Magee,Bryan Karl Popper

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Bryan Magee

Karl Popper

J.C.B. Mohr

UTB (Paul Siebeck)

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Uni-Taschenbücher 1393

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage
Wilhelm Fink Verlag München
Gustav Fischer Verlag Stuttgart
Francke Verlag Tübingen
Paul Haupt Verlag Bern und Stuttgart
Dr. Alfred Hüthig Verlag Heidelberg
Leske Verlag + Budrich GmbH Opladen
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen
R. v. Decker & C. F. Müller Verlagsgesellschaft m. b. H. Heidelberg
Quelle & Meyer Heidelberg • Wiesbaden
Ernst Reinhardt Verlag München und Basel
F. K. Schattauer Verlag Stuttgart • New York
Ferdinand Schöningh Verlag Paderborn • München • Wien • Zürich
Eugen Ulmer Verlag Stuttgart
Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen und Zürich

UTB

FÜR WISSEN

SCHAFT

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Bryan Magee

Karl Popper

übersetzt von Arnulf Krais

J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen

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B

RYAN

M

AGEE

wurde 1930 in London geboren. Seine Ausbildung erhielt er am

Christ's Hospital und (nach Militärdienst im Ausland) am Keble College, Oxford. Dort
legte er Examina in Neuerer Geschichte sowie in Philosophie, Politik und Ökonomie
ab und war Vorsitzender des Debattierklubs. Nachdem er ein Jahr lang in Schweden
gelehrt hatte, ging er als Forschungsstipendiat für Philosophie nach Yale. 1956 verließ
er die Universität, um als Schriftsteller, Kritiker und Rundfunkjournalist zu wirken. Er
setzte diese Tätigkeit fort, auch nachdem er 1970 als Dozent für Philosophie am
Balliol College, Oxford, die akademische Arbeit wieder aufgenommen hatte. 1973
wurde er in den Lehrkörper des All Souls College gewählt. Von 1974 bis 1976 schrieb
er als Kolumnist für die Times, und 1979 erhielt er in Anerkennung seiner Arbeit für
den Rundfunk die Silbermedaille der Royal Television Society. Von 1974 bis 1983
gehörte er als Abgeordneter des Wahlkreises Leyton dem Unterhaus an, wobei er
zunächst Mitglied der Labour Party war, dann aber zur Sozialdemokratischen Partei
überwechselte. Als anerkannter Musik- und Theaterkritiker wurde er für das Jahr
1983/84 zum Präsidenten der Kritikervereinigung gewählt. Seit 1984 nimmt er einen
Forschungs- und Lehrauftrag für Geistesgeschichte am King‘s College, Universität
London, wahr. Die vierzehn Bücher, die Bryan Magee verfaßt hat, wurden in ebenso
viele Sprachen übersetzt; besonders zu nennen sind The New Radicalism (1962), The
Democratic Revolution
(1964), Aspecls of Wagner (1968), Modern British Philosophy
(1971), Pacing Death (1977), Men of Ideas (1978) und The Philosophy of
Schopenhauer
(1983).
Der Autor dankt Professor Hans Albert für seine freundliche Unterstützung beim
Zustandekommen der deutschen Übersetzung.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Magee, Bryan:
Karl Popper / Bryan Magee. Übers, von Arnulf Krais. - Tübingen: Mohr, 1986.
(UTB für Wissenschaft; Uni-Taschenbücher; 1393)
Einheitssacht.: Popper <dt.>
ISBN 3-16-244948-0 NE: UTB für Wissenschaft / UTB-Taschenbücher

Die Originalausgabe erschien bei Fontana Paperbacks 1973
© der deutschen Ausgabe: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1986. Das Werk
einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des
Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen
und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Satz: Gneiting Filmsatz+Druck, Tübingen

Druck: Presse-Druck, Augsburg

Einbandgestaltung: Alfred Krugmann, Stuttgart
Printed in Germany.

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Für Ninian und Libushka Smart

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Bryan Magee – Karl Popper

6

Der Mensch hat neue Welten geschaffen – die Welt der Sprache, der
Musik, der Dichtung, die Welt der Wissenschaft. Und die bedeutendste
von ihnen ist die Welt der moralischen Forderungen – der Forderungen
nach Gleichheit, Freiheit, nach Hilfe für die Schwachen.

K

ARL

P

OPPER

Die Offene Gesellschaft und ihre Feinde, Bd. I, S. 100

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Bryan Magee – Karl Popper

7

1. Einleitung

Der Name Karl Popper ist, bislang jedenfalls, nicht jedem Gebildeten
geläufig. Das ist nicht ohne weiteres verständlich. Enthält doch Poppers
Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde „die gewissenhafteste und
schwerwiegendste Kritik der philosophischen und historischen Lehren
des Marxismus aus der Feder eines lebenden Autors“, wie Isaiah Berlin
in seiner Biographie von Karl Marx schreibt.

1

Wenn dieses Urteil auch

nur annähernd zutrifft, dann kommt dem Denker Popper – in einer
Welt, deren Bewohner zu einem Drittel unter Regierungen leben, die
sich marxistisch nennen – Weltgeltung zu. Aber auch unabhängig
davon halten viele Karl Popper für den größten lebenden Wissen-
schaftstheoretiker. Sir Peter Medawar, Nobelpreisträger für Medizin,
sagte am 28. Juli 1972 im Dritten Radioprogramm der BBC sogar:
„Meiner Meinung nach ist Popper der größte Wissenschaftstheoretiker,
der je gelebt hat“. Auch andere Nobelpreisträger haben sich öffentlich
zu Poppers Einfluß auf ihre Arbeit bekannt, darunter Jacques Monod
und Sir John Eccles, der in seinem Buch Wahrheit und Wirklichkeit

2

schreibt, „daß mein wissenschaftliches Leben so viel meiner Kon-
version von 1945 (wenn ich es so nennen darf) zu Poppers Lehren über
die Durchführung wissenschaftlicher Untersuchungen zu verdanken
hat. ... Ich habe versucht, Popper mit der Formulierung und der Unter-
suchung fundamentaler Probleme in der Neurobiologie zu folgen“.
Eccles gibt anderen Wissenschaftlern den Rat, „Poppers Aufsätze über
die Philosophie der Wissenschaft zu lesen, darüber nachzudenken und
sie zur Grundlage des eigenen wissenschaftlichen Lebens zu machen“.
Dieser Ansicht sind nicht nur Vertreter der experimentellen Wissen-
schaften. Der hervorragende Mathematiker und theoretische Astronom
Sir Hermann Bondi stellt schlicht fest: „Wissenschaft ist einfach

1

3. englische Aufl. 1963

2

1975 – Facing Reality, 1970

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Bryan Magee – Karl Popper

8

Methode, und was diese Methode ist, hat uns Popper gesagt“. Poppers
geistiger Einfluß reicht weiter als der jedes anderen lebenden
englischsprachigen Philosophen und erstreckt sich vom Regierungs-
mitglied bis hin zum Kunsthistoriker. Ernst Gombrich schreibt im
Vorwort zu Kunst und Illusion:

3

„Ich würde stolz darauf sein, wenn

Professor Poppers Einfluß auf jeder Seite dieses Buches zu spüren
wäre“. (Das Buch ist für Kenneth Clark „eines der geistreichsten
Bücher über Kunstkritik, das ich je gelesen habe“.) Und fortschrittliche
Kabinettsmitglieder aus den beiden großen britischen Parteien, zum
Beispiel Anthony Crosland oder Sir Edward Boyle, wurden in ihrer
Sicht des politischen Handelns von Popper beeinflußt.

Diese Beispiele sind aufschlußreich. Sie erhellen nicht nur sofort den

außerordentlich breiten Anwendungsbereich der Gedankengänge
Poppers. Sie zeigen auch, daß von Poppers Werk – anders als von dem
vieler zeitgenössischer Philosophen – eine ausgesprochen praktische
Wirkung ausgeht: Wer von Popper beeinflußt ist, ändert seine
Arbeitsweise und in dieser wie in anderer Hinsicht sein Leben. Poppers
Philosophie ist, kurz gesagt, eine Philosophie der Tat. Viele, die auf
ihrem Gebiet Hervorragendes geleistet haben, stehen in diesem Sinne
unter seinem Einfluß. Man kann also kaum behaupten, daß Popper
keine Beachtung gefunden hat. Umso überraschender bleibt die
Tatsache, daß er nicht bekannter ist – es gibt viele Denker geringeren
Ranges, die berühmter sind als Popper. Teils ist das zufallsbedingt, teils
liegt es daran, daß sein Werk oft ohne Absicht falsch dargestellt wird,
teils auch daran, daß man Poppers Methode leicht mißversteht, wenn
man sich mit ihr nicht näher befaßt hat.

Karl Raimund Popper wurde 1902 in Wien geboren. Im Alter von

etwa vierzehn bis siebzehn Jahren war er Marxist, dann wurde er zum
leidenschaftlichen Sozialdemokraten. Neben seinen naturwissenschaft-
lichen und philosophischen Studien war er nicht nur in der Politik und

3

1978 – Art and Illusion, 1959

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Bryan Magee – Karl Popper

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in der Arbeit mit sozial gefährdeten Kindern in Alfred Adlers
Erziehungsberatungsstellen engagiert, sondern auch in Arnold
Schönbergs Verein für musikalische Privataufführungen. Die Stadt und
die Zeit, in der Popper seine Jugend verbrachte, boten ihm, wie so
vielen anderen, reiche Anregungen. Nach dem Studium verdiente er
seinen Lebensunterhalt als Lehrer für Mathematik und Physik an
Hauptschulen. Aber er befaßte sich weiterhin vorwiegend mit
Sozialarbeit, sozialdemokratischer Politik, Musik – und natürlich mit
Philosophie. Hier stand Popper, wie seitdem immer wieder, im
Gegensatz zur gerade herrschenden Mode. Das war damals der logische
Positivismus des Wiener Kreises. Otto Neurath, ein Mitglied des
Kreises, nannte Popper scherzhaft ,die offizielle Opposition’. Dadurch
wurde Popper in gewissem Sinne zum Außenseiter. Er fand keine
Möglichkeit, seine ersten Bücher in der Form zu publizieren, wie er sie
geschrieben hatte. Sein erstes Buch blieb (bis 1979) unveröffentlicht,
und sein erstes und so fruchtbares veröffentlichtes Werk, Logik der
Forschung
(erschienen im Herbst 1934 mit der Jahreszahl 1935), war die
drastisch gekürzte Fassung eines doppelt so langen Buches. Es enthält
die wichtigsten der inzwischen allgemein anerkannten Argumente gegen
den logischen Positivismus.

Die politische Szene im Wien der dreißiger Jahre war von Gewalt

gekennzeichnet. Unter dieser Oberfläche zerbröckelte die Opposition
der Linken gegen den Faschismus. Später, in Die offene Gesellschaft und
ihre Feinde,
hat Popper die radikale marxistische Ansicht folgen-
dermaßen charakterisiert:

4

„Die Revolution mußte auf jeden Fall

kommen; somit konnte der Faschismus nur eines der Mittel sein, die sie
herbeiführten; und dies war um so sicherer, als die Revolution
offenkundig schon lange überfällig war. In Rußland war sie bereits
eingetreten, und das trotz der Tatsache, daß die ökonomischen
Bedingungen dieses Landes weit hinter denen Mitteleuropas

4

II, S. 202f.

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Bryan Magee – Karl Popper

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zurücklagen. In den demokratischen Ländern aber wurde die
Revolution nur durch die vergebliche Hoffnung aufgehalten, die die
Demokratie erweckt hatte. Somit konnte die Zerstörung der Demo-
kratie durch die Faschisten die Revolution nur fördern; denn sie nahm
den Arbeitern die letzte Illusion über die demokratischen Methoden.
Damit glaubte der radikale Flügel des Marxismus das ,Wesen’ und die
,wahre historische Rolle’ des Faschismus entdeckt zu haben: Der
Faschismus war, seinem Wesen nach, die letzte Verteidigungslinie der
Bourgeoisie.
Also kämpften die Kommunisten nicht, als die Faschisten
die Macht ergriffen (niemand hat das von den Sozialdemokraten
erwartet). Sie waren völlig überzeugt, daß die proletarische Revolution
vor der Türe stand und daß das faschistische Zwischenspiel, das zu
ihrer Beschleunigung notwendig war, nicht länger dauern konnte als
einige Monate. Eine Aktion von seiten der Kommunisten war daher
nicht erforderlich. Sie waren harmlos. Es gab nie eine ,kommunistische
Gefahr’ für die faschistische Machtergreifung.“

Zur historischen Realität, die aus diesem Zitat spricht, gehören

verzweifelte Debatten über politische Strategie und Moral, an denen
sich Popper beteiligte und in denen der Keim für viele seiner späteren
Schriften gelegt wurde. Popper sah mit deprimierender Genauigkeit die
Annexion Österreichs durch Nazideutschland voraus sowie den
europäischen Krieg, der folgen mußte und in dem sein Vaterland auf
der falschen Seite stehen würde. Er entschied sich dafür, rechtzeitig
auszuwandern. (Dieser Entschluß hat sein Leben gerettet, denn Popper
war zwar protestantisch erzogen, und beide Eltern waren getauft, aber
unter Hitler wäre er als Jude eingestuft worden.) Von 1937 bis 1945
lehrte Popper Philosophie an der Universität von Neuseeland.
Zunächst brachte er sich praktisch selbst Griechisch bei, um die
griechischen Philosophen, besonders Platon, lesen zu können. Dann
schrieb er The Open Society and Its Enemies

5

„ein ungewöhnlich

5

12th ed. 1977 – Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 6. Aufl. 1980

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Bryan Magee – Karl Popper

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originelles und kraftvolles Werk“, wie Isaiah Berlin sagt. Dieses Buch
war Poppers Versuch, einen Beitrag zum Krieg zu leisten. Den
endgültigen Entschluß, es zu schreiben, faßte er an dem Tage, als er
erfuhr, was er schon lange befürchtet hatte – Hitler war in Österreich
einmarschiert. 1943, bei Abschluß des Werks, war der Ausgang des
Zweiten Weltkriegs noch offen. Poppers Verteidigung der Freiheit und
seine Kritik des Totalitarismus (dessen Entwicklung und
Anziehungskraft er in dem Buch ebenfalls zu erklären versucht) sind
durch diese beiden Umstände noch leidenschaftlicher geworden. The
Open Society and Its Enemies
erschien 1945 in zwei Bänden und brachte
Popper in der englischsprechenden Welt den ersten Ruhm ein.

1946 kam Popper nach England, wo er seither lebt. Als herrschende

philosophische Lehre – sofern es überhaupt eine gab – fand er dort den
logischen Positivismus vor, den er in Wien vor dem Kriege hinter sich
gelassen hatte. A. J. Ayer hatte den logischen Positivismus durch sein
Buch Language, Truth and Logic

6

nach England importiert. Poppers Logik

der Forschung lag immer noch nicht in englischer Übersetzung vor und
war praktisch unbekannt. Wer von dem Buch gehört hatte, verstand
seinen Inhalt gewöhnlich falsch. Es erschien erst im Herbst 1959, also
nach einem Vierteljahrhundert, unter dem Titel The Logic of Scientific
Discovery
in englischer Sprache. Popper hatte für die Übersetzung ein
Vorwort verfaßt, mit dem er sich von der mittlerweile neu in Mode
gekommenen Sprachanalyse distanzierte. In Mind jedoch, der führenden
sprachanalytischen Zeitschrift, wurde das Buch verständnislos und
ohne Bezug auf das Vorwort rezensiert. Wieder war Popper ein
Außenseiter, wie damals in Österreich. Sein internationales Ansehen, zu
dem er schon vor langer Zeit den Grundstein gelegt hatte, nahm
indessen zu, und Popper fand in England nicht nur wissenschaftliche
Anerkennung (1965 wurde er geadelt). Aber weder in Oxford noch in
Cambridge wollte man ihn als Professor haben. So verbrachte er die

6

2nd ed. 1936 – Sprache, Wahrheit und Logik, 1970

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Bryan Magee – Karl Popper

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letzten 23 Jahre seiner Universitätslaufbahn an der London School of
Economics, wo er Professor der Logik und der wissenschaftlichen
Methode wurde.

Während dieser Jahre ließ Popper seine beiden nächsten Bücher

erscheinen, Sammlungen von Aufsätzen, die er zum größten Teil
bereits einzeln veröffentlicht hatte. Als 1957 The Poverty of Historicism

7

herauskam, schrieb Arthur Koestler in der Sunday Times, dies sei
„wahrscheinlich das einzige in diesem Jahr erschienene Buch, das unser
Jahrhundert überdauern wird“. (Die Aufsatzreihe, aus der es besteht,
war von der Zeitschrift Mind abgelehnt worden.) Man kann in dem
Buch das Gegenstück zu Die offene Gesellschaft und ihre Feinde sehen.
Entsprechend läßt sich Conjectures and Refutations: The Growth of
Scientific
Knowledge, 1963 erschienen,

8

als Gegenstück zur Logik der

Forschung auffassen.

1969 wurde Popper emeritiert. Seither hat er weitere Bücher

veröffentlicht. 1972 erschien die Aufsatzsammlung Objective Knowledge:
An Evolutionary Approach,

9

1976 die selbständige Ausgabe seiner Auto-

biographie, Unended Quest.

10

1977 publizierte Popper, in Zusam-

menarbeit mit dem Neurophysiologen und Nobelpreisträger John
Eccles, The Self and Its Brain,

11

eine Untersuchung des Leib-Seele-

Problems. (Im ersten Teil dieses Buches gibt Popper einen Überblick
über die Geschichte des Konflikts zwischen Materialismus und
Dualismus und tritt dabei für den Dualismus ein, im zweiten Teil
untersucht Eccles den Geist aus neurophysiologischer Sicht, und der
dritte Teil besteht aus Dialogen der beiden Forscher über die
aufgeworfenen – zum Teil vielleicht unlösbaren – Probleme.) Die

7

Das Elend des Historizismus, 5., verb. Aufl. 1979

8

Vermutungen und Widerlegungen (deutsche Ausgabe in Vorbereitung)

9

6th rev. & expanded ed., 1981 – Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf,

4., überarb. u. erg. Aufl. 1984

10

6th rev. ed. 1982 – Ausgangspunkte, 2. Aufl. 1982

11

Corr. 2nd printing 1985 – Das Ich und sein Gehirn, 5. Aufl. 1985

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Entwürfe und Vorarbeiten zur Logik der Forschung aus den Jahren 1930
bis 1933 erschienen 1979 unter dem Titel Die beiden Grundprobleme der
Erkenntnistheorie.
Das PostScript zu The Logic of Scientific Discovery wurde
1982/83 in drei Bänden veröffentlicht.

12

1984 erschien Auf der Suche

nach einer besseren Welt, eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen aus
dreißig Jahren. Es wird wohl nicht bei diesen Büchern bleiben, denn
weitere liegen als abgeschlossenes Manuskript vor. In wissen-
schaftlichen Zeitschriften sind von Popper über hundert Aufsätze
erschienen. Noch größer ist die Zahl der unveröffentlichten Aufsätze
und Vortragsmanuskripte. Popper hat seine Arbeiten stets nur äußerst
widerstrebend in Druck gehen lassen: Für weitere Verbesserungen, für
weitere Korrekturen, war immer noch Platz – und Zeit.

13

Zu Beginn seiner Laufbahn sahen die logischen Positivisten in

Popper jemanden, der sich im wesentlichen mit den gleichen
Problemen wie sie selbst befaßte, und interpretierten ihn
dementsprechend. Ganz ähnlich sind dann später die Sprachanalytiker
verfahren. Logische Positivisten und Sprachanalytiker haben deshalb
behauptet und auch durchaus geglaubt, daß sich Poppers Standpunkt
gar nicht so stark, wie er selbst immer wieder betont, von ihrem eigenen
unterscheidet, und sie finden seine Hartnäckigkeit ermüdend. Ich
komme noch auf den Kern dieser Mißverständnisse zurück. Hier geht
es mir nur um folgendes: Was Popper von seinen potentiellen Lesern
trennt, ist gerade ein Grundzug seines Werkes – ein bei richtiger
Auffassung unübersehbarer Grundzug, den aber nur verstehen kann,
wer Popper schon gelesen hat. Popper vertritt (in einem Sinne, der
später erläutert wird) die Ansicht, daß Erkenntnisfortschritt nur durch
Kritik möglich ist. Das führt dazu, daß er seine wesentlichen Gedanken
meist im Zuge der Kritik an den Gedanken anderer entwickelt.
Beispielsweise werden die meisten Argumente in Die offene Gesellschaft

12

Eine deutsche Ausgabe ist in Vorbereitung.

13

Siehe hierzu auch den Nachtrag, S. 123-125

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Bryan Magee – Karl Popper

14

und ihre Feinde als Kritik an Platon und Marx vorgebracht. Eine Folge
davon ist, daß Generationen von Studenten das Buch nur wegen dieser
Kritik ausgeschlachtet haben, ohne es ganz zu lesen. Inzwischen hält
man es sogar in weiten Kreisen für tatsächlich nichts anderes als eine
Kritik an Platon und Marx. Das Ergebnis ist, daß viele, die von dem
Buch gehört, es aber nicht gelesen haben, sich ein falsches Bild davon
machen. Wegen der Kritik an Marx meinen manche sogar, das Werk
habe einen Rechtsdrall. Der Gelehrtenstreit, den es angefacht hat, dreht
sich nicht um Poppers Argumente, sondern darum, ob Popper andere
Philosophen richtig interpretiert. Ganze Bücher sind darüber
geschrieben worden, etwa In Defense of Plato von Ronald B. Levinson
(1953) und Marxistische Wissenschaft und antimarxistisches Dogma von
Maurice Cornforth.

14

In wissenschaftlichen Zeitschriften hat man

ausgiebig darüber diskutiert, ob Popper mit seiner Übersetzung dieses
oder jenes Abschnitts Platon wirklich gerecht wird. Die Verteidigung
der Demokratie, die das Buch doch auch enthält, hat nicht einmal einen
Bruchteil dieser akademischen Aufmerksamkeit erfahren. Aber selbst
wenn man zeigen könnte, daß Popper Platon und Marx falsch auffaßt –
er wäre immer noch ein machtvoller Fürsprecher der Demokratie. Eine
ernstzunehmende Kritik von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde sollte
sich vor allem mit den Argumenten in diesem Buch auseinandersetzen,
nicht mit seiner Gelehrsamkeit – obwohl die Gelehrsamkeit, wie ich
noch zeigen werde, allen Respekt verdient.

Zwischen Popper und seinen potentiellen Lesern steht noch ein

weiteres, allerdings leichter zu überwindendes Hindernis. Popper
glaubt, daß Philosophie eine notwendige Tätigkeit ist, weil wir alle vieles
für selbstverständlich halten und weil ein großer Teil dieser Annahmen
philosophischer Natur ist. Wir legen sie unserem Privatleben zugrunde,
der Politik, unserer Arbeit und jedem anderen Lebensbereich. Von
diesen Annahmen treffen einige zweifellos zu, wahrscheinlich aber sind

14

2. Aufl. 1973 – The Open Philosophy and The Open Society, 1968

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mehr davon falsch und einige sogar schädlich. Deshalb ist die kritische
Prüfung unserer Voraussetzungen – also eine philosophische Tätigkeit
– moralisch wie intellektuell so wichtig. Nach dieser Auffassung geht
Philosophie uns alle an und gehört zu unserem Leben. Sie ist also nicht
eine rein akademische Tätigkeit oder etwas für Spezialisten und besteht
sicher nicht primär im Studium der Schriften von Berufsphilosophen.
Trotzdem hat Poppers Werk natürlich zum größten Teil die kritische
Prüfung von Theorien zum Inhalt, mit der Folge, daß viele ,Ismen’
diskutiert werden und die Anspielungen auf Denker der Vergangenheit
zahlreich sind. Das gilt vor allem für die ersten Arbeiten Poppers in
englischer Sprache, die er zu einer Zeit verfaßt hat, als er noch unter
dem Einfluß der deutschen akademischen Tradition stand.

Andererseits haben sich wenige Philosophen so sehr um Klarheit

bemüht wie Popper. Die Tiefe seiner Schriften verbirgt sich hinter dem
klaren Stil. Ein paar Leser haben irrtümlich geglaubt, daß das, was
Popper sagt, ziemlich einfach ist und vielleicht sogar auf der Hand liegt.
Ihnen ist entgangen, daß seine Schriften aufregend und wegen der
Einsichten, die sie vermitteln, geradezu spannend sind. Er schreibt
hervorragende, großherzige und humane Prosa, in der sich Intellekt mit
Emotion verbindet. Das erinnert an Marx – hinter Poppers
Argumenten ist die gleiche treibende Kraft zu finden, der gleiche
Schwung, die gleiche Schärfe, das gleiche Format und das gleiche
Selbstvertrauen, aber verbunden mit größerer logischer Strenge. Hat
sich der Leser erst an die Lektüre gewöhnt, so regt sie ihn an und läßt
ihn kaum mehr los. Und vor allem sind sämtliche Schriften Poppers –
das ist an ihnen besonders eindrucksvoll – überaus reich an
Argumenten.

Poppers Philosophie ist eine systematische Philosophie und steht in

der großen Tradition des Fachs. Aber selbst von einem sehr
interessierten Leser mit einem sehr weiten Horizont kann man nicht
erwarten, daß er sämtliche Vorträge und Veröffentlichungen studiert
hat, in denen diese Philosophie dargelegt ist (in verschiedenen

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Bryan Magee – Karl Popper

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Sprachen, Zeitschriften, Ländern und Jahrzehnten) – oder gar erkennt,
daß all dies miteinander zusammenhängt und Teil eines Erklärungs-
rahmens ist, der die gesamte menschliche Erfahrung umfaßt. Ein
Beispiel: Popper ist Indeterminist, in der Physik wie in der Politik.
Seinen Beweis dafür, daß es aus logischen Gründen unmöglich ist, den
zukünftigen Verlauf der Geschichte mit rationalen Methoden vorher-
zusagen, hat er zuerst im British Journal for the Philosophy of Science
vorgelegt, in einem Aufsatz mit dem Titel „Indeterminism in Quantum
Physics and in Classical Physics“. Popper hat diesen Beweis nach
verschiedenen Richtungen hin weiterentwickelt: Er ist Bestandteil
seiner Verteidigung der Freiheit und seiner Kritik am Marxismus – und
er war der Anstoß für eine Propensitätstheorie der Wahrscheinlichkeit,
die, angewandt auf die Quantenphysik, eine Lösung für bestimmte
Probleme in der Theorie der Materie bietet, die mit dem historischen
Schisma zwischen Einstein, de Broglie und Schrödinger auf der einen
und Heisenberg, Niels Bohr und Max Born auf der anderen Seite
zusammenhängen. Es gibt wohl nur sehr wenige Spezialisten, die über
das nötige Rüstzeug verfügen, allen diesen Zusammenhängen
nachzugehen und alle Gedanken miteinander zu verknüpfen.

Im vorliegenden Buch habe ich den anspruchsvollen Versuch

unternommen, Poppers Gedanken klar und übersichtlich darzustellen
und dabei ihre systematische Einheit aufzuzeigen. Ich beginne deshalb
– aus Gründen, die später deutlich werden – mit der Erkenntnistheorie
und der Wissenschaftstheorie. Manche Leser mögen sich von diesen
Gebieten weniger angesprochen fühlen. Sie haben das Buch vielleicht
eher aus Interesse an Poppers sozialen und politischen Theorien zur
Hand genommen. Ich bitte diese Leser, die Passagen über Erkennt-
nistheorie und Wissenschaftstheorie nicht zu überschlagen. Popper hat
nämlich seine Gedanken ursprünglich für die Naturwissenschaften
ausgearbeitet und dann auf die Sozialwissenschaften angewandt, und
Kenntnisse auf dem einen Gebiet sind zum vertieften Verständnis des
anderen unerläßlich. Ich werde außerdem zu zeigen versuchen, wie

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Bryan Magee – Karl Popper

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Poppers Philosophie die Welt der Natur und die Welt des Geistes
umfaßt. Ich hoffe auch, daß es mir gelingt, die Gründe für den großen
Einfluß dieser Philosophie herauszuarbeiten und, zumindest in
Grundzügen, klarzumachen, warum sie zu anderen zeitgenössischen
Denkschulen im Gegensatz steht. Natürlich ist es in einem so knapp
gefaßten Buch nicht möglich, spezielle Kontroversen und die mehr
technischen Aspekte der Physik, der Wahrscheinlichkeitstheorie oder
der Logik zu behandeln. Ich werde deshalb nicht versuchen, die Belege
zu erörtern, auf die Popper seine Argumente im einzelnen stützt,
sondern mich ausschließlich mit eben diesen Argumenten befassen.

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Bryan Magee – Karl Popper

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2. Die wissenschaftliche Methode – Die traditionelle

Auffassung und Poppers Auffassung

Das Wort ,Gesetz’ ist nicht eindeutig. Wer sagt, daß ein Naturgesetz
,verletzt’ wird, verwechselt die beiden Hauptbedeutungen von ,Gesetz’.
Ein Gesetz im juristischen Sinne schreibt uns vor, was wir tun dürfen
und was nicht. Es kann verletzt werden: Wenn wir es nicht verletzen
könnten, dann wäre es ja überflüssig – keine Gesellschaft verbietet
ihren Bürgern, sich an zwei Orten zugleich aufzuhalten. Ein
Naturgesetz dagegen schreibt nicht vor, sondern beschreibt. Es sagt
uns, was geschieht – zum Beispiel daß Wasser bei 100° Celsius kocht.
Es will weiter nichts sein als eine Aussage über das, was vor sich geht,
wenn bestimmte Anfangsbedingungen erfüllt sind – wenn etwa eine
gegebene Wassermasse erhitzt wird. Es kann wahr oder falsch sein,
aber es kann nicht ,verletzt’ werden, denn es ist kein Gebot: Niemand
befiehlt dem Wasser, bei 100° Celsius zu kochen. Der vorwissen-
schaftliche Glaube, daß es ihm befohlen wird (von einem Gott), ist der
Grund für den unglücklichen Doppelsinn des Wortes ,Gesetz’. Die
Naturgesetze galten als Gebote der Götter. Aber heute würde niemand
mehr behaupten, daß die Naturgesetze in irgendeinem Sinne
Vorschriften darstellen, die ,eingehalten’, ,befolgt’ oder ,verletzt’ werden
können. Man sieht vielmehr in den Naturgesetzen allgemeine Aussagen
mit Erklärungscharakter, die den Anspruch erheben, Tatsachen zu
beschreiben, und die deshalb zu modifizieren oder aufzugeben sind,
wenn sich herausstellt, daß sie nicht zutreffen.

Schon lange, zumindest seit Newton, sieht man die Suche nach

Naturgesetzen als zentrale Aufgabe der Naturwissenschaften an. Das
Verfahren, das der Naturwissenschaftler hier angeblich verwendet, hat
bereits Francis Bacon beschrieben. Bacons Formulierung wurde seither
vielfach modifiziert, erweitert, verfeinert und verfälscht, aber vom
siebzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert stand fast jeder, der

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Bryan Magee – Karl Popper

19

etwas mit Naturwissenschaften zu tun hatte, in der von Bacon
begründeten Tradition. Man stellte sich die Suche nach Naturgesetzen
folgendermaßen vor: Der Wissenschaftler beginnt damit, daß er zwecks
sorgfältig kontrollierter und peinlich genauer Beobachtungen irgendwo
an der Grenze zwischen unserem Wissen und unserem Nichtwissen
Experimente durchführt. Er hält seine Ergebnisse systematisch fest,
veröffentlicht sie vielleicht, und im Laufe der Zeit häufen er und seine
Kollegen immer mehr anerkannte und verläßliche Daten an. Dabei
zeichnen sich Regelmäßigkeiten ab, und man beginnt, allgemeine
Hypothesen zu formulieren – Aussagen mit Gesetzescharakter, die zu
allen bekannten Tatsachen passen und die erklären, in welchem
Kausalzusammenhang diese Tatsachen miteinander stehen. Der
Wissenschaftler bemüht sich um die Bestätigung seiner Hypothese und
sucht Belege, die sie stützen. Gelingt es ihm, seine Hypothese zu
verifizieren, so hat er ein neues wissenschaftliches Gesetz entdeckt, das
weitere Geheimnisse der Natur erschließt. Dann wird der neue Saum
genäht – das heißt, die neue Entdeckung wird überall dort angewandt,
wo man sich von ihr neue Aufschlüsse verspricht. Auf diese Weise
wächst der Bestand wissenschaftlicher Erkenntnisse an, und die Grenze
zu unserem Nichtwissen verschiebt sich. An der neuen Grenzlinie
beginnt der Prozeß von neuem.

Die Methode, allgemeine Aussagen auf gesammelten Beobachtungen

von Einzelfällen aufzubauen, wird als Induktion bezeichnet, und sie gilt
herkömmlicherweise als Kennzeichen der Wissenschaft. Mit anderen
Worten: Im Gebrauch der induktiven Methode sieht man das
Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft.
Man glaubt, daß wissenschaftliche Aussagen, die auf Beobachtungen
und experimentellen Belegen – kurz: auf Tatsachen – beruhen, sicheres
und verläßliches Wissen liefern. Ihnen stellt man alle andersgearteten
Aussagen gegenüber, ob sie sich nun auf Autorität, Gefühl, Tradition,
Spekulation, Vorurteil, Gewohnheit oder auf was auch immer stützen.
Die Wissenschaft ist der Bestand an sicherem und verläßlichem Wissen,

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Bryan Magee – Karl Popper

20

und das Wachstum der Wissenschaft besteht darin, daß dieser Bestand
laufend um weitere Gewißheiten vermehrt wird.

Zu diesem Wissenschaftsverständnis hat Hume einige unbequeme

Fragen aufgeworfen. Er hat darauf hingewiesen, daß auch aus einer
noch so großen Zahl von singulären Beobachtungssätzen logisch kein
uneingeschränkt allgemeiner Satz folgt. Wenn ich die Beobachtung
mache, daß bei einer Gelegenheit auf das Ereignis A das Ereignis B
folgt, dann ergibt sich daraus nicht die logische Folgerung, daß B auch
bei einer anderen Gelegenheit auf A folgt. Eine solche Folgerung ergibt
sich weder aus zwei Beobachtungen dieser Art noch aus zwanzig noch
aus zweitausend. Wenn B oft genug auf A folgt, dann mag ich das auch
für die Zukunft erwarten, aber das ist eine Frage der Psychologie, nicht
der Logik. Die Sonne mag nach jeder Nacht, von der wir wissen, wieder
aufgegangen sein – aber daraus folgt noch nicht, daß sie auch morgen
aufgeht. Wenn nun jemand sagt: ,Ja, aber wir können doch genau
vorhersagen, um wieviel Uhr morgen Sonnenaufgang ist, denn wir
haben die gut begründeten Gesetze der Physik, und wir können sie auf
die Bedingungen anwenden, die in diesem Augenblick herrschen’, dann
sind zwei Antworten möglich. Erstens folgt daraus, daß die Gesetze der
Physik in der Vergangenheit gegolten haben, logisch noch nicht, daß sie
auch in Zukunft gelten. Zweitens sind die Gesetze der Physik selbst
allgemeine Aussagen, die aus den beobachteten Einzelfällen, mit denen
sie belegt werden, nicht logisch folgen, so zahlreich diese Einzelfälle
auch sein mögen. Dieser Versuch einer Rechtfertigung der Induktion
setzt also das Induktionsprinzip bereits voraus und ist deshalb verfehlt.
Unsere gesamte Naturwissenschaft beruht auf der Annahme, daß in der
Natur Regelmäßigkeit herrscht (daß die Zukunft, was die Wirkungs-
weise der Naturgesetze betrifft, der Vergangenheit gleicht), aber diese
Annahme ist auf keine Weise abzusichern. Sie läßt sich nicht mit
Beobachtungen begründen, denn wir können keine zukünftigen
Ereignisse beobachten. Sie läßt sich auch nicht durch einen logischen
Schluß begründen, weil aus der Tatsache, daß alle vergangenen

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Bryan Magee – Karl Popper

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Zukünfte wie vergangene Vergangenheiten waren, nicht folgt, daß alle
künftigen Zukünfte wie künftige Vergangenheiten sein werden. Hume
selbst gelangte zu folgendem Schluß: Die Gültigkeit induktiven
Vorgehens ist zwar nicht erweisbar, aber wir sind so veranlagt, daß wir
gar nicht anders können, als unserem Denken das Induktionsprinzip
zugrundezulegen. Und weil das induktive Vorgehen in der Praxis
offenbar funktioniert, geben wir uns eben mit ihm zufrieden. Das
bedeutet aber, daß wissenschaftliche Gesetze weder in der Logik noch
in der Erfahrung ein rationales und sicheres Fundament haben – denn
jedes wissenschaftliche Gesetz ist uneingeschränkt allgemein und geht
deshalb über die Logik wie über die Erfahrung hinaus.

Das Induktionsproblem – ,Humesches Problem’ genannt – hat den

Philosophen seit Humes Zeiten zu schaffen gemacht. Für C. H. Broad
ist es die „Leiche im Keller der Philosophie“. Bertrand Russell schreibt
in seiner Philosophie des Abendlandes:

1

Hume hat „bewiesen, daß der reine

Empirismus keine ausreichende Grundlage für die Wissenschaft ist.
Wenn man aber dies eine Prinzip [die Induktion] gelten läßt, dann kann
sich alles übrige entsprechend der Theorie entwickeln, daß all unsere
Erkenntnis auf Erfahrung beruht. Es ist zuzugeben, daß dies ein
beträchtliches Abweichen vom reinen Empirismus bedeutet, und daß
diejenigen, die keine Empiriker sind, fragen mögen, warum andere
Abweichungen verboten sind, wenn eine gestattet ist. Das sind jedoch
Fragen, die nicht unmittelbar durch Humes Argumente aufgeworfen
werden. Diese Argumente beweisen jedenfalls (und ich halte den
Beweis für schwerlich anfechtbar), daß die Induktion ein unabhängiges
logisches Prinzip ist, das sich weder aus der Erfahrung noch aus
anderen logischen Prinzipien folgern läßt, und daß ohne dieses Prinzip
die Wissenschaft nicht möglich wäre.“

Man hat es als äußerst peinlich empfunden, daß die gesamte

Wissenschaft, daß überhaupt alles auf Grundlagen beruhen sollte, deren

1

2. Aufl. 1975, S. 684 – History of Western Philosophy, 1967

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Gültigkeit sich nicht erweisen läßt. Viele empirisch orientierte
Philosophen sind aus diesem Grunde zu Skeptikern, Irrationalisten
oder Mystikern geworden; einige sind zur Religion gelangt. Praktisch
alle haben sich zu folgendem Eingeständnis genötigt gesehen: ,Wir
müssen zugeben, daß sich wissenschaftliche Gesetze, genau genommen,
nicht beweisen lassen und daß sie daher nicht sicher sind. Immerhin
werden sie mit jeder Bestätigung wahrscheinlicher. Dies gilt nicht nur
für die gesamte uns bekannte Vergangenheit – jeder Augenblick, in dem
die Welt weitergeht, bringt Abermilliarden von Bestätigungen und
niemals ein einziges Gegenbeispiel. Deshalb sind wissenschaftliche
Gesetze wenn auch nicht sicher, so doch im höchsten vorstellbaren
Grade wahrscheinlich: und das heißt so gut wie sicher – zwar nicht in
der Theorie, wohl aber in der Praxis.’ Diese Haltung nehmen fast alle
Wissenschaftler ein, sofern sie sich Gedanken über die logischen
Grundlagen ihres Handelns machen. Für sie ist entscheidend, daß bei
der Wissenschaft etwas herauskommt – daß sie funktioniert und einen
nicht abreißenden Strom nützlicher Ergebnisse hervorbringt. Sie finden
es besser, ihre Arbeit fortzusetzen und neue Ergebnisse vorzuweisen,
als sich über ein offensichtlich unlösbares logisches Problem weiter den
Kopf zu zerbrechen. Die nachdenklicheren unter ihnen sind jedoch tief
beunruhigt. Für sie und für die Philosophen bildet die Induktion ein
ungelöstes Problem, das an die Grundlagen der menschlichen
Erkenntnis rührt. Und so lange dieses Problem ungelöst bleibt, muß
man sich eingestehen, daß die gesamte Wissenschaft, wie konsistent
nach innen und wie nützlich nach außen sie auch sein mag, ohne
Verbindung zu einer terra firma gewissermaßen in der Luft hängt.

Es ist Poppers bahnbrechende Leistung, daß er für das

Induktionsproblem eine brauchbare Lösung anbieten konnte. Im
Zusammenhang damit hat Popper die herkömmliche Auffassung von
der wissenschaftlichen Methode, wie sie oben dargestellt wurde, völlig
verworfen und durch eine andere Sicht ersetzt. (Natürlich liegt hier der
Grund für die eingangs zitierten Äußerungen von Medawar, Eccles und

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Bondi.) Wie nicht anders zu erwarten, hat sich diese grundlegende
Leistung Poppers auch jenseits der Grenzen des Problems, aus dem sie
erwachsen ist, als fruchtbar erwiesen und zur Lösung weiterer wichtiger
Probleme geführt.

Popper beginnt mit dem Hinweis auf die logische Asymmetrie

zwischen Verifikation und Falsifikation. Aussagenlogisch kann man
diese Asymmetrie wie folgt formulieren: Der universelle Satz ‚Alle
Schwäne sind weiß’ läßt sich aus keiner noch so großen Zahl von
einzelnen Sätzen über die Beobachtung weißer Schwäne logisch
ableiten; aber aus einem einzigen Satz über die Beobachtung eines
schwarzen Schwans folgt logisch der Satz ‚Nicht alle Schwäne sind
weiß’. In diesem wichtigen logischen Sinne sind empirische Verall-
gemeinerungen zwar nicht verifizierbar, aber falsifizierbar. Das
bedeutet, daß sich wissenschaftliche Gesetze zwar nicht beweisen, wohl
aber prüfen lassen: Sie können durch systematische Widerlegungs-
versuche getestet werden. Popper hat von Anfang an zwischen diesem
logischen Zusammenhang und der Methodologie unterschieden, die
sich aus ihm ergibt. Von der Logik her sieht alles ganz einfach aus:
Wenn ein einziger schwarzer Schwan beobachtet wurde, dann ist damit
ausgeschlossen, daß alle Schwäne weiß sind. Deshalb ist in der Logik – das
heißt: wenn wir die Beziehung zwischen Sätzen betrachten – ein
wissenschaftliches Gesetz zwar nicht endgültig verifizierbar, wohl aber
endgültig falsifizierbar. Methodologisch gesehen liegt der Fall aber anders.
In der Praxis ist es nämlich immer möglich, eine Aussage anzuzweifeln:
der Bericht über die Beobachtung mag fehlerhaft, der fragliche Vogel
falsch bestimmt sein; wir können uns auch entschließen, ihn, eben weil er
schwarz ist, nicht als Schwan zu klassifizieren, sondern ihm einen
anderen Namen zu geben. Wir haben also immer die Möglichkeit, einen
Beobachtungssatz als ungültig zurückzuweisen, ohne uns damit selbst
zu widersprechen. Auf diese Weise könnten wir alle falsifizierenden
Erfahrungen ablehnen. Weil es aber auf methodologischer Ebene keine
endgültige Falsifizierung gibt, ist der Ruf nach ihr verfehlt. Würden wir

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Bryan Magee – Karl Popper

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hier endgültige Falsifizierung fordern und gleichzeitig die Belege im
Sinne unserer Aussagen umdeuten, dann wäre unsere Vorgehensweise
auf absurde Weise unwissenschaftlich geworden. Popper schlägt
deshalb als methodischen Grundsatz vor, daß wir eine Widerlegung
unserer Aussagen nicht systematisch vermeiden (etwa durch die
Einführung von ad-hoc-Hypothesen, ad-hoc-Definitionen, durch die
beharrliche Weigerung, unbequeme experimentelle Ergebnisse anzuer-
kennen oder durch irgendein anderes Verfahren dieser Art) und daß wir
unsere Theorien so eindeutig formulieren, wie wir können, um sie
möglichst klar dem Risiko der Widerlegung auszusetzen. Andererseits
sagt Popper nicht, daß wir unsere Theorien leichtfertig aufgeben sollen,
denn das wäre eine zu unkritische Haltung gegenüber Prüfungen und
würde bedeuten, daß die Theorien selbst dann nicht streng genug
geprüft werden. Man könnte Popper demnach auf logischer Ebene als
naiven Falsifikationisten bezeichnen – aber auf methodologischer
Ebene ist er ein überaus kritischer Falsifikationist. Weil diese
Unterscheidung nicht beachtet wurde, hat man sein Werk oft
mißverstanden.

Betrachten wir jetzt ein praktisches Beispiel. Nehmen wir an, wir

gehen von dem Glauben aus, es sei ein wissenschaftliches Gesetz, daß
Wasser bei 100° Celsius kocht. So haben es die meisten von uns in der
Schule gelernt. Diese Aussage wird durch keine noch so große Zahl von
Einzelfällen, die sie bestätigen, bewiesen. Wir können sie aber prüfen,
indem wir nach Umständen suchen, unter denen sie nicht gilt. Schon
das regt uns dazu an, Faktoren in Betracht zu ziehen, an die unseres
Wissens noch niemand gedacht hat. Wenn wir auch nur über ein wenig
Vorstellungskraft verfügen, dann werden wir bald entdecken, daß
Wasser in geschlossenen Gefäßen nicht bei 100° Celsius kocht. Was wir
für ein wissenschaftliches Gesetz gehalten haben, war also gar keines.
An diesem Punkt nun könnten wir den falschen Weg einschlagen und
unsere ursprüngliche Aussage dadurch retten, daß wir ihren
empirischen Gehalt folgendermaßen verengen: ‚Wasser kocht in

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offenen Gefäßen bei 100° Celsius’. Wir könnten uns dann nach einer
systematischen Widerlegung dieser neuen Aussage umsehen. Und mit
noch ein wenig mehr Vorstellungskraft würden wir hoch über dem
Meeresspiegel fündig. Um unsere zweite Aussage zu retten, müßten wir
wiederum ihren empirischen Gehalt verengen: ,Wasser kocht in offenen
Gefäßen in Meereshöhe bei 100° Celsius’. Dann könnten wir die
systematische Widerlegung unserer dritten Aussage in Angriff nehmen,
und so weiter. Auf diese Weise, so sollte man meinen, läßt sich unser
Wissen über den Siedepunkt des Wassers immer genauer festnageln.
Aber durch die Formulierung einer Reihe von Aussagen mit immer
geringerem empirischen Gehalt würden wir gerade die wichtigsten
Aspekte der Situation verfehlen. Denn mit der Feststellung, daß Wasser
in geschlossenen Gefäßen nicht bei 100° Celsius kocht, standen wir an
der Schwelle der wichtigsten Art von Entdeckung, die es überhaupt
gibt, nämlich der Entdeckung eines neuen Problems: ,Warum nicht?’ Es
fordert uns dazu heraus, eine Hypothese vorzulegen, die gehaltvoller als
unsere ursprüngliche, einfache Aussage ist – eine Hypothese, die
erklärt, warum Wasser bei 100° Celsius in offenen Gefäßen kocht und
warum es in geschlossenen Gefäßen bei dieser Temperatur nicht kocht.
Je gehaltvoller aber die Hypothese ist, desto mehr sagt sie uns über die
Beziehungen zwischen den beiden Situationen, und desto eher
ermöglicht sie es uns, verschiedene Siedepunkte exakt zu berechnen.
Mit anderen Worten: Wir verfügen jetzt über eine Formulierung, die
nicht weniger empirischen Gehalt als unsere erste hat, sondern weit
mehr. Unser nächster Schritt sollte es sein, systematisch nach einer
Widerlegung dieser zweiten Formulierung zu suchen. Wenn wir dann
beispielsweise feststellen, daß diese Hypothese zwar auf Meereshöhe
für offene wie für geschlossene Gefäße gilt, daß sie aber bei geringerem
Luftdruck versagt – dann müßten wir nach einer dritten, noch
gehaltvolleren Hypothese suchen, die erklärt, warum die ersten beiden
Hypothesen bis zu einem bestimmten Punkt brauchbar waren, dann
aber versagt haben, und die es uns außerdem ermöglicht, auch die neue

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Situation zu erklären. Und dann müßten wir diese Hypothese testen. Aus
jeder der Hypothesen, die wir nacheinander formuliert haben, könnten
wir Folgerungen ableiten, die über das vorhandene Tatsachenmaterial
hinausgehen – unsere Theorie, ob wahr oder falsch, würde uns mehr
über die Welt sagen, als wir bereits wissen. Eine der Möglichkeiten, die
Theorie zu prüfen, bestünde darin, ihre Konsequenzen mit neuen
Beobachtungen zu konfrontieren. Die Feststellung, daß einiges von
dem, was die Theorie besagt, nicht zutrifft, wäre eine neue Entdeckung:
Sie würde unser Wissen vermehren und die Suche nach einer besseren
Theorie einleiten.

Soweit in nuce Poppers Ansicht vom Erkenntnisfortschritt. Dabei ist

verschiedenes zu beachten. Hätten wir uns vorgenommen, unsere
ursprüngliche Aussage, daß Wasser bei 100° Celsius kocht, zu ,veri-
fizieren’ (durch die Ansammlung von Einzelfällen, die diese Aussage
bestätigen), dann hätten wir ohne Schwierigkeit beliebig viele,
Milliarden und Abelmilliarden, solcher Einzelfälle gefunden. Aber
damit hätten wir weder die Wahrheit der Aussage bewiesen noch – und
diese Erkenntnis dürfte erschreckend sein – die Wahrscheinlichkeit
dafür erhöht, daß sie zutrifft. Und was am schlimmsten ist: Das bloße
Sammeln von Einzelfällen, die unsere Aussage bestätigen, hätte uns nie
einen Grund dafür geliefert, sie anzuzweifeln, geschweige denn, sie
durch eine bessere zu ersetzen, und wir wären immer bei unserer
ursprünglichen Aussage stehengeblieben. Unser Wissen hätte nie
zugenommen – es sei denn, wir wären bei unserer Suche nach
Bestätigungen unbeabsichtigt auf ein Gegenbeispiel gestoßen. Das wäre
das beste gewesen, was uns hätte passieren können. (Gerade in diesem
Sinne wurden so viele berühmte Entdeckungen in der Wissenschaft
,zufällig’ gemacht.) Denn das Wachstum unseres Wissens geht von
Problemen aus und von unseren Versuchen, sie zu lösen. Bei diesen
Lösungsversuchen werden Theorien vorgeschlagen. Diese müssen,
wenn sie überhaupt mögliche Lösungen liefern sollen, über unser
vorhandenes Wissen hinausgehen und daher von der Phantasie

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beflügelt sein. Je gewagter die Theorie ist, desto mehr sagt sie uns, und
desto kühner ist auch der schöpferische Akt. (Gleichzeitig ist allerdings
die Wahrscheinlichkeit größer, daß das, was uns die Theorie sagt, falsch
ist, und wir sollten durch strenge Überprüfung herausfinden, ob es
tatsächlich falsch ist.) Die meisten großen wissenschaftlichen Revo-
lutionen sind von atemberaubend kühnen Theorien ausgegangen, für
die nicht nur schöpferische Vorstellungskraft, sondern auch tiefe
Einsicht, geistige Unabhängigkeit und gedanklicher Wagemut
erforderlich waren.

Wir sehen jetzt, warum für Popper das, was wir unser Wissen

nennen, von Natur aus vorläufig bleibt, und zwar auf Dauer. Nie
können wir beweisen, daß unser jetziges ,Wissen’ wahr ist, und immer
besteht die Möglichkeit, daß es sich als falsch erweist. Wie die
Geistesgeschichte der Menschheit lehrt, hat sich das meiste von dem,
was man einmal ,wußte’, am Ende als unzutreffend erwiesen. Wer also
versucht, was Wissenschaftler und Philosophen fast immer versucht
haben: die Wahrheit einer Theorie zu beweisen oder unseren Glauben
an eine Theorie zu rechtfertigen – der begeht einen grundlegenden
Fehler, denn er versucht das logisch Unmögliche. Wir können aber
etwas anderes tun, und das ist ungemein wichtig: Wir können
begründen, warum wir die eine Theorie der anderen vorziehen. Bei
unseren einzelnen Beispielen zum Siedepunkt des Wassers konnten wir
nie zeigen, daß die jeweilige Theorie zutraf, wir konnten aber in jedem
Stadium zeigen, daß sie der vorangegangenen Theorie überlegen war.
Diese Situation ist für jede Wissenschaft charakteristisch, und zwar zu
jedem Zeitpunkt. Die populäre Vorstellung, daß es sich bei den
Wissenschaften um Ansammlungen gut begründeter Tatsachen handelt,
ist völlig verfehlt. Nichts in der Wissenschaft ist auf Dauer begründet,
nichts unwandelbar. Offensichtlich ändert sich die Wissenschaft
laufend, und zwar nicht dadurch, daß neue Gewißheiten hinzukommen.
Wenn wir rational handeln, dann stützen wir unsere Entscheidungen
und Erwartungen immer auf unser ,bestes Wissen’ (wie man völlig zu

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Recht sagt) und nehmen für praktische Zwecke vorläufig an, daß dieses
Wissen ,wahr’ ist – denn es bildet die am wenigsten unsichere
Grundlage, über die wir verfügen. Wir müssen uns dabei aber immer
vor Augen halten, daß die Erfahrung jederzeit unser Wissen als falsch
erweisen und uns zwingen kann, es zu revidieren.

Nach dieser Auffassung ist die Wahrheit eines Satzes – Popper

versteht darunter (in Anlehnung an Tarski) seine Übereinstimmung mit
den Tatsachen – eine regulative Idee. Ein Vergleich mit dem Begriff der
Genauigkeit macht klar, was das bedeutet. Jede Messung in Zeit oder
Raum ist nur mit einem bestimmten Genauigkeitsgrad möglich. Wenn
wir ein sechs Millimeter langes Stahlstück bestellen, dann können wir es
uns in genau dieser Länge anfertigen lassen – innerhalb des
Toleranzbereichs, der sich mit den höchstentwickelten Maschinen
erzielen läßt und heute Bruchteile eines millionstel Millimeters beträgt.
Wo aber innerhalb dieses Toleranzbereichs die sechs Millimeter genau
liegen, bleibt uns naturgemäß verborgen. Vielleicht ist unser Stahlstück
tatsächlich genau sechs Millimeter lang, aber das können wir nicht
wissen. Wir wissen lediglich, daß die Länge auf den und den
Millimeterbruchteil genau ist und daß sie der erwünschten Länge näher
kommt als alles, was meßbar länger oder meßbar kürzer ist. Die nächste
Verbesserung der Werkzeugmaschinen liefert uns ein Stahlstück, dessen
Länge sich mit Sicherheit in einem noch engeren Toleranzbereich
bewegt. Und weitere Verbesserungen werden kommen. Doch der
Begriff ,genau sechs Millimeter’ – überhaupt die Idee einer genauen
Messung – überschreitet jede Erfahrung; es ist eine metaphysische Idee.
Aber daraus folgt nicht, daß Messungen der Menschheit nicht großen,
ja unschätzbaren Nutzen bringen oder daß Genauigkeit, weil absolut
genommen völlig unerreichbar, bei Messungen keine Rolle spielt oder
daß wir durch immer weitere Verbesserung der Genauigkeit keine
Fortschritte erzielen können.

Mit Poppers Begriff der ,Wahrheit’ verhält es sich ganz ähnlich:

Beim Streben nach Wissen sind wir bemüht, uns immer mehr an die

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Wahrheit anzunähern. Wir können sogar wissen, daß ein Fortschritt
erzielt wurde, aber es bleibt uns immer verborgen, ob wir unser Ziel
erreicht haben. „Wir können die Wissenschaft nicht mit der Wahrheit
identifizieren, denn wir sind der Meinung, daß Newtons Theorie wie
Einsteins Theorie zur Wissenschaft gehört – aber diese Theorien
können nicht beide wahr sein, und es ist auch gut möglich, daß sie
beide falsch sind.“

2

Ein Lieblingszitat Poppers stammt von dem

Vorsokratiker Xenophanes, und er übersetzt es folgendermaßen:

Nicht von Beginn an enthüllten die Götter
den Sterblichen alles;
Aber im Laufe der Zeit
finden sie suchend das Bess’re.

Sichere Wahrheit erkannte kein Mensch
und wird keiner erkennen
Über die Götter und alle die Dinge,
von denen ich spreche.
Sollte einer auch einst
die vollkommenste Wahrheit verkünden,
Wissen könnt’ er das nicht:
Es ist alles durchwebt von Vermutung.

Poppers Sicht der Wissenschaft paßt genau zur Wissenschafts-
geschichte. Was ihm aber die stets hypothetische Natur wissen-
schaftlicher Erkenntnis vor Augen geführt hat, war die Heraus-
forderung, die von Einstein kam und sich gegen Newton richtete. Die
Newtonsche Physik war die erfolgreichste und bedeutsamste
wissenschaftliche Theorie, die jemals vorgelegt und anerkannt wurde.
Alles in der beobachtbaren Welt schien diese Theorie zu bestätigen.

2

Popper, in Modern British Philosophy, ed. Bryan Magee, 1971, S.78

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Mehr als zwei Jahrhunderte lang haben sich ihre Gesetze nicht nur in
der Beobachtung bewährt, sondern auch im kreativen Gebrauch, denn
sie wurden zum Fundament der westlichen Wissenschaft und Technik.
Sie lieferten unglaublich exakte Vorhersagen über eine Vielzahl von
Erscheinungen – von der Existenz neuer Planeten bis hin zur
Bewegung der Gezeiten und zur Wirkungsweise von Maschinen. Wenn
es überhaupt so etwas wie Wissen gab, dann hier, und zwar das
sicherste und bestimmteste Wissen, das sich der Mensch jemals über
seine physikalische Umwelt verschafft hatte. Wären überhaupt jemals
wissenschaftliche Gesetze induktiv als Naturgesetze verifiziert worden,
dann diese, und zwar durch ungezählte Milliarden von Beobachtungen
und Experimenten. Ganze Generationen von Menschen im Westen
hatten gelernt, daß Newtons Gesetze definitive, unerschütterliche
Tatsachen sind. Und nun legte Einstein zu Beginn unseres Jahrhunderts
eine ganz andere Theorie vor. Die Meinungen darüber, ob Einsteins
Theorie zutrifft, waren geteilt, aber unbestreitbar blieb, daß sie
ernsthafte Aufmerksamkeit verdiente und daß sie den Anspruch erhob,
in ihrem Anwendungbereich über die Theorie Newtons hinauszugehen.
Und das ist der entscheidende Punkt. Alle Beobachtungsergebnisse, die
mit Newtons Theorie vereinbar waren (und einige, über die sie nichts
sagte), waren auch mit Einsteins Theorie vereinbar. (Tatsächlich kann
man mit Hilfe der Logik zeigen – und Leibniz hat das vor langer Zeit
getan – daß sich jede endliche Anzahl von Beobachtungen mit einer
unendlich großen Anzahl von verschiedenen Erklärungen in Einklang
bringen läßt.) Die Welt war einfach im Irrtum, als sie glaubte, daß all
das ungeheuere Tatsachenmaterial Newtons Theorie beweise. Und doch
hatte diese Theorie die Grundlage einer ganzen Kulturepoche mit
einem bis dahin unerreichten materiellen Erfolg gebildet. Wenn die
Wahrheit einer Theorie nicht durch diese vielen Verifikationen und
induktiven Belege zu beweisen war – wodurch dann? Popper wurde
klar, daß die Wahrheit einer Theorie unbeweisbar ist. Er sah ein, daß
man sich niemals auf eine Theorie als die endgültige Wahrheit verlassen

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darf. Wir können höchstens sagen, daß eine bestimmte Theorie bisher
durch jede Beobachtung bestätigt wurde und daß sie mehr, und
genauere, Vorhersagen liefert als jede andere. Es wird aber immer noch
möglich sein, sie durch eine bessere Theorie zu ersetzen.

Wenn Newtons Theorie nicht ein System von Wahrheiten ist, die

der Welt innewohnen und die der Mensch aus Beobachtungen der
Realität abgeleitet hat – woher stammt sie dann? Die Antwort lautet,
daß sie eben von Newton stammt.

3

Sie ist eine Hypothese, die ein

Mensch aufgestellt hatte und die mit allen damals bekannten Tatsachen
vereinbar war. Die Physiker hätten aus ihr weiter Folgerungen ableiten,
mit ihnen arbeiten und sich auf sie verlassen können – so lange, bis sie
dabei in nicht länger hinnehmbare Schwierigkeiten geraten wären. Die
neue Theorie trat jedoch in Erscheinung, bevor es soweit gekommen
war, und in der alten Theorie hatte es immer einige Unregelmäßigkeiten
gegeben. Eine Theorie mag, wie die Euklidische Geometrie oder die
Aristotelische Logik, mehr als zweitausend Jahre lang als objektive
Erkenntnis akzeptiert worden und während dieser Zeit fast unbegrenzt
fruchtbar und nützlich gewesen sein – und doch kann sie schließlich als
in irgend einer Hinsicht unzulänglich befunden und durch eine bessere
Theorie ersetzt werden. Wir verfügen jetzt über eine Alternative, die
nach Ansicht der meisten Physiker der Theorie Newtons überlegen ist.
Aber wir sind damit noch nicht im Besitz der endgültigen Wahrheit.
Einstein selbst sah seine Theorie als unvollständig an und verbrachte
die zweite Hälfte seines Lebens mit dem Versuch, eine bessere zu
finden. Es ist zu erwarten, daß eines Tages eine Theorie vorgelegt wird,
die Einsteins Theorie genau so umfaßt und erklärt, wie Einsteins
Theorie die Newtons umfaßt und erklärt.

Derartige Theorien sind nicht Ansammlungen unpersönlicher

3

Oder vielmehr, folgt man Popper, aus der Wechselwirkung zwischen Newton

und Welt 3. Was damit gemeint ist, wird in Kapitel 4 deutlich.

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32

Fakten über die Welt, sondern Erzeugnisse des menschlichen Geistes.
Das macht sie zu hochrangigen, bewundernswerten persönlichen
Leistungen. Die wissenschaftliche Schöpfung ist nicht im gleichen
Sinne frei wie die künstlerische, denn sie muß eine eingehende
Konfrontation mit der Erfahrung überstehen. Trotzdem ist der
Versuch, die Welt zu begreifen, eine Aufgabe, die dem Wissenschaftler
weiten Raum läßt, und als schöpferische Genies stehen Galileo,
Newton oder Einstein auf gleicher Stufe wie Michelangelo, Shakespeare
oder Beethoven. Popper ist sich dieser Tatsache bewußt und sieht sie
mit Erstaunen, wie sein gesamtes Werk zeigt. Seine Theorie betrifft
aber – und das muß man sich klarmachen – die Logik und die
Geschichte der Wissenschaft und nicht die Wissenschaftspsychologie.
Popper ist so wenig wie jeder andere Wissenschaftstheoretiker in der
Vorstellung befangen, die Wissenschaftler seien der Meinung, sie
verhielten sich seiner Beschreibung entsprechend. Wichtig ist vielmehr,
daß Popper – ob es die Wissenschaftler zur Kenntnis nehmen oder
nicht – das Grundprinzip ihres Handelns beschreibt und erklärt, wie
sich das menschliche Wissen entwickelt. Was im Verstand eines
Wissenschaftlers vorgeht, kann für ihn selbst interessant sein, für seine
Bekannten, für seinen Biographen oder für Leute, die sich mit
bestimmten Aspekten der Psychologie befassen – aber für die
Beurteilung seiner Arbeit ist es unmaßgeblich. Wäre ich Wissenschaftler
und würde eine wissenschaftliche Theorie veröffentlichen, dann würde
sich die Welt nicht für mein subjektives Ich interessieren, sondern für
meine objektive Theorie. Was besagt sie? Ist sie in sich konsistent?
Wenn ja, ist sie wirklich empirisch, oder ist sie tautologisch? Wie steht
sie da, verglichen mit anderen, bereits gut getesteten, Theorien? Sagt sie
mehr aus als diese Theorien? Wie läßt sie sich prüfen? Und so weiter.
Man wird die Theorie auf bestimmte Aspekte der Realität anwenden
und aus ihr auf deduktivem Wege logische Konsequenzen in Gestalt
von singulären Sätzen ableiten, die durch Beobachtung und Experiment
prüfbar sind. (Ich kann das tun, genauso gut aber auch ein anderer.)

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Bryan Magee – Karl Popper

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Wir werden die Theorie als desto besser bewährt ansehen, je besser sie
derartige Tests und Vergleiche mit anderen Theorien besteht.

Drei Punkte verdienen bei diesem Prozeß besondere Beachtung.

Erstens ist es für den wissenschaftlichen oder logischen Status der
Theorie unmaßgeblich, auf welchem Wege ich zu ihr gelangt bin.
Zweitens haben die fraglichen Beobachtungen und Experimente nicht
etwa zur Aufstellung der Theorie geführt, sondern sie leiten sich
teilweise aus ihr her, und sie sind dazu bestimmt, die Theorie zu testen.
Drittens kommt nirgends die Induktion ins Spiel. Das Induk-
tionsproblem ergab sich aus der traditionellen Auffassung von unserer
Art zu denken und von der wissenschaftlichen Methode. Diese
Auffassung aber war völlig verfehlt und läßt sich, wie hier geschehen,
durch eine bessere ersetzen, in deren Rahmen kein Induktionsproblem
mehr auftritt. Laut Popper brauchen wir den Induktionsbegriff gar
nicht, er ist überflüssig, ein Märchen. Es gibt so etwas gar nicht.

Ein Kritiker könnte einwenden, daß Popper gerade den Vorgang

nicht berücksichtigt hat, bei dem die Induktion auftritt, nämlich den
Vorgang der Theoriebildung. Selbst wenn, so mag unser Kritiker sagen,
aus einzelnen Beobachtungen keine allgemeine Theorie folgen kann, so
mögen diese Beobachtungen doch eine allgemeine Theorie nahelegen,
besonders einem Wissenschaftler, der über Einsicht und
Vorstellungskraft verfügt. Deshalb können Theorien durch
Verallgemeinerungen von einzelnen Beobachtungen zustande kommen,
und sie kommen auch tatsächlich so zustande. Zugegeben, so mag er
sagen, vom Einzelnen zum Allgemeinen ist es immer ein ,Sprung’, aber
der Vorgang ist nicht rein zufällig oder irrational – er gehorcht einer
bestimmten Logik, und das nennen wir Induktion.

Poppers Antwort lautet folgendermaßen: Eben weil es

wissenschaftlich oder logisch bedeutungslos ist, wie eine Theorie
zustande kommt, ist kein Weg unzulässig, und deshalb ist es gut
möglich, daß man auf dem beschriebenen Wege zu völlig einwandfreien
Theorien gelangt. Der Kritiker beschreibt jedoch einen psychologischen

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Prozeß, keinen logischen. Und in der Tat hat das ganze
Induktionsproblem seine Wurzel darin, daß man nicht zwischen Logik
und Psychologie unterscheidet. Uns liegen Berichte von
Wissenschaftlern vor, die auf unterschiedlichste Art zu Theorien
gelangt sind: in Träumen oder traumähnlichen Zuständen, durch
blitzartige Inspiration und sogar infolge von Mißverständnissen und
Fehlern. Wenn man der Sache nachgeht und sich mit der Geschichte
der Wissenschaft befaßt, dann bleibt kein Zweifel daran, daß die
meisten Theorien nicht auf solchen Wegen und auch nicht durch
Verallgemeinerung experimenteller Beobachtungen zustande kommen,
sondern durch die Modifizierung bereits vorhandener Theorien. Eine
Logik der Schöpfung kann es in der Wissenschaft genauso wenig geben
wie in der Kunst. „Unsere Auffassung (von der die Ergebnisse unserer
Untersuchung jedoch unabhängig sind), daß es eine logische, rational
nachkonstruierbare Methode, etwas Neues zu entdecken, nicht gibt,
pflegt man oft dadurch auszudrücken, daß man sagt, jede Entdeckung
enthalte ein ,irrationales Moment’, sei eine ,schöpferische Intuition’ (im
Sinne Bergsons); ähnlich spricht Einstein über ,... das Aufsuchen jener
allgemeinsten ... Gesetze, aus denen durch reine Deduktion das
Weltbild zu gewinnen ist. Zu diesen ... Gesetzen führt kein logischer
Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende
Intuition.’“

4

In einem Brief an Popper, der im Anhang zur Logik der

Forschung abgedruckt ist, betont Einstein ausdrücklich, er sei wie Popper
der Ansicht, „daß Theorie nicht aus Beobachtungsresultaten fabriziert,
sondern nur erfunden werden kann“.

Mehr noch – die Beobachtung kann der Theorie überhaupt nicht

vorangehen, denn jede Beobachtung setzt irgendeine Theorie voraus.
Daß das nicht erkannt wurde, ist, so Popper, die Schwachstelle im
Fundament der empiristischen Tradition. „Auch heute ist der Glaube,
daß der Weg der Wissenschaft von Beobachtungen zur Theorie führt,

4

Logik der Forschung, S. 7

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noch so weitverbreitet und so fest, daß ich oft auf Unglauben stoße,
wenn ich ihm entgegentrete. ... Aber in Wirklichkeit ist der Glaube, daß
man ohne Zuhilfenahme einer Theorie oder dergleichen nur von
Beobachtungen ausgehen könne, absurd. Wir können uns das anhand
der Geschichte von dem Mann klarmachen, der sein Leben der
Naturwissenschaft weihte, alles niederschrieb, was er nur beobachten
konnte, und dann seine unschätzbare Sammlung von Aufzeichnungen
der Royal Society vermachte, damit sie als induktives Beweismaterial
verwertet werden könnte. ... Vor etwa fünfundzwanzig Jahren suchte
ich dieselbe Sache einer Gruppe von Physikstudenten in Wien klar-
zumachen, indem ich meinen Vortrag mit der Anweisung begann:
,Nehmen Sie Bleistift und Papier zur Hand, beobachten Sie sorgfältig,
und schreiben Sie auf, was Sie beobachtet haben!’ Natürlich wollten Sie
wissen, was sie beobachten sollten. Die Anweisung ,Beobachten Sie!’ ist
klarerweise absurd. ... Beobachtung ohne Auswahl gibt es nicht. Ihre
Voraussetzung ist ein bestimmtes Objekt, eine begrenzte Aufgabe, ein
Interesse, ein Standpunkt, ein Problem. Und die Beschreibung von
Beobachtungen setzt eine zur Beschreibung geeignete Sprache voraus,
mit Wörtern, die Eigenschaften ausdrücken. Sie setzt daher auch
Ähnlichkeit und Klassifikation voraus, und das wieder ist nicht möglich
ohne Interessen, Standpunkte und Probleme.“

5

Das bedeutet, „daß

Beobachtungen und erst recht Sätze über Beobachtungen und über
Versuchsergebnisse immer Interpretationen der beobachteten Tatsachen
sind und daß sie Interpretationen im Lichte von Theorien sind.“

6

Unser Wissen kann also auf jeder Stufe nur aus unseren Theorien

bestehen. Und unsere Theorien sind die Erzeugnisse unseres Geistes.
Nicht einmal die Begriffe, mit denen wir denken, sind uns (wie
Empiriker von Locke und Hume an bis auf den heutigen Tag glauben)
von außen durch objektive Regelmäßigkeiten in unserer Umwelt

5

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn.V

6

Logik der Forschung, S. 72, Fußn. *2

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36

,gegeben’ – sondern wir haben sie als Antwort auf unsere eigenen
Probleme, Interessen und Ansichten entwickelt: Unsere Begriffe finden
wir nicht, sondern wir schaffen sie uns, genau wie unser Wissen. Aber
bei einem Begriff kann man nicht, wie bei einer Theorie, nach Wahrheit
oder Falschheit fragen, und bei Begriffen führt die Frage ,Was ist ...?’
(,Was ist Leben?’; ,Was ist Geist?’) zu unfruchtbarer Analyse und
Wortklauberei. (Mehr darüber im nächsten Kapitel.) Deshalb sollten wir
Begriffserläuterungen vermeiden und statt dessen lieber Theorien
prüfen. Und das „Problem ,Was war zuerst da, die Hypothese (H) oder
die Beobachtung (B) ?’ ist ebenso lösbar wie das alte Problem: ,Was war
zuerst da: die Henne (H) oder das Ei (B) ?’ Die Antwort auf diese
zweite Frage ist: ,Ein früheres Ei’, auf die erste: ,Eine frühere
Hypothese’. Es ist durchaus richtig, daß jeder Hypothese, die wir
betrachten, Beobachtungen vorausgegangen sein werden – unter
anderem die Beobachtungen, zu deren Erklärung sie aufgestellt wurde.
Aber diese Beobachtungen setzen ihrerseits die Annahme eines
Bezugsrahmens voraus, eines Rahmens von Erwartungen, von
Theorien. Wenn die Beobachtungen interessant waren, nach einer
Erklärung verlangten und so zur Aufstellung einer neuen Hypothese
führten, so muß der Grund darin liegen, daß man sie innerhalb des
alten theoretischen Rahmens, des alten Erwartungshorizonts, nicht
erklären konnte. Die Gefahr eines unendlichen Regresses besteht hier
nicht. Wenn wir immer weiter zurückgreifen, auf immer primitivere
Theorien und Mythen, werden wir am Ende zu unbewußten, angeborenen
Erwartungen gelangen.“

7

An dieser Stelle mündet Poppers Erkenntnistheorie also in eine

Evolutionstheorie ein. Wir kommen darauf in Kapitel 4 wieder zurück.

7

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn.V

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37

3. Das Kriterium der Abgrenzung zwischen Wissenschaft

und Nichtwissenschaft

Nach der (wie ich sie genannt habe) traditionellen Auffassung
unterscheidet sich die Wissenschaft von der Nichtwissenschaft
dadurch, daß sie die induktive Methode verwendet. Wenn es jedoch so
etwas wie Induktion gar nicht gibt, dann kann dies nicht das
Abgrenzungskriterium sein. Was aber kommt dann als
Abgrenzungskriterium in Betracht? Zu Poppers Antwort auf diese
Frage kann man unter anderem dadurch gelangen, daß man sich den
Unterschied zwischen der traditionellen Auffassung und der
Auffassung klarmacht, die Popper an ihre Stelle gesetzt hat.

Der traditionellen, induktivistischen Auffassung zufolge suchen

Wissenschaftler Aussagen über die Welt, denen angesichts des
Tatsachenmaterials der maximale Wahrscheinlichkeitsgrad zukommt.
Popper bestreitet das. Jeder Narr, so führt er aus, kann eine
unbegrenzte Anzahl von Vorhersagen mit einer Wahrscheinlichkeit von
fast gleich Eins abgeben: Behauptungen wie ,Es wird regnen’ sind
praktisch zwangsläufig wahr und nie widerlegbar – nie, denn selbst
wenn viele Millionen Jahre ohne einen Tropfen Regen vergehen, kann
es noch immer wahr bleiben, daß es eines Tages regnen wird. Die
Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Aussage zutrifft, ist maximal, weil ihr
Informationsgehalt minimal ist. In der Tat gibt es wahre Aussagen,
deren Wahrscheinlichkeit gleich Eins und deren Informationsgehalt
gleich Null ist, nämlich die Tautologien. Sie sagen uns gar nichts über
die Welt, weil sie unabhängig von der Sachlage notwendig wahr sind.

Wenn wir die Aussage in unserem Beispiel dadurch falsifizierbar

machen wollen, daß wir sie auf eine endliche Zeitspanne begrenzen
(,Irgendwann im nächsten Jahr wird es regnen’), dann könnte sie sich
zwar im Prinzip als falsch erweisen, ist aber praktisch immer noch
zwangsläufig wahr. Sie bleibt also nutzlos. Wenn wir den Gehalt

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Bryan Magee – Karl Popper

38

unserer Aussage weiter erhöhen und sie zum Beispiel auf eine
bestimmte Gegend beschränken (,Irgendwann im nächsten Jahr wird es
in England regnen’), dann fangen wir endlich an, etwas zu sagen, denn
es gibt auf der Erde so manche Stelle, wo es im nächsten Jahr nicht
regnen wird. Jetzt wird zum ersten Mal eine nützliche Information
vermittelt. Je bestimmter wir unsere Aussage gestalten – wir können sie
immer mehr einengen: ,In der nächsten Woche wird es in England
regnen’, ,In der nächsten Woche wird es in London regnen’, und so
weiter – desto wahrscheinlicher ist es, daß sie sich als unzutreffend
erweist. Gleichzeitig aber wird unsere Aussage immer informativer und,
falls sie wahr ist, nützlicher – bis wir zu Aussagen gelangen wie ,Heute
nachmittag wird es in der Londoner Innenstadt regnen’, die (an einem
wolkenlosen Sommertag um die Mittagszeit) ganz bestimmt nicht auf
der Hand liegen und deren praktischer Nutzen unbestreitbar ist.

Wir sind also an Aussagen mit hohem Informationsgehalt

interessiert, wobei die Gesamtheit der nichttautologischen
Behauptungen, die sich aus diesen Aussagen ableiten lassen, ihren
Informationsgehalt ausmacht. Je höher jedoch der Informationsgehalt
einer Aussage, desto unwahrscheinlicher ist sie nach der
Wahrscheinlichkeitsrechnung. Je mehr Information nämlich eine
Aussage enthält, desto mehr Möglichkeiten gibt es dafür, daß sie falsch
ist. Genau wie jeder Narr Aussagen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit
formulieren kann, die uns praktisch nichts sagen, so kann jeder Narr
auch Aussagen mit sehr hohem Informationsgehalt formulieren, wenn
er sich nicht darum kümmert, ob sie falsch sind. Was wir brauchen,
sind Aussagen mit hohem Informationsgehalt und deshalb geringer
Wahrscheinlichkeit, die trotzdem der Wahrheit nahekommen. Und
genau für solche Aussagen interessieren sich die Wissenschaftler. Der
Umstand, daß sie in hohem Grade falsifizierbar sind, macht sie auch in
hohem Grade prüfbar: Der Informationsgehalt einer Aussage ist ihrer
Wahrscheinlichkeit umgekehrt und ihrer Prüfbarkeit direkt propor-
tional. Eine vollständige, eindeutige und genaue Beschreibung der Welt

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Bryan Magee – Karl Popper

39

wäre die wahre Aussage mit dem maximalen Informationsgehalt, und
jede mögliche Beobachtung oder Erfahrung würde für sie einen Test,
eine potentielle Falsifikation darstellen. Eine derartige Aussage träfe nur
mit einer Wahrscheinlichkeit zu, die unvorstellbar nahe bei Null liegt,
denn Möglichkeiten dafür, daß es in der Welt anders aussieht, gäbe es
denkbar viele. „Was die Wissenschaft uns enthüllt, das sind keine
Binsenwahrheiten. Es gehört vielmehr zur Größe und Schönheit der
Wissenschaft, daß wir durch unsere eigene kritische Forschung lernen
können, daß die Welt ganz anders ist, als wir sie uns vorstellten – bevor
unsere Vorstellungskraft durch die Widerlegung unserer früheren
Theorien angespornt wurde.“

1

Ein Gefühl der Ehrfurcht vor der Wissenschaft und der Welt, die

durch sie enthüllt wird, findet sich sogar in Poppers politischen
Schriften. In Das Elend des Historizismus sagt Popper, daß die
Wissenschaft „eines der größten geistigen Abenteuer ist, die der
Mensch bisher kennt“.

2

Hier kommt so etwas wie eine religiöse Haltung

zum Ausdruck, obwohl Popper vielleicht nicht im üblichen Sinne
religiös ist. Schließlich gehen die meisten religiösen Systeme von der
Auffassung aus, daß hinter der Welt der Erscheinungen, hinter der
Alltagswelt des gesunden Menschenverstandes und der üblichen
Beobachtungen und Erfahrungen, die der Mensch macht, eine
Wirklichkeit höherer Ordnung steht, die die Welt trägt und unseren
Sinnen offenbart. Und genau so ist die Realität beschaffen, die von der
Wissenschaft enthüllt wird: eine Welt der unbeobachtbaren Entitäten
und unsichtbaren Kräfte, Wellen, Partikeln, Zellen, in der alles
ineinandergreift und in der eine Ordnung waltet, die unser
Fassungsvermögen übersteigt. Der Mensch hat wohl schon immer
Blumen betrachtet und war von ihrer Schönheit und ihrem Geruch
bewegt – aber erst seit dem letzten Jahrhundert kann man in dem

1

Logik der Forschung, S. 386

2

S.45

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Bryan Magee – Karl Popper

40

Bewußtsein nach einer Blume greifen, daß man ein Gebilde aus
organischen Bestandteilen in die Hand nimmt, bei dem sich
Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor und viele
andere Elemente zu einer komplexen Einheit von Zellen verbinden, die
alle aus einer einzigen Zelle hervorgegangen sind; kann man um den
Aufbau dieser Zellen und um die Vorgänge bei ihrer Entwicklung
wissen, um die genetischen Prozesse, durch die diese Blume entstanden
ist und durch die sie andere Blumen hervorbringt; kann man im
einzelnen wissen, wie das Licht von der Blume ins Auge gelangt, und
im Detail die Funktionen des Auges, der Nase und des
neurophysiologischen Systems kennen, die es uns erlauben, die Blume
zu sehen, zu schmecken und zu spüren. Diese unausschöpfiichen und
fast unglaublichen Wirklichkeiten um uns und in uns sind noch nicht
sehr lange entdeckt und werden weiter erforscht, und nach wie vor
kommt es zu ähnlich bedeutsamen Neuentdeckungen. Und wir stehen
vor unendlichen Möglichkeiten solcher Entdeckungen, die weit in die
Zukunft reichen und von denen der Mensch bis fast in unsere Zeit
hinein nicht einmal zu träumen wagte. Poppers theoretische
Methodologie ist erfüllt von einem allgegenwärtigen, lebhaften Gespür
für all dies und auch dafür, daß uns jede Entdeckung neue Probleme
eröffnet. Popper weiß, daß unser Nichtwissen mit unserem Wissen
wächst und daß wir deshalb immer über mehr Fragen als Antworten
verfügen werden. Er weiß, daß interessante Wahrheiten aus völlig
unwahrscheinlichen Behauptungen bestehen, die man sich ohne eine
selten kühne Vorstellungskraft nicht einmal auszudenken vermag. Und
er weiß, daß solche gewagten Hypothesen viel eher falsch als richtig
und so lange nicht einmal vorläufig akzeptabel sind, als wir keinen
ernsthaften Versuch unternommen haben, herauszufinden, was mit
ihnen nicht in Ordnung sein könnte. Andererseits weiß Popper auch:
Wenn wir bei jeder Begegnung mit einem Problem die
wahrscheinlichste Erklärung heranziehen, dann wird das immer die ad-
hoc-Erklärung
sein, die am wenigsten über das vorhandene Tat-

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Bryan Magee – Karl Popper

41

sachenmaterial hinausgeht und die daher am kürzesten greift. Kühnere
Theoriebildung bringt uns zwar weiter, wenn sich die betreffende
Theorie als richtig erweist – wahrscheinlicher aber ist, daß sich ihre
Falschheit herausstellt. Doch davor brauchen wir keine Angst zu haben:
„Der Ehrgeiz, recht zu behalten, verrät ein Mißverständnis“.

3

Auf den Wissenschaftler kann diese Erkenntnis eine von Sir John

Eccles treffend beschriebene befreiende Wirkung haben: „Der irrige
Glaube, daß die Wissenschaft letzten Endes die Gewißheit einer
endgültigen Erklärung liefern wird, birgt die Folgerung in sich, daß es
ein schweres wissenschaftliches Vergehen ist, eine Hypothese
veröffentlicht zu haben, die sich letzten Endes als falsch erweist. Daher
sind Wissenschaftler oft nicht geneigt, die Widerlegung einer solchen
Hypothese zuzugeben, und ihr Leben mag mit dem Versuch vergeudet
werden, das nicht mehr Mögliche zu verteidigen. Hingegen ist laut
Popper die teilweise oder ganze Widerlegung das vorausgeahnte
Schicksal für alle Hypothesen, und wir sollen uns sogar über die
Widerlegung einer Hypothese freuen, die unsere Lieblingsidee
darstellte. Man verliert auf diese Weise Angst und Gewissensbisse, und
die Wissenschaft wird zum atemberaubenden Abenteuer, bei dem
Vorstellungskraft und Phantasie zu Begriffsentwicklungen führen, die
in ihrer Allgemeingültigkeit und ihrem Ausmaß die experimentellen
Beweise überschreiten. Die präzise Formulierung ideenreicher
Einblicke in Hypothesen öffnet den Weg für härteste Prüfungen durch
Experimente, wobei immer erwartet werden muß, daß die Hypothese
sich als falsch erweist und ganz oder teilweise durch eine andere
Hypothese mit größerer erklärender Macht ersetzt werden muß.“

4

Diese befreiende Wirkung beschränkt sich nicht auf Wissenschaftler.

Der Gedanke, daß wir uns nur dann verbessern können, wenn wir
Verbesserungsmöglichkeiten aufspüren und dann auch realisieren; daß

3

Logik der Forschung, S. 225

4

J.C. Eccles, Wahrheit und Wirklichkeit, S. 146f.

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Bryan Magee – Karl Popper

42

wir deshalb Mängel nicht verstecken oder übergehen, sondern aktiv
suchen sollen; daß wir kritische Bemerkungen von seiten anderer als
unschätzbare Hilfe begrüßen sollen, anstatt sie übelzunehmen – dieser
Gedanke wirkt auf uns alle ungemein befreiend, und zwar bei unserem
gesamten Tun. Verbesserung setzt Kritik voraus. Wir sind allerdings
daran gewöhnt, Kritik übelzunehmen, und erwarten, daß Kritik
übelgenommen wird – weshalb wir eigene und fremde Fehler lieber
schweigend übergehen. Es mag also schwierig sein, jemanden dazu zu
bringen, daß er Kritik äußert. Aber wer uns zeigt, was an unserem
Denken und Handeln falsch ist, tut uns den denkbar größten Gefallen;
und je größer der Fehler, desto größer die Verbesserung, die durch
seine Aufdeckung ermöglicht wird. Wer Kritik begrüßt und sich nach
ihr richtet, wird sie fast höher einschätzen als Freundschaft; wer Kritik
aus Sorge um die Erhaltung seiner Position bekämpft, verurteilt sich
selbst zum Stillstand. Käme Poppers Einstellung zur Kritik in unserer
Gesellschaft zum Tragen, dann wäre hierin eine Revolution der sozialen
Beziehungen und vor allem der organisatorischen Praxis zu sehen. Wir
gehen darauf noch ein.

Aber um auf den Wissenschaftler zurückzukommen: Seine kritische

Suche nach immer besseren Theorien führt zu hohen Ansprüchen an
jede Theorie, die er zu formulieren bereit ist. In erster Linie muß eine
Theorie eine Lösung für ein Problem liefern, das uns interessiert. Aber
sie muß auch mit allen bekannten Beobachtungen vereinbar sein und
die einschlägigen früheren Theorien als erste Annäherungen enthalten.
Sie muß ihnen jedoch in den Punkten widersprechen, in denen sie
versagt haben, und sie muß eine Erklärung für ihr Versagen liefern. (So
erklärt sich, nebenbei bemerkt, die Kontinuität der Wissenschaft.)
Wenn in einer Problemsituation mehrere Theorien vorgelegt werden,
die allen diesen Ansprüchen genügen, dann müssen wir versuchen, uns
für eine von ihnen zu entscheiden. Daß Unterschiede zwischen den
Theorien bestehen, mag bedeuten, daß sich aus einer von ihnen
prüfbare Behauptungen ableiten lassen, die aus der anderen nicht

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Bryan Magee – Karl Popper

43

ableitbar sind. In diesem Falle kann die Frage, welcher Theorie der
Vorzug gebührt, empirisch entscheidbar sein. Unter sonst gleichen
Bedingungen werden wir, nach entsprechender Prüfung, immer der
Theorie mit dem höheren Informationsgehalt den Vorzug geben – weil
sie besser geprüft wurde und weil sie uns mehr sagt. Eine solche
Theorie hat sich nicht nur besser bewährt, sondern sie ist auch
nützlicher. „Unter dem Bewährungsgrad einer Theorie verstehe ich
einen konzentrierten Bericht, der (zu einem bestimmten Zeitpunkt) den
Stand der kritischen Diskussion einer Theorie hinsichtlich folgender
Punkte bewertet: wie die Theorie ihre Probleme löst; der Grad ihrer
Prüfbarkeit; die Strenge der Prüfungen, der sie unterzogen wurde; und
wie sie diese Prüfungen bestanden hat. Bewährung(sgrad) ist also ein
bewertender Bericht über die bisherigen Leistungen. Wie die Bevorzugung ist
die Bewährung wesentlich komparativ: Im allgemeinen kann man nur
sagen, eine Theorie A habe einen höheren (oder niedrigeren)
Bewährungsgrad als eine konkurrierende Theorie B im Lichte der
kritischen Diskussion – zu der Prüfungen gehören – bis zu einem
Zeitpunkt t.“

5

Stehen also verschiedene Theorien im Wettbewerb, so

liefert uns immer diejenige Theorie die besten Ergebnisse, die am
besten bewährt ist und den höchsten Informationsgehalt aufweist – und
diese Theorie setzt sich deshalb durch oder sollte sich durchsetzen.

Man hat darauf hingewiesen, daß die überwältigende Mehrheit der

Wissenschaftler überhaupt nie versucht, die herrschende Lehre
umzustürzen, sondern daß sie sich mit ihrer Arbeit im Rahmen dieser
Lehre bewegt und dabei zufrieden ist. Diese Wissenschaftler führen
keine Neuerungen ein, und sie müssen selten zwischen Theorien
wählen, die miteinander im Wettbewerb stehen. Ihre Tätigkeit besteht
darin, anerkannte Theorien anzuwenden. (Hierfür hat sich der
Ausdruck ,normale Wissenschaft’ eingebürgert, den Thomas S. Kuhn in

5

Objektive Erkenntnis, S. 18

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Bryan Magee – Karl Popper

44

Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen

6

in diesem Sinne verwendet.)

Der Hinweis ist meiner Ansicht nach berechtigt, spricht aber nicht
gegen Popper. Es trifft zu, daß sich Poppers Schriften in etwas
erhabener Exklusivität auf die bahnbrechenden Genies der
Wissenschaft beschränken, deren Tun Popper mit seinen Theorien
ganz offensichtlich gerecht wird. Und es trifft auch zu, daß die meisten
Wissenschaftler Theorien, die nur von wenigen Kollegen bestritten
werden, als erwiesen ansehen, um auf einer niedrigeren Stufe Probleme
lösen zu können. Es zeigt sich jedoch, daß auch hier Poppers Ansatz
greift, der ja gerade eine Logik der Problemlösung liefert. Popper hat
sich immer in erster Linie mit Entdeckungen und Neuerungen und
deshalb mit der Prüfung von Theorien und mit dem Wachstum des
Wissens befaßt; Kuhn dagegen fragt danach, wie die Menschen, die
diese Theorien und dieses Wissen anwenden, bei ihrer Arbeit vorgehen.
Popper hat immer sorgfältig die (bereits erwähnte) Unterscheidung
zwischen der Logik des wissenschaftlichen Handelns und seiner
Psychologie, Soziologie usw. gewahrt; was Kuhn liefert, ist eine
soziologische Theorie über die Arbeit von Wissenschaftlern in unserer
Gesellschaft. Diese Theorie ist mit Poppers Ansicht durchaus
vereinbar, und außerdem hat Kuhn sie seit der ersten Formulierung
erheblich in Richtung auf Poppers Auffassung abgewandelt. Leser, die
sich näher mit dieser Frage befassen möchten, seien auf das Symposium
Kritik und Erkenntnisfortschritt verwiesen.

7

Wenn wir, wie jetzt, über die

Verwendung von Theorien reden, dann stellt sich die Frage nach ihrem
Wahrheitsgehalt. Mit diesem Ausdruck bezeichnet Popper die Klasse
der wahren Aussagen, die aus einer Theorie folgen. Man muß sich
klarmachen, daß allen empirischen Aussagen, einschließlich der
falschen, Wahrheitsgehalt zukommt. Nehmen wir beispielsweise an,

6

2., rev. u. erg. Aufl. 1976 – The Structure of Scientific Revolutions, 2nd ed. 1970

7

Hrsg. v. Imre Lakatos und Alan E. Musgrave, 1974 – Criticism and the Growth of

Knowledge, 1970

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Bryan Magee – Karl Popper

45

heute sei Montag. Dann ist die Aussage ,Heute ist Dienstag’ falsch.
Doch aus dieser falschen Aussage folgen die Aussagen ,Heute ist nicht
Mittwoch’, ,Heute ist nicht Donnerstag’ und viele andere wahre
Aussagen. Tatsächlich sind eine unbeschränkte Anzahl anderer
Aussagen wahr, die aus unserer falschen Aussage folgen, zum Beispiel:
,Das französische Wort für diesen Wochentag besteht aus fünf
Buchstaben’ oder ,Heute ist nicht verkaufsoffener Samstag’. Jede
falsche Aussage hat eine unbeschränkte Anzahl wahrer Konsequenzen
– und deshalb kann man bei einer Diskussion die Schlüsse des Gegners
nicht dadurch widerlegen, daß man seine Prämissen entkräftet.
Wichtiger in unserem Zusammenhang ist, daß aus diesem Grunde eine
wissenschaftliche Theorie, die nicht wahr ist, viele wahre Schlüsse
erlaubt – möglicherweise mehr als ihre Vorgänger – und deshalb
äußerst bedeutsam und nützlich sein kann. Natürlich wird der
Wahrheitsgehalt einer beliebigen Theorie zum größten Teil entweder
trivial oder für unseren jeweiligen Zweck unbrauchbar sein –
offensichtlich kommt es auf den sachdienlichen oder nützlichen
Wahrheitsgehalt an. Aber der kann einer falschen Aussage sogar in
höherem Maße zukommen als einer richtigen. Nehmen wir an, es sei
jetzt eine Minute vor Zwölf. Dann ist die Aussage ,Es ist jetzt genau
zwölf Uhr’ falsch. Aber für fast jeden denkbaren Zweck hat diese
falsche Aussage mehr sachdienlichen und nützlichen Wahrheitsgehalt
als die wahre Aussage ,Es ist jetzt zwischen zehn Uhr morgens und vier
Uhr nachmittags’. In der Wissenschaft verhält es sich nicht anders: Für
die meisten Zwecke ist uns mit einer klaren Aussage, die nicht ganz
zutrifft, mehr gedient als mit einer Aussage, die wahr aber unbestimmt
ist. Ich will damit natürlich nicht sagen, daß wir uns mit falschen
Aussagen zufriedengeben sollten. Aber üblicherweise müssen
Wissenschaftler mit einer Theorie arbeiten, von der sie wissen, daß sie
fehlerhaft ist, weil vorläufig keine bessere Theorie zur Verfügung steht.

Wie bereits erwähnt, empfiehlt Popper, daß wir unsere Theorien so

klar wie möglich formulieren, um sie ganz unzweideutig der Wider-

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Bryan Magee – Karl Popper

46

legung auszusetzen. Und auf methodologischer Ebene sollten wir
Popper zufolge nicht laufend unsere Theorie oder unser Beweismaterial
neu formulieren, um beide in Übereinstimmung zu halten und dadurch
systematisch einer Widerlegung auszuweichen.

8

Genau das aber tun viele Marxisten und viele Psychoanalytiker. Sie

ersetzen dabei Wissenschaft durch Dogmatismus, während sie doch
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben. Eine wissenschaftliche
Theorie ist nicht eine Theorie, die alles erklärt, was möglicherweise
geschehen kann: Im Gegenteil – sie verbietet das meiste von dem, was
möglich ist. Deshalb wird sie auch aufgegeben, wenn etwas, was sie
verbietet, doch geschieht. Eine wissenschaftliche Theorie, die diesen
Namen verdient, setzt sich also selbst laufend einem Risiko aus. Und
damit kommen wir zu Poppers Antwort auf die Frage, die wir zu
Beginn dieses Kapitels aufgeworfen haben. Das Kriterium der Abgrenzung
zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft ist die Falsifizierbarkeit.
Ent-
scheidend ist dabei folgendes: Wenn es nichts gibt, was sich mit einer
Theorie nicht vereinbaren läßt, dann kann kein Umstand, keine
Beobachtung, kein Experimentalergebnis als Beleg für die Theorie
beansprucht werden. Ob die Theorie wahr oder falsch ist, läßt sich
dann nicht aufgrund von Beobachtungen entscheiden. Sie vermittelt
also keine wissenschaftliche Information. Eine Theorie ist nur dann
prüfbar, wenn man sich eine Beobachtung vorstellen kann, die diese
Theorie widerlegt. Und nur dann, wenn sich die Theorie prüfen läßt, ist
sie wissenschaftlich.

Ich habe eben Marxismus und Psychoanalyse erwähnt, weil der

junge Popper unter anderem durch Überlegungen zu diesen Theorien
zu seinem Abgrenzungskriterium gelangt ist. Er war beeindruckt und
begeistert davon, wie Einsteins Relativitätstheorie beobachtbare Effekte
vorhersagte, die niemand auch nur im Traum erwarten konnte, und sich
dadurch vorbehaltlos einer Widerlegung aussetzte. Aus der Allgemeinen

8

Siehe S. 19

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Bryan Magee – Karl Popper

47

Relativitätstheorie folgt, daß Licht von Körpern mit großer Masse
angezogen wird. (Übrigens ist Einsteins Weg von der Speziellen zur
Allgemeinen Relativitätstheorie das Thema eines unvollendeten Buches
von Popper.) Einstein erkannte, daß – falls diese Folgerung zutrifft –
Licht, das auf seinem Weg von einem Stern zur Erde die Sonne in
geringem Abstand passiert, durch das Schwerefeld der Sonne abgelenkt
werden muß. Normalerweise sehen wir solche Sterne bei Tag nicht, weil
die Sonne sie überstrahlt, aber wenn wir sie sehen könnten, dann
würden sie aufgrund der Ablenkung der Lichtstrahlen an anderen als
den uns bekannten Positionen erscheinen. Die vorhergesagte
Abweichung läßt sich dadurch überprüfen, daß man einen Fixstern bei
Tag unter geeigneten Umständen photographiert und dann wieder bei
Nacht, wenn die Sonne woanders steht. Genau so ist Eddington
verfahren, bei einer der berühmtesten wissenschaftlichen
Beobachtungen des Jahrhunderts. Im Jahre 1919 führte er eine
Expedition in eine Gegend Afrikas, von der aus nach seiner
Berechnung die Sterne aufgrund einer Sonnenfinsternis bei Tag sichtbar
und damit photographierbar waren. Die Beobachtungen fanden am 29.
Mai statt. Und Einsteins Theorie hat sich bei diesen Beobachtungen
bewährt. Andere Theorien, die wissenschaftlichen Anspruch erhoben
und zu Poppers Jugendzeit in Wien intellektuelle Mode waren – etwa
die Theorien von Freud und Adler –, wichen einem derartigen Risiko
von vornherein aus. Keine wie auch immer geartete Beobachtung
konnte zu ihnen im Widerspruch stehen. Solche Theorien hatten für
jedes Vorkommnis eine Erklärung parat (wenn auch jeweils eine
andere). Und Popper erkannte, daß der größte Fehler dieser Theorien
gerade auf der Eigenschaft beruhte, von der ihre Anhänger so
überzeugt und bewegt waren – auf der Eigenschaft, alles zu erklären.

Anders lag der Fall beim Marxismus, der einzigen anderen modi-

schen Theorie, die wissenschaftlichen Anspruch erhob und vergleich-
bare Anziehungskraft ausstrahlte. Aus ihr ließen sich tatsächlich
falsifizierbare Voraussagen ableiten. Die Schwierigkeit bestand darin,

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Bryan Magee – Karl Popper

48

daß einige dieser Voraussagen bereits falsifiziert waren. Aber die
Marxisten weigerten sich, das zur Kenntnis zu nehmen, und lieferten
ohne Unterlaß Neuformulierungen der Theorie (und des Beweis-
materials), um sich die Falsifikation vom Leibe zu halten. Sie maßen
ihren Ideen in der Praxis die unfalsifizierbare Gewißheit eines religiösen
Glaubens bei (so, wie es die Psychoanalytiker in der Theorie taten); und
wenn sie darauf beharrten, daß diese Ideen wissenschaftlich seien, dann
war das zwar ehrlich gemeint, aber unzutreffend.

Popper hat oft betont, daß das Geheimnis der enormen psycho-

logischen Anziehungskraft dieser Theorien in ihrer Fähigkeit liegt, alles
zu erklären. Wer im voraus weiß, daß er in der Lage sein wird, zu
verstehen, was auch immer geschieht, der hat nicht nur das Gefühl der
intellektuellen Überlegenheit, sondern, was noch wichtiger ist, auch die
Gewißheit, sich in der Welt zurechtzufinden. Die Annahme einer dieser
Theorien hat, so bemerkt Popper, die Wirkung „einer intellektuellen
Bekehrung oder Offenbarung. Den Eingeweihten gingen die Augen
auf, und sie erkannten eine neue Wahrheit, die den Uneingeweihten
verborgen war. Und wenn einem die Augen geöffnet worden waren,
sah man überall bestätigende Beispiele. Die Welt war voll von
Verifikationen der Theorie. Was immer sich ereignete, war eine
Bestätigung für sie. So schien ihre Wahrheit offenbar zu sein, und die,
die nicht daran glaubten, waren offenkundig Leute, die die offenbare
Wahrheit nicht sehen wollten, sei es, weil sie ihrem Klasseninteresse
widersprach, oder infolge von Verdrängungen, die noch nicht
,analysiert’ waren und dringend der Behandlung bedurften. ... Ein
Marxist war nicht imstande, eine Zeitung aufzuschlagen, ohne auf jeder
Seite seine Geschichtsauffassung bestätigt zu finden: nicht nur in den
Nachrichten selbst, sondern auch in der Form, in der sie geboten
wurden – denn aus dieser ging in klarer Weise der Klassenstandpunkt
des Blattes hervor – und natürlich ganz besonders in dem, was die
Zeitung nicht brachte. Psychoanalytiker der Schule Freuds betonten, daß
ihre Theorien ständig durch ihre ,klinischen Beobachtungen’ verifiziert

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Bryan Magee – Karl Popper

49

wurden. Und was Adler anbelangt, so hatte ich selbst ein Erlebnis, das
auf mich großen Eindruck machte. Ich berichtete ihm damals, im Jahre
1919, über einen Fall in der Beratungsstelle, der mir nicht sehr
,adlerianisch’ vorkam. Er aber hatte nicht die geringste Schwierigkeit,
ihn im Sinne seiner Theorie als einen Fall von Minderwer-
tigkeitsgefühlen zu diagnostizieren, obwohl er das Kind nicht einmal
gesehen hatte. Ich war darüber etwas schockiert und fragte ihn, wieso er
seiner Sache so sicher sein könne. ,Auf Grund meiner tausendfachen
Erfahrung’ war seine Antwort; worauf ich mich nicht enthalten konnte
zu erwidern: ,Und mit diesem Fall ist Ihre Erfahrung jetzt eine tausend-
und-einfache geworden!’“

9

Popper hat derartige Theorien niemals – und das kann nicht deutlich

genug betont werden – als wertlos und oder gar als Unsinn verworfen.
Das haben aber von Anfang an viele angenommen, die Popper den
logischen Positivisten zugerechnet und ihn infolgedessen
mißverstanden haben. „Damit soll nicht gesagt sein, daß Freud und
Adler nicht gewisse Dinge richtig gesehen haben. Ich persönlich zweifle
nicht daran, daß vieles von dem, was sie sagen, von beträchtlicher
Bedeutung ist, und es mag durchaus eines Tages in einer
wissenschaftlichen – das heißt prüfbaren – Psychologie seine Rolle
spielen. Aber die ,klinischen Beobachtungen’, die, wie die Analytiker
naiverweise glauben, ihre Theorien bestätigen, sind dazu ebenso
ungeeignet wie die bestätigenden Beobachtungen, auf die die
Astrologen in ihrer Praxis täglich stoßen. Freuds Epos vom Ich,
Überich und Es kann kaum mehr Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
erheben als Homers gesammelte Geschichten vom Olymp. Diese
Theorien erklären einige Tatsachen, aber nach Art und Weise von
Mythen. Sie enthalten hochinteressante Gedanken über psychologische
Probleme, aber leider nicht in prüfbarer Form.“

„Es war mir aber klar, daß derartige Mythen eine Entwicklung zur

9

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn. I

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Bryan Magee – Karl Popper

50

Prüfbarkeit durchmachen können, daß historisch betrachtet alle oder
doch die meisten wissenschaftlichen Theorien aus Mythen entstanden
sind und daß ein Mythos wichtige wissenschaftliche Theorien
vorwegnehmen kann. Als Beispiel nenne ich Empedokles’ Theorie der
Entwicklung durch Versuch und Irrtum oder den Mythos des
Parmenides von einem unwandelbaren blockartigen Weltall, in dem sich
nichts ereignet, das sich aber, wenn wir noch eine Dimension
hinzufügen, in Einsteins blockartiges Weltall verwandelt (in dem sich
auch nie etwas ereignet, da ja vierdimensional gesehen alles vom
Urbeginn an determiniert und festgelegt ist). Ich war daher überzeugt,
daß eine Theorie, die als nicht-wissenschaftlich oder ,metaphysisch’
(wie man sagen könnte) angesehen wird, damit nicht zugleich als
unwichtig, unbedeutend, sinnlos oder gar ,unsinnig’ zu gelten habe.
Aber eine solche Theorie kann nicht den Anspruch erheben, im
wissenschaftlichen Sinn durch Erfahrung gestützt zu sein, obwohl sie
ihrer Entstehung nach vielleicht auf Beobachtungen zurückgeht.“

10

Popper hat die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium zwischen

Wissenschaft und Nichtwissenschaft vorgeschlagen. Das erste und
immer noch oft zu lesende Mißverständnis von Poppers Werk beruhte
darauf, daß man sein Kriterium als Abgrenzungskriterium zwischen
Sinn und Unsinn auffaßte. Man glaubte, alles, was nicht Wissenschaft
ist, sei Unsinn, und setzte darum – ganz gegen Popper – die
Abgrenzung zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft der
zwischen Sinn und Unsinn gleich. Die logischen Positivisten waren
entschlossen, den metaphysischen Wortschwall zu beseitigen, der die
Philosophie belastet hatte, und ihr zentrales Anliegen war die Suche
nach einem Abgrenzungskriterium zwischen wirklich inhaltsreichen
und inhaltsleeren Aussagen. Und sie gelangten zu der Ansicht, daß es
zwei Arten von bedeutsamen Aussagen gibt. Da sind einmal die Sätze
der Logik und der Mathematik, die keinen Anspruch darauf erheben,

10

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn. II

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Bryan Magee – Karl Popper

51

Information über die empirische Welt zu liefern und sich deshalb ohne
Bezug auf die Erfahrung als wahr oder falsch erweisen lassen: die
wahren Sätze sind Tautologien, die falschen Kontradiktionen.
Andererseits gibt es Sätze, die den Anspruch erheben, Information über
die empirische Welt zu liefern und deren Wahrheit oder Falschheit sich
in der Realität auf irgendeine Weise zeigen muß und deshalb durch
Beobachtung zu ermitteln ist. Jeder Satz, bei dem es sich nicht um eine
formale Aussage der Mathematik oder der Logik handelt (Bertrand
Russell hat versucht zu zeigen, daß Mathematik und Logik dasselbe
sind) und der auch nicht empirisch verifizierbar ist, muß demnach
sinnlos sein. Deshalb sah man in der Verifizierbarkeit das Abgren-
zungskriterium zwischen sinnvollen und sinnlosen Aussagen über die
Welt.

Popper hat dieser Auffassung von Anfang an aus verschiedenen

Gründen widersprochen. Erstens sind – ob sich nun singuläre
Aussagen empirisch verfizieren lassen oder nicht – universelle
Aussagen, zum Beispiel wissenschaftliche Gesetze, sicher nicht
empirisch verifizierbar. Das Verifikationsprinzip würde also nicht nur
die Metaphysik ausschalten, sondern die gesamte Naturwissenschaft.
Zweitens wird mit dem Verifikationsprinzip die Sinnlosigkeit aller
Metaphysik verkündet. Gerade aus der Metaphysik – aus aber-
gläubischen, mythischen oder religiösen Weltauffassungen – ist aber,
historisch gesehen, die Wissenschaft hervorgegangen. Eine Idee, die zu
einer bestimmten Zeit nicht prüfbar und deshalb metaphysisch ist, kann
prüfbar und damit wissenschaftlich werden, wenn sich die Umstände
ändern. „Beispiele solcher Entwicklungen sind: der Atomismus, die
Idee des einen Urstoffs, die von Bacon als erdichtet bekämpfte Theorie
der Erdbewegung, die uralte Korpuskulartheorie des Lichtes, die
Fluidumtheorie der Elektrizität (wieder aufgelebt in der Elektronen-
gashypothese der metallischen Leitung).“

11

Eine metaphysische Theorie

11

Logik der Forschung, S. 222

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Bryan Magee – Karl Popper

52

mag nicht nur sinnvoll, sie mag sogar wahr sein. Wenn wir aber keine
Möglichkeit haben, sie zu prüfen, dann kann es keine empirischen
Belege für sie geben, und sie ist nicht als wissenschaftlich anzusehen.
Immerhin sind wir in der Lage, Theorien, die sich nicht empirisch
testen lassen, kritisch zu diskutieren und ihr Für und Wider zu
vergleichen. Im Ergebnis kann dann eine Theorie einer anderen
überlegen erscheinen. Popper ist also weit davon entfernt, die
Metaphysik als Unsinn abzutun – er hat immer erklärt, daß er
metaphysische Anschauungen vertritt, zum Beispiel über die Existenz
von Regelmäßigkeiten in der Natur. Als drittes und vernichtendes
Argument führt Popper gegen die logischen Positivisten an, daß jede
Debatte über den Sinnbegriff zwangsläufig sinnlose Aussagen enthält,
wenn man allein verifizierbare und tautologische Aussagen als sinnvoll
zuläßt.

Das anhaltende Unvermögen der logischen Positivisten,

Argumenten wie diesen zu begegnen, hat schließlich zum
Verschwinden des logischen Positivismus geführt. Aber anfänglich
haben die logischen Positivisten Popper in ihrem Sinne verstanden und
ihn deshalb lange verkannt. Weil Popper mit ihnen über Themen
diskutierte, die für sie von zentraler Bedeutung waren, hielten sie ihn
für ihresgleichen. Und weil ihr Hauptziel darin bestand, ein
Abgrenzungskriterium zwischen Sinn und Unsinn zu finden, und ihnen
dabei unangenehm bewußt wurde, wie stark einige der Argumente
gegen das Kriterium der Verifizierbarkeit waren, glaubten sie, Popper
habe den Einfall gehabt, an seiner Stelle das der Falsifizierbarkeit
vorzuschlagen. Viele ihrer Argumente gegen Popper beruhen auf dieser
falschen Annahme. Wie bereits bemerkt, waren die logischen
Positivisten so vom Sinnproblem besessen und in der Ansicht
befangen, unwissenschaftliche Theorien seien sinnlos, daß sie auf
Poppers Feststellung, er bezwecke mit seinem Vorschlag etwas völlig
anderes, entgegneten, es laufe doch ziemlich auf das gleiche hinaus.
Tatsache ist, daß Popper niemals in irgendeiner Form Positivist war.

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Bryan Magee – Karl Popper

53

Ganz im Gegenteil – er ist entschiedener Antipositivist und hat von
Anfang an die Argumente vorgebracht, die schließlich (nach sehr langer
Zeit) zur Auflösung des logischen Positivismus geführt haben. Daß
Popper einen völlig anderen Ansatz vertritt als die logischen
Positivisten, läßt sich anhand von ganz einfachen Beispielen zeigen: Die
logischen Positivisten hätten gesagt, die Lautfolge ,Gott existiert’ sei ein
sinnloses Geräusch; Popper würde sagen, daß es sich um eine Aussage
handelt, der Sinn zukommt und die wahr sein könnte, daß es aber keine
wissenschaftliche Aussage ist, weil sie sich auf keine denkbare Weise
falsifizieren läßt. Popper hat nicht nur kein Sinnkriterium vorgeschlagen
– er hat auch immer die Ansicht vertreten, die Aufstellung eines
Sinnkriteriums sei ein grundlegender philosophischer Irrtum. Die
übliche Diskussion des Sinns von Worten hält er nicht nur für
langweilig, sondern sogar für schädlich. Wie Popper bemerkt, ist die
Vorstellung, daß wir unsere Begriffe erst definieren müssen, bevor wir
eine sinnvolle Diskussion führen können, nachweislich inkonsequent.
Denn jedesmal, wenn man einen Begriff definiert, muß man auf neue
Begriffe zurückgreifen (andernfalls wäre die Definition ja zirkulär), und
man ist dann gezwungen, die neuen Begriffe ihrerseits zu definieren. So
gelangt man überhaupt nie zu einer Diskussion, weil man nie die
notwendigen Präliminarien abschließen kann. Wir müssen deshalb in
der Diskussion auch Undefinierte Begriffe verwenden. Ähnlich verhält
es sich mit der Vorstellung, präzises Wissen erfordere präzise
Definitionen; auch sie ist nachweislich falsch. Physiker verzichten
üblicherweise darauf, den Sinn der vielen Begriffe – etwa von ,Energie’
oder von ,Licht’ – zu definieren, mit denen sie laufend arbeiten. Eine
genaue Analyse und Definition derartiger Begriffe würde zu
unerschöpflichen Schwierigkeiten führen, weshalb Physiker sie zum
größten Teil undefiniert lassen. Und doch liefert uns die Physik das
präziseste und umfassendste Wissen, über das wir verfügen. Bei guten
wissenschaftlichen Definitionen ist noch etwas anderes zu beachten: Sie
sind, wie Popper sagt, eigentlich von rechts nach links zu lesen, nicht

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Bryan Magee – Karl Popper

54

von links nach rechts. Der Satz ,Ein Di-Neutron ist ein instabiles
System, das zwei Neutronen umfaßt’ ist die Antwort des
Wissenschaftlers auf die Frage ,Wie wollen wir ein instabiles System
nennen, das zwei Neutronen umfaßt?’, nicht eine Antwort auf die Frage
,Was ist ein Di-Neutron?’ Das Wort ,Di-Neutron’ ist ein praktischer
Ersatz für eine lange Beschreibung, nicht mehr – seine Analyse liefert
keine Aufschlüsse über die Physik. Ohne dieses Wort ginge die Physik
genauso weiter, nur wäre die Verständigung zwischen den Physikern
etwas beschwerlicher. „Die Idee, daß die Genauigkeit der Wissenschaft
oder der wissenschaftlichen Sprache von der Genauigkeit ihrer Begriffe
abhängt, ist sicher sehr plausibel, aber ich halte sie nichtsdestoweniger
für ein bloßes Vorurteil. Die Präzision einer Sprache hängt vielmehr
gerade davon ab, daß sie sich sorgfältig bemüht, ihre Begriffe nicht mit
der Aufgabe zu belasten, präzise zu sein. Ein Begriff wie ,Düne’ oder
,Wind’ ist sicher sehr vage. (Wie viele Zentimeter hoch muß ein kleiner
Sandhügel sein, um eine ,Düne’ zu heißen? Wie schnell muß sich die
Luft bewegen, um ,Wind’ genannt zu werden?) Dennoch sind diese
Begriffe für viele Zwecke des Geologen hinreichend genau; und in
anderen Umständen, wenn ein höherer Grad der Unterscheidung
verlangt wird, kann er immer sagen ,Dünen von einer Höhe zwischen
einem und acht Metern’ oder ,Wind von einer Geschwindigkeit
zwischen fünfzehn und dreißig Kilometern pro Stunde’. Und in den
mehr exakten Wissenschaften ist die Situation ähnlich. Bei
physikalischen Messungen zum Beispiel bemühen wir uns immer, den
Bereich in Betracht zu ziehen, innerhalb dessen Fehler auftreten
können; und Präzision besteht weder in dem Versuch, diesen Bereich
zur Gänze zu beseitigen, noch in der Behauptung, daß es einen solchen
Bereich nicht gebe, sondern vielmehr in seiner expliziten
Anerkennung.“

12

Etwas überspitzt formuliert, könnte man behaupten, daß sich auf

12

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II, S. 27f.

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Bryan Magee – Karl Popper

55

einem Forschungsgebiet desto mehr nützliche Erkenntnisse zeigen, je
weniger über den Sinn von Worten diskutiert wird. (Eine Ausnahme
bildet natürlich die Sprachforschung.) Für klares Denken und präzises
Wissen sind derartige Diskussionen entbehrlich – im Gegenteil, sie
verschleiern beides und führen zwangsläufig zu endlosem Wortstreit
statt zu fruchtbaren Auseinandersetzungen. Die Sprache ist ein
Werkzeug, und entscheidend ist, wozu man sie gebraucht – in diesem
Falle zur Formulierung und Diskussion von Theorien über die Welt.
Ein Philosoph, der sich sein Leben lang mit der Sprache beschäftigt, ist
wie ein Zimmermann, der seine ganze Arbeitszeit damit verbringt, seine
Werkzeuge zu schärfen. Philosophen sind, wie jedermann, verpflichtet,
sich klar und deutlich auszudrücken; aber sie sollten, nicht anders als
die Physiker, so arbeiten, daß es unmaßgeblich bleibt, wie sie ihre
Worte gebrauchen.

Von diesem Standpunkt aus hat Popper laufend die beiden

Philosophien angegriffen, die auf Wittgenstein zurückgehen: den
logischen Positivismus, der sich aus dem logischen Atomismus
entwickelt hat und eine Generation lang vorherrschte, und die Sprach-
analyse, die für die nächste Generation maßgeblich war. „Die
Sprachanalytiker glauben, daß es keine echten philosophischen
Probleme gibt, oder daß die Probleme der Philosophie, wenn es solche
überhaupt gibt, Probleme des Sprachgebrauchs und Fragen über den
Sinn oder die Bedeutung von Wörtern sind. Ich glaube jedoch, daß es
zumindest ein philosophisches Problem gibt, das alle denkenden
Menschen interessiert. Es ist das Problem der Kosmologie: das
Problem, die Welt zu verstehen – auch uns selbst, die wir ja zu dieser
Welt gehören, und unser Wissen. Alle Wissenschaft ist Kosmologie in
diesem Sinn, glaube ich; und für mich ist die Philosophie, ebenso wie
die Naturwissenschaft, ausschließlich wegen ihres Beitrages zur
Kosmologie interessant.“

13

13

Logik der Forschung, S.XIV (Vorwort zur 1. englischen Ausg. 1959)

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Bryan Magee – Karl Popper

56

Die Philosophiegeschichte verzeichnet viele Dichotomien (z.B. die

zwischen Nominalisten und Realisten, Empiristen und Transzen-
dentalisten, Materialisten und Idealisten), aber man sollte keine davon
zu weit treiben: Irreführend ist bei allen besonders der Umstand, daß
sich die Großen gewöhnlich nicht klar einordnen lassen. Ein Dualismus
jedoch durchzieht fast die gesamte Philosophiegeschichte: Der einen
Sicht zufolge versucht die Philosophie zu verstehen, welchen Gebrauch
wir von Begriffen machen; der anderen zufolge versucht sie, die Welt
zu verstehen. Offensichtlich ist es unmöglich, die Welt zu verstehen,
ohne dabei Begriffe zu gebrauchen, und deshalb glaubt man
gewöhnlich in beiden Lagern mit einigem Recht, daß man an beiden
Problemen arbeitet. Trotzdem werden oft völlig andere Schwerpunkte
gesetzt. Im Mittelalter gab es die berühmte Unterscheidung zwischen
den Realisten (für uns ist diese Bezeichnung heute irreführend), die zur
ersten Gruppe gehörten, (,Begriffe sind selbst reale Entitäten und
kommen vor den Einzeldingen, die sich aus ihnen ableiten und von
ihnen abhängen’) und den Nominalisten, die der zweiten Gruppe
zuzurechnen sind (,Begriffe bezeichnen Dinge, und deshalb sind die
Dinge vorrangig: die Bezeichnungen können ausgewechselt werden,
ohne daß sich die Realität ändert’). Die Philosophie in der
englischsprachigen Welt hat sich in unserem Jahrhundert meist auf die
Erhellung von Begriffen konzentriert. Poppers Philosophie ist
entschieden anderer Natur. (Im heutigen Sinne des Wortes ist Popper
Realist, denn er glaubt, daß eine materielle Welt unabhängig von der
Erfahrung existiert.)

Ganz am Anfang seines Buches Philosophie: Die Entwicklung meines

Denkens

14

berichtet Bertrand Russell, wie er bis etwa 1917 – er war

damals 45 und hatte fast die gesamte philosophische Arbeit geleistet,
für die er heute berühmt ist – die Sprache „immer für eine Art
,durchsichtiges Medium’ gehalten [hatte], für etwas, das man verwendet,

14

1973 – My Philosophical Development, 1959

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Bryan Magee – Karl Popper

57

ohne ihm weiter Beachtung schenken zu müssen“. Wittgenstein
dagegen war sein ganzen Leben lang von der Sprache, besonders von
der Bedeutung, besessen. Sein erstes Buch, Tractatus Logico-Philosophicus,
das 1921 erschien, war der Text, der den Wiener Kreis am stärksten
beeinflußt hat. Wittgenstein rang sich später zu der Ansicht durch, das
Buch sei verfehlt, und zwar gerade deshalb, weil es eine falsche
Bedeutungslehre enthalte. Daraufhin begann er – nachdem er selbst so
fehlgeleitet worden war – zu untersuchen, auf welchen verschiedenen
Wegen unserer eigener Sprachgebrauch uns in die Irre führen kann.
Daraus ist eine neue philosophische Richtung entstanden, die man
gewöhnlich als ,Sprachanalyse’ bezeichnet. Wittgensteins einschlägiges
Hauptwerk, Philosophische Untersuchungen, 1953 posthum erschienen, hat
die britische Philosophie wahrscheinlich mehr beeinflußt als jedes
andere Buch seit dem Zweiten Weltkrieg. (Als nächstes wäre Gilbert
Ryles Der Begriff des Geistes

15

zu nennen, ein Buch, das seinerseits durch

Wittgensteins Spätphilosophie geprägt ist.)

In Philosophie: Die Entwicklung meines Denkens schreibt Russell:

16

„In

diesen – den auf 1914 folgenden – Jahrzehnten haben in
Großbritannien drei philosophische Richtungen nacheinander das Feld
beherrscht: zuerst kam Wittgensteins Tractatus, danach die logischen
Positivisten, und schließlich der Wittgenstein der Philosophischen
Untersuchungen.
Der Tractatus hat mich nachhaltig beeinflußt – allerdings
nicht, wie ich heute meine, ausschließlich zum Guten. Die
Zielsetzungen der logischen Positivisten waren mir im großen und
ganzen sympathisch, obwohl ich einige ihrer markantesten Thesen
entschieden bestritten haben würde. Die dritte Richtung – die ich der
Einfachheit halber (und im Unterschied zu W I, dem Wittgenstein des
Tractatus) W II nennen will – finde ich bis auf den heutigen Tag total
unverständlich. Die positiven Thesen dieser Richtung erscheinen mir

15

1969- The Concept of Mind, 1949; 1960

16

S. 224

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Bryan Magee – Karl Popper

58

trivial, und die negativen nicht hinreichend fundiert. Ich habe in den
Philosophischen Untersuchungen schlechthin nichts gefunden, was mich
interessierte; und ich kann einfach nicht verstehen, wieso eine ganze
Philosophenschule in diesem Buch eine Quelle profunder Weisheiten
erblickt.“ Russell hat sich, als er älter wurde, seinen Berufskollegen
immer mehr entfremdet. Er spricht von „Wittgenstein, der mich in der
Hochschätzung vieler heutiger britischer Philosophen abgelöst hat ... Es
ist nicht besonders angenehm, wenn man feststellen muß, daß man auf
einmal nicht mehr in Mode ist und als antiquiert gilt; und es ist nicht
ganz einfach, dem mit der gebührenden Fassung zu begegnen.“

17

Aber

immerhin hatte Russell Bedeutendes geleistet und sein großes Ansehen
erlangt, bevor Wittgenstein bekannt wurde. Popper jedoch, der Russells
Ansicht über den späten Wittgenstein ausdrücklich teilt,

18

blieb diese

Chance versagt. Es war – in Österreich wie in England – sein ganz
besonderes Mißgeschick, daß er meist an Orten und zu Zeiten
gearbeitet hat, in denen Wittgenstein dominierte. Das erklärt die
eigentlich verblüffende Tatsache, daß Popper von seinen Berufs-
kollegen unterbewertet wird, während er außerhalb dieses Kreises (und
auf so viele begabte Menschen) großen Einfluß ausübt. Wie Geoffrey
Warnock sagte: „Philosophen haben eine ausgeprägte Neigung dazu,
einen Gegenstand in dem Zustand zu belassen, in dem sie ihn
vorfinden, und zufrieden mit dem Strom zu schwimmen“.

19

Aber es hat

den Anschein, daß Popper in einer Hinsicht die umgekehrte Erfahrung
wie Russell machen darf: Das Unvermögen der Wittgensteinschen
Philosophien, die Hoffnungen ihrer Anhänger zu erfüllen, läßt sich
nicht länger leugnen, und so kommt Popper im hohen Alter zu seinem
Recht.

Bevor wir das Gebiet vergangener und gegenwärtiger Mißver-

17

Ebenda, S.221f.

18

Siehe Modern British Philosophy, S. 131 ff.

19

Ebenda, S.88

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Bryan Magee – Karl Popper

59

ständnisse verlassen, ist noch ein wichtiger Hinweis angebracht. Die
analytische Hegemonie vergangener Jahrzehnte hatte ein auffallendes
Merkmal: Die Philosophen, die in der Erhellung von Begriffen und
Begriffssystemen die Aufgabe der Philosophie sahen, waren der
aufrichtigen Überzeugung, daß alle guten Philosophen schon immer
Begriffe und Begriffssysteme erhellt haben, ob sie sich nun dessen
bewußt waren oder nicht. Generationen von Studenten haben moderne
analytische Techniken an den Schriften der großen Toten eingeübt, und
in vielen Büchern kehren die Riesen der Vergangenheit als so etwas wie
analytische Philosophen wieder. Wie Alasdair MacIntyre sagte: „Wenn
ein britischer Philosoph etwas über die Geschichte der Philosophie
schreibt, dann besteht seine Methode gewöhnlich darin, daß er die
betreffende historische Gestalt so weit wie möglich als Zeitgenossen
behandelt und mit ihr so diskutiert, wie er mit einem Kollegen in der
Aristotelian Society diskutieren würde.“

20

Dieses Verfahren ist im Laufe

der Zeit so gebräuchlich geworden, daß sich das gründliche, aber
ehrliche Mißverständnis, das hier zutage tritt, in der zeitgenössischen
philosophischen Literatur und in der Lehre an den Universitäten
ausbreiten konnte. Wenn man deshalb behauptet, daß sich Poppers
Werk gar nicht so sehr von dem seiner berühmten Zeitgenossen
unterscheidet oder daß der frühe Popper gar nicht so sehr im
Gegensatz zu den logischen Positivisten stand, dann geschieht ihm
damit nicht mehr und nicht weniger Unrecht als anderen auch. Popper
ist bei weiten nicht das einzige berühmte Opfer dieser Einstellung.

20

Modern British Philosophy, S. 193

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Bryan Magee – Karl Popper

60

4. Poppers Evolutionismus und seine

Theorie der Welt 3

Nach traditionellem Verständnis der wissenschaftlichen Methode
durchläuft die Forschung bestimmte Phasen in einer bestimmten Rei-
henfolge, wobei jede Phase auf der vorhergehenden aufbaut: 1. Beo-
bachtung und Experiment, 2. induktive Verallgemeinerung, 3. Hypo-
these, 4. Versuch einer Verifizierung der Hypothese, 5. Beweis oder Wi-
derlegung, 6. Wissen. Popper hat diese Reihenfolge durch eine andere
ersetzt: 1. Problem (gewöhnlich das Debakel einer vorliegenden Theo-
rie oder Erwartung), 2. Lösungsvorschlag, mit anderen Worten: neue
Theorie, 3. Ableitung prüfbarer Behauptungen aus der neuen Theorie,
4. Überprüfung, d.h. Versuch einer Widerlegung, unter anderem durch
Beobachtung und Experiment (aber nur unter anderem), 5. Präferenz
für eine von mehreren konkurrierenden Theorien.

Wenn wir Poppers Schema betrachten und fragen: ,Woher stammt

die Theorie oder Erwartung in Phase 1, aus deren Zusammenbruch sich
unser Problem ergeben hat?’, dann gibt es darauf üblicherweise eine
einfache Antwort: ,Aus Phase 5 eines vorangegangenen Prozesses’. Und
wenn wir die betreffenden Prozesse immer weiter zurückverfolgen,
dann kommen wir zu Erwartungen, die angeboren sind – nicht nur den
Menschen, sondern auch den Tieren. „Ich halte die Theorie vom
Bestehen angeborener Ideen für absurd; aber jeder Organismus besitzt
angeborene Reaktionen, und darunter befinden sich auch solche, die
zukünftigen Ereignissen angepaßt sind. Man kann solche Reaktionen als
,Erwartungen’ bezeichnen, ohne damit zum Ausdruck bringen zu
wollen, daß diese Erwartungen bewußt sind. In diesem Sinne ,erwartet’
ein neugeborener Säugling, genährt (und man könnte sogar behaupten,
beschützt und geliebt) zu werden. In Anbetracht der engen Beziehung
zwischen Erwartung und Erkenntnis können wir durchaus vernünftig
von ,angeborenem Wissen’ sprechen. Jedoch ist dieses ,Wissen’ nicht a
priori
gültig. Eine angeborene Erwartung, mag sie noch so intensiv und

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Bryan Magee – Karl Popper

61

bestimmt sein, kann falsch sein. (Der Säugling kann ausgesetzt werden
und verhungern.) So werden wir alle mit Erwartungen geboren, mit
,Wissen’, das, wenn auch nicht a priori gültig, doch psychologisch oder
genetisch a priori ist, das heißt, aller auf Beobachtung beruhenden
Erfahrung vorausgeht.“

1

Poppers Erkenntnistheorie deckt sich also mit einer Evolu-

tionstheorie. Das Problemlösen ist die grundlegende Aktivität, und das
Überleben ist das grundlegende Problem. „Alle Organismen sind ständig,
Tag und Nacht, mit dem Lösen von Problemen beschäftigt; das gilt auch für
alle jene evolutionären Folgen von Organismen – die Arten, die mit den
primitivsten Formen begannen und deren neueste Beispiele die jetzt
lebenden Organismen sind.“

2

Problemlösungsversuche treten bei

Organismen und Tieren, die unter der Stufe des Menschen stehen, als
neue Reaktionen, neue Erwartungen, neue Verhaltensweisen auf; wenn
sie sich bei den Prüfungen, denen sie unterworfen werden, auf die
Dauer gut bewähren, dann können sie schließlich das Lebewesen selbst
– eines seiner Organe oder eine seiner Erscheinungsformen –
verändern und so (durch Selektion) in seine Anatomie übergehen.
(Popper lehnt die empiristische Erkenntnistheorie ab und besteht
darauf, daß jede Beobachtung theoriedurchtränkt ist; er begründet das
unter anderem damit, daß unsere Sinnesorgane selbst, die ja
hochentwickelte Versuche zur Anpassung an unsere Umwelt darstellen,
Theorien verkörpern.) Die Fehlerelimination kann entweder in der
sogenannten natürlichen Auslese bestehen – ein Organismus, der eine
notwendige Änderung versäumt oder eine ungeeignete vorgenommen
hat, geht unter – oder in der Entwicklung von Kontrollvorrichtungen
innerhalb des Organismus, die ungeeignete Veränderungen abschwä-
chen oder unterdrücken.

Poppers Theorie bezieht sich nur auf die Entwicklung des Lebens;

1

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 1, Abschn.V

2

Objektive Erkenntnis, S. 252

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Bryan Magee – Karl Popper

62

seine Entstehung erklärt sie genauso wenig wie Darwins Theorie.
Tatsächlich glaubt Popper, daß sich der Ursprung – des Lebens, eines
Kunstwerks oder einer Theorie – der rationalen Erklärung entzieht. In
Das Elend des Historizismus schreibt er:

3

„In der Welt, die durch die

Physik beschrieben wird, kann nichts wirklich und wesenhaft Neues
geschehen. Eine neue Maschine kann erfunden werden, aber sie läßt
sich stets als Neuanordnung von Elementen begreifen, die selbst
keineswegs neu sind. Neuheit in der Physik ist nur eine Neuheit der
Zusammenstellungen, der Kombinationen. In scharfem Gegensatz da-
zu ... ist die soziale Neuheit wie die biologische Neuheit eine wesen-
hafte, innerliche Neuheit. ... Neuheit kann nicht kausal oder rational
erklärt, sondern nur intuitiv begriffen werden. ... Insofern Neuheit ra-
tional analysiert und vorhergesagt werden kann, kann sie niemals ,in-
nerlich’ und ,wesenhaft’ sein.“ Das Problem der Entstehung, der Ent-
stehung des wirklich Neuen, beschäftigt Popper in besonderem Maße
und ist eines der Themen, zu denen er vielleicht noch wichtige Beiträge
leisten wird.

Im biologischen Prozeß der Evolution, als Geschichte der

Problemlösung betrachtet, kommt einer Entwicklung überragende Be-
deutung zu – der Entwicklung der Sprache. Tiere machen Geräusche,
die Kundgabefunktion und Auslösefunktion haben; in der Sprache des
Menschen sind diese beiden Funktionen praktisch immer gegenwärtig,
aber der Mensch hat mindestens zwei weitere hinzugefügt: die
Darstellungsfunktion und die argumentative Funktion. (Allerdings
enthalten die höchstentwickelten Formen der tierischen Kommuni-
kation, etwa der Tanz der Bienen, bereits erste Ansätze einer Dar-
stellungsfunktion.) Mit Hilfe der Sprache läßt sich die Welt beschreiben,
und so hat die Sprache, neben vielem anderen, auch die Verständigung
möglich gemacht. Die Begriffe ,Wahrheit’ und ,Falschheit’ konnten sich
herausbilden. Die Sprache hat, kurz gesagt, die Entwicklung der Ver-

3

S.9, 19, 115

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Bryan Magee – Karl Popper

63

nunft ermöglicht (oder ist vielmehr selbst Teil dieser Entwicklung
gewesen) und kennzeichnet so die Loslösung des Menschen vom
Tierreich. (Die Tatsache, daß der Mensch allmählich aus dem Tierreich
hervorgegangen ist, besagt übrigens, daß er während des langen
Zeitraums, den dieser Vorgang beanspruchte, in Gruppen gelebt hat;
die weitverbreitete Ansicht, alle sozialen Erscheinungen seien letztlich
durch die menschliche Natur erklärbar, muß also falsch sein: Der
Mensch war ein soziales Wesen, lange bevor er ein menschliches Wesen
wurde.) Popper ist der Auffassung, daß erst die Sprache – im Sinne
einer geordneten Form des Kontakts, der Kommunikation, der
Beschreibung und der Argumentation durch Zeichen und Symbole –
uns nicht nur als Art, sondern auch als Individuum zu Menschen
macht; daß jedem einzelnen von uns erst der Erwerb einer Sprache in
diesem Sinne das volle menschliche Bewußtsein, das Bewußtsein des
eigenen Ich, ermöglicht. (Mit seinen einschlägigen Arbeiten hat Popper
in einem erstaunlichen Ausmaß Chomsky vorweggenommen.)

Die ersten Beschreibungen der Welt waren wohl animistischer,

abergläubischer und magischer Natur; wer sie oder etwas anderes, das
dem Stamm Zusammenhalt und Identität verlieh, in Frage stellte, brach
ein Tabu und war gewöhnlich des Todes. So wurde der Primitive in
eine Welt hineingeboren, die von Abstraktionen beherrscht war – Ver-
wandschaftsbeziehungen, Formen sozialer Organisation und Herr-
schaft, Gesetz, Sitte, Konvention, Tradition, Bündnisse und Feind-
schaften, Ritual, Religion, Mythos, Aberglaube, Sprache. All das war
menschlichen Ursprungs, aber der Einzelne hatte nichts davon selbst
geschaffen, und es lag auch meist nicht in seiner Macht, etwas davon zu
ändern oder auch nur in Frage zu stellen. Diese Einrichtungen standen
jedem Menschen als eine Art objektiver Realität gegenüber, die ihn von
Geburt an formte, ihn zum Menschen machte, fast sein gesamtes Leben
bestimmte – und waren dabei gewissermaßen autonom. Popper behau-
ptet, daß sie fast nie geplant oder beabsichtigt waren. „Wie entsteht ein
Wildwechsel im Urwald? Ein Tier bricht vielleicht durch das Unterholz,

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Bryan Magee – Karl Popper

64

um an eine Wasserstelle zu kommen. Andere finden es am einfachsten,
dieser Spur zu folgen. So mag sie durch Gebrauch erweitert und
verbessert werden. Sie ist nicht geplant – sie ist eine unbeabsichtigte
Folge des Bedürfnisses nach leichter und schneller Bewegung. So
entsteht ursprünglich ein Pfad – vielleicht sogar auch bei Menschen –,
und so können die Sprache und andere nützliche Einrichtungen ent-
stehen; so können sie ihre Existenz und Entwicklung ihrer Nützlichkeit
verdanken. Sie sind nicht geplant oder beabsichtigt, und ehe es sie gab,
gab es vielleicht kein Bedürfnis nach ihnen. Doch sie können ein neues
Bedürfnis oder neue Ziele schaffen: Die Zielstruktur von Tieren oder
Menschen ist nicht ,gegeben’, sondern entwickelt sich mit Hilfe einer
Art Rückkopplungsmechanismus aus früheren Zielen und Ergebnissen,
die beabsichtigt oder nicht beabsichtigt waren. Auf diese Weise kann
ein ganz neues Reich von Möglichkeiten entstehen: eine Welt, die in
hohem Maße autonom ist.“

4

Wenn Popper die Entfaltung des Lebens,

das Auftauchen des Menschen und die Entwicklung der Kultur erörtert,
macht er durchweg von der Vorstellung Gebrauch, daß es drei Welten
gibt: nicht nur eine objektive Welt der physikalischen Objekte (Popper
nennt sie ,Welt 1’) und eine Welt der subjektiven Erfahrungen (,Welt
2’), sondern auch eine ,Welt 3’ der objektiven Strukturen, die (nicht
unbedingt beabsichtigte) Schöpfungen des menschlichen Geistes sind,
die aber, einmal geschaffen, unabhängig von ihm existieren. Ihre
Vorläufer im Tierreich sind Vogel- und Wespennester, Bienenwaben,
Spinnennetze, Ameisenbauten, Biberdämme – höchst komplizierte
Gebilde, die sich Tiere außerhalb ihres Körpers schaffen, um durch sie
ihre Probleme zu lösen. Diese Gebilde gewinnen in der Umwelt der
betreffenden Tiere zentrale Bedeutung und bestimmen viele ihrer
wichtigsten Verhaltensweisen – hier kommen die Tiere gewöhnlich zur
Welt und machen dabei ihre ersten Erfahrungen mit der physikalischen
Umgebung außerhalb des Mutterleibes. Einige der objektiven Struk-

4

Objektive Erkenntnis, S. 120f.

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Bryan Magee – Karl Popper

65

turen im Tierreich sind überdies abstrakter Natur – zum Beispiel die
Formen der sozialen Organisation und der Kommunikation. Beim
Menschen haben einige der biologischen Merkmale, die im Verlauf der
Auseinandersetzung mit der Umwelt entstanden sind, eben diese
Umwelt auf eindrucksvolle Weise verändert: die menschliche Hand ist
dafür nur ein Beispiel. Der Mensch hat seine physikalische Umwelt
verwandelt; und neben dieser Leistung nehmen sich die abstrakten
Strukturen, die er geschaffen hat – Sprache, Ethik, Gesetz, Religion,
Philosophie, Institutionen, Kunst und Wissenschaft – nicht weniger
groß und meisterhaft aus. Ähnlich wie bei den Tieren, aber in noch
stärkerem Ausmaß, haben die Schöpfungen des Menschen in seiner
Umwelt zentrale Bedeutung erlangt; er mußte sich an sie anpassen und
wurde so durch sie geformt. Sie sind für ihn objektiv vorhanden, und
deshalb konnte er sie untersuchen, bewerten und kritisieren, erforschen,
erweitern, verändern oder umstoßen und in ihrem Rahmen völlig
unerwartete Entdeckungen machen. Das gilt auch für die abstraktesten
Schöpfungen des Menschen, zum Beispiel für die Mathematik. „Ich
stimme mit Brouwer darin überein, daß die Folge der natürlichen
Zahlen eine menschliche Konstruktion ist. Doch obwohl wir diese
Folge schaffen, schafft sie ihrerseits ihre eigenen autonomen Probleme.
Der Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen ist nicht von
uns geschaffen: Er ist eine unbeabsichtigte und unvermeidliche Folge
unserer Schöpfung. Die Primzahlen sind natürlich ebenfalls unbe-
absichtigte autonome und objektive Tatsachen; und in ihrem Fall ist
offensichtlich, daß es für uns viele Tatsachen zu entdecken gibt: Es gibt
Vermutungen wie die Goldbachsche.

5

Diese Vermutungen beziehen

sich indirekt auf unsere Erzeugnisse, direkt aber auf Probleme und
Tatsachen, die sich irgendwie aus unserer Schöpfung ergeben haben

5

Goldbach vermutete, daß jede gerade Zahl die Summe zweier Primzahlen ist.

Einen Beweis für diese Vermutung hat bisher noch niemand gefunden, aber sie trifft
für jeden Fall zu, auf den sie angewendet wurde. – B. M.

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Bryan Magee – Karl Popper

66

und die wir nicht kontrollieren oder beeinflussen können: Es sind harte
Tatsachen, und die Wahrheit über sie ist oft schwer zu entdecken. Das
veranschaulicht, was ich damit meine, daß die Welt 3 weitgehend
autonom sei, obwohl sie von uns geschaffen ist.“

6

Die Welt 3 ist also die Welt der Ideen, der Kunst, der Wissenschaft,

der Sprache, der Ethik, der Institutionen: kurz, das gesamte kulturelle
Erbe – sofern es in Gegenständen der Welt 1, beispielsweise in
Gehirnen, Büchern, Maschinen, Filmen, Computern, Bildern und
Aufzeichnungen aller Art verschlüsselt und bewahrt ist. Alle
Gegenstände der Welt 3 entstammen dem Geist von Menschen, aber
sie können unabhängig von einem erkennenden Subjekt existieren (die
Linearschrift-B-Texte der minoischen Kultur hat man erst vor einigen
Jahren entziffert) – vorausgesetzt, sie sind in einer zur Welt 1
gehörenden und potentiell zugänglichen Form verschlüsselt und
bewahrt. (Es besteht also ein grundlegender Unterschied zwischen dem
Wissen in den Köpfen der Menschen und dem weit wichtigeren Wissen
in den Bibliotheken.) In Wahrheit und Wirklichkeit schließt sich Sir John
Eccles der Auffassung an, „daß nur der Mensch eine behauptende
Sprache habe und daß diese Sprache nur von Subjekten benützt werden
könne, die über begriffliches Denken verfügen, daß heißt, im Grunde
ist das ein Denken, das sich auf die Komponenten von Welt 3 bezieht.
Dieses Denken übertrifft die wahrnehmende Gegenwart. ... Im
Gegensatz dazu ist das Verhalten von Tieren durch ihre wahrnehmende
Gegenwart und ihre stets vorhandene Konditionierung geprägt. ... Es
gibt keine Hinweise darauf, daß Tiere an dieser Welt – selbst in
geringem Maße – teilhaben. In dieser fundamentalen Hinsicht
unterscheidet sich der Mensch in seiner Art radikal vom Tier.“

7

Der Gedanke einer von Menschen geschaffenen, aber autonomen

dritten Welt ist einer der vielversprechendsten Züge von Poppers

6

Objektive Erkenntnis, S. 121 f.

7

S. 236 f.

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Bryan Magee – Karl Popper

67

Philosophie. In einem seiner unvollendeten Bücher wendet Popper
diesen Gedanken auf das Leib-Seele-Problem an. (Schon allein die
Auffassung, daß wir erst durch Wechselwirkung mit der Welt 3 zum
Selbst werden, läßt sich endlos fortspinnen.) Unabhängig davon
erleichtert uns die Theorie der Welt 3 das Verständnis dafür, daß in
dem uralten Streit darüber, ob ethische, ästhetische und andere
Maßstäbe subjektiv oder objektiv sind, von beiden Seiten Argumente
vorgebracht wurden, auf die es keine Antwort gibt. Anhand der Theorie
läßt sich ein weiteres Zentralproblem der abendländischen Philosophie
analysieren, das Problem des sozialen Wandels. Denn weil die
menschlichen Schöpfungen in Welt 3 objektiver Natur sind und weil
sich daraus Wechselbeziehungen zwischen ihnen und den Menschen
ergeben, haben die Ideen, die Institutionen, Sprachen, Künste,
Wissenschaften, die Ethik und die anderen angeführten Errungen-
schaften eine Geschichte. Auf diesen Gebieten gibt es nicht unbedingt
Fortschritte, aber sie sind naturgemäß offen für den Wandel, und meist
sind sie auch im Fluß. Vor allem erklärt Poppers Theorie, wie einer
Entwicklung ein Prinzip zugrunde liegen kann, ohne daß es (wie etwa
Marx glaubte) einen Gesamtplan oder eine Verschwörung gibt und
auch ohne daß (wie etwa Hegel glaubte) ein Weltgeist oder eine Kraft
den Prozeß gleichsam von innen vorantreibt. Das ist ein außer-
ordentlich erhellender Gedanke, der sich wahrscheinlich als in seinen
Anwendungen ungemein ergiebig erweisen wird. Ernst Gombrich hat
ihn in höchst origineller Weise auf die Kunstgeschichte und die
Kunstkritik übertragen, und viele sehen das Ergebnis als geradezu
genial an. Was den Gebrauch betrifft, den Popper selbst von seinem
Gedanken macht, so sind besonders die Lösungen wichtig, die er auf
dieser Grundlage für Probleme des politischen wie für Probleme des
geistigen und künstlerischen Wandels anbieten kann; mit dem einen
Problemkreis haben sich die größten politischen Philosophen von
Platon bis Marx befaßt, mit dem anderen viele Philosophen seit Hegel
und einige schon lange vor ihm.

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Bryan Magee – Karl Popper

68

Die wichtigste Entwicklung in der Geschichte der Welt 3 als ganzes

(seit dem Entstehen der Sprache) war, daß sich eine kritische Haltung
herausbildete und daß sie später akzeptabel wurde. Wie bereits erwähnt,
verfügen offenbar alle oder fast alle menschlichen Gesellschaften, von
denen wir wissen, über eine Interpretation der Welt, die in einem
Mythos oder einer Religion Ausdruck findet, und in primitiven Gesell-
schaften ist es gewöhnlich bei Todesstrafe verboten, die Wahrheit
dieser Interpretation in Frage zu stellen. Die Wahrheit darf nicht
entweiht und muß unbefleckt von Generation zu Generation weiter-
gereicht werden. Zu diesem Zweck entwickeln sich Institutionen –
Mysterien, Priesterschaften und, in einem fortgeschrittenen Stadium,
Denkschulen. „Eine Schule dieser Art läßt niemals eine neue Idee zu.
Neue Ideen sind Häresien und führen zu Schismen; sollte ein Mitglied
der Schule versuchen, die Lehre zu ändern, so wird es als Ketzer
ausgeschlossen. Aber in der Regel behauptet ein Häretiker, seine Lehre
sei die wahre Lehre des Gründers. Nicht einmal der Erfinder gibt also
zu, eine neue Erfindung eingeführt zu haben; er glaubt vielmehr, zur
wahren Orthodoxie zurückzukehren, die irgendwie entstellt worden
war.“

8

Popper glaubt, daß, historisch gesehen, die Denkschulen der

Vorsokratiker – beginnend mit Thales, seinem Schüler Anaximander
und dessen Schüler Anaximenes – die ersten waren, die Kritik nicht nur
zugelassen, sondern auch ermutigt und begrüßt haben.

9

Das bedeutete

das Ende der dogmatischen Tradition, die eine unbefleckte Wahrheit
weitergeben wollte, und den Beginn einer neuen, rationalen Tradition,
die Spekulationen einer kritischen Diskussion unterzog. Die Geburts-
stunde der wissenschaftlichen Methode hatte geschlagen. Irrtümer
waren jetzt keine Katastrophe mehr, sondern eine Chance. Denn nicht
anders als Tiere oder niedere Organismen stand oder fiel der

8

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 5, Abschn. XI

9

Siehe auch das Xenophanes-Zitat auf S. 25

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Bryan Magee – Karl Popper

69

dogmatische Mensch mit seinen Theorien. „Auf der vorwissen-
schaftlichen Stufe werden wir oft selbst zusammen mit unseren
falschen Theorien zerstört, eliminiert; wir gehen mit unseren falschen
Theorien zugrunde. Auf der wissenschaftlichen Stufe versuchen wir
systematisch, unsere falschen Theorien zu eliminieren – wir versuchen,
unsere Theorien an unserer Stelle sterben zu lassen.“

10

Sobald der

Mensch nicht länger mit seinen Theorien in den Tod ging, begann er
Mut zu fassen und etwas zu wagen. Früher war die geistige Tradition,
mit ihrem ganzen Gewicht, defensiv ausgerichtet und diente der
Bewahrung herrschender Lehren; jetzt bildete sie erstmals das
Fundament einer kritischen Haltung und wurde so zur Triebkraft des
Wandels. Die Vorsokratiker befaßten sich mit Fragen der
Naturforschung. Sokrates wandte die gleiche kritische Rationalität auf
das menschliche Verhalten und die sozialen Institutionen an. Damals
begann das unaufhaltsame Wachstum der Forschung und damit der
Erkenntnis, durch das sich die Kultur des alten Griechenland und
seiner Erben so völlig von allen anderen Kulturen unterscheidet.

10

Popper, in Modern British Philosophy, S. 73

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Bryan Magee – Karl Popper

70

5. Objektive Erkenntnis

Betrachtet man den allmählichen, nahtlosen Übergang von der Amöbe
zu Einstein, so zeigt sich überall das gleiche Muster. „Die vorläufigen
Lösungen, die Tiere und Pflanzen in ihre Anatomie und ihr Verhalten
aufnehmen, sind biologische Analogien von Theorien; und umgekehrt:
Theorien entsprechen (gleich vielen exosomatischen Erzeugnissen wie
Bienenwaben und besonders exosomatischen Werkzeugen wie
Spinnennetzen) endosomatischen Organen und ihrer Arbeitsweise.
Ganz wie Theorien sind auch Organe und ihre Tätigkeiten
versuchsweise Anpassungen an die Welt, in der wir leben. Und ganz wie
Theorien oder wie Werkzeuge üben neue Organe und ihre Tätigkeiten
sowie neue Verhaltensweisen ihren Einfluß auf die Welt 1 aus, zu deren
Veränderung sie beitragen können.“

1

Popper hat das Muster, das dieser

kontinuierlichen Entwicklung zugrunde liegt, durch die Formel

P

1

VT FE P

2

charakterisiert. Dabei steht P

1

für das Ausgangsproblem, VT für die

versuchsweise vorgeschlagene Theorie, FE für den Prozeß der
Fehlerelimination, der auf diese Theorie angewandt wird, und P

2

für die

neue Situation, die sich daraus ergibt und die wiederum neue Probleme
mit sich bringt. Das Ganze ist im Grunde ein Rückkopplungsprozeß.
Er läuft nicht zyklisch ab, denn P

2

unterscheidet sich immer von P

1

.

Selbst wenn unser Lösungsvorschlag völlig gescheitert sein sollte, haben
wir doch etwas darüber erfahren, wo bei diesem Problem die
Schwierigkeiten liegen und welchen Minimalbedingungen jede Lösung
genügen muss – und damit stehen wir vor einer neuen Problem-
situation. Der Prozeß ist auch nicht dialektisch (im Sinne von Hegel
oder Marx), weil hier Widersprüche (im Unterschied zur Kritik) in

1

Objektive Erkenntnis, S. 149f.

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Bryan Magee – Karl Popper

71

keinem Stadium Platz finden, geschweige denn willkommen sind.

Die Formel enthält einige der wichtigsten Gedanken Poppers. Er

selbst hat ihre Anwendungsmöglichkeiten in vielen verschiedenen
Forschungsbereichen erprobt; und mit Problemen, über die er selbst
nicht gearbeitet hat, befaßt sich oft einer seiner Nachfolger. Popper war
jahrzehntelang der Ansicht, die Formel sei nicht auf Mathematik und
Logik anwendbar. Erst spät haben ihn Imre Lakatos’ Arbeiten vom
Gegenteil überzeugt – Lakatos war also in dieser Hinsicht mehr
Popperianer als Popper selbst. Über Kunst hat Popper wenig publiziert,
obwohl ihm besonders Musik sehr viel bedeutet und er seine
fruchtbaren Gedanken zur Problemlösung gerade im Zusammenhang
mit seinen frühen musikhistorischen Studien entwickeln konnte. Und
doch stellt Ernst Gombrich in Kunst und Illusion die Geschichte der
bildenden Künste ganz im Sinne Poppers als „eine allmähliche
Modifizierung der überkommenen schematischen Konventionen des
Bildermachens unter dem Druck neuer Anforderungen“ dar. Eine
derartige Betrachtung ist bei praktisch allen organischen
Entwicklungsprozessen (im wörtlichen oder im übertragenen Sinne)
möglich und bei allen Lernvorgängen, sogar bei dem Vorgang, durch
den Menschen einander kennenlernen. Der Psychiater Anthony Storr
kam, ohne daß er Popper gelesen hatte, zu folgendem Schluß: „Wenn
wir einem bislang unbekannten Menschen gegenüberstehen, dann
bringen wir in die neue Situation Vorurteile aus der Vergangenheit und
unsere früheren Erfahrungen mit Menschen ein. Wir projizieren diese
Vorurteile auf den Unbekannten. Einen Menschen kennenzulernen, das
ist tatsächlich weitgehend eines Frage des Rückgängigmachens solcher
Projektionen: Wir zerreißen den Nebel unserer Vorstellungen und
sehen den Menschen so, wie er wirklich ist.“

2

Übernimmt man diesen Denkansatz, so bleibt das natürlich nicht

ohne Folgen. Die wichtigste Konsequenz ist, daß sich unser Interesse

2

The Observer Magazine, 12.7.1970

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Bryan Magee – Karl Popper

72

auf Probleme konzentriert und daß wir dabei auch die Anstrengungen
anderer zu schätzen wissen. Eine Aufgabe beginnt nicht mit dem
Versuch, ein Problem zu lösen – der Lösungsvorschlag ist der zweite
Bestandteil der Formel, nicht der erste. Eine Aufgabe beginnt mit dem
Problem selbst und mit den Gründen dafür, daß es sich um ein
Problem handelt. Wer so vorgeht, lernt, hart und ausdauernd an der
Formulierung von Problemen zu arbeiten und erst dann sein Augenmerk
auf die Suche nach möglichen Lösungen zu verlagern. Das Problem
wird oft desto besser gelöst, je besser es formuliert ist. Wenn man
beispielsweise die Werke eines Philosophen studiert, dann sollte die
erste Frage lauten: ,Was für ein Problem versucht er zu lösen?’ Das mag
selbstverständlich klingen, aber meiner Erfahrung nach werden die
meisten Philosophiestudenten nicht dazu angehalten, diese Frage zu
stellen, und von selbst kommen sie nicht darauf. Stattdessen fragen sie:
,Was versucht er zu sagen?’ Sie haben daher gewöhnlich den Eindruck,
zu verstehen, was der Philosoph sagt, sehen aber nicht, worum es ihm
eigentlich geht. Denn das kann nur, wer sich in die betreffende
Problemsituation versetzt.

Eine andere Konsequenz ist für Poppers gesamte Philosophie von

grundlegender Bedeutung, und wer von Popper beeinflußt ist, neigt
dazu, die Dinge im Lichte dieser Konsequenz zu sehen: Es ist die
Erkenntnis, daß komplexe Strukturen – zum Beispiel geistige,
künstlerische, soziale, administrative – nur allmählich geschaffen und
geändert werden können, durch einen Rückkopplungsprozeß, der von
Kritik getragen ist und in dem laufend Anpassungen stattfinden. Die
Vorstellung, daß sich solche Strukturen auf einen Schlag, wie nach Plan,
schaffen oder umbauen lassen, ist und bleibt eine Illusion. Die
evolutionäre Sicht führt unter anderem zwangsläufig dazu, daß man die
Entwicklungen im Zeitablauf verfolgt. Man sieht dann beispielsweise in
der Geschichte der Wissenschaft oder der Philosophie nicht einen
Bericht über die Irrtümer der Vergangenheit, sondern eine nicht
abreißende Diskussion, eine Kette von miteinander verflochtenen

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Bryan Magee – Karl Popper

73

Problemen und dazugehörigen Lösungen, die wir jetzt, wenn wir Glück
haben, fortführen dürfen. Bekanntlich haben sich Positivisten und
Sprachphilosophen im allgemeinen wenig um die Geschichte ihres
Faches gekümmert. Wer sich aber Poppers Haltung zu eigen macht,
entwickelt ein Gespür dafür, daß er persönlich an der Geistesgeschichte
Anteil nimmt. (So erklärt es sich, daß Popper, ein mit der modernen
Physik vertrauter Wissenschaftstheoretiker, auch ein Gelehrter aus
Leidenschaft ist.)

Eine persönliche Konsequenz für den, der immer von Problemen

ausgeht, die wirklich Probleme sind – Probleme, die sich ihm
tatsächlich stellen und mit denen er gerungen hat – ist, daß er sich
seiner Arbeit existentiell verpflichtet fühlt und daß die Arbeit, wie die
Existentialisten sagen, ,Authentizität’ erlangt. Sie ist nicht nur von
intellektuellem Interesse, sondern wird mit emotionaler Anteilnahme
vollzogen und befriedigt ein tief empfundenes Bedürfnis. Eine weitere
Konsequenz ist die Gleichgültigkeit gegenüber gebräuchlichen
Abgrenzungen zwischen den Fachgebieten: Es kommt allein darauf an,
daß man ein interessantes Problem hat und sich aufrichtig um seine
Lösung bemüht.

Poppers Philosophie – objektiv betrachtet und vom Verhalten eines

Einzelnen, sogar vom Verhalten Poppers, wohl unterschieden – ist
denkbar undogmatisch. Sie mißt der Kühnheit der Phantasie den
größten Stellenwert bei, und sie besagt, daß wir nie etwas tatsächlich
wissen – daß wir jeder Situation und jedem Problem gegenüber eine
Einstellung bewahren sollen, bei der stets noch Raum für
unvorhersehbare Beiträge bleibt und die immer auch die Möglichkeit
offenläßt, das gedankliche Schema, mit dem (oder sogar: innerhalb
dessen) wir arbeiten, radikal umzuwandeln. Diese Philosophie ist völlig
unvereinbar mit allen Auffassungen, denen zufolge Wissenschaft und
Rationalität Leidenschaft, Phantasie oder schöpferische Intuition
ausschließen. Sie verwirft die Vorstellung, daß wir durch die
Wissenschaft sicheres Wissen erhalten und daß sie uns eines Tages

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Bryan Magee – Karl Popper

74

sogar endgültige Antworten auf unsere berechtigten Fragen liefern
könnte, als ,Szientismus’. Die heute so weitverbreitete Enttäuschung
über die Wissenschaft und die Vernunft beruht zum großen Teil gerade
auf solchen verfehlten Vorstellungen von Wissenschaft und Vernunft
und geht insofern an Poppers Philosophie vorbei. Wenn Popper recht
hat, dann gibt es nicht zwei Kulturen – eine wissenschaftliche und eine
ästhetische oder eine rationale und eine irrationale – sondern nur eine.
Der Wissenschaftler und der Künstler gehen keinesfalls einander
entgegengesetzten oder unvereinbaren Tätigkeiten nach, sondern beide
versuchen, einen Beitrag zum vertieften Verständnis unserer
Erfahrungen zu leisten – mit Hilfe schöpferischer Vorstellungskraft, die
einer kritischen Kontrolle unterworfen ist. Beide machen also von
rationalen und von irrationalen Fähigkeiten Gebrauch. Beide erforschen
das Unbekannte und versuchen, der Suche und ihren Ergebnissen
Ausdruck zu verleihen. Beide streben nach Wahrheit und können dabei
die Intuition nicht entbehren.

Wenn wir aber dadurch lernen, wachsen und uns entwickeln, daß wir

Erwartungen der Prüfung durch die Erfahrung unterwerfen, Konflikte
anerkennen und ständig für uns fruchtbar machen (und selbst wenn
Lernen, Wachstum und Entwicklung auf rein gedanklicher Ebene
mittels Kontrolle und Korrektur von mehr oder weniger kühnen
Spekulationen durch mehr oder weniger strenge Kritik vor sich gehen)
– dann folgt daraus, daß wir niemals einen völlig neuen Anfang machen
können. Selbst wenn es einem Menschen möglich wäre, ganz von vorn
zu beginnen, dann würde er bis zu seinem Tode nicht weiter kommen
als der Neandertaler. Das sind Tatsachen, denen viele radikal oder
unabhängig Gesinnte gar nicht gern ins Auge sehen. Bevor wir uns als
Individuen überhaupt unserer Existenz bewußt werden, sind wir bereits
beträchtliche Zeit (schon im Mutterleib) tiefgreifend durch unsere
Beziehungen zu anderen Menschen beeinflußt, die ihrerseits eine
komplizierte Geschichte aufzuweisen haben und (an einem bestimmten
Ort und zu einer bestimmten Zeit) einer Gesellschaft angehören, die

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Bryan Magee – Karl Popper

75

auf eine noch weit kompliziertere und längere Geschichte zurückblickt.
Und wenn wir dann in der Lage sind, eine bewußte Wahl zu treffen,
dann bedienen wir uns bereits der Kategorien einer Sprache, die sich
über zahllose Generationen hinweg bis zum jetzigen Stand entwickelt
hat. Popper sagt nicht (aber er könnte es gesagt haben), daß unsere
eigene Existenz das Ergebnis einer sozialen Handlung zweier anderer
Menschen ist, die wir weder auswählen noch ablehnen konnten und
deren genetisches Erbe in unserem Körper und in unserer
Persönlichkeit verankert ist. Wir sind im Innersten unseres Wesens
soziale Geschöpfe. Die Vorstellung, daß man irgend etwas ganz am
Nullpunkt beginnen könnte, frei von der Vergangenheit und ohne
Verpflichtung gegenüber anderen, ist völlig verfehlt.

Diese Wahrheit gilt für geistige und künstlerische Tätigkeiten aller

Art. Die bloße Fähigkeit, eine Fläche mit Zeichen zu versehen oder
Geräusche zu erzeugen, um etwas auszudrücken, etwas mitzuteilen oder
um jemandem eine Freude zu bereiten, ist das Produkt einer
unvorstellbar langen Evolution; und Künstler, die sich einbilden, daß
sie zum Ursprung zurückkehren, führen, was immer sie auch tun, eine
bereits weit fortgeschrittene Entwicklung weiter und stehen auf den
Schultern von unzähligen Generationen. Bei allem, was wir sind, und
bei allem, was wir tun, haben wir die gesamte Vergangenheit geerbt, und
wir können uns auf keine Weise von ihr befreien, so sehr das auch
unser Wunsch sein mag. Die Tradition erhält auf diese Weise eine
Bedeutung, der wir uns nicht entziehen können. Wir müssen von der
Tradition ausgehen, und sei es auch nur, indem wir uns gegen sie
auflehnen. Üblicherweise kommen wir dadurch voran, daß wir die
Tradition kritisieren und einen Wandel zustandebringen: Wir machen
uns die Tradition zunutze, wir verwenden sie als Vehikel. In der
Wissenschaft wie in der Kunst haben wir es im Grunde mit der
gleichen Situation zu tun. „All das heißt, daß ein junger Wissenschaftler,
der Entdeckungen machen möchte, schlecht beraten ist, wenn sein
Lehrer ihm sagt: ,Schau dich um und beobachte’, und daß er gut

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Bryan Magee – Karl Popper

76

beraten ist, wenn der Lehrer ihm sagt: ,Versuche herauszufinden, was
heutzutage in der Wissenschaft diskutiert wird. Finde heraus, wo die
Schwierigkeiten liegen, und interessiere dich dafür, worüber Uneinigkeit
herrscht. Dies sind die Fragen, mit denen du dich befassen solltest.’ Mit
anderen Worten: Untersuche die heute vorliegende Problemsituation. Dies
bedeutet, daß man eine Forschungslinie aufgreift und fortzuführen
versucht, die den ganzen Hintergrund der früheren Entwicklung der
Wissenschaft im Rücken hat; man reiht sich in die Tradition der
Wissenschaft ein. ... Hinsichtlich der Ziele, die wir als Wissenschaftler
erreichen wollen – Verstehen, Voraussage, Analyse, usw. –, ist die Welt,
in der wir leben, äußerst komplex. Ich wäre versucht zu sagen, daß sie
unendlich komplex ist, wenn dieser Ausdruck überhaupt einen Sinn
hätte. Wir wissen nicht, wo oder wie wir mit der Analyse dieser Welt
beginnen sollen. Es gibt keine Weisheit, die uns das sagen könnte.
Selbst die wissenschaftliche Tradition sagt es uns nicht. Sie sagt uns
bloß, wo und wie andere Menschen begonnen haben und wohin sie
gelangt sind.“

3

Die Tatsache, daß die Entwicklung in diesem oder jenem Bereich

einer Wissenschaft, eines Fachgebiets, einer Kunst (oder einer
Gesellschaft oder einer Sprache) bis zu diesem oder jenem Stand
gediehen ist, stellt für jeden Einzelnen, der die Szene betritt, eine
objektive Tatsache dar; und jede Kritik, jeder Änderungswunsch, jede
Problemlösung, die der Einzelne vorbringen kann, muß sprachlich
formuliert sein, bevor man sie prüfen oder überhaupt nur diskutieren
kann; deshalb wird jeder entsprechende Vorschlag zu einem objektiven
Vorschlag. Man kann über ihn diskutieren, ihn angreifen oder
verteidigen oder von ihm Gebrauch machen – ohne Rücksicht darauf,
von wem der Vorschlag stammt. Genau das geschieht mit interessanten
Gedanken fast dauernd. Dadurch wird die enorme Bedeutung der
Objektivierung unserer Gedanken in der Sprache, im Verhalten oder in

3

Vermutungen und Widerlegungen, Kap. 4

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Bryan Magee – Karl Popper

77

Kunstwerken unterstrichen. Solange die Gedanken nur in unserem
Kopf vorhanden sind, lassen sie sich kaum kritisieren. Schon ihre
Bekanntgabe bringt gewöhnlich einen Fortschritt mit sich. Und die
Gültigkeit jedes einschlägigen Arguments ist wiederum eine objektive
Angelegenheit: Sie hängt nicht davon ab, wie viele bereit sind, das
Argument zu akzeptieren. Auch wenn eine Theorie wissenschaftlich ist
und von ihrem Urheber strengstens getestet wurde, pflegt die
wissenschaftliche Welt sie erst dann zu übernehmen, wenn andere
durch Experimente und Beobachtungen zum gleichen Ergebnis gelangt
sind. Die Aussage ,Ich weiß’, als Aussage über mich selbst betrachtet,
drückt meine Bereitschaft aus, bestimmte Dinge zu tun, zu sagen und
zu glauben, und sie nimmt dafür auch Geltung in Anspruch; aber all das
ist kein Wissen im objektiven Sinne: Niemand wird meinen ungeprüften
Behauptungen den Status des Wissens zubilligen (es sei denn, das
Wissen hat etwas in meinem eigenen Bewußtsein zum Gegenstand,
etwa wenn ich die Fragen des Optikers beantworte oder dem Arzt sage,
wo es weh tut – und selbst diese unmittelbaren Berichte über unseren
eigenen derzeitigen Bewußtseinszustand sind nicht immer genau, wie
jeder Arzt aus Erfahrung weiß). Bei der wissenschaftlichen Arbeit
nehmen wir also sogar unsere eigenen Beobachtungen nicht als sicher
hin, wir akzeptieren sie nicht einmal als wissenschaftliche
Beobachtungen, bevor wir sie nicht wiederholt und getestet haben.
Wissen ist, so gesehen, etwas Objektives. Es gehört dem öffentlichen
Bereich an (der Welt 3), nicht dem subjektiven Denken von Einzelnen
(der Welt 2).

Das menschliche Wissen ist zum größten Teil überhaupt kein

,Wissen’ im privaten, individuellen Sinne. Er existiert ausschließlich auf
dem Papier. Der Tisch, an dem ich schreibe, ist von Regalen mit
Nachschlagewerken umgeben. Nehmen wir eines, das Popper in diesem
Zusammenhang selbst als Beispiel herangezogen hat – ein Buch mit
Logarithmentafeln. Es handelt sich hier um überaus nützliches Wissen,
das die Konstrukteure von Gebäuden, Brücken, Straßen, Flugzeugen,

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Bryan Magee – Karl Popper

78

Maschinen und von tausend anderen Dingen in aller Welt täglich aktiv
nutzen. Aber ich bezweifle, daß es einen Menschen gibt, der die Zahlen
in dem Buch ,weiß’ – nicht einmal der ,weiß’ sie, der das Buch
zusammengestellt hat (vielleicht wurde diese Arbeit sogar einem
Computer übertragen). Das gilt für Aufzeichnungen aller Art. Sogar der
Gelehrte, der sein Leben der Abfassung seiner wissenschaftlichen
Abhandlungen widmet, fertigt (normalerweise ausgiebige) Exzerpte aus
allen möglichen Dokumenten, Büchern, Nachschlagewerken usw. an
und erstellt seine Bücher anhand seiner Notizen: Er ,weiß’ nicht einmal
alles (im Sinne von Welt 2), was in seinen eigenen Büchern steht. Er
kann nicht die ganzen Statistiken, Tabellen, Daten, Belege usw.
herunterrasseln; er kann nicht alle Zitate wortwörtlich wiedergeben.
Entscheidend ist: Er kann seine eigenen Bücher nicht aufsagen – sie sind auf
dem Papier gespeichert, nicht in seinem Kopf. Die Bibliotheken,
Dokumentationen und Archive der Menschheit enthalten Material aus
Welt 3, das meist ebenfalls nicht im Kopf irgendwelcher Menschen
vorhanden ist, aber trotzdem ein mehr oder weniger wertvolles und
nützliches Wissen darstellt. Es macht tatsächlich den größten Teil
unseres Wissens aus. Sein Status als Wissen, sein Wert und sein Nutzen
hängen nicht davon ab, ob es jemanden gibt, der es im subjektiven
Sinne ,weiß’. Wissen im objektiven Sinne ist Wissen ohne einen
Wissenden – es ist Wissen ohne wissendes Subjekt.

Von diesem Standpunkt aus greift Popper die orthodoxe

Erkenntnistheorie an. „Die herkömmliche Erkenntnistheorie hat sich
mit der Erkenntnis oder dem Denken in einem subjektiven Sinne
beschäftigt – im gewöhnlichen Sinne der Ausdrücke ,ich erkenne’ oder
,ich denke nach’. Das, so behaupte ich, hat die Erkenntnistheoretiker in
Irrelevantes verwickelt: Sie wollten die wissenschaftliche Erkenntnis
untersuchen, doch tatsächlich beschäftigten sie sich mit etwas, was für
die wissenschaftliche Erkenntnis ohne Bedeutung ist. Denn
wissenschaftliche Erkenntnis ist gar nicht die Erkenntnis im gewöhnlichen
Sinne von ,ich erkenne’. ... Die herkömmliche Erkenntnistheorie, die

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Bryan Magee – Karl Popper

79

von Locke, Berkeley, Hume, ja auch von Russell, ist irrelevant in einem
mehr oder weniger genauen Sinne des Wortes. Daraus ergibt sich, daß
ein großer Teil der gegenwärtigen Erkenntnistheorie ebenfalls irrelevant
ist. Dazu gehört die moderne ,epistemische’ Logik, falls wir ihr
unterstellen, sie ziele auf eine Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis.
Jeder epistemische Logiker kann sich aber leicht völlig gegen meine
Kritik immunisieren, indem er einfach erklärt, er wolle nichts zur Theorie
der wissenschaftlichen Erkenntnis
beitragen.“

4

Im Vorwort zu Objektive Erkenntnis sagt Popper: „Die Aufsätze in

diesem Buch brechen mit dieser Tradition, die sich bis zu Aristoteles
zurückverfolgen läßt: mit der Tradition des rein subjektiv gedeuteten
Wissens, des Wissens als eines Zustandes unseres Bewußtseins. Leider
bedeutet das auch einen Bruch mit der Tradition der Erkenntnistheorie
des Alltagsverstandes oder des gesunden Menschenverstandes. Ich bin
ein großer Bewunderer des Alltagsverstandes. Dieser ist, denke ich,
wesentlich selbstkritisch und kann sich neu orientieren. Den Realismus
des Alltagsverstandes, den ich für eine wichtige Wahrheit halte, würde
ich bis zum letzten verteidigen; doch die Erkenntnistheorie des
Alltagsverstandes
halte ich für einen subjektivistischen Irrtum, der
verbessert werden muß. Dieser Subjektivismus hat die westliche
Philosophie beherrscht. Ich habe versucht, ihn auszumerzen und durch
eine Theorie des objektiven Wissens zu ersetzen: des objektiven
Vermutungswissens. Das ist vielleicht ein allzu kühnes Unterfangen,
braucht aber wohl keine Entschuldigung.“

5

4

Objektive Erkenntnis, S. 111 f.

5

Objektive Erkenntnis, S. 11

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Bryan Magee – Karl Popper

80

6. Die offene Gesellschaft

Die Ansichten, in denen die meisten großen politischen Philosophien
von Platon bis Marx wurzeln, erstrecken sich nicht nur auf soziale und
historische Entwicklungen, sondern auch auf Logik und Wissenschaft
und letztlich auf die Erkenntnistheorie. Der Leser, der mir bis hierher
gefolgt ist, sieht jetzt, daß Popper keine Ausnahme bildet. Weil das
Leben für Popper in erster Linie ein Problemlösungsprozeß ist, bejaht
er Gesellschaften, die die Lösung von Problemen fördern. Und weil für
die Lösung von Problemen kühne Lösungsvorschläge eingebracht und
dann der Kritik und Fehlereliminierung unterworfen werden müssen,
bejaht er Gesellschaftsformen, die es uneingeschränkt zulassen, daß
verschiedenste Vorschläge unterbreitet und anschließend kritisiert
werden, und in denen dann tatsächlich Veränderungen im Lichte der
Kritik möglich sind. Popper glaubt (und es ist äußerst wichtig, sich das
klarzumachen), daß eine derart organisierte Gesellschaft ihre Probleme
wirksamer löst und deshalb die Ziele ihrer Mitglieder erfolgreicher
verwirklicht als eine anders organisierte – von allen moralischen
Überlegungen einmal ganz abgesehen. Die weitverbreitete Vorstellung,
zumindest in der Theorie sei eine Art Diktatur die leistungsfähigste
Gesellschaftsform, ist aus dieser Sicht völlig verfehlt. Bei dem guten
Dutzend Ländern mit dem höchsten Lebensstandard (natürlich ist das
nicht Poppers Hauptkriterium) handelt es sich durchweg um liberale
Demokratien – und zwar nicht deshalb, weil die Demokratie ein Luxus
ist, den sich diese Länder aufgrund ihres Reichtums leisten können. Im
Gegenteil: Die Massen lebten dort in Armut, als sie das allgemeine
Wahlrecht erlangten; die Kausalbeziehung verläuft also genau
umgekehrt. Bei der Schaffung und Erhaltung eines hohen
Lebensstandards hat die Demokratie eine maßgebliche Rolle gespielt.
Eine Gesellschaft mit freien Institutionen ist – nicht nur in materieller
Hinsicht – zwangsläufig erfolgreicher als eine Gesellschaft ohne freie

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Bryan Magee – Karl Popper

81

Institutionen. Bei allen politischen Maßnahmen der Regierung, bei allen
Entscheidungen der Exekutive und der Administration, spielen
empirische Vorhersagen eine Rolle: ,Wenn wir X tun, dann ist Y die
Folge; wenn wir andererseits B erreichen wollen, dann müssen wir A
tun’. Bekanntlich erweisen sich derartige Vorhersagen nicht selten als
falsch (wir alle machen Fehler), und es ist normal, daß man sie
modifizieren muß, wenn man weiter mit ihnen arbeiten will. Eine
politische Maßnahme ist eine Hypothese, die an der Realität überprüft
und im Lichte der Erfahrung korrigiert werden muß. Es ist durchweg
rationaler und spart im allgemein Ressourcen, Nerven und Zeit, wenn
man Fehler und Gefahrenquellen durch kritische Diskussion vorher
aufdeckt, anstatt zu warten, bis sie in der Praxis zutage treten.
Außerdem lassen sich manche Fehler oft erst durch kritische Prüfung
der praktischen Ergebnisse von Maßnahmen (nicht schon durch
Prüfung der Maßnahmen selbst) aufdecken. Denn in diesem
Zusammenhang muß man unbedingt der simplen Tatsache ins Auge
sehen, daß wohl jede unserer Handlungen unbeabsichtigte
Konsequenzen hat. Daraus ergeben sich weitreichende Folgerungen für
die Politik, für die Verwaltung und für jede Form der Planung. Beispiele
sind leicht anzuführen. Wenn ich mir ein Haus kaufen will, dann steigt
der Preis tendenziell schon dadurch, daß ich als Käufer am Markt
auftrete. Das ist eine direkte Folge meines Handelns, aber niemand
wird behaupten wollen, daß sie beabsichtigt ist. Und wenn ich dann bei
der Aufnahme einer Hypothek eine Versicherung abschließe, dann
steigen tendenziell die Aktien der Versicherungsgesellschaft, und auch
diese direkte Folge meines Handelns hat nichts mit meinen Absichten
zu tun.

1

Dauernd geschehen Dinge, die niemand will und die niemand

geplant hat. Diese unumstößliche Tatsache sollte bei Entscheidungen
und bei der Schaffung von Organisationsstrukturen berücksichtigt
werden; unterbleibt das, so kommt es laufend zu Verzerrungen. Hier

1

Siehe S. 116 und S. 119

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Bryan Magee – Karl Popper

82

zeigt sich wieder, welche Bedeutung der kritischen Wachsamkeit und
der Möglichkeit, Maßnahmen durch Fehlerelimination zu korrigieren, in
der politischen Praxis zukommt. Eine Obrigkeit, die es nicht zuläßt, daß
ihre Maßnahmen vorher kritisch geprüft werden, verurteilt sich also
nicht nur dazu, viele ihrer Fehler teurer zu bezahlen und sie später zu
entdecken, als es nötig wäre; üblicherweise verbietet sie es auch, die
praktische Anwendung ihrer Maßnahmen kritisch zu prüfen, und damit
verurteilt sie sich dazu, Fehler selbst dann noch eine Weile
mitzuschleppen, wenn sich die unbeabsichtigten schädlichen Konse-
quenzen bereits eingestellt haben. Diese ganze Haltung, die kenn-
zeichnend ist für streng autoritäre Strukturen, ist vernunftwidrig. Sie hat
zur Folge, daß die starren Strukturen mit ihren falschen Theorien
untergehen oder bestenfalls (wenn die Führung Glück hat und
rücksichtslos ist) verknöchern und daß sich die weniger starren mühe-
voll, kostspielig und unnötig langsam weiterentwickeln.

Es genügt nicht, daß jemand, der über Macht verfügt (sei es in der

Regierung oder in einer weniger bedeutenden Organisation), seine
Politik, im Sinne von Absichten und Zielen, möglichst klar formuliert.
Ihm müssen auch die Mittel zu Gebote stehen, seine Ziele zu erreichen.
Wenn die Mittel fehlen, dann müssen sie geschaffen werden,
andernfalls bleiben die Ziele unerreichbar, so gut sie auch sein mögen.
Organisationen und Institutionen aller Art sind, so gesehen, Maschinen
für die Durchführung von Politik. Und es ist bei einer Organisation
genauso schwer wie bei einer physikalischen Maschine, sie so zu
konstruieren, daß sie die gewünschte Leistung erbringt. Wenn ein
Ingenieur eine neue Maschine nicht zweckgerecht konstruiert oder
wenn er eine bereits vorhandene umbaut, ohne alle notwendigen
Änderungen vorzunehmen, dann kommt dabei unmöglich das heraus,
was der Ingenieur will, sondern nur das, was die Maschine eben hergibt
– und das kann höchst mangelhaft oder sogar gefährlich sein. Für die
Organisationsmaschinerie gilt weitgehend das gleiche: Sie ist nicht in
der Lage, das zu leisten, was ihre Betreiber von ihr fordern, unabhängig

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Bryan Magee – Karl Popper

83

davon, wie klug die Betreiber und wie gut und wohl formuliert ihre
Ziele und Absichten sind. Wir brauchen deshalb eine politische (oder
Verwaltungs-)Technologie und eine politische (oder Verwaltungs-)Wis-
senschaft, die gegenüber organisatorischen Mitteln im Hinblick auf sich
ändernde Ziele eine stets kritische, aber konstruktive Haltung
einnimmt. Jede Politik muß in ihrer Durchführung überprüft werden,
und dabei ist nicht nur nach Anzeichen dafür zu suchen, daß die
Anstrengungen die erwünschten Wirkungen zeigen, sondern auch nach
Anzeichen für das Gegenteil. Eine derartige Überprüfung läßt sich in
der Praxis gewöhnlich leicht und mit geringen Kosten durchführen,
schon deshalb, weil akribische Genauigkeit selten erforderlich ist. Im
britischen Hochschulwesen gibt es bereits mindestens einen Fach-
bereich, der sich dem Studium der Institutionen im Sinne Poppers
widmet (er wurde von Tyrrell Burgess am North East London
Polytechnic eingerichtet), und die dort erzielten Ergebnisse sind einfach
und von großem potentiellem Nutzen. Schließlich verschlingt eine
verfehlte Politik oft gewaltige Summen und Anstrengungen, während
man gleichzeitig mit wenig Geld und Mühe feststellen könnte, ob diese
Politik zu unerwünschten Resultaten führt. Die Mitglieder von
Organisationen verschließen aber gern die Augen vor Anzeichen dafür,
daß sich ihre Vorstellungen nicht verwirklichen, während sie doch
gerade nach solchen Anzeichen Ausschau halten sollten. Und natürlich
tut man sich in autoritären Strukturen besonders schwer damit, dauernd
Fehler zu suchen und zuzugeben, und seien es auch nur
organisatorische Fehler. So kommt es, daß sich die Irrationalität
derartiger Strukturen sogar auf die Instrumente erstreckt, von denen sie
Gebrauch machen.

Poppers moralische Ansichten über politische Fragen wurden,

allerdings wohl weniger leidenschaftlich, auch von anderen zum
Ausdruck gebracht. Was Popper hier zu sagen hat, bewegt den Leser
tief, aber besonders kennzeichnend für Popper sind der Reichtum und
die Kraft der Argumente, mit denen er zeigt, daß das Herz die Vernunft

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Bryan Magee – Karl Popper

84

auf seiner Seite hat. Denn der Glaube, daß Rationalität, Logik und
wissenschaftliches Denken nach einer zentral als Ganzes organisierten,
geplanten und geleiteten Gesellschaft verlangen, ist weit verbreitet – in
unserem Jahrhundert weiter als je zuvor. Popper hat gezeigt, daß diese
Vorstellung nicht nur autoritär ist, sondern auf einem verfehlten und
überholten Wissenschaftsbegriff beruht. Gerade Rationalität, Logik und
wissenschaftliches Denken weisen auf eine Gesellschaft hin, die ,offen’
und pluralistisch ist, in der unvereinbare Ansichten zum Ausdruck
gebracht und gegensätzliche Ziele verfolgt werden; auf eine Gesell-
schaft, in der es jedem freisteht, Problemsituationen zu untersuchen
und Lösungen vorzuschlagen; auf eine Gesellschaft, in der es jedem
freisteht, die Lösungsvorschläge anderer, besonders die der Regierung,
während der Planung oder während der Ausführung zu kritisieren; und
vor allem auf eine Gesellschaft, in der sich die Politik der Regierung im
Lichte der Kritik ändert.

Gewöhnlich wird eine Politik von Menschen vertreten und durch-

gesetzt, die in der einen oder anderen Weise auf eben diese Politik
festgelegt sind. Deshalb bringen politische Änderungen von einer be-
stimmten Größenordnung an personelle Änderungen mit sich. Die
wichtigsten Voraussetzung für die Verwirklichung einer offenen Gesell-
schaft ist also, daß die Regierenden in angemessenen Zeitabständen und
gewaltfrei abgelöst und durch Vertreter einer anderen Politik ersetzt
werden können. Und damit diese Möglichkeit nicht nur auf dem Papier
steht, muß es Menschen, die eine andere Politik vertreten als die
Regierung, freistehen, sich als Alternative zur Regierung zu
konstituieren und sich für die Übernahme der Regierungsgewalt
bereitzuhalten. Das heißt, daß es ihnen möglich sein muß, zum Zweck
der Kritik an den Regierenden zu reden, zu schreiben, zu lehren, die
Medien zu nutzen und sich zu organisieren und daß sie eine
verfassungsmäßig garantierte Möglichkeit haben müssen, die
Regierenden zu ersetzen, zum Beispiel durch regelmäßig abgehaltene
freie Wahlen.

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Bryan Magee – Karl Popper

85

Eine derartige Gesellschaft ist für Popper eine ,Demokratie’; auf das

Wort würde er allerdings, wie immer, keinen besonderen Wert legen.
Entscheidend ist, daß für Popper die Demokratie in der Bewahrung
bestimmter Institutionen besteht (man pflegte sie ,freie Institutionen’
zu nennen, bis die amerikanische Propaganda im Kalten Krieg diesen
Ausdruck in Mißkredit brachte), vor allem derjenigen, die es den
Regierten ermöglichen, die Regierenden wirksam zu kritisieren und
ohne Blutvergießen auszuwechseln. Demokratie besteht für Popper
nicht lediglich darin, daß Regierungen durch eine Mehrheit der
Regierten gewählt werden, denn diese Sicht führt zum ,Paradox der
Demokratie’, wie er es nennt. Was soll man davon halten, wenn die
Mehrheit für eine Partei stimmt – zum Beispiel für eine faschistische
oder kommunistische Partei – die mit freien Institutionen nichts im
Sinne hat und sie fast immer zerstört, wenn sie erst einmal die Macht
erlangt hat? Wer darauf festgelegt ist, daß die Regierung durch
Mehrheitsvotum gewählt wird, sieht sich hier in einem unlösbaren
Dilemma: Jeder Versuch, die Faschisten oder die Kommunisten an der
Machtübernahme zu hindern, verstößt gegen seine Prinzipien – wenn
derartige Parteien aber an die Macht kommen, dann schaffen sie die
Demokratie ab. Außerdem ist ihm die moralische Basis für den aktiven
Widerstand etwa gegen ein faschistisches System entzogen, wenn,
woran in Deutschland nicht viel gefehlt hat, eine Mehrheit für dieses
System stimmt. Poppers Denken vermeidet dieses Paradox. Wer auf die
Bewahrung freier Institutionen festgelegt ist, kann sie gegen Angriffe
aus jeder Richtung verteidigen (ob sie nun von Minderheiten oder von
Mehrheiten kommen), ohne daß er sich dabei in Widersprüche
verwickelt. Und er widerspricht sich auch nicht selbst, wenn er einem
Versuch, freie Institutionen durch Waffengewalt zu beseitigen, mit
gleichen Mitteln entgegentritt. Wenn nämlich in einer Gesellschaft, in
der ein friedlicher Regierungswechsel möglich ist, trotzdem eine
Gruppe zur Gewalt greift, weil sie sich anders nicht durchsetzen kann,
dann ist sie (was immer auch ihre Gedanken und Absichten sein

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Bryan Magee – Karl Popper

86

mögen) dabei, gewaltsam eine Regierung zu errichten, deren
Beseitigung nur gewaltsam möglich ist – mit anderen Worten: eine
Tyrannis. In der Tat kann Gewalt gegen ein Regime, das sich auf
Gewalt stützt, moralisch gerechtfertigt sein, wenn sie die Errichtung
freier Institutionen zum Ziel (und eine reelle Aussicht auf Erfolg) hat,
denn sie ist von der Absicht getragen, die Herrschaft der Gewalt durch
eine Herrschaft der Vernunft und der Toleranz zu ersetzen.

Popper führt andere Paradoxa an, die er mit seiner Haltung

vermeidet. Bereits erwähnt wurde das ,Paradox der Toleranz’: Wenn
eine Gesellschaft schrankenlos tolerant ist, dann wird sie wahrscheinlich
zerstört, und die Toleranz mit ihr. Eine tolerante Gesellschaft muß also
unter bestimmten Umständen bereit sein, die Feinde der Toleranz zu
unterdrücken – natürlich nur, wenn sie wirklich eine Gefahr darstellen,
denn sonst kommt es leicht zu einer Hexenjagd. Und man sollte ihnen
zunächst auf der Ebene rationaler Argumentation begegnen und dabei
alle Möglichkeiten ausschöpfen. Aber die Feinde der Toleranz können
„beginnen, das Argumentieren als solches zu verwerfen; sie können
ihren Anhängern verbieten, auf rationale Argumente – die sie ein
Täuschungsmanöver nennen – zu hören, und sie werden ihnen
vielleicht den Rat geben, Argumente mit Fäusten und Pistolen zu
beantworten“; und eine tolerante Gesellschaft kann nur dann
überleben, wenn sie in letzter Konsequenz bereit ist, solche Leute durch
Gewalt im Zaum zu halten. „Wir sollten eine Aufforderung zur
Intoleranz und Verfolgung als ebenso verbrecherisch behandeln wie
eine Aufforderung zum Mord, zum Raub oder zur Wiedereinführung
des Sklavenhandels.“

2

Ein anderes, vertrauteres Paradox, das implizit zuerst von Platon

formuliert wurde, ist das ,Paradox der Freiheit’. Grenzenlose Freiheit
zerstört sich – genau wie grenzenlose Toleranz – nicht nur selbst,
sondern führt zwangsläufig zu ihrem Gegenteil. Denn wenn alle

2

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I, S. 359

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Bryan Magee – Karl Popper

87

Einschränkungen wegfielen, dann könnte nichts mehr die Starken
davon abhalten, die Schwachen (oder die Sanftmütigen) zu versklaven.
Völlige Freiheit würde also das Ende der Freiheit bedeuten, und
deshalb sind Befürworter einer völligen Freiheit eigentlich – was immer
ihre Absichten auch sein mögen – Feinde der Freiheit. Popper weist
insbesondere auf das Paradox der ökonomischen Freiheit hin: Sie
ermöglicht die uneingeschränkte Ausbeutung der Armen durch die
Reichen und führt dazu, daß die Armen ihre ökonomische Freiheit fast
vollständig verlieren. Auch hier muß es ein Heilmittel geben, ein
politisches Heilmittel – „ähnlich jenem, das wir gegen den Gebrauch
physischer Gewalt verwenden. Wir müssen soziale Institutionen
konstruieren, die die wirtschaftlich Schwachen vor den wirtschaftlich
Starken schützen, und die Staatsgewalt muß diesen Institutionen zur
Wirksamkeit verhelfen. ... Das bedeutet natürlich, daß das Prinzip der
Nichtintervention, eines unbeschränkten ökonomischen Systems,
aufgegeben werden muß; wenn wir die Freiheit sicherstellen wollen,
dann müssen wir fordern, daß die Politik schrankenloser ökonomischer
Freiheit durch die geplante ökonomische Intervention des Staates
ersetzt werde. Wir müssen fordern, daß der schrankenlose Kapitalismus
einem ökonomischen Interventionismus weiche.“

3

Und Popper zeigt dann,

daß sich prinzipielle Gegner des Staatsinterventionismus selbst
widersprechen. „Welche Freiheit soll der Staat schützen? Die Freiheit
des Arbeitsmarktes oder die Freiheit der Armen, sich zu vereinigen?
Welcher Entschluß auch immer gefaßt wird, er führt zu einer
Staatsintervention, zum Einsatz organisierter politischer Gewalt von
seiten des Staates wie auch von seiten der Gewerkschaften im Bereich
ökonomischer Bedingungen. Er führt unter allen Umständen zu einer
Ausdehnung der wirtschaftlichen Verantwortlichkeit des Staates, ob
diese nun bewußt akzeptiert wird oder nicht.“

4

Und allgemeiner: „Wenn

3

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, II, S. 154

4

Ebenda, II, S.219

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Bryan Magee – Karl Popper

88

sich der Staat nicht einmischt, dann mischen sich andere halbpolitische
Organisationen, wie Monopole, Trusts, Vereinigungen usw. ein und
machen die Freiheit des Marktes zu einer Fiktion. Andrerseits ist die
Einsicht von höchster Wichtigkeit, daß das ganze ökonomische System
seinen einzigen vernünftigen Zweck – die Befriedigung der Bedürfnisse des
Konsumenten –
ohne einen sorgsam geschützten freien Markt nicht
erfüllen kann. ... Ökonomisches ,Planen’, das nicht auf ökonomische
Freiheit in diesem Sinne abzielt, wird in gefährliche Nähe totalitärer
Methoden führen.“

5

In allen diesen Fällen ist die größtmögliche Toleranz oder Freiheit

nicht absolut zu sehen, sondern als Optimum, denn sie muß beschränkt
werden, wenn sie überhaupt bestehen soll. Die Regierungsintervention,
der einzige Garant der Freiheit, ist eine zweischneidige Waffe: Wenn
von ihr zu wenig oder gar kein Gebrauch gemacht wird, aber auch bei
zu massivem Einsatz, geht die Freiheit zugrunde. Damit sind wir wieder
bei der Kontrolle (und wirksame Kontrolle bedeutet Absetzbarkeit) der
Regierung durch die Regierten als conditio sine qua non der Demokratie.
Diese Bedingung allerdings ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend.
Sie garantiert nicht, daß die Freiheit bewahrt bleibt, denn dafür gibt es
keine Garantie: Der Preis der Freiheit ist ständige Wachsamkeit. Wie
Popper bemerkt, haben Institutionen und Festungen gemeinsam, daß
man sie richtig anlegen muß, wenn sie sich halten sollen, daß sie aber
erst durch die richtige Bemannung einsatzbereit werden.

Politische Philosophen haben im allgemeinen der Frage ,Wer soll

herrschen?’ zentrale Bedeutung beigemessen und im Rahmen ihrer
unterschiedlichen Philosophien versucht, verschiedene Antworten zu
rechtfertigen: ein Einzelner, die Vornehmen, die Reichen, die Weisen,
die Starken, die Guten, die Mehrheit, das Proletariat, und so weiter.
Aber schon die Frage ist aus mehreren Gründen verfehlt. Erstens führt
sie geradewegs zu einem weiteren Paradox, das Popper das ,Paradox

5

Ebenda, II, S. 445

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Bryan Magee – Karl Popper

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der Souveränität’ nennt. Wenn etwa die Macht in die Hände des
Weisesten gelegt wird, dann kommt er vielleicht aus den Tiefen seiner
Weisheit zu dem Schluß: ,Nicht ich, sondern der sittlich Gute sollte
Herrscher sein’. Wenn der sittlich Gute die Macht hat, dann sagt er
vielleicht, heiligmäßig wie er ist: ,Es ist falsch, wenn ich anderen meinen
Willen aufzwinge. Nicht ich sollte herrschen, sondern die Mehrheit.’
Die Mehrheit, an die Macht gelangt, sagt vielleicht: ,Wir wollen einen
starken Mann, der Ordnung schafft und uns sagt, was wir tun sollen’.
Ein zweiter Einwand ist, daß die Frage ,Bei wem sollte die Souveränität
liegen?’ auf der – unzutreffenden – Annahme beruht, daß irgendjemand
letztlich die Macht innehaben muß. Die meisten Gesellschaften
besitzen verschiedene und bis zu einem gewissen Grade konkurrierende
Machtzentren, von denen sich keines in allen Fragen durchsetzen kann.
In einigen Gesellschaften ist die Macht alles andere als an einer Stelle
konzentriert. Die Frage: ,Ja, aber wo liegt sie letztlich?’ schließt die
Möglichkeit einer Kontrolle der Herrschenden bereits von vornherein
aus, und zwar gerade dann, wenn das wichtigste eben die Einrichtung
einer Kontrollinstanz wäre. Die entscheidende Frage lautet nicht: ,Wer
soll herrschen?’, sondern: ,Wie können wir die Wahrscheinlichkeit, daß
schlechte Herrscher an die Macht kommen, und den Schaden, den sie
gegebenenfalls anrichten, so gering wie möglich halten?’

Der Gedankengang ist also folgender: Aus praktischer wie aus

moralischer Sicht ist die beste Gesellschaft, die es gibt, eine
Gesellschaft, die ihren Mitgliedern größtmögliche Freiheit läßt; die
größtmögliche Freiheit ist eine qualifizierte Freiheit; nur diejenigen
Institutionen können die Freiheit schaffen und erhalten, die zu diesem
Zweck entworfen wurden und hinter denen die Macht des Staates steht;
daraus ergeben sich weitreichende staatliche Eingriffe in das politische,
wirtschaftliche und soziale Leben; ein zu geringes wie ein zu großes
Maß an Intervention beeinträchtigt die Freiheit in unnötiger Weise; die
beste Möglichkeit, sich gegen Gefahren aus der einen oder der anderen
Richtung abzusichern, besteht darin, die wichtigsten Institutionen von

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Bryan Magee – Karl Popper

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allen zu bewahren, nämlich die verfassungsmäßigen Mittel, die es den
Regierten ermöglichen, die Inhaber der Staatsmacht zu entfernen und
durch Vertreter einer anderen Politik zu ersetzen; jeder Versuch,
derartige Institutionen auszuschalten, stellt den Versuch dar, eine
autoritäre Herrschaft zu errichten, und muß nötigenfalls mit Gewalt
verhindert werden; Gewalt gegen eine Tyrannei kann selbst dann
gerechtfertigt sein, wenn die Mehrheit die Tyrannei unterstützt; aber
nur zwei legitime Ziele rechtfertigen den Einsatz von Gewalt: die
Verteidigung freier Institutionen dort, wo sie bestehen, und die
Errichtung freier Institutionen dort, wo es noch keine gibt.

Für mich hat es immer auf der Hand gelegen, daß es sich hier um

eine Philosophie der Sozialdemokratie handelt – so unverkennbar
antikonservativ einerseits wie unverkennbar antitotalitär (und damit
antikommunistisch) andererseits. Denn es ist vor allem eine Philosophie
der Veränderung, und zwar einer Veränderung auf rationalem und
humanem Wege, nicht durch Gewalt und Revolution. Ich glaube
gezeigt zu haben, wie sich diese Philosophie nahtlos in Poppers
Wissenschaftstheorie einfügt. Aber wir dürfen auch nicht vergessen,
daß der Autor von Die offene Gesellschaft zwanzig Jahre lang im Kontakt
mit aktiven Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Österreichs
gestanden hatte. Popper war als Sozialdemokrat zu der Überzeugung
gelangt, daß die Verstaatlichung der Industrie, der Verkehrsbetriebe
und des Geldwesens, die im Programm seiner Partei eine zentrale
Stellung einnahm, die Probleme nicht von selbst lösen würde, wohl
aber die Werte zerstören könnte, die den Sozialdemokraten besonders
viel bedeuteten. Als junger Mann, dessen politischer Einfluß auf seinen
Freundeskreis beschränkt war, hätte er es begrüßt, wenn die
Sozialdemokraten die marxistische Analyse des sozialen Wandels
aufgegeben und sie durch ähnliche Gedanken ersetzt hätten, wie er sie
vertrat – aber er mußte annehmen, daß darauf keine Aussicht bestand.
Seine Partei hat ihn schließlich enttäuscht – nicht primär durch ihr
verworrenes Gedankengut, sondern dadurch, wie sie die Arbeiter der

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Bryan Magee – Karl Popper

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Gewalt aussetzte, während ihr ein Programm zum Widerstand gegen
diese Gewalt fehlte; dadurch, daß die Parteiführer Furcht vor der
Verantwortung hatten; und vor allem dadurch, daß die Partei mit den
Kommunisten gemeinsame Sache machte und der Machtergreifung
durch die Nazis nicht den äußersten Widerstand entgegensetzte
(allerdings waren ihre Motive, im Gegensatz zu denen der
Kommunisten, nicht machiavellistisch, sondern von Schwäche geprägt).
Seit dieser Zeit ist Popper sozialdemokratischen Parteien gegenüber
mißtrauisch. Er würde sich jetzt, zu einer Stellungnahme gedrängt, als
Liberalen im klassischen Sinne bezeichnen.

Und hier muß ich mich für befangen erklären. Ich bin

demokratischer Sozialist und glaube, daß niemand das philosophische
Fundament des demokratischen Sozialismus gedanklich besser
ausgearbeitet hat als der junge Popper. Und wie er würde ich es gern
sehen, daß diese Gedanken den Mischmasch von Marxismus und liberal
gesinntem Opportunismus ersetzen, den man bei der demokratischen
Linken als politische Theorie durchgehen läßt. (Dafür habe ich in
meinem 1962 veröffentlichten Buch The New Radicalism plädiert, das
sich mit der Politik der British Labour Party befaßt.) Kurz: Popper hat
seine Gedanken als Antwort auf die Bedürfnisse des demokratischen
Sozialismus entwickelt, dem er anfangs eng verbunden war; ich habe
deutlich gemacht, daß Popper kein Sozialist mehr ist, aber ich möchte
seine Gedanken für den demokratischen Sozialismus in Anspruch
nehmen. Hier liegt, so glaube ich, ihre wahre Bedeutung, und hier liegt
ihre Zukunft. Ich behaupte, daß der ältere Popper in Fragen der
praktischen Politik einfach nicht die radikalen Konsequenzen seiner
eigenen Gedanken akzeptiert, und unsere Auseinandersetzung darüber
dauert schon lange. (Wenn ich in diesem Punkte recht habe, dann gibt
es wenigstens einen berühmten Präzedenzfall: Marx hat im Alter Wert
auf die Feststellung gelegt, daß er kein Marxist sei.)

Das allgemeine Prinzip der Politik, das in Die offene Gesellschaft

formuliert wird, lautet: ,Halte vermeidbares Leid möglichst gering’.

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Bryan Magee – Karl Popper

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Kennzeichnend für diese Maxime ist, daß sie die Aufmerksamkeit
sofort auf Probleme lenkt. Wenn sich zum Beispiel eine Erziehungs-
behörde das Ziel gesetzt hat, den Kindern unter ihrer Obhut größt-
mögliche Chancen zu bieten, dann weiß man dort, aus verständlichen
Gründen, wohl nicht so recht, wie das zu bewerkstelligen ist; vielleicht
regt sich auch der Gedanke, das vorhandene Geld für den Bau von
Modellschulen auszugeben. Wenn es dagegen erklärtes Ziel ist, Benach-
teiligungen möglichst gering zu halten,
dann wendet sich die Aufmerksamkeit
sofort den Schulen zu, die am schlechtesten ausgestattet sind – den
Schulen mit der schlimmsten Lehrerknappheit, mit den überfülltesten
Klassen, den heruntergekommensten Gebäuden, mit der schlechtesten
Lehrmittelversorgung –, und dann wird vorrangig die Situation dieser
Schulen verbessert. Das ist die unmittelbare Konsequenz von Poppers
Ansatz: Er ermutigt nicht dazu, über die Errichtung von Utopia
nachzudenken, sondern dazu, die sozialen Mißstände, an denen
Menschen leiden, ausfindig zu machen und für sie Abhilfe zu schaffen.
Dieser Ansatz ist also vor allem pragmatisch und dabei doch dem
Wandel verpflichtet. Er geht von der Sorge um den Menschen aus und
führt zu einer unablässigen, aktiven Bereitschaft, Institutionen umzu-
formen.

,Halte die Unglückseligkeit möglichst gering’ ist nicht bloß eine

negative Formulierung der utilitaristischen Maxime ,Schaffe größtmög-
liche Glückseligkeit’. Es liegt hier eine logische Asymmetrie vor: Wir
wissen nicht, wie wir die Menschen glücklich machen sollen, aber wir
wissen, wie wir ihr Unglück vermindern können. Der Leser bemerkt
sofort eine Analogie zur Verifizierbarkeit oder Falsifizierbarkeit
wissenschaftlicher Sätze. „Ich glaube, daß vom ethischen Standpunkt
aus betrachtet keine Symmetrie zwischen Freuden und Leiden oder
zwischen Lust und Schmerz besteht. ... Meiner Ansicht nach enthält das
menschliche Leiden einen direkten moralischen Appell, nämlich den
Appell zu helfen, während keine ähnliche Nötigung besteht, das Glück
oder die Freuden eines Menschen zu vermehren, dem es ohnehin gut

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Bryan Magee – Karl Popper

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geht. (Eine weitere Kritik der utilitaristischen Formel ,Schaffe größt-
mögliche Glückseligkeit’ geht davon aus, daß die Formel im Prinzip
eine Art von kontinuierlicher Glückseligkeitsskala annimmt, die es uns
gestattet, den Schmerz als negative Glückseligkeit aufzufassen, die
durch positive Glückseligkeit aufgewogen werden kann. Vom
moralischen Standpunkt aus betrachtet, läßt sich aber Schmerz nicht
durch Glückseligkeit aufwiegen, insbesondere nicht der Schmerz des
einen Menschen durch die Glückseligkeit eines anderen. Statt der
größten Glückseligkeit für die größte Zahl sollte man – etwas
bescheidener – das kleinste Maß an vermeidbarem Leid für alle fordern;
und man sollte weiterhin verlangen, daß unvermeidbares Leid – wie
Hunger in Zeiten eines unvermeidlichen Mangels an Nahrungsmitteln –
möglichst gleichmäßig verteilt werde.)“

6

Popper hat mit seiner Behauptung recht, daß sich aus einem solchen

Ansatz die unablässige Forderung nach sofortigem Handeln zur
Behebung konkreter Mißstände ergibt. Und derartiges Handeln dürfte
der allgemeinen Anerkennung sicher sein und zu spürbaren
Verbesserungen führen. Popper hütet sich auch, wiederum zu recht,
vor dem Utopismus, der in praxi intolerant und autoritär ist. (Dieser
Punkt wird im nächsten Kapitel noch ausführlicher behandelt.)
Allerdings erscheint es etwas zweifelhaft, ob die Devise ,Halte die
Unglückseligkeit möglichst gering’ als politische Leitmaxime genügend
tragfähig ist – so groß ihr heuristischer Wert auch sein mag. Sie
beschränkt sich auf die Berichtigung von Mißbräuchen und
Unregelmäßigkeiten innerhalb einer bestehenden Verteilung von
Macht, Besitz und Chancen. Wollte man sie wörtlich auffassen, dann
ließen sich wohl auch so gemäßigt liberale Maßnahmen wie die
staatliche Kunstförderung und die Errichtung von kommunalen
Sportstätten und Schwimmbädern nicht mit ihr vereinbaren. Eine
derart erzkonservative Position wäre keine natürliche Konsequenz aus

6

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I, S. 387f.

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Bryan Magee – Karl Popper

94

Poppers radikaler Philosophie, jedenfalls nicht für eine Gesellschaft im
Überfluß – sie hat sich sogar für einen konservativen Berufspolitiker als
zu konservativ erwiesen

7

–, und Popper selbst würde sie bestimmt nicht

aufrechterhalten wollen. Wir sollten es uns zur methodologischen Regel
machen, immer zunächst von der genannten Devise und ihren
Konsequenzen auszugehen, dann aber, wo irgend möglich, die Situation
neu im Lichte einer zweiten, ergiebigeren Formulierung zu betrachten,
in der unsere erste enthalten ist. Diese zweite Formulierung lautet:
,Schaffe dem Einzelnen größtmögliche Freiheit, sein Leben nach seinen
eigenen Wünschen zu gestalten’. Zur Verwirklichung dieser Forderung
sind umfangreiche öffentliche Vorkehrungen im Bildungswesen, in der
Kulturpolitik, im Wohnungsbau, im Gesundheitswesen und in allen
anderen gesellschaftlichen Bereichen nötig – sie müssen sich aber
immer so auswirken, daß sie die Wahlmöglichkeiten und damit die
Freiheit des Einzelnen erweitern.

7

Sir Edward Boyle, New Society, 12.9.1963

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Bryan Magee – Karl Popper

95

7. Die Feinde der offenen Gesellschaft

Meiner Ansicht nach ist die Philosophie der Sozialdemokratie heute der
bedeutsamste Aspekt von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Popper
stand bei Abfassung des Buches der Sozialdemokratie nahe, aber er hat
es hauptsächlich aus einem anderen Grunde geschrieben. Man darf
nicht vergessen, daß Hitler, während das Buch entstand, von Erfolg zu
Erfolg eilte, in Europa ein Land nach dem anderen eroberte und tief
nach Rußland hinein vorstieß. Der abendländischen Kultur drohte
unvermittelt der Rückfall in die Barbarei. Unter diesen Umständen ging
es Popper darum, die Anziehungskraft totalitären Gedankenguts zu
verstehen, zu erklären und ihr mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote
standen, entgegenzuwirken – und außerdem kundzutun, wie wertvoll
und wie wichtig Freiheit im weitesten Sinne ist. Durch dieses
anspruchsvolle Programm wird die Philosophie der Sozialdemokratie in
einen nach Ort und Zeit denkbar umfassenden Zusammenhang gestellt.

Im Mittelpunkt von Poppers Erklärung für die Anziehungskraft des

Totalitarismus steht ein sozio-psychologischer Begriff, den er die ,Last
der Kultur’ nennt – er ist, wie Popper zugibt, dem Begriff verwandt,
den Freud in Das Unbehagen in der Kultur formuliert hat. Wir hören oft
die Behauptung, daß die ,meisten Menschen’ im Grunde gar keine
Freiheit wollen, weil sie Angst vor der Verantwortung haben, Freiheit
aber Verantwortung mit sich bringt. Ich bin sicher, daß diese Aussage
eine wichtige Wahrheit enthält, ob sie nun für die ,meisten Menschen’
zutrifft oder nicht. Wenn wir für unser Leben Verantwortung
übernehmen, dann bedeutet das, daß wir laufend vor schwierigen
Entscheidungen stehen und die Konsequenzen tragen müssen, wenn
wir die falsche Wahl getroffen haben. Das ist lästig, um nicht zu sagen
beängstigend. Und wir alle sind nicht frei von der – vielleicht infantilen
– Neigung, auszuweichen und uns die Last von den Schultern nehmen
zu lassen. Unser stärkster Instinkt aber ist der Überlebensinstinkt, und

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Bryan Magee – Karl Popper

96

daher ist unser Bedürfnis nach Sicherheit wohl am stärksten ausgeprägt;
aus diesem Grunde sind wir nur bereit, einer Person oder einer
Institution, der wir mehr vertrauen als uns selbst, Verantwortung zu
übertragen. (Deshalb hätten es die Menschen gern, daß ihre Herrscher
,besser’ sind als sie selbst, deshalb glauben sie so viele Ungereimtheiten,
die sie in ihrem Vertrauen bestätigen, und deshalb sind sie so
erschüttert, wenn herauskommt, daß die Herrscher eben nicht ,besser’
sind.) Die unausweichlichen und schwierigen Entscheidungen, die
unser Leben bestimmen, soll jemand treffen, der – wie vielleicht ein
strenger, aber gütiger Vater – stärker als wir und uns trotzdem gut
gesonnen ist; oder sie sollen uns von einem praktischen gedanklichen
System abgenommen werden, das klüger als wir ist und weniger oder
keine Fehler macht. Vor allem suchen wir Befreiung von der Angst.
Und die meisten Ängste – einschließlich der am tiefsten sitzenden, etwa
der Angst vor dem Dunkel, vor Fremden, vor dem Tod, vor der
Zukunft und vor den Folgen unseres Handelns – sind letztlich Formen
der Angst vor dem Unbekannten. Deshalb verlangen wir immer nach
Garantien dafür, daß das Unbekannte in Wahrheit gar nicht unbekannt
ist und daß es etwas birgt, das wir ohnehin brauchen. Wir machen uns
Religionen zu eigen, die uns versichern, daß wir nicht sterben werden,
und politische Philosophien, die uns versichern, daß die Gesellschaft
einmal – und zwar vielleicht schon bald – vollkommen sein wird.

Diesen Bedürfnissen kamen die unwandelbaren Gewißheiten vor-

kritischer Gesellschaften entgegen – ihre Autoritäten, Hierarchien, Ritu-
ale und Tabus. Als sich aber der Mensch vom Stammesverband löste
und eine kritische Tradition entstand, wurden neue und erschreckende
Forderungen laut: Das Individuum sollte bezweifeln, was es immer als
gegeben hingenommen hatte, es sollte die Autorität in Frage stellen und
Verantwortung für sich und andere übernehmen. Anders als zu der
Zeit, als noch die alten Gewißheiten galten, drohte der Gesellschaft nun
der Zerfall, dem Individuum die Orientierungslosigkeit. Diese Bedro-
hung rief von Anfang an eine Reaktion auf den Plan, beim Einzelnen

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Bryan Magee – Karl Popper

97

(das ist zum Teil Freuds Thema) wie bei der Gesellschaft. Wir erwerben
Freiheit auf Kosten von Sicherheit, Gleichheit auf Kosten unserer
Selbstachtung und ein kritisches Bewußtsein unserer selbst auf Kosten
unseres Seelenfriedens. Der Preis ist hoch; keiner von uns bezahlt ihn
gern, und viele möchten ihn überhaupt nicht zahlen. Für die besten
Geister der Griechen aber gab es keinen Zweifel daran, daß sich der
Handel lohnt, und von ihrem größten Sozialkritiker und Fragesteller
heißt es seither, daß es besser ist, ein unzufriedener Sokrates zu sein als
ein zufriedenes Schwein. Es gab jedoch eine Gegenbewegung, und
Sokrates wurde wegen seines Fragens zum Tode verurteilt. Und seit
seinem Schüler Platon hat es nie an außerordentlich begabten Men-
schen gefehlt, die eine stärkere ,Öffnung’ der Gesellschaft bekämpfen
und denen daran liegt, daß sich die Gesellschaft zu einer ,geschlos-
seneren’ Gesellschaft zurück- oder weiterentwickelt.

So hat sich seit Beginn des kritischen Denkens, seit den

Vorsokratikern, nicht nur die Kultur herausgebildet, sondern parallel zu
dieser Tradition (oder vielleicht genauer: in ihr) eine Reaktion gegen die
Last der Kultur. Aus ihr sind die Philosophien der Rückkehr zum
Mutterschoß einer vorkritischen Stammesgesellschaft oder des
Fortschritts hin zu einem Utopia hervorgegangen. Weil solche
reaktionären und utopischen Ideale ähnliche Bedürfnisse befriedigen,
stehen sie einander ihrem Wesen nach sehr nahe. Beide lehnen die
bestehende Gesellschaft ab und verkünden, daß eine vollkommenere
Gesellschaft einem anderen Zeitalter angehört. Beide neigen deshalb
zur Gewalt und dabei doch zur Romantik. Wer glaubt, daß sich die
Gesellschaft vom Schlechten hin zum noch Schlechteren entwickelt,
möchte die Veränderungen zum Stillstand bringen; wer der Meinung
ist, daß er an der vollkommenen Gesellschaft der Zukunft baut, möchte
ihr, wenn sie errichtet ist, Dauer verleihen, und das bedeutet ebenfalls,
den Veränderungen Einhalt zu gebieten. Der Reaktionär wie der
Utopist haben also eine Gesellschaft ohne Wandel im Auge. Und weil
man dem Wandel nur durch strengste soziale Kontrolle vorbeugen

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Bryan Magee – Karl Popper

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kann – indem man die Menschen daran hindert, auf eigene Faust
irgendetwas zu unternehmen, das ernsthafte soziale Auswirkungen
haben könnte – führt der Weg für den Reaktionär wie für den
Utopisten in den Totalitarismus. Der Keim zu dieser Entwicklung ist
von Anfang an gelegt; wenn sie aber in Gang gekommen ist, wird es
heißen, die Theorie sei pervertiert worden. Man hat mittlerweile schon
oft gehört, daß sich die eine oder andere utopische oder reaktionäre
Theorie (zum Beispiel der Kommunismus oder die Mär von der
Diktatur als leistungsfähigster Regierungsform) sehr schön ausmacht,
aber in der Praxis leider nicht funktioniert. Hier liegt ein Trugschluß
vor. Wenn eine Theorie in der Praxis nicht funktioniert, dann ist das
bereits ein Anzeichen dafür, daß mit ihr etwas nicht stimmen kann.
(Genau da liegt auch der springende Punkt beim wissenschaftlichen
Experiment.)

Die praktischen Folgen reaktionärer und utopischer Theorien sind

Gesellschaften wie die unter Hitler oder unter Stalin; aber der Wunsch
nach einer vollkommenen Gesellschaft entspringt natürlich nicht der
menschlichen Bosheit, sondern ihrem Gegenteil. Die schrecklichsten
Ausschreitungen wurden von Idealisten, deren Absichten durch und
durch lauter waren, aus ehrlicher Überzeugung begangen – etwa von
den Inquisitoren in Spanien. Das Sprichwort ,Der Weg zur Hölle ist mit
guten Vorsätzen gepflastert’ läßt sich am besten anhand der
abendländischen Geschichte veranschaulichen, die ja zu einem großen
Teil durch Autokratien und Kriege aus ideologischen und religiösen
Gründen bestimmt ist. Es sind keineswegs nur Dummköpfe, die auf
diesen Weg geraten: Das Gefühl der Unzufriedenheit mit der
bestehenden Gesellschaft, das den Anstoß gibt, ist eher ein Anzeichen
für Intelligenz und Vorstellungskraft als für das Gegenteil – Menschen,
denen diese Eigenschaften abgehen, sind mit größerer Wahrschein-
lichkeit konservativ und neigen dazu, alles so hinzunehmen, wie es eben
ist. An der Spitze des Aufstandes gegen die Kultur – das heißt gegen
Freiheit und Toleranz und gegen ihre Folgen: Verschiedenheit,

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Bryan Magee – Karl Popper

99

Konflikt, unvorhersagbarer und unkontrollierbarer Wandel, Unsicher-
heit an allen Ecken und Enden – standen, wie ich bereits angedeutet
habe, einige der größten Geister der Menschheit. Weil sie Genies
waren, ist ihr Elitedenken – die Verachtung für den trägen Konser-
vatismus der gewöhnlichen Sterblichen und als Folge davon die
Ablehnung der Demokratie und der Lehre von der Gleichheit – umso
,natürlicher’ erschienen, und sie haben sich dabei umso wohler gefühlt.
Wo Popper die Feinde der offenen Gesellschaft angreift, da billigt er
den meisten von ihnen höchst ehrenwerte Motive und manchen von
ihnen höchste Intelligenz zu, und er räumt ein, daß sie sich an einige
unserer edelsten Triebe wenden und an Unsicherheiten, die tief in uns
allen verwurzelt sind.

Als herausragendes Beispiel für einen genialen Philosophen, dessen

politische Theorie den Wunsch nach Rückkehr zur Vergangenheit
verkörpert, führt Popper Platon an. Er unterzieht Platons Theorie im
ersten der beiden Bände von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde einer
ausgiebigen und detaillierten Kritik. Der zweite Band enthält eine
entsprechende Kritik an Marx als dem herausragenden Philosophen,
der mit seiner Theorie eine vollkommene Zukunft entwirft. (Popper
unterscheidet aus Gründen, die noch deutlich werden, zwischen dem
Marxismus und utopischen Theorien, aber er legt dar, daß und warum
er beide Richtungen ablehnt.) Wie Popper diese gewichtigen Gegner,
besonders Marx, angeht, ist allein schon eine der wichtigsten Lektionen
in Methode, die man aus seinen Schriften lernen kann. In der gesamten
Geschichte der geistigen Auseinandersetzung haben selbst geniale
Polemiker wie Voltaire immer die schwachen Punkte in der
Argumentation ihres Gegners ausfindig gemacht und angegriffen.
Dieser Vorgehensweise haftet aber ein schwerer Nachteil an. Jede
Argumentation hat schwächere wie stärkere Punkte und bezieht ihre
Anziehungskraft offensichtlich aus den stärkeren; ein Angriff auf die
schwächeren Punkte kann mithin ihre Anhänger verwirren, nicht aber
die Überlegungen erschüttern, auf die sie sich letztlich stützen. Das ist

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Bryan Magee – Karl Popper

100

einer der Gründe dafür, warum so selten seine Ansichten ändert, wer in
einer Diskussion unterliegt. Häufiger führt ein Rückschlag dazu, daß
man die schwächsten Punkte in seiner Argumentation fallenläßt oder
verbessert und so letztlich seine Position stärkt. Es kommt bei einer
Diskussion zwischen zwei intelligenten Menschen oft vor, daß die
Argumente auf beiden Seiten mit der Zeit immer besser werden, denn
sie gewinnen ständig durch die Kritik der Gegenseite. (Eine Erklärung
im Sinne Poppers liegt auf der Hand.) Popper zielt darauf ab, die
stärkste Stelle eines Gegners ausfindig zu machen und gerade dort
anzugreifen, und das tut er dann auch nach Kräften. Bevor er angreift,
versucht er sogar, die gegnerische Argumentation noch zu stützen. Er
prüft, ob sich Schwächen ausräumen und Formulierungen verbessern
lassen, legt alle Zweifel zugunsten des Gegners aus und übergeht jede
offensichtliche Lücke. Wenn Popper so das Argument in die
bestmögliche Form gebracht hat, greift er es dort an, wo es am
überzeugendsten und anziehendsten wirkt. Diese Methode ist
faszinierend und intellektuell denkbar ernstzunehmen, und wenn sie
Erfolg hat, sind die Ergebnisse verheerend. Denn es bleibt keine
Version des widerlegten Arguments übrig, die sich im Lichte der Kritik
rekonstruieren ließe, weil jede Ausflucht und jeder Vorbehalt bereits in
der Fassung enthalten war, die zerpflückt wurde. So ist Popper nach
Einschätzung vieler mit dem Marxismus verfahren – daher die
Bemerkung von Isaiah Berlin, die im zweiten Satz dieses Buches zitiert
wurde. Und ich muß gestehen, daß mir nicht klar ist, wie ein rational
denkender Mensch nach Lektüre von Poppers Kritik des Marxismus
noch Marxist sein kann. Aber darauf kommen wir gleich zu sprechen.

Der Aspekt von Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, der unter den

Gelehrten immer am umstrittensten war, ist der Angriff auf Platon. Nur
zu viele einschlägige Bemerkungen zeichnen sich durch Unkenntnis
aus. Ich habe oft sagen hören, der erste Band von Die offene Gesellschaft
sei tatsächlich in erster Linie eine Kritik an Platon, Popper schätze Platon
als Philosophen gering, und er werde durch das ausgezeichnete,

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Bryan Magee – Karl Popper

101

gewichtige und kenntnisreiche Buch In Defense of Plato von Ronald B.
Levinson ,vollständig widerlegt’ (oder was dergleichen Redensarten
mehr sind).

1

Nichts davon stimmt. Popper nennt Platon eindeutig den

„größten Philosophen aller Zeiten“

2

und spricht beispielsweise, selbst-

verständlich und ohne Ironie, von der „ganzen Kraft seiner
unübertroffenen Intelligenz“.

3

Er schließt sich Whiteheads Ausspruch

an, die gesamte abendländische Philosophie bestehe aus Fußnoten zu
Platon. Es geht Popper auch nicht in erster Linie um eine Kritik an
Platon. Levinson stellt Poppers Position richtig dar, wenn er schreibt:
„Der Angriff auf Platon bildet das Gegenstück zu Poppers
Überzeugung, die das ganze Buch motiviert – daß die bedeutsamste
aller Revolutionen der Übergang von der ,geschlossenen’ zur ,offenen’
Gesellschaft ist, zu einem Zusammenschluß freier Menschen innerhalb
eines staatlichen Rahmens, der wechselseitigen Schutz bietet; von
Menschen, die einander in ihren Rechten achten und die durch
verantwortliche, rationale Entscheidungen ihr Leben immer humaner
und aufgeklärter gestalten“.

4

Und Levinson, weit davon entfernt,

Poppers Urteil über Platon ,vollständig zu widerlegen’, gibt Popper
schließlich im wichtigsten Punkt recht: „In erster Linie stimmen wir
darin überein, daß Platon – um Poppers Ausdruck zu gebrauchen – den
Vorschlag machte, eine ,geschlossene’ Gesellschaft zu errichten, in der
der gewöhnliche Bürger bevormundet wird. ... Man tut Platon nicht
Gewalt an, wenn man sein politisches Ideal als eine sehr differenzierte
Spielart der vielen Formen autoritärer Herrschaft klassifiziert, die unter
unsere verallgemeinerte Version von Websters Definition des
Totalitarismus fallen; wir sind bereits dahingehend übereingekommen,

1

Die Antwort Poppers auf dieses Buch ist in einer Ergänzung zur 4. Auflage von

The Open Society and Its Enemies (1961) nachzulesen.

2

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I, S. 141

3

Ebenda, I, S. 155

4

In Defense of Plato, S. 17

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Bryan Magee – Karl Popper

102

daß man hier auch von ,Totalitarismus’ im genau abgewogenen Sinne
Sabines sprechen kann, von einer Regierung, die ,nicht mehr zwischen
dem Bereich des privaten Ermessens und dem der öffentlichen
Kontrolle unterscheidet.’“

5

Levinson lehnt vieles von dem, was Popper

sagt, scharf ab; er zollt Popper aber immer Respekt dafür, daß er sich
auf „vielen Gebieten gründlich auskennt“ und „uneingeschränkt für
liberale und demokratische Ideale eintritt, deren Verteidigung das
gesamte Werk [Die offene Gesellschaft und ihre Feinde] gewidmet ist“.

6

Die

Ansicht, man habe auf irgendeine Weise gezeigt, daß es mit Poppers
Platonkenntnis nicht weit her ist, scheint unausrottbar, aber mit ihr ist
es selbst nicht weit her, weil sie ungeprüft wiederholt wird. Die
bedeutenderen Philosophen allerdings haben sich in dieser Hinsicht
nichts zuschulden kommen lassen. Bertrand Russell schrieb: „Poppers
Angriff auf Platon ist unorthodox, aber meiner Meinung nach voll
gerechtfertigt“. Und Gilbert Ryle, selbst ein bedeutender Platonkenner,
schrieb in einer Besprechung von Poppers Buch in Mind: „Er hat sich
offenbar gründlich und in schöpferischer Weise mit griechischer
Geschichte und griechischem Denken befaßt. Nach Popper muß man
Platon anders lesen.“ Ein Vierteljahrhundert später (am 28. Juli 1972)
hat Ryle im Dritten Programm der BBC dieses Urteil noch einmal
ausdrücklich bekräftigt.

Der Platonismus als solcher ist im politischen und sozialen Leben

der modernen Welt kein aktuelles Thema; die Philosophie der
Vorsokratiker auch nicht – wohl aber der Marxismus. Tatsächlich
kommt der persönlichen Leistung von Marx, wie sie sich in der
heutigen Weltlage verkörpert, eine überwältigende praktische
Bedeutung zu, durch die sie in der Geschichte ohne Beispiel dasteht.
Vor kaum mehr als hundert Jahren war Marx – ein Intellektueller in den
Sechzigern, der mit Frau und Familie in Hampstead lebte und seine

5

Ebenda, S. 571, 573

6

Ebenda, S. 19

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Bryan Magee – Karl Popper

103

Zeit mit Lesen und Schreiben verbrachte – selbst dem gebildeten
Publikum kaum bekannt. Und keine siebzig Jahre nach seinem Tode
hatte ein Drittel der Menschheit, unter anderem im gesamten
Russischen Reich und in ganz China, Gesellschaftsformen
übernommen, die sich nach Marx benennen. Meiner Meinung nach ist
dieses außergewöhnliche Phänomen noch gar nicht hinreichend gewür-
digt worden. Aber kaum jemand wird bestreiten wollen, daß Marx der
einflußreichste Philosoph der letzten hundert Jahre ist und daß wir die
Welt, in der wir heute leben, ohne Kenntnisse über das politische und
soziale Denken von Marx unmöglich verstehen können. Und, anders
als vor dreißig Jahren, nimmt heute im gesamten Westen an den
Universitäten und bei der intellektuellen Jugend das Interesse für den
Marxismus nicht ab, sondern zu.

Der Marxismus erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, und das

ist für ihn von zentraler Bedeutung. Marx sah sich sozusagen als den
Newton oder den Darwin der Geschichts-, der Politik- und der
Wirtschaftswissenschaft – man könnte auch allgemein sagen: der
Sozialwissenschaft. Er zollte Darwin „größere Bewunderung als jedem
anderen seiner Zeitgenossen, war er doch der Ansicht, daß dieser mit
seiner Entwicklungs- und Selektionstheorie für die Morphologie der
Naturwissenschaften das erreicht habe, was er für die menschliche
Geschichte zu tun versuchte“.

7

(Einer vielzitierten Legende zufolge

hatte Marx sogar beabsichtigt, den zweiten Band seines Werkes Das
Kapital
Darwin zu widmen.) Im Grunde geht es um folgendes: Marx
glaubte, daß die Entwicklung der Gesellschaft wissenschaftlichen
Gesetzen unterliege und daß er der Entdecker dieser Gesetze sei. Sein
Wissenschaftsverständnis war natürlich noch nicht von Einstein
geprägt. Wie jeder gutinformierte Zeitgenosse glaubte Marx, daß
Newton Naturgesetze entdeckt habe, denen die Bewegungen der
Materie im Raum gehorchen, und daß folglich bei Kenntnis der

7

Isaiah Berlin, Karl Marx, rev. u. erw. Ausg. 1968, S. 175

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Bryan Magee – Karl Popper

104

entsprechenden Daten über ein beliebiges physikalisches System alle
künftigen Zustände des Systems vorhersagbar seien. So können wir im
voraus die Zeiten von Sonnenaufgang und -untergang angeben, Son-
nenfinsternisse, Ebbe und Flut, und so weiter. Wir können mit Hilfe
der Naturgesetze die Zukunft unseres Sonnensystems vorhersagen,
aber wir sind nicht in der Lage, es mit ihrer Hilfe zu kontrollieren – die
Naturgesetze wirken gewissermaßen mit eherner Notwendigkeit auf
unausweichliche Ergebnisse hin, die wir wissenschaftlich vorhersagen
und beschreiben, aber nicht ändern können. Marx verstand seine
Entdeckungen als genaues Gegenstück zu diesen Naturgesetzen, und er
hat die Parallele durch eine bewußt an Newton erinnernde
Terminologie betont. Im Kapital beschreibt er sich als den Entdecker
der „Naturgesetze der kapitalistischen Produktion“ und macht auf
folgendes aufmerksam: „Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz
ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist – und es ist der letzte
Endzweck dieses Werks, das ökonomische Bewegungsgesetz der
modernen Gesellschaft zu enthüllen –, kann sie naturgemäße
Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. ... Es
handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner
Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen. Das
industriell entwickeltere Land zeigt dem minder entwickelten nur das
Bild der eignen Zukunft.“

Daß Marx die Entwicklung, die er als unausweichlich ansah,

persönlich begrüßte, ist wissenschaftlich unerheblich. Eigentlich darf
man von Marx genauso wenig sagen, daß er sie befürwortet hat, wie
man von einem Astronomen sagen darf, daß er die Sonnenfinsternisse
befürwortet, die er vorhersagt. (Dem Astronomen kann es natürlich
Spaß machen, eine Sonnenfinsternis zu beobachten, er freut sich
vielleicht darauf und kann es kaum erwarten, bis es soweit ist.) Marx hat
immer betont, daß seine Theorie im geschilderten Sinne
,wissenschaftlich’ sei, daß er nicht vorschreibe, sondern beschreibe.
Andere Formen des Sozialismus hat er als ,utopisch’ abgelehnt – als

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Bryan Magee – Karl Popper

105

bestenfalls bloße Empfehlungen, schlimmstenfalls bloße Visionen. Die
marxistische Ansicht, daß wir keine Möglichkeit haben, den Lauf der
Geschichte zu gestalten, ist also nicht mit utopischen Ansichten zu
verwechseln, denen zufolge es in unserer Macht steht, eine voll-
kommene Gesellschaft zu schaffen. Popper billigt diese Unter-
scheidung. Das Mißverständnis, der Marxismus gehöre zur zweiten
Gruppe, ist allerdings weit verbreitet und wird anscheinend sogar von
den meisten Kommunisten geteilt; sie sind demnach ,Vulgärmarxisten’
(wie Popper sagen würde) oder ,utopische Sozialisten’ (wie Marx gesagt
hätte). Meiner Meinung nach ist der Kommunismus utopisch, der
Marxismus dagegen nicht, und dieser Unterschied darf nicht vergessen
werden.

Der Marxismus erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit. Daraus

folgt zwangsläufig, daß er zum Zerfall verurteilt ist, wenn er sich in der
wissenschaftlichen Diskussion nicht behaupten kann. Unterliegt er hier
in einem Punkt, so gibt es kein Ausweichen auf andere Argumen-
tationsebenen: Kurz, der Marxismus muß sich der wissenschaftlichen
Überprüfung stellen und die Konsequenzen akzeptieren. Die Zer-
störung des marxistischen Anspruchs auf wissenschaftliche Wahrheit –
und zwar so gründlich, daß an ein Aufleben nicht mehr ernsthaft zu
denken ist – wird Popper zugeschrieben. Popper hat nicht etwa die
Unfalsifizierbarkeit der Theorie von Marx nachgewiesen. Der
Vulgärmarxismus ist unfalsifizierbar, aber Popper begeht nicht den
Fehler, den Vulgärmarxismus Marx anzulasten. Marx’ Theorie, mit dem
intellektuellen Ernst behandelt, den sie verdient, hat eine ganze Reihe
falsifizierbarer Vorhersagen geliefert, von denen aber die wichtigsten
mittlerweile falsifiziert worden sind. Beispielsweise wäre der Übergang
zum Kommunismus laut Marx nur in voll entwickelten kapitalistischen
Gesellschaften möglich gewesen, und aus diesem Grunde hätten alle
Gesellschaften zunächst ihr kapitalistisches Entwicklungsstadium bis
zum Ende durchlaufen müssen: Tatsächlich aber hat der Übergang zum
Kommunismus nur in vorindustriellen Ländern stattgefunden (eine

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Bryan Magee – Karl Popper

106

Ausnahme bildet die Tschechoslowakei), niemals in einer voll ent-
wickelten kapitalistischen Gesellschaft. Nach der Theorie hätte die
Revolution vom Industrieproletariat ausgehen müssen: Mao Tse Tung,
Ho Chi Minh und Fidel Castro jedoch haben diesen Gedanken
ausdrücklich verworfen und erfolgreiche Revolutionen mit
Unterstützung der Landbevölkerung durchgeführt. Folgt man der
Theorie, so gibt es gute Gründe dafür, daß das Industrieproletariat
zwangsläufig ärmer, zahlreicher, klassenbewußter und revolutionärer
werden muß: Tatsächlich aber ist es seit den Zeiten von Marx in allen
Industrieländern wohlhabender und weniger zahlreich, klassenbewußt
und revolutionär geworden. Der Theorie nach können nur die Arbeiter
selbst, die Massen, den Übergang zum Kommunismus bewerkstelligen:
In Wahrheit jedoch ist es der kommunistischen Partei bis auf den
heutigen Tag in keinem Lande – nicht einmal in Chile – gelungen, bei
einer freien Wahl die Mehrheit für sich zu gewinnen; wo der
Kommunismus an die Macht kam, wurde er der Mehrheit mit Hilfe
einer Armee aufgezwungen, gewöhnlich einer fremden. Der Theorie
nach müßte sich das Eigentum an den kapitalistischen Produk-
tionsmitteln zwangsläufig in immer weniger Händen konzentrieren:
Tatsächlich aber hat es sich mit der Aktie so weit verbreitet, daß die
Verfügungsgewalt in die Hände einer neuen Klasse, der Manager,
übergegangen ist. Das Auftauchen dieser Klasse widerlegt außerdem die
marxistische Vorhersage, daß sich die Gesellschaft zunehmend in zwei
Klassen aufspaltet – in eine immer kleinere Kapitalistenklasse, die
besitzt und kontrolliert, aber nicht arbeitet, und ein immer zahlreicheres
Proletariat, das arbeitet, aber nichts besitzt oder kontrolliert –, während
alle anderen Klassen unvermeidlich verschwinden.

Zudem ist, um einen anderen Gedankengang aufzunehmen, die

Entwicklung der meisten Wissenschaften über die einschlägigen
Äußerungen von Marx und Engels hinweggegangen. Beispielsweise ist
ihre Theorie der Materie seit Einstein überholt, ihr Verständnis des
Individualverhaltens seit Freud. Das von Ricardo gelegte ökonomische

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Bryan Magee – Karl Popper

107

Fundament des Marxismus gehört seit Keynes in die Rumpelkammer,
seine auf Hegel beruhenden logischen Grundlagen seit Frege. Marx und
Engels sahen die Entwicklung der politischen Institutionen ganz anders
voraus, als sie dann schließlich verlaufen ist – wie ich vermute, vor
allem deshalb, weil sie die Herausbildung der parlamentarischen
Demokratie nicht ernstnahmen. (Zu diesem Versäumnis wurden sie
wiederum durch ihre Theorie verleitet, in der für eine so bedeutsame
Entwicklung kein Platz war.)

Das alles ist Anlaß genug, eine Theorie zurückzuweisen, die

Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt: Die getroffenen Vorher-
sagen wurden anhand der Erfahrung geprüft und dabei falsifiziert. Wir
haben also die grundlegende Methode zur Prüfung einer Theorie
angewandt. Der Leser wird sich jedoch aus den früheren Kapiteln daran
erinnern, daß eine Theorie nach weiteren Gesichtspunkten zu
beurteilen ist. Sie muß auch den logischen Kriterien der inneren
Widerspruchsfreiheit und Kohärenz genügen. Und hier stellt sich
heraus, daß der Fundamentalsatz des Marxismus – die Entwicklung der
Produktionsmittel sei der einzige Bestimmungsfaktor des historischen
Wandels – logisch inkohärent ist, denn eine derartige Theorie kann
nicht erklären, warum sich die Produktionsmittel überhaupt entwickeln,
anstatt unverändert zu bleiben.

Marx’ Auffassung, die historische Entwicklung gehorche wissen-

schaftlichen Gesetzen, ist ein Beispiel für das, was Popper
,Historizismus’ nennt. Er versteht „unter ,Historizismus’ jene Ein-
stellung zu den Sozialwissenschaften ..., die annimmt, daß historische
Voraussage
deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch
erreichen läßt, daß man die ,Rhythmen’ oder ,Patterns’, die ,Gesetze’
oder ,Trends’ entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde
liegen“.

8

Beispiele historizistischer Anschauungen sind: der alttes-

tamentarische Glaube an die Mission des auserwählten Volkes; der

8

Das Elend des Historizismus, S. 2

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Bryan Magee – Karl Popper

108

Glaube mancher Römer, Rom sei zur Herrin des Erdkreises bestimmt;
der Glaube der frühen Christen, daß es vor der Wiederkunft des Herrn
unausweichlich zu Massenbekehrungenen kommen müsse; der Glaube
der Aufklärer, der Fortschritt sei unaufhaltsam und der Mensch lasse
sich vervollkommnen; der Glaube so vieler Sozialisten an den
zwangsläufigen Sieg des Sozialismus; der Glaube Hitlers an die
Errichtung eines Tausendjährigen Reiches. Schon wer beginnt, einige
berühmte Beispiele für historizistische Anschauungen aufzuzählen,
bemerkt, wie selten sich diese bewahrheiten. Aber auch wenn man von
bestimmten Theorien absieht – die allgemeine Vorstellung scheint weit
verbreitet zu sein, daß die Geschichte wenn nicht ein Ziel, so doch
einen Plan oder jedenfalls einen Sinn haben muß oder daß ihr
wenigstens eine Art Muster zugrundeliegt.

Wer ernsthaft eine historische Notwendigkeit geltend machen will,

dem stehen eine Anzahl von Erklärungen zur Verfügung. Entweder
lenkt eine außenstehende Intelligenz (gewöhnlich Gott) die Geschichte
nach seinen Plänen. Oder die Geschichte wird von einer ihr
innewohnenden
Intelligenz (einem immanenten Geist, einer Lebenskraft
oder etwa vom ,Geschick der Menschheit’) vorangetrieben. Oder es
gibt überhaupt keine derartigen Wesenheiten, und in diesem Falle
müssen gänzlich deterministische materielle Prozesse am Werk sein.
Die beiden ersten Alternativen sind offensichtlich metaphysischer
Natur: sie sind unfalsifizierbar und bestimmt nicht wissenschaftlich.
Und die dritte geht von einem heute unhaltbaren Wissenschaftsbegriff
aus.

Nach allem bisher Gesagten dürfte klar sein, warum Popper diese

Ansichten ablehnt. Er ist Indeterminist und glaubt, daß Veränderungen
das Ergebnis unserer Versuche sind, unsere Probleme zu lösen – und
daß an unseren Problemlösungsversuchen Vorstellungskraft,
Entscheidungen, Glück und andere Faktoren Anteil haben, die sich
nicht vorhersagen lassen. Verantwortung tragen wir dabei für unsere
Entscheidungen. Sofern überhaupt ein zielgerichteter Prozeß abläuft,

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Bryan Magee – Karl Popper

109

sind wir es, die die Geschichte voranbringen – im Zusammenwirken mit
anderen Menschen, mit unserer physikalischen Umgebung (die der
Mensch als Gattung nicht geschaffen hat) und mit der Welt 3 (die der
Mensch als Gattung geschaffen hat, die das Individuum jedoch erbt
und an der es nur wenig ändern kann). Jeder Zweck, der diesem
Vorgang innewohnt, ist ihm von uns verliehen; jeden Sinn, der ihm
zukommt, haben wir ihm gegeben.

Von dieser gedanklichen Position aus greift Popper alle histo-

rizistischen Theorien an. Und am schärfsten geht er dabei mit dem
Marxismus ins Gericht – weil der Marxismus die einflußreichste
historizistische Theorie der Gegenwart ist und weil vor allem er den
Anspruch erhebt, daß die historische Entwicklung nach wissenschaft-
lichen Gesetzen verläuft und daß es uns die Kenntnis dieser Gesetze
(die der Marxismus liefert) erlaubt, die Zukunft vorherzusagen.
Technisch gesehen, argumentiert Popper, indem er zeigt, „daß es keinem
wissenschaftlichen Prognostiker –
gleichgültig ob Mensch oder Rechen-
maschine – möglich ist, mit wissenschaftlichen Methoden seine eigenen zukünftigen
Resultate vorherzusagen.“

9

Einfacher ausgedrückt, ergibt sich folgender

Gedankengang: Es läßt sich leicht zeigen, daß der Ablauf der
menschlichen Geschichte durch das Anwachsen des menschlichen
Wissens stark beeinflußt worden ist. Auch wer in unserem Wissen nur
das Nebenprodukt einer materiellen Entwicklung sieht, kann diese
Tatsache zugeben, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Aber es
ist logisch unmöglich, zukünftiges Wissen vorherzusagen: Könnten wir
das Wissen der Zukunft vorhersagen, dann würden wir bereits jetzt
darüber verfügen, und es wäre kein zukünftiges Wissen mehr; könnten
wir die Entdeckungen der Zukunft vorhersagen, dann wären es bereits
die Entdeckungen der Gegenwart. Daraus folgt: Wenn die Zukunft
überhaupt bedeutsame Entdeckungen mit sich bringt, dann ist es
unmöglich, sie mit wissenschaftlichen Mitteln vorherzusagen, auch

9

Das Elend des Historizismus, S. XII

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Bryan Magee – Karl Popper

110

wenn sie unabhängig von menschlichen Wünschen determiniert ist. Es
gibt ein weiteres Argument: Wäre die Zukunft wissenschaftlich
vorhersagbar, dann könnte sie, einmal enthüllt, nicht länger verborgen
bleiben, weil prinzipiell jeder imstande wäre, sie erneut zu aufzudecken.
Wir stünden dann außerdem vor einem Paradox der Möglichkeit
beziehungsweise Unmöglichkeit, sich der Entwicklung zu entziehen.
Schon aus diesen rein logischen Gründen bricht der Historizismus
zusammen, und wir müssen deshalb die – für den Marxismus zentrale –
Vorstellung zurückweisen, daß es eine theoretische Geschichtswis-
senschaft gibt, die der theoretischen Physik entspricht.

Wenn die Vorstellung zusammenbricht, daß sich die Zukunft mit

wissenschaftlichen Mitteln vorhersagen läßt, dann ist die Vorstellung
von der total geplanten Gesellschaft ebenfalls nicht mehr tragfähig. Sie
enthält, wie sich zeigen läßt, weitere innere Widersprüche: erstens, weil
sie keine konsequente Antwort auf die Frage ,Wer plant die Planer?’
liefert, und zweitens, weil unsere Handlungen, wie bereits gezeigt,
wahrscheinlich in jedem Falle unbeabsichtigte Konsequenzen haben.
Dieser letzte Punkt legt übrigens den Trugschluß in der Annahme
offen, von der Utopisten im allgemeinen ausgehen (Marx allerdings
nicht; der Marximus drückt sich hier deutlicher aus als große Teile der
Sozialdemokratie). Wenn eine „Gesellschaft von etwas ,Schlechtem’
betroffen ist, von etwas, das wir verabscheuen – etwa Krieg, Armut,
Arbeitslosigkeit –, dann muß das einer bösen Absicht entspringen,
einem finsteren Plan: Jemand hat es ,absichtlich’ getan; und natürlich
profitiert jemand davon. Ich habe diese philosophische Annahme die
,Verschwörungstheorie der Gesellschaft’ genannt.“

10

Poppers Angriff

gegen den Marxismus stützt sich ferner auf Argumente, die hier bereits
dargelegt wurden und deshalb nicht wiederholt zu werden brauchen.
Das wichtigste dieser Argumente ist das folgende: Marx war, als er den
(wie er es nannte) ,wissenschaftlichen Sozialismus’ propagierte, nicht

10

Popper, in Modern British Philosophy, S. 67

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Bryan Magee – Karl Popper

111

nur über die Gesellschaft im Irrtum, sondern auch über die
Wissenschaft – vertrat er doch genau die Wissenschaftsauffassung, die
Popper widerlegt zu haben glaubt. Wenn Popper die Wissenschaft
richtig sieht, dann verfügt er auch über die einzige politische
Philosophie, die wirklich wissenschaftlich ist. Außerdem – und das
kann nicht genug betont werden – richten sich dann die
Wissenschaftsfeindlichkeit und der Aufstand gegen die Vernunft, die in
unserer Zeit so stark zum Ausdruck kommen, gerade gegen ein falsches
Verständnis der Wissenschaft und der Vernunft.

Poppers Argumentation, daß wir von keinem Sinn der Geschichte

wissen können als von dem, den wir selbst ihr beilegen, beunruhigt so
manchen, der sich durch sie desorientiert und in eine Art existentieller
Leere versetzt sieht. Andere wieder befürchten, daß alle Werte und
Normen willkürlich sind, wenn Popper recht hat. Mit dem zweiten
Mißverständnis setzt sich Popper in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
auseinander:

11

„Fast alle diese Mißverständnisse gehen auf einen

fundamentalen Irrtum zurück, nämlich auf die Annahme, daß
,Konvention’ ,Willkür’ bedeutet; daß ein System ebenso gut ist wie jedes
andere, sobald wir nur die Freiheit haben, ein beliebiges normatives
System auszuwählen. Es muß natürlich zugegeben werden, daß die
Ansicht, daß Normen konventionell oder künstlich sind, ein gewisses
Element von Willkür andeutet: es kann verschiedene Systeme von
Normen geben, zwischen denen nicht viel zu wählen ist. (Diesen
Umstand hat Protagoras gebührlich betont.) Aber Künstlichkeit hat
keinesfalls völlige Willkür zur Folge. Zum Beispiel sind mathematische
Kalküle, Sinfonien, Theaterstücke in hohen Grade künstlich. Aber
daraus folgt nicht, daß ein Kalkül oder eine Sinfonie oder ein
Theaterstück ebenso gut ist wie jedes andere.“ Poppers evolutionäre
Erkenntnistheorie und besonders seine Theorie der Welt 3 liefert eine
ausführliche Erklärung dafür, warum das nicht so ist und worin seiner

11

I, S. 100

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Bryan Magee – Karl Popper

112

Meinung nach die wahre Orientierung des Menschen besteht. Diese
Theorien finden sich in Schriften Poppers, die wir bereits früher
diskutiert haben, die aber von ihm erst später veröffentlicht wurden.

Einige der Argumente Poppers gegen den Marxismus lassen sich

auch auf den Utopismus anwenden – etwa seine Argumente dagegen,
daß Gesellschaften ,hinweggefegt’ und durch etwas ,völlig Neues’
ersetzt werden können. „Die utopische Sozialtechnik kann durch die
folgende Argumentation plausibel gemacht werden. Jede rationale
Handlung muß ein bestimmtes Ziel haben. Sie ist rational in eben dem
Ausmaß, in dem sie ihr Ziel bewußt und konsequent verfolgt und in
dem sie ihre Mittel diesem Ziel entsprechend festsetzt. Die Wahl eines
Ziels ist also die erste Aufgabe, die wir lösen müssen, wenn wir rational
zu handeln wünschen; wir müssen unsere wirklichen und endgültigen
Ziele sorgfältig festsetzen, und wir müssen von ihnen jene Teil- oder
Zwischenziele klar unterscheiden, die eigentlich nur als Mittel oder als
Schritte auf dem Wege zum endgültigen Ziel in Betracht kommen:
Wenn wir diese Unterscheidung vergessen, dann vergessen wir auch
uns zu fragen, ob es wahrscheinlich ist, daß diese Teilziele das letzte
Ziel fördern; und damit hören wir auf, rational zu handeln. Auf das
Gebiet politischer Tätigkeit angewendet, verlangen die angeführten
Prinzipien die Festlegung unseres endgültigen politischen Ziels oder des
idealen Staates, bevor irgendeine praktische Handlung unternommen
wird. Nur dann, wenn dieses Ziel zumindest in rohen Umrissen
bestimmt ist, wenn wir einen Bauplan der von uns angestrebten
Gesellschaftsordnung besitzen, nur dann können wir beginnen, uns die
besten Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung zu überlegen und
einen Plan für praktisches Handeln aufzustellen.“

12

Jeder Idealist – wenn er den ernsthaften Wunsch verspürt, ein

Idealist ohne Illusionen zu sein – muß sich Poppers Argumenten gegen
alle politischen Ansätze stellen, die mit einem Plan beginnen und sich

12

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, I, S. 214

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Bryan Magee – Karl Popper

113

dann an seine Verwirklichung machen. Das erste Argument ist, daß
man, wohin die Reise auch gehen soll, gar keine andere Wahl hat, als
von dort aufzubrechen, wo man gerade steht. Wir können in der Politik
genauso wenig bei Null beginnen wie in der Erkenntnistheorie, in der
Wissenschaft oder in der Kunst. Jeder Wandel, der real ist und nicht
lediglich in der Vorstellung stattfindet, kann nur Wandel unter den
tatsächlich bestehenden Bedingungen sein. Utopisten pflegen zu
behaupten, die Gesellschaft als Ganzes müsse geändert werden, bevor
sich dies oder das ändern lasse; aber das läuft auf nichts anderes als auf
die Behauptung hinaus, daß man alles ändern muß, bevor man
überhaupt etwas ändern kann – und das ist ein Widerspruch in sich.
Zweitens werden alle Maßnahmen, die wir auch treffen mögen,
unbeabsichtigte Konsequenzen haben, die nur zu leicht unserem Plan
zuwiderlaufen. Und je umfassender die Maßnahmen angelegt sind,
desto mehr unbeabsichtigte Konsequenzen wird es geben. Wer mit
Anspruch auf Rationalität eine durchgreifende Veränderung der
Gesellschaft als Ganzes plant, setzt soziologisches Detailwissen in
einem Ausmaß voraus, wie es uns einfach nicht zur Verfügung steht.
Und wer nach utopischer Manier über Mittel und Zwecke spricht,
macht irreführenden Gebrauch von einer Metapher: In Wirklichkeit
geht es doch um eine zeitlich nahegelegene Gruppe von Ereignissen,
die man als ,Mittel’ bezeichnet, auf die eine zeitlich weiter entfernte
Gruppe von Ereignissen folgt, die man den ,Zweck’ nennt. Aber an
diese werden sich – sofern die Geschichte nicht einfach aufhört –
weitere Gruppen von Ereignissen anschließen. Deshalb ist der Zweck
in Wahrheit gar kein Zweck, sondern lediglich das zweite Glied in einer
endlosen Kette, für das man nicht ernstlich eine Sonderstellung
beanspruchen kann. Mehr noch: Die erste Gruppe von Ereignissen
liegt zeitlich näher und wird deshalb eher als die zweite, zeitlich weiter
entfernte und weniger sichere, die vorgesehene Gestalt annehmen.
Belohnungen, versprochen für die ferne Zukunft, sind unsicherer als
die Opfer, die in naher Zukunft um eben dieser Belohnungen willen

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Bryan Magee – Karl Popper

114

gebracht werden müssen. Und wenn alle Menschen gleiche moralische
Ansprüche haben, dann ist es falsch, eine Generation für die nächste zu
opfern.

Was nun den Plan selbst betrifft, so ist es unbestreitbar, daß man

über die gewünschte Gesellschaft unterschiedlicher Ansicht sein kann –
auch unter Konservativen, Liberalen oder Sozialisten im üblichen
Sinne, von den anderen ganz zu schweigen. Welche Gruppe auch
immer an die Macht kommt und bestrebt ist, ihren Plan in die Tat
umzusetzen – sie wird ihre Gegner zur Unwirksamkeit verurteilen,
wenn nicht sogar zwingen müssen, einem Zweck zu dienen, den sie
nicht billigen. Eine freie Gesellschaft kann keine allgemein verbind-
lichen sozialen Ziele vorgeben, aber eine Regierung mit utopischen
Zielen muß genau das tun und damit unvermeidlich autoritär werden.
Der radikale Umbau der Gesellschaft ist ein gewaltiges Unterfangen,
das zwangsläufig viel Zeit erfordert: Ist es nicht sehr wahrscheinlich,
daß sich soziale Ziele, Ideen und Ideale in dieser Zeit grundlegend
wandeln, zumal es definitionsgemäß eine Zeit revolutionären
Umbruchs ist? Wenn sie sich aber wirklich wandeln, dann bedeutet das,
daß die Gesellschaftsform, die einmal am erstrebenswertesten erschien,
immer weiter von der gerade erwünschten Gesellschaftsform abweicht,
je mehr man sich ihr nähert. Das gilt für die Urheber des Plans und in
noch stärkerem Maße für ihre Nachfolger, die an der Planung gar nicht
beteiligt waren. Ein anderes Argument hängt damit zusammen: Die
Planer gehören nicht nur selbst der Gesellschaft an, die sie hinwegfegen
möchten, sondern zwangsläufig sind auch ihre sozialen Erfahrungen
und folglich ihre sozialen Annahmen und Ziele, wie kritisch sie auch
sein mögen, tiefgreifend von eben dieser Gesellschaft beeinflußt. Wer
die Gesellschaft wirklich hinwegfegen will, muß auch die Planer mit
ihren Planungen hinwegfegen. Auf jeden Fall entwurzelt ein Umbau der
Gesellschaft, der radikal ist und deshalb lange dauert, sehr viele
Menschen, nimmt ihnen ihren Halt und verbreitet seelische wie
materielle Not; und es ist zu erwarten, daß sich wenigstens einige Leute

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Bryan Magee – Karl Popper

115

den Maßnahmen widersetzen, die sie derart bedrohen. Die Machthaber,
die die ideale Gesellschaft verwirklichen wollen, werden in ihnen – gar
nicht einmal ganz zu Unrecht – Menschen sehen, die sich dem durch
und durch Guten aus Eigeninteresse entgegenstellen. Die Opponenten
erscheinen damit als Feinde der Gesellschaft, und in der Folgezeit
werden sie zwangsläufig zu Opfern. Denn ideale Ziele werfen, weil sie
unerreichbar sind, lange Schatten voraus, und der Zeitraum, in dem
man Kritik und Opposition ersticken muß, wird immer länger.
Intoleranz und autoritäre Haltung nehmen zu; natürlich wollen die
Verantwortlichen dabei nur das Beste. Und gerade aus der Auffassung,
daß Absichten und Ziele ideal sind, erwächst, wenn die Ziele nach wie
vor unerreichbar bleiben, zwangsläufig die Beschuldigung, daß jemand
seine Finger im Spiel hat – Saboteure, ausländische Mächte, korrupte
Gestalten müssen am Werk sein, denn wenn Kritik an der Revolution
nicht vorgesehen ist, lassen sich Unzulänglichkeiten nur mit dem
Wirken bösartiger Kräfte erklären. Deshalb wird es notwendig, die
Schuldigen zu ermitteln und sie auszurotten, und wenn es Schuldige
geben muß, dann finden sie sich auch. Mittlerweile dürfte das
revolutionäre Regime bis zum Halse in den unvorhergesehenen
Konsequenzen seiner Maßnahmen stecken. Denn selbst wenn die
Feinde der Revolution den verdienten Lohn erhalten haben, entziehen
sich die Ziele der Revolution nach wie vor hartnäckig der Realisierung,
und die herrschende Clique bricht in ihrer Bedrängnis immer mehr
Lösungen für gerade anstehende Probleme übers Knie (Popper nennt
das ,ungeplante Planung’) – üblicherweise war das einer der Gründe
dafür, warum ihr das frühere Regime besonders verachtenswert
erschien. So vertieft sich der Graben zwischen den erklärten Zielen und
dem tatsächlichen Tun, und man agiert immer mehr wie eine
Regierung, die zynisch denkbar unutopischen Zielen nachgeht.

Natürlich erwarten wir fast alle, daß die Ordnung auch während

eines Umbaus in den wichtigsten Bereichen aufrechterhalten bleibt: die
Menschen müssen weiter mit Nahrung und Kleidung versehen,

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Bryan Magee – Karl Popper

116

untergebracht und warm gehalten werden; Kinder müssen weiter
versorgt und erzogen werden, wenn man ihnen nicht unerträgliche
Opfer auferlegen will; Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Polizei und
Feuerwehr müssen weiter funktionsfähig bleiben. Und in einer
modernen Gesellschaft sind diese Einrichtungen ohne großangelegte
Organisation undenkbar. Wer das alles mit einem Male ,hinwegfegen’
wollte, würde buchstäblich ein Chaos schaffen; und der Glaube, daraus
werde dann irgendwie eine ideale Gesellschaft entstehen, grenzt an
Wahnsinn – nicht anders als der Glaube, eine Gesellschaft, die nicht
vollkommen, sondern schlicht besser als unsere gegenwärtige ist, könne
mit größerer Wahrscheinlichkeit aus einem Chaos hervorgehen als eben
aus unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Doch so sehr wir auch von
Perfektion träumen – niemals könnten wir alles hinwegfegen und von
neuem beginnen, selbst wenn wir dazu entschlossen wären. Die
Menschheit gleicht der Mannschaft eines Schiffes auf See: Es steht ihr
frei, jeden Teil des Schiffes umzubauen, das sie trägt; sie kann sogar das
ganze Schiff umbauen – aber eben nur abschnittweise, nicht mit einem
Schlage.

Der Wandel kommt nie zum Stillstand. Aus diesem Grunde verliert

bereits die Vorstellung vom Plan einer guten Gesellschaft ihren Sinn,
denn selbst wenn die Gesellschaft schließlich dem Plan entspräche,
würde sie sofort beginnen, sich wieder von ihm zu entfernen. Ideale
Gesellschaften bleiben also nicht nur deshalb unerreichbar, weil sie
ideal sind, sondern auch, weil sie statisch, festgeschrieben und
unveränderlich sein müßten, um überhaupt einem Plan zu entsprechen
– und so wird keine Gesellschaft aussehen, die wir voraussagen können.
Der soziale Wandel scheint seinen Schritt mit jedem Jahr zu
beschleunigen, nicht zu verlangsamen. Und dieser Prozeß findet, so
weit wir sehen können, noch kein Ende. Deshalb muß sich ein
politischer Ansatz, will er überhaupt eine Chance haben, der Realität
gerecht zu werden, nicht mit dem Zustand der Dinge befassen, sondern
mit ihrem Wandel, Uns stellt sich nicht die unlösbare Aufgabe, eine

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Bryan Magee – Karl Popper

117

bestimmte Gesellschaftsform zu errichten und zu bewahren; wir sind
vielmehr dazu aufgerufen, die Veränderungen, die im endlosen Prozeß
des Wandels Zustandekommen, möglichst gut in der Hand zu behalten
und diese Macht weise zu gebrauchen.

Weil die Gesellschaft niemals vollkommen sein wird, sind Fragen

wie ,Was ist die ideale Gesellschaftsform?’ rein akademischer Natur.
Tatsächlich lehnt Popper ,Was ist?’-Fragen grundsätzlich ab. Fragen wie
,Was ist Schwerkraft?’ und ,Was ist Leben?’ sind für den Fortschritt in
der Wissenschaft so unerheblich wie die Fragen ,Was ist Freiheit?’ und
,Was ist Gerechtigkeit?’ für den Fortschritt in der Politik.

13

Genauso

abzulehnen sind verkleidete ,Was ist?’-Fragen – zum Beispiel die Frage
,Ist Großbritannien eine Demokratie?’, aus der sich prompt die Frage
ergibt ,Was verstehen Sie unter Demokratie?’ oder ,Was ist
Demokratie?’ Derartige Fragen stellen einen quasimagischen Versuch
dar, das Wesen der Realität in einer Definition zu erfassen, und Popper
hat ihren Gebrauch deshalb als ,Essentialismus’ gebrandmarkt. In der
Politik führt der essentialistische Ansatz fast selbstverständlich zum
Utopismus und zu dogmatischen Konflikten. Wirklich wichtige Fragen
sehen eher so aus: ,Was sollten wir in dieser Lage tun?’ ,Was schlagen
Sie vor?’ Auf solche Fragen gibt es Antworten, die man fruchtbar
diskutieren und kritisieren und, wenn sie sich dabei bewähren, praktisch
erproben kann. Was nicht vorgeschlagen wird, läßt sich nie in die Praxis
umsetzen. In der Politik kommt es also, wie in der Wissenschaft, nicht
darauf an, Begriffe zu analysieren, sondern Theorien kritisch zu
diskutieren und der Prüfung durch die Erfahrung zu unterwerfen.

Autoritäre politische Strukturen sind den gleichen verfehlten Vor-

stellungen von Sicherheit und den gleichen verfehlten methodo-
logischen Annahmen verhaftet wie die traditionelle Wissenschafts-
auffassung. Die Argumente, die Popper zur Kritik der Ansicht
heranzieht, es sei in der Politik möglich oder man solle sich gar das Ziel

13

Siehe S. 32 u. S. 51

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Bryan Magee – Karl Popper

118

setzen, einen bestimmten Zustand der Gesellschaft anzustreben und zu
bewahren, sind deshalb Punkt für Punkt die gleichen Argumente, die
seiner Kritik der Ansicht zugrundeliegen, es sei in der Wissenschaft
möglich oder man solle sich gar das Ziel setzen, sicheres Wissen zu
erlangen und zu bewahren. Und Poppers Auffassung, daß die
Wissenschaft in der wissenschaftlichen Methode besteht, sowie seine Sicht
dieser Methode, sind auf jeder Ebene mit seiner Auffassung verknüpft,
daß die Politik in der politischen Methode besteht, und mit seiner Sicht
dieser Methode. In beiden Fällen ermuntert uns Popper, mit Gefühl und
Phantasie einen unaufhörlichen Rückkopplungsprozeß zu nutzen, in
dessen Verlauf neue Ideen kühn vorgeschlagen und beständig der
strengen Fehlereliminierung im Lichte der Erfahrung unterworfen
werden. Popper nennt diesen Ansatz in der Philosophie ,kritischer
Rationalismus’, in der Politik ,Stückwerk-Sozialtechnik’. Dieser Aus-
druck ist aus drei Gründen unglücklich gewählt: ,Stückwerk’ hat
gewöhnlich schon eine abwertende Bedeutung und hier den weiteren
Nachteil, daß der Radikalismus der vorgeschlagenen Methode ver-
schleiert wird; und ,Technik’ hat, auf Menschen angewandt, uner-
freuliche Nebenbedeutungen. ,Stückwerk-Sozialtechnik’ klingt herzlos,
aber Popper tritt denkbar leidenschaftlich für dieses Verfahren ein und
bringt dafür einige denkbar humane Argumente vor.

Ich habe versucht zu zeigen, wie Poppers Philosophie aus einem

Guß ist, und mich dabei im vorliegenden Buch auf die logischen
Argumente und ihre Wechselbeziehungen konzentriert. Noch wichtiger
jedoch sind die moralischen Argumente. Für sie und für so vieles, mit
dem wir uns hier nicht befassen konnten, sei der Leser auf die Bücher
von Karl Popper verwiesen.

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Bryan Magee – Karl Popper

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Nachtrag

Die Originalausgabe dieses Buches erschien 1973. (Inzwischen liegt die
zehnte englische Auflage vor.) Bei der Abfassung konnte ich auf viele
unveröffentlichte Schriften Poppers zurückgreifen, die mittlerweile das
Licht der Welt erblickt haben. Ich konnte mich damals im Text zwar
noch nicht auf sie beziehen, aber ich habe sie bei meiner Darstellung
von Poppers Gedanken berücksichtigt. Weil diese Schriften aber
mittlerweile zugänglich sind, muß jetzt etwas über sie gesagt werden.

Während des ganzen Arbeitslebens von Popper war es durchaus

nichts Ungewöhnliches, daß sich die Veröffentlichung seiner Bücher
um Jahrzehnte verzögert hat. Sein erstes Buch, Die beiden Grundprobleme
der Erkenntnistheorie,
schrieb Popper in den Jahren 1930 bis 1933, aber es
erschien erst 1979. Sein zweites Buch, Logik der Forschung, erschien
gleich 1934, in der einflußreicheren englischen Übersetzung aber erst
fünfundzwanzig Jahre später. In der Zwischenzeit hatten sich Poppers
Gedanken zu einigen der Themen, die in dem Buch behandelt werden,
gewandelt oder zumindest weiterentwickelt. Poppers Absicht war es
zunächst, hierauf in einem Postskript zur englischen Ausgabe
einzugehen. Aber das Postskript nahm unter seiner Hand einen solchen
Umfang an, daß es zu einem selbständigen Buch wurde. Man beschloß,
es als Begleitband zu veröffentlichen, und die Logik der Forschung
erschien separat. Das PostScript war inzwischen, 1956/57, abgesetzt
worden, aber die Veröffentlichung verzögerte sich ständig. Auf den
Druckfahnen sammelte sich unterdessen eine Fülle neuen Stoffes an,
und das Buch wurde mit der Zeit immer umfangreicher. Das dauerte
bis 1962, dann wendete sich Popper schließlich der Arbeit an anderen
Problemen zu. Die Folge war, daß von einem seiner umfangreichsten
und wichtigsten Werke ein Vierteljahrhundert lang lediglich die Fahnen
vorlagen. Erst 1982/83 wurde es veröffentlicht, und selbst das ist nicht
unmittelbar Popper zu verdanken, sondern der Initiative von W.W.

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Bryan Magee – Karl Popper

120

Bartley III, der als Herausgeber fungierte. Dr. Bartley beschloß auch,
das Werk in drei Bänden zu veröffentlichen, jeweils mit dem Untertitel
From the Postscript to the Logic of Scientific Discovery. Die deutsche Ausgabe
wird, ebenfalls in drei Bänden, unter dem Titel Postskript zur Logik der
Forschung
erscheinen. Die Titel der einzelnen Bände lauten Realism and
the Aim of Science – Der Realismus und das Ziel der Wissenschaft; The Open
Universe: An Argument for Indeterminism – Das offene Universum; Quantum
Theory and the Schism in Physics – Die Quantentheorie und das Schisma in der
Physik.
Popper war achtzig, als die Bände erschienen; er hatte sie aber
verfaßt, als er auf der Höhe seiner Schaffenskraft stand, und sie
enthalten einige seiner wertvollsten Gedanken.

1974 gab P.A. Schilpp in der Library of Living Philosophers eine

zweibändige Darstellung von Poppers Philosophie heraus. Sie umfaßt
vier Teile: im ersten stellt Popper seine intellektuelle Entwicklung dar,
der zweite enthält dreiunddreißig kritische Artikel namhafter Autoren,
der dritte ist Poppers „Antwort an meine Kritiker“ und der vierte eine
vollständige Bibliographie bis zum Jahre 1974. Poppers Autobiographie
erschien 1976 selbständig als Unended Quest und 1979 in deutscher
Übersetzung unter dem Titel Ausgangspunkte.

Es bleibt eine Fülle von unveröffentlichten Arbeiten. Bis alle

erschienen sind, werden wohl noch Jahrzehnte vergehen. Unter
anderem handelt es sich um zwei Bände, die schon seit mehreren
Jahren als abgeschlossenes Typoskript vorliegen. Beide sind Samm-
lungen kürzerer Arbeiten. Ihre Arbeitstitel lauten Philosophy and Physics
(eine bewußte Anspielung auf Heisenbergs Physik und Philosophie) und
The Myth of the Framework. Besondere Aufmerksamkeit im letztge-
nannten Band verdient eine ausführliche Kritik des soziologischen und
politischen Gedankenguts der Frankfurter Schule. Im übrigen enthalten
Poppers unveröffentlichte Schriften eine Anzahl schöpferischer
Beiträge zu Themen, über die er wenig oder nichts publiziert hat. Für
den Leser also wird sich Poppers Philosophie noch über viele Jahre
hinweg weiterentwickeln.

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Bryan Magee – Karl Popper

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Bücher von Karl Popper

Logik der Forschung, Wien: Springer, 1934 [mit Jahreszahl 1935]; 8., weiter verb. u. verm. Aufl.
Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), 1984 – The Logic of Scientific Discovery, London:
Hutchinson, 1959; l0th rev. ed., 1980

The Open Society and Its Enemies, I: The Spell of Plato; II: The High Tide of Prophecy: Hegel, Marx, and

the Aftermath, London: Routledge & Kegan Paul, 1945; 12th ed. 1977 – Die offene Gesellschaft
und ihre Feinde, I: Der Zauber Platons; II: Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen,
Bern:
Francke, 1957/58; 6. Aufl. 1980 (UTB 472/473)

The Poverty of Historicism, London: Routledge & Kegan Paul, 1957; 9th ed. 1976 – Das Elend des

Historizismus, Tübingen: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), 1965; 6. durchges. Aufl. 1987

Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, London: Routledge & Kegan Paul,

1963; 7th ed. 1978 – Vermutungen und Widerlegungen, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck),
in Vorbereitung Objective Knowledge: An Evolutionary Approach, Oxford: Clarendon, 1972; 6th
rev. & expanded ed. 1981 — Objektive Erkenntnis: Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg:
Hoffmann u. Campe, 1973; 4. überarb. u. erg. Aufl. 1984

Unended Quest: An Intellectual Autobiography, London: Fontana/Collins, 1976; 6th rev. ed. 1982

[verbesserte Version von „Autobiography of Karl Popper“, The Philosophy of Karl Popper, in
The Library of Living Philosophers, hrsg.v. P.A. Schlipp, LaSalle, Ill.: Open Court, 1974] -
Ausgangspunkte: Meine intellektuelle Entwicklung, Hamburg: Hoffmann u. Campe, 1979; 2. Aufl.
1982

The Self and Its Brain: An Argument for Interactionism (zus. m. John C. Eccles), Berlin, Heidelberg,

London, New York: Springer, 1977; corr. 2nd printing 1985 – Das Ich und sein Gehirn,
München: R.Piper, 1982; 5. Aufl. 1985

Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund v. Manuskripten a. d. Jahren 1930-1933

hrsg. v. T.E.Hansen, Tübingen: J.C.B.Mohr (Paul Siebeck), 1979

Offene Gesellschaft, offenes Universum. Franz Kreuzer im Gespräch mit Karl R. Popper, Wien: Franz

Deuticke, 1982; 3. Aufl. 1983

From the Postscript to the Logic of Scientific Discovery ist der Untertitel der drei Bände Realism and the

Aim of Science; The Open Universe: An Argument for Indeterminism; Quantum Theory and the Schism
in Physics;
hrsg. v. WilliamW.Bartley III, London: Hutchinson, 1982/83 – Postskript zur Logik
der Forschung, I: Der Realismus und das Ziel der Wissenschaft, II: Das offene Universum, III: Die
Quantentheorie und das Schisma in der Physik,
Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), in

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Vorbereitung Auf der Suche nach einer besseren Welt: Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren,
München: R. Piper 1984

Der Leser wird außerdem auf Poppers Beiträge zu folgenden Sammelwerken verwiesen:

Modern British Philosophy, hrsg. v. Bryan Magee, London: Secker & Warburg, 1971

The Philosophy of Karl Popper, hrsg. v. P.A. Schilpp, LaSalle, Ill.: Open Court, 1974

Eine ausgewählte Bibliographie der Schriften Karl Poppers findet sich in
Ausgangspunkte: Meine intellektuelle Entwicklung


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