Angel Bd06 Jeff Mariotte Hollywood Noir

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Angel : Jäger der Finsternis. - Köln : vgs

(ProSieben-Edition)

Der Preis der Unsterblichkeit / Jeff Mariotte.

Aus dem Amerikan. von Antje Görnig. - 2001

ISBN 3-8025-2851-4










Das Buch »Angel -Jäger der Finsternis.

Der Preis der Unsterblichkeit« entstand nach der gleichnamigen

Fernsehserie (Orig.: Angel) von Joss Whedon und David Greenwalt,

ausgestrahlt bei ProSieben.

© des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher

Genehmigung der ProSieben Televisions GmbH

Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001. Titel der amerikanischen

Originalausgabe: Angel. Hollywood Noir.

und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation.

All Rights Reserved.

© der deutschsprachigen Ausgabe:

Egmont vgs Verlagsgesellschaft, Köln 2001

Alle Rechte vorbehalten.

Lektorat. Beate Sauer

Produktion: Wolfgang Arntz

Umschlaggestaltung: Sens, Köln

Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001

Satz: Kalle Giese, Overath

Druck: Clausen & Bosse, Leck

Printed in Germany

ISBN 3-8025-2851-4

Besuchen Sie unsere Homepage im WWW:

www.vgs.de

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Prolog



Das Haus stand auf der Argyle Avenue südlich des Hollywood
Boulevards fast genau in der Mitte zwischen Hollywood und Sunset
Boulevard. Seit es im Jahr 1921 erbaut worden war, hatte es als Hotel
gedient, als Schneiderei, über der Wohnungen lagen, als Bürogebäude
und schließlich als Zufluchtsstätte für Obdachlose und Ausreißer. Zuletzt
hatte es jedoch vier Jahre lang leer gestanden. Die Sperrholzplatten vor
den Fenstern waren über und über mit Graffitis verziert, die Türen
vernagelt und die Klinken längst abmontiert. Die meisten Menschen
gingen vorüber, ohne Notiz von dem verfallenden Bau zu nehmen.
Natürlich erzählten sich die Kids gelegentlich – wie dies wohl bei leer
stehenden Gebäuden so üblich ist – es spuke darin. Aber niemand
glaubte das wirklich.

Ein hoher Maschendrahtzaun umgab das Grundstück und versperrte

auch den Gehweg. Auf den Schildern, die am Zaun hingen, stand:
»Gehsteig gesperrt! Bitte andere Seite benutzen!«, »Betreten ohne
Schutzkleidung verboten!«, »Handys verboten!« und »Hunde fern
halten!«.

Die Presslufthämmer, die im Innern des Gebäudes ertönten, zerlegten

das Haus Mauer um Mauer, Stein um Stein. Staubwolken stiegen aus den
Fensterhöhlen. Da das alte sechsstöckige Bauwerk zu dicht an der Straße
und den Nachbargebäuden stand, durfte es nicht gesprengt werden. Eine
schmale Gasse führte zu seiner Rückseite. Auf einem Parkplatz, wo
früher die Menschen, die im Haus gearbeitet hatten, ihre Autos abgestellt
hatten, türmte sich nun der Bauschutt. Sobald das Geröll zur Müllkippe
transportiert worden war, würde an diesem Ort eine kleine
Einkaufspassage entstehen: Ein Kaufhaus, eine Reinigung, ein Pizza-
Imbiss.

Stadtbild-Erneuerung à la Hollywood.
»Hören Sie«, sagte Barry Fetzer. »Ich muss ins Haus!«
Randy Blake kaute auf einem Zahnstocher und musterte Fetzer kritisch

durch den Maschendraht. Seine Schutzbrille hatte er auf die Stirn
geschoben. Der Staub, den die Abbrucharbeiten verursachten, flimmerte
in der Luft und sank nur langsam zu Boden. Randy trug ein kariertes
Flanellhemd über seinem fleckigen grauen T-Shirt, Jeans, die mit

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unzähligen Farbspritzern übersät waren, Arbeitsstiefel und einen
Schutzhelm. Barry Fetzer dagegen war in einen Anzug gekleidet, der
vermutlich so viel gekostet hatte, wie Randy in einer Woche verdiente –
dabei war Randy nicht nur Gewerkschaftsmitglied, sondern auch
Vorarbeiter.

»Das geht aber nicht!«, rief Randy über den Baustellenlärm hinweg.
»Ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich bin ...«
»Das spielt keine Rolle! Selbst wenn Sie der Gouverneur persönlich

wären, kämen Sie nicht ohne Schutzhelm und Arbeitsstiefel auf diese
Baustelle. Haben Sie einen Schutzhelm?«

»Sie könnten mir Ihren leihen.«
Randy nahm den Helm ab und zeigte ihn Fetzer. Auf die Oberseite des

Helms hatte er sorgfältig mit großen schwarzen Buchstaben den Namen
»Blake« geschrieben.

»Heißen Sie Blake?«, fragte er.
»Nein, ich sagte doch, ich heiße Fetzer. Barry Fetzer.«
Randy setzte seinen Helm wieder auf. »Dann können Sie diesen Helm

nicht haben.«

»Hören Sie«, drängte Barry und fuhr mit den Fingern durch sein

silbermeliertes Haar. »Warum machen Sie es mir so schwer, Mister
Blake?«

Randy kaute auf seinem Zahnstocher und überdachte die Frage.
»Vielleicht, weil ich hier ein Gebäude habe, das im Begriff ist

auseinander zu fallen«, antwortete er schließlich. »Und Sie tanzen hier
ohne Papiere an, mit keinem anderen Ausweis als Ihrem Führerschein
und erzählen mir, Sie kämen vom Amt für Wasser- und
Energieversorgung und müssten unbedingt dieses Gebäude betreten.
Also, erstens gibt es da drin kein Wasser, und zweitens ist es dort sehr
gefährlich – und Sie, Mister Setzer, sehen mir ehrlich gesagt nicht nach
einem Mann aus, der Erfahrung im Umgang mit gefährlichen Situationen
hat.«

»Ich verlange ja gar nicht, dass Sie die Verantwortung übernehmen«,

entgegnete Barry entrüstet. »Außerdem heiße ich Fetzer.«

»Das hier ist meine Baustelle«, erklärte Randy. »Ich bin der

Vorarbeiter. Und daher liegt hier alles in meiner Verantwortung. Wenn
Sie keine amtliche Bestätigung oder etwas Ähnliches anbringen,
kommen Sie auch nicht in dieses Gebäude. Warten Sie noch ein paar
Tage. Falls Sie nach irgendetwas suchen, können Sie dann meinetwegen
auf der Müllkippe den Schutt durchkämmen.«

Fetzer hob verärgert die Arme. Randy beobachtete ihn amüsiert und

wartete gespannt, ob der Kerl nun auch noch wie ein kleines Kind mit

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dem Fuß aufstampfen würde.

»Wie war noch Ihr Name?«, fragte Fetzer schließlich.
Randy wies auf die Beschriftung seines Schutzhelms. Fetzer hatte

mittlerweile ein kleines Notizbuch aus der Tasche seines italienischen
Seidenanzugs gezogen und kritzelte gewissenhaft etwas hinein. Sichtlich
verärgert klickte er mit dem Kugelschreiber, klappte das Notizbuch zu
und steckte es wieder weg. »Also, Mister Blake, Sie können sicher sein,
dass Ihre Vorgesetzten davon erfahren!«

»Das hoffe ich«, entgegnete Randy. »Eine Lohnerhöhung könnte ich

gut gebrauchen.«

Fetzer machte auf dem Absatz seiner Bruno Magis kehrt, boxte wütend

gegen das blaue Plastikgehäuse der Baustellen-Toilette und stürmte
davon. Randy sah ihm nach, wie er Richtung Sunset Boulevard
verschwand.

In diesem Augenblick kam Jimmy Socolich auf ihn zugeeilt. Der

Bauarbeiter machte einen völlig verschreckten Eindruck. »Boss!«, rief
er. Da Jimmy fast jeden mit »Boss« ansprach, war diese Anrede nicht
unbedingt ein Zeichen von Respekt.

»Was ist los, Jimmy?«
»Müssen Sie sich ansehen, Boss! Sofort!« Jimmys Stimme zitterte

leicht – vor Aufregung oder vielleicht auch vor Angst. Er war noch nicht
sehr lange im Land und sprach mit schwerem Akzent.

»Was? Was ist denn?«
»Kommen Sie, Boss! Werden schon sehen!«
Randy setzte die Schutzbrille auf und folgte dem kompakten, drahtigen

Socolich die Treppe hinauf in den vierten Stock. Dort wurde er durch
eine erstaunlich gut erhaltene Holztür geführt, deren Glaseinsatz –
ebenfalls erstaunlicherweise – nicht zerbrochen war. In einem Raum, der
einmal als Büro gedient hatte, standen drei Arbeiter vor einer Wand.
Randy drängte sich zwischen sie. »Was ist los?«, fragte er.

»Schauen Sie mal, Randy!«, sagte Crystal Stiles. Sie zeigte auf eine

Art Wandschrank. »Da ist eine Backsteinmauer.«

»Ja und?«, fragte Randy. In diesem Gebäude gab es viele

Backsteinmauern. Ziegel gehörten zwar in Los Angeles nicht zu den
gebräuchlichsten Baumaterialien, aber gänzlich ungewöhnlich waren sie
nun auch wieder nicht.

»Die Mauer befindet sich an der falschen Stelle«, sagte Crystal.

»Schauen Sie doch nur! Sie steht ungefähr einen halben Meter vor der
eigentlichen Wand.«

Randy sah sich die Wand genauer an. Crystal hatte Recht: Der

Wandschrank war im Innern nicht so tief wie er von außen aussah, denn

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eine zweite Mauer stand gut einen halben Meter vor der eigentlichen
Rückwand. Die Backsteinmauer war offenbar nachträglich eingebaut
worden, was bedeutete, dass sich dahinter unter Umständen ein Versteck
befand.

»Und wie die Wand gemauert ist!«, fuhr Crystal fort. »Ist ja

schrecklich!«

Randy sah sich die Fugen an. Eine schlampige, amateurhaft

ausgeführte Arbeit. Diese Mauer hätte wohl nicht sehr lange gehalten,
wenn sie nicht durch den Wandschrank gestützt und breiter als ein, zwei
Meter gewesen wäre.

»Na, worauf wartet ihr?«, fragte er. »Legt los!«
»Jawoll, Sir«, entgegnete Crystal enthusiastisch. Sie hob ihren

Hammer, nahm das Ziel ins Visier und schlug zu. Ein Teil der Mauer
zerfiel zu Schutt und Staub.

»Gut getroffen!«, sagte Randy und klopfte Crystal auf die Schulter.

»Jetzt wollen wir mal Licht da drin machen. Wer hat die Lampe?«

Jimmy Socolich reichte Randy eine Taschenlampe, mit der er in das

Loch leuchtete, das Crystal geschlagen hatte. Er ließ den Lichtstrahl
durch den schwarzen Innenraum gleiten. In der Tat war diese Mauer
nachträglich eingebaut worden!

In diesem Moment fiel sein Blick auf etwas sehr Seltsames.

Erschrocken hielt er inne und betrachtete, was er gefunden hatte.

Als ihm übel wurde, reichte er die Taschenlampe nach hinten weiter.

»Seht euch das mal an!«, sagte er.

Crystal schnappte sich die Lampe und leuchtete ebenfalls in das Loch.

Randy konnte einfach nicht wegsehen. Er quetschte sich neben Crystal
und spähte mit ihr durch die Öffnung.

In dem Hohlraum zwischen den beiden Mauern lag eine Leiche. Sie

war Jahrzehnte alt. Bis auf vereinzelte Hautfetzen, an denen noch ein
paar Haarsträhnen klebten, hatten Insekten den knochigen Schädel
sauber freigelegt. Überbleibsel eines Anzugs hingen an dem
vertrockneten Körper. Als der Lichtkegel über die leeren Augenhöhlen
und die grinsenden Zähne glitt, schien sich die Leiche zu bewegen, als
erwachte sie zu neuem Leben.

Randy spürte, wie Crystal zu zittern begann.
Dann spürte er noch etwas anderes. Einen kalten, übel riechenden

Lufthauch, der aus der Öffnung drang und durch ihn hindurch blies.
Randy zitterte nun ebenfalls heftig.

Ihm schien, als hätte etwas Unreines seinen Körper gestreift. So

musste es sich anfühlen, wenn tausende Kakerlaken über einen herfielen,
dachte er. Es juckte ihn überall.

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Hinter ihm zitterte auch Jimmy Socolich und fiel zum Gebet auf die

Knie.

Die übrigen Arbeiter vermieden es, sich anzusehen; plötzlich war

jedem von ihnen die Anwesenheit der anderen unangenehm.

»Randy...«, setzte Crystal an.
»Ja?«, fragte er.
»Ach, ist egal.«
Er sah auf seine Stiefel. »Nichts anfassen!«, sagte er, während er den

Blick auf die abgewetzten Kappen seiner Schuhe gerichtet hielt. »Ich
rufe die Polizei.«

»Ja, tun Sie das!«, entgegnete Crystal.
Als Randy nach unten ging, um sein Handy zu suchen, kniete Jimmy

Socolich immer noch auf dem Boden.



























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Angel fand keine Ruhe.

Er saß hinter seinem Schreibtisch und starrte ins Leere. Im vorderen

Büroraum schwatzten und lachten Cordelia und Doyle miteinander.
Angel nahm ihr Geplänkel nur am Rande wahr. Cordy, ein begnadeter
Ex-Cheerleader, war von Sunnydale nach Los Angeles gezogen und
hatte sich in Angels Detektei unabkömmlich gemacht. Doyle, zur Hälfte
Dämon und zur Hälfte Mensch, empfing Botschaften von den Mächten
der Ewigkeit. Angel schätzte sowohl Cordy als auch Doyle sehr. Aber in
diesem Augenblick war ihm nicht unbedingt nach ihrer Gesellschaft zu
Mute.

Er überlegte, ob er doch aufstehen und sich zu ihnen gesellen sollte.

Gleichzeitig dachte er, dass er sich wieder einmal informieren musste, ob
irgendetwas in der Stadt vorging, von dem er wissen sollte. Aber jeder
neue Gedanke löste nur den vorangegangenen ab. Letztlich verwarf er
sie allesamt und tat gar nichts.

Während Angel weiterhin ins Leere starrte, fragte er sich, was nur mit

ihm los war.

»Was hat Angel für ein Problem?«, wandte sich Cordelia an Doyle. »Ich
habe vor ein paar Minuten meinen Kopf reingesteckt, um zu prüfen, ob
unser Chef überhaupt noch atmet. Ich wollte nur nachsehen, ob er noch
... ähm, du weißt schon, was ich meine. Aber dann fiel mir wieder ein,
dass es bei ihm ja kein Kriterium ist, ob er atmet oder nicht. Letztendlich
habe ich dann doch ein Blinzeln bemerkt, also brauchen wir vermutlich
keinen Rettungswagen für Vampire ...«

»Ich glaube, er langweilt sich«, sagte Doyle und fuhr sich mit dem

Fingern durch sein schwarzes Haar. »Gestern abend haben wir
miteinander geredet, und er meinte, es wäre wieder mal so weit. Er kriegt
anscheinend einen depressiven Schub.«

»Das hat Angel gesagt?«
»Na ja, also, ich musste schon ein wenig zwischen den Zeilen lesen.«
»Nun, wir alle haben unsere Depressionen und Launen, aber manche

von uns helfen sich damit, shoppen zu gehen oder 'ne Tablette zu

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nehmen oder so. Hat ihm noch niemand erklärt, wie man so etwas
überwindet?«

»Du kennst ihn länger als ich, Cordy«, entgegnete Doyle. »Aber du

musst bedenken, dass er jetzt schon an die zweihundertfünfzig Jahre
gelebt hat. Ich würde ihn lieber nicht fragen wollen, ob es vielleicht
irgendetwas gibt, was er noch nicht erlebt hat, besonders, was die ersten
hundert Jahre, seine vergeudete Jugend, anbelangt. Er sagte, manchmal
könne er sich nicht gegen das übermächtige Gefühl wehren, schon alles
gesehen und erlebt zu haben.«

Cordelia stand von ihrem Schreibtisch auf und kam zur Couch, auf der

Doyle sich lümmelte. Im Zusammenspiel mit seinem knallblauen Hemd
schienen seine strahlend blauen Augen noch mehr zu leuchten als
gewöhnlich. Er trug eine dunkle Lederjacke und dunkle Hosen. Eigent-
lich sah er gar nicht schlecht aus. Cordy war nicht abgeneigt, sich
irgendwann einmal von ihm ausführen zu lassen – irgendwann, wenn er
ausnahmsweise einmal nicht pleite war.

»Klingt ja, als hättet ihr ein echtes Männer-Gespräch geführt.« In

Cordelias Stimme lag, unüberhörbar, ein gewisser Sarkasmus.

»Ja, ein echtes Männer-Gespräch!«, entgegnete Doyle mit seinem

unverkennbaren irischen Akzent. »Ganz ernsthaft, mit viel
gegenseitigem Schulterklopfen. Außerdem haben wir einiges getrunken.
Angel zwar Schweineblut, aber immerhin ...Wir haben nur darauf
verzichtet, uns am Ende brüderlich um den Hals zu fallen.«

Cordelia verdrehte die Augen. »Muss ja ein echtes Ereignis gewesen

sein. Wart ihr in einem öffentlichen Lokal? Vermutlich ja nicht, wenn
Angel Blut getrunken hat...«

»Mein Getränk kam aus einer Flasche, nicht vom Metzger.«
»Stimmt, versteht sich von selbst!« Cordelia setzte sich neben Doyle

und fuhr im Flüsterton fort: »Warum ist Angel aber trotz eurer Männer-
Gespräche und -Getränke immer noch so gelangweilt? Ich sage es ja nur
ungern, weil ich nicht eingeladen war, aber ihr scheint einen wirklich
lustigen Abend miteinander verbracht zu haben.«

»Einen Abend lang mit den Kumpeln zu zechen – mit einem Kumpel

besser gesagt – wiegt nicht unbedingt ein paar hundert Jahre Eintönigkeit
auf. Angel sagte, die Eröffnung der Detektei...«

»Wozu ich ihn gedrängt habe ...«, bemerkte Cordelia stolz.
»Genau! Jedenfalls sagte Angel, er habe gehofft, die Detektei würde

ihn bei Laune halten. Er hatte sich vorgestellt, jeder neue Klient käme
mit einem ungewöhnlichen, spannenden Fall zu ihm. Von seinem Sessel
aus würde er alle Dimensionen der menschlichen Existenz kennen ler-
nen...«

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»Von seinem Sessel aus?«
»Mein Gott, nimm doch nicht immer alles so wörtlich!«, entgegnete

Doyle genervt. »Was jedoch seine letzten drei Fälle angeht, die waren
mehr als ... na was schon!«

Cordelia dachte einen Augenblick nach. »Ich verstehe«, sagte sie leise.

»Erstens, der entlaufene Kater Mister Stripey. Zweitens der Typ mit dem
Eisenwarengeschäft, der den Verdacht hatte, von seinen Lieferanten
betrogen zu werden – großes Gähnen! Oh ja, und dann ist Mister Stripey
nochmal weggelaufen.« Sie spähte durch das Fenster, das die beiden
Zimmer verband, zu Angel hinüber, der mit glasigem Blick immer noch
genauso da saß wie zuvor. »Okay, diese Frustration kann ich
nachvollziehen. Vielleicht sollten wir Mrs. Finnegan ein Kärtchen mit
einer fiktiven Adressänderung schicken, damit sie uns nicht findet, wenn
Mister Stripey das nächste Mal wegläuft.«

»Das gefällt mir so an dir, Cordy«, bemerkte Doyle kichernd. »Du hast

überhaupt kein Gewissen!«

»Ich habe sehr wohl ein Gewissen«, protestierte sie gekränkt. »Na ja,

zumindest dann, wenn ich eines haben will. Außerdem wird dem
Gewissen sowieso meistens zu viel Bedeutung zugemessen, im realen
Leben jedenfalls. Ich meine, sieh dir doch Angel an! Meinst du, er würde
da in seinem Büro verstauben, wenn er kein Gewissen hätte? Nein, dann
würde der alte Angelus losziehen und beißen, töten und verstümmeln
und sich wunderbar amüsieren.«

»Korrekt«, pflichtete Doyle ihr bei. »Und er würde mit denen

anfangen, die ihm am nächsten stehen – mit uns zum Beispiel.«

»Das stimmt! Dann sind wir so vielleicht besser dran. Lieber ein

gelangweilter Angel als einer, der Amok läuft. Aber ich finde trotzdem,
wir sollten uns etwas ausdenken, um ihn ein wenig aufzumuntern,
ihm...«

Sie hielt mitten im Satz inne. Doyle hatte sich plötzlich kerzengerade

aufgesetzt. Er presste seine Hände gegen den Kopf.

»Was ist, Doyle? Hast du eine Idee?«
Doyle schüttelte nur den Kopf und wand sich. Offenbar litt er starke

Schmerzen. Cordelia begriff, dass es um Größeres ging: Er hatte eine
Vision.

Doyles Visionen, die ihm von den Mächten der Ewigkeit geschickt

wurden, handelten immer von jemandem, der sich in Schwierigkeiten
befand. Was wiederum bedeutete, dass es etwas für Angel zu tun gab.
Etwas, das ihn aus seinem Stimmungstief befreien konnte.

»Eine Vision?«,fragte sie hoffnungsvoll. »Aberbitte eine gute, Doyle!«

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Einen Augenblick später war die Vision schon wieder vorbei, und

Doyle ließ stöhnend seinen Kopf los. »Au Mann, das tut echt weh«,
beschwerte er sich.

»Ja, aber es hätte zu keinem günstigeren Zeitpunkt kommen können,

nicht wahr?«

Angel stand plötzlich im Türrahmen und blickte die beiden fragend an.
»Wow, es tut sich etwas!«, bemerkte Cordelia im Flüsterton.
»Doyle, hattest du eine Vision?«, fragte Angel knapp.
»Eine sehr verschwommene. Nicht viele Details. Stattdessen

Unmengen von Schmerzen.«

»Er hat selten so elend ausgesehen«, fügte Cordelia fröhlich hinzu.
»Um was ging es denn?«
»Ich weiß es gar nicht genau.« Doyle massierte sich den Nacken.

»Eigentlich habe ich nur einen Namen und eine Adresse bekommen:
Betty McCoy, 20047 Sunset Boulevard Nummer 819.«

»Was für ein Problem sie hat, weißt du nicht?«, hakte Angel nach.
»Keine Ahnung«, antwortete Doyle.
Angel sah aus dem Fenster. Draußen wurde es bereits dunkel. »Dann

werde ich es wohl herausfinden müssen.« Er notierte sich die Adresse
auf einem Zettel und steckte ihn in die Tasche.

»Können wir irgendetwas tun?«, fragte Doyle.
»Bevor wir genauer wissen, was mit Betty McCoy los ist, nicht«,

erklärte Angel. »Wartet einfach hier! Es wird nicht lange dauern.«

Durch seine Wohnung, die unter dem Büro gelegen war, ging Angel

direkt in die Tiefgarage. Dort wartete sein 1968er Belvedere GTX
Kabrio. Er kletterte in den offenen Wagen, ohne die Tür zu öffnen.

»Endlich!«, dachte er. »Ein Ziel! Eine echte Aufgabe!«
In letzter Zeit war wenig zu tun gewesen, und er fühlte sich innerlich

zerrissen: Einerseits wollte er der armen Betty McCoy – wer auch immer
sie war – nichts Schlechtes wünschen, andererseits hoffte er jedoch auf
einen spannenden Fall. So spannend, dass er ihn eine Weile ablenkte.

Doyle und Cordy nahmen an, er sei gelangweilt. Aber das war nicht

sein wirkliches Problem. Angel ließ die beiden in diesem Glauben, weil
es zu kompliziert war, ihnen zu erklären, was ihm tatsächlich fehlte.
Sicherlich war er das immer gleiche Einerlei leid. Es gab nicht viel, was
man nach über zweihundertfünfzig Jahren auf der Erde noch nicht erlebt
oder gesehen hatte. Die Namen und Gesichter wechselten zwar im Laufe
der Zeit und gelegentlich sorgte eine technische Neuerung für
Aufregung, aber im Großen und Ganzen änderte sich kaum etwas. Die
Menschen verhielten sich mehr oder weniger immer gleich. Hatten sie
sich früher am Feuer Geschichten erzählt, saßen sie nun mit der Familie

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vor dem Fernseher. Und die Chatrooms im Internet waren nur ein
modernes Spiegelbild der Kneipen und Cafes, die es schon seit Jahrhun-
derten gab. Äußerlich mochte sich im menschlichen Miteinander so
manches geändert haben, das eigentliche Wesen der Dinge jedoch blieb
davon unberührt.

Aber Angels momentanes Stimmungstief hatte noch einen ganz

anderen Beweggrund, von dem er Doyle nichts erzählt hatte: Er fing
allmählich an zu glauben, dass er gar nichts bewirkte. Während der
vergangenen einhundert Jahre hatte er versucht, die Gräueltaten wieder
gutzumachen, die er in den hundertfünfzig Jahren zuvor begangen hatte.
Aber je mehr er sich bemühte, desto weniger war er überzeugt, dass ihm
dies jemals wirklich gelingen würde. Er hatte bereits unzählige Leben
gerettet – aber vielleicht lag genau darin das Problem. Natürlich war es
eine gute Sache, dass er schon vielen Menschen das Leben hatte retten
können. Aber umso größer war die Menge der Menschen, von denen er
niemals auch nur ahnen würde, dass etwas Grauenhaftes sie bedrohte.
Die Zahl derer, dachte Angel, denen er hatte helfen können, war
vergleichsweise gering. Wenn er seine Zeit auf Erden betrachtete, hatte
er immer noch den Eindruck, als überwöge das Böse, das er getan hatte,
das Gute. Zusätzlich peinigte ihn die Vorstellung, dass er im Grunde
ganz unwichtig war. Er befürchtete, eigentlich gar nichts erreicht und
weder positive noch negative Spuren hinterlassen zu haben, wenn er von
der Erde verschwand und die, die ihn kannten, erst einmal gestorben
waren.

Diese entmutigende Vorstellung war weitaus mehr für seinen Verdruss

verantwortlich als die Langeweile, wie Doyle annahm. Der Langeweile
konnte man mit Taten Abhilfe schaffen, aber wie sollte er dem
eigentlichen Übel zu Leibe rücken? Wie konnte er dieser Welt etwas
Bleibendes hinterlassen?

Aber nun war nicht die richtige Zeit, um sich darüber den Kopf zu

zerbrechen. Er musste sich um Betty McCoy kümmern.

In Hollywood angekommen, bog Angel nach rechts auf den Sunset

Boulevard ab. Der Verkehr floss gleichmäßig dahin. Aber an der breiten
Straße folgte eine Ampel auf die andere. Er schien in eine rote Welle
geraten zu sein. Hoffentlich gab es bei Bettys Problem keinen Zeitdruck!

Als Angel die Adresse erreichte, die Doyle ihm gegeben hatte, zog er

das Stück Papier aus der Tasche und überprüfte die Angaben noch
einmal. Kein Zweifel: Er war am richtigen Ort – Sunset Boulevard, wie
er aufgeschrieben hatte.

Er zuckte mit den Schultern, kletterte aus dem Kabrio und blieb auf

dem Gehsteig vor den schmiedeeisernen Toren des Friedhofs von

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Hollywood stehen.

Die Angaben aus Doyles Vision konnten nicht falsch sein. So etwas

gab es bei den Mächten der Ewigkeit nicht. Vielleicht hatte Doyle die
Adresse fehlerhaft wiedergegeben, vielleicht ein paar Zahlen vertauscht,
aber sehr wahrscheinlich war das nicht. Die Vision hatte ja überhaupt nur
aus dem Namen und der Adresse bestanden, und alles war Doyle noch
ganz unmittelbar in Erinnerung gewesen. Nein, er hatte bestimmt nichts
durcheinander gebracht.

Angel drückte versuchsweise gegen das Tor. Es war nicht verschlossen

und öffnete sich mit einem Quietschen, das aus einem altmodischen
Horrorfilm hätte stammen können. Als er den Friedhof betrat, bemerkte
er das kleine Wachhäuschen am Eingang, das leer zu sein schien.

Endlose Reihen von Grabsteinen standen auf einer weiten Rasenfläche,

die in einiger Entfernung zu einem sanften Hügel anstieg. Da und dort
erhoben sich größere Tafeln oder Skulpturen über die einfachen
Grabsteine. Dazwischen ragten einzelne Mausoleen auf. Nur der Mond
und die Straßenlaternen auf der anderen Seite des hohen Zauns warfen
ein wenig Licht auf das Friedhofsgelände.

Angel sah niemanden, der wie Betty McCoy aussah. Er sah überhaupt

keine Menschenseele. Also ging er langsam los.

Nach einigen Minuten kam jemand auf ihn zu. Aber das konnte Betty

McCoy nicht sein, falls es sich bei ihr nicht um einen fünfzigjährigen
Wachmann handelte, dem der Bauch über die Gürtelschnalle hing. Der
Mann hatte eine Taschenlampe dabei, und an seinem Sam-Browne-
Gürtel baumelte ein Schlagstock.

»Entschuldigen Sie«, sagte Angel zögernd, als der Wachmann

näherkam. »Ist der Friedhof geöffnet?«

»Man soll die Leute nicht daran hindern, ihre Lieben zu besuchen«,

entgegnete der Wachmann. »Wir haben bis neun Uhr geöffnet. Aber
bewacht wird die Anlage rund um die Uhr.«

Angel sah auf die Uhr. Kurz nach halb acht.
»Suchen Sie jemand Bestimmtes?«, fragte ihn der Wächter.
»Betty McCoy«, sagte Angel. »Nummer 819.«
»Oh, Betty«, entgegnete der Wachmann lächelnd. »Das ist gleich da

hinten!«

»Er kennt sie!«, dachte Angel. Das vereinfachte die Sache merklich.
Ein seltsamer Ort, um nach einer Frau zu suchen, die in

Schwierigkeiten steckte – aber an Merkwürdigkeiten war Angel im
Umgang mit Leuten, die Probleme hatten, ja gewohnt.

Er folgte dem Wachmann den Hügel hinauf und auf der anderen Seite

wieder hinunter. Drei Gräberreihen weiter bog der Uniformierte vom

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Hauptweg ab, und sie betraten die Rasenfläche.

Der Wachmann blieb vor einem Stein stehen, knipste die

Taschenlampe an und richtete sie auf den Grabstein. Dieser war nur
klein. Kein Wort zu viel stand darauf.

Elizabeth McCoy, 1939-1964 – mehr nicht.
»Hier ist Betty«, erklärte der Mann. »Grab Nummer 819. Ein Gast des

Staates. Ich lasse Sie jetzt allein. Sie finden mich am Tor, wenn Sie
etwas brauchen.«

»Danke«, entgegnete Angel.
Der Wachmann ging davon. Angel blieb einige Minuten vor dem

Grabstein stehen und wünschte, Doyles Vision wäre nur dies eine Mal
ganz klar und verständlich gewesen.

Schließlich beugte er sich vor und strich über den kalten Stein. »Lass

mich wissen, was ich für dich tun kann, Betty«, sagte er sanft. »Ich bin
immer für dich da.«

Als er keine Antwort erhielt, verließ er den Friedhof und fuhr wieder

nach Hause.























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Manche Lokale führten einen Namen, der ihnen entsprach. Bei anderen
wiederum war er bewusstes Understatement. Und dann gab es noch
Namen wie »Rialto Lounge«, die erheblich großartiger klangen, als für
das Lokal angemessen war.

Früher einmal war die Rialto Lounge ihres schicken Namens würdig

gewesen – und das war mehr, als man von manch anderem Laden sagen
konnte. In den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren, in der
Glanzzeit der Martini-Kultur, wie Joe Gagliardi die Ära gern bezeich-
nete, hatte die Bar sowohl Berühmtheiten als auch einfache Leute
angelockt. Die Rat Pack-Leute – Frankie, Dean, Joey, Sammy und all die
anderen – hatten von Zeit zu Zeit hereingeschaut, um Jazz zu hören und
Highballs zu trinken und sich dabei von den Bürgerlichen zusehen zu
lassen. Die Garderobieren und die Mädchen mit den Zigaret-
tenbauchläden hatten Uniformen getragen, bei denen es eher aufs
Dekolletee als auf die Zweckmäßigkeit ankam, und davon geträumt, von
einem Schauspieler, Produzenten oder Sänger auf die Sonnenseite des
Lebens entführt zu werden.

Das hatte Joe durch die Zeitungsausschnitte und Fotos erfahren, die an

der Wand hinter der Bar klebten; nicht aus persönlicher Kenntnis. Seit
jenen Tagen hatte man die Bar immer weiter verkleinert. Die nach und
nach abgetrennten Räumlichkeiten wurden an Buchläden und Mas-
sagesalons, einen Perückenladen und ein Tattoo-Studio vermietet. Das
Innere der Rialto Lounge hatte mittlerweile eine merkwürdige Form
erhalten: eng im Eingangsbereich und geräumig hinten an der Bar.

Joe Gagliardi arbeitete dort nun schon seit dreizehn Jahren als

Spätschicht-Barkeeper. Weder liebte er seine Tätigkeit besonders, noch
hasste er sie. Es war ein Job. Er arbeitete fünf Tage die Woche, hatte
eine Woche Urlaub pro Jahr und konnte sich krank melden, wenn es
nötig war. Er verdiente nicht besonders viel Geld, aber es genügte, um
die Miete für sein Apartment vier Blocks weiter zu bezahlen, seinen
1977erToyotaTercel aufzutanken, die Gefriertruhe mit Tiefkühlgerichten
und den Kühlschrank mit Bier und Soda zu füllen. Im Urlaub fuhr er mit
dem Tercel an einen Strand an der Golfküste von Mexiko, saß in der
Sonne, angelte und trank, während seine Haut rot wurde und verbrannte.

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Das Anstrengendste an seinem Job war, fand er, dass er sich immer

wieder dieselben alten Geschichten anhören musste. Betrunkene hatten
die Angewohnheit, sich ständig zu wiederholen – außer Betrunkenen
kehrte in die Rialto Lounge niemand mehr ein.

Joes Leben verlief recht eintönig. Er stand gegen elf Uhr auf, rasierte

sich und duschte, sah ein bisschen fern und kam dann um ein Uhr
mittags zur Arbeit. Zu diesem Zeitpunkt war die Hardcore-Sauferei
längst in vollem Gange – im Grunde ging sie los, wenn Lew die Bar um
sechs Uhr morgens öffnete – aber es war immer noch ruhig im Vergleich
zu fünf oder sechs Uhr abends, wenn die Leute von der Arbeit
hereinströmten. Den ganzen Abend zapfte Joe Bier vom Fass, schenkte
Whisky aus, wischte Wasserkränze und verschüttete Getränke von der
blank geriebenen Holztheke, spülte Gläser und hörte sich traurige Ge-
schichten an von gescheiterten Beziehungen, erwachsen gewordenen
Kindern und weggelaufenen Geliebten. Um neun Uhr warf er Handtuch
und Schürze in den Korb für schmutzige Wäsche und ging nach Hause,
um sich ein Tiefkühlgericht heiß zu machen und vor dem Fernseher zu
sitzen, bis es Zeit war, schlafen zu gehen und wieder von vorn
anzufangen.

Der Abend, an dem der Fremde die Bar betrat, war - bis zu diesem

Augenblick - nicht anders als alle anderen Abende verlaufen. Aber nun
versprach er doch eine Abwechslung.

Schon als der Kerl hereinkam, spürte Joe, dass an ihm etwas

merkwürdig war. Das lag nicht nur an seiner Kleidung. Das Revers der
Anzugjacke war schmal, die Hose weit, die dunkle, schmale Krawatte
mit drei Querstreifen verziert. Komplettiert wurde das Ganze von einem
braunen Filzhut mit breiter Krempe, wie er Humphrey Bogart zur Ehre
gereicht hätte. Wenn man jedoch in Hollywood die Leute nach ihrer
Kleidung beurteilte, konnte man schnell einmal den kommenden
DiCaprio, Ribisi oder Prinze brüskieren – oder den derzeitigen.

Aber das Outfit war nicht das einzig Seltsame an dem Mann, obwohl

es einen ersten Hinweis lieferte. Auffällig war auch seine Haltung und
seine Art, sich zu bewegen. Er kam zur Tür hereinstolziert, als gehörte
ihm das Lokal, und drehte sich abrupt in die Richtung, wo früher einmal
die Garderobe gewesen war. So etwas hatte Joe noch nicht gesehen. Die
Leute schlichen in der Regel in die Rialto Lounge, sie schlüpften
verschämt herein – oder kamen bereits betrunken angetorkelt und
konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. In dieses Lokal kam man
nicht, um gesehen zu werden; man kam, um seinem Leben zu entfliehen
und das Bewusstsein in Alkohol zu ertränken.

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19

Der Mann mochte Mitte dreißig sein. Er war fit und gesund, und er

war nüchtern. Mit seinen klaren hellblauen Augen schien er jedes Detail
im Lokal zu prüfen und zu registrieren. Seine Nase musste ein, zwei Mal
gebrochen sein, denn sie war ein bisschen krumm. Eine Zigarette
klemmte zwischen seinen Lippen.

Verblüfft betrachtete der Fremde die Wand, wo einmal die Garderobe

gewesen war, drehte sich um und kam zielstrebig auf Joe zu, der gerade
dabei war, Gläser abzutrocknen.

»Sie sind aber nicht Bert!«, sagte der Mann, als hätte er fest damit

gerechnet, diesen hinter der Theke anzutreffen.

»Stimmt, bin ich nicht.«
»Wo ist Bert denn?«
»Hier arbeitet niemand, der Bert heißt. Ich glaube, ich kenne nicht

einmal einen Bert, um ehrlich zu sein.«

»Das ist doch die Rialto Lounge, oder?«
»Ja, sicher.«
»Bert hat abends hier gearbeitet, als ich zuletzt vorbeigeschaut habe.«
»Tja, jetzt arbeitet er aber nicht hier.«
Der Typ sah sich wiederum und inspizierte den Bereich hinter der

Theke, als hätte sich Bert irgendwo versteckt.

»Tut er also nicht. Wo ist denn die Zigarettenverkäuferin?«
Joe blinzelte erstaunt. »Die Zigarettenverkäuferin?«, wiederholte er

kichernd. »Kumpel, man darf hier nicht mal rauchen! Im Ernst...« Er
knallte einen Aschenbecher auf die Theke. »Machen Sie ihre Kippe aus,
bevor ich 'ne Anzeige kriege.«

Der Typ blickte verwirrt drein, drückte aber die Zigarette aus. Joe

leerte den Aschenbecher und räumte ihn sofort wieder weg. Die meisten
der Stammkunden waren zu sehr mit Trinken beschäftigt, um das
Gespräch überhaupt mitzubekommen, geschweige denn, sich über den
Rauch zu beschweren.

»Man kann hier nicht rauchen?«, fragte der Typ völlig perplex. »Was

ist das denn für ein Laden?«

»Die Rialto Lounge, wie Sie sagten.«
»Sieht mir aber nicht danach aus«, entgegnete der Typ. »Keine

Garderobe, keine Zigarettenverkäuferin, keine Bühne für Musik. Wissen
Sie überhaupt, wie man einen Martini oder einen Tom Collins mixt?«

»Wenn Sie ein Bier und einen Whisky wollen, Kumpel, kann ich Ihnen

helfen. Wenn Sie etwas Komplizierteres wollen, stehen Sie dumm da.
Und erzählen Sie mir nichts von Weinkühlern oder süffigen
Chardonnays, sonst muss ich Sie mit raus nehmen und
zusammenschlagen.«

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Der Typ betrachtete ihn aus seinen blassblauen Augen.
»Ich glaube, mir hat Bert besser gefallen«, sagte er. »Was ist mit Hal?

War Hal letzte Zeit hier?«

»Hal wer? Noch jemand, der hier nicht arbeitet?«
»Wechsler heißt er. »Hal Wechsler. Kommt ständig hierher.«
»Ich kenne niemanden, der Wechsler heißt«, sagte Joe.
Der Typ griff in die Tasche und zog eine goldene Klammer hervor, in

der zusammengefaltete Geldscheine steckten. Er zog eine Fünf-Dollar-
Note heraus und legte sie auf die Theke, Gesicht nach oben. Joe grinste
auf Abe Lincoln herab, als er den Schein mit der Hand von der Theke
wischte und in seiner Tasche verschwinden ließ.

»Kennen Sie Hal immer noch nicht?«, fragte der Typ.
»Ich habe immer noch nicht von ihm gehört.«
Blitzschnell streckte der Mann die Hände aus und packte Joe am

Hemdkragen. Er riss seinen Kopf nach unten, und Joes Kinn krachte auf
die Theke. In dieser Position hielt ihn der Typ fest und kam ihm mit
seinem Gesicht ganz nah.

»Kumpel, ich glaube ich mag Sie nicht«, knurrte er durch die

zusammengebissenen Zähne. »Ich glaube, Sie sind nicht ehrlich zu mir.
Ich gebe Ihnen jetzt ein paar Sekunden, damit Sie ihre Meinung ändern
können und aufhören, Unsinn zu reden. Können Sie mir folgen?«

»Ich ... kann Ihnen folgen«, keuchte Joe. Er bekam fast keine Luft

mehr. »Aber ich kenne diese Leute nicht, von denen Sie reden. Vielleicht
ist es der falsche Laden, oder so. Ich weiß es nicht. Wenn ich etwas
wüsste, würde ich es Ihnen sagen.«

Mit einem energischen Stoß ließ der Mann Joe los.
»Das klingt schon besser«, sagte er. Er zog eine Visitenkarte aus der

Tasche und legte sie auf die Theke. »Wenn Ihnen etwas einfällt, rufen
Sie mich an! Verstanden?«

»Okay«, antwortete Joe. »Verstanden.«
Der Mann drehte sich um und ging hinaus. Joe sah ihm hinterher, bis

die Tür hinter ihm zugefallen war. Dann nahm er die Visitenkarte und
betrachtete sie. In der Mitte war ein großes stilisiertes Auge gezeichnet.
Darüber stand der Name Mike Slade, darunter »Privatdetektiv« und eine
Telefonnummer mit nur fünf Zahlen.

Joe rieb sich den Hals und beobachtete die umstehenden Trinker.

Niemand blickte zu ihm hinüber. Wenn jemand den Zwischenfall
überhaupt bemerkt hatte, gab er sich jedenfalls größte Mühe, so zu tun,
als hätte er nichts gesehen.

Mike Slade blieb auf dem Gehsteig stehen und blinzelte in das Licht

der hohen Laterne auf der anderen Straßenseite. Natürlich war es ein

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wenig optimistisch gewesen anzunehmen, dass sie immer noch in der
Bar arbeitete. Zu viele Jahre waren inzwischen vergangen, wie er mit
einem Blick auf das Datum der Zeitungen festgestellt hatte, die auf der
Straße verkauft wurden. Aber manche Menschen blieben Jahrzehnte am
gleichen Ort, ohne ihr Leben großartig zu verändern. Und da das Lokal
seine heißeste Spur war, hatte er gehofft, auch Betty wäre nicht
fortgegangen.

Er wandte den Kopf und blickte zu dem verwitterten Schild mit dem

Schriftzug »Rialto Lounge«. Es sah genau so aus, wie er es im
Gedächtnis hatte: Es ragte in Form eines Saxophons schräg in die Straße
hinaus und war verziert mit verschnörkelten Leuchtbuchstaben.
Allerdings hatte das Schild früher Tag und Nacht geblinkt, und man hatte
den zuckenden Neonschriftzug schon von weitem erkennen können. Nun
waren nur noch die Neonröhren zu sehen, die schon lange nicht mehr
leuchteten.

Alles war anders als früher. Mike Slade gefiel dies gar nicht.
Zum Beispiel die Autos, die auf der Straße vorbeifuhren. Sie waren

klein und kastenförmig und boten einen merkwürdigen Anblick. Manche
Marken erkannte er – Ford und Chevrolet und gelegentlich einen Dodge
– aber nicht die Modelle. Manche sahen nicht einmal wie Autos aus; sie
wirkten eher wie Lieferwagen; allerdings waren sie schnittiger und
hatten mehr Fenster als diese.

Auch das Benehmen der Insassen hatte sich verändert. Sie spähten

argwöhnisch durch fest verschlossene Scheiben aus ihren Autos. Slade
war es gewöhnt, dass die Leute mit offenem Fenster fuhren, den linken
Ellbogen heraushängen ließen, rauchten, Handzeichen gaben und gele-
gentlich Nachbarn zuwinkten.

Alles war anders, wurde ihm klar. Nicht besser, nur anders.
Alles bis auf ihn selbst. Mike fühlte sich wie immer. Vielleicht waren

seine Methoden mittlerweile veraltet, aber er musste die Dinge nehmen,
wie sie waren. Die Welt hatte sich weitergedreht, während er schlief. Nur
er war immer noch der Alte, weil er von all dem nichts mitbekommen
hatte. Daran konnte er nichts ändern.

Er hatte begriffen, was geschehen war. Wie und warum, wusste er

zwar noch nicht, aber er würde es herausfinden. Fragen zu beantworten
war schließlich die Aufgabe eines Privatdetektivs. Und das genau war er.
Ein Schnüffler. Ein Spion. Ein privater Ermittler.

Wenigstens war er das bis zu dem Tag gewesen, an dem er ermordet

worden war.

An diesen Tag erinnerte er sich noch sehr gut; an jede einzelne

Sekunde. Der zwölfte November 1961 war ein frischer Herbsttag

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gewesen. Während der Nacht zuvor hatte es geregnet. Die Stadt war wie
reingewaschen gewesen und hatte in der Sonne geglänzt, als er von
seinem Apartment oben am Hollywood Boulevard zu seinem Büro auf
der Argyle Avenue unterwegs gewesen war.

»Take Five«, wie er sich erinnerte. Als er Lamont zugewinkt hatte, der

den Zeitungskiosk an der Ecke betrieben hatte, und das Bürogebäude
betreten hatte, war er zu Bobby Darins »Lazy River« übergegangen.
Elvis Presley hatte damals gerade ein paar Schallplatten herausgebracht,
aber aus seiner Musik hatte sich Slade nicht viel gemacht.
Unglücklicherweise schien dieser Rock 'n' Roll jedoch damals ziemlich
gut anzukommen.

Und dann ... In der Empfangshalle begrüßte er Philip, den Liftboy, der

ihn mit in den vierten Stock nahm. Als er den Schlüssel ins Schloss der
Tür von Suite Nummer 411 steckte, bemerkte er, wie leicht er sich
drehen ließ – zu leicht.

Slade war sofort mit der Hand an seiner Pistole, aber bevor er sie

ziehen konnte, riss jemand die Tür von innen auf. Er wurde von hinten
angerempelt und in sein Büro geschubst. Als er wieder auf die Beine
kam, war die Tür bereits verschlossen und verriegelt. Erblickte in die
Läufe von zwei stupsnäsigen 38ern.

»Du hast die freundlichen Warnungen ignoriert, Kumpel«, drohte ihm

einer der Kerle, ein Blonder mit Igelfrisur, der zu seinem schwarzen
Nadelstreifen-Anzug abgewetzte braune Halbschuhe trug. Der andere
Typ, dunkelhaarig, die lange Mähne mit Pomade zurückgekämmt, hatte
einen grauen, ausgebeulten Anzug getragen, dazu aber glänzend polierte
schwarze Schuhe.

»Ich höre nicht auf Warnungen von Ganoven wie Wechsler«, erklärte

Slade. »Und ihr könnt ihm sagen, wenn er eine Nachricht für mich hat,
soll er selbst kommen.«

»Er hat keine Nachrichten mehr für dich«, antwortete der Blonde.
»Genau«, ergänzte der Dunkle fröhlich. »Außer der Letzten: Er bat

uns, dir Good-bye zu sagen.«

Dann eröffnete er das Feuer.
Slade erinnerte sich an die ersten Blitze aus dem Pistolenlauf. Er

erinnerte sich auch daran, einen Blick auf Wechsler erhascht zu haben,
der aus einem Versteck in der Ecke trat. Er war merkwürdig gekleidet
gewesen, hatte einen flatternden schwarzen Umhang oder etwas Ähnli-
ches getragen. Aber Slade hatte ihn nicht gut erkennen können. Und
dann hatte er gar nichts mehr gesehen.

Die Schüsse selbst hatte er nicht mehr gehört.

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Danach war nichts mehr gewesen. Keine Dunkelheit, keine Stille,

keine Leere.

Als sein Schlaf gestört worden war, und er das Bewusstsein

wiedererlangt hatte, war es ihm erschienen, als wäre überhaupt keine
Zeit vergangen. Aber das stimmte natürlich nicht, wie ihm gleich in dem
Augenblick klar geworden war, in dem das Abrisskommando die Wand
durchbrochen hatte, die ihn gefangen gehalten hatte.

Zuerst hatte ihn diese Erkenntnis erschreckt. Slade hatte begriffen,

dass er tot gewesen war, nun aber wieder lebte. Er wusste, dass er auf
irgendeine Weise die Gesetze der Natur verletzt hatte. Eigentlich sollte
er nicht mehr auf dieser Welt sein.

Er hatte in einem anderen leer stehenden Gebäude in der Nähe

Zuflucht gesucht und dort zusammengekauert verharrt und auf die –
ebenso fremdartigen wie wohlbekannten – Geräusche von Los Angeles
gelauscht. Es mussten einige Stunden vergangen sein, bis er bemerkte,
dass er die Kälte des Betonbodens tatsächlich spürte, die durch seine
Kleidung drang. Er fuhr mit den Fingern über die Steinmauer und fühlte,
wie rau die Oberfläche war. Dann leckte er über die Steine und genoss
den staubigen Geschmack auf seiner Zunge. Offenbar funktionierten alle
seine Sinne wieder.

Den Rest des Tages blieb er in seinem Versteck, bevor er schließlich

den Mut hatte, es zu verlassen. Er verbrachte einige Zeit damit, sich neu
zu orientieren. Wo früher die Garage gewesen war, in der er seinen 58er
Plymouth Valiant abgestellt hatte, befand sich nun eine Art chinesischer
Donut-Laden. Deshalb ging er davon aus, dass sein Auto längst
verschwunden war.

Letztendlich war es der Gedanke an Wechsler, der ihn aus seinem

Versteck trieb. Er hatte keine Ahnung, wie lange er tot gewesen war oder
welches Jahr man nun schrieb. Aber wenn Wechsler in dieser fremden
Zukunftswelt noch lebte, dann sollte er für seine Verbrechen bezahlen.
Dieser Fall war noch nicht abgeschlossen. Und Mike Slade gab erst auf,
wenn ein Fall gelöst war, und er den Schuldigen gestellt hatte. So wollte
er es auch weiterhin halten.

Aber er brauchte einen Ausgangspunkt. Die Fährte war natürlich

mittlerweile kalt. Wenn sogar die einst so noble Rialto Lounge
vergammelt war, musste sich vieles verändert haben.

Veronica war in der Lage, ihn auf den neuesten Stand zu bringen;

dessen war er sich gewiss. Seit Veronica Chatsworth im Alter von
achtzehn mit dem Bus aus Indianola, Iowa, gekommen war, war sie fast
sieben Jahre lang seine Sekretärin gewesen. Mike entdeckte eine

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Telefonzelle an der nächsten Ecke, ging darauf zu und kramte ein Fünf-
centstück aus der Tasche.

Die Telefonzelle hätte gut aus einem Flash-Gordon-Film stammen

können, dachte er. Immerhin waren jedoch noch Nummern auf dem
Apparat – auf einem Tastenblock, nicht auf einer Wählscheibe, aber das
war leicht zu durchschauen – und es gab einen Schlitz für Münzen.

Der Hinweis über dem Schlitz besagte allerdings, dass ein

Ortsgespräch fünfunddreißig Cents kostete. Das war" glatter Wucher!
Ein Mittagessen für fünfunddreißig Cents, das mochte ja noch angehen,
aber ein Anruf sollte nun wirklich nicht mehr als fünf Cents kosten!

Eine andere Münze besaß er nicht. Er hatte immer eine Münze in der

Tasche gehabt, falls er dringend telefonieren musste. Eine Münze und
die Scheine in seiner Geldklammer.

Empört verließ er die Telefonzelle und wartete auf dem Hollywood

Boulevard, bis ein Taxi vorbeikam. Er winkte und pfiff und stieg hinten
ein, als der Wagen anhielt. Der Fahrer schien Ausländer zu sein,
jedenfalls war sein Name so lang wie Slades Arm. Aber als er ihm die
Adresse von Veronica Chatsworth in Silver Lake gab, nickte der Fahrer,
lächelte und trat aufs Gaspedal. Slade lehnte sich zurück und sah sich die
merkwürdige neue Welt an, die am Fenster vorbeizog.




















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25


3



Detective Kate Lockley stand in dem Abrissgebäude auf der Argyle
Avenue in Hollywood und sah zu, wie ein paar Beamte vom Dezernat
für ungeklärte Todesfälle die Überreste eines zerfallenen Skeletts in
einen Leichensack scharrten. Wahrlich kein schöner Anblick!

Charles Frezzano, der mit dem Fall betraute Spurensicherungsexperte

des LAPD, hatte stundenlang den Fundort untersucht. Nachdem der
Bautrupp den Fund gemeldet hatte, war das Gebäude von den ersten
Beamten vor Ort abgesperrt worden. Wenige Minuten später hatte man
Kate informiert, und Frezzano war etwa eine halbe Stunde nach ihr
eingetroffen.

Es gab viele Orte, an denen Kate den Abend lieber verbracht hätte. In

diesem Gebäude gab es fast keine Fenster mehr und nur noch wenige
Wände. Unten brüllten die Generatoren und große Scheinwerfer auf
Stativen tauchten das Gebäude in Licht. Aber da Frezzano den Leichen-
fundort in einem möglichst unveränderten Zustand brauchte, verbreiteten
die Lampen im vierten Stock nur ein sehr schwaches Licht. Heizgeräte
gab es überhaupt nicht. Kate zog den Reißverschluss ihrer weichen
Lederjacke zu, nahm sich ein Paar Handschuhe und beobachtete
Frezzano, während er den Raum langsam und systematisch durchsuchte.

Nach einer Stunde streifte er frustriert seine Latexhandschuhe ab und

schob sie in die Tasche. »Das Verbrechen liegt Jahrzehnte zurück, Kate.
Ich würde sagen, plus/ minus vierzig Jahre. Und seitdem sind ständig
Leute in diesem Gebäude ein- und ausgegangen.«

»Also gibt es keine Spuren mehr?«
»Sag niemals nie«, entgegnete er nachdenklich. Er war um die fünfzig

und gewissermaßen schon seit Ewigkeiten bei der Spurensicherung. Eine
Schildpattbrille mit dicken Gläsern dominierte sein schmales Gesicht.
Seine dichten Haare waren weiß. »Jedoch findet hier das Gesetz von der
abnehmenden Wahrscheinlichkeit Anwendung. Ich werde mal genauer
hinter diese Mauer schauen, denn der Raum auf der Rückseite war so
lange von der Welt abgeschnitten, wie der Tote sich dort befand. Sobald
sie die Leiche aus dem Weg geschafft haben, sehe ich mir dieses Verließ
mal an. Vielleicht gibt es noch Spuren an der Mauer.«

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»Ist einen Versuch wert. Und was können Sie anhand der Leiche noch

herausfinden?«

Frezzano sah sie über den Rand seiner dicken Brille an. »Also,

bestimmt die Todesursache. Auf den ersten Blick würde ich sagen, wir
werden Schusswunden finden. Hoffentlich gibt es in diesem Rattenloch
weitere Hinweise.«

»Das wäre hilfreich«, pflichtete ihm Kate bei.
»Zweifelsohne. Aber auf viel würde ich nicht hoffen.«
»Glauben Sie, man kann das Opfer identifizieren?«, fragte sie.
Frezzano strich sich mit seinen langen, dünnen Fingern übers Kinn.

»Möglich«, entgegnete er ohne viel Enthusiasmus. »Es gibt keine Haut
mehr an den Fingern, von der man Abdrücke nehmen könnte.
Zahnarztunterlagen aus den Fünfzigern und Sechzigern sind keine so
zuverlässige Quelle wie heutzutage. In dieser Zeit hat sich der Mord
ereignet, vermute ich. Aber den Zeitraum werden wir bald einengen
können und dann sehen wir, wo wir stehen.«

Kate drehte sich langsam um die eigene Achse und taxierte den Raum,

als wollte sie ihn zwingen, sein Wissen zu offenbaren. »Sie wollen mir
also sagen, Charles, dass wir im Grunde gar nichts haben.«

Er kicherte. »Kate, niemand erwartet von Ihnen, dass Sie alle Fälle

lösen. Und schon gar keine, die vierzig Jahre zurückliegen!«

»Das sagen Sie!«
»Ich werde Sie anrufen und wissen lassen, was ich herausfinden

konnte. Sie brauchen nicht länger hier zu warten.«

»Danke, Charles!« Kate verabschiedete sich und stieg die Treppen

hinab. Unterwegs nickte sie einigen Beamten zu, die das Gebäude
absicherten. Sogar zu dieser frühen Morgenstunde hatte sich eine kleine
Zuschauermenge versammelt, und ein Team von den Fernsehnachrichten
war mit Kameras, Lichtern und einem Reporter aufgetaucht. In
Hollywood drehte sich einfach alles ums Showbiz!

Die Beamten hatten die Mitarbeiter der Abrissfirma versammelt, um

sie zu befragen. Diese Männer und Frauen wurden nun schon Stunden
über ihre Arbeitszeit hinaus auf der Baustelle festgehalten. Sie hatten
ihre Familie anrufen und die Abendpläne absagen können, aber bevor sie
nicht ihre Aussage gemacht hatten, saßen sie in Hollywood fest.

Mittlerweile waren fast alle verhört worden. Einer der Letzten war ein

kräftiger Mann namens Blake. Er war der Vorarbeiter und hatte die
Polizei verständigt. Officer Johannsen sprach gerade mit ihm, und Kate
trat dazu.

»Sind Sie Mister Blake?«, fragte sie.
»Bin ich«, antwortete der Mann müde.

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»Ich weiß, es war ein ungeheuer langer Tag für Sie, Mister Blake«,

sagte Kate mitfühlend. »Dafür entschuldige ich mich.«

»Sie können ja nichts dafür!«
»Nein, kann ich nicht. Aber ich habe vor herauszufinden, wer dafür

verantwortlich ist. Die Tat liegt nach ersten Erkenntnissen an die vierzig
Jahre zurück. Der Tote, den Sie oben gefunden haben, war definitiv das
Opfer eines Mordes.«

»Tut mir Leid zu hören, Madam.« Blake hatte vor Müdigkeit schwere

Augenlider und Ringe unter den Augen, aber es war immer noch ein
Funkeln in ihnen. Sein buschiger Schnurrbart zuckte, als er lächelte. »Ich
wünschte, ich könnte Ihnen helfen, aber ich muss Ihnen sagen, dass ich
vor vierzig Jahren noch nicht auf dieser Baustelle gearbeitet habe.«

»So lange sind Sie ja wohl auch noch gar nicht auf der Welt!«,

entgegnete Kate. »Aber es wäre schön, wenn Sie sich daran erinnern
könnten, ob Ihnen während der Abrissarbeiten irgendetwas aufgefallen
ist. Rufen Sie mich an, wann immer Ihnen etwas einfällt! Auch, wenn es
etwas ist, das Ihnen völlig unwichtig erscheint. Bei der Lösung eines so
alten Falls kann für uns jedes noch so kleine Detail von Bedeutung sein.«

»Was meinen Sie denn mit >etwas<?«, fragte Blake.
»Na ja, etwas eben«, entgegnete Kate. Sie wusste, das war zu vage,

aber sie konnte wirklich unmöglich sagen, was in einem Fall wie diesem
bedeutsam sein konnte. Sie suchte nach konkreten Beispielen. »Eine
Visitenkarte, die irgendwo an einem Türpfosten klemmt. Ein Fußabdruck
im Mörtel dieser gemauerten Wand. Einfach alles, was uns Hinweise auf
jemanden liefern könnte, der sich damals in diesen Räumen aufgehalten
hat.«

Blake schüttelte nachdenklich den Kopf. »Tut mir Leid, Madam«,

sagte er. Es klang ehrlich. »Mir ist nichts dergleichen aufgefallen. Wir
sind ja damit beschäftigt, das Ding abzureißen und nicht damit, nach
Dingen zu suchen, an die wir uns vielleicht später erinnern können.«

»Ja, ich verstehe«, sagte Kate und reichte ihm ihre Karte. »Wenn Ihnen

etwas einfällt, zögern sie nicht mich anzurufen. Irgendetwas!«

Er nahm die Karte und schob sie in die Brusttasche seines

Flanellhemdes. »Das werde ich tun, Madam.«

»Lassen Sie ihn gehen«, wies Kate Officer Johannsen an. »Lassen Sie

alle gehen. Aber das Gelände wird weiterhin streng bewacht!«

»Wird gemacht, Detective«, versprach der Officer. Kate sah sich ein

letztes Mal um und ging zu ihrem Wagen. Wie gern hätte sie eine Runde
geschlafen. Aber sie würde noch stundenlang mit Schreibtischarbeit
beschäftigt sein, bevor sie daran überhaupt nur denken konnte.

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Sie wollte ins Büro fahren, um die Vermisstenakten aus der von

Frezzano eingekreisten Zeitspanne durchzusehen. Auch die Protokolle
von allen erdenklichen Polizei-Einsätzen in diesem Gebäude musste sie
sich besorgen. Vielleicht erhielt sie ja durch den Vergleich der Unterla-
gen einen Hinweis darauf, wer das Opfer war und warum es hatte sterben
müssen.

Cordelia sah von ihrem Computermonitor auf, als Angel ins Büro kam.
Doyle faltete die Zeitung zusammen, in der er gelesen hatte, und legte sie
auf die Couch.

»Ich habe über Betty McCoy recherchiert«, verkündete Cordelia.
»Was gefunden?«, fragte Angel. Er hatte sich kurz von unterwegs

gemeldet, um von Bettys merkwürdiger Adresse zu berichten.

»Zuerst mal kann ich nur Igitt zu der ganzen Friedhofsgeschichte

sagen. Ich meine, was für eine gruselige Art, einen Fall zu beginnen!
Vielleicht ist ja Doyles Visionsmaschine kaputt!«

»Mit mir ist alles in Ordnung«, protestierte Doyle. »Ich sehe, was ich

sehen soll. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Sicher, wie auch immer«, entgegnete Cordelia. »Aber das, was du

siehst, ist manchmal nicht so furchtbar hilfreich.«

»Cordy«, unterbrach Angel. »Betty McCoy?«
»Richtig.« Cordelia nickte heftig. »Betty. Viel gibt es nicht über sie,

aber ich konnte ein bisschen was im Archiv der L.A. Times finden. Also,
wenn man es wörtlich nimmt, haben die bei den Zeitungen ja wirklich
einige Leichen im Keller...«

»Cordy! Was ist mit Betty McCoy?«, unterbrach Angel ihren

Redefluss.

»Sorry! Also ... es stand nicht oft etwas über sie in der Zeitung, aber es

gab einen kurzen Artikel, als sie starb.«

»1964.«
»Korrekt. Sie war, wie in dem Artikel steht, arbeitslos und

drogenabhängig. Und es wurde wohl nur über sie berichtet, weil sie vier
Tage lang in einem Hotelzimmer gelegen war, bevor sie jemand fand.«

»Das Reinigungspersonal ist nicht ins Zimmer gegangen?«, fragte

Angel ungläubig.

»War bestimmt kein besonders nobles Hotel! Aber das Zimmer wurde

schließlich geöffnet, weil sie ein paar Wochen mit der Miete im
Rückstand war, und man vermutete, sie wäre abgehauen.«

»Aber das war sie nicht.«
»Nein ...«

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»Also suchen wir nach einer mittellosen Drogenabhängigen«, sagte

Doyle.

»Ja, ganz toll! Bevor sie starb, hat sie in einer Bar namens Rialto

Lounge gearbeitet.«

»Hey, die kenne ich«, sagte Doyle. »Ist nicht weit vom Sunset

Boulevard.«

»Stimmt. Aber ich habe das Gefühl, der Laden ist nicht mehr das, was

er zu seinen Glanzzeiten war.«

»Und zu seinen Glanzzeiten hat Betty McCoy dort gearbeitet?«, fragte

Angel.

»Das ist richtig«, entgegnete Cordelia aufgeregt. »Stell dir vor, es

kamen richtige Hollywoodstars in den Laden – Dean Martin, Frank
Sinatra, Ava Gardner und so weiter. Das stand jedenfalls in einem
anderen Artikel, den ich gefunden habe. Sie waren zwar keine
Stammgäste, aber sie schauten immer wieder rein. Die anderen Gäste ka-
men gern in diese Bar, um einen Martini zu trinken, coolen Jazz zu hören
und nach Berühmtheiten Ausschau zu halten.«

»Das ist nicht die Rialto Lounge, die ich kenne!«, warf Doyle ein.
»Nein, dem Artikel zufolge ging der Laden ab Mitte der Sechziger

allmählich den Bach runter.«

»Und Betty verlor ihren Job?«
»Da war sie bestimmt nicht die Einzige! In dem Artikel steht, das

Lokal wurde einige Male verkleinert. Betty arbeitete als
Zigarettenmädchen. Du weißt doch – in einem sexy Outfit mit so einem
kleinen Tablett vor dem Bauch!«

»Wie ungemein glamourös!«, bemerkte Doyle.
Die Ironie in seinen Worten entging Cordelia, und sie antwortete mit

entrücktem Blick: »Allerdings! Bloß dachte ich, das alles wäre schon seit
den Vierzigern vorbei. Die Fünfziger gaben, soviel ich gehört habe,
glamourmäßig nicht sonderlich viel her.«

»Das stimmt«, erklärte Angel. »Es war eine recht konservative Zeit.

Aber Ende der Fünfziger, Anfang der Sechziger änderte sich einiges. Mit
der Wahl von John F. Kennedy zum Präsidenten und dem Ende der
Eisenhower-Ära kam im ganzen Land Party-Laune auf. Das Nachtleben
wurde wieder wichtig, und man beschäftigte sich plötzlich wieder mit
Musik und Tanz und machte sich schick. In gewisser Hinsicht war das
wie eine Rückkehr zu der Zeit, die du im Kopf hast.«

»Also bestanden die Sechziger nicht nur aus Hippies und Protest und

Friedensdemos?«

»Ganz und gar nicht, das kam erst später«, entgegnete Angel. »Anfang

der Sechziger konnte man noch ein letztes Aufblühen des altmodischen

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Glamours erleben.«

»Klingt toll«, sagte Cordelia. »Männer im Smoking, Frauen mit

Perlenketten und Futteralkleidern ...«

»Fassen wir also zusammen, was wir über Betty McCoy wissen ...«,

unterbrach Angel sie.

»Nicht viel, würde ich sagen«, bemerkte Doyle.
»Das ist richtig«, fuhr Angel fort. »Sie arbeitete in diesem Nachtclub.

Sie verlor ihren Job. Irgendwann wurde sie drogenabhängig. Sie starb
einsam und arm in einem Hotelzimmer.«

»Das ist so ziemlich alles«, pflichtete ihm Cordelia bei.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Angel. »Sicher, sie hatte einen elenden

Tod, aber was können wir jetzt noch für sie tun? Warum hat Doyle eine
Vision von einer Frau, die schon seit über dreißig Jahren tot ist?«

»Das, mein Freund, ist die Frage, die wir uns stellen müssen«, sagte

Doyle. »Wenn ich schon solche Schmerzen aushalten muss, würde ich es
lieber für Leute tun, denen man noch helfen kann.«

»Da hast du Recht«, stimmte ihm Angel zu. »Aber wir sollten diese

Frau nicht so schnell abschreiben. Jemand muss noch mal zum Friedhof
fahren und das Grab beobachten.« Er sah Cordelia und Doyle an. Als
keiner von beiden reagierte, nahm er Doyle streng ins Visier.

»Okay, okay, ich mach's! Aber ich hasse Friedhöfe, Angel.«
»Glaubst du, mir gefallen sie?«
»Na ja, du kennst dich doch mit dem ganzen untoten Kram viel besser

aus!«

»Das ist etwas anderes«, widersprach ihm Angel. »Cordy, wie wäre es,

wenn du weiter in Bettys Leben herumsuchst? Vielleicht kannst du ja
noch mehr über sie oder über diesen Nachtclub herausfinden.«

»Verstanden, Boss! Und was wirst du tun?«
»Ich werde mich unter die Stars in der Rialto Lounge mischen.«


Mit Entsetzen beobachtete Mike Slade die Zahlen auf dem Taxameter.
Silver Lake war doch nicht so weit von Hollywood entfernt – im Grunde
war der Ort gleich in der Nachbarschaft gelegen! Er hatte einen Dollar
für die Fahrt gerechnet und einen weiteren als großzügiges Trinkgeld.

Als der Fahrer vor Veronica Chatsworth Bungalow anhielt – im Schein

der Straßenlaternen sah das Haus kaum verändert aus, außer, dass es
vielleicht einen neuen Anstrich benötigte – und das Taxameter bei elf
Dollar und etwas stehenblieb, kochte Slade vor Wut. »Das ist doch
Straßenraub!«, knurrte er.

»Nee, bloß die gesetzlich festgelegten Gebühren«, entgegnete der

Taxifahrer mit schwerem Akzent. »Da kann ich gar nichts für!«

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»Dann ist bestimmt das Taxameter kaputt.«
»Nein, das ist es ganz sicher nicht«, widersprach der Fahrer.
»Okay, schon gut«, lenkte Slade ein, nahm zwölf Dollar aus seiner

Geldklammer und reichte sie dem Fahrer. »Der Rest ist für dich. Und
komm mir nicht noch mal unter die Augen!«

Der Fahrer steckte das Geld ein und fuhr davon. Slade sah wieder zu

dem Haus hinüber. Der Weg, der die vertrocknete Rasenfläche genau in
der Mitte teilte, endete vor vier Stufen, die auf eine kleine Veranda
führten. Dort stand eine rostige Schaukel. Slade erinnerte sich, wie er
früher darauf gesessen und geschaukelt hatte. Sie war noch ganz neu
gewesen, als er Veronica geholfen hatte, sie aufzuhängen.

Er ging die Stufen hinauf und legte mit gewohnter Geste den Finger

auf den Klingelknopf, der sich beruhigenderweise genau an der Stelle
befand, wo er immer gewesen war.

Er klingelte.
Nach einigen Minuten ging das Verandalicht an und hinter dem

Türspion wurde es dunkel, weil jemand hindurchsah. Er lächelte hinein.

»Wer ist da?«, fragte eine Frauenstimme beklommen.
»Mach keine Witze, Veronica«, sagte er. »Ich bin es, Slade! Mach

auf!«

»Slade?«, wiederholte die Stimme.
»Ja, genau! Hör mal, ich weiß, es gibt viel zu erklären, also lass mich

rein.«

»Slade wer?«
»Mike Slade. Komm schon, Puppe!«
Er hörte das Klicken mehrerer Schlösser und die Tür ging auf. Er griff

nach dem Türknauf.

»Lassen Sie Ihre Hände dort, wo ich sie sehen kann, Mister Slade!«,

sagte die Frau.

Er sah sie an. Das war nicht Veronica! Veronica war eine blonde,

klassische Schönheit gewesen und hatte grüne Augen gehabt. Diese Frau
war kompakter und hatte dunkelbraunes schulterlanges Haar, das sie zu
einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Von dem fragenden Blick ihrer
braunen Augen fühlte er sich regelrecht aufgespießt.

Noch dazu hielt sie eine 38er Spezial auf seinen Bauch gerichtet.
»Möchten Sie nicht hereinkommen?«, fragte sie.





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4



Die Rialto Lounge erinnerte Angel an eine Kneipe, die er damals in
Irland als junger Mann häufig aufgesucht hatte. Er konnte sich nicht an
den Namen erinnern – wahrscheinlich hatte sie überhaupt keinen gehabt
und auch kein Neonschild vor der Tür. Es war mehr oder weniger nur ein
Raum in einem Gebäude gewesen, das in einer Seitenstraße gelegen war.
Entweder hatte man gewusst, was sich hinter der Tür verbarg, oder nicht.
Bei seinem ersten Besuch hatte sich Angel positiv überrascht und
begeistert gezeigt. Im Innern der Kneipe war es kalt und feucht gewesen,
und das kleine Feuer, das im Kamin flackerte, hatte die Kälte nicht
vertreiben können. Es gab viele Männer und eine Hand voll Frauen.
Große Biergläser hatten überall herumgestanden. Lautes Lachen und
derbe Sprüche waren zu hören gewesen, und gelegentlich war ein Lied
gegrölt worden. Hinten an der Bar jedoch – nur ein Brett auf zwei leeren
Fässern – hatte Verzweiflung in der Luft gehangen. Dort hatten die Leute
nicht aus Geselligkeit oder um sich zu amüsieren getrunken, sondern um
das Elend der eigenen Existenz zu vergessen. Diese Leute, hatte Angel
damals gedacht, soffen sich wahrhaftig zu Tode.

In der Rialto Lounge herrschte dieselbe Atmosphäre. In diesem Lokal

tranken Leute, die sich ohne Umwege ins Grab soffen, und keinen
Gedanken daran verschwendeten, dass sie sich geradewegs in die
Selbstzerstörung manövrierten.

Angel packte das kalte Grausen – dabei war er nicht eben leicht zu

erschüttern.

Es war früh, als er hereinkam, noch vor neun. Der schwere Kerl hinter

der Theke beäugte ihn misstrauisch. Er trug eine gestärkte weiße Schürze
über einem weißen Hemd, dessen Ärmel er hochgekrempelt hatte.
Darunter kamen dicke, behaarte Arme zum Vorschein. Ein Pflaster am
Kinn verdeckte nur unzureichend einen frischen Bluterguss. Bis Angel
vor ihm an der Theke stand, behielt der Barkeeper ihn mit
zusammengekniffenen Augen im Visier. Reichlich ungastlich und
humorlos fragte er nur: »Wollen Sie was?«

»Informationen«, entgegnete Angel. Freundliches Kerlchen, dachte er.

Er fand, der Typ hätte auch gut in die Kfz-Zulassungsstelle beim
Straßenverkehrsamt gepasst.

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»Da sind Sie hier falsch«, sagte der Barkeeper eiskalt. »Das ist eine

Bar. Hierher kommt man, um zu trinken. Wenn Sie Informationen
wollen, kaufen Sie sich eine Zeitung!«

»Okay, dann geben Sie mir ein Bier«, lenkte Angel ein. Er wollte es

zwar nicht trinken, aber wenn er es bezahlte und obendrein ein Trinkgeld
gab, taute der Kerl vielleicht ein wenig auf.

Der Barkeeper drehte sich um, nahm ein Glas und hielt es unter den

Zapfhahn, um es mit bernsteinfarbenem Gerstensaft zu füllen. Dann
knallte er es auf die Theke.

Angel schob einen Zehn-Dollar-Schein über das polierte Holz.

»Behalten Sie den Rest«, sagte er. Der Barkeeper legte den Schein in die
Kasse, nahm sich das Wechselgeld heraus und steckte es in die
Hosentasche.

»Viel zu tun heute?«, fragte Angel.
»Sie haben für das Bier bezahlt, nicht für meine ungeteilte

Aufmerksamkeit«, entgegnete der Barkeeper.

Freundlich und hilfsbereit!, dachte Angel. »Ich denke, ich habe für

etwas mehr bezahlt als nur ein Bier.«

Der Barkeeper sah ihn kalt an. »Was die Leute so alles denken!«
»Ich versuche etwas über eine Frau herauszufinden, die einmal hier

gearbeitet hat«, sagte Angel. »Sie heißt Betty McCoy. Ich glaube, sie
war Zigarettenverkäuferin.«

Der Blick des Barkeepers verfinsterte sich. Er bückte sich. Als er sich

wieder aufrichtete, hielt er schwarzes Metall in seinen dicken Fingern.

Eine Pistole.
»Warten Sie mal«, sagte Angel ruhig und hielt die Hände hoch, um

dem Typen zu zeigen, dass er nicht bewaffnet war. »Kein Grund, nervös
zu werden!«

Der Barkeeper richtete die Pistole auf ihn. Angel selbst konnte er zwar

nicht viel damit anhaben, aber den anderen im Raum schon. Angel hörte,
wie hinter ihm hastig Stühle zurückgeschoben wurden, und die Leute zur
Tür flohen.

Er wollte nicht, dass jemand von den Gästen verletzt wurde. Sie

gingen zwar nicht besonders sorgsam mit ihrem Leben um, aber eine
Kugel beendete es in jedem Fall schneller und schmerzhafter. Angel
reagierte schnell. Zur Ablenkung schlug er mit einer Hand auf die Theke,
griff mit der anderen nach der Pistole und schob die Hand des Mannes
zur Seite – in eine Richtung, wo die Kugel keinen Schaden anrichten
konnte, falls sich ein Schuss löste. Dann riss er dem erstaunten
Barkeeper die Pistole einfach aus der Hand.

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»Keine Waffen!«, zischte Angel ihn an und legte die Pistole vorsichtig

auf den Boden. »Sie machen mich nervös«, bemerkte er mit einem
raschen Lächeln.

»Sie sind aber schnell!«, sagte der Mann. Angels Reak-

tionsgeschwindigkeit hatte ihn ehrlich verblüfft.

»Merken Sie sich das! Also, was ist hier los? Warum bedrohen Sie

mich mit einer Waffe?«

»Ich weiß nicht, was ihr heute alle von mir wollt«, fuhr der Barkeeper

auf. »Der letzte Typ, der mich nach Betty McCoy gefragt hat, ist
ziemlich grob mit mir umgegangen, und das lasse ich nicht noch mal mit
mir machen.«

»Jemand anderes hat schon nach Betty McCoy gefragt?«, meinte

Angel erstaunt.

»Ich erinnere mich nicht, dass er ihren Namen erwähnt hat«,

entgegnete der Barkeeper. »Aber er fragte nach dem
Zigarettenmädchen.«

»Heute?«
»Ja, genau.«
»Erzählen Sie mir davon!«
Der Barkeeper blinzelte irritiert und sah zur Decke, als könnte er dort

seine Erinnerung abrufen. »Früh, zu Schichtbeginn, kam ein Typ rein,
der merkwürdige Klamotten trug; Klamotten wie aus einem alten Film«,
sagte er.

»Was für Klamotten?«
»Er trug einen Anzug, wissen Sie, aber einen altmodischen. Und er

hatte so einen großen Hut, wie ihn heute keiner mehr aufsetzt.«

»Großer Hut«, wiederholte Angel.
Der Barkeeper bewegte die Hände rings um den Kopf, um zu

beschreiben, was er meinte. »Wie in den alten Gangsterfilmen«, erklärte
er, »da haben doch alle solche Hüte getragen. Die sind ihnen nicht mal
bei den Boxkämpfen vom Kopf gefallen.«

»Einen Fedora mit breiter Krempe?«, fragte Angel.
»Ja, kann schon sein.«
»Okay, dieser aus einem alten Gangsterfilm Entlaufene kam also

einfach herein und fragte nach der Zigarettenverkäuferin, die in den
frühen Sechzigern hier gearbeitet hat?«

»Nun ja ...« Der Barkeeper hielt inne und überlegte. »Zuerst hat er

nach einem anderen Barkeeper namens Bert gefragt. Aber ich bin seit
dreizehn Jahren hier, und solange ich mich erinnern kann, hat hier nie ein
Bert gearbeitet.«

»War der Mann vielleicht im falschen Laden?«

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»Seiner Meinung nach nicht. Er sagte, als er das letzte Mal da war,

hätte Bert hier gearbeitet.«

»Das muss vor langer Zeit gewesen sein«, bemerkte Angel.
»Aber wie er aussah und sich verhielt«, sagte der Barkeeper fast

zögernd, »hatte man den Eindruck, es sei erst gestern gewesen.
Wenigstens für ihn ...«

»Wie meinen Sie das?«
»Na ja, wenn man ein paar Jahrzehnte nicht in einer Kneipe war, geht

man doch normalerweise davon aus, dass inzwischen das Personal
gewechselt hat. Meist sind die Leute überrascht, dass ich immer noch
hier arbeite. Ich selbst ehrlich gesagt auch. Aber hereinzukommen und
selbstverständlich damit zu rechnen, dass der Typ, der vor fünfzehn oder
zwanzig Jahren oder wie viel auch immer hinter der Theke gearbeitet
hat, immer noch da ist... das ist schon ein bisschen verrückt, oder?«

»Hört sich so an«, pflichtete ihm Angel bei.
»Und die Zigarettenverkäuferin ... Seit ich hier arbeite, gab es nie eine.

Ich bezweifle, dass es in den letzten zwanzig Jahren überhaupt noch eine
einzige in ganz Los Angeles gegeben hat. Und mal davon abgesehen –
sie wäre heute doch gar nicht mehr dieselbe.«

»Ich verstehe, was sie meinen«, sagte Angel. »Sie wird wohl heute

nicht mehr die Jüngste sein.«

Der Barkeeper nickte. »Die ganze Sache war ziemlich merkwürdig.

Und als ich versuchte, ihm zu erklären, dass diese Leute hier nicht mehr
arbeiten, wurde er grob. Er packte mich am Kragen und knallte meinen
Kopf auf die Theke. Das hat mir ziemlich gestunken, kann ich Ihnen
sagen. Ich habe die Pistole immer unter der Theke, aber so, wie er mich
festhielt, kam ich nicht dran.«

»Also können Sie mir nichts über Betty McCoy sagen?«, hakte Angel

nach.

»Noch nie von ihr gehört! Wenn sie diejenige ist, nach der dieser

Clown sucht, wünsche ich ihr viel Glück. Aber ich hoffe, ich höre nie
wieder von ihr!«

»Was ist mit den Personalakten?«
»So schlau war ich auch schon«, erklärte der Barkeeper herablassend.

»Ich hab den Ordner hinten im Büro durchgesehen. Aber die Unterlagen
reichen nur bis 1986 zurück. In diesem Jahr gab es ein Feuer, fiel mir
dann ein. Die meisten Akten verbrannten.«

»Können Sie mir sonst noch etwas sagen?«, drängte Angel.
»Wollen Sie den Namen von dem toughen Kerl?«
»Er hat Ihnen seinen Namen genannt?«
»Er hat mir sogar seine Karte dagelassen!«

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»Her damit!«
Der Barkeeper durchsuchte seine Taschen, schüttelte den Kopf und

ging an die Kasse. Darauf lag eine Visitenkarte, die er Angel brachte.
»Hier ist sie!«, sagte er. »Mike Slade, Privatdetektiv.« Die
Telefonnummer, die darauf angegeben war, bestand aus fünf Ziffern.
Davor stand nur »Hollywood«, keine Vorwahl. So kurze Nummern gab
es in Los Angeles schon seit dreißig Jahren nicht mehr!

Angel nahm die Karte trotzdem. »Ich behalte sie«, sagte er. »Und

tausche sie ein.«

Er legte seine eigene Visitenkarte auf die Theke. »Wenn er

zurückkommt oder wenn sonst noch jemand nach Betty fragt, lassen Sie
es mich bitte sofort wissen!« Er hob die Pistole vom Boden auf, entnahm
die Patronen und legte alles auf die Theke. »Ach, übrigens – eine Pistole
in diesem Laden? Das ist keine gute Idee!«

Dann ging er hinaus in die Nacht von Hollywood.


»Friedhöfe sind echt krass«, dachte Doyle. »Wenn man an die ganzen
Toten denkt, die um einen herum begraben sind!« Er gab sich Mühe, auf
den gepflasterten Wegen zu bleiben, denn darunter befanden sich wohl
keine Gräber. Allerdings waren die Wege nicht besonders zahlreich, und
so musste er doch immer wieder ein großes Stück Rasenfläche
überqueren. Dabei stellte er sich vor, wie Skeletthände aus der Erde
schnellten und nach seinen Beinen griffen.

Obschon ihm gar nicht kalt war, fing Doyle an zu zittern.
Als er einmal einen Militärfriedhof besucht hatte, war ihm die

strukturierte Ordnung des Geländes irgendwie tröstlich erschienen,
obwohl ihn die vielen Toten betrübt hatten. Die gleich großen Steine
waren alle in geraden Reihen gestanden. Der Rasen war kurz geschnitten
gewesen, und es hatte viele Blumen gegeben. Die roten, gelben und
pinkfarbenen Farbkleckse zwischen den weißen Grabsteinen hatten den
Eindruck entstehen lassen, dass sich jemand um die Gräber kümmerte.

Das war natürlich bei Tag gewesen.
Der Friedhof, auf dem er nun stand, war geschlossen, und es war

dunkel. Die Geisterstunde war zwar verstrichen. Aber bis zum
Sonnenaufgang würden noch Stunden vergehen.

Die dämonische Seite seines Wesens bot, wie Doyle feststellen musste,

keinen Schutz vor Gruselgefühlen. Seit er mit Angel zusammenarbeitete,
war er so manchem begegnet, was er nie zuvor gesehen hatte. Und das
war beileibe nicht immer angenehm gewesen. Viele dieser Erlebnisse
hatten mit Kreaturen zu tun, die aus Gräbern kriechen konnten ... aus
Gräbern wie auf diesem Friedhof...

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Doyle bemühte sich, seiner Aufgabe gerecht zu werden und das Grab

von Betty McCoy im Auge zu behalten. Aber er konnte sich nicht dazu
überwinden, auf einer Stelle stehen zu bleiben und es zu beobachten.
Dabei fühlte er sich irgendwie ... zu angreifbar. Er wollte lieber in
Bewegung bleiben.

»Falls ich weglaufen muss«, dachte er.
Der Friedhof von Hollywood war beunruhigender als viele andere, die

er schon besucht hatte. Vielleicht lag es an der Unordnung. Grabsteine
aller Größen und Formen ragten aus der Erde. Das Gras war dort, wo
man mit dem Mäher nicht nah genug an die Gräber herankam, hoch
gewachsen. Die Halme raschelten in der Nachtbrise. Tiefe Dunkelheit
herrschte. Außerdem mochte auch ein wenig die Tatsache, dass Doyle
das Gelände unbefugt betreten und damit das Gesetz gebrochen hatte,
seine Stimmung trüben.

Wie auch immer – je mehr Zeit verstrich, desto unruhiger wurde er.

Doyle wanderte die Reihen ab, las Namen und Daten und Epitaphe - die
letzten sichtbaren Spuren von hunderten von Leben. Alle paar Minuten
sah er zu Bettys Grab hinüber und wartete auf... ja, auf was eigentlich?
Dies nicht zu wissen war schrecklich. Er erinnerte sich an die Vision und
die Kopfschmerzen, die mit ihr einhergegangen waren, aber vor allem
daran, dass die Vision einen bemerkenswerten Mangel an Details
aufgewiesen hatte. Nicht einmal ein Bild von der Frau hatte er gesehen.
Nur ihren Namen und die Adresse.

Angel schien der Friedhof nicht so beunruhigt zu haben, aber er war

schließlich ein Vampir. Und er war während der regulären
Öffnungszeiten an diesem Ort gewesen. Falls Doyle jedoch nun einem
Wächter in die Arme rannte, stand er dumm da.

Bislang hatte er nur einen Wachmann in der Nähe des Eingangs

gesehen, der vor seinem tragbaren Fernseher schnarchte. Was natürlich
keineswegs bedeutete, dass er nicht plötzlich aufwachen konnte oder von
den Werbespots geweckt wurde, die immer viel lauter waren als das
restliche Programm. Doyle lauschte angespannt nach einem klappernden
Schlüsselbund oder Schritten auf dem Weg.

Es war eine schizophrene Situation: Einerseits wollte er nicht, dass der

Wächter wach wurde, andererseits aber hätte er sich gefreut, einen
anderen lebendigen Menschen auf diesem Friedhof zu sehen.

Tapfer drehte er eine weitere Runde um die Gräber in der Nähe von

Bettys letzter Ruhestätte und sehnte den Sonnenaufgang herbei.


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38


5



»Sie heißen also Mike Slade?«

Slade saß auf dem überraschend bequemen Sofa der Frau. Im Inneren

sah der Bungalow ganz anders aus als bei seinem letzten Besuch. Aber
da diese Frau eindeutig nicht Veronica war, überraschte ihn dieser
Umstand nur wenig.

Lediglich ein Möbelstück kam ihm bekannt vor – ein schwerer

Ledersessel, den er selbst gekauft hatte, um bei seinen Besuchen darin zu
sitzen. Der Rest der Einrichtung war modern und sah ungemütlich aus.
Ein schwarzer Kaffeetisch mit Glasplatte stand vor der Couch, ein mit
Büchern voll gepacktes Regal an der Wand. Es gab auch einen
Schreibtisch und darauf stand etwas, das wie ein kleiner Fernseher
aussah; ein weißes Gehäuse mit einem dunklen Bildschirm. Neben dem
Schreibtisch stapelten sich die Zeitungen von einigen Wochen.

Die dunkelhaarige Frau saß in Slades Ledersessel, aber er hielt es für

nicht besonders diplomatisch, seinen alten Platz einzufordern.

Besonders, da sie immer noch die Waffe in der Hand hielt. Nach der

Art zu urteilen, wie sie mit ihr umging, wusste sie sehr gut, wie man von
ihr Gebrauch machte.

Slade war schon einmal gestorben, und das hatte ihm nicht gefallen.

Ob er noch einmal sterben konnte, wusste er nicht. Aber er konnte
fühlen. Und er hatte im Laufe des Abends die kühle Härte von Beton, die
Glätte von Glas und die scharfe Kante einer Mauer gespürt. Eine Kugel
würde also auf alle Fälle wehtun, ob er nun daran sterben konnte oder
nicht.

»Ja, ich bin Mike Slade«, sagte er. »Und die Frau, die früher hier

wohnte, hat für mich gearbeitet. Sie heißt Veronica Chatsworth.«

Die Brünette lächelte. »Da müssen Sie sich aber was Besseres

ausdenken!«, sagte sie. »Obwohl mir der Anzug gefällt. Netter Stil!«

»Was soll das heißen?«, fragte er.
»Ich weiß, wer Veronica Chatsworth ist«, sagte sie. »Und ich weiß

sogar, wer Mike Slade ist. Oder, besser gesagt, war. Aber erstens ist er
tot, und zweitens sähe er bestimmt vierzig Jahre älter aus als Sie, wenn
er nicht schon tot wäre!«

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»Sie kennen Veronica?«, fragte er. Was für eine glückliche Wende!

»Sie kann für mich bürgen.«

»Ich kannte sie sehr gut«, entgegnete die Frau kühl. »Sie war meine

Mutter. Sie ist auch tot.«

Slade suchte nach den richtigen Worten. »Es tut mir wirklich Leid, das

zu hören«, sagte er schließlich. »Sie war eine wunderbare Lady.«

»Danke. Sie hätte vielleicht eine bessere Mutter sein können, aber ich

habe sie trotzdem geliebt.«

»Da sind Sie nicht die Einzige«, warf Slade sanft ein.
»Also kommen Sie mir bitte nicht mit dem Märchen, dass Sie jemand

sind, der Sie gar nicht sein können«, fuhr Barbara fort. Ihre Stimme war
schrill vor Ärger. »So etwas höre ich mir nicht an. Wirklich nicht!«

»Bitte hören Sie mir zu«, bat Slade eindringlich. »Bitte!«
»Sie haben fünf Minuten«, entgegnete sie. »Vergeuden Sie die Zeit

nicht, denn es gibt keine Verlängerung.«

Slade kam sofort zur Sache. »Ich weiß nicht, wie ich Sie davon

überzeugen soll, dass es wahr ist, was ich Ihnen erzählen werde. Aber es
ist wahr! Jedes einzelne Wort. Bevor ich jedoch anfange, darf ich Sie
vielleicht nach Ihrem Namen fragen? Ich weiß gern, mit wem ich es zu
tun habe.«

»Ich bin Barbara Morris«, sagte sie. »Vom LAPD. Wollen Sie meinen

Dienstausweis sehen?«

»Ich glaube Ihnen«, antwortete er, war jedoch äußerst erstaunt, dass es

in dieser merkwürdigen Zukunft Frauen bei der Polizei gab. Aber da
schoss ihm plötzlich ein anderer Gedanke durch den Kopf, dessen
Tragweite ihn erschreckte. »Es hört sich bestimmt merkwürdig an – aber
was für ein Jahr ist jetzt, Barbara?«

»Was für ein Jahr? Haben Sie vielleicht Ihre Medikamente

vergessen?«

»Spotten Sie nur!«, sagte er.
Barbara nannte ihm das Jahr. Diese Angabe deckte sich mit den Daten,

die er auf einer Zeitung gesehen hatte, und er stieß einen Seufzer der
Erleichterung aus. Sie war zu jung! Hätte er eine Tochter, müsste sie fast
vierzig sein. Diese junge Dame war nicht älter als fünfundzwanzig.

»Ich bin Mike Slade. Ich kannte Ihre Mutter. Und jetzt kommt der

Teil, den Sie nicht glauben werden – ich habe ja selbst meine Probleme
damit! Ich war tot. Ich wurde 1961 umgebracht. Aber jetzt bin ich wieder
hier, und kann es nicht erklären.«

»Habe ich fünf Minuten gesagt?«, fragte Barbara Morris. »Ich meinte

fünf Sekunden. Raus mit Ihnen!«

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»Bitte«, sagte Slade schnell. »Veronica hatte einen kleinen Leberfleck

im Nacken, den sie manchmal mit Make-up abgedeckt hat.« Er zeigte
auf die Tür zum Wohnzimmer. »Das Zimmer dort war ihr Schlafzimmer.
Die Vorhänge waren rot-weiß kariert wie die Tischdecken in italieni-
schen Restaurants. Sie hatte eine große Truhe aus Zedernholz am Fuß
des Betts stehen, auf die sie sich immer gesetzt hat, um sich die Schuhe
auszuziehen. Sie hat sie immer ganz ordentlich daneben aufgestellt.«

»Okay, Sie kannten Sie. Oder Sie haben ein bisschen recherchiert. Und

was wollen Sie damit anfangen?«, fragte Barbara.

»Wo soll ich denn so etwas recherchieren?«, gab Slade zurück. »Wo

könnte ich erfahren, dass sie es hasste, gekitzelt zu werden, oder dass sie
ihre Beine zu dick fand? Sie sah großartig aus, aber sie hat damals immer
lange Kleider oder Hosen getragen.«

Barbara Morris sah ihn wütend an. »Ich weiß ja nicht, wo sie dieses

Zeug herhaben, aber...«

»Es stimmt doch, oder?«
»Und wenn schon? Das bedeutet noch lange nicht, dass Sie ...«
»Nein, sie ... das müsste sie nicht.«
»Ich meine ... es gibt ein Foto. Warten Sie hier!« Sie richtete die Waffe

auf ihn. »Das ist mein Ernst. Bewegen Sie sich nicht vom Fleck!«

Er hob beschwichtigend die Hände. »Ich werde mich nicht rühren!«
Sie verschwand durch die Tür, die einst in Veronicas Schlafzimmer

geführt hatte. Er hörte, wie sie in einem Schrank rumorte und
Kistendeckel auf- und zuklappte. Nach ein paar Minuten kam sie zurück.
In der einen Hand hielt sie ein schwarz gerahmtes Foto und in der
anderen immer noch die 38er.

»Ach, dieses Foto!«, dachte er. Daran erinnerte er sich. Es war 1957

oder 58 im Pacific Ocean Park aufgenommen worden. Sie hatten den
Tag in der Sonne genossen, waren spazieren gegangen und hatten
Zuckerwatte genascht. Später, als die Sonne im Meer untergegangen war
und ihre Schatten sich lang gen Osten erstreckt hatten, waren sie an einer
Bude vorbeigekommen, wo man sich in alberner Verkleidung
fotografieren lassen konnte – in alten Westernklamotten, in 20er-Jahre-
Fummeln und dergleichen. Er hatte sich ein Scheichskostüm ausgesucht
und Veronica das einer Haremsdame. Auf dem Foto, das er eine Woche
später hatte abholen müssen, saß er in einem großen Korbstuhl und
Veronica stand hinter ihm und hatte die Hände auf seine Schultern
gelegt.

»Das ist schon ein paar Jahre her«, bemerkte er.
»Mehr als nur ein paar«, entgegnete sie. »Aber ich muss sagen, Sie

sehen wirklich so aus wie er.«

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»Weil ich es bin! Ich war mit Veronica im Pacific Ocean Park. Am

Pier in Santa Monica.«

»Sie behaupten also, Sie sind Mike Slade, der Privatdetektiv, für den

meine Mutter gearbeitet hat. Und Ihre Geliebte war sie auch? Und dann
wurden Sie umgebracht, aber nun sind Sie zurück.«

»Ich weiß, wie das klingt, Pferdeschwänzchen, glauben Sie mir.«
»Da bin ich mir nicht so sicher!«
»Natürlich klingt es völlig verrückt«, entgegnete er. »Das weiß ich.

Für mich ja auch, das müssen Sie mir glauben! Ich meine, als ich Los
Angeles zum letzten Mal sah, schrieb man das Jahr 1961. Kennedy war
Präsident, Kuba gehörte den Roten, und alle sind ins Kino gegangen, um
sich die West Side Story anzusehen. Ich bekam ein Buch geschenkt, das
hieß Feuerball, und handelte von einem Agenten namens James Bond.
Kennen Sie es?«

»Ian Fleming ist der Autor. Der ist auch schon tot.«
»Ich bekomme noch Depressionen, wenn Sie mir weiter aufzählen,

wer schon alles tot ist!«

»Ich vermute, Sie haben das mit Kennedy noch nicht gehört?«, fragte

sie.

»Er etwa auch?«
Barbara nickte. »Ein Attentat. Am einundzwanzigsten November

1963.«

Slade schüttelte traurig den Kopf. »Dann ist L.B. Johnson doch noch

ins Weiße Haus gekommen?«

»Für eine Weile.«
»Die Geschichte klingt irre, ich weiß«, erklärte Slade. »Aber ich

schwöre, jedes Wort ist wahr. Ich kann Ihnen meine Lizenz zeigen.«

»Ist da ein Foto drauf?«
»Nein.«
»Zeigen Sie trotzdem mal her!«, forderte sie misstrauisch. »Aber

Vorsicht mit den Händen! Wenn Sie etwas anderes als die Brieftasche
oder das Lizenzmäppchen aus Ihrer Tasche holen, schieße ich. Und ich
habe schon einige Medaillen für meine Treffsicherheit bekommen.«

»Ich wusste gar nicht, dass Frauen überhaupt zielen können!«
Sie lachte kurz auf. »Jetzt haben Sie zum ersten Mal etwas gesagt, das

klingt wie Mike Slade. Ich meine wie das, was Mom mir über ihn erzählt
hat.«

Er griff in die Innentasche seiner Jacke und zog mit zwei Fingern die

Lederhülle heraus, in der er seine Lizenz aufbewahrte. Er reichte sie
Barbara Morris, und sie studierte die Lizenz aufmerksam.

»Sieht echt aus«, sagte sie.

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»Ist sie ja auch. Nun haben Sie die Lizenz gesehen und Sie haben das

Foto. Ich weiß nicht, wie ich Sie sonst noch überzeugen soll.«

»Ich auch nicht, denn es ist einfach viel zu verrückt. Ich soll glauben,

dass ich hier sitze und mit einem toten Mann rede?«

»Ja, das würde ich auch niemandem abkaufen.«
»Dann verraten Sie mir mal eins, Sie guter Geist: Was führt Sie

hierher? Was wollten Sie denn von meiner Mutter?«

»Mir ist es auch irgendwie unheimlich, von den Toten erwacht zu sein.

Alles ist so anders. Wissen Sie, was mittlerweile ein Anruf aus der
Telefonzelle kostet?«

»Ja.«
»Natürlich wissen Sie das! Aber für mich war es ein Schock, kann ich

Ihnen sagen! Also dachte ich, Veronica könne mir vielleicht helfen, alles
zu verstehen. Darin war sie immer sehr gut. Wenn ich mit meinem
Latein am Ende war, habe ich alles mit ihr durchgesprochen, und dann
hat sie mir gezeigt, wo mein Denkfehler war.«

»Das klingt nach Mom.«
»Sie ist die Beste! Sie konnte auch einen verdammt guten Martini

mixen. Ich frage mich, ob Sie vielleicht dieses Talent geerbt haben.«

Barbara Morris sah ihn nur kurz von der Seite an, also fuhr er eilig

fort: »Jedenfalls arbeitete ich an einem Fall, als ich erschossen wurde.
Ich bin sicher, mein Tod hat mit diesem Fall zu tun, und ich glaube, ich
bin deshalb zurückgekehrt, weil ich ihn nicht gelöst habe. Ich habe den
Typen nie gestellt, obwohl ich wusste, wer er war. Ich habe ihn einfach
nicht zu fassen bekommen. Aber dann hat er mich gekriegt. Ich denke,
ich bin wieder hier, damit ich ihn erledigen kann.«

»Wie nobel«, bemerkte Barbara spitz.
»Da ist gar nichts Nobles dran. Es ist mein Job, und was wäre ich für

ein Mann, wenn ich meinen Job nicht ordentlich machen würde?«

»So war mein Vater auch«, sagte Barbara.
»Ihr Vater war Privatdetektiv?«
Sie schüttelte den Kopf. »Cop.«
Slade kicherte. »Veronica hat einen Polypen geheiratet! Sieh mal einer

an! Sind Sie deshalb bei den Bullen?«

»Ich bin es noch nicht ganz. Ich bin erst auf der Academy.«
»Da wundere ich mich, dass Frauen im Fernsehen Hosen tragen, und

Sie sind auf der Academy!«, bemerkte er ungläubig.

Sie legte den Kopf in die Hände und richtete dabei die 38er auf die

Zimmerdecke. »Ich krieg es einfach nicht in den Schädel«, sagte sie.
Dann ließ sie die Hände wieder sinken und sah ihn an. Studierte ihn wie
einen aufgespießten Schmetterling. »Ich meine, Sie wirken echt. Sie

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klingen echt. Als wären Sie wirklich furchtbar überrascht, dass Frauen
bei der Polizei arbeiten.«

»Mich überrascht noch viel mehr, dass Frauen sich mit Bullen

verabreden!«, entgegnete er. »Die Cops, die ich gekannt habe ...«

»Also, wenn Sie der sind, der Sie vorgeben zu sein, dann werden Sie

herausfinden, dass sich viele Dinge geändert haben. Sehr viele sogar.«

»Das scheint mir auch so. Haben Sie je von einer Musikrichtung

namens Rock 'n' Roll gehört?«

»Sicher.«
»Sie ist mittlerweile passee, oder?«
»Haben Sie das gehofft?«
»Ich war überzeugt davon. Warum?«
»Dann habe ich leider schlechte Nachrichten für Sie.«
Eine Stunde später saßen sie im Esszimmer an einem Holztisch. Slade

nahm an, er habe Barbara überzeugt -endlich. Jedenfalls, soweit er es
beurteilen konnte, denn er selbst war ja nicht einmal hundertprozentig
überzeugt Aber er hatte ihr Geschichten von ihrer Mutter erzählt, und sie
hatten zusammen gelacht. Ein bisschen hatte Barbara auch geweint. Sie
hatte schließlich die Pistole weggelegt und ein Fotoalbum hervorgeholt,
das Veronica in den frühen Sechzigern angefangen hatte. Darin waren
noch mehr Fotos von Slade und viele von Vic Morris gewesen, dem
Mann, den sie schließlich geheiratet hatte.

Nachdem Barbara das Album zugeklappt hatte, saßen sie eine Weile

schweigend am Tisch. Hauptsächlich, um das Schweigen zu brechen,
ergriff Slade das Wort.

»Also hat sie das Büro geschlossen, nachdem ich umgebracht wurde?«
»Soviel ich weiß, hat sie das nicht getan«, sagte Barbara. »Wissen Sie,

ich habe meine Mutter einige Jahre lang nicht gesehen. Aber sie hat mir
die ganze Geschichte erzählt. Sie hat noch ein paar Wochen
weitergearbeitet, weil sie sicher war, Sie seien nur irgendwo undercover
unterwegs und würden sich melden. Aber das haben Sie nicht getan. Die
Miete wurde fällig, und sie bezahlte sie von ihren Ersparnissen. Aber
immer noch gab es keine Nachricht von Ihnen. Als der nächste
Monatserste kam, musste sie von ihren Ersparnissen leben, weil sie kein
Gehalt mehr bekam. Schließlich fand sie sich damit ab, dass Sie
entweder tot waren – oder fünf Jahre später mit einer unglaublichen
Story auftauchen würden. Aber das haben Sie nie getan, und so hat sie
irgendwann dieses Kapitel ihres Lebens abgeschlossen und
weitergemacht.«

»Hat sie je den Namen Betty McCoy erwähnt?«
»Kann ich mich nicht dran erinnern. Warum? Wer ist sie?«

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»Meine letzte Klientin. Ich wurde umgebracht, als ich versuchte, ihr zu

helfen.«

Barbara sah ihn eine Weile an, und er vermochte ihren

Gesichtsausdruck nicht zu deuten. »Was ist?«, fragte er dann.

»Sie sagen das so sachlich.«
»Dass ich umgebracht wurde? Glauben Sie mir, es ist nicht einfach,

sich an diese Vorstellung zu gewöhnen. Aber zu leugnen ist es auch
nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es ist ja nicht so, als wäre ich
1961 einfach eingeschlafen und nun wieder wach geworden.«

»Nein, das wohl nicht«, pflichtete sie ihm bei. »Also haben Sie vor,

den Fall zu Ende zu bringen, an dem Sie gearbeitet haben? Und was
dann?«

»Ich schätze, wenn ich Wechsler erst einmal erledigt habe, gehe ich

wohl für ewig. Dann werde ich ruhen, wie ich es eigentlich tun sollte.«

»Wechsler? Ist das der Mann, der Sie drangekriegt hat?«
»Wenn Sie damit ›erschossen‹ meinen, ja. Hal Wechsler heißt er.«
Barbara starrte einen Augenblick ins Nichts. »Hal wie Harold?«, fragte

sie.

»Könnte sein. Ja, ich denke schon. Sie kennen ihn?«
»Ich glaube, ich habe etwas über einen Harold Wechsler gelesen.

Warten Sie hier!«

Sie ging ins Wohnzimmer und kam mit einer Zeitung zurück. Sie

schlug einige der großen Seiten um und reichte sie Slade. »Sieht er so
aus?«, fragte sie.

Er studierte das Foto. Es war eine grobkörnige Schwarz-Weiß-

Aufnahme von zwei Männern, die sich vor einem großen Banner der
Stadtverwaltung die Hände schütteln.

Der eine hatte eine schmale, spitze Nase, hohe Wangenknochen und

weit auseinander liegende Augen.

Genau so hatte Hal Wechsler ausgesehen! Schlanker allerdings und

mit mehr Haaren auf dem Kopf. Aber seit Slade Hal Wechsler zuletzt
gesehen hatte, war viel Zeit verstrichen. Für Wechsler jedenfalls. Slade
hatte den Eindruck, es wäre nicht mal eine Woche vergangen – als hätte
er Wechsler erst am Vortag gesehen.

»Das ist er«, sagte er. »Was tut er da?«
»Der andere Mann ist der Bürgermeister von Los Angeles«, erklärte

Barbara. Er hat Ihren Freund gerade zum Leiter des Amts für Wasser-
und Energieversorgung ernannt.«

»Sie meinen, Wechsler hat den Saft für die ganze Stadt unter sich?«

Slade war entgeistert. »Er ist doch nur ein mieser kleiner Gauner!«

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»Energie und Wasser. Das ist keine leichte Aufgabe in einer Stadt, die

ausgetrocknet ist wie die Wüste. Wie es aussieht, ist Wechsler gar nicht
mehr so mies und klein.«

»Aber ein Gauner ist er immer noch«, schimpfte Slade.
»Menschen ändern sich. Vierzig Jahre sind eine lange Zeit, Mister

Slade. Vielleicht hat er ein neues Leben angefangen und ist ein ehrlicher
Geschäftsmann geworden.«

»War Wasser in L.A. je ein ehrliches Geschäft?«, fragte Slade.
Sie lächelte. »Eins zu null für Sie!«
»Darf ich dieses Bild haben?«
»Bitte, gern«, entgegnete sie. Slade riss das Foto aus der Zeitung,

faltete es einmal und schob es in die Innentasche seiner Jacke.

»Ich muss jetzt gehen«, verkündete er.
»Hören Sie, Mister Slade. Ich glaube Ihnen allmählich Ihre

Geschichte, so bizarr sie auch klingen mag, denn sie ähneln dem Mann
sehr, von dem mir meine Mutter erzählte.«

»Schön, dass sie von mir gesprochen hat.«
»Sie wären überrascht! Jedenfalls möchte ich, dass Sie da draußen gut

aufpassen. Ich weiß, Sie sind schon tot – oder glauben es jedenfalls.
Aber trotzdem ... Ich weiß auch nicht... Seien Sie einfach vorsichtig!
Und tun Sie nichts Unüberlegtes!«

»Zum Beispiel?«
»Einen Rachefeldzug starten oder etwas Ähnliches. Sie können nicht

einfach losziehen und diesen Wechsler erschießen. Es würde mir nicht
gefallen, wenn Sie mit dem Gesetz in Konflikt gerieten.«

»Pferdeschwänzchen, Privatdetektive haben immer Probleme mit den

Cops. Das liegt in der Natur der Dinge.«

»Vielleicht war das früher so. Aber es hat sich vieles geändert. Sogar

das.«

»Das glaube ich erst, wenn ich es sehe.« Slade erhob sich und ging zur

Tür. Barbara folgte ihm.

»Es ist wirklich komisch«, sagte sie ein wenig wehmütig. »Ich habe

fast das Gefühl, Sie zu kennen.«

»Ich wünschte, ich hätte die Gelegenheit, Sie kennen zu lernen«,

entgegnete er. »Vielleicht, wenn das alles vorbei ist, wenn ich dann noch
da bin ...«

»Ja, vielleicht. Passen Sie auf sich auf, Mike Slade!«
»Versprochen!«, rief er ihr zu, ehe er die Tür hinter sich ins Schloss

zog.

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Barry Fetzer und Harold Wechsler stiegen vor dem Abrissgebäude auf
der Argyle Avenue aus Wechslers Limousine. Ein gelangweilt wirkender
Cop, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte, stand vor dem Zaun.
Er sah die beiden neugierig an, als sie sich näherten.

»Wir würden gern in das Gebäude gehen«, erklärte ihm Wechsler.
»Sorry, Sir. Wir haben das ganze Gelände abgeriegelt. Leichenfundort.

Kein Zutritt!«

Wechsler zog seine Brieftasche heraus und zeigte dem Officer seinen

Ausweis. »Ich bin Harold Wechsler«, sagte er. »Ich bin der neue Leiter
des Amts für Wasser- und Energieversorgung von Los Angeles.«

»In diesem Gebäude gibt es meines Wissens weder Wasser noch

Strom«, erklärte der Cop.

»Aber in dem Neubau wird es Wasser und Strom geben. Ich muss

mich nur rasch ein wenig umsehen.«

Der Polizist hieß Deke Johannsen. Er war seit sieben Monaten bei der

Truppe und angetreten, um Gesetzesbrecher zu fangen und die Stadt vor
Kriminellen zu schützen. Vor einer Baustelle Wache zu schieben, hatte
für seinen Geschmack wenig mit seinem Job zu tun.

Da er wusste, dass es besser war, sich mit hohen Tieren aus der Politik

gut zu stellen, öffnete er das Tor.

Barry Fetzer knipste seine Taschenlampe an und führte Wechsler die

Treppe hinauf. Als sie im vierten Stock ankamen, nahm Wechsler die
Lampe und ging den Korridor hinunter. Trotz der Dunkelheit ging er
zielstrebig, so als würde er sich bestens auskennen. Fetzer folgte ihm.

Kurz darauf standen sie auch schon vor der doppelten Mauer, die

größtenteils abgebrochen war. Wechsler ließ den Lichtstrahl der
Taschenlampe durch den Innenraum wandern. Fetzer versuchte, die
Körpersprache seines Chefs zu deuten. Er machte einen wütenden und
angespannten Eindruck. Die Schultern hatte er hochgezogen, seine Arme
waren steif.

»Es ist zu spät«, sagte Wechsler schließlich. »Viel zu spät.
»Hören Sie, Hal«, setzte Barry an. »Es tut mir Leid. Die haben mich

nicht...«

»Ich will keine Entschuldigungen hören, Barry«, knurrte Wechsler.

»Ich habe dich losgeschickt, damit du das Problem aus der Welt schaffst,
bevor es überhaupt eins wird. Wir hatten die Möglichkeit zu verhindern,
dass die Sache zum Problem wird.«

»Ich weiß. Ich war ja auch gut vorbereitet. Ich hatte das Wasser, das

Sie mir gegeben haben. Das Wasser, das ich auf die Wand spritzen
musste. Ich wusste die Formel, die ich sprechen sollte. Aber ich konnte
nicht hinein.«

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»Ich hätte es besser selbst erledigt«, sagte Wechsler genervt. »Ich hätte

es besser wissen sollen. Es ist meine Schuld, Barry.«

»Ja, also, aber es tut mir wirklich Leid. Ich habe mich bemüht.«
Sie gingen wieder zur Treppe; Wechsler hielt immer noch die

Taschenlampe in der Hand. »Ich weiß, Barry«, sagte er fast traurig.
»Und hör mal, wenn ich in der Limousine sitze ...«

»Ja, Boss?«
»Dann bringst du diesen Cop um! Wir können keine Zeugen

gebrauchen.«































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48


6



Das Rathaus von Los Angeles ragte achtundzwanzig Stockwerke hoch in
den Himmel über der Main Street. Als es 1926 erbaut worden war, hatte
die Bauordnung nur Gebäude bis zu zwölf Geschossen erlaubt, und so
hatte man eigens für die City Hall eine Sonderregelung in Kraft setzen
müssen, damit das imposante Gebäude alle seine Nachbarn überragen
konnte.

Aber für diejenigen, die wie Franklin Griffith jeden Tag dort

arbeiteten, war es schon nach kurzer Zeit nichts Besonderes mehr.
Griffith hatte bereits neun Jahre Dienstzeit bei der Polizei hinter sich und
versah in der Empfangshalle des Rathauses den Sicherheitsdienst. Es war
im Grunde derselbe Job wie ihn die Typen am Flughafen hatten, die den
Passagieren Schlüssel und Uhren abnahmen und beobachteten, wie das
Handgepäck durch die Röntgenmaschine fuhr. Griffith war an einem
Metalldetektor postiert, durch den im Zeitalter der Überwachung und des
Misstrauens alle Besucher des Gebäudes gehen mussten.

Überwiegend arbeitete er mit Mark Barrow zusammen, einem anderen

lang gedienten Cop. Barrow war ganz in Ordnung, allerdings war er
ständig ein wenig gereizt und beschwerte sich über alles und nichts. Aber
als Cop begegnete man bei der Arbeit allen möglichen Menschen.
Franklin hatte schon mit Kollegen gearbeitet, mit denen er nichts gemein
hatte, und mit anderen, die ihm nahestanden wie Familienmitglieder,
aber nach einer gewissen Zeit waren für ihn alle gleich geworden. Es war
nun einmal so, dass ein Polizeibeamter seinen Waffenbrüdern in jedem
Fall mehr vertraute als Zivilisten. Umgeben von den Kollegen und
Kolleginnen in Uniform fühlte sich Franklin einfach am wohlsten.

Besonderen Schutz brauchte er allerdings bei seiner derzeitigen

Aufgabe nicht. Manchmal musste er eine Brieftasche öffnen oder eine
Handtasche, weil ein Zigarettenetui aus Metall oder eine Dose
Pfefferminzbonbons den Alarm ausgelöst hatte. In der Regel waren die
Leute, bei denen er diese Dinge fand, nicht gefährlicher als seine
Großmutter, die keiner Fliege etwas zu Leide tun konnte.

Es war ein zweischneidiges Schwert: Einerseits war dieser Job absolut

ungefährlich und gemütlich, andererseits konnte er mit ihm keine Frau

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beeindrucken, und er führte weder zu einem interessanten Gespräch noch
zu einer Beförderung.

Franklin bezog seinen Posten neben dem Metalldetektor und nickte

Barrow zu, der gerade den Laptop eines Stadtangestellten untersuchte.
Ein neuer Arbeitstag begann.

Mike Slade betrachtete das Rathausgebäude. Es hatte sich kaum

verändert – ganz im Gegensatz den Bauten, die es umgaben.
Wolkenkratzer waren höher in den Himmel hinaufgeschossen, als er an
der Westküste jemals für möglich gehalten hätte. Slade war vor Jahren
einmal in New York gewesen – aber mittlerweile lag ja alles, was er je
getan hatte, Jahre zurück. Allmählich fing es ihn an zu nerven, immer
wieder seine zeitliche Perspektive berichtigen zu müssen.

In New York war er sehr beeindruckt von der Höhe des Crysler

Building und des Empire State Building gewesen. Er erinnerte sich
daran, wie er auf der Fifth Avenue gestanden war und zu dem riesigen
Empire State Building, einem Turm aus Stahl und Glas, aufgeschaut
hatte. Es hatte den Eindruck erweckt, als könne es wirklich an einer
vorbeiziehenden Wolke kratzen. Slade war damals überzeugt gewesen,
dem Gipfel menschlicher Genialität gegenüberzustehen: Kein
zukünftiges Bauwerk würde je dieser Konstruktion das Wasser reichen
können!

In Los Angeles hatte man, was hohe Gebäude anbelangte, immer

Zurückhaltung geübt. Kalifornien war erdbebengefährdet, und dieser
Tatsache mussten sich die Architekten beugen. Daher erreichten die
Bauten im Zentrum von L.A. längst nicht die Höhe des Empire State
Building.
Aber im Vergleich zu früher, fand Slade, wirkten die neuen
Gebäude im Zentrum der Stadt gigantisch hoch. Er kam sich wie ein
richtiges Landei vor, als er so auf dem Gehsteig stand und sich den Hals
verrenkte, um all die Hochhäuser zu bestaunen.

Abgesehen davon versteckte sich der Kerl, hinter dem er her war,

irgendwo in diesem Rathaus. Slade klopfte auf die 38er in seiner Tasche,
spürte das vertraute Gewicht, und ging auf den Eingang zu.

Er zog seinen Anzug zurecht und gab sich Mühe, so auszusehen wie

die Angestellten der Stadtverwaltung, die in das Gebäude eilten. Direkt
hinter dem Eingang verengte sich der Menschenstrom zu einer Schlange.
Die Leute gingen hintereinander durch etwas hindurch, das wie ein
Plastiktürrahmen aussah, allerdings ohne Tür darin. Daneben lief ein
Fließband in ein großes Gehäuse und auf der anderen Seite wieder
hinaus. Es wurde von einer kleinen Frau bedient, die nicht so aussah, als
gehörte Lächeln zu ihren Hobbys. Neben ihr stand ein Cop und ein
weiterer bewachte diesen merkwürdigen Türrahmen.

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Slade stellte sich in die Schlange und trat nach wenigen Augenblicken

durch den Rahmen.

Der Rahmen fing laut an zu piepen.
»Sir«, sagte einer der Cops. »Bitte gehen Sie zurück und kommen Sie

noch mal durch.«

»Was ist das für ein Ding?«, fragte Slade.
»Ein Metalldetektor, Sir. Bitte gehen Sie zurück und versuchen Sie es

noch einmal.«

Der Cop sah aus, als wäre ihm schon die Geduld ausgegangen, bevor

er morgens zur Arbeit gekommen war. Als Slade aus dem Türrahmen
trat, hörte das Piepen auf. Eine kleine Menschenmenge hatte sich bereits
versammelt, die ihn neugierig beobachtete.

Erneut ging er durch den Türrahmen.
Wieder piepte es.
Der Cop nahm etwas zur Hand, das wie ein Zauberstab aussah und

zeigte auf ihn. »Wenn Sie bitte kurz herüberkommen würden, Sir«, sagte
er.

Slade knöpfte sein Jackett auf. »Wenn es ein Metalldetektor ist,

reagiert er wahrscheinlich nur auf meine Knarre«, sagte er und griff in
die Innentasche, um seine Pistole herauszuholen.

»Er hat eine Waffe!«, rief jemand hinter ihm. Schreie ertönten und

hektische Schritte.

»Fallenlassen!«, rief der Cop und zog seine Waffe.
»Ist schon okay«, sagte Slade. »Ich bin Privatdetektiv. Ich habe eine

Lizenz dafür.«

»Fallen lassen!«, wiederholte der Cop wütend.
Slade richtete seine Pistole auf den Cop. »Sie lassen Ihre fallen«, sagte

er.

»Lassen Sie die Waffe fallen!«, rief jemand hinter Slade. Zweifelsohne

der zweite Bulle, der wahrscheinlich auf seinen Kopf zielte.

Vermutlich gab es zwei Möglichkeiten, dachte Slade. Da er bereits tot

war, ging die Kugel vielleicht einfach durch ihn hindurch und traf den
Cop, der ihm gegenüberstand. Darin lag ein gewisser Reiz:
Privatdetektive und Cops waren ewige Rivalen. Slade hatte schon
genügend schlechte Erfahrungen mit korrupten Cops gemacht, um der
Vorstellung, ein Bulle könne eine Kugel abbekommen, die für ihn,
Slade, bestimmt war, etwas abzugewinnen. Aber es war auch möglich,
dass er nun wieder richtig lebte, mit allen Konsequenzen. In diesem Fall
würde eine Kugel, die in seinen Schädel eindrang, unglaubliche
Schmerzen verursachen, bevor er wieder tot umfiel.

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Um seine Möglichkeiten abzuwägen, brauchte Slade weniger als eine

Sekunde. Eine weitere für die Entscheidung, wie er reagieren sollte:
Wenn er seine Knarre fallen ließ, stand er schutzlos zwei bewaffneten
Cops gegenüber. Und darüber machte er sich keine Illusionen: Ihnen war
ein toter Privatdetektiv lieber als ein lebendiger. Also beschloss er, die
Waffe nicht rauszurücken, sondern zu verschwinden. Er musste einen
anderen Weg finden, Wechsler zu stellen.

»Ich befürchte, es wird nicht helfen, wenn ich Ihnen erkläre, dass ich

einen Mörder festnehmen will«, sagte er.

»Fallen lassen! Sofort!«, befahl der erste Cop.
»Hab' schon verstanden, Kumpel«, entgegnete Slade leise und

gelassen. Er beugte sich vor und tat so, als wolle er die Waffe auf den
Boden legen. Tatsächlich aber machte er sich nur klein. Gleichzeitig
bewegte er sich ein wenig zur Seite, um die Wahrscheinlichkeit zu
vergrößern, dass die Cops ihn verfehlten und sich gegenseitig trafen,
wenn das Feuerwerk begann.

Als er bemerkte, wie der Cop vor ihm ausatmete und anfing sich zu

entspannen, feuerte er.

Er zielte auf den Arm – und was er ins Visier nahm, das traf er auch.

Die 38er gab ein lautes Krachen von sich, das durch die Empfangshalle
echote. Die Leute schrien. Ebenso der Cop, aus dessen Unterarm, in den
Slades Kugel eingedrungen war, Blut spritzte. Die Knarre des Cops
segelte durch die Luft, landete ein paar Meter weiter auf den
Bodenfliesen und schlidderte gegen die Wand.

Slade machte auf dem Absatz kehrt und rannte zum Ausgang. Er hörte,

wie jemand – wahrscheinlich der zweite Cop – rief: »Stehen bleiben!«

Was er natürlich nicht tat.
Er lief nur noch schnellerund griff dabei nach den Leuten, an denen er

vorbeirannte. Sie wichen vor ihm zurück, aber der Eingangsbereich war
zu voll, und nicht alle konnten entfliehen. Er berührte die Zivilisten nur
kurz im Vorbeilaufen, um den Cops zu zeigen, dass er in ständigem
Kontakt mit den Menschen war. So konnten sie unmöglich auf ihn
schießen.

Dann war er draußen im herrlichen Sonnenschein.
Aus allen Richtungen ertönte das Geräusch von Sirenen.
»Natürlich!«, dachte er. »Das Präsidium ist ja nur einen Block entfernt.

Ein kurzer Anruf, und sämtliche Polypen aus der ganzen Stadt sind
unterwegs!«

Er drehte sich um und lief die West Temple Street hinunter. Durch das

Geklapper seiner Schritte auf dem Gehsteig und das Rauschen des Bluts
in seinen Ohren hörte er, wie die Sirenen immer näher kamen. Die

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meisten Streifenwagen bogen jedoch auf die Main Street ab und nahmen
Kurs auf den Rathauseingang.

Aber nicht alle.
Slade legte noch einen Zahn zu. Obwohl viele Leute unterwegs waren,

gelang es ihm, sich zwischen den Fußgängern hindurchzuschlängeln.

Zwei Blocks weiter gelangte er auf den Broadway und bog scharf nach

rechts ab. Dort war immer viel los. Er konnte, wie er vermutet hatte, gut
in der Menschenmenge untertauchen. Auf den Gehsteigen drängten sich
die unterschiedlichsten Menschen aller Hautfarben. Um ein Haar wäre er
mit zwei älteren Frauen zusammengestoßen, die mit Einkaufstüten
bepackt aus einem Laden traten. In letzter Sekunde wich er ihnen aus
und hörte noch, wie sie ihn auf Spanisch beschimpften.

Die Sirenen kreischten weiter die West Temple Street hinauf.
Er war in Sicherheit! Sofort verlangsamte Slade sein Tempo, betrat ein

Geschäft und sah sich eine Weile um. Er betrachtete die Auslagen der
Süßwarenhandlung und staunte nicht schlecht über die Riesenauswahl.

Und über die Preise.
Einen Dollar für eine Tafel Schokolade?
Es hatte ein paar gehörige Nachteile, zu dieser Zeit wieder wach

geworden zu sein! Vielleicht waren die anderen Menschen mittlerweile
alle Millionäre geworden. Aber Mike besaß nur das, was er in der Tasche
hatte. Lange würde er damit nicht durchkommen.

Andererseits ging er davon aus, nur kurzfristig finanzielle Mittel zu

benötigen. Nur so viel, um sich über Wasser halten zu können, bis er Hal
Wechsler erledigt hatte. Danach würde er endgültig der Vergangenheit
angehören.

Drei Stunden später saß Franklin Griffith in einem Besprechungsraum
im Polizeipräsidium. Sein verbundener Arm ruhte in einer Schlinge. Die
Kugel hatte sein Handgelenk zertrümmert, und es war noch nicht klar, ob
er den Arm je wieder richtig würde benutzen können. Aber der Ganove,
der ihm die Kugel verpasst hatte, lief noch frei herum. Sie konnten ihn
nur kriegen, wenn er und Mark Barrow möglichst detaillierte Angaben
machten, nach denen ein Phantombild angefertigt werden konnte. Das
würde man dann an die Kollegen auf der Straße verteilen.

Franklin saß an einem Tisch und hielt seinen gesunden Arm schützend

vor den lädierten. Ein Detektive namens Benny Shimoto saß ihm
gegenüber und sah ihn mitfühlend an.

»Tut's sehr weh?«, fragte er.
»Wie verrückt.« Franklin versuchte ein Lächeln, das ihm aber sofort

wieder verging.

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»Das ist echt Scheiße, Mann«, sagte Benny.
»Wem sagen Sie das!«
»Sind Sie sicher, dass Sie jetzt in der Lage sind, Ihre Angaben zu

machen? Wir haben ja schon die Aussage von Barrow.«

»Ich glaube, ich habe den Kerl besser gesehen als er«, entgegnete

Franklin. »Er stand mir direkt gegenüber, als er feuerte.«

»Gutes Argument«, pflichtete ihm Benny bei. Er nahm einen Schluck

aus seiner weißen Tasse, an der ringsherum Kaffeetropfen
heruntergelaufen waren wie Farbe aus einem Eimer. Franklin spülte ein
paar Aspirin mit einem Saft hinunter.

»Also dann, was können Sie mir über den Täter sagen?«
Franklin versuchte, sich genau zu erinnern. »Mitte dreißig, würde ich

sagen. Kaukasischer Typ. Braunes Haar, blaue Augen. Schätzungsweise
einsachtzig groß.«

»So sehen viele aus.«
»Ja, ich weiß. Es gab überhaupt nichts Besonderes an ihm. Außer

seiner Kleidung.«

»Was war damit?«, fragte Benny neugierig.
»Sah aus wie die Kleidung vor vierzig Jahren«, erklärte Franklin. »Er

trug einen weiten Anzug, aber gerade geschnitten, wissen Sie. Anders als
die Baggy-Hosen von heute. Der Anzug war mausgrau, wie man es jetzt
nicht mehr sieht. Und er trug einen Hut wie Humphrey Bogart oder so.
Richtig altmodisch.«

»Was ist mit seiner Waffe?«
Franklin schlug sich mit der gesunden Hand vor die Stirn. »Daran hätte

ich denken sollen«, sagte er. »Sie war alt. Richtig alt. Sah wie eine
Browning aus, eine kurze 38er. Ich wusste doch, dass mir etwas
Merkwürdiges aufgefallen war, aber dann wurde ich ja angeschossen und
habe nicht weiter darüber nachgedacht. Hat man die Kugel schon
gefunden?«

»Leider nein. Und sie steckt nach Angaben der Ärzte auch nicht in

Ihrem Arm.«

»Das haben sie mir auch gesagt«, bestätigte Franklin. Wäre es nicht so

schmerzhaft gewesen, hätte er mit den Schultern gezuckt. »Und die
Patronenhülse?«

»Ebenfalls Fehlanzeige«, entgegnete Benny.
Das fand Franklin merkwürdig, aber er sagte nichts. Wahrscheinlich

hatte sich der Detective auch schon Gedanken darüber gemacht. Der
Schütze hatte doch gar keine Zeit gehabt, seine Kugel oder die Hülse
einzusammeln. Bestimmt hatte ein Zivilist sie eingesteckt. Ein Sou-

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venirjäger, der gar nicht begriff, dass er nun ein wichtiges Beweisstück
mit sich herumtrug.

»Schaffen Sie das Phantombild noch?«, fragte Benny.
»Ich muss es machen, solange mir alles frisch in Erinnerung ist«,

entgegnete Franklin. »Ich will, dass wir diesen Typen kriegen!«

»Er hat mitten im Rathaus auf einen LAPD-Officer geschossen, einen

Block vom Präsidium entfernt«, meinte Benny. »Wir kriegen ihn!
Machen Sie sich darüber keine Gedanken.«

»Ich weiß, dass wir ihn kriegen«, sagte Franklin. »Mit ein bisschen

Glück bin ich vielleicht sogar selbst bei den Leuten, die ihn schnappen.«

Benny schüttelte den Kopf. »Sie sind doch erst mal eine ganze Weile

krank geschrieben«, erklärte er. »Aber Sie werden beim Prozess Ihre
Zeugenaussage machen.«

Nun brachte Franklin doch ein Lächeln zu Stande. »Damit bin ich

einverstanden«, sagte er. »Kommen Sie, gehen wir ein bisschen malen!«

























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7



Kate Lockley saß an ihrem Schreibtisch und starrte auf das vom
Computer erstellte Phantombild, das links von ihr auf dem Schreibtisch
lag.

»Das kann doch gar nicht wahr sein!«, dachte sie. »Einfach

unmöglich!«

Obwohl ihr der Kopf wehtat, ließ ihr die Geschichte keine Ruhe.
Das Phantombild war nach den Angaben zweier Polizeibeamter erstellt

worden. Es zeigte den Schützen, von dem einer der Kollegen im Rathaus
angeschossen worden war. Ihren Aussagen zufolge hatte der Täter
Kleidung getragen, die seit ungefähr vierzig Jahren passee war.

Zu ihrer Rechten lag ein altes Aktenfoto eines Privatdetektivs namens

Mike Slade, der in den frühen Sechzigern verschwunden war. Er hatte
Büroräume in dem Gebäude auf der Argyle Avenue in Hollywood
gemietet gehabt, wo die Leiche gefunden worden war. Der Pathologe
hatte festgestellt, dass der Tote, dem Alter entsprechend, gut Slade sein
könnte.

Kate blickte wieder auf den Computerausdruck. Als sie die beiden

Bilder verglich, kam sie zu dem Schluss, dass auf beiden derselbe Mann
abgebildet war.

Aber das war doch Blödsinn! Wie konnte ein Kerl, der 1961

verschwunden war, wieder auftauchen – ohne auch nur um einen Tag
gealtert zu sein?

Und noch ein Problem machte ihr zu schaffen. Sie war an diesem

Morgen von einem dringenden Anruf geweckt worden – sehr früh am
Morgen, nachdem sie nur wenig geschlafen hatte. Sie hatte sofort noch
einmal zu dem Abrissgelände auf der Argyle Avenue fahren müssen: Es
gab eine weitere Leiche.

Es war ein Cop. Ein Cop, der ein paar Stunden zuvor noch am Leben

gewesen war. Genau der, den Kate angewiesen hatte, den Fundort
abzuriegeln.

Sein Name war Deke Johannsen.
Am Tatort hatte Kate die Leiche identifiziert und zugeschaut, wie sie

in einen schwarzen Plastiksack gepackt und abtransportiert worden war.

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Danach hatte sie Deke Johannsens Captain zu Dekes Elternhaus in

Alhambra begleitet, um die Familie – seine Eltern und den jüngeren
Bruder – von seinem Tod zu unterrichten. Deke war nicht verheiratet
gewesen.

Die Johannsens lebten in einem einstöckigen pinkfarbenen Bungalow.

Dekes Vater war ein kräftiger Mann. Der ehemalige Marineinfanterist
arbeitete nun als Busmechaniker bei den Stadtwerken von Los Angeles.
Dekes Mutter war halbtags als Zimmermädchen in einem Motel be-
schäftigt. Die russische Emigrantin sprach Englisch mit einem schweren
Akzent. Während der Captain erklärte, was Deke widerfahren war, liefen
dem Vater Tränen über die Wangen. Die Mutter saß völlig reglos da und
verriet keinerlei Anzeichen von Schmerz. Nach einer Weile legte sie
ihrem Mann tröstend die Hand auf die breite Schulter.

Kate hatte das schon oft erlebt. Entgegen der landläufigen Meinung

zeigten sich Männer oft weicher und empfindsamer als Frauen.
Eigentlich waren es die Frauen, die für das stabile Fundament sorgten,
auf dem Familien begründet waren. Auch in dieser Familie war die
Mutter die eigentlich starke Persönlichkeit.

Nach einer halben Stunde bei den Johannsens war Kate mit dem

Captain wieder zurück zum Parker Center gefahren. Unterwegs hatten
sie kein Wort gewechselt.

Das war es, was sie an ihrem Job am meisten hasste, hatte sie gedacht.

Natürlich war ihr klar, dass der Job bei der Polizei ein gewisses Risiko
barg, und dass die Wahrscheinlichkeit, eines unnatürlichen Todes zu
sterben, für Polizisten viel höher war als für gewöhnliche Zivilisten.
Auch hatte Kate schon längst die Tatsache akzeptiert, dass sie
irgendwann bei der Ausübung ihres Berufs sterben konnte. Aber es
schmerzte sie, wenn ein Kollege umkam. Besonders wenn sie ihn, wie in
diesem Fall, selbst in die Schusslinie gebracht hatte. Es war wie ein
Schlag in die Eingeweide und ging ihr sehr nah. Aber das musste wohl
so sein, sonst war man einfach kein guter Cop.

Das war es auch, was sie im Morddezernat hielt: Die Absicht, Mörder

zu fangen und sie hinter Schloss und Riegel zu bringen, damit sie nicht
noch einmal töten konnten. Im besten Fall machte sie sich also
irgendwann selbst überflüssig und arbeitslos. Es war ihr Ehrgeiz, die
Stadt so sicher zu machen, dass das Morddezernat nicht mehr nötig war.

Allerdings, dessen war Kate sich klar, würde es so weit wohl nie

kommen.

Aber dieses Ideal motivierte sie und hielt sie am Ball. Selbst wenn sie

sich einem so unmöglichen Fall wie dem des toten Schnüfflers
gegenübersah.

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Mike Slade war vermutlich seit 1961 tot. Und heute hatte er einen Cop

angeschossen. Warum hatte er ihn nicht gleich getötet? Mit Absicht oder
weil er einfach ein lausiger Schütze war, sogar auf kurze Entfernung?

Hatte er auch Deke Johannsen umgebracht?
Der Aktenlage zufolge, ja.
Aber irgendwie passte das alles noch nicht zusammen. So war es

meistens am Anfang eines Falls. Johannsen war mit einem einzigen
Schuss aus einer 9mm in den Hinterkopf getötet worden. Franklin
Griffith hatte der Täter, den Aussagen zufolge, mit einer mindestens
dreißig Jahre alten Waffe angeschossen. Das sprach für den toten Privat-
detektiv Slade als Täter. Beweise gab es jedoch nicht; weder Kugel noch
Patronenhülse waren gefunden worden. Nach Angaben der Ärzte
entsprach die Größe von Griffiths Schusswunde einem 38er Kaliber.

Besaß Slade also zwei Waffen? Warum sollte er, wenn er ein

Schnüffler aus den Sechzigern war – oder sich als solcher verkleidete,
was wahrscheinlicher anmutete – zusätzlich eine 9mm bei sich haben?

So viele Fragen und nur wenige Antworten! Kate sah sich erneut die

Informationen an, die sie über Mike Slade ausgedruckt hatte. Zum
Zeitpunkt seines Todes hatte er das Büro seit zehn Jahren angemietet.
Seine langjährige Sekretärin hieß Veronica Chatsworth. Er hatte nie
geheiratet. In den späten Fünfzigern und frühen Sechzigern zählte man
Slade in der Hollywood-Szene praktisch zürn Inventar, und er hatte
gelegentlich für Studios und unbekanntere Schauspieler gearbeitet. Er
hatte sogar eine Weile als technischer Berater an einer Fernsehserie
namens 77 Sunset Strip mitgewirkt. Seine Spezialität war es gewesen, im
Auftrag von Schauspielerinnen zu ermitteln, die sich scheiden lassen
wollten. Er hatte schmutzige Geschichten über ihre Männer ausgegraben,
denn damals in den Sechzigern hatte es noch keine Scheidung in
gegenseitigem Einvernehmen gegeben.

Slade hatte als tough, gefährlich und sehr fähig gegolten. Ihm war die

Lösung einiger großer Fälle gelungen, die das LAPD nicht hatte knacken
können, zum Beispiel den spektakulären Mord an dem Zeitungs-
verleger Oswald Sternwood 1956. Aber er hatte nie eine gute Beziehung
zur Polizei gehabt. Er war in den frühen Fünfzigern eine Zeit lang selbst
Cop gewesen und anlässlich eines Korruptionsskandals gefeuert worden.
Wie der Akte zu entnehmen war, schien er selbst nicht in die Korruption
verwickelt gewesen zu sein. Vielmehr hatte er Beweise gefunden, die
seine Vorgesetzten betrafen, und sie hatten ihn suspendiert, um die
eigene Haut zu retten. Als man sie schließlich doch verurteilte, bot man
Slade an, zur Polizei zurückzukehren. Aber zu diesem Zeitpunkt besaß er
bereits seine Lizenz als Privatdetektiv und baute sich seinen

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Kundenstamm auf. Offenbar trauerte er Vergangenem nicht nach, aber er
vergaß auch nicht, wie man ihn bei der Polizei behandelt hatte.

Ansonsten gab die Akte nicht viel her. Kate beschloss, einige von

Slades früheren Klienten zu überprüfen. Vielleicht konnte sie auch etwas
über Veronica Chatsworth herausfinden.

Zuerst wollte sie den Fall allerdings noch mit jemandem besprechen.

Mit jemandem, der sich mit Privatdetektiven, vor allem aber
hervorragend mit seltsamen Phänomenen auskannte.

»Was haben wir also bislang über Betty McCoy erfahren?«, fragte
Angel. Cordelia saß an ihrem Schreibtisch und blätterte in einem
Modemagazin, das eindeutig nichts mit dem Fall zu tun hatte. Sie trug
ein enges rotes T-Shirt mit V-Ausschnitt und schwarze Hosen. Doyle
hatte seinen Stammplatz auf der Couch besetzt, und Angel lehnte neben
der Tür an der Wand.

»Zusätzlich zu dem, was wir schon wissen?«, entgegnete Cordelia.

»Überhaupt nichts.«

»Sie liegt immer noch in ihrem Grab, soweit ich das beurteilen kann«,

fügte Doyle hinzu und fuhr sich mit den Fingern durch sein dunkles
Haar. »Letzte Nacht zumindest hat sie niemand gestört oder besucht.«

»Ich bin in der Rialto Lounge auch nicht besonders weit gekommen«,

gestand Angel. »Ich habe lediglich herausgefunden, dass wir nicht die
Einzigen sind, die plötzlich an Betty interessiert sind.«

»Wenn sich schon so viele für sie interessiert hätten, als sie noch lebte,

dann wäre sie vielleicht immer noch unter uns«, bemerkte Cordelia.

»Möglich«, sagte Angel. »Wenn man voraussetzt, dass jeder, der nach

ihr sucht, nur ihr Bestes will.«

»Das wäre aber eine sehr mutige Annahme«, sagte Doyle. »Und ihr

wisst ja, was dabei herauskommt, wenn man etwas annimmt. Man
macht...«

»Ja, ja, ja«, unterbrach ihn Cordelia. »Jetzt ist wirklich nicht die Zeit

für deine philosophischen Betrachtungen!«

»Schon gut«, entgegnete Doyle.
»Nichts Neues im Internet, Cordy?«, fragte Angel, um das Gespräch

wieder zurück zum Thema zu lenken.

»Was könnte es Neues über eine Frau geben, die vor über dreißig

Jahren gestorben ist? Sie war ja keine Berühmtheit, oder so. Nach ihrem
Tod hat die Welt sie vergessen. Das ist wirklich traurig. Der Preis dafür,
sich keinen Namen gemacht zu haben.«

»Kommt mir bekannt vor«, dachte Angel und erinnerte sich an seine

Gefühle am Vorabend, als er sich gefragt hatte, ob er selbst der Welt

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wohl irgendetwas hinterlassen würde. Aber vielleicht hatte sich Betty
McCoy vor ihrem Tod eine solche Frage gar nicht gestellt.

»Ich weiß nicht, ob Berühmtheit wirklich alles ist, Cord«, bemerkte

Doyle. »Die Leute weigern sich nicht nur, dich nach deinem Tod in Ruhe
zu lassen – du hast sie ja auch ständig auf den Fersen, solange du noch
lebst!«

»Hältst du mich für Greta Garbo oder was? Vielleicht will ich gar nicht

in Ruhe gelassen werden, außer von diesen Leuten, die ständig anrufen,
um mich zu überreden, die Telefongesellschaft zu wechseln.«

Wie aufs Stichwort klingelte das Telefon auf Cordelias Schreibtisch.

Sie starrte es an, als wäre es eine bissige Klapperschlange.

»Willst du nicht rangehen, Cordy?«, fragte Doyle schließlich.
»Die werden auch immer raffinierter!«, schimpfte Cordelia. »Jetzt

wissen die sogar schon, wann man über sie redet!«

»Könnte auch jemand anderes sein als die Telefongesellschaft«,

bemerkte Angel.

Cordelia lachte kurz auf. »Ja, ein Klient zum Beispiel! Dass ich nicht

lache!«

Das Telefon klingelte weiter. Angel sah Cordelia in die Augen, zog

eine Augenbraue hoch und wies mit dem Kopf in Richtung Apparat.

»Ja, ja, schon gut«, sagte Cordelia und griff zum Hörer. »Angel

Investigations.« Sie lauschte einen Augenblick und reichte dann den
Hörer an Angel weiter. »Für dich! Es ist Cagney. Oder Lacey? Ich kann
es mir einfach nicht merken.«

Angel nahm ihr den Hörer ab. »Hallo.«
»Hallo Angel«, sagte Kate Lockley.
»Kate! Was gibt's?«
»Ich wollte dich nur wissen lassen, dass es einen neuen

Privatschnüffler in der Stadt gibt, der eine noch größere Nervensäge ist
als du«, sagte Kate.

»Lass mich raten! Heißt er zufällig Mike Slade?«
»So heißt er. Du kennst ihn?«
»Ich habe den Herrn nie persönlich getroffen. Aber ich gehe auch nicht

zu Schnüfflertagungen – falls es so etwas überhaupt gibt.«

»Aber du hast schon von ihm gehört?«, fragte Kate.
»Letzte Nacht erst«, antwortete Angel.
»Slade muss ja letzte Nacht sehr beschäftigt gewesen sein. Wo bist du

auf ihn getroffen?«

»Er war in einer Kneipe in Hollywood, die heißt Rialto Lounge. Er hat

den Barkeeper ausgeknockt. Offenbar suchte er nach einem Mädchen,
das dort in den frühen Sechzigern gearbeitet hat.«

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»Das ist er!«
»Was weißt du über ihn?«, fragte Angel.
»Also erst mal glauben wir, dass er 1961 ermordet wurde.«
»Sagtest du nicht, er sei neu in der Stadt?«
»Das macht die Sache ja so interessant. Heute hat er einen Polizisten

angeschossen. Außerdem glauben wir, dass er vergangene Nacht einen
anderen Polizisten umgebracht hat.«

»Klingt, als wäre er ein Privatdetektiv mit einem ziemlich unsozialen

Verhalten«, meinte Angel.

»Ach, als wärt ihr alle so unheimlich sozial!«, gab Kate zurück. »Hör

mal, Angel. Ich weiß, du bist manchmal in merkwürdige Fälle
verwickelt. Wenn du diesem Typen begegnest oder mehr Informationen
über ihn bekommst, möchte ich sofort davon erfahren – wenn nicht eher.
Okay?«

»Sicher, Kate. Hast du eine Beschreibung oder etwas Ähnliches?«
»Ich habe ein Foto von ihm, aus der Zeit, als er noch lebte; außerdem

ein Phantombild, das auf der Grundlage von Zeugenaussagen heute
Morgen erstellt wurde. Auf beiden derselbe Typ. Und er trägt Klamotten,
die vor vierzig Jahren modern waren. Könnten glatt aus der Kleider-
sammlung stammen.«

»Altmodischer Anzug, Hut mit breiter Krempe?«, fragte Angel.
»Du hast ihn also doch gesehen?«
»Nein«, entgegnete Angel. »So hat ihn der Barkeeper beschrieben.«
Kate sprach langsam, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihm glauben

sollte. »Also gut, Angel. Ich will diesen Kerl haben, bevor er weitere
Kollegen angreift. Du meldest dich bei mir, wenn du irgendwas
herausfindest, ja?«

»Das werde ich, Kate.«
Sie verabschiedete sich, und Angel legte nachdenklich auf. Cordelia

sah ihn eine Weile an. »Was ist?«, fragte sie schließlich. »Du siehst aus,
als wärest du auf etwas völlig Unerwartetes gestoßen.«

»So ungefähr«, sagte Angel. »Erinnert ihr euch? Ich habe doch erzählt,

dass noch jemand in der Rialto Lounge nach Betty McCoy gesucht hat.«

»Sicher«, entgegnete Doyle. »Das ist doch höchstens fünf Minuten

her!«

»Jedenfalls«, fuhr Angel fort, »sucht Kate nach exakt demselben

Typen. Sein Name ist Mike Slade. Er ist Privatdetektiv. Er wird gesucht,
weil er einen Cop erschossen haben soll. Oh, und er wurde
wahrscheinlich 1961 ermordet.«

»Derselbe Typ?«, fragte Doyle ungläubig. »Das ist aber ein Zufall!«

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»Wenn du eine Vision von Betty McCoy gehabt hast, die von den

Mächten der Ewigkeit geschickt wurde«, meinte Angel, »dann muss sie
in Schwierigkeiten sein. Allerdings ist sie tot.«

»Richtig«, bestätigte Doyle.
»Wir können also keineswegs selbstverständlich davon ausgehen, dass

Tote nicht einem Verbrechen zum Opfer fallen können; ebenso wenig,
dass sie nicht selbst welche begehen.« Er wies mit dem Daumen auf sich
selbst. »Wir liegen längst nicht alle friedlich im Grab!«

»Glaubst du, dieser Slade ist ein Vampir?«, fragte Cordelia. »Oder

Betty McCoy vielleicht?«

»Das habe ich nicht gesagt«, entgegnete Angel. »Aber es ist eine

Möglichkeit. Wir müssen für alles offen sein und uns noch stärker
bemühen herauszufinden, was hier los ist. Keine Ahnung, ob dieser Mike
Slade tatsächlich tot ist oder nicht. Aber gefährlich ist er auf jeden Fall.«

»Was tun wir als Nächstes?«
»Wir müssen mehr über Betty McCoy in Erfahrung bringen«, sagte

Angel. »Sie muss eine Spur hinterlassen haben, als sie starb. Finden wir
sie! Was ist mit ihrer persönlichen Habe geschehen? Hatte sie Familie
oder Freunde, die sich an sie erinnern? Ich werde versuchen, mehr über
unseren geheimnisvollen Killer herauszufinden, und ihr beiden vergrabt
euch in diese Betty-Geschichte.«

»Alles klar, Boss«, antwortete Doyle. »Wir graben.«
»Oh«, machte Cordelia und schlug sich die Hand vor den Mund. Doyle

und Angel sahen sie an. »Doch nicht wirklich?«

Angel sah sie verständnislos an. »Was nicht wirklich?«
»Muss Doyle Betty McCoy ausgraben?«
»Das ersparen wir uns erst mal«, entgegnete Angel, »und hoffen, dass

es nicht nötig sein wird.«

»Aber im Ernst!«, sagte Doyle schnell. »Auch wenn es nötig werden

sollte, denken wir erst noch drei-, viermal darüber nach, bevor wir es
tun.«

»Manche Leute sind echt empfindlich«, bemerkte Cordelia. »Hast du

dich immer noch nicht an den Umgang mit Toten gewöhnt?«

»Hey, es ist ein großer Unterschied, ob man sich mit einem Vampir

abgibt oder einem Haufen Leichen.«

Angel ignorierte das Geplänkel. »Ihr kümmert euch also um Betty

McCoy! Und ich sehe mir jetzt mal den neuen Kollegen an, diesen Mike
Slade.«

»Das kann unmöglich sein echter Name sein!«, bemerkte Doyle.
»Wieso? Ist auch nicht schlimmer als Francis Doyle«, meinte Cordelia.
»Doch! Viel schlimmer!«, widersprach Doyle zutiefst gekränkt.

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»Wir wissen nicht, ob er wirklich so heißt oder nicht«, erklärte Angel.

»Aber wir werden es herausfinden. Man muss diesem Typen mal zeigen,
wo's langgeht.«

»Zeigen wir's ihm!«, rief Doyle. »Worauf warten wir noch?«
»Worauf du wartest, weiß ich nicht, aber ich für meinen Teil warte

darauf, dass jemand hereinkommt und uns ein dickes Buch mit der
Lebensgeschichte von Betty McCoy auf den Tisch knallt«, sagte
Cordelia.

»Dieses Buch müsst ihr wohl selbst schreiben«, bemerkte Angel.

»Scheint so, als könnte Betty jemanden gebrauchen, der ihre Geschichte
zusammenträgt.«

»Ich liebe Geschichten!«, rief Cordelia. »Ich bin dabei! Gehen wir,

Doyle!«

»Wohin denn?«
»Wir fangen mit der Bibliothek an. Vielleicht stoßen wir dort auf

etwas, das es im Internet nicht gab.«

»Wir gehen nicht zum Friedhof?«, fragte Doyle hoffnungsvoll.
»Nein, tun wir nicht«, bestätigte Angel. »Wenigstens nicht vor

Sonnenuntergang.«





















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63


8



Mike Slade stand in einer Telefonzelle und blätterte im Telefonbuch, das
darin angekettet war. Es gab einige Wechslers, aber keinen Harold oder
Hal. Überhaupt keinen, der mit H anfing.

Also hatte der Kerl seine Nummer nicht eintragen lassen. Eigentlich

nicht sonderlich überraschend bei jemandem, der nun ein großes Tier
war. Die meisten Politiker und Ganoven standen nicht im Telefonbuch,
und das war keineswegs ihre einzige Gemeinsamkeit.

In den alten Zeiten hätte Mike Charlie Wilson angerufen, einen

Kontaktmann beim LAPD, und der hätte ihm Wechslers Adresse
beschafft. Aber wenn ihn der vergangene Tag irgendetwas gelehrt hatte,
dann die Einsicht, dass nichts mehr wie früher war. Die meisten Leute,
die Slade gekannt hatte, schienen tot zu sein. Und wenn Charlie nicht
gestorben war, lebte er wahrscheinlich irgendwo in einem Wohnwagen,
angelte und bezog seine Rente, und saß ganz gewiss nicht mehr an einem
Schreibtisch im Polizeipräsidium.

Nein, Mike musste davon ausgehen, dass er bei den Cops keine

Verbündeten mehr hatte.

Aber deshalb war er noch lange nicht am Ende. Er schlug die Adresse

der Telefongesellschaft nach. Die Hollywood Zweigstelle war nicht sehr
weit entfernt. Wenn er persönlich vorsprach, konnte er den Leuten
bestimmt Wechslers Adresse entlocken.

Taxis waren zu teuer, und es war auch schwierig, eins zu erwischen.

Die Leute schienen nun alle mit dem eigenen Wagen zu fahren – meist
waren es große Fahrzeuge, die wie Trucks aussahen und hoch über der
Straße thronten. Das war vermutlich bei dem gesteigerten Verkehrsauf-
kommen die richtige Methode: Sehen und gesehen werden.

Slade beschloss, zu Fuß zu gehen. Detektivarbeit war im Grunde

größtenteils Laufarbeit. Als Schnüffler musste man von Angesicht zu
Angesicht mit den Leuten sprechen, denn am Telefon konnte man leicht
belogen werden. Man sah das Gesicht seines Gesprächspartners nicht
und konnte nicht beurteilen, ob er log oder die Wahrheit sagte.

Während Slade die Straße entlang ging, schauderte es ihn bei dem

Gedanken, selbst durch den dichten Verkehr steuern zu müssen. Er hatte
es geliebt, im Wagen mit heruntergelassenen Scheiben die Küste

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hochzufahren, den Wind im Gesicht zu spüren und die salzige Meeres-
luft zu riechen. Aber damals waren die Straßen längst nicht so verstopft
gewesen wie heute.

Es hatte auch etwas für sich gehabt, tot zu sein. Denn da hatte er nichts

gespürt, sich um nichts gesorgt. Nun, da er ins Leben zurückgekehrt war,
fühlte er eine tiefe Traurigkeit, weil er sich plötzlich der vielen Dinge
bewusst war, die er wohl nie mehr erleben würde. So viele Annehmlich-
keiten, die er nie wieder genießen konnte!

Die Verwaltung der Telefongesellschaft, ein großes Gebäude, das aus

nacktem, grauen Stein erbaut war, lag an einer Ecke. Die zweiflügelige
Eingangstür bestand aus Glas, die Griffe aus Metall. Auf einem Schild
standen die Öffnungszeiten. Das Gebäude wirkte zwar wenig einladend,
aber weniger offiziell und unfreundlich als das Rathaus.

Erleichtert vermerkte Slade, dass nirgends einer von diesen Türrahmen

zu sehen war, mit denen verdeckt getragene Waffen ausfindig gemacht
wurden.

Er ging hinein.
Die Halle war groß, hätte zu einer Bank gehören können. Hinter

zahlreichen Schaltern, die wie Kassenhäuschen aussahen, saßen die
Angestellten. Die Menschen warteten in Schlangen, um ihren
Telefonanschluss anzumelden oder sich zu beschweren oder vielleicht
ihren Anschluss zu kündigen – falls es sich heutzutage überhaupt jemand
leisten konnte, kein Telefon zu haben. Wenn man bedachte, wie
schwierig es war, sich in der Stadt zu bewegen, und wie viel ein Anruf
aus der Telefonzelle kostete, war ein eigener Telefonanschluss offenbar
wichtiger denn je – andernfalls lief man Gefahr, völlig vom Rest der
Welt abgeschnitten zu sein.

Slade wählte eine Schlange aus und stellte sich an.
Die Frau vor ihm hielt ein Telefon im Arm. Sie war klein, hatte rote

Wangen, trug ein kariertes Tuch auf dem Kopf und, obwohl es recht
warm war, einen dicken Mantel. Irgendwie erinnerte sie Slade an eine
Immigrantin aus Europa. Die Frau wiegte das Telefon wie ein Baby; als
wäre es sehr kostbar.

Er wartete, bis sie ihr Anliegen erledigt hatte und vom Schalter

wegtrat. Lächelnd ging er auf die Frau zu, die hinter der Scheibe saß,
eine hübsche junge Latina namens Luisa, wie auf dem Schild an ihrem
Schalter zu lesen war.

»Hallo Luisa«, sagte er. »Mein Name ist Slade. Mike Slade.«
Sie erwiderte sein Lächeln. »Guten Tag, Mister Slade«, begrüßte sie

ihn. »Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«

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Er lehnte sich ein bisschen vor und schob seine Visitenkarte über die

Theke. »Ich bin Privatdetektiv, verstehen Sie?«

»Ich verstehe.«
»Also, ich bin hinter einem Ganoven her, einem ganz üblen Kerl. Er ist

ein Killer, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Und wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie fast verschwörerisch.
»Seine Nummer steht nicht im Telefonbuch«, erklärte Slade. »Aber die

Nummer interessiert mich auch nicht, ich brauche nur seine Adresse. Ich
muss ihn festnehmen und dafür sorgen, dass er seine Strafe absitzt.«

»Ist dafür nicht die Polizei zuständig?«
»Sie wissen doch, wie die sind! Die handeln erst dann, wenn sie sicher

sein können, vor Gericht eine Verurteilung zu erreichen. Und dieser Typ
ist einer von ihnen, ein großes Tier. Er hat mit dem Bürgermeister und
seinen Leuten zu tun.«

»Er ist ein Politiker?«
»Das ist richtig.«
Sie lachte. »In einer anderen Stadt wäre das vielleicht eine

Überraschung.«

»Können Sie mir helfen? Der Name des Mannes ist Wechsler. Harold

Wechsler.«

»Es tut mir Leid, Mister Slade«, sagte sie und linste auf seine Karte.

»Ich darf keine Geheimnummern rausgeben. Und Adressen ebenfalls
nicht.«

»Aber Sie haben doch verstanden, was ich meine, nicht wahr? Die

Cops werden ihn niemals einsperren. Er ist zu mächtig.«

»Mister Slade, ich kann nichts für Sie tun. Wenn Sie bitte den Schalter

freimachen, damit jemand an die Reihe kommt, dem ich wirklich helfen
kann!«

»Nur die Adresse!«, bat Slade und hob leicht die Stimme.
»Mister Slade, vielleicht wollen Sie mit jemandem vom Management

sprechen? Dort wird man Ihnen bestimmt dasselbe sagen. Wenn ein
Teilnehmer nicht verzeichnet sein möchte, dann wird seine Nummer
auch nicht weitergegeben – an niemanden.«

»Luisa, dieser Typ hat Leute umgebracht. Er hat einen Kerl getötet,

den ich kenne. Der war nicht viel älter als Sie!«

»Dann sollten Sie mit der Sache zur Polizei gehen. Bitte, ich möchte

nicht die Security rufen müssen!«

»Hey, Kumpel, beweg dich!«, rief jemand hinter Slade.
»Ja, genau!«, ertönte eine andere Stimme.
Slade drehte sich um. Die Leute, die hinter ihm in der Schlange

gestanden waren, hatten sich im Halbkreis aufgestellt. Mit finsteren

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Mienen bezogen sie gegen ihn Stellung.

»Sie hat doch schon gesagt, Sie kann Ihnen nicht helfen. Jetzt ist der

Nächste dran!«, fauchte der Mann am Kopf der Schlange.

Slade griff in seine Jacke und zog die Browning heraus. Er zeigte sie

dem Typen. »Bleiben Sie einfach zurück!«, wies er ihn an. »Luisa, ich
sagte doch, ich will diese Adresse!«

Aber Luisa antwortete nicht. Als Slade sich wieder zum Schalter

umdrehte, war sie verschwunden.

Stattdessen kamen Männer auf ihn zu. Angestellte des

Sicherheitsdienstes, die graue Uniformen und schwarze Krawatten
trugen. Sie hielten schwere Kanonen in der Hand.

Zwei von ihnen bezogen Position.
»Waffe fallen lassen!«, rief einer von ihnen.
»Das höre ich heute schon zum zweiten Mal«, dachte Slade, hob die

38er und gab einen einzigen Schuss ab.

Einer der Wachmänner wirbelte herum und ging zu Boden.
Slade rannte los.


Zwanzig Minuten später ließ er sich keuchend auf eine Bank an einer
Bushaltestelle fallen. Schießen und Rennen. Es fing allmählich an zu
nerven, fand er. Warum regten sich die Leute dieser Tage nur so
furchtbar auf, wenn sie eine Waffe sahen?

Es machte wirklich keinen Spaß mehr, in dieser Stadt Privatdetektiv zu

sein.

In den alten Zeiten hatte man sich problemlos Respekt und

Informationen verschaffen können, wenn man seine Knarre zeigte. Mit
der Waffe nahmen einen die Leute einfach ernster. Mit seiner Lizenz als
Privatdetektiv hatte er auch das Recht gehabt, sie verdeckt zu tragen.

Heutzutage rief sofort jemand »Fallen lassen«, sobald man eine Pistole

zog.

Niemals die Waffe rausrücken! Diese Devise hatte sich Slade in seiner

kurzen Zeit bei der Polizei ins Gehirn gebrannt, und auch als
Privatdetektiv hatte er sich immer daran gehalten. Jemand, der einen
aufforderte, die Waffe fallenzulassen, führte seiner Meinung nach nichts
Gutes im Schilde. Wahrscheinlich fing er an zu feuern, sobald sie auf
dem Boden lag.

Slade selbst gab keine tödlichen Schüsse ab. Er schoss seine

Widersacher nur an. Anders als viele Schnüffler, die er kannte, hatte er
noch nie jemanden umgebracht. Er war ein begnadeter Schütze und
wusste, wo die Kugel einschlug, wenn er abdrückte. Die Jahre im Grab
hatten diesem Talent keinen Abbruch getan.

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Aber die Leute verhielten sich, als ließe er unendlich viele Leichen

zurück. Kaum hatte er auf diesen Wachmann geschossen – dabei hatte
der Typ selbst die Knarre gezückt und so ausgesehen, als wolle er
Gebrauch von ihr machen – heulten überall die Alarmsirenen und die
Uniformierten kamen aus allen Richtungen angerast.

Nachdem Slade sich in einem kleinen Laden eine unanständig teure

Tafel Schokolade gekauft hatte, tauchte er in eine Gasse ab und schlüpfte
durch die Hintertür in ein Kino. Wenn alles andere schon so teuer war,
wollte er erst gar nicht wissen, wie viel eine Eintrittskarte kostete. Der
Film hatte schon angefangen, als er sich auf einen Sitz fallen ließ, und
war ein höchst merkwürdiger Streifen. Die Kameraführung war sehr
holprig, der Schnitt schlampig; alle paar Sekunden ein Cut. Auch das
Licht wirkte sehr unnatürlich. Es gab mehr Explosionen als im ganzen
Koreakrieg, dachte er, aber die Gäste schienen das zu genießen und
bejubelten jede einzelne. Slade fand den Streifen entsetzlich und
schlüpfte nach zehn Minuten wieder zur Hintertür hinaus. Er schlich
zurück durch die Gasse und verschwand aus dem Viertel.

Er war Wechsler immer noch keinen Schritt nähergekommen.
Aber er hatte eine Idee.
Er suchte eine Telefonzelle, schlug eine Nummer nach und steckte

fünfunddreißig Cents – ein Teil seines Wechselgeldes aus dem
Süßwarenladen – in den Apparat. Als er ein Freizeichen bekam, wählte
er die Nummer des Rathauses und fragte, sobald sich eine Stimme
meldete, nach Harold Wechslers Büro.

Ein paar Sekunden später sagte eine jung wirkende männliche Stimme

»Wasser und Energie.«

»Ist das Harold Wechslers Büro?«, fragte Slade.
»Ja, das ist es.«
»Hören Sie, Sie müssen Mister Wechsler wahrscheinlich gar nicht

stören. Vielleicht können auch Sie mir bei meinem Problem helfen.«

»Um was geht es denn?«, fragte der junge Mann.
»Ich soll diesen Billardtisch ausliefern, den Mister Wechsler bestellt

hat. Er hat dringend darum gebeten, dass der Tisch heute geliefert wird –
er feiert eine Party oder so etwas. Wegen seinem neuen Job, seiner
Beförderung oder so ... ich weiß auch nicht genau.«

»Und wo liegt das Problem?«
»Das Problem ist, dass ich die Adresse nicht lesen kann, die man mir

in der Firma gegeben hat. Das, was auf meinem Zettel steht, könnte
Benedict Canyon oder Coldwater Canyon oder Camino Real oder was
auch immer heißen. Der Lieferschein ist ganz verschmiert, als hätte ihn
jemand wochenlang in der Tasche rumgetragen.«

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»Können Sie nicht einfach in ihrem Laden anrufen und denjenigen

fragen, der die Adresse geschrieben hat?«

»Das würde ich ja, aber die Dame ist gestern in die Flitterwochen

gefahren. Sonst konnte mir niemand sagen, wie die Adresse lautet, und
ich kann nicht mal ein paar Buchstaben lesen, um wenigstens einen
Anhaltspunkt zu haben. Hören Sie, ich möchte ihn ja nur ungern belästi-
gen, aber vielleicht könnten Sie Mister Wechsler eben mal fragen. Ich
will zwar nicht zur Schnecke gemacht werden, aber meinen Job will ich
auch nicht verlieren.«

»Warten Sie, ich werde fragen - nein, Moment, er ist in einer

Besprechung.«

»Ich kann es später noch einmal versuchen. Dann beliefere ich erst

einige andere Kunden und stelle Mister Wechsler zurück. Ich habe ihn ja
nur heute noch reingenommen, weil er den Tisch unbedingt für die Party
haben wollte. Sie sind bestimmt eingeladen, hm? Der Tisch ist ein
Knaller! Versuchen Sie, eine Partie drauf zu spielen!«

»Vielleicht wäre es wirklich am besten, wenn Sie später noch mal

anrufen würden.«

»Allerdings ist es möglich, dass ich es bei dem dichten Verkehr nicht

pünktlich schaffe, bei Wechsler zu sein, wenn ich zuerst auf der anderen
Seite der Stadt anfange.«

»Okay, also gut... Es wird schon in Ordnung sein«, sagte der junge

Mann schließlich. »Wechsler wohnt in der Leona Street. Das ist in der
Nähe vom Coldwater Canyon, vielleicht sind Sie deshalb durcheinander
gekommen.«

»Das könnte sein«, sagte Slade und hoffte, die Erleichterung in seiner

Stimme klang echt. Er kannte die Leona Street. Es war eine kurze Straße,
die sich in die Berge schlängelte. »Die Nummer, die hier steht, sieht aus
wie 1711.«

»Nein, nein, es ist die 109«, sagte der junge Mann. »Vielleicht wäre es

besser für Sie, wenn diese Frau nie mehr aus ihren Flitterwochen
zurückkehrt!«

»Da könnten Sie Recht haben, Bruder«, sagte Slade. »Danke für Ihre

Hilfe. Und viel Spaß mit dem Tisch!«

Er legte auf.
Was für eine glückliche Fügung. Wäre der Knabe tatsächlich zu so

einer Party eingeladen gewesen, hätte er die Adresse niemals
herausgerückt!

Außerdem schien tatsächlich eine Party zu steigen, wie Slade ganz

dreist behauptet hatte.

Es wurde Zeit, dass er sich ein Auto besorgte.

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Hollywood und Las Vegas hatten eine Gemeinsamkeit, dachte Slade: In
beiden Städten ging den Menschen des Öfteren das Geld aus. Und das
bedeutete, dass sie alles verkaufen mussten, was Wert hatte, Autos zum
Beispiel. Sie verkauften sie zu billig, weil sie nicht in der Lage waren,
auf das beste Angebot zu warten. Und es gab immer andere Leute, die
gerade genug Geld hatten, um diese Autos zum Niedrigpreis zu kaufen.

Man musste nach Händlern mit einem Neonschild vor der Tür suchen,

dort gab es die billigsten Wagen.

Slade fand seinen Traumwagen schon beim zweiten Versuch, in einem

Laden, der den nicht sehr glaubwürdigen Namen Reputable Motors
hatte. Der Wagen war ein Wunderwerk aus Detroit, ein 1959er Plymouth
Sport Fury Kabrio. Mit dem Chrom des Kühlergrills hätte man ein
ganzes Schlachtschiff bestücken können, und die Heckflossen ragten
steil in den Himmel. Der Wagen war blassgelb, mit einem
metallicgrauen Streifen an der Seite. Er besaß einen 260 PS starken V-8-
Motor mit Vier-Kammer-Vergaser.

So eine großartige Kiste hatte Slade noch nie zuvor besessen. Er hatte

einmal ein Auge auf einen paradiesapfelroten 58er Fury geworfen, aber
der 59er war diesem Wagen weit überlegen. Allerdings hatte er sich den
Sport Fury Kabrio früher niemals leisten können.

Das wollte er jetzt ändern. Er wanderte über den Parkplatz und sah

sich die Wagen an, bis ein Verkäufer auf ihn zukam. Manche Dinge
hatten sich offenbar nicht geändert, zum Beispiel das Verhalten von
Autohändlern. Dieser trug ein weißes Hemd, eine dunkle Krawatte und
blaue Hosen mit dunklem Karomuster. Das Haar hatte er mit Gel
zurückgekämmt. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. Er strich über
seinen dunklen Schnurrbart, als er näherkam.

»Haben Sie schon einen Wagen gefunden, der Ihnen gefällt?«, fragte

er.

»Sind einige ganz gute Wagen hier«, entgegnete Slade cool. »Aber

nichts Besonderes.«

»Alle unsere Wagen werden sorgfältig von unseren Mechanikern

überholt. Wir haben eine Hundert-Punkte-Inspektion, die wir mit jedem
Gebrauchtwagen durchführen. Der Wagen ist also wie fabrikneu, wenn
Sie ihn von uns bekommen.«

»Tatsache?«
»Tatsache«, entgegnete der Verkäufer und streckte die Hand aus. »Ich

heiße Daryl«, sagte er herzlich. »Daryl Needham.«

Mike schlug ein und schüttelte die dargebotene Hand kräftig. »Mike

Slade.«

»Also, Mike«, fuhr Daryl fort, »Ich würde Sie gern am Steuer eines

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dieser hübschen Autos sehen.«

»Mal schauen«, sagte Slade und drehte sich langsam im Kreis. »Wenn

ich etwas wirklich Interessantes finde.«

»Darf ich Sie etwas fragen?«, sagte Daryl. »Meinen Sie, wir kommen

heute miteinander ins Geschäft, wenn ich Sie in ein Auto setze, das
Ihnen gefällt, und Ihnen einen Preis mache, den Sie sich leisten
können?«

Slade kratzte sich am Kinn und dachte nach. »Ich denke schon«, sagte

er.

»Nun, damit ist der erste Schritt getan. Sie würden sich wundern, wie

viele hier jeden Tag nur mal gucken wollen! Es ist schön, einen Mann zu
treffen, der weiß was er will und zu einem Geschäft bereit ist. Ich
garantiere Ihnen, Sie werden froh sein, bei uns hereingeschaut zu
haben!«

»Da könnten Sie Recht haben«, entgegnete Slade.
Der Verkäufer hatte den Köder geschluckt! Nun war es Zeit, die

Schnur einzuholen.

Fünfzehn Minuten später fuhr Slade am Steuer seines Traumwagens

die Straße hinunter. Daryl hatte darauf bestanden, das Auto selbst vom
Parkplatz zu fahren und dann erst das Steuer an Slade zu übergeben. Er
hatte ihm erklärt, das Gesetz wolle es so, obwohl er selbst nicht richtig
zu wissen schien, warum es so war. Dann hatten sie vor einem
Teppichgeschäft auf dem Cahuenga Boulevard angehalten. Daryl war
ausgestiegen und auf die Beifahrerseite gekommen. Der Schlüssel
steckte, und Slade war hinters Steuer gerutscht.

»Es wird Ihnen Spaß machen, diesen Wagen zu fahren«, hatte Daryl

mit einem schleimigen Lächeln gesagt.

»Ganz bestimmt«, hatte Slade entgegnet. Dann hatte er seine

Browning aus der Jackentasche geholt und sie auf den Verkäufer
gerichtet. »Fahr per Anhalter weiter!«

»Sir, das wollen Sie doch nicht tun!« Daryls Stimme hatte vor Angst

gezittert, aber das Verkäufer-Grinsen war nicht aus seinem Gesicht
gewichen.

»Wieso nicht? Verpiss dich!«
»Sie sind der Boss«, hatte Daryl so ergeben wie immer gesagt.
Im nächsten Moment war Slade davongefahren und hatte im

Rückspiegel gesehen, wie Daryl wütend die Fäuste geschüttelt hatte.

Er bog um ein paar Ecken, fuhr in ein anderes Viertel und machte dann

Halt, weil er unbedingt das Verdeck herunterklappen wollte.

Schließlich war es ein herrlicher Tag in Los Angeles.
Und vielleicht war der Küstentrip doch noch für ihr drin!

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9



Kate blätterte die Akte über Officer Deke Johannsen durch.

Zu jedem Tötungsdelikt gab es eine Mappe. Sie füllte sich rasch mit

allen möglichen Papieren: Zeugenaussagen, dem Bericht des Pathologen
und dem der Spurensicherung, Fotos von Beweisstücken und andere
Notizen. Meist war die Mappe schon nach kurzer Zeit prallvoll, und bei
manchen Mordfällen musste sogar eine zweite und dritte angelegt
werden. Ganz große Fälle kamen auf ein Dutzend Mappen und mehr.

Kate hatte zwei Akten auf ihrem Schreibtisch liegen, die von

Johannsen und die von John Doe. Diesen Namen hatte man der Leiche
gegeben, die in dem früheren Büro des Privatdetektivs Mike Slade
gefunden worden war. Kate war überzeugt, dass es eine Verbindung zwi-
schen den beiden Fällen gab, wusste allerdings noch nicht welche.

Aber sie hatte sich bereits eine Theorie zurechtgelegt und blätterte

konzentriert in den beiden Akten, um konkretere Hinweise zu finden.

Mittlerweile glaubte sie, dass der Typ, der in dem Wandschrank

gefunden worden war, nicht Mike Slade war. Bestimmt hatte Slade
jemanden in seinem Büro umgebracht und die Leiche dort versteckt –
obwohl es, zugegeben, seltsam war, warum er so etwas tun sollte. Dann
war er verschwunden, um nicht mit dem Mord in Verbindung gebracht
zu werden. Nun war er zurückgekehrt, um weitere Morde zu begehen.
Vielleicht wollte er auf diese Weise Spuren beseitigen, die zu ihm
führten. Offenbar war er nachts in das Abrissgebäude gekommen, weil
ihn irgendetwas in diesem Gebäude nach all den Jahren noch belasten
konnte. Officer Johannsen hatte ihn erwischt und war von ihm
umgebracht worden.

Slade musste nun bereits um die siebzig sein, was die ganze

Geschichte ein wenig unglaubwürdig erscheinen ließ. Aber er war
offenbar geistesgestört. Ein Mörder, der seit Jahrzehnten von seinem
Verbrechen gehetzt wurde, und irgendwie immer noch in den Sechzigern
lebte. Der Mord damals hatte ihn wohl durchdrehen lassen. Nun glaubte
er, er wäre immer noch so jung wie früher - wahrscheinlich hatte er sich
liften lassen und färbte sich das Haar, um jünger zu wirken. Außerdem
kleidete er sich nach der Mode der Sechziger. Kate erschien das alles
völlig plausibel.

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Sollte ihre Theorie zutreffen, war Slade völlig verrückt. Er würde erst

aufhören zu morden, wenn er gefasst oder getötet worden war. Über die
Jahrzehnte hatte er Spuren hinterlassen und nun würde er versuchen,
diese Spuren zu verwischen, indem er alle umbrachte, mit denen er je
Kontakt gehabt hatte. Die Frau, nach der er in jener Bar gesucht hatte,
die Angel erwähnt hatte – die Rialto Lounge – war vermutlich das
nächste Opfer auf seiner Liste.

Kate beschloss, sich die Vermisstenakten aus den Monaten Ende 1961

anzusehen. Eine davon würde auf die gefundene Leiche passen. Es
würde sich herausstellen, dass der Vermisste starke Ähnlichkeit mit
Mike Slade hatte. Der Pathologe war zwar der Meinung, es sei Slades
Leiche, aber zu dieser Ansicht war er ohne DNS-Analyse oder
zahnärztliche Unterlagen gelangt. Allein das Alter, die Größe und eine
teilweise Rekonstruktion des Gesichts auf der Grundlage des Schädels
hatten ihn zu dieser Schlussfolgerung veranlasst.

Als Nächstes musste Kate Leute finden, die Slade gekannt hatten, denn

er würde sie verfolgen. Kate konnte ihm vielleicht eine Falle stellen,
wenn sie einen alten Bekannten von ihm fand.

Außerdem suchte sie eine Erklärung dafür, wie die Schüsse im

Rathaus und im Gebäude der Telefongesellschaft in die ganze
Geschichte passten. Wie dem Bericht zu entnehmen war, den sie kopiert
und in die Mappe gelegt hatte, war Slade bei der Telefongesellschaft
aufgekreuzt, um die Nummer oder Adresse von einem Harold Wechsler
herauszubekommen. Er hatte behauptet, Wechsler sei ein hohes Tier,
also musste es sich um den neuen Leiter des Amtes für Wasser- und
Energieversorgung handeln. Wechsler war alt genug, um auch zu Slades
Glanzzeit aktiv gewesen zu sein. Es lohnte sich bestimmt, mit ihm zu
reden.

Plötzlich kam Kate etwas in den Sinn, das sie in der Mappe zum Fall

John Doe gelesen hatte. Rasch schob sie die Johannsen-Mappe beiseite
und suchte in der anderen nach Zeugenaussagen. Die umfassendste
stammte von Blake, dem Vorarbeiter auf dem Abrissgelände. Er hatte sie
tatsächlich am Morgen nach dem Leichenfund angerufen und war bereit
gewesen, ins Präsidium zu kommen. Hier hatte man ihn stundenlang
verhört. Er war zu jedem Mitarbeiter befragt worden, der je auf der
Baustelle gearbeitet hatte, außerdem zu allen Menschen, die das Gelände
aufgesucht hatten.

Einer von diesen Besuchern war, wie er sich erinnert hatte, ein Mann

namens Fetzer gewesen. Den Vornamen wusste er nicht mehr. Fetzer
hatte behauptet, für das Amt für Wasser- und Energieversorgung zu
arbeiten und das Gebäude dringend betreten zu müssen. Blake hatte aus-

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gesagt, er habe den Mann abgewiesen, weil er kein Dokument hatte
vorweisen können, das ihm den Zutritt erlaubt hätte, und die
Abrissarbeiten bereits in vollem Gange waren.

Was hatte Fetzer in dem Gebäude gewollt?, fragte sich Kate. Arbeitete

er tatsächlich für Wechsler? Hatte diese Sache etwas damit zu tun,
warum Slade hinter Wechsler her war?

Aus zwei verschiedenen Richtungen auf den Namen Wechsler zu

stoßen, konnte kein Zufall sein. Es war ein Hinweis, der erste richtige
Hinweis, den sie in der Hand hatte. Sie musste der Sache nachgehen.

Kate stand auf, streckte sich und sah auf die Uhr an der Wand. Schon

nach sieben! Sie hatte den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen, hatte
gelesen, telefoniert, sich Notizen gemacht und wieder gelesen. Ihre
Muskeln waren verspannt, und ihr tat der Rücken weh. Nachdenklich
massierte sie sich Schultern und Nacken. Dann legte sie die beiden
Akten zurück in die Schublade, zog ihre Jacke über, nahm ihre Tasche
und ging zur Tiefgarage.

Sie musste Wechsler persönlich aufsuchen, dachte sie, und Fetzer

ebenfalls – wer immer er sein mochte. Das Gespräch war
möglicherweise zu wichtig, um es am Telefon zu führen. Sie wollte den
beiden ins Gesicht sehen, wenn sie mit ihnen sprach.

Es war nicht besonders wahrscheinlich, dass sie so spät noch im Büro

waren. Aber es konnte nicht schaden, wenn sie auf dem Nachhauseweg
kurz dort vorbeischaute.

In der Tiefgarage war es ruhig, und Kates Schritte hallten laut durch die
Halle. Sie stellte ihren Wagen normalerweise nicht in der Nähe des
Aufzugs ab, damit sie – besonders an Tagen wie diesen, an denen sie
nicht genug Bewegung hatte – wenigstens ein paar Schritte zu Fuß gehen
musste. Sie dachte kurz daran, später noch ein Fitness-Studio
aufzusuchen. Aber ob sie das schaffte, hing davon ab, ob sie Wechsler
und seinen Kumpel Fetzer fand und wie viel Zeit sie im Rathaus
verbringen würde.

Eine Runde auf dem Stepper oder eine Runde Spinning halfen

bestimmt, die Verspannung abzubauen!

Sie erschrak fast zu Tode, als sie plötzlich angesprochen wurde.
»Hallo Kate!«
Überrascht schnappte sie nach Luft. »Angel! Du hast mich aber

erschreckt!«

Er war aus dem Nichts aufgetaucht und stand nun einfach neben ihr.

Sie hätte geschworen, allein in der Garage zu sein. Aber vor ihrem
Wagen gab es eine dunkle Ecke, in der er sich versteckt haben musste.

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»Tut mir Leid.«
»Was willst du überhaupt hier?«
»Mit dir reden«, antwortete er.
»Du weißt doch, dass ich es hasse, so erschreckt zu werden! Über was

willst du mit mir reden?«

»Über diesen Slade, den Privatdetektiv.«
»Hast du schon etwas Neues in Erfahrung gebracht?«, fragte sie.
»Nein, aber ich denke, er steht mit einem Fall in Verbindung, an dem

ich arbeite. Ich habe gehofft, du hättest schon etwas mehr in der Hand.«

Sie schüttelte den Kopf. »Angel, das ist ein ungeklärter Mordfall.

Außerdem gibt es einen toten Polizeibeamten. Steck bloß deine Nase
nicht in diese Sache!«

Angel tippte sich auf die Nasenspitze. »Ist schon drin, Kate. Aber ich

kann euch vielleicht helfen. Ich muss nur wissen, was ihr schon
herausgefunden habt.«

Sie warf einen raschen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob

sie beobachtet wurden. »Willst du ein Stück mitfahren?«

»Ich dachte schon, du fragst nie!«
Angel stieg an der Beifahrerseite ein und Kate setzte sich ans Steuer.

Sie fuhr rückwärts aus der Parklücke, verließ die Garage und bog nach
rechts ab. Nach wenigen Minuten waren sie draußen auf den Straßen von
L. A. und fuhren ziellos umher. Denn Kate wollte nicht dabei gesehen
werden, wie sie mit Angel über den Fall sprach.

»Ich meine das ernst, Angel«, fing sie an. »Wenn du dich in die

Ermittlungen einmischst, nimmt das ein schlimmes Ende. Das ganze
Präsidium ist unglaublich nervös wegen dieses Falls. Vielleicht nicht so
nervös wie ich selbst bin. Denn ich bin ja diejenige, die ihn auf dem
Tisch hat, und bislang auch die Einzige, die weiß, wie merkwürdig die
Geschichte ist. Aber da ein Cop im Dienst erschossen wurde und dieser
Slade das Rathaus aufgesucht hat, erwarte ich, dass schon morgen früh
eine Sondereinheit gebildet wird, Überstunden angeordnet werden und
so weiter, damit wir ihn möglichst schnell schnappen.«

»Das ist mir klar«, versicherte ihr Angel. »Ich bleibe im Hintergrund.

Ich bin nur an meinem eigenen Fall interessiert. Allerdings denke ich,
die beiden Fälle stehen irgendwie miteinander in Verbindung.«

»Willst du mir nicht erzählen, um was für einen Fall es sich handelt?«,

fragte sie, obwohl sie sich wenig Hoffnung auf eine Antwort machte.
»Wer ist dein Klient?«

Angel überraschte sie mit einem Lächeln. »Du würdest es mir nicht

glauben, wenn ich es dir sagte.«

»Jemand den ich kenne?«

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»Ganz bestimmt nicht.«
Kate bog noch einmal nach rechts ab, und sie kamen auf den Olympic,

der bis nach Santa Monica ans Meer führte. Allerdings entfernte sie sich
so nur noch weiter vom Rathaus und Harold Wechsler. Also machte Kate
verkehrswidrig eine Kehrtwendung, um wieder Richtung Innenstadt
fahren zu können.

»Okay«, sagte sie. »Ich verrate dir, was wir haben. Aber ich bringe

mich dadurch in eine prekäre Lage, Angel. Ich hoffe, du weißt das zu
schätzen! Ich tue das auch nur, weil ich von dir im Gegenzug informiert
werden möchte, wenn du etwas herausfindest, das zur Ergreifung dieses
Typen fuhren kann.«

»Selbstverständlich«, versprach Angel.
»Gut. Also dann: Wir haben eine Leiche in Slades altem Büro

gefunden. Männlich, Mitte dreißig. Wir konnten sie noch nicht eindeutig
identifizieren. Der Pathologe sagt, es ist Slades Leiche, aber ich bin da
nicht so sicher.«

»Weil Slade immer noch die Stadt unsicher zu machen scheint?«
»Ja, zum Teil auch deshalb. Und auch, weil Officer Deke Johannsen

letzte Nacht vor ebendiesem Haus erschossen wurde. Er sollte das
Gelände bewachen. Ich denke, Slade hat ihn erschossen, weil er ins
Innere des Gebäudes wollte, um Beweise für den früheren Mord zu
vertuschen.«

»Macht Sinn.«
»Allerdings müsste Slade mittlerweile um die siebzig sein.

Durchgeknallte Mörder in diesem Alter gibt es kaum. Aber nichts ist
unmöglich, oder?«

Da Angel nicht reagierte, redete Kate weiter.
»Da ist noch etwas. Hast du je von Harold Wechsler gehört?«
»Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht woher.«
»Er ist der neue Leiter des Amts für Wasser- und Energieversorgung.

Ist letzte Woche erst vom Bürgermeister ernannt worden. Offenbar
wollte einer seiner Angestellten in das Gebäude, kurz bevor die Leiche
entdeckt wurde. Und als Slade gestern bei der Telefongesellschaft
rumballerte, wollte er Wechslers Adresse erfahren.«

»Also suchen sich die beiden Kerle gegenseitig«, bemerkte Angel.
»Sieht so aus«, sagte Kate. »Ich weiß nur nicht, was Wechsler von

Slade will. Aber wenn man sich ansieht, was Slade alles auf dem
Kerbholz hat, kann man davon ausgehen, dass Kugeln fliegen, wenn er
Wechsler findet.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Es gibt da nur ein
Problem. Bislang wissen wir von zwei Schüssen, die er abgegeben hat.
Auf einen Polizeibeamten im Rathaus und einen Mann vom

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Sicherheitsdienst bei der Telefongesellschaft. Dafür gibt es Zeugen. In
beiden Fällen wurden die Opfer verwundet, aber man hat weder Kugeln
noch Patronenhülsen gefunden.«

»Das ist doch merkwürdig.«
»Ja«, meinte Kate. »Sehr merkwürdig.«
»Wohin willst du jetzt fahren?«, fragte Angel.
»Das geht dich nichts an«, entgegnete Kate. »Kann ich dich irgendwo

absetzen?«

»Setz mich ab, wo es dir am besten passt«, sagte Angel.
»Mein Auto steht bei dir vor dem Büro, aber ich komme schon

dorthin.«

»Das ist kein großer Umweg«, bot Kate an. »Frag mich nur nichts

mehr zu dem Fall. Und vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Halte dich
aus unseren Ermittlungen raus!«

»Das tue ich«, versicherte ihr Angel. Eine reichlich unpräzise Antwort,

wie ihm auffiel. Ob sie sich auf das »nicht vergessen« oder auf das
»raushalten« bezog, hatte er nicht eindeutig gesagt.

Kate setzte Angel bei seinem Wagen ab und fuhr zum Rathaus. Es
ärgerte sie, nichts über seinen Fall erfahren zu haben, aber sie war daran
gewöhnt, dass Privatdetektive sich nicht in die Karten schauen ließen.
Sie mussten ihre Klienten schützen und manchmal machten sie sich auch
Sorgen um ihre Bezahlung, falls jemand anderes ihnen zuvorkam und
den Fall löste. Manche Kunden engagierten ihren Privatdetektiv sogar
über einen Anwalt, damit alles, was mit ihrem Fall zu tun hatte, unter die
anwaltliche Schweigepflicht fiel. Kate müsste einfach darauf vertrauen,
dass Angel sich bei ihr meldete, wenn er etwas Hilfreiches in die Hände
bekam.

In der Empfangshalle des Rathauses wies sie sich bei dem

Nachtwächter aus, einem stämmigen schwarzen Mann, dessen kurzes
Haar grau meliert war. Er prüfte ihre Plakette. Als sie nach Wechsler
fragte, bat er sie zu warten und rief in Wechslers Büro an.

Nach einer Weile sagte er: »Sorry, Detective. Es geht niemand an den

Apparat. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet. Sieht so aus, als hätte
Mister Wechsler sein Büro schon verlassen.«

»Darf ich kurz selbst nachsehen?«, fragte sie.
»Nein, Madam. Nichts gegen Sie persönlich, aber wir sind, seit der

Polizist angeschossen wurde, in höchster Alarmbereitschaft. Das
verstehen Sie doch?«

»Ja, das verstehe ich.«

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»Wenn jemand in dem Büro wäre, der sie hereinlassen würde, dann

würde ich sie hochschicken. Aber ich kann sie einfach nicht allein nach
oben lassen.«

»Okay, danke«, sagte Kate enttäuscht. Sie hatte nicht wirklich

erwartet, noch jemanden anzutreffen, aber trotzdem ärgerte sie sich, dass
sie nicht weitergekommen war.

Als sie zu ihrem Auto lief, fiel ihr etwas ein, und sie fuhr zurück ins

Büro und nicht zum Fitness-Studio.

Wenn Slade wirklich hinter Wechsler her war, hatte er sich vielleicht

schon eine neue Methode ausgedacht, wie er ihn erwischen konnte.
Vielleicht war er Wechsler vom Rathaus nach Hause gefolgt.

Es wurde Zeit, den städtischen Funktionär rund um die Uhr zu

bewachen. Slade sollte sein blaues Wunder erleben, wenn er es
tatsächlich wagte, sich an Wechsler heranzumachen.


























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78


10



Angel saß wieder in seinem Belvedere GTX und raste Richtung
Hollywood. Da es bei diesem Fall noch zu viele ungeklärte Aspekte gab
– falls es tatsächlich ein einziger Fall war und keine Serie
zusammenhangloser Zufälle – war Angel nicht völlig mit Kates Theorien
einverstanden. Aber sie hatte ihn mit neuen Informationen versorgt, und
als er diese mit seinem spärlichen Wissen über Betty McCoy
zusammenlegte, war er umso überzeugter, dass die ganze Sache die
Kapazitäten des LAPD bei weitem überstieg.

Kate war ein guter Cop, aber sie war nur ein Mensch. Sie wusste doch

gar nicht, was in der übernatürlichen Welt vor sich ging. Aber von dort
herrührten definitiv die Geschehnisse, mit denen sie es in diesem Fall zu
tun hatten.

Während er durch die Nacht brauste, schössen die Lichter von

Straßenlaternen und Neonschildern an ihm vorbei.

Was immer auch vor sich ging, dachte Angel, der Fall musste

abgeschlossen werden, bevor noch mehr Leute umkamen. Mit etwas
Glück konnte er das erledigen, ehe Kate sich mit einigen knallharten
Fragen über Leben und Tod konfrontiert sah. Er verspürte einen
merkwürdigen Beschützerinstinkt ihr gegenüber. Andererseits wollte er
jedoch auch verhindern, dass die Geheimnisse der Nacht ans Tageslicht
gezerrt wurden. Aber genau das konnte der Tod eines Polizeibeamten zur
Folge haben; denn ein derartiges Verbrechen würde mit Sicherheit nicht
ungesühnt bleiben.

Falls Angel den Fall nicht vor den Cops löste und mit einer Erklärung

aufwartete, die für die menschliche Welt vernünftig klang.

Als Erstes musste er die Argyle Avenue aufsuchen.
Da er mit einer bedeutenden Polizeipräsenz rechnete, parkte Angel

zwei Blocks von dem Abrissgebäude entfernt. Für den Fall, dass der
Mörder von Officer Johannsen noch einmal an den Tatort zurückkehrte,
bewachten die Cops das Gelände bestimmt von der Straße her, und
vielleicht versteckten sie sich auch in den umliegenden Apartments oder
sondierten die Lage von den Dächern aus.

Angel stellte den GTX am Straßenrand ab und ging zu Fuß um die

Ecke zur Argyle Avenue. Vor einem Schuhgeschäft schlief eine

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Obdachlose zusammengerollt unter einer dünnen Decke. Angel war
jedoch überzeugt, dass es sich um eine getarnte Polizistin handelte und
schlenderte lässig und möglichst unauffällig an ihr vorbei.

An der nächsten Ecke, nunmehr einen Block von der Baustelle

entfernt, verließ er die Argyle Avenue wieder und bog nach rechts ab. Da
er davon ausging, beobachtet zu werden, tat er so, als interessiere ihn das
Gebäude gar nicht. Er ging bis zur nächsten Ecke, bog nach links ab und
überquerte die Straße.

Nun stand er am anderen Ende des Blocks, auf dem sich auch das

Abrissgelände befand. An dieser Straßenfront reihten sich ein
Zigarettenladen, ein Bücherantiquariat, ein Laden für Klempnerbedarf
und ein Wohnhotel aneinander. Angel entschied sich für das Hotel.

Im Foyer saß der Portier hinter einem Fenster mit kugelsicherer

Scheibe. Der Mann sah fern. Kampfgeräusche drangen durch die
Sprechschlitze in der Scheibe. Der Portier war offenbar ganz in den Film
vertieft, vielleicht schlief er auch. Jedenfalls sah er nicht auf, als Angel
hereinkam. Wahrscheinlich herrschte hier zu jeder Tagesund Nachtzeit
ein reges Kommen und Gehen – das Hotel wirkte nicht gerade wie eine
Sicherheitshochburg. Eher wie ein Ort, an dem Leute wohnten, die auf
dem Weg nach unten in die Gosse waren oder die versuchten, von dort
aus wieder nach oben zu klettern. Leute, die nicht genug Geld hatten, um
die ganze Monatsmiete für eine Wohnung zu bezahlen, und stattdessen
immer wieder den Betrag für eine Woche in einem solchen Hotel
zusammenkratzten. Darüber kamen sie nie hinaus und machten weiter,
bis aus den Wochen Monate wurden und aus den Monaten Jahre.

Hinter dem Empfang entdeckte Angel eine Treppe und einen Aufzug.

Der Aufzug sah aus, als wäre er in den zwanziger Jahren eingebaut und
ungefähr um diese Zeit auch zum letzten Mal benutzt worden. Angel
entschied sich für die Treppe. Die Stufen knarrten. Aber das Geräusch
entging dem Mann am Empfang, da die vielen Kanonensalven aus
seinem kleinen Fernseher das Geräusch übertönten. Das Treppenhaus
roch, als sei dort seit fünfzig Jahren nicht geputzt worden, und über die
Ursprünge der Gerüche wollte Angel lieber keine Vermutungen
anstellen.

Das Hotel verfügte über sieben Stockwerke, aber die Treppe führte,

wie er erwartet hatte, noch weiter. Eine Etage höher endete sie vor einer
Tür mit Vorhängeschloss, auf der in verblichener schwarzer Schrift
»Dach« stand. Angel griff nach dem Vorhängeschloss und zog kräftig
daran. Der Riegel riss aus dem alten morschen Holz, und die Tür ging
auf. Angel trat hinaus in die Nacht.

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Auf dem Dach wehte eine frische Brise. Der Gestank der Straßen

drang nicht bis in diese Höhe. Vielmehr wurden die Gerüche aus den
umliegenden Bergen hierhergetragen, und Angel hielt das Gesicht in den
Wind, um sich von dem strengen, muffigen Gestank des schmuddeligen
Treppenhauses zu befreien.

Dann überquerte er das kiesbestreute Dach. Das angrenzende

Nachbarhaus war ein wenig niedriger. Angel blickte auf einen Dschungel
aus Klimaanlagen und Röhren. Er ließ sich an der Dachkante herunter
und sprang auf das benachbarte Gebäude. Dort arbeitete er sich durch
das Labyrinth aus Röhren auf die gegenüberliegende Seite. Von dort aus
konnte er das Dach des Abrissgebäudes überblicken, das nun direkt vor
ihm lag.

Es war noch weitgehend intakt. Zunächst war das Innere des alten

Gebäudes abgebrochen worden. Die tragenden Wände, die
Außenmauern und das Dach kamen erst ganz zum Schluss an die Reihe.
Angel riskierte einen vorsichtigen Blick auf die Straße.

Direkt vor dem Abrissgebäude stand ein Streifenwagen. Den hatte er

zuvor schon von der Straße aus gesehen und wusste, dass zwei Cops
darin saßen. Zwei weitere Polizisten bewachten das Tor des Geländes.
Angel erspähte nun auch ein offenes Fenster in einem Mietshaus auf der
anderen Seite, in dem eine auf die Straße gerichtete Kamera montiert war
– dahinter verbargen sich gewiss ebenfalls Polizisten. Außerdem gab es
noch die Obdachlose auf dem Gehsteig, die er für eine getarnte Polizistin
hielt. Wahrscheinlich versteckten sich weitere Cops im Innern des
Abrissgebäudes, aber die konnte er von seinem Posten aus nicht sehen.

Angel stand ganz ruhig da, strengte alle seine Sinne an – auch seine

Sinne als Vampir – und lauschte auf die Geräusche von Menschen. Sie
verrieten sich durch ihre Atmung, ihr klopfendes Herz; sie bewegten sich
fortwährend - hielten einfach nie richtig still. Angel konnte zwei in dem
tiefer liegenden Gebäude wahrnehmen. Vielleicht waren es auch mehr –
manche Menschen verfügten über eine bessere Selbstbeherrschung als
andere – aber zwei hielten sich dort ganz sicher auf.

Angel wusste, wie er sich bewegen musste. Schließlich war er

jahrhundertelang eins mit den Schatten der Nacht gewesen.

Lautlos sprang er auf das Dach des Abrissgebäudes und hielt inne. Er

kauerte sich auf den Kies und drückte sein Ohr auf den Boden. Außer
den Bewegungen, die er bereits im Innern registriert hatte, konnte er
nichts ausmachen. Vorsichtig erhob er sich und ging gebückt zur
Dachluke. Sie war, wie er angenommen hatte, unverschlossen. Eine
Abbruchtruppe ließ sich höchst ungern durch abgesperrte Türen von der
Arbeit abhalten.

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Angel öffnete die Luke und spähte in die düstere Etage darunter, die

nur von dem schwachen Licht erhellt wurde, das von der Straße durch
die zerstörten Fenster und die teilweise schon eingerissenen Wände fiel.
Als er kein Geräusch wahrnahm, ging er vorsichtig die Treppe hinunter.

Alle paar Schritte blieb er stehen und lauschte wieder. Er vermutete,

die Polizisten hielten sich im Erdgeschoss auf, weil sie einen möglichen
Eindringling nur von unten erwarteten. Seine leisen Schritte auf der
Treppe schienen nicht entdeckt zu werden.

Am Treppenabsatz hielt er wieder inne, lauschte und schob sich dann

an der Wand entlang zu den nächsten Stufen. Leise und vorsichtig
arbeitete sich Angel nach unten in den vierten Stock, wo sich Slades
Büro befunden hatte.

Einige Minuten später stand er auch schon in dem Büroraum, von dem

nur noch Schutt- und Steinhaufen, Bretter und Staub übrig waren. Der
Wandschrank, in dem die Leiche gefunden worden war, existierte noch,
und die Tür war aufgeklappt wie ein Sargdeckel. Angel betrat den
kleinen Raum, in dem Slade – oder wer auch immer – so viele Jahre
gelegen hatte.

Er schnupperte und zog die Nase kraus. Der süße, lang anhaltende

Geruch des Todes lag in der Luft. Und noch etwas, das schwer
einzuordnen war. Ein durchdringender, elektrisierender Geruch, den
Angel immer mit dem Übernatürlichen in Verbindung brachte. Mit dem
Leben nach dem Tod.

Hier war etwas Merkwürdiges geschehen, so viel war klar. Es ging

nicht nur um die Leiche, die man gefunden hatte. Es ging um mehr als
das.

Was genau, konnte Angel noch nicht sagen. Aber er hatte bereits ein

paar Ideen.

»Hände hoch!«
Angel fuhr herum und wurde von einer Taschenlampe geblendet. Ein

Cop stand vor ihm und richtete seine Waffe auf ihn.

Offenbar verstand er es genauso gut wie Angel, sich geräuschlos zu

bewegen. Vielleicht sogar besser.

Aber es hatte einige große Vorteile, Vampir zu sein. Zwei davon

waren Stärke und Schnelligkeit. Angel entschied sich für die
Schnelligkeit. Denn er wollte weder den Polizeibeamten verletzen, noch
eine Nacht in der Zelle verbringen. Es stand zu viel auf dem Spiel. Slade
musste gefunden und gestoppt werden, bevor er wieder jemanden
umbrachte.

Schneller als der Cop reagieren konnte, warf sich Angel zu Boden und

verschwand aus dem Lichtkegel. Er machte zwei Rollen vorwärts, direkt

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auf den Cop zu, der Mühe damit hatte, ihn erneut mit dem Licht zu erfas-
sen. In demselben Moment, als der Schein der Taschenlampe auf ihn fiel,
sprang Angel in die Luft und rammte dem Cop die Schulter in den
Solarplexus. Gerade heftig genug, um ihm ein wenig den Wind aus den
Segeln zu nehmen und ihn davon abzuhalten loszuschreien, aber nicht
heftig genug, um ihn ernsthaft zu verletzen. Gleichzeitig schlug er ihm
die Taschenlampe aus der Hand, die durch die Luft segelte und irgendwo
klirrend zu Boden fiel.

Unten im Gebäude waren nun die anderen Polizisten zu hören, die die

Kampfgeräusche von oben bemerkt hatten. Scheinwerfer durchbohrten
die Finsternis. Angel spurtete zur Treppe und floh zurück aufs Dach.

Die Polizisten nahmen die Verfolgung auf. Doch bis die Cops sich

durch das halb zerstörte Gebäude zur Dachluke hochgearbeitet hatten,
war Angel bereits wieder auf dem Nachbargebäude angelangt. Und als
sie das Dach betraten, eilte er schon die stinkende Treppe des
Wohnhotels hinunter.

Er stürmte ins Foyer und bemerkte, dass der Nachtwächter mit leerem

Blick ins Nichts starrte, als wäre er mit offenen Augen eingeschlafen.
Angel winkte ihm im Vorbeilaufen zu. Der Mann fing an, hinter ihm her
zu keifen, aber da war der Vampir schon zur Tür hinaus und auf der
Straße.

Weil inzwischen einige Polizeisirenen durch die Nacht schrillten,

nahm er nicht den direkten Weg zu seinem Wagen, sondern lief zunächst
mehrere Blocks weit in Gegenrichtung. Von dort näherte er sich dann
gemächlichen Schrittes seinem Fahrzeug. Zwei Streifenwagen rasten an
ihm vorbei.

»Was für eine Zeitverschwendung!«, dachte er, als er den Motor seines

Plymouth Belvedere anließ.

Aber eigentlich stimmte das nicht ganz.
Zwar hatte er nichts Konkretes über Mike Slade erfahren, aber eine

Tatsache stand nun unleugbar fest: Wer immer tot in Slades
Wandschrank gelegen hatte, war inzwischen von den Toten
auferstanden.

Als Angel losfuhr, tippte er eine Nummer in sein Handy.
»Angel Investigations«, meldete sich Cordelia.
»Hallo Cordy«, sagte Angel.
»Oh, du bist es!«, entgegnete sie. »Hast du einen netten Abend? Ich

hoffe, du genießt das Nachtleben, während wir Recherche-Drohnen rund
um die Uhr auf unsere Computermonitore glotzen!«

»Es ist klasse«, entgegnete Angel nur. »Hör mal, Cordy, es gibt eine

Planänderung.«

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»Tatsächlich?«, fragte sie erfreut.
»Ja, Betty McCoy kannst du für den Moment mal vernachlässigen.«
»Das wird nicht schwer sein, denn es scheint absolut keine

Informationen über sie zu geben.«

»Ist schon in Ordnung. Mach lieber mit Mike Slade weiter. Sieh zu,

was du über ihn herausfinden kannst!«

»Das ist doch der tote Privatdetektiv, oder?«
»Ganz genau der«, entgegnete Angel. »Im Grunde geht es um

dasselbe: Er muss persönliches Eigentum besessen haben, bestimmt
mehr als Betty, denn er hatte ein Büro, hat Steuern bezahlt und so weiter.
Im Gegensatz zu Betty hat er bestimmt Spuren hinterlassen. Und diesen
Spuren müssen wir nachgehen.«

»Im Grunde willst du also damit sagen, dass es noch mehr

Computerarbeit gibt. Ich glaube, ich habe schon viereckige Augen.«

»Lass dir von Doyle dabei helfen!«
»Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber das ist so eine Sache

mit ihm. Wenn er im Internet surft, kommen nur Seiten auf den
Bildschirm, die mit Online-Wetten oder nackten Mädchen zu tun
haben.«

»Dann tu es doch lieber selbst«, pflichtete ihr Angel bei.
»Das hab ich mir gedacht. Aber vielleicht gibt es ja eine Agentur für

Streber, die an so was Spaß haben. Soll ich mal im Telefonbuch
nachsehen?«

»Cordelia...«
»Schon gut, ich mach's«, stöhnte sie.
»Und morgen früh gehst du dann zum Archiv der Stadtverwaltung«,

schlug Angel vor.

»Wie soll ich eigentlich morgens wach werden, wenn ich schon die

ganze Nacht vor dem Computer sitze!«, beschwerte sich Cordelia.

»Wir müssen alle Opfer bringen«, tröstete sie Angel. »Ach, noch

etwas!«

»Oh ja, natürlich, als wäre ich nicht schon komplett ausgelastet!«
Angel ignorierte ihren Tonfall. »Ich brauche die Adresse von Harold

Wechsler. Das ist dringend, also mach dich auf die Suche und ruf mich
an, sobald du sie hast.«

»Ja, Sir«, entgegnete Cordelia. »Wie Sie wünschen, Sir!«
Angel bedankte sich und beendete das Gespräch. Er steckte das Handy

weg und fuhr weiter, ohne ein bestimmtes Ziel im Auge zu haben. Da zu
befürchten stand, dass Slade seine Jagd auf Wechsler fortsetzte, musste
Angel an diesem Mann dranbleiben, bis der tote Privatdetektiv gefunden
war.

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Kreuz und quer fuhr er durch das dunkle Los Angeles und zermarterte

sich das Hirn über den Fall, kam aber der Lösung keinen Schritt näher.






































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11



Harold Wechsler wohnte in der Leona Street, die vom Benedict Canyon
abging. Die prestigeträchtige Adresse kündete von großem Wohlstand.
Reichtum und Einfluss, danach hatte Wechsler sein ganzes Leben lang
gestrebt, aber sie waren eigentlich nur Etappensiege auf dem Weg zu
seinem wirklichen Ziel. Reichtum und Einfluss halfen ihm, dieses Ziel
zu erreichen, und waren daher so erstrebenswert für ihn.

Denn reiche, berühmte Leute hatten meist einen besseren Zugang zur

Macht als arme, unbedeutende Nullen. Und sein wirkliches Ziel war die
Macht.

Er hatte eine lange Reise hinter sich. Aber nun war es fast so weit. Das

Ziel rückte in greifbare Nähe.

Er saß in seinem riesigen Wohnzimmer und erfreute sich an dem

luxuriösen Mobiliar und dem dicken, kostbaren Teppich. Seine
Heimkino-Anlage stand an der Stirnwand des Raumes. Kaufund
Installation hatten ihn zwanzigtausend Dollar gekostet, und er hatte cash
bezahlt. Er wusste, das war viel Geld für manche Leute. Es bereitete ihm
ein großes Vergnügen, in der Lage zu sein, so große Summen nach
Laune auszugeben. Er hatte einmal sechzigtausend Dollar für eine
einzige Party gezahlt, die drei Stunden gedauert hatte.

Aber am meisten Geld auf einen Schlag hatte er vor elf Jahren

ausgegeben. Er hatte es in einem Koffer, einem großen grünen
Samsonite, in den Konferenzraum einer Anwaltskanzlei in der Innenstadt
gebracht: 125.000 Dollar.

Damit hatte er das Leben eines Mannes gekauft. Genauer gesagt:

seinen Tod.

Wechsler hatte deswegen kein schlechtes Gewissen. Der Mann war

ihm im Weg gewesen. Hatte seine Pläne durchkreuzt. Mit seinem Tod
wurde ein weiteres Hindernis aus dem Weg geräumt. Eigentlich kostete
es meist viel weniger, jemanden umbringen zu lassen, aber Wechsler war
bereit, den Preis zu zahlen. Das Mordopfer war in diesem Fall gut und
gerne das Doppelte der Hundertfünfundzwanzig wert.

Aber nun, da sein ultimatives Ziel in Reichweite rückte, war wieder

ein Hindernis aufgetaucht. Was immer es kostete, es musste ebenfalls
aus dem Weg geräumt werden!

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Wechsler wandte sich den drei Männern zu, die auf dem weichen

braunen Ledersofa saßen: Barry Fetzer, Ryan Laine und Luis Reyes.
Diese drei getreuen Vasallen begleiteten ihn seit sehr langer Zeit. Sie
wussten – wörtlich und im übertragenen Sinne –, wo seine Leichen
begraben waren.

Einige davon hatten sie selbst verschwinden lassen.
Sie waren noch Kids gewesen, als Wechsler seinen Aufstieg begonnen

hatte – er selbst war damals erst Mitte zwanzig gewesen. Er hatte klein
angefangen, als mieser Ganove, der sich einen Namen in der großen
Stadt machen wollte, und Los Angeles war eine Stadt, in der man sich
selbst neu erfinden konnte. Dort zählte nicht, wer man gestern noch
gewesen war, solange man eine überzeugende Show hinlegte, gute
Sprüche drauf hatte und die Illusion von Erfolg vermitteln konnte.

Hal Wechsler stammte aus Kansas City, wo auch der Aufstieg in der

kriminellen Gesellschaft nach festen Mustern verlief. Man kam nur nach
oben, wenn man sich durch die Hierarchie arbeitete, wobei jederzeit
vorgegeben war, wer der nächste Boss sein würde und wer der
übernächste.

Das hatte Wechsler nicht gepasst. Er wollte sich von niemandem

Grenzen setzen lassen. Also hatte er sich Richtung Westen aufgemacht
und war erst stehen geblieben, als ihm die Meeresbrandung um die Füße
spülte und ihm ein Paar Schuhe ruinierte.

Ihm war das gleichgültig gewesen. Denn er hatte die feste

Überzeugung gehabt, dass er sich schon bald viele Paar Schuhe – teure
Schuhe – würde leisten können.

Auch in L.A. existierte bereits ein festes Bandennetz, aber es gab

erheblich mehr Neueinsteiger als in Kansas. Dadurch waren die
Strukturen viel weniger festgefahren, noch nicht so etabliert. Und so
gelang es Wechsler, sich ein eigenes Revier zu schaffen.

Dann war er interessanten Leuten begegnet. Leuten, von denen er in

Kansas City noch nie gehört hatte. Manchmal trugen sie dunkle
Umhänge mit Kapuzen und verbrannten Kerzen und Weihrauch und
sangen Lieder, die schwachsinnig klangen.

Aber manchmal hatten sie damit Erfolg.
Und sie waren bereit, ihr Wissen weiterzugeben.
Wechsler hatte sofort die Möglichkeit gesehen, seine beiden

Leidenschaften zu kombinieren. Damals hatte die Unterwelt von Los
Angeles noch nichts mit der Welt der Magie zu tun gehabt.

Sobald Wechsler beides verband, begann sein Aufstieg. In nur

wenigen Jahren machte er sich einen respektablen Namen in der Stadt.

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Und darauf baute er weiter auf, knüpfte Bündnisse und pflegte die
richtigen Freundschaften.

Die drei Männer – Fetzer, Laine und Reyes – hatte er mit nach oben

genommen. Sie waren nun alle reicher, als sie je zu hoffen gewagt
hätten. Wechsler strich über seinen seidenen Hausmantel und ließ den
glatten Stoff durch die Finger gleiten. Dann knöpfte er sich die Männer
vor.

»Du hast es versaut!«, schrie er zur Eröffnung und sah Fetzer in die

Augen.

»Das haben wir doch schon besprochen, Boss«, protestierte Fetzer.

»Sie wollten mich nicht...«

»Ich weiß. Ich kann das nicht mehr hören.«
»Was wollen Sie dann?«
Wechsler streckte die Hände aus. »Was ich will? Ich will Slade! Du

solltest die Bannformel sprechen, bevor die Leiche rausgeholt wurde. Du
hast es nicht getan, also ist er draußen. Und wie es aussieht, ist er hinter
mir her. Ich weiß nicht, ob er meine Pläne wirklich durchkreuzen kann,
aber ich will kein Risiko eingehen.«

»Wie sollen wir ihn denn finden?«, fragte Reyes. »Wir sind von Cops

umzingelt.«

»Und wessen Fehler ist das?«, fragte Wechsler wütend. »Ich will, dass

ihr ihn findet! Bevor er mich findet. Verstanden?«

»Verstanden«, entgegnete Ryan Laine.
»Was sitzt ihr dann noch hier rum?«, fragte Wechsler und wedelte mit

den Händen, als wolle er Laine und Reyes verscheuchen. »Ihr nehmt nur
Platz weg. Macht euch raus! Holt euch Verstärkung, wenn nötig, aber
findet Slade!« Sie alle wussten, was Verstärkung bedeutete. Dämonen.
Eine ganze Reihe von ihnen stand in Wechslers Diensten. Er setzte sie
nicht ein, wenn es um eine Sache ging, die Diplomatie oder Raffinesse
erforderte, aber wenn ganz banale Muskelmasse gefragt war, gab es
nichts Besseres.

Laine und Reyes erhoben sich wie ein Mann von der Couch und

gingen zur Tür. Noch bevor sie draußen waren, wandte sich Wechsler an
Fetzer. »Du bist mir dafür verantwortlich!«, zischte er. »Wenn sie
versagen, bist du dran!«

»Verstanden, Hal«, versicherte ihm Fetzer eifrig nickend.
»Dann sieh zu, dass du es nicht wieder vergisst!«


Angel hatte Position in dem hohen Gras bezogen, das die Hügel hinter
Wechslers Haus überwucherte. Mindestens ein halbes Dutzend
Streifenwagen standen vor dem Anwesen, und es waren so viele Cops

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am Fahrbahnrand aufgereiht wie bei einer Parade. Angel war lässig an
ihnen vorbeigefahren und hatte ein paar Kilometer weiter geparkt. Er
war zurückgejoggt und um das Nachbargrundstück herumgelaufen, um
zur Rückseite von Wechslers Haus zu gelangen. Von dort aus hatte er
einen guten Blick über das Anwesen. Es war ein hübsches Haus, weiß
verputzt, sehr modern, mit großen Glasfenstern in Richtung der Berge.
Drinnen war trotz der späten Stunde alles hell erleuchtet. In einem Raum
sah Angel vier Männer, die miteinander redeten – wie es aussah, stritten
sie. Angel fragte sich, ob Wechsler möglicherweise an Schlaflosigkeit
litt. Vielleicht saß er aber auch mit seinen Pokerfreunden zusammen.

Oder es gab irgendein Problem.
Angel beschloss, sich die Männer aus der Nähe anzusehen.
Mit geübtem Blick erkundete er das Gelände und suchte nach einem

sicheren Weg, wie er dem Gebäude näher kommen konnte, ohne durch
die großen Fenster gesehen zu werden. Hundert Meter weiter unten war
alles in Flutlicht getaucht: der Berg und die weitläufige Rasenfläche, in
die eine geflieste Terrasse mit einem von innen beleuchteten, strahlend
blauen Pool eingelassen war. Oben am Hang in der Dunkelheit war
Angel in Sicherheit, aber wenn er hinunter zum Haus gelangen wollte,
musste er irgendwann die hell erleuchtete Rasenfläche überqueren.

Plötzlich fiel ihm eine Bewegung im Gras auf. Tiere? Vögel vielleicht?

Oder etwas anderes?

Er beobachtete die Stelle aufmerksam und erwartete fast, einen

Kojoten aus dem Gräserdickicht ausbrechen zu sehen.

Stattdessen tauchte ein Hut auf. Ein grauer Fedora. Darunter ein großer

Kopf und breite Schultern, die in einem grauen Jackett steckten.

Mike Slade!
Dicht entlang der von Licht überfluteten gepflegten Rasenfläche

bewegte sich der Schnüffler den Hang hinunter. Immer weiter rückte er
vor, wobei er den Blick starr auf das Haus gerichtet hielt.

Als er seine Hand aus dem hohen Gras streckte, erkannte Angel die

Pistole.

Slade hatte seinen Zug gemacht. Nun war Angel an der Reihe.
Er verwandelte sich und spürte, wie er von Kraft durchströmt wurde,

während sich sein Äußeres veränderte. Besonders menschlich sah er nun
nicht mehr aus, aber das war zu diesem Zeitpunkt auch gar nicht nötig
und vollkommen unwichtig. Der Vampirtrick war manchmal hilfreich,
um den Gegner abzulenken oder zu überraschen. Deshalb zog er diesen
Trumpf aus dem Ärmel, wann immer er es für angebracht hielt.

Angel knurrte tief und kehlig und rannte den Berg hinunter. Mit

energischen Schritten bahnte er sich seinen Weg durch das hohe Gras,

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89

das sich um seine Beine legte. Leider verriet ihn das Rascheln, und seine
Beute wurde aufmerksam.

Slade drehte sich um – er wirkte erstaunt, aber nicht ängstlich – zielte

Richtung Berg und feuerte dreimal.

Angel hatte sich bereits ins Gras geworfen und hörte, wie die Kugeln

über seinen Kopf hinweg pfiffen. Dann erst drang der Knall an seine
Ohren.

»Zeige dich, Dämon!«, rief Slade. »Trau dich doch! Du hast keine

Chance!«

Dämon?
Wie viele Leute würden automatisch annehmen, dass er ein Dämon

war? Doch wohl nur solche, die schon einschlägige Erfahrungen
gesammelt hatten, fand Angel. Natürlich konnte man darüber, was Slade
alles erlebt hatte, während er tot gewesen war, nur Vermutungen an-
stellen.

Oder über das, was zu seinem Tode geführt hatte.
»Das wird ja immer sonderbarer!«, dachte Angel.
Er arbeitete sich gebückt durch das Gras und versuchte, seine Position

nicht durch Rascheln zu verraten. Kugeln konnten ihm nichts anhaben.
Normale Kugeln jedenfalls. Aber er wusste ja nicht, was Slade abfeuerte.
Wenn der Mann tatsächlich aus dem Grab gestiegen war – und seine
Pistole mitgebracht hatte – konnte man nicht davon ausgehen, dass er
echte Kugeln geladen hatte. Vielleicht war seine Waffe eine
übernatürliche Konstruktion mit Phantomkugeln. Das würde auch
erklären, warum weder Kugeln noch Hülsen an den Tatorten gefunden
worden waren.

Dass eine übernatürliche Waffe Angel keinen Schaden zufügen

konnte, musste erst noch bewiesen werden.

Wenn er Slade nur sehen könnte! Wahrscheinlich wünschte sich Slade

umgekehrt dasselbe. Er befand sich in einer gefährlichen Lage – seine
Schüsse mussten die Polizei und das ganze Haus alarmiert haben. Was
bedeutete, dass er zwischen diesen Männern und Angel in der Falle saß.

Angel hörte einen weiteren lauten Knall. Eine Kugel schlug direkt vor

ihm im Gras ein. Rasch warf er sich wieder auf den Boden und ging in
Deckung.

Vom Haus drangen laute Stimmen herüber.
Viele Stimmen.
Wenn Slade nicht verrückt war – noch verrückter als Angel ohnehin

vermutete – rannte er nun nicht auf die Stimmen zu. Er musste vor ihnen
weglaufen.

In diesem Fall kam er direkt auf Angel zu.

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Angel ging in die Hocke, stützte sich mit den Händen ab und

balancierte sein Gewicht auf den Fußballen. Mit gespannten Muskeln
wartete er wie ein Sprinter am Startblock auf Slades Erscheinen.

Als die Stimmen näher kamen, hörte er ein Rascheln im Gras. Er hob

leicht den Kopf und sah Slade, wie er vor der Polizei zurückwich und
den Berg heraufkam. Die Beamten benutzten nun starke Scheinwerfer,
mit denen sie kreuz und quer über den Hügel leuchteten. Slade war zwi-
schen dem Haus, den tanzenden Lichtstrahlen und Angel gefangen.
Angel wartete ab.

Rückwärts gehend kam Slade langsam weiter auf ihn zu und stolperte

plötzlich.

Als er aus dem Gleichgewicht geriet, stürzte sich Angel auf ihn.
Er rammte Slade, der sich kein bisschen tot anfühlte, sondern sehr

stramm und muskulös, die Schulter in den Bauch. Slade ächzte.

Angel hatte so viel Schwung, dass sie beide den Hügel hinunterfielen.

Slade traf zuerst auf dem Boden auf. Angel stürzte über ihn hinweg, hielt
sich aber an seinem Jackett fest. Er machte eine Rolle vorwärts, landete
auf dem Rücken und zog Slade weiter mit sich, der schließlich von
Angel abprallte und weiter den Berg hinunterrollte. Sein Jackett riss, und
Angel blieb mit einem Stück Stoff in der Hand auf dem Rücken liegen.

Er wälzte sich auf den Bauch und sah, wie Slade von einem Dutzend

Lichtstrahlen verfolgt wurde.

»Da ist er!«, rief jemand.
»Stehen bleiben!«, rief ein anderer.
Aber Slade machte keine Anstalten aufzugeben. Er hob die Pistole und

feuerte zweimal auf die Polizisten. Beide Kugeln trafen ihr Ziel, und
zwei Beamte gingen zu Boden.

Die Cops erwiderten das Feuer.
Ein wahrer Kugelhagel ergoss sich über den Hügel. Angel drückte sich

flach auf den Boden. Dutzende Kugeln pfiffen über seinen Kopf hinweg
wie vorbeizischende Moskitos.

Allerdings handelte es sich hier um Moskitos aus Blei, und die konnten

mehr Schaden anrichten als nur stechen.

Natürlich würden die Kugeln ihn nicht töten, aber sie konnten ihn

verletzen und aufhalten – und ihn daran hindern, Mike Slade zu
erledigen, bevor er weitere Cops verletzte oder gar tötete.

Aber wenn er weiter in Deckung blieb, um dem Kugelhagel zu

entgehen, erreichte er natürlich auch nicht besonders viel.

Slade feuerte noch einige Schüsse ab. Durch ihre Lautstärke

unterschieden sie sich deutlich von denen der Polizei. Angel riskierte
einen Blick. Die Cops hatten Wechslers Haus umstellt. Sie waren

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91

überall: hinter den Säulen, hinter dem großen Steingrill und hinter dem
kleinen Steinmäuerchen, das die Poolterrasse von der Rasenfläche
trennte.

Aber Slade gab nicht auf. Noch immer stand er da und hielt seine

Pistole in der Hand. Angel konnte seine schwarze Silhouette deutlich vor
dem hell erleuchteten Haus erkennen.

»Gib auf, Slade!«, zischte er.
Slade wirbelte herum.
»Wer sind Sie?«
»Ich will nur helfen«, erklärte Angel. »Ich möchte nicht, dass jemand

verletzt wird.«

»Dafür ist es ein bisschen spät, Kumpel«, sagte Slade. »Es hat schon

viele Verletzte gegeben, verstehen Sie, und es wird noch mehr geben,
wenn ich Wechsler nicht bald zwischen die Finger kriege.«

»Hören Sie, jetzt ist nicht die richtige Zeit zum Reden«, meinte Angel.

»Lassen Sie einfach die Waffe fallen und ergeben Sie sich mir. Ich habe
ein paar Freunde bei den Uniformierten. Wir kümmern uns um die
Sache.«

»Auf keinen Fall, Dämon! Hier gibt's nichts zu kümmern«, entgegnete

Slade. »Ich weiß, ich hab mir einen Haufen Probleme eingehandelt,
indem ich auf die Bullen geschossen habe. Aber Wechsler...«

Dämon, schon wieder, dachte Angel.
»Sie kriegen Wechsler nicht. Geben Sie auf!«, sagte er. »Sie sehen

doch, wie gut er bewacht wird.«

»Vielleicht kriege ich ihn heute nicht«, gab Slade zurück, »aber

morgen ist auch noch ein Tag.«

»Falls Sie hier lebend rauskommen.«
»Darüber mache ich mir keine großen Sorgen, um ehrlich zu sein«,

sagte Slade. Es lag etwas in seiner Stimme, das Angel nicht richtig
einordnen konnte. War es Bedauern?

»Dann haben wir etwas gemeinsam«, sagte Angel. »Kommen Sie,

legen Sie die Waffe ab!«

»Im Leben nicht, Kumpel!«
Slade richtete seine Browning auf Angel und drückte ab. Angel

versuchte, dem Schuss auszuweichen, aber in diesem Moment traf die
Kugel auch schon seine Schulter, und er ging zu Boden.

Erneut hagelten Kugeln über den Berg. Angel bekam Staub in die

Augen, kniff sie zusammen und hielt sich mit einer Hand die vor
Schmerz brennende Schulter.

Er hörte, wie Slade auf der Flucht vor seinen Verfolgern an ihm vorbei

den Berg hochstapfte.

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Angel wagte nicht aufzustehen, solange noch Kugeln durch die Luft

pfiffen.

Als es einen Augenblick still wurde, schaute er vorsichtig hinter Slade

her. Aber der Mann war verschwunden, irgendwo abgetaucht in den
dunklen Bergen und Schluchten. Plötzlich erschienen Hubschrauber am
Himmel, mit deren Hilfe die Polizei Slade vielleicht in den Bergen
schnappen konnte.

Es war höchste Zeit für Angel zu verschwinden.
Mühsam kam er auf die Beine, wobei er sich immer noch die Schulter

hielt. Die Wunde verheilte bereits, schmerzte aber noch heftig. Angel
hatte das sichere Gefühl, dass die Kugel nicht mehr in seinem Fleisch
steckte, obwohl es kein glatter Durchschuss gewesen war.

Er hatte gerade begonnen, nach einem Fluchtweg zu suchen, als direkt

über ihm ein Hubschrauber auftauchte und ihn mit seinen starken
Suchscheinwerfern erfasste.

Die Lichter blieben auf ihn gerichtet, während der Hubschrauber

vorbeiflog, wendete und wieder zurückkehrte. Mit ihren Gewehren und
Pistolen im Anschlag stürmten die Polizisten den Berg.

Eine Stimme ertönte aus dem Hubschrauber: »Keiner Bewegung! Sie

sind umzingelt! Heben Sie die Hände über den Kopf!«

»Umzingelt? Nicht nach meiner Definition!«, dachte Angel.
Möglicherweise jedoch nach der, die in diesem Augenblick

ausschlaggebend war. Die Cops umstellten ihn zwar nicht auf allen
Seiten, aber sie waren ihm zahlen- und waffenmäßig weit überlegen.

Sie hatten den falschen Mann erwischt.
Aber das wussten sie ja nicht.
Angel hob die Hände über den Kopf, nahm wieder menschliche Züge

an und wartete auf die Polizisten. Sekunden später waren die ersten
Officer schon bei ihm. Einer von ihnen, ein großer Mann mit einem
dicken roten Schnurrbart und Sommersprossen auf der Nase, bedachte
ihn mit einem Lächeln, das alles andere war als freundlich.

»Sie sind festgenommen, Partner!«, sagte er. »Hände auf den

Rücken!«

Das hatte ihm gerade noch gefehlt! Aber Angel tat, wie ihm geheißen.

Mit einem Klicken schlossen sich die Handschellen um seine
Handgelenke.

Weitere Polizisten trafen ein, und sie führten ihn den Berg hinunter.

Angel sagte kein Wort, denn er wusste, sie würden ihm ohnehin kein
Gehör schenken. Nicht hier. Nicht, nachdem mindestens einer von ihnen
unterwegs ins Krankenhaus war – oder ihm noch Schlimmeres zu-
gestoßen war.

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»Sie haben das Recht zu schweigen«, fing der Rotschopf an und las

Angels Rechte von einem kleinen Kärtchen ab, das er aus der
Uniformtasche gezogen hatte.

Angel beschloss, von diesem Recht Gebrauch zu machen.





































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12



Doyle begriff einfach nicht, warum es ihn an diesem Ort so verdammt
gruselte.

Sicher, dieser Ort war voller toter Leute. Das hatten Friedhöfe nun mal

so an sich. Sie waren Gedenkstätten für die Toten, mit denen die
Lebenden an diejenigen erinnerten, die von ihnen gegangen waren.

Aber Doyle hatte in seinem Leben schon viele Friedhöfe besucht, und

obwohl sie nicht seine erklärten Lieblingsplätze waren, konnte er sich
nicht daran erinnern, sich je so unwohl gefühlt zu haben wie hier.
Erwartete darauf, dass etwas geschah. Was, das wusste er selbst nicht
genau, aber er würde es schon merken, wenn es so weit war.

In der Zwischenzeit wanderte er zwischen den Grabsteinreihen

hindurch. Dabei versuchte er, sich möglichst geduckt zu halten, falls das,
was auch immer kommen mochte, ihn von oben angriff statt von unten.
Wegen der Kühle der Nacht hatte er seine Lederjacke zugeknöpft und
grub die Hände tief in die Taschen. Ein beinahe voller Mond stand tief
am Himmel. Sein Licht fiel auf die Friedhofsmauer und die Bäume, die
den Park umgaben, und zeichnete ihre Umrisse auf dem Gelände nach.

Um sich die Zeit zu vertreiben, begann Doyle, die Namen und Daten

auf den Grabsteinen zu lesen. Bei seinem ersten Besuch war er zu
beschäftigt gewesen, Betty McCoys Grab zu beobachten, und hatte kaum
etwas anderes wahrgenommen. Da er nun jedoch davon ausging, dass
von ihrem Grab nichts zu befürchten war, machte er einen kleinen
Spaziergang. Chester Morgan, 1976. Henry Fitts, 1924. Suzannah
Burstrom, 1958. Harris Stetko, 1999.

Einige Familiennamen traten gehäuft auf, bemerkte er, als er die

Reihen auf und ab wanderte. Zuerst fiel es ihm bei den Villareals auf.
Dann waren da noch die Doans. Unzählige Doans. Es gab diverse
Morgans, einige Riddlers und viele Stetkos. Je mehr Namenshäufungen
er entdeckte, umso mehr standen ihm die Nackenhaare zu Berge.

Denn ihm wurde klar, dass er einige der Namen auf den Steinen

kannte.

Die Villareals und die Doans und die Riddles ... Doyle brauchte eine

ganze Weile, um sie einzuordnen, aber dann dämmerte ihm, dass es
keine Namen von Menschen waren, die er einmal gekannt hatte.

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Es waren Namen von Dämonen!
Die Dämonen hatten sich schon seit langem mit mehr oder weniger

großem Erfolg unter die Menschen gemischt. Manche schlugen sich ganz
gut durch. Doyle selbst war so weit gegangen, eine Menschenfrau zu
heiraten. Die Ehe hatte nicht lange gehalten, und von Zeit zu Zeit
bedauerte er ihr Scheitern. Andere Dämonen bevorzugten das Leben im
Verborgenen, in den Abwasserkanälen und dunklen Seitengassen, und
suchten die Nähe der Menschen nur, um ihnen die Kopfe abzureißen und
ihr Gehirn zu fressen.

Aber diese Sippen, die Doans und die Riddles und die Villareals,

waren ebenso wie die Barnetts und die Chongs, deren Namen Doyle
inzwischen auch entdeckt hatte, allesamt Dämonenfamilien, die als
Menschen getarnt lebten. Er wäre nie darauf gekommen, wenn er nur
ein, zwei ihm bekannte Namen gesehen hätte – aber so gehäuft an einem
Ort... Das war ein Friedhof für Dämonen! Sicher, ein paar Menschen
waren auch darunter, aber Doyle hatte noch nie in seinem Leben einen
Friedhof gesehen, an dem so viele Dämonen begraben waren.

Kein Wunder, dass er innerlich so ausflippte! Das war ja das reinste

Familientreffen – abgesehen von der Tatsache, dass es nicht Doyles
Familie war, von der im Übrigen auch niemand mehr lebte, mit dem er
ein solches Treffen hätte abhalten können.

Er erinnerte sich an eine Party, zu der die Morgans einmal eingeladen

hatten. Sie waren Mogranth-Dämonen und hatten normalerweise rote
Haut und viele Tentakeln, aber sie konnten sich – wie Doyle –
verwandeln und bei Bedarf völlig menschlich erscheinen. Die Morgans
wollten den Kauf eines Hauses in einem Vorortviertel feiern und hatten
auch die Nachbarn eingeladen. Es kamen über hundert Menschen und
Dämonen.

Je länger die Party fortschritt, desto lauter ging es zu. Schließlich hatte

ein Nachbar die Polizei gerufen. Sie kam und löste die Versammlung
auf.

Allerdings hatte einer der jüngeren Morgans, als sich die bewaffneten

Officer mit Sirenengeheul und Blaulicht vor dem Haus einfanden, Panik
bekommen. Seine Tarnung fiel für einen Augenblick von ihm ab. Einer
der Gäste hatte das mitbekommen und losgeschrien.

Mit Mühe hatten die älteren Morgans den Gast überzeugen können,

dass auf der Party zu viel Alkohol getrunken worden sei und – obwohl
erst Mitte Juli – die Halloween-Vorbereitungen bereits im Gange seien.
Aber die Dämonenfamilie ärgerte sich darüber, dass ihr wahres Wesen
um ein Haar enttarnt worden wäre. Und das, nachdem sie erst kurz zuvor
in das neue Haus eingezogen waren. Die Morgans warteten ein Jahr,

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verkauften es wieder und siedelten sich in einem anderen ruhigen
Vorortviertel an.

Eine Party hatten sie nie wieder gegeben.
Doyle glaubte, ein Geräusch zu hören, und wirbelte herum. Aber nur

ein paar Zweige hatten im leichten Wind geraschelt. Offenbar war er
drauf und dran, die Nerven zu verlieren! Er musste sich ein bisschen am
Riemen reißen.

Er grub die Hände noch tiefer in die Jackentaschen und stiefelte wieder

zurück zu Betty McCoys Grab. Soviel er wusste, war wenigstens sie ein
Mensch gewesen.

Und das empfand er irgendwie als tröstlich.


Letztendlich war der ganze Computerkram doch zu etwas nütze, dachte
Cordelia. Sie hatte fast die ganze Nacht vor dem Monitor gesessen, aber
allmählich fing sie an, eine gewisse Befriedigung dabei zu verspüren,
wie eine Information zur nächsten führte und wieder zur nächsten und so
fort. Es war wie bei einem Puzzle, dachte sie. Man konnte ein
bestimmtes Teil erst finden, wenn man die umliegenden hatte, aber wenn
man einmal so weit war, fügte sich alles ganz selbstverständlich
zusammen.

Allerdings fragte sie sich, ob ihr Leben allen Ernstes schon so

erbärmlich geworden war, dass ihr so etwas Spaß machte.

Sie war immer noch damit beschäftigt, wie ihr Angel aufgetragen

hatte, nach Informationen über Mike Slade zu suchen. Er galt seit den
frühen Sechzigern als vermisst, aber er war – im Gegensatz zu Betty –
eine Art Hollywood-Größe gewesen. Es gab einige Artikel über ihn, die
meisten davon bejubelten seine Erfolge bei einigen höchst spektakulären
Fällen, die mit eher mittelspektakulären Berühmtheiten zu tun hatten.
Obwohl es interessant war zu erfahren, wie er in Not geratenen Starlets
geholfen und Drogendealer geschnappt hatte, die Dope auf Studioge-
lände verkauften, führten diese Geschichten nicht viel weiter.

Cordelia beschloss eine Quelle zu testen, von der Willow damals in

Sunnydale öfter gesprochen hatte: das Archiv der Stadtverwaltung.

In einem derartigen Archiv waren über die meisten gesetzestreuen

Bürger viele Informationen abgelegt. Geburts- und Todesdaten, Heirat,
An- und Abmeldung eines Gewerbes, Sozialversicherungsnummer, Pass-
und Visa-Anträge ... und so weiter und so fort.

Natürlich konnte nicht jeder x-Beliebige einfach so auf diese Daten

zugreifen. Aber Willow kannte ein paar Tricks, um sich Zugang zu
verschaffen, und Cordelia hatte offenbar einiges bei ihr aufgeschnappt.
Sie war überrascht und erfreut zugleich, als tatsächlich nach einigem

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Ausprobieren die Steuerdaten des ganzen Bezirks von Los Angeles aus
dem Jahre 1961 auf ihrem Monitor erschienen.

Slade war 1961 verschwunden. Es gab keine Todesurkunde, aber die

Eintragungen zu seiner Person endeten abrupt in diesem Jahr.

Da er eine Privatdetektei geführt hatte, existierten Steuerunterlagen

von ihm. Sein Verdienst war nicht berauschend gewesen, aber beileibe
auch nicht schlecht. Und er hatte für eine Vollzeitangestellte Steuern
gezahlt, deren Sozialversicherungsnummer aufgeführt war.

Cordelia klickte sich eilig aus dem Verwaltungsarchiv der Stadt und

hinein in das Bundesarchiv. Sie fand heraus, dass sich hinter der
Nummer eine Frau namens Veronica Chatsworth verbarg.

Nun hatte sie eine neue Fährte. Wenn Chatsworth ihren Arbeitgeber

überlebt hatte, konnte sie vielleicht über Betty McCoy Auskunft geben.
Also fing Cordelia noch einmal von vorn an und versuchte, so viel wie
möglich über diese Frau herauszufinden.

Nachdem sie stundenlang in den Datenbanken herumgesucht und eine

Tasse Kaffee getrunken hatte, damit ihr die Augen nicht zufielen, wusste
sie, dass Veronica 1936 in Indianola, Iowa, geboren worden war. Sie
hatte dort den High-School-Abschluss gemacht und in einem Drive-In-
Restaurant gearbeitet, bevor sie sich eines Tages in den Bus gesetzt
hatte, der sie in drei Tagen und zwei Nächten nach Los Angeles brachte.
Sie war noch nicht lange in der Stadt gewesen, als sie und Slade sich
begegnet waren, und sie hatte in den Jahren 1955 bis 1961 bei ihm
gearbeitet.

Danach hatte sie viele andere Jobs gehabt. 1967 hatte sie einen

gewissen Vic Morris geheiratet. Cordelia notierte den Namen, um ihn zu
checken, wenn sie mit Veronica Chatsworth fertig war. 1977 hatte sie
eine Tochter, Barbara Morris, zur Welt gebracht. 1990 war sie an
Lungenkrebs gestorben.

Cordelia stand vom Schreibtisch auf und reckte sich. Sie hatte das

Gefühl ihre Kochen seien vom langen Sitzen schon ganz steif. Sie ging
ein paar Mal durchs Büro und schenkte sich ein Glas Wasser aus dem
Spender ein. In dem einsamen Büro erschienen ihr die eigenen Schritte
sehr laut und die frühmorgendlichen Stadtgeräusche leise und entfernt.
Cordelia erinnerte sich noch sehr gut an Zeiten, in denen es Spaß
gemacht hatte, die ganze Nacht aufzubleiben – zu tanzen, Party zu
machen und das Leben ohne Sorgen und Verpflichtungen zu genießen.
Diese Zeit schien ihr plötzlich in sehr weite Ferne gerückt.

Sie verschränkte die Finger, drückte die Arme durch und setzte sich

wieder an den Computer.

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Auf einem Zettel hatte sie die Namen Vic Morris und Barbara Morris

notiert, also tauchte sie zuerst in Vics Leben ein. Der Mann war
eigentlich nur insofern interessant, als er mit Veronica Chatsworth in
Verbindung stand. Sie erfuhr, dass er Polizist gewesen und Mitte der
Neunziger gestorben war. Also widmete sie sich Barbara Morris, die,
wie sich herausstellte, noch lebte, Steuern zahlte und die
Polizeiakademie von Los Angeles besuchte.

Bingo!
Eine quicklebendige Verbindung zu Mike Slade und Betty McCoy!

Um ein paar Ecken zwar, aber besser als nichts.

Die Eine-Million-Dollar-Frage war natürlich, ob die Eltern Barbara

Morris je von den alten Zeiten erzählt hatten.

Cordelia fand eine Telefonnummer – die meisten Menschen wären

entsetzt, wenn sie wüssten, wie viele Informationen man sich online über
sie beschaffen konnte – und wählte.

»Nie von ihm gehört«, entgegnete eine groggy klingende Barbara

Morris nach Cordelias einleitenden, entschuldigenden Bemerkungen ä la
»Tut mir leid, Sie zu wecken, aber es ist dringend«.

»Ist das ihr letztes Wort?«, fragte Cordelia.
»Ja, und wenn Sie nichts dagegen haben ...«
»Aber Ihre Mutter hat doch ein paar Jahre für Mike Slade gearbeitet«,

drängte Cordelia. »Vielleicht hat sie ja irgendwo die Akten von seinen
alten Fällen aufbewahrt, in der Garage oder auf dem Dachboden oder
so?«

Es tut mir wirklich Leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich weiß

nichts von solchen Akten, und ich habe noch nie von diesem Mann
gehört. Bitte lassen Sie mich in Ruhe und rufen Sie nicht wieder an!«

Cordelia hörte ein Klicken und dann das Tuten in der Leitung.

Aufgelegt! So etwas hasste sie wirklich. Denn wenn überhaupt
irgendjemand zuerst auflegte, dann tat sie das gern selbst.

Barbara Morris war keine große Hilfe gewesen. Wäre sie nicht ein Cop

in Ausbildung, hätte sie sich vielleicht nicht so misstrauisch und zögernd
verhalten. Andererseits hatte Cordelia die Frau wahrscheinlich aus dem
Tiefschlaf gerissen, um sie zu jemandem zu befragen, der schon lange
vor ihrer Geburt gestorben war. Vielleicht war es unter diesen
Umständen gar nicht so unnormal, dass sie nicht über ihn hatte reden
wollen.

Aber damit war Cordelia auch am Ende ihrer Suche angekommen. Sie

nahm an, dass sie nun endlich zu Bett gehen konnte. Es gab diverse
zwingende Gründe, das zu tun, und der geringste unter ihnen war, dass
es ihr immer schwerer fiel, die Augen offen zu halten. Langfristig

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betrachtet nützte Schlafen jedoch nicht viel. Wenn Angel nach Hause
kam und sie zu ihren Recherche-Ergebnissen befragte, zeigte er sich
bestimmt nicht sonderlich begeistert darüber, dass sie nur bis zu diesem
Punkt gelangt war und dann aufgegeben hatte. Also holte sie die Gelben
Seiten hervor und blätterte in der Hoffnung auf eine zündende Idee darin
herum.

Und die Idee kam. Cordelia war überzeugt, dass irgendwo noch Akten

von Slade existierten. Der Mann hatte ein kleines Unternehmen geführt,
er hatte Steuern bezahlt, und er hatte bestimmt über seine Fälle Buch
geführt. All diese Unterlagen konnten natürlich nach seinem
Verschwinden auf der Müllkippe gelandet sein, aber das schien Cordelia
unwahrscheinlich, denn schließlich enthielten diese Papiere vertrauliche
Informationen. Wenn diese Veronica Chatsworth eine gute Angestellte
gewesen war, hatte sie dafür Sorge getragen, dass die Lebensgeschichten
der Klienten nicht in unrechte Hände gelangten. Und wenn sie
angenommen hatte, dass Slade irgendwann wieder auftauchen würde und
zurückkehrte, dann hatte sie die Akten bestimmt aufbewahrt. Wenn nicht
zu Hause, dann eben an einem anderen Ort.

Cordelia schlug die Rubrik »Lagerhallen« in den Gelben Seiten auf

und begann, die Nummern der Reihe nach anzurufen.

Als sie bei »Valley U-STOR – rund um die Uhr geöffnet«

angekommen war, hatte sie das Gefühl, ihr fielen bald die Finger ab. Erst
die endlose Tipperei auf der Computertastatur und nun auch noch die
Telefonnummern!

»Valley U-STOR«, sagte eine männliche Stimme, angesichts der

Uhrzeit beunruhigend munter.

Cordelia bemühte sich, verführerisch zu klingen. »Guten Morgen«,

hauchte sie. »Ich heiße Cordelia, und ich versuche, ein paar Sachen
wiederzufinden, die in den frühen Sechzigern gelagert wurden. Gab es
Ihre Firma damals schon?«

»Also, so lange bin ich noch nicht auf der Welt«, antwortete der Mann.

»Aber die Firma gibt es schon ewig. Seit dem Zweiten Weltkrieg, glaube
ich.«

»Und Sie sind der Chef?«, fragte Cordelia.
»Ich? Nein, ich bin nur der Typ, der hier die Nachtschicht macht.«
»Das ist aber eine wichtige Aufgabe! Wie heißen Sie denn?«
»Ich bin Doug.«
»Hallo Doug, Sie dürfen mich Cordy nennen.«
»Hallo Cordy.«
»Gehen denn die Firmenunterlagen so weit zurück?«

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»Wir sind mittlerweile völlig computerisiert«, erklärte er und klang ein

wenig stolz. »Wenn Sie 1950 hier etwas gelagert haben und wissen
wollen, an welchem Datum genau Sie das Lager gemietet haben, könnte
ich es Ihnen sagen.«

»Das ist aber beeindruckend«, flötete Cordelia.
»Ja. Der Besitzer, der ist ein ziemlich guter Typ. Echt clever. Er

kümmert sich gern um seine Kunden.«

»Das ist großartig«, sagte Cordelia. Sie hatte in der letzten Stunde

schon diverse ähnliche Gespräche geführt und machte sich auch diesmal
nicht viel Hoffnung, aber sie musste es versuchen. »Wenn ich Ihnen also
einen Namen nenne, könnten Sie mir sagen, ob diese Person 1961 oder
1962 etwas bei Ihnen eingelagert hat?«

»Das könnte ich, sicher. Aber der Boss würde das nicht wollen. Das

fällt doch unter Datenschutz, oder?« Doug klang unsicher.

»Nein, nicht wirklich«, versicherte ihm Cordelia. »Ich' will ja nicht

wissen, was gelagert wurde, und ich will die Sachen auch gar nicht
haben. Mich interessiert nur, ob in einem bestimmten Jahr etwas gelagert
wurde. Ich weiß, das ist eine Entscheidung für die Geschäftsführung,
aber ich finde, Sie klingen ganz wie ein Mann, der in der Lage ist,
Entscheidungen zu treffen.«

»Also, ich vermute, das geht in Ordnung.«
»Oh, prima. Der Name ist Veronica Chatsworth. Wie ich sagte, weiß

ich nicht, ob es 1961 oder 62 war, wahrscheinlich eher 1962.«

»Chatsworth? Bleiben Sie kurz dran!«
Cordelia hörte, wie er auf der Tastatur herumklapperte. »Der

Computer sucht«, erklärte Doug.

»Und ich warte«, sagte sie neckend. »Treiben Sie Sport? Ihre Stimme

klingt, als wären Sie muskulös!«

»Ach, ich spiele ein bisschen Basketball, und ich gehe surfen.«
»Hab ich's doch geahnt!« Sie lächelte. Er würde ihr alles sagen, was

sie wissen wollte.

»Da haben wir es!«, rief Doug plötzlich. »Chatsworth, Veronica. Lager

angemietet am 18. Juni 1962. Die Rechnung geht nun an B. Morris in
Silver Lake.«

Barbara Morris, diese Lügnerin!
»Danke, Doug«, sagte Cordelia. »Wie lange arbeiten Sie noch?«
»Ich bin noch bis acht hier«, sagte er.
»Ich hoffe, wir sehen uns bald!«
»Ähm, cool«, entgegnete er. Cordelia verabschiedete sich und legte

auf.

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Gab es etwas Schrecklicheres als mitten in der Nacht ins Valley zu

fahren?, fragte sich Cordelia. Außer tagsüber hinzufahren, fiel ihr nichts
ein. Aber das spielte keine Rolle. Sie hatte nun eine konkrete Fährte und
die musste sie verfolgen. Wenigstens kam sie so vom Computer und
Telefon weg, und das war eine prima Sache.

So leid sie das Telefonieren auch war, wählte sie noch einmal eine

Nummer. Aber entweder war Angels Handy abgeschaltet oder der Akku
war leer. Da lebte er nun schon zweihundertfünfzig Jahre auf dieser Erde
und kam immer noch nicht mit einem einfachen technischen Gerät klar!

Cordelia verließ kopfschüttelnd die Wohnung und ging zu ihrem

Wagen.





























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13



Mike Slade kam mit quietschenden Reifen vor Barbaras Haus in Silver
Lake zum Stehen und kletterte aus seinem Fury. In der Stadt wurde es
für ihn zu heiß. Er brauchte einen Ort, an dem er untertauchen konnte,
bis er sich eine neue Methode ausgedacht hatte, wie er Wechsler zwi-
schen die Finger kriegen konnte. Der Kerl war von einer ganzen Armee
Cops umgeben und stand sich gut mit dem Bürgermeister – da genügte
das Wort eines seit langem toten Privatdetektivs nicht, um ihn
einzubuchten. Slade brauchte einen zwingenden Beweis dafür, dass der
Typ ein mieser Verbrecher war.

Mit Barbara besaß er eine Insiderin bei der Polizei.
Zu seiner Zeit hatten die Cops noch die natürlichen Feinde der

Privatdetektive dargestellt. Die Ordnungshüter von Los Angeles waren
weit und breit dafür bekannt gewesen, völlig korrupt zu sein. Sie waren
brutal, arbeiteten mit erpresserischen Methoden und kooperierten mit
Mafia-Gangstern wie Mickey Cohen. Sie hassten die Privatdetektive, da
diese nicht wichtig genug waren, um von der Mafia geschmiert zu
werden, und ihre Interessen jederzeit kollidieren konnten. Andererseits –
falls die Cops einmal ihre Arbeit erfolgreich verrichteten, gab es einen
Fall weniger, der bei einem Privatdetektiv landete.

Daher freundete sich jeder Schnüffler, den Slade kannte, mit ein, zwei

Cops an, um sie von Zeit zu Zeit auszuhorchen. Aber im Allgemeinen
mieden Privatdetektive die Bullen wie die Pest.

Slade beschlich das Gefühl, dass sich die Verhältnisse beträchtlich

geändert hatten. Zum Beispiel gab es mittlerweile Frauen bei der Polizei.
Und er konnte sich nicht vorstellen, dass die Tochter von Veronica
krumme Dinge drehte, auch wenn ihr Vater Cop gewesen war. Er musste
ihr einfach vertrauen.

Abgesehen davon hatte er sonst niemanden. Alle Leute, die er je

gekannt hatte, schienen tot zu sein. Seine einzige Verbindung zu den
alten Zeiten waren Barbara Morris, die er unter seine Fittiche nehmen,
und Hal Wechsler, den er lieber heute als morgen tot sehen wollte.

Es war schon spät, und es tat ihm Leid, Barbara zu wecken, aber

trotzdem klopfte er an ihre Tür.

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Nach einigen Minuten öffnete die junge Frau. Wieder hielt sie die

Dienstwaffe in der Hand. Ihr braunes Haar war zerzaust, und sie hatte
ganz kleine Augen.

»Oh, Sie sind es! Der freundliche Geisterdetektiv!«
»Darf ich reinkommen, Barbara?«
»Wenn ich nein sage, verwandeln Sie sich wahrscheinlich in Nebel

und schweben einfach durch die Tür, oder?« Sie klang völlig
verschlafen.

»Tja, ob ich so etwas kann?«, entgegnete er. »Ich glaube nicht, dass

ich so ein Geist bin ... also, ich weiß gar nicht, wie ich es nennen soll.«
Plötzlich erinnerte er sich an den Dämon, dem er auf dem Berg hinter
Wechslers Haus begegnet war – vielleicht hatte jemand wie er den Trick
mit dem Nebel drauf. Er kniff sich in den Arm. »Fühlt sich ziemlich fest
an.«

»Kommen Sie rein«, sagte sie. »Erwarten Sie nur keine

Amüsierlaune von mir. Oder einen wachen Verstand.«

Er folgte ihr und schloss die Tür hinter sich. »Tut mir Leid, dass ich

Sie geweckt habe«, sagte er.

»Das haben Sie nicht«, versicherte sie ihm. »Ich habe eine

Schlaftablette eingenommen. Es sieht nur so aus, als stünde ich hier. In
Wirklichkeit schlafe ich tief und fest in meinem Bett.«

»Eine Schlaftablette? Was ist denn los?«
»Ich stehe im Moment unter einem enormen Druck«, erklärte sie.

»Gute Noten in der Academy schaffen und trotzdem alle Rechnungen
bezahlen und überhaupt... Manchmal schlafe ich eben nicht so gut. Aber
weil ich am nächsten Tag funktionieren muss, brauche ich ein wenig
chemische Unterstützung.«

»Bekommen Sie die Tabletten vom Arzt verschrieben?«
»Nein, Mike, sie sind frei käuflich. Ohne Rezept. Aber offenbar

schädigen sie das Gehirn, denn sonst würde ich Ihnen das alles gar nicht
erzählen.«

Mike schüttelte den Kopf. Erstaunliche neue Welt!
Er merkte, dass er sich um Barbara sorgte. In ihrer Gegenwart war er

irgendwie ein anderer Mensch. Früher wäre er viel ruppiger mit ihr
umgegangen, viel respektloser. Auf seltsame Weise hegte er väterliche
Gefühle für sie. Wahrscheinlich, weil er ihre Mutter so gut gekannt hatte.

Weil er ihre Mutter geliebt hatte.
Rasch wollte er diesen Gedanken, der sich ungebeten in sein

Bewusstsein geschlichen hatte, verdrängen. Aber es war zu spät. Wie in
dem Fall, wenn man gesagt bekam, man solle versuchen, nicht an einen
grünen Elefanten zu denken, konnte er plötzlich nur noch daran denken.

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104

Denn es war die Wahrheit.
Anfangs war Veronica nur irgendein Teenager gewesen, einfach nur

seine Angestellte. Jung, aber clever und tüchtig, und so hatte sie seine
geschäftlichen Angelegenheiten im Nu geregelt. Und sie war ganz schön
scharf gewesen. Slade erinnerte sich noch gut, wie sie sich in ihrem
engen Pullover und dem ebenso engen Rock über die unterste
Aktenschublade gebückt hatte, um etwas wegzuräumen. Bald begannen
sie, die Mittagspause gemeinsam zu verbringen und bei der Arbeit
miteinander zu reden. Er hatte sich sehr beeindruckt von ihren
Gedanken, Hoffnungen und Träumen gezeigt. Aus den Mittagessen
wurden Dinner und daraus Verabredungen – Kino, Nachtclubs, Drinks.

Bevor er sich versah, hatte sich Slade hoffnungslos in seine Sekretärin

verknallt. Sie hatte seine Gefühle erwidert. Unzählige, wunderbare
Nächte hatte er in diesem Haus verbracht, das Bett mit ihr geteilt und
war morgens mit ihr in seinen Armen aufgewacht – warm, weich und
behaglich.

Barbara war nicht das Ergebnis dieser Beziehung gewesen, die durch

Slades Ermordung ein so jähes Ende gefunden hatte. Aber sie hätte es
fast sein können. Sie war Veronica in einigem sehr ähnlich. Da Slade
ihren Vater nie kennen gelernt hatte, erkannte er in ihr nur die Frau
wieder, die er geliebt hatte. Er hatte nicht erlebt, wie die Jahre vergangen
waren, und so schien es ihm, als sei seit damals überhaupt keine Zeit
verstrichen. Die Welt war gleichsam mit einem Blitzschlag älter
geworden.

Sein Blick folgte Barbara wie der eines Vaters, der seine geliebte

Tochter betrachtet. Es war ein merkwürdiges Gefühl und traf ihn sehr
unerwartet. Aber es war gar nicht Barbara taxierte den kräftigen Mann,
der in ihrem Wohnzimmer saß. Es war schwer zu glauben, dass er tot
war, nur eine Fleisch gewordene Erinnerung war, denn er hatte Gewicht,
produzierte Geräusche und verströmte seinen eigenen Geruch. Bestimmt
schmeckte er nach Salz und Moschus wie jeder andere lebendige Mann.

Sie hatte nie an übernatürliche Phänomene geglaubt. Geister, Vampire,

Werwölfe – das waren doch nur Hirngespinste! Figuren aus Filmen, an
denen sie kein Interesse hatte. Sie war nie ein Fan von Gruselromanen
oder Horrorfilmen gewesen. Die Wirklichkeit war doch schon gruselig
genug! Sie bevorzugte Selbsthilfebücher und Biographien von
bedeutenden Menschen, und wenn sie sich einen Film im Kino ansah,
handelte es sich in der Regel um einen historischen Film oder eine
melodramatische Romanze oder beides in einem.

Sie wusste nicht, wie sie auf Mike Slades unmögliches Erscheinen in

ihrem Leben reagieren sollte. Eigentlich hätte sie sich furchten müssen,

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105

aber das tat sie nicht. Er war kein furchterregender Mensch. Sie erkannte
sehr wohl, dass er furchterregend sein konnte, wenn er wollte, aber ihr
gegenüber gab er sich immer sehr freundlich und besorgt. Er machte ihr
keine Angst. Wäre er lebendig gewesen, hätte er sie nicht geängstigt, und
die Tatsache, dass er es nicht war, änderte daran nichts. Er war für sie
eher eine Mischung aus verschiedenen Eigenschaften: braunes Haar,
blaue Augen, breitschultrig, tot.

Viel kurioser und interessanter fand Barbara die Tatsache, dass er ihrer

Mutter wichtig gewesen war. Sie hatte Fotos von ihm aufbewahrt, sogar
noch nach der Heirat, und sie hatte liebevoll von ihm geredet, obwohl er
schon lange tot gewesen war, als Barbara geboren wurde. Das sprach
Bände. Ihre Mutter musste ihn wirklich geliebt haben. Barbara stellte
sich vor, wie ihre Mutter sich in Slades starke Arme schmiegte, um
Geborgenheit und Sicherheit zu finden. Sie fragte sich, ob ihre Mutter
länger gelebt hätte, wenn dieser Mann nicht gestorben wäre. Hätte er
gestattet, dass der Krebs von ihr Besitz ergriff? Oder hätte er sich
gewappnet und wäre sogar gegen die Krankheit in den Kampf gezogen?

Wäre Veronica jedoch nicht Vic Morris über den Weg gelaufen, gäbe

es Barbara nicht. Sie hatte ihren Vater geliebt und war froh, dass er und
ihre Mutter sich ineinander verliebt hatten und sie das Resultat dieser
Beziehung war. Aber Mike Slade hatte so etwas an sich ... Barbara
beschlich das Gefühl, ihr Vater sei vielleicht ein Schatten von Slade
gewesen, eine Art kleinere Ausgabe dieses Mannes, und ihre Mutter
habe sich deshalb in ihn verliebt. Er und Slade ähnelten sich ein wenig –
beide waren groß und dunkel und stark. Barbara erinnerte sich an ihren
Vater als kräftig gebauten Mann, der ein offenes Wort schätzte und gern
lachte. Das schien auch auf Slade zuzutreffen. Die feinen Linien um
seinen Mund deuteten darauf hin. Sie wurden tiefer, wenn er einmal sein
seltenes Lächeln zeigte.

In diesem Augenblick wirkte er jedoch sehr müde.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie ihn.
Er blinzelte einige Male geistesabwesend und sah sie an. »Man hat auf

mich geschossen«, sagte er. »Ich sollte es Ihnen gar nicht erzählen –
denn dann müssen Sie mich wahrscheinlich ihren Kollegen auf der
Wache ausliefern.«

»Wenn ich das tun wollte, hätte ich es schon lange getan, oder?« Sie

klang verletzt.

»Wahrscheinlich. Kann ich Ihnen vertrauen, Barbara?«
»Sieht ganz so aus«, entgegnete sie. »Ich weiß auch nicht warum, aber

so ist es nun mal.«

Er nickte. »Ich war hinter Wechsler her.«

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106

»Was?«
»Ich konnte nicht zu ihm ins Büro gelangen. Also habe ich

herausgefunden, wo er wohnt, und bin hingefahren. Aber ich wurde
bereits erwartet. Überall waren Cops, und sie haben mich erwischt...
Nun, im Grunde nicht die Cops ...« Er verstummte, denn er wollte
Barbara nicht erzählen, dass es sich bei dem Angreifer ganz sicher um
einen Dämon gehandelt hatte. Es war schon schlimm genug für sie, mit
seiner Anwesenheit klarzukommen. Schließlich fuhr er fort: »Der Mann,
der mich erwischt hat, sah nicht wie ein Cop aus. Trotzdem war er da
draußen hinter Wechslers Haus. Er griff mich an, und ich habe auf ihn
geschossen. Das haben die anderen, also die richtigen Cops, gehört, und
sie verfolgten mich mit Scheinwerfern und Knarren. Ich musste schnell
von dort verschwinden.«

»Dann weiß Wechsler jetzt, dass jemand hinter ihm her ist.«
»Scheint so.«
»Weiß er auch warum?«
»Sie meinen, ob er weiß, dass ich es bin? Keine Ahnung. Aber ich

kann es mir nicht vorstellen. Allerdings weiß er. dass irgendjemand
hinter ihm her ist.«

»Was wollen Sie jetzt tun?«, fragte Barbara.
Slade rieb sich mit den Daumen die Schläfen, als habe er

Kopfschmerzen. Barbara fragte sich, ob Tote überhaupt Schmerz
empfinden konnten.

»Ich weiß es nicht«, sagte Slade. »Deshalb bin ich hier. Ich brauche

einen Ort zum Nachdenken. Ich muss mir einen Plan zurechtlegen, wie
ich weiter vorgehe, statt mich einfach nur ins Geschehen zu stürzen und
über meine großen Füße zu stolpern, wie ich es sonst tue.«

»Brauchen Sie vielleicht ein bisschen Schlaf?«, fragte Barbara und

unterdrückte ein Gähnen. »Denn offen gesagt brauche ich den jetzt auf
jeden Fall.«

»Ich weiß nicht. Ich fühle mich irgendwie müde. Aber ob ich schlafen

kann? Und wenn ich es kann, werde ich dann auch wieder wach?«

»Wollen Sie es riskieren?«
Er dachte einen Augenblick darüber nach. »Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Falls ich nicht wach werde – wenn Sie hier raus kommen, und ich bin

nur eine schimmelige alte Leiche oder einfach verschwunden –, machen
Sie Jagd auf Wechsler!«

»Ich werde ihn aber nicht umbringen.«

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107

»So meine ich das auch nicht. Auf Ihre Art. Legal und korrekt. Sie

wissen, was er getan hat. Beweisen Sie es und bringen Sie ihn in den
Knast!«

»Ich werde es versuchen. Das verspreche ich.« Barbara war von ihren

eigenen Worten überrascht. Aber sie meinte es ehrlich.

»Dann mache ich jetzt wirklich ein kleines Nickerchen. Ist es in

Ordnung, wenn ich mich auf die Couch lege?« Er zog sein Jackett aus
und faltete es zu einem Kissen zusammen.

»Sicher, machen Sie nur! Ich bin in meinem Zimmer, falls Sie etwas

brauchen.«

Barbara gähnte wieder, ging ins Schlafzimmer und schloss leise die

Tür. Eigentlich war es ziemlich verrückt, sich schlafen zu legen, wenn
ein Fremder im Nebenzimmer war, und dass er behauptete, von den
Toten auferstanden zu sein, machte die Sache auch nicht besser. Aber sie
fühlte sich sicher, solange er dort vor ihrer Tür lag, als sei er eine Art
Schutzengel, der über sie wachte.

Außerdem konnte sie sich ohnehin nicht länger wach halten. Denn die

Schlaftablette tat ihre Wirkung. Barbara schlüpfte unter die Decke und
schloss die Augen.

Fast augenblicklich spürte sie, wie der Schlaf sie in seine Arme

schloss. Aber ihr Kopf war noch nicht willens, sich ihm hinzugeben.
Etwas nagte an ihr – etwas, das sie Slade hatte sagen wollen ...

Dann schlief sie ein.
Sie fing an zu träumen. In ihrem Traum gab es ein Schloss mit hohen

Türmen und einem Graben, der mit geifernden Krokodilen gefüllt war.
Das Schloss wurde von hunderten von Rittern bewacht, die kunstvolle
Rüstungen, schwere Schilde und lange Lanzen trugen.

Vor dem Schloss stand ein einzelner Mann, der mit einem kurzen

Schwert, dessen Klinge zerbrochen war, und mit einem Schild aus Holz
bewaffnet war.

Aber er besaß, wie sie auf den ersten Blick erkennen konnte, Mut,

Weisheit und Leidenschaft. Er wollte sich den Kreaturen im Graben
stellen und gegen die Überzahl Soldaten kämpfen, obwohl sie die
besseren Waffen hatten. Und dann verschaffte er sich Zugang zum
Schloss und vertrieb den bösen König von seinem Thron.

Wenigstens glaubte Barbara das in ihrem Traum.
Dann tauchte ein neues Bild auf, und das Schloss auf der großen Wiese

verschwand. An seine Stelle trat ein Stapel brauner Kartons, allesamt
verschnürt und voller Staub und Spinnweben.

Barbara schlug die Augen auf. Sie war plötzlich hellwach.

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108

Sie hatte schreckliche Angst. Wenn sie nun ins Nebenzimmer ging und

er nicht mehr da war, was dann?

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Tür öffnete. Als sie das

leise Schnarchen eines schlafenden Mannes hörte, entspannte sich ein
wenig. Slade lag auf der Couch. Seine Brust hob und senkte sich beim
Atmen. Er sah höchst lebendig aus.

Sie fasste ihn an der Schulter, und er schreckte aus dem Schlaf hoch.
»Was ist?«, fragte er sofort.
»Sorry«, sagte sie. »Ich wecke Sie nicht gern. Sie haben so tief

geschlafen.«

Er lächelte. »Aber ich bin immer noch da.«
»Scheint so«, entgegnete sie. »Hören Sie, ich habe vergessen, Ihnen

etwas zu sagen.«

»Was?«
»Ich war so verschlafen, dass ich gar nicht mehr wusste, ob ich es

geträumt hatte oder ob es real gewesen war«, sagte sie. »Bevor Sie
gekommen sind, rief mich jemand an. Eine junge Frau. Sie hat nach
Mom gefragt und danach, ob Mom alte Akten von Ihnen aufbewahrt
habe.«

»Was haben Sie ihr gesagt?«, fragte er und setzte sich kerzengerade

auf.

»Ich habe ihr gesagt, ich wisse nichts von solchen Akten. Und dann

habe ich aufgelegt. Es war mitten in der Nacht. Ich habe keine Ahnung,
wer sie war.«

»Oh, vielleicht wäre es hilfreich, wenn Veronica die Akten tatsächlich

aufbewahrt hätte. Vielleicht würde sich etwas über Bettys Fall oder
Wechsler darin finden, womit ich seine Schuld beweisen könnte.«

»Mutter hat sie aufbewahrt«, entgegnete Barbara. »Ich habe gelogen.«
»Sie hat die Akten aufbewahrt? Sind Sie sicher?«
»Ich bezahle jeden Monat die Lagerrechnung, da will ich doch hoffen,

dass die Akten noch existieren!«

»Geben Sie mir die Adresse«, verlangte Slade. »Ich muss das

überprüfen. Sofort!«

Barbara suchte eine Rechnung heraus und schrieb die Adresse auf

einen Zettel, den er eilig in die Jackentasche stopfte. Rasch ging er zur
Tür.

»Viel Glück«, rief sie ihm hinterher.
Sie meinte es ehrlich.



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109


14



Angel hasste es, im Gefängnis zu sitzen.

Aber daran hatte wohl niemand Vergnügen. Ganz gewiss nicht die

anderen Leute, die mit ihm in der Zelle saßen. Sie waren allesamt
kräftig, schmutzig und möglicherweise auch wahnsinnig. Der ganze
Raum stank. Einige Gefangene klagten über die Kälte, andere verlangten
etwas zu essen. Danach stand Angel nicht der Sinn. Falls in diesem
Laden je etwas serviert werden würde, stand wohl nichts auf dem
Speiseplan, was ihn ernsthaft interessieren konnte.

Die Schmerzen in seiner Schulter ließen allmählich nach. Er hatte den

diensthabenden Polizisten überzeugen können, dass es sich nur um eine
Schürfwunde von der unsanften Landung auf dem Boden handelte. Da
die Stelle bereits begonnen hatte zu heilen, als der Beamte sie sich ansah,
glaubte er die Geschichte.

Angel blieb mehrere Stunden in Gewahrsam. Als er in die Zelle

geführt worden war, hatte er darum gebeten, Kate Lockley zu
verständigen. Man hatte ihm versprochen, dies zu tun. Seither wartete er.

Und wartete.
Und wartete ...
Irgendwann hatte einer seiner Zellengenossen die Idee, die Bank, auf

der Angel saß, für sich zu beanspruchen. Er trat näher, beugte sich vor
und kam Angel mit seinem zahnlosen Gesicht ganz nah.

»Weg da!«, sagte er tonlos und rau.
»Nein, danke«, entgegnete Angel ruhig.
Der Mann legte ihm drohend seine riesige Pranke auf die Schulter.

»Ich sagte: Schieb ab!«

»Nein«, entgegnete Angel. »Sie sagten: ›Weg da!‹«
»Du sollst verschwinden, hab ich gemeint!«
Angel packte den Mann am Arm, legte die Finger um sein Handgelenk

und drückte fest zu. Der Mann wurde blass und sein Mund klappte auf.
Er versuchte, sich aus dem eisernen Griff zu befreien, aber es gelang ihm
nicht.

Angel ließ von ihm ab, bevor er die Knochen des Gelenks zermalmt

hatte.

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110

»Suchen Sie sich einen anderen Platz!«, sagte er. »Dieser hier ist schon

besetzt.«

Natürlich hätte Angel unter anderen Umständen jederzeit die Bank

geräumt. Aber es sollte niemand annehmen, man könne ihn dazu
zwingen. In einer solchen Situation durfte man auf gar keinen Fall
Schwäche zeigen. Wenn er das tat, erklärten ihn die Verbrecher, von
denen er umgeben war, sofort zu ihrer Beute.

Angel selbst war einmal ein Raubtier gewesen, und zu erleben, wie die

Kehrseite der Medaille aussah, reizte ihn nicht besonders.

Doch der breitschultrige Mann hielt sich den Arm, der ihm fast

gebrochen worden war, und trat den Rückzug in seine Ecke an. Und so
wurde Angel auch von den anderen Zelleninsassen in Ruhe gelassen.
Was exakt seinen Bedürfnissen entsprach. Er hatte nicht das geringste
Interesse daran, sich mit diesen Männern anzufreunden.

Nach drei Stunden, die ihm wie drei Jahre vorkamen, trat ein

Wachmann an die Gittertür und winkte ihn heran. Angel durfte die Zelle
verlassen und wurde vor seiner Freilassung noch an einen Schalter
geführt, wo er ein paar Formulare unterschreiben musste. Wie man ihm
sagte, würde keine Anklage gegen ihn erhoben werden, und er konnte
gehen. Seine Sachen gab man ihm in einer Kiste wieder. Er öffnete sie,
nahm seinen sorgsam gefalteten schwarzen Ledermantel heraus und zog
ihn über. Den Inhalt seiner Taschen hatte man in einem versiegelten
Umschlag aufbewahrt. Er riss ihn auf, räumte alles an seinen Platz, warf
den Umschlag in den Müll und trat durch die schwere Eisentür hinaus in
die Finsternis.

»Ich hab' dir doch gesagt, du sollst vorsichtig sein!«, wurde er sogleich

von Kate Lockley angeraunzt. Sie stand vor der Polizeiwache und
wartete neben ihrem Auto. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht der
Straßenlaterne. Sie lächelte und zeigte ihre ebenmäßigen weißen Zähne.
»War's schön da drin?«

»Jetzt sehe ich Zoos mit ganz anderen Augen«, sagte Angel.
»Das glaube ich!« Sie sah ihn merkwürdig an, und er wusste ihren

Blick nicht recht zu deuten.

»Also?«, fragte sie.
»Was?«
»Willst du es nicht sagen? Dass ich Recht hatte?«
»Oh, du meinst das mit dem Vorsichtigsein? Ich war vorsichtig,

allerdings nicht vorsichtig genug. Danke, dass du mich rausgeholt hast.«

»Wer sagt denn, dass ich das war?«
»Wer denn sonst?«

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Sie schenkte ihm ein rasches Lächeln. »Okay, ich war's. Frag mich

nicht warum! Ein Teil von mir – ein ziemlich großer – wünschte, dich
eine ganze Zeit lang da drin eingesperrt zu sehen. Du missachtest das
Gesetz manchmal mit atemberaubender Dreistigkeit.«

»Warum hast du mich dann nicht drin gelassen?«, fragte er.
»Ich weiß auch nicht«, entgegnete sie und wies mit dem Kopf auf ihr

Auto. »Soll ich dich mitnehmen? Dein Wagen steht inzwischen wieder
bei dir vor der Tür.«

»Sehr freundlich, danke.«
Kate schloss auf und rutschte hinters Steuer. Angel ging zur

Beifahrerseite und stieg ebenfalls ein.

»Ich habe über die Sache nachgedacht«, sagte Kate, als sie den Gang

einlegte und losfuhr. »Wer immer dieser Kerl ist, er hat es definitiv auf
Mister Wechsler abgesehen. Es würde mich interessieren, ob es einen
Grund dafür gibt – und wie diese Geschichte in Verbindung mit dem
Tod meines Kollegen steht.«

»Mich auch«, pflichtete ihr Angel bei. »Eine Verbindung gibt es

nämlich definitiv. Ich habe sie nur noch nicht herstellen können.«

»Dann halt weiter die Augen auf!«, verlangte Kate. Sie klang fast, als

erteile sie einem Untergebenen Befehle. Dann sah sie ihn von der Seite
an. »Aber... sei diesmal vorsichtig. Noch vorsichtiger!«

Angel grinste. »Verstanden.«
Kate schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren. Aber Angel

vermutete, dass sie sich in Gedanken intensiv mit dem Fall beschäftigte.

Es gab viele Faktoren, die zu bedenken waren. Besonders

beunruhigend fand Angel die Tatsache, dass der Mann, der auf ihn
geschossen hatte, ihn »Dämon« genannt hatte. Warum? Angel schätzte
es nicht, so bezeichnet zu werden, aber viele Leute verwechselten
Dämonen und Vampire.

Allerdings hätten doch wohl die meisten Menschen, wenn ihnen seine

wenig menschlichen Züge in der Dunkelheit aufgefallen wären, eher an
einen Vampir und nicht an einen Dämon gedacht. Warum nicht auch
Slade?

Der Punkt war, dass Slade – falls er es wirklich gewesen war – Angels

wahre Natur erkannt hatte. Und das bedeutete, der mysteriöse
Privatdetektiv war definitiv kein normaler Mensch.

Slade war etwas anderes. Davon musste man ausgehen.
Es passte auf jeden Fall zur bisherigen Faktenlage. Ein vor langem

gestorbener Privatdetektiv tauchte plötzlich wieder auf und machte Jagd
auf einen städtischen Funktionär, der zu der Zeit gelebt hatte, als der
Schnüffler getötet worden war. Die Möglichkeit, dass es sich nur um

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einen Spinner handelte, der sich für Slade ausgab, erschien immer
unwahrscheinlicher. Ein echter Geist jedoch verfügte unter Umständen
über ein Zweites Gesicht und konnte so Angels wahre Natur erkennen.

»Wechsler«, sagte Angel aus heiterem Himmel, weil der Name ihm

unversehens durch den Kopf schoss.

»Was ist mit ihm?«, fragte Kate.
»Als Slade getötet wurde, im Jahre 1961,was hat Wechsler da

gemacht? War er damals schon in der Politik oder Geschäftsmann oder
was auch immer?«

Kate überlegte eine Weile. »Ich weiß es nicht genau.«
»Es könnte von Bedeutung sein«, meinte Angel. »Wenn Slade hinter

ihm her ist, gibt es wohl auch einen Grund dafür. Und dieser Grund muss
in den Sechzigern liegen.«

»Slade ist tot.«
»Das ist eine Tatsache«, stimmte ihr Angel zu. »Trotzdem läuft da

draußen ein Kerl rum, der ihm gleicht. Will er Wechsler für etwas zur
Strecke bringen, das damals geschehen ist?«

»Ich habe wirklich keine Ahnung. Leider bin ich nicht alt genug, um

zu wissen, was all die Leute damals so in Los Angeles gemacht haben.
Aber es mag die Mühe wert sein, es zu recherchieren.

»Allerdings.«
»Glaubst du, Wechsler hat Dreck am Stecken?«
»Er hat bestimmt eine schneeweiße Weste«, sagte Angel lächelnd.

»Aber schließlich sind wir hier in Los Angeles, und unsere
Stadtverwaltung hat ihren Ruf weg – und der ist nicht gerade der beste,
nicht wahr?«

»Das ist noch höflich ausgedrückt«, schnaubte Kate. »Wenn du

anfängst, in der Stadtpolitik herumzustochern, dann zieh dir lieber
hüfthohe Stiefel an! Die wirst du brauchen. Und noch etwas ...«

»Ja?«
»Du musst wirklich übervorsichtig an die Sache herangehen. Unsere

Stadt ist bekannt dafür, schon viele Reformer aufgefressen und wieder
ausgespuckt zu haben.«

Sie hielten vor Angels Büro an, wo sein Plymouth Belvedere GTX

abgestellt war. »Der Schlüssel müsste in deinem Büro sein«, sagte Kate.

Angel bedankte sich bei ihr und ging ins Haus. Alles war ganz still.

Natürlich war Doyle nicht da, denn er bewachte das Grab von Betty
McCoy. Aber Angel hatte erwartet, Cordelia im Büro vorzufinden. Es
kam öfter vor, dass sie, wenn sie bis in die Nacht am Computer
recherchierte, auf der Couch einschlief oder sich in Angels Bett legte,
woraufhin er dann die Couch nahm.

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Cordelia war jedoch nirgends zu sehen.
Angel machte sich Sorgen.
Möglicherweise hatte ihn Slade bei ihrer Begegnung gar nicht spontan

als das erkannt, was er war. Vielleicht hatte er ganz einfach gewusst, wer
Angel war, und war im Büro vorbeigekommen, um das zu Ende zu
führen, was er in den Bergen hinter Wechslers Haus begonnen hatte! Ob
er Cordy entführt hatte?

Aber nirgendwo waren Spuren eines Kampfes zu erkennen. Die Tür

war abgeschlossen gewesen. Der Schlüssel für den GTX hatte, wie von
Kate angekündigt, auf Cordys Schreibtisch gelegen. Alles schien an
seinem gewohnten Platz zu sein. Wenn Slade wirklich hergekommen
war, dann ganz als Gentleman, und Cordelia war freiwillig mitgegangen.

Natürlich konnte eine vorgehaltene Pistole Leute zu Dingen bewegen,

die sie normalerweise nicht taten.

Der Computer auf Cordelias Schreibtisch lief noch, aber auf dem

Monitor war nur der bunte Bildschirmschoner zu sehen, den sie von
irgendeiner Website runtergeladen hatte. Neben der Tastatur lag ein
Notizblock. Ein abgerissener Zettel lag verkehrt herum auf dem Tisch.
Angel drehte ihn um. Zwei Namen standen in Cordelias Handschrift
darauf: Barbara Morris und Vic Morris. Keiner von beiden sagte ihm
etwas.

Dann entdeckte er, dass ein weiteres Blatt abgerissen worden sein

müsste. Er verglich den Rand des Zettels, auf dem die Namen standen,
mit dem kleinen Fetzen, der beim Abreißen am Block hängengeblieben
war. Cordelia hatte zuerst die Namen notiert, dann das Blatt abgerissen
und auf das nächste eine weitere Notiz gemacht. Diesen Zettel hatte sie
offenbar abgerissen und mitgenommen.

Angel versuchte es mit einem der ältesten Tricks der Welt. »Das

funktioniert doch nie«, sagte er zu sich selbst und rieb vorsichtig mit
einem Bleistift über das oberste Blatt auf dem Block.

Tatsächlich tauchten ein Name und eine Adresse auf.
»Na ja, vielleicht klappt es manchmal doch«, dachte Angel.
»Valley U-STOR«, las er. Darunter stand die Adresse des Lagers in

der Nähe des Ventura Boulevard in Sherman Oaks.

Cordelia war offenbar in großer Eile gewesen und hatte beim

Schreiben sehr fest aufgedrückt. Es bestand die minimale Chance, dass
sie einfach nach Hause gefahren war, um ein wenig zu schlafen. Am
besten, er rief kurz bei ihr an und checkte die Lage.

Aber es erschien ihm nicht sehr wahrscheinlich, sie in ihrer Wohnung

anzutreffen.

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Wozu hätte sie die Adresse eines Lagerhauses mit nach Hause nehmen

sollen?

Das passte nicht zu Cordelia. Offenbar hatte sie die Information für so

wichtig gehalten, dass sie mitten in der Nacht allein aufgebrochen war,
um der Sache nachzugehen.

Es war zu befürchten, dass es wohl noch ein Weilchen dauern würde,

bis Angel endlich schlafen konnte. Eilig holte er den Schlüssel für den
GTX vom Schreibtisch.
































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115


15



Harold Wechsler wartete in seiner für drei Autos errichteten Garage
darauf, dass Barry Fetzer den Dienstwagen brachte. Die Polizei würde
diesem Wagen hoffentlich keine besondere Aufmerksamkeit schenken,
da bereits den ganzen Abend über Autos angekommen und abgefahren
waren. Obwohl jedes Fahrzeug bei der Einfahrt kontrolliert wurde,
würde der Dienstwagen ungehindert passieren können, denn die
Polizisten kannten Barry mittlerweile.

Bei der Fahrt aus der Garage wollte Wechsler sich auf dem Rücksitz

unter einer Decke verstecken.

Es passte ihm gar nicht, ausgerechnet in dieser Nacht im eigenen Haus

gefangen zu sein. Offenbar hatte dieser wahnsinnige Slade beschlossen,
ihn zu Hause anzugreifen. Und das rief natürlich so ziemlich jeden Cop
in der Stadt auf den Plan. Er musste das Haus verlassen! Niemals war es
wichtiger für ihn gewesen, sich frei bewegen zu können als in dieser
Nacht.

In seiner bereits Jahrzehnte währenden kriminellen Karriere hatte er

noch keinen einzigen Tag im Gefängnis verbracht. Er hatte einfach das
Talent, nicht geschnappt zu werden. Und sobald es ihm möglich gewesen
war, hatte er seinen Wohlstand und seine Macht in ganz legale Ge-
schäftsbereiche verlagert. Im Gegensatz zu vielen anderen Verbrechern
hatte er sich weder geweigert, Steuern zu zahlen, noch versucht,
Gesetzeshüter und Richter zu bestechen. Für ihn war die Kriminalität nur
ein Mittel zum Zweck gewesen – ein Weg, rasch zu Reichtum zu
gelangen. Als er erst einmal ein kleines Vermögen angesammelt hatte,
war es ihm auf wunderbare Weise gelungen, daraus mit völlig korrekten
Methoden ein großes zu machen. Reichtum hatte sich schon immer
besonders gut dort vermehrt, wo bereits gewisse Mittel vorhanden
waren.

Endlich ging das Garagenlicht an, und das Tor öffnete sich. Barry fuhr

den großen Wagen herein. Wechsler trat hinter ein paar Kisten, um nicht
von Cops entdeckt zu werden, die zufällig in die Garage blickten.

Sobald Barry den Lincoln in der Garage abgestellt hatte, betätigte

Wechsler erneut die Automatik, und das Tor schloss sich wieder. Als er

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die hintere Wagentür öffnete und hineinkletterte, drehte sich Barry um
und lächelte seinen Arbeitgeber an.

»Da ist die Decke, Hal«, sagte er.
»Ich sehe sie.«
»Die große Nacht, endlich!«
»Allerdings. Haben wir Probleme zu erwarten?«
»Gar keine. Einer der Cops hat mich komisch angesehen, weil ich erst

vor kurzem mit einem anderen Wagen weggefahren bin, aber dann hat er
mich durchgewinkt.«

»Gut. Fahr los!«
Wechsler versteckte sich vor der Rückbank auf dem Boden – wie gut,

dass der Lincoln so geräumig war! – und zog die dunkle Decke über
sich. Die Scheiben waren getönt, sodass man schon sehr genau hinsehen
musste, um etwas oder jemanden dahinter zu erkennen.

Er spürte, wie der Wagen langsam aus der Garage und auf die breite

Einfahrt rollte. Barry fuhr gemächlich an den Polizisten vorbei, die das
Haus bewachten, und beschleunigte, sobald sie auf der Hauptstraße
waren. Beim Abbiegen nach links wurde Wechsler ein wenig
durchgeschüttelt, aber zu diesem Zeitpunkt waren sie bereits außer
Sichtweite, und er konnte die Decke abwerfen und auf dem Rücksitz
Platz nehmen.

»Neuigkeiten von Laine oder Reyes? Haben sie Slade schon

gefunden?«

»Nein, noch nicht. Sie suchen nach ihm. Das ist eine große Stadt.«
»Natürlich ist L.A. eine große Stadt, aber er ist ein toter Privatdetektiv.

Er muss doch zu finden sein!«

»Sie suchen ja, Hal!«
»Hoffentlich schnappen sie ihn, bevor er mich noch einmal kriegt.«
»Niemand wird Sie kriegen, Hal! Sie sind frei und in Sicherheit.«
»Wollen wir es hoffen.«
»Wir haben zu lange dafür gearbeitet. Sie vor allem.«
»Wie lange ich dafür gearbeitet habe, weiß ich selbst!«, entgegnete

Wechsler, lehnte sich in das bequeme Leder zurück und schloss die
Augen.

Er erinnerte sich an das Buch.
Im Jahre 1956 war er von Kansas City nach Los Angeles gekommen,

einer ganz und gar neuen Welt. Hier schien die Sonne jeden Tag von
einem strahlend blauen Himmel herab. Die Wellen brandeten an den
Strand, und ein paar junge Leute widmeten sich einem neuen Trend, der
von Hawaii gekommen war: Sie begannen zu surfen. Andere Paradierten
mit ihren Autos den Hollywood und Sunset Boulevard entlang. Alle

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Jungs hatten kurzes Haar und trugen Blousons mit einem Schriftzug auf
dem Rücken, und alle Mädchen waren blond, sportlich und hübsch.

Hal Wechsler hatte sie alle gehasst.
Er selbst war ein dunkler, kurzgewachsener, dürrer Typ gewesen.

Surfen schien ihm ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, das eine Menge
Gleichgewicht, Koordinationsvermögen und Kraft benötigte. Da er sich
kein Auto leisten konnte, hatte er einem Jungen aus der Nachbarschaft
das Fahrrad gestohlen. Er kam sich albern und jungenhaft darauf vor.
Die Mädchen schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Er kaufte sich eine
Lederjacke, kämmte sein Haar mit Pomade zurück und versuchte, sich
mit zwielichtigen Ganoven anzufreunden. Aber auch sie wiesen ihn ab,
weil er nicht stark genug war und nicht gut genug kämpfen konnte.

Er wurde nicht einmal von den anderen Dämonen akzeptiert, die er

kennen lernte.

Seine Familie hatte immer versucht, sich dem Leben der Menschen

anzupassen. Alle Mitglieder gingen tagsüber nach draußen und trugen
ihre menschlichen Gesichter mit großem Stolz zur Schau. Sie hatten der
eigenen Gattung den Rücken gekehrt. Sie benahmen sich wie Menschen
und redeten wie sie, als fänden sie das edler als sich zu ihrem wahren
Wesen zu bekennen.

Hal war anderer Meinung und verzehrte sich danach, seinen inneren

Dämon freizulassen und Chaos über die Welt der Menschen zu bringen –
aber die wenigen Dämonen, mit denen er in Kontakt kam, glaubten ihm
das nicht. Er war es nicht gewöhnt, seine dämonische Natur zu leben.
Zwar hatte ersieh am Rande der kriminellen Gesellschaft von Kansas
City bewegt, aber immer in menschlicher Tarnung.

Nachdem er mit dem Zug aus dem mittleren Westen in L.A.

eingetroffen war, mietete er ein Häuschen mit einem kleinen
kiesbedeckten Hof an der Alvarado Street. Um die Miete bezahlen zu
können, stahl er in Geschäften, klaute Portemonnees an Bushaltestellen
und prügelte aus Schülern ihr Geld für das Mittagessen heraus.

Er war allein in der Stadt des Sonnenscheins und der zweiten Chance.

In der Stadt, wo die Menschen sich nach ihren eigenen Vorstellungen
neu erfinden konnten.

Er war wild entschlossen, sich neu zu erfinden. Wenn ihm das gelang,

würden ihm die Leute Beachtung schenken. Sie würden es tun müssen.

Er fing an, die Bücherantiquariate am Hollywood Boulevard zu

durchstöbern und entfloh in andere Welten und andere Zeiten. Er las
Heiniein, Asimov, Bradbury. Nach einer Weile ödeten ihn deren
glorreiche Zukunftsphantasien an, und er wandte sich anderen Büchern
zu – dunkleren, härteren: Fantasy von Robert E. Howard und Clark

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Ashton Smith, Horrorromane von H.P. Lovecraft, Arthur Machen und
August Derleth. Diese Bücher berichteten von seltsamer Magie und
finsteren alten Göttern und faszinierten den jungen Hal Wechsler. Er
fand sie glaubhafter als alles, was er zuvor gelesen hatte.

Also suchte er nach anderen Geschäften ... und fand sie. Geschäfte, in

denen die Bücher über Magie und dunkle Zauberei nicht unter Fiction
eingeordnet wurden. Er klaute sie, wenn er musste, lieh sie aus, wenn er
konnte, und kaufte sie, wenn es absolut notwendig war.

Aber welche magischen Beschwörungen und Zaubersprüche er auch

versuchte – nichts gelang ihm. Er vertiefte sich in Crowley, Bacon,
Agrippa, Eliphas Levi und bemühte sich, ihren Anweisungen zu folgen.
Wieder geschah nichts.

Er konnte es nicht begreifen.
Denn er war überzeugt, dass diese Leute keine Betrüger oder

Scharlatane waren. Sie waren Magier. Mächtige Magier. Was sie
vollbrachten, lag weit über dem, was die Gesellschaft zu glauben bereit
war. Aber Hal Wechsler gelang immer noch nichts. Bis er das Buch
fand.

Es trug den Titel »Der Weg zur Macht«. Jules Lefler war der Autor,

ein Frankokanadier, der die Lehren anderer Magier zusammengetragen
hatte, die lange vor ihm in die kalte kanadische Einöde gekommen waren
und dort neue Dinge erfahren hatten. Dinge, die niemand zuvor entdeckt
hatte.

Wechsler nahm das Buch mit nach Hause und las es vier Tage lang

von Anfang bis Ende. Dabei legte er es nur kurz aus der Hand, um in die
Küche zu gehen und etwas zu essen. Er konnte nicht aufhören, darüber
nachzudenken – über die Aussichten, die es verhieß.

Über die dunklen Kräfte, die er mobilisieren konnte, wenn diese

Versprechungen wahr wurden.

Nach vier Tagen, in denen er wenig geschlafen und noch weniger

gegessen hatte, machte er einen einfachen Versuch. Im Wohnzimmer
seines kleinen Häuschens folgte er Schritt für Schritt den Anweisungen
zu einer der Beschwörungsformeln. Er mischte ein paar Zutaten in einer
Kupferschüssel, stellte im ganzen Raum Kerzen auf und sprach die
erforderlichen Worte.

Rauch stieg aus der Schüssel auf und nahm die Gestalt einer schönen

Frau an. Sie hatte strahlende große Augen, in denen ganze Galaxien
funkelten. Und sie verriet ihm ein Geheimnis.

Also machte er sich daran, alles, was in dem Buch stand, zu erproben.

Indem er das tat, erfuhr er von Welten, von denen er bisher nur hinter

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vorgehaltener Hand gehört hatte. Niemals hätte er zu hoffen gewagt, dass
sie wirklich existierten.

Plötzlich machte er neue Bekanntschaften. Er bewegte sich in anderen

Kreisen. Die Magie-Kundigen, die in der Stadt ansässig waren, öffneten
ihm ihre Türen. Und während er Macht ansammelte, öffneten sich
weitere Türen – die Türen zu den kriminellen Kreisen.

Und der Außenseiter, der junge Mann ohne Freunde, der die

Buchläden auf seinem gestohlenen Rad abgeklappert hatte, hatte
begonnen, seinen ganzen Ehrgeiz auf eine einzige Sache zu
konzentrieren ...

Harold Wechsler fing auf dem bequemen Rücksitz des Lincoln an zu

schnarchen.

»Sie müssen Doug sein«, sagte Cordelia.

Der junge Mann saß im Büro des Lagerhauses an seinem Schreibtisch,

hatte die Füße hochgelegt und las in einer Zeitschrift für Truck-Fans.
Seine Arme waren muskulös, die Brust männlich und die Schultern sehr
breit. Er sah wirklich sportlich aus, fand Cordelia und spürte, wie sich
der Cheerleader in ihr bemerkbar machte. Dieser Typ könnte gut
irgendein Champion sein – und fristete sein Dasein in diesem Lagerhaus.
Was für eine Verschwendung!

Und sie musste ihn nun um ihren kleinen Finger wickeln ...
Doug zuckte zusammen, schwang die Beine auf den Boden und knallte

die Zeitschrift auf die Schreibtischplatte. Dann sah er Cordelia an.

Ihr gelbes Top mit V-Ausschnitt und die schwarzen DKNY-Hosen mit

Tunnelzug taten ihre Wirkung. Der junge Mann musste zweimal
hinsehen und starrte sie mit halb geöffnetem Mund an. Wie Cordelia
vermutete, kamen für gewöhnlich mitten in der Nacht keine Frauen in
dieses Lagerhaus – besonders keine, die so gut aussahen wie sie! »Nicht
auszudenken, was geschehen wäre, wenn ich mich vorher noch extra
zurechtgemacht hätte!«, dachte sie.

Sie schenkte ihm ein breites Lächeln, das er verdattert erwiderte. Er

hatte ein freundliches Gesicht und langes braunes Haar. Der Pony hing
ihm in die Augen und alle paar Sekunden schüttelte er sich die Strähnen
aus dem Gesicht. Er tat das einige Male, während er Cordelia anstarrte.

Schließlich fiel ihm wieder ein, dass er so etwas wie Stimmbänder

besaß. »Ja, ich bin Doug«, brachte er heraus.

»Ich bin Cordelia. Wir haben miteinander telefoniert.«
»J-ja, das stimmt«, stotterte er.
»Ich habe doch gesagt, dass ich vielleicht vorbeikomme, oder nicht?«,

fragte sie unschuldig. Das hatte sie natürlich nicht getan.

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»Ähm, vielleicht. Kann schon sein.«
»Ist doch okay, oder?«, fragte sie.
»Sicher«, entgegnete er.
»Wir haben über die Sachen von meiner Mom gesprochen. Veronica

Chatsworth. Erinnern Sie sich?«

Er blickte einen Moment verwirrt drein. »Oh, sie ist Ihre Mutter?«
»War sie.« Cordelia ließ ihre Unterlippe leicht erzittern. »Sie ist

gestorben. Tante Barbara zahlt nun die Lagerrechnung.«

»Barbara«, wiederholte der junge Mann.
»Barbara Morris.«
»Das stimmt«, sagte Doug. Allmählich schien es ihm zu dämmern.

»Ich erinnere mich.«

»Wusste ich's doch!«, sagte Cordelia. Sie trat langsam an den

Schreibtisch und setzte sich auf die Kante. »Aber es gibt ein kleines
Problem.«

Er richtete sich auf, als erfordere die Lösung dieses Problems einen

sehr starken, männlichen Mann mit militärischer Haltung. »Was für ein
Problem?«, fragte er.

Cordelia sprach mit piepsiger und hilfloser Stimme, die sogar ihr selbst

auf die Nerven ging. Erstaunlich, dass Jungs auf solche Tricks
hereinfielen! »Tante Barbara kann offenbar den Schlüssel nicht finden.
Sie ist irgendwie ... Sie wissen schon – blond. Wir haben das ganze Haus
auf den Kopf gestellt, aber der Schlüssel ist nirgends aufgetaucht.«

»Das ist kein Problem«, sagte Doug. »Sie braucht nur mit ihrem

Ausweis hier vorbeizukommen. Dann lassen wir den Lagerraum
aufbrechen, und sie kann ein neues Schloss dranmachen.«

»Das ist ja großartig«, rief Cordelia enthusiastisch. »Außer, ähm ...

dass es noch ein Problem gibt.«

»Was denn noch?«
»Na ja, sie ist in New York. Für einen Monat. Und jetzt braucht sie

etwas aus dem Lager. Ich soll es ihr per Kurier schicken, sobald ich es
habe. Deshalb habe ich ja auch nach ihrem Schlüssel gesucht.«

»Nur die Person, deren Name im Mietvertrag steht, darf in das Lager«,

sagte Doug ganz offiziell.

»Ich weiß, Doug, natürlich! Und wenn es nicht ein absolut dringender

Notfall wäre, würde ich nicht einmal fragen. Ich will ja nicht, dass Sie
Schwierigkeiten mit ihrem Boss

kriegen. Wie ich bereits am Telefon

sagte: Das ist eine Entscheidung für die Geschäftsführung.«

»Aber wenn Sie den Schlüssel nicht haben, kann ich wirklich nicht viel

für Sie tun. Ich kann einen Schlüsseldienst rufen, aber der berechnet
Ihnen um diese Uhrzeit ein Vermögen!«

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»Ich kann ohnehin nicht so lange warten«, seufzte Cordelia. »Gibt es

denn keine andere Möglichkeit?«

»Also, wir könnten das Vorhängeschloss knacken. Wir haben einen

Bolzenschneider. Aber dann müssten Sie es durch ein neues ersetzen.«

»Sie haben doch hier bestimmt ein paar Ersatzschlösser«, fragte

Cordelia hoffnungsvoll.

Er zog eine Schublade auf. »Ja, hier sind ein paar«, sagte er und holte

ein dickes Messingschloss heraus, in dem ein Schlüssel steckte.

»Sie sind ein wahrer Held!«, sagte Cordelia.
»Wissen Sie denn die Lagernummer?«, fragte Doug.
»Nein, die hat mir Tante Barbara nicht gesagt, und Sie haben auch

nicht danach gefragt, als wir miteinander telefoniert haben. Die können
Sie doch nachsehen, oder?«

»Sicher, kein Thema«, entgegnete er und gab etwas in den Computer

ein. »Vierzehn-zwölf«, sagte er nach einer Weile.

»Können Sie mir nicht zeigen, wo das ist?«, bat Cordelia.
Doug erhob sich vom Schreibtisch, ging zu einem mausgrauen

Stahlspind und öffnete ihn. Er nahm einen großen Profi-Bolzenschneider
mit roten Griffen heraus. »Den werden wir brauchen«, verkündete er.

»Es ist doch in Ordnung, wenn Sie Ihren Schreibtisch für ein paar

Minuten verlassen?«, fragte Cordelia mit vor Besorgnis triefender
Stimme. »Ich möchte auf gar keinen Fall, dass Sie Schwierigkeiten
bekommen.«

»Ich darf nicht lange wegbleiben, aber ein paar Minuten sind schon in

Ordnung«, sagte Doug. »Nachts kommt sowieso niemand hierher.« Er
sah sie kurz an. »Na ja, kaum jemand.«

»Ist wohl meine Glücksnacht heute«, sagte Cordelia. Deine

Glücksnacht, dachte sie.

»Ja«, pflichtete ihr Doug bei und führte sie aus dem Büro. Die

Lagerräume waren in großen Gebäuden mit kahlen Fassaden
untergebracht, zwischen denen Gassen hindurchführten, die gerade breit
genug für zwei Autos waren. Nackte Glühbirnen hoch oben an den
Mauern beleuchteten das Gelände.

Doug ging mit Cordelia zu Gebäude Nummer vierzehn, dem dritten

Lager hinter dem Büro. Lagerraum zwölf lag in der Mitte des Blocks und
war mit einem Wellblechtor auf Rollen verschlossen, das wie eine
Garageneinfahrt wirkte.

»Ein Zahlenschloss«, sagte er, nachdem er sich das Schloss angesehen

hatte. »Hat ja gar keinen Schlüssel!«

»Na, kein Wunder, dass sie nicht wusste, wo der Schlüssel ist«,

bemerkte Cordelia kichernd. »Wie ich sagte: blond.«

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»Glauben Sie, Sie könnten Ihre Tante anrufen und die Kombination

erfragen?«

»Das ist unmöglich! In New York ist es doch schon drei Stunden

später als bei uns. Sie würde ausflippen, wenn sie erfährt, dass die
Sachen noch nicht zu ihr unterwegs sind.«

»Okay«, sagte Doug, »war ja nur 'ne Frage.«
Er packte den U-förmigen Bügel des Vorhängeschlosses mit dem

Bolzenschneider. Wieder schüttelte er sich die Haare aus den Augen, sah
Cordelia an und lächelte. Als er die große Zange zusammendrückte, ließ
er seine starken Armmuskeln mehr spielen, als unbedingt erforderlich
gewesen wäre, und Cordelia bewunderte wieder, wie gut

e

r gebaut war.

Das Schloss ging mit einem Knacken auf.
»Schon passiert!«, sagte er. »Jetzt können Sie rein.«
»Vielen Dank, Doug«, sagte Cordelia und fasste ihn an der Schulter.

»Ich weiß nicht, was ich ohne Sie getan hätte.«

»Kein Problem«, sagte er und reichte ihr das neue Schloss. »Machen

Sie das dran, wenn Sie wieder rauskommen.«

»Ja, das mache ich«, sagte Cordelia. »Ganz bestimmt mache ich das.«

Plötzlich wurde sie nervös. Der Plan, den sie sich zurechtgelegt hatte,
reichte genau bis zu diesem Punkt. Was sie in dem Lager erwartete, hatte
sie sich nicht überlegt.

Eine Leiche? Ein abgetrennter Schädel? Kisten mit staubigen alten

Papieren, von denen sie Niesanfälle bekommen würde? Ungeziefer?

»Ich gehe jetzt besser wieder ins Büro«, sagte Doug.
»Okay«, meinte Cordelia und strich ihm mit dem Finger über den

Arm. »Ich komme noch bei Ihnen vorbei, bevor ich gehe.«

»Super!«
Cordelia wartete noch einen Augenblick. Als Doug außer Sichtweite

war, nahm sie das aufgebrochene Schloss von dem Riegel, holte tief Luft
und schob das Rolltor hoch.

Doug ging widerstrebend zum Büro zurück. »Was für eine scharfe
Braut!«, dachte er. Gern wäre er noch bei ihr geblieben. Er hätte ihr
helfen können, Kisten hin und her zu tragen, bis sie gefunden hatte,
wonach sie suchte. Vielleicht hätte sie ihn auch noch einmal angefasst.

Aber wenn das Telefon klingelte oder jemand auftauchte und er saß

nicht an seinem Schreibtisch, dann bekäme er morgen etwas zu hören.
»Rund um die Uhr heißt rund um die Uhr«, pflegte sein Boss immer zu
sagen.
Den Manfreds hatte das Lagerhaus schon gehört, seit es im Bauboom der
Nachkriegsjahre errichtet worden war, und Owenn Manfred, der Enkel

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des ersten Besitzers, nahm alles peinlich genau. Der Mann hatte in
seinem ganzen Leben noch nichts anderes getan als das Familienun-
ternehmen zu führen – und bestimmt auch noch nie an etwas anderes
gedacht.

So etwas war, wie Doug erkannt hatte, der Flexibilität nicht besonders

zuträglich. Regeln waren für Owenn eben Regeln und dazu da, fraglos
befolgt zu werden. Ausnahmen gab es nicht. Aber Doug hatte
Ausnahmen gemacht, seit das Mädchen ins Büro gekommen war, und er
wusste, er würde es jederzeit wieder tun.

Er hatte nicht vor, ewig im Lagergeschäft zu bleiben. Eigentlich war er

Sportler, und er verstand sich darauf, Kleintransporter aufzumotzen. Er
würde es zu etwas bringen.

Als er am Schreibtisch ankam, nahm er die Zeitschrift zur Hand, in der

er gelesen hatte, und schlug den Artikel über die nachträgliche Montage
von Seilwinden auf, den er schon zur Hälfte gelesen hatte. Er überlegte
nämlich, eine derartige Winde auf seinen Frontier zu montieren.

Doug sah den Mann nicht, der in der Ecke lauerte.
Der Mann bewegte sich schnell und leise und zog einen schwarzen

ledernen Totschläger aus der Tasche, während er sich von hinten an den
jungen Mann heranschlich. Doug war so in seine Zeitschrift vertieft, dass
er sich erst umdrehte, als der Stock bereits durch die Luft pfiff. Als er am
Kopf getroffen wurde, stöhnte er laut auf und fiel vornüber auf seine
Auto-Zeitschrift.

Mike Slade prüfte den Puls des jungen Mannes an der Halsschlagader.

Er würde sich schon wieder aufrappeln. Natürlich wachte er bestimmt
mit Kopfschmerzen und einer hübschen Beule auf. Aber ihm würde
nichts Ernstes fehlen, und er hatte auf jeden Fall eine Geschichte zu
erzählen.

Aber wer auch immer in Mike Slades Vergangenheit herumwühlte,

sollte nicht so glimpflich davonkommen.










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16



»Ist wohl keine Überraschung«, dachte Cordelia, »dass ein Haufen
Krempel, der vor Jahrzehnten eingelagert wurde, verstaubt und voller
Spinnweben ist und so riecht wie der Spind des Mädchens, mit dem
niemand reden wollte, weil seine Mutter es zwang, Schuhe mit dicken
Sohlen und merkwürdige Sweater zu tragen, und das nie mit den anderen
gemeinsam unter die Dusche ging.«

Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als den Lagerraum so schnell wie

möglich wieder verlassen zu können.

Leider kam das nicht in Frage. Schließlich war sie mitten in der Nacht

in das Lager gefahren, hatte Doug umgarnt, was eigentlich gar nicht so
schwer gewesen war, und hatte sich Zugang zu dem Lagerraum
verschafft, weil sie prüfen wollte, ob sich unter Mike Slades
persönlichen Hinterlassenschaften eine heiße Spur finden ließ.

Eigentlich, so dachte sie, würde es ja Spaß machen, wie Nancy Drew

herumzuspionieren – wenn es am Ort der Ermittlungen nur besser
riechen würde. Und die Arbeitszeiten könnten besser sein!

Da sie nicht den Rest der Nacht in diesem Lager verbringen wollte,

machte sie sich an die Arbeit.

Das Lager war zwei Stockwerke hoch, und in die zweite Etage, die

Ähnlichkeiten mit einer Galerie hatte, führte eine einfache Holztreppe.
Unten waren, bedeckt mit Laken und Spinnweben, alle Möbel
eingelagert, die wohl aus Slades Büro und Wohnung stammten. Es gab
ein paar alte braune Holzschreibtische, einige Lampen, ein Doppelbett,
dessen Matratze mit einer vergilbten, ausgefransten Schnur an das
Gestell gebunden war. Aktenschränke, ebenfalls aus Holz, befanden sich
an der hinteren Wand. In einer Ecke waren ein Sofa, zwei Sessel und ein
nierenförmiger Kaffeetisch angeordnet – Möbel, die, vermutete Cordelia,
in Slades Wohnzimmer gestanden haben konnten. Motten zerfressene
weiße Laken bedeckten alles. Niemand hatte seit Jahrzehnten in diesen
Sesseln gesessen! Die Lagergebühr wurde zwar regelmäßig von »Tante
Barbara« bezahlt, aber es kam niemand hierher.

Cordelia stieg einige Stufen auf der Treppe nach oben und warf einen

Blick auf die zweite Etage. Hier schienen nur große Kartons gelagert zu
sein, die in wackeligen Stapeln aufgereiht waren. Wahrscheinlich seine

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persönlichen Sachen – Kleider, Geschirr und so weiter. Als Slade
verschwand, hatte wohl niemand gewusst, ob er je noch einmal
wiederkommen würde, und so war alles in Kisten gepackt und
eingelagert worden. Hätte es eine Leiche gegeben, wäre der ganze
Krempel bestimmt verramscht worden. Aber so war alles noch da, mehr
oder weniger unberührt, wenn man einmal von den diversen Insekten
absah, die sich überall zu schaffen machten.

Cordelia beschloss, mit den Aktenschränken anzufangen. Im

günstigsten Fall hatte Slade die Unterlagen hübsch in alphabetischer
Reihenfolge abgelegt, und sie konnte einfach die Schublade mit M
aufziehen, die Akte von Betty McCoy herausnehmen, und schon war sie
fertig.

Aber die Schränke waren leer.
Cordelia zog jede einzelne Schublade auf.
Nichts.
Veronica Chatsworth – oder wer auch immer – war bei der Räumung

des Büros sehr gründlich vorgegangen.

Rasch sah Cordelia in den Schubladen der Schreibtische nach.
Wieder nichts.
Also mussten sich die Akten in den Kisten in der oberen Etage

befinden. Rasch kletterte Cordelia hinauf. Oben war es, so schien es ihr,
mindestens zehn Grad wärmer als unten. Außerdem eng und stickig.

Es roch auch anders; nicht muffig, sondern nach trockenem und

verstaubtem altem Karton. Die meisten Kisten hatten ungefähr die
gleiche Größe und Form, vermutlich stammten sie von einer
Umzugsfirma.

Braune Pappkartons.
Ohne Beschriftung.
Cordelia griff in ihre Handtasche und holte den Autoschlüssel heraus.

Sie hatte zwar kein Messer dabei, aber der Schlüssel war scharfkantig
genug, um damit die alten, spröden Seile zu zerschneiden, mit denen die
Kisten verschnürt waren. Sie fing auf der rechten Seite an, riss den ersten
Karton auf und schlug die Deckelklappen zurück. Socken: weiße,
schwarze, puderblaue, braune, ein Paar karierte, die nun wieder modern
waren. Und Unterwäsche. Slade war ein Boxershorts-Typ. Nicht
wirklich ein Hinweis, aber trotzdem speicherte Cordelia die Information
ab. Sie verschloss den Deckel wieder, hob die Kiste vom Stapel und
öffnete die nächste: Hemden. Und zwar solche, für die man in einem
Second-Hand-Laden auf dem Melrose Place ein Vermögen bekommen
würde.

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Nicht, dass sie je auf die Idee käme, die Klamotten eines Toten zu

verkaufen!

Cordelia machte weiter.
Im nächsten Karton war noch mehr Bekleidung. Viele braune Hosen,

ordentlich zusammengefaltet.

Es schien wirklich System hinter der Anordnung der Kartons zu

stecken, und so beschloss Cordelia, nicht weiter in diesem Stapel zu
suchen. Leider ließ sich nicht von außen beurteilen, was in den Kartons
steckte – sie musste sie alle öffnen, um es herauszufinden. Für den Fall,
dass der Bürokram am anderen Ende des Raumes gelagert wurde, separat
von den Sachen aus Slades Wohnung, wählte Cordelia den von ihr am
weitesten entfernten Stapel und machte sich daran, die oberste Kiste zu
öffnen.

Töpfe und Pfannen eines Junggesellen. Jemand hatte sie zwar vor dem

Einpacken geschrubbt, aber sie waren rostig und die Kupferböden
schwarz angelaufen.

»Igitt!«, rief Cordelia und klappte schnell den Deckel zu
Sie setzte die sehr schwere Kiste auf dem Boden ab und öffnete die

nächste. Darin befand sich ein wahrhaftig abscheuliches Geschirr in
Orange, Gelb und Weiß. Auch diese Kiste stellte Cordelia zur Seite.

»Da Kleider, dort Geschirr«, dachte sie. »Gibt es hier überhaupt

Büroakten?«

Irgendwo mussten sie sein, denn einige der Möbelstücke in der unteren

Etage stammten definitiv aus einem Büro. Und alle waren leer. Also
befanden sich die Akten entweder hier oben oder...

Oder sie waren irgendwo anders. In Veronicas Garage vielleicht?
Sie konnten überall sein. Schließlich hatten sie fast vierzig Jahre Zeit

gehabt, um sich auf der ganzen Welt auszubreiten. Oder um vernichtet
zu werden.

Cordelia wählte nach dem Zufallsprinzip einen anderen Stapel aus und

öffnete die oberste Kiste. Zuerst stieß sie auf einen kleinen Karton voller
Kugelschreiber und Bleistifte. Darunter lag feste braune Pappe.

Aktendeckel.
Cordelia stellte die Schachtel mit den Stiften zur Seite.
Die Aktenmappen waren gebündelt und verschnürt mit demselben

alten Seil wie die Kisten. Cordelia sah die Inhaltsetiketten durch. Darauf
standen in sauberer, weiblicher Handschrift Familiennamen, die Cordelia
allesamt nichts sagten. Offenbar hatte sie das Bündel mit den Namen von
A bis D in der Hand. Vermutlich Klientenakten, aber da dieser Stoß sie
nicht weiterbrachte, setzte sie ihn ungeöffnet ab und nahm das nächste
Bündel.

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Darin fand sie nur den Buchstaben I. Und damit war der Karton auch

schon leer. Sie warf ihn zur Seite und stürzte sich auf den nächsten.

Bingo!
Das zweite Bündel in dieser Kiste enthielt die Namen mit M. Cordelia

riss das Seil herunter.

»McCoy, Betty« stand auf dem vierten Ordner von unten.
Cordelia öffnete ihn.
Er war leer.
»Legen Sie das weg, Schwester!«, befahl plötzlich eine

Männerstimme.

Cordelia sah auf. Da stand er, oben an der Treppe! Sein Anzug war alt

und zerknautscht, das Hemd fleckig und die Krawatte hing ihm lose um
den Hals. Er trug einen breitkrempigen Filzhut und sah ganz so aus, als
träfe man ihn kaum je ohne diese Kopfbedeckung. Er musste größer als
einsachtzig sein, hatte ein energisches Kinn, einen kräftigen Nacken und
breite Schultern. Seinen Mund hatte er zu einer dünnen, grimmigen Linie
zusammengepresst. Seine Augen waren blassblau, ruhten unter schweren
Lidern und waren von Falten umgeben. Bohrend starrte er sie an.

In seiner Hand hielt er eine große Pistole.
Cordelia legte den leeren Ordner zur Seite. »Sicher. Ich meine, da ist

sowieso nichts drin. Er ist leer, also warum nicht? Ähm, Mister Slade,
wie ich vermute?« Sie setzte ihr strahlendstes Lächeln auf.

Das er nicht erwiderte.
»Was machen Sie hier, Puppe?«, fragte er.
»Ich suche nach ... Also, das sollten Sie doch selbst wissen! Sie sind ja

schließlich Detektiv! Ich habe nach Hinweisen gesucht.«

Er stieß ein Schnauben aus, das Cordelia als Lachen interpretierte.

»Hinweise? Auf was?«

Cordelia war schon Vampiren begegnet und Dämonen und Monstern,

damals mit den Scoobs in Sunnydale, mit Angel und Doyle und auch
allein. Aber dieser Kerl, der sie so durchdringend anstarrte, war etwas
anderes. Er sah zwar menschlich aus und klang auch menschlich, aber
sie hatte allen Grund zu glauben, dass es sich bei ihm eher um eine Art
Geist oder Zombie handelte. Andererseits konnte er gut und gerne
einfach ein Verrückter sein. Jemand, der in die Rolle des lange
verstorbenen Privatdetektivs geschlüpft war.

Was auch immer er war – mit der Pistole in der Hand machte er ihr

Angst.

»Hinweise auf Sie, denke ich. Wenn Sie tatsächlich Mike Slade sind.

Wir haben nach Ihnen gesucht.«

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»Sie haben mich gefunden«, entgegnete er. Er sprach in knappen

abgehackten Worten. »Und jetzt?«

Ȁhm, tja, da haben Sie mich erwischt. So weit voraus habe ich nicht

geplant, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. So bin ich eben: Ich lasse
mich zu sehr von meinen spontanen Regungen leiten. Ich denke einfach
nicht nach, bevor ich losrenne, Sie wissen schon!«

»Und Sie reden zu viel. Zählt das auch zu Ihren Problemen?«
»Das wird noch schlimmer, wenn ich nervös bin«, entgegnete sie und

nickte. »Wenn ich Angst habe, fange ich einfach an zu ... nun,
vermutlich würden Sie es plappern nennen. Ja, Plappern ist wohl das
richtige Wort. Man könnte sogar sagen, ich plätschere wie ein Bach.«

»Ich verstehe«, sagte Slade nur. »Und jetzt können Sie damit

aufhören.«

»Aufhören, einfach so? Glauben Sie, das kann ich?«
Er vollführte eine Bewegung mit der Pistole, als wolle er sie erinnern,

dass er die Waffe immer noch in der Hand hielt. Cordelia klappte den
Mund zu und tat so, als verschließe sie ihn mit einem Reißverschluss –
das allgemein verständliche Zeichen für »Ich halte jetzt die Klappe«.

»Ihr seid also hinter mir her? Und Sie wollen mir wohl nicht verraten

warum? Steckt ihr mit Wechsler unter einer Decke?«

Cordelia zuckte mit den Schultern und sah ihn mit großen Augen an.
»Was ist?«, fragte Slade verärgert.
Cordelia zeigte auf ihren Mund.
»Sie dürfen reden«, knurrte er, »aber bleiben Sie bei der Sache!«
»Oh«, machte Cordelia. »Okay, Also gut. Ähm, ich habe keine

Ahnung, wer Wechsler ist.«

»Ehrlich?«
»Ganz ehrlich! Ich meine, es ist möglich, dass Angel den Namen

schon einmal erwähnt hat. Er kommt mir irgendwie bekannt vor, nun, da
sie ihn nennen. Aber ich könnte nicht sagen woher. Klingt wie einer
dieser Namen, die wie viele andere Namen klingen, wissen Sie? Wie
Dexter zum Beispiel. Oder Hexler. Oder auch Shecky.«

»Mir gefallen Sie besser, wenn Sie nicht reden«, bemerkte Slade.
»Nun, Sie haben ja gefragt! Jedenfalls kann ich ja gar nicht mit ihm

unter einer Decke stecken, da ich ihn nicht einmal kenne. Und jetzt ist
mir der Name sogar schon wieder entfallen. Haben Sie Jeckle oder
Heckle gesagt?«

»Wechsler. Harold Wechsler.«
»Nein, kenne ich nicht!«
»Und wer ist dieser Angel, den Sie erwähnten?«

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»Oh, er... er ist sozusagen mein Partner. Oder mein Boss. Eher mein

Boss, glaube ich. Sie würden ihn mögen. Er ist auch Privatdetektiv,
genau wie Sie. Falls Sie wirklich Slade sind, denn das haben Sie mir
immer noch nicht verraten!«

»Ich bin Slade.«
»Na, dann hätten wir das ja auch geklärt. Und ich bin Cordelia.

Cordelia Chase von Angel Investigations.« Sie streckte ihre Hand aus. Er
sah sie an, bewegte sich aber keinen Zentimeter und zielte weiter mit der
Pistole auf sie. Nach einem Augenblick ließ Cordelia verlegen die Hand
wieder sinken.

»Er ist also ein Schnüffler, hm?«, fragte Slade. »Warum steckt er seine

Nase in meine Angelegenheiten? Für wen schnüffelt er denn?«

»Wie Sie sicher wissen, müssen wir die Namen unserer Klienten

streng vertraulich behandeln und ...«

»Und wie Sie sicher wissen, ist das hier eine Pistole, und die feuert

Kugeln ab. Besonders, wenn ich zum Narren gehalten werde oder man
meine Fragen nicht beantwortet.«

»Sehen Sie, wenn Angel mal so energisch wäre, hätte er bestimmt

mehr Erfolg. Besonders beim Eintreiben der Honorare. Ich kann mir
nicht vorstellen, dass Sie für Klienten arbeiten, die nicht zahlen können
oder wollen, Mister Slade.«

»Nicht sehr lange«, entgegnete Slade. »Und auch nur einmal.«
»Das habe ich mir gedacht.«
»Aber Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet, Puppe. Für wen

arbeitet dieser Angel?«

»Das ist wirklich schwer zu erklären, wenn man die ganzen

Hintergründe nicht kennt«, sagte Cordelia. Sie spürte, dass sie kurz
davor war, einem weiteren Redeflash zum Opfer zu fallen. Die Pistole
machte sie nervös und der Kerl, der sie hielt, versetzte sie in Angst und
Schrecken. »Aber ich vermute, kurz gesagt, die Antwort lautet: für Betty
McCoy.«

Slade machte einen Schritt auf sie zu und hob die Hand, als wolle er

sie schlagen. Er beherrschte sich, blickte sie aber finster und wütend an.
»Seien Sie ehrlich!«

»Das bin ich. Alles, was wir haben, ist ihr Name.«
»Betty McCoy ist seit Jahrzehnten tot!«
»Ja, das wissen wir bereits.«
»Wie kann sie dann seine Klientin sein?«
»Wie ich bereits sagte, das ist eine lange Geschichte.«
»Mir geht allmählich die Geduld aus, Puppe«, drohte Slade. Seiner

Stimme nach zu urteilen, hatte er sie bereits seit langem verloren.

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»Cordelia heiße ich«, rief sie ihm in Erinnerung. »Und unser dritter

Partner – Doyle ist sein Name – der bekommt Visionen. Von den
Mächten der Ewigkeit. In der Regel bekommt er einen Namen oder eine
Adresse genannt oder sieht ein Gesicht, eine bestimmte Situation. Er
sieht jemanden, der Hilfe braucht. Und Angel versucht dann, diesem
Menschen zu helfen. Aber in dieser Vision erhielt Doyle nur den Namen
und die Adresse. Der Name war Betty McCoy, und die Adresse ist der
Friedhof. Da haben wir uns natürlich schon gedacht, dass sie tot ist.«

»Begnadete Detektive!«
»Hey, tödlicher Sarkasmus ist hier wirklich nicht gefragt! Wir leben

nämlich noch«, gab Cordelia zurück. »Na ja, wenn man von Angel
einmal absieht.«

»Angel ist tot?«
»Sehen Sie, ich sagte doch, es ist eine lange Geschichte. Wenn ich sie

nicht auf meine Art erzählen darf, sollten wir vielleicht zu einem anderen
Zeitpunkt darauf zurückkommen.«

»Ist ja auch egal«, bellte er. »Was für einen Ordner hatten Sie in der

Hand, als ich hereinkam?«

»Den mit M wie Betty McCoy«, antwortete Cordelia.
»Und er ist leer?«
»Total«, entgegnete sie. Sie hob ihn mit zwei Fingern hoch und ließ

ihn aufklappen. »Sie haben doch schon lange genug da gestanden, um zu
beobachten, wie ich ihn fand. Dann wissen Sie auch, dass ich nichts
herausgenommen habe.«

»Das stimmt. Haben Sie nicht«, pflichtete ihr Slade bei. »Wo sind also

die Unterlagen Ihrer Meinung nach? Als ich diesen Aktendeckel zum
letzten Mal sah, waren die Papiere nämlich noch drin.«

»Und wann war das?«
Slade schnippte mit den Fingern. »Das ist es! Wechsler! Nachdem er

mich erschossen hat. Er muss die Akten haben!«

»Dann sind Sie also tot?«
»Natürlich bin ich das«, sagte Slade ungeduldig. »Was glauben Sie

denn?«

»Nun, ich nahm es an, aber ich war nicht sicher.«
»Klingt ja, als verbrächten Sie eine Menge Zeit mit toten Kerlen.«
»Da sagen Sie etwas! Vielleicht habe ich deshalb so viele Probleme

mit meinem Privatleben.«

»Wenn ich rauskriege, dass Sie doch für Wechsler arbeiten, Schwester,

dann wird Ihr Privatleben noch Ihre kleinste Sorge sein!«

»Wie mir scheint, hören Sie nicht besonders gut zu. Ich kenne

Wechsler nicht. Es gibt niemanden mit diesem Namen, den ich kenne.

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Keine Menschenseele.«

»Aber Sie kennen Wechsler, nicht wahr, Slade?«, fragte plötzlich eine

andere Stimme.

Eine Stimme, die Cordelia bekannt vorkam.
Angel!
»Sie haben heute Nacht versucht, ihn zu töten«, versetzte Angel. »Und

Sie haben auf mich geschossen!«

Er war auf das Geländer der Galerie gesprungen, da er die knarrende

Holztreppe hatte umgehen wollen. Slade wirbelte herum und richtete
seine Knarre auf Angel, der ihm als Vampir entgegentrat.

»Das werde ich auch noch mal tun, Dämon!«, sagte Slade.
»Ich bin schon tot.«
Slade wandte sich von Angel ab und richtete die Waffe auf Cordelia.

»Das mag sein«, sagte er. »Aber sie ist es bestimmt nicht.«

Cordelia blickte in den Lauf der gefährlichen Waffe. Darin war es so

schwarz wie im Grab. »Ähm, Angel? Ich glaube, er meint das ernst.«

»Das glaube ich auch«, zischte Angel. Und sprang.
In diesem Augenblick feuerte Slade.























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17



Angel stürzte sich auf Cordelia und riss sie zu Boden.

Sie hörte, wie über ihr die Kugel durch die Luft pfiff – auf der Höhe,

wo ihr Kopf gewesen war, bevor Angel sie mit der Schulter gerammt
und ihr ein paar Rippen gebrochen hatte. Mit den blauen Flecken, die sie
bekommen würde, konnte sie sich knappe Tops für die nächsten Wochen
abschminken!

Angel landete auf ihr und sein Gesicht - mit der vorgewölbten Stirn,

den hellen Augen und den langen spitzen Zähnen – war nur Zentimeter
von ihrem entfernt. »Der hat auch schon mal besser ausgesehen«, dachte
sie.

»Bleib am Boden!«, zischte Angel ihr zu.
Im nächsten Augenblick war sie bereits wieder von seinem Gewicht

befreit, und er machte einen Riesensatz auf Slade zu. Ein weiterer Schuss
hallte durch den Raum, und Cordelia hörte, wie beim Einschlag der
Kugel die Dachsparren splitterten.

Sie blieb am Boden.


Angel stürzte sich auf Slade. Der Kerl mochte zwar tot sein – offenbar
war er es tatsächlich – hatte sich aber bei ihrer ersten Begegnung als
recht handfest erwiesen. Seine Kugel ebenfalls, auch wenn Angel sie
nicht mehr in seinem Fleisch spürte.

Er war Slade noch etwas schuldig.
Mit Schwung rannte er in ihn hinein und trieb ihn rückwärts in einen

Kistenstapel. Der Stapel brach zusammen, und Slade landete mit großem
Getöse zwischen den Kartons. Er gab einen weiteren Schuss ab, der
wieder ins Leere ging, und versuchte, sich hochzustemmen. Angel ließ
ihn fast auf die Beine kommen, bevor er ihm aus der Drehung heraus
einen Tritt verpasste. Sein Fuß landete im Solarplexus des
Privatdetektivs. Der Mann klappte zusammen, und die Pistole flog ihm
aus der Hand. Als Angel ihm mit dem anderen Fuß einen Tritt gegen das
Kinn verpasste, ging der Privatdetektiv erneut zu Boden.

Aber genauso schnell war er auch wieder auf den Beinen. Viele andere

Männer – sterbliche Männer – hätte Angel mit seinen kräftigen Tritten

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erledigt gehabt. An diesem Kerl jedoch schienen sie abzuprallen. Immer
wieder kam er hoch.

Dann war er also tatsächlich tot, wie Angel angenommen hatte.
Das Problem war nur: Wie bekämpfte man ihn? Pfählen funktionierte

bei ihm wahrscheinlich nicht.

Deshalb beschloss Angel, so lange weiter auf ihn einzudreschen, bis er

Erfolge verbuchen konnte.

Aber er hatte nicht mit der Schnelligkeit des Privatdetektivs gerechnet.
Er kam rasch auf die Beine und warf sich auf Angel. Er hämmerte mit

den Fäusten in seinen Leib und landete einen vernichtenden Schlag nach
dem anderen. Angel gelang es schließlich, Slade bei den Schultern zu
packen und von sich wegzuschubsen, aber da hatte er bereits einiges
einstecken müssen.

Nun waren sie beide angeschlagen.
Slade kam wieder auf ihn zu. Seine Fäuste wirbelten durch die Luft,

und einmal traf er Angel direkt unter dem linken Auge. Angel sah einen
roten Blitz und spürte, wie die Haut aufplatzte.

Er schlug zurück und traf Slade mit einer Hand am Ohr. Der

strauchelte, und Angel nutzte das aus, um gnadenlos auf in einzuprügeln.

Slade fühlte sich zwar an, als sei er aus Fleisch und Blut, aber Angel

hatte nicht das Gefühl, ihm wirklich Schaden zuzufügen. Slade schien
der Angriff nicht viel auszumachen. Er ächzte zwar, und ihm schien ab
und zu die Puste auszugehen, aber nicht lange. Nach kurzer Zeit meldete
er sich stets wieder zurück.

Angel konnte sich nicht erinnern, je einen so harten Kampf erlebt zu

haben.

Er gab alles. Er versuchte es mit Karate, Kung Fu und den guten alten

Straßenkampftechniken – mit allen Tricks aus über zweihundert Jahren,
in denen er sich rund um den Globus geprügelt hatte.

An Slade ging all das spurlos vorüber, und er teilte weiter aus.
Je mehr Treffer er landete, desto mehr befürchtete Angel, dass er nun

doch jemandem begegnet war, den er nicht besiegen konnte. Und das
war kein schönes Gefühl.

Slade nahm seine Fäuste zusammen und holte aus. Angel bekam nicht

schnell genug die Hände nach oben, um ihn abzublocken, und kassierte
einen donnernden Schlag ans Kinn.

Er ging zu Boden.


»Läuft nicht gut für ihn, was?« Cordelia wirbelte herum. Eine Frau sah
von der Treppe zu ihr hinüber. Sie war schlank und sportlich und hatte

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glänzendes braunes Haar, das zu einem Pferdeschwanz gebunden war.
Sie trug T-Shirt und Jeans und eine dunkelblaue Windjacke.

»Machen Sie sich keine Sorgen um ihn«, entgegnete Cordelia. »Er

kann ganz gut auf sich aufpassen.«

»Mag sein«, sagte die Frau. »Allerdings sieht es von hier nicht danach

aus.«

»Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind und was Sie hier wollen, aber

das ist eine Privatangelegenheit«, sagte Cordelia. »Sie sollten sich besser
ihre Ansichten unter den Arm klemmen und nach jemandem suchen, der
sich dafür interessiert.«

»Ich habe dasselbe Recht, mich in diesem Lager aufzuhalten, wie jeder

andere«, sagte die Frau. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ich
diejenige bin, die für die Miete aufkommt!«

Cordelia sah sie mit großen Augen an.
»Oh, mein Gott«, rief sie. »Sie sind Tante Barbara?«
»Was?«, fragte die Frau.
»Egal«, entgegnete Cordelia rasch. »Sie sind Barbara Morris?«
»Das ist richtig«, antwortete Barbara. »Woher kennen Sie meinen

Namen? Wer sind Sie? Und wer ist das da?«

»Immer eins nach dem anderen!«,bat Cordelia. »Ich rede zwar sehr

schnell, aber alles auf einmal geht nun wirklich nicht. Und abgesehen
davon beobachte ich den Kampf.«

»Warum? Sehen Sie gern zu, wenn Ihrem Freund der Kopf abgerissen

wird?«

»Er ist nicht mein Freund«, entgegnete Cordelia.
»Ich sehe auch warum«, sagte Barbara. »Scheint ja ganz gut gebaut zu

sein, aber diese Verunstaltungen im Gesicht verderben alles.«

»Zu Ihrer Information«, entgegnete Cordelia patzig, »er ist ein ... Ach,

ist auch egal, was er ist. Warum interessiert Sie das überhaupt? Sind Sie
mit dem anderen Kerl zusammen?«

»Natürlich nicht!«, gab Barbara zurück. »Vom Alter her könnte er glatt

mein Großvater sein!«

»Sieht gar nicht so aus.«
»Das ist, weil...«
»Stimmt ja, er ist eine Leiche.«
»Das wissen Sie?«
»Halten Sie mich etwa für blöd, oder was?«, fragte Cordelia. »Das war

übrigens eine rhetorische Frage, also denken Sie nicht mal dran, sie zu
beantworten! Und jetzt fällt es mir auch wieder ein. Ihre Mutter hat für
Slade gearbeitet, nicht wahr? War sie in ihn verknallt? Wissen Sie, ich
glaube, die hatten was miteinander!«

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»Kann schon sein, aber das war lange, bevor ich geboren wurde«,

sagte Barbara. »Woher wissen Sie das alles?«

»Ich habe ein wenig recherchiert«, antwortete Cordelia und

beobachtete, wie Angel Slade mit ein paar Schwingern bearbeitete. Slade
ächzte zwar, ging aber nicht zu Boden.

»Über mich oder über ihn?«, fragte Barbara. »Und was ist mit diesem

Typen los? Er sieht nicht aus wie ein Mensch, wenn Sie mich fragen.
Diese Zähne ...«

»Okay, er ist ein Vampir. In Ordnung?«, meinte Cordelia. Barbara sah

sie mit weit aufgerissenen Augen an. »Ach, tun Sie doch nicht so!«,
ereiferte sich Cordelia. »Als hätten Sie nicht selbst mit einem toten Kerl
zu tun.«

»Das haben wir wohl gemeinsam«, sagte Barbara. »Tote Kerle.«
»Ältere tote Kerle, wenn man es genau nimmt«, bemerkte Cordelia.
»Aber Sie sind nicht mit ihm ...«
Cordelia zog eine Grimasse. »Natürlich nicht! Ich meine, er ist schon

ein scharfer Typ. Aber trotzdem nicht.«

»Ich verstehe, was Sie meinen«, pflichtete Barbara ihr bei.


Angel hob eine Kiste über seinen Kopf und schleuderte sie auf Slade. Da
sie höchstens fünfzehn Kilo wog, konnte er kaum etwas mit ihr
ausrichten, aber ihm gingen allmählich die Ideen aus.

Slade trat ein paar Schritte zurück. Angel täuschte eine Rechte an, und

als Slade seine Hände hochnahm, um ihn abzuwehren, versuchte es
Angel mit einem linken Haken. Slade wich wieder zurück. Angel ließ
eine Kombination folgen – links, links, rechts – und dann zwei rechte
Haken in schneller Folge. Slade zog sich weiter zurück.

Solange der Mann nicht ahnte, was Angel im Schilde führte, konnte er

ihn vielleicht doch noch erledigen.

Er griff weiter an und drängte Slade Schritt für Schritt zurück,

Zentimeter um Zentimeter. Ohne Unterlass trommelte er mit den Fäusten
auf ihn ein. Mit jedem Schlag kam er seinem Ziel näher.

Schließlich hatte er es erreicht.
Slade war nur noch Zentimeter von dem Geländer entfernt, mit dem

die Galerie gesichert war. Es bestand aus fünf Zentimeter breiten Latten,
die an etwas dickere Pfosten genagelt waren. Es sah nicht besonders
stabil aus, und darauf zählte Angel.

Obwohl absolut erschöpft, verdoppelte er seine Anstrengungen noch

einmal und deckte Slade mit Schlägen ein. Der Privatdetektiv trat einen
weiteren Schritt zurück und stand nun mit dem Rücken am Geländer.

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Angel sprang in die Luft, hielt sich mit beiden Händen an einem

Dachsparren fest und trat mit den Füßen aus.

Slade brach durch das Geländer und stürzte in die Tiefe.
Mit einem lauten Krachen schlug er am Boden auf.


»Ich sagte ja, er kann auf sich aufpassen«, bemerkte Cordelia.

»Wohl wahr. Vorher sah es allerdings so aus, als wäre er der

Verlierer«, sagte Barbara leichthin.

»Machen Sie sich denn keine Sorgen um Slade?«
»Warum sollte ich? Er ist ja schon tot. Ihm kann doch gar nichts mehr

passieren.«

»Gutes Argument!« Wäre er ein Vampir, könnte man ihn pfählen, aber

diesen Gedanken wollte Cordelia lieber nicht laut äußern, denn sonst gab
sie Slade vielleicht einen heißen Tipp für den Kampf. Ob Angel im
umgekehrten Fall etwas tun konnte, um Slade ein für alle Mal
auszuschalten, wusste sie nämlich nicht.

»Was ist eigentlich mit Slade los?«, fragte Cordelia. Sie hatte das

Bedürfnis zu helfen, aber Angel konnte auf sich selbst aufpassen, und sie
wäre ihm nur im Weg. Abgesehen davon musste sie, falls Barbara sich
einschaltete ... Nun, dann würde sie sich etwas einfallen lassen. »Er wirkt
so unkontrolliert in seiner Wut.«

»Das hat wohl damit zu tun, dass er ermordet wurde«, sagte Barbara.

»Ich kenne ihn noch nicht so lange, aber wie mir scheint, macht ihm
diese alte Geschichte sehr zu schaffen.«

»Das kann ich nachvollziehen.«
»Er nimmt an, dass er nun zurückgekehrt ist, weil er den Fall beenden

muss. Den Fall, an dem er arbeitete, als er getötet wurde.«

Plötzlich ging Cordelia ein Licht auf. »Betty McCoy war seine

Klientin?«

»Richtig«, antwortete Barbara.
»Jetzt verstehe ich«, sagte Cordelia. »Angel!«, rief sie. »Wir müssen

reden.« .

»Gleich!«, rief Angel.
Ein völlig zerknautschter und verstaubter Mike Slade kletterte mit

schweren Schritten die Treppe hinauf.

Cordelia ließ nicht locker. »Nein, ich glaube sofort!«
»Cordy...«, setzte Angel an.
»Slade ist auf unserer Seite, Angel! Er arbeitet für Betty McCoy!«
»Das stimmt«, bemerkte Slade. »Und was ist mit Betty?«
»Okay, reden wir!«, sagte Angel.

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Ein paar Minuten später saßen sie unten auf Sofa und Sesseln um den
altmodischen nierenförmigen Kaffeetisch. Sie hatten die Laken von den
Möbeln genommen und sie in eine Ecke geworfen. Mike Slade erzählte
aufgeregt und lebhaft gestikulierend seine Geschichte. Schließlich hatte
er zum ersten Mal seit vierzig Jahren – auch wenn die Zeit für ihn im Nu
verstrichen war – eine richtige Zuhörerschaft.

»Ich wurde von dieser Lady engagiert, von Betty McCoy«, erzählte er.

In der Erinnerung sah er sie, wie sie ihre Augen mit einem Taschentuch
abtupfte und ihr kesses kleines Naschen kraus zog. »Ein süßes junges
Ding. Sie hatte kurzes dunkles Haar, eine Art Bubikopffrisur und einen
sehr langen Hals, wie Audrey Hepburn. Und sie steckte in großen
Schwierigkeiten, wie sie sagte. Sie saß da im Gästesessel in meinem
Büro und weinte.«

»Warum war sie gekommen?«
»Sie sei ausgeraubt worden, erzählte sie mir anfangs«, antwortete

Slade. »Hinterher stellte sich heraus, dass die Geschichte noch um
einiges komplizierter war. Hal Wechsler sei der Täter gewesen, sagte sie.
Ich fragte, warum sie das so genau wisse. Und da fing sie an zu weinen.
Ich gab ihr ein Taschentuch und ein paar Minuten, um sich zu beruhigen,
und fing noch mal von vorne an. ›Erzählen Sie es mir von Anfang an,
meine Liebe‹, sagte ich. ›Und lassen Sie nichts aus. Nichts, was Sie
sagen, kann mich überraschen. ‹ - Und damit lag ich ganz schön falsch!«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Cordelia.
»Ich dachte, ich hätte schon alles gesehen«, erklärte Slade. »Aber die

Geschichte, die sie mir erzählte, erschütterte mich bis ins Mark. Ich hatte
offenbar in einer Traumwelt gelebt. Ich vermute, ihr Leute wisst alles
darüber, aber ich hatte damals keine Ahnung.

Allerdings erzählte sie mir zunächst wieder nur Bruchstücke des

Ganzen, obwohl ich sie gebeten hatte, mir alles zu sagen. Wie sie
berichtete, hatte sie Wechsler in dieser Bar kennen gelernt, wo sie als
Zigarettenverkäuferin arbeitete.«

»In der Rialto Lounge«, bemerkte Angel.
»Das ist richtig«, sagte Slade überrascht. »Sie beherrschen das

Detektivspiel recht gut, nicht wahr?«

»Ich schlage mich ganz tapfer«, entgegnete Angel.
»Sie arbeitete im Rialto, und er besuchte das Lokal häufig. Damals war

Wechsler nur ein kleiner Fisch, aber er gab viel Kohle aus und spendierte
hohe Trinkgelder. Er erzählte ihr, er sei ein Ganove auf dem Weg nach
oben. Er hatte diesen schmierigen Charme, und sie war jung und
offenbar dumm genug, um ihn interessant zu finden. Also fingen sie an,

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samstags Nachmittag auf ein paar Drinks auszugehen, und bevor sie
sichs versah, war er auch schon bei ihr eingezogen.

Sie bezahlte die gesamte Miete und kaufte die Lebensmittel. Er war die

ganze Zeit unterwegs und wickelte seine krummen Geschäfte ab. Wie er
ihr versicherte, war er kurz davor, den großen Wurf zu landen, der sie
beide auf die Sonnenseite des Lebens brächte. Details erfuhr sie nicht
von ihm, selbst wenn er mehrere Tage unterwegs war. Sie fragte auch
nicht danach. Und dann machte er sie drogenabhängig.«

»Netter Freund«, bemerkte Cordelia.
»Ja. Er sagte, sie sei zu verkrampft. Er redete ihr ein, mit dem Stoff

könne sie sich gut entspannen und fühle sich besser. Wie immer wickelte
er sie um den kleinen Finger und sie ließ sich darauf ein. Schon bald
brauchte sie das Zeug, sobald sie morgens wach wurde, außerdem jeden
Abend vor dem Zubettgehen und ein paar Mal während des Tags.«

»Was für eine Droge war das?«, fragte Barbara.
»Er nannte es Flux«, entgegnete Slade. »Unter einem anderen Namen

kannte sie es nicht. Er hatte ihr erzählt, er habe das Mittel selbst
erfunden. Sie stellte keine Fragen. Die Droge gab ihr ein so gutes
Gefühl, dass sie nichts weiter wissen wollte. Sie war verträumt und
friedlich. Und entspannt. Schließlich hat er sie ausgeraubt.«

»Was hat er denn mitgenommen?«, fragte Angel. »Ich kann mir nicht

vorstellen, dass sie viel besaß.«

»Zunächst war das wirklich merkwürdig«, sagte Slade. »Ihr gehörte

eine Stereoanlage, ein Fernseher, und sie hatte ein bisschen Geld gespart.
All das hat er nicht angerührt. Wechsler stahl Betty etwas, das ihr die
Großmutter hinterlassen hatte – Bettys Mutter war sehr früh verstorben.
Persönliche Dinge, wie sie sagte. Ich wollte es genau wissen. Schließlich
erzählte sie mir, dabei handele es sich um einen kleinen Korb voller
Dinge. In dem Korb befanden sich ein paar Kerzen, ein Weihrauchgefäß
mit etwas Weihrauch, ein Dolch und eine Schriftrolle. Am wichtigsten
war Betty die Schriftrolle. Denn sie war sehr alt und schön und hatte
ihrer Großmutter viel bedeutet. Den Grund dafür wusste Betty allerdings
nicht.

Also habe ich angefangen, hinter Wechsler herzuspionieren. Habe in

seiner Vergangenheit herumgestöbert und Leute gesucht, die ihn
kannten. Sie wissen ja, wie das geht.«

Angel nickte.
»Aber alles, was ich herausfand, machte den Fall nur noch seltsamer«,

fuhr Slade fort. »Die Leute, die Wechsler kannte, waren einfach nicht in
Ordnung. Je tiefer ich grub, umso seltsamer wurde es. Ich fand heraus,
dass Wechsler nicht einmal ein Mensch war – und Sie müssen verstehen,

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dass ich das kaum glauben konnte. Aber ein paar von seinen Kumpanen
haben mir eines Tages einen Besuch abgestattet. Als ich sah, dass sie
Hörner und Hufe und Schwänze hatten, begann mir zu dämmern, worauf
ich mich eingelassen hatte.

Ich ging wieder zu Betty, und sie bat mich, das Ganze einfach zu

vergessen und mit meinen Ermittlungen aufzuhören. Aber dafür war es
schon zu spät. Schließlich gestand sie mir, dass auch sie ein Dämon sei
wie Wechsler und viele andere ihrer Freunde. Ich verlangte einen Beweis
dafür, aber den konnte sie nicht erbringen. Denn seit sie das Flux
benutzte, war sie nicht mehr im Stande, ihre menschliche Tarnung
abzulegen. Wie sich herausstellte, hatte Wechsler schon viele Dämonen
von dem Zeug abhängig gemacht, und sie alle blieben in ihrer mensch-
lichen Gestalt gefangen. Ihr dämonisches Wesen wurde schwächer und
schwächer, und sie lebten wie richtige Menschen. Einige von ihnen
wollten das ohnehin, aber die meisten hätten doch weiterhin gern die
Möglichkeit zur Verwandlung gehabt.

Sie brauchten immer häufiger ihre Dosis Flux und bald brachte es sie

um. Sie starben.«

Slade schluckte. Er hatte Betty in seinem Apartment wohnen lassen,

damit sie eine Entziehungskur machen konnte. Veronica war gekommen,
um ihr beizustehen. Sie verbrachten eine schreckliche Woche, in der
Betty abwechselnd krank, wütend, traurig oder ängstlich war. Nach
dieser Woche sah es jedoch so aus, als habe sie das Schlimmste
überstanden.

Am Ende dieser Horrorwoche wünschte sich Slade nichts sehnlicher,

als Wechsler den Hals umzudrehen.

»Betty wurde wieder clean«, sagte er. »Da ich das mit dem

Dämonenkram bereits wusste, erzählte sie mir mehr von ihrer
Großmutter. Die alte Dame schien eine mächtige Zauberin gewesen zu
sein. Die Sachen in dem Korb, den sie Betty vermacht hatte, gehörten zu
ihrer Ausrüstung. Auf der Schriftrolle war eine Art Ritual beschrieben.
Ein sehr gefährliches, wie sie sagte. Betty hatte nicht genau gewusst,
wozu es gut war, Wechsler hingegen schon, sonst wäre er nicht so scharf
darauf gewesen, sie in seine Hände zu bekommen.

Je mehr ich erfuhr, umso dringlicher erschien es mir, Wechsler zu

stoppen. Er hatte die Droge in der ganzen Dämonengesellschaft
verbreitet, die viel größer war als die Menschen für möglich gehalten
hätten. Das Mittel hatte auf alle Dämonen dieselbe Wirkung – es unter-
drückte ihre eigentliche Natur, sie waren gezwungen, als Menschen zu
leben, und schließlich starben sie. Hunderte Dämonen waren abhängig.

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Sie konnten nicht davon loskommen, denn durch das Zeug fühlten sie
sich so gut, dass ihnen die negativen Auswirkungen egal waren.«

»So ist es wohl mit den meisten Drogen, nicht wahr?«, bemerkte

Cordelia. »Wenn die Leute begreifen würden, was das Zeug wirklich mit
ihnen macht, würden sie erst gar nicht damit anfangen.«

»Das ist wohl wahr«, entgegnete Slade. »Zuerst kannte ich die Droge

ja nur aus Bettys Schilderungen, aber dann lernte ich viele andere
Dämonen kennen. Dieses Flux war das reinste Gift, wenn Sie mich
fragen. Wechsler hat reihenweise Leute damit umgebracht, ob sie nun
ursprünglich Dämonen waren oder nicht.«

»Und wie ging es weiter?«, fragte Cordelia.
Slade holte tief Luft. »Dann hat Wechsler auch mich umgebracht.«





























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»Wechsler ist derjenige, der Sie auf dem Gewissen hat?«, fragte Angel
erstaunt.

»Das ist richtig«, entgegnete Slade. »Er hatte sich mit zweien seiner

Handlanger in meinem Büro versteckt und verpasste mir eine, als ich
hereinkam. Ich hatte nicht einmal die Gelegenheit, meine Waffe zu
ziehen. Bang, bang, bang! Einfach so erschossen. Dann haben sie mich
in meinem eigenen Wandschrank eingemauert, während Wechsler eine
Art Zauberbann sprach, um mich dort festzusetzen. Er wusste nicht, wie
weit meine Kontakte zu den Dämonen reichten, und befürchtete wohl,
dass ich für den Fall meines Todes Vorkehrungen getroffen hätte, um
wiederbelebt zu werden.

Um die Wahrheit zu sagen: Mir war das nicht einmal in den Sinn

gekommen. Ich wusste doch gar nicht, dass diese Möglichkeit bestand.
Aber als mein Büro abgerissen wurde, wurde ich wohl ganz automatisch
wiederbelebt. Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber ich denke, ich
kam zurück ins Leben, weil ich Wechsler so unbedingt kriegen wollte.
Nicht nur wegen Betty und auch nicht, weil er mich getötet hatte. Er hat
einfach schon viel zu viel auf dem Gewissen. Und nun halten ihn die
Leute für total okay, und er hat einen guten Job bei der Stadt. Er muss
gestoppt werden.«

»Sie wissen, dass Betty 1964 starb?«, fragte Angel sanft. Er wollte

Slade keinen Kummer bereiten, aber der Mann hatte das Recht, es zu
erfahren.

»Das habe ich angenommen«, sagte Slade. Er wirkte entmutigt. »Es ist

zu lange her. Ich hoffe, sie ist friedlich gegangen.«

»Soweit wir wissen ja«, entgegnete Cordelia. Sie wollte Slade nicht

erzählen, dass Betty wieder angefangen hatte, Drogen zu nehmen, denn
das würde ihn nur schmerzen. »Allerdings hat ihre Seele, wie ich
vermute, noch keine Ruhe gefunden. Sonst hätte unser Freund Doyle ja
nicht diese Vision von ihr gehabt. Als Sie von dem Bann freikamen, hat
Betty dies offenbar auf irgendeine Weise bemerkt. Denn sie wusste, dass
Sie zurückkommen, um ihr Frieden zu schenken.«

»Das versuche ich«, sagte Slade. »Seit ich wieder zurück bin, mache

ich Jagd auf Wechsler.« Er sah Angel scharf an. »Wenn Sie nicht

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aufgekreuzt wären, hätte ich ihn vielleicht schon erwischt.«

»Es waren zu viele Polizisten dort«, widersprach Angel. »Ich wollte

nicht, dass jemand von ihnen verletzt wird. Oder Sie selbst. Oder
Wechsler. Allerdings mache ich mir nach allem, was ich jetzt erfahren
habe, nicht mehr so große Sorgen um ihn.«

»Kommen Sie mir nächstes Mal nicht wieder in die Quere, wenn ich

ihn vor der Flinte habe!«, forderte Slade.

»Wissen Sie, auch etwas anderes ergibt nun Sinn«, sagte Angel. »Kate

Lockley – das ist eine Polizistin, die ich kenne – hat mir erzählt, dass am
Tag des Leichenfunds jemand versuchte, in das Gebäude zu kommen.
Dieser Jemand arbeitet offenbar für Wechsler.«

»Der wollte vielleicht eine Bannformel sprechen, irgendwas, um mich

weiter in Schach zu halten.«

»Das denke ich auch«, pflichtete Angel Slade bei.
»Wenn Wechsler weiß, dass ich zurück bin, ist er bestimmt mächtig

beunruhigt«, sagte Slade.

»Was glauben Sie? War er von jeher darauf aus, sich eine Position in

der Politik zu verschaffen - mit Geld und Macht? Ist das sein Ziel?«

»Klingt für mich einleuchtend«, warf Cordelia ein.
»Ich weiß nicht«, meinte Slade. »Das kann noch nicht alles gewesen

sein. Er hat Hunderte seiner eigenen Leute abhängig gemacht und
getötet. Warum sollte er so etwas tun, wenn er nur auf Geld und Macht
aus war? Da gibt es doch einfachere Methoden!«

»Auf was war er dann aus?«, wunderte sich Angel.
»Das habe ich leider nie herausgefunden. Vermutlich war ich dicht

dran, sonst hätte er mich nicht umgebracht.«

»Gutes Argument«, schaltete sich Barbara ein. »Sie müssen ihn sehr

beunruhigt haben.«

»Das denke ich auch«, entgegnete Slade.
»Wenn wir nur wüssten, was auf der Schriftrolle von Bettys

Großmutter stand«, sagte Angel. »Haben Sie die denn wiederbeschaffen
können?«

Slade erhob sich von seinem Sessel. »Die echte nicht«, sagte er. Er

ging zu einem der leeren Aktenschränke, zog eine Schublade aus ihrem
Fach und drehte sie um. Unter dem Boden war mit Klebeband ein
zusammengefaltetes Stück Papier befestigt. Er riss es ab und brachte es
an den Tisch.

»Betty hat eine Kopie gemacht«, fuhr er fort. »Sie kannte zwar nicht

den wahren Nutzen der Schriftrolle, aber dass sie wertvoll und sehr
kunstvoll war, wusste sie. Sie wollte die Kopie an die Wand hängen und

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das Original irgendwo an einem sicheren Ort unterbringen. Irgendwann
ließ ich mir die Kopie von ihr geben. Hier ist sie!«

Angel nahm das vergilbte Papier in die Hand und betrachtete es.

»Melechianisch«, sagte er. »So sieht es wenigstens aus. Ich muss es
genauer betrachten ...«

»Hey! Sie da!«

Doyle fuhr erschrocken herum. Das Licht einer Taschenlampe

blendete ihn.

Erwischt!
»Was machen Sie hier?«, fragte der Mann, der die Taschenlampe in

der Hand hielt.

Doyle schirmte seine Augen mit den Händen vor dem grellen Licht ab.

Ein Wächter, der Uniform trug, kam mit klimpernden Schlüsseln auf ihn
zu. Um die zwanzig Kilo Übergewicht und um die zwanzig Jahre älter
als er selbst, schätzte Doyle.

Aber am Gürtel des Wächters befand sich ein Pistolenhalfter, und der

Mann griff danach.

»Hey, hören Sie«, sagte Doyle beschwichtigend. »Ich habe nur den

teuren Verschiedenen meine Aufwartung gemacht.«

»Der Friedhof ist jetzt geschlossen«, antwortete der Wächter.
»Onkel Bob hat das Tageslicht nie besonders gemocht«, erklärte

Doyle. »Er hat immer nachts gearbeitet und tagsüber geschlafen. Er
hasste die Sonne. Es schien mir einfach nicht passend, ihn tagsüber zu
besuchen. Da würde ich ihn ja wecken!«

»Sie sind mutwillig außerhalb der Öffnungszeiten hier eingedrungen«,

sagte der Wächter. »Wenn Sie ins Gefängnis wandern, müssen Sie sich
über die Sonne eine Weile keine Gedanken machen. Ist es das, was Sie
wollen?«

Doyle wich mit erhobenen Händen zurück. Er bemühte sich, einen

unschuldigen Eindruck zu erwecken. »Nein, nein, keineswegs! Ich
persönlich, ich liebe die Sonne. Den Strand, wissen Sie, Kabrio fahren,
all das. Das bin ich! Am liebsten wäre ich noch brauner als George
Hamilton. Das Problem ist nur, ich werde nicht braun, ich bleibe immer
blass. Aber ansonsten bin ich ein wahrer Sonnenanbeter. Nur Onkel John
hasste die Sonne.«

»Ich dachte, Onkel Bob«,bemerkte der Wächter und zog seinen

Revolver.

»Beide, Bob und John«, versuchte Doyle sich herauszureden.

»Zwillinge. Sie haben beide in der Fabrik immer Nachtschicht
gearbeitet. Witzig, finden Sie nicht?«

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»Ich finde, Sie Spaßvogel sollten sich jetzt mal ganz zügig

entscheiden. Ich habe Sie beobachtet und glaube, außer sich hier
herumzutreiben haben Sie nichts angestellt. Deshalb können sie jetzt
abhauen. Sie können aber auch da stehenbleiben und weiter rumblödeln
und dann rufe ich die Cops und lasse sie wegen Vandalismus,
Landstreicherei und unbefugtem Betreten verhaften und wegen einer
Menge anderer Delikte, die ich mir noch ausdenke, während wir auf die
Polizei warten.«

Doyle musste nicht zweimal überlegen. Wenn er im Knast landete, half

das Angel bei seinen Nachforschungen über Betty McCoy nur wenig. Er
wollte seinen Posten nur ungern verlassen, aber es sah nicht so aus, als
ließe ihm der Mann die Möglichkeit, weiter auf dem Friedhof
herumzustreunen. »Wissen Sie was? Von den beiden Möglichkeiten
gefällt mir die erste am besten. Ich möchte doch lieber sofort
verschwinden.«

»Leider habe ich da ein Problem: Ich ändere sehr schnell meine

Meinung«, drohte der Wächter. »Ich zähle jetzt bis zwanzig. Wenn Sie
bis dahin nicht draußen vor dem Tor sind, könnte ich es mir noch mal
anders überlegen.«

»Ich verschwinde ja schon«, versicherte ihm Doyle.»Ich bin schon

weg, Sie sehen mich hier nie wieder.«

An den Gräberreihen entlang rannte er zum Haupttor und blieb erst

stehen, als er draußen war. Nervös spähte er zurück und sah, dass der
Wächter, der gerade seine Pistole zurück ins Halfter schob, ihn immer
noch beobachtete.

Er musste Angel rasch informieren, dass er erwischt worden war.


»Ich spreche zwar nicht fließend Melechianisch«, sagte Angel, »aber ich
kann ein bisschen was erraten.«

»So geht mir das mit Spanisch«, sagte Cordelia. »Ich kann eine

Quesadilla bestellen, aber wenn es komplizierter wird, bin ich ziemlich
hilflos.«

»Ein bisschen komplizierter als eine Speisekarte ist das hier schon«,

meinte Angel. »Und wohl auch ein wenig gefährlicher, wenn ich es
richtig deute.«

»Was steht auf der Schriftrolle?«, fragte Slade.
»Wenn ich es richtig interpretiere ... Sie sagten doch, der Kerl ist der

Leiter des Amts für Wasser- und Energieversorgung?«

»Das stimmt«, antwortete Barbara. »Erst seit ungefähr einer Woche.«
»Dann könnte es Probleme geben«, erklärte Angel. »Ich glaube, wir

wissen jetzt, was Wechsler schon die ganze Zeit im Schilde führte.«

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»Was meinen Sie?«, fragte Slade.
»Wasser«, antwortete Angel nur. »Wir müssen uns beeilen!« Und

schon lief er zur Tür. Die anderen erhoben sich rasch und folgten ihm. Er
trat durch das Rolltor in die enge Gasse, die nun mehrere Autos
verstellten.

»Wir nehmen meinen Wagen«, sagte Angel.
»Er sitzt gern selbst am Steuer«, erklärte Cordelia Barbara und Slade.

»Ist so'n Männerding.«

Die beiden Frauen kletterten hinten in den Plymouth Belvedere, und

Slade sah den Wagen bewundernd an, bevor er auf den Beifahrersitz
rutschte. »Ein Plymouth, Mann! Sie sind ein Glückspilz! Das Beste, was
Detroit zu bieten hat. Da vorn steht meiner!« Er zeigte auf den Fury.

»Ein Klassiker«, sagte Angel lässig und sah gar nicht richtig hin.
»Das können Sie laut sagen«, entgegnete Slade. »Aber dieser hier ist

auch schön. Nicht so viel Chrom, aber sonst gar nicht schlecht.«

»Wir müssen an einen Ort, an dem es viel Wasser gibt«, sagte Angel,

der an Slades Fachsimpelei über Autos kein Interesse hatte. »Dorthin, wo
das Wasser in das städtische Versorgungssystem eingespeist wird.«

»Es gibt eine große Aufbereitungsanlage, in der das Wasser aus der

Stadt gereinigt wird, bevor es wieder in den Trinkwasserkreislauf
gelangt«, erklärte Barbara. »Diese Anlage befindet sich auf der anderen
Seite von West Covina, in den Ausläufern des San Gabriel Gebirges.«

»Da fahren wir hin! Dort muss es sein!«
»Wie sieht's bei Ihnen mit einer Knarre aus?«, fragte Slade Angel.
»Wie bitte?«, entgegnete Angel. Er bog nach links auf die Ventura ab,

um zum Freeway 134 zu gelangen, der über Glendale und Pasadena auf
den 210 führte, Richtung West Covina. Zu dieser nachtschlafenden Zeit
war der Verkehr ausnahmsweise einmal nicht sehr dicht, und die Fahrt
würde nicht allzu lange dauern.

»Eine Knarre, eine Kanone! Ich habe eine 38er Browning. Ein schönes

Stück.«

»Er meint eine Waffe«, übersetzte Barbara.
»Was ist damit?«
»Was haben Sie für eine?«
Angel schüttelte den Kopf. »Gar keine.«
»Und Sie wollen ein Privatdetektiv sein?«
»In dieser Hinsicht wohl nicht.«
»Was tun Sie denn, wenn Sie jemandem eine verplätten müssen?«
»Ich ... ähm ... das kommt nicht so oft vor«, sagte Angel.
Slade schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie Sie ohne Knarre

überhaupt etwas zu Wege bringen. Dann können Sie ja nicht einmal

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einem Kanarienvogel, der sich weigert zu singen, ein paar mit der Pistole
überziehen.«

Angel dachte kurz an seine Waffensammlung – Äxte, Schwerter,

Pfeile und natürlich Holzpflöcke. Schusswaffen waren gegen die Art von
Feinden, mit denen er in der Regel zu tun hatte, nicht besonders hilfreich
und schadeten seiner Erfahrung nach oft mehr als sie nützten.

»Ich habe nicht oft die Gelegenheit, jemandem mit der Pistole ein paar

überzuziehen«, sagte er zu Slade. »Und so toll sind Schusswaffen auch
wieder nicht. Ihre hat gegen mich ja nicht viel ausrichten können, oder?«

»Das hat mich auch gewundert«, räumte Slade ein. »Aber dann wurde

mir klar, dass Sie ein Vampir sind.«

»Verraten Sie mir eines«, sagte Angel. »Wann haben Sie die Waffe

zum letzten Mal nachgeladen?«

Slade griff sich ans Kinn und überlegte. Verdutzt blickte er Angel dann

aus seinen blauen Augen an. »Ich glaube, seit ich zurück ins Leben
gekommen bin, gar nicht.«

»Das dachte ich mir«, sagte Angel. »Es wurden nämlich an den

Tatorten, wo Sie auf Leute geschossen haben – unter anderem auch auf
mich –, weder Kugeln gefunden noch Patronenhülsen. Keine Beweise,
dass wirklich Schüsse mit Munition abgegeben wurden.«

Plötzlich ging Slade ein Licht auf. »Sie wollen sagen, das hier ist eine

Phantom-Pistole?«

»Denken Sie doch mal darüber nach«, meinte Angel. »Sie waren etwa

vierzig Jahre lang tot. Ich sage es nur ungern, aber Ihr Fleisch müsste
verwest sein, Ihre Kleidung zerfallen. Die Pistole müsste verrostet sein.
Und doch waren Sie, wie ich vermute, vollständig bekleidet, als Sie
zurückkehrten und haben diese Kleider nicht in einem Ramschladen auf
dem Hollywood Boulevard gekauft. Sie hatten Geld in der Tasche,
Fleisch auf den Knochen und besaßen eine funktionierende Waffe. Das
mit dem Geld kann ich ja noch verstehen, aber ich glaube nicht, dass die
Pistole unter normalen Umständen noch funktionieren würde. Ich
vermute, es ist eine magische Waffe. Sie ist nicht real und verletzt nur
Leute, die Sie beim Abdrücken sehen und die daran glauben, dass sie
eine Kugel abbekommen werden. Das Denken hat große Macht, Slade.
Es kann dem Körper Krankheiten oder Verletzungen zufügen - und ihn
vielleicht sogar töten, wenn es stark genug ist. Aber es kann keine
kleinen Kugeln aus Blei oder Messing fabrizieren, die als Beweise
zurückbleiben.«

Slade stieß einen langen Pfiff aus. »Ich vermute, Sie haben Recht,

Angel«, sagte er dann ein wenig traurig. »Wenn man es so sieht, bin
wahrscheinlich nicht einmal ich wirklich hier.«

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»Sie sind hier«, sagte Cordelia. »Ihretwegen rennen wir ja alle durch

die Gegend. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie viel lieber ich in
meinem Bett liegen und schlafen würde, als in Ihren alten verstaubten
Akten zu wühlen.«

»Hier und gleichzeitig nicht hier«, verbesserte Slade. »Für wie lange

wohl?«

Barbara klopfte ihm begütigend auf die Schulter. »Wie lange es auch

sein mag, wir machen das Beste daraus«, tröstete sie ihn.

Slade legte seine große Hand auf Barbaras und drückte sie.


Doyle stand vor einem Geschäft gegenüber dem Friedhof. Ab und zu
fuhr ein Auto vorbei, aber ansonsten war die Straße verlassen und ruhig.
Vor dem Geschäft stand eine Telefonzelle. Doyle kramte ein paar
Münzen aus der Hosentasche und steckte sie in den Schlitz. Er wählte
Angels Nummer und hoffte, dass er sein Handy eingeschaltet hatte.

»Ja«, antwortete Angel nach dem zweiten Klingeln.
»Angel!«, rief Doyle atemlos. »Hey, Mann, ich wurde vom Friedhof

gejagt!«

»Vom Friedhof gejagt?«, wiederholte Angel.
»Ja, ich rufe aus einer Telefonzelle an. Der Wächter hat mich erwischt

und rausgeschmissen.«

»Kannst du Bettys Grab von draußen sehen?«
»Nicht wirklich«, entgegnete Doyle. »Es liegt in einer kleinen Mulde.

Man muss dicht davor stehen, damit man es sieht.«

»Dann musst du wieder reingehen!«, sagte Angel. »Ich weiß noch

nicht ganz genau, was hier vorgeht, aber die Sache steigt heute Nacht, da
bin ich ziemlich sicher.«

»Das ist gut, denn ich glaube nicht, dass ich noch so eine Nacht

durchstehe«, entgegnete Doyle. »Auf diesem Friedhof sind nämlich
Dämonen begraben, Angel! Familien, die ich kannte. Und um dir die
Wahrheit zu sagen, war ich gar nicht so unglücklich darüber, dass ich
rausgeworfen wurde.«

»Geh wieder rein!«, wiederholte Angel. »Es dauert doch nur noch ein

paar Stunden, bis die Sonne aufgeht.«

»Verstanden, Angel«, antwortete Doyle. »Bin schon unterwegs!«
Er legte den Hörer in die Gabel.
Bestimmt beobachtete ihn der Wächter noch misstrauisch. Jedenfalls

hätte Doyle das getan, wäre er an seiner Stelle gewesen.

Er musste also eine Möglichkeit finden, wie er den Wächter umgehen

konnte und – durch den Zaun oder darüber – wieder auf den Friedhof
gelangte, ohne entdeckt zu werden. Dann musste er sich so nah wie

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möglich an Bettys Grab schleichen, ein Versteck finden und dort bis zum
Sonnenaufgang ausharren.

Wie er mit einem raschen Blick auf seine Uhr feststellte, vergingen bis

dahin noch über zwei Stunden. Was für eine lange Nacht!

Und sie war noch nicht vorbei.
Er bog in die kleine Straße neben dem Laden ein und ging vom

Friedhofweg. Als er außer Sichtweite des Wächters war, fing er an zu
laufen – um die nächste Ecke und zwei Blocks weiter. Dann kehrte er auf
den Sunset Boulevard zurück. Als er an der Kreuzung ankam, blieb er
vor einem Gebäude stehen, drückte sich flach an die Wand und
beobachtete den Friedhof.

Nichts zu sehen.
Irgendwo auf der anderen Seite des Zauns lauerte der Wächter. Doyle

hatte angenommen, dass er die ganze Nacht in seinem kleinen
Wachhäuschen am Haupteingang verbringen würde. Aber das war
offenbar nicht der Fall. Vielleicht saß er mittlerweile wieder im
Häuschen, aber sicher war das nicht.

Jedenfalls musste Doyle erst einmal die vier Fahrspuren des

Boulevards überqueren. Der Verkehr war nicht das Problem, sondern die
Breite der Straße, wo er keinerlei Deckung hatte. Falls der Wächter
immer noch die Straße beobachtete, würde er ihn natürlich sofort
entdecken.

Aber ihm blieb keine andere Wahl. Also ging Doyle rasch noch einen

Block weiter weg vom Friedhof, bis er die dunkelste Stelle zwischen
zwei Straßenlaternen erreicht hatte.

Nicht wirklich dunkel, aber so dunkel wie es in der Nähe von

Straßenlaternen überhaupt möglich war.

Doyle verließ den Gehsteig und flitzte geduckt – als nutzte das etwas!

– über die Straße. Auf der anderen Seite sprang er über die Kante des
Gehwegs, rannte den Bürgersteig hinauf und drückte sich an den
Friedhofszaun.

Offenbar hatte er Glück gehabt: Weder leuchtete ihm eine

Taschenlampe ins Gesicht, noch schoss jemand auf ihn oder kam mit
dem Schlagstock hinter ihm her. Er drehte sich um und sah den Sunset
Boulevard hinunter. Ein großer alter Lincoln Continental mit widerlich
erbsengrüner Lackierung, in den sich fünf oder sechs Kids quetschten,
kam vorbei. Aber ansonsten war alles ruhig.

Doyle drehte sich wieder zum Friedhof um. Soweit er es beurteilen

konnte, regte sich dort immer noch nichts. »Regelrechte Grabesstille«,
sagte er zu sich, aber das war nur ein halber Witz. Er wusste besser als

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die meisten, dass Gräber keineswegs immer so still waren wie man
gemeinhin annahm.

Den Friedhof noch einmal durch den Haupteingang zu betreten, konnte

Doyle nicht wagen. Das Pförtnerhäuschen stand gleich daneben und der
Wächter hatte das Tor mit Sicherheit im Visier. Das bedeutete, Doyle
musste über den Zaun klettern. Die drei Zentimeter dicken Gitterstäbe,
die im Abstand von fünfzehn Zentimetern angebracht waren, waren oben
und unten mit Querstreben verbunden. Oben auf den Stäben, die zu dicht
nebeneinander standen, als dass Doyle hätte hindurchschlüpfen können,
ragten Speerspitzen in den Himmel.

Er sah kurz über die Straße – niemand in Sicht. Rasch hielt er sich an

zwei Stäben fest, setzte einen Fuß auf die untere Verstrebung und zog
sich hinauf. Gleichzeitig musste er sich mit den Füßen von den Stangen
abstoßen, stellte aber fest, dass es gar nicht so schwierig war. Oben
angekommen, stemmte er sich hoch, setzte einen Fuß auf die obere
Verstrebung und schwang sich auf die andere Seite.

Dann ließ er sich ins Gras fallen und ging bei der Landung in die Knie,

um den Sprung abzufedern. Eine Weile verharrte er regungslos in der
Hocke und befürchtete, gleich die Stimme des Wächters zu hören oder
sogar von einem Kugelhagel empfangen zu werden. Als nichts der-
gleichen geschah, erhob er sich vorsichtig.

Er war zurück auf dem Friedhof – genau da, wo er am wenigsten sein

wollte.

Ganz große Klasse!

















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19



Die Wasseruhr von Los Angeles war längst abgelaufen.

Seit die Stadt existierte, hatte es Probleme mit der Wasserversorgung

gegeben. Los Angeles lag zwar am Pazifik, aber Meerwasser war nun
einmal nicht trinkbar, und Entsalzungsanlagen waren sehr teuer und
technisch unausgereift.

Angesichts der zahlreichen Golfplätze, der unendlichen Meilen von

Häusern mit Rasenflächen und Palmen davor, der Geschäftshäuser und
der Parkplätze der Gebrauchtwagenhändler, auf denen jeden Morgen die
Fahrzeuge mit Wasser abgespritzt und von Smog und Staub gereinigt
wurden, war es kaum zu glauben – aber im Grunde war Los Angeles eine
Wüste.

Deshalb musste die Stadt ihr Wasser kaufen.
Früher hatte man versucht, es zu stehlen. In den zwanziger Jahren

begann man, es aus dem Owens Valley im Herzen Kaliforniens zu holen.
Denn man ging einfach davon aus, dass dort niemand lebte und man es
so auch niemandem wegnahm.

Aber es wohnten Leute im Valley, die versuchten, Landwirtschaft zu

betreiben. Viele Vogelarten, die über die Pazifik-Route im Winter nach
Süden und im Sommer nach Norden zogen, benutzten den Mono Lake
als Rastplatz.

Los Angeles hatte dem See das Wasser abgezapft. Erst vor kurzem

waren die Verantwortlichen gezwungen worden, damit aufzuhören.

Außerdem gab es noch den Colorado River, der auf seinem Weg in

den Golf von Mexiko durch mehrere westliche Staaten floss – genauer
gesagt, früher einmal den Golf erreichte. Weil man sein Wasser ableitete,
verkümmerte der breite Strom zu einem Rinnsal und versiegte dann
endgültig irgendwo in Baja California in Mexiko.

Los Angeles holte sich sein Wasser, wo immer es welches gab. Bei

einer so großen Einwohnerzahl war Wasser kostbarer als Gold.
Durchschnittlich wurden in L.A. täglich 492 Liter Wasser pro Kopf
verbraucht. In dieser Unmenge war das Abspritzen der Autos nicht
einmal eingerechnet.

Das Wasser musste natürlich noch aufbereitet werden, bevor es ins

städtische Versorgungssystem eingespeist wurde. Das Amt für Wasser-

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151

und Energieversorgung betrieb eine hochmoderne
Wasseraufbereitungsanlage in den Ausläufern der San Gabriel
Mountains im Norden der Stadt. Dort gewann man aus schmutzigem
Wasser mithilfe von Filterprozessen sowie der Anreicherung mit Chlor
und Ozon Trinkwasser, das alle Anforderungen des Staates und des
Bundes an Sauberkeit und Qualität erfüllte und sogar übertraf. Diese
Mega-Anlage war in der Lage, über zwei Milliarden Liter Wasser pro
Tag aufzubereiten.

Harold Wechsler stand auf dem Scheitel des Staudamms und ließ seinen
Blick über das Reservoir schweifen. Das Staubecken war fast randvoll
mit Wasser gefüllt, das schon bald die Reinigungsprozedur durchlaufen
und durch ein kompliziertes System von Wasserleitungen und Rohren in
die Stadt gelangen würde. Über den Damm zogen sich eine schmale
Straße und ein Fußweg. Wechsler beugte sich über die niedrige
Stützmauer und schaute den Betonabhang hinunter, der ins Wasser
führte. Am Fuße der Mauer wurde das Wasser in ein ausgeklügeltes
Filtersystem eingespeist. Mit lautem Getöse wirbelte es herum. Ein
Anblick, der dem einer riesigen Waschmaschine glich. Auf dieser Seite
des gewaltigen Beckens roch das Wasser ranzig und schmutzig. Wenn es
die Anlage verließ, war es frisch und rein.

Barry Fetzer hockte neben Wechsler auf dem Fußweg und holte

diverse Utensilien aus einer Sporttasche. »Hier ist die Schriftrolle, Hal«,
rief er und hielt das alte Dokument in die Höhe. Wechsler nahm es ihm
ab, rollte es auseinander und hielt es an den goldenen Stäben fest, die am
oberen und unteren Ende angebracht waren.

Die tausende Jahre alte Rolle bestand aus einem dünnen, lederartigen

gelblichen Material und war mit der Hand beschrieben. Es wurde zwar
behauptet, das Material sei Menschenhaut, aber das glaubte Wechsler
nicht. Denn das hätte man an der Beschaffenheit der Oberfläche erkannt.
Aber es gab verschiedene Dämonenarten, die als »Spender« in Frage
kamen, und von einer dieser Spezies stammte das Leder nach Wechslers
Ansicht ganz gewiss.

Der Text war in etwa ein Zentimeter großen Buchstaben abgefasst. Der

erste war als Initial reich mit Schnörkeln und Ornamenten verziert und
dreimal so groß wie die übrige Schrift. An den Seiten und oben
schmückten weitere Ornamente den alten Bogen. Am Ende des Textes
befand sich eine unheimlich realistische Abbildung eines – nicht
menschlichen – Schädels, aus dem drei Hörner ragten. Durch eine der
Augenhöhlen glitt eine Schlange.

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Für Wechsler war der Schädel mittlerweile ein alter Bekannter. Er

legte die Schriftrolle auf den Boden und ließ seinen Blick noch einmal
über das Wasser schweifen, das schwach im Licht des verblassenden
Mondes glitzerte. Dann sah er zu Fetzer hinüber, der ihn erwartungsvoll
anschaute, und begann, seine menschlichen Kleider auszuziehen.
Während er das tat, verwandelte er sich Stück für Stück in einen Dämon.

Seine Haut wurde dunkler und nahm die Farbe einer Aubergine an.

Ihm wuchs ein dicker Schwanz von fast einem Meter Länge mit einer
Dornenkugel am Ende. Auch seine Finger, zwischen denen sich nun
sehnige Häute bildeten, wuchsen, wurden dicker, spreizten sich und
bekamen lange scharfe Krallen. Seine Brust wölbte sich mächtig vor und
die Schultern wurden breiter je muskulöser der Körper wurde.

Als Mensch war Wechsler weder besonders schwach noch besonders

stark gewesen. Als Dämon jedoch war er stark und gewaltig. Nun besaß
er die Kraft, die ihm in jungen Jahren gefehlt hatte. Es war fantastisch!

Er fuhr sich mit der Hand über seinen von Beulen übersäten Kopf. Ein

massiver Panzer schützte seine Augen und das Gehirn. Er öffnete den
Mund und fuhr mit der Zunge, die einem Greifwerkzeug ähnelte, über
seine beeindruckend spitzen Vampirzähne.

Sogar seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang rau und heiser, als

er auf die Dinge deutete, die Fetzer an der Mauer ausgebreitet hatte, und
fragte: »Ist das alles?«.

»Das ist alles, Hal!«, brüllte Barry über das Getöse des Wassers

hinweg. »Alles, was Sie eingepackt haben.«

Vier unterschiedliche Pulver lagen auf dem Boden, jedes hatte eine

grelle, fast fluoreszierende Farbe: Orange, Magenta, Cyanblau und
Smaragdgrün. Ein Glasgefäß enthielt die Augäpfel von unterschiedlichen
Kreaturen – nicht nur von Wassermolchen wie in den Legenden, obwohl
davon bestimmt auch ein paar dabei waren. Die Augen symbolisierten
im Ritual die Klarheit des Denkens und des Zielbewusstseins. Eine
kleine filigrane Dose umschloss das Herz eines Vogels. Es war sehr
klein, aber es symbolisierte die verwehrte Freiheit und das Gefangensein
– mit anderen Worten die vertane Chance.

Außerdem lag die Schriftrolle zu Wechslers Füßen. Er hatte sie so oft

gelesen, dass sich ihm der Text tief ins Bewusstsein gebrannt hatte. Aber
das spielte keine Rolle, denn wenn es so weit war, musste er die Formeln
ohnehin von der Rolle vorlesen. Es kam nämlich nicht allein auf die
Worte an. Es war der Akt des Vorlesens selbst, der magische Bedeutung
hatte. In der Magie gab es nichts Zufälliges oder Willkürliches. Alles
musste auf die richtige Weise getan werden, sonst hatte es keinen

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Zweck, überhaupt damit anzufangen. Das hatte ihn Jules Lefler gelehrt.
Und die Erfahrung hatte es bestätigt.

Wechsler gestattete sich einen Moment des Nachdenkens, bevor er mit

der Zeremonie begann. Er erinnerte sich an den Weg, der hinter ihm lag.
An die unglückliche Kindheit und Jugend, seine Opfermentalität, die
geringfügigen Verbrechen, die er begangen hatte. Er dachte an die Jahre
auf der Straße, in denen er alles getan hatte, um durchzukommen. Dann
hatte er Leflers Buch entdeckt, und sein Aufstieg zur Macht hatte
begonnen. Er war reicher und reicher geworden. Mit dem Wohlstand
waren auch die richtigen Connections gekommen. Die Macht war wie
ein Samenkorn gekeimt. Sie war rasch größer geworden und hatte sich
fast von allein in hundert verschiedene Richtungen gleichzeitig
ausgebreitet. Hatte er sich einst kein Auto leisten können, wurde er
schließlich in Limousinen durch die Gegend gefahren, die alle ihm
gehörten. Dem jungen Mann, der keine Freundin fand, warfen sich nun
wunderschöne Frauen an den Hals. Der Loser, der von den großen Jungs
an der Ecke nicht ernst genommen worden war, bekam den Topjob im
landesgrößten städtischen Versorgungsbetrieb, denn er hatte dem
Bürgermeister zur Wahl verholfen.

Wechsler hatte – und dass wusste nicht einmal der Bürgermeister –

seinen derzeitigen Job bereits seit den Sechzigern im Auge gehabt. Denn
dieser Job öffnete ihm die richtigen Türen. Wer sonst konnte um vier
Uhr morgens am Tor der wichtigsten Wasseraufbereitungsanlage der
Stadt vorfahren und wurde ohne das kleinste Zögern oder Nachfragen
eingelassen? Wer außer ihm durfte allein auf dem Damm spazieren
gehen, nachdem er seine eigenen Wachen an den Toren postierte hatte,
um nicht gestört zu werden? – Niemand. Selbst dem Präsidenten der
Vereinigten Staaten wäre das nicht möglich gewesen!

Aber der Leiter des Amtes für Wasser- und Energieversorgung konnte

genau dies tun.

Wechsler nahm das alte Schriftstück in die Hände und rollte es auf.
Barry Fetzer kannte seinen Part als Assistent. Wechsler war die Sache

wieder und wieder mit ihm durchgegangen. Wenn Wechsler nickte,
sollte Barry die Dinge ins Wasser schütten.

Wenn Fetzer versagte, landete auch er im Wasser. Und er würde nie

wieder herauskommen.

»Ia! Ia!«, fing Wechsler an. Seine Stimme war zunächst leise, wurde

dann aber immer lauter, während er in Fahrt kam. Zum ersten Mal in
seinem Leben las er diese Passagen laut vor. »Gog sutthok olt slivgen du
brialt!Ia!Ia! Wisler friou kakaroth!«

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Mit einem Nicken wies er auf die bunten Pulver. Barry öffnete das

erste Gefäß und schüttete den cyanblauen Inhalt mit ausgestrecktem Arm
ins Wasser. Der Wind erfasste das Pulver und streute es über das
gesamte Reservoir – eine metallicblaue Spur im Mondlicht, die langsam
im dunklen Wasser versank.

Das Werk war begonnen.


Angel bremste vor dem großen Tor der Wasseraufbereitungsanlage von
San Gabriel. Neben dem Tor stand ein Wärterhäuschen, aber niemand
kam heraus, um die Besucher zu begrüßen. Angel kletterte aus seinem
Plymouth, lief zum Tor und rüttelte daran.

»Abgeschlossen!«
Slade, der ebenfalls ausgestiegen war, zog seine 38er und richtete sie

auf das Tor.

»Das hilft auch nicht«, erklärte ihm Angel. »Es handelt sich eine

elektronische Schließanlage. Da gibt es kein Schloss, das man einfach
kaputtschießen könnte. Und vermutlich glaubt so ein Tor auch nicht an
Ihre Existenz.«

»Das stimmt wahrscheinlich.«
»Ich habe eine echte Waffe, falls das hilft«, rief Barbara.
Angel schüttelte den Kopf, stellte sich in die Mitte der beiden

Torflügel und versuchte, sie auseinander zu stemmen.

Nichts rührte sich.
Er versuchte es noch einmal, mobilisierte all seine Kräfte. Seine Arm-

und Rückenmuskeln schwollen an und spannten sich unter seinem
Hemd. Vor Anstrengung traten die Adern an seinem Hals hervor. Er
stellte sich breitbeinig hin, um einen festen Stand zu haben und drückte
die Torflügel so fest auseinander wie er nur konnte.

Langsam gaben sie nach.
Er drückte weiter. Es ging immer leichter, je mehr die Flügel sich

öffneten. Als erden elektronischen Schließmechanismus erst einmal
überwunden hatte, der sie zusammenhielt, wichen die Torflügel fast von
selbst zur Seite.

Angel lächelte den anderen über die Schulter zu. »Gehen wir!«, sagte

er.

»Ähm, Angel«, bemerkte Cordelia zögernd. »Sind das Freunde von

dir?«

Überrascht wirbelte er herum. Drei Dämonen näherten sich dem Tor.

»Wenigstens haben sie Waffen dabei, mit denen ich mich auskenne!«,
dachte Angel. Der Erste hielt eine riesige Streitaxt mit einer Klinge von
gut einem Meter Länge, die an einem zwei Meter langen Griff befestigt

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war. Der Zweite schwang einen schweren Streitkolben mit zwanzig
Zentimeter langen Dornen, und der Dritte führte ein doppelschneidiges
scharfes Schwert.

Die Dämonen waren über zwei Meter groß und hatten breite Schultern.

Ihre Gesichterwaren weitgehend hinter langen fleischigen Tentakeln
verborgen. Ihre »Bekleidung« bestand aus dunklen Stoffstreifen, die sie
sich wie Lumpen um den Körper gewickelt hatten.

Angel ließ sein vampirisches Wesen zum Vorschein kommen und

machte sich bereit zum Kampf.

Barbara trat aus dem Pförtnerhaus und meldete: »Vor vierzig Minuten

sind laut Dienstbuch Besucher mit Zugangsberechtigung eingetroffen. Es
gab keinen Alarm, also waren sie wohl okay. Außerdem liegen zwei
Wachmänner da drin. Zwei Köpfe jedenfalls. Die anderen Teile habe ich
nicht gezählt.«

Ein echtes Gemetzel!, dachte Angel.
»Igitt«, bemerkte Cordelia. »Aber Sie sind richtig gut!«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Barbara. »Ich meine, wenn ich

reingegangen wäre, hätte ich vor lauter Körperteilen wahrscheinlich gar
nichts anderes mehr gesehen.«

»Sie hat Recht«, sagte Slade. »Sie werden ein guter Cop.

Pferdeschwänzchen!«

Angel verfolgte das Gespräch hinter ihm nicht weiter, denn die

Dämonen kamen näher. Plötzlich trat Slade mit der Browning in der
Hand neben ihn.

»Vielleicht glauben die ja auch nicht an mich«, sagte er. »Aber da wir

nicht wissen, mit welchen Mitteln man eine solche Freakshow in die
Knie zwingt, ist meine Geisterknarre genauso gut wie jede andere
Waffe.«

»Da könnten Sie Recht haben«, sagte Angel. Er registrierte aus den

Augenwinkeln eine Bewegung und sah, wie Barbara mit der Dienstwaffe
im Anschlag vom Pförtnerhäuschen herüberkam.

»Ich bleibe einfach hier hinten und passe auf das Auto auf!«, rief

Cordelia.

»Sehr gut, Cord!«, entgegnete Angel. »Genau da will ich dich haben.«
»Sollen wir losfeuern?«, fragte Barbara.
»Einen Moment noch, vielleicht sind sie ja nur das

Begrüßungskommando«, meinte Slade.

Die Dämonen kamen noch ein paar Schritte näher.
»Jetzt?«, hakte Barbara nach.

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»Jetzt!«, bestätigte Slade. Beide fingen an zu feuern. In der stillen

Bergwelt klangen die Schüsse sehr laut. Der beißende Geruch von
verbranntem Schießpulver stach Angel in die Nase.

Die Kugeln trafen ins Ziel und die Körper der Dämonen zuckten.

Dabei knurrten sie wie Hunde, die ihr Futter verteidigten.

Aber sie gingen nicht zu Boden. Unbeeindruckt rückten sie weiter vor.
»Das habe ich befürchtet«, sagte Angel.
»Zielen wir auf das Gehirn!«, schlug Slade vor. »Falls sie so was

überhaupt haben.«

»Wo es sich bei diesen Kreaturen befindet, ist eine ganz andere Frage.

Theoretisch können sie es auch in den Füßen haben«, erklärte Angel.
»Aber vielleicht wissen Sie ja mehr über den Körperbau von Dämonen
als ich!«

Slade und Barbara ließen sich nicht abhalten und feuerten wieder los.

Erneut hielten die Dämonen kurz inne, um sich von den Schmerzen, die
sie vielleicht empfanden, zu erholen, setzten dann aber ihren Marsch
fort. Sie wogen die Waffen in ihren Händen und begannen dann, sie
langsam in immer größer werdenden Kreisen zu schwingen.

»Darum werde ich mich wohl besser kümmern«, sagte Angel und

schritt den anderen voran.

Normalerweise hätte er sich zuerst den Gegner vorgeknöpft, der am

gefährlichsten aussah, aber in diesem Fall waren alle drei gleichermaßen
furchterregend. Also entschied er sich für den Keulenschwinger, der in
der Mitte ging.

Als Angel ihn angriff, hob der Dämon den Streitkolben und schwang

ihn im hohen Bogen wie einen Baseball-Schläger. Angel duckte sich.
Der Dämon musste wegen des Schwungs, den er genommen hatte, den
Bogen zu Ende führen. Die halbe Sekunde genügte Angel, um ganz nah
an seinen Widersacher heranzukommen. Übelriechender Atem schlug
ihm ins Gesicht. Ein Geruch wie auf einem Fischmarkt, stellte sich
Angel vor, wo seit fünf Jahren die Kühlung nicht mehr funktionierte. Er
ignorierte den Gestank und legte los.

Er verpasste dem Dämon zwei kurze rechte Gerade in den Leib, dann

einen linken Haken mitten ins Gesicht. Einige der Tentakeln wickelten
sich sofort um sein Handgelenk und hielten es fest. Da es Angel nicht
gleich gelang, sich loszureißen, wich er etwas zurück und trat dem
Dämon mit dem rechten Fuß in den Bauch. Dann wechselte er das Bein
und trat mit dem linken noch einmal nach.

Unter diesem Ansturm stolperte der Dämon einen Schritt rückwärts,

und Angel konnte seinen Arm befreien.

»Halten Sie sich von diesen Rankendingern fern!«, rief ihm Slade zu.

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Schlauer Tipp!, dachte Angel.
Als der Dämon sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte, holte er

erneut mit der Keule aus. Angel war immer noch dicht an ihm dran, hatte
aber keinen Schimmer, wie er ihm ernsthaften Schaden zufügen konnte.
Die anderen beiden Dämonen waren an ihm vorbeimarschiert. Aus dem
Augenwinkel sah er, wie der mit dem Schwert Barbara und Slade immer
näher kam.

Er musste der Sache ein rasches Ende bereiten.
Deshalb beschloss er, sich den Dämon mit der Keule vorzunehmen.
Denn über eine Eigenart von Dämonen wusste er Bescheid: Grundlos

führten sie in der Regel keine Waffen bei sich. Dämonen dieser Größe
konnten, wenn sie wollten, einen Menschen zerfetzen wie eine Puppe,
so, wie sie es mit den Wächtern im Pförtnerhaus gemacht hatten. Die
Tatsache, dass sie sich bewaffnet hatten, gab also nicht nur auf ihre
Stärken Hinweise, sondern auch auf ihre Schwächen.

Angel täuschte nach links an und kam dann von rechts um den großen

Dämonen herum, der gerade die Keule über den Kopf gehoben, aber
noch nicht Schwung geholt hatte. Rasch packte Angel ihn bei den
Handgelenken.

Der Dämon verrenkte sich den Hals und sah ihn fragend aus kleinen

schwarzen Augen an.

Mit einer schnellen Bewegung brach ihm Angel beide Handgelenke.
Diesmal stieß der Dämon ein langes Heulen aus – der erste Laut, den

sie von den drei Kreaturen zu hören bekamen. Sein Mund tat sich wie
eine schwarze Höhle zwischen den Tentakeln auf.

Deutlich geschwächt von den Schmerzen ließ er die Keule fallen.
Als Angel den Dämon zur Seite stieß, taumelte er ein paar Schritte

weiter. Angel schnappte sich die Keule, die sich als überraschend schwer
erwies, und schwang sie genau wie der Dämon zuvor von unten nach
oben wie beim Baseball.

Der dornenübersäte Kopf der Keule zerschmetterte die Brust das

Dämons. Wieder schrie er und brach zusammen.

Die anderen beiden Dämonen wandten sich nun von Slade und Barbara

Morris ab und kamen auf Angel zu. Denn sie hatten ihn als die größere
Bedrohung erkannt.

Der eine von links, der andere von rechts.
Eine gute Strategie!
Angel wäre eine schlechte lieber gewesen ...
Der Schwertträger erreichte ihn zuerst. Die scharfe Klinge zischte

durch die Luft, und Angel parierte den Schlag mit der Keule.

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Von der anderen Seite schnellte die Streitaxt auf ihn zu, der er jedoch

geschickt auswich.

Aber so kam er dem Dämon mit dem Schwert näher, der gerade zum

zweiten Streich ausholte.

Angel drehte sich zur Seite, um eine kleinere Angriffsfläche zu bieten,

konnte aber nicht verhindern, dass ihm die scharfe Klinge einen Schnitt
auf der Brust zufügte.

Er biss die Zähne zusammen und schwang die Keule.
Der Dämon parierte mit dem Schwert. Trat einen Schritt zurück.

Täuschte ein, zwei Mal an. Stieß wieder zu.

Als Angel gerade dem Schwert ausgewichen war, wirbelte auch schon

die Streitaxt auf ihn zu.

Er warf die Keule zur Seite und ließ sich flach auf den Boden fallen.

Direkt über ihm stießen die Streitaxt und das Schwert klirrend
zusammen.

Die Klinge zersprang, und es regnete Stahlsplitter. Schützend bedeckte

Angel seinen Kopf mit den Händen.

Der Dämon mit dem Schwert knurrte den anderen wütend an. Sein

Gegenüber reagierte zunächst defensiv und riss die Streitaxt zurück,
streckte dann aber trotzig den Kopf vor.

Offenbar stritten sie miteinander.
Angel angelte nach der Keule und erhob sich wieder.
Der Dämon mit der Streitaxt ruckte mit dem Kinn hin und her,

während er den anderen Dämon angeiferte, dessen Schwert zerbrochen
war.

Angel traf mit der Keule ebendieses Kinn.
Der Kopf des Dämons klappte nach hinten und sein Genick brach.
Ein Blutstrahl schoss in den Nachthimmel.
Angel nahm sich nicht die Zeit, den Dämon fallen zu sehen. Sobald

klar war, dass er ihn erledigt hatte, startete er den Angriff auf den noch
verbleibenden Gegner. Der versuchte zwar, die Keulenschläge mit dem
Klingenstummel zu parieren, der ihm geblieben war, konnte jedoch nicht
mehr viel ausrichten.

Einen Augenblick später atmete Angel tief durch. Drei Leichen lagen

auf der Straße. Er selbst war über und über mit ihrem Blut beschmiert.

Auch mit seinem eigenen, wie ihm nun wieder bewusst wurde. Die

Schnittwunde auf seiner Brust schmerzte. Hoffentlich hatten die
Dämonen nicht mit magischen Waffen gekämpft!

Waren sie nur aus Stahl, dann würden seine Wunden schnell heilen.

Waren sie aus Silber, würde es länger dauern.

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159

Aber wenn es sich um magische Waffen handelte, heilte die Wunde

vielleicht nie und er starb möglicherweise sogar an dieser Verletzung.

Gelang es ihm jedoch nicht, Wechsler zu stoppen, spielte es keine

Rolle mehr, ob er lebte oder starb. Dann war es für alle zu spät.

»Los, laufen wir!«, sagte Angel zu Slade. »Solange ich noch laufen

kann«, fügte er im Geiste hinzu.


































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160


20



Sie rannten den Hügel hinter dem Haupttor hinauf. Für den Fall, dass
ihnen ein Gegner in die Quere kam, den sie tatsächlich erschießen
konnten, hielten Barbara und Slade ihre Waffen im Anschlag. Angel
keuchte mit zusammengebissenen Zähnen und versuchte, die Schmerzen
in seiner Brust zu ignorieren. Cordelia folgte den dreien und hielt die
Armbrust umklammert, die Angel für sie aus dem Kofferraum geholt
hatte.

Oben auf dem Hügel stand ein langgestrecktes, niedriges Gebäude –

das Kontrollzentrum für die ganze Anlage, wie Angel annahm. Die
Straße führte an diesem Gebäude vorbei und schlängelte sich auf der
anderen Seite wieder hinunter. Dort befand sich ein großes
Wasserreservoir, das von oben kaum zu erkennen war – ein dunkler
Fleck vor dunklen Bergen –, aber hier und da glitzerte der Widerschein
des untergehenden Mondes und der letzten Sterne auf der Oberfläche.

Angel wurde klar, dass sich ihm ein weiteres Problem stellte: Bald

ging die Sonne auf. Er musste diese Geschichte rasch zu Ende bringen.
Denn sonst spielte es keine Rolle mehr, ob er verwundet war oder nicht.

Das Wasser wurde hinter einem hohen Damm gestaut und floss auf

seinem Weg in das Aufbereitungssystem durch große Röhren. Hier, auf
dem Gipfel des Hügels, konnten sie es ganz deutlich riechen und hören.
Das Rauschen war nun viel lauter – es klang wie Donnergrollen.

Aber außer dem tosenden Wasser hörte Angel noch etwas anderes.

Und dann sah er sie auch schon auf der Mauer: einen großen dunklen
Dämon und einen Mann. Der Dämon hielt eine Schriftrolle in den
Händen und schrie in einer unverständlichen Sprache etwas über das
Wasser.

Angel nahm an, dass es sich um Melechianisch handelte.
Der Dämon war Wechsler. Er las den Text von Betty McCoys

Schriftrolle ab.

Angel zögerte nicht. So schnell ihn seine Beine trugen, rannte er an

dem Kontrollgebäude vorbei und auf den Damm zu. Die anderen
versuchten, mit ihm Schritt zu halten, aber nur Slade gelang es halbwegs,
ihm zu folgen.

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161

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Cordelia Barbara. »Angel läuft doch
da den Berg runter!«

»Sie können ihm hinterherlaufen, wenn Sie wollen«, sagte Barbara.

»Oder bei mir bleiben. Aber kommen Sie mir nicht in die Quere!«

Sie war vor dem großen Gebäude auf dem Hügel stehengeblieben. An

der Tür hing ein Schild: San Gabriel Wasseraufbereitungsanlage –
Verwaltungsgebäude 102L.
Barbara sah Angel und Slade hinterher, die
rasch verschwanden, und rüttelte an der Tür. Sie war fest verschlossen.

Cordelia traf ihre Entscheidung. »Ich bleibe bei Ihnen«, sagte sie. »Sie

werden meine Hilfe eher brauchen als Angel.«

»Wer weiß?«, entgegnete Barbara und grinste Cordelia an. »Sie haben

doch bestimmt schon gesehen, wie die im Fernsehen immer mit der
Schulter Türen einrennen? Das ist absoluter Quatsch! Wenn man gerade
keinen Rammbock dabei hat, ist es nämlich viel leichter, sich einfach
den Weg freizuschießen.«

Sie hob ihre Dienstwaffe, zielte auf das Schloss der schweren Stahltür

und drückte zweimal ab.

Cordelia klemmte die Armbrust unter den Ellbogen und steckte sich

nach dem ersten lauten Knall die Finger in die Ohren, aber zu spät.

Barbara führte einen gezielten Tritt unterhalb des Schlosses aus, und

die Tür sprang auf.

»Haben Sie das auf der Academy gelernt?«, fragte Cordelia.
Barbara schüttelte den Kopf. »Das habe ich von Mom gelernt«,

entgegnete sie. »Und sie hat es von Mike Slade gelernt, wie sie sagte.«

Die beiden Frauen betraten das Gebäude. Fluoreszierendes Licht fiel

aus den Lampen in der Eingangshalle. Offenbar war niemand dort.

»Was wollen wir eigentlich hier?«, fragte Cordelia.
Ihr gefiel es nicht in diesem Gebäude, ihr gefiel es nicht, von Angel

getrennt zu sein, und ihr gefiel es nicht, dass sie keine Ahnung hatte, was
los war.

»Das werden wir vermutlich erst wissen, wenn wir es sehen«,

entgegnete Barbara. Sie ging durch den Korridor voran und hielt den
Revolver mit beiden Händen, wie es Cordelia aus dem Fernsehen kannte.

Alles hatte Barbaras Mutter anscheinend doch nicht von Mike Slade

übernommen, dachte sie. Slade hielt seine Waffe nämlich immer nur
einhändig. Das war männlicher.

»Fothoris cren bisrilat!«, las Wechsler von der Schriftrolle ab. Auf

sein Zeichen schüttete Barry die toten Augen aus dem Glasgefäß in das
strudelnde und tosende Wasser. Nur die kleine Dose, die das Vogelherz
enthielt, war noch übrig.

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Wechslers Sinne waren hellwach: Er konnte das Wasser riechen, sah

es in seiner Zusammensetzung aus unendlich vielen kleinen Tropfen und
hörte, wie es ihm über das wütende Donnern hinweg zuflüsterte.

Er bemerkte sofort, als jemand die Straße am Ende des Damms betrat.
Er wusste, wer sich ihm näherte.
Slade.
Aber nun konnte er das Ritual nicht mehr abbrechen, denn einmal

angefangen, musste es zu Ende geführt werden. Zudem war er fast am
Schluss des Textes angelangt.

Er las weiter.
»Bobispat snarletz krre greong«, intonierte er.
»Wechsler!«, rief Slade so laut er konnte über das tosende Wasser

hinweg.

»Gog visithoth magog bylend«, fuhr Wechsler unbeirrt fort. »Cuow

shilleptor saffold. Ia! Ia!«

Wechsler nickte Barry erneut zu. Der hatte schon darauf gewartet,

öffnete die kleine Dose und warf das Vogelherz in die dunkle Tiefe.
Sofort war es den Blicken entschwunden.

Es war vollbracht!
Wechsler rollte die alte Schriftrolle wieder zusammen und wandte sich

seinen Besuchern zu.

Slade war nicht allein. Ein großer Mann war bei ihm, der recht kräftig

wirkte, dunkle Kleidung trug und kurzes dunkles Haar hatte. Als dieser
Mann näher kam, musste Wechsler seinen ersten Eindruck korrigieren.
Es handelte sich keineswegs um einen Menschen, sondern um einen
Vampir.

»Das wird ja immer seltsamer«, dachte er.
Ausgerechnet in der wichtigsten Nacht seines Lebens machten ein

Geist und ein Vampir auf ihn Jagd.

Aber sie verschwendeten nur ihre Zeit, und seine dazu.
Wechsler lächelte.
Angel gefiel dieses Lächeln überhaupt nicht.
Es war für seinen Geschmack viel zu selbstgefällig. Geradezu

süffisant. Der ganze Mann missfiel ihm.

Natürlich sah der Wechsler, den sie nun vor sich hatten, ganz anders

aus als der, den sie ein paar Tage zuvor in seinem Haus beobachtet
hatten. Jener Wechsler war ein Mensch gewesen, doch nun stand ein
Dämon vor ihnen – ein Dämon, dessen Haut violettfarben war, der einen
kräftigen Schwanz hatte und hörnerähnliche Beulen auf dem Kopf.
Dennoch waren Wechslers Gesichtszüge zu erkennen.

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»Wenn ihr mich aufhalten wollt«, rief Wechsler, »seid ihr zu spät

gekommen!« Die Worte waren aus seinem dämonischen Mund kaum zu
verstehen.

»Es ist nie zu spät, dich hinter Schloss und Riegel zu bringen«, knurrte

Slade. Er hielt die Pistole auf Hüfthöhe und nahm abwechselnd Wechsler
und seinen Handlanger ins Visier. Fetzer war vor Angst erstarrt.

»Ach, da irrst du dich«, gab Wechsler zurück. »Egal, in welches

Gefängnis du mich steckst, ich werde nicht einmal die Nacht darin
verbringen.«

»Sie sind aber ziemlich von sich überzeugt«, bemerkte Angel.
»Dazu habe ich auch allen Grund.«
»Vielleicht«, entgegnete Angel. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Wovon redet er, Angel?«, fragte Slade verwirrt. »Was hat er getan?«
»Er wird mich sicherlich korrigieren, wenn ich etwas Falsches sage«,

meinte Angel. »Aber ich habe mir mithilfe der vereinzelten Brocken, die
ich von dem Text auf der Schriftrolle verstanden habe, Folgendes
zusammengereimt. Sie sagten doch, dass Wechsler damals alle Dämonen
von dieser Droge, Flux, abhängig machte, nicht wahr?«

»Das ist richtig«, bestätigte Slade. Wechsler sah interessiert zu Angel

herüber, als gefalle es ihm, die eigene Geschichte von jemand anderem
zu hören.

»Durch die Drogen konnten sich die Dämonen nicht mehr von ihrer

menschlichen Erscheinung lösen und starben schließlich. So haben Sie
es mir doch erzählt?«

»Ja«, antwortete Slade.
»Aber die Drogen haben die Dämonen gar nicht richtig getötet«, fuhr

Angel fort. »Nicht auf die Weise, wie Sie und ich den Tod verstehen. Sie
sind im Grunde genommen tot, aber nicht so tot, dass sie nicht
zurückkehren können.«

»Zurückkehren?«
»Ja, richtig! Die Schriftrolle beschreibt ein Ritual zur Wiederbelebung.

Und das hat etwas mit dem Wasser hier zu tun. Ich denke, Wechsler hat
es mit irgendeinem Zusatz versehen, damit es als Wiederbelebungsmittel
funktioniert. Wenn das Wasser auf irgendeine Weise in Kontakt mit den
Gräbern der scheintoten Dämonen kommt, kehren sie wieder in eine Art
irdische Existenz zurück.« Angel wandte sich an Wechsler. »Stimmt das
so weit?«

»Sehr gut«, sagte Wechsler. »Sie haben nur einen sehr wichtigen Punkt

vergessen.«

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»Richtig«, Angel nickte. »Wenn die Dämonen zurückkommen,

gehören sie Wechsler. Sie werden vollkommen seiner Kontrolle
unterstehen.«

»Wie viele Dämonen sind davon betroffen? Hunderte?«, wollte Slade

wissen.

»Es sind Tausende«, sagte Wechsler. »Ich mache keine halben Sachen.

Abertausende Dämonen, die alle meinem Kommando gehorchen
müssen. Die Dämonen waren noch nie in der Lage, effektiv
zusammenzuarbeiten. Wären sie es, würde ihnen heute die Welt gehören.
Aber nun werden sie zusammenarbeiten, denn sie werden ihre Befehle
von mir erhalten.«

»Gut zu wissen«, knurrte Slade. »Dann habe ich jetzt noch einen

Grund mehr, dich zu erschießen!«

Er ging auf Wechsler zu, aber der wich nicht zurück. Als der

Privatdetektiv ihm nahe genug gekommen war, schwang er seine Hüften.
Der Schwanz mit der Dornenkugel schnellte vor und traf Slade in den
Magen. Rückwärts torkelnd hielt er sich den Bauch.

»Verdammt!«, rief er. »Das hat wehgetan. Ich wusste gar nicht, dass

man mir überhaupt noch wehtun kann.«

»Ich bin derjenige, der dich einschläferte«, erinnerte ihn Wechsler.

»Und ich bin derjenige, der deine Leiche mit einem Bann belegte. Ich
habe mehr Macht über dich als du denkst.«

Slade straffte die Schultern. »Mag sein«, räumte er ein. »Aber das wird

mich nicht davon abhalten, dich zu töten.«

»Slade«, setzte Angel an. »Vielleicht...«
Aber Slade zielte und feuerte voll blanker Wut siebenmal auf

Wechslers Kopf.

Wechsler ignorierte die Schüsse einfach. Sie hatten keinerlei Wirkung

auf ihn.

Slade schleuderte seine Pistole auf Wechsler, richtete aber auch damit

nicht das Geringste aus.

»Lassen Sie mich ...«, sagte Angel.
Aber Slade knurrte ihn nur böse an. »Er gehört mir!«
Erneut stürzte er sich auf Wechsler. Diesmal gelang es ihm, seinen

Feind ein paar Schritte zurückzudrängen. Slade verstärkte seinen Angriff
und trommelte so fest er konnte mit den Fäusten auf Wechslers
Oberkörper ein. Weil er zu dicht vor ihm stand, konnte der Dämon
seinen Schwanz nicht wirkungsvoll einsetzen, zerrte aber mit seinen
Krallen an Slade und schnappte mit seinen scharfen Zähnen nach ihm.

Slade ignorierte die Schmerzen.

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Er drosch weiter auf Wechsler ein und drängte ihn stetig zurück.

Wechsler heulte wie ein Tier. Schaum stand ihm vor dem Mund. Seine
Faustschläge prasselten auf Slades Rücken und Kopf nieder, aber in
seinem Blutrausch bemerkte der Privatdetektiv die Verletzungen nicht,
die ihm zugefügt wurden.

Barry Fetzer fing an zu laufen. Angel ließ ihn entkommen. Um Fetzer

ging es nicht, und falls Slade im Kampf gegen Wechsler unterlag, würde
er einspringen müssen.

Wechsler zielte mit dem Daumen auf das Auge seines Gegners. Slade

wich aus und stieß Wechsler von unten mit dem Kopf unters Kinn. Dann
sprang er Wechsler direkt an den Hals.

Er drückte fest zu und drehte.
Vor Wut und Schmerz heulte Wechsler erneut auf.
Angel hatte den Eindruck, dass Slade versuchte, Wechsler das Genick

zu brechen.

Im nächsten Moment hörte er bereits das Knacken der splitternden

Knochen.

Wechslers Körper wurde schlaff.
Erschöpft ließ Slade ihn los.
Doch plötzlich stieß Wechsler ein wütendes, unverständliches Gebrüll

aus. Mit großer Wucht ließ er beide Fäuste auf Slades Kopf niederfahren,
trat ihn und bearbeitete ihn mit seinem dornenbestückten Schwanz.

Slade stöhnte.
Angel kam näher.
Slade winkte ihn fort. »Er gehört mir«, presste er hervor. Angel konnte

ihn kaum verstehen. Das Gesicht des Privatdetektivs war aufgerissen und
blutverschmiert. Sein Kiefer bewegte sich nicht richtig, und Angel
erkannte, dass er gebrochen war; offenbar auch sein Arm, der
unnatürlich verrenkt herumpendelte.

»Slade«, drängte Angel erneut.
»Mir!«, wiederholte Slade nur.
Wechsler bearbeitete ihn weiter und versetzte ihm Schlag um Schlag.
Irgendwie gelang es Slade, seine letzten Kräfte zu sammeln und seine

Beine auszustrecken. Er legte sie wie eine Zange um Wechslers
Unterschenkel und brachte ihn ruckartig zu Fall.

Zerschlagen und blutverschmiert zwang sich Slade auf die Beine. Er

führte seine Fäuste zusammen, holte aus und schlug Wechsler wie mit
einem Hammer ins Gesicht. Der Kopf des Dämons flog ruckartig nach
hinten.

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Als Wechsler anfing zu schreien, mischten sich Todesangst, Wut und

Frustration zu einem unmenschlichen Laut, der in den Ohren schmerzte.
Schwankend griff er sich mit beiden Händen an den Kopf.

Die niedrige Stützmauer befand sich direkt hinter ihm.
Wechsler taumelte dagegen, verlor das Gleichgewicht, kippte nach

hinten und stürzte ab.

Angel und Slade rannten zur Mauer und sahen gerade noch, wie

Wechsler den Betonabhang hinabfiel und in der strudelnden Gischt
verschwand. Sein Schrei verlor sich im wilden Brausen des Wassers.

Slade konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er sackte in sich

zusammen. Angel fing ihn auf und hielt ihn fest. »Ist schon okay«,
versuchte er ihn zu beruhigen. »Wechsler ist erledigt. Es ist vorbei.«

»Nein, das ist es nicht«, zischte Slade durch seine zerschlagenen

Lippen. Blut tropfte ihm aus Mund und Nase. »Es ist ganz und gar nicht
vorbei.«

























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167


21



Doyle hatte sich einen Platz auf einem Hügel gesucht, von wo aus er
Betty McCoys Grab beobachten konnte. Damit ihn der Wächter nicht auf
einem seiner Rundgänge entdeckte, setzte er sich auf den Boden, obwohl
der Rasen taufeucht war. Um Doyle dort sehen zu können, hätte der
Wächter schon den Hügel hinaufsteigen müssen.

In spätestens einer Stunde ging die Sonne auf. Dann konnte er endlich

verschwinden. Doyle hoffte, die anderen hatten es genauso ruhig wie er.
Es würde ihm ganz und gar nicht gefallen, wenn sie sich in
Schwierigkeiten oder Gefahr befanden, während er nur dasaß und ein
friedliches Grab observierte.

Natürlich hatte er nichts dagegen, persönlich nicht in Gefahr zu

schweben. Und dasselbe wünschte er Angel und Cordy, denn er hatte die
beiden sehr gern.

»Wenn etwas los wäre, hätte mich Angel doch schon informiert«,

tröstete er sich.

Plötzlich hörte Doyle ein Geräusch, eine Art Platschen, und nahm eine

Bewegung wahr. Er kauerte sich tiefer ins nasse Gras und versuchte zu
ergründen, was vor sich ging.

Er lauschte angestrengt und spähte in die Dunkelheit. Obwohl ihm das

Geräusch nicht unbekannt vorkam, fühlte er sich bedroht.

Da war es wieder! Eher ein Zischen, gefolgt von einem tschk-tschk-

tschk-tschk.

Auf einmal regnete es.
Die Sprinkleranlage!
Das hatte Doyle gerade noch gefehlt!
Die Berieselungsanlage für die Rasenflächen war so eingestellt, dass

sie vor Sonnenaufgang arbeitete. In Kalifornien war es sinnvoll, den
Rasen zu sprengen, ehe die Sonne aufging. Denn ihre sengenden
Strahlen verstärkten sich, wenn sie durch Wassertropfen fielen. Das
Wasser hatte nämlich dieselbe Wirkung wie ein Vergrößerungsglas, das
über trockenes Gras gehalten wurde. Beides konnte unter Umständen
einen Flächenbrand auslösen. Deshalb bewässerte man die Anlagen vor
Sonnenaufgang, damit das Wasser vom Boden aufgenommen werden
konnte, bevor es heiß wurde.

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Das erschien Doyle völlig logisch. Trotzdem verwünschte er die

Berieselungsanlage.

Jedes Mal, wenn der rotierende Sprinkler wieder tschk-tschk-tschk auf

ihn zukam, ergoss sich das Wasser über ihn. Innerhalb kürzester Zeit,
dachte er, würde er nass bis auf die Knochen sein.

Sollte er seinen Posten noch einmal verlassen? Oder sollte er dableiben

und aushaken?

Auch wenn es lästig war - großen Schaden konnte das Wasser ja wohl

nicht anrichten ... Doyle beschloss zu bleiben.

Barbara und Cordy erforschten das scheinbar verlassene Gebäude und
öffneten, während sie einen langen Korridor entlang gingen, wahllos
einige Türen.

Im Erdgeschoss fanden sie niemanden.
Auch nicht im ersten Stock.
Aber es gab ja noch einen Keller.
Also rannten sie – Barbara mit wippendem Pferdeschwanz vorneweg -

im Eiltempo die Treppe wieder hinunter.

Eine der Türen im Keller war mit einem kleinen Plastikschild

versehen, auf dem Kontrollraum stand. Barbara überlegte, dass das, was
sich hinter dieser Tür befand, möglicherweise interessant sein konnte,
und versuchte, sie zu öffnen. Aber die Tür war verschlossen, und so
trommelte Barbara mit den Fäusten dagegen. »LAPD!«, rief sie. »Auf-
machen!«

»Warum schießen Sie nicht einfach das Schloss kaputt?«, fragte

Cordelia.

»Vielleicht sind da Leute drin, deren Hilfe wir noch brauchen.

Manchmal ist es besser, erst zu reden und dann zu schießen«, erklärte
Barbara.

Als niemand öffnete, klopfte Barbara wieder.
»Polizei!«, rief sie.
»Können Sie das beweisen?«, fragte plötzlich eine ängstliche Stimme

von drinnen.

Da es keinen Türspion gab, und es auch nicht möglich war, etwas unter

der Tür hindurchzuschieben, rief Barbara: »Ich kann Ihnen meinen
Dienstausweis zeigen, aber dann müssen Sie die Tür aufmachen. Das ist
ein Notfall! Bitte öffnen Sie!«

»Da waren Schüsse«, sagte der Mann hinter der Tür. Seine Stimme

klang ein wenig hoch.

Das lag bestimmt an der Anspannung, dachte Cordelia. Man konnte es

ihm nicht verübeln, wenn er ein bisschen nervös war – schließlich hatte

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169

er gehört, wie sich jemand mitten in der Nacht seinen Weg ins Gebäude
freischoss.

»Wir haben nicht auf Menschen geschossen, nur auf das Schloss«, rief

sie spontan. »Leute erschießen gehört definitiv nicht zu unseren
Aufgaben.«

Als Barbara sie böse ansah, zuckte sie mit den Schultern. »Ich wollte

nur helfen«, sagte sie. »Ich bin gut im Umgang mit Menschen.«

»Überlassen Sie mir das Reden!«, zischte ihr Barbara zu und wandte

sich wieder zur Tür. »Bitte, Sir, öffnen Sie die Tür! Wenn nicht, kann ich
mir den Weg auch freischießen. Aber darauf würde ich lieber verzichten.
Ich will niemanden beunruhigen, aber dies ist ein Notfall, und ich bitte
Sie um Kooperation.«

Das Schloss klickte, und der Knauf drehte sich. Ein kleiner Mann

öffnete die Tür einen Spalt breit. Er hatte schütteres rötliches Haar. Seine
strahlend blauen Augen blickten durch eine dicke Brille. Er trug ein
weißes Hemd mit einer schmalen schwarzen Krawatte darüber. Ein
Plastiketui mit Stiften steckte in seiner Brusttasche.

Barbara hielt ihm ein Ledermäppchen vor die Nase. »Hier, mein

Ausweis!«, sagte sie. Der Mann sah sie mit großen Augen an, und sein
Blick wanderte zwischen der Armbrust, die Cordelia trug und Barbaras
Ausweis hin und her.

»Ich bin in der Ausbildung und noch keine richtige Polizistin«, erklärte

ihm Barbara. »Aber ich ermittle in einer Mordsache. Bei diesem Einsatz
handelt es sich um einen Notfall. Bitte öffnen Sie die Tür ganz!«

»O-okay«, stammelte der kleine Mann und fügte sich.
»Wie heißen Sie?«, fragte ihn Barbara.
»Daly«, sagte der Mann. »John Daly.«
»Ist sonst noch jemand da drin, Mister Daly?«
»Ja, wir sind zu dritt. Die anderen beiden sind George Coxe und

Freddie Nebel.«

»Wir kommen rein«, sagte Barbara und betrat gemeinsam mit Cordelia

den Raum.

Zunächst kamen sie in eine Art Vorzimmer. Dort stand ein

Schreibtisch mit einem Computer darauf. An der dahinter liegenden
Wand befand sich eine weitere Tür.

»Wo sind Ihre Kollegen?«, wollte Barbara wissen.
»Sie sind da drin«, antwortete Daly und zeigte auf die Tür. »Das ist die

Zentrale. Hier regeln wir alles.«

»Perfekt«, sagte Barbara. »Gehen wir!«

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Doyle hatte sich damit abgefunden, nass zu werden. Alle dreißig
Sekunden wurde er von dem Sprinkler berieselt. Aber so schlimm war
das auch wieder nicht - er fror zwar, aber das würde vorübergehen. Er
hatte sowieso schon die ganze Nacht gefroren, und sein Rücken war vom
Tau durchnässt, also machte es nichts, wenn er noch nasser wurde und
noch mehr fror. Fast wäre er eingedöst, als er sich vorstellte, wie schön
es jetzt wäre, mit einem heißen Kaffee in der Hand vor einem
knisternden Kaminfeuer zu sitzen.

Plötzlich fing die feuchte Erde an, sich zu bewegen.
Von seinem Platz auf dem Hügel hatte Doyle, außer dem Grab von

Betty McCoy, noch zwei Dutzend andere Gräber im Blick. Auf welchen
davon Namen von Dämonenfamilien standen, war jedoch aus der Ferne
nicht zu erkennen.

Deshalb konnte Doyle, als die Grasdecke auf einem der Gräber

aufplatzte, nicht mit Bestimmtheit sagen, ob es sich um ein
Dämonengrab handelte.

Der Vorfall als solcher missfiel ihm jedoch sofort.
Rasen war dazu gemacht liegenzubleiben. Normalerweise wallte er

nicht derart auf.

Dann schoss eine Hand aus dem Grab.
Keine menschliche, wie Doyle sogar von seinem Posten aus erkennen

konnte. Dafür war sie viel zu groß und gespenstisch. Die Finger waren
knorrig und gebogen. Die ganze Hand erinnerte Doyle, was Form und
Größe anging, an das Rost in einem Grillbackofen, nur war sie noch
robuster.

Fast augenblicklich folgte ihr der ganze Arm.
Die Hand fuchtelte eine Weile herum und stützte sich dann im Gras ab,

als versuche jemand, sich aus dem Grab herauszustemmen.

Und genau das war offenbar auch der Fall.
Doyle verspürte das spontane Bedürfnis zu helfen, unterdrückte es aber

schleunigst.

Hier ging es schließlich nicht darum, einem Unschuldigen das Leben

zu retten. Dort unten versuchte ein Dämon, sich aus seinem Grab zu
befreien!

Auf dem Friedhof ging definitiv etwas Übles vor. Doyle wollte nur

noch weglaufen.

Aber es war seine Aufgabe, das Grab von Betty McCoy zu bewachen.

Umso mehr, da sie nun vielleicht in Gefahr war.

Er musste bleiben.
Und das passte ihm überhaupt nicht.

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Aber Befehl war Befehl. Bislang hatte ihm Angel noch nie etwas

aufgetragen, das sich hinterher als falsch herausgestellt hätte. Sicher,
gefährlich ging es bei seinen Missionen schon zu, und das missbilligte
Doyle auch, aber er kannte das Geschäft. Angel und er arbeiteten im
Grunde für dieselbe Sache – für die Mächte der Ewigkeit, für
Gerechtigkeit in einer ungerechten Welt. Sie hatten das Ziel, Menschen
zu helfen, die in Not waren.

Sie versuchten einfach, den großen Schaden, den ihre Artgenossen den

Menschen zugefügt hatten und immer noch zufügten, ein wenig wieder
gutzumachen.

Das predigte sich Doyle jedenfalls, während er beobachtete, wie der

Dämon aus seinem Grab kletterte.

Eigentlich hatte er erwartet, eine verweste, faulende Dämonenleiche zu

sehen. Aber dieser Dämon sah so frisch aus, als wäre er am Tag zuvor
erst beerdigt worden. Als er mit dem Kopf durch die Erde stieß,
schüttelte er sich, um den Dreck loszuwerden, der an ihm klebte. Seine
rosafarbene Haut war mit grünen Punkten übersät und sein buschiger
Haarschopf leuchtete grellpink. Ein Bejreggan-Dämon also. Die Spezies
sah nicht gefährlich aus, aber auf das Äußere verließ man sich besser
nicht - und schon gar nicht in diesem Fall. Bei den Bejreggan-Dämonen
handelte es sich um fiese brutale Kreaturen. Dieser war ein Spross der
Parsons -jetzt fiel Doyle der Familienname wieder ein, den er auf dem
Grabstein gelesen hatte. Den Parsons war es gelungen, sich mit großem
Erfolg in die menschliche Gesellschaft einzugliedern. Die anderen
Bejreggan jedoch, die sich nicht den Menschen angepasst hatten,
gehörten zu den gewalttätigsten und brutalsten Dämonen der Stadt.

Doyle hoffte, der Abkömmling der Parsons entdeckte ihn nicht. Über

die Laune eines Bejreggan-Dämons, der sich gerade aus seinem Grab
geschaufelt hatte, konnte er nur Vermutungen anstellen, aber es war
bestimmt noch reichlich untertrieben, sie mit »schlecht« zu bezeichnen.

Doyle war so auf den Bejreggan konzentriert, dass er die beiden

Dämonen, die hinter ihm auftauchten, fast nicht bemerkt hätte.

Ein knackender Ast erregte jedoch seine Aufmerksamkeit, und er

drehte sich um. Zwei Dämonen liefen direkt hinter ihm vorbei. Ein
männlicher und ein weiblicher. Erde klebte ihnen noch in den Haaren, im
Gesicht und am Totenhemd. Sie waren fast schon an Doyle vorbei-
gegangen, als der männliche Dämon, der seinen Kopf beim Gehen ganz
langsam nach links und rechts drehte, ihn doch noch entdeckte.

»Sieh mal!«, sagte er schleppend und mit tiefer Stimme. Der weibliche

Dämon neben ihm wandte sich um.

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Doyle sprang hastig auf und machte sich bereit zu kämpfen oder

wegzulaufen.

Beide Dämonen kamen einen Schritt auf ihn zu. In diesem Augenblick

ließ der Bejreggan unten am Grab ein Grunzen ertönen und stapfte mit
schwerfälligen Bewegungen den Berg hoch.

Im Stehen konnte Doyle mehr Gräber überblicken als vorher. Überall

sah er Dämonen, die sich aus ihren Gräbern schaufelten. Aus allen
Richtungen kamen sie herbei, langsam noch, als wären sie gerade aus
einem langen Schlaf erwacht und noch nicht wieder richtig bei sich.

Aber sie starrten ihn gierig an.
»Hey, ich bin auch ein Dämon!«, sagte Doyle und ließ sein

dämonisches Äußeres zum Vorschein kommen. Aber als die blauen
Stacheln aus seiner Haut traten, begriff er, dass die Dämonen gar nicht
mal so sehr von seinem menschlichen Erscheinungsbild angelockt
wurden als vielmehr von der Tatsache, dass er nicht frisch aus dem Grab
gestiegen war. Anscheinend verübelten sie ihm, nicht gestorben und
wiedergekehrt zu sein.

Wenigstens sah es für Doyle so aus.
Und wenn seine Theorie zutraf, dann hatte er ein wirkliches Problem.

Denn die Dämonen umzingelten ihn und waren ihm zahlenmäßig
haushoch überlegen.

Doyle drehte sich langsam um die eigene Achse und versuchte, sie im

Blick zu behalten. Aber sie kamen nun von allen Seiten. Sie hatten
begonnen, sich leise und in einer tiefen Tonlage zu unterhalten, die klang
wie das Brummen von Automotoren hinter einer Mauer. Doyle hörte nur
dieses Geräusch; einzelne Worte konnte er nicht verstehen.

Dass ihm die Dämonen nicht freundlich gesonnen waren, spürte er

jedoch deutlich.

»Jetzt bin ich einer von euch!«, rief er. »Lasst uns Freunde werden! Da

spricht doch nichts dagegen, oder? Reden wir mal in aller Ruhe drüber!«

In diesem Augenblick ergriff ihn der Bejreggan-Dämon von hinten.


Der Raum, in den John Daly sie geführt hatte, sah für Cordelia aus wie
das Raumfahrt-Kontrollzentrum in Houston. Auf der Stirnseite stand ein
riesiger Bildschirm, auf dem allerdings keine Astronauten oder eine
Rakete auf der Abschussrampe zu sehen waren, sondern ein gigantisches
beleuchtetes Schaubild in grellen Farben. Sie erkannte nichts darauf,
nahm aber an, dass es sich um eine Darstellung des
Wasserversorgungssystems von Los Angeles handelte. Das wäre
jedenfalls logisch gewesen.

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Vor dem Bildschirm standen reihenweise Computer, von denen einige

dasselbe Schaubild auf dem Monitor hatten, andere wiederum Zahlen-
oder Wörterkolonnen. Cordelia kam nicht nahe genug an sie heran, um
erkennen zu können, um was genau es sich handelte.

Daly hatte sie und Barbara inzwischen mit Coxe und Nebel

bekanntgemacht. Coxe war ein Ingenieur, der sich, wie Cordelia fand,
äußerlich kaum von Daly unterschied – abgesehen von dem noch
dickeren Bauch und den vielen Flecken auf seiner Krawatte, die offenbar
von dutzenden Mahlzeiten stammten, bei denen Taco-Sauce im Spiel
gewesen war. Freddie Nebel war eine Frau – Mitte dreißig, wie Cordelia
vermutete -, die im Grunde das weibliche Pendant zu diesen beiden
Männern darstellte. Die Leute, die in so einer Wasseraufbereitungsanlage
arbeiteten, waren bestimmt alle ganz nett, dachte Cordelia, aber sie wäre
nie auf die Idee gekommen, freiwillig mit ihnen ihre Freizeit zu
verbringen.

Aber bisher hatte sie ja keiner von ihnen um ein Date gebeten oder ihr

überhaupt mehr als einen flüchtigen Blick geschenkt - also dachten sie
vielleicht dasselbe über sie.

Das war zwar eigentlich kaum vorstellbar, lag aber dennoch im

Bereich der ganz entfernten Möglichkeiten.

Wie Daly erklärte, bestand die Aufgabe des Teams darin, die Anlage

über Nacht in Betrieb zu halten. Tagsüber, wenn auch noch all die
Verwaltungsangestellten hinzukamen, war die Belegschaft natürlich viel
größer. Nachts war nur wenig los. Das Wasser wurde jedoch weiterhin
gefiltert und gereinigt, denn Los Angeles verlangte rund um die Uhr
danach. Ansonsten gab es nichts zu tun. Der Großteil der Aufgaben war
reine Routine und dafür reichten drei Leute aus.

»Ist es schwierig, das Wasser abzudrehen?«, fragte Barbara.
Daly blinzelte einige Male verdutzt, was in der Vergrößerung durch

seine dicken Brillengläser sehr komisch aussah. »Wie meinen Sie das?«,
gab er zurück.

»Das Wasser abdrehen. Ausmachen. Abstellen.«
»Die Filteranlage abstellen?«
»Das Wasser komplett abstellen. Es nicht mehr in die Stadt fließen zu

lassen.«

»Das ist unmöglich!«, warf Freddie ein.
»Wirklich unmöglich?«
»Nein, so hat sie das nicht gemeint«, beeilte sich Daly zu versichern.

Barbara hatte fast den Eindruck, er sehe sie und Cordelia als seine
persönlichen Gäste an, weil er sie hereingelassen hatte, und stehe eher
hinter ihnen als hinter seinen Kollegen. »Es ist nicht einfach, aber

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174

selbstverständlich können wir es. Freddie wollte nur sagen, dass es nicht
in unseren Kompetenzbereich fällt.«

»Ja, natürlich«, sagte Freddie. »Um die Anlage zu schließen, brauchen

wir eine Anordnung vom Amt für Wasser- und Energieversorgung. Und
die bekommt man nicht so leicht. Schließlich werden dann dreieinhalb
Millionen Menschen von der Wasserversorgung abgeschnitten. Es gäbe
einen unglaublichen Aufruhr.«

»Und wenn ich Ihnen sagen würde, dass Sie es sofort tun müssen ...«
»Dann würden wir Ihnen raten, den Dienstweg einzuhalten und in zwei

Wochen mit den entsprechenden Papieren wiederzukommen«, beendete
Freddie den Satz.

»Zwei Wochen habe ich nicht«, sagte Barbara. »Das Wasser muss

sofort abgestellt werden. In dieser Minute.«

»In ebendieser Sekunde«, fügte Cordelia eilfertig hinzu. »Sie ist

Polizistin, also müssen Sie ihr gehorchen!« Sie drehte sich zu Barbara
um und flüsterte: »Warum eigentlich abstellen?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Barbara ebenfalls im Flüsterton.

»Keine Ahnung, was Wechsler auf dem Damm macht und was da
draußen vorgeht. Aber nach allem, was wir über den Kerl wissen – das
mit den Drogen und so weiter – führt er bestimmt nichts Gutes im
Schilde, wenn er sich hier mitten in der Nacht herumtreibt.
Wahrscheinlich macht er sich an der Wasserversorgung zu schaffen.
Deshalb will ich, dass sie abgestellt wird. Wenn wir herausgefunden
haben, was er hier treibt, können wir das Wasser wieder aufdrehen.« Sie
sah wieder zu den Ingenieuren hinüber. »Also?«

»Und wenn nicht? Wollen Sie uns dann einen Strafzettel verpassen?«,

fragte Freddie Nebel patzig.

»Ich kann nur an Sie als Bürger appellieren, mit der Polizei zu

kooperieren«, erklärte Barbara. »Wenn Sie sich weigern, stelle ich Sie
unter Arrest und befehle Ihnen, es zu tun. Wenn Sie sich dann immer
noch weigern, werde ich mich selbst darum kümmern. Ab er wenn ich
etwas kaputtmache, stehen Sie in der Verantwortung!«

Nebel, Coxe und Daly sahen sich sorgenvoll reihum an. »Ich meine,

wir sollten es tun«, sagte Daly mutig.

»Bist du verrückt?«, fuhr Nebel auf.
»Vielleicht fängt sie sonst wieder an zu schießen«, bemerkte Coxe

ängstlich.

»Ich werde nicht schießen«, versicherte Barbara, »wenn ich nicht

muss.«

»Ich werde Ihnen zeigen, wie es geht«, bot Daly an.

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»Mir ist ganz egal, wie es geht«, fuhr Barbara auf.»Stellen Sie es

einfach ab!«

»Schon gut, ich mach's«, entgegnete Daly. »Kommt Leute! Helfen wir

der Polizei!«




































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176


22



Angel trat das Gaspedal fest durch, und Cordelia, Barbara Morris und
Mike Slade wurden tüchtig in den Sitzen des GTX hin- und
hergeschaukelt. Sie fuhren vom Freeway 210 auf den Freeway 10 in
Richtung Zentrum, dann auf dem 101 nach Hollywood. Da die
Morgendämmerung näherrückte, wurde der Verkehr auf den Straßen von
Los Angeles immer dichter, und Angel sah sich genötigt, ständig die
Fahrspur zu wechseln und sich zwischen den anderen Fahrzeugen
hindurchzuschlängeln.

Er musste sich eingestehen, dass er sich allmählich zu einem der

Fahrer entwickelte, die er so sehr hasste. Aber die Sache war von
äußerster Dringlichkeit. Da Barbara so clever gewesen war, im
Kontrollgebäude die Wasserversorgung abstellen zu lassen, blieb der
Großteil des Wassers, das Wechsler mit seinem Ritual verzaubert hatte,
im Reservoir, bis Angel mit einem Gegenzauber aufwarten konnte. Eine
gewisse Wassermenge war natürlich zuvor ins städtische Leitungssystem
gelangt. Man durfte wohl bezweifeln, dass der Prozess, mit dem aus
Flusswasser gechlortes Trinkwasser gewonnen wurde, auch eine reini-
gende Wirkung auf verzaubertes Wasser hatte.

Also bestand die Möglichkeit, dass auf zahllosen Friedhöfen in der

ganzen Stadt »tote« Dämonen wieder zurück ins Leben kamen, wenn die
jeweiligen Sprinkleranlagen Wasser verspritzten, das mit dem Wasser in
Berührung gekommen war, das Wechsler verzaubert hatte.

Auf einem dieser Friedhöfe befanden sich Doyle und Betty McCoy.

Während Angel noch stärker auf das Gaspedal drückte, hoffte er sehr,
nicht zu spät zu kommen.

Doyle jaulte laut auf, als ihn der Bejreggan-Dämon mit seinen
pinkfarbenen, knochigen Fingern am Arm packte. Er riss sich los,
wirbelte herum und holte zu einem Karateschlag aus, den der Bejreggan
amüsiert kichernd einsteckte. Doyle schlug ihm zweimal ins Gesicht.
Der Dämon versuchte, ihn mit den Händen abzuwehren, bewegte sich
aber immer noch sehr langsam, weil ihm, wie Doyle vermutete, noch
immer die Kälte des Grabs in den Knochen saß. Die beiden Schläge

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177

zeigten Wirkung - der Bejreggan ging in die Knie. Doyle legte gleich
noch einen Tritt gegen sein Kinn nach und brach ihm das Genick.

»Hey!«, dachte er grinsend. »Wenn die so transusig sind, bin ich

vielleicht doch nicht ganz chancenlos!«

Die beiden Dämonen, die hinter ihm aufgetaucht waren, steuerten nun

auf ihn zu. Ihnen folgten mindestens ein Dutzend weitere den Hang
hinauf. Sie bewegten sich allesamt im Zeitlupentempo, wie Statisten in
Nacht der lebenden Toten. Aber sie waren viele. Da spielte es auch keine
Rolle, dass sie langsam waren.

Es war Zeit, sich an die Arbeit zu machen.
Doyle stürzte sich als Erstes auf den männlichen Dämon, der ihm am

nächsten war. Der hob zwar verteidigend die Hände, aber Doyle schlug
sie zur Seite und schlang seine Arme um den Hals des Dämons.
Ruckartig drückte er ihm den Kopf nach hinten und hörte voller
Befriedigung das Knacken, mit dem das Genick brach – die einzige ihm
bekannte Methode, mit der man Dämonen Einhalt gebieten konnte, die
bereits tot waren. Rasch warf Doyle den leblosen Körper auf den des
Bejreggan-Dämons, und beide rollten ein Stück den Hang hinunter.

Dem nächsten Dämon, der auf ihn zukam, wich Doyle aus und spurtete

Richtung Ausgang. Er würde mit Verstärkung zurückkehren. Oder mit
einer Waffe. Oder noch besser: Er würde bewaffnete Verstärkung auf
den Friedhof schicken.

Nach ein paar Minuten hatte er einen Hügel erreicht, von dem aus er

das große Tor sehen konnte.

Leider auch den Wachmann, der ihn vorher rausgeworfen hatte. Der

Mann kniete auf dem Boden. Ihm liefen Tränen über die Wangen. Seine
Pistole lag ein paar Meter entfernt im Gras. Hilflos hielt er seinen
Schlagstock in die Höhe. Es sah aus, als hätte er vergessen, dass er ihn
überhaupt in der Hand hatte.

Neun Dämonen umzingelten den Mann und schlössen den Kreis um

ihn immer enger. Wieder war das merkwürdige, unverständliche
Brummen zu hören, das zu ihrer Kommunikation gehörte.

Das Tor war nicht mehr weit entfernt. In etwa einer Minute konnte

Doyle draußen vor dem Friedhof sein. Und all die Dämonen, die ihn an
seiner Flucht hätten hindern können, waren mit dem Wächter
beschäftigt.

»Oh, Mann«, dachte er, »ist ja wieder mal echt ätzend!«
Dann lief er den Hügel hinunter, um dem Wächter beizustehen.


»Du bist auch schon mal besser gefahren!«, rief Cordelia vom Rücksitz.

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Angel ignorierte sie. Den Freeway 101 hatten sie bereits hinter sich

gelassen und fuhren nun über den Sunset Boulevard auf den Friedhof zu.
Angel scherte sich nicht um die Fahrbahnmarkierungen. Nicht einmal
um die doppelte gelbe Linie, die den Fahrzeugstrom Richtung Osten, in
dem sich der GTX bewegte, von dem in Richtung Westen trennte. Wann
immer es dem Vorwärtskommen diente, scherte er auf die
Gegenfahrbahn aus.

»Die Puppe hat Recht«, meldete sich Mike Slade vom Beifahrersitz.

»Wenn ich nicht schon tot wäre, wäre diese Fahrt definitiv mein Ende.«

Slade hatte sich ernste Verletzungen im Kampf mit Wechsler

zugezogen. Sein Blut klebte ihm an den Klamotten, im Gesicht hatte er
Prellungen und der Unterkiefer war gebrochen. Die Schäden waren, wie
Angel annahm, wohl nicht von Dauer, aber so schnell wie bei ihm
heilten Slades Wunden nicht. Die Schnittwunde von der Dämonenklinge
auf Angels Brust war mittlerweile fast nicht mehr zu sehen.

Angel war beeindruckt, dass es Barbara, die mit Cordelia hinten saß,

gelungen war, die Wasserversorgung zu unterbinden. Bestimmt wurde
aus der jungen Dame eines Tages eine gute Polizistin. Davon konnte die
Stadt definitiv einige mehr gebrauchen.

Obwohl Angel in Anbetracht seines Fahrstils ganz zufrieden war, dass

in diesem Augenblick weit und breit keine Cops auf den Straßen zu
sehen waren.

Dann tauchte links von ihnen der Friedhof von Hollywood auf. Angel

riss abrupt das Lenkrad herum, wobei der Wagen hinten leicht ausbrach.
Gleichzeitig trat er auf die Bremse, und der GTX rutschte auf den
Gehsteig vor dem Friedhofstor.

Sie sprangen aus dem Wagen. Angel stürzte sich sofort auf das Tor

und öffnete es mit einem Ruck. Auf dem Friedhofsweg blieb er kurz
stehen und lauschte.

Dann rannte er in die Richtung, aus der die Schreie kamen.
Slade, Barbara und Cordelia liefen ihm hinterher.
In einer großen Mulde standen Doyle und ein anderer Mann – der

Uniform nach ein Wächter – Rücken an Rücken. Sie waren von einigen
dutzend Dämonen umringt, die knurrten und brummten und in einer
Vielzahl von Dämonensprachen miteinander redeten. Sie sahen ganz so
aus, als hätten sie ernste Tötungsabsichten.

Der Wächter wedelte erfolglos mit seinem Schlagstock, als wäre er

eine Fackel, mit der er die Dämonen verjagen konnte. Doyle hatte seine
Hände zu Fäusten geballt und wartete darauf, dass einer der Dämonen
den ersten Schritt machte.

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Im nächsten Moment trat ein recht kleiner Unhold vor – höchstens

einsfünfzig groß, aber sehr muskulös. Er hatte den breiten Rücken eines
Gewichthebers, vier starke Arme und riesige rot geäderte Hände. Als er
mit einer dieser Hände ausholte, duckte Doyle sich weg und trat nach
dem Dämon. Dessen zweite Hand fuhr aus und hielt Doyle am Bein fest,
schleuderte ihn in die Luft und ließ ihn auf den Rücken krachen. Sogar
oben auf dem Hügel hörte Angel den Aufprall, verzog mitfühlend das
Gesicht und raste den Hügel hinunter.

Unten angekommen, verpasste er dem vierarmigen Dämon eine Links-

rechts-links-Kombination aus Tritten, gefolgt von zwei schnellen
Karateschlägen gegen den Hals. Sofort klappte der Dämon mit
gebrochenem Genick zusammen.

»Mann, bin ich froh, dich zu sehen!«, rief Doyle und rappelte sich auf.

»Die werden einfach immer mehr! Wir haben sie abgewehrt, so gut wir
konnten.«

»Verstärkung ist schon da!«, sagte Angel.
»Es ist, als kämen sie grundlos einfach so aus ihren Gräbern«, erklärte

Doyle japsend. »Überall, auf dem ganzen verdammten Acker.«

»Es geschieht nicht ohne Grund.«
»Ganz bestimmt nicht! Aber klär mich bitte nicht auf, denn ich glaube,

ich will es gar nicht wissen.«

»Doyle!«, sagte Angel.
»Ja?«
»Halt die Klappe und kämpf!«
Beide schwiegen und kämpften.
Slade und Barbara stürmten, aus ihren Pistolen feuernd, den Hang

hinunter. Innerhalb von wenigen Minuten war die unmittelbare Gefahr
gebannt. Keuchend betrachteten sie die unzähligen Leichen. Mit dem
Leben war auch das dämonische Äußere von den Toten gewichen. Die
Leichen sahen völlig menschlich aus.

»Gehen Sie zurück in ihr Wachhaus«, sagte Angel dem arg

mitgenommenen Wächter. »Wir kümmern uns um das Übrige.«

Der Wächter nickte nur stumm und huschte davon.
Doyle, Slade und Barbara versammelten sich um Angel, der die drei

einander vorstellte.

»Doyle«, sagte er. »Mike Slade. Barbara Morris.«
»Hallo«, sagte Doyle.
»Hallo«, entgegnete Slade.
»Prima Arbeit«, führ Doyle fort und sah Slade neugierig an. »Sie sind

gut!«

»Danke«, antwortete der Privatdetektiv.

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Cordelia war oben auf dem Hügel stehen geblieben, weit weg vom

Kampfgetümmel. Sie hatte die Armbrust im Auto gelassen, hielt aber
einen kurzen, gefährlich spitzen Holzspeer in der Hand. Mit zittriger
Stimme rief sie: Ȁhm, Leute? Wenn ihr mit dem Haufen da unten fertig
seid, kommt hier noch ein bisschen Nachschub.«

»Danke, Puppe«, rief Slade.
»Wie ich sagte«, bemerkte Doyle. »Die werden einfach immer mehr.«
»Ihre Anzahl ist jedoch mit Sicherheit begrenzt«, sagte Angel.
»Aber viele sind es trotzdem«, wandte Slade ein. »Wechsler war

fleißig. Und auf diesem Friedhof sind zahlreiche Dämonenfamilien
beigesetzt. Nicht alle, aber einige.«

»Hier ist übrigens auch Betty McCoy begraben«, klärte ihn Angel auf.

»Doyle hat ihr Grab bewacht.«

»Allerdings nur, bis es hier drunter und drüber ging«, sagte Doyle.
Slade war erstaunt. »Betty ist hier?«
In diesem Augenblick begriffen sie alle, was das bedeuten konnte.
Doyle rannte sofort los. »Hier entlang!«, rief er und die anderen

folgten ihm. Da er als Einziger den Weg kannte, war er als Erster am
Grab.

Es war ebenfalls aufgerissen. In der Rasenfläche gähnte ein schwarzes

Loch. Sie war weg!

Doyle wirbelte herum und blickte suchend in alle Richtungen. Überall

stolperten Dämonen herum, auf dem Rasen, zwischen den Grabsteinen
und manche sogar schon am Zaun. Aber es war niemand dabei, der
aussah wie Betty McCoy.

Allerdings wusste er auch gar nicht, wie sie aussah, fiel ihm ein. Er

hatte in seiner Vision nur den Namen und die Adresse gesehen, nicht die
Frau selbst.

Angel trat neben ihn und blieb vor dem leeren Grab stehen. »Sind wir

zu spät?«, fragte er. »Leider, ja«, entgegnete Doyle.

Mike Slade hatte in den letzten Tagen einiges durchgemacht. Besonders,
da seinem Zeitgefühl nach auch sein Mord erst ein paar Tage zurücklag.
Er war von den Toten auferstanden, vor den Cops quer durch die Stadt
geflohen, hatte Veronicas Tochter kennen gelernt und feststellen müssen,
dass seine Sekretärin und seine Klientin beide tot waren.

»Okay«, dachte er, »Zeit, mit dem Selbstbetrug aufzuhören!« Veronica

war nicht nur seine Sekretärin gewesen, sondern die Frau, die er geliebt
hatte. Die Einzige in dieser riesigen Stadt, die in ihm den Wunsch
geweckt hatte, zu heiraten und ein geregeltes Leben zu führen, ein Haus

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irgendwo in einem Vorort zu kaufen und vielleicht sogar die Knarre
hinzuwerfen und eine ehrliche Arbeit zu suchen.

Sie war in der Lage gewesen, einem Kerl mit einem Nicken, einem

Hüftschwung oder einem Augenzwinkern solche Flausen in den Kopf zu
setzen. Jahrelang hatte er sich eingeredet, er empfinde nur so, weil er zu
viele Schläge aufs Hirn abbekommen hatte. Aber er hörte nicht auf,
daran zu denken, es wurde sogar immer schlimmer. Bis er ihr schließlich
seine Gefühle gestand. Er war überzeugt gewesen, sie würde sofort ihre
Sachen packen und zur Tür hinausmarschieren. Sie hatte ihn jedoch
angelächelt, die Beine übereinander geschlagen und gesagt: »Das hat ja
lange gedauert, du Idiot!«

Aber nun war nicht die richtige Zeit, über Veronica nachzudenken.

Auf dem Friedhof wimmelte es nur so vor wiedererweckten Dämonen,
die nach Führung suchten, aber keine fanden, weil Slade den Typen
eigenhändig umgebracht hatte, der für sie zuständig war. Die Dämonen
würden einfach ziellos umherwandern und alles verwüsten, bis sie
jemand stoppte.

Sie noch einmal zu töten, war die einzige Methode, mit der sie

aufgehalten werden konnten. Denn nur so wurden ihre Körper daran
gehindert, die Befehle auszuführen, die ihnen die Reste ihres Hirns
erteilten.

All diese Gedanken gingen Slade durch den Kopf, als er vor dem

leeren Grab stand, in dem Betty McCoy während vieler Jahre unruhig
gelegen hatte. Es war ihm gelungen, Wechsler aufzuspüren und zu töten.
Dennoch war er zu spät gekommen. Er hatte nicht unterbinden können,
was Betty ihn schon vor so vielen Jahren zu verhindern gebeten hatte.

Also hatte Wechsler letztendlich gewonnen und Slade verloren, denn

Bettys Geist war immer noch keine Ruhe vergönnt.

Slade blickte über den Friedhof und beobachtete die Dämonen, wie sie

über den Zaun in die Freiheit ausbrachen. Auf der anderen Seite ist das
Gras auch nicht grüner, hätte er ihnen am liebsten zugerufen. Die Stadt
hatte sich verändert, und zwar zu ihrem Nachteil. Sie war größer
geworden und lauter und schmutziger und gefährlicher – aber laut und
schmutzig und gefährlich war Los Angeles eigentlich schon immer
gewesen, musste er einräumen.

Dann entdeckte er sie plötzlich am Zaun.
Er hätte sie überall wiedererkannt, jederzeit. Ihre Frisur, ihren langen

Hals, wie sie beim Gehen mit den Hüften wackelte. Nur attraktive
Frauen arbeiteten als Zigarettenverkäuferinnen, besonders in einem
Lokal wie der Rialto Lounge, das den Ehrgeiz hatte, mehr als nur ein

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Lokal zu sein – ein Ort der Bestimmung gewissermaßen. Und Betty war
verdammt attraktiv.

»Betty!«, rief er.
Sie reagierte nicht. Aber er erkannte sie genau – auch auf diese

Entfernung und in dem schummrigen Licht vor Beginn der
Morgendämmerung.

Er rannte auf sie zu.
»Betty!«
Immer wieder rief er ihren Namen. Schließlich hörte sie ihn, blieb

stehen und drehte sich um.

Nicht das kleinste Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Nicht eine Spur des

Erkennens in ihren toten Augen.

Ihre Hände bewegten sich, als wolle sie etwas zerreißen. Sie hatte den

Mund leicht geöffnet, und Slade sah, dass zwischen ihren Zähnen Erde
klebte.

»Betty«, sagte er und blieb ein paar Meter vor ihr stehen. »Ich bin es,

Mike! Mike Slade.«

Immer noch konnte er nicht beurteilen, ob sie ihn wiedererkannte.
Oder in ihm nur ihr Frühstück sah.
Sie leckte sich über die dreckverschmierten Lippen.
Speichel tropfte aus ihren Mundwinkeln. Ihr lief im wahrsten Sinne

des Wortes das Wasser im Mund zusammen.

Sie sah völlig ausgehungert aus.
Im nächsten Augenblick stürzte sie sich auf ihn.
»Betty!«, rief er und schubste sie weg.
Ihre einzige Reaktion war, erneut auf ihn zuzukommen. Diesmal

packte sie ihn am Arm, als er sie zurückstoßen wollte, und ihre
Fingernägel gruben sich in sein Fleisch.

Mit den Zähnen schnappte sie nach seinem Hals.
»Mich willst du doch gar nicht fressen!«, sagte Slade. »An mir ist

nichts dran! Das wäre doch nur ein kleines Häppchen und in einer
Stunde hättest du wieder Hunger.«

Ohne zu antworten zerrte sie weiter an ihm herum.
Sie wollte ihn töten.
Es war das Einzige, was diese Dämonen konnten. Darauf waren sie

von Harold Wechsler programmiert worden.

Zu töten und zu töten und zu töten.
»Betty, es tut mir Leid«, sagte Slade, und seine Stimme brach. »Ich

habe dich im Stich gelassen. Ich hätte ihn schon Vorjahren töten sollen,
bevor er mich erwischte. Ich habe versagt, Süße. Ich hab es vermasselt.«

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Betty schnappte nach ihm und zog ihn mit ihren starken Armen noch

dichter an ihren Mund. Auch in Dämonengestalt wirkte sie immer noch
sehr menschlich. Sie war nur übernatürlich stark, und ihre ehemals
geraden weißen Zähne waren länger geworden.

Slade wusste, er hatte nur eine Wahl. Streng genommen eigentlich gar

keine.

Er konnte nur eines tun, um Bettys Seele Frieden zu schenken.
Er musste sie töten.
Sein Blick verschleierte sich, und er spürte, dass ihm Tränen in die

Augen stiegen.

Aber Privatdetektive heulten nicht. Privatdetektive waren die

toughsten Kerle in der Stadt. Sie konnten alles aushaken. Gefühle waren
ihnen niemals im Weg. Sie kümmerten sich nur um ihren Fall, um den
Übeltäter und nach Erledigung des Jobs um die Bezahlung.

Manche trachteten auch nach Gerechtigkeit. Dieser Angel schien so

einer zu sein.

Auf jeden Fall aber taten Privatdetektive immer, was getan werden

musste.

»Denk nicht darüber nach!«, redete sich Slade zu. »Tu es einfach!«
Er tat es.
Als er es hinter sich gebracht hatte, nahm er Betty McCoy in die Arme

und kniete sich ins Gras. Ihr künstlich wiedergegebenes Leben erstarb.
Slade selbst hatte das Gefühl, allmählich zu verlöschen. Er war nur
wegen Betty zurückgekehrt. Um diesen Fall ein für alle Mal abzuschlie-
ßen.

Das hatte er nun getan. Wechsler war tot. Und Betty konnte endlich in

Frieden ruhen.

Er blickte auf ihre ebenmäßigen Züge hinab, ihre milchweiße Haut, die

schönen blauen Augen.

Diese Augen sahen ihn plötzlich an. Gleichzeitig verzog sich ihr Mund

zu einem Lächeln.

»Mike«, sagte sie.
Dann fielen ihr die Augen zu, und sie war tot.
Slade merkte, wie ihm erneut die Tränen in die Augen stiegen. Er

konnte sie nicht zurückhalten. Sie liefen ihm über die Wangen und
tropften auf Bettys weiße Haut.

»Wir machen das schon, Mann«, sagte Doyle.
Slade sah überrascht auf. Hinter ihm standen Doyle und Angel. Sie

nahmen ihm Betty aus den Armen und legten sie vorsichtig wieder
zurück in ihr Grab.

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»Ich bin wirklich froh, dass du noch einmal ins Leben zurückgekehrt

bist, Mike«, sagte Barbara. Sie kniete sich neben ihm ins nasse Gras und
legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ich auch, Pferdeschwänzchen«, sagte er.
»Es ist... als wärst du irgendwie mein Vater. Mein richtiger Vater.

Mein geistiger Vater, meine ich.«

»Ich weiß, das empfinde ich auch so.« Er schnalzte mit der Zunge.

»Natürlich umgekehrt.«

»Das habe ich schon verstanden.« Sie umarmte ihn und schmiegte sich

zärtlich an ihn.

Er spürte, dass auch ihre Wangen nass waren, aber er konnte sie nicht

mehr sehr deutlich sehen. Alles verblasste langsam. Der Friedhof, Angel,
Doyle, Cordelia und Barbara – sie waren nur noch verschwommene
Gestalten, als würde er sie durch einen Schleier betrachten.

»Ich habe meine Pläne geändert«, fuhr Barbara fort. »Ich werde die

Academy beenden und eine Weile bei der Polizei arbeiten. Aber dann
höre ich auf und mache mich als Privatdetektivin selbständig!«

»Du musst dich von Angel schulen lassen«, sagte Mike mit

ersterbender Stimme. »Ich habe schon viele Pfeifen in meinem Job
gesehen und muss sagen, er ist einer der Besten, die ich je kennen gelernt
habe. Vielleicht einer der Besten, die es je gab.«

Barbaras Antwort konnte Slade nicht mehr verstehen. Die Worte

wurden von einem Rauschen in seinen Ohren fortgerissen – von einem
lauten Wind. Er konnte sie auch nicht mehr sehen. Vor seinen Augen
erstrahlte ein helles weißes Licht. Er hatte den Eindruck, kurz noch
einmal den Friedhof zu sehen, von oben, wie durch eine Wolke hindurch,
aber dann war das Bild verschwunden, und alles war nur noch weiß. Nur
noch Wind und Ruhe gab es. Nur noch Ruhe ...












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Epilog



Im Büro von Angel Investigations fiel das Licht der Nachmittagssonne
schräg durch die Fenster. Angel hielt sich davon fern und lehnte am
Türpfosten seines Büros. Die Arme hatte er vor der Brust verschränkt.
Cordelia saß an ihrem Schreibtisch, Doyle auf der Couch und Barbara
Morris in dem großen braunen Sessel.

»Barry Fetzer ist vor etwa einer Stunde zusammen mit ein paar

anderen Handlangern von Wechsler vor dem Bun Boy-Restaurant,
diesem legendären Hamburger-Laden mitten im Death Valley,
festgenommen worden. Sie waren nach Nevada unterwegs«, sagte
Barbara. »Jetzt werden sie in die Stadt zurückgebracht.«

»Was wird mit ihnen geschehen?«, wollte Cordelia wissen.
»Sie werden als Mittäter bei den Morden an den Wachmännern in der

Anlage von San Gabriel angeklagt«, erklärte Barbara. »Außerdem
fahndet die Polizei nach weiterem Belastungsmaterial.«

»Was ist mit den anderen Vergehen?«, fragte Angel. »Das, was mit

den Friedhöfen geschehen ist, zum Beispiel?«

Als sie mit den Dämonen auf dem Friedhof von Hollywood fertig

gewesen waren, hatten sie einige andere städtische Friedhöfe aufgesucht.
Überall, wo die Sprinkleranlagen arbeiteten, gab es ein paar Dämonen,
um die sie sich kümmern mussten. Aber nirgends waren sie so zahlreich
gewesen wie auf dem Friedhof von Hollywood.

Kurz vor Sonnenaufgang waren sie ins Büro zurückgekehrt. Nach

einer langen Nacht hatten Angel und Cordelia die Gelegenheit beim
Schöpf gepackt, um sich endlich auszuruhen. Aber Doyle hatte noch
etwas erledigen müssen, und Barbara war zur Academy gefahren. Sie
war ein paar Stunden weggewesen und nun mit den Neuigkeiten
zurückgekehrt.

»Die Stadt kann nur eine begrenzte Menge von Merkwürdigkeiten auf

einmal ertragen«, sagte Barbara. »Ich habe gehört, die Leute erzählen
sich, dass Harold Wechsler im Reservoir der Anlage von San Gabriel
ertrunken ist. Man vermutet einen gewaltsamen Tod, und die Polizei
verdächtigt Fetzer, etwas damit zu tun zu haben – zusammen mit den
anderen, die mit ihm nach Nevada abhauen wollten. Aber über die
Friedhöfe war gar nichts zu hören.«

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»Wie ist das möglich?«, fragte Cordelia. »Jemand muss doch bemerkt

haben, dass die Hälfte der Gräber in Hollywood offen ist und überall
Leichen herumliegen?«

»Ganz gewiss sind sie inzwischen schon gefunden worden«, erklärte

Barbara. »Aber irgendjemand hält die Geschichte streng unter
Verschluss.«

»Das überrascht mich nicht«, bemerkte Angel. »So etwas ist schwer zu

erklären.«

»Und die Presse ist völlig damit beschäftigt herauszufinden, warum die

Wasserversorgung der Stadt mehrere Stunden lang unterbrochen war.
Etwas anderes kriegen die Journalisten gar nicht mit.«

In diesem Augenblick ging die Tür auf und Detective Kate Lockley

betrat das Büro. Sie trug ein weißes Hemd, Jeans und hatte ihr Haar zum
Pferdeschwanz gebunden. Sie sah alles andere als fröhlich aus.

Sie ließ die anderen links liegen und kam direkt auf Angel zu, den sie

mit ihrem Blick durchbohrte. »Du«, sagte sie ernst. »Ich muss mit dir
reden!«

Angel ging in sein Büro und Kate folgte ihm.
»Was ist los, Kate?«, fragte er, nachdem er die Tür geschlossen hatte,

und setzte sich an seinen Schreibtisch.

»Was weißt du über Harold Wechsler?«
Angel zuckte mit den Schultern. »Was du mir über ihn gesagt hast. Er

ist der Chef vom Amt für Wasser- und Energieversorgung, nicht wahr?«

»Das war er«, sagte Kate. »Vergangenheit!«
»Wie meinst du das?«
»Er ist heute Nacht in der Wasseraufbereitungsanlage ertrunken.«
»Tut mir Leid zu hören«, entgegnete Angel.
»Oh ja, sicher. Ich darf wohl davon ausgehen, dass die Leute von der

Spurensicherung dort keine Spuren von dir finden werden?«

»Warum sollten sie? Kate, wie kommst du überhaupt auf die Idee ...«
»Ich weiß auch nicht, warum, Angel. Es ist nur so: Wann immer in der

Stadt etwas geschieht, das ich nicht erklären kann, scheinst du in der
Geschichte mit drin zu hängen. Diesmal war es dieser Privatdetektiv
Mike Slade, der hinter Wechsler her war. Und du hast nach Slade
gesucht. Du wurdest bei Wechslers Haus festgenommen. Und wenn ich
zwei und zwei zusammenzähle, dann ergibt das immer noch vier.«

»In Mathe war ich nie besonders gut.«
»Na gut«, entgegnete Kate patzig. »Dann machen wir es eben anders.

Ich werde dir sagen, was ich weiß. Und wenn du die eine oder andere
Lücke schließen kannst, dann zögere nicht!«

Angel nickte.

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»Harold Wechsler war, wie sich herausstellte, der Besitzer des

Gebäudes an der Argyle Avenue, in dem sich Mike Slades Büro befand«,
fing Kate an. »Jenem Bau, in dem wir neulich Slades Leiche entdeckten.
Wechsler hat es vor ein paar Monaten verkauft. Und zwar, nachdem er in
das neue Amt berufen worden war und bevor er es tatsächlich antrat. Er
verkaufte es an eine Baugesellschaft, die es abreißen wollte, um Raum
für Ladenlokale zu schaffen.«

»Klingt ja fürs Erste ganz normal«, bemerkte Angel. »Erzähl weiter!«
Kate setzte sich auf die Schreibtischkante. »Von dem Vorarbeiter der

Firma erfuhren wir, dass einer von Wechslers Leuten – ein Mann namens
Barry Fetzer, den wir zufällig heute festgenommen haben – an dem Tag,
als Slades Leiche gefunden wurde, zu dem Abrissgebäude kam. Er
wollte es unbedingt betreten.«

»Vielleicht hatte Wechsler dort etwas vergessen.«
»Eine Leiche zum Beispiel?«
»Vielleicht«, meinte Angel.
»Heute in den frühen Morgenstunden ist Wechsler jedenfalls zu der

Wasseraufbereitungsanlage in San Gabriel gefahren, wo er dann gegen
vier Uhr ertrunken ist. Und zufällig hat jemand die diensthabenden
Wachmänner der Anlage auseinander genommen, nachdem sie Wechsler
und seine Leute hereingelassen hatten. Und ebenso zufällig sperrten die
drei Ingenieure, die in der Anlage arbeiteten, die Wasserzufuhr zur Stadt
ab. Sie behaupten, es sei ihnen von einer Polizistin mit einem braunen
Pferdeschwanz befohlen worden. Wer, sagtest du, war noch die junge
Dame, die da draußen bei Doyle und Cordelia sitzt?«

»Ich hab gar nichts gesagt«, entgegnete Angel. »Sie heißt Barbara

Morris.«

»Okay«, fuhr Kate fort. »Dann ist nach Aussage dieser drei Ingenieure

ein Mann aufs Gelände gekommen. Er lief auf den Damm hinaus und
kehrte nach einer Weile wieder zurück und sagte den Ingenieuren, sie
sollten den Wasserhahn wieder aufdrehen. Was sie auch taten. Ihrer
Personenbeschreibung zufolge hatte dieser Mann dunkles Haar und
strahlend blaue Augen.« Sie warf erneut einen Blick in das vordere Büro,
diesmal in Doyles Richtung. »Kannst du immer noch nichts zu der
Geschichte beisteuern?«

»Nein, aber ich muss sagen, sie ist außerordentlich faszinierend,

Kate.«

»Die Leiche in dem Gebäude an der Argyle Avenue wurde eindeutig

identifiziert. Es handelt sich definitiv um Mike Slade«, fuhr Kate fort.
»Wir haben Zahnarztunterlagen und Röntgenaufnahmen von einem
Armbruch gefunden. Es passt alles zusammen. Zahlreiche Augenzeugen

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haben Slade allerdings auch als den Mann identifiziert, der in
unterschiedlichen Situationen hinter Wechsler her war. Der echte Mike
Slade starb 1961.«

»Wechsler ist derjenige, der ihn umgebracht hat«, erklärte Angel.
»Ist das eine Tatsache?«
»Ja.«
»Kannst du das beweisen?«
»Nicht vor Gericht. Aber ich versichere dir, es ist die Wahrheit.«
»Wechsler kann sowieso nicht mehr vor Gericht gestellt werden«,

sagte Kate. »Aber habe ich, wenn ich weitergrabe, eine Chance, den
Mordfall ein für alle Mal zu lösen?«

»Das bezweifle ich«, sagte Angel. »Möglicherweise nicht. Das alles ist

vor langer Zeit geschehen. Zu viele Leute sind inzwischen verstorben.
Du könntest Fetzer bearbeiten und hören, ob er etwas weiß.«

»Das werde ich tun.«
»Und wenn der Fall für immer ungelöst bleibt, hat Slade – glaube ich –

auch nichts dagegen.«

»Glaubst du, ja?«, gab Kate spitz zurück.
»Das glaube ich.«
»Warum?«
»Was Slade meiner Meinung nach wirklich wollte, war die

Bestätigung, dass er jemandem wichtig gewesen ist«, sagte Angel
nachdenklich. »Dass er nicht umsonst gelebt hat – ohne etwas
hinterlassen zu haben. Er wollte wissen, ob es Leute gibt, die sich an ihn
erinnern und ihn schätzen. Es gibt sie tatsächlich. Und das ist im Grunde
das Einzige, worauf es ankommt.«

Kate verschränkte die Arme vor der Brust und drehte sich zu Angel

um. Mit steinerner Miene sah sie ihm eine ganze Weile in die Augen, bis
es ihm fast unangenehm wurde. Er zuckte jedoch nicht mit der Wimper.

»Dann war es das also«, sagte sie. »Okay, belassen wir es dabei.«

Noch einmal sah sie ihn lange an. »Eines muss ich dir allerdings noch
sagen, Angel. Seit du nach Los Angeles gekommen bist, ist es mit der
Ruhe endgültig vorbei.«

»Ich wusste gar nicht, dass dir so sehr an Ruhe gelegen ist, Kate.«
»Das habe ich auch nicht gesagt. Dir etwa?«
Angel legte die Hände auf den Tisch. »Manchmal glaube ich, ich kann

Ruhe überhaupt nicht aushaken«, entgegnete er. »Aber dann, wenn es
mal wieder nicht so ruhig zugeht, sehne ich sie doch wieder herbei.«

Kate lachte. »Ich weiß, was du meinst, Angel.«
»Es erstaunt mich zwar, Kate«, sagte er und musste ebenfalls lachen,

»aber vielleicht tust du das wirklich.«


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