Andrew, Sylvia Die Lady aus meinen Traeumen

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Sylvia Andrew

Die Lady aus meinen

Träumen

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IMPRESSUM
HISTORICAL LORDS & LADIES erscheint im CORA Verlag Gm-
bH & Co. KG,
20350 Hamburg, Axel-Springer-Platz 1

Redaktion und Verlag:
Brieffach 8500, 20350 Hamburg
Telefon: 040/347-25852
Fax: 040/347-25991

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)

Cheflektorat:

Ilse Bröhl

Produktion:

Christel Borges, Bettina Schult

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit
Tonn,
Marina Grothues (Foto)

Vertrieb:

asv vertriebs gmbh, Süderstraße 77,
20097 Hamburg
Telefon 040/347-27013

© 2003 by Sylvia Andrew
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II
B.V., Amsterdam

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL LORDS &
LADIES
Band 14 2009 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 01/2011 – die elektronische
Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
eBook-Produktion:

GGP Media GmbH

, Pößneck

ISBN 978-3-86295-375-2

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Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-
weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen
Umtausch verwendet werden. Führung in Lesezirkeln nur mit aus-
drücklicher Genehmigung des Verlages. Für unaufgefordert
eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Haftung.
Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlich-
keiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

London, Mai 1818

Aus dem Bibliotheksfenster seines Hauses in der Mount Street
beobachtete John Ancroft zwei Straßenhändler, die in einen
Streit geraten waren und ganz den Eindruck machten, als ob sie
sich bald prügeln würden, sich dann jedoch offenbar gütlich ein-
igten und schließlich trennten. Leise seufzend wandte der Colon-
el sich ab und ging unruhig im Zimmer hin und her. Schließlich
blieb er vor seinem Schreibtisch stehen und starrte das Möbel-
stück eine Weile gedankenvoll an. Dann nahm er Platz, rückte
sich Tintenfass und Federkiel zurecht und nahm Papier aus der
obersten Schublade. Schon im Begriff, den ersten der für ihn
eingegangenen Briefe zu beantworten, hörte er jemanden an die
Tür klopfen, und auf sein Geheiß betrat der Butler den Raum.

„Mr. Fennybright wünscht Sie zu sprechen, Colonel“, verkün-

dete der Bedienstete und verbeugte sich.

„Bitten Sie ihn herein, Betts“, sagte John und stand auf, um

den Besucher zu empfangen.

„Sehr wohl, Sir.“ Der Butler tat einen Schritt zur Seite, um den

Anwalt vorbeigehen zu lassen. Dann schloss er die Tür. „Guten
Tag, Graham“, begrüßte John den Freund herzlich. „Was ver-
schafft mir die unerwartete Ehre deines Besuchs?“

„Guten Tag, John“, sagte Graham ernst. „Ich habe eine

wichtige Neuigkeit für dich.“

„Bitte, nimm Platz“, forderte John ihn auf und wartete, bis der

Advokat sich in einem Sessel niedergelassen hatte. Dann setzte
er sich ebenfalls und sah den Freund gespannt an.

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„Vor drei Tagen ist dein Onkel verstorben“, eröffnete ihm Gra-

ham übergangslos. „Ich bin erst heute Morgen in der Stadt ein-
getroffen und habe dich unverzüglich aufgesucht.“

John brauchte einen Moment, um die Tragweite der Mit-

teilung zu erfassen. „Warst du bei Onkel Douglas, als er ver-
schied?“, erkundigte er sich bedächtig.

„Ja.“
„Hat er dir irgendetwas für mich aufgetragen?“
„Nein“, antwortete Graham und schüttelte den Kopf.
„Aber er hat mich erwähnt?“
Graham schien unschlüssig, was er äußern sollte.
„Du kannst mir getrost die Wahrheit erzählen“, fuhr John

ruhig fort. „Ich kann mir ohnehin denken, was er über mich
gesagt hat. Ganz abgesehen davon würde ich es früher oder
später sowieso erfahren. Also nimm kein Blatt vor den Mund.
Mein Onkel hat mir nicht verziehen, nicht wahr?“

„Er war alt und sehr krank, John“, antwortete Graham aus-

weichend. „Manchmal war er … hm … nicht mehr ganz bei sich.“

„Komm zur Sache, Graham!“, bat John ihn ungeduldig.
„Nun, er hat sich bis zu seinem letzten Seufzer nicht mit dem

Tod deines Vetters abgefunden.“

„Wie lauteten seine Worte?“, wollte John wissen.
„Willst du das wirklich hören?“, fragte Graham stirnrunzelnd.

„Ich befürchte, es wird dir nicht gefallen, was ich dir mitzuteilen
habe.“

„Nun rede endlich!“
„Wie du willst. Dein Onkel ließ sich nicht eines Besseren

belehren, ganz gleich, was ihm vorgehalten wurde. Er verfluchte
den Umstand, dass der Schuft, der seinen Sohn umbrachte, um
in den Genuss des Titels zu kommen, nicht im Krieg gefallen ist
– dass also du, den er als Philips Mörder betrachtete, ihn beer-
ben würdest. Glaub mir, alle Anwesenden waren sehr betreten,

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da natürlich keiner von uns ihm zustimmte. In ganz Yorkshire
gibt es niemanden, der davon ausginge, dass dein Cousin nicht
durch einen Unfall ums Leben gekommen ist. Aber dein Onkel
wollte sich nicht überzeugen lassen, nicht einmal von seinem
Beichtvater. Es tut mir leid, John.“

„Du musst mich nicht bedauern, Graham“, entgegnete John

gefasst. „Onkel Douglas hat sich in einem Punkt sehr geirrt! Ich
habe es nie darauf angelegt, der vierte Marquess of Coverdale zu
werden. Allerdings gebe ich mir die Schuld an Philips, Gabriellas
und Roses Tod.“

„So etwas darfst du nicht denken!“, wandte Graham

beschwörend ein. „Deine Gattin war jahrelang krank, ehe sie
starb, und ich entsinne mich sehr gut, wie aufmerksam und für-
sorglich du gewesen bist. Obwohl …“

„Sie mich hasste?“, warf John ein. „Nein, das trifft nicht zu.

Sie hat mich nur gemieden, soweit das möglich war. Oft war ich
nicht daheim, aber wenn ich bei ihr weilte, konnte sie nie ver-
hehlen, dass sie sich in meiner Gegenwart unbehaglich fühlte.
Und kurz vor ihrem Ende verfiel sie in Zustände extremer
Gemütserregung, wenn sie mich nur sah. Ihr Abscheu hat sich
auf Harriet übertragen, sodass es kein Wunder ist, dass meine
Stieftochter mir mit großer Aversion begegnet. Rose und Onkel
Douglas haben es fertiggebracht, dass das Mädchen mich für
einen Verbrecher hält.“

„Das war infam von ihnen“, meinte Graham betroffen. „Ich

weiß, dass du Philip nie etwas Böses gewünscht hast. Im Übrigen
warst du nicht dabei, als er mit seiner Karriole den Unfall hatte,
bei dem auch deine Verlobte tödlich verunglückt ist.“

„Ich habe ihn dazu getrieben. Nein, widersprich mir nicht. Die

Wahrheit ist, dass wir beide einen Streit hatten, bevor er in die
Kutsche stieg. Statt ihn von der Fahrt abzuhalten, habe ich ihn
nur noch mehr gereizt. Ich war älter als er und hätte mich

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beherrschen müssen. Für mein Verhalten gibt es keine
Entschuldigung.“

„Du gehst zu hart mit dir ins Gericht, John. Niemand, nicht

einmal dein Onkel, hätte deinen Vetter zur Raison bringen
können, wenn er außer sich war. Und was Miss Ainderby betrifft,
so war sie eine hübsche junge Frau, aber …“

„Nein! Rede nicht weiter, Graham!“, fiel John ihm scharf ins

Wort. „Du warst mir immer ein guter Freund und hast stets auf
meiner Seite gestanden. Ich habe jedoch stets Verständnis für
Onkel Douglas’ Einstellung aufgebracht. Er hatte Anlass, mich
zu verabscheuen. Der Hass auf mich und der Wunsch, mich vor
ihm sterben zu sehen, waren alles, was ihm geblieben ist und ihn
am Leben gehalten hat.“

„Das mag sein“,räumte Graham zögernd ein. „Der Tod seines

einzigen Sohnes hat ihn bösartig werden lassen. Möge seine
Seele in Frieden ruhen.“

„Amen“, äußerte John düster. „Herein!“, rief er dann, weil

erneut jemand an die Tür geklopft hatte.

Betts öffnete, schob den Servierwagen in den Raum und

schenkte den Herren Wein ein. Dann verbeugte er sich und zog
sich diskret zurück.

„Früher gab es eine Zeit, da fand ich mich so widerwärtig, wie

mein Onkel das getan hat“, gestand John bedächtig. „Damals
wäre es mir sehr recht gewesen, wenn seine mich betreffenden
Hoffnungen sich erfüllt hätten.“

„Was soll das heißen?“, warf Graham befremdet ein.
„Du weißt genau, was ich damit sagen will“, antwortete John

ernst, „denn schließlich kennst du mich nach all den Jahren un-
serer Freundschaft sehr gut. Ich wollte den Titel nicht erben und
habe im Krieg Augenblicke durchgemacht, in denen ich mich
danach sehnte, im Kampf zu fallen. Ich war ein Draufgänger und
bin für meinen Wagemut sogar noch ausgezeichnet worden.

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Bestimmt war Onkel Douglas bitter enttäuscht, dass ich nicht
getötet wurde.“

„Jetzt begreife ich, warum du nach deiner schweren Ver-

wundung noch bei der Armee geblieben bist“, murmelte
Graham.

„Nein, du irrst dich“, widersprach John. „Damals habe ich den

Lebenswillen zurückgewonnen und den Militärdienst nicht quit-
tiert, weil ich überzeugt war, ich müsse meinen Teil dazu beitra-
gen, dass unsere Truppen Napoleon besiegen. Zum Glück haben
wir das erreicht.“

„Leidest du noch unter Folgen deiner Verletzungen?“, erkun-

digte sich Graham besorgt.

„Manchmal habe ich leichte Fieberanfälle“, gab John zu, „aber

ansonsten fühle ich mich in Ordnung. Im vergangenen Jahr
wähnte ich, keine militärische Karriere machen zu können, doch
mittlerweile bereue ich, nicht mehr bei der Armee zu sein.
Deswegen bin ich ganz froh, wenn ich hin und wieder, sobald
Wellington in London ist, von ihm als Adjutant hinzugezogen
werde.“

„Das wird in Zukunft nicht mehr möglich sein“, wandte Gra-

ham ein. „Jetzt lastet auf dir eine Verantwortung ganz anderer
Art. Je eher du sie übernimmst, desto besser.“

„Vielleicht möchte ich mir diese Pflichten nicht aufladen.“
Einen Moment lang verschlug es Graham die Sprache. Dann

äußerte er vorwurfsvoll: „Du musst deinen Platz als der neue
Marquess einnehmen, John!“

„Von müssen kann nicht die Rede sein“, entgegnete John

kühl.

Graham atmete tief durch und erwiderte: „Doch, du musst,

John! Ich habe mich mein ganzes Berufsleben hindurch um die
Belange der Ancrofts gekümmert, so wie meine Vorväter vor mir.
Ich will dich nicht vor den Kopf stoßen, aber ich hätte das Gefühl

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zu versagen, würde ich dich nicht ermahnen, deine Aufgaben als
Großgrundbesitzer wahrzunehmen. Du bist ein Mann von Ehre,
und ich weiß, dass du dich ihnen stellen wirst.“

„Großgrundbesitzer?“,wiederholte John erstaunt. „Ich habe

nicht damit gerechnet, dass Onkel Douglas mir viel hinterlässt.“

„Er konnte dich nicht enterben, da es sich zum größten Teil

um festvererbliche Liegenschaften handelt“, erklärte Graham.
„Du bist jetzt Eigentümer ausgedehnter Ländereien in Yorkshire,
und außerdem gehören dir verschiedene Residenzen, darunter
das Stadthaus deines Onkels. Von dir sind zahllose Menschen
abhängig. Und denk an deine Stieftochter! Ich bin sicher, du
willst ihr eine glänzende Zukunft verschaffen.“

„Onkel Douglas’ Weigerung, mich noch einmal zu empfangen,

der Gefühlsausbruch meiner Gattin, als ich darauf bestand, sie
aufzusuchen, sowie Harriets unübersehbare Angst vor mir hat-
ten mich veranlasst, mir nach meinem letzten Aufenthalt in Mar-
rick Castle zu geloben, nie mehr dorthin zurückzukehren“, sagte
John seufzend. „Ich kann mir nicht vorstellen, wortbrüchig zu
werden, auch wenn du mich für einen Feigling hältst.“

„Ich wiederhole, du musst nach Marrick Castle reisen. Wenn

du dort bist, werden deine Stieftochter und du euch bald besser
kennengelernt haben. Sie braucht einen Vater, John! Und für
mich besteht kein Zweifel daran, dass die in Marrick Castle
lebenden Menschen dich herzlich willkommen heißen werden.
Dein Onkel war ein Einzelgänger und allem Neuen abhold. Das
Gut wurde zwar vernünftig geleitet, doch mit der Zeit hat sich
viel geändert. Nur du kannst dafür sorgen, dass es wirtschaft-
licher wird.“

„Ich weiß nicht“, erwiderte John gedehnt. „Ich kann mir nicht

vorstellen, je wieder in Marrick Castle zu weilen.“

„Du musst umdenken“, legte Graham ihm nahe.
„Vielleicht hast du recht“, murmelte John.

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Graham schickte sich zum Gehen an.
„Danke, dass du gekommen bist“, fuhr John fort und stand

ebenfalls auf. „Da ich in den verflossenen siebzehn Jahren sehr
selten habe durchblicken lassen, dass ich der Neffe des Marquess
of Coverdale bin, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du einstwei-
len die Neuigkeit, dass ich Onkel Douglas’ Nachfolger geworden
bin, für dich behältst. Warte bitte, bis ich dich dazu ermächtige.
Vorläufig möchte ich nur als schlichter Colonel auftreten.“

„Wie du willst“, willigte Graham ziemlich verblüfft ein. „Ich

stehe dir immer zur Verfügung. Falls du mich brauchst, findest
du mich im ‚Lincoln’s Inn‘. Oder möchtest du, dass ich in einigen
Tagen wieder herkomme? Wir haben ja eine Reihe geschäftlicher
Dinge zu besprechen.“

„Ich werde dich benachrichtigen“, erwiderte John, ging zur

Tür und betätigte den Klingelzug.

„Ich habe mich stets auf deine Rückkehr in die Heimat und

nach Marrick Castle gefreut, John“, sagte Graham ehrlich, „und
dich deshalb über die Ereignisse dort auf dem Laufenden gehal-
ten. Ich kann dir versichern, dass ich nicht der Einzige wäre, den
du enttäuschen würdest, nähmst du nicht den gebührenden
Platz ein.“

„Ich werde es mir überlegen“, sagte John ausweichend.

„Herein!“, rief er, da es in diesem Moment klopfte.

Betts betrat die Bibliothek und fragte: „Sie wünschen, Sir?“
„Mr. Fennybright möchte gehen. Begleiten Sie ihn bitte.“
Graham verabschiedete sich und folgte dem Butler.
Sobald der Advokat das Haus verlassen hatte, kehrte Betts

zum Colonel zurück und sagte höflich: „Pardon, Sir. Derweil Sie
mit Mr. Fennybright gesprochen haben, war Lord Trenchard
hier und hat, da Sie verhindert waren, versprochen, noch einmal
herzukommen.“

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„Danke“, erwiderte John. „Ich benötige Sie nicht mehr.“ Er

wandte sich ab, ging zum Konsoltisch und schenkte sich, um sich
zu beruhigen, ein Glas Cognac ein. Bedächtig leerte er es und
fragte sich, wie er sich entscheiden solle und wie seine Zukunft
aussehen würde.

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2. KAPITEL

Falmouth, Mai 1818

Bei Reisenden, die von den Westindischen Inseln eintrafen, war
das „Green Bank“ in Falmouth, einer dreihundert Meilen west-
lich von London gelegenen Stadt, sehr beliebt.

Beflissen wurde Mrs. Caroline Duval vom Besitzer des

Gasthauses begrüßt, denn es geschah offenbar äußerst selten,
dass ein so vornehmer und sichtlich vermögender Gast sich bei
ihm einfand.

Beeindruckt beobachtete er, wie die Lakaien eine Fülle von

Gepäckstücken ins Foyer brachten, und richtete den Blick dann
wieder auf Mrs. Duval. Sie war hoch gewachsen und schlank,
hatte grüne Augen und kastanienbraunes Haar, das unter ihrem
eleganten, der neuesten Mode entsprechenden Démis-Castor
hervorlugte. Sie trug eine taillierte Redingote aus bester Wolle
und feinste Glacéhandschuhe. Begleitet wurde sie von ihrer etwa
vierzig Jahre alten, rundlichen Zofe und einem älteren Bedien-
steten, der kräftig und untersetzt war und etwas streitsüchtig
wirkte. Unwillkürlich überlegte der Wirt, welche Funktion der
Mann haben mochte, der nicht den Eindruck eines einfachen
Domestiken machte, sondern eher ein Vertrauter zu sein schien.

Caroline beachtete die in der Halle anwesenden Leute nicht.

Selbstsicher folgte sie dem Hausknecht, der sie zu den besten
verfügbaren Zimmern in der oberen Etage führte.

„Bitte sehr, Madam“, sagte der junge Mann ehrerbietig,

öffnete ihr die Tür und verbeugte sich.

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Sie betrat den Salon, schaute sich um und äußerte an-

erkennend: „Sehr hübsch. Veranlassen Sie, dass die Räume be-
heizt werden, und sorgen Sie dafür, dass mir eine Flasche
Cognac serviert wird.“

Verblüfft schaute der Dienstbote sie an.
„Sie haben richtig gehört“, fuhr Caroline kühl fort. „Geben Sie

ihm ein Trinkgeld, Margaret.“

Die Zofe tat, wie ihr geheißen, und der Knecht zog sich nach

einer tiefen Verbeugung zurück, um die Wünsche der Dame zu
erfüllen.

Es dauerte nicht lange, bis eine Magd erschien, im Kamin

Feuer machte und sich dann in die angrenzenden Räumlich-
keiten begab.

In der Zwischenzeit hatte Caroline die mit einem Schloss

gesicherte hohe, ovale Hutschachtel auf einen Stuhl gestellt, den
Hut abgenommen und ihn auf einen Konsoltisch gelegt. Sie ließ
sich von Mrs. Lansing aus dem Mantel helfen, zog die Hand-
schuhe aus und übergab sie der Zofe. Dann setzte sie sich auf das
Kanapee, wartete, bis Mrs. Lansing aus dem Ankleidezimmer
zurückgekehrt war, und äußerte lächelnd: „Wir haben ziemliches
Aufsehen erregt, nicht wahr?“

„Das ist doch nicht verwunderlich, Madam“, erwiderte Mar-

garet schmunzelnd. „Den armen Hausknecht haben Sie ziemlich
aus der Fassung gebracht, als Sie nach Cognac verlangten. Sie
sind jetzt in England, Mrs. Duval! Hier ziemt es sich für eine
Dame nicht, Branntwein zu trinken, es sei denn als Digestiv oder
als Stärkungsmittel.“

„So etwas gehört sich auch in Jamaika nicht“, sagte Caroline

belustigt. „Aber weshalb sollte ich plötzlich Wert auf Schicklich-
keit legen, nur weil ich hier bin? Ich möchte unsere Ankunft fei-
ern. Also verderben Sie uns nicht den Spaß! Herein!“, rief sie,
weil jemand an die Tür geklopft hatte.

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Der junge Bedienstete, der sie hinaufgebracht hatte, betrat das

Zimmer, stellte das Tablett mit der Karaffe und dem Glas auf
dem Beistelltisch ab und zog sich nach einer ehrerbietigen Ver-
beugung zurück.

„Joseph, holen Sie noch zwei Gläser von der Anrichte“, bat

Caroline. „Wir werden gemeinsam darauf anstoßen, dass wir die
Reise unbeschadet überstanden haben. Edmund und seine
Handlanger sind jetzt viertausend Meilen weit weg und können
mir nichts mehr anhaben. Nun bin ich in Sicherheit, denn das
nächste Schiff aus Kingston trifft erst in zwei Wochen hier ein.“

„Wir sind noch lange nicht am Ziel, Madam“, entgegnete Mar-

garet ernst. „Allein bis London sind es weitere dreihundert Mei-
len, wie ich auf der Silver Star erfahren habe. Und wer weiß,
wann wir in Yorkshire sind.“

„Soweit mir bekannt ist, kann man in drei Tagen in der

Hauptstadt sein, weil die Straßen gut sind“, erwiderte Caroline
zuversichtlich.

Joseph hatte die Gläser gebracht, eingeschenkt und den Da-

men serviert.

„Danke“, sagte Caroline lächelnd und prostete ihm und ihrer

Zofe zu. Nachdem man den ersten Schluck getrunken hatte, fuhr
sie fort: „Ich bin überzeugt, dass wir von da aus dann nur noch
eine Woche bis High Hutton benötigen. Ich möchte, dass Sie uns
eine Mietkutsche besorgen, Joseph, denn ich will so schnell wie
möglich in London sein“, erklärte sie. „Sobald wir dort sind,
werde ich eine Berline für uns erstehen. Und noch etwas,
Joseph“, fügte sie hinzu, entnahm ihrem Ridikül einen Brief und
hielt ihn dem Diener hin. „Bringen Sie dieses Schreiben für Mr.
Trewarthen zu der angegebenen Adresse. Wenn unser Anwalt in
Jamaika alles wie gewünscht arrangiert hat, liegt das Geld für
mich bereit. Dann kann ich zur Bank gehen und morgen weiter-
reisen. Also trinken Sie aus, und machen Sie sich auf den Weg.“

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„Wie Sie wünschen, Madam“, erwiderte der Bedienstete und

nahm das Schreiben entgegen. Er leerte das Glas und stellte es
auf dem Tablett ab.

Nachdem er den Raum verlassen hatte, sagte Caroline: „Ich

möchte, dass Sie mir das Nötigste für eine Woche zusammen-
packen, Maggie. Das übrige Gepäck brauche ich nicht. Was
haben Sie?“, setzte sie verwundert hinzu. „Warum machen Sie
ein so düsteres Gesicht? Freut es Sie nicht, wieder in England zu
sein?“

„Ja, aber da ich vor über dreißig Jahren aus Derbyshire fort-

gezogen bin, weiß ich nicht, was mich hier erwartet“, antwortete
Margaret ehrlich. „Eins muss ich Ihnen jedoch in aller Deutlich-
keit sagen, Madam. Sie sollten auf Ihre Ausdrucksweise achten!
Bitte unterlassen Sie das Fluchen, und verwenden Sie auch keins
der höchst unpassenden Worte, die Sie in New Orleans
aufgeschnappt haben. Ihr Großvater kann Sie nicht mehr gegen
Ihre Kritiker in Schutz nehmen.“

„Nein“, stimmte Caroline bedrückt zu. „Ich werde mich be-

mühen, Ihren Rat zu beherzigen, Maggie. So, und nun richten
Sie mir bitte den Handkoffer.“

„Sehr wohl, Madam“, erwiderte Margaret, erhob sich und ging

ins Ankleidezimmer.

Erschöpft lehnte Caroline sich zurück und schloss die Augen.

Nach einer Weile ermahnte sie sich, keine Schwäche zu zeigen,
schlug die Lider auf und setzte sich aufrecht hin. Sie war gewillt,
ihr Bestes zu tun, um ihren Auftrag zu erfüllen.

Entschlossen stand sie auf und versperrte die Türen. Rasch

nahm sie den an einer goldenen Kette um den Hals hängenden
Schlüssel ab, öffnete das Schloss der ledernen Hutschachtel und
klappte den Deckel zurück. Dann holte sie den zuoberst lie-
genden Hut und die beiden versiegelten Umschläge heraus, de-
ponierte alles auf dem Kanapee und hob den mit Tüchern

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umhüllten Ainderby-Kelch an, den sie, nachdem er sich sechzig
Jahre lang nicht mehr in England befunden hatte, auf Wunsch
des Großvaters seinem rechtmäßigen Besitzer zurückbringen
sollte. Rasch zog sie den darunter platzierten Beutel hervor und
legte ihn vor sich auf den Tisch. Behutsam brachte sie die
Couverts und den Hut wieder in der Schachtel unter und dachte
dabei daran, welch einzigartiges Kleinod sie mit sich führte.

Bei dem so sorgfältig gegen Beschädigungen geschützten Ge-

fäß handelte es sich um einen wertvollen Kultgegenstand. Der
obere Rand war glatt, der untere Teil des Bechers mit überaus
vielfältigem Filigran bedeckt, sodass man den Eindruck gewann,
das Gefäß ruhe in einer Fülle goldener Spitzen, die funkelnde
kostbare Steine umschlossen. An der dem Zelebranten zuge-
wandten Seite war in einer beeindruckenden Darstellung das
Bild des Auferstandenen eingelassen, und weitere Email-
blättchen mit Szenen aus dem Leben Christi zierten den Fuß des
Kelches, dessen gewölbten Griff Olivine und Smaragde
schmückten.

Nachdem Caroline den Becher wieder in die Schachtel gestellt

und sie verschlossen hatte, verstaute sie das Säckchen in ihrem
Ridikül, stand auf und entriegelte die Türen. Langsam kehrte sie
zum Kanapee zurück, ließ sich erneut darauf nieder und war
froh, dass sie den ersten Teil der ihr übertragenen Mission erfüllt
hatte. Der zweite bestand darin, nach London zu reisen und in
Lincoln’s Inn die Anwaltskanzlei „Fennybright & Turner“
aufzusuchen.

Mr. Samuel Turner war der Sohn eines guten Freundes ihres

verstorbenen Großvaters. Er sollte ihr bei der Erledigung des
dritten und schwierigsten Teils ihres Vorhabens behilflich sein –
der Aufgabe, den Abendmahlskelch sicher nach Yorkshire zu
schaffen und den in High Hutton lebenden Ainderbys
auszuhändigen.

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Sie musste nicht lange auf Joseph warten. Nach einer halben

Stunde fand er sich wieder bei ihr ein und berichtete, es sei ihm
gelungen, für den nächsten Morgen eine bequeme Berline zu
mieten. „Und Mr. Trewarthen hat Ihnen dies hier geschickt“,
fügte er hinzu und überreichte ihr einen Umschlag.

Caroline riss ihn auf, zog das Kärtchen heraus und las die

wenigen Zeilen. „Oh, verflixt!“, murmelte sie. „Mr. Trewarthen
hat mich zum Dinner eingeladen. Absagen kann ich nicht, denn
dann wäre er gekränkt.“

„Ich halte es für angebracht, mich ein wenig in der Stadt

umzuschauen“,

schlug

Joseph

vor.

„Sind

Sie

damit

einverstanden?“

„Wozu soll das gut sein?“, wunderte sich Caroline.
„Nun, es kann nicht schaden, herauszufinden, ob jemand uns

beschattet“, antwortete der Diener ernst. „Ich vermute, dass Ihr
Vetter hier Kontaktpersonen hat. Als ich das Hotel betreten woll-
te, fiel mir ein Mann auf, der sich seltsam verhielt. Ich meine, es
ist ratsamer, sich zu vergewissern, ob wir tatsächlich beobachtet
werden. Schließlich ist es meine Pflicht, Sie zu beschützen, Mrs.
Duval.“

„Gut, tun Sie, was Sie für richtig halten“, stimmte sie zu. „Ach,

und richten Sie bitte Maggie aus, dass ich eine Abendrobe
benötige. Ich werde gleich zu ihr kommen und ihr sagen, welche
sie mir zurechtlegen soll.“

„Selbstverständlich, Madam“, äußerte Joseph höflich, ver-

beugte sich leicht und verließ das Boudoir.

Caroline überlegte, was sie anziehen solle. Der Anlass war

zwar nicht sehr festlich, jedoch ihr erster Auftritt in der Gesell-
schaft, für den sie richtig gekleidet sein wollte. Wahrscheinlich
würden die Gastgeber befremdet sein, wenn sie sahen, dass sie
nach dem Tod des Großvaters keine Trauerkleidung trug.

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Sie begab sich zu Mrs. Lansing und entschied sich für eine

schlichte weiße Kreation, die ein weniger gewagtes Dekolleté
hatte als ihre anderen Abendkleider. Dazu suchte sie sich eine
passende Bayadère aus, durch die der größte Teil des
Ausschnitts verhüllt wurde.

„Ich weiß nicht recht, Madam“, äußerte Margaret bedenklich.

„Finden Sie nicht, dass Sie ziemlich indezent angezogen sind?“

„Ich habe nichts Geeigneteres für diesen Anlass“, antwortete

Caroline achselzuckend. „Ganz abgesehen davon kann es mir
gleich sein, was die Leute von mir denken. Ich werde sie nie
wiedersehen.“

„Hoffentlich erregen Sie keinen Anstoß“, äußerte Margaret

skeptisch. „In diesem Land muss man viel Rücksicht auf die
Schicklichkeit nehmen. Außerdem weiß man nie, ob man je-
manden nicht doch noch einmal braucht!“

Caroline bemühte sich, einen guten Eindruck zu machen. Ver-
ständlicherweise waren die Gastgeber neugierig und wollten viel
über das Leben wissen, das sie in Kingston geführt hatte. Sie
ging so ehrlich auf alle Fragen ein, wie ihr geraten schien, und
berichtete von der Historie der Inseln, über das angenehme
Klima, die mitreißende Landschaft und zurückhaltend auch über
die sozialen Kreise, in denen sie verkehrt hatte.

In diesem Punkt sah sie sich indes hin und wieder genötigt,

die Wahrheit zu beschönigen, da der Großvater und sie sich in
ihrer kleinen Welt über viele gesellschaftliche Regeln hinwegge-
setzt hatten. Es war ein offenes Geheimnis, dass manche Damen
der Gesellschaft von Kingston ihrer beider Benehmen kritisiert
hatten, aber nie in ihrer Gegenwart. Schließlich hatte er bis zu
seinem Tod zu den bedeutendsten Großgrundbesitzern Jamaikas
gezählt. Sein hohes Ansehen hatte er nicht nur seinem im-
mensen Vermögen verdankt, sondern vor allem auch den

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Beziehungen seiner Gattin, einer Willoughby, deren Familie eine
der ältesten und vornehmsten auf der Insel war. Und natürlich
hatte kein Familienoberhaupt, dem die Belange seiner Angehöri-
gen am Herzen lagen, sich je öffentlich erkühnt, über einen Ver-
wandten des Großvaters herzuziehen, ohne dessen Unter-
stützung und Schutz Caroline es viel schlechter gehabt hätte.

Ihr Eigensinn und ihr stürmisches Temperament hatten sie

dazu verleitet, im Alter von siebzehn Jahren mit Laurent Duval,
einem gut aussehenden Abenteurer, durchzubrennen. Natürlich
hatte das zu einem Skandal geführt, der bei ihrer Rückkehr als
mittellose Witwe nur achtzehn Monate später wieder aufgelebt
war. Man hatte von ihr behauptet, in New Orleans habe sie
schlechten Umgang gehabt, doch dieses Gerücht war nie bew-
iesen worden. Selbstverständlich hatte sie sich nie dazu
geäußert, und der Großvater war stolz darauf gewesen, dass sie,
seine Erbin, sich nicht durch das Gerede hatte beeinflussen
lassen.

Er hatte sogar dafür gesorgt, dass sie wieder in der guten

Kingstoner Gesellschaft, die sie sicher gern verbannt hätte,
verkehren konnte. Allerdings war ihr aufgefallen, dass so
manche sich ihr gegenüber freundlich, aber distanziert gebende
Familie ihr das unüberlegte Verhalten nicht verziehen zu haben
schien. Die Leute hielten sie für zu unbesonnen und stur, und
nicht einmal ihre Schönheit, Grazie und reizvolle Ausstrahlung
waren Grund genug gewesen, ihr den einen oder anderen Faux-
pas nachzusehen. Mütter heiratsfähiger Mädchen argwöhnten
stets und zu Recht, dass kein junger Kavalier auch nur einen
Blick für ihre wohlgesittete Tochter übrighatte, wenn Caroline
anwesend war. Die meisten der Herren, ganz gleich, um wen es
sich handelte, waren von ihr bezaubert gewesen. Sie hatte sich
angewöhnt, den über sie in Umlauf befindlichen Klatsch, die ihr
geltenden anzüglichen Blicke und das Getuschel nicht zu

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beachten, und nur laut gelacht, nachdem ihr zu Ohren gekom-
men war, dass man sie hinter ihrem Rücken „die Witwe Duval“
nannte. Ihr angegriffener Ruf war daran schuld, dass sie gele-
gentlich einen allzu forschen Verehrer in die Schranken hatte
weisen müssen, ohne dabei jedoch die Contenance zu verlieren.

Nach der unglücklichen Episode mit Laurent hatte sie nicht

mehr das Bedürfnis gehabt, sich erneut mit einem Mann einzu-
lassen. Die Erfahrungen, die sie mit ihrem verstorbenen Gatten
gemacht hatte, waren ihr eine Lehre fürs Leben. Mit wenigen
Ausnahmen, zu denen der von ihr sehr respektierte Großvater
gehört hatte, waren in ihren Augen Männer, auch wenn sie sich
ihnen gegenüber charmant und umgänglich zeigte, Dummköpfe
oder Schufte.

Nach dem in gelöster Stimmung eingenommenen Dinner ver-

abschiedete sie sich freundlich von den Gastgebern, kehrte, beg-
leitet von Joseph, ins Hotel zurück und beglückwünschte sich
auf dem Weg dazu, sich genau so betragen zu haben, wie es von
einer verwitweten Fremden erwartet wurde – wohlerzogen und
liebenswürdig.

Kaum war Mrs. Duval gegangen, äußerte Mr. Trewarthen an-
erkennend zu seiner Gattin: „Sie ist eine wahre Dame, Henrietta,
und so gebildet. Ich war sehr beeindruckt von dem, was sie uns
über Jamaika erzählt hat.“

„Du täuschst dich, Paul“, entgegnete seine Frau und

schnaubte verächtlich. „Meiner Meinung nach ist sie eine lieder-
liche Person. Ich fand ihr Dekolleté entschieden zu tief! Wenn
sie sich vorbeugte, konnte man ihr bis zum Bauchnabel sehen!“

„Ach, übertreib nicht so schrecklich!“, erwiderte ihr Gatte be-

lustigt. „So großzügig ausgeschnittene Kleider sind heutzutage
doch in Mode! Im Übrigen muss Mrs. Duval sich ihrer Figur für-
wahr nicht schämen.“

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„Kein Wunder, dass du sie in Schutz nimmst!“, erboste sich

Henrietta. „Du konntest ja den Blick nicht von ihr lassen! Nein,
ich bleibe dabei, dass sie leichtlebig ist. Ihr Haar hat einen so
merkwürdigen Rotschimmer. Ganz gewiss ist es gefärbt!“

„Ich verstehe nicht, warum du so viel an ihr auszusetzen hast,

meine Liebe“,wunderte sich Mr. Trewarthen. „Was stört dich so
an ihr?“

„Das zu sagen fällt mir schwer“, räumte Henrietta ein. „Ich

mag sie einfach nicht! Manchmal hatte ich den Eindruck, dass
sie sich im Stillen über uns lustig machte.“

„Was redest du für Unsinn!“, entrüstete sich Paul. „Sie hatte

doch nicht den mindesten Anlass, sich über uns zu amüsieren.
Dieses Gespräch führt zu nichts, denn es steht uns nicht zu, die
Enkelin eines hoch geschätzten Klienten oder die Beweggründe
für ihr Verhalten zu kritisieren. Ihr verstorbener Großvater hat
mich gebeten, ihr bei der Erfüllung eines letzten Wunsches in
jeder Hinsicht behilflich zu sein, und das gedenke ich zu tun. So,
und nun sollten wir uns zur Ruhe begeben!“

Ehe man in die abfahrbereite Berline stieg, nahm Caroline den
Diener beiseite und fragte: „Brauchen wir wirklich Postillione,
Kutscher und einen Knecht?“

„Ja, Madam“, antwortete Joseph ernst. „Ich halte das für an-

gebracht. Wir müssen durch das Moor von Bodmin, und die
Straße dort ist nicht sehr befahren. Je mehr Leute wir zu unser-
em Schutz bei uns haben, desto besser.“

„Sind Sie nicht etwas übervorsichtig, Joseph?“, fragte Caroline

erstaunt. „Oder befürchten Sie einen unangenehmen Zwischen-
fall? Haben Sie den Mann, der Ihnen gestern auffiel, erneut
gesehen?“

„Nein“, gab Joseph zu. „Aber im Mietstall hatte ich das Ge-

fühl, beobachtet zu werden.“

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„Das haben Sie sich bestimmt nur eingebildet“, entgegnete

Caroline lächelnd. „Wer sollte uns beschatten? Von den anderen
Schiffspassagieren, die samt und sonders einen ordentlichen
Eindruck auf mich gemacht haben, steht wohl keiner mit
meinem Vetter in Verbindung. Und wie Sie sehr wohl wissen,
war Edmund noch mit seinen Leuten auf dem Kai, als die Silver
Star
ablegte.“

„Der Anwalt wusste, dass Sie kommen“, wandte Joseph ein.

„Folglich kann auch noch jemand über Ihr bevorstehendes Ein-
treffen informiert worden sein.“

„Ich glaube nicht, dass Mr. Trewarthen geplaudert hat“, er-

widerte Caroline und schüttelte den Kopf. „Und was meinen
Cousin angeht, so konnte er nicht vorausahnen, dass ich nach
England segeln würde.“

„Und was ist mit der Mannschaft?“, gab Joseph zu beden-

ken.„Ein von Mr. Willoughby beauftragter Matrose hätte von
Bord gehen und uns folgen können. Soll ich mich beim Ober-
maat oder Kapitän erkundigen, ob ein Mitglied der Besatzung
Landgang beantragt hat?“

„Das ist unnötig“, lehnte Caroline das Ansinnen ab. „Es wäre

reine Zeitverschwendung. Nein, widersprechen Sie mir nicht!
Ich bezweifle, dass wir beschattet werden. Außerdem bin ich in
Eile. Ich möchte so schnell wie möglich in London sein. Mit der
schwer beladenen Chaise kommen wir ohnehin nicht so rasch
voran, wie es mir lieb wäre.“

„Wie Sie wollen, Madam“, gab Joseph nach, half ihr in die

Kutsche und schloss den Wagenschlag. Dann nahm er neben
dem Kutscher Platz und achtete, als dieser das Gespann antrieb,
besonders wachsam auf die Umgebung.

Mit einem erleichterten Seufzer lehnte Caroline sich zurück

und ging davon aus, dass sie in einer knappen Woche in der
Hauptstadt sein würde.

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Die Reise verlief indes nicht so, wie sie sich das vorgestellt

hatte, denn der Zustand der Straßen war schlecht. Als man
schließlich das Moor von Bodmin durchquerte, war sie müde
und sehnte sich nach einer kräftigenden Mahlzeit und einem be-
quemen Bett. Da sie so abgespannt war, beschloss sie, nicht bis
zur nächsten Stadt zu fahren, und teilte das dem Kutscher mit,
als man in einer Umspannstelle anhielt. „Das Gasthaus macht
einen respektablen Eindruck“, fuhr sie fort. „Daher werden wir
hier Zimmer nehmen.“

„Es ist so abgelegen“, wandte Joseph bedenklich ein. „Ich

halte es für richtiger, die Nacht in Launceston zu verbringen.“

„Ich nehme an, dass mittlerweile jeder von uns erschöpft ist“,

erwiderte Caroline ungeduldig. „Maggie hat Kopfschmerzen, und
mir tun alle Glieder weh! Nein, wir rasten hier! Die Berline kann
mitsamt Gepäck auf dem Hof bleiben. Ich bin sicher, niemand
wird versuchen, etwas zu stehlen, da der Kutscher, die beiden
Vorreiter und der Lakai mit Ihnen auf dem Dachboden der
Remise schlafen. Maggie wird Ihnen mitteilen, welches
Handgepäck ich benötige.“

„Sehr wohl, Madam.“
Sie betrat das Wirtshaus und wurde ehrerbietig vom Krüger

begrüßt, der ihr erklärte, es seien keine weiteren Gäste an-
wesend. Sie bezog ihre Zimmer, machte sich frisch und nahm
dann das vorzüglich zubereitete Abendessen im Schankraum ein.
Sie beendete es mit einem Gläschen guten Cognacs und zog sich
dann in ihr Schlafgemach zurück.

Margaret half ihr, sich für die Nacht herzurichten, und begab

sich ebenfalls zur Ruhe.

Irgendwann wurde Caroline durch lautes, vom Hof herauf-

dringendes Geschrei geweckt. Erschrocken sprang sie aus dem
Bett, eilte zur Tür und machte sie einen Spalt auf. Da der Lärm
nicht nachließ, betrat sie den Korridor und sah ihre Zofe mit der

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sichtlich verstörten Gattin des Gastwirts, die eine Laterne in der
Hand hielt, bei der Treppe stehen.

Kaum hatte die Frau sie erblickt, äußerte sie bestürzt: „Gut,

dass Sie kommen, Mrs. Duval. So etwas ist hier noch nie
vorgekommen!“

„Was ist geschehen?“, erkundigte Caroline sich betroffen.
„Die Räuber, die im Moor ihr Unwesen treiben … Ich weiß

nicht, wie ich es Ihnen sagen soll.“

„Was ist denn passiert?“, fragte Caroline drängend.
„Man hat Ihre Kutsche aufgebrochen und durchwühlt“,

erklärte die Wirtsfrau aufgeregt. „All Ihre hübschen Sachen lie-
gen wild durcheinander im Hof …“

„Wie bitte?“, fiel Caroline Mrs. Bolton erschüttert ins Wort.

„Maggie, holen Sie sofort Joseph her!“

„Er ist bereits im Vestibül“, antwortete Margaret.
Hastig wandte Caroline sich ab, eilte in ihre Kammer zurück

und zog sich einen Morgenmantel an. Geschwind begab sie sich
dann zu ihrer Zofe und Mrs. Bolton und hastete die Treppe hin-
unter. Im Parterre wurde sie schon von ihrem unübersehbar
wütenden Diener und dem sehr betreten wirkenden Krüger
erwartet.

„Es tut mir leid, Mrs. Duval“, murmelte Mr. Bolton verlegen

und hielt ihr die Haustür auf.

Beim Anblick ihrer überall verstreuten Habseligkeiten blieb

sie wie angewurzelt stehen. Fassungslos starrte sie die Verwüs-
tung an. Kein Gepäckstück war auf der Kutsche geblieben. Alles
war heruntergeholt und durchsucht worden. Sogleich haderte sie
mit sich, weil sie nicht Josephs Rat, in Launceston zu übernacht-
en, befolgt hatte.

„Ich kann mir denken, wer das getan hat, Madam“, sagte der

Wirt verbissen. „Das müssen die mir feindselig gesonnenen Bur-
netts gewesen sein. Sie haben sich dafür gerächt, dass ich im

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vergangenen Jahr dazu beigetragen habe, einen der Söhne
festzusetzen.“

Skeptisch schaute Joseph den Mann an.
„Ich wüsste nicht, wer sonst für dieses Verbrechen infrage

käme“, fuhr Mr. Bolton fort. „Wie kann ich den Ihnen
entstandenen Schaden gutmachen, Madam?“

„Wenn Sie so genau wissen, wer das getan hat, haben Sie die

Übeltäter bestimmt verfolgen lassen, nicht wahr?“

„Natürlich sind sie längst über alle Berge“, antwortete der

Wirt kleinlaut. „Aber früher oder später wird man sie auf frischer
Tat ertappen, und dann bekommen sie ihre gerechte Strafe!“

„Das hilft mir jetzt nicht weiter!“, erwiderte Caroline schroff.

„Sorgen Sie unverzüglich dafür, dass meine Sachen aufgesam-
melt und in meine Kammer gebracht werden! Maggie, Sie wer-
den sie durchsehen und aussortieren, was nicht mehr getragen
werden kann. Kommen Sie!“, setzte sie befehlend hinzu, drehte
sich um und kehrte, gefolgt von ihrer Zofe, ins Haus zurück. Es
ärgerte sie maßlos, ihr Gepäck geplündert zu sehen, doch noch
empörender fand sie den Gedanken, dass wildfremde Männer
das getan hatten. Ganz abgesehen davon würde es eine kleine
Ewigkeit dauern, bis sie wusste, welchen Teil ihrer Garderobe sie
behalten konnte. Sie würde viel Zeit verlieren, die sich nicht auf-
holen ließ.

Zum Glück hatte sie den Handkoffer mitgenommen. Sie begab

sich mit Maggie in ihre Kammer und harrte missmutig darauf,
dass die Hausknechte ihre Sachen hereintrugen. Dann machte
sie sich daran, das beiseitezulegen, was nicht mehr verwendbar
war.

„Wer hätte gedacht, dass man uns einen solchen Empfang

bereitet!“, äußerte Margaret schließlich, nachdem man mit der
unerfreulichen Arbeit fertig war. „Was gedenken Sie jetzt zu
tun?“

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„Nun, die Dinge, die ich behalte, müssen umgehend ge-

waschen und gebügelt werden“, antwortete Caroline erschöpft.
„Ich habe nicht vor, darauf zu warten, bis das erledigt ist. Im Ge-
genteil, ich werde die Fahrt wie geplant fortsetzen. Mr. Bolton
kann das, was gereinigt werden muss, später zusammenpacken
lassen und mir nach London schicken. Vielleicht hilft das den
Wirtsleuten, ihr schlechtes Gewissen zu erleichtern. Ich gehe
davon aus, wieder im Besitz dieser Dinge zu sein, ehe das, was
ich mit Mr. Turner zu besprechen habe, geregelt ist. Ach,
machen Sie kein so zweifelndes Gesicht, Maggie. Andernfalls
muss ich mich in London mit neuer Garderobe ausstatten. So,
und nun sollten wir uns für die Fahrt herrichten und an-
schließend stärken. Ich will keine Zeit verlieren!“

Nachdem die Zofe sich zurückgezogen hatte, machte Caroline

Morgentoilette, ging ins Vestibül und teilte Mr. Bolton mit, was
sie in Bezug auf ihre noch benutzbare Kleidung und Wäsche
beschlossen hatte. „Mit dem Rest können Sie nach Gutdünken
verfahren“, setzte sie hinzu.

„Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, dass Ihre Wün-

sche erfüllt werden, Madam“, versicherte der Gastwirt eilfertig.

„Danke“, erwiderte Caroline, beglich die Rechnung und begab

sich zum Frühstück in den Schankraum.

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3. KAPITEL

Bis schließlich jeder an der Reise Beteiligte seine Mahlzeit been-
det und man das verbliebene Gepäck erneut auf der Berline ver-
staut hatte, war es acht Uhr geworden. Unruhig drängte Caroline
auf sofortigen Aufbruch, war indes durch die unangenehme
nächtliche Erfahrung vorsichtiger geworden. Sie teilte dem
Kutscher mit, man werde nur noch bei Tageslicht fahren, und
bedeutete Joseph, in Zukunft in größeren Ansiedlungen über-
nachten zu wollen. Dann verabschiedete sie sich von den
Wirtsleuten, ließ sich von Mr. Bolton in die Chaise helfen und
lehnte sich erleichtert zurück, als das Gefährt anfuhr. Sie verließ
sich darauf, dass Joseph und die anderen Männer gut auf jede
Gefahr achten würden.

Die Reise verlief erfreulicherweise ohne einen weiteren Zwis-

chenfall, und am Tag, bevor man London zu erreichen hoffte,
traf man abends in Andover ein. Caroline war guter Dinge, in
Kürze Mr. Turner treffen und einen Teil der ihr aufgetragenen
Pflicht an ihn abgeben zu können. Umso überraschter war sie,
als sie ihren Diener, der einen Rundgang durch die Stadt unter-
nommen hatte, mit ernster Miene zurückkehren sah. „Was gibt
es, Joseph?“, erkundigte sie sich verwundert, als er sich in ihrem
Zimmer einfand.

„Ich glaube, hier ein mir vertrautes Gesicht bemerkt zu haben,

wenngleich ich nicht ganz sicher bin“, antwortete er düster.
„Jedenfalls ist mir am Kai in Falmouth ein Mann aufgefallen,
den ich auch an dem Abend, als Ihr Gepäck aufgebrochen wurde,
gesehen zu haben meine.“

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„Wirklich? Das könnte bedeuten, dass Mr. Bolton sich geirrt

hat und die Täter nicht die von ihm erwähnten Burnetts waren.“

„Ich war nie seiner Ansicht, habe ihm jedoch nicht wider-

sprochen, weil ich meine Behauptung nicht belegen konnte.“

„Und was soll ich Ihrer Meinung nach jetzt tun?“
„Es wäre riskant, die Hauptstraße nach Hounslow zu nehmen,

da ein ungefähr drei oder vier Meilen langes Stück der Strecke
durch unbesiedeltes Gebiet verläuft. Ich habe gehört, dass We-
gelagerer dort ihr Unwesen treiben sollen.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir am hellen Tag über-

fallen werden“, erwiderte Caroline bedächtig.

„Ja, wir sollten es vermeiden, in der Dämmerung unterwegs

zu sein. Es ist indes besser, auf jede Eventualität vorbereitet zu
sein. Ich werde meine Pistolen schussbereit bei mir haben und
rate Ihnen das Gleiche.“

„Gut“, stimmte Caroline zu. „Aber verschweigen Sie das Mag-

gie gegenüber. Ich will mir nicht schon wieder einen Vortrag
darüber anhören müssen, was eine Dame tun darf und was
nicht.“

„In Ordnung, Madam“, willigte Joseph ein und zog sich

zurück.

Caroline machte sich frisch, ging in den Schankraum und aß

mit ihrer Zofe und Joseph zu Abend. Dann begab sie sich zu Bett
und wachte in der Frühe ausgeruht auf. Nachdem sie die Mor-
gentoilette erledigt, mit Margarets Hilfe den durch ein Kissen
geschützten Ainderby-Kelch unter dem Kleid vor den Leib ge-
bunden und sich anschließend mit ihren Bediensteten gestärkt
hatte, beglich sie die Rechnung und ging, die verwunderten
Blicke der Männer ignorierend, zum Wagen. Sie war froh, dass
sie nicht gefragt wurde, warum sie sich über Nacht so verändert
hatte. Etwas unbeholfen stieg sie, unterstützt von Margaret, in
die Berline, und nachdem die Zofe neben ihr Platz genommen

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hatte und die Tür geschlossen worden war, wurde die Reise
fortgesetzt.

Am Spätnachmittag erreichte man noch im Hellen die Heide

von Hounslow. Da die Straße ziemlich gerade verlief, glaubte
Caroline, dass man sie unbeschadet passieren könne, und befahl
dem Kutscher, so schnell wie möglich zu fahren. Nach kurzer
Zeit hörte sie Joseph einen lauten Warnruf ausstoßen, schaute
verunsichert aus dem Fenster und erblickte ein halbes Dutzend
Reiter, die an der Berline vorbeipreschten. Erschrocken schlug
sie die Hand vor den Mund, vernahm barsche Befehle und den
Lärm etlicher Schüsse und wurde heftig nach vorn geschleudert,
als die Kutsche jäh zum Stehen kam. Im nächsten Augenblick
wurden die Wagenschläge aufgerissen, und zwei finstere Gestal-
ten kletterten herein. Verstört blickte Caroline auf den Waffen-
kasten und bedauerte, dass sie es trotz Josephs Rat unterlassen
hatte, ihn zu öffnen und die Kassette mit den Pistolen
hervorzuholen.

„Da ist die Schachtel!“, schrie einer der beiden Banditen und

griff nach dem neben Caroline stehenden Lederbehälter.

Wütend trat sie dem Kerl gegen das Schienbein, brachte ihn

zu Fall und sah ihn rücklings aus dem Fahrzeug stürzen. „Zu Hil-
fe, Joseph!“, schrie sie. „Verdammt, wo sind Sie?“

Margaret sah, dass der zweite Eindringling sich gleichfalls der

Hutschachtel bemächtigen wollte, ergriff ihn am Rockschoß und
bemühte sich, ihn zurückzureißen.

Der Schurke drehte sich um und schlug ihr ins Gesicht.
Zu Tode erschrocken rückte die Zofe so weit wie möglich von

ihm ab.

„Oh, Parbleu! Was ist mit unseren Begleitern passiert?“, mur-

melte Caroline aufgebracht und versuchte sich schützend vor das
Lederbehältnis zu setzen. Es gelang ihr jedoch nicht, weil der
Halunke sie wüst fortzerrte und ihr mit der Handkante auf den

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Unterarm schlug, sodass sie vor Schmerz den Trageriemen
losließ, den sie bis dahin festgehalten hatte. Der Räuber riss die
Hutschachtel an sich und war im Nu aus der Berline gesprungen.
Caroline wollte hinter ihm her und sah, als sie sich eben an-
schickte, aus der Kutsche zu klettern, wie er seine Beute einem
Kumpan übergab und sich dann auf sein Pferd schwang.

„Erledigt!“, rief er zufrieden und schaute sie breit grinsend an.

„Wir haben, was wir wollten. Auf, Kameraden, nichts wie weg“,
setzte er gebieterisch hinzu.

Eine Staubwolke hinter sich lassend, stoben die Reiter die

Straße hinunter und bogen ins Gebüsch ab, wo sie der Sicht
entzogen waren. Zornbebend wandte Caroline sich um, in der
Annahme, die beiden Postillione würden ihnen folgen. Entsetzt
sah sie ihren Diener mit schmerzverzerrter Miene auf der Erde
sitzen. Der Pferdeknecht war damit beschäftigt, ihm den Ober-
arm mit einem Sacktuch zu verbinden. „Was ist geschehen?“,
fragte sie erschüttert und begab sich eilends zu den beiden
Männern.

„Ich bin angeschossen worden, Madam“, antwortete Joseph

ächzend.

„Er hätte nicht versuchen dürfen, die Verbrecher aufzuhal-

ten“, warf der junge Bursche an seiner Seite ernst ein. „Es ist im-
mer besser, man leistet keinen Widerstand, weil man dann un-
geschoren davonkommt. Er hat einen von ihnen getötet, und
natürlich wurde er von den anderen unter Beschuss genommen.“

„Geben Sie mir Ihr Taschentuch, Joseph!“, verlangte Caroline.
Schnaufend zog er es umständlich aus der Schoßtasche und

überreichte es ihr.

Sie verknüpfte es mit dem anderen und legte Joseph einen

festen Verband an. „Verflixt, Neville, warum sind Sie nicht zu
mir gekommen, als ich um Hilfe gerufen habe?“, fragte sie den

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Pferdeknecht unwirsch. „Und wieso haben die beiden Vorreiter
nicht die Verfolgung aufgenommen?“

„Wir sind keine Helden, Madam“, antwortete der Junge klein-

laut. „Ich wäre längst tot, hätte ich jedes Mal, wenn ich als
Eskorte einer Mietkutsche fungieren musste, mein Leben ris-
kiert. Es ist besser, sich nicht einzumischen. Wenn Sie sicher
reisen wollen, müssen Sie die Postchaise nehmen.“

Die Äußerungen des Burschen verschlugen Caroline die

Sprache. Jetzt merkte sie, dass es ein gravierender Fehler
gewesen war, nicht auf tatkräftigeren Männern als Begleitschutz
zu bestehen. „Helfen Sie meinem Diener. Er muss umgehend zu
einem Arzt“, befahl sie kühl. Dann wandte sie sich dem Kutscher
zu, der wie erstarrt auf dem Kutschbock saß, und entschied: „Wir
fahren unverzüglich nach Hounslow weiter. Was sehen Sie mich
so ängstlich an?“, fügte sie angesichts der furchtsamen Miene
des Mannes hinzu. „Die Wegelagerer werden uns gewiss nicht
noch einmal behelligen. Sie haben bekommen, was sie an sich
bringen wollten.“

Behutsam half Neville Joseph auf die Füße und in die Berline.

Dann war er Caroline beim Einsteigen behilflich, schloss die Tür
und stellte sich auf den Dienertritt.

Die Kutsche rollte an und setzte den Weg nach Hounslow fort.

Besorgt beobachtete Caroline ihre Zofe, die sich vom Schreck er-
holt zu haben schien, und den ihr gegenüber sitzenden Diener,
der die Lippen verkniff und sichtlich litt. Ein immer größer wer-
dender Blutfleck breitete sich auf der behelfsmäßigen Bandage
und seinem Jackenärmel aus. Inständig hoffte Caroline, dass
seine Verletzung bald behandelt werden könne und sich nicht
entzündete. Sollte er Wundfieber bekommen, konnte das für ihn
lebensgefährlich werden.

Der Gedanke, dass Edmund in England doch Verbündete

hatte, verursachte Caroline ein Frösteln. Sie war sicher, dass die

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Räuber ihr die Hutschachtel in seinem Auftrag entwendet hat-
ten. Hätte es sich nur um einheimische Wegelager gehandelt,
wäre der Überfall ganz bestimmt anders verlaufen.

Sie atmete erleichtert auf, als der Wagen schließlich in Houn-

slow, einer kleinen, lebhaften Ansiedlung, eintraf, die zum
größten Teil aus an der Straße liegenden Wirtschaften zu be-
stehen schien. Nach einigem Hin und Her bekam man in einem
Gasthaus Quartier, wo es nicht ganz so lärmend zuging. Caroline
berichtete der Wirtin, was sich unterwegs ereignet hatte, und bat
um den Besuch eines Arztes.

„Wie

schrecklich!“,

murmelte

die

Frau

mitfühlend.

„Unfassbar, dass man nicht einmal bei Tageslicht auf der Straße
sicher ist! Leider kann ich Ihnen den hiesigen Doktor nicht em-
pfehlen, Madam. Er trinkt zu viel. An Ihrer Stelle würde ich
Ihren Begleiter in London untersuchen lassen“, setzte sie ernst
hinzu.

„Ich weiß nicht, ob er reisefähig ist“, erwiderte Caroline. „Ich

werde zu ihm gehen und nachsehen, in welcher Verfassung er
ist.“ Sie wandte sich ab und eilte in die Kammer, in die er geb-
racht worden war.

„Ich habe ihm einen neuen Verband angelegt, Madam“,

verkündete Neville. „Die Blutung hat aufgehört. Die Kugel steckt
jedoch noch im Arm und muss baldigst entfernt werden.“

„Ich habe soeben erfahren, dass es ratsamer ist, ihn zu einem

Arzt in London zu bringen“, erwiderte Caroline. „Ist er
transportabel?“

„Ich denke schon“, meinte Neville.
„Gut! Dann kaufen Sie bitte drei Billetts für die erste

Postkutsche, die morgen von hier in die Hauptstadt abgeht“,
wies Caroline den Pferdeknecht an, „jedoch möglichst nicht
unter meinem Namen. Fragen Sie die Wirtin, ob sie damit ein-
verstanden wäre, wenn wir ihren benutzen.“

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„Wie Sie wünschen, Madam“, sagte Neville höflich. „Ich werde

mein Bestes tun.“

Joseph wartete, bis der Bursche die Kammer verlassen hatte,

und äußerte dann abweisend: „Ich brauche keinen Arzt,
Madam!“

„Seien Sie nicht töricht, Joseph“, entgegnete sie kopfschüt-

telnd. „Natürlich sind Sie auf medizinische Hilfe angewiesen. Es
tut mir sehr leid, dass Ihnen das widerfahren ist. Ich hätte auf
Sie hören sollen!“

„Sie müssen sich nicht entschuldigen, Madam“, widersprach

er leise. „Ihr Großvater hat mir aufgetragen, dafür zu sorgen,
dass Sie und das Kleinod sicher zu den Ainderbys gelangen. Und
in diesem Punkt habe ich versagt.“

„Sie reden Unsinn“, erwiderte Caroline lächelnd. „Mit mir und

dem Abendmahlskelch ist alles in Ordnung.“

„Aber die Verbrecher haben Ihnen doch die Hutschachtel

geraubt“, äußerte Joseph verdutzt.

„Ja, aber nicht das, worauf es ihnen ankam“, erklärte Caroline

schmunzelnd. „In dem Lederbehälter befindet sich inzwischen
ein Stutzbecher aus Zinn. Ich habe ihn in Andover ausgetauscht.
Wenn sie sehen, was sie mir gestohlen haben, werden sie einen
Wutanfall bekommen.“

„Und wo ist das Kleinod jetzt?“, wollte Joseph verblüfft

wissen.

„Ist Ihnen an mir denn keine Veränderung aufgefallen?“,

fragte sie erheitert.

„Ja, und ich habe mich schon heute Morgen gewundert, war-

um Sie plötzlich so viel fülliger sind.“

„Nun, die Erklärung dafür ist einfach“, sagte sie auflachend.

„Ich trage den Kelch am Leib. Margaret hat ihn mir umgebunden
und mit einem Kissen geschützt. Deshalb sehe ich jetzt so aus,
als sei ich über Nacht in sehr fortgeschrittenen Zustand geraten.“

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„Wie einfallsreich!“, staunte Joseph. „Ich befürchte jedoch,

dass die Räuber, wenn sie den Betrug merken, uns sofort wieder
heimsuchen werden.“

„Es dürfte einige Zeit dauern, bis sie feststellen, dass sie gen-

arrt

wurden“,

erwiderte

Caroline

zuversichtlich.

„Die

Hutschachtel war wie immer verschlossen. Es ist kaum damit zu
rechnen, dass sie geöffnet wird, bevor die Verbrecher an ihrem
Ziel sind. Und dann sind wir hoffentlich schon in London in
Sicherheit.“

„Wir?“, wiederholte Joseph skeptisch. „Ich werde Sie nicht

begleiten können, Madam, auch wenn dieser Gedanke mir von
Herzen zuwider ist, weil Sie dann ohne Schutz sind. Aber Sie
müssen ohne mich weiterreisen. Fahren Sie morgen früh mit der
Postkutsche, und begeben Sie sich unverzüglich zu Mr. Turner.“

„Nein, das kommt überhaupt nicht infrage!“, weigerte sich

Caroline. „Ich lasse Sie hier nicht zurück. Und damit wir unbe-
helligt bleiben, habe ich mir etwas einfallen lassen.“

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4. KAPITEL

Neville hatte seine Aufgabe gut erledigt und es geschafft, Billetts
für vier Personen für die morgens aus Bristol kommende und
nach London weiterfahrende Postkutsche zu kaufen. Caroline
war überzeugt, dass niemand, der sie nun sah, in ihr die eleg-
ante, eine Woche zuvor in Falmouth eingetroffene junge Frau
erkennen würde. Mit Unterstützung ihrer Zofe hatte sie sich in
eine korpulente Person verwandelt, die in Trauer war und nach
London zu einem Begräbnis reiste. Begleitet wurde sie angeblich
von ihrer Schwester und ihrem Schwager, die ebenfalls in Sch-
warz gekleidet waren. Sie trug eine Schute, unter der ihr Haar
durch ein Netz gehalten wurde, und einen bis zu den Hüften
reichenden Umhang, Sachen, die sie der Wirtin abgekauft hatte.
Mrs. Hopkins hatte ihr auch einen Mantel ihres verstorbenen
Gatten überlassen, den nun Joseph anhatte, und Margaret war
in eine eigene Pelisse gehüllt.

Die Postkutsche traf verhältnismäßig pünktlich ein, und

niemand schenkte Caroline und ihren vermeintlichen Ver-
wandten Aufmerksamkeit, als sie das Gasthaus verließen und in
die Chaise stiegen, die nach kurzem Aufenthalt die Fahrt
fortsetzte.

Ungefähr zwei Stunden später traf man vor dem „Weißen Sch-

wan“ in der Innenstadt von London ein. Caroline begab sich mit
ihren Dienstboten in die Wirtschaft, suchte den Schankraum auf
und bestellte für sich und ihr Gefolge etwas zu essen. Dann er-
suchte sie die Bedienung um Schreibzeug und schrieb, sobald es
ihr gebracht worden war, einen Brief an Mr. Turner. Rasch

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faltete sie das Blatt, schob es in einen Umschlag und verschloss
und versiegelte ihn.

Als die Kellnerin das Frühstück servierte, übergab Caroline ihr

das Schreiben mit der Bitte, zu veranlassen, dass es unverzüglich
der Anwaltskanzlei „Fennybright & Turner“ übermittelt wurde.
Dann sprach man mit großem Appetit dem Essen zu und wartete
darauf, eine Nachricht von dem Anwalt zu erhalten. Überras-
chenderweise dauerte es nicht allzu lange, bis ein gut gekleideter
Herr den Raum betrat, kurz mit dem Wirt sprach und dann auf
dessen Zeichen hin zielstrebig zu dem Tisch kam, an dem
Caroline saß.

„Guten Morgen, Madam“, begrüßte er sie. „Wie ich hörte, sind

Sie Mrs. Duval. Ich bin Samuel Turner. Vielen Dank für Ihre
Mitteilung. Ich habe bereits Ihrem Ersuchen entsprochen und
Anweisung gegeben, Ihren Diener bei mir unterzubringen und
den Arzt kommen zu lassen. Wenn es Ihnen recht ist, kann er
mit meiner Kutsche zu mir nach Hause fahren.“

„Sehr freundlich, Sir“,erwiderte Caroline erfreut. „Ja, ich bin

damit einverstanden. Meine Zofe wird ihn begleiten. Ich komme
später nach“, wandte sie sich an ihre Dienstboten, „da ich zun-
ächst noch einige wichtige Dinge mit Mr. Turner zu besprechen
habe.“

Joseph erhob sich, half Mrs. Lansing beim Aufstehen und ver-

abschiedete sich mit ihr von den Herrschaften.

„Bitte, nehmen Sie Platz, Sir“, forderte Caroline den Anwalt

auf.

„Danke“, erwiderte Mr. Turner und setzte sich zu ihr an den

Tisch.

Sie öffnete ihr Ridikül, entnahm ihm das Couvert und

händigte es ihrem Gegenüber aus. „Das ist der für Sie bestimmte
Brief meines Großvaters“, erklärte sie. „Es wäre mir lieb, Sie

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würden den Inhalt des Schreibens kennen, bevor wir unser Ge-
spräch beginnen.“

Der Anwalt riss den Umschlag auf und zog das gefaltete Blatt

heraus. Er glättete es umständlich und las:

Sehr geehrter Mr. Turner,
zunächst möchte ich mich bei Ihnen dafür bedanken, dass
Sie mir seit dem Tod Ihres Vaters vor zehn Jahren so gute
Dienste geleistet haben. In dieser Zeit waren Sie ebenso
vertrauenswürdig und diskret wie er.

Vielleicht haben Sie sich manchmal gefragt, wie ich ihn

kennengelernt habe. Wir sind uns in Yorkshire, lange vor
meiner Abreise nach Jamaika, begegnet. Er kannte meine
Vergangenheit und auch meinen richtigen Namen. Es wird
Sie möglicherweise verwundern zu lesen, dass ich in Wirk-
lichkeit nicht Leyburn heiße. In Erwiderung eines kleinen
Gefallens, den ich Ihrem geschätzten Vater einst erwiesen
habe, versprach er mir, mein Geheimnis für sich zu behal-
ten und mir hilfreich zur Seite zu stehen, wann immer ich
seiner bedürfe. Ich glaube mittlerweile sagen zu können,
dass wir beide gut befreundet waren.

Heute muss ich, ein dem Tod Geweihter, Sie ein letztes

Mal um Ihre Unterstützung bitten, damit ich eine Schuld
einlösen kann. Meine Enkelin hat eingewilligt, meinen in
High Hutton in Yorkshire lebenden Angehörigen etwas
zurückzuerstatten, das ich unrechtmäßig mitgenommen
habe. Diesen Fehler möchte ich gutmachen. Für mich ist es
von höchster Wichtigkeit, dass sie die Aufgabe un-
beschadet erledigen kann. Ich möchte nicht näher auf den
Auftrag eingehen, mit dem sie mir einen letzten Wunsch
erfüllt. Nur sie weiß, worum es sich im Einzelnen handelt.

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Sie ist sehr mutig und gewitzt, kennt sich indes nicht in

England aus. Joseph Bellerby, der sie begleitet, ist ihr treu
ergeben und wird mit seinem Leben für sie einstehen. Die
ihr bevorstehende Reise wird jedoch lang, beschwerlich
und nicht ganz gefahrlos sein. Daher möchte ich Sie bitten,
für ihre Sicherheit Sorge zu tragen. Sollten Sie meinen,
dass sie nicht nur einen Beschützer benötigt, dann enga-
gieren Sie bitte eine größere Eskorte.

Caroline ist meine Haupterbin, deren Belange ich hier-

mit in Ihre Hände lege. Ich bezweifle, dass sie ein zweites
Mal heiraten wird, doch sollte sie das vorhaben, wahren
Sie in Erinnerung an Ihren Vater und im Gedenken an
mich bitte ihre Interessen.

Ich möchte Ihnen meinen tief empfundenen Dank dafür

aussprechen, dass ich mich auf Sie verlassen kann. Selb-
stverständlich werden Sie für Ihre Unterstützung großzü-
gig honoriert. Das Geld dafür liegt bereit.

Mit vorzüglicher Hochachtung und herzlicher Emp-

fehlung,
Ihr Peter Leyburn

Samuel faltete den Brief zusammen, schob ihn in den Umschlag
zurück und äußerte bewegt: „Es ist mir eine Ehre, Ihnen und
Ihrem Großvater dienlich zu sein.“

„Das könnte sich für Sie als starke Belastung erweisen“, er-

widerte Caroline ernst, „vor allem im Hinblick darauf, was
gestern geschehen ist.“

„Ich versichere Ihnen, Madam, dass ich mich nach Kräften be-

mühen werde, Ihnen zu helfen. Der kleine Gefallen, den er in
seinem Brief erwähnt hat, bewahrte meinen Vater vor finanzi-
ellem Ruin. Und daher stehe ich tief in seiner Schuld, die ich
kaum werde gutmachen können.“

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„Dazu kann ich mich nicht äußern“, sagte Caroline ruhig.

„Aber in einem Punkt hat er leider recht behalten“, fuhr sie fort
und furchte leicht die Stirn. „Offenbar werde ich seit meiner
Ankunft in Falmouth beschattet. In einer Umspannstelle ist es
zu einem äußerst ärgerlichen Zwischenfall gekommen. Danach
habe ich zwar mein Äußeres verändert und gebe mich jetzt als
Witwe aus, aber dennoch ist gestern wieder etwas höchst Unan-
genehmes passiert. Mein Diener wurde bei einem Überfall durch
Straßenräuber angeschossen, durch deren Verhalten eindeutig
klar war, dass sie mich nur auf Anweisung einer bestimmten
Person, über die ich Ihnen an anderer Stelle mehr erzählen
werde, an der Erfüllung meines Auftrages hindern wollten. Bitte
verstehen Sie, dass ich in dieser Umgebung nicht auf die näheren
Umstände eingehen möchte. Aber ich muss Ihnen sagen, dass es
für Sie riskant ist, mit mir gesehen zu werden. Folglich wäre es
besser, wir trennen uns jetzt. Wenn Sie gestatten, werde ich
später zu Ihnen nach Hause kommen, damit ich weiß, wie es
meinem Bediensteten ergeht. Ich befürchte, es wird eine
geraume Weile dauern, bis seine Verletzung auskuriert ist.“

Betroffen über die Eröffnung, dass sie möglicherweise gefähr-

det sei, schaute Mr. Turner Mrs. Duval an und erwiderte höflich:
„Selbstverständlich sind Sie herzlich willkommen. Ich werde un-
verzüglich meine Gattin informieren. Sie wird sich freuen, Sie
kennenzulernen.“

„Lassen Sie ihr bitte ausrichten, eine Mrs. Hopkins würde sie

aufsuchen. Das ist der Name, unter dem ich hier auftrete. Wäre
es Ihnen recht, wenn ich mich heute Nachmittag unter dem Vor-
wand, als Mrs. Hopkins mit Ihnen über den Nachlass meines
Gatten konferieren zu wollen, bei Ihnen in der Kanzlei einfinde?“

„Selbstverständlich“, antwortete der Anwalt. „Passt es Ihnen

um drei Uhr?“

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Caroline nickte. „Hoffentlich halten Sie mich nicht für verstie-

gen, weil ich solche Vorsichtsmaßnahmen ergriffen habe“, fügte
sie skeptisch hinzu.

„Nein, natürlich nicht, Madam“, versicherte Mr. Turner ihr.

„Die Gründe, die Sie angedeutet haben, legen den Schluss nahe,
dass sie keinesfalls abwegig sind.“

„Leider nein“, bestätigte sie trocken. „Da ich nicht weiß, wie

der Gesundheitszustand meines Dieners sich entwickeln wird,
wäre es mir lieb, Mr. Turner, wenn Sie, obwohl Sie gewiss sehr
beschäftigt sind, dennoch bis zu meinem Besuch die Zeit fänden,
mir weiteres vertrauenswürdiges Begleitpersonal zu beschaffen.“

„Ich werde sehen, Madam, was ich tun kann“, erwiderte der

Anwalt, stand auf und verabschiedete sich von Mrs. Duval.

Nachdem Caroline in der Kanzlei gewesen war und Mr. Turner
ausführlich über ihren Auftrag, die nach ihrem Eintreffen in Fal-
mouth erfolgten Zwischenfälle und den gegen ihren Vetter ge-
hegten Verdacht informiert hatte, meinte auch er, dass sie auf
der Weiterreise nach High Hutton mit zusätzlichen unliebsamen
Ereignissen rechnen müsse. Folglich musste sie jemanden bei
sich haben, der auf ihr Wohlergehen achtete.

Schon auf der Fahrt war ihm der Gedanke gekommen, dass

ihr Wunsch nach geeignetem Schutz sich sehr wahrscheinlich
schnell erfüllen ließ. Wie der Zufall es wollte, bemühte sein Part-
ner Edward Fennybright sich momentan, den früheren Colonel
Ancroft zu bewegen, die mit dem Erbe des Titels des Marquess of
Coverdale verbundenen Verpflichtungen auf sich zu nehmen.
Falls er Erfolg hatte, willigte Lord Coverdale vielleicht ein, mit
Mrs. Duval nach Yorkshire zu reisen.

Zudem hatte Mr. Turner entschieden, dass sie im Gasthaus

nicht sicher genug untergebracht war, und beschlossen, ihr bis

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zu ihrem Aufbruch nach Yorkshire sein außerhalb der Stadt in
Barnet gelegenes Haus zur Verfügung zu stellen.

„Bist du nicht mehr ganz bei Trost, Graham?“, fragte John
barsch. „Ich bin nicht gelaunt, mich auf der ohnehin schon an-
strengenden Fahrt auch noch mit einer trauernden Witwe zu be-
lasten! Ich begreife nicht, dass du diesen Gedanken nicht von
Anfang an von der Hand gewiesen hast!“

Die Reaktion seines Freundes auf den Vorschlag war genauso

ausgefallen, wie Graham befürchtet hatte. „Es tut mir leid,
John“, erwiderte er seufzend. „Es wäre besser gewesen, die
Sache gar nicht zu erwähnen. Samuel hat jedoch darauf best-
anden, dass ich mit dir darüber spreche, da er sehr um die Sich-
erheit seiner Klientin besorgt ist. Aus Gründen der Geheimhal-
tung tritt sie unter dem Namen Hopkins auf.“

„Aus Gründen der Geheimhaltung?“, wiederholte John be-

fremdet. „Was soll das heißen?“

„Sie glaubt, beschattet zu werden und in Gefahr zu sein.“
„Auch das noch!“, sagte John verärgert. „Eine nicht nur

trauernde, sondern auch noch überspannte Frau!“

„So abwegig sind ihre Befürchtungen nicht“, entgegnete Gra-

ham ernst. „Gestern wurde ihr Diener bei einem Überfall von
Straßenräubern angeschossen und schwer verwundet. Nun will
sie, da sie ihn unbedingt mitnehmen möchte, seine Genesung
abwarten, bis sie die Weiterreise antritt.“

„Die Sache wird immer schöner!“, erwiderte John kopfschüt-

telnd. „Du erwartest, dass ich eine mehr als zweihundert Meilen
lange Fahrt, die ich nicht machen möchte, in Gesellschaft einer
überkandidelten Frau und eines Bediensteten antrete, der nicht
imstande ist, auf sich Acht zu geben? Hat sie noch mehr untaug-
liches Personal bei sich?“

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„Selbstverständlich hat sie eine Zofe“, antwortete Graham

trocken.

„Und was stimmt mit der nicht?“, fragte John süffisant.

„Leidet sie womöglich an einer ansteckenden Krankheit?“

„Ach, lass das“, sagte Graham unwirsch. „Soweit ich weiß, ist

mit ihr alles in Ordnung. Und Joseph Bellerby …“

„Wer?“
„Der Diener“, erklärte Graham.
„Seltsam“, murmelte John. „Diesen nicht sehr häufig verbreit-

eten Namen hatte auch eine Pächterfamilie, die auf dem zu Mar-
rick Castle gehörenden Land lebte.“

„Nun, es dürfte mehr als einen Bellerby in England geben“, er-

widerte Graham.

„Das mag sein“, räumte John ein. „Ist dir geläufig, warum

diese angebliche Mrs. Hopkins nach Yorkshire will?“

„Sie möchte, dass die Hinterlassenschaft ihres Gatten dort, wo

er zu Haus war, einen würdigen Platz findet“, erläuterte Graham.
„Mehr hat Samuel mir nicht gesagt.“

„Wie bitte?“ Entgeistert starrte John den Freund an. „Das ver-

schlägt mir jetzt wirklich die Sprache! Ich soll mich nicht nur mit
einer leidtragenden Witwe abplagen, die bestimmt nah am
Wasser gebaut hat, sondern auch mit einem kaum genesenen
Diener, einer an einer infektiösen Krankheit … ach, nein, mit der
Zofe war ja alles in Ordnung! … und einem Sarg? Das geht doch
entschieden zu weit!“

„Du hast einen falschen Schluss gezogen, John“, entgegnete

Graham schmunzelnd. „Bei der Hinterlassenschaft handelt es
sich nicht um Mr. Hopkins’ Leiche, sondern um eine Urne mit
der Asche des Toten. Wie dem auch sei, Mrs. Hopkins ist, wie
Samuel mir versichert hat, eine ganz normale Person, die nicht
grundlos befürchtet, in Schwierigkeiten zu geraten, und ich

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möchte betonen, dass er wirklich sehr um ihr Wohlergehen be-
sorgt ist.“

„Da du mich so eindringlich um meine Unterstützung bittest,

bin ich bereit, mit deinem Sozius über diese Angelegenheit zu re-
den“, gab John nach. „Ich kann jedoch nichts versprechen. Hof-
fentlich hast du dafür Verständnis.“

Graham seufzte erleichtert. „Nun, wenigstens zeigst du

Gutwilligkeit. Ist es dir recht, wenn ich Samuel jetzt zu unserem
Gespräch hinzuziehe?“

„Meinetwegen“, äußerte John gleichmütig.
Graham läutete und trug dem bald darauf eintretenden Gehil-

fen auf, Mr. Turner zu ersuchen, sich zu ihm und Lord Coverdale
zu bemühen, falls er nicht anderweitig beschäftigt sei.

Nur einige Augenblicke später erschien der Kompagnon und

wurde John vorgestellt.

Der Anwalt nahm Platz und erkundigte sich höflich: „Womit

kann ich dienen?“

„Seine Lordschaft möchte mehr über Mrs. Hopkins erfahren“,

antwortete Graham.

Samuel beschrieb sie dem Marquess als sehr empfindsame

Dame, die in einem ihr fremden Land ein trauriges Anliegen er-
füllen wolle. In Mitgefühl heischenden Worten erzählte er, wie
sie bei dem Überfall durch Wegelager von ihrer Eskorte im Stich
gelassen worden war, und setzte hinzu, es sei nicht verwunder-
lich, dass sie sich jetzt nicht mehr angeheuertem Personal anver-
trauen wolle. „Daher appelliere ich an Sie, Mylord, und an Ihr
Gefühl für Ritterlichkeit, ihr beizustehen, da Sie ohnehin in dies-
elbe Richtung reisen werden.“

„Sie können sehr überzeugend sein, Mr. Turner“, erwiderte

John trocken. „Also gut, ich werde Ihrem Ersuchen
entsprechen.“

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„Ich danke Ihnen, Sir, für Ihr großes Entgegenkommen“,

äußerte Samuel erleichtert.

„Wie ich hörte, tritt sie unter falschem Namen auf“, bemerkte

John. „Ich würde gern ihren richtigen erfahren und auch ihr
Reiseziel.“

„Sie möchte sich Ihnen erst zu erkennen geben und Ihnen

sagen, wohin sie will, wenn London hinter ihr liegt“, erklärte
Samuel.

„Was soll diese Geheimniskrämerei?“, wunderte sich John.

„Ich bin kein Schwätzer, Sir!“

„Mrs. Hopkins hält diese Vorsichtsmaßnahme für unumgäng-

lich. Ich werde Ihnen jedoch mitteilen, wer sie ist, bitte indes um
strikte Diskretion. Sie heißt Caroline Duval und ist die Enkelin
von Peter Leyburn, einem der ältesten Klienten unserer Kanzlei,
der vor einiger Zeit als hoch angesehenes Mitglied der Gesell-
schaft von Kingston auf Jamaika verstarb. Der Ort, den Mrs.
Duval aufsuchen will, befindet sich im Umkreis von zwanzig
Meilen von Richmond. Mehr kann ich Ihnen leider nicht anver-
trauen, Sir. Ich verbürge mich indes dafür, dass sie eine respekt-
able Dame ist.“

„Jetzt weiß ich wenigstens, mit wem ich es zu tun haben

werde“, erwiderte John gedehnt. „Ich kann die Reise jedoch erst
Mitte Juli antreten, da ich bis dahin hier anderweitig engagiert
bin. Damit muss Mrs. Duval sich abfinden.“

„Ich glaube, das stellt kein Problem dar, da kaum anzuneh-

men ist, dass ihr Diener früher gesund wird“, meinte Samuel.
„Möchten Sie, dass ich ein Treffen zwischen Ihnen beiden arran-
giere? Es wäre besser, ich wüsste das beizeiten, da Mrs. Duval
außerhalb der Stadt wohnt.“

„Ja, tun Sie das“, willigte John ein.

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5. KAPITEL

Es ergab sich keine Gelegenheit zu einem Treffen mit dem von
Mr. Turner empfohlenen Colonel Ancroft. So musste Caroline
sich darauf beschränken, mit dem Gentleman zu korrespondier-
en. Sie merkte bald, dass er kein guter Schreiber war, steif for-
mulierte und stets eine ärgerliche Tendenz zum Gebieterischen
durchblicken ließ. Sie nahm das zur Kenntnis, ohne darauf ein-
zugehen, da sie bemüht war, ihn nicht durch ungehalten
wirkende Erwiderungen zu verstimmen. Manchmal fand sie
seine ungelenke Ausdrucksweise sogar höchst amüsant.

Eines Tages, als der Anwalt sie aufgesucht hatte, äußerte sie

leicht süffisant: „Colonel Ancroft scheint ein sehr hölzerner
Mensch zu sein, Sir. Ich habe das Gefühl, dass er im Umgang mit
Frauen nicht sehr versiert ist. Vielleicht sollte ich ihm bei unser-
er Reise etwas Schliff beibringen.“

„Es tut mir leid, Madam, wenn Sie einen negativen Eindruck

von ihm bekommen haben“, erwiderte Samuel bedauernd. „Er
hat zu wenig in Gesellschaft verkehrt, um weltgewandt zu sein.
Aber er ist ein charaktervoller und mutiger Mann, und ich finde,
in Ihrer gegenwärtigen Situation sind solche Eigenschaften für
Sie viel bedeutsamer.“

„Natürlich!“, stimmte Caroline zu. „Als Angehöriger des Mil-

itärs ist er es wohl gewohnt, dass man ihm widerspruchslos ge-
horcht. Gelegentlich glaubt er offenbar, eine naive und des Den-
kens nicht fähige Frau vor sich zu haben. Nun, er wird schnell
feststellen, dass er sich in mir irrt. Ich gedenke nicht, mich ihm
zu fügen. Ich bin zur Selbstständigkeit erzogen worden und nicht

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gewillt, Entscheidungen, die mich betreffen, jemand anderem zu
überlassen.“

„Ich bitte Sie, Madam, im Umgang mit ihm zurückhaltend zu

sein“, sagte Samuel warnend. „Es hat mich einige Anstrengung
gekostet, ihn zu bewegen, Sie mitzunehmen. Bitte machen Sie
meine Bemühungen nicht dadurch zunichte, dass Sie mich Lü-
gen strafen, weil ich Sie ihm gegenüber als gesittet und auf seine
Hilfe angewiesen geschildert habe. Gewiss, er hat kein sehr ge-
fälliges Wesen, in der Gesellschaft jedoch einigen Einfluss. Es
wäre sehr unklug von Ihnen, sich mit ihm zu entzweien, ehe Sie
beide sich überhaupt persönlich kennengelernt haben.“

„Ich werde versuchen, Ihren Rat zu beherzigen“, murmelte

Caroline, dachte jedoch nicht daran, sich in allem dem Colonel
unterzuordnen.

„Für wen hält sich diese Person, Graham?“, fragte John aufgeb-
racht. „Wenn man ihre Briefe liest, könnte man glauben, sie täte
mir einen Gefallen, indem sie mit mir reist. Erst hat sie die
Strecke beanstandet, die ich zu fahren beabsichtige, und mich
dann wissen lassen, es sei ihr nicht recht, wenn ich meine
Kutschpferde nehme, weil sie meint, durch die dann erforder-
lichen Ruhepausen ginge unnötig viel Zeit verloren. Offenbar be-
greift sie nicht, dass ich diese Entscheidung ihretwegen getroffen
habe, damit sie sich unterwegs erholen kann. Ich möchte nicht
wissen, in welcher Verfassung sie wäre, müsste sie mehr als
zweihundert Meilen ohne Unterbrechung zurücklegen! Natürlich
habe ich ihr unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass ich
meinen Beschluss nicht ändern werde! Daraufhin hat sie ange-
fragt, wie bequem meine Berline sei. Sie will, dass ihr Diener bei
uns im Wagen sitzt! Ein simpler Domestike! Warum lässt sie ihn
nicht hier, wenn er nicht in der Verfassung ist, hinter der
Kutsche herzureiten?“

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„Er hat sich seit ihren Kindertagen um sie gekümmert“, ant-

wortete Graham. „Insofern ist es verständlich, dass sie um ihn
besorgt ist. Möchtest du, dass ich ein zweites Fahrzeug für ihn
miete?“

„Nein, das ist nicht notwendig“, lehnte John das Angebot ab.

„Bei warmem Wetter ist es mir zuwider, im Wageninnern zu
sein, sodass ich aller Voraussicht nach die meiste Zeit reiten
werde. Folglich gibt es in der Chaise genügend Platz für eine
wehleidige Witwe samt ihrer Zofe und ihrem Diener! Und bis
heute hat die gnädige Frau mir noch nicht ihr Ziel benannt! Ich
muss nicht ganz bei Verstand gewesen sein, als ich einwilligte,
mir diese Querulantin aufzuhalsen!“

Aus purer Boshaftigkeit hatte Caroline sich entschieden, weiter-
hin die nicht mehr ganz junge trauernde Witwe zu mimen, mit
der Colonel Ancroft offenbar rechnete. Vor der ersten Begegnung
mit ihm hatte sie sich daher wieder verkleidet, den Ainderby-
Kelch sorgsam unter dem um ihre Taille festgebundenen Kissen
verborgen. Von dem von einem Netz gehaltenen Haar war unter
dem Hut nichts zu sehen. Obendrein hatte sie sich einen Krück-
stock besorgt und geübt, so weinerlich wie die daheim in King-
ston lebende alte Mrs. Jameson zu sprechen.

Margaret bog sich vor Lachen, als sie Caroline so sah und re-

den hörte. „Man könnte glauben, Mrs. Jameson vor sich zu
haben“, sagte sie belustigt. „Ich finde jedoch, Madam, dass Sie
stark übertreiben. Colonel Ancroft wird Ihr Spiel bestimmt
schnell durchschauen.“

„Das glaube ich nicht“, widersprach Caroline überzeugt. „Ich

kann mir denken, was für eine Art Mensch er ist. Männer wie er
haben fest umrissene Vorstellungen, und da er damit rechnet,
mit einer jammernden älteren Witwe zusammenzutreffen, wird
er zunächst nichts anderes in mir sehen. Natürlich wird er

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irgendwann merken, dass ich ihm etwas vorgemacht habe, doch
ich hoffe, London liegt dann schon lange hinter uns.“ Sie nahm
die Brille, die ihr die Zofe gekauft hatte, und brachte sie in ihrem
Ridikül unter. Durch die stark eingeschliffenen Gläser war kaum
etwas zu erkennen, sodass sie das Gestell erst kurz vor dem
Betreten der Anwaltskanzlei aufsetzen konnte. Sie schlug den
Schleier herunter, verließ, gefolgt von der Zofe, das Haus und
stieg mit ihr in die wartende Droschke.

Nachdem die Chaise gehalten, Margaret ihr beim Verlassen

des Fahrzeugs geholfen und den Kutscher entlohnt hatte, wurde
plötzlich durch einen Windstoß der Schleier hochgeweht. Hastig
versuchte Caroline, ihn herunterzuziehen, und ließ dabei den
Stock fallen. „Oh, verflixt!“, schimpfte sie. „Maggie, helfen Sie
mir bitte!“

Im gleichen Moment bemerkte sie einen attraktiven Herrn,

der sie offenen Mundes anstarrte. Er sah so komisch aus, dass
sie unwillkürlich in Lachen ausbrach. Hastig bezähmte sie die
Heiterkeit, während Maggie den Schleier vom halb hohen Hut
löste und herunterschlug.

Leicht schmunzelnd bückte sich der gut aussehende Gentle-

man, hob den Stock auf und übergab ihn ihr mit einer leichten
Verneigung.

„Danke“, sagte sie höflich.
„Gern geschehen“, erwiderte der Fremde galant und setzte

seinen Weg fort. Er ahnte, dass es sich bei der erstaunlich ju-
gendlichen Dame um die angeblich ältere Witwe handelte, die
sich seinem Freund John auf der Reise nach Marrick Castle an-
schließen wollte und mit der er, wie er ihm erzählt hatte, zu
dieser Zeit in der Anwaltskanzlei verabredet war. Da sie of-
fensichtlich einen Grund hatte, sich für jemand anderen aus-
zugeben, wollte Lord Trenchard kein Spielverderber sein, be-
dauerte jedoch, nicht dabei sein zu können, wenn John

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feststellte, dass er von vollkommen falschen Voraussetzungen
ausgegangen war.

Einen Moment lang blickte Caroline dem sich entfernenden

Herrn hinterher, sah ihn sich noch einmal zu ihr umdrehen und
eilte rasch ins Haus. Sie und Margaret wurden von einem Bedi-
ensteten empfangen, der ihre Zofe bat, im Vorzimmer zu warten,
und Caroline dann in Mr. Turners Büro begleitete.

Bei ihrem Erscheinen erhoben Samuel und Lord Coverdale

sich. Samuel machte die Herrschaften miteinander bekannt,
stellte jedoch eingedenk des Wunsches Seiner Lordschaft diesen
nur als Colonel vor. „Bitte, nehmen Sie Platz, Mrs. … Hopkins“,
forderte er sie dann höflich auf.

„Danke“, erwiderte Caroline und setzte sich in den freien Ses-

sel, der glücklicherweise so stand, dass sie gegen das Licht saß.
Der Advokat äußerte einige einleitende Worte, doch sie hörte
nur mit halbem Ohr zu, da die Neugier sie ablenkte. Verstohlen
beobachtete sie den Colonel und musste das Bild korrigieren, das
sie sich bisher von ihm gemacht hatte. Er war ein ausgesprochen
gut aussehender, kräftig gewachsener Mann Mitte dreißig, der
an den Schläfen leicht angegrautes schwarzes Haar, ein
markantes Gesicht und graue Augen hatte. Durch seine straffe,
unbeugsam wirkende Haltung erweckte er den Eindruck, seine
Umgebung einschüchtern zu wollen. Wahrscheinlich hatte er ein
kaltes, humorloses Wesen.

Im Stillen seufzte Caroline bei dem Gedanken, dass die Reise

mit einem so streng und abweisend wirkenden Menschen ver-
mutlich sehr unerfreulich verlaufen würde.

„Colonel, Sir“, hörte sie ihn plötzlich sehr betont sagen und

richtete die Aufmerksamkeit auf die Unterhaltung. Offenbar
legte er großen Wert auf seinen militärischen Rang. Das passte
zu dem wenig einnehmenden Eindruck, den sie von ihm ge-
wonnen hatte. Vielleicht bot sich, wenn er so geltungssüchtig

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war, unterwegs die Möglichkeit, ihn ein wenig zu ärgern und sich
auf seine Kosten zu amüsieren.

Da beide Herren sie erwartungsvoll anschauten, sagte sie fre-

undlich: „Ich möchte nicht versäumen, Captain, mich bei Ihnen
dafür zu bedanken, dass Sie sich meiner annehmen wollen. Sie
können sich nicht vorstellen, welche Erleichterung es für mich
ist, mich einem so tüchtigen Mann wie Ihnen anvertrauen zu
können.“ Rührung vortäuschend, öffnete sie rasch das Ridikül,
nahm das Taschentuch heraus und tupfte sich geziert die Augen-
winkel aus.

„Es ist mir eine Ehre, Madam, Ihnen dienlich sein zu können“,

erwiderte John galant. „Aber verzeihen Sie bitte, wenn ich Sie
korrigiere. Ich bin Oberst, nicht nur Hauptmann.“

„Oh, Pardon!“, entschuldigte sie sich heuchlerisch.
„Schon gut, Mrs. … Hopkins“, sagte er leichthin.
„Ich kenne mich nicht gut in militärischen Titeln aus, Cap-

tain“, fuhr sie boshaft fort. „Vor dem Tod … meines Gatten …
habe ich ein sehr behütetes Leben geführt.“

„Colonel, nicht Captain“, verbesserte John sie verstimmt. „Sie

sind also damit einverstanden, dass ich Sie am Dienstag gegen
zwölf Uhr abholen komme? Es sei denn … Mrs. Hopkins, dass
Ihnen das zu früh ist?“

„Warum?“, fragte sie erstaunt. „Nein, es passt mir gut. Wir se-

hen uns dann am Donnerstag.“

„Am Dienstag, Madam!“ John hatte den Eindruck, dass sie et-

was debil war.

„Oh, ich muss die Tage verwechselt haben“, murmelte

Caroline, bemüht, nicht erheitert zu klingen.

„Es ist wohl ratsam, am Montag jemanden zu Ihnen zu schick-

en, der Sie daran erinnert, dass ich mich am nächsten Mittag bei
Ihnen einfinden werde“, erwiderte John enerviert.

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„Wie umsichtig von Ihnen, Captain“, äußerte sie süffisant. „Da

mir aufgefallen ist, dass Sie jedes Mal zögern, wenn Sie mich als
Mrs. Hopkins ansprechen, habe ich nichts dagegen, wenn Sie
hinfort darauf verzichten und mich mit Mrs. Duval anreden. Das
ist mein richtiger Name.“

„Und ich wäre Ihnen verbunden, Madam, wenn Sie mich als

Colonel titulierten!“, sagte John erzürnt.

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6. KAPITEL

Caroline war abfahrbereit, als der Colonel wie versprochen gegen
Mittag eintraf. Das Bild, das sich ihren Augen beim Verlassen
des Hauses bot, war sehr eindrucksvoll. Erstaunlicherweise saß
Colonel Ancroft nicht in der Berline, sondern auf einem rassigen
Rotfuchs.

Als die beiden dunkelgrün livrierten Lakaien vom Dienertritt

sprangen, wies er sie an, das Gepäck aufzuladen, begrüßte Mrs.
Hopkins und bemerkte einen älteren, diskret hinter ihr
stehenden Mann. „Ich nehme an, Sie sind Bellerby, nicht wahr?“,
erkundigte er sich.

„Ja, Sir“, antwortete Joseph in strammer Haltung. Die Wunde

am Arm war zwar abgeheilt, schmerzte indes gelegentlich noch
stark.

„Sind Sie reisefähig?“, wollte John wissen.
„Das bin ich, Sir“, bestätigte Joseph.
„Nun, sehr gesund sehen Sie nicht aus“, stellte John trocken

fest, half Mrs. Duval in die Kutsche und trat beiseite, damit ihre
Zofe und Bellerby einsteigen konnten.

„Danke, Captain“, rief Caroline ihm zu. „Oh, Pardon, ich

meinte natürlich Colonel!“

Er hielt es für unnötig, der zerstreuten Person eine Antwort zu

geben, schloss eigenhändig den Wagenschlag und saß auf.
Ungeduldig wartete er, bis die Koffer festgezurrt waren und die
Diener ihre Plätze eingenommen hatten, und gab dann das
Zeichen zum Aufbruch.

Caroline war nicht böse darüber, dass er es vorzog zu reiten.

Durch das warme Wetter und die stickige Luft in der Kutsche

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hatte sie bald das Bedürfnis, sich Kühlung zu verschaffen. Da der
Colonel offenbar neben dem Gespann herritt, wagte sie es, den
Hut abzunehmen und sich von Margaret aus dem Kurzumhang
helfen zu lassen. „Wie finden Sie Colonel Ancroft?“, wandte sie
sich dann neugierig an Joseph.

„Noch kann ich mir kein Urteil über ihn erlauben, Madam“,

antwortete er. „Er macht jedoch einen ziemlich selbstbewussten
und unnachgiebigen Eindruck. An Ihrer Stelle wäre ich ihm ge-
genüber vorsichtig.“

„Ach, ich habe keine Angst vor ihm“, entgegnete Caroline

lächelnd. „Im Übrigen hat er von Frauen eine schlechte Meinung
und ist viel zu sehr von sich überzeugt, als dass er auf den
Gedanken kommen würde, ich könnte mich erdreisten, ihn zu
täuschen.“

„Ich stimme Joseph zu, Madam“, warf Margaret ernst ein.

„Ich befürchte, Sie irren sich in ihm. Meiner Ansicht nach ist er
ein hohes Tier. Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass die Anwälte ihn
höchst respektvoll behandelt haben und wie ehrerbietig sein Per-
sonal ist? Und außerdem muss er ziemlich vermögend sein,
wenn er sich diese Berline und livrierte Bedienstete leisten
kann.“

„Ich kenne nur einen Mann, den ich nicht an der Nase herum-

führen konnte, und das war mein Großvater“, sagte Caroline
schmunzelnd. „In meinen Augen ist der Colonel so steif und
knöchern, dass es mir Spaß macht, ihn auf den Arm zu nehmen.
Lange werde ich diese Komödie jedoch nicht spielen“, fügte sie
beruhigend hinzu. „Die Verkleidung ist mir lästig. Daher werde
ich mich in den nächsten Tagen, wenn ich weiß, wo ich den
Kelch sicher unterbringen kann, ihrer entledigen und Farbe
bekennen.“

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„Entschließen Sie sich möglichst bald dazu“, legte Margaret

Mrs. Duval nahe. „Der Colonel ist gewiss nicht so begriffsstutzig,
wie Sie ihn einschätzen.“

„Das wird sich zeigen“, erwiderte Caroline leichthin, lehnte

sich bequem zurück und merkte nach einiger Zeit, dass die
Kutsche langsamer fuhr. Hastig setzte sie den Hut auf, schlug
den Schleier vor das Gesicht und schaute, als die Berline plötz-
lich von der Straße abbog, verwundert aus dem Fenster. Nach
einer Weile sah sie, dass die Pferde gewechselt wurden. Rasch
öffnete sie das Fenster, beugte sich vor und rief: „Was hat das zu
bedeuten, Sir? Sie haben doch auf Ihrem Gespann bestanden!“

Er ritt zu ihr und antwortete: „Ich bin zu der Einsicht gelangt,

Mrs. … Hopkins, dass wir dann auf Dauer zu langsam vorankom-
men würden. Wir müssten zu lange Ruhepausen einlegen.“

„So war das nicht abgesprochen!“, entrüstete sich Caroline.
„Soll Ihr Einwand heißen, dass es Ihnen nichts ausmachen

würde, fünf bis sechs Tage länger unterwegs zu sein?“, wunderte
sich John.

„Nein, das wollte ich damit nicht sagen“, antwortete sie kühl.

„Ich wünsche indes, vorher informiert zu werden, ehe etwas an
unseren Plänen geändert wird!“

„Wie bitte?“ Verblüfft starrte John sie an. „Wie Sie wünschen,

Madam“, fuhr er amüsiert fort. „Ich frage mich jedoch, welche
Wichtigkeit es für Sie haben kann, wenn ich in irgendeinem
nebensächlichen Detail anderen Sinnes werde. Mit Ihrer gütigen
Erlaubnis, Mrs. … Hopkins, würde ich jetzt gern die Reise
fortsetzen, da die Pferde ausgetauscht wurden. Ich möchte heute
rechtzeitig in Buckden eintreffen, weil ich dort für uns Quartier
belegt habe.“

„Tun Sie sich keinen Zwang an, Colonel!“, äußerte Caroline

spitz, schloss das Fenster und lehnte sich erbost zurück. Es är-
gerte sie, dass er über ihren Kopf hinweg entschieden hatte.

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„Mit Verlaub, Madam“, sagte Margaret zögernd, „aber der

arme Mann kann nicht wissen, dass Sie nicht so einfältig und
vergesslich sind, wie Sie vorgeben. Er hat sich nur bemüht, es
Ihnen recht zu machen.“

„Der arme Mann?“, wiederholte Caroline erstaunt.
„Nun, man kann nicht behaupten, dass er sehr vital aussieht“,

meinte Margaret. „Der Anwaltsgehilfe hat mir erzählt, die Folgen
der Verletzungen, die der Colonel vor zwei Jahren in der Sch-
lacht bei Waterloo erlitt, seien erst jetzt abgeklungen. Ich halte
es nicht für gut, dass er bei dieser Hitze reitet!“

„Sie

übertreiben,

Maggie“,

entgegnete

Caroline

un-

beeindruckt. „Er ist kerngesund! Bei dem harten Charakter, den
er hat, würde er nie zulassen, dass etwas ihn aus seiner Ruhe
bringt.“

Margaret hielt es für ratsamer, nicht mehr zu widersprechen.
Schweigend saß man in der Chaise, bis sie in Buckden eintraf.

Zunehmend besorgt hatte Caroline bemerkt, dass Joseph arg er-
schöpft zu sein schien. Daher war sie froh, dass er sich, nachdem
man sich in dem Gasthaus eingefunden hatte, gleich in eine auf
dem Dachboden gelegene Kammer zurückziehen konnte. „Ich
danke Ihnen, Sir, für Ihre Umsicht“, wandte sie sich freundlich
an den Colonel.

„Keine Ursache“, erwiderte er höflich. „Nach jeder Etappe, die

wir zurückgelegt haben, sind in einer Herberge Räume für uns
reserviert.“ Er hielt inne, zog das Schnupftuch aus der Brust-
tasche des Carricks und wischte sich die feuchte Stirn ab.

„Es kommt mir so vor, Colonel, dass Sie sich nicht wohlfüh-

len“, bemerkte Caroline besorgt.

„Sie täuschen sich, Madam“, behauptete er wider besseres

Wissen. „Im Übrigen werde ich nicht mit Ihnen dinieren. Ihr
Dinner wird Ihnen in einer halben Stunde in Ihrem Zimmer

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serviert. Ich wünsche Ihnen eine angenehme und geruhsame
Nacht.“

„Wollen Sie sich denn nicht stärken?“
„Nein. Ich bin nicht hungrig“, antwortete er. „Bitte,

entschuldigen Sie mich jetzt“, fügte er hinzu, verneigte sich
leicht und stieg die Treppe hinauf.

Irritiert schaute Caroline ihm hinterher, folgte ihm nach

einem Moment und suchte zunächst ihren Diener auf, dem man
bereits das Essen gebracht hatte. Sie wünschte ihm gute Besser-
ung und begab sich dann in ihre Schlafkammer, wo bereits die
Zofe auf sie wartete. Aufatmend legte sie Hut und Mantel ab,
band das Kissen los und warf es auf die Kommode. Behutsam
stellte sie den in der Lederumhüllung geschützten Ainderby-
Kelch daneben, während Margaret jemandem, der an die Tür des
kleinen Salons geklopft hatte, öffnen ging.

Zwei Schankmägde brachten das Abendessen, knicksten und

verließen den Raum. „Sie können hereinkommen, Madam“, rief
Margaret ihr zu, wartete, bis Caroline sich an den Tisch gesetzt
hatte, und legte dann vor. Danach nahm sie ebenfalls Platz und
aß.

„Ich glaube, Maggie, dass Sie in Bezug auf das Wohlbefinden

des Colonels recht haben“, murmelte Caroline einsichtig.

„Sein Kammerdiener wird sich um ihn kümmern, Madam“,

erwiderte Margaret. „Im Moment bereitet Joseph mir Sorgen.
Ich fand, er sah fiebrig aus. Ich werde nachher noch einmal zu
ihm gehen.“

Caroline nickte zustimmend und äußerte seufzend: „Mit dem

Kissen wirke ich beinahe, als sei ich in anderen Umständen, und
das Gewicht des Kelchs behindert mich sehr. Aber nun ja, ich
werde wohl nie guter Hoffnung sein.“

„Und warum nicht?“, wunderte sich Margaret.

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„Ohne Mann geht das nicht“, antwortete Caroline trocken.

„Und er sollte besser mit mir verheiratet sein. Ich habe jedoch
nicht die Absicht, mich noch einmal in die Ehefalle zu begeben.
Ich müsste verrückt sein, wenn ich das täte.“

Margaret dachte daran, dass sie sich bis auf die Zeit, in der

Mrs. Duval vermählt gewesen war, stets um sie gekümmert
hatte. Nach dem Tod ihres Kindes war sie von Mr. Leyburn er-
sucht worden, die Stelle der Amme bei seiner kleinen Enkelin
einzunehmen, und sie hatte dem Mädchen ihre ganze Mutter-
liebe geschenkt. Nach dem Tod der Eltern und des Bruders, die
bei einem Unwetter auf See ertrunken waren, hatte sie der dam-
als Neunjährigen über den Kummer hinweggeholfen und war
später nicht nur ihre Aufsichtsperson, sondern auch Vertraute
gewesen. Mit der Zeit war Miss Caroline zu einer sehr hübschen
und intelligenten jungen Dame herangewachsen, die eine
vielversprechende Zukunft hatte, weil sie warmherzig, beza-
ubernd unkompliziert und obendrein vermögend war.

Mit siebzehn Jahren hatte sie sich dann Hals über Kopf in

Laurent Duval verliebt und war nicht davon zu überzeugen
gewesen, dass dieser Mann nichts taugte. Niemand, nicht einmal
der Großvater oder Margaret, war imstande gewesen, sie gegen
den betörend charmanten Abenteurer einzunehmen, der es nur
auf ihr Geld abgesehen hatte. Sie war so in ihn vernarrt gewesen,
dass sie alles geglaubt hatte, was er ihr erzählte. Ihr Großvater
hatte ihr mit dem Hinweis, Mr. Duval werde sich nicht mehr für
sie interessieren, wenn sie mittellos war, zunächst damit gedro-
ht, sie zu enterben. Als das nichts gefruchtet hatte, war Mr.
Duval auf seine Veranlassung hin gewaltsam auf ein nach New
Orleans fahrendes Schiff gebracht worden, ein gravierender
Fehler, wie sich bald herausgestellt hatte. Miss Caroline hatte zu
ihrem Geliebten gestanden, im Zustand größter Erregung einige

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Sachen zusammengepackt, sich mit genügend Geld versehen
und heimlich das Haus verlassen.

Eineinhalb Jahre hatte man nichts mehr von ihr oder ihrem

Gatten gehört, bis sie dann, mittlerweile Witwe, bedrückt und
um viele böse Erfahrungen reicher, nach Hause zurückgekehrt
war. Es hatte Monate gedauert, sie wieder aufzurichten, und
mehr als ein Jahr, ehe sie bereit gewesen war, sich in der Öffent-
lichkeit zu zeigen. Selbstbewusst hatte sie dann ihren Platz in der
Gesellschaft wieder eingenommen und die Verachtung für die
ihrer Meinung nach oberflächlichen Mitmenschen hinter einer
nonchalanten Attitüde verborgen.

Margaret bedauerte zutiefst, dass Miss Caroline sich derart

verändert hatte. Von dem lebenslustigen, vertrauensvollen und
anhänglichen Geschöpf, das sie so gut kannte, war nicht mehr
viel zu sehen. Aber irgendwo musste es jemanden geben, der der
jungen Frau dazu verhalf, sich zu entkrampfen und erneut auf
Menschen zuzugehen. Doch selbst wenn sie einen Mann kennen-
lernte, der das vielleicht vermochte, war zu erwarten, dass sie
sich ihm gegenüber sperrte und verschloss.

Caroline legte das Besteck auf den Teller, stand auf und

verkündete: „Ich bin müde, Maggie, und werde schlafen gehen.“

Margaret half ihr, sich für die Nacht herzurichten, und sagte

schließlich: „Ich schaue nach, wie es Joseph ergeht.“

„Gut“, erwiderte Caroline, setzte sich an den Frisiertisch und

begann sich das Haar zu bürsten. Überrascht schaute sie in den
Spiegel, als die Zofe nach kurzer Zeit wieder ins Zimmer kam,
und fragte, als sie deren betroffene Miene sah: „Ist etwas nicht in
Ordnung, Maggie?“

„Joseph hat Fieber und sicher auch Schmerzen, obwohl er das

nicht zugeben will“, antwortete Margaret aufgeregt.

Sofort erhob sich Caroline und erkundigte sich: „Wo ist mein

Medizinkasten?“

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„Sie können nicht in dieser Aufmachung aus dem Zimmer ge-

hen, Madam!“, wandte Margaret bestürzt ein. „Was ist, wenn
man Sie ohne Ihre Verkleidung sieht?“

„Ach, machen Sie sich keine Sorgen!“, entgegnete Caroline

leichthin. „Wer sollte mir zu dieser späten Stunde begegnen?“

Kopfschüttelnd nahm Margaret die Kassette mit den Arzneien

aus dem Gepäck, zündete die Kerzen in zwei Windlichtern an
und folgte Miss Caroline widerstrebend durch das stille
Wirtshaus in Josephs Kammer.

Fürsorglich verabreichte Caroline ihrem Diener eine fieber-

senkende Tinktur und harrte mit der Zofe bei ihm aus, bis er
eingeschlafen war.

„Ich bleibe noch eine Weile bei ihm, Madam“, schlug Mar-

garet vor. „Bitte, gehen Sie jetzt zurück. Ich werde erst dann
Ruhe haben, wenn ich Sie in Ihrem Zimmer weiß.“

„Gut, aber verweilen Sie nicht zu lange“, gab Caroline nach,

verließ mit einer Laterne die Dachbodenkammer und strebte zu
ihren Räumen. Vor der Tür ihres Salons blieb sie irritiert stehen,
da sie aus dem Zimmer, das der Colonel bezogen hatte, seltsame
Geräusche vernahm, die wie gedämpfte Schreie klangen. Irgen-
detwas polterte zu Boden, und im nächsten Moment wurde die
Tür aufgerissen.

Entsetzt erblickte Caroline ihren ziemlich derangiert ausse-

henden Reisebegleiter. Seine Stirn war schweißnass, und die Au-
gen in dem stark geröteten Gesicht wirkten übernatürlich groß.
„Was ist mit Ihnen, Sir?“, erkundigte sie sich betroffen, stellte
hastig das Windlicht auf einem Sideboard ab und ging auf ihn
zu. Er schien die Frage jedoch nicht vernommen zu haben. Sein
Mienenspiel wechselte zwischen Verblüffung und Zärtlichkeit.

Mit einem Schritt war er bei ihr und äußerte bewegt: „Ich

fasse es nicht, Gabriella, mein Schatz! Ich dachte, ich hätte dich

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für immer verloren. Liebling, ich habe dich sehr vermisst. Wo
warst du so lange?“

Verwirrt schaute Caroline ihn an. Er lächelte strahlend, und

seine Augen drückten große Freude aus. Plötzlich wirkte er wie
verwandelt, längst nicht mehr so steif und abweisend wie sonst.
Unwillkürlich beneidete sie die ihr unbekannte Dame, für die er
so viel empfand.

Sacht strich er ihr über die Wange, neigte sich zu ihr und gab

ihr einen Kuss auf den Mund.

Da sie sich nicht sträubte, wurden seine Liebkosungen

stürmischer und besitzergreifender. „Komm, Gabriella!“, raunte
er ihr zu, nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich ins
Zimmer.

Wie betäubt ließ sie ihn gewähren und erhob auch keinen Ein-

wand, als er die Tür schloss. Regungen, deren sie sich nicht mehr
für fähig gehalten hatte, überwältigten sie, als er sie erneut an
sich drückte und küsste. Mitgerissen von den Gefühlen, die er in
ihr weckte, ließ sie sich von ihm zum Bett führen und zuckte
auch nicht zurück, als er sie, nachdem er sich hingesetzt hatte,
zwischen seine Beine zog.

Er öffnete ihr Negligé, schaute sie bewundernd an und sagte

spröde: „Du bist wunderschön, Gabriella! Ich finde dich hin-
reißend.“ Dann schmiegte er den Kopf an ihren Leib. „Lass mich
dir zeigen, wie sehr ich dich noch liebe“, murmelte er, schlang
ungestüm die Arme um sie und zog sie sich auf seine Knie.

Begierig küsste und streichelte er sie, und sie fühlte sich

glücklich und gelöst wie seit Jahren nicht. Plötzlich wurde sie
sich jedoch bewusst, dass nicht sie diejenige war, die er begehrte,
und diese Erkenntnis traf sie wie ein Schlag. Hastig stemmte sie
ihm die Hände gegen die Schultern und sagte keuchend: „Lassen
Sie mich sofort los, Colonel! Ich bin nicht Ihre Gabriella. Sie ver-
wechseln mich.“

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„Du bist nicht Gabriella?“, fragte er ungläubig. „Das kann

nicht sein. Ich kenne dich doch sehr gut und sehe, dass ich mich
nicht irre. So wie dich könnte ich nie eine andere Frau lieben.
Vor Jahren habe ich dir versprochen, mein Leben mit dir zu ver-
bringen, und das möchte ich von nun an tun. Du hast keinen An-
lass, mir nicht zu vertrauen, Liebling.“

„Verdammt, ich bin nicht Ihre Gabriella!“, wiederholte

Caroline scharf, versuchte erneut, sich zu befreien, und schaffte
es schließlich. Zurücktaumelnd raffte sie den Morgenmantel
zusammen, verknüpfte den Gürtel und sagte schwer atmend:
„Sie sind krank, Colonel Ancroft! Ich werde Ihren Kammerdien-
er holen.“

Jäh begriff er, dass er sich getäuscht hatte. Verstört sah er die

Frau an, die ihm gegenüberstand. „Die Hitze heute muss mir
zugesetzt haben“, flüsterte er. „Offensichtlich war ich nicht mehr
bei Sinnen. Mein Verhalten tut mir leid, Madam. Aber die Ähn-
lichkeit zwischen meiner toten Verlobten und Ihnen ist so groß,
dass ich einem Irrtum erlegen bin. Als ich Sie fluchen hörte, was
Gabriella nie getan hätte, war mir klar, dass ich mir etwas
vorgemacht habe und meine Verlobte und mein Vetter tatsäch-
lich vor meinen Augen gestorben sind.“

Offenbar hatte jene Gabriella ihm sehr viel bedeutet. Es über-

raschte Caroline, dass der Colonel so tiefe, leidenschaftliche Ge-
fühle haben konnte, und unwillkürlich fragte sie sich, unter
welchen Umständen die beiden Menschen, von denen er ge-
sprochen hatte, ums Leben gekommen sein mochten. Spontan
hatte sie das Bedürfnis, einige tröstende Worte zu äußern, unter-
drückte es jedoch.

„Wer sind Sie?“, wunderte er sich und starrte sie verständ-

nislos an.

Unvermittelt wurde sie sich ihrer heiklen Lage bewusst und

dass er nicht herausfinden durfte, welches Spiel sie mit ihm

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trieb. „Ich bin eine Magd, Sir“, log sie und gestand sich betroffen
ein, dass Maggie recht mit der Warnung gehabt hatte, er dürfe
nicht den ganzen Tag in der Sonne reiten. Da sie es ratsamer
fand, unverzüglich Hilfe zu ihm zu schicken, erkundigte sie sich:
„Wo ist Ihr Kammerdiener, Sir?“

„Ich habe ihn bei den anderen Dienstboten untergebracht“,

antwortete John etwas benommen. „Auf dem Dachboden.“

„Gut, ich werde ihn benachrichtigen“, erwiderte sie, knickste

hastig wie eine Magd und verließ geschwind sein Zimmer. Als sie
an ihren Räumen vorbeikam, hörte sie Geräusche, trat ein und
sah ihre Zofe.

„Wo waren Sie so lange, Madam?“, fragte Margaret

misstrauisch.

„Bei Colonel Ancroft“, antwortete Caroline verlegen. „Aber

ziehen Sie keine falschen Schlüsse, Maggie.“ Mit wenigen
Worten erklärte sie die Umstände, die dazu geführt hatten, dass
sie in seiner Schlafkammer gewesen war, und setzte hinzu:
„Bitte, schicken Sie seinen Bediensteten zu ihm.“

„Ich bin entsetzt, Madam, dass Colonel Ancroft Sie in dieser

Aufmachung gesehen hat“, erwiderte Margaret erschüttert. „Wie
wollen Sie ihm die Veränderung erklären?“

„Er war zu verwirrt, um mich zu erkennen“, sagte Caroline

leichthin. „Als er wissen wollte, wer ich bin, habe ich behauptet,
eine Magd zu sein.“

„Hoffentlich hat er Ihnen das abgenommen“, murmelte Mar-

garet skeptisch und verließ das Zimmer, um dem Kammerdiener
auszurichten, er müsse sich um seinen Herrn kümmern.

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7. KAPITEL

Als Caroline dem Colonel am nächsten Morgen begegnete, sah er
zwar blass und übernächtigt aus, doch an seinem Verhalten ihr
gegenüber hatte sich nichts geändert. Nach dem gemeinsam ein-
genommenen Frühstück setzte man die Reise fort.

Angesichts des wolkenlosen Himmels hoffte John, dass die zu

erwartende Hitze ihm nicht so viel anhaben würde wie am ver-
gangenen Tag. Die Straße verlief zum größten Teil durch bewal-
detes, Schatten bietendes Gelände, und außerdem gedachte er,
auf der fünfzig Meilen langen Strecke bis Grantham eine längere
Mittagsrast einzulegen, um sich nicht zu überanstrengen.

Da er sich erschöpft fühlte, kostete es ihn einige Anstrengung,

sich straff und aufrecht im Sattel zu halten. Es überraschte ihn,
dass die Infektion, die er sich in der sumpfigen Gegend Süd-
frankreichs zugezogen hatte, noch immer nicht restlos abgeklun-
gen zu sein schien und sich in regelmäßigen Fieberanfällen
äußerte. Nach einiger Zeit kehrten seine Lebensgeister jedoch
zurück, und unvermittelt überlegte er, ob er in der verflossenen
Nacht wieder, wie seit dem Antritt der Reise, schlecht geträumt
oder tatsächlich erlebt hatte, woran er sich erinnerte. Er war
sicher, dass die Frau, die behauptet hatte, eine Magd zu sein,
nicht zum Personal des Gasthauses zählte. Jedenfalls hatten
seine diskreten Fragen bei den Wirtsleuten ergeben, dass ihnen
die von ihm beschriebene Person unbekannt war.

Er hatte, als er sie im trüben Licht der Laterne erblickte,

gewähnt, Gabriella zu sehen. Das rötlich braune Haar, das dem
seiner toten Verlobten so sehr glich, hatte im Widerschein der
Flamme einen aufreizenden Schimmer gehabt. Auch das Gesicht

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und die grünen Augen hatten bei ihm den Eindruck erweckt,
Gabriella vor sich zu haben. Einer Sinnestäuschung war er
gewiss nicht erlegen, denn die Person war sehr greifbar und
lebendig gewesen. Verwunderlich war indes, dass sie ihm ohne
jeden Einwand gestattet hatte, sie zu küssen, ohne hinterher so
keck zu sein, Geld von ihm zu verlangen. Und noch erstaunlicher
fand er, dass sie sichtlich um ihn besorgt gewesen war.

Entschlossen, des Rätsels Lösung herauszufinden, zügelte er

das Pferd, bis er auf gleicher Höhe mit dem auf dem Dienersitz
reisenden Kammerdiener war, und erkundigte sich dann leise
bei ihm, wer ihn gebeten hatte, sich um ihn zu kümmern.

„Mrs. Duvals Zofe“, antwortete der Bedienstete verdutzt.
„Danke“, erwiderte John, trat dem Hengst in die Weichen und

war sicher, dass nicht sie sich in der verflossenen Nacht in
seinem Zimmer befunden hatte. Das war ebenso ausgeschlossen
wie die Vorstellung, ihre dralle Herrin könne bei ihm gewesen
sein. Wahrscheinlich würde er nie erfahren, wer die Fremde
gewesen war, und daher hatte es auch keinen Sinn, noch länger
darüber nachzugrübeln. Er begriff jedoch in aller Deutlichkeit,
dass er, wenn er in Marrick Castle leben wollte, die Geister der
Vergangenheit ruhen lassen musste.

Mittags rastete man in Stamford. Nach dem gut zubereiteten

Essen in der sauberen Wirtschaft erkundigte er sich bei Mrs.
Duval, ob sie daran interessiert sei, sich die Stadt anzusehen.

„Ich befürchte, das wäre nicht sicher für mich“, antwortete sie

ausweichend.

„Warum nicht?“, fragte er erstaunt. „Wir sind mehr als neun-

zig Meilen von London entfernt und haben bisher kein An-
zeichen dafür gesehen, dass wir verfolgt werden. Manchmal
glaube ich, dass es sich bei dem auf Sie verübten Überfall nur um
einen unglücklichen Zufall gehandelt hat. Folglich meine ich
auch, dass Sie nicht mehr genötigt sind, Ihr Gesicht hinter dem

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Schleier zu verbergen, und ich darauf verzichten kann, Sie in der
Öffentlichkeit mit falschem Namen anzureden.“

„Es tut mir leid, Ihnen widersprechen zu müssen, Sir“, ent-

gegnete Caroline beunruhigt. „Ich werde den Hut auf der Reise
nicht absetzen, habe jedoch nichts dagegen, dass Sie mich von
nun an als Mrs. Duval ansprechen.“

„Ich kann Sie zu nichts zwingen, Madam“, erwiderte John

gleichmütig. „Also, was halten Sie von einem Spaziergang?“

„Werden Sie mich und meine Zofe begleiten?“
„Selbstverständlich!“, antwortete John irritiert. „Ganz abgese-

hen davon, dass es ein Gebot der Höflichkeit ist, möchte ich mir
nach dem Ritt die Beine vertreten.“

„Gut, dann bin ich einverstanden“, sagte Caroline und schloss

sich ihm, nachdem er die Rechnung beglichen und dafür gesorgt
hatte, dass ihr Diener sich an einem schattigen Platz im Garten
aufhalten konnte, mit Maggie an.

Er zeigte den Frauen die Sehenswürdigkeiten und erklärte

schließlich auf die Frage, warum er sich in Stamford so gut aus-
kenne, früher sei er oft hier gewesen.

„Ach ja? Stammen Sie aus Yorkshire?“, wollte Caroline wissen.
„Ja, Madam“, bestätigte er. „Aber ich war schon lange nicht

mehr hier, zum einen des Armeedienstes wegen, zum anderen,
weil ich mich mit meinem Onkel überworfen habe.“

„Haben Sie Familie?“, erkundigte Caroline sich dreist.
„Ich habe eine Tochter“, antwortete er in einem Ton, der deut-

lich zu verstehen gab, dass er nicht weiter ausgefragt werden
wollte.

Caroline war zu verblüfft, um etwas zu äußern. Sie hätte nicht

gedacht, dass dieser so hölzerne und ungewandte Mann verheir-
atet oder mit einer Frau liiert gewesen war, die ihm ein Kind ge-
boren hatte. Möglicherweise war sogar die von ihm erwähnte
Gabriella die Mutter des Mädchens.

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Schweigend kehrte man ins Gasthaus zurück, setzte die Fahrt

nach Grantham fort und bezog dort das vorausbestellte Quartier.
Mrs. Duvals Diener schien sich einigermaßen erholt zu haben,
sodass es nicht mehr nötig war, sich um ihn zu kümmern. Nach
dem Abendessen beschloss man, zeitig schlafen zu gehen. John
begleitete Mrs. Duval und ihre Zofe zu den für sie reservierten
Räumen, wünschte eine angenehme Nacht und zog sich in sein
Zimmer zurück.

„Wollen Sie wirklich weiterhin die trauernde Witwe spielen?“,

fragte Margaret stirnrunzelnd, während sie Caroline mit geübten
Griffen dabei half, ihre Sachen abzulegen.

„Ja!“, bestätigte diese mit Nachdruck. „Das lässt sich nicht

ändern, denn sonst würde Colonel Ancroft sofort sehen, dass ich
die angebliche Magd bin, die bei ihm war. Jetzt bin ich gezwun-
gen, diese vermaledeite Verkleidung beizubehalten. Es würde
mich nicht wundern, wenn ich an einem Hitzschlag sterbe!“

„Das haben Sie jetzt davon, Madam, dass Sie den Colonel

täuschen“, erwiderte Margaret vorwurfsvoll. „Gewiss würde er
Ihnen die Notlüge, sich als Dienstmädchen ausgegeben zu
haben, wohlwollend verzeihen, hätten Sie ihn nicht von Anfang
an mit Ihren Sticheleien geärgert.“

„Ich kann ihm unmöglich die Wahrheit sagen“, murmelte

Caroline verlegen. „Was wird er dann von mir denken?“

„Wieso sollte er eine schlechte Meinung von Ihnen bekom-

men?“, wunderte sich Margaret.

„Ich habe Ihnen nicht alles erzählt, was gestern zwischen ihm

und mir passiert ist.“

„Hat er Sie belästigt?“, fragte Margaret scharf.
„Nein, es ist nichts Ehrenrühriges geschehen“, versicherte

Caroline ihr wider besseres Wissen und berichtete dann, dass er
verwirrt gewirkt und sie offenbar mit jemandem verwechselt
hatte. „In seinem Wahn hat er mich … nun, ich habe mich nicht

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gesträubt, als er mich küsste“, gestand sie unbehaglich. „Natür-
lich war ich fassungslos, fand jedoch, es sei ratsamer, ihn
gewähren zu lassen, damit ich ihn in seinem Zustand nicht
reizte. Offenbar hat er etwas Tragisches erlebt“, fügte sie rasch
an, „und ich wüsste gern, was das war.“

„Eigentlich müsste sein Kammerdiener das wissen, aber er ist

sehr zurückhaltend, was den Colonel betrifft“, sagte Margaret
bedächtig. „Ich war überrascht, als er mir gestern anvertraute,
sein Herr leide seit dem Krieg immer wieder an Fieberaus-
brüchen. Gleichviel, an Ihrer Stelle würde ich meine Neugier
bezähmen! Sie haben bereits genügend eigene Probleme und
sollten sich nicht auch noch mit denen des Colonels befassen. Im
Übrigen frage ich mich, warum Sie sich ihm nicht diskret entzo-
gen haben, als er zudringlich wurde. Ihre Argumentation
überzeugt mich nämlich nicht. Bisher haben Sie ihn veralbert
und durch nichts angedeutet, dass sich an Ihrer Meinung über
ihn etwas geändert hat.“

„Ich weiß mir mein Verhalten nicht anders zu erklären, als ich

das soeben versucht habe“, erwiderte Caroline ernst. „Er tat mir
leid, und außerdem hat er einen ganz anderen Eindruck auf mich
gemacht als sonst. Er wirkte wie ausgewechselt, nicht mehr so in
sich gekehrt. Wie dem auch sei, auf eine zweite Situation dieser
Art werde ich es nicht ankommen lassen. Vergessen wir die gan-
ze Sache!“

„Ich bin mir nicht sicher, ob er das tun wird“, murmelte Mar-

garet skeptisch.

„Er wird mich nicht mit dieser angeblichen Magd in Ver-

bindung bringen, vorausgesetzt, er sieht mich nicht ohne die
Verkleidung, die ich jetzt leider bis zum Ende der Reise tragen
muss“, erwiderte Caroline seufzend. „Mir ist viel zu warm darin.
Ich werde den zweiten Unterrock nicht mehr anziehen. Es dürfte

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dem Colonel kaum auffallen, dass ich plötzlich etwas schlanker
geworden bin.“

Es wurde von Tag zu Tag wärmer, und Caroline litt in den
dunklen Sachen sehr unter der Hitze. Sie hatte mehrfach erwo-
gen, dem Colonel die Wahrheit über sich zu sagen, den
Gedanken indes stets verworfen.

Nachdem man in Doncaster im „Goldenen Löwen“ eingetrof-

fen war und die dort reservierten Zimmer bezogen hatte, nahm
Caroline ein erfrischendes Bad und aß mit ihrer Zofe zu Abend.
Danach begab sie sich zeitig zu Bett, schlief aufgrund der sticki-
gen Luft im Zimmer jedoch sehr schlecht. Als sie erwachte, sah
sie das Licht der Morgensonne durch die Fenstervorhänge drin-
gen und befürchtete, einen weiteren beschwerlichen Tag vor sich
zu haben. Ihr fiel ein, dass man am Abend zuvor unweit des
Gasthauses an einem Fluss entlanggefahren war, und sie ver-
mochte der Versuchung nicht zu widerstehen, das Gewässer
aufzusuchen und sich in seinen kühlenden Fluten zu erfrischen.

Sie vergewisserte sich, dass Maggie noch schlief, stand rasch

auf und kleidete sich an, verzichtete jedoch darauf, sich den
Ainderby-Kelch und das schützende Kissen umzubinden. Leise
schob sie den Lederbehälter unter das Bett der Zofe, nahm zur
Vorsicht ihren Hut an sich, dazu ein Stück Seife und ein
Handtuch und huschte aus dem Zimmer.

Glücklicherweise begegnete niemand ihr auf dem Weg ins

Freie. Zufrieden strebte sie zum Fluss und entdeckte entzückt
eine kleine Bucht, wo sie, durch das hohe Gebüsch sämtlichen
Blicken entzogen, baden konnte. Flink legte sie die Sachen ab,
deponierte sie zwischen zwei Sträuchern und lief ins Wasser.

Eine Weile vergnügte Caroline sich in den Wellen, schwamm

schließlich zurück zum Ufer und blieb im flachen Wasser stehen.

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Begeistert bespritzte sie sich, warf den Kopf in den Nacken und
genoss das Gefühl des warmen Sonnenscheins auf der Haut.

Nach dem Erwachen hatte John das Bedürfnis verspürt, schwim-
men zu gehen, und sich an die Stelle im Fluss erinnert, wo er
früher, wenn er in Doncaster gewesen war, gebadet hatte. Er zog
sich an, nahm ein Handtuch an sich und verließ das Gasthaus.
Zielsicher strebte er zu der kleinen Bucht, hörte unvermittelt ein
Plantschen und blieb überrascht stehen. Er lauschte eine Weile
und zwängte sich dann neugierig durch die Sträucher.

Beim Anblick der bezaubernden Frau, die sich vollkommen

entblößt im Wasser amüsierte, hielt er wie angewurzelt inne,
nicht fähig, die Augen von ihr zu wenden. Erst nach einer Weile
wurde er sich bewusst, wie unschicklich sein Verhalten war.
Schon im Begriff, sich zurückzuziehen, wurde er stutzig und star-
rte das im Morgenlicht glänzende nasse Haar des überaus reiz-
voll gewachsenen Geschöpfs an. Er wähnte, ein Trugbild vor sich
zu haben, denn es handelte sich zweifellos um die Magd, die er
in Buckden in sein Zimmer gezogen hatte. Verblüfft beobachtete
er sie und sagte sich, es sei ausgeschlossen, ein und dieselbe Per-
son vor sich zu haben, da der Ort ungefähr einhundert Meilen
südlich lag. Die Ähnlichkeit mit dem Hausmädchen war indes so
frappierend, dass er mehr und mehr zur Gewissheit gelangte,
sich nicht zu irren. Er konnte sich die Anwesenheit der Frau je-
doch nicht erklären, es sei denn, Mrs. Duval hatte recht mit der
Behauptung, verfolgt zu werden.

Plötzlich bemerkte er, dass die Frau wie gelähmt in seine

Richtung schaute. Da sie ihn offenbar gesehen hatte, rief er ihr
zu: „Seien Sie unbesorgt, Miss. Es tut mir leid, dass ich Sie
gestört habe.“

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„Verschwinden Sie!“, erwiderte Caroline, tauchte hastig ins

Wasser und bemühte sich, ihre Blöße mit den Händen zu
bedecken.

„Ich versichere Ihnen, dass ich keine bösen Absichten habe.

Aber ich möchte, dass Sie mir eine Frage beantworten.“

„Nein!“, weigerte sich Caroline. „Gehen Sie endlich!“
„Wo sind Ihre Sachen? Ich werde sie Ihnen bringen und mich

umdrehen, damit Sie sich anziehen können. Ah, da sind sie ja“,
fügte er hinzu, als er sie einige Schritte von sich entfernt auf der
Erde liegen sah. Rasch zwängte er sich durch das Gebüsch, um
sie aufzuheben, und meinte erneut, den Augen nicht trauen zu
können. „Das sind nicht Ihre Kleidungsstücke!“, äußerte er ver-
wundert. „Sie gehören jemand anderem. Ich finde, jetzt sind Sie
mir eine Erklärung dafür schuldig, wie sie in Ihre Hände gelangt
sind!“

Verstört beobachtete Caroline ihn und überlegte, was sie ant-

worten solle. Sie wurde sich gewahr, dass sie dem Colonel nun
die Wahrheit über sich gestehen musste, obwohl er sie offenbar
nicht erkannt hatte, für jemand anderen hielt und vermutete, sie
habe die Garderobe gestohlen. Möglicherweise verfiel er auf den
Gedanken, sie wegen Diebstahls belangen zu lassen. Die Vorstel-
lung, dass sie verhaftet werden könne, weil sie angeblich ihre ei-
genen Sachen entwendet hatte, amüsierte sie dermaßen, dass sie
ihrer Erheiterung freien Lauf ließ und belustigt registrierte, wie
konsterniert Colonel Ancroft sie anstarrte. Als er sich jedoch mit
ihrer Kleidung über dem Arm dem Wasser näherte, rief sie ihm
beschwörend zu: „Nein, bleiben Sie, wo Sie sind. Es reicht, wenn
Sie mir die Handtücher und die Chemisette zuwerfen und sich
diskret umdrehen, damit ich an Land kommen kann.“

Er legte das Gewünschte auf einem Baumstumpf nah am

Wasser ab, wandte sich um und schlenderte ein Stück das Ufer
hinunter.

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Das Pech verwünschend, das ihn zu dieser Zeit an den Fluss

geführt hatte, ging Caroline an Land und hoffte, während sie sich
flink abtrocknete, er möge, wenn er über ihre Täuschung Bes-
cheid wusste, nicht auf den Einfall kommen, die Reise
abzubrechen. Geschwind zog sie das Unterhemd an, hielt ihr
Handtuch vor sich und sagte dann: „Ich bin so weit, Sir. Was
wollen Sie von mir?“

„Ich möchte wissen, Miss, wieso Mrs. Duvals Sachen in Ihrem

Besitz sind“, antwortete er und wandte sich zu ihr um.

„Ich bin Mrs. Duval“, gab sie unumwunden zu.
„Wie bitte?“ Entgeistert starrte er sie an.
„Ja“, bestätigte sie zerknirscht. „Ich habe Sie hintergangen.“

Er sah so schockiert aus, dass sie sich zwingen musste, nicht
schon wieder laut aufzulachen. Unwillkürlich fragte sie sich, was
ein Außenstehender wohl denken würde, sähe er sie beide jetzt
so voreinander stehen, sie in höchst indezenter Aufmachung und
er im Zustand völliger Fassungslosigkeit.

Unvermittelt sah er sie schmunzeln und äußerte verärgert:

„Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, Madam, was
Sie so belustigend finden! Bitte machen Sie sich unverzüglich
präsentabel, und dann werde ich Sie zurück zum ‚Goldenen
Löwen‘ begleiten. Dort können Sie mir dann eine ausführliche
Erklärung für Ihr seltsames Verhalten geben.“

„Wie Sie wünschen, Sir“, murmelte Caroline betreten, wartete,

bis er sich einige Schritte entfernt hatte, und kleidete sich an. Sie
hob den Hut auf, nahm die Handtücher und die Seife an sich
und schloss sich schweigend dem sichtlich gereizten Colonel an.

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8. KAPITEL

Es herrschte bereits Leben im Gasthof, als man ihn betrat, und
John bemerkte, dass der Wirt und der Hausknecht Mrs. Duval
und ihn unverhohlen neugierig anstarrten. Er beachtete die
beiden nicht, führte sie zur Treppe und sagte: „Ist es Ihnen recht,
in einer Stunde mit mir zu sprechen?“

Sie nickte, eilte zu ihrer Schlafkammer und wäre, als sie die

Tür öffnete, fast mit ihrer Zofe zusammengestoßen.

„Da sind Sie ja, Madam!“, rief Margaret erleichtert aus. „Ich

wollte Sie soeben suchen gehen. Wo waren Sie so lange? Und
wieso ist Ihr Haar nass?“

„Ich habe jetzt nicht die Zeit, Ihnen alles genau zu erläutern“,

antwortete Caroline, ging an Mrs. Lansing vorbei ins Zimmer
und machte die Tür zu. „Colonel Ancroft hat herausgefunden,
dass ich ihn getäuscht habe, und ist verständlicherweise sehr un-
gehalten. Ich bin in einer Stunde mit ihm verabredet und hoffe
inständig, dass er sich nach meinen Eröffnungen nicht vor Wut
von mir trennt. Vielleicht gelingt es mir jedoch, ihm begreiflich
zu machen, dass ich nicht aus Bösartigkeit so gehandelt habe.
Ich möchte nicht, dass er schlecht von mir denkt.“

„Wenn Sie ihm schon so bald Rede und Antwort stehen

müssen, beeilen Sie sich besser“, legte Margaret ihr nahe und
begann ihr beim Auskleiden zu helfen. Die letzte Bemerkung
Carolines verwunderte sie, denn im Allgemeinen legte ihre Dien-
stherrin kein Wort auf die Meinung anderer Leute.

„Ein Gutes hat das mir widerfahrene Malheur“, meinte

Caroline. „Ich muss diese Sachen und den Hut nicht mehr

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tragen. Schaffen Sie mir das Zeug aus den Augen. Es kann ver-
nichtet werden.“

„Wie Sie wünschen, Madam“, erwiderte Margaret, nahm das

Kleid und den Hut, rollte alles zu einem Bündel zusammen und
deponierte es auf einem Stuhl. Dann holte sie ein hellgelbes
Tageskleid aus dem Gepäck, ging Mrs. Duval beim Anziehen zur
Hand und bat sie dann, sich an den Toilettentisch zu setzen.
Rasch rieb sie der Herrin das Haar trocken und kämmte es.
Dann wand sie den dichten Schopf zu einem Knoten, steckte ihn
fest und zupfte ein paar Locken an den Schläfen zurecht.

Caroline drehte sich vor dem Spiegel hin und her, be-

gutachtete sich und fand, sie sähe passabel aus. Nach einem Mo-
ment erhob sie sich, ging zum Lager der Zofe und zog den Leder-
behälter hervor.

„Warum nehmen Sie ihn mit?“, wunderte sich Margaret. „Bei

mir ist er sicher!“

„Daran zweifle ich nicht“, erwiderte Caroline. „Aber vielleicht

brauche ich ihn, um die Geschichte, die ich dem Colonel erzäh-
len werde, belegen zu können.“ Sie ergriff den Trageriemen,
nickte der Zofe zu und verließ den Raum. Auf dem Weg die
Treppe hinunter sah sie den Colonel im Vestibül stehen und zu
ihr hochschauen. Zu ihrer Enttäuschung äußerte er sich jedoch
nicht zu der Veränderung, die mit ihr vorgegangen war.

Sobald sie bei ihm angelangt war, sagte er kühl: „Gewiss

möchten Sie nicht, Mrs. Duval, dass Unbefugte hören, was Sie
mir mitteilen werden. Daher schlage ich vor, wir machen einen
Spaziergang.“

„Ich bin einverstanden“, willigte sie ein und schloss sich ihm

an.

„Natürlich sind Ihre Bediensteten über die Komödie, die Sie

gespielt haben, von Anfang an im Bild gewesen“, versetzte John
steif.

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„Ihnen ist kein Fehlverhalten anzulasten“, nahm Caroline sie

in Schutz. „Sie haben nur ihren Teil dazu beigetragen, mich zu
beschützen.“ Nach außen ließ sie sich ihr Unbehagen nicht an-
merken, wenngleich sie befürchtete, dass der Colonel für ihr
Benehmen in seinem Zimmer im Gasthof zu Buckden keine
Nachsicht zeigen würde. Er war zu stolz, um hinzunehmen, dass
sie, eine Außenstehende, seinen Gefühlsausbruch miterlebt
hatte.

Auf einer nicht weit vom „Goldenen Löwen“ gelegenen An-

höhe hielt man an und nahm auf der dort stehenden Bank Platz.
„Also, ich höre“, sagte John kühl und schaute Mrs. Duval erwar-
tungsvoll an.

„Vermutlich haben Sie mich für überspannt gehalten, als ich

Mr. Turner um einen Begleiter für die Reise nach Yorkshire er-
suchte“, begann Caroline tapfer. „Ich hatte jedoch einen guten
Grund für meine Bitte. Sie wissen, dass die Kutsche, in der ich
reiste, überfallen wurde. Der Grund dafür ist, dass ich einen Ge-
genstand mit mir führe, den mein Vetter Edmund Willoughby
unbedingt in seinen Besitz bringen will. Als ich noch in Kingston
war, hat er mich bedroht, einen meinen Diener umgebracht und
mich in sein außerhalb der Stadt gelegenes Haus entführt.
Joseph ist es indes gelungen, mich dort aufzuspüren und mir zur
Flucht zu verhelfen. Zum letzten Mal habe ich Edmund und
seine Handlanger auf dem Kai gesehen, als mein Schiff ablegte,
sodass ich mich bei der Ankunft in Falmouth vor ihm in Sicher-
heit wähnte.“

„Was ist es, worauf er so großen Wert legt?“, warf John neu-

gierig ein.

Nun war der Moment gekommen, den Colonel ins Vertrauen

zu ziehen. „Da ich nicht davon ausgehen kann, Sir, dass Sie mir
weiterhin helfen wollen, werde ich Ihnen das Geheimnis mit-
teilen. Das Kleinod, das Edmund an sich bringen will, hat mein

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Großvater mir kurz vor seinem Tod übergeben, und ich musste
ihm versprechen, mit allen Mitteln dafür zu sorgen, dass es un-
beschadet ans Ziel gelangt. Ich habe es mitgebracht, damit Sie
sich von der Wahrheit meiner Angaben überzeugen können.“

„Diesen Behälter sehe ich heute zum ersten Mal“, stellte John

fest.

„Sie konnten ihn nicht früher bemerken, weil er unter meinem

Kleid verborgen war“, erklärte Caroline lächelnd. „Ich lasse ihn
mir täglich von meiner Zofe vor den Bauch binden und mit
einem Kissen schützen. Das ist der Grund dafür, dass ich eini-
germaßen füllig aussah.“

„Ich habe mich bereits gefragt, warum Sie von einem Augen-

blick zum anderen so schlank geworden sind“, sagte John leicht
belustigt.

Er wirkte erheitert, und das war Carolines Meinung nach ein

gutes Zeichen. „Auf der Weiterreise musste ich bald erkennen,
dass ich einem Trugschluss erlegen war“, fuhr sie fort. „Ent-
weder ist jemand, von dem ich nicht weiß, dass er in Edmunds
Diensten steht, auf dem Segler gewesen, oder mein Cousin hat
hier einen Verbindungsmann. Jedenfalls wurde, als ich in einem
Ort vor Launceston in einer Herberge übernachtete, mein
Gepäck, das sich auf der im Hof stehenden Kutsche befand,
aufgerissen und durchsucht. Bald darauf geschah der schon von
mir erwähnte Überfall, bei dem die Wegelagerer gezielt die
Hutschachtel an sich rissen, in der ich das Objekt zuvor versteckt
hatte. Sie wussten genau, was sie sich beschaffen sollten, und
sind im Glauben verschwunden, es bekommen zu haben. Ich war
jedoch durch Beobachtungen meines Dieners vorgewarnt
worden und habe sofort nach dem ersten Zwischenfall und erst
recht nach dem zweiten Vorsorge getroffen, dass der Gegen-
stand, den man mir entwenden will, nicht in die Hände meines
Cousins fällt. Ein Teil dieser Maßnahmen war, dass ich mich

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verkleidet, Mrs. Hopkins genannt und die Kostbarkeit gegen et-
was anderes ausgetauscht habe.“

„Und welche Rolle spielt die Asche Ihres Gatten in dieser

abenteuerlichen Geschichte?“

„Die Asche meines Gatten?“, wiederholte Caroline verständ-

nislos. „Mein Mann wurde in New Orleans begraben.“

„Ach, wirklich? Mr. Fennybright hat mir gesagt, Sie würden

eine Urne mit seiner Asche zum Stammsitz seiner Familie bring-
en. Er hat mich bestimmt nicht wissentlich hinters Licht geführt.
Also muss er eine falsche Information weitergegeben haben.
Vermutlich haben Sie seinen Sozius gebeten, ihm die rührende
Mär von der betagten Witwe und ihrem Vorhaben zu erzählen.
Falls ich recht habe, kann ich Sie zu diesem gerissenen Einfall
nur beglückwünschen. Als Mr. Fennybright mich fragte, ob ich
gewillt sei, Sie zu begleiten, habe ich das Ansinnen sofort
abgelehnt. Erst als Mr. Turner an mein Gefühl für Ritterlichkeit
appellierte, war ich einverstanden.“

„Ich habe keinen der Anwälte zu irgendetwas überredet“, ver-

teidigte sich Caroline. „Mr. Turner war sehr darauf bedacht, mir,
der Enkelin eines seiner ältesten Klienten, behilflich zu sein.
Wahrscheinlich hat Ihre Weigerung ihn bewogen, seinem Sozius
eine ausgeschmückte Geschichte zu erzählen, damit dieser Sie
umstimmte. Die einzige Schuld, der ich mir bewusst bin, ist, dass
ich mich verkleidet und ein höheres Alter vorgetäuscht habe,
damit derjenige, der mittlerweile festgestellt hat, wie wertlos das
war, was die Räuber ihm gebracht haben, mich nicht sofort
erkennt.“

John deutete auf den Lederbehälter. „Enthält er die Asche

Ihres Großvaters?“

„Nein!“, antwortete Caroline befremdet. „Mein Großvater

wurde vor einigen Monaten unter großer Anteilnahme seiner

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Freunde und Bekannten auf einem Friedhof von Kingston
bestattet.“

„Entschuldigen Sie meine Frage“, murmelte John verlegen.

„Sie sind also in seinem Auftrag unterwegs. Gab es sonst
niemanden, der diese Aufgabe hätte übernehmen können?“

„Nein“, sagte Caroline. „Von väterlicher Seite her bin ich das

letzte noch auf Jamaika ansässige Familienmitglied. Mein
Großvater und ich standen uns sehr nahe, und daher war ich
bereit, alles für ihn zu tun. Abgesehen davon wusste er, dass ich
mit skrupellosen Männern umzugehen gelernt habe.“

„Das zu hören überrascht mich nicht“, warf John ein. „Wieso

haben Sie sich mir nicht gleich zu Beginn der Reise eröffnet?“

„Ich hielt es für besser, nicht zu redselig zu sein, selbst Mr.

Turner gegenüber“, gab Caroline zu. „Er hatte mir gesagt, dass
Sie ein mutiger und anständiger Mensch sind, und darauf habe
ich mich verlassen. Als wir uns kennenlernten, musste ich mir
erst eine eigene Meinung über Sie bilden, und heute weiß ich,
dass er recht hatte. Nachdem ich Sie jetzt informiert habe, wer-
den Sie meine Beweggründe für die Verkleidung gewiss ver-
stehen. Ich bereue nicht, Sie in dieser Hinsicht getäuscht zu
haben, bedaure jedoch, dass ich Sie hin und wieder mit dummen
Bemerkungen und falscher Anrede gereizt habe.“

„Und weshalb haben Sie das getan?“, wollte John wissen.
„Ich hatte mich über den bevormundenden Ton in Ihren

Briefen geärgert“, gab Caroline freimütig zu.

„Ich stand unter dem Eindruck, eine weinerliche, gänzlich un-

selbstständige Person würde mich begleiten“, erwiderte John
ehrlich. „Das erklärt vielleicht den von mir angeschlagenen Ton.“

„Wie gesagt, mein Benehmen war nicht in Ordnung. Aber es

gab Situationen, in denen ich mich köstlich über Sie amüsiert
habe.“

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„Das kann ich mir vorstellen“, äußerte John und lächelte matt.

„Werden Sie mir jetzt endlich mitteilen, welches Reiseziel Sie
haben?“

„Sind Sie noch bereit, mich dort hinzubringen?“, fragte

Caroline erstaunt.

„Ja.“
Sie war sehr erleichtert und hätte ihn am liebsten umarmt,

unterließ es jedoch. „Ich will nach High Hutton, einem Ort, der
in der Nähe von Marrick Castle liegt. Nanu, warum schauen Sie
mich so überrascht an?“

John erinnerte sich, dass Mr. Turner ihm erzählt hatte, sie sei

die Enkelin von Peter Leyburn, eines der ältesten Klienten der
Kanzlei, der vor einiger Zeit als hoch angesehenes Mitglied der
Gesellschaft von Kingston auf Jamaika verstorben war. Der Ort,
den sie aufsuchen wolle, befände sich im Umkreis von zwanzig
Meilen von Richmond. Um sicher zu sein, keine falschen
Schlussfolgerungen zu ziehen, erkundigte er sich: „Wie hieß Ihr
Großvater?“

„Peter Leyburn.“
„Und Sie wollen zum Stammsitz seiner Familie?“
„Ja“, antwortete Caroline verwirrt.
„Nun, dann muss ich Ihnen mitteilen, dass im Umkreis von

Marrick Castle weit und breit kein Leyburn lebt.“

„Ich habe nicht gelogen, als ich Ihnen sagte, mein Großvater

habe mir aufgetragen, nach High Hutton zu reisen“, entgegnete
Caroline pikiert. „Und Sie können gewiss nicht behaupten, alle
Leute dieser Gegend zu kennen!“

„Nein, natürlich nicht“, versetzte John kühl. „Also gut, ich

bringe Sie nach High Hutton, Mrs. Duval. Dann werden Sie fest-
stellen, dass der Ort nur aus einem einzigen, seit dreihundert
Jahren den Ainderbys gehörenden Anwesen besteht.“

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„Ainderby?“, wiederholte Caroline verblüfft und dachte daran,

dass der von ihr mitgeführte Abendmahlskelch unter diesem Na-
men bekannt war.

„Ja, die Familie ist dort ansässig“, bestätigte John. „Ich habe

nie etwas von einem in der Gegend wohnenden Leyburn gehört.“

„Nun, vielleicht war mein Großvater mit ihnen befreundet“,

vermutete Caroline.

„Möglicherweise“, räumte John ein. „Das wird sich herausstel-

len. Kehren wir jetzt in den ‚Goldenen Löwen‘ zurück, Madam.
Ich möchte nicht zu spät abreisen.“

„Wie Sie wünschen, Sir“, erwiderte sie, stand auf und nahm

die lederne Tasche an sich. Der Colonel, so schien ihr, hegte
keine Sympathie für die Ainderbys. Sie wusste zwar nichts
Genaues über das Ziel seiner Reise, aber möglicherweise wollte
er zu Angehörigen, die Nachbarn jener Ainderbys waren. Viel-
leicht war es zwischen den Familien zu Unstimmigkeiten
gekommen.

Auf dem Weg zum Gasthaus schwieg er, und das bedrückte

sie. Der Stimmungsumschwung war ihr unerklärlich, da sie den
Eindruck gewonnen hatte, dass der Colonel nach ihrem
Eingeständnis nicht zornig auf sie gewesen war.

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9. KAPITEL

Da man verspätet aufgebrochen war, beschloss John, nicht wie
vorgesehen in Catterick zu rasten. Er schickte seinen Kam-
merdiener mit dem Auftrag voraus, die Reservierung zu annul-
lieren und stattdessen in Boroughbridge Zimmer zu bestellen.
Mittags kehrte man in einem Gasthaus in Ferrybridge ein und
wartete dort ab, bis der Regen, der im Verlauf des Vormittags
eingesetzt hatte, aufhörte und die Sonne wieder durch die
Wolken brach.

Caroline beschloss, nicht mehr in der Kutsche zu bleiben, son-

dern wie Colonel Ancroft neben der Chaise herzureiten. Sie bat
ihn, das Gepäckstück abladen zu lassen, in dem sie ihre
Reitkleidung hatte, und tat seinen Einwand, sie werde sich auf
der verdreckten Straße schmutzig machen, mit einem Ach-
selzucken ab. Sobald der Portemanteau in die Wirtschaft
geschafft worden war, zog sie sich mit Maggies Hilfe in einem
Separee um, hieß die Zofe, die bisher getragenen Sachen ein-
zupacken, und begab sich dann zur Berline.

In der Zwischenzeit hatte John beim Krüger ein Pferd für sie

gemietet und half ihr zuvorkommend in den Sattel. Nachdem
der Koffer wieder verstaut worden war und die Dienstboten ihre
Plätze eingenommen hatten, setzte man die Reise fort.

„Hat Ihre Tochter Sie nicht vermisst, Sir, als Sie beim Militär

waren?“, erkundigte Caroline sich neugierig.

„Ich glaube nicht, dass ich ihr gefehlt habe, weil sie in guten

Händen ist“, antwortete er ausweichend.

„Lebt sie hier irgendwo in der Nähe?“

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„Nein. Das Anwesen, auf dem sie wohnt, ist mehr als fünfzig

Meilen von hier entfernt“, sagte John in einem Ton, der aus-
drücken sollte, dass er nicht weiter ausgefragt werden wollte.
„Bei unserem morgendlichen Gespräch haben Sie angedeutet,
dass Sie etwas sehr Wertvolles bei sich haben. Meinen Sie nicht,
es sei besser, wenn ich darauf Acht gebe? Wir können nicht wis-
sen, was uns unterwegs widerfährt.“

„Nein“, lehnte Caroline den Vorschlag rundheraus ab. „Ich

habe meinem Großvater versprechen müssen, den Gegenstand
nicht aus der Hand zu geben.“

„Sie haben Ihre Eltern nie erwähnt.“
„Sie starben, als ich neun Jahre alt war. Deshalb war mein

Großvater meine einzige Bezugsperson. Er liebte mich, konnte
jedoch auch streng sein. Ich habe einmal einen schweren Fehler
begangen, den er mir dennoch großzügig verziehen hat. Ich kann
mit Fug und Recht behaupten, dass er mich vor dem gesell-
schaftlichen Ruin bewahrt hat.“

„Wie gut für Sie, dass er Ihnen beigestanden hat“, erwiderte

John leicht verbittert.

Sie wunderte sich über seinen grimmigen Ton, verzichtete

indes darauf, weiter in ihn zu dringen. Ihr Interesse an ihm ver-
stärkte sich jedoch, und unwillkürlich verglich sie ihn mit dem
gelegentlich unberechenbaren Großvater. Im Gegensatz zu
diesem war der Colonel offenbar sehr viel geradliniger, würde
aber vermutlich, wenn er es für nötig erachtete, nicht minder
hart sein.

Unterdessen beobachtete John seine Begleiterin unauffällig

und fand sie bemerkenswert schön, stellte bei näherer Überle-
gung jedoch einige Unterschiede zu Gabriella fest. Seine Verlob-
te war unerfahren gewesen und hatte den Charme eines jungen
Mädchens gehabt. Da sie beide sehr ineinander verliebt gewesen
waren und bald hatten heiraten wollen, war es ihm gelungen, sie

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zu überreden, sich ihm ein Mal hinzugeben. Mrs. Duval hinge-
gen hatte sich, als sie in Buckden vorgab, eine Magd zu sein, wil-
lig von ihm in sein Zimmer ziehen lassen, sich dann allerdings
gesträubt. Er musste sie irgendwie verstört haben, ohne indes
den Grund dafür zu kennen. Sie hatte das gleiche sprühende
Temperament wie Gabriella, wenn auch entschieden mehr Hu-
mor als seine verstorbene Verlobte, für die das Leben etwas sehr
Ernstes gewesen war. Andererseits legte Mrs. Duval längst nicht
so viel Wert auf ihr Äußeres, wohingegen Gabriella sehr darauf
bedacht gewesen war, stets schön und elegant auszusehen.

Es verwunderte John, dass Mrs. Duval, nachdem sie ihn in

Buckden in diesem verwirrten Zustand erlebt hatte, nicht neu-
gieriger war. Die meisten Frauen hätten gewiss nicht der Ver-
suchung widerstanden, ihn auszufragen oder Kapital aus der
Tatsache zu schlagen, dass er ihnen zu nahe getreten war. Mrs.
Duval hatte jedoch auf jede anzügliche Anspielung verzichtet, ein
Zeichen dafür, dass sie taktvoll und diskret war. Außerdem war
sie couragiert, selbstbewusst und sittsam, wie sich herausgestellt
hatte, als er sie beim Fluss überraschte. Sie hatte nicht lamen-
tiert, sondern gelassen ihre Blöße bedeckt und ihn auch nicht
provoziert. Eine Frau wie sie hatte bisher noch nie seinen
Lebensweg gekreuzt.

„Indem mein Großvater mich hochherzig wieder bei sich auf-

nahm, hat er sich gegen die öffentliche Meinung gestellt“, fuhr
sie fort. „Aber er gab nie etwas auf das Gerede der Leute und hat
mich in seinem Sinn erzogen. Ich habe wiederholt von ihm zu
hören bekommen, ich müsse mir meinen eigenen Sittenkodex
schaffen und strikt danach leben.“

John war überzeugt, dass sie den Rat ihres Großvaters gut be-

herzigte. „Man sollte sich stets treu bleiben“, stimmte er zu.
„Aber hat dieser Standpunkt in der Gesellschaft von Kingston
nicht zu Problemen geführt?“

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„Und wie!“, antwortete Caroline auflachend. „Ich hatte jedoch

alles zu gewinnen und nichts zu verlieren.“

„Wie ist das zu verstehen?“
„Ich bin das, was man ein schwarzes Schaf nennt“, erklärte sie

belustigt. „Die Damen in unseren Kreisen hätten mich gern ig-
noriert, wenn ihnen das möglich gewesen wäre. In Anbetracht
der bedeutsamen Stellung, die mein Großvater hatte, ging das je-
doch nicht. Und ich habe mich mittlerweile verändert und ange-
passt“, setzte sie verschmitzt hinzu.

Angepasst war sie bestimmt nicht. Gegen diese Behauptung

sprach ihr Verhalten in Buckden. Unvermittelt erinnerte sich
John, wie begehrenswert er sie gefunden hatte, als sie vor ihm
stand, und wandte rasch das Gesicht ab, damit sie ihm nicht an-
sah, was in ihm vorging. „Bestimmt hatten Sie viele Verehrer“,
äußerte er spröde.

„Die hatte ich“, gab sie unumwunden zu.
„Hatten Sie nicht den Wunsch, ein zweites Mal zu heiraten?“,

erkundigte er sich und schaute sie gespannt an.

„Nein, nie!“, sagte sie nachdrücklich. „Ich bemühe mich, Sir,

einen einmal begangenen Fehler nicht zu wiederholen.“

John vermutete, dass ihre Ehe nicht glücklich verlaufen war.
„Jetzt habe ich Ihnen einige Fragen beantwortet und meine,

Sie könnten mir auch etwas mehr über sich erzählen.“

In der Hoffnung, sie möge nicht zu neugierig sein, erwiderte

er: „Was möchten Sie über mich wissen?“

„Zum Beispiel, wohin Sie wollen und wo Sie normalerweise

leben.“

„Ich wohne in London und will jetzt nach Marrick Castle.“
„Waren Sie schon früher dort?“
„Ja.“
„Das erklärt, warum Sie die Gegend so gut kennen. Sind Sie in

Marrick Castle ansässig?“

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John nickte. „Ich war jedoch mit einigen wenigen Unter-

brechungen seit siebzehn Jahren nicht mehr da“, antwortete er.

„Reisen Sie zu Ihrer Tochter?“
„Ja“, bestätigte er. „Im nächsten Februar feiert sie ihren

siebzehnten Geburtstag und wird dann in London ihr gesell-
schaftliches Debüt geben.“

„Sie müssen noch sehr jung gewesen sein, als Sie Vater

wurden.“

„Ich war zweiundzwanzig Jahre alt und bin jetzt achtund-

dreißig“, gab er schmunzelnd zu.

„Ich wollte Sie nicht aushorchen“, erwiderte Caroline

errötend.

Ihre Verlegenheit war bezaubernd. „Selbstverständlich werde

ich mich nicht nach Ihrem Alter erkundigen, Madam“, sagte er
trocken.

„Oh, das ist kein Geheimnis. Ich bin sechsundzwanzig, und es

beunruhigt mich nicht im Mindesten, dass man mich nicht mehr
als junges Mädchen bezeichnen kann.“

„Ich habe den Eindruck gewonnen, Mrs. Duval, dass es wenig

gibt, das Sie aus der Ruhe zu bringen vermag“, erwiderte John
und bereute sogleich die unbedachte Äußerung, da er sich vor-
genommen hatte, den Zwischenfall in Buckden niemandem, erst
recht nicht ihr gegenüber, zu erwähnen.

„Spielen Sie mit dieser Bemerkung auf die beiden Situationen

an, die wir besser vergessen sollten, Sir?“, fragte Caroline
belustigt.

Ihre Direktheit erstaunte ihn. Verblüfft schaute er sie an und

sah ihren amüsierten Blick auf sich gerichtet. „Wenn Sie
glauben, ich würde nicht mehr an diese beiden Begegnungen
denken, dann irren Sie sich. Wie jeder Mann weiß ich die Schön-
heit einer Frau zu schätzen, besonders dann, wenn sie sich mir
so sinnlich darbietet, wie das in Buckden der Fall war.“

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„Wie taktlos Sie sein können!“, erwiderte Caroline verstimmt

und spürte sich erneut erröten.

„Nein, nicht taktlos, sondern ehrlich“, widersprach er

schmunzelnd.

„Offenbar wollen Sie mir Gleiches mit Gleichem heimzahlen“,

sagte sie und rang sich zu einem Lächeln durch. „Nun gut, das
habe ich wohl verdient. Sind wir jetzt quitt?“

„Ja“, antwortete er erheitert. „Ich entschuldige mich jedoch

für die unpassende Bemerkung.“

„Wie großmütig!“, äußerte Caroline spöttisch, erblickte ein

Ortsschild und sah, dass man in Aberford eintraf. „Die nächste
Reiseetappe werde ich wieder in der Kutsche zurücklegen“, fuhr
sie bedauernd fort. „Ich habe lange nicht mehr zu Pferd gesessen
und spüre jeden Knochen im Leib. Es war mir jedoch ein
Vergnügen, Colonel, eine Weile mit Ihnen zu reiten.“

Er bedankte sich für das Kompliment, und man setzte den

Weg bis zum Gasthaus fort. Dort angekommen, wartete John,
bis die Berline vor dem Gebäude anhielt, saß ab und half Mrs.
Duval vom Pferd.

Ein wenig mitgenommen von der ungewohnten Anstrengung

des Reitens, ging Caroline steif und unsicher ins Haus.

Abends übernachtete man in Boroughbridge. Nach dem Dinner
blätterte John die alten Zeitungen durch, die der Krüger ihm auf
seine Bitte hin gebracht hatte, stutzte plötzlich, als er einen ihm
geläufigen Namen erblickte, und las den Artikel.

„Warum furchen Sie so unwirsch die Stirn, Sir?“, erkundigte

Caroline sich neugierig.

„Hier steht etwas, das Sie sicher interessieren wird“, antwor-

tete er ernst, gab ihr die Times und wies auf die
Gesellschaftsnachrichten.

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„Mr. Edmund Willoughby“, las sie erschrocken, „der nach ein-

er stürmischen Überfahrt aus Kingston auf Jamaika vor einem
Monat in Falmouth eingetroffen ist, sich zunächst von den
Strapazen der Reise bei Verwandten in Kent erholte und dann
eine Woche in London aufhielt, ist mit der Absicht abgereist,
sich das Land seiner Vorfahren anzusehen.“

„Ist das Ihr Vetter?“, erkundigte sich John.
„Ja“, bestätigte Caroline betroffen, legte die Zeitung zusam-

men und schaute nach, wie alt das Exemplar war. „Diese Aus-
gabe ist zehn Tage alt“, murmelte sie beklommen. „Ein Glück,
dass Edmund nicht genau weiß, wohin ich will. Ihm ist lediglich
bekannt, dass ich nach Norden möchte, denn mein Großvater
wusste, was mein Cousin an sich bringen will, und hat ihn de-
shalb nicht ins Vertrauen gezogen.“

Es verwunderte John, dass sie ein solches Geheimnis um den

Wertgegenstand machte, den sie nach High Hutton bringen
wollte. Vielleicht war ihr Großvater einst Seeräuber gewesen und
hatte Schätze angehäuft, von denen ein bestimmtes Kleinod für
die Ainderbys bestimmt war. Erneut überlegte John, welche Ver-
bindung es zwischen Mr. Leyburn und dieser Familie geben
mochte. Da er keine Antwort auf seine Frage fand, erkundigte er
sich: „Ist das, was sich in dem Lederbehälter befindet, schon
lange im Besitz Ihrer Familie?“

„Ich nehme es an, kann es jedoch nicht mit Sicherheit sagen.

Ich habe erst von meinem Großvater vom Vorhandensein dieses
Gegenstandes erfahren und kann mir nicht erklären, wieso mein
Vetter darüber Bescheid weiß.“

„Nun, ich glaube nicht, dass Sie in unmittelbarer Gefahr sind“,

meinte John bedächtig. „Zum einen führen viele Straßen gen
Norden, zum anderen ist uns bis jetzt nicht aufgefallen, dass wir
beschattet oder verfolgt werden.“

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„Wie weit ist es noch bis High Hutton?“, fragte Caroline

beunruhigt.

„Ungefähr vierzig Meilen und dreißig bis Marrick Castle.“
„Dann sind wir bald da“, erwiderte sie erleichtert. „Können

wir morgen bei Tagesanbruch aufbrechen?“

„Ja“, stimmte John zu. „Ich werde die Dienstboten dements-

prechend informieren. Regen Sie sich nicht auf, Madam“, setzte
er beschwichtigend hinzu. „Was halten Sie von einem Glas guten
Cognacs? Das wird Sie beruhigen.“

„Gern“, antwortete sie. „Stört es Sie nicht, dass ich in der Öf-

fentlichkeit Alkohol trinke? Nicht einmal in Kingston wird das
als schicklich betrachtet.“

„Sie haben doch gesagt, dass Sie nach Ihren eigenen Regeln

leben, nicht wahr? Es steht mir nicht zu, Sie zu kritisieren. Im
Übrigen nehme ich keinen Anstoß daran, dass Sie sich gesell-
schaftlichen Konventionen widersetzen.“

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10. KAPITEL

Eingedenk der Möglichkeit, dass Edmund die Berline verfolgen
ließ, setzte Caroline die Reise in der Kutsche fort. In Catterick
Bridge, wo man von der Hauptstraße in Richtung Richmond
sowie nach Marrick Castle und High Hutton abbiegen würde,
gab es in der Umspannstelle einen unvorgesehenen Aufenthalt,
da zunächst die Pferde einer zuvor eingetroffenen Kutsche
gewechselt wurden.

Der Wirt eilte auf den Stallhof, um sich bei den hinzugekom-

menen Herrschaften für die Verzögerung zu entschuldigen,
erkannte den neuen Marquess of Coverdale und verbeugte sich
ehrerbietig. „Welche Überraschung, Sir, Sie wiederzusehen!“,
sagte er lächelnd. „Was hat Sie nach so vielen Jahren
hergeführt?“

„Leider habe ich keine Zeit für lange Erklärungen“, antwortete

John freundlich. „Meine Begleiter und ich möchten so schnell
wie möglich in Marrick Castle sein. Das ist Mr. Barnaby“, rief er
Mrs. Duval durch das offene Kutschenfenster zu. „Er und seine
Frau haben früher auf dem Anwesen gearbeitet, er als Stall-
meister und sie als Köchin.“

„Ja“, bestätigte der Wirt. „Ich erinnere mich noch gut daran,

wie ich Ihnen und Master Philip das Reiten beigebracht habe.
Oje! War das eine anstrengende Sache! Master Philip war stets
viel zu unbesonnen. Wie schön, Sir, dass Sie zurückgekehrt sind!
Ja, was gibt es?“, setzte er unwirsch hinzu und drehte sich um,
weil jemand laut und in befehlendem Ton nach ihm gerufen
hatte.

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Über Mr. Barnabys Schulter hinweg erblickte John einen eleg-

ant gekleideten Herrn in der Tür des Gasthauses, der verärgert
herüberschaute. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, dass Mrs.
Duval abrupt vom Kutschenfenster zurückzuckte. Ihm kam der
Gedanke, dass es sich bei dem hochmütigen Gentleman um
ihren Vetter handeln könne.

„Haben Sie nicht gehört?“, rief der Mann nun aufgebracht.

„Kommen Sie gefälligst her, wenn ich Sie brauche!“

„Sagen Sie dem Herrn nicht, wer ich bin, Mr. Barnaby“,

äußerte John warnend.

Verärgert ging der Wirt zu dem wütenden Gast und fragte

gemessen: „Was kann ich für Sie tun, Sir?“

„Ich möchte wissen, ob ein gewisser Colonel Ancroft hier

durchgekommen ist und wo er wohnt“, antwortete der Gentle-
man ungehalten. „Ich suche ihn.“

„In welcher Angelegenheit?“, fragte Barnaby.
„Nicht dass es Sie etwas anginge“, erwiderte Edmund scharf.

„Aber er hat meine Cousine entführt und will mit ihr wahr-
scheinlich nach Gretna Green. Das muss ich unbedingt ver-
hindern! Gestern hätten sie in Catterick übernachten sollen, sind
aber nicht im Gasthaus eingetroffen. Also, waren sie hier? Ich
werde Ihre Auskunft natürlich belohnen.“

„Hatten die Herrschaften Dienstboten bei sich?“
„Ja, mehrere, darunter die ältere Zofe meiner Cousine.“
„Die Beschreibung passt nicht auf die wenigen Gäste, die wir

in den letzten Tagen hatten“, erwiderte Mr. Barnaby ehrlich.
„Möglicherweise ist der von Ihnen Gesuchte über Boroughbridge
gefahren. Fragen Sie dort nach ihm.“

„Und wer ist der Herr dort bei der Kutsche?“, wollte der hart-

näckige Fremde wissen. „Wie ich bemerkt habe, sitzt eine Dame
im Wagen.“

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John hatte den Wortwechsel mit angehört, saß ab und ging zu

den

beiden

Männern.

„Verzeihung,

wenn

ich

störe“,

entschuldigte er sich kühl. „Darf ich erfahren, wer Sie sind, Sir?“

„Ich bin Edmund Willoughby aus Kingston“,stellte er sich vor.

„Und mit wem habe ich die Ehre?“

„Kingston!“, wiederholte John abfällig, ohne auf die Frage ein-

zugehen. „Das erklärt alles!“

„Was meinen Sie damit?“, wunderte sich Edmund.
„Ich rede von Ihrer unhöflichen Neugier in Bezug auf mich

und meine Gattin“, antwortete John schroff. „Nun ja, von jeman-
dem, der aus den Kolonien kommt, kann man wohl keine besser-
en Manieren erwarten.“ Abfällig die Lippen verziehend, wandte
er sich ab, um zur Kutsche zurückzukehren.

„Einen Augenblick, Sir!“, äußerte Edmund wütend. „Noch

haben Sie mir nicht gesagt, wer Sie sind.“

John drehte sich halb zu Mr. Willoughby um und erwiderte

hochnäsig: „Mr. Barnaby wird Ihnen verraten, wen Sie vor sich
haben.“

„Sie haben die Ehre mit dem Marquess of Coverdale, Mr. Wil-

loughby, dem bedeutendsten Landbesitzer der ganzen Gegend“,
sagte der Wirt in ehrfürchtigem Ton. „Ich hoffe, Ihnen ist klar,
wie ungehörig Sie sich Seiner Lordschaft gegenüber benommen
haben. Im Übrigen wäre ich Ihnen sehr verbunden, Sir, wenn Sie
nun Ihre Reise fortsetzten.“

Nach einem letzten zornigen Blick auf die beiden Männer

begab Edmund sich zu seiner Berline, wies den Kutscher zur
Weiterfahrt an und stieg in die Chaise.

John und der Wirt schauten der davonrollenden Kutsche ein-

en Moment lang hinterher. „So, jetzt werde ich mich schleunigst
auf den Weg machen“, äußerte John, „ehe Mr. Willoughby
merkt, dass Sie ihn auf eine falsche Fährte geschickt haben.
Vielen Dank für Ihre Geistesgegenwart.“

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„Gern geschehen, Mylord“, erwiderte Mr. Barnaby lächelnd.

„Ich wünsche Ihnen und Ihrer Gattin alles Gute. Ich hatte keine
Ahnung, dass Sie sich in der Zwischenzeit vermählt haben.“

„Nein, ich bin nicht verheiratet“, klärte John den Krüger auf.

„Das habe ich nur behauptet, um Mr. Willoughby in die Irre zu
führen. Die Dame ist lediglich eine gute Bekannte. Ich möchte
Sie bitten, mir einen Gefallen zu tun. Sollte Mr. Willoughby sich
erneut hier einfinden und seine Pferde wechseln wollen, dann
wäre es mir lieb, wenn Sie vorgäben, keine frischen im Stall zu
haben.“

„Selbstverständlich, Mylord“, ging der Wirt sofort auf das

Ansinnen ein. „Und falls es sich doch nicht vermeiden lassen
sollte, werde ich ihm die müdesten Klepper geben, die ich dann
zur Verfügung habe. Gute Reise, Sir! Ich bin sicher, alle in Mar-
rick Castle werden sich freuen, Sie wiederzusehen.“

„Dessen bin ich mir keinesfalls sicher“, entgegnete John au-

flachend, schüttelte den Kopf und verabschiedete sich vom Wirt.

Nach ungefähr drei Meilen traf man in Richmond ein, wo im

Gasthaus „Zur Amsel“ das Gespann gegen die aus Marrick Castle
eingetroffenen ausgeruhten Pferde gewechselt wurde. Caroline
war überrascht, wie herzlich Colonel Ancroft, der sich zu ihrer
größten Verblüffung plötzlich als der Marquess of Coverdale
herausgestellt hatte, von den Leuten begrüßt wurde.

Auf dem Weg in die Herberge äußerte er: „Als ich vor neun

Jahren zum letzten Mal in der Gegend war, ließ sich nicht viel
Gutes über den Straßenzustand sagen. Und wie ich festgestellt
habe, hat sich daran leider nicht viel geändert, und nach den let-
zten starken Regenfällen dürfte High Hutton schwer zu er-
reichen sein. Daher habe ich beschlossen, Sie die Nacht in Mar-
rick Castle verbringen zu lassen und den Verwalter anzuweisen,
Zimmer für Sie herzurichten. Auf dem Anwesen sind Sie

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vollkommen sicher, Madam, denn es ist festungsartig
ausgebaut.“

„Danke“, erwiderte Caroline und war froh über seine Umsicht,

auch wenn er sie vor seiner Entscheidung nicht zu Rate gezogen
hatte. Aber er kannte die hiesigen Gegebenheiten, und so verließ
sie sich auf sein gesundes Urteilsvermögen.

„Ich hatte jedoch gehofft, Sir“, fuhr sie verschmitzt lächelnd

fort, „dass Sie mit mir nach Gretna Green fahren und Ihre Be-
hauptung, wir seien verheiratet, wahr machen würden.“

„Ich kenne Ihren Standpunkt in Bezug auf die Ehe, Madam“,

versetzte John trocken, „und da er sich mit meinem deckt, sehe
ich

keinen

Anlass,

meiner

bisherigen

Einstellung

zuwiderzuhandeln.“

„Schade!“, meinte sie schmunzelnd. „Sie sind gewiss eine

vorzügliche Partie, Sir. Ich habe nämlich mit dem größten Er-
staunen vernommen, dass ich mit dem Marquess of Coverdale
reise und nicht nur einem Colonel der Armee Seiner Majestät.“

„Ich habe den Titel erst vor Kurzem geerbt“, erläuterte John

leichthin, „genauer gesagt, im April, nach dem Tod meines
Onkels. Und in diesem Zusammenhang muss ich Ihnen
gestehen, dass ich keineswegs sicher bin, in Marrick Castle mit
offenen Armen empfangen zu werden.“

„Nein?“, wunderte sich Caroline. „Ich habe mittlerweile den

Eindruck gewonnen, dass jedermann sich freut, Sie wiederzuse-
hen. Mehr noch, Sie werden offensichtlich von ihnen nicht nur
anerkannt, sondern auch als Mensch sehr geschätzt.“

„Der Schein trügt nicht“, erwiderte John lächelnd. „Ich habe

mir den Respekt und die Zuneigung der Ortsansässigen wohl
schon als Kind verdient, weil ich hier aufgewachsen bin. Und
wenn sie jemanden mögen, dann bewahren sie ihm ein Leben
lang die Treue. In Marrick Castle kann ich jedoch eine ganz an-
ders geartete Stimmung vorfinden“, setzte er zögernd hinzu.

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„Würde es Ihnen etwas ausmachen, Madam, den letzten Rest des
Wegs zu reiten? Ich möchte die Gelegenheit gern nutzen, um
über einige wichtige Dinge mit Ihnen zu reden. Es ist nicht mehr
weit bis zu unserem Ziel, und außerdem haben wir schönes
Wetter.“

„Ich bin einverstanden“, willigte Caroline ein und betrat mit

Seiner Lordschaft die Herberge.

Nachdem man das Gasthaus „Zur Amsel“ verlassen und die
Stadt hinter sich hatte, trieb John das Pferd zu raschem Trab an
und ritt mit Mrs. Duval weit vor der Kutsche her. Die Landschaft
wurde zunehmend hügeliger und wasserreicher, und in der
Ferne begrenzte eine Bergkette den Horizont. Schließlich bog
man von der Hauptstraße ab und auf einen holprigen, zu einer
Anhöhe führenden Fahrweg ein. Sobald man die Kuppe erreicht
hatte, gebot Seine Lordschaft Rast, saß ab und half Caroline zu
ihrer Erleichterung aus dem Sattel.

Er überließ die Pferde der Obhut seiner Bediensteten, reichte

Mrs. Duval den Arm und schlenderte mit ihr von der Kutsche
fort.

„Ist das Marrick Castle?“, erkundigte sie sich und deutete auf

die Festung, die in einiger Distanz auf einem Felsvorsprung
thronte.

„Ganz richtig“, bestätigte John.
Neugierig betrachtete sie die vom Licht der Nachmittagssonne

beschienene Burg. Die Anlage erstreckte sich auf einer an-
steigenden Berglehne. Um den größten Teil der Gebäude verlief
ein Wehrgang mit Brüstung, der an einer Seite von einem noch
höheren Mauerstück unterbrochen wurde. Darauf war auf Krag-
steinen ein langes, schmales Häuschen errichtet worden, dessen
Bedachung weit über die Langseiten reichte. „Sehr eindrucks-
voll“, meinte Caroline. „Das Bollwerk beherrscht das ganze Tal.“

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„So kann man es ausdrücken“, stimmte John zu. „Die Ancrofts

und die in High Hutton lebenden Ainderbys sind seit Jahrhun-
derten hier ansässig und waren, je nach der Entwicklung der
politischen Lage, mal Rivalen, mal Verbündete. Und gelegentlich
ist es zwischen den beiden Familien zu sehr persönlichen Ver-
bindungen gekommen. Da wir bald in Marrick Castle sein wer-
den, halte ich es für ratsam, Ihnen etwas zu erzählen, damit Sie
sich nicht über den Empfang wundern, der mir dort vielleicht
zuteil wird. Sie haben gesagt, Madam, die Einheimischen
würden sich freuen, mich wiederzusehen, und auf die einfachen
Leute trifft das zu, weil sie sich erhoffen, dass ihnen durch mich
nun bessere Zeiten bevorstehen. Vor seinem Tod hat mein Onkel
Douglas nämlich sehr zurückgezogen gelebt und sich wenig um
den Besitz und seine Pächter gekümmert. Wie ich bereits erwäh-
nt habe, bin ich hier groß geworden. Mein Onkel zog mich mit
meinem Vetter Philip wie einen zweiten Sohn auf. Unser gutes
Verhältnis zerbrach jedoch, weil mein Cousin einen Unfall hatte,
bei dem er und Gabriella Ainderby, meine Verlobte, ums Leben
kamen. Onkel Douglas lastete mir die Schuld an diesem Unglück
an, und in gewisser Hinsicht nicht grundlos. Damals in Buckden
habe ich Sie im Fieber für Gabriella gehalten, weil Sie ihr äußer-
lich so gleichen. Ich bin sicher, dass es in Marrick Castle noch
genügend ältere Leute gibt, die sie kannten und denen Ihre frap-
pierende Ähnlichkeit mit ihr auffallen wird. Da Sie ihr so
gleichen, ist mir der Gedanke gekommen, Ihr Großvater könne
eine heimliche intime Beziehung zu einer Ainderby gehabt
haben.“

„Dazu kann ich nichts sagen, weil er nie darüber gesprochen

hat“, warf Caroline ein.

„In diesem Zusammenhang muss ich etwas klarstellen“, fuhr

John ernst fort. „Meine verunglückte Verlobte ist nicht die Mut-
ter meiner im Februar nach dem Unglück geborenen Tochter

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Harriet, sondern meine Gattin Rose. Über meine Frau möchte
ich mich jetzt nicht weiter äußern, sondern nur sagen, dass sie
Philip früher sehr geliebt, mir später die Schuld an seinem Tod
gegeben und unsere Tochter im Glauben erzogen hat, ich sei für
den Unfall verantwortlich.“

„Wie bitte?“, fragte Caroline bestürzt.
„Nicht nur sie hat Harriet in dieser Hinsicht beeinflusst, son-

dern auch mein Onkel. Nach dem Begräbnis seines Sohnes ver-
wandelte seine Zuneigung sich in abgrundtiefen Hass, der ihn
bewog, mir zu schaden, wo immer es ihm möglich war. Er hat
Rose und Harriet mir ganz bewusst entfremdet, was in der Folge
dazu führte, dass meine Tochter mich verabscheut.“

„Ich bin erschüttert“, sagte Caroline ehrlich und schaute den

Marquess betroffen an.

Ihr unverkennbares Mitleid ging ihm nahe, doch da er sich

siebzehn Jahre lang gezwungen hatte, gegen Gefühle gefeit zu
sein, ließ er sich nicht anmerken, wie gerührt er war. „Ich weiß
Ihre Anteilnahme zu schätzen, Madam“, erwiderte er steif. „Aber
meine Beziehung zu Harriet ist nicht so innig, wie Sie vermutlich
annehmen. Meine Tochter war erst sieben Jahre alt, als ich sie
zum letzten Mal gesehen habe. Nach dem Tod meiner Gemahlin
hat Mr. Fennybright, mit dem ich sehr gut befreundet bin, dafür
gesorgt, dass Harriet eine gebildete und kultivierte Erzieherin
bekam. Von ihm und Mrs. Abbington weiß ich auch, dass meine
Tochter sich zu einer vernünftigen jungen Dame entwickelt hat.
Ich habe Ihnen das alles nur erzählt, damit Sie vor der Ankunft
in Marrick Castle in groben Zügen über einen Teil meiner Ver-
gangenheit informiert und nicht überrascht sind, wenn man mir
dort mit Distanz, wahrscheinlich sogar mit Feindseligkeit
begegnet. Und nun sollten wir zur Berline zurückkehren“, fügte
er hinzu, reichte Mrs. Duval den Arm und begleitete sie zur

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Kutsche. Er half ihr beim Einsteigen, schloss den Wagenschlag
und schwang sich in den Sattel.

Auf dem Weg zur Burg fragte er sich unvermittelt, ob es klug

gewesen war, Mrs. Duval so viele Einzelheiten aus seinem Leben
zu berichten, hielt sich indes vor, dass sie die gespannte Atmo-
sphäre in Marrick Castle sicher bald bemerkt hätte. Insofern war
es besser gewesen, ihr einige Fakten zu nennen, statt sie Mut-
maßungen über den Grund für Harriets Verhalten ihm ge-
genüber anstellen zu lassen. Zudem war es eigenartig er-
leichternd gewesen, sich ihr zu eröffnen, weil er wusste, dass sie
das in sie gesetzte Vertrauen nicht missbrauchen würde.

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11. KAPITEL

Der Zugang zur Burg war nur über die breite, über den längst
zugeschütteten Wassergraben verlaufende Zufahrt und durch
das wuchtige Haupttor möglich. Kaum waren John und die Ber-
line auf dem Innenhof eingetroffen, schien die Meldung von
seiner Ankunft sich wie ein Lauffeuer durch alle Gebäude zu ver-
breiten. Domestiken strömten zu seinem Empfang herbei, nah-
men ehrerbietig Aufstellung und warteten darauf, ihn begrüßen
zu dürfen.

Er saß ab, nahm mit einem Blick zur Kenntnis, dass ein Lakai

den Frauen den Wagenschlag öffnete und den Tritt herunter-
klappte, und ging dann auf den betagten Verwalter zu. „Wie geht
es Ihnen, Mr. Beckford?“, erkundigte er sich und schüttelte ihm
leutselig die Hand.

„Sehr gut, Mylord, danke der Nachfrage“, antwortete der

ältere Mann lächelnd. „Das ist heute ein großer Tag für uns!“ Er
schaute zu der Berline hinüber und riss erstaunt die Augen auf.

John wartete, bis Mrs. Duval sich zu ihm gesellt hatte, und

stellte ihr dann seinen Verwalter vor. „Und das ist Mrs. Duval,
Mr. Beckford“, setzte er hinzu. „Ich hoffe, meine Anweisungen
bezüglich der herzurichtenden Räumlichkeiten wurden befolgt.“

„Selbstverständlich, Mylord“,bestätigte Mr. Beckford und ver-

beugte sich leicht.

„Gut!“, erwiderte John zufrieden. „Wenn ich bitten darf?“,

wandte er sich dann an Mrs. Duval, reichte ihr den Arm und
geleitete sie, während er freundlich den Dienstboten zunickte, in
den alten Palas. „Verzeihen Sie, wenn ich vorausgehe“, sagte er
entschuldigend, „aber die Stiege ist zu eng.“

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Caroline ließ ihm den Vortritt, folgte ihm in die erste Etage

und sah auch im Gewölbe Bedienstete, die ihm die Ehre er-
wiesen und sie dann neugierig anstarrten. Aus manchen
Gesichtern sprach große Überraschung, die, wie Caroline ver-
mutete, auf die bemerkenswerte Ähnlichkeit zwischen ihr und
der verstorbenen Verlobten des Hausherrn zurückzuführen war.
Wahrscheinlich überlegte das Personal auch, in welcher Bez-
iehung sie zu Lord Coverdale stand. Die Leute würden bald er-
fahren, dass sie nur kurze Zeit zu Besuch war.

Vor dem Durchgang in den Rittersaal standen eine junge

Dame und eine ältere Frau, bei denen es sich wohl um Lady Har-
riet und deren Erzieherin handelte. Als das Mädchen ihrer
ansichtig wurde, drehte es sich um und lief sichtlich verschreckt
in die Halle. Die ältere Frau wirkte einen Moment lang irritiert
und schien zu überlegen, ob sie ihrem Schützling folgen solle.

Dann straffte sie sich und sagte höflich: „Willkommen in Mar-

rick Castle, Mylord. Ich bin Mrs. Abbington, Lady Harriets
Gouvernante.“

„Guten Tag“, erwiderte John in zuvorkommendem Ton und

machte sie dann offiziell mit Mrs. Duval bekannt. „Mrs. Abbing-
ton ist seit Jahren für die Erziehung meiner Tochter verantwort-
lich und hat diese Aufgabe, wie ich hörte, sehr gut bewältigt.“

„Ich bitte um Entschuldigung für Lady Harriets Benehmen“,

murmelte die Gouvernante betreten. „Wenn Sie erlauben, hole
ich sie her.“

„Das ist nicht nötig“, entgegnete John leichthin. „Ich werde

später mit ihr reden. Wenn Sie jetzt die Güte hätten, Mrs. Duval
zu den für sie vorbereiteten Räumlichkeiten zu führen, damit sie
sich von der anstrengenden Reise erholen kann.“

„Wie Sie befehlen, Mylord“, erwiderte Mrs. Abbington beflis-

sen. „Darf ich bitten, Mrs. Duval?“

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Caroline schloss sich der Gouvernante an, die ihr durch das

Gewölbe und einen langen Korridor voranging und sie zu einem
auf der Rückseite der Burg gelegenen Raum brachte.

Sie öffnete die Tür, trat beiseite und sagte erklärend: „Wir

haben das blaue Appartement für Sie herrichten lassen, Madam.
Ich hoffe, es entspricht Ihren Vorstellungen. Von hier aus haben
Sie einen wundervollen Blick auf den Garten.“

„Danke, Mrs. Abbington“, erwiderte Caroline höflich, betrat

das Zimmer und fand es entzückend. Neugierig schritt sie zum
Fenster, schaute hinaus und war von der Aussicht überwältigt.
Am Rand des Gartens war ein Wildwasser zu sehen, ein breiter
Bach, der sich in den in der Ferne sichtbaren Fluss ergoss.
Linker Hand ragten hinter einem Einschnitt Felsen auf, von den-
en kleine Rinnsale in die Tiefe plätscherten. Und am Horizont
erstreckten sich ins rötliche Licht der Abendsonne getauchte
Berge. „Welch ein mitreißender Anblick!“, äußerte Caroline
beeindruckt. „So etwas Bezauberndes habe ich auf Jamaika nie
gesehen.“

„Jamaika?“, wiederholte Mrs. Abbington überrascht. „Wenn

Sie von dort kommen, haben Sie eine sehr lange Reise hinter
sich.“

„Ja“, bestätigte Caroline und stellte den Lederbehälter, der

den Ainderby-Kelch enthielt, auf den neben ihr stehenden Tisch.
„Würden Sie bitte Mrs. Lansing, meine Zofe, zu mir schicken,
Mrs. Abbington?“, bat sie.

„Selbstverständlich, Madam“, versicherte die Gouvernante.

„Abends dinieren wir um sechs Uhr, falls Seine Lordschaft das
jetzt nicht ändern lässt.“

„Gut, ich werde es mir merken“, erwiderte Caroline, wandte

sich ab und dachte daran, dass hinter der Hügelkette High Hut-
ton lag und sie ihre Aufgabe bald erfüllt haben würde.

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Kurz vor dem Dinner läutete Caroline und erkundigte sich bei
dem ein Weilchen später erscheinenden Butler nach dem Weg
zum Speisezimmer. Beflissen erbot der Bedienstete sich, sie hin-
zuführen, und brachte sie in den Salon.

Kaum hatte sie den Raum betreten, wurde sie sich bewusst,

dass eine angespannte Atmosphäre herrschte. Lady Harriet
stand mit verstockter Miene vor ihrem Vater, und Mrs. Abbing-
ton war sichtlich verärgert.

„Bitte, führen Sie sich nicht so störrisch auf, Lady Harriet“,

sagte die Gouvernante mahnend. „Was soll Ihr Vater von Ihnen
denken?“

Zögernd ging das Mädchen zu ihm, reichte ihm flüchtig die

Hand und äußerte hölzern: „Guten Abend, Vater.“

Ihr Haar war so schwarz wie seins, und da sie auch dieselbe

Augenfarbe hatte, glich sie ihm sehr, wie Caroline fand.

„Besinn dich deiner Manieren, und begrüß unseren Gast“, er-

widerte John steif und stellte sie vor: „Meine Tochter Harriet,
und das ist Mrs. Duval, die morgen nach High Hutton
weiterreist.“

„Ihr Vater hat mir schon viel von Ihnen erzählt, Lady Harriet“,

sagte Caroline höflich. „Und da er sehr stolz auf Sie ist, freut es
mich, Sie endlich kennenzulernen.“

„Er ist stolz auf mich?“, wunderte sich das Mädchen. „Er hat

mich doch neun Jahre lang nicht gesehen.“

„Er wurde jedoch, wie er mir anvertraute, stets über Ihre

Entwicklung auf dem Laufenden gehalten“, äußerte Caroline
lächelnd. „Ich nehme an, Mr. Fennybright ist Ihnen kein
Unbekannter.“

„Nein“, bestätigte Harriet. „Entschuldigen Sie meine Neugier,

Mrs. Duval, aber von Mrs. Abbington habe ich gehört, dass Sie
aus Jamaika hergekommen sind. Würden Sie mir beim Essen
mehr über Ihren Wohnort berichten?“

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„Gern“, antwortete Caroline erfreut.
„An Ihrer Stelle, Madam, würde ich morgen nicht weiter-

fahren“, riet die junge Dame ihr dann. „Erstens führt der Alne
Hochwasser, und zweitens sind die Ainderbys zurzeit bei Ver-
wandten in Kirkby Stephen, wo sie angeblich bis Ende August
bleiben wollen.“

Das war eine höchst unangenehme Neuigkeit, da Caroline

nicht damit gerechnet hatte, in High Hutton niemanden von der
Familie anzutreffen.

„Verzeihung, Mylord, wenn ich mich einschalte. Mr. Ainderby

besucht seinen jüngeren Bruder Paul, mit dem er seit Jahren im
Streit liegt“, erläuterte Mrs. Abbington. „Zweck des Besuchs soll
sein, sich miteinander zu versöhnen.“

„Du meine Güte!“, murmelte Caroline betroffen.
„Das bedeutet, dass ich einen Monat warten muss, ehe ich den

Gentleman aufsuchen kann.“

„In der Tat“, stimmte John ihr zu. „Nun, auf diese Weise wer-

den wir Ihre Gesellschaft länger als vorgesehen genießen
können. Beunruhigen Sie sich nicht, Madam“, fügte er bedeut-
sam hinzu. „Marrick Castle ist ein sicherer Ort. Da meine
Tochter sich sehr für die Geschichte der Burg interessiert hat,
kann sie ihnen bestimmt viel Wissenswertes erzählen.“

„Wie willst du beurteilen, was mich interessiert?“, fragte Har-

riet schnippisch.

„Lady Harriet!“, sagte die Gouvernante vorwurfsvoll.
„Du hast soeben gehört, dass ich ständig über dich informiert

wurde“, erwiderte John geduldig.

„Hm!“, äußerte das Mädchen abfällig und wandte sich wieder

der Besucherin zu. „Wenn Sie möchten, Mrs. Duval, zeige ich
Ihnen morgen die Anlage“, schlug es vor.

„Es wäre mir ein Vergnügen“, sagte Caroline lächelnd.

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„Darf ich jetzt zu Tisch bitten?“, schaltete John sich erneut

ein, reichte Mrs. Duval den Arm und ging, gefolgt von seiner
Stieftochter und deren Gouvernante, mit ihr ins Speisezimmer.

Caroline stellte fest, dass die Beschreibung, die der Marquess of
Coverdale von seiner Tochter gegeben hatte, weitestgehend der
Wahrheit entsprach. Lady Harriet war aufgeweckt, vernünftig
und wohlerzogen. Hin und wieder wirkte sie jedoch gehemmt,
besonders in Gegenwart ihres Vaters. Bei dem Rundgang, den
sie mit Caroline unternahm, bewies sie indes, dass sie Tempera-
ment hatte und begeisterungsfähig war. Sichtlich animiert gab
sie Anekdoten aus der Geschichte von Marrick Castle zum
Besten, schilderte en detail grausliche Begebenheiten und
erzählte kichernd von amourösen Beziehungen, die ihr zu Ohren
gekommen waren.

Als sie sich schließlich nach dem Leben auf Jamaika erkun-

digte, beantwortete Caroline geduldig alle Fragen, dankte ihr
schließlich für den höchst informativen Vormittag und zog sich
in ihr Appartement zurück.

Nach dem Mittagsmahl wurde ihr gemeldet, ihr Diener wün-

sche sie zu sprechen. Sie ließ ihn zu sich in den Salon kommen
und erkundigte sich, was er auf dem Herzen habe.

„Ich wäre Ihnen dankbar, Madam, wenn Sie mich eine Weile

vom Dienst suspendieren könnten“, antwortete Joseph höflich.
„Da meine Geschwister in der Nähe wohnen, die ich seit über
vierzig Jahren nicht mehr gesehen habe, möchte ich gern zu
ihnen fahren. Und um Ihr Wohlergehen mache ich mir keine
Sorgen, weil Sie hier in Sicherheit sind.“

„Ich wusste nicht, Joseph, dass Sie aus dieser Gegend stam-

men“, erwiderte sie überrascht.

„Ja, ich bin hier aufgewachsen“, gab er zu. „Als junger Mann

bin ich dann, weil mein Onkel Benjamin, der mit Ihrem

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Großvater nach Jamaika gesegelt war, mich zu sich gerufen
hatte, nach Kingston gefahren, um ihn zu unterstützen.“

„Natürlich bin ich einverstanden, dass Sie Ihre Angehörigen

besuchen“, willigte Caroline ein. „Wie lange wollen Sie
fortbleiben?“

„Das kann ich im Moment noch nicht beurteilen“, antwortete

Joseph ehrlich. „Lassen Sie mich bitte benachrichtigen, wenn Sie
mich benötigen. Dann komme ich umgehend zurück.“

„Gut“, stimmte Caroline zu. „Was ist Ihnen über High Hutton

bekannt?“

„Nicht sehr viel, Madam“, sagte er ausweichend. „Sie müssen

sich einen eigenen Eindruck verschaffen. Ihr Großvater hat es so
gewünscht.“

Caroline runzelte die Stirn. „In Ordnung. Ich weiß aus Er-

fahrung, dass es müßig ist, Sie zu bedrängen, wenn Sie nicht re-
den wollen. Gute Reise!“

„Danke, Madam“, erwiderte Joseph erleichtert, verbeugte sich

und verließ das Zimmer.

Caroline läutete ihrer Zofe und fragte, sobald sie bei ihr war:

„Wussten Sie, Maggie, dass Joseph aus dieser Gegend stammt?“

„Nein, Madam“, antwortete Margaret überrascht. „Er hat nie

über seine Herkunft und seine familiären Verhältnisse
gesprochen.“

„Mir ist unerklärlich, warum er das verschwiegen hat“, meinte

Caroline nachdenklich. „Ein weiteres Rätsel in dieser ohnehin
schon reichlich geheimnisvollen Angelegenheit. Glauben Sie mir,
Maggie, ich werde aufatmen, wenn ich den letzten Wunsch
meines Großvaters erfüllt habe.“

„Das kann ich gut verstehen“, erwiderte Margaret. „Fassen Sie

sich in Geduld, und kosten Sie den Aufenthalt hier aus. Wenn ich
mich nicht täusche, kommen Sie inzwischen sehr viel besser mit
Seiner Lordschaft aus als zu Beginn.“

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„Ja“, bestätigte Caroline ernst. „Ich glaube sagen zu dürfen,

dass wir mittlerweile ein freundschaftliches Verhältnis zuein-
ander haben, aber auch nicht mehr, wie ich betonen möchte!“

„Wie schade!“, murmelte Margaret enttäuscht.

„Wie stellen Sie sich Ihr Leben in fortgeschrittenem Alter vor?“

„Nun, vielleicht habe ich bis dahin einen gut aussehenden,

vierzig Jahre jüngeren und mittellosen Dichter kennengelernt,
den ich aushalte“, antwortete Caroline schmunzelnd.

„So etwas sollten Sie nicht sagen, Madam!“, entgegnete Mar-

garet schockiert.

„Wenn Sie mir eine so dumme Frage stellen, Maggie, müssen

Sie sich nicht darüber wundern, dass ich Ihnen eine nicht ernst
zu nehmende Antwort gebe“, sagte Caroline erheitert.

Caroline war froh, dass sie vorläufig nicht auf den Ainderby-
Kelch aufpassen musste, da sie den Rat Seiner Lordschaft, den
Lederbehälter in einer fensterlosen und durch eine massive
Eichentür gesicherten Kammer unterzubringen, befolgt hatte. So
war sie der Sorge ledig, das Kleinod könne ihr von ihrem Cousin
oder einem seiner Helfershelfer gestohlen werden, und konnte,
ohne Gewissensbisse haben zu müssen, mit Lady Harriet im
Garten lustwandeln oder ausreiten. Da Mrs. Abbington die Hitze
sehr zu schaffen machte, hatte sie nichts dagegen, dass Caroline
und Lady Harriet sich ohne sie draußen aufhielten.

Nach einigen gemeinsam unternommenen Spaziergängen

hatte Caroline den Eindruck, dass die Situation zwischen Lady
Harriet und ihrem Vater sich längst nicht so aussichtslos
darstellte, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte.

Eines Tages wurde sie von der jungen Dame gebeten, sie bei

einem Ausflug zum Fluss zu begleiten. Sie schloss sich ihr gern
an, äußerte indes Bedenken, sich derart weit von der Burg zu
entfernen.

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„Ach, so weit ist es nicht“, entgegnete Harriet. „Ich war oft

dort.“

„Es ist bedauerlich“, sagte Caroline, während sie mit ihr das

Gelände von Marrick Castle verließ, „dass Ihr Vater nach Rich-
mond reisen musste. Es würde ihm gewiss nicht schaden, gele-
gentlich etwas auszuspannen. Gestern Abend ist mir nach seiner
Rückkehr aus Catterick aufgefallen, dass er stark hinkte. Ich
finde, er überanstrengt sich.“

„Nun ja, als Marquess hat er viele Verpflichtungen

wahrzunehmen.“

„Sie wissen, dass er schwer verwundet war?“
„Nein, das höre ich zum ersten Mal“, log Harriet. „Aber er ist

nicht der Einzige, der im Krieg verletzt wurde. So ist es vielen
Soldaten ergangen.“

„Zum Glück ist er nicht gefallen“, erwiderte Caroline ernst.

„Sind Sie nicht besorgt, dass er sich überarbeitet?“

„Nein, denn schließlich hat er es immer darauf angelegt, Mar-

rick Castle zu bekommen“, antwortete Harriet gleichgültig. „Er
hat sogar den Tod seines Cousins, des einzigen Sohnes meines
Großonkels, verschuldet, nur um an den Besitz zu gelangen.
Philip ist bei einem Unfall mit seiner Kutsche ums Leben
gekommen.“

„Von wem haben Sie das erfahren?“, fragte Caroline mit ge-

heucheltem Erstaunen.

„Von meiner Mutter und meinem Großonkel. Beide haben mir

berichtet, dass mein Vater das Unglück absichtlich herbeigeführt
hat, bei dem auch Miss Ainderby gestorben ist. Sie meinten, er
sei ein Schuft. Über den genauen Hergang weiß ich nicht Bes-
cheid, weil mein Großonkel sich nicht dazu geäußert hat. Warum
interessiert Sie das so?“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Vater so etwas getan

haben soll“, antwortete Caroline ehrlich. „Im Übrigen frage ich

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mich, wieso Sie sich derart von Ihren Verwandten gegen ihn
haben beeinflussen lassen und offenbar nicht den Versuch un-
ternehmen wollen, mit ihm über die Sache zu reden. Sie sind
kein Kind mehr, Lady Harriet, und längst imstande, sich eine ei-
gene Meinung zu bilden.“

„Ich verlasse mich auf das, was meine Mutter und mein

Großonkel mir erzählt haben, da ich keinen Anlass habe, an
ihren Worten zu zweifeln“, entgegnete Harriet kühl. „Ehrlich
gesagt, verabscheue ich meinen Vater.“

„Wie können Sie sich zu einer solchen Bemerkung hinreißen

lassen?“, fragte Caroline erschüttert. „Ich finde ihn sympathisch
und respektiere ihn. In meinen Augen ist er ein ehrenwerter
Mann. Soweit ich weiß, hat er im Krieg viele Auszeichnungen
erhalten.“

„Das ist mir nichts Neues“, erwiderte Harriet gleichmütig.

„Meine Erzieherin hat mir die in den Zeitungen über ihn er-
schienenen Artikel zu lesen gegeben. Er scheint sehr tapfer
gewesen zu sein. Doch das ändert nichts daran, dass ich nichts
für ihn übrighabe. Ich finde es ziemlich seltsam, dass Sie derart
für ihn eintreten.“

„Auf mich macht er den Eindruck, dass ihm viel daran gelegen

ist, ein besseres Verhältnis zu Ihnen zu bekommen.“

„Wenn dem so ist, wüsste ich gern, warum er so lange nicht

hier war, nicht einmal zum Begräbnis meiner Mutter“, äußerte
Harriet abfällig. „Er hat sich nie um mich gekümmert und meine
Erziehung Mrs. Abbington überlassen. Bitte, können wir das
Thema wechseln?“

„Wie Sie wünschen, Lady Harriet“, gab Caroline nach und be-

griff, dass die junge Dame nicht nur voreingenommen war, son-
dern darüber hinaus auch ihrem Vater verargte, so lange von
ihm vernachlässigt worden zu sein.

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12. KAPITEL

Am Tag nach dem Spaziergang zum Alne schlenderten Lady
Harriet und Caroline bei herrlichem Wetter durch den Garten.
Man plauderte über Belanglosigkeiten, und Caroline fiel auf,
dass die junge Dame in Gedanken nicht bei der Sache war.

„Ich habe über unser gestriges Gespräch nachgedacht“,

äußerte Harriet übergangslos, „und deshalb Mr. Beckford über
die Umstände des Kutschenunfalls befragt. Zunächst wollte er
nicht mit der Sprache heraus, weil er, wie alle Angestellten, An-
weisung hatte, nicht über die Sache zu reden. Erst auf mein in-
ständiges Drängen hin hat er mir Einzelheiten erzählt und
gesagt, er wisse, dass es vor dem Ausflug mit der Karriole zwis-
chen meinem Vater und meinem Großcousin zu einem heftigen
Streit über Miss Ainderby, Papas damaliger Verlobten, gekom-
men ist, von der alle Dienstboten behaupten, sie habe Ihnen fast
zum Verwechseln ähnlich gesehen. Daher scheint man zu
glauben, dass mein Vater in Sie verliebt ist.“

„In mich?“, warf Caroline auflachend ein. „Das ist ein Irrtum!

Er hat freundlicherweise eingewilligt, mich nach High Hutton zu
begleiten, wo ich auf Wunsch meines Großvaters etwas abgeben
möchte. Wenn mein Auftrag erledigt ist, werde ich mich bei Ihr-
em Vater für seine Unterstützung bedanken und über London
nach Kingston zurückreisen.“

„Schade“, murmelte Harriet.
„Wie soll ich das verstehen?“, fragte Caroline erstaunt. „Kom-

men Sie nicht auf dumme Gedanken, Lady Harriet! Ich habe
nicht die Absicht, noch einmal zu heiraten, auch nicht Ihren
Vater. Ganz abgesehen davon ist er nicht an mir interessiert.

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Also schlagen Sie sich die Idee aus dem Sinn, ich könnte Ihre
Stiefmutter werden. Was hat der Verwalter Ihnen über den Un-
fall berichtet?“

„Als mein Großcousin in die Karriole gestiegen ist, soll er

meinem Vater etwas zugerufen haben, das Mr. Beckford nicht
verstanden hat. Mein Vater hat erwidert, Philip solle sich zum
Teufel scheren und Miss Ainderby in Ruhe lassen! Er hat ihm
verboten, sie zu dem Ausflug mitzunehmen. Sein Vetter hat je-
doch nicht auf ihn gehört und Miss Ainderby eingeladen, ihn zu
begleiten. Sie hat sich dann neben ihn gesetzt und ist mit ihm
aufgebrochen. Er hat die Pferde derart wütend angetrieben, dass
er viel zu schnell den Berg hinunterfuhr und in der ersten
Wegkrümmung die Kontrolle über sie verlor. So ist es zu dem
fatalen Unglück gekommen.“

„Wie kann man dann behaupten, Ihr Vater sei daran schuld?“
„Ich bezweifle, dass mein Großonkel und meine Mutter mich

belogen haben.“

Caroline blieb stehen, hielt Lady Harriet am Arm fest und er-

widerte eindringlich: „Meiner Meinung nach hat der vormalige
Marquess sich eingeredet, sein Neffe trage die Verantwortung
für die Katastrophe, weil er das glauben wollte. Wenn ein
geliebter Mensch stirbt, noch dazu in sehr jungen Jahren, ver-
sucht man immer, jemandem oder irgendetwas die Schuld dafür
anzulasten. Das ist verständlich, wenngleich unsinnig. Was die
Motive Ihrer Mutter betrifft, Sie gegen Ihren Vater einzuneh-
men, so kann ich mich nicht dazu äußern“, setzte Caroline hinzu,
weil sie Lady Harriet nicht anvertrauen wollte, was sie von der
Gouvernante erfahren hatte – dass nämlich Mrs. Ancroft in den
Earl of Grinling verliebt gewesen war. „Ihren Vater habe ich in-
zwischen jedoch gut genug kennengelernt, um aus voller
Überzeugung sagen zu können, dass ich ihn für schuldlos halte.

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Außerdem dürfen Sie nicht außer Acht lassen, dass auch er bei
dem Unglück die von ihm geliebte Miss Ainderby verloren hat.“

„Ich weiß nicht, was ich denken soll“, sagte das Mädchen

bedrückt.

„Sprechen Sie mit Ihrem Vater über die Sache, Lady Harriet“,

riet Caroline ihr.

„Nein, das möchte ich nicht.“
„Warum nicht? Sie müssen sich mit ihm auseinandersetzen!“
„Ich werde es mir überlegen“, erwiderte Harriet ausweichend.

Nachdem der Hausherr die Tafel aufgehoben hatte und aufgest-
anden war, beobachtete Caroline, dass Lady Harriet zu ihrem
Vater ging und kurz mit ihm sprach. Sichtlich überrascht nickte
er und verließ mit ihr den Raum. Da Mrs. Abbington keine Nei-
gung

zu

einem

Abendspaziergang

im

Garten

zeigte,

entschuldigte Caroline sich und begab sich ohne Begleitung ins
Freie. Sie zog die Bayadère enger um die Schultern, während sie
durch die umfriedete Anlage ging, genoss den noch in der Luft
hängenden Duft der Blumen und setzte sich schließlich auf eine
Marmorbank.

Wenn der Schein nicht trog, hatte Lady Harriet beschlossen,

den ihr gegebenen Rat zu beherzigen und mit ihrem Vater über
den Hergang des Unfalls zu sprechen. Vielleicht ließ das den
Schluss zu, dass die Feindseligkeit zwischen beiden nunmehr ein
Ende hatte. Jedenfalls hoffte Caroline das, da sie Lord Coverdale
und dessen Tochter mochte und ihnen ein ungetrübtes Verhält-
nis zueinander wünschte.

Eigenartigerweise fühlte sie sich niedergeschlagen und fragte

sich, woran das liegen mochte. Sie dachte an die schreckliche, in
New Orleans verbrachte Zeit und hielt sich vor, dass sie sich
damals aufgrund der Doppelzüngigkeit und Grausamkeit ihres
Mannes geschworen hatte, nie Schwäche zu zeigen. Nach seinem

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Tod hatte sie große Erleichterung empfunden und war, körper-
lich und seelisch verletzt, zum Großvater zurückgekehrt, von
dem sie zum Glück mit offenen Armen aufgenommen worden
war. Er hatte ihr nie Vorwürfe gemacht, sodass sie dank seiner
Zuneigung und Herzenswärme bald fähig gewesen war, die
schlechten Erinnerungen zu verdrängen.

Ungeachtet der über sie verbreiteten abträglichen Gerüchte

hatte sie sich nicht wieder mit einem Mann eingelassen,
wenngleich sie oft umworben worden war. Und bis zu dem Mo-
ment, da sie in Buckden mit Lord Coverdale in dessen Zimmer
gewesen war, hatte sie nie mehr Verlangen verspürt.

Unwillkürlich überlegte sie, wie ihre Zukunft sich gestalten

mochte, und stand etwas ratlos vor der Frage, ob sie zustimmen
solle, wenn Joseph sie bat, bei seinen Angehörigen bleiben zu
dürfen. Sie würde ihm den Wunsch gewähren müssen, da er
nicht mehr der Jüngste und im Kreis seiner Familie sicher am
besten aufgehoben war.

Seufzend schaute sie auf und sah den Marquess of Coverdale

sich ihr nähern. Rasch bemühte sie sich, die Fassung
wiederzufinden, und äußerte, sobald er bei ihr war: „Ich dachte,
Sie würden mit Ihrer Tochter sprechen.“

„Das habe ich getan“, erwiderte er ernst. „Unsere Unterhal-

tung war sehr aufschlussreich. Ich habe den Eindruck gewonnen,
dass Harriet mich nicht mehr so ablehnt wie früher.“

„Das freut mich zu hören“, sagte Caroline zufrieden.
„Ich glaube, diesen Sinneswandel habe ich Ihnen zu

verdanken.“

„Wie kommen Sie darauf? Meiner Ansicht nach war es nur

eine Frage der Zeit, bis Ihre Tochter Zugang zu Ihnen findet.“

„Noch haben wir nicht das Verhältnis zueinander, das ich mir

wünsche, aber zumindest sind ihr jetzt Zweifel an der

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Behauptung meines Onkels und meiner verstorbenen Gattin
gekommen, ich hätte Philips und Miss Ainderbys Tod
verschuldet.“

„Mir ist unerklärlich, Sir, warum Ihre Frau sich den Stand-

punkt Ihres Onkels zu Eigen gemacht hat“, warf Caroline ein.

„Sie war stets leicht zu beeinflussen“, erwiderte John etwas

verbittert.

„Aus Liebe zu Ihnen hätte sie doch für Sie Partei ergreifen

müssen.“

„Sie hat mich nie geliebt“, sagte John gefasst, „sondern Philip,

selbst noch zum Zeitpunkt unserer Hochzeit. Jetzt muss ich
Ihnen etwas anvertrauen, das selbst Harriet nicht weiß. Sie ist
die Tochter meines Cousins, und ich habe mich mit Rose nur aus
dem Bedürfnis vermählt, sie und ihr Kind nicht gesellschaftlich
geächtet zu sehen. Vielleicht hat mein Schuldgefühl mich dazu
bewogen. Harriet ist für mich jedoch wie ein eigenes Kind, und
es hat mir immer leidgetan, dass sie mich ablehnte. Warum
haben Sie ihr geraten, sich mit mir auszusprechen?“, fügte er
neugierig hinzu.

„Warum?“, wiederholte Caroline erstaunt. „Ich bin davon

überzeugt, dass sie sich nach Ihrer väterlichen Liebe sehnt, Sir.
Mrs. Abbington hat mir erzählt, dass Ihre Stieftochter in den let-
zten Jahren heimlich alle Zeitungsartikel gelesen und gesammelt
hat, in denen Sie erwähnt wurden. Das belegt doch, dass sie den
Wunsch hatte, mehr über Sie zu erfahren. Ich glaube, sie hat sich
von Ihnen vernachlässigt gefühlt, und wenn ich mich in ihre
Lage versetze, kann ich das gut verstehen.“

„Sie bringen Mitgefühl für sie auf?“, fragte John verwundert.

„Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet. Danke“, setzte er
lächelnd hinzu, neigte sich zu Mrs. Duval und drückte ihr einen
Kuss auf den Mund.

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Überrascht merkte sie, dass er zum zweiten Mal Regungen in

ihr auslöste, derer sie sich nicht mehr für fähig gehalten hatte.
Im Gegensatz zu der Situation im Gasthof von Buckden, wo sie
von ihm für Miss Ainderby gehalten worden war, wusste er nun
jedoch genau, wen er vor sich hatte. Die Erkenntnis, dass er sie
persönlich begehrte, war beglückend, und sie fühlte sich ver-
sucht, seine Zärtlichkeiten ebenso vorbehaltlos zu erwidern wie
damals in seiner Kammer.

Er straffte sich, schaute sie bewegt an und wiederholte:

„Danke, Madam. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie so um das
Wohlergehen meiner Stieftochter besorgt sind.“

So jäh in die Wirklichkeit zurückgebracht, brauchte Caroline

einen Moment, um sich zu sammeln. Sie atmete tief durch, wich
Lord Coverdales Blick aus und wandte verlegen das Gesicht ab.

„Was haben Sie?“, fragte er stirnrunzelnd.
Sie äußerte den ersten Gedanken, der ihr in den Sinn kam:

„Ich befürchte, ich werde meinen Diener verlieren. Er stammt
aus dieser Gegend und ist zurzeit bei seinen Angehörigen zu Be-
such. Natürlich kann ich ihm die Bitte nicht abschlagen, wenn er
bei ihnen bleiben möchte. Aber da er für mich eine Vertrauen-
sperson ist, werde ich ihn sehr vermissen.“

„Ich bezweifle, dass Ihre Ängste sich bewahrheiten werden“,

entgegnete John beschwichtigend. „Die Bellerbys sind dafür
bekannt, dass sie ständig miteinander im Streit liegen. Vermut-
lich wird Ihr Diener schon nach einer Woche feststellen, dass er
es bei seinen Verwandten nicht aushalten kann, und froh sein, zu
Ihnen zurückkommen zu können. Sollte ich mich wider Er-
warten irren, wird sich für das entstandene Problem gewiss sehr
schnell eine Lösung finden lassen.“

„Ihre Zuversicht erstaunt mich, Sir“, erwiderte Caroline ver-

dutzt. „Oder habe ich Ihre Bemerkung so zu verstehen, dass Sie
sich als Nachfolger für Joseph anbieten? Falls Sie mit diesem

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Gedanken spielen, muss ich Ihnen sagen, dass ich eine ziemlich
anspruchsvolle Dienstherrin bin.“

Mit einer derartigen Reaktion hatte John nicht gerechnet und

starrte Mrs. Duval perplex an.

Seine Verblüffung amüsierte sie. „Ich wünsche Ihnen eine

gute Nacht“, fuhr sie erheitert fort, erhob sich von der Bank und
kehrte rasch zum Palas zurück.

Irritiert blickte John hinter ihr her und staunte erneut

darüber, wie unberechenbar sie sein konnte. Eine Frau wie sie
hatte er bisher nicht gekannt, und unwillkürlich fragte er sich,
wie viele Männer von ihr schon betört worden sein mochten. Un-
erfahren war sie jedenfalls nicht. Das hatte ihr Verhalten in
Buckden bewiesen. Als leichtlebig konnte man sie jedoch nicht
bezeichnen, da sie nie den Versuch unternommen hatte, ihn zu
verführen. Ihr Benehmen war eine bemerkenswerte Mischung
aus Koketterie und Zurückhaltung, die er faszinierend fand. Und
offenbar war auch seine Stieftochter sehr von ihr angetan.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass es entschieden besser

sei, wenn Harriet eine Stiefmutter hätte, die sie mochte und der
sie vertraute, und nicht nur eine Gouvernante. Kaum war ihm
dieser Einfall gekommen, fragte er sich, wie er in Erwägung
ziehen könne, Mrs. Duval den Platz einzuräumen, den er einst
Gabriella zugedacht hatte. Äußerlich hatte sie zwar große Ähn-
lichkeit mit ihr, war im Wesen jedoch ganz anders. Ihre Courage,
ihr Humor, ihr Stolz und ihre Warmherzigkeit waren Vorzüge,
die sehr für sie sprachen.

Nicht gewillt, sich mit einem Problem zu befassen, das nicht

dringlicher Natur war, beschloss John, so lange abzuwarten, bis
Mrs. Duval ihren Auftrag in High Hutton erledigt hatte, und sich
erst dann mit der endgültigen Klärung dieser Angelegenheit zu
beschäftigen.

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Am Vormittag wurde John von seiner Stieftochter gebeten, Mrs.
Duval und sie zu einem Spaziergang zu begleiten. „Wenn es mir
möglich wäre, Harriet, würde ich mit dem größten Vergnügen
den ganzen Tag mit euch verbringen“, erwiderte er höflich, „aber
leider muss ich dringend geschäftlich nach Richmond. Was habt
ihr nachmittags vor?“

„Sollte Mrs. Duval einverstanden sein, werden wir wieder zum

Fluss gehen“, antwortete Harriet. „Ich möchte mir Farnblätter
zur Herstellung eines bestimmten Grüntons besorgen, den ich
zum Aquarellieren benötige.“

„Nun, was hältst du davon, wenn ich mich dann zu euch

geselle, vorausgesetzt, ich bin rechtzeitig aus der Stadt zurück?“

„Das wäre wunderbar“, antwortete Harriet begeistert.
„Gut, ich verspreche, mich zu beeilen“, erwiderte John und

verabschiedete sich sehr zufrieden von ihr. Es freute ihn, wie
sehr sie ihre Einstellung zu ihm geändert hatte.

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13. KAPITEL

Daniel Parker und sein Bruder William waren stets bereit,
Aufträge für jemanden zu erledigen, der sie akzeptabel
entlohnte. Mr. Willoughby hatte ihnen ein hohes Honorar ver-
sprochen, falls es ihnen gelang, den Aufenthaltsort seiner
Cousine herauszufinden und sie in ihre Gewalt zu bringen.

Nach vielen vergeblichen Bemühungen hatten sie schließlich

erfahren, dass die Dame sich in Marrick Castle aufhielt, und sie
dort drei Tage lang observiert. Gut im Gebüsch am Fluss verbor-
gen, hatten sie ihr aufgelauert und festgestellt, dass sie nachmit-
tags lediglich in Begleitung eines jungen Mädchen zum Wasser
kam, und vermutet, sie werde auch an diesem Tag wieder er-
scheinen. Entschlossen, ihrer habhaft zu werden, hatten sie beo-
bachtet, wie der Marquess of Coverdale das Gelände der Burg
verließ, sich unbemerkt zum Alne geschlichen und sich an einer
Stelle versteckt, von der aus sie die Umgebung gut im Auge be-
halten konnten.

Schon bald nahmen sie durch das Gestrüpp die hellen Kleider

der sich nähernden, angeregt plaudernden Frauen wahr. Die
Tochter des Hausherrn erzählte lebhaft über die Unterredung,
die sie am verflossenen Abend mit ihrem Vater gehabt hatte, und
erwähnte, wie sehr sie sich auf die Saison in London freue.

Sobald Mrs. Duval und ihre Begleiterin nur noch wenige Sch-

ritte vom Versteck entfernt waren, nickten Daniel und William
sich zu, sprangen auf und blockierten ihnen den Weg.

Erschrocken erblickte Caroline die zwei wüst aussehenden

Gesellen, die sie und Lady Harriet mit einem Knüppel und einem
Dolch bedrohten.

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„Endlich haben wir Sie!“, äußerte Daniel grinsend.
Jäh begriff Harriet, in welcher Gefahr Mrs. Duval und sie war-

en. „Schnell zum Haus zurück!“, schrie sie auf, raffte die Röcke
und wollte flüchten.

Im Nu war William bei ihr, hielt sie grob am Arm fest und

sagte hart: „Hier geblieben!“

Caroline fand keine Gelegenheit, ihr beizustehen. Der Mann

mit dem Dolch sprang vor, riss sie an sich und hielt ihr die Waffe
an den Hals.

„Keinen Mucks!“, warnte er sie. „Sonst steche ich zu!“
Vor Schreck brachte sie keinen Laut heraus.
„So ist es recht“, fuhr Daniel hämisch fort, zog das schmutzige

Schnupftuch aus der Jackentasche und knebelte sie.

Harriet schrie auf und versuchte verzweifelt, sich zu befreien.
Rücksichtslos schlug William ihr ins Gesicht und zischte ihr

zu: „Halt den Mund, oder du wirst es bitter bereuen!“

Verängstigt starrte sie ihn an und zuckte verstört zurück, als

auch er ein Sacktuch hervorzog.

„Lass die Mätzchen, wenn du nicht willst, dass mein Bruder

dir deine hübsche Larve zerschneidet!“, sagte er kalt, stopfte ihr
den Knebel in den Mund und trieb sie, genüsslich den Prügel
schwingend, hinter Daniel und Mrs. Duval her.

Vor Furcht zitternd, stolperte Caroline am Ufer entlang, bis

ihr Entführer sie zwang, einen schmalen Pfad einzuschlagen, der
vor einer halb verfallenen Kate endete.

Daniel öffnete die in den Angeln knarrende Tür, scheuchte

Mrs. Duval ins Haus und wartete, bis William und Lady Harriet
sich drinnen befanden. „Bis zum Ende des Ganges und dann
links die Treppe hinunter!“, kommandierte er barsch und feixte
breit, als die beiden Frauen die Stufen in die Dunkelheit hinun-
terwankten. Sobald sie im Keller waren, schlug er die Tür zu,
versperrte sie und rief laut: „Jetzt könnt ihr euch von den

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Knebeln erlösen. Es hat jedoch keinen Sinn, um Hilfe zu
schreien, denn außer uns hört euch hier niemand. Komm, gehen
wir, Billy“, wandte er sich dann an seinen Bruder. „Ich bin sich-
er, unser Auftraggeber wird mit uns zufrieden sein.“

Caroline hörte sich entfernende Schritte und harrte aus, bis

die Haustür ins Schloss gefallen war. Dann knüpfte sie das Sch-
nupftuch auf, schleuderte es angewidert von sich und versuchte,
in der Finsternis etwas zu erkennen. „Wo sind Sie, Lady Har-
riet?“, flüsterte sie.

Würgend hatte Harriet sich von ihrem Knebel befreit. „Hier“,

antwortete sie bang, streckte die Hand aus und berührte Mrs.
Duval. „Was haben die Verbrecher mit uns vor?“, fügte sie auf-
schluchzend hinzu. „Werden sie uns töten?“

„Seien Sie unbesorgt“, sagte Caroline beschwichtigend. „Um

unser Leben müssen wir nicht fürchten. Man wird uns hier be-
halten, bis mein Vetter herkommt.“

„Ich verstehe das alles nicht!“, jammerte Harriet.
„Das ist eine lange Geschichte, die ich Ihnen erzählen werde,

wenn wir wieder in der Burg sind“, erwiderte Caroline seufzend.
„Jetzt haben wir Wichtigeres zu tun. Wir müssen sehen, wie wir
unser Gefängnis verlassen können. Da hinten ist es etwas heller
als hier. Möglicherweise finden wir dort eine Fluchtmöglichkeit.
Halten Sie sich an mir fest, und folgen Sie mir vorsichtig.“

Harriet ergriff Mrs. Duval am Arm und tappte zaghaft hinter

ihr her.

Am Ende des Raums drang trübes Licht durch ein stark ver-

schmutztes Fenster. Caroline blieb stehen und murmelte
enttäuscht: „Es ist viel zu klein! Selbst wenn wir es aufbekom-
men sollten, passen wir nicht durch die Öffnung. Aber irgendwie
müssen wir uns bemerkbar machen“, setzte sie entschlossen hin-
zu, schaute sich um und entdeckte eine Holzkiste. Kurz
entschlossen brach sie eine Latte davon ab und äußerte

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warnend: „Ziehen Sie sich weit genug zurück, Lady Harriet,
damit Sie nicht von Splittern getroffen werden.“ Dann stellte sie
sich vor das Fenster, hielt schützend den Arm vor das Gesicht
und zertrümmerte die Scheiben. „So, das wäre geschafft!“, sagte
sie zufrieden und drehte sich zu Lady Harriet um. „Stellen Sie
sich bitte neben mich, und schreien Sie so laut, wie Sie können“,
bat sie.

„Glauben Sie, dass man uns hört?“, fragte Harriet skeptisch.
„Das ist unsere einzige Möglichkeit, jemanden aufmerksam zu

machen“, antwortete Caroline trocken. „Ich bin überzeugt, unser
Verschwinden wird bald auffallen. Wenn Ihr Vater zurück ist
und uns vermisst, wird er bestimmt nach uns suchen.“

Gemeinsam rief man aus Leibeskräften um Hilfe, immer

wieder, bis sowohl Caroline als auch Lady Harriet heiser waren.

„Ich muss mich ausruhen, sonst bringe ich keinen Laut mehr

heraus“, krächzte Harriet.

Caroline nickte zustimmend und beschloss, sie etwas abzu-

lenken. „Natürlich fragen Sie sich, warum wir in diese Notlage
geraten sind“, sagte sie ruhig. „Ich werde von jemandem verfol-
gt, mit dem ich nichts zu tun haben will.“

„Haben Sie das auch meinem Vater erzählt?“, warf Harriet er-

staunt ein.

„Ja“, antwortete Caroline wahrheitsgemäß. „Ich versichere

Ihnen jedoch, dass wir nicht um unser Leben fürchten müssen.
Ich habe gelernt, mich in schwierigen Situationen zu bewähren.
Was ich Ihnen aber jetzt mitteilen werde, Lady Harriet, müssen
Sie für sich behalten“, fügte sie ernst hinzu. „Bitte, versprechen
Sie mir das.“ Nachdem Lord Coverdales Stieftochter genickt
hatte, fuhr Caroline fort: „Als ich ungefähr in Ihrem Alter war,
habe ich mich in einen Mann verliebt und bin mit ihm von zu
Hause fortgelaufen, in der festen Überzeugung, er hege tiefe Ge-
fühle für mich. Ich habe indes bald festgestellt, dass ich mich

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getäuscht und einen großen Fehler begangen hatte. Plötzlich
stand ich mit siebzehn Jahren mittellos da und hatte niemanden,
der mich vor den Gefahren der Welt beschützte. Es ist mir unge-
mein schwer gefallen, mich zu behaupten, und ich habe das nur
vermocht, weil ich um jeden Preis überleben wollte.“

„Weiß mein Vater das?“
„Nein“, antwortete Caroline ehrlich. „Und deshalb ersuche ich

Sie erneut, mit niemandem darüber zu reden. So, und nun soll-
ten

wir

einen

weiteren

Versuch

unternehmen,

die

Aufmerksamkeit auf uns zu lenken.“

Erneut rief man laut um Hilfe, und in der nachfolgenden Stille

war auf einmal Hufschlag zu vernehmen. Flüsternd beriet man
sich, ob es sich um die Entführer handeln könne, gelangte jedoch
nach angestrengtem Lauschen zu dem Schluss, dass sich nur ein
Reiter dem Gebäude näherte.

Plötzlich hörten sie Johns energische Stimme. „Wo sind Sie?“,

schrie er. „Ich kann nicht orten, wo Sie sich befinden.“

„Wir sind im Keller an der Rückseite des Hauses“, rief

Caroline und sah Lady Harriet erleichtert an. Es verstrich eine
Weile, dann erschien eine Gestalt hinter den zerborstenen
Scheiben, hockte sich hin und starrte in den dunklen Raum.

„Was, in aller Welt, machen Sie dort unten?“, fragte John

verblüfft. „Und wieso kommen Sie nicht heraus?“

„Wir sind eingesperrt“, antwortete Caroline kläglich. „Später

werde ich Ihnen alles erklären, aber jetzt drängt die Zeit. Bitte,
gehen Sie ins Haus, und öffnen Sie die letzte Tür links am Ende
des Flurs.“

„Wir?“, wiederholte John stirnrunzelnd. „Ist Harriet bei

Ihnen?“

„Ja“, bestätigte Caroline rasch und sah den Marquess of

Coverdale sich erheben.

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„Hoffentlich geht alles gut“, murmelte Harriet sehnsüchtig

und strebte mit Mrs. Duval zur Treppe. Man hatte sie soeben er-
reicht, als die Tür entriegelt und geöffnet wurde.

„Wir müssen uns sputen!“, rief Caroline ihm entgegen, hastete

die Treppe hinauf und bemerkte im gleichen Moment einen der
in den Flur kommenden Entführer.

„Zu spät!“, äußerte Daniel boshaft, umfasste das Ende seines

Knüppels mit beiden Händen und holte zum Schlag gegen den
Marquess of Coverdale aus.

Gewandt wich John ihm aus, duckte sich und schnellte vor.

Nach kurzem, heftigem Gerangel gelang es ihm, den Gegner zu
entwaffnen und ihn die Kellertreppe hinunterzustoßen.

„Vorsichtig, Vater!“, schrie Harriet beim Anblick des zweiten,

ins Haus stürmenden Verbrechers auf.

John wirbelte herum und versetzte dem Angreifer einen

wuchtigen Fußtritt gegen den Arm. Der Dolch, mit dem der
Halunke bewaffnet gewesen war, flog durch die Luft, und im
gleichen Augenblick stellte Caroline dem Mann ein Bein. Kaum
war er der Länge nach zu Boden gestürzt, packte John ihn am
Schlafittchen, schleifte ihn zum Kellereingang und warf ihn die
Treppe hinunter. Hurtig schloss und versperrte er die Tür und
sagte zufrieden: „Dort sind die beiden gut aufgehoben. So, gehen
wir!“

Wachsam verließ man das Haus und vergewisserte sich, dass

keine weitere Gefahr drohte. Lord Coverdale holte das Pferd, set-
zte seine Stieftochter in den Sattel und führte es, während er
neben Caroline herschritt, am Zügel nach Marrick Castle zurück.

Im Burghof angelangt, überließ er das Tier einem Stallknecht

und trug, nachdem man die Halle betreten hatte, dem sichtlich
befremdeten Butler auf, unverzüglich dafür zu sorgen, dass die
Damen baden und sich frisch machen konnten.

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Caroline war froh über seine Umsicht und brachte über-

schwänglich ihre Dankbarkeit zum Ausdruck, ehe sie sich in ihr
Appartement begab. Mrs. Lansing überhäufte sie mit Fragen,
während sie ihr beim Auskleiden behilflich war, und hatte sich
auch noch nicht beruhigt, als sie ihr die Frisur richtete. „Ach, re-
gen Sie sich nicht so auf“, sagte Caroline beruhigend, stand auf
und begutachtete sich im Spiegel. „Weder Lady Harriet noch mir
ist großes Leid widerfahren.“

Im gleichen Moment wurde an die Tür geklopft, und auf

Carolines Geheiß betrat ein Dienstmädchen das Ankleidezim-
mer. Es knickste ehrerbietig und teilte ihr mit, Seine Lordschaft
und Lady Harriet erwarteten sie in der Bibliothek.

„Danke“, erwiderte Caroline freundlich, verließ den Raum und

suchte den Hausherrn auf.

„Bitte, nehmen Sie Platz“, bat er sie höflich und eröffnete ihr,

sobald sie sich in einen Fauteuil gesetzt hatte, dass seine
Knechte, die er mit der Order zu dem Cottage gesandt hatte, die
Übeltäter den Constablern in Richmond zu übergeben, den
Keller leer vorgefunden hätten.

„Vermutlich sind sie von meinem Cousin befreit worden“,

meinte Caroline.

„Darauf deutet zwar nichts hin, aber ich bin Ihrer Ansicht“, er-

widerte John ernst. „Solange wir keine Gewissheit haben, sollten
wir diese unerfreuliche Angelegenheit mit Diskretion behandeln.
Daher habe ich dem Personal gegenüber bisher lediglich
durchblicken lassen, dass Sie und Harriet beim Spaziergang am
Fluss von einem Betrunkenen angepöbelt wurden. Harriet wird
bei dieser Version der Geschichte bleiben, und Sie bitte ich,
nichts anderes zu sagen.“

„Gut“, stimmte Caroline zu. „Verständlicherweise habe ich

meiner Zofe die Wahrheit anvertraut, aber ich kann mich darauf
verlassen, dass Mrs. Lansing nicht klatscht.“

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„Harriet hat mir ausführlich geschildert, wie die Verbrecher

mit Ihnen und ihr umgegangen sind“, äußerte John grimmig.
„Ich wünschte, ich könnte beide eigenhändig bestrafen! Ich
werde alles tun, um zu gewährleisten, dass Ihr Vetter weder Sie
noch Harriet je wieder in Bedrängnis bringen kann. Sobald er
dingfest gemacht wurde, sorge ich dafür, dass er seine Strafe er-
hält. Bestenfalls kann er als freier Mann nach Jamaika zurück-
kehren, aber selbst dann wird er so unter dem Eindruck meiner
Drohungen stehen, dass er nicht wagen wird, Sie zu behelligen.“

„Wenn ich meinen Auftrag erledigt habe, wird Edmund kein

Interesse mehr an mir zeigen“, sagte Caroline trocken.

„Pardon, aber es war sehr leichtsinnig, ohne männlichen

Schutz spazieren zu gehen. Welch ein Glück, dass ich Ihnen noch
rechtzeitig zu Hilfe kommen konnte.“

„Sie wissen, Sir, dass mein Diener bei seinen Verwandten ist“,

verteidigte sich Caroline. „Ich bedauere sehr, dass Lady Harriet
unter meiner Unachtsamkeit zu leiden hatte.“

„Ich habe ihr bereits vorgehalten, wie gedankenlos sie war,

und sie hat mir versprochen, nie mehr derart leichtfertig zu
sein.“

„Ja“, bestätigte Harriet nickend.
„Ich hoffe, Lady Harriet“, wandte Caroline sich an das Mäd-

chen, „dass Sie das schreckliche Erlebnis bald vergessen haben
werden. Denken Sie an erfreulichere Dinge, zum Beispiel an die
bevorstehende Saison. Können Sie Walzer tanzen? Nein? Gut,
dann werde ich es Ihnen beibringen. Sie müssen sich jedoch als
sehr gelehrig erweisen, denn lange werde ich nicht mehr hier
sein.“

„Wann gedenken Sie, in Ihre Heimat zurückzukehren?“, woll-

te John wissen.

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„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete Caroline ehrlich.

„Vielleicht gehe ich einige Zeit auf Reisen, nachdem ich in High
Hutton war.“

„Wenn Sie nicht mehr da sind, werde ich den Tanzunterricht

übernehmen, Harriet“, versprach John schmunzelnd. „Aber
wenn ich es recht bedenke, könnten Mrs. Duval und ich schon
bald damit anfangen, damit du beizeiten lernst.“

„Fein!“, rief Harriet begeistert aus.
„Ich finde, wir haben einen guten Grund zum Feiern“, fuhr er

lächelnd fort. „Schließlich haben Mrs. Duval und du die Ent-
führung einigermaßen glimpflich überstanden, und außerdem
meine ich, dass ein Ball sich fabelhaft dazu eignet, unsere gute
Beziehung festlich zu begehen.“

Verlegen senkte Harriet den Blick und murmelte kleinlaut:

„Ich bedaure, dass ich früher so abweisend zu dir war.“

„Wir beide haben Fehler gemacht, die nicht wiederholt wer-

den dürfen“, erwiderte John ruhig.

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14. KAPITEL

John hatte veranlasst, dass die Suche nach den beiden Entführ-
ern intensiviert wurde, doch die von ihm beauftragten Knechte
kehrten am späten Abend zurück, ohne eine Spur der Verbrecher
gefunden zu haben. Am nächsten Tag wurden die Nachforschun-
gen wieder aufgenommen, und plötzlich traf die Meldung ein,
man habe einen übel zugerichteten, ohnmächtigen Fremden am
Ufer des Alne entdeckt. Der Mann wurde in die Burg geschafft,
und es stellte sich heraus, dass es sich bei ihm um Mrs. Duvals
Cousin handelte.

John ließ ihn in ein Gästezimmer bringen und unverzüglich

Dr. Bromley benachrichtigen. Er wartete das Ergebnis der Un-
tersuchung durch den Arzt in der Bibliothek ab. Nach einiger
Zeit wurde ihm gemeldet, der Doktor wünsche ihn zu sprechen.
Er bat Dr. Bromley zu sich und schaute ihn fragend an.

„Der Kranke hat zahlreiche Prellungen, Blutergüsse und Ver-

stauchungen, aber offenbar keine inneren Verletzungen“,
verkündete der Arzt. „Ich habe ihm ein Schmerzmittel gegeben
und eine Schlafmedizin. Er sollte mindestens zwei, drei Tage im
Bett bleiben und sich erholen. Ist Ihnen bekannt, Mylord, wer er
ist und wie es zu diesem unerfreulichen Vorfall kam?“

„Ich nehme an, er wurde überfallen und ausgeraubt“, antwor-

tete John. „Vermutlich hatte er aus diesem Grund nichts bei
sich, was auf seine Identität hingewiesen hätte. Bedauerlicher-
weise war dieser Zwischenfall nicht der einzige seiner Art. Schon
gestern Nachmittag wurden eine bei mir zu Besuch weilende
Dame und meine Tochter am gleichen Ort von zwei Halunken
attackiert, nach deren Verbleib ich forschen lasse. Sollten sie

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gefasst werden, lasse ich sie unverzüglich den Constablern in
Richmond übergeben.“

Dr. Bromley nickte zustimmend, verabschiedete sich von

Seiner Lordschaft und verließ die Bibliothek.

John läutete und wies den Butler, der kurz darauf eintrat, an,

dafür zu sorgen, dass sich umgehend ein Lakai in das Zimmer
des Kranken begebe und ihn sofort benachrichtige, sobald der
Mann aufwache und ansprechbar sei.

„Sehr wohl, Sir“, erwiderte der Bediente, verbeugte sich und

zog sich zurück.

Am Morgen des zweiten Tages nach dem Überfall auf Mr. Wil-
loughby erfuhr John, dass der Kranke wach sei und den Haush-
errn zu sprechen wünsche. Sogleich begab er sich zu Mrs. Duvals
Vetter und sah ihn sichtlich erholt und offenbar ziemlich verär-
gert im Bett sitzen. Die Abneigung, die er von Anfang an gegen
ihn empfunden hatte, verstärkte sich noch. Mr. Willoughby hatte
ein aufgedunsenes Gesicht, stechend blickende, eng stehende
Augen und einen verweichlichten, von Charakterschwäche zeu-
genden Zug um den schmallippigen Mund.

„Es war höchste Zeit, dass Sie sich bei mir sehen lassen, Sir!“,

äußerte Edmund schroff und starrte ihn anschließend verdutzt
an. „Der elende Lakai wollte keine meiner Fragen beantworten!
Mir scheint, ich weiß, wen ich vor mir habe. Sie sind Lord Cover-
dale, nicht wahr?“

Gleichmütig erwiderte John: „Das ist richtig, Sir, und Sie

befinden sich in meinem Haus, in Marrick Castle.“

„Sieh einer an!“, murmelte Edmund verblüfft. „Wie gerissen

von Ihnen, mich so hinters Licht zu führen. Können Sie mir
erklären, wieso ich die zweifelhafte Ehre habe, Ihr Gast zu sein?“

„Das können Sie sich doch denken“, sagte John hart. „Schließ-

lich haben die beiden Schufte in Ihrem Auftrag Mrs. Duval

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verfolgt, überfallen und verschleppt. Auf der Suche nach ihr
haben meine Dienstboten vorgestern dann Sie so böse
zugerichtet am Fluss gefunden und hergebracht.“

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Sir“, log Edmund. „Ich habe

niemanden angewiesen, meiner Cousine nachzustellen.“

„Ach, versuchen Sie nicht, mir Sand in die Augen zu streuen“,

entgegnete John unbeeindruckt. „Ich bin über Ihre schäbigen
Machenschaften im Bilde. Haben Ihre Handlager Sie verprügelt,
weil Sie ihnen nach der erfolglosen Entführung Ihrer Cousine
nicht den versprochenen Lohn zahlen wollten?“

„Natürlich habe ich mich geweigert!“, platzte Edmund unbe-

dacht

heraus

und

ärgerte

sich

sogleich

über

seine

Unvorsichtigkeit.

„Das dachte ich mir“, erwiderte John und nahm in einem Ses-

sel Platz. „Ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, das Sie gut beherzi-
gen sollten, wenn Ihr Wohlergehen Ihnen lieb ist“, fuhr er dro-
hend fort. „Nicht nur Mrs. Duval und meine Tochter hatten
unter Ihrer Niedertracht zu leiden, sondern auch ich, und daher
werden Sie mir für das, was Sie getan haben, bitter büßen.“

„Was erwarten Sie von mir?“, fragte Edmund bang und spürte

sich erblassen. „Glauben Sie mir, es tut mir leid, dass Caroline
und Ihre Tochter von den Parkers misshandelt wurden“, fuhr er
fort, „aber meinen Sie nicht, dass ich bereits genug für mein
Fehlverhalten bestraft bin? Was erwarten Sie noch von mir? Soll
ich Ihnen Geld geben? Lassen Sie mich nach London reisen,
damit ich zur Bank gehen und Ihnen die von Ihnen verlangte
Summe überweisen kann. Ich schwöre Ihnen, dass Sie dann nie
wieder etwas von mir hören werden!“

„Und Sie denken, dass ich Ihre Versicherungen für bare Mün-

ze nehme?“, warf John geringschätzig ein.

„Ich lüge nicht!“, behauptete Edmund frech. „Ich gebe zu, es

war ein großer Fehler von mir, Caroline hinterherzureisen. Aber

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ich wollte mich unbedingt in den Besitz des Ainderby-Kelches
bringen. Da Sie ihn wahrscheinlich nie gesehen haben, können
Sie mich natürlich nicht verstehen. Er ist ein wundervolles, einz-
igartiges Kleinod, das ich einmal im Studio meines mittlerweile
verstorbenen Onkels durch Zufall zu Gesicht bekommen habe.
Er hatte es aus dem stets verschlossenen Cartonier genommen
und war so in den Anblick versunken, dass er mich zunächst
nicht wahrnahm. Schließlich bemerkte er mich und wurde
dermaßen wütend, dass ich befürchtete, er würde mich auf der
Stelle umbringen. Ich beschwor ihn, sich nicht so aufzuregen,
und bot ihm jeden Preis für die herrliche Antiquität, weil ich sie
unbedingt für mich haben wollte. Rüde wies er mein Ansinnen
zurück und befahl mir, unverzüglich sein Arbeitszimmer zu ver-
lassen. Ich war jedoch so besessen von dem Gedanken, das
Kunstwerk an mich zu bringen, dass ich vor Wut nicht mehr klar
denken konnte, als ich dann hörte, er habe es testamentarisch
seiner Enkelin vermacht. Da ich keine Möglichkeit hatte, es in
Kingston zu stehlen, bin ich Caroline gefolgt, um es ihr hier zu
entwenden.“

„Das wird Ihnen nicht gelingen“, sagte John nachdrücklich.

„Vergessen Sie den Kelch. Mrs. Duval wird ihn an seinen an-
gestammten Platz bringen, wo er vor jedem unrechtmäßigen Zu-
griff sicher ist. Und nun komme ich an den Anfang unserer Un-
terhaltung

zurück.

Übereignete

ich

Sie

Ihrer

üblen

Machenschaften wegen der Büttel, würde Ihre Cousine unter
dem Skandal leiden. Das möchte ich vermeiden. Daher werde ich
Sie unter Bewachung nach Falmouth bringen lassen, wo Sie sich
auf das nächste Schiff zu begeben haben, das nach Kingston ab-
segelt. Ich rate Ihnen eindringlich, Mrs. Duval in Zukunft nie
mehr zu behelligen, denn sollte mir zu Ohren kommen, dass sie
erneut von Ihnen belästigt wurde, ziehe ich Sie zur
Rechenschaft, ganz gleich, wo Sie sich dann aufhalten. Sie

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werden morgen in aller Frühe das Haus verlassen, ob Sie reise-
fähig sind oder nicht. Haben Sie begriffen?“, fügte John an und
erhob sich.

„Ja, Sir“, äußerte Edmund kleinlaut.
„Gut“, sagte John zufrieden. „Dann haben wir uns ver-

standen.“ Er verließ das Gästezimmer, begab sich in die Halle
und setzte den Butler von Mr. Willoughbys bevorstehender
Abreise in Kenntnis. „Ich erwarte, dass die Bediensteten, die den
Gentleman nach Falmouth begleiten, den Hafen nicht eher ver-
lassen, als bis das Schiff, auf dem er sich befindet, weit genug
von der Küste entfernt ist“, fügte er streng hinzu.

„Ich werde es veranlassen, Sir“, erwiderte Herbert, verbeugte

sich

beflissen

und

begab

sich

unverzüglich

in

den

Dienstbotentrakt.

Am folgenden Vormittag wurde Edmund von vier Angestellten
des Marquess nach Falmouth eskortiert. Nach der Ankunft er-
fuhr man, dass noch am selben Tag eine Brigg nach Jamaika se-
geln würde. Da bis zum Ablegen des Zweimasters noch Zeit
verblieb, suchte man ein Gasthaus auf, und Mr. Willoughby bat
seine Bewacher, an Seine Lordschaft schreiben zu dürfen, um
sich für die erwiesene Gastfreundschaft zu bedanken.

Nachdem ihm die Bitte gewährt worden war, setzte er sich in

einen Winkel des Schankraums, ließ sich Schreibzeug bringen
und brachte hämisch lächelnd eine Reihe von Verleumdungen
über Caroline zu Papier. Dann streute er Löschsand über die Zei-
len, blies ihn fort und faltete das Blatt. Er schob es in einen Um-
schlag, versiegelte ihn und kehrte zu Lord Coverdales Bedien-
steten zurück.

„Bitte, händigen Sie den Brief Ihrem Herrn persönlich aus“,

wies er den Lakaien an, dem er den Brief übergab, und freute

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sich im Stillen über die Wirkung, die der Inhalt seines
Schreibens haben würde.

Die Vorbereitungen für den Ball waren in vollem Gange. Zun-
ächst hatte Caroline sich zurückgehalten, da sie nur Gast in Mar-
rick Castle war, dann jedoch auf Bitten Seiner Lordschaft hin
mehr und mehr die Rolle der Dame des Hauses übernommen.
Anfänglich hatte die Dienerschaft auf diese Einmischung be-
fremdet reagiert, sich indes bald damit abgefunden, dass die
fremde Person sie mit Billigung Lord Coverdales beaufsichtigte.
Und obwohl es viele Dinge gab, die ihrer Aufmerksamkeit bed-
urften, fand Caroline hinreichend Zeit, Lady Harriet noch mehr
gesellschaftlichen Schliff zu vermitteln und sie im Tanzen zu
unterweisen.

John staunte über die vielen Fähigkeiten und Eigenschaften,

über die sie verfügte, und fragte sich wiederholt, ob er sie je
richtig kennenlernen würde. Ihrem verstorbenen Großvater be-
wies sie unverbrüchliche Loyalität. Ihre schauspielerische Beg-
abung war beachtlich, ihr Organisationstalent höchst be-
merkenswert. Sie schien über eine unerschöpfliche Geduld zu
verfügen, war freundlich und zuvorkommend, und hinter ihrer
manchmal höflich distanzierten Attitüde verbarg sich eine
Leidenschaft, die John ihr nicht zugetraut hätte. Und sie konnte
schelmisch sein und kokett, wie sich beim gemeinsamen Tan-
zunterricht für Harriet zeigte, den John zunehmend genoss.

Eines Abends, als er mit ihr nach dem Dinner durch den

Garten schlenderte, erkundigte sie sich, ob die Einladungen für
den Ball bereits versandt worden seien.

„Ja“, antwortete er. „Ich bin jedoch nicht sicher, ob die

Ainderbys rechtzeitig zurück sein werden.“

„Selbst wenn sie kommen sollten, werde ich bei diesem Anlass

nicht mit ihnen über mein Anliegen reden.“

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„Nennen Sie das Kind getrost beim Namen“, erwiderte John

lächelnd. „Von Ihrem Vetter weiß ich, um was es sich handelt.“

„Das hätte er Ihnen nicht anvertrauen dürfen“, äußerte

Caroline ärgerlich, blieb stehen und nötigte so den Marquess,
ebenfalls anzuhalten. „Niemand soll wissen, aus welchem Grund
ich nach High Hutton will. Mein Großvater hat den größten Wert
darauf gelegt, dass niemand von dem Kleinod erfährt. Er war
stets auf das Höchste beunruhigt, wenn die Sprache auf den
Kelch kam. Auch wenn ich ihm das Versprechen gab, das Ge-
heimnis zu wahren, kann ich mir nicht erklären, wozu es gut ist,
und wüsste gern, was dahintersteckt.“

Ohne zu überlegen, ergriff John Mrs. Duval bei den Händen

und erwiderte bedauernd: „Leider kann ich Ihnen nicht helfen,
dieses Rätsel zu lösen. Bis ich Marrick Castle mit einundzwanzig
Jahren verließ, hatte ich wenig Umgang mit Mr. Ainderby und
Paul Ainderby, obwohl wir fast gleichaltrig waren. Das lag daran,
dass mein Onkel sich mit dem Vater der beiden überworfen
hatte. Es hat mich viel Mühe gekostet, ihn zu überreden, mir
seine Einwilligung zur Verlobung mit Miss Ainderby zu geben.“

„Darf ich fragen, wie Sie die junge Dame kennengelernt

haben?“

Mrs. Duval bei der Hand nehmend, setzte John den Weg fort.

„Sie war Pauls und Mr. Ainderbys Cousine“, klärte er sie auf.
„Ich habe sie bei einem Ball getroffen, an dem sie mit ihrer Mut-
ter teilnahm, und mich auf der Stelle in sie verliebt. Ich war
nicht der Einzige, der um sie warb, doch sie hat sich für mich
entschieden, und zwei Monate später haben wir uns verlobt, un-
geachtet des Widerstands von Mrs. Ainderby.“

„Wieso waren sie und Ihr Onkel so gegen diese Verbindung?“,

wunderte sich Caroline.

„Ich war nicht sonderlich vermögend und trug auch keinen

Titel“, gab John achselzuckend zu. „Mrs. Ainderby war

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anfänglich der Meinung, ihre Tochter würde keine standes-
gemäße Ehe eingehen, hat dann jedoch von einem Moment zum
anderen ihren Standpunkt geändert, ohne dass mir der Grund
dafür ersichtlich gewesen wäre. Natürlich war ich erleichtert und
freute mich auf die Hochzeit mit Gabriella. Dazu ist es indes
nicht gekommen, weil Gabriella vorher verstarb. Ich fühle mich
manchmal an sie erinnert, wenn ich Harriet betrachte, die ihr im
Wesen sehr gleicht. Entschuldigen Sie, Madam“, setzte er betrof-
fen hinzu. „Ich möchte Sie nicht mit persönlichen Dingen
langweilen.“

„Das tun Sie nicht“, versicherte Caroline.
„Das letzte Mal habe ich nach meiner schweren Verletzung im

Krieg über meine frühere Verlobte gesprochen“, gestand er, „und
zwar mit einem anderen Verwundeten, der mit mir im Lazarett
lag und mit dem ich seither gut befreundet bin. Er heißt Adam
Calthorpe und würde Ihnen gefallen, dessen bin ich mir sicher.
Nun, vielleicht lernen Sie ihn kennen, falls Sie im nächsten Früh-
jahr zufällig in London sein sollten. In diesem Jahr werden er
und seine Gattin sich nämlich nicht zur Saison einfinden, weil
sie im letzten Dezember ein Kind bekommen haben.“

„Ich bin nicht sicher, ob ich dann noch in England sein

werde“, murmelte Caroline.

„Nun, ich hoffe, Sie haben keine Eile, nach Kingston zurück-

zukehren“, erwiderte John ehrlich und drückte ihr die Hand.
„Ich möchte mich bei Ihnen dafür bedanken, Madam, dass Sie
sich so aufopfernd darum bemühen, den Ball zu einem Erfolg
werden zu lassen“, fuhr er bewegt fort.

„Ach, das ist nicht der Rede wert“, entgegnete Caroline

lächelnd. „Es macht mir großen Spaß, mich mit den Vorbereit-
ungen zu befassen.“

„Ich bin Ihnen auch Dank für alles schuldig, das Sie für mich

persönlich getan haben, vor allem für Ihr Einfühlungsvermögen

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und das mir bewiesene Verständnis. Es hat mich überrascht,
dass Sie mich nie gefragt haben, warum ich mich in Buckden so
seltsam benommen habe, obwohl Sie den Grund dafür gewiss
gern gewusst hätten. Ich rechne es Ihnen hoch an, dass Sie Ihre
Neugier bezähmt und sich erst heute nach Gabriella erkundigt
haben. Damals wäre ich nicht bereit gewesen, über sie zu
sprechen, doch jetzt fällt es mir leicht, Ihnen von ihr zu erzählen.
Ursprünglich habe ich mich sogar geweigert, hierher zurück-
zukehren, und nur nachgegeben, weil Mr. Fennybright in-
sistierte, es sei meine Pflicht, mich um mein Erbe und vor allem
um Harriet zu kümmern. Mittlerweile habe ich eingesehen, wie
recht er hatte, und auch das habe ich zum Teil Ihnen zu
verdanken.“

„Sie erweisen mir zu viel der Ehre, Sir“, erwiderte Caroline

bescheiden. „Zumindest ist Ihnen, was Miss Ainderby betrifft,
das Gefühl der Erniedrigung erspart geblieben, das ich empfun-
den habe, nachdem mir bewusst geworden war, dass der von mir
geliebte Mann ein Tunichtgut ist. Es hat lange gedauert, bis ich
wieder mit mir im Reinen war. Die Gespräche mit meinem
Großvater haben mir sehr geholfen, wieder zu mir zu finden, und
mir das verlorene Selbstvertrauen und meinen Stolz zurück-
gegeben. Seit dieser Zeit habe ich nichts mehr für Leute übrig,
die andere Menschen nur nach Äußerlichkeiten beurteilen.“

„Ich fühle mich angesprochen“, warf John ernst ein.
„Nicht grundlos, Sir, denn zu Beginn unserer Bekanntschaft

haben Sie tatsächlich ein vorschnelles Urteil über mich gefällt
und lassen sich möglicherweise noch immer davon leiten. Aber
vielleicht ist das sogar gut so“, setzte Caroline befangen hinzu.

Ihr bedrückter Ton verwunderte ihn. Er blieb stehen und

schaute sie an. In dem Bedürfnis, sie zu trösten, zog er sie lang-
sam an sich und konnte plötzlich dem Drang nicht widerstehen,
sie an sich zu schmiegen und ihr einen Kuss zu geben.

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Überwältigt von der Stimmung des Augenblicks, erwiderte sie

die Zärtlichkeiten sehnsüchtig, schlang die Arme um John und
drängte sich begierig an ihn.

Sacht löste er sich von ihr, nahm ihr Gesicht zwischen die

Hände und blickte ihr tief in die Augen, in denen zu seiner
Bestürzung ein betrübter Ausdruck stand.

„Wir sollten uns nicht küssen“, flüsterte sie beklommen. „Das

kann für uns gefährlich werden. Ich empfinde zu viel für dich, als
dass ich mich auf eine oberflächliche Liebelei mit dir einlassen
könnte.“

„Das erwarte ich auch nicht von dir“, entgegnete er eindring-

lich. „Im Gegenteil! Ich bitte dich, nach der Erledigung deines
Auftrages zu mir zurückzukommen und eine Zeit lang zu
bleiben. Ich möchte, dass wir Gelegenheit finden, uns besser
kennenzulernen. Harriet wird sich sehr darüber freuen, dich hier
zu haben. Sie braucht jemanden wie dich, und auch ich bedarf
deiner.“

„Lass mir Zeit zum Nachdenken“, erwiderte Caroline aus-

weichend. „Dein Vorschlag klingt verlockend, doch noch weiß
ich nicht, ob ich wieder bereit bin, mich in irgendeiner Form zu
binden. Ich habe Angst davor, ein weiteres Mal meinen Gefühlen
zu folgen und nicht meinem Verstand.“

„Gehorche dem Ruf deines Herzens.“
„Ich bin nicht sicher, ob ich es noch einmal verschenken

möchte“, sagte sie ehrlich.

„Das kann ich verstehen, da ich deine Zweifel teile. Aber du

kannst nicht leugnen, dass uns mehr als nur Freundschaft
verbindet.“

„Nein, das streite ich nicht ab“, räumte Caroline ein. „Den-

noch möchte ich jetzt keine überstürzte Entscheidung treffen.
Bitte, lass uns ins Haus gehen“, fügte sie hinzu, weil sie in der
kühlen Nachtluft fröstelte. Sie brachte es nicht über sich, John

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zu sagen, dass sie sehr viel für ihn empfand, sich jedoch davor
ängstigte, er könne ebenso gewalttätig werden wie ihr ver-
storbener Gatte und ihr nicht nur körperlichen, sondern auch
seelischen Schaden zufügen. Noch hatte sie kein volles Vertrauen
zu ihm und befürchtete, er könne sie bitter enttäuschen. Außer-
dem wollte sie nicht wieder so bevormundet werden, wie das in
ihrer ersten Ehe der Fall gewesen war.

Andererseits hatte sie das Gefühl, dass er der Mann war, der

sie glücklich machen konnte, da er charakterlich gefestigt war
und sie respektierte. Und falls er ihr einen Heiratsantrag
machte, wäre es, da er eine exzellente Partie war, sehr unklug,
ihn abzulehnen. Durch die Verbindung mit ihm würde sie nicht
nur eine hervorragende gesellschaftliche Stellung bekommen,
sondern auch eine ihr sehr sympathische Stieftochter, Geborgen-
heit und ein Heim, in dem sie die eigenen Kinder großziehen
konnte.

Schweigend reichte er ihr den Arm und dachte auf dem Weg

zum Palas daran, dass er die Einladung zwar spontan ausge-
sprochen hatte, sie indes nicht bereute. Caroline unterschied
sich sehr von Gabriella, hatte jedoch andere Qualitäten, die für
sie sprachen. Und seiner Überzeugung nach würde sie Harriet,
die sich außerordentlich zu ihr hingezogen fühlte, eine warm-
herzige, umsichtige Stiefmutter sein.

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15. KAPITEL

Nach anfänglicher Weigerung, die Rolle der Gastgeberin zu
übernehmen, hatte Caroline sich schließlich bereit erklärt, an der
Seite des Marquess of Coverdale die Honneurs zu machen, ohne
jedoch zu sehr in den Vordergrund treten zu wollen. Für den
festlichen Anlass hatte sie eine elegante, mit kostbarer Spitze be-
setzte cremefarbene Ballrobe gewählt und sich das Haar im
römischen Stil frisieren lassen. Über den in die Stirn fallenden
Locken trug sie ein schmales Diadem mit gestreiften
Moosachaten und Karneolen, dazu passende Briolets und ein
breites, mit Diamanten und Rubinen besetztes Brasselet.

Als Lord Coverdale sie bat, seinen Namen für mehr als zwei

Tänze auf ihrer Karte eintragen zu dürfen, lehnte sie sein
Ansinnen lächelnd, aber entschieden ab und verwehrte ihm auch
den Wunsch, ihr Tischherr zu sein. „Nein, diese Ehre sollten Sie
Lady Randolph zuteil werden lassen“, fügte sie freundlich hinzu.
„Erstens ist sie Ihre Nachbarin, zweitens gesellschaftlich höher
stehend und obendrein beträchtlich älter als ich.“

Da die verwitwete Baronin eine berüchtigte Klatschtante war,

vor der man sich hüten musste, schickte John sich widerwillig in
sein Los und erbot sich galant, Ihrer Ladyschaft beim Souper
Gesellschaft zu leisten.

Nach dem Dinner sah Caroline Ihre Ladyschaft auf sich

zukommen und stellte sich auf ein hochnotpeinliches Verhör ein.
Wie erwartet, wurde sie sogleich von der Baronin beiseitegenom-
men und mit Fragen überhäuft, die sie höflich, aber unverbind-
lich beantwortete.

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Verstimmt merkte Lady Randolph, dass sie nicht viel über

Mrs. Duval in Erfahrung bringen konnte. Entschlossen, ans Ziel
ihrer Wünsche zu gelangen, äußerte sie unumwunden: „Sie se-
hen Miss Gabriella Ainderby, Coverdales verstorbener Verlobter,
sehr ähnlich, Madam. Und man müsste blind sein, um nicht zu
sehen, dass er großen Gefallen an Ihnen findet. Sind Sie irgend-
wie mit der Toten verwandt?“

„Nicht dass ich wüsste, Mylady.“
„Es hat ein trauriges Ende mit ihr genommen, aber Coverdale

kann froh sein, dass er sie nicht geheiratet hat. Sie war eine
rechte Plage für ihre mittlerweile ebenfalls verstorbene Mutter“,
fuhr die Baronin unbeirrt fort. „Zufällig ist mir bekannt, dass
ihre Angehörigen, die ständig Ärger mit ihnen hatten, die beiden
bald vor die Tür gesetzt hätten, wäre es Miss Gabriella nicht
gelungen, Coverdale zur Verlobung mit ihm zu bewegen.
Glauben Sie mir, es gab viele Nachbarn, die ihn bedauert haben.“

„Dazu kann ich mich nicht äußern“, erwiderte Caroline kühl.

„Ich habe jedoch vorhin von ihm gehört, dass die Familie jetzt
wieder in High Hutton weilt.“

„Ja, das trifft zu“, bestätigte Ihre Ladyschaft und gab den Ver-

such auf, Mrs. Duval aushorchen zu wollen. Entweder war diese
Person nicht an alten Skandalgeschichten über Coverdale in-
teressiert, oder sie vermochte es ausgezeichnet, ihre Neugier zu
verbergen.

Eine Gesprächspause trat ein, und Caroline bemerkte er-

leichtert, dass ein Gast sich ihr und der Baronin näherte.

Bei den Damen angekommen, blieb der Gentleman stehen,

verneigte sich und sagte höflich: „Verzeihen Sie, wenn ich störe,
aber würden Sie mir den nächsten Tanz gewähren, Mrs. Duval?“

„Gern“, antwortete Caroline lächelnd, entschuldigte sich bei

Ihrer Ladyschaft und begab sich mit dem Gentleman, der sich
als Mr. Dalton vorstellte, in den Ballsaal.

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„Sie haben das Verhör, dem Lady Randolph Sie offenbar un-

terzogen hat, bemerkenswert gut überstanden, Madam“, meinte
er schmunzelnd. „Im Allgemeinen sind ihre Opfer ziemlich am
Boden zerstört.“

„Oh, ich kenne diese Art Frau und weiß, wie ich sie zu nehmen

habe“, erwiderte Caroline auflachend und nahm umgehend Auf-
stellung zum nächsten Tanz.

Mr. Dalton musterte sie eingehend und äußerte nach einem

Moment übergangslos: „Ich vermute, Ihnen ist bereits gesagt
worden, dass Sie Miss Gabriella Ainderby sehr gleichen – zu-
mindest äußerlich. Auch ich finde diese Ähnlichkeit frappierend.
Sie haben die gleiche Haarfarbe, können jemanden ebenso
herausfordernd anschauen wie Miss Ainderby und ihn nicht
minder gewinnend anlächeln. Ich wüsste gern, wie weit die Ge-
meinsamkeiten mit ihr noch gehen“, setzte er hinzu und drückte
Mrs. Duval ein wenig zu dreist die Hand.

„Das kann ich nicht beurteilen, Sir“, erwiderte Caroline frost-

ig. „Und nun wäre ich Ihnen aufrichtig dankbar, wenn wir von
etwas anderem reden könnten.“

Irritiert schaute der Gentleman sie an, besann sich seiner

guten Erziehung und wechselte das Thema.

Befremdet grübelte Caroline darüber nach, worauf er sich mit

seiner letzten Bemerkung bezogen haben mochte. Vielleicht
hatte Lord Coverdales frühere Verlobte ein etwas leichtfertiges
Leben geführt. Dann war es eine Frechheit sondergleichen, Par-
allelen zu ziehen, da sie selber durch ihr Auftreten niemandem
Anlass gegeben hatte, sie als flatterhaft einzuschätzen.

Im weiteren Verlauf des Abends stellte Caroline zu ihrer zun-

ehmenden Verstimmung fest, dass nicht nur Mr. Dalton, son-
dern auch etliche andere Herren von ihrer großen Ähnlichkeit
mit der toten Miss Ainderby fasziniert waren und zu glauben
schienen, sich Freiheiten herausnehmen zu dürfen. Streng wies

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sie einen jeden von ihnen in die Schranken, fragte sich indes
schließlich, ob ihre Anwesenheit in Marrick Castle den Marquess
of Coverdale in eine peinliche Situation bringen könne. In den
verflossenen siebzehn Jahren war Miss Ainderby kein Thema
mehr gewesen, doch nun sprach offenbar erneut alle Welt über
sie. Seine Lordschaft hatte sich eine gute Erinnerung an sie be-
wahrt, und Caroline wollte vermeiden, dass durch das Gerede
und Getuschel über sie möglicherweise Dinge zur Sprache ka-
men, die sein Bild von der toten Verlobten ins Wanken brachten.
Der Eindruck, den sie inzwischen von der jungen Dame ge-
wonnen hatte, unterschied sich stark von dem Bild, das John ihr
vermittelte.

Daher beschloss sie, ihm aus dem Weg zu gehen, und zog sich

gegen Mitternacht in ihr Appartement zurück. Sie ließ sich von
Mrs. Lansing für die Nacht herrichten und ging zu Bett, fand je-
doch nicht die ersehnte Ruhe. Je näher der Augenblick rückte,
da sie sich nach High Hutton begeben und den Auftrag des
Großvaters erfüllen würde, desto mehr Fragen gingen ihr durch
den Sinn, auf die sie keine Antworten fand. Aber vielleicht
klärten sich die Rätsel schon in allernächster Zukunft.

Schließlich wurde Caroline so müde, dass ihr die Lider

zufielen. Als sie erwachte, drang das Licht des Morgens durch
die Fenstervorhänge. Sie fühlte sich lustlos und wie zerschlagen
und brauchte eine Weile, um richtig munter zu werden. Gähn-
end stand sie auf, machte Toilette und ließ sich von ihrer Zofe
anziehen und frisieren. Sobald sie präsentabel war, begab sie
sich zum Frühstück ins Speisezimmer und traf dort den zum
Ausreiten gekleideten Marquess of Coverdale an.

„Guten Morgen, Madam“, begrüßte er sie freundlich, erhob

sich und half ihr, sich zu setzen. Dann nahm er wieder Platz und
fuhr fort: „Warum haben Sie den Ball so früh verlassen? Waren
Sie erschöpft?“

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„Nein“, antwortete Caroline wahrheitsgemäß. Sie wartete, bis

Wingfield ihr das Frühstück serviert hatte und von Seiner Lord-
schaft aus dem Raum geschickt worden war, und sagte dann:
„Als ich den Ball verließ, befanden Sie sich in einem Gespräch
mit Bekannten, und ich mochte nicht stören. Wann reisen Ihre
Hausgäste ab?“

„Das entzieht sich meiner Kenntnis. Ich vermute jedoch, noch

vor dem Mittagessen. Harriet ist von Lady Lawson zu einem Ball
nach Brough eingeladen worden, und ich habe ihr die Teilnahme
erlaubt, weil ich finde, dass es gut für sie ist, mit den gleichaltri-
gen Kindern der Familie zusammen zu sein. Ist es Ihnen recht,
wenn wir heute einen Besuch in High Hutton machen? Wir kön-
nten hinreiten und gegen elf Uhr aufbrechen.“

„Wie Sie wünschen, Sir“, antwortete Caroline. „Ich bin

einverstanden.“

„Gut!“, erwiderte John. „Ich schlage vor, dass Sie sich bis dah-

in noch etwas von den Anstrengungen der vergangenen Tage
erholen.“

Caroline nickte zustimmend und war froh, dass Seine Lord-

schaft anschließend über Belanglosigkeiten plauderte.

Höflich half er ihr beim Ende des Frühstücks beim Aufstehen,

begleitete sie zur Tür und sagte freundlich: „Wir sehen uns dann
später. Ich werde Harriet erklären, warum Sie sich nicht von ihr
verabschiedet haben.“

„Danke“, erwiderte Caroline und kehrte in ihre Räume zurück.
„Sie sehen wirklich übernächtigt aus, Madam“, äußerte Mar-

garet besorgt. „Soll ich die Portièren zuziehen?“

„Nein, das ist wirklich nicht nötig“, entgegnete Caroline, ging

zum Liegesofa und streckte sich darauf aus.

„Joseph ist zurück, Madam“, verkündete Margaret. „Es hat

ihm bei seinen Angehörigen nicht gefallen. Er findet sie auf-
dringlich und will nicht in Yorkshire bleiben, jedenfalls nicht bei

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seinen Verwandten. Die Frage, was er zu tun gedenkt, falls Sie
sich entscheiden, nicht nach Kingston zurückzukehren, hat er
mir jedoch nicht beantwortet.“

„Ach, fangen Sie nicht schon wieder damit an!“, erwiderte

Caroline unwirsch. „Noch ist alles offen. Erst muss ich in High
Hutton gewesen sein, ehe ich irgendwelche Beschlüsse fasse.
Übrigens werde ich heute Vormittag mit Lord Coverdale dort
hinreiten.“

„Haben Sie gehört, was die älteren Dienstboten sich über die

verstorbene Miss Ainderby erzählen?“

„Nein“, sagte Caroline und richtete sich überrascht auf.
„Die Leute erinnern sich noch gut an sie.“ Auf die einladende

Geste ihrer Herrin hin setzte Margaret sich in einen Sessel. „Sie
scheint ziemlich selbstsüchtig und eingebildet gewesen zu sein
und sehr flatterhaft. Es heißt, sie hätte keine Ruhe gegeben, bis
sie jeden Mann um den kleinen Finger gewickelt hatte, vor allem
ihre Verehrer. Sobald das erreicht war, verlor sie das Interesse.
Offenbar ist sie in ihren Bemühungen, ihre Bewunderer zu
betören, reichlich weit gegangen. Und bevor es zu jenem fatalen
Unfall kam, hatten der Marquess und sein Cousin sich ihretwe-
gen heftig gestritten, weil Seine Lordschaft glaubte, der Vetter
schäkere unverschämt mit ihr. Dabei war es wohl genau
umgekehrt. Das lässt darauf schließen, dass sie keineswegs so
zurückhaltend und tugendhaft war, wie Lord Coverdale
annimmt.“

Bestürzt erkannte Caroline, dass diese Meinung sich mit dem

Eindruck deckte, den sie beim Ball von Miss Ainderby gewonnen
hatte. „Hoffentlich erfährt er nie, dass er sich in ihr getäuscht
hat.“

„Ich finde, es ist höchste Zeit, dass er der Wahrheit ins Auge

sieht“, erwiderte Margaret ernst. „Sie sollten ihn nicht aus Zun-
eigung schonen. Die Frau, mit der sich einmal vermählt, kann

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sich glücklich schätzen. Ich weiß, ich überschreite jetzt meine
Grenzen, aber es ist offenkundig, dass Sie mehr für ihn empfind-
en, als Sie zugeben. Und es ist nicht zu übersehen, dass er großes
Interesse an Ihnen hat“, fügte Margaret hinzu und schaute ihre
Herrin vielsagend an.

„Ich weiß“, murmelte Caroline. „Vor einigen Tagen hat er

mich gebeten, noch eine Zeit lang hier zu verweilen. Das Angebot
ist verlockend“, gab sie zu, „aber ich zögere, es anzunehmen.
Natürlich bin ich mir bewusst, dass er sich vielleicht mit dem
Gedanken trägt, mir einen Heiratsantrag zu machen, weiß indes
nicht, wie ich dann reagieren soll. Ich möchte kein zweites Mal
enttäuscht werden.“

„Er ist ein sehr zuverlässiger, umsichtiger und liebenswerter

Mann“, erwiderte Margaret warmherzig. „Ich bin überzeugt,
Madam, er würde Sie auf Händen tragen. Wenn er wüsste, dass
Sie ihn lieben, würde er die Wahrheit über Miss Ainderby
leichter verkraften.“

„Würden Sie, wenn ich nicht nach Jamaika zurückreise, King-

ston nicht vermissen?“, fragte Caroline zweifelnd.

„Nein“, antwortete Margaret überzeugt. „Und Ihnen würde

Ihre frühere Umgebung ebenfalls nicht fehlen, wenn Sie hier mit
Lord Coverdale glücklich wären.“

„Das mag sein“, räumte Caroline ein.
„Sie haben einmal geäußert, dass Sie sich ohne Ihren

Großvater in Kingston einsam fühlen würden“, hielt Margaret
ihr vor. „Was hindert Sie daran, die Marchioness of Coverdale zu
werden?“

„Meine Zweifel und meine Unsicherheit“, antwortete Caroline

ehrlich.

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16. KAPITEL

Caroline hatte sich zum Reiten umgezogen. Sie steckte die
beiden Briefe, die ihr der Großvater ausgehändigt hatte, in ihr
Ridikül und begab sich in den Innenhof, wo Joseph sie erwar-
tete. Auch der Marquess hatte sich bereits eingefunden. Die le-
derne Hutschachtel mit dem Ainderby-Kelch hatte er neben sich
abgestellt.

„Sie sehen etwas erholter aus, Madam“, stellte er zufrieden

fest, half ihr in den Sattel und hielt ihr das Behältnis hin. „Ich
gehe davon aus, dass Sie den Kelch transportieren möchten.“

„Das ist richtig, Mylord“, bestätigte Caroline, nahm die

Schachtel entgegen und drückte sie mit der Linken an sich.

John saß auf und äußerte beschwichtigend: „Sie haben nicht

den mindesten Anlass zur Beunruhigung, Madam. Die Ainderbys
beißen nicht.“

„Dennoch bin ich schrecklich aufgeregt“, gestand Caroline,

„wohl deswegen, weil ich nicht weiß, wie die Dinge sich entwick-
eln werden. Daher wäre ich Ihnen sehr verbunden, Sir, wenn Sie
mir bei diesem Besuch nicht von der Seite wichen.“

„Es ist mir eine Ehre“, erwiderte John. „Vielen Dank für das

mir bewiesene Vertrauen.“

Zu dritt brach man auf, verließ das Gelände von Marrick

Castle und schlug die Richtung nach High Hutton ein. Der Weg
führte auf eine steile Anhöhe, von der aus man einen wundervol-
len Blick auf das darunter liegende Tal, die Gehöfte und die be-
stellten Felder hatte. Der Marquess brachte sein Pferd neben
Josephs zum Stehen und erkundigte sich: „Haben Sie in

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Erfahrung bringen können, wann Ihr Onkel zu den Westindis-
chen Inseln gereist ist?“

„Nein, nicht präzis“, antwortete der Diener ausweichend.

„Meine Verwandten konnten sich nicht mehr erinnern.“

John sah ihn skeptisch an, unterließ es jedoch, weitere Fragen

zu stellen, und setzte den Ritt fort. Nach geraumer Zeit traf man
schließlich in High Hutton ein, und sogleich wurde die
Herrschaft von der Ankunft der Besucher benachrichtigt. John
und seine Begleitung waren kaum abgesessen, als der hoch ge-
wachsene Hausherr und seine erheblich kleinere, rundliche Gat-
tin zur Begrüßung unter dem Portikus erschienen.

Mr. Ainderby machte einen mürrischen Eindruck, während

seine Frau irgendwie niedergeschlagen wirkte. Bei Carolines An-
blick malte sich in beider Augen zunächst Fassungslosigkeit, die
sich jäh in einen Ausdruck der Feindseligkeit verwandelte.

John machte die Nachbarn mit Mrs. Duval bekannt, dann fol-

gten beide den Ainderbys ins Foyer.

Dort angekommen, eilte die Dame des Hauses zur offenen

Salontür, schloss sie und sagte leichthin an ihren Gatten ge-
wandt: „Bitte, Mr. Ainderby, führ die Herrschaften in die Biblio-
thek. Ich werde veranlassen, dass ihnen Erfrischungen gereicht
werden. Wenn Ihr Lakai, Mylord, mir bitte zum Dienstbotenflü-
gel folgen würde.“

„Pardon, Madam“, warf Joseph dreist ein. „Ich ziehe es vor,

hier zu warten.“

Erstaunt schaute Mrs. Ainderby ihn an, wies auf einen vor der

Wand stehenden Sessel und verließ dann das Vestibül.

Mr. Ainderby bat Seine Lordschaft und Mrs. Duval in die Bib-

liothek und forderte sie höflich zum Platznehmen auf. Nachdem
man sich gesetzt hatte, herrschte verlegene Stille, bis Mrs.
Ainderby mit dem Butler erschien, der die Getränke servierte
und sich dann diskret entfernte. Auf einen auffordernden Blick

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seiner Gattin hin räusperte sich Mr. Ainderby schließlich und
sagte: „Meine Gattin und ich waren sehr überrascht, als wir in
Ihrem Billett lasen, Mylord, dass Mrs. Duval uns zu sprechen
wünschte, da wir der Dame noch nie begegnet sind.“

„Das ist richtig, Sir. Ich bin das erste Mal in England“, be-

stätigte Caroline.

„Was kann ich für Sie tun, Madam?“, fragte der Hausherr

neugierig.

„Es ist mir sehr unangenehm, Sir, mich vergewissern zu

müssen, dass ich wirklich Mr. Ainderby vor mir habe, den äl-
testen Sohn von Thomas Ainderby“, erwiderte sie verlegen.
„Aber leider lässt sich das nicht vermeiden.“

„Der bin ich“, bestätigte Mr. Ainderby befremdet. „Aber was

hat das mit Ihrem Anliegen zu tun?“

„Ich komme aus Jamaika“, erwiderte Caroline, „aus Kingston,

um genau zu sein. Im letzten Jahr ist mein Großvater gestorben.
Einer seiner letzten Wünsche war, dass ich Ihnen ein Schreiben
von ihm übergebe.“ Sie öffnete ihr Ridikül und entnahm ihm die
beiden Briefe. „Dieses ist für Sie, das andere ist an mich
gerichtet. Ich soll es in Ihrer Gegenwart lesen“, fuhr sie fort und
händigte Mr. Ainderby den für ihn bestimmten Umschlag aus.
Den an sie adressierten riss sie auf und überflog hastig die
Zeilen.

Auch Mr. Ainderby öffnete das Couvert, entnahm ihm den

Brief und begann zu lesen.

Die Lektüre brachte beide sichtlich aus der Fassung.
Schließlich ließ Mr. Ainderby das Schreiben sinken und fragte:

„Wo ist der von Ihnen mitgebrachte Gegenstand?“

„In diesem Lederbehälter“, antwortete Caroline.
„Verzeihen Sie, Mylord, aber haben Sie bitte Verständnis

dafür, dass meine Gattin, Mrs. Duval und ich Sie jetzt allein

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lassen müssen“, wandte er sich dann entschuldigend an den
Marquess.

„Ich bestehe darauf, dass Seine Lordschaft mit uns kommt!“,

äußerte Caroline nachdrücklich.

Unschlüssig blickte Mr. Ainderby zwischen den Besuchern hin

und her und gab dann nach: „Also gut.“ Er stand auf, ging zum
Bureau und schloss die oberste Schublade auf. Er entnahm ihr
das darin liegende Bund alter Schlüssel, drehte sich um und
sagte: „Wenn ich bitten darf.“

Man erhob sich und folgte ihm aus der Bibliothek ins Vestibül

zu einer Eichentür.

Der Hausherr sperrte sie auf, zündete eine Kerze an und

bedeutete seiner Gattin und den Besuchern, ihm voranzugehen.
Sobald sie seinem Wunsch entsprochen hatten, verriegelte er
den Zugang von innen, setzte sich wieder an die Spitze seiner
Begleiter und schritt zur Treppe am Ende des langen, dunklen
Korridors. Er stieg die Stufen hinunter, entflammte die Kerzen
der Wandleuchter und stellte das mitgebrachte Talglicht dann
neben dem Eingang in die Nische.

Man befand sich in einem mit einer Apsis versehenen

Kellergewölbe, das wie eine Krypta wirkte, vor allem weil im
Chor, einem Altar ähnlich, ein wuchtiger, mit Schnitzereien
geschmückter Kastentisch stand, auf dem ein altersdunkler
Schrein mit Gefachen, gedrechselten Säulen und polierten
Handgriffen platziert war.

„Versprechen Sie mir, Mylord, Schweigen über das zu be-

wahren, was Sie jetzt sehen werden?“, fragte Mr. Ainderby
streng.

„Selbstverständlich“, antwortete John ernst.
Mr. Ainderby nestelte an seinem Schlüsselbund und öffnete,

als er den richtigen Schlüssel gefunden hatte, die Fächer.

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Gold strahlte im Widerschein der Kerzen auf, ein Anblick, der

John den Atem verschlug. Bei genauerem Hinsehen erkannte er
im linken Gefach eine mit Juwelen bestückte Schale und in dem
daneben einen edelsteinbesetzten Deckelpokal. Das Fach zur
Rechten war leer.

Caroline deponierte den Lederbehälter auf dem Fußboden,

schnallte die Riemen auf und nahm behutsam den in Leinen ge-
hüllten Abendmahlskelch heraus. Vorsichtig setzte sie ihn vor
dem geöffneten Renaissanceschrank ab, wickelte ihn aus und
stellte ihn ehrfürchtig in das rechte Fach. Nachdem sie den let-
zten Wunsch des Großvaters erfüllt hatte, trat sie zurück und
gesellte sich zu Lord Coverdale.

„Der Ainderby-Kelch!“, flüsterte Mr. Ainderby ergriffen.
Ein Kleinod von solch handwerklicher Meisterschaft hatte

John noch nie gesehen. Der obere Rand war glatt, der gesamte
untere Teil des Bechers mit überaus vielfältigem Filigran be-
deckt. Edelsteine in den unterschiedlichsten Farben erglänzten
im Netz aus Goldfäden, vor allem am Fuß des Kelches, der wie
die anderen Sakralgegenstände wahrscheinlich aus dem fün-
fzehnten oder sechzehnten Jahrhundert stammte. Staunend
wandte John den Blick ab und richtete ihn fragend auf Mrs.
Duval.

Caroline ahnte, was er wissen wollte, und sagte leise: „Es war

meinem Großvater ein Herzensanliegen, dass der von ihm
geraubte Kelch wieder an seinen angestammten Platz
zurückkehrt.“

„Er hat ihn gestohlen?“, flüsterte John verblüfft. „Wie war das

möglich? Mir ist nie zu Ohren gelangt, dass eine derart wertvolle
Antiquität in High Hutton entwendet wurde.“

„Seit der Abt des Klosters von Belvaux meinen Vorfahren

diese Kultgegenstände anvertraut hat, wurde strenges Schweigen
darüber bewahrt, dass sie hier untergebracht sind“, erklärte Mr.

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Ainderby. „Sie gehören zu dem Kirchenschatz, dessen andere
Teile verloren gingen, als die Abtei nach dem Dekret Heinrich
VIII. aufgelöst wurde. Meine Vorväter haben sie fast drei
Jahrhunderte lang gehütet, und nur die Mitglieder meiner Fam-
ilie hatten Zugang zu ihnen.“

„Wie konnte Ihr Großvater dann in dieses Kellergelass gelan-

gen?“, wunderte sich John.

Caroline atmete tief durch und antwortete dann gefasst: „Er

war ein Ainderby, Sir, der jüngste Sohn von William Ainderby,
dem Urgroßvater unseres Gastgebers. In dem an mich adressier-
ten Brief hat er geschrieben, er habe in jungen Jahren ein sehr
unstetes Leben geführt und sei deswegen von seinem Vater, mit
dem er sich überworfen hatte, enterbt und des Hauses verwiesen
worden. Wütend habe er, als er zwanzig Jahre alt war, den
Messkelch gestohlen und sich nach Jamaika abgesetzt. Ur-
sprünglich hatte er vor, ihn zu veräußern, um von dem Erlös
seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, konnte sich jedoch nicht
von dem einzigartig schönen Kleinod trennen. Er war ebenso
vernarrt in dessen Anblick wie später mein Vetter Edmund. Erst
auf dem Sterbebett hat er sich überwunden, mir den Auftrag zu
erteilen, die Kostbarkeit seinen Angehörigen zurückzugeben.“

„Er war ein gemeiner Dieb, Madam“, warf Mrs. Ainderby ab-

fällig ein. „Und da Sie seine Enkelin sind, wäre ich Ihnen dank-
bar, wenn Sie dieses Haus unverzüglich verließen.“

„Sie können sie nicht unter seinem Vergehen leiden lassen,

Mrs. Ainderby“, schaltete John sich vorwurfsvoll ein. „Schließ-
lich hat sie den Abendmahlskelch unter großem persönlichen
Einsatz und trotz vieler Gefahren zurückgebracht. Im Übrigen ist
sie ebenfalls eine Ainderby, die das Recht hat, hier zu sein.“

„Jetzt begreife ich, warum ich diese auffallende Ähnlichkeit

mit Miss Gabriella habe“, murmelte Caroline. „Sie war meine
Großcousine. Ich kann gut verstehen, dass Mrs. Ainderby sich

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bei meinem Anblick unliebsam an sie erinnert fühlt und möchte,
dass ich gehe.“ Sie warf einen letzten Blick auf die im Licht er-
gleißenden goldenen Kostbarkeiten, wandte sich ab und schaute
entschlossen Seine Lordschaft an.

Mr. Ainderby schloss die Doppeltür des Fassadenschranks,

blies die Kerzen in den Girandoles aus und nahm das Talglicht
aus der Nische. Er ließ Ellen und den Besuchern den Vortritt,
und die kleine Gruppe begab sich zurück ins Foyer.

Langsam näherte Caroline sich Joseph, der noch immer auf

dem Stuhl bei der Tür saß, und sagte erleichtert: „Ich habe mein-
en Auftrag erfüllt.“

Der Diener nickte ernst und erwiderte ruhig: „Das ist gut so,

Madam. Ich habe von Anfang an Bescheid gewusst, denn mein
Onkel hatte mir vor seinem Tod erzählt, dass sein Herr den
Messkelch gestohlen hat. Ihrem Großvater zuliebe habe ich je-
doch nie durchblicken lassen, dass ich über die Sache informiert
bin.“

Caroline seufzte leise und nahm plötzlich eine betagte Frau

wahr, die, auf einen Krückstock gestützt, aus dem Raum kam,
dessen Tür von Mrs. Ainderby geschlossen worden war.

„Was hat sie hier zu suchen?“, fragte die alte Dame scharf.

„Ich habe dir gesagt, Ainderby, dass ich sie hier nicht wieder se-
hen will!“

„Entschuldigen Sie, Mrs. Duval“, wandte der Hausherr sich

verlegen an Caroline. „Meine Mutter ist geistig verwirrt und ver-
wechselt Sie mit Gabriella. Wenn Sie jetzt bitte gehen würden.“

„Ich dachte, Ellen, du hättest mehr Stolz!“, fuhr die Greisin

verächtlich fort. „Diese Person hat dir doch bereits genügend
Kummer gemacht. Wie kannst du zulassen, dass Mr. Ainderby
sich wieder mit ihr einlässt?“

Mrs. Ainderby zuckte wie unter einem Schlag zusammen.

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„Hier liegt eine Verwechslung vor, Madam“, sagte John kühl

und fuhr fort: „Mrs. Duval befindet sich in meiner Begleitung,
und ich ersuche Sie nachdrücklich, sie nicht zu beleidigen!“

„Mrs. Duval?“, wiederholte die alte Mrs. Ainderby stirnrun-

zelnd. „Das ist Gabriella, und ich dachte, Sie wollten sie
heiraten.“

„Du irrst dich, Mama“, äußerte Mr. Ainderby hastig und er-

griff seine Mutter am Arm. „Komm, ich bringe dich in den Salon
zurück.“

„Wirf sie hinaus!“, forderte diese stattdessen und schüttelte

brüsk seine Hand ab. „Muss Ellen wieder miterleben, dass du
dich ein weiteres Mal mit deiner Cousine einlässt?“

„Wie bitte?“, fragte John erschüttert. „Wollen Sie damit zum

Ausdruck bringen, Mrs. Ainderby, dass Ihr Sohn und Ihre ver-
storbene Nichte …“

„Sie ist nicht tot“, widersprach die alte Dame scharf. „Ich bin

nicht blind! Schauen Sie dieses liederliche Weibsstück doch an!
Sie ist kreidebleich geworden. Natürlich will sie nicht, dass Sie
die Wahrheit erfahren, aber es ist höchste Zeit, dass Sie über sie
Bescheid wissen. Sie stellt allen Männern nach und hat auch
meinen Söhnen den Kopf verdreht. Danach habe ich ihr und ihr-
er ebenso leichtfertigen Mutter verboten, je wieder über die Sch-
welle meines Hauses zu treten. Evelyn hat daraufhin dafür ge-
sorgt, dass ihre mannstolle Tochter sich binnen zwei Tagen mit
Ihnen verlobt. Wieso sind Sie nicht mit Gabriella verheiratet?
Haben Sie rechtzeitig erkannt, wie verdorben sie ist, und sie wie
Lord Grinling zum Teufel gejagt?“

„Ihre Nichte lebt schon seit Langem nicht mehr, Madam“, ant-

wortete John hart und sah dann Mr. Ainderby an. „Ich wäre
Ihnen dankbar, Sir, wenn Sie die Güte hätten, mich darüber
aufzuklären, was die befremdlichen Bemerkungen Ihrer Mutter
zu bedeuten haben.“

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„Ach, beachten Sie Mama nicht“, erwiderte Mr. Ainderby aus-

weichend. „Sie ist verwirrt und bringt alles durcheinander.“

„Das stimmt nicht!“, schaltete seine Gattin sich erbost ein.

„Sie hat lediglich Mrs. Duval mit Gabriella verwechselt, was bei
dieser Ähnlichkeit verständlich ist. Aber alles andere entspricht
den Tatsachen. Leugne nicht, dass du ein Verhältnis mit Gabri-
ella hattest und dadurch nicht nur unsere Ehe ruiniert, sondern
dich ihretwegen auch mit deinem Bruder zerstritten hast, der es
ebenfalls auf eure Cousine abgesehen hatte.“

Mr. Ainderby wurde blass.
„Gabriella war eine Heuchlerin“, fuhr Mrs. Ainderby unbeirrt

fort. „Nach außen gab sie sich als Unschuld vom Lande, aber in
Wirklichkeit war sie verrückt nach Männern.“

„Das glaube ich nicht“, murmelte John bestürzt.
„Es tut mir leid, dass ich Ihnen die Augen öffnen muss, aber

sie hat sogar, wie meine Schwiegermutter soeben durchblicken
ließ, in der Zeit, als sie mit Ihnen verlobt war, hemmungslos mit
Ihrem Großcousin geschäkert. Ich habe nie bedauert, dass sie
ums Leben gekommen ist. Durch ihren Tod ist nicht nur Ihnen
viel Kummer erspart geblieben, Sir.“

„Ich bedaure, dass Sie es so erfahren mussten, Mylord“, warf

Mr. Ainderby ein, „aber was meine Gattin sagt, ist die Wahrheit.
Komm, Mama, ich bringe dich jetzt in den Salon“, wandte er sich
dann an seine Mutter und ging mit der alten Dame davon.

Mrs. Ainderby verabschiedete sich von den Herrschaften und

folgte rasch ihren Angehörigen.

John atmete tief durch, schaute Caroline an und wunderte

sich über ihre mitleidige Miene. „Warum sehen Sie mich so teil-
nahmsvoll an, Madam?“, fragte er erstaunt. „Ich habe den
Eindruck, dass Sie über das, was ich mir soeben anhören musste,
nicht sonderlich überrascht sind. Heißt das, Sie waren in-
formiert?“ Da sie nichts erwiderte, äußerte er enttäuscht:

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„Schweigen ist auch eine Antwort. Warum haben Sie mich nicht
ins Vertrauen gezogen?“

„Das konnte ich nicht“, sagte Caroline betroffen. „Ich wollte

Ihre guten Erinnerungen an Miss Ainderby nicht zerstören.“

„Das war falsch verstandene Rücksichtnahme“, entgegnete er

kalt. „Begleiten Sie Mrs. Duval nach Haus zurück, Mr. Bellerby!“,
befahl er Joseph, drehte sich schroff um und verließ das Haus.

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17. KAPITEL

In dem Bedürfnis, High Hutton so schnell wie möglich hinter
sich wissen und die erschütternden Neuigkeiten über Gabriella
verdrängen zu können, ließ John seinem Hengst freien Lauf.
Einige Male geriet er in Gefahr, weil er bei Sprüngen über Heck-
en und Felder begrenzende Mauern zu achtlos war, brachte den
Rappen dann jedoch jedes Mal wieder unter Kontrolle und hielt
sich vor, er dürfe nicht mehr so fatalistisch eingestellt sein wie
im Krieg, als es ihm gleich gewesen war, ob er überlebte oder
nicht. Schließlich trug er jetzt die Verantwortung für seine
Stieftochter und das Wohlergehen der von ihm abhängigen
Pächter und Bediensteten.

Außerdem war es sinnlos, vor der Wahrheit über Gabriella

davonzulaufen. Er zweifelte nicht an Mr. und Mrs. Ainderbys
Aussagen und erkannte, dass er sich siebzehn Jahre lang ein
falsches Bild von Gabriella gemacht, sie idealisiert und vergöttert
hatte. Als sie sich mit ihm verlobte, hatte er sich für den glück-
lichsten Menschen unter der Sonne gehalten und war nach ihr-
em Tod niedergeschmettert gewesen.

Langsam zügelte er den Hengst, brachte ihn zum Stehen und

gestand sich ein, dass er verblendet gewesen war und nicht hatte
einsehen wollen, was sein Großcousin ihm immer wieder vorge-
halten hatte. Am Tag des Unfalls hatte Philip ihm gesagt, er
werde absichtlich mit Gabriella kokettieren, damit offenkundig
würde, wie falsch, verlogen und unbeständig sie sei. John war
zornig geworden und hatte Philip beschuldigt, nur eifersüchtig
und seinerseits treulos zu sein und Rose durch sein schäbiges
Verhalten zutiefst zu verletzen. Daraufhin hatte Philip ihn

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wütend einen Verleumder geziehen, und es war zu einem wüsten
Streit gekommen. Statt begütigend auf sie beide einzuwirken,
war Gabriella lächelnd in die Kutsche gestiegen. Es war ihr
vollkommen gleich gewesen, dass Philip und er sich ihretwegen
entzweit hatten. Mehr noch, es schien ihr Freude zu bereiten,
dass sie Unfrieden gesät hatte.

Außer sich vor Wut, hatte John zusehen müssen, wie sein

Cousin, der bis zu diesem fatalen Augenblick wie ein guter
Bruder für ihn gewesen war, in die Karriole stieg und mit Gabri-
ella abfuhr. Und dann war es zu dem schrecklichen Unfall
gekommen, durch den er zwei geliebte Menschen verloren hatte.
Damals hatte er indes mehr um seine verunglückte Verlobte
getrauert, wusste nun jedoch, welches Unrecht Philip durch ihn
widerfahren war.

Jäh fragte er sich, wieso Mrs. Duval über Gabriellas wahres

Wesen informiert war. Möglicherweise hatte beim Ball jemand
mit ihr über seine frühere Verlobte gesprochen. Mittlerweile war
es jedoch nicht mehr von Bedeutung, woher sie ihr Wissen hatte,
aber John machte ihr zum Vorwurf, ihn nicht ins Vertrauen
gezogen zu haben. Hätte sie vor dem Besuch in High Hutton sein
falsches Bild von Gabriella schonend korrigiert, wäre er im-
stande gewesen, die Enthüllungen der Ainderbys leichter zu
verkraften.

Zu ihrer Rechtfertigung hatte sie geäußert, sie habe seine

guten Erinnerungen an Gabriella nicht zerstören wollen. Sie
hätte sich jedoch darüber klar sein müssen, dass es besser
gewesen wäre, ihn von seinen Illusionen zu befreien. Es ärgerte
ihn, dass er sich in ihr offenbar ebenso getäuscht hatte wie in
Gabriella. Er war der Ansicht gewesen, sie zu kennen, sah nun
jedoch ein, dass er sie falsch eingeschätzt hatte. Wahrscheinlich
hatte sie mehr Gemeinsamkeiten mit seiner verstorbenen Ver-
lobten, als man auf den ersten Blick sah. Verbittert vermutete er,

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sie habe ihr Verhalten beschönigt, weil sie sich entgegen ihrer
Behauptung, sie brauche Zeit, um in Ruhe über die
Entscheidung nachzudenken, noch eine Weile in Marrick Castle
zu bleiben, doch Hoffnungen auf ihn machte und diese nicht ge-
fährden wollte.

Entschlossen, herauszufinden, welche Motive sie zu ihrem

Benehmen bewogen, und um ein für alle Mal Gewissheit über
ihre Einstellung zu ihm zu erlangen, trieb er den Rappen an und
preschte nach Haus.

Als Caroline und Joseph in Marrick Castle eintrafen, stand die
offenbar kurz zuvor eingetroffene Kutsche, in der Edmund nach
Falmouth gebracht worden war, im Hof.

Ein Lakai eilte dienstfertig hinzu und half ihr beim Absitzen.
„Ist alles gut gegangen?“, erkundigte sie sich.
„Ja, Madam“,bestätigte der Bedienstete.„Mr. Willoughby hat

sofort eine Passage nach Kingston bekommen und dürfte mit-
tlerweile weit genug von England entfernt sein. Wenn Sie mich
bitte entschuldigen wollen. Ich möchte Seiner Lordschaft Bericht
erstatten.“

„Er ist ausgeritten“, erklärte Caroline betont gleichmütig. „Sie

werden sich gedulden müssen, bis er zurück ist.“

„Gut, dann warte ich auf ihn“, erwiderte der Diener, strebte

zur Tür des Hauptbaus und öffnete sie für Mrs. Duval.

„Danke“, sagte sie, als sie an ihm vorbeiging. Schweren

Herzens begab sie sich in ihr Appartement und traf im
Ankleidezimmer ihre Zofe an.

Margaret konnte sich nicht erklären, warum Mrs. Duval de-

rart niedergeschlagen wirkte, bezwang jedoch ihre Neugier. Sie
half der Herrin, das Reitkostüm auszuziehen, und riet ihr, sich
auszuruhen.

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Caroline begab sich ins Boudoir, streckte sich auf der Liege

aus und schloss erschöpft die Augen.

Ein Geräusch weckte sie, und als sie die Lider öffnete, sah sie

ihre Zofe hereinkommen.

„Es wird Zeit, sich für das Dinner umzukleiden, Madam“,

sagte Margaret ruhig.

Caroline erhob sich und folgte ihr ins Ankleidezimmer.
Margaret nahm ihr den Morgenmantel ab und äußerte dabei

wissbegierig: „Wie ist der Besuch bei den Ainderbys verlaufen,
Madam?“

„Ich habe den letzten Wunsch meines Großvaters erfüllt“, ant-

wortete Caroline leise, während Mrs. Lansing ihr in die
Abendrobe half. „Haben auch Sie gewusst, dass er ein Ainderby
war?“

„Nein“, sagte Margaret ehrlich. „Wem war das bekannt?“
„Joseph! Das habe ich erst heute Nachmittag erfahren.“
„Soso“, murmelte Margaret überrascht. „Aber nun wundere

ich mich nicht mehr über Ihre angeblich so große Ähnlichkeit
mit Miss Ainderby.“

Caroline konnte sich nicht mehr beherrschen und brach in

Tränen aus.

„Nanu, was haben Sie denn?“, fragte Margaret erschrocken.
„Lord Coverdale … hat … mir Vorwürfe gemacht“, antwortete

Caroline stockend.

„Wieso?“, wollte Margaret verdutzt wissen.
Schluchzend berichtete Caroline ihr vom peinlichen Auftritt

der alten Mrs. Ainderby sowie den Enthüllungen ihrer Sch-
wiegertochter und fügte weinend hinzu: „Und dann hat er mir
vorgehalten, ich hätte ihm vorher sagen müssen, was mir über
seine verstorbene Verlobte geläufig war!“

„Früher oder später hätte er ohnehin die Wahrheit erfahren“,

meinte Margaret und tätschelte Caroline beschwichtigend die

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Hand. „Wenn er sich beruhigt und Abstand zu den Dingen ge-
wonnen hat, wird er einsehen, dass Sie sich richtig verhalten
haben.“

„Wer hat den Brief abgegeben?“, erkundigte sich John, nahm das
an ihn adressierte Couvert vom Silbertablett und schaute den
Butler fragend an.

„Einer der Lakaien, Mylord“, antwortete der Bedienstete. „Er

hat mir gesagt, Mr. Willoughby habe ihn gebeten, Ihnen dieses
Schreiben persönlich auszuhändigen, doch da Sie bei seiner
Ankunft nicht im Haus waren, gab er es mir.“

Erstaunt riss John den Umschlag auf, nahm die Blätter heraus

und entfaltete sie. Er nahm in einem Sessel Platz und begann zu
lesen:

Mylord,
es hat mich nicht überrascht, dass Sie offensichtlich sehr
von meiner Cousine angetan sind. Sie sind nicht der Erste
und werden vermutlich auch nicht der Letzte sein, den sie
umgarnt. Da ich Ihnen für Ihren Beistand nach meinem
Unfall verbunden bin, nehme ich mir die Freiheit, Ihnen
einiges über sie zu berichten, damit Sie selbst entscheiden
können, wie weit Ihre Beziehung zu ihr gehen sollte.

Eine Vorbemerkung muss ich machen. Mein verstorben-

er Onkel und sie haben zu dessen Lebzeiten die Gesellschaft
von

Kingston

beherrscht,

sodass

Carolines

Machenschaften und besonders ihr anrüchiges Benehmen
in New Orleans nicht an die Öffentlichkeit drangen.

Ich wage zu bezweifeln, dass sie Ihnen anvertraut hat,

einigen übel beleumdeten Malern in Lousiana Modell gest-
anden zu haben, und zwar in vollkommen unbekleidetem
Zustand. Nach ihrer Rückkehr nach Kingston hat ihr
Großvater ein Vermögen dafür ausgegeben, so viele dieser

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Bilder wie möglich aufzukaufen. Es ist ihm nicht gelungen,
aller habhaft zu werden. Eins von ihnen wurde in Kingston
in einem gewissen Etablissement zur Schau gestellt, und
um es sehen zu können, musste man ziemlich viel Geld zah-
len. Glauben Sie mir, Sir, es war den Eintritt wert! Alle, die
es zu Gesicht bekommen haben, selbst die abgebrühtesten
Freier, fanden es äußerst stimulierend.

Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie Ihnen von

dem Duell erzählt hat, das mein Onkel ihretwegen in New
Orleans austragen musste, bei dem dann sein Gegner
getötet wurde. Er hinterließ seine Frau und vier un-
mündige Kinder.

In Kingston hat Caroline sich diskreter verhalten.

Allerdings könnte ich Ihnen die Namen vieler Damen
nennen, die von ihren Ehemännern mit ihr betrogen wur-
den. Beispielsweise könnten Sie bei passender Gelegenheit
die Sprache auf Senator Coburn bringen. Ich garantiere
Ihnen jedoch, dass sie abstreiten wird, je ein Verhältnis
mit dem Gentleman gehabt zu haben. Er hat sich er-
schossen, und als Grund für seinen Freitod wurden seine
hohen Spielschulden angegeben, aber nicht seine un-
glückliche Liebe zu Caroline.

Sie war mehr oder weniger für jeden Mann zu haben,

der ihre Wünsche befriedigen konnte. Im Übrigen ist in
meiner Heimatstadt das Gerücht über sie in Umlauf, dass
sie gar nicht mit Laurent Duval verheiratet war.

Ich könnte Ihnen noch sehr viel mehr über sie mitteilen,

meine indes, dass ich Ihnen mit diesen Informationen vor
Augen geführt habe, welche Art „Dame“ Sie bei sich beher-
bergen, die noch dazu Umgang mit Ihrer Tochter hat. Ver-
ständlicherweise ist es mir nicht leichtgefallen, Ihnen

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Dinge anzuvertrauen, die ich am liebsten für mich behal-
ten hätte, aber ich fand, ich sei es Ihnen schuldig.

Ich kehre in dem Bewusstsein nach Kingston zurück,

dass ich als ihr Verwandter durch ihren losen Lebenswan-
del stets gebrandmarkt sein werde, was für jemanden in
meiner gesellschaftlichen Stellung äußerst unangenehm
ist.

Dennoch werde ich mich nach der Heimkehr meiner

Cousine eingedenk des Ihnen geleisteten Versprechens
schützend vor sie stellen und alles tun, um sie vor Schaden
zu bewahren.

Da man mir bedeutet, ich möge mich beeilen, damit ich

rechtzeitig an Bord meines Schiffes komme, muss ich nun
diesen Brief zum Abschluss bringen. Ich wünsche Ihnen
alles Gute, Mylord, und verbleibe mit den besten Emp-
fehlungen
Ihr Edmund Willoughby.

John war sich bewusst, dass Mr. Willoughby ihm aus Rachsucht
und Wut darüber, nicht ans Ziel seiner Begierden gelangt zu
sein, geschrieben hatte, und fühlte sich versucht, die beiden
Blätter in zahllose kleine Fetzen zu zerreißen und in den Kamin
zu schleudern. Er unterdrückte diese Regung jedoch und grü-
belte darüber nach, ob Mr. Willoughby ihm womöglich die
Wahrheit über Caroline mitgeteilt hatte. Die Zweifel an ihrer In-
tegrität verstärkten sich noch, als er daran dachte, dass sie, als er
sie in Doncaster in der Nähe des „Goldenen Löwen“ beim Fluss
überrascht hatte, nicht sonderlich bemüht gewesen war, ihre
Blöße zu bedecken.

Andererseits war an ihrem Benehmen beim Ball nichts auszu-

setzen gewesen, jedenfalls nicht, soweit John das beurteilen

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konnte. Möglicherweise hatte sie sich jedoch betont zurückge-
halten, um keinen schlechten Eindruck zu machen.

Er traute ihr indes zu, dass sie imstande war, einen Mann de-

rart zu betören, dass er ihretwegen den Kopf verlor und sich in
eine Situation brachte, die ihn in ein Duell verwickelte, ver-
mochte sich aber nicht vorzustellen, sie könne so herzlos sein,
den Tod eines Familienvaters billigend in Kauf zu nehmen.

Der Selbstmord von Senator Coburn war ihr natürlich nicht

anzulasten, falls überhaupt stimmte, was ihr Vetter dazu
geäußert hatte. Zu diesem Zeitpunkt war sie keine Heranwach-
sende mehr gewesen, sondern eine reife, verwitwete Frau, selbst
wenn Mr. Willoughby die Behauptung, sie sei verheiratet
gewesen, infrage zog. Sie hätte wissen müssen, zu welchen Fol-
gen ihr liederliches Verhalten führen konnte.

John ermahnte sich, keine voreiligen Schlussfolgerungen zu

ziehen. Es war immerhin denkbar, dass Mr. Willoughby stark
übertrieben oder Beschuldigungen erfunden hatte, um die von
ihm gehasste Cousine in ein schlechtes Licht zu setzen. Müde
strich John sich über die Stirn und fragte sich eingedenk der
niederschmetternden Enthüllungen über Gabriella, Caroline und
den angeblichen Mr. Peter Leyburn, ob er nicht von Natur aus zu
leichtgläubig sei.

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18. KAPITEL

Caroline hatte sich, auch wenn sie davon ausgehen musste, dass
die Stimmung bei Tisch nicht sonderlich gelöst sein würde,
Mühe mit ihrem Aussehen gegeben und beschlossen, Lord
Coverdale so gut wie möglich aufzuheitern. Sie ahnte, was in ihm
vorging, denn schließlich hatte auch sie mit Laurent eine große
Enttäuschung erlebt. Anders als sie hatte Seine Lordschaft nicht
über Wochen hinweg die Zeit gehabt, das wahre Naturell seiner
Verlobten kennenzulernen, sondern sich von einem Augenblick
zum anderen mit Tatsachen abfinden müssen. Sie war
überzeugt, dass er es ihr nach reiflicher Überlegung nicht
nachtragen würde, ihn nicht vor dem Besuch in High Hutton
über Miss Ainderby informiert zu haben, und hoffte, es möge ihr
gelingen, seinen verletzten Stolz zu heilen und ihn moralisch
aufzurichten, so wie der Großvaters das bei ihr vermocht hatte.
Sie wollte ihm ihre große Wertschätzung bekunden und ihm,
falls die Umstände es zuließen, auch gestehen, dass sie ihn von
Herzen liebte.

Als sie den Salon betrat, erhob John sich, begrüßte sie höflich

und fragte steif: „Wollen wir in den Speisesalon hinübergehen?“

„Wie Sie wünschen“, antwortete sie, erstaunt über seinen küh-

len Ton. Er war also noch immer verärgert. Nicht willens, sich
die Stimmung verderben zu lassen, fuhr sie fort: „Heute Abend
wird es uns etwas seltsam vorkommen, ohne Lady Harriet und
Mrs. Abbington zu dinieren. Ich werde das angeregte Geplauder
Ihrer Stieftochter vermissen.“ Im Stillen war sie jedoch froh,
dass die beiden nicht anwesend sein würden, da es ihr dadurch
gewiss leichter fiel, sich mit Seiner Lordschaft auszusprechen.

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Man suchte das Esszimmer auf und setzte sich zu Tisch. Die

Unterhaltung verlief nicht so, wie Caroline sich das gedacht
hatte. In Anwesenheit der Lakaien konnte sie die Sprache nicht
auf persönliche Dinge bringen und sah sich genötigt, oberfläch-
liche Konversation zu machen, auf die Lord Coverdale zwar
einging, aber derart unbeteiligt, dass sie sich zunehmend über
ihn wunderte. Er wirkte geistesabwesend, starrte sie gelegentlich
scharf an und wandte rasch den Blick ab, wenn er ihren auf sich
gerichtet sah. Zu ihrem Befremden trank er mehr als sonst,
sprach dem Mahl nur lustlos zu und schickte nach dem Dessert
die Dienstboten in reichlich barschem Ton fort.

Caroline war überzeugt, dass er noch immer unter dem

Eindruck dessen stand, was er über seine frühere Verlobte er-
fahren hatte, und nicht mit sich ins Reine kommen konnte. Sie
bedauerte, dass er keine Anstalten machte, mit ihr über seinen
Kummer zu reden, da sie ihm gern geholfen hätte, ihn zu
verwinden.

Entschlossen, Antworten auf die ihn quälenden Fragen zu er-

halten, äußerte er übergangslos: „Bitte, erzählen Sie mir von Ihr-
em Aufenthalt in New Orleans. Es muss Ihnen schwergefallen
sein, sich allein in der Fremde durchzusetzen.“

Überrascht schaute Caroline ihn an und entgegnete: „Ich war

nicht allein. Ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich verheiratet
war.“

„Ach, richtig!“, erwiderte John leichthin.
Jäh hatte sie den Eindruck, dass ihm an ihren Angaben

Zweifel gekommen waren. „Ich habe angedeutet, dass ich mich
schutzlos fühlte, denn leider war Laurent mir kein guter Gatte.
Die Ehe mit ihm hat sich mehr und mehr zum Albtraum
entwickelt.“

„Wenn sie für Sie tatsächlich so schlimm war, wüsste ich gern,

warum Sie Ihren Mann nicht verlassen haben.“

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„Waren Sie je in New Orleans?“, fragte Caroline ernst.
„Nein.“
„Dann können Sie nicht wissen, dass ein mittelloses

siebzehnjähriges Mädchen es sich dort zweimal überlegt, ob es
sich von dem einzigen Menschen, der es vor sehr viel unan-
genehmeren Zeitgenossen beschützen kann, trennen soll“,
erklärte sie nachsichtig. „Hätte ich das getan, wäre ich zum
Freiwild geworden. Ganz abgesehen davon habe ich versucht,
dem Ehegelöbnis treu zu sein, auch wenn das jetzt abwegig klin-
gen mag. Laurent zuliebe hatte ich mein Zuhause aufgegeben
und den Menschen, die mich von Herzen mochten, insbesondere
meinem Großvater, großen Schmerz zugefügt. Ich habe mich
ermahnt, nicht bei jeder Schwierigkeit aufgeben zu dürfen, und
mir vorgehalten, dass man so liegt, wie man sich bettet. Nach
Laurents Tod war ich allerdings auf mich gestellt, hatte dann je-
doch zum Glück schon sehr viel mehr Lebenserfahrung.“

„Die Ihnen sicher von großem Nutzen gewesen ist“, warf John

abfällig ein. „Dank Ihrer Schönheit und Ihres gewandten Auftre-
tens ist es Ihnen vermutlich nicht schwergefallen, Gönner zu
finden.“

Unwillkürlich zuckte Caroline zusammen. Diese Äußerung

war eine dreiste Unverschämtheit, eine krasse Beleidigung.
Bemüht, sich die Empörung nicht anmerken zu lassen, fragte sie
so gleichmütig wie möglich: „Was wollen Sie damit andeuten,
Sir?“

„Nichts Besonderes“, antwortete der Marquess ausweichend.

„Ich möchte lediglich etwas mehr über Sie erfahren. Waren Sie
gezwungen, sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen, zum Beis-
piel durch Modellstehen?“

Die Frage kam so unerwartet, dass Caroline Seine Lordschaft

einen Moment lang perplex ansah und überlegte, wer oder was
ihn auf diesen Gedanken gebracht haben mochte. „Ja“, gestand

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sie freimütig. „Laurent hatte viele Künstler als Freunde, darunter
auch Maler, die ihn baten, mich porträtieren zu dürfen.“

„In welchem Zustand haben Sie posiert?“
Nun war ihr klar, dass nur ihr Cousin den Marquess über ihre

Zeit in New Orleans hatte informieren können. „Ich glaube mich
nicht zu irren, wenn ich annehme, dass mein Vetter Ihnen
schmutzige Dinge über mich berichtet hat“, antwortete sie er-
regt. „Wahrscheinlich hat er Ihnen von den Gemälden erzählt,
die von meinem Großvater aufgekauft wurden. Es befremdet
mich sehr, Sir, dass Sie seinen Verleumdungen überhaupt einen
Wahrheitsgehalt zumessen.“

„Sie haben recht, Madam. Er war derjenige, der mich genauer

über Sie ins Bild gesetzt hat.“

„Ich selbst hatte Ihnen bereits anvertraut, dass mein Leben in

New Orleans nicht so verlaufen ist, wie ich es mir gewünscht
hätte“, erwiderte Caroline erzürnt. Es war offenkundig, dass
Lord Coverdale mit diesem peinlichen Gespräch einen ihr nicht
ersichtlichen Zweck verfolgte. Aber falls er die Absicht hatte, sie
zu verletzen, würde sie ihm nicht die Genugtuung geben, zu se-
hen, wie sehr er ihr durch das Aufrühren unliebsamer Erinner-
ungen wehtat. „Möchten Sie noch mehr Geständnisse von mir
hören?“, setzte sie verbittert hinzu. „Ich gebe gern weitere Ein-
zelheiten zum Besten!“

„Was war mit dem Duell?“, erkundigte John sich

unbeeindruckt.

„Mit welchem Duell?“, fragte sie verständnislos. „Ich entsinne

mich nicht, dass sich je zwei Herren meinetwegen geschlagen
hätten. Einer von Laurents Bekannten hingegen war in eine de-
rartige Auseinandersetzung verwickelt, weil er beim Glücksspiel
betrogen hatte. Er wurde erschossen und hinterließ Frau und
Kinder. Mein Großvater hat immer gesagt, dass man, wenn man

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ein Zinker ist, zumindest ein guter Schütze sein muss oder das
Falschspielen bleiben lassen soll.“

„Eine weise Einsicht“, meinte John. „Gut, lassen wir Ihre Zeit

in New Orleans beiseite, und reden wir über Ihre Rückkehr nach
Kingston. Dort hatten Sie einen Beschützer.“

„Auf wen beziehen Sie sich?“
„Natürlich auf Ihren Großvater“, sagte John trocken. „Gab es

noch einen anderen Mann, der Sie protegiert hat?“

„Nein!“, antwortete Caroline entrüstet. „Mir scheint, in der

Stimmung, in der Sie jetzt sind, ist Ihnen jede Boshaftigkeit
zuzutrauen!“

„Ist es eine ungerechtfertigte Anzüglichkeit, wenn ich Senator

Coburn erwähne?“

„Was wollen Sie mit diesen bohrenden Fragen erreichen,

Sir?“, erwiderte Caroline zornig. „Mir ist längst klar geworden,
dass Edmund Ihnen gemeine Lügen über mich erzählt hat, aber
es erschüttert mich, wie weit er mit seinen Diffamierungen
gegangen ist.“

Gelassen zog John Mr. Willoughbys Brief aus der Innentasche

des Gehrocks und schob ihn über den Tisch. „Sie können getrost
lesen, was Ihr Vetter mir vor seiner Abreise aus Falmouth ges-
chrieben hat“, sagte er kühl. „Einer der Lakaien überbrachte mir
das Schreiben heute nach meiner Heimkehr.“

Caroline nahm den Brief an sich und begann zu lesen. Als sie

fertig war, ließ sie die Blätter angewidert auf den Tisch fallen
und äußerte verächtlich: „Edmund bleibt sich treu. Diese Lügen
hat er schon in Kingston über mich verbreitet. Natürlich gab es
Leute, die ihm glaubten. Ich begreife jedoch nicht, warum Sie
das tun. Sie enttäuschen mich, Sir. Ich habe Sie nicht für so bee-
influssbar gehalten. Also gut, ich räume ein, dass es ein Fehler
war, mich mit Robert Coburn einzulassen. Das bedauere ich

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immer noch. Aber ich werde mich dieses Irrtums wegen vor
niemandem entschuldigen, auch nicht vor Ihnen.“

„Das habe ich auch nicht von Ihnen erwartet“, entgegnete

John kalt. „Schade, dass Sie sich jetzt nicht sehen können. Sie se-
hen wie die personifizierte Unschuld aus, die man zu Tode
gekränkt hat, und erinnern mich fatal an meine verstorbene Ver-
lobte. Vielleicht hoffen auch Sie, so wie einst Gabriella, dass ich
Sie heirate. Narr, der ich bin, habe ich tatsächlich daran gedacht,
mich Ihnen zu erklären. Welche Wiederholung der Vergangen-
heit das gewesen wäre! Die Ehe mit Gabriella hat ein, wie ich
heute weiß, gütiges Schicksals verhindert, doch Ihnen wäre ich
fast in die Fänge gefallen. Gabriella war eine Heuchlerin, und
das trifft auch auf Sie zu. Sie beide nehmen sich nichts!“

„Wie können Sie es wagen, mich zu beschimpfen!“, ereiferte

sich Caroline und stand brüsk auf. „Setzen Sie mich gefälligst
nicht mit ihr gleich!“

„Nein?“, fragte John spöttisch. „Sie können nicht abstreiten,

dass Sie, als Sie in Buckden im Wasser waren, von jedem zufällig
Vorbeikommenden gesehen werden konnten. Vielleicht haben
Sie es sogar darauf angelegt. Mir ist nur nicht klar, warum Sie
mich dann im Gasthaus in meinem Zimmer nicht verführt
haben. Damals wäre ich ein leichtes Opfer für Sie gewesen.“

Mit wenigen Schritten war Caroline bei Lord Coverdale und

schlug ihm, außer sich vor Zorn, ins Gesicht. „Sie vergessen sich,
Sir!“, herrschte sie ihn an. „Nichts lag mir ferner, als mich mit
Ihnen einzulassen. Ich hatte lediglich den Wunsch, Sie in Ihrem
verwirrten Zustand zu beruhigen.“

Langsam erhob sich John, schaute sie drohend an und riss sie,

als sie vor ihm zurückwich, grob an sich. „Ihre Vergangenheit ist
mir jetzt vollkommen gleich!“, erwiderte er verbissen, neigte sich
vor und drückte hart die Lippen auf ihre.

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Sie wehrte sich heftig und versuchte keuchend, ihn von sich zu

stoßen.

Rücksichtslos begann er ihr das Kleid an den Schultern

herunterzuzerren.

Die Angst verlieh ihr neue Kraft. Mit der flachen Hand schlug

sie ihm hart auf die Nase, riss sich von ihm los und floh, auf dem
Weg die Weinkaraffe vom Tisch reißend, zum Kamin an der an-
deren Seite des Raums. Wütend zerschmetterte sie das
Kristallgefäß am marmornen Sims und hielt den gezackten Rest
wie eine Waffe vor sich. Sie wandte sich wieder Seiner Lord-
schaft zu und äußerte warnend: „Sie werden es gewiss nicht da-
rauf ankommen lassen, Sir, dass Lady Harriet miterleben muss,
wie Sie unter dem Vorwurf der versuchten Notzucht vor Gericht
zu erscheinen haben! Wenn ich mich einem Mann hingebe, dann
aus freien Stücken, und nicht, weil ich dazu gezwungen werde!
Und mit Ihnen werde ich mich ganz gewiss nicht abgeben, nur
damit Sie für eine Weile die Enttäuschung über Ihre verlogene
Verlobte vergessen können! Unterstehen Sie sich, mir auch nur
in die Nähe zu kommen. Ich weiß mich zu verteidigen! Ich ver-
sichere Ihnen, in dieser Hinsicht habe ich genügend Er-
fahrungen, die mich gelehrt haben, mir aufdringliche Kreaturen
vom Hals zu halten.“

Der flammende Blick, mit dem Mrs. Duval John ansah, ihre

unübersehbare Entschlossenheit, sich mit allen ihr zu Gebote
stehenden Mitteln zur Wehr zu setzen, brachten ihn im Nu zur
Raison. Entsetzt über sein Verhalten, schluckte er schwer und
murmelte betreten: „Entschuldigen Sie, Madam. Sie hätten mich
nicht ohrfeigen sollen. Das hat dazu geführt, dass ich vor Wut
den Verstand verloren habe. Seien Sie ganz beruhigt! Ich werde
Sie nicht wieder belästigen. Ich ziehe es vor, mir zu kaufen, won-
ach mich gelüstet. Das ist dann ein ehrlicher Handel, bei dem ich
von vornherein weiß, was ich zu zahlen habe. Ich stelle es Ihnen

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frei, sich zurückzuziehen. Wenn Sie gehen wollen, werde ich Sie
bestimmt nicht aufhalten.“

Caroline ließ die Scherbe fallen, richtete sich das Kleid und

wich wachsam zur Tür zurück. Da der Marquess keine Anstalten
machte, ihr zu folgen, drehte sie sich um und verließ geschwind
den Raum. Im Korridor sah sie zwei Bedienstete sie unsicher
anschauen.

„Die Weinkaraffe ist zerbrochen“, erklärte sie so gefasst wie

möglich. „Sie sollten die Splitter aufkehren lassen, Wingfield.“
Ohne die Domestiken weiter zu beachten, schritt sie durch den
Korridor und suchte ihr Appartement auf. Flink schloss sie die
Boudoirtür und lehnte sich erschöpft dagegen.

Die aus dem Nebenzimmer dringenden Geräusche veran-

lassten Margaret, in den Salon zu gehen. Erstaunt sah sie Mrs.
Duval an und erkundigte sich: „Was ist geschehen, Madam? War
Seine Lordschaft Ihnen immer noch böse?“

„So kann man es nennen, Maggie“, antwortete Caroline

seufzend. „Die Tatsache, dass ich ihm mein Wissen über Miss
Ainderby vorenthalten habe, ist jedoch nicht mehr zur Sprache
gekommen. Stattdessen hat er mich in der rüdesten Weise
verhört.“

„Verhört?“, wiederholte Margaret verdutzt.
„Edmund hat ihm einen Brief geschrieben, in dem er sich in

sehr aufgebauschter Form über alte Skandale auslässt. Er hat
sogar Bezug auf Robert Coburn genommen, die Sache jedoch
restlos verzerrt dargestellt. Leider scheint Seine Lordschaft jede
dieser Verleumdungen zu glauben.“

„Sind Sie denn nicht für sich eingetreten?“, fragte Margaret

bestürzt.

„Ich habe eingeräumt, dass es ein Fehler war, mich mit Robert

einzulassen, und hinzugefügt, ich würde das noch immer be-
dauern“, erklärte Caroline leise. „Lord Coverdale hat nicht

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wissen wollen, was ich damit meine. Meiner Meinung nach hat
er wie die Leute in Kingston die Schlussfolgerung gezogen, ich
hätte ein intimes Verhältnis mit dem Senator gehabt und ihn
dann sitzen gelassen. Das hat mich tief getroffen! Ich habe ihn
anders eingeschätzt und ihm vertraut. Jetzt bin ich sehr von ihm
enttäuscht, Maggie. Offenbar lerne ich nie, Männer richtig zu
beurteilen.“

„Ich begreife nicht, warum Sie diese Unwahrheit nicht ganz

entschieden geradegerückt haben“, sagte Margaret verständ-
nislos. „Sie haben sich doch nichts vorzuwerfen.“

„Es wäre vergebens gewesen, Maggie, das zu versuchen“, ent-

gegnete Caroline müde. „Seine Lordschaft hat nun einmal ein
Vorurteil gegen mich gefasst. Aber lassen wir dieses Thema auf
sich beruhen. Ich will nicht mehr darüber reden“, fügte sie hin-
zu, straffte sich und ging ins Ankleidezimmer.

Kopfschüttelnd folgte Margaret ihr, half ihr, sich für die Nacht

herzurichten, und erkundigte sich dann: „Kann ich noch etwas
für Sie tun, Madam?“

„Nein, danke“, antwortete Caroline matt. „Gehen Sie

schlafen.“

„Angenehme Ruhe, Madam“, erwiderte Margaret, knickste

und zog sich zurück.

Caroline ging zu Bett, fand jedoch keine Ruhe, obwohl sie sehr

abgespannt war. Sich rastlos hin und her wälzend, grübelte sie
über das Gespräch mit dem Marquess nach und konnte nicht
verhindern, dass ihr die Tränen in die Augen traten. Es ärgerte
sie, dass sie Schwäche zeigte, denn sie hatte nicht einmal nach
dem Tod der Eltern und des Großvaters geweint. Sie hatte gel-
ernt, die Contenance zu wahren, war nun jedoch nicht mehr
fähig, sich zu beherrschen.

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19. KAPITEL

Nach dem Frühstück teilte Caroline ihrer Zofe mit, dass sie
gleich nach Lady Harriets Rückkehr aus Brough abzureisen
gedenke, und fügte hinzu, Lord Coverdale werde ihr gewiss eine
seiner Kutschen zur Verfügung stellen, in der sie nach Richmond
gelangen könne. Sie habe vor, Joseph vorauszuschicken, damit
er dort eine Droschke für sie miete. Falls alles nach Wunsch ver-
lief, würde man voraussichtlich in vier oder fünf Tagen in Lon-
don sein. Dann wies sie Maggie an, das Gepäck zu richten, setzte
sich an den kleinen Sekretär und verfasste einen Brief an Mr.
Turner, der ihn, wie sie hoffte, noch vor ihrem Eintreffen in der
Hauptstadt erreichte. Sie berichtete ihm von der erfolgreichen
Durchführung ihres Auftrags und ersuchte ihn, ihr für die kom-
menden Wochen eine passende Unterkunft zu besorgen, in der
sie zu wohnen gedachte, bis sie über ihre Zukunft entschieden
hatte.

Anschließend versiegelte sie das Couvert, begab sich in die

Halle und legte es in die Silberschale zu der ausgehenden Post.
Als sie hochsah, bemerkte sie, dass der Marquess of Coverdale
ins Vestibül gekommen war. Er sah blass und übernächtigt aus.

„Guten Morgen, Madam“, begrüßte er sie höflich und

verneigte sich. „Ich bin froh, dass ich Sie antreffe. Bitte, nehmen
Sie meine Entschuldigung für mein gestriges ungehöriges Ver-
halten an. Zu meinen Gunsten kann ich nur vorbringen, dass ich
nach den unangenehmen Neuigkeiten innerlich sehr aus dem
Gleichgewicht geraten war und obendrein beim Dinner etwas zu
viel getrunken habe.“

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„Aus diesen Gründen sehe ich Ihnen Ihr deplatziertes Beneh-

men nach“, erwiderte Caroline steif. „Lassen wir es dabei
bewenden.“

„Vielen Dank, Madam. Sie sind sehr großmütig. So schnell

werde ich es jedoch nicht vergessen und meine Selbstachtung
zurückgewinnen können. Wie ich soeben hörte, haben Sie vor,
Marrick Castle heute zu verlassen. Selbstverständlich stelle ich
Ihnen eine meiner Berlinen zur Verfügung, damit Sie bequem
nach Richmond gelangen. Es ist sehr anständig von Ihnen, mit
dem Aufbruch zu warten, bis Harriet zurück ist.“

„Ich würde nicht abreisen, ohne mich von ihr verabschiedet zu

haben.“

„Werden Sie im nächsten Frühjahr in London sein?“, erkun-

digte John sich neugierig. „Ich frage Harriet zuliebe“, fügte er
rasch

hinzu.

„Sie

würde

sich

bestimmt

freuen,

Sie

wiederzusehen.“

„Vielleicht, aber im Moment kann ich das nicht mit Sicherheit

sagen, Sir“, antwortete Caroline ausweichend. „Ich möchte die
Gelegenheit nutzen, um mich nochmals für Ihre Unterstützung
bei der Erledigung des letzten Wunsches meines Großvaters zu
bedanken. Ohne Ihre Hilfe wäre mir das gewiss sehr viel schwer-
er gefallen. Es tut mir jedoch leid, dass der Besuch bei den
Ainderbys für Sie und mich so fatale Folgen hatte.“

„Ich habe Ihnen gern beigestanden“, sagte John ehrlich.

„Auch ich schulde Ihnen Dank, weil Sie dazu beigetragen haben,
die Kluft zwischen mir und meiner Stieftochter zu überwinden.“

„Es war mir ein Herzensbedürfnis, zwischen Ihnen beiden zu

vermitteln“, gestand Caroline. „Und nun entschuldigen Sie mich
bitte, Sir. Ich muss mich um meine Angelegenheiten kümmern.“

Rasch kehrte sie in ihre Räume zurück, beaufsichtigte das

Packen ihrer Sachen, machte sich frisch und ließ sich von ihrer
Zofe für die Reise umkleiden. Dann ging sie, während das

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Gepäck heruntergebracht und verladen wurde, ins Parterre,
suchte den Dienstbotentrakt auf und verabschiedete sich von
den Angestellten Seiner Lordschaft, die sie dort antraf.

Zufällig hatte John sie ihr Appartement verlassen gesehen.

Entschlossen betrat er das Ankleidezimmer, traf wie erhofft ihre
Zofe an und sagte: „Verzeihen Sie, Mrs. Lansing, wenn ich Sie
störe.“

„Mrs. Duval ist nicht hier“, erklärte Margaret. „Sie ist soeben

nach unten gegangen.“

„Ich bin gekommen, um Ihnen diese Geldbörse zu geben“,

fuhr er fort, ohne den Hinweis zu beachten. „Das ist für Sie per-
sönlich und als Belohnung dafür gedacht, dass Sie weiterhin gut
auf Mrs. Duvals Wohlergehen achten. In gleicher Weise habe ich
mich auch bei Mr. Bellerby erkenntlich gezeigt.“

„Pardon, Mylord“, warf Margaret kühl ein, „doch Ihre freund-

liche Geste ist unnötig. Ich bin überzeugt, Mr. Bellerby hat sie
ebenso höflich, aber bestimmt zurückgewiesen, wie ich das tue.
Mrs. Duval war uns beiden stets eine großzügige Herrin, und wir
sind stolz darauf, ihr dienen zu können. Bis auf die Zeit in New
Orleans waren wir immer für sie da. Als sie mit diesem Schuft
verheiratet war, der sie verprügelte und drangsalierte, bis sie
sich seinen Wünschen fügte, konnten wir ihr leider nicht
beistehen. Ich muss Ihnen indes in aller Offenheit sagen, dass sie
damals bei Weitem nicht so unglücklich war, wie das jetzt der
Fall ist.“

Verärgert über die dreiste Anspielung der Zofe, bemerkte

John kühl: „Nun, Mrs. Duval wird bestimmt bald besserer Stim-
mung sein.“

„Daran zweifle ich nicht“, entgegnete Margaret erregt. „Sie hat

gelernt, Krisen zu meistern und gute Miene zum bösen Spiel zu
machen. Ich weiß, es steht mir nicht zu, Mylord, mich in ihre
Belange zu mischen“, fügte sie einsichtig hinzu, „aber da wir uns

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aller Voraussicht nach nicht wieder begegnen werden, erlaube
ich mir ein freimütiges Wort. Sie haben Mrs. Duval in der Zeit,
die sie hier zugebracht hat, kennengelernt und sich ein Urteil
über sie bilden können. Schenken Sie den Verleumdungen, die
ihr nichtsnutziger Vetter geäußert hat, wirklich Glauben?“

John zuckte nur achtlos mit den Schultern.
„Wenn Sie keine Bedenken haben, Mr. Willoughbys Infamien

für die Wahrheit zu halten, dann tun Sie Mrs. Duval großes Un-
recht“, ereiferte sich Margaret. „Sie ist sehr integer und würde
ihre Würde nie verlieren. Das hat sie immer wieder bewiesen,
wenn sie in Kingston die Männer, die sie belästigten, ihren ver-
heirateten Cousin eingeschlossen, in die Schranken wies. Halten
Sie Mrs. Duval tatsächlich für so leichtfertig? Das, was ihr nicht-
swürdiger Cousin Ihnen über sie und Senator Coburn ges-
chrieben hat, ist eine gemeine Lüge! Robert Coburn war hoch
verschuldet und hatte Angst, sich Hilfe suchend an seinen Vater
zu wenden. Er hat Mrs. Duval gebeten, ihm Geld zu leihen, und
aus Mitleid gab sie es ihm, damit er einen Teil seiner Verbind-
lichkeiten begleichen konnte. Leider war sie zu vertrauensselig,
denn er hat sein Wort gebrochen und den gesamten Betrag bei
weiteren Glücksspielen verloren. Als ihm bewusst wurde, wie
ausweglos seine Lage war, hat er sich feige erschossen. Sie
hadert noch heute mit sich, weil sie so gutgläubig war, und
bereut, dass sie nicht strenger auf ihn eingewirkt und ihn
genötigt hat, seinem Vater die Wahrheit zu gestehen. Ihr Ver-
trauen war schamlos ausgenutzt worden“, fügte Margaret mit
einem bedeutungsvollen Blick auf Seine Lordschaft hinzu, „be-
dauerlicherweise nicht zum ersten und wohl auch nicht zum let-
zten Mal.“

„Wenn die Dinge so liegen, begreife ich nicht, warum sie sie in

dem Gespräch, das wir über die von Mr. Willoughby geäußerten

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Anwürfe geführt haben, nicht richtiggestellt hat“, murmelte
John erstaunt.

„Vermutlich hat ihr Stolz sie daran gehindert, oder sie war es

leid, sich in Schutz nehmen zu müssen“, meinte Margaret. „Bitte,
sehen Sie mir die nächste Bemerkung nach, Sir, aber Sie wären
der Mann gewesen, der sie hätte glücklich machen können. Nach
den Erfahrungen, die sie mit Ihnen gemacht hat, wird sie gewiss
keinem Mann gegenüber je wieder vorbehaltlos aufgeschlossen
sein.“ Betroffen hielt Margaret inne, weil in diesem Augenblick
Mrs. Duval in den Raum kam.

Jäh blieb Caroline bei Lord Coverdales Anblick stehen,

schaute ihre Zofe vorwurfsvoll an und äußerte verbittert: „Störe
ich bei einer persönlichen Unterredung? Versuchen Sie nicht,
Maggie, das falsche Bild, das Seine Lordschaft von mir hat, zu
korrigieren. Das wäre reine Zeitverschwendung.

Bitte, bringen Sie jetzt mein Handgepäck in den Wagen.“
Schweigend knickste Margaret vor Lord Coverdale, ergriff die

Reisetasche und die Hutschachtel und verließ den Raum.

„Lady Harriet ist eingetroffen“, wandte Caroline sich in sachli-

chem Ton an den Marquess. „Ich habe ihr Lebewohl gesagt und
ihr ans Herz gelegt, stets ihren eigenen Wertmaßstäben zu fol-
gen, nicht auf das zu hören, was böswillige Zungen über sie re-
den mögen, und sich nur zu entschuldigen, wenn sie eingesehen
hat, dass sie einen Fehler begangen hat. Ich hoffe inständig, dass
sie den Rat befolgen wird. Und Ihnen möchte ich zum Schluss
nahelegen, stets gut auf sie zu achten, damit sie das Glück im
Leben findet, das sie verdient hat. Sie ist ein herzensguter
Mensch, und es fällt mir sehr schwer, mich von ihr zu trennen.
Sollten wir uns durch Zufall im Frühjahr in London begegnen,
können Sie jedoch getrost davon ausgehen, dass ich durch nichts
zu erkennen geben werde, wie gut wir miteinander bekannt
sind.“ Brüsk wandte sie sich ab und begab sich ins Freie.

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Langsam folgte John ihr, blieb in einigem Abstand von der

Kutsche stehen und wartete neben seiner schluchzenden
Stieftochter und deren Gouvernante, bis die Berline vom Hof ge-
rollt war. Dann zuckte er gleichmütig mit den Schultern und
kehrte schweigend in Harriets und Mrs. Abbingtons Begleitung
in den Palas zurück.

Caroline war froh, Marrick Castle und Lord Coverdale so schnell
wie möglich hinter sich lassen zu können, beschloss jedoch,
einem spontanen Einfall folgend, von der Hauptstraße abzubie-
gen und über Land zu fahren. Daher wies sie Bellerby an, hinter
York die Richtung nach Ripon zu nehmen, wo sie zu übernacht-
en gedachte.

Als sie in dem dortigen Gasthof eintraf, lernte sie einige Reis-

ende kennen, die ihr in glühenden Worten von den Annehmlich-
keiten in Buxton berichteten. Sie war so von der Schilderung an-
getan, dass sie am nächsten Tag dort hinfuhr, sich in einem
Hotel einquartierte und etliche Ausflüge in die Umgebung unter-
nahm. An den Abenden lenkte sie sich von dem anhaltenden
Groll auf Lord Coverdale ab, indem sie die im Kurhaus veran-
stalteten Bälle besuchte.

Nach einigen Tagen setzte sie die Reise durch Derbyshire fort,

nahm Quartier in den Herbergen, die am Weg lagen, und nutzte
vormittags das schöne Wetter für ausgedehnte Spaziergänge, bei
denen sie von Bellerby begleitet wurde. Er war nicht sehr ge-
sprächig und nahm offenbar Rücksicht darauf, dass sie still mit
sich ins Reine kommen wollte. Manchmal war sie so lange unter-
wegs, dass sie erschöpft ins Gasthaus zurückkehrte und abends
todmüde zu Bett ging. Dennoch fand sie nicht sofort die ersehnte
Ruhe, sondern grübelte weiter über den Marquess of Coverdale
nach.

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Mehr und mehr gelangte sie zu der Erkenntnis, dass sie sich,

beeinflusst durch Mrs. Lansings ständiges Drängen, sich Män-
nern gegenüber nicht restlos zu verschließen, etwas vorgemacht
hatte. Sie hatte ihn für einen ganz besonderen Menschen gehal-
ten, wohingegen er in Wirklichkeit nicht besser oder schlechter
als jeder andere Mann war. Sie war einer Selbsttäuschung erle-
gen, die ihr viel Kummer eingebracht hatte, nahm sich jedoch
tapfer vor, den Schmerz zu verdrängen und nicht so zu leiden
wie nach der Enttäuschung durch Laurent.

Diesem Vorsatz folgend, konzentrierte sie sich wieder mehr

auf ihre Umwelt und auf ihre allernächste Zukunft. Eines
Abends teilte sie ihren Bediensteten mit, man werde am näch-
sten Morgen auf direktem Weg in die Hauptstadt weiterfahren.
„Sonst fängt Mr. Turner an, sich zu fragen, was aus uns ge-
worden ist, da ich mich zum letzten Mal aus Buxton bei ihm
gemeldet habe. Inzwischen trage ich mich mit dem Gedanken,
den Winter in London zu verbringen. Ich möchte die Sehenswür-
digkeiten dort kennenlernen und am gesellschaftlichen Leben
teilnehmen. Von Maggie weiß ich, dass sie bei mir bleiben will,
aber wenn Sie, Joseph, lieber nach Kingston zurückkehren
möchten, werde ich Sie nicht daran hindern.“

„Nein, Madam“, erwiderte der Diener fest. „Ich habe Ihrem

Großvater feierlich versprochen, stets auf Sie Acht zu geben.“

„Danke“, sagte Caroline erleichtert. „Wenn wir in London

sind, werden wir in dem Domizil, das Mr. Turner hoffentlich
mittlerweile für uns gefunden hat, viel zu tun haben, damit es
unseren Vorstellungen entspricht. Möglicherweise muss ich wei-
teres Personal engagieren. Aber das wird sich zeigen, wenn wir
da sind.“

Margaret freute es, dass Mrs. Duval sichtlich von neuem

Lebensmut erfüllt war, und sah dem Aufenthalt in London mit
großen Erwartungen entgegen.

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20. KAPITEL

Der Oktober neigte sich dem Ende entgegen, als Caroline in Lon-
don eintraf. Sie setzte sich unverzüglich mit Mr. Turner in Ver-
bindung und erfuhr, er habe für sie ein Appartement im
Pulteney reserviert. Er schlug vor, sie dort aufzusuchen und ihr
die Unterlagen über die seiner Meinung nach für sie geeigneten
Häuser vorzulegen. Sie war damit einverstanden, dankte ihm für
seine Bemühungen und fuhr ins Hotel. Die für sie bestimmten
Räume entsprachen ihren Vorstellungen, und nach einer gut ver-
brachten Nacht empfing sie den Anwalt um elf Uhr ausgeruht
und bester Stimmung.

Er unterbreitete ihr die verschiedenen Angebote, wies sie auf

die Besonderheiten eines jeden Objekts hin und äußerte schließ-
lich: „Auf eine Sache möchte ich Sie noch hinweisen, Madam.“

„Und die wäre?“, erkundigte sie sich.
„Mit Verlaub, aber ich halte es für ratsam, dass Sie für die Zeit

Ihres Aufenthalts im Hotel eine Gesellschafterin einstellen, dam-
it Sie als alleinstehende Dame nicht ins Gerede kommen. Wenn
Sie es wünschen, werde ich mich gern für Sie nach einer
geeigneten Person mit tadellosem Leumund umsehen.“

„Nur wenn es unbedingt sein muss“, erwiderte Caroline

stirnrunzelnd.

„Oh, soeben fällt mir eine andere Möglichkeit ein, wie ich

Ihnen in dieser Hinsicht behilflich sein könnte“, äußerte Mr.
Turner erfreut. „Ich bin sehr gut mit Lady Danby bekannt, die vi-
elleicht einwilligt, Sie zu protegieren. Wenn Sie erlauben, werde
ich mit ihr sprechen.“

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„Sind Sie sicher, Sir, dass die Dame dieses Ansinnen nicht als

aufdringlich empfinden wird?“, fragte Caroline skeptisch.

„Seien Sie unbesorgt, Madam. Sie wird sich nicht belästigt

fühlen.“

„Gut, dann habe ich nichts dagegen, dass Sie mit ihr über

mich reden“, gab sie nach.

„Ich werde Sie schnellstens über die Entscheidung der Baron-

in informieren“, versprach der Anwalt. „Es hat mich übrigens
sehr gefreut zu lesen, dass Sie Ihren Auftrag so erfolgreich
erledigen konnten. Ich war jedoch nicht erstaunt, als ich erfuhr,
dass Ihr Großvater ein Ainderby war. Jetzt kann ich Ihnen
eingestehen, dass ich über bestimmte Dinge genauer informiert
war, als ich Ihnen bei unserem Kennenlernen gesagt habe. Ach,
übrigens habe ich von meinem Sozius erfahren, dass Lord Cover-
dale sich entschlossen hat, anlässlich des gesellschaftlichen De-
büts seiner Stieftochter mit ihr nach London zu kommen.“

„Ja, das hat er vor“, bestätigte Caroline. „Das Verhältnis zwis-

chen ihm und Lady Harriet ist sehr viel besser geworden.“

„Und wie hat es Ihnen in Yorkshire gefallen?“
„Sehr gut, Sir. Die Landschaft ist sehr schön. Aber auch das,

was ich von Derbyshire gesehen habe, hat einen großen
Eindruck auf mich gemacht.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Mr. Turner lächelnd,

während er die Unterlagen ins Portefeuille zurücklegte. „Verzei-
hen Sie, Madam, doch nun muss ich in die Kanzlei zurück. Ich
werde mich umgehend mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald
ich mit Lady Danby gesprochen habe.“

Auch Caroline erhob sich. „Danke“, sagte sie freundlich und

verabschiedete sich von dem Anwalt.

Nach der Ankunft in der Kanzlei schrieb Samuel Lady Danby un-
verzüglich ein Billett, in dem er sie um ein baldiges Gespräch

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ersuchte. Er ließ das Briefchen von seinem Gehilfen zu ihr bring-
en und hieß ihn, auf Antwort zu warten. Nach geraumer Zeit
kehrte der Bürodiener mit einem Schreiben zurück, in dem der
Anwalt von Ihrer Ladyschaft zum Tee gebeten wurde.

Zufrieden fuhr er gegen vier Uhr nachmittags zu der Dame,

ließ sich bei ihr melden und wurde in ihr Boudoir geführt. Er be-
grüßte sie herzlich, hob galant ihre Hand zum Kuss an die Lip-
pen und nahm auf ihre Bitte hin in einem Fauteuil Platz.

„Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs, Sir?“, erkundigte

Lady Danby sich lächelnd.

„Nun, Mylady, mein Anliegen hängt mit einer Bemerkung

zusammen, die Sie letzte Woche machten, als wir uns im Hyde
Park begegneten“, antwortete Mr. Turner. „Sie äußerten, Sie hät-
ten sich auf dem Land so immens gelangweilt.“

„Und wie!“, bestätigte Ihre Ladyschaft seufzend. „Ich vermisse

meine Patentochter, die mir dort sonst oft Gesellschaft geleistet
hat. Seit mein Neffe sie im letzten Sommer geheiratet hat,
bekomme ich beide nur selten zu Gesicht, obwohl ich anderer-
seits froh bin, dass der Junge sesshaft geworden ist!
Jetzt wird er endlich nicht mehr in irgendwelche skandalöse
Liebesaffären verstrickt sein!“

„Seine Gattin ist ein wirklich reizendes Geschöpf, Madam“,

meinte der Anwalt.

„Ja“, bestätigte Ihre Ladyschaft. „Kein Wunder, dass er so in

sie vernarrt ist. Ich nehme jedoch nicht an, dass Sie zu mir
gekommen sind, um sich mit mir über Ivo und Josephine zu un-
terhalten. Also, was haben Sie auf dem Herzen?“

„In unserem Gespräch haben Sie erwähnt, dass Sie be-

fürchteten, sich auch hier zu öden.“

„Ja, weil ich keine Ablenkungen habe“, erklärte Lady Danby.

„Ein wenig graust mir davor, obwohl ich jahrelang allein gelebt
habe. Seit ich Josephine in ihrer ersten Saison protegiert habe,

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fehlt mir der ganze damit verbundene Trubel. Ohne sie fand ich
es in Lyne St. Michael schrecklich fad. Wie dem auch sei, ich
warte ab, ob ich mich hier nicht doch noch etwas amüsieren
werde. Aber worauf wollen Sie hinaus? Ich habe den Eindruck,
dass Sie mich um etwas bitten wollen, jedoch nicht sicher sind,
ob Ihr Vorschlag mir genehm sein wird. Verraten Sie mir end-
lich, was Ihr Anliegen ist.“

„Haben Sie je daran gedacht, eine Gesellschafterin zu

engagieren?“

„Nein, und ich habe auch nicht vor, das zu tun. In der Regel

sind das blässliche, nicht sonderlich einfallsreiche Geschöpfe,
mit denen ich nichts anfangen kann.“

„Nun, es war nicht meine Absicht, Ihnen nahezulegen, eine

dieser Frauen einzustellen“, gab Mr. Turner zu. „Der Vorschlag,
den ich Ihnen machen möchte, zielt indes fast in die gleiche
Richtung. Unter meinen Klienten befindet sich eine sehr re-
spektable, reiche Dame, die zurzeit auf sich gestellt ist.“

„Wollen Sie, dass ich sie zu mir nehme?“, warf Lady Danby

stirnrunzelnd ein. „Nein, Sir, das kommt nicht infrage, selbst
wenn ich sie nicht entlohnen müsste. Sie müsste Rücksicht auf
mich nehmen, und dadurch geriete sie in ein gewisses Ab-
hängigkeitsverhältnis zu mir, das mir unangenehm wäre.“

„Mrs. Caroline Duval, das ist die Dame, von der ich rede, ist

sehr selbstständig und von tadelloser Herkunft. Zu seinen Le-
bzeiten war ihr mittlerweile verstorbener Großvater ein in King-
ston auf Jamaika hoch angesehener Landbesitzer und ihre
Großmutter eine Willoughby.“

„Jamaika?“, wiederholte Ihre Ladyschaft überrascht. „Nun,

dann hat sie gewiss viel zu erzählen.“

„Ganz sicher“,meinte Mr. Turner.„Sie hatte mich beauftragt,

ein für sie angemessenes Domizil zu finden, das sie für die Dauer
ihres Aufenthaltes in London mieten kann. Ich habe ihr jedoch

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zu bedenken gegeben, für eine alleinstehende Frau sei es un-
ziemlich, keine Anstandsdame im Haus zu haben. Da sie, was
den Umgang mit einer bezahlten Gesellschafterin angeht, einen
ähnlichen Standpunkt wie Sie vertritt, Madam, ist es ihr lieber,
jemanden um sich zu haben, der ihr nicht untergeordnet ist.“

„Kommen Sie zum Kern der Sache!“, forderte Ihre Ladyschaft

an diesem Punkt unwirsch.

„Ich habe Mrs. Duval angeboten, dieses Problem auf eine für

sie adäquate Weise zu lösen, und dabei Sie im Sinn gehabt,
Madam. Sie ist, wie erwähnt, sehr vermögend, sodass sie nicht
auf ein Honorar angewiesen ist. Selbstverständlich würde sie
sich, wenn sie hier Aufnahme fände, an den durch sie und ihre
beiden Bediensteten entstehenden Lebenskosten in angemessen-
er Form beteiligen. Was halten Sie von diesem Einfall, Madam?“

Lady Danby überlegte eine Weile, wog das Für und Wider ab

und gelangte schließlich zu dem Schluss, die Idee habe sehr viel
für sich. „Ich werde mir Mrs. Duval ansehen, damit ich
herausfinde, ob wir gut miteinander auskommen können“, wil-
ligte sie ein. „Erst nach dem Gespräch werde ich Ihnen meine
endgültige Entscheidung mitteilen.“

„Das soll mir recht sein“, erwiderte Samuel erleichtert.
„Wo wohnt sie zurzeit?“
„Im Pulteney, Madam.“
„Gut, dann arrangieren Sie ein Treffen mit ihr im Hotel, je

eher, desto besser.“

„Würde es Ihnen übermorgen Nachmittag passen?“
Ihre Ladyschaft nickte zustimmend.
„Danke, Madam“, fuhr Mr. Turner fort und stand auf. „Ich

lasse Sie umgehend benachrichtigen, falls der Termin
nichteingehalten werden kann.“ Galant gab er Lady Danby einen
Handkuss, verabschiedete sich von ihr und kehrte in die Kanzlei
zurück.

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Einen Tag nach dem Besuch des Anwalts erhielt Caroline ein Bil-
lett von ihm, in dem er ihr mitteilte, Lady Danby sei einver-
standen, sich mit ihr zu treffen. Sie habe vorgeschlagen, am
Spätnachmittag mit ihm ins Hotel zu kommen, damit man sich
kennenlernte. Um Bestätigung der Verabredung gebeten,
schickte Caroline Joseph mit dem zustimmenden Antworts-
chreiben in die Kanzlei, ließ sich nach dem Mittagessen von ihrer
Zofe für den Besuch der Baronin umkleiden und empfing die
Herrschaften gegen fünf Uhr zum Tee.

Nachdem Mr. Turner die Damen miteinander bekannt

gemacht hatte, zog er sich mit dem Hinweis, Akten bearbeiten zu
müssen, diskret zurück.

Caroline und Lady Danby waren sich auf Anhieb sympathisch,

und das Gespräch verlief so gut, dass die Baronin bald die Ein-
ladung aussprach, Mrs. Duval sei willkommen, auf unbegrenzte
Zeit bei ihr zu wohnen. Caroline nahm das Angebot an und über-
siedelte schon am nächsten Vormittag in die Residenz Ihrer
Ladyschaft.

Lady Danby behandelte sie wie eine jüngere Verwandte,

führte sie in ihren großen Bekanntenkreis ein und besuchte mit
ihr Bälle, Theateraufführungen und Museen. Man fuhr im Hyde
Park aus, ließ sich bei Soireen und Empfängen blicken, ging in
die Oper und ins Konzert. Es dauerte nicht lange, bis Caroline
feststellte, dass etliche Kavaliere sich für sie zu interessieren
begannen.

Die Zahl der Herren, die ihretwegen im Palais der Baronin

vorsprachen, vergrößerte sich rasch, sodass die Baronin eines
Tages, nachdem die Besucher sich verabschiedet hatten,
seufzend äußerte: „Du meine Güte! Seit Sie hier sind, Caroline,
komme ich kaum noch zur Ruhe.“

„Das tut mir leid, Madam“, erwiderte Caroline bedauernd.

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„Das ist doch nicht Ihre Schuld“, sagte Ihre Ladyschaft

beschwichtigend. „Außerdem genieße ich den Trubel. Ich staune
jedoch, wie gut Sie einige Ihrer Anbeter in die Schranken zu
weisen verstehen.“

„Wenn Sie damit auf Mr. Powerstock anspielen, so bin ich

sicher, dass er sich, würde ich ihn auch nur im Mindestens er-
mutigen, sofort einredet, ich sei die große Liebe seines Lebens.
Er ist noch viel zu jung und leicht beeinflussbar. Sir Anthony
Grainger hat mir weitaus mehr gefallen.“

„Bei ihm wäre ich vorsichtig, meine Liebe“, warnte Lady

Danby. „Er stammt zwar aus einer sehr alten Familie und hat
ausgesprochen gute gesellschaftliche Kontakte, soll aber in fin-
anzieller Bedrängnis sein, die dazu geführt hat, dass sein großer
Landsitz in Kent in arg heruntergekommenem Zustand ist. Von
der beträchtlichen Mitgift, die seine mittlerweile verstorbene
Frau in die Ehe mitgebracht hat, ist offenbar nichts mehr
vorhanden, da er auf viel zu großem Fuß lebt. Er ist stets nach
der neuesten Mode gekleidet und verkehrt in den besten Kreis-
en. Wenn er diesen aufwendigen Lebensstil beibehalten will,
muss er eine sehr reiche Frau heiraten. Wie mein Neffe mir
erzählt hat, soll Sir Anthony sich jedoch nicht immer an die
Spielregeln des Anstands halten. Angeblich hat der Baronet
keine Hemmungen, seiner heiklen pekuniären Lage wegen
begüterte Damen schamlos auszunutzen. Außerdem wurde mir
von Ivo berichtet, dass Sir Anthony eine besondere Vorliebe für
sehr junge Frauen hat. Aber mein Neffe hat natürlich gut reden“,
setzte sie schmunzelnd hinzu. „Vor seiner Hochzeit galt er als
Londons schlimmster Bonvivant.“

„Seien Sie unbesorgt, Mylady“, warf Caroline lächelnd ein.

„Ich habe nicht die Absicht, mich näher mit Sir Anthony zu be-
fassen. Sie wissen, ich will mich nicht ein zweites Mal
vermählen.“

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„Sie haben jedoch in ziemlich verfänglicher Weise mit ihm

kokettiert. Wenn Sie es nicht ernst mit ihm meinen, könnte es
sein, dass er sich brüskiert und in seinem Stolz verletzt fühlt.
Möglicherweise lässt er sich dann zu einer Unüberlegtheit hin-
reißen. An Ihrer Stelle wäre ich etwas zurückhaltender.“

„Danke für den Rat, Madam“, erwiderte Caroline freundlich.

„Ich werde ihn beherzigen und mich bemühen, Sir Anthony so
wenig wie möglich zu sehen, bis wir zu Ihrem Bruder nach
Somerset reisen. Nach unserer Rückkehr dürfte der Baronet das
Interesse an mir verloren haben.“

In den Monaten nach Mrs. Duvals Abreise hatte John sich in-
tensiv um die Belange des vernachlässigten Besitzes gekümmert
und erkannt, dass es möglicherweise Jahre dauern würde, bis
der

landwirtschaftliche

Betrieb

wieder

ertragreich

war.

Ungeachtet der zeitlichen Beanspruchung hatte er nicht ver-
säumt, sich viel mit Harriet zu befassen und auf ihre Bedürfnisse
einzugehen. Wenn sie ihm von ihren kleinen Sorgen und ihrem
einst so einsamen Dasein in Marrick Castle erzählte, hatte er ihr
aufmerksam und verständnisvoll zugehört. Da es ihn erschüt-
terte zu erfahren, wie wenig seine verstorbene Gattin für sie da
gewesen war, vermied er es bewusst, die Sprache zu häufig auf
die Kindheit seiner Stieftochter zu bringen, um nicht noch mehr
bedrückende Erinnerungen zu wecken.

Eines Tages, als er bei schönem winterlichen Wetter mit Har-

riet ausritt, konnte er sich dennoch nicht enthalten zu sagen:
„Wir haben uns zwar schon einige Male über deine frühere Ein-
stellung zu mir unterhalten, aber bisher hast du mir nie richtig
erklärt, warum du so entsetzt gewesen bist, als du mich nach
meiner Ankunft wiedersahst.“

„Daran war vor allem mein Großonkel schuld“, antwortete

Harriet freimütig. „Du kannst dir nicht vorstellen, welche Angst

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ich vor ihm hatte. Er verbrachte fast den ganzen Tag in seinem
abgedunkelten Arbeitszimmer. Er saß dann vor Onkel Philips
Porträt, und nur die Kerzen in den Girandoles, die zu beiden
Seiten des Bildes angebracht waren, spendeten ein wenig Licht.
Ich entsinne mich, dass er mich einmal gefragt hat, ob ich wisse,
wen es darstelle. Natürlich habe ich geantwortet, der abgebildete
Mann sei mein Onkel Philip, der Cousin meines Vaters. Daraufh-
in hat er mich an den Schultern ergriffen und derart heftig
geschüttelt, dass mir der Kopf hin und her flog. Dabei hat er
mich angeschrien, ich solle nie mehr wagen, dich zu erwähnen.
Täte ich das je wieder, ließe er mich in den ehemaligen Kerker
sperren, wo die Ratten mich auffressen würden. Und dann hat er
mir jeden Umgang mit dir verboten. Nachts hatte ich dann zum
ersten Mal einen Albtraum, in dem ich mich in dem schaurigen
Verlies befand, dich auf mich zukommen sah und dir nicht
zurufen konnte, dass du nicht weitergehen sollst. Und dann er-
schien Onkel Douglas wie aus dem Nichts und riss mich an sich.
Dieser Traum wiederholte sich, und ich bin dann jedes Mal sch-
weißgebadet und schreiend aufgewacht.“

„Du Ärmste!“, erwiderte John mitfühlend. „Ich wusste, dass

sein Verstand sich nach Philips Tod verwirrt hat, konnte indes
nicht ahnen, wie schlimm es um ihn stand.“

„Er hat noch etwas gesagt, das ich mir nicht erklären konnte.“
„Was?“
„Ich sei das Einzige, was ihm von seinem Sohn geblieben ist“,

antwortete Harriet ruhig. „Was hat er damit gemeint?“

Die Frage versetzte John in große Verlegenheit. Schweigend

schaute er die Stieftochter an und äußerte schließlich ernst:
„Deine Mutter hat, ehe ich sie heiratete, meinen Vetter sehr
geliebt und hätte sich mit ihm vermählt, wäre er nicht ums
Leben gekommen. Du bist die Frucht dieser Liebe, aber für mich
wie ein eigenes Kind, das ich tief ins Herz geschlossen habe und

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auf das ich sehr stolz bin. Wenn ich eine Tochter hätte, müsste
sie so sein wie du.“

Entgeistert schaute Harriet den Mann an, den sie für ihren

Vater gehalten hatte, und brauchte geraume Zeit, um die uner-
wartete Neuigkeit zu verkraften. Zwischen Bestürzung und der
Einsicht schwankend, dass er immer noch derselbe Mensch war,
den sie inzwischen liebte und achtete, und sich für sie nichts zum
Negativen verändert hatte, erwiderte sie nach einer Weile:
„Danke, Papa! Ich hätte gern Geschwister. Es wäre mir sehr
recht gewesen, du hättest Mrs. Duval geheiratet, weil ich sie nett
finde und glaube, dass du ihr gut bist.“

„Ach, das redest du dir nur ein“, entgegnete John leichthin.
„Nein“, widersprach Harriet lächelnd. „Und sie hat uns beide

sehr gemocht.“

„Du bist noch sehr jung, mein Kind“, sagte John warmherzig,

„und hast wenig Lebenserfahrung. Gewiss, Mrs. Duval war sym-
pathisch, freundlich und umgänglich, wäre aber aufgrund ihrer
recht bewegten Vergangenheit nicht die richtige Stiefmutter für
dich gewesen.“

„Das kann ich nicht beurteilen, Papa“, räumte Harriet ein.

„Sie hat mir jedoch so viel Wissenswertes beigebracht und mich
gelehrt, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Mrs. Abbing-
ton und Reverend Symthe halten mich zwar auch zu einem sitt-
lichen Lebenswandel an, doch Mrs. Duval hat mir viel deutlicher
vor Augen geführt, welche moralischen Grundsätze ich befolgen
sollte.“

„Wie bitte?“, fragte John verblüfft. „In welcher Weise hat sie

das getan?“

Harriet berichtete ihm von den Gesprächen mit ihr und fügte

hinzu: „Und beim Abschied hat sie mir geraten, stets meinen ei-
genen Wertmaßstäben zu folgen, nicht auf das zu hören, was
böswillige Zungen über mich reden mögen, und mich nur zu

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entschuldigen, wenn ich eingesehen habe, dass mir ein Fehler
unterlaufen ist.“

John staunte und erkannte, dass Caroline dem Gefühl für An-

stand, Ehrlichkeit, dem Stolz auf die eigene Würde, Loyalität
und Offenherzigkeit ebenso viel Bedeutung zumaß wie er. „In
dieser Hinsicht gebe ich ihr recht“, überwand er sich zu sagen.
„Dennoch bedaure ich nicht, dass sie nicht mehr bei uns ist, und
ich wäre dir dankbar, wenn du nicht mehr über sie sprichst.“

„Wie du willst“, erwiderte Harriet verständnislos.
„Reiten wir heim“, schlug John vor, und sie kehrten auf dem

kürzesten Weg nach Marrick Castle zurück.

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21. KAPITEL

Es war Frühling geworden, und das gesellschaftliche Leben in
London bot immer mehr Abwechslung. Caroline wurde oft in
Begleitung eines ihrer zahlreichen Verehrer gesehen, zu denen
entgegen ihrer vor Weihnachten geäußerten Vermutung nach
wie vor Sir Anthony Grainger zählte. Sie war zwar vor ihm auf
der Hut, mochte ihn jedoch nicht entmutigen, da sie ihn char-
mant und unterhaltsam fand.

Eines Tages hatte sie ihm gestattet, mit ihr in den Hyde Park

zu fahren. Nach der Heimkehr traf sie Ihre Ladyschaft Zeitung
lesend in deren Boudoir an.

„Oh, Sie sind zurück, Caroline“, sagte Lady Danby und ließ

den Morning Chronicle sinken. „War es ein netter Ausflug? Wer
war diesmal Ihr Kavalier?“

„Sir Anthony Grainger, Madam“, antwortete Caroline und ließ

sich in einem Sessel nieder.

„Ich hatte angenommen, dass Sie den Umgang mit ihm

eingeschränkt haben“, erwiderte Ihre Ladyschaft stirnrunzelnd.

„Nein“, gestand Caroline gleichmütig. „Er hat mich nicht ver-

gessen, wie ich vor dem Besuch bei Ihrem Neffen zu Weihnacht-
en angenommen habe. Das dürfte jedoch mehr an meinem Ver-
mögen liegen als an mir persönlich“, setzte sie auflachend hinzu.
„Ich bin sicher, dass er sich im Gegensatz zu anderen meiner
Bewunderer nicht Hals über Kopf ihn mich verliebt hat.“

„Ich müsste mich wiederholen, würde ich Sie erneut vor ihm

warnen, und das scheint wenig Sinn zu haben“, meinte die
Baronin. „Ich hoffe nur, Sie müssen nicht eines Tages feststellen,

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dass er bei Weitem nicht so harmlos ist, wie Sie ihn offenbar
einschätzen.“

„Ich halte ihn auf Distanz“, versicherte Caroline. „Sind ir-

gendwelche interessanten Leute in der Stadt eingetroffen?“,
erkundigte sie sich mit einem Blick auf die Zeitung.

„Ja“, antwortete Lady Danby lächelnd. „Der Marquess of

Coverdale hat mit seiner Tochter seine Stadtresidenz in der
Mount Street bezogen. Lady Harriet wird im April ihr gesell-
schaftliches Debüt geben. Es war mir nicht geläufig, dass er eine
Tochter hat, obwohl ich von meinem Neffen, der im Krieg unter
ihm gedient hat, viel über ihn erfahren habe. Beide haben sich
sehr gut verstanden und stehen auch heute noch miteinander auf
freundschaftlichem Fuß. Ich kann mir vorstellen, dass Ivo sich
freuen wird, seinen Kommandeur wiederzusehen. Seltsamer-
weise wird in der Meldung Coverdales Gattin nicht erwähnt.“

„Da ich, ehe ich herkam, einige Zeit in Yorkshire verbracht

habe, weiß ich, dass seine Frau seit Längerem tot ist“, sagte
Caroline so gelassen wie möglich.

„Ich höre jetzt zum ersten Mal, dass Sie schon länger im Land

waren, bevor ich Sie kennenlernte“, erwiderte Ihre Ladyschaft
überrascht. „Ich war in dem Glauben, Sie seien aus Kingston
hergekommen.“

„Mein Großvater hatte mich ersucht, seine in High Hutton in

der Nähe von Marrick Castle lebenden Angehörigen zu be-
suchen“, erklärte Caroline ruhig.

„Ich verstehe.“
„Bei meinem Aufenthalt bin ich dann auch Lord Coverdale

und seiner Tochter begegnet“, fuhr Caroline fort. „Sie ist eine
reizende, allerdings etwas zurückhaltende junge Dame.“

„Nun, falls sie nicht von Natur aus schüchtern ist, wird sie,

wenn sie die ersten Verehrer hat, gewiss bald gelöster und
umgänglicher sein“, äußerte Ihre Ladyschaft schmunzelnd.

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Caroline nickte und dachte daran, dass sie es bestimmt nicht

vermeiden konnte, John zu begegnen. Sie hatte ihm gesagt, sie
würde nicht zu erkennen geben, dass man sich kannte, bez-
weifelte jedoch, dass ihr das im Hinblick auf die persönliche Bez-
iehung zwischen Lady Danbys Neffen und ihm noch möglich
sein würde. Unwillkürlich grübelte sie darüber nach, wie die
Gesellschaft reagieren mochte, wenn durchsickerte, dass sie über
Wochen hinweg sein Gast gewesen war. Dann war sie aller
Wahrscheinlichkeit nach in einen Skandal verwickelt, dessen
Auswirkungen auch John und Lady Danby zu spüren bekommen
würden. Es war mehr als fraglich, ob sie danach noch bei Ihrer
Ladyschaft wohlgelitten sein würde.

John bemerkte Mrs. Duval sofort, nachdem er Lady Marchant
begrüßt und den Musiksalon betreten hatte. Caroline stand, um-
ringt von einer Schar von Kavalieren, vor einem Fenster und
machte einen sehr viel selbstsichereren Eindruck als früher.
John hatte sie lediglich beim Ball in Marrick Castle in Abendgar-
derobe gesehen, und damals war sie nicht besonders auffallend
gekleidet gewesen. Zum heutigen Anlass hatte sie eine
schillernde Moiré-Robe gewählt, die ihre ausgezeichnete Figur
voll zur Geltung brachte, sich das Haar zu einem Cadogan fris-
ieren lassen, der von einem Kamm mit glitzernden Edelsteinen
gehalten wurde, und Schmuck angelegt, der gewiss ein Vermö-
gen wert war. Der Anblick machte John sprachlos, und er gest-
and sich ein, dass sie ungemein schön und begehrenswert war.

Jäh wurde ihm bewusst, dass die innere Rastlosigkeit, die er

seit ihrer Abreise empfunden hatte, auf seine Gefühle für sie
zurückzuführen war. Er hatte, ohne es wahrhaben zu wollen,
unter ihrer Abwesenheit gelitten und sich nur eingeredet, froh
darüber zu sein, sie nicht mehr sehen zu müssen. In Wahrheit

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hatte er sich nach ihr gesehnt und kam sich nun wie von einem
inneren Druck erlöst vor.

Er schlenderte weiter in den Raum, plauderte mit Bekannten

und musste sich zwingen, nicht zu ihr hinüberzusehen. Nach
einer Weile vermochte er nicht mehr, sich zu beherrschen, ging
zu Lady Marchant, verneigte sich vor ihr und sprach den Herrn,
mit dem sie sich unterhielt, an: „Verzeihen Sie, Sir, dass ich Sie
störe. Bitte, gestatten Sie mir, Ihnen Lady Marchant für einen
Augenblick zu entführen.“

„Was haben Sie auf dem Herzen?“, erkundigte sich Ihre Lady-

schaft freundlich und entfernte sich einige Schritte mit ihm von
ihrem Gesprächspartner.

„Hätten Sie wohl die Güte und würden mich bitte mit der

Dame in dem schillernden lindgrünen Moiré-Kleid bekannt
machen?“

„Gern“, antwortete Lady Marchant belustigt. „Ich warne Sie

jedoch, Sir! Sie sind, wie Sie sehen, nicht der Einzige, der sich für
Mrs. Duval interessiert.“

„Ich hoffe dennoch, dass sie mir einen Moment ihrer kostbar-

en Zeit widmen wird“, erwiderte John trocken und beobachtete,
wie Caroline sich lächelnd von ihren Bewunderern löste, von
ihnen entfernte und vor einem Fenster stehen blieb.

„Das wird sich gleich zeigen“, sagte Ihre Ladyschaft schmun-

zelnd und hielt bei Mrs. Duval an. „Hier ist jemand, Madam, der
unbedingt mit Ihnen sprechen möchte“, sagte sie. „Sir, das ist
Mrs. Duval, die neue Belle du jour der Saison. Erlauben Sie,
Madam, dass ich Ihnen den Marquess of Coverdale vorstelle.“

„Sehr erfreut“, murmelte Caroline befangen.
„Mrs. Duval und ich kennen uns bereits“, äußerte John im

gleichen Augenblick.

„Ach, tatsächlich?“, fragte Lady Marchant verdutzt. Da jedoch

weder er noch Mrs. Duval eine Erklärung abgaben, fuhr sie

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etwas spitz fort: „Nun, wenn dem so ist, benötigen Sie mich nicht
länger. Ich wünsche den Herrschaften einen angenehmen
Abend.“

„Danke“, erwiderte John höflich und richtete die Augen

wieder auf Caroline. „Sie sehen gut aus, Madam. Der Aufenthalt
in London scheint Ihnen glänzend zu bekommen.“

„Ich genieße ihn jedenfalls sehr“, antwortete sie, um Fassung

bemüht. „Wie ist das Befinden Ihrer Stieftochter?“

„Harriet geht es gut“, antwortete John. „Es begeistert sie, tag-

süber mit Mrs. Abbington die Stadt zu entdecken. Natürlich
habe ich sie heute Abend nicht mitgebracht. Warum haben Sie
soeben, als ich zugab, dass wir uns kennen, die Stirn gefurcht?
Habe ich etwas Falsches geäußert?“

„Nein. Es steht Ihnen selbstverständlich frei, die Wahrheit zu

sagen. Im Übrigen habe auch ich Lady Danby, deren Gast ich
bin, mitgeteilt, dass wir beide und Ihre Stieftochter uns schon
anlässlich meines Besuches in High Hutton begegnet sind.“

„Sie wohnen bei Lady Danby?“, warf John erstaunt ein. „Ich

kenne ihren Neffen Ivo sehr gut.“

„Das ist mir geläufig“, sagte Caroline leichthin. „Mehr habe ich

ihr nicht über uns anvertraut, weil ich das für unangebracht
hielt. Schließlich ist es zwischen Ihnen und mir zu einem un-
überbrückbaren Bruch gekommen.“

„Ist er wirklich nicht zu heilen?“, fragte John betroffen.
„Ich sehe keinen Weg, wie wir wieder zueinanderfinden kön-

nten“, antwortete Caroline kühl.

„Sie haben sich sehr verändert, Madam“, stellte er enttäuscht

fest. „Würden Sie mir trotz Ihrer abweisenden Haltung erlauben,
Ihnen morgen mit Harriet die Aufwartung zu machen? Meine
Stieftochter hat nur ihre Gouvernante zur Gesellschaft. Lady
Calthorpe, die versprochen hat, sie unter ihre Fittiche zu neh-
men, ist leider noch nicht in der Stadt.“

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„Nun, in diesem Fall habe ich nichts dagegen, dass Sie mich

besuchen“, erwiderte Caroline gelassen. „Ich erwarte Sie um drei
Uhr.“

„Ist Ivo schon in London?“, wollte John wissen.
„Nein, aber man rechnet täglich mit ihm und seiner Gattin.

Ich freue mich bereits darauf, ihn kennenzulernen.“

„Er ist mit einer zauberhaften Frau verheiratet, die er innig

liebt“, sagte John trocken. „Falls Sie annehmen, Sie könnten ihn
betören, werden Sie sich eines anderen belehren lassen müssen.“

Caroline erkannte an der letzten Bemerkung, dass Lord

Coverdale seine falsche Meinung über sie nicht geändert hatte.
„Verheiratete Männer sind viel reizvoller“, erwiderte sie anzüg-
lich. „Im Übrigen wundere ich mich über Sie, Sir. Sie waren dav-
on überzeugt, dass ich Robert Coburn verführt habe, der noch
ledig war, und nun scheint es Sie zu beunruhigen, ich könnte
Lord Trenchard umgarnen. Ihnen kann man auch nichts recht
machen!“, setzte sie mokant hinzu.

„Sie amüsieren sich auf meine Kosten, Madam!“, äußerte John

verärgert. „Gehen Sie nicht zu weit!“

„Bitte, dämpfen Sie die Stimme, Sir“, legte sie ihm nahe. „Was

wollen Sie tun, wenn ich mich Ihrem Befehl nicht füge? Mich
wieder so belästigen wie in Ihrem Speisezimmer? Ich befürchte,
das würde hier ungeheures Aufsehen erregen.“

„Sie wissen genau, dass ich damals außer mir vor Zorn war

und für mein ungehöriges Benehmen um Verzeihung gebeten
habe!“

„Das ist mir nicht entfallen“, sagte Caroline kühl. „Ihre

Entschuldigung kam mir indes sehr halbherzig vor, sodass ich
bis heute nicht weiß, was ich davon zu halten habe. Und eine
Wiederholung in etwas privaterem Rahmen als hier ist aus-
geschlossen, da ich gesteigerten Wert auf Schicklichkeit lege. Ich

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habe mich tatsächlich verändert, aber leider zum Nachteil für
Sie, Sir!“

„Machen Sie sich nicht über mich lustig, Madam!“, erwiderte

er verkniffen. „Hoffentlich sind Sie morgen, wenn ich Sie mit
Harriet aufsuche, in ausgeglichenerer und ernsthafterer
Stimmung!“

„Das kann ich Ihnen bereits jetzt zusichern“, versicherte

Caroline, „denn Ihre Stieftochter ist mir ans Herz gewachsen!
Bis morgen!“, setzte sie verabschiedend hinzu, wandte sich ab
und beschloss verstimmt, die Soiree zu verlassen. Sie sehnte sich
nach Ruhe, um mit sich ins Reine kommen zu können, denn
wider Erwarten hatte sie gemerkt, dass der Marquess ihr keines-
falls gleichgültig geworden war. Suchend schaute sie sich nach
Lady Danby um, entdeckte sie in der Menschenmenge und ging
zu ihr. „Ich habe leichte Kopfschmerzen bekommen und mich
entschieden heimzufahren“, verkündete sie.

„Soll ich Sie begleiten?“, erkundigte die Baronin sich besorgt.
„Nein, das ist nicht nötig, Madam“, antwortete Caroline höf-

lich. „Ich werde Ihnen die Kutsche zurückschicken. Bitte, verab-
schieden Sie sich in meinem Namen von Lady Marchant. Ich
wünsche Ihnen noch einen angenehmen Abend“, fügte sie an,
begab sich ins Parterre und beauftragte einen der Lakaien, Lady
Danbys Chaise vorfahren zu lassen.

John hatte sie beobachtet und war ihr diskret gefolgt. Vom

Atrium aus sah er, wie sie sich von einem Bediensteten in den
Mantel helfen ließ und sich ins Freie begab. Rasch ging er die
Treppe hinunter, harrte in der Halle aus, bis der Chariot vorge-
fahren war.

Als der Kutscher den Wagenschlag geöffnet hatte und ihr

beim Einsteigen half, eilte er hinzu und sagte hastig: „Einen Mo-
ment noch. Ich begleite Mrs. Duval nach Haus.“ Unaufgefordert

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schwang er sich in den Zweisitzer, zog die Tür hinter sich zu und
ließ sich neben Caroline nieder.

„Was unterstehen Sie sich!“, herrschte sie ihn an.
„Es hat keinen Sinn, mich vertreiben zu wollen“, erwiderte er

nachdrücklich.

„Am liebsten würde ich Sie eigenhändig auf die Straße be-

fördern!“, äußerte sie erbost, während der Brougham anrollte.
„Erwarten Sie nicht, dass ich mich mit Ihnen unterhalte!“

„Wie Sie wollen. Sie können mich jedoch nicht daran hindern,

zu Ihnen zu sprechen. Vorhin haben Sie angedeutet, meine
Entschuldigung nach dem Zwischenfall im Speisezimmer von
Marrick Castle sei für Ihre Begriffe nur halbherzig gewesen.
Diesen Eindruck will ich korrigieren und Ihnen sagen, dass ich
mich damals, nachdem mir von den Ainderbys die Illusionen
über Gabriella genommen worden waren und ich den Brief Ihres
Cousins gelesen hatte, sehr gedemütigt gefühlt habe. Fataler-
weise habe ich Sie mit meiner früheren Verlobten gleichgesetzt.
Ich wollte Sie, wie ich zu meiner Schande gestehen muss, verlet-
zen und habe in meiner Erregung Dinge zu Ihnen gesagt, die ich
zutiefst bedaure. Bitte, vergeben Sie mir mein äußerst unge-
höriges Betragen!“

„Machen Sie sich keine Vorwürfe, Sir“, erwiderte sie aus-

weichend. „Ich war so dumm, zuzulassen, dass Sie mich kränk-
ten. Diesen Fehler werde ich jedoch kein zweites Mal begehen.
Es ärgert mich noch heute, dass ich damals geneigt war, meinen
vor vielen Jahren gefassten Entschluss aufzugeben, mich inner-
lich nicht mehr an einen Mann zu binden. Inzwischen bin ich
klüger geworden und will alles, was mit Ihnen persönlich zusam-
menhängt, vergessen.“

„Ich kann nicht glauben, Madam, dass Sie das ernst meinen“,

entgegnete John bestürzt. „Sie können Ihre Gefühle für mich
nicht verleugnen!“

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„Das kann ich, und das werde ich tun!“, behauptete sie,

während der Chariot in die Charles Street einbog und kurz da-
rauf vor Lady Danbys Stadtresidenz zum Stehen kam. „Es war
eine Verkettung misslicher Umstände, die uns zusammengeb-
racht hat, und in der Folge hat jeder von uns sich in einer für ihn
uncharakteristischen Art und Weise verhalten. Die Erfahrungen,
die ich gemacht habe, veranlassen mich, das, was zwischen uns
war, aus meinem Gedächtnis zu streichen.“

Ohne zu überlegen, umfasste John Carolines Gesicht, beugte

sich dicht zu ihr und erwiderte spröde: „Küss mich, und versuch
dann noch, bei deinem Standpunkt zu bleiben!“

Verärgert beschloss Caroline, ihm eine Lehre zu erteilen. Es

machte sie wütend, dass er zu denken schien, er brauche nur
zärtlich zu ihr zu sein, damit sie alle ihre Vorsätze vergaß und
sich wieder mit ihm einließ. Als er begierig die Lippen auf ihre
presste, wurde sie sich indes gewahr, dass sie ungeachtet ihrer
ablehnenden Einstellung wohlige Regungen empfand, die zu un-
terdrücken sie nicht imstande war.

„So, und nun sag mir erneut, dass ich dir nichts bedeute!“,

äußerte John rau und ließ sie los.

Sie lehnte sich zurück, schaute ihn Begeisterung heuchelnd an

und erwiderte mokant: „Das war zweifellos der aufwühlendste
Kuss, den ich seit meiner Ankunft in London bekommen habe.“
Über die verdutzte Miene Seiner Lordschaft schmunzelnd,
richtete sie sich auf. In diesem Augenblick wurde der Wagensch-
lag geöffnet, und Caroline ließ sich von dem herbeigeeilten
Lakaien beim Aussteigen helfen. Sie trug dem Kutscher auf, zu
Lady Marchants Palais zurückzufahren. Dann kehrte sie zum of-
fenen Wagenschlag zurück, wünschte Lord Coverdale eine gute
Nacht und machte Anstalten, sich zu entfernen.

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„So leicht kommen Sie mir nicht davon, Madam“, sagte John

grimmig. „Sie können sich darauf verlassen, dass ich nicht
aufgeben werde.“

„An Ihrer Stelle wäre ich nicht so selbstsicher, Sir“, entgegnete

sie belustigt. „Sie tendieren dazu, sich zu überschätzen. Außer
Ihnen gibt es noch andere Herren, die Interesse an mir bekun-
den und unter denen ich wählen kann. Die Schar meiner Verehr-
er ist beträchtlich groß, selbst wenn ich diejenigen abrechne, die
sich nur meines Vermögens wegen zu mir hingezogen fühlen.
Leben Sie wohl, Sir“, setzte sie süffisant hinzu, drehte sich um
und ging ins Haus.

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22. KAPITEL

John hatte sich längst wieder beruhigt, als er mit der Stieftochter
in Lady Danbys Palais vorsprach. Vom Butler in den Damens-
alon gebeten, begrüßten er und Harriet Ihre Ladyschaft sowie
Mrs. Duval und ließen sich, von der Baronin zum Platznehmen
aufgefordert, auf der Veilleuse nieder.

Nachdem der Butler Erfrischungen serviert und sich zurück-

gezogen hatte, erkundigte Caroline sich freundlich bei Lady Har-
riet danach, was seit ihrer Abreise in Marrick Castle geschehen
war.

Eifrig berichtete die junge Dame ihr von den Unternehmun-

gen mit ihrem Vater, und mehr und mehr gewann die Baronin
den Eindruck, dass Mrs. Duval ihr nicht die ganze Wahrheit über
ihr Verhältnis zu Coverdale anvertraut hatte. Der Marquess ver-
hielt sich zwar zurückhaltend, doch es war zu erkennen, dass er
ein persönliches Interesse an Mrs. Duval hatte. Offenbar standen
beide in einer viel engeren Beziehung zueinander, als jeder
zuzugeben bereit war. Jäh kam Ihrer Ladyschaft der Gedanke,
dass Coverdale vielleicht erwog, Mrs. Duval zu heiraten, und
diese Möglichkeit erfreute sie, da sie Caroline sehr schätzte und
es ihr wünschte, seine Gattin zu werden.

Plötzlich wurde an die Salontür geklopft, und das angeregte

Gespräch verstummte. Auf das Geheiß Ihrer Ladyschaft hin be-
trat der Butler den Raum und kündigte an, Sir Anthony Grainger
wünsche sie und Mrs. Duval zu sprechen. Unsicher schaute die
Baronin in die Runde, doch da ihr Hausgast leicht nickte,
forderte sie Wentworth auf, den Baronet hereinzubitten.

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„Ich wünsche allerseits einen guten Tag“, begrüßte Sir

Anthony die Herrschaften beim Betreten des Salons, ging zu
Lady Danby und hob galant ihre Hand zum Kuss an die Lippen.
„Sie sehen sehr erholt aus“, stellte er lächelnd fest. „Offensicht-
lich ist Ihnen der Aufenthalt auf dem Land gut bekommen.“

„Ja, danke“, erwiderte sie kühl.
„Wie reizend, Sie wiederzusehen, Mrs. Duval“, wandte er sich

mit gewinnendem Lächeln an Caroline.

„Erlauben Sie, dass ich Ihnen den Marquess of Coverdale und

Lady Harriet, seine Tochter, vorstelle“, äußerte diese hastig.

John erhob sich, und die Herren verneigten sich. „Coverdale

und ich kennen uns bereits“, sagte Sir Anthony leichthin. „Sehr
angenehm, Lady Harriet“, fügte er knapp hinzu.

„Was hat Sie zu uns geführt, Sir?“, wollte die Baronin wissen.
„An sich hatte ich vor, Mrs. Duval zu einer Ausfahrt einzu-

laden, doch das hat sich jetzt erübrigt“, antwortete er. „Wie wäre
es mit morgen Nachmittag, Madam?“

„Sie haben Pech, Grainger“, schaltete John sich ein. „Mrs.

Duval hat soeben zugesagt, morgen mit meiner Tochter nach …
Hampton Court zu fahren.“

„Ja, ich wollte schon immer dort hin“, warf Harriet aufgeregt

ein.

Caroline bemühte sich um eine reglose Miene.

„Vielleicht habe ich übermorgen Zeit für Sie, Sir Anthony“,
äußerte sie höflich.

„Das würde mich freuen“, erwiderte er. „Nun, dann will ich

nicht länger stören“, setzte er hinzu, verabschiedete sich und
verließ den Salon.

„Sie haben mich, gelinde gesagt, ziemlich überrumpelt,

Mylord“, wandte Caroline sich vorwurfsvoll an Lord Coverdale.

Der Marquess lächelte zufrieden.

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„Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es mir überließen, welche

Entscheidungen ich treffen möchte“, fuhr sie verstimmt fort.
„Ich werde Sir Anthony bitten, uns nach Hampton Court zu
begleiten.“

„Er ist überflüssig“, entgegnete John dreist, „weil ich mitkom-

men werde. Ich möchte nicht, dass dieser berüchtigte Mit-
giftjäger Harriet den Kopf verdreht.“

„Ich finde es wundervoll, dass Papa sich uns anschließen will“,

äußerte Harriet begeistert, da sie sich nichts sehnlicher wün-
schte, als dass er und Mrs. Duval sich vertrugen und wieder
zueinanderfanden.

Caroline war es gar nicht recht, erneut mit ihm in Berührung

zu kommen. „Und wie ist es mit Ihnen, Lady Danby?“, fragte sie
hoffnungsvoll. „Möchten Sie sich morgen zu uns gesellen?“

Am liebsten hätte die Baronin über Mrs. Duvals unüberse-

hbare Verlegenheit laut aufgelacht. Nach einem kurzen Blick auf
Lady Harriet, deren Miene deutlich Besorgnis ausdrückte, ant-
wortete sie bedauernd: „Wie nett von Ihnen, mich aufzufordern,
Caroline, aber leider bin ich bereits anderweitig beschäftigt.
Wenn Sie möchten, begleite ich Sie jedoch gern, wenn Sie mit Sir
Anthony ausfahren.“

In Hampton Court lief Harriet fröhlich voraus und bog rasch

um die Ecke des Eingangs zum Labyrinth. Langsam folgte John
ihr mit Mrs. Duval, verlor die Stieftochter jedoch bald aus den
Augen. „Ich schlage vor, wir kehren um, setzen uns auf die Bank
beim Eingang und warten, bis Harriet zurück ist“, sagte er
leichthin.

„Ich habe den Eindruck, dass dies ein abgekartetes Spiel ist“,

erwiderte Caroline ungehalten.

„Nein!“, versicherte er hastig. „Ich begrüße es jedoch, dass ich

nun die Möglichkeit habe, ungestört mit Ihnen zu sprechen.
Gestern war das leider nicht möglich.“

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Caroline runzelte die Stirn, ließ sich von ihm zur Bank führen

und nahm anmutig Platz.

John setzte sich ebenfalls, schaute sie an und sagte ernst: „Ich

habe viel über Sie nachgedacht, Mrs. Duval, und möchte gern
das Gespräch fortsetzen, das Sie bei Lady Marchants Soiree
abgebrochen haben. Meinen Sie nicht, dass Sie mir das schuldig
sind? Wir sind nicht nur flüchtige Bekannte, sondern haben ein-
ander sehr viel zu verdanken. Daher können wir nicht einfach so
tun, als seien wir uns jetzt fremd geworden. Auf der Reise nach
Marrick Castle sind wir uns nähergekommen, und keiner von
uns beiden kann das abstreiten, auch wenn Sie sich inzwischen
von mir zurückgezogen haben. Sie kennen mich genauer als
sonst irgendjemand, denn in Buckden habe ich mich in einer
Weise vor Ihnen gehen lassen, wie das vor keinem anderen
Menschen je der Fall gewesen ist. In Marrick Castle haben Sie
mich von meiner schlimmsten Seite erlebt und in High Hutton
mitbekommen, wie schockiert ich war, als ich die Enthüllungen
über Gabriella hörte. Finden Sie nicht, dass wir uns aussprechen
sollten?“

„Also gut“, gab Caroline nach. „Eine Zeit lang habe ich ge-

glaubt, es sei richtig, Ihnen gegenüber offen zu sein. Ich konnte
mich gut in Sie hineinversetzen, als Sie nach unserem Besuch in
High Hutton so niedergeschlagen waren, und bin dann zu Ihnen
gegangen, weil ich Ihnen aus freien Stücken in jeder mir mög-
lichen Weise Trost spenden wollte. Sie hätten mich zu nichts
zwingen müssen. Indem Sie jedoch Edmunds abscheuliche Ver-
leumdungen für die Wahrheit hielten, haben Sie mir drastisch
vor Augen geführt, was ich Ihnen wert bin. Sie zweifeln nicht
daran, dass ich Robert Coburn verführt habe. Ich habe Sie für
umsichtiger gehalten und musste erkennen, dass Sie, wie so viele
andere Menschen, ein vorschnelles Urteil fällen. Und in dem

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Moment, da ich mir dessen gewahr wurde, war mir klar, dass ich
einen schweren Fehler begangen hatte.“

„Sie werden es mir vielleicht nicht abnehmen, Madam, aber es

ist keine Lüge, wenn ich Ihnen sage, dass ich vor dem Ball bei
mir die Absicht hatte, Ihnen einen Heiratsantrag zu machen. Ich
war überzeugt, dass wir in Liebe zueinanderfinden würden.
Welche Antwort hätte ich von Ihnen bekommen, wenn ich mich
Ihnen vor unserem Ritt nach High Hutton erklärt hätte?“

„Ich sehe keinen Anlass, über Dinge zu reden, die nicht mehr

relevant sind“, sagte Caroline steif.

„Ich gehe nicht mit Ihnen konform, Madam“, entgegnete John

ruhig. „Bäte ich Sie jetzt, meine Gattin zu werden, wären Sie
dann bereit, mich zu erhören?“

„Nein!“, äußerte sie hart.
„Lieben Sie mich nicht?“
„Meine Gefühle für Sie stehen hier nicht zur Debatte“, antwor-

tete sie ausweichend. „Ich habe kein Vertrauen mehr zu Ihnen!“

„Kann ich es zurückgewinnen?“
„Das bezweifle ich sehr, Sir.“
„Ich werde es trotzdem versuchen“, versprach er und hielt

inne, weil seine Stieftochter auf sie zukam.

Lady Harriet sah sofort, dass die Aussprache zwischen ihm

und Mrs. Duval nicht so verlaufen war, wie sie sich das erhofft
hatte, und war enttäuscht.

Mrs. Duval fuhr nicht nur am Tag nach dem Ausflug nach
Hampton Court mit Sir Anthony Grainger aus, sondern nahm
seine Einladungen zu weiteren Exkursionen in den Hyde Park
an. Sie ließ sich oft von ihm zu Bällen begleiten, unterhielt sich
angeregt mit ihm und gewährte ihm mehr als zwei Tänze an
einem Abend. Es dauerte nicht lange, bis Lady Danby zu Ohren

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kam, dass man davon ausging, er werde sich mit Mrs. Duval
verloben.

Darauf war die Baronin ernsthaft beunruhigt und warnte

Caroline erneut eindringlich vor dem Gentleman. Mrs. Duval
war jedoch für keinerlei Vorhaltungen zugänglich und behaup-
tete nach wie vor, sie habe nicht vor, sich mit dem Baronet zu
vermählen.

Eines Nachmittags wurde Ihrer Ladyschaft der Besuch des

Marquess of Coverdale gemeldet, und da ihr Hausgast wieder
einmal mit Sir Anthony unterwegs war, nutzte sie die Gelegen-
heit, um sich Gewissheit über das Interesse Seiner Lordschaft an
Mrs. Duval zu verschaffen. Nachdem man sich begrüßt und Platz
genommen hatte, äußerte sie zielstrebig: „Verzeihen Sie, Sir,
wenn ich persönlich werde. Ich habe den Eindruck gewonnen,
dass Mrs. Duval Ihnen nicht gleichgültig ist. Daher wird es Sie
gewiss nicht unbeteiligt lassen, wenn ich Ihnen sage, dass ich
mir in letzter Zeit große Sorgen um sie mache, weil sie mit Sir
Anthony Grainger verkehrt. Sie hat ihn viel zu sehr ermutigt, so-
dass man in der Öffentlichkeit bereits vermutet, sie werde sich in
Kürze mit ihm verloben.“

„Ich kann Ihre Beunruhigung gut verstehen“, warf John ein.

„Sie ist jedoch unangebracht, denn wenn Mrs. Duval sich, falls
sie noch einmal heiraten sollte, für jemanden entscheidet, dann
nicht für Sir Anthony, sondern für mich.“

„Was macht Sie dessen so sicher?“, wunderte sich die Baronin.
„Ich weiß, dass sie sehr viel für mich empfindet“, antwortete

John selbstbewusst. „Momentan besteht zwar zwischen uns eine
gewisse Spannung, doch ich bin fest davon überzeugt, dass die
kleinen Differenzen behoben werden.“

„Gut!“, erwiderte Lady Danby zufrieden. „Das beruhigt mich.

Ich bin indes sehr skeptisch, dass Sir Anthony, wenn er ins Hin-
tertreffen geraten ist, seine Niederlage mit Anstand hinnehmen

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wird. Im Gegenteil! Ich befürchte, er wird sich aus gekränktem
Stolz zu einer Unüberlegtheit hinreißen lassen.“

„Ich bin Ihrer Ansicht, Madam“, stimmte John zu. „Daher

lasse ich ihn diskret beobachten, vor allem wenn er mit Mrs.
Duval zusammen ist. Ich wäre Ihnen jedoch sehr verbunden,
wenn Sie ihr das nicht mitteilen würden.“

„Ich werde mich hüten!“, sagte Ihre Ladyschaft ernst.
John unterhielt sich noch eine Weile mit ihr, verabschiedete

sich schließlich und zog sich zurück.

Er war noch nicht lange fort, als Mrs. Duval das Boudoir be-

trat. „Oh, Sie sind schon da?“, fragte die Baronin erstaunt. „War
es ein netter Nachmittag?“

„Ja“, sagte Caroline lächelnd, setzte sich und konnte sich nicht

erklären, warum Ihre Ladyschaft sie so nachdenklich anschaute.

„Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, Caroline“, begann die

Baronin nach einiger Zeit, „aber ich finde es nicht richtig, dass
Sie derart häufig mit Sir Anthony gesehen werden. Entweder
verloben Sie sich mit ihm, damit Sie in der Öffentlichkeit nicht in
ein falsches Licht geraten, oder Sie halten ihn auf Distanz. Ich
will Ihnen wahrhaftig nicht zu nahe treten, kann mich jedoch des
Gedankens nicht erwehren, dass Sie, indem Sie einen so intens-
iven Umgang mit Sir Anthony pflegen, vor etwas davonlaufen.
Nein, unterbrechen Sie mich bitte nicht!“, fuhr sie fort, „ich bin
lebenserfahren genug, um zu sehen, dass Ihr Interesse in Wirk-
lichkeit Coverdale gilt. Habe ich recht?“

Caroline überlegte, wie sie sich verhalten solle. Unschlüssig

sah sie Lady Danby an und rang mit sich, ob sie ihr die Wahrheit
gestehen solle. „Ja“, sagte sie schlicht.

„Dann begreife ich nicht, warum Sie sich mit Sir Anthony

abgeben. Hat Coverdale Ihnen schon einen Heiratsantrag
gemacht?“

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Caroline nickte. „Ich werde ihn jedoch nicht erhören. Meine

Ehe war alles andere als glücklich, und ich will es mir ersparen,
ein weiteres Mal ähnliche Erfahrungen machen zu müssen. Und
Lord Coverdale hat mich bereits bitter enttäuscht, indem er mir
unterstellte, ich hätte einen anderen Mann verführt. Ich mag
nicht näher auf diesen Punkt eingehen, doch diese ehrenrührige
Behauptung hat mich ihm sehr entfremdet.“

„Wahrscheinlich war er nur eifersüchtig und hat in der Erre-

gung nicht überlegt, was er sagt“, warf Ihre Ladyschaft ein. „Sie
sollten das nicht überbewerten, Caroline. Jeder Mensch macht
Fehler. Davon können auch Sie sich nicht freisprechen.“

„Nein“, erwiderte Caroline einsichtig, war jedoch nicht bereit,

Johns unverschämtes Verhalten in anderem Licht zu sehen.
Nicht Eifersucht hatte ihn zu seinem unbeherrschten Ausbruch
verleitet, sondern Verbohrtheit. Er war nicht fähig gewesen, von
dem einmal gefassten Vorurteil abzurücken, und hatte Caroline
in seiner Verblendung gezeigt, wie gering er sie schätzte. Selbst
die Tatsache, dass er sich zwei Mal für sein rüdes Betragen
entschuldigt hatte, zählte für Caroline nur wenig, da sie das Ver-
trauen zu ihm verloren hatte.

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23. KAPITEL

Sir Anthony war zu der Erkenntnis gelangt, es sei an der Zeit,
sich Mrs. Duval zu erklären. Er lud die Dame zu einer Ausfahrt
ein, kutschierte sie in einen wenig frequentierten Teil des Hyde
Parks und hielt das Gespann an. Kühn ihre Hand ergreifend,
machte er ihr in wohlgesetzten Worten den Heiratsantrag.

„Welche Ehre, Sir Anthony“, erwiderte Caroline höflich, be-

müht, ihr Erschrecken nicht zu zeigen. Es war nicht ihre Absicht
gewesen, die Dinge so weit kommen zu lassen. Bestürzt begriff
sie das ganze Ausmaß ihrer Naivität. Sie hatte angenommen, er
würde sich mit ihrer Gesellschaft begnügen, wenn sie ihn wissen
ließ, dass sie sich nicht nochmals vermählen wolle. „Verzeihen
Sie, Sir, aber ich bin etwas überrascht und weiß nicht recht, was
ich sagen soll“, fügte sie betreten hinzu.

„Das nehme ich Ihnen nicht ab, meine Teuerste“, entgegnete

er lächelnd. „So, wie Sie sich mir gegenüber verhalten haben,
konnten Sie damit rechnen, dass ich um Sie anhalte.“

„Ich dachte, ich hätte Ihnen deutlich zu verstehen gegeben,

dass mir der Sinn nicht nach einer zweiten Ehe steht“, erwiderte
sie ruhig.

„Ja, gewiss“, bestätigte Anthony leichthin. „Aber haben Sie al-

len Ernstes geglaubt, dass ich dadurch entmutigt würde?“

„Nun, ich bleibe dennoch bei meinem Beschluss.“
„Alle Welt geht davon aus, Madam, dass aus uns ein Paar

wird!“, hielt Anthony ihr verstimmt vor.

„Es ist mir gleich, was die Leute denken. Bitte, finden Sie sich

damit ab, dass ich nicht Ihre Gemahlin werde.“

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Sir Anthony wurde blass. „Wie Sie wollen, Madam“, äußerte er

verkniffen.

„Selbstverständlich

respektiere

ich

Ihre

Entscheidung. Möchten Sie, dass ich Sie jetzt nach Haus
bringe?“

„Ja, bitte“, antwortete Caroline erleichtert und hoffte, ihn

nicht zu sehr in seinem Stolz gekränkt zu haben. Aufmerksam
auf jede Veränderung in seinem Benehmen achtend, stellte sie
auf der Rückfahrt erleichtert fest, dass er sich nicht anders ver-
hielt als zu Beginn des Ausflugs.

Er hielt den Phaeton vor Lady Danbys Residenz an, wand die

Zügel um den Halteknauf und stieg aus. Nachdem er Mrs. Duval
aus der Chaise geholfen hatte, sagte er eindringlich: „Ich habe es
stets genossen, Madam, mit Ihnen zusammen zu sein, und gebe
zu, dass ich jetzt enttäuscht bin, weil Sie, die meiner Meinung
nach begehrenswerteste Dame ganz Londons, mich nicht erhört
haben. Kann ich darauf bauen, dass unsere Freundschaft weiter-
hin von Dauer ist? Es täte mir ungemein leid, wenn ich sie zer-
stört hätte. Würden Sie mir gestatten, Sie hin und wieder aus-
zuführen, wenn ich Ihnen verspreche, Sie nicht mehr in Verle-
genheit zu bringen?“

Caroline war unschlüssig. „Es wäre mir lieber …“, begann sie

zögernd.

„Bitte!“
„Also gut, ich bin einverstanden, vorausgesetzt, wir schränken

unseren Umgang ein und Sie beherzigen, dass ich, was die
Ablehnung Ihres Heiratsantrags betrifft, keinen Sinneswandel
vollziehen werde“, sagte sie widerstrebend.

„Danke, Madam“, erwiderte Sir Anthony, hob galant ihre

Hand zum Kuss an die Lippen und begleitete sie zur Tür. „Auf
Wiedersehen“, sagte er, verneigte sich und strebte beschwingt zu
seiner Kutsche zurück.

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Caroline entging nicht, dass man über sie und Sir Anthony
Grainger zu tuscheln begann. Es fiel auf, dass sie nicht mehr so
häufig mit ihm in der Öffentlichkeit zu sehen war. Sie werde sich
wohl doch nicht mit ihm verloben, hieß es. Spitze Zungen läster-
ten über ihn, doch zum allgemeinem Erstaunen setzte der
Baronet sich souverän darüber hinweg. Caroline war von seinem
selbstsicheren Auftreten beeindruckt, doch als sie das Lady
Danby gegenüber äußerte, bekam sie zu hören, er sei falsch und
durchtrieben und sie müsse weiterhin vor ihm auf der Hut sein.
Caroline erwiderte, Ihre Ladyschaft mache sich ganz unnötige
Sorgen um sie, versprach ihr indes, gut auf sich Acht zu geben.

Einige Tage nach diesem Gespräch gab die Baronin ein

Abendessen, zu dem sie den Marquess of Coverdale und seinen
vor Kurzem in der Stadt eingetroffenen Freund Adam mit dessen
Gattin eingeladen hatte. Lord und Lady Calthorpe waren nette,
umgängliche Menschen, die einen sehr sympathischen Eindruck
auf Caroline machten.

Nachdem man im Anschluss an das Essen zum gemütlichen

Beisammensein in den Salon gegangen war, nutzte John die
Gelegenheit, nahm Lady Danby beiseite und erzählte ihr, er habe
erfahren, Sir Anthony Grainger stehe das Wasser inzwischen bis
zum Hals. „Ich bin sicher, dass er seine Gläubiger nicht befriedi-
gen kann“, setzte er trocken hinzu. „Entweder verlässt er un-
verzüglich das Land, oder er findet sich hinter Gittern wieder.“

„Hoffentlich sucht er sein Heil in der Flucht“, murmelte Ihre

Ladyschaft.

„Ich stimme Ihnen zu, Madam“, erwiderte John leise. „Je

schneller er verschwindet, desto besser. Dann kann er Mrs.
Duval nicht mehr belästigen.“

„Ich nehme an, Sie wissen nicht, dass er ihr einen Heiratsan-

trag gemacht, sie ihn jedoch nicht erhört hat, nicht wahr?“

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„Nein, Madam“, gestand John überrascht. „Hoffentlich lässt

er sich jetzt nicht zu einer Verzweiflungstat hinreißen! Ich be-
fürchte, er wird es nicht verwinden, dass der Goldfisch, den er
bereits an der Angel zu haben glaubte, ihm entwischt ist.“

„Ich habe Mrs. Duval bereits mehrmals geraten, sich vor ihm

in Acht zu nehmen. Da sie sich weiterhin mit ihm trifft, werde
ich von nun an darauf bestehen, dass sie Mr. Bellerby zu ihrem
Schutz mitnimmt.“

„Das ist ein ausgezeichneter Einfall, Madam“, meinte John

und hielt inne, weil Caroline sich näherte.

Die Baronin entschuldigte sich und gesellte sich zu den ander-

en Gästen.

Caroline blieb bei John stehen und erkundigte sich stirnrun-

zelnd: „Ist etwas nicht in Ordnung, Sir?“

„Wie kommen Sie darauf?“, wunderte er sich.
„Nun, Sie machen ein so ernstes Gesicht“, antwortete sie.

„Haben Sie ein Problem, das zu lösen ich Ihnen helfen kann?“

„Nein“, sagte er leichthin. „Ich muss mich nicht einmal mehr

so intensiv mit Harriet befassen, da Katherine jetzt in der Stadt
ist und sich während der Saison um meine Stieftochter küm-
mern wird. Morgen wollen beide zur Modistin, einer gewissen
Madame Mariette.“

Unwillkürlich empfand Caroline einen Stich der Eifersucht,

hielt sich indes vor, das sei ihrer unwürdig. „Ich kenne die Sch-
neiderin“, äußerte sie betont gelassen. „Ich habe diese Robe bei
ihr erstanden.“

„Das Kleid steht Ihnen vorzüglich“, befand John lächelnd.
„Vielen Dank“, erwiderte Caroline überrascht.
„Das war keine Schmeichelei, sondern die reine Wahrheit“,

fuhr er ehrlich fort. „Ich würde Ihnen viel öfter Komplimente
machen, weiß jedoch nicht, wie Sie sie aufnehmen werden.“

„Erfreut, wie jede Frau“, gestand Caroline freimütig.

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Caroline verzichtete darauf, eine Droschke zu nehmen, und legte
den Heimweg von der Bücherei mit Bellerby zu Fuß zurück.
Plötzlich sah sie eine Kutsche langsam neben sich herfahren, un-
terbrach das Gespräch mit ihrem Diener und schaute auf.

„Guten Tag, Mrs. Duval“, rief Anthony ihr zu, zog den Hut und

verneigte sich.

„Guten Tag, Sir Anthony“, antwortete sie überrascht.
„Würden Sie mir erlauben, Sie nach einem kleinen Umweg

durch den Hyde Park nach Haus zu bringen?“, fragte der Baron-
et höflich, während er den Zylinder wieder aufsetzte. „Ich
möchte Sie um einen Rat ersuchen.“

Als Caroline nickte, stieg er aus und überließ die Zügel seinem

Lakaien, der eilends vom Tritt gesprungen war. „Sie sollten nicht
mitfahren, Madam“, wandte Joseph rasch ein.

„Ich sehe keinen Anlass zur Beunruhigung“,erwiderte sie leise.

„Am helllichten Tag wird mir gewiss nichts zustoßen. Gehen Sie
getrost nach Haus.“

Anthony gesellte sich zu ihr, reichte ihr galant den Arm und

half ihr in den Phaeton.

Misstrauisch beobachtete Joseph, wie Sir Anthony sich neben

ihr auf den Kutschbock setzte, die Stränge an sich nahm und ab-
fuhr, sobald sein Diener wieder an der Rückseite des Wagens
Aufstellung genommen hatte.

Anthony warf ihm noch einen Blick über die Schulter zu und

sagte trocken: „Mir scheint, Ihr Mr. Bellerby hat etwas gegen
mich.“

„Das kann ich nicht beurteilen“, erwiderte Caroline aus-

weichend. „Was haben Sie auf dem Herzen?“

„Ich trage mich seit Längerem mit der Absicht, nach Jamaika

umzusiedeln“, antwortete Anthony leichthin. „Vor Kurzem hat
ein guter Bekannter, der dort lebt, mir Unterlagen über einen
zum Verkauf stehenden Besitz zugesandt, der mir gefällt. Da ich

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jedoch keinen Einblick in die örtlichen Gegebenheiten habe,
weiß ich nicht, ob der Preis gerechtfertigt ist oder nicht. Würden
Sie mir den Gefallen tun, sich die Dokumente und die mit-
gelieferten Stiche anzusehen, und mir dann sagen, ob ich über-
vorteilt werde?“

„Sie wollten mit mir in den Park, Sir!“, antwortete Caroline

ungehalten. „Ich finde es äußerst unpassend, Sie nach Haus beg-
leiten zu sollen, noch dazu ohne meinen Diener!“

„Wenn es Ihnen recht ist, lasse ich ihn später, wenn ich da-

heim bin, von meinem Kutscher abholen und in mein Landhaus
in Kensington bringen.“

„Kensington?“, wiederholte Caroline überrascht.
„Ich dachte, Sie wüssten, dass ich dort noch einen anderen

Besitz habe.“

„Nein, das war mir nicht geläufig“, gestand sie. „Also gut, ich

werde mir die Verkaufsunterlagen ansehen.“

Nach der Rückkehr erfuhr Joseph, dass Ihre Ladyschaft Gäste
habe, zu denen auch Lord Coverdale zählte. Erleichtert bat er
Wentworth, Seine Lordschaft unverzüglich davon zu informier-
en, dass er ihn dringend zu sprechen wünsche, und wartete im
Vestibül ungeduldig auf das Erscheinen des Marquess. Sobald
Lord Coverdale zu ihm gekommen war, schilderte er ihm die
Begegnung mit dem Baronet und fügte besorgt hinzu: „Die Sache
gefällt mir nicht, Mylord.“

„Mir auch nicht“, sagte John ernst. „Gehen Sie bitte sogleich

zum Stallmeister, und veranlassen Sie, dass uns zwei gute Pferde
gesattelt werden. Ich entschuldige mich nur schnell bei der
Baronin und meinen Freunden und komme dann zu Ihnen.“

„In Ordnung, Sir“, erwiderte Joseph und verbeugte sich.
John eilte in den Salon zurück, erklärte Lady Danby die Sach-

lage und war froh, als Ivo und Adam sich spontan bereitfanden,

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sich ihm anzuschließen. Die Ermahnungen der Damen, vor-
sichtig zu sein, nicht weiter beachtend, hastete er in Begleitung
seiner Freunde zu den Stallungen und ließ zwei weitere Pferde
satteln. Kaum waren die Tiere auf den Reitplatz gebracht
worden, saß man auf, ritt in schnellem Trab zum Hyde Park und
hielt Ausschau nach dem Baronet. Trotz intensiver Suche war
dessen Phaeton jedoch nirgendwo zu sehen.

„Hier stimmt etwas nicht“, äußerte John beunruhigt. „Es er-

scheint mir ratsamer, uns zu bewaffnen, ehe wir bei Sir Anthony
vorstellig werden.“ Da Ivo und Adam ihm beipflichteten, ritt
man zunächst zu seiner Residenz, wo John sich und die Herren
mit Pistolen ausstattete, und begab sich dann zu Sir Anthonys
Haus.

Mehrere Kutschen hielten vor dem Anwesen, und eine Gruppe

verärgert wirkender Gentlemen hatte sich vor dem Eingang ver-
sammelt. John vermutete, dass es sich um Kreditoren des
Baronets handelte, der offenbar nicht daheim war. Er saß ab,
zwängte sich durch die Leute und betätigte den Türklopfer.

Erst nach geraumer Zeit wurde das Sichtfenster geöffnet, und

aus dem Vestibül rief jemand John zu, der Hausherr sei nicht da.
„Ich bin kein Gläubiger“, erwiderte er barsch, griff in den
Gehrock und zog die Couverttasche heraus. Er entnahm ihr eine
Pfundnote und sagte, während er sie durch die Öffnung dem
Mann in Entree zuschob: „Ich bin Lord Coverdale und habe ein
dringendes Anliegen mit Sir Anthony zu besprechen. Wo kann
ich ihn finden?“

Hurtig nahm der Domestik das Geld an sich und antwortete:

„Wenn er nicht im Hyde Park ist, hält er sich wahrscheinlich in
Monplaisir auf, seinem Haus in Kensington.“

„Danke“, murmelte John, kehrte zu seinen Begleitern zurück

und schwang sich in den Sattel. „Ich weiß jetzt, wo wir ihn auf-
spüren werden“, raunte er Adam zu. „Folgt mir!“

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24. KAPITEL

Monplaisir war ein außerhalb von Kensington an der nach Bath
führenden Straße gelegenes, von einem hohen schmiedeeisernen
Zaun umgebenes Anwesen mit einem offenbar im vergangenen
Jahrhundert errichteten stattlichen Herrenhaus. Kaum hatte der
Baronet Caroline aus dem Phaeton geholfen, erkundigte sie sich:
„Werden Sie jetzt meinen Diener holen lassen?“

„Sobald Sie es wünschen“, antwortete Anthony ausweichend.
Unschlüssig schaute sie ihn an und erwiderte nach kurzem

Überlegen: „Ich halte es für besser, wenn ich nicht mit Ihnen ins
Haus komme. Sie haben gesagt, Sie wollten nur einen kurzen
Umweg durch den Hyde Park machen, mich um einen Rat bitten
und mich dann unverzüglich heimbringen. Stattdessen sind wir
jetzt hier in Kensington, und Lady Danby weiß nicht, wo ich
mich befinde. Sie wird sich wundern, wenn ich nicht rechtzeitig
bei ihr bin, und ich möchte nicht, dass sie sich beunruhigt.“

„Sie scheinen wenig Vertrauen zu mir zu haben, Madam“,

äußerte Anthony, Gekränktsein heuchelnd. „Darf ich Sie daran
erinnern, dass Sie eingewilligt haben, mit mir herzufahren?“

„Das weiß ich“, räumte Caroline seufzend ein. „Also gut, beau-

ftragen Sie bitte sofort jemanden, Bellerby herzubringen.“

„Selbstverständlich“,sagte Anthony höflich.„Entschuldigen Sie

mich.“

Er wandte sich ab, ging zu seinem Lakai und redete mit ihm.

Einen Moment später nickte der Bedienstete, nahm das Leitp-
ferd am Halfter und verschwand mit Gespann und Chaise um die
Ecke des Gebäudes.

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Anthony kehrte zu Mrs. Duval zurück, reichte ihr den Arm

und geleitete sie in die Eingangshalle. „Die Unterlagen sind im
Rauchkabinett“, erklärte er, half ihr die Treppe hinauf und
führte sie in den Herrensalon.

Beim Betreten des Raums fiel ihr ein verhülltes Bild auf, das

mit der Schauseite zu einem Fenster auf einer Staffelei stand.

Lächelnd schloss Anthony die Tür, legte, während er zu dem

Gemälde schlenderte, die Reitpeitsche auf den Tambour und zog
dann, Mrs. Duval anzüglich anschauend, langsam das Tuch fort.

Ihr stockte der Atem. Sie hatte damit gerechnet, eine Vedoute

zu sehen, aber keinesfalls einen der von ihr in New Orleans
entstandenen Akte. Sie spürte das Blut aus den Wangen
weichen, starrte entsetzt das Gemälde an und brauchte einen
Moment, um sich zu fassen. „Wie sind Sie an dieses Machwerk
gekommen?“, flüsterte sie erschüttert.

„Machwerk?“, wiederholte Anthony belustigt. „Ich finde es

meisterhaft. Edmund hat mir berichtet, in Kingston hätte man
viel dafür bezahlt, es sehen zu dürfen.“

„Woher kennen Sie meinen Cousin?“, fragte Caroline entsetzt.
„Er ist unser beider Cousin“, erläuterte Anthony amüsiert.

„Seine Mutter ist die Schwester meines Vaters.“

Entgeistert schaute Caroline den Baronet an.
„Das überrascht Sie, wie ich sehe, und beweist mir, wie gut ich

die Fäden aus dem Hintergrund gesponnen habe“, fuhr er
schmunzelnd fort. „Ich war nämlich von Anfang an über seine
Bemühungen informiert, Ihnen den Ainderby-Kelch zu rauben.
Leider ist ihm das nicht gelungen, weil er sich so unbeholfen an-
gestellt hat. Gleichviel, zum Dank für meine Hilfe hat er mir
nach seiner Heimkehr dieses entzückende Bildnis geschickt.
Leider ist es nur eine Kopie des Porträts, das in Kingston in
einem gewissen Etablissement hängen soll. Aber was dort Geld
einbringt, kann unter bestimmten Umständen auch hier dazu

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dienen und mich aus meiner etwas prekären finanziellen Lage
befreien.

Ich

bin

überzeugt,

einige

Herren

Ihres

Bekanntenkreises …“

„Das ist Erpressung!“, fiel Caroline ihm wütend ins Wort.
„Nennen Sie es, wie es Ihnen beliebt“, sagte der Baronet un-

beeindruckt. „Sie wissen, dass ich in großen Schwierigkeiten bin.
Wäre ich nicht in der Zwangslage, mich mit einer reichen Frau
vermählen zu müssen, dächte ich nicht daran, jemanden wie Sie,
eine liederliche Person, die sich ungeniert den Augen lüsterner
Betrachter unverhüllt zur Schau gestellt hat, in Betracht zu
ziehen. Durch Ihr früheres Verhalten haben Sie mich jedoch
glauben gemacht, ich würde, wenn ich mich Ihnen erkläre, von
Ihnen erhört. Dann haben Sie mich durch Ihre rüde Weigerung,
meinen Heiratsantrag anzunehmen, vor den Kopf gestoßen und
mich zum Gespött der Leute gemacht. Das kann und werde ich
Ihnen nicht verzeihen. Mir ist jedes Mittel recht, um das zu
bekommen, was ich haben will. Wenn Sie sich also nicht
bloßgestellt sehen wollen, werden Sie mich heiraten.“

„Sie sind von Sinnen, Sir!“, äußerte Caroline fassungslos.
„Ganz und gar nicht!“, widersprach er süffisant. „Niemand

wird noch mit Ihnen verkehren wollen, auch Coverdale nicht,
sobald er den Beweis für die Behauptungen Edmunds vor Augen
hat.“

Caroline hatte das bestimmte Gefühl, der Boden schwanke ihr

unter den Füßen. Sie atmete tief durch, presste die Hände
zusammen und erwiderte so beherrscht wie möglich: „Ich
weigere mich, Ihnen noch länger zuzuhören. Sie wissen wirklich
nicht mehr, was Sie sagen. Eines dürfen Sie mir jedoch aufs
Wort glauben! Lord Coverdale heiratet mich sofort, wenn ich
ihm mein Einverständnis gebe.“ Erregt wandte sie sich ab und
wollte aus dem Salon gehen.

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„Wohin des Wegs?“, fragte Anthony mokant. „Sie übersehen,

dass Sie mein Haus nicht ohne meine Einwilligung verlassen
können. Und das wird erst dann der Fall sein, wenn Sie zuges-
timmt haben, meine Gattin zu werden.“

„Wie wollen Sie das erreichen?“, fragte sie kalt.
„Wie?“ Drohend näherte Anthony sich ihr. „Das werden Sie

sofort merken.“

Ängstlich wich sie vor ihm zurück, nahm aus dem Augen-

winkel die auf dem Tambour liegende Reitpeitsche wahr und riss
sie an sich. „Keinen Schritt weiter!“, warnte sie den Baronet.

„Sie schüchtern mich nicht ein!“, sagte er grinsend und folgte

ihr unbeirrt.

Sie holte zum Schlag aus und erschrak unwillkürlich, als der

Lederriemen Sir Anthony quer über das Gesicht traf.

Vor Schmerz schrie der Baronet auf, presste die Hände auf die

brennenden Wangen und stieß gepresst hervor: „Das werden Sie
mir büßen!“

Caroline wusste, dass sie sich mit der Peitsche allein seiner

nicht erwehren konnte. Hastig schaute sie sich um, erblickte ein-
en Silberleuchter auf einer Kommode neben sich und ergriff ihn.
Sie hob ihn hoch und äußerte keuchend: „Wenn es sein muss,
schlage ich Ihnen den Schädel ein!“

Anthony lachte höhnisch auf, zog das Schnupftuch aus der

Innentasche des Gehrocks und wischte sich das Blut, das aus
dem von der Peitsche hinterlassenen Striemen trat, von der
Wange. Dann kam er gemächlich auf Caroline zu. Als er sie
erneut den Arm mit dem Kandelaber heben sah, duckte er sich
flink zur Seite, sprang vor und versetzte ihr einen so wuchtigen
Stoß, dass sie zurücktorkelte und Leuchter und Peitsche fallen
ließ. Grob ergriff er sie an den Oberarmen, drängte sie hart ge-
gen die Wand und zischte sie an: „Ihr Spiel ist aus, Madam! Sie

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sind entschieden zu weit gegangen!“, fügte er verkniffen hinzu
und presste sich an sie.

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen, und zu Carolines gren-

zenloser Erleichterung kam Lord Coverdale in den Salon
gestürmt. Im nächsten Moment wurde Sir Anthony von ihr
zurückgerissen, taumelte und stürzte gegen den Tambour, der
unter der Wucht des Aufpralls umfiel. Der Baronet prallte mit
dem Kopf gegen die Tischkante und sackte auf den Fußboden,
wo er reglos liegen blieb. „John!“,

flüsterte Caroline matt. „Wie gut, dass Sie rechtzeitig gekom-

men sind!“

Er schloss sie in die Arme und erwiderte beschwichtigend:

„Jetzt hast du nichts mehr zu befürchten, Caroline! Wir können
unbehelligt das Haus verlassen. Meine Freunde und ich haben
die Dienstboten überwältigt und eingesperrt.“ Da Ivo und Adam
im gleichen Moment das Zimmer betraten, fuhr er fort: „Bindet
ihn, und schafft ihn zu dem anderen Gesindel in den Keller.
Bellerby wird so lange vor der Tür Wache stehen“, fügte er, an
Caroline gewandt, erklärend hinzu, „bis die Constabler eingetrof-
fen sind.“

Mit Adams Unterstützung hob Ivo den Bewusstlosen auf und

wollte ihn aus dem Salon tragen. Unvermittelt erblickte er den
auf der Staffelei stehenden Akt, blieb jäh stehen und murmelte
entsetzt: „Ach, du meine Güte!“

Erstaunt drehte John sich um, sah das Bild und starrte es ent-

geistert an. „Bitte, vergesst, dass ihr es je zu Gesicht bekommen
habt“, sagte er nach einer Weile eindringlich. „Es ist ohnehin
keinen zweiten Blick wert. In Wirklichkeit ist Mrs. Duval sehr
viel reizvoller.“

„Woher weißt du das?“, fragte Adam verdutzt.
„Das tut jetzt nichts zur Sache“, antwortete John galant. „Ihr

könnt mir jedoch glauben, dass ich nicht übertrieben habe.“

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„Ich bitte Sie, Sir ….“, begann Caroline verlegen und spürte

sich erröten. „Sie kompromittieren mich!“

„Es ist mir ein Vergnügen“, erwiderte er lächelnd. „Denn nun

hast du keine andere Wahl, als mich zu heiraten.“

„Willst du mich noch immer haben?“, fragte sie erstaunt.
„Auf jeden Fall“, bestätigte er warmherzig.
„Ich bedaure die Äußerungen, zu denen ich mich dir ge-

genüber hinreißen ließ“, gestand sie kleinlaut.

„Und ich bereue erneut, wie ich dich behandelt habe“,sagte er

ehrlich.„Ich liebe dich, Caroline. Willst du aus freien Stücken
meine Gattin werden?“

„Ja!“, flüsterte sie bewegt und schlang glücklich die Arme um

ihn.

Die Anwesenheit der Freunde ignorierend, zog er Caroline an

sich und küsste sie sehnsüchtig.

Ivo räusperte sich verhalten und gab Adam ein Zeichen, den

Raum zu verlassen.

Caroline hörte die beiden Männer aus dem Herrensalon gehen

und schmiegte sich selig an John.

Sacht strich er ihr über das zerzauste Haar und murmelte:

„Ich wünschte, ich wüsste, wie ich jetzt mit diesem gemeinen
Kerl verfahren soll. Überlasse ich ihn den Gendarmen, kommt es
zu einem Prozess, der weder dir noch mir recht sein kann.“

„Vielleicht weiß ich eine geeignete Lösung“, warf Caroline ein

und schaute auf. „Er hat erwähnt, dass er nach Jamaika aus-
wandern will, vermutlich um seinen Gläubigern zu entwischen.
Ich nehme an, er wird zu Edmund reisen. Zu meiner großen
Überraschung habe ich erfahren, dass er mit mir verwandt ist.“

„Wie bitte?“ Perplex sah John sie an.
„Ja, Edmunds Mutter ist die Schwester seines Vaters. Auch

wenn er ein Lump ist, wäre es mir lieber, er käme nicht vor
Gericht.“

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„Gut, dann werde ich umgehend dafür sorgen, dass er wie

dein Vetter unter diskreter Bewachung nach Falmouth und auf
den ersten Segler eskortiert wird, der nach Kingston in See
sticht“, stimmte John zu. „Bei Edmund ist er wirklich gut aufge-
hoben, denn Gleich und Gleich gesellt sich bekanntlich gern.“

„Danke“, erwiderte Caroline, reckte sich auf die Zehenspitzen

und gab John einen zärtlichen Kuss. Dann bot John ihr den
Arm, und sie verließen das Rauchkabinett. In der Halle warteten
seine Freunde.

John machte sie mit ihnen bekannt und fügte stolz hinzu:

„Caroline hat soeben eingewilligt, meine Gattin zu werden.“

Einen Moment lang waren Ivo und Adam sprachlos.
„Später werde ich euch berichten, wie wir einander begegnet

sind“, fuhr John belustigt fort. „Aber jetzt lasst uns Caroline
nach Haus bringen, damit Lady Danby beruhigt ist und ich sie
bitten kann, jemanden von ihrem Personal nach Richmond zu
den Bütteln zu schicken. Bellerby passt doch weiterhin auf das
Gesindel auf, nicht wahr?“

Ivo und Adam nickten.
„Gut!“, sagte John zufrieden. „Und wenn Caroline sich eini-

germaßen von dem erlittenen Schreck erholt hat, sollten wir alle
ein Gläschen auf ihr Wohl trinken.“

„Ein wunderbarer Einfall“, stimmte Ivo begeistert zu.
John beschloss, sich Carolines Bequemlichkeit zuliebe Sir

Anthonys Phaeton auszuleihen. In ausgelassener Stimmung ging
man zu den Stallungen und schirrte unter Scherzen und
Gelächter das Gespann an. Dann führte John die Pferde auf den
Hof, half Caroline in die Kutsche und wartete, bis die Freunde
aufgesessen waren. Er bat Ivo, seinen Rotfuchs mitzuführen,
übergab ihm die Zügel des Pferdes und schwang sich neben
Caroline auf den Sitz.

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Guter Dinge kehrte man in die Stadt und zur Residenz der

Baronin zurück. Kaum hatte man das Gesellschaftszimmer be-
treten, sprangen die drei Damen auf und überschütteten
Caroline und die Herren mit Fragen.

„Langsam, langsam“, äußerte John lächelnd und hob ab-

wehrend die Hände. „Alles der Reihe nach. Zuerst die erfreulich-
ste Neuigkeit. Mrs. Duval … Caroline … und ich werden uns
verloben!“

Entzückt klatschte die Baronin in die Hände.
Josephine und Katherine blickten erstaunt zwischen ihren

schmunzelnden Ehemännern und dem jungen Paar hin und her.

„Das wollen wir begießen“, sagte Ivo munter, läutete und trug

dem bald darauf erscheinenden Wentworth auf, gut gekühlten
Champagner zu servieren.

Sobald dieser kredenzt worden war, erhob man die Gläser,

und die Baronin äußerte strahlend: „Ich weiß nicht, auf wen oder
was ich zuerst trinken soll. Ich bin so froh, Caroline, dass Sie
endlich zur Vernunft gekommen sind und Ihrem Herzen folgen.
Und was Sie angeht, Coverdale, so bin ich sicher, Sie wissen, wie
sehr Sie jetzt vom Glück begünstigt sind. Und euch wünsche ich
ebenfalls nur das Beste“, wandte sie sich an ihren Neffen und
dessen Frau. „Ich habe euch sehr vermisst und bin froh, dass ihr
endlich wieder da seid. Und für alle Paare erhoffe ich reichen
Kindersegen“, fügte sie verschmitzt lächelnd hinzu.

Die Zuhörer lachten fröhlich und stießen miteinander auf eine

unbeschwerte Zukunft an.

– ENDE –

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