José Ortega y Gasset Theorie Andalusiens

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José Ortega y Gasset


THEORIE ANDALUSIENS

(Theoría de Andalucía)

1932












Entnommen aus

Stern und Unstern · Über Spanien

S. 37-56



Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart

1952

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PROLOG


Während des ganzen 19. Jahrhunderts hat Spanien un-

ter dem überwiegenden Einfluß Andalusiens gelebt. Das
Jahrhundert beginnt mit den Cortes von Cadiz; es endet
mit der Ermordung Cánovas des Castillo und der Nach-
folgerschaft Silvelas, zweier Malaguener. Die herrschen-
den Ideen tragen andalusisches Gepräge. Man malt An-
dalusien — ein flaches Sonnendach, den Patio mit Blu-
mentöpfen, blauen Himmel. Man liest andalusische Dich-
ter. Man redet beständig von dem Land Maria Sanctissi-
mas. Der Räuber der Sierra Morena und der Schmuggler
sind Nationalhelden. Ganz Spanien fühlt sein Dasein
gerechtfertigt, weil es die Ehre hat, das andalusische
Stücklein Erde einzuschließen. Dies ändert sich, wie so
vieles, um 1900. Der Norden besinnt sich auf sich selbst.
Es beginnt die Vorherrschaft der Katalanen, Asturier und
Basken. Wissenschaft und Kunst des Südens verstum-
men; der Einfluß andalusischer Politiker nimmt ab. Der
Cordobés weicht der Baskenmütze. Überall baut man
baskische Chalets. Der Spanier ist stolz auf Barcelona,
Bilbao, San Sebastián. Man spricht von baskischem Ei-
sen, von den Ramblas, von asturischer Kohle.

Dies Pendeln des spanischen Gravitationszentrums

zwischen den beiden Landeshälften verdiente nähere
Beachtung; es wäre verlockend, den Verlauf seines
Schwingungsrhythmus nach rückwärts zu verfolgen und
zu er-

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Theorie Andalusiens

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kunden, ob es ein periodisches Gesetz gibt, das unsere
ganze Geschichte in nördliche und südliche Epochen zu
gliedern gestattet.

Jedenfalls vermag ein scharfes Auge heute den Beginn

eines Niedergangs im Norden der Halbinsel zu erkennen.
Sei es, daß die Provinzen des Nordens ihre Spannkraft
und den Glauben an sich selbst, an ihre besonderen Ta-
lente, ihren Lebensstil, ihre Tüchtigkeit verloren haben;
sei es einfach, daß das gesamte Spanien mit nördlichen
Einflüssen gesättigt ist. Wahrscheinlich trifft beides zu.
Eine vage, aber unabweisbare Erfahrung läßt mich ver-
muten, daß die Lebenskraft jedes Individuums und jeder
Gemeinschaft keine absolute Größe ist, die nur von ihm
selbst abhängt, sondern eine Funktion der Lebenskräfte,
die ringsum vorhanden sind. Danach könnte es mit einem
Volk abwärts gehen, nicht weil es selbst versagt, sondern
einfach durch die Tatsache, daß andere Völker in seiner
Nähe aufsteigen. Und umgekehrt könnte eine Nation sich
beleben, weil ihre Nachbarn ermatten. Wenigstens ist es
augenblicklich auf wirtschaftlichem Gebiet klar, daß die
relative Armut Kataloniens, der baskischen Provinzen
und Asturiens mit dem Anwachsen des andalusischen
Reichtums zusammenfällt. Noch liegen keine faßbaren
Zeichen dafür vor, daß hiermit eine geistige und morali-
sche Auferstehung verbunden wäre, und wir kommen der
Wirklichkeit wohl am nächsten, wenn wir sagen, daß sich
Spanien in diesem Augenblick im Gleichgewicht zwi-
schen Norden und Süden befindet. Aber diese Unent-
schiedenheit wird kaum von Dauer




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Das Geheimnis Andalusiens

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sein. Sie stellt zweifellos eine Übergangsphase dar, die
binnen kurzem entweder mit einem Zurückfallen auf den
Norden oder mit einer neuen Begeisterung für Andalu-
sien enden wird.

Es ist klar, daß ein solches Zurückgreifen auf Andalu-

sien — gesetzt daß es eintritt — eine Vorstellung von
andalusischem Wesen mit sich bringen muß, die von der
unserer Väter und Großväter gründlich verschieden ist.
Der „canto hondo“, die „Seguidilla“, die angebliche
Fröhlichkeit des Andalusiers werden uns kaum noch
einmal entzücken. Dieser ganze südliche Firlefanz lang-
weilt und verstimmt uns.

Das wunderbare und tiefe Geheimnis Andalusiens

liegt jenseits der bunten Posse, die seine Bewohner gut-
gläubigen Touristen vorspielen. Denn dem Andalusier
gefällt es, im Unterschied zum Kastilier und Basken, sich
dem Fremden als ein Schaustück darzubieten, und er geht
darin so weit, daß sich der Reisende in einer so bedeu-
tenden Stadt wie Sevilla dem Eindruck nicht entziehen
kann, als wirkten alle ihre Bürger in der Rolle von Stati-
sten bei der Aufführung eines an den Litfaßsäulen unter
dem Titel „Sevilla“ angezeigten, prächtigen Balletts mit.
Diese Neigung der Andalusier, sich darzustellen und
Schauspieler ihrer selbst zu sein, verrät einen überra-
schenden Kollektivnarzißmus. Sich selber nachahmen
kann nur, wer fähig ist, Zuschauer seiner eigenen Person
zu sein; und dazu ist nur fähig, wer die Gewohnheit be-
sitzt, sich selbst zu sehen und zu beobachten und sich am
eigenen Bild und Wesen zu ergötzen.

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Theorie Andalusiens

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Wenn dies oft die peinliche Wirkung hat, daß die Anda-
lusier affektiert erscheinen, weil sie ihre eigene Art ge-
flissentlich unterstreichen und gewissermaßen zweimal
sie selbst sind, so zeigt es andererseits, daß sie zu den
Rassen gehören, die sich selbst am besten kennen und
durchschauen. Vielleicht gibt es keine zweite, die ein so
klares Bewußtsein ihres eigenen Charakters und Stils
besitzt. Dank diesem Umstand hat der Andalusier es
leicht, sich unwandelbar in den Grenzen seines tausend-
jährigen Wesens zu halten und, seinem Schicksal getreu,
seine ureigene Kultur zu schaffen.

Eine unentbehrliche Tatsache für das Verständnis der

andalusischen Seele ist ihr Alter. Man vergesse nicht: die
Andalusier sind vielleicht das älteste Mittelmeervolk,
älter als Griechen und Römer. Es mehren sich die Anzei-
chen, daß, ehe der Wind der historischen Einflüsse von
Ägypten und allgemein vom östlichen gegen das westli-
che Mittelmeerbecken blies, eine Periode entgegen-
gesetzter Luftrichtungen geherrscht hatte. Eine Kultur-
strömung, die älteste, von der wir Kunde haben, ging von
unseren Küsten aus, glitt an der Stirnseite Libyens hinun-
ter und gelangte bis in den Orient.

Man bedenke wohl, wenn man die kokette, fast weib-

lich anmutende Gebärde des Andalusiers sieht, daß sie
viele Jahrtausende lang so gut wie unverändert wieder-
holt worden ist, daß diese leichte Anmut der furchtbaren
Brandung der Zeit und den Zuckungen historischer Kata-
strophen unverletzt widerstanden hat. So betrachtet, ver-
wandelt sich das zierliche Gestenspiel des Andalu-




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Das China Westeuropas

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siers in ein dunkles und geheimnisvolles Zeichen, das
schaudern macht. Ein Eindruck ähnlich jenem, den das
rätselhafte Lächeln des Chinesen weckt — welch sonder-
bare Übereinstimmung! —, des andern hochbetagten
Volkes, das am äußersten Ostrand des eurasischen Fest-
landes sitzt.

Dies plötzliche Auftauchen Chinas in dem Prolog zu

einem Aufsatz über Andalusien darf den Leser nicht gar
zu sehr befremden. Wenn er Andalusier ist, verhalte er
seinen Ärger einen Augenblick und gebe mir Frist, meine
Parallele zu rechtfertigen. Der Vergleich ist das unent-
behrliche Hilfsmittel zum Verständnis. Er dient uns als
Pinzette zum Ergreifen jeder feinen Wahrheit, die um so
feiner, ist, je verschiedenartiger die beiden Zangenarme,
das heißt die Glieder des Gleichnisses sind. Auch fürchte
man nicht, daß diese kühne Zusammenstellung sich dar-
auf beruft, daß der Torero wie der Mandarin einen Zopf
trage. Der Zopf des Mandarinen ist nicht chinesisch und
der des Torero nicht spanisch, sondern französisch.

Andalusien, das nie Unabhängigkeitsgelüste zeigte,

das nie ein selbständiger Staat zu sein beanspruchte, be-
sitzt von allen spanischen Ländern die ausgeprägteste
Sonderkultur. Wir wollen Kultur so definieren, wie es
uns am verständlichsten scheint: als einen Inbegriff von
Haltungen zum Leben, die sinnvoll, einstimmig und
praktisch wirksam sind. Das Leben ist vor allem eine
Gesamtheit wesentlicher Probleme, und der Mensch ant-
wortet darauf mit einer Gesamtheit von Lösungen: der

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Theorie Andalusiens

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Kultur. Da viele solche Lösungssysteme möglich sind,
gab und gibt es viele Kulturen. Nur eines hat es niemals
gegeben: eine absolute Kultur, das heißt eine Kultur, die
jedem Einwand siegreich standhält. Die Kulturen, die wir
in der Gegenwart und Vergangenheit vorfinden, sind
mehr oder weniger unvollkommen; es ist möglich, eine
Rangordnung unter ihnen zu stiften, aber keine ist völlig
frei von Fehlern und Vorurteilen. Die eine und eigentli-
che Kultur ist nur ein Ideal und ließe sich definieren, wie
Aristoteles die Metaphysik oder eigentliche Wissenschaft
definiert; er nennt sie „die, welche gesucht wird“.

Es ist kein Zufall, wenn es jeder positiven Kultur nur

dadurch gelingt, eine gewisse Anzahl lebenswichtiger
Fragen zu lösen, daß sie die übrigen fallen läßt und auf-
gibt. So macht sie aus dem Mangel eine Tugend; und hat
sie etwas oder viel erreicht, so war es, weil sie ihren
fragmentarischen Charakter wohlgemut hinnahm. Wir
werden noch sehen, wie die andalusische Kultur von ei-
ner heldenhaften Amputation lebt, eben davon, daß sie
dem Leben das Heldentum amputiert — ein weiterer
Zug, worin sie mit der chinesischen übereinstimmt.

Beide haben eine gemeinsame Wurzel, was in diesem

Fall durchaus nicht metaphorisch gemeint ist, denn die
Wurzel ist, wie alle echten Wurzeln, in die Erde einge-
senkt, in den Acker; sie sind Ackerbaukulturen.

Wenn man durch Kastilien fährt, bleibt der Blick im-

mer wieder an dem Bauer hängen, der sein Feld bestellt
— über die Furche gekrümmt, sein Gespann vor sich,





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Bäuerliche und kriegerische Kultur

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das auf dem Rund des Horizontes riesenhafte Maße an-
nimmt. Dennoch ist die gegenwärtige kastilische Kultur
keine bäuerliche Kultur; sie ist nur Bodenbestellung, das,
was in einem Land immer übrigbleibt, wenn die wahrhaf-
te Kultur daraus verschwindet. Kastiliens Kultur war
kriegerisch. Der Krieger lebt auf dem Lande,, aber er lebt
nicht vom Lande, nicht materiell und nicht geistig. Das
Feld ist für ihn Schlachtfeld; er steckt die Ernte des fried-
lichen Landmanns in Brand oder requiriert sie für seine
Soldaten und Pferde. Die Burg, die am Felsen hängt, ist
nicht wie das Gehöft eine Stelle zum Verweilen, sondern,
gleich dem Adlerhorst, Aufbruchsort zur Jagd und
Schutzstätte für den Müden, Das Leben des Kriegers ist
nicht seßhaft, sondern beweglich, schweifend, unstet sei-
nem Wesen nach. Er verachtet den Bauern und betrachtet
ihn als ein untergeordnetes Wesen, gerade weil er sich
nicht bewegt, weil er bleibt, manet — wovon das franzö-
sische „manant“ —, weil er dem Dorf verhaftet ist, ein
„Dörfler“. Der herabsetzende Sinn beider Worte ist
gleichsam der Niederschlag einer Geringschätzung; er
mißt die Gegensätzlichkeit zweier Kulturen, die beide auf
dem Lande vorkommen, aber inverses Vorzeichen tra-
gen: der kriegerischen und der bäuerlichen. Als der Krie-
ger Kastilien verließ, blieb nur die minderwertige Masse
zurück, die den Unterbau seines Lebens gebildet hatte,
der ewige Feldarbeiter ohne Eigenprägung und Stil, der
überall derselbe ist.

Aus dieser Gegenüberstellung geht mit einiger Klar-

heit der positive und schöpferische Sinn hervor, den ich

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Theorie Andalusiens

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dem Worte gebe, wenn ich von der andalusischen Kultur
sage, daß sie ländlich, bäuerlich ist. Ihre Eigentümlich-
keit besteht nicht darin, daß der Mensch das Feld bestellt,
sondern daß er die Kultur des Feldes zum gestaltenden
Prinzip für die Kultur des Menschen macht.

In Andalusien hat man, umgekehrt wie in Kastilien,

den Krieger immer verachtet und den Bauern geschätzt,
den „manant“, den Herrn des Hofes. Genau wie in China,
wo Jahrtausende hindurch der Soldat, einfach weil er
Soldat war, als ein Mensch zweiter Klasse betrachtet
wurde. Während im Abendland das Schwert des Herr-
schers das höchste Symbol des Staates war, verehrte man
in China den friedlichen Fächer des Kaisers als das Insi-
gnium der Nation.

Die Geringachtung des Krieges ist die Ursache dafür,

daß Andalusien so wenig in die blutige Geschichte der
Welt eingegriffen hat. Dieser Zug des andalusischen We-
sens ist so tief verankert und dauernd, daß man ihn, da er
allzu offen war, niemals beachtet hat. Welche Rolle hat
Andalusien in der Kriegs- und Eroberungsgeschichte
gespielt? Dieselbe wie China. Alle drei- bis vierhundert
Jahre brechen die kriegerischen Horden der rauhen asiati-
schen Steppe in China ein. Sie überrennen das Volk der
hundert Familiennamen, das ihnen kaum oder gar nicht
widersteht. Die Chinesen haben sich von jedem erobern
lassen, dem es beliebte. Dem harten Angriff begegnen sie
mit ihrer Weichheit; ihre Taktik ist die Taktik des Kis-
sens: sie geben nach. So findet der wilde Eindringling
keinen Widerstand, dem er seine Kraft entgegenstem-




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Das vegetative Ideal

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men kann, und versinkt von selbst in das Kissen — in die
wunderbare Sanftheit des chinesischen Lebens. Das Er-
gebnis ist, daß der ungestüme Mandschu oder Mongole
nach zwei bis drei Generationen von der milden, alten,
verfeinerten Lebensart des Chinesen bezwungen das
Schwert fortwirft und den Fächer ergreift.

Auf eben diese Art ist Andalusien in die Gewalt aller

kampflustigen Mittelmeervölker gefallen, und das immer
in vierundzwanzig Stunden sozusagen und ohne den Ver-
such eines Widerstands. Auch seine Taktik war nachge-
ben und weich sein. So berauschte es mit seiner Süßig-
keit zuletzt immer den rauhen Mut der Eindringlinge. Die
baetische Olive ist das Symbol des Friedens als Anfang
und Normalzustand der Kultur

1

.




DAS VEGETATIVE IDEAL


Der Andalusier lebt in einem üppigen Land, das bei

geringer Mühe herrliche Früchte trägt. Überdies ist das
Klima so milde, daß der Mensch von diesen Früchten
sehr wenig braucht, um sein Dasein zu fristen — er lebt
wie die Pflanze, die sich auch nur zum Teil von der Erde
nährt und den Rest von der warmen Luft und dem wohl-

1

Die andere große Ackerbaukultur, die es gegeben hat, die des alten

Ägypten, ist ein Gegenstück zu China und Andalusien. Die Erobe-
rungen der Tutmes und Ramses wurden mit ausländischen Soldaten
gemacht.

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Theorie Andalusiens

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tätigen Licht empfängt. Wollte der Andalusier mehr als
das nackte Leben, stünde ihm der Sinn auf Wagnis und
kraftvolles Handeln, so müßte er, auch wenn er in Anda-
lusien lebte, besser essen, und das verlangte einen größe-
ren Kraftaufwand von ihm. Aber damit wäre dem Dasein
eine Lösung gegeben, die der andalusischen stracks ent-
gegenläuft. Solange wir glauben, alles über den Andalu-
sier gesagt zu haben, wenn wir ihn des Müßiggangs zei-
hen, sind wir unwürdig, in die subtilen Geheimnisse sei-
ner Seele und Kultur einzudringen.

„Müßiggang“ ist rasch gesagt, wenn es auch ein lan-

ges Wort ist. Aber der Andalusier hat an die viertausend
Jahre gefaulenzt, und er befindet sich nicht schlecht da-
bei. Anstatt diese Tatsache mit pedantischer Schulmei-
stergebärde zu behandeln und einem uralten Volk das
Prädikat „faul“ zu geben wie eine Zeugnisnote, sollten
wir lieber die Augen aufmachen und den Geist schärfen,
um es recht zu verstehen. Wir laufen sonst Gefahr, un-
versehens die Faulheit zu preisen, da sie ja diese linde
Stetigkeit des andalusischen Lebens ermöglicht hat.

Die berühmte Trägheit des Andalusiers ist die Form

und Formel seiner Kultur. Kultur bedeutet, wie ich schon
sagte, nichts anderes als die Aufstellung einer Gleichung,
mit der wir das Problem des Lebens zu lösen suchen.
Aber das Problem des Lebens kann auf zwei verschiede-
ne Arten gestellt werden. Wenn wir dem Leben ein Ma-
ximum an Intensität geben wollen, wird die Gleichung
einen maximalen Kraftaufwand von uns verlangen. Aber
beschränken wir von vornherein das vitale




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Die Trägheit des Andalusiers

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Problem, streben wir nach einer „vita minima“, so wer-
den wir mit kleinster Mühe zu einer Lösung gelangen,
die derjenigen des unternehmenderen Volkes an Voll-
kommenheit nicht nachsteht. Das ist der Fall des Andalu-
siers. Seine Lösung ist tief und kühn. Statt das „Haben“
zu erhöhen, setzt er das „Soll“ herab; anstatt sich anzu-
strengen, um zu leben, lebt er, um sich nicht anzustren-
gen, und macht aus der Vermeidung der Anstrengung das
Prinzip seines Daseins.

Es wäre also ein Irrtum, ohne weiteres anzunehmen,

daß der Sevillaner auf das Leben eines Engländers der
City verzichtet, weil er unfähig ist, so viel zu arbeiten
wie dieser. Er würde eine solche Lebensweise, selbst
wenn sie ihm ohne Arbeit als das Geschenk einer Fee in
den Schoß fiele, mit Entsetzen zurückweisen. Die Faul-
heit mag bei dem Andalusier auch ein Fehler und ein
Laster sein; aber in erster Linie ist sie nicht Fehler und
Laster, sondern nichts Geringeres als sein Lebensideal.
Das ist das Paradoxon, das jeder wohl erwägen sollte, der
Anspruch darauf macht, Andalusien zu verstehen: die
Faulheit als Ideal und als Kulturstil. Übrigens können wir
ungescheut statt Faulheit „geringste Anstrengung“ sagen;
die Idee bleibt dieselbe, nur gewinnt sie ein etwas ehr-
würdigeres Aussehen.

Wir Heutigen kommen von einer historischen Epoche

her, die mehr als irgendeine andere aus der „größten An-
strengung“ ein Lebensideal gemacht hat, und es wird uns
schwer, eine vitale Haltung zu begreifen, die der uns-
rigen so entgegengesetzt ist. Wir deuten Faulheit von

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Theorie Andalusiens

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vornherein als eine bloße Verneinung, ein Nichtstun.
Aber übertreiben wir die Trägheit der Andalusier nicht!
Schließlich müssen sie doch immer alles Nötige getan
haben, da Andalusien ja existiert; und ihre Lässigkeit
schließt die Arbeit nicht völlig aus; sie ist eher die Weise
und der Sinn ihrer Art zu arbeiten. Es ist eine Arbeit, die
von der Faulheit eingegeben und auf Faulheit gerichtet
ist, die darum gern in jeder Beziehung möglichst klein
sein möchte, als schäme sie sich ihrer selbst. Dieser Zug
tritt besonders klar hervor, wenn wir an den anspruchs-
vollen, zur Schau getragenen, maßlosen Fleiß jener Völ-
ker denken, die aus der Arbeit ihr Ideal machen.

Schließlich ist, wie Friedrich Schlegel sagte, die Faul-

heit das letzte Gut, das uns vom Paradies übriggeblieben
ist, und Andalusien also das einzige Volk des Abend-
lands, das treu zu einem paradiesischen Lebensideal
steht. Eine solche Treue wäre unmöglich gewesen, wenn
die Landschaft, in welcher der Andalusier behaust ist,
diesen Daseinsstil nicht erleichtert hätte. Aber man falle
nicht in die triviale Erklärung zurück, wonach eine Kul-
tur als zwangsläufiger Ausfluß der Umwelt begriffen
wird.

Auf den Nordländer wirkt das Licht und die Farben-

schönheit der andalusischen Landschaft wie ein heftiger
Reiz, der ihn zu Tollheiten treibt

1

. Darum nimmt er an,


1

Chateaubriand erzählt, „die hunderttausend Söhne des heiligen

Ludwig“ seien, als sie von der Paßhöhe der Sierra Morena plötzlich
die Gefilde Andalusiens vor sich sahen, von dem Schauspiel so er-
griffen worden, daß die Bataillone vor dem wunderbaren Land spon-
tan das Gewehr präsentierten.

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Das paradiesische Lebensideal

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daß die Andalusier auch toll wären, wenn die Trägheit sie
nicht lahmte. Er macht sich von ihnen das Bild eines le-
bensprühenden Volkes, und sieht er die Sevillanerin vo-
rübergehen mit ihren nachtdunklen Augen, so ahnt er
eine unerhörte Glut und wunderbare Leidenschaften in
ihrer Seele. Er irrt sich gründlich. Ihm entgeht, daß der
Andalusier die Vorteile seines Mediums im umgekehrten
Sinn ausnützt. Das andalusische Volk besitzt ein Mini-
mum an Vitalität, gerade so viel wie ihm von selbst aus
der durchsonnten Luft und der fruchtbaren Erde zu-
wächst. Es verhält sich zu seiner Umwelt so passiv wie
möglich und lebt wie eine Pflanze, eingebettet in die
wunderbare Atmosphäre seines Landes.

Das Leben im Paradies ist vegetatives Leben. Paradies

heißt Garten. Und das Dasein der Pflanze ist von dem
tierischen dadurch unterschieden, daß sie nicht selbsttätig
in ihre Umwelt eingreift. Mit ihren Wurzeln empfängt sie
die Nahrung der Erde, mit ihren Blättern trinkt sie Sonne
und Wind. Leben heißt für sie, von außen ihren Unterhalt
empfangen und im Empfangen beglückt sein. Für die
kleine grüne Blatthand ist die Sonne Nahrung und Lieb-
kosung zugleich. Für das Tier dagegen fallen Ernährung
und Genuß auseinander. Es muß sich anstrengen, um
seine Nahrung zu erlangen, und sich dann vermittels an-
derer Funktionen seine Freuden suchen. Je weiter wir
nach Norden gehen, um so tiefer wird die Kluft zwischen
diesen beiden Seiten des Lebens. Nun wohl, dem Anda-
lusier erscheint an dem Engländer oder Deutschen die
Art der Arbeit ebenso hirn-

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Theorie Andalusiens

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verbrannt wie die der Zerstreuung, beides ohne Maß und
eines vom andern losgerissen. Er für sein Teil zieht es
vor, wenig zu arbeiten und sich mäßig zu vergnügen,
aber beides zugleich, beide Tätigkeiten verschmolzen zu
einer einzigen Geste des Lebens, die sanft dahinfließt,
ohne Pausen und ohne Erschütterungen, ein unendliches
Adagio cantabile. In Andalusien strömt gewissermaßen
der Feiertag, der Sonntag, auf den Rest der Woche über
und erfüllt die Arbeitstage mit Festlichkeit und goldener
Ruhe. Aber umgekehrt ist auch das Fest weniger aus-
schließlich und ausschweifend, der Sonntag weniger un-
terschieden von dem Werktag als bei den nördlichen
Rassen. Ausschweifend ist Sevilla nur für hyperboreische
Fremdlinge; für die Eingeborenen ist das Leben immer
ein wenig Feiertag und niemals ganz.

Wenn unser Auge sich auf Andalusien richtet, ist es

geblendet und glaubt ein Bild trunkener Lebenslust zu
sehen. Aber warten wir ein wenig, bis dieser oberflächli-
che Eindruck vorübergeht! Dann werden wir entdecken,
daß dem andalusischen Leben jede Trunkenheit fernliegt
und daß es mit einer feinen Trockenheit bemüht ist,
Schmerz wie Lust um einen Ton herabzustimmen.

Was dem Andalusier wichtig scheint, ist gerade das

Tägliche des Lebens, die Kette stiller, einfacher Freuden,
die vollkommen gleichmäßig ohne Höhen und Tiefen das
ganze Leben durchziehen können. Im Paradies ist kein
Platz für heftige, leidenschaftlich auf kurze Augenblicke
zusammengedrängte Genüsse, denen Stunden der Leere
oder Reue folgen. Die Pflanze, dies Stück




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Der Andalusier lebt mit der Haut

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Paradies, genießt mäßig, aber ohne Unterbrechungen: sie
genießt es, ihr Laub dem Strahlenbad der Sonne darzu-
bieten, ihre Zweige im sanften Wind zu wiegen, ihre
Gewebe am Regen zu erquicken. Nun wohl, wenn es dem
Nordländer auch unglaublich erscheint, es gibt in diesem
Winkel des Planeten Tausende von Menschen, denen der
Genuß eines milden Himmels das süßeste Labsal ist. Es
ist unbeschreiblich, wieviel Glück der Andalusier aus
seinem Klima, seinem Himmel, seinen blauen Morgen-
frühen, seinen goldenen Dämmerungen zieht. Seine
Freuden sind nicht innerlich, nicht geistig und nicht auf
überlieferte Kulturgüter gegründet. Von diesem allen, das
der Zeitgeist ihm aufdrängt, hat er sich nur das Unum-
gängliche zu eigen gemacht. Aber die Wurzeln seines
Wesens ruhen weiter in jener elementaren, tiefen und
dauernden Beglücktheit durch die kosmische Schönheit.
Der Andalusier hat ein pflanzenhaftes Gefühl für das
Dasein; er lebt hauptsächlich mit der Haut. Gut und Böse
sind für ihn in erster Linie kutane Werte; gut ist das Sanf-
te, schlecht das, was rauh anrührt. In der Atmosphäre zu
leben, ist sein wahrhaftes, ewiges Fest; sie durchdringt
sein ganzes Wesen, gibt allem, was er tut, einen leichten,
warmen Reiz und ist gewissermaßen das liebliche Urbild
seines Betragens. Der Andalusier möchte seine Kultur
nach dem Bild seiner Atmosphäre formen

1

.

1

Ich hoffe, man versteht mich recht. Ich mache dem Andalusier

nicht den törichten Vorwurf, daß er nur vegetiert. Ich meine, daß
seine Kultur — und daher seine geistige

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Theorie Andalusiens

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Dies Volk ist in anderer und wesentlicherer Form als

Völker sonst auf seine Erde bezogen und ihr verhaftet.
Andalusisch ist für den Andalusier in erster Linie das
Land und die Luft Andalusiens. Die andalusische Rasse,
der andalusische Mensch, kommt erst hinterher; er be-
trachtet sich selbst als zweiten Faktor, als bloßen Nutz-
nießer des herrlichen Landes, und in diesem Sinn, nicht
wegen besonderer menschlicher Eigenschaften, hält er
sich für ein auserwähltes Volk. Jeder Andalusier hat die
liebenswürdige Überzeugung, daß es ein tolles Glück ist,
Andalusier zu sein. Wie die Juden sich eine Sonderstel-
lung unter den Völkern zuschrieben, weil ihnen von Gott
ein Land des Überflusses verheißen war, weiß sich der
Andalusier begnadet, weil Gott ihn ohne vorherige Ver-


Aktivität — die vegetative Seite des Daseins steigert und verschönt.
Daher, außer vielen andern Einzelzügen, die zärtliche Freundschaft
des Andalusiers mit der Pflanze, der Nutz- und Zierpflanze, der Rebe
und der Blume. Er pflegt die Olive, aber auch den Blumentopf. So-
zialistische Empfindsamkeit hat wieder und wieder darauf hingewie-
sen, daß der andalusische Landarbeiter fast nichts ißt und daß seine
Nahrung aus trockenem Brot und Zwiebeln besteht. Die Tatsache ist
unbestreitbar, aber die Beobachtung ist doch falsch, weil sie unvoll-
ständig ist. Man kommt der Wahrheit näher, wenn man hinzufügt,
daß in Andalusien alle Leute schlecht essen, nicht nur die Armen.
Die andalusische Küche ist die ungepflegteste, primitivste und kärg-
lichste der ganzen Halbinsel. Ein baskischer Tagelöhner ißt mehr
und besser als ein steinreicher Mann in Córdoba oder Jaén. Selbst
hierin ahmt der Andalusier die Pflanze nach: er nährt sich, ohne zu
essen; er lebt, weil ihn Himmel und Erde umfangen. — Ebenso der
Chinese

.



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Die Liebe des Andalusiers zu seinem Land

55

heißung auf das schönste Stück Erde gesetzt hat. Gegen-
über dem Volk mit dem gelobten ist er das Volk mit dem
geschenkten Land, der Sohn Adams, dem das Paradies
zurückgegeben ist.

Wir müssen bei dieser eigenartigen Liebe des Andalu-

siers für sein Land verweilen, denn sie ist der wesentlich-
ste Zug der andalusischen Seele. Jetzt wird der positive
Sinn klar, der in meiner Charakterisierung der andalusi-
schen Kultur als einer bäuerlichen Kultur enthalten ist.
Die Verbundenheit des Menschen mit der Erde erscheint
idealisiert zu einem geistigen Verhältnis und fast zu ei-
nem Mythos. Er lebt von seinem Boden nicht nur im ma-
teriellen Sinn wie alle anderen Völker, sondern er lebt
von ihm wie von einer Idee, ja von einem Ideal. Der Ga-
licier ist traurig und sehnsüchtig in der Fremde, der Astu-
rier und der Baske haben Heimweh nach ihren engen,
dampfenden Tälern. Aber ihr Zusammenhang mit der
mütterlichen Erde ist blind, gleichsam physisch, ohne
geistigen Sinn. Der Andalusier dagegen mag fern der
Heimat diesen mechanischen Widerhall des Gefühls
nicht verspüren, aber das Leben in Andalusien bedeutet
für ihn das Ideal, das bewußte Ideal. Und umgekehrt,
während ein Galicier Galicier bleibt, auch außerhalb Ga-
licias, hört der verpflanzte Andalusier auf, Andalusier zu
sein; seine Eigenart verwischt sich und verschwindet.
Denn Andalusier sein, heißt soviel wie zusammenleben
mit der andalusischen Erde, sich auftun für ihre kosmi-
sche Schönheit und für die Eingebungen ihrer besonderen
Atmosphäre.

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Theorie Andalusiens

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Dies Ideal — die andalusische Erde als Ideal —

kommt uns nördlichen Menschen allzu einfach und pri-
mitiv vor. Zugegeben! Aber es ist so grundlegend und
elementar, so viel ursprünglicher als alles andere, daß der
Rest des Lebens, wenn er auf diesem Grunde steht, von
vornherein eine ideelle Prägung erhält. Daher hat das
ganze andalusische Dasein, besonders die schlichtesten
und alltäglichsten Verrichtungen, die bei andern Völkern
so häßlich und unvergeistigt sind, jene wunderbare idea-
lische Haltung, die ihm Stil und Anmut gibt. Wenn der
Wert anderer Völker in den oberen Stockwerken ihres
Lebens liegt, ist bei dem Andalusier das Erdgeschoß be-
zaubernd, alles das, was immerzu gesagt und getan wird,
die absichtslose Gebärde, der selbstverständliche Brauch.

Aber es gilt auch das Umgekehrte: dies Volk, bei dem

die vegetative Grundlage des Daseins idealisierter ist als
bei irgendeinem andern, besitzt sonst fast keine Ideale;
ich wüßte niemanden, der außerhalb des täglichen Le-
bens so wenig Idealist ist wie der Andalusier.


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