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ULLSTEIN 

SCIENCE FICTION

 

Ein Feuer unbekannter Art erfaßt den Endzeit-Menschen Jhe-
rek Carnelian, als Mrs. Amelia Underwood, eine äußerst pu-
ritanisch erzogene Dame aus dem viktorianischen England 
sich auf unerklärliche Weise in seine Ära verirrt. Der Weltmann 
Carnelian, ein leicht dekadenter Sproß der Eisernen Orchi-
dee, der ebenso wie seine nach dem Lustprinzip dahinleben-
den Freunde stets geglaubt hat, er wisse alles über die irdi-
sche Vergangenheit, muß sich eines Besseren belehren las-
sen: Mrs. Underwoods Andersartigkeit fasziniert ihn ebenso 
wie ihre Unnahbarkeit und ehe er sich versieht, ist er in heißer 
Liebe zur ihr entflammt. Als sie ins London des Jahres 1895 
zurückkehrt, sieht Carnelian keine andere Möglichkeit, als 
ihr per Zeitmaschine in die Vergangenheit zu folgen. Und ehe 
er einen klaren Gedanken fassen kann, ist er in die ungeheuer-
lichsten Umtriebe verwickelt, und Scotland Yard ist ihm dem 
vermeintlichen russischen Anarchistenauf den Fersen. 
Michael Moorcock ist mit Charles Dickens, Raymond 
Chandler, Edgar Allan Poe, H.G. Wells und Ray Bradbury ver-
glichen worden. EIN UNBEKANNTES FEUER ist der erste Teil 
eines neuen, fünf bändigen Zyklus. 

 

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MICHAEL MOORCOCK 

 

Ein unbekanntes 

Feuer 

Science Fiction 

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Inhalt

 

Prolog .......................................................................................  

5 

1.  Kapitel: Eine Unterhaltung mit der Eisernen Orchidee … 

2.  Kapitel: Eine Soirée beim Herzog von Queens....................  21 

3.  Kapitel: Ein nicht sehr unterhaltsamer Besucher .................  

35 

4.  Kapitel: Carnelian entwickelt eine neue Besessenheit .........  45 

5.  Kapitel: Eine Menagerie aus Zeit und Raum  .....................  

56 

6.  Kapitel: Eine glückliche Begegnung: Die Eiserne Orchidee 

entwickelt einen Plan .............................................  

77 

7. Kapitel: Der Diebstahl eines Raumfahrers ..........................  

89 

8.  Kapitel: Mrs. Amelia Underwoods Versprechen und ein 

Rätsel .....................................................................  104 

9. Kapitel: Ein Hauch von Idylle – Ein Hauch von 

Tragödie.................................................................  124 

10.  Kapitel: Die Erfüllung eines Herzenswunsches ....................   139 

11. Kapitel: Die Suche nach Bromley .......................................   150 

12.  Kapitel: Das seltsame Kommen und Gehen des Gauner 

Vine .......................................................................  164 

13.  Kapitel: Die Straße zum Galgen Alte Freunde in neuen 

Kleidern .................................................................  188 

14. Kapitel: Eine weitere Unterhaltung mit der Eisernen 

Orchidee ...............................................................   210 

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PROLOG 

 

Der Zyklus der Erde (tatsächlich des Universums, wenn die 
Wahrheit bekannt gewesen wäre) näherte sich seinem Ende, 
und die menschliche Rasse hatte schließlich aufgehört, sich 
selbst ernst zu nehmen. Als Erbe eines in Jahrtausenden 
angehäuften wissenschaftlichen und technologischen Wis-
sensschatzes nutzte sie dieses Wissen, um sich ihren wilde-
sten Phantasien hinzugeben, gewaltige schöpferische Spiele 
zu veranstalten, sich zu entspannen und wunderschöne Un-
geheuerlichkeiten zu erschaffen. Ihr blieb ohnehin kaum 
eine andere Wahl. Ein früheres Zeitalter wäre vielleicht an-
gesichts dessen, was in ihm als Verschwendung von Res-
sourcen und als erschreckende Extravaganz im Umgang mit 
Materialien und Energien gegolten hätte, entsetzt gewesen. 
Ein früheres Zeitalter hätte die Bewohner dieser Welt als 
»dekadent« oder »amoralisch« bezeichnet, um es vorsichtig 
auszudrükken. Aber auch wenn sich diese Menschen nicht 
der Tatsache bewußt waren, daß sie am Ende der Zeit lebten, 
prägte  doch  eine  unbewußte  Erkenntnis ihr Verhalten und 
ließ sie das Interesse an Idealen, Glaubensbekenntnissen, 
Philosophien und den Konflikten verlieren, die aus derarti-
gen Dingen entstehen. Sie fanden Vergnügen an paradoxen, 
ästhetischen und barocken Einfallen; wenn sie überhaupt 
eine Philosophie besaßen, dann war es die Philosophie des 
Geschmacks, der Sinnesfreudigkeit. Die meisten der alten 
Gefühle waren verkümmert und bedeuteten ihnen nur 
noch wenig. Ihre Rivalität war ohne Eifersucht, ihre Zunei-
gung ohne Wollust, ihre Bosheit ohne Zorn, ihre Freund-
lichkeit ohne Mitleid. Ihre Pläne oft grandios und pervers 
verfolgten sie ohne Besessenheit und ließen sie ohne Be-
dauern unvollendet, denn der Tod war eine seltene Erschei-
nung, und das Leben würde vielleicht erst erlöschen, wenn 

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die Erde selbst starb. 

Dennoch handelt diese Geschichte von einer Besessenheit, 

die von einem dieser Menschen Besitz ergriff, sehr zu seinem 
eigenen Erstaunen. Und nur weil er dieser Besessenheit er-
lag, haben wir eine Geschichte zu erzählen. Sie ist wahr-
scheinlich die letzte Geschichte in den Annalen der mensch-
lichen Rasse, und wie es der Zufall will, ist sie derjenigen 
nicht unähnlich, die viele für die erste halten. 

Was nun folgt, ist die Geschichte von Jherek Carnelian, der 

die Bedeutung der Tugend nicht kannte, und von Mrs. Ame-
lia Underwood, die alles darüber wußte. 

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1. Kapitel 

 

EINE UNTERHALTUNG MIT DER EISERNEN ORCHIDEE 

 

Bekleidet mit verschiedenen hellbraunen Schattierungen, saßen 
die Eiserne Orchidee und ihr Sohn an einem cremefarbenen 
Strand aus zermalmten Knochen. In einiger Entfernung funkel-
te und flüsterte eine weiße See. Es war Nachmittag. 

Zwischen der Eisernen Orchidee und ihrem Sohn, Jherek 

Carnelian, lagen die Überreste einer Mahlzeit. Verteilt auf ei-
nem Tuch aus reinem Damast, standen Elfenbeinteller mit 
hellem Fisch, Kartoffeln, Meringe, Vanilleeis, und in der Mitte 
all dessen leuchtete auf recht dramatische Weise eine Zitrone. 

Die Eiserne Orchidee lächelte mit ihren Bernsteinlippen und 

fragte, während sie nach einer Auster griff: »Was, mein Gelieb-
ter, meinst du mit ›tugendhaft‹?« Ihre formvollendete Hand, be-
stäubt mit dem zartesten Hauch Gold, verharrte einen Moment 
über der Auster und wurde dann zurückgezogen. Statt dessen 
verbarg sie mit der Hand ein leises Gähnen. 

Ihr Sohn räkelte sich auf seinen weichen Kissen. Auch er fühlte 

sich müde nach den Anstrengungen des Essens, aber gehorsam 
nahm er den Gesprächsfaden wieder auf. »Ich bin mir nicht völ-
lig über die Bedeutung im klaren. Wie du weißt, faszinierend-
stes aller Mineralien, betörendste aller Blumen, habe ich mich 
eingehend mit der Sprache jener Zeit befaßt. Ich muß inzwi-
schen alle Aufzeichnungen besitzen, die noch darüber existie-
ren. Es bereitet mir beträchtliches Vergnügen. Aber mir ist nicht 
jede Nuance verständlich. Ich habe den Begriff in einem Wör-
terbuch gefunden, und nach dem Wörterbuch bedeutet er, mit 
›moralischer Rechtschaffenheit‹ oder in Übereinstimmung mit 
den ›Moralgesetzen‹ zu handeln ›gut‹, ›gerecht‹, ›rechtschaffen‹. 
Verwirrend!« 

Er nahm eine Auster. Er schlürfte sie in den Mund. Er ließ sie 

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die Kehle hinabgleiten. Es war die Eiserne Orchidee gewesen, 
die die Austern entdeckt hatte, und entzückt hatte er zuge-
stimmt, als sie vorschlug, sich an diesem Strand zu treffen und 
sie zu verzehren. Sie hatte ein wenig Champagner erschaffen 
und ihn mitnehmen wollen, aber beide waren dann übereinge-
kommen, daß er ihnen nichts bedeutete, und fröhlich hatten sie 
ihn wieder in seine atomaren Bestandteile zerlegt. 

»Wie dem auch sei«, fuhr er fort, »ich würde es gern eine kleine 

Weile damit versuchen. Der Gedanke liegt nah, daß es mit 
›Selbstverleugnung‹ zusammenhängt, und das bedeutet«, kam 
er ihrer Frage zuvor »nichts Angenehmes zu tun.« 

»Aber alles, du Leib aus Samt mit Knochen aus Stahl, ist ange-

nehm!« 

»Richtig und dort liegt unser Paradoxon! Sieh einmal, Mut-

ter, die Ahnen teilten ihre Gefühle in verschiedene Gruppen 
ein in Kategorien von Empfindungen, die ihnen, wie es scheint, 
nicht alle angenehm waren. Oder sie fanden sie angenehm und 
waren deshalb unangenehm berührt! Oh, liebste Eiserne Or-
chidee, ich erkenne, daß du am liebsten das ganze Thema fal-
lenlassen möchtest. Und oft verzweifle ich bei dem Versuch, 
die Antwort zu ergründen. Warum wurde eine Sache für wert 
befunden, sie weiterzuverfolgen, und eine andere nicht? Aber«, 
und seine hübschen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln –, 
»ich werde das Problem auf die eine oder andere Weise früher 
oder später lösen.« Und er schloß seine müden Lider. 

»Oh, Carnelian!« 
Sie lachte leise und zärtlich und neigte sich über das Tuch, 

um ihre schlanken Hände unter sein lockeres Gewand zu 
schieben und seine Wärme und sein Blut zu streicheln. 

»Oh, mein Liebster! Wie schnell du antwortest! Wie stark und 

prall du heute bist!« 

Und er richtete sich auf, stieg über das Tuch hinweg, ließ sei-

nen großen Körper auf den ihren sinken und küßte sie lang-

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sam. 

Und die See seufzte. 
Als sie erwachten, noch immer in den Armen des anderen, 

war es Morgen, obwohl keine Nacht verstrichen war. Zu ihrem 
Vergnügen hatte sich zweifellos jemand die Mühe gemacht, 
den Zeitablauf zu verändern. Es war nicht wichtig. 

Jherek bemerkte, daß die See dunkelrosa, fast kirschrot ge-

worden war und ungestüm gegen den Strand brandete, wäh-
rend hinter ihm am Horizont, wie er feststellte, zwei Palmen 
und eine Klippe spurlos verschwunden waren. An ihrem Platz 
stand eine silberne Pagode, etwa zwölf Stockwerke hoch und in 
der Morgensonne glitzernd. 

Jherek sah nach links und war erleichtert, als er erkannte, 

daß sein Luftwagen (der einer Dampflokomotive aus dem frü-
hen 20. Jahrhundert ähnelte, aber nur halb so groß war und aus 
Gold, Elfenbein und Rubinen bestand) sich noch immer dort 
befand, wo sie ihn zurückgelassen hatten. 

Er blickte erneut zur Pagode hinüber, mit gerecktem Hals, 

denn seine Mutter ruhte noch immer mit dem Kopf an seiner 
Schulter. Als sich eine geflügelte Gestalt vom Dach der Pago-
de löste, drehte sich auch seine Mutter um und verfolgte, wie 
sie wie toll in Richtung Osten flog, sich zur Seite neigte und in 
die Tiefe stürzte, im Kreisflug zurückkehrte, nur knapp an der 
scharfen Kante der Pagodenspitze vorbeischoß und schließlich 
verschwand. 

»Oh«, rief die Eiserne Orchidee, während sie sich erhob. »Der 

Herzog von Queens mit seinen Flügeln. Warum glaubt er nur 
so hartnäckig daran, daß sie ihm Erfolg bringen werden?« Ver-
sonnen winkte sie mit einer Hand dem verschwundenen 
Herzog nach. »Lebwohl. Er spielt wohl wieder eines seiner 
einsamen Spiele, denke ich.« Sie sah hinunter auf die Überreste 
des Mittagessens und schnitt eine Grimasse. »Ich muß das weg-
räumen.« Mit einer Drehung des Rings an ihrer linken Hand 

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desintegrierte sie die Mahlzeit und verfolgte, wie sich der Staub 
in der Luft verzog. »Gehst du heute abend dorthin? Zu seinem 
Fest?« Sie hob ihren schlanken Arm, von braunem Brokat um-
hüllt, und berührte ihre Stirn mit den Fingerspitzen. 

»Ich glaube schon.« Er desintegrierte seine Kissen. »Ich habe 

den Herzog von Queens sehr gern.« 

Mit leicht gespitzten Lippen sinnierte Jherek Carnelian über 

die rosa See. »Obwohl ich nicht immer seinen Farbgeschmack 
gutheißen kann.« 

Er wandte sich ab, schritt über den Strand aus zermalmten 

Knochen zu seinem Luftwagen und stieg ein. 

»Alle Mann an Bord, mein Fort, meine Seele, Eiserne Orchi-

dee!« 

Sie kicherte und streckte sich ihm entgegen. 
Vom Führerstand aus griff er nach unten, umfaßte ihre Hüfte 

und schwang sie an Bord. 

»Auf nach Pasadena!« 
Er ließ seine Pfeife ertönen. 
»Wir legen ab nach Buffalo!« 
Die kleine Lokomotive reagierte auf das akustische Signal 

und hob sich stolz in die Luft, dampfte dem Himmel entgegen, 
während lieblicher, kalkfarbener Rauch aus ihrem Schornstein 
und zwischen den Rädern hervorquoll. 

»Oh, sie verhießen’s ihm in Virginia-Feurig«, sang Jherek 

Carnelian mit einer scharlachfarbenen, goldbetreßten Maschi-
nistenmütze auf dem Kopf, »riefen ›Mach Dampf‹, du bist viel 
zu spät dran! Noch ist’s nicht ‘98, noch haben wir ‘97. Dir bleibt 
keine Wahl, nur die alte Nantucket-Bahn!« 

Die Eiserne Orchidee lehnte sich in ihrem Sitz aus Plüsch und 

Hermelin zurück (eine genaue Reproduktion des Originals, 
wie sie wußte) und verfolgte amüsiert, wie ihr Sohn die Feue-
rungsklappe öffnete und die großen schwarzen Diamanten 
hineinschaufelte, die er speziell für die Lokomotive erschaffen 

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hatte und die obgleich für die Energieversorgung des Luftwa-
gens ohne Nutzen der Lustbarkeit eine ästhetische Note ver-
liehen. 

»Woher hast du nur all diese alten Lieder, Carnelian, Gelieb-

ter?« 

»Ich habe ein verstecktes ›Plattenlager‹ entdeckt«, erklärte er 

und wischte mit einem Seidentuch ehrlichen Schweiß aus sei-
nem Gesicht. Die Eisenbahn schoß geschwind über einen See 
und eine Bergkette hinweg. »Eine Art Tondepot aus der glei-
chen Epoche wie das Original dieses Luftwagens. Zumindest 
eine Million Jahre alt, obwohl einiges darauf hindeutet, daß es 
sich bei ihnen um Reproduktionen anderer Originale handelt. 
Generationen von Besitzern haben sie in tadellosem Zustand 
erhalten.« 

Er schlug die Feuerungsklappe zu, verstaute die Platinschau-

fel, gesellte sich zu ihr auf die Couch und sah hinunter auf die 
malerisch gestaltete Landschaft, mit deren Bau Mistreß Chri-
stia, die Ewige Konkubine, vor einiger Zeit begonnen hatte, 
ohne sie fertigzustellen. 

Sie war nicht elegant. Um ehrlich zu sein, sie war ein einziges 

Durcheinander. Ein zu zwei Dritteln fertiggestellter Hügel im 
Stil der postarischen Landschaftsingenieure aus dem 91. Jahr-
hundert trug einen Schlangenbaum nach saturnischer Art, aber 
ungefärbt; ein Teil einer gotischen Ruine aus dem 11. Jahrhun-
dert stand neben einem Flußstreifen aus der Periode des Ben-
galischen Reiches. Man konnte verstehen, warum sie beschlos-
sen hatte, die Arbeit nicht zu vollenden, aber Jherek bedauerte 
es, daß sie sich nicht die Mühe gemacht hatte, sie zu desinte-
grieren. Natürlich würde es früher oder später ein anderer 
tun,  »Carrie Joan«, sang er, »hielt ihren Kessel am Kochen. 
Carrie Joan füllte ihn mit Wein. Carrie Joan stand am Herd seit 
Wochen. Dabei mußte sie in Brooklyn sein, schon um Viertel 
nach neun!« 

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Er drehte sich zur Eisernen Orchidee um. 
»Gefällt es dir? Die Qualität der Platten ist nicht ganz das 

Wahre, aber ich glaube, daß ich inzwischen alle Worte erfaßt 
habe.« 

»Ist es das gewesen, womit du dich voriges Jahr beschäftigt 

hast?« 

Sie wölbte ihre zarten Augenbrauen. »Ich habe den Lärm 

gehört, der aus deinem Hochhaus drang.« Sie lachte. »Und 
ich dachte, er hätte etwas mit Sex zu tun.« Sie runzelte die 
Stirn. »Oder mit Tieren.« Sie lächelte. »Oder mit beidem.« 

Die Lokomotive schraubte sich pfeifend nach unten, Jhereks 

Ranch entgegen. Die Ranch hatte den Platz des Hochhauses 
eingenommen. Ein typisches Gebäude des 19. Jahrhunderts aus 
Fiberglasschaum und mit einem Strohdach, und jede Ecke des 
Verandadachs wurde von einem etwa zwölf Meter hohen höl-
zernen Inder gestützt. Jeder Inder trug eine prächtige Perle von 
dreißig Zentimetern Durchmesser in seinem Turban und einen 
Bart aus echtem Haar. Die Inder stellten das einzige extrava-
gante Detail an dem ansonsten einfachen Gebäude dar. 

Die Lokomotive landete innerhalb der Einzäunung, und Jhe-

rek, dessen Interesse an der antiken Welt mit Unterbrechun-
gen nun schon seit fast zwei Jahren anhielt, streckte die Hand 
aus, um der Eisernen Orchidee beim Aussteigen zu helfen. Ei-
nen Moment lang zögerte sie, als sie sich zu erinnern versuchte, 
was sie tun mußte. Dann ergriff sie seine Hand, sprang auf 
den Boden und rief: »Geronimo!« 

Gemeinsam begaben sie sich zum Haus. 
Die Umgebung war so entworfen worden, daß sie zur Ranch 

paßte. Der Himmel präsentierte einen Sonnenuntergang, der 
die purpurnen Hügel und die schwarzen Fichten, die auf ihnen 
wuchsen, in Schattenrisse verwandelte. Auf der anderen Seite 
befand sich Weideland, auf dem eine Bisonherde graste. Alle 
paar Tage preschte ein Trupp mechanischer Soldaten der 7. 

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Kavallerie aus einer raffiniert getarnten Öffnung im Boden, ga-
loppierte brüllend und heulend um die Bisons herum und 
schoß Pfeile in die Luft, bevor er die Tiere einfing und mit ei-
nem Brandzeichen versah. Die Bisons waren speziell für diesen 
Zweck in Jhereks umfangreicher Gen-Bank gezüchtet worden 
und schienen sich an der Behandlung nicht allzusehr zu stö-
ren, obwohl es in ihrem Instinkt hätte liegen sollen. Die 7. Ka-
vallerie hingegen war in seiner Maschinenfabrik hergestellt 
worden, weil er eine Abneigung gegen die Aufzucht von Men-
schen besaß (die zur Ungezogenheit neigten, wenn der Zeit-
punkt ihrer Desintegration kam). 

»Was für ein wunderschöner Sonnenuntergang«, schwärmte 

seine Mutter, die ihn seit den Tagen des Hochhauses nicht 
mehr besucht hatte. »War die Sonne in jener Zeit wirklich so 
groß wie jetzt?« 

»Größer«, sagte er, »nach allem, was man weiß. Aus diesem 

Grund habe ich sie auch ein wenig zurechtgestutzt.« 

Sie berührte seinen Arm. »Du hast schon immer einen Hang 

zur Bescheidenheit gehabt. Das liebe ich an dir.« 

»Danke.« 
Sie stiegen die weiße Wendeltreppe zur Veranda hinauf und 

atmeten den köstlichen Duft der Magnolie ein, die aus dem Bo-
den neben dem Erdgeschoß des Hauses emporwuchs. Sie über-
querten  die Veranda, und Jherek betätigte einen Hebel, der 
wenn er umgelegt war die Tür aufschwingen ließ, so daß man 
den Salon betreten konnte ein einziger Raum, der die gesamte 
Fläche dieses Stockwerks einnahm. Die übrigen acht Etagen 
waren den Küchen, Schlafzimmern, Schränken und ähnlichen 
Dingen vorbehalten. 

Der Salon war eine Schatzkammer aus Reproduktionen des 

19. Jahrhunderts, einschließlich eines prächtigen dickbäuchi-
gen Ofens, aus einer einzigen Eiche geschnitzt, und einer blü-
henden Aspidistra, die aus der Mitte des Rasenteppichs he-

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rauswuchs und ihre gummiartigen Zweige über den schönsten 
Teil des Zimmers ausstreckte. 

Die Eiserne Orchidee blieb neben dem komplizierten Gitter-

werk stehen, das Jherek in einer alten Holographie gesehen und 
in Stahl und Chrom reproduziert hatte. Es ähnelte einem riesi-
gen, aufrechtstehenden Ei, das bis zur Decke ragte. 

»Und was ist das, mein Lebensquell?« fragte sie ihn. 
»Ein Raumschiff«, erklärte er. »Sie haben ständig versucht, 

zum Mond zu fliegen, oder sie waren damit beschäftigt, Inva-
sionen vom Mars abzuwehren. Ich weiß nicht genau, ob sie 
Erfolg damit hatten, obwohl es heutzutage natürlich keine 
Marsianer mehr gibt. Einige ihrer Schriftsteller neigten dazu, 
recht pompöse Geschichten zu erzählen, weißt du, zweifellos in 
der Absicht, ihre Zeitgenossen zu unterhalten.« 

»Was, um alles in der Welt, mag sie nur dazu getrieben haben! 

In den Weltraum!« 

Sie schauderte. Die Menschen hatten das Interesse daran, die 

Erde zu verlassen, schon vor Jahrhunderten verloren. 

Natürlich wurde der Planet von Zeit zu Zeit von Raumfah-

rern besucht, aber es waren zumeist langweilige Gesellen, die 
nicht viel zu bieten hatten. Gewöhnlich wurden sie dazu genö-
tigt, so bald wie möglich wieder zu verschwinden, oder wenn 
einer von ihnen einen Bewunderer fand, so wanderte er in 
eine Sammlung. 

Jherek verspürte nicht einmal das Bedürfnis zu einer Zeitrei-

se, obwohl in seiner Epoche gelegentlich Zeitreisende auf-
tauchten. Er hätte selbst durch die Zeit reisen können, hätte er 
den Wunsch dazu gehabt, und binnen kürzester Frist sein ge-
liebtes 19. Jahrhundert besuchen können. Aber wie die meisten 
Menschen war er der Ansicht, daß die realen Schauplätze eher 
enttäuschend waren. Es war viel besser, sich den phantasievol-
len Neuschöpfungen jener Zeiten oder Schauplätze hinzuge-
ben. So konnte nichts die volle Hingabe an die eigenen Phan-

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tasien oder den Schauer der Entdeckung verderben, der einen 
ergriff, wenn man ein neues Informationsbruchstück aufspürte 
und es dem Reproduktionsmuster hinzufügte. 

Ein Servo trat ein und verbeugte sich. Die Eiserne Orchidee 

übergab ihm ihre Kleider (wie ihr von Jherek aufgetragen 
worden war ein anderer Brauch jener Zeit) und wandte sich 
ab, um ihren herrlichen Körper unter dem Aspidistrabaum 
auszustrecken. 

Jherek stellte erfreut fest, daß sie wieder Brüste trug und 

so keine Diskrepanz zu ihrer Umgebung heraufbeschwor. 
Alles entsprach dem Stil der Zeit. Selbst der Servo trug eine 
Melone, einen Ulster, lederne Reithosen, feste Haferlschuhe 
und hatte einige Meerschaumpfeifen zwischen seine Stahl-
zähne geklemmt. Auf ein Zeichen seines Herrn hin rollte er 
hinaus. 

Jherek ließ sich nieder und lehnte sich mit dem Rücken an 

den Stamm der Aspidistra. »Und nun, liebliche Eiserne Or-
chidee, erzähle mir, was du gemacht hast.« 

Sie sah zu ihm auf, und ihre Augen leuchteten. »Ich habe 

Babys gemacht, Liebster. Hunderte von Babys!« Sie kicher-
te. »Ich konnte einfach nicht mehr aufhören. Hauptsächlich 
Cherubim. Ich habe ihnen auch ein kleines Aviarium gebaut. 
Und Trompeten zum Blasen und Harfen zum Zupfen, und ich 
habe die süßeste Musik komponiert, die du dir vorstellen 
kannst. Und sie haben sie gespielt!« 

»Ich würde sie gern hören.« 
»Was für eine Schande.« Sie war aufrichtig bekümmert, daß 

sie nicht an ihn gedacht hatte, ihren Liebling, ihren einzigen 
echten Sohn. »Ich mache jetzt Mikroskope. Und natürlich 
Gärten, um in ihnen zu wandeln. Und winzige Tiere. Aber 
vielleicht mache ich eines Tages wieder Cherubim. Und 
dann wirst du sie hören.« 

»Sofern ich dann nicht ›tugendhaft‹ bin«, meinte er neckisch. 

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»Ah, jetzt beginne ich die Bedeutung zu verstehen. Wenn 

man den Drang verspürt, etwas zu tun dann macht man ge-
nau das Gegenteil. Man möchte ein Mann sein, also wird man 
eine Frau. Man möchte irgendwohin fliegen, also begibt man 
sich unter die Erde. Man möchte trinken, aber statt dessen 
scheidet man Flüssigkeit aus. Und so weiter. Ja, das ist groß-
artig. Du wirst eine Mode kreieren, denk an meine Worte. In 
einem Monat, Fleisch von meinem Fleisch, wird jeder tugend-
haft  
sein. Und was machen wir dann? Gibt es noch mehr? 
Nun sag schon!« 

»Ja. Wir könnten ›böse‹ sein oder ›bescheiden‹ oder ›faul‹ 

oder ›arm‹ oder, oh, ich weiß nicht ›würdig‹. Es gibt Hunderte 
von Möglichkeiten.« 

»Und du wirst uns sagen, wie wir es anstellen müssen?« 
»Nun…« Er runzelte die Stirn. »Ich muß noch genauer 

ausarbeiten, was dazu erforderlich ist. Aber in Kürze werde 
ich schon mehr wissen.« 

»Wir werden dir alle dankbar sein. Ich erinnere mich, wie du 

uns Mondkannibalismus beigebracht hast. Und Schwimmen. 
Und wie hieß es doch gleich Flaggen?« 

»Mir gefiel das Flaggen«, nickte er. »Vor allem, als Lady Char-

lotina diese herrliche Flagge erschuf, die die gesamte westliche 
Hemisphäre bedeckte. Aus metallenem Tuch von der Zartheit 
eines Ameisennetzes. Erinnerst du dich, wie wir gelacht haben, 
als sie auf uns fiel?« 

»Oh, ja!« Sie klatschte in die Hände. »Dann hat Lord Jagged 

einen Flaggenmast gebaut, um sie daran zu hissen, und der 
Mast schmolz, so daß jeder von uns einen Niagara erschuf, um 
festzustellen, wer den größten zustande brachte, und wir ha-
ben jeden Tropfen Wasser verbraucht und mußten einen gan-
zen neuen Schwung erzeugen, und du bist als Wolke herum-
gewandert und hast auf jeden niedergeregnet, sogar auf Mon-
grove. Und Mongrove hat sich eine unterirdische Hölle gegra-

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ben, mit Teufeln und allem, nach dem Buch, das der Zeitrei-
sende mitgebracht hatte, und er legte Feuer an Bulio Himmlers 
›Bunkerwelt 2‹, weil er gar nicht wußte, daß sie nebenan lag, 
und Bulio war so aufgebracht, daß er Atombomben auf Mon-
groves Hölle warf, ohne zu ahnen, daß er Mongrove mit all 
der Hitze versorgte, die er benötigte!« 

»Ist das wirklich erst dreihundert Jahre her?« fragte Jherek 

wehmütig. Er pflückte ein Blatt von der Aspidistra und begann 
versonnen daran zu kauen. Ein Rinnsal aus blauem Saft tropf-
te über sein beigefarbenes Kinn. 

»Manchmal glaube ich«, fuhr er fort, »daß mir nie eine besse-

re Ereigniskette begegnet ist. Es schien immer weiter und wei-
ter zu gehen, ein Geschehnis führte unabänderlich zum näch-
sten. Mongroves Hölle, weißt du, hat außerdem meine Mena-
gerie zerstört, mit Ausnahme einer Kreatur, die entkam und 
die meisten seiner Teufel auseinandernahm. Ansonsten wurde 
alles andere in meiner Menagerie in die Luft gejagt. Nur wegen 
Himmler. Oder wegen Lady Charlotina. Wer kann das sa-
gen?« 

Er warf das Blatt weg. 
»Es ist seltsam«, murmelte er. »Seitdem habe ich mir keine 

Menagerie mehr gehalten. Ich meine, fast jeder hat irgendeine 
Art von Menagerie, selbst du, Eiserne Orchidee.« 

»Meine ist so klein. Selbst wenn man sie mit der von der Ewi-

gen Konkubine vergleicht.« 

»Du hast drei Napoleons. Sie hat keinen einzigen.« 
»Das stimmt. Aber ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, 

ob überhaupt einer von ihnen echt ist.« 

»Das ist schwer zu sagen«, stimmte er zu. 
»Und sie hat einen absolut echten Attila, den Hunnen. 

Und dann noch die Mühe, die sie dieser Handel gekostet hat. 
Aber er ist solch ein Langweiler.« 

»Ich glaube, deshalb habe ich mit dem Sammeln aufge-

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hört«, sagte er. »Die echten Stücke sind meist uninteressanter 
als die Fälschungen.« 

»Das ist gewöhnlich der Fall, Frucht meiner Lenden.« Sie 

sank wieder ins Gras. Diese letzte Bemerkung entsprach nicht 
ganz der Wahrheit. In Wirklichkeit, so erinnerte sich Jherek, 
war seine Mutter im Moment seiner Geburt eine Art männli-
cher Anthropoide gewesen und hatte ihn völlig vergessen, 
bis sie sechs Monate später zufällig an dem Inkubator in dem 
von ihr erschaffenen Dschungel vorbeigekommen war. Auch 
als neugeborenes Baby war er noch von dem Inkubator er-
nährt worden. Aber sie hatte ihn behalten. Er war froh dar-
über. So wenige Menschen wurden in diesen Tagen als sol-
che geboren. 

Vielleicht war dies der Grund, daß er, als natürlich gebore-

nes Baby, sich so zu der Vergangenheit hingezogen fühlte, 
dachte Jherek. Viele der Zeitreisenden sogar einige der Raum-
fahrer waren ebenfalls Kinder gewesen. 

Er kam gut mit einigen von den Leuten zurecht, die sich 

entschieden hatten, außerhalb der Menagerien zu leben und 
die Lebensweise dieser Gesellschaft anzunehmen. 

Zum Beispiel mit Pereg Tralo, der im 30. Jahrhundert die 

Welt beherrscht hatte einfach, weil er der letzte Mensch gewe-
sen war, den eine richtige Gebärmutter geboren hatte! Ein 
prachtvoller, geistreicher Gefährte. Und Cläre Cyrato, die 
Sängerin aus dem 500. Jahrhundert ein außergewöhnliches 
Persönchen, die dank eines Experiments ihrer Mutter auch 
als Baby zur Welt gekommen war. Babys, Kinder, Erwach-
sene alles! 

Es war eine Erfahrung, die er nicht bedauert hatte. Welche 

Erfahrung konnte überhaupt bedauert werden? Und er war 
der Liebling aller Freunde seiner Mutter gewesen. Der Reiz 
des Neuen, den er auf sie ausübte, hatte bis in seine Jugend-
zeit überdauert. Voller Entzücken hatten sie verfolgt, wie er 

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wuchs!  Jeder beneidete ihn. Jeder beneidete die Eiserne Or-
chidee, das heißt, bis auf Mongrove (der es, was das betraf, 
mit Sicherheit auch niemals zugegeben hätte) und Werther 
de Goethe, der ebenfalls als Baby geboren worden war. Wer-
ther war natürlich ein Versuch gewesen und hatte nicht im 
entferntesten soviel Freude an sich gehabt. Obwohl er inzwi-
schen keine sechs Arme mehr besaß, hegte er noch immer ein 
gewisses Maß an Groll wegen der Art, auf die er verändert 
worden war, so daß er nicht einmal von einem Tag zum an-
deren dieselben Glieder oder denselben Kopf besessen hat-
te. 

Jherek bemerkte, daß seine Mutter wieder eingeschlafen 

war. Sie brauchte sich nur einen Moment lang hinzulegen, 
und schon träumte sie. Es war eine Gewohnheit, die sie stets 
gepflegt hatte, da ihr viele ihrer besten neuen Einfalle im 
Traum kamen. 

Jherek träumte überhaupt nicht. 
Hätte er träumen können, würde er vermutlich keine alten 

Bänder oder Platten aufstöbern müssen, um sie zu lesen, sich 
anzuschauen oder anzuhören. 

Dennoch galt er als einer der besten Neuschöpfer, auch 

wenn seine Originalität weder der seiner Mutter noch der 
des Herzogs von Queens gleichkam. Insgeheim spürte Jhe-
rek, daß dem Herzog von Queens an ästhetischer Sensibilität 
fehlte, was er an Einfallsreichtum besaß. 

Jherek fiel ein, daß er und die Eiserne Orchidee an diesem 

Abend beim Herzog eingeladen waren. Seit einiger Zeit hatte 
er kein Fest mehr besucht, er war entschlossen, etwas Aufse-
henerregendes zu tragen. 

Er überlegte, was er anziehen sollte. Natürlich würde er am 

19. Jahrhundert festhalten, denn er legte sehr viel Wert auf 
Konsequenz im Stil. Und es durfte nichts Überspanntes sein. 
Etwas Dezentes. Es mußte ein klares, schlichtes Bild ergeben, 

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augenfällig und absolut frei von jedweder persönlichen No-
te. Eine persönliche Note würde die Wirkung wieder aufhe-
ben. Die Entscheidung lag auf der Hand. 

Er würde einen Abendanzug, einen Klappzylinder und ei-

nen Opernmantel tragen. 

Und, dachte er mit einem selbstzufriedenen Lächeln, er 

würde für die farbliche Zusammenstellung seiner Gardero-
be eine zurückhaltende Kombination aus gelblichem Orange 
und Mitternachtsblau wählen. Natürlich mit einer Nelke 
am Hals. 

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2. Kapitel 

 

EINE SOIREE BEIM HERZOG VON QUEENS 

 

Vor einigen Jahrmillionen, vielleicht auch ein wenig eher 
(denn es war schrecklich schwierig, die Zeit in den Griff zu 
bekommen), hatte eine Provinz der legendären Stadt New 
York, ein prächtiges, Queens genanntes Viertel, in voller Blüte 
gestanden. Hier hatte die Gefährtin eines New Yorker Königs 
ihre Sommerresidenz aufgeschlagen, einen gewaltigen Palast 
samt Gartenanlagen errichtet und aus der ganzen Welt die ta-
lentiertesten und unterhaltsamsten Leute eingeladen, dort mit 
ihr die Sommermonate zu verbringen. An den Hof der Queen 
strömten große Maler, Schriftsteller, Komponisten, Bildhauer, 
Kunsthandwerker und Denker, um ihre neuen Schöpfungen 
vorzustellen, Schauspiele, Tänze und Opern aufzuführen, zu 
plaudern und ihre Queen, ihre Gönnerin, zu unterhalten (die 
wahrscheinlich die mythische Queen Eleanor von der Roten 
Steppe gewesen war). 

Obwohl seitdem einige Kontinente untergegangen und ande-

re aufgetaucht waren, während sich manche Landmassen ver-
einigt und andere voneinander getrennt hatten, gab es für Liam 
Ty Pam Cäsar Lloyd George Zatopek Finsbury Ronnie Michel-
angelo Yurio Iopu 4578 Rew United keinen Zweifel, daß er den 
Sitz des alten Hofes entdeckt hatte, und so errichtete er dort sei-
ne eigene Residenz und konnte sich deshalb mit Fug und Recht 
als Herzog von Queens bezeichnen. Eines der wenigen unver-
änderlichen Wahrzeichen der Welt war seine Statue der 
Queen von der Roten Steppe, die achthundert Meter hinauf in 
den Himmel ragte, eine Fläche von etwa zehn Kilometern ein-
nahm und die heroische Queen in ihrem von sechs Drachen 
gezogenen Cadillac (oder Streitwagen) zeigte, mit ihrem selt-
sam gebogenen Speer in einer Hand, dem rechteckigen Schild 

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am anderen Arm und mit einem bizarren Helm auf dem 
Haupt, so herrlich heldenhaft, wie sie auch damals ausgesehen 
haben mußte, als sie ihre siegreichen Armeen gegen die Streit-
kräfte der Vereinten Nationen geführt hatte, jener grandiosen 
und ehrgeizigen Allianz, die, nach den Legenden, einst danach 
getrachtet hatte, den gesamten Planeten zu beherrschen. So 
lange schon stand die Statue auf dem Gebiet der Residenz des 
Herzogs, daß kaum jemand sie wirklich bemerkte, denn die 
Residenz selbst veränderte sich laufend, und dem Herzog von 
Queens gelang es oft, jedermann mit der Originalität und Zahl 
seiner Schöpfungen zu verblüffen. 

Als Jherek Carnelian und seine Mutter, die Eiserne Orchidee, 

eintrafen, sahen sie als erstes die Statue, aber fast im gleichen 
Moment fielen ihre Blicke auf das Haus, das der Herzog speziell 
für diese Abendgesellschaft errichtet haben mußte. 

»Oh!« keuchte die Eiserne Orchidee, während sie aus dem 

Führerhaus der Lokomotive nach draußen starrte und ihre Au-
gen gegen das Licht abschirmte. »Wie klug er ist! Wie entzük-
kend!« 

Jherek gab vor, unbeeindruckt zu sein, als er sich mit flat-

terndem Opernmantel zu ihr auf den Führerstand gesellte. 

»Es ist hübsch«, bestätigte er, »und natürlich staunenswert. 

Der Herzog von Queens ist immer staunenswert.« 

Von Kopf bis Fuß mit Mohnblüten, Ringelund Kornblumen 

bekleidet, drehte sich die Eiserne Orchidee mit einem Lächeln 
um und drohte ihm mit dem Finger. »Hab dich nicht so, mein 
Schatz. Gib zu, daß es großartig ist.« 

»Ich habe zugegeben, daß es staunenswert ist. Es ist stau-

nenswert.« 

»Es ist großartig!« 
Seine Geringschätzung schmolz angesichts ihrer Begeiste-

rung dahin. Er lachte. »Nun gut, üppigste aller Blumen, es ist 
großartig!  Unvergleichlich! Überwältigend! Atemberaubend! 

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Das Werk eines Genies!« 

»Und wirst du ihm dies auch sagen, mein Gespons?« Ein 

sardonischer Ausdruck lag in ihren Augen. »Wirst du es ihm 
sagen?« 

Er verneigte sich. »Das werde ich.« 
»Hervorragend. Denn, schau, auf diese Weise werden wir 

das Fest um so mehr genießen können.« 

Natürlich bestand an der Genialität des Herzogs kein Zwei-

fel, aber wie gewöhnlich, dachte Jherek, hatte er alles über-
trieben. Der Himmel als Hintergrund war in grellem Purpur 
gehalten, in dem die verbliebenen Planeten des Sonnensy-
stems kreisten Mars als großer Rubin, Venus als Smaragd, 
Herod als Diamant, und so weiter insgesamt dreißig. 

Die Residenz selbst war eine Reproduktion des Großen Feu-

ers von Afrika. Es gab eine Reihe einzeln stehender Gebäude, 
jedes einer berühmten Stadt aus jener Zeit nachempfunden, 
die fröhlich vor sich hin loderten. Durban, Kilwa-Kivinje, Yo-
la, Timbuktu und alle anderen brannten, obwohl jedes ein-
zelne Gebäude, maßstabgerecht reproduziert, aus Wasser 
geformt war, und das Wasser war wie die Flammen gefärbt 
(zu grell, nach Jhereks Meinung). Es gab Flammen aller 
erdenklichen, flackernden Schattierungen. Und zwischen den 
Flammen und den Wassern flanierten die bereits eingetroffe-
nen Gäste. Natürlich ging von den Feuern keine oder so gut 
wie keine Hitze aus, denn der Herzog von Queens 
beabsichtigte keinesfalls, seine Gäste dem Feuertod 
auszusetzen. In gewisser Hinsicht, dachte Jherek, war dies der 
Grund dafür, daß der Residenz jegliche wahre schöpferische 
Kraft zu fehlen schien. Aber er neigte eben dazu, derartige 
Dinge zu ernst zu nehmen wie ihm jeder bestätigte. 

Die Lokomotive landete unmittelbar neben Smithsmith, de-

ren Türme und Terrassen sich wie in Feuersglut einrollten 
und sich dann rasch wieder aufrichteten, ehe das Wasser über 

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jemandem zusammenschlagen konnte. Die Besucher schrien 
vor Entzücken und kicherten vor Überraschung. Smithsmith 
schien derzeit die beliebteste Attraktion in der Residenz zu 
sein. Speisen und Getränke, vorwiegend aus dem Afrika des 
28. Jahrhunderts, waren überall aufgetafelt, und die Gäste 
wanderten von Tisch zu Tisch und kosteten davon. 

Als Jherek vom Führerstand herabstieg und geistesabwesend 

seiner Mutter die Hand reichte (deren »Geronimo« sotto voce 
klang, weil das Ritual sie zu langweilen begann), entdeckte er 
viele bekannte und eine Reihe unbekannter Gesichter. Einige 
der Gäste, die er nicht kannte, kamen offensichtlich aus den 
Menagerien; wahrscheinlich waren sie alle Zeitreisende. Er 
identifizierte sie an der Unbeholfenheit, mit der sie dastanden 
und plauderten oder sich abseits hielten, teils vergnügt, teils 
unglücklich. Einen der Zeitreisenden kannte Jherek. Li Pao, wie 
gewöhnlich mit seinem blauen Overall bekleidet, bedachte 
Smithsmith mit einem mißbilligenden Blick. 

Jherek und die Eiserne Orchidee näherten sich ihm. 
»Guten Abend, Li Pao«, grüßte die Eiserne Orchidee. Sie küßte 

ihn auf sein liebes, rundes, gelbes Gesicht. »Offenbar mißfällt 
dir Smithsmith. Das Übliche? Mangelnde Authenzität? Du 
stammst aus dem achtundzwanzigsten Jahrhundert, nicht 
wahr?« 

»Aus dem siebenundzwanzigsten«, berichtigte Li Pao, »aber 

ich kann mir nicht vorstellen, daß sich die Dinge derart verän-
dert haben sollen. Ach, ihr bourgeoisen Individualisten ihr 
seid so stümperhaft. Das war schon immer mein Hauptein-
wand.« 

»Du könntest ein besserer ›bourgeoiser Individualist sein, 

wenn du wolltest, eh?« Ein anderer Menagerist gesellte sich 
hinzu. Er trug das lange, silberne Gewand eines Einpeitschers 
aus dem 32. Jahrhundert. »Du mäkelst immer an den Einzel-
heiten herum, Li Pao.« 

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Li Pao seufzte. »Ich weiß. Ich bin langweilig. Aber so bin ich 

eben.« 

»Deshalb lieben wir dich auch«, versicherte die Eiserne Or-

chidee, küßte ihn erneut und winkte dann ihrem Herzens-
freund Gaf das Pferd in Tränen zu, der von seiner Unterhaltung 
mit Süßes Gestirn Mazis (die von einigen für Jhereks Vater 
gehalten wurde) aufgeschaut hatte, der Eisernen Orchidee zu-
lächelte und ihr bedeutete, zu ihnen zu kommen. Die Eiserne 
Orchidee schlenderte davon. 

»Und deshalb wollen wir euch Zeitreisenden auch nicht zu-

hören«, erläuterte Jherek. »Ihr könnt so schrecklich kleinlich 
sein. 

Diese Einzelheit stimmt nicht jene stammt aus einem ande-

ren Zeitalter und so weiter. Das verdirbt jedem die Freude. 
Du mußt zugeben, Li Pao, daß du ein wenig prosaisch bist.« 

»Das war die Stärke unserer Republik«, entgegnete Li Pao 

und nippte an seinem Wein. »Deshalb hat sie fünfzigtausend 
Jahre bestanden.« 

»Mehr oder weniger«, warf der Einpeitscher aus dem 32. 

Jahrhundert ein. 

»Eher mehr als weniger«, konterte Li Pao. 
»Nun, das hängt davon ab, was du als Republik bezeichnest«, 

sagte der Einpeitscher. 

Sie waren wieder beim Thema. Jherek Carnelian schlich sich 

davon und sah Mongrove, den bitteren Riesen, ganz einsam 
und ungeliebt, der trübsinnig genau in der Mitte des bren-
nenden Smithsmith stand, als wünschte er, daß die Gebäude 
wirklich über ihm zusammenstürzten und ihn begruben. Jhe-
rek wußte, daß Mongroves ganze Persönlichkeit eine Pose war, 
aber er hatte sie nun schon so lange beibehalten, daß sie mögli-
cherweise zu seinem wahren Ich geworden war. Aber Mon-
grove war nicht wirklich ungeliebt. Auf Festen war er ein gern 
gesehener Gast wenn er sich herabließ, an ihnen teilzuneh-

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men. Dies mußte das erste seit zwanzig Jahren sein. 

»Wie geht es dir, Lord Mongrove?« fragte Jherek und blickte 

hinauf in das kummervolle Gesicht des Riesen. 

»Schlechter, seit ich dich sehe, Jherek Carnelian. Ich habe all 

die Kränkungen nicht vergessen, du verstehst?« 

»Du wärst nicht Mongrove, hättest du es getan.« 
»Die Verwandlung meiner Füße in Ratten. Du bist damals 

noch ein Junge gewesen.« 

»Richtig. Die erste Kränkung.« Jherek verneigte sich. 
»Der Diebstahl meiner privaten Gedichte.« 
»Stimmt und ihre Veröffentlichung durch mich.« 
»Genau.« Mongrove nickte und fuhr fort: »Die Versetzung 

meines Lagers und seiner Umgebung vom Nordan den Süd-
pol.« 

»Es hat dich durcheinandergebracht.« 
»Durcheinandergebracht und meinen Zorn auf dich ent-

facht, Jherek Carnelian. Die Liste ist endlos. Ich weiß, daß ich 
deine Zielscheibe bin, dein Narr, dein Spielzeug. Ich weiß, was 
du von mir denkst.« 

»Ich denke gut von dir, Lord Mongrove.« 
»Du weißt, was ich bin. Ein Ungeheuer. Ein Schreckgespenst. 

Ein Ding, das es nicht verdient, zu leben. Und ich hasse dich 
dafür, Jherek Carnelian.« 

»Du liebst mich dafür, Mongrove. Gib es zu.« 
Ein tiefer Seufzer, fast ein stürmisches Grollen, löste sich von 

den Lippen des Riesen. Tränen tropften aus seinen Augen, als 
er sich abwandte. »Tu das Schlimmste, Jherek Carnelian. Tu mir 
das Schlimmste an.« 

»Wenn du darauf bestehst, mein geliebter Mongrove.« 
Jherek lächelte, während er verfolgte, wie Mongrove tiefer 

hinein in das Inferno stampfte, die breiten Schultern nach unten 
gezogen, die großen Hände schwer in Höhe der Hüften hän-
gend. Mongrove war ganz in Schwarz gekleidet, und auch sei-

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ne Haut, sein Haar und seine Augen waren schwarz gefärbt. 
Jherek fragte sich, ob er und Mongrove je ihre Liebe zueinan-
der vollziehen würden. Vielleicht hatte Mongrove das Rätsel 
der »Tugend« gelöst? Vielleicht erstrebte er bewußt das Gegen-
teil von dem, was er wirklich zu denken und zu tun wünschte? 
Jherek hatte das Gefühl, daß er allmählich zu verstehen be-
gann. Nun, jedenfalls gefiel ihm die Vorstellung, ein zweiter 
Mongrove zu werden, ganz und gar nicht. Das wäre schreck-
lich. Das wäre das einzige, was Mongrove wirklich übelneh-
men würde. 

Andererseits, dachte Jherek, während er weiter durch die 

Flammen und die Wasser schlenderte, falls er  zu Mongrove 
wurde, wäre das für Mongrove dann nicht ein Anreiz, jemand 
anders zu werden? Aber wäre dieser neue Mongrove dann 
ebenso vergnüglich wie der alte? Es war unwahrscheinlich. 

»Jherek, mein Herzallerliebster! Hierher!« 
Jherek drehte sich mit einem Rascheln seines rotbraunen 

Mantels und entdeckte Lord Jagged von Kanarien, eine Masse 
aus wattiertem Gelb, der Kopf in dem schwellenden Kragen 
kaum sichtbar, wie er ihm bedeutete, sich zu ihm an einen Tisch 
voller Früchte zu gesellen. 

»Lord Jagged.« Jherek umarmte seinen Freund. »Nun, Teuer-

ster, sind deine Schlachten ausgefochten?« 

»Sie sind endlich ausgefochten. Fünf Jahre haben sie gedauert. 

Aber sie sind ausgefochten. Und jeder der kleinen Männer ist 
tot, fürchte ich.« Lord Jagged hatte eine perfekte Kopie des 
Sonnensystems erschaffen und jeden Krieg nachgespielt, von 
dem er je gehört hatte. Jeder Soldat war bis ins kleinste voll-
kommen gewesen, obgleich von submikroskopischer Gestalt. 
Eine winzige Persönlichkeit. Die gesamte Anlage hatte einen 
Würfel von nicht mehr als sechzig Zentimetern Seitenlänge 
eingenommen. Lord Jagged gähnte, und für einen Moment 
verschwand sein Gesicht vollständig in seinem Kragen. »Ja, 

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zum Schluß habe ich jedes Interesse an ihnen verloren. Dum-
me Dinger. Und du, stattlicher Jherek, womit beschäftigst du 
dich?« 

»Mit nichts sehr Ehrgeizigem. Reproduktionen der alten 

Welt. Hast du meine Lokomotive gesehen?« 

»Ich kenne nicht einmal das Wort!« rief Lord Jagged. »Kann 

ich sie mir jetzt anschauen?« 

»Sie steht irgendwo dort hinten«, erklärte Jherek und deute-

te in Richtung eines schwankenden Wolkenkratzers. »Sie kann 
warten, bis du dich ihr genähert hast.« 

»Dein Kostüm ist bewundernswert«, bemerkte Lord Jagged 

und befingerte den Mantel. »Ich habe dich schon immer um 
deinen Geschmack beneidet, Jherek. Ist auch das eines von den 
Dingen, die die Ahnen getragen haben?« 

»Exakt.« 
»Exakt! Oh, deine Geduld! Deine Sorgfalt! Dein Auge!« 
Jherek breitete die Arme aus und sah sich um, geschmei-

chelt durch das Kompliment. »Es ist gut«, bestätigte er, »mein 
Auge.« 

»Aber wo ist unser Gastgeber, der wunderbare Herzog von 

Queens, der Schöpfer all dieser Lustbarkeiten?« 

Jherek wußte, daß Lord Jagged seine Ansicht über den Ge-

schmack des Herzogs teilte. Er schüttelte den Kopf. »Ich habe 
ihn noch nicht gesehen. Vielleicht hält er sich in einer der an-
deren Städte auf. Gibt es hier eine Hauptstadt?« 

»Ich glaube nicht. Es ist natürlich möglich, daß er noch nicht 

eingetroffen oder bereits gegangen ist. Du weißt, wie gern er 
sich abseits hält. Er besitzt einen so ausgeprägten Sinn für das 

Dramatische.« 

»Und für das Drollige«, fügte Jherek hinzu, suchte den Blick 

seines Freundes und lächelte. 

»Nun ja«, meinte Lord Jagged. »Laß uns die Runde machen, 

Jherek. Dann werden wir vielleicht unseren Gastgeber finden 

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und ihn persönlich beglückwünschen können.« 

Arm in Arm schlenderten sie durch die brennende Stadt, 

überquerten die Rasenflächen und betraten Timbuktu, de-
ren schlanke, von Minaretten gekrönte Quader kreuz und 
quer ineinanderstürzten, fast den Boden berührten, sich dann 
wieder aufrichteten, um erneut von den Flammen verzehrt zu 
werden. 

»Chrom«, hörte Jherek Li Pao sagen. »Sie bestanden aus 

Chrom. Keineswegs aus Silber, Quarz und Gold. Es tut mir 
leid, aber das verdirbt mir die ganze Freude.« 

Jherek kicherte. »Kennst du Li Pao? Ich vermute, daß er nicht 

freiwillig durch die Zeit gereist ist. Ich vermute, mein wattier-
ter Jagged, daß seine Genossen ihn auf die Reise geschickt ha-
ben. Nebenbei bemerkt, ich lerne ›Tugend‹.« 

»Und was ist ›Tugend‹?« 
»Ich glaube, es hat etwas damit zu tun, wie Mongrove zu 

sein.« 

»Oh!« Lord Jagged spitzte die Lippen in einem ironischen 

Ausdruck der Bestürzung. 

»Ich weiß. Aber du kennst meinen Perfektionismus.« 
»Von seiner Art ist er der köstlichste.« 
»Ich glaube, du hast ihn mir beigebracht als ich ein Junge 

war.« 

»Ich erinnere mich! Ich erinnere mich!« Lord Jagged seufzte 

nostalgisch. 

»Und ich bin dankbar dafür.« 
»Unsinn. Ein Junge braucht einen Vater. Ich war zur Stelle.« 

Der wattierte Ärmel streckte sich, und eine bleiche Hand schob 
sich heraus, um sanft Jhereks Nelke zu berühren, ein winziges 
Blütenblatt abzuzupfen und es elegant an die blassen Lippen 
zu führen. »Ich war zur Stelle, mein Herz.« 

»Eines Tages«, sagte Jherek, »müssen wir uns lieben, Lord 

Jagged.« 

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»Eines Tages. Wenn die Stimmung uns zur gleichen Zeit 

überkommt. Ja.« Lord Jagged verzog die Lippen zu einem Lä-
cheln. »Ich warte darauf. Und wie geht es deiner Mutter?« 

»Sie schläft wieder sehr viel.« 
»Dann können wir in Kürze etwas Außergewöhnliches von 

ihr erwarten.« 

»Das glaube ich auch. Sie ist hier.« 
Lord Jagged löste sich von Jherek. »Dann werde ich sie su-

chen. Lebwohl.« 

»Auf Wiedersehen, goldener Lord Jagged.« 
Jherek verfolgte, wie sein Freund durch einen Bogengang aus 

Feuer verschwand, der für einen Augenblick bestand, bevor 
sich die Türme wieder aufrichteten. 

Es stimmte, daß Lord Jagged von Kanarien geholfen hatte, 

seinen Geschmack zu formen, und vielleicht war er der freund-
lichste, liebevollste Mensch auf der ganzen Welt. Dennoch um-
gab ihn eine gewisse Traurigkeit, die Jherek unbegreiflich blieb. 
Lord Jagged, so hieß es, stammte gar nicht aus diesem Zeitalter, 
sondern er war ein Zeitreisender. Jherek hatte einst Lord Jagged 
darauf angesprochen, war aber auf amüsiertes Leugnen gesto-
ßen. Trotzdem war Jherek nicht ganz überzeugt. Wenn Jagged 
ein Zeitreisender war, fragte er sich, warum machte er dann ein 
Geheimnis daraus? 

Jherek bemerkte, daß er die Stirn runzelte. Er glättete sein 

Gesicht und schlenderte weiter durch Timbuktu. Wie langwei-
lig das 28.Jahrhundert doch gewesen sein mußte. Seltsam, wie 
sich die  Dinge im Lauf von nur ein paar hundert Jahren än-
dern konnten, so daß ein Jahrhundert wie das 19. voller Kost-
barkeiten war und ein Jahrhundert wie das 28. nur das Große 
Feuer von Afrika anzubieten hatte. Wie dem auch sei, es kam 
nur darauf an, ob sich der einzelne dabei amüsierte. Er mußte 
wirklich versuchen, dem Herzog von Queens gegenüber we-
niger kritisch zu sein. 

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Ein Löwenrudel tauchte auf und schlich drohend um Jherek 

herum, knurrend und schnuppernd. Sie waren echt. Er fragte 
sich, ob der Herzog von Queens so weit gegangen war und 
ihnen alle Instinkte belassen hatte. Aber sie verloren das Inter-
esse an ihm und trotteten davon. Ihre Farben, hauptsächlich 
Blau und Grün, waren wie gewöhnlich unvereinbar. In der 
Ferne hörte Jherek einige Besucher furchtsam kichern, als sich 
ihnen die Löwen näherten. Die meisten Menschen waren von 
derartigen Sensationen entzückt. Er fragte sich, ob ihn seine 
Suche nach der Tugend übellaunig machte. Wenn das zutraf, 
dann würde er sich rasch in einen Langweiler verwandeln und 
sollte am besten den ganzen Plan aufgeben. Er sah Mistreß 
Christia, die Ewige Konkubine, am Rand der brennenden Stadt 
auf dem Rücken liegen und mit verzückten Schreien aufund 
niederwippen, während O’Kala Incarnadine, der sich zu die-
sem Zweck in einen Gorilla verwandelt hatte, sie beglückte. Sie 
entdeckte Jherek und winkte. »Jherek!« keuchte sie. »Es ist 
schön dich… Oh, Kala, mein Liebster, nun ist es genug. Du hast 
doch nichts dagegen. Ich möchte jetzt mit Jherek reden.« Der 
Gorilla drehte den Kopf, erblickte Jherek und grinste ihn an. 

»Hallo, Jherek. Ich habe dich gar nicht bemerkt«, sagte 

O’Kala Incarnadine. Er stand auf und glättete sein Fell. »Vielen 
Dank, Mistreß Christia.« 

»Ich danke dir, O’Kala. Es war herrlich.« Geistesabwesend 

sprach sie weiter, während sie damit beschäftigt war, ihre 
Kleidung in Ordnung zu bringen. »Wie geht es dir, Jherek? 
Kann ich mich dir anbieten?« 

»Immer, wie du weißt. Aber ich würde lieber plaudern.« 
»Ich auch, um ehrlich zu sein. O’Kala ist jetzt schon seit Wo-

chen ein Gorilla. Wir stoßen dauernd zusammen, und allmählich 
kommt mir der Verdacht, daß diese Begegnungen nicht zufälli-
ger Natur sind. Nicht, daß ich etwas dagegen habe, natürlich 
nicht. Aber ich gebe zu, daß ich mir überlege, ob ich nicht 

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wieder ein Mann werden soll. Und vielleicht ein Gorilla. Dei-
ne Mutter ist eine Zeitlang ein Gorilla gewesen, nicht wahr? 
Wie hat es ihr gefallen?« 

»Ich war damals zu jung, um mich noch daran erinnern zu 

können, Mistreß Christia.« 

»Natürlich bist du das gewesen!« Sie musterte ihn. »Ein Baby! 

Ich erinnere mich.« 

»Gewiß, mein Herzblatt.« 
»Es ist nichts dagegen einzuwenden, daß jemand für eine Wei-

le ein Kind wird.  Ich frage mich, warum es nicht mehr Men-
schen tun.« 

»Es ist niemals in Mode gekommen«, stimmte Jherek zu, ergriff 

sie an der Hüfte und küßte ihren Hals und ihre Schultern. Sie 
erwiderte seine Küsse. Sie war tatsächlich eine der vollkommen-
sten Personenschöpfungen auf der Welt. Kein Mann konnte ihr 
widerstehen. Ganz gleich, welche Gefühle ihn beherrschen 
mochten, er mußte sie küssen und sie so oft wie möglich lieben. 
Selbst Mongrove erging es nicht anders. Und auch nicht Wer-
ther de Goethe, der sich als Junge nie an ihr erfreut hatte. 

»Hast du Werther de Goethe gesehen?« fragte Jherek. 
»Er war hier, vor einer Weile«, erwiderte Mistreß Christia und 

sah sich um. »Zusammen mit Mongrove. Sie mögen einander, 
nicht wahr?« 

»Ich glaube, Mongrove lernt von Werther«, sagte Jherek. »Und 

Werther sagt, daß Mongrove der einzige gesunde Mensch auf 
der ganzen Welt ist.« 

»Vielleicht stimmt das. Was heißt ›gesund‹?« 
»Das werde ich dir nicht erklären. Ich habe heute genug da-

von, schwierige Worte und Vorstellungen zu definieren.« 

»Oh, Jherek! Was hast du vor?« 
»Nicht viel. Meine Interessen waren schon immer auf das Ab-

strakte gerichtet. Es macht mich zu einem schlechten Gesell-
schafter, und ich bin entschlossen, das zu ändern.« 

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»Du bist ein liebenswerter Gesellschafter, Jherek. Jeder liebt 

dich.« 

»Ich weiß. Und ich habe vor, weiterhin geliebt zu werden. Du 

weißt, wie ermüdend ich wäre wie Li Pao –, wenn ich nur 
schwatzen und mich nicht schöpferisch betätigen würde.« 

»Jeder liebt Li Pao!« 
»Natürlich. Aber ich möchte nicht auf die Art geliebt werden, 

auf die Li Pao geliebt wird.« 

Sie warf ihm einen Blick zu, in dem heimliches Amüsement lag. 
»Werde ich so geliebt?« fragte er voller Entsetzen. 
»Nicht direkt. Aber du bist ein Kind gewesen, Jherek. Die Fra-

gen, die du gestellt hast!« 

»Ich bin gekränkt.« Er war es nicht. Ihm wurde klar, daß es ihn 

wirklich kümmerte. Er lachte. 

»Du hast recht«, sagte sie. »Li Pao ist ein Langweiler. Selbst ich 

finde ihn gelegentlich ermüdend. Hast du gehört, daß der Her-
zog von Queens eine Überraschung für uns vorbereitet hat?« 

»Noch eine?« 
»Jherek du bist nicht großzügig gegenüber dem Herzog von 

Queens. Und das ist nicht gerecht, denn der Herzog ist ein 
sehr großzügiger Gastgeber.« 

»Ja, ich weiß. Was ist das für eine neue Überraschung?« 
»Auch das ist eine Überraschung.« Hoch über ihnen began-

nen kleine afrikanische Flugmaschinen die Stadt zu bombar-
dieren. Grelle Lichter explodierten überall, und sie kreischten, 
während sie explodierten. »Oh, so hat es angefangen!« rief Mi-
streß Christia. »Er wiederholt es für die Leute, die es versäumt 
haben.« Mistreß Christia konnte durchaus die einzige Zeugin 
der Uraufführung gewesen sein. Sie war immer und überall 
die erste. 

»Komm, Jherek. Alle sollen sich in Wolverhampton einfin-

den. Dort werden wir die Überraschung zu sehen bekom-
men.« 

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»Nun gut.« Jherek ließ sich von ihr an die Hand nehmen 

und nach Wolverhampton führen, das auf der anderen Seite 
der errichteten Städte lag. 

Und dann erloschen plötzlich alle Feuer, und sie befanden 

sich in völliger Finsternis. 

Stille kehrte ein. 
»Wundervoll«, flüsterte Mistreß Christia und drückte seine 

Hand. 

Jherek schloß die Augen. 

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3. Kapitel 

 

EIN NICHT SEHR UNTERHALTSAMER BESUCHER 

 

Schließlich, nach einer längeren Pause, als Jherek sie für unbe-
dingt erforderlich gehalten hätte, drang die Stimme des Her-
zogs von Queens zu ihnen durch die Dunkelheit. 

»Liebe Freunde, ihr habt gewiß schon erraten, daß dieses Fest 

unter einem Motto steht. Dieses Motto heißt selbstredend ›Ka-
tastrophen‹.« 

Eine kühle, sanfte Stimme sagte zu Jherek: »Es ist interessant, 

seine Ausarbeitung des Mottos mit der zwei Jahre zurücklie-
genden Darbietung des Grafen von Karbol zu vergleichen.« 

Jherek lächelte, als er Lord Jaggeds Stimme erkannte. »War-

te, bis die Lichter angehen«, erwiderte er. 

Und dann gingen die Lichter an. Sie konzentrierten sich auf 

eine Art seltsamen, asymmetrischen Hügel, der auf einem Po-
dest aus transparentem Stahl angehäuft worden war. Der Hügel 
schien von grüngelbem Schimmel bedeckt zu sein. Der Schim-
mel pulsierte. Er gab leise, quietschende Laute von sich. Es war 
alles andere als angenehm. 

»Nun«, flüsterte Lord Jagged, noch immer von Finsternis um-

hüllt, denn nur der Hügel wurde beleuchtet, »zweifellos paßt 
dies zu dem Motto; ich frage mich nur, welche Katastrophe 
das erzeugt haben könnte!« 

Mistreß Christia klammerte sich an Jhereks Hand und kicher-

te. »Eines von den mißglückten Experimenten des Herzogs, 
würde ich sagen. Oder vielleicht der Herzog selbst?« 

»Ah«, machte Lord Jagged. »Wie intelligent du bist, Mistreß 

Christia. Und natürlich ebenso begehrenswert.« 

Der noch immer im Verborgenen bleibende Herzog von 

Queens fuhr mit seiner Einleitung fort: »Dies, meine Freunde, 
ist ein Raumschiff. Es ist vor ein oder zwei Tagen hier ganz in 

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der Nähe gelandet.« 

Jherek war enttäuscht, und nach der Stille zu urteilen, waren 

die anderen Gäste ebenso enttäuscht. Es war nicht ungewöhn-
lich, daß Raumschiffe den Planeten anflogen, obwohl in den 
letzten Jahren keines mehr aufgetaucht war, wie er sich erin-
nerte. 

»Von allen Raumschiffen, die jemals unsere alte Erde besucht 

haben, hat dieses hier den weitesten Weg zurückgelegt«, ertön-
te die Stimme des Herzog von Queens. »Es hat Abermillionen 
Lichtjahre überwunden, um zu uns zu kommen! Schon das ist 
sensationell genug!« 

Das ist dennoch kein Grund, dachte Jherek, solch ein Aufhe-

bens darum zu machen. 

»Von allen Raumschiffen, die uns je besucht haben, hat dieses 

hier die größte Geschwindigkeit erreicht! Eine phantastische 
Geschwindigkeit!« fuhr der Herzog fort. 

Jherek zuckte die Achseln. 
»Erstaunlich«, erklang Lord Jaggeds trockene Stimme neben 

ihm. »Ein wissenschaftlicher Vortrag. Der Herzog von Queens 
schneidet sich eine Scheibe von Li Pao ab. Das ist ja etwas ganz 
Neues. Aber es paßt nicht so recht zu dem Charakter unseres 
Herzogs, möchte ich meinen.« 

»Vielleicht ist sogar er der Sensation um ihrer selbst willen 

müde«, vermutete Jherek. »Doch diese Reaktion erscheint mir 
ein wenig dramatisch, meinst du nicht auch?« 

»Ah, diese Geschmacksfragen. Sie werden unsere Diskussio-

nen prägen, bis auch der letzte von uns entschieden hat, sei-
nem Leben ein Ende zu machen, fürchte ich.« Lord Jagged 
seufzte. 

»Aber ihr glaubt vermutlich, daß dies noch lange kein 

Grund ist, soviel Aufhebens darum zu machen«, erklärte der 
Herzog von Queens, wie um Jherek und Lord Jagged zu ant-
worten. »Und natürlich habt ihr recht. Jedoch der Zufall wollte 

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es, daß der Insasse dieses besonderen Raumschiffes dem Motto 
meines heutigen festlichen Abends eine gewisse Steigerung 
hinzuzufügen hat. Ich war sicher, daß er euch ebenfalls amüsie-
ren wird. Und hier ist er. Sein Name lautet, soweit ich ihn 
überhaupt aussprechen kann, Yusharisp. Er wird sich über 
sein eigenes Übersetzersystem an euch wenden (das nicht 
ganz die Qualität besitzt, an die wir gewöhnt sind), und ich 
bin überzeugt, ihr werdet ihn ebenso entzückend finden wie 
ich, als ich vor einer kleinen Weile mit ihm sprach. Meine lie-
ben Freunde, ich präsentiere euch den Raumfahrer Yusharisp.« 

Das Licht wurde schwächer und richtete sich dann auf ein 

Geschöpf auf der anderen Seite des transparenten Stahlpode-
stes. Das Geschöpf war etwa einen Meter zwanzig groß, stand 
auf vier krummen Beinen, besaß einen runden Rumpf, keinen 
Kopf und keine Arme. Nahe dem oberen Ende seines Körpers 
waren eine Reihe runder Augen angebracht, die in gleichmäßi-
gen Abständen um seinen ganzen Umfang verteilt waren. 
Darunter war eine kleine dreieckige Öffnung zu erkennen, die 
Jherek für den Mund hielt. Das Geschöpf war von überwie-
gend dunkler, schmutzigbrauner Hautfarbe, die hier und da 
von grünen Flecken aufgelokkert wurde. Die Augen waren von 
einem hellen Porzellanblau. Alles in allem machte der Raum-
fahrer einen eher griesgrämigen Eindruck auf ihn. 

»Seid gegrüßt, Bewohner dieses Planeten«, begann Yusha-

risp. »Ich komme von der Zivilisation der Pweeli«, an dieser 
Stelle knarrte seine Übersetzungsmaschine für einige Sekun-
den, und Yusharisp mußte husten, um sie wieder neu einzu-
stellen –, »die viele Galaxien entfernt liegt. Es ist meine mir 
selbstauferlegte Mission, das Universum zu bereisen und mei-
ne Botschaft zu verbreiten. Ich glaube, daß es meine Pflicht ist, 
allen intelligenten Lebensformen meine Erkenntnisse mitzutei-
len. Ich srrti oowo…« Erneut eine Pause und ein Huster, mit 
dem Yusharisp seinen Übersetzer justierte, der eher ein me-

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chanisches, denn ein organisches Gerät zu sein schien, das ihm 
durch grobschlächtige Chirurgie in sein Äquivalent einer Keh-
le eingepflanzt worden war. Jherek war an dem Gerät an sich 
interessiert, denn er hatte gehört, daß es derartige Dinge im 19. 
Jahrhundert oder vielleicht auch ein wenig später gegeben hat-
te. »Ich bitte um Vergebung«, fuhr Yusharisp fort, »für die Inef-
fizienz meiner Ausrüstung. Sie ist in den vergangenen zweioder 
dreitausend Jahren stark beansprucht worden, während ich das 
Universum zur Verbreitung meiner Botschaft bereist habe. 
Wenn ich von hier wieder aufbreche, werde ich meine Arbeit 
bis zu meinem Tod fortsetzen. Es werden noch einige Jahrtau-
sende vergehen, ehe ich jeden gewarnt habe, den ich warnen 
kann.« Plötzlich erklang ein Gebrüll, und Jherek dachte zuerst 
an die Löwen, denn er konnte sich nicht vorstellen, daß ein 
derartiger Lärm aus der winzigen Mundhöhle dringen sollte. 
Aber aus den verlegenen Gesten und Hustern des Fremden 
ging deutlich hervor, daß der Übersetzer erneut streikte. Jherek 
wurde allmählich ungeduldig. 

»Nun, ich schätze, es ist ein Erlebnis«, bemerkte Lord Jagged. 

»Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob es taktvoll vom Herzog von 
Queens war, uns das Weggehen unmöglich zu machen, auch 
wenn wir den Wunsch dazu empfinden sollten. Schließlich 
empfindet nicht jeder Vergnügen dabei, gelangweilt zu wer-
den.« 

»Oh, das ist nicht besonders nett von dir, Lord Jagged«, rief 

die gleichermaßen unsichtbare Mistreß Christia. »Ich empfinde 
eine gewisse Sympathie für das kleine Geschöpf.« 

»Trockener sgog«, sagte der Fremde. »Es tut mir leid. Trocke-

ner sgog.« Er räusperte sich erneut. »Ich sollte mich am besten 
so kurz wie möglich fassen.« 

Die Gäste begannen inzwischen laut miteinander zu reden. 
»Kurz gesagt«, erklärte der Fremde und versuchte sich über 

das zunehmende Geplapper hinweg Gehör zu verschaffen, 

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»mein Volk ist zu dem unwiderlegbaren Schluß gekommen, 
daß wir in einer Ära leben, die man als das Ende der Zeit be-
zeichnen könnte. Das Universum steht vor einer Umwälzung 
von solchem Ausmaß, daß kein einziges Atom sollte es sie über-
stehen noch dasselbe sein wird. Alles Leben wird infolgedessen 
erlöschen. Alle Sonnen und Planeten werden zerstört werden, 
wenn das Universum einen Zyklus beendet und einen neuen 
beginnt. Wir sind zum Untergang verdammt, Brüder in der 
Intelligenz. Wir sind verdammt.« 

Jherek gähnte. Er wünschte, der Fremde würde endlich zum 

Thema kommen. Er fing an, Mistreß Christias Brüste zu strei-
cheln. 

Das Geplapper erstarb. Es war unübersehbar, daß alle darauf 

warteten, daß der Fremde zum Ende kam. 

»Ich sehe, daß ihr entsetzt knirsch, knirsch, knirsch seid«, 

fuhr der Fremde fort. »Vielleicht hätte ich die (Kreisch) Neuig-
keit ein wenig taktvoller verkünden sollen, aber ich knirsch, 
knirsch,  knirsch habe so wenig Zeit. Es gibt natürlich nichts, 
das wir unternehmen könnten, um unser Schicksal abzuwen-
den. Wir können uns nur philosophisch auf unseren knirsch, 
knirsch, knirsch Tod (Kreisch) vorbereiten.« 

Mistreß Christia kicherte. Sie und Jherek sanken zu Boden, 

und Jherek versuchte sich zu erinnern, wie sich das Unterteil 
seiner Kleidung lösen ließ. Mistreß Christia hatte sich bereits 
freigemacht, um ihn zu empfangen. 

»Knöpfe«, sagte Jherek, der selbst dieses winzige Detail nicht 

vergessen hatte. 

»Ist das nicht erstaunlich?« ertönte die Stimme des Herzogs 

von Queens. Die Stimme klang gepreßt; sie klang enttäuscht; 
sie war begierig darauf, sie mit der Anteilnahme anzustecken, 
die er empfand, die sich aber, wie es schien, nicht auf seine Gä-
ste übertragen hatte. »Das Ende des Universums! Köstlich!« 

»Schon, schon«, meinte Lord Jagged, tastete nach Jhereks auf 

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und nieder fahrendem Hintern und versetzte ihm einen ab-
schiednehmenden Klaps. »Aber es ist kein sonderlich neuer 
Einfall, oder?« 

»Wir werden alle sterben!«  Der Herzog von Queens lachte 

eher mechanisch. »Oh, es ist köstlich!« 

»Auf Wiedersehen, Jherek. Lebwohl, wunderschöne Mistreß 

Christia.« Lord Jagged ging davon. Es war offenkundig, daß 
ihn der Herzog von Queens enttäuscht hatte ; sogar gekränkt. 

»Auf Wiedersehen, Lord Jagged«, sagten Mistreß Christia 

und Jherek gleichzeitig. Wirklich, seit tausend Jahren hatte es 
nicht mehr ein derart ödes Fest gegeben. Sie lösten sich von-
einander und saßen Seite an Seite auf dem Rasen. Nach den 
Geräuschen zu urteilen, entfernten sich auch viele andere Gä-
ste, stolperten in der Dunkelheit übereinander und entschul-
digten sich. Es war in der Tat eine Katastrophe. 

Jherek, der jetzt versuchte, dem Herzog von Queens gegen-

über großzügig zu sein, fragte sich, ob diese Entwicklung be-
wußt herbeigeführt worden war. Nun, es war ein relativ erfri-
schendes 
Erlebnis ein Fest, das fehlschlug. 

Die Städte von Afrika gingen erneut in Flammen auf, und 

Jherek konnte das Podest und den Herzog von Queens erken-
nen, der mit dem Fremden darauf stand und auf ihn einrede-
te. 

Lady Charlotina ging vorbei, ohne Jherek und Mistreß Chri-

stia zu bemerken, die noch immer auf dem Boden saßen. 

»Herzog«, rief Lady Charlotina, »gehört dein Freund zu dei-

ner Menagerie?« 

Der Herzog von Queens drehte sich um, und sein hüb-

sches,  bärtiges Gesicht war voller Kummer. Es war offensicht-
lich, daß er den Fehlschlag keinesfalls geplant hatte. 

»Er muß müde sein, der arme Kerl«, sagte Mistreß Christia. 
»Es war fast unvermeidbar. Sensation auf Sensation zu häu-

fen, ohne Grundlage, ohne die erforderliche künstlerische 

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Konzeption«, erklärte Jherek boshaft. »Es ist genauso gekom-
men, wie ich immer gesagt habe.« 

»Oh, Jherek. Sei nicht so unfreundlich.« 
»Nun…« Jherek empfand Scham über sein Verhalten. Er war 

nahe daran gewesen, sich über das entsetzliche Mißgeschick 
des Herzogs lustig zu machen. »Nun gut, Mistreß Christia. Wir 
beide werden zu ihm gehen und ihn trösten. Ihm gratulieren, 
wenn du möchtest, obwohl ich fürchte, daß er mir meine Auf-
richtigkeit nicht abnehmen wird.« Sie standen auf. 

Der Herzog von Queens war durch Lady Charlotinas Frage 

aus dem Gleichgewicht gebracht worden. Benommen murmel-
te er: »Menagerie? Aber nein…« 

»Dann kann ich ihn haben?« 
»Ja, ja, natürlich.« 
»Danke.« Lady Charlotina winkte dem Fremden zu. »Bitte, 

komm mit mir.« 

Der Fremde richtete mehrere Augen auf sie. »Aber ich muß 

fort. Meine Botschaft. Sie sind sehr knirsch, knirsch freundlich, 
mich knirsch einzuladen. Wie dem auch (Kreisch) sei, ich muß 
knirsch ablehnen.« Er begann sich seinem Schiff zu nähern. 

Voller Bedauern bewegte Lady Charlotina eine Hand und fror 

den Fremden ein, während sie mit der anderen Hand sein 
Raumschiff desintegrierte. 

»Abscheulich!« 
Jherek hörte die Stimme hinter sich und fuhr entzückt her-

um, um den Sprecher anzusehen. Die Person hatte die Sprache 
des 19. Jahrhunderts benutzt. Eine Frau stand dort. Sie trug ein 
enganliegendes graues Jackett und einen weiten grauen Rock, 
der nur die Spitzen ihrer schwarzen Stiefel unbedeckt ließ. Un-
ter dem Jackett war gerade noch eine weiße Bluse mit leichtem 
Spitzenbesatz am Leibchen zu erkennen. Auf ihrem dichtge-
lockten kastanienbraunen Haar trug sie einen breitrandigen 
Strohhut und auf ihrem hübschen, herzförmigen Gesicht den 

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Ausdruck von Zorn. Zweifellos eine Zeitreisende. Jherek lä-
chelte vor Entzücken. 

»Oh!« rief er. »Eine Ahnin!« 
Sie ignorierte ihn und schrie Lady Charlotina an (die natür-

lich die Sprache des 19. Jahrhunderts nicht im mindesten 
verstand): »Lassen Sie das arme Geschöpf in Ruhe! Obwohl es we-
der ein Mensch noch ein Christ ist, gehört es dennoch zu Gottes Ge-

schöpfen und hat ein Recht auf seine Freiheit!« 

Jherek war sprachlos vor Glück, als er verfolgte, wie die Zeit-

reisende mit wehenden Rockschößen an ihm vorbeirauschte. 
Mistreß Christia wölbte die Brauen. »Was sagt sie, Jherek?« 

»Sie muß neu sein«, entgegnete er. »Sie hat noch keine Über-

setzungspille genommen. Sie scheint den kleinen Fremden 
für sich selbst zu beanspruchen. Natürlich verstehe ich nicht 
jedes Wort.« Bewundernd schüttelte er den Kopf, als die Zeit-
reisende eine schmale Hand auf Lady Charlotinas Schulter 
legte. Lady Charlotina drehte sich verblüfft um. 

Jherek und Mistreß Christia erreichten das Paar. Der Herzog 

von Queens äugte von seinem Podest herab und sah zunächst 
sie und dann das eingefrorene Raumgeschöpf an, ohne zu ver-
stehen, was vor sich ging. 

» Was Sie angerichtet haben, können Sie auch wiedergutmachen, ver-

kommene Seele!« sagte die Zeitreisende zu der verwirrten Lady 
Charlotina. 

»Sie spricht einen der vielen Dialekte des 19. Jahrhunderts«, 

erklärte Jherek voller Stolz auf sein Wissen. 

Lady Charlotina musterte die graugekleidete Frau. »Möchte 

sie mich lieben? Ich glaube, ich wäre einverstanden, wenn…« 

Jherek schüttelte den Kopf. »Nein. Ich vermute, sie will dei-

nen Fremden. Oder vielleicht möchte sie nicht, daß du ihn be-
kommst. Ich werde mit ihr reden. Nur einen Moment.« Er 
drehte sich der Ahnin zu und lächelte sie an. 

»Guten Abend, Fräulein. I parle the yazhak. Nây m-sdipâ«, sagte 

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Jherek. 

Sie wirkte nicht besänftigt. Aber nun starrte sie ihn gleicher-

maßen erstaunt an. 

»Dieses Fräulein this«, fuhr Jherek fort und deutete auf Lady 

Charlotina, die mit mildem Interesse zuhörte, »is pense que t’a 
make love to elle.« 
Er wollte soeben fortfahren und hinzufügen, 
daß er wußte, daß dies nicht der Fall war, als die Zeitreisende 
ihm ihre ganze Aufmerksamkeit widmete und eine saftige 
Ohrfeige verabreichte. Das verdutzte ihn. Er kannte weder 
diesen Brauch, noch wußte er, wie er darauf reagieren sollte. 

»Ich denke«, wandte er sich bedauernd an Lady Charlotina, 

»wir sollten ihr eine Pille geben, bevor wir fortfahren.« 

»Abscheulich!«  rief die Zeitreisende erneut. »Ich werde mich an 

die Behörden wenden. Dem muß ein Ende gemacht werden. Ich glaube 
allmählich, daß ich das Mißgeschick erlitten habe, in eine Verwahran-
stalt für Verrückte geraten zu sein!« 

Alle sahen zu, wie sie davonstolzierte. 
»Ist sie nicht herrlich?« sagte Jherek. »Ich möchte wissen, ob 

jemand Anspruch auf sie erhoben hat. Das läßt mich fast in 
Versuchung geraten, meine eigene Menagerie zu eröffnen.« 

Der Herzog von Queens stieg vom Podest und trat zu ihnen. 

Er trug einen Körperform-Keuschheitsgürtel, einen Federum-
hang und einen zylindrischen Hut aus menschlichen 
Schrumpfköpfen. »Ich muß um Entschuldigung bitten«, be-
gann er. 

»Es war alles einfach hervorragend«, erklärte Jherek, dessen 

Bosheit verblaßt war angesichts des Entzückens, in das ihn die 
Begegnung mit der Zeitreisenden versetzt hatte. »Was dachtest 
du denn?« 

»Nun«, brummte der Herzog von Queens und zupfte an sei-

nem Bart. »Äh…« 

»Ein wundervoller Spaß, herrlichster aller Herzöge«, rief Mi-

streß Christia. »Wir werden noch tagelang davon sprechen.« 

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»Oh?« Der Herzog von Queens fing an zu strahlen. 
»Und du hast erneut deine überwältigende Großherzigkeit 

bewiesen«, sagte Lady Charlotina und preßte ihre himmel-
blauen Lippen und ihre Nase an seine Wange, »indem du mir 
den morbiden Raumfahrer für meine Menagerie überlassen 
hast. Einen Runden habe ich bisher noch nicht gehabt.« 

»Natürlich, natürlich«, sagte der Herzog in seiner gewohn-

ten Überschwenglichkeit, obwohl Jherek den Eindruck hatte, 
daß er es eher bedauerte, ihr das Geschenk gemacht zu haben. 

Lady Charlotina hantierte an ihrem Ring, und der starre 

Körper des kleinen Fremden schwebte vom Podest und hing 
dann über ihrem Kopf, wo er wie ein Fesselballon leicht auf 
und ab tanzte. 

»Die Zeitreisende«, sagte Jherek. »Gehört sie dir, mein guter 

Herzog?« 

»Die Graue, die dich geschlagen hat? Nein. Ich habe sie noch 

nie zuvor gesehen. Vielleicht handelt es sich bei ihr um eine 
Herrenlose?« 

»Vielleicht.« Jherek lüftete seinen Klappzylinder und verneigte 

sich schwungvoll vor den Anwesenden. »Entschuldigt mich 
bitte, ich werde versuchen, sie zu finden. Sie wird meiner 
Sammlung eine besondere Note verleihen und sie der Voll-
kommenheit nahebringen. Lebt wohl.« 

»Auf Wiedersehen, Jherek«, sagte der Herzog fast dankbar. 

Mitfühlend hakten sich Lady Charlotina und Mistreß Christia 
bei ihm ein und führten ihn davon, während sich Jherek noch 
einmal verneigte und sich dann auf die Jagd nach seiner Beu-
te begab. 

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4. Kapitel 

 

CARNELIAN ENTWICKELT EINE NEUE BESESSENHEIT 

 

Nachdem er eine Stunde lang gesucht hatte, wurde Jherek 
klar, daß sich die graue Zeitreisende nicht mehr auf dem Fest 
befand. Die meisten Gäste waren gegangen, und es war keine 
schwierige Suche gewesen. Niedergeschlagen kehrte er zu sei-
ner Lokomotive zurück und stieg ein, ließ sich auf den breiten 
Sitz aus Plüsch und Hermelin fallen, zögerte aber, die Pfeife 
ertönen zu lassen und den Luftwagen in Bewegung zu setzen, 
denn er wollte etwas erleben als Ausgleich für seine Enttäu-
schung. 

Entweder, dachte er, ist die Zeitreisende in die Menagerie ih-

res Besitzers zurückgekehrt, oder sie hat sich aus freien Stücken 
zu irgendeinem unbekannten Ziel begeben. Er hoffte, daß sie 
keine Zeitmaschine besaß, die in der Lage war, sie in ihr Hei-
matjahrhundert zu transportieren. Wenn dem so war, war die 
Wahrscheinlichkeit groß, daß er sie für immer verloren hat-
te. Er glaubte sich an einige Anhaltspunkte zu erinnern, die 
darauf hindeuteten, daß die Menschen des späten 19. Jahrhun-
derts eine primitive Form der Zeitreise beherrscht hatten. 

»Ah, nun gut«, seufzte er, »wenn sie fort ist, dann ist sie fort.« 
Seine Mutter, die Eiserne Orchidee, war mit Lady Stimmlos 

und Uljanow von den Palmen fortgegangen, zweifellos, um in 
den Erinnerungen an die Zeit vor seiner Geburt zu schwelgen. 
Von Natur aus ein geselliger Mensch, fühlte er sich einsam. 
Kaum jemand war noch da, den er gut kannte oder den er 
gern auf seine Ranch eingeladen hätte. Er wollte die Zeitrei-
sende. Er war ihr verfallen. Sie war bezaubernd. Er tastete 
über seine Wange und lächelte. 

Als er einen Blick durch eines der Sichtfenster warf, sah er 

Mongrove und Werther de Goethe näher kommen. Er stand 

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auf, um ihnen zuzuwinken. Aber beide ignorierten ihn ostenta-
tiv, und so wuchs sein Gefühl der Vereinsamung, obwohl ihn 
normalerweise die Perfektion, mit der sie ihre Rollen spielten, 
amüsiert hätte. Wieder ließ er sich zurück in die Kissen sinken, 
nun vollends von Widerwillen erfüllt bei dem Gedanken an die 
Heimkehr, aber ohne die geringste Vorstellung einer Alterna-
tive. Mistreß Christia, stets eine willige Gefährtin, war mit 
dem Herzog von Queens und Lady Charlotina verschwunden. 
Selbst Li Pao war nirgends zu sehen. Er gähnte und schloß 
die Augen. 

»Du schläfst, mein Schatz?« 
Es war Lord Jagged. Er sah zum Führerstand hinauf. »Ist 

das die Maschine, von der du mir erzählt hast? Die…?« 

»Die Lokomotive. Oh, Lord Jagged, ich bin so froh, dich zu se-

hen. Ich dachte, du wärst schon vor Stunden fortgegangen.« 

»Ich bin unterhalten worden.« Der bleiche Kopf schob sich ein 

Stückchen weiter aus dem gelben Kragen hervor. »Und dann 
hat man mich verlassen.« Lord Jagged lächelte sein vertrautes, 
schwermütiges Lächeln. »Darf ich mich zu dir gesellen?« 

»Natürlich.« 
Lord Jagged schwebte hinauf, eine Wolke aus zitronengelben 

Daunen, und ließ sich neben Jherek nieder. 

»Also war die Vorstellung des Herzogs keine absichtliche Ka-

tastrophe?« fragte Lord Jagged. »Aber wir haben alle so getan, 
als ob.« 

Jherek Carnelian nahm seinen Klappzylinder ab und warf ihn 

aus der Lokomotive. Er verwandelte sich in eine orangefarbene 
Rauchwolke, die sich in der Luft verflüchtigte. Er löste den Gür-
tel seines Mantels. »Ja«, sagte er, »selbst ich habe mich dazu 
überwunden, ihm zu gratulieren. Er war so unglücklich. Aber 
was hat ihn nur auf den Gedanken gebracht, daß irgend je-
mand an einem gewöhnlichen kleinen Fremden interessiert 
sein könnte? Und dazu noch an einem, der ein verrückter 

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Prophet ist?« 

»Du glaubst also nicht, daß er die Wahrheit gesagt hat, der 

Fremde?« 

»Oh, ja. Ich bin sicher, daß er die Wahrheit gesagt hat. Warum 

sollte er nicht? Aber was ist schon so interessant an der Wahr-
heit? 
Kaum etwas, wenn es darauf ankommt, wie wir alle wissen. 
Schau dir Li Pao an. Auch er spricht ständig die Wahrheit. 
Aber was ist schon eine Wahrheit? Es gibt so viele verschiede-
ne Arten.« 

»Und seine Botschaft bedrückt dich nicht?« 
»Seine Botschaft? Nein. Die Lebensdauer des Universums ist 

begrenzt. Das war seine Botschaft.« 

»Und wir sind dem Ende dieser Lebensdauer sehr nahe. Das 

hat er gesagt.« Lord Jagged machte eine Handbewegung, ent-
kleidete sich und streckte seinen mageren, bleichen Körper auf 
der Couch aus. 

»Warum machst du darum soviel Aufhebens, weißer Lord 

Jagged?« 

Lord Jagged lachte. »Das mache ich nicht. Das mache ich 

nicht. Ich betreibe reine Konversation. Gewürzt mit ein oder 
zwei Quentchen Neugierde. Dein Verstand ist um so vieles le-
bendiger als meiner als der fast eines jeden anderen auf der 
Welt. Deshalb stelle ich Fragen. Wenn es dich langweilt, höre 
ich auf.« 

»Nein. Der arme kleine Raumfahrer war ein Langweiler, 

oder nicht? Oder nicht, Lord Jagged? Oder hast du etwas Inter-
essantes an ihm festgestellt?« 

»Nicht direkt. Du weißt, daß die Menschen einst den Tod 

gefürchtet haben, und ich denke, Wie-immer-sein-Name-auch-
war fürchtet ihn noch immer. Ich glaube, daß die Menschen 
einst das Bedürfnis verspürt haben, ihre Furcht mitzuteilen. Sie 
zu verbreiten, hat sie auf irgendeine Weise getröstet. Ich denke, 
das war sein Motiv. Nun, er dürfte genug Trost in Lady Charlo-

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tinas Menagerie finden.« 

»Da wir gerade von Menagerien sprechen, hast du auf dem 

Fest ein Mädchen gesehen, eine Zeitreisende in recht steifer 
grauer Kleidung und mit einem strohfarbenen, breitrandigen 
Hut?« 

»Ich glaube schon.« 
»Hast du bemerkt, wohin sie gegangen ist? Hast du sie fort-

gehen sehen?« 

»Ich glaube, Mongrove hat Gefallen an ihr gefunden und sie 

mit seinem Luftwagen in seine Menagerie geschickt, bevor er 
mit Werther de Goethe aufbrach.« 

»Mongrove! So ein Pech!« 
»Du wolltest sie für dich haben?« 
»Ja.« 
»Aber du hast doch keine Menagerie.« 
»Ich habe eine Sammlung des 19. Jahrhunderts. Sie hätte 

perfekt hineingepaßt.« 

»Dann stammt sie aus dem 19. Jahrhundert?« 
»Ja.« 
»Vielleicht gibt Mongrove sie dir ab.« 
»Mongrove darf gar nicht erfahren, daß ich an ihr interes-

siert bin. Er würde sie eher desintegrieren, in ihre eigene Zeit 
zurückschicken oder verschenken, als zu meinem Vergnügen 
beizutragen. Das müßtest du doch wissen, Lord Jagged.« 

»Könntest du sie nicht gegen irgend etwas eintauschen? Was 

ist mit dem Stück, das Mongrove so brennend von dir haben 
wollte? Der alte Schriftsteller er stammt aus dem gleichen 
Zeitalter, nicht wahr?« 

»Ja, bevor ich mich dafür zu interessieren begann. Ich erinne-

re mich. Ambrose Bierce.« 

»Genau der!« 
»Er erlitt dasselbe Schicksal wie die anderen. Verging im Feu-

er. Ich konnte mich nicht dazu durchringen, ihn zu rekonstru-

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ieren, und jetzt ist es dafür natürlich zu spät.« 

»Du bist nie ein weitblickender Mensch gewesen, gelieb-

ter Jherek.« 

Jherek wölbte die Brauen. »Ich muß sie haben, Lord Jagged. 

Ich glaube wahrhaftig, daß ich mich in sie verliebt habe. Ja! Ver-
liebt.« 

»Oho.« Lord Jagged warf den Kopf zurück, entblößte seinen 

exquisiten Hals. »Liebe! Liebe! Wie großartig, Jherek.« 

»Ich werde mich hineinstürzen. Ich werde das Feuer der Lei-

denschaft schüren, bis ich so darin verstrickt bin, wie Mongro-
ve in sein Elend.« 

»Eine hervorragende Besessenheit. Sie wird deinen Geist be-

flügeln. Sie wird dich erfinderisch machen. Du wirst Erfolg 
haben. Du wirst sie Mongrove abnehmen, auch wenn die Welt 
dabei kopfsteht! Du wirst uns alle unterhalten. Du wirst uns in 
Spannung versetzen. Du wirst unsere Aufmerksamkeit für Mo-
nate gefangenhalten! Für Jahre! Wir werden über deinen Er-
folg oder Mißerfolg spekulieren. Wir werden uns fragen, wie 
weit du dich tatsächlich in dieses Spiel verstrickt hast. Wir wer-
den verfolgen, wie deine graue Zeitreisende darauf reagiert. 
Wird sie deine Liebe erwidern? Wird sie sie verschmähen? Wird 
sie sich entschließen, Mongrove zu lieben, um deine Pläne zu 
komplizieren?« Lord Jagged beugte sich nach vorn und küßte 
Jherek zärtlich auf die Lippen. »Ja! Es muß bis ins kleinste De-
tail durchgespielt werden. Deine Freunde werden dir helfen. 
Sie werden dir Ratschläge geben. Sie werden sich mit der Lite-
ratur aller Zeitalter befassen, um die schönsten aller Liebesge-
schichten ausfindig zu machen, und du wirst sie nachvollzie-
hen. Gorgon und Königin Elizabeth. Romeo und Julius Cäsar. 
Windermere und Lady Oscar. Hitler und Mussolini. Fred und 
Louella. Ojiba und Obija. Sero und Fidsekalak. Ich könnte noch 
ein paar Namen drauflegen und noch ein paar drauf! Und 
drauf, liebster Jherek!« 

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Angefeuert von der Begeisterung seines Freundes, richtete 

sich Jherek auf und lachte gellend. 

»Ich werde ein Liebhaber sein!« 
»Ein Liebhaber!« 
»Nichts wird mich aufhalten!« 
»Nichts!« 
»Ich werde meine Geliebte erobern und mit ihr in heißem 

Glück zusammenleben, bis das Universum alt und kalt wird.« 

»Oder was auch immer unser raumfahrender Freund ange-

kündigt hat. Dieser Faktor sollte dem Ganzen einen besonde-
ren Reiz verleihen.« Lord Jagged rieb seine linnenfarbene Nase. 
»Oh, du wirst beneidet werden, begehrt, betrogen, belogen und 
befreit!« (Lord Jagged schien es heute abend mit den Äs zu 
haben). »Bedauert, belauert, bedrängt, bedroht.« Er lief Ge-
fahr, es zu übertreiben. »Du wirst des Schicksals Narr sein, 
mein Schatz! Deine Geschichte wird in den Zeitaltern wider-
hallen (zumindest in denen, die noch verbleiben). Jherek Car-
nelian der lausigste, der liebenswerteste, der lebendigste, der 
letzte der Liebhaber!« Und mit einem Schrei warf er die Arme 
um seinen Freund, während Jherek Carnelian den Pfeifen-
strang ergriff, heftig daran zog und die Lokomotive schrillend, 
stöhnend und stampfend hinauf in die warme, schwarze 
Nacht steigen ließ. 

»Liebe!« brüllte Jherek. 
»Liebe«, flüsterte Lord Jagged und küßte ihn ein weiteres 

Mal. 

»Oh, Jagged!« Jherek gab sich der Umarmung seines lüster-

nen Lords hin. 

»Sie muß einen Namen haben«, sagte Jagged, drehte sich auf 

dem achtbeinigen Bett und nahm einen Schluck aus dem Bron-
zefäßchen, das er zwischen Zeigefinger und Daumen seiner 
linken Hand hielt. »Wir müssen ihn herausfinden.« Er stand 
auf und schritt über den gewellten Eisenboden, um am Fenster 

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angekommen die Vorhänge zur Seite zu schieben und nach 
draußen zu sehen. »Ist das ein Sonnenuntergang oder ein 
Sonnenaufgang? Es sieht wie ein Sonnenuntergang aus.« 

»Es tut mir leid.« Jherek öffnete die Augen und drehte einen 

seiner Ringe um den Bruchteil eines Grades nach rechts. 

»Viel besser«, stimmte Lord Jagged von Kanarien zu und 

bewunderte die goldene Morgendämmerung. »Und was sind 
das für Vögel?« Er deutete durch das Fenster auf die schwarzen 
Silhouetten, die hoch über ihnen am Himmel kreisten. 

»Papageien«, erklärte Jherek. »Sie sollten eigentlich die mit 

einem Brandzeichen versehenen Büffel fressen.« 

»Sie sollten?« 
»Sie wollen nicht. Und eigentlich müßten sie perfekte Re-

produktionen sein. Ich habe irgendwo einen Fehler gemacht. 
Ich sollte sie wirklich zurück in meine Gen-Bank schaffen und 
von vorne anfangen.« 

»Was hältst du davon, Mongrove heute morgen einen Be-

such abzustatten?« schlug Lord Jagged vor und kam damit 
wieder auf sein ursprüngliches Thema zurück. 

»Er würde mich nicht empfangen.« 
»Aber er würde mich empfangen. Und du wirst mein Beglei-

ter sein. Ich werde Interesse an seiner Menagerie vortäuschen, 
und auf diese Weise müßtest du das Ziel deiner Träume wie-
dersehen können.« 

»Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee ist, 

geliebter Jagged«, wandte Jherek ein. »Ich habe letzte Nacht 
den Kopf verloren.« 

»Das hast du in der Tat, mein Schatz. Und warum nicht? Wie 

oft geschieht so etwas schon? Nein, Jherek Carnelian, du soll-
test nicht zögern. Es wird so viele mit Entzücken erfüllen.« 

Jherek lachte. »Lord Jagged, ich glaube, da steckt noch ein 

anderes Motiv dahinter dein eigenes Motiv. Möchtest du nicht 
vielleicht meinen Platz einnehmen?« 

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»Ich? Ich habe nicht das geringste Interesse an dieser Ära.« 
»Bist du nicht daran interessiert, dich zu verlieben?« 
»Ich bin daran interessiert, daß du dich verliebst. Das solltest 

du auch. Es wird dich vollständig machen. Du bist geboren 
worden, verstehst du nicht? Wir anderen sind als Erwachsene 
zur Welt gekommen (abgesehen von dem armen Werther, 
doch das läßt sich nicht damit vergleichen) oder haben uns 
selbst erschaffen oder sind von unseren Freunden erschaffen 
worden. Aber du, Jherek, bist geboren worden als Baby. Und 
deshalb mußt du dich verlieben. Oh, ja. Das ist keine Frage. 
Bei jedem anderen wäre es eine törichte Angelegenheit.« 

»Ich glaube, du hast schon darauf hingewiesen, daß es auch 

bei mir lächerlich wäre«, sagte Jherek sanft. 

»Liebe war schon immer lächerlich, Jherek. Das ist wieder et-

was anderes.« 

»Nun gut«, lächelte Jherek. »Um dir einen Gefallen zu tun, 

mein dünner Lord, werde ich mein Bestes geben.« 

»Um uns allen einen Gefallen zu tun. Dich eingeschlossen, 

Jherek. Besonders dich, Jherek.« 

»Ich muß gestehen, daß ich mir vorstellen…« 
Plötzlich fing Lord Jagged an zu singen. 
Die Töne drangen trillernd und trällernd aus seiner Kehle. Es 

war ein entzückendes, berauschendes Lied von solch kompli-
zierter Melodie, daß Jherek ihm kaum folgen konnte. 

Nachdenklich und ein wenig ironisch musterte Jherek seinen 

Freund. 

Einen Moment lang hatte es so ausgesehen, als hätte Lord 

Jagged ihn absichtlich zum Schweigen gebracht. 

Aber warum? 
Er hatte nur darauf hinweisen wollen, daß der Lord von Ka-

narien alle Vorzüge wie Anziehungskraft, Witz und Einfalls-
reichtum besaß, die man sich von einem Liebhaber erhoffte, 
und daß Jherek sich eher in ihn verlieben wollte als in irgendeine 

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Zeitreisende, die er nicht einmal näher kannte. 

Und, argwöhnte Jherek, Lord Jagged hatte gewußt, daß er 

das  sagen wollte. Wäre das vielleicht ein Zeichen schlechten 
Geschmacks gewesen? Der Unterschied bei der grauen Zeitrei-
senden war, daß sie nichts Seltsames daran finden würde, 
wenn sich jemand in sie verliebte. In ihrem Jahrhundert hatte 
sich jeder verliebt (oder es sich zumindest eingebildet, was auf 
das gleiche hinauslief). Ja, Lord Jagged hatte sehr großzügig 
reagiert und ihn davor bewahrt, sich in eine peinliche Situation 
zu bringen. Es wäre vulgär gewesen, Lord Jagged seine Liebe 
zu gestehen, aber es war witzig, sich in die graue Zeitreisende 
zu verlieben. 

Nicht, daß eine vorsätzliche Vulgarität etwas Schlimmes war. 

Oder eine unbeabsichtigte, dachte Jherek, wie zum Beispiel im 
Fall des Herzogs von Queens. 

Mit Schrecken erinnerte er sich an das Fest. »Der arme Her-

zog von Queens!« 

»Sein Fest war absolut vollkommen. Nichts lief richtig.« Lord 

Jagged trat vom Fenster zurück und schritt über den schwan-
kenden Boden. »Darf ich das als Anzug nehmen?« Er deutete 
auf ein ausgestopftes Mammut, das eine Ecke des Raums ein-
nahm. 

»Natürlich«, nickte Jherek. »Ich war mir ohnehin niemals si-

cher, ob es in diese Ära paßt. Wie klug von dir, ausgerechnet 
das auszuwählen.« Interessiert verfolgte er, wie Lord Jagged 
das Mammut in seine atomaren Bestandteile zerlegte und 
dann aus der tanzenden Partikelwolke eine weite, fliederfarbe-
ne Robe mit einem jener von ihm bevorzugten hohen, steifen 
Kragen und bauschigen Puffärmeln formte, aus denen nur 
seine Fingerspitzen hervorsahen, und silberne Sandalen mit 
langen spitzen Kappen und ein Diadem, um sein langes platin-
blondes Haar zu bändigen ; ein Diadem in der Form einer le-
benden, sich ringelnden uranischen Eidechse aus dem 54. 

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Jahrhundert. 

»Wie hochmütig du aussiehst!« rief Jherek. »Wie ein Prinz 

über fünfzig Planeten!« 

Lord Jagged verbeugte sich zum Dank für das Kompliment. 

»Wir sind die Summe aller vorausgegangenen Zeitalter, nicht 
wahr? Und das Ergebnis ist, daß es nichts gibt, was unser Zeital-
ter auszeichnet, von diesem einen Vorzug abgesehen. Wir sind 
die Summe.« 

»Ich habe mir darüber noch nie irgendwelche Gedanken ge-

macht.« 

»Ich auch nicht, bis zu diesem Augenblick. Aber es ist wahr. 

Mir fällt nichts anderes Typisches ein. Unsere Technologien, 
unsere Tricks, unsere Einbildungen alle imitieren sie die Ver-
gangenheit. Wir zehren von den Errungenschaften unserer 
Vorfahren. Aber wir erfinden nichts aus eigener Kraft mit unse-
ren Ringen verändern wir nur das ein wenig, was bereits exi-
stiert.« 

»Es gibt nichts mehr zu erfinden, mein Fliederlord. Die lange 

Geschichte der Menschheit hat, sofern sie überhaupt einen 
Zweck verfolgte, in uns erschöpfende Erfüllung gefunden. Wir 
können uns jeder Laune hingeben. Wir können alles sein, was 
wir wünschen, und alles tun, was wir wollen. Was bleibt denn 
noch? Wir sind glücklich. Selbst Mongrove ist glücklich in sei-
nem Kummer er hat es so gewollt. Niemand würde versuchen, 
das zu ändern. Mir ist deshalb nicht ganz klar, worauf du mit 
deinen Einwänden abzielst.« Jherek nippte an seinem eigenen 
Bierfäßchen. 

»Es war kein Einwand, mein kecker Jherek. Ich habe nur eine 

Feststellung getroffen. Das war alles.« 

»Und sie war richtig.« Jherek konnte dem nichts mehr hinzu-

fügen. 

»Richtig.« 
Lord Jagged trat zurück, um Jherek zu bewundern, der sich 

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noch nicht für den Tag angekleidet hatte. 

»Und was willst du tragen?« 
»Ich habe über diese Frage sorgfältig nachgedacht.« Jherek 

legte einen Finger ans Kinn. »Es muß zu all dem passen vor al-
lem, da ich einer Dame aus dem 19. Jahrhundert den Hof ma-
chen will. Aber es darf nicht dasselbe Gewand wie gestern 
sein.« 

»Nein«, stimmte Lord Jagged zu. 
Und dann kam Jherek die Erleuchtung. Er war entzückt über 

seine eigene Gewitztheit. »Ich weiß es! Ich werde genau dassel-
be Kostüm tragen wie sie gestern nacht! Das wird ein Kompli-
ment sein, das sie nicht übersehen kann.« 

»Jherek«, sang Lord Jagged und umarmte ihn, »du bist unser 

Bester!« 

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5. Kapitel 

 

EINE MENAGERIE AUS ZEIT UND RAUM 

 

»Unser Allerbester«, gähnte Lord Jagged von Kanarien, der 
auf der Couch aus Plüsch und Hermelin lag, während Jherek, 
bekleidet mit seinem neuen Kostüm, die Pfeife der Lokomotive 
bestätigte und der Luftwagen vom Korral abhob, den Westen 
hinter sich ließ und in Richtung auf Mongroves düsteres Reich 
davonflog. 

Die Lokomotive nahm Kurs auf die Tropen und durchstieß 

ein Dutzend verschiedener Himmel. Einige der Himmel waren 
noch  immer im Entstehen begriffen, während andere zerlegt 
worden waren, da ihre Schöpfer sich an ihnen satt gesehen 
hatten. 

Sie dampften über die alten Städte hinweg, in denen nie-

mand mehr lebte, die man aber nicht zerstört hatte, weil dort 
noch immer die Quellen vieler Energieformen installiert waren 
insbesondere jene, die die von jedermann getragenen Ringe 
betrieb. Einst waren ganze Sonnensysteme umgewandelt wor-
den, um die Energiebanken der Erde zu füllen, während des 
irrwitzigen Technischen Jahrtausends, in dem sich anschei-
nend jeder einzelne allein diesem Prinzip verschrieben hatte. 

Sie durchquerten auf ihrem Weg zu Mongrove viele Tagzo-

nen und einige Nachtzonen. Der Riese hatte, abgesehen von 
seiner kurzen Manie des Höllenbaus, immer an demselben 
Ort gelebt, wo sich einst ein Subkontinent namens Indien be-
funden hatte. Es dauerte noch eine gute Stunde, bevor sie die 
grauen Wolken sichteten, die ständig über Mongroves Reich 
hingen und je nach des Riesen Laune Schnee, Schneeregen, 
Hagel oder Regen niederprasseln ließen. Niemals durchbrach 
die Sonne diese Wolken. Mongrove haßte Sonnenschein. 

Lord Jagged gab vor zu frösteln, obwohl sich sein Gewand 

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natürlich der Temperaturveränderung angepaßt hatte. »Dort 
sind Mongroves elende Klippen. Ich kann sie schon sehen.« Er 
deutete durch das Sichtfenster. 

Jherek folgte seinem Blick und entdeckte sie ebenfalls. Kilo-

meterhohe Felsen ragten bis zu den grauen Wolken empor. Es 
waren schwarzschimmernde und bedrückende Klippen ohne 
Symmetrie, ohne einen einzigen belebenden Farbtupfer, und 
selbst der Regen, der auf sie niederprasselte, schien sich zu 
schwärzen, wenn er sie berührte und in schwarzen Tränen-
strömen ihre granitenen Hänge hinunterrann. Und auch Jherek 
fröstelte. Viele Jahre waren seit seinem letzten Besuch bei 
Mongrove vergangen. Er hatte vergessen, mit welch erbar-
mungslosem Elend der Riese sein Heim ausgestattet hatte. 

Auf einen gemurmelten Befehl Jhereks hin stieg die Lokomo-

tive hinauf in den Himmel, um über die Wolken zu gelangen. 
Der Regen und die Kälte konnten dem Luftwagen nichts an-
haben, aber allein der Anblick war für Jhereks Geschmack zu 
deprimierend. Doch bald hatten sie die Felsklippen überflo-
gen, und Jherek konnte an der Art, wie sich die Wolkenbank in 
der Mitte einstülpte, erkennen, daß sie sich über Mongroves 
Tal befanden. Jetzt mußten sie die Wolken durchstoßen. Ihnen 
blieb keine andere Wahl. 

Die Lokomotive fing an zu sinken, ließ eine graue Schicht 

des dichten, strudelnden Nebels nach der anderen hinter sich, 
bis sie schließlich über Mongroves Tal auftauchte. Jherek und 
Lord Jagged sahen auf eine verödete Landschaft aus eiterndem 
Sumpf und unbelaubten, verkrüppelten Bäumen, aus trostlosen 
Felsbrocken, verdorrtem Gesträuch und schlüpfrigem Moos. 
Inmitten all dieser Ödnis duckte sich ein weitläufiger, freudlo-
ser Komplex aus Gebäuden und Umzäunungen, der von ei-
ner hohen, kahlen Mauer umgeben war und von Mongroves 
finsterer Obsidianburg beherrscht wurde. Auf den zernagten 
Türmen der Burg glommen einige wenige trübe, gelbliche 

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Lampen. 

Fast unvermittelt wölbte sich eine Kraftfeldkuppel über die 

Burg und ihre Umgebung. Sie ließ den Regen dampfen. Dann 
dröhnte Mongroves fünfzigfach verstärkte Stimme aus der 
nun zum Teil verhüllten Burg. 

»Welcher Feind nähert sich, um den elenden Mongrove heim-

zusuchen und zu bedrohen?« 

Obwohl Mongroves Detektoren sie bereits identifiziert haben 

mußten, antwortete Jagged heiter: »Ich bin es, lieber Mongrove. 
Dein guter Freund Lord Jagged von Kanarien.« 

»Und noch einer.« 
»Ja, noch einer. Jherek Carnelian ist dir gewiß wohlbekannt?« 
»Wohlbekannt und wohlgehaßt. Er ist hier nicht willkommen, 

Lord Jagged.« 

»Und ich? Bin ich auch nicht willkommen?« 
»Niemand ist auf Burg Mongrove willkommen, aber du darfst 

eintreten, wenn du es wünschst.« 

»Und mein Freund Jherek?« 
»Wenn du darauf bestehst, ihn mitzubringen und wenn ich 

sein Wort habe, Lord Jagged, daß er nicht hier ist, um mit mir 
einen seiner grausamen Scherze zu treiben.« 

»Du hast mein Wort, Mongrove«, versicherte Jherek. 
»Dann«, erklärte Mongrove widerwillig, »tretet ein.« 
Die Kraftfeldkuppel verschwand; der Regen fiel ungehindert 

auf Basalt und Obsidian. Aus Höflichkeit steuerte Jherek seine 
Lokomotive nicht über die Mauer. Statt dessen ließ er den 
Luftwagen auf dem sumpfigen Boden niedergehen und warte-
te, bis die massiven Eisentore aufgähnten, gerade weit genug, 
um die Lokomotive durchzulassen, die fröhlich hindurch-
schnaufte und aus ihrem Schornstein und ihren Drehgestellen 
vielfarbigen Rauch ausstieß ein höchst unpassender Anblick 
und einer, der Mongrove mißfallen mußte. Dennoch konnte 
Jherek der Versuchung nicht widerstehen. Mongrove sehnte 

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sich so sehr danach, gequält zu werden, das war sicher, und er 
sehnte sich so sehr danach, ihn zu quälen, daß er sich nur we-
nige Gelegenheiten dazu entgehen ließ. Lord Jagged legte Jhe-
rek eine Hand auf die Schulter. 

»Es würde die Atmosphäre verbessern und unser Vorhaben 

erleichtern, wenn wir den Rauch abstellen würden, mein ver-
gnügter Jherek.« 

»Nun gut!« Jherek lachte und befahl dem Rauch zu versie-

gen. »Vielleicht hätte ich ein traurigeres Gefährt wählen sollen. 
Für diese Gelegenheit. Eines von diesen schwarzen Schiffen des 
Vierjährigen Reichs wäre ideal gewesen. Oh, der Tod hat ihnen 
in jenen Zeiten soviel bedeutet. Ich frage mich, ob wir vielleicht 
etwas versäumen?« 

»Ich habe darüber nachgedacht. Allerdings ist jeder von uns 

schon so oft gestorben und so oft wiederbelebt worden, daß 
der Reiz vorbei ist. Für sie insbesondere für die schwermüti-
gen Menschen des Vierjährigen Reichs war es eine Erfahrung, 
die sie im Höchstfall dreioder viermal wiederholen konnten, 
bevor ihre Systeme versagten. Seltsam.« 

Sie näherten sich dem Haupteingang der Burg und durch-

querten schmale Gassen, die von finsteren, kalten Mauern und 
eisernen Zäunen gesäumt wurden, hinter denen gelegentlich 
verschwommen erkennbare Gestalten hin und her huschten. 
Nahezu alles gehörte zu Mongroves Menagerie. 

»Seit meinem letzten Besuch hat er sie erheblich vergrößert«, 

bemerkte Jherek. »Das habe ich nicht gewußt.« 

»Du vertraust dich am besten meiner Führung an«, schlug 

Lord Jagged vor. »Ich werde sehen, in welcher Stimmung sich 
Mongrove befindet, und ihn beiläufig fragen, ob wir die Mena-
gerie besichtigen dürfen. Vielleicht nach dem Mittagessen, so-
fern er uns zum Mittagessen einlädt.« 

»Ich erinnere mich an das letzte Mittagsmahl, das ich hier 

eingenommen habe«, murmelte Jherek fröstelnd. »Roher tu-

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ryianischer Mistwal nach Art der Zhadash-Primitiven, die ihn, 
wenn ich mich recht entsinne, im 89. Jahrhundert auf Ganesha 
gejagt haben.« 

»Du hast ein gutes Erinnerungsvermögen.« 
»Ich konnte es nie vergessen. Ich habe niemals Mongroves 

Kunst bezweifelt, Lord Jagged. Wie ich ist er ein Perfektionist.« 

»Und das ist der Grund für die Rivalität zwischen euch bei-

den, was nicht verwunderlich ist. Ihr seid tatsächlich verwand-
te Geister.« 

Jherek lachte. »Vielleicht. Obwohl ich, wenn man mich fragt, 

meine Art vorziehe!« 

Sie rollten unter ein Fallgitter hindurch und gelangten in ei-

nen kopfsteingepflasterten Hof. Die Lokomotive blieb stehen. 

Regen prasselte auf das Pflaster. Irgendwo läutete und läute-

te und läutete eine traurige Glocke. 

Und dort war Mongrove. Er trug ein dunkelgrünes Gewand, 

sein mächtiges Kinn war auf seine breite Brust gesunken, und 
seine grüblerischen Augen sahen ihnen aus einem Kopf entge-
gen, der aus Fels gemeißelt schien. Seine monströse, drei Meter 
große Gestalt bewegte sich nicht, als sie aus dem Luftwagen 
stiegen und sich aus Höflichkeit von dem klammen Regen 
durchnässen ließen. 

»Guten Morgen, Mongrove.« Lord Jagged von Kanarien voll-

führte eine seiner berühmten schwungvollen Verbeugungen, 
trat dann auf Zehenspitzen einen Schritt nach vorn, langte nach 
oben und ergriff die massigen, vor dem Bauch gefalteten Hände 
des Riesen. 

»Jagged«, sagte Mongrove. »Ich bin mißtrauisch. Warum bist 

du mit diesem Schurken Jherek Carnelian hierhergekommen? 
Was für ein Komplott wird hier ausgeheckt? Was für ein sata-
nisches Gebräu braut ihr da zusammen? Welch schmähliche 
Schandtat schmort im Schmutz eurer schuftigen Herzen und 
harrt darauf, meinen Seelenfrieden zu stören?« 

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»Oh, komm, Mongrove Seelenfrieden! Ist das nicht das letzte, 

was du dir wünschst?« Jherek konnte sich des Sticheins nicht 
enthalten. Er stand in seinem neuen grauen Kleid und mit dem 
Strohhut auf den kastanienbraunen Locken vor seinem alten 
Rivalen, hielt die Hände in die Hüften gestemmt und lächelte 
den Riesen an. »Verzweiflung ist es, wonach du dich sehnst 
exquisite Verzweiflung. Es ist die Seelenqual, wie sie auch die 
Ahnen gekannt haben. Du möchtest das Geheimnis dessen lösen, 
was sie das ›Allzumenschliche‹ genannt haben, und es in all 
seinem Entsetzen und Schmerz zu neuem Leben erwecken. 
Aber noch hast du dieses Geheimnis nicht enträtselt, nicht 
wahr, Mongrove? Hältst du dir deshalb diese riesige Menagerie 
mit auserwählten Geschöpfen aus allen Zeitaltern und Winkeln 
des Universums? Hoffst du, daß sie dir in ihrem Elend den Weg 
von der Verzweiflung zur völligen Verzweiflung zeigen, von der 
Schwermut zur tiefsten Schwermut, vom Trübsinn zum unaus-
sprechlichen Trübsinn?« 

»Sei still!« ächzte Mongrove. »Du bist hierhergekommen, um 

mich heimzusuchen. Du kannst nicht bleiben! Du kannst nicht 
bleiben!« Er bedeckte seine monströsen Ohren mit seinen mon-
strösen Händen und schloß die großen, traurigen Augen. 

»Ich entschuldige mich für Jherek, Mongrove«, sagte Lord 

Jagged sanft. »Er ist nur bestrebt, dich zu erfreuen.« 

Mongroves Antwort bestand aus einem langen, gequälten 

Stöhnen. Er traf Anstalten, sich in seine Burg zurückzuziehen. 

»Bitte, Mongrove«, rief Jherek. »Ich entschuldige mich. Wirk-

lich. Ich wollte dir nur ein wenig Linderung verschaffen von 
deinem Entsetzen, deinem Trübsinn, deiner unerträglichen 
Niedergeschlagenheit.« 

Mongrove verharrte, und seine Miene hellte sich ein wenig 

auf. »Du verstehst?« 

»Natürlich. Obwohl ich nur einen Bruchteil von dem gefühlt 

habe, was du empfindest verstehe ich.« Jherek legte die Hand 

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auf seine Brust. »Den schmerzlichen Kummer all dessen.« 

»Ja«, flüsterte Mongrove. Eine Träne tropfte aus seinem 

großen rechten Auge. »Das ist nur allzu wahr, Jherek.« Eine 
Träne tropfte aus seinem linken Auge. »Für gewöhnlich ver-
steht mich niemand. Ich bin ein Witz. Ein Quell der Heiterkeit. 
Jeder weiß, daß sich hinter dieser großen Gestalt ein winziges, 
verängstigtes, pathetisches Geschöpf verbirgt, unfähig zu jed-
weder Großzügigkeit, ohne schöpferische Begabung, nur fähig, 
zu weinen, zu trauern, zu seufzen und zu verfolgen, wie die 
Tragödie des menschlichen Lebens bis zu ihrem bitteren Ende 
gespielt wird.« 

»Ja«, sagte Jherek. »Ja, Mongrove.« 
Lord Jagged, der nun hinter Mongrove stand, im Schutz des 

Burgeingangs, an der Obsidianwand lehnend, warf Jherek ei-
nen Blick unverhohlener Bewunderung zu und bekräftigte 
dies mit dem Ausdruck uneingeschränkter Zustimmung. Er 
nickte mit dem bleichen Kopf. Er lächelte. Er zwinkerte er-
mutigend, und sein weißes Lid senkte sich über sein fast farb-
loses Auge. 

Jherek bewunderte Mongrove für die Schmerzen, die er er-

trug, um seine Rolle zu vervollkommnen. Wenn er, Jherek, zu 
einem Liebhaber werden würde, würde er diese Rolle mit der 
gleichen Hingabe spielen. 

»Du siehst«, erklärte Lord Jagged, »du siehst, Mongrove, Jhe-

rek versteht dich besser und beweist mehr Mitgefühl als jeder 
andere. In der Vergangenheit hat er sich absonderliche Scher-
ze mit dir erlaubt, das stimmt, aber er hat das nur getan, um 
dich aufzuheitern. Bevor ihm klarwurde, daß nichts und nie-
mand den Kummer in deiner öden Seele und so weiter zu 
lindern vermag.« 

»Ja«, nickte Mongrove. »Ich sehe es, Lord Jagged.« Er legte 

Jherek einen seiner mächtigen Arme um die Schulter, warf ihn 
dabei fast auf das Kopfsteinpflaster und beschmutzte sein 

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Kleid. Jherek fürchtete um sein Kostüm. Es wurde bereits naß, 
aber dennoch verbot ihm die Höflichkeit, zu seinem Schutz 
irgendeine  Energieform einzusetzen. Er spürte, wie sein 
Strohhut aus der Fasson geriet. Er sah auf seine Bluse und stellte 
fest, daß der Spitzenbesatz leicht mitgenommen wirkte. 

»Kommt«, fuhr Mongrove fort. »Ihr werdet mit mir zu Mittag 

essen, meine verehrten Gäste. Nie zuvor ist mir bewußt gewor-
den, Jherek, wie mitfühlend du gewesen bist. Und du hast ver-
sucht, dein Mitgefühl hinter grobem Humor, rauhem Spott 
und derben Streichen zu verbergen.« 

Jherek dachte daran, daß die meisten seiner Scherze eher sub-

tiler Natur gewesen waren, aber es war nicht höflich, dies in die-
sem Moment in Erinnerung zu bringen. Statt dessen nickte er 
und lächelte. 

Mongrove geleitete sie endlich in die Burg. Trotz der Wind-

stöße, die durch die Gänge pfiffen und über die Treppenau-
gen heulten; trotz der Tatsache, daß das einzige Licht von flak-
kernden Fackeln gespendet wurde und die Wände vor Nässe 
trieften oder von Schimmel bedeckt waren; trotz der Ratten, 
die dann und wann vorbeihuschten ; trotz der blutleeren Ge-
sichter von Mongroves halbtoten Faktoten, der dichten Spinn-
weben, der frostigen Gerüche, der sonderbaren leisen Geräu-
sche war Jherek erleichtert, im Innern zu sein, und frohge-
launt schritt er neben Mongrove einher, über rohe, steinerne 
Treppenfluchten, durch ein Gewirr schiefer Korridore, bis sie 
schließlich in Mongroves Bankettsaal eintrafen. 

»Und wo ist Werther«, fragte Lord Jagged, »de Goethe, meine 

ich? Ich dachte, er wäre gestern mit dir aufgebrochen. Beim 
Herzog von Queens?« 

»Der Herzog von Queens.« Mongrove wölbte die buschigen 

Brauen. »Ah, ah. Der Herzog von Queens. Ja, Werther ist eine 
Zeitlang hier gewesen. Aber er ging fort. Er hat mir verspro-
chen, mir den einen oder anderen neuen Alptraum zu zeigen, 

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sobald er damit fertig ist.« 

»Alptraum?« 
»Ein Spiel. Irgend etwas. Ich bin mir nicht sicher. Er sagte, es 

würde mir gefallen.« 

»Ausgezeichnet.« 
»Ah«, seufzte Mongrove. »Dieser Raumfahrer. Wie gern hätte 

ich noch länger mit ihm gesprochen. Habt ihr ihn gehört? Ver-
dammt, hat er gesagt. Wir sind verdammt!« 

»Verdammt, verdammt«, echote Lord Jagged und bedeutete 

Jherek mitzumachen. 

»Verdammt«, sagte Jherek ein wenig unsicher. »Verdammt, 

verdammt.« 

»Ja, dunkle Verdammnis. Verzweiflung. Verdammt. Ver-

dammt. Verdammt.« Mongrove starrte ins Leere. 

Jherek kam es in den Sinn, daß Mongrove Lord Jaggeds Vor-

liebe für mit demselben Buchstaben beginnende Worte aufge-
griffen zu haben schien. 

»Du begehrst also den Fremden?« fragte er. 
»Ihn begehren?« 
»Du möchtest ihn für deine Menagerie haben?« erläuterte 

Lord Jagged. »So lautet die Frage.« 

»Natürlich würde ich ihn gern haben. Er ist sehr morbid, nicht 

wahr? Er würde einen ausgezeichneten Gesellschafter abge-
ben.« 

»Oh, in der Tat!« versicherte Lord Jagged und sah bedeu-

tungsvoll zu Jherek hinüber, als sich die drei Männer an Mon-
groves gesplittertem und fleckigem Eßtisch niederließen. Aber 
Jherek begriff nicht ganz, warum Jagged ihn so bedeutungs-
voll ansah. »In der Tat! Was für eine Schande, daß er sich in 
Lady Charlotinas Sammlung befindet.« 

»Ist das wahr? Ich habe mich schon gefragt…« 
»Lady Charlotina wird den kleinen Fremden bestimmt nicht 

an dich abtreten, fürchte ich«, fuhr Lord Jagged fort. »Weil seine 

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Gesellschaft dir so viel bedeuten würde.« 

»Lady Charlotina haßt mich«, sagte Mongrove schlicht. 
»Gewiß nicht!« 
»Oh, doch. Sie würde mir nichts abtreten. Ich glaube, sie ist 

eifersüchtig auf meine Sammlung.« Mit düsterem Stolz fügte 
Mongrove hinzu: »Meine Sammlung ist groß. Wahrscheinlich 
ist es die größte, die es gibt.« 

»Ich habe gehört, daß sie großartig sein soll«, erklärte Jherek. 
»Danke, Jherek«, sagte der Riese würdevoll. 
Mongroves Verhalten hatte sich völlig verändert. Offenbar 

ging es ihm nur darum, daß sein Kummer ernst genommen 
wurde. Dann konnte er jede vergangene Demütigung, jeden 
Scherz auf seine Kosten vergessen, den sich Jherek je erlaubt 
hatte. Binnen weniger Minuten hatten sie sich in Mongroves 
Augen aus erbitterten Feinden in die besten Freunde verwan-
delt. 

Für Jherek war es unübersehbar, daß Lord Jagged Mongro-

ve sehr gut verstand so gut wie Jherek, wenn nicht noch bes-
ser. Stets war er erstaunt über das Einfühlungsvermögen des 
Lord Jagged von Kanarien. Manchmal war ihm Lord Jagged 
fast unheimlich! 

»Ich würde sehr gern deine Menagerie besichtigen«, gestand 

Lord Jagged. »Wäre das möglich, mein unglücklicher Mon-
grove?« 

»Natürlich, natürlich«, versicherte Mongrove. »Obwohl es in 

Wirklichkeit wenig zu sehen gibt. Ich glaube, daß ihr der Glanz 
von Lady Charlotinas Sammlung fehlt; die Farbenpracht der 
des Herzogs von Queens, sogar die Vielfalt der deiner Mutter, 
Jherek, der Eisernen Orchidee.« 

»Ich bin sicher, daß dies nicht der Fall ist«, widersprach Jhe-

rek diplomatisch. 

»Möchtest auch du meine Menagerie besichtigen?« fragte 

Mongrove. 

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»Sehr gern«, nickte Jherek. »Sehr gern. Ich habe gehört, daß 

du…« 

»Diese Sprünge«, sagte Lord Jagged plötzlich und unterbrach 

absichtlich seinen Freund, »sie sind neu, nicht wahr, lieber 
Mongrove?« 

Er deutete auf einige breite Risse in der gegenüberliegenden 

Wand des Saals. 

»Ja, sie sind verhältnismäßig frisch«, bestätigte Mongrove. 

»Gefallen sie dir?« 

»Sie sind erstklassig!« 
»Nicht zu übertrieben? Du glaubst nicht, daß sie übertrieben 

wirken?« fragte Mongrove ängstlich. 

»Nicht im geringsten. Sie sind genau richtig. Die Handschrift 

eines wahren Künstlers.« 

»Ich bin so froh, Lord Jagged, daß mich zwei Männer von so 

erlesenem Geschmack besucht haben. Ihr müßt mir vergeben, 
wenn ich anfangs einen verdrießlichen Eindruck gemacht ha-
ben sollte.« 

»Verdrießlich? Nein, nein. Verständlicherweise vorsichtig, ja. 

Aber nicht verdrießlich.« 

»Wir müssen essen«, sagte Mongrove, und Jhereks Herz 

krampfte sich zusammen. »Mittagessen und dann werde ich 
euch durch meine Menagerie führen.« 

Mongrove klatschte in die Hände, und das Essen erschien auf 

dem Tisch. 

»Großartig!« lobte Lord Jagged und beäugte das verfärbte 

Fleisch und das wäßrige Gemüse, die verwelkten Salate und 
die klumpigen Soßen. »Und was sind das für Köstlichkeiten?« 

»Es ist ein Bankett aus dem Jahrhundert der kaleanischen 

Seuche«, erklärte Mongrove stolz. »Ihr habt von der Seuche 
gehört? Sie hat, wenn ich mich recht besinne, das Sonnensystem 
im 1000. Jahrhundert entvölkert. Sie hat alles und jeden befal-
len.« 

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»Wundervoll«, rief Lord Jagged mit scheinbar ehrlicher Begei-

sterung. Jherek, der nur mit Mühe seinen Ekel verbergen konn-
te, war erstaunt über die Selbstbeherrschung seines Freundes. 

»Und was«, fragte Lord Jagged und griff nach einem Teller, 

auf dem ein zitterndes, blutiges Stück Fleisch lag, »was mag das 
wohl sein?« 

»Nun, es ist natürlich meine eigene Reproduktion, aber ich 

glaube, es ist authentisch.« Mongrove erhob sich halb, um den 
Teller genauer zu betrachten, und warf dabei einen dunklen 
Schatten über die beiden Männer. »Ah, ja das ist Schnaub 
oder ist es Schnauz? Es ist verwirrend. Ich habe diese Zeit so 
intensiv wie möglich studiert. Eine meiner Lieblingsepochen. 
Wenn es Schnaub ist, dann haben sie ihre religiösen Sitten 
vollständig ändern müssen, um es essen zu können. Wenn es 
Schnauz ist, dann glaube ich nicht, daß es klug wäre, davon 
zu kosten. Obwohl, wenn ihr noch nie an Lebensmittelvergif-
tung gestorben seid, könnte es eine interessante Erfahrung 
werden.« 

»Das bin ich zwar noch nie«, erwiderte Lord Jagged, »aber 

andererseits dürfte es einige Zeit in Anspruch nehmen, denke 
ich, und ich war eigentlich mehr daran interessiert, heute 
nachmittag deine Menagerie zu besichtigen.« 

»Dann vielleicht ein anderes Mal«, sagte Mongrove höflich, 

obwohl er ein wenig enttäuscht wirkte. »Schnauz gehört zu 
meinen Lieblingsspeisen. Oder ist es Schnaub? Doch auch für 
mich ist es wohl besser, der Versuchung zu widerstehen. Jhe-
rek?« 

Jherek griff nach dem nächsten Teller. »Das sieht schmack-

haft aus.« 

»Nun, als schmackhaft würde ich es nicht gerade bezeichnen.« 

Mongrove stieß ein seltsames, humorloses Gelächter aus. 
»Kaum ein Nahrungsmittel aus dem Seuchenjahrhundert ist 
schmackhaft gewesen. Um offen zu sein, der Geschmack ge-

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hört nicht zu den Kriterien, nach denen ich meine Mahlzeiten 
zusammenstelle…« 

»Nein, nein«, nickte Jherek. »Ich meinte, es sieht äh…« 
»Verdorben?« schlug Lord Jagged vor, während er mit deut-

lichem Behagen auf seiner neuen Wahl kaute (die sich im Aus-
sehen kaum von dem Schnauz oder Schnaub unterschied, den 
er zurückgewiesen hatte). 

Jherek sah Mongrove an, der Lord Jaggeds Beschreibung mit 

einem zustimmenden Nicken quittierte. 

»Ja«, sagte Jherek mit leiser, erstickter Stimme. »Verdorben.« 
»Das ist es auch. Aber es wird dir nicht weiter schaden. Wie 

du dir vorstellen kannst, unterschied sich ihr Stoffwechsel ein 
wenig von unserem.« Mongrove schob die Schüssel zu Jherek 
hinüber. In ihr befand sich eine grünliche Gemüsesorte in ei-
ner braunen, trüben Soße. »Bediene dich.« 

Jherek schöpfte die kleinstmögliche Portion auf seinen Teller. 
»Mehr«, sagte Mongrove kauend. »Nimm mehr. Es ist genug 

da.« 

»Mehr«, flüsterte Jherek und schöpfte einen weiteren Löffel 

voll aus der Schüssel auf seinen Teller. 

Er hatte auch in seinen besten Zeiten nie großen Appetit auf 

normale Speisen gehabt und stets die weitaus direkteren (und 
unsichtbaren) Methoden der Ernährung vorgezogen. Und dies 
war die abscheulichste normale Speise, die er in seinem ganzen 
Leben je gesehen hatte. 

Er wünschte allmählich, er hätte nach dem turyianischen 

Mistwal gefragt. 

Schließlich nahm die Tortur ein Ende, und Mongrove stand 

auf und wischte sich den Mund. 

Jherek, der sich darauf konzentriert hatte, seinen Brechreiz zu 

unterdrücken, während er mühevoll die Bissen hinunterwürg-
te, bemerkte, daß Lord Jagged zwar mit offenkundig herzhaftem 
Appetit gegessen, in Wirklichkeit aber sehr wenig verzehrt hat-

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te. Er mußte Jagged überreden, ihm diesen Trick beizubrin-
gen. 

»Und jetzt«, erklärte Mongrove, »erwartet uns meine Mena-

gerie.« Er sah mit bedrückter Freundlichkeit auf Jherek hinun-
ter, der sich noch nicht erhoben hatte. »Fühlst du dich nicht 
wohl? War das Essen vielleicht verdorbener, als es sein sollte?« 

»Möglich«, sagte Jherek, preßte seine Handflächen auf die 

hölzerne Tischplatte und stemmte sich in die Höhe. 

»Ist dir schwindlig?« fragte Mongrove und ergriff Jhereks Ell-

bogen, um ihn zu stützen. 

»Ein wenig.« 
»Hast du Magenschmerzen? Hast du einen Magen?« 
»Ich glaube schon. Und ich habe leichte Schmerzen.« 
»Hmm.« Mongrove runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten wir 

die Besichtigung auf einen anderen Tag verschieben.« 

»Nein, nein«, wehrte Jagged ab. »Jherek wird alles um so mehr 

genießen, da er sich nicht ganz wohl fühlt. Er ist ganz vernarrt 
darin, sich nicht wohl zu fühlen. Es bringt ihn dem wahren 
Verständnis für die grundlegende Qual der menschlichen Exi-
stenz näher. Nicht wahr, Jherek?« 

Jherek bewegte zustimmend den Kopf auf und ab. Er hatte 

im Moment nicht die Kraft, Lord Jagged eine Antwort zu ge-
ben. 

»Sehr gut«, sagte Mongrove und trieb Jherek weiter. »Sehr gut. 

Ich wünschte, wir hätten unseren Zwist schon früher beigelegt, 
liebster Jherek. Ich erkenne jetzt, wie sehr ich dich mißverstan-
den habe.« 

Und während Mongroves Aufmerksamkeit abgelenkt war, 

warf Jherek seinem Freund Lord Jagged einen Blick aus pu-
rem Haß zu. 

Er hatte sich ein wenig erholt, als sie den Hof hinter sich lie-

ßen und durch den Regen zum ersten Menageriegebäude 
trotteten. Hier bewahrte Mongrove seine Bakteriensammlung 

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auf; seine Viren, seine Krebszellen alle über Vergrößerungs-
schirme zu betrachten, von denen einige fast zweihundert Me-
ter breit waren. Mongrove schien eine Schwäche für Seuchen 
zu besitzen. 

»Einige dieser Krankheiten sind über eine Million Jahre alt«, 

erklärte er stolz. »Zumeist haben Zeitreisende sie mitgebracht. 
Andere stammen aus allen Teilen des Universums. Wir haben 
eine Menge dadurch versäumt, wißt ihr, meine Freunde, daß 
wir keine eigenen Krankheiten haben.« 

Er blieb vor einem der größeren Bildschirme stehen. Er zeig-

te einige Beispiele dafür, auf welche Weise die Bakterien die 
Geschöpfe befielen, von denen sie ursprünglich stammten. 

Ein bärenähnlicher Fremder krümmte sich im Todeskampf, 

während sein Fleisch Blasen warf und aufplatzte. 

Ein reptilienförmiger Raumfahrer saß da und verfolgte mit 

trüben Augen, wie seine Schwimmhände und -füße sich in 
kleine Tentakel verwandelten, die sich langsam um den Rest 
seines Körpers schlangen und ihn erdrosselten. 

»Manchmal frage ich mich, ob es uns, den fantasiereichsten 

aller Geschöpfe, nicht doch an einem gewissen Maß an Fanta-
sie mangelt«, flüsterte Lord Jagged Jherek zu, als sie verharr-
ten, um das arme Reptil zu betrachten. 

An einer anderen Stelle wurde eine pflanzliche Intelligenz 

von einem Pilz befallen, der nacheinander ihre wunderschönen 
Blüten verzehrte und ihre Stengel in trockenes Stroh verwan-
delte. 

Es gab Aberhunderte von Variationen. Sie waren alle so inter-

essant, daß Jherek seine Übelkeit vergaß und Jagged hinter sich 
zurückließ, während er an Mongroves Seite weiterging, Fra-
gen stellte und oftmals aufmerksam den Antworten lauschte. 

Lord Jagged neigte zum Trödeln, sah sich diese Spezies nä-

her an, äußerte sein Erstaunen über jene, und er war weit hin-
ter ihnen zurück, als sie das Bakterienhaus verließen und das 

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Fluktuantenhaus betraten. 

Hier war eine Vielzahl unterschiedlicher Wesen unterge-

bracht, die bewußt ihre Gestalt oder Farbe verändern konnten. 
Jede Kreatur besaß einen eigenen großen Raum, in dem ihre 
vertraute Umgebung bis in die winzigste Einzelheit nachge-
baut worden war. 

Die Lebenszonen waren nicht durch Wände, sondern durch 

unsichtbare Kraftfelder voneinander getrennt, und jede Zone 
ging auf geschmackvolle Weise in die andere über. Die meisten 
Fluktuanten stammten aus keiner Epoche der Erdgeschichte 
(sah man von einigen primitiven Chameleons und ähnlichen 
Geschöpfen ab), sondern von vielen fernen Planeten außerhalb 
des Sonnensystems. Nahezu alle waren intelligent, insbesonde-
re die Mimikrywesen. 

Während die drei Männer die verschiedenen Lebenszonen 

durchschlenderten, durch eigene Kraftfelder vor Angriffen ge-
schützt, trafen sie auf ein Geschöpf nach dem anderen, die alle-
samt ihre Gestalt veränderten und mehr oder minder perfekt 
entweder Jherek oder Jagged oder Mongrove nachahmten. 
Einige von ihnen veränderten so rasch ihre Gestalt (beispiels-
weise von Jagged in Mongrove und dann in Jherek), daß Jherek 
sich selbst fremd vorzukommen begann. 

Das Menschenhaus war die nächste Station, und in ihm hoff-

te Jherek die Frau zu finden, die er zu lieben gedachte. 

Das Menschenhaus war das größte in der Menagerie, und 

wie der Fundus so vieler anderer aus verschiedenen Bereichen 
des Weltraums zusammengetragen worden war, so stammte 
die Kollektion des Menschenhauses aus verschiedenen Zeital-
tern der Erdgeschichte. Das Haus erstreckte sich über mehrere 
Quadratkilometer, und wie im Fluktuantenhaus gingen auch 
hier die Lebenszonen (in chronologischer Reihenfolge) nahtlos 
ineinander über und ahmten die für die jeweilige Periode typi-
schen Umweltbedingungen nach. Die Hauptkategorien wur-

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den durch den Neandertaler, den Piltdown-Menschen, den 
Religions-Menschen und durch den Techno-Menschen gebil-
det, und natürlich gab es viele Unterkategorien. 

»Ich habe hier«, erklärte Mongrove fast lebhaft, »Männer und 

Frauen aus praktisch jeder wichtigen Epoche unserer Ge-
schichte.« 

Er schwieg einen Moment. »Seid ihr, meine Freunde, an ir-

gendeiner bestimmten Zeit interessiert? Vielleicht an der phra-
drakeanischen Tyrannei?« Er wies auf die Lebenszone, der sie 
sich jetzt näherten. Die Gebäude waren viereckige, sandige 
Würfel, auf sandfarbenem Beton errichtet. Der Vertreter dieser 
Zeit trug ein Gewand (sofern es ein Gewand war) aus dem 
gleichen, farblich identischen Material und war von viereckiger 
Form. Sein Kopf und seine Glieder ragten auf eher unpassende 
Weise daraus hervor, und er bot einen komischen Anblick, wie 
er da herumlief, den drei Männern in seiner Sprache etwas zu-
brüllte und die Fäuste schüttelte. Nichtsdestotrotz hielt er si-
cheren Abstand. 

»Er macht einen grimmigen Eindruck«, bemerkte Lord Jag-

ged und musterte ihn mit zwiespältigem Vergnügen. 

»Es war eine grimmige Zeit«, nickte Mongrove. »Wie so viele 

andere.« 

Sie durchquerten diese und einige weitere Lebenszonen, bis 

Mongrove erneut stehenblieb. 

»Oder das großartige Irische Reich«, sagte er. »Fünfhundert 

Jahre glorreiches Keltisches Dunkel auf vierzig Planeten. Dies 
ist der Guinness oder Herrscher persönlich.« 

Sie befanden sich in einer Lebenszone aus saftigem grünen 

Gras und gedämpftem Licht, in dem sich ein zweistöckiges 
Gebäude aus Holz und Stein erhob, an dem ein Schild hing. Vor 
dem Haus, auf einer Holzbank, saß ein stattliches, rotgesichti-
ges Individuum in einem recht merkwürdigen Gewand, das in 
der Hüfte eng gegürtet war und einen hochstehenden Kragen 

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besaß, der das Gesicht verhüllte. Auf dem Kopf trug es einen 
weichen braunen Hut mit nach unten geschlagener Krempe, 
so daß die Augen im Schatten lagen. In einer Hand hielt es 
einen Krug mit dunkler Flüssigkeit, auf der eine dicke weiße 
Schaumkrone trieb. In regelmäßigen Abständen führte der 
Mann diesen Krug zu den Lippen und leerte ihn, worauf er 
sich zu seinem stetigen glückseligen Entzücken sofort wieder 
füllte. Außerdem sang er die ganze Zeit eine schwermütige, an 
ein Klagelied erinnernde Melodie, die ihm zu gefallen schien, 
obwohl er manchmal den Kopf senkte und weinte. 

»Er kann so traurig sein«, sagte Mongrove bewundernd. »Er 

lacht, er singt, aber die Traurigkeit verläßt ihn nie. Er gehört 
zu meinen Lieblingen.« 

Sie wanderten weiter, durch Muster des vorgeschichtlichen 

griechischen Goldenen Zeitalters, der Britischen Renaissance, 
der Ära der Korinischen Republik, der Kaiserlich-
Amerikanischen Konföderation, der Mexikanischen Vorherr-
schaft, der Yulinischen Kaiser, der Zwölf-Planeten-Union, der 
Dreißig-PlanetenUnion, der Anarchistischen Staaten, der Küh-
len Theokratie, des Dunkelgrünen Konzils, der Periode der 
Farajitischen Feldherren, des Herodinianischen Reiches, des 
Gienischen Reiches, der Zukker-Diktatur, der Periode der 
Schall-Attentate, der Zeit des Unsichtbaren Zeichens (der son-
derbarsten unter vielen vergleichbaren Epochen), des Seiltän-
zerin-Zeitalters, der Ersten, Zweiten und Dritten Bevormun-
dung, der Schiff-Kulturen, des Technischen Jahrtausends, des 
Zeitalters der Planetenbauer und Hunderter weiterer Epo-
chen. 

Und die ganze Zeit über hielt Jherek Ausschau nach einem 

Zeichen der grauen Zeitreisenden, während er mechanisch 
Mongroves Sammlung bewunderte und die meisten Ausrufe 
der Ehrfurcht und des Entzückens Lord Jagged überließ, der 
bewußt die Aufmerksamkeit von Jherek ablenkte. 

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Und dennoch war es Mongrove, der zuerst auf sie zu spre-

chen kam, als sie eine Lebenszone betraten, die ein wenig 
freudloser wirkte als die anderen. 

»Und hier ist die letzte Neuerwerbung meiner Sammlung. 

Ich bin sehr stolz darauf, daß sie sich in meinem Besitz befindet, 
aber bisher hat sie mir noch nicht gesagt, was ich ihr bauen soll, 
damit sie in einer Umgebung leben kann, die am besten zu ihr 
paßt und in der sie sich wohl fühlt.« 

Jherek drehte sich um und starrte direkt in das Gesicht der 

Zeitreisenden. 

Sie funkelte ihn an. Sie war rot vor Zorn. Zuerst begriff Jherek 

nicht, daß er das Objekt ihres Zorns war. Er glaubte, daß ihre 
Wut nachlassen würde, wenn sie ihn erkannte und sah, was er 
trug. 

Aber ihr Zorn wuchs. 
»Hat sie schon eine Übersetzungspille genommen?« fragte er 

Mongrove. Aber Mongrove beäugte ihn mit einem Anflug von 
Mißtrauen. 

»Eure Kostüme sehen einander sehr ähnlich, Jherek.« 
»Ja«, sagte Jherek. »Ich bin der Zeitreisenden bereits begegnet. 

Gestern nacht. Beim Herzog von Queens. Ich war so beein-
druckt von dem Kostüm, daß ich mir selbst eins zugelegt ha-
be.« 

»Ich verstehe.« Mongroves Stirn glättete sich ein wenig. 
»Aber welch ein Zufall«, warf Lord Jagged flink ein. »Wir hat-

ten nicht die leiseste Ahnung, daß sie zu deiner  Sammlung ge-
hört, Lord Mongrove. Wie ungewöhnlich.« 

»Ja«, bestätigte Mongrove ruhig. 
Jherek räusperte sich. 
»Ich frage mich…«, begann Mongrove. 
Jherek wandte sich der Lady zu, verneigte sich tief und sagte 

artig: »Ich hoffe, daß es Ihnen gutgeht, Madam, und daß Sie 
mich nun besser verstehen können.« 

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»Verstehen! Verstehen!« Die Stimme der Lady klang hyste-

risch. Sie schien nicht im geringsten besänftigt zu sein. »Ich ver-
stehe nur, daß Sie ein verkommenes, abscheuliches, korruptes 
und widerwärtiges Etwas sind, Sir!« 

Noch immer ergaben einige ihrer Worte für Jherek keinen 

Sinn. Er lächelte höflich. »Vielleicht könnte eine weitere Über-
setzungspille…« 

»Sie sind die abartigste Kreatur, der ich je in meinem Leben 

begegnet bin«, sagte die Lady. »Und inzwischen bin ich davon 
überzeugt, daß ich gestorben bin und mich in einer schreckli-
cheren Hölle befinde, als sie der Mensch sich hat vorstellen 
können. Oh, meine Sünden zu meinen Lebzeiten müssen 
schrecklich gewesen sein.« 

»Hölle?« echote Mongrove mit neu erwachtem Interesse. 

»Kommen Sie aus der Hölle?« 

»Ist das eine andere Bezeichnung für das 19. Jahrhundert?« 

fragte Lord Jagged. Er wirkte amüsiert. 

»Es gibt so viel, das ich von Ihnen lernen kann«, rief Mongro-

ve erregt. »Wie froh bin ich, daß ich es war, der Sie bean-
sprucht hat.« 

»Wie heißen Sie?« fragte Jherek heftig, von ihrem Angriff völ-

lig aus der Fassung gebracht. 

Sie straffte sich und kräuselte voller Verachtung die Lippen, 

während sie ihn von Kopf bis Fuß betrachtete. 

»Mein Name, Sir, ist Mrs. Amelia Underwood, und wenn 

das hier nicht die Hölle, sondern irgendein schreckliches 
fremdes Land ist, dann verlange ich, daß man mir unverzüg-
lich erlaubt, mit dem britischen Konsul zu sprechen!« 

Jherek sah zu Mongrove hinauf, und Mongrove sah ver-

dutzt auf Jherek hinunter. »Sie gehört zu den seltsamsten Ge-
schöpfen, die ich je erworben habe«, erklärte Mongrove. 

»Ich werde dich von ihr erlösen«, erbot sich Jherek. 
»Nein, nein«, wehrte Mongrove ab, »obwohl das ein sehr 

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freundlicher Vorschlag ist. Nein, ich glaube, es wird mir Ver-
gnügen bereiten, sie zu studieren.« Er richtete seine Aufmerk-
samkeit wieder auf Mrs. Underwood und sagte höflich: »Wie 
heiß möchten Sie das Feuer haben?« 

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6. Kapitel 

 

EINE GLÜCKLICHE BEGEGNUNG: 

DIE EISERNE ORCHDEE ENTWICKELT EINEN PLAN 

 
Nachdem er mit Erfolg den melancholischen Mongrove davon 
überzeugt hatte, daß Feuer nicht gerade die beste Umgebung 
für die graue Zeitreisende war, und nach ein oder zwei Alterna-
tivvorschlägen, die auf seiner detaillierten Kenntnis dieser 
Epoche beruhten, entschied Jherek, daß es an der Zeit war, 
adieu zu sagen. Mongrove hatte immer noch nicht aufgehört, 
ihn mit dem seltsam  mißtrauischen Blick zu bedenken. Mrs. 
Amelia Underwood war im Moment zweifellos nicht in der 
Stimmung, seine Liebeserklärungen entgegenzunehmen, und 
Lord Jagged fing sich, wie ihm schien, an zu langweilen und 
drängte zum Aufbruch. 

Mongrove begleitete sie aus dem Menschenhaus und bis zu 

der Stelle, wo sie die Lokomotive aus Gold und Elfenbein abge-
stellt hatten, deren Farben im grellen Kontrast zu den schwar-
zen, dunkelgrünen und schmutzigbraunen Schattierungen von 
Mongroves Anwesen standen. 

»Nun«, sagte Mongrove, »vielen Dank für deine Ratschläge, 

Jherek. Ich schätze, mein neues Exemplar wird sich bald einge-
lebt haben. Natürlich, einige neigen dazu, sich vor Kummer zu 
verzehren, gleichgültig, wie sehr man sich um sie kümmert. Ei-
nige sterben und müssen wiederbelebt und dorthin zurückge-
schickt werden, woher sie gekommen sind.« 

»Wenn ich dir sonst noch irgendwie behilflich sein kann…«, 

murmelte Jherek besorgt, entsetzt von dieser Vorstellung. 

»Ich werde mich dann natürlich an dich wenden.« Mögli-

cherweise lag ein Hauch Kühle in Mongroves Tonfall. 

»Oder vielleicht könnte ich eine Zeitlang…« 
»Du bist«, unterbrach Lord Jagged von Kanarien von seinem 

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Platz auf dem Führerstand, »ein liebenswürdiger Gastgeber ge-
wesen, Mongrove, und überwältigend in deiner Großzügigkeit. 
Ich werde nicht vergessen, wie gern du diesen düsteren Raum-
fahrer in deiner Sammlung hättest. Ich werde versuchen, ihn 
auf irgendeine Weise für dich zu erwerben. Nebenbei bemerkt, 
wärst du an einem Tauschgeschäft interessiert?« 

»An einem Tauschgeschäft?« Mongrove zuckte die Schultern. 

»Ja, warum nicht? Um was geht es? Was könnte ich dir anbie-
ten?« 

»Oh, ich dachte da an das Exemplar aus dem 19. Jahrhun-

dert«, sagte Jagged leichthin. »Ehrlich gesagt glaube ich nicht, 
daß es dir sehr viel Freude bereiten wird. Außerdem gibt es 
jemanden, für den es ein passendes Geschenk darstellen wür-
de.« 

»Jherek?« Mongrove wirkte alarmiert. »Meinst du etwa ihn?« 

Er drehte seinen mächtigen Kopf und warf Jherek, der vorgab, 
das Gespräch nicht gehört zu haben, einen inbrünstigen Blick 
zu. 

»Ah, nun«, meinte Lord Jagged, »es wäre nicht sehr taktvoll, 

das zu verraten, meinst du nicht auch, Mongrove?« 

»Nein, das wäre es keinesfalls.« Mongrove schnaubte laut. 

Der Regen lief über sein Gesicht und durchtränkte seine unan-
sehnliche, formlose Kleidung. »Aber du wirst Lady Charlotina 
niemals dazu bringen können, ihren Fremden abzugeben. Also 
hat diese ganze Unterhaltung keinen Sinn.« 

»Vielleicht gelingt es doch«, widersprach Lord Jagged. Die 

um seinen Kopf geringelte Eidechse beschwerte sich zischelnd 
über die Nässe, der sie ausgesetzt war. Er zog sich in das Innere 
der Lokomotive zurück. »Kommst du, Jherek?« 

Jherek verbeugte sich vor Mongrove. »Du bist sehr freund-

lich gewesen, Mongrove. Ich bin froh, daß wir uns jetzt besser 
verstehen.« 

Mongrove verengte die Augen, während er zusah, wie Jherek 

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hinauf zum Führerstand schwebte. »Ja«, sagte der Riese. 
»Auch ich bin froh darüber, Jherek.« 

»Und wirst du so freundlich sein und den Handel abschlie-

ßen?« fragte Jagged. »Wenn ich dir den Fremden besorge?« 

Mongrove schürzte seine riesigen Lippen. »Wenn du mir den 

Fremden besorgst, kannst du die Zeitreisende haben.« 

»Das ist ein Wort!« rief Lord Jagged fröhlich. »Ich werde ihn 

dir in Kürze vorbeibringen.« 

Zum Schluß entschloß sich Mongrove doch noch, seinem 

Mißtrauen Luft zu machen. »Lord Jagged. Bist du vielleicht mit 
dem Vorsatz zu mir gekommen, dir mein neues Exemplar an-
zueignen?« 

Lord Jagged lachte. »Deshalb also bist du so reserviert gewe-

sen! Es hat mich irritiert, Mongrove, denn ich hatte das Ge-
fühl, dich auf irgendeine Weise gekränkt zu haben.« 

»Aber ist das der Grund?« beharrte Mongrove. Er wandte 

sich an Jherek. »Habt ihr mich getäuscht, vorgegeben, meine 
Freunde zu sein, während ihr die ganze Zeit über geplant 
habt, mir mein Exemplar abzunehmen?« 

»Ich bin schockiert!« 
Lord Jagged richtete sich mit wehendem Gewand auf. 
»Schockiert, Mongrove.« 
Jherek konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, während er 

über Lord Jaggeds schauspielerische Fähigkeiten staunte. 
Aber dann bedachte Lord Jagged auch Jherek mit einem 
grimmigen Stirnrunzeln. 

»Und warum lächelst du, Jherek Carnelian? Glaubst du et-

wa, was Mongrove sagt? Glaubst du, daß ich dich aus einem 
bloßen Vorwand heraus mitgenommen habe daß es nicht meine 
Absicht gewesen ist, den Bruch zwischen euch beiden zu kit-
ten?« 

»Nein«, erwiderte Jherek, schlug die Augen nieder und ver-

suchte, das ungebetene Grinsen zu unterdrücken. »Es tut mir 

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leid, Lord Jagged.« 

»Und mir tut es ebenfalls leid.« Mongroves Lippen zitter-

ten. 

»Ich habe euch beiden Unrecht getan. Vergebt mir.« 
»Natürlich, unglücklichster aller Mongroves«, versicherte 

Lord Jagged freundlich. »Natürlich! Natürlich! Natürlich! Du 
hast recht getan, mißtrauisch zu sein. Deine Sammlung ist der 
Neid des Planeten. Jedes einzelne deiner Exemplare ist ein 
Edelstein. Bleibe vorsichtig! Es gibt andere, weniger skrupellose 
als mich oder Jherek Carnelian, die dich täuschen würden.« 

»Wie unfreundlich ich gewesen bin. Wie kleinlich. Wie unge-

hobelt. Wie böswillig!« Mongrove stöhnte. »Was für ein Schuft 
bin ich doch, Lord Jagged. Jetzt hasse ich mich. Und jetzt, wo ihr 
erkennt, wie ich wirklich bin, werdet ihr mich auf ewig verach-
ten!« 

»Verachten? Niemals! Deine Umsicht ist bewundernswert. Ich 

bewundere sie. Ich bewundere dich. Und nun, liebster Mon-
grove, müssen wir fort. Vielleicht komme ich mit dem von dir 
ersehnten Exemplar zurück. Möglicherweise schon morgen.« 

»Du bist mehr als liebenswürdig. Leb wohl, Lord Jagged. Leb 

wohl, Jherek. Bitte fühlt euch frei, mich zu besuchen, wann im-
mer euch danach der Sinn steht. Obwohl mir bewußt ist, daß 
ich ein armseliger Gesellschafter bin und daß ihr deshalb wenig 
Neigung verspüren werdet, mich…« 

»Lebwohl, weinender Mongrove!« Jherek ließ die Pfeife ertö-

nen, und die Eisenbahn gab einen bekümmerten Laut von sich 
eine Art verzweifeltes Tuten –, bevor sie langsam hinauf in den 
verblassenden Tag zu steigen begann. 

Lord Jagged hatte wieder seinen Platz auf der Couch einge-

nommen. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht war 
ausdruckslos. Jherek wandte sich von dem Sichtfenster ab. 
»Lord Jagged, du bist ein Paradebeispiel der Verschlagenheit.« 

»Komm schon, mein kluger Carnelian«, murmelte Lord Jag-

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ged, ohne die Augen zu öffnen, »auch du hast in dieser Hin-
sicht beachtliches Talent bewiesen.« 

»Armer Mongrove. Wie elegant sein Argwohn besänftigt 

wurde.« Jherek ließ sich neben seinem Freund nieder. »Aber wie 
sollen wir an Mrs. Amelia Underwood herankommen? Die La-
dy Charlotina haßt Mongrove vielleicht nicht, aber sie hütet 
ihre Schätze eifersüchtig. Sie wird uns den kleinen Fremden 
nicht geben.« 

»Dann müssen wir ihn stehlen, eh?« Jagged öffnete seine blei-

chen Augen, und in ihnen blitzte spitzbübische Erregung auf. 
»Wir werden Diebe, Jherek, du und ich.« 

Die Vorstellung was so verblüffend, daß Jherek eine Weile 

brauchte, um die Konsequenzen zu erfassen. Und dann lachte 
er entzückt. »Du bist so einfallsreich, Lord Jagged! Und es paßt 
so gut zusammen!« 

»So ist es. Verrückt vor Liebe, wirst du alles daransetzen, das 

Objekt deiner Liebe in deinen Besitz zu bringen. Alle anderen 
Bedenken Freundschaft, Ansehen, Würde werden beiseite 
gefegt. Ich sehe, es gefällt dir.« Lord Jagged legte einen dünnen 
Finger an die Lippen, die nun zur Andeutung eines Lächelns 
verzogen waren. »Was für ein pralles Drama entwerfen wir 
da. Ah, Jherek, mein Schatz, du bist geboren  worden für die 
Liebe!« 

»Hm«, machte Jherek ohne Bitterkeit, »mir kommt der Ver-

dacht, daß ich geboren wurde, um dich mit dem Rohmaterial 
für deine bemerkenswerten literarischen Fähigkeiten zu ver-
sehen, mein Lord.« 

»Du schmeichelst, schmeichelst, schmeichelst mir!« 
Später sagte eine Stimme sanft in Jhereks Ohr: »Mein Sohn, 

mein Rubin! Ist dies dein Luftwagen?« 

Jherek erkannte die Stimme der Eisernen Orchidee. »Ja, Mut-

ter, er ist es. Und wo bist du?« 

»Unter dir, Liebster.« 

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Er stand auf und sah nach unten. In einer karierten Land-

schaft aus Blau, Purpur und Gelb, bis auf ein paar hier und 
dort verstreute Kristallbäume ohne Erhebungen, konnte er 
zwei Gestalten erkennen. Er warf Jagged einen Blick zu. »Hast 
du etwas dagegen, eine kleine Rast einzulegen?« 

»Nicht das geringste.« 
Jherek befahl der Lokomotive zu sinken, und als sie auf ei-

nem der orangefarbenen Vierecke mit einer Seitenlänge von 
knapp vier Metern landete, das von winzigen, dicht an dicht 
stehenden Kleeblättern gebildet wurde, war er auf dem Füh-
rerstand. Im grünen Nachbarquadrat saß die Eiserne Orchidee 
mit Li Pao auf den Knien. Noch während Jherek aus seinem 
Wagen ausstieg, veränderten sich die Farben der Quadrate 
erneut. 

»Ich komme heute einfach nicht zurecht«, klagte sie. »Kannst 

du mir helfen, Jherek?« 

Sie hatte schon immer eine Vorliebe für Pelze gehabt, und 

jetzt bedeckte ein kostbares goldenes Fell ihren Körper und 
ließ nur das Gesicht frei, das sie gefärbt hatte, um mit Li Pao zu 
harmonieren. Li Pao trug wie gewöhnlich seinen blauen 
Overall und machte einen verlegenen Eindruck. Er versuchte 
von den pelzigen Knien der Eisernen Orchidee aufzustehen, 
aber sie hielt ihn erbarmungslos fest. Sie saß in einem herrli-
chen, schimmernden Energiesessel. Rotkehlhüttensänger 
kreisten und tanzten dicht über ihrem Kopf. 

Die karierte Ebene erstreckte sich zwei Kilometer weit in alle 

Richtungen. Jherek betrachtete sie. Seine Gedanken waren mit 
anderen Dingen beschäftigt, und er fand es schwierig, Ratschlä-
ge zu erteilen. Schließlich sagte er: »Ich glaube, jede Anordnung, 
die du triffst, ist vollkommen, dekorativste aller Orchideen. 
Guten Tag, Li Pao.« 

»Guten Tag«, entgegnete Li Pao eher zurückhaltend. Obwohl 

er zur Menagerie des Herzogs von Queens gehörte, zog er es 

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vor, die meiste Zeit herumzuwandern. Jherek vermutete, daß 
Li Pao die schlichte Lebenszone in Wirklichkeit nicht gefiel, die 
der Herzog von Queens für ihn erschaffen hatte, obwohl Li Pao 
behauptete, daß sie alles bot, was er brauchte. Li Pao sah an 
Jherek vorbei. »Ich sehe, daß du deinen dekadenten Freund 
Lord Jagged mitgebracht hast.« 

Lord Jagged begrüßte Li Pao mit einer Verbeugung, die sein 

ganzes fliederfarbenes Gewand bauschte und die lebende 
Eidechse dazu veranlaßte, sich auf seiner Braue aufzubäumen 
und mit den Zähnen zu schnappen. Dann ergriff Lord Jagged 
eine der pelzbedeckten Hände der Eisernen Orchidee und 
führte sie an seine Lippen. »Sanftestes aller Tiere«, murmelte er. 
Er streichelte ihre Schulter. »Schönster aller Pelze.« 

Li Pao stand auf. Er war beleidigt. Er blieb in einiger Entfer-

nung stehen und heuchelte Interesse an einem Kristallbaum. 
Die Eiserne Orchidee lachte, strich mit ihrer Hand über Lord 
Jaggeds Nacken und zog seinen Kopf nach unten, um seine 
Eidechse auf die gezackte Schnauze zu küssen. 

Jherek überließ sie ihrem Ritual und gesellte sich zu Li Pao ne-

ben den Baum. »Wir sind soeben von Mongrove zurückge-
kommen. Bist du nicht einer von seinen Freunden?« 

Li Pao nickte. »Etwas Ähnliches wie ein Freund. Wir haben ein 

oder zwei gemeinsame Ansichten. Aber ich vermute, daß Mon-
groves Ansichten nicht immer seine eigenen sind. Nicht immer 
ernst gemeint.« 

»Mongrove? Es gibt niemanden, der ernsthafter ist als er.« 
»Auf dieser Welt? Vielleicht nicht. Aber die Tatsache bleibt be-

stehen…« Li Pao pflückte eine silberne Kristallfrucht. Sie gab 
für zwei Sekunden einen einzigen reinen, süßen Ton von sich, 
bevor sie wieder verstummte. »Ich meine, so etwas von jeman-
dem zu behaupten, der aus eurer Gesellschaft stammt, hat nicht 
viel zu bedeuten.« 

»Aha!« machte Jherek vielsagend. In Wirklichkeit hatte er 

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nicht zugehört. »Ich bin, Li Pao, der Liebe verfallen«, eröffnete 
er. »Ich habe mich wahnsinnig verliebt hoffnungslos verliebt 
in ein Mädchen.« 

»Du weißt nicht, was Liebe ist«, entgegnete Li Pao abweisend. 

»Liebe bedeutet Hingabe, Selbstverleugnung, edle Leiden-
schaft. Alles Vorzüge, die ihr nicht mehr besitzt. Ist dies wieder 
eine von euren grausigen Travestien? Warum bist du so ge-
kleidet? Was seid ihr doch für Gespenster. Welch jämmerli-
chen Wahnideen jagt ihr nach. Ihr gebt euch sinnlosen Spielen 
hin, ohne Ziel und Zweck, während um euch das Universum 
stirbt.« 

»Ich bin sicher, daß das stimmt«, erklärte Jherek höflich. 

»Aber wenn dem so ist, Li Pao, warum kehrst du dann nicht in 
deine eigene Zeit zurück? Es ist schwierig, aber nicht unmög-
lich.« 

»Es ist praktisch unmöglich. Du hast zweifellos schon von 

dem Morphail-Effekt gehört. Man kann in die Vergangenheit 
reisen, gewiß doch nicht länger als höchstens für ein paar 
Minuten. Kein Wissenschaftler in der langen Geschichte der 
Erde ist jemals in der Lage gewesen, dieses Problem zu lösen. 
Aber selbst wenn die Möglichkeit bestünde, dort zu bleiben, 
wenn ich zurückkehren würdewas könnte ich meinem Volk be-
richten? Daß all seine Arbeit, seine Selbstaufopferung, sein 
Idealismus, sein Kampf für Gerechtigkeit am Ende nur zur Er-
schaffung eurer verfaulten Welt geführt hat? Ich wäre ein Un-
geheuer, würde ich das versuchen. Sollte ich eure überzüchte-
ten und verdorbenen Technologien beschreiben, eure widerli-
chen sexuellen Praktiken, eure degenerierten bourgeoisen Zer-
streuungen, mit denen ihr die Jahrhunderte vertrödelt? Nein!« 

Li Paos Augen begannen zu funkeln, während er sich an die-

sem Thema erhitzte und spürte, wie ihn die ganze Kraft seines 
Heldentums durchströmte. 

»Nein! Es ist mein Schicksal, hier als Gefangener zu bleiben. 

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Mein selbstauferlegtes Schicksal. Mein Opfergang. Es ist meine 
Pflicht, euch vor den Konsequenzen eurer dekadenten Verhal-
tensweisen zu warnen. Meine Pflicht, euch auf den rechten 
Weg zu bringen, damit ihr euch mit ernsteren Angelegenhei-
ten beschäftigt, bevor es zu spät ist!« Er verstummte keu-
chend und stolz. 

»Und in der Zwischenzeit«, erklang die müde Stimme der 

Eisernen Orchidee, als sie nähertrat, Arm in Arm mit Lord Jag-
ged, der Li Pao ansah und anerkennend eine Augenbraue 
wölbte, »ist es auch dein Schicksal, Li Pao, deine Orchidee zu 
unterhalten, ihr Vergnügen zu bereiten, sie anzubeten (was, wie 
ich weiß, der Fall ist) und, ätzendster aller Kritiker, ihr die Ta-
ge mit deinen hübschen Gefühlsausbrüchen zu versüßen.« 

»Oh, du bist bösartig! Du bist imperialistisch! Du bist gemein!« 

Li Pao stampfte davon. 

»Aber merkt euch meine Worte«, rief er über die Schulter 

hinweg, »die Apokalypse ist nicht mehr fern. Du wirst noch 
wünschen, Eiserne Orchidee, du hättest dich nicht über mich 
lustig gemacht.« 

»Welch düstere, dunkle Andeutungen! Liebt Li Pao dich?« 

fragte Lord Jagged. Ein lauernder Ausdruck lag auf seinem 
weißen Gesicht. Sardonisch sah er Jherek an. »Vielleicht kann er 
dir ein paar Ratschläge geben, mein Novize?« 

»Vielleicht.« Jherek gähnte. Die Anstrengungen seines Besu-

ches bei Mongrove hatten ihn ein wenig mitgenommen. 

»Wie?« Die Eiserne Orchidee sah ihren Sohn neugierig an. 

»Lernst du jetzt ›Eifersucht‹, Fleisch meines Fleisches? Statt Tu-
gend? Ist das nicht Eifersucht, was Li Pao jetzt macht?« 

Jherek hatte seine gestrige Besessenheit vergessen. 
»Ich glaube schon«, entgegnete er. »Vielleicht sollte ich mich 

mehr mit Li Pao beschäftigen. Ist Eifersucht nicht eine der 
Komponenten der wahren Liebe, Lord Jagged?« 

»Du bist mit den Feinheiten jener Epoche besser vertraut als 

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ich, glücklicher Jherek. Ich habe nicht mehr getan, als sie in Kon-
text 
zu bringen.« 

»Und in einen großartigen Kontext«, stimmte Jherek zu. Er 

sah dem davonschlendernden Li Pao nach. 

»Komm schon, Jherek«, sagte seine Mutter, bettete ihren ge-

schmeidigen Körper auf eine gepolsterte Couch und desinte-
grierte die karierte Ebene (sie war furchtbar, dachte Jherek). Die 
Wiese verwandelte sich in eine Wüste. Die Rotkehlhüttensänger 
verwandelten sich in Adler. Nicht weit entfernt wuchsen einige 
Palmen neben einem Wasserloch empor. Die Eiserne Orchidee 
gab vor, nicht zu bemerken, daß die Oase direkt an der Stelle 
entstanden war, wo sich Li Pao befunden hatte. Der Chinese 
starrte sie finster an. Nur sein Kopf sah aus dem Wasser hervor. 
»Was«, fuhr sie fort, »ist das für ein Spiel, das du zusammen mit 
Lord Jagged erfunden hast?« 

»Mutter, ich habe mich in ein wundervolles Mädchen ver-

liebt«, gestand Jherek. 

»Ah!« Sie seufzte vor Entzücken. 
»Mein Herz zerspringt, wenn ich sie sehe, Mutter. Mein Puls 

rast, wenn ich an sie denke. Mein Leben bedeutet mir nichts, 
wenn sie nicht da ist.« 

»Bezaubernd!« 
»Und, liebste Mutter, sie ist alles, was ein Mädchen sein sollte. 
Sie ist schön, intelligent, verständnisvoll, einfallsreich, grau-

sam. Und, Mutter, ich möchte sie heiraten!« 

Erschöpft von diesem Auftritt, ließ sich Jherek in den Sand 

fallen. 

Die Eiserne Orchidee klatschte begeistert in die Hände. We-

gen dem Pelz klang das Klatschen allerdings ein wenig ge-
dämpft. 

»Bewundernswert!« Sie warf ihm einen Kuß zu. »Jherek, mein 

Püppchen, du bist ein Genie! Das ist die einzig zutreffende Be-
zeichnung!« Sie beugte sich nach vorn. »Also! Die Vorge-

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schichte?« 

Und Jherek erzählte ihr alles, was geschehen war, seit er seine 

Mutter zum letztenmal gesehen hatte, und alles, was er und 
Jagged planten den Diebstahl eingeschlossen. 

»Phantastisch«, sagte sie. »Also muß es uns irgendwie gelin-

gen, Lady Charlotina den langweiligen Fremden zu stehlen. 
Sie wird ihn nie hergeben. Ich kenne sie. Du hast recht. Eine 
schwierige Aufgabe.« Sie sah zur Oase hinüber und rief pikiert: 
»Oh, Li Pao, komm sofort da heraus.« 

Li Pao warf ihr aus dem See einen düsteren Blick zu. Er wei-

gerte sich zu sprechen. Sein Körper blieb unter Wasser. 

»Deshalb hänge ich so an ihm, wirklich«, erklärte die Eiserne 

Orchidee. »Er schmollt so herrlich.« Sie stützte das Kinn auf 
ihre bepelzte Faust und überdachte das Problem. 

Jherek sah sich um, ließ sich das bevorstehende Unterneh-

men durch den Kopf gehen und fragte sich, ob es nicht zu 
kompliziert werden würde. Oder gar zu langweilig. Vielleicht 
sollte er sich einer einfacheren Besessenheit zuwenden. Verliebt 
zu sein, beanspruchte so viel Zeit. 

Schließlich sah die Eiserne Orchidee auf. »Zuerst müssen wir 

Lady Charlotina besuchen. Zu mehreren. Mit so vielen wie 
möglich. Wir müssen fröhlich sein. Es muß ein ausgelassenes, 
ein verwirrendes Fest werden. Wenn es seinen Höhepunkt er-
reicht, stehlen wir den Fremden. Wir werden uns für die pas-
sende Diebstahlmethode entscheiden, wenn wir dort sind. Ich 
weiß nicht mehr, wie sie ihre Menagerie angelegt hat, und au-
ßerdem wird sie sich seit meinem letzten Besuch ohnehin ver-
ändert haben. Was meinst du, Lord Jagged?« 

»Ich meine, daß du das Genie bist, meine Blüte, aus dem die-

ses Genie entsprang.« Grinsend legte Lord Jagged seinen Arm 
um Jhereks graugekleidete Schultern. »Duftendste aller Blu-
men, es ist ein ausgezeichneter Plan. Aber niemand darf von 
unseren wahren Absichten erfahren. Wir drei allein müssen 

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den Raub planen. Die anderen werden unwissentlich unser 
Vorhaben decken. Bist du damit einverstanden, Jherek?« 

»Ich bin einverstanden. Was seid ihr doch für ein schmeichle-

risches Paar. Ihr lobt mich für eure eigene Gewitztheit. Ihr 
schreibt mir euren eigenen Erfindungsreichtum zu. Ich… ich 
bin nichts weiter als eurer Werkzeug.« 

»Unsinn.« Lord Jagged schloß in aller Bescheidenheit die Au-

gen. »Du entwirfst das große Muster. Wir sind nur deine Schü-
ler wir füllen die uninteressanten Details auf der Leinwand 
aus.« 

Die Eiserne Orchidee streckte ihre Klaue aus, um Lord Jaggeds 

Eidechse zu streicheln, die müde geworden und fast einge-
schlafen war. »Unsere Freunde müssen von der Idee, Lady 
Charlotina zu besuchen, begeistert werden. Wir können nur hof-
fen,  
daß sie zu Hause ist. Und daß sie uns willkommen heißt. 
Dann«, sie lachte ihr entzückendes Lachen – »laßt uns hoffen, 
daß unsere Täuschung nicht entlarvt wird. Zumindest nicht vor 
dem Diebstahl. Und die Konsequenzen! Könnt ihr euch die Kom-
plikationen vorstellen, die daraus entstehen werden? Du erin-
nerst dich, Jherek, daß wir auf eine Ereigniskette wie nach dem 
Flaggen gewartet haben?« 

»Dies sollte dem Flaggen mühelos gleichkommen«, versicherte 

Lord Jagged. »Ich fange an, mich wieder jung zu fühlen.« 

»Bist du denn je jung gewesen, Jagged?« fragte die Eiserne Or-

chidee überrascht. 

»Nun, du weißt schon, was ich meine«, sagte er. 
 

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7. Kapitel 

 

DER DIEBSTAHL EINES RAUMFAHRERS 

 

Lady Charlotina hatte das unterirdische Leben schon immer 
vorgezogen. 

Ihr Reich Unterdem-See war nicht nur unterirdisch, sondern 

auch unterwasserisch, und das im wahrsten Sinne des Wortes. 
Es bestand aus kilometerweiten hohen, modrigen Höhlen, die 
durch Tunnel und kleinere Höhlen miteinander verbunden wa-
ren, in denen man mühelos ganze Städte und Dörfer unterbrin-
gen konnte. Lady Charlotina hatte die gesamte Anlage persön-
lich ausgehoben, schon Jahre zuvor, unter dem Becken eines der 
wenigen ständig Wasser führenden großen Seen, die es noch auf 
diesem Planeten gab, und der Komplex besaß genau die Umris-
se jenes Gewässers. 

Dieser See war natürlich der Billy-the-Kid-See. 
Der Billy-the-Kid-See war nach dem legendären amerikani-

schen Forscher, Astronauten und Lebemann benannt wor-
den, den man um das Jahr 2000 herum gekreuzigt hatte, als 
herausgekommen war, daß er das Hinterteil eines Ziegenbocks 
besaß. Zur Zeit Billy the Kids hatten derartige Mutationen 
offenbar nicht zum guten Geschmack gehört. 

Der Billy-the-Kid-See war vielleicht das älteste Wahrzeichen 

der Welt. Er war in den vergangenen fünfzigtausend Jahren 
nur zweimal verlegt worden. 

In Unter-dem-See war die Feier in vollem Gang. 
Etwa hundert von Lady Charlotinas engsten Freunden hat-

ten sich eingefunden, um ihre entzückte (wenn nicht gar über-
raschte) Gastgeberin und sich selbst zu vergnügen. Das Fest 
war lautstark. Es war chaotisch. 

Jherek Carnelian fiel es unter diesen Bedingungen nicht 

schwer, sich in die Menagerie zu schleichen und schließlich in 

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einer der zweioder dreitausend kleineren Höhlen, die Lady 
Charlotina als Unterkunft für ihre Sammlerstücke verwende-
te, ihre letzte Neuerwerbung aufzuspüren. 

Die Höhle mit Yusharisps Lebenszone befand sich zwischen 

der Behausung einer flackernden, zischenden Feuerkreatur 
(die man zwar auf der Sonne entdeckt hatte, wahrscheinlich 
aber aus einem anderen Sonnensystem stammte) und der eines 
mikroskopisch kleinen hundeähnlichen Fremden von der un-
weiten Beteigeuze. 

Yusharisps Lebenszone war recht dunkel und kühl. Ihr 

Hauptmerkmal war ein pulsierender, quiekender, schwarz 
und purpurn gemusterter Turm, der von der denkbar ab-
scheulichsten Sorte Schimmel bedeckt war. Der Turm stellte 
zweifellos Yusharisps Behausung auf seinem Heimatplaneten 
dar. Abgesehen von dem Turm gab es noch eine Fülle krum-
mer grauer Pflanzen und zerklüfteter dunkelgelber Felsen. Der 
Turm erinnerte an das Raumschiff, das Lady Charlotina hatte 
desintegrieren müssen (es mußte  desintegriert werden, da es 
nicht von der Erde stammte). 

Yusharisp saß vor seinem Turm auf einem Stein und hatte 

seine vier kurzen Beine unter dem kugelförmigen Körper ver-
schränkt. Die meisten seiner Augen waren geschlossen, bis auf 
eines an der Vorderund eines an der Rückseite. Er schien in 
trübsinnige Gedanken vertieft zu sein und bemerkte Jherek 
zuerst gar nicht. Jherek hantierte an einem seiner Ringe, neutra-
lisierte die Energiebarriere für eine Sekunde und überschritt 
die Grenze. 

»Du bist Yusharisp, nicht wahr?« sagte Jherek. »Ich bin ge-

kommen, um dir zu sagen, wie begeistert ich neulich von dei-
ner Rede gewesen bin.« 

Rings um Yusharisps Kopf öffneten sich alle Augen. Sein 

Rumpf schwankte leicht, so daß Jherek einen Moment lang be-
fürchtete, daß er davonrollen und wie ein Ball über den Boden 

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hüpfen würde. Yusharisps zahlreiche Augen blickten düster 
drein. »Sie ist dir, knirsch, nahegegangen?« fragte er mit leiser, 
verzweifelter Stimme. 

»Sie war sehr vergnüglich«, sagte Jherek unbestimmt, von 

dem Gedanken erfüllt, daß er es vielleicht falsch angefangen 
hatte. »Wirklich, sehr vergnüglich.« 

»Vergnüglich? Jetzt bin ich völlig verwirrt.« Auf dem Felsen 

begann sich Yusharisp auf seinen vier kurzen Beinen aufzu-
richten. »Du hast meine Botschaft vergnüglich gefunden?« 

Jherek wurde klar, daß er etwas Falsches gesagt hatte. »Ich 

meine«, fuhr er fort, »daß es vergnüglich war, derart in Worte 
gefaßte Gefühle zu hören.« Er zermarterte sich das Gehirn, um 
sich zu erinnern, was der Fremde genau gesagt hatte. In groben 
Umrissen wußte er noch Bescheid. Er hatte ähnliches schon oft 
zuvor vernommen. Es hatte irgend etwas mit dem Ende des 
Universums, dem Ende der Galaxis oder etwas anderem in die-
ser Richtung zu tun gehabt. Im Ton vielem von dem ähnlich, 
was Li Pao zu sagen pflegte. Lag es daran, daß die Menschen 
der Erde nicht nach den Prinzipien und Bräuchen lebten, die 
derzeit auf dem Heimatplaneten des Fremden Mode waren? 
Das war die übliche Botschaft: »Ihr lebt nicht wie wir. Deshalb 
werdet ihr sterben. Es ist unausweichlich. Und es wird eure 
eigene Schuld sein.« 

»Ich meinte erfrischend«, sagte Jherek lahm. 
»Ich verstehe, knirsch, was du meinst, knirsch.« Besänftigt 

sprang der Fremde von dem Felsbrocken und blieb dicht vor 
Jherek stehen, und seine Vorderaugen blickten rundlich hinauf 
in Jhereks Gesicht. 

»Ich bin erleichtert, daß es zumindest einige ernsthafte Wesen 

auf diesem Planeten gibt«, fuhr Yusharisp fort. »Auf all meinen 
Reisen bin ich noch nie auf derartige Weise empfangen worden. 
Die meisten Lebewesen sind von meiner Botschaft gerührt und 
(Kreisch) bekümmert gewesen. Einige haben sie mit Würde 

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und, knirsch, Anstand entgegengenommen. Einige haben zor-
nig oder ungläubig reagiert, mich sogar angegriffen. Einige hat 
sie überhaupt nicht gekümmert, weil der Tod ihnen nichts, 
knirsch, bedeutete. Aber, knirsch, auf der Erde (Kreisch) hat 
man mich gefangengesetzt  und mein Raumschiff ganz beiläufig 
zerstört!  Und niemand hat Bedauern oder Zorn gezeigt nichts 
außer was? Vergnügen. Als sei das, was ich zu sagen hatte, ein 
Scherz gewesen. Sie nehmen mich nicht ernst, aber trotzdem 
sperren sie mich in diese Zelle ein, als hätte, knirsch, ich ir-
gendein Verbrechen (Kreisch) begangen. Kannst du mir das 
erklären?« 

»Oh, ja«, nickte Jherek. »Lady Charlotina wollte dich für ihre 

Sammlung haben. Du mußt wissen, daß sie noch keinen 
Raumfahrer von deiner Größe und deinem Aussehen be-
sitzt.« 

»Sammlung? Dann ist das (Kreisch) ein Zoo?« 
»Der Arten. Hat sie dir das nicht erklärt? Manchmal ist sie ein 

wenig zerstreut, die Lady Charlotina, muß ich gestehen. Aber 
sie hat es dir gemütlich gemacht. Hat deine gewohnte Umwelt 
in allen Einzelheiten nachgebaut.« 

Jherek betrachtete ohne große Begeisterung die krummen 

Pflanzen, die dunkelgelben Felsen und den schimmeligen 
Turm, der hoch hinauf in die frostige Luft ragte. Es war leicht 
zu erraten, warum der Fremde seine Heimatwelt verlassen hat-
te. »Hübsch.« 

Yusharisp wandte sich ab und watschelte auf seinen Turm 

zu. »Es ist sinnlos. Mein Übersetzer ist stärker beschädigt, als 
ich dachte. Ich kann meine Botschaft nicht korrekt übermitteln. 
Es ist meine Schuld, nicht eure. Ich verdiene dieses Schick-
sal.« 

»Wie lautete denn deine Botschaft genau?« fragte Jherek. Er 

sah eine Möglichkeit, es herauszufinden, ohne vergeßlich zu 
erscheinen. »Wenn du sie wiederholst, könnte ich dir vielleicht 

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sagen, ob ich sie verstehe.« 

Der Fremde wirkte erfreut und kehrte um. Der einzige Un-

terschied zwischen seiner Vorderund Rückseite bestand darin, 
soweit Jherek dies erkennen konnte, daß sich vorn der Mund 
befand. Die Augen waren vollkommen identisch. Er drehte 
sich, so daß seine Mundöffnung wieder auf Jherek gerichtet 
war. 

»Nun«, begann Yusharisp, »grob gesagt, das Universum hat 

aufgehört sich auszudehnen und zieht sich nun zusammen. 
Unsere Forschungen haben ergeben, daß dies ein normaler 
Vorgang ist Expansion/Kontraktion, Expansi-
on/Kontraktion, Expansion/Kontraktion das Universum ent-
steht und vergeht ohne Unterlaß. Möglicherweise ist das neu 
entstehende mit dem alten identisch jeder Zyklus ist mehr oder 
weniger eine Wiederholung des vorhergehenden ich weiß es 
nicht. Jedenfalls führt uns das in den Bereich der Zeit, nicht in 
den des Raums, und ich weiß nicht das geringste über die 
Zeit.« 

»Eine interessante Theorie«, bemerkte Jherek, der sie in Wirk-

lichkeit eher langweilig fand. 

»Es ist keine Theorie.« 
»Aha.« 
»Das Universum hat begonnen, sich zusammenzuziehen. 

Als  Folge, knirsch, wird alle Materie, die sich bis jetzt noch 
nicht in gasförmigem (Kreisch) Zustand befindet, zerstört wer-
den, während sie in das zurückstürzt, was man als den Zen-
tralstrudel des Universums bezeichnen könnte. Meine Hei-
matwelt, knirsch, schätze ich, dürfte inzwischen schon ver-
nichtet sein.« Der Fremde seufzte tief. »Es wird noch einige 
Jahrtausende dauern, vielleicht sogar weniger, bevor eure Gala-
xis das gleiche Schicksal erleidet.« 

»So, so.« Jherek klopfte dem Fremden auf den oberen Teil sei-

nes Körpers. Beleidigt sah Yusharisp auf. 

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»Dies ist nicht (Kreisch) der richtige Zeitpunkt für sexuelle 

Annäherungsversuche, mein Freund!« 

Jherek zog die Hand zurück. »Ich bitte um Entschuldigung.« 
»Vielleicht ein andermal…« Yusharisps Übersetzer krächzte 

und ächzte, und der Fremde räusperte sich, bis der Lärm nach-
ließ. »Ich bin, wie ich gestehen muß, ein wenig deprimiert«, sag-
te er. »Etwas überreizt, wie du dir vorstellen kannst.« 

Jhereks Plan (oder zumindest ein wichtiger Teil von ihm) kri-

stallisierte sich jetzt heraus. »Deshalb«, erklärte er, »will ich dir 
auch helfen, aus Lady Charlotinas Menagerie zu fliehen.« 

»Tatsächlich? Aber was ist mit dem Kraftfeld und den ande-

ren Dingen? Die Sicherheitsvorkehrungen müssen, knirsch, 
sehr streng sein.« 

Jherek verriet dem Fremden nicht, daß er sich, wenn er wollte, 

auf dem ganzen Planeten frei bewegen konnte. Die einzigen in-
telligenten Wesen, die in den Menagerien blieben, blieben dort, 
weil es ihr Wunsch war. Jherek sagte sich, daß es für seine 
Zwecke am besten war, wenn sich Yusharisp wirklich für einen 
Gefangenen hielt. 

»Ich komme damit schon zurecht«, sagte er leichthin. 
»Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet.« Eines der braunen, 

krummen Beine des Fremden hob sich und berührte Jherek an 
der Hüfte. »Ich konnte mir auch nicht vorstellen, daß jedes Ge-
schöpf auf diesem Planeten so, knirsch, knirsch, unmenschlich 
ist. Aber mein Raumschiff? Wie soll ich von deiner Welt ent-
kommen, um meine Reise fortzusetzen und meine Botschaft 
weiterzuverbreiten?« 

»Um dieses Problem werden wir uns später kümmern«, ver-

sprach Jherek. 

»Nun, knirsch, gut. Ich verstehe. Du riskierst jetzt schon ge-

nug.« Der Fremde hüpfte erregt mit seinen vier Beinen auf 
und ab. »Können wir jetzt gehen? Oder müssen noch geheime 
Vorbereitungen getroffen werden, knirsch?« 

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»Das Wichtigste ist, daß deine Flucht von Lady Charlotina 

nicht bemerkt wird«, erwiderte Jherek. »Deshalb muß ich dich 
fragen, ob du mit einer kleinen Umstrukturierung einverstan-
den bist. Natürlich nur vorübergehend. Und keine sehr kom-
plizierte wir haben nicht so viel Zeit. Ich werde dich in deine 
ursprüngliche Gestalt zurückverwandeln, bevor wir Mon-
groves…« 

»Mon(knirsch)groves…?« 
»Unser, äh, Versteck. Ein Freund. Ein Sympathisant.« 
»Und was, knirsch, heißt ›Umstrukturierung‹?« Yusharisp 

war mißtrauisch geworden. 

»Eine Tarnung«, erläuterte Jherek. »Ich muß deinen Körper 

verändern.« 

»Ein knirsch ein knirsch ein knirsch ein Trick. Ein neuer grau-

samer Trick! (Kreisch).« Der Fremde wurde nervös und traf 
Anstalten, zurück zu seinem Turm zu laufen. Jherek verstand 
nun, warum Mongrove in Yusharisp einen verwandten Geist 
gesehen hatte. Die beiden würden großartig miteinander 
auskommen. 

»Kein Trick auf deine Kosten. Auf Kosten der Frau, die dich 

hier eingekerkert hat.« 

Yusharisp beruhigte sich, aber einige seiner Augen wander-

ten hin und her, huschten besorgt von einer Stelle zur ande-
ren. 

»Und was (Kreisch) dann? Wohin bringst du, knirsch, mich?« 
»Zu Mongrove. Er sympathisiert mit deinem Schicksal. Er 

möchte alles hören, was du zu sagen hast. Er ist vielleicht die 
einzige Person auf diesem Planeten, der dich wirklich ver-
steht.« 

Vielleicht, dachte Jherek, mache ich dem Fremden in dieser 

Hinsicht gar nichts vor. Es war überaus wahrscheinlich, daß 
Mongrove dem Fremden helfen würde, wenn er die ganze Ge-
schichte des kleinen Kerls vernommen hatte. »Und jetzt…« 

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Jherek hantierte an einem seiner Ringe. »Wenn du gestat-
test…« 

»Einverstanden«, sagte der Fremde resigniert. »Schließlich 

habe ich, knirsch, nichts mehr zu verlieren, oder?« 

»Jherek! Süßes Kind. Kind der Natur. Sohn der Erde! Her 

zu mir!« 

Lady Charlotina, inmitten ihrer Gäste, zu denen auch die Ei-

serne Orchidee und Lord Jagged von Kanarien gehörten (die 
mit allen Mitteln versuchten, ihre Aufmerksamkeit abzulen-
ken), winkte Jherek zu. 

Jherek und Yusharisp (dessen Körper so umstrukturiert 

worden war, daß er wie ein Affe aussah), schoben sich durch 
das Gedränge der lachenden Gäste in einer der Haupthöhlen, 
die ganz in der Nähe des Wassertors lag, durch das Jherek 
zu entkommen hoffte. Die Wände dieser Höhle bestanden aus 
funkelndem Gold, und der Boden und die Decke aus spiegeln-
dem Silber, so daß alles, was geschah, hundertfach zurückge-
worfen wurde. Lady Charlotina schwebte in einer Energiehän-
gematte, während der zwergenhafte Wissenschaftler Brannart 
Morphail keuchend zwischen ihren Knien lag. Morphail war 
vermutlich der letzte wahre Wissenschaftler der Erde, und er 
beschäftigte sich mit dem einzigen Forschungsgebiet, das einer 
derartigen Person noch zur Verfügung stand der Zeitmanipula-
tion. Morphail hob den Kopf, als Lady Charlotina Jherek zu sich 
winkte. Er äugte durch ein zerzaustes Gewirr weißer, gelber und 
blauer Haarsträhnen und leckte über seine roten, von einem 
flusigen, gelbschwarzen Bart umrahmten Lippen. Seine dunklen 
Augen funkelten, als würde er Jherek die Schuld an dem un-
terbrochenen Verkehr geben. 

Jherek mußte sie begrüßen. Er verbeugte sich, lächelte und ver-

suchte sich eine höfliche Phrase auszudenken, mit der er sich 
entfernen konnte. 

Lady Charlotina war nackt. Alle vier ihrer verbliebenen Brüste 

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waren vergoldet und mit silbernen Brustwarzen versehen, da-
mit sie mit dem Dekor der Höhle harmonierten. Ihr Körper war 
rosarot und strahlte Zärtlichkeit und Behaglichkeit aus. Ihr lan-
ges, schmales Gesicht mit der scharfen Nase und dem spitzen 
Kinn war mit glitzernden Leuchtfäden bestickt, die ständig die 
Farbe wechselten und manchmal sogar ihre Gesichtszüge völlig 
veränderten. 

Jherek, an den sich der Fremde nervös mit einem seiner Füße 

klammerte, wollte weitergehen, mußte dann aber stehenblei-
ben, um dem Fremden zuzuflüstern, daß er eines seiner oberen 
Gliedmaße benutzen sollte, wenn er sich schon an ihm fest-
halten mußte. Er befürchtete, daß Lady Charlotina den Dieb-
stahl schon bemerkt hatte. 

Yusharisp sah aus, als wolle er im nächsten Augenblick davon-

stürzen. Warnend legte Jherek eine Hand auf den neuen Körper 
des Fremden. 

»Wer ist dein Begleiter?« 
Lady Charlotinas besticktes Gesicht war einen Moment lang 

scharlachrot. 

»Ist das ein Zeitreisender?« Ihre Energiehängematte schwebte 

Jherek und Yusharisp entgegen. Die plötzliche Bewegung warf 
Brannart Morphail auf den Höhlenboden. Verdrossen blieb er 
liegen, wo er hingefallen war, betrachtete sich in der spiegeln-
den Oberfläche und wies die hilfreichen Hände von Lord Jag-
ged von Kanarien und der Eisernen Orchidee zurück. Sie stan-
den neben ihm und wichen Jhereks Blick aus. Auch Jherek tat 
alles, um sie zu ignorieren. Ein Blickwecksel in diesem Stadium 
konnte Lady Charlotina leicht noch mißtrauischer machen. 

»Ja«, sagte Jherek rasch. »Ein Zeitreisender.« 
Bei diesen Worten sah Brannart Morphail auf. 
»Er ist vor kurzem eingetroffen. Ich habe ihn gefunden. Er 

wird den Grundstock meiner neuen Sammlung bilden.« 

»Oh, du willst mir also Konkurrenz machen? Ich muß dich 

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im Auge behalten, Jherek. Du bist so gerissen.« 

»Ja, behalte mich im Auge. Allerdings wird meine Sammlung 

deine niemals übertreffen, zauberhafte Charlotina.« 

»Hast du schon meinen neuen Raumfahrer gesehen?« Sie 

musterte den Fremden, während sie sprach. 

»Ja. Gestern, glaube ich. Oder vorgestern. Sehr hübsch.« 
»Danke. Er ist wirklich ein absonderliches Exemplar. Meinst du 

nicht auch, daß er einzigartig ist, Liebster?« 

»Oh, ja. Absolut.« 
Jherek hatte dem Raumfahrer die Gestalt eines Piltdown-

Menschen aus der Zeit vor dem 10. Jahrhundert gegeben. Er war 
affenähnlich, zottig und neigte (wegen Yusharisps normaler 
Fortbewegungsart) dazu, auf allen Vieren niederzusinken. Er 
war mit Tierfeilen bekleidet und trug (als authentische Note) 
eine Pistole (eine Keule mit metallenem Griff und einer 
stumpfen, hölzernen Spitze). 

»Er ist doch gewiß nicht mit seiner eigenen Maschine ge-

kommen?« fragte Lady Charlotina. 

Jherek sah sich nach seiner Mutter und Lord Jagged um, aber 

beide hatten sich davongemacht. Nur Brannart Morphail war 
noch da, und er erhob sich langsam vom Boden. 

»Nein«, antwortete Jherek. »Eine Maschine aus irgendeinem 

anderen Zeitalter muß ihn hierher transportiert haben. Zweifel-
los ein temporaler Unfall. Irgendein armer Zeitreisender ist in 
die Vergangenheit gepurzelt und ohne seine Maschine wieder 
in seine Gegenwart versetzt worden. Der Primitive steigt ein, 
drückt ein oder zwei Knöpfe und holla-ho schon ist er hier!« 

»Hat er dir das erzählt, köstlicher Jherek?« 
»Spekulation. Er ist natürlich nicht in unserem Sinne intelli-

gent. Doch immerhin stellt er eine interessante Kreuzung aus 
Mensch und Tier dar.« 

»Kann er sprechen?« 
»In Grunzlauten«, sagte Jherek und nickte heftig, ohne einen 

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besonderen Grund dafür zu haben. »Er kann sich in Grunzlau-
ten verständigen.« Er sah den Fremden scharf an, warnte ihn 
davor, etwas zu sagen. Der Fremde war ein Narr. Er konnte die 
ganze Angelegenheit leicht ruinieren. Aber Yusharisp schwieg. 

»Wie schade. Nun, ich denke, er ist ein Anfang für eine Samm-

lung, Liebster«, fügte sie freundlich hinzu. 

Brannart Morphail hatte sich inzwischen aufgerichtet. Hum-

pelnd gesellte er sich zu ihnen. Er brauchte eigentlich keinen 
Bukkel und keinen Klumpfuß zu haben, aber er war in fast allen 
Dingen ein Traditionalist, und er wußte, daß früher alle wahren 
Wissenschaftler so ausgesehen hatten wie er jetzt. Er war sicht-
lich stolz auf seine Erscheinung und hatte sie seit Jahrhunderten 
nicht mehr geändert. 

»Mit was für einer Maschine ist er gekommen?« fragte Bran-

nart Morphail bohrend. »Mich interessiert das, weil es sich da-
bei nicht um eines der vier oder fünf Grundmodelle handeln 
kann, die im Laufe unserer Geschichte entdeckt und neuent-
deckt worden sind.« 

»Und warum sollte das nicht möglich sein?« Jherek fühlte sich 

allmählich unbehaglich. Morphail wußte alles, was man über 
die Zeit wissen konnte. Vielleicht  hätte  er  sich  eine  überzeu-
gendere Geschichte ausdenken sollen. Aber jetzt war es zu spät, 
um das noch zu ändern. 

»Weil ich in meinen Laboratorien etwas davon bemerkt hätte. 

Meine Meßgeräte überwachen die Chronowellen pausenlos. 
Jedes Objekt wie eine Zeitmaschine wird sofort nach seiner An-
kunft in unserer Zeit registriert.« 

»Ah.« Jherek war um eine Erklärung verlegen. 
»Also würde ich mir gern die Zeitmaschine anschauen, mit 

der dein Exemplar angekommen ist«, fuhr Brannart Morphail 
fort. »Sie muß ein neuer Typ sein. Das heißt, neu für uns.« 

»Morgen«, wehrte Jherek Carnelian heftig ab und entfernte 

sich mit seinem Begleiter von Lady Charlotina und Brannart 

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Morphail. »Komm mich morgen besuchen.« 

»Das werde ich.« 
»Jherek.  Verläßt  du mein Fest?« Lady Charlotina wirkte ge-

kränkt. »Schließlich hast du doch zu denen gehört, die auf die 
Idee gekommen sind. Wirklich, meine Tulpe, du solltest noch 
ein wenig bleiben.« 

»Es tut mir leid.« Jherek fühlte sich in der Falle. Er rückte die 

Felle zurecht, damit sie so viel wie möglich von Yusharisps Kör-
per bedeckten. Er hatte keine Zeit gehabt, die Hautfarbe zu 
ändern, so daß sie noch immer von dem schmutzigen, grünge-
fleckten Braun war. »Weißt du, mein Exemplar muß, äh, gefüt-
tert werden.« 

»Gefüttert? Wir können es hier füttern.« 
»Spezialfutter«, sagte Jherek. »Nur ich kenne die Zusammen-

stellung.« 

»Aber wir sind stolz auf unsere Küche in meiner Menagerie«, 

rief Lady Charlotina. »Sag mir, was es frißt, und es wird um-
gehend zubereitet.« 

»Oh«, machte Jherek. 
Lady Charlotina lachte, und ihre Stickerei durchlief plötzlich 

eine erstaunliche Zahl von Farbtönen. »Jherek. Sag, was du 
willst, aber du benimmst dich verdächtig. Was in aller Welt hast 
du vor?« 

»Vorhaben? Nichts.« Er fühlte sich elend und wünschte in-

brünstig, er hätte sich nie auf diese Sache eingelassen. 

»Dein Zeitreisender. Hast du ihn wirklich so bekommen, wie 

du erzählt hast, oder steckt da ein Geheimnis dahinter? Bist du 
vielleicht selbst in die Vergangenheit gereist?« 

»Nein. Nein.« Seine Lippen waren trocken. Er justierte den 

Flüssigkeitshaushalt seines Körpers. Es schien keinen großen 
Unterschied zu machen. 

»Oder hast du den Zeitreisenden selbst erschaffen, wie ich 

vermute? Ist er eine Fälschung?« 

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Sie kam der Wahrheit viel zu nahe. Jherek richtete seine Au-

gen auf den Ausgang und raunte Yusharisp zu: »Das ist der 
Weg in die Freiheit. Wir müssen…« 

Lady Charlotina schwebte näher und beugte sich nach 

vorn, um den verkleideten Fremden genauer anzuschauen. Ihr 
Parfüm war so stark, daß Jherek schwindelte. Mit zusammen-
gekniffenen Augen wandte sie sich an Yusharisp. 

»Wie heißt du?« fragte sie. 
»Er kann nicht sprechen…« Jhereks Stimme versagte. 
»Knirsch«, machte Yusharisp. 
»Er heißt Knirsch«, erklärte Jherek und versetzte dem Raum-

fahrer einen Stoß mit der Hand. Der Raumfahrer stürzte und 
schlidderte auf allen vieren auf einen der zahlreichen Tunnel 
zu, die aus der Höhle führten. Seine funkelnde Keule ließ er 
hinter sich auf dem Boden zurück. 

Lady Charlotinas Brauen zogen sich noch mehr zusammen, 

während ein Ausdruck beginnenden Mißtrauens auf ihrem 
bestickten Gesicht erschien. 

»Wir sehen uns dann morgen«, erklärte Brannart Morphail 

barsch, ohne zu bemerken, welchen Verlauf die Unterhaltung 
inzwischen genommen hatte. »Wegen der Zeitmaschine.« Er 
wandte sich an Lady Charlotina, die sich auf ihrer Energiehän-
gematte auf einen Ellbogen gestützt hatte und mit offenem 
Mund verfolgte, wie Jherek dem Fremden hinterherrannte. 

»Wie aufregend«, bemerkte Brannart Morphail. »Eine neue 

Art der Zeitreise, wie es scheint.« 

»Oder eine neue Art der Besessenheit«, entgegnete Lady Char-

lotina grimmig. Allerdings klang ihre Stimme eher melodrama-
tisch denn ernst, als sie Jherek mit ersterbender Stimme nach-
rief: »Jherek? Jherek!« 

Jherek rannte weiter. Aber er schrie über die Schulter hinweg: 

»Mein Fremder ich meine, mein Zeitreisender… er versucht zu 
fliehen. Muß ihn einfangen. Wunderbares Fest. Leb wohl, geist-

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reiche Charlotina, für heute!« 

»Oh, oh, Jherek!« 
Und er eilte Yusharisp nach, durch die Tunnel zum Wasser-

tor eine Energieröhre, die vom Grund des Sees bis zur Oberflä-
che führte und dann zu der Stelle, wo seine kleine Lokomotive 
wartend schwebte. 

Jherek schoß hinauf in den Himmel und zog den Fremden 

(der keinen Antischwerkraftring besaß) hinter sich her. 

»In den Luftwagen!« keuchte Jherek und flog auf die Lokomo-

tive zu. 

Gemeinsam purzelten sie hinein und brachen auf der Couch 

aus Plüsch und Hermelin zusammen. 

Jherek zog an der Pfeifenschnur. 
»Mongrove«, stieß er hervor, während er den See nach Verfol-

gern absuchte, »und zwar schnell.« 

Mit einem wilden Tuten tuckerte die Lokomotive rasch in Rich-

tung Osten und stieß dicke Wolken aus scharlachrotem Dampf 
aus. 

Als Jherek zurück zur Erdoberfläche sah, entdeckte er Lady 

Charlotina, die gischtsprühend aus dem funkelnden See auf-
tauchte und noch immer auf ihrer Energiehängematte, noch 
immer auf einem Ellbogen gestützt ihm etwas nachbrüllte, als 
er im Abendhimmel verschwand. 

Jherek mühte sich angestrengt, ihre Worte zu verstehen, denn 

sie benutzte keine Form der Projektion. Er hoffte aber, daß sie 
genug Sportsgeist besaß, keinen Verfolger auf die Spur des 
Luftwagens zu setzen oder ihn mit einem Zugstrahl zurück 
nach Unterdem-See zu holen. Möglicherweise hatte sie noch gar 
nicht entdeckt, was er getan hatte. 

Aber er hörte ihre Worte deutlich genug. »Haltet ihn!« rief sie 

theatralisch. »Haltet den Dieb!« 

Und Jherek spürte, wie seine Beine weich wurden. Er emp-

fand  eines der exquisitesten Gefühle seines ganzen Lebens. 

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Selbst gewisse Erlebnisse während seiner Jugendzeit konnten 
sich nicht damit messen. Er seufzte vor Entzücken. 

»Haltet ihn«, murmelte er vor sich hin, während sich die Lo-

komotive rasch Mongroves Reich näherte. »Haltet den Dieb! 
Oh! Ah! Dieb, Dieb, Dieb!« Sein Atem ging schwer. Ihm wurde 
schwindelig. »Haltet den Dieb!« 

Yusharisp, der ausprobiert hatte, wie man auf der Couch 

saß, gab seine Versuche auf und ließ sich auf dem Boden 
nieder. »Wirst du Schwierigkeiten bekommen?« fragte er. 

»Ich denke schon«, bestätigte Jherek und schlang die Arme 

um sich. »Ja. Schwierigkeiten.«  Seine Augen waren glasig. Er 
sah durch den Fremden hindurch. 

Yusharisp war von dem, was er für Jhereks Edelmut hielt, ge-

rührt. »Aber warum riskierst du so viel für einen Fremden wie 
mich?« 

»Aus Liebe!« flüsterte Jherek, und ihn durchlief ein weiterer 

Schauder der Lust. »Aus Liebe!« 

»Du bist ein großherziges, knirsch, Wesen«, sagte Yusharisp 

zärtlich. Er erhob sich auf Hände und Knie und sah mit leuch-
tenden Augen zu Jherek auf. »Größere, knirsch, knirsch, Liebe, 
wie wir (Kreisch) auf meinem Planeten sagen, hat, knirsch, 
knirsch, kein Mensch knirsch, ryof chio lar, oof.« Verlegen ver-
stummte er. »Es muß, knirsch, unübersetzbar sein.« 

»Ich werde dich besser in deine alte Gestalt zurückverwan-

deln, bevor wir bei Mongrove eintreffen«, sagte Jherek in ge-
schäftsmäßigem Tonfall. 

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8. Kapitel 

 

MRS. AMELIA UNDERWOODS VERSPRECHEN UND EIN 
RÄTSEL 

 

Mongrove war hocherfreut gewesen, Yusharisp bei sich aufzu-
nehmen. Er hatte den kleinen runden Raumfahrer umarmt, 
fast erdrückt und ihn sofort nach allen Einzelheiten seiner Bot-
schaft der Verdammnis ausgefragt. 

Der Raumfahrer war von dem Empfang angenehm berührt 

gewesen, obwohl er sich noch immer der Illusion hingab, daß 
man ihm bald beim Verlassen des Planeten helfen würde. Aus 
diesem Grund hatte Jherek Carnelian den Handel so rasch wie 
möglich abgeschlossen und war dann mit seinem neuen 
Schatz aufgebrochen, während Mongrove und Yusharisp noch 
immer in ein Gespräch vertieft waren. 

Mrs. Amelia Underwood war, um den Transport zu erleich-

tern, in Starre versetzt und dann an Bord der Lokomotive ge-
schafft worden (ohne zu ahnen, daß sie von nun an Jherek 
gehörte). 

Jherek hatte keine Zeit verloren, zu seiner Ranch zurückzu-

kehren, und dort brachte er Mrs. Underwood an jenem Ort un-
ter, der in historischen Zeiten immer der wichtigste Teil des 
Hauses gewesen war: im Keller. Der Keller lag direkt über sei-
nem Schlafzimmer und enthielt hohe, durchsichtige Kessel mit 
karmesinund perlfarbenem Wein. Er war außerdem der 
schönste Raum im Haus. 

Er legte sie auf ein Bett in Form einer Polstertruhe, das genau in 

der Mitte des Zimmers stand, und justierte Mrs. Underwood 
so, daß sie schlafen und am nächsten Morgen langsam und auf 
natürliche Weise aufwachen würde. 

Dann begab er sich in sein eigenes Schlafzimmer, begierig dar-

auf, sich für die nächste Begegnung mit ihr auszustaffieren, 

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entschlossen, diesmal einen guten Eindruck zu machen. Ob-
wohl er bis zum Morgen noch einige Stunden Zeit hatte, begann 
er schon Pläne zu schmieden. Er wollte etwas Einfaches tragen 
und beabsichtigte nicht mehr, ihr durch irgendwelche Imitatio-
nen zu imponieren, da sie damals auf seine Kleidung nicht rea-
giert hatte. Er erschuf von sich ein stoffliches Hologramm und 
eine Reihe Kostüme, ließ das Hologramm in den verschiedenen 
modischen Aufmachungen im Zimmer auf und ab gehen, bis 
er zufrieden war und das Gewünschte ausgesucht hatte. 

Er würde ganz in Weiß auftreten Gewand, Schuhe, Haar, Au-

genbrauen und Lippen. Das würde gut zum Dekor des Kellers 
passen, zumal, wenn er nur einen Ring trug, und zwar den 
kostbaren roten Granat, der am Mittelfinger seiner rechten Hand 
wie ein frischer Blutstropfen wirkte. 

Jherek fragte sich, ob Mrs. Underwood vielleicht etwas ande-

res anziehen wollte. Das graue Kleid, die weiße Bluse und der 
Strohhut sahen schon ein wenig mitgenommen und abgetragen 
aus. Er entschloß sich, einige Kleider für sie zu erschaffen und sie 
als Teil seiner Hochzeitsgeschenke mitzunehmen. Er hatte sich 
intensiv genug mit der Literatur jener Epoche befaßt, um zu 
wissen, daß die Übergabe derartiger Geschenke zum unver-
zichtbaren Teil des Werbungsrituals gehörte und sicherlich 
hochwillkommen war. 

Aber er mußte sich noch ein weiteres Geschenk einfallen las-

sen. Etwas Traditionelles. Und Musik. Im Hintergrund mußte 
Musik erklingen… 

Als er mit seinen Vorbereitungen fertig war, blieben ihm noch 

immer einige Stunden, und sie gaben ihm Gelegenheit, die 
Ereignisse der letzten Zeit zu überdenken. Er war ein wenig 
nervös. Lady Charlotina war gewiß bestrebt, ihm seinen Trick, 
den Diebstahl ihres Fremden, heimzuzahlen. Im Moment hatte 
er kein Interesse daran, bei seiner Brautwerbung gestört zu 
werden, und falls sich Lady Charlotina entschloß, sofort etwas 

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zu unternehmen, konnte dies zu Unannehmlichkeiten führen. 
Natürlich hatte er gehofft, mehr Zeit zur Verfügung zu haben, 
bevor sie die Täuschung durchschaute. Wie dem auch sei, es 
ließ sich nicht mehr ändern. Er konnte nur hoffen, daß ihre Ra-
che keine allzu komplizierte oder langwierige Form annehmen 
würde. 

Er streckte sich auf seinem achteckigen Lager aus, versank in 

den weißen Kissen und wartete ungeduldig auf den Einbruch 
des Morgens, ohne Anstalten zu treffen, den Zeitstrom auch 
nur um eine Sekunde zu beschleunigen, da er wußte, daß 
Zeitreisende durch derartige Manipulationen schon oft zurück 
in die Vergangenheit geschleudert worden waren. 

Er überdachte seine Lage. Er fand Mrs. Underwood sehr an-

ziehend. Sie hatte eine wundervolle Haut. Ihr Gesicht war lieb-
lich. Und sie machte einen überaus intelligenten Eindruck, 
was sehr angenehm war. Wenn sie sich morgen in ihn verliebte 
(was nun wirklich unvermeidlich war), konnten sie alle mögli-
chen Spiele zelebrieren Trennungen, Selbstmorde, melancholi-
sche Spaziergänge, bittersüße Abschiede und so weiter. Es 
hing nur von ihr und davon ab, wie ihr Einfallsreichtum sei-
ne Fantasie anstachelte. Im Moment war es am wichtigsten, 
daß die Grundlagen geschaffen wurden. 

Er schlief eine Weile. Um seine hübschen Lippen spielte ein 

entspanntes, verklärtes Lächeln. 

Dann, am Morgen, ging Jherek Carnelian auf Brautschau. 
In seinem durchsichtigen Gewand, mit milchweißem, sorgfäl-

tig frisiertem und gelocktem Haar, mit weißen, lächelnden Lip-
pen, in einer Hand einen Strauß langer, blättriger Schokola-
denblumen, in der anderen einen silbernen »Koffer« voller 
Kleidungsstücke, blieb er vor der Kellertür stehen (die aus ech-
ter Seide bestand und auf einen Rahmen aus Blattgold ge-
spannt war) und stampfte in Ermangelung eines Türklopfers 
zweimal auf den Boden (wie hatten sie damals nur an die Türen 

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klopfen können? Eines von vielen Rätseln). Durch das Stamp-
fen wurde auch die Musik eingeschaltet. Das Stück stammte 
von einem Komponisten, der ein enger Zeitgenosse von Mrs. 
Underwood gewesen war. Sein Name lautete Charles St. Ives, 
der Kitsch-Caruso, und seine einschmeichelnden, rückwärts 
gespielten Melodien konnten, obwohl unkompliziert, durchaus 
zu den Dingen gehören, die Mrs. Underwoods Herz erfreuten. 

Jherek sorgte dafür, daß die zunächst unhörbare Musik nur 

gedämpft erklang. 

»Mrs. Amelia Underwood«, sagte er. »Haben Sie mein Klop-

fen gehört? Beziehungsweise mein Stampfen?« 

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie verschwinden würden«, 

ertönte ihre Stimme von der anderen Seite der Tür. »Ich weiß, 
wer Sie sind, und ich kann mir vorstellen, warum ich entführt 
worden bin und wohin. Falls Sie beabsichtigen, meinen Wider-
stand zu brechen, indem Sie mich in den Wahnsinn treiben, so 
täuschen Sie sich. Eher bringe ich mich um! Ungeheuer.« 

»Mein Servo hat Ihnen das Frühstück gebracht, ja? Ich hoffe, 

es war nach Ihrem Geschmack.« 

Ihre Stimme klang bemüht spöttisch. »Ich habe noch nie eine 

Vorliebe für rohes Rindfleisch gehabt, Sir. Noch ist purer Whis-
ky in meinen Augen ein passendes Frühstücksgetränk. In mei-
nem anderen Kerker habe ich wenigstens die Mahlzeiten be-
kommen, die ich mir wünschte.« 

»Dann äußern Sie Ihre Wünsche. Es tut mir leid, Mrs. Amelia 

Underwood. Ich war überzeugt, alles richtig gemacht zu ha-
ben. Vielleicht haben sich früher die Sitten in Ihrem Teil der 
Welt anders dargestellt… Dennoch, Sie müssen mir schon 
sagen…« 

»Wenn ich schon hier eine Gefangene bin, Sir«, erklärte sie 

streng, »dann erwarte ich zum Frühstück zwei Scheiben leicht 
getoastetes Brot, ungesalzene Butter, Chetwynds Cheshire-
Marmelade, Milchkaffee und hin und wieder zwei weichge-

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kochte Eier.« 

Er hantierte an seinem roten Ring. »Schon erledigt. Pro-

grammiert.« 

Ihre Stimme fuhr fort: »Zum Mittagessen nun, das ist ver-

schieden. Aber da das Wetter ständig zu warm ist, sollten diver-
se Salate die Grundlage der Mahlzeiten bilden. Keine Tomaten. 
Sie sind schlecht für den Teint. Ich werde die Zusammenstel-
lungen später erläutern. An Sonntagen: Roastbeef, Hammel-
fleisch, Schweine- oder Kalbfleisch. Von Zeit zu Zeit Wildbret, 
je nach Saison (obwohl ich gehört habe, daß es das Blut erhit-
zen soll), und bei passender Gelegenheit Geflügel. Hammelko-
teletts. Geschmorte Rinderbrust und so weiter. Ich werde Ihnen 
eine Liste geben. Und zum Rindfleisch Yorkshire-Pudding, 
und natürlich Meerrettichsoße, et cetera. Zum Hammelfleisch 
Minzsoße. Apfelsoße zum Schweinefleisch. Pfefferkörner oder 
Salbei und Zwiebeln vielleicht zum Kalb, obwohl ich gegen 
Kalbfleisch gewisse Vorbehalte hege, auch wenn ich es auf die 
Liste setzen werde. Zum Abendessen…« 

»Mrs. Amelia Underwood!« rief Jherek Carnelian in völliger 

Verwirrung. »Sie sollen jedes Nahrungsmittel bekommen, das 
Sie wünschen, und jedes Gericht, das Ihnen gefällt. Sie sollen 
Truthähne und Tauben essen, Hälse, Herzen und Haxen, Kar-
toffeln und Kuchen, und Fisch, Geflügel und Getier sollen zur 
Freude Ihres Gaumens geschaffen und geschlachtet werden! 
Ich schwöre Ihnen, daß ich Ihnen niemals wieder ein Früh-
stück aus Rindfleisch und Whisky anbieten werde. Und jetzt, 
Mrs. Underwood, erlauben Sie, daß ich eintrete?« 

Ein Hauch von Überraschung schwang in ihrer Stimme mit. 

»Sie sind der Kerkermeister, Sir. Zweifellos können Sie tun, 
was Ihnen beliebt!« 

Die Musik von Charles St. Ives (Drei neue Plätze in England) 

wurde lauter. Jherek trat zurück und warf sich dann durch 
den Seidenstoff, verfing sich mit dem Fuß in einem herabhän-

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genden Fetzen des Materials und stolperte nicht sehr elegant 
weiter, während sie ihre Ohren bedeckte und schrie: »Schreck-
lich! Schrecklich!« 

»Ihnen gefällt die Musik nicht? Sie stammt aus Ihrer Zeit.« 
»Es ist eine Kakaphonie.« 
»Ah, gut.« Er schnippte mit den Fingern. Die Musik verklang. 

Er drehte sich um und restaurierte die Seide in ihrem Rah-
men. Dann, mit einer schwungvollen Verbeugung, die der des 
Lord Jagged gleichkam, stellte er sich ihr in all seiner Weiße 
vor. 

Sie trug ihr altes Kostüm, obwohl ihr Hut auf der sauber ge-

arbeiteten, fast vier Meter langen Polstertruhe lag. Sie stand vor 
einem der mit glitzerndem Champagner gefüllten Kessel, 
die Hände unter ihren Brüsten gefaltet, die Lippen geschürzt. 
Sie war tatsächlich das schönste menschliche Wesen (außer 
ihm), das Jherek je gesehen hatte. Er hätte sich nichts Besseres 
ausdenken und erschaffen können. Dünne Strähnen des ka-
stanienbraunen Haares hingen ihr ins Gesicht. Ihre graugrünen 
Augen waren hell und klar. Ihre Schultern waren gerade, ihr 
Rücken war gestrafft, ihre kleinen gestiefelten Füße hatte sie 
zusammengepreßt. 

»Nun, Sir?« sagte sie. Ihre Stimme klang scharf, fast kalt. »Mir 

ist bewußt, daß Sie mich entführt haben. Aber auch wenn Sie 
meinen Körper besitzen, so versichere ich Ihnen, daß Sie meine 
Seele niemals bekommen werden!« 

Er hörte kaum, was sie sagte, während er ihre Schönheit in 

sich aufnahm. Er bot ihr den Schokoladenstrauß an. Sie 
nahm ihn  nicht entgegen. »Drogen«, erklärte sie, »werde ich 
freiwillig niemals zu mir nehmen.« 

»Schokolade«, erklärte er und deutete auf das blaue Band, das 

um den Strauß gewickelt war. »Sehen Sie? Ein blaues Band.« 

»Schokolade.« Sie betrachtete den Strauß genauer. Einen 

Moment lang wirkte sie fast amüsiert, aber dann nahm ihr Ge-

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sicht wieder den starren, strengen Ausdruck an. Sie wollte ihn 
nicht nehmen. Schließlich sah er sich gezwungen, den Schoko-
ladenstrauß hinüber zur Polstertruhe schweben und neben ih-
rem Hut niedergehen zu lassen. Beides paßte ausgezeichnet zu-
sammen. Er desintegrierte den Koffer, so daß sich der Inhalt über 
den geblümten Boden ergoß. 

»Und was ist das?« 
»Kleider«, antwortete er, »für Sie. Sind sie nicht schön?« 
Sie sah hinab auf die Farbenfülle, die Vielzahl der Stoffe. Sie 

glitzerten. Ihre Schönheit war unleugbar, alle Farben paßten zu 
ihr. Ihre Lippen öffneten sich, ihre Wangen erröteten. Und dann 
stieß sie die Kleider mit ihrem geknöpften Stiefel fort. »Das sind 
keine passenden Kleider für eine Dame aus gutem Haus«, er-
klärte sie. »Sie können sie wieder mitnehmen.« 

Er war enttäuscht. Er war beinahe verletzt. »Aber…? Mitneh-

men…?« 

»Meine eigene Kleidung ist völlig ausreichend. Ich hätte nur 

gern die Möglichkeit, sie zu waschen, das genügt. Ich habe in 
dieser dieser Zelle keine Waschgelegenheit gefunden.« 

»Langweilt es Sie denn nicht, was Sie tragen, Mrs. Amelia Un-

derwood?« 

»Nein. Wie ich schon sagte. Und was die Waschgelegenheit be-

trifft…« 

»Ah.« Er drehte seinen Ring. Die Kleider zu ihren Füßen erho-

ben sich in die Luft, änderten Form und Farbe und schwebten 
dann ebenfalls zur Polstertruhe. Neben dem Schokoladen-
strauß und dem Strohhut lagen nun fein säuberlich Seite an Sei-
te sechs identische Kostüme (komplett mit Strohhut), und jedes 
sah genauso aus wie das, das sie derzeit trug. 

»Danke.« Ihr Verhalten wirkte nun eine Spur weniger kühl. 

»So ist es viel besser.« Sie runzelte die Stirn. »Ich frage mich, ob 
Sie nicht doch…« 

Dankbar, endlich etwas getan zu haben, das ihren Beifall ge-

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funden hatte, entschloß Jherek sich, ihr seinen Antrag zu ma-
chen. Er raffte sein Gewand und kniete auf den Vorhängen aus 
frischen Blumen nieder, die den Boden bedeckten. Er legte bei-
de Hände auf sein Herz. Er hob die Augen mit einem Ausdruck 
grenzenloser Liebe zum Himmel. 

»Mrs. Amelia Underwood!« 
Verblüfft wich sie einen Schritt zurück und stieß gegen einen 

Weinkessel. Er gab ein leises Schwappen von sich. 

»Ich bin Jherek Carnelian«, fuhr er fort. »Ich bin geboren 

worden. Ich liebe Sie!« 

»Großer Gott!« 
»Ich liebe Sie mehr als ich das Leben, die Würde oder die 

Wunder liebe«, fügte er hinzu. »Ich werde Sie lieben, bis die 
Kühe heimkehren, bis die Schweine ihren Flug beenden. Ich, 
Jherek Carnelian…« 

»Mr. Carnelian!« Sie war, wie es schien, von seiner Hingabe 

überwältigt. Aber warum sollte sie überwältigt sein? Schließ-
lich hatte in ihrer Zeit jeder jedem seine Liebe erklärt! »Erhe-
ben Sie sich, Sir, bitte. Ich bin eine anständige Frau. Ich glaube, 
Sie unterliegen einem Irrtum, was meine gesellschaftliche Stel-
lung betrifft. Das heißt, Mr. Carnelian ich bin eine Hausfrau. 
Eine Hausfrau aus, um es offen zu sagen, Bromley in Kent bei 
London. Ich habe keinen keinen anderen Beruf, Sir.« 

»Hausfrau?« 
Um eine Erklärung bittend sah er zu ihr auf. »Ein Mißver-

ständnis?« 

»Ich betreibe, um es deutlich zu sagen, kein anderes Gewer-

be.« 

Er war verwirrt. »Sie müssen mir das erklären.« 
»Mr. Carnelian. Erst habe ich versucht, andeutungsweise ein 

recht heikles Thema anzuschneiden, und zwar geht es um die, 
äh, Einrichtungen. Ich kann sie nicht finden.« 

»Einrichtungen?« Noch immer kniend, sah er sich im Keller 

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um, betrachtete die großen Weinkessel, die Jakarandabäume, 
die Sarkophage, die ausgestopften Alligatoren und Bären, die 
Mangeln, die Wurlitzer-Orgel. »Ich fürchte, ich kann Ihnen 
nicht folgen…« 

»Mr. Carnelian.« Sie hüstelte, senkte den Blick und flüsterte: 

»Das Badezimmer.« 

»Aber Mrs. Amelia Underwood, wenn Sie baden möchten, da 

sind doch die Weinkessel. Oder wenn Sie es vorziehen, kann 
ich Ihnen Blattlausmilch besorgen.« 

Offenbar peinlich berührt, aber mit zunehmender Be-

stimmtheit, erklärte sie: »Ich möchte nicht baden, Mr. Carneli-
an. Ich spreche«, sie atmete tief durch »vom Wasserklosett.« 

Die Erkenntnis dämmerte ihm. Wie schwer von Begriff er 

doch war. Er lächelte hilfsbereit. »Ich glaube, das läßt sich ein-
richten. 

Wenn Sie mir sagen, was ein Klosett ist, werde ich es mühelos 

mit Wasser füllen können. Und wir können uns lieben. Oh, im 
Wasser. In Flüssigkeit!« 

Ihre Lippen bebten. Sie war unverkennbar verzweifelt. Hatte 

er sie erneut mißverstanden? Hilflos sah er zu ihr auf. »Ich 
liebe Sie«, sagte er. 

Sie preßte die Hände vor das Gesicht. Ihre Schultern bebten. 

»Sie müssen mich schrecklich hassen.« Ihre Stimme klang er-
stickt. »Ich kann nicht glauben, daß Sie mich nicht verstehen. 
Als Mensch… Oh, wie müssen Sie mich hassen!« 

»Nein!« Mit einem Schrei fuhr er hoch. »Nein! Ich liebe Sie. 

Ich werde Ihnen jeden Wunsch erfüllen. Alles, was in meiner 
Macht steht, werde ich für Sie tun. Es ist einfach so, Mrs. Ame-
lia Underwood, daß Sie sich nicht deutlich genug ausgedrückt 
haben. Ich verstehe Sie nicht.« Er breitete die Arme aus und 
deutete auf die Einrichtung des Raums. »Ich habe mit aller 
Sorgfalt ein ganzes Haus im Stil Ihrer Zeit rekonstruiert. Ich 
habe, wie ich hoffe, alles getan, um es Ihnen so gemütlich wie 

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möglich zu machen. Wenn Sie mir doch nur näher erklären 
würden, was Sie verlangen, werde ich es Ihnen erfüllen.« Er 
schwieg. Sie löste die Hände von ihrem Gesicht und warf ihm 
einen eigenartigen, forschenden Blick zu. »Vielleicht könnten 
Sie es aufzeichnen?« schlug er vor. 

Erneut bedeckte sie ihr Gesicht. Erneut fingen ihre Schultern 

an zu beben. 

Es dauerte einige Zeit, bis er von ihr erfuhr, was sie wollte. Sie 

erklärte es ihm mit stockender, nervöser Stimme. Sie errötete 
tief. 

Er lachte entzückt, als er verstand. 
»Auf derartige Körperfunktionen verzichtet mein Volk schon 

seit langem. Ich könnte Ihren Organismus ein wenig verän-
dern und Sie würden…« 

»Damit will ich nichts zu tun haben!« 
»Wie Sie befehlen.« 
Schließlich hatte er nach ihren Anweisungen das »Badezim-

mer« hergestellt und es in einer Ecke des Kellers untergebracht. 
Dann, auf ihre weitere Bitte hin, umgab er es mit Wänden und 
wählte dafür, seinem eigenen Geschmack folgend, zinnoberro-
ten Marmor und grünen Fries. 

Kaum war es fertig, stürzte sie hinein und schlug die Tür mit 

einem Knall hinter sich zu. Sie erinnerte ihn an ein kleines, ner-
vöses Tier. Er fragte sich, ob die Wände ihr ein Gefühl der Si-
cherheit verliehen, das ihr der Keller nicht vermittelte. Wie lange 
würde sie  in der Einrichtung bleiben? Für immer, wie ein 
Menagerist, der sich weigerte, seine Lebenszone zu verlas-
sen? Wie lange konnte sie dort bleiben, hinter der Marmortür, 
nicht bereit, ihn zu sehen? Immerhin wurde es Zeit, daß sie 
sich in ihn verliebte. 

Er wartete eine für seine Begriffe sehr lange Zeit. Dann 

verlor er die Beherrschung und rief: »Mrs. Amelia Under-
wood?« 

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Mit scharfer Stimme entgegnete sie von der anderen Seite 

der Tür: »Mr. Carnelian, Sie besitzen kein Taktgefühl! Viel-
leicht habe ich mich in Ihren Absichten geirrt, aber ich kann 
die Tatsache, daß Ihre Manieren abscheulich sind, nicht mit 
Stillschweigen übergehen!« 

»Oh!« Er war gekränkt. »Mrs. Amelia Underwood! Ich bin 

bekannt für mein Taktgefühl. Ich bin dafür berühmt. Ich bin 
geboren worden!« 

»Genau wie ich, Mr. Carnelian. Ich kann nicht verstehen, 

warum Sie ständig auf dieser Tatsache herumreiten. Es er-
innert mich an einige Wilde, denen zu begegnen ich das Un-
glück hatte, als ich mich mit meinem Vater und meiner Mut-
ter in Südamerika aufhielt. Sie benutzten eine ähnliche Re-
dewendung…« 

»Waren sie unhöflich?« 
»Das spielt keine Rolle. Lassen Sie es mich so formulieren: 

Ihr Taktgefühl ist nicht von der Art, auf die eine englische 
Dame Anspruch hat. Einen Moment.« 

Er hörte ein gurgelndes Geräusch, und anschließend kam 

sie heraus. Sie wirkte ein wenig erholter, aber sie musterte 
ihn mit einem Blick, der verwirrtes Mißvergnügen aus-
drückte. 

Noch niemals zuvor hatte Jherek Carnelian etwas verspürt, 

das dem Begriff Unglück auch nur im entferntesten nahe-
kam, aber allmählich begann er die Bedeutung dieses Wor-
tes zu verstehen, und er seufzte vor Enttäuschung über sein 
Unvermögen, sich mit Mrs. Underwood zu verständigen. 
Was er auch sagte, sie interpretierte seine Absichten falsch. 
Nach seinen ursprünglichen Berechnungen hätten sie zu die-
sem Zeitpunkt bereits auf der Polstertruhe liegen, Küsse 
und so weiter austauschen und einander ewige Liebe 
schwören müssen. Alles war so maßlos verwirrend. Er ent-
schied, es noch einmal zu versuchen. 

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»Ich möchte Sie lieben«, sagte er sachlich. »Begreifen Sie 

das denn nicht? Ich bin sicher, daß die Menschen Ihres Zeit-
alters einander ständig geliebt haben. Ich weiß, daß es so 
war. All meine Nachforschungen beweisen, daß dies zu den 
Hauptbeschäftigungen jener Zeit gehört hat!« 

»Es gehört nicht zu den Dingen, über die man spricht, Mr. 

Carnelian.« 

»Ich möchte… möchte… Was sagt man denn dazu?« 
»Es gibt, Mr. Carnelian, so etwas wie die Institution der christ-

lichen Ehe.« Ihre Stimme klang nun sanfter, nahm aber gleich-
zeitig einen herablassenden Tonfall an. »Jene Liebe, von der Sie 
sprechen, wird von der Gesellschaft nur gebilligt, wenn das 
betreffende Paar verheiratet ist. Ich glaube schon, daß Sie nicht 
das Ungeheuer sind, für das ich Sie zunächst hielt. Sie haben 
sich, auf Ihre Art, fast wie ein Gentleman verhalten. Ich schlie-
ße daraus, daß Sie lediglich irregeleitet worden sind. Falls Sie 
richtiges Benehmen lernen wollen, werde ich mir nicht zu scha-
de sein, es Ihnen beizubringen. Ich werde mein Bestes tun, um 
sie zu lehren, sich wie ein zivilisierter Mensch zu betragen.« 

»Ja?« Er strahlte. »Diese Heirat. Sollen wir sie jetzt hinter uns 

bringen?« 

»Sie wollen mich heiraten?« Sie gab ein kurzes, eisiges Geläch-

ter von sich. 

»Ja.« Er traf Anstalten, sich erneut hinzuknien. 
»Ich bin bereits verheiratet«, erklärte sie. »Mit Mr. Under-

wood.« 

»Ich bin ebenfalls verheiratet«, sagte er, ohne die Tragweite 

ihrer letzten Bemerkung zu erfassen. 

»Dann  können  wir nicht heiraten, Mr. Carnelian.« Sie lachte 

wieder. »Wer bereits verheiratet ist, muß mit dem verheiratet 
bleiben, mit dem er äh bereits verheiratet ist. Mit wem sind Sie 
verheiratet?« 

»Oh.« Er lächelte und zuckte die Achseln. »Ich bin mit vielen 

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Leuten verheiratet. Natürlich mit meiner Mutter, der Eisernen 
Orchidee. Ich glaube, sie war die erste, da sie zu jener Zeit ge-
rade greifbar war. Und (zweitens, wenn nicht sogar erstens) 
mit Mistreß Christia, der Ewigen Konkubine. Und mit Lady 
Charlotina. Und mit Werther de Goethe, aber das hat nicht 
viel gebracht, wenn ich mich recht entsinne. Und zuletzt mit 
Lord Jagged von Kanarien, meinem alten Freund. Und zwi-
schendurch mit vielleicht hundert anderen.« 

»Mit hundert anderen!« Sie ließ sich schnell auf die Polstertru-

he sinken. »Einhundert?« Sie warf ihm einen sonderbaren 
Blick zu. »Ich habe doch richtig verstanden, Mr. Carnelian, daß 
wir vom Heiraten sprechen? Ihre Mutter? Ein Freund? O Gott!« 

»Ich bin überzeugt, daß wir uns mißverstehen. Heiraten be-

deutet doch, einander lieben, oder nicht?« Er schwieg und 
suchte nach einem deutlicheren Ausdruck. »Sexuell lieben«, 
sagte er. 

Sie wich vor ihm zurück und preßte eine ihrer wunderbaren 

Hände gegen ihre makellose Stirn. Als sie sprach, flüsterte sie. 

»Bitte, Mr. Carnelian! Hören Sie sofort damit auf! Ich wün-

sche nichts mehr davon zu hören. Verlassen Sie mich, ich flehe 
Sie an.« 

»Sie möchten mich jetzt nicht heiraten?« 
»Gehen Sie…« Mit einem zitternden Finger deutete sie auf 

die Tür. »Gehen Sie…« 

Aber geduldig fuhr er fort: »Ich liebe Sie, Mrs. Amelia Un-

derwood. Ich habe Ihnen Schokolade gebracht Kleider. Ich 
habe die die Einrichtungen für Sie geschaffen. Ich habe Ih-
nen meine ewige Liebe gestanden. Ich habe für Sie gestohlen, 
getäuscht und gelogen.« Er hielt entschuldigend inne. »Ich ge-
be zu, daß ich noch nicht die Achtung meiner Freunde verlo-
ren habe, aber ich versuche mir schon eine Methode auszu-
denken, um das in Ordnung zu bringen. Was verlangen Sie 
denn noch von mir, Mrs. Amelia Underwood?« 

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Sie faßte sich ein wenig. Sie setzte sich aufrecht hin und holte 

tief Luft. »Es ist nicht Ihre Schuld«, erklärte sie und sah starr 
ins Leere. »Und es ist meine Pflicht, Ihnen zu helfen. Sie haben 
um meine Hilfe gebeten. Ich muß sie Ihnen geben. Es wäre 
schändlich und unchristlich von mir, sie Ihnen zu verweigern. 
Aber, offen gestanden, es wird eine herkulische Aufgabe sein. 
Ich habe in Indien gelebt. Ich habe Afrika besucht. Es gibt we-
nige Gegenden des Empire, die ich zu meiner Zeit nicht gesehen 
habe. Mein Vater war Missionar. Er widmete sein Leben der 
Aufgabe, den Wilden die christlichen Tugenden beizubrin-
gen. Deshalb…« 

»Tugend.« Begierig rutschte er auf den Knien näher. »Tu-

gend? Das ist es! Werden Sie mir Tugend beibringen, Mrs. 
Amelia Underwood?« 

Sie seufzte. Auf ihrem Gesicht lag ein benommener Aus-

druck, als sie nun auf ihn hinuntersah. Sie sah aus, als würde 
sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. »Wie könnte eine 
Christin das ablehnen? Aber jetzt müssen Sie gehen, Mr. Car-
nelian, damit ich mir über die vollen Konsequenzen dieser Si-
tuation klarwerden kann.« 

Erneut richtete er sich auf. 
»Wenn Sie wünschen. Ich glaube, wir machen Fortschritte, 

oder nicht? Wenn ich Tugend gelernt habe darf ich dann Ihr 
Geliebter werden?« 

Sie machte eine müde Handbewegung. »Wenn ich nur ein 

Fläschchen Riechsalz hätte, dann, so glaube ich, wäre alles 
halb so schlimm für mich.« 

»Ja? Sie sollen es haben. Beschreiben Sie es.« 
»Nein, nein. Lassen Sie mich jetzt allein. Ich muß so tun, den-

ke ich, als ob Sie nicht versuchen, sich über meine Lage lustig zu 
machen, obwohl ich einen gewissen Verdacht habe. Bis ich einen 
konkreten Beweis für das Gegenteil geliefert bekomme, werde 
ich… O Gott.« Sie sackte auf der Polstertruhe zusammen und 

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besaß gerade noch genug Kraft, um ihr graues Kleid zurecht-
zuzupfen, damit es nicht ihre Knöchel entblößte. 

»Ich komme später wieder«, versprach er. »Um mit dem Un-

terricht zu beginnen.« 

»Später«, ächzte sie. »Ja…« 
Begleitet vom Geräusch reißender Seide trat er durch die Tür. 

Er drehte sich um und machte eine tiefe, galante Verbeugung. 

Mit glasigen Augen sah sie ihn an, schüttelte den Kopf und 

fuhr mit der Hand durch ihre kastanienbraunen Locken. 

»Meine Herzallerliebste«, flüsterte er. 
Sie tastete nach der Anhängeruhr, die auf ihrer Bluse lag, öff-

nete den Deckel und sah nach der Zeit. 

»Ich erwarte«, sagte sie, »daß das Mittagessen um Punkt eins 

serviert wird.« 

Beinahe fröhlich kehrte Jherek in sein Schlafzimmer zurück 

und ließ sich auf die Kissen fallen. 

Die Brautschau war, wie er zugeben mußte, problematischer 

und komplizierter, als er sie sich zunächst vorgestellt hatte. 
Zumindest, dachte er, würde er bald hinter das Geheimnis der 
mysteriösen Tugend kommen. Also hatte ihm der Erwerb von 
Mrs. Underwood bereits etwas eingebracht. 

Die Stimme von Lord Jagged von Kanarien erklang an seinem 

Ohr und riß ihn aus seinen Tagträumen. 

»Kann ich mit dir reden, mein geschmackvoller Jherek, sofern 

du nicht anderweitig beschäftigt bist? Ich bin unten. In deinem 
Wohnzimmer.« 

»Natürlich.« Jherek stand auf. »Ich bin sofort bei dir.« 
Jherek war froh, daß Jagged gekommen war. Er hatte das Be-

dürfnis, seinem Freund alles zu erzählen, was bis jetzt zwi-
schen ihm und der Dame seines Herzens geschehen war. Au-
ßerdem benötigte er Lord Jaggeds Rat für die nächsten Schritte. 
Immerhin, wenn er näher darüber nachdachte, war das Ganze 
Lord Jaggeds Idee gewesen… 

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Er eilte hinunter ins Wohnzimmer und traf Lord Jagged mit 

einer Frucht in der Hand an den Stamm des Aspidistrabaums 
gelehnt. Er nagte mit einem gewissen klinischen Interesse, 
aber ohne große Lust an der Frucht. Seine Kleidung bestand 
aus eisblauem Nebel, der die Konturen seines Körpers nach-
zeichnete und sich wie eine Kapuze um sein bleiches Gesicht 
wölbte. Seine  Glieder waren völlig verhüllt. »Guten Morgen, 
Jherek«, grüßte er und desintegrierte die Frucht. »Und wie 
geht es deinem neuen Gast?« 

»Zuerst war sie nicht sehr zugänglich«, berichtete Jherek. »Sie 

schien mich unsympathisch zu finden. Aber ich glaube, ich 
habe ihre Reserviertheit durchbrochen. Es wird nicht mehr 
lange dauern, bis sich der Vorhang für den Hauptakt hebt.« 

»Sie liebt dich, wie du sie liebst?« 
»Ich glaube, sie fängt an, mich zu lieben. Zumindest hat sie 

Interesse an mir entwickelt.« 

»Also habt ihr euch nicht geliebt?« 
»Bis jetzt noch nicht. Es sind mehr Rituale damit verbunden, 

als wir beide uns vorgestellt haben. Alle möglichen Dinge. Aber 
es ist außerordentlich interessant.« 

»Aber natürlich liebst du sie weiterhin?« 
»Oh, natürlich. Verzweifelt. Ich gehöre nicht zu denen, die ei-

ne Besessenheit einfach so aufgeben, Lord Jagged. Ich hoffe, 
du kennst mich in dieser Hinsicht.« 

»In der Tat. Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte der 

Lord von Kanarien und bleckte seine scharfen, goldenen 
Zähne. 

»Aber wenn die Geschichte wahrhaft dramatische,  ja  tragische 

Dimensionen annehmen soll, muß sie selbstverständlich ler-
nen, mich zu lieben. Sonst wird die Angelegenheit zu einer 
Farce, zu einer schlechten Komödie, die es kaum wert ist, wei-
terverfolgt zu werden!« 

»Einverstanden oh, einverstanden!«  rief Lord Jagged. Und 

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sein Lächeln war seltsam. 

»Sie wird mich die Sitten ihres Volkes lehren. Sie wird mich 

für das Hauptritual vorbereiten, das die Bezeichnung ›Heirat‹ 
trägt. Zweifellos wird sie dann ihre eigene Liebe gestehen, und 
die Sache kann ernsthaft beginnen.« 

»Und wie lange wird das alles dauern?« 
»Oh, zumindest ein oder zwei Tage«, erklärte Jherek ernst. 

»Vielleicht eine Woche.« Etwas anderes kam ihm in den Sinn. 
»Und wie hat Lady Charlotina mein, äh, Verbrechen  aufge-
nommen?« 

»Außerordentlich gut.« Lord Jagged durchmaß den Raum 

und ließ kleine Wolken aus blauem Nebel hinter sich zurück. 
»Sie hat dir laß mich nachdenken ewige Rache geschworen. Sie 
ist sogar jetzt noch dabei, sich die exquisiteste Form der Rache 
auszudenken. Die Möglichkeiten! Du hättest dabeisein sollen. 
Einiges davon würdest du niemals glauben.  Die Vergeltung, 
mein geliebter Jherek, wird dich im bestmöglichen dramati-
schen Moment  treffen, laß dir das gesagt sein. Und sie wird 
grausam sein! Und vernichtend. Und geistreich!« 

Jherek hörte kaum zu. »Sie ist sehr einfallsreich«, bemerkte er. 
»Überaus.« 
»Aber im Moment führt sie nichts im Schilde?« 
»Ich glaube nicht.« 
»Gut. Mir ist es lieber, wenn ich genug Zeit habe, um das Ritu-

al zwischen mir und Mrs. Amelia Underwood zu vollziehen, 
bevor ich mich um Lady Charlotinas Rache kümmern muß.« 

»Ich verstehe.« Lord Jagged hob seinen hübschen Kopf und 

sah durch die Wand. »Du vernachlässigst die Kulisse ein we-
nig, meinst du nicht auch? Deine Büffelherden haben sich schon 
eine ganze Weile nicht von der Stelle gerührt. Und deine Papa-
geien scheinen ausnahmslos verschwunden zu sein. Anderer-
seits glaube ich schon, daß das zu jemandem paßt, der eine 
Besessenheit pflegt.« 

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»Auf jeden Fall muß ich diesen Sonnenuntergang löschen.« 

Jherek entfernte den Sonnenuntergang. Die Landschaft wurde 
plötzlich von gewöhnlichem Sonnenlicht überflutet, das von 
der Sonne stammte. Es wirkte nicht sehr harmonisch, aber das 
spielte keine Rolle. »All diese Nebensächlichkeiten, fürchte ich, 
werden allmählich ermüdend.« 

»Und warum auch nicht? Und wer ist das dort, der dich be-

suchen kommt?« 

Ein plumper, schwerer Ornithopter schoß rauschend über 

den Himmel und sank mit ungleichmäßigen Schlägen der 
weitgespannten Metallflügel dem Erdboden entgegen. Er ging 
dicht neben Jhereks Lokomotive im Korral nieder. Eine kleine 
Gestalt kletterte aus der Maschine. 

»Oh!« rief Lord Jagged von Kanarien. »Es ist Brannart 

Morphail persönlich. Vielleicht im Auftrag von Lady Charloti-
na? Der Eröffnungszug?« 

»Ich hoffe nicht.« 
Jherek verfolgte, wie der bucklige Wissenschaftler langsam 

die Verandatreppe hinaufhumpelte. Wenn er kein Fahrzeug 
benutzte, bestand Brannart Morphail darauf, überall zu hum-
peln. Eine weitere seiner zahlreichen Grillen. Er trat durch die 
Tür und begrüßte die beiden Freunde. 

»Guten Morgen, Brannart«, sagte Lord Jagged, machte einen 

Schritt nach vorn und klopfte dem Wissenschaftler auf den 
Bukkel. »Was treibt dich aus deinen Laboratorien heraus?« 

»Ich hoffe, Jherek, du erinnerst dich«, erklärte der Chronolo-

ge, »daß du mir erlaubt hast, heute diese Zeitmaschine zu be-
sichtigen. Diese neue.« 

Jherek hatte seine kurze und verlogene Unterhaltung mit 

Brannart am Abend zuvor völlig vergessen. 

»Die Zeitmaschine?« echote er und versuchte sich an das zu 

erinnern, was er gesagt hatte. »Oh, ja.« Er entschloß sich, reinen 
Tisch zu machen. »Ich bedaure, dir sagen zu müssen, daß es 

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ein Scherz war, mein lieber Morphail. Ein Scherz auf Kosten 
von Lady Charlotina. Hast du nicht davon gehört?« 

»Nein. Sie machte bei ihrer Rückkehr einen nachdenklichen 

Eindruck, aber ich bin kurz darauf gegangen, weil sie mich 
nicht mehr beachtet hat. Wie schade.« Brannart fuhr mit den 
Fingern durch sein strähniges, farbenprächtiges Bartund 
Haupthaar, aber er schien die Neuigkeit philosophisch aufzu-
nehmen. »Ich hatte gehofft…« 

»Natürlich hattest du das, mein knuspriger Schatz«, warf 

Lord Jagged taktvoll ein. »Natürlich, natürlich, mein verdreh-
tes, gebrochenes Herz. Aber Jherek hat  eine Zeitreisende 
hier.« 

»Den Piltdown-Menschen?« 
»Nicht direkt. Ein Exemplar aus einem etwas späteren Zeit-

alter. Aus dem 19. Jahrhundert, nicht wahr, Jherek?« sagte 
Lord Jagged. »Eine Lady.« 

»Aus dem England des 19. Jahrhunderts«, fügte Jherek ein 

wenig pedantisch hinzu, weil er stolz auf seine Kenntnisse über 
diese Epoche war. 

Aber Brannart war enttäuscht. »Kam mit einer konventionel-

len Maschine an, eh? Oder nicht? 19.-20.-21. Jahrhundert oder 
so. Der Typ mit den großen Zahnrädern, nicht wahr?« 

»Ich denke schon.« Jherek hatte nicht daran gedacht, sie da-

nach zu fragen. »Ich habe die Maschine nicht gesehen. Hast 
du sie gesehen, Lord Jagged?« 

Lord Jagged zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. 
»Wann ist sie angekommen?« fragte der alte Morphail. 
»Vor zwei oder drei Tagen.« 
»Nach meinen Unterlagen ist zu dieser Zeit keine Zeitmaschi-

ne eingetroffen«, widersprach Morphail entschieden. »Keine 
einzige. Seit mehr als zwanzig Tagen hat sich keine mehr blik-
ken lassen. Und selbst die paar letzten sind kaum lange genug 
geblieben, um von meinen Chronographen registriert zu wer-

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den. Du mußt deine Zeitreisende fragen, Jherek, welchen Ma-
schinentyp sie benutzt hat. Es könnte wichtig sein. Vielleicht 
kannst du mir damit doch noch weiterhelfen! Ein neuer Ma-
schinentyp. Möglicherweise nicht einmal eine Maschine. Ein 
Rätsel, eh?« Seine Augen funkelten. 

»Wenn ich dir helfen kann, wird es mir eine Freude sein. Ich 

habe das Gefühl, dich umsonst hierhergelockt zu haben, Bran-
nart«, entschuldigte sich Jherek bei dem Wissenschaftler. »Ich 
werde mich so bald wie möglich darum kümmern.« 

»Du bist sehr liebenswürdig, Jherek.« Brannart Morphail 

schwieg einen Moment. »Nun, ich nehme an…« 

»Möchtest du zum Mittagessen bleiben?« 
»Ah. Offen gesagt, ich esse nicht zu Mittag. Und meine Expe-

rimente warten auf mich. Warten und warten.« Er winkte mit 
seiner mageren Hand. »Für heute lebt wohl, meine Freunde.« 

Sie begleiteten ihn zurück zum Ornithopter. Nach einigen 

Fehlstarts schraubte er sich hinauf in den Himmel. Jherek wink-
te ihm nach, aber Lord Jagged sah zurück zum Haus und run-
zelte die Stirn. »Ein Rätsel, eh?« sagte Jagged. 

»Ein Rätsel?« Jherek drehte sich herum. 
»Auch 
ein Rätsel«, erklärte Lord Jagged. Er zwinkerte Jherek 

zu. 

Müde zwinkerte Jherek zurück. 
 

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9. Kapitel 

 

EIN HAUCH VON IDYLLE EIN HAUCH VON TRAGÖDIE 

 

Die Tage vergingen. 

Lady Charlotina nahm keine Rache. 
Lord Jagged von Kanarien war in eigenen Angelegenheiten 

unterwegs und stattete Jherek keine Besuche mehr ab. 

Mongrove und Yusharisp wurden die denkbar besten Freun-

de, und Mongrove war entschlossen, Yusharisp (der kein Inge-
nieur war) beim Bau eines neuen Raumschiffes zu helfen. 

Die Eiserne Orchidee ging eine Liaison mit Werther de Goethe 

ein und trug nur noch Schwarz. Sogar ihr Blut ließ sie einen 
pechschwarzen Farbton annehmen. Sie schliefen zusammen in 
einem großen schwarzen Sarg, der in einem riesigen Grabmal 
aus schwarzem Moor und Ebenholz stand. 

Es war, wie es schien, eine Zeit der Melancholie, der Tragödie, 

der Verzweiflung. Denn jeder hatte inzwischen von Jhereks Ver-
liebtheit gehört, von seiner hoffnungslosen Leidenschaft für 
Mrs. Amelia Underwood, von seinen Qualen. Er hatte eine neue 
Mode ins Leben gerufen, in die sich die Welt mit einer Begeiste-
rung stürzte, die sogar die Begeisterung für das Flaggen über-
traf. 

Ironischerweise blieben nur Jherek Carnelian und Mrs. Amelia 

Underwood von dieser Mode weitgehend unberührt. Sie ver-
brachten eine ausnehmend gute Zeit miteinander, nachdem 
Jherek erkannte, daß er seine Liebe so bald nicht vollziehen 
konnte, und nachdem Mrs. Underwood begriff, daß er, nach 
ihren Worten, »mehr ein irregeleiteter Nabob denn ein be-
wußt böser Cäsar« war. Er wußte zwar nicht genau, was sie 
damit meinte, aber er gab sich damit zufrieden, da es bedeute-
te, daß sie willens war, den Großteil ihrer wachen Stunden 
mit ihm zu verbringen. 

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Sie erforschten die Welt mit seiner Lokomotive. Sie unter-

nahmen Spazierfahrten in einer Pferdekutsche. Sie befuhren 
mit einem Stechkahn einen von Jherek erschaffenen Fluß. Sie 
lehrte ihn die Kunst des Fahrradfahrens. Sie radelten durch 
liebliche Laubwälder, die er nach ihren Anweisungen errichte-
te, führten im Gepäck Picknickpakete, eine Thermosflasche 
Tee und gelegentlich eine Flasche weißen Rheinwein mit sich. 
Sie wurde (im großen und ganzen) zugänglicher und zeigte 
sich bereit, von Zeit zu Zeit ein anderes Kleid anzuziehen 
(auch wenn sie der Mode ihrer Zeit treu blieb). Er erschuf für 
sie nach einigen mißlungenen Versuchen und eigentümlichen 
Änderungen ein Klavier, und sie trug ihm Chorale und 
manchmal auch patriotische Lieder vor wie Drakes Trommeln 
oder England wird ewig bestehen. Zu ganz seltenen Gelegenheiten 
sang sie auch sentimentale Lieder wie Komm in den Garten, 
Maud 
oder Wenn diese Lippen doch nur sprechen könnten. Zeitwei-
lig nahm er ein Banjo zur Hand, um sie zu begleiten, aber ihr 
schien das Instrument nicht zu gefallen, und so gab er es wieder 
auf. 

Mit einem Sonnenschirm über der Schulter, einem breitran-

digen Gainsborough auf den kastanienbraunen Locken und in 
einem leichten Sommerkleid aus weißer Baumwolle, besetzt 
mit grüner Spitze, stieg sie an seiner Seite mit dem Stechkahn 
hinauf in die Luft, und sie flogen über die Welt hinweg, be-
sichtigten Mongroves Berge oder die Thermalquellen des 
Herzogs von Queens, Werther de Goethes düsteres schwarzes 
Grabmal, Mrs. Christias duftenden Ozean. Im großen und 
ganzen vermieden sie es aber, den Billy-the-Kid-See und das 
Territorium Lady Charlotinas zu besuchen. Es hatte keinen 
Sinn, erklärte Mrs. Amelia Underwood, das Schicksal heraus-
zufordern. 

Sie beschrieb ihm das englische Seengebiet, er baute Berge 

und Gewässer nach ihren Instruktionen, aber sie war mit dem 

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Ergebnis nie richtig zufrieden. 

»Sie neigen dazu, die Dinge zu übertreiben, Mr. Carnelian«, 

erklärte sie angesichts der Kopie des Thirlmere-Sees, der sich 
fast hundert Kilometer weit in alle Richtungen erstreckte. 
»Obwohl Sie die einzigartigen Lichtverhältnisse richtig getrof-
fen haben«, fügte sie tröstend hinzu. Sie seufzte. »Nein. So geht 
es nicht. Es tut mir leid.« 

Und er zerstörte ihn. 
Dies war jedenfalls eine ihrer wenigen Enttäuschungen, ob-

wohl sie sich noch immer abmühte, ihm die Bedeutung der 
Tugend beizubringen. Sie hatte inzwischen auf die anfänglichen 
direkten Erklärungen verzichtet und hoffte, daß er durch ihr 
Beispiel und die Gespräche lernen würde, die sie über ver-
schiedene Aspekte ihrer eigenen Welt führten. 

Einmal, in Erinnerung an Brannart Morphails Bitte, fragte er 

sie, wie sie in seine Welt gekommen war. 

»Ich bin entführt worden«, antwortete sie schlicht. 
»Entführt? Von einem vorbeikommenden Zeitreisenden, der 

sich in Sie verliebt hat?« 

»Ich habe nie seine Gefühle mir gegenüber ergründen kön-

nen. Eines Nachts, während ich in meinem Bett schlief, tauchte 
diese kuttenverhüllte Gestalt in meinem Zimmer auf. Ich 
wollte schreien, aber meine Stimmbänder waren wie gelähmt. 
Er befahl mir, mich anzukleiden. Ich weigerte mich. Er befahl es 
mir erneut und beharrte darauf, daß ich Kleidung tragen soll-
te, die »für meine Epoche typisch« ist. Ich weigerte mich, und 
plötzlich war ich angezogen und aufgestanden. Er packte mich. 
Ich wurde ohnmächtig. Die Welt drehte sich, und dann befand 
ich mich in Ihrer Welt, irrte umher und versuchte, irgendeine 
Behörde zu finden, vorzugsweise den britischen Konsul. Jetzt 
ist mir natürlich klar, daß es hier keinen britischen Konsul gibt. 
Verständlicherweise zweifle ich aus diesem Grund daran, je-
mals in die Collins Avenue 23 in Bromley zurückzukehren.« 

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»Es klingt sehr romantisch«, bemerkte Jherek. »Ich kann ver-

stehen, warum Sie Ihren Weggang bedauern.« 

»Romantisch? Bromley? Nun…« Sie ließ das Thema fallen. 

Mit geradem Rücken und zusammengepreßten Knien saß sie 
auf dem Sitz aus Plüsch und Hermelin in seiner Lokomotive 
und betrachtete die Landschaft, die unter ihnen hinweghusch-
te. »Jedenfalls würde ich sehr gern zurückkehren, Mr. Carne-
lian.« 

»Ich fürchte, das ist nicht möglich«, sagte er. 
»Aus technischen Gründen?« Sie hatte dieses Thema bisher 

noch nie weiterverfolgt. Immer war es ihm gelungen, ihr den 
Eindruck zu vermitteln, daß es nicht nur sehr schwierig, son-
dern vielmehr völlig unmöglich war, sich rückwärts durch die 
Zeit zu bewegen. 

»Ja«, bestätigte er. »Aus technischen Gründen.« 
»Könnten wir nicht diesen Wissenschaftler konsultieren, den 

Sie erwähnt haben? Brannart Morphail? Und ihn fragen?« 

Er wollte sie nicht verlieren. Seine Liebe zu ihr hatte sich zu 

einer tiefen Liebe entwickelt (oder zumindest glaubte er das, da 
er sich nicht ganz sicher war, was »tiefe Liebe« war). Er schüt-
telte heftig den Kopf. Außerdem gab es Anzeichen dafür, daß 
sie sich für ihn zu erwärmen begann. Vielleicht würde es nicht 
mehr lange dauern, bis sie sich bereit erklärte, seine Geliebte 
zu werden. Er wollte sie nicht ablenken. 

»Unmöglich«, erklärte er. »Vor allem, da Sie, wie es scheint, 

keine Zeitmaschine benutzt haben. Ich habe noch nie von ei-
nem ähnlichen Ereignis gehört. Ich dachte immer, eine Maschi-
ne wäre unverzichtbar. Wer, glauben Sie, hat Sie entführt? 
Gewiß niemand aus meiner Zeit?« 

»Er trug eine Kapuze.« 
»Ja.« 
»Sein ganzer Körper wurde durch seine Kutte verhüllt. Es ist 

sogar möglich, daß es nicht einmal ein Mann war. Es könnte 

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auch eine Frau gewesen sein. Oder eine Kreatur von irgendei-
nem anderen Planeten, wie sie sich in Ihren Menagerien be-
finden.« 

»Es ist wirklich eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Viel-

leicht«, sagte Jherek nachdenklich, »war es ein Schicksalsbote 
der die Jahrhunderte überbrückt hat, um die Unsterblichen 
Liebenden wieder zusammenzuführen.« Er beugte sich vor 
und nahm ihre Hand. »Und hier endlich…« 

Sie zog die Hand zurück. 
»Mr. Carnelian! Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, 

mit diesem Unsinn aufzuhören!« 

Er seufzte. »Ich kann meine Gefühle vor Ihnen verbergen, 

Mrs. Amelia Underwood, aber ich kann sie nicht ständig aus 
meinem Herzen verbannen. Tag und Nacht suchen sie mich 
heim.« 

Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Ich bin sicher, daß 

es sich dabei nur um eine Schwärmerei handelt. Ich muß ge-
stehen, daß ich Sie sehr anziehend finden würde natürlich 
auf recht unkonventionelle Weise –, wäre ich nicht bereits mit 
Mr. Underwood verheiratet.« 

»Aber Mr. Underwood ist Jahrmillionen von uns entfernt!« 
»Das macht keinen Unterschied.« 
»Aber gewiß. Er ist tot. Sie sind eine Witwe!« Er hatte seine 

Zeit nicht vergeudet. Er hatte sie intensiv über diese Dinge aus-
gefragt. »Und eine Witwe kann wieder heiraten«, fügte er li-
stig hinzu. 

»Ich bin nur technisch gesehen eine Witwe, Mr. Carnelian, 

wie Sie sehr wohl wissen.« Grimmig sah sie zu ihm auf, als er 
bedrückt auf dem Führerstand hin und her ging. Einmal wäre 
er fast aus der Lokomotive gestürzt, so groß war seine Erregung. 
»Es ist meine Pflicht, immer an die Möglichkeit zu denken, daß 
ich auf irgendeine Art und Weise in meine eigene Zeit zurück-
kehren kann.« 

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»Der Morphail-Effekt«, rief er. »Sie können nicht in der Ver-

gangenheit bleiben, sobald Sie einmal die Zukunft besucht haben. 
Nun, nicht oft. Und nicht lange. Ich weiß nicht, warum. 
Morphail weiß es ebenfalls nicht. Gewöhnen Sie sich an den Ge-
danken, daß Sie die Ewigkeit (sofern es sie gibt) hier verbringen 
müssen. Verbringen Sie sie mit mir!« 

»Mr. Carnelian! Genug davon!« 
Er schlurfte zur anderen Seite des Führerstandes. 
»Ich bin bereit, Ihnen Gesellschaft zu leisten und meine Zeit 

mit Ihnen zu verbringen, weil ich es für meine Pflicht halte, Ih-
nen zumindest ansatzweise eine moralische Erziehung ange-
deihen zu lassen. Ich werde mit diesen Bemühungen fortfah-
ren. Dennoch, wenn ich nach einer Weile den Eindruck habe, 
daß für Sie keine Hoffnung besteht, werde ich es aufgeben. 
Dann werde ich mich weigern, Sie zu sehen, ganz gleich, aus 
welchem Grund, ganz gleich, ob ich nun Ihre Gefangene bin 
oder nicht!« 

Er seufzte. »Nun gut, Mrs. Amelia Underwood. Aber vor ei-

nigen Monaten haben Sie versprochen, mir zu erklären, was Tu-
gend ist und wie ich sie mir aneignen kann. Und Sie haben es 
noch immer nicht getan.« 

»Nil desperandum«, entgegnete sie. Unmerklich straffte sie 

sich. »Nun…« 

Und sie erzählte ihm die Geschichte von Sir Parsifal, während 

die Lokomotive aus Gold, Ebenholz und Rubinen über den 
Himmel dampfte und prächtige Wolken aus blauem und sil-
bernem Rauch hinter sich herzog. 

Und so verging die Zeit, bis sich sowohl Mrs. Amelia Under-

wood als auch Jherek Carnelian völlig aneinander gewöhnt 
hatten. Es war fast so, als seien sie verheiratet (bis auf das eine 
und das schien nicht mehr so wichtig wie einst zu sein, denn 
Jherek war wie all seine Zeitgenossen äußerst anpassungsfä-
hig), und das auf der Grundlage freundschaftlicher Gleichheit. 

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Selbst Mrs. Amelia Underwood mußte zugeben, daß die Situa-
tion ihr einige Vorteile brachte. 

Sie trug kaum Verantwortung (abgesehen von ihrer selbstauf-

erlegten Verantwortung für Jhereks moralische Besserung) 
und  hatte keine Haushaltspflichten. Sie brauchte ihre Zunge 
nicht im Zaum zu halten, wenn ihr eine geistreiche Bemerkung 
in den Sinn kam. Mit Sicherheit verlangte Jherek nicht die 
Aufmerksamkeit und den Respekt wie Mr. Underwood damals 
in Bromley. Und in diesem abscheulichen und dekadenten 
Zeitalter gab es Momente in Mrs. Underwoods Leben, in de-
nen sie zum erstenmal spürte, was Freiheit bedeuten konnte. 
Freiheit von Furcht, von Sorge, von den grimmigeren Gefüh-
len. Und Jherek war liebenswürdig. An seiner überwältigenden 
Bereitschaft, ihr zu gefallen, an seiner echten Bewunderung für 
ihren Charakter und ihre Schönheit bestand kein Zweifel. 
Manchmal wünschte sie sich, daß die Lage anders und sie wirk-
lich Witwe wäre. Oder zumindest ledig. Oder ledig und in ih-
rer eigenen Zeit, wo sie und Jherek in einer anständigen Kirche 
vor einem anständigen Priester hätten heiraten können. Wenn 
sich diese Gedanken in ihr Bewußtsein schlichen, verdrängte 
sie sie so rasch wie möglich. 

Es war ihre Pflicht, nicht zu vergessen, daß sich ihr vielleicht 

eines Tages die Gelegenheit bieten würde, zur Collins Avenue 
23 in Bromley zurückzukehren, und zwar vorzugsweise im 
Frühjahr 1896. Vorzugsweise in der Nacht des 4. April um drei 
Uhr morgens (in etwa zu dem Zeitpunkt) zu dem sie entführt 
worden war), damit sich niemand fragte, was wohl geschehen 
sei. Sie war klug genug zu wissen, daß niemand die Wahrheit 
glauben und die Vermutungen weitaus profaner und peinli-
cher sein würden als die Wirklichkeit. Dieser Aspekt ihrer 
Rückkehr war in der Tat nicht sonderlich verlockend. 

Dennoch, Pflicht war nun einmal Pflicht. 
Es fiel ihr in diesem diesem verkommenen Paradies oft 

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schwer, sich in Erinnerung zu rufen, was Pflichtbewußtsein 
bedeutete. Es war wahrhaftig schwer, an all den moralischen 
Idealen festzuhalten, wo es hier doch so wenig Hinweise auf 
Satans Wirken gab keine Kriege, keine Krankheiten, keine 
Traurigkeit (es sei denn, sie war erwünscht), nicht einmal den 
Tod gab es hier. Nichtsdestotrotz mußte sich Satan offenbaren. 
Und natürlich tat er das auch, wie sie sich entsann, und zwar 
im sexuellen Verhalten dieser Menschen. Aber aus irgendeinem 
Grund schockierte es sie nicht mehr so wie am Anfang, obwohl 
es ein Beweis für die gräßlichste Dekadenz war.  Dennoch, in 
Wirklichkeit waren sie nicht schlimmer als jene unschuldigen 
Menschenkinder, die Eingeborenen der Pawtow-Insel in der 
Südsee, wo sie nach dem Tod ihrer Mutter zwei Jahre als Assi-
stentin ihres Vaters verbracht hatte. Sie hatten ebenfalls keine 
Vorstellung von der Sünde gehabt. 

Mrs. Amelia Underwood war eine intelligente, wenngleich 

den  Konventionen verhaftete Frau, und manchmal fragte sie 
sich für kurze Augenblicke, ob sie das Richtige tat, indem sie 
Jherek Carnelian die Bedeutung der Tugend lehrte. 

Nicht, daß er besonderen Eifer während des Unterrichts an 

den Tag legte, natürlich nicht. Gelegentlich war sie versucht, die 
ganze Angelegenheit fallenzulassen und sich (im vernünftigen 
Rahmen) zu vergnügen, wie sie es auch in einem Urlaub getan 
hätte. Vielleicht stellte dieses Zeitalter genau das dar ein Ur-
laub für die menschliche Rasse nach Jahrtausenden des Kamp-
fes? Es war ein angenehmer Gedanke. Und Mr. Carnelian hatte 
in einem recht gehabt all ihre Freunde, ihre Verwandten und, 
natürlich, Mr. Underwood, ihre ganze Gesellschaft, selbst das 
Britische Weltreich (so unglaublich das  auch klingen mochte!) 
waren nicht nur seit Millionen Jahren tot, zu Staub zerfallen, sie 
waren vergessen. Selbst Mr. Carnelian hatte das, was er von ihrer 
Welt wußte, mühevoll aus erhaltengebliebenen Aufzeichnun-
gen zusammengesetzt, aus Untersuchungen anderer, späterer 

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Epochen über das 19. Jahrhundert. Und Mr. Carnelian galt als 
der größte Fachmann des Planeten für das 19. Jahrhundert. 
Dies bedrückte sie. Es erfüllte sie mit Verzweiflung. Die Ver-
zweiflung machte sie trotzig. Der Trotz verführte sie dazu, ge-
wisse Wertvorstellungen aufzugeben, die ihr einst als unwan-
delbarer und fester Bestandteil ihres Charakters erschienen 
waren. Glücklicherweise wurde sie meist des Nachts von diesen 
Gefühlen überwältigt, wenn sie in ihrem eigenen Bett lag und 
Mr. Carnelian nicht anwesend war. 

Und manchmal, wenn sie versucht war, den sicheren Hort ih-

res Bettes zu verlassen, sang sie eine Hymne, bis sie wieder ein-
schlief. 

Jherek Carnelian hörte Mrs. Amelia Underwood in der Nacht 

oft singen (er hatte die gleiche Zeiteinteilung wie das Objekt 
seiner Liebe übernommen) und wachte stets beunruhigt auf. Die 
Unruhe verwandelte sich in Verwunderung. Er hätte gern ge-
glaubt, daß Mrs. Underwood nach ihm rief; vielleicht handelte 
es sich dabei um ein antikes Liebeslied wie das der Werkssire-
ne, die einst die Menschen verzaubert und in die Sklaverei der 
Plastikbergwerke gelockt hatte. Leider waren ihm die Melodien 
und Texte mehr als vertraut, und er sah in ihnen den denkbar 
größten Gegensatz zur sexuellen Lust. Er seufzte und versuchte 
ohne viel Erfolg, wieder einzuschlafen, während sie mit ihrer 
hohen, süßen Stimme immer und immer wieder sang: »Alles 
ist so hell und schön…« 

Nach und nach begann sich das Aussehen von Jhereks 

Ranch zu verändern, als Mrs. Underwood hier einen Vorschlag 
machte und dort eine Alternative anbot. Langsam verwandel-
te sich das  Haus, bis es, wie sie ihm versicherte, beinahe so 
aussah, wie das Haus einer anständigen viktorianischen Fami-
lie aussehen sollte. Für Jhereks Geschmack waren die Zimmer 
eher zu klein und überladen. Er fühlte sich unbehaglich in ih-
nen. Er fand die Nahrung, aus der auf ihr Drängen hin ihre 

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gemeinsamen Mahlzeiten bestanden, für zu schwer und ir-
gendwie zu eintönig. Die kleinen gotischen Türme, die hölzer-
nen Balkone, die gemeißelten Giebel, die roten Ziegel beleidig-
ten sein ästhetisches Empfinden sogar noch mehr als die 
grandiosen Schöpfungen des Herzogs von Queens. Eines Ta-
ges, als sie ein Mittagsmahl aus kaltem Roastbeef, Kopfsalat, 
Gurken, Brunnenkresse und gekochten Kartoffeln einnahmen, 
legte er das unhandliche Besteck zur Seite, mit dem er auf ihre 
Bitte hin seit längerem aß, und sagte: »Mrs. Amelia Under-
wood, ich liebe Sie. Sie wissen, daß ich alles für Sie tun würde.« 

»Mr. Carnelian, wir waren uns einig darüber…« 
Er hob die Hand. »Aber ich muß Ihnen sagen, daß die Deko-

ration, die ich auf Ihre Bitte hin erschaffen habe, ein klein we-
nig langweilig geworden ist, um es vorsichtig auszudrücken. 
Haben Sie nicht auch Lust auf eine Veränderung?« 

»Eine Veränderung? Aber, Sir, dies ist doch ein richtiges 

Haus. Sie haben mir selbst gesagt, daß ich so leben soll, wie ich 
immer gelebt habe. Jetzt sieht es hier beinahe aus wie bei mir 
zu Hause in Bromley. Alles ist etwas größer und vielleicht ein 
wenig besser eingerichtet aber ich konnte einfach nicht wider-
stehen. Ich habe keinen Grund gesehen, nicht die Gelegenheit 
zu ergreifen, mir ein oder zwei von den Dingen zu gönnen, die 
ich in meinem meinem vergangenen Leben nicht hatte.« 

Mit einem tiefen Seufzer betrachtete er den Kamin mit dem 

Sims voller kleiner Porzellanfiguren, die lächerlich kleinen 
Aspidistren und Topfpalmen, die kleinen Wohnzimmertische, 
die Anrichte, die dicken Teppiche, die düstere Tapete, die 
Glühstrümpfe, die häßlichen Vorhänge (vor den Fenstern), die 
Bilder und die gerahmten Erbauungssprüche in der Schrift von 
Mrs. Underwoods Volk wie TUGEND IST SCHON LOHN 
AN SICH oder WAS SAGEN DIESE STEINE? 

»Ein wenig Farbe«, sagte er. »Ein wenig Licht. Ein wenig 

Raum.« 

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»Das Haus ist sehr gemütlich«, beharrte sie. 
»Aha.« Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Tier-

fleisch und dem ungewürzten Gemüse zu (das, so fürchtete er, 
an Mongroves Tafel erinnerte). 

»Sie haben gesagt, daß Sie von alldem entzückt seien«, sagte 

sie  ruhig. Sie war von seiner gedrückten Stimmung irritiert. 
Ihre Stimme klang mitfühlend. 

»Und das war ich auch«, murmelte er. 
»Aber?« 
»Es ist nun schon sehr lange so, wissen Sie«, sagte er. »Ich 

dachte, dies sei lediglich eine der Umgebungen, die Sie sich aus-
suchen würden.« 

»Oh.« Sie runzelte die Stirn. »Hm«, machte sie. »Nun, wir 

glaubten an die Beständigkeit, Mr. Carnelian, verstehen Sie? 
An die Stetigkeit. An solide, dauerhafte Dinge.« Entschuldi-
gend fügte sie hinzu: »Wir waren der Überzeugung, unsere 
Lebensweise würde so gut wie unverändert auf ewig bestehen 
bleiben. Verbessert, natürlich, aber ohne große Veränderungen. 
Wir stellten uns eine Zeit vor, in der alle Menschen wie wir le-
ben würden. Wir glaubten, jeder würde wie wir leben wollen, 
wissen Sie?« Sie senkte Gabel und Messer. Sie streckte die 
Hand aus und berührte seine Schulter. »Vielleicht haben wir 
uns geirrt. Offenbar  haben wir uns geirrt. Das kann ich natür-
lich nicht abstreiten. Aber ich dachte, Sie hätten ein hübsches 
Haus haben wollen, das Ihnen helfen würde…« Sie zog die 
Hand von seiner Schulter und lehnte sich in ihrem Mahagoni-
stuhl zurück. »Ich fühle mich jetzt sogar ein wenig schuldig, wie 
ich gestehen muß. Ich habe nicht bedacht, daß dies alles hier 
Sie vielleicht gar nicht erfreuen könnte…« Sie machte eine 
ausholende Handbewegung, die das Zimmer und die Einrich-
tung einschloß. »Ach je.« 

Er nahm sich zusammen. Er lächelte. Er erhob sich. »Nein, 

nein. Wenn dies hier das ist, was Sie sich wünschen, wünsche 

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ich  es mir natürlich auch. Es wird eine Weile dauern, bis ich 
mich daran gewöhnt habe, aber…« Ihm fehlten die Worte. 

»Sie sind unglücklich, Mr. Carnelian«, sagte sie sanft. »Ich 

glaube nicht, daß ich Sie je zuvor unglücklich erlebt habe.« 

»Ich bin noch nie zuvor unglücklich gewesen«, sagte er. »Es ist 

eine Erfahrung, die zu genießen ich erst noch lernen muß, so 
wie Mongrove seinen Kummer genießt. Obwohl Mongroves 
Kummer mehr Stil zu besitzen scheint als meiner. Nun, ich habe 
es mir schließlich gewünscht. Zweifellos gehört das alles zur 
Liebe und vielleicht auch zur Tugend.« 

»Wenn Sie mich zurück zu Mr. Mongrove schicken wol-

len…«, begann sie selbstlos. 

»Nein! Oh, nein! Dafür liebe ich Sie zu sehr.« 
Diesmal machte sie keinen verbalen Einwand gegen sein Ge-

ständnis. 

»Nun«, sagte sie bestimmt, »wir müssen etwas unterneh-

men, um Sie aufzuheitern. Kommen Sie…« Sie streckte eine 
Hand aus. Jherek ergriff sie. Ein Schaudern durchlief ihn. Er 
war verwirrt. 

Sie führte ihn in den Salon, wo das Klavier stand. »Wie wäre 

es mit einem lustigen Lied?« schlug sie vor. »Zum Beispiel ›Alles 
ist so hell und schön‹?« Sie strich ihr Kleid glatt, bevor sie sich 
auf den Schemel setzte. »Beherrschen Sie inzwischen den 
Text?« 

Er konnte sich an den Text nicht mehr erinnern. Er hatte ihn 

schon oft gehört, sowohl des Nachts als auch am Tag. Stumm 
nickte er. 

Sie schlug ein paar einleitende Akkorde auf dem Klavier an 

und begann zu singen. Er versuchte mit einzustimmen, aber 
der Text wollte ihm einfach nicht über die Lippen. Seine Kehle 
fühlte sich trocken und zugeschnürt an. Verblüfft griff er sich 
an den Hals. Ihre Stimme erstarb. Sie hörte auf zu spielen, dreh-
te sich auf dem Schemel und schaute zu ihm auf. »Wie wäre es 

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mit einem Spaziergang?« fragte sie. 

Er räusperte sich. Er versuchte zu lächeln. »Ein Spazier-

gang?« 

»Ein ordentlicher Spaziergang, Mr. Carnelian, zeigt oftmals 

heilsame Wirkung.« 

»In Ordnung.« 
»Ich hole nur noch meinen Hut.« 
Kurze Zeit später trafen sie sich draußen vor dem Haus. 

Auch das Grundstück war jetzt nicht mehr sehr groß. Die 
Prärie, die Büffel, die Kavalleristen und Papageien waren 
durch Sträucher, Steingärten und hübsche, teils dekorativ zu-
rechtgestutzte Ligusterhecken ersetzt worden. Die meiste Far-
be spendete der Rosengarten mit seinen verschiedenen Gat-
tungen, zu der auch jene gehörte, die er eigens für sie gezüchtet 
und mit ihrer Erlaubnis Mrs. Amelia Underwood genannt hat-
te eine Rosensorte von blaugrüner Schattierung. 

Sie schloß die Haustür und hakte sich bei ihm ein. »Wohin 

sollen wir gehen?« fragte sie. 

Erneut durchlief ihn der Schauder, und der Schauder ver-

wandelte sich verwirrenderweise in ein Gefühl tiefsten 
Kummers. 

»Ganz wie es Ihnen beliebt«, sagte er. 
Sie folgten dem mosaikgepflasterten Weg bis zum Gartentor, 

gingen hinaus und dann die kleine weiße Straße entlang, die 
von einer Anzahl Gaslaternen gesäumt wurde. Die Straße 
führte zwischen zwei niedrigen, grünen Hügeln hindurch. 
»Nehmen wir diesen Weg«, sagte sie. 

Er konnte sie riechen. Sie war warm. Bedrückt betrachtete er 

ihr liebliches Gesicht, ihr leuchtendes Haar, ihr hübsches 
Sommerkleid, ihre adrette, wohlgeformte Figur. Mit einem un-
terdrückten Schluchzer wandte er sich ab. 

»Oh, kommen Sie, Mr. Carnelian. Sie werden sich bald besser 

fühlen, wenn Sie erst diese gute, frische Luft geatmet haben.« 

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Teilnahmslos ließ er sich von ihr den Hügel hinaufführen, bis 

sie eine Allee aus hohen Zypressen am Rand einer Weide er-
reichten, auf der Kühe und Schafe grasten, von mechanischen 
Kuhhirten und Schäfern gehütet, die man selbst aus der Nähe 
nicht von echten Menschen unterscheiden konnte. 

»Ich muß gestehen«, verriet sie ihm, »diese Landschaft ist ein 

ebensolches Kunstwerk wie jedes einzelne von Reynolds’ Ge-
mälden. Ich könnte fast glauben, ich wäre in meinem gelieb-
ten Kent.« 

Das Kompliment linderte seinen Kummer nicht. 
Sie folgten einer kleinen Bogenbrücke über einen rauschenden 

Bach. Sie betraten einen kühlen, grünen Wald aus Eichen und 
Ulmen. In den Ulmen nisteten sogar Krähen, und über die Äste 
der Eichen rannten rote Eichhörnchen. 

Aber Jhereks Füße wurden schwer. Sein Schritt wurde lang-

samer und langsamer, bis sie schließlich stehenblieb und ihm 
ins Gesicht sah. Ihr Antlitz war voller Zärtlichkeit. 

Und ohne ein Wort nahm er sie unbeholfen in die Arme. Sie 

wehrte sich nicht. Langsam begann der Kummer zu weichen, 
während sich ihre Gesichter einander näherten. Nach und 
nach wuchs sein Glück, und dann, genau in dem Moment, in 
dem sich ihre Lippen berührten, erfüllte ihn eine Ekstase, wie er 
sie nie zuvor erlebt hatte. 

»Mein Geliebter«, flüsterte Mrs. Amelia Underwood. Sie 

bebte, während sie ihren formvollendeten Leib an ihn preßte 
und ihre Arme um ihn legte. »Mein Einziger, mein geliebter 
Jherek…« 

Und dann verschwand sie. 
Sie war fort. Er war allein. 
Er schrie laut auf vor Schmerz. Er wirbelte herum, suchte 

überall nach einem Zeichen von ihr. »Mrs. Amelia Underwood! 
Mrs. Amelia Underwood!« 

Aber da war nur der Wald mit seinen Eichen und Ulmen, 

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seinen Felsen und Eichhörnchen. 

Er erhob sich in die Luft und raste mit wehenden Rockschö-

ßen und davonflatterndem Hut zurück zu dem kleinen Haus. 

Er rannte durch die überladenen Zimmer. Er rief nach ihr, 

aber sie antwortete nicht. Er wußte, daß sie nicht antworten 
würde. Alles, was er für sie erschaffen hatte die Tische, die So-
fas, die Sessel, die Betten, die Schränke, die Kinkerlitzchen –, 
alles schien ihn in seinem Kummer zu verhöhnen und seine 
Qualen zu vergrößern. Und schließlich brach er auf dem Ra-
sen des Rosengartens zusammen, und mit einer Rose von ein-
zigartiger blaugrüner Schattierung in der Hand weinte er, 
denn er wußte sehr wohl, was geschehen war. 

Lord Jagged? Wo steckte er? Lord Jagged hatte ihm gesagt, 

daß etwas Derartiges geschehen würde. 

Aber Jherek hatte sich verändert. Er war nicht mehr in der 

Lage, die großartige Ironie dieses Streiches zu bewundern. 
Denn jeder andere bis auf Jherek würde dies als Streich anse-
hen, und als einen gewitzten dazu. 

Lady Charlotina hatte ihre Rache genommen. 

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10. Kapitel 

 

DIE ERFÜLLUNG IHRES HERZENSWUNSCHES 

 

Zweifellos hatte Lady Charlotina Mrs. Amelia Underwood 
sehr sorgfältig versteckt. Als Jherek seine Fassung wieder ein 
wenig zurückgewonnen hatte, fing er an darüber nachzuden-
ken, wie er seine Geliebte befreien konnte. Es war sinnlos, 
Lady Charlotina aufzusuchen (was ihm als erstes in den Sinn 
kam) und schlichtweg ihre Herausgabe zu verlangen. Lady 
Charlotina würde ihn nur um so mehr auslachen. Nein, er 
mußte sich an Lord Jagged von Kanarien wenden und ihn um 
Rat fragen. Er wunderte sich jetzt darüber, warum Lord Jagged 
nicht mehr zu ihm gekommen war, nachdem er Mrs. Amelia 
Underwood bei sich aufgenommen hatte. Vielleicht war Jag-
ged aus einem etwas übertriebenen Taktgefühl ferngeblieben? 

Mit schwerem Herzen begab sich Jherek Carnelian in den 

Schuppen, in dem er auf Mrs. Underwoods Vorschlag hin sei-
ne Lokomotive untergebracht hatte. Die Tür des Anbaus muß-
te mit einem Schlüssel geöffnet werden, aber er konnte den 
Schlüssel nicht finden. Mrs. Underwood hatte ihn immer auf-
bewahrt. 

Es widerstrebte ihm, den Anbau zu desintegrieren (sie war 

sehr eigen gewesen, was die Beachtung gewisser Anstandsre-
geln ihres Zeitalters anbetraf, und es schien, als ob Dinge wie 
Schlüssel und Schlösser zu den wichtigsten gehörten), obwohl 
es ein furchtbar häßliches Gebäude war. Aber mit ihrem Ver-
schwinden war Jherek alles, was mit Mrs. Underwood zu-
sammenhing, heilig geworden. Wenn er sie niemals wiederfin-
den sollte, würde dieses kleine gotische Haus auf ewig an sei-
nem Platz stehenbleiben. 

Dennoch blieb ihm zum Schluß nichts anderes übrig, als die 

Tür zu desintegrieren, um die Lokomotive herauszuholen, und 

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sie danach neu zu erschaffen. Dann startete er. 

Auf seinem Flug zu Lord Jagged ging ihm ständig der Gedan-

ke durch den Kopf, daß Lady Charlotina nicht einmal ein be-
sonderes Unrecht darin sehen würde, Mrs. Amelia Underwood 
vollständig und unwiderruflich zu desintegrieren. Es war un-
wahrscheinlich, daß Lady Charlotina so weit gehen würde aber 
es war möglich. In diesem Falle wäre Mrs. Underwood für im-
mer verloren. Sie konnte nicht mehr wiederhergestellt werden, 
wenn jedes einzelne Atom ihres Körpers zertrümmert und über 
das Antlitz der Erde verstreut worden war. Jherek verdrängte 
diesen Gedanken, so gut es ging. Wenn er weiter darüber nach-
grübelte, fürchtete er, war es sehr gut möglich, daß er in eine 
depressive Trance verfiel, aus der er niemals wieder erwachen 
würde. 

Endlich erreichte die Lokomotive Lord Jaggeds Burg rundum 

in leuchtendem Gelb gehalten, in der Form eines dekorativen 
Vogelkäfigs und bescheidene dreiundzwanzig Meter hoch und 
begann zu kreisen, während Jherek seinem Freund eine Bot-
schaft übermittelte. 

»Lord Jagged? Kannst du einen Besucher empfangen? Ich bin 

es, Jherek Carnelian, und mein Anliegen ist von größter Wich-
tigkeit.« 

Er erhielt keine Antwort. Die Lokomotive kreiste tiefer. Im 

Vogelkäfig hingen zahlreiche »Gehäuse« in Antischwerkraftfel-
dern. Jedes Gehäuse wurde von Lord Jagged als Zimmer be-
nutzt. Vielleicht hielt er sich in irgendeinem davon auf. Aber 
gleichgültig, in welchem Raum er sich befand, er mußte Jhe-
reks Anruf hören. 

»Lord Jagged?« 
Zweifellos war Lord Jagged nicht zu Hause. Eine Aura der 

Verlassenheit lag über der Burg, als sei sie schon seit Monaten 
nicht mehr bewohnt. War dem Lord von Kanarien etwas zuge-
stoßen? 

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Hatte Lady Charlotina auch an ihm Rache genommen, weil 

er an dem Diebstahl des Fremden beteiligt gewesen war? 

Oh, dies war grausam! 
Jherek steuerte seine Lokomotive nach Norden, zu Werther 

de Goethes Grabmal, darauf vorbereitet, daß auch seine Mut-
ter, die Eiserne Orchidee, verschwunden war. 

Aber Werthers Grabmal eine riesige Statue seiner selbst, wie 

er im Tode gleichmütig dalag, überragt von einem giganti-
schen Engel des Todes, gesäumt von einer Anzahl kniender 
Klageweiber beherbergte noch immer das schwarze Paar. Ge-
nauer gesagt, befanden sie sich auf dem Dach neben den Füßen 
der liegenden Statue, ohne daß Jherek sie zunächst sah, denn 
sie und die Statue waren gleichermaßen schwarz. 

»Jherek, mein Kummer!« Seine Mutter machte einen fast an-

geregten Eindruck. Werther brütete lediglich im Hintergrund 
vor sich hin und nagte an seinen Fingernägeln, als die Loko-
motive auf der flachen Brüstung landete und der Umgebung 
einen frappanten Farbtupfer hinzufügte. »Jherek, welch 
schlimme Botschaften führen dich hierher?« Seine Mutter 
brachte ein schwarzes Taschentuch zum Vorschein und tupfte 
schwarze Tränen von ihren schwarzen Wangen. 

»Schlimme Botschaften, in der Tat«, entgegnete er. Er war 

gekränkt von dem Anblick, der ihm in diesem Moment wie eine 
Verhöhnung seiner echten Qual erschien. »Mrs. Amelia Un-
derwood ist entführt vielleicht sogar vernichtet worden, und 
Lady Charlotina ist mit größter Wahrscheinlichkeit die Täte-
rin.« 

»Ihre  Rache,  natürlich!« keuchte die Eiserne Orchidee mit 

aufgerissenen Augen, in denen eine Spur Entzücken glitzerte. 
»Oh! Oh! Weh! Gestürzt ist der große Jherek aus der Höh’! Das 
ist der Untergang des Hauses Carnelian! Oje! Oje!« Und im 
Plauderton fügte sie hinzu: »Wie findest du das?« 

»Dies ist eine ernste Angelegenheit, Mutter, die du mir das 

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kostbare Leben geschenkt hast…« 

»Nur damit du seine Qualen erleiden konntest! Ich weiß! Ich 

weiß! O je, der Preis!« 

»Mutter!« schrie Jherek. »Was soll ich tun?« 
»Was kannst du tun?« mischte sich Werther de Goethe ein. 

»Du bist verdammt, Jherek. Du bist verflucht! Das Schicksal hat 
dich auserwählt, so wie es mich auserwählt hat, um in Ewig-
keit Pein zu leiden.« Er stieß sein bitteres Gelächter aus. »Fin-
de dich mit dieser grausamen Wahrheit ab. Es gibt keine Erlö-
sung. Kein Entkommen. Man hat dir ein paar kurze Momente 
der Glückseligkeit gewährt, damit du um so köstlicher leiden 
konntest, sobald dir das Objekt deiner Glückseligkeit entris-
sen wurde.« 

»Du weißt, was geschehen ist?« fragte Jherek argwöhnisch. 
Werther sah verlegen drein. »Nun, Lady Charlotina hat 

mich vor ein oder zwei Wochen ins Vertrauen gezogen…« 

»Teufel!« brüllte Jherek. »Warum hast du nicht versucht, 

mich zu warnen?« 

»Vor dem Unabänderlichen? Was hätte das genützt? Und«, 

sagte Werther sardonisch, »wir alle wissen, wie Propheten 
heutzutage behandelt werden! Die Menschen mögen es nicht, 
wenn man ihnen die Wahrheit sagt!« 

»Schurke!« Jherek wandte sich an die Eiserne Orchidee. »Und 

du, Mutter, hast du gewußt, was Charlotina geplant hat?« 

»Nicht direkt, mein Unglückseliger. Sie deutete lediglich an, 

daß sie Mrs. Underwood ihren Herzenswunsch erfüllen woll-
te.« 

»Und was ist das? Was kann es denn anderes sein als ein Le-

ben mit mir?« 

»Sie hat es nicht erläutert.« Die Eiserne Orchidee betupfte ihre 

Augen. »Zweifellos fürchtete sie, ich würde ihren Plan an dich 
verraten. Schließlich sind wir vom gleichen rastlosen Blut, mein 
Ei.« 

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Grimmig erklärte Jherek: »Ich sehe, es bleibt mir nichts ande-

res übrig, als Lady Charlotina persönlich zur Rede zu stellen.« 

»Hast du denn nicht genau das gewollt?« fragte Werther von 

seinem Sitz auf einem Sims über ihren Köpfen, seinen schwar-
zen Rücken an das Marmorknie seiner Statue gelehnt und trüb-
sinnig mit den Beinen baumelnd. »Hast du nicht das Unheil 
gefreit, als du Mrs. Underwood gefreit hast? Ich glaube mich an 
einen gewissen Plan zu erinnern…« 

»Sei still! Ich liebe Mrs. Underwood mehr, als ich mich selbst 

liebe!« 

»Jherek«, sagte seine Mutter nüchtern, »man kann diese Dinge 

auch zu weit treiben, weißt du.« 

»Genauso ist es! Ich bin völlig verliebt. Ich bin hoffnungslos 

verliebt. Meine Leidenschaft beherrscht mich. Es ist kein Spiel 
mehr!« 

»Kein Spiel mehr!« Selbst Werther de Goethe klang schockiert. 
»Lebt wohl, schwarze Verräter. Verräter in Schwarz lebt 

wohl!« 

Und Jherek hastete zurück zu seiner Lokomotive, ließ die Pfeife 

ertönen und steuerte seinen Luftwagen hinauf in den dunk-
len und trostlosen Himmel. 

»Lehn dich nicht auf gegen dein Los, Jherek!« vernahm er Wer-

thers Ruf. »Erhebe nicht die Hand gegen des Schicksals Un-
verstand! Hoff nicht auf der Nornen Gnad’, denn sie sind taub 
und blind und hart!« 

Jherek antwortete nicht. Statt dessen ließ er ein lautes 

Schluchzen seinen Lippen entfliehen und flüsterte ihren Na-
men, und der Klang ihres Namens ließ in seiner Seele wieder 
jene peinigende Qual erwachen, so daß er schließlich ver-
stummte. 

Er erreichte den Billy-the-Kid-See, der sich kristallklar unter 

ihm im Sonnenlicht kräuselte, und spürte den Drang, den See, 
Unter-dem-See, Lady Charlotina, ihre Menagerie und ihre 

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Höhlen zu zerstören den ganzen Globus zu vernichten, wenn 
es sein mußte. Aber er bezwang seinen Zorn, denn Mrs. Ame-
lia Underwood befand sich vielleicht noch als Gefangene in 
einer dieser Höhlen. 

Er ließ seine Lokomotive einige Zentimeter über der Was-

seroberfläche zurück, begab sich durch das Tor in den See 
und gelangte in die Höhle mit den Wänden aus Gold und der 
Decke und dem Boden aus spiegelndem Silber, wo Lady Char-
lotina ihn erwartete, denn sie hatte gewußt, daß er kommen 
würde. 

»Ich wußte, daß du kommen würdest, mein Opfer«, schnurr-

te sie. 

Sie trug ein Gewand aus lilienfarbenem Stoff, durch den ihr 

weicher, rosafarbener Körper schimmerte. Ihr helles Haar 
hatte sie hochgesteckt und mit einem Diadem aus Platin und 
Perlen gekrönt. Ihr Gesicht war klar, ernst und stolz, und ihre 
Augen waren schmal und vergnügt. Sie lächelte ihn an. Sie lag 
auf einer Couch mit einem Bezug aus weißem Samt, über den 
weiße Rosen gestreut waren. Alle Rosen waren weiß, bis auf 
eine, und diese hielt sie in der Hand. Es war eine Rose von 
einzigartiger, blaugrüner Farbe. Als er sich ihr näherte, öffnete 
sie den Mund, zupfte mit scharfen Elfenbeinzähnen ein Blü-
tenblatt von der Rose und riß es in winzige Stücke, die ihre 
roten Lippen und ihr Kinn befleckten und auf ihr Mieder 
schneiten. 

»Ich wußte, daß du kommen würdest.« 
Er streckte die Arme aus. Seine Hände verwandelten sich in 

Klauen. Er ging steifbeinig auf sie zu und hielt die Augen starr 
auf ihren langen Hals gerichtet. Er hätte sie erwürgt, wäre er 
nicht von einem Kraftfeld aufgehalten worden, von einem 
Kraftfeld, dessen Struktur ihr Geheimnis war und das er 
nicht neutralisieren konnte. 

»Dir fehlt es an Geist, Reiz, Schönheit und Anmut«, sagte er 

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scharf. 

Sie war erschüttert. »Jherek! Ist das nicht ein wenig über-

trieben?« 

»Ich meine es ernst!« 
»Jherek! Dein Humor! Wo ist er? Wo? Ich dachte, diese 

Wendung der Ereignisse würde dich amüsieren. Ich habe alles 
so sorgfältig geplant.« Sie sah aus wie eine enttäuschte Gastge-
berin, wie jemand, der ein Fest wie das des Herzogs von 
Queens gegeben hatte (das natürlich niemand vergessen hat-
te oder vergessen würde, bis der Herzog von Queens, der da-
von noch immer erschüttert war, die Kraft fand, eine Festivität 
zu kreieren, die die Grenzen gewöhnlicher Unterhaltung 
sprengte). 

»Ja! Und alle kannten den Plan, nur ich und Mrs. Amelia Un-

derwood nicht.« 

»Aber das war natürlich ein wichtiger Teil des Scherzes!« 
»Lady Charlotina, du bist zu weit gegangen! Wo ist Mrs. Ame-

lia Underwood? Gib sie mir sofort zurück!« 

»Das werde ich nicht!« 
»Und, da wir gerade beim Thema sind, was hast du mit Lord 

Jagged von Kanarien gemacht? Er ist nicht in seiner Burg.« 

»Ich weiß nicht, was mit Lord Jagged ist. Ich habe ihn schon 

seit Monaten nicht mehr gesehen. Jherek! Was ist mit dir los? 
Ich hatte erwartet, du würdest mir meinen Scherz mit einem 
eigenen Streich heimzahlen. Ist er das? Wenn dem so ist, ist es 
eine armselige Antwort auf meinen…« 

»Die Eiserne Orchidee sagte, du hättest Mrs. Underwood ih-

ren Herzenswunsch erfüllt. Was hast du damit gemeint?« 

»Jherek! Du wirst allmählich langweilig. Wie ungewöhnlich. 

Komm und liebe mich, Jherek, wenn dir schon nichts anderes 
einfällt!« 

»Ich verabscheue dich.« 
»Du verabscheust mich? Wie interessant! Komm und…« 

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»Was hast du damit gemeint?« 
»Genau das, was ich gesagt habe. Ich habe dir das gewährt, 

was sie sich am meisten wünschte.« 

»Woher hättest du denn wissen können, was sie sich am mei-

sten wünschte?« 

»Nun, ich habe mir die Freiheit genommen und einen kleinen 

Lauscher, einen mechanischen Floh, losgeschickt, um eure Ge-
spräche abzuhören. Bald wurde mir klar, wonach sie sich am 
meisten sehnte. Und so habe ich den richtigen Moment abge-
wartet, der heute kam und dann habe ich es getan!« 

»Was getan? Was getan?« 
»Jherek, du hast deinen ganzen Scharfsinn verloren. Kannst 

du es dir nicht vorstellen?« 

Er runzelte die Stirn. »Tot? Einmal hat sie gesagt, daß sie lieber 

sterben würde als…« 

»Nein, nein!« 
»Was dann?« 
»Oh, was bist du doch für ein Langweiler geworden! Laß mich 

dich lieben und dann…« 

»Eifersucht! Jetzt begreife ich. Du liebst mich ebenfalls. Du 

hast Mrs. Underwood beseitigt, weil du dir einbildest, ich wür-
de dich dann lieben. Nun, Madam, ich will dir eines sa-
gen…« 

»Eifersucht? Beseitigt? Liebe? Jherek, du hast dich völlig in 

deine Rolle hineingesteigert, wie ich sehe. Du bist absolut 
überzeugend. Aber ich fürchte, irgend etwas fehlt eine Spur 
Ironie, die der Rolle ein wenig mehr Glaubwürdigkeit verlei-
hen würde.« 

»Du mußt mir sagen, Lady Charlotina, was du mit Mrs. Ame-

lia Underwood gemacht hast.« 

Sie gähnte. 
»Sag es mir!« 
»Verrückter, geliebter Jherek, ich habe sie…« 

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»Was hast du getan?« 
»Oh, nun gut! Brannart!« 
»Brannart?« 
Der bucklige Wissenschaftler kam humpelnd aus einer der 

Tunnelöffnungen und schritt über den reflektierenden Boden, 
während er selbstgefällig auf sein Spiegelbild hinunterblick-
te. 

»Was hat Brannart Morphail damit zu tun?« fragte Jherek. 
»Ich mußte seine Hilfe in Anspruch nehmen. Und er war be-

gierig auf das Experiment.« 

»Experiment?« echote Jherek mit entsetzter Flüsterstimme. 
»Hallo, Jherek. Nun, inzwischen wird sie angekommen 

sein. Ich hoffe nur, daß es von Dauer sein wird. Wenn ja, wird 
es mir ein völlig neues Forschungsgebiet eröffnen. Mir ist im-
mer noch unverständlich, daß sie nicht mit einer Zeitmaschine 
hierhergelangt ist…« 

»Was hast du getan, Brannart?« 
»Was? Nun, ich habe sie natürlich zurück in ihre eigene Zeit 

geschickt. Mit einer der Maschinen aus meiner Sammlung. 
Wenn alles gutgegangen ist, müßte sie inzwischen dort sein. 
Am 4. April 1896, drei Uhr morgens, Bromley, Kent, England. 
Was die temporalen Koordinaten betrifft, dürfte es keine Pro-
bleme geben, aber in räumlicher Hinsicht ist eine kleine Ver-
schiebung denkbar. Wenn ihr also auf dem Rückweg nichts 
zugestoßen ist du weißt schon, ein Chronosturm oder etwas 
in dieser Richtung –, wird sie…« 

»Du meinst du hast sie zurück in… Oh!« Verzweifelt sank 

Jherek auf die Knie. 

»Ihr Herzenswunsch«, sagte Lady Charlotina. »Weißt du 

nun die köstliche Ironie meines Streiches zu schätzen, mein 
tragischer Jherek? Erkennst du, wie ich den Spieß umgedreht 
habe? Ist es nicht eine reizende Rache? Gewiß bist du amü-
siert?« 

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Jherek tat sein Bestes, um seine Fassung zurückzugewinnen. 

Zitternd richtete er sich auf und sah an der lächelnden Lady 
Charlotina vorbei zu Brannart Morphail, der wie gewöhnlich 
alle Feinheiten überhört hatte. 

»Brannart. Du mußt mich ebenfalls dorthin schicken. Ich muß 

ihr folgen. Sie liebt mich. Sie war dabei, mir diese Liebe zu ge-
stehen…« 

»Ich weiß! Ich weiß!« Lady Charlotina klatschte in die Hände. 
»Mir diese Liebe zu gestehen, als sie mir entrissen wurde. Ich 

muß ihr folgen wenn nötig, über Jahrmillionen hinweg und sie 
zurückholen. Du mußt mir helfen, Brannart.« 

»Ah!« Lady Charlotina kicherte vor Entzücken. »Jetzt verstehe 

ich dich, Jherek. Wie wagemutig! Wie klug! Natürlich es muß 
sein! Brannart, du mußt ihm helfen.« 

»Aber der Morphail-Effekt…« Brannart Morphail streckte 

beschwörend die Arme nach ihr aus. »Es ist höchst unwahr-
scheinlich, daß die Vergangenheit Mrs. Underwood zurück-
nehmen wird. Möglicherweise verschlägt es sie in ihre eigene 
nahe Zukunft tatsächlich ist das die wahrscheinlichste Möglich-
keit –, aber Jherek kann es überallhin verschlagen, weiter zu-
rück, weiter vorwärts, sogar ins Vergessen. Besucher aus der 
Zukunft können in der Vergangenheit nicht existieren. Die Zeit 
ist eben eine Einbahnstraße. Das ist der Morphail-Effekt.« 

»Du wirst tun, was ich von dir verlange, Brannart«, sagte Jhe-

rek. »Du wirst mich zurück ins Jahr 1896 schicken.« 

»Vielleicht bleiben dir in dieser Zeit nur ein paar Sekunden 

ich kann nicht garantieren, wie lange –, bevor die Vergangen-
heit dich dich ausspuckt.« Brannart Morphail sprach langsam, 
wie zu einem Schwachsinnigen. »Allein der Versuch ist gefähr-
lich genug. Du könntest auf ein Dutzend verschiedene Arten 
umkommen, Jherek. Hör auf meinen Rat…« 

»Du wirst tun, was er von dir verlangt, Brannart«, befahl La-

dy Charlotina und warf die einzigartige, blaugrüne Rose zur 

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Seite. »Erkennst du denn nicht ein perfekt inszeniertes Drama, 
wenn es vor dir aufgeführt wird? Was bleibt Jherek denn sonst 
übrig? Es ist unvermeidlich.« 

Erneut widersprach Brannart und brummte vor sich hin. 

Aber Lady Charlotina schwebte zu ihm hinüber, wisperte ihm 
etwas ins Ohr, und das Gebrumm verstummte. Brannart nickte. 
»Ich werde tun, was du von mir verlangst, Jherek, auch wenn es 
sich in jeder Beziehung um Zeitverschwendung handelt.« 

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11.Kapitel 

 

DIE SUCHE NACH BROMLEY 

 

Die Zeitmaschine war eine mit milchiger Flüssigkeit gefüllte 
Kugel, in der der Reisende in einem Gummianzug schwamm 
und durch eine Maske atmete, die über einen Schlauch mit 
der Wandung der Maschine verbunden war. 

Jherek beäugte sie mit einigem Widerwillen. Sie war recht 

klein und wirkte leicht mitgenommen. An der Metallhülle 
schienen sich Spuren von Verbrennungen zu befinden. 

»Woher stammt sie, Brannart?« Er streckte seine gummium-

hüllten Gliedmaßen. 

»Oh, sie könnte praktisch von überall her sein. Bei der Ent-

schlüsselung des internen Datensystems kam ich zu dem 
Schluß, daß sie aus einer Epoche stammt, die etwa zweitau-
send Jahre vor der Zeit liegt, die du besuchen willst. Deshalb 
habe ich mich für sie entschieden. Ich glaube, sie wird deine 
Chancen ein wenig verbessern.« Brannart Morphail werkelte 
in seinem Laboratorium herum, das mit Instrumenten und 
Geräten vollgestopft war, die zum größten Teil mehr oder 
minder reparaturbedürftig waren und aus zahlreichen Zeital-
tern stammten. Die meisten der weniger kompliziert wirken-
den Instrumente stellten Brannart Morphails eigene Entwick-
lungen dar. 

»Ist sie sicher?« Behutsam berührte Jherek das zerschramm-

te Metall der Kugel. Einige Risse schienen gelötet worden zu 
sein. Zweifellos hatte diese Zeitmaschine ein bewegtes Leben 
hinter sich. 

»Sicher? Welche Zeitmaschine ist sicher? Sie ist so sicher wie 

jede andere.« Brannart machte eine wegwerfende Handbe-
wegung. »Du wolltest schließlich mit ihr reisen, Jherek. Ich ha-
be versucht, dich von diesem Hirngespinst abzubringen.« 

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»Brannart, du hast keine Fantasie. Kein Gespür für das Dra-

matische, Brannart«, schalt ihn Lady Charlotina augenzwin-
kernd, während sie sich in einer Ecke des Laboratoriums 
auf einer Couch räkelte. 

Jherek holte tief Luft, stieg in die Maschine und schloß das 

Beatmungsgerät an, bevor er in die Flüssigkeit tauchte. 

»Du bist ein Märtyrer, Jherek Carnelian!« seufzte Lady Charlo-

tina. »Vielleicht gehst du im Dienst der Zeitforschung zugrun-
de. 
Man wird dich als Held in Erinnerung behalten, solltest du 
sterben gekreuzigter, leidenschaftlicher Zeitreisender, Casa-
nova der Chrononauten, ans Kreuz der Zeit genagelt!« Ihre 
Couch  schoß nach vorn, und sie streckte den Arm aus, um in 
seine rechte Hand eine Übersetzungspille und in seine linke 
eine zerdrückte Rose von einzigartiger, blaugrüner Farbe zu 
drücken. 

»Ich beabsichtige, sie zu retten, Lady Charlotina, sie zurück-

zubringen.« Seine Stimme klang gedämpft und verzerrt. 

»Natürlich wirst du das! Und du bist ein prachtvoller Retter, 

Jherek!« 

»Danke.« Er verhielt sich ihr gegenüber noch immer kühl. Sie 

schien vergessen zu haben, daß sie der Grund für dieses ge-
fährliche Wagnis war, auf das er sich einlassen mußte. 

Ihre Couch glitt zurück. Sie winkte mit einem grünen Ta-

schentuch. »Durcheile die Stunden, mein Heros! Die Tage und 
die Monate! Die Jahrhunderte und Jahrtausende, treuester al-
ler Liebhaber wie Hitler zu Eva eilte! Wie Oscar zu Bosie! Auf! 
Auf! Oh, ich bin bewegt. Ich bin verzaubert. Mir wird schwindlig 
vor Verzückung!« 

Jherek warf ihr einen finsteren Blick zu, nahm aber die Ge-

schenke mit, als er sich tiefer in die Kugel gleiten ließ und die 
Einstiegsluke über seinem Kopf geschlossen wurde. Er schweb-
te in unangenehmer Schwerelosigkeit und bereitete sich auf 
den Sprung in den Zeitstrom vor. 

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Durch die Flüssigkeit konnte er die Instrumente erkennen, 

kryptographisch, ungewöhnlich, die wie er in der Flüssigkeit 
zu schwimmen schienen. Sie gaben kein Geräusch von sich, und 
ihre Anzeigen waren leer. 

Dann wurde eine der Anzeigen hell. Rote und grüne Ziffern 

flackerten auf und verschwanden wieder. Jhereks Magen zog 
sich zusammen. 

Er spürte, wie er sich drehte. Dann war alles wieder ruhig. 

Die Maschine schien herumgerollt zu sein. 

Er konnte seinen Atem im Schlauch zischen hören. Die Ma-

schine war so unbequem, der Gummianzug so eng, daß er fast 
versucht war, eine andere Maschine vorzuschlagen. 

Dann flammte die Anzeige erneut auf. Grün und rot. Dann 

wurden zwei weitere Anzeigen hell. Blau und gelb. Ein weißes 
Licht flackerte. Das Flackern wurde schneller und schneller. 

Er vernahm ein gurgelndes Geräusch. Ein Poltern. Die Flüs-

sigkeit, in der er schwamm, wurde dunkler und dunkler. 

Er spürte Schmerz (er hatte noch nie zuvor richtigen körper-

lichen Schmerz empfunden). 

Er schrie, aber seine Stimme wurde verschluckt. 
Er war unterwegs. 
Er wurde ohnmächtig. 
Er wachte auf. Er wurde furchtbar durcheinandergerüttelt. 

Die Kugel schien geborsten zu sein. Die Flüssigkeit strömte 
durch den Riß, mit dem Ergebnis, daß sein Körper hin und 
her geworfen wurde, während die Kugel weiterrollte. Er öff-
nete die Augen. Er schloß sie wieder. Er wimmerte. 

Luft zischte, als der Schlauch von seinem Gesicht gerissen 

wurde. Die Plastikverkleidung der Maschine löste sich, bis Jhe-
rek mit dem Rücken auf dem Metall der Wandung lag, und er 
stellte fest, daß die Kugel zum Stillstand gekommen war. Er 
stöhnte. Überall hatte er blaue Flecken. Andererseits, tröstete 
er sich, litt er jetzt. Das konnte niemand abstreiten. 

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Er musterte den gezackten Riß in der Maschine. Er würde 

sich eine andere Zeitmaschine besorgen müssen, gleichgültig, 
wo er sich auch befinden mochte, denn diese hier hatte die 
Belastung der Reise nicht überstanden. Wenn er tatsächlich das 
Jahr 1896 erreicht haben und Mrs. Amelia Underwood finden 
sollte (vorausgesetzt, daß sie ebenfalls unversehrt angekom-
men war), würde er einen Erfinder aufsuchen und sich eine 
Maschine ausleihen müssen. Allerdings, davon war er über-
zeugt, war dies die geringste Schwierigkeit, die ihn erwartete. 

Er versuchte sich zu bewegen und schrie auf, als sich das, 

was relativ matter Schmerz gewesen war, in unerträgliche 
Pein verwandelte. Langsam ließ der Schmerz nach. Er fröstel-
te, als er die kalte Luft durch die geborstene Wandung der 
Zeitmaschine wehen fühlte. Jenseits des Risses schien es 
dunkel zu sein. 

Er stand auf, zuckte dabei vor Schmerz zusammen und 

streifte den Anzug ab. Darunter trug er seinen zerknitterten 
viktorianischen Gehrock samt Hose, beides in herrlichem 
Scharlach und Purpur gehalten. Er kontrollierte, ob sich die 
Energieringe noch an seinen Fingern befanden, und war er-
leichtert. Dort war der Rubin, da der Smaragd und hier der 
Diamant. Die Luft war nicht nur kühl, sondern sie roch auch 
sehr seltsam, sehr stickig. Er hustete. 

Er arbeitete sich zum Riß vor und trat hinaus in die Dunkel-

heit. Es war außerordentlich dunstig. Die Maschine war of-
fenbar auf einer harten, künstlichen Oberfläche am Rand eines 
Wasserlaufes gelandet. Eine Steintreppe führte durch den 
Dunst hinauf, und es war durchaus denkbar, daß die Maschi-
ne vor ihrem Zerschellen die Stufen hinuntergepoltert war. 
Hoch über sich entdeckte er ein trübes Licht, ein gelbes, flak-
kerndes Licht. 

Er fröstelte. 
Das war nicht das, was er erwartet hatte. Falls er sich im 

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London des Zeitalters der Morgenröte befand, war die ganze 
Stadt verlassen! Er hatte sie sich menschenüberfüllt vorgestellt 
von Millionen Menschen bevölkert, denn dies war auch das 
Zeitalter der Kulturenvielfalt. 

Er entschloß sich, dem Licht zu folgen. Er humpelte zur 

Treppe. Er berührte sein Gesicht und fühlte die Feuchtigkeit 
auf der Haut. Dann erkannte er, um was es sich dabei handel-
te, und unwillkürlich gab er einen entzückten Seufzer von 
sich. 

»Nebel…« 
Es war Nebel. 
Bedeutend erleichtert tastete er sich die Stufen hinauf, bis er 

mit der Schulter gegen eine Metallsäule stieß. An der Spitze der 
Säule leuchtete eine Gaslampe, die jenen sehr ähnlich war, die 
er auf Mrs. Amelia Underwoods Bitte hin für sie erschaffen hat-
te. Er streichelte die Laterne. Zumindest befand er sich in der 
richtigen Epoche. Brannart Morphails Pessimismus hatte sich 
als falsch erwiesen. 

Aber war dies der richtige Ort? War dies Bromley? Er sah 

durch den Nebel zurück zu dem breiten, dunklen Wasserlauf. 
Mrs. Underwood hatte viel von Bromley erzählt, aber sie hatte 
nie einen großen Fluß erwähnt. Immerhin konnte es London 
sein, das in der Nähe von Bromley lag, und wenn dies zutraf, 
war dieser Fluß die Themse. Etwas tutete in der Ungewißheit 
des Nebels. Er hörte einen leisen, fernen Ruf. Dann war es 
wieder still. 

Er befand sich in einer schmalen Gasse mit unebenem, kopf-

steingepflastertem Boden. Die dunklen Ziegelsteinwände zu 
beiden Seiten der Gasse waren mit Papierbögen bedeckt. Jherek 
bemerkte, daß die Blätter mit Zeichnungen und Schriftzeichen 
bedeckt waren, aber natürlich konnte er sie nicht lesen. Selbst 
die Übersetzungspillen, die auf subtile Weise die Gehirnzellen 
beeinflußten, konnten ihm beim Entziffern einer geschriebenen 

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Sprache nicht helfen. Ihm fiel ein, daß er noch immer die Pille, 
die ihm Lady Charlotina gegeben hatte, in der Hand hielt. Er 
würde sie erst schlucken, wenn er jemanden traf. In der ande-
ren Hand war die zerdrückte Rose; im Moment war sie alles, 
was er von Mrs. Amelia Underwood zurückbehalten hatte. 

Die Gasse mündete in eine Straße, hier war der Nebel weniger 

dicht. Er konnte ein paar Meter weit in beide Richtungen se-
hen, und dort war eine Anzahl weiterer Laternen, deren gelbes 
Licht den Nebel zu durchdringen versuchte. 

Aber noch immer wirkte alles wie ausgestorben, während er 

der Straße folgte und fasziniert die dicht an dicht stehenden, 
heruntergekommenen Häuser betrachtete. In einigen der Häu-
ser leuchtete Licht hinter den Fensterläden hervor. Einoder 
zweimal hörte er eine gedämpfte Stimme. Demnach hielt sich 
die Bevölkerung aus irgendwelchen Gründen in den Gebäu-
den auf. Zweifellos würde er im Lauf der Zeit eine Antwort 
auf dieses Geheimnis finden. 

Die nächste Straße, die er erreichte, war noch breiter und die 

Häuser hier waren größer (obgleich in demselben baufälligen 
Zustand), und die Parterrefenster stellten eine Vielzahl von 
Kunstgegenständen zur Schau hier Nähmaschinen, Mangeln, 
Bratpfannen dort Betten und Stühle, Werkzeuge und Klei-
dung. Alle paar Sekunden blieb er stehen und äugte durch die-
se Schaufenster. Die Besitzer taten recht daran, ihre Schätze so 
stolz zu präsentieren. Und welch ein Überfluß! Zugegeben, 
einige der Gegenstände waren ein wenig kleiner, ein wenig 
unscheinbarer, als er sie sich vorgestellt hatte, und viele konn-
te er natürlich nicht einmal identifizieren. Nichtsdestotrotz, 
wenn er mit Mrs. Underwood zurückkehrte, würde er in der 
Lage sein, erheblich mehr Antiquitäten für sie herzustellen, um 
sie zu erfreuen und sie an zu Hause zu erinnern. Jetzt erblick-
te er vor sich ein helleres Licht. Und er entdeckte dort 
menschliche Gestalten, hörte Stimmen. Er überquerte die Stra-

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ße, und in diesem Moment drang ein sonderbares Klappern 
und Rattern an sein Ohr. Er hörte einen Schrei. Er blickte 
nach links und sah ein schwarzes Tier aus dem Nebel auftau-
chen. Seine Augen rollten, seine Nasenflügel bebten. 

»Ein Pferd!« rief er. »Es ist ein Pferd!« 
Er hatte natürlich schon oft selbst eins angefertigt, aber es 

war etwas anderes, plötzlich vor dem Original zu stehen. 

Erneut der Schrei. 
Freudig erwiderte er den Schrei und winkte. 
Das Pferd zog etwas hinter sich her eine große schwarze 

Kutsche, auf der ein Mann mit einer Peitsche thronte. Es war 
der Mann, der die Schreie ausstieß. 

Das Pferd stellte sich auf die Hinterbeine, als Jherek winkte. 

Er hatte den Eindruck, daß das Pferd zurückwinkte. Seltsam, 
bei der Ankunft in einem fremden Jahrhundert als erstes von 
einem Tier begrüßt zu werden. 

Dann spürte Jherek, wie ihn etwas am Kopf traf. Er stürzte 

und fiel zur Seite, während die Kutsche an ihm vorbeiratterte 
und im Nebel verschwand. 

Jherek wollte aufstehen, aber ihm wurde wieder schwindlig. 

Er stöhnte. Aus der Richtung des hellen Lichts stürzten Gestal-
ten auf ihn zu. Als er sich auf Händen und Knien aufgerich-
tet hatte, wurde er von etwa einem Dutzend Männer und 
Frauen umringt, die genau wie er aussahen und nach Art 
dieser Epoche gekleidet waren. Ihre Gesichter waren starr und 
ernst. Anfangs sagte niemand ein Wort. 

»Was…?« Dann fiel ihm ein, daß sie ihn nicht verstehen 

konnten. »Entschuldigen Sie. Wenn Sie einen Moment warten 
würden…« 

Dann redeten sie alle auf einmal los. Er führte die Überset-

zungspille an die Lippen und schluckte sie. 

»Irgend’n Ausländer. Wahrscheinlich ‘n Russe. Von ir-

gend’nem Kahn…«, hörte er einen Mann sagen. 

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»Haben Sie irgendeine Vorstellung, was mir gerade zugesto-

ßen ist?« fragte Jherek ihn. 

Der Mann sah verdutzt drein und schob seine zerknautschte 

Melone zurück. »Hätt schwörn könn, dat Se’n Ausländer sin!« 

»Se sin von ‘nem Einspänner getroffen worn, dat is’ Ihnen 

passiert, mein Bester«, sagte ein anderer Mann im Tonfall größter 
Befriedigung. Dieser Mann trug eine voluminöse Stoffmütze, 
die er tief in die Stirn gezogen hatte. Er schob die Hände in die 
Taschen seiner Hose und fügte weise hinzu: »Weil Se dem Gaul 
gewinkt ham, dat er scheute, nich?« 

»Aha! Und einer seiner Hufe hat mich am Kopf getroffen, eh?« 
»Jo!« sagte der erste Mann beglückwünschend, als hätte Jherek 

gerade eine schwierige Prüfung bestanden. 

Eine der Frauen half ihm auf die Beine. Sie war ein wenig ver-

runzelt und roch intensiv nach etwas, das Jherek nicht einord-
nen konnte. Ihr Gesicht war von einer Vielzahl verschiedener 
Farben und Puder bedeckt. 

Sie grinste ihn anzüglich an. 
Höflich grinste Jherek anzüglich zurück. 
»Danke«, sagte er. 
»Schon in Ordnung, Schätzchen«, erklärte die Lady. »Hab 

selber einen zuviel gekippt, glaub ich.« Sie stieß ein heiseres, 
gakkerndes Gelächter aus und sagte, an die Umstehenden ge-
wandt: »Ham wir das nich alle, um zwei Uhr früh? Ich seh 
schon, du bist ‘n feiner Pinkel«, sagte sie zu ihm und sah ihn 
von oben bis unten an. »Warst auf ‘nem Fest, wat? Oder viel-
leicht biste ‘n Künstler ‘n Schauspieler, eh?« Sie ließ ihre Hüf-
ten kreisen, so daß ihr langes Kleid hin und her schwang. 

»Es tut mir leid…«, murmelte Jherek. »Ich weiß nicht…« 
»Klaro, klaro«, unterbrach sie und gab ihm einen nassen Kuß 

auf sein feuchtes und schmutziges Gesicht. »Brauchst ‘n war-
mes Bett für die Nacht, wat?« Sie preßte ihren Körper an ihn 
und fügte in einem nur für seine Ohren bestimmten Flüsterton 

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hinzu: »Wird dir nich viel kosten. Du gefällst mir.« 

»Sie möchten mit mir schlafen?« fragte er, als ihm die Er-

kenntnis dämmerte. »Ich bin geschmeichelt. Sie sehen sehr 
runzlig aus. Es wäre gewiß interessant. Allerdings bin ich 
leider…« 

»Frechheit!« Sie ließ ihn los. »Verdammte Frechheit! Häßli-

cher versoffener Bastard!« Sie rauschte davon, während die 
anderen ihr nachjohlten. 

»Ich fürchte, ich habe sie gekränkt«, sagte Jherek. »Es war 

nicht meine Absicht.« 

»Is kein großes Kunststück«, bemerkte ein junger Mann in 

gelber Jacke, brauner Hose und mit einem braunen Schlapp-
hut auf dem Kopf. »Elsi is ‘n bißchen hinüber.« 

Das Konzept des Alterns hatte für Jherek bisher nur theore-

tische Bedeutung gehabt, obwohl er wußte, daß es zu den 
Charakteristika dieser Epoche gehörte. Nun, als er sich die 
Leute näher anschaute und feststellte, daß sie sich in ver-
schiedenen Stadien des Verfalls befanden, wurde ihm klar, 
was es bedeutete. Sie hatten nicht freiwillig ihre äußeren Er-
scheinungsformen gewählt. Ihnen blieb keine Wahl. 

»Wie interessant«, sagte er zu sich. 
»Nun, glotz mich ruhig  weiter an«, knurrte einer der Män-

ner. »Nur keine Hemmungen!« 

Als er verstand, daß er nahe daran war, wieder jemand zu 

kränken, entschuldigte er sich rasch. Dann deutete er auf die 
Quelle des Lichts. »Ich war auf dem Weg dorthin. Was ist 
das?« 

»Das is der Kaffeestand«, erklärte der junge Mann in der 

gelben Jacke. »Der Nabel von Whitechapel, ums genau zu 
sagen. Was Piccadilly fürs Empire is, is Charleys Kaffeestand 
für East End. Wenn Se schon mal hier sind, sollten Se gleich ‘ne 
Tasse trinken. Entweder bringt dich Charleys Kaffee um oder 
auf die Beine, soviel steht fest!« 

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Der junge Mann führte Jherek zu einem viereckigen Wa-

gen, der an einer Seite offen war. Über diese Öffnung wölbte 
sich ein Segeltuchverdeck, wo sich die Gäste nun wieder ein-
fanden. Im Innern des Wagens standen mehrere große Metall-
behälter (die offenbar heiß waren), eine große Anzahl Porzel-
lantassen und -teller und vielerlei andere Objekte, bei denen es 
sich vermutlich um irgendwelche Nahrungsmittel handelte. 
Ein großer Mann mit Schnurrbart und dem rötesten Gesicht, 
das Jherek je gesehen hatte, stand mit aufgerollten Ärmeln 
und einer gestreiften Schürze vor der Brust in dem Wagen und 
reichte den anderen Gästen Tassen, die er mit einer Flüssig-
keit aus den Metallbehältern füllte. 

»Ich bezahle für Sie«, sagte der junge Mann großzügig. 
»Bezahlen?« echote Jherek und verfolgte, wie der junge 

Mann dem Schnurrbärtigen, der die Tassen und Teller verteil-
te, einige kleine braune Scheiben gab. Im Austausch erhielt der 
junge Mann zwei Porzellantassen. Eine davon reichte er Jhe-
rek, der aufkeuchte, als die Hitze von seinen Fingern aufge-
nommen wurde. Vorsichtig nippte er an dem Getränk. Es war 
bitter und gleichzeitig süß. Es schmeckte ihm außerordentlich 
gut. 

Der junge Mann betrachtete Jherek ausgiebig. »Sie sprechen 

ein gutes Englisch«, stellte er fest. 

»Danke«, sagte Jherek, »obwohl es eigentlich nichts mit mei-

nen Fähigkeiten zu tun hat. Es liegt an der Übersetzungspille, 
wissen Sie.« 

»An der was?« fragte der junge Mann. Aber er verfolgte das 

Thema nicht weiter. Seine Gedanken schienen mit anderen 
Dingen beschäftigt zu sein, während er seinen Kaffee schlürfte 
und sich geistesabwesend umschaute. »Sehr gut«, sagte er. »Ich 
hätte Sie für einen Engländer gehalten, ehrlich. Wenn nicht die-
se Kleidung gewesen wäre, ‘türlich und diese Sprache, die Sie 
benutzt haben, kurz nachdem Sie umkippten. Sind von einem 

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Schiff weg, wie?« Seine Augen verengten sich, während er 
redete. 

»Man könnte es so ausdrücken«, bestätigte Jherek. Es hatte 

keinen Sinn, in diesem Stadium die Zeitmaschine zu erwähnen. 
Der hilfsbereite junge Mann würde ihn dann vielleicht direkt zu 
einem Erfinder bringen und ihm eine neue besorgen. Sein 
Hauptinteresse galt im Augenblick der Suche nach Mrs. Amelia 
Underwood. »Ist dies hier 1896?« fragte er. 

»Wie, das Jahr? Ja, natürlich. Vierter April 1896. Gibt’s da, wo 

Sie herkommen, eine andere Zeitrechnung?« 

Jherek lächelte. »Mehr oder weniger.« 
Die anderen Gäste fingen an sich zu zerstreuen und wünsch-

ten einander im Weggehen eine gute Nacht. 

»Nacht, Gauner«, rief eine Frau dem jungen Mann zu. 
»Nacht, Meggo.« 
»Man nennt Sie Gauner?« fragte Jherek. 
»Stimmt. Spitzname.« Gauner hob den Zeigefinger seiner 

rechten Hand und legte ihn an die Nase. Er zwinkerte. »Und 
was ist mit Ihrem Friedrich Wilhelm, Alter?« 

»Wie ich heiße? Jherek Carnelian.« 
»Ich werd’ Sie Jerry nennen, eh? In Ordnung.« 
»Sicher. Und ich werde Sie Gauner nennen.« 
»Nun, was das betrifft…« Gauner stellte seine leere Tasse auf 

die Theke. »Vielleicht sollten Sie mich besser Mr. Vine nennen 
was nebenbei mein richtiger Name ist, verstehen Sie? Norma-
lerweise würde es mich nicht stören, aber wo wir hingehen, 
klingt ›Mr. Vine‹ respektabler, klar?« 

»Mr. Vine, in Ordnung. Sagen Sie, Mr. Vine, ist Bromley hier 

irgendwo in der Nähe?« 

»Bromley in Kent?« Gauner lachte. »Das hängt davon ab, wie 

man es betrachtet. Mit einem Zug sind Sie schnell da. Dauert 
weniger als eine halbe Stunde von der Victoria Station aus 
oder von Waterloo? Warum haben Sie dort Verwandte woh-

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nen?« 

»Meine äh Anverlobte.« 
»Junge Dame, eh? Engländerin, wie?« 
»Ich glaube schon.« 
»Gut für Sie. Nun, ich werde Ihnen helfen, nach Bromley zu 

kommen, Jerry, ‘türlich nicht mehr heute, weil es schon zu spät 
ist. Sie haben eine Unterkunft, nich’?« 

»Daran habe ich nicht gedacht.« 
»Ah, nun, das geht schon in Ordnung. Was halten Sie da-

von, die Nacht in einem hübschen Hotelbett zu verbringen 
und zwar kostenlos? In einem bequemen Bett in einem piek-
feinen WestEnd-Hotel? Auf meine Kosten.« 

»Sie sind sehr freundlich, Mr. Vine.« Wirklich, dachte Jherek, 

die Menschen dieses Zeitalters waren außerordentlich lie-
benswürdig. »Mir ist ein wenig kalt. Und ich bin völlig zer-
schlagen.« Er lachte. 

»Ja, Ihrer Kleidung würde eine kleine Reinigung nicht scha-

den, eh?« Gauner Vine rieb sich das Kinn. »Nun, ich schätze, 
ich kann Ihnen auch in dieser Hinsicht behilflich sein. Werde 
Ihnen einen neuen Anzug und alles andere besorgen. Und Sie 
brauchen Gepäck. Haben Sie irgendwelches Gepäck?« 

»Nun, nein. Ich…« 
»Kein Wort mehr davon. Gepäck wird Ihnen gestellt. Ge-

stellt, Jerry, mein Freund, eine kleine Aufmerksamkeit von 
Gauners Koffer-Warenhaus. Wie, sagten Sie doch gleich, lautet 
Ihr Familienname?« 

»Carnelian.« 
»Carnell. Ich werde Sie Carnell nennen, wenn Sie nichts da-

gegen haben.« 

»Wenn Sie wünschen, Mr. Vine.« 
Gauner Vine stieß ein wildes und vergnügtes Gelächter aus. 

»Ich sehe schon, wir werden noch die dicksten Freunde, Lord 
Carnell.« 

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»Lord?« 
»Mein 
Spitzname für Sie, klar? In Ordnung?« 
»Wenn ich Ihnen damit eine Freude machen kann.« 
»Gut. Gut. Was sind Sie doch für eine Marke, Jerry! Ich den-

ke,  daß sich unsere Verbindung wirklich als sehr profitabel er-
weisen wird.« 

»Profitabel?« 
Er schlug Jherek freundschaftlich auf den Rücken. »Ich meine, 

im übertragenen Sinne, um es einmal so auszudrücken. Für 
unsere Freundschaft, meine ich. Kommen Sie, sorgen wir dafür, 
daß wir in meine Bude kommen, und ehe Sie sich’s versehen, 
sind Sie ausstaffiert wie der feine Pinkel, der Sie ohne Zweifel 
auch sind!« 

Verwirrt, doch bereits ein wenig hoffnungsvoller, folgte Jherek 

Carnelian seinem jungen Freund durch ein Labyrinth dunkler, 
nebelverhangener Straßen, bis sie schließlich ein hohes, schwar-
zes Gebäude erreichten, das allein für sich am Ende einer Gasse 
stand. Mehrere der Fenster waren erleuchtet, und aus ihnen 
drangen Gelächter, Gebrüll und, dachte Jherek, zorneslaute 
Stimmen. 

»Ist das Ihre Burg, Mr. Vine?« fragte er. 
»Nun…« Gauner Vine grinste Jherek an. »Sie ist es, und sie ist 

es nicht, Eure Lordschaft. Manchmal teile ich sie mir, könnte 
man sagen, mit ein oder zwei Kollegen. Befreundeten Künstlern, 
Sir.« Er verbeugte sich tief und forderte Jherek mit großartigen 
Gesten auf, ihm die ausgetretenen Stufen hinauf zur Vordertür 
zu folgen, ein Gebilde aus rissigem Holz und rostigem Metall, 
mit abblätterndem braunem Anstrich und einem schmutzigen 
Messingklopfer in Form eines Löwenkopfes in der Mitte. 

Sie erreichten den Treppenabsatz. 
»Werden wir hier heute nacht bleiben, Mr. Vine?« Jherek be-

trachtete interessiert die Tür. Sie war von wundervoller Häß-
lichkeit. 

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»Nein, nein. Wir werden uns nur ein wenig ausstaffieren und 

dann weiterziehen mit einer Droschke.« 

»Nach Bromley?« 
»Bromley kommt später an die Reihe.« 
»Aber ich muß so schnell wie möglich nach Bromley. Wissen 

Sie, ich…« 

»Ich weiß. Die Liebe ruft. Bromley winkt. Aber seien Sie unbe-

sorgt, morgen werden Sie mit Ihrer Lady vereint sein.« 

»Sie scheinen sich dessen sehr sicher zu sein, Mr. Vine.« Jherek 

war erfreut, für seine Suche einen solch allwissenden Führer 
gefunden zu haben. Er war überzeugt, daß sich das Blatt endlich 
zu seinen Gunsten gewendet hatte. 

»Das bin ich in der Tat. Wenn Gauner Vine etwas verspricht, 

Eure Lordschaft, dann heißt das schon etwas.« 

»Demnach ist dieser Ort…?« 
»Man könnte es als so etwas wie außergewöhnliche Pension 

bezeichnen für Gentlemen mit Privateinkommen, Sir. Für be-
rufstätige Damen. Und für Kinder und andere –, die ein Ge-
werbe erlernen wollen. Willkommen, Eure Lordschaft, in Jo-
nes’ Küche!« 

Und Gauner Vine schob sich an Jherek vorbei und hämmer-

te mehrmals mit dem Klopfer gegen die Tür. 

Aber die Tür wurde bereits geöffnet. Ein kleiner Junge stand 

im Schatten des miefigen Hausflurs. Er war vollständig in 
Lumpen gekleidet, wie es schien. Sein Haar war fettig und 
lang, und sein Gesicht war rußverschmiert. 

»Anderenorts«, sagte der Junge und sah höhnisch zu den 

beiden Männern auf, »auch als des Teufels Arschloch bekannt. 
He, Gauner wer’s’n dein Kumpel?« 

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12. Kapitel 

 

DAS SELTSAME KOMMEN UND GEHEN DES GAUNER 
VINE 

 

Jones’ Küche war heiß und von Gerüchen erfüllt, die nicht alle 
nach Jhereks Geschmack waren. Außerdem war sie voller 
Menschen. Der langgestreckte Salon im Erdgeschoß und die 
Galerie, die ihn umlief, stellten ein buntes Durcheinander aus 
Bänken, Sesseln und Tischen dar (wobei nichts in besonders 
gutem Zustand war). Unter der Galerie, eine ganze Wand ein-
nehmend, befand sich eine riesige Theke aus fleckigem Kie-
fernholz. Gegenüber dieser Theke, in einem großen steinernen 
Kamin, prasselte ein Feuer, über dem an einem Spieß der Ka-
daver eines Tieres geröstet wurde. Schmutziges Stroh und Ab-
fall, Lumpen und Papier bedeckten die Bodenfliesen zudem 
schwamm der Boden schon in Flüssigkeiten aller Art. Durch 
das niemals abflauende Stimmengewirr drangen in unregel-
mäßigen Abständen lautes Gelächter, Liedfetzen, klagendes 
Schluchzen und eine Flut von Verwünschungen. Schmutziger 
Staat war hier offenbar die Mode des heutigen Abends. 

Gepuderte, geschminkte Damen mit kunstvollen, faden-

scheinigen Hüten trugen Gewänder aus grüner, roter und 
blauer Seide mit Spitzenbesatz und Stickmustern, und wenn sie 
ihre Röcke hoben (was oft geschah), entblößten sie mehrere 
Lagen schmutziger Unterröcke. Einige hatten die Oberteile ih-
rer Gewänder abgelegt. Die Männer trugen Schnurr-, Backen 
oder Stoppelbärte und abgewetzte Zylinder oder Melonen, 
großkarierte Westen, dicke  Schals, Überzieher, gelbe, blaue 
und braune Hosen, und viele protzten mit Taschenuhren oder 
mit Blumen in den Knopflöchern. Die Mädchen und Jungen 
trugen kleinere Ausgaben dieser Kleidung, und einige der Kin-
der ahmten die Erwachsenen nach, indem sie ihre Gesichter mit 

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Rouge und Holzkohle bemalt hatten. Gläser, Flaschen und Krü-
ge waren in jedermanns Hand, selbst in der kleinsten, und auf 
den Tischen und auf dem Boden lagen Teller, Messer, Gabeln 
und Essensreste verstreut. 

Gauner Vine führte Jherek Carnelian durch das Gedränge. Al-

le kannten Gauner Vine. »Wie isses?« riefen sie. »Wat is’n los, 
Gauner?« und »Gib uns ‘n Küßchen, Gauni!« 

Und Gauner grinste, nickte und grüßte, während er Jherek 

durch die Menge aus dem Zeitalter der Morgenröte bugsierte, 
diese Saat, die zu einer Vielzahl mannigfaltiger Pflanzen aufge-
hen und im Lauf der nächsten ein oder zwei Millionen Jahre 
menschlicher Geschichte erblühen, verwelken und wieder er-
blühen und verwelken würde. Dies hier waren seine Ahnen. Er 
liebte sie alle. Und er lächelte ebenfalls und winkte, und er er-
hielt, wie er zufrieden bemerkte, manches breite Lächeln zu-
rück. 

Die Frage des kleinen Jungen wurde häufig wiederholt. 
»Wer is’n dein Kumpel, Gauner?« 
»Wat is’ dat denn für’n Kerl in dä feine Rock?« 
»Wo haste denn den aufgegabelt, Gauni?« 
Einoder zweimal, als er stehenblieb, um einem Mädchen ein 

Küßchen auf die Wange zu geben, sah Gauner auf und antwor-
tete: »‘n ausländischer Herr. Geschäftsfreund. Langsam, lang-
sam, ihr verscheucht’n ja noch. Er is’ nich’ bekannt mit den 
Bräuchen in diesem Land.« Und er winkte dem Mädchen zu 
und ging weiter. 

Und einmal erwiderte jemand sein Zwinkern. »Hast ‘n neuen 

Fisch anner Angel, eh? Har, har! Morgen hauste richtich auf’n 
Putz, eh?« 

»Vermutlich«, entgegnete Gauner und legte den Finger an die 

Nase, wie er es schon zuvor getan hatte. 

Jherek fiel auf, daß die Übersetzungspille nicht richtig wirkte, 

denn er konnte die Sprache immer noch nicht ganz verstehen. 

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Unglücklicherweise schien die Pille mehr sein eigenes Vokabu-
lar in das Englisch des 19. Jahrhunderts zu übersetzen, als ihn 
mit dem Vokabular dieser Zeit auszurüsten. Nun, zumindest 
kam er ganz gut zurecht und konnte sich durchaus verständ-
lich machen. 

»He, ihr Süßen«, sagte eine alte Dame, gab ihm einen Klaps 

auf das Hinterteil und bot ihm ein gefülltes Glas an, dessen 
Geruch ihn an den Geruch der anderen alten Dame erinnerte. 
»Willste wat Gin? Willste ‘n bißchen Spaß, Hübscher?« 

»Zieh ab, Nelli«, brummte Gauner gelassen. »Der is’ meiner.« 
Jherek fiel auf, wie sehr sich Gauners Ton verändert hatte, 

seit sie durch das Portal von Jones’ Küche getreten waren. Er 
schien fast zwei verschiedene Sprachen zu sprechen. 

Einige andere Frauen, Männer und Kinder erklärten ihre Be-

reitschaft, mit Jherek ins Bett zu gehen, und er mußte sich ein-
gestehen, daß er bei einer anderen Gelegenheit, unter anderen 
Umständen, nur zu gern die angebotenen Freuden ange-
nommen hätte. Aber Gauner zog ihn weiter. 

Was Jherek nun wirklich zu irritieren begann, das war die Tat-

sache, daß keiner von diesen Leuten im Benehmen oder in der 
äußeren Erscheinung Mrs. Underwood ähnlich war. Ihm kam 
die entsetzliche Möglichkeit in den Sinn, daß es vielleicht mehr 
als nur eine Jahreszahl 1896 geben könnte. Oder existierten gar 
verschiedene Zeitebenen (Brannart Morphail hatte ihm ein-
mal diese Theorie erläutert)? Andererseits kannte Gauner Vi-
ne Bromley. Möglicherweise gab es in verschiedenen Gebieten 
auch unterschiedliche Stammesbräuche. Mrs. Underwood kam 
von einem Stamm, in dem Glanzlosigkeit und Trübsinn in 
Mode waren, während die Leute hier mehr von Vergnügun-
gen und Frohsinn hielten. 

Schließlich führte Gauner Jherek eine wackelige, menschen-

überfüllte Treppe hinauf zur Galerie. Ein Korridor führte von 
der Galerie ab. Gauner betrat ihn und stieß Jherek vor sich her, 

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bis sie eine von mehreren Türen erreichten. Gauner blieb ste-
hen, zog einen Schlüssel aus der Westentasche und öffnete 
die Tür. 

Jherek ging hinein und befand sich in pechschwarzer Fin-

sternis. 

»Einen Moment«, sagte Gauner und stolperte umher. Einem 

kratzenden Laut folgte ein Lichtblitz. Gauners Gesicht wurde 
von einem kleinen Feuer erhellt, das an seinen Fingerspitzen 
brannte. Er trug dieses Feuer zu einem Gegenstand aus Glas 
und Metall, der auf einem Tisch stand. Der Gegenstand begann 
nun selbst zu leuchten und erfüllte den ganzen kleinen Raum 
mit einem eher trüben Licht. 

Der Raum beinhaltete ein Bett mit zerknautschten grauen 

Dekken, einen Mahagonischrank, einen Tisch und zwei Wind-
sorstühle, einen großen Spiegel und etwa fünfzig oder sechzig 
Schrankkoffer und Reisetaschen von verschiedener Größe. Sie 
waren überall aufgestapelt, reichten bis hinauf zur Decke, sa-
hen unter dem Bett hervor, türmten sich auf dem Kleider-
schrank auf und verdeckten teilweise den Spiegel. 

»Sie sammeln Behälter, Mr. Vine?« Jherek bewunderte die 

Schrankkoffer. Einige waren aus Leder, andere aus Metall, wie-
der andere aus Holz. Sie waren alle in einem ausgezeichneten 
Zustand. Viele wiesen Beschriftungen auf, die Jherek natürlich 
nicht lesen konnte, doch die Beschriftungen schienen von großer 
Vielfalt zu sein. 

Gauner Vine schnaubte und lachte. »Ja«, sagte er. »Das 

stimmt, Eure Lordschaft. Es ist mein Hobby. Aber kümmern 
wir uns jetzt um Ihr Gepäck.« 

Er wanderte im Zimmer herum und begutachtete mit einem 

nachdenklichen Stirnrunzeln die Koffer. Jedesmal, wenn er ver-
harrte, wischte er Staub von einem seiner Schrankkoffer, beäug-
te die Beschriftung oder prüfte einen Griff. Bis er schließlich zwei 
lederne Reisetaschen aus einem Stapel hervorzog, sie neben die 

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Lampe auf den Tisch stellte und den Staub abwischte, um eini-
ge Hieroglyphen freizulegen. Wie die Taschen, so waren auch 
die Hieroglyphen identisch. 

»Perfekt«, sagte Vine und rieb sein kantiges Kinn. »Ausge-

zeichnet, J.C. Ihre Initialen, eh?« 

»Ich fürchte, ich kann nicht lesen…« 
»Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Ich werde für Sie 

schon das Lesen übernehmen. Warten Sie, wir brauchen noch 
etwas zum Anziehen.« 

»Ah!« Jherek war erleichtert, daß er seinem Freund endlich 

behilflich sein konnte. »Sagen Sie, was Sie gern tragen möchten, 
Mr. Vine, und ich werde es mit meinen Energieringen erschaf-
fen.« 

»Sie werden was?« 
»Wahrscheinlich gibt es sie hier nicht«, erklärte Jherek und 

zeigte ihm seine Ringe. »Aber damit kann ich alles herstellen, 
was ich möchte, angefangen von einem einem Taschentuch bis 
hin zu äh einem Haus.« 

»Kommen Sie!« Gauner Vine riß die Augen auf und sah ihn 

dann mißtrauisch an. »Sind Sie etwa gelernter Zauberkünstler?« 

»Wenn Sie den Ausdruck zaubern vorziehen ich kann Ihnen 

alles herbeizaubern, was Sie wollen. Nennen Sie mir Ihre Wün-
sche.« 

Gauner stieß ein eigenartiges Gelächter aus. »In Ordnung. Ich 

möchte gern ‘n Haufen Gold haben da auf dem Tisch.« 

»Sofort.« Mit einem Lächeln stellte sich Jherek Gauners 

Wunsch bildlich vor und konzentrierte sich auf den richtigen 
Nerv im richtigen Finger, um seinen Rubin-Energiering in Be-
trieb zu setzen. »Bitte!« 

Und nichts geschah. 
»Sie wollen mich auf n Arm nehmen, eh?« Gauner sah Jherek 

schräg an. 

Jherek war verdutzt. »Wie seltsam.« 

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»Seltsam ist das richtige Wort«, stimmte Gauner zu. 
Jhereks Miene hellte sich auf. »Natürlich. Keine Energieban-

ken. Die Banken befinden sich eine Million Jahre in der Zu-
kunft.« 

»Zukunft?« Gauner schien auf der Stelle zu erstarren. 
»Ich komme aus der Zukunft«, nickte Jherek. »Ich wollte es 

Ihnen später erzählen. Dieses Schiff nun, es ist natürlich eine 
Zeitmaschine. Aber sie ist beschädigt.« 

»Kommen Sie!« Gauner räusperte sich mehrmals. »Sie sind 

ein Russe. Oder so.« 

»Ich versichere Ihnen, daß ich die Wahrheit spreche!« 
»Sie meinen, Sie könnten mir die Gewinner im morgigen 

Rennen nennen, wenn ich Ihnen heute eine Liste zeige?« 

»Ich verstehe nicht.« 
»Sie machen Voraussagen wie die Wahrsager. Sind Sie so et-

was? Ein Zigeuner?« 

»Meine Voraussagen hätten wenig mit Ihrer Zeit zu tun. 

Meine Kenntnis Ihrer nahen Zukunft ist nur rudimentär, um 
es milde auszudrücken.« 

»Sie sind ein verdammter Irrer«, rief Gauner Vine mit einer 

gewissen Erleichterung, als er seine Verwirrung überwunden 
hatte. »Ein entwichener Irrer. Mann, das paßt zu meinem 
Glück!« 

»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz…« 
»Spielt keine Rolle. Sie wollen immer noch nach Bromley?« 
»Ja, gewiß.« 
»Und Sie wollen die heutige Nacht in einem piekfeinen Ho-

tel verbringen?« 

»Wenn Sie das für das Beste halten.« 
»Dann kommen Sie«, sagte Vine. »Aber zunächst brauchen 

Sie ein paar neue Klamotten.« Kopfschüttelnd trat er vor den 
Kleiderschrank. »Mann! Fast hätten Sie mich dazu gebracht, 
Ihnen zu glauben.« 

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Jherek stand vor dem Spiegel und betrachtete sich mit Wohl-

gefallen. Er trug ein weißes Hemd mit einem hohen, gestärk-
ten Kragen, eine dunkle purpurne Krawatte mit einer Perle als 
Krawattennadel, eine schwarze Weste, schwarze Hosen, hohe, 
schwarzpolierte Stiefel, einen schwarzen Gehrock und auf 
dem Kopf einen hohen, schwarzen Seidenhut. 

»Das Ebenbild eines englischen Aristokraten, glauben’s 

mir«,  sagte Gauner Vine, der die Ausstattung zusammenge-
stellt hatte. »Man wird Sie für echt halten, Eure Lordschaft.« 

»Danke«, erwiderte Jherek, der die Bemerkungen seines 

Freundes als Kompliment ansah. Er lächelte und strich über 
seine Kleidung. Sie erinnerten ihn an die Kostüme, die ihm 
Mrs. Amelia Underwood vorgeschlagen hatte. Sie hob seine 
Stimmung auf bemerkenswerte Weise. Sie schien ihn ihr nä-
herzubringen. »Mr. Vine, mein Bester, mein Kostüm ist rei-

zend!« 

»He, nur ruhig«, brummte Gauner und beäugte ihn mit ei-

nem gewissen Ausdruck der Beunruhigung im schmalen, 
wachsamen Gesicht. Er selbst war ganz in Schwarz gekleidet, 
obwohl sein Kostüm nicht so vornehm war wie Jhereks. Er griff 
nach den beiden Reisetaschen, die er gereinigt und mit einer 
Anzahl kleinerer Taschen gefüllt hatte. »Beeilen wir uns. Die 
Droschke wird gleich da sein. Die Kutscher bleiben nicht gern 
lange vor Jones’ Laden stehen.« 

Sie kehrten in das Gedränge zurück, erregten gewisse Belusti-

gung und ernteten auch einige Pfiffe und Buhrufe, ehe sie 
draußen in der kalten Nacht standen. Der Nebel hatte sich ein 
wenig gelichtet. Jherek entdeckte eine in der Straße wartende 
Droschke. Sie war vom gleichen Typ wie jene, die ihn zu Boden 
geworfen hatte. 

»Victoria Station«, wies Gauner den Kutscher an, der auf dem 

hohen Bock am Ende der Kutsche saß. 

Sie bestiegen den Einspänner, und der Kutscher trieb das 

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Pferd an. Polternd fuhren sie durch die Straßen von White-
chapel. 

»Es ist ein hübsches Stückchen«, informierte Vine Jherek, der 

von der Droschke und dem, was er durch die Fenster sehen 
konnte, fasziniert war. »Dort wechseln wir die Droschke. Ich 
möchte den Kutscher nicht mißtrauisch machen.« 

Jherek fragte sich, warum der Kutscher mißtrauisch werden 

sollte, aber er hatte sich daran gewöhnt, Gauner Vine zuzuhö-
ren, ohne jedes Wort zu verstehen. 

Allmählich wurden die Straßen breiter und die Gaslaternen 

häufiger. Auch der Verkehr wurde dichter. 

»Wir erreichen gleich die Stadtmitte«, beantwortete Gauner 

Jhereks Frage. »Vor uns liegt Trafalgar Square. Das hier ist The 
Strand. Wir fahren über Whitehall und dann die Victoria Street 
hinunter bis zum Bahnhof.« 

Die Namen sagten Jherek nichts, aber alles machte auf ihn ei-

nen wunderbaren, exotischen Eindruck. Er nickte, lächelte und 
wiederholte im stillen die Worte. 

Sie stiegen vor einem recht großen Gebäude aus Glas und Be-

ton aus, das mehrere breite Eingänge besaß. Als Jherek durch 
einen der Eingänge schielte, sah er einen Streifen Asphalt und 
dahinter eine Reihe von Eisengittern. Jenseits der Gitter stan-
den ein oder zwei Maschinen, die er sofort als größere Ausga-
ben seiner eigenen Lokomotive erkannte. Er schrie vor Entzük-
ken auf. »Ein Museum!« 

»Eine verdammte Eisenbahnstation«, knurrte Vine. »Von 

hier gehen die Züge ab. Gibt es in Ihrem Land noch keine Ei-
senbahnen?« 

»Nur die eine, die ich mir selbst gemacht habe«, erwiderte 

Jherek. 

»Gott steh mir bei!« sagte Gauner und hob die Augen hin-

auf zum Glasdach, das von Metallträgern gestützt wurde. Er 
drängte Jherek durch einen der Eingänge und über den As-

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phalt, so daß sie dicht an einigen der Lokomotiven vorbeika-
men. 

»Was sind das für Kästen dahinter?« fragte Jherek neugie-

rig. 

»Waggons!« schnaubte Gauner. 
»Oh, ich muß davon ein paar erschaffen, sobald ich wieder 

in meiner eigenen Zeit bin«, rief Jherek. 

»Und jetzt«, sagte Gauner, ohne auf seine Bemerkung einzu-

gehen, »werden Sie mir das Reden überlassen. Sie halten den 
Mund, verstanden damit Sie uns nicht beide in Schwierigkei-
ten bringen.« 

»Gewiß, Gauner.« 
»Sagen Sie Vine, wenn Sie mich schon beim Namen nennen 

müssen. Aber versuchen Sie das zu vermeiden, klar?« 

Erneut erklärte Jherek sein Einverständnis. Sie gingen durch 

einen Ausgang, vor dem eine Anzahl weiterer Droschken war-
teten. Gauner winkte die nächste heran, und sie stiegen ein. 

»Imperial-Hotel«, sagte Gauner. Er drehte sich zu Jherek um, 

der wieder durch das Fenster hinaus in die romantische Nacht 
starrte. »Und vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe, 
ja?« 

»Sie sind mein Führer«, versicherte ihm Jherek. »Ich bin in 

Ihrer Hand Vine.« 

»Fein.« 
Und bald hielt die Droschke vor einem riesigen Gebäude, 

dessen untere Fenster hell erleuchtet waren. Es hatte einen im-
posanten Eingang aus Marmor und Granit und einen steiner-
nen Vorbau, der von Marmorsäulen gestützt wurde. Als die 
Droschke vorfuhr, eilte ein Mann mittleren Alters in dunkel-
grüner Kleidung und mit einem grünen Zylinder auf dem 
Kopf, der noch höher war als der Jhereks, aus dem Gebäude 
und öffnete den Wagenschlag. Ein gleichfalls grüngekleideter 
Junge, der auf dem Kopf  jedoch ein Pagenkäppi trug, folgte 

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dem Mann und griff nach den beiden Taschen, die ihm vom 
Kutscher gereicht wurden. 

»Guten Morgen, Sir«, sagte der Mann mittleren Alters zu Jhe-

rek. 

»Dies ist Lord Carnell«, erklärte Gauner Vine. »Ich bin sein Se-

kretär. Wir haben von Dover aus telegraphiert, daß wir um die-
se Zeit ankommen würden.« 

Der Mann mittleren Alters runzelte die Stirn. »Ich kann mich 

an kein Kabel erinnern, Sir. Aber vielleicht weiß man an der 
Rezeption Bescheid.« 

Gauner bezahlte den Kutscher, und sie folgten dem Jungen 

mit den Taschen in die Wärme eines großen Foyers, an dessen 
Ende ein glänzend polierter Tresen stand. Hinter dem Tresen 
befand sich ein alter Mann in einem schwarzen Gehrock mit 
grauer Weste. Er wirkte ein wenig überrascht und blätterte in 
einem dicken Buch, das vor ihm auf dem Tresen lag. Jherek 
sah sich um, als Vine an den Tresen trat. Im Foyer standen eine 
große Zahl von Topfpalmen, und sie erinnerten ihn ebenfalls 
wehmütig an Mrs. Underwood. Er hoffte, daß er direkt morgen 
früh nach Bromley abreisen konnte. 

»Lord Carnell, Sir?« sagte der alte Mann in dem Gehrock zu 

Vine. »Ich fürchte, Sir, wir haben kein Telegramm erhalten.« 

»Das ist mir außerordentlich unangenehm«, sagte Vine in ei-

nem wiederum anderen Tonfall. »Ich persönlich habe sofort 
nach dem Anlegen des Schiffes das Telegramm abgeschickt.« 

»Kein Grund zur Sorge, Sir«, beruhigte ihn der alte Mann, 

»wir haben zufällig genug freie Räumlichkeiten. Was wünschen 
Sie?« 

»Eine Suite«, entgegnete Gauner Vine, »für seine Lordschaft, 

und für mich ein Nebenzimmer.« 

»Natürlich, Sir.« Erneut sah der alte Mann in dem Buch nach. 

»Nummer 26 mit Blick auf den Fluß, Sir. Eine wundervolle Aus-
sicht.« 

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»Das wird genügen«, sagte Vine ein wenig hochmütig. 
»Wenn Sie sich bitte eintragen würden, Sir.« 
Jherek wollte soeben darauf hinweisen, daß er nicht schreiben 

konnte, als Vine nach der Feder griff, sie in das Tintenfaß tauch-
te und Zeichen auf das Blatt malte. Offenbar war es nicht not-
wendig, daß sie sich beide eintrugen. 

Sie schritten über die weichen, scharlachroten Teppiche zu ei-

nem Käfig aus geschwungenem Messing und Eisen, und der 
Junge zog ein Gatter zur Seite, so daß sie hineingehen konnten. 
In dem Käfig stand ein weiterer alter Mann. »Nummer 26«, 
sagte der Junge. 

Jherek sah sich um. »Ein merkwürdiges Zimmer«, murmelte 

er. Aber Vine gab keine Antwort. Er sah starr an Jherek vor-
bei. 

Der alte Mann zog an einem Seil, und plötzlich erhoben sie 

sich in die Luft. Jherek kicherte vor Entzücken und schrie 
dann leise auf, als der Käfig plötzlich anhielt und er gegen 
die Wand fiel. Der alte Mann öffnete das Gatter. 

»Aha«, sagte Jherek wissend. Dies war eine primitive Form 

der Lévitation. Hinter dem Gatter lag ein mit scharlachroten 
Teppichen ausgelegter Korridor. Die ganze Umgebung ver-
breitete eine Aura großen Luxus’. Es war fast wie zu Hause. 

Beinahe augenblicklich gesellten sich der schwarzbefrackte 

Mann und der Junge mit den Reisetaschen zu Jherek und Vi-
ne. Man führte sie ein kurzes Stück des Korridors entlang und 
in eine Flucht weiträumiger Zimmer. Durch die Fenster konn-
te man einen Streifen schimmernden Wassers erkennen, je-
nem Flußlauf ähnlich, den Jherek unmittelbar nach seiner 
Ankunft gesehen hatte. 

»Wünschen Sie, daß man Ihnen einen Imbiß aufs Zimmer 

bringt, Sir?« fragte der Mann in dem Gehrock Jherek. Jherek 
stellte fest, daß er allmählich Hunger verspürte. Er wollte 
schon den Mund öffnen, um sein Einverständnis zu erklären, 

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als Gauner Vine dazwischenfuhr. 

»Nein, danke. Wir haben bereits diniert auf der Fahrt von 

Dover.« 

»Dann gestatten Sie, daß ich Ihnen eine gute Nacht wün-

sche, Eure Lordschaft.« Dem Mann in dem Gehrock schien es 
zu mißfallen, daß Gauner Vine für Jherek gesprochen hatte. 
Diese letzte Bemerkung war betont an Jherek gerichtet. 

»Gute Nacht«, antwortete Jherek. »Und vielen Dank, daß Sie 

den Fluß dorthin verlegt haben. Ich…« 

»Wegen der Aussicht. Wir sind einige Zeit außer Landes ge-

wesen. Seine Lordschaft hat die gute alte Themse seit dem ver-
gangenen Jahr nicht mehr gesehen«, erklärte Gauner Vine 
hastig und drängte den alten Mann und den Jungen hinaus. 

Schließlich fiel die Tür ins Schloß. 
Vine warf Jherek einen seltsamen Blick zu und schüttelte den 

Kopf. »Nun, ich habe keinen Grund zur Beschwerde. Wir sind 
drin. Und es sollte mich nicht wundern, wenn wir ein gut Teil 
besser dran sind, sobald wir wieder draußen sind. Sie sollten 
vielleicht ein Nickerchen machen, solange Sie noch Gelegenheit 
dazu haben. Ich verziehe mich jetzt in mein Zimmer. Wünsche 
wohl zu ruhen Eure Lordschaft.« Kichernd verließ Gauner Vi-
ne den Salon und schloß hinter sich die Tür. 

Jherek hatte so gut wie nichts von Vines letzten Bemerkungen 

verstanden, aber er zuckte die Schultern und trat ans Fenster, 
um den Fluß zu betrachten. Er stellte sich vor, wie er und Mrs. 
Amelia Underwood in einem Stechkahn darauf fuhren. Er 
stellte sich Mrs. Amelia Underwood jetzt an seiner Seite vor 
und seufzte. Selbst wenn er Schwierigkeiten haben sollte, in 
seine eigene Zeit zurückzukehren, so war er überzeugt, sich 
hier rasch einleben zu können. Alle waren so freundlich zu 
ihm. Vielleicht war auch Mrs. Underwood in ihrer eigenen Zeit 
freundlicher. Nun, sie würden bald wieder vereint sein. Mit der 
Melodie von »Alles ist so hell und schön« auf den Lippen 

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schlenderte er durch die Suite, erforschte das Schlafzimmer, das 
Wohnzimmer, den Ankleideraum und die Badezimmer. Inzwi-
schen wußte er über Installationen Bescheid, aber er war faszi-
niert von den Hähnen, den Stöpseln und den Ketten, die dazu 
dienten, verschiedene Porzellanbehälter mit Wasser zu füllen 
und sie wieder zu entleeren. Eine Weile spielte er an ihnen 
herum, bis er es leid wurde und in das gaslichterhellte Schlaf-
zimmer zurückkehrte. Vielleicht soll ich mich besser schlafen 
legen, dachte er. Und dennoch, trotz all seiner Abenteuer, der 
leichteren Verletzungen, seiner Erregung fühlte er sich nicht im 
mindesten erschöpft. 

Er fragte sich, ob Gauner Vine müde war. Er öffnete die Tür, 

um nachzuschauen, ob sein Freund Schlaf gefunden hatte, und 
überrascht stellte er fest, daß Vine verschwunden war. Das Bett 
war leer. Die beiden Taschen standen geöffnet auf dem Bett, 
aber die kleineren Taschen, die sich in ihnen befunden hatten, 
fehlten ebenfalls. 

Jherek konnte sich weder Gauners Abwesenheit erklären, 

noch konnte er sich vorstellen, wohin er die Taschen gebracht 
hatte. Er begab sich wieder in sein eigenes Zimmer, betrachtete 
erneut die Themse, verfolgte, wie ein schwarzes Fahrzeug vor-
beituckerte und dann unter dem Bogen einer der nahen Brük-
ken verschwand. Der Nebel war jetzt so dünn, daß Jherek das 
andere Ufer des Stromes, die Umrisse der Gebäude und das 
Licht der Gaslaternen erkennen konnte. Lag Bromley in dieser 
Richtung? 

Er hörte ein Geräusch aus Gauners Zimmer. Er drehte sich 

um. Gauner war zurückgekehrt, kam hereingeschlichen und 
schloß die Außentür leise hinter sich. In einer Hand hielt er zwei 
der kleineren Taschen, und sie waren voll. Sie waren ausge-
beult. Er wirkte ein wenig überrascht, als er bemerkte, daß Jhe-
rek ihn beobachtete. Er grinste schwach. »Oh, hallo, Eure 
Lordschaft.« 

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»Hallo, Gauner.« Jherek empfand keine besondere Neugier 

über Gauners Aktivitäten. Er lächelte zurück. 

Wie es schien, deutete Gauner das Lächeln falsch. Er nickte, 

als er zu seinem Bett ging und die beiden kleinen Taschen in 
einer der großen verstaute. »Sie haben es geahnt, nicht 
wahr?« 

»Das mit den Taschen?« 
»Genau. Nun, für Sie fällt auch etwas ab.« Gauner lachte. 

»Und wenn es nur das Fahrgeld nach Bromley ist, eh?« 

»Ah, ja«, sagte Jherek. 
»Nun, ‘türlich wird geteilt. Wären Sie mit einem Viertel zu-

frieden? Nämlich, weil ich das ganze Risiko auf mich nehme. 
Hören Sie, das ist der beste Fischzug, den ich je gelandet habe. 
Seit Jahren habe ich davon geträumt, mich hier einzuschlei-
chen. Jeder Gauner träumt davon. Ich habe nur jemanden ge-
braucht, der als vornehmer Herr durchgehen könnte, wissen 
Sie.« 

»Oho«, machte Jherek, dem Gauners Bemerkungen noch 

immer rätselhaft blieben. Er lächelte erneut. 

»Sie sind heller, als ich dachte, wissen Sie. Ich schätze, selbst 

da, wo Sie herkommen, gibt’s Gauner in den Hotels, was? 
Nun, machen Sie sich keine Sorgen, wie ich zu sagen pflege. 
Halten Sie nur den Mund. Wir werden morgen früh von hier 
verschwunden sein, bevor einer von den anderen auf ist und 
zwar um einiges reicher als sie, eh?« Gauner lachte. Er zwin-
kerte. Er öffnete die Tür, verschwand erneut und schloß die 
Tür leise hinter sich. 

Jherek ging hinüber zu den Taschen. Es dauerte eine Weile, 

bis er dahinterkam, wie man sie aufmachte, aber schließlich 
gelang es ihm doch, eine aufzuklappen und hineinzuschau-
en. Gauner schien Uhren, Ringe und goldene Scheibchen zu 
sammeln. Es gab noch viele verschiedene andere Dinge in den 
Taschen, unter anderem einige Diamantnadeln wie jene in 

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Jhereks Krawatte (nur daß seine aus einer Perle bestand), ein 
paar kleine Haken, um die Ärmel von Hemden zusammenzu-
stecken, und einige flache Behälter, in denen sich weiße Pa-
pierröhrchen befanden, in denen wiederum sich eine Art aro-
matisches Kraut befand. Es gab einige Flakons aus Silber und 
Gold, es gab Ziernägel, Ketten, Anhänger, Halsketten, zwei 
Diademe und einen Fächer in einem smaragdbesetzten Gold-
etui. Alles war recht hübsch, aber Jherek konnte nicht ver-
stehen, warum Gauner Vine so viele von diesen Dingen 
brauchte. Er zuckte die Achseln und schloß die Tasche. 

Kurze Zeit später kehrte Gauner Vine mit zwei weiteren Ta-

schen zurück. Er war in Hochstimmung. Er atmete schwer. 
Seine Augen funkelten. 

»Der größte Fischzug meines Lebens. Sie können sich nicht 

vorstellen, was ich heute nacht für eine Beute gemacht habe. 
Ich hätte mir in hundert Jahren keine bessere Nacht aussu-
chen können. Irgendwo in Belgravia ist ein großer Ball gewe-
sen. Ich habe ein Programmheft gesehen. Und die Bonzen sind 
aus dem ganzen Land heraufgekommen und Leute von aus-
wärts –, und alle haben ihre Klunker mitgebracht. In ihren 
Zimmern muß Kram im Wert von einer Million Pfund herum-
liegen. Und sie schnarchen selig, und ich brauche das Zeug nur 
einzusammeln!« Gauner zog einen umfangreichen Schlüssel-
bund aus der Tasche und rasselte damit vor Jhereks Nase her-
um. Aus der anderen Tasche zog er einen kleinen Gegenstand, 
der Jherek an die Keule erinnerte, die Yusharisp in seiner Ver-
kleidung als Piltdown-Mensch getragen hatte. Nur war diese 
hier kleiner. »Und schauen Sie sich das an! Fand sie oben auf 
einer Schmuckkassette. Eine mit Perlen ausgelegte Pistole. Die 
behalt ich für mich.« Gauner lachte fröhlich, wenngleich auch 
sehr leise. »Für’n Fall, daß Einbrecher kommen, eh, Jerry?« 

Jherek war froh, seinen Freund vergnügt zu sehen. Die Begei-

sterung anderer Leute war oft nur schwer zu verstehen, und 

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diese gehörte zweifellos zu einer Art, die er nicht teilen konnte, 
aber er lächelte. 

»Für’n Fall, daß Einbrecher kommen!« wiederholte Gauner 

entzückt. Er öffnete eine der Taschen, fischte ein paar Perlenket-
ten heraus und hielt sie ins Licht. »Wir packen alles zusammen 
und verschwinden von hier, solange sie noch ihren Schampus-
rausch ausschlafen. Ha, ha!« 

Allmählich begann Jherek müde zu werden. Er gähnte. Er 

streckte sich. »Gut«, nickte er. »Haben Sie etwas dagegen, wenn 
ich ein oder zwei Stunden schlafe, bevor wir aufbrechen, Gau-
ner?« 

»Schlafen Sie den Schlaf des Gerechten, mein alter Partner. Sie 

haben mir Glück gebracht, soviel steht fest. Ich kann mich zur 
Ruhe setzen. Ich kann mir einen Rennstall zulegen, ihn mit 
Pferden vollstopfen und Stallhalter werden. Gauner Vine, Hal-
ter des Derby-Siegers. Ich sehe es schon vor mir.« Er gestikulier-
te. »Und ich könnte mir einen Pub kaufen, irgendwo auf dem 
Land. Bei Hailsham. Oder in Epsom, an der Bahn.« Er schloß 
die Augen. »Oder ins Ausland gehen. Nach Paris! Oh-la-la.« Er 
kicherte vor sich hin, während er eine weitere Tasche zusam-
menfaltete und unter seine Jacke schob. Und dann ver-
schwand er erneut. 

Jherek legte sich auf sein Bett, nachdem er Rock und Seiden-

hut abgelegt hatte. Er wartete auf die Morgendämmerung, in 
der ihm, wie er hoffte, Gauner den Weg nach Bromley und zur 
Collins Avenue Nummer 23 zeigen würde. 

»Oh, Mrs. Underwood!« keuchte er. »Haben Sie keine Furcht. 
Selbst jetzt grübelt Ihr Retter über Ihre Rettung nach!« 
Er hoffte, daß Mr. Underwood Verständnis für die Situation 

haben würde. 

Jherek wurde von Gauner Vine geweckt, der ihn an der 

Schulter rüttelte. Gauners Gesicht trug einen Ausdruck ent-
rückter Verzükkung. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Seine 

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Augen glitzerten. 

»Zeit zum Verschwinden, Jerry, mein Junge. Zurück zu Jo-

nes. Noch heute nacht liegt das Zeug beim Hehler, und dann 
wird es Zeit, daß ich mich für eine Weile auf den Kontinent 
verziehe.« 

»Bromley?« fragte Jherek und setzte sich steif auf. 
»Nach Bromley können Sie, sobald Sie wollen. Ich werde Sie 

am Bahnhof absetzen. Ich besorge Ihnen eine Fahrkarte. 
Wenn ich die Zeit hätte, würde ich Ihnen sogar einen ver-
dammten Sonderzug mieten für das, was Sie für mich getan 
haben.« 

Gauner fuchtelte mit Jhereks Zylinder und Rock. »Schnell, 

hinein mit Ihnen. Ich habe denen bereits gesagt, daß wir 
frühzeitig aufbrechen zu Ihrem Landsitz. Sie ahnen nicht das 
geringste. Komisch, was für vertrauensselige Heinis sie doch 
sind, wenn sie glauben, daß man einen Titel hat.« 

Jherek Carnelian streifte den Rock über. An der Tür klopfte 

es. Einen Moment lang sah Gauner betroffen und alarmiert 
drein, aber dann entspannte er sich und lächelte. »Das wird 
der Junge sein, um unser Gepäck abzuholen. Wir lassen ihn 
die Beute für uns ‘raustragen, eh?« 

Jherek nickte geistesabwesend. Er war wieder mit seinen 

Gedanken bei dem Wiedersehen mit Mrs. Underwood. 

Der Junge trat ein. Er hob ihre Taschen auf. Er runzelte die 

Stirn, als er bemerkte, daß er sich bei ihnen anstrengen mußte, 
als würde er sich erinnern, daß sie gestern nacht nicht so 
schwer gewesen waren. 

»Nun, Sir«, sagte Gauner Vine mit lauter Stimme zu Jherek 

Carnelian, »es sollte mich nicht wundern, wenn Sie froh 
sind, nach Dorset zurückzukehren.« 

»Dorset?« Während sie dem Jungen durch den Korridor 

folgten, fragte sich Jherek, warum ihn Vine auf solch seltsame 
Weise ansah. »Bromley«, sagte er. 

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»Genau, Sir.« Ängstlich legte Gauner einen Finger an die 

Lippen. Sie betraten den Käfig und wurden hinunter ins Erd-
geschoß getragen. Vine stand die Hochstimmung noch immer 
im Gesicht geschrieben, aber er gab sich alle Mühe, sie zu ver-
bergen und seinen Zügen wieder die Strenge der vergangenen 
Nacht zu verleihen. 

Draußen graute der Morgen; ein grauer, regnerischer Morgen. 

Jherek wartete in der Nähe der Tür, während ein anderer Jun-
ge hinausging, um eine Droschke zu suchen, denn in dieser 
frühen Stunde wartete keine vor dem Hotel. Derselbe alte 
Mann stand hinter der Rezeption. Er runzelte leicht die Stirn, 
als er die Goldscheibchen entgegennahm, die ihm Gauner Vi-
ne aushändigte. 

»Seine Lordschaft hat es eilig, aufs Land zurückzukehren«, 

erklärte Vine. »Ihrer Ladyschaft geht es nicht sehr gut. Deshalb 
haben wir Frankreich so überstürzt verlassen müssen.« 

»Ich verstehe.« Der alte Mann kritzelte etwas auf ein Blatt Pa-

pier und reichte es dann Vine. 

Jherek glaubte, an diesem Morgen eine leicht gespannte At-

mosphäre in dem Hotel wahrzunehmen. Jeder schien ihn mit 
einem etwas merkwürdigen Ausdruck anzusehen. Er hörte, 
wie eine Droschke ratternd die Straße heraufgerollt kam, und 
sah sie mit dem grüngekleideten Jungen auf dem Trittbrett 
vorfahren. Der Mann mittleren Alters mit dem Zylinder öffnete 
die Glastür. Der Junge nahm das Gepäck, als Gauner das Foyer 
durchschritt und sich zu Jherek gesellte. 

»Auf Wiedersehen, Eure Lordschaft«, sagte der Mann hinter 

dem Tresen. 

»Auf Wiedersehen«, erwiderte Jherek freundlich. »Vielen 

Dank.« 

»Diese Taschen sind schwer, Sir«, klagte der Junge. 
»Werd nicht frech, Herbert«, wies ihn der Mann mittleren Al-

ters an der Tür zurecht. 

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»Ja«, sagte Jherek im Plauderton, »sie sind jetzt mit Gauners 

Beute gefüllt.« 

Gauner keuchte, als der Mund des Mannes mittleren Alters 

aufklappte. 

In diesem Moment kam ein rotgesichtiger Mann in einem 

Nachthemd die Treppe heruntergerannt und zog dabei einen 
samtenen Morgenmantel an, den Jherek selber liebend gern ge-
tragen hätte. 

»Man hat mich ausgeraubt!« schrie der rotgesichtige Mann. 

»Die Juwelen meiner Frau! Mein Zigarettenetui. Alles.« 

»Stehenbleiben!« brüllte der Mann hinter dem Tresen. 
Der Mann mittleren Alters ließ die Tür los und warf sich auf 

Jherek. Der Junge ließ die Taschen fallen. Jherek stürzte. Er war 
noch nie zuvor körperlich angegriffen worden. Er lachte. 

Der Mann mittleren Alters drehte sich zu Gauner Vine herum, 

der verzweifelt versuchte, die Taschen durch die Tür und in 
die Droschke zu bekommen mit einem Ausdruck tiefer Qual 
auf dem schmalen Gesicht. Er ließ das Gepäck los, als ihn der 
Mann mittleren Alters angriff. 

»Das können Sie nicht!« schrie er. »Nicht jetzt!« Er kämpfte 

sich frei und zog etwas aus der Tasche. »Zurück!« 

 »Ein Gauner!« knurrte der Mann mittleren Alters. »Ich 

hätte es wissen müssen. Versuchen Sie ja nicht, mir zu drohen. 
Ich bin früher Oberfeldwebel gewesen.« Und erneut ging er 
auf Gauner los. Ein ohrenbetäubender Knall ertönte. 

Der Mann mittleren Alters stürzte zu Boden. Gauner starrte 

ihn überrascht an. Die Überraschung spiegelte sich auf dem 
Gesicht des Mannes mittleren Alters, der nun einen großen 
roten Fleck auf der Brustseite seiner grünen Uniform besaß. 
Sein Zylinder rutschte ihm vom Kopf. Gauner machte eine 
Handbewegung in Richtung des Mannes in dem Morgen-
mantel und des alten Mannes in dem schwarzen Rock. 
»Nehmen Sie die Taschen, Jerry«, befahl er. 

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Verwirrt bückte sich Jherek und hob die beiden schweren 

Taschen auf. Der Junge duckte sich mit eingezogenen Wangen 
und aufgerissenen Augen hinter eine der Topfpalmen. Gau-
ner Vine stand mit dem Rücken zur Tür, aber Jherek bemerk-
te, daß der Kutscher von seiner Droschke gestiegen war, die 
Straße hinunterlief und jemandem zuwinkte, den Jherek nicht 
sehen konnte. Er hörte ein Pfeifen. 

»Durch die Tür«, sagte Gauner mit gepreßter, kalter Stim-

me. 

Jherek ging durch die Tür und auf die regnerische Straße. 
»In die Droschke, schnell«, befahl Gauner. Jetzt gestikulier-

te er mit dem schwarzsilbernen Gegenstand in Richtung 
der Droschke und eines anderen Mannes, der einen dunkel-
blauen Anzug und einen runden Hut ohne Krempe trug und 
die Straße entlang auf sie zulief. »Zurück oder ich schieße!« 

Jherek fand die ganze Situation ausnehmend amüsant. Er 

hatte nicht die geringste Vorstellung, um was es ging, aber er 
genoß das Schauspiel. Er freute sich schon darauf, Mrs. Amelia 
Underwood in ein paar Stunden davon zu erzählen. Verwun-
dert stellte er fest, daß Gauner Vine auf den Bock der Droschke 
stieg und dem Pferd die Peitsche gab. Die Droschke raste die 
Straße hinunter. Jherek hörte einen weiteren Knall, und dann 
bogen sie um eine Ecke und schossen durch eine andere 
Durchgangsstraße, auf der es von Menschen wimmelte, die 
zum größten Teil graue Überzieher und flache Hüte trugen. 
Alle Passanten drehten die Köpfe und starrten die Droschke 
an, als sie vorbeihuschte. Jherek winkte ihnen fröhlich zu. 

In ausgezeichneter Laune, denn er würde in Kürze in Brom-

ley sein, fing er an zu singen. »Jesus schenkt uns Licht mit einem 
reinen, klaren Schein…«, intonierte er, während er in der ra-
senden Droschke hin und her geworfen wurde. »Wie eine Ker-
zenflamme in der Nacht so hell und fein!« 

Sie erreichten den Eingang von Jones’ Küche erst nach ge-

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raumer Zeit, denn Gauner Vine hatte beschlossen, die Droschke 
etwa einen Kilometer davor stehenzulassen. Jherek, der die 
Taschen trug, war ausgesprochen erleichtert, als sie das Haus 
betraten, und er fragte sich, warum sich Gauners Verhalten so 
bemerkenswert verändert hatte. Der Mann fauchte ihn an und 
sagte ihm Dinge wie: »Du hast uns von einem Moment zum 
anderen alles vermasselt. Ich bete zu Gott, daß dieser Bursche 
nicht gestorben ist. Wenn doch, ist es genauso deine Schuld 
wie meine.« 

»Gestorben?« hatte Jherek unschuldig wiederholt. »Aber 

kann er denn nicht wiederbelebt werden? Oder ist es noch zu 
früh?« 

»Halt die Klappe!« hatte ihm Gauner befohlen. »Na, wenn ich 

baumeln muß, dann du auch. Ich hält dich zurückgelassen, 
hätt ich nich genau gewußt, daß du in Nullkommanichts alles 
ausquatschen wirst. Ich hätt dich am besten auch umlegen sol-
len.« Er lachte bitter. »Vergiß ja nicht, daß du mein Komplize 
bist, das rat ich dir.« 

»Sie sagten, Sie würden mich nach Bromley bringen«, erinner-

te ihn Jherek behutsam, als sie die Treppe zu Jones’ Küche hi-
naufgingen. 

»Bromley?« Gauner Vine grinste höhnisch. »Ha! Du kannst 

von Glück sagen, wenn du nicht in der Hölle endest!« 

Im Lauf der nächsten Tage begann Jherek sogar noch deutli-

cher als zuvor zu begreifen, was Elend war. Er stellte fest, daß 
ihm ohne sein Zutun ein Bart wuchs, der entsetzlich juckte. Er 
wurde ein Opfer von drei oder vier verschiedenen Sorten win-
ziger Insekten, und sie zerbissen ihn am ganzen Leib. Die Klei-
dung, die ihm Gauner Vine am Anfang gegeben hatte, wurde 
ihm abgenommen, und man gab ihm dafür ein paar dünne 
Lumpen zum Anziehen. Gelegentlich verließ Gauner ihr ge-
meinsames Zimmer, ging hinunter ins Erdgeschoß und kam 
jedesmal ausgesprochen mürrisch und schwankend und nach 

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dem Zeug riechend zurück, das die Frau Jherek in seiner er-
sten Nacht in Jones’ Küche angeboten hatte. Und es wurde 
sehr kalt. Gauner erlaubte Jherek nicht, nach unten zu gehen 
und sich am Feuer zu wärmen, so daß Jherek nicht nur die Na-
tur der Kälte, sondern auch die Natur des Hungers und des 
Durstes kennenlernte. Anfänglich machte er das Beste daraus, 
genoß jede Erfahrung, aber mit der Zeit bedrückte es ihn. Und 
mit  der Zeit war er nicht mehr in der Lage, auf das Neue 
überhaupt noch anzusprechen. Mit der Zeit lernte er, was 
Furcht hieß. Gauner brachte es ihm bei. Gauner fauchte ihn 
manchmal an und gab unverständliche Drohungen von sich. 
Gauner knurrte, fluchte und schlug Jherek, der immer noch 
keine Anstalten machte, sich zu wehren. Tatsächlich war ihm 
allein die Vorstellung, sich zu wehren, fremd. Und all die 
Menschen, die bei seiner Ankunft so freundlich zu ihm gewe-
sen waren, ignorierten ihn nun oder knurrten ihn wie Gauner 
an, wenn er sich aus dem Zimmer wagte. Er wurde mager, 
bösartig und schmutzig. Seine Verzweiflung wich, und seine 
Erinnerung an Bromley und an Mrs. Amelia Underwood 
wich ebenfalls. Er begann zu vergessen, daß er je ein anderes 
Leben als das in dem erbärmlichen, mit Koffern überfüllten 
Zimmer über Jones’ Küche geführt hatte. 

Und dann, eines Morgens, drang von unten ein großer Tu-

mult herauf. Gauner lag noch immer schnarchend auf dem 
Bett, nachdem er wie gewöhnlich schwankend und streitlu-
stig zurückgekehrt war, und Jherek schlief wie gewöhnlich an 
seinem Platz unter dem Tisch. Jherek erwachte zuerst, aber 
seine Sinne waren zu sehr abgestumpft vom Hunger, von der 
Müdigkeit und dem Kummer, als daß er irgendeine Reaktion 
auf den Lärm gezeigt hätte. Er hörte Schreie und Schläge. 
Gauner regte sich und öffnete die trüben Augen. 

»Was ist das?« fragte er heiser. »Wenn bloß dieser verdamm-

te Hehler aufkreuzen würde. All das Zeug, und keiner hat 

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Traute, was damit zu machen, nur weil dieser Bursche tot is.« 
Er schwang die Beine aus dem Bett und trat automatisch nach 
Jherek. »Jesus, ich wünschte, diese verdammte Kutsche hätt 
dich damals in der verdammten ersten Nacht überfahren.« 

Dies war das übliche, sich so gut wie nie ändernde Weckri-

tual. Aber an diesem Morgen reckte Gauner den Hals, als ihm 
dämmerte, daß unten etwas vor sich ging. Er griff unter sein 
Kissen und zog die Pistole hervor. Dann stand er auf und 
schlich zur Tür. Vorsichtig öffnete er sie, mit der Pistole in der 
Hand. Erneut verharrte er, um zu lauschen. Laute Stimmen. 
Verwünschungen. Schreie. Schrille, beleidigt klingende Frau-
enstimmen. Das Wimmern eines Jungen. Die tiefen, aggressi-
ven Stimmen von Männern. 

Gauner Vine, der nur wenig besser als Jherek aussah, schlich 

hinaus auf den Korridor. Jherek erhob sich und sah ihm vom 
Türrahmen aus nach. Er verfolgte, wie Gauner die Galerie in 
dem Moment erreichte, als zwei Männer in der blauen Klei-
dung, die er nach dem Verlassen des Hotels bei jenem anderen 
Mann gesehen hatte, von beiden Seiten auf ihn zustürmten, als 
hätten sie auf ihn gewartet. Wieder ertönte ein Schuß. Einer der 
Männer in Blau taumelte zurück. Gauner riß sich aus dem Griff 
des anderen los, erreichte die Brüstung der Galerie, zögerte, 
sprang dann hinüber und verschwand so aus Jhereks Blickfeld. 

Jherek schlurfte durch den Korridor auf die Stelle zu, wo der 

eine Mann in Blau dem anderen auf die Beine half. 

»Zurück!« schrie der eine, der nicht verwundet war. Aber Jhe-

rek hörte ihn kaum. Er schlurfte zur Brüstung der Galerie und 
sah nach unten. Gauner lag auf den schmutzigen Fliesen des 
Erdgeschosses. Sein Kopf blutete. Sein ganzes Gesicht schien 
voller Blut zu sein. Er lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen 
in einer linkischen Haltung da und versuchte immer wieder, 
sich auf Hände und Knie aufzurichten, ohne daß es ihm ge-
lang. Langsam wurde er von vielen anderen Männern umringt, 

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die alle die gleichen blauen Anzüge und auf den Köpfen die 
gleichen blauen Hüte trugen. Sie standen da und sahen ihn an, 
ohne Anstalten zu machen, ihm behilflich zu sein. Gauner gab 
nicht auf. Und dann rührte er sich nicht mehr. 

Ein dicker Mann einer der Männer, die hinter der Theke in 

Jones’ Küche bedienten tauchte am Rande des Kreises der 
Männer in Blau auf. Er sah auf Gauner hinunter. Er sah hinauf 
zur Galerie und entdeckte Jherek. Er zeigte auf ihn. »Da isser«, 
sagte er. »Das is der andere.« 

Jherek spürte, wie eine kräftige Hand seine magere Schulter 

umklammerte. Er empfand Schmerzen, denn Gauner hatte 
ihm noch in der vergangenen Nacht an derselben Schulter 
einen blauen Fleck zugefügt. Aber der Schmerz schien sein Er-
innerungsvermögen anzuregen. Er drehte sich um und sah in 
das grimmige Gesicht des Mannes, der ihn festhielt. 

»Mrs. Amelia Underwood«, sagte Jherek mit leiser, bittender 

Stimme. »Collins Avenue 23, Bromley, Kent, England.« 

Er wiederholte den Satz immer und immer wieder, als man 

ihn die Treppe der Galerie hinunter, durch den verlassenen 
Salon, durch die Tür ins Morgenlicht führte, wo ein schwarzer, 
von vier schwarzen Pferden gezogener Wagen auf ihn wartete. 
Erlöst von Gauner, erlöst von Jones’ Küche, verspürte Jherek 
ein sinnloses Gefühl der Erleichterung. 

»Danke«, sagte er zu einem der Männer, der mit ihm in den 

Wagen geklettert war. »Danke.« 

Der Mann schenkte ihm ein dünnes Lächeln. »Dank mir bes-

ser nicht, Bürschchen. Bestimmt wird man dich dafür hän-
gen.« 

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13. Kapitel 

 

DIE STRASSE ZUM GALGEN ALTE FREUNDE IN NEUEN 
KLEIDERN 

 

Besser verpflegt, besser gekleidet und besser behandelt als in 
Jones’ Küche, gewann Jherek Carnelian im Gefängnis allmäh-
lich einen Teil seiner alten Gemütsverfassung zurück. Ihm ge-
fiel insbesondere der graue, sackartige Anzug mit den aufge-
nähten breiten Streifen, und er beschloß, sollte er jemals in sein 
eigenes Zeitalter zurückkehren, sich ein derartiges Kostüm 
zuzulegen (wenn auch mit orangenen Streifen). Die Welt des 
Gefängnisses war nicht besonders farbenfroh. Vorherrschend 
war ödes Grün und Grau und Schwarz. Selbst die Haut der 
anderen Bewohner wies einen Stich ins Graue auf. Und auch 
die Geräusche waren von einer gewissen Monotonie Geklirr, 
Gefluche und Geschrei überwiegten. Aber das tägliche Ritual 
aus Aufstehen, Essen, Bewegung und Schlafen hatte eine hei-
lende Wirkung auf Jhereks Gemüt. Man hatte ihn im Lauf des 
Aufnahmerituals verschiedener Verbrechen angeklagt, und 
bis auf einen gelegentlichen Besucher, der einen sympathi-
schen Eindruck machte, blieb er meist sich selbst überlassen. 
Er erinnerte sich allmählich wieder deutlich an Bromley und 
Mrs. Amelia Underwood. Er hoffte, daß man ihn bald freilas-
sen oder das Ritual auf welche Weise auch immer beenden 
würde. Dann konnte er seine Suche fortsetzen. 

Alle paar Tage besuchte ein Mann in einem schwarzen An-

zug, mit weißem Halskragen und einem schwarzen Buch in 
der Hand Jhereks weißgekachelte Zelle und erzählte ihm von 
einem seiner Freunde, der gestorben war, und von einem an-
deren Freund, den niemand sehen konnte. Jherek stellte fest, 
daß die Stimme des Mannes namens Pastor Lowndes eine 
angenehm einschläfernde Wirkung auf ihn ausübte, und er 

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lächelte, nickte und erklärte seine Zustimmung, wenn Zu-
stimmung angebracht schien, oder er schüttelte den Kopf, 
wenn er den Eindruck hatte, daß Pastor Lowndes Wert auf 
Widerspruch legte. Dies brachte Pastor Lowndes dazu, seine 
große Befriedigung auszudrücken, viel zu lächeln und mit sei-
ner hohen und einschläfernden Stimme noch mehr von sei-
nem toten Freund und dem unsichtbaren Freund zu erzählen, 
der, wie sich herausstellte, der Vater des toten Freundes war. 

Und einmal, im Aufbrach begriffen, klopfte Pastor Lowndes 

Jherek auf die Schulter und versicherte ihm: »Für mich steht 
unzweifelhaft fest, daß Ihre Erlösung nahe ist.« 

Dies stimmte Jherek froh, und er erwartete seine baldige Ent-

lassung. Außerdem wurde die Luft außerhalb des Gefängnis-
ses wärmer, was sehr angenehm war. 

Jhereks anderer Besucher trug einen schwarzen Gehrock und 

einen Seidenhut, einen Eckenkragen und eine schwarze Krawat-
te. Seine Weste war ebenfalls schwarz, aber seine Hosen hatten 
schmale graue Streifen. Er hatte sich als Mr. Griffith, Verteidiger, 
vorgestellt. Sein Kopf war massig und dunkel behaart, und sei-
ne Augenbrauen, die über der Nasenwurzel zusammenliefen, 
waren breit, buschig und schwarz. Auch seine Hände waren 
groß, und sie blätterten ungeschickt in den Dokumenten, die er 
aus seiner dünnen Ledertasche hervorzog. Er saß auf der Kante 
von Jhereks harter Pritsche und stöberte in den Papieren, blies 
ständig die Wangen auf und ließ von Zeit zu Zeit einen lauten 
Seufzer über die Lippen dringen. Dann endlich wandte er sich 
an Jherek und schürzte erneut die Lippen, bevor er sprach. 

»Wir werden auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren müssen, 

mein Freund«, erklärte er. 

»Ah«, machte Jherek verständnislos. 
»Ja, wirklich. Wie es scheint, haben Sie vor der Polizei alles ge-

standen. Mehrere Zeugen haben Sie unzweifelhaft identifiziert. 
Und Sie haben sogar diese Zeugen in Gegenwart anderer Zeugen 

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wiedererkannt. Sie haben keine mildernden Umstände geltend 
gemacht, abgesehen davon, daß sie ›nicht gewußt haben, was 
vor sich ging‹. Wenn man Ihre übrigen Aussagen bedenkt, so 
erscheint dies wenig glaubwürdig. Sie haben gesehen, wie der 
Verstorbene Vine seine ›Beute‹ ins Zimmer gebracht hat. Sie ha-
ben ihm geholfen, sie nach draußen zu tragen. Sie sind mit ihm 
geflohen, nachdem er den Portier erschossen hat. Als man Sie 
nach Ihrem Namen und Ihrer Herkunft gefragt hat, haben Sie 
eine haarsträubende Geschichte erzählt, nach der Sie mit ir-
gendeiner Maschine aus der Zukunft gekommen sind, und Sie 
haben einen Namen angegeben, der offensichtlich erfunden ist, 
von dem Sie aber nicht abrücken wollen. An diesem Punkt set-
ze ich an und dies könnte sehr gut Ihr Leben retten. Nun, am 
besten erzählen Sie mir jetzt Ihre Version der Ereignisse, die 
sich seit der Nacht zugetragen haben, in der Sie Alfred Vine 
begegnet sind, bis zu dem Morgen, an dem Sie beide von der 
Polizei in Jones’ Küche aufgespürt wurden und Vine bei einem 
Fluchtversuch starb…« 

Glücklich erzählte Jherek Mr. Griffiths seine Geschichte, da 

sich so die Zeit vertreiben ließ. Aber Mr. Griffiths blies ständig 
die Wangen auf und verdrehte einoder zweimal die Augen un-
ter den schwarzen Brauen. Einmal schlug er sich mit der 
Hand vor die Stirn und stieß eine Verwünschung aus. 

»Mein einziges Problem ist«, sagte Mr. Griffiths am Ende 

seines ersten Besuchs, »die Geschworenen davon zu über-
zeugen, daß ein Mann, der auf der einen Seite so offensicht-
lich bei Verstand ist wie Sie, auf der anderen Seite unzweifel-
haft auch ein fantasierender Verrückter sein kann. Nun, zu-
mindest bin ich von der Richtigkeit meiner Auffassung über-
zeugt. Auf Wiedersehen, Mr. äh… Auf Wiedersehen.« 

»Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder«, sagte Jherek höflich, 

als der Wärter Mr. Griffiths aus der Zelle herausließ. 

»Ja, ja«, nickte Mr. Griffiths hastig. »Ja, ja.« 

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Mr. Griffiths stattete ihm wie Pastor Lowndes noch eine Rei-

he weiterer Besuche ab. Aber während Pastor Lowndes beim 
Abschied in einer stets besseren Stimmung zu sein schien als 
bei seiner Ankunft, verließ ihn Mr. Griffiths gewöhnlich mit 
einem wilden, unglücklichen Ausdruck auf dem Gesicht und 
in unverändert nervöser Stimmung. 

Die Gerichtsverhandlung gegen Jherek Carnelian wegen 

Beihilfe zum Mord an Edward Franklin Morris, angestellt im 
Imperial-Hotel, Piccadilly, Bezirk Westminster, London, am 
Morgen des 5. April 1896 gegen sechs Uhr früh, fand vor der 
Ersten Strafkammer von Old Bailey am 30. Mai um 10 Uhr mor-
gens statt. Niemand, selbst der Angeklagte nicht, rechnete mit 
einer langen Verhandlung. Die einzige Unsicherheit betraf das 
Urteil, und sogar das Urteil schien Jherek Carnelian keine 
Sorgen zu bereiten, der darauf bestanden hatte, seinen erfun-
denen Namen beizubehalten, trotz aller Warnungen, daß eine 
Weigerung, seinen richtigen Namen anzugeben, gegen ihn 
sprechen würde. Vor Beginn der Verhandlung wurde Jherek 
zu einem hölzernen Kasten geführt, in dem er während der 
Dauer der Veranstaltung stehen mußte. Er war angenehm 
angetan von dem Kasten, konnte man von dort aus doch den 
Rest des verhältnismäßig großen Saales bequem überblicken. 
Mr. Griffiths trat an den Kasten und sprach eine kurze Weile 
eindringlich auf Jherek ein. 

»Diese Mrs. Underwood. Kennen Sie sie schon lange?« 
»Recht lange«, antwortete Jherek. »Um es präzise auszu-

drükken ich werde sie lange kennen.« Er lachte. »Ich liebe diese 
Paradoxa, Sie auch?« 

»Nein«, sagte Mr. Griffiths bestimmt. »Hat es sich bei ihr 

um eine respektable Frau gehandelt? Ich meine, würden Sie 
sagen, daß sie nun beispielsweise geistig gesund war?« 

»Außerordentlich.« 
»Hm. Nun, ich habe vor, sie vorzuladen, wenn es sich ermög-

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lichen läßt. Sie über Ihre Eigenarten aussagen zu lassen Ihre 
Wahnvorstellungen und so weiter.« 

»Vorzuladen? Sie meinen, sie hierherzuholen?« 
»Genau.« 
»Das wäre großartig, Mr. Griffiths!« Jherek klatschte vor 

Freude in die Hände. »Sie sind sehr freundlich, Sir.« 

»Hm«, machte Griffiths, wandte sich ab und kehrte zu dem 

Tisch zurück, an dem er zusammen mit einer Reihe anderer 
Männer saß, die genau wie er schwarze Roben und absonder-
licherweise falsches Haar trugen, das weiß und dicht gelockt 
war und hinten einen kleinen Zopf aufwies. Im Hintergrund 
befanden sich mehrere Sitzreihen, die von einer Anzahl Männer 
in unterschiedlicher Kleidung und ohne falsche Haare auf dem 
Kopf belegt waren. Und über und hinter Jherek zog sich eine 
Galerie dahin, auf der noch mehr Leute in Alltagskleidung 
Platz gefunden hatten. Zu seiner Linken erhoben sich mehrere 
Reihen abgestuft stehender Bänke, auf denen sich, während er 
zusah, zwölf Leute niederließen. Alle zeigten bemerkenswertes 
Interesse an ihm. Er war geschmeichelt, im Mittelpunkt der 
Aufmerksamkeit zu stehen. Er winkte und lächelte, aber 
merkwürdigerweise lächelte niemand zurück. 

Und dann rief irgend jemand irgend etwas, das Jherek nicht 

verstehen konnte, und alle erhoben sich plötzlich, als eine weite-
re Gruppe von Männern in langen Roben und mit falschen 
Haaren den Saal betraten und sich hinter einer Reihe von Pul-
ten niederließen, die sich Jherek direkt gegenüber auf der ande-
ren Seite des Raumes erhoben. Und dann keuchte Jherek vor 
Verblüffung, als er den Mann erkannte, der genau wie er im 
Gerichtssaal eine Sonderstellung einzunehmen schien. 

»Lord Jagged von Kanarien!« rief er. »Bist du mir durch die 

Zeit gefolgt? Du bist wahrhaft ein Freund!« 

Einer der Männer in Blau, der hinter Jherek stand, beugte sich 

vor und klopfte ihm auf die Schulter. »Still, Bursche. Sprich nur, 

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wenn du gefragt wirst.« 

Aber Jherek war zu erfreut, um darauf zu hören. 
»Lord Jagged! Erkennst du mich nicht?« 
Alle hatten wieder Platz genommen. Lord Jagged schien Jhe-

rek nicht gehört zu haben. Er blätterte in einigen Papieren, die 
jemand vor ihm hingelegt hatte. 

»Still!« sagte der Mann hinter Jherek erneut. 
Jherek drehte sich mit einem Lächeln um. »Er ist mein 

Freund«, erklärte er und deutete nach vorn. 

»Das ist dir auch zu wünschen«, entgegnete der Mann grim-

mig. 

»Das ist der Lordoberrichter, verstehst du? Dein Richter, 

Bursche Lord Jagged. Verdirb es dir nicht mit ihm, oder du 
hast keine Chance.« 

»Lord Jagged«, korrigierte Jherek. 
»Ruhe!« rief jemand. »Ruhe im Gerichtssaal!« 
Lord Jagged von Kanarien sah auf. Sein Gesicht hatte einen 

eigenartigen, strengen Ausdruck, und als er Jherek musterte, 
gab er kein Zeichen des Erkennens von sich. 

Jherek war verwirrt, aber er vermutete, daß dies ein neues 

Spiel Lord Jaggeds war. Er beschloß, in der gleichen Weise 
mitzuspielen, und machte keine Anstalten mehr, auf die un-
widerlegbare Tatsache hinzuweisen, daß der Mann, der den 
Respekt aller Anwesenden zu genießen schien, sein alter 
Freund war. 

Die Verhandlung begann, und Jhereks Interesse blieb unver-

ändert bestehen, als eine Reihe von Leuten, die er zum größten 
Teil aus dem Hotel kannte, auftraten und erzählten, was in 
der Nacht von Jhereks und Gauner Vines Ankunft im Imperial 
und am darauffolgenden Morgen geschehen war. Diese Leute 
wurden von einem Mann namens Sir George Freeman und 
dann noch einmal von Mr. Griffiths befragt. Im großen und 
ganzen gaben die Leute die Ereignisse so wieder, wie Jherek 

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sie in Erinnerung hatte, aber Mr. Griffiths schien ihnen nur 
selten zu glauben. Mr. Griffiths war außerdem an ihrer Mei-
nung über Jherek interessiert. Hatte er sich merkwürdig ver-
halten? Hatten sie irgend etwas Ungewöhnliches an seinem 
Gesichtsausdruck bemerkt? Was hatte er gesagt? Einige der 
Leute erinnerten sich, daß Jherek eine Reihe sonderbarer Dinge 
gesagt hatte oder zumindest Dinge, die ihnen unverständlich 
geblieben waren. Sie glaubten jetzt, daß es sich dabei um eine 
zwischen Jherek und Gauner Vine vereinbarte Geheimsprache 
gehandelt hatte. Männer in blauen Uniformen wurden be-
fragt, darunter auch jener, den Jherek in der Straße gesehen 
hatte, als er aus dem Hotel gegangen war, und mehrere von 
denen, die später in Jones’ Küche gekommen waren. Und 
auch sie wurden wieder von Mr. Griffiths ausführlich ver-
nommen. Pastor Lowndes trat auf, um über Jherek zu spre-
chen, und er versicherte jedermann, daß Jherek nach seiner 
Überzeugung »bereut« hatte. 

Dann wurde Mittagspause gemacht. Man brachte Jherek in 

eine kleine, saubere Zelle und reichte ihm eine wenig appetitli-
che Mahlzeit. Während er aß, kam Mr. Griffiths zu Besuch. 

»Ich glaube, es besteht die Möglichkeit, daß die Geschwore-

nen Sie für schuldig, aber unzurechnungsfähig befinden wer-
den«, eröffnete ihm Mr. Griffiths. 

Jherek nickte geistesabwesend. Er dachte noch immer an 

die  Überraschung, Lord Jagged im Gericht zu begegnen. Wie 
war es seinem Freund gelungen, ihn zu finden? Und was das 
betraf, wie hatte er es geschafft, in die Vergangenheit zurück-
zukehren? Mit einer anderen Zeitmaschine? Jherek hoffte es, 
denn das würde alles sehr viel leichter machen. Sobald dies hier 
vorbei war, würde er Mrs. Amelia Underwood mit Lord Jag-
geds neuer Zeitmaschine nach Hause bringen. Er freute sich 
schon darauf, in seine Zeit zurückzukehren, denn diese hier 
wurde allmählich langweilig. 

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»Insbesondere«, fuhr Mr. Griffiths fort, »weil nicht Sie persön-

lich den Mann erschossen haben. Andererseits scheint der 
Staatsanwalt Blut sehen zu wollen, und die Geschworenen wir-
ken nicht gerade verständnisvoll. Wahrscheinlich wird es vom 
Richter abhängen. Lord Jagged soll, wie ich höre, ein nachsich-
tiger Mann sein…« 

»Lord  Jagged«,  erklärte Jherek Mr. Griffiths. »Das ist auf alle 

Fälle sein richtiger Name. Er ist mein Freund.« 

»Das also hatte das Ganze zu bedeuten.« Mr. Griffiths schüt-

telte den Kopf. »Nun, jedenfalls unterstützt das meine Argu-
mentation.« 

»Er stammt aus meiner Epoche«, sagte Jherek. »In meiner Zeit 

ist er mein bester Freund.« 

»Ich möchte eher sagen, daß er in unserer Zeit bekannt ist«, 

erwiderte Mr. Griffiths mit einem schiefen Lächeln. »Als der 
brillanteste Justizrat, der jüngste Lordoberrichter, der jemals auf 
dem Richterstuhl saß.« 

»Deshalb also hat er all diese langen Reisen unternommen!« 

Jherek lachte. »Ich frage mich, warum er mir nie etwas davon 
erzählt hat.« 

»Das frage ich mich auch!« Mr. Griffiths schnaubte und stand 

auf. »Übrigens, Ihre Freundin ist hier. Sie hat heute morgen in 
den Zeitungen über den Fall gelesen und sich mit mir in Ver-
bindung gesetzt.« 

»Mrs. Underwood! Das ist wundervoll. Zwei alte Freunde. 

Oh, vielen Dank, Mr. Griffiths!« Jherek sprang auf, als sich die 
Tür öffnete und die Frau erschien, die er liebte. 

Sie war so schön in ihrem dunklen Samtkleid. Ihr Hut war 

sehr schlicht und wies an der Vorderseite einen kleinen Schlei-
er auf, durch er den ihr liebliches, herzförmiges Gesicht er-
kennen konnte. 

»Mrs. Amelia Underwood!« Jherek trat auf sie zu, um sie zu 

umarmen, aber sie wich zurück. 

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»Sir!« 
Ein Wärter machte eine Bewegung, als wolle er ihr beistehen. 
»Es ist alles in Ordnung«, wandte sich Mrs. Underwood an 

den Wärter. »Ja, er ist es, Mr. Griffiths.« Sie sprach sehr leise 
und traurig, als ob sie sich an einen Traum erinnerte, von dem 
Jherek ein Teil gewesen war. 

»Wir können von hier fortgehen und in Kürze heimkehren«, 

versicherte Jherek ihr. »Lord Jagged ist hier. Er muß eine 
Zeitmaschine haben. Wir können zusammen mit ihr zurück-
kehren.« 

»Ich kann nicht zurück, Mr. Carnelian.« Sie sprach mit sanf-

ter Stimme und noch immer in dem abwesenden Tonfall. 
»Und bis ich Sie vor einem Moment sah, habe ich kaum glau-
ben können, daß ich überhaupt jemals dort gewesen bin. Wie 
sind Sie hierhergekommen?« 

»Ich bin Ihnen gefolgt. Mit einer Zeitmaschine, die mir 

Brannart Morphail zur Verfügung gestellt hat. Ich wußte, daß 
Sie mich geliebt haben.« 

»Liebe? Ah…« Sie seufzte. 
»Und Sie lieben mich noch immer, ich sehe es Ihnen an.« 
»Nein!« Sie war schockiert. »Ich bin verheiratet. Ich bin…« 

Sie faßte sich. »Ich bin nicht deswegen gekommen, Mr. Carne-
lian. Ich bin gekommen, um mich zu überzeugen, ob Sie es 
wirklich sind, und wenn ja, um Ihr Leben zu bitten. Ich weiß, 
daß Sie nicht so etwas Sündhaftes tun und sich an einem Mord 
beteiligen würden oder auch an einem Diebstahl. Ich bin 
überzeugt, man hat Sie getäuscht. In mancher Beziehung wa-
ren Sie schon immer naiv. Mr. Griffiths hat mich gebeten, vor 
Gericht eine falsche Aussage zu machen, die seiner Ansicht 
nach Ihr Leben retten könnte.« 

»Eine falsche Aussage?« 
»Er möchte, daß ich erkläre, Sie schon seit einiger Zeit zu 

kennen und daß Sie schon immer Anzeichen einer Geistes-

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krankheit gezeigt haben.« 

»Müssen Sie das sagen? Warum sagen Sie ihnen nicht die 

Wahrheit?« 

»Weil sie die Wahrheit nicht glauben werden. Niemand 

würde sie glauben!« 

»Ich habe bemerkt, daß sie dazu neigen, mich zu ignorieren, 

wenn ich ihnen die Wahrheit sage, und daß sie mir nur zuhö-
ren, wenn ich das wiederhole, was sie für die Wahrheit hal-
ten.« 

Mr. Griffiths sah jetzt von Jherek zu Mrs. Amalia Under-

wood und wieder zurück. Sein Gesicht hatte einen unglückli-
chen, gehetzten Ausdruck. »Sie meinen, Sie beide glauben 
diesen haarsträubenden Unsinn über die Zukunft?« 

»Es ist kein Unsinn, Mr. Griffiths«, sagte Mrs. Amelia Un-

derwood bestimmt. »Aber andererseits bitte ich Sie  nicht, das 
zu glauben. Das Wichtigste ist, Mr. Carnelians Leben zu retten 
selbst wenn das bedeutet, daß ich gegen all meine Grundsätze 
verstoßen und vor dem Gericht einen Meineid schwören muß. 
In diesem Moment scheint dies die einzige Möglichkeit zu sein, 
ein Unrecht zu verhüten!« 

»Ja, ja«, nickte Mr. Griffiths verzweifelt. »Also treten Sie bitte 

in den Zeugenstand und erzählen Sie den Geschworenen, daß 
Mr. Carnelian verrückt ist. Das ist alles, was ich von Ihnen ver-
lange.« 

»Ja«, flüsterte sie. 
»Sie lieben mich«, sagte Jherek mit ebenfalls leiser Stimme. 

»Ich kann es in Ihren Augen erkennen, Mrs. Underwood.« 

Kurz sah sie ihn an, mit einem sehnsüchtigen, schmerzlichen 

Blick. Mit einem bittenden Blick. Und dann wandte sie sich ab 
und verließ die Zelle. 

»Sie liebt mich!« Jherek hüpfte in der Zelle herum. Mr. Grif-

fiths sah ihm beim Hüpfen zu. Mr. Griffiths wirkte erschöpft. 
Eine Aura des Fatalismus umgab ihn, als er die Zelle ebenfalls 

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verließ, und Jherek fing aus Leibeskräften an zu singen. »Alle 
hellen, schönen Sachen, alle Geschöpfe groß und klein. Alles 
was ist klar und rein…« 

Nach dem Mittagessen nahmen alle wieder ihre Plätze ein, 

und die erste Person, die als Zeugin der Verteidigung auftrat, 
war Mrs. Amelia Underwood, die nervöser als je zuvor wirkte. 

Mr. Griffiths fragte sie, ob sie Jherek von früher her kannte. Sie 

erklärte, daß sie ihn in Südamerika getroffen habe, wo sie mit 
ihrem Vater, dem Missionar, auf Reisen gewesen war, daß er sie 
mehrfach in Verlegenheit gebracht hatte, doch daß dies »harm-
los« gewesen sei. 

»Würden Sie sagen, daß er verrückt ist, Mrs. Underwood?« 
»Ja«, flüsterte Mrs. Underwood, »ein Verrückter.« 
»Eine Art hm Unschuldslamm?« 
»Ein Unschuldslamm«, bestätigte sie in demselben Tonfall. 

»Ja.« 

»Hat er eine Neigung zu Gewalttätigkeiten gezeigt?« 
»Nein. Ich glaube nicht, daß er überhaupt weiß, was Gewalt 

ist.« 

»Sehr gut. Und Verbrechen? Würden Sie sagen, daß er sich im 

klaren darüber ist, um was es sich bei einem Verbrechen han-
delt?« 

»Nein.« 
»Ausgezeichnet.« Mr. Griffiths wandte sich an die zwölf 

Männer, die sich alle nach vorn gebeugt und konzentriert den 
Dialog verfolgt hatten. »Ich glaube, meine Herren Geschwo-
renen, daß diese Lady die Tochter eines Missionars Ihnen 
überzeugend bewiesen hat, daß der Angeklagte nicht nur 
nicht wußte, daß er durch den verstorbenen Alfred Vine in ein 
Verbrechen verwickelt wurde, sondern daß es ihm auch völlig 
unmöglich war zu erkennen, daß er ein Verbrechen beging. Er 
kam nach England, um die Frau zu suchen, die in seinem 
Heimatland so freundlich zu ihm gewesen ist in Argentinien, 

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wie Mrs. Underwood Ihnen berichtet hat. Er wurde von skru-
pellosen Schurken durch Täuschung dazu gebracht, ihnen bei 
der Durchführung eines Diebstahls zu helfen. In Unkenntnis 
unserer Bräuche…« 

Lord Jagged beugte sich vor. »Ich denke, wir können uns das 

alles für das Schlußwort aufheben, Mr. Griffiths.« 

Mr. Griffiths neigte den Kopf. »Sehr wohl, Euer Ehren. Ver-

zeihen Sie.« 

Und jetzt war Sir George Freeman an der Reihe, Mrs. Un-

derwood zu befragen. Er hatte kleine, wache Äuglein, eine rote 
Nase und eine aggressive Art. Er fragte Mrs. Underwood nach 
Einzelheiten, wo und wann sie Mr. Carnelian getroffen hatte. 
Er legte Beweise vor, um zu zeigen, daß an dem erwähnten Tag 
kein Schiff aus Argentinien in London angekommen war. Er 
behauptete, daß Mrs. Underwood aus fehlgeleitetem Mitleid 
für Mr. Carnelian handelte und falsches Zeugnis ablegte, um 
ihn zu retten. Gehörte sie zu denen, die gegen die Todesstrafe 
waren? Er konnte verstehen, daß viele gute Christen so dach-
ten. Er behauptete keinesfalls, daß sie aus anderen als den 
ehrbarsten gleichwohl völlig fehlgeleiteten Motiven in den 
Zeugenstand getreten war. Und so weiter und so weiter, bis 
Mrs. Underwood in Tränen ausbrach und Jherek versuchte, 
aus seinem Kasten herauszuklettern und ihr zu Hilfe zu ei-
len. 

»Mrs. Underwood!« rief er. »Sagen Sie ihnen doch, wie es 

wirklich gewesen ist. Lord Jagged wird es verstehen! Er wird 
ihnen bestätigen, daß Sie die Wahrheit sagen!« 

Und dann schienen alle gleichzeitig aufzuspringen. Lautes 

Stimmengewirr und das Klopfen eines Hammers auf Holz 
ertönte. Ein Mann rief laut: »Ruhe im Gerichtssaal! Ruhe im 
Gerichtssaal!« 

»Ich werde den Gerichtssaal bei einem wiederholten Vorfall 

dieser Art räumen lassen«, sagte Lord Jagged trocken. 

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»Aber sie lügt nur, weil diese Leute die Wahrheit nicht glau-

ben wollen!« schrie Jherek. 

»Ruhe!« 
Jherek blickte wild um sich. »Sie sagten, du würdest die 

Wahrheit nicht glauben daß wir uns eine Million Jahre in der 
Zukunft getroffen haben, daß ich ihr zurück in die Vergangen-
heit gefolgt bin, weil ich sie geliebt habe und sie noch immer 
liebe…« 

Lord Jagged ignorierte Jherek und beugte sich statt dessen zu 

dem Mann mit dem falschen Haar hinunter, der unter ihm saß. 
»Die Zeugin kann den Zeugenstand verlassen«, sagte er. »Sie 
scheint einen Zusammenbruch erlitten zu haben. Haben Sie 
noch weitere Fragen, meine Herren?« 

Mr. Griffiths schüttelte in stummer Verzweiflung den Kopf. 

Sir George Freeman wirkte außerordentlich zufrieden und 
schüttelte ebenfalls den Kopf. 

Jherek verfolgte, wie Mrs. Underwood aus dem Zeugenstand 

geführt wurde. Er sah sie verschwinden und hatte das schreck-
liche Gefühl, daß er sie niemals wiedersehen würde. Bittend sah 
er Lord Jagged an. 

»Warum hast du erlaubt, daß man sie zum Weinen bringt, 

Jagged?« 

»Ruhe!« 
»Ich denke, ich habe überzeugend bewiesen, Euer Ehren, daß 

die einzige Zeugin der Verteidigung gelogen hat«, erklärte Sir 
George Freeman. 

»Haben Sie darauf irgend etwas zu sagen, Mr. Griffiths?« 

fragte Lord Jagged. 

Mr. Griffiths hielt den Kopf gesenkt. »Nein, Euer Ehren.« Er 

drehte sich und sah Jherek an. »Obwohl ich glaube, daß wir heu-
te hinreichende Beweise für die Unzurechnungsfähigkeit des 
Angeklagten geliefert bekommen haben.« 

»Darüber werden wir später entscheiden«, sagte Lord Jagged. 

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»Und nicht der heutige Geisteszustand des Angeklagten ist Ge-
genstand der Untersuchung, wie ich den Geschworenen in Er-
innerung rufen möchte. Wir versuchen herauszufinden, ob er 
am Morgen des Mordtages verrückt war.« 

»Lord Jagged!« schrie Jherek. »Ich bitte dich. Hör jetzt auf 

damit. Diese Farce mag am Anfang ja recht amüsant gewesen 
sein, aber sie hat Mrs. Underwood schweren Kummer bereitet. 
Vielleicht verstehst du nicht, wie diese Menschen empfinden 
aber ich verstehe es! Ich habe, seit ich hier bin, selbst schreckli-
che Gefühle und Gemütsverfassungen erlebt.« 

»Ruhe!« 
»Lord Jagged!« 
»Ruhe!« 
»Sie werden später etwas zu Ihrer Verteidigung sagen kön-

nen, wenn Sie es wünschen«, eröffnete ihm Lord Jagged ohne 
eine Spur von Humor, ohne ein einziges Anzeichen dafür, 
daß er ihn erkannte. Und Jherek begann schließlich zu be-
zweifeln, ob dies dort auf der Bank überhaupt sein Freund 
war. Dennoch, das Gesicht, die Manierismen, die Stimme alles 
war identisch, und der Name war beinahe ebenfalls gleich. Es 
konnte kein Zufall sein. 

Und dann kam ihm der Gedanke, daß Lord Jagged die Vor-

gänge vielleicht boshaftes Vergnügen bereiteten daß er über-
haupt nicht Jhereks Freund war. Daß er dieses ganze Fiasko 
von Anfang bis zum Ende geplant hatte. 

Der Rest der Verhandlung schien in Windeseile abgewickelt 

zu werden. Und als Lord Jagged Jherek fragte, ob er noch et-
was zu sagen hätte, schüttelte er lediglich den Kopf. Er war zu 
bedrückt, um irgend etwas zu unternehmen, um den Versuch 
zu machen, sie von der Wahrheit zu überzeugen. Allmählich 
glaubte er, nein, er war sicher, daß er wahrhaftig den 
Verstand verloren hatte. 

Aber der Gedanke ließ Jherek fast schwindlig werden. Es 

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konnte nicht sein! Es konnte nicht sein! 

Dann richtete Lord Jagged eine kurze Rede an die Geschwo-

renen, und sie alle verließen wieder den Gerichtssaal. Jherek 
wurde in seine Zelle gebracht, wo ihn Mr. Griffiths aufsuchte. 

»Es sieht schlecht aus«, erklärte Mr. Griffiths. »Sie hätten den 

Mund halten sollen, wissen Sie. Nun denken alle, daß es nur 
ein ausgeklügelter Trick war, um Sie freizubekommen. Das 
könnte mein Ruin werden.« 

Er holte etwas aus seiner Tasche und reichte es Jherek. »Ihre 

Freundin, Mrs. Underwood, hat mich gebeten, Ihnen das zu 
geben.« 

Jherek nahm das Blatt. Er warf einen Blick auf die Zeichen 

und gab es Mr. Griffiths zurück. »Lesen Sie es bitte vor.« 

Mr. Griffiths sah blinzelnd auf das Blatt. Er errötete. Er hu-

stete. »Es ist recht persönlich.« 

»Bitte, lesen Sie«, wiederholte Jherek. 
»Nun, also ähem ›Ich trage die Schuld an dem, was gesche-

hen ist. Ich weiß, daß man Sie für lange Zeit ins Gefängnis 
stecken wird, sofern man Sie nicht hängt. Ich fürchte, daß für 
Sie nur wenig Aussicht auf einen Freispruch besteht, und 
deshalb muß ich Ihnen sagen, Jherek, daß ich Sie liebe, daß ich 
Sie vermisse, daß ich mich immer an Sie erinnern werde.‹ Hm. 
Es ist nicht unterschrieben. Sehr klug. Überaus indiskret, so 
etwas überhaupt zu schreiben.« 

Jherek lächelte wieder. »Ich wußte, daß sie mich liebt. Ich 

werde mir eine Möglichkeit einfallen lassen, sie zu befreien, 
selbst wenn Lord Jagged mir nicht helfen will.« 

»Mein lieber Junge«, sagte Mr. Griffiths dumpf, »Sie müssen 

versuchen, sich über den Ernst Ihrer Lage klarzuwerden. Es ist 
nicht von der Hand zu weisen, daß das Urteil Tod durch Er-
hängen lauten könnte.« 

»Ja?« sagte Jherek. »Übrigens, Mr. Griffiths, können Sie mir 

verraten, was es mit diesem ›Hängen‹ auf sich hat?« 

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Und Mr. Griffiths seufzte, stand auf und verließ ohne ein wei-

teres Wort die Zelle. 

Jherek wurde zum drittenmal zurück zu seinem Stand ge-

bracht. Als er die Stufen hinaufstieg, bemerkte er, daß Lord 
Jagged und die anderen ihre Plätze einnahmen. 

Die zwölf Männer erschienen und setzten sich. 
Bedrückendes Schweigen legte sich über den Saal. 
Einer der Männer mit falschem Haar las eine Namenliste vor, 

und jedesmal, wenn ein Name erklang, antwortete einer der 
zwölf mit »Hier«, bis alle Namen vorgelesen worden waren. 

Dann stand sein Nebenmann auf und fragte die zwölf: »Mei-

ne Herren Geschworenen, haben Sie Einigkeit über Ihren Ur-
teilsspruch erzielt?« 

Einer der zwölf erwiderte: »Ja.« 
»Halten Sie den Angeklagten für schuldig oder für nicht 

schuldig?« 

Für einen Moment richteten alle zwölf ihre Augen auf Jherek, 

der kaum noch Interesse an dem Ritual besaß. 

»Schuldig.« 
Jherek war verdutzt, als ihn zwei der Wärter gleichzeitig an 

den Schultern packten. Neugierig musterte er die beiden. 

Lord Jagged sah Jherek fest in die Augen. 
»Haben Sie irgend etwas zu sagen, das die Vollstreckung des 

Urteils verhindern könnte?« 

Müde entgegnete Jherek: »Jagged, ich bin diese Farce leid. Laß 

uns Mrs. Amelia Underwood holen und heimkehren.« 

»Ich entnehme dem, daß Sie nichts zu sagen haben«, stellte 

Lord Jagged fest, ohne auf Jhereks Bemerkung einzugehen. 

Einer der Männer an seiner Seite reichte Lord Jagged ein vie-

rekkiges schwarzes Tuch, das er sorgfältig auf sein falsches 
weißes Haar plazierte. Pastor Lowndes tauchte neben Lord Jag-
ged auf. Er trug ein langes schwarzes Kleid. Er wirkte wesent-
lich trauriger als sonst. 

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»Sie sind des grausamen Mordes an einem wehrlosen Ange-

stellten des Hotels für schuldig befunden, das Sie auszurau-
ben  versucht haben«, leierte Lord Jagged herunter, und zum 
erstenmal glaubte Jherek einen Funken Humor in den Augen 
seines Freundes zu entdecken. Also war es doch ein Scherz. Er 
lächelte ihn an. »Und deshalb verurteile ich Sie…« 

»Ha! Ha!« schrie Jherek. »Du bist es, Jagged!« 
»Ruhe!« rief jemand. 
Lord Jagged redete trotz des Durcheinanders und des leisen 

Stimmengewirrs im Gerichtssaal weiter, bis er schloß: »Und 
möge der Herr Ihrer Seele gnädig sein.« 

Und Pastor Lowndes sagte: »Amen!« 
Und die Wärter zerrten Jherek fort. 
»Wir sprechen uns später, Jagged!« rief er. 
Aber erneut ignorierte ihn Jagged, drehte ihm den Rücken 

zu, als er sich von seinem Platz erhob, und flüsterte Pastor 
Lowndes etwas zu, der bekümmert nickte. 

»Keine Drohungen. Das bringt dich nur in Schwierigkeiten«, 

sagte einer der Wärter. »Komm schon, Junge.« 

Jherek lachte, als sie ihn zurück in die Zelle führten. »Also 

wirklich. Ich verliere meinen Sinn für Humor meinen Sinn für 
das Dramatische. Es muß an dieser schrecklichen Zeit in Jo-
nes’ Küche gelegen haben. Ich werde mich bei Lord Jagged 
entschuldigen, sobald ich ihn wiedersehe!« 

»Du wirst ihn«, sagte der Wärter und deutete mit dem Kopf 

nach hinten, »erst wiedersehen, wenn er dir da unten Gesell-
schaft leistet.« Und er zeigte auf den Boden. 

»Glauben Sie, daß dort die Zukunft liegt?« fragte Jherek mit 

ehrlicher Neugierde. 

Aber sie sprachen kein weiteres Wort mehr mit ihm, und ei-

nen Moment später war er allein in seiner Zelle, streichelte den 
Brief, den ihm Mrs. Amelia Underwood geschickt hatte, und 
wünschte sich, lesen zu können, obwohl er sich an jeden ein-

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zelnen Satz erinnern konnte. Sie liebte ihn. Sie hatte es gesagt! 
Noch nie hatte er eine solche Glückseligkeit empfunden. 

Nachdem man ihn mit einem anderen schwarzen Wagen in 

ein anderes Gefängnis gebracht hatte, stellte Jherek fest, daß 
man ihn mit noch größerer Freundlichkeit behandelte als zu-
vor. Die Wärter, die ihm anfänglich mit rauhem Humor ent-
gegengetreten waren, sprachen nun wohlwollend mit ihm und 
klopften ihm oft auf die Schulter. Nur über seine Freilassung 
hüllten sie sich in Stillschweigen. Der eine oder andere meinte, 
man »hätte ihn besser davonkommen lassen sollen« und »es 
wäre nicht gerecht«, aber es gelang ihm nicht, die Bedeutung 
ihrer Bemerkungen zu ergründen. Oft erhielt er von Pastor 
Lowndes Besuch, und stets war er in der Lage, ihn glücklich zu 
machen. Manchmal sangen sie ein oder zwei Lieder zusammen, 
und es erinnerte Jherek angenehm daran, daß er bald Mrs. 
Amelia Underwood wiedersehen und dieselben Lieder mit ihr 
singen würde. Er fragte Pastor Lowndes, ob er irgend etwas 
von Mrs. Underwood gehört hatte, aber das war nicht der Fall. 

»Sie hat viel riskiert, als sie für Sie ausgesagt hat«, bemerkte 

Pastor Lowndes eines Tages. »Es stand alles in den Zeitungen. 
Es ist durchaus möglich, daß sie sich damit kompromittiert hat. 
Soviel ich weiß, ist sie eine verheiratete Frau.« 

»Das weiß ich auch«, nickte Jherek. »Aber ich glaube, daß sie 

auf mich wartet, damit wir in meine Zeit zurückkehren kön-
nen.« 

»Ja, ja«, sagte Pastor Lowndes traurig. 
»Ich hatte geglaubt, Lord Jagged würde mit mir Kontakt auf-

nehmen, aber möglicherweise ist seine Zeitmaschine defekt«, 
überlegte Jherek. 

»Ja, ja, ja.« Pastor Lowndes schlug sein schwarzes Buch auf 

und las, wobei er die Lippen bewegte. »Es findet morgen statt, 
wissen Sie.« 

»Oh? Sie haben von Lord Jagged gehört?« 

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»Lord Jagged hat die Vollstreckung angeordnet, wenn Sie das 

meinen. Für den morgigen Tag. Ich bin froh, Sie so gefaßt zu 
sehen.« 

»Warum sollte ich das nicht sein? Das sind wundervolle Neu-

igkeiten.« 

»Ich bin sicher, der Herr weiß, daß Sie ein guter Mensch sind.« 

Pastor Lowndes richtete seine grauen Augen hinauf zur Decke. 
»Fürchten Sie sich nicht.« 

»Nicht im mindesten. Obwohl die Reise vielleicht stürmisch 

werden wird.« 

»Ja, in der Tat. Ich verstehe, was Sie meinen.« 
»Ah!« Jherek lehnte sich auf seiner Pritsche zurück. »Ich freue 

mich darauf, all meine Freunde wiederzusehen.« 

»Ich bin sicher, sie werden alle da sein.« Pastor Lowndes erhob 

sich. »Ich komme morgen früh zu Ihnen. Wenn sie nicht schla-
fen können, werden die Wärter Ihnen in der Zelle Gesellschaft 
leisten.« 

»Ich werde ausgezeichnet schlafen, davon bin ich überzeugt. 

Also findet meine Erlösung im Morgengrauen statt?« 

»Um acht Uhr.« 
»Danke für die Neuigkeiten, Pastor Lowndes.« 
Pastor Lowndes’ Augen schienen feucht zu werden, aber 

er  konnte nicht weinen, denn es lag ein Lächeln auf seinem 
Gesicht. »Sie wissen nicht, was es für mich bedeutet, Mr. 
Carnelian.« 

»Ich freue mich, wenn es mir gelungen ist, sie aufzuheitern, 

Pastor Lowndes.« 

»Danke. Danke.« Der Pastor verließ die Zelle. 
Am nächsten Morgen erhielt Jherek ein ausgesprochen üppi-

ges Frühstück, das er unter einigen Schwierigkeiten verzehr-
te, um nicht die Wärter zu kränken, die offensichtlich glaub-
ten, ihm damit einen besonderen Gefallen getan zu haben. Je-
denfalls wirkten alle bekümmert, und sie schüttelten oft den 

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Kopf. 

Pastor Lowndes tauchte wie versprochen in aller Frühe 

auf. 

»Sind Sie bereit?« fragte er Jherek. 
»Mehr als bereit«, versicherte Jherek vergnügt. 
»Möchten Sie mit mir beten?« 
»Wenn ich Ihnen damit eine Freude bereiten kann, natür-

lich.« 

Jherek kniete zusammen mit Pastor Lowndes nieder, wie er 

schon so oft gekniet hatte, und wiederholte die Worte, die Pa-
stor Lowndes sagte. Diesmal schien das Gebet länger als ge-
wöhnlich zu dauern. Pastor Lowndes versagte mehrfach die 
Stimme. Jedesmal, wenn das geschah, wartete Jherek geduldig. 
Schließlich, was bedeuteten schon ein paar Minuten, wenn er 
bald mit der Frau vereint sein würde, die er liebte (von seinem 
besten Freund ganz abgesehen)? 

Dann verließen sie die Zelle mit einem Wärter an jeder Seite 

und gingen hinaus in einen Vorhof, den Jherek bisher noch 
nicht gesehen hatte und der von allen Seiten von hohen kahlen 
Mauern umgeben war. Im Vorhof hatte man eine Art hölzer-
nes Podest errichtet und darauf erhob sich ein großer Balken, 
der einen anderen, waagerechten Balken trug. Von dem waa-
gerechten Balken hing ein dicker Strick mit einer Schlinge am 
unteren Ende. Auf dem Podest stand ein Mann in tiefschwar-
zer Kleidung. An einer Seite führte eine Treppe hinauf. Ne-
ben dem Mann in Schwarz war ein Hebel zu sehen. Auf dem 
Vorhof hatte sich bereits eine Reihe anderer Leute eingefun-
den. Auch sie machten einen traurigen Eindruck. Zweifellos 
hatten sie Jherek schätzengelernt (obwohl er sich nicht erin-
nern konnte, einigen von ihnen schon einmal begegnet zu sein) 
und wollten nicht, daß er ihre Zeit verließ. 

»Ist das die Maschine?« fragte Jherek Pastor Lowndes. Er hat-

te zwar nicht erwartet, je eine hölzerne Zeitmaschine zu sehen, 

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aber er nahm an, daß die Zivilisationen des Zeitalters der 
Morgenröte für eine Menge Dinge Holz verwendet hatten. 

Schweigend nickte Pastor Lowndes. 
»Ich muß diese Treppe hinauf, nicht wahr?« 
»Ja.« 
Pastor Lowndes begleitete Jherek, als er die Treppe hinaufstieg. 

Der Mann in Schwarz griff nach Jhereks Händen und band sie 
ihm fest auf dem Rücken zusammen. 

»Ich nehme an, das ist notwendig?« wandte sich Jherek an 

den Mann in Schwarz, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. 
»Letztes Mal mußte ich einen Gummianzug anziehen.« 

Der Mann in Schwarz antwortete nicht, sondern drehte sich 

zu Pastor Lowndes um. »Ein eiskalter Bursche. Gewöhnlich 
schreien die Ausländer und treten um sich.« 

Pastor Lowndes erwiderte nichts. Er sah zu, wie der Mann in 

Schwarz Jhereks Füße zusammenband. 

Jherek lachte, als ihm der Mann in Schwarz die grobe Seil-

schlinge über den Kopf zog und an seinem Hals befestigte. Die 
Stränge der Schlinge kratzten. 

»Nun«, sagte er. »Ich bin bereit. Wann kommen Lord Jagged 

und Mrs. Underwood?« 

Niemand antwortete. Pastor Lowndes murmelte irgend et-

was. Einer der Männer aus der kleinen Menge leierte ein paar 
Worte herunter. 

Jherek gähnte und sah hinauf zum blauen Himmel und zur 

aufgehenden Sonne. Es war ein herrlicher Morgen. In der letzten 
Zeit hatte er die frische Luft ein wenig vermißt. 

Pastor Lowndes brachte sein schwarzes Buch zum Vorschein 

und fing an zu lesen. Jherek drehte sich und wollte fragen, ob 
es bis zu Lord Jaggeds und Mrs. Underwoods Ankunft noch 
lange dauern würde, aber da zog ihm der Mann in Schwarz 
einen Sack über den Kopf. Seine Stimme wurde erstickt, er 
konnte niemanden mehr sehen. Er zuckte die Achseln. Sie wür-

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den bald eintreffen, davon war er überzeugt. 

Er hörte, wie Pastor Lowndes seine Rede beendete. Er hörte 

ein Klicken, dann gab der Boden unter seinen Füßen nach. Das 
Gefühl unterschied sich nicht sehr von dem seiner Hinreise mit 
der Zeitkugel. Und dann schien er zu fallen, zu fallen und zu 
fallen, und seine Gedanken erloschen ganz. 

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14. Kapitel 

 

EINE WEITERE UNTERHALTUNG MIT DER EISERNEN 
ORCHIDEE 

 

Das erste, was Jherek spürte, als er das Bewußtsein wiederer-
langte, waren starke Halsschmerzen. Er wollte die Hände he-
ben, aber sie waren noch immer auf seinem Rücken gefesselt. Er 
desintegrierte die Stricke und befreite seine Hände und Fü-
ße. Sein Hals war aufgescheuert und wund. Er öffnete die Au-
gen und sah direkt in das verrunzelte, farbenprächtige Gesicht 
Brannart Morphails. 

Brannart grinste. »Ich habe es dir prophezeit, Jherek! Ich ha-

be es dir gesagt! Und die Zeitmaschine ist nicht mit dir zu-
rückgekommen. Was bedeutet, daß du mich um ein wichtiges 
Teil meiner Ausrüstung gebracht hast.« Seine gute Laune 
strafte seine Vorwürfe Lügen. 

Jherek sah sich im Laboratorium um. Es wirkte noch genau-

so wie zum Zeitpunkt seiner Abreise. »Vielleicht ist sie entz-
weigegangen«, vermutete er. »Schließlich bestand sie aus 
Holz, weißt du.« 

»Holz? Holz? Unsinn. Warum bist du so heiser?« 
»Ein Strick war auch dabei. Alles in allem war es eine sehr 

primitive Maschine. Dennoch, ich bin zurückgekehrt. Ist Lord 
Jagged nach meiner Abreise zu dir gekommen? Hat er sich 
ebenfalls eine Zeitmaschine ausgeliehen?« 

»Lord Jagged?« 
Lady Charlotina schwebte heran. Sie trug dasselbe lilien-

farbene Kleid, das sie bei seiner Abreise getragen hatte. »Lord 
Jagged ist nicht hier gewesen, Jherek, mein Herz. Schließlich 
bist du kaum fort gewesen, da warst du auch schon wieder 
da.« 

»Das ist der endgültige Beweis für den Morphail-Effekt«, 

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stellte Brannart mit sichtlicher Befriedigung fest. »Wenn je-
mand in ein Zeitalter zurückgeht, in das er nicht hineingehört, 
werden so viele Paradoxa erzeugt, daß das Zeitalter den Ein-
dringling so ausspuckt wie ein Mensch einen Granatapfelkern, 
der ihm in die Kehle geraten ist.« 

Erneut betastete Jherek seinen Hals. »Es hat jedenfalls einige 

Zeit in Anspruch genommen, mich auszuspucken«, sagte er 
bestimmt. »Ich war etwa sechzig Tage dort.« 

»Oh, komm!« Brannart starrte ihn an. 
»Und Lord Jagged von Kanarien war ebenfalls dort. Und 

Mrs. Amelia Underwood. Es schien ihnen keine Schwierigkei-
ten zu bereiten, in der Kehle der Zeit steckenzubleiben.« Jherek 
stand auf. Er trug noch immer den grauen Anzug mit den brei-
ten schwarzen Streifen. »Und schaut euch das an. Man hat mir 
diesen Anzug geschenkt.« 

»Es ist ein schöner Anzug, Jherek«, sagte Lady Charlotina. 

»Aber du könntest ihn auch selbst gemacht haben, weißt du.« 

»Energieringe funktionieren in der Vergangenheit nicht. Die 

Energie kann nicht übertragen werden«, informierte Jherek sie. 

Brannart runzelte die Stirn. »Was hat Jagged in der Vergan-

genheit zu suchen?« 

»Ich schätze, er hat irgendwelche persönlichen Angelegen-

heiten zu erledigen, die mich nur am Rande berührten. An 
sich dachte ich, er würde mit mir zurückkehren.« Jherek in-
spizierte das Laboratorium und sah in jedem Winkel nach. 
»Sie sagten, Mrs. Underwood würde mich begleiten.« 

»Nun, sie ist aber noch nicht hier.« Lady Charlotinas Couch 

schwebte näher. »Hat es dir im Zeitalter der Morgenröte gefal-
len?« 

»Es war oft sehr vergnüglich«, gestand Jherek, »obwohl es 

Augenblicke gab, in denen ich mich sehr gelangweilt habe. Und 
andere Augenblicke, in denen…« Und zum drittenmal betaste-
te er die Verletzungen an seinem Hals. »Weißt du, Lady Char-

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lotina, viele ihrer Zeitvertreibe können sie sich gar nicht freiwil-
lig aussuchen!« 

»Wie meinst du das?« Sie beugte sich nach vorn, um seinen 

Hals in Augenschein zu nehmen. Neugierig strich sie mit den 
Fingern über seine Wundmale. 

»Nun, es ist schwer zu erklären. Es ist schon schwer genug, es 

zu begreifen. Ich habe es anfangs gar nicht verstanden. Sie 
werden alt ich meine natürlich, sie verfallen. Sie haben keine 
Kontrolle über ihre Körper und kaum welche über ihren 
Verstand. Es ist, als würden sie… als würden sie ständig träu-
men, von Impulsen angetrieben, über die sie keine objektive 
Erkenntnis besitzen. Natürlich könnte dies auch nur meine sub-
jektive Analyse ihrer Kultur sein, obwohl ich es nicht glaube.« 

Lady Charlotina lachte. »Du wirst es mir nie erklären können, 

Jherek. Ich habe keinen Verstand, nur Fantasie. Und einen aus-
geprägten Sinn für das Dramatische.« 

»Ja…« Jherek hatte die Rolle vergessen, die sie in seiner jüng-

sten Vergangenheit gespielt hatte. Aber für ihn war so viel Zeit 
vergangen, daß er ihr gegenüber keine bitteren Gefühle mehr 
hegte. »Ich frage mich, wann Mrs. Amelia Underwood eintref-
fen wird.« 

»Sie sagte, sie würde zurückkehren?« 
»Ich nahm an, daß Lord Jagged sie mitbringen würde.« 
»Bist du sicher, Lord Jagged dort gesehen zu haben?« fragte 

Brannart hartnäckig. »Ich habe weder die Ankunft, noch den 
Aufbruch einer Zeitmaschine registriert.« 

»Aber es muß Aufzeichnungen über die Ankunft einer Ma-

schine geben«, wandte Jherek nüchtern ein. »Denn ich bin zu-
rückgekehrt, oder nicht?« 

»Es war nicht unbedingt erforderlich, daß du eine Maschine 

benutzt der Morphail-Effekt hat das für dich schon über-
nommen.« 

»Nun, man hat mich aber mit einer Maschine hergeschickt.« 

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Jherek runzelte die Stirn. Er ließ die letzten Ereignisse noch 
einmal vor seinem inneren Auge Revue passieren. »Zumin-
dest glaube ich, daß es eine Zeitmaschine war. Ich frage mich, 
ob ich das, was sie mir zu erklären versucht haben, vielleicht 
mißverstanden habe?« 

»Das ist durchaus möglich, meine ich«, warf Lady Charlotina 

ein, »schließlich hast du selbst gesagt, wie schwierig es war, 
ihre Vorstellungen von den einfachsten Dingen zu begreifen.« 

Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf Jhereks Gesicht. 

»Aber eins steht fest…« Er zog Mrs. Amelia Underwoods 
Brief aus der Tasche und rief sich den Text in Erinnerung, den 
ihm Mr. Griffiths vorgelesen hatte. »Ich liebe dich, ich vermisse 
dich, ich werde mich immer an dich erinnern.« Er führte das 
zerknitterte Blatt an seine Lippen. »Sie möchte zu mir zu-
rück.« 

»Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß sie es muß«, er-

klärte Brannart Morphail, »ob sie es nun will oder nicht. Der 
Morphail-Effekt. Er versagt nie.« Er lachte. »Nicht, daß sie 
notwendigerweise wieder in dieser Zeit auftauchen wird. Mög-
licherweise wirst du die letzten eine Million Jahre nach ihr ab-
suchen müssen. Natürlich rate ich dir nicht dazu. Es könnte 
für dich in einer Katastrophe enden. Du hast sehr viel Glück 
gehabt, daß du diesmal noch davongekommen bist.« 

»Sie wird mich finden«, rief Jherek glücklich. »Ich weiß es. 

Und wenn sie kommt, werde ich ihr eine wundervolle Kopie 
ihres eigenen Zeitalters erschaffen haben, so daß sie kein 
Heimweh mehr nach zu Hause bekommen wird.« Im vertrau-
lichen Tonfall fuhr er fort, Brannart Morphail von seinen Plä-
nen zu erzählen. »Weißt du, ich habe eine beträchtliche Weile 
im Zeitalter der Morgenröte verbracht. Ich bin bestens vertraut 
mit ihrer Architektur und mit vielen ihrer Bräuche. Unsere Welt 
wird noch nie so etwas gesehen haben wie meine zukünftigen 
Schöpfungen. Sie werden euch alle in Staunen versetzen!« 

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»Ah, Jherek!« rief Lady Charlotina entzückt. »Du klingst all-

mählich wieder wie dein altes Ich. Hurra!« 

Einige  Tage  später  hatte  Jherek  sein  Werk  fast  vollendet.  Es 

erstreckte sich über mehrere Kilometer hinweg in einem fla-
chen Tal, durch das ein glitzernder Fluß führte, den er Themse 
getauft hatte. Strahlendweiße Brücken schwangen sich in unre-
gelmäßigen Abständen über den Wasserlauf, und das Wasser 
war von einem dunklen Blaugrün, um zu den Rosen zu passen, 
die sich an den Pfeilern der Brücken emporrankten. An beiden 
Ufern des Flusses erhoben sich Kopien von Jones’ Küche, Kaf-
feeständen, Gefängnissen, Gerichtshöfen und Hotels. Anein-
andergereiht säumten sie Straßen aus glänzendem Marmor 
und Gold und Quarz, und an jeder Kreuzung stand eine große 
Statue, die gewöhnlich ein Pferd oder eine einspännige Dro-
sche darstellte. Es war wirklich alles außerordentlich hübsch. 
Jherek hatte sich die Freiheit genommen, die Gebäude ein wenig 
zu vergrößern, um sie abwechslungsreicher zu gestalten. Des-
halb überragte ein dreihundert Meter hoher Kaffeestand ein 
einhundertfünfzig Meter hohes Hotel. Ein Stück weiter ließ ein 
riesiges Hotel Old Bailey wie einen Zwerg erscheinen und so 
fort. 

Jherek legte gerade letzte Hand an seine Schöpfung, die er 

schlicht »London, 1896« nannte, als ihn eine vertraute, träge 
Stimme innehalten ließ. 

»Jherek, du bist ein Genie und das ist dein Meisterstück!« 
Auf dem Rücken eines großen schwebenden Schwanes, einge-

hüllt in wattierte Gewänder von dunkelstem Blau, das lange, 
bleiche Gesicht von einem hohen Kragen umrahmt, saß Lord 
Jagged von Kanarien und lächelte sein listigstes, geheimnisvoll-
stes Lächeln. 

Jherek hatte auf dem Dach eines seiner Gefängnisse gestanden. 

Er flog hinüber und landete auf der Statue eines Einspänners in 
unmittelbarer Nähe der Stelle, an der Jagged schwebte. 

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»Es ist ein wunderschöner Schwan«, sagte Jherek. »Hast du 

Mrs. Underwood mitgebracht?« 

»Also weißt du, wie ich ihn genannt habe!« 
Jherek runzelte verwirrt die Stirn. »Wie?« 
»Der Schwan! Ich dachte, liebster Jherek, du hättest den 

Schwan gemeint. So habe ich den Schwan genannt, Jherek. Mrs. 
Amelia Underwood. Zu Ehren deiner Freundin.« 

»Lord Jagged«, erklärte Jherek mit einem Lächeln. »Du hältst 

mich zum Narren. Ich kenne deine Neigung zu Manipulatio-
nen. 

Erinnerst du dich an die Welt, die du gebaut und mit mikro-

skopisch kleinen Kriegern bevölkert hast? Diesmal hast du mit 
der Liebe gespielt, mit dem Schicksal mit den Menschen, die 
du kennst. Du hast mich ermutigt, Mrs. Amelia Underwood 
nachzustellen. Und die meisten Einzelheiten des übrigen Plans 
hast du beigesteuert obwohl du mir weisgemacht hast, die Ein-
fälle seien von mir. Ich bin sicher, du hast Lady Charlotina 
geholfen, ihren Racheplan auszubrüten. Vielleicht hast du so-
gar etwas mit meiner sicheren Ankunft im Jahr 1896 zu tun 
gehabt. Weiterhin ist es möglich, daß du Mrs. Underwood ent-
führt und in unser Zeitalter gebracht hast.« 

Lord Jagged lachte. Er ließ den großen Schwan um das höch-

ste der Gebäude kreisen. Er sank nach unten und stieg wieder 
hinauf, und die ganze Zeit über lachte er. »Jherek! Du bist intel-
ligent! Du bist der Beste von uns!« 

»Aber wo ist Mrs. Amelia Underwood jetzt, Lord Jagged?« 

rief Jherek Carnelian und folgte seinem Freund, so daß sein 
hellgrauer Anzug (mit den orangefarbenen Streifen) flatterte, 
während er durch die Luft schoß. »Ich dachte, du hättest eine 
Nachricht geschickt, daß du sie mit dir zurückbringen wür-
dest!« 

»Ich? Eine Nachricht? Nein.« 
»Aber wo ist sie dann?« 

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»Nun, in Bromley, schätze ich. In Kent. In England. Im Jahr 

1896.« 

»Oh, Lord Jagged, du bist grausam!« 
»Bis zu einem gewissen Grad.« Lord Jagged lenkte den 

Schwan zurück zu Jherek, der auf dem Kopf der Statue saß, 
deren Füße wiederum auf der Kuppel von Old Bailey ruhten. 
Es war eine seltsame Statue mit verbundenen Augen, einem 
Schwert in der einen Hand und einer goldenen Waage in der 
anderen. »Aber hast du denn aus deiner Sommerfrische in der 
Vergangenheit nichts gelernt, Jherek?« 

»Ich habe einiges erfahren, Lord Jagged, aber ich bin mir 

nicht sicher, ob ich etwas gelernt habe.« 

»Nun, das ist die beste Art zu lernen, denke ich.« Lord Jag-

ged lächelte erneut. 

»Der Lordoberrichter das bist du gewesen, nicht wahr?« 

fragte Jherek. 

Das Lächeln wurde breiter. 
»Du mußt Mrs. Amelia Underwood für mich zurückholen, 

Lord Jagged«, erklärte Jherek. »Und wenn auch nur, damit 
sie das hier sehen kann.« Er breitete die Arme aus. 

»Der Morphail-Effekt«, erwiderte Lord Jagged. »Er ist eine 

unbestreitbare Tatsache. Brannart behauptet es.« 

»Du weißt mehr.« 
»Ich bin geschmeichelt. Übrigens hast du gehört, was aus 

Mongrove und Yusharisp, dem Fremden, geworden ist?« 

»Ich bin beschäftigt gewesen. Ich habe keinen Klatsch gehört.« 
»Sie haben sich ein Raumschiff gebaut und sind zusammen 

fortgeflogen, um Yusharisps Botschaft im ganzen Universum zu 
verbreiten.« 

»Also hat uns Mongrove verlassen.« Jherek empfand Trauer 

über diese Neuigkeit. 

»Er wird der Mission müde werden. Er kommt gewiß bald zu-

rück.« 

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»Ich hoffe es.« 
»Und deine Mutter, die Eiserne Orchidee. Ich habe gehört, 

daß ihre Liaison mit Werther de Goethe beendet ist. Sie ist jetzt 
mit dem Herzog von Queens zusammen, der sich beinahe von 
der Welt zurückgezogen hätte, und sie bereiten gemeinsam ein 
Fest vor. Da sie die treibende Kraft sein wird, müßte es Erfolg 
haben.« 

»Ich bin froh«, gestand Jherek. »Ich denke, ich werde sie in 

Kürze besuchen.« 

»Mach das. Sie liebt dich. Wir alle lieben dich, Jherek.« 
»Und ich liebe Mrs. Amelia Underwood«, sagte Jherek be-

stimmt. »Werde ich sie wiedersehen, Lord Jagged?« 

Lord Jagged streichelte den Hals seines graziösen Schwans. 

Der Vogel begann in Richtung Osten davonzufliegen. 

»Werde ich?« rief Jherek hartnäckig. 
Und Lord Jagged rief über die Schulter zurück: »Zweifellos 

wirst du das. Viel kann noch geschehen. Schließlich sind es noch 
mindestens zweitausend Jahre bis zum Ende der Zeit!« 

Der weiße Schwan stieg höher hinauf in den blauen Himmel. 

Von seinem Daunenrücken aus winkte Lord Jagged. »Leb wohl, 
mein leidgeprüfter Liebster. Adieu, mein zeitzerzauster Dum-
mer, mein Kummer, mein Dieb, ich hab dich lieb! Jherek, mein 
Held, das Glück dieser Welt, leb wohl!« 

Und Jherek sah, wie der weiße Schwan seinen langen Hals 

drehte, um ihm aus geheimnisvollen schwarzen Augen einen 
Blick zuzuwerfen, bevor er hinter einer einsamen Wolke ver-
schwand, die über den blauen, blanken Himmel dahintrieb. 

Bekleidet mit verschiedenen hellgrünen Schattierungen, lagen 

die Eiserne Orchidee und ihr Sohn auf einem Rasen von dunk-
lerem Grün, der sanft zu einem viridianischen See abfiel. Zwi-
schen der Eisernen Orchidee und ihrem schlanken Sohn lag 
eine Decke von grüngoldener Farbe, und darauf standen die 
Jadeteller mit den Überresten ihres Picknicks. Da gab es grüne 

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Äpfel, grüne Trauben und Artischockenherzen; da gab es Spar-
gel, Salat, Gurken und Brunnenkresse; kleine Melonen, Sellerie 
und Avocados, Weinblätter und Birnen und in einer Ecke der 
Decke ein einsames Radieschen. 

Die Smaragdlippen der Eisernen Orchidee öffneten sich 

leicht, als sie nach einer ungeschälten Mandel griff. Jherek hatte 
ihr von seinen Abenteuern im Zeitalter der Morgenröte er-
zählt. Sie war fasziniert gewesen, obwohl sie nicht alles ver-
standen hatte. 

»Und hast du erfahren, was der Begriff ›Tugend› bedeutet, 

mein Fleisch?« Ihre Hand verharrte über der Mandel und 
wanderte dann zu einer Gurke. 

Jherek seufzte. »Ich muß gestehen, daß ich nicht ganz sicher 

bin. Aber ich glaube, sie hat vielleicht etwas mit ›Verderbtheit‹ 
zu tun.« Er lachte und streckte seine Gliedmaßen auf dem 
kühlen Gras aus. »Eins führt zum anderen, Mutter.« 

»Was meinst du mit ›Verderbtheit‹, mein Liebster?« 
»Es hängt damit zusammen, daß man nicht mehr die Kon-

trolle über seine eigenen Entscheidungen hat, glaube ich. Was 
wiederum mit der Umgebung zusammenhängt, die man sich 
zum Leben wählt sofern man überhaupt eine Wahl hat. Viel-
leicht kann Mrs. Amelia Underwood mir helfen, wenn sie zu-
rückkehrt.« 

»Sie wird hierher zurückkehren?« Mit gierigen Fingern griff 

die Eiserne Orchidee nach dem Radieschen. Sie schob es sich 
in den Mund. 

»Davon bin ich überzeugt«, sagte er. 
»Und dann wirst du glücklich sein!« 
Er sah sie mit milder Überraschung an. »Was, Mutter, 

meinst du mit ›glücklich‹?« 

 

Ende des ersten Teils 


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