesen Begegnungen. Besonders häufig traf sie Wronsky bei Betsy, die eine geborene Wronsky und eine Kusine von ihm war. Wronsky war überall, wo er nur Anna zu treffen hoffte, und erklärte ihr immer seine Liebe, sooft sich Gelegenheit dazu bot. Sie gab ihm nicht die geringste Ermunterung, aber sooft sie ihm begegnete, erglühte in ihrer Seele dasselbe Gefühl der Lebenslust, das sie an jenem Tage kennengelernt hatte, an dem sie ihn zum ersten mal auf dem Bahnhof gesehen.

Anfangs glaubte Anna aufrichtig, dass sie über seine Nachstellungen entrüstet sei. Aber dann, als sie in einer Abendgesellschaft ihn wider Erwarten nicht traf, erkannte sie an dem schmerzlichen Gefühl, von dem sie erfasst wurde, dass sie sich selbst betrog, und dass seine Huldigungen jetzt den ganzen Inhalt ihres Lebens ausmachten.

Eine berühmte Sängerin sang zum zweiten mal, und die ganze große Welt war im Theater versammelt. Als Wronsky von seinem Platz aus seine Kusine bemerkte, trat er in ihre Loge, ohne den Zwischenakt abzuwarten.

»Warum sind Sie nicht zum Diner gekommen?« fragte sie. »Ich wundere mich über dieses Hellsehen eines Verliebten.« Lächelnd flüsterte sie ihm zu: »Sie war auch nicht da, aber kommen Sie nach der Oper.«

Wronsky blickte sie fragend an, dankte ihr mit einem Lächeln und setzte sich neben sie. »Ich muss immer daran denken, wie Sie früher spotteten«, fuhr die Fürstin Betsy fort, die ein besonderes Vergnügen daran fand, die Fortschritte dieser Leidenschaft zu beobachten. »Wo sind sie jetzt geblieben, diese Spöttereien? Sie sind gefangen, mein Lieber!«

»Ich wünsche nichts Besseres«, erwiderte Wronsky mit seinem ruhigen, gutmütigen Lächeln. »Ich bedaure nur, dass ich zu wenig gefangen bin. Die Wahrheit zu sagen, ich fange an, die Hoffnung zu verlieren.«

»Welche Hoffnung können Sie haben?« fragte Betsy, im Interesse ihrer Freundin entrüstet. »Wie meinen Sie das?« Aber der flüchtige Glanz ihrer Augen bezeugte, dass sie ebenso gut wie er begriff, was er erhoffte.

»Gar keine«, erwiderte er lachend und dabei seine tadellosen Zähne zeigend. »Ich fürchte, ich werde mich lächerlich machen.«

Er wusste sehr wohl, dass er in den Augen der Fürstin Betsy und der ganzen Gesellschaft dies nicht zu befürchten hatte. In den Augen dieser Leute war die Rolle eines unglücklichen Liebhabers eines Mädchens und überhaupt einer unverheirateten Frau lächerlich; aber die Unternehmung eines Menschen, der einer verheirateten Frau nachstellt und um jeden Preis sie zu einer Liebschaft zu verführen sucht, war für die Welt etwas Imponierendes und konnte niemals lächerlich werden.

»Aber warum kamen Sie nicht zu Tisch?« fragte sie, ihn unwillkürlich bewundernd.

»Das muss ich Ihnen noch erzählen. Ich war beschäftigt, ich bemühte mich, einen Mann mit dem Beleidiger seiner Frau zu versöhnen, wirklich!«

»Wie? Und ist es Ihnen gelungen?«

»Beinahe.«

»Das müssen Sie mir erzählen!« sagte die Fürstin Betsy. »Wie war's?«

Und sie setzte sich wieder.

»Die Geschichte ist ein bisschen wild, aber so niedlich, dass ich sie Ihnen durchaus erzählen muss«, sagte Wronsky. »Ich werde keine Namen nennen.«

»Aber ich werde sie erraten. Um so besser.«

»Also hören Sie! Es waren zwei heitere junge Leute.«

»Natürlich Offiziere Ihres Regiments.«

»Ich sage nur zwei junge Leute, die stark gefrühstückt hatten.«

»Das heißt, betrunken waren.« »Vielleicht. Sie fahren in heiterster Stimmung zu einem Kameraden, um bei ihm zu speisen, und erblicken vor sich eine hübsche Dame, die sie in ihrer Droschke überholt, sich umblickt und ihnen, wie sie wenigstens glauben, zunickt und zulächelt. Natürlich jagen sie ihr nach. Zu ihrer Verwunderung hält die Dame vor der Tür desselben Hauses, das auch ihr Ziel war, und läuft eilig die Treppe hinauf. Nun, die jungen Leute kommen zu ihrem Kameraden, bei dem ein Abschiedsessen stattfindet. Dort trinken sie vielleicht etwas zu viel, und nach Tisch schreiben die jungen Leute einen Brief an die Unbekannte mit einer leidenschaftlichen Liebeserklärung und tragen den Brief selbst hinauf, um selbst zu erläutern, was in dem Brief etwa nicht ganz fasslich ausgedrückt sein könnte.«

»Warum erzählen Sie mir solche Abscheulichkeiten? Nun, was dann weiter?« .. -

»Sie klingelten. Ein Dienstmädchen kommt heraus. Sie übergeben ihm den Brief und versichern, sie seien beide so verliebt, dass sie sogleich hier vor der Tür sterben werden. Das Mädchen ist ganz verdutzt und will sie abweisen. Plötzlich erscheint ein Herr mit einem Backenbart, rot wie ein Krebs und erklärt, es wohne hier niemand außer seiner Frau, und jagt beide von dannen.«

»Nun, und was weiter?«

»Nun kommt eben das Interessanteste. Dieses glückliche Paar bestand aus einem Titularrat und einer Titularrätin. Der Titularrat hat eine Klage eingereicht, und ich übernahm die Rolle des Friedensvermittlers.«

»Worin besteht die Schwierigkeit?«

»Das sollen Sie gleich hören. Wir entschuldigten uns, wie es sich gehört, wir seien in Verzweiflung und bitten, das unglückliche Missverständnis zu vergeben. Der Titularrat fängt an zu schmelzen, will aber auch seine Gefühle aussprechen, und sobald er damit anfängt, gerät er wieder in Hitze, und dann muss ich wieder zu meinen diplomatischen Talenten meine Zuflucht nehmen. ›Ich gestehe zu, dass ihr Benehmen nicht hübsch war, aber ich bitte Sie, geehrter Herr, Rücksicht zu nehmen auf das Missverständnis und auf ihre Jugend. Die jungen Leute bereuen von Herzen und bitten um Ihre Vergebung.‹ Der Titularrat wird milder gestimmt. ›Gut, ich bin bereit, zu vergeben, glaube aber, Sie müssen begreifen, dass meine Frau, eine anständige Dame, von ihnen verfolgt wurde, dass sie unpassende Reden, Grobheiten und Frechheiten von solchen nichtswürdigen dummen Jungen, und ....‹ Nun müssen Sie verstehen, die dummen Jungen stehen dabei, und ich muss sie beruhigen, und wieder treten meine diplomatischen Talente in Tätigkeit. Sobald ich aber die ganze Sache dem Abschluss nähergebracht habe, wird mein Titularrat wieder hitzig und rot im Gesicht, und die Sache fängt wieder von vorn an.«

»Bonne Chance!« sagte Betsy, indem sie Wronsky einen Finger der Hand reichte, mit der sie den Fächer hielt, und durch eine graziöse Bewegung der Schultern die Taille ihres Kleides zurückschob, die sie emporgehoben hatte, um, wie es die Mode erforderte, vollkommen bloß zu erscheinen, wenn sie sich im hellen Schein des Lichts vor aller Augen zur Rampe vorneigte.

Wronsky fuhr ins Französische Theater, wo ihn wirklich sein Oberst erwartete. Mit ihm wollte er die Affäre besprechen, die ihn schon den dritten Tag beschäftigte und belustigte. Der eine Delinquent war Petrizky und der andere ein vor kurzem eingetretener junger Fürst Kedrow, ein prächtiger Junge und vortrefflicher Kamerad. Vor allem aber waren die Interessen des Regiments damit verwickelt.

Beide standen in der Schwadron Wronskys. Der Titularrat Wenden war zum Oberst gefahren und hatte sich über die Offiziere beschwert. Seine junge Frau, erzählte er, sei mit ihrer Mutter in der Kirche gewesen und eilig nach Hause gefahren. Dabei hätten sie die Offiziere verfolgt, und durch den Schrecken sei sie krank geworden, als sie die Treppe hinauflief. Er bat um strenge Bestrafung.

»Nein, sagen Sie, was Sie wollen«, sagte der Oberst, »Petrizky macht sich unmöglich. Dieser Tschinownik wird die Sache nicht ruhenlassen und weitergehen.«

Wronsky sah ein, dass alles geschehen müsse, um diesen Titularrat zu besänftigen und die Sache zu vertuschen. Der Oberst hatte Wronsky ebendeshalb zu sich berufen, weil er ihn als einen anständigen und vernünftigen Menschen kannte, dem die Ehre des Regiments teuer war.

Im Theater angekommen, führte Wronsky den Oberst in das Foyer und machte ihm Mitteilung über seinen Erfolg oder eigentlich Misserfolg. Nachdem der Oberst die Sache nochmals überlegt hatte, kam er zu dem Entschluss, der Beschwerde nicht Folge zu geben. Die Fürstin Betsy verließ das Theater noch vor dem Schluss des letzten Aktes. Kaum hatte sie Zeit, in ihrem Toilettenzimmer ihr langes, bleiches Gesicht mit etwas Puder zu bestreuen und abzureiben, als schon ein Wagen nach dem anderen vor ihrem palastähnlichen Hause auf der großen Morskaja vorfuhr. Fast im gleichen Augenblick trat die Dame des Hauses neu frisiert durch die eine Tür und die Gäste durch die andere in den großen Salon mit den dunklen Wänden und weichen Teppichen. Auf dem glänzendweiß gedeckten und hellerleuchteten Teetisch funkelte das silberne Teegeschirr im Lichte der Kerzen.

Die Dame des Hauses setzte sich an den Samowar und streifte die Handschuhe ab. Das Gespräch wurde, wie immer in den ersten Augenblicken, durch Neuankommende unterbrochen und hatte noch keinen bestimmten Charakter angenommen.

»Sie ist ungewöhnlich gut als Schauspielerin«, sagte ein Diplomat in dem Kreis der Frau des Gesandten. »Sie haben bemerkt, wie sie niederfiel!«

»Ach, bitte, sprechen Sie nicht von der Nilson! Man kann nichts Neues mehr über sie sagen«, bemerkte eine dicke, rote und blondlockige Dame ohne Augenbrauen und ohne Chignon, in einem alten Seidenkleid. Das war die Fürstin Mjachkaja, die durch ihr einfaches Wesen und ihre ungenierte Ausdrucksweise bekannt war.

»Erzählen Sie uns etwas Amüsantes, aber nichts Boshaftes«, sagte die Frau des Gesandten, eine große Meisterin der Unterhaltung, zu einem Diplomaten, der auch nicht wusste, was er jetzt anfangen sollte.

»Man sagt, das sei sehr schwer, nur das Boshafte sei amüsant!« begann er mit einem Lächeln. »Aber ich werde es versuchen.« Das Gespräch begann ruhig und harmlos, aber eben deshalb, weil es zu harmlos war, kam es bald wieder ins Stocken. Man musste zu dem niemals versagenden Mittel greifen – dem »Klatsch«.

Der Mann der Fürstin Betsy, ein gutmütiger, dicker Herr und leidenschaftlicher Sammler von Stahlstichen, hatte erfahren, dass seine Frau Gäste empfing, und erschien im Salon, ehe er seinen Klub aufsuchte. Mit unhörbaren Schritten ging er über den weichen Teppich zur Fürstin Mjachkaja.

»Wie gefiel Ihnen die Nilson?« fragte er.

»Ach, wie kann man sich so heranschleichen! Wie haben Sie mich erschreckt!« erwiderte sie. »Aber ich bitte Sie, sprechen Sie kein Wort über die Oper, Sie verstehen doch nichts von Musik! Ich will lieber mit Ihnen über Ihre Majoliken und Stahlstiche sprechen. Welchen Schatz haben Sie neulich auf dem Trödelmarkt gekauft?«

»Wenn Sie wollen, so werde ich Ihnen denselben zeigen. Aber Sie werden doch nichts davon verstehen.«

»Zeigen Sie nur! Ich habe einiges gelernt bei diesen ... wie heißen sie doch ... Bankiers? Sie haben prachtvolle Stahlstiche, die sie uns zeigten.«

»Wie? Sie waren bei Schützburgs?« fragte eine Dame.

»Ja, ma chère. Sie haben mich und meinen Mann zum Diner eingeladen und mir dabei erzählt, dass eine Soße bei diesem Diner tausend Rubel kostete«, sagte die Fürstin Mjachkaja laut, da sie bemerkte, dass alle aufhorchten. »Und es war eine sehr hässliche Soße, so etwas Grünes. Wir mussten sie auch einladen, und ich machte eine Soße für fünfundachtzig Kopeken, und alle waren sehr zufrieden damit. Ich kann keine Tausendrubelsoßen machen!«

»Sie ist einzig!« sagte die Fürstin Betsy.

»Wunderbar!« bestätigte jemand.

Die Fürstin Mjachkaja machte mit ihren Reden stets Effekt; sie waren zwar nicht immer taktvoll, aber einfach und verständlich. Sie kannte diese Wirkung, wenn auch nicht ihren Grund und bediente sich daher immer dieser Redeweise.

Da inzwischen das Gespräch bei der Frau eines Gesandten, um die sich einige Gäste gruppiert hatten, verstummt war, wollte die Dame des Hauses die ganze Gesellschaft vereinigen und wandte sich zu dieser. »Sie Wünschen wirklich keinen Tee? Wollen Sie nicht zu uns übersiedeln?«

»Nein, wir befinden uns sehr gut hier!« erwiderte die Gesandtin mit einem Lächeln und setzte ein begonnenes Gespräch fort, das sich sehr interessant gestaltete. Man kritisierte Herrn und Frau Karenin.

»Seit dieser Moskauer Reise hat sich Anna sehr verändert!« bemerkte ihre Freundin.

»Die Veränderung besteht hauptsächlich darin, dass sie den Schatten Wronskys mitgebracht hat«, sagte die Frau des Gesandten.

»Sie erhalten ein Pflaster auf Ihren Mund!« sagte plötzlich die Fürstin Mjachkaja. »Frau Karenin ist eine prächtige Dame! Ihr Mann gefällt mir nicht, sie aber liebe ich sehr.« »Warum gefällt Ihnen ihr Mann nicht?« fragte die Frau des Gesandten. »Mein Mann sagt, solche Staatsmänner gebe es wenig in Europa.«

»Und mein Mann sagt dasselbe, aber ich glaube es nicht«, erwiderte die Fürstin Mjachkaja. »Karenin ist nach meiner Ansicht ganz einfach ein Dummkopf! Ich sage das nur flüsternd.«

»Wie boshaft sind Sie heute!«

»Gar nicht. Es bleibt mir kein anderer Ausweg. Einer von uns beiden ist dumm, und wie Sie wissen, sagt man das niemals von sich selbst. Aber ich muss Ihnen sagen, ich werde Ihnen Anna nicht ausliefern. Sie ist so prächtig, so lieb! Was kann sie dafür, wenn alle sich in sie verlieben?«

»Ja, ich wollte sie ja auch gar nicht verurteilen«, rechtfertigte sich die Frau des Gesandten.

Nach einer Weile setzte sich die Gruppe mit der Fürstin Mjachkaja doch an den Teetisch.

»Nun, auf wen hat man vorhin gestichelt?« fragte Betsy.

»Auf Karenin«, erwiderte die Frau des Gesandten, die sich gerade gesetzt hatte. »Die Fürstin gab uns eine Charakteristik von Alexis Alexandrowitsch.«

»Schade, dass wir das nicht hörten«, bemerkte die Dame des Hauses und blickte nach der Tür. »Oh, endlich kommen Sie!« wandte sie sich mit einem Lächeln dem eintretenden Wronsky entgegen.

Wronsky war nicht nur mit allen bekannt, er sah auch jeden Tag dieselbe Gesellschaft, die hier anwesend war.

Bei der Eingangstür wurden wieder Schritte laut, und die Fürstin Betsy, welche wusste, dass Anna kam, blickte auf Wronsky. Er sah nach der Tür, blickte freudig, durchdringend und schüchtern nach der Eintretenden und erhob sich langsam. Anna trat in den Saal. Wie immer ging sie in außerordentlich aufrechter Haltung und, ohne die Richtung ihrer Blicke zu wechseln, mit raschen, festen und leichten Schritten auf die Frau des Hauses zu, drückte ihr lächelnd die Hand und blickte mit demselben Lächeln auch Wronsky an. Dieser verbeugte sich tief und rückte ihr einen Stuhl heran.

Sie antwortete darauf nur errötend mit einer Neigung des Kopfes und wurde verlegen. Sogleich aber nickte sie Bekannten zu, drückte die ihr entgegengestreckten Hände und wandte sich an die Fürstin Betsy. »Ich war bei der Gräfin Lydia und wollte früher kommen, aber ich habe mich bei ihr zu lange aufgehalten. Sir John war bei ihr, ein sehr interessanter Mann!«

»Ach ja, ist das nicht jener Missionar?«

»Ja, er erzählte viel Interessantes aus dem Leben in Indien.«

»Sir John? Ja, er spricht gut. Die Wlassiew ist ganz in ihn verliebt.«

»Ist es wahr, dass die jüngere Wlassiew Herrn Topow heiraten wird?«

»Ja, man sagt, es sei alles abgemacht.«

»Ich wundere mich über die Eltern! Man erzählt, es sei eine Liebesheirat.«

»Aus Liebe? Was für antediluvianische Begriffe Sie haben! Wer spricht heute noch von Liebe?« fragte die Gesandtin.

»Was ist da zu machen? Diese dumme, alte Mode ist noch immer nicht ausgerottet!« bemerkte Wronsky.

»Um so schlimmer für diejenigen, welche sich an diese Mode halten. Ich kenne nur solche glückliche Ehen, die der Verstand geschlossen hat.«

»Ja, dafür aber verfliegt so oft das Glück einer Verstandesheirat wie Staub, weil gerade oft diejenige Leidenschaft auftritt, die man nicht anerkennen wollte«, sagte Wronsky.

»Nein, ich glaube, um die Liebe kennenzulernen, muss man erst irren und sich dann zurechtfinden«, sagte die Fürstin Betsy.

»Auch nach der Hochzeit?« fragte scherzend die Gesandtin.

»Es ist niemals zu spät, sich zu bessern«, zitierte der Diplomat ein englisches Sprichwort.

»Ja, richtig«, bestätigte Betsy, »man muss sich irren und dann den rechten Weg finden! Wie denken Sie darüber?« wandte sie sich an Anna, die mit kaum merklichem Lächeln schweigend zuhörte.

»Ich glaube«, sagte Anna, mit den eben abgenommenen Handschuhen spielend, »ich glaube, wenn es so viele Meinungen wie Köpfe gibt, so gibt es auch so viele Herzen als verschiedene Arten von Liebe.«

Wronsky hatte ihre Antwort mit Spannung erwartet; bei diesen Worten atmete er auf, wie nach einer überstandenen Gefahr. Anna wandte sich plötzlich an ihn. .

»Ich habe aus Moskau einen Brief erhalten. Man schreibt mir, Kitty Schtscherbatzky sei sehr krank.«

»Wirklich?« sagte Wronsky etwas verlegen. »Das interessiert Sie nicht?« fragte Anna mit einem strengen Blick.

»Im Gegenteil, sehr! Was schreibt man Ihnen Näheres, wenn ich es erfahren darf?« fragte er.

Anna stand auf, näherte sieh Betsy und blieb hinter ihrem Stuhle stehen. »Bitte, geben Sie mir eine Tasse Tee!« sagte sie.

Während Betsy Tee eingoss, trat Wronsky auf Anna zu.

»Was schreibt man Ihnen?« wiederholte er.

»Ich habe oft geglaubt, die Männer verstehen nicht, was unedel sei«, sagte sie, ohne ihm auf seine Frage zu antworten. »Ich wollte Ihnen das schon lange sagen«, fügte sie hinzu. Sie ging einige Schritte weiter und setzte sich an einen Tisch, auf dem Alben lagen.

»Ich verstehe nicht ganz die Bedeutung Ihrer Worte«, sagte Wronsky, indem er ihr die Tasse reichte. Sie blickte neben sich auf den Diwan und er setzte sich sogleich.

»Ja, ich wollte Ihnen sagen«, fuhr sie fort, ohne ihn anzublicken, »dass Sie schlecht gehandelt haben, sehr, sehr schlecht!«

»Weiß ich es nicht selbst, dass ich schlecht gehandelt habe? Aber wer war die Veranlassung dazu?«

»Warum sagen Sie mir das?« fragte sie mit einem strengen Blick.

»Sie wissen, warum!« erwiderte er, kühn und freudig ihren Blick aushaltend, ohne die Augen niederzuschlagen.

Nun wurde sie verlegen.

»Das beweist nur, dass Sie kein Herz haben«, erwiderte sie, aber ihr Blick sagte, dass sie wisse, er besitze ein Herz und dass sie sich davor fürchte.

»Das, wovon Sie eben sprachen, war eine Täuschung und nicht Liebe.«

»Sie erinnern sich, dass ich Ihnen verbot, dieses Wort, dieses hässliche Wort auszusprechen«, sagte Anna. »Ich wollte Ihnen das schon lange sagen«, fuhr sie fort, indem sie ihm entschlossen in die Augen blickte und immer mehr erglühte, »heute aber bin ich absichtlich deshalb gekommen, weil ich wusste, dass ich Sie hier antreffen werde. Ich kam, um Ihnen zu sagen, dass das aufhören müsse. Noch niemals errötete ich vor irgend jemand, Sie aber rufen ein Gefühl des Schuldbewusstseins in mir hervor.«

Er blickte sie an und war entzückt über die neue, geistige Schönheit ihres Gesichts. »Was verlangen Sie von mir?« fragte er einfach und ernst. »Ich will, dass Sie nach Moskau reisen und Kitty um Verzeihung bitten«, antwortete sie.

»Das können Sie nicht wollen!«

Er sah, dass sie sich zu diesem Verlangen selbst gezwungen hatte.

»Wenn Sie mich lieben, wie Sie sagen«, flüsterte sie, »so machen Sie, dass ich meine Ruhe wiederfinden kann!«

Sein Gesicht strahlte. »Wissen Sie nicht, dass Sie mein Leben sind? Aber Ruhe kenne ich nicht und kann sie Ihnen nicht geben. Ich sehe auch in der Zukunft keine Möglichkeit der Ruhe, weder für mich noch für Sie! Ich sehe, dass uns vielleicht Verzweiflung und Unglück bevorsteht! ... Ich sehe aber auch die Möglichkeit des höchsten Glücks! ... Ist das etwa unmöglich?« fügte er nur mit den Lippen hinzu, ohne die Worte auszusprechen; aber sie verstand sie doch.

Sie strengte sich aus allen Kräften an, um es auszusprechen, was die Pflicht gebot; aber sie vermochte nur, ihren Blick voll Liebe auf ihn zu richten und schwieg.

Das ist's!‹ dachte er mit Entzücken. ›Und ich begann schon zu verzweifeln! Sie liebt mich und gesteht es ein!‹

»Dann tun Sie es mir zuliebe und richten Sie nie wieder diese Worte an mich, damit wir gute Freunde bleiben können!« sagte sie mit Worten; doch ganz anders aber sprach ihr Blick.

»Wir können nicht Freunde sein, Sie wissen es! Aber ob wir die glücklichsten oder unglücklichsten aller Menschen sein werden – das steht in Ihrer Macht.«

Sie wollte etwas erwidern, aber er unterbrach sie.

»Ich bitte nur um eins, um das Recht, zu hoffen, in derselben Qual wie jetzt. Aber wenn auch das nicht möglich ist, so befehlen Sie mir, zu verschwinden, und ich verschwinde. Sie sollen mich nicht wiedersehen, wenn meine Gegenwart Ihnen peinlich ist.«

»Ich will Sie nicht verjagen!«

»Dann ändern Sie nichts, lassen Sie alles, wie es ist!« sagte er mit zitternder Stimme. »Hier kommt Ihr Herr Gemahl!«

In der Tat trat in diesem Augenblick Karenin mit seinen ruhigen und linkischen Schritten in den Salon. Er warf einen Blick nach seiner Frau und Wronsky und begrüßte die Dame des Hauses. Nachdem er bei einer Tasse Tee Platz genommen hatte, begann er mit ruhiger Stimme, in seinem gewöhnlichen, spöttischen Tone, indem er die ganze Gesellschaft überblickte: »Die Grazien und die Musen sind hier versammelt!« Aber die Fürstin Betsy konnte seinen Sarkasmus nicht ausstehen, und als kluge Wirtin verwickelte sie ihn sogleich in ein ernsthaftes Gespräch.

Wronsky und Anna saßen noch immer an dem kleinen Tisch.

»Das ist wirklich unschicklich«, flüsterte eine Dame mit einem Blick auf Wronsky und Anna, und dann auf ihren Mann. »Was habe ich Ihnen gesagt«, sagte die Freundin Annas.

Aber nicht diese Damen allein, sondern fast alle, die sich im Salon befanden, sogar die Fürstin Mjachkaja und selbst Betsy schienen diese Ansicht zu teilen. Nur Karenin warf keinen Blick nach jener Seite und ließ sich in dem angefangenen Gespräch nicht stören. Die Fürstin Betsy erkannte die allgemeine Stimmung, und gewandt zog sie eine andere Person ins Gespräch mit Karenin und näherte sich Anna.

»Ich bewundere die klare und treffende Ausdrucksweise Ihres Mannes«, sagte sie. »Die transzendentalsten Begriffe werden mir immer verständlich, wenn er spricht!«

»O ja«, entgegnete Anna mit einem strahlenden Lächeln, obgleich sie kein Wort von dem verstand, was Betsy ihr sagte.

Sie ging zum großen Teetisch und nahm Anteil am allgemeinen Gespräch.

Karenin blieb eine halbe Stunde sitzen, dann ging er auf seine Frau zu und schlug ihr vor, nach Hause zu fahren. Aber ohne ihn anzusehen, erwiderte sie, dass sie zum Abendessen bleiben wollte. Karenin verabschiedete sich und ging. Bald nach dem Souper verließ auch Anna das Haus ihrer Freundin Betsy.

Der alte dicke Tatar, Karenins Kutscher, hielt mit Mühe« den linken Grauen zurück, den die Kälte aufgestachelt hatte. Ein Diener stand am Kutschenschlag, und der Portier hielt die Tür weit offen. Anna suchte die Spitzen ihres Ärmels von einem Haken ihres Pelzes frei zu machen, und indem sie den Kopf herabbeugte, hörte sie mit Entzücken auf die Worte Wronskys, der sie begleitete.

»Sie haben nichts gesagt, nichts zugestanden, und ich verlange auch nichts«, sagte er, »aber Sie wissen, dass ich nicht nach Freundschaft verlange, dass mir nichts Geringeres genügen kann als das Glück des Lebens, die Liebe! Ja, die Liebe!«

»Die Liebe!« wiederholte sie langsam. »Dieses Wort gefällt mir nicht, weil es zu viel sagt; viel mehr, als Sie begreifen können!« Dabei blickte sie ihm ins Gesicht. »Auf Wiedersehen!«

Sie reichte ihm die Hand, ging mit leichten, raschen Schritten am Portier vorüber und stieg in den Wagen. Ihre Blicke, ihr Händedruck erfüllten ihn mit Glut. Er fuhr nach Hause, glücklich in dem Bewusstsein, dass er der Erfüllung seiner höchsten Wünsche nähergekommen sei.

Karenin hatte nichts Auffallendes darin gefunden, dass seine Frau an einem besonderen Tisch sich mit Wronsky lebhaft unterhalten hatte; aber die Blicke, die andere dorthin warfen, waren ihm nicht entgangen. Deshalb erschien es auch ihm unpassend, und er nahm sich vor, seiner Frau darüber einige Worte zu sagen.

Zu Hause angekommen, ging Karenin nach seiner Gewohnheit in sein Kabinett, setzte sich auf einen Lehnstuhl und las in einem Werk über das Papsttum. Zur gewöhnlichen Zeit stand er auf und ging mit dem Buch unter dem Arm nach oben. Aber an diesem Abend dachte er nicht an seine Dienstgeschäfte, sondern an seine Frau, und seine Gedanken hatten einen bitteren Nachgeschmack. Gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht zu Bett, sondern ging noch mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab. Als Karenin beschlossen hatte, mit seiner Frau zu sprechen, war ihm das sehr leicht und einfach erschienen, jetzt aber, als er die Umstände näher überdachte, fand er sie sehr peinlich.

Karenin war nicht eifersüchtig. Nach seiner Ansicht war die Eifersucht eine Beleidigung der Frau, zu der man Vertrauen haben müsse. Worauf sich diese Zuversicht gründen sollte, dass seine junge Frau ihn immer lieben werde, hatte er sich nicht gefragt; jetzt aber sah er sich dem Leben und der Möglichkeit gegenüber, dass seine Frau einen anderen als ihn lieben könne, und das erschien ihm unsinnig und unbegreiflich. Er dachte nicht daran, sich zu entkleiden, sondern ging mit seinem gleichmäßigen Schritt auf dem widerhallenden Parkett des nur mit einer Lampe erleuchteten Speisezimmers hin, dann über den Teppich des finsteren Salons, und dann weiter durch ihr Kabinett, wo zwei Kerzen brannten und die Bilder ihrer Verwandten und Freundinnen, sowie die zahlreichen kostbaren Kleinigkeiten auf ihrem Schreibtisch beleuchteten. Durch ihr Kabinett kam er dann bis zur Tür des Schlafzimmers und kehrte wieder um.

Wieder und wieder blieb er stehen und sagte sich: ›Ja, es ist notwendig, ein Ende zu machen! Ich muss ihr meine Ansicht und meinen Entschluss mitteilen. Aber welchen Entschluss?‹ Er fand keine Antwort. ›Ja; was ist denn eigentlich geschehen?‹ fragte er sich, als er im Kabinett wieder umkehrte. ›Was ist geschehen? Nichts!‹ Bei der Tür des Schlafzimmers kehrte er nochmals um; sobald er aber wieder den dunklen Salon betrat, flüsterte ihm eine innere Stimme zu: wenn anderen ihr Benehmen aufgefallen sei, müsste wohl etwas vorliegen. Und im Speisezimmer wiederholte er sich: ›Ja, ich muss unbedingt einen Entschluss fassen und ein Ende machen und es aussprechen, wie ich die Sache ansehe.‹

Geistig wie körperlich bewegte er sich in einem Kreislauf, ohne einen neuen Gedanken finden zu können. Endlich bemerkte er dies, wischte die Stirn und setzte sich in ihrem Boudoir nieder. Während er ihren Schreibtisch überblickte, nahmen seine Gedanken plötzlich eine andere Richtung. Er dachte an sie und an das, was sie denken und fühlen müsse. Anfangs stellte er sich ihr einsames Leben, ihre Gedanken und Wünsche lebhaft vor, und die Idee, dass sie ein besonderes, eigenes Leben haben könne und müsse, erschien ihm so schrecklich, dass er sie sofort zu verjagen suchte.

Und das Schrecklichste ist‹, dachte er, ›dass gerade jetzt, wo ich dem Ziel meiner Arbeit so nahe bin‹–er dachte an ein Projekt, das er jetzt ausgearbeitet hatte–, »jetzt, wo ich alle Ruhe und geistige Kraft nötig habe, mich diese sinnlose Unruhe überfällt. Was ist zu tun ? Ich muss überlegen, einen Entschluss fassen und mit der Sache zu Ende kommen«, sagte er laut. »Die Frage nach dem Gefühle, nach dem, was in ihrer Seele vorgeht und vorgehen kann, ist nicht meine Sache. Das ist Sache ihres Gewissens und religiösen Gefühls. Meine Pflicht ist klar vorgezeichnet. Als Haupt der Familie bin ich verpflichtet, sie zu leiten und dafür auch verantwortlich. Ich muss mit ihr sprechen.«

Er überdachte, was er seiner Frau sagen wolle und bedauerte dabei, dass er einer häuslichen Angelegenheit wegen seine Zeit und seine geistigen Kräfte verschwenden müsse; dabei bildete sich in seinem Kopfe die bevorstehende Rede klar und deutlich aus.

Während er sich noch damit beschäftigte, was er ihr sagen wolle, hörte er einen Wagen vor dem Hause vorfahren. Karenin blieb mitten im Saal stehen. Leichte Schritte kamen die Treppe herauf. Karenin fühlte ihre Annäherung und war mit seiner Rede fertig und zufrieden, sah aber der bevorstehenden Aussprache nicht ohne Bangen entgegen.

Anna trat mit leicht gesenkten Kopf und mit den Quasten ihres Baschliks spielend ein. Ihr Gesicht strahlte aber nicht in heiterem Glanz, es erinnerte eher an die Glut einer Feuersbrunst in dunkler Nacht. Als sie ihren Mann erblickte, hob sie den Kopf auf und lächelte, als ob sie eben erwacht sei.

»Du bist noch nicht zu Bett gegangen? Das ist ein Wunder!« sagte sie. Dann warf sie den Baschlik ab und ging weiter in ihr Toilettenzimmer. »Es ist schon spät, Alexis!« sagte sie noch auf der Schwelle.

»Anna, ich muss etwas mit dir sprechen.«

»Mit mir?« fragte sie verwundert. »Was gibt es? Worüber?« Sie kehrte von der Tür zurück, blickte ihn an und setzte sich. »Nun, meinetwegen, sprechen wir, wenn es sein muss! Aber es wäre besser, zu schlafen.« Anna sprach, was ihr auf die Zunge kam und wunderte sich selbst über ihre Verstellungskunst. Wie einfach und natürlich waren ihre Worte, wie gut gespielt war ihr Wunsch, zu schlafen! Sie fühlte sich ausgerüstet mit dem undurchdringlichen Panzer der Lüge und unterstützt von einer unsichtbaren Kraft.

»Anna, ich muss dich warnen«, sagte er.

»Warnen?« fragte sie. »Warnen?«

Sie sah so heiter und unbefangen aus, dass jeder, der sie nicht so genau kannte wie ihr Mann, getäuscht worden wäre. Für ihn aber, der sie kannte und wusste, dass sie es bemerkte, wenn er sich nur fünf Minuten später niederlegte, für ihn, der wusste, dass sie jede Freude, jeden Kummer ihm sogleich mitteilte, für ihn musste es vielbedeutend erscheinen, dass sie seinen Zustand nicht bemerken und kein Wort über sich selbst sprechen wollte. Er sah, dass die Tiefe ihrer Seele, die bisher immer offen vor ihm gelegen hatte, ihm jetzt verschlossen war, und an ihrem Ton bemerkte er, dass dies ihr keine Erregung verursachte. Jetzt hatte er das Gefühl wie ein Mensch, der nach Hause zurückkehrt und sein Haus verschlossen findet. ›Aber vielleicht findet sich der Schlüssel noch‹, dachte Karenin.

»Ich will dich davor warnen«, fuhr er mit leiser Stimme fort, »dass du durch deine Unbedachtsamkeit der Gesellschaft Anlass geben könntest, über dich zu sprechen. Deine Unterhaltung mit dem Grafen Wronsky (diesen Namen sprach er mit ruhigem Nachdruck) heute Abend war zu lebhaft und ist aufgefallen.« Während er sprach, blickte er in die lachenden Augen, deren Undurchdringlichkeit ihn aber mit Bangen erfüllte und es ihm klarmachte, wie nutzlos seine Worte waren. »So bist du immer«, erwiderte sie, als ob sie ihn durchaus nicht verstehen könnte und von allem, was er gesagt hatte, nur das letzte verstanden hatte. »Bald ist es dir unangenehm, dass ich mich langweile, bald, dass ich mich amüsiere. Ich habe mich nicht gelangweilt, und nun bist du verdrießlich!«

Karenin zuckte zusammen. »Anna, bist du das?« fragte er leise.

»Nun, was gibt es denn?« fragte sie mit vortrefflich gespielter, komischer Verwunderung. »Was willst du von mir?«

Karenin schwieg und strich mit der Hand über die Stirn und Augen. Er sah ein, dass er, anstatt seine Frau vor falschen Schritten und vor den Augen der Welt zu warnen, wie er beabsichtigt hatte, sich unwillkürlich über das aufregte, was ihr Gewissen anging, und dass er gegen eine starre Wand ankämpfte.

»Ich bitte dich, anzuhören, was ich dir zu sagen habe«, fuhr er kalt und ruhig fort. »Wie du weißt, halte ich die Eifersucht für ein beleidigendes und erniedrigendes Gefühl. Aber es gibt gewisse Anstandsregeln, die man nicht ungestraft verletzen darf. Heute wurde nicht von mir allein, sondern von der ganzen Gesellschaft bemerkt, dass du dich nicht ganz so benommen hast, wie es zu wünschen wäre.«

»Ich verstehe dich entschieden ganz und gar nicht«, sagte Anna, mit den Achseln zuckend. ›Ihm ist alles gleichgültig‹, dachte sie bei sich; ›es beunruhigt ihn nur, dass es in der Gesellschaft bemerkt wurde.‹ – »Du bist nicht wohl, Alexis!« fügte sie hinzu, stand auf und wollte zur Tür gehen, aber er hielt sie auf.

Sein Gesicht war so unschön und finster, wie es Anna niemals gesehen hatte. Sie blieb stehen, beugte den Kopf seitwärts zurück und begann mit rascher Hand die Nadeln aus ihrem Haar zu nehmen. »Nun, ich höre, was kommen soll«, sagte sie ruhig und spöttisch, »und sogar mit einigem Interesse, weil ich gern begreifen möchte, um was es sich handelt.«

Während sie sprach, wunderte sie sich selbst über den natürlichen, ruhigen Ton und die Wahl ihrer Worte.

»Ich habe nicht das Recht, in alle Einzelheiten deiner Gefühle einzudringen und halte das überhaupt für nutzlos und sogar schädlich«, begann Karenin. »Über deine Gefühle hat nur dein Gewissen zu urteilen, aber es ist meine Schuldigkeit vor Gott gegen dich und mich, dir den Weg zur Pflicht zu weisen.«

»Ich begreife nichts von alledem! Ach, mein Gott, und wie gern möchte ich jetzt schlafen«, sagte sie. Dabei löste sie hastig ihre Haare auf und nahm die letzten Nadeln heraus.

»Anna, um Gottes willen, sprich nicht so«, sagte er milde. »Vielleicht irre ich mich, aber glaube mir, dass ich das alles ebensowohl deinetwegen als meinetwegen spreche. Ich bin dein Mann und liebe dich.«

Einen Augenblick senkte sie das Gesicht, und der spöttische Funke in ihrem Blick erlosch. Aber seine Worte: »Ich liebe dich!« brachten sie in Erregung. »Liebe!« dachte sie. »Kann er etwa lieben? Er weiß nicht, was Liebe ist.« – »Alexis, ich verstehe dich wirklich nicht, sprich deutlicher, was du...«

»Erlaube mir, dass ich ausrede. Ich liebe dich, aber nicht von mir ist die Rede. Die Hauptpersonen sind hier dein Sohn und du selbst! Es ist sehr wohl möglich, dass dir meine Worte ganz überflüssig erscheinen, und dass sie nur durch einen Irrtum meinerseits hervorgerufen wurden. In diesem Falle bitte ich dich um Entschuldigung. Aber wenn du selbst fühlst, dass sie nur im geringsten begründet sind, dann bitte ich dich nachzudenken, und wenn dein Herz dir etwas sagt, es mir mitzuteilen.«

»Ich habe nichts zu sagen. Übrigens«, bemerkte sie plötzlich hastig und unterdrückte mit Mühe ein Lächeln, »es ist jetzt wirklich Zeit zum Schlafen.«

Karenin seufzte und ging schweigend in das Schlafzimmer.

Als sie dort eintrat, hatte er sich bereits zu Bett gelegt. Seine Miene war streng, er hatte seine Lippen zusammengepresst und sah sie nicht an. Anna legte sich zu Bett und wartete jeden Augenblick darauf, dass er nochmals anfangen werde, mit ihr zu sprechen. Lange wartete sie unbeweglich und vergaß ihn endlich. Sie dachte an einen anderen. Sie sah ihn im Geiste und fühlte, wie ihr Herz bei diesem Gedanken von einer sündhaften Freude erregt wurde. Plötzlich vernahm sie ruhiges und gleichmäßiges Schnarchen. Im ersten Augenblick schien Karenin selbst darüber zu erschrecken, und das Schnarchen hörte auf. Nach zwei Atemzügen aber kam es wieder mit derselben ruhigen Gleichmäßigkeit.

»Es ist zu spät! Es ist schon zu spät!« dachte sie lächelnd. Lange lag sie unbeweglich mit offenen Augen, deren Glanz sie selbst in der Dunkelheit zu erkennen glaubte.

Von jetzt an begann ein neues Leben für Karenin und seine Frau. Es war nichts Besonderes vorgefallen, Anna ging wie immer in Gesellschaften, besonders zur Fürstin Betsy, und begegnete überall Wronsky. Karenin sah es, konnte aber nichts dagegen tun. Äußerlich war alles wie zuvor, ihre inneren Beziehungen aber hatten sich vollständig verändert. So tatkräftig Karenin in Regierungsangelegenheiten war, hier fühlte er sich machtlos und erwartete mit gesenktem Haupt den Streich, der ihm, wie er fühlte, nahe bevorstand. Sooft er daran dachte, nahm er sich vor, mit ihr zu sprechen. Sooft er aber mit ihr zu reden begann, fühlte er, dass derselbe Geist des Bösen und der Lüge, der sie beherrschte, auch ihn ergriff, und er vermochte es nicht, den Ton zu treffen, in dem er mit ihr sprechen wollte.

Das, was ein ganzes Jahr lang das einzige Streben im Leben Wronskys gewesen, was alle früheren Wünsche verdrängt hatte – das, was für Anna ein unmöglicher, entsetzlicher und doch um so mehr bezaubernder Traum des Glückes gewesen, war jetzt in Erfüllung gegangen! Bleich, mit zitternden Lippen stand er vor ihr und flehte sie an, sich zu beruhigen, ohne zu wissen, worüber und wozu.

»Anna! Anna!« sagte er mit zitternder Stimme. »Anna, um Gottes willen ...«

Aber je lauter er sprach, um so tiefer senkte sie ihr Haupt, das sie einst so heiter und stolz getragen. Sie bog sich ganz zusammen auf dem Diwan, auf dem sie saß, und wäre zu seinen Füßen auf den Teppich gefallen, wenn er sie nicht gehalten hätte.

»Mein Gott, vergib mir!« schluchzte sie und drückte ihre Hände auf die Brust.

Sie fühlte sich so schuldbeladen, dass ihr nur übrigblieb, sich zu demütigen und um Verzeihung zu bitten. Jetzt aber hatte sie nur noch ihn im Leben, und deshalb richtete sie jetzt ihr Flehen an ihn. Indem sie ihn anblickte, empfand sie das peinliche Gefühl ihrer Erniedrigung und vermochte kein Wort zu sprechen. Er fühlte sich wie ein Mörder vor seinem Opfer.

Und wie der Mörder mit wilder Leidenschaft sich auf die Leiche wirft und sie zerstückelt, so bedeckte er auch ihr Gesicht und ihre Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand, ohne sich zu bewegen. Ja, diese Küsse waren es, die sie mit dieser Schande erkauft hatte, und das war die Hand ihres Mitschuldigen. Sie erhob diese Hand an die Lippen und küsste sie. Er ließ sich auf die Knie nieder und wollte ihr ins Gesicht sehen, aber sie verbarg es schweigend. Endlich erhob sie sich mit Anstrengung und stieß ihn zurück. Ihr Gesicht war noch immer ebenso schön, aber der Ausdruck tiefer Betrübnis lag darauf.

»Es ist alles zu Ende!« sagte sie. »Ich habe nichts mehr außer dir! Vergiss das nie!«

»Wie sollte ich vergessen, was mein Leben ist! Für eine Minute dieses Glückes...«

»Welches Glückes?« fragte sie mit einem Entsetzen, das sich unwillkürlich auch ihm mitteilte. »Um Gottes willen, kein Wort, kein Wort mehr!«

Sie stand rasch auf und entfernte sich von ihm.

»Kein Wort mehr!« wiederholte sie mit einem Ausdruck kalter Verzweiflung im Gesicht, der ihn erschreckte. Sie fühlte, dass sie in diesem Augenblick keine Worte finden konnte, um dieses Gefühl der Scham, der Freude und des Schreckens vor diesem Eintritt in ein neues Leben auszudrücken. Aber auch später, auch am zweiten und dritten Tage suchte sie vergebens nach Ausdrücken für diese widersprechenden Gefühle.

»Nein«, sagte sie sich selbst, »ich kann jetzt nicht daran denken! Später vielleicht, wenn ich ruhiger sein werde!« Aber diese Ruhe kam niemals. – Sooft sich der Gedanke erhob, was sie getan hatte, was aus ihr werden könnte und was sie tun müsse, wurde sie von Entsetzen ergriffen, und sie verjagte diese Gedanken.

Im Traum, wenn sie die Herrschaft über ihre Gedanken verloren hatte, erschien ihr ihre Lage in ihrer ganzen abschreckenden Nacktheit. Fast jede Nacht verfolgte sie dasselbe Traumgesicht. Ihr träumte, alle beide seien ihre Männer und beide überhäuften sie mit ihren Liebkosungen. Karenin küsste weinend ihre Hände und sagte: ,Wie glücklich sind wir jetzt!' Und Wronsky war auch da, und gleichfalls ihr Mann. Und sie verwunderte sich darüber, wie ihr das früher unmöglich erschienen war, und sagte sich lächelnd, das sei viel einfacher, und so seien sie nun alle zufrieden und glücklich. Aber dieses Traumgesicht quälte sie wie ein Alpdrücken, und sie erwachte schaudernd.

Während der ersten Zeit nach seiner Rückkehr aus Moskau erinnerte sich Lewin nur errötend an die Demütigung der Abweisung, die er erfahren hatte.

»So bin ich auch damals errötet und zusammengefahren«, sagte er zu sich selbst, »als ich in der Physik durchfiel und nicht versetzt wurde. Und nun? – Jetzt, nachdem Jahre vergangen sind, wundere ich mich, wie mich das betrüben konnte, und so wird es auch mit diesem Kummer sein! Die Zeit vergeht, und ich werde auch daran gleichmütig zurückdenken.«

Aber es vergingen drei Monate, und er wurde nicht gleichmütiger, und konnte sich nicht darüber beruhigen, dass er, nachdem er so lange an das Familienleben gedacht und sich darauf vorbereitet hatte, jetzt dennoch nicht verheiratet und weiter als je davon entfernt war.

Doch die Zeit und die Arbeit taten dennoch ihre Wirkung. Mehr und mehr erblasste die peinliche Vergangenheit, mit jeder Woche dachte er seltener an Kitty und erwartete mit Ungeduld die Nachricht, dass sie geheiratet habe oder nächstens heiraten werde, in der Hoffnung, dass diese Nachricht ihn ganz heilen werde.

Inzwischen kam das Frühjahr. Es war einer jener seltenen Frühlinge, der Pflanzen, Tiere und Menschen neu belebt und erfreut. Dieser prächtige Frühling befestigte Lewin noch mehr in seinem Entschluss, sich von der Vergangenheit abzuwenden und sein Leben als Einsiedler einzurichten und unabhängig zu gestalten.

Schon früher hatte er die Nachricht von Maria Nikolaijewna erhalten, dass die Gesundheit seines Bruders Nikolai sich verschlimmert habe, und dass dieser von den Ärzten nichts wissen wolle. Darauf reiste Lewin nach Moskau zu seinem Bruder, und es gelang seiner Überredung, dass Nikolai sich an einen Arzt wandte und schließlich ins Ausland in ein Bad reiste. Er vermochte sogar, ihm eine Anleihe dazu aufzudrängen. In dieser Beziehung war er mit sich zufrieden. Außer den Sorgen um die Wirtschaft, die mit dem erwachenden Frühjahr wieder auflebten, hatte Lewin auch ein Werk über Landwirtschaft begonnen.

So war trotz seiner Einsamkeit sein Leben ausgefüllt und mannigfaltig, und nur selten empfand er den Wunsch, die in seinem Kopf sich jagenden Gedanken noch sonst jemand, außer Agafja Michailowna, mitzuteilen.

Der Frühling zögerte lange, die Ostern erschienen noch im Schnee, dann plötzlich, am zweiten Feiertag, erhob sich ein warmer Wind, der Wolken zusammentrieb, und drei Tage und drei Nächte strömte ein stürmischer warmer Regen herab. Am vierten Tag schwieg der Wind, ein dichter grauer Nebel schien die bevorstehenden geheimnisvollen Vorgänge in der Natur verhüllen zu wollen. Die Gewässer sammelten sich, das Eis krachte und setzte sich auf den trüben, schäumenden Bächen in rasche Bewegung. Der alte Rasen färbte sich wieder grün, und das neue Gras sprosste empor. Auf dem grünen, samtartigen Rasen zirpten unsichtbare Grillen, und wilde Enten erhoben sich mit lautem Geschrei in die Luft.

Der wirkliche Frühling war erwacht.

Zum ersten mal verließ Lewin ohne Pelz, nur in leichter Tuchjacke, mit großen Stiefeln das Haus, um seinen Hof zu besichtigen. Vorsichtig schritt er über Pfützen, in denen sich die Sonne spiegelte, bald über Eisschollen, bald durch dicken Schlamm.

Vor allem ging er zu seinem Vieh, das sich brüllend in der Sonne wärmte. Lewin kannte jedes Stück genau und betrachtete alles mit Befriedigung.

»Ignaz!« rief er dem Kutscher zu, der mit aufgeschlagenen Ärmeln beim Brunnen die Kutsche wusch. »Sattle mir ein Pferd!«

Während das Pferd gesattelt wurde, rief Lewin seinen Verwalter zu sich und besprach sich mit ihm über die bevorstehenden Arbeiten und Wirtschaftspläne.

Der Verwalter hörte aufmerksam zu und bemühte sich augenscheinlich, die Verfügungen des Herrn gutzuheißen, aber immer hatte er dasselbe, trübselige und weinerliche Aussehen. »Das ist alles ganz gut, aber wie sollen wir denn damit fertig werden, Konstantin Dmitritsch?« fragte der Verwalter.

»Warum nicht?«

»Wir müssten noch etwa fünfzehn Arbeiter haben, aber es kommen keine. Heute waren einige da, aber sie verlangten siebzig Rubel für den Sommer.«

Lewin schwieg. Immer stellte sich dieses Hindernis entgegen. Er wusste, dass er trotz aller Anstrengungen nicht mehr als vierzig oder sieben- oder achtunddreißig Arbeiter bekommen konnte, aber dennoch wollte er den Kampf nicht aufgeben.

»Schicken Sie nach Sura und nach Tschefirowka. Wenn keine kommen, muss man sie suchen.«

»Schicken? Ich werde schicken«, sagte der Verwalter wehmütig. »Aber die Pferde sind auch schwach geworden.«

»Wir werden noch welche kaufen. Nun, ich weiß«, fügte er lächelnd hinzu, »Sie werden nach Ihrer Art immer alles so schlecht und so nachlässig wie möglich machen. Aber dieses Jahr lasse ich Ihnen nicht den Willen, ich werde selbst nach allem sehen.«

Dann verließ er den Hof auf seinem munteren, wohlgenährten Pferdchen und atmete in langen Zügen die schon warme, aber noch immer mit der Frische des Schnees erfüllte Luft ein, und während er durch den Wald ritt, wurde seine Stimmung immer heiterer, je mehr er sich in seine Pläne vertiefte.

Als Lewin vergnügt nach Hause zurückkehrte, vernahm er das helle Glockengeläute eines Postschlittens.

»Es ist jemand mit der Eisenbahn gekommen«, dachte er, »wahrscheinlich mit dem Zuge aus Moskau. Wer kann es sein?«

Als er näher kam, erblickte er das Dreigespann von der Eisenbahn und einen Herrn im Pelz.

»Ach, es ist Stepan Arkadjewitsch!« rief Lewin erfreut. »Das ist ein heiterer Gast! Ah, wie freue ich mich, dich hier zu sehen!«

»Jetzt werde ich sicher erfahren, ob sie schon geheiratet hat, oder wann sie heiraten wird«, dachte er, und an diesem schönen Frühlingstag war er so heiter gestimmt, dass die Erinnerung an sie ihm durchaus nicht mehr peinlich war.

»Du hast mich wohl nicht erwartet?« sagte Oblonsky, als er aus dem Schlitten stieg, strahlend in Gesundheit und Heiterkeit. »Ich bin gekommen, erstens, um dich zu sehen, zweitens, um ein bisschen zu jagen, und drittens, um einen Wald in Jerguschowo zu verkaufen.«

»Vortrefflich. Aber welches Frühjahr! Ich freue mich wirklich sehr, dass du gekommen bist«, sagte Lewin mit einem kindlich freudigen Lächeln.

Lewin führte seinen Gast in das für Besuche bestimmte Zimmer, wohin auch Oblonskys Sachen, eine Reisetasche, ein Gewehr im Futteral, eine Kiste Zigarren, gebracht wurden, und ging dann, um seinen Verwalter aufzusuchen. Als er zurückkehrte, kam Oblonsky frisch gewaschen und gekämmt aus seiner Tür, und sie gingen miteinander nach oben.

»Nun, ich bin froh, dass ich bei dir angekommen bin. Jetzt werde ich erfahren, worin die Geheimnisse bestehen, welche hier vor sich gehen, und ich beneide dich wirklich. Was für ein Haus. Wie hübsch ist alles! Wie hell und heiter!« sagte Oblonsky, der nicht vergaß, dass es nicht immer hell und Frühling war, wie der heutige schöne Tag. Oblonsky hatte viel Neuigkeiten zu erzählen. Mit besonderem Interesse hörte Lewin, dass sein Bruder Sergej Iwanowitsch im Begriff sei, dieses Jahr zu ihm aufs Land zu kommen.

Aber nicht ein Wort sprach Oblonsky von Kitty und überhaupt von dem Fürsten Schtscherbatzky. Er brachte nur einen Gruß von der Fürstin.

Lewin war ihm dankbar für sein Zartgefühl und freute sich sehr, einen Gast bei sich zu haben.

Oblonsky zeigte sich wie immer liebenswürdig, mit einer Schattierung von Achtung und Zuneigung, durch die sich Lewin geschmeichelt fühlte. Den Bemühungen Agafjas und des Kochs war es gelungen, ein besonders feines Mittagessen herzustellen. In Erwartung der Suppe stürzten sich die beiden hungrigen Freunde auf die Sakuska. Oblonsky fand alles vorzüglich.

»Vortrefflich! Vortrefflich!« rief er, indem er eine große Zigarre nach dem Braten anzündete. »Mein Kompliment, Agafja Michailowna!« »Nun, Kostja, ist es noch nicht Zeit, zu gehen?«

Lewin warf einen Blick zum Fenster hinaus, auf die untergehende Sonne, die hinter den noch kahlen Baumwipfeln verschwand.

»Ja, es ist Zeit«, erwiderte Lewin, »Kusma, man soll anspannen!« Dann eilte er hinab.

Oblonsky ging ihm nach und nahm selbst sorgfältig seine teure Flinte neuester Art aus dem Futteral. Kusma, der ein Trinkgeld witterte, verließ Oblonsky nicht und zog ihm Strümpfe und Stiefel an.

»Höre«, sagte er zu Lewin, »trage doch deinen Leuten auf, man soll dem Kaufmann Rebinin, den ich hierher bestellt habe, sagen, er solle auf mich warten.«

»Also an Rebinin willst du deinen Wald verkaufen?«

»Ja, du kennst ihn wohl?«

»Ja, ich kenne ihn.«

»Sie weiß, wohin ihr Herr geht«, sagte Oblonsky, indem er Laska streichelte, die mit Freuden um Lewin herumsprang, bald seine Hände, bald sein Gewehr und seine Stiefel leckte. Ein Jagdwagen stand schon an der Pforte, als sie hinaustraten.

»Ich habe einspannen lassen, obgleich es nicht weit ist!«

Oblonsky trat auf den Jagdwagen zu. Er stieg ein, bedeckte seine Beine mit einer Tigerdecke, zündete sich eine Zigarre an und sagte: »Bei dir ist ein Leben, wie ich es mir wünschen würde!« »Nun, wer hindert dich daran, auch so zu leben?« fragte Lewin lachend.

»Nein, du bist ein glücklicher Mensch! Du hast alles, was dir gefällt, Pferde, Hunde, Jagd, Landwirtschaft!«

»Vielleicht bin ich nur deshalb zu beneiden, weil ich mich dessen freue, was ich habe, und nicht von dem träume, was ich nicht habe«, sagte Lewin mit einem flüchtigen Gedanken an Kitty.

Oblonsky verstand, blickte ihn aber nur schweigend an.

Lewin war ihm dafür dankbar, dass er mit seinem stets bewiesenen Takt nicht über Schtscherbatzky sprach, jetzt aber wünschte er zu erfahren, was ihn so sehr quälte, wagte jedoch nicht davon anzufangen.

»Nun, wie geht's mit deinen Geschäften?« fragte Lewin, der sich darüber Vorwürfe machte, dass er immer nur an sich gedacht hatte.

Oblonskys Augen funkelten vergnügt.

»Du willst es nicht verstehen, wie man nach Weißbrot verlangen kann, wenn man seine richtige Portion schon hat! Nach deiner Ansicht ist das ein Verbrechen. Aber ich kann das Leben ohne Liebe nicht verstehen«, sagte er. »Was ist zu machen? So bin ich einmal. Und wirklich, man verursacht damit anderen so wenig Böses und sich selbst so viel Vergnügen.«

»Nun, gibt es wieder etwas Neues?« fragte Lewin.

»Ja, Brüderchen. Die Frau, siehst du, ist ein unerschöpflicher Gegenstand; soviel du sie auch immer studieren magst, stets findest du etwas ganz Neues.«

»Dann ist es besser, gar nicht erst anzufangen.«

»Nein, irgendein kluger Kopf hat einmal gesagt, nicht die Entdeckung der Wahrheit, sondern das Suchen nach derselben sei der höchste Genuss.«

Lewin hörte schweigend zu. Vergebens versuchte er es, sich in die Anschauungsweise seines Freundes zu versetzen und zu begreifen, wie es Vergnügen gewähren könne, solche Frauen zu studieren.

Der Ort, wohin Lewin seinen Freund auf den Anstand führte, lag nicht weit entfernt an einem Flüßchen mit kleinen Weidengebüschen. Er führte ihn nach einer Waldecke, die schon schneefrei war, und stellte sich ihm gegenüber an einer Birke auf. Die alte, graue Laska setzte sich ihm vorsichtig gegenüber und spitzte die Ohren. Die Jagd war vortrefflich. Jeder von ihnen hatte mehrere Schnepfen erlegt. Der Abend nahte heran, die Venus strahlte am Westhimmel, und im Osten stand Arcturus in seinem roten, düsteren Feuer, bald wurde auch der Große Bär sichtbar. Die Schnepfen ließen sich nicht mehr sehen, aber Lewin wollte es noch abwarten, bis der Große Bär vollständig sichtbar war.

»Ist es nicht Zeit, nach Hause zu gehen?« fragte Oblonsky.

Tiefe Stille herrschte im Wald, kein Vogel rührte sich.

»Wir wollen noch warten.«

»Wie du willst.«

Sie waren etwa fünfzehn Schritte voneinander entfernt.

»Stiwa«, rief Lewin plötzlich, »du hast mir noch nicht gesagt, ob deine Schwägerin schon verheiratet ist oder ob die Hochzeit bald stattfinden wird.«

Er fühlte sich so fest und ruhig, dass er glaubte, keine Antwort könne ihn erregen, aber er hatte keineswegs erwartet, was Oblonsky ihm antwortete.

»Sie denkt nicht daran, sich zu verheiraten! Sie ist sehr krank, und die Ärzte sandten sie nach dem Ausland, man fürchtet sogar für ihr Leben.«

»Was sagst du? Sehr krank?« rief Lewin. »Was fehlt ihr?«

Während sie sprachen, spitzte Laska die Ohren, blickte nach dem Himmel und dann vorwurfsvoll auf die beiden Jäger. –

Als sie später nach Hause zurückkehrten, fragte Lewin nach allen Einzelheiten von Kittys Krankheit und nach den Plänen Schtscherbatzkys. Und obgleich es ihm peinlich gewesen wäre, es einzugestehen, so war ihm doch das, was er erfuhr, angenehm. Aber als Oblonsky von den Ursachen der Krankheit Kittys zu sprechen begann und Wronskys Namen erwähnte, unterbrach ihn Lewin.

»Ich habe nicht das Recht, Familienangelegenheiten zu erfahren, welche in der Tat auch kein Interesse für mich haben.«

Oblonsky lächelte kaum merklich, da er die Veränderung in Lewins Mienen wohl bemerkt hatte. Lewins Gesicht war jetzt ebenso finster, wie es einen Augenblick zuvor heiter gewesen war.

»Hast du deinen Handel mit Rebinin schon ganz abgeschlossen?« fragte Lewin.

»Ja, alles ist abgemacht«, erwiderte Oblonsky. »Es ist ein prächtiger Preis! Achtunddreißigtausend Rubel! Davon achttausend gleich, und den Rest in sechs Jahren. Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber niemand gab ein höheres Gebot ab.« »Du hast deinen Wald umsonst weggegeben«, sagte Lewin mürrisch.

»Wieso umsonst?« fragte Oblonsky mit gutmütigem Lächeln. Er wusste, dass Lewin jetzt alles schlecht finden werde.

»Weil der Wald wenigstens fünfhundert Rubel die Deßjatine wert ist.«

»Ach, so seid ihr immer, ihr ländlichen Potentaten«, sagte Oblonsky scherzend. »Für uns Städter habt ihr immer nur einen Ton der Verachtung, wenn es sich aber um wirkliche Geschäfte handelt, so werden wir viel besser damit fertig.«

Lewin lächelte verächtlich. »Ich will dich nicht belehren in bezug auf deine Schreiberei in der Behörde«, sagte er, »aber glaubst du denn, dass du dich auf den Wald verstehst? Ich kenne deinen Wald, ich habe jedes Jahr dort gejagt, und er ist fünfhundert Rubel bares Geld wert, und er gibt dir zweihundert für die Deßjatine auf langen Termin. Du hast ihm wenigstens dreißigtausend Rubel geschenkt.«

»Höre doch auf mit den Phantasien«, sagte Oblonsky kläglich. »Warum hat niemand mehr geboten?«

»Deshalb, weil die Händler sich untereinander verständigen. Er hat ihnen Abstandsgeld gezahlt.«

»Nun genug, du bist schlecht gelaunt.«

»Durchaus nicht«, sagte Lewin mürrisch.

Als sie vor dem Hause vorfuhren, stand vor der Tür ein stark beschlagener, leichter Wagen, der mit einem wohlgenährten Pferd bespannt war. Im Wagen saß ein Handlungsgehilfe Rebinins. Rebinin selbst war schon ins Haus getreten und kam den Freunden am Eingang entgegen. Lachend streckte er Oblonsky die Hand entgegen, als ob er nach etwas greifen wollte.

»Schön, dass Sie gekommen sind«, sagte Oblonsky und reichte ihm die Hand.

»Ich würde nicht wagen, den Befehlen Euer Erlaucht ungehorsam zu sein, obgleich die Wege noch sehr schlecht sind. Konstantin Dmitritsch, ich empfehle mich«, wandte er sich an Lewin und suchte auch seine Hand zu erfassen. Aber Lewin wandte sich mürrisch ab und tat, als hätte er dies nicht bemerkt.

»Willst du in mein Kabinett gehen?« fragte Lewin seinen Freund französisch. – »Gehen Sie in mein Kabinett, dort kann das Geschäft ungestört abgemacht werden.«

»Wie Sie wünschen«, sagte Rebinin hochmütig.

Als sie in das Kabinett traten, blickte sich Rebinin nach seiner Gewohnheit ringsum, als ob er das Heiligenbild suchte. Doch als er es gefunden hatte, unterließ er es, sich vor demselben zu bekreuzigen.

»Nun, haben Sie das Geld mitgebracht?« fragte Oblonsky. »Setzen Sie sich!«

»Am Geld wird es nicht fehlen. Ich kam, um mich mit Ihnen zu besprechen.«

»Worüber? Aber setzen Sie sich doch!«

»Sehr gern«, sagte Rebinin und setzte sich, wobei er sich auf die unbequemste Weise auf eine Stuhllehne stützte. »Sie müssen noch etwas ablassen, Fürst! Es wäre eine Sünde! Das Geld liegt bereit bis zur letzten Kopeke, daran wird es nicht fehlen.«

Lewin, der inzwischen sein Gewehr in den Schrank gestellt hatte, wandte sich zur Tür. Als er aber die Reden des Kaufmanns hörte, blieb er stehen.

»Sie haben den Wald umsonst bekommen«, sagte er. »Mein Freund ist nur leider so spät zu mir gekommen, sonst würde ich einen anderen Preis gemacht haben.«

Rebinin stand auf und blickte Lewin lächelnd von oben bis unten an.

»Konstantin Dmitritsch ist so genau«, sagte er lachend zu Oblonsky, »dass man entschieden keine Geschäfte mit ihm abschließen kann. Ich habe einen guten Preis für seinen Weizen geboten.« ,

»Warum soll ich Ihnen mein Eigentum umsonst geben? Ich habe es nicht gefunden und nicht gestohlen. Aber ist das Geschäft abgemacht oder nicht? Wenn es abgeschlossen ist, so gibt es nichts mehr zu handeln, wenn nicht, so kaufe ich das Holz.«

Das Lächeln verschwand plötzlich von Rebinins Miene, die den Ausdruck eines gierigen, grausamen Raubvogels annahm. Seine knöchernen Finger knöpften hastig seinen Rock auf, worauf sein Hemd, die kupfernen Knöpfe der Weste und die Uhrkette sichtbar wurden; er zog rasch eine dicke, alte Brieftasche heraus.

»Entschuldigen Sie, der Wald ist mein«, sagte er, indem er rasch sich bekreuzigte und die Hand ausstreckte. »Nehmen Sie das Geld, der Wald ist mein. So handelt Rebinin, und nicht wie ein Pfennigfuchser.«

»An deiner Stelle würde ich mich nicht übereilen«, sagte Lewin. »Aber ich bitte dich«, erwiderte Oblonsky verwundert, »ich habe ja mein Wort gegeben.«

Lewin verließ das Zimmer und schlug die Tür zu. Rebinin sah ihm nach und wiegte lächelnd den Kopf.

»So ist die Jugend! Glauben Sie meinem Wort! Ich kaufe den Wald nur der Ehre wegen, damit es heißt, Rebinin hat dem Fürsten Oblonsky seinen Wald abgekauft, und kein anderer! Belieben Sie nun, den Vertrag zu unterzeichnen!«

Nach einer Stunde trat der Kaufmann mit dem Vertrag in der Tasche heraus, setzte sich in seinen leichten Wagen und fuhr nach Hause.

Oblonsky kam nach oben in den Salon, die Tasche voll Kupons, die erst in drei Monaten fällig waren und die ihm der Kaufmann statt baren Geldes aufgeschwatzt hatte. Der Handel war abgeschlossen, das Geld in der Tasche, die Jagd war vortrefflich, und Oblonsky befand sich daher in bester Laune und bemühte sich, die Stimmung Lewins aufzuheitern. Dieser vermochte in der Tat seine schlechte Laune nicht zu verbergen, sosehr er gegen seinen Gast liebenswürdig zu erscheinen wünschte. Der Freudenrausch bei der Nachricht, dass Kitty noch nicht verheiratet sei, verließ ihn nach und nach wieder.

Kitty war nicht verheiratet und krank – krank, aus Liebe zu einem Menschen, der sie verschmähte. Diese Beleidigung fiel seinem Gefühl nach zum Teil auf ihn zurück, er fühlte unbestimmt etwas für ihn Beleidigendes. Er war jetzt zornig auf alles, was ihm in den Weg kam, am meisten über den dummen Waldverkauf, mit dem Oblonsky betrogen worden war.

»Nun, bist du fertig? Wollen wir speisen?«

»Ja, ich habe nichts dagegen. Es ist wunderbar, was ich für einen Appetit auf dem Lande habe! Warum hast du Rebinin nichts angeboten?«

»Ach, der Teufel soll ihn holen!«

»Aber wie du mit ihm umgehst!« sagte Oblonsky. »Du hast ihm nicht einmal die Hand gereicht.«

»Meinem Diener reiche ich auch nicht die Hand, und er ist noch hundertmal besser.«

»Ich sehe, du bist wirklich ein Reaktionär!«

»Ich habe in der Tat noch nicht darüber nachgedacht. Ich bin ... ich bin Konstantin Lewin, weiter nichts!«

»Ja, und Konstantin Lewin bei sehr schlechter Laune«, bemerkte Oblonsky lachend. »Ja, in sehr schlechter Laune. Und weißt du, warum? Wegen deines dummen Handelns, mit Erlaubnis zu sagen.«

Oblonsky nahm die Miene beleidigter Unschuld an.

»Nun genug«, sagte er, »ich sehe, du hast einen Zorn auf diesen unglücklichen Rebinin.«

»Kann sein, aber weißt du, warum? Du sagst, ich sei ein Reaktionär. Aber mir ist es peinlich und beleidigend, zu sehen, wie allerorten die Verarmung des Adels fortschreitet, dem anzugehören ich sehr erfreut bin, trotz der Verschmelzung der Stände. Aber dass diese Armut die Folge bloßer, blanker Naivität ist, das kränkt mich! Da kauft ein polnischer Pächter einer Dame, die in Nizza lebt, ein wunderbares Gut für den halben Preis ab, dort verpachtet man einem Kaufmann das Land zu einem Rubel die Deßjatine, die zehn Rubel wert ist, und hier schenkst du, ohne Sinn und Verstand, diesem Halunken dreißigtausend. So wird Rebinin die Mittel haben, seinen Kindern eine Erziehung und eine, Stellung in der Welt zu geben, für deine Kinder aber bleibt vielleicht nichts übrig.«

»Ja, aber bedenke doch, wir haben unsere Beschäftigung; und diese Händler die ihrige, sie müssen Gewinn erzielen. Übrigens ist die Sache geschehen. Aber da kommen die Spiegeleier, und Agafja Michailowna wird uns ein wundervolles Likörchen bringen.«

Oblonsky setzte sich zu Tisch und scherzte mit Agafja, der er versicherte, er habe ein solches Mittagessen lange nicht gehabt.

»Nun, Sie loben es doch wenigstens«, sagte Agafja Michailowna, »aber der Herr ißt, was man ihm bringt, ohne ein Wort zu sagen.«

Lewin blieb düster und schweigsam. Er wollte an Oblonsky noch eine Frage richten, konnte sich aber nicht entschließen. So ging er mit nach Oblonskys Zimmer, wo dieser sich kämmte, wusch, ein gesticktes Nachthemd anzog und sich schließlich zu Bett legte. Lewin aber zögerte noch immer, ihn zu verlassen und sprach von unbedeutenden Nebensachen.

»Was für prachtvolle Seife jetzt fabriziert wird«, sagte er, indem er ein Stück parfümierte Seife betrachtete, die Agafja für den Gast gebracht hatte.

»Ja, jetzt hat man alles zu hoher Vollkommenheit gebracht«, sagte Oblonsky, behaglich gähnend. »Und überall elektrisches Licht! Ah ... ah ...« »Ja, das elektrische Licht!« sagte Lewin. »Nun, und wo ist Wronsky jetzt?« fragte er plötzlich, die Seife weglegend.

»Wronsky?« sagte Oblonsky, indem er mitten im Gähnen aufhörte. »Er ist in Petersburg. Er ist bald nach dir abgereist und seitdem nicht wieder in Moskau gewesen. Und weißt du, Kostja, ich will dir sagen«, fuhr er fort, während er sich auf den Ellbogen aufstützte und sein hübsches, rotes Gesicht auf die Hand legte, aus dem seine gutmütigen, fettigen, träumerischen Äuglein wie zwei Sterne hervor glänzten, »du bist selbst an allem schuld! Du hast dich vor diesem Rivalen gefürchtet! Und doch, wie ich dir damals sagte, weiß ich nicht, auf welcher Seite mehr Chance lag. Warum bist du nicht entschieden vorgegangen? Ich habe dir ja damals gesagt, dass ...«

Er gähnte nur mit dem Unterkiefer, ohne den Mund zu öffnen.

»Weiß er oder weiß er nicht, dass ich einen Antrag gemacht habe?« dachte Lewin. Er fühlte, dass er errötete, und blickte schweigend Oblonsky gerade in die Augen.

»Wenn sie damals etwas empfunden hat, so war es jedenfalls nur oberflächlich«, fuhr Oblonsky fort.

Lewins Miene verdüsterte sich. Die Beleidigung der Abweisung kehrte wieder frisch in sein Gedächtnis zurück und brannte in seinem Herzen.

»Halt! Halt!« unterbrach er Oblonsky. »Du hältst Wronsky für einen Aristokraten, ich aber nicht. Ein Mensch, dessen Vater durch Schliche und Intrigen aus dem Nichts emporgestiegen ist und dessen Mutter Gott weiß mit wem Liebschaften hatte ... Nein, ich halte mich selbst und Leute für Aristokraten, die in der Vergangenheit drei oder vier ehrenwerte Generationen nachweisen können, die sich auf der Höhe der Bildung ihrer Zeit befanden, niemals jemand nötig hatten, so wie mein Vater und mein Großvater! Wir sind die Aristokraten, und nicht jene, die nur von der Gnade der Mächtigen dieser Erde leben, und die man für zwanzig Kopeken kaufen kann.«

»Von wem sprichst du? Ich bin ganz mit dir einverstanden«, sagte Oblonsky aufrichtig und vergnügt, obgleich er fühlte, dass Lewin unter jene, die man für zwanzig Kopeken kaufen könne, auch ihn, Oblonsky, mit einbegriff. Die Lebhaftigkeit Lewins gefiel ihm sehr.

»Vieles ist nicht richtig, was du über Wronsky sagst, aber ich spreche jetzt nicht davon. Ich sage dir geradezu, an deiner Stelle würde ich nach Moskau fahren und ...« »Nein. Ich weiß nicht, ob dir alles bekannt ist oder nicht, aber mir ist alles gleichgültig. Ich werde es dir sagen: ich habe einen Antrag gemacht und einen Korb erhalten, und Katharina Alexandrowna ist jetzt für mich nichts mehr als eine peinliche, beschämende Erinnerung.«

»Welcher Unsinn!«

»Sprechen wir nicht mehr davon. Entschuldige mich, wenn ich heftig war«, sagte Lewin. Jetzt, nachdem er alles gesagt hatte, war er wieder derselbe wie am Morgen. »Du bist mir nicht böse, Stiwa?« fragte er, und ergriff lachend seine Hand.

»Nein, nein! Nicht im geringsten! Ich freue mich, dass wir uns ausgesprochen haben.«

Obgleich das ganze innere Dasein Wronskys von seiner Leidenschaft erfüllt war, behielt sein äußerliches Leben unverändert seinen Lauf in den früheren, gewohnten Geleisen. Wronsky war im Regiment beliebt, und man war stolz darauf, dass dieser ungeheuer reiche, gebildete Mann mit bedeutenden Fähigkeiten, dem jeder Weg zur Ehre und Auszeichnung offenstand, das alles verschmähte und die Interessen des Regiments und der Kameradschaft höher stellte als alle Lockungen der Ruhmsucht. Er sprach mit keinem seiner Kameraden von seiner Liebe, und er verstand es auch, denen, die sich Anspielungen erlaubten, den Mund zu verschließen. Aber dennoch wusste die ganze Stadt von dieser Liebschaft. Die meisten jungen Leute beneideten ihn eben wegen dessen, was ihm das Peinlichste war, die hohe Lebensstellung Annas, die seine Herzensangelegenheit dem Auge der Welt um so mehr aussetzte.

Auch die meisten jungen Damen beneideten Anna, deren tadelloser Ruf ihnen schon lange missfällig war, und sie warteten nur auf den Umschwung der gesellschaftlichen Meinung, um sie ihre Verachtung fühlen zu lassen. Sie hielten schon den Schmutz bereit, mit dem man sie bewerfen wollte, sobald die Zeit gekommen sein werde.

Wronskys Mutter war anfangs ganz zufrieden mit dieser Liaison, sowohl deshalb, weil nach ihren Begriffen nichts besser geeignet war, einem glänzenden, jungen Manne den rechten Schliff zu geben, als eine Liebschaft in der höchsten Gesellschaft, als auch deshalb, weil die junge Frau, die ihr so gefallen und von ihrem Sohne so viel gesprochen hatte, nach Ansicht der Gräfin Wronsky doch auch nicht anders war als alle hübschen eleganten Damen.

In letzter Zeit aber hatte sie erfahren, dass ihr Sohn eine ihm angebotene Stellung zurückgewiesen hatte, die für sein Fortkommen wichtig war, nur um im Regiment und damit in der Nähe Annas zu bleiben. Seit seiner plötzlichen Abreise aus Moskau hatte sie ihn nicht mehr gesehen und ließ ihn durch ihren älteren Sohn auffordern, zu ihr zu kommen.

Auch dieser war unzufrieden über Wronsky. Es war ihm gleichgültig, was für eine Liebe das war, eine große oder kleine, mit oder ohne Leidenschaft, eine unschuldige oder strafbare. Obgleich verheiratet und Familienvater, unterhielt er eine Tänzerin, und hatte daher kein Recht, streng zu sein. Aber er wusste, dass diese Liebschaft an hoher Stelle Mißfallen erregte, und deshalb tadelte er seinen Bruder.

Außer seinen dienstlichen und gesellschaftlichen Beziehungen hatte Wronsky noch eine Leidenschaft –- die Pferde. In diesem Jahr sollte unter den Offizieren ein Wettrennen mit Hindernissen stattfinden. Wronsky hatte sich dazu gemeldet und eine englische Vollblutstute gekauft, und er sah mit Spannung dem bevorstehenden Rennen entgegen.

Am Tage des Wettrennens bei Krassnoje Sselo trat Wronsky halb aus Gewohnheit in den Gesellschaftssaal der Offiziere des Regiments, um etwas zu essen. Jetzt saß er mit aufgeknöpftem Rock, der seine weiße Weste sehen ließ, am Tisch, auf beide Ellbogen gestützt, in Erwartung des bestellten Beefsteaks.

Er dachte daran, dass Anna ihm für heute nach dem Wettrennen ein Rendezvous versprochen hatte. Er hatte sie seit drei Tagen nicht gesehen, und da ihr Mann aus dem Ausland zurückgekehrt war, wusste er nicht, ob es heute möglich sein werde oder nicht und wie er das erfahren sollte. Zum letzten mal hatte er sie in dem Landhaus seiner Kusine Betsy gesehen. Das Landhaus Karenins betrat er so selten wie möglich. Jetzt aber wollte er dorthin fahren und überlegte, wie das zu machen sei.

»Ich werde sagen, Betsy habe mich gesandt, um zu fragen, ob sie zum Wettrennen komme. Versteht sich, ich gehe hin!« schloss er und hob den Kopf mit strahlendem Gesicht bei dem Gedanken an das Glück, sie zu sehen.

»Sende jemand zu mir nach Hause«, sagte er dem Diener, der ihm sein Beefsteak brachte. »Sende zu mir nach Hause, man soll gleich den Wagen anspannen!« Dann begann er zu speisen.

Der hochgewachsene Rittmeister Jaschwin trat ins Zimmer, nickte hochmütig einigen Offizieren zu und näherte sich Wronsky.

»Ah, da ist er ja!« rief er, indem er ihm mit seiner großen Hand kräftig auf die Schulter klopfte.

Zornig blickte sich Wronsky um; aber sogleich zeigte seine Miene die gewöhnliche Ruhe und Freundlichkeit.

»Das ist klug, Alescha«, sagte der Rittmeister mit lautem Bariton, »du musst dich stärken und ein Schnäpschen trinken!«

Jaschwin, ein Spieler und ausschweifender Mensch, war dabei der beste Freund Wronskys im ganzen Regiment. Wronsky bewunderte seine außerordentliche physische Stärke, die sich meistens darin äußerte, dass er den Schlaf entbehren und trinken konnte wie ein Fass. Wronsky war ihm hauptsächlich deshalb zugetan, weil er fühlte, dass Jaschwin ihn nicht seines Namens und Reichtums, sondern seiner selbst wegen liebte. Nur mit diesem von allen Kameraden hätte Wronsky von seiner Liebe sprechen können.

Er tat es aber trotzdem nicht.

»Was hast du gestern gemacht?« fragte Wronsky. »Hast du gewonnen?«

»Achttausend, ja; aber drei sind unsicher! Diese werde ich wohl schwerlich bekommen.«

»Nun, dann kannst du dir ja eigentlich erlauben, an mir etwas zu verlieren«, sagte Wronsky.

Jaschwin hatte eine große Summe auf Wronsky gewettet.

»Auf keinen Fall werde ich verlieren. Nur Machotin ist gefährlich.«

»Komm! Ich bin fertig!« sagte Wronsky, stand auf und ging zur Tür. Auch Jaschwin erhob sich und streckte seine ungeheuer langen Beine.

»Wenn du nach Hause gehst, gehe ich mit dir.«

Und sie gingen zu Wronsky.

Petrizky schlief, als Wronsky und Jaschwin eintraten.

»Stehe auf! Hast genug geschlafen!« schrie Jaschwin. Er ging durch die Tür der Scheidewand, fasste Petrizky, der mit der Nase auf dem Kissen lag, an der Schulter und schüttelte ihn.

Petrizky richtete sich sogleich auf und blickte sich wild um. »Dein Bruder war hier«, sagte er zu Wronsky. »Er weckte mich auf, der Teufel soll es ihm danken! Er sagte, er werde wiederkommen.«

Dann zog Petrizky wieder die Decke über und legte sich aufs Kissen zurück. »Lass mich!« sagte er zornig zu Jaschwin, der ihm die Decke wegreißen wollte. »Lass!« Er wandte sich um und schloss die Augen. »Sage mir lieber, was ich trinken soll. Ich habe einen so hässlichen Geschmack im Munde, dass...«

»Schnaps! Das ist das beste!« rief Jaschwin. »Tereschtschenko, bringe dem Herrn Schnaps und Gurken!« rief er, augenscheinlich mit Wohlgefallen seiner eigenen Stimme lauschend.

»Schnaps! Meinst du? Wie?« fragte Petrizky. »Wirst du auch trinken? Wir wollen zusammen eins trinken! Wronsky, trinkst du auch?« fragte Petrizky und stand auf.

Er ging zur Tür der Scheidewand, erhob den Arm und begann auf französisch zu singen: »Es war ein König in Thule! Wronsky, trinkst du mit?«

»Packe dich!« sagte dieser, indem er den Rock anzog, den sein Diener bereithielt.

»Wohin?« fragte ihn Jaschwin. »Da ist auch dein Wagen!«

»In den Stall, und dann muss ich noch zu Bransky wegen der Pferde.«

Wronsky hatte wirklich versprochen, Bransky zu besuchen, welcher zehn Werst von Peterhof entfernt wohnte, um ihm Geld für die Pferde zu bringen. Aber seine Kameraden begriffen sogleich, dass er noch anderswohin wollte.

Petrizky sang weiter, und dabei blinzelte er mit den Augen, als ob er sagen wollte: »Wir wissen schon, was das für ein Bransky ist.«

»Nimm dich in acht, dass du nicht zu spät kommst!« bemerkte Jaschwin.

»Halt!« rief Petrizky. »Dein Bruder hat einen Brief und ein Billett für dich gebracht. Warte, wo ist er doch?«

Wronsky blieb stehen. »Nun, wo ist er?«

»Ja, wo ist er? Das ist die Frage!« sagte Petrizky feierlich, indem er seinen Zeigefinger an die Nase legte. »Warte einmal! Ja, was hilft es, sich zu ärgern? Wenn du vier Flaschen per Mann getrunken hättest, so würdest du auch vergessen haben, wo er liegt! Halt! Jetzt fällt mir's ein!«

Petrizky ging hinter die Scheidewand. »Ja, ja, ja, ich hab's!« Und er wühlte unter der Matratze und zog den Brief heraus. Wronsky nahm den Brief und das Billett. Der Brief war, wie er erwartet hatte, von seiner Mutter und enthielt Vorwürfe darüber, dass er nicht zu ihr kam. Das Billett war von seinem Bruder, der ihm schrieb, er müsse mit ihm sprechen. Wronsky wusste, dass es sich immer um dasselbe handelte.

Was, geht es sie an?‹ dachte er und steckte den Brief zwischen die Knöpfe seines Überrocks, um ihn unterwegs aufmerksamer zu lesen.

»Hier kommen meine Retter!« rief Petrizky, als zwei Offiziere eintraten, denen ein Diener mit einer Schnapsflasche und einem Teller mit Salzgurken voranging. »Jaschwin hat es mir geraten, um mich zu erfrischen.«

»Trink! Trink jedenfalls Branntwein und dann Selterwasser mit viel Zitrone«, sagte Jaschwin, »und dann ein bisschen Champagner – ein Fläschchen ungefähr.«

»Das ist vernünftig! Warte doch, Wronsky, trink mit mir!«

»Nein, jetzt nicht. Adieu, meine Herren!« Er setzte die Mütze auf und verließ lachend das Zimmer.

»Nach dem Pferdestall!« rief er dem Kutscher zu und stieg in den Wagen.

Der provisorische, aus Brettern gezimmerte Pferdestall befand sich in der Nähe des Rennplatzes.

»Wie geht es mit Frou-Frou?« fragte Wronsky den englischen Stallmeister, den er angenommen hatte.

»All right, Sir!« erwiderte der Engländer, der die Laute tief aus seiner Kehle herausholte. »Aber sie ist sehr aufgeregt. Es ist besser, nicht hineinzugehen.«

»Ich muss sie aber doch sehen.«

»Dann gehen wir!« erwiderte der Engländer verdrießlich, ohne den Mund zu öffnen, und ging voran nach dem Stall. Fünf Pferde befanden sich hier, jedes hatte eine eigene Abteilung.

»Bitte, sprechen Sie nicht laut«, sagte der Engländer. »Das Pferd wird unruhig.«

Er öffnete die Tür, und Wronsky trat in die Abteilung zu seinem Pferd hinein.

»Sehen Sie, wie sie aufgeregt ist!« sagte der Engländer.

»Oh, oh«, beruhigte sie Wronsky, indem er den Hals des Tieres streichelte. »Nun, ich rechne auf Sie!« sagte er zu dem Engländer. »Um sechseinhalb Uhr auf dem Platz!« »Alles wird bereit sein! Aber wohin gehen Sie, Mylord?« fragte er plötzlich. Die Anrede »Mylord« gebrauchte er sonst fast niemals.

Verwundert über die Dreistigkeit der Frage erhob Wronsky den Kopf. Er begriff, dass jener die Frage nicht an ihn als Herrn, sondern als Jockey gestellt hatte, und antwortete: »Ich muss zu Bransky! Nach einer Stunde bin ich wieder zu Hause.«

»Wie oft hat man heute diese Frage an mich gerichtet!« sagte er sich und errötete, was bei ihm selten vorkam.

Der Engländer blickte aufmerksam nach ihm, und als ob er wüsste, wohin Wronsky gehen wollte, fügte er hinzu: »Das wichtigste ist, ruhig zu bleiben, Herr, vor einem Wettrennen!«

»All right!« erwiderte Wronsky lachend, sprang auf den Wagen und befahl, nach Peterhof zu fahren.

Bald zog eine Wolke herauf, die schon am Morgen mit Regen gedroht hatte, und ein heftiger Platzregen floss herab.

»Schlimm!« dachte Wronsky, indem er das Dach der Kutsche herabzog. »Es war vorher schon schmutzig, und jetzt wird es ein ganzer Sumpf werden!« Dann nahm er die Briefe von seiner Mutter und seinem Bruder heraus und las sie aufmerksamer.

Es war immer dasselbe. Seine Mutter und sein Bruder fanden es für notwendig, sich in seine Herzensangelegenheiten einzumischen, was seinen Zorn hervorrief, besonders deshalb, weil sie recht hatten. Seine Liebe zu Anna beruhte nicht auf augenblicklicher Laune, die vergeht, ohne Spuren im Leben zurückzulassen, außer angenehmen oder unangenehmen Erinnerungen. Er empfand, wie peinlich ihre und seine Lage und wie drückend die Notwendigkeit war, ihre Liebe zu verbergen, zu lügen und zu täuschen. Ja, früher war sie unglücklich, aber stolz und ruhig gewesen, jetzt aber kann sie nicht mehr ruhig und stolz sein, obgleich sie es nicht zeigt. »Ja, man muss damit ein Ende machen«, beschloss er innerlich, und zum ersten mal wurde er sich dessen klar bewusst, dass es unumgänglich notwendig sei, die falsche Stellung aufzugeben, je schneller, desto besser.

»Wir müssen alles verlassen und uns irgendwo allein mit unserer Liebe verbergen!« sagte er sich. –

Der Platzregen dauerte nicht lange, und als Wronsky in scharfem Trabe ankam, blickte die Sonne wieder hervor, und die Dächer der Landhäuser und die alten Linden zu beiden Seiten der Hauptstraßen standen in feuchtem Glanz.

Er dachte nicht mehr daran, wie dieser Platzregen der Rennbahn bahn schaden müsse, sondern freute sich jetzt nur darüber, dass infolge dieses Regens Anna wahrscheinlich allein zu Hause sein werde, da er wusste, dass Karenin kürzlich aus einem Bad zurückgekehrt war und Petersburg noch nicht mit dem Landaufenthalt vertauscht hatte.

Um weniger Aufsehen zu erregen, ließ Wronsky, wie er immer tat, in einiger Entfernung vom Hause halten und legte die Strecke bis dahin zu Fuß zurück. Er trat nicht durch die Hauptpforte von der Straße ein, sondern durch den Hof.

»Ist der Herr gekommen?« fragte er den Gärtner.

»Nein, aber die gnädige Frau ist zu Hause. Belieben Sie durch den Haupteingang zu gehen, dort wird man Ihnen öffnen.«

»Nein, ich werde durch den Garten gehen.«

Um sie zu überraschen, ging er, seinen Säbel festhaltend, vorsichtig auf dem kleinen, mit Blumen eingefassten Kiesweg hin nach der Gartenterrasse zu.

Wronsky vergaß jetzt die Schwierigkeit seiner Lage, über die er unterwegs nachgesonnen hatte, und dachte nur daran, dass er sie sogleich sehen werde. Schon stieg er die Stufen der Terrasse hinauf, als er sich plötzlich an das erinnerte, was er immer vergaß und was ihre Beziehungen auf peinliche Weise beeinflusste – ihren Sohn, mit seinem fragenden und, wie es ihm schien, feindseligen Blick.

Der Knabe war ihnen mehr als einmal ein Hindernis gewesen. In seiner Gegenwart wagte weder Wronsky noch Anna etwas zu sprechen, was nicht jedermann hören durfte. Sie sprachen vor ihm wie gleichgültige Bekannte. Mit dem Scharfblick eines Kindes sah der Knabe klar, dass sein Vater, seine Gouvernante, die Wärterin – alle Wronsky nicht nur nicht liebten, sondern mit Schrecken und Abscheu ansahen, ohne davon zu sprechen, und dass seine Mutter dagegen sich gegen ihn wie gegen den besten Freund benahm.

Heute war Serescha aber nicht zu Hause. Anna war ganz allein und saß auf der Terrasse in Erwartung der Rückkehr ihres Sohnes, der auf dem Spaziergang vom Regen überrascht worden war. Sie trug ein weißes Kleid mit breiter Stickerei, hielt den Kopf gebeugt und lehnte die Stirn gegen eine Gießkanne, die auf dem Geländer stand und die sie mit ihren weißen, schönen Händen festhielt, an denen die ihm wohlbekannten Ringe glänzten. Wronsky war immer wieder aufs neue entzückt über die Schönheit ihrer ganzen Gestalt, ihres Kopfes, Halses, ihrer Arme, und blieb stehen, um sie zu betrachten. Aber kaum wollte er wieder weiterschreiten, um sich ihr zu nähern, als sie seine Annäherung empfand und ihm ihr glühendes Gesicht zuwandte.

»Was haben Sie? Sie sind nicht gesund!« sagte er französisch. Er wollte auf sie zueilen, besann sich aber, blickte nach der Balkontür und errötete wie immer, wenn er sich daran erinnerte, dass er sich vorsichtig umschauen müsse.

»Nein, ich bin gesund«, sagte sie, erhob sich und drückte seine Hand. »Ich habe dich nicht erwartet.«

»Mein Gott, welche kalten Hände!« sagte er.

»Du hast mich erschreckt«, erwiderte sie, »Ich bin allein und erwarte Serescha vom Spaziergang zurück. Sie werden von dort kommen.«

Obgleich sie sich bemühte, ruhig zu erscheinen, zuckten ihre Lippen.

»Verzeihen Sie mir, dass ich gekommen bin, aber ich konnte es nicht ertragen, Sie auch heute nicht zu sehen.«

»Ich habe nichts zu verzeihen, ich bin so erfreut...«

»Aber Sie sind nicht gesund oder betrübt«, fuhr er fort, ohne ihre Hand loszulassen, indem er sich zu ihr herab bückte. »Woran denken Sie?«

»Immer an dasselbe«, sagte sie mit einem Lächeln.

Sie fragte ihn nach dem Wettrennen, und als er ihre Aufregung bemerkte, bemühte er sich, sie zu zerstreuen und erzählte ihr im einfachen Tone von den Vorbereitungen zum Rennen.

Soll ich's ihm sagen oder nicht?‹ dachte sie, indem sie in seine ruhigen, freundlichen Augen blickte. ›Er ist so glücklich und mit dem Wettrennen so beschäftigt, dass er die ganze Bedeutung dieses Ereignisses für uns nicht richtig auffassen kann.‹

»Aber Sie haben mir nicht gesagt, an was Sie gedacht haben, als ich eintrat«, sagte er, seine Erzählung unterbrechend. »Bitte, sagen Sie es mir jetzt.«

Sie gab keine Antwort, neigte den Kopf und blickte ihn mit ihren glänzenden schwarzen Augen fragend an.

»Ich sehe, es ist etwas vorgefallen! Kann ich einen Augenblick ruhig sein, wenn ich weiß, dass Sie einen Kummer haben, den ich nicht teile? Sagen Sie es mir, ich bitte Sie«, wiederholte er flehend.

Soll ich nicht lieber schweigen?‹ dachte sie.

»Bitte! Bitte!« wiederholte er, ihre Hand ergreifend. »Soll ich's sagen?«

»Ja, ja, ja!«

»Ich bin in guter Hoffnung«, sagte sie leise und langsam.

Das Blatt in ihrer Hand zitterte noch stärker, aber sie wandte ihre Blicke nicht von ihm ab, um zu sehen, wie er dies aufnehmen würde.

Er erbleichte, wollte etwas sagen, stockte, ließ ihre Hand los, und sein Kopf sank herab.

Ja, er hat begriffen‹, dachte sie und drückte ihm dankbar die Hand.

Aber sie täuschte sich darin, wenn sie glaubte, dass er die Bedeutung dieser Nachricht so aufgefasst habe, wie sie als Frau. Mit zehnfacher Kraft empfand er jenes seltsame Gefühl des Abscheus gegen irgend jemand, dabei aber erkannte er, dass jene ihm erwünschte Krisis herannahe, dass es nicht mehr länger möglich sei, dem Ehemann alles zu verbergen. Dabei teilte sich ihre Aufregung ihm physisch mit. Er richtete einen zärtlichen, unterwürfigen Blick auf sie, küsste ihre Hand, stand auf und ging schweigend auf der Terrasse hin und her.

»Ja«, sagte er dann, indem er entschieden auf sie zutrat, »weder ich noch Sie haben unsere Beziehungen als Spielzeug angesehen, jetzt aber ist unser Geschick entschieden. Es ist unabweislich notwendig geworden, ein Ende zu machen.«

»Ein Ende zu machen? Wie das, Alexej?« fragte sie leise. Sie hatte sich jetzt beruhigt, auf ihrer Miene strahlte ein zärtliches Lächeln.

»Du musst deinen Mann verlassen und dein Leben mit dem meinigen vereinigen.«

»Es ist auch so schon vereinigt«, erwiderte sie kaum hörbar.

»Ja, aber nicht vollständig.«

»Aber wie, Alexej? Belehre mich doch, wie?« sagte sie mit traurigem Spott über die Trostlosigkeit ihrer Lage. »Gibt es denn einen Ausweg? Bin ich denn nicht die Frau meines Mannes?«

»Aus jeder Lage gibt es einen Ausweg, man muss nur einen Entschluss fassen«, sagte er. »Alles ist besser als diese Lage, in der wir uns befinden. Ich sehe, wie du dich um alles quälst, um die Welt, deinen Sohn und deinen Mann!«

»Ach, nicht um meinen Mann«, sagte sie spöttisch. »An ihn denke ich nicht.«

»Das ist nicht so, ich kenne dich, du quälst dich auch um ihn.«

»Er weiß ja auch nichts«, sagte sie, und plötzlich erschien

eine tiefe Röte auf ihrem Gesicht, ihre Wangen, Stirn und Hals erglühten, und Tränen der Scham traten in ihre Augen. – »Sprechen wir nicht von ihm.«

Schon mehrmals hatte Wronsky versucht, sie zum klaren, Bewusstsein ihrer Lage zu bringen. Heute war er entschlossen, alles zu sagen.

»Mag er es wissen oder nicht«, sagte Wronsky in seinem gewöhnlichen festen und ruhigen Ton, »das geht uns nichts an. Wir können nicht .... Sie können nicht in dieser Lage bleiben, besonders jetzt ....«

»Was soll ich tun?« fragte sie mit demselben leichten Spott. Sie hatte sich bisher immer gefürchtet, dass er ihre Nachricht leicht nehmen werde, nun war sie aber betrübt, dass daraus die Notwendigkeit folgte, etwas zu unternehmen.

»Ihm alles mitteilen und ihn verlassen!«

»Sehr gut. Angenommen, ich tue das, wissen Sie, was daraus folgen wird? Ich werde Ihnen alles vorher sagen.« – Ein böser Glanz erschien in ihren Augen. – »Ah, Sie lieben einen anderen? Und haben mit ihm ein strafbares Verhältnis angeknüpft?« Sie ahmte ihrem Mann nach und legte einen besonderen Nachdruck auf das Wort strafbar. »Ich habe Ihnen vorher gesagt, welche Folgen dies in Beziehung auf Religion, Lebensstellung und Familie haben wird. Sie haben nicht auf mich gehört, jetzt aber kann ich keinen Schimpf auf meinen Namen kommen lassen.« – ›Und auf meinen Sohn‹, wollte sie hinzufügen, aber es war ihr unmöglich, über ihren Sohn zu scherzen. »Er wird überhaupt in seiner souveränen Weise klar und deutlich sagen, er könne mich nicht freigeben, aber er werde Maßregeln ergreifen, dem Skandal ein Ende zu machen, und er wird ruhig und pünktlich tun, was er sagt. So wird's kommen. Karenin ist kein Mensch, sondern eine Maschine. Und eine boshafte Maschine, wenn er erzürnt wird«, fügte sie hinzu.

»Aber, Anna«, sagte Wronsky in überzeugendem, weichem Ton, »es ist in jedem Falle notwendig, ihm alles zu sagen, und dann werden wir ja sehen, was er unternimmt. Lass uns fliehen!«

»Wie? Fliehen?«

»Warum nicht? Ich sehe keine Möglichkeit, so weiterzuleben, und ich sehe auch, dass du leidest!«

»Ja, fliehen und Ihre Geliebte werden«, sägte sie zornig.

»Anna!« rief er in vorwurfsvollem, zärtlichem Ton.

»Ja, Ihre Geliebte werden und mich selbst und alles zugrunde richten!« Sie wollte wieder sagen »meinen Sohn«, aber sie vermochte dieses Wort nicht auszusprechen. Wronsky konnte nicht begreifen, wie sie, diese starke, ehrliche Natur, diese falsche Situation ertragen konnte, ohne einen Ausweg daraus zu suchen. Aber er erriet nicht, dass die hauptsächlichste Veranlassung jenes Wörtchen »Sohn« war, das sie nicht aussprechen konnte. Wenn sie an ihren Sohn dachte, an sein zukünftiges Verhältnis zu der Mutter, die seinen Vater verlassen, packte sie großes Entsetzen über das, was sie getan hatte.

»Ich bitte dich, ich flehe dich an«, sagte sie plötzlich mit ganz anderem, innigem und zärtlichem Ton, indem sie seine Hand ergriff, »niemals davon mit mir zu sprechen.«

»Aber Anna...«

»Niemals! Ich kenne die ganze Niedrigkeit und Entsetzlichkeit meiner Lage, aber es ist nicht so leicht, sich zu entschließen, wie du glaubst. Sprich niemals wieder darüber mit mir! Versprichst du es?...«

»Ich verspreche alles, aber ich kann nicht ruhig sein, besonders nach dem, was du gesagt hast! Ich finde keine Ruhe, wenn du nicht ruhig sein kannst.«

»Ich?« erwiderte sie. »Ja, ich bin zuweilen tief betrübt, aber das wird vorübergehen, wenn du darüber nie mehr mit mir sprechen wirst!«

»Das verstehe ich nicht...«

»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, »wie schwer es deiner ehrlichen Natur fällt, sich zu verstellen, und bedauere dich deshalb. Ich denke oft daran, wie du für mich deine Lebensaussichten zerstört hast.«

»Ich dachte soeben dasselbe«, sagte er. »Wie du mir alles geopfert hast. Ich kann es mir nicht verzeihen, dass du unglücklich bist.«

»Ich unglücklich?« fragte sie, indem sie ihm näher trat und ihn mit dem entzückten Lächeln der Liebe anblickte. »Ich bin wie ein Hungriger, den man an eine reichbesetzte Tafel führt, vielleicht friert er und hat zerrissene Kleider und schämt sich, aber er ist nicht unglücklich. Und ich sollte unglücklich sein? Nein, siehst du, mein Glück...«

Sie hörte die Stimme ihres Sohnes, der näher kam, über- schaute mit einem raschen Blick die Terrasse und erhob sich plötzlich. In ihren Augen leuchtete das ihm bekannte Feuer. Mit einer raschen Bewegung erhob sie ihre schönen, mit Ringen geschmückten Hände, ergriff seinen Kopf, sah ihm lange in die Augen und näherte seinem Gesicht ihre geöffneten, lachenden Lippen, Dann küsste sie hastig seinen Mund und beide Augen und stieß ihn sanft zurück. Sie wollte gehen, aber er hielt sie zurück.

»Wann?« fragte er flüsternd.

»Heute, in einer Stunde!« erwiderte sie. Dann seufzte sie und ging mit raschen Schritten ihrem Sohn entgegen.

Serescha war vom Regen im großen Garten überfallen worden und hatte sich mit seiner Wärterin in eine Laube geflüchtet.

»Nun, auf Wiedersehen!« sagte sie zu Wronsky, »Es ist jetzt Zeit, zum Rennen zu fahren. Betsy will mich abholen.«

Als Wronsky auf der Terrasse nach seiner Uhr sah, war er so erregt, dass er die Zeiger und das Zifferblatt gedankenlos ansah, ohne die Zeit festzustellen. Er stieg in die Kutsche und befahl, zu Bransky zu fahren. Er hatte schon sechs oder sieben Werst zurückgelegt, als er aus seinen tiefen Gedanken erwachte und begriff, dass er sich verspätet hatte, denn er sah, dass es schon halb sechs Uhr war. An diesem Tage sollten mehrere Wettrennen stattfinden. Das Wettrennen der kaiserlichen Leibwache, dann ein Offiziersrennen, ein anderes von vier Werst Länge und dann das Rennen, an dem er selbst teilnehmen wollte. Die Verspätung ließ sich wohl noch einholen, aber wenn er zu Bransky fuhr, war es kaum möglich. Er konnte frühestens eintreffen, wenn der ganze Hof schon versammelt war, und das ging nicht an. Aber er hatte Bransky sein Wort gegeben, ihn zu besuchen, und deshalb beschloss er, weiterzufahren. Bei Bransky hielt er sich nur fünf Minuten auf, und dann ging es im Galopp zurück. Die rasche Fahrt beruhigte ihn, er dachte jetzt mit freudiger Aufregung nur an das Wettrennen.

In seiner Wohnung war niemand mehr als sein Diener, der ihn erwartete. Während er sich umkleidete, wurde ihm gemeldet, dass schon das zweite Wettrennen begonnen habe, und dass viele Herren nach ihm gefragt hätten. Wronsky vollendete ohne Übereilung seine Toilette und fuhr nach dem Stall. Von dort erblickte er ein Heer von Equipagen, Fußgängern und Soldaten, die den Hippodrom umgaben und die überfüllten Tribünen. Er hörte ein Glockenzeichen. Wahrscheinlich begann schon das zweite Rennen. Bei dem Pferdestall begegnete er dem weißfüßigen braunen »Gladiator« Machotins.

»Wo ist Cord?« fragte Wronsky den Stallmeister.

»Im Stall. Man sattelt.« Frou-Frou war vollständig gesattelt, man wollte sie eben herausführen.

»Bin ich nicht zu spät gekommen?«

»All right! All right!« erwiderte Cord. »Regen Sie sich nicht auf!«

Wronsky warf noch einen Blick auf die entzückenden Formen seines Lieblingspferdes, das mit allen Muskeln zitterte, und verließ den Stall. Es war der günstigste Augenblick, um ohne Aufsehen an den Tribünen vorüberzukommen. Das zweite Rennen ging eben zu Ende.

Wronsky trat in dem Augenblick in die Gruppe, als die Glocke das Ende des zweiten Rennens verkündete. Absichtlich vermied er die elegante Welt. Er erfuhr, dass auch Anna und Betsy da seien, sowie die Frau seines Bruders, und unterließ es absichtlich, sich ihnen zu nähern. Fortwährend aber wurde er von Bekannten angehalten und gefragt, warum er sich verspätet habe.

Während die Sieger zur Preisverteilung berufen wurden und alle sich nach dieser Stelle wandten, kam Wronskys Bruder Alexander auf ihn zu. Er war von mittlerem Wuchs, aber hübscher als sein Bruder, trotz seiner roten Nase und seinem durch das Trinken geröteten Gesicht. Er war Oberst und trug die Achselbänder der Flügeladjutanten.

»Hast du meinen Brief erhalten?« fragte er. »Man trifft dich niemals zu Hause.« Trotz seines stürmischen Lebens war er doch ein vollkommener Hofmann. Er nahm eine lächelnde Miene an, als ob er mit seinem Bruder etwas Scherzhaftes bespräche.

»Ja, ich habe ihn erhalten und begreife nicht, was du dich darum kümmerst!« sagte Alexis. »Es gibt Dinge, über die nur diejenigen zu urteilen haben, die sie angehen, und die Sache, mit der du dich so sehr beschäftigst, ist solcher Art.«

»Ja, aber dann gibt man den Dienst auf! Man...«

»Ich bitte dich nur, dich nicht einzumischen, weiter nichts!«

Das finstere Gesicht Wronskys erbleichte, und seine Knie zitterten, was bei ihm selten war. Er geriet nicht leicht in Zorn, aber wenn seine Knie zitterten, war er gefährlich. Alexander Wronsky wusste das und lächelte heiter. »Ich wollte dir nur einen Brief von Mama übergeben, antworte ihr und rege dich jetzt nicht auf vor dem Rennen! Bonne chance!«

Darauf wurde Wronsky noch von anderen Bekannten aufgehalten.

»Du willst deine Freunde nicht kennen? Guten Tag, mon cher!« sagte Oblonsky. »Gestern Abend bin ich gekommen. Ich freue mich sehr, Zeuge deines Triumphs zu sein. Wann kann ich dich treffen?«

»Komm morgen ins Offizierskasino!« sagte Wronsky, drückte ihm die Hand und ging nach der Mitte des Platzes, wohin schon die Pferde zu dem großen Hindernisrennen geführt wurden. Die Pferde vom letzten Wettrennen wurden schweißbedeckt hinausgeführt, und einer nach dem anderen erschienen die Renner für das neue Wettrennen. Frou-Frou schritt elastisch, wie auf Federn herein, nicht weit von ihr nahm man Gladiator die Decken ab. Seine kräftigen, entzückenden, vollkommen regelmäßigen Formen erweckten Wronskys Bewunderung. Als er zu seinem Pferde gehen wollte, wurde er nochmals: von einem Bekannten angehalten.

»Dort ist Karenin!« sagte dieser. »Er sucht seine Frau, die sich mitten auf der Tribüne befindet. Haben Sie sie nicht gesehen?«

»Nein«, erwiderte Wronsky, und ohne sich nach der Tribüne umzusehen, trat er zu seinem Pferde. Die Teilnehmer wurden zur Abgangsstelle gerufen, um die Nummern zu ziehen. Siebzehn Offiziere sammelten sich mit ernsten, zum Teil bleichen Gesichtern und zogen Nummern. Wronsky erhielt Nummer sieben. Dann hörte man den Ruf: »Aufsitzen!« Cord hielt die Zügel des Pferdes. Frou-Frou zitterte noch immer wie im Fieber. Ihre glänzenden Augen richteten sich auf Wronsky, als er näher trat.

»Steigen Sie auf, dann sind Sie, weniger aufgeregt!«

Wronsky blickte sich zum letzten mal nach seinen Rivalen um, die sich schon nach dem Abgangspunkt begaben. Er wusste, dass er sie während des Rennens nicht mehr sehen werde.

Galizin, einer der gefährlichsten Rivalen, drehte sich um seinen braunen Hengst, der ihn nicht aufsitzen ließ, ein kleiner Leibhusar mit enger Reithose ritt Galopp, er saß gebückt wie ein Kater auf dem Pferd. Fürst Kusowlew saß bleich auf seiner Vollblutstute. Wronsky und alle seine Kameraden kannten Kusowlew und seine hervorragendsten Eigenschaften, schwache Nerven und große Eitelkeit. Sie wussten, dass er sich fürchtete, ein gewöhnliches Dienstpferd zu reiten, heute aber, eben deshalb, weil es gefährlich war, weil manche Leute den Hals brechen und bei jedem Hindernis ein Arzt, ein Lazarettgehilfe mit dem roten Kreuz und barmherzige Schwestern standen, ebendeshalb entschloss er sich, mit zu rennen.

»Übereilen Sie sich nicht!« sagte Cord. »Und denken Sie daran: bei einem Hindernis muss man das Pferd laufen lassen, wie es will.«

»Gut, gut«, sagte Wronsky. Und ehe das Pferd eine Bewegung machen konnte, stand Wronsky schon in den Steigbügeln, ließ sich leicht und fest in den Sattel nieder und ordnete mit seiner gewohnten Bewegung die Zügel. Cord ließ seine Hand sinken. Frou-Frou streckte den langen Hals vor, als ob sie nicht wüsste, mit welchem Fuß sie auftreten sollte, und wiegte ihren Reiter, indem sie mit elastischem Schritt sich vorbewegte. Cord folgte mit großen Schritten. Das aufgeregte Pferd zog bald am rechten, bald am linken Zügel und bemühte sich, seinen Reiter zu täuschen. Vergebens suchte Wronsky es durch die Stimme und durch die Hand zu beruhigen und näherte sich dem Abgangspunkt.

Die Rennbahn bildete eine große Ellipse. Es waren neun Hindernisse zu nehmen: Ein Fluss, – eine Barriere, über einen Meter hoch – dem Pavillon gegenüber, – ein trockener Graben, – ein mit Wasser gefüllter Graben, – ein steiler Abhang, – eine irländische Bank, das gefährlichste Hindernis, bestehend aus einem Wall, der mit Hecken belegt war, hinter denen noch ein Graben lag, der dem Pferd nicht sichtbar war, so dass das Pferd beide Hindernisse überspringen musste – dann noch zwei mit Wasser gefüllte und noch ein trockener Graben, und darauf endigte die Bahn wieder vor dem Pavillon. Die Reiter stellten sich in Linie auf, aber man musste dreimal beginnen, bis ein richtiger Start erfolgte. Der Oberst Sestrin, der die Leitung hatte, wurde schon zornig; als er endlich zum vierten mal rief: »Pascholl!« eilten die Reiter davon.

Alle Augen, alle Gläser waren auf die bunte Gruppe der Reiter gerichtet.

»Es geht los! Da sind sie!« hörte man von allen Seiten. Im ersten Augenblick hielt sich die Gruppe der Reiter beisammen. Bald aber sah man, wie sie sich auflöste. Die stark erregte Frou-Frou verlor den ersten Augenblick, und mehrere Pferde kamen ihr zuvor, aber noch vor dem Graben überholte Wronsky mit Leichtigkeit drei andere, und nur noch Gladiator blieb vor ihm und noch weiter vorn die entzückende Diana mit dem halbtoten Kusowlew. Im ersten Augenblick hatte Wronsky weder über sich, noch über das Pferd die Herrschaft erlangt, bis zum ersten Hindernis vermochte er die Bewegungen des Pferdes nicht zu leiten.

Gladiator und Diana nahmen das Hindernis zu gleicher Zeit und erhoben sich jenseits des Grabens. Unbemerkt, wie auf Flügeln, folgte ihnen Frou-Frou. Aber in dem Augenblick, als Wronsky sich in der Luft fühlte, sah er plötzlich, fast unter seinen Füßen, Kusowlew, der mit Diana auf der anderen Seite des Flusses lag. Kusowlew hatte die Zügel nach dem Sprung losgelassen, und das Pferd hatte sich mit ihm überschlagen. Diese Einzelheit erfuhr Wronsky erst später, jetzt aber sah er nur, dass gerade da, wo Frou-Frou ihre Vorderfüße aufsetzen sollte, Dianas Kopf lag. Aber Frou-Frou machte im Sprung eine Bewegung mit dem Rücken und den Füßen wie eine fallende Katze und sprang über das Pferd hinweg.

Ausgezeichnet!‹ dachte Wronsky.

Nach diesem Hindernis hatte Wronsky die volle Herrschaft erlangt und hielt sein Pferd zurück, in der Absicht, die große Barriere hinter Machotin zu nehmen und erst auf dem folgenden freien Feld zu überholen. Die große Barriere stand gerade vor dem kaiserlichen Zelt. Der Kaiser, der ganze Hof und eine große Menge blickten nach ihnen – nach ihm und auf Machotin, welcher um eine Pferdelänge voraus war, als sie sich der Barriere näherten. Wronsky fühlte, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren, aber er sah nichts als die Ohren und den Hals seines Pferdes, die Kruppe und die weißen Füße Gladiators, der rasch vor ihm dahineilte, immer in derselben Entfernung. Gladiator erhob sich, nahm das Hindernis, ohne anzustoßen und verschwand vor den Augen Wronskys.

»Bravo!« rief eine Stimme. In diesem Augenblick erst erschienen vor Wronskys Augen die Bretter der Barriere. Ohne die geringste Veränderung im Lauf übersprang sie das Pferd. Die Bretter verschwanden, und nur hinten schlug etwas an. Frou-Frou, aufgeregt durch den vor ihr laufenden Gladiator, war zu früh gesprungen und hatte mit dem Hinterhuf an die Barriere angeschlagen, aber ihr Lauf blieb derselbe, und Wronsky bemerkte, dass er sich noch in derselben Entfernung von Gladiator befand. Wieder sah er vor sich diese Kruppe und den kurzen Schweif und wieder dieselben, rasch enteilenden, weißen Füße. Während Wronsky daran dachte, dass er jetzt Machotin überholen müsse, schien Frou-Frou denselben Gedanken zu hegen, und ohne jede Aufmunterung beschleunigte sie ihren Lauf bedeutend und näherte sich Machotin von der vorteilhaftesten Seite, nämlich der inneren. Aber Machotin gab die innere Seite nicht frei. Doch kaum dachte Wronsky daran, er werde ihn auf der äußeren Seite überholen, als Frou-Frou ihre Richtung änderte und ihn eben auf diese Weise umging. Die schweißbedeckte Stirn von Frou-Frou holte die Kruppe Gladiators ein, einige Sätze machten sie in gleicher Höhe, aber vor dem Hindernis, dem sie sich jetzt näherten, zog Wronsky die Zügel und überholte Machotin auf der Böschung selbst. Er sah im Fluge dessen Gesicht, das mit Staub bedeckt war. Es schien ihm sogar, dass er lächelte. Wronsky überholte Machotin, aber er fühlte ihn sogleich hinter sich und hörte unaufhörlich wieder den vollen, gleichmäßigen Hufschlag und die noch ganz frischen Atemzüge Gladiators. Die folgenden zwei Hindernisse, ein Graben und eine Barriere, wurden leicht genommen, aber Gladiator näherte sich. Wronsky trieb sein Pferd an und bemerkte mit Freuden, dass es mit Leichtigkeit seinen Lauf beschleunigte und die Hufschläge Gladiators zurückblieben.

Wronsky hatte die Führung übernommen. Das war es, was er wünschte und jetzt glaubte er des Sieges sicher zu sein. Seine Aufregung, seine Freude und Zärtlichkeit für Frou-Frou stiegen immer höher. Er wollte sich umsehen, aber er wagte es nicht und bemühte sich, seine Ruhe wiederzugewinnen und das Pferd zu mäßigen, damit es noch einen gleichen Vorrat von Kraft behalte, wie er Gladiator noch übriggeblieben war. Es blieb noch das schwierigste Hindernis. Wenn es ihm gelang, dieses vor den anderen zu nehmen, so musste er als erster zum Ziel kommen. Er näherte sich der irländischen Bank. Ebenso wie Frou-Frou hatte er es schon von weitem bemerkt, und er sowohl als das Pferd hatten einen Augenblick des Zweifels. Er bemerkte die Unentschlossenheit an den Ohren des Pferdes und erhob die Reitpeitsche. Sogleich aber bedachte er, dass sein Zweifel unbegründet war: sein Pferd wusste, was nötig war. Es vermehrte seine Schnelligkeit und ganz so, wie er gedacht hatte, stieß es mit mächtigem Aufsprung von der Erde ab und flog weit über den Graben weg, und in derselben Geschwindigkeit rannte Frou-Frou ohne Anstrengung weiter. »Bravo, Wronsky!« hörte er aus einer Gruppe. Er wusste, dass es seine Freunde vom Regiment waren, die bei diesem Hindernis standen, und erkannte die Stimme Jaschwins, obgleich er ihn nicht sah.

»Ach, du mein Engel!« rief er Frou-Frou zu, dann hörte er auf das, was hinter ihm vorging. ›Er ist herüber!‹ dachte er, als er hinter sich Gladiators Hufschläge hörte. Es blieb noch ein einziger, mit Wasser gefüllter Graben von kaum zwei Meter Breite. Wronsky achtete gar nicht darauf, aber da er wünschte, mit einem großen Vorsprung vorzukommen, so begann er, die Zügel kreisförmig zu bewegen. Er fühlte, dass das Pferd mit dem letzten Rest von Kraft arbeitete, Hals und Stirne waren mit Schweiß bedeckt, der Atem wurde scharf und kurz, aber er wusste, dass der Kraftvorrat noch ausreichte. Nur daran, dass er sich näher der Erde befand, und an der besonderen Weichheit der Bewegung bemerkte Wronsky, wie sehr sein Pferd den Lauf beschleunigt hatte. Es flog wie ein Vogel über den Graben weg, als ob es ihn nicht bemerkte, aber in diesem Augenblick fühlte Wronsky zu seinem Entsetzen, dass er der Bewegung des Pferdes nicht gefolgt war. Er hatte, ohne zu begreifen wie, eine unverzeihlich ungeschickte Bewegung gemacht und hatte den Sitz im Sattel verloren. Plötzlich änderte sich seine Lage, und er begriff, dass etwas Schreckliches vorging. Die weißen Füße des roten Hengstes eilten in raschem Lauf vorüber. Wronsky berührte mit einem Fuß die Erde, und sein Pferd fiel auf diesen Fuß. Kaum war es Frou-Frou gelungen, ihren Fuß freizumachen, als sie mit schwachem Stöhnen auf die Erde fiel und vergebliche Anstrengungen mit ihrem Hals machte, um sich zu erheben. Die ungeschickte Bewegung Wronskys hatte dem Pferde das Rückgrat gebrochen. Das begriff er aber erst viel später, jetzt sah er nur, wie Machotin sich rasch entfernte und er auf der schmutzigen, unbeweglichen Erde stand, auf der Frou-Frou schwer atmend vor ihm lag, von wo sie, den Kopf wendend, ihn mit ihren entzückenden Augen ansah. Wronsky begriff noch immer nicht, was vorgegangen war und zog das Pferd am Zügel. Wieder krümmte es sich wie ein Fisch und suchte, sich auf den Vorderfüßen aufzurichten. Aber es hatte nicht die Kraft, sich zu erheben und fiel wieder auf die Seite. In wilder Leidenschaft, mit bleichem Gesicht und zuckenden Mienen stieß Wronsky das Pferd mit dem Fuß in den Bauch und zog wieder am Zügel. Aber es rührte sich nicht mehr und sah nur seinen Herrn mit sprechenden Blicken an. »Ach, ach! Was habe ich getan!« stöhnte Wronsky und fasste mit beiden Händen nach dem Kopf. Das Wettrennen war verloren durch seine Schuld. Es war schimpflich, unverzeihlich! »Und dieses unglückliche Pferd! Ach, was habe ich getan!«

Zuschauer, Ärzte und Offiziere seines Regiments liefen auf ihn zu. Zu seinem Unglück bemerkte er, dass er unverletzt war. Das Pferd hatte den Rücken gebrochen und musste erschossen werden. Wronsky vermochte nicht, auf die Fragen zu antworten und mit jemand zu reden. Er wandte sich ab, und ohne seine Mütze, die zur Erde gefallen war, aufzuheben, verließ er den Hippodrom, ohne zu wissen, wohin er gehen sollte. Zum ersten mal in seinem Leben empfand er das Gefühl schweren, selbstverschuldeten Unglücks.

Jaschwin holte ihn mit seiner Mütze ein, führte ihn nach Hause, und erst nach einer halben Stünde kam Wronsky zu sich. Aber noch lange blieb dieses Wettrennen für ihn eine schwere, peinliche Erinnerung.

Äußerlich blieb das Verhältnis Karenins zu seiner Frau ganz unverändert. Der einzige Unterschied bestand darin, dass er noch beschäftigter war als früher. Wie jedes Jähr reiste er auch in diesem Frühling in ein ausländisches Bad, um sich zu erholen, und wie gewöhnlich war er im Juli mit neuer Energie zu seiner Arbeit zurückgekehrt. Wie in den früheren Jahren hatte seine Frau ein Landhaus in der Nähe von Petersburg bezogen, während er in der Stadt blieb.

Seit jenem Gespräch nach der Abendgesellschaft bei der Fürstin Twerskaja hatte er mit Anna nichts mehr von seiner Eifersucht gesprochen, und sein gewöhnlicher, sarkastischer Ton war ihm sehr gelegen für seinen jetzigen Verkehr mit seiner Frau.

»Du wolltest dich nicht mit mir aussprechen; jetzt findest du mich nicht mehr bereit dazu, auch wenn du mich darum bittest. Um so schlimmer für dich«, schien er innerlich zu sagen. Er begriff nicht, wie unsinnig ein solches Verhalten gegen seine Frau war, Weil er sich zu sehr davor fürchtete, seine gegenwärtige Lage zu begreifen, und in seinem Herzen hatte er jenes Fach, welches seine milderen Gefühle für die Familie, für die Frau und seinen Sohn enthielt, längst verschlossen. Er zeigte gegen seinen Sohn ebensoviel Kälte wie gegen seine Frau. Er bemühte sich, jeden Gedanken an das Benehmen und die Gefühle seiner Frau zu verscheuchen, was ihm wirklich auch endlich gelang.

Das Landhaus Karenins lag in Peterhof, wo gewöhnlich auch die Gräfin Lydia Iwanowna wohnte, die gute Nachbarschaft und beständigen Verkehr mit Anna unterhielt. In diesem Jahr aber gab Lydia Iwanowna ihre Datsche in Peterhof auf, besuchte Anna nicht ein einziges Mal und ließ Karenin verstehen, dass der Verkehr Annas mit Betsy und Wronsky unpassend sei.

Karenin unterbrach sie mit strenger Miene und erklärte, seine Frau stehe über jedem Verdacht; und seit dieser Zeit mied er die Gräfin Lydia Iwanowna. Er wollte nichts sehen und darum sah er nicht, dass schon viele seine Frau schief anblickten; er wollte nicht begreifen und darum begriff er auch nicht, warum seine Frau darauf bestand, nach Zarskoje-Sselo überzusiedeln, wo Betsy wohnte, und in dessen Nähe Wronskys Regiment im Lager stand. In der Tiefe seiner Seele war er überzeugt davon, dass er ein betrogener Ehemann sei, obgleich er dafür nicht nur keine Beweise, sondern auch keine Verdachtsgründe hatte. Er war tief unglücklich darüber.

Wie oft während seiner achtjährigen, glücklichen Ehe hatte er beim Anblick untreuer Frauen und betrogener Ehemänner sich selbst gesagt: ›Wie kann man es so weit kommen lassen? Wie ist es möglich, dass man einer solchen unerträglichen Lage nicht ein Ende macht?‹ Jetzt aber, als das Unglück auf sein Haupt gefallen war, dachte er nicht daran, dieser Situation ein Ende zu machen, sondern wollte sie gar nicht anerkennen, ebendeshalb, weil sie zu schrecklich, zu unerträglich war.

Seit seiner Rückkehr aus dem Ausland war Karenin nur zweimal auf der Datsche gewesen. Das eine Mal hatte er dort gespeist, das andere Mal hatte er eine Abendgesellschaft gegeben; aber nicht ein einziges Mal war er, wie in früheren Jahren, über Nacht geblieben.

Am Tage des Wettrennens war er sehr beschäftigt, aber schon am Morgen, als er die Einteilung für diesen Tag machte, beschloss er, nach dem frühen Mittagessen auf die Datsche zu fahren und von dort zum Wettrennen. Da der ganze Hof daran teilnahm, war es ihm sehr wünschenswert, sich dort zu zeigen. Seine Frau wollte er nur deshalb im Vorüberfahren besuchen, weil er beschlossen hatte, mit ihr einmal wöchentlich des äußeren Scheines wegen zusammen zu sein. Anna stand in ihrem Zimmer vor dem Spiegel, um mit Hilfe Annuschkas eine letzte Schleife an ihrem Kleid anzubringen, als sie das Geräusch von Wagenrädern auf dem Kiesweg vor der Haustür vernahm.

Das kann nicht Betsy sein, denn es ist noch zu früh‹, dachte sie. Als sie durchs Fenster sah, erblickte sie den Wagen und in demselben den schwarzen Hut mit den ihr so wohlbekannten Ohren ihres Mannes.

Sie erschrak bei dem Gedanken daran, welche Folgen dieser Besuch haben konnte. Sogleich aber gab sie sich dem ihr schon vertrauten Geist der Lüge und des Truges hin und eilte, ohne sich einen Augenblick zu bedenken, mit heiter strahlendem Gesicht ihm entgegen.

»Ach, wie das liebenswürdig ist«, sagte sie, und reichte ihrem Mann die Hand.

»Ich hoffe, du bleibst über Nacht?« war das erste Wort, das ihr der Geist des Truges einflüsterte. »Jetzt aber wollen wir miteinander zum Wettrennen fahren! Es ist nur schade, dass ich mich mit Betsy verabredet habe. Sie wird mich abholen.«

Karenins Miene verfinsterte sich bei dem Namen Betsy.

»Oh, ich will die Unzertrennlichen nicht trennen«, sagte er in seinem gewöhnlichen spöttischen Ton.

»Willst du Tee?« fragte Anna.

Sie klingelte.

»Bringen Sie Tee, und sagen Sie Serescha, der Herr sei gekommen! Nun, wie geht's mit deiner Gesundheit?«

Sie setzte sich neben ihren Mann.

»Du siehst nicht sehr gesund aus«, sagte sie, fragte dann weiter nach seiner Gesundheit und seiner Beschäftigung und redete ihm zu, sich Erholung zu gönnen und zu ihr aufs Land zu ziehen.

Alles das sagte sie in heiterem Tone, etwas hastig und mit besonderem Glanz in ihren Augen. Aber Karenin legte diesem Ton jetzt durchaus keine Bedeutung bei; er hörte nur ihre Worte und nahm sie nur in dem einfachen Sinn auf, den sie hatten. Er antwortete ihr ebenso einfach, obgleich spöttisch. In diesem ganzen Gespräch war nichts Besonderes, aber niemals später konnte Anna ohne das Gefühl peinlicher Beschämung sich dieser kurzen Szene erinnern. t

Serescha trat ein in Begleitung seiner Gouvernante. Karenin hätte den schüchternen Blick bemerken müssen, den Serescha erst auf seinen Vater und dann auf seine Mutter richtete – aber er wollte nichts sehen und sah auch nichts.

»Ah, der junge Mann! Wirklich, er ist schon ein ganz junger Mann geworden!« Und er reichte Serescha die Hand.

Auch früher war Serescha seinem Vater gegenüber schüchtern gewesen. Jetzt aber, wo Karenin ihn »junger Mann« nannte und er mit dem Rätsel beschäftigt war, ob Wronsky ein Freund oder ein Feind sei, fühlte er sich seinem Vater entfremdet. Hilfesuchend blickte er nach seiner Mutter, nur bei der Mutter fühlte er sich glücklich. Und Anna, die beim Eintritt ihres Sohnes errötet war, da sie bemerkte, wie unbehaglich Serescha sich fühlte, sprang rasch auf, küsste ihn und führte ihn auf die Terrasse, von wo sie sogleich zurückkehrte.

»Aber es ist schon Zeit«, sagte sie, auf ihre Uhr blickend. »Wo bleibt nur Betsy?«

»Ja«, sagte Karenin, indem er aufstand und die Hände zusammenlegte. »Ich kam auch, um dir Geld zu bringen. Du wirst es nötig haben, glaube ich.«

»Nein, es ist nicht nötig!... Ja, es ist nötig!« sagte sie, ohne ihn anzublicken, und errötete bis zu den Haarwurzeln. »Ich denke, du wolltest auch zum Wettrennen fahren?«

»Ja«, erwiderte Karenin. »Da kommt auch der Stolz Peterhofs, die Fürstin Twerskaja!« fügte er hinzu, indem er durchs Fenster blickte nach einer eben vorfahrenden englischen Equipage mit einem sehr hohen und kleinen Kutschbock. »Welche Eleganz! Nun, dann werden auch wir fahren.«

Die Fürstin Twerskaja stieg nicht aus. Nur der Lakai sprang herab und ging auf die Haustür zu.

»Ich gehe. Lebe wohl!« sagte Anna und küsste ihren Sohn. Dann näherte sie sich Karenin und streckte ihm die Hand entgegen.

»Es ist sehr liebenswürdig von dir, dass du gekommen bist.«

Karenin küsste ihre Hand.

»Nun also, auf Wiedersehen! Du kommst zum Tee?« Sie ging strahlend und vergnügt, sobald sie aber seinen Blicken entschwunden war, fühlte sie noch die Berührung seiner Lippen auf ihrer Hand und schauderte vor Widerwillen.

Als Karenin beim Wettrennen erschien, saß Anna bereits im Pavillon neben Betsy, wo sich die höchste Gesellschaft versammelt hatte. Schon in der Ferne erkannte sie ihren Mann. An den suchenden Blicken, die er nach dem Damenpavillon richtete, sah sie, dass er sie in dem Meer von Bändern, Federn, Sonnenschirmen und Blumen nicht erkannte, aber absichtlich wollte sie es nicht bemerken.

»Alexej Alexandrowitsch!« rief ihm die Fürstin Betsy zu. »Wahrscheinlich suchen Sie Ihre Frau? Da ist sie!«

Ein kaltes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Hier ist so viel Glanz, dass man die Augen geblendet niederschlagen muss«, sagte er und trat in den Pavillon. Er lächelte Anna zu wie ein Mann, der soeben seine Frau gesprochen hat, und begrüßte die Fürstin und andere Bekannte, jeden in der ihm zukommenden, gemessenen Weise.

Als das große Wettrennen mit Hindernissen begann, bog sie sich vor und wandte keinen Blick von Wronsky ab, der zu seinem Pferd ging und sich in den Sattel hob, und während dieser Zeit hörte sie unaufhörlich die ihr widerliche Stimme ihres Mannes. Sie wurde von Angst um Wronsky gequält, noch mehr als durch die dünne Stimme ihres Mannes mit dem ihr bekannten Tonfall.

Ich bin eine schlechte und verlorene Frau‹, dachte sie, ›aber ich verabscheue Lüge und Verstellung und kann sie nicht ertragen. Sein Element aber ist die Verstellung. Er weiß alles und sieht alles. Was kann er fühlen, wenn er dabei so ruhig sprechen kann? Würde er mich töten, würde er Wronsky töten – ich würde ihn dafür achten können. Aber nein, er verlangt nur Verstellung und äußeren Anstand.‹

In dem Augenblick, als das Zeichen für den Beginn des Wettrennens ertönte, verstummten alle Gespräche. Die Zuschauer erhoben sich und blickten nach dem Fluss. Karenin interessierte sich nicht für das Wettrennen, er überschaute zerstreut und mit müden Augen die Menge. Sein Blick blieb auf Anna haften.

Ihr Gesicht war bleich und ernst, es war leicht zu erkennen, dass sie nichts und niemand sah außer dem einen. Er betrachtete sie, dann wandte er den Blick hastig ab nach anderen Personen. »Auch jene Dame dort und diese da und noch andere – alle sind sehr aufgeregt. Das ist sehr natürlich!« sagte er sich selbst und wollte ihren Anblick vermeiden; aber er musste immer wieder hinschauen.

Bei dem ersten Sturz Kusowlews am Fluss entstand allgemeine Aufregung, aber an dem bleichen, triumphierenden Gesicht Annas sah Karenin deutlich, dass der, nach dem sie blickte, nicht gestürzt war. Als dann Machotin und Wronsky die erste Barriere nahmen und der folgende Offizier an derselben Stelle sich mit seinem Pferde überschlug und tödlich verletzte, entstand ein Gemurmel des Entsetzens im Publikum.

Aber Anna schien dies kaum zu bemerken und nur mit Mühe zu begreifen, von wem man sprach. Immer öfter blickte Karenin nach ihr. Anna war ganz versunken in den Anblick Wronskys, fühlte aber den kalten Blick ihres Mannes.

Sich umwendend, sah sie ihn fragend an. Ihre Miene verfinsterte sich aber, und sogleich kehrte sie sich wieder ab.

»Ach, mir ist alles gleichgültig«, schien ihr Blick zu sagen, dann aber wandte sie sich nicht wieder nach ihm um.

Der Verlauf des Wettrennens war unglücklich, denn mehr als die Hälfte der siebzehn Teilnehmer stürzte und verletzte sich schwer. Gegen das Ende des Wettrennens geriet alles in Aufregung, die noch dadurch vermehrt wurde, dass der Kaiser seine Unzufriedenheit äußerte.

Alle sprachen laut ihre Missbilligung aus, und das Entsetzen wurde allgemein, als Wronsky stürzte, so dass es niemand auffiel, dass Anna laut aufschrie. Dann aber ging in ihrer Miene eine Veränderung vor, die ihre Gefühle preisgab. Sie geriet ganz außer sich, bald wollte sie aufstehen und forteilen, bald wandte sie sich hastig an Betsy.

»Kommen Sie! Kommen Sie!« sagte sie.

Aber Betsy hörte nicht auf sie. Sie hatte sich herabgebeugt und sprach mit einem General, der sich dem Pavillon genähert hatte.

Karenin trat zu Anna und bot ihr höflich den Arm.

»Kommen Sie, wenn es gefällig ist«, sagte er, aber Anna horchte auf das, was der General sagte, ohne ihren Mann zu bemerken. »Wie man sagt, hat er auch ein Bein gebrochen! Es ist wirklich zu toll!«

Anna gab ihrem Mann keine Antwort, erhob das Glas an die Augen und blickte nach der Stelle, wo Wronsky gestürzt war. Aber die Entfernung war so groß, und es hatte sich dort eine so dichte Gruppe gesammelt, dass nichts zu unterscheiden war.

»Nochmals biete ich dir meinen Arm an, wenn du gehen willst«, sagte Karenin, ihren Arm berührend.

Mit Widerwillen zog sie sich von ihm Zurück und erwiderte, ohne ihm ins Gesicht zu sehen: »Nein, nein, lass mich, ich bleibe!« Jetzt sah sie, dass von dort, wo Wronsky gestürzt war, quer durch die Rennbahn ein Offizier auf den Pavillon zueilte. Betsy winkte mit dem Taschentuch. Der Offizier brachte die Nachricht, der Reiter sei unverletzt, aber das Pferd habe den Rücken gebrochen.

Als Anna dies hörte, ließ sie sich plötzlich nieder und bedeckte ihr Gesicht mit dem Fächer. Karenin sah, dass sie weinte und ihr Schluchzen nicht zurückhalten konnte. Er stellte sich so, dass er sie den Zuschauern verdeckte, um ihr Zeit zur Fassung zu lassen.

»Zum drittenmal biete ich Ihnen meinen Arm an«, sagte er nach einiger Zeit. Anna blickte ihn an, ohne zu wissen, was sie sagen sollte. Die Fürstin Betsy kam ihr zu Hilfe.

»Nein, Alexej Alexandrowitsch, ich habe Anna hierhergebracht und versprochen, sie nach Hause zu bringen.«

»Entschuldigen Sie, Fürstin«, sagte er mit höflichem Lächeln, aber mit festem Blick. »Ich sehe, dass Anna nicht ganz wohl ist und wünsche, dass sie mit mir nach Hause fährt.«

Erschrocken blickte sich Anna um. Dann erhob sie sich gehorsam und reichte ihrem Mann den Arm.

»Ich werde zu ihm gehen und Ihnen sagen lassen, was ich erfahren habe«, flüsterte ihr Betsy zu. Während sie den Pavillon verließen, sprach Karenin, wie immer, mit Bekannten, die ihnen begegneten, und Anna musste unbefangen, wie immer, antworten und sprechen, aber wie im Traum ging sie an seiner Seite.

Hat er sich verletzt oder nicht? Ist es wahr? Wird er kommen oder nicht? Werde ich ihn heute sehen?‹ dachte sie.

Schweigend setzten sie sich in den Wagen, der sich aus der Menge der Equipagen herauswand. Ungeachtet alles dessen, was er gesehen hatte, erlaubte sich Karenin kein Urteil über die jetzige Lage seiner Frau. Er hatte nur äußere Anzeichen gesehen. Sie hatte sich auffallend benommen, und er hielt es für seine Pflicht, ihr das zu sagen, aber es fiel ihm schwer.

»Ich muss Ihnen sagen, dass Sie sich heute nicht passend benommen haben«, begann er.

»Inwiefern?« fragte sie laut, indem sie ihm hastig den Kopf zuwandte und ihm gerade in die Augen blickte, aber nicht mehr mit der früheren, verstellten Heiterkeit, sondern mit einem entschlossenen Blick, unter dem sie mit Mühe ihren Schrecken verbarg. »Vergessen Sie nicht«, sagte er, auf das geöffnete Fenster, auf den Kutscher deutend. Dann erhob er sich und zog das Fenster in die Höhe.

»Was fanden Sie unpassend?« fragte sie.

»Jene Verzweiflung beim Sturz eines der Reiter, die Sie nicht zu verbergen verstanden.«

Er wartete, aber sie schwieg und blickte finster vor sich hin.

»Ich habe Sie schon gebeten, sich in der Welt so zu verhalten, dass Sie keinen Anlass zu bösen Nachreden geben. Es gab eine Zeit, wo ich noch von innerlichen Beziehungen zwischen uns sprach. Jetzt aber habe ich darüber nichts mehr zu sagen, sondern nur noch über unsere äußerlichen Beziehungen. Ihr Verhalten war unpassend, und ich wünsche, dass sich das nicht wiederholt.«

Sie hörte nur die Hälfte seiner Worte und dachte in ihrer Angst nur daran, ob es wahr sei, dass Wronsky sich nicht verletzt habe.

Darum lächelte sie mit verstelltem Spott, ohne zu antworten, weil sie seine Worte nur teilweise vernommen hatte. Karenin begann entschiedener zu sprechen, aber als er die Tragweite seiner Worte deutlich begriff, teilte sich ihm der Schrecken mit, den sie empfand. Beim Anblick dieses Lächelns verfiel er in einen sonderbaren Irrtum.

Jetzt, wo die Entdeckung über ihm schwebte, erwartete er nichts mit so lebhaftem Verlangen, als dass sie ihm, wie damals, spöttisch antworten möchte, sein Verdacht sei lächerlich und habe keine Begründung. Aber der Ausdruck ihres schreckensvollen, düsteren Gesichts ließ jetzt keine Täuschung mehr zu.

»Vielleicht habe ich mich geirrt?« sagte er. »In diesem Fall bitte ich um Verzeihung.«

»Nein, Sie haben sich nicht geirrt«, sagte sie langsam, mit einem verzweifelten Blick in sein kaltes Gesicht schauend. »Sie haben sich nicht geirrt. Ich war verzweifelt und konnte nicht anders. Während ich Ihre Worte höre, kann ich nur an ihn denken. Ich liebe ihn und bin seine Geliebte! Ich kann Sie nicht ausstehen! Ich fürchte und verabscheue Sie! ... Machen Sie mit mir, was Sie wollen!«

Sie warf sich weinend in die Ecke des Wagens zurück und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

Karenin starrte unbeweglich vor sich hin. Sein Gesicht nahm plötzlich die feierliche Unbeweglichkeit eines Toten an, und während der ganzen Fahrt bis zur Datsche veränderte sich dieser Ausdruck nicht mehr. Als sie vor dem Hause vorfuhren, wandte er ihr sein Gesicht mit demselben Ausdruck zu.

»Das ist's also! Aber ich verlange die Beobachtung des äußeren Anstandes bis zu der Zeit« – seine Stimme zitterte – »bis ich Maßregeln ergriffen habe, um meine Ehre zu schützen und Ihnen darüber Mitteilung mache.«

Er stieg zuerst aus und half ihr beim Aussteigen. Vor den Augen der Dienstleute drückte er ihr die Hand, setzte sich in den Wagen und fuhr nach Petersburg.

Bald darauf kam ein Lakai von der Fürstin Betsy und brachte Anna ein Briefchen.

»Ich habe mich bei Wronsky nach seiner Gesundheit erkundigen lassen«, schrieb die Fürstin, »und er teilte mir mit, er sei gesund und unverletzt, aber in Verzweiflung.«

Er wird also kommen!‹ dachte Anna. ›Wie gut habe ich daran getan, ihm alles offen zu sagen.‹

Sie blickte, nach der Uhr. Es fehlten noch drei Stunden. Ihr Herz klopfte stärker bei der Erinnerung an ihr letztes Wiedersehen.

Oblonsky reiste nach Petersburg, um jene selbstverständliche, allen Beamten wohlbekannte Pflicht zu erfüllen – im Ministerium sich in Erinnerung zu bringen. Dazu hätte er fast alles Geld von zu Hause mitgenommen, und während er die Zeit heiter und vergnügt zubrachte, war Dolly auf das Land gezogen, um soviel wie möglich Ersparnisse zu machen. Sie fuhr auf das Gut Jerguschowo, das sie als Mitgift erhalten hatte und von dem im Frühjahr der Wald verkauft worden war. Es lag nur fünfzehn Werst entfernt von Pakrowsk, dem Gute Lewins.

Das Herrenhaus in Jerguschowo war seit langer Zeit im Verfall, und schon der alte Fürst hatte sich damit begnügt, den einen Seitenflügel wohnlich herzurichten und etwas zu vergrößern. Vor zwanzig Jahren, zu Dollys Kinderzeit, war dieser Flügel geräumig und bequem eingerichtet, jetzt aber war alles alt und halb verfault.

Als Oblonsky im Frühjahr hierhergereist war, um den Wald zu verkaufen, hatte ihn Dolly gebeten, das Haus zu besichtigen und, wo nötig, ausbessern zu lassen. Oblonsky hatte nach Besichtigung des Hauses die nach seiner Ansicht erforderlichen Anordnungen getroffen. Sosehr sich auch Oblonsky bemühte, sich als zärtlicher, fürsorglicher Gatten und Vater zu zeigen, konnte er sich doch noch immer nicht dareinfinden, dass er Frau und Kinder hatte. Er hatte noch immer die Gewohnheiten eines Junggesellen und ließ sich von diesen leiten. Als er nach Moskau zurückkam, verkündigte er mit Stolz, alles sei bereit, und er rate ihr sehr, dahin zu fahren. Darja Alexandrowna hielt den Landaufenthalt für unumgänglich nötig für die Kinder, besonders für das kleine Töchterchen, das sich nach dem Scharlachfieber nur langsam erholte, und endlich, weil sie den kleinen Demütigungen entgehen wollte, welche die Schulden ihr beständig verursachten. Sie hoffte auch, ihre Schwester Kitty zu bewegen, zu ihr aufs Land zu kommen, die im Sommer aus dem Ausland zurückerwartet wurde. Kitty schrieb aus einem Bad, sie freue sich auf nichts so sehr, als den Sommer mit Dolly in Jerguschowo zuzubringen.

Die erste Zeit des Landaufenthalts brachte für Dolly viele Enttäuschungen. Am Tage nach ihrer Ankunft floss der Regen durch das Dach in den Hausgang und in das Kinderzimmer, für die Dienerschaft war keine Köchin zu finden, von neun Kühen, die im Stall standen, waren mehrere zu alt und die anderen zu jung, wie die Stallmagd sagte; man konnte also weder auf Butter noch auf Milch rechnen. Hühner und Eier gab es auch nicht. Es war auch unmöglich, Waschweiber zu finden, weil alle auf dem Feld beschäftigt waren. Das einzige Pferd war bösartig und ließ sich nicht einspannen; Spazierfahrten würde es also nicht geben. Auf die Bäder musste man gleichfalls verzichten; denn die Viehherden hatten das Ufer niedergetreten. Die Köchin hatte keinen Kessel, das Stubenmädchen kein Plättbrett. Anstatt Ruhe und Erholung zu finden, war Darja in ratloser Verzweiflung. Der Verwalter, ein früherer Wachtmeister, der Oblonskys Wohlgefallen zu gewinnen verstanden hatte, nahm keinen Anteil an Darjas Kummer, sie fand bei ihm weder Rat noch Hilfe. Aber wie in allen alten Familien, fand sich auch eine unbemerkte, aber höchst wichtige, nützliche Person, Maria Philimonowna. Sie beruhigte die Herrin und versicherte ihr, »alles werde sich machen«, und ohne sich aufzuregen oder zu übereilen, machte sie sich an die Arbeit.

Sogleich setzte sie sich mit der Frau des Verwalters in Verbindung und besprach sich mit dem Aufseher und dem Buchhalter über die ganze Sachlage. Bald waren alle Hindernisse geebnet, und nach einer Woche hatte sich wirklich »alles gemacht«.

Man baute sogar eine Badehütte, und Lilly begann zu baden. Für die Herrin begann nun ein einigermaßen erträgliches Landleben. Ihre sechs Kinder ließen ihr aber nicht viel Ruhe; das eine wurde krank, das andere konnte erkranken, dem dritten fehlte irgend etwas, das vierte zeigte Anzeichen eines schrecklichen Charakters und so weiter. Selten, sehr selten kamen kurze Perioden der Ruhe, aber diese Sorge und Unruhe war für Darja Alexandrowna eine Quelle des Glücks.

Gegen Ende Mai, als alles schon mehr oder weniger ins Geleise gebracht war, erhielt sie auf ihre Klagen Antwort von ihrem Mann. Er bat um Verzeihung, dass er nicht an alles gedacht habe, und versprach, sobald als irgend möglich selbst zu kommen. Aber es schien nicht möglich geworden zu sein, und bis Anfang Juni lebte Dolly allein auf dem Gut.

Auch Lewin erhielt von Oblonsky einen Brief aus Petersburg.

»Ich habe einen Brief von Dolly erhalten«, schrieb Oblonsky. »Sie ist in Jerguschowo und kann sich nicht zurechtfinden; Ich bitte dich, besuche sie, und hilf ihr mit deinem Rat, du verstehst ja alles. Dolly wird gewiss höchst erfreut sein, dich zu sehen; sie ist ganz allein, die Arme! Mein Schwiegervater ist mit seiner Familie noch im Ausland.«

Lewin beschloss, sogleich nach Jerguschowo zu fahren.

Umgeben von ihrer kleinen Kinderschar, die mit nassen Köpfen aus dem Bade kam, fuhr Dolly auf das Haus zu, als ihr der Kutscher sagte: »Dort kommt ein Herr, ich glaube, es ist der Gutsherr von Pakrowsk.« Darja blickte die Straße entlang und war angenehm überrascht, die bekannte Gestalt Lewins zu sehen, der ihnen entgegenkam.

Als er sie erkannte, glaubte er ein Bild des häuslichen Glücks zu erblicken, wie es ihm seine Phantasie vormalte.

»Wie freue ich mich, Sie zu sehen!« rief sie ihm entgegen.

»Warum aber haben Sie mir keine Mitteilung gemacht? Mein Bruder wohnt bei mir. Erst von Stiwa habe ich erfahren, dass Sie hier sind.«

»Von meinem Mann?« fragte Darja verwundert.

»Ja, er schreibt, Sie seien aufs Land gezogen, und er meint, Sie werden mir erlauben, Ihnen zu Hilfe zu kommen«, sagte Lewin. Plötzlich aber brach er verlegen ab. Er glaubte, es werde Darja unangenehm sein, von einem fremden Menschen Dienste anzunehmen, für welche ihr Mann hätte sorgen sollen. »Natürlich habe ich wohl begriffen«, fuhr Lewin fort, »dass er mir damit nur auf liebenswürdige Weise sagen wollte, Sie würden mich gerne sehen, und ich bin erfreut darüber. Ohne Zweifel wird Ihnen als Städterin das Landleben wild und rau erscheinen, und wenn etwas fehlt, so stehe ich gern zu Diensten.«

»0 nein«, sagte Dolly. »In der ersten Zeit ging es wohl etwas wunderlich zu, doch jetzt ist alles vortrefflich eingerichtet. Aber setzen Sie sich zu uns. Wir werden ein wenig zusammenrücken.«

»Nein, ich ziehe vor, zu gehen. Kinder, wer von euch wird mit mir gehen?«

Obgleich die Kinder Lewin kaum kannten, zeigten sie ihm gegenüber doch nicht jene Schüchternheit, die Kinder so oft vor Erwachsenen empfinden, und freudig kamen die beiden ältesten auf seine Einladung sogleich zu ihm.

Hier fand Lewin bald seine kindlich heitere Stimmung wieder. Nach Tisch saß Darja Alexandrowna allein mit ihm auf dem Balkon, und die Rede kam auf Kitty.

»Wissen Sie schon, dass Kitty kommt, um mit mir den Sommer hier zuzubringen ?«

»Wirklich?« sagte er zusammenfahrend. Sogleich gab er aber dem Gespräch eine andere Wendung und entwickelte, um nur vom Thema abzulenken, seine Theorie der Milchwirtschaft, nach welcher die Kuh nur eine Maschine ist, zur Verwandlung von Futter in Milch und so weiter. Während er sprach, wünschte er sehnlichst, etwas von Kitty zu erfahren, und doch hatte er gleichzeitig ein Bangen davor. Er fürchtete, dass seine mit so vieler Mühe erlangte Ruhe wieder erschüttert werden könnte.

»Jawohl, versteht sich! Danach muss man sehen! Aber wer kann das tun?« erwiderte Darja, dabei aber drängte es sie auch sehr, von Kitty zu sprechen.

»Kitty schreibt mir, sie wünsche nichts so sehr als die Einsamkeit und Ruhe«, sagte Dolly, nachdem ein Schweigen eingetreten war.

»Wie ist ihre Gesundheit? Befindet sie sich besser?« fragte Lewin in sichtlicher Spannung.

»Gott sei Dank, sie ist ganz hergestellt! Ich habe nie daran geglaubt, dass sie brustleidend sei.« »Ach, das freut mich sehr«, erwiderte Lewin. Dolly bemerkte etwas Rührendes, Hilfloses in seinem Gesicht bei diesen Worten und blickte ihn schweigend an.

»Hören Sie, Konstantin Dmitritsch«, sagte sie dann mit ihrem gutmütigen und etwas spöttischen Lächeln, »sind Sie doch böse auf Kitty?«

»Ich? Nein, ich bin nicht böse«, entgegnete Lewin.

»O doch, warum sind Sie denn nicht zu uns gekommen, als Kitty in Moskau war?«

»Darja Alexandrowna«, sagte er tief errötend, »ich wundere mich über Ihre Frage. Wie ist es möglich, da Sie doch wissen ...«

»Was weiß ich?«

»Dass ich einen Antrag gemacht habe, der zurückgewiesen wurde«, erwiderte Lewiri mit finsterem Gesicht.

»Nein, ich wüsste nichts davon, obgleich ich es erriet.«

»Ah! Nun, dann wissen Sie es jetzt.«

»Ich wusste nur, dass irgend etwas vorgegangen war, was sie entsetzlich quälte, und dass sie mich bat, niemals davon zu sprechen. Aber wann war es denn? Erzählen Sie es mir!«

»Als ich das letzte Mal bei Ihnen war.«

»Es tut mir entsetzlich leid um Kitty«, sagte Darja, »Sie aber leiden nur aus verletztem Stolz.«

»Das ist möglich«, meinte Lewin, »aber ...«

»Sie aber, das arme Kind ...«unterbrach sie ihn, »jetzt begreife ich alles.«

»Nun, Darja Alexandrowna, entschuldigen Sie mich«, sagte er aufstehend. »Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen!«

»Nein, bleiben Sie!« sagte sie und ergriff seine Hand. »Bleiben Sie! Setzen Sie sich!«

»Ich bitte Sie, nicht weiter davon zu sprechen«, sagte er, sich setzend, und dabei fühlte er, dass in seinem Herzen die längst begrabene Hoffnung sich wieder rührte und die alten Wünsche sich neu erhoben.

»Wenn ich Ihnen nicht gut wäre«, sagte Darja mit Tränen in den Augen, »wenn ich Sie nicht kennen, würde ...«

Das tot geglaubte Gefühl belebte sich immer mehr in Lewins Herzen.

»Ja, jetzt begreife ich alles«, fuhr Darja fort. »Sie aber können sich das nicht klar vorstellen. Die Männer sind frei und haben die Wahl, sie können immer klar wissen, wen sie lieben. Aber ein Mädchen im Zustande der Erwartung, mit dieser weiblichen Schüchternheit – ein Mädchen, das einen Mann von fern sieht, glaubt alles aufs Wort, und es ist so leicht möglich, dass ein Mädchen oft selbst seine Gefühle so wenig kennt, dass es nicht weiß, was es sagen soll.«

»Ja, wenn das Herz nicht spricht...«

»Nein, auch wenn das Herz spricht! Aber bedenken Sie doch – angenommen, Sie, als Mann, haben Absicht auf ein Mädchen. Sie verschaffen sich Eintritt in das Haus, suchen sich zu nähern, warten und beobachten, ob Sie das gefunden haben, was Sie wünschen, und dann, wenn Sie sich davon überzeugt haben, so machen Sie einen Antrag...«

»Nun, es ist nicht ganz so.«

»In jedem Fall machen Sie einen Antrag, sobald Sie sich Ihrer eigenen Liebe bewusst sind. Das Mädchen aber wird nicht gefragt, es soll seine Wahl treffen, während es doch nur ja oder nein zu sagen hat.«

Ja, die Wahl zwischen mir und Wronsky‹, dachte Lewin, und das, was in seiner Seele wieder aufzuleben begann, erstarb von neuem.

»Darja Alexandrowna«, sagte er, »so wählt man, wenn es sich um ein Kleid oder dergleichen handelt, aber nicht um Liebe. Die Wahl ist getroffen, um so besser. – Eine Wiederholung ist unmöglich.«

»Ach, Hochmut über Hochmut!« sagte Darja Alexandrowna. »Als Sie Kitty einen Antrag machten, war sie eben in jener Lage, in der es unmöglich ist, zu antworten. Sie schwankte zwischen Ihnen und Wronsky, ihn sah sie jeden Tag, Sie aber nur selten! Ja, wenn sie älter gewesen wäre! – Ich zum Beispiel an ihrer Stelle hätte nicht geschwankt, er war mir immer widerlich.«

Lewin erinnerte sich an die Worte Kittys. »Nein, das kann nicht sein!« hatte sie gesagt.

»Darja Alexandrowna«, erwiderte er in trockenem Tone, »ich schätze Ihr Vertrauen zu mir, wenngleich ich glaube, Sie irren sich. Aber ob es so ist oder nicht, dieser Hochmut, wie Sie es nennen, macht mir jeden Gedanken an Katharina Alexandrowna ganz unmöglich!«

»Ich will nur noch eins sagen, ich behaupte nicht, dass meine Schwester Sie liebte, aber ihre Absage in jenem Augenblick beweist nichts.«

»Das weiß ich nicht«, sagte Lewin aufstehend. »Wenn Sie wüssten, welchen Schmerz Sie mir verursachen! Ganz so, als ob Ihnen ein Kind gestorben wäre und ich davon sprechen würde, wie groß es jetzt sein würde, und wie Sie sich darüber freuen würden, und dass es jetzt tot, tot, tot sei...«

»Wie komisch Sie sind!« sagte Darja mit kummervoller Miene beim Anblick von Lewins Aufregung. »Sie werden uns also nicht besuchen, wenn Kitty hier sein wird.«

»Nein. Ich werde Katharina Alexandrowna nicht zu vermeiden suchen, aber mich bemühen, ihr die Unannehmlichkeit meiner Gegenwart zu ersparen.«

»Sie sind ein Original!« wiederholte Darja mit einem zärtlichen Blick. »Nun gut, dann tun wir so, als hätten wir nichts gesprochen.«

Gegen Mitte Juli erschien bei Lewin der Aufseher vom Gut seiner Schwester, das etwa zwanzig Werst von Pakrowsk entfernt lag, um Bericht über den Gang der Feldarbeiten und die Heuernte abzustatten, die den hauptsächlichsten Ertrag des Gutes lieferte. Lewin fand es notwendig, sich selbst nach dem Landsitz zu begeben. Er kam gegen Mittag dort an und ließ seine Pferde bei einem alten Bauern, dem Schwager seiner Amme. Dieser empfing den Herrn mit lebhaften Ausdrücken der Freude, zeigte ihm sein kleines Besitztum und sprach viel über seine Bienenstöcke und die Aussichten des Jahres. Aber woran Lewin am meisten gelegen war, einiges über die Heuernte zu erfahren, das gelang ihm nur in unbefriedigender Weise, da der Alte stets ausweichende und unbestimmte Antworten gab. Dadurch wurde Lewins Verdacht bestätigt, dass die Teilung des Ertrages der Heuernte, von der ein Teil den Arbeitern und das übrige der Besitzerin zufallen sollte, nicht in einwandfreier Weise vor sich gegangen sei. Er begab sich deshalb auf das Feld, wo die Heuschober aufgestapelt waren. Die Bauern hatten die Arbeit unter der Bedingung übernommen, dass sie ein Drittel der ganzen Ernte erhalten und zwei Drittel der Herrin zufallen sollten. Die Verhandlung darüber dauerte bis zur Mittagszeit. Als endlich die Teilung zustande gekommen war, überließ es Lewin dem Buchhalter, die Abfuhr des Heues zu beaufsichtigen, setzte sich bei einem der Heuschober nieder und betrachtete mit Wohlgefallen das Feld.

Was werde ich machen? Wie werde ich meine Projekte ausführen?‹ dachte er. Alles, was er dachte und fühlte, teilte sich in drei getrennte Gedankenreihen. Zuerst musste er sein altes Leben mit seiner Bildung aufgeben, welche er für nutzlos und überflüssig ansah, und dies erschien ihm leicht und einfach. Die andere Gedankenreihe bezog sich auf jenes Leben, das er jetzt beginnen wollte, ein Leben der Reinheit, Einfachheit, in dem er jene Befriedigung und Ruhe zu finden hoffte, die er bisher schmerzlich entbehrte. Die dritte Gedankenreihe aber drehte sich um die Frage, wie dieser Übergang aus dem alten Leben zum neuen einzuleiten sei, und hier konnte er zu keiner klaren Vorstellung gelangen. ›Heiraten? Eine bestimmte Tätigkeit wählen? Pakrowsk verlassen? Irgendwo ein Stück Land kaufen? Sich zu einer Bauerngemeinde anschreiben lassen? Eine Bäuerin heiraten? Wie ist alles das zu machen?‹ fragte er sich und konnte wieder keine Antwort finden.

Er verließ die Wiese und schlug den großen Weg nach dem Gut ein. Es hatte sich ein Wind erhoben und der Himmel verfinsterte sich. Lewin ging rasch und überblickte das Feld.

Was kommt dort?‹ dachte er, als er Glocken hörte. Vierzig Schritte von ihm entfernt erblickte er auf der Straße einen vierspännigen Wagen, der ihm entgegenkam. Die Straße war schmutzig, der Kutscher aber verstand den schweren Wagen so zu lenken, dass er sicher in den tief eingefahrenen Geleisen weiterfuhr.

Nur dies bemerkte Lewin, ohne an die Insassen des Wagens zu denken, während er zerstreut den Wagen anblickte. In einer Ecke desselben schlummerte eine alte Dame. Am Wagenschlag saß ein junges Mädchen und spielte mit den Bändern ihrer Reisemütze. Mit einem nachdenklichen, heiteren Blick, der auf eine edle und gereifte Seele schließen ließ, blickte sie über Lewin weg in die Ferne.

Im gleichen Augenblick, als die Erscheinung schon beinahe vorüber war, fiel ihr ruhiger Blick auf ihn. Sie erkannte ihn, Verwunderung und Freude leuchteten in ihrem Gesicht.

Er konnte sich nicht täuschen. Es gab kein zweites solches Augenpaar, es gab nur ein solches Wesen auf der Welt, das für ihn der Inbegriff des Lichtes und Lebens war. Sie war es: Kitty. Er wusste, dass sie vom Bahnhof aus nach Jerguschowo fuhr, und alles, was Lewin gedacht hatte, und alle Entschlüsse, die er gefasst hatte, wären plötzlich verschwunden. Der Gedanke, eine Bäuerin zu heiraten, erschien ihm unmöglich, nur dort jener Wagen, der sich rasch entfernte, enthielt die Möglichkeit, eine Lösung für die Lebensrätsel zu finden, die ihm keine Ruhe ließen.

Sie sah nicht mehr aus dem Wagen, bald war auch das Geräusch der Räder nicht mehr hörbar, kaum noch die Glocken. In der Ferne zeigte Hundegebell an, dass der Wagen am Gutshof angekommen sei, und nichts blieb übrig um ihn her als die leeren Felder, das Dorf in der Ferne und er selbst, der, allein und fremd, auf der einsamen Landstraße entlang schritt.

Er blickte nach dem Himmel. Ein Teppich von kleinen Wölkchen bedeckte die ganze Halbkugel, der Himmel hellte sich auf.

»Nein«, sagte er, »so schön auch ein einfaches, arbeitsames Leben sein mag, ich kann mich diesem nicht zuwenden, ich liebe nur sie.« ‹/leer›

Karenin hatte seine Frau vom Wettrennen nach Hause zurückgebracht und ihr, während er wieder in den Wagen stieg, um nach Petersburg zu fahren, gesagt, er werde ihr am anderen Tag seinen Entschluss mitteilen.

Als sein schlimmster Argwohn durch die Worte seiner Frau bestätigt wurde, empfand er einen heftigen Schmerz im Herzen. Als er aber dann allein im Wagen saß, empfand er zu seiner Verwunderung und Freude ein Gefühl der Befreiung von den Qualen des Zweifels und der Eifersucht, die ihn in letzter Zeit verfolgt hatten, er fühlte, dass er wieder leben und noch an anderes als an seine Frau denken könne.

»Sie ist eine Verlorene, ohne Ehre, ohne Herz und ohne Religion! Das habe ich immer gewusst und gesehen, obgleich ich mich aus Mitleid für sie selbst zu täuschen suchte«, sagte er, und er glaubte wirklich, das immer an ihr gesehen zu haben. Manche Erinnerungen stiegen vor ihm auf, die ihm früher kaum aufgefallen waren, jetzt ihm aber bewiesen, dass sie immer schlecht gewesen sei.

»Ich habe einen Irrtum begangen, indem ich mein Leben mit ihr verband, aber dafür kann mich kein Vorwurf treffen, und deshalb kann ich auch nicht unglücklich sein, sie allein ist schuld. Aber ich habe nichts mehr mit ihr zu tun, sie existiert nicht mehr für mich.«

Der Gedanke an sie und seinen Sohn, für den sich seine Gefühle gleichfalls sehr geändert hatten, beschäftigten ihn nicht mehr. Er dachte nur daran, wie er auf die beste, schicklichste Art sich gegen den Schimpf schützen könne, den sie auf ihn geworfen hatte, um dann ruhig seinen Weg ehrlicher und nützlicher Lebenstätigkeit fortzusetzen.

»Dass eine verachtungswürdige Frau sich vergangen hat, kann mich nicht unglücklich machen. Ich muss nur den besten Ausweg aus dieser peinlichen Lage finden. Darin bin ich nicht der erste und werde nicht der letzte sein«, dachte er und erinnerte sich an eine ganze Anzahl Fälle von Untreue in der höchsten Gesellschaft. Dann dachte er darüber nach, wie jene Leute, die sich in derselben Lage wie er befanden, sich aus einer solchen Situation zu befreien suchten.

»Darjalow hat sich für ein Duell entschieden...«

Schon seit seiner Jugend hatte ihn das Duell besonders beschäftigt, eben deshalb, weil er von Natur furchtsam war und dies wohl wusste. Er konnte nicht ohne Schrecken an eine Pistole denken, die auf ihn gerichtet wäre, und niemals in seinem Leben hatte er irgendeine Waffe gebraucht. Nachdem er Erfolg und eine feste Stellung im Leben erlangt hatte, waren diese Gedanken in Vergessenheit geraten, aber die Angst vor seiner Feigheit erwies sich jetzt so stark, dass Karenin die Frage des Duells lange und von allen Seiten überlegte, obgleich er vorher wusste, dass er in keinem Fall sich zu einem Duell entschließen werde.

»Angenommen, ich fordere ihn zum Duell«, überlegte Karenin - indem er sich lebhaft vorstellte, was für eine Nacht er nach der Herausforderung zubringen werde, wie die Pistole auf ihn gerichtet sein werde und er schaudernd zur Überzeugung gelangte, dass er sich dazu niemals entschließen könnte - ,ich lerne schießen, ich stehe ihm gegenüber und berühre den Drücker ... Angenommen, ich töte ihn, welchen Einfluss kann dieser Mord auf mein Verhältnis zu meiner Frau und meinem Sohn haben? Die Frage bleibt mir dann doch immer noch zu lösen, was mit ihr geschehen solle. Aber was noch wahrscheinlicher, sogar unzweifelhaft der Fall sein wird, ich werde erschossen oder verwundet, ich, ein unschuldiges Opfer. Das ist noch unsinniger. Überdies wäre eine Herausforderung von meiner Seite ein unaufrichtiges Verfahren. Ich weiß ja doch schon im voraus, meine Freunde würden es nie zulassen, dass das Leben eines Staatsmannes, der für Russland notwendig ist, einer Gefahr ausgesetzt wird. Wie dann? Es würde scheinen, als ob ich durch die Herausforderung mir nur einen prahlerischen Glanz aneignen wollte. Ein Duell ist undenkbar und niemand erwartet es von mir. Meine Aufgabe ist nur, meinen Ruf sicherzustellen, was für die ununterbrochene Fortsetzung meiner Tätigkeit notwendig ist.‹

Nachdem also Karenin das Duell verworfen hatte, dachte er an die Scheidung. Er überdachte alle ihm bekannten Scheidungsfälle, die in der höchsten Gesellschaft sehr zahlreich waren, fand aber keinen einzigen, in dem der Zweck der Scheidung derjenige war, den er im Auge hatte. In seinem Fall aber sah Karenin voraus, dass die Erzielung einer gesetzlichen Scheidung, in der die Frau schuldig erklärt würde, unmöglich sei. Er sah ein, dass er bei seiner Lebensstellung jene nackten Beweise, die das Gesetz zur Überführung der Frau verlangte, nicht beibringen könne, weil er dadurch in der öffentlichen Meinung mehr verlieren würde als sie.

Der Versuch einer Scheidung konnte ihn nur in skandalöse Prozesse verwickeln, die seine Feinde benutzen würden, um ihn zu verleumden und zu erniedrigen. Sein Hauptziel, die Sache mit möglichst wenig Aufsehen zu ordnen, war durch eine Scheidung nicht zu erreichen. Überdies würde diese nur dazu dienen, Anna ihrem Liebhaber ganz und gar zu überliefern. Aber obgleich er für seine Frau nur Gleichgültigkeit oder Verachtung zu hegen glaubte, war ihm doch ein Wunsch geblieben – er wollte verhindern, dass sie sich mit Wronsky ungehindert verbinden und dass ihr Vergehen zu ihrem Vorteil ausschlagen könnte. Dieser Gedanke brachte ihn so auf, dass er beinahe laut stöhnte. Er erhob sich und änderte seinen Platz im Wagen. Dann bedeckte er mit finsterer Miene sorgfältig seine hageren, knöchernen Beine mit einem dicken Plaid.

Von der formellen Scheidung abgesehen, blieb noch eine einfache Trennung von der Frau‹, überlegte er, indem er etwas ruhiger wurde. Aber auch diese Maßregel zeigte dieselben Mängel, und was das schlimmste war, seine Frau würde ebenso wie durch eine formelle Scheidung Wronsky in die Arme geworfen werden.

»Nein, das ist unmöglich«, sagte er laut. »Kann ich nicht glücklich sein, so sollen er und sie auch nicht glücklich sein!«

So kam er zu dem Schluss, es gebe nur einen Ausweg, sie bei sich festzuhalten, das Geschehene der Welt zu verbergen und mit allen Mitteln darauf hinzuwirken, das Verhältnis Annas mit Wronsky zu unterbrechen. Das wichtigste war ihm, was er sich selbst nicht eingestehen wollte – sie sollte ihre Strafe erleiden.

Ich muss ihr meinen Entschluss mitteilen, dass wegen der schwierigen Lage, in die sie die Familie gebracht hat, jeder andere Ausweg schwieriger sein würde als die äußere Erhaltung des gegenwärtigen Zustandes – dazu bin ich bereit, aber nur unter der unverbrüchlichen Bedingung, dass sie alle Beziehungen zu ihrem Liebhaber abbricht. Nur diese Lösung entspricht den Forderungen der Religion‹, sagte er zu sich selbst. ›Nur so treibe ich die schuldige Frau nicht von mir und ich gebe ihr die Möglichkeit, sich zu bessern, und widme sogar einen Teil meiner Kräfte dem Versuch, sie zu retten, so schwer mir dies auch fällt.‹

Obgleich Karenin wusste, dass er auf seine Frau keinen moralischen Einfluss haben könne, gewährte ihm doch der Gedanke Befriedigung, dass niemand sagen könne, er habe bei einer so wichtigen Lebensfrage nicht in voller Übereinstimmung mit den Vorschriften der Religion gehandelt.

Indem er die Einzelheiten nochmals überdachte, vermochte er sogar auch keinen Grund zu finden, warum sein Verhältnis zu seiner Frau nicht fast ganz dasselbe bleiben sollte wie früher. Natürlich konnte er ihr nie wieder seine Achtung schenken, aber es war durchaus keine Veranlassung für ihn vorhanden, seine Lebensweise umzuändern und darunter zu leiden, dass sie eine schlechte und untreue Frau war.

So hatte Karenin, als er Petersburg erreichte, nicht nur seinen Entschluss gefasst, sondern auch in Gedanken den Brief entworfen, den er ihr schreiben wollte. In der Portierloge warf er einen Blick in die Briefe und Papiere, die vom Ministerium gekommen waren, und befahl, sie in sein Arbeitszimmer hinaufzutragen. Dort ging er mehrmals auf und ab und blieb vor dem mächtigen Schreibtisch stehen, auf dem der Kammerdiener bereits sechs Kerzen angezündet hatte, setzte sich und griff nach dem Schreibzeug. Die Hände auf die Armlehne gestützt, bog er den Kopf zur Seite, dachte eine Minute nach und begann zu schreiben, ohne einen Augenblick anzuhalten. Er schrieb ihr, indem er es vermied, ihren Namen zu nennen.

»Bei unserem letzten Gespräch habe ich Ihnen meine Absicht ausgesprochen, Ihnen meinen Beschluss in betreff des Gegenstandes unseres Gespräches mitzuteilen. Nach reiflicher Überlegung bin ich zu folgendem Schluss gelangt: So groß auch Ihr Vergehen sein mag, so halte ich mich doch nicht für berechtigt, jenes Band zu zerreißen, durch das eine höhere Gewalt uns verbunden hat. Die Familie darf nicht je nach Laune oder selbst infolge des Vergehens eines der Gatten in Stücke zerrissen werden, und unser Leben muss so bleiben, wie es war. Das ist notwendig für mich, für Sie und unseren Sohn. Ich bin überzeugt, dass Sie das bereuten und noch bereuen, was die Veranlassung zu dem vorliegenden Brief gegeben hat, und dass Sie dazu mitwirken werden, die Veranlassung unserer Entzweiung mit der Wurzel auszurotten und das Vergangene in Vergessenheit zu bringen. Im entgegengesetzten Fall können Sie sich selbst vorstellen, was Sie und Ihren Sohn erwartet. Dieses alles hoffe ich persönlich mit Ihnen ausführlicher zu besprechen. Da die Saison zu Ende geht, würde ich Sie bitten, so schnell als möglich nach Petersburg zurückzukehren, und zwar nicht später als Dienstag. Alle nötigen Anordnungen für Ihren Umzug werden getroffen werden. Ich bitte Sie, zu beachten, dass ich der Erfüllung dieser meiner Bitte eine besondere Bedeutung beilege.

P. S. Ich lege Geld bei, das für Ihre Ausgaben vielleicht nötig sein wird.

A. K.«

Er las den Brief und war zufrieden, besonders darüber, dass er daran gedacht hatte, Geld beizulegen. Kein einziger Vorwurf, alles war mild und nachsichtig. Es war eine goldene Brücke zur Rückkehr. Er faltete den Brief, legte ihn mit dem Geld in ein Kuvert und klingelte mit dem Gefühl der Befriedigung, das ihm die Handhabung seiner vorzüglichen Schreibutensilien stets verursachte.

»Übergib diesen Brief dem Kurier, er soll ihn morgen meiner Frau bringen«, sagte er zu seinem Diener und stand auf.

Er ließ sich den Tee in sein Arbeitszimmer bringen, ging dann zu einem Lehnstuhl, bei dem eine Lampe bereitstand, und ergriff ein französisches Buch. Über dem Lehnstuhl hing in ovalem Goldrahmen das Bild Annas, das Werk eines berühmten Künstlers. Spöttisch blickten die Augen auf ihn herab, wie bei ihrem letzten Gespräch. Der Anblick dieses Bildes, dieser schwarzen Spitzen auf dem Kopf, der schwarzen Haare, der schönen weißen Hände, die mit Ringen geschmückt waren, wirkte unerträglich frech und herausfordernd auf Karenin. Seine Lippen zuckten, und er wandte sich ab. Hastig setzte er sich an den Tisch, öffnete das Buch und versuchte zu lesen. Indem er in das Buch sah, dachte er immer an anderes, nicht an seine Frau, sondern an eine in letzter Zeit entstehende Verwicklung in wichtigen Staatsgeschäften, die für ihn in diesem Augenblick von höchstem Interesse war.

Sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, erhob sich Karenin und setzte sich an seinen Schreibtisch. Er griff nach der Mappe mit den laufenden Sachen, nahm einen Bleistift zur Hand und vertiefte sich in die Dokumente mit einem leisen Lächeln der Befriedigung. Zuweilen schrieb er hastig einige Notizen mit Bleistift. Eine ganze Seite bedeckte er mit Anmerkungen. Dann erhob er sich und ging lange in seinem Zimmer auf und ab.

Als er sich gegen elf Uhr schlafen legte und die Ereignisse des Tages überdachte, sah er sie nicht mehr in dem düsteren Licht wie früher.

Obgleich Anna mit Heftigkeit und Hartnäckigkeit Wronsky widersprach, als er behauptete, ihre Lage sei unmöglich, stimmte sie ihm doch innerlich bei und wünschte dringend, sie zu ändern. Als sie mit ihrem Mann von dem Wettrennen zurückkam und ihm in einem Augenblick der Erregung alles sagte, war sie, ungeachtet des Schmerzes, den sie dabei empfand, doch froh darüber. Auch später, nachdem er sie verlassen hatte, war sie zufrieden und überzeugt, dass sie jetzt von der Falschheit und Lüge sich befreien werde.

An demselben Abend sprach sie Wronsky, sagte ihm aber nichts von dem, was zwischen ihr und ihrem Mann vorgefallen war.

Beim Erwachen am folgenden Morgen erinnerte sie sich zuerst der Worte, die sie ihrem Mann gesagt hatte, und jetzt erschienen sie ihr so entsetzlich, dass sie nicht begriff, wie sie sich hatte entschließen können, sie auszusprechen. Sie konnte sich kein Bild davon machen, was jetzt daraus folgen werde. Aber die Worte waren gesprochen, und Karenin war davongefahren, ohne eine Antwort darauf zu geben.

Ich habe Wronsky gesehen und ihm nichts gesagt. Noch in dem Augenblick, als er ging, wollte ich ihn zurückhalten, aber ich bedachte mich, weil es sonderbar erscheinen musste, warum ich ihm nicht gleich im ersten Augenblick davon Kenntnis gegeben hatte. Warum wollte ich ihm denn nichts sagen?‹ Eine tiefe Röte stieg in ihrem Gesicht auf, als sie sich daran erinnerte, was sie davon abgehalten hatte. Sie begriff, dass es ein Gefühl der Beschämung gewesen war. Ihre Lage, die sie gestern Abend für so klar gehalten hatte, erschien ihr jetzt hoffnungslos. Sie empfand Furcht vor der Schande, an die sie zuvor nicht gedacht hatte. Die schrecklichsten Ideen über das, was ihr Mann tun werde, stiegen in ihr auf. Sie fürchtete, sogleich aus dem Hause gejagt zu werden und dass man ihren Schimpf der ganzen Welt preisgeben könnte. Sie fragte sich, wohin sie gehen werde, wenn man sie aus dem Hause jage, und fand keine Antwort. Wenn sie an Wronsky dachte, schien es ihr, dass er sie nicht mehr liebe, ihrer schon müde zu werden anfange, und ein feindliches Gefühl stieg in ihr auf. Es war ihr, als habe die ganze Welt die Worte gehört, die sie ihrem Manne gesagt hatte.

Die Zofe trat ins Zimmer und brachte Kleider und ein Briefchen von Betsy.

Betsy erinnerte Anna daran, dass heute Vormittag Lisa Merkalow und die Baronin Stolz mit ihren Verehrern Kaluschsky und dem alten Stremow bei ihr sein werden, um eine Partie Krocket zu spielen.

»Kommen Sie wenigstens, um dieses Sittenbild anzusehen, ich erwarte Sie!« hieß es zum Schluss.

Nachdem Anna das Briefchen gelesen hatte, seufzte sie schwer.

»Es ist gut, ich habe nichts nötig, ich werde mich sogleich ankleiden und ausgehen«, sagte sie zu Annuschka. Das Mädchen ging, aber Anna kleidete sich nicht an, sondern saß unbeweglich mit gesenktem Kopf und rief zuweilen schaudernd: »Mein Gott! Mein Gott, was soll ich tun?«

»Der Kaffee ist fertig, und das Fräulein wartet mit Serescha«, sagte Annuschka, die wieder eingetreten war.

»Serescha?« fragte Anna, plötzlich lebendig werdend. Der Gedanke an ihren Sohn erweckte Anna aus ihrer moralischen Erstarrung. Sie erinnerte sich an die halb aufrichtige, halb übertriebene Rolle einer Mutter, welche für ihren Sohn lebt, die sie in den letzten Jahren angenommen hatte, und fühlte mit lebhafter Freude, dass sie noch einen Stützpunkt habe, abgesehen von ihrem Mann und Wronsky. Dieser Stützpunkt war ihr Sohn. Was auch ihre Zukunft sein mochte, ihn, ihren Sohn, konnte sie nicht verlassen, mochte auch ihr Mann sie beschimpfen und verjagen, mochte auch Wronsky ihr gegenüber erkalten und unabhängig weiter leben – wieder dachte sie mit Groll an ihn –, ihren Sohn konnte sie nicht verlassen. Ihr Leben hatte keinen Zweck, sie musste handeln, handeln, um ihre Verbindung mit ihrem Sohn zu sichern und zu verhindern, dass man diesen von ihr nehme. Sie musste sogar schnell handeln, ehe es zu spät war! Das wichtigste, was sie jetzt zu tun hatte, war, mit ihrem Sohn sofort abzureisen. Sie musste sich fassen und sich aus dieser qualvollen Lage befreien.

Rasch kleidete sie sich an, ging hinab und trat in das Speisezimmer, wo der Kaffee und Serescha mit seiner Gouvernante sie wie gewöhnlich erwarteten. Serescha stand ganz weiß gekleidet bei einem Tisch, an einem Spiegel, mit gekrümmtem Rücken und gesenktem Kopf und war mit Blumen beschäftigt, die er hereingebracht hatte.

»Ah, Mama!« rief Serescha und blieb unentschlossen stehen. Er wusste nicht, ob er auf seine Mutter zueilen, sie begrüßen und die Blumen wegwerfen, oder ob er den Kranz beendigen sollte, den er angefangen hätte.

Die Gouvernante erzählte etwas, aber Anna hörte nicht auf sie. Sie überlegte, ob sie das Fräulein mitnehmen werde.

Nein, ich nehme sie nicht mit‹, entschied sie. ›Ich fahre allein mit meinem Sohn.‹ Sie blickte ihn mit einem milden, schüchternen Blick an, küsste ihn und setzte sich an den Speisetisch.

»Serescha«, sagte sie, sobald die Gouvernante das Zimmer verlassen hatte, »du liebst mich doch?« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, indem sie seinen halb erschrockenen, halb erfreuten Blick beobachtete. »Wird er auf Seiten seines Vaters stehen und mich verurteilen?«

Um ihre Tränen zu verbergen, erhob sie sich hastig und eilte auf die Terrasse hinaus.

Draußen war es kalt, und sie schauderte vor Kälte, halb vor innerlichem Entsetzen. Aber die reine Luft erfrischte sie doch.

»Gehe zu Marietta!« sagte sie zu Serescha, der ihr nachgefolgt war. Sie blickte nach den im Winde schwankenden Baumwipfeln, die hell in der kalten Sonne glänzten.

»Ich darf mich nicht aufhalten, ich muss mich bereitmachen«, sagte sie sich selbst. »Wohin? Wann? Ja, nach Moskau mit dem Abendzug! Annuschka und Serescha und nur die notwendigsten Sachen. Vorher aber muss ich an beide schreiben.«

Sie trat rasch ins Haus, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb an ihren Mann. »Nach dem, was vorgekommen, kann ich nicht länger in Ihrem Hause bleiben. Ich reise ab und nehme meinen Sohn mit mir. Ich kenne nicht die Gesetze, und daher weiß ich nicht, bei welchem von den Eltern der Sohn bleiben soll. Aber ich nehme ihn mit mir, weil ich ohne ihn nicht leben kann. Seien Sie großmütig, überlassen Sie ihn mir!«

Bis dahin hatte sie rasch und ungezwungen geschrieben, aber der Anruf seiner Großmut und die Notwendigkeit, dem Brief einen rührenden Schluss zu geben, unterbrachen sie.

»Von meiner Schuld oder Reue zu sprechen, ist mir unmöglich, weil...«

Hier hielt sie an, ihre Gedanken hatten keinen Zusammenhang. ›Nein‹, sagte sie sich selbst, ›es ist nichts weiter nötig.‹

Sie zerriss den Brief und schrieb ihn um, ließ aber den Anruf seiner Großmut weg und versiegelte das Schreiben.

Dann hatte sie noch an Wronsky zu schreiben.

»Ich habe meinem Mann gesagt«, schrieb sie, aber lange war es ihr unmöglich, weiterzuschreiben. ›Es war so roh, so unweiblich! Und dann, was kann ich ihm denn wirklich schreiben?‹ Wieder bedeckte eine Schamröte ihr Gesicht und dann zerriss sie unwillig den Brief in kleine Fetzen.

Es ist nichts nötig‹, sagte sie zu sich selbst, schloss ihr Schreibzeug, ging nach oben und machte der Gouvernante und den Leuten die Mitteilung, sie werde heute nach Moskau fahren. Darauf begann sie sogleich einzupacken.

In allen Zimmern des Hauses herrschte die Unruhe des Umzugs. Gärtner und Diener trugen Sachen heraus, Schränke und Kommoden standen offen, auf den Fußböden lagen Zeitungspapiere umher. Anna vergaß über der Arbeit des Einpackens die innere Unruhe. Sie stand an einem Tisch in ihrem Kabinett und war beschäftigt, ihre Reisetasche zu packen, als Annuschka sie auf das Geräusch eines vorfahrenden Wagens aufmerksam machte. Anna sah durchs Fenster und erblickte den Kurier ihres Mannes, der an der Haustür klingelte.

»Geh und frage ihn, was es gibt«, sagte sie und setzte sich in ruhiger Erwartung auf einen Stuhl. Der Diener brachte einen dicken Brief, dessen Aufschrift mit Karenins Hand sie sogleich erkannte.

»Der Kurier hatte den Auftrag, auf Antwort zu warten«, sagte er. »Es ist gut«, erwiderte sie, und sobald der Diener das Zimmer verlassen hatte, öffnete sie mit zitternden Fingern den Brief. Eine Anzahl zusammengefalteter Banknoten fiel heraus. Anna nahm den Brief und begann am Ende zu lesen: »Ich lege der Erfüllung meiner Bitte besondere Bedeutung bei.« Dann las sie weiter rückwärts, den ganzen Brief durch, und darauf noch einmal das Schreiben vom Anfang bis zum Ende. Als sie geendigt hatte, empfand sie einen kalten Schauer und fühlte sich von einem so schrecklichen Unglück befallen, wie sie es nicht erwartet hatte.

Sie hatte schon an diesem Morgen ihr Geständnis bereut und hätte es gern zurückgenommen, und nun erklärte dieser Brief ihre Worte für nicht gesprochen und gewährte ihr, was sie wünschte, und doch erschien ihr jetzt dieser Brief schrecklicher als alles, was sie erwartet hatte.

»Er hat recht«, sagte sie. »Versteht sich, er hat immer recht! Er ist ein Christ und großmütig. Ja, er ist in Wirklichkeit ein niedriger, abscheulicher Mensch, und das begreift niemand außer mir, und ich kann nicht darüber sprechen. Man hält ihn für einen religiösen, moralischen, klugen Menschen, aber niemand weiß, was ich weiß, niemand hat eine Ahnung, wie ich acht Jahre lang mein Leben erstickt und alles unterdrückt habe, was Lebendiges in mir war, und dass er nicht ein einziges Mal daran dachte, dass ich ein lebendiges Weib bin, das nach Liebe verlangt. Habe ich mich nicht mit allen Kräften bemüht, ihn zu lieben – und als dies unmöglich war, meinen Sohn zu lieben? Aber es kam die Zeit, wo ich begriff, dass ich mich nicht länger selbst betrügen konnte, dass ich lebendig, dass ich nicht strafbar sei, dass Gott mich so geschaffen habe, dass ich Leben und Liebe nötig habe.

Wie konnte ich nicht erraten, was er tun werde? Er handelt so, wie es bei seinem niedrigen Charakter zu erwarten ist. Er bleibt im Recht, und meine Lage gestaltet sich noch schlimmer! ... ›Sie werden selbst begreifen können, was Sie und Ihren Sohn erwartet‹, wiederholte sie aus dem Briefe. ›Das ist eine Drohung, dass er mir den Sohn wegnehmen werde, und wahrscheinlich kann er das nach dem unsinnigen Gesetz. Aber weiß ich etwa nicht, warum er so spricht? Er glaubt nicht an meine Liebe für meinen Sohn, oder verachtet dieses Gefühl, aber er weiß, dass ich den Sohn nicht verlassen und nicht aufgeben kann, dass es ohne den Sohn für mich unmöglich ist, mit dem zu leben, den ich liebe. Denn, würde ich den Sohn verlassen und ihm entfliehen, so würde ich wie ein verächtliches, abscheuliches Weib handeln – das weiß er.‹

»Unser Leben muss so bleiben, wie es war«, las sie noch einmal aus dem Brief. »Das war schon früher ein qualvolles Leben, in letzter Zeit aber war es entsetzlich, und wie wird es in Zukunft werden? Er weiß das alles. Er weiß, dass ich nicht bereuen kann, dass ich atme und liebe. Er weiß, dass nichts als Lug und Trug die Folge sein kann, aber er wünscht mich noch weiter zu quälen. Doch nein, diese Freude werde ich ihm nicht gönnen! Ich zerreiße sein Lügengewebe, in das er mich verwickeln will!« rief sie, ihre Tränen zurückhaltend, und ging zum Schreibtisch, um einen anderen Brief zu schreiben.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, aber anstatt zu schreiben, legte sie die gefalteten Hände auf den Tisch und ihren Kopf darauf und weinte und schluchzte wie ein Kind. Sie wusste jetzt, dass alles noch viel schlimmer als früher werden musste, sie fühlte, dass ihre Stellung in der Welt, die ihr heute morgen so unwichtig erschienen, ihr dennoch teuer war, dass sie nicht imstande war, sie mit der verachteten Stellung einer Frau, die ihren Mann und Sohn verlassen und zu ihrem Geliebten gegangen ist, zu vertauschen. Sie würde immer eine schuldbeladene Frau bleiben, die jeden Augenblick entlarvt werden konnte, ihren Mann betrogen zu haben, um ein schimpfliches Verhältnis mit einem fremden Mann zu unterhalten. So musste es kommen, und es war so entsetzlich, dass sie sich gar nicht vorzustellen vermochte, wie das endigen solle.

Der Eintritt des Dieners veranlasste sie, sich umzuwenden, um ihm ihr Gesicht zu verbergen. Sie stellte sich, als ob sie schreibe.

»Der Kurier bittet um Antwort«, meldete der Lakai.

»Antwort? Ja«, sagte Anna. »Er soll warten, ich werde klingeln.« ›Was kann ich schreiben?‹ dachte sie. ›Was kann ich allein entscheiden? Was weiß ich? Was will ich? Was liebe ich? Ich muss Alexej sprechen! Er allein kann mir sagen, was ich tun soll. Ich fahre zu Betsy, vielleicht werde ich ihn dort sehen!‹ Sie vergaß, dass sie ihm gestern gesagt hatte, sie werde nicht zur Fürstin Twerskaja gehen, worauf er geantwortet hatte, dann werde er auch nicht hinkommen. Anna trat an den Schreibtisch und schrieb an ihren Mann.

»Ich habe Ihren Brief erhalten. A.«

Dann klingelte sie und übergab den Brief dem Lakai. »Wir reisen nicht«, sagte sie zu Annuschka.

»Wie? Gar nicht?«

»Nein, aber packen Sie heute noch nicht aus! Der Wagen soll warten, ich fahre zur Fürstin.«

An der Krocketpartie, zu der die Fürstin Twerskaja Anna eingeladen hatte, sollten zwei Damen und ihre Verehrer teilnehmen. Die beiden Damen waren die Vertreterinnen eines neuen Petersburger Gesellschaftskreises, den man die »Sieben Weltwunder« nannte. Der Kreis, zu dem diese Damen gehörten, war der höchste, stand aber demjenigen feindlich gegenüber, dem Anna angehörte. Außerdem war der alte Stremow, eine der einflussreichsten Persönlichkeiten Petersburgs und Verehrer von Lisa Merkalow, im Dienste ein Feind Karenins. Deshalb hatte Anna der Einladung nicht folgen wollen. Jetzt aber änderte sie ihre Absicht, in der Hoffnung, Wronsky vielleicht doch dort anzutreffen.

Anna kam früher als die anderen Gäste. In dem Augenblick, als sie eintrat, erschien auch der Lakai Wronskys an der Tür. Er blieb stehen und nahm die Mütze ab, während sie vorüberging. Anna erkannte ihn und erinnerte sich jetzt erst, dass Wronsky gesagt hatte, er werde nicht kommen. Wahrscheinlich überbrachte der Diener deshalb einen Brief von ihm. Sie wollte ihn fragen, wo sein Herr sei, sie wollte umkehren und ihm schreiben, er möchte zu ihr kommen, oder selbst zu ihm fahren, aber das war alles unmöglich. Sie hörte, wie sie angemeldet wurde, und der Lakai der Fürstin stand schon an der offenen Tür.

»Die Fürstin ist im Garten, ist es der gnädigen Frau gefällig, in den Garten zu treten?«

Sie befand sich hier in derselben Unentschlossenheit und Unklarheit wie zu Hause. Es war sogar noch schlimmer, weil sie nichts unternehmen und Wronsky nicht sehen konnte. Sie musste hierbleiben in dieser ihr fremden und ihrer Stimmung so wenig entsprechenden Gesellschaft. Betsy kam ihr entgegen in einer weißen Toilette von bezaubernder Eleganz. Anna lächelte ihr zu wie immer. Die Fürstin Twerskaja wurde von Tuschkewitsch und einer Nichte aus der Provinz begleitet. Betsy bemerkte sogleich an Anna etwas Besonderes.

»Ich habe schlecht geschlafen«, erwiderte Anna mit einem Blick nach dem Diener Wronskys, welcher ihnen entgegenkam und, wie sie wusste, einen Brief brachte. »Wie bin ich erfreut, dass Sie gekommen sind«, sagte Betsy. »Ich bin müde und wollte eben eine Tasse Tee trinken in Erwartung der anderen.« Und dann wandte sie sich zu Tuschkewitsch! »Sie sollten mit Maria den Krocketgrund untersuchen! Wir wollen uns bei einer Tasse Tee unterhalten! We will have a cosy chat, nicht wahr?« sagte sie lachend zu Anna.

»Um so mehr, als ich nicht lange bei Ihnen bleiben kann! Ich muss durchaus zur alten Wrede! Ich habe es schon vor hundert Jahren versprochen«, sagte Anna, der die ihrer Natur so fremde Lüge in dieser Gesellschaft geläufig wurde. Diese Ausflucht gebrauchte sie nur, um sich ihre Freiheit zu sichern, weil Wronsky nicht kam, und um einen Versuch zu machen, ihn irgendwie zu sehen. »Nein, ich lasse Sie auf keinen Fall gehen«, erwiderte Betsy mit einem forschenden Blick auf Annas Gesicht. »Wirklich, ich müsste eigentlich gekränkt sein, wenn ich Ihnen nicht so gut wäre.«

Sie nahm dem Diener den Brief ab und las ihn. »Alexis bereitet uns eine Enttäuschung, er schreibt, er könne nicht kommen«, sagte sie in einem so einfachen, natürlichen Tone, als ob ihr der Gedanke niemals kommen könnte, dass Wronsky für Anna irgendwie andere Bedeutung haben könnte als die eines Krocketspielers.

»Ah!« sagte Anna gleichgültig, als ob sie das alles nicht interessierte.

Dieses Spiel mit Worten, dieses Versteckspiel hatte auch für Anna einen großen Reiz, der weniger in der Notwendigkeit, zu verbergen, als in dem Prozess des Verstellens selbst bestand.

Sie gingen in das kleine Kabinett der Fürstin.

»Aber ich muss Wronsky antworten«, bemerkte Betsy. Sie setzte sich an den Schreibtisch, schrieb ein kleines Billett und legte es in ein Kuvert.

»Ich schreibe ihm, er soll mit uns zu Mittag speisen, sonst bleibt eine Dame ohne Kavalier! Sehen Sie einmal, ob es überzeugend genug ist! Entschuldigen Sie mich, ich muss Sie einen Augenblick verlassen, aber ich bitte Sie, das Briefchen zu verschließen und abzusenden!« sagte sie von der Tür aus. »Ich muss schnell einige Anordnungen treffen.«

Hastig setzte sich Anna an den Schreibtisch, und ohne Betsys Zeilen zu lesen, schrieb sie darunter:

»Ich muss Sie unbedingt sehen! Kommen Sie zur Gräfin Wrede, dort werde ich um sechs Uhr sein!« Dann verschloss sie den Brief und übergab ihn in Betsys Gegenwart einem Diener. Die beiden Damen hatten wirklich beim Tee eine zwanglose Unterhaltung. Sie sprachen von den zu erwartenden Gästen und besonders von Lisa Merkalow.

»Sie ist sehr liebenswürdig und war mir stets sympathisch«, sagte Anna.

»Das sind Sie ihr schuldig. Sie ist entzückt von Ihnen. Gestern kam sie nach dem Wettrennen zu mir, war in Verzweiflung, als sie Sie nicht traf, und sagte, Sie seien eine wirkliche Romanheldin, und wenn sie ein Mann wäre, so würde sie für Sie tausend Torheiten begehen.«

»Aber ich konnte niemals begreifen«, sagte Anna nach kurzem Schweigen und in einem Tone, der deutlich bewies, dass sie keine müßige Frage stellte, sondern dass das, was sie fragen wollte, ihr wichtig war. »Sagen Sie mir, welcher Art ist ihr Verhältnis zu dem Fürsten Kaluschski, Wischka genannt?«

Betsy brach unerwartet in ein heiteres Lachen aus. »Das ist eine schrecklich naive Frage!«

»Nein, Sie lachen!« sagte Anna, die unwillkürlich einstimmte. »Aber ich konnte nicht daraus klug werden, ich begreife die Rolle des Mannes nicht!«

»Des Mannes? Der Mann von Lisa Merkalow trägt ihr den Plaid nach und ist immer dienstfertig. Was weiter vorgeht, davon will er nichts wissen.«

Betsy goss den duftenden Tee in kleine durchsichtige Tassen, dann nahm sie eine Zigarette und zündete sie an.

»Sehen Sie, ich bin in einer glücklichen Lage«, begann die Fürstin, nach der Tasse greifend, »ich verstehe Sie und verstehe auch Lisa. Lisa ist eine von jenen kindlich naiven Naturen, die nicht wissen, was gut und böse ist«, bemerkte Betsy mit feinem Lächeln. »Sehen Sie, man kann eine und dieselbe Sache tragisch ansehen und sich darüber grämen, oder gleichmütig und sogar vergnügt sein. Vielleicht sind Sie geneigt, die Sache zu tragisch anzusehen?«

»Wie sehr wünsche ich, andere so zu kennen, wie ich mich selbst kenne«, sagte Anna ernst und nachdenklich. »Bin ich besser oder schlechter als andere? Ich glaube das letztere!«

»Sie sind ein Kind! Ein naives Kind!« sagte Betsy. »Aber da kommen sie!«

Man hörte Schritte und eine Männerstimme, dann eine weibliche Stimme und Gelächter, und endlich traten die erwarteten Gäste ein: Sapho Stolz und ein in üppigster Gesundheit strahlender junger Mensch, der Waßka genannt wurde. Waßka verbeugte sich gegen die Damen, sah sie aber nur eine Sekunde lang an, dann folgte er Sapho durch den ganzen Salon und wandte seine glänzenden Augen nicht von ihr.

Sapho Stolz war eine Blondine mit schwarzen Augen. Sie trat mit kleinen, lebhaften Schrittchen ein und drückte den Damen kräftig nach Männerart die Hand.

Anna hatte diese neue Berühmtheit noch niemals gesehen. Sie war erstaunt über ihre Schönheit, über die Besonderheit ihrer Toilette und ihr Benehmen.

Betsy beeilte sich, sie mit Anna bekannt zu machen.

»Können Sie sich vorstellen, wir haben beinahe zwei Soldaten überfahren«, begann sie sogleich zu erzählen, indem sie blinzelte, lächelte und ihre lange Schleppe nach hinten warf, welche dadurch plötzlich zu weit auf eine Seite geriet. »Ich fuhr mit Waßka... Ach ja, Sie sind noch nicht bekannt!« Sie rief den jungen Mann bei seinem Familiennamen, stellte ihn vor und lachte laut über ihr Versehen, nämlich darüber, dass sie ihn Waßka genannt hatte.

Der junge Mann verbeugte sich nochmals, ohne etwas zu sagen, und wandte sich dann sogleich wieder an Sapho.

»Sie haben die Wette verloren, wir sind zuerst gekommen, bezahlen Sie!« sagte er lachend.

»Aber doch nicht jetzt«, erwiderte Sapho noch lauter lachend.

»Gleichviel, dann werde ich später das meinige erhalten.«

»Gut, gut. Ach ja«, sagte sie plötzlich zur Dame des Hauses, »nicht übel! Das habe ich vergessen! Ich habe Ihnen einen Gast mitgebracht, da ist er!«

Der unerwartete junge Gast, den Sapho mitgebracht und vergessen hatte, war der neue Verehrer von Sapho, der ihr ebenso wie Waßka auf Schritt und Tritt nachlief. Bald darauf kam auch Fürst Kaluschski mit Stremow und Lisa Merkalow. Diese war eine hagere Brünette von orientalischem Typus und apathischem Wesen und bekannt wegen ihrer entzückenden, verschleierten Augen. Ihre Toilette entsprach vollkommen dem Charakter ihrer Schönheit.

Aber Lisa gefiel Anna bedeutend besser, sie war ein unwissendes, unverdorbenes, aber liebenswürdiges, schweigsames Wesen. Ihr Ton war zwar nicht besser als der Ton Saphos, und ebenso wie Sapho folgten auch ihr zwei Verehrer, die sie mit ihren Augen verschlangen, der eine jung, der andere alt – aber sie hatte etwas, das sie höherstellte als ihre Umgebung.

»Ach, wie erfreut bin ich, Sie zu sehen!« sagte sie, zu Anna tretend. »Gestern, beim Wettrennen, suchte ich zu Ihnen zu gelangen, aber Sie fuhren eben nach Hause. Gerade gestern wünschte ich so sehr, Sie zu sehen! Nicht wahr, es war entsetzlich?«

»Ja, ich hatte nicht geglaubt, dass mich das so erregen könne«, erwiderte Anna errötend.

Die Gesellschaft erhob sich, um in den Saal zu gehen.

»Ich werde nicht gehen«, sagte Lisa lachend und setzte sich neben Anna. »Sie gehen auch nicht; was ist das für ein Vergnügen, Krocket zu spielen?«

Sapho warf ihre Zigarette weg und ging in den Garten. Die beiden jungen Leute folgten ihr. Betsy und Stremow blieben beim Tee.

»Wie langweilig!« sagte Betsy. »Sapho sagt, man habe sich gestern bei Ihnen sehr gut unterhalten.«

»Ach, was war das für eine Langeweile!« rief Lisa Merkalow. »Nach dem Wettrennen fuhren alle zu mir. Immer dieselben Gesichter! Nein, aber wie machen Sie es, dass Sie sich nicht langweilen?« wandte sie sich wieder an Anna. »Wenn man Sie nur ansieht, hat man das Empfinden: Das ist eine Dame, die glücklich oder unglücklich sein kann, aber sich niemals langweilen wird! Belehren Sie mich, wie Sie das anfangen!«

»Ich mache gar nichts«, erwiderte Anna, errötend über diese zudringliche Frage.

»Das ist die beste Manier«, mischte sich Stremow ein.

Stremow war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, halb ergraut, aber noch frisch, sehr hässlich, jedoch ein kluger Mensch, von starkem Charakter. Lisa Merkalow war die Nichte seiner Frau, und er brachte alle seine freien Stunden bei ihr zu.

»Das ist entschieden das beste Mittel«, wiederholte er mit feinem Lächeln. »Ich habe Ihnen schon lange gesagt«, wandte er sich zu Lisa, »um sich nicht zu langweilen, darf man nicht denken, weil das langweilig ist! Das hat auch Anna Arkadjewna Ihnen gesagt.«

»Ich würde mich sehr freuen, wenn ich das gesagt hätte, weil es sehr klug und wahr ist«, sagte Anna lachend.

»Ich bitte, verlassen Sie uns nicht«, rief Lisa Merkalow, als Anna sich erhob. Stremow vereinigte seine Bitten mit den ihrigen, und Anna zögerte. Konnte der schwere Augenblick peinlicher Aufklärungen nicht noch aufgeschoben werden? Aber sie erinnerte sich der Notwendigkeit, einen Entschluss zu fassen. Rasch verabschiedete sie sich und fuhr davon.

Ungeachtet seines anscheinend leichtsinnigen Lebens verabscheute Wronsky die Unordnung. Fünf- oder sechsmal im Jahr hielt er große Wäsche, wie er sagte, um alle seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen.

Am Tage nach dem Wettrennen stand Wronsky spät auf. Noch ehe er sich rasiert und gebadet hatte, setzte er sich in einer Soldatenjacke an den Tisch, breitete Rechnungen, Briefe und Geld aus und begann seine Arbeit.

Petrizky, der wusste, dass er bei solchen Angelegenheiten reizbar war, kleidete sich an und ging von Hause fort, ohne zu stören.

Wronsky schrieb mit seiner zierlichen Handschrift auf ein Blatt Postpapier alle seine Schulden, zog die Summe und fand, dass er siebzehntausend und einige hundert Rubel Schulden hatte, während ihm von barem Geld und Banknoten achtzehnhundert Rubel übriggeblieben waren und er vor dem neuen Jahr keine Einnahme mehr zu erwarten hatte. Diese Schulden teilte er in drei Klassen. Die erste enthielt solche, die sogleich bezahlt werden mussten oder für welche Geld bereitgehalten werden musste, damit sie auf Verlangen ohne die geringste: Zögerung bezahlt werden konnten. Solche Schulden beliefen sich auf ungefähr viertausend Rubel.

Die zweite Abteilung von achttausend Rubeln enthielt weniger wichtige Schulden, hauptsächlich für den Rennstall, für Hafer und Heu, aber auf diese Schulden mussten auch etwa zweitausend abgezahlt werden.

Die Schulden der letzten Art, beim Schneider, in Läden und Restaurants fanden wenig Beachtung.

Er hatte also für die laufenden Ausgaben sogleich mindestens sechstausend Rubel nötig, vorhanden waren aber nur achtzehnhundert. Für einen Menschen mit einem Einkommen von hunderttausend Rubeln waren solche Schulden nicht von Bedeutung, aber diese hunderttausend Rubel erhielt er nicht.

Das ungeheure väterliche Vermögen, das etwa zweihundert- tausend Rubel jährlich abwarf, wurde zwischen den Brüdern geteilt. Als der ältere Bruder die Fürstin Warja Tschirkow, die Tochter eines verarmten Aristokraten, heiratete, die einen Haufen Schulden auf dem Halse hatten, trat Alexej dem älteren Bruder die ganze Einnahme aus dem väterlichen Vermögen ab und behielt sich nur fünfundzwanzigtausend Rubel jährlich vor. Alexej sagte damals seinem Bruder, diese Summe werde für ihn ausreichend sein, bis er heirate, was wahrscheinlich niemals geschehen werde, und der Bruder, der eines der teuersten Regimenter kommandierte, konnte nicht umhin, dieses Geschenk anzunehmen. Die Mutter hatte eigenes Vermögen und gab Alexej jährlich etwa noch zwanzigtausend, die er auch ausgab. In letzter Zeit aber hatte er das Mißfallen seiner Mutter durch seine Liebschaft erregt, und sie hörte auf, ihm Geld zu senden.

Wronsky, der sich daran gewöhnt hatte, fünfundvierzigtausend Rubel zu verleben und in diesem Jahre nur fünfundzwanzigtausend erhalten hatte, befand sich jetzt in der Enge. Er hätte seine Mutter um Geld bitten können, aber ihr letzter Brief hatte ihn besonders erzürnt durch die Andeutung, dass sie bereit sei, ihn zu dem Erfolg in der Welt und im Dienst zu unterstützen, aber nicht zu einem skandalösen Leben. Die Absicht seiner Mutter, ihn gewissermaßen durch Geld zu kaufen, beleidigte ihn tief, und er erkaltete noch mehr gegen sie. Sein gegebenes Wort musste er indessen halten, obgleich er jetzt ein unbestimmtes Vorgefühl empfand, dass ihm größere Ausgaben bevorstehen könnten und dass er vielleicht diese ganzen hunderttausend benötigen würde.

Nur eins war möglich, und Wronsky entschloss sich ohne Schwanken dazu, nämlich zehntausend Rubel von einem Wucherer zu entlehnen, was keine Schwierigkeiten haben konnte, dann aber seine Ausgaben zu beschränken und die Rennpferde zu verkaufen.

Nachdem er dies beschlossen hatte, schrieb er sogleich an Rolandachi, der ihm mehr als einmal seine Pferde abkaufen wollte. Dann sandte er nach seinem englischen Stallmeister und nach dem Geldverleiher und verteilte sein vorrätiges Geld auf verschiedene Rechnungen. Nachdem er damit fertig war, schrieb er eine kalte und scharfe Antwort an seine Mutter. Dann nahm er aus der Brieftasche die drei Briefe von Anna, die er nochmals durchlas und darauf verbrannte, worauf er in tiefes Nachsinnen über sein gestriges Gespräch mit Anna versank. Wronskys Leben war darum besonders glücklich, weil er stets nach bestimmten Grundsätzen beurteilte, was er tun oder lassen sollte. Diese Grundsätze standen unerschütterlich fest. Der Kartenspieler musste bezahlt werden, der Schneider aber nicht, den Männern gegenüber durfte er nicht lügen, den Frauen gegenüber war es gestattet. Alle diese Grundsätze mochten unvernünftig und schlecht sein, aber sie standen fest, und Wronsky hatte das Gefühl, dass er den Kopf hoch tragen könne, wenn er sie alle erfüllt habe. Nur in der letzten Zeit fühlte er in bezug auf sein Verhältnis zu Anna, dass sein Kodex nicht für alle Umstände ausreichte und dass sich in der Zukunft Schwierigkeiten und Zweifel ansammeln konnten, aus denen er keinen Ausweg sah.

Seine jetzigen Beziehungen zu Anna und zu ihrem Mann passten in den Rahmen seiner Grundsätze. Sie war eine ehrenwerte Frau, die ihm ihre Liebe geschenkt hatte und darum noch mehr Anspruch auf seine Achtung hatte, als wenn sie seine gesetzliche Frau gewesen wäre. Eher hätte er sich die Hand abschlagen lassen, als dass er sie mit einem Wort, einer Anspielung beleidigt oder auch nur jene Achtung und Rücksicht vergessen hätte, auf die eine Frau Anspruch hat. Seine Beziehungen zur Gesellschaft waren ebenso klar. Alle konnten das wissen oder argwöhnen, aber niemand durfte wagen, davon zu sprechen, anderenfalls war er bereit, den unbedachten Sprecher zum Schweigen zu bringen und ihn zu nötigen, die Ehre der Dame, die er liebte, zu achten.

Sein Verhältnis dem Ehemann gegenüber war ihm ebenfalls klar. Von dem Augenblick an, wo ihm Anna ihre Liebe geschenkt hatte, hielt er sein Recht auf sie für unerschütterlich. Der Ehemann war für ihn nur eine überflüssige und störende Person. Das einzige, worauf der Ehemann Anspruch hatte, war Genugtuung mit der Waffe in der Hand, und dazu war Wronsky vom ersten Augenblick an bereit. Gestern erst hatte sie ihm mitgeteilt, dass sie guter Hoffnung sei, und er fühlte, dass diese Nachricht und das, was sie jetzt von ihm erwartete, neue Anforderungen an ihn stellte, die in dem Kodex seiner Grundsätze nicht klar bestimmt waren. Im ersten Augenblick hatte ihn sein Herz dazu getrieben, von ihr zu verlangen, ihren Mann zu verlassen, jetzt aber schien es ihm, dass es besser sei, davon abzustehen, und doch wieder war er im Zweifel, ob dies möglich wäre. ›Ihren Mann zu verlassen, das heißt nichts anderes, als sich mit mir vereinigen. Bin ich dazu vorbereitet? Wie soll ich sie jetzt entführen, wo ich kein Geld habe? Angenommen, dass ich mir solches verschaffen kann ... aber ich bin ja im Dienst. Ich muss also Geld anschaffen und bereit sein, meinen Abschied zunehmen.‹

Er versank in Nachdenken. Der Ehrgeiz war das Traumbild seiner Jugend, das er sich selbst nicht eingestehen mochte, das aber trotzdem so stark war, dass auch jetzt diese Leidenschaft mit der Liebe kämpfte. Seine ersten Schritte in der Welt und im Dienst waren erfolgreich gewesen, aber vor zwei Jahren hatte er einen großen Missgriff begangen. Um sich seine Unabhängigkeit zu bewahren, hatte er eine ihm vorgeschlagene Stelle nicht angenommen, in der Hoffnung, dass diese Absage ihm einen höheren Wert verleihen werde. Aber es zeigte sich, dass er zu kühn gewesen war, man ließ ihn beiseite liegen, und seine unabhängige Stellung als Mensch, welcher alles kann und nichts will, wollte ihm nicht mehr genügen. Durch sein Verhältnis zu Anna, das die allgemeine Aufmerksamkeit auf ihn gezogen und ihm neuen Glanz verliehen hatte, war der nagende Wurm des Ehrgeizes in ihm zeitweise zur Ruhe gebracht worden, aber seit einer Woche brach er mit neuer Kraft hervor. Ein Jugendfreund von ihm, Serpuchowsky, welcher mit ihm dieselbe Klasse besucht und seine ehrgeizigen Träume geteilt hatte, war vor wenigen Tagen aus Innerasien als General mit zahlreichen Auszeichnungen zurückgekehrt.

Überall in Petersburg sprach man von diesem aufgehenden Stern. Dieser, in Wronskys Alter stehend, war also General. Wronsky aber, obgleich ein unabhängiger, glänzender Offizier, war nur Rittmeister.

Natürlich kann ich Serpuchowsky nicht beneiden. An ihm kann man sehen, dass man nur seine Zeit abzuwarten braucht, um rasch Karriere zu machen. Vor drei Jahren war er nicht weiter als ich. Wenn ich aber meinen Abschied nehme, so verbrenne ich meine Schiffe hinter mir, bleibe ich im Dienst, so verliere ich nichts. Sie sagte selbst, sie wünsche keine Veränderung ihrer Lage. Wenn ich ihre Liebe besitze, brauche ich Serpuchowsky nicht zu beneiden.‹

Er stand auf und ging mit glänzenden Augen im Zimmer auf und ab, im Gefühl jener sicheren, ruhigen und freudigen Stimmung, die er stets nach Klarlegung seiner Situation erlangte.

Er rasierte sich, nahm ein kaltes Bad und ging aus. »Ich komme, um dich abzuholen«, sagte Petrizky. »Bist du fertig?«

»Fertig«, erwiderte Wronsky, den Schnurrbart streichend.

»Ich komme vom Obersten«, fuhr Petrizky fort, »man erwartet dich dort.«

Wronsky blickte seinen Kameraden an, ohne zu antworten, da seine Gedanken anderswo beschäftigt waren.

»Ach, diese Musik ist bei ihm!« sagte er, indem er auf fernen Musikklang horchte. »Was wird denn da gefeiert?«

»Serpuchowsky ist gekommen.«

»Ach, das wusste ich nicht!« rief Wronsky. Serpuchowsky war sein Freund, und er freute sich, ihn wiederzusehen.

Der Oberst Grizky bewohnte ein großes Herrenhaus. Als Wronsky ankam, war schon die ganze Gesellschaft auf der Terrasse versammelt. Im Hofe standen die Vorsänger des Regiments neben einem Faß mit Branntwein. Der Oberst, umgeben von seinen Offizieren, überschrie die Musik, die eine Quadrille von Offenbach spielte, und erteilte mit lebhaften Armbewegungen Befehle. Die Soldaten, darunter mehrere Unteroffiziere, näherten sich dem Balkon zu gleicher Zeit mit Wronsky.

Der Oberst ging in den Speisesaal und kehrte mit einem Glas Champagner in der Hand zurück.

»Auf das Wohl unseres früheren Kameraden, des tapferen Generals Fürst Serpuchowsky!«

Gleich nach dem Oberst war Serpuchowsky mit einem Glase in der Hand auf die Terrasse herausgekommen.

»Du wirst immer jünger, Bondarenko!« rief er einem alten Wachtmeister zu.

Wronsky hatte Serpuchowsky seit drei Jahren nicht gesehen. Der General sah männlicher aus, war aber noch ebenso schlank und erregte weniger Aufmerksamkeit durch Schönheit als durch den einnehmenden Ausdruck seines Gesichts und seines Wesens. Eine Veränderung jedoch, die Wronsky bemerkte, war jener ruhige Ausdruck von Selbstvertrauen, die der Erfolg verleiht. Als er Wronsky erblickte, erhellte ein freudiges Lächeln seine Züge.

»Wie freue ich mich!« rief er, indem er ihm die Hände drückte und ihn beiseite führte.

Das Fest beim Obersten dauerte ziemlich lange. Serpuchowsky wurde im Triumph emporgehoben und dann auch der Oberst. Dieser tanzte vor den Vorsängern mit Petrizky, worauf er ermüdet sich auf eine Gartenbank setzte und Jaschwin die Überlegenheit Russlands gegen Preußen zu beweisen begann, besonders in Kavallerie angriffen. Dies veranlasste, dass die Unruhe sich einen Augenblick legte. Wronsky fand sich mit Serpuchowsky auf einem Diwan zusammen, und es entspann sich zwischen ihnen ein für beide Teile interessantes Gespräch.

»Ich habe durch meine Frau immer von dir gehört«, sagte Serpuchowsky. »Ich freue mich darüber, dass du sie oft gesehen hast.«

»Sie ist mit meiner Schwägerin Warja befreundet, und das ist die einzige Petersburger Dame, mit welcher ich gern verkehre«, erwiderte Wronsky lachend. Er sah mit Vergnügen die Wendung voraus, die das Gespräch nehmen werde.

»Die einzige?« fragte Serpuchowsky lachend.

»Ja, und ich habe auch von dir gehört, aber nicht durch deine Frau«, erwiderte Wronsky, indem er diese Anspielung durch eine strenge Miene abschnitt. »Ich war sehr erfreut über deine Erfolge, obgleich sie mich nicht überraschten; denn ich hatte noch mehr von dir erwartet.«

»Ich gestehe«, erwiderte Serpuchowsky geschmeichelt, »ich hatte dies alles nicht erwartet, aber ich bin sehr zufrieden. Ich bin ehrgeizig; ohne Ehrgeiz wäre das Leben langweilig. Aber nun komme ich darauf, was ich dir sagen wollte. Ich habe von deiner Ablehnung gehört. Natürlich stimme ich dir bei, aber alles hat seine Art, und ich glaube, dass dein Verfahren richtig, aber die Art und Weise nicht ganz so war, wie sie hätte sein sollen.«

»Was geschehen ist, ist geschehen. Du weißt, ich nehme nie etwas zurück und befinde mich wohl dabei.«

»Mag sein, für einige Zeit, aber nicht für immer! Und außerdem sind solche Männer wie du notwendig.«

»Wozu?«

»Wozu? Für die Gesellschaft! Für Russland! Unser Russland hat Männer nötig, hat eine Partei nötig, sonst geht alles zum Teufel! Eine mächtige Partei unabhängiger Leute, wie du und ich!«

»Aber wozu?« Wronsky zählte einige einflussreiche Persönlichkeiten auf. »Nun, warum sind diese nicht unabhängig?«

»Nur deshalb, weil sie von Geburt keine unabhängige Stellung haben, keinen Namen haben und der Sonne nicht so nahe stehen wie die Sphäre, in der wir geboren sind. Diese kann man mit Geld, mit Schmeichelei und Ehren erkaufen, und um sich zu halten, suchen sie eine bestimmte Richtung, der sie folgen können, wenn sie auch nicht daran glauben. Das alles ist nur das Mittel, um kaiserliche Gnaden und Belohnungen zu erlangen. Vielleicht bin ich schlechter und dümmer als solche Menschen, obgleich ich das nicht einsehe, aber du und ich, wir haben wenigstens einen wichtigen Vorzug – nämlich, dass wir nicht leicht zu erkaufen sind, und solche Leute sind jetzt mehr als jemals notwendig.«

Wronsky hörte aufmerksam zu, aber weniger der Inhalt der Worte selbst als die Anschauungsweise Serpuchowskys setzte ihn in Erstaunen, der augenscheinlich schon an einen Kampf mit der Gewalt dachte und in der offiziellen Welt schon seine bestimmte Sympathie und Antipathie hatte, während Wronsky im Dienst nur die Interessen der Schwadron kannte. Er begriff auch, wie mächtig Serpuchowsky durch seine unzweifelhafte Urteilskraft und seine Gabe der Rede sein konnte, die in jener Sphäre, in der er lebte, so selten war, und mit Beschämung musste er sich eingestehen, dass er Serpuchowsky beneidete.

»Eine wichtige Voraussetzung fehlt mir dazu«, erwiderte Wronsky, »das Verlangen nach Macht. Es war früher vorhanden, ist aber jetzt verschwunden.«

»Nein, daran glaube ich nicht«, erwiderte Serpuchowsky.

»Wirklich! Es ist wahr.«

»Ja, es mag wahr sein für jetzt, aber nicht für immer«, fuhr Serpuchowsky fort, »und eben deshalb wollte ich mit dir sprechen. Du hast so gehandelt, wie du musstest, aber du hast nicht nötig, eigensinnig darauf zu beharren. Ich verlange von dir nur Vollmacht! Ich will nicht deinen Gönner spielen, obgleich ich eigentlich nicht einsehe, warum nicht! Du bist ja auch so oft mein Gönner gewesen, aber ich hoffe, unsere Freundschaft ist darüber erhaben. Also nimm deinen Abschied aus dem Regiment, und ich werde dich unbemerkt weiterbringen.«

»Aber du musst begreifen«, sagte Wronsky, »dass ich gar nichts verlange, außer, dass alles bleibt, wie es ist.«

Serpuchowsky stand auf und stellte sich vor ihn hin.

»Du willst, dass alles bleibt, wie es ist; das begreife ich. Aber höre mich an. Wir sind Altersgenossen. Vielleicht kennst du mehr Frauen als ich.« Ein Lächeln und eine Handbewegung Serpuchowskys versicherten Wronsky, dass keine empfindliche Stelle berührt werden sollte. »Meine Meinung ist, dass die Frauen der hauptsächlichste Stein des Anstoßes in der Laufbahn eines Menschen sind. Es ist schwer, eine Frau zu lieben und dabei Bedeutendes zu leisten. Dazu gibt es nur ein Mittel – die Ehe. Wie soll ich dir sagen, was ich denke? Warte! Das ist genau ebenso, wie man nur eine Last tragen und dabei die Hände freibehalten kann, wenn die Last auf dem Rücken festgebunden ist, und dieses Gefühl hatte ich, als ich mich verheiratete. Plötzlich waren meine Hände freigeworden. Will man aber ohne die Ehe diese Last hinter sich herschleppen, so hat man die Hände so voll, dass man nichts machen kann. Sieh einmal Masankow und Krupow an! Sie haben der Frauen wegen ihre Karriere ruiniert!«

»Aber was für Frauen!« sagte Wronsky, indem er sich an die Französin und an die Schauspielerin erinnerte, mit denen die beiden Genannten ihr Verhältnis hatten.

»Um so schlimmer: je höher die Stellung der Frau in der Welt ist, desto schlimmer. Dann handelt es sich nicht mehr darum, diese Last mit eigenen Armen zu schleppen, sondern sie einem anderen zu entreißen.«

»Du hast nie geliebt!« sagte Wronsky leise.

»Mag sein! Aber erinnere dich, was ich dir gesagt habe. Und denke auch daran, die Frauen sind alle viel materieller als die Männer. Wir sind bereit, aus Liebe etwas Ungeheures zu vollbringen; sie aber bleiben immer auf festem Boden.«

Ein Diener trat ein, ging auf Wronsky zu und überreichte ihm einen Brief. . .

»Der Diener der Fürstin Twerskoj hat dies überbracht.«

Wronsky öffnete den Brief und fuhr zusammen.

»Ich habe Kopfschmerzen; ich gehe nach Hause«, sagte er zu Serpuchowsky.

»Nun, dann lebe wohl! Gibst du mir Vollmacht?«

»Davon sprechen wir später! Ich werde dich in Petersburg besuchen.«

Es war schon sechs Uhr, und um zur rechten Zeit einzutreffen, begab sich Wronsky in die Mietsdroschke Jaschwins und befahl, so schnell als möglich zu fahren. Er setzte sich in die Ecke der geräumigen Kutsche, legte die Füße auf den Vordersitz... und versank in Nachdenken.

Das Bewusstsein, seine Angelegenheiten in Ordnung gebracht zu haben, die Erinnerung an die Freundschaft Serpuchowskys, der ihn für einen notwendigen Mann der Tat erklärt hatte, und vor allem die Erwartung des Wiedersehens mit Anna, alles vereinigte sich, um ihn in eine freudig erregte Stimmung zu versetzen, und er atmete mit vollen Zügen die Abendluft ein.

»Vorwärts! Vorwärts!« rief er nochmals dem Kutscher zu und reichte ihm einen Dreirubelschein.

Ich verlange nichts mehr als dieses Glück‹, dachte er, indem er vor sich das Bild Annas erblickte, wie er sie zum letzten mal gesehen hatte. ›Und je länger, desto mehr liebe ich sie! Hier ist der Wredesche Garten. Wo mag sie wohl sein? Aber warum hat sie diesen Ort für das Rendezvous bestimmt? Und warum schrieb sie in Betsys Brief?‹ fiel ihm jetzt erst ein. Er ließ den Kutscher halten, ehe er die ganze Allee hinab gefahren war. Dort öffnete er ein Pförtchen, nachdem er im Lauf aus dem Wagen gesprungen war, und betrat dann den Weg, der nach dem Hause führte. Niemand war in der Allee zu sehen, aber als er nach rechts sah, erblickte er sie. Ihr Gesicht war mit einem Schleier bedeckt, aber er erkannte ihren eigenartigen Gang, die Haltung ihres Kopfes und fühlte sich wie von einem elektrischen Schlag durchzuckt.

Sie kam ihm entgegen und drückte stark seine Hand.

»Du zürnst mir nicht, dass ich dich hierher berufen habe? Ich musste dich notwendig sehen.«

»Zürnen? Aber warum bist du hier?«

»Das ist gleichgültig«, sagte sie, indem sie ihren Arm unter den seinigen schob. »Komm, ich muss mit dir sprechen.«

Wronsky begriff, dass etwas vorgefallen war. Er fühlte, wie ihre Aufregung sich ihm mitteilte, obgleich er den Grund derselben noch nicht kannte.

Schweigend ging sie einige Schritte weiter, wie um sich zu fassen, und blieb plötzlich stehen.

»Ich habe dir gestern nicht gesagt«, begann sie hastig und schwer atmend, »dass ich auf dem Heimwege meinem Mann alles mitgeteilt habe. Ich habe ihm gesagt, ich könne nicht mehr seine Frau sein, und ... habe ihm alles gesagt.«

Er richtete sich auf, und sein Gesicht nahm einen stolzen und festen Ausdruck an. »Ja, ja, das ist besser, tausendmal besser!« sagte er.

Aber sie hörte seine Worte nicht, sie bemühte sich, seine Gedanken auf seinem Gesicht zu lesen. Sie konnte nicht wissen, dass der Ausdruck seiner Miene von dem Gedanken hervorgerufen war, dass jetzt ein Duell unvermeidlich sei. Sie hatte niemals an ein Duell gedacht, und deshalb deutete sie diese ernste Miene anders.

Nach Empfang des Briefes von ihrem Manne fühlte sie voraus, dass alles bleiben werde wie es war, aber es lag ihr dennoch außerordentlich viel daran, Wronsky zu sprechen, sie hoffte dennoch auf irgendeine Veränderung ihrer Lage. Wenn er ihr bei dieser Mitteilung entschieden und leidenschaftlich, ohne einen Augenblick zu zögern, gesagt hätte: »Verlasse alles und fliehe mit mir!« so hätte sie ihren Sohn verlassen und wäre mit ihm gegangen. Aber was sie erwartete, traf nicht ein. Fast schien er über etwas unzufrieden zu sein.

»Es fiel mir durchaus nicht schwer, es kam ganz von selbst«, sagte sie ein wenig erregt. »Und nun lies dies.«

Sie nahm den Brief ihres Mannes aus dem Handschuh.

»Ich verstehe! Ich verstehe!« unterbrach er sie und ergriff den Brief, aber er las ihn nicht und suchte sie zu beruhigen. »Ich wünsche nur eins – dieser Situation ein Ende zu machen, um mein ganzes Leben deinem Glück zu weihen.«

»Warum sagst du mir das?« fragte sie. »Könnte ich je an dir zweifeln? Wenn ich zweifelte...« Ihre Lippen zitterten, und er glaubte zu bemerken, dass ihre Augen unter dem Schleier mit seltsamem Glanz nach ihm blickten. »Ich kann nicht an dir zweifeln! Aber nun lies, was er mir schreibt!«

Sie blieben wieder stehen. Während Wronsky den Brief las, dachte er zuerst an die Herausforderung, die ihm wahrscheinlich heute oder morgen überbracht werden würde. Er stellte sich vor, wie er mit derselben kalten und stolzen Miene in die Luft schießen und den Schuss des beleidigten Ehemannes abwarten werde, und dann erinnerte er sich an das, was ihm vor kurzem Serpuchowsky gesagt und was er selbst am Morgen gedacht hatte – es sei besser, sich durch keine Liaison zu binden. Aber diesen Gedanken konnte er zu ihr nicht aussprechen.

Während er den Brief las, richtete er seinen Blick auf sie, und die Festigkeit wich daraus. Sie begriff sogleich, dass er ihr nicht alles sagen werde, was er dachte, und dass ihre letzte Hoffnung sie betrogen hatte. Sie hatte ihn sich anders vorgestellt.

»Du siehst, was das für ein Mensch ist!« sagte sie mit zitternder Stimme. »Er...«

»Verzeihe! Aber ich freue mich darüber«, unterbrach sie Wronsky. »Um Gottes willen, lasse mich doch aussprechen! Ich freue mich, dass alles nicht so bleiben kann, wie er glaubt.«

»Warum nicht?« fragte Anna, ihre Tränen zurückhaltend.

Wronsky aber hatte sagen wollen, dass nach dem seiner Ansicht nach unvermeidlichen Duell die Situation nicht so bleiben könne.

»Es kann nicht so bleiben! Ich hoffe, du wirst ihn noch heute verlassen. Ich hoffe«, fuhr er verlegen und errötend fort, »dass du mir erlauben wirst, die Einrichtung unseres gemeinsamen Lebens zu überlegen. Morgen ...«

Sie ließ ihn nicht ausreden.

»Und meinen Sohn?« rief sie. »Du siehst, was er schreibt, er schreibt, ich muss ihn zurücklassen, und das kann ich nicht!«

»Aber bedenke, was besser ist: deinen Sohn zu verlassen oder in dieser demütigenden Lage weiter zu leben?«

»Für wen ist sie demütigend?«

»Für alle, und am meisten für dich.«

»Demütigend? ... Sage das nicht! Dieses Wort hat für mich keinen Sinn«, erwiderte sie mit zuckenden Lippen. Sie wollte verhüten, dass er jetzt unaufrichtig gegen sie sein möchte. Nur seine Liebe war ihr geblieben, und diese wollte sie festhalten. »Begreife doch, dass für mich alles verändert ist, seit ich dich liebe! Ich habe nur eins, deine Liebe, und wenn sie mir bleibt, so fühle ich mich so hoch, dass nichts mich demütigen kann. Ich bin stolz ... stolz, weil...« Sie konnte nicht aussprechen, worauf sie stolz war. Tränen der Beschämung und Verzweiflung erstickten ihre Stimme.

Auch er fühlte, wie seine Kehle sich zuschnürte und er zum ersten mal in seinem Leben dem Weinen nahe war. Er bedauerte sie und fühlte, dass er ihr nicht helfen könne, und dabei wusste er, dass er an ihrem Unglück schuld war und eine schlechte Handlung begangen hatte.

»Ist denn keine Scheidung möglich?« fragte er zögernd.

Sie schüttelte schweigend den Kopf.

»Kannst du nicht deinen Sohn mit dir nehmen und ihn dennoch verlassen?«

»Ja, aber das hängt alles von ihm ab! Jetzt muss ich zu ihm fahren!« sagte sie trocken. Ihr Vorgefühl, dass alles wie früher bleiben werde, hatte sie nicht betrogen.

»Am Dienstag werde ich in Petersburg sein, und dann wird sich alles entscheiden.« »Ja«, sagte sie. – »Aber sprechen wir nicht mehr davon!«

Annas Wagen, den sie vor dem Gitter des Gartens verlassen hatte, fuhr vor. Sie nahm Abschied von Wronsky und befahl dem Kutscher, nach Hause zu fahren.

Am Montag fand die gewöhnliche Sitzung der Kommission statt. Karenin trat in den Saal, grüßte wie gewöhnlich den Präsidenten und die Mitglieder, setzte sich an seinen Platz und hörte mit unbefangener Miene die Vorlesung des Protokolls an. Beim Anblick seiner ermüdeten gleichmütigen Miene hätte niemand geglaubt, dass er einige Minuten später eine Rede halten werde, die einen wahren Sturm erregen sollte, den der Präsident nur mit Mühe beschwichtigen konnte.

Stremow, der auch Mitglied der Kommission war, widersprach mit Heftigkeit, und die Sitzung verlief in höchster Erregung. Aber Karenin triumphierte, seine Vorschläge wurden angenommen. Man ernannte drei neue Kommissionen, und der Erfolg Karenins überstieg sogar seine Erwartungen.

Als Karenin am anderen Morgen erwachte, erinnerte er sich mit großer Befriedigung dieses Sieges, und obgleich er gleichgültig zu erscheinen wünschte, konnte er doch ein Lächeln nicht unterdrücken, als sein Kanzleichef, um ihm zu schmeicheln, die Gerüchte wiedererzählte, die er vernommen hatte. Während er mit diesem arbeitete, vergaß er gänzlich, dass am heutigen Tage die Rückkehr seiner Frau erfolgen sollte, und er war unangenehm überrascht, als ein Diener ihm ihre Ankunft meldete.

Anna kam ziemlich früh am Morgen in Petersburg an. Auf ihr Telegramm hin war ihr der Wagen entgegengesandt worden, aber Karenin war nicht wie sonst auf dem Bahnhof erschienen, um sie abzuholen. Man meldete ihr, dass er noch nicht ausgegangen und mit seinem Kanzleichef bei der Arbeit sei. Sie ließ ihm sagen, dass sie angekommen wäre, ging in ihr Kabinett und beschäftigte sich mit dem Auspacken ihrer Sachen, in der Erwartung, dass er kommen werde. Aber es verging eine Stunde, ohne dass er erschien. Endlich entschloss sie sich, ihn aufzusuchen. Als sie bei ihm eintrat, fand sie ihn in Uniform, augenscheinlich im Begriff, auszufahren. Er saß an einem kleinen Tisch und blickte trübe vor sich hin.

Bei ihrem Anblick wollte er aufstehen, bedachte sich aber. Dann errötete er, was Anna früher nie bei ihm bemerkt hatte, stand rasch auf und ging ihr entgegen. »Ich bin sehr erfreut, dass Sie gekommen sind«, sagte er, indem er sich neben sie setzte. Mehrmals wollte er anfangen zu sprechen, aber immer schloss er den Mund wieder. Sie bedauerte ihn, und das Schweigen währte ziemlich lange.

»Ist Serescha gesund?« fragte er, und ohne eine Antwort abzuwarten, fügte er hinzu: »Ich werde heute nicht zu Hause speisen und muss sogleich ausfahren.«

»Ich wollte nach Moskau reisen«, sagte sie.

»Nein, Sie haben sehr, sehr gut daran getan, dass Sie gekommen sind«, sagte er und schwieg dann wieder.

Als sie sah, dass er nicht imstande war, von dem sie beide bewegenden Thema zu sprechen, begann sie. »Alexej Alexandrowitsch«, sagte sie mit starr auf ihn gerichteten Blicken, »ich bin eine schuldbeladene, eine schlechte Frau, aber von dem, was ich Ihnen damals sagte, kann ich nichts zurücknehmen.«

»Darum bitte ich Sie auch nicht«, sagte er plötzlich entschieden und mit einem Blick des Hasses. »Das habe ich mir auch gedacht!« Unter dem Einfluss des Zornes erlangte er augenscheinlich wieder die Herrschaft über alle seine Fähigkeiten. »Aber wie ich Ihnen damals sagte und schrieb, wiederhole ich Ihnen, dass ich nicht verpflichtet bin, davon etwas zu wissen, ich ignoriere alles! Ich ignoriere es, solange die Welt nichts davon weiß, und deshalb will ich Ihnen nur sagen, dass unsere Beziehungen dieselben bleiben müssen, wie sie immer waren, und dass ich nur in dem Fall, wenn Sie sich kompromittieren sollten, genötigt sein werde, Maßregeln zu ergreifen, um meine Ehre zu schützen.«

»Aber unsere Beziehungen können nicht dieselben bleiben wie früher«, erwiderte Anna mit schüchterner Stimme und blickte ihn mit erschreckter Miene an. Und als sie wieder diese ruhigen Bewegungen sah und diese durchdringende, kindische und spöttische Stimme vernahm, erstickte ihr Widerwille das frühere Mitleiden. »Ich kann nicht mehr Ihre Frau sein, während ich ...« begann sie.

Er antwortete mit einem kalten und bösen Gelächter.

»Die Lebensweise, die Sie gewählt haben, scheint auch Ihr Denken zu beeinflussen. Ich achte Ihre Vergangenheit und verachte die Gegenwart so sehr ..., dass ich nicht auf die Auslegung gefasst war, die Sie meinen Worten gegeben haben.«

Anna seufzte und senkte den Kopf. »Alexej Alexandrowitsch, was verlangen Sie von mir?« »Ich verlange von Ihnen, dass ich diesem Menschen hier nicht wieder begegne und dass Sie sich so aufführen, dass weder die Welt noch die Dienerschaft Sie beschuldigen kann, und dass auch Sie ihn nicht mehr sehen! Ich glaube, das ist nicht zu viel, und dafür werden Sie die Rechte einer ehrbaren Frau genießen, ohne die Pflichten einer solchen zu erfüllen. Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Jetzt ist es Zeit, auszufahren, ich werde nicht zu Hause speisen.«

Er stand auf und ging zur Tür. Auch Anna erhob sich, er verbeugte sich schweigend, während sie das Zimmer verließ.

Ungeachtet des Reichtums der Ernte war Lewin doch niemals so viel Missgeschick widerfahren wie in diesem Jahre, und nicht wenig Ärger bereiteten ihm auch seine schlechten Beziehungen zu den Bauern. Alle Verbesserungen, die er einführen wollte, riefen einen beständigen Kampf hervor, in dem er, der Herr, sein Eigentum und die Arbeiter ihre Rechte, ihre Arbeit verteidigten. Bald wurde ein Kleefeld abgemäht, das er zur Saat bestimmt hatte, nur, weil dieser Klee leichter zu mähen war, bald wollten die Bauern die neuen verbesserten Pflüge nicht anwenden, und drei schöne Kälber fielen, weil man sie mit Klee heu überfüttert hatte, ohne sie zu tränken. Zum Trost erzählte man ihm, beim Nachbarn seien zwölf Kühe in drei Tagen gefallen. Alles das geschah nicht aus bösem Willen, sondern nur aus Sorglosigkeit und Eigensinn.

Schon lange war Lewin missvergnügt über das Landleben, und seine Landwirtschaft wurde ihm lästig und widerlich.

Dazu kam noch die Anwesenheit von Kitty Schtscherbatzky in der Nachbarschaft, die er sehen wollte und doch nicht konnte. Als er bei Darja Alexandrowna gewesen, hatte sie ihn eingeladen, öfter zu kommen und ihrer Schwester einen neuen Antrag zu machen, der, wie sie versicherte, jetzt unbedingt angenommen werden würde. Lewin wusste, dass er nicht aufhören könne, Kitty zu lieben; konnte sich aber doch nicht dazu entschließen, hinüberzufahren.

Ich kann sie nicht bitten, meine Frau zu sein, nur deswegen, weil sie nicht die Frau dessen sein konnte, den sie liebte‹, sagte er zu sich selbst. Dieser Gedanke rief in ihm ein kaltes, feindseliges Gefühl gegen sie hervor. »Ich könnte nicht ohne Groll mit ihr sprechen, und wie kann ich also jetzt hinüberfahren, nach dem, was mir Darja Alexandrowna gesagt hat? Ja, wenn ich sie zufällig sehen könnte und dann alles sich von selbst machen würde – jetzt aber ist es unmöglich, ganz unmöglich!«

Darja Alexandrowna sandte ihm ein Briefchen, in dem sie ihn um einen Damensattel für Kitty bat. »Man hat mir gesagt, Sie haben einen solchen Sattel«, schrieb sie. »Ich hoffe, Sie werden ihn selbst bringen.«

Das war ihm unerträglich. Wie konnte eine kluge, zartfühlende Frau ihre Schwester so erniedrigen! Zehnmal begann er eine Antwort, zerriß sie aber immer wieder und sandte endlich den Sattel, ohne ihr Schreiben zu beantworten. In dem Bewusstsein, dass er eine Unhöflichkeit begangen habe, übergab er am anderen Tage die ganze Wirtschaft der Obhut seines Verwalters und fuhr davon, in der Absicht, seinen Freund Swjaschski zu besuchen, der auf seinem Gut eine vortreffliche Schnepfenjagd besaß. Jetzt war er erfreut, der Nachbarschaft von Dolly und Kitty entfliehen zu können und gleichzeitig auch seinen Wirtschaftssorgen. Überdies war die Jagd ihm immer der beste Trost in seinen Kümmernissen gewesen.

Die neuen Pläne und Verbesserungen, die Lewin in der Landwirtschaft zur Ausführung bringen wollte, sowie sein Buch, an dem er fleißig arbeitete, beschäftigten ihn den ganzen Sommer über so sehr, dass er nur selten Zeit zur Jagd fand.

Gegen Ende August erfuhr er von einem Diener, der ihm den Sattel zurückbrachte, dass Dolly mit den Kindern und Kitty nach Moskau zurückgekehrt sei. Nicht ohne Beschämung und Erröten konnte er sich daran erinnern, Dollys Brief unbeantwortet gelassen zu haben. Er fühlte, dass er durch diese Unhöflichkeit die Schiffe hinter sich verbrannt hatte und niemals mehr sie besuchen könne. In gleicher Weise hatte er sich auch gegen seinen Freund Swjaschski nicht richtig benommen, von dem er ohne Abschied abgereist war, aber jetzt war ihm das alles gleichgültig.

Um sein Buch zu vollenden, das den Grund zu einer neuen Lehre von den Beziehungen des Volkes zum Land legen sollte, fand Lewin notwendig, ins Ausland zu reisen, um an Ort und Stelle zu lernen, Was dort geschah. Er wollte nur noch den Verkauf seiner Ernte abwarten und dann abreisen. Aber durch Regenwetter, das die Vollendung der Ernte hinderte, wurde er aufgehalten.

Aber am dreißigsten September schien die Sonne wieder, und Lewin begann entschieden, sich zur Reise vorzubereiten. Er wollte noch einen letzten Rundgang durch Hof und Feld machen, kam aber abends ganz durchnässt nach Hause. Nach Tisch zog sich Lewin wie gewöhnlich mit seinen Büchern in einen Lehnstuhl zurück und las. Dann erinnerte er sich wieder mit besonderer Lebhaftigkeit an Kitty und an ihre letzte Begegnung. Er stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Weshalb langweilen Sie sich hier unnötigerweise?« fragte Agafja Michailowna. »Warum sitzen Sie zu Hause? Wäre es nicht besser, in ein warmes Land zu reisen, nachdem Sie sich doch dazu entschlossen haben?«

»Ich werde auch übermorgen abreisen, Agafja Michailowna! Vorher aber muss ich meine Angelegenheiten hier noch in Ordnung bringen.«

Draußen hörte man Wagenglocken und das Geräusch eines vorfahrenden Reisewagens.

»Da kommen die Gäste!« rief Agafja Michailowna.

Sie stand auf und eilte zur Tür, aber Lewin überholte sie.

Während er die Treppe hinab eilte, vernahm er im Vorzimmer ein ihm bekanntes Husten. Dann erblickte er eine lange, knöcherne, ihm wohlbekannte Gestalt – es war sein Bruder Nikolai.

Lewin liebte seinen Bruder, aber immer war es ihm eine Qual, mit ihm zusammen zu sein, und gerade jetzt war es ihm besonders peinlich. Aber er zürnte sich selbst wegen dieses hässlichen Gefühls, und beim Anblick seines Bruders erwachte sogleich sein Mitleid.

Nikolai stand im Vorzimmer, bog seinen langen dünnen Hals vor, um einen Schal davon abzuwickeln, und ein seltsam klägliches Lächeln erschien auf seinen Lippen, bei dessen Anblick Lewin das Gefühl hatte, als ob seine Kehle zugeschnürt werde.

»Nun, endlich bin ich zu dir gekommen«, sagte Nikolai mit dumpfer Stimme, ohne einen Blick vom Gesicht seines Bruders abzuwenden.

»Ja, ja«, erwiderte Lewin, umarmte und küsste ihn.

Vor einigen Wochen hatte Konstantin ihm geschrieben, er habe für seinen Anteil am Hause noch einen Rest von zweitausend Rubeln zu empfangen, und Nikolai sagte, er sei jetzt gekommen, dieses Geld zu holen und bei ihm auf dem Lande Kräfte zu sammeln für seine bevorstehende Tätigkeit. Seine Bewegungen waren immer noch hastig und plötzlich. Lewin führte ihn in sein Arbeitszimmer.

Nikolai kleidete sich besonders sorgfältig um, was früher nicht seine Gewohnheit gewesen, kämmte seine spärlichen Haare und ging dann nach oben. Er war in freundlicher und heiterer Stimmung, wie Lewin sich seiner noch aus der Jugendzeit erinnerte; er sprach sogar auch von Sergej Iwanowitsch ohne Ärger und scherzte mit Agafja Michailowna.

»Nun, ich werde einen Monat oder zwei bei dir bleiben und dann nach Moskau reisen. Du weißt, Mjachkow hat mir eine Stelle versprochen. Ich werde mein Leben jetzt ganz anders einrichten! Ich habe dieses Frauenzimmer entlassen!«

»Maria Nikolaijewna? Wie? Warum?«

»Ach, sie ist ein nichtswürdiges Frauenzimmer und hat mir immer eine Menge Unannehmlichkeiten verursacht!« – Aber er erzählte nichts Näheres; denn er konnte ihm nicht sagen, dass er Maria Nikolaijewna deshalb fortgejagt hatte, weil der Tee zu schwach war, und besonders deshalb, weil sie ihn pflegte wie einen Kranken.

»Ich will jetzt meine ganze Lebensweise ändern. Ich habe natürlich Dummheiten gemacht wie alle anderen, aber Gott sei Dank, ich bin jetzt wieder gesund! Nun wird alles gut.«

Lewin wusste nichts zu antworten und war erfreut, als Nikolai ihn nach seinen Angelegenheiten fragte. Er erzählte ihm von seinen Plänen, aber Nikolai interessierte sich augenscheinlich nicht dafür.

Diese zwei Menschen standen einander so nahe, dass die geringste Bewegung, schon der Tonfall beiden mehr sagte, als was mit vielen Worten auszusprechen war. Jetzt hatten beide nur einen Gedanken, die Krankheit und den bevorstehenden Tod Nikolais, aber keiner von ihnen sprach davon. Alles war nur Trug. Lewin wollte weinen über seinen sterbenden Bruder und musste ihm zuhören, wie er von jetzt ab sein Leben einrichten wollte. Da das Haus feucht und nur ein Zimmer heizbar war, ließ Lewin das Bett für seinen Bruder in seinem Schlafzimmer hinter einem Wandschirm aufstellen.

Nikolai legte sich und schlief, wie ein Kranker schläft. Er drehte sich beständig im Bett um, hustete oder knurrte vor sich hin. Zuweilen seufzte er schwer und sagte: »Ach mein Gott!« Dann wieder, wenn er nicht husten konnte, rief er ärgerlich: »Zum Teufel!« Lewin konnte lange nicht schlafen, die verschiedensten Gedanken beschäftigten ihn, am Ende aller dieser Gedanken stand aber immer wieder – der Tod. Der Tod, das unvermeidliche Ende von allem, was lebt, erschien ihm zum ersten Male in seiner ganzen Gewalt. Der Tod war hier in seinem Bruder, der stöhnend bald Gott, bald den Teufel anrief, er war auch in ihm selbst – das fühlte er. Wenn nicht heute, dann morgen; wenn nicht morgen, dann in dreißig Jahren. – Ist das nicht alles dasselbe? Was aber dieser unvermeidliche Tod ist – daran hatte er nie gedacht, und er wagte es nicht, daran zu denken.

Er saß in der Finsternis auf dem Bett, die Knie in seine Arme geschlossen, in tiefem Nachdenken. Aber je mehr er seinen Geist anstrengte, desto deutlicher wurde es ihm, dass es unzweifelhaft so sei, dass er wirklich die eine Kleinigkeit im Leben vergessen und übersehen hatte – nämlich, dass der Tod kommt und allem ein Ende macht.

»Nun ja, aber für jetzt lebe ich noch! Aber was soll ich jetzt machen?« fragte er sich verzweifelt.

Er machte Licht, erhob sich vorsichtig, ging zum Spiegel und betrachtete sein Gesicht und seine Haare. Ja, an den Schläfen wurden sie schon grau. Er öffnete den Mund, betrachtete seine Zähne, seine muskulösen Arme. »Ja, noch habe ich Kraft.« Aber auch Nikolai war einst kräftig und gesund, und nun erinnerte er sich, wie sie als Kinder, wenn sie schlafen gingen, nur darauf warteten, sich unter tollem Gelächter mit den Kissen zu bewerfen, und nichts dieses wilde und berauschende Gefühl von Lebenslust aufhalten konnte.

»Und jetzt diese keuchende Brust!«

»Kcha! Kcha! Zum Teufel! Was läufst du herum? Warum schläfst du nicht?« rief Nikolai.

»Ich weiß nicht, ich kann nicht schlafen.«

»Aber ich habe gut geschlafen! Sieh her! Kein Schweiß«, sagte Nikolai.

Lewin ging hinter den Wandschirm und löschte das Licht. Aber er lag noch lange, ehe der Schlaf sich einstellte.

»Er stirbt! Nicht später als im Frühjahr! Wie soll ich ihm helfen? Und was weiß ich davon? Ich hatte ja vergessen, dass man sterben muss.«

Das milde Wesen Nikolais dauerte nicht lange. Schon am anderen Morgen wurde er zänkisch und traf seinen Bruder an dessen empfindlichster Stelle.

Lewin fühlte sich in seiner Unaufrichtigkeit schuldig. Er wusste, wenn sie beide aufrichtig nur das ausgesprochen hätten, was sie dachten und fühlten, so hätten sie einander in die Augen geschaut, und Konstantin hätte nur sagen können: »Du stirbst! Du stirbst!« Und Nikolai hätte nur antworten können: »Ich weiß, dass ich sterben muss, aber ich habe Angst! Angst! Angst!« – Und weiter hätten sie nichts zu sagen gehabt.

Am dritten Tage forderte Nikolai seinen Bruder auf, ihm nochmals seine Pläne mitzuteilen. Aber nicht nur, dass er sie verwarf, er verspottete Konstantin auch wegen seines Kommunismus.

»Du hast nur eine fremde Idee aufgegriffen, sie aber ganz verzerrt.«

»Ich sage dir, ich habe mit den Kommunisten nichts gemein. Sie verneinen die Rechtmäßigkeit des Eigentums, des Kapitals, der Erblichkeit, und ich bin weit entfernt, ihnen darin beizustimmen. Ich will nur die Arbeit regulieren«, erwiderte Lewin.

Er erhitzte sich dabei immer mehr und widersprach mit Heftigkeit.

Aber Nikolai blieb bei seinem spöttischen Ton. »Gar nichts willst du aufbauen! Du möchtest nur zeigen, dass du die Bauern nicht einfach ausbeuten willst, sondern nach einer gewissen Methode.«

»Nun, wenn du so denkst, dann sprechen wir nicht weiter davon«, erwiderte Lewin in heftigem Verdruss.

»Du hast nie Überzeugungen gehabt, du willst nur deiner Eigenliebe schmeicheln!«

»Nun gut, dann lass mich in Ruhe!«

»Gut, ich werde dich in Ruhe lassen! Jetzt bedaure ich sehr, dass ich hierhergekommen bin.«

Sosehr auch Lewin sich nach allen Kräften bemühte, seinen Bruder zu beruhigen, Nikolai wollte nichts hören, er sagte, es sei besser, sich zu trennen, und traf schon Vorbereitungen zur Abreise, als Konstantin wieder zu ihm ging und in gezwungenem Tone um Entschuldigung bat, wenn er ihn beleidigt habe.

»Ah! Welche Großmut!« sagte Nikolai lachend. »Wenn du recht behalten willst, so will ich dir das Vergnügen lassen, du hast recht, aber ich reise jedenfalls ab.«

Beim Abschied küssten sie sich, und Nikolai sagte plötzlich mit seltsam veränderter Stimme und einem ernsten Blick: »Bewahre mir kein böses Andenken, Kostja!« Seine Stimme zitterte. Dies waren die einzigen aufrichtigen Worte. Lewin begriff, dass unter diesen Worten sich ein anderer Sinn verbarg: »Du siehst und weißt, dass es mit mir zu Ende geht, und wahrscheinlich werden wir uns nicht mehr wiedersehen.« Tränen strömten aus seinen Augen. Er küsste mehrmals seinen Bruder, brachte aber kein Wort hervor.

Am dritten Tage nach Nikolais Abreise fuhr Lewin ins Ausland. Unterwegs traf er mit Schtscherbatzky, dem Vetter Kittys, zusammen, der über Lewins düsteres Wesen sehr verwundert war.

»Was ist dir?« fragte Schtscherbatzky.

»Nichts Besonderes! Aber viel Heiteres gibt's auch nicht in der Welt.«

»Wieso? Komm mit mir nach Paris, da ist's lustig.«

»Nein, ich bin fertig damit! Für mich ist's Zeit, zu sterben.«

»Oho, nicht übel!« sagte Schtscherbatzky. »Und ich wollte eben erst anfangen zu leben.«

»Ja, so dachte ich auch noch vor kurzer Zeit, jetzt aber weiß ich, dass ich bald sterben werde.«

Lewin sprach es aus, was er in letzter Zeit wirklich gedacht hatte. Alles erschien ihm dunkel und düster, und der einzige Leitfaden in dieser Finsternis war für ihn sein Werk, seine Tätigkeit, denen er alle seine Kräfte widmen wollte.

Karenin und seine Frau lebten weiter in demselben Hause, waren sich aber vollkommen fremd. Er hatte es sich zur Regel gemacht, seine Frau jeden Tag zu sehen, um den Dienstleuten nicht Anlass zu Vermutungen zu geben, vermied es aber, zu Hause zu speisen.

Wronsky kam niemals in das Haus Karenins, doch Anna sah ihn außerhalb des Hauses, und Karenin wusste es.

Die Lage war peinlich für alle drei Personen, und sie wäre unerträglich geworden, wenn nicht alle eine Veränderung erwartet und vorausgesehen hätten.

Gegen Mitte des Winters brachte Wronsky eine sehr langweilige Woche zu. Er wurde einem ausländischen Prinzen, der Petersburg besuchte, als Begleiter attachiert, um ihm alle Sehenswürdigkeiten der Residenz zu zeigen. Wronsky verdankte diese Ehre seinem würdigen und zugleich höflichen Wesen und seiner Erfahrung im Umgang mit solchen Personen. Aber seine Aufgabe erschien ihm sehr schwer. Der Prinz wollte nichts versäumen, wonach man zu Hause fragen könnte und soviel wie möglich die Vergnügungen Rußlands kennenlernen.

Morgens fuhren sie aus, um Sehenswürdigkeiten zu betrachten, abends nahmen sie an nationalen Lustbarkeiten teil. Der Prinz besaß eine ungewöhnliche Gesundheit und Kraft, um bei Vergnügungen, die er im Übermaß genoss, frisch zu bleiben.

Wronsky verursachte es große Mühe, alle von verschiedenen Personen vorgeschlagenen Zerstreuungen auszuwählen – Traberpferde, Bärenjagden, Dreigespanne, Zigeuner und Gelage, wo nach russischer Manier alles kurz und klein geschlagen wurde. Und mit außergewöhnlicher Leichtigkeit eignete sich der Prinz den russischen Geist an, zerschlug Teller und Gläser, schaukelte eine Zigeunerin auf seinen Knien und schien immer noch zu fragen: »Was gibt es noch?« . .

Wronsky war an den Umgang mit Prinzen gewöhnt, aber diese Woche verging ihm schrecklich langsam. Er hatte während der ganzen Zeit ein Gefühl wie ein Mensch, der einen gefährlichen Verrückten zu bewachen hat und sich in beständiger Furcht vor ihm befindet und dabei auch noch für seinen Verstand fürchtet. Die Urteile des Prinzen über russische Frauen, die er kennenlernen wollte, riefen mehr als einmal Wronskys Entrüstung hervor. Besonders aber war ihm der Umgang mit dem Prinzen aus dem Grunde peinlich, weil er unwillkürlich in ihm sein eigenes Ebenbild sah, und was er in diesem Spiegel erblickte, schmeichelte keineswegs seiner Eigenliebe. Das war ein ebenso dummer wie selbstgefälliger, sehr gesunder und sehr reinlicher Mensch, und nichts weiter. Ganz so war auch Wronskys Wesen, das er sich selbst zum Verdienst anrechnete.

Als er sich von dem Prinzen bei seiner Abreise nach Moskau am siebenten Tage verabschiedete und der Prinz ihm seinen Dank aussprach, war er glücklich, dieses lästigen Auftrages entledigt zu sein.

Als Wronsky nach Hause zurückkehrte, fand er ein Briefchen von Anna vor. Sie schrieb: »Ich bin krank und unglücklich! Ich kann nicht ausfahren, und kann auch nicht länger leben, ohne dich zu sehen. Komme heute abend! Um sieben Uhr geht mein Mann in die Sitzung und wird bis zehn Uhr dort bleiben.« ,

Es fiel ihm auf, dass sie ihn zu sich rief, trotz des Verlangens ihres Mannes, ihn nicht zu empfangen, und er beschloss, sogleich hinzugehen. In diesem Winter war Wronsky zum Oberst befördert worden, aus dem Regiment ausgetreten und lebte für sich allein. Nach dem Frühstück legte er sich auf den Diwan, schlief wider Erwarten fest ein und erwachte erst im Abenddunkel.

Es war schon halb neun Uhr. Er klingelte dem Diener, kleidete sich hastig an und eilte fort. Er war verdrießlich darüber, dass er sich verspätet hatte. Als er vor dem Hause Karenins ankam, war es zehn Minuten vor neun. Ein Wagen stand vor der Tür, den er als den Wagen Annas erkannte.

Sie will zu mir fahren‹, dachte Wronsky. ›Das wäre auch besser! Es ist mir sehr unangenehm, dieses Haus zu betreten! Doch gleichviel, ich verstehe nicht, mich zu verbergen.‹ Und mit seinem von Jugend auf angewöhnten Wesen eines Menschen, der sich nicht zu schämen braucht, ging Wronsky nach der Tür.

In diesem Augenblick wurde die Tür geöffnet, und der Portier rief den Wagen herbei. Wronsky hatte wenig Übung darin, auf Einzelheiten zu achten, aber die verwunderte Miene, mit der ihn der Portier anstarrte, fiel ihm auf. Unter der Tür stieß Wronsky beinahe mit Karenin zusammen. Die Gasflamme beleuchtete das blutlose Gesicht unter dem schwarzen Hut und das weiße Halstuch, das aus dem Biberkragen des Pelzmantels heraussah. Die finsteren Augen Karenins waren starr auf Wronsky gerichtet. Dieser verbeugte sich, Karenin preßte die Lippen zusammen, berührte mit der Hand seinen Hut und ging vorüber. Wronsky sah, wie er, ohne umzublicken, sich in den Wagen setzte und davonfuhr.

Wronsky trat in das Vorzimmer ein. Seine Augenbraunen waren zusammengezogen, und ein böser, stolzer Glanz lag in seinen Augen.

Ach, welche Lage!‹ dachte er. ›Wenn er wenigstens sich schlagen und seine Ehre verteidigen wollte, dann könnte ich irgendwie handeln. Aber diese Schwachheit oder Feigheit! ... Er versetzt mich in die Lage eines Betrügers!‹

Seit seinem Gespräch mit Anna im Wredeschen Garten hatten sich Wronskys Ansichten geändert. In unwillkürlicher Nachsicht für die Schwachheit Annas, die sich ihm ganz hingab und nur von ihm die Lösung ihres Schicksals erwartete, glaubte er nicht mehr daran, dass diese Verbindung so endigen könne, wie er damals gedacht und gewünscht hatte.

Schon im Vorzimmer hörte er ihre sich entfernenden Schritte und begriff, dass sie ihn horchend erwartet hatte und jetzt in den Salon zurückkehrte. »Nein«, rief sie, als sie ihn erblickte, »das kann nicht so fortdauern!« Und während sie dies sagte, traten Tränen in ihre Augen.

»Was, meine Liebe?«

»Was? Ich verbringe in qualvoller Erwartung fast zwei Stunden! ... Doch nein, ich kann nicht mit dir zanken; wahrscheinlich konntest du nicht früher kommen!«

Sie legte beide Hände auf seine Schultern und sah ihn lange an mit einem entzückten und zugleich forschenden Blick.

»Bist du ihm begegnet?« fragte sie, als sie sich an den Tisch unter der Lampe niedersetzten. »Siehst du, das ist deine Strafe dafür, dass du dich verspätet hast!«

»Ja, aber wie kommt das? Er wollte doch in der Sitzung sein?«

»Er war dort und ist schon zurückgekommen, und dann fuhr er nochmals aus. Doch gleichviel, sprich nicht mehr davon! Wo warst du? Immer mit deinem Prinzen? Ist er jetzt abgefahren?«

»Gott sei Dank, er ist fort! Du glaubst nicht, wie unerträglich mir diese Woche war!«

»Warum? Das ist doch das Leben, wie ihr jungen Leute es immer führt«, sagte sie und griff, ohne Wronsky anzusehen, nach einer Handarbeit, die auf dem Stuhle lag.

»Ich habe dieses Leben schon lange aufgegeben«, sagte er, verwundert über diesen Ausdruck in ihrem Gesicht, und bemühte sich, seine Bedeutung zu erforschen. »Ich gestehe, ich habe mich diese Woche wie im Spiegel gesehen, und das war ein unangenehmer Anblick für mich.«

Sie hatte ihre Handarbeit in den Händen, aber ohne zu arbeiten, und sah ihn mit seltsam glänzendem, fast feindseligem Blick an.

»Heute morgen kam Lisa zu mir – sie scheuen sich noch nicht, zu mir zu kommen, ungeachtet der Gräfin Lydia Iwanowna – und hat mir von euren athenischen Nächten erzählt. Wie abscheulich!«

»Ich wollte nur sagen, dass ...«

Sie unterbrach ihn. »Das war diese Therese, die du früher gekannt hast?«

»Ich wollte nur sagen ...«

»Wie abscheulich seid ihr Männer! Wie ist es möglich, dass ihr euch nicht selbst sagt, dass eine Frau das nicht vergessen kann?« sagte sie, immer mehr und mehr in Hitze geratend. »Besonders eine Frau, die dein Leben nicht kennen kann! Was weiß ich davon? Was wusste ich davon?« sagte sie. »Nicht mehr, als was du mir davon sagst! Und überdies weiß ich auch nicht, ob du mir die Wahrheit sagst.«

»Anna, du beleidigst mich! Vertraust du mir nicht mehr? Habe ich dir nicht gesagt, dass ich nicht einen einzigen Gedanken hegen kann, ohne ihn dir mitzuteilen?«

»Ja, ja«, sagte sie und suchte augenscheinlich ihre eifersüchtigen Gedanken zu verscheuchen. »Aber wenn du wüsstest, wie schwer mir zumute ist! Nun gut; ich glaube dir, ich vertraue dir! ... Was wolltest du jetzt sagen?«

Er konnte sich nicht gleich darauf besinnen, was er sagen wollte. Diese Ausbrüche von Eifersucht hatten sich in letzter Zeit öfter und öfter wiederholt und ihn erschreckt und, sosehr er sich auch bemühte, sich dies zu verbergen, eine Abkühlung gegen sie hervorgebracht, obgleich er wohl wusste, dass diese Eifersucht durch die Liebe zu ihm entstanden war. Wie oft hatte er sich gesagt, ihre Liebe sei sein Glück. Und nun liebte sie ihn, wie nur eine Frau lieben kann, die der Liebe ihr ganzes Leben opfert – und dennoch war er viel weiter vom Glück entfernt, als zur Zeit, als er ihr aus Moskau nachreiste. Damals hielt er sich für unglücklich, aber das Glück lag noch vor ihm; jetzt hatte er eine Empfindung, als ob das höchste Glück schon hinter ihm läge. Sie war durchaus nicht mehr so, wie er sie in der ersten Zeit gesehen hatte, sowohl geistig wie körperlich hatte sie sich zu ihrem Nachteil verändert, und als sie von jener Schauspielerin sprach, hatte ihre Miene einen bösen Ausdruck angenommen.

»Nun, was wolltest du mir also von dem Prinzen sagen? Ich habe den Dämon verjagt«, fügte sie hinzu. Damit meinte sie ihre Eifersucht. »Was war dir so peinlich?«

»Ach, es war unerträglich!« sagte er, bemüht, den verlorenen Faden wiederzugewinnen. »Er ist wie ein wohlgenährtes Haustier, das bei einer Ausstellung den ersten Preis gewinnt, und weiter nichts«, sagte er mit einem Ausdruck von Verdruss, der sie zu interessieren begann.

»Aber er hat doch viel gesehen und ist gebildet?«

»Das ist eine Bildung eigener Art, die eigentlich mehr in Verachtung der Bildung besteht. Solche Leute verachten alles außer materiellen Vergnügungen.«

»Und liebt ihr nicht alle diese materiellen Vergnügungen?« fragte sie, und wieder bemerkte er jenen finsteren Blick. »Warum verteidigst du, ihn so?« fragte er lachend.

»Ich verteidige ihn nicht, er ist mir ganz gleichgültig, aber ich glaube, wenn du selbst nicht diese Vergnügungen liebtest, so hättest du dich davon zurückziehen können. Aber dir macht es Vergnügen, diese Therese im Kostüm der Eva zu bewundern.«

»Da ist er wieder, der Dämon«, sagte Wronsky, ihre Hand küssend.

»Ich konnte nicht anders! Du weißt, wie ich mich grämte, während ich dich erwartete. Ich vertraue dir, wenn du bei mir bist, aber wenn dich dein mir unbegreifliches Leben von mir fern hält...«

Sie wandte sich ab und setzte einige Zeit hastig ihre Handarbeit fort.

»Nun, und wie war das? Du bist meinem Mann begegnet?«

»Wir sind an der Tür zusammengestoßen.«

»Und er hat dich ohne weiteres gegrüßt? Etwa so:« Sie zog das Gesicht in die Länge, schloss halb die Augen, und auf ihrem schönen Gesicht erblickte Wronsky denselben Ausdruck, mit dem ihn Karenin im Vorbeigehen gegrüßt hatte.

Er lachte, und auch sie stimmte heiter ein mit jenem lieblichen, klangreichen Lachen, das einen ihrer größten Reize bildete.

»Ich begreife ihn entschieden nicht«, sagte Wronsky. »Wie aber kann er eine solche Lage ertragen? Das verstehe ich nicht!« »Er?« sagte sie spöttisch. »Er ist ganz zufrieden.«

»Warum quälen wir uns noch immer, während doch alles so gut sein könnte?«

»Er selbst quält sich nicht, er hat kein Gefühl. Könnte ein Mensch von Gefühl mit seiner strafbaren Frau in demselben Hause weiterleben und mit ihr sprechen? Das ist kein Mensch – wenn ich an seiner Stelle wäre, ich hätte diese Frau schon längst erschlagen und in Stücke zerrissen; eine solche Frau wie ich, und könnte nicht sagen: ›Du, ma chère.‹ Er ist kein Mensch, er ist eine ministerielle Maschine! Er begreift nicht, dass ich deine Frau bin, und dass er überflüssig ist!...«

»Du bist ungerecht«, sagte Wronsky, um sie zu beruhigen, »Aber jetzt erzähle mir, wie es dir geht! Was sagt der Arzt über deine Krankheit? Aber ich nehme an, dass das keine Krankheit ist, sondern eine deinem Zustand entsprechende Lage. Wann wird es sein?«

Der spöttische Glanz erlosch in ihren Augen, und der Ausdruck eines ihm unbekannten, stillen Kummers erschien auf ihrem Gesicht.

»Bald! Bald! Du sagst, unsere Lage sei peinlich. Wenn du wüsstest, was ich dafür geben würde, dich frei und offen lieben zu dürfen! Ich würde nicht dich und mich mit meiner Eifersucht quälen... Und das wird bald kommen, aber anders, als wir denken.«

Und bei diesem Gedanken überfiel sie eine Schwermut, dass ihr Tränen in die Augen traten und sie nicht weitersprechen konnte. Sie legte ihre weiße Hand auf seinen Arm.

»Es wird nicht so sein, wie wir glauben. Ich wollte nicht davon sprechen, aber du hast mich dazu veranlasst. Bald, bald wird sich alles lösen, und der Kummer wird ein Ende haben.«

»Ich begreife nicht«, sagte er, obgleich er sie wohl begriff.

»Du fragst mich, wann? Bald, und ich werde es nicht überleben ... Unterbrich mich nicht... Ich weiß es sicher, ich werde sterben, und freue mich darauf!« Tränen entströmten ihren Augen. Er bückte sich auf ihre Hand herab und küsste sie, um seine Erregung zu verbergen, obgleich er wusste, dass er keine Ursache hatte, erregt zu sein.

»Das ist's, das wird besser sein«, sagte sie und drückte kräftig seine Hand. »Das ist das einzige, was uns übrigbleibt.«

Er fasste sich und erhob den Kopf. »Welche Torheit!«

»Nein, es ist wahr, dass ich sterben werde. Ich habe einen Traum gehabt.«

»Einen Traum?« wiederholte Wronsky und erinnerte sich plötzlich, dass er vor ein paar Stunden auch so einen dummen Traum gehabt hatte.

»Ja, einen Traum«, sagte sie. »Ich träumte, ich lief in mein Schlafzimmer, um etwas zu holen oder zu suchen; du weißt, wie das oft im Traum so ist«, sagte sie, »und da sah ich in einer Ecke des Zimmers etwas stehen ...«

»Ach, welcher Unsinn! Wie kann man daran glauben?«

Aber sie ließ sich nicht unterbrechen. Was sie sagen wollte, war ihr zu wichtig.

»Und dieses Etwas wandte sich um, und ich sah, dass es ein kleiner, hagerer Bauer mit zerzaustem Bart war. Ich wollte entfliehen, aber er bückte sich auf seinen Sack herab und wühlte mit den Händen darin.«

Entsetzen lag auf ihrem Gesicht, auch Wronsky erinnerte sich mit Grausen an seinen eigenen Traum, in dem auch ein Bauer vorgekommen war.

»Dabei sprach er ganz rasch französisch: ›Man muss das Eisen schmieden und härten‹ Angstvoll bemühte ich mich, aufzuwachen, aber ich sprach nur im Traum und fragte mich, was das bedeute. Und eine Stimme sagte mir: ›Im Wochenbett werden Sie sterben, Mütterchen! Im Wochenbett!‹ Dann erwachte ich.«

»Welche Torheit! Welcher Wahnsinn!« rief Wronsky, aber seine Stimme war nicht fest.

»Nun, sprechen wir nicht davon, klingle, ich will Tee bringen lassen! Doch halt, ich habe nicht mehr lange ...«

Sie unterbrach sich plötzlich. Der Ausdruck ihres Gesichtes veränderte sich. Schrecken und Aufregung wichen sogleich einem Ausdruck stiller, ernster und glücklicher Aufmerksamkeit. Er konnte die Bedeutung dieses Wechsels nicht begreifen. Sie hatte bemerkt, wie ein neues Leben sich in ihr rührte.

Als Karenin an der Haustür Wronsky begegnete, war er im Begriff, in die italienische Oper zu fahren. Dort blieb er während der ersten zwei Akte und begrüßte alle Bekannten, die zur gleichen Vorstellung gekommen waren. Als er nach Hause zurückkehrte, musterte er aufmerksam das Vorzimmer, und nachdem er sich überzeugt hatte, dass kein Offizierspaletot da war, ging er wie gewöhnlich in sein Zimmer.

Aber gegen seine Gewohnheit legte er sich nicht schlafen und ging bis drei Uhr morgens im Zimmer auf und ab. Die Wut auf seine Frau, die der einzigen ihr gestellten Bedingung, ihren Verehrer nicht bei sich zu empfangen, nicht nachkommen wollte, ließ ihm keine Ruhe. Sie musste bestraft werden. Er wollte seine Drohung, eine Scheidung zu veranlassen und ihr seinen Sohn wegzunehmen, zur Ausführung bringen. Karenin kannte alle Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, aber er musste seine Drohung ausführen. Außerdem, da ein Unglück nie allein kommt, hatten sich ihm in letzter Zeit so manche Unannehmlichkeiten im Dienst entgegengestellt, dass er sich in sehr reizbarer Stimmung befand.

Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen, und seine Wut erreichte gegen Morgen die äußerste Grenze. Er kleidete sich hastig an, und als ob er fürchtete, mit seinem Zorn auch seine Energie zu verlieren, die er jetzt nötig hatte, ging er in ihr Zimmer, nachdem er erfahren hatte, dass sie aufgestanden war. Obgleich Anna ihren Mann vollkommen zu kennen glaubte, war sie bestürzt bei seinem Anblick. Seine Stirn war finster zusammengezogen, seine Augen blickten düster und vermieden ihren Blick. Seine Lippen waren fest geschlossen und ein Ausdruck von Verachtung sprach aus seinen Bewegungen. Im Ton seiner Stimme lagen Entschlossenheit und Festigkeit.

Er trat ins Zimmer, ohne sie zu begrüßen. Dann ging er gerade auf ihren Schreibtisch zu, nahm den Schlüssel und öffnete die Schublade.

»Was wünschen Sie?« fragte sie.

»Die Briefe von Ihrem Liebhaber.«

»Sie sind nicht hier!« sagte sie und schloss die Schublade.

Aber an dieser Bewegung sah er, dass seine Vermutung richtig war, und er stieß ihre Hand grob zurück. Dann ergriff er rasch ein Mappe, in der sie, wie er wusste, ihre wichtigen Papiere aufbewahrte. Sie wollte ihm die Mappe entreißen, aber er ließ dies nicht zu.

»Setzen Sie sich, ich muss mit Ihnen sprechen«, sagte er. Er steckte die Mappe unter den Arm und hielt sie so fest mit dem Ellenbogen, dass seine Schulter sich in die Höhe hob. Verwundert und eingeschüchtert blickte sie ihn schweigend an.

»Ich habe Ihnen gesagt, ich erlaube es Ihnen nicht, Ihren Liebhaber bei sich zu empfangen.«

»Ich musste ihn sprechen, um ...« Sie stockte, da sie keinen Vorwand fand.

»Ich will mich nicht näher darauf einlassen, wozu eine Frau ihren Liebhaber sprechen muss.«

»Ich wollte ... Ich habe nur ...« sagte sie zusammenfahrend. Sie war entrüstet über sein rohes Wesen, und ihr Mut kehrte zurück.

»Wie leicht es Ihnen fällt, mich zu beleidigen«, sagte sie.

»Beleidigen kann man nur einen ehrlichen Menschen und eine ehrliche Frau, wenn man aber einem Dieb sagt, er sei ein Dieb, so spricht man damit nur eine Tatsache aus.«

»Diesen neuen Zug von Grausamkeit habe ich an Ihnen noch nicht gekannt.«

»Wenn ein Mann seiner Frau volle Freiheit lässt, nur unter der Bedingung, dass sie den Anstand wahrt – nennen Sie das Grausamkeit?«

»Das ist mehr als Grausamkeit! Das ist Niederträchtigkeit, wenn Sie es wissen wollen!« rief Anna, in Zorn ausbrechend. Sie erhob sich und wollte gehen. »Nein!« schrie er mit seiner kreischenden Stimme und erfasste sie mit seinen großen Fingern so stark am Arm, dass der harte Griff eine rote Spur hinterließ. Er zwang sie, sich wieder niederzusetzen. »Niederträchtigkeit? Wenn Sie dieses Wort anwenden wollen – niederträchtig ist es, den Mann, den Sohn zu verlassen des Liebhabers wegen und doch das Brot des Mannes zu essen.«

Anna neigte den Kopf. Sie fühlte, wie sehr er recht hatte, und erwiderte nur leise: »Sie können meine Lage nicht schlimmer bezeichnen, als ich sie selbst auffasse, aber warum sagen Sie das?«

»Warum ich das sage? Warum?« fuhr er ebenso wütend fort. »Damit Sie es wissen, dass ich, nachdem Sie meinen Willen, den Anstand zu beobachten, nicht erfüllt haben, Maßregeln ergreifen werde, um dieser Sache ein Ende zu machen.«

»Bald, bald wird sie ohnedies ein Ende haben«, erwiderte sie, und wieder traten Tränen in ihre Augen bei dem Gedanken an den baldigen, jetzt erwünschten Tod.

»Sie wird schneller ein Ende nehmen, als Sie mit Ihrem Liebhaber sich dachten! Sie denken immer nur an sich, aber die Leiden eines Menschen, der Ihr Mann war, sind Ihnen gleichgültig. Was liegt Ihnen daran, dass sein ganzes Leben zerstört ist, dass er ... er ... er ...«

Zum ersten mal fühlte sie auf einen Augenblick Mitleid für ihn, aber was konnte sie sagen oder tun? Sie senkte den Kopf und schwieg. Auch er schwieg einige Zeit und begann dann wieder in weniger kreischendem, kaltem Ton zu sprechen.

»Ich kam, um Ihnen zu sagen ...«, begann er.

Sie blickte ihn an.

»Ich kam, um Ihnen zu sagen, dass ich morgen nach Moskau reise und in dieses Haus nicht mehr zurückkehren werde. Mein Entschluss wird Ihnen durch einen Advokaten mitgeteilt werden, den ich mit der Scheidungsklage beauftragen werde. Meinen Sohn bringe ich zu meiner Schwester«, fuhr Karenin fort, der nur mit Mühe sich erinnerte, was er über seinen Sohn hatte sagen wollen.

»Sie wollen Serescha nur zu sich nehmen, um mir Schmerz zu bereiten«, sagte sie. »Sie lieben ihn nicht, lassen Sie mir Serescha!«

»Ja, ich verlor sogar die Liebe zu meinem Sohn, weil er mich an meinen Abscheu gegen Sie erinnert. Aber ich werde ihn doch zu mir nehmen. Leben Sie wohl!« Und er wollte gehen. Aber jetzt hielt sie ihn zurück.

»Alexej Alexandrowitsch«, flüsterte sie nochmals, »lassen Sie mir Serescha! Ich habe nichts weiter zu sagen, lassen Sie mir Serescha bis zu meiner Entbindung, welche bald stattfinden wird. Lassen Sie ihn mir!«

Karenin errötete, entriss ihr seine Hand und verließ schweigend das Zimmer.

Das Empfangszimmer des berühmten Petersburger Advokaten war bereits gefüllt, als Karenin eintrat. Zwei Gehilfen schrieben an Schreibtischen, und einer dieser Gehilfen wandte sich, ohne aufzusehen, Karenin zu.

»Was wünschen Sie?«

»Ich wünsche den Advokaten zu sprechen.«

»Er ist beschäftigt«, antwortete der Schreiber mit wichtiger Miene. Dann deutete er mit der Feder nach den Wartenden und schrieb weiter. »Belieben Sie zu warten!«

»Dann seien Sie so freundlich, ihm meine Karte zu bringen«, sagte Karenin mit Würde.

Der Schreiber nahm die Karte und ging ins Nebenzimmer.

Karenin war im Prinzip mit der Öffentlichkeit des Gerichtswesens einverstanden; nur einige Einzelheiten ihrer Anwendung gefielen ihm nicht ganz, soweit es überhaupt möglich war, dass ihm etwas missfiel, was Allerhöchst bestätigt war.

»Er wird sogleich kommen«, sagte der Schreiber, und nach einigen Minuten erschien wirklich der Advokat. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck von Klugheit und bäurischer List, und sein stutzerhafter Anzug war von schlechtem Geschmack.

»Bitte!« sagte der Advokat, indem er Karenin mit finsterer Miene an sich vorübergehen ließ und hinter sich die Tür schloss. »Ist's gefällig.« Er zeigte nach einem Stuhl bei dem Schreibtisch, auf dem Papiere lagen, und setzte sich auf seinen Präsidentenstuhl, indem er die kleinen Hände rieb und den Kopf zur Seite neigte.

»Ehe ich über diese Angelegenheit sprechen möchte«, sagte Karenin, »muss ich bemerken, dass die Sache, über die ich mich mit Ihnen besprechen möchte, geheim bleiben muss.«

»Ich wäre kein Advokat, wenn ich Geheimnisse nicht bewahren könnte.«

»Sie kennen meinen Namen?« fuhr Karenin fort.

»Ich kenne Sie und Ihre nützliche Tätigkeit so gut wie jeder Russe«, sagte der Advokat, sich verbeugend. Karenin seufzte. Da er aber einmal sich entschlossen hatte, so sprach er weiter ohne zu stocken.

»Ich habe das Unglück«, begann er, »ein betrogener Ehemann zu sein, und wünsche die Beziehungen zu meiner Frau auf gesetzlichem Wege zu lösen, aber auf solche Weise, dass mein Sohn nicht bei seiner Mutter bleibt.«

»Sie wünschen meine Mitwirkung, um die Scheidung herbeizuführen?«

»Ja. Aber ich bin nur gekommen, um mich vorläufig mit Ihnen zu beraten. Ich wünsche eine Scheidung, aber die Form, unter der sie möglich ist, hat für mich große Wichtigkeit. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich von einer Klage abstehe, wenn die Form nicht meinen Wünschen entspricht.«

»Oh, das bleibt ganz Ihrem Belieben überlassen.«

Der Advokat senkte seinen Blick auf die Füße Karenins herab, da er fürchtete, dass seine Heiterkeit, die er kaum zurückhalten konnte, den Klienten beleidigen könnte.

»Obgleich mir unsere Gesetze über diesen Gegenstand im allgemeinen bekannt sind«, fuhr Karenin fort, »wünsche ich doch hauptsächlich die Formen, unter denen solche Sachen in der Praxis vor sich gehen, genau zu kennen.«

»Sie wünschen«, erwiderte der Advokat, der nicht ohne Vergnügen in den Ton seines Klienten einstimmte, »dass ich Ihnen alle Wege darlege, auf denen die Erreichung Ihres Wunsches möglich ist?«

Nach einer zustimmenden Verbeugung seines Klienten fuhr er fort, indem er nur selten das errötende Gesicht Karenins ansah: »Nach unseren Gesetzen ist die Ehescheidung in folgenden Fällen möglich: Physische Mängel des Ehegatten, dann fünfjährige Abwesenheit, ohne Nachricht zu geben, dann Ehebruch.«

Dieses Wort sprach er mit sichtlichem Vergnügen aus.

»Nach meinem Dafürhalten kommt es also auf folgendes an: Physische Mängel sind nicht vorhanden, soviel ich verstehe, und Abwesenheit ohne Nachricht gleichfalls nicht...?«

Karenin nickte beistimmend.

»Bleibt nur: Ehebruch eines der Ehegatten und Überführung des strafbaren Teils mit beiderseitigem Einverständnis, und wenn dieses Einverständnis fehlt, auch – Ertappung auf der Tat. Ich muss bemerken, dass der letztere Fall in der Praxis sehr selten vorkommt«, sagte der Advokat und schwieg mit einem Blick nach Karenin, wie ein Verkäufer, der die Wahl seines Kunden abwartet.

Aber Karenin schwieg, und deshalb fuhr der Advokat fort: »Das Gewöhnlichste, Einfachste und Vernünftigste ist nach meiner Meinung Ehebruch mit beiderseitigem Einverständnis. Ich glaube, Sie verstehen mich.«

Karenin war aber so verwirrt, dass er nicht sogleich begriff, wie vernünftig ein Ehebruch mit beiderseitigem Einverständnis sei, und drückte diesen Mangel an Verständnis durch seinen Blick aus. Aber der Advokat kam ihm sogleich zu Hilfe. »Es kommt vor, dass Leute nicht mehr zusammen leben können, und wenn beide über diese Tatsache einig sind, so sind die Einzelheiten und Förmlichkeiten unwesentlich. Zugleich ist dies aber auch das einfachste und vernünftigste Mittel.«

Jetzt begriff Karenin vollständig; aber er hatte religiöse Gefühle, die diesen Möglichkeiten einer Scheidung entgegenstanden.

»Dies kommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht«, sagte er. »Hier ist nur ein Fall möglich, die Überführung mit Hilfe von Briefen, die ich hier habe.«

Bei Erwähnung von Briefen schloss der Advokat die Lippen und ließ ein feines, mitleidiges und zugleich verächtliches Pfeifen hören.

»Wie Ihnen bekannt sein wird«, erwiderte er, »werden Sachen dieser Art durch die geistliche Behörde entschieden. Die heiligen Väter sind in solchen Fällen sehr neugierig nach den unbedeutendsten Einzelheiten«, sagte er mit einem zynischen Lächeln. »Briefe können unzweifelhaft zur Unterstützung dienen, aber der Beweis muss auf direktem Wege, das heißt, durch Zeugen geführt werden. Überhaupt, wenn Sie mir die Ehre erweisen, mir Ihr Vertrauen zu schenken, so überlassen Sie mir die Auswahl der Maßregeln, die anzuwenden sind. Wer den Zweck will, muss auch die Mittel wollen.«

»Wenn es so ist...« begann Karenin, plötzlich erbleichend.

»Sie beliebten zu sagen...?«

»Ich werde Ihnen meinen Entschluss brieflich mitteilen«, sagte Karenin, sich erhebend. Darauf fügte er nach kurzem Schweigen hinzu: »Aus Ihren Worten schließe ich also, dass die Scheidung möglich ist. Ich möchte Sie auch bitten, mir Ihre Bedingungen mitzuteilen.«

»Es ist alles möglich, wenn Sie mir volle Freiheit lassen«, sagte der Advokat, ohne auf die eigentliche Frage zu antworten. »Wann kann ich darauf rechnen, von Ihnen Antwort zu erhalten?« fragte er.

»Nach einer Woche. Sie werden dann die Güte haben, mir mitzuteilen, ob Sie die Sache übernehmen und unter welchen Bedingungen.«

Der Advokat verneigte sich höflich, und nachdem er allein geblieben war, überließ er sich seiner Heiterkeit.

Karenin hatte in jener Sitzung der Kommission einen glänzenden Sieg erfochten, der aber dennoch bedrohliche Folgen zeitigte. Die neue Kommission zur Erforschung der Lebensweise der fremden Völkerschaften war mit einer erstaunlichen Schnelligkeit an Ort und Stelle gesandt worden, und bereits nach drei Monaten lag ihr Bericht vor. Die Lage der fremden Völkerschaften war in politischer, administrativer, ökonomischer, ethnographischer, materieller und religiöser Beziehung erforscht worden. Alle Fragen waren im besten Stil beantwortet, und zwar durch Antworten, die keinen Zweifel zuließen, da sie das dienstliche Produkt einer intelligenten Bürokratie waren. Der Bericht stützte sich auf offizielle Angaben der Gouverneure und Bischöfe, die ihrerseits sich wieder auf die Angaben der Kreisbehörden gründeten. Diese Angaben aber beruhten auf den Aussagen von Dorfältesten und Landgeistlichen, und darum waren alle diese Antworten ganz unzweifelhaft. Alle diese Fragen, zum Beispiel, warum Missernten stattgefunden haben, warum die Einwohner an ihrem Glaubensbekenntnis festhalten und so weiter, wurden ganz unzweifelhaft gelöst und ganz im Sinne Karenins. Aber sein hauptsächlichster Gegner Stremow wandte eine Taktik an, die Karenin nicht erwartet hatte. Er trat plötzlich auf Karenins Seite und vertrat nicht nur hitzig die Einführung der von Karenin vorgeschlagenen Maßregeln, sondern schlug noch andere, weitergehende in demselben Geist vor. Auch diese Vorschläge wurden angenommen, und nun zeigte sich die Taktik Stremows in ihrem wahren Licht. Indem diese Maßregeln aufs äußerste getrieben wurden, erschienen sie plötzlich so unsinnig, dass die Autoritäten sowie die öffentliche Meinung sich mit Entschiedenheit gegen sie sowie gegen Karenin aussprachen. Stremow tat, als ob er nur blindlings den Plänen Karenins gefolgt und jetzt selbst verwundert und empört sei über das, was geschehen war. In der Kommission bildete sich eine neue Partei mit Stremow an der Spitze, die ihren Irrtum damit rechtfertigte, dass sie an die Berichte der Kommission geglaubt hätte, die nun als ganz wertlos erwiesen wären. Karenins Stellung war erschüttert, und er erklärte zum allgemeinen Erstaunen, er werde an Ort und Stelle fahren, um die Sache selbst zu untersuchen. Nachdem er dazu die Genehmigung erhalten hatte, trat er seine Reise nach dem entfernten Gouvernement an.

Die Abreise Karenins erregte großes Aufsehen, um so mehr, als er auf die Reisediäten verzichtete, die sehr reichlich bemessen waren.

Unterwegs nahm Karenin für drei Tage in Moskau Aufenthalt. Am Tage nach seiner Ankunft machte er einen Besuch beim Generalgouverneur, und auf dem Wege dahin hörte er plötzlich auf der Straße mit lauter und vergnügter Stimme seinen Namen rufen.

Unwillkürlich wandte er sich um. Auf der Ecke des Trottoirs stand Oblonsky in kurzem, modernem Paletot, vergnügt, jung und strahlend, und zeigte seine weißen Zähne zwischen den roten Lippen. Er hatte die eine Hand auf das Fenster eines stillstehenden Wagens gelegt, aus welchem ein Damenkopf mit Samthut und zwei Kinderköpfe hervorblickten, und winkte lächelnd seinem Schwager mit der Hand. Auch die Dame lächelte freundlich und winkte Karenin zu. Es war Dolly mit ihren Kindern.

Karenin hatte in Moskau niemand besuchen wollen und am wenigsten den Bruder seiner Frau. Er nahm den Hut ab und wollte weiterfahren, aber Oblonsky befahl dem Kutscher, anzuhalten, und eilte durch den Schnee bis zu dem Wagen herüber.

»Ist es nicht eine Sünde, uns keine Nachricht zu geben? Bist du schon lange hier?« sagte Oblonsky. »Ich freue mich sehr, dich zu sehen!«

»Ich bin sehr beschäftigt«, erwiderte Karenin trocken.

»Komm zu meiner Frau; sie wünscht sehnlichst, dich zu sehen.«

Karenin stieg aus dem Wagen und schritt durch den Schnee zu Dolly.

»Was ist das, Alexej Alexandrowitsch, warum vermeiden Sie uns?« sagte Dolly lachend.

»Ich war sehr beschäftigt, aber ich freue mich, Sie zu sehen«, sagte er in einem Tone, der deutlich zeigte, dass ihm das unangenehm war. »Wie befinden Sie sich?«

»Wie geht's meiner lieben Anna?«

Karenin murmelte etwas Unverständliches und wollte gehen, aber Oblonsky hielt ihn fest.

»Höre, Dolly, lade ihn zum Mittag ein!«

»Ja, ich bitte sehr, kommen Sie!« sagte Dolly. »Wir erwarten Sie um fünf oder sechs Uhr, wenn Sie wollen! Aber was macht meine liebe Anna? Wie lange ....«

»Sie ist gesund«, knurrte Karenin mit finsterer Miene. »Es hat mich sehr gefreut!« Und er ging wieder auf seinen Wagen zu.

»Werden Sie kommen?« rief Dolly.

Karenin gab etwas zur Antwort, was Dolly in dem Geräusch des Straßenverkehrs nicht vorstehen konnte.

»Ich komme morgen zu dir ins Hotel!« rief ihm Oblonsky nach.

Karenin setzte sich in den Wagen und drückte sich in eine Ecke, um nicht mehr gesehen zu werden.

»Solch ein Sonderling!« sagte Oblonsky zu seiner Frau. Dann blickte er nach der Uhr, winkte Frau und Kindern zu und eilte geschäftig und gewandt auf das Trottoir.

Der folgende Tag war ein Sonntag. Oblonsky fuhr ins Große Theater zur Ballettprobe und übergab Mascha Tschibisowa, einer hübschen, neu angekommenen Tänzerin, die unter seiner Protektion auftrat, das gestern versprochene Perlenhalsband, und hinter den Kulissen, im Halbdunkel, gelang es ihm, das hübsche Gesichtchen der Tänzerin zu küssen. Um zwölf Uhr war er im Hotel Dusseaux, wo er drei Personen zu besuchen hatte, die zum Glück im gleichen Hotel abgestiegen waren, nämlich Lewin, dann seinen neuen Chef und seinen Schwager Karenin.

Oblonsky liebte es, ein kleines, feines Diner zu geben. Die Zusammenstellung des heutigen Diners gefiel ihm sehr: Frische Barse, Spargel und als piéce de résistance ein wundervolles Roastbeef, dazu verschiedene Weine. Als Gäste waren eingeladen: Kitty und Lewin, und um dies zu verhüllen, noch eine Kusine und der junge Schtscherbatzky, und als wichtigste pièce de résistance der Gäste – Sergej und Karenin. Dazu wird er nun noch den Sonderling und Enthusiasten Peßzow einladen, der ein Liberaler, Schwätzer, Musikant und dabei der liebenswürdigste fünfzigjährige Jüngling war. Er wird die Soße oder die Garnierung zu Sergej und Karenin bilden.

Oblonsky hatte bereits die zweite Rate für den verkauften Wald erhalten und noch nicht ausgegeben, und da auch Dolly in letzter Zeit sehr liebenswürdig und gut war, befand er sich in vortrefflicher Stimmung. Nur zwei kleine Unannehmlichkeiten störten ihn etwas. Gestern war ihm das trockene Wesen Karenins aufgefallen. Er dachte auch daran, dass er ihn nicht besucht hatte, und diese Umstände brachte er mit Gerüchten in Verbindung, die er über Anna und Wronsky vernommen hatte.

Die zweite Unannehmlichkeit war die Ankunft eines Vorgesetzten, dem der Ruf eines schrecklichen Menschen vorausging, der um sechs Uhr morgens aufstand, wie ein Pferd arbeitete und dasselbe von seinen Untergebenen verlangte. Gestern war Oblonsky im Büro in Uniform erschienen, und der neue Vorgesetzte hatte sich sehr liebenswürdig mit ihm unterhalten, wie mit einem alten Bekannten. Der Gedanke nun, dass der neue Vorgesetzte ihn vielleicht schlecht empfangen könnte, war jener zweite unangenehme Umstand.

Zuerst fragte er nach Lewin. Dieser stand mit einem Bauern in der Mitte seines Zimmers, im Begriff, ein frisches Bärenfell zu messen, als Oblonsky eintrat.

»Oho! Hast du einen Bären geschossen?« rief Oblonsky. »Prachtvoll! Guten Tag, Archip!« sagte er, indem er dem Bauern die Hand drückte.

»Ich komme nur auf ein Sekündchen«, erwiderte Oblonsky. Das hinderte ihn aber nicht, den Paletot abzulegen und eine ganze Stunde sitzenzubleiben, um mit Lewin von Jagd und anderem zu schwatzen.

»Nun sage mir, was hast du im Ausland gemacht? Wo warst du?« fragte Oblonsky, als der Bauer gegangen war.

»Ich war in Deutschland, Frankreich, England, aber nicht in den Residenzen, sondern in den Fabrikstädten. Ich habe viel Neues gesehen und freue mich, dass ich dort war.«

»Ja, ich kenne deine Ansichten über die Arbeiterfrage.«

»Nein, in Russland kann es keine Arbeiterfrage geben. Bei uns ist die Frage: In welchem Verhältnis steht das arbeitende Volk zur Landbevölkerung? Siehst du, bei uns...«

Oblonsky hörte aufmerksam zu. »Ja, ja«, sagte er, »es kann wohl möglich sein, dass du recht hast, aber ich freue mich, dass du in so guter Stimmung zurückgekehrt bist. Schtscherbatzky hatte mir gesagt, er habe dich sehr niedergeschlagen gesehen, und du habest vom Sterben gesprochen.«

»Natürlich, ich denke unaufhörlich an den Tod«, erwiderte Lewin. »Es ist ja wahr, damit hat es ja noch Zeit, aber wenn man weiß, dass man heute oder morgen sterben kann, und dann nichts übrigbleibt, wie ist dann alles andere so unwichtig! Aber ich halte meine Idee für sehr wichtig ...!«

Oblonsky hörte wieder mit freundlichem Lächeln zu.

»Nun, natürlich. Aber erinnerst du dich auch, wie du über mich herfielst, weil ich am Leben Genuss finde?«

»Nun ja, was am Leben schön ist ...« Lewin geriet in Verwirrung – »nun, ich weiß nur, dass wir bald sterben werden, und das Leben bietet weniger Freuden, wenn man an den Tod denkt, aber es ist dann ruhiger.«

»Im Gegenteil, man muss den Rest genießen«, sagte Oblonsky, »und du musst jedenfalls heute bei mir speisen, dein Bruder wird auch da sein und Karenin.«

»Ist er denn hier?« fragte Lewin und wollte sich gleichzeitig nach Kitty erkundigen.

»Du kommst also?«

»Nun, versteht sich.«

»Also um fünf Uhr, im schwarzen Rock!«

Oblonsky verabschiedete sich und ging die Treppe hinab zu seinem Vorgesetzten.

Seine Ahnung hatte Oblonsky nicht betrogen. Der neue, schreckliche Chef erwies sich als ein sehr umgänglicher Mensch. Oblonsky frühstückte mit ihm und blieb so lange sitzen, dass er erst um vier Uhr zu seinem Schwager kam.

Karenin war den ganzen Morgen, nach der Messe im Hause geblieben. Er hatte noch zwei Angelegenheiten zu erledigen, eine nach Petersburg reisende Deputation der Ausländer, die sich eben in Moskau befanden, zu empfangen, und, nach seinem Versprechen, dem Advokaten zu schreiben. Er war eben beschäftigt, dieses Schreiben zu siegeln, als er die laute Stimme Oblonskys hörte. Dieser zankte mit dem Diener Karenins und bestand darauf, gemeldet zu werden.

Nun, gleichviel‹, dachte Karenin. ›Um so besser. Ich werde ihm sogleich mein Verhältnis zu seiner Schwester mitteilen und ihn darüber aufklären, warum ich nicht bei ihm speisen kann.‹ »Ich lasse bitten, einzutreten!« sagte er laut, indem er seine Papiere zusammennahm.

»Nun, ich freue mich sehr, dich noch getroffen zu haben. Du kommst also«, begann Oblonsky heiter.

»Ich kann nicht kommen«, erwiderte Karenin kühl, ohne den Gast zum Sitzen einzuladen.

Karenin wollte ein kühles Wesen beobachten, aber er hatte nicht auf das Meer von Gutherzigkeit gerechnet, das Oblonskys Seele erfüllte. Dieser sah ihn erstaunt mit glänzenden Augen an.

»Warum kannst du nicht?« fragte er. »Wir rechnen alle auf dich!«

»Ich kann nicht kommen, weil die verwandtschaftlichen Beziehungen, in denen wir früher standen, jetzt aufhören müssen.«

»Wie? Was heißt das?« fragte Oblonsky.

»Weil ich einen Scheidungsprozess einleiten werde gegen Ihre Schwester, meine Frau! Ich muss ...«

Ganz entgegen der Erwartung Karenins sank Oblonsky stöhnend in seinen Lehnstuhl. »Nein, Alexej Alexandrowitsch, wie kannst du so sprechen?« rief er mit bekümmerter Miene.

»Ja, es ist so.«

»Entschuldige mich, aber ich kann und kann das nicht glauben!«

Karenin sah, dass er zu weiteren Erklärungen genötigt sei, dass aber, welcher Art diese auch sein mochten, das Verhältnis zu seinem Schwager dasselbe bleiben werde.

»Ja, ich bin in die traurige Notwendigkeit versetzt, auf Scheidung zu klagen«, sagte er.

»Ich kann das nicht glauben! Ich kenne dich als rechtschaffenen, ausgezeichneten Menschen und Anna als deine schöne, vortreffliche Frau! Ich kann meine Meinung über sie nicht ändern. Es muss ein Missverständnis hier vorliegen! Und jedenfalls keine Übereilung! Um Gottes willen, keine Übereilung!«

»Ich habe mich nicht übereilt«, erwiderte Karenin kühl, »aber mein Entschluss steht fest.«

»Es ist entsetzlich!« rief Oblonsky mit einem schweren Seufzer. »Aber die Sache ist noch nicht eingeleitet, wenn ich dich recht verstanden habe. Ehe du etwas Entscheidendes unternimmst, sprich mit meiner Frau, ich bitte dich, tue das! Sie liebt Anna wie eine Schwester, sie liebt auch dich, und sie ist ein wundervolles Weib! Um Gottes willen, sprich mit ihr! Tue es aus Freundschaft für mich!« Karenin dachte nach, während Oblonsky ihn teilnahmsvoll anblickte. '

»Wirst du kommen?«

»Ich weiß nicht. Das ist der Grund, warum ich euch nicht besucht habe. Ich denke, unsere Beziehungen müssen jetzt eine Veränderung erleiden.«

»Warum? Das sehe ich nicht ein! Erlaube mir, daran zu glauben, dass du außer unserem verwandtschaftlichen Verhältnis mir auch noch dieselben freundschaftlichen Gefühle bewahrst, die ich für dich hege. Selbst wenn deine schlimmste Vermutung gerechtfertigt wäre, könnte ich es nicht auf mich nehmen, die eine oder andere Seite zu verurteilen, und ich sehe keinen Grund, warum unsere Beziehungen sich verändern sollten. Jetzt aber tue das, sprich mit meiner Frau!«

»Wir sehen die Sache auf verschiedene Weise an«, erwiderte Karenin kalt.

»Nein. Komm wenigstens heute, mit uns zu speisen! Meine Frau erwartet dich. Ich bitte dich, komm. Und dann sprich mit ihr. Sie ist eine außerordentliche Frau!«

»Wenn Sie das so sehr wünschen, so werde ich kommen«, sagte Karenin seufzend. Um das Gespräch abzulenken, fragte er nach dem neuen Chef Oblonskys, der einen so hohen Posten erhalten hatte, obgleich er noch ziemlich jung war.

Der Graf Anitschkin hatte auch früher Karenin nicht gefallen, und er konnte sich jetzt einer begreiflichen Eifersucht nicht erwehren.

»Nun, hast du ihn gesehen?« fragte Karenin mit einem giftigen Lächeln.

»Heute war er bei uns in der Kanzlei. Er scheint die Geschäfte vortrefflich zu verstehen und sehr tätig zu sein.«

»Ja, aber in welcher Richtung ist er tätig?«

»Wirklich, ich kenne seine Richtung nicht, aber er scheint ein guter Junge zu sein«, erwiderte Oblonsky. »Ich war eben bei ihm. Wir frühstückten zusammen, und ich lehrte ihn, eine Apfelsinenbowle zu machen. Dies gefiel ihm sehr. Nein, wirklich, er ist ein vortrefflicher Junge!«

Oblonsky blickte nach der Uhr. »Ach, mein Gott, schon über vier Uhr, und ich muss noch zu Dolgowuschin! Also, du wirst mit uns speisen! Du würdest uns sonst sehr kränken!«

Karenin begleitete seinen Schwager zur Tür. »Ich werde kommen, da ich es versprochen habe«, erwiderte er melancholisch. Es war über fünf Uhr, und einige Gäste hatten sich schon versammelt, als Oblonsky zu Hause ankam. An der Tür traf er Sergej Iwanowitsch Kosnyschew und Peßzow. Das waren die beiden ersten Vertreter der Moskauer Intelligenz, wie sie Oblonsky nannte. Sie achteten einander, obgleich sie stets entgegengesetzter Meinung waren.

Oblonsky sah sogleich, dass während seiner Abwesenheit im Salon eine trübe Stimmung herrschte. Darja Alexandrowna, in ihrem grauseidenen Galakleid, verstand augenscheinlich nicht, die Gesellschaft zu beleben. Alle schienen sich verwundert zu fragen, warum sie hierher geraten seien. Der gutmütige Turowzin fühlte sich augenscheinlich nicht in seiner Sphäre, und sein lächelndes Gesicht, mit dem er Oblonsky anblickte, schien zu sagen: ›Nun, Brüderchen, du hast mich in eine kluge Gesellschaft gesetzt, aber im Château des fleurs – da hätte mir's doch besser gefallen!‹ Der alte Fürst saß schweigend da und blickte von der Seite mit seinen glänzenden Äuglein Karenin an, und Oblonsky begriff, dass er über irgendein Bonmot nachdachte, um ihn zum Sprechen zu bringen.

Karenin war nach Petersburger Gewohnheit bei dem Diner mit Damen im Frack und weißer Halsbinde erschienen, und es war, als ob er einen eisigen Hauch in die Gesellschaft mitgebracht hätte.

Oblonsky entschuldigte sich, er sei von jenem Fürsten aufgehalten worden, welchen er stets zum Sündenbock machte, wenn er zu spät kam. Im nächsten Augenblick hatte er alle miteinander bekannt gemacht, Karenin mit Sergej Kosnyschew zusammengeführt und ihnen die Russifizierung Polens zum Thema gegeben, auf welches sie mit Peßzow sogleich anbissen. Turowzin flüsterte er etwas Spaßhaftes ins Ohr und platzierte ihn bei seiner Frau und dem Fürsten. Dann sagte er Kitty einige Liebenswürdigkeiten, und so hatte er in einem Augenblick diesen ganzen gesellschaftlichen Teig so umgeknetet, dass der ganze Salon von einem lebhaften Stimmengewirr erfüllt wurde. .

Darauf begab er sich in den Speisesaal, um noch einen Blick auf die Tafel zu werfen, als eben Konstantin Lewin eintrat.

»Ich komme doch nicht zu spät? Du hast schon viel Besuch. Wer ist da?« fragte Lewin ängstlich und errötend.

»Lauter Bekannte. Kitty ist auch da. Komm, ich werde dich mit Karenin bekannt machen.« Lewin fühlte sich geehrt, die Bekanntschaft des berühmten Mannes zu machen. Als er aber von Kittys Anwesenheit hörte, überkam ihn eine solche Freudigkeit und Beklemmung, dass er kaum atmen konnte. ›Wie wird sie sein? Ob Darja Alexandrowna wahr gesprochen hat? Warum sollte sie nicht wahr gesprochen haben?‹ dachte er.

»Ach ja, stelle mich Karenin vor«, brachte er mühsam hervor, und mit verzweifelter Entschlossenheit trat er in den Salon, wo er sie erblickte.

Sie sah noch reizender aus in ihrer Schüchternheit, denn sie hatte ihn gesehen, als er in den Saal trat, und sie erwartete ihn. Kitty befand sich in so freudiger Verwirrung, dass sie dem Weinen nahe war, wie Dolly bemerkte. Sie errötete und erbleichte abwechselnd, während er sich vor ihr verbeugte und schweigend die Hand ausstreckte. Dennoch vermochte sie mit einem ruhigen Lächeln, wenn auch mit zuckenden Lippen und feuchten Augen, ihn in unbefangenem Tone anzureden.

»Wie lange haben wir uns nicht gesehen«, sagte sie, Während sie ihm ihre kalte Hand reichte.

»Ich habe Sie gesehen, ohne dass Sie es wissen«, sagte Lewin, vor Glück strahlend.

»Wann?« fragte sie verwundert.

»Sie fuhren eben nach Jerguschowo.« – ›Wie konnte ich diesem reizenden Wesen nur grollen?‹ dachte er.

»Meine Herren, ich bitte, zur Sakuska!« sagte Oblonsky.

Die Herren gingen ins Speisezimmer und traten an einen Tisch, auf dem die Sakuska bereitstand, bestehend aus sechs verschiedenen Sorten Branntwein, Käse auf silbernen Schüsseln, Kaviar, Hering, Konserven verschiedener Art und Tellern mit kleinen Schnitten von französischem Brot. Man war eifrig mit Branntwein und Sakuska beschäftigt, und die Russifizierung Polens geriet ins Stocken, in Erwartung des Diners.

»Treibst du noch immer Gymnastik?« fragte er Lewin, indem er mit der linken Hand seine Muskeln befühlte. »Du bist ein wahrer Simson!«

»Ich glaube, es gehört auch viel Kraft dazu, Bären zu jagen«, bemerkte Karenin, der nur eine nebelhafte Vorstellung von der Jagd hatte.

»Durchaus nicht«, erwiderte Lewin lachend. »Ein Kind kann einen Bären töten.« Mit einer leichten Verbeugung trat er vor den Damen zurück, die, von der Frau des Hauses geführt, an den Tisch traten.

»Und Sie haben wirklich einen Bären getötet?« fragte Kitty. »Gibt es denn bei Ihnen Bären?« fügte sie mit einem entzückenden Lächeln hinzu.

Ihre Worte schienen durchaus nichts Ungewöhnliches zu enthalten, aber er fand ein unbeschreibliches Entzücken in jedem Laut, in jeder Bewegung ihrer Lippen und Augen, während sie sprach. Es lag eine Bitte um Verzeihung darin, ein Ausdruck des Zutrauens und der Freundschaft für ihn, zärtlicher, schüchterner Freundlichkeit, eine Hoffnungsfreudigkeit und Liebe, an die er kaum zu glauben vermochte. Er fühlte sich überwältigt von soviel Glück.

Während Oblonsky seinen Gästen bei Tisch ihre Plätze anwies, brachte er es auf ganz harmlose Weise zustande, dass für Lewin und Kitty nur zwei Plätze nebeneinander übrigblieben.

»Nun, es ist nichts zu machen – setze dich nun eben hierher«, sagte er zu Lewin.

Das Diner war sowohl in Beziehung auf den materiellen wie auf den geistigen Inhalt vorzüglich, und Matwej servierte untadelhaft mit zwei Dienern in weißen Halsbinden. Keinen Augenblick verstummte das Gespräch und wurde schließlich so lebhaft, dass die Herren, als sie aufstanden, noch weitersprachen. Sogar Karenin fühlte sich angeregt und belebt.

Oblonsky hatte sich nicht geirrt, als er Peßzow einlud; denn in seiner Gegenwart verstummte das Gespräch keinen Augenblick. Jetzt sprang es auf ein neues Thema, das der weiblichen Bildung, über.

Karenin sprach die Meinung aus, die weibliche Bildung werde gewöhnlich mit der Frage der weiblichen Freiheit verwechselt.

»Im Gegenteil glaube ich, dass diese beiden Fragen unlöslich miteinander verbunden sind«, sagte Peßzow. »Das Weib ist gewisser Rechte beraubt wegen seiner mangelhaften Bildung. Der Mangel an Bildung aber entspringt aus dem Fehlen der Rechte. Man darf nicht vergessen, dass die Sklaverei der Frau so groß und so alt ist, dass wir oft nicht jenen Abgrund erkennen wollen, der sie von uns trennt.«

»Sie sprechen von dem Recht, die Stellung eines Geschworenen, eines Mitgliedes der Stadtverwaltung, eines Vorsitzenden einer Behörde, eines Beamten, eines Parlamentsmitgliedes anzunehmen?« »Ohne Zweifel.«

»Auch wenn es Frauen gibt, die als seltene Ausnahmen diese Stellungen bekleiden könnten, so scheint mir doch, dass der Ausdruck ›Rechte‹ hier nicht ganz am Platz ist, besser wäre ›Verpflichtung‹. Jedermann wird mir darin beistimmen, dass wir bei der Erfüllung irgendwelcher Obliegenheiten, zum Beispiel der eines Geschworenen, eines Telegraphisten und so weiter, einer Verpflichtung nachkommen, und darum wäre es richtiger, zu sagen, die Frauen suchen Verpflichtungen, und ich kann nur Sympathie für ihren Wunsch haben, an der Arbeit des Mannes teilzunehmen.«

»Vollkommen richtig«, bestätigte Karenin. »Die Frage besteht jedoch nur darin, ob sie diesen Obliegenheiten gewachsen sind.«

»Wahrscheinlich werden sie sehr wohl geeignet sein«, behauptete Oblonsky, »wenn die Bildung unter ihnen verbreitet sein wird, das sehen wir...«

»Ich finde es nur sonderbar, dass die Frauen neue Obliegenheiten suchen«, bemerkte Sergej Iwanowitsch, »während wir leider bei den Männern sehen müssen, dass sie solche zu vermeiden trachten.«

»Die Obliegenheiten sind mit Rechten verbunden, gewähren Geld, Ehren, und danach streben die Frauen«, sagte Peßzow.

»Das ist ganz ebenso, als ob ich nach dem Recht streben wollte, eine Amme zu sein, und mich darüber ärgerte, dass man Frauen dafür bezahlt und mich nicht annehmen will«, sagte der alte Fürst.

Turowzin brach in ein lautes Gelächter aus, und Sergej Iwanowitsch bedauerte, dass nicht er diese Äußerung getan hatte. Selbst Karenin lächelte.

»Aber wir bleiben bei dem Prinzip, dem Ideal stehen«, erwiderte Peßzow mit seinem tiefen Baß. »Die Frau strebt nach dem Recht, unabhängig und gebildet zu sein, sie fühlt sich unterdrückt durch das Bewusstsein, dass dieses Recht ihr versagt ist.«

Alle beteiligten sich an dem allgemeinen Gespräch, außer Kitty und Lewin. Auf die Frage Kittys, wo er sie im vergangenen Jahre im Wagen gesehen haben könne, erzählte er, wie er ihr bei der Heuernte auf der Landstraße begegnet wäre.

»Es war ein wundervoller Morgen, Sie waren wahrscheinlich eben erst aufgewacht. Wie sehr wünschte ich zu wissen, an was Sie damals dachten.« ›Wenn ich nur nicht etwa zerzaust aussah‹, dachte sie; aber an seinem entzückten Lächeln bei der Erinnerung an diese Einzelheiten schloss sie im Gegenteil, dass sie einen vorzüglichen Eindruck auf ihn gemacht hatte. Sie errötete und lächelte freudig.

»Wie herzlich Turowzin lacht!« bemerkte Lewin.

»Kennen Sie ihn schon lange?« fragte Kitty.

»Wer kennt ihn nicht?«

»Aber ich glaube, Sie halten ihn für einen schlechten Menschen:«

»Nicht gerade für schlecht, aber für unbedeutend.«

»Darin haben Sie unrecht«, sagte Kitty. »Ich hatte auch eine sehr geringe Meinung von ihm, aber er hat ein Herz von Gold.«

»Wie konnten Sie sein Herz erkennen?«

»Wir sind sehr befreundet; ich kenne ihn sehr gut. Im letzten Winter, bald nachdem... Sie bei uns gewesen...«, sagte sie mit schuldbewusstem Lächeln, »erkrankten Dollys Kinder am Scharlach. Zufällig machte er eines Tages einen Besuch bei ihr, und – können Sie sich vorstellen«, sagte sie flüsternd, »er fühlte so lebhaftes Bedauern, dass er blieb und ihr half, die Kinder zu pflegen. Und so blieb er drei Wochen bei ihr im Hause und wartete die Kinder wie eine Kinderfrau.«

»Ich erzähle Herrn Lewin von Turowzin während der Scharlachkrankheit«, sagte sie, sich zu ihrer Schwester hinüberbeugend.

»Ja, es ist wirklich bewundernswert«, bestätigte Dolly, und Lewin wunderte sich darüber, dass er nicht schon früher alle Vorzüge dieses Menschen zu schätzen gewusst habe.

Das im Gang befindliche Gespräch über die Rechte der Frau berührte auch Fragen über die Ungleichheit der Rechte in der Ehe, die in Gegenwart von Damen schwierig zu behandeln waren. Peßzow hatte bei Tisch mehrere Male diese Fragen berührt, aber Sergej und Oblonsky hatten vorsichtig abgelenkt.

Als man vom Tisch aufstand und die Damen das Zimmer verließen, wandte sich Peßzow an Karenin und begann, seine Ansicht über die hauptsächlichsten Ursachen der Ungleichheit zu entwickeln. Nach seiner Meinung bestand die Ungleichheit der Ehegatten darin, dass die Untreue der Frau anders als die Untreue des Mannes vom Gesetz bestraft und von der öffentlichen Meinung betrachtet wird.

Oblonsky näherte sich hastig Karenin und bot ihm eine Zigarre an. »Nein, ich rauche nicht«, erwiderte Karenin ruhig, und als ob er zeigen wollte, dass er sich vor diesem Gesetz nicht fürchte, wandte er sich mit kaltem Lächeln wieder an Peßzow. »Ich glaube, das liegt in der Natur der Dinge«, sagte er und wollte an dem Salon vorübergehen, wurde aber unerwartet wieder von Turowzin angeredet.

»Haben Sie schon von Pratschnykow gehört?« fragte Turowzin, der vom Champagner angeheitert war und schon lange danach trachtete, sein Schweigen zu brechen. »Man hat mir heut erzählt, er habe sich in Twer mit Kwizky duelliert und ihn erschossen.«

Hastig wollte Oblonsky seinen Schwager fortführen, aber dieser fragte selbst neugierig: »Warum hat sich Pratschnykow duelliert?«

»Wegen seiner Frau. Er hat sich wie ein tüchtiger Kerl benommen, den anderen herausgefordert und ihn erschossen.«

»Ah«, sagte Karenin gleichmütig und ging vorüber.

»Wie freue ich mich, dass Sie gekommen sind«, sagte Dolly mit einem schüchternen Lächeln, als sie ihm an der Tür eines Nebenzimmers entgegenkam. »Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Mit demselben gleichgültigen Ausdruck setzte er sich neben Dolly und lächelte gezwungen. »Ganz gut«, sagte er. »Ich wollte Sie eben um Entschuldigung bitten und mich empfehlen, da ich morgen verreisen muss.«

Dolly war fest überzeugt von Annas Unschuld und fühlte, dass sie erbleichte aus Entrüstung über diesen kalten, gefühllosen Menschen, der ihre unschuldige Freundin zu vernichten strebte.

»Alexej Alexandrowitsch«, sagte sie und blickte ihm mit verzweifelter Entschlossenheit in die Augen, »ich habe Sie nach Anna gefragt, aber Sie haben mir nicht darauf geantwortet. Was macht sie?«

»Ich glaube, sie ist gesund, Darja Alexandrowna.«

»Alexej Alexandrowitsch, verzeihen Sie, ich habe kein Recht ... aber ich liebe und achte Anna wie eine Schwester. Ich flehe Sie an, mir zu sagen, was zwischen Ihnen vorgefallen ist. Wessen beschuldigen Sie sie?«

Karenin zog die Stirn in Falten und ließ mit halb geschlossenen Augen den Kopf sinken.

»Ich vermute, Ihr Mann wird Ihnen den Grund mitteilen, warum ich es notwendig finde, meine Beziehungen zu Anna Arkadjewna aufzuheben«, sagte er, ohne sie anzublicken. »Unmöglich! Ich kann es nicht glauben«, sagte Dolly mit einer energischen Gebärde. Sie erhob sich rasch. »Wir werden hier gestört. Ich bitte, treten Sie in dieses Zimmer.«

Dollys Aufregung teilte sich auch Karenin mit. Gehorsam folgte er ihr in das Unterrichtszimmer der Kinder. Sie setzten sich an den Tisch, der mit Tintenflecken bedeckt war.

»Ich kann es nicht glauben, niemals!« wiederholte Dolly.

»Es ist unmöglich, diesen Tatsachen nicht zu glauben, Darja Alexandrowna.«

»Aber was hat sie denn getan?« rief Dolly.

»Sie hat ihren Mann betrogen! Das ist's, was sie getan hat«, sagte er.

»Nein! Nein! Das kann nicht sein! Um Gottes willen! Sie irren sich!« rief Dolly. Sie fasste sich an die Schläfen und schloss die Augen.

Karenin lächelte kalt. Aber diese hitzige Verteidigung riß seine Wunde wieder auf. Mit großer Lebhaftigkeit begann er zu sprechen.

»Es ist sehr schwer, sich zu irren, wenn die Frau selbst ihrem Mann erklärt, acht Lebensjahre, und ihr Sohn – das alles sei nur ein Irrtum, und sie wolle von neuem anfangen, zu leben«, sagte er heftig.

»Anna, und das Laster! Das ist nicht zu vereinigen! Ich kann es nicht glauben!«

»Darja Alexandrowna«, sagte er, in ihr gutes, aufgeregtes Gesicht blickend, »ich würde viel darum geben, wenn noch ein Zweifel möglich wäre. Ich bin sehr unglücklich!«

Dolly las dies auf seinem Gesicht, und sie empfand tiefes Mitleid. Der Glaube an die Unschuld ihrer Freundin wurde schwankend.

»Ach, es ist entsetzlich! Entsetzlich! Aber kann es wahr sein, dass Sie sich zur Scheidung entschlossen haben?«

»Es bleibt mir nichts anderes übrig«, sagte er. »Es ist unmöglich, zu dreien zu leben.«

»Das begreife ich«, sagte Dolly und verstummte. Sie dachte an ihren eigenen häuslichen Kummer, und plötzlich erhob sie sich lebhaft und schloss die Hände mit einer bittenden Gebärde. »Aber warten Sie noch, denken Sie an ihre Zukunft! Was soll aus ihr werden, wenn Sie Anna verstoßen?«

»Daran habe ich oft gedacht«, erwiderte Karenin. Rote Flecke erschienen auf seinem Gesicht, und seine trüben Augen waren starr auf sie gerichtet. Dolly bedauerte ihn jetzt von ganzem Herzen.

»Nachdem sie selbst mir gesagt hatte, welchen Schimpf sie auf mich gebracht, ließ ich alles beim alten, ich gab ihr die Möglichkeit der Besserung, und was geschah? Sie erfüllte nicht einmal die leichteste Forderung, den Anstand zu beobachten«, sagte er, heftiger werdend. »Man kann einen Menschen retten, der nicht untergehen will, aber wenn die Natur schon so verdorben ist, dass der Untergang selbst ihr wie Rettung erscheint, was ist dann zu machen?«

»Alles, nur nicht Scheidung!« erwiderte Darja.

»Aber was heißt alles?«

»Nein, es ist entsetzlich! Sie wird niemandes Frau sein, sie wird untergehen!«

»Was kann ich tun?« erwiderte Karenin achselzuckend. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Teilnahme, aber es ist Zeit!« sagte er kalt und erhob sich.

»Nein, warten Sie! Sie sollen sie nicht zum Untergang treiben! Warten Sie noch! Hören Sie, was ich Ihnen über mich zu sagen habe. Ich heiratete, und mein Mann betrog mich. Aus Zorn und Eifersucht wollte ich alles von mir werfen – ich wollte selbst... Aber ich besann mich, und was geschah? Anna hat mich gerettet, und ich lebe weiter. Die Kinder wachsen, und mein Mann kehrt zur Familie zurück, sieht sein Unrecht ein und bessert sich, und ich lebe weiter!... Ich habe vergeben, und auch Sie sollen vergeben.«

Karenin hörte ihre Worte, aber sie hatten keine Wirkung mehr auf ihn. In seinem Innern tobte wieder dieselbe Wut wie an dem Tag, als er sich zur Ehescheidung entschloss. Mit durchdringender, lauter Stimme sagte er: »Verzeihen kann und will ich nicht! Ich habe für dieses Weib alles getan, und sie hat alles unter die Füße getreten! Ich bin kein böser Mensch, ich habe keinen jemals gehaßt, sie aber hasse ich von ganzer Seele!« rief er mit Tränen der Wut in der Stimme.

Karenin fasste sich im nächsten Augenblick wieder, verabschiedete sich ruhig und fuhr nach Hause.

Als man vom Tisch aufstand, wäre Lewin gern Kitty in den Salon gefolgt, wenn er nicht gefürchtet hätte, es könnte ihr unangenehm sein und seine Aufmerksamkeit auffallen. Er blieb bei der Gruppe der Herren zurück; aber ohne nach Kitty zu blicken, nahm er jede ihrer Bewegungen und Blicke wahr. Man sprach über die russische Landgemeindeverfassung, welche Peßzow als ein Muster für die übrige Welt rühmte. Lewin interessierte das Thema nicht und noch weniger das, was darüber gesagt wurde, und er wünschte nur, alle zu versöhnen. Er wusste jetzt, dass nur eins für ihn wichtig war, und dieses eine war in dem Salon und bewegte sich dann bis zur Tür. Ohne sich umzuwenden, fühlte er ihren Blick, der auf ihn gerichtet war, und als er sich umwandte, stand sie an der Tür mit Schtscherbatzky und sah nach ihm.

»Ich glaubte, Sie würden zum Piano gehen?« sagte er, indem er nähertrat. »Das vermisse ich auf dem Lande so sehr, die Musik.«

»Nein«, sagte sie lächelnd, »wir wollen nur Sie zu uns rufen, und ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Was ist das für ein Vergnügen, zu streiten, man überzeugt doch niemals den anderen.«

»Ja, das ist wahr«, rief Lewin. »Und wie oft kommt es vor, dass man nur deshalb heftig streitet, weil man durchaus nicht begreifen kann, was der Gegner will.«

Schtscherbatzky verließ sie, und Kitty setzte sich an einen aufgeschlagenen Kartentisch, nahm die Kreide zur Hand und zeichnete Kreise und Arabesken auf das neue grüne Tuch.

Sie kamen zurück auf das Tischgespräch über die Freiheit und den Beruf der Frauen. Lewin stimmte Darja bei, dass ein Mädchen, welches nicht heirate, in einer Familie ein Feld für weibliche Tätigkeit finden könne.

Ein Schweigen trat ein. Ihre Augen funkelten in stillem Glanz.

»Ach, ich habe den ganzen Tisch bemalt«, sagte sie, legte die Kreide weg und machte eine Bewegung, als ob sie aufstehen wollte.

Wie, soll ich allein, ohne sie bleiben ?‹ dachte er mit Schrecken und ergriff die Kreide.

»Warten Sie noch«, sagte er und setzte sich an den Tisch. »Ich wollte Sie schon lange etwas fragen.«

»Bitte, fragen Sie«, erwiderte sie mit freundlichem, aber etwas erschrecktem Blick.

»Hier!« sagte er und schrieb auf das grüne Tuch die Buchstaben: »A, S, m, a, d, k, n, s, b, d, n, o, d?« Diese Buchstaben bedeuteten: »Als Sie mir antworteten, das kann nicht sein – bedeutete das niemals oder damals?« Es war ganz undenkbar, dass sie diesen Satz verstehen konnte, aber sie strengte sich in der Weise an, als ob ihr Leben vom Erraten dieser Worte abhänge. Zuweilen blickte sie ihn an und fragte mit ihren Augen: »Ist es so, wie ich glaube?«

»Ich habe verstanden«, sagte sie endlich errötend.

»Was heißt dieses Wort?« fragte er und deutete auf das »n«, welches das Wort »niemals« bedeutete.

»Dieses Wort heißt ›niemals‹«, sagte sie, »aber das ist nicht richtig.«

Rasch wischte er das Geschriebene aus, reichte ihr die Kreide und stand auf. Sie schrieb: »D, k, i, n, a, a.« Beim Anblick dieser beiden Gestalten vergaß Dolly ihren Gram um Anna. Kitty hielt die Kreide in der Hand und blickte lachend, schüchtern und glücklich zu Lewin auf, während er, über den Stuhl gebückt, seine glühenden Blicke bald auf den Tisch, bald auf sie richtete. Plötzlich strahlte sein Gesicht, er hätte verstanden. Das bedeutete: »Damals konnte ich nicht anders antworten.«

Er blickte sie fragend und zaghaft an.

»Nur damals?«

»Ja«, antwortete ihr Lächeln.

»Und jetzt?« fragte er.

»Nun, lesen Sie! Ich werde sagen, was ich wünsche, und sehr wünsche!« Sie schrieb die folgenden Anfangsbuchstaben auf: »I, w, d, S, d, V, v, u, v, k!«

Mit zitternden Fingern griff er nach der Kreide und schrieb die Anfangsbuchstaben der folgenden Worte: »Ich habe nichts zu vergessen und zu vergeben, ich habe nicht aufgehört Sie zu lieben!«

»Ich habe verstanden«, antwortete sie flüsternd.

Er setzte sich und schrieb eine lange Phrase. Sie begriff alles, und ohne zu fragen, ob sie richtig verstanden habe, ergriff sie die Kreide und antwortete sogleich.

Lange konnte er nicht begreifen, was sie geschrieben hatte, und blickte oft in ihre Augen. Er war verwirrt durch sein Glück und konnte die Worte nicht finden, die sie meinte, aber an dem freudigen Glanz ihrer Augen erkannte er, was er wissen wollte, und er schrieb vier Buchstaben. Aber noch hatte er sie nicht vollendet, als sie den Sinn schon verstanden hatte und ihre Antwort schrieb: »Ja«.

Der alte Fürst kam auf sie zu. »Ihr spielt Sekretärs?« fragte er. »Aber wenn du noch zur rechten Zeit ins Theater kommen willst, so müssen wir gehen.« Lewin stand auf und begleitete Kitty bis zur Tür. In ihrem Gespräch war alles gesagt worden, sie hatte ihm gestanden, dass sie ihn liebte, und ihm erlaubt, morgen ihre Eltern zu besuchen.

Die Straßen waren alle noch leer, als Lewin der Wohnung Schtscherbatzkys zuschritt. Das Haus war verschlossen, und alle schliefen noch. Er ging wieder in seinen Gasthof zurück und ließ sich Kaffee bringen. Er versuchte den Kaffee zu trinken und steckte ein Stück Weißbrot in den Mund, aber der Mund wusste entschieden nicht, was er mit dem Weißbrot machen sollte.

Lewin zog den Paletot an und verließ wieder den Gasthof. Es War nach neun Uhr, als er zum zweiten Male vor dem Hause Schtscherbatzkys ankam. Das Haus schien eben erst erwacht zu sein, und der Koch ging aus, um Einkäufe zu machen. Er musste noch wenigstens zwei Stunden warten. Während dieser noch fehlenden Stunden ging er in den Straßen spazieren und blickte beständig nach der Uhr.

Alles, was er sah, machte auf Lewin einen so lebhaften Eindruck, dass er aus Freude lachte und weinte. Endlich kehrte er wieder in seinen Gasthof zurück, legte die Uhr vor sich auf den Tisch und setzte sich. Als der Zeiger sich der Mittagsstunde näherte, verließ Lewin das Haus, nahm eine Droschke und fuhr zu Schtscherbatzkys.

Der Portier in Schtscherbatzkys Haus schien auch schon alles zu wissen; das sah man an seinem Lächeln und an der Art, wie er sagte: »Nun, Sie sind lange nicht bei uns gewesen, Konstantin Dmitritsch! Belieben Sie einzutreten.«

»Wem soll ich Sie melden?« fragte der Diener.

»Der Fürstin ... dem Fürsten ... dem gnädigen Fräulein.«

Die erste Person, der er begegnete, war Mademoiselle Linon. Sie ging durch den Saal, und ihr Gesicht strahlte. Während er einige Worte mit ihr sprach, öffnete sich die Tür, er hörte das Rauschen eines Kleides, und Mademoiselle Linon verschwand. Freudiger Schrecken ergriff Lewin, er hörte rasche Schritte auf dem Parkett, und sein Glück, sein Leben, was er so lange gesucht und gewünscht hatte – kam wie im Flug auf ihn zu.

Er sah nur ihre heiteren, lieblichen Augen, deren Glanz ihn blendete. Sie stand vor ihm, ihre Hände erhoben sich und legten sich auf seine Schultern. Sie hatte alles getan, was sie konnte. Sie war zu ihm geeilt und hatte sich in schüchterner Freude ihm ganz überliefert. Er umarmte sie und drückte seine Lippen auf ihren Mund.

Auch sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und ihn schon vom frühen Morgen an erwartet.

Mutter und Vater hatten eingewilligt und waren glücklich über das Glück ihrer Tochter.

»Wir wollen zu Mama gehen«, sagte sie, seine Hand ergreifend. Lange vermochte er nichts zu antworten, er fürchtete durch Worte die Erhabenheit seines Gefühls zu entweihen. Dann ergriff er ihre Hand und küsste sie.

»Ist es wirklich wahr?« sagte er endlich mit dumpfer Stimme. »Ich kann es noch nicht glauben, dass du mich liebst.«

Sie lachte über dieses »du« und über die Schüchternheit, mit der er sie anblickte. »Ja«, antwortete sie langsam und mit Bedeutung, »ich bin so glücklich.«

Ohne seine Hand loszulassen, ging sie in den Saal. Als die Fürstin sie erblickte, brach sie in Tränen aus, und dann lachte sie wieder und kam ihnen mit lebhaften Schritten entgegen. Sie umfasste seinen Kopf, küsste ihn und benetzte seine Wangen mit Tränen.

»Ich bin so erfreut! Liebe sie! Ich bin so glücklich! ...Kitty!«

»Ihr habt die Sache schnell arrangiert«, sagte der alte Fürst. Er suchte gleichgültig zu erscheinen, aber Lewin bemerkte den feuchten Glanz in seinen Augen, als er sich ihm zuwandte.

»Das habe ich schon lange – immer gewünscht«, gestand der Fürst, indem er Lewins Hand ergriff und ihn zu sich zog. »Ich bin sehr ... sehr ... erfr... Ach, welche dumme Rolle!« Er umarmte Kitty, küsste sie auf die Stirn und bekreuzigte sie.

Und Lewin ergriff ein neues Gefühl der Liebe zu diesem, ihm bisher fremden Mann, dem alten Fürsten, als er sah, wie Kitty lange und zärtlich seine Hand küsste.

Die Fürstin saß in ihrem Stuhl und lächelte, der Fürst saß neben ihr, und Kitty hielt die Hand des Vaters fest. Alle schwiegen.

Die Fürstin drückte zuerst die Gedanken und Gefühle aus und übersetzte sie in die Fragen des praktischen Lebens.

»Wann? ... Man muss die Verlobung veröffentlichen, und wann soll die Hochzeit sein? Wie denkst du, Alexander?«

»Hier, dieser da«, sagte der alte Fürst, auf Lewin deutend, »ist darin die Hauptperson.« »Wann?« wiederholte Lewin errötend. »Morgen, wenn Sie mich fragen.«

»Nun, nun, mon cher, keine Torheiten!«

»Nun, dann nach einer Woche.«

»Er hat den Verstand verloren.« »Nicht? Warum nicht?«

»Und die Aussteuer?« sagte die Mutter, lächelnd über diese Hast,

Also die Aussteuer und das alles kommt auch noch in Frage‹, dachte Lewin missvergnügt. »Nun, meinetwegen, mein Glück wird dadurch nicht gestört. Nichts kann es stören! Ich verstehe nichts davon, ich habe nur meinen Wunsch ausgesprochen«, bemerkte er entschuldigend.

»Gut, gut, wir wollen überlegen. Jetzt kann man die Verlobung ankündigen, das ist das erste, was wir tun wollen.«

Die Fürstin trat auf ihren Mann zu, küsste ihn und wollte gehen, aber er hielt sie zurück und küsste sie zärtlich mehrmals wie ein junger Verliebter. Die Alten verirrten sich augenscheinlich auf einen Augenblick und wussten nicht recht, ob sie wieder verliebt seien oder ihre Tochter. Als sie das Zimmer verlassen hatten, trat Lewin auf seine Braut zu und ergriff ihre Hand.

»Wie lange schon wusste ich, dass es so kommen werde! Ich habe niemals gehofft, aber innerlich war ich immer überzeugt davon. Ich glaube, das war so vorherbestimmt.«

»Und ich«, sagte sie, »selbst damals...«, sie stockte – »selbst damals, als ich mein Glück von mir stieß, ich habe immer Sie allein geliebt, aber ich ließ mich fortreißen!... Können Sie das vergessen?«

»Vielleicht ist es besser so, Sie haben mir viel zu vergeben. Ich muss Ihnen manches sagen...« Er wollte ihr in den ersten Tagen zweierlei mitteilen, erstens, dass er nicht so rein war wie sie, und dann – dass er ungläubig sei. »Nein, nicht jetzt, später«, sagte er.

»Gut, später, aber sprechen Sie jedenfalls; ich fürchte nichts, aber ich muss alles wissen.«

»Aber es versteht sich, dass Sie mich nehmen, so wie ich bin und war, und sich nicht zurückziehen? Ja?«

»Ja, ja!«

Ihr Gespräch wurde durch Mademoiselle Linon unterbrochen, die erschien, um ihre Glückwünsche zu bringen. Dann kam auch die Dienerschaft, und nun begann jener wonnige Strudel, der Lewin erst am Tage nach seiner Hochzeit wieder frei ließ. Immer fühlte er, dass ihm noch viele Obliegenheiten bevorstanden – er tat alles, was man ihm sagte; und das alles machte ihn glücklich.

Ihm schien es, dass alle, mit denen er in diesen Tagen zu tun hatte, sich über sein Glück freuten. Merkwürdig war, dass auch alle, die ihm früher unsympathisch, kalt und gleichgültig gegenübergestanden hatten, ihm jetzt mit Zartgefühl entgegenkamen und seine Überzeugung zu teilen schienen, dass er der glücklichste Mensch auf der Welt sei, weil seine Braut auf dem Gipfel der Vollkommenheit stehe.

Eine schwere Aufgabe waren für ihn die versprochenen Bekenntnisse. Er beriet sich mit dem alten Fürsten, der ihm den Rat gab, Kitty sein Tagebuch zu übergeben, in dem alles niedergeschrieben war, was ihm auszusprechen so peinlich war, und dies tat er auch. Er hatte dies Tagebuch in früherer Zeit geschrieben, in Rücksicht auf seine zukünftige Braut. Das Geständnis seines Unglaubens ging unbeachtet vorüber. Sie war religiös, zweifelte niemals an den Wahrheiten der Religion, aber sein innerer Unglaube beunruhigte sie nicht im geringsten. Über das andere Geständnis dagegen vergoss sie bittere Tränen.

Nicht ohne inneren Kampf hatte ihr Lewin das Tagebuch übergeben. Zwischen ihm und ihr sollte kein Geheimnis bestehen, aber er hatte sich nicht klargemacht, wie das auf sie einwirken werde. Erst als er abends vor dem Theater in ihr Zimmer trat und ihr verweintes, unglückliches, liebes Gesicht erblickte, begriff er, welcher Abstand seine befleckte Vergangenheit von ihrer Taubenreinheit trennte, und entsetzte sich über das, was er getan hatte.

»Fort! Fort! Nehmen Sie diese schrecklichen Bücher fort!« sagte sie und stieß die vor ihr auf dem Tische liegenden Hefte zurück. »Warum haben Sie mir diese gegeben? – Nein, es ist doch besser«, fügte sie begütigend hinzu, als sie sein verzweifeltes Gesicht erblickte – »aber es ist schrecklich! Schrecklich!«

Er ließ den Kopf sinken und fand keine Worte.

»Sie vergeben mir nicht?« flüsterte er.

»O doch, ich habe vergeben! – Aber es ist entsetzlich.«

Sein Glück war so groß, dass dieses Bekenntnis es nicht zerstören konnte und ihm nur neue Färbung verlieh. Sie vergab ihm, aber von dieser Zeit an war er noch fester überzeugt, dass er ihrer unwürdig sei; noch höher schätzte er sein unverdientes Glück. Als Karenin in sein einsames Hotelzimmer zurückkehrte, überdachte er unwillkürlich sein Gespräch mit Dolly. Was sie von Verzeihung gesprochen hatte, machte ihm nur Verdruss; die Anwendung christlicher Grundsätze auf seinen Fall war eine Frage, die er sich schon lange in verneinendem Sinne beantwortet hatte. Die Worte des gutmütigen, beschränkten Turowzin: »Er hat sich brav benommen, seinen Gegner herausgefordert und erschossen«, kamen ihm immer wieder in den Sinn. Das hatte augenscheinlich allgemeinen Beifall gefunden.

Übrigens ist diese Sache abgemacht, und es ist überflüssig, weiter darüber nachzugrübeln‹, sagte sich Karenin und dachte nur noch an seine bevorstehende Reise und die dienstlichen Angelegenheiten, die ihn am Bestimmungsort erwarteten. Er ließ Tee bringen, setzte sich an den Tisch und vertiefte sich in das Kursbuch.

»Zwei Telegramme«, meldete sein Diener.

Karenin ergriff und erbrach sie.

Das erste enthielt die Nachricht von der Ernennung Stremows für den Posten, den Karenin für sich gewünscht hatte. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

»Quos vult perdere dementat«, sagte er und verstand unter »Quos« diejenigen, die zu dieser Ernennung mitgewirkt hatten. Es verdross ihn weniger, dass er übergangen worden war, sondern sein Verdruss war darüber, dass man nicht einsah, dass dieser Schwätzer Stremow sich weniger als jeder andere zu diesem Posten eignete.

»Noch etwas dieser Art wahrscheinlich«, sagte er giftig, indem er die zweite Depesche öffnete. Diese kam von seiner Frau: »Ich sterbe! Ich bitte, ich flehe dich an, zurückzukehren. Ich sterbe ruhiger mit Verzeihung!« Er lächelte geringschätzig. Dass das ein neuer Betrug und List war, davon war er im ersten Augenblick überzeugt.

Es gibt keinerlei Betrug, vor dem sie zurückschrecken würde. Sie muss der Niederkunft nahe sein, aber was kann ihr Zweck sein? Das Kind legalisieren, mich bloßstellen und die Scheidung verhindern‹, dachte er. ›Aber hier steht: Ich sterbe!‹ Er durchlas nochmals das Telegramm, und plötzlich kam ihm die Bedeutung seines Inhalts zum Bewusstsein. »Wenn das wahr wäre, dass sie im Augenblick des Leidens und der Nähe des Todes wirklich aufrichtig bereute, und ich mich weigerte, zu ihr zu kommen, weil ich dies für List halte? Das wäre nicht nur grausam, und alle würden mich dafür verurteilen – es wäre aber auch unsinnig von meiner Seite.«

Karenin beschloss, nach Petersburg zurückzukehren und seine Frau zu sehen. Sollte ihre Krankheit nur Vorwand sein, so wollte er schweigend wieder abreisen; sollte sie aber wirklich schwer krank sein und vor ihrem Tod ihn noch zu sehen wünschen, so wollte er ihr vergeben, wenn er sie noch am Leben anträfe, und ihr die letzte Ehre erweisen, wenn er zu spät kommen sollte.

Nach einer Nacht im Eisenbahnwagen fuhr er im frühen Petersburger Morgennebel ermüdet über den Newskij-Prospekt und blickte vor sich hin, ohne darüber nachzudenken, was ihn erwartete. Die Läden waren noch geschlossen; er erblickte nur einige Nachtdroschken, und Portiers, welche das Trottoir fegten. Endlich fuhr er vor seinem Hause vor. Eine Droschke und ein Wagen mit einem eingeschlafenen Kutscher standen vor der Tür.

Karenin trat ein.

Wenn es nur Lüge ist, so werde ich mit stiller Verachtung wieder abreisen; wenn es wahr ist, muss der Anstand beobachtet werden.‹

»Wie geht es meiner Frau?« fragte er den Portier.

»Die gnädige Frau ist gestern glücklich niedergekommen.«

Karenin erbleichte und blieb stehen. Er fühlte jetzt deutlich, wie lebhaft er ihr den Tod gewünscht hatte.

»Und wie ist ihr Befinden?«

Karnee, der Diener, kam im Morgenanzug die Treppe herab.

»Sehr schlecht«, erwiderte er. »Gestern Abend fand eine ärztliche Beratung statt, und jetzt ist wieder der Arzt hier.«

»Nimm mein Reisegepäck«, sagte Karenin. Er empfand einige Erleichterung bei der Nachricht, dass immer noch Hoffnung auf ihren Tod vorhanden sei, und trat in das Vorzimmer.

Dort hing ein Offiziersmantel.

»Wer ist da?« fragte Karenin.

»Der Doktor, die Wartefrau und Graf Wronsky.«

Karenin ging in die inneren Zimmer. Im Salon war niemand. Aus ihrem Kabinett kam ihm beim Geräusch seiner Schritte die Wärterin entgegen. Sie trat auf ihn zu, und mit der Familiarität, welche die Nähe des Todes bedingt, ergriff sie seine Hand und führte ihn in das Schlafzimmer.

»Gott sei Dank!« sagte sie. »Sie spricht immer nur von Ihnen.« »Geben Sie doch schnell Eis her!« rief der Arzt in befehlendem Tone aus dem Schlafzimmer heraus.

Karenin trat in ihr Kabinett. Am Tische saß Wronsky auf einem niedrigen Stuhl. Er hatte das Gesicht mit den Händen bedeckt und weinte. Als er die Stimme des Arztes vernahm, sprang er auf und erblickte jetzt Karenin. Er wurde so verlegen, dass er sich wieder setzte und den Kopf zwischen die Schultern zog, als wünschte er irgendwohin zu verschwinden; aber er fasste sich, stand auf und sagte: »Sie stirbt. Die Ärzte sagen, es sei keine Hoffnung mehr. Ich bin ganz in Ihrer Gewalt; aber erlauben Sie mir, hierzubleiben. Übrigens, wie Sie wollen, ich –«

Als Karenin die Tränen Wronskys sah, empfand er wieder jene geistige Erschütterung, die das Leiden anderer Menschen stets bei ihm hervorrief. Er wandte das Gesicht ab, und noch ehe er alles angehört hatte, ging er hastig nach der Tür. Aus dem Schlafzimmer hörte man Anna sprechen. Ihre Stimme klang heiter, lebhaft und bestimmt. Karenin ging in das Schlafzimmer und trat an ihr Bett. Sie wandte ihm ihr Gesicht zu. Ihre Wangen bedeckten sich mit tiefem Rot, ihre Augen funkelten, die kleinen weißen Hände, die aus den Manschetten ihrer Jacke hervorsahen, spielten mit der Ecke der Bettdecke. Sie schien nicht nur gesund und frisch zu sein, sondern sich auch in bester Stimmung zu befinden und sprach rasch, ungewöhnlich deutlich und mit klangvoller Stimme.

»Nein, Alexej, ich spreche von Alexej Alexandrowitsch – wie sonderbar, dass beide Alexej heißen, nicht wahr? – Alexej hätte es mir nicht abgeschlagen, ich hätte vergessen, und er hätte verziehen .... Warum kommt er nur nicht? Er ist gut. Er weiß es selbst nicht, wie gut er ist. Ach, geben Sie mir schnell Wasser! Ach, das wird meiner Kleinen schädlich sein! Nun gut, nun geben Sie sie der Amme! Nun ja, es ist sogar besser so. Er wird kommen, und dann könnte es ihm peinlich sein, sie zu sehen! Bringen Sie sie fort!«

»Gnädige Frau, der Herr ist angekommen«, sagte die Wärterin.

»Ach, Unsinn!« fuhr Anna fort, ohne ihren Mann zu erkennen. »Geben Sie sie her! Geben Sie mir die Kleine! Er ist noch nicht gekommen. Sie sprechen nur deshalb so, er werde nicht verzeihen, weil Sie ihn nicht kennen. Niemand kennt ihn, nur ich! Hat man Serescha zu essen gegeben? Ich weiß wohl, alles wird vergessen.« Plötzlich verstummte sie, und mit angstvoller Miene, als ob sie einen Schlag erhalten, erhob sie ihre Arme, wie um sich zu verteidigen. Sie hatte ihren Mann erblickt.

»Nein, nein«, begann sie, »ich fürchte ihn nicht, ich fürchte nur den Tod! Alexej, komm näher, ich habe Eile, ich habe nicht mehr lange zu leben. Sogleich wird das Fieber beginnen, und dann verstehe ich nichts mehr. Jetzt aber kann ich noch alles begreifen und sehen.«

Das faltige Gesicht Karenins nahm einen schmerzvollen Ausdruck an, er ergriff ihre Hand und wollte etwas sagen, vermochte aber nicht zu sprechen. Seine Unterlippe zuckte, und er befand sich in solcher Erregung, dass er sie kaum anzublicken vermochte, und sooft er sich ihr zuwandte, sah er ihre Augen mit solcher entzückten Zärtlichkeit auf sich gerichtet, wie nie zuvor.

»Warte, du weißt nicht... Halt, halt!...« Sie hielt an, als ob sie ihre Gedanken sammeln wollte. »Ja«, begann sie, »ja, ja, ja, das war's, was ich sagen wollte! Wundere dich nicht über mich, ich bin noch immer dieselbe, aber in mir ist eine andere, diese fürchte ich! Sie liebte jenen, und ich wollte dich verabscheuen, und konnte doch nicht diejenige vergessen, die ich früher gewesen war. Jetzt bin ich aber wieder ganz die Wirkliche. Ich werde bald sterben, ich weiß es. – Ich habe nur noch eins nötig – du musst mir verzeihen, gänzlich verzeihen! Nein, du kannst nicht verzeihen, ich weiß es! Nein, nein, geh, du bist zu gut! – « Sie hielt mit ihrer heißen Hand die seinige und stieß ihn mit der anderen zurück.

Die ungeheure Aufregung Karenins erreichte einen solchen Grad, dass er aufhörte, sie zu bekämpfen, und plötzlich fühlte er, dass seine schmerzlichen Gefühle in einen wonnigen Seelenzustand übergingen und ihm ein noch nie empfundenes Glück verliehen. Er dachte nicht daran, dass das Christentum ihm gebot, zu verzeihen und seine Feinde zu lieben, aber das freudige Gefühl der Liebe und Verzeihung erfüllte seine Seele ganz und gar. Er kniete vor ihrem Bett nieder, legte seinen Kopf auf ihre heiße Hand und weinte wie ein Kind. Sie umarmte sein kahles Haupt, wandte sich zu ihm, und mit dem Ausdruck des Triumphes blickte sie nach oben.

»Ich wusste es, er ist da! Nun lebt wohl, alle, lebt wohl!... Sie sind wieder da! Warum gehen sie nicht! Nehmt mir doch diese Pelze ab!« Der Arzt legte sie vorsichtig in die Kissen zurück und bedeckte sie bis zu den Schultern. Folgsam blieb sie liegen und blickte mit strahlenden Augen vor sich hin.

»Denke daran, dass ich nur Verzeihung nötig habe und nichts anderes wünsche! ... Warum kommt er nicht?« sprach sie nach der Tür hin, zu Wronsky gewendet. »Nun komm doch! Nun komm doch her, gib ihm die Hand!«

Wronsky trat an ihr Bett und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Nimm die Hände weg, sieh ihn an, er ist ein Heiliger!« sagte sie. »Alexej Alexandrowitsch, nimm seine Hände weg, ich will ihn sehen!«

Karenin ergriff die Hände Wronskys und nahm sie von seinem Gesicht ab, das von Schmerz und Beschämung verzerrt war.

»Reiche ihm die Hand. Verzeihe ihm!«

Karenin reichte ihm die Hand und hielt die Tränen nicht zurück.

»Gott sei Dank! Gott sei Dank!« sagte sie. »Jetzt ist alles bereit. Nur noch die Füße ausstrecken. So ist's gut. Wie geschmacklos diese Blumen sind«, fuhr sie fort, auf die Tapete deutend. »Mein Gott, wann wird das Ende kommen? Gebt mir Morphium! Doktor, geben Sie mir doch Morphium! Mein Gott! Mein Gott!«

Und sie begann, sich im Bett hin und her zu werfen.

Den ganzen Tag lag sie in Fieberglut und wilden Phantasien, gegen Mitternacht trat Bewusstlosigkeit ein, und der Puls hatte fast ganz aufgehört zu schlagen.

Man erwartete in jedem Augenblick das Ende.

Wronsky fuhr nach Hause, aber am Morgen kam er wieder, um sich zu erkundigen. Karenin begegnete ihm im Vorzimmer und sagte: »Bleiben Sie! Vielleicht wird sie nach Ihnen fragen«, und er führte ihn selbst in das Kabinett seiner Frau. Gegen Morgen trat wieder eine heftige Aufregung ein mit wirren Reden und Phantasien, und wieder folgte darauf Bewusstlosigkeit. Am dritten Tage dauerte derselbe Zustand fort, und die Ärzte sagten, es sei Hoffnung vorhanden. An diesem Tage ging Karenin in das Kabinett, wo Wronsky saß, schloss die Tür und setzte sich ihm gegenüber.

»Alexej Alexandrowitsch«, sagte Wronsky im Vorgefühl der kommenden Unterredung, »ich kann nicht sprechen und nicht

begreifen, schonen Sie mich! So schwer Ihnen auch zumute sein mag, ich leide noch entsetzlicher.«

Er wollte aufstehen, aber Karenin ergriff seine Hand und sagte: »Ich bitte Sie, mich anzuhören. Das ist durchaus notwendig. Sie wissen, dass ich mich zur Scheidung entschlossen und die einleitenden Schritte unternommen habe. Ich verberge Ihnen nicht, dass ich diese nur mit Widerstreben tat, ich gestehe, dass der Wunsch, mich an Ihnen und an ihr zu rächen, mich dazu antrieb. Als ich das Telegramm erhielt, reiste ich mit denselben Gefühlen hierher, ja, ich wünschte sogar ihren Tod, aber ...«

Er schwieg und überlegte, ob er ihm sein Inneres offenbaren solle oder nicht. – »Aber als ich sie erblickte, habe ich ihr vergeben, und das Glück, das ich bei der Verzeihung empfand, zeigte mir, was ich weiter zu tun habe. Ich habe ganz und gar vergeben. Ich flehe zu Gott nur darum, dass er mir das Glück, verzeihen zu können, nicht wieder nehmen möchte.«

Tränen standen in seinen Augen, über deren ruhigen Blick Wronsky erstaunt war.

»Das ist meine Stellung. Sie können mich in den Schmutz treten und vor der Welt lächerlich machen, aber ich werde sie nicht verstoßen und Ihnen kein Wort des Vorwurfs sagen«, fuhr Karenin fort. »Meine Pflicht ist mir klar vorgezeichnet, ich muss mit ihr weiterleben. Wenn Anna Sie zu sehen wünscht, werde ich es Ihnen sagen lassen, jetzt aber glaube ich, wird es besser sein, wenn Sie sich entfernen.«

Er erhob sich, und Schluchzen unterbrach seine Worte. Auch Wronsky stand auf in tiefgebeugtem Zustand. Er konnte die Gefühle Karenins nicht begreifen, aber er glaubte, darin eine besonders erhabene Gesinnung zu erkennen, die ihm bei seiner Weltanschauung unerreichbar sei.

Als Wronsky das Haus verließ, blieb er vor der Tür stehen, ohne sich klar bewusst zu sein, wo er sich befand und wohin er gehen oder fahren sollte. Er fühlte sich gedemütigt, schuldbeladen und aus dem gewohnten Geleise geworfen, in dem er sich bisher so stolz und leicht bewegt hatte. Alle seine Gewohnheiten und Lebensregeln, die er früher für so fest gehalten hatte, erschienen ihm jetzt trügerisch und unbrauchbar. Der betrogene Ehemann, den er bisher für ein klägliches Wesen gehalten hatte, stand vor ihm auf einer Ehrfurcht gebietenden Höhe, und erschien ihm jetzt nicht mehr boshaft, falsch und lächerlich, sondern gut und sogar majestätisch. Wronsky sah, dass dieser Ehemann in seinem Kummer großmütig war, er selbst aber niedrig und klein in seiner Rolle als Betrüger.

Aber diese Erkenntnis seiner Niedrigkeit vor diesem Menschen, den er mit Unrecht verachtet hatte, war nur der kleinste Teil seines Kummers. Er fühlte sich jetzt deshalb unaussprechlich unglücklich, weil seine Leidenschaft für Anna, die in letzter Zeit etwas erkaltet war, jetzt, wo er sie für immer verlieren sollte, stärker als je in ihm erglühte. Er stand wie verloren vor der Haustür und wusste nicht, was er machen sollte.

Als Wronsky dann nach drei schlaflosen Nächten nach Hause zurückgekehrt war, legte er sich angekleidet auf den Diwan. Sein Kopf war schwer. Mit unglaublicher Schnelligkeit und Klarheit folgten einander die seltsamsten Vorstellungen, Erinnerungen und Gedanken.

Einschlafen! Vergessen!‹ sagte er sich selbst mit der ruhigen Überzeugung eines gesunden Menschen, dass er sogleich einschlafen werde, wenn er ermüdet sei und zu schlafen wünsche. Und wirklich verwirrten sich seine Gedanken, und er begann, sich in den Abgrund der Vergessenheit zu versenken.

Sie können mich in den Schmutz treten‹, hörte er Karenin sagen und sah ihn vor sich. Er erblickte auch Annas Gesicht mit fieberhafter Röte und glänzenden Augen, das mit Zärtlichkeit und Liebe nach ihm und nach Karenin blickte. Er sah seine eigene Gestalt, die ihm albern und lächerlich erschien, während Karenin ihm die Hände vom Gesicht nahm. Er warf sich wieder in der früheren Lage auf den Diwan hin und schloss die Augen.

Einschlafen! Einschlafen!‹ wiederholte er, aber mit geschlossenen Augen sah er noch deutlicher Annas Gesicht vor sich.

So lag er lange Zeit und bemühte sich, einzuschlafen, obgleich er wohl erkannte, dass nicht die geringste Hoffnung dazu vorhanden war.

Was ist das? Werde ich den Verstand verlieren?‹ sagte er sich selbst. ›Das ist möglich. Warum sollte ich nicht wahnsinnig werden? Warum sollte ich mich nicht erschießen?‹ antwortete er sich selbst. Er öffnete die Augen und sah mit Verwunderung neben seinem Kopf ein gesticktes Kissen, eine Arbeit von Warja, der Frau seines Bruders. Er schob das Kissen in die Höhe, legte den Kopf darauf, aber nur mit Anstrengung vermöchte er seine Augen geschlossen zu halten. Endlich sprang er auf und setzte sich.

Für mich ist das zu Ende‹, sagte er sich selbst. ›Ich muss überlegen, was zu tun ist. Was ist mir geblieben?‹ Rasch durchliefen seine Gedanken sein Leben, wie es sich ohne seine Liebe zu Anna gestalten würde.

Die Ruhmsucht, Serpuchowsky, die Welt, der Hof?‹ Das alles mochte früher eine Bedeutung haben, die aber jetzt ganz verschwunden war. Er stand vom Diwan auf, nahm den Rock und die Halsbinde ab, um freier atmen zu können, und ging im Zimmer auf und ab.

»So verliert man den Verstand«, wiederholte er, »und so erschießt man sich ... um der Schande zu entgehen«, fügte er langsam hinzu.

Er ging nach der Tür und verschloss sie. Darauf trat er mit starrem Blick und fest zusammengebissenen Zähnen an den Tisch, ergriff einen Revolver, betrachtete ihn genau, wandte ihn um und blickte in den geladenen Lauf. Dann versank er in, Nachdenken. Etwa zwei Minuten stand er da mit gesenktem Kopf, in angestrengtem Nachdenken, den geladenen Revolver in der Hand.

Natürlich‹, sagte er zu sich selbst, als ob ein logischer und klarer Gedanke ihn zu einem unzweifelhaften Entschluss geführt hätte. In Wirklichkeit war dieses so entschlossen klingende ›natürlich‹ nur die Folge der Wiederholung desselben Kreises von Erinnerungen und Vorstellungen, die er schon zum zehnten Male durchlief – die Erinnerungen eines für immer verlorenen Glücks, die Vorstellungen der Sinn- und Zwecklosigkeit seines ganzen, ihm noch bevorstehenden Lebens, das Bewusstsein seiner Erniedrigung.

Wronsky setzte den Revolver auf die linke Seite der Brust, und indem er plötzlich seine Hand zur Faust zusammenzog, berührte er den Drücker. Obwohl kein Schuss erdröhnte, warf ihn ein starker Schlag in die Brust nieder. Er wollte sich am Rande des Tisches festhalten, ließ den Revolver fallen, taumelte und sank auf den Fußboden. Verwundert blickte er sich um. Er erkannte sein Zimmer nicht wieder und blickte von unten die geschweiften Füße des Tisches an sowie den Papierkorb und das Tigerfell. Die raschen Schritte des Dieners, der den Salon durchschritt, erweckten ihn aus seiner Betäubung. Er erkannte, dass er auf dem Fußboden lag, erblickte Blut auf

dem Tigerfell und auf seiner Hand, und jetzt erst begriff er, dass er sich hatte erschießen wollen.

»Wie dumm, ich habe gefehlt«, sagte er, indem er mit der Hand nach dem Revolver suchte. Er lag neben ihm – er suchte weiter. Dabei neigte er sich auf die andere Seite, und da er nicht mehr die Kraft hatte, das Gleichgewicht zu halten, fiel er nieder, vom Blut überströmt.

Der Diener erschrak so sehr beim Anblick seines auf der Diele liegenden Herrn, dass er davonlief, um Hilfe zu suchen. Nach einer Stunde kam Warja, die Frau von Wronskys Bruder, und mit Hilfe dreier Ärzte wurde der Verwundete in das Bett gelegt. Sie blieb bei ihm, um ihn zu pflegen.

Der Irrtum, den Karenin begangen hatte, lag darin, dass er damals, als er sich auf das Wiedersehen mit seiner Frau vorbereitete, nicht den Fall in Rechnung zog, dass er infolge ihrer aufrichtigen Reue ihr vergeben, sie indessen aber am Leben bleiben könnte. Diese Erkenntnis erschien ihm zwei Monate nach seiner Rückkehr aus Moskau in seiner ganzen Kraft. Aber der Irrtum rührte weniger daher, dass er diese Möglichkeit nicht bedacht hatte, sondern es kam daher, dass er vor seinem Wiedersehen mit seiner sterbenden Frau ihr Herz nicht gekannt hatte.

Am Bett der kranken Frau gab er sich zum ersten mal jenem Gefühl aufrichtigen Mitleids hin, das die Leiden anderer in ihm stets erweckten und dessen er sich früher als einer Schwachheit geschämt hatte. Das Mitleiden für sie und die Reue darüber, dass er ihren Tod gewünscht hatte, und vor allem die Freudigkeit, verzeihen zu können, brachten ihm nicht nur Milderung seiner Leiden, sondern auch eine geistige Ruhe, wie er sie früher nie gekannt hatte.

Er vergab seiner Frau und bedauerte sie wegen ihrer Leiden und ihrer Reue. Auch Wronsky vergab er und bedauerte ihn, als die Gerüchte von seiner verzweifelten Tat bis zu ihm gelangten. Ebenso wurde er auch für seinen Sohn zärtlicher gestimmt als früher. Für das neugeborene Töchterchen empfand er ein ganz besonderes Gefühl, nicht nur Mitleid, sondern auch Zärtlichkeit. Anfangs sorgte er mitleidig für das neugeborene, schwache Töchterchen, das nicht das seine war und das während der Krankheit der Mutter verlassen war, und er bemerkte selbst nicht, wie sehr er die Kleine liebte. Mehrmals täglich ging er in das Kinderzimmer und blieb oft lange dort sitzen, so dass die Amme und die Kinderfrau, die anfangs schüchtern und furchtsam waren, sich an ihn gewöhnten. Er erblickte in seiner Lage nichts Ungewöhnliches, nichts, was eine Veränderung erfordert hätte. Aber je mehr die Zeit verging, desto klarer sah er ein, dass es ihm nicht gestattet sein werde, in dieser Lage zu bleiben. Er fühlte, dass alle ihn mit fragender Verwunderung ansahen und etwas von ihm erwarteten. Besonders empfand er die Unnatürlichkeit seines Verhältnisses zu seiner Frau.

Als jene Weichherzigkeit, welche die Nähe des Todes hervorgerufen hatte, vorübergegangen war, bemerkte Karenin, dass Anna ihn fürchtete, dass seine Gegenwart ihr drückend war, als ob sie jetzt etwas wünsche und sich nicht entschließen könnte, es auszusprechen.

Gegen Ende des Februar erkrankte das neugeborene Kind, das auch Anna genannt wurde. Karenin war morgens im Krankenzimmer, sandte nach dem Arzt und fuhr ins Ministerium. Um vier Uhr kehrte er nach Hause zurück und erblickte im Vorzimmer einen Lakai mit weißer Krawatte und Bärenpelzkragen.

»Wer ist hier?« fragte Karenin.

»Die Fürstin Elisabetha Fedorowna Twerskaja«, erwiderte der Lakai, wie es Karenin schien, mit einem eigentümlichen Lächeln.

Die Anwesenheit der Fürstin Twerskaja und die Erinnerungen, die sich mit ihr verknüpften, waren Karenin unangenehm. Sie war ihm überhaupt nicht sympathisch, und er ging deshalb ohne weiteres nach den Gemächern der Kinder. Im ersten Zimmer lag Serescha mit der Brust auf dem Tische und zeichnete etwas, indem er heiter schwatzte. Die Engländerin, die neben dem Knaben saß, erhob sich hastig und stellte auch Serescha auf die Beine.

Karenin strich mit der Hand über die Haare seines Sohnes, beantwortete die Frage der Gouvernante nach dem Befinden seiner Frau und fragte, was der Arzt von dem Baby gesagt hatte.

»Der Arzt sagte, es sei keine Gefahr vorhanden, und hat Bäder verordnet.«

»Aber sie hat Schmerzen«, sagte Karenin, indem er auf das Kindergeschrei im Nebenzimmer hörte.

»Ich glaube, die Amme taugt nichts«, erwiderte die Engländerin lebhaft. »Die Amme hat vielleicht nicht genug Milch.« Karenin dachte einige Augenblicke nach und ging ins andere Zimmer. Das kleine Mädchen lag in den Armen der Amme, warf den Kopf zurück und wollte nicht die Brust nehmen, sondern schrie fortwährend und ließ sich von der Amme und der Kinderfrau, die sich darüber beugten, nicht beruhigen.

»Sie ist sehr unruhig«, flüsterte die Kinderfrau.

»Miß Edwards sagt, die Amme habe wahrscheinlich keine Milch«, bemerkte er.

»Das glaube ich auch, Herr.«

»Warum sagen Sie es denn nicht?«

»Wem sollte ich es sagen? Die gnädige Frau ist immer noch nicht gesund...« erwiderte die Kinderfrau zögernd.

Sie war eine alte Dienerin des Hauses. In diesen einfachen Worten fand Karenin eine Anspielung auf seine Lage.

Das Kind fuhr fort, zu schreien.

»Man muss den Doktor bitten, die Amme zu untersuchen«, sagte Karenin.

Als das Kind endlich schwieg und in sein Bettchen gelegt worden war, verließ die Kinderfrau das Zimmer. Karenin ging vorsichtig auf den Zehenspitzen nach dem Bettchen. Schweigend blickte er es mit traurigem Ausdruck an, plötzlich aber erschien ein Lächeln auf seinem Gesicht, und er verließ leise das Zimmer.

Im Speisezimmer klingelte er und befahl dem eintretenden Diener, nach dem Arzt zu senden. Er war verdrießlich über seine Frau, weil sie nicht für dieses entzückende kleine Wesen sorgte, und mit diesem Verdruss wollte er nicht zu ihr hineingehen und auch nicht die Fürstin Betsy sehen. Aber er bedachte, dass seine Frau sich darüber wundern könne, dass er nicht wie gewöhnlich zu ihr kam, und deshalb suchte er seinen Missmut zu verbergen und trat ein. Während er auf dem weichen Teppich hin schritt, wurde er unwillkürlich Zeuge eines Gesprächs.

»Wenn er nicht fortreisen wollte, so würde ich Ihre Weigerung begreifen und auch die seinige. Aber Ihr Mann müsste darüber erhaben sein«, sagte Betsy.

»Nicht meines Mannes wegen, sondern meinetwegen will ich es nicht. Sprechen Sie nicht so«, erwiderte die erregte Stimme Annas.

»Aber Sie müssen doch sicher den Wunsch hegen, von einem Manne Abschied zu nehmen, der sich Ihretwegen erschießen wollte.« »Darum eben will ich es nicht.«

Karenin blieb erschrocken und mit schuldbewusster Miene stehen und wollte unbemerkt wieder gehen. Aber das schien ihm unwürdig, und er kehrte jetzt um und näherte sich hustend der Tür des Schlafzimmers. Die Stimmen verstummten, und er trat ein.

Anna saß in einem grauen Schlafrock mit kurzgeschnittenen, dichten, schwarzen Haaren auf einem Diwan. Wie immer verlor ihr Gesicht beim Anblick ihres Mannes plötzlich alle Lebhaftigkeit. Sie senkte den Kopf und blickte unruhig nach Betsy, die neben ihr saß. Mit einem spöttischen Lächeln empfing Betsy Karenin.

»Ah!« sagte sie, wie verwundert. »Ich bin sehr erfreut, dass Sie zu Hause sind. Sie zeigen sich niemals, und während Annas Krankheit habe ich Sie gar nicht gesehen. Ich hörte von allen Ihren Sorgen. Ja, Sie sind ein erstaunlicher Ehemann«, sagte sie mit bedeutsamem und schmeichelndem Gesichtsausdruck, als ob sie ihm einen hohen Orden für sein großmütiges Benehmen gegen seine Frau verleihen wollte.

Karenin verneigte sich kühl, und nachdem er die Hand seiner Frau geküsst hatte, erkundigte er sich nach ihrem Befinden.

»Ich glaube, es geht mir besser«, sagte sie, seinem Blick ausweichend.

»Aber Sie haben eine fieberhafte Gesichtsfarbe«, erwiderte er.

»Wir haben zu viel miteinander gesprochen«, bemerkte Betsy, »und ich sehe ein, dass das ein Egoismus von meiner Seite ist, und werde mich jetzt entfernen.«

Sie stand auf, aber Anna errötete plötzlich und ergriff ihre Hand.

»Nein, bleiben Sie noch, ich bitte Sie. Ich muss Ihnen sagen... nein, Ihnen –«, dabei wandte sie sich an Karenin mit tiefem Erröten. – »Ich will und kann vor Ihnen kein Geheimnis haben«, sagte sie. Karenin senkte den Kopf.

»Betsy teilte mir mit, der Graf Wronsky wünsche uns zu besuchen, um sich vor seiner Abreise nach Taschkent zu verabschieden –« Sie blickte ihren Mann nicht an und beeilte sich augenscheinlich, alles zu sagen, so schwer es ihr auch fiel. »Ich sagte, ich könne ihn nicht empfangen.«

»Sie sagten, meine Liebe, das hänge von Alexej Alexandrowitsch ab«, verbesserte Betsy.

»Nein, ich kann ihn nicht empfangen, und das kann zu nichts...« Sie unterbrach sich plötzlich und blickte bittend nach ihrem Mann, der aber den Blick abgewendet hatte – »Mit einem Wort, ich will nicht!«

Karenin wollte ihre Hand ergreifen. Ihre erste Bewegung war, ihm ihre Hand zu entziehen; dann aber zwang sie sich augenscheinlich dazu, seine feuchte Hand mit den großen hervorstehenden Adern zu drücken.

»Ich danke Ihnen sehr für Ihr Vertrauen, aber...«, sagte er. Karenin war verwirrt und verdrießlich, und es widerstrebte ihm, das, was er allein mit sich selbst leicht und klar entscheiden konnte, jetzt hier in Gegenwart der Fürstin Twerskaja zu besprechen, die ihm als die Verkörperung jener rauen Gewalt erschien, die ihn vor den Augen der Welt daran hindern wollte, sich seinem Gefühl der Liebe und Verzeihung hinzugeben. Er unterbrach sich und blickte die Fürstin Twerskaja an.

»Nun leben Sie wohl, meine Beste«, sagte Betsy aufstehend. Sie küsste Anna und ging, während Karenin sie begleitete.

»Alexej Alexandrowitsch, ich kenne Sie als einen wirklich großmütigen Mann«, sagte Betsy, während sie in dem kleinen Salon stehenblieb und nochmals besonders kräftig seine Hand drückte. »Ich bin unbeteiligt, aber ich habe so viel Liebe für Anna und so viel Verehrung für Sie, dass ich glaube, mir einen Rat erlauben zu dürfen. Empfangen Sie ihn. Alexej Wronsky ist die Ehrenhaftigkeit selbst, und jetzt reist er nach Taschkent.«

»Ich danke Ihnen, Fürstin, für Ihre Teilnahme und Ihren Rat; aber die Frage, ob meine Frau jemand empfangen kann oder nicht, hat sie selbst zu entscheiden.«

Er sagte das nach seiner Gewohnheit mit würdevoll aufgezogenen Augenbrauen. Sogleich aber kam ihm der Gedanke, dass in seiner Lage von Würde nicht die Rede sein könne, was er auch sagen möge.

Karenin kehrte zu seiner Frau zurück. Als sie seine Schritte hörte, richtete sie sich hastig zu ihrer früheren Stellung auf und blickte ihn furchtsam an. Er sah, dass sie geweint hatte.

»Ich danke dir sehr für dein Zutrauen zu mir«, wiederholte er mit milder Stimme und setzte sich neben sie, »und ich bin dir sehr dankbar für deinen Entschluss. Ich denke auch, da er nun abreist, so ist gar keine Notwendigkeit für ihn vorhanden, uns zu besuchen, übrigens...«

»Nun, das habe ich ja bereits gesagt, wozu also es wiederholen?« unterbrach ihn Anna in gereiztem Tone, den sie nicht zu verbergen vermochte. »Gar keine Notwendigkeit«, dachte sie bei sich, ›dass ein Mann sich von der Frau verabschiedet, die er liebt, für die er sein Leben wegwerfen wollte und die nicht ohne ihn leben kann. Nein, gär keine Notwendigkeit!‹

»Sprechen wir nie wieder davon«, fügte sie ruhiger hinzu.

»Ich überließ es dir, diese Frage zu entscheiden, und es freut mich sehr, zu sehen ...«, begann Karenin.

»Dass mein Wunsch mit dem Ihrigen übereinstimmt«, ergänzte sie hastig, in nervöser Aufregung darüber, weil er so langsam sprach, während sie doch schon alles voraus wusste, was er sagen wollte.

»Ja«, bestätigte er, »und die Fürstin Twerskaja mischt sich ganz überflüssigerweise in schwierige Familienangelegenheiten ein. Sie besonders ...«

»Ich glaube nichts von dem, was man von ihr spricht«, sagte Anna hastig. – »Ich weiß nur, dass sie mich aufrichtig liebt.«

Karenin seufzte und schwieg. Sie spielte aufgeregt mit den Quasten ihres Schlafrocks und blickte ihn an mit einem qualvollen Gefühl physischen Widerwillens gegen ihn, den sie nicht überwinden konnte, obgleich sie sich selbst Vorwürfe darüber machte.

»Ich habe soeben zum Arzt gesandt«, bemerkte Karenin. »Die Kleine schreit, und man sagt, die Amme habe keine Milch.«

»Warum hast du mir nicht erlaubt, sie selbst zu stillen, als ich dich darum anflehte?«

Sie klingelte und ließ sich die Kleine bringen.

»Ich wollte sie nähren, aber es wurde mir nicht erlaubt, und jetzt macht man mir Vorwürfe darüber.«

»Ich mache keine Vorwürfe –«

»Doch, Sie machen mir Vorwürfe. Mein Gott, warum bin ich nicht gestorben?« – Und sie brach in Tränen aus. – »Verzeihe mir, ich bin aufgeregt und ungerecht«, sagte sie, sich fassend. – »Aber geh jetzt ...«

»Nein, das kann nicht so bleiben«, sagte sich Karenin entschieden, als er das Zimmer seiner Frau verließ. ~

Noch niemals zuvor hatte er so klar wie jetzt die Unmöglichkeit seiner Lage in den Augen der Welt, den Widerwillen seiner Frau gegen ihn und besonders die Macht jener geheimnisvollen, rauhen Gewalt erkannt, welche die Veränderung seines Verhältnisses zu seiner Frau erheischte. Er sah klar, dass die ganze Welt und auch seine Frau von ihm etwas verlangte, konnte aber nicht begreifen, was, und fühlte, wie in seinem Herzen das Gefühl des Zorns darüber aufstieg. Er wusste voraus, dass alles gegen ihn sei, dass es ihm nicht gestattet sein werde, zu tun, was ihm jetzt so natürlich und gut erschien, sondern nur das, was er für schlecht erachtete, was aber alle anderen für notwendig hielten.

Kaum hatte Betsy den Salon verlassen, als Oblonsky, der eben von einem Austernfrühstück kam, ihr an der Tür begegnete.

»Ach, Fürstin, welche angenehme Begegnung!« begann er. »Ich war bei Ihnen.«

»Eine kurze Begegnung«, sagte sie lächelnd, »ich bin eben im Begriff, abzufahren.«

»Erlauben Sie, Fürstin«, sagte er und küsste ihr die Hand. »Wann werden wir uns sehen?«

»Sie sind dessen nicht würdig«, erwiderte Betsy lachend.

»O doch, sehr würdig; denn ich bin ein höchst gesetzter Mensch geworden. Ich habe nicht nur meine eigenen, sondern auch fremde Familienangelegenheiten zum Guten gewendet«, sagte er mit wichtiger Miene.

»Ach, das freut mich«, erwiderte Betsy, die sogleich begriff, dass er von Anna sprach. Sie kehrten in den Saal zurück und blieben in einer Ecke stehen. – »Er bringt sie um!« flüsterte Betsy bedeutungsvoll. »Es ist unmöglich! Unmöglich!«

»Es freut mich sehr, dass Sie so denken«, sagte Oblonsky und wiegte den Kopf mit einem ernsten, bekümmerten Ausdruck von Mitleid. »Deshalb eben bin ich nach Petersburg gekommen.«

»Alles spricht davon«, sagte sie, »es ist eine ganz unmögliche Situation. Sie grämt sich und schleppt sich hin, und er begreift nicht, dass sie eine jener Frauen ist, die mit ihren Gefühlen nicht Scherz treiben können. Entweder, er muss sie fortbringen und energisch auftreten oder in die Scheidung willigen. Der jetzige Zustand aber erstickt sie.«

»Ja, ja ... eben –«, sagte Oblonsky seufzend, »und deswegen bin ich gekommen; das heißt, nicht ausdrücklich deshalb. – Ich bin Kammerherr geworden, nun, und dafür muss ich mich bedanken. Aber mein wichtigster Zweck ist, diese Angelegenheit zu schlichten.«

»Nun, Gott helfe Ihnen!« sagte Betsy.

Er begleitete sie bis ins Vorzimmer, küsste nochmals ihre Hand und brachte noch solchen entzückenden Unsinn vor, dass sie kaum wusste, ob sie ihm zürnen oder darüber lachen sollte. Dann ging er zu seiner Schwester, die er in Tränen fand.

Trotz seiner übermütig heiteren Stimmung verfiel er sogleich in jenen sympathischen, poetisch erregten Ton, der zu ihrer Stimmung passte. Er fragte sie, wie sie sich befinde und wie sie den Morgen zugebracht habe.

»Sehr, sehr schlecht. Der Morgen war wie alle vorhergehenden und alle zukünftigen Tage«, sagte sie.

»Mir scheint, du gibst dich dem Trübsinn hin, du musst dich aufraffen und Mut fassen. Ich weiß, das ist schwer, aber ...«

»Ich habe gehört, dass Frauen oft Männer sogar wegen ihrer Laster lieben«, begann Anna plötzlich, »aber ich verabscheue ihn wegen seiner Tugend. Du musst begreifen, wie sein Anblick physisch auf mich einwirkt, dass ich außer mir gerate. Ich kann nicht mehr mit ihm leben. Was soll ich tun ? Ich war unglücklich und glaubte, es sei unmöglich, noch unglücklicher zu sein; aber diesen entsetzlichen Zustand, in dem ich mich jetzt befinde, konnte ich mir nicht vorstellen. Kannst du glauben, dass ich ihn verabscheue, obgleich ich weiß, dass er ein guter, vortrefflicher Mensch ist, dass ich seiner nicht wert bin? Ich verabscheue ihn wegen seiner Großmut, und mir bleibt nichts übrig, als ...«

Oblonsky ließ sie nicht ausreden. »Du bist krank und aufgeregt«, sagte er. »Glaube mir, es liegt gar nichts so Schreckliches vor.«

Er lächelte, und in seinem Lächeln lag so viel Gutmütigkeit und fast weibliche Zärtlichkeit, dass sein Lächeln nicht beleidigte, sondern beruhigte und milderte. Auch Anna empfand das sogleich.

»Nein, Stiwa«, sagte sie, »ich bin verloren! Schlimmer als verloren. Und doch kann ich noch nicht sagen, dass alles zu Ende ist ... und es wird schrecklich enden!«

»Beunruhige dich nicht, es gibt keine Situation, aus der man nicht einen Ausweg finden könnte.«

»Ich habe immer, immer nachgedacht, nur eins ...« Wieder erkannte er an ihrem entsetzten Blick, dass dieser eine Ausweg nach ihrer Meinung der Tod sei, und ließ sie nicht ausreden.

»Keineswegs«, erwiderte er, »Du kannst deine Lage nicht so beurteilen wie ich. Erlaube mir, aufrichtig meine Meinung auszusprechen.« – Wieder erschien sein vorsichtiges Lächeln. – »Ich will mit dem Anfang beginnen. Du hast einen Mann geheiratet, der zwanzig Jahre älter ist als du. Du hast ihn ohne Liebe geheiratet oder ohne die Liebe zu kennen, das war ein Fehler, zugestanden.«

»Ein schrecklicher Fehler«, bestätigte Anna.

»Aber ich sage, das ist eine feststehende Tatsache. Dann hattest du, sagen wir, das Unglück, einen anderen Mann zu lieben, das ist ein Unglück, aber es ist auch ein fait accompli. Und dein Mann hat das eingesehen und vergeben. – Also gut, jetzt ist die Frage: Kannst du mit deinem Mann weiterleben? Ist es dein Wunsch? Wünscht er es?«

»Ich weiß nichts, gar nichts.«

»Aber du hast selbst gesagt, du könntest ihn nicht ausstehen.«

»Nein, das habe ich nicht gesagt, das leugne ich! Ich weiß nichts und begreife nichts!«

»Ja, aber erlaube ...«

»Du kannst das nicht begreifen. Ich fühle, dass ich kopfüber in einen Abgrund stürze, aber ich darf mich nicht retten, ich kann nicht.«

»Das schadet nichts, wir werden dich halten und stützen. Ich verstehe, dass du es nicht auf dich nehmen kannst, deine Wünsche, deine Gefühle auszusprechen.«

»Ich habe keinen Wunsch, außer, dass alles bald ein Ende nehme.«

»Aber er sieht, er weiß das, und glaubst du, dass er weniger darunter leidet als du? Du quälst dich, und er quält sich, und was soll daraus werden? Die Scheidung würde alles lösen.« Nicht ohne Anstrengung sprach Oblonsky diesen Gedanken aus und blickte sie forschend an.

Sie gab keine Antwort und schüttelte nur den Kopf, aber an dem Ausdruck ihres plötzlich in seiner früheren Schönheit strahlenden Gesichts sah er, dass sie diesen Wunsch deshalb nicht aussprach, weil er ihr als ein unmögliches Glück erschien.

»Ich bedaure euch ganz schrecklich, und wie glücklich wäre ich, wenn ich das zustande bringen könnte«, sagte Oblonsky mit einem schon etwas kühneren Lächeln. »Sprich nicht! Wenn Gott mir nur eingeben würde, das auszusprechen, was ich fühle. Ich werde zu ihm gehen.«

Anna blickte ihn gedankenvoll mit ihren glänzenden Augen an, ohne zu antworten.

Mit derselben feierlichen Miene, mit der Oblonsky den Präsidentenstuhl in seiner Behörde einnahm, trat er in Karenins Kabinett. Dieser ging mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab; seine Gedanken waren mit demselben Gegenstand beschäftigt, über den Oblonsky mit Anna gesprochen hatte.

»Ich störe dich doch nicht?« sagte Oblonsky, der beim Anblick seines Schwagers plötzlich von einer ihm ungewohnten Befangenheit befallen wurde. Um seine Verwirrung zu verbergen, zog er eine eben gekaufte Zigarettentasche heraus, beroch das Leder und entnahm eine Zigarette.

»Nein. Hast du etwas nötig?« fragte Karenin.

»Ja, ich wollte ... ich muss ... ja, ich muss mit dir sprechen«, sagte er, verwundert über seine ungewohnte Schüchternheit. »Ich hoffe, du wirst an meine Liebe zu meiner Schwester und an meine aufrichtige Anhänglichkeit und Achtung für dich glauben?«

Karenin blieb stehen, ohne zu antworten.

»Ich hatte die Absicht – ich wollte über meine Schwester und euer gegenseitiges Verhältnis sprechen«, sagte Oblonsky, noch immer mit seiner Verlegenheit kämpfend.

Karenin blickte seinen Schwager mit einem kummervollen Lächeln an, und ohne zu antworten, trat er an den Tisch, ergriff einen angefangenen Brief und reichte ihn Oblonsky.

»Ich denke unaufhörlich an dasselbe. Lies, was ich geschrieben habe, in der Hoffnung, es schriftlich besser sagen zu können und weil ich glaube, dass meine Anwesenheit ihr peinlich ist.«

Oblonsky nahm den Brief und sah verwundert nach den düsteren Augen, die unbeweglich auf ihn gerichtet waren, dann begann er zu lesen:

»Ich empfinde es, dass meine Gegenwart Ihnen peinlich ist. So schwer es mir auch fiel, mich davon zu überzeugen, so sehe ich doch, dass es so ist und nicht anders sein kann. Ich mache Ihnen keine Vorwürfe darüber, Gott ist mein Zeuge, dass ich entschlossen war, wenn ich Sie während Ihrer Krankheit anblickte, alles zu vergessen, was zwischen uns lag, und ein neues Leben zu beginnen.

Ich bereue das nicht, und werde nie bereuen. Ich wünschte nur Ihr Wohl, das Heil Ihrer Seele, und jetzt sehe ich ein, dass ich das nicht erreicht habe. Sagen Sie mir selbst, was Ihrem Herzen das wahre Glück und die Ruhe verleihen kann. Ich überlasse alles Ihrem freien Willen und Ihrem Gerechtigkeitsgefühl.«

Oblonsky gab den Brief zurück und wusste nicht, was er sagen sollte. Dieses Schweigen war für sie beide so peinlich, dass Oblonskys Lippen krampfhaft zuckten, während er schweigend seine Blicke auf Karenin gerichtet hielt.

»Das ist's, was ich ihr sagen wollte.«

»Ja, ja«, sagte Oblonsky, außerstande, mehr zu sagen, da Tränen seine Stimme erstickten.

»Ja, ja, ich begreife«, brachte er endlich hervor.

»Ich wünsche zu wissen, was sie will«, sagte Karenin.

»Ich fürchte, dass sie selbst ihre Lage nicht begreift. Ich kann nicht darüber urteilen«, sagte Oblonsky. »Sie ist niedergedrückt, wirklich niedergedrückt durch deine Großmut. Wenn sie diesen Brief liest, so wird sie nicht die Kraft haben, etwas zu sagen, sie wird nur den Kopf noch tiefer senken.«

»Was soll denn aber geschehen? Wie soll ich ihre Wünsche erfahren?«

»Wenn du mir erlaubst, meine Meinung auszusprechen, so glaube ich, dass es nur von dir abhängt, diejenigen Maßregeln zu bezeichnen, die du nötig findest, um dieser Situation ein Ende zu machen.«

»Du findest also auch, dass es nötig ist, ihr ein Ende zu machen?« unterbrach ihn Karenin. »Aber wie? Ich sehe keinen Ausweg.«

»Für jede Situation gibt es einen Ausweg«, sagte Oblonsky, lebhafter werdend und stand auf. »Es gab eine Zeit, wo du dich scheiden lassen wolltest. Wenn du dich jetzt davon überzeugt hast, dass ihr euch gegenseitig nicht glücklich machen könnt...«

»Aber angenommen, dass ich mit allem einverstanden bin – welchen Ausweg gibt es aus unserer Situation?«

»Wenn du meine Meinung wissen willst«, sagte Oblonsky, »nach meiner Ansicht ist es in eurer Lage unumgänglich nötig, euer Verhältnis klarzustellen, und das kann nur dadurch geschehen, dass beide Teile ihre Freiheit wiedererhalten...«

»Die Scheidung?« unterbrach ihn Karenin.

»Ja, die Scheidung, glaube ich«, wiederholte Oblonsky errötend. »Das ist in jeder Hinsicht der vernünftigste Ausweg. Was ist sonst zu machen, wenn die Ehegatten sehen, dass sie nicht mehr miteinander leben können?«

Karenin seufzte schwer und schloss die Augen.

»Es kommt dann nur noch in Frage, ob einer der Ehegatten eine neue Ehe einzugehen wünscht. Wenn nicht, so ist das sehr einfach«, sagte Oblonsky, der sich immer mehr von seiner Befangenheit befreite. Karenin gab keine Antwort. Alles, was Oblonsky so ganz einfach erschien, hatte Karenin schon tausendmal überlegt, und das alles erschien ihm vollständig unmöglich. Das Gefühl der eigenen Würde und die Ehrfurcht vor der Religion machten es ihm unmöglich, sich für den schuldigen Teil zu erklären, und noch weniger konnte er zulassen, dass die Frau, der er vergeben hatte und die er liebte, des Ehebruchs überwiesen und der Unehre überliefert wurde.

Und er hatte noch einen anderen, wichtigen Grund. Was sollte im Falle einer Scheidung aus seinem Sohn werden? Ihn bei der Mutter zu lassen, war unmöglich. Die geschiedene Mutter würde eine eigene, ungesetzliche Familie haben, in der seines Sohnes Stellung und Erziehung aller Wahrscheinlichkeit nach beklagenswert und vernachlässigt sein müsste. Ihn bei sich zu behalten aber wäre ein Akt der Rache, die ihm widerstrebte. Außerdem hielt Karenin die Scheidung auch deshalb für unmöglich, weil er nach seiner Meinung durch seine Einwilligung dazu Anna zugrunde richten würde. Er erinnerte sich daran, dass Darja in Moskau ihm gesagt habe, er wünsche die Scheidung nur, weil er an sich selbst denke und nicht daran, dass er sie dadurch zugrunde richte. Wenn er in die Scheidung willigte, so verlor er dadurch das letzte Band, das ihn mit dem Leben verband, die Kinder, die er liebte – sie aber verlor den letzten Halt auf dem Wege des Guten und musste ihrem Untergang entgegengehen. Nach der Scheidung würde sie sich mit Wronsky vereinigen, und diese Verbindung wäre eine verbrecherische, weil eine Frau nach dem Gesetz der Kirche keine neue Ehe eingehen kann, solange ihr Mann lebt. »Sie wird zu ihm gehen, und nach einem Jahr oder zweien wird er sie entweder verlassen, oder sie wird selbst ein neues Verhältnis eingehen«, dachte Karenin, »und ich werde daran schuld sein, weil ich in die Scheidung willigte.«

Er glaubte kein Wort von dem, was Oblonsky ihm sagte, da er tausend Einwände dagegen hatte, aber er hörte ihn trotzdem an in dem Gefühl, dass sich in seinen Worten jene mächtige, rauhe Gewalt aussprach, die sein Leben lenkte und Unterwerfung forderte.

»Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen du in die Scheidung einwilligst. Sie wagt nicht, dich um etwas zu bitten und überlässt alles deiner Großmut.« »Mein Gott, warum?« dachte Karenin und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

»Du bist aufgeregt, das begreife ich, aber wenn du die Sache überlegen wirst. . .«

»So jemand dich auf die rechte Wange schlägt, so biete ihm die linke auch dar«, dachte Karenin. »Ja, ja«, rief er mit kreischender Stimme, »ich nehme die Scheidung auf mich und gebe sogar meinen Sohn weg, aber .. . aber.. . wäre es nicht besser, das zu unterlassen? Übrigens mache es, wie du willst.«

Oblonsky war gerührt und schwieg.

»Alexej Alexandrowitsch«, sagte er endlich, »glaube mir, dass sie deine Großherzigkeit zu schätzen wissen wird ...«

Karenin wollte etwas erwidern, aber die Tränen hinderten ihn.

»Es ist ein trauriges Geschick, aber ich werde mich bemühen, dir und ihr beizustehen«, sagte Oblonsky. Als er das Zimmer verließ, war er gerührt. Das beeinträchtigte aber nicht seine Zufriedenheit über die Ausführung seines Auftrages.

Die Wunde Wronskys war gefährlich, obgleich das Herz nicht verletzt war, und mehrere Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod. Als er zum ersten mal wieder imstande war, zu sprechen, war nur Warja, die Frau seines Bruders, bei ihm.

»Warja«, sagte er mit ernstem Blick, »ich habe mich nur aus Versehen getroffen. Sage das allen, die Sache ist sonst gar zu dumm.«

Ohne darauf zu antworten, beugte sich seine Schwägerin über ihn und blickte erfreut in sein Gesicht. Seine Augen waren heller und nicht mehr fieberhaft, aber ihr Ausdruck war ernster.

»Nun, Gott sei Dank«, sagte sie. »Fühlst du noch Schmerzen?«

»Etwas, an dieser Stelle.« Er zeigte auf die Brust. »Ich bin nicht mehr im Fieber. Ich bitte dich, suche zu verhüten, dass man sagt, ich habe absichtlich auf mich geschossen.«

»Niemand wird das sagen, aber ich hoffe, dass kein solches Versehen mehr vorfallen wird«, sagte sie mit einem fragenden Lächeln.

»Wahrscheinlich nicht, aber es wäre besser gewesen...« Er lächelte finster.

Ungeachtet dieser Worte ging er der Besserung entgegen und fühlte sich befreit von einem Teil seines Kummers. Es war ihm zumute, als ob er durch seine Tat die Beschämung und Demütigung, die er früher empfunden, abgewaschen hätte. Jetzt konnte er ruhig an Karenin denken und seine Großmut anerkennen, ohne sich dadurch gedemütigt zu fühlen, aber er vermochte trotz aller Anstrengung die Trauer und Verzweiflung darüber, dass er sie auf immer verloren hatte, nicht aus seinem Herzen zu reißen. Er war fest entschlossen, jetzt, nachdem, er seine Schuld gebüßt hatte, ihr zu entsagen und niemals mehr zwischen der bereuenden Gattin und ihrem Manne zu stehen.

Serpuchowsky suchte für ihn eine Verwendung in Taschkent, und ohne Zögern ging Wronsky darauf ein. Aber je näher der Tag der Abreise kam, desto schwerer wurde ihm das Opfer, zu dem er sich verpflichtet fühlte.

Seine Wunde war geheilt, er konnte schon ausfahren und beschäftigte sich mit den Vorbereitungen zur Abreise nach Taschkent. '

»Noch einmal sie sehen und dann sterben«, dachte er. Als er Betsy einen Abschiedsbesuch machte, sprach er diesen Gedanken aus, und Betsy fuhr zu Anna, von wo sie eine abschlägige Antwort zurückbrachte.

»Um so besser«, dachte Wronsky. »Es war nur eine Schwachheit, die meine letzten Kräfte vernichtet hätte.«

Am anderen Morgen kam Betsy selbst zu ihm und teilte ihm mit, dass sie von Oblonsky die bestimmte Nachricht erhalten habe, dass Karenin in die Scheidung willige, und daher könnte Wronsky Anna sehen.

Dieser vergaß alle seine Entschlüsse, er vergaß sogar, Betsy bis zur Treppe zu begleiten, und ohne danach zu fragen, wann er Anna sehen könne und wo ihr Mann sei, fuhr er sogleich zu ihr. Er eilte die Treppe hinauf, ohne jemand oder irgend etwas zu bemerken, eilte stürmisch in ihr Zimmer, und ohne daran zu denken, ob jemand im Zimmer sei oder nicht, umarmte er sie und bedeckte ihr Gesicht, ihre Hände und ihren Hals mit Küssen. Anna hatte dieses Wiedersehen erwartet und daran gedacht, was sie ihm sagen werde; jetzt aber vermochte sie kein Wort zu sprechen. Seine Ausbrüche überwältigten sie, sie wollte ihn zur Ruhe ermahnen, aber es war zu spät, seine Leidenschaft teilte sich ihr mit, ihre Lippen zuckten, so dass sie lange nichts sprechen konnte.

»Ja, ich bin dein«, sagte sie endlich, indem sie seine Hände an ihr Herz drückte.

»So muss es sein!« sagte er. »Solange wir leben, muss es so sein!« »Das ist wahr«, erwiderte sie. Sie erbleichte immer mehr und umarmte seinen Kopf. »Aber es liegt doch etwas Entsetzliches in diesem allem, nach dem, was geschehen ist.«

»Alles geht vorüber. Wie glücklich werden wir nun sein!«

Anna konnte nicht durch ein Lächeln noch durch Worte antworten, sondern nur durch ihre liebenden Blicke. Sie ergriff seine Hand und legte sie auf ihre kalte Wange und auf ihre kurzgeschorenen Haare.

»Ich kenne dich nicht wieder mit diesen kurzen Haaren. Du hast dich so verschönt, du siehst aus wie ein Knabe, aber wie bleich du bist!« .

»Ja, ich bin sehr schwach«, sagte sie lächelnd, und wieder zuckten ihre Lippen.

»Wir fahren nach Italien, du wirst dich erholen«, sagte er.

»Ist das möglich, dass wir wie Mann und Frau allein sein werden?« sagte sie, in seine Augen blickend.

»Mich wundert nur, dass es jemals anders sein konnte.«

»Stiwa sagt, dass er in alles eingewilligt habe, aber ich kann seine Großmut nicht annehmen«, bemerkte sie. Nachdenklich blickte sie an Wronskys Gesicht vorüber. »Ich will keine Scheidung, mir ist jetzt alles gleichgültig, ich weiß nur nicht, was er über Serescha beschlossen hat.«

»Sprich nicht davon, und denke auch nicht daran«, sagte er und suchte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber sie blickte ihn nicht an.

»Ach, warum bin ich nicht gestorben? Es wäre besser gewesen!« sagte sie unter Tränen.

Früher wäre es nach Wronskys Begriffen schimpflich und ganz unmöglich gewesen, den schmeichelhaften und gefährlichen Auftrag in Taschkent abzulehnen. Jetzt aber wies er ihn, ohne eine Minute zu zögern, zurück, und da er in den höchsten Kreisen Mißfallen darüber zu bemerken glaubte, nahm er sogleich seinen Abschied.

Noch einen Monat blieb Karenin allein mit seinem Sohn in seinem Hause. Anna aber war mit Wronsky ins Ausland gereist. Eine Scheidung war nicht erfolgt, denn sie hatte eine solche entschieden zurückgewiesen.

Die Fürstin Schtscherbatzky fand es unmöglich, die Hochzeit noch vor den Fasten zu feiern, die in fünf Wochen begannen, da die Aussteuer bis zu dieser Zeit noch nicht fertig sein konnte. Aber sie musste nichtsdestoweniger Lewin beistimmen dass es gewagt sei, sie bis nach den Fasten aufzuschieben, da eine alte Tante des Fürsten sehr krank war und bald sterben konnte, worauf die Trauer einen noch längeren Aufschub der Hochzeit nötig gemacht hätte.

Daher wurde beschlossen, die Aussteuer zu teilen, in eine große und eine kleine, und die Hochzeit noch vor den Fasten zu feiern. Der kleinere Teil sollte jetzt ganz beendigt, der große aber später nachgesandt werden. Dieser Beschluss war um so richtiger, als die jungen Leute gleich nach der Hochzeit auf das Gut reisen wollten.

Lewin befand sich beständig in jenem Zustand von Geistesverwirrung, in dem er glaubte, dass er und sein Glück das einzige Ziel der ganzen Schöpfung seien. Er hatte auch noch keine Pläne für sein zukünftiges Leben gemacht, war überzeugt, alles werde gut werden. Sein Bruder Sergej Iwanowitsch sowie Oblonsky und die Fürstin rieten ihm, was er zu tun habe, und er war mit allem einverstanden, was man ihm vorschlug.

Macht, was ihr wollt, wenn es euch Vergnügen macht! Ich bin glücklich, und mein Glück kann nicht größer und nicht kleiner sein, was ihr auch tun mögt‹, dachte er. Als er Oblonskys Vorschlag, ins Ausland zu reisen, Kitty mitteilte, war er sehr erstaunt, dass sie nicht beistimmte und in bezug auf ihr zukünftiges Leben ihre eigenen, ganz bestimmten Erwartungen hatte. Sie wusste, dass Lewin wichtige Interessen auf dem Gut hatte, das er liebte. Und dann wusste sie, dass ihr Haus auf dem Gut bereitstand und wollte deshalb nicht ins Ausland fahren, sondern dahin, wo ihr Haus stand.

Über diese bestimmt ausgesprochene Absicht war Lewin verwundert, aber da ihm alles recht war, bat er sogleich Oblonsky, als ob es dessen Pflicht sei, auf das Gut zu reisen und dort alles einzurichten nach bestem Wissen und mit jenem Geschmack, den er so sehr an ihm schätzte.

»Aber höre«, sagte einmal Oblonsky zu ihm, als er vom Gut zurückkam, wo er für die Ankunft des jungen Paares alles vorbereitet hatte, »hast du auch ein Zeugnis darüber, dass du beim Abendmahl warst?«

»Nein. Wozu?«

»Ohne dieses wirst du nicht getraut.«

»Ei, ei, ei!« rief Lewin. »Ich glaube, ich habe schon wenigstens neun Jahre nicht gebeichtet. Daran habe ich gar nicht gedacht.« »Nicht übel«, sagte Oblonsky lachend. »Aber es geht nicht anders, du musst beichten.«

»Wann soll ich denn? Wir haben noch vier Tage übrig.«

Oblonsky sorgte auch dafür, und Lewin begann seine Andacht zu verrichten. Für ihn, der nicht gläubig war, dabei aber den Glauben anderer Menschen achtete, war die Teilnahme an kirchlichen Handlungen aller Art sehr peinlich.

Während der ersten Messe gab er sich alle Mühe, die jugendlichen Erinnerungen jenes stark religiösen Gefühls wieder aufzufrischen, das er im sechzehnten und siebzehnten Jahre empfunden hatte. Aber sofort überzeugte er sich davon, dass das für ihn vollkommen unmöglich war. Lewin stand der Religion gegenüber, wie die meisten seiner Zeitgenossen, in einer ganz unbestimmten Stellung. Glauben konnte er nicht, dabei aber war er auch nicht fest überzeugt davon, dass das alles falsch sei, und daher befand er sich während der ganzen Zeit seiner Vorbereitung zum Abendmahl in einem Zustand des Unbehagens und der Beschämung darüber, dass er etwas tat, was er selbst nicht begriff und dass er demzufolge falsch und schlecht handelte.

So hörte er die Messe, die Vesper und das Abendgebet geduldig an, und am anderen Tage stand er früher als gewöhnlich auf und eilte noch vor dem Tee um acht Uhr in die Kirche zur Frühmesse und zur Beichte.

Ein junger Diakon kam ihm entgegen, trat sogleich an ein Tischchen an der Wand und begann, das Morgengebet zu sprechen. Während des Lesens, besonders bei der häufigen, raschen Wiederholung der Worte: »Herr, erbarme dich!« fühlte Lewin, dass sein Sinn verschlossen und verriegelt war und dass es vergebens wäre, ihn aufrütteln zu wollen, weil dadurch nur seine Verwirrung vermehrt würde.

Nachdem der Diakon seine Gebete beendigt hatte, sagte er, er werde Lewin einschreiben. ›Es wird schon irgendwie sich machen‹, dachte Lewin und trat vor die Tür zum Allerheiligsten. Dort wandte er sich nach rechts und erblickte den Geistlichen, einen Greis mit dünnem, halb ergrautem Bart und müden, gutmütigen Augen. Er stand an einem Chorpult und blätterte in einem Messbuch, verbeugte sich leicht gegen Lewin und begann sogleich mit seiner gewohnten Stimme die Gebete zu lesen. Als er geendigt hatte, verneigte er sich bis zur Erde und wandte sein Gesicht Lewin zu.

»Christus ist unsichtbar anwesend hier bei Ihrer Beichte«, sagte er, auf das Kruzifix deutend, »Glauben Sie an alles, was unsere heilige, apostolische Kirche lehrt?«

»Ich habe an allem gezweifelt und zweifle noch«, erwiderte Lewin mit einer ihm selbst unangenehm klingenden Stimme.

Der Geistliche wartete einige Zeit, ob Lewin nicht noch mehr sagen werde, dann schloss er die Augen und sprach rasch: »Der Zweifel ist mit der menschlichen Schwachheit verbunden, aber wir müssen beten, damit der barmherzige Gott uns stärkt. Welche besondere Sünde haben Sie?« fügte er hinzu.

»Meine hauptsächlichste Sünde ist der Zweifel. Ich befinde mich fast immer im Zweifel.«

»Der Zweifel ist mit der menschlichen Schwachheit verbunden«, wiederholte der Geistliche. »Woran zweifeln Sie hauptsächlich?«

»Ich zweifle an allem. Ich zweifle zuweilen sogar am Dasein Gottes«, sagte Lewin zögernd und entsetzte sich selbst über seine Worte, die aber auf den Geistlichen keinen Eindruck zu machen schienen.

»Welche Zweifel kann man nur am Dasein Gottes hegen?« sagte er mit kaum merklichem Lächeln.

Lewin schwieg.

»Wie können Sie am Dasein des Schöpfers zweifeln, wenn Sie seine Werke sehen? Wer hat das Himmelsgewölbe mit Sternen geschmückt? Wer hat der Erde ihre Schönheit verliehen? Wer anders als der Schöpfer?« sagte er und blickte Lewin fragend an.

Lewin hielt es für unpassend, sich mit einem Priester in philosophische Erörterungen einzulassen und deshalb beantwortete er nur die letzte Frage: »Ich weiß nicht.«

»Sie wissen es nicht? Wie können Sie dann daran zweifeln, dass Gott alles geschaffen hat?« fragte der Priester mit heiterem Erstaunen.

»Ich begreife nichts davon«, sagte Lewin, errötend über die Unsinnigkeit dieser Antwort, und doch fühlte er, dass sie unter solchen Umständen nicht anders sein konnte.

»Beten Sie zu Gott. Selbst die heiligen Väter hatten Zweifel, und dann beteten sie um Kräftigung ihres Glaubens. Beten Sie zu Gott!« wiederholte er.

Der Geistliche schwieg einige Zeit, wie in Gedanken versunken.

»Wie ich hörte, sind Sie im Begriff, mit der Tochter meines Beichtkindes und geistigen Sohnes, des Fürsten Schtscherbatzky, in die Ehe zu treten«, fügte er mit einem milden Lächeln hinzu. »Ein schönes Mädchen!«

»Ja«, erwiderte Lewin und errötete für den Geistlichen. ›Was hat er danach in der Beichte zu fragen?‹ dachte er.

Und als ob der Geistliche auf diesen Gedanken antworten wollte, sagte er: »Sie sind im Begriff, in den Ehestand zu treten, und Gott wird Ihnen Nachkommenschaft schenken. Welche Erziehung können Sie Ihren Kindern geben, wenn Sie den Verführungen des Teufels zum Unglauben nicht zu widerstehen vermögen?« sagte er mit mildem Vorwurf. »Was werden Sie dem unschuldigen Kinde antworten, wenn es Sie fragt: ›Papa, wer hat alles erschaffen, was mich in dieser Welt erfreut, das Land, das Wasser, die Sonne, die Sterne, den Rasen?‹ Werden Sie ihm antworten: ich weiß nicht? Sie müssen es wissen, nachdem Gott der Herr in seiner großen Gnade Ihnen das geoffenbart hat. Oder Ihr Kind fragt: ›Was erwartet mich im jenseitigen Leben?‹ Was werden Sie antworten, wenn Sie nichts wissen?« Er neigte den Kopf zur Seite und blickte Lewin mit seinen guten, milden Augen an.

Dieser gab jetzt keine Antwort.

»Sie treten in eine Lebensperiode ein«, fuhr der Geistliche fort, »wo man einen Weg wählen und ihm folgen muss. Bitten Sie Gott, dass er in seiner Gnade Ihnen helfen möge.« Dann sprach er die Absolutionsformel und entließ ihn mit seinem Segen.

Lewin kehrte nach Hause zurück, erfreut darüber, von dieser falschen Situation befreit zu sein, ohne dass er genötigt gewesen war, zu lügen. Dabei hatte er auch eine unklare Erinnerung daran, dass das, was dieser gutmütige Alte gesagt hatte, durchaus nicht so unsinnig gewesen, wie es ihm anfangs erschienen war, und dass ein verborgener Sinn darin liege, der aufgeklärt werden müsse.

Natürlich nicht jetzt‹, dachte Lewin, ›aber später einmal.‹ Mehr als früher empfand er jetzt etwas Unklares und Unreines in seiner Seele und dass sein Verhältnis zur Religion dasselbe war, was ihm an anderen missfallen hatte.

Die Fürstin und Darja Alexandrowna bestanden auf strenger Beobachtung aller Gebräuche, und deshalb durfte Lewin an dem Hochzeitstage seine Braut nicht sehen, sondern musste in seinem Gasthof speisen mit drei Junggesellen, die der Zufall vereinigt hatte. Diese waren Sergej Iwanowitsch, Katawasow, ein Universitätsfreund und jetzt Professor der Naturwissenschaften, den Lewin auf der Straße getroffen und sogleich mitgenommen hatte, und endlich Tschirikow, sein Marschall, Moskauischer Friedensrichter und ein Genosse auf der Bärenjagd.

Das Diner verlief sehr heiter. Sergej Iwanowitsch, in bester Stimmung, amüsierte sich über die Originalität Katawasows. Dieser war darüber sehr befriedigt, und Tschirikow unterstützte gutherzig und heiter jedes Gespräch.

»Das ist also unser Freund Konstantin Dmitritsch Lewin«, sagte Katawasow, der auf dem Katheder die Gewohnheit angenommen hatte, die Worte zu dehnen. »Was war er doch für ein fähiger Junge! Damals, als er die Universität verließ, liebte er die Wissenschaft und beschäftigte sich mit allgemeinen menschlichen Interessen. Jetzt aber verwendet er einen Teil seiner Fähigkeiten darauf, sich selbst zu belügen und den anderen Teil darauf, diesen Selbstbetrug zu rechtfertigen.«

»Ich habe niemals einen entschiedeneren Feind der Ehe gesehen als Sie«, bemerkte Sergej Iwanowitsch.

»O nein, ich bin kein Feind der Ehe, aber ich bin für die Teilung der Arbeit. Solche Leute, die nichts Besseres tun können, sollen für die Fortpflanzung sorgen und die übrigen sollen für die Aufklärung und das Glück der Menschheit wirken.«

»Wie werde ich mich freuen, einmal zu hören, dass Sie sich verliebt haben«, sagte Lewin. »Bitte, laden Sie mich zur Hochzeit ein.«

»Ich bin schon verliebt.«

»Ja, in den Tintenfisch«, sagte Lewin. »Katawasow schreibt ein Werk über die Ernährung und so weiter...«

»Nun, keine Verwirrung. Es ist ganz gleichgültig, was ich schreibe; aber es ist richtig, dass ich den Tintenfisch liebe.«

»Aber das hindert Sie nicht daran, auch das Weib zu lieben?«

»Der Tintenfisch wäre kein Hindernis, aber eine Frau ist in manchem hinderlich.«

»Wie das?«

»Nun, sehen Sie, Sie lieben die Landwirtschaft, die Jagd...«

»Ach, heute war Archip bei mir und sagte, in Prudny gebe es eine Menge Elentiere und zwei Bären«, bemerkte Tschirikow.

»Nun, die können Sie auch ohne mich holen.«

»Das ist wahr«, sagte Sergej Iwanowitsch, »du kannst Abschied nehmen von der Bärenjagd. Deine Frau wird dir dieses Vergnügen nicht mehr gestatten.«

Lewin lachte.

»Der Gebrauch, vom Junggesellenleben Abschied zu nehmen, hat doch einen richtigen Sinn«, bemerkte Sergej Iwanowitsch. »So glücklich man auch sein mag, man bedauert doch seine Freiheit.«

»Sicherlich, aber er wird es nicht eingestehen«, sagte Katawasow mit lautem Lachen.

»Nun, wir wollen sogleich nach Twer fahren. Wir können eine Bärin in ihrem Lager finden. Wirklich, wir können noch auf den Fünfuhrzug kommen«, sagte Tschirikow lachend.

»Offen gestanden«, mischte sich Lewin hinein, »kann ich in meinem Herzen dieses Gefühl des Bedauerns um meine Freiheit nicht finden.«

»Das glaube ich. Sie haben in Ihrem Herzen jetzt ein solches Chaos, dass Sie überhaupt nichts darin finden können«, bemerkte Katawasow. »Warten Sie noch ein Weilchen, dann werden Sie vielleicht manches finden können.«

Bald nach dem Mittagessen brachen die Gäste auf, um sich noch rechtzeitig zur Trauung umzukleiden.

Als er allein war, kritisierte Lewin nochmals diese Gespräche und fragte sich, ob er in seinem Herzen eine Spur von Trauer um seine Freiheit finde. Er lächelte bei dieser Frage. – ›Freiheit? Wozu Freiheit? Das Glück liegt ja nur darin, ganz in ihren Wünschen und Gedanken aufzugehen.‹

Aber kenne ich denn ihre Gedanken und Wünsche?‹ flüsterte ihm plötzlich eine Stimme zu. Sein Lächeln erstarb und er wurde nachdenklich. ›Wie, wenn sie mich nicht liebte? Wie, wenn sie mich nur nimmt, um überhaupt verheiratet zu sein? Wie, wenn sie selbst nicht wüsste, was sie tut?‹ fragte er sich. ›Vielleicht wird sie gleich nach der Hochzeit zur Überzeugung kommen, dass sie mich nicht liebt und nicht lieben kann.‹ Und schreckliche, böse Gedanken über Kitty kamen ihm in den Sinn, er wurde eifersüchtig auf Wronsky, und argwöhnisch glaubte er, sie habe ihm nicht alles gesagt. Rasch sprang er auf.

Nein, das darf nicht geschehen‹, sagte er zu sich selbst in Verzweiflung. ›Ich gehe zu ihr, ich werde ihr sagen: Wir sind noch frei, ist es nicht besser, einzuhalten? Das wäre immer noch besser als ewiges Unglück, Schimpf und Untreue.‹

Mit Verzweiflung im Herzen und Wut auf alle Menschen, auch auf sie, fuhr er nach dem Hause ihrer Eltern. Er fand sie in den hinteren Zimmern. Kitty saß vor einer großen Lade und war mit einem Zimmermädchen beschäftigt, eine Menge verschiedener farbiger Kleider zu besichtigen, welche auf Stuhllehnen und auf dem Fußboden ausgebreitet waren.

»Ach«, rief sie aus, als sie ihn erblickte, mit freudigem Erröten, »bist du es?... Das ist eine unerwartete Freude! Ich bin eben dabei, meine Mädchenkleider zu verteilen.«

»Ach, sehr schön«, sagte er mit einem finsteren Blick auf das Mädchen.

»Geh, Dunjascha, ich werde dich später rufen«, sagte Kitty. »Was ist dir?« fragte sie, sobald das Mädchen gegangen war. Sie war erschreckt über sein finsteres Aussehen.

»Kitty, ich leide Folterqualen, ich kann sie nicht allein ertragen«, sagte er mit Verzweiflung in der Stimme und blickte sie flehend an. Beim Anblick ihrer offenen, liebenden Miene sah er ein, dass das, was er sagen wollte, ganz überflüssig sei, aber er fühlte dennoch das Bedürfnis, durch sie selbst überzeugt zu werden. »Ich kam, um dir zu sagen, dass es noch Zeit ist, man kann noch alles rückgängig machen.«

»Wie? Ich verstehe nicht, was ist dir in den Sinn gekommen?«

»Der Gedanke, den ich tausendmal ausgesprochen habe und der mich immer beschäftigt – dass ich deiner nicht würdig bin. Bedenke! Vielleicht hast du dich geirrt... Du kannst mich nicht lieben... wenn... es ist daher besser, du sagst es!« rief er, ohne sie anzublicken. »Ich werde unglücklich sein, aber lasse die Menschen schwatzen, was sie wollen, es ist immer noch besser, solange es noch Zeit ist...«

»Ich verstehe nicht«, erwiderte sie erschrocken. »Das heißt also, du willst dich zurückziehen?«

»Ja, wenn du mich nicht liebst.«

»Du hast den Verstand verloren!« rief sie, errötend vor Verdruss. Aber seine Miene war so kläglich, dass sie ihren Ärger bezwang. Sie nahm einen Stuhl, warf die darauf liegenden Kleider herab und setzte sich näher zu ihm.

»Was denkst du? Sage mir alles!« ,

»Ich denke, du kannst mich nicht lieben. Warum solltest du mich lieben?«

»Mein Gott, was kann ich dabei machen?« sagte sie und brach in Tränen aus.

»Ach, was habe ich getan?« rief er aus, warf sich vor ihr auf die Knie und küsste ihre Hände. Als die Fürstin fünf Minuten später in das Zimmer trat, fand sie beide bereits vollkommen versöhnt. Kitty hatte ihm versichert, sie liebe ihn, weil sie ihn ganz begriffen habe, weil sie wisse, dass alles, was er liebe, gut sei. Sie saßen nebeneinander auf der Lade und stritten darüber, dass Kitty jenes braune Kleid ihrer Dunjascha schenken wollte, das sie damals getragen hatte, als Lewin seinen Antrag machte. Er bestand darauf, sie solle dieses Kleid behalten und Dunjascha das blaue geben.

Als die Fürstin erfuhr, warum Lewin gekommen sei, sandte sie ihn halb lachend, halb ärgerlich nach Hause, um sich umzukleiden und Kitty nicht aufzuhalten, da Charles, der Friseur, sogleich kommen werde.

»Sie hat ohnedies alle diese Tage nichts gegessen und ist ganz abgemagert, und jetzt kommst du noch, um sie mit solchen Torheiten aufzuregen«, sagte sie.

Schuldbewusst und beschämt, aber beruhigt kehrte Lewin in seinen Gasthof zurück.

Eine Menschenmenge, hauptsächlich Frauen, drängte sich vor der hellerleuchteten Kirche. Viele, die nicht ins Innere eindringen konnten, stießen sich bei den Fenstern, um durch die Gitter hineinsehen zu können.

Mehr als zwanzig Wagen standen in einer langen Reihe vor der Kirche, wo Gendarmen auf Ordnung hielten. Ein Polizeileutnant stand trotz der Kälte vor dem Eingang in Galauniform. Beständig kamen noch Equipagen an, aus denen Damen mit aufgenommenen Schleppen und Herren ausstiegen, welche die Kopfbedeckung abnahmen und in die Kirche traten.

Die Kirche war hellerleuchtet von zwei Kronleuchtern und den Kerzen vor den Heiligenbildern. Die Vergoldungen der Heiligenbilder, die großen, silbernen Leuchter und Kronleuchter, die Teppiche, die herabhängenden Kirchenfahnen und der Chor, die Stufen zum Allerheiligsten, die alten, geschwärzten Kirchenbücher, alles war mit hellem Licht übergossen. Zur rechten Seite der erwärmten Kirche, in der Gruppe der Fräcke und weißen Halsbinden, der Uniformen, der Samt- und Atlaskleider, der Federn, der entblößten Schultern und Arme mit langen Handschuhen, unterhielt man sich lebhaft mit gedämpfter Stimme, und das Gemurmel hallte seltsam wider von der hohen Kuppel herab. Sooft die Kirchentür sich mit knarrendem Geräusch öffnete, verstummte das Gespräch in der Menge. Alle blickten nach der Tür, in Erwartung des Bräutigams. Aber schon mehr als zehnmal hatte sich die Tür geöffnet, und jedesmal war es ein verspäteter Hochzeitsgast. Sowohl die Verwandten als die Fremden hatten schon alle Phasen der Erwartung durchgemacht. Anfangs glaubten die Wartenden, Braut und Bräutigam werden im nächsten Augenblick kommen, und diese Verspätung fiel noch nicht besonders auf, dann blickten sie öfter und öfter nach der Tür, und schließlich wurde die Verspätung immer drückender empfunden.

Der Erzpriester erinnerte an die Kostbarkeit seiner Zeit durch ein ungeduldiges Husten, der Geistliche sandte unaufhörlich bald den Kirchendiener, bald den Diakon ab, um sich zu erkundigen, ob der Bräutigam noch nicht gekommen sei. Endlich blickte eine der Damen auf ihre Uhr, alle Gäste gerieten in Unruhe und drückten laut ihre Verwunderung aus. Einer der Marschälle fuhr davon, um sich zu erkundigen, was denn geschehen sei.

Kitty war schon ganz vorbereitet. In weißem Kleide, mit langem Schleier und dem Brautkranz von Orangenblüten stand sie mit ihrer stellvertretenden Mutter und ihrer Schwester Lwow im Saale des elterlichen Hauses und blickte durchs Fenster. Schon seit einer halben Stunde wartete sie auf ihren Marschall, der ihr die Nachricht bringen sollte, dass der Bräutigam in der Kirche angekommen sei.

Inzwischen lief Lewin in seinem Gasthofszimmer in Beinkleidern, aber ohne Weste und Frack, ungeduldig hin und her und öffnete beständig die Tür, um auf den Korridor hinauszublicken. Aber auf dem Korridor erschien der Erwartete immer noch nicht, und mit Verzweiflung kehrte er ins Zimmer zurück, wo Oblonsky ruhig rauchend saß.

»Hat sich jemals jemand in einer so schrecklichen, albernen Situation befunden?« rief Lewin.

»Ja, es ist dumm«, bestätigte Oblonsky mit seinem besänftigenden Lächeln. »Aber beruhige dich nur, es wird sogleich gebracht werden.«

»Ja, beruhigen!« rief Lewin mit verhaltener Wut. »Und diese blödsinnige, offene Weste! Es ist unmöglich«, sagte er, mit einem Blick auf die zerknitterte Brust seines Hemdes. »Und was dann, wenn die Koffer schon auf die Eisenbahn gebracht worden sind?« rief er verzweifelt. »Dann nimmst du eins von den meinigen.«

»Das hätten wir schon lange tun sollen.«

»Wozu sich lächerlich machen? Warte noch ein bisschen, es wird sich schon machen.«

Die Sache war schlimm. Als Lewin sich ankleiden wollte, brachte Kusma, sein alter Diener, den Frack, die Weste und alles, was nötig war.

»Und das Hemd?« rief Lewin.

»Das Hemd haben Sie ja an«, erwiderte Kusma mit überlegenem Lächeln.

Kusma hatte nicht daran gedacht, ein reines Hemd zurückzulassen, sondern ruhig alles eingepackt und zu Schtscherbatzkys gebracht, von wo am Abend das junge Ehepaar abreisen wollte. Lewins Hemd, das er am Morgen angezogen hatte, war zerknittert und bei der tief ausgeschnittenen Weste ganz unmöglich. Bis zu Schtscherbatzkys Haus war es weit, und daher sandte er den Diener aus, um ein Hemd zu kaufen, aber vergebens; alle Läden waren geschlossen, weil es ein Sonntag war. Dann schickte er zu Oblonsky, um eins von seinen Hemden zu holen, aber es war lächerlich breit und kurz. Darauf sandte er zu Schtscherbatzky, um die Sachen auszupacken, und während man den Bräutigam in der Kirche erwartete, rannte er umher wie ein wildes Tier in seinem Käfig. Endlich flog der böse Kusma mit dem Hemd atemlos ins Zimmer.

Nach drei Minuten rannte Lewin durch den Korridor. Er wagte nicht auf die Uhr zu sehen.

»Du kannst die Sache nicht ändern«, sagte Oblonsky lächelnd, während er ihm gemächlich nachfolgte. »Es wird sich schon machen, sage ich dir.«

»Sie kommen! – Da sind sie! – Welcher ist es? Ist's der Jüngere?«, tuschelten die Leute in der Menge, als Lewin, der seine Braut getroffen hatte, mit ihr zugleich in die Kirche trat. Oblonsky erzählte seiner Frau den Grund der Verzögerung, und die Gäste flüsterten lachend untereinander. Nur Lewin bemerkte nichts und niemand und blickte beständig nach seiner Braut.

Alle sagten, sie sei in diesen letzten Tagen sehr abgemagert und nehme sich unter dem Brautkranz bei weitem nicht so hübsch aus wie gewöhnlich, aber Lewin war anderer Ansicht. Er betrachtete ihre hohe Frisur mit dem langen weißen Schleier und weißen Federn, ihren hohen Kragen, der ihren langen Hals von der Seite jungfräulich verdeckte und von vorn offen ließ, dann die entzückend feine Taille, und sie erschien ihm schöner als jemals.

»Ich dachte, du seiest davongegangen!« sagte sie lächelnd.

»Es ist so dumm, was mir begegnet ist, dass ich mich schäme, es zu erzählen«, erwiderte er errötend.

»Deine Geschichte mit dem Hemd ist nicht übel«, bemerkte Sergej Iwanowitsch, der in diesem Augenblick auf ihn zutrat.

»Hast du nicht Angst?« fragte Maria Dmitrijewna, eine alte Tante.

»Ist dir nicht kalt? Du bist bleich. Warte einen Augenblick. Bücke dich!« sagte Kittys Schwester, Frau Lwow, und erhob ihren vollen schönen Arm, um lächelnd eine Blume auf Kittys Kopf aufzurichten.

Dolly näherte sich und wollte etwas sagen, aber die Tränen und ein nervöses Lachen unterbrachen sie.

Kitty sah alle mit starren, zerstreuten Blicken an, ebenso wie Lewin.

Inzwischen sammelten sich die Chorknaben, und der Geistliche trat mit einem Diakonus an das Betpult und sprach etwas zu Lewin, was dieser nicht verstand.

»Reichen Sie der Braut die Hand und führen Sie sie hin«, sagte der Marschall zu Lewin. Dann trat der Geistliche einige Schritte vor und blieb beim Betpult stehen. Die Menge der Verwandten und Bekannten gruppierte sich flüsternd um sie, jemand bückte sich und legte die Schleppe der Braut zurecht. In der Kirche wurde es still.

Der greise Geistliche mit seiner hohen Kopfbedeckung und seinen silberglänzenden grauen Haaren streckte seine kleinen Hände aus und blätterte in dem Messbuch auf dem Betpult. Er zündete zwei Kerzen an und hielt sie mit der linken Hand zur Seite, so dass das Wachs langsam herabfloss. Dann wandte er sich dem Brautpaar zu. Es war derselbe Geistliche, bei dem Lewin gebeichtet hatte. Er wandte seinen müden und kummervollen Blick auf sie, seufzte und streckte unter seinem Ornat die rechte Hand hervor, segnete den Bräutigam und legte dann mit einer Schattierung von Zärtlichkeit seine Finger auf den gebeugten Kopf Kittys. Darauf reichte er ihnen die Kerzen, ergriff das Räucherfass und trat rasch zurück.

Ist das alles wirklich wahr?‹ dachte Lewin und blickte seine Braut an. Alle seine Sorgen um das Hemd, die Verspätung und seine ganze lächerliche Situation – alles war plötzlich verschwunden; es blieb bei ihm nur ein Gemisch von Freude und Ehrfurcht zurück.

»Gelobt sei Gott, jetzt und immerdar!« sagte der greise Erzpriester mit singender Stimme, und die vollen Akkorde eines unsichtbaren Chores erfüllten die Kirche. Darauf folgte, wie immer, ein Gebet für das Heil der Seelen, für die Synode, für den Kaiser, sowie für das Brautpaar, die Sklaven Gottes, Konstantin und Katharina.

»Und dass er ihnen seine Liebe, seinen Frieden und seine Hilfe sende, darum beten wir zu Gott!« hallte es in der Kirche wider.

Lewin hörte die Worte mit Ehrfurcht.

Dann wandte sich der Geistliche zu den Brautleuten mit dem Buch in der Hand.

»Ewiger Gott«, las er mit milder, singender Stimme, »lege ein unzerreißbares Band der Liebe um sie! Segne deine gegenwärtigen Sklaven Konstantin und Katharina und verleihe ihnen deine Gnade! Gelobt sei Gott, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist, jetzt und in Ewigkeit!« – »Amen«, antwortete der unsichtbare Chor. .

Lege ein Band der Liebe um sie. Welchen tiefen Sinn enthalten diese Worte, und wie sehr entsprechen sie dem, was ich in diesem Augenblick empfinde‹, dachte Lewin. ›Ob sie auch dasselbe empfindet wie ich?‹

Er wandte sich um und begegnete ihrem Blick, aus dem er schloss, dass sie ebenso fühlte. Aber darin irrte er sich. Die Worte der Zeremonie verstand sie fast gar nicht und hörte auch nicht auf sie. Das Gefühl, das ihre Seele erfüllte, war zu stark. Es war die Freude über die Erfüllung dessen, was ihr anderthalb Monate lang Freude und Qual bereitet hatte. Diese sechs Wochen waren für sie eine Zeit der Wonne und der Qual gewesen, ihr ganzes Leben, alle ihre Wünsche und Hoffnungen konzentrierten sich auf diesen ihr noch unbekannten Mann, mit dem sie etwas noch Unbegreifliches verband, während ihr Leben äußerlich die früheren Umstände beibehielt. Sie konnte sich nichts vorstellen, nichts wünschen außerhalb des Lebens mit diesem Manne. Aber dies neue Leben hatte noch nicht begonnen, und sie vermochte es sich auch noch nicht klar vorzustellen.

Der Geistliche wandte sich wieder nach dem Chorpult um, dann ergriff er den kleinen Ring Kittys und forderte Lewin auf, ihm seine Hand zu reichen. Hierauf steckte er den Ring an das erste Glied seines Fingers.

»Ich vermähle den Sklaven Gottes Konstantin mit der Sklavin Gottes Katharina!« Und nachdem er den großen Ring Lewins an das rosenfarbige, kleine, zierliche Fingerchen Kittys gesteckt hatte, sprach der Geistliche nochmals dieselben Worte. Endlich bekreuzigte er sie mit dem Ring und gab wieder Kitty den großen und Lewin den kleinen.

»Du hast von Anfang an das männliche und das weibliche Geschlecht erschaffen«, las der Geistliche nach dem Ringe wechseln, »und dem Manne die Frau gegeben als Gehilfin und zur Erhaltung des menschlichen Geschlechts. Segne deinen Sklaven Konstantin und deine Sklavin Katharina und befestige ihre Heirat im Glauben und in der Eintracht, in der Wahrheit und in der Liebe.«

Lewin war tief gerührt, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er blickte Kitty an und glaubte, sie niemals so schön gesehen zu haben. Er wollte etwas sagen, aber er wusste nicht, ob schon alles vorüber sei. Der Erzpriester befreite ihn aus dieser Verlegenheit. Mit seinem gutmütigen Lächeln sagte er leise: »Küssen Sie Ihre Frau, und Sie, küssen Sie Ihren Mann.« Zugleich nahm er ihnen die Kerzen ab, die sie in den Händen hielten.

Lewin küsste mit Vorsicht ihre lächelnden Lippen, gab ihr die Hand und verließ mit ihr die Kirche. Er konnte noch nicht an die Wirklichkeit seines Glückes glauben; erst als ihre verwunderten, schüchternen Blicke einander begegneten, glaubte er daran und fühlte, dass sie bereits eins seien.

An demselben Abend nach dem Diner reisten die Neuvermählten auf das Gut ab.

Schon seit drei Monaten befanden sich Wronsky und Anna auf einer Reise durch Europa. Sie hatten Venedig, Rom, Neapel besucht und waren eben in einem kleinen italienischen Städtchen angekommen, wo sie sich für einige Zeit niederlassen wollten.

Ein vornehmer Oberkellner, mit dichten, pomadisierten Haaren, in Frack und blendend weißer Wäsche, die Hände in den Taschen und geringschätzig die Augen zusammenkneifend, sprach gerade zu einem Herrn. Als er Schritte hörte, die sich der Treppe näherten, wandte er sich um, und beim Anblick des russischen Grafen, der die besten Zimmer des Hotels bewohnte, nahm er ehrerbietig die Hände aus den Taschen und verneigte sich. Dann teilte er Wronsky mit, der Kurier sei dagewesen und die Sache mit der Miete des Palazzos werde zustande kommen, der Verwalter sei bereit, den Vertrag zu unterschreiben.

Wronsky nahm seinen weichen Filzhut ab, wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn, und mit einem zerstreuten Blick auf den fremden Herrn wollte er vorübergehen.

»Hier ist ein russischer Herr, der nach Ihnen fragt«, sagte der Oberkellner.

Halb ärgerlich darüber, dass man nirgends Bekannten entgehen könne, und halb in der Erwartung irgendeiner Zerstreuung in seinem einförmigen Leben, blickte Wronsky nochmals den fremden Herrn an und in demselben Augenblick leuchteten beider Augen auf.

Es war Golenischtschew, ein Schulkamerad Wronskys aus dem Pagenkorps. Dieses hatte er mit einem Zivilrang verlassen und war nicht in den Dienst getreten. Beim Austritt aus dem Pagenkorps hatten sie sich getrennt und später nur noch einmal gesehen.

»Wie freut es mich, dich wiederzusehen«, sagte Wronsky mit einem freundlichen, herzlichen Lächeln.

»Ich hörte, Wronsky sei da, aber ich wusste nicht, welcher. Ich bin sehr, sehr erfreut!«

»Komm mit! Nun, was machst du?«

»Ich lebe schon im zweiten Jahr hier und arbeite.«

»Ah«, sagte Wronsky mit Teilnahme, »aber treten wir ein. Du kennst Madame Karenin? Wir reisen miteinander. Ich wollte eben zu ihr gehen.« Dabei blickte er forschend in Golenischtschews Gesicht.

»Ah, ich wusste nicht –« erwiderte Golenischtschew gleichmütig, obgleich er wohlunterrichtet war. »Bist du schon lange hier?« fragte er.

»Seit drei Tagen«, erwiderte Wronsky. ›Ja, er ist ein anständiger Mensch‹, sagte er sich, da er Golenischtschews Gesichtsausdruck wohl verstand und begriff, warum er das Gespräch abgelenkt hatte. ›Ich kann ihn mit Anna begannt machen.‹

Sooft Wronsky während dieser drei Monate eine neue Bekanntschaft machte, fragte er sich immer, wie diese neue Persönlichkeit über sein Verhältnis zu Anna denken werde. Er glaubte bei den Männern häufig ein richtiges Verständnis zu finden. In Wirklichkeit begnügten sich die Leute, dieser delikaten Frage gegenüber eine höfliche Zurückhaltung zu beobachten. Sie gaben sich das Ansehen, dass sie die Natur dieses Verhältnisses vollkommen verstehen und es sogar billigen, aber für überflüssig halten, darüber zu sprechen.

Als Golenischtschew mit Anna bekannt gemacht wurde, entsprach sein Benehmen sogleich Wronskys Erwartungen. Augenscheinlich wusste er ohne die geringste Mühe alle Gespräche zu vermeiden, die eine unbequeme Wendung voraussehen ließen.

Er hatte Anna früher nicht gekannt und war erstaunt über ihre Schönheit und noch mehr über die Unbefangenheit, mit der sie ihre Situation hinnahm. Sie errötete, als Wronsky seinen Freund Golenischtschew einführte, und dieses kindliche Erröten gefiel ihm außerordentlich. Besonders aber freute es ihn, dass sie sogleich in Gegenwart eines fremden Herrn Wronsky einfach mit Alexej anredete, als ob sie beabsichtigte, jedes Missverständnis zu beseitigen, und Golenischtschew erzählte, dass sie in ein eben gemietetes Haus übersiedeln würden, das hier der Palazzo genannt werde. Golenischtschew kannte Karenin und auch Wronsky; er begriff sehr gut, wie sie sich glücklich und heiter fühlen konnte, obwohl sie ihren Mann und ihren Sohn verlassen und ihren guten Namen verloren hatte.

»Der Palazzo ist auch in dem Reisehandbuch angeführt«, sagte Golenischtschew. »Dort ist auch ein wundervoller Tintoretto aus seiner letzten Epoche.«

»Wissen Sie was, das Wetter ist prächtig, wir wollen dorthin gehen und noch einmal alles besichtigen«, sagte Wronsky zu Anna.

»Sehr gern. Ich komme sogleich, ich will nur meinen Hut aufsetzen. Ist es heute sehr heiß?« fragte sie auf der Schwelle und sah Wronsky fragend an, während eine tiefe Röte auf ihrem Gesicht aufstieg.

Wronsky las in ihrem Blick, dass sie nicht wusste, in welchem Verhältnis er zu Golenischtschew stehen wolle, und dass sie nicht wisse, ob ihr Benehmen seinen Wünschen entsprechend sei.

Er blickte sie lange zärtlich an. »Nein, nicht sehr heiß«, sagte er.

Sie verstand, dass er mit ihr zufrieden sei, lächelte ihm zu und verließ rasch das Zimmer.

Die Freunde blickten einander an, und beide waren etwas verlegen. Golenischtschew schien etwas sagen zu wollen, fand aber nicht den richtigen Ausdruck, während Wronsky dies wünschte und doch zugleich fürchtete.

»Du hast dich also hier niedergelassen?« sagte Wronsky, um irgend etwas zu sagen, »und hast immer noch dieselbe Beschäftigung?«

»Ja, ich schreibe den zweiten Teil von ›Die beiden Grundursachen‹«, sagte Golenischtschew strahlend bei dieser Frage. »Das heißt, um genau zu sein, ich schreibe noch nicht, ich bereite nur vor und sammle den Stoff. Er wird bedeutend größer als der erste Teil. Bei uns in Russland will man nicht begreifen, dass wir die Erben von Byzanz sind.« Und er begann eine lange, lebhafte Abhandlung.

Wronsky war anfangs verlegen darüber, dass er nichts von dem Werk wusste, hörte aber doch mit großem Interesse zu.

Als Anna mit Hut und Handschuhen wieder eintrat, kam das Gespräch auch auf die Malerei, über die er sehr gut zu unterhalten wusste, und sie hörte ihm aufmerksam zu. Sie gingen zu Fuß bis zu dem Palazzo und besichtigten ihn genau.

»Darüber bin ich sehr erfreut«, sagte Anna zu Golenischtschew auf dem Rückwege, »dass Alexej ein schönes Atelier haben wird. Du musst durchaus jenes Zimmer nehmen«, sagte sie zu Wronsky. Sie redete ihn mit »du« an, da sie schon begriff, dass sie vor Golenischtschew nichts zu verbergen hatte.

»Du malst?« fragte Golenischtschew.

»Ja, ich habe mich schon vor langer Zeit damit beschäftigt und jetzt wieder ein wenig angefangen«, erwiderte Wronsky leicht errötend.

»Er hat großes Talent«, sagte Anna mit freudigem Lächeln. »Ich bin natürlich kein unparteiischer Richter, aber auch wirkliche Kenner haben mir dasselbe gesagt.«

Während dieser ersten Periode ihrer Befreiung und schnellen Genesung fühlte sich Anna unaussprechlich glücklich und voll neuer Lebenslust. Die Erinnerung an alles, was sie nach ihrer Krankheit erlebt hatte, die Aussöhnung mit ihrem Mann, der Bruch, die Nachricht von der Verwundung Wronskys, sein stürmisches Erscheinen, die Vorbereitungen zur Trennung, die Abreise aus dem Hause ihres Mannes und der Abschied von ihrem Sohn – alles das erschien ihr wie ein fieberhafter Traum, aus dem sie jetzt im Ausland, allein mit Wronsky, erwachte. Die Erinnerung an ihren Mann erweckte in ihr Widerwillen und Abscheu. ›Es war unvermeidlich, diesen Mann unglücklich zu machen‹, dachte sie, ›aber auch ich leide und werde leiden. Ich habe alles verloren, was mir das Teuerste war, meinen Ruf und meinen Sohn. Ich habe schlecht gehandelt, und darum werde ich den Schimpf und die Trennung von meinem Sohn ertragen.‹

Anna war aufrichtig bereit, die Leiden zu erdulden, den Folgen ihrer Handlung sich zu unterwerfen, aber sie hatte zunächst nichts zu erdulden. Die Trennung von ihrem Sohn war ihr in der ersten Zeit schmerzlich gewesen, aber ihr liebliches Töchterchen nahm sie so in Anspruch, dass Anna nur noch selten an ihren Sohn dachte. Die neuerwachende Lebenslust war so stark und ihr neues Leben so angenehm, dass Anna sich vollkommen glücklich fühlte. Je mehr sie Wronsky kennenlernte, desto mehr liebte sie ihn, sie lernte immer mehr seinen Charakter schätzen, und sein Äußeres, nachdem er die Uniform abgelegt hatte und Zivilkleidung trug, gefiel ihr wie einer jungen Verliebten. In allem, was er sagte, dachte und tat, sah sie etwas besonders Edles und Erhabenes. Das Bewusstsein ihrer Nichtigkeit neben ihm wagte sie nicht zu zeigen, weil sie fürchtete, er würde schneller aufhören sie zu lieben, wenn er diese erkennen würde, und nichts fürchtete sie jetzt mehr, als seine Liebe zu verlieren.

Aber sie konnte nicht anders, als ihm zeigen, wie sehr sie ihn schätzte, denn er hatte ihr ohne Bedauern seinen Ehrgeiz zum Opfer gebracht, obgleich er nach ihrer Meinung eine so unzweifelhafte Begabung zu einer staatsmännischen Tätigkeit besaß, dass er darin eine bedeutende Rolle spielen konnte. Er war aufmerksamer und ehrerbietiger als je und immer darauf bedacht, jeden unangenehmen Gedanken an ihre Lage von ihr fernzuhalten. Er versuchte niemals, ihr gegenüber seinen Willen durchzusetzen, vermied es, ihr zu widersprechen, und suchte immer ihren Wünschen nachzukommen.

Wronsky aber war nicht vollkommen glücklich, ungeachtet der vollständigen Erfüllung aller seiner Wünsche. In der ersten Zeit, nachdem er Zivilkleidung angelegt hatte, genoss er entzückt die volle Freiheit, die er früher nicht gekannt hatte, und das Glück der ungestörten Liebe. Bald aber befiel ihn eine Traurigkeit, und ohne sich dessen klar bewusst zu werden, regte sich in ihm der Wunsch nach neuen Zielen. Sechzehn Stunden täglich mussten durch irgend etwas ausgefüllt werden, da sie im Ausland in vollkommener Freiheit und abgeschlossen von allen Anforderungen des gesellschaftlichen Lebens lebten. An die Vergnügungen, die er bei früheren Reisen ins Ausland aufgesucht hatte, war nicht mehr zu denken, und über einen Versuch dieser Art, ein Souper mit Bekannten, das sich sehr lange ausgedehnt hatte, war Anna in Verzweiflung geraten. Gesellschaftlicher Verkehr war ihm nicht möglich, und die Sehenswürdigkeiten hatten für ihn nicht allzuviel Anziehungskraft.

So nahm Wronsky ganz unbewusst seine Zuflucht bald zur Politik, bald zu neuen Büchern, bald zur Kunst. In jungen Jahren hatte sich bei ihm einiges Talent zur Malerei gezeigt, er beschäftigte sich also mit Malerei und suchte in ihr Befriedigung für seinen Tätigkeitsdrang. Am meisten gefiel ihm die französische Kunst und in ihrem Stil begann er das Porträt Annas in italienischem Kostüm zu malen. Ihm selbst und allen, die es sahen, erschien es sehr gelungen.

Der alte verödete Palazzo, in den sie eingezogen, mit den hohen, gemalten Plafonds und Fresken an den Wänden, mit den Mosaikfußböden und den schweren seidenen Gardinen an den hohen Fenstern, mit den Vasen auf Konsolen und Kaminen und Holzschnitzereien, mit den düsteren Gemächern und Sälen, behangen mit Gemälden aller Art, versetzte Wronsky in die angenehme Täuschung, dass er nicht nur ein russischer Gutsbesitzer und Oberst a. D., sondern auch ein Kunstkenner sei, zugleich aber auch selbst ein bescheidener Künstler, der sich von der Welt und den Lockungen des Ehrgeizes zurückgezogen hatte, um einer geliebten Frau zu leben.

Diese Rolle befriedigte ihn vollkommen, und nachdem er sich durch Vermittlung von Golenischtschew mit einigen interessanten Leuten bekannt gemacht hatte, fühlte er sich vorläufig ganz zufrieden. Er malte unter Anleitung eines italienischen Professors Studien nach der Natur und beschäftigte sich mit dem mittelalterlichen italienischen Leben, das viel Reiz für ihn hatte.

Im ganzen aber dauerte die Vorliebe Wronskys für die Malerei und das Mittelalter nicht lange. Das Bild blieb unvollendet, weil ihn sein künstlerisches Gefühl davon zurückhielt. Er hatte eine unbestimmte Vorstellung davon, dass seine Mängel, die beim Beginn nicht auffielen, sich später in hohem Grade bemerkbar machen werden, je mehr die Arbeit fortschreite. Er befand sich in der gleichen Lage wie Golenischtschew, der wenig zu sagen wusste, und darum sich selbst damit tröstete, der Gedanke sei noch nicht zum Durchbruch gekommen, er werde Material sammeln. Aber während Golenischtschew darüber verdrießlich wurde und ermüdete, war es Wronsky unmöglich, sich darüber zu grämen oder gar zu erzürnen. Mit der ihm eigenen Charakterfestigkeit hörte er auf, sich mit der Kunst zu beschäftigen, ohne jemand eine Erklärung oder gar eine Rechtfertigung dafür zu geben.

Aber ohne Beschäftigung wurde für ihn und Anna das Leben in dem italienischen Städtchen langweilig. Der Palazzo wurde plötzlich alt und schmutzig, die Flecke auf den Gardinen, die Sprünge in den Fußböden machten sich jetzt unangenehm bemerkbar, und immer dieselbe Gesellschaft Golenischtschews, des italienischen Professors und der deutschen Reisenden war so reizlos, dass sie beschlossen, nach Russland auf Wronskys Gut zu reisen. In Petersburg wollte Wronsky zunächst mit seinem Bruder eine Teilung vornehmen, und Anna sehnte sich danach, ihren Sohn zu sehen.

Den Sommer wollten sie dann auf dem großen Familiengut Wronskys zubringen.

Lewin war schon seit drei Monaten verheiratet. Er war glücklich, aber durchaus nicht so, wie er es erwartet hatte. Auf jedem Schritt fand er Enttäuschungen seiner früheren Phantasiebilder neben unerwarteten Reizen. Er war glücklich, aber auf jedem Schritt sah er, dass das Eheleben durchaus nicht so war, wie er es sich vorgestellt hatte. In seinem früheren Junggesellenleben hatte er das Eheleben anderer, die kleinlichen Sorgen, die Zänkereien und die Eifersucht nur mit verächtlichem Lächeln angesehen. In seinem künftigen Eheleben, dachte er, könne so etwas nicht vorkommen. Und nun musste er einsehen, dass das Leben mit seiner Frau sich in nichts von anderen Ehen unterschied und sich aus denselben unbedeutenden Nichtigkeiten zusammensetzte, wegen der er früher andere verlacht hatte.

Wie alle Männer, hatte er sich unwillkürlich das Eheleben nur als Liebesgenuss vorgestellt. Nach seiner Ansicht hatte er seine Arbeit auszuführen und dann im Glück der Liebe seinen Lohn zu suchen, ihr aber musste es genügen, geliebt zu werden. Aber wie alle Männer vergaß auch er, dass ihr ebenfalls ein Wirkungskreis notwendig war, und er wunderte sich, wie diese poetische, entzückende Kitty nicht in der ersten Woche, sondern schon am ersten Tag ihres Familienlebens an Tischtücher, Möbel, Matratzen für Gäste, an den Koch und an das Mittagessen und so weiter denken konnte. Schon als Bräutigam war er erstaunt gewesen über die Bestimmtheit, mit der sie die Reise ins Ausland ablehnte und die Entscheidung traf, auf das Gut zu fahren. Dies hatte ihn damals gekränkt, und auch jetzt fühlte er sich nicht selten unangenehm berührt von ihren kleinlichen Sorgen, aber er sah ein, dass ihr das unentbehrlich war. Er lachte darüber, wie sie die Möbel aufstellte, wie sie ihr und sein Zimmer einrichtete, wie sie die Gardinen aufhängte und die Zimmer für künftige Gäste ausrüstete, wie sie ihr neues Zimmermädchen unterbrachte und dem alten Koch Aufträge für das Mittagessen gab, wie sie mit Agafja Michailowna einen Zwist durchfocht. Er sah, wie der alte Koch sie lachend und entzückt ansah, indem er ihre unmöglichen Befehle anhörte; er sah, wie Agafja gedankenvoll den Kopf schüttelte über die neuen Verfügungen der jungen Herrin, er erinnerte sich daran, wie reizend sie aussah, wenn sie lachend und weinend zu ihm kam, um sich darüber zu beklagen, dass niemand ihr gehorchen wolle.

Nun dachte sie mit großer Freude an die Ankunft Darjas mit ihren Kindern, besonders deshalb, weil sie Darjas Bewunderung für ihre neue Einrichtung entgegensah. Sie wusste selbst nicht warum, aber die Haushaltungsgeschäfte zogen sie unwiderstehlich an. Diese kleinlichen Beschäftigungen Kittys, die Lewins Idealen von dem erhabenen Glück der ersten Zeit so sehr widersprachen, bildeten eine seiner Enttäuschungen, und zugleich war diese niedliche Geschäftigkeit, deren Sinn er nicht begriff, einer der neuen Reize.

Eine andere Art von Enttäuschungen und von neuen Reizen boten ihre Zwiste. Lewin hatte sich niemals vorstellen können, dass zwischen ihm und seiner Frau ein anderer Ton herrschen könne als derjenige der zärtlichen Achtung und Liebe, und plötzlich, schon in den ersten Tagen, gerieten sie in Streit. Sie sagte, er liebe sie nicht, er liebe nur sich allein, und brach händeringend in Tränen aus. Dieser erste Streit rührte daher, dass Lewin nach einem neu errichteten Beigut gefahren war und eine halbe Stunde länger ausblieb als beabsichtigt, weil er einen näheren Nebenweg eingeschlagen und sich dabei verirrt hatte. Er kam nach Hause, nur mit dem Gedanken an sie, an ihre Liebe und ihr Glück, und je näher er dem Hause kam, desto inniger empfand er seine Zärtlichkeit für sie. In dieser Stimmung eilte er in das Zimmer, fast noch stärker und zärtlicher erregt als an jenem Tage, wo er in ihrem elterlichen Hause seinen Heiratsantrag machte, und nun sah er sich plötzlich mit einer so finsteren Miene empfangen, wie er sie noch nie gesehen hatte. Er wollte sie küssen, sie aber stieß ihn zurück.

»Was ist dir?«

Aber kaum hatte sie den Mund geöffnet, als ein Strom von Vorwürfen unsinniger Eifersucht sich Bahn brach. Jetzt zum ersten mal begriff er, dass sie ihm nicht nur nahestand, sondern dass er auch nicht mehr die Grenze zu finden wusste, wo ihr Wesen endigte und das seinige anfing. Im ersten Augenblick war er gekränkt, dann aber fühlte er, dass er sich nicht von ihr gekränkt fühlen durfte, dass sie er selbst war. Seine nächste Regung war, sich zu rechtfertigen und ihr zu beweisen, wie sehr sie unrecht hatte. Dadurch hätte er sie aber noch mehr erzürnt und den Ausbruch noch heftiger gemacht. Obgleich er ihr die Schuld zuschrieb, fühlte er doch die Notwendigkeit, so schnell als möglich den Zwist beizulegen, um es nicht zu einem Bruch kommen zu lassen. Er sah ein, dass ihm nichts übrigblieb als die Geduld.

Die Versöhnung kam bald zustande. Ohne es einzugestehen, sah sie ihre Schuld ein und benahm sich so zärtlich, dass das Glück der Liebe wiederkehrte. Aber das hinderte nicht, dass solche Zusammenstöße sich häufig wiederholten und meist aus ganz unbedeutenden Ursachen. Wenn der eine Teil in guter, der andere in schlechter Stimmung war, so wurde der Frieden nicht gestört, waren aber beide missgestimmt, so genügte oft ein unbegreiflicher und unbedeutender Anlass, dass sie später sich nicht einmal mehr erinnern konnten, worüber sie gestritten hatten. Zwar verdoppelte sich ihre Lebensfreude, wenn sie sich beide in guter Gemütsverfassung befanden, dennoch aber waren diese ersten Monate für sie eine schwere Zeit.

Erst im dritten Monat nach ihrer Rückkehr aus Moskau, wo sie vier Wochen zugebracht hatten, wurde ihr Leben gleichmäßiger, und sie erfreuten sich der Einsamkeit. Lewin saß in seinem Kabinett am Schreibtisch und schrieb, während sie, in demselben dunkeln, lilafarbigen Kleid, das ihm so teuer war, weil sie es in den ersten Tagen ihres Ehestandes getragen hatte, mit einer Stickerei auf dem alten ledernen Sofa saß. In dem angenehmen Gefühl ihrer Gegenwart schrieb er eifrig weiter

an seinem Buch über die Grundlagen einer neuen Wirtschaftsmethode. Früher war ihm das Leben ohne Beschäftigung zu düster erschienen, jetzt aber war dieser Zweck ihm notwendig als Mittel gegen die Einförmigkeit seines glücklichen, hellen Daseins. Wenn er durchlas, was er bereits geschrieben hatte, fand er zu seiner Freude, dass der Zweck der Arbeit wert war.

Während er schrieb, dachte sie darüber nach, wie unnatürlich aufmerksam ihr Mann gegen den jungen Fürsten Tscharsky gewesen war, der in Moskau vor der Abreise ihr auf sehr taktlose Weise den Hof gemacht hatte.

Wahrscheinlich ist er eifersüchtig‹, dachte sie. ›Mein Gott, wie dumm er ist, der gute Junge! Er ist eifersüchtig! Wenn er wüsste, wie gleichgültig mir alle sind!‹ Mit einem seltsamen Gefühl des Eigentumsbewusstseins betrachtete sie sein Genick und seinen roten Hals. ›Es ist schade, ihn zu unterbrechen, aber er hat später noch Zeit. Ich muss sein Gesicht sehen. Ob er fühlt, dass ich nach ihm sehe? Ich will, dass er sich umwendet... Ich will es!‹ Und sie öffnete die Augen noch weiter, um dadurch die Wirkung ihres Blickes zu verstärken.

Lewin blickte von der Arbeit auf, und als er fühlte, dass ihr Blick auf ihn gerichtet war, lächelte er und blickte sich um.

»Was gibt es?« fragte er und stand auf.

Er hat sich umgesehen‹, dachte sie.

»Nichts, ich wollte nur, dass du dich umwendest«, sagte sie und blickte ihn forschend an, ob ihm die Störung ärgerlich sei oder nicht.

»Wie schön ist es, so einsam beieinander zu sein, wenigstens, was mich betrifft«, sagte er und näherte sich ihr mit einem strahlenden, glücklichen Lächeln.

»Ich bin so glücklich, ich werde niemals reisen, auch nicht nach Moskau.«

»An was hast du gedacht?« fragte er.

»Ich? Ich dachte... Nein, nein, geh, lass dich nicht stören«, sagte sie, »ich muss jetzt alle diese Knopflöcher ausschneiden, siehst du?«

Sie ergriff die Schere und begann zu schneiden.

»Nein, sage mir, was du gedacht hast«, wiederholte er. Er setzte sich neben sie und beobachtete die kreisförmige Bewegung der kleinen Schere.

»Ach, an was ich gedacht habe? An Moskau und an dein Genick.« »Womit habe ich dieses Glück verdient? Es ist unnatürlich, es ist zu schön«, sagte er, ihre Hand küssend.

»Mir im Gegenteil erscheint es je besser, desto natürlicher.«

»Hier hast du ein Löckchen«, sagte er, vorsichtig ihren Kopf umdrehend.

»Ein Löckchen? Lasse das, wir wollen jetzt ernsthaft sprechen.«

Er vermochte nicht weiterzuarbeiten, und als Kusma, der Diener, eintrat, um zu melden, der Tee sei aufgetragen, fuhren sie schuldbewusst auseinander.

»Ist der Bote aus der Stadt zurückgekommen?« fragte Lewin den Diener.

»Soeben ist er gekommen.«

»Komm schnell«, sagte sie zu ihm, indem sie das Zimmer verließ, »sonst lese ich die Briefe ohne dich.«

Als Lewin alleingeblieben war, nahm er seine Papiere zusammen und wusch sich die Hände. Dabei wiegte er den Kopf, und ein Gefühl von Reue befiel ihn.

So kann es nicht weitergehen‹, dachte er. ›Während dieser drei Monate habe ich fast nichts getan. Heute ist es beinahe das erstemal, dass ich wieder ernsthaft zu arbeiten begann, und was ist daraus geworden? Ich habe es, kaum begonnen, sogleich wieder aufgegeben, selbst meine gewöhnliche Beschäftigung habe ich fast ganz vernachlässigt und nicht nach der Wirtschaft gesehen. Ich scheue mich auch auszufahren, es tut mir leid, sie zu verlassen, und ich fürchte immer, dass sie sich dann langweilt. Ich habe gedacht, das Leben vor der Ehe sei nichts wert, und erst nach der Verheiratung beginne das wirkliche Leben, und nun sind drei Monate verflossen, und ich habe noch niemals zuvor die Zeit so unnütz und müßig verschwendet! Sie ist natürlich nicht schuld daran; ich müsste selbst fester sein, meine männliche Selbständigkeit behaupten und mich selbst und sie daran zu gewöhnen suchen!‹

Aber einem unzufriedenen Menschen fällt es schwer, die Schuld nicht auf sonst jemand abzuwälzen, und jetzt sagte sich Lewin – nicht, dass sie schuld sei, nein, schuldig konnte sie niemals sein –, ihre zu oberflächliche und frivole Erziehung sei daran schuld. ›Dieser Tscharsky, dieser Hanswurst! – Ich weiß, sie wollte ihn in seine Schranken weisen; aber sie verstand es nicht. Nein, außer den Haushaltungssorgen, die sie allerdings versteht, außer der Toilette und den Stickereien kennt sie keine ernsten Interessen. Sie interessiert sich weder für die Arbeit, noch für die Landwirtschaft und die Bauern, noch für die Musik, noch für die Literatur. Sie tut nichts und ist dabei ganz zufrieden.‹

Lewin war unzufrieden darüber; aber er begriff nicht, dass sie sich auf jene nahe bevorstehende Periode der Tätigkeit vorbereitete, wo sie zu gleicher Zeit die Frau ihres Mannes, die Herrin des Hauses, Mutter und Amme sein sollte. Er konnte es nicht fassen, dass sie im unbestimmten Vorgefühl der Vorbereitung auf diese schwere Aufgabe sich einige Augenblicke der Muße und des Liebesglückes nicht versagte, indem sie heiter ihr zukünftiges Nest vorbereitete.

Sobald Karenin durch Betsy und Oblonsky erfahren und begriffen hatte, dass man von ihm nur verlange, seine Frau in Frieden zu lassen und ihr nicht mit seiner Gegenwart beschwerlich zu fallen, und dass Anna dies wünschte, geriet er in solche Ratlosigkeit, dass er selbst nicht wusste, was er wollte. Er überließ sich den Händen derjenigen, die sich mit seinen Angelegenheiten beschäftigten, und willigte in alles unbedenklich ein. Erst als Anna sein Haus verlassen hatte und die Engländerin ihn fragen ließ, ob sie mit ihm oder allein im Kinderzimmer speisen solle, wurde ihm seine Lage klar, und er entsetzte sich darüber.

Die ersten zwei Tage nach der Abreise seiner Frau arbeitete Karenin wie gewöhnlich mit seinem Kanzleichef, fuhr zu Sitzungen und kam zum gemeinschaftlichen Mittagstisch ins Speisezimmer. Er dachte nur daran, ruhig und gleichgültig zu erscheinen und zwang sich, mit Ruhe auf die Fragen der Dienerschaft zu antworten, was mit den Sachen und Zimmern Annas geschehen solle, als ob alles Vorgefallene für ihn nicht ungewöhnlich gewesen sei. Niemand bemerkte an ihm ein Anzeichen von Verzweiflung. Zwei Tage nach der Abreise überreichte man eine Rechnung aus einem Modemagazin, die Anna zu bezahlen vergessen hatte; gleichzeitig wurde der Diener des Magazins gemeldet. Karenin befahl, ihn einzulassen.

»Entschuldigen Sie, Exzellenz, dass ich zu stören wagte, aber wenn Sie wünschen, dass wir uns an Ihre Frau Gemahlin wenden, so haben Sie die Güte, uns ihre Adresse anzugeben.«

Karenin dachte nach, wendete sich plötzlich um, setzte sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf auf die Hand. Er saß lange Zeit in dieser Stellung; mehrmals versuchte er zu sprechen, aber er unterbrach sich sogleich wieder.

Karnee, der Diener, verstand seinen Herrn und ersuchte den Handlungsgehilfen, ein anderes Mal zu kommen. Als Karenin wieder allein geblieben war, sah er selbst ein, dass er nicht mehr die Kraft hatte, seine Rolle weiterzuspielen. Er befahl, niemand vorzulassen, und erschien auch nicht beim gemeinsamen Mittagessen.

Jene allgemeine Verachtung, die er auf dem Gesicht des Handlungsdieners sowie aller, die ihm an diesem Tage begegneten, gelesen hatte, vermochte er nicht länger zu ertragen.

Karenin war als Waise aufgewachsen und hatte nur einen Bruder. An seinen Vater konnte er sich nicht mehr erinnern, und seine Mutter starb, als er zehn Jahre alt war. Das vorhandene Vermögen war klein. Ein Onkel von ihm, ein hoher Beamter, der beim verstorbenen Kaiser in Gunst stand, hatte es übernommen, die Brüder zu erziehen. Als Karenin die Universität verlassen hatte, betrat er mit Hilfe seines Onkels sogleich eine vielversprechende, dienstliche Karriere, und seit dieser Zeit hatte er sich dem Ehrgeiz hingegeben. Nie hatte Karenin mit irgend jemand Freundschaft geschlossen. Sein Bruder stand seinem Herzen am nächsten, diente aber im Ministerium des Auswärtigen und lebte immer im Ausland, wo er bald nach Karenins Hochzeit gestorben war. Während Karenin die Stelle eines Gouverneurs in einem südlichen Gouvernement einnahm, wurde er durch Annas Tante, eine reiche Gutsherrin des Gouvernements, mit ihrer Nichte bekannt gemacht. Er war zwar kein junger Mann mehr, aber immerhin noch ein junger Gouverneur. Sie verstand es, ihn in eine solche Situation zu versetzen, dass er entweder sich erklären oder seinen Posten hätte aufgeben müssen. Lange schwankte Karenin, aber Annas Tante ließ ihm andeuten, dass er das Mädchen schon kompromittiert habe, und dass es seine Ehrenpflicht sei, ihrer Nichte einen Antrag zu machen. Dies geschah, und er widmete seiner Braut und seiner Frau alle Gefühle, deren er fähig war.

Die Zuneigung zu seiner Frau beseitigte in seinem Herzen das letzte Bedürfnis nach Annäherung an andere Personen, und deshalb stand von allen Bekannten nicht ein einziger ihm nahe.

Michail Wassiljewitsch Sludin, sein Kanzleichef, war ein einfacher, kluger, gutmütiger und rechtschaffener Mann, für den Karenin einige Zuneigung empfand, aber die fünfjährige dienstliche Tätigkeit hatte eine Schranke zwischen ihnen aufgerichtet. Nachdem Karenin die Papiere unterschrieben hatte, blickte er Sludin lange schweigend an, konnte sich aber nicht entschließen, zu sprechen. Er hatte schon die Phrase vorbereitet – »Sie haben von meinem Kummer gehört?« –, aber er brachte nichts hervor, als wie gewöhnlich: »Nun, also machen Sie das fertig!«, und damit entließ er ihn. Auch seinem Arzt war er sehr freundschaftlich gesinnt; aber schon lange war es zwischen ihnen stillschweigend anerkannt, dass beide mit Arbeit überhäuft seien und daher keine Zeit zu verlieren hätten. An seine Damenbekanntschaften dachte Karenin gar nicht mehr, alle diese »vornehmen Damen« waren ihm schrecklich und widerlich geworden.

Karenin hatte auch die Gräfin Lydia Iwanowna vergessen, sie aber nicht ihn. In dieser schwersten Zeit einsamer Verzweiflung trat sie in sein Kabinett. Sie traf ihn in trüber Stimmung an, den Kopf auf beide Hände gestützt.

»Ich kam unangemeldet«, sagte sie atemlos infolge des raschen Ganges und der Erregung, »ich habe alles gehört, Alexej Alexandrowitsch, mein Freund!« rief sie, indem sie mit beiden Händen kräftig seine Hand drückte und ihn mit ihren schönen, gedankenvollen Augen anblickte.

Karenin stand finster auf und bot ihr einen Stuhl an.

»Mein Freund«, wiederholte die Gräfin, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Sie zog die Augenbrauen in die Höhe, und ihr unschönes, gelbes Gesicht wurde noch abstoßender. Aber Karenin bemerkte, dass sie ihn bedauerte und dem Weinen nahe war; er wurde weicher und küsste ihre fette Hand.

»Mein Freund«, wiederholte sie nochmals mit von Aufregung erstickter Stimme, »Sie dürfen sich nicht dem Kummer hingeben! Ihr Kummer ist groß, aber Sie müssen Trost suchen.«

»Ich bin wie zerschlagen«, sagte Karenin. »Meine Lage ist so entsetzlich, dass ich nirgends, auch nicht in mir selbst, die geringste Stütze finde.«

»Sie werden schon eine Stütze finden, aber suchen Sie sie nicht in mir, obgleich ich Sie bitte, an meine Freundschaft zu glauben«, sagte sie mit Seufzen. »Und die Stütze ist die Liebe«, sagte sie mit verzücktem Blick. »Er wird Sie halten und stützen.«

Diese Worte hörte Karenin mit innerer Befriedigung.

»Ich bin schwach, ich bin vernichtet, ich habe nichts vorausgesehen und begreife jetzt auch nichts«, sagte er. »Mein Freund«, wiederholte Lydia Iwanowna.

»Ich beklage nicht meinen Verlust, aber meine Stellung ist tief beschämend.«

»Nicht Sie haben großmütig Verzeihung gewährt, sondern er, der in unserem Herzen wohnt«, sagte die Gräfin Lydia mit einem Blick nach oben, »und darum können Sie keine Beschämung empfinden.«

Karenins Miene verdüsterte sich. »Man muss alle Einzelheiten kennen«, sagte er mit seiner dünnen Stimme, »die Kräfte des Menschen haben ihre Grenze, Gräfin, den ganzen Tag muss ich Anordnungen treffen über die Haushaltung, mich um die Dienerschaft, die Gouvernante, die Abrechnungen kümmern, es ist, als ob man auf kleinem Feuer langsam geröstet wird. Bei Tisch ... gestern wäre ich fast vom Mittagessen davongelaufen, ich konnte es nicht ertragen, wie mein Sohn mich ansah, ich konnte seinen fragenden Blick nicht ertragen, er wagte kaum, mich anzusehen. Aber das ist nicht alles ...« Seine Stimme zitterte, und er schwieg.

»Ich verstehe alles, mein Freund«, sagte die Gräfin Lydia. »Ich bin gekommen, um Ihnen zu helfen, wenn es möglich ist. Wenn ich Ihnen alle diese kleinlichen Sorgen abnehmen könnte. Ich begreife, dass hier weibliche Führung nötig ist. Wollen Sie mir vertrauen?«

Karenin drückte schweigend und dankbar ihre Hand.

»Wir werden uns beide mit Serescha beschäftigen. Ich bin nicht stark in den Angelegenheiten des praktischen Lebens, aber ich übernehme es, Ihre Wirtin zu sein. Danken Sie mir nicht!«

»Wie sollte ich nicht dankbar sein?«

»Aber, mein Freund, geben Sie sich nicht diesem Gefühl der Beschämung hin, von dem Sie sprachen. Wer sich selbst erniedrigt, wird erhöhet werden. Ihm müssen Sie danken und ihn um Hilfe bitten, in ihm allein finden Sie Ruhe und Trost!« sagte sie mit verzücktem Blick nach dem Himmel.

Ihr Wesen und ihre Redeweise, die ihm früher unangenehm gewesen waren, schienen ihm jetzt natürlich und tröstlich. Karenin liebte nicht diese verzückte Frömmigkeit. Gegen diese neue Lehre hatte er sich früher sogar feindselig verhalten, jetzt aber hörte er ihre Worte mit Vergnügen.

»Jetzt zur Tat«, sagte die Gräfin lächelnd und wischte Tränen aus den Augen. »Ich gehe zu Serescha. Nur im äußersten Fall werde ich mich an Sie wenden.« Sie stand auf und verließ das Zimmer.

Die Gräfin Lydia ging zu Serescha, und dort erzählte sie dem erschreckten Knaben unter strömenden Tränen, sein Vater sei ein Heiliger und seine Mutter sei gestorben.

Die Gräfin Lydia nahm wirklich alle Haushaltungssorgen auf sich. Aber sie hatte nicht übertrieben, als sie sagte, sie sei in praktischen Dingen nicht sehr stark. Alle ihre Verfügungen mussten abgeändert werden, weil sie unausführbar waren, und der Kammerdiener Karnee war es, der sie abänderte und unbemerkt jetzt das ganze Haus leitete. Während sein Herr sich ankleidete, meldete er ihm ruhig und vorsichtig, was nötig war. Aber die Einwirkung der Gräfin war dennoch im höchsten Grade wohltätig. Sie gab Karenin eine Stütze im Bewusstsein ihrer Liebe und Verehrung für ihn, und es gelang ihr, ihn zu einem Gläubigen der neuen Lehre zu bekehren.

Die Gräfin Lydia Iwanowna war schon als sehr junges, schwärmerisches Mädchen an einen reichen, vornehmen, höchst gutmütigen, aber leichtsinnigen Lebemann verheiratet worden. Im zweiten Monat verließ sie der Mann und antwortete auf die verzückten Ausbrüche ihrer Zärtlichkeit nur mit Spott und sogar Feindseligkeit, welche die Leute sich durchaus nicht erklären konnten. Von dieser Zeit an lebten sie getrennt. Wenn er mit seiner Frau zusammentraf, so benahm er sich gegen sie immer mit giftigem Spott, der für alle ein Rätsel blieb.

Gräfin Lydia schwärmte schon lange nicht mehr für ihren Mann, dafür aber war sie stets in irgend sonst jemand verliebt, sogar in mehrere zugleich, in Männer und in Frauen, überhaupt fast in alle hervorragenden Leute. Alle diese Verliebtheiten, welche bald stärker, bald schwächer auftraten, hinderten sie nicht, sehr ausgebreitete Beziehungen mit dem Hof und der Gesellschaft zu unterhalten. Aber nachdem sie Karenin unter ihren Schutz genommen und für sein Haus und sein Wohlbefinden zu sorgen übernommen hatte, überzeugte sie sich davon, dass die übrigen Verliebtheiten nicht echt gewesen seien und dass sie jetzt in Wirklichkeit nur in Karenin allein verliebt sei. Sie liebte Karenin seiner selbst wegen, dann seiner hochherzigen Seele, des ihr lieblich erscheinenden dünnen Klangs seiner Stimme wegen. Die gedehnte Sprechweise, sein müder Blick, sein Charakter und die weißen Hände mit den hervortretenden Adern waren weitere Anziehungspunkte für die Gräfin. Sie wollte ihm durch ihr ganzes Wesen gefallen und forschte in seinem Gesicht nach den Anzeichen des Eindrucks, den sie auf ihn mache.

Schon seit einigen Tagen befand sich die Gräfin in höchster Aufregung, denn sie hatte erfahren, dass Anna mit Wronsky in Petersburg angekommen sei. Sie musste Karenin retten vor dem Wiedersehen mit ihr, er sollte nicht einmal wissen, dass diese schreckliche Frau sich in derselben Stadt mit ihm befinde.

Durch ihre Bekannten suchte sie zu erfahren, was diese »abscheulichen Menschen« zu tun beabsichtigten und bemühte sich, an diesem Tage alle Ausgänge ihres Freundes zu leiten, damit er ihr nicht begegnen konnte. Der junge Adjutant, ein Freund Wronskys, durch welchen sie ihre Nachrichten erhielt und welcher mit Hilfe der Gräfin Lydia eine Konzession zu erhalten hoffte, sagte ihr, sie werden am nächsten Tage abreisen. Sie hatte sich schon beruhigt, als ihr am anderen Morgen ein Billett gebracht wurde, dessen Handschrift sie mit Entsetzen erkannte. Es war von Anna.

»Wer hat es gebracht?«

»Ein Kommissionär aus einem Hotel.«

Die Gräfin konnte sich lange nicht entschließen, den Brief zu lesen. Als sie sich endlich beruhigt hatte, las sie folgende Zeilen in französischer Sprache:

»Madame la comtesse!

Die christlichen Gefühle, die Ihr Herz erfüllen, geben mir die, wie ich fürchte, unverzeihliche Kühnheit, an Sie zu schreiben.

Ich bin unglücklich über die Trennung von meinem Sohn. Ich flehe Sie an um die Erlaubnis, ihn einmal vor meiner Abreise wiederzusehen. Ich wende mich nur deshalb an Sie und nicht an Alexej Alexandrowitsch, weil ich diesem großherzigen Mann nicht durch die Erinnerung an mich Schmerz bereiten will. Da ich Ihre Freundschaft für ihn kenne, so hoffe ich, dass auch Sie mich begreifen werden.

Wollen Sie Serescha zu mir senden, oder soll ich zu einer bestimmten Stunde zu ihm ins Haus kommen? Oder werden Sie mir Nachricht geben, wo und wann ich ihn außerhalb des Hauses sehen kann? Ich befürchte keine Absage, da ich die Großmut dessen kenne, von dem das abhängt. Sie können sich mein heißes Verlangen, meinen Sohn wiederzusehen, nicht vorstellen und darum auch nicht die Dankbarkeit, welche Ihre Hilfe in mir wachrufen wird.

Anna.«

Alles in diesem Briefe versetzte die Gräfin Lydia in Entrüstung, sowohl der Inhalt als die Anspielung auf die Großmut und der, wie es ihr schien, besonders unbefangene Ton.

»Sage ihm, er brauche nicht auf Antwort zu warten«, beschied die Gräfin den Diener. Dann schrieb sie sogleich an Karenin, sie hoffe, ihn gegen ein Uhr bei der Cour im Winterpalast zu sehen. »Ich muss mit Ihnen über eine wichtige und traurige Angelegenheit sprechen«, schrieb sie. »Dort werden wir uns verabreden, wo. Am besten wäre es bei mir, wo ich Ihren Tee bereithalten lasse. Es ist dringend notwendig. Er legt uns ein Kreuz auf, aber Er hilft es auch tragen«, fügte sie hinzu, um ihn wenigstens etwas vorzubereiten.

Die Beglückwünschungskur war beendigt. Die Bekannten besprachen sich über die Neuigkeiten des Tages, über die neu erhaltenen Belobungen und Beförderungen angesehener Persönlichkeiten.

»Was haben Sie soeben von Karenin gesprochen?« fragte ein Hofmann einen höheren Offizier.

»Er und Putjatow haben den Alexander-Newsky-Orden erhalten«, sagte ein kleiner grauer Greis in gestickter Uniform. »Sehen Sie, da ist er!« er deutete nach Karenin, der nahe bei der Tür des Saales mit einem der einflussreichsten Mitglieder des Reichsrats stand. Karenin trug die Hofuniform mit einem neuen, roten Band über der Schulter. »Er ist glücklich und zufrieden wie ein Kupfergroschen!« fügte er hinzu.

»Nein, er ist gealtert«, sagte ein Kammerherr.

»Vor Sorgen. Er entwirft jetzt immer Projekte.«

»Wieso gealtert? Er flößt noch Leidenschaft ein. Ich glaube, die Gräfin Lydia Iwanowna ist jetzt auf seine Frau eifersüchtig.«

»Ist es wahr, dass seine Frau hier ist?«

»Nicht hier im Palast, sondern hier in Petersburg. Gestern bin ich ihr Arm in Arm mit Wronsky auf der Morskaja begegnet.«

Fast zu derselben Zeit, als Karenin von seiner Frau verlassen wurde, musste er auch das Bitterste erleben, was einem strebsamen Beamten begegnen konnte – nämlich das Aufhören seiner Karriere. Alle sahen dies klar und deutlich, nur Karenin erkannte noch nicht, dass diese zu Ende sei. Vielleicht war es der Zusammenstoß mit Stremow oder mit seiner Frau oder ganz einfach der Umstand, dass Karenin die ihm bestimmte Grenze erreicht hatte. Seine Stellung war immer noch bedeutend, er war Mitglied vieler Komitees – aber er war ein Mensch, der seine Zeit ausgedient hatte.

Mit seinem gewöhnlichen müden Blick verneigte sich Karenin mit Würde vor jenen Herren, die über ihn sprachen, und suchte mit den Augen die Gräfin Lydia Iwanowna.

»Ah, Alexej Alexandrowitsch«, sagte der kleine Greis mit einem boshaften Glanz in seinen Augen, als Karenin vorüberging und kühl mit dem Kopfe nickte, »ich habe Ihnen noch nicht Glück gewünscht.« Dabei deutete er auf das neu erhaltene, rote Band.

»Danke sehr«, erwiderte Karenin. »Welch herrlicher Tag!«

Er wusste, dass sie über ihn spotteten, aber er hatte auch nichts anderes als Feindseligkeit von ihnen erwartet und war daran schon gewöhnt.

Karenin erblickte die emporragenden gelben Schultern der Gräfin Lydia und ihre schönen, nachdenklichen Augen und eilte lächelnd auf sie zu.

Sie erschien ihm jetzt verführerisch; inmitten dieser feindseligen und spöttischen Menge fühlte er sich durch ihre verliebten Blicke zu ihr hingezogen.

»Ich wünsche Ihnen Glück«, sagte sie, mit den Augen auf das Band deutend.

Mit einem leichten Lächeln des Vergnügens zuckte er die Achseln und schloss die Augen, als ob er sagen wollte, das könne ihn nicht erfreuen. Die Gräfin Lydia Iwanowna wusste trotzdem sehr wohl, dass das eine seiner höchsten Freuden war, obgleich er das niemals eingestand.

»Was macht unser Engel?« fragte die Gräfin.

»Ich kann nicht sagen, dass ich ganz mit ihm zufrieden bin«, erwiderte Karenin. »Auch Sitnikow ist es nicht.« Sitnikow war der Hauslehrer, dem die weltliche Erziehung Sereschas anvertraut war. Und Karenin begann seine Ansichten über die Erziehung seines Sohnes darzulegen.

»Ja, aber das Herz! Ich sehe in ihm das Herz des Vaters, und mit einem solchen Herzen kann das Kind nicht schlecht sein«, sagte Lydia Iwanowna mit Verzückung. »Ja, vielleicht. Was mich betrifft, so tue ich meine Schuldigkeit, und das ist alles, was ich machen kann.«

»Kommen Sie zu mir«, sagte die Gräfin Lydia Iwanowna nach kurzem Schweigen. »Wir müssen über eine traurige Sache sprechen. Gern hätte ich Ihnen einige Erinnerungen erspart, aber andere denken nicht so. Ich habe von ihr einen Brief erhalten, sie ist hier in Petersburg.«

Karenin zitterte bei der Erwähnung seiner Frau. Sogleich aber nahm seine Miene eine starre Unbeweglichkeit an, die seine gänzliche Hilflosigkeit in dieser Sache ausdrückte.

»Das habe ich erwartet«, sagte er.

Die Gräfin Lydia Iwanowna sah ihn schwärmerisch an und vergoss Tränen über seine Seelengröße.

Als Karenin in das kleine, behagliche Kabinett der Gräfin Lydia Iwanowna eintrat, das mit alten Familienbildern geschmückt war, war die Herrin des Zimmers noch nicht zugegen. Sie kleidete sich um.

Auf dem runden Tisch stand ein chinesisches Teeservice und eine silberne Spirituslampe. Zerstreut setzte sich Karenin auf einen Stuhl und öffnete eine vor ihm liegende Bibel. Endlich vernahm er das Rauschen des seidenen Kleides der Gräfin.

»Nun können wir ruhig beisammensitzen«, sagte sie, indem sie sich zwischen Tisch und Diwan durchdrängte, »und uns besprechen.« Nach einigen vorbereitenden Worten seufzte sie schwer und überreichte Karenin den erhaltenen Brief. Nachdem er ihn gelesen hatte, schwieg er lange Zeit.

»Ich glaube nicht, dass ich das Recht habe, ihr die Bitte abzuschlagen«, sagte er endlich mit unsicherer Stimme.

»Mein Freund, Sie sehen nirgends das Böse.«

»Im Gegenteil, ich sehe, dass alles böse ist. Aber wäre das recht ...?« Seine Miene war unschlüssig und drückte die Bitte um Rat und Leitung aus in einer für ihn unverständlichen Sache.

»Nein«, unterbrach ihn die Gräfin, »alles hat seine Grenzen. Ich begreife die Sittenlosigkeit«, sagte sie nicht ganz aufrichtig, »aber ich begreife nicht die Grausamkeit – gegen Sie! Wie kann sie sich in derselben Stadt mit Ihnen aufhalten? Nein, ich lerne jetzt immer mehr ihre Niedertracht kennen.«

»Wer soll den ersten Stein auf sie werfen?« sagte Karenin, augenscheinlich zufrieden mit seiner Rolle. »Ich habe ihr vergeben, und deshalb kann ich ihr nicht versagen, was für sie ein Bedürfnis der Liebe ist, der Liebe zu ihrem Sohne ...« »Aber ist es auch Liebe, mein Freund, aufrichtige Liebe? Gut, Sie haben ihr vergeben! Aber dürfen wir auch ihre Einwirkung auf die Seele dieses Engels zulassen? Er glaubt, sie sei gestorben, er betet für sie und bittet Gott, ihr die Sünden zu, vergeben ... und so ist's besser. Was aber sollte er jetzt dabei denken? Wenn Sie nach meinem Rat fragen, so kann ich Ihnen nicht dazu raten. Angenommen, dass Sie, wie immer, sich selbst vergessen, wozu kann das aber führen? Zu weiteren Leiden für Sie und für das Kind. Nein, ohne zu schwanken, muss ich Ihnen abraten, und wenn Sie es mir erlauben wollen, werde ich an sie schreiben.«

Karenin stimmte bei, und die Gräfin Lydia schrieb:

»Gnädige Frau!

Die Erinnerung an Sie könnte Fragen Ihres Sohnes veranlassen, auf die es unmöglich ist, zu antworten, und die das Kind veranlassen würden, das zu verurteilen, was sein Heiligtum bleiben soll. Deshalb bitte ich Sie, die Weigerung Ihres Mannes im Geist christlicher Liebe aufzunehmen. Ich bete zu dem Allerhöchsten um Gnade für Sie.

Gräfin Lydia.«

Dieser Brief verletzte Anna aufs tiefste.

Als Wronsky und Anna in Petersburg ankamen, hatten sie in einem der besten Gasthöfe Aufenthalt genommen. Wronsky hatte seine Wohnung im unteren Stock, Anna mit dem Kind, der Amme und dem Kindermädchen im oberen Stock in einer großen Abteilung, die aus vier Zimmern bestand.

Am Tage nach der Ankunft fuhr Wronsky zu seinem Bruder. Dort traf er seine Mutter an, die aus Moskau, Geschäfte halber, hergekommen war. Mutter und Schwägerin empfingen ihn wie gewöhnlich. Sie fragten auch nach seiner Reise im Ausland und erzählten ihm von gemeinschaftlichen Bekannten, aber mit keinem Wort berührten sie sein Verhältnis zu Anna.

Am anderen Morgen kam sein Bruder und fragte selbst nach ihr, und Alexej Wronsky erklärte ihm, er sehe sein Verhältnis zu Anna wie eine Ehe an, er hoffe, die Scheidung zustande zu bringen, und dann werde er sie heiraten, bis dahin betrachte er sie als seine rechtmäßige Frau, und bat ihn, dies der Mutter und seiner Frau mitzuteilen.

»Will die Welt dies nicht gutheißen, so ist mir dies sehr gleichgültig«, sagte Wronsky, »aber wenn meinen Verwandten daran gelegen ist, in verwandtschaftlichem Verhältnis zu mir zu stehen, so müssen sie in demselben Verhältnis auch zu meiner Frau stehen.«

Der ältere Bruder wagte nicht zu entscheiden, ob er recht habe, ging aber mit seinem Bruder sogleich zu Anna.

In Gegenwart seines Bruders wie aller anderen Personen redete Wronsky Anna mit »Sie« an und benahm sich gegen sie wie ein naher Verwandter. Aber es galt für selbstverständlich, dass der Bruder ihre Beziehungen kannte, und sie sprachen davon, dass Anna auf das Gut Wronskys fahren werde. Ungeachtet seiner Welterfahrenheit befand sich Wronsky in einem schweren Irrtum. Er hätte begreifen müssen, dass, obgleich ihm persönlich die Welt offen stand, sie für Anna doch verschlossen blieb.

Eine der ersten Damen der Petersburger Welt, die Wronsky erblickte, war seine Kusine Betsy. »Endlich!« rief sie erfreut. »Und was macht Anna? Wie freue ich mich! Wo wohnen Sie? Nach Ihrer entzückenden Reise muss Ihnen Petersburg entsetzlich sein! Und wie geht's mit der Trennung, kommt sie bald zustande?«

Wronsky bemerkte, dass Betsys Lebhaftigkeit sich verminderte, als sie erfuhr, dass die Scheidung noch nicht stattgefunden habe.

»Ich komme jedenfalls zu Anna, obgleich man dafür einen Stein auf mich werfen wird. Sie werden nicht lange hierbleiben?«

Und wirklich kam sie noch an demselben Tag zu Anna, aber augenscheinlich war sie stolz auf ihre Kühnheit und wünschte, dass Anna die Treue ihrer Freundschaft zu schätzen wissen möge. Sie hielt sich nicht länger als zehn Minuten auf und beim Abschied sagte sie: »Sie sagten mir nicht, wann die Scheidung stattfinden wird, aber jetzt ist's doch so einfach zu machen! Also am Freitag reisen Sie ab? Schade, dass wir uns nicht wiedersehen.«

An Betsys Ton gegen Anna musste Wronsky erkennen, was er von der Welt zu erwarten hatte. Aber er wollte noch einen Versuch in seiner Familie machen. Von seiner Mutter erwartete er nichts. Er wusste, dass sie, nachdem sie Anna während ihrer Reisebekanntschaft fast in den Himmel gehoben hatte, ihr jetzt feindlich entgegentrat, weil ihretwegen die Karriere ihres Sohnes zerstört worden war. Aber auf Warja, die Frau seines Bruders, setzte er große Hoffnungen.

Schon am Tage nach seiner Ankunft fuhr Wronsky zu ihr. Er traf sie allein und sprach offen seinen Wunsch aus.

»Du weißt, Alexej«, erwiderte sie, nachdem sie ihn ruhig angehört hatte, »wie sehr ich bereit bin, alles für dich zu tun. Aber ich habe geschwiegen, weil ich wusste, dass ich dir und Anna Arkadjewna nichts nützen kann. Glaube nicht, dass ich sie verurteile, niemals! Vielleicht hätte ich an ihrer Stelle ebenso gehandelt. Ich kann nicht auf Einzelheiten eingehen, aber ich muss die Sache beim rechten Namen nennen. Du willst, ich soll sie besuchen und sie empfangen, um sie dadurch in der Gesellschaft zu rehabilitieren, aber du musst begreifen, dass dies für mich unmöglich ist. Meine Tochter wächst heran, und ich kann die Gesellschaft nicht vor den Kopf stoßen. Aber ich werde Anna besuchen, sie wird begreifen, dass ich sie nicht einladen kann, es ist mir unmöglich, sie zu stützen.«

»Ich glaube nicht, dass sie tiefer gefallen ist als Hunderte von Damen, die Sie empfangen«, unterbrach sie Wronsky mit finsterer Miene und stand auf.

»Alexej, zürne mir nicht, ich bitte dich, begreife, dass mich keine Schuld trifft«, rief Warja mit schüchternem Lächeln.

»Ich zürne dir nicht«, sagte er ebenso düster, »aber es schmerzt mich, dass auf diese Weise unsere Freundschaft, wenn nicht ganz zerstört, so doch abgeschwächt wird.«

Damit verließ er sie.

Wronsky sah ein, dass weitere Versuche vergeblich sein würden, und dass er diese wenigen Tage seines Aufenthalts in Petersburg wie ein Fremder zubringen und jede Berührung mit früheren Bekannten vermeiden müsse, um Unannehmlichkeiten und Beleidigungen zu entgehen. Die Tage wurden für Wronsky dadurch noch peinlicher, dass er die ganze Zeit über an Anna eine neue, ihm unbegreifliche Stimmung wahrnahm. Bald war sie verliebt in ihn, bald wurde sie kalt, reizbar und unbegreiflich. Sie hatte einen Kummer, den sie vor ihm geheim hielt, und sie schien die Bitterkeiten nicht zu bemerken, die sein Leben vergifteten. .

Einer der höchsten Wünsche, die Anna nach Russland zurückbegleiteten, war das Wiedersehen mit ihrem Sohn. Seit ihrer Abreise von Italien hatte dieser Wunsch sie beständig erregt, und je näher sie kamen, desto lebendiger stellte sie sich die Freude dieses Wiedersehens vor. Sie dachte nicht daran, wie dieses Wiedersehen vor sich gehen solle, es erschien ihr so natürlich und einfach, ihren Sohn zu sehen, wenn sie sich mit ihm in derselben Stadt befinde.

Aber nach der Ankunft in Petersburg begriff sie plötzlich, dass es schwierig sei, dieses Wiedersehen herbeizuführen.

Anna befand sich schon seit zwei Tagen in Petersburg und keinen Augenblick hatte sie der Gedanke an ihren Sohn verlassen. Sie fühlte, dass sie kein Recht hatte, geradezu jenes Haus zu betreten, wo sie ihrem Mann begegnen konnte. Wie leicht setzte sie sich der Beleidigung aus, nicht eingelassen zu werden. An ihren Mann schreiben – daran war nicht zu denken. Ihren Sohn auf dem Spaziergang zu erwarten, nachdem sie erfahren hatte, wann und wohin er gewöhnlich gehe, das genügte ihr nicht. Sie hatte sich so lange auf dieses Wiedersehen gefreut und fühlte den Drang, mit ihm zu sprechen, ihn zu umarmen und zu küssen.

Als Anna von dem intimen Verkehr Karenins mit der Gräfin Lydia Iwanowna erfahren hatte, entschloss sie sich am dritten Tag, an sie zu schreiben. Dieser Brief fiel ihr unendlich schwer. Sie wusste aber, dass ihr Mann, wenn der Brief in seine Hände gelangte, ihre Bitte nicht abschlagen werde.

Der Dienstmann, dem sie ihren Brief übergeben hatte, brachte ihr den grausamen und unerwarteten Bescheid, es sei keine Antwort nötig. Sie hatte sich noch niemals so gedemütigt gefühlt wie in diesem Augenblick, und ihr Kummer war um so tiefer, als sie ihn nicht mit Wronsky teilen wollte, weil sie einsah, dass dieses Wiedersehen mit ihrem Sohn ihm höchst gleichgültig sein musste, dass er niemals imstande sein werde, alle ihre Leiden zu begreifen.

Den ganzen Tag saß sie zu Hause und suchte Mittel und Wege zu ersinnen, um ihren Sohn zu sehen. Endlich entschloss sie sich, an ihren Mann zu schreiben. Sie hatte diesen Brief schon entworfen, als man ihr den Brief der Gräfin Lydia überbrachte. Dieser Brief und das, was sie zwischen seinen Zeilen las, empörte sie im Bewusstsein ihres guten Rechts, ihren Sohn wiederzusehen.

»Diese Heuchelei!« rief sie. »Sie wollen mich beleidigen und das Kind quälen! Und ich soll mich fügen! Auf keinen Fall!«

Sofort beschloss sie, am nächsten Tage, dem Geburtstage Sereschas, direkt in das Haus ihres Mannes zu gehen, um jeden Preis aber ihren Sohn zu sehen. Zunächst fuhr sie in einen Spielwarenladen, kaufte Spielzeug ein und überdachte ihren Plan. Sie wollte früh am Morgen, um acht Uhr, dort sein, noch vor der Zeit, zu der Karenin gewöhnlich aufstand. Den Portier und den Diener wollte sie durch Geldgeschenke veranlassen, sie einzulassen, und ohne den Schleier aufzuschlagen, wollte sie sagen, sie habe vom Taufpaten Sereschas Geschenke an sein Bett zu bringen.

Am anderen Tage, um acht Uhr morgens, stieg Anna allein aus einer Mietsdroschke aus und klingelte an ihrer früheren Wohnung.

»Geh, sieh nach, wer da ist! Scheint eine Dame zu sein«, sagte Kapitonitsch, der, noch mangelhaft bekleidet, in Paletot und Galoschen zum Fenster hinausblickte, zu seinem Gehilfen, einem jungen Menschen, der Anna noch unbekannt war. Als er öffnete, trat sie hastig ein, nahm einen Dreirubelschein aus dem Muff und steckte ihn geschickt in seine Hand.

»Serescha ... Sergej Alexejewitsch«, sagte sie und wollte weitergehen. Der Bursche betrachtete den Schein und hielt sie bei einer anderen Glastür an.

»Was wünschen Sie?« fragte er.

Sie gab keine Antwort. Als der Portier die Verwirrung der Unbekannten sah, kam er selbst heraus und fragte, was sie wünsche.

»Vom Fürsten Skorodumow für Sergej«, sagte sie.

»Er ist noch nicht aufgestanden«, erwiderte der Portier, indem er sie forschend betrachtete. »Vielleicht belieben Sie etwas zu warten.« Dabei sah er ihr scharf ins Gesicht, erkannte sie und verbeugte sich schweigend vor ihr.

»Belieben Sie einzutreten, Exzellenz«, sagte er.

Sie wollte etwas antworten, aber die Stimme versagte ihr. Mit einem schuldbewussten, flehenden Blick auf den Alten ging sie mit raschen, leichten Schritten die Treppe hinauf. Nach vorn gebeugt und über seine Galoschen stolpernd, eilte der Portier ihr nach.

Anna stieg die bekannte Treppe hinauf, ohne zu verstehen, was der Alte sagte.

»Belieben Sie, sich nach links zu wenden. Belieben Sie, hier zu verweilen, Exzellenz, ich werde nachsehen«, sagte er. Er verschwand.

Anna blieb wartend stehen. »Er ist eben aufgewacht«, sagte der Portier, als er wieder heraustrat. In dem Augenblick, als der Portier dies sagte, vernahm Anna ein kindliches Gähnen.

»Lass mich ein, lass mich ein!« sagte sie hastig und schritt durch die hohe Tür. Rechts von der Tür stand ein Bett, auf dem ein Knabe in offenem Hemd saß, mit gebücktem Oberkörper, und sein behagliches Gähnen beendigte. Dabei erschien ein vergnügtes Lächeln auf seinen Lippen, während er sich langsam wieder zurücklegte.

»Serescha!« flüsterte Anna, indem sie mit unhörbaren Schritten sich ihm näherte.

In letzter Zeit hatte sie ihn immer als vierjährigen Knaben sich vorgestellt, in dem Alter, als er ihr am meisten gefallen hatte. Jetzt aber glich er auch nicht mehr dem, welchen sie verlassen hatte; er war noch weiter entfernt von dem vierjährigen Alter, noch mehr gewachsen und hagerer geworden. ›Was ist das? Wie schmächtig sieht sein Gesicht aus und wie kurz sind seine Haare! Wie sehr hat er sich verändert!‹ Aber er war es doch, mit seiner eigentümlichen Kopfform, seinen Lippen, seinem schmächtigen Hälschen. »Serescha!« wiederholte sie vor dem Ohr des Kindes.

Er erhob sich wieder auf dem Ellbogen, blickte zerstreut nach beiden Seiten, als ob er etwas suchte, und rieb sich die Augen. Still und fragend blickte er einige Augenblicke seine unbeweglich vor ihm stehende Mutter an. Dann plötzlich erschien ein glückliches Lächeln auf seinen Lippen, und wieder schloss er die verschlafenen Augen, fiel aber nicht zurück, sondern in ihre Arme.

»Serescha, mein liebes Kind!« sagte sie hastig atmend und schloss ihn in ihre Arme.

Mit verschlafenem Lächeln und noch immer geschlossenen Augen erfasste er ihre Schultern und schmiegte sich an ihren Hals.

»Ich weiß«, sagte er, die Augen öffnend, »heute ist mein Geburtstag. Ich wusste, dass du kommen würdest. Sogleich werde ich aufstehen.« Und mit diesen Worten schlief er wieder halb ein.

Anna sah, wie sehr er während ihrer Abwesenheit gewachsen war und sich verändert hatte. Sie erkannte kaum seine nackten Füße, die jetzt so lang geworden waren und unter der Decke hervorsahen. Sie erkannte diese schmächtigen Wangen, diese kurzgeschorenen Locken im Genick, das sie so oft geküsst hatte. Sie vermochte nichts zu sprechen. Tränen erstickten ihre Stimme. »Warum weinst du, Mama?« sagte er, jetzt vollkommen erwacht.

»Ich werde nicht mehr weinen ... Ich weine vor Freude. Ich habe dich so lange nicht gesehen. Nein, nein, ich werde nicht mehr weinen!« wiederholte sie, ihre Tränen unterdrückend. »Nun, es ist Zeit, dich anzukleiden«, fügte sie hinzu. Und ohne seine Hand loszulassen, setzte sie sich neben sein Bett auf einen Stuhl, auf welchem seine Kleider lagen.

»Wie kleidest du dich denn an ohne mich ... wie?« Sie wollte unbefangen und heiter sprechen, aber sie vermochte es nicht und musste sich wieder abwenden.

»Ich wasche mich nicht mit kaltem Wasser; Papa hat es verboten. Hast du meinen Lehrer Wassili Lukitsch nicht gesehen? Er wird gleich kommen. Ach, du hast dich auf meine Kleider gesetzt!« Serescha lachte laut auf und sah ihr vergnügt in die Augen. »Mama, mein Täubchen!« rief er, sie nochmals umarmend. »Das ist überflüssig«, sagte er und nahm ihr den Hut ab. Und darauf begann er sie wieder zu küssen.

»Aber was hast du von mir gedacht? Du hast nicht geglaubt, dass ich gestorben sei?«

»Nein, das habe ich niemals geglaubt.«

Er ergriff ihre Hand, die schmeichelnd über sein Haar strich, drückte sie an seinen Mund und küsste sie. –

Wassili Lukitsch hatte anfangs nicht begriffen, wer diese Dame sei, deren Kommen ihm der Portier meldete. Als er aber erfuhr, dass das dieselbe Frau sei, die ihren Mann verlassen hatte und die er noch nicht kannte, weil er erst nach ihrer Abreise ins Haus gekommen war, befand er sich im Zweifel, ob er eintreten oder ob er Karenin benachrichtigen solle. Dann überlegte er, dass es seine Pflicht sei, Serescha zu einer bestimmten Stunde zu wecken. Er ging nach der Tür und öffnete sie.

Aber die Schmeichelreden von Mutter und Sohn, ihre Worte und der Klang ihrer Stimmen veranlasste ihn, seine Absicht zu ändern. Er wiegte den Kopf, seufzte und schloss schweigend wieder die Tür.

»Noch zehn Minuten werde ich warten«, sagte er zu sich selbst und wischte die Tränen ab.

Währenddessen herrschte unter der Dienerschaft eine starke Aufregung. Alle hatten erfahren, dass die gnädige Frau gekommen war und dass sie sich jetzt im Kinderzimmer befinde, während der Herr jeden Tag um neun gleichfalls dorthin ging. Alle begriffen, dass eine Begegnung der Ehegatten durchaus verhindert werden müsse. Karnee, der Kammerdiener, ging zum Portier hinab und sagte, er hätte verdient, dass man ihn dafür wegjagte. Da aber sprang Kapitonitsch auf ihn zu und schrie mit heftiger Gebärde: »Ach, du hättest sie wohl nicht eingelassen? Zehn Jahre habe ich hier gedient und nur Gutes von ihr erfahren, und nun sollte ich etwa sagen: Belieben Sie wieder hinauszugehen! Ja, ja, du solltest lieber daran denken, wie du den Herrn bestiehlst und seine Pelze wegschleppst!«

Karnee wandte sich der eintretenden Kinderfrau zu. »Sehen Sie, Maria Jefimowna, er hat sie eingelassen, ohne jemand ein Wort davon zu sagen. Der Herr wird sogleich ausgehen, und vorher kommt er immer ins Kinderzimmer.«

»Schlimm, schlimm!« sagte die Kinderfrau. »Ich werde gleich hinaufgehen und sie aus dem Weg führen!«

Als die Kinderfrau in Sereschas Zimmer trat, erzählte er eben seiner Mutter, wie er mit Nadia beim Schlittenfahren auf dem Eisberg gefallen sei und sich dreimal überschlagen habe. Anna hörte den Klang seiner Stimme und sah sein Mienenspiel, ohne zu verstehen, was er sagte. Sie dachte nur daran, dass sie wieder gehen und ihn zurücklassen müsse. Sie hörte auch die Schritte von Wassili Lukitsch an der Tür, sie hörte, wie er hustete und wie die Schritte der Kinderfrau sich näherten. Aber sie saß wie versteinert da, außerstande, zu sprechen oder aufzustehen.

»Gnädige Frau, mein Täubchen«, sagte die Kinderfrau, indem sie auf Anna zutrat und ihre Hände und Schultern küsste. »Gott hat unserem Geburtstagskind Freude verliehen. Aber Sie haben sich gar nicht verändert.«

»Ach, liebe Njanja, ich wusste nicht, dass Sie noch im Hause sind«, sagte Anna.

»Ich wohne auch nicht hier, sondern bei meiner Tochter. Ich kam, unserem Täubchen zu gratulieren, Anna Arkadjewna.«

Plötzlich brach die Amme in Tränen aus und küsste wieder ihre Hand.

Serescha hielt mit strahlenden Augen sich mit der einen Hand an seiner Mutter, mit der anderen an der Amme und trippelte mit seinen nackten Füßchen auf dem Teppich umher. Die Zärtlichkeit seiner geliebten Amme für die Mutter versetzte ihn in Entzücken. »Mama, sie kommt oft zu mir, und wenn sie kommt ...« begann er, aber er unterbrach sich, als er bemerkte, dass die Amme der Mutter etwas zuflüsterte, was auf ihrem Gesicht Schrecken und etwas wie Beschämung hervorrief.

Die Mutter trat auf ihn zu. »Mein liebes Kind«, sagte sie. Sie vermochte nicht zu sagen: »Lebe wohl.« Aber der Ausdruck ihres Gesichts sagte es, und er verstand es. »Mein lieber, lieber Kutik«, sagte sie – so hatte sie ihn als kleines Kind genannt –, »du wirst mich nicht vergessen? Du ...« Aber weiter vermochte sie nicht zu sprechen.

Doch Serescha begriff alles, was sie ihm sagen wollte; er begriff, dass sie unglücklich war und ihn liebte. Er verstand auch, was die Amme ihr zugeflüstert hatte. Er hatte die Worte gehört: »Immer um neun Uhr« und begriff, dass dies sich auf seinen Vater bezog und dass die Mutter mit dem Vater nicht zusammentreffen sollte. Schweigend schmiegte er sich an sie und flüsterte ihr zu: »Geh noch nicht, er wird nicht so bald kommen.«

Die Mutter sah ihn forschend an und auf seiner erschrockenen Miene las sie, dass er nicht nur von dem Vater sprach, sondern sie auch fragen wollte, was er von dem Vater denken solle.

»Serescha, mein Kind«, sagte sie, »liebe ihn, er ist besser und gütiger als ich, und ich habe mich gegen ihn vergangen. Wenn du erwachsen sein wirst, so wirst du selbst entscheiden können.«

»Besseres als du gibt es nicht«, rief er verzweifelt durch Tränen, dann erfasste er ihre Schulter und drückte sie mit aller Kraft an sich.

»Mein Herz, mein lieber Kleiner!« sagte Anna und begann zu weinen wie ein kleines, schwaches Kind – wie auch er weinte.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und Wassili Lukitsch trat ein, vor der anderen Tür wurden Schritte gehört. Erschrocken flüsterte die Amme: »Er kommt!« und reichte Anna ihren Hut.

Serescha ließ sich auf das Bett nieder, bedeckte das Gesicht und weinte. Anna nahm seine Hände ab, küsste ihn noch einige Male und eilte mit raschen Schritten zur Tür. Dort kam ihr Karenin entgegen. Als er sie erblickte, blieb er stehen und neigte den Kopf.

Obgleich sie soeben erst gesagt hatte, er sei besser und gütiger als sie, empfand sie doch bei seinem Anblick nur Groll und Widerwillen gegen ihn. Mit einer raschen Bewegung ließ sie den Schleier herab und verließ fast laufend das Zimmer.

Das Spielzeug, das sie gestern mit so viel Liebe und Kummer im Laden gekauft hatte, brachte sie wieder nach Hause. Sosehr auch Anna sich nach dem Wiedersehen mit ihren Sohn gesehnt hatte, hatte sie doch nicht erwartet, dass diese Zusammenkunft sie so stark erschüttern würde. Als sie ihre einsamen Zimmer im Hotel wieder betrat, konnte sie lange nicht begreifen, warum sie hier sei, und ohne den Hut abzunehmen, setzte sie sich auf einen Lehnstuhl beim Kamin und versank in Nachdenken.

Die französische Zofe, die sie aus dem Ausland mitgebracht hatte, fragte, ob sie sich anzukleiden wünsche. Verwundert sah sie die Zofe an und sagte: »Später!«

Der Diener fragte, ob die gnädige Frau Kaffee wünsche. Aber sie antwortete wieder nur: »Später!«

Die italienische Amme trat ein und brachte Anna das kleine Töchterchen. Die wohlgenährte Kleine streckte der Mutter die Händchen entgegen, lächelte mit ihrem zahnlosen Mund und begann mit den kleinen Ärmchen zu rudern. Es war unmöglich, nicht zu lächeln und das Töchterchen zu küssen, es war unmöglich, ihm nicht einen Finger entgegenzustrecken, an den es sich anklammerte. Anna nahm es auf den Arm, ließ es springen und küsste seine frischen Wangen. Aber beim Anblick dieses Kindes wurde ihr noch klarer, dass ihre Gefühle nicht entfernt jener Liebe gleichkamen, die sie für Serescha empfand. Auf ihr erstes Kind, wenn auch von einem ungeliebten Mann, waren alle Kräfte ihrer Liebe gerichtet, die unbefriedigt blieben. Ihr Töchterchen aber war unter so betrübenden Umständen geboren worden, und es wurde ihm nicht der hundertste Teil jener Sorgfalt gewidmet, die sie auf das erste Kind verschwendet hatte. Überdies stellte ihr Töchterchen nur Hoffnungen und Erwartungen vor, während Serescha schon fast ein Mann war, in dem sich Gedanken und Gefühle entwickelten. Er begriff, er liebte und beurteilte sie, dachte sie, indem sie sich seiner Worte und Blicke erinnerte. Und jetzt war sie für immer von ihm getrennt und hatte kein Mittel, dies zu ändern.

Sie gab das Kind der Amme und entließ sie. Dann öffnete sie ein Medaillon, in dem sich das Porträt Sereschas befand. Sie nahm ein Album vor, das Photographien ihres Sohnes aus verschiedenen Zeiten enthielt. Sie wollte sie vergleichen und begann sie aus dem Album herauszunehmen. Bald lagen alle vor ihr mit Ausnahme des letzten und besten Bildes. Mit ihren feinen, nervösen Fingern bemühte sie sich vergebens, das Bild herauszunehmen. Es lag kein Papiermesser auf dem Tisch, und deshalb nahm sie ein anderes Bild, das sich daneben befand, heraus und schob damit das Bild ihres Sohnes hinaus. Es war ein in Rom aufgenommenes Bild Wronskys mit rundem Hut und langen Haaren. »Ah, da ist er!« sagte sie, Wronskys Bild anblickend. Und plötzlich beim Anblick dieser männlichen, edlen und so wohlbekannten Züge erfüllte sie ein Strom von Liebe für ihn.

Wo ist er denn? Wie kann er mich mit meiner Schwermut so allein lassen?‹ dachte sie vorwurfsvoll. Sie vergaß, dass sie selbst alles vor ihm verbarg, was ihren Sohn betraf. Sie ließ ihn bitten, sogleich zu ihr zu kommen und dachte nach über das, was sie ihm sagen wollte. Er ließ sagen, er habe Besuch, aber er werde sogleich kommen und lasse anfragen, ob sie ihn mit seinem Freunde, dem Fürsten Jaschwin, empfangen könne, der eben angekommen sei.

Er kommt nicht allein, obgleich er mich seit gestern mittag nicht gesehen hat‹, dachte sie. Und plötzlich kam ihr der Gedanke: ›Wie, wenn er aufgehört hätte, mich zu lieben?‹

Sie überdachte alle Ereignisse der letzten Tage und erblickte in allem die Bestätigung ihrer schrecklichen Befürchtung, auch darin, dass er gestern nicht zu Hause gespeist hatte, dass er darauf bestanden hatte, sie sollten in Petersburg getrennt wohnen, und dass er selbst jetzt nicht allein zu ihr kam, als ob er vermeiden wollte, mit ihr allein zu sein. In diesen Gedanken, er liebe sie nicht mehr, war sie der Verzweiflung nahe. Sie rief die Zofe und ging in ihr Toilettenzimmer. Dort verwendete sie mehr Mühe auf ihr Äußeres als je zuvor, als ob sie ihn durch ihre Toilette an sich fesseln wolle.

Noch ehe sie fertig war, ertönte die Klingel.

Als sie in den Salon trat, erblickte sie nicht ihn, sondern Jaschwin. Wronsky betrachtete die Bilder ihres Sohnes, die sie auf dem Tisch vergessen hatte, und beeilte sich nicht, sie anzusehen.

»Wir sind alte Bekannte«, sagte sie, ihre zarten Finger in die riesige Hand Jaschwins legend. Er war verlegen, was bei seinem ungeheuren Wuchs und seinem groben Gesicht sich seltsam ausnahm. »Wir haben uns voriges Jahr bei dem Wettrennen gesehen. Geben Sie her!« rief sie und nahm Wronsky hastig die Bilder ihres Sohnes aus der Hand.

Als Jaschwin nach kurzem Gespräch bemerkte, dass Wronsky nach der Uhr sah, fragte er, ob sie noch lange in Petersburg bleiben werde.

»Wahrscheinlich nicht mehr lange«, sagte sie etwas verwirrt mit einem Blick auf Wronsky.

»Dann werden wir uns also nicht mehr sehen?« sagte Jaschwin aufstehend und wandte sich zu Wronsky: »Wo wirst du heute speisen?«

»Bitte, speisen Sie mit mir«, sagte Anna entschlossen, als ob sie über ihre eigene Befangenheit sich erzürnte. »Man speist hier nicht besonders gut, aber wenigstens werden Sie Alexej sehen, er schätzt keinen seiner Kameraden vom Regiment so sehr wie Sie.«

»Sehr erfreut«, sagte Jaschwin mit einem Lächeln, an dem Wronsky sah, dass Anna ihm sehr gefallen hatte.

Jaschwin verbeugte sich und ging. Wronsky blieb zurück.

»Du gehst auch?«

»Ich habe mich schon verspätet«, erwiderte er. »Geh nur voran, ich komme gleich nach!« rief er Jaschwin zu.

Sie ergriff seine Hand, blickte ihn an und überlegte, was sie ihm sagen könnte, um ihn zurückzuhalten. »Warte noch ein wenig, ich muss dir etwas sagen.« Sie ergriff von neuem seine Hand und legte sie an ihren Hals. »Ist es dir nicht unangenehm, dass ich ihn zu Tisch eingeladen habe?«

»Du hast sehr wohl getan«, erwiderte er mit einem ruhigen Lächeln und küsste ihre Hand.

»Alexej, hast du dich nicht verändert?« sagte sie, indem sie mit beiden Händen die seinige drückte. »Alexej, ich habe mich hier sehr gegrämt. Wann reisen wir fort?«

»Bald, bald! Du glaubst nicht, wie mir unser hiesiges Leben peinlich ist«, erwiderte er und streckte seine Hand aus.

»Nun geh nur, geh!« sagte sie empfindlich und verließ ihn hastig.

Als Wronsky nach Hause zurückkehrte, war Anna abwesend. Man sagte ihm, sie sei mit einer Dame ausgefahren. Dass sie früh am Morgen schon ausgefahren war, ohne ihm zu sagen, wohin, sowie ihre seltsame Aufregung und die Erinnerung an jenen feindseligen Ton, mit dem sie in Jaschwins Gegenwart ihm die Bilder ihres Sohnes fast aus der Hand gerissen hatte – alles das machte ihn nachdenklich. Er beschloss, sich mit ihr darüber auszusprechen und erwartete sie im Salon.

Aber sie kehrte nicht allein zurück, sondern mit einer Tante, einem alten Fräulein, Fürstin Oblonsky, mit der sie auch ausgefahren war, um Einkäufe zu machen. Anna schien Wronskys sorgenvollen und fragenden Gesichtsausdruck nicht zu bemerken, und er sah, dass in ihr etwas Besonderes vorging. In ihren glänzenden Augen, wenn sie ihn flüchtig anblickte, lag gespannte Aufmerksamkeit und in ihren Reden und Bewegungen eine nervöse Hast.

Der Tisch war für vier Personen gedeckt. Man wollte sich eben in dem kleinen Speisezimmer zu Tisch setzen, als Tuschkewitsch mit einem Auftrag von der Fürstin Betsy erschien. Sie ließ um Entschuldigung bitten, dass sie nicht selbst gekommen sei, um Abschied zu nehmen, aber sie sei krank und lasse Anna zwischen sieben und neun Uhr um ihren Besuch bitten.

Wronsky blickte Anna an bei dieser genauen Zeitbestimmung, die bewies, dass Maßregeln getroffen waren, damit sie niemand begegne. Aber sie schien dies nicht zu bemerken.

»Es ist sehr schade, dass ich gerade zwischen sieben und neun Uhr nicht kommen kann«, sagte sie lächelnd.

»Die Fürstin wird es sehr bedauern.«

»Und ich auch«.

»Sie werden wahrscheinlich die Patti hören wollen«, sagte Tuschkewitsch.

»Patti? Ah! Sie geben mir einen Gedanken ein! Ich würde sie gern hören, wenn es möglich wäre, eine Loge zu bekommen.«

»Diese kann ich Ihnen verschaffen«, erwiderte Tuschkewitsch.

»Ich wäre Ihnen sehr, sehr dankbar dafür«, sagte Anna. »Aber wollen Sie nicht mit uns speisen?«

Wronsky zuckte kaum merklich mit den Achseln. Er begriff entschieden nicht, warum Anna diese alte Fürstin hergebracht hatte, warum sie Tuschkewitsch zu Tisch einlud und warum sie ihn nach einer Loge sandte. War es denkbar, dass sie in ihrer jetzigen Stellung ins Theater fahren wollte, wo die ganze bekannte Welt versammelt sein musste? Er blickte sie ernst an, aber sie antwortete ihm mit demselben herausfordernden, halb vergnügten, halb verzweifelten Blick, dessen Bedeutung er nicht verstehen konnte. Bei Tisch war Anna außergewöhnlich angeregt. Nachher fuhr Tuschkewitsch fort, das versprochene Logenbillett zu besorgen, und Jaschwin ging mit Wronsky in dessen Zimmer, um zu rauchen. Nach einiger Zeit kam Wronsky wieder nach oben. Anna war schon angekleidet. Sie trug ein helles, tief ausgeschnittenes, seidenes Kleid mit Samtbesatz und teure weiße Spitzen, welche ihr Gesicht einrahmten und ihre glänzende Schönheit besonders hervorhoben.

»Sie fahren wirklich ins Theater?« fragte er, ohne sie anzublicken.

»Warum fragen Sie so ängstlich?« sagte sie, aufs neue verletzt darüber, dass er sie nicht ansah. »Warum sollte ich nicht fahren?«

Sie schien die Bedeutung seiner Worte nicht zu begreifen.

»Versteht sich! Dafür ist ja auch gar kein Grund vorhanden«, sagte er etwas verdrießlich.

»Das denke ich auch«, erwiderte sie, indem sie absichtlich die Ironie in seinen Worten unbeachtet ließ und ruhig ihren Handschuh anzog.

»Anna, um Gottes willen, was ist Ihnen?« sagte er, indem er sie aufzuwecken suchte. »Sie wissen doch, dass es unmöglich ist.«

»Warum denn? Ich fahre nicht allein. Die Fürstin Barbara ist nach Hause gefahren, um sich umzukleiden, sie wird mit mir kommen.«

Er zuckte die Achseln mit der Miene der Verzweiflung. »Aber wissen Sie denn nicht ...«

»Ich will nichts wissen!« erwiderte sie fast aufschreiend. »Bereue ich etwas, was ich getan habe? Nein, nein, nein! Für uns, für mich, für Sie ist nur eins wichtig: ob wir uns lieben. Für andere habe ich keine Gedanken. Warum wohnen wir hier getrennt, ohne uns zu sehen? Warum soll ich nicht ins Theater fahren? Ich liebe dich, und alles übrige ist mir gleichgültig«, sagte sie mit einem seltsamen, ihm unbegreiflichen Glanz in ihren Augen – »wenn nur du dich nicht verändert hast. Warum siehst du mich nicht an?«

Er sah sie an. Er sah die Schönheit ihres Gesichts und ihrer Toilette. Jetzt aber beunruhigte ihn diese Schönheit und Eleganz.

»Meine Gefühle können sich nicht verändern, das wissen Sie, aber ich flehe Sie an, nicht ins Theater zu fahren«, sagte er wieder französisch und mit bittender Stimme, aber mit kaltem Blick. Sie hörte nicht auf die Worte, aber sie bemerkte wohl die Kälte seines Blicks und antwortete aufgebracht: »Aber ich bitte Sie, mir zu sagen, warum ich nicht fahren soll.«

»Weil das, was Ihnen daraus erwachsen kann ...« Er geriet in Verwirrung.

»Ich verstehe kein Wort. Tuschkewitschs Begleitung ist nicht kompromittierend, und die Fürstin Barbara ist nicht schlechter als andere. Da kommt sie schon!«

Zum ersten mal empfand Wronsky einen Verdruss über Anna, der an Zorn grenzte, weil sie so absichtlich ihre Stellung nicht begreifen wollte. Dieses Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass er die Ursache seines Ärgers nicht aussprechen konnte. Wollte er dies tun, so hätte er ihr sagen müssen, dass ihr Gebaren in dieser Toilette, dazu die Ausfahrt mit der allen bekannten Fürstin ins Theater die Welt herausforderte.

Das alles konnte er ihr nicht sagen. ›Aber wie ist es möglich, dass sie das nicht begreift, und was geht in ihr vor?‹ fragte er sich selbst und fühlte, wie seine Achtung für sie sank, während das Gefühl für ihre Schönheit sich verstärkte. Finster kehrte er auf sein Zimmer zurück und trank mit Jaschwin Selterswasser mit Kognak. Sie sprachen über berühmte Pferde, aber keinen Augenblick konnte er Anna vergessen.

Jaschwin goss noch ein Glas Kognak in das schäumende Wasser, trank es aus, stand auf und knöpfte seinen Rock zu. »Nun, gehen wir?« fragte er mit einem Lächeln, das besagte, dass er die Veranlassung von Wronskys Verdruss begriff, aber für unbedeutend hielt.

»Nein, ich fahre nicht aus«, erwiderte Wronsky finster.

»Ich habe es aber versprochen. Also auf Wiedersehen! Wenn du willst, kannst du Krusinskis Fauteuil im Theater einnehmen«, bemerkte Jaschwin.

»Nein, ich habe zu tun.«

Wronsky stand auf und ging im Zimmer auf und ab.

Dann klingelte er nach dem Kammerdiener, stieß aber dabei gegen das Tischchen, auf dem Flaschen und Gläser standen, die klirrend zu Boden fielen.

Der Kammerdiener bückte sich, um die ganzen und zerschlagenen Gläser und Flaschen aufzulesen.

»Das ist nicht deine Sache, schicke einen Kellner, und halte meinen Frack bereit.«

Um halb neun Uhr trat Wronsky in das Theater ein. Die Vorstellung war in vollem Gange. Der alte Garderobendiener, der Wronsky den Pelz abnahm, erkannte ihn und nannte ihn Erlaucht. Man vernahm die Stimme einer Sängerin, begleitet vom Orchester, und dann einen rauschenden Beifallssturm, der noch fortdauerte, als Wronsky in den hellerleuchteten Zuschauerraum eintrat. Die Sängerin auf der Szene, deren nackte Schultern und Brillanten hell glänzten, verbeugte sich lächelnd und sammelte mit Hilfe des Tenors, der sie an der Hand hielt, die ungeschickt über die Rampe hereinfliegenden Buketts. Das ganze Publikum im Parterre wie in den Logen war in Aufregung und applaudierte. Wronsky ging mitten ins Parterre und blickte sich dann um. Heute noch weniger als je zuvor achtete er auf die Szene, auf diesen Lärm, auf diese bekannte, uninteressante, bunte Menge von Zuschauern in dem überfüllten Theater.

In den Logen befanden sich wie immer Damen mit Offizieren im Hintergrund, dieselben buntfarbig aufgeputzten Damen, Uniformröcke und Fräcke, auf der Galerie dieselbe schmutzige Menge. Nur in den Logen und im ersten Rang waren etwa vierzig Persönlichkeiten, Damen und Herren, die zur wirklichen »Welt« gehörten. Auf diese richtete Wronsky sogleich seine Aufmerksamkeit.

Der Akt war zu Ende, und ohne die Loge seines Bruders aufzusuchen, ging er bis zur ersten Reihe im Parkett und blieb bei Serpuchowsky, der ihn von fern mit einem Lächeln zu sich gerufen hatte.

Wronsky sah noch immer Anna nicht, da er absichtlich nicht dorthin blickte, aber an der Richtung, die die Augen der meisten Zuschauer nahmen, erkannte er, wo sie sich befand. Er suchte sie nicht, er erwartete noch Schlimmes. Er suchte Karenin, doch dieser war nicht im Theater anwesend.

»Du hast wenig Kriegerisches mehr an dir«, sagte ihm Serpuchowsky. »Du siehst aus wie ein Diplomat, ein Künstler oder wie jemand dieser Art.«

»Ja, als ich nach Hause zurückkam, habe ich den Frack angezogen«, erwiderte Wronsky lächelnd, indem er langsam sein Opernglas erhob.

»Nun, ich gestehe, ich beneide dich darum. Wenn ich aus dem Auslande zurückkehre und diese da wieder anlege«, er deutete auf seine Achselbänder, das Abzeichen eines Flügeladjutanten, »so betraure ich damit meine Freiheit.« Serpuchowsky hatte schon lange die dienstliche Laufbahn Wronskys abgeschrieben, aber er liebte ihn wie früher und war heute besonders liebenswürdig gegen ihn.

»Es ist schade, dass du den ersten Akt versäumt hast.«

Wronsky hörte nur mit einem Ohr und richtete sein Opernglas von den Parterrelogen nach dem ersten Rang. Neben einer Dame in einem Turban und neben einem kahlköpfigen Greis erblickte Wronsky Annas Gesicht, stolz und bezaubernd schön in der Einrahmung von Spitzen. Sie saß in der fünften Parterreloge zwanzig Schritt von ihm. Halb zurückgelehnt sprach sie mit Jaschwin. Die Haltung des Kopfes auf ihren schönen breiten Schultern und der halb verhüllte Glanz ihrer Augen und ihres ganzen Gesichts erinnerten ihn an ihre damalige Erscheinung auf dem Ball in Moskau. Jetzt aber machte diese Schönheit einen anderen Eindruck; in seinem Gefühl für sie war jetzt nichts Geheimnisvolles mehr, und obgleich ihre Schönheit noch stärker als früher auf ihn einwirkte, konnte er sich doch einer Empfindung von Groll nicht erwehren. Sie blickte nicht nach seiner Seite, aber er wusste, dass sie ihn schon gesehen hatte.

Als Wronsky sein Opernglas wieder nach jener Seite richtete, bemerkte er, dass die Fürstin Barbara sehr rot aussah und mit gezwungenem Lächeln beständig nach der benachbarten Loge blickte. Anna hatte ihren Fächer geschlossen, klopfte damit auf den roten Samt der Rampe und wollte augenscheinlich nicht sehen, was in der benachbarten Loge vorging. Jaschwin sah aus wie beim Spiel, wenn er verlor.

In der Loge zur Linken saß die Familie Kartassow. Wronsky kannte sie und wusste, dass auch Anna mit ihr bekannt war. Die kleine, hagere Frau stand in der Loge, hatte Anna den Rücken zugewendet und legte einen Überwurf um, den ihr Mann ihr reichte. Ihr Gesicht war bleich und zornig, und sie sprach aufgeregt. Kartassow, ein dicker, kahlköpfiger Herr, blickte beständig nach Anna und bemühte sich, seine Frau zu beruhigen. Während diese die Loge verließ, zögerte ihr Mann noch lange und suchte einen Blick von Anna zu erhaschen, augenscheinlich in der Absicht, sich vor ihr zu verbeugen. Aber Anna bemerkte dies absichtlich nicht, wandte sich nach rückwärts und sprach etwas zu Jaschwin, der seinen geschorenen Kopf zu ihr hinab beugte. Endlich ging Kartassow ohne Gruß, und die Loge blieb leer.

Wronsky wusste nicht, was vorgegangen war, begriff aber, dass Anna beleidigt worden war, und sah es auch an Annas Gesicht, die, wie er bemerkte, ihre letzten Kräfte sammelte, um ihre äußerliche Ruhe zu bewahren. Wer sie nicht kannte und nicht die Ausdrücke des Mitleids, Abscheus und der Verwunderung hörte, welche die Damen darüber äußerten, dass sie sich erlaubt habe, sich so auffällig in ihrer Schönheit im hellen Licht zu zeigen, hätte die Ruhe und Erscheinung dieser Frau bewundert, ohne zu ahnen, dass sie selbst die Gefühle eines Verbrechers am Schandpfahl empfand.

Wronsky befand sich in peinlicher Unruhe, und in der Hoffnung, etwas zu erfahren, begab er sich in die Loge seines Bruders. Auf dem Wege dahin begegnete er seinem früheren Oberst, der mit zwei Bekannten sprach. Wronsky hörte den Namen Karenin und bemerkte, wie der Oberst sich beeilte, Wronsky zuzuwinken mit einem sprechenden Blick auf die beiden anderen. Er eilte die Treppe hinauf zur Loge seines Bruders.

Warja begegnete ihm mit der Fürstin Sorokina schon auf dem Gang vor der Loge, sie reichte ihm die Hand und sprach sogleich über das, was ihn interessierte. Sie war so entrüstet, wie er sie selten gesehen hatte.

»Es ist niedrig und abscheulich, und Madame Kartassowa hatte kein Recht dazu. Madame Karenina ...«, begann sie.

»Aber was ist denn vorgefallen? Ich weiß noch gar nichts.«

»Wie, du hast es nicht gehört? Hat es je solch ein boshaftes Geschöpf gegeben wie diese Kartassowa?«

»Was hat sie denn getan?«

»Mein Mann hat es mir erzählt ... Sie hat Anna beleidigt. Ihr Mann sprach aus der Nebenloge mit ihr und dafür machte ihm die Frau eine Szene. Man sagt, sie habe laut etwas Beleidigendes gesprochen und sei dann gegangen.«

»Graf, Ihre Mama verlangt nach Ihnen«, sagte die Fürstin Sorokina an der Tür der Loge.

»Ich erwartete dich fortwährend«, sagte seine Mutter mit spöttischem Lächeln, »aber du bist ganz unsichtbar geworden.«

Wronsky sah, dass sie ein Lächeln der Befriedigung nicht unterdrücken konnte. »Ich war eben auf dem Weg zu Ihnen, Mama«, sagte er kalt.

»Warum machst du nicht Madame Karenina den Hof?« fragte sie wieder, nachdem die Fürstin Sorokina die Loge verlassen hatte. »Sie erregt großes Aufsehen, man vergisst sogar die Patti über sie.« Wronsky gab keine Antwort. Nachdem er einige Worte an die Fürstin Sorokina gerichtet hatte, ging er. Unter der Tür begegnete er seinem Bruder.

»Ah, Alexej«, rief dieser. »Welche Nichtswürdigkeit. Sie ist ein dummes Frauenzimmer, nichts weiter! ... Ich wollte eben zu Madame Karenina gehen. Komm mit mir!«

Wronsky hörte ihn nicht und eilte hinab. Er fühlte, dass er etwas tun müsse, ohne zu wissen, was. Er war ärgerlich darüber, dass sie sich und ihn in eine solche Situation gebracht hatte, und zugleich empfand er Bedauern für sie. Im Parterre ging er sogleich auf Annas Loge zu. An derselben stand Stremow und sprach mit ihr über die Oper.

Wronsky begrüßte sie mit einer Verbeugung und wandte sich dann an Stremow.

»Sie sind spät gekommen und haben die beste Arie nicht gehört«, sagte Anna zu Wronsky, wie ihm schien mit einem spöttischen Blick.

»Ich bin nur ein mittelmäßiger Kenner«, erwiderte er und hob den Theaterzettel auf, der ihr entfallen war.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie, und in diesem Augenblick bemerkte er, wie ihr schönes Gesicht zuckte. Sie stand auf und ging nach dem Hintergrund der Loge.

Als der folgende Akt begann, bemerkte Wronsky, dass ihre Loge leer blieb. Er verließ sogleich das Theater und fuhr nach Hause.

Anna war schon anwesend. Wronsky fand sie noch in derselben Toilette, in der sie im Theater gewesen war. Sie saß auf einem Lehnstuhl an der Wand und blickte starr vor sich hin. Als er eintrat, sah sie ihn an und nahm sogleich wieder ihre frühere Haltung an.

»Anna«, sagte er.

»Du, du bist an allem schuld!« rief sie mit Tränen der Verzweiflung und des Zornes und erhob sich.

»Ich habe dich gebeten und angefleht, nicht hinzugehen, ich ahnte, dass dir Unannehmlichkeiten bevorstehen.«

»Unannehmlichkeiten!« rief sie. »Es ist entsetzlich! Solange ich lebe, werde ich das nicht vergessen! Sie sagte, es sei eine Schande, neben mir zu sitzen.«

»Das sind die Worte einer dummen Person«, sagte er. »Aber wozu mußtest du diese Menschen herausfordern?«

»Ich verabscheue deine Ruhe! Du hättest mich nicht dazu bringen sollen! Wenn du mich liebtest ...« »Anna, was hat das mit meiner Liebe zu tun ...«

»Ja, wenn du mich liebtest, wie ich dich liebe, wenn du so leiden würdest wie ich ...«, sagte sie, indem sie ihn mit dem Ausdruck der Verzweiflung ansah.

Er empfand tiefes Mitleid, aber doch nicht ohne Beimischung von Verdruss. Er beteuerte seine Liebe, weil er sah, dass nur diese sie beruhigen konnte, und sprach nicht die Vorwürfe aus, die er ihr innerlich machte.

Und diese Liebesbeteuerungen, die ihm so fad erschienen, dass er sie kaum aussprechen konnte, trank sie gierig in sich hinein und beruhigte sich nach und nach.

Am anderen Tage fuhren sie vollkommen versöhnt auf das Gut.

Darja Alexandrowna brachte den Sommer mit ihren Kindern in Pokrowsk bei ihrer Schwester Kitty Lewin zu. Auf ihrem eigenen Gut war das Herrenhaus schon ganz verfallen, und Lewin und seine Frau hatten sie überredet, zu ihnen zu kommen. Oblonsky war damit sehr zufrieden und bedauerte nur, dass der Dienst ihn davon abhalte, den Sommer mit der Familie auf dem Lande zuzubringen, er versprach aber, sie zuweilen zu besuchen.

Außer Darja mit allen ihren Kindern und der Gouvernante war in diesem Sommer auch die alte Fürstin zu Gast gekommen, die es für ihre Pflicht hielt, bei der unerfahrenen Tochter zu sein, während sie sich »in solcher Lage« befand. Außerdem hatte auch Warinka, eine Freundin, die Kitty im Ausland kennengelernt hatte, ihr Versprechen erfüllt, Kitty zu besuchen, sobald sie verheiratet sein werde.

Das alles waren Verwandte und Freunde von Lewins Frau, von seinen eigenen Verwandten war nur Sergej Iwanowitsch anwesend, aber auch dieser gehörte nicht zum Lewinschen, sondern zum Kosnyschewschen Geschlecht, so dass das Lewinsche ganz verschwand.

In dem alten, so lange verödeten Hause waren jetzt alle Zimmer besetzt und fast jeden Tag musste die alte Fürstin bei Tisch die Personen zählen und den dreizehnten Enkel an ein besonderes Tischchen verweisen. Und Kitty, die sich der Haushaltung mit allem Eifer annahm, hatte nicht wenig zu sorgen, um den durch die Landluft geschärften Appetit der Gäste und Kinder zu befriedigen.

Die Damen waren auf der Terrasse versammelt, wo sie sich jeden Nachmittag mit ihren Handarbeiten aufhielten. Die Unterhaltung kam bald auf Warinka, und Kitty sprach die Hoffnung aus, dass Sergej Iwanowitsch sich bald erklären möchte.

»Was denken Sie davon, Mama? Heute erwarte ich die Entscheidung.«

»Was soll ich davon denken? Dein Schwager könnte die erste Partie in Russland machen. Obgleich er nicht mehr sehr jung ist, so würden doch viele ihn gern nehmen. Sie ist ja ein vortreffliches Mädchen, aber ...«

»Bedenken Sie doch, Mama, dass Sergej eine solche Stellung in der Welt einnimmt, dass er nicht auf Vermögen oder Familienverbindungen zu sehen braucht. Was er bedarf, das ist nur eine gute, liebe, ruhige Frau.«

»Rege dich doch nicht so auf«, mahnte die Mutter.

»Mama, wie war es denn eigentlich, als Papa dir seinen Heiratsantrag machte?« fragte plötzlich Kitty. »Du hast ihn doch geliebt, noch ehe man dir erlaubte, mit ihm zu sprechen?« Sie war entzückt darüber, dass sie jetzt mit ihrer Mutter über die wichtigsten Fragen des weiblichen Lebens als Gleichgestellte sprechen konnte.

»Versteht sich«, erwiderte die Fürstin. »Er kam zu uns aufs Gut.«

»Nun, und wie hat es sich entschieden, Mama?«

»Du glaubst wahrscheinlich, ihr habt etwas Neues erfunden. Es ist immer die alte Geschichte. Es entschied sich durch Blicke und Lächeln ...«

Die Frauen versanken in Nachdenken über dieselben Erinnerungen.

»Aber diese frühere Passion Warinkas«, sagte Kitty plötzlich, »man sollte Sergej Iwanowitsch vorbereiten; die Männer sind alle entsetzlich eifersüchtig in bezug auf unsere Vergangenheit.«

»Nicht alle«, sagte Dolly. »Du beurteilst ihn nach deinem Mann. Ich glaube, die Erinnerung an Wronsky ist ihm noch heute peinlich.«

»Ja, das ist wahr«, antwortete Kitty lächelnd.

»Aber ich wüsste nicht, was ihm dabei peinlich sein könnte. Dass Wronsky dir den Hof gemacht hat? Das kann jedem Mädchen begegnen.«

»Ich will nicht mehr daran denken!« sagte Kitty. Sie vernahm die bekannten Schritte ihres Mannes auf der Terrassentreppe. »Woran willst du nicht mehr denken?« fragte Lewin. Aber niemand antwortete ihm.

»Ich bedaure, dass ich Ihre Unterhaltung gestört habe«, sagte er etwas verdrießlich, da er bemerkte, dass man etwas gesprochen hatte, was er nicht hören sollte. Aber lächelnd näherte er sich Kitty.

»Willst du nicht den Kindern nachfahren? Ich habe anspannen lassen.«

»Wie, willst du etwa Kitty den Stößen eines Wagens aussetzen?« fragte die Mutter vorwurfsvoll.

»Wir fahren nur im Schritt, Fürstin.« Lewin nannte sie niemals Mama, wie ihre anderen Schwiegersöhne, und das war ihr unangenehm. Aber obgleich Lewin sie als Kittys Mutter liebte und verehrte, glaubte er das Andenken seiner eigenen Mutter zu verletzen, wenn er sie so nannte.

»Komm mit uns, Mama«, sagte Kitty.

»Nein, ich kann eine solche Unvorsichtigkeit nicht mit ansehen.«

»Nun, dann gehe ich zu Fuß, das ist mir gesund.« Kitty stand auf, ergriff den Arm ihres Mannes und ging mit ihm die Straße entlang.

Am anderen Abend wurde Oblonsky erwartet; auch der alte Fürst hatte geschrieben, dass er vielleicht kommen werde. Die Damen hatten sich auf der Terrasse versammelt, als das Wiehern von Pferden und das Geräusch eines Wagens in der Allee herüberklangen.

»Das ist Stiwa!« rief Lewin vom Balkon, während Dolly sich hastig erhob, um ihrem Mann entgegenzugehen. »Und es ist noch jemand im Wagen«, rief Lewin. »Kitty, geh nicht die steile Treppe hinab!«

Aber Lewin hatte sich in der anderen Person geirrt, die im Wagen saß. Es war nicht der alte Fürst, sondern ein hübscher, junger Mann, der eine schottische Mütze trug, namens Wassenka Weslowsky, ein entfernter Verwandter von Schtscherbatzky aus der glänzenden Jugend Petersburgs, ein vortrefflicher Junge und leidenschaftlicher Jäger, wie ihn Oblonsky vorstellte. Ohne die Enttäuschung zu beachten, die seine Ankunft anstatt des erwarteten Fürsten hervorgebracht hatte, begrüßte sich Weslowsky lebhaft mit Lewin und erinnerte ihn an ihre frühere Bekanntschaft. Lewin war etwas verdrießlich darüber, dass der alte Fürst nicht gekommen war, sowie über das Erscheinen dieses Weslowsky, eines ganz fremden und überflüssigen Menschen. Und seine Stimmung wurde nicht besser, als er sah, wie vor dem Hause, wo sich eine lebhafte Gruppe Erwachsener und Kinder versammelt hatte, Weslowsky mit besonderer Galanterie Kitty die Hand küsste.

»Wir sind Vettern durch Ihre Frau und außerdem alte Bekannte«, sagte Weslowsky, indem er nochmals Lewins Hand kräftig drückte.

»Nun, gibt es Wild?« fragte Oblonsky, nachdem er kaum alle Grüße erwidert hatte. »Wir beide haben die blutdurstigsten Absichten. Wie gesund du aussiehst, Dolly!« sagte er zu seiner Frau, deren Hand er nochmals küsste, in der seinigen festhielt und streichelte.

Lewin, der noch vor wenig Augenblicken sich in heiterster Laune befunden hatte, blickte jetzt alle düster und missvergnügt an. ›Wen mag er gestern geküsst haben?‹ dachte er, indem er die Zärtlichkeit Oblonskys gegen seine Frau beobachtete. Auch Dolly gefiel ihm nicht.

Sie glaubt ja nicht an seine Liebe‹, dachte Lewin, ›warum freut sie sich so? Das ist widerlich!‹ Auch der freundliche Empfang, der Weslowsky von Seiten der Fürstin zuteil wurde, missfiel ihm ebenso wie die Freundlichkeit seines Bruders Sergej Iwanowitsch zu Oblonsky.

Am meisten aber ärgerte Lewin sich über Kitty und über ihr Lächeln, mit dem sie diesen Herrn begrüßte, der seine Ankunft auf dem Gut wie eine Gunst für die Bewohner anzusehen schien.

In lebhaftem, gegenseitigem Gespräch gingen alle dem Hause zu. Lewin benutzte den ersten günstigen Augenblick, um sich zu entfernen. Kitty bemerkte seine üble Laune und suchte Gelegenheit, um mit ihm allein zu sprechen; aber er wandte sich ab und sagte, er habe im Kontor zu tun. Seit langer Zeit waren ihm seine Wirtschaftsangelegenheiten nicht so wichtig erschienen wie heute. ›Dort sitzen sie alle müßig‹, dachte er, ›aber meine Arbeiten können nicht warten.‹

Lewin kehrte erst nach Hause zurück, als man ihm sagen ließ, das Abendessen sei aufgetragen. Auf der Treppe beriet sich Kitty mit Agafja Michailowna über die Weinsorten für das Abendessen.

»Was machst du soviel Umstände? Lass den gewöhnlichen Wein auftragen!« »Nein, Stiwa trinkt ihn nicht..«. Kostja, warte doch ein wenig! Was ist dir?« fragte Kitty, ihm nacheilend. Aber er achtete nicht auf sie und ging mit großen Schritten in das Speisezimmer, wo er sogleich an dem allgemeinen lebhaften Gespräch teilnahm, das Weslowsky und Oblonsky dort unterhielten.

»Nun, fahren wir morgen auf die Jagd?« fragte Oblonsky.

»Mit Vergnügen! Haben Sie in diesem Jahr schon gejagt?« wandte sich Lewin an Weslowsky mit einer gezwungenen Freundlichkeit. »Bekassinen gibt es in Menge, aber man muss schon früh ausfahren. Bist du nicht müde, Stiwa?«

»Ich? Müde? Keineswegs! Wenn du willst, schlafe ich die ganze Nacht nicht. – Übrigens, Dolly«, wandte er sich dann an seine Frau: »Weißt du, dass Weslowsky bei Anna war? Er wird wieder dorthin gehen, und ich begleite ihn jedenfalls. Sie wohnt nur siebzig Werst von hier. Weslowsky, komm doch hierher!«

Weslowsky näherte sich den Damen und setzte sich neben Kitty.

»Ach, ich bitte, erzählen Sie mir von ihr«, sagte Darja.

Lewin blieb am anderen Ende des Tisches. Und während er mit der Fürstin sprach, sah er, dass zwischen Oblonsky, Dolly, Kitty und Weslowsky ein lebhaftes Gespräch im Gange war. Und außerdem bemerkte er an seiner Frau den Ausdruck eines ernsten Empfindens, wenn sie das hübsche Gesicht Weslowskys anblickte, der lebhaft erzählte.

»Sie leben sehr glücklich«, erzählte Weslowsky von Wronsky und Anna. »Man fühlt sich bei ihnen sehr zu Hause.«

»Was beabsichtigen sie jetzt zu tun?«

»Ich glaube, sie wollen den Winter in Moskau zubringen.«

»Wie hübsch wäre es, wenn wir sie miteinander besuchen würden! Wann fährst du hin?« fragte Oblonsky den jungen Weslowsky.

»Ich werde den Juli bei ihnen zubringen.«

»Fährst du auch hin?« fragte Oblonsky seine Frau.

»Ich hatte schon lange die Absicht«, sagte Dolly. »Aber ich werde sie allein besuchen, wenn du wieder abgefahren bist und damit ich niemand geniere. Es tut mir leid um sie, sie ist eine vortreffliche Frau.«

»Gut, gut!« sagte Oblonsky. »Und du, Kitty?«

Kitty errötete und blickte ihren Mann an. »Ich? Warum sollte ich dorthin fahren?«

»Sind Sie auch bekannt mit Anna Arkadjewna?« fragte sie Weslowsky. »Sie ist eine verführerische Dame.«

»Ja«, erwiderte Kitty, noch tiefer errötend. Dann erhob sie sich und ging zu ihrem Mann.

»Du willst also morgen auf die Jagd fahren?« fragte sie.

Seine Eifersucht hatte in diesen wenigen Augenblicken den höchsten Grad erreicht, besonders als er sah, dass sie errötete, während sie mit Weslowsky sprach. Jetzt verstand er ihre Worte auf diese Weise, als ob diese Frage sie nur deshalb interessiere, um zu erfahren, ob er Weslowsky, in welchen sie nach seiner Meinung bereits verliebt war, mit der Jagd ein Vergnügen bereiten werde.

»Ja, ich fahre auf die Jagd«, erwiderte er mit einer ihm unnatürlichen Stimme, die ihm selbst missfiel.

»Nein, bleibt morgen lieber bei uns. Dolly hat ihren Mann noch gar nicht gesehen. Ihr könnt ja übermorgen zur Jagd fahren«, sagte Kitty.

Diese Worte übersetzte sich Lewin auf folgende Weise: ›Trenne mich nicht von ihm; wenn du zur Jagd fährst, ist's mir gleichgültig, aber lass mich die Gesellschaft dieses reizenden jungen Mannes genießen.‹

»Ach, wenn du willst, bleiben wir morgen zu Hause«, erwiderte Lewin mit eigentümlicher Freundlichkeit.

Währenddem hatte sich Weslowsky, der keine Ahnung von dem Leiden hatte, das seine Anwesenheit bei Lewin hervorrief, vom Tisch erhoben und folgte ihr lächelnd mit wohlgefälligen Blicken nach.

Lewin sah diese Blicke. Er erbleichte und sein Atem stockte. ›Wie kann er sich erlauben, meine Frau so anzusehen?‹

»Also morgen! Ich bitte, fahren wir«, sagte Weslowsky, indem er sich auf einen Stuhl niederließ.

Außer sich vor Eifersucht, sah Lewin sich schon selbst als betrogenen Ehemann. Dennoch fragte er Weslowsky mit gastfreundschaftlicher Höflichkeit nach seinen Jagden, Pferden, Hunden, und willigte ein, am nächsten Morgen mit auf die Jagd zu fahren.

Die alte Fürstin machte Lewins Leiden ein Ende, indem sie aufstand und Kitty riet, schlafen zu gehen.

»Wozu schlafen?« sagte Oblonsky, den einige Gläser Wein in poetische Stimmung versetzt hatten. »Sieh, Kitty«, sagte er, auf den Mond deutend, der hinter den Linden aufstieg, »wie entzückend! Weslowsky, das wäre die Zeit für eine Serenade! Du weißt, er hat eine prachtvolle Stimme. Wir haben unterwegs miteinander gesungen. Er hat zwei reizende neue Lieder mitgebracht.«

Noch lange, nachdem man sich getrennt hatte, ging Oblonsky mit Weslowsky in der Allee singend spazieren. Lewin saß in einem Lehnstuhl im Schlafzimmer und schwieg hartnäckig auf alle Fragen Kittys, was ihm sei. Endlich fragte Kitty mit schüchternem Lächeln: »Hat dir etwas an Weslowsky missfallen?« und brachte ihn dadurch zum Reden. Er stand vor ihr mit funkelnden Augen unter den zusammengezogenen Augenbrauen. Sein Gesicht wäre finster und hart gewesen, wenn es nicht zugleich die Qualen ausgedrückt hätte, die er litt.

»Glaube nicht, ich sei eifersüchtig, das ist ein hässliches Wort. Ich kann nicht eifersüchtig sein und glauben, dass ... Ich kann nicht aussprechen, was ich fühle, aber es ist abscheulich! Ich bin empört darüber, dass jemand dich mit solchen Augen anzusehen wagt.«

»Wie hat er mich denn angesehen?« fragte Kitty und suchte sich aller Einzelheiten des heutigen Abends zu erinnern. »Und was kann in meinem jetzigen Zustand Anziehendes an mir sein?«

»Ach«, rief er, seinen Kopf mit beiden Händen fassend.

»Höre doch, Kostja«, sagte sie, ihn mitleidig anblickend. »Was ist dir in den Sinn gekommen? Für mich gibt es doch keinen anderen Menschen mehr auf der Welt als dich ... Nun, willst du, dass ich mit niemand mehr umgehe?«

»Begreife doch, wie entsetzlich und komisch zugleich meine Lage ist«, fuhr er fort. »Er ist bei mir im Hause und hat eigentlich nichts geradezu Unpassendes getan, er hat sich nur etwas frei benommen, und deshalb bin ich gezwungen, höflich gegen ihn zu sein.«

»Aber Kostja, du übertreibst«, erwiderte Kitty, erfreut über die Kraft seiner Liebe, die sich jetzt in seiner Eifersucht äußerte.

»Ist es nicht schrecklich, dass, während du ein Heiligtum für mich bist und wir so glücklich, so ganz besonders glücklich waren, uns plötzlich ein so alberner Mensch ... überfällt ... Vielleicht ist er auch kein alberner Mensch. Warum beschimpfe ich ihn? Ich habe nichts mit ihm zu schaffen. Aber was soll aus deinem und meinem Glück werden ...« »Weißt du, ich begreife jetzt, wie das gekommen ist«, begann Kitty schüchtern.

»Wie? Wie?«

»Ich sah, wie du mich ansahst während unseres Gesprächs nach Tisch.«

»Nun ja, nun ja«, sagte Lewin aufgeregt.

Sie erzählte ihm, worüber sie gesprochen hatten. Lewin schwieg. Dann sah er ihr bleiches, sorgenvolles Gesicht und plötzlich griff er nach seinem Kopf. »Kitty, mein Täubchen, vergib mir«, rief er. »Das war Wahnsinn, Kitty! Wie konnte ich dich und mich mit einer solchen Albernheit quälen!«

»Nein, du tust mir leid.«

»Ich? Weil ich verrückt bin? Aber der Gedanke ist entsetzlich, dass jener fremde Mensch unser Glück zerstören könnte.«

»Gewiss, das wäre empörend.«

»Nun, ich werde ihn den ganzen Sommer bei uns zurückhalten und von Liebenswürdigkeit überfließen«, sagte Lewin, ihre Hand küssend. »Du wirst sehen, morgen, morgen fahren wir zur Jagd.«

Am anderen Morgen, noch ehe die Damen erwacht waren, standen zwei Jagdwagen vor der Tür, und Laska, die bereits begriffen hatte, dass es zur Jagd gehe, sprang mit freudigem Gebell vor dem Wagen umher und erwartete ungeduldig die Jäger. Der erste, der aus der Tür trat, war Weslowsky in neuen, großen Stiefeln, einer grünen Bluse, mit seiner schottischen Mütze und einem neuen englischen Gewehr. Nach einer Weile öffnete sich die Tür mit Geräusch, und Crac, der Hühnerhund Oblonskys, flog heraus, dem dieser selbst mit dem Gewehr in den Händen und einer Zigarre im Munde folgte. Er trug grobes Schuhwerk, abgetragene Beinkleider und einen kurzen Paletot, den Kopf bedeckte die Ruine eines Hutes, aber sein Gewehr vom neuesten System war ein Schmuckstück.

»Nun, und wo ist der Herr des Hauses?« fragte Weslowsky.

»Er hat eine junge Frau...«, sagte Oblonsky lächelnd.

»Und eine so entzückende junge Frau!«

»Er war schon angekleidet, wahrscheinlich ist er wieder umgekehrt und zu ihr gegangen.«

Oblonsky hatte richtig geraten. Lewin war zu seiner Frau zurückgeeilt, um sie zu bitten, doch um Gottes willen recht vorsichtig zu sein, namentlich vor den Kindern sollte sie sich hüten. Dann musste er nochmals von ihr die Versicherung haben, ihm nicht dafür zu zürnen, dass er auf zwei Tage abwesend sein werde, und sie nochmals bitten, ihm jedenfalls morgen früh mit einem reitenden Boten Nachricht zu geben, wie sie sich befinde.

Kitty trennte sich wirklich sehr ungern von ihrem Mann auf zwei Tage. Aber beim Anblick seiner von Jagdlust neubelebten Gestalt, die besonders männlich und stark erschien in seinen großen Jagdstiefeln und weißer Bluse, nahm sie fröhlich von ihm Abschied.

»Entschuldigen Sie, meine Herren«, rief er, als er auf die Freitreppe hinaustrat. »Hat man das Frühstück eingepackt? Warum hast du den Braunen auf die rechte Seite gespannt? Nun, gleichviel! Ruhig, Laska!«

Jetzt, nachdem Lewin alle häuslichen und wirtschaftlichen Sorgen hinter sich gelassen, fühlte er sich neubelebt von Lebenslust und Erwartung. Er empfand jenes Gefühl starker Aufregung, das jeden Jäger ergreift, wenn er sich seinem Revier nähert. Dann fragte er sich, ob sie am Kolpensky-Sumpf etwas finden werden und ob er heute zum Schuss kommen werde.

Oblonsky war mit denselben Fragen beschäftigt und daher ebenfalls schweigsam. Nur Weslowsky sprach ohne aufzuhören, und Lewin erinnerte sich jetzt mit Bedauern daran, wie ungerecht er gegen ihn gewesen sei. Weslowsky war wirklich ein aufrichtiger, gutmütiger und sehr fröhlicher junger Mensch und erwies sich als ein Mann von Welterfahrung.

»Nun, erkläre uns deinen Plan«, sagte Oblonsky.

»Mein Plan ist folgender: Zunächst fahren wir an den Sumpf von Gwosdew, dort gibt es Schnepfen im Überfluss. Jetzt ist's noch heiß, aber wenn wir dort ankommen, können wir in der Abendkühle jagen. Wir übernachten dort, und morgen geht's an die großen Sümpfe.«

»Und unterwegs gibt es nichts?«

»O ja, es gibt zwei gute Stellen, aber wir würden uns damit aufhalten, und es ist auch zu heiß.«

Lewin wollte diese Stellen für sich vorbehalten, da sie dem Hause näher waren, und sie boten auch zu wenig für drei Jäger. Als sie aber an den zweiten Sumpf kamen, der ziemlich groß war, wurde trotz der Einwendungen Lewins auf Weslowskys Bitten haltgemacht. Als höflicher Wirt blieb Lewin bei den Pferden. Weslowsky eilte sogleich dem Hunde nach, und noch ehe Oblonsky ihn einholen konnte, flog eine Schnepfe auf. Weslowsky schoss sie und kehrte zu dem Wagen zurück. »Jetzt gehen Sie, ich werde bei dem Wagen bleiben«, sagte er. Lewin reichte Weslowsky die Zügel und ging zum Sumpf. Die Jagdlust mit einem Anflug von Neid hatte ihn ergriffen. Schon lange hatte sich Laska mit kläglichem Geheul über die ungerechte Zurücksetzung beklagt und eilte jetzt freudig voraus. Je näher der Hund aber dem schon bekannten Erdhügel kam, desto ernsthafter wurde er und ließ kleine Sumpfvögel unbeachtet. Laska umkreiste einen Erdhügel, dann einen anderen, und plötzlich stand sie.

»Vorwärts, Stiwa!« rief Lewin mit klopfendem Herzen. Sein gespanntes Gehör vernahm die Schritte Oblonskys und dann in der Nähe ein Rauschen im Wasser, das er sich nicht erklären konnte.

Eine Schnepfe stieg auf, Lewin zielte, aber in demselben Augenblick verstärkte sich das Rauschen und dann hörte er, wie Weslowsky mit seltsam lauter Stimme ihm etwas zurief. Dennoch schoss Lewin und – fehlte. Dann blickte er sich um und sah zu seinem Erstaunen, dass die Pferde und der Wagen nicht mehr auf dem Wege, sondern im Sumpf standen. Weslowsky war dahin gefahren, um die Jagd mit anzusehen.

»Warum sind Sie denn dahin gefahren?« fragte Lewin Weslowsky mürrisch. Er ärgerte sich darüber, dass man ihm nicht nur die Jagd verdorben, sondern auch seine Pferde in den Sumpf geführt hatte. Um sie herauszuführen, mussten sie ausgespannt werden. Aber weder Oblonsky noch Weslowsky halfen ihm und dem Kutscher, da sie nicht den geringsten Begriff vom Anspannen hatten. Mürrisch und schweigsam arbeitete er mit dem Kutscher. Dann aber, als er sah, mit welchem Eifer Weslowsky an dem Wagen zog, machte er sich Vorwürfe über seine Unfreundlichkeit gegen seinen Gast. Nachdem alles wieder in Ordnung gebracht war, befahl er, das Frühstück auszupacken.

»Ein gutes Gewissen macht guten Appetit. Dieses Huhn wird bis in meine Stiefel versinken«, sagte Weslowsky, welcher wieder ganz heiter geworden war. »Jetzt wird alles gut gehen. Aber um mein Vergehen wieder gutzumachen, werde ich auf dem Bock sitzen, nicht wahr? Sie sollen sehen, wie ich Sie fahren werde!«

Er gab durchaus nicht die Zügel aus der Hand, als Lewin ihn bat, den Kutscher fahren zu lassen. Obgleich Lewin für seine Pferde fürchtete, gab er doch endlich nach, und die Lustigkeit Weslowskys, der während des ganzen Weges Lieder sang oder Anekdoten erzählte, teilte sich den anderen mit. In der heitersten Stimmung kamen sie noch in der Mittagshitze an den Gwosdew-Sumpf.

Lewin dachte jetzt nur daran, sich Weslowskys zu entledigen, und Oblonsky hatte denselben Wunsch.

»Wie fangen wir an? Ein prächtiger Sumpf! Ich sah Habichte!« bemerkte Oblonsky. »Das ist ein sicheres Zeichen, dass auch Wild hier ist.«

»Nun, sehen Sie, meine Herren«, sagte Lewin, indem er auf eine mit dunklem Grün bedeckte kleine Insel auf der ungeheuren nassen Wiese deutete. »Hier, gerade vor uns, fängt der Sumpf an, sehen Sie, da, wo das Grün dunkler wird. Dort gibt es eine Menge Schnepfen. Das ist die beste Stelle. Dort habe ich einmal siebzehn Schnepfen geschossen. Wir wollen uns mit beiden Hunden nach verschiedenen Richtungen wenden und bei der Mühle an jenem Hügel wieder zusammentreffen.«

»Geht ihr beide rechts und ich links«, sagte Oblonsky mit anscheinender Gleichgültigkeit.

»Vortrefflich! Nun kommen Sie, kommen Sie!« rief Weslowsky.

Lewin stimmte notgedrungen bei, und sie trennten sich. Lewin sah die Vorsichtigkeit, mit der Laska suchte, er kannte diese Art und erwartete einen ganzen Schwarm Bekassinen.

»Weslowsky, halten Sie sich in gleicher Höhe mit mir«, sagte er zu seinem Gefährten, der ihm folgte. Die Richtung seines Gewehrs erregte Lewins Interesse, und er erinnerte sich an Kittys Worte: »Nehmt euch in acht, dass ihr einander nicht erschießt.« In gespannter Erwartung schritten sie weiter. Und Lewin war so erregt, dass er das glucksende Geräusch, das entstand, wenn er seinen Absatz aus dem Sumpf herauszog, für den Schrei einer Schnepfe hielt.

Piff Paff! tönte es plötzlich dicht vor seinem Ohr. Weslowsky hatte nach Enten geschossen. Noch ehe Lewin sich umsehen konnte, erhoben sich acht oder zehn Schnepfen nacheinander, Oblonsky schoss eine davon im Augenblick, als sie ihren Zickzack beginnen wollte, und dann erlegte er noch eine zweite. Lewin aber war nicht so glücklich, er hielt bei der ersten Schnepfe zu niedrig und fehlte sie.

»Nun, jetzt trennen wir uns«, sagte Oblonsky. Er hielt das Gewehr bereit, pfiff seinem Hund und verschwand, während Lewin und Weslowsky die entgegengesetzte Richtung verfolgten. Wenn Lewin beim ersten Schuss fehlte, so wurde er hitzig, ärgerlich und schoss den ganzen Tag schlecht. So ging es ihm auch heute. Es waren eine Menge Schnepfen vorhanden, vor dem Hunde, vor den Füßen der Jäger stiegen beständig Schnepfen auf, und Lewin hätte sein erstes Unglück leicht wieder gutmachen können, aber je mehr er schoss, desto mehr fühlte er sich beschämt vor Weslowsky. Dieser schoss vergnügt nach rechts und links, ohne etwas zu treffen und ohne sich darüber zu ärgern. Schuss folgte auf Schuss, aber in der großen, geräumigen Jagdtasche waren nur drei kleine Schnepfen, davon hatte Weslowsky eine geschossen, und eine andere war gemeinschaftliches Eigentum.

»Heda, ihr Jäger!« rief in diesem Augenblick ein Bauer, der auf einer ausgespannten Karre saß. »Kommt und trinkt einen Schluck!«

Lewin blickte sich um und sah einen bärtigen Bauern mit rotem Gesicht, welcher grinsend seine weißen Zähne zeigte und die grüne, in der Sonne glänzende Branntweinflasche erhob.

»Was sagte der Mann?« fragte Weslowsky.

»Er lädt uns ein, Schnaps zu trinken. Ich möchte gern trinken«, sagte Lewin nicht ohne List, in der Hoffnung, dass Weslowsky der Versuchung zum Opfer fallen werde. »Gehen Sie hin, es wird Sie interessieren, was die Ursache zu dieser freundlichen Einladung ist.«

»Ja, ich gehe, das ist spaßhaft.«

»Den Weg zur Mühle werden Sie dann finden«, rief ihm Lewin nach. Als er sich umblickte, sah er zu seinem Vergnügen, dass Weslowsky auf den Bauer zuging, dem sich noch andere Männer zugesellt hatten.

»Komm du auch!« riefen die Bauern Lewin zu.

Dieser hätte gern einen Schluck Branntwein getrunken, aber sein Hund stand, und sogleich verschwand alle Müdigkeit. Vor seinen Füßen stieg eine Schnepfe auf, er schoss und erlegte sie. Aber der Hund stand noch, wieder stieg eine Schnepfe auf, Lewin schoss und fehlte diesmal. Und als er die erlegte Schnepfe suchte, konnte er sie nicht finden. Er suchte lange Zeit, aber Laska glaubte nicht, dass er eine Schnepfe geschossen habe, und als er ihr befahl, sie zu suchen, stellte sie sich, als ob sie suchte, fand aber nichts. Es war ein unglücklicher Tag, Weslowsky hatte ihm Unglück gebracht. Aber auch in dessen Abwesenheit wurde es nicht besser. Er hatte nur fünf Schnepfen in seiner Jagdtasche, als er an die Stelle kam, wo er mit Oblonsky zusammentreffen wollte. Dann erschien im Schatten der Erlen auch schon die stattliche Gestalt Oblonskys. Mit rotem Gesicht und schweißbedeckt kam er Lewin entgegen. »Nun, wie war's? Ihr habt viel geschossen«, sagte er vergnügt lachend.

»Und du?« fragte Lewin. Aber es war überflüssig zu fragen, denn er sah die gefüllte Jagdtasche Oblonskys.

»Ein prächtiger Sumpf! Dich hat aber gewiss Weslowsky gestört!« sagte Stepan Arkadjewitsch, um seinen Triumph abzuschwächen.

Als die beiden Jäger die Bauernhütte betraten, wo Lewin immer haltmachte, war Weslowsky schon dort. Er saß inmitten der Hütte und hielt sich lachend mit beiden Händen an einer Bank fest, während ein Soldat, der Bruder des Wirts, ihm die Stiefel abzog.

»Ich bin eben gekommen, stellen Sie sich vor, sie gaben mir zu trinken und zu essen. Es war ein wundervolles Brot, und sie wollten kein Geld dafür annehmen.«

Trotz der Unreinlichkeit der Hütte aßen alle drei mit solchem Appetit, wie man nur auf der Jagd speist. Dann, nachdem sie sich gewaschen hatten, gingen sie in eine Heuscheune, wo die Kutscher für die Herren ein Lager bereiteten.

Obgleich es bereits dunkel wurde, wollte keiner der Jäger schlafen. Weslowsky sprach wiederholt sein Entzücken aus über dieses Nachtlager und den Heugeruch, über ihre gutherzigen Wirtsleute und die Hunde, die zu ihren Füßen lagen. Oblonsky erzählte ausführlich von einer Jagd, die er im vorigen Sommer bei einem bekannten Eisenbahnunternehmer und Millionär mitgemacht hatte.

»Ah, das ist unser Wirt!« unterbrach er sich dann, als ein Bauer die kreischende Tür öffnete und in die Scheune trat. »Schläfst du noch nicht?«

»Nein, ich dachte, die Herren seien eingeschlafen, ich muss hier einen Haken holen.«

»Wo schlaft ihr denn?«

»Wir wachen bei den Pferden auf der Weide.«

»Ach, welche Nacht!« sagte Weslowsky. »Aber hören Sie, man hört weibliche Stimmen singen und wirklich nicht übel. Wer singt da, Wirt?«

»Das sind Mädchen, hier nebenan.« »Kommen Sie, wir wollen ein wenig Spazierengehen, Oblonsky, kommen Sie!«

»Ich liege so schön hier«, erwiderte Oblonsky gähnend.

»Nun, dann gehe ich allein«, sagte Weslowsky, sich rasch erhebend. »Auf Wiedersehen, meine Herren! Wenn es lustig ist, so werde ich Sie rufen.«

»Nicht wahr, ein prächtiger Junge?« sagte Oblonsky, als Weslowsky gegangen war und der Bauer die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Ja, prächtig«, erwiderte Lewin.

»Aber warum sollen wir nicht auch gehen«, sagte Oblonsky.

»Wirklich, komm doch mit!«

Lewin gab keine Antwort.

»Ich kann auf keine Weise mehr einschlafen«, sagte Oblonsky, »Weslowsky hat dort etwas angerichtet. Hörst, du sein Lachen? Komm!«

»Nein, ich gehe nicht«, erwiderte Lewin.

»Wahrscheinlich aus Grundsatz«, sagte Oblonsky lachend, indem er in der Finsternis nach seiner Mütze suchte.

»Nicht aus Grundsatz. Aber wozu sollte ich gehen?«

»Weißt du, du bist nicht auf dem richtigen Wege«, sagte Oblonsky.

»Warum?«

»Ich sehe wohl, wie du dich zu deiner Frau stellst. Ich habe wohl gehört, welch eine wichtige Frage es war, ob du auf zwei Tage auf die Jagd gehen kannst oder nicht. Das ist ganz schön als Idylle, aber für das ganze Leben ...? Ein Mann muss unabhängig und männlich sein; er hat seine eigenen männlichen Interessen«, sagte Oblonsky, die Tür öffnend. »Welche Interessen meinst du? Den Bauernmädchen nachzustellen?« fragte Lewin.

»Warum nicht, wenn das Vergnügen macht? Meine Frau ist darum nicht übler daran, und ich amüsiere mich. Die Hauptsache ist nur, dass das häusliche Heiligtum geachtet wird, aber man darf sich nicht die Hände binden.«

»Du kannst recht haben«, sagte Lewin trocken und drehte sich auf die andere Seite. »Morgen früh wecke ich niemand und gehe bei Tagesanbruch.«

»Meine Herren, kommen Sie schnell!« rief Weslowsky an der Tür. »Scharmant! Ich habe ein vollkommenes Gretchen entdeckt und schon mit ihr Bekanntschaft gemacht. Wirklich ausgezeichnet!«

Lewin stellte sich schlafend, Oblonsky aber zog Pantoffeln an und verließ die Scheune.

Lewin konnte lange nicht schlafen. Er hörte, wie seine Pferde Heu fraßen, wie der Bauer mit seinem älteren Sohn auf die Wache zu den Pferden ging.

Morgen stehe ich mit der Sonne auf und werde bestimmt meine Ruhe bewahren‹, dachte Lewin. ›Es sind noch eine Menge Schnepfen da, und wenn ich zurückkomme, werde ich Nachricht von Kitty vorfinden. Aber hat Stiwa wirklich recht? Bin ich nicht männlich und fest genug gegen sie?‹

Halb im Schlaf hörte er noch Gelächter und die Stimmen seiner Jagdgenossen.

Lewin erwachte am frühen Morgen und versuchte vergebens, Weslowsky zu wecken. Auch Oblonsky weigerte sich, so früh aufzustehen. Lewin ergriff sein Gewehr, öffnete vorsichtig die knarrende Scheunentür und ging hinaus. Die Dämmerung war noch nicht vorübergegangen; bei den Wagen lagen die Kutscher im tiefen Schlaf, die Pferde träumten.

»So früh schon aufgestanden, mein Lieber?« fragte ihn freundlich, wie einen alten Bekannten, die Wirtin, die eben aus der Hütte trat.

»Auf die Jagd, Tantchen.«

Vergnügt lief Laska voraus und Lewin folgte ihr mit raschen, leichten Schritten; er wünschte, noch vor Sonnenaufgang den Sumpf zu erreichen, aber die Sonne zögerte nicht. Der Mond, der noch geschienen hatte, als er aus der Hütte trat, zeigte jetzt nur einen matten Schimmer; der Morgenstern war beinahe erloschen. Unbestimmte Flecke auf dem fernen Felde waren jetzt deutlich erkennbar als Getreidehaufen. Der Tau benetzte Lewins Füße und Bluse bis zum Gürtel. In der tiefen Stille des Morgens wurde das geringste Geräusch hörbar. Der Fußweg führte gerade auf den Sumpf zu, der durch den Dunst erkennbar war, der sich vor ihm erhob.

Am Ufer des Sumpfes lagen Knaben und Bauern, fest eingeschlafen, in ihre Kaftane gehüllt, nachdem ihre Wache beendigt war. Nicht weit von ihnen gingen drei Pferde, die mit ihren Ketten klirrten. Lewin streichelte die Hündin und pfiff, zum Zeichen, dass die Jagd begonnen habe.

Sogleich eilte Laska vergnügt und eifrig dem Sumpf zu und witterte bald den Geruch der Vögel. Diesen Geruch spürte sie überall. Um eine genauere Richtung zu finden, musste sie unter den Wind gehen. Laska liefen einem vorsichtigen kurzen Galopp, damit sie nötigenfalls in jedem Augenblick anhalten konnte. Das Wild war da, aber wo, das konnte sie noch nicht bestimmen. Um diese Stelle zu finden, begann sie einen Kreis zu beschreiben, durch den sich ihr alles aufklären musste. Die Witterung wurde immer stärker und plötzlich blieb sie wie erstarrt vor einem Erdhaufen stehen. Auf ihren niedrigen Füßen konnte Laska nichts sehen, aber sie wusste, dass das Wild nicht weiter als fünf Schritte vor ihr saß. Nur die Spitze ihres Schweifes rührte sich, die Ohren waren aufgerichtet. Sie sah nach ihrem Herrn, der sich langsam näherte.

Als er näher kam, sah er vor sich mit seinen Augen, was Laska nur mit der Nase wahrnahm. Zwischen zwei Erdhaufen erblickte er eine Schnepfe, die den Kopf wendete und horchte.

Lewin stieß Laska mit dem Knie an und flüsterte aufgeregt: »Pieh!, piehl!«

Laska stürmte vorwärts zwischen die beiden Erdhaufen. Zehn Schritte vor der früheren Stelle erhob sich eine Schnepfe mit dumpfem Girren. Lewin schoss, und sie flatterte schwerfällig auf den feuchten Rasen herab. Noch eine zweite Schnepfe stieg auf und fiel getroffen auf das trockene Land herab.

Die Sache macht sich‹, dachte Lewin, indem er beide in die Jagdtasche steckte. »Was meinst du, Laska?« Als er sein Gewehr wieder geladen hatte und weiterging, war die Sonne schön aufgegangen, obgleich sie sich noch hinter Wolken verbarg. Der Mond hatte allen Glanz verloren und glich nur einem Wölkchen, und von den Sternen war kein einziger mehr sichtbar. Die Sumpfgräser, die zuvor durch den Tau versilbert waren, begannen jetzt sich zu vergolden; der grüne Rasen nahm eine gelbliche Färbung an, die Sumpfvögel belebten die dunklen Gebüsche; ein Habicht erwachte und blickte von dem Getreideschober herab unzufrieden über den Sumpf hin. Dohlen ließen sich auf das Feld herab, und ein barfüßiger Knabe jagte die Pferde einem Greis zu, der sich unter seinem Kaftan von der Erde erhoben hatte.

Der Jägeraberglaube, dass die Jagd glücklich sein werde, wenn der erste Schuss nicht fehlgehe, erwies sich als gerechtfertigt.

Ermüdet, hungrig, aber glücklich kam Lewin gegen zehn Uhr nach einem Marsch von dreißig Werst mit neunzehn Schnepfen und einer Ente bei seinen Gefährten wieder an, die schon längst aufgewacht waren und bereits Zeit gefunden hatten, hungrig zu werden und zu frühstücken. Zu seiner Freude fand er auch eine Botschaft von Kitty vor.

»Ich bin ganz gesund und vergnügt. Du kannst ruhig sein. Maria Wlaßjewna ist auch angekommen – das war eine neue Hebamme und jetzt die wichtigste Person im Hause –, sie hat mich untersucht und mich ganz gesund befunden. Alles ist wohl, und wenn dir die Jagd Vergnügen macht, so bleibe noch einen Tag.«

Lewin war über diese Nachricht so erfreut, dass er zwei kleine Unannehmlichkeiten leicht aufnahm. Die eine bestand darin, dass das eine Pferd, wahrscheinlich infolge zu großer Anstrengung, nicht fressen wollte, die andere darin, dass von allen Vorräten, die Kitty in solchem Überfluss eingepackt hatte, dass sie für eine Woche auszureichen schienen, keine Spur mehr übriggeblieben war. Als er müde und hungrig von der Jagd zurückkam, hatte er besonders auf die Pasteten gerechnet. Aber es gab weder Pasteten noch Hühnerbraten mehr.

»Ist das ein Appetit«, sagte Oblonsky, auf Weslowsky deutend.

»Nun, was ist zu machen?« sagte Lewin mit einem finsteren Blick auf Weslowsky. »Man hätte mir doch wenigstens etwas übriglassen können.«

Philipp besorgte ihm Milch. Und als er seinen Hunger gestillt hatte, bereute er, seinen Ärger so deutlich ausgesprochen zu haben und begann jetzt selbst darüber zu lachen.

Am Abend jagten sie noch einmal, wobei Weslowsky einige Beute machte, und kehrten dann nach Hause zurück.

Der Heimweg war ebenso heiter wie die Ausfahrt. Weslowsky sang und erinnerte vergnügt an seine Abenteuer bei den Bauern und den Bauernmädchen. Besonders lachte er darüber, dass ein Bauer ihn ermahnt hatte, nicht fremden Frauen nachzustellen.

»Ich bin sehr zufrieden über unsere Jagdfahrt. Und Sie, Lewin?«

»Auch ich«, erwiderte Lewin aufrichtig. Sein Groll auf Weslowsky, den er zuerst zu Hause empfunden hatte, war geschwunden und einer freundschaftlichen Zuneigung gewichen.

Am anderen Tage um zehn Uhr hatte Lewin schon einen Gang durch den Gutshof gemacht und klopfte an die Tür seines Gastes. »Herein!« rief Weslowsky. »Entschuldigen Sie mich, ich habe eben erst meine Abwaschungen beendigt«, sagte er lächelnd.

»Bitte, genieren Sie sich nicht.« Lewin setzte sich zum Fenster. »Haben Sie gut geschlafen?«

»Wie tot. Ich schäme mich wirklich vor den Damen, sie sind wohl schon aufgestanden? Ein Spaziergang wird jetzt prächtig sein! Sie werden mir Ihre Pferde zeigen.«

Nun gingen beide durch den Garten, besahen die Ställe und machten sogar miteinander Gymnastik am Barren. Dann trat Lewin mit seinem Gast in den Salon.

»Die Jagd war wundervoll! Und welche Eindrücke dabei!« sagte Weslowsky, indem er sich Kitty näherte, die beim Samowar saß. »Wie schade, dass die Damen dieses Vergnügens beraubt sind!«

Nun, er muss mit der Dame des Hauses doch etwas sprechen‹, sagte Lewin zu sich selbst. Der siegesgewisse Ausdruck, mit dem Weslowsky sich an Kitty wandte, missfiel ihm. Die Fürstin, die an der anderen Seite des Tisches mit Maria Wlaßjewna und Oblonsky saß, rief Lewin zu sich und sprach mit ihm von der Übersiedlung nach Moskau zur Entbindung Kittys. Lewin waren alle Vorbereitungen unangenehm, die durch ihre Geringfügigkeit der Größe des Vorgangs Eintrag taten, dessen Termin an den Fingern abgezählt wurde. Die Geburt eines Sohnes – er war überzeugt, dass es ein Sohn sein werde – erschien ihm als ein so ungeheures Glück und als ein so geheimnisvolles Ereignis, dass diese Vorbereitungen wie zu einem gewöhnlichen Vorgang ihn beleidigten und empörten.

Aber die Fürstin begriff diese Gefühle nicht und hielt seine Abneigung, darüber zu sprechen, für Leichtsinn und Gleichgültigkeit. Daher ließ sie ihm keine Ruhe und rief Lewin zu sich.

Sie sprach auf ihn ein, aber er hörte nicht auf sie, sondern beobachtete finster, was beim Samowar vorging.

Nein, das kann nicht so fortgehen‹, dachte er, indem er zuweilen einen Blick auf Weslowsky warf, der sich zu Kitty hinab beugte und lächelnd zu ihr sprach, während sie verlegen errötete.

In der Haltung Weslowskys, in seinem Blick und seinem Lächeln lag etwas Unreines. Sogar Kittys Haltung und Blicke erschienen ihm unpassend. Und wieder, wie gestern, fühlte er sich plötzlich ohne den geringsten Übergang von der Höhe des Glücks, der Ruhe und Würde herabgestürzt in den Abgrund der Verzweiflung und Wut. Wieder war ihm alles widerlich geworden.

»Schwer drückt die Krone das Haupt«, sagte Oblonsky scherzend, der augenscheinlich auf die Veranlassung zu Lewins Aufregung anspielte, die er wohl bemerkt hatte. »Du bist wohl spät aufgestanden, Dolly?«

Alle begrüßten Dolly. Weslowsky erhob sich nur auf einen Augenblick und setzte sein Gespräch mit Kitty lachend fort. Er sprach mit ihr wieder über Anna, sowie darüber, ob die Liebe höher stehe als die Vorzüge des Weltlebens. Dieses Gespräch war Kitty unangenehm und regte sie auf, weil sie wusste, wie es auf ihren Mann einwirken musste. Aber sie verstand nicht, dem Gespräch ein Ende zu machen oder auch nur das innere Vergnügen zu verbergen, das ihr die augenscheinliche Aufmerksamkeit dieses jungen Mannes machte. Dabei wusste sie, dass ihr Mann alle ihre Bewegungen bemerken und missdeuten werde.

»Wohin gehst du, Kostja?« fragte sie ihn mit schuldbewusstem Blick, als er rasch bei ihr vorüberging.

»Ein Maschinist ist angekommen, den ich noch nicht gesprochen habe«, sagte er, ohne sie anzusehen.

Er ging hinab, aber kaum war er in seinem Arbeitszimmer, als er die bekannten Schritte seiner Frau vernahm, die ihm in unvorsichtiger Eile nachfolgte.

»Was gibt's?« fragte er trocken. »Nun, was hast du mir zu sagen?«

Er blickte sie nicht an und wollte nicht sehen, dass sie zitterte und traurig und gedrückt aussah.

»Ich ... ich wollte dir sagen, dass man so nicht weiterleben kann, das ist eine Qual .... Und warum ?«

»Aber sage mir nur eins, ob in seinem Ton etwas Unpassendes, Unreines, Demütigendes lag?« fragte er. Er stand vor ihr mit den Fäusten vor der Brust.

»Ja«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber Kostja, siehst du denn nicht, dass ich nicht schuld daran bin ? Ich wollte von Anfang an einen solchen Ton annehmen ... aber diese Leute .... Warum ist er gekommen? Wie glücklich waren wir!« sagte sie schluchzend.

Am Ende beruhigten sie sich beide wieder und schieden mit strahlenden Gesichtern.

Nachdem Lewin seine Frau nach oben begleitet hatte, begab er sich in das Zimmer seiner Schwägerin. »Du siehst aufgeregt aus, warum bist du gekommen?« fragte Dolly. Bei dem Ton dieser Frage fühlte Lewin, dass es ihm leicht sein werde, auszusprechen, was er auf dem Herzen hatte.

»Ich habe mit Kitty gesprochen. Wir haben uns schon zum zweitenmal gezankt, seitdem ... Stiwa gekommen ist.«

Dolly blickte ihn verständnisvoll an.

»Aber sage mir, die Hand aufs Herz, war nicht an Kitty, sondern an diesem Herrn ein Ton zu bemerken, der für den Mann unangenehm, sogar beleidigend ist?« fragte Lewin.

»Wie soll ich darauf antworten? Er führt sich auf wie alle jungen Leute: Er macht einer jungen, hübschen Frau den Hof, und ein Mann von gesellschaftlicher Bildung darf sich darüber nur geschmeichelt fühlen.«

»Ja, ja«, sagte Lewin finster. »Aber du hast es bemerkt?«

»Sowohl ich als Stiwa. Er sagte mir nach dem Tee: »Ich glaube, Weslowsky macht Kitty ein bisschen den Hof.«

»Nun gut, jetzt bin ich ruhig«, sagte Lewin. »Ich werde ihn fortjagen.«

»Was?« rief Dolly entsetzt. »Es ist doch besser, ich gehe zu Stiwa und sage ihm, er möge ihn fortführen. Man kann ja sagen, du erwartest Gäste.«

»Nein, nein, ich werde selbst handeln.«

»Du willst dich mit ihm zanken?«

»Keineswegs! Das wird mir Spaß machen.« Lewin ging, um Weslowsky aufzusuchen. Im Vorzimmer gab er Auftrag, den Wagen anzuspannen zur Fahrt nach der nächsten Eisenbahnstation.

Als Lewin eintrat, war Weslowsky im Begriff, Gamaschen anzulegen, um auszureiten. Vielleicht bemerkte er in Lewins Gesicht etwas Besonderes, oder er fühlte selbst, dass es in diesem Hause nicht angebracht war, der Frau den Hof zu machen – und war etwas verlegen.

»Sie wollen mit Gamaschen reiten?«

»Ja, das ist viel reinlicher«, sagte Weslowsky mit heiterem Lachen. Er war unzweifelhaft ein guter Junge, und Lewin fühlte sich als Wirt des Hauses etwas schuldbewusst, als er die Schüchternheit in Weslowskys Blick bemerkte.

»Ich wollte ....« Er schwieg. Dann erinnerte er sich aber plötzlich an Kitty, blickte Weslowsky entschlossen in die Augen und sagte: »Ich habe anspannen lassen.«

»Wozu?« fragte Weslowsky verwundert. »Um Sie nach dem Bahnhof zu bringen«, sagte Lewin finster.

»Sie wollen verreisen? Oder ist etwas vorgefallen?«

»Ich erwarte Gäste«, sagte Lewin, »oder vielmehr – ich erwarte keine Gäste und es ist auch nichts vorgefallen – aber ich bitte Sie, abzureisen. Sie können sich meine Unhöflichkeit erklären, wie Sie wollen.«

Weslowsky richtete sich auf. Er hatte endlich begriffen. »Ich bitte Sie, mir zu erklären ...« begann er mit Würde.

»Ich kann Ihnen gar nichts erklären«, erwiderte Lewin leise und langsam. »Es ist besser, Sie fragen mich nicht.«

Wahrscheinlich war es der Anblick dieser nervigen Hände und dieser Muskeln sowie die glänzenden Augen, was Weslowsky mehr als Worte überzeugte. Er zuckte mit den Achseln und verneigte sich mit einem hochmütigen Lächeln.

»Kann ich nicht Oblonsky sprechen?«

Lewin fühlte sich nicht beleidigt durch das Achselzucken und das Lächeln. ›Was sollte er sonst tun?‹ dachte er.

»Ich werde ihn sogleich zu Ihnen senden.«

»Was ist das für ein Wahnsinn!« sagte Oblonsky, nachdem er von Weslowsky gehört hatte, dass man ihn aus dem Hause jage, zu Lewin, den er im Garten fand, in Erwartung der Abfahrt seines Gastes. »Das ist ja lächerlich!«

Lewin erbleichte und unterbrach hastig seinen Schwager.

»Ich kann nicht anders, obgleich es mir peinlich ist, dir und ihm gegenüber. Aber ich glaube, ihm macht es wenig Kummer, abzureisen. Mir aber und meiner Frau ist seine Anwesenheit unangenehm.«

»Aber das ist ja beleidigend für ihn und außerdem lächerlich.«

»Mir ist es auch beleidigend und dazu noch peinlich.«

»Nun, das hätte ich nicht von dir erwartet! Man kann wohl eifersüchtig sein, aber das geht zu weit!«

Lewin wandte sich rasch ab und ging allein in der Allee weiter. Bald hörte er, wie der Tarantas vorfuhr und sah durch die Bäume, wie Weslowsky mit seiner schottischen Mütze in der Allee vorüberfuhr.

Oblonsky und die Fürstin waren entrüstet über Lewins Benehmen, und er selbst fühlte, dass er sich höchst lächerlich gemacht hatte. Aber bei der Erinnerung, was er und seine Frau gelitten hatten, kam er zu der Einsicht, dass er in einem ähnlichen Fall ganz ebenso handeln würde. Am Abend dieses Tages waren, mit Ausnahme der Fürstin, die Lewin dieses Benehmen nicht vergessen konnte, alle ungewöhnlich angeregt und heiter und sprachen von der Verjagung Weslowskys in Abwesenheit der Fürstin wie von einem längst vergangenen Ereignis.

Darja Alexandrowna führte ihr Vorhaben aus, Anna zu besuchen. Um Lewin, der keinen Verkehr mit Wronsky wünschte, nicht zu verletzen, wollte sie im Dorf Pferde mieten. Aber als Lewin dies erfuhr, machte er ihr Vorwürfe darüber.

»Warum glaubst du, dass mir deine Fahrt unangenehm sein könnte? Wenn du mich nicht ernstlich erzürnen willst, so fährst du mit meinen Pferden.« Darja musste einwilligen.

Auf den Rat Lewins fuhr sie am frühen Morgen ab. Der Weg war schön, der Wagen bequem. Auf dem Bock saß außer dem Kutscher ein Schreiber, den Lewin ihr zum Schutz mitgegeben hatte. Darja war bei der Fahrt eingeschlummert und erwachte erst bei der Ankunft an dem Gasthaus, wo die Pferde gewechselt werden mussten.

Um zehn Uhr fuhr sie weiter. Zu Hause ließen ihr die Sorgen für die Kinder niemals Zeit zum Nachdenken, und jetzt, auf dieser vierundzwanzigstündigen Fahrt, überdachte sie ihr ganzes Leben wie nie zuvor. Ihr selbst erschienen ihre Gedanken seltsam. Anfangs dachte sie mit Besorgnis an ihre Kinder, obgleich dieselben der Obhut der Fürstin und Kittys anvertraut waren. Dann aber drängten sich ihr die Fragen der nächsten Zukunft auf. Diesen Winter mussten in Moskau eine neue Wohnung gemietet und für den Salon neue Möbel angeschafft werden, und ihre älteste Tochter musste einen neuen Pelz bekommen. Und dann erschienen die Fragen der ferneren Zukunft ihrer Kinder. ›Mit den Mädchen hat es noch Zeit‹, dachte sie, ›aber die Knaben...‹

Es ist gut, dass ich mich jetzt selbst mit Grischa beschäftigen kann. Auf Stiwa ist natürlich nicht zu rechnen, aber ich werde die Kinder auch ohne ihn aufziehen. Ja, und überhaupt‹, dachte Darja, indem sie auf ihr fünfzehnjähriges Eheleben zurücksah, ›was hat es mir gebracht? Schwangerschaft, Übelsein, geistige Niedergeschlagenheit, Gleichgültigkeit für alles; dann überdies noch Hässlichkeit. Wenn schon unsere junge, hübsche Kitty sich so verändert hat, so bin ich gewiss jedesmal in diesem Zustande abschreckend geworden, das weiß ich. Die Geburten, die entsetzlichen Leiden aller Art, die letzte Minute... dann das Nähren, diese schlaflosen Nächte, diese schrecklichen Schmerzen...‹ Darja schauderte schon bei der bloßen Erinnerung. ›Dann kommen die Kinderkrankheiten, diese ewige Angst, dann die Erziehung, abscheuliche Unarten, dann der Unterricht, das Lateinisch – alles das ist so unfaßbar und schwer. Und dazu kommt überdies noch der Tod der Kinder.‹ Und in ihrem stets sorgenvollen Mutterherzen erhoben sich die grausamen Erinnerungen an den Tod ihres letztgeborenen Kindes, das an Lungenentzündung gestorben war, an das Begräbnis, an die allgemeine Gleichgültigkeit bei dem Sarg und ihren einsamen herzzerreißenden Schmerz.

Und wozu das alles? Was ist die Folge davon? Nichts anderes, als dass ich keine Minute Ruhe habe, ewig ärgerlich, aufgeregt und zänkisch bin, mich selbst und andere quäle, meinem Manne widerlich werde und mein Leben damit hinbringe, unglückliche, schlechterzogene und arme Kinder aufzuziehen. Das Glücklichste, was ich erwarten kann, ist, dass die Kinder nicht missraten – das ist alles, was ich wünschen kann. Und so vergeht das ganze Leben unter Sorgen und Mühen!‹

»Ist's noch weit?« fragte Darja Alexandrowna den Schreiber, um ihren trüben Gedanken zu entgehen.

»Vom nächsten Dorf noch sieben Werst.«

Der Wagen fuhr durch die Dorfstraße über eine kleine Brücke. Eine Gruppe lustiger Weiber ging in lautem, vergnügtem Gespräch vorüber. Auf der Brücke blieben sie stehen und betrachteten neugierig den Wagen.

Alle freuen sich des Lebens‹, dachte Darja, als sie vorüberfuhr, ›ich aber fühle mich wie eine aus dem Gefängnis Beurlaubte, welche sich nur eines Augenblicks der Erholung erfreut. Alle wissen, was leben heißt: diese Weiber und meine Schwester Natalie, auch Anna, zu der ich fahre – nur ich nicht. Und Anna verurteilen. – Bin ich etwa besser? Ich habe wenigstens einen Mann, den ich liebe, aber Anna liebte den ihren nicht. Worin liegt ihre Schuld? Sie will leben. Gott hat dieses Verlangen in unsere Seele gelegt. Es ist sehr möglich, dass ich an ihrer Stelle ebenso gehandelt hätte. Und ich weiß auch bis jetzt noch nicht, ob ich wohl daran getan habe, dass ich ihren Rat in jener entsetzlichen Zeit befolgt habe, als sie zu mir nach Moskau kam. Damals hätte ich meinen Mann verlassen und ein neues Leben beginnen müssen; ich hätte noch lieben und wirklich geliebt werden können. Ist es etwa besser, was ich jetzt tue? Ich achte ihn nicht und ertrage ihn nur, weil er mir notwendig ist. Ist das etwa besser? Damals konnte ich noch anderen gefallen, meine Schönheit war mir noch geblieben‹, dachte sie weiter, ›aber vielleicht ist es auch jetzt noch nicht zu spät.‹ Sie erinnerte sich an Sergej Iwanowitsch und seine Liebenswürdigkeit gegen sie, an den gutmütigen Turowzin, der ihre Kinder während der Scharlachkrankheit gepflegt hatte und der in sie verliebt war, sowie an einen noch ganz jungen Menschen, der, nach der scherzenden Mitteilung ihres Mannes, sie für die hübscheste der drei Schwestern erklärt hatte. Und vor ihr entstanden die leidenschaftlichsten und unmöglichsten Romangebilde.

Anna hat sich vortrefflich benommen, und ich habe ihr keinen Vorwurf zu machen. Sie ist glücklich und macht einen anderen Menschen glücklich; sie ist nicht niedergedrückt wie ich und wahrscheinlich ebenso frisch, geistreich und empfänglich für alles, wie immer‹, dachte Darja, und ein schalkhaftes Lächeln erschien auf ihren Lippen, besonders, als sie im Geiste einen ähnlichen Roman wie Anna durchlebte, mit einem bezaubernden jungen Mann, der in sie verliebt war. Sie stellte sich vor, wie sie alles ihrem Manne eingestehen würde, und lachte über die Verwunderung und Verwirrung Oblonskys bei dieser Nachricht. Unter solchen Phantasiebildern bog sie endlich in die große Allee ein, welche zu dem Gute Wronskys führte.

Der Kutscher hielt das Viergespann an und blickte nach rechts auf das Ackerfeld, wo einige Bauern bei einem Wagen Rast hielten. Der Schreiber rief die Bauern mit gebieterischem Wink zu sich.

»Rasch, rasch!« rief er dem Bauern zu, welcher sich langsam näherte. »Kannst du nicht rascher gehen?« Der Bauer, ein Greis mit gebogenem Rücken, beeilte seine Schritte.

»Nach Wosdwischensk ins Herrenhaus zum Grafen?« wiederholte er. »Den Seitenweg links, aber wer seid ihr denn selbst?«

»Sind sie zu Haus, mein Täubchen?« fragte Darja in etwas unbestimmter Weise, da sie nicht wusste, wie sie nach Anna fragen sollte.

»Sie müssen zu Hause sein«, sagte der Bauer, der augenscheinlich sehr gesprächig gestimmt war. »Gestern sind noch Gäste angekommen und es sind schon eine ganze Menge da.«

»Also nach links?« fragte der Kutscher. Eben hatte sich die Kutsche wieder: in Bewegung gesetzt, als der Bauer ihnen nachrief: »Halt, halt! Da kommen sie, das sind sie selbst.« Er deutete auf vier Reiter und zwei Personen in einem Charaban, die ihnen entgegenkamen. Es war Wronsky mit seinem Jockei, Weslowsky und Anna, alle vier zu Pferde, während die Fürstin Barbara mit Swjaschski im Charaban folgte. Sie waren auf das Feld geritten, um eine neu eingetroffene Mähmaschine zu besichtigen. Anna ritt mit Weslowsky in ruhigem Schritt voraus auf einem nicht sehr hohen kräftigen englischen Pferd. Ihr schöner Kopf mit den reichen schwarzen Haaren war von einem hohen Herrenhut bedeckt. Dolly bewunderte ihre vollen Schultern, ihre feine Taille im schwarzen Reitkleid, ihren ruhigen, graziösen Sitz.

Neben ihr ritt Weslowsky mit seiner schottischen Mütze auf einem Kavalleriepferd, und Darja konnte ein heiteres Lächeln bei seinem Anblick nicht zurückhalten. Hinter ihnen folgte Wronsky auf einem Vollblutpferd, das er mit einiger Mühe zurückhielt, während ein kleiner Mensch im Jockeikostüm den Schluss bildete. Annas Gesicht strahlte, als sie die kleine Gestalt Dollys in der Ecke der alten Kutsche erkannte. Mit einem freudigen Ausruf setzte sie ihr Pferd in Galopp. Bei der Kutsche angelangt, sprang sie ohne Hilfe herab, nahm ihr Reitkleid zusammen und eilte Dolly entgegen.

»Welche Freude! Ich habe so oft an dich gedacht und wagte kaum, auf deinen Besuch zu hoffen«, rief sie aus, indem sie Dolly umarmte und küsste.

»Höre, Alexej, welches Glück!« rief sie Wronsky zu. Er nahm seinen schwarzen, hohen Hut ab und begrüßte Dolly.

»Sie glauben nicht, wie sehr wir über Ihre Ankunft erfreut sind«, sagte er mit ganz besonderem Ausdruck. Weslowsky nahm ebenfalls seine Mütze ab, ohne abzusteigen.

»Das ist die Fürstin Barbara«, erwiderte Anna auf den fragenden Blick Dollys.

»Oh!« sagte Darja, und in ihrer Miene zeigte sich etwas Missvergnügen.

Die Fürstin Barbara war eine Tante ihres Mannes und Annas, welche ihr ganzes Leben lang bei reichen Verwandten eine Zuflucht suchte. Aber dass sie jetzt bei Wronsky, einem ihr ganz fremden Mann, wohnte, missfiel Dolly sehr.

Darja trat an den Charaban und begrüßte die Fürstin Barbara gemessen und kühl. Sie war auch mit Swjaschski bereits bekannt. Sie betrachtete mit Bewunderung diesen eleganten Wagen, diese schönen Pferde. Noch mehr aber war sie erstaunt über den Wechsel, der in ihrer geliebten Anna vorgegangen war, über jene Schönheit, die nur im Augenblick der Liebe an den Frauen sichtbar wird, und die sie jetzt an Anna erkannte. Alles an ihrer Person, die Grübchen der Wangen und das Kinn, ihr Lächeln, der Glanz ihrer Augen, die Grazie der schnellen Bewegungen, alles zeigte vollendete Anmut, und sie selbst schien das zu wissen und sich darüber zu freuen.

Als die beiden Frauen in die Kutsche stiegen, befiel sie plötzlich eine gewisse Befangenheit.

Anna betrachtete das hagere, erschöpfte, faltige und mit Staub bedeckte Gesicht Dollys und wollte ihr sagen, sie finde, dass sie abgenommen habe. Aber die Bewunderung für ihre Schönheit, die sie in Dollys Blicken las, hielt sie davon ab. Sie seufzte und begann von sich selbst zu sprechen.

»Du siehst mich an«, sagte sie, »und fragst, ob ich in meiner Lage glücklich sein könne, nun, und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich unverzeihlich glücklich bin, ganz, als ob ich von einem bösen, schweren Traum erwacht wäre.«

»Wie freue ich mich«, sagte Dolly lächelnd und unwillkürlich etwas kühler, als sie selbst wollte. »Aber warum hast du mir nicht geschrieben?«

»Warum? ... Weil ich es nicht wagte ... Du vergisst meine Stellung.«

»Mir? Du wagtest es nicht? Doch davon später. Aber was sind das für Gebäude?« fragte sie, um das Gespräch abzulenken, und deutete nach roten und grünen Dächern, die hinter dem üppigen Grün eines Akaziengehölzes sichtbar wurden. »Das ist wie ein kleines Städtchen.«

Aber Anna antwortete nicht darauf. »Nein, nein, sage mir, was du von meiner Stellung denkst«, fragte sie.

»Ich denke gar nichts darüber«, sagte sie, »ich habe dich nur immer geliebt, und wenn man liebt, so liebt man einen Menschen, wie er ist, und nicht, wie man ihn haben möchte.«

Anna wandte ihre Blicke ab und schloss halb ihre Augen, um über den Sinn dieser Worte nachzudenken.

Und augenscheinlich hatte sie diese in gutem Sinn aufgefasst. »Wenn du Sünden hast«, sagte sie, »so werden sie dir alle vergeben dafür, dass du gekommen bist und für diese Worte.«

Dolly sah, dass Anna Tränen in den Augen hatte. Schweigend drückte sie ihr die Hand. »Was aber sind das für Gebäude?« wiederholte Dolly ihre Frage nach kurzem Schweigen.

»Das sind die Wohnungen der Dienstleute, Fabriken, Ställe«, erwiderte Anna. »Und dort fängt der Park an. Alles war verwildert, aber Alexej hat alles erneuern lassen, er liebt dieses Gut sehr. Siehst du jenes große Gebäude? Das ist ein neues Krankenhaus. Ich glaube, es kostet schon mehr als Hunderttausend, das ist jetzt sein Spielzeug. Und weißt du, wie das entstand? Die Bauern baten ihn, ihnen eine Wiese billiger abzulassen, er verweigerte dies und ich machte ihm Vorwürfe über seine Geldgier. Darauf fing er dieses Krankenhaus zu bauen an, um mir zu zeigen, dass er nicht geizig sei. Jetzt wirst du gleich das Herrenhaus sehen. Es rührt noch von seinem Großvater her und ist im Äußeren ganz unverändert erhalten worden.«

»Wie schön!« sagte Dolly mit unwillkürlicher Verwunderung beim Anblick des prächtigen Hauses mit Säulenreihen, das jetzt zwischen den alten Bäumen des Gartens hervortrat.

»Nicht wahr, es ist schön? Und von oben hat man eine entzückende Aussicht.«

Sie fuhren in den weiten Vorhof ein, der mit Zierpflanzen geschmückt war.

»Ach, sie sind schon da!« sagte Anna, als sie die Reitpferde erblickte, die eben durch das Gittertor hinausgeführt wurden. »Nicht wahr, es ist ein schönes Pferd, mein Lieblingspferd. Gebt ihm Zucker! Wo ist der Graf?« rief sie den beiden Lakaien zu, die an der Eingangstür erschienen. »Ach, da ist er!« sagte sie, als Wronsky mit Weslowsky ihnen entgegenkam.

»Wo werden Sie die Fürstin placieren?« fragte Wronsky. Und ohne eine Antwort abzuwarten, begrüßte er nochmals Darja Alexandrowna und küsste ihre Hand. »Ich denke im großen Balkonzimmer.«

»O nein, das ist zu weit entfernt. Besser im Eckzimmer, dann können wir uns bequemer sehen. Nun komm«, sagte sie, »ich hoffe, du wirst längere Zeit bei uns bleiben. Wie, nur auf einen Tag? Das ist unmöglich.«

»Ich habe es versprochen, und die Kinder ...«, sagte Dolly.

»Nein, Dolly, mein Herz ... Nun, wir werden sehen. Komm nur, komm –«

Das für Dolly bestimmte Zimmer war mit einem Luxus ausgestattet, wie ihn Dolly ähnlich noch nie gesehen hatte. »Ich bin glücklich, mein Herz«, sagte Anna, als sie sich auf einen Augenblick in ihrem Reitkleid neben Dolly setzte. »Erzähle mir von den Deinigen. Stiwa habe ich flüchtig gesehen, aber er weiß nichts von den Kindern zu erzählen. Was macht Tanja? Sie muss schon ein großes Mädchen sein.«

»Ja, sehr groß«, erwiderte Darja kurz. »Wir leben sehr gut bei Lewins«, fügte sie hinzu.

»Ach, wenn ich wüsste, dass du mich nicht verachtest ... Ihr würdet alle zu uns kommen. Stiwa ist ja ein alter und intimer Freund von Alexej«, fügte sie hinzu und errötete plötzlich.

»Ja, es geht uns aber auch so ganz gut«, erwiderte Dolly verwirrt.

»Nun ja, in meiner Freude spreche ich unsinniges Zeug«, erwiderte Anna und küsste Dolly nochmals. »Du hast mir aber noch nicht gesagt, was du über mich denkst, und ich will alles wissen. Aber es freut mich, dass du mich siehst, wie ich bin. Ich will nur leben, ohne irgend jemand Böses zu tun, außer mir selbst. Dazu habe ich doch das Recht, nicht wahr? Ich gehe, um mich umzukleiden, und werde dir eine Zofe schicken.«

Allein geblieben, musterte Darja das ihr zugewiesene Zimmer. Alles, was sie in dem Hause gesehen hatte, machte den Eindruck des Überflusses und des Prunkes und jenes neuen europäischen Luxus, von dem sie nur in englischen Romanen gelesen hatte. Die ganze Einrichtung war neu, von den französischen Tapeten an bis herab zu den Teppichen, die den ganzen Fußboden bedeckten. Das üppige Federbett, der Marmorwaschtisch, das Sofa, die Tische, die Bronzeuhr auf dem Kamin, die Gardinen und Bilder an den Wänden – alles war neu und kostbar.

Ebenso neu war auch die elegante Kammerzofe mit moderner Frisur und Kleidung. Ungeachtet der Höflichkeit, Reinlichkeit und Dienstwilligkeit derselben fühlte sich Darja aber doch unbehaglich. Sie war verlegen über ihre ausgebesserte Nachtjacke. Jetzt schämte sie sich über diese ausgeflickten Stellen, auf die sie sonst so stolz gewesen war, und war sehr erfreut, als die Zofe zu ihrer Herrin gerufen wurde und Annuschka, die alte Bekannte Dollys, zu ihr ins Zimmer trat.

Annuschka sprach unaufhörlich. Dolly bemerkte, dass sie ihre Meinung über die Lage ihrer Herrin auszusprechen wünschte, besonders in bezug auf die Liebe und Ergebenheit des Grafen für Anna Arkadjewna. Aber Dolly unterbrach sie, sobald sie davon zu reden anfing. Dolly war erfreut, als Anna eintrat und dadurch die schwatzhafte Annuschka zum Schweigen brachte.

Anna war jetzt vollkommen gleichmütig und ruhig, als ob die Tür zu jener Abteilung, wo ihre Gefühle und ihre schwermütigen Gedanken sich befanden, jetzt verschlossen sei.

»Nun, und was macht deine kleine Anna?« fragte Dolly.

»Sie ist gesund und gedeiht sehr gut. Willst du sie sehen? Komm, ich werde sie dir zeigen.«

»Nun, und wie habt ihr sie ...«, begann Dolly, um nach dem Namen zu fragen. Aber als sie bemerkte, wie Annas Miene sich plötzlich verdüsterte, suchte sie ihrer Frage einen anderen Sinn zu geben – »habt ihr sie schon entwöhnt?«

Aber Anna hatte begriffen. »Das war es nicht, was du fragen wolltest. Du wolltest nach ihrem Namen fragen, nicht wahr? Das ist eine große Sorge für Alexej. Sie hat keinen Namen außer Karenin«, sagte Anna. »Übrigens, davon sprechen wir später. Komm, ich werde sie dir zeigen, sie ist sehr niedlich und kriecht schon umher.«

Auch im Kinderzimmer fand Dolly denselben Luxus, den sie im ganzen Hause bewunderte, Kinderwagen, Vorrichtungen zum Gehenlernen, einen großen Diwan, Wiegen und Badewannen neuer Erfindung. Alles das war von englischer Arbeit, solid und augenscheinlich sehr teuer. Es war ein großes, sehr hohes und helles Zimmer.

Als sie eintraten, saß die Kleine im bloßen Hemdchen auf einem Stühlchen am Tisch. Ein russisches Kindermädchen gab dem Kinde Suppe zu essen, mit welcher sein ganzes Hemdchen begossen war, und speiste wahrscheinlich mit. Weder die Amme, noch die Bonne waren zugegen. Man hörte, wie beide sich im Nebenzimmer in einem seltsamen Französisch unterhielten, in dem sie allein sich verständigen konnten.

Die schwarzhaarige Kleine mit ihrem gesunden Aussehen gefiel Dolly sehr, ungeachtet der finsteren Blicke, mit denen sie das neue Gesicht ansah. Als man sie auf den Teppich gesetzt hatte, sah sie merkwürdig niedlich aus, die glänzenden schwarzen Augen schauten nach allen Richtungen, augenscheinlich erfreut darüber, bewundert zu werden. Sie lächelte, stützte sich auf beide Ärmchen und bewegte sich rasch weiter.

Aber die Atmosphäre der Kinderstube missfiel Darja sehr. Außerdem begriff Darja schon nach den ersten Worten, dass der Besuch der Mutter etwas Ungewöhnliches war. »Zuweilen ist es betrübend für mich, dass ich hier so überflüssig bin«, sagte Anna, als sie das Kinderzimmer verließen. »Bei dem ersten war es anders.«

»Ich glaubte im Gegenteil«, bemerkte Darja schüchtern.

»0 nein, du weißt, ich habe ihn gesehen, ich habe Serescha gesehen«, sagte Anna, während ihr Blick ins Weite schweifte. »Übrigens, davon sprechen wir später. Ich bin wie eine Ausgehungerte, der unverhofft ein reiches Mahl vorgesetzt wird, so dass sie nicht weiß, wonach sie zuerst greifen soll. Das reiche Mahl, das bist du. Ich möchte so viel mit dir sprechen, was ich mit niemand besprechen konnte, und weiß nicht, wonach ich zuerst greifen soll. Nun, ich muss dir auch noch die Gesellschaft beschreiben, die du bei uns vorfindest«, fuhr sie fort. »Ich beginne mit den Damen, du kennst die Fürstin Barbara. Sie ist ein gutes Wesen, und ich bin ihr dankbar. In Petersburg, wo ich eine Anstandsdame sehr nötig hatte, war sie mir sehr von Nutzen. Ich sehe, du begreifst nicht alle Schwierigkeiten meiner Lage ... dort in Petersburg. Hier bin ich ganz ruhig und glücklich. Also weiter. Dann ist auch Swjaschski hier. Er ist Landmarschall und ein vortrefflicher Mann und hat Alexej sehr nötig. Du begreifst, dass Alexej bei seinem Vermögen jetzt, wo wir auf dem Lande leben, überall großen Einfluss hat. Dann Tuschkewitsch, den du bei Betsy gesehen hast. Man hat ihn dort entlassen, worauf er zu uns kam. Er ist, wie Wronsky sagt, einer der Menschen, die sehr angenehm sein können, wenn man sie für das nimmt, was sie scheinen wollen. Dann Weslowsky ... du kennst ihn ja schon, ein sehr guter Junge. Er hat eine ganz unglaubliche Geschichte von Lewin erzählt, er ist sehr elegant und naiv. – Die Männer haben Unterhaltung nötig und Alexej braucht ein Publikum, weshalb mir diese ganze Gesellschaft willkommen ist. Es muss bei uns lebhaft und heiter sein, damit Alexej sich nicht nach Neuem sehnt. Außerdem wirst du auch den Verwalter sehen, einen Deutschen, der sehr tüchtig ist und seine Sache versteht, Alexej schätzt ihn sehr, dann den Arzt, einen jungen Mann, der nicht gerade Nihilist ist, aber weißt du, er speist mit dem Messer, ist aber sonst ein guter Arzt, endlich auch den Architekten ... Es ist eine ganze Hofhaltung bei uns.«

»Hier haben Sie die Dolly, Fürstin, die Sie so sehr zu sehen wünschten«, sagte Anna, als sie zusammen mit Darja auf die große steinerne Terrasse trat, wo die Fürstin Barbara mit einer Stickerei im Schatten saß. »Sie sagt, sie wünsche nichts vor dem Diner zu essen, aber lassen Sie ihr Frühstück auftragen, während ich Alexej aufsuche, um alle Gäste hierherzubringen.«

Die Fürstin Barbara empfing Dolly freundlich und etwas herablassend und erklärte ihr sogleich, sie sei zu Anna gezogen, weil sie diese noch mehr als ihre Schwester Katharina Pawlowna liebe, dieselbe, die Anna aufgezogen hatte. Und jetzt, wo alle Anna verlassen haben, habe sie es für ihre Pflicht gehalten, ihr in dieser schwierigen Übergangsperiode beizustehen.

»Ihr Mann wird in die Scheidung einwilligen und dann ziehe ich mich wieder in die Einsamkeit zurück. Jetzt aber kann ich ihr nützlich sein und erfülle meine Pflicht, so schwer sie mir auch sein mag. – Und wie liebenswürdig, dass du gekommen bist. Man lebt hier auf sehr elegantem Fuß, ganz nach englischer Art. Man versammelt sich morgens beim Frühstück, dann trennt man sich, und jeder tut, was er will, bis zum Mittagessen um sieben Uhr. Stiwa hat sehr wohlgetan, dich hierher zu senden, er muss suchen, Freundschaft mit ihnen zu halten. Du weißt doch, seine Mutter und sein Bruder haben großen Einfluss. Sie tun auch sehr viel Gutes. Hat er dir nicht von seinem Krankenhaus erzählt? Es wird wundervoll werden – alles ist aus Paris verschrieben.«

Ihr Gespräch wurde durch Anna unterbrochen, welche die Herren beim Billard gefunden hatte und sie auf die Terrasse führte. Es blieb noch viel Zeit bis zum Mittag, das Wetter war prachtvoll, und Weslowsky schlug ein Ballspiel vor.

»Nein, dazu ist es zu heiß. Besser, wir gehen durch den Garten und machen eine Bootsfahrt, um Darja Alexandrowna die Ufer zu zeigen«, schlug Wronsky vor.

Weslowsky und Tuschkewitsch gingen nach dem Badehaus und versprachen, das Boot bereitzuhalten und die Gesellschaft zu erwarten.

Anna ging mit Swjaschski und Dolly mit Wronsky. Sie war etwas verlegen in dieser ihr ganz neuen Umgebung. Innerlich war sie nicht imstande, Anna zu verurteilen, sie beneidete sogar diese verbrecherische Liebe, die sie aus der Ferne sah. Auch liebte sie Anna von Herzen. Aber in der Wirklichkeit fühlte sich Dolly unbehaglich inmitten dieser fremden Personen mit ihrem ihr noch neuen feinen Ton. Besonders missfiel ihr die Fürstin Barbara, die alles vergab wegen der Vorteile, die sie genoss. An der Seite dieses Mannes, für den Anna diese Schuld auf sich genommen hatte, fühlte sie ein entschiedenes Unbehagen. Außerdem hatte ihr Wronsky nie gefallen. Sie hielt ihn für sehr stolz und sah an ihm nichts, worauf er hätte stolz sein können, außer seinem Reichtum. Aber hier in seinem Hause imponierte er ihr noch mehr als früher, und sie vermochte nicht, unbefangen mit ihm zu reden.

Um etwas zu sprechen, bemerkte sie, dass das Landhaus ihr sehr gefalle.

»Ja, es ist ein sehr schönes Gebäude in altertümlichem Stil«, sagte er.

»Besonders gefiel mir der Hof vor dem Haupteingang, war er immer so?«

»O nein«, erwiderte er, und sein Gesicht strahlte vor Vergnügen. »Wenn Sie diesen Hof im vorigen Sommer gesehen hätten!« Er machte sie auf verschiedene Einzelheiten an dem Hause und im Garten aufmerksam, wobei er immer lebhafter wurde. »Wenn Sie nicht ermüdet sind, so wäre es Ihnen vielleicht gefällig, das Krankenhaus zu besichtigen, es ist nicht weit von hier. Kommen Sie«, sagte er, sie forschend anblickend, um sich zu überzeugen, dass dieser Vorschlag ihr nicht lästig sei.

»Kommst du mit, Anna?« fragte er.

»Wir kommen alle, nicht wahr? Aber wir dürfen den armen Weslowsky und Tuschkewitsch nicht so lange im Boot sitzen lassen, man muss sie benachrichtigen.«

»Hier dieser Weg führt zum Krankenhaus«, sagte Wronsky und bog in einen Seitenweg ein.

Nach einigen Biegungen gingen sie durch eine Pforte hinaus und sahen vor sich auf einer Anhöhe ein großes, schon fast vollendetes Gebäude von rotem Backstein. Das noch ungestrichene eiserne Dach glänzte im hellen Sonnenschein. Daneben wurde ein zweites Gebäude erbaut.

»Zum Herbst wird alles fertig sein, innen ist fast alles schon eingerichtet«, sagte Anna.

»Und wozu ist dieses neue Gebäude?«

»Das ist die Wohnung für die Ärzte und die Apotheke«, erwiderte Wronsky. Dann führte er die Damen in das Innere des Krankenhauses. Sie stiegen die breite eiserne Treppe hinauf und traten in das erste große Zimmer.

»Dies ist das Empfangszimmer«, erklärte Wronsky, »hier wird ein Schreibpult, ein Tisch, ein Schrank stehen und nichts weiter.« In einem Korridor zeigte Wronsky die Einrichtung der Ventilation nach neuem System. Dann besahen sie die Marmorwannen, die Betten mit Federmatratzen, dann die Säle, die Vorratskammern, die Wäschekammern, die Öfen und vieles andere. Dolly war ganz erstaunt über so viel noch nie Gesehenes und erkundigte sich sehr genau zum sichtlichen Vergnügen Wronskys.

»Ich glaube sicher, dass dies das einzige modern eingerichtete Krankenhaus in Russland sein wird«, bemerkte Swjaschski.

Darja interessierte sich für alles. Am meisten aber gefiel ihr jetzt Wronsky mit seinem natürlichen, naiven Eifer. ›Er muss ein sehr guter Mensch sein‹, dachte sie dabei.

»Ich glaube, die Fürstin ist ermüdet und die Pferde werden Sie nicht interessieren«, erwiderte Wronsky, als Anna vorschlug, nach dem Pferdestall zu gehen, wo Swjaschski ein neues Füllen sehen wollte. »Während Sie dorthin gehen, werde ich die Fürstin nach Hause begleiten, wenn es Ihnen angenehm ist«, sagte er und blickte Dolly fragend an.

»Ich verstehe nichts von Pferden, und Ihre Begleitung wird mir sehr angenehm sein«, sagte Darja etwas verwundert. Sie sah an Wronskys Gesicht, dass er ihr etwas sagen wollte.

Sobald sie durch die Pforte wieder in den Garten eingetreten waren, wandte er sich an Dolly. »Sie haben erraten, dass ich mit Ihnen sprechen wollte«, begann er. »Ich bin überzeugt, Sie sind Annas Freundin.« Er nahm den Hut ab und wischte mit einem Tuch seinen schon ziemlich kahlen Kopf ab.

Darja blickte ihn erwartungsvoll an. Die blitzenden Augen und der strenge Ausdruck seines Gesichts erschreckten sie. Die verschiedenartigsten Vermutungen über das, was er ihr sagen wollte, stürmten auf sie ein.

»Sie haben einen so großen Einfluss auf Anna, die Sie so sehr liebt«, sagte er. »Helfen Sie mir.«

Darja blickte fragend sein energisches Gesicht an und erwartete, was er weiter sagen werde.

»Wenn Sie, die einzige Frau von allen früheren Freundinnen Annas, zu uns kamen – die Fürstin Barbara rechne ich nicht–, so schließe ich daraus, dass Sie die Schwierigkeit dieser Lage einsehen, dennoch aber Anna lieben und ihr zu Hilfe kommen wollen«, sagte er, indem er sie fragend anblickte.

»O ja«, erwiderte Darja, ihren Sonnenschirm zusammenlegend, »aber ...« »Nein«, unterbrach er sie und blieb stehen, so dass auch sie genötigt war, stehenzubleiben. »Niemand kann stärker als ich die ganze Schwere von Annas Lage begreifen, weil ich mir sagen muss, dass ich die Veranlassung dazu bin.«

»Ich begreife«, sagte Darja Alexandrowna, welche die Offenheit und Festigkeit in seiner Rede mit Wohlgefallen bemerkte. »Aber eben deshalb, weil Sie sich als die Ursache anklagen, übertreiben Sie vielleicht. Ihre Stellung in der Gesellschaft ist peinlich, das begreife ich.«

»Die Gesellschaft ist die Hölle«, erwiderte er finster.

»Ja, aber hier, solange weder Anna noch Sie Verlangen nach der Gesellschaft haben ...«

»Die Gesellschaft?« wiederholte er mit Verachtung, »wie sollte ich nach ihr Verlangen haben?«

»So lange – und das kann für immer sein – sind Sie glücklich und ruhig. Ich sah an Anna, dass sie glücklich ist, vollkommen glücklich, das hat sie mir schon selbst gesagt.«

»Ja, ja«, sagte er, »ich weiß, dass sie wieder auflebte nach jenen Leiden. Sie ist glücklich in der Gegenwart, aber ich ... ich fürchte das, was uns später erwartet ... Entschuldigen Sie, Sie wollten weitergehen.«

»O nein, es ist mir ganz gleichgültig.«

»Nun, dann setzen wir uns hier.«

Darja Alexandrowna ließ sich auf eine Gartenbank nieder, während er vor ihr stehenblieb.

»Ich sehe, dass sie glücklich ist«, sagte er, während in Dolly noch stärkere Zweifel daran aufstiegen. »Aber kann das so fortdauern? Ob wir gut oder schlecht gehandelt haben, das ist eine andere Frage. Aber die Würfel sind gefallen und wir sind für das ganze Leben verbunden. Wir sind durch die heiligen Bande der Liebe vereint. Wir haben ein Kind und können noch mehrere bekommen. Aber das Gesetz und unsere Lage sind derart, dass tausend Schwierigkeiten entstehen können, die sie jetzt nicht einsieht und nicht sehen will, während sie sich von allen diesen Leiden erholt. Ich aber muss daran denken. Meine Tochter ist nach dem Gesetz nicht die meinige, sondern Karenins. Ich verabscheue diese schiefe Lage«, sagte er mit einer energischen Gebärde und blickte Darja düster und fragend an.

Sie wusste nichts zu antworten. Er fuhr fort: »Vielleicht werde ich einen Sohn haben, und mein Sohn wird nach dem Gesetz ein Karenin sein. Er kann weder meinen Namen noch mein Vermögen erben. Und so glücklich auch unser Familienleben sein mag, soviel Kinder wir auch haben könnten – zwischen mir und ihnen besteht keine Verbindung. Sie heißen Karenin. Sie begreifen, wie entsetzlich diese Situation ist. Ich versuchte, darüber mit Anna zu sprechen, aber es regt sie auf, und ich kann ihr auch nicht alles sagen. Nun betrachten Sie auch die andere Seite. Ich bin glücklich über ihre Liebe, aber ich muss eine Beschäftigung haben. Ich fand diese Beschäftigung, ich bin stolz darauf und halte sie für nutzbringender und dem Allgemeinwohl dienlicher als alles das, was meine früheren Kameraden im Dienst oder bei Hofe tun. Aber ich muss auch die Überzeugung haben, dass das, was ich schaffe, nicht mit mir stirbt, dass ich Nachfolger haben werde – und diese fehlen mir. Stellen Sie sich die Gefühle eines Menschen vor, der im voraus weiß, dass seine Kinder und die der Frau, die er liebt, einem anderen, einem Fremden gehören, der sie verabscheut und nichts von ihnen wissen will. Das ist entsetzlich!«

Er schwieg und konnte seine starke Erregung nicht verbergen.

»Ja, wirklich, ich begreife das. Aber was kann Anna daran ändern?« fragte Darja.

»Das bringt mich auf den Zweck unseres Gesprächs«, sagte er, sich mit Mühe fassend. »Selbst um eine Bittschrift an den Kaiser zu richten, ist zuvor die Scheidung unumgänglich nötig, und diese hängt von Anna ab. Ihr Gemahl hat damals Karenin dazu gebracht, in die Scheidung zu willigen. Und ich weiß, auch jetzt würde er sich nicht weigern; man muss ihm nur schreiben. Er äußerte damals, wenn Anna den Wunsch ausspreche, so werde er sich nicht weigern. Das ist natürlich eine seiner pharisäischen Grausamkeiten. Er weiß, wie peinlich ihr jede Erinnerung an ihn ist, und dennoch verlangt er von ihr einen Brief. Ich begreife, dass sie davor zurückschreckt. Aber die Sache ist so wichtig, dass man alle Gefühle zum Schweigen bringen muss. Es handelt sich um das Glück Annas und ihrer Kinder; von dem meinigen nicht zu sprechen. Und darum, Fürstin, wende ich mich an Sie. Helfen Sie mir, Anna zu überreden, dass sie an ihn schreibt und die Scheidung verlangt.«

»Das will ich versuchen«, sagte Darja gedankenvoll, »aber wie kommt es, dass sie selbst nicht daran denkt?« Sie erinnerte sich unwillkürlich an die Gewohnheit Annas, die Augen halb zu schließen. ›Ganz ebenso liebt sie, auch ihr geistiges Auge halb zu schließen, wenn sie ihr Leben überblickt, um nicht alles zu sehen‹, dachte Darja. »Jedenfalls werde ich mit ihr sprechen«, wiederholte sie.

Sie standen auf und gingen dem Hause zu.

Anna kam später als Dolly zurück und blickte ihr forschend in die Augen, als ob sie nach dem Inhalt ihres Gespräches mit Wronsky fragen wollte.

»Es ist Zeit, zu speisen«, sagte sie. »Wir haben uns noch kaum gesprochen. Ich rechne auf heute Abend. Jetzt müssen wir uns umkleiden; unsere Kleider sind auf dem Bau ganz staubig geworden.«

Dolly ging in ihr Zimmer und musste über sich selbst lachen. Sie hatte nur ihr bestes Kleid mitgebracht. Aber um doch ihre Toilette zu erneuern, ließ sie ihr Kleid abstäuben und legte Spitzen in ihr Haar.

»Das ist alles, was ich tun konnte«, sagte sie zu Anna, die schon in ihrer dritten Toilette in Dollys Zimmer trat.

»Ja, wir sind hier sehr förmlich«, erwiderte Anna, als ob sie ihre Eleganz entschuldigen wollte. »Alexej ist so erfreut über deine Ankunft, wie selten über irgend etwas. Ich glaube, er ist wirklich verliebt in dich.«

Vor Tisch blieb nicht mehr Zeit, über irgend etwas zu sprechen. Als sie in das Speisezimmer eintraten, trafen sie schon die Fürstin Barbara und die Herren in schwarzen Röcken an. Wronsky stellte Dolly den Doktor und den Verwalter vor; den Architekten hatte sie schon auf dem Bau gesehen.

Der dicke Haushofmeister mit glänzend weißer Krawatte meldete, es sei serviert, und die Damen erhoben sich. Wronsky bat Swjaschski, Anna den Arm zu reichen, während er selbst sich Dolly näherte. Weslowsky beeilte sich, die Fürstin Barbara zu Tisch zu führen, und die übrigen Herren gingen allein. Die Tafel, das Service, die Bedienung, die Weine und die Speisen entsprachen ganz dem modernen Luxus des Hauses. Während sich die Gäste gern mit dem Glauben begnügen, dass alles, was der Gastgeber ihnen vorsetzen lässt, sich ganz von selbst mache, wusste Dolly als erfahrene Hausfrau sehr wohl, dass nichts, auch nicht das geringste, von selbst geschieht und dass eine treibende Kraft dazu nötig ist. An dem Blick, mit dem Wronsky die Tafel musterte und dem Haushofmeister ein Zeichen gab, begriff sie, dass diese treibende Kraft vom Herrn des Hauses ausging. Anna widmete sich nur der Unterhaltung ihrer Gäste. Sie leitete das Gespräch mit Takt, unbefangen und sogar mit Vergnügen. Man sprach zuerst von den letzten Wettfahrten des Jagdklubs in Petersburg. Aber Anna wandte sich sogleich während einer Pause an den Architekten und sprach über das rasche Fortschreiten des neuen Gebäudes.

»Mit Seiner Erlaucht ist es leicht zu arbeiten«, sagte der; Architekt lächelnd, »er ist ein ruhiger, selbstbewusster Bauherr. Es ist ganz anders, als wenn man mit Behörden zu tun hat. Dort wird über jede Kleinigkeit ein Ries Papier verschrieben, hier aber mache ich dem Grafen Meldung; wir besprechen die Sache und mit drei Worten ist alles entschieden.«

»Das ist amerikanische Art«, bemerkte Swjaschski. Dann kam das Gespräch auf den Missbrauch der Gewalt in den Vereinigten Staaten, aber Anna lenkte es auf ein anderes Thema, um auch dem Verwalter Gelegenheit zur Beteiligung zu geben.

»Hast du einmal eine Mähmaschine gesehen?« wandte sie sich an Dolly. »Wir wollten eine solche eben besichtigen, als wir dir begegneten.«

»Wie arbeitet sie?« fragte Dolly.

»Ganz wie eine Schere; es ist ein Rahmen mit vielen kleinen Messern, siehst du, so.« Anna ergriff mit ihren weißen Händen Messer und Gabel. Sie hatte augenscheinlich gesehen, dass ihre Erklärung ungenügend sein musste, aber da sie sich ihrer hübschen Hände bewusst war, setzte sie ihre Bemühungen fort.

»Wir glaubten, Sie auf dem Felde anzutreffen«, wandte sie sich dann an den Doktor. »Sie waren nicht dort?«

»O doch«, erwiderte der Doktor, »ich war da.«

»Nun, wie geht's der Alten? Ich hoffe, es ist nicht Typhus.«

»Das ist noch ungewiss, aber es sieht schlimm aus.«

»Wie schade«, sägte Anna.

Das Gespräch zwischen den Gästen, mit Ausnahme des Doktors, des Architekten und des Verwalters, die in respektvollem Schweigen verharrten, verstummte keinen Augenblick. Einmal aber geriet Darja so in Erregung, dass sie sogar errötete, als Swjaschski über Lewin sprach und seine seltsame Behauptung erwähnte, dass die Maschinen für die russische Landwirtschaft schädlich seien. »Ich habe nicht das Vergnügen, diesen Herrn Lewin zu kennen«, sagte Wronsky lächelnd, »aber wahrscheinlich hat er niemals die Maschine gesehen, die er verurteilt, jedenfalls keine ausländische.« »Hat überhaupt ganz türkische Ansichten«, bemerkte Weslowsky lachend.

»Ich kann seine Ansichten nicht verteidigen«, sagte Darja errötend, »ich kann nur sagen, dass er ein sehr gebildeter Mann ist, und wenn er da wäre, so würde er auch zu antworten wissen.«

»Wir sind gute Freunde«, sagte Swjaschski mit gutmütigem Lächeln, »aber er hat Eigenheiten. Er behauptet, die Landschaftsversammlungen und die Friedensrichter seien ganz überflüssig.«

»Das ist unsere russische Gleichgültigkeit«, sagte Wronsky, »man hat kein Gefühl für die Verpflichtungen, die uns unsere Rechte auferlegen.«

»Ich kenne keinen Menschen, der in der Erfüllung seiner Verpflichtungen strenger wäre als Lewin«, sagte Dolly, empfindlich über den Ton der Überlegenheit Wronskys.

Dieser war augenscheinlich durch das Gespräch sehr angeregt. »Ich bin im Gegenteil, wie Sie mich hier sehen, sehr dankbar für die Ehre, zum Ehrenfriedensrichter gewählt worden zu sein. Ich halte es für meine Pflicht, in der Sitzung zu erscheinen.«

Dolly erinnerte sich, dass Lewin ganz ebenso entschieden der entgegengesetzten Meinung war, und da sie diesem sehr geneigt war, hielt sie Lewins Ansicht für die richtige.

»Wir können also auf Sie rechnen, Graf, bei der nächsten Sitzung?« sagte Swjaschski. »Aber man muss schon am achten dort sein und also frühzeitig abreisen. Wenn Sie mir die Ehre erweisen wollen, unterwegs bei mir vorzufahren...«

»Ich stimme deinem Schwager bei« sagte Anna, »obgleich aus anderen Gründen. In letzter Zeit sammeln sich so viele dieser gesellschaftlichen Verpflichtungen. Alexej wohnt jetzt seit sechs Monaten hier und ist schon Mitglied von fünf oder sechs verschiedenen Behörden, Vormundschaften, Gerichten und so weiter. Wie viele Ehrenposten bekleiden Sie denn schon, Nikolai Iwanowitsch?« wandte sie sich an Swjaschski.

»Wahrscheinlich mehr als zwanzig.«

Unter diesem scherzhaften Ton bemerkte Dolly auch einen Anflug von Verdruss. Sie sah, dass Wronskys Gesicht sogleich einen ernsten und strengen Ausdruck annahm, und Dolly erkannte, dass die hier aufgeworfene Frage der gemeinnützigen Tätigkeit Veranlassung zu geheimer Zwietracht zwischen Anna und Wronsky enthielt.

Nach der Mittagstafel, der bei dieser forcierten Etikette der Charakter der Ungezwungenheit fehlte, begab man sich auf die Terrasse. Auf dem sorgfältig geglätteten Rasen wurde ein englisches Ballspiel arrangiert. Dolly versuchte daran teilzunehmen, aber sie war dabei nicht heiter, ihr missfiel diese Unnatürlichkeit, die an Erwachsenen zu bemerken ist, wenn sie, ohne Kinder, allein ein Kinderspiel ausüben.

Diesen ganzen Tag über hatte sie das Gefühl, als ob sie auf einem Theater mitspielte, mit Schauspielern, die ihr überlegen waren, und dass sie durch ihre schlechte Mitwirkung die ganze Sache verderbe. Sie war mit der Absicht gekommen, wenigstens zwei Tage zu bleiben, aber am Abend beschloss sie, jedenfalls am anderen Tage abzufahren.

Erst als sie nach dem Tee allein in ihrem Zimmer war, fühlte sie Erleichterung.

Sie wollte sich schon schlafen legen, als Anna im Nachtgewand eintrat. Im Laufe des Tages hatte sie mehrmals angefangen, von Herzensangelegenheiten zu sprechen, aber jedes-, mal nach einigen Worten wieder abgebrochen. Jetzt waren sie allein, und nun wusste Anna nicht, wovon sie sprechen sollte. Sie saß am Fenster, blickte Dolly an und fand keine Worte. Es war ihr, als ob schon längst alles gesagt worden wäre.

»Wie geht es Kitty?« fragte sie nach einem schweren Seufzer. »Sage mir die Wahrheit, Dolly, zürnt sie mir nicht?«

»Zürnen? Nein«, erwiderte Dolly lächelnd.

»Aber sie hasst und verachtet mich.«

»0 nein! Aber du weißt, so etwas wird nicht vergessen.«

»Ja, ja«, sagte Anna und blickte durch das offene Fenster. »Aber mich trifft kein Vorwurf, konnte es denn anders sein? Wie denkst du, könntest du dir vorstellen, dass du nicht Stiwas Frau wärest?«

»Wirklich, ich weiß nicht. . .«

»Ja, ja, aber du hast mir noch nichts von Kitty erzählt. Ist sie glücklich? Man sagt, er sei ein vortrefflicher Mensch.«

»Das ist zu wenig gesagt, ich kenne keinen besseren Menschen als ihn.«

»Ach, wie erfreut ich darüber bin«, sagte Anna. Dolly lächelte.

»Aber nun sprechen wir von dir. Ich sprach mit...« Dolly wusste nicht, wie sie ihn nennen sollte.

»Mit Alexe]«, ergänzte Anna. »Ich weiß, dass ihr miteinander gesprochen habt. Aber sage mir offen, was du von mir und meinem Leben denkst.« »Wie soll ich das so plötzlich sagen, ich weiß wirklich nicht...«

»Nein, sei offen, du siehst mein ganzes Leben. Jetzt sind wir von Gästen umgeben, wir sind nicht allein. Aber als wir im Frühjahr kamen, lebten wir ganz allein und ich wünschte mir nichts Besseres. Aber ich sehe aus allem, dass es noch oft vorkommen wird, dass ich allein sein werde, während er von Hause abwesend ist«, sagte sie und setzte sich näher zu Dolly. »Natürlich kann ich ihn nicht zurückhalten. Aber stelle dir meine Lage vor. Doch was ist darüber zu reden?« Sie lächelte. »Aber wovon hat er mit dir gesprochen?«

»Er sprach eben darüber, worüber ich selbst sprechen will – nämlich, ob es nicht möglich sei, ob man nicht...« Darja wurde etwas verlegen, »deine Stellung verbessern könne. Du kennst meine Ansichten, aber jedenfalls, wenn es möglich ist, müsst ihr heiraten.«

»Also die Scheidung?« sagte Anna. »Nun aber, was hat er dir gesagt?«

»Er sagte mir, er sei deinetwegen betrübt. Sein Wunsch ist, seine Tochter zu legalisieren, dein Mann zu sein und ein Recht auf dich zu haben.«

»Welche Frau könnte mehr Sklavin sein als ich in meiner Lage?« erwiderte sie düster.

»Vor allem aber wünscht er, dass du keinen Kummer mehr leidest.«

»Das ist unmöglich. Aber weiter.«

»Nun, und er will, dass eure Kinder einen Namen haben.«

»Welche Kinder?« fragte Anna, ohne Dolly anzublicken.

»Anna und die zukünftigen...«

»Darüber kann er ruhig sein, ich werde keine Kinder mehr bekommen.«

»Wie kannst du das sagen?«

»Ich weiß es – deshalb, weil ich nicht will.«

Bei aller ihrer Aufregung musste Anna lächeln über den Ausdruck von Neugierde, Verwunderung und Entsetzen auf Dollys Gesicht.

»Der Arzt sagte mir nach meiner Krankheit...«

»Nicht möglich!« rief Dolly mit weit aufgerissenen Augen. »Ist das aber nicht unmoralisch?« fragte sie endlich.

»Warum? Bedenke doch, ich habe die Wahl, entweder in interessanten, das heißt krankhaften Umständen zu sein oder die Freundin und Gefährtin meines Mannes. Du musst begreifen, ich bin seine Frau nur, solange er mich liebt. Und womit soll ich diese Liebe erhalten, etwa durch diese – krankhaften Umstände?«

Eine Menge Gedanken und Erinnerungen bestürmten Dolly bei dieser Rede. ›Ich habe Stiwa nicht an mich fesseln können, er ging zu einer anderen. Und die erste, mit der er mich betrog, konnte ihn auch nicht durch ihre Schönheit zurückhalten, er verließ auch sie und nahm wieder eine andere. Und wird es Anna besser gelingen? So verführerisch ihre weißen schönen Arme, ihre volle Gestalt, ihre schwarzen Haare auch sein mögen, er wird noch Besseres finden, wie es mein abscheulicher, lieber Mann auch gesucht und gefunden hat.‹

Dolly antwortete nur mit einem Seufzer, den Anna als Ausdruck einer anderen Meinung auffasste. Anna hatte aber noch andere stärkere und unwiderlegliche Argumente.

»Du sagst, das sei verwerflich, aber du vergisst meine Lage. Wie kann ich mir Kinder wünschen? Ich spreche nicht von den Beschwerden und Leiden, aber bedenke, meine Kinder würden unglückliche Wesen sein, die einen fremden Namen tragen und sich ihrer Eltern und ihrer Geburt schämen müssten.«

»Nun, darum eben ist die Scheidung notwendig.«

Aber Anna hörte sie nicht, sie wollte ihre Überzeugung und all ihre Beweisgründe aussprechen. »Wozu ist mir der Verstand gegeben, wenn ich ihn nicht dazu anwende, keine unglücklichen Kinder in die Welt zu setzen. Wenn sie nicht existieren, können sie wenigstens nicht unglücklich sein, im anderen Falle trage aber ich die Schuld.«

»Nein, ich weiß nicht ... das ist nicht gut«, sagte Dolly endlich. Sie fühlte jetzt, dass sie Anna so ferne stand, dass Fragen zwischen ihnen lagen, über die sie sich niemals würden einigen können.

»Um so mehr also musst du deine Stellung zu sichern suchen, wenn es möglich ist«, sagte Dolly nach einer Weile.

»Ja, wenn es möglich ist«, wiederholte Anna plötzlich mit ganz veränderter, leiser, kummervoller Stimme.

»Ist denn die Scheidung etwa unmöglich? Ich hörte doch, dein Mann habe eingewilligt. Ich meine, dass du die Sache zu düster ansiehst.«

»Ich? Keineswegs! Ich bin sehr heiter ... Dolly«, rief sie plötzlich, »du sagst, ich sehe schwarz, aber du kannst es nicht begreifen, es ist zu entsetzlich! Ich will nicht daran denken.« »Aber man muss der Sache gerade ins Gesicht sehen und tun, was man kann.«

»Aber was kann ich denn? Nichts. Du sagst, ich solle Alexej heiraten, und fragst, warum ich daran nicht denke.« Sie erhob sich mit einem schweren Seufzer und ging im Zimmer auf und ab. »Ist denn das nicht mein beständiger Gedanke, der mich noch wahnsinnig machen wird. Wenn ich daran denke, kann ich ohne Morphium nicht mehr einschlafen. Nun gut, sprechen wir ruhig. Also die Scheidung. Erstens wird Karenin sie nicht zulassen, denn jetzt steht er unter dem Einfluss der Gräfin Lydia Iwanowna ...«

»Man muss es versuchen«, sagte Dolly, die mit teilnehmenden Blicken Annas Bewegungen folgte.

»Angenommen, ich mache einen Versuch und demütige mich vor dem, den ich verabscheue. Was dann? Entweder ich erhalte eine beleidigende oder eine beistimmende Antwort. Im letzteren Falle aber – was wird aus meinem Sohn? Wird man ihn mir herausgeben? Nein, er wird bei seinem Vater, den ich verlassen habe, aufwachsen und mich verachten. Ich liebe nur diese beiden, vielleicht gleich stark, aber jedenfalls mehr als mich selbst. Und diese beiden schließen sich gegenseitig aus, ich kann sie nicht vereinigen, und doch ist dies das einzige, was ich ersehne. Und wenn dies nicht möglich ist, so ist alles gleichgültig – alles, alles gleichgültig. Es wird irgendwie ein Ende nehmen, und deshalb kann ich nicht darüber sprechen. Verurteile mich nicht, du kannst nicht begreifen, was ich alles leide.«

Sie setzte sich neben Dolly und ergriff mit schüchternem Blick ihre Hand. »Was denkst du über mich? Verachte mich nicht, ich habe es nicht verdient.« Sie wandte sich um und brach in Tränen aus.

Als Anna gegangen war, betete Dolly und legte sich zu Bett. Sosehr sie Anna bedauerte, konnte sie doch jetzt nicht weiter an sie denken, weil ihre Gedanken zu Hause weilten und ihre Kinder ihr in ihrer Phantasie vorschwebten. Diese ihre Welt schien ihr jetzt so teuer und entzückend, dass sie nicht wieder einen Tag entfernt von ihnen zubringen wollte und beschloss, unbedingt am nächsten Tage abzureisen.

Als Anna in ihr Kabinett zurückgekehrt war, goss sie in ein kleines Glas Wasser einige Tropfen eines Medikaments, das hauptsächlich Morphium enthielt, und trank es aus. Nachdem sie kurze Zeit unbeweglich gesessen hatte, ging sie mit ruhigem und heiterem Gemüt in das Schlafzimmer. Wronsky blickte sie forschend an, um vielleicht Spuren ihres Gesprächs mit Dolly zu entdecken, aber er sah nur diese Schönheit, die noch immer so mächtig auf ihn einwirkte.

»Es freut mich, dass Dolly dir gefiel«, sagte sie. .

»Ich kenne sie schon lange, sie ist sehr gutherzig.«

Er ergriff Annas Hand und blickte sie fragend an. Sie verstand jedoch diesen Blick anders und lächelte ihm zu.

Am anderen Morgen rüstete sich Dolly zur Reise, ungeachtet der Bitte Annas. Dann nahm sie kühl Abschied von der Fürstin Barbara und den anwesenden Herren. Nur Anna war betrübt.

Wronsky und Anna verbrachten den ganzen Sommer und einen Teil des Herbstes auf dem Lande, ohne irgendwelche Maßregeln zur Herbeiführung der Scheidung zu treffen. Es bestand ein stillschweigendes Übereinkommen zwischen ihnen, dass sie nicht reisen würden. Aber beide fühlten, je länger sie allein lebten, dass ihnen dieses Leben, besonders im Herbst, ohne Gäste unerträglich sei und einer Veränderung bedürfe. Es schien ihnen für ihre Wünsche nichts übrigzubleiben, sie lebten im Überfluss, waren gesund, sie hatten ein Kind und einen Wirkungskreis. Anna verwendete fortwährend große Sorgfalt auf ihr Äußeres und las sehr viel. Über alle Gegenstände, mit denen sich Wronsky beschäftigte, suchte sie sich aus Büchern und Fachzeitschriften zu unterrichten. Er war verwundert über ihre Kenntnisse und ihr Gedächtnis.

Auch für den Bau des Krankenhauses interessierte sie sich sehr und kam sogar mit neuen Ideen, die ausgeführt wurden. Es war ihre hauptsächlichste Sorge und ihr stetes Bemühen, ihm soviel wie möglich zu ersetzen, was er für sie aufgegeben hatte, und ihr einziger Lebenszweck war es, ihm zu gefallen und zu dienen. Mit der Zeit aber wurde ihm dieses Netz, mit dem sie ihn zu fesseln suchte, unerträglich, und das Verlangen erwachte in ihm, eine Probe zu machen, ob es nicht seine Freiheit beeinträchtige. Wronsky wäre vollkommen zufrieden mit seinem Leben gewesen ohne dieses unüberwindliche Verlangen nach Freiheit und ohne die Szenen, die jedesmal sich abspielten, sooft er in die Stadt fahren wollte.

Die Rolle eines reichen Gutsbesitzers entsprach vorzüglich seinem Geschmack und seine Geschäfte, die ihn immer mehr in Anspruch nahmen, gingen vortrefflich. Nach der Art, wie er seine Geschäfte führte, war es klar, dass sein Vermögen nicht Gefahr lief, kleiner zu werden, sondern sich bedeutend vergrößern würde.

Im Oktober sollten die Adelswahlen des Gouvernements stattfinden, in dem die Güter Wronskys, Swjaschskis, Kosnischews, Oblonskys und Lewins lagen. Die allgemeine Aufmerksamkeit war auf diese Wahlen gerichtet, und Wronsky hatte Swjaschski schon lange versprochen, bei der Versammlung zu erscheinen.

Wegen der beabsichtigten Reise war es zwischen Wronsky und Anna beinahe zum Streit gekommen. Am Tage vor der Abreise machte ihr Wronsky kampfbereit die Mitteilung von seiner bevorstehenden Abreise mit einem strengen und kalten Ausdruck, wie er nie zuvor mit Anna gesprochen hatte. Aber zu seinem Erstaunen nahm Anna diese Nachricht sehr ruhig auf und fragte nur, wann er zurückkommen werde. Er begriff diese Ruhe nicht und blickte sie forschend an. Sie antwortete ihm nur mit einem Lächeln. Er erkannte ihre Fähigkeit, sich ganz in sich selbst zu verschließen, wenn sie einen Entschluss gefasst hatte. Aber er wünschte so sehr eine Szene zu vermeiden, dass er sich den Anschein gab, als ob er an ihr aufrichtiges Einverständnis glaubte.

»Ich hoffe, du wirst dich nicht langweilen«, sagte er.

»O nein«, erwiderte Anna, »ich habe gestern eine Kiste Bücher aus Petersburg erhalten.«

Und er reiste ab, ohne dass es zu einer offenen Aussprache gekommen wäre. Es war das erstemal, dass er sich so von ihr trennte, und es geschah nicht ohne unbestimmte Befürchtungen. Er hoffte aber, sie werde sich mit der Zeit daran gewöhnen und es werde ihm gelingen, seine männliche Unabhängigkeit ihr gegenüber in solchen Dingen zu behaupten. Nach verschiedenen langen, zum Teil stürmischen Sitzungen wurde der neue Adelsmarschall gewählt, und zu Ehren desselben gab Wronsky ein Diner, an dem viele Mitglieder der siegreichen Partei der »Neuen« teilnahmen.

Wronsky hatte nicht erwartet, dass diese Wahlen ihn so in Anspruch nehmen würden. Er war ein vollkommen neuer Mensch im Kreise seiner Standesgenossen, trotzdem hatte er augenscheinlichen Erfolg und schon einen gewissen Einfluss erworben. Diesen Einfluss verdankte er seinem Reichtum, seinem vornehmen Namen, dem schönen Hause, das er in der Stadt besaß, seinem vortrefflichen Koch, den er vom Gut mitgebracht hatte, seiner Freundschaft mit dem Gouverneur, einem Jugendfreund von ihm, und am meisten seinem anspruchslosen, gleichmäßigen Benehmen, das sehr bald die Gerüchte von seinem angeblichen Stolz verstummen ließ. Alle, mit denen er in Berührung gekommen war, Lewin ausgenommen, hatte er verstanden, sich zu Freunden zu machen.

Wronsky saß an einem Ende der Tafel, zu seiner Rechten befand sich der junge Gouverneur, ein General. Dieser war, wie Wronsky bemerkte, für alle der Gebieter des Gouvernements, der vielen Ehrfurcht einflößte. Für Wronsky aber war er nur Maslow Katka, wie er im Pagenkorps genannt worden war. Zu seiner Linken saß der neue Adelsmarschall Newedowsky mit seinem jungen, undurchdringlichen und hochmütigen Gesicht, gegen den Wronsky sich sehr rücksichtsvoll benahm.

Swjaschski, der selbst Adelsmarschall zu werden gehofft hatte, ertrug seinen Misserfolg mit guter Miene. Oblonsky, der auch gekommen war, amüsierte sich vortrefflich und war glücklich über die allgemeine Zufriedenheit.

Nach Tisch wurden an einige Persönlichkeiten Telegramme abgesandt. Auch Oblonsky, der sich im Stadium höherer Heiterkeit befand, sandte an Dolly ein Telegramm, »um ihr eine Freude zu machen«, wie er laut sagte.

Dann folgte noch eine Reihe Toaste auf den neuen Adelsmarschall, auf den Gouverneur, den Bankdirektor und unseren »liebenswürdigen Wirt«. Wronsky war höchst befriedigt und hatte einen so angenehmen Tön in der Provinz nicht erwartet. Gegen Ende des Diners wurde es immer heiterer.

Als man schon Zigarren anzündete, brachte sein Kammerdiener ihm einen Brief. »Aus Wosdwischensk mit einem besonderen Boten«, sagte er mit wichtiger Miene.

Der Brief war von Anna. Noch ehe er ihn gelesen hatte, wusste er schon seinen Inhalt. Er hatte vermutet, dass die Wahlen in fünf Tagen beendigt sein werden, und daher versprochen, am Freitag zurückzukommen. Heute aber war es Sonnabend, und er wusste, dass der Brief Vorwürfe darüber enthalten werde. Sein Brief, den er gestern Abend abgesandt hatte, konnte noch nicht in ihren Händen sein. Es war, wie er vorausgesehen hatte, aber in unerwarteter Form, die ihn unangenehm berührte.

»Anni ist sehr krank. Der Arzt sagt, es könne eine Entzündung sein. Ich verliere den Kopf. Ich habe Dich schon vorgestern und gestern erwartet, und jetzt sende ich einen Boten, um zu erfahren, wo Du bist und wie Du Dich befindest. Ich wollte selbst kommen, aber ich wusste, dass Dir das unangenehm wäre. Gib mir irgendeine Antwort, damit ich weiß, was ich tun soll.«

Das Kind war krank, und doch wollte sie selbst reisen und schrieb in diesem wenig herzlichen Ton. Die unbefangene Heiterkeit der Adelsversammlung stand in grellem Kontrast mit jener düsteren, verlangenden Liebe, zu der er zurückkehren musste. Aber er fuhr noch mit dem ersten Zug in der Nacht nach Hause. Vor der Abreise Wronskys zu den Wahlen hatte Anna beschlossen, sich die größte Mühe zu geben, um die Trennung von ihm ruhig zu ertragen. Aber durch jenen kalten, strengen Blick, mit dem er ihr seine bevorstehende Abreise angekündigt hatte, fühlte sie sich beleidigt, und noch vor seiner Abreise war ihre Ruhe schon gestört.

Als sie dann später in der Einsamkeit an diesen Blick dachte, der sein Recht auf Freiheit aussprach, kam ihr die Niedrigkeit ihrer illegitimen Situation wieder zum Bewusstsein. ›Er hat das Recht, abzureisen, wann und wohin er will, und nicht nur zu verreisen, sondern sogar auch mich zu verlassen. Er hat alle Rechte, ich aber gar keine. Und da er das weiß, hätte er es nicht tun sollen. Aber was hat er denn getan? ... Er hat mich mit kalter, strenger Miene angeblickt, was früher nie vorkam, und dieser Blick beweist, dass die Erkaltung beginnt.‹

Und obgleich sie überzeugt war, dass die Erkaltung beginne, konnte sie doch nichts tun und ihre Beziehungen zu ihm nicht ändern. Ganz ebenso wie früher konnte sie ihn nur durch Liebe sich erhalten, und ebenso wie früher konnte sie nur durch Beschäftigung während des Tages und durch Morphium in der Nacht die schrecklichen Gedanken daran betäuben, was dann werden solle, wenn er aufhören würde, sie zu lieben. Es gab aber noch ein anderes Mittel, welches ihr eine solche Stellung verleihen konnte, dass er sie nicht verstoßen könne. Und dieses Mittel war die Scheidung und die Heirat. Deshalb beschloss sie jetzt, sogleich beizustimmen, sobald Wronsky oder Stiwa wieder davon sprechen würden.

Unter solchen Gedanken verbrachte sie die fünf Tage seiner Abwesenheit. Sie füllte ihre Zeit aus durch Spaziergänge, durch Gespräche mit der Fürstin Barbara, Besuche des Krankenhauses und hauptsächlich durch Lesen. Sie las ein Buch nach dem anderen. Aber am sechsten Tage, als der Kutscher allein von der Eisenbahnstation zurückkehrte, hatte sie nicht mehr die Kraft, die Gedanken an ihn und das, was er dort tue, zu beschwichtigen. Um diese Zeit erkrankte ihr Töchterchen, jedoch nur leicht, so dass auch dadurch Anna nur wenig in Anspruch genommen war.

Als sie am Abend dieses Tages allein geblieben war, wurde Anna von einer solchen Angst um ihn befallen, dass sie sich entschloss, zur Stadt zu reisen. Aber nach einiger Überlegung sandte sie nur den Brief ab. Am Morgen darauf erhielt sie Wronskys Brief und bereute, den ihrigen abgesandt zu haben. Mit Schrecken fürchtete sie, wieder einen so strengen Blick zu sehen, besonders, wenn er erfahren werde, dass das Töchterchen nicht gefährlich krank war. Aber sie war dennoch froh darüber, dass sie geschrieben hatte.

Sie saß mit einem neuen Buch im Salon bei einer Lampe und horchte auf das Heulen des Sturmwindes. Zuweilen glaubte sie das Geräusch der Räder zu vernehmen, doch war es immer wieder nur Täuschung. Endlich aber hörte sie nicht nur, wie ein Wagen vorfuhr, sondern vernahm auch den Ruf des Kutschers und das dumpfe Dröhnen des Wagens vor dem bedeckten Portal.

Anna fuhr auf. Aber anstatt hinabzugehen, wie sie schon zweimal getan hatte, blieb sie stehen. Sie schämte sich ihrer Täuschung und fragte sich angstvoll, wie er dieselbe aufnehmen werde. Ihr Groll war geschwunden, sie fürchtete nichts mehr als den Ausdruck seiner Unzufriedenheit. Sie erinnerte sich, dass das Töchterchen schon seit zwei Tagen wieder ganz gesund war, und zürnte dem Kinde sogar deshalb.

Jetzt aber war er da! Sie hörte seine Stimme, und alles vergessend, eilte sie ihm freudig entgegen.

»Nun, wie geht es Anni?« fragte er ängstlich schon von unten herauf.

Er saß auf einem Stuhl, und der Diener zog ihm die Pelzstiefel ab. »Ganz gut; sie befindet sich besser.«

»Und du?« fragte er weiter, den Mantel abschüttelnd.

Sie ergriff mit beiden Händen seinen Arm und zog ihn zu sich, ohne ihren Blick von seinen Augen abzuwenden.

»Nun, ich freue mich sehr«, sagte er mit einem kalten Blick, ohne ihre Frisur, ihre Toilette zu bewundern, welche sie nur für ihn angelegt hatte. Das alles gefiel ihm, aber wie oft schon hatte es ihm gefallen! Und jetzt sah sie wieder den strengen, steinernen Ausdruck auf seinem Gesicht.

»Und du bist gesund?« sagte er, indem er seinen durchnässten Bart abwischte und ihre Hand küsste.

Wenn er nur hier ist‹, dachte sie, ›dann muss er mich lieben.‹

Den Abend verbrachten sie glücklich und heiter mit der Fürstin Barbara, die darüber klagte, dass Anna in seiner Abwesenheit Morphium genommen habe.

Er erzählte von den Wahlen, und Anna verstand es, durch ihre Fragen das Gespräch so zu lenken, dass er in heiterster Stimmung von seinen Erfolgen sprach.

Aber spät am Abend, als sie allein geblieben waren und Anna sah, dass sie ihn wieder vollständig beherrschte, wollte sie den unangenehmen Eindruck ihres Briefes verwischen.

»Gestehe, es war dir unangenehm, einen Brief von mir zu erhalten, und du hast mir nicht geglaubt.«

Sie bemerkte sofort an seiner Miene, dass er ihr dies nicht vergessen hatte. »Ja«, sagte er, »dein Brief war seltsam. Bald sagtest du, die Kleine sei krank, bald wolltest du selbst kommen.«

»Das war alles wahr.«

»Ich zweifle auch nicht daran.«

»Doch, du zweifelst daran, du bist unzufrieden; ich sehe es.«

»Keinen Augenblick; Ich bin nur darüber unzufrieden, dass du nicht einsehen willst, dass es Verpflichtungen gibt ... Nun, so sprechen wir nicht mehr davon.«

»Warum nicht?«

»Ich wollte nur sagen, dass mich zuweilen wichtige Angelegenheiten abrufen können. In nächster Zeit zum Beispiel muss ich nach Moskau wegen des Hausbaues. Ach, Anna, warum bist du denn so reizbar? Weißt du denn nicht, dass ich ohne dich nicht leben kann?«

»Ah so!« sagte Anna plötzlich mit veränderter Stimme. »Du bist dieses Lebens überdrüssig!«

»Anna, ich bin bereit, mein Leben hinzugeben ...« Aber sie hörte ihn nicht an.

»Wenn du nach Moskau fährst, so fahre ich mit, ich bleibe nicht allein hier. Entweder müssen wir uns trennen oder beisammen leben.«

»Du weißt ja doch, dass ich nur das letztere wünsche, aber zu diesem Zweck ...«

»Ist die Scheidung nötig. Gut, ich werde ihm schreiben. Ich sehe, dass dieses Leben unerträglich wird. Aber ich fahre mit dir nach Moskau.«

»Als ob du mir drohen wolltest, und doch wünsche ich nichts so sehr, als mich von dir nie trennen zu müssen«, sagte Wronsky lachend.

Aber während er diese Worte sprach, glänzte in seinen Augen ein kalter, zorniger Blick, wie der eines Menschen, der durch beständige Verfolgungen aufs äußerste gereizt ist.

Diesen Blick hatte sie gesehen und richtig gedeutet.

»Wenn es so ist, so führt es zum Unglück«, hatte sein Blick gesagt. Es war nur ein augenblicklicher Eindruck, aber er blieb ihr unvergesslich.

Anna schrieb dann an ihren Mann und bat ihn um die Scheidung. Gegen Ende November fuhr sie mit Wronsky nach Moskau, während die Fürstin Barbara nach Petersburg reiste.

Seit drei Monaten wohnte die Familie Lewin in Moskau, um die Entbindung Kittys abzuwarten. Alle, die sie liebten, waren um sie. Und so viel Liebe und Sorgfalt wurde auf sie verschwendet, dass sie sich kein angenehmeres Leben hatte wünschen können. Nur der Gedanke an Lewin störte ihre Ruhe. In der Stadt schien er beständig in Unruhe und auf der Hut zu sein, als ob er jeden Augenblick erwartete, von irgend jemand beleidigt zu werden. Dort auf dem Lande hatte er sich augenscheinlich an seiner Stelle gefühlt und war niemals in Eile, noch müßig. Hier aber, in der Stadt, befand er sich stets in Hast, und doch hatte er nichts zu tun.

Was sollte er auch machen? Er liebte das Kartenspiel ebenso wenig wie die Gesellschaften, besuchte keinen Klub und suchte keine heiteren Bekanntschaften auf wie Oblonsky dies regelmäßig tat. Zu Hause zu sitzen in Gesellschaft ihrer Mutter und Schwester musste ihm auf die Dauer auch langweilig werden. Was also blieb ihm übrig? Er versuchte an seinem Buch weiterzuschreiben und ging in Bibliotheken, um Material zu sammeln. Der einzige Vorzug dieses Stadtlebens war der, dass hier niemals ein Streit zwischen ihnen vorfiel, und vielleicht deshalb, weil sie vorsichtiger und vernünftiger geworden waren, schwieg auch die Eifersucht, welche sie so sehr fürchteten, selbst nach einer für beide höchst unerwarteten Begegnung Kittys mit Wronsky, die sich nicht hatte vermeiden lassen.

Die alte Fürstin Maria Borissowna, Kittys Taufpatin, die sie stets sehr liebte, wünschte sie durchaus zu sehen. Obgleich Kitty sonst nicht ausging, fuhr sie doch mit ihrem Vater zu der alten Dame, und dort traf sie ganz überrascht Wronsky an.

Bei dieser Begegnung hatte sich Kitty nur vorzuwerfen, dass für einen Augenblick ihr Atem stockte und eine helle Röte ihr Gesicht überfloss, als sie die ihr so wohlbekannte Gestalt Wronskys in Zivilkleidung erblickte. Doch das dauerte nicht länger als einen Augenblick. Ihr Vater begann absichtlich ein lautes Gespräch mit Wronsky und noch vor Beendigung desselben war sie vollkommen gefasst und bereit, wenn nötig, unbefangen mit ihm zu sprechen. Sie fühlte in diesem Augenblick die unsichtbare Anwesenheit ihres Mannes und war darauf bedacht, dass kein Lächeln, kein unbedachtes Wort fiel, das er hätte missbilligen können.

Sie sprach mit ihm einige Worte und lächelte sogar unbefangen, als er scherzend von den Wahlen sprach. Bald aber wandte sie sich an die Fürstin Maria Borissowna und blickte ihn nicht ein einziges Mal mehr an, bis er aufstand, um sich zu verabschieden. Dann erst sah sie ihm ins Gesicht, aber augenscheinlich auch nur, um nicht unhöflich zu erscheinen. Sie war ihrem Vater dafür dankbar, dass er über die Begegnung mit Wronsky nichts sprach. Aber an seiner besonderen Zärtlichkeit während des gewöhnlichen Spazierganges sah sie, dass er mit ihr zufrieden war. Dasselbe Gefühl der Befriedigung empfand Kitty selber.

Lewin errötete bedeutend mehr als sie, als sie ihm mitteilte, dass sie Wronsky bei der Fürstin Maria Borissowna gesehen habe.

»Ich bedaure sehr, dass du nicht zugegen warst«, sagte sie. »Es war gut, dass du nicht im Zimmer warst – dann hätte ich nicht so natürlich sein können. – Denn sieh, wie ich jetzt erröte, viel mehr als dort. Aber ich wünsche doch, dass du wenigstens durchs Schlüsselloch hättest sehen können.«

Ihre ehrlichen Augen sagten Lewin, dass sie mit sich selbst zufrieden war, und er beruhigte sich sogleich und begann, sie darüber auszufragen, was ihr eben erwünscht war. Als er alle Einzelheiten erfahren hatte, wurde Lewin vollkommen heiter und sagte, er sei sehr erfreut darüber und werde Wronsky bei der nächsten Gelegenheit freundlich und höflich begegnen.

»Geh also bitte zu Bohls«, sagte Kitty zu ihrem Mann, als er um elf Uhr, ehe er das Haus verließ, in ihr Gemach trat. »Ich weiß, dass du im Klub zu Mittag ißt, Papa hat dich angemeldet. Und was machst du am Vormittag?«

»Ich gehe nur zu Katawasow«, erwiderte Lewin.

»Warum so früh?«

»Er versprach mir, mich mit Metrow bekannt zu machen, mit dem ich über meine Arbeit sprechen wollte. Er ist ein bekannter Petersburger Gelehrter«, sagte Lewin.

»Nun, und dann?« »Dann werde ich vielleicht auf der Behörde vorsprechen wegen der Sache meiner Schwester.«

»Und dann?« fragte sie.

»Nun, in jedem Fall komme ich vor Tisch nach Hause«, sagte er, auf die Uhr blickend. »Nun, mein Herz, adieu!«

»Wirklich, ich bedaure zuweilen, dass ich Mama gefolgt bin«, sagte Kitty, da er sich zum Gehen wandte. »Wie schön wäre es jetzt auf dem Lande!«

»Nein, nein, nichts davon! Ich habe noch nie etwas bereut, seit ich verheiratet bin.« Und als er sah, dass diese lieben, ehrlichen Augen fragend auf ihn gerichtet waren, wiederholte er dasselbe mit voller Überzeugung.

»Wird es bald sein? Wie fühlst du dich?« flüsterte er, ihr beide Hände entgegenstreckend.

»Ich habe schon oft darüber nachgedacht, dass ich darüber ganz konfus geworden bin.«

»Und hast du keine Angst?«

Sie lächelte verächtlich. »Keine Spur«, sagte sie. »Ich werde mit Papa auf dem Boulevard spazieren gehen, und dann fahren wir zu Dolly. Du weißt, dass Dollys Lage wirklich ganz unmöglich geworden ist, sie ist mit Schulden überhäuft und hat kein Geld. Gestern sprachen wir mit Mama und Arseni – so nannte sie den Mann ihrer Schwester Lwow –, und es wurde beschlossen, dass du mit Arseni einen Versuch machen sollst, Stiwa zur Vernunft zu bringen...« »Nun, was können wir da wohl ausrichten?« fragte Lewin. »Aber meinetwegen, ich werde zu ihm gehen.«

Kittys Schwester Natalie war an einen Diplomaten, Herrn Lwow, verheiratet, der sein ganzes Leben in den ausländischen Residenzen im diplomatischen Dienst zubrachte. Im vorigen Jahr hatte er diesen Dienst verlassen und ein Hofamt in Moskau übernommen. Ungeachtet mancher Verschiedenheiten in ihren Ansichten hatten sich die Männer in diesem Winter einander sehr genähert und standen in freundschaftlichem Verkehr.

Lewin trat unangemeldet bei ihm ein.

Lwow saß im Schlafrock auf einem Stuhl und las. Seine vortrefflich gepflegte Hand hielt vorsichtig eine halb in Asche verwandelte Zigarre.

Das noch junge, hübsche und feine Gesicht, dem seine lockigen, silberglänzenden Haare ein noch aristokratischeres Aussehen verliehen, erhellte sich durch ein Lächeln, als er Lewin erblickte.

»Vortrefflich! Ich wollte schon zu Ihnen senden. Wie geht es Kitty ? Setzen Sie sich hierher«, dabei schob er einen Schaukelstuhl näher.

Lewin erzählte, was er Neues aus Petersburg gehört hatte und dann von seiner Bekanntschaft mit Metrow, wofür sich Lwow sehr interessierte.

»Ich beneide Sie um Ihre Beziehungen zu der Gelehrtenwelt«, sagte er. »Der Dienst und die Sorge um die Kinder versagen mir das. Und dann muss ich auch gestehen, dass meine Bildung zu ungenügend ist.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Lewin lächelnd. Er wusste, dass dies nicht nur aus verstellter Bescheidenheit gesagt war.

»Ja, es ist so, das fühle ich jetzt bei der Erziehung der Kinder, ich muss vieles im Gedächtnis wieder auffrischen oder ganz neu lernen. Und Sie lachen darüber?«

»Im Gegenteil! Ich habe Sie mir immer zum Vorbild genommen für das, was mir bevorsteht. Ich habe nie besser erzogene Kinder gesehen als die Ihrigen und wünsche mir keine besseren.«

Lwow konnte ein Lächeln des Vergnügens darüber nicht unterdrücken.

Das Gespräch wurde unterbrochen durch den Eintritt der schönen Natalie Alexandrowna, die zum Ausgehen angekleidet war.

»Ich wusste nicht, dass Sie hier sind«, sagte sie. »Wie geht es Kitty? Ich speise heute bei Ihnen. Also, Arseni«, wandte sie sich an ihren Mann.

»Lewin schmeichelt mir«, sagte Lwow zu seiner Frau, »unsere Kinder seien vortrefflich, während ich doch weiß, dass ihnen noch vieles fehlt.«

»Arseni übertreibt immer«, sagte die Frau. »Wenn man Vollkommenheit verlangt, so kann man niemals zufrieden sein.«

»Nun, kommt hierher, ihr vollkommenen Kinder!« sagte Lwow zu den eintretenden Knaben, die Lewin begrüßten und dann zu ihrem Vater gingen, augenscheinlich um ihm eine Bitte vorzutragen.

Lewin wollte hören, was sie dem Vater zu sagen hatten, aber Natalie begann mit ihnen zu sprechen, und darüber vergaß Lewin ganz seinen Auftrag und erinnerte sich desselben erst beim Abschied.

»Ach, Kitty hat mir aufgetragen, mich mit Ihnen über Oblonsky zu besprechen«, sagte er auf der Treppe zu Lwow, der seine Frau zum Wagen begleitete.

»Ja, ja, Mama wünscht, dass wir Schwäger ihn zur Vernunft bringen«, fügte er errötend hinzu. »Aber was kann ich dabei machen?«

»Dann übernehme ich es«, sagte Natalie lachend. »Nun kommen Sie.«

Lewin begleitete seine Schwägerin ins Konzert.

Nachdem er darauf den unerlässlichen Besuch im Hause der Gräfin Bohl glücklich überstanden hatte, holte er seine Schwägerin wieder ab und brachte sie nach seiner Wohnung. Er traf dort Kitty heiter und wohl an und fuhr beruhigt in den Klub.

Lewin kam frühzeitig an, zugleich mit verschiedenen Gästen und Mitgliedern. Er war lange nicht mehr im Klub gewesen, seit der Zeit, wo er die Universität verließ und Gesellschaften zu besuchen begann. Im Vorzimmer erblickte er die Pelze und Galoschen der Mitglieder in langen Reihen. Dann vernahm er ein geheimnisvolles Glockenzeichen und stieg die breite mit Teppichen belegte Treppe hinauf. Oben an der Tür erkannte er den dicken, alten Portier, der mit Würde die Tür öffnete.

»Sie sind lange nicht hier gewesen, der Fürst hat Sie schon gestern eingeschrieben, Fürst Oblonsky ist noch nicht da«, sagte der Portier.

Lewin durchschritt ein Vorzimmer und befand sich dann im Speisesaal, der von einer geräuschvollen Menge angefüllt war. Er ging zwischen den meist schon besetzten Tischen hin und betrachtete die Gäste. Unter diesen erkannte er Swjaschski, Schtscherbatzky, Newedowsky und den alten Fürsten, sowie Wronsky und dessen Bruder Sergej Iwanowitsch.

»Du kommst spät«, sagte der Fürst, indem er ihm lächelnd die Hand über die Schulter reichte. »Was macht Kitty?«

»Sie ist gesund, speist zu Hause mit ihren Schwestern.«

»Schade, bei uns ist kein Platz, aber geh an jenen Tisch und belege schnell einen Platz«, sagte der Fürst, indem er vorsichtig einen Teller mit Aalsuppe aus der Hand des Dieners entgegennahm.

»Lewin, hierher!« rief etwas weiter eine heitere Stimme. Es war Turowzin, der neben einem jungen Offizier saß. Vergnügt ging Lewin auf sie zu, da ihm die gutmütige Heiterkeit Turowzins immer sympathisch war.

»Hier sind noch zwei Plätze für Sie und Oblonsky, er wird gleich kommen.« Turowzin machte ihn mit dem Offizier, einem Petersburger namens Gagin, bekannt.

»Oblonsky kommt immer zu spät.«

»Ah, da ist er!«

»Bist du eben gekommen?« fragte Oblonsky, hastig nähertretend. »Wie geht's? Komm, wir wollen einen Schnaps trinken!«

Lewin stand auf und ging mit ihm an den großen Tisch, der mit Spirituosen und den verschiedenartigsten kalten Delikatessen reich besetzt war. Nachdem sie ein Glas Branntwein getrunken hatten, kehrten sie zum Tisch zurück. Mit großem Vergnügen aß und trank er und nahm an dem heiteren einfachen Gespräch teil. Gagin erzählte mit leiser Stimme eine neue Petersburger Anekdote von zweideutiger Natur, die ziemlich einfältig, aber doch so vergnüglich war, dass Lewin laut auflachte und die Nachbarn sich umsahen.

»Das ist ganz so wie die Geschichte: ›Ich kann ihn nicht ausstehen‹, weißt du?« sagte Oblonsky. »Ach, das ist fein. Noch eine Flasche«, sagte er zu dem Diener und begann zu erzählen.

Oblonskys Anekdote war gleichfalls sehr komisch. Es folgten noch andere von gleichem Wert, dann kam die Rede auf die Pferde, die heutigen Wettrennen und auf Wronsky, der den ersten Preis gewonnen hatte. Lewin bemerkte nicht, wie schnell die Zeit verging.

»Ah, da ist er!« rief Oblonsky, indem er sich im Stuhl zurücklehnte und seine Hand Wronsky entgegenstreckte, der mit einem hochgewachsenen Gardeoberst auf ihn zukam.

»Sehr erfreut, Sie hier zu sehen«, sagte er, Lewin die Hand reichend. »Ich habe Sie nach den Wahlen vergebens gesucht.«

»Ja, ich reiste an demselben Tage ab. Wir sprachen eben von Ihrem Pferde, ich wünsche Ihnen Glück zum Sieg.«

»Man hat ihm von allen Seiten Glück gewünscht«, sagte der Oberst. »Der zweite kaiserliche Preis, das ist keine Kleinigkeit! Ich wünschte, ich hätte solches Glück in den Karten wie Wronsky mit den Pferden. Aber ich gehe in den ›infernalischen Saal‹«, schloss der Oberst und verließ den Tisch.

»Das ist Jaschwin«, erklärte Wronsky, für den ein Platz am Tisch frei gemacht wurde. Nachdem er das ihm gereichte Glas ausgetrunken, bestellte er eine Flasche. Unter dem Einfluss der allgemeinen Heiterkeit oder des getrunkenen Weines eröffnete Lewin mit Wronsky ein langes Gespräch über die beste Viehrasse. Er fühlte sich glücklich darüber, gegen Wronsky keinen Grund zur Feindschaft zu haben. Er teilte ihm sogar im Laufe des Gesprächs mit, er habe von seiner Frau gehört, dass sie ihn bei der Fürstin Maria Borissowna getroffen habe.

»Ach, die Fürstin Maria Borissowna! Entzückend!« sagte Oblonsky und erzählte über sie eine Anekdote, die alle erheiterte. Besonders Wronsky lachte so herzlich, dass Lewin sich ganz mit ihm ausgesöhnt fühlte.

»Nun, sind wir fertig?« fragte Oblonsky, indem er sich lächelnd erhob. »Gehen wir!«

Als Lewin den Speisesaal verließ, fühlte er in seinen Gliedern eine ganz besondere Leichtigkeit. Er ging mit Gagin durch verschiedene hohe Zimmer nach dem Billardsaal, wo er seinen Schwiegervater traf.

»Nun, wie gefällt dir unser Tempel des Müßiggangs?« fragte der Fürst. »Komm, wir wollen einen Gang durch das Ganze machen.«

»Das war eben meine Absicht, es interessiert mich sehr.«

Sie schritten unter heiterem Gespräch durch mehrere Räume. In einem großen Saal wurde Karten gespielt, der nächste gehörte den Schachspielern, daran stieß der Billardsaal, wo eine heitere Partie mit Champagner im Gang war. Dann blickten sie auch in den »infernalischen Saal«, wo sich eine Gruppe um einen Tisch drängte, an dem bereits Jaschwin saß. Geräuschlos entfernten sie sich wieder und kamen in das Zimmer, das der Fürst das geistreiche nannte. Hier saßen drei Herren, welche die letzten politischen Neuigkeiten hitzig besprachen.

»Fürst, darf ich bitten, es ist so weit«, sagte einer seiner Partner, der ihn hier entdeckt hatte. Und der Fürst ging mit ihm in den Kartensaal. Lewin entfernte sich ebenfalls, um Oblonsky und Turowzin aufzusuchen.

Turowzin saß auf einem hohen Diwan im Billardsaal und Oblonsky sprach in einer Ecke des Zimmers mit Wronsky und rief ihn zu sich.

Lewin erblickte in Oblonskys Augen einen feuchten Glanz, wie er immer erschien, wenn er viel getrunken hatte oder gerührt war. Hier traf beides zusammen.

»Lewin, geh nicht fort«, sagte er und fasste seinen Arm.

»Das ist mein wahrer und bester Freund«, sagte er zu Wronsky, »und auch du bist mir so nah und teuer, und deshalb wünschte ich, dass auch ihr Freunde wäret.«

»Warum nicht, es bleibt uns nur noch übrig, uns zu küssen«, erwiderte Wronsky heiter scherzend, indem er seine Hand ausstreckte.

Lewin ergriff sie und drückte sie kräftig.

»Ich bin sehr, sehr erfreut«, sagte er.

»Kellner, eine Flasche Champagner!« rief Oblonsky.

»Auch ich bin sehr erfreut«, versicherte Wronsky. Aber trotz ihres beiderseitigen Wunsches fanden sie kein Gesprächsthema.

»Weißt du, dass er Anna noch gar nicht kennt ?« sagte Oblonsky; »ich werde ihn jedenfalls bei ihr einführen. Komm mit, Lewin!«

»Wirklich«, sagte Wronsky, »sie wird sehr erfreut sein. Ich würde auch sogleich nach Hause fahren, aber ich bin besorgt um Jaschwin und muss hierbleiben, bis er geendigt hat.«

»Wie ist's, geht's ihm denn so schlimm?«

»Er verliert alles, und ich bin der einzige, der ihn noch aufhalten kann.«

Wronsky ging wieder in das »infernalische Zimmer«. Oblonsky ergriff Lewins Arm. »Nun fahren wir zu Anna, sie ist jetzt zu Hause. Ich habe ihr lange versprochen, dich einzuführen. – Geh und erkundige dich, ob mein Wagen gekommen ist«, sagte er zu einem Diener.

»Der Wagen des Fürsten Oblonsky!« rief der Portier mit tiefem Bass. Der Wagen fuhr vor, und beide stiegen ein. Nur während kurzer Zeit dauerten die heiteren Eindrücke der Vergnügungen des Klubs noch fort. Als der Wagen auf die Straße hinausfuhr und die Stöße auf dem unebenen Pflaster fühlbar wurden, als Lewin den zornigen Ausruf entgegenkommender Kutscher vernahm und in der trüben Beleuchtung das rote Aushängeschild einer Branntweinschenke erblickte, verschwanden diese Eindrücke. Er fragte sich, ob er wohl daran tue, Anna zu besuchen, und was Kitty dazu sagen werde. Aber Oblonsky zerstreute seine Zweifel, als ob er sie erraten hätte.

»Wie freue ich mich«, sagte er, »dass du sie kennenlernen wirst! Ihre Lage ist sehr peinlich, besonders jetzt.«

»Warum denn besonders jetzt?«

»Es sind Verhandlungen mit ihrem Manne wegen der Scheidung im Gange. Er willigt auch ein, aber es erhoben sich Schwierigkeiten wegen ihres Sohnes, und die Sache, die schon längst abgemacht sein könnte, geht seit drei Monaten nicht vorwärts. Sobald die Scheidung stattgefunden hat, heiratet sie Wronsky. Und dann ist ihre Stellung ebenso geordnet wie die deinige und die meinige.«

»Worin besteht denn die Schwierigkeit?« fragte Lewin,

»Ach, das ist eine lange Geschichte! Alles ist jetzt so unbestimmt, und nun lebt sie in der Erwartung der Scheidung seit drei Monaten in Moskau, wo alle sie kennen, und verkehrt mit niemand außer mit Dolly, weil sie nicht will, dass man sie nur aus Mitleid besuche. Eine andere Frau würde in einer solchen Lage sich nicht zurechtfinden können, aber du wirst sehen, wie sie ihr Leben eingerichtet hat.«

»Nun, und sie hat eine Tochter, die sie wahrscheinlich sehr in Anspruch nimmt«, bemerkte Lewin.

»Du kannst dir, wie es scheint, eine Frau nur als Weibchen vorstellen«, sagte Oblonsky, »die sich nur mit Kinderzucht und mit Hauswirtschaft befassen kann. Nein, obgleich sie ihre Mutterpflichten vortrefflich erfüllt, hört man doch nichts davon. Sie beschäftigt sich hauptsächlich damit, dass sie schreibt. Ich sehe, dass du ironisch lächelst, sie schreibt ein Kinderbuch, sage aber niemand etwas davon. Anna ist vor allem eine Frau mit Herz und Gemüt, das wirst du sehen. Jetzt ist ein junges, englisches Mädchen bei ihr, für das sie sich sehr interessiert.«

»Ah, aus Philanthropie?«

»Nein, nicht aus Philanthropie, sondern aus Herzensgüte. Wronsky hatte einen Stallmeister, einen Engländer, der seine Sache vortrefflich verstand, aber ein Trunkenbold war. Er bekam das Delirium tremens und verließ die Familie. Meine Schwester sah die Leute und half ihnen, und jetzt hat sie die ganze Familie auf dem Hals. Aber sie hilft nicht nur so von oben herab mit Geld, sondern sie bereitet selbst den einen Knaben für das Gymnasium vor und hat das Mädchen zu sich genommen. Nun, du wirst sie sehen.«

Der Wagen fuhr in den Hof ein, und Oblonsky klingelte laut an der Eingangstür, wo verschiedene Schlitten standen. Ohne den Diener, der die Tür öffnete, zu fragen, trat Oblonsky ein. Lewin folgte ihm, während seine Zweifel, ob er recht getan habe, sich immer mehr verstärkten.

Oben fragte Oblonsky den Lakai, der sich verbeugte, wer bei Anna Arkadjewna sei, und erhielt die Antwort: Herr Workujew!

»Wo sind sie?«

»Im Kabinett.«

Sie durchschritten einen kleinen Speisesaal mit getäfelten Wänden auf weichen Teppichen und traten in das halbdunkle Kabinett ein, das von einer Lampe mit einem großen, dunklen Lichtschirm erleuchtet war. An der Wand hing ein großes Frauenbild in Lebensgröße, das unwillkürlich Lewins Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war Annas Bild, das in Italien gemalt war. Lewin konnte seinen Blick nicht abwenden und vergaß sogar, wo er sich befand. Es war kein Bild, sondern ein lebendiges, entzückendes Weib mit schwarzen Haaren, bloßen Schultern und Armen und mit einem nachdenklichen Lächeln, das stolz und siegesgewiss auf ihn herabblickte.

»Ich bin sehr erfreut«, hörte er plötzlich neben sich die Stimme derselben Frau, die er in dem Porträt bewundert hatte. Anna kam ihm entgegen, ohne ihre Freude, ihn zu sehen, verbergen zu können. In jener graziösen Ruhe, mit der sie ihm ihre kleine energische Hand entgegenstreckte, ihn mit Workujew bekannt machte und auf ein rothaariges hübsches Mädchen deutete, das sie ihr Pflegekind nannte, erkannte Lewin mit Wohlgefallen das ruhige, ungezwungene Wesen einer Weltdame.

»Ich bin sehr, sehr erfreut«, wiederholte sie, »ich kenne Sie schon lange durch Stiwa und durch Ihre Frau, die ich entzückend finde. Und sie wird bald Mutter sein?«

Sie sprach unbefangen und ohne Hast, und ihre Blicke schweiften zuweilen von Lewin zu ihrem Bruder. Lewin fühlte sich in ihrer Gegenwart sogleich heimisch und unbefangen, als ob er sie von Jugend auf gekannt hätte. Oblonsky fragte, ob man rauchen dürfe.

»Wir haben uns in das Kabinett Alexejs begeben, eben um zu rauchen«, dabei reichte sie Lewin, anstatt zu fragen, eine mit Schildpatt besetzte Zigarrentasche und nahm eine Zigarette heraus.

»Wie ist heute deine Gesundheit?« fragte der Bruder.

»Ich kann mich nicht beklagen, mit den Nerven ist's wie immer.«

»Nicht wahr, ungewöhnlich schön?« sagte Oblonsky zu Lewin, der wieder das Bild betrachtete.

»Ich habe nie ein besseres Porträt gesehen.«

»Und außerordentlich ähnlich, nicht wahr?« bemerkte Workujew.

Lewin blickte von dem Bild nach dem Original und errötete. Er überzeugte sich immer mehr, dass es ebenso angenehm war, mit ihr zu sprechen, wie ihr zuzuhören. Anna sprach nicht nur natürlich und geistreich, sondern auch anspruchslos, ohne ihren Gedanken besondere Bedeutung beizulegen, und war sehr aufmerksam für die Meinungen und Bemerkungen der anderen.

Man sprach von der neuen Richtung der Kunst. Workujew sprach sich tadelnd über den übertriebenen Realismus aus. Lewin bemerkte: »Die Franzosen haben das Konventionelle in der Kunst zu weit getrieben, und deshalb sehen sie jetzt ein Verdienst in der Rückkehr zum Realismus. Schon darin, dass sie nicht mehr lügen, erblicken sie die neue Kunst.«

Annas Gesicht leuchtete plötzlich auf, während sie diesen Gedanken erwog.

»Was Sie sagten, das charakterisiert vollkommen die jetzige französische Kunst, sowohl die Malerei als die Literatur: Zola, Daudet. Aber vielleicht ist es immer so, dass man seine Eingebungen von erdachten hergebrachten Figuren nimmt, und dann, wenn alle Kombinationen erschöpft sind, werden diese erdachten Gestalten langweilig, und man sucht natürlichere, wahre Figuren zu erdenken.«

»Dies ist vollkommen richtig«, bemerkte Workujew.

»Ihr wart allein im Klub?« wandte sie sich an ihren Bruder.

Welch ein Weib!‹ dachte Lewin, indem er selbstvergessen ihr schönes Gesicht anstarrte. Er hörte nicht, was sie mit ihrem Bruder sprach, aber er war erstaunt über den Wechsel in ihrem Gesichtsausdruck. Das noch soeben vollkommen ruhige Gesicht zeigte plötzlich einen seltsamen Ausdruck von Neugierde, Zorn und Stolz, aber dies dauerte nur einen Augenblick. Sie schloss halb die Augen, als ob sie sich auf etwas besinnen wollte.

»Please order the tea in the drawing-room«, sagte sie zu dem kleinen Mädchen; dieses erhob sich und ging.

»Nun, hat sie das Examen bestanden?« fragte Oblonsky.

»Vortrefflich! Sie ist ein sehr fähiges Kind und hat einen guten Charakter.«

»Ich habe eben Anna Arkadjewna gesagt, wenn sie nur den hundertsten Teil dieser Energie, die sie auf diese Engländerin verwendet, der Erziehung russischer Kinder widmen wollte, so würde Anna Arkadjewna ein großes, nützliches Werk verrichten.« »Das habe ich bereits versucht, aber vergebens. Der Graf Alexe] Kirillowitsch« – sie sprach von Wronsky, und bei diesen Worten warf sie Lewin einen bittenden, schüchternen Blick zu, welchen er unwillkürlich mit einem ehrerbietigen und ermutigenden Blick erwiderte – »hat mich aufgefordert, mich mit der Schule auf dem Dorf zu beschäftigen. Ich ging mehrmals dahin, aber ich konnte mich für diese Sache nicht interessieren. Sie sprechen von Energie, diese gründet sich auf Liebe, die Liebe aber kann man nicht nach Gefallen herbeirufen. Ich weiß selbst nicht, warum ich diese Kleine liebe.«

Und wieder blickte sie Lewin an. Ihr Lächeln und ihr Blick sagten ihm, dass sie nur deshalb ihre Worte an ihn richte, weil sie seine Meinung schätzte und weil sie im voraus wusste, dass sie einander begreifen.

»Ich verstehe das sehr wohl«, bemerkte Lewin. »Auf die Schule und ähnliche Anstalten kann man nicht mit dem Herzen einwirken, und ich glaube, das ist der Grund, warum diese philanthropischen Anstalten so geringe Erfolge haben.«

»Ja, ja«, bestätigte sie lächelnd, »mein Herz ist nicht groß genug, um eine ganze Schule voll häßlicher Mädchen zu lieben. Auch jetzt, wo ich irgendeine Beschäftigung so nötig hätte, kann ich es nicht.« Diese Worte richtete sie mit kummervoller Miene anscheinend an ihren Bruder, in Wirklichkeit aber an Lewin.

Dieser bemerkte eine leichte Verlegenheit an ihr darüber, dass sie von sich selbst gesprochen hatte. Sogleich änderte sie das Gespräch.

»Übrigens, ist Ihnen nicht Tee gefällig?« Sie erhob sich und nahm ein in Leder gebundenes Buch vom Tisch.

»Geben Sie es mir, Anna Arkadjewna«, sagte Workujew, auf das Buch deutend. »Nein, nein, es ist noch zu unfertig.«

»Ich habe Lewin davon gesagt«, bemerkte Oblonsky.

»Das war überflüssig. Meine Schreiberei gleicht jenen Körbchen und Schnitzereien, welche die Gefangenen im Gefängnis zum Verkauf verfertigen, wahre Wunderwerke der Geduld!«

Lewin bemerkte noch einen neuen Zug an dieser ungewöhnlichen Frau. Außer Geist, Grazie und Schönheit besaß sie auch Wahrheitsliebe. Anna suchte nicht die Schwierigkeiten ihrer Lage vor ihm zu verheimlichen. Sie seufzte bei diesen Worten, und ihr Gesicht nahm plötzlich einen starren Ausdruck an, der sie noch verschönerte.

Dann bat sie Lewin und Workujew, in den Salon einzutreten, während sie zurückblieb, um mit ihrem Bruder noch etwas zu besprechen.

Sprechen sie von der Scheidung, von Wronsky und was er im Klub macht oder von mir?‹ dachte Lewin. Diese Frage regte ihn so sehr auf, dass er kaum auf Workujew hörte.

Auch während des Tees stockte die angeregte Unterhaltung keinen Augenblick, und Lewin bewunderte dabei Annas Schönheit, ihren Geist und ihre Bildung, vereinigt mit soviel Natürlichkeit und Herzlichkeit. Während er zuhörte oder sprach, stets dachte er an sie, an ihr inneres Leben und suchte ihre Empfindungen zu erraten. Und während er sie früher so streng verurteilt hatte, war er jetzt sehr geneigt, sie zu rechtfertigen. Er bedauerte sie und fürchtete, dass Wronsky sie nicht vollkommen begreifen werde.

Es war schon elf Uhr, als Oblonsky sich erhob. Workujew war schon früher gegangen. Lewin war die Zeit so schnell und angenehm vergangen, dass er das Gefühl hatte, eben erst gekommen zu sein.

»Leben Sie wohl«, sagte sie, indem sie seine Hand hielt, mit einem Blick, der ihn in Verwirrung setzte. »Ich freue mich sehr, dass das Eis gebrochen ist. Sagen Sie Ihrer Frau, ich liebe sie wie früher, und wenn sie mir meine Lage nicht vergeben könne, so wünsche ich, dass sie mir niemals vergeben könne. Denn um zu vergeben, muss man gelitten haben wie ich, und davor möge sie Gott bewahren.«

»Ich werde ihr das alles sagen«, erwiderte Lewin errötend. ›Welch wunderbare, liebe und unglückliche Frau‹, dachte er, als er mit Oblonsky in die frostige Luft hinaustrat.

»Nun, habe ich es dir nicht gesagt?« bemerkte Oblonsky, der sah, dass Lewin völlig besiegt war.

»Ja«, antwortete Lewin gedankenvoll, »aber sie ist sehr zu bedauern.«

»Nun, hoffentlich wird sich jetzt alles bald machen. Aber du siehst, man darf nicht im voraus richten.«

Als Lewin zu Hause anlangte, meldete ihm Kusma, die gnädige Frau befinde sich wohl, und vor kurzem erst seien ihre Schwestern abgefahren. Zugleich überreichte er ihm zwei Briefe, die Lewin sofort öffnete und las. Der eine war von Sokolow, seinem Verwalter. Er schrieb, der Weizen sei nur für fünf und einen halben Rubel zu verkaufen, und er wisse nicht, wie er sieh verhalten solle. Der andere Brief war von seiner Schwester und enthielt Vorwürfe darüber, dass er ihre Sache vernachlässigt habe.

»Nun, dann verkaufen wir für fünf und einen halben Rubel, wenn man nicht mehr gibt«, entschied Lewin sogleich mit ungewöhnlicher Leichtigkeit die erste Frage. ›Merkwürdig, wie man hier in Anspruch genommen ist‹, dachte er im Gefühl seiner Schuld der Schwester gegenüber. ›Heute bin ich wieder nicht aufs Gericht gekommen. Aber es war auch ganz unmöglich.‹ Er beschloss, dies jedenfalls am folgenden Morgen zu tun, und ging zu seiner Frau, indem er in der Erinnerung rasch alle Erlebnisse des Tages noch einmal an sich vorüberziehen ließ. Alle diese Erlebnisse bestanden nur in Gesprächen, die er angehört und an denen er teilgenommen hatte. Und alle betrafen nur solche Gegenstände, welche ihm auf dem Lande ganz gleichgültig gewesen wären, die ihn hier aber sehr interessierten.

Lewin traf seine Frau in trüber Stimmung an. Das Diner der drei Schwestern war sehr heiter gewesen. Dann aber hatten sie ihn lange vergebens erwartet.

»Nun und was hast du gemacht?« fragte sie ihn mit einem etwas argwöhnischen Blick, den sie aber dämpfte, um ihn nicht davon abzuschrecken, ihr alles zu erzählen.

»Nun, ich war sehr erfreut, als ich Wronsky traf. Wir waren ganz ungezwungen gegeneinander. Verstehst du, ich werde mich ihm nicht zu nähern suchen, aber es freut mich, dass diese Unannehmlichkeit, dieser Zwang vorüber ist. Nun, man sagt immer, das Volk sei trunksüchtig; aber ich weiß nicht, wer mehr trinkt, das Volk oder unsere höheren Stände. Das Volk trinkt an Feiertagen, aber...«

Doch Kitty interessierte sich nicht dafür, wie das Volk trinkt. »Nun und wo warst du dann?« fragte sie.

»Stiwa hat mich dringend gebeten, mit ihm zu Anna Arkadjewna zu fahren.« Bei diesen Worten errötete Lewin, und seine Zweifel, ob er recht getan, waren gelöst. Jetzt wusste er, dass er das nicht hätte tun sollen.

Als er den Namen Anna erwähnte, funkelten Kittys Augen, aber sie bemühte sich, ihre Erregung zu verbergen. »Ah!« sagte sie einfach.

»Du wirst wohl nicht darüber zürnen, aber Stiwa bat mich so sehr, und auch Dolly wünschte es«, fuhr Lewin fort.

»0 nein«, sagte sie, aber ihre Blicke versprachen nichts Gutes.

»Sie ist sehr hübsch, und man muss sie sehr, sehr bedauern.« Und dann wiederholte er auch, was Anna ihm für Kitty aufgetragen hatte.

»Von wem hast du einen Brief erhalten?« fragte sie.

Er sagte es ihr, und beruhigt durch ihren Ton, verließ er sie, um sich umzukleiden. Als er zurückkehrte, traf er Kitty noch auf demselben Stuhl an, und bei seinem Eintritt blickte sie ihn an und brach in Tränen aus.

»Was gibt es, was gibt es?« fragte er. Lewin wusste es schon im voraus.

»Du hast dich in diese abscheuliche Frau verliebt, sie hat dich bezaubert. Ich habe es an deinen Augen gesehen. Ja, ja, was wird daraus folgen? Im Klub hast du getrunken und gespielt, und dann bist du fortgefahren... zu wem? Nein, wir fahren nach Hause... Morgen fahre ich fort!«

Lange konnte er sie nicht beruhigen. Was er dabei am aufrichtigsten eingestand, war, dass dieses Leben in Moskau schlecht auf ihn eingewirkt habe. Sie sprachen bis drei Uhr in der Nacht, und erst dann hatten sie sich soweit versöhnt, dass sie einschlafen konnten.

Nachdem die Gäste sich entfernt hatten, ging Anna im Zimmer auf und ab. Obgleich sie unbewusst den ganzen Abend alles mögliche getan hätte, um Lewin für sich zu gewinnen, und obgleich sie wusste, dass ihr das gelungen war, soweit es bei einem ehrenhaften Ehemann möglich war, und obgleich er ihr sehr gefallen hatte, vergaß sie ihn doch fast sogleich, nachdem er das Zimmer verlassen hatte.

Nur ein Gedanke verfolgte sie. ›Wenn ich soviel Anziehungskraft auf andere Männer ausübe wie auf diesen Ehemann, der seine Frau liebt, warum ist Alexej dann so kalt gegen mich? Er liebt mich, ich weiß es, aber etwas Neues ist zwischen uns getreten. Warum ist er den ganzen Abend nicht hier gewesen? Er ließ mir durch Stiwa sagen, er könne Jaschwin nicht verlassen und müsse ihn beim Spiel beaufsichtigen. Ist denn dieser Jaschwin ein Kind? Doch dies mag wahr sein, er lügt niemals. Aber mir will er zeigen, dass er noch andere Verpflichtungen habe. Er will mir beweisen, dass seine Liebe zu mir seine Freiheit nicht beschränken dürfe. Aber ich will keine Beweise, ich will Liebe. Er musste doch begreifen, wie schwer mir hier in Moskau das Leben fällt. Das ist kein Leben, das ist nur die Erwartung einer Entscheidung, die immer und immer wieder sich verzögert. Wieder habe ich keine Antwort erhalten! Und Stiwa sagt, er könne nicht zu meinem Mann fahren; mir aber ist es unmöglich, ihm zu schreiben. Ich kann nichts tun, nichts beginnen, nichts ändern, ich muss mich nur bezwingen, warten und Beschäftigung suchen – mit dieser englischen Familie, mit Schreiben oder Lesen. Aber das alles ist nur Betrug, immer dasselbe Morphium. Er müsste mich bedauern.‹

Endlich hörte sie das kurze Klingeln Wronskys. Sie wischte hastig ihre Tränen ab, setzte sich zur Lampe und öffnete mit verstellter Ruhe ein Buch. Sie wollte ihm zeigen, dass sie darüber erzürnt sei, dass er nicht nach Hause gekommen war, wie er versprochen hatte. Aber ihren Kummer wollte sie ihn nicht sehen lassen und nicht von ihm bedauert sein. Während sie ihm oft vorwarf, dass er Streit suche, rüstete sie sich unwillkürlich selbst zum Kampf.

»Nun, hast du dich nicht gelangweilt?« sagte er, lebhaft und heiter eintretend.

»Nein, ich habe mich nicht gelangweilt, daran bin ich schon lange gewöhnt. Stiwa und Lewin waren hier.«

»Ja, sie wollten dich besuchen. Nun, wie gefällt dir Lewin?« fragte er, indem er sich neben sie setzte.

»Sehr gut. Sie sind vor kurzer Zeit weggefahren. Was machte Jaschwin?«

»Er hat siebzehntausend Rubel gewonnen, ich rief ihn vom Spiel ab, und wir waren schon im Begriff, nach Hause zu fahren. Aber er kehrte wieder um, und jetzt verliert er alles.«

»Warum bliebst du also?« fragte sie mit einem kalten Blick. »Du sagtest zu Stiwa, du müßtest bleiben, um Jaschwin fortzuführen, und du hast ihn doch zurückgelassen?«

Ein Ausdruck kalter Kampfbereitschaft erschien nun auch auf seinem Gesicht.

»Ich habe Stiwa nichts für dich aufgetragen und sage niemals die Unwahrheit, aber ich wollte bleiben, und darum blieb ich«, sagte er finster. »Anna, warum, warum das?« begann er nach kurzem Schweigen, indem er sich zu ihr herab bog und ihr die Hand entgegenstreckte in der Erwartung, dass sie die ihrige hineinlegen werde. Sie war erfreut über die Aufforderung zur Versöhnung, aber eine böse Gewalt erlaubte ihr nicht, Folge zu leisten. .

»Natürlich, du wolltest bleiben, und darum bliebst du. Du tust, was du willst. Aber warum sagst du mir das? Wozu?« sagte sie, immer hitziger werdend. »Macht dir irgend jemand deine Rechte streitig? Aber du willst nur recht haben. Meinetwegen, du sollst recht haben!«

Seine Hand schloss sich. Er wandte sich ab, und sein Gesicht nahm noch mehr als zuvor einen harten Ausdruck an.

»Für dich ist das nur eine Frage der Hartnäckigkeit«, sagte sie. »Für dich handelt es sich nur darum, ob du Sieger bleiben werdest.« Sie war dem Weinen nahe. »Aber wenn du wüsstest, was das für mich bedeutet, wenn du dich so feindselig gegen mich benimmst wie jetzt, wenn du wüsstest, wie nahe ich in solchem Augenblick dem Abgrund bin...« Sie wandte sich ab, um ihr Schluchzen zu verbergen.

»Aber was ist dir denn?« sagte er, entsetzt über den Ausdruck ihrer Verzweiflung. Er bog sich wieder zu ihr herab, ergriff ihre Hand und küsste sie. »Was ist dir denn? Sage mir, was ich tun soll, damit du zufrieden bist. Ich bin zu allem bereit, was dich glücklich machen kann.«

»Es ist nichts«, sagte sie, »vielleicht das einsame Leben, die Nerven...« Sie bemühte sich, ihren Triumph zu verbergen, nachdem der Sieg auf ihrer Seite geblieben war.

Während des Abendessens erzählte er ihr Näheres von dem Wettrennen. Aber an seinem Ton und an seinen Blicken, welche immer kälter wurden, bemerkte sie, dass er ihr ihren Sieg nicht verziehen hatte. Sie erinnerte sich an die Worte, die ihr den Sieg verschafft hatten: »Wie nahe ich dem Rande des Abgrunds bin,« Sie begriff, dass das eine gefährliche Waffe war, die sie nicht zum zweiten mal gebrauchen dürfe, und dass neben der Liebe, die sie beide verband, auch der böse Geist der Zwietracht sich festgesetzt hatte.

Es gibt keine Lebenslage, an welche der Mensch sich nicht gewöhnen könnte, besonders wenn er sieht, dass alle anderen in seiner Umgebung ebenso leben. Drei Monate früher hätte Lewin nicht geglaubt, dass er unter solchen Umständen wie die jetzigen hätte ruhig einschlafen können, dass er bei einem ziellosen und über seine Mittel verschwenderischen Leben, nach einem Trinkgelage im Klub, wo er überflüssige Freundschaftsbeziehungen zu einem Menschen angeknüpft hatte, in den seine Frau früher verliebt gewesen war, und nach einem noch unsinnigeren Besuch bei einer Dame, welche er nicht anders als eine verlorene Frau nennen konnte und wodurch er den Zorn seiner Frau erregt hatte – dass er unter diesen Umständen sich ruhig schlafen legen könnte. Doch die Ermüdung, die schlaflosen Nächte und der getrunkene Wein versenkten ihn bald in einen tiefen und ruhigen Schlaf. Um fünf Uhr wurde er durch das Knarren einer Tür geweckt. Er richtete sich auf und blickte sich um. Kitty war nicht im Bett neben ihm, aber hinter einer spanischen Wand bewegte sich ein Licht, und er hörte ihre Stimme.

»Was ist dir, Kitty?« rief er.

»Nichts!« antwortete sie und kam mit dem Licht in der Hand hinter der spanischen Wand hervor. »Ich war etwas unwohl.« Ein freundliches und bedeutsames Lächeln erschien auf ihren Lippen.

»Wie? Fängt es an?« fragte er erschrocken und begann sich hastig anzukleiden.

»Nein, nein«, erwiderte sie lächelnd und hielt ihn am Arm zurück. »Es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten, es ist schon vorüber.«

Sie ging an ihr Bett, löschte die Kerze und legte sich nieder. Obgleich ihn ihr stilles Atmen und der Ausdruck ihrer besonderen Zärtlichkeit und Erregung, als sie ihm sagte: »Es ist nichts«, beunruhigte, war er doch so müde, dass er sogleich wieder einschlief. Um sieben Uhr weckte ihn die Berührung ihrer Hand an der Stirn und leises Flüstern. Sie schien zu schwanken zwischen dem Bedauern, ihn aufzuwecken, und dem Wunsche, mit ihm zu sprechen.

»Kostja, erschrick nicht, es ist nichts, aber es scheint... Man muss nach Elisabeth Petrowna schicken.«

Die Kerze wurde wieder angezündet.

»Erschrick nur nicht, es ist nichts. Ich habe keine Furcht«, sagte sie, als sie sein angstvolles Gesicht sah, und drückte seine Hand an ihre Brust und dann an ihre Lippen.

Er sprang hastig auf, außer sich vor Schrecken, legte seinen Schlafrock um und sah sie forschend an. Er konnte sich von ihrem Anblick nicht losreißen. Wie abscheulich erschien er sich selbst bei der Erinnerung, dass er sie gestern erzürnt hatte! Ihr gerötetes Gesicht, umgeben von weichen Haaren, strahlte in freudiger Erwartung und Entschlossenheit.

Sie blickte ihn lächelnd an. Plötzlich aber zuckten ihre Augenbrauen. Sie schien zu leiden und ihm dies verbergen zu wollen. Ihre Blicke sagten, dass sie sich ihrer Leiden freue und dass in ihrem Herzen etwas vorging, was ihm unbegreiflich blieb.

»Ich habe schon zu Mama gesandt, Kostja, aber geh du jetzt schnell zu Elisabeth Petrowna.«

Sie machte sich von ihm los und klingelte. »Nun, jetzt geh. Ängstige dich nicht.«

Während Lewin durch die eine Tür hinaus ging, hörte er, wie die Zofe durch die andere hereintrat. Er blieb an der Tür stehen und vernahm noch, wie Kitty dem Mädchen genaue Anweisungen gab.

Dann kleidete er sich schnell an. Und während die Pferde eingespannt und der Kutscher noch erwartet wurde, eilte er wieder in das Schlafzimmer, wo sich inzwischen zwei Mädchen mit irgend etwas beschäftigten.

»Ich fahre gleich zum Arzt. Elisabeth Petrowna wird schon abgeholt, aber ich werde auch bei ihr vorsprechen. Ist sonst noch etwas nötig? Soll ich zu Dolly fahren?«

Sie sah ihn an, augenscheinlich ohne ihn zu verstehen.

»Ja, ja, geh nur!« sagte sie hastig und winkte ihm mit der Hand.

Während er durch den Salon eilte, hörte er aus dem Schlafzimmer ein schmerzliches Stöhnen, das aber sogleich wieder verstummte.

»Ja, das ist's!« sagte er und eilte fort. »Gott, erbarme dich, vergib und hilf!« wiederholte er; er, der ungläubige Mann. Jetzt hielten ihn alle seine Zweifel und sein Unglaube nicht ab, sich an Gott zu wenden.

An der Ecke begegnete er Elisabeth Petrowna. »Gott sei Dank!« rief er, als er ihr jetzt besonders ernstes Gesicht bemerkte.

»Seit zwei Stunden, nicht länger?« fragte sie. »Sie werden den Arzt zu Hause treffen, aber es hat noch keine Eile. Wenn Sie an einer Apotheke vorbeikommen, bringen Sie Opium mit.«

»Sie glauben also, es werde alles gut gehen? Gott, erbarme dich und hilf!« sagte Lewin, und befahl, zum Arzt zu fahren.

Der Doktor war noch nicht aufgestanden, und sein Diener weigerte sich, ihn zu wecken. Lewin nahm einen Zehnrubelschein aus der Tasche, reichte ihn dem Diener und beruhigte ihn mit der Versicherung, der Arzt werde nicht zornig werden, aber er solle ihn sogleich wecken.

Der Diener willigte endlich ein, ging nach oben und bat Lewin, in das Wartezimmer einzutreten. Hier hörte Lewin, wie im Nebenzimmer der Arzt hustete, umherging, sich wusch und mit dem Diener sprach. Es vergingen drei Minuten, die Lewin länger als eine Stunde vorkamen. Er vermochte nicht mehr zu warten.

»Peter Dmitrijewitsch!« rief er mit flehender Stimme durch die geöffnete Tür hinein. »Um Gottes willen, verzeihen Sie mir, aber sie leidet schon seit zwei Stunden.«

»Sogleich, sogleich!« erwiderte die Stimme, und Lewin hörte mit Erstaunen, wie der Doktor dabei lachte.

»Nur einen Augenblick lassen Sie mich ein!«

»Sogleich!«

Es vergingen zwei Minuten, bis der Doktor seine Stiefel angezogen hatte, und noch zwei Minuten, bis er sich gekämmt hatte.

»Peter Dmitrijewitsch!« begann Lewin wieder mit kläglicher Stimme. Aber in diesem Augenblick kam der Arzt vollständig angekleidet heraus.

»Guten Morgen«, sagte er und reichte ihm mit empörendem Gleichmut die Hand. »Wie steht es?«

Lewin bemühte sich, möglichst ausführlich zu berichten und erzählte allerlei überflüssige Einzelheiten, wobei er sich beständig mit Bitten unterbrach, der Arzt möchte doch sogleich mit ihm fahren. »Das hat noch Zeit, Sie kennen das nicht. Ich bin noch nicht notwendig, doch ich habe es versprochen und werde meinetwegen mitfahren.«

»Aber wie denken Sie, Peter Dmitrijewitsch, glauben Sie, es werde gut verlaufen?«

»Es sind alle Anzeichen für einen günstigen Verlauf vorhanden.«

»Sie kommen also sogleich?« fragte Lewin mit einem zornigen Blick auf den Diener, der Kaffee brachte.

»In einem Stündchen.«

»Nein, um Gottes willen!«

»Nun, dann lassen Sie mich wenigstens Kaffee trinken.«

Der Doktor setzte sich zum Kaffee und beide schwiegen.

»Nein, ich kann es nicht mehr aushalten!« rief Lewin aufspringend. »Sie kommen also in einer Viertelstunde?«

»In einem halben Stündchen.«

Als Lewin nach Hause zurückkehrte, traf er Kittys Mutter und ging mit ihr nach der Tür des Schlafzimmers. Der Fürstin standen die Tränen in den Augen. Als sie Lewin erblickte, umarmte sie ihn und weinte.

Von dem Augenblick, als er aufwachte und begriff, um was es sich handelte, hatte sich Lewin darauf vorbereitet, seine Gedanken und Gefühle vor seiner Frau zu verbergen, um ihre Ruhe und ihren Mut aufrechtzuerhalten. Er bereitete sich darauf vor, etwa fünf Stunden lang standhalten zu müssen und hielt dies für die längste Zeitdauer, die nötig sein werde. Aber als er vom Arzt zurückkehrte und wieder ihre Leiden sah, wiederholte er öfter und öfter: »Gott erbarme dich!« Und doch war erst eine Stunde verflossen.

Aber es vergingen zwei, drei, endlich fünf volle Stunden, und die Lage war noch immer dieselbe. Sie war ihm noch unerträglicher, weil er nichts tun konnte, und jeden Augenblick dachte er, er sei an der letzten Grenze der Ausdauer angelangt und sein Herz werde sogleich vor Mitleid brechen.

Aber es vergingen noch Minuten, Stunden und Stunden und seine Qual und sein Entsetzen stiegen immer höher. Der Begriff der Zeit entschwand ihm. Die Augenblicke, wo sie ihn zu sich rief und er ihre mit Schweiß bedeckte Hand hielt, die ihn bald mit ungewöhnlicher Kraft festhielt, bald von sich stieß, schienen ihm Stunden. Er war verwundert, als Elisabeth Petrowna ihn bat, hinter der spanischen Wand Licht anzuzünden. Und jetzt erst erfuhr er, dass es schon fünf Uhr abends war. Er sah Kittys glühendes, bald verwundertes und leidendes, bald lächelndes Gesichtchen. Er sah auch die Fürstin, Dolly und den Arzt und endlich Elisabeth Petrowna mit entschlossener und beruhigender Miene. Die Fürstin war bald mit dem Arzt im Schlafzimmer, bald im Kabinett, wo ein gedeckter Tisch stand, dann war sie verschwunden und der Doktor an ihrer Stelle zugegen. Einmal erhielt Lewin den Auftrag, einen Stuhl und einen Diwan fortzutragen. Er verrichtete alles mit Eifer, da er glaubte, es sei für sie notwendig, und später erfuhr er erst, dass er damit für sich ein Nachtlager bereitet hatte. Dann sandte man ihn zum Arzt in das Kabinett, um etwas zu fragen. Der Doktor gab ihm Antwort und sprach dann von den Unordnungen in der Stadtverwaltung. Dann trug man ihm auf, aus dem Schlafzimmer der Fürstin ein vergoldetes Heiligenbild zu holen. Und mit dem alten Zimmermädchen der Fürstin kletterte er auf ein Schränkchen, um es herab zu nehmen, zerschlug dabei die Lampe und hörte, wie das Zimmermädchen ihn über seine Frau und die Lampe beruhigte. Dann brachte er das Bild nach Hause und hing es am Kopfende von Kittys Bett auf. Aber wo, wann und warum das alles geschah, begriff er nicht. Er wusste auch nicht, warum die Fürstin seine Hand fasste, ihn mitleidig anblickte und ihn bat, sich zu beruhigen, warum Dolly ihm zuredete, zu essen, und ihn aus dem Zimmer führte, und warum der Arzt ihn mitleidig anblickte und ihm Tropfen verschrieb.

»Gott erbarme dich! Gott hilf!« wiederholte er unaufhörlich und ebenso gläubig wie zur Zeit seiner Kindheit.

Lewin wusste nicht, ob es spät oder früh war. Die Kerzen waren schon herab gebrannt, Dolly trat eben in das Kabinett ein und bot dem Arzt ein Nachtlager an. Der Doktor erzählte Lewin von einem Scharlatan, einem Magnetiseur. Es war eine Pause eingetreten, und Lewin vergaß gänzlich, was jetzt vorging.

Plötzlich ertönte ein Schrei, der nichts Menschliches hatte, ein so entsetzlicher Schrei, dass Lewin nicht aufzuspringen vermochte, sondern mit angehaltenem Atem den Arzt entsetzt und fragend anstarrte. Dieser neigte den Kopf zur Seite, horchte und lächelte mit Kennermiene. Lewin sprang auf und lief auf den Zehenspitzen in das Schlafzimmer, wo er sich an Elisabeth Petrowna und an der Fürstin vorüber an seinen Platz am Kopfende des Bettes drängte. Der Schrei war verstummt. Aber jetzt ging eine Veränderung vor, die er nicht sehen und begreifen konnte, er erkannte sie nur am Gesicht Elisabeth Petrownas. Dieses war bleich und immer noch ebenso entschlossen, ihre Augen hatte sie starr auf Kitty gerichtet. Das glühende, erschöpfte Gesicht Kittys war ihm zugewandt und suchte seinen Blick. Sie fasste seine kalten Hände und drückte sie an ihr glühendes Gesicht.

»Geh nicht fort, geh nicht fort! Ich habe keine Furcht!« sagte sie hastig. »Mama, nimm mir diese Locken weg, sie stören mich, schnell, schnell, Elisabeth Petrowna.«

Sie sprach sehr hastig, machte aber doch einen Versuch, zu lächeln. Dann aber verzerrte sich plötzlich ihr Gesicht, und sie stieß ihn von sich.

»Nein, es ist entsetzlich! Ich sterbe! Ich sterbe! Geh, geh!« rief sie und stieß wieder jenen entsetzlichen Schrei aus.

Lewin stürzte aus dem Zimmer.

»Es ist nichts, es ist nichts! Alles geht gut!« rief ihm Dolly nach.

Aber was man ihm auch sagen mochte, er war jetzt überzeugt, dass alles verloren sei. Den Kopf an die Wand gestützt, stand er im Nebenzimmer und vernahm ein Stöhnen und Ächzen, wie er es noch nie gehört hatte. Er wusste, dass diese Klagetöne von Kitty kamen. Er wünschte sich schon lange kein Kind mehr, er verabscheute schon jetzt dieses erwartete Kind. Lewin verlangte auch nicht mehr die Erhaltung ihres Lebens und sehnte sich nur nach Beendigung dieser entsetzlichen Leiden.

»Doktor, was ist das, was ist das? Mein Gott!« sagte er, indem er den vorübergehenden Arzt am Arm fasste.

»Das ist das Ende«, sagte der Arzt, und sein Gesicht war so ernst, dass Lewin glaubte, er spreche vom Sterben.

Außer sich stürzte er in das Schlafzimmer. Das erste, was er erblickte, war das Gesicht von Elisabeth Petrowna, die jetzt noch ernster aussah. Kittys Gesicht fand er nicht. An der Stelle, wo es früher gewesen war, erblickte er jetzt etwas Entsetzliches, Unkenntliches. Ein entsetzlicher Aufschrei folgte dem anderen.

Plötzlich trat Stille ein, als der Schmerz die äußerste Grenze erreicht hatte. Lewin glaubte seinen Sinnen nicht, aber es war kein Zweifel möglich, die Schmerzensrufe waren verstummt, und er hörte nur leises Flüstern. Es entstand eine geschäftige Unruhe und eine schwache, zärtliche, glückliche Stimme sagte leise: »Es ist vorüber!« . .

Er erhob den Kopf. Kraftlos lagen Kittys Hände auf der Bettdecke, in unbeschreiblicher Schönheit und Ruhe blickte sie stumm nach ihm, mit einem vergeblichen Versuch, zu lächeln.

Und plötzlich fühlte er sich aus jener geheimnisvollen Welt, in der er während dieser zweiundzwanzig Stunden gelebt hatte, wieder in die frühere gewohnte Welt zurückversetzt, die jetzt von dem Strahl eines neuen Glücks so hell erleuchtet war, dass er es nicht ertragen, konnte. Schluchzen und Freudentränen erschütterten ihn lange Zeit heftig und machten ihn unfähig, zu sprechen.

Er fiel vor dem Bett auf die Knie nieder und küsste die Hände seiner Frau, die mit einer schwachen Bewegung antwortete. Am Fußende des Bettes aber hielt Elisabeth Petrowna in ihren geschickten Händen ein menschliches Wesen, das jetzt mit demselben Recht wie alle anderen Geschöpfe in das Leben eingetreten war.

»Es lebt, es lebt! Und es ist überdies ein Knabe! Seien Sie ganz ruhig«, sagte Elisabeth Petrowna, indem sie mit zitternden Händen den Rücken des Kindes rieb.

»Mama, ist es wahr?« fragte Kitty.

Nur mit Schluchzen konnte die Fürstin antworten.

Und plötzlich wurde inmitten des Stillschweigens, als unzweifelhafte Antwort auf die Frage der Mutter, eine ganz andere Stimme vernehmbar als das bisherige unterdrückte Geflüster. Es war ein energischer, schriller Aufschrei – die Stimme eines neuen menschlichen Wesens.

Um zehn Uhr am nächsten Morgen kamen der alte Fürst sowie Sergej und Oblonsky zu Lewin, um sich nach dem Befinden der jungen Frau zu erkundigen. Lewin war zumute, als ob hundert Jahre ihn von seinem gestrigen Zustand trennten. Er fühlte sich auf einer unerreichbaren Höhe, von der er sich herabzulassen suchte, um die anderen nicht zu kränken. Seine Gedanken waren beständig bei ihr, und die ganze weibliche Welt erhielt jetzt eine neue Bedeutung für ihn und stand unendlich hoch in seinen Augen.

»Sieh doch nach, ob ich zu ihr gehen kann«, sagte der Fürst.

»Gut, sogleich!« erwiderte Lewin, welcher schon im Begriff war, zu ihr zu gehen.

Kitty schlief nicht und sprach leise mit ihrer Mutter über die bevorstehende Taufe. Geschmückt, gekämmt und in einem Häubchen mit blauen Bändern lag sie auf dem Rücken und blickte ihm freundlich entgegen. Auf ihrem Gesicht lag eine überirdische Ruhe.

Sie ergriff seine Hand und fragte ihn, ob er geschlafen habe. Er vermochte nicht zu antworten und wandte sich ab.

»Ich habe etwas geschlummert, Kostja, und fühle mich jetzt so wohl.« Sie blickte ihn an, plötzlich aber änderte sich ihre Miene, als sie das Kind schreien hörte. »Gebt ihn mir her!« sagte sie. »Ich will ihn meinem Mann zeigen.«

»Nun ja, man wird ihn dem Papa zeigen«, erwiderte Elisabeth Petrowna. Sie legte die zappelnde rote Masse auf das Bett.

Beim Anblick dieses hilflosen kleinen Wesens machte Lewin vergebliche Anstrengungen, in seinem Herzen einige Spuren von väterlicher Zärtlichkeit zu entdecken. Er fühlte nur Widerwillen. Aber als die kleinen zarten Gliederchen sichtbar wurden, an denen sich auch Finger und Zehen befanden, empfand er Mitleiden mit diesem Wesen.

Kitty wandte ihren Blick nicht von dem Kinde. »Gebt ihn her, gebt ihn her!« sagte sie und wollte sich sogar aufrichten.

»Was machen Sie, Katharina Alexandrowna! Eine solche Bewegung ist verboten! Warten Sie noch, ich reiche Ihnen den Jungen. Jetzt wollen wir erst dem Papachen zeigen, wie hübsch wir sind. Ein prächtiges Kind!« sagte Elisabeth Petrowna.

Lewin seufzte. Dieses prächtige Kind flößte ihm nur Widerwillen und Mitleid ein. Es war ein ganz anderes Gefühl, als er erwartet hatte. _

Plötzlich veranlasste ihn ein leises Lachen, sich umzublicken. Es kam von Kitty. Der Kleine hatte die Brust genommen.

»Nun genug, genug!« sagte Elisabeth Petrowna.

Aber Kitty ließ ihn nicht los, er schlief auf ihren Armen ein. »Jetzt sieh einmal!« sagte Kitty. Sie wandte das Kind so, dass er es sehen konnte. Das kleine Gesichtchen war plötzlich noch faltiger geworden und sah noch älter aus, da es sich zum Niesen verzog.

Lewin war dem Weinen nahe. Er küsste seine Frau und verließ das dunkle Zimmer.

Oblonskys Verhältnisse hatten sich weiter verschlechtert. Zwei Drittel des Verkaufspreises für den Wald waren ausgegeben; der Kaufmann hatte dieses Geld gegen einen Abzug von zehn Prozent vor dem Fälligkeitstermin bezahlt. Jetzt weigerte sich aber der Käufer, mehr zu geben, da Dolly zum ersten Male auf ihre Vermögensrechte bestand und ihre Quittung zur Erhebung des letzten Drittels verweigerte. Das Gehalt reichte kaum für die Haushaltungsausgaben und für Bezahlung dringender kleiner Schulden. Es fehlte ganz und gar an Geld im Hause.

Das war unangenehm und konnte nach Oblonskys Ansicht nicht so weitergehen. Das Gehalt war nach seinen Begriffen zu klein. Seine Stellung war vor fünf Jahren sehr gut gewesen, jetzt aber war es anders. Sein Bekannter Petrow erhielt als Bankdirektor zwölftausend Rubel, Swentizki beim Verwaltungsrat erhielt siebzehntausend und Mitin, ein Gründer der Bank, sogar fünfzigtausend jährlich. ›Augenscheinlich bin ich eingeschlafen und vergessen worden‹, dachte Oblonsky. Er begann, nach etwas Besserem auszuspähen, und gegen Ende des Winters hatte er einen sehr guten Platz entdeckt. Sogleich suchte er sich ihn zu sichern, anfangs von Moskau aus durch Tanten, Onkel und Freunde, und dann, als die Sache heranreifte, reiste er im Frühling selbst nach Petersburg.

Es war die Stelle eines Mitgliedes der »Kommission der Hauptagentur der Gesellschaft gegenseitigen Kredits der südrussischen Eisenbahnen und Bankinstitute«. Eine solche Stelle erforderte so ungeheuere Kenntnisse und Fähigkeiten, wie sie schwerlich in einer Person vereinigt sind. Und da solche Personen selten sind, so war es immerhin besser, dass eine derartige Stelle wenigstens mit einem ehrlichen Menschen besetzt wurde. Und Oblonsky galt für einen solchen Menschen und hatte daher mehr als andere Anspruch auf diese Stelle, die sieben- bis zehntausend Rubel jährlich einbrachte. Und Oblonsky konnte sie annehmen, ohne seinen Posten im Staatsdienst aufzugeben. Die Vergebung des Postens hing von zwei Ministern ab. Und alle diese Personen musste Oblonsky in Petersburg besuchen. Außerdem hatte er seiner Schwester Anna versprochen, von Karenin eine entscheidende Antwort in betreff der Scheidung mitzubringen. Nachdem er von Dolly fünfzig Rubel bekommen hatte, reiste er nach Petersburg.

Eines Morgens besuchte er Karenin.

Nach einer längeren Unterhaltung, die den neuen Posten betraf, lenkte Oblonsky alsdann vorsichtig das Gespräch auf den eigentlichen Zweck seines Besuches: »Ich möchte«, sagte er während einer Gesprächspause, »nun über die Sache Annas mit dir sprechen.«

Bei der Erwähnung seiner Frau nahm Karenins Gesicht einen ermüdeten, starren Ausdruck an. »Was wollen Sie damit sagen?« fragte er.

»Irgendeine Entscheidung muss doch jetzt endlich mal getroffen werden. Ich wende mich jetzt an dich nicht als Staatsmann « – das passte hier sehr wenig –, »sondern einfach als Menschen und Christen. Du musst Mitleid mit ihr haben.«

»Um was handelt es sich?« fragte Karenin leise.

»Wenn du sie gesehen hättest wie ich – ich verbrachte den ganzen Winter mit ihr – so würdest du sie tief bedauern. Ihre Lage ist entsetzlich, wirklich entsetzlich!«

»Aber mir schien«, erwiderte Karenin mit tonloser Stimme, »dass Anna Arkadjewna alles hat, was sie wollte.«

»Ach, Alexej Alexandrowitsch, um Gottes willen, keine Anschuldigungen! Was gewesen ist, ist gewesen, und du weißt, was sie wünscht und erwartet – die Scheidung.«

»Ich glaubte aber, Anna Arkadjewna habe die Scheidung zurückgewiesen, wenn ich die Bedingung stelle, dass mein Sohn bei mir bleibt. Und damit hielt ich die Sache für beendigt und halte sie auch jetzt dafür«, kreischte Karenin.

»Um Gottes willen, keine Aufregung«, sagte Oblonsky, indem er das Knie seines Schwagers berührte. »Die Angelegenheit ist noch nicht beendigt, erlaube mir. Die Sache stand so: bei eurer Trennung warst du groß, so großherzig wie möglich, du hast alles bewilligt, die Freiheit und sogar die Scheidung. Das wusste sie zu schätzen. Nein, wirklich, glaube mir, sie wusste es zu schätzen, so sehr, dass sie in dem ersten Augenblick im Gefühl ihrer Schuld gegen dich nicht imstande war, richtig zu überlegen. Sie hat alles zurückgewiesen, aber die Wirklichkeit und die Zeit haben ihr bewiesen, dass ihre Lage unerträglich ist.«

»Das Leben Anna Arkadjewnas kann mich nicht mehr interessieren«, unterbrach ihn Karenin, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog.

»Erlaube mir, daran zu zweifeln«, erwiderte Oblonsky mit milder Stimme. »Ihre Lage ist peinlich für sie und ohne jeden Vorteil für irgend jemand. Aber ich und alle Verwandten, alle, die sie lieben, bitten und flehen dich an. – Warum erleidet sie diese Qual, wem bringt dieser Zustand Nutzen?« »Erlauben Sie, es scheint wirklich, dass Sie mich als den Schuldigen anklagen«, bemerkte Karenin.

»Nein, nein, keineswegs. Begreife mich doch!« sagte Oblonsky, indem er wieder Karenins Arm berührte, als ob er dadurch die Aufregung seines Schwagers beschwichtigen wollte. »Ich sage nur, ihre Lage ist peinlich, und du bist imstande, sie zu erleichtern, ohne dass du dadurch etwas verlierst. Ich werde alles arrangieren, du brauchst dich nicht darum zu kümmern. Das hast du ja auch versprochen.«

»Dieses Versprechen habe ich früher gegeben und nun musste ich annehmen, dass durch die Frage nach der Zukunft meines Sohnes die Sache erledigt sei«, sagte Karenin mit zitternden Lippen.

»Sie überlässt alles deiner Großmut, sie fleht nur eins: sie aus dieser unmöglichen Lage zu befreien. Sie bittet nicht mehr um ihren Sohn. Alexej Alexandrowitsch, du bist ein guter Mensch, versetze dich doch auf einen Augenblick in ihre Lage! Die Frage der Scheidung ist für sie eine Frage um Leben und Tod. Wenn du früher nicht deine Einwilligung gegeben hättest, so würde sie sich jetzt mit ihrer Lage ausgesöhnt haben und auf dem Lande leben. Aber du hast das Versprechen gegeben, sie hat dir geschrieben und ist nach Moskau gereist, und nun lebt sie seit sechs Monaten in Moskau und erwartet jeden Tag die Entscheidung. Das ist ganz so, als ob man einen zum Tode Verurteilten monatelang mit dem Strick um den Hals entweder auf den Tod oder die Begnadigung warten lässt. Habe Mitleid mit ihr, und dann nehme ich es auf mich, alles zu arrangieren... Deine Skrupel...«

»Ich spreche nicht davon«, erwiderte Karenin mit Widerwillen. »Aber vielleicht habe ich etwas versprochen, wozu ich nicht das Recht habe.«

»Du nimmst also dein Versprechen zurück?«

»Ich weigere mich niemals, das Mögliche zu erfüllen, aber ich muss Zeit zum Überlegen haben, inwieweit es möglich ist, das Versprechen zu erfüllen.«

»Nein, Alexej Alexandrowitsch!« rief Oblonsky aufspringend. »Ich kann es nicht glauben! Sie ist so unglücklich, wie eine Frau nur unglücklich sein kann, und du kannst dich nicht weigern, eine solche...«

»Sie behaupten, ein Freidenker zu sein, ich aber kann als gläubiger Mensch in einer so wichtigen Angelegenheit nicht den christlichen Geboten zuwiderhandeln.«

»Aber in der christlichen Welt und auch bei uns, soviel ich weiß, ist die Scheidung erlaubt«, erwiderte Oblonsky. »Auch unsere Kirche erlaubt sie und wir sehen...«

»Sie ist erlaubt, aber nicht in diesem Sinne.«

»Alexej Alexandrowitsch, ich kenne dich nicht wieder!« sagte Oblonsky. »Hast du ihr nicht vergeben, von christlichen Gefühlen bewegt und bereit, alles zu opfern, wofür wir alle dich hochschätzten? Und jetzt...«

Bleich und mit zitternden Knien erhob sich Karenin. »Ich bitte, dieses Gespräch abzubrechen«, sagte er mit kreischender Stimme.

»Verzeih mir, wenn ich dich erzürnt haben sollte«, sagte Oblonsky mit verlegenem Lächeln und streckte die Hand aus, »aber als Gesandter musste ich meinen Auftrag ausführen.«

Karenin reichte ihm die Hand und sagte nach kurzem Besinnen: »Ich muss überlegen, übermorgen werde ich Ihnen eine entscheidende Antwort in dieser Angelegenheit geben.«

Oblonsky wollte schon gehen, als der Diener eintrat und meldete: »Sergej Alexejewitsch.«

Wer ist das?‹ wollte Oblonsky fragen, aber sogleich erinnerte er sich. »Ah, das ist Serescha«, sagte er, »Anna hat mich gebeten, mit ihm zu sprechen.«

Er erinnerte sich an die schüchterne, kummervolle Miene, mit welcher Anna beim Abschied zu ihm sagte: »Du wirst ihn jedenfalls sehen, erkundige dich genau, wo er ist und wer bei ihm ist, und Stiwa... wenn es möglich wäre – sollte es wirklich möglich sein?« Oblonsky verstand, was sie meinte. Es bedeutete: wenn es wirklich möglich wäre, die Scheidung so herbeizuführen, dass der Sohn bei ihr bliebe. – Jetzt sah er ein, dass daran nicht zu denken war. Aber dennoch war er erfreut, seinen Neffen zu sehen. Karenin erinnerte seinen Schwager, dass man mit seinem Sohn niemals über seine Mutter spreche und bat ihn, ihrer mit keinem Wort zu erwähnen.

»Er war sehr krank nach jenem unerwarteten Wiedersehen mit seiner Mutter«, sagte Karenin, »wir fürchteten sogar für sein Leben. Aber die ärztliche Behandlung und die Bäder im Sommer haben seine Gesundheit wiederhergestellt, und auf den Rat des Arztes habe ich ihn in eine Schule eintreten lassen. Der Umgang mit seinen Mitschülern hat günstig auf ihn eingewirkt und er ist vollkommen gesund und lernt gut.«

»Ach, wie er gewachsen ist! Das ist nicht mehr der kleine Serescha, sondern schon ein junger Mann«, sägte Oblonsky lachend beim Anblick des hübsch gewachsenen Knaben in blauer Jacke, der lebhaft und ungezwungen eintrat. Der Knabe sah gesund und heiter aus und verbeugte sich vor dem Onkel wie vor einem Fremden, aber als er ihn erkannte, errötete er und wandte sich hastig ab. Dann ging er zu seinem Vater und reichte ihm die Zensur von der Schule.

»Schön, schön!« sagte der Vater. »Du kannst jetzt gehen!«

»Er ist schlank und hochaufgewachsen und kein Kind mehr, das sehe ich mit Vergnügen«, sagte Oblonsky. »Erkennst du mich noch?«

»Ja, Onkel«, erwiderte der Knabe mit einem hastigen Blick nach seinem Vater. Der Onkel ergriff seine Hand. »Nun, wie geht's, was machst du?« Er wünschte augenscheinlich ein Gespräch anzuknüpfen und wusste nicht, was er sagen sollte.

Der Knabe errötete und zog leise seine Hand zurück, ohne zu antworten. Sobald Oblonsky seine Hand freigelassen hatte, blickte er fragend seinen Vater an und verließ mit raschen Schritten das Zimmer.

Es war ein Jahr vergangen, seit Serescha seine Mutter zum letzten mal gesehen hatte. Er war in die Schule eingetreten und hatte mit seinen Mitschülern Freundschaft geschlossen. Er wusste, dass zwischen seinem Vater und seiner Mutter Feindschaft bestand, und dass es ihm bestimmt war, bei seinem Vater zu bleiben und hatte sich an diesen Gedanken gewöhnt.

Aber als Oblonsky, der bald nach ihm das Zimmer verließ, ihn auf der Treppe einholte und fragte, wie er seine freie Zeit zubringe, wurde Serescha gesprächiger, vom Druck befreit, den er in Gegenwart seines Vaters empfand. Er erzählte lebhaft von seinen Kinderspielen und seinen Kameraden. Ungeachtet seines Versprechens, nicht von Anna zu reden, konnte Oblonsky sich nicht enthalten, an ihn die Frage zu richten: »Erinnerst du dich deiner Mutter?«

»Nein«, erwiderte Serescha rasch, errötete tief und schlug die Augen nieder. Der Onkel konnte von ihm nichts weiter erfahren.

Nach einer halben Stunde fand ihn der Hauslehrer noch immer auf der Treppe und konnte lange nicht erkennen, ob er zornig war oder weinte.

Oblonsky widmete wie immer seine Zeit in Petersburg nicht nur den Geschäften, sondern er musste auch frische Luft schöpfen, wenn er aus der muffigen Atmosphäre Moskaus kam. Hier in Petersburg herrschten nicht so beschränkte Begriffe von den Pflichten gegen Frau und Familie. Die Kinder verkümmerten nicht in Petersburg den Eltern das Leben, und hier galt nicht die in Moskau so verbreitete tolle Ansicht, dass den Kindern aller Luxus des Lebens, den Eltern aber nur die Mühen und Sorgen zukommen. Und der Dienst war hier auch nicht jene ewige Tretmühle wie in Moskau.

Besonders die Petersburger Ansichten über Geldangelegenheiten wirkten beruhigend auf Oblonsky. Sein Freund Bartnjanski, der ein Leben führte, das wenigstens fünfzigtausend jährlich kostete, hatte ihm darüber noch gestern wunderliche Dinge erzählt. Bei Tisch sagte Oblonsky zu Bartnjanski: »Ich glaube, du bist mit Mordwinski bekannt. Du kannst mir einen Dienst erweisen, wenn du ihm gelegentlich ein Wörtchen zu meinen Gunsten sagst. Es handelt sich um eine Stelle, die ich gern haben möchte.«

»Gut, ich werde daran denken. Aber wozu willst du dich mit Eisenbahngeschäften einlassen?«

»Ich habe Geld nötig – nichts zu leben.«

»Aber du lebst doch?«

»Ja... aber Schulden...«

»Wirklich? Viel?« fragte Bartnjanski teilnehmend.

»Sehr viel, zwanzigtausend.«

Bartnjanski lachte laut auf. »0 du Glücklicher! Ich habe anderthalb Millionen und keinen Kopeken, und wie du siehst, kann man dabei ganz gut leben.«

Oblonsky sah den Beweis für diese Behauptung vor sich. Und noch auf andere Beispiele kam die Rede.

Petersburg wirkte außerdem auch in physischer Beziehung günstig auf Oblonsky, er fühlte sich hier immer um zehn Jahre verjüngt.

Zwischen der Fürstin Betsy und Oblonsky bestanden schon seit langer Zeit sehr eigentümliche Beziehungen. Oblonsky machte ihr immer im Scherz den Hof und sagte ihr dabei oft die gewagtesten Dinge, da er wusste, dass ihr dies am meisten gefiel. Am Tage nach seinem Gespräch mit Karenin machte er ihr einen Besuch. Er fühlte sich sehr unternehmungslustig und ging in seinem Scherz so weit, dass er nicht wusste, wie er sich zurückziehen sollte, deshalb war er sehr erfreut, als die Fürstin Mjachkaja kam und ihre Unterhaltung unterbrach.

»Ah, Sie sind da!« sagte die Fürstin. »Nun, was macht Ihre arme Schwester? Sehen Sie mich nicht so an. Seit alle über sie hergefallen sind, alle, die hunderttausendmal schlechter sind, finde ich, dass sie ganz recht getan hat. Ich kann es Wronsky nicht verzeihen, dass er mir nicht Mitteilung machte, als sie in Petersburg waren, ich hätte sie besucht und wäre mit ihr überall hingefahren. Bitte, sagen Sie ihr, wie sehr ich sie liebe, und erzählen Sie mir von ihr.«

»Ja, ihr Leben ist peinlich«, begann Oblonsky, aber die Fürstin unterbrach ihn nach ihrer Gewohnheit sogleich und begann selbst zu erzählen. »Anna hat getan, was alle außer mir tun, aber zu verheimlichen verstehen. Sie aber wollte nicht heucheln und hat wohlgetan, Ihren halbverrückten Schwager zu verlassen. Entschuldigen Sie, alle behaupten, er sei klug und geistreich, nur ich allein sagte, er sei dumm. Jetzt, wo er sich an Lydia Iwanowna und an Landau angeschlossen hat, sagt alle Welt, er sei halbverrückt.«

»Aber erklären Sie mir«, sagte Oblonsky, »was das bedeutet. Gestern war ich bei ihm im Interesse meiner Schwester, um eine entscheidende Antwort zu erlangen. Er aber sagte, er müsse nachdenken, und heute morgen erhalte ich anstatt einer Antwort eine Einladung für heute Abend zu Gräfin Lydia Iwanowna.«

»Ah, so, so!« sagte die Fürstin Mjachkaja erheitert. »Sie wollen Landau fragen, was er sagen soll.«

»Wer ist Landau?«

»Wie, Sie kennen nicht den berühmten Landau, den Hellseher? Er ist auch halbverrückt, aber von ihm hängt das Schicksal Ihrer Schwester ab. Sehen Sie, Landau war Kommis in einem Laden in Paris und kam einmal zum Doktor; im Wartezimmer schlief er ein und erteilte allen Kranken ganz wunderbaren Rat. Damals hörte die Frau Melodinskis – Sie kennen ihn, er ist krank – von diesem Landau und führte ihn zu ihrem Mann. Und er hat ihren Mann geheilt. Nach meiner Ansicht ist er noch ebenso schwach, aber sie glauben an ihn und nahmen ihn mit sich nach Russland. Hier stürmten alle auf ihn zu, und er begann, alles zu kurieren; auch die Gräfin Bessubow hat er geheilt, und sie war so entzückt darüber, dass sie ihn als Sohn adoptierte.«

»Adoptierte?«

»Ja, förmlich adoptierte. Jetzt ist er nicht mehr Landau, sondern Graf Bessubow. Nun, und Lydia Iwanowna – ich liebe sie sehr, aber in ihrem Kopf ist's nicht richtig – hängt jetzt auch an diesem Landau, und weder sie noch Karenin beschließen irgend etwas ohne ihn. Und deshalb liegt das Schicksal Ihrer Schwester jetzt in den Händen dieses Landau, alias Graf Bessubow.«

Nach einem vortrefflichen Diner bei Bartnjanski verspätete sich Oblonsky etwas und eilte dann zur Gräfin Lydia Iwanowna.

»Wer ist noch bei der Gräfin?« fragte Oblonsky den Portier.

»Alexej Alexandrowitsch Karenin und Graf Bessubow«, erwiderte dieser mit Würde.

Die Fürstin Mjachkaja hat richtig geraten‹, dachte Oblonsky, als er die Treppe hinaufstieg. ›Sonderbar! Nun, ich muss mich jedenfalls mit ihr befreunden, sie hat ungeheuren Einfluss.‹

Obgleich es noch vollkommen hell war, brannten in dem kleinen Salon der Gräfin Lydia Iwanowna schon die Lampen und die Vorhänge waren herabgelassen.

An einem runden Tisch unter der Lampe saß die Gräfin in leisem Gespräch mit Karenin. Ein kleiner schmächtiger junger Mann mit einwärts gebogenen Knien stand am anderen Ende und betrachtete die Bilder an der Wand. Er hatte ein sehr bleiches, hübsches Gesicht, glänzende, schöne Augen und lange Haare, die bis auf seinen Rockkragen herabfielen. Oblonsky begrüßte die Dame des Hauses sowie Karenin und blickte dann unwillkürlich nach dem Unbekannten.

»Monsieur Landau«, sagte die Gräfin mit auffallend zarter Stimme und stellte die Herren einander vor.

Landau hatte sich hastig umgesehen, trat lächelnd näher und legte seine unbewegliche schweißige Hand in die ihm entgegengestreckte Rechte Oblonskys. Dann trat er sogleich wieder zurück. Die Gräfin und Karenin wechselten bedeutsame Blicke.

»Ich bin stets sehr erfreut, Sie zu sehen, aber besonders heute«, sagte die Gräfin, während Oblonsky neben Karenin Platz nahm.

»Ich habe Sie mit ihm bekannt gemacht als Landau«, fuhr sie leise fort mit einem Blick nach dem Franzosen. »Er heißt eigentlich Graf Bessubow, wie Sie wahrscheinlich wissen, liebt aber diesen Titel nicht sehr.«

»Ja, ich habe davon gehört«, erwiderte Oblonsky. »Man sagt, er habe die Gräfin Bessubow vollständig geheilt.«

Lydia Iwanowna wandte sich an Karenin: »Sie war noch heute bei mir und ist tiefbetrübt. Diese Trennung ist ihr entsetzlich.«

»Und er reist bestimmt ab?« fragte Karenin.

»Ja, er reist nach Paris, gestern hat er eine Stimme gehört«, sagte die Gräfin mit einem Blick auf Oblonsky.

»Ah, eine Stimme?« wiederholte Oblonsky. Er begriff, dass man in dieser Gesellschaft höchst vorsichtig sein müsse.

Ein kurzes Schweigen trat ein, nach dem die Gräfin, wie um zum wichtigsten Gegenstand des Gesprächs überzugehen, mit feinem Lächeln zu Oblonsky sagte: »Ich kenne Sie schon lange und bin sehr erfreut, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen. Die Freunde unserer Freunde sind auch unsere Freunde. Aber um wahrer Freund zu sein, muss man sich in den Seelenzustand des Freundes versetzen, und ich fürchte, dass Sie das in Beziehung auf Alexej Alexandrowitsch nicht getan haben. Sie verstehen, wovon ich spreche?« sagte sie, ihr schönes, gedankenvolles Auge erhebend.

»Zum Teil, Gräfin, verstehe ich, dass die Lage von Alexej Alexandrowitsch ...«, sagte Oblonsky. Er hatte nicht begriffen, wovon sie sprach, und beschränkte sich deshalb auf allgemeine Ausdrücke.

»Ich spreche nicht von Veränderungen der äußeren Verhältnisse«, sagte die Gräfin mit Würde, indem sie mit verliebten Blicken Karenin nachsah, der jetzt aufstand und zu Landau ging. »Sein Herz hat sich geändert, es ist ihm ein neues Herz gegeben worden, und ich fürchte, dass Sie die Veränderung, die in ihm vorgegangen ist, nicht begreifen.«

»Das heißt, in allgemeinen Umrissen kann ich mir diese Veränderung vorstellen. Wir waren immer Freunde, und jetzt ...«, sagte Oblonsky, indem er einen Blick der Gräfin zärtlich erwiderte und überlegte, mit welchem der beiden Minister sie mehr bekannt sei und bei welchem er um ihre Fürsprache bitten solle.

»Jene Veränderung, die in ihm vorgegangen ist, kann sein Gefühl der Nächstenliebe nur verstärken. Aber ich fürchte, Sie begreifen mich nicht«, sagte sie.

»Nicht ganz, Gräfin, versteht sich, sein Unglück ...«

»Ja, das Unglück, das ihm zum höchsten Glück gereichte, als sein Herz sich erneuerte«, sagte sie mit einem verliebten Blick auf Oblonsky.

Ich glaube, ich könnte sie bitten, mit beiden zu sprechen‹, dachte dieser. »O natürlich, Gräfin!« sagte er. »Aber ich glaube, diese Umwandlungen sind so intimer Natur, dass niemand, selbst der ihm am nächsten Stehende, davon sprechen möchte.«

»Im Gegenteil, wir müssen, davon sprechen und einander helfen.«

»Ja, ohne Zweifel, aber es gibt solche Unterschiede in den Überzeugungen ...«, erwiderte Oblonsky mit mildem Lächeln.

»Es kann keinen Unterschied geben in den Fragen der heiligen Wahrheit.«

Oblonsky schwieg, er begriff, dass von der Religion die Rede war.

»Mir scheint, er wird sogleich einschlafen«, flüsterte Karenin der Gräfin zu und trat an den Tisch.

Oblonsky blickte sich um. Landau saß am Fenster, hatte sich auf die Stuhllehne gestützt und den Kopf sinken lassen. Als er die auf ihn gerichteten Blicke bemerkte, erhob er den Kopf mit einem kindlich naiven Lächeln.

»Achten Sie nicht auf ihn, ich habe bemerkt ...«, sagte die Gräfin, »ich habe bemerkt, dass die Herren aus Moskau höchst gleichgültig gegen die Religion sind.«

»O nein, Gräfin, ich glaube, die Moskauer stehen in dem Ruf, sehr fest zu sein«, erwiderte Oblonsky.

»Nun, soviel ich weiß, sind Sie zu meinem Bedauern einer der Gleichgültigen«, bemerkte Karenin mit müdem Lächeln.

»In dieser Beziehung bin ich weniger gleichgültig als erwartungsvoll«, sagte Oblonsky mit seinem mildesten Lächeln.

»Noch nicht«, sagte die Gräfin, welche die Bewegungen des Franzosen beobachtete. Landau stand auf und trat an den Tisch.

»Erlauben Sie mir, zuzuhören?« fragte er.

»O ja, ich wollte Sie nur nicht stören«, erwiderte die Gräfin, ihn gerührt anblickend, »Setzen Sie sich zu uns. – Ach! Wenn Sie das Glück kennen würden, das wir empfinden, wenn wir seine immerwährende Gegenwart im Herzen fühlen«, sagte sie dann mit salbungsvollem Lächeln zu Oblonsky.

»Aber der Mensch kann zuweilen seine Unfähigkeit empfinden, sich zu dieser Höhe aufzuschwingen«, erwiderte Oblonsky, der fühlte, dass die religiösen Höhen nicht seine Sache seien, dabei aber seine Freidenkerei nicht eingestehen wollte vor einer Dame, welche mit einem Wörtchen bei Pomorsky ihm die erwünschte Stellung verschaffen konnte.

»Sie wollen damit sagen, die Sünde verhindere ihn daran«, sagte Lydia Iwanowna. »Aber das ist eine falsche Ansicht. Für die Gläubigen gibt es keine Sünde, sie sind davon losgekauft.«

»Sie verstehen Englisch?« fragte die Gräfin. Nachdem sie eine bejahende Antwort erhalten hatte, stand sie auf und nahm ein Buch von einer Etagere. »Ich werde vorlesen: ›Safe and Happy‹ oder ›Under the Wing‹«, sagte sie, indem sie Karenin fragend ansah. »Das ist sehr kurz. Hier ist der Weg vorgeschrieben, durch den der Glaube und jenes Glück verlangt wird, das höher ist als alle Vernunft. Nun, Sie werden sehen!«

»O ja, das ist sehr ...«, begann Oblonsky, sehr zufrieden darüber, dass sie vorlesen wollte, weil er dadurch Zeit gewinnen konnte, um sich zu fassen. ›Nein, es geht jetzt nicht an, sie um etwas zu bitten‹, dachte er. ›Wenn ich nur mit guter Manier von hier fortkommen könnte ....‹

»Sie werden sich langweilen«, sagte die Gräfin zu Landau, »da Sie nicht Englisch verstehen; aber was ich vorlesen werde, ist nicht lang.«

»Oh, ich werde es verstehen«, sagte Landau mit demselben Lächeln und schloss die Augen.

Lydia wechselte mit Karenin bedeutsame Blicke, und dann begann die Vorlesung.

Oblonsky war ganz verwirrt von diesen ihm neuen, seltsamen Reden, die er hörte. In dieser ihm fremden Umgebung aber war er ganz ratlos und konnte nicht alles fassen.

Während er zuhörte und fühlte, wie die hübschen, naiven oder schlauen Augen Landaus auf ihn gerichtet waren, empfand er eine seltsame Schwere in seinem Kopf. Die verschiedenartigsten Gedanken schwärmten darin herum: ›Wenn ich nur rauchen könnte .... Um erlöst zu werden, braucht man nur zu glauben, und die Mönche wissen nicht, wie das gemacht wird, nur die Gräfin Lydia Iwanowna weiß es ... Warum wird mir der Kopf so schwer? Ist's vielleicht vom Kognak, oder weil das alles so sonderbar ist? Ich glaube, ich habe mich bis jetzt nicht unpassend benommen. Aber bitten kann ich sie jetzt nicht. Man sagt, in dieser frommen Gesellschaft werde man genötigt, mit zu beten. Das fehlte noch ... Die ganze Geschichte ist schon dumm genug! ... Und was für Unsinn sie da vorliest! Landau – Bessubow. Warum heißt er denn Bessubow?‹

Plötzlich empfand Oblonsky ein krampfhaftes Verlangen, zu gähnen. Er erschrak und strich seinen Backenbart, um das Gähnen zu verbergen. Dann aber wurde er gewahr, dass er anfing einzuschlafen und bald schnarchen werde. Er erwachte in dem Augenblick, als die Gräfin Lydia Iwanowna sagte: »Er schläft!«

Oblonsky fuhr erschrocken auf. Aber zu seiner Beruhigung bemerkte er, dass die Worte »er schläft« sich nicht auf ihn, sondern auf Landau bezogen. Der Franzose war ebenso eingeschlafen wie Oblonsky. Aber dieser wusste, dass er die Anwesenden tief beleidigt hätte, wenn er eingeschlafen wäre, während Landaus Schlaf sie außerordentlich erfreute, besonders die Gräfin Lydia Iwanowna.

»Mon ami« – in ihrem Entzücken nannte sie Karenin ihren Freund –, »geben Sie ihm die Hand, sehen Sie?«

Der Franzose schlief oder stellte sich schlafend. Er hatte den Kopf auf die Stuhllehne gestützt, und mit seiner schweißigen Hand, die auf den Knien lag, machte er schwache Bewegungen, als ob er etwas haschen wollte. Karenin stand vorsichtig auf, näherte sich dem Schlafenden und legte seine Hand in die des Franzosen. Oblonsky stand auch auf, riß die Augen weit auf und blickte bald hierhin, bald dorthin, um sich wach zu erhalten.

»Die Person, die zuletzt gekommen ist und fragt, soll gehen!« sagte der Franzose, ohne die Augen zu öffnen.

»Sie werden mich entschuldigen, aber Sie sehen ... Kommen Sie gegen zehn Uhr wieder oder noch besser morgen.«

»Die Person soll gehen!« wiederholte der Franzose ungeduldig.

»Er meint mich, nicht wahr?« fragte Oblonsky. Und nachdem er eine bejahende Antwort erhalten hatte, vergaß er alles, um was er die Gräfin hätte bitten wollen, und auch die Angelegenheit seiner Schwester. Er wünschte nur, so schnell wie möglich fortzukommen. Auf den Zehenspitzen verließ er das Zimmer und eilte auf die Straße wie aus einem Pesthaus.

Im Französischen Theater kam er noch zum letzten Akt, und dann beschloss er den Abend in einem Restaurant bei Champagner und tatarischer Musik. Hier atmete er wieder auf. Aber die Erinnerung an diesen Abend war ihm sehr drückend.

Am anderen Tag erhielt er ein Schreiben von Karenin mit der Erklärung, dass er die Scheidung entschieden verweigere. Oblonsky begriff, dass diese Weigerung durch das verursacht war, was der Franzose in seinem wirklichen oder verstellten Schlaf gesprochen hatte. ‹leer/› Für Wronsky und Anna war das Leben in Moskau in Hitze und Staub unerträglich geworden. Der Frühling war schon dem Sommer gewichen, und alle Bäume auf dem Boulevard hatten sich schon lange belaubt und waren in der Trockenheit mit Staub bedeckt. Aber sie kamen nicht dazu, nach Wosdwischensk zu ziehen, wie schon lange beschlossen war, weil sie in letzter Zeit sich nicht mehr verständigen konnten.

Was sie entzweite, hatte keine größere Ursache, aber alle Bemühungen zur Verständigung waren vergebens und vermehrten nur den Zwist.

Sie kannte alle seine Gewohnheiten, Gedanken und Wünsche und wusste, dass alle seine physischen Neigungen vor allem der Liebe zu den Frauen gehörte. Und diese Liebe sollte nach ihrem Wunsch ganz auf sie allein gerichtet sein. Da diese Liebe sich vermindert hatte, so schloss sie daraus, dass er einen Teil davon auf andere übertragen habe und wurde eifersüchtig. Sie hatte noch keine bestimmte Ursache für ihre Eifersucht und suchte daher nach einer solchen. Die geringste Anspielung genügte ihr. Bald war sie eifersüchtig auf jene Geschöpfe, mit denen so leicht Beziehungen anzuknüpfen sind, bald wieder auf eine der Damen der vornehmen Welt. Am meisten quälte sie die Einbildung, dass er sich von ihr trennen und eine andere heiraten wollte, weil er selbst unvorsichtigerweise zu ihr gesagt hatte, seine Mutter verstehe ihn so wenig, dass sie sich erlaubt habe, ihm zuzureden, die Fürstin Sorokin zu heiraten. Für alles, was ihr drückend war, die qualvolle Erwartung zwischen Himmel und Erde in Moskau, das Zögern Karenins, ihre Isolierung, alles schrieb sie Wronskys Verschulden zu. Desgleichen war er nach ihrer Meinung die Veranlassung, dass sie noch in Moskau weilte, anstatt auf dem Lande. Er konnte nicht auf dem Lande sich vergraben, wie sie wollte, er bedurfte der Gesellschaft und hatte sie in diese schreckliche Lage gebracht, deren Schwere er nicht begreifen wollte. Und dann bürdete sie ihm die Schuld dafür auf, dass sie für immer von ihrem Sohn getrennt war.

Selbst jene seltenen Augenblicke der Zärtlichkeit, die noch zuweilen zwischen ihnen eintraten, konnten sie nicht beruhigen. In seiner Zärtlichkeit glaubte sie eine gewisse Ruhe und Sicherheit zu entdecken, die früher nicht vorhanden gewesen war und die sie aufbrachte.

Es dämmerte schon. Anna erwartete seine Rückkehr von einem Diner mit Bekannten. Sie ging in ihrem Zimmer auf und ab und überdachte den gestrigen Streit in allen Einzelheiten. Von den beleidigenden Worten, die im Zorn gefallen waren, ging sie zurück bis auf den Anfang des Gesprächs. Es hatte damit begonnen, dass er die weiblichen Gymnasien für unnütz erklärte, während sie dieselben verteidigte. Er sprach geringschätzig von der weiblichen Bildung überhaupt und sagte, Hanna, die kleine Engländerin, habe nicht nötig, Physik zu verstehen.

Das hatte Anna gereizt, und sie hatte scharf geantwortet.

Er errötete vor Ärger und sagte: »Ihr Mitleid für diese Kleine ist mir gleichgültig, ich sehe, dass es affektiert ist.«

Diese Grausamkeit, mit der er die Welt zerstörte, die sie mit solcher Mühe für sich geschaffen hatte, um ihr schweres Leben erträglich zu machen, diese Ungerechtigkeit, mit der er ihr Affektation vorwarf, fachten ihren Zorn noch mehr an. »Ich bedaure sehr, dass nur das Grobsinnliche und Materielle Ihnen verständlich ist«, sagte sie und verließ das Zimmer.

Gestern Abend, als er zu ihr kam, begriffen sie beide nicht den vorgefallenen Zank, aber beide fühlten, dass er nur geglättet und nicht vergessen war.

Heute war er den ganzen Tag nicht zu Hause gewesen, und sie fühlte sich so allein und schwermütig bei dem Gedanken, mit ihm entzweit zu sein, dass sie alles vergessen und nur sich mit ihm aussöhnen wollte.

Ich bin selbst schuld, meine Reizbarkeit und unsinnige Eifersucht, Ich werde mich mit ihm versöhnen, und wir werden aufs Land fahren, wo ich ruhiger sein werde‹, sagte sie zu sich selbst.

Plötzlich fiel ihr das Wort affektiert ein, das sie am meisten beleidigt hatte. ›Ich weiß, was er sagen wollte – es sei unnatürlich, dass ich seine Tochter nicht liebe und meine Liebe einem fremden Mädchen schenke. Was versteht er von Liebe zu Kindern, von meiner Liebe zu Serescha, den ich für ihn geopfert habe! Und seine Absicht, mich zu kränken! Nein, er liebt eine andere, es kann nicht anders sein!‹

Sie sah ein, dass sie, in der Absicht sich zu beruhigen, wieder denselben Gedankenkreis durchlaufen hatte und wieder bei ihrem früheren Groll angekommen war, und entsetzte sich darüber. ›Er ist gut und edel. Er liebt mich und ich liebe ihn. In einigen Tagen vielleicht erfolgt die Scheidung. Was will ich noch? Ich werde alles auf mich nehmen. Ja, jetzt, wenn er nach Hause kommt, werde ich ihm sagen, ich sei schuld – und wir reisen ab.‹ Um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben, befahl sie, die Koffer zu bringen, um die Vorbereitungen zur Abreise zu beginnen.

Um zehn Uhr kehrte Wronsky zurück.

»Nun, war's heiter?« fragte sie, indem sie ihm mit schüchterner, freundlicher Miene entgegenging.

»Wie gewöhnlich«, erwiderte er. Beim ersten Blick sah er, dass sie sich in guter Stimmung befand. An diese Übergänge war er bereits gewöhnt, und heute war er selbst heiter aufgelegt.

»Was sehe ich! Das ist schön«, sagte er, auf die Koffer deutend.

»Ja, wir müssen abfahren, ich habe eine Sehnsucht nach dem Lande. Dich hält doch nichts zurück?«

»Nur eins wünsche ich, wir wollen sogleich davon sprechen, sobald ich mich umgekleidet habe. Lass Tee bringen.«

Er ging in sein Zimmer.

Es lag etwas Beleidigendes in seiner Bestimmung. Er hatte gesagt, »das ist schön«, wie zu einem Kinde, wenn es aufhört, eigensinnig zu sein. Und noch kränkender war der Gegensatz zwischen ihrem versöhnlichen Wesen und seinem selbstzufriedenen Ton. Die Streitsucht erwachte wieder, aber sie bezähmte sie und behielt ihr freundliches Wesen bei. Als er wieder eintrat, erzählte sie ihm, wie sie den Tag verbracht hätte. »Weißt du, ich hatte eine Art von Inspiration«, sagte sie. »Wozu hier auf die Scheidung warten? Ist es nicht dasselbe, wenn wir auf dem Lande leben? Ich kann nicht länger warten und will nicht hoffen und nichts mehr von der Scheidung hören, sie soll keinen Einfluss mehr auf mein Leben haben. Bist du nicht derselben Ansicht?«

»O ja«, sagte er mit einem Blick der Unruhe auf ihr erregtes Gesicht.

»Was habt ihr dort gemacht? Wer war da?« fragte sie.

Wronsky zählte die Gäste auf. »Das Diner war vortrefflich«, erwiderte er, »dann wurde eine Bootsfahrt veranstaltet, und das alles war ziemlich niedlich. Nun, wann reisen wir?«

»Wann wir reisen? Je früher, desto besser. Morgen werden die Vorbereitungen noch nicht beendigt sein, also übermorgen.«

»Nein, halt, übermorgen ist Sonntag, da muss ich bei Mama sein«, erwiderte Wronsky. Unter ihrem durchdringenden, argwöhnischen Blick wurde er verlegen, sobald er seine Mutter erwähnte. Dadurch aber wurde nur ihr Verdacht bestätigt. Sie fuhr auf und entfernte sich von ihm. Jetzt dachte sie an die Fürstin Sorokin, die bei der Gräfin Wronsky wohnte.

»Kannst du morgen fahren?« fragte sie.

»Nein, nein! Eine Vollmacht, die ich nötig habe, und das Geld kann ich morgen nicht erhalten.«

»Nun, dann reisen wir überhaupt nicht!«

»Aber warum denn?«

»Ich reise nicht später. Am Sonntag oder niemals.«

»Aber warum?« fragte Wronsky. »Das hat ja gar keinen Sinn.«

»Für dich hat es keinen Sinn, weil du dich um mich nicht kümmerst. Du willst mein Leben nicht verstehen. Das einzige, womit ich mich hier beschäftigen konnte, war Hanna. Du aber sagst, das sei affektiert. Gestern hast du gesagt, ich liebe nicht meine Tochter, und es sei unnatürlich, dass ich die Engländerin liebe. Ich möchte wissen, welches Leben hier für mich natürlich wäre.«

Auf einen Augenblick entsetzte sie sich selbst darüber, dass sie ihrem Vorsatz untreu geworden. Aber auch, wenn sie gewusst hätte, dass sie sich zugrunde richtete, hätte sie sich nicht beherrschen können. Sie musste ihm zeigen, wie sehr er im Unrecht sei, und dass sie sich nicht fügen könne.

»Das habe ich niemals gesagt! Ich sagte nur, dass diese plötzliche Liebe mir gleichgültig sei.«

»Warum sagst du nicht die Wahrheit, da du dich doch immer deiner Aufrichtigkeit rühmst?«

»Ich rühme mich niemals und sage niemals eine Unwahrheit«, erwiderte er leise. Er bemühte sich, seinen Zorn zu beschwichtigen. »Es ist sehr bedauerlich, wenn du nicht zu achten verstehst ...«

»Die Achtung hat man erfunden, um die Lücke auszufüllen, wo die Liebe sein sollte. Aber wenn du mich nicht mehr liebst, so ist es besser und ehrlicher, es zu sagen.«

»Nein, das wird unerträglich!« rief Wronsky aufspringend. Er blieb vor ihr stehen und sagte langsam: »Wozu willst du meine Geduld auf die Probe stellen? Sie hat auch ihre Grenzen.«

»Was wollen Sie damit sagen?« rief sie. Mit Schrecken sah sie den deutlichen Ausdruck des Zorns auf seinem Gesicht und besonders in seinen drohenden Augen. »Ich will damit sagen ...«, begann er, brach aber ab. »Ich muss fragen, was Sie von mir wollen.«

»Was kann ich wollen? Ich kann nur wollen, dass Sie mich nicht verlassen, wie Sie beabsichtigen«, sagte sie. »Aber das ist nur nebensächlich. Ich verlange Liebe und finde sie nicht. Wahrscheinlich ist alles zu Ende!«

Sie wandte sich zur Tür.

»Halt, halt!« rief Wronsky, indem er sie am Arm zurückhielt. »Um was handelt es sich? Ich sagte, die Abreise müsse auf drei Tage verschoben werden, du antwortest mir darauf, ich habe gelogen, ich sei ein ehrloser Mensch.«

»Ja, ich wiederhole, dass ein Mensch, der mir vorwirft, er habe alles für mich geopfert, schlimmer ist als ein ehrloser Mensch, er ist herzlos!«

»Nein, die Geduld hat ihre Grenzen!« rief er und ließ rasch ihren Arm los.

Er verabscheut mich, das ist sicher‹ dachte sie und schwieg, während sie mit unsicheren Schritten und ohne sich umzusehen das Zimmer verließ. ›Er liebt eine andere, das ist noch klarer. Ich will Liebe und finde sie nicht. Wahrscheinlich ist alles zu Ende‹, wiederholte sie.

Sie ließ sich in ihrem Zimmer auf einen Stuhl beim Spiegel nieder. Sie dachte daran, wohin sie jetzt gehen werde – vielleicht zu ihrer Tante, die sie aufgezogen hatte, oder zu Dolly, oder allein ins Ausland – und daran, ob dies ein endgültiger Bruch oder ob noch Versöhnung möglich sei – was jetzt ihre früheren Bekannten in Petersburg sagen, und wie sie Karenin ansehen werden und was jetzt, nach dem Bruch geschehen werde. – Aber sie gab sich diesen Gedanken nicht mit ganzem Herzen hin.

In ihrer Seele wohnte aber noch ein anderer unklarer Gedanke, der sie lebhaft interessierte. Sie erinnerte sich nochmals an Karenin und, die Zeit ihrer Krankheit nach der Geburt ihrer Tochter, sowie an jenes Gefühl, das sie damals so ganz beherrscht hatte. ›Warum bin ich nicht gestorben?‹ war damals ihr steter Gedanke. Und jetzt begriff sie plötzlich, dass dies jener Gedanke war, der alles lösen konnte.

Ja sterben! Der Schimpf, der auf Karenin und Serescha gefallen ist, und meine entsetzliche Schande – alles wird durch den Tod ausgewischt. – Sterben, dann wird er Gram empfinden und bereuen.‹ Mit einem starren Lächeln saß sie im Lehnstuhl und stellte sich lebhaft seine Gefühle nach ihrem Tode vor. Sie vernahm Schritte. Wronsky trat ein, ergriff ihre Hand und sagte leise: »Anna, wir wollen übermorgen fahren, wenn du willst, ich bin mit allem einverstanden.«

Sie schwieg.

»Nun?« fragte er.

»Mache alles, wie du willst«, sagte sie und brach in Tränen aus. »Verlaß mich, verlaß mich!« sagte sie schluchzend. »Ich werde morgen abreisen .... Ich werde noch mehr tun. Wer bin ich? Ein verlorenes Weib, ein Stein an deinem Hals. Ich will dir nicht länger zur Last fallen. Nein, du sollst frei sein. Du liebst mich nicht mehr, du liebst eine andere.«

Wronsky bat sie, sich zu beruhigen und beteuerte, ihre Eifersucht habe nicht den geringsten Grund, er habe nicht aufgehört, sie zu lieben und liebe sie noch mehr als früher.

»Anna, warum quälst du dich und mich in dieser fürchterlichen Weise?« sagte er, ihre Hand küssend. Auf seinem Gesicht sprach sich jetzt nur Zärtlichkeit aus. Sie glaubte Tränen in seiner Stimme zu hören, und ihre verzweifelte Eifersucht ging augenblicklich, in leidenschaftliche Liebe über. Sie umarmte ihn und bedeckte seine Stirn, seinen Hals, seine Hände mit Küssen.

Im Gefühl der vollständigen Versöhnung betrieb Anna schon am frühen Morgen mit Eifer ihre Reisevorbereitungen. Es war noch nicht beschlossen, ob sie am Montag oder Dienstag fahren werden, es war ihr jetzt auch ganz gleichgültig, ob sie einen Tag früher oder später reisen werden. Sie stand in ihrem Zimmer an einem offenen Schrank, aus dem sie Wäsche nahm, als er, schon angekleidet, früher als gewöhnlich zu ihr trat.

»Ich fahre jetzt sogleich zu meiner Mutter, vielleicht kann sie mir das Geld zusenden, und morgen bin ich dann bereit zu reisen«, sagte er. Die Erwähnung, dass er seine Mutter besuchen wollte, störte ihre heitere Laune.

»Ich werde selbst nicht fertig werden«, sagte sie. Und sogleich dachte sie: ›Es war also doch möglich zu tun, was ich wünschte‹. – »Nein, tue ganz, wie du willst. Aber jetzt gehe ins Speisezimmer, ich werde sogleich nachkommen, sobald ich diese Sachen weggelegt habe.«

Als sie in das Speisezimmer eintrat, aß Wronsky ein Beefsteak.

»Du glaubst nicht, wie widerlich mir diese gemieteten Zimmer sind«, sagte sie, indem sie sich mit ihrem Kaffee neben ihn setzte. »Ich denke an Wosdwischensk wie an das Gelobte Land. Sendest du noch nicht deine Pferde fort?«

»Nein, sie werden nachfolgen.«

Der Diener Wronskys trat, ein und wartete auf die Quittung für ein Telegramm aus Petersburg. Hastig, als ob er ihr etwas verheimlichen wollte, erwiderte er, die Quittung liege in seinem Kabinett und wandte sich sogleich wieder an sie,

»Morgen bin ich. jedenfalls mit allem fertig.« »Von wem ist die Depesche?« fragte sie.

»Von Stiwa«, erwiderte er zögernd.

»Warum hast du sie mir nicht gezeigt? Was kann es für ein Geheimnis zwischen Stiwa und mir geben?«

»Ich wollte sie dir nicht geben, weil Stiwa die Manie zu telegraphieren hat. Weshalb telegraphiert er, wenn doch noch nichts entschieden ist?«

»Über die Scheidung?«

»Ja. Er schreibt, er habe noch nichts ausrichten können. In den nächsten Tagen sei ihm eine entschiedene Antwort versprochen. Hier, lies selbst.«

Mit zitternden Händen ergriff Anna die Depesche und las dasselbe, was Wronsky gesagt hatte. Am Schluss war noch hinzugefügt: »Wenig Hoffnung. Aber ich tue das Mögliche und Unmögliche.«

»Ich habe gestern gesagt, dass es mir ganz gleichgültig sei, wann und ob es überhaupt zur Scheidung kommt«, sagte sie errötend. »Du hattest gar nicht nötig, mir das zu verheimlichen.« – ›Nun, ebenso verbirgt er mir auch wahrscheinlich seine Korrespondenz mit Damen‹, dachte sie,

»Jaschwin wollte heute morgen kommen«, sagte Wronsky, »er hat Pjewzow annähernd sechstausend Rubel abgenommen.«

»Nein«, sagte sie, empfindlich berührt dadurch, dass er durch sein Bestreben, das Gespräch abzulenken, ihr zeigte, dass sie gereizt sei, »warum glaubst du, dass diese Nachricht mich so interessiere, dass du sie mir sogar verheimlichen müsstest? Ich habe dir schon gesagt, ich will nicht mehr daran denken und wünsche nur, dass du dich ebenso wenig dafür interessierst wie ich.«

»Ich interessiere mich deswegen dafür, weil ich in allen Dingen Klarheit vorziehe«, sagte er.

»Die Klarheit liegt nicht in der Form, sondern in der Liebe«, erwiderte sie, immer mehr in Erregung geratend durch seine kalte Ruhe. – »Warum wünschst du sie?«

Ach, Himmel, schon wieder von der Liebe!‹ dachte er mit finsterem Unmut. »Du weißt es ja, deinetwegen und der Kinder wegen«, sagte er.

»Es werden keine Kinder mehr kommen.«

»Das ist sehr bedauerlich«, erwiderte er.

»Du denkst nur an die Kinder und nicht an mich«, sagte sie, vollkommen vergessend, dass er gesagt hatte: »Deinetwegen und der Kinder wegen.«

»Ach, ich habe ja gesagt: deinetwegen, am meisten deinetwegen«, sagte er, die Stirn faltend. »Weil ich überzeugt bin, dass deine Reizbarkeit hauptsächlich von der Ungewissheit deiner Lage herrührt.«

Aha, nun hört er auf, sich zu verstellen, und zeigt seinen kalten Groll gegen mich‹, dachte sie. Sie hörte nicht seine Worte, aber mit Entsetzen blickte sie jenem kalten, grausamen Richter entgegen, der aus seinen Augen sah.

»O nein, das ist nicht die Ursache! Bin ich nicht vollkommen in deiner Gewalt? Die Lage ist also durchaus nicht unbestimmt, im Gegenteil!«

»Es tut mir leid, dass du mich nicht verstehen willst«, unterbrach er sie. »Die Ungewissheit besteht darin, dass ich, wie du glaubst, frei bin.«

»Darüber kannst du ganz ruhig sein«, erwiderte sie und begann, halb abgewendet von ihm, Kaffee zu trinken. Sie erhob die Tasse mit ausgespreiztem kleinen Finger und führte sie zum Mund. »Mir ist alles ganz gleichgültig, wie deine Mutter denkt und wie sie dich verheiraten will«, sagte sie und stellte mit zitternder Hand ihre Tasse auf den Tisch.

»Aber davon sprechen wir jetzt nicht.«

»O doch, eben davon. Glaube mir, eine Frau ohne Herz, mag sie alt oder nicht alt, deine Mutter oder eine Fremde sein, interessiert mich nicht, und ich will sie nicht kennen.«

»Anna, ich bitte dich, nicht unehrerbietig von meiner Mutter zu sprechen.«

»Eine Frau, die nicht begreift, worin das Glück und die Ehre ihres Sohnes liegt, hat kein Herz.«

»Ich wiederhole meine Bitte, nicht geringschätzig von meiner Mutter zu sprechen, die ich verehre«, sagte er mit erhobener Stimme. Sie gab keine Antwort und sah ihn durchdringend an.

»Du liebst deine Mutter nicht«, sagte sie, »das sind nur Phrasen, Phrasen!«

»Wenn es so ist, so muss man ...«

»Man muss einen Entschluss fassen, und ich habe mich entschlossen«, sagte sie und wollte gehen. Aber in diesem Augenblick trat Jaschwin ins Zimmer. Anna grüßte ihn anscheinend unbefangen.

Warum sie in diesem Augenblick, wo ein Sturm in ihrem Innern tobte, wo sie fühlte, dass sie an einem Wendepunkt ihres Lebens stehe, für nötig fand, sich vor diesem Mann zu verstellen, der früher oder später doch alles erfahren musste, wusste sie selbst nicht. Aber sogleich setzte sie sich mit angenommener Ruhe nieder und begann mit ihm zu sprechen.

»Nun, haben Sie Ihr Geld erhalten?« fragte sie Jaschwin.

»Noch nicht. Es scheint, ich werde nicht alles erhalten. Vielleicht aber am Mittwoch. Und wann werden Sie reisen?« fragte Jaschwin, welcher augenscheinlich den vorgefallenen Zank erraten hatte.

»Wahrscheinlich übermorgen«, sagte Wronsky.

»Sie hatten schon lange die Absicht?«

»Ja, aber heute ist es fest beschlossen worden«, sagte Anna. Ihr Blick, den sie Wronsky zuwarf, sagte diesem, dass an Versöhnung nicht zu denken sei.

»Haben Sie kein Mitleid mit diesem unglücklichen Pjewzow?« fragte sie.

»Danach habe ich mich selbst niemals gefragt, Anna Arkadjewna. Mein ganzes Vermögen ist hier«, er deutete auf die Seitentasche, »und jetzt bin ich reich. Wenn ich aber heute Abend in den Klub gehe, so komme ich vielleicht als Bettler nach Hause. Wer sich mit mir zum Spiel niedersetzt, hat auch das Verlangen, mir alles bis aufs Hemd abzunehmen, ebenso wie ich. Nun, und so kämpfen wir, und darin liegt das Vergnügen.«

»Wenn Sie aber verheiratet wären«, fragte Anna, »was würde dann Ihre Frau sagen?«

Jaschwin lachte. »Darum eben heirate ich nicht.«

Anna lachte. Aber als Wronsky ihrem Blick begegnete, nahm ihre Miene sogleich einen kalten, strengen Ausdruck an, als ob sie sagen wollte: »es ist dir nicht vergessen, es bleibt beim alten«. Bald kam auch Woitow, der ein Pferd von Wronsky gekauft hatte. Anna stand auf und verließ das Zimmer.

Ehe Wronsky ausfuhr, ging er zu ihr. Anfangs wollte sie sich verstellen, als ob sie etwas auf dem Tisch suche, dann aber schämte sie sich der Verstellung und blickte ihm kalt ins Gesicht.

»Was suchen Sie?« fragte sie französisch.

»Ich möchte den Stammbaum des ›Gambetta‹, den ich verkauft habe«, sagte er in einem Ton, der zu verstehen gab: ›Ich habe jetzt keine weitere Zeit zu unnützen Erklärungen.‹ – ›Ich habe mir nichts vorzuwerfen‹, dachte er. Während er das Zimmer verließ, schien es ihm, als ob sie etwas sagte, und sein Herz zuckte vor Mitleid für sie.

»Was willst du, Anna?« fragte er.

»Nichts!« erwiderte sie ebenso kalt und ruhig.

Er wandte sich ab und ging. Im Vorübergehen erblickte er im Spiegel ihr bleiches Gesicht mit zuckenden Lippen. Er wollte bleiben, um ihr ein freundliches Wort zu sagen, aber er hatte schon das Zimmer verlassen, noch ehe er wusste, was er sagen wollte. Den ganzen Tag brachte er außerhalb des Hauses zu. Und als er spät abends zurückkehrte, sagte ihm das Zimmermädchen, die gnädige Frau habe Kopfschmerzen und lasse bitten, nicht zu ihr zu kommen.

Noch niemals hatte ein Streit einen ganzen Tag überdauert, dieses war das erstemal. Es war auch kein gewöhnlicher Streit, sondern ein offenes Zugeständnis der eingetretenen Erkaltung. Wie hätte er sie sonst so ansehen können in dem Augenblick, als er in das Zimmer trat, um den Stammbaum zu holen? Wie hätte er sonst mit so gleichgültiger Miene gehen können, während er ihre Verzweiflung sah? Er war nur erkaltet gegen sie, weil er eine andere liebte – das war klar.

Nach diesen Gedanken und bei der Erinnerung an seine grausamen Worte dachte sie sich noch etwas anderes aus, was er hätte sagen können: ›Sie können gehen, wohin Sie wollen. Sie wollten sich von Ihrem Manne nicht scheiden lassen, wahrscheinlich, um zu ihm zurückzukehren, also kehren Sie zu ihm zurück. Wenn Sie Geld gebrauchen, sollen Sie es haben. Wie viel brauchen Sie?‹

In ihrer Einbildung ließ sie ihn die grausamsten Worte aussprechen und vergab sie ihm nicht, als ob er sie wirklich gesagt hätte. ›Aber hat er nicht erst gestern mir seine Liebe geschworen? Er ist ein aufrichtiger, ehrenhafter Mann, bin ich nicht ganz überflüssigerweise so oft in Verzweiflung geraten?‹ fragte sie sich selbst. Den ganzen Tag verlebte Anna in Erregung und Zweifel darüber, ob wirklich alles zu Ende oder ob noch Hoffnung auf Versöhnung vorhanden sei, ob sie sofort abreisen oder ihn noch einmal sehen wolle. Sie erwartete ihn den ganzen Tag. Als sie abends in ihr Zimmer ging, trug sie ihrer Zofe auf, ihm zu sagen, sie habe Kopfschmerzen. Dabei sagte sie sich: ›Wenn er dennoch kommt, so bedeutet das, dass er mich noch liebt, wenn nicht, so ist alles zu Ende, und dann werde ich beschließen, was ich zu tun habe.‹

Spät abends hörte sie, wie sein Wagen vorfuhr und die Glocke ertönte, sie hörte seine Schritte und sein Gespräch mit der Zofe. Er glaubte ihr das, was sie sagte und ging in sein Zimmer.. Es war also alles zu Ende.

Und jetzt erschien ihr der Tod als das einzige Mittel, in seinem Herzen die Liebe zu ihr wieder zu erwecken, ihn zu bestrafen und den Sieg davonzutragen. Jetzt war alles gleichgültig. Die Fahrt nach Wosdwischensk, die Scheidung, alles war überflüssig. Nur an eins dachte sie – ihn zu bestrafen.

Als sie die gewöhnliche Dosis Opium eingoss und dabei daran dachte, dass sie nur dieses Fläschchen auszutrinken habe, um zu sterben, schien ihr dies so leicht und einfach, dass der Gedanke sie wieder mit Genugtuung erfüllte, wie er sich grämen, bereuen und ihr Andenken verehren werde, wenn es zu spät sein werde.

Sie legte sich mit offenen Augen zu Bett, beim Licht einer fast abgebrannten Kerze, und stellte sich lebhaft seine Empfindung vor, wenn sie nicht mehr da sein und für ihn nur eine Erinnerung sein werde. ›Wie konnte ich solche grausamen Worte aussprechen‹, wird er sich selbst sagen. ›Wie konnte ich das Zimmer verlassen ohne ein freundliches Wort? Jetzt ist sie nicht mehr hier, sie ist für mich dahingegangen ...‹ Der Schatten der spanischen Wand begann zu schwanken, verbreitete sich über die ganze Decke, wo andere Schatten ihm entgegeneilten. Dann schwebten sie schwankend und immer rascher vorüber und flossen zusammen, und darauf war alles dunkel.

Das ist der Tod!‹ dachte sie. Und es befiel sie ein solches Entsetzen, dass sie lange nicht begreifen konnte, wo sie sich

befand. Mit zitternden Händen gelang es ihr, eine andere Kerze anzuzünden. »Nein – alles eher als den Tod! Ich liebe ihn ja, und er liebt mich. Die schlimmen Gedanken werden vorübergehen«, sagte sie, während Tränen der Freude über die Wiederkehr ins Leben über ihre Wangen flössen. Um sich von ihrer Angst zu befreien, ging sie rasch in das Kabinett Wronskys.

Er lag in tiefem Schlaf. Sie trat an sein Bett, beleuchtete sein Gesicht von oben und betrachtete es lange Zeit. Jetzt, während er schlief, liebte sie ihn so, dass sie bei seinem Anblick ihre Tränen der Rührung nicht zurückhalten konnte. Aber sie fühlte, dass er sie, wenn er erwachen würde, mit kaltem, rechthaberischem Blick ansehen würde, und dass sie ihm erst beweisen musste, wie sehr er im Unrecht sei, ehe sie von ihrer Liebe sprechen durfte. Ohne ihn aufzuwecken, kehrte sie in ihr Zimmer zurück, und nach einer zweiten Dosis Opium versank sie lange nach Mitternacht in einen schweren, unruhigen Schlaf.

Gegen Morgen erschien ihr wieder jenes schreckliche Traumgesicht, das sie schon einmal in früherer Zeit gequält hatte. Sie sah wieder einen alten Bauern mit struppigem Bart, der sich bückte und mit Eisenstücken arbeitete und dabei unsinnige Worte aussprach. Sie erwachte in kaltem Schweiß gebadet.

Als sie aufgestanden war, erinnerte sie sich wie in einem Nebel des gestrigen Tages. ›Wir hatten Streit, wie schon mehrmals! Ich sagte, ich habe Kopfschmerzen, und er kam nicht. Morgen reisen wir ab. Ich muss ihn sehen und mich zur Abreise vorbereiten‹, sagte sie sich selbst. Sie ging zu ihm ins Kabinett. Als sie durch den Salon ging, hörte sie, wie vor dem Hause ein Wagen anhielt. Durch das Fenster sah sie eine Kutsche. Ein junges Mädchen mit einem rosafarbigen Hut blickte heraus und gab dem Lakai, welcher an der Tür klingelte, einen Auftrag. Bald kam jemand die Treppe herauf, und sie hörte im Nebenzimmer die Schritte Wronskys. Er ging rasch die Treppe hinab. Wieder eilte Anna ans Fenster. Er trat ohne Hut an den Wagen. Das junge Mädchen übergab ihm ein Paket, Wronsky sprach lächelnd einige Worte, der Wagen fuhr ab, und Wronsky eilte die Treppe wieder herauf.

Die gestrigen Gefühle erschütterten mit neuer Kraft ihr krankes Herz. Jetzt konnte sie nicht begreifen, wie sie sich so sehr hatte erniedrigen können, noch einen ganzen Tag in seinem Hause zu bleiben. Sie trat in sein Kabinett, um ihm ihren Entschluss anzukündigen.

»Die Fürstin Sorokin ist mit ihrer Tochter vorgefahren und hat mir das Geld und das Papier von Mama gebracht. Ich hatte es gestern nicht abholen können. Wie befindest du dich? Besser?« fragte er ruhig, ohne ihre finstere, feierliche Miene zu beachten.

Sie sah ihn schweigend und durchdringend an und blieb mitten im Zimmer stehen. Er blickte sich auf einen Augenblick finster nach ihr um und fuhr dann fort, einen Brief zu lesen. Sie wandte sich ab und verließ langsam das Zimmer. Er hätte sie noch zurückhalten können, aber er schwieg, und man hörte nur das Knistern des Papiers in seiner Hand. ',

»Wir fahren also morgen bestimmt, nicht wahr?« sagte er, als sie schon die Tür erreicht hatte.

»Sie, aber nicht ich«, erwiderte sie,« sich umwendend.

»Anna, das ist unerträglich!«

»Sie, aber nicht ich!« wiederholte sie.

»Ich ertrage es nicht mehr!«

»Sie ... Sie werden es bereuen!« sagte sie und ging.

Erschrocken über den Ausdruck von Verzweiflung, mit dem sie diese Worte gesprochen hatte, sprang er auf und wollte ihr nacheilen. Dann aber bedachte er sich, setzte sich wieder und preßte die Zähne zusammen. Diese Drohung fand er unpassend und war entrüstet darüber, ›Ich habe alles versucht‹, dachte er, ›es bleibt mir nur noch eins übrig – nicht darauf zu achten.‹ Er stand auf und kleidete sich an, um in die Stadt zu fahren und nochmals seine Mutter zu besuchen, von der er noch die Unterschrift auf der Vollmacht erhalten musste.

Anna hörte seine Schritte, als er durch das Speisezimmer ging. Im Saal hielt er an; aber ohne sich nach ihr umzuwenden, gab er nur den Befehl, Pjewzow in seiner Abwesenheit das gekaufte Pferd zu übergeben. Dann hörte sie, wie der Wagen vorfuhr, wie die Tür geöffnet wurde und er hinausging. Er war schon unten im Vorhaus, als jemand hastig nach oben kam; es war der Kammerdiener, der die vergessenen Handschuhe holte. Sie trat ans Fenster und sah, wie er, ohne sich umzublicken, die Handschuhe nahm, mit der Hand den Rücken des Kutschers berührte und ihm etwas sagte. Ohne zum Fenster heraufzusehen, stieg er ein, begann die Handschuhe anzuziehen und verschwand an der nächsten Straßenecke. ›Er ist fortgefahren! Alles ist zu Ende!‹ sagte sich Anna, als sie am Fenster stand, und die Eindrücke dieses schrecklichen Traumes in der Finsternis bei der erlöschten Kerze erfüllten ihr Herz mit kaltem Entsetzen. »Nein, es kann nicht sein!« rief sie und klingelte. Sie hatte jetzt eine solche Furcht davor, allein zu sein, dass sie, ohne das Erscheinen des Dieners abzuwarten, ihm entgegenging. »Erkundigen Sie sich, wohin der Graf gegangen ist«, sagte sie.

Der Diener antwortete, der Graf sei nach seinem Pferdestall gefahren und habe befohlen, der gnädigen Frau zu sagen, für den Fall, dass sie ausfahren wolle, werde der Wagen sogleich zurückkehren.

»Gut, warten Sie, ich werde gleich ein Billett schreiben. Senden Sie Michael mit dem Billett nach dem Pferdestall, aber schnell!«

Sie setzte sich und schrieb:

»Ich bin an allem schuld, komme nach Hause zurück, ich muss mich mit Dir aussprechen. Um Gottes willen, komme bald, ich erwarte Dich mit Angst und Ungeduld.«

Sie siegelte den Brief und übergab ihn dem Diener.

Da es ihr jetzt unmöglich war, allein zu bleiben, ging sie in das Kinderzimmer.

»Wie? Das ist er nicht. Wo sind seine blauen Augen, sein niedliches Lächeln?« war ihr erster Gedanke, als sie das wohlgenährte, rotwangige Mädchen mit den schwarzen Haaren erblickte, während sie in ihrer Gedankenverwirrung Serescha zu finden erwartet hatte. Die Kleine saß an einem Tisch, klopfte mit einem Korken darauf und blickte die Mutter mit ihren schwarzen Augen an.

Anna antwortete der Engländerin, sie befinde sich ganz wohl und werde morgen auf das Land fahren, dann setzte sie sich neben ihr Töchterchen und drehte spielend vor ihr den gläsernen Stöpsel einer Wasserflasche. Aber das laute, klangreiche Gelächter des Kindes und die Bewegung seiner Augenbrauen erinnerten sie so lebhaft an Wronsky, dass sie kaum imstande war, ihre Tränen zu unterdrücken und rasch das Zimmer verließ.

»Ist wirklich alles zu Ende? Nein, es kann nicht sein! Er wird zurückkehren. Aber wie wird er mir sein Lächeln und seine Lebhaftigkeit erklären, als er mit mir sprach? Nun, mag er es auch nicht erklären, ich werde ihm doch glauben. Wenn ich nicht glauben kann, so bleibt mir nur eins übrig – und das will ich nicht.« Sie blickte nach der Uhr. Es waren zwölf Minuten vergangen. ›Jetzt wird er meinen Brief erhalten und zurückkehren. Nur noch zehn Minuten ... Und wenn er nicht kommt? Nein, das kann nicht sein! Aber er darf meine verweinten Augen nicht sehen, ich werde sie gleich abwaschen. Und habe ich mich schon gekämmt oder nicht?‹ fragte sie sich. Sie konnte sich dessen nicht erinnern und betastete den Kopf mit der Hand. ›Ja, ich bin gekämmt, aber ich weiß nichts davon.‹ Sie glaubte kaum ihrer eigenen Hand und ging zu einem Spiegel, um sich davon zu überzeugen. Ja, es war wirklich so. ›Wer ist das?‹ dachte sie, als sie im Spiegel ihr erschöpftes Gesicht mit den seltsam glänzenden Augen erblickte, die sie erschreckt ansahen. ›Ich bin es wirklich‹, sagte sie. Sie glaubte seinen Kuss auf ihren Schultern zu empfinden und fuhr zusammen. Dann erhob sie die Hand zu den Lippen und küsste sie.

Was ist das? Werde ich den Verstand verlieren?‹ Sie ging in das Schlafzimmer, welches Annuschka eben aufräumte. »Annuschka«, sagte sie, indem sie vor ihr stehenblieb und sie ansah, ohne zu wissen, was sie ihr sagen wollte.

»Sie wollten zu Darja Iwanowna fahren«, sagte das Mädchen.

»Zu Darja Iwanowna? Ja, ich werde hinfahren!«

Fünfzehn Minuten hin und ebensoviel zurück. Er ist schon unterwegs und wird sogleich kommen.‹- Sie blickte auf die Uhr. ›Aber wie konnte er fortfahren und mich in solcher Lage zurücklassen? Wie kann er leben, ohne sich mit mir ausgesöhnt zu haben?‹ Sie ging zum Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Der Zeit nach hätte er bereits zurück sein können. Aber vielleicht war ihre Berechnung nicht richtig. Und wieder zählte sie die Minuten seit seiner Abfahrt.

In dem Augenblick, als sie sich von der Uhr abwandte, fuhr jemand vor. Sie blickte aus dem Fenster und sah seinen Wagen. Aber niemand kam die Treppe herauf, und unten vernahm sie Stimmen. Es war der Diener, den sie abgesandt hatte. Sie ging ihm entgegen.

»Ich habe den Herrn Grafen nicht gefunden, er war nach dem Nischegoroder Bahnhof gefahren.«

»Wie? Wie?« fragte sie Michael, der ihr den Brief zurückgab. »Ach ja, er hat ihn nicht erhalten«, fügte sie hinzu.

»Fahre mit dem Billett nach dem Gut der Gräfin Wronsky hinaus, weißt du? Und bringe mir sogleich Antwort«,'sagte sie zu dem Diener. ›Aber was werde ich selbst machen?‹ dachte sie. ›Nun ja, ich werde zu Dolly fahren, das ist wahr, sonst verliere ich den Verstand. Ich kann auch noch telegraphieren.‹ Und sie schrieb eine Depesche auf: »Ich muss mich notwendig mit Ihnen besprechen; kommen Sie sogleich zurück.«

Nachdem sie das Telegramm abgesandt hatte, ging sie in ihr Zimmer, um sich umzukleiden. Schon angekleidet und mit dem Hut auf dem Kopf blickte sie wieder die ruhige Annuschka an, in deren kleinen, gutmütigen, grauen Äuglein sie deutliches Mitgefühl wahrnahm.

»Liebe Annuschka, was soll ich machen? « fragte Anna weinend und ließ sich kraftlos auf einen Stuhl nieder.

»Warum beunruhigen Sie sich so sehr, Anna Arkadjewna? So etwas kann immer vorkommen. Fahren Sie aus, zerstreuen Sie sich«, sagte das Mädchen.

»Ja, ich werde ausfahren«, erwiderte Anna aufstehend. »Aber wenn in meiner Abwesenheit ein Telegramm ankommt, so sende es mir nach zu Darja Alexandrowna ... doch nein, ich werde bald zurückkommen.«

Sie setzte sich in den bereitstehenden Wagen.

»Wohin befiehlt die gnädige Frau?« fragte Peter, ehe er auf den Bock stieg.

»Zur Fürstin Oblonsky.«

Den ganzen Morgen war ein feiner Regen gefallen, jetzt aber hatte sich der Himmel aufgeklärt. Die Steine des Trottoirs, die Räder und das Lederwerk der Equipagen, alles glänzte hell in der Maisonne. Es war drei Uhr und die Straßen sehr belebt. Während sie in der Ecke des Wagens saß, überlegte sie unter den rasch wechselnden Eindrücken der heiteren Luft nochmals die Ereignisse der letzten Tage und sah jetzt ihre Lage ganz anders an als vorher zu Hause. Jetzt erschien ihr auch der Tod nicht mehr so schrecklich, aber auch nicht mehr unvermeidlich. Jetzt machte sie sich selbst Vorwürfe über die Demütigung, zu der sie sich erniedrigt hatte.

Warum sollte ich ihn um Verzeihung bitten und mich selbst schuldig bekennen? Kann ich nicht etwa ohne ihn leben?‹ Und ohne sich diese Frage zu beantworten, begann sie die Aufschriften über den Läden zu lesen. »Kontor und Niederlage. Zahnarzt.« ›Ja, ich werde Dolly alles sagen, sie liebt Wronsky nicht. Es wird mich Überwindung kosten, aber ich werde ihr trotzdem alles sagen, denn sie liebt mich, und ich werde ihrem Rat folgen. Ich werde mich vor ihm nicht demütigen.‹ – Dann erinnerte sie sich, wie sie vor langer, langer Zeit als siebzehnjähriges Mädchen zum Pfingstfest zu ihrer Tante gefahren war. ›Wie vieles von dem, was mir damals so schön und unerreichbar erschienen war, hat sich als nichtig erwiesen. Und was damals war, ist jetzt für immer unerreichbar geworden. Würde ich damals geglaubt haben, dass mir eine solche Demütigung bevorsteht? Wie stolz und selbstzufrieden wird er meinen Brief erhalten. Aber ich werde ihm zeigen ....‹ – »Modes et Confection«, las sie. Ein Mann grüßte sie, das war Annuschkas Mann. ›Unsere Parasiten, wie Wronsky sagt. Unsere? Warum unsere?‹ Dann erinnerte sie sich an ihr vergangenes Leben in der Gemeinschaft mit Karenin, den sie so leicht aus dem Gedächtnis verloren hatte. ›Dolly wird denken, dass ich jetzt den zweiten Mann schon verlasse, und wird mir unrecht geben. Als ob ich recht haben wollte! Ich kann nicht mehr!‹ sagte sie und war dem Weinen nahe.

Dann aber kam ihr sogleich der Gedanke, worüber diese zwei Mädchen wohl lachen mögen. ›Wahrscheinlich über Liebesangelegenheiten. Sie wissen nicht, wie traurig und niedrig das ist ... Der Bouleyard und die Kinder. Drei Knaben spielen Pferdchen. Serescha! Ich verliere alles und werde nicht zu ihm zurückkehren. Ja, alles ist verloren, wenn er nicht zurückkehrt. Vielleicht hat er den Zug versäumt und ist jetzt schon auf dem Heimweg. Du verlangst schon wieder nach Demütigung‹, sagte sie zu sich selbst. ›Nein, ich gehe zu Dolly und sage ihr gerade heraus: ich bin unglücklich, ich habe es verdient, aber ich bin doch unglücklich, hilf mir. Diese Pferde, dieser Wagen – mit welchem Widerwillen sitze ich in diesem Wagen, alles ist sein, aber ich werde sie nicht mehr sehen.‹

Während Anna überlegte, was sie Dolly sagen werde, stieg sie die Treppe hinauf. »Ist Besuch da?« fragte sie im Vorzimmer.

»Katharina Alexandrowna Lewin«, erwiderte der Diener.

Kitty, dieselbe Kitty, in die Wronsky verliebt war‹, dachte Anna, ›dieselbe, an die er noch jetzt mit Liebe zurückdenkt. Er bedauert, sie nicht geheiratet zu haben, an mich denkt er aber nur mit Abscheu.‹

Die beiden Schwestern berieten sich über Kinderernährung. Dolly kam Anna allein entgegen.

»Du bist noch nicht abgereist? Ich wollte dich selbst besuchen«, sagte sie. »Heute habe ich von Stiwa einen Brief erhalten.«

»Wir haben auch eine Depesche erhalten«, erwiderte Anna, indem sie sich nach Kitty umblickte.

»Stiwa schreibt, er könne nicht begreifen, was Karenin eigentlich wolle, aber er werde nicht ohne Antwort abreisen.«

»Ich glaubte, du habest Besuch. Kann ich den Brief lesen?«

»Ja, Kitty ist da«, sagte Dolly verlegen, »sie ist im Kinderzimmer geblieben. Sie war leider sehr krank.«

»Das habe ich gehört. Kann ich den Brief lesen?«

»Ich werde ihn sogleich bringen. Aber er weigert sich nicht, im Gegenteil, Stiwa hat Hoffnung«, sagte Dolly schon an der Tür.

»Ich habe keine Hoffnung und wünsche auch nichts mehr«, erwiderte Anna.

Hält sich Kitty vielleicht für zu gut, mit mir zusammenzutreffen?‹ dachte Anna, als sie allein geblieben war. ›Vielleicht hat sie auch recht. Aber nicht ihr, welche auch in Wronsky verliebt war, kommt es zu, mir das zu zeigen. Ich weiß, dass in meiner Stellung mich nicht eine einzige ehrbare Frau empfangen kann. Ich weiß, dass ich vom ersten Augenblick an ihm alles geopfert habe. Und das ist der Dank? Oh, wie ich ihn verabscheue! Und warum bin ich hierhergekommen ? Mir ist jetzt noch schlimmer, noch schwerer zumute.‹ Im Nebenzimmer hörte sie die Stimmen der Schwestern, die miteinander sprachen. ›Und was werde ich jetzt Dolly sagen? Soll ich Kitty damit ergötzen, dass ich zeige, wie unglücklich ich bin? Nein, auch Dolly begreift nichts, ich habe ihr nichts zu sagen. Aber ich möchte nur Kitty sehen, um ihr zu zeigen, dass ich. alle und alles verachte, dass mir alles gleichgültig ist.‹ – Dolly trat ein mit dem Brief in der Hand. Anna las ihn und gab ihn schweigend zurück.

»Ich wusste das alles«, sagte sie, »und interessiere mich nicht dafür.«

»Warum? Ich habe im Gegenteil Hoffnung«, sagte Dolly, indem sie Anna forschend anblickte. Noch niemals hatte sie Anna in so seltsam aufgeregtem Zustand gesehen. »Wann reist du ab?« fragte sie.

Anna blickte mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin, ohne zu antworten. »Warum verbirgt sich Kitty vor mir?« fragte sie errötend, mit einem Blick auf die Tür. »Ach, welche Idee! Sie stillt ihr Kind und hat sich bei mir Rat geholt... Sie wird sogleich kommen und ist sehr erfreut, dich zu sehen«, sagte Dolly etwas verlegen, da sie nicht zu lügen verstand – »da ist sie schon.«

Als Kitty gehört hatte, dass Anna gekommen war, wollte sie nicht erscheinen, aber Dolly beredete sie dazu. Kitty beherrschte sich und kam heraus, errötend ging sie auf Anna zu und reichte ihr die Hand. »Sehr erfreut«, sagte sie mit zitternder Stimme.

Kitty war erregt durch den Kampf, der in ihr vorging, zwischen der Feindschaft gegen diese Frau und dem Wunsche, nachsichtig zu sein. Sobald sie aber das schöne sympathische Gesicht Annas erblickte, verschwand sogleich aller Groll.

»Ich hatte mich nicht darüber gewundert, wenn Sie mit mir nicht zusammentreffen wollten, ich bin das alles gewöhnt. Sie waren krank?« fragte Anna.

Kitty fühlte, dass Anna sie feindlich ansah. Sie erklärte sich dies durch ihre peinliche Lage, in der sie jetzt vor ihr stand, und empfand Mitleid.

Sie sprachen über die Krankheit, über das Kind, über Stiwa, aber dies alles interessierte augenscheinlich Anna nicht. »Ich bin gekommen, um von dir Abschied zu nehmen«, sagte sie aufstehend.

»Wann reist ihr?«

Aber ohne zu antworten, wandte sich Anna wieder an Kitty. »Ja, ich bin sehr erfreut. Sie gesehen zu haben«, sagte sie lächelnd. »Ich habe von allen Seiten so viel von Ihnen gehört, selbst von Ihrem Mann. Er war bei mir und hat mir sehr gefallen«, fügte sie augenscheinlich in böser Absicht hinzu. »Wo ist er jetzt?«

»Er ist aufs Land gefahren«, sagte Kitty errötend.

»Grüßen Sie ihn jedenfalls von mir.«

»Gewiss«, erwiderte Kitty naiv, indem sie Anna mitleidig anblickte.

»Adieu.« Nachdem sie Dolly geküsst und Kitty die Hand gedrückt hatte, verließ Anna hastig das Zimmer.

»Sie ist noch immer ebenso verführerisch«, sagte Kitty, »aber ihr Gesicht hat einen kummervollen Ausdruck – sie sieht sehr niedergeschlagen aus.«

»Nur heute ist etwas Besonderes an ihr. Als ich sie hinausbegleitete, schien sie mir im Vorzimmer dem Weinen nahe zu sein.« Nach ihrem Besuche bei Dolly war Annas Stimmung noch unglücklicher als zuvor bei der Abfahrt von zu Hause. Zu ihren früheren Qualen kam noch das Gefühl der Zurücksetzung und Demütigung, das sie bei der Begegnung mit Kitty deutlich empfunden hatte.

»Wohin befehlen Sie zu fahren, nach Hause?« fragte Peter.

»Ja, nach Hause«, erwiderte sie, ohne darüber nachzudenken, wohin sie fahren wollte.

Sie haben mich angesehen, wie etwas Sonderbares, Unbegreifliches und Merkwürdiges. Ich wollte es Dolly erzählen, aber es ist gut, dass ich es unterlassen habe. Wie würde sie sich über mein Unglück freuen! Sie würde das zu verbergen suchen, aber vor allem würde sie Freude darüber empfinden, dass ich bestraft worden bin für das Glück, um das mich alle beneideten. Kitty würde sich noch mehr freuen. Wie ich sie durchschaue! Sie weiß wohl, dass ich gegen ihren Mann besonders liebenswürdig war, darum ist sie eifersüchtig und haßt mich. Sie verachtet mich auch. In ihren Augen bin ich ein sittenloses Weib. Wenn ich das wäre, mit welcher Leichtigkeit hätte ich ihrem Mann den Kopf verdrehen können!‹

Diese Gedanken beschäftigten sie so, dass sie alles andere darüber vergaß. Der Wagen hielt vor dem Hause. Als der Portier ihr entgegenkam, erinnerte sie sich, dass sie einen Brief und ein Telegramm abgesandt hatte.

»Ist Antwort gekommen?« fragte sie.

Der Portier überreichte ihr ein quadratförmiges dünnes Kuvert, welches ein Telegramm enthielt.

»Ich kann nicht früher als um zehn Uhr kommen. Wronsky«, las sie.

»Und der abgesandte Diener ist noch nicht zurück?«

»Noch nicht, gnädige Frau.«

Wenn es so ist, so weiß ich, was ich zu tun habe‹, sagte sie sich. Zorn und Rachsucht regten sich in ihr, während sie die Treppe hinaufeilte. ›Ich werde selbst zu ihm fahren. Ehe ich ihn auf immer verlasse, werde ich ihm alles sagen. Noch niemals habe ich jemand so gehasst wie diesen Menschen.‹

Sie dachte nicht daran, dass dieses Telegramm nur die Antwort auf das ihrige war, und dass er ihren Brief bei Absendung desselben noch gar nicht erhalten haben konnte.

Sie stellte sich ihn jetzt vor, wie er mit seiner Mutter und der Fürstin Sorokin sich ruhig unterhalte und sich über ihren Kummer freue. ›Ja, ich muss sogleich fahren‹, sagte sie zu sich selbst, ohne zu wissen, wohin sie fahren wollte. Sie empfand nur das Verlangen, so schnell als möglich den Gefühlen zu entfliehen, die in diesem entsetzlichen Hause sie bedrängten. Die Dienerschaft, die Wände, die Möbel in diesem Hause – alles rief ihren Abscheu und Widerwillen hervor.

Ja, ich fahre nach dem Bahnhof, und wenn er nicht da ist, so fahre ich zu seiner Mutter, um ihn auf frischer Tat zu ertappen.‹ Dann studierte sie in einer Zeitung den Fahrplan. ›Um acht Uhr zwei Minuten abends geht der Zug, ich habe noch Zeit.‹ Sie befahl, andere Pferde einzuspannen und packte eilig in eine Reisetasche, was sie für einige Tage nötig hatte. Sie wusste, dass sie nicht mehr in dieses Haus zurückkehren werde. Sie überlegte die zahlreichen nebelhaften Pläne, die ihr durch den Kopf gingen, und beschloss, nach dem, was auf dem Bahnhof oder auf dem Gut der Gräfin vorgehen werde, auf der Eisenbahnstrecke nach Nishnij Nowgorod bis zur ersten Stadt weiterzufahren und dort Aufenthalt zu nehmen.

Der Tisch war gedeckt. Anna trat näher. Der Geruch von Brot und Käse und allen Speisen war ihr widerlich. Sie ließ den Wagen vorfahren und ging. Das Haus warf schon einen Schatten über die ganze Straße. Es war ein heller, sonniger und noch warmer Abend. Annuschka, die sie mit ihrer Reisetasche begleitete, und Peter sowie auch der Kutscher, alle diese Personen waren ihr widerlich, und ihre Worte und Bewegungen reizten sie.

»Ich brauche dich nicht, Peter.«

»Aber wer wird das Billett lösen?«

»Nun, wie du willst, es ist mir alles gleichgültig«, sagte sie verdrießlich.

Peter sprang auf den Bock und befahl dem Kutscher, zum Bahnhof zu fahren.

Da ist es wieder. Ich begreife alles‹, sagte Anna zu sich selbst, als sich der Wagen in Bewegung setzte und die Eindrücke sich wieder in rascher Folge ablösten. ›An was habe ich doch zuletzt gedacht? Ja, an das, was Jaschwin sagte – der Kampf ums Dasein und der Hass sind das einzige, was die Menschheit zusammenhält.‹ Als sie nach der Seite blickte, nach welcher sich Peter gewendet hatte, sah sie einen total betrunkenen Fabrikarbeiter mit schwankendem Kopf, den ein Polizist abführte. ›Das würde besser passen‹, dachte sie. ›Ich habe mit dem Grafen Wronsky auch nicht jenes Vergnügen gefunden, was wir erwartet hatten.‹ Und Anna beleuchtete zum ersten mal mit jenem hellen Licht, bei dem sie alles sah, ihr Verhältnis zu ihm, an das sie früher zu denken stets vermieden hatte.

Was hat er in mir gesucht? Weniger die Liebe als die Befriedigung seiner Eitelkeit.‹ Sie erinnerte sich seiner Worte und des Ausdrucks seines Gesichts in der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, der dem eines unterwürfigen Hundes glich. Jetzt aber bestätigte alles ihre Ansicht. ›Ja, er genoss den Triumph des Erfolges. Zwar war auch etwas Liebe dabei, aber hauptsächlich Stolz auf seinen Sieg. Er prahlt mit mir. Jetzt ist das vorüber. Jetzt kann man nicht mehr stolz sein, sondern muss sich eher schämen. Er hat von mir alles genommen, was er konnte, und jetzt hat er mich nicht mehr nötig, ich bin ihm zur Last und er bemüht sich nur, nicht ehrlos gegen mich zu sein. Gestern hat er sich verraten. – Er will die Scheidung und die Heirat, um seine Schiffe hinter sich zu verbrennen. Er liebt mich, aber wie? Ja, wenn ich ihn verlasse, so wird er im Grunde seiner Seele sich darüber freuen.

Meine Liebe wird immer leidenschaftlicher und selbstsüchtiger, die seinige aber erlischt. Und darum müssen wir uns trennen‹, dachte sie weiter. ›Und dafür gibt es keine Hilfe. Mein alles liegt in ihm, und mein Verlangen ist, dass er sich mehr und mehr mir hingibt, er aber strebt nur danach, sich mehr und mehr von mir entfernt zu halten. Wir kamen einander entgegen, bis wir uns vereinigten, und nun gehen wir unaufhaltsam in verschiedenen Richtungen aneinander vorüber. Und es ist nicht zu ändern. Er sagt mir, ich sei unsinnig eifersüchtig, und das habe ich mir selbst auch gesagt. Aber es ist nicht wahr, ich bin nicht eifersüchtig, aber ich bin unzufrieden, aber...‹ Sie war so erregt, dass sie durch eine hastige Bewegung ihren Sitz im Wagen veränderte.

Wenn ich etwas anderes sein könnte als eine Geliebte, die leidenschaftlich nach Liebe verlangt – aber ich kann und will nichts anderes sein. Und das ruft seinen Widerwillen hervor, und dadurch erregt er wieder meinen Zorn. Auch das kann nicht anders sein. Weiß ich etwa, ob er mich nicht betrügen will, dass er keine Absichten auf die Fürstin Sorokin hat und nicht in Kitty verliebt ist, dass er mir nicht untreu ist? Natürlich weiß ich das! Aber was hilft mir das? Wenn er, ohne mich zu lieben, nur aus Pflichtgefühl gut und zärtlich gegen mich ist, das aber, was ich will, nicht eintrifft – so ist es tausendmal schlimmer als der Haß – das ist die Hölle. Und das ist bei uns der Fall. Er liebt mich schon lange nicht mehr, und wo die Liebe aufhört, da beginnt der Hass. – Diese Straße kenne ich gar nicht, es sind wahre Berge und Häuser, Häuser ohne Ende ... Und in all diesen Häusern leben Menschen ... ohne Zahl, und alle hassen einander. Nun, angenommen, ich erlange alles, was ich wünsche, um glücklich zu sein, die Scheidung kommt zustande, Karenin übergibt mir Serescha, und ich heirate Wronsky.‹ Indem sie sich an Karenin erinnerte, stellte sie sich ihn plötzlich mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit vor mit seinen milden, leblosen, erlöschenden Augen, mit den blauen Adern auf den weißen Händen. Und als sie sich der Beziehungen erinnerte, die zwischen ihnen bestanden hatten und Liebe genannt wurden, schauderte sie vor Abscheu. ›Nun, angenommen, ich bin Wronskys Frau, was dann? Wird mich dann Kitty anders ansehen als heute? Nein! Wird Serescha aufhören, sich über meine zwei Ehemänner zu wundern oder Fragen zu stellen? Und wie würde ich dann mit Wronsky stehen? Wäre es möglich, einen Zustand zu erreichen, der mir nicht das Glück, sondern nur die Befreiung von der Qual gewährte? Nein, nein‹, erwiderte sie sich selbst, ohne das geringste Schwanken. ›Das ist unmöglich. Wir trennen uns fürs Leben, ich mache ihn unglücklich und er mich. Aber weder bei ihm noch bei mir ist eine Änderung möglich. Alle Versuche sind schon gemacht worden.

Serescha? Ich habe auch geglaubt, dass ich ihn lieben und über seine Zärtlichkeit zu mir glücklich sein könnte. Aber ich habe doch ohne ihn gelebt und ihn gegen eine andere Liebe vertauscht und diesen Tausch nicht bedauert, solange mich diese Liebe befriedigte.‹ Und mit Abscheu erinnerte sie sich daran, was diese Liebe bedeutete. Sie war erfreut über die Klarheit, mit der sie jetzt ihr eigenes Leben und das aller Menschen sah, als sie an dem niedrigen Gebäude des Nishnij Nowgoroder Bahnhofs vorfuhr und die Gepäckträger ihr entgegenliefen.

»Befehlen Sie ein Billett nach Obiralowka?« fragte Peter.

Sie hatte ganz vergessen, wohin und warum sie fahren wollte und vermochte nur mit Anstrengung die Frage zu verstehen.

»Ja«, sagte sie und reichte ihm ihre Geldbörse. Dann ergriff sie die kleine rote Reisetasche und stieg aus.

Während sie durch das Gedränge nach dem Wartesaal erster Klasse zuging, erinnerte sie sich nach und nach an alle Einzelheiten ihrer jetzigen Lage und an die Entschlüsse, zwischen denen sie noch schwankte. Und aufs neue wurde bald durch die Hoffnung, bald durch die Verzweiflung die Wunde ihres erschöpften, zuckenden Herzens wieder aufgerissen. In der Erwartung der Abfahrt des Zuges setzte sie sich auf einen sternförmigen Diwan und blickte mit Widerwillen die Ein- und Ausgehenden an. Bald dachte sie daran, wie sie auf der Station in der Nähe des Gutes von Wronskys Mutter ankommen, ihm einen Brief schreiben, und was sie ihm schreiben werde – bald daran, wie er jetzt bei seiner Mutter sich über seine Lage beklagen werde, und wie sie ins Zimmer treten, und was sie ihm sagen werde – bald wieder dachte sie daran, wie das Leben noch glücklicher sein könnte, mit welcher Qual sie ihn liebte und haßte, und wie schrecklich ihr Herz schlug.

Ein Glockenzeichen ertönte. Einige hässliche und freche junge Leute gingen hastig vorüber. Auch Peter kam durch den Saal und trat auf sie zu, um sie bis zum Wagen zu begleiten. Die lärmenden jungen Leute verstummten, als sie an ihnen vorüber auf den Perron trat, und einer flüsterte einem anderen etwas zu. Sie setzte sich allein in ein Coupé auf das elastische, aber befleckte Polster. Peter nahm mit einem einfältigen Lächeln am Fenster zum Abschied seinen galonierten Hut ab. Ein Kondukteur schlug die Tür zu und legte den Riegel vor. Eine hässliche Dame eilte vorüber mit einem Mädchen, das affektiert lächelte.

Um niemand zu sehen, erhob sich Anna rasch und setzte sich an das entgegengesetzte Fenster in dem leeren Wagen. Ein hässlicher Bauer in schmutziger Kleidung, mit einer Mütze auf den struppigen Haaren, ging an dem Fenster vorüber und bückte sich nach den Rädern des Wagens. ›Diese Figur ist mir bekannt‹, dachte Anna. Plötzlich erinnerte sie sich ihres Traumes und ging zitternd vor Schrecken wieder an die gegenüberliegende Tür. Der Kondukteur öffnete die Tür und ließ einen Mann mit seiner Frau ein.

»Sie wünschen auszusteigen?«

Anna gab keine Antwort. Der Kondukteur und die Einsteigenden bemerkten unter ihrem Schleier nicht das Entsetzen auf ihrem Gesicht. Sie kehrte zu ihrer Ecke zurück und setzte sich. Das Paar nahm ihr gegenüber Platz und musterte aufmerksam, aber heimlich ihre Toilette. Beide erschienen Anna widerlich. Der Mann fragte, ob es erlaubt sei, zu rauchen, augenscheinlich nicht, weil er rauchen wollte, sondern um ein Gespräch anzuknüpfen. Nachdem er ihre Zustimmung erhalten hatte, sprach er mit seiner Frau allerlei Albernheiten, nur um von Anna gehört zu werden. Sie sah klar, wie beide einander langweilten und verabscheuten.

Das zweite Zeichen ertönte, und Koffer wurden vorbeigefahren. Der Lärm, das Rufen und Lachen verdoppelte sich. Anna war so überzeugt, niemand habe Ursache, sich zu freuen, dass dieses Gelächter sie schmerzhaft berührte. Endlich erklang das dritte Zeichen. Darauf folgte das Pfeifen der Lokomotive, das Zischen des Dampfes, das Klirren der Ketten, und der Mann bekreuzigte sich. ›Ich möchte ihn gern fragen, was er sich dabei denkt‹, dachte Anna zornig. Sie blickte an der Dame vorüber durchs Fenster nach den Leuten, die auf dem Bahnsteig standen und nach rückwärts zu gleiten schienen. In gleichmäßiger Bewegung glitt der Wagen, in dem Anna saß, an steinernen Mauern und anderen Wagen vorüber. Das Fenster wurde durch die Strahlen der Abendsonne beschienen, und der Luftzug spielte mit dem Vorhang. Anna vergaß ihre Nachbarn im Wagen, atmete die Frische der Luft ein und versank wieder in ihre Gedanken.

Ja, wo bin ich doch stehengeblieben? Dabei, dass ich mir keine Lage vorstellen könne, in der das Leben nicht eine Qual wäre, und dass wir dazu erschaffen sind, zu leiden, dass wir alle das wissen, und alle nach Mitteln suchen, um uns selbst zu betrügen. Wenn man aber die Wahrheit sieht, was dann?‹

»Dazu ist dem Menschen der Verstand gegeben, um sich von dem zu befreien, was ihn bedrückt«, sagte die Dame, augenscheinlich zufrieden über ihre Phrase.

Diese Worte waren unbewusst fast eine Antwort auf Annas Gedanken.

Um sich davon zu befreien, was drückend ist‹, wiederholte Anna. Sie blickte den rotwangigen Mann und die hagere Frau an und begriff, dass die kränkliche Frau sich für ein unbegriffenes Wesen halte, und dass der Mann sie in dieser Meinung bestärke, um sie leichter betrügen zu können. Anna glaubte ihre Geschichte und alle Falten ihres Herzens zu kennen. Aber das alles interessierte sie nicht, und sie kehrte zu ihren eigenen Gedanken zurück. -

Ja, ich fühle mich sehr bedrückt, und dazu ist dem Menschen der Verstand gegeben, um sich zu befreien, also muss ich mich befreien. Warum soll man die Kerze nicht auslöschen, wenn es nichts mehr zu sehen gibt ? Aber wie – warum schreien diese jungen Menschen im nächsten Wagen, warum sprechen und lachen sie? Alles ist nur Lug und Trug und Niederträchtigkeit ...‹

Als der Zug an der nächsten Station ankam, stieg Anna aus und suchte sich in dem Gedränge von der Berührung mit anderen Passagieren wie von Aussätzigen fernzuhalten. Sie blieb auf dem Bahnsteig stehen, um sich zu erinnern, warum sie hierhergefahren war und was sie hier zu tun beabsichtigt hatte. Alles, was ihr früher so leicht möglich geschienen hatte, war jetzt schwer auszuführen, besonders inmitten der lärmenden Menge aller dieser abscheulichen Menschen, die sie nicht in Ruhe ließen. Bald liefen Gepäckträger auf sie zu, um ihre Dienste anzubieten, bald kamen ihr Leute entgegen, die nicht nach der richtigen Seite auswichen. Endlich erinnerte sie sich dessen, dass sie die Absicht hatte, weiterzufahren, wenn keine Antwort da sei. Sie hielt einen Gepäckträger an und fragte, ob nicht ein Kutscher des Grafen Wronsky mit einem Brief angekommen sei.

»Graf Wronsky? Soeben war jemand von seinen Leuten da. Man hat die Fürstin Sorokin mit ihrer Tochter abgeholt. Wie sieht der Kutscher aus?«

Während sie mit dem Gepäckträger sprach, trat der Kutscher Wronskys auf sie zu und reichte ihr einen Brief, augenscheinlich stolz darauf, dass er den Auftrag so gut ausgeführt habe. Sie öffnete den Brief, und ihr Herz zuckte, noch ehe sie ihn gelesen hätte.

»Ich bedaure sehr, dass mich der Brief nicht früher angetroffen hat; ich werde um zehn Uhr zurückkommen«, schrieb Wronsky in nachlässigen Zügen.

Gut, das habe ich erwartet‹, sagte sie sich selbst mit boshaftem Spott.

»Es ist gut. Du kannst nach Hause fahren«, damit entließ sie Michael. Sie sprach leise, weil ihr Herz so stürmisch klopfte, dass sie kaum atmen konnte. ›Nein, du sollst mich nicht quälen‹, dachte sie und ging den Bahnsteig entlang. Zwei Zimmermädchen, die ihr begegneten, wandten die Köpfe nach ihr um und sahen ihr nach. »Sie sind echt«, sagte die eine. Sie meinte die Spitzen an Annas Kleid. Die jungen Leute beleidigten sie wieder, indem sie ihr ins Gesicht starrten und lachend mit affektierter Stimme einander Bemerkungen zuriefen. Der Chef der Station, der vorüberging, fragte sie, ob sie weiterfahren werde. Ein Knabe, der Honigbier zu verkaufen hatte, wendete seine Blicke nicht von ihr ab.

Mein Gott, wohin soll ich gehen?‹ dachte sie, indem sie auf dem Perron immer weiterschritt. Am Ende hielt sie an. Damen und Kinder, die zum Empfang eines Herrn gekommen waren und laut lachten und schwatzten, verstummten plötzlich, als sie bei ihnen vorüberging, und starrten sie an. Sie beschleunigte ihre Schritte und entfernte sich von ihnen bis zum Ende des Bahnsteigs. Ein Güterzug fuhr vorüber, der Perron zitterte, und sie glaubte, selbst zu fahren.

Plötzlich erinnerte sie sich an den Menschen, der am Tage ihres ersten Zusammentreffens mit Wronsky in Petersburg von ihrem Zuge zermalmt worden war, und nun begriff sie, was sie zu tun hatte. Mit raschen, leichten Schritten ging sie die Stufen hinunter, die auf die Schienen hinab führten, und blieb vor dem hart vor ihr vorübergehenden Zug stehen. Sie blickte unter die Wagen nach den Ketten und den hohen eisernen Rädern des ersten Wagens, der langsam vorüberfuhr, und bemühte sich, nach dem Augenmaß die Mitte zwischen den vorderen und hinteren Rädern und den Augenblick, wo diese Mitte ihr gegenüber sein werde, zu bestimmen.

Hier‹, sagte sie zu sich selbst, indem sie auf den mit Kohlenstaub vermischten Sand im Schatten des Wagens herabsah. ›Hier, gerade in der Mitte. Ich werde ihn bestrafen und mich befreien von allem und von mir selbst.‹

Sie wollte sich unter den ersten Wagen werfen, dessen Mitte eben an ihr vorüberging, aber ihre rote Handtasche, die sie vom Arm nehmen musste, machte, dass sie den Augenblick verfehlte, es war schon zu spät, die Mitte war vorüber, sie musste den folgenden Wagen abwarten.

Ein Gefühl, das gleiche, das sie empfand, wenn sie beim Baden ins Wasser steigen wollte, ergriff sie, und sie bekreuzigte sich. Die gewohnte Gebärde erweckte in ihrer Seele eine ganze Reihe von Erinnerungen aus ihren Kinder- und Mädchenjahren, und plötzlich zerriss die Finsternis, die für sie alles bedeckte, und das Leben erschien ihr auf einen Augenblick mit all seinen leuchtenden vergangenen Freuden.

Aber sie wandte ihre Blicke nicht ab von den Rädern des sich nähernden zweiten Wagens, und genau in dem Augenblick, als die Mitte zwischen den Rädern sich ihr gegenüber befand, warf sie die rote Handtasche von sich, ließ sich mit einer leichten Bewegung, als ob sie sogleich wieder aufstehen wollte, auf die Knie nieder und warf sich unter den Wagen auf die Hände.

Zugleich entsetzte sie sich vor dem, was sie getan hatte.

Wo bin ich? Was tue ich? Warum?‹ dachte sie.

Sie wollte sich erheben, zurückwerfen, aber etwas Ungeheures, Unwiderstehliches stieß sie an den Kopf und riss sie am Rücken mit fort.

»Herr, vergib mir alles«, sagte sie im Gefühl der Unmöglichkeit des Widerstandes.

Und das Licht, bei dem sie das Buch des Lebens voll Sorgen, Täuschungen, Kummer und Bosheit gelesen hatte, flammte noch einmal ganz hell auf. Und nachdem es ihr alles das hell, hell beleuchtete, was früher im Dunkel gelegen hatte, begann es zu zucken, zu flackern und erlosch dann auf immer.

Zwei Monate waren vergangen.

An einem heißen Sommertage drängte sich eine dichte Menschenmenge vor dem Bahnhof der Moskau-Kursker Eisenbahn. Damen mit Blumensträußen erwarteten die Helden des Tages, und die Menge schob sich in das Bahnhofsgebäude.

In einer Droschke kam Sergej Iwanowitsch mit Katawasow angefahren. Während sie aus dem Wagen stiegen, um ihr Reisegepäck zu erwarten, das ein Diener mitbrachte, sahen sie, wie vier Wagen mit Freiwilligen vorfuhren.

Eine der Damen, die aus dem Wartesaal herausgekommen war, um die Freiwilligen zu begrüßen, wandte sich an Sergej Iwanowitsch.

»Sie sind auch gekommen, um sie zu begleiten?« fragte sie.

»Nein, ich reise selbst ab, Fürstin, um mich auf dem Gute meines Bruders zu erholen; und Sie begleiten immer wieder die Freiwilligen?« sagte Sergej Iwanowitsch mit kaum merklichem Lächeln.

»Gewiss«, erwiderte die Fürstin, »wie könnte ich anders? Ist es wahr, dass von hier schon achthundert abgegangen sind?«

»Mehr als achthundert, und wenn man diejenigen rechnet, die nicht direkt von Moskau abgereist sind, so sind es schon mehr als tausend«, sagte Sergej Iwanowitsch.

»Vortrefflich, das habe ich auch gesagt«, bemerkte die Dame in freudiger Erregung, »und ist es wahr, dass man schon eine Million an freiwilligen Beiträgen zusammengebracht hat?«

»Eher noch mehr, Fürstin.«

»Und haben Sie das heutige Telegramm gelesen? Man hat die Türken wieder geschlagen.«

»Ja, ich habe es gelesen«, erwiderte Sergej Iwanowitsch.

Sie sprachen von dem letzten Telegramm, welches bestätigte, dass während dreier Tage nacheinander die Türken auf allen Punkten geschlagen worden und geflohen seien.

»Sie wissen, dass der bekannte Graf Wronsky auch mit diesem Zug abfährt?« sagte die Fürstin mit vielsagendem Lächeln.

»Ich habe davon gehört, aber ich wusste nicht, dass er mit diesem Zuge fahren wird.«

»Ich habe ihn gesehen, er ist hier, nur seine Mutter begleitet ihn.«

Während sie sprachen, drängte die Menge in den Wartesaal. Ein Herr mit einem Glas in der Hand hielt mit lauter Stimme eine Rede an die Freiwilligen. »Für den Glauben, für die Menschheit, für eure Brüder werdet ihr streiten«, sagte der Herr mit immer lauterer Stimme, »zum großen Werk segnet euch euer Mütterchen Moskau. Hoch«, schloss er mit lauter, klangreicher Stimme. Alle riefen »hoch«, und immer neue Menschenmassen drängten sich hinein.

»Fürstin, was sagen Sie dazu«, rief Oblonsky mit strahlendem Lächeln, als er plötzlich inmitten der Menschenmassen auftauchte, »ist es nicht herrlich? Bravo! Auch Sergej Iwanowitsch ist da! Sie sollten auch einige Worte sprechen, Sie verstehen das vorzüglich«, fügte er mit einem freundlichen Lächeln vorsichtiger Höflichkeit hinzu.

»Nein, ich fahre sogleich ab.«

»Wohin?« fragte Oblonsky. . .

»Aufs Land zu meinem Bruder.«

»Da werden Sie meine Frau sehen; ich habe ihr geschrieben, aber Sie werden sie noch früher sehen. Ich bitte, sagen Sie ihr, Sie haben mich gesehen und es sei all right, sie wird Sie verstehen, und dann sagen Sie ihr, dass ich ernannt bin zum Mitglied der Kommission der vereinigten... na, sie versteht es doch nicht. Sie wissen doch, die kleinen Leiden des menschlichen Lebens«, fuhr er fort, als ob er sich bei der Fürstin entschuldigen wollte, »und wissen Sie, die Fürstin Mjachkaja sendet tausend Gewehre und zwölf barmherzige Schwestern, habe ich es Ihnen schon gesagt?«

»Ja, ich habe es gehört«, erwiderte Kosnyschew zögernd.

»Schade, dass Sie abreisen«, sagte Oblonsky, »morgen geben wir ein Diner zu Ehren zweier Freiwilligen, Bartnjansky aus Petersburg und unser Weslowsky, die beide sofort nach dem Kriegsschauplatz abfahren. Weslowsky hat kürzlich geheiratet; das ist ein Junge, nicht wahr, Fürstin?« wandte er sich an diese.

Als er eine vorübergehende Dame mit einer Sammelbüchse bemerkte, rief er sie zu sich und überreichte ihr einen Fünfrubelschein.

»Ich kann diese Sammelbüchsen nicht ruhig ansehen, solange ich Geld in der Tasche habe«, sagte er, »und was sind heute für Telegramme gekommen? Tüchtige Burschen, diese Montenegriner! Was Sie sagen«, rief er, als die Fürstin ihm mitteilte, dass Wronsky mit diesem Zuge abreisen werde. Auf einen Augenblick zeigte Oblonsky eine betrübte Miene, aber als er mit unsicheren und zitternden Schritten, den Backenbart streichend, in das Zimmer trat, in dem sich Wronsky befand, hatte er schon ganz sein verzweifeltes Schluchzen an der Leiche seiner Schwester vergessen und sah in Wronsky nur den Helden und einen alten Freund.

»Bei allen seinen Fehlern muss man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen«, sagte die Fürstin zu Sergej Iwanowitsch, sobald Oblonsky sie verlassen hatte. »Es ist doch eine echt russische, slawische Natur; ich fürchte nur, Wronsky wird es unangenehm sein, ihn zu sehen. Was Sie auch sagen mögen, das Geschick dieses Menschen hat mich tief gerührt; sprechen Sie doch mit ihm noch unterwegs.«

»Ja, vielleicht, wenn sich die Gelegenheit bietet.«

»Ich war ihm niemals besonders günstig gesinnt, aber dies macht vieles wieder gut, er geht nicht nur selbst, sondern bringt auch eine ganze Schwadron auf seine Rechnung mit.«

»Ja, ich habe davon gehört.«

Ein Glockenzeichen ertönte, alles drängte nach den Türen.

»Da ist er«, sagte die Fürstin, auf Wronsky deutend, der, im langen Paletot, mit einem breitrandigen schwarzen Hut, seine Mutter am Arm führend, vorüberging. Oblonsky ging lebhaft sprechend neben ihm. Wronsky blickte düster vor sich hin und schien kaum auf seinen Begleiter zu hören. Wahrscheinlich auf Oblonskys Veranlassung blickte er nach der Seite, wo Sergej Iwanowitsch stand, und zog schweigend den Hut. Seine Miene trug den Ausdruck tiefer Leiden, und er sah wie versteinert aus.

Als Wronsky auf den Perron herausgetreten war, trennte er sich von seiner Mutter und verschwand in einem Coupé.

Auf dem Perron ertönte fortwährend die russische Nationalhymne: »Gott erhalte den Kaiser«, dann wurde Hurra und Schiwio gerufen. Einer der Freiwilligen, ein hochgewachsener, noch junger Mensch, machte sich besonders bemerkbar, indem er fortwährend mit seinem Hut winkte. Hinter ihm standen gleichfalls grüßend zwei Offiziere und ein bejahrter Mann mit großem Barte und einer schmutzigen Mütze.

Sergej Iwanowitsch verabschiedete sich von der Fürstin und stieg mit Katawasow in einen überfüllten Wagen. Der Zug fuhr ab.

Während der Zug am Bahnhof einer Gouvernementsstadt hielt, verließ Sergej Iwanowitsch seinen Wagen und ging auf dem Bahnsteig auf und ab. Als er zum ersten mal an dem Coupé Wronskys vorüberging, bemerkte er, dass das Fenster herabgelassen war; plötzlich sah er aber dahinter die alte Gräfin, die ihn sogleich zu sich heranwinkte.

»Sehen Sie, ich begleite ihn nach Kursk.«

»Ja, ich habe gehört«, erwiderte Sergej Iwanowitsch. Er blieb stehen und sah durchs Fenster, dass Wronsky nicht darin war.

»Es ist doch ein edler Entschluss, den er gefasst hat.«

»Ja, was sollte er nach seinem Unglück machen?«

»Es war ein entsetzliches Ereignis«, sagte Sergej Iwanowitsch.

»Ach, was musste ich erleben! Aber kommen Sie doch herein. Ach, was musste ich erleben«, wiederholte sie, als er neben ihr Platz genommen hatte, »man kann es sich nicht vorstellen. Sechs Wochen lang sprach er kein Wort und aß nur dann, wenn ich ihn darum anflehte, und keinen Augenblick durfte man ihn allein lassen. Wir nahmen alles fort, womit er sich hätte etwas antun können. Ich wohnte im unteren Stock, aber man konnte keinen Augenblick sicher sein. Sie wissen ja, er hat sich schon einmal ihretwegen erschießen wollen. Ja, sie hatte geendigt, wie solch eine Frau endigen musste! Selbst die Todesart, die sie wählte, war gemein und niedrig.« »Es kommt uns nicht zu, sie zu richten, Gräfin«, erwiderte Sergej Iwanowitsch mit einem Seufzer, »aber ich kann mir Ihren Kummer vorstellen.«

»Ach, sprechen Sie nicht davon! Ich wohnte damals auf meinem Gut nahe bei Moskau, und er war zu Besuch gekommen. Dann wurde ihm ein Brief gebracht. Er schrieb sogleich die Antwort und sandte sie zurück. Wir wussten nichts davon, dass sie sich ganz in der Nähe auf unserer Eisenbahnstation befand. Abends war ich kaum in mein Zimmer gegangen, als mir meine Zofe erzählte, auf der Station habe sich eine Dame unter einen Zug geworfen. Ich wusste sogleich alles. Ich begriff, dass sie es war, und befahl, ihm auf keinen Fall ein Wort davon zu sagen. Aber er wusste es bereits. Sein Kutscher war dort gewesen und hatte alles gesehen. Als ich in sein Zimmer stürzte, war er außer sich und schrecklich anzusehen. Ohne ein Wort zu sprechen, eilte er nach dem Bahnhof. Ich weiß nicht, was dort vorging, aber man brachte ihn wie eine Leiche zurück, ich hätte ihn fast nicht erkannt. ›Vollständige Erschlaffung‹, sagte der Doktor. Dann verfiel er beinahe in Raserei. – Ach, was ist darüber zu sprechen! – Es war eine entsetzliche Zeit – Sie mögen sagen, was Sie wollen, sie war eine schlechte Frau. Was war das für eine verzweifelte Leidenschaft, was wollte sie besonders damit beweisen? Sie hat sich selbst und zwei gute Menschen vernichtet, ihren Mann und meinen Sohn.«

»Und was macht ihr Mann?« fragte Sergej Iwanowitsch.

»Er hat ihre Tochter zu sich genommen. Mein Sohn Alescha hat in der ersten Zeit in alles eingewilligt, jetzt aber ist es ihm entsetzlich peinlich, dass er seine Tochter einem fremden Menschen übergeben hat. Aber er kann sein Wort nicht zurücknehmen. Karenin kam zum Begräbnis, doch wir bemühten uns, eine Begegnung mit Alescha zu verhüten. Die Lage des Mannes ist jetzt jedenfalls leichter; sie hat ihn aus allen Verwicklungen befreit. Aber mein armer Sohn hat sich ihr ganz hingegeben und seine Karriere und mich ihr geopfert, und doch hatte sie kein Mitleid mit ihm und hat ihn ganz und gar vernichtet. Ja, selbst ihr Tod war der eines abscheulichen Weibes ohne Religion. Gott verzeihe mir diese Reden, aber ich kann ihr Gedächtnis nur verabscheuen, in dem Gedanken, was sie aus meinem Sohn gemacht hat!«

»Aber was macht er jetzt?« »Gott hat Hilfe gesandt durch diesen serbischen Krieg. Ich bin alt und verstehe nichts davon, aber für ihn war das eine Fügung des Himmels. Natürlich ist es für mich als Mutter sehr traurig, ihn fortlassen zu müssen, und man sagt auch, es werde in Petersburg nicht gern gesehen. Aber was soll ich machen? Nur dieses konnte ihn wieder aufrichten. Sein Freund Jaschwin hat sich durch das Spiel ganz ruiniert und ging nach Serbien. Vorher besuchte er meinen Sohn und beredete ihn auch dazu. Jetzt gibt ihm dies eine Beschäftigung. Ich bitte, sprechen Sie mit ihm, es wird ihn zerstreuen. Er wird sich sehr freuen, Sie zu sehen. Bitte, sprechen Sie mit ihm, dort geht er auf und ab.«

Sergej Iwanowitsch ging nach der anderen Seite des Zuges, um Wronsky aufzusuchen.

Die Schatten des Abends begannen länger zu werden; der Zug hatte noch einige Zeit Aufenthalt, währenddessen Wronsky ungeduldig auf dem Bahnsteig auf und ab ging.

Sergej Iwanowitsch glaubte zu bemerken, dass Wronsky ihn gesehen habe, aber absichtlich unbeachtet lasse. Sergej Iwanowitsch aber trat auf ihn zu, und Wronsky blieb stehen. Als er ihn erkannte, ging er ihm einige Schritte entgegen und drückte seine Hand.

»Vielleicht ist Ihnen das Zusammentreffen unerwünscht«, sagte Sergej Iwanowitsch, »aber kann ich Ihnen nicht irgendwie nützlich sein?«

»Keine Begegnung könnte mir weniger unangenehm sein als diese«, erwiderte Wronsky. ,

»Ich wollte Ihnen meine Dienste anbieten«, fuhr Sergej Iwanowitsch fort, »wünschen Sie vielleicht einen Brief an das serbische Ministerium oder den König?«

»O nein«, brachte Wronsky mühsam hervor, »wenn es Ihnen recht ist, gehen wir noch ein wenig auf und ab, in dem Wagen ist es so schwül. Einen Brief? Nein, ich danke Ihnen; um zu sterben, hat man keinen Empfehlungsbrief nötig. Die Türken fragen nichts danach«, sagte er mit einem trüben Lächeln.

»Wie Sie wollen! Ich war übrigens sehr erfreut, als ich von Ihrem Entschlusse hörte; ein Mann wie Sie wird die Truppe in der öffentlichen Meinung heben.«

»Als Mensch«, sagte Wronsky, »habe ich den Vorzug, dass mein Leben mir nichts mehr wert ist. Aber physische Energie besitze ich noch genug, um ein Karree zu sprengen oder zu fallen, das weiß ich. Ich freue mich, einen Zweck zu haben, für den ich mein Leben lassen kann, das mir jetzt nur zur Last ist.«

»Sie werden wieder aufleben, das prophezeie ich Ihnen«, sagte Sergej Iwanowitsch gerührt. »Die Erlösung der Brüder aus dem türkischen Joch ist ein Ziel, das des Lebens und dös Todes würdig ist, Gott gebe Ihnen Erfolg und innerlichen Frieden.«

Wronsky drückte kräftig die ihm dargereichte Hand. »Ja, als Waffe kann ich noch nützlich sein, aber als Mensch bin ich eine Ruine«, sagte er. Schweigend blickte er die Räder des Tenders an, die langsam und ruhig auf den Schienen dahin liefen, und plötzlich, beim Anblick des Tenders und der Schienen, unter dem Einfluss des Gespräches mit diesem Bekannten, den er nach seinem Unglück noch nicht wiedergesehen hatte, erinnerte er sich an sie, an das, was von ihr übriggeblieben war, als er wie wahnsinnig in den Eisenbahnschuppen gestürzt war, wo die blutige Leiche, den fremden Blicken ausgesetzt, auf einem Tisch lag. Er sah den Kopf noch vor sich, der unverletzt geblieben war, mit den reichen Flechten und den Härchen an den Schläfen, das entzückende Gesicht mit dem halb geöffneten, roten Mund, und die weit offen gebliebenen starren Augen, welche die schreckliche Drohung triumphierend zu wiederholen schienen – er werde bereuen –, die sie im Zorn ausgestoßen hatte.

Vergebens suchte er ihr Bild zurückzurufen und festzuhalten; wie es früher gewesen war, damals, als er sie zum ersten mal auch auf einer Eisenbahnstation gesehen hatte, geheimnisvoll liebend, Glück suchend und Glück gewährend. Vergebens suchte er sich an die glücklichsten Stunden bei ihr zu erinnern. Diese Erinnerungen waren auf immer vergiftet. Er sah nur noch den Ausdruck des Triumphes auf ihrem Gesicht, hervorgerufen von dem heißen Wunsch, ihm durch diese Tat eine unvergängliche Reue aufzuerlegen. Und er schluchzte erschüttert.

Während sie noch zweimal schweigend auf und ab gingen, fasste er sich wieder und wandte sich ruhig zu Sergej Iwanowitsch: »Haben Sie kein neues Telegramm seit gestern gelesen?«

»Die Türken sind zum drittenmal geschlagen worden, und morgen wird eine Entscheidungsschlacht erwartet.«

Sie unterhielten sich noch kurze Zeit über die politischen Ereignisse und als das zweite Zeichen zur Abfahrt gegeben wurde, ging jeder in sein Abteil.


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