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Thomas Jeier 

 
 

Hinter den Sternen 

wartet die Freiheit 

 
 
 
 
 
 
 
 

UEBERREUTER 

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme 

Jeier, Thomas: 

Hinter den Sternen wartet die Freiheit / Thomas Jeier. 

Wien: Ueberreuter, 2002 

ISBN 3-8000-2966-9 

 
 

 

 
 

Für Ingeborg Castell – die immer an mich geglaubt hat 

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der 

Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in 
jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen 

Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen 

Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, 

ausdrücklich vorbehalten. 

Umschlaggestaltung von Zembsch’ Werkstatt, München, 

unter Verwendung einer Illustration von Marek Zawadzki 

Karte Vor- und Nachsatz: Gestaltung und Reinzeichnung von 

AG Media GmbH, www.agmedia.at 

Copyright © 2002 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien 

Druck: Ueberreuter Print 

Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at 

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Afrika, 1829: Skrupellose Sklavenjäger bringen die 
junge  Bensua und den Krieger Ottobah nach 
Amerika. Dort angekommen müssen sie auf 
Baumwollplantagen arbeiten, den Grausamkeiten 
der Aufseher ausgeliefert. Da hört Bensua von 
Menschen, die Sklaven zur Flucht verhelfen. 
Bensua fasst neuen Mut und folgt den Sternen in 
eine ungewisse Zukunft. 
Durch ihr ungebrochenes Vertrauen in die Zukunft 
meistert die junge Frau in den düsteren Zeiten des 
Sklavenhandels ihr Schicksal. Ein dramatischer 
Roman und zugleich ein Aufruf gegen jede Art von 
Unterdrückung. 

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Es ist besser, tot zu sein, 

als zu leben und nicht respektiert zu werden. 

 

Sprichwort der Asante 

 
 
 
 
 

Wir halten diese Wahrheiten für grundlegend, 

dass alle Menschen gleich geboren sind… 

 

Aus der amerikanischen Verfassung 

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AFRIKA 

 
 

O meine Mutter! 

Meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder! 

Werde ich euch niemals wieder sehen? 

 

Mary Prince, ehemalige Sklavin 

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Am siebten Tag des September erlosch die Sonne. Sie wurde 
von den dunklen Wolken verdrängt, die den Beginn der 
Regenzeit ankündigten, und ertrank in einem goldenen Meer 
hinter dem  Urwald. Der Himmel verfinsterte sich und 
faustgroße Hagelkörner fielen aus dem grauen Dunst herab. 
Sie trommelten auf die Palmdächer der Lehmhütten und gegen 
die massiven Wände des Königspalastes, der sich wie eine 
mächtige Festung im Zentrum von Kumase erhob. Die hundert 
Meter breite Hauptstraße verwandelte sich in einen morastigen 
Sumpf. Die Menschen verkrochen sich in ihren Hütten und 
beteten zu den Göttern, und Osei Yaw, der greise König der 
Asante, ließ die Türen seines Palastes verriegeln und rief nach 
seinen beiden Lieblingsfrauen. Das Gebrüll eines einsamen 
Leoparden, der sich in die Nähe der Hauptstadt verirrt hatte, 
wurde vom dunklen Prasseln der Hagelkörner verschluckt. 

Es war wie jedes Jahr im September und doch empfand 

Bensua große Furcht. Sie war die jüngste Tochter eines 
erfolgreichen Jägers, der im Sommer einen gefürchteten 
Löwen getötet hatte und dafür vom König mit einer goldenen 
Kette ausgezeichnet worden war. Eine Schönheit, von 
schlankem Wuchs, die selbst die bewundernden Blicke 
erwachsener Krieger auf sich zog. Ihre Stirn war hoch, der 
Mund schmal, beides Schönheitsideale bei den Asante, und 
ihre Haut leuchtete in einem tiefen Schwarz, wie man es auch 
bei ihrem Volk nur selten sah. Ihre braunen Augen waren groß 
und ausdrucksvoll und ein Spiegel ihrer Seele, die von einer 
geheimnisvollen Kraft gespeist wurde. 

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Im Schein der Kerzen, die auf dem Tisch im Wohnraum 

brannten, wirkte Bensua noch stattlicher und schöner. Ihre 
Gestalt war von einer Anmut, wie sie nur den beiden 
Lieblingsfrauen des Königs nachgesagt wurde, und selbst ohne 
goldene Halsketten und Armreifen erweckte sie den Eindruck 
einer edlen Prinzessin, auch wenn sie nicht aus einer 
vornehmen Familie stammte und bei ihren Eltern in einem 
einfachen Lehmhaus wohnte. Der Kerzenschein zauberte 
flackernde Schatten auf ihre weiche Haut. 

Weder ihre Großmutter, die am Tisch saß und an einem 

neuen Baumwollkleid nähte, noch ihre Brüder und Schwestern 
spürten, wie angespannt sie war. Nur ihre Mutter bemerkte, 
wie sich ihre Schultern verkrampften  und ein leichtes Beben 
durch ihren Körper lief. Sie brauchte nicht zu fragen um zu 
wissen, was ihre Tochter bewegte. Sie fühlte die Unruhe selbst, 
die leise Warnung, die im Prasseln des Regens zu hören war, 
und den Hilferuf, der mit dem Wind aus der Hitze des Urwalds 
zu kommen schien. Die feuchte Luft zog wie eine Drohung 
zum Fenster herein und schien Bensua ersticken zu wollen. 
Selbst als die Hagelkörner ausblieben und nur noch heftiger 
Regen auf das Land prasselte, blieb dieses erdrückende Gefühl. 
Sie schob es auf die Angst um ihren Vater und ihren Onkel, die 
mit den anderen Kriegern in den Kampf gezogen waren, und 
ahnte doch, dass die bösen Geister nach ihrer Seele griffen. 
»Ich sehe nach den Ziegen«, sagte sie zu ihrer Mutter und 
verließ das schützende Lehmhaus. 

Sie blieb unter dem hervorstehenden Palmdach stehen und 

atmete die schwüle Luft, die aus dem Urwald herüberwehte. 
Während der zweimonatigen Regenzeit litten selbst die Asante 
unter der Hitze, die in den endlosen Regenwäldern der 
Goldküste das Land peinigte. Die Menschen hatten sich mit 
der mächtigen Natur arrangiert, zogen sich ähnlich wie die 
Tiere in ihre Behausungen zurück und lauschten den 

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Geschichten, die Männer wie ihr Großvater erzählten. Sie 
berichteten vom mächtigen Volk der Asante, das in den 
Wäldern des westlichen Afrika lebte und seinen 
Herrschaftsbereich bis zur Küste ausgedehnt hatte. 

Osei Yaw war vom Schöpfer selbst zum ersten  Asantehene 

erklärt worden. So nannten die Asante ihren König. Er hatte 
die mächtigen Denkyira besiegt und die ersten Pfade zur Küste 
geschlagen. Dort gingen die Engländer, Schweden, Dänen und 
Holländer mit ihren Segelschiffen vor Anker und brachten 
wertvolle Handelswaren aus dem fernen Europa: Musketen, 
Werkzeuge, Kleidung und Haushaltswaren, aber auch Kupfer 
und Messing und Salz, das bei den afrikanischen Völkern 
besonders begehrt war. Die Asante bezahlten mit Gold, 
schöpften aus den unermesslichen Vorräten, die in ihren Minen 
verborgen lagen und von Sklaven gefördert wurden. Die 
weißen Männer hatten  vergeblich versucht ins Landesinnere 
vorzudringen, waren an der übermächtigen Natur und der 
riesigen Streitmacht der Asante gescheitert und hatten sich 
darauf beschränkt, steinerne Forts an der Küste zu errichten. 
Sie waren auf das Gold der Asante aus, kauften und stahlen 
aber auch Sklaven, obwohl die Engländer und Dänen den 
Sklavenhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts als 
»unmenschlich« verurteilt und verboten hatten. 

Bensua hatte die weißen Männer nie gemocht. Sie ekelte sich 

vor ihrer blassen Hautfarbe und verurteilte das arrogante 
Gehabe ihrer Anführer. Sie hielten sich für etwas Besseres. Die 
englischen Offiziere, die vor einigen Wochen in Kumase 
gewesen waren, hatten Geschenke gebracht und den König mit 
schönen Worten umworben, aber in ihren Augen hatte blanke 
Gier gestanden. Sie dürsteten danach, die Asante zu töten und 
in den prächtigen Palast zu ziehen, der sich innerhalb der 
Hauptstadt erhob. 

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Vor einigen Jahr hatten die Baumeister den letzten Stein 

gelegt. Wie das größte Fort der weißen Männer überragte er 
alle anderen Häuser, ein traumhaftes Schloss aus fest gefügten 
Felsbrocken, das von den besten Kriegern und einer eigenen 
Polizeitruppe bewacht wurde. Die Fenster und Türen waren 
mit goldenen Beschlägen verziert und blitzten in der Sonne. 
Hinter seinen Mauern lagen weitläufige Gemächer, die sich 
mit den üppig ausgestatteten Räumen europäischer und 
arabischer Herrscher messen konnten. Es gab eine Bibliothek, 
die von einem arabischen Gelehrten betreut wurde, einen 
Ballsaal, der für das königliche Orchester reserviert war, und 
einen Weinkeller mit erlesenen Weinen und edlem 
Champagner, auf den selbst der französische König neidisch 
gewesen wäre, wenn er ihn jemals zu Gesicht bekommen hätte. 
In den mehrfach gesicherten Kellergewölben lagerten die 
unermesslichen Goldvorräte der Asante. Es gab so viel Gold, 
dass der König seinen Körper zu offiziellen Anlässen mit 
feinem Goldstaub puderte. Ein Zeichen seines Reichtums, der 
auch die englischen Offiziere beeindruckt hatte. 

Bensua ahnte, dass die Überlegenheit der Asante nicht ewig 

dauern werde. Bisher genügte es den weißen Männern, ihre 
Handelswaren gegen Goldbarren und schwarze Sklaven zu 
tauschen, und solange es genug Gold gab und die Asante die 
Gefangenen unterjochter Stämme verkaufen konnten, waren 
beide Seiten zufrieden. Doch was geschieht, wenn das Gold 
knapp wird? Wenn es keine Gefangenen mehr gibt? 
Verbünden sich die Engländer dann mit den anderen 
Europäern? Rücken sie mit ihren mächtigen Kanonen in den 
Urwald vor? Rauben und versklaven sie dann die Männer, 
Frauen und Kinder der Asante? 

Die junge Frau spürte, dass ihre Bedrücktheit etwas mit 

diesen Gedanken zu tun hatte, und trat in den Regen hinaus. 
Vielleicht wusch das Wasser, das aus dem Himmel kam, ihre 

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Sorgen hinweg. Sie grübelte länger als ihre Brüder und 
Schwestern, das hatte ihr Onkel schon erkannt, als sie noch ein 
Kind gewesen war. Sie dachte länger über Probleme nach als 
andere Kinder, hielt sich von lauten Spielen fern und mochte 
am liebsten, wenn ihr Onkel die Geschichten ihres Volkes 
erzählte. Als Bruder ihrer Mutter war er mit für die Erziehung 
verantwortlich. Die Familie der Asante orientiert sich nach der 
Mutter, der leibliche Vater hat weniger zu sagen als alle 
männlichen Verwandten der Mutter. 

Bensua trug keine Kopfbedeckung. Der Regen prasselte auf 

ihre kurzen Haare, durchdrang ihr dünnes Baumwollkleid und 
hinterließ helle Striemen auf ihrer Haut. Sie war allein. Nicht 
einmal die Ziegen und Hühner waren draußen. Die breite 
Straße schien durch eine verlassene Stadt zu fuhren und in dem 
milchigen Dunst zu enden, den der Regen über die Häuser 
legte. Sie genoss den Regen, obwohl er schmerzte, rieb mit 
beiden Händen über ihr Gesicht und blickte Hilfe suchend in 
den verhangenen Himmel. Wo waren die Antworten auf die 
vielen Fragen, die sie bedrückten? 

Ohne es zu wollen verließ Bensua das Stadtviertel, in dem 

ihre Angehörigen wohnten. Ziellos irrte sie durch den Regen, 
über die breite Hauptstraße und die engen Gassen des 
Stadtteils, in dem die ärmeren Asante lebten. Auch hier war 
keine Spur von Leben. Nur der Rauch, der aus den 
Schornsteinen drang, und der herbe Geruch von gekochtem 
Wurzelgemüse erinnerten daran, dass Menschen in den 
armseligen Hütten lebten. Bensua gehörte der Mittelschicht an. 
Ihre Familie wohnte in einem der Stadtviertel, die zwischen 
der vornehmen Gegend um den Königspalast und den 
Armenvierteln lagen. Auch in Kumase gab es deutliche 
Grenzen zwischen Arm und Reich, vielleicht noch stärkere als 
in den fernen Städten der weißen Europäer. 

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Als der Regen etwas nachließ, bereute Bensua, diesen Weg 

eingeschlagen zu haben. Jetzt waren die notdürftigen Hütten 
klarer zu erkennen und sie sah auch den Schmutz, der in den 
besseren Vierteln undenkbar gewesen wäre. Kumase war eine 
saubere Stadt. Die breiten Hauptstraßen wurden täglich 
gereinigt, auch an einem Tag wie diesem, wenn der Regen sie 
in eine Schlammwüste verwandelt hatte, und der Abfall wurde 
außerhalb der Stadt verbrannt. 

Auch das hatte die englischen Offiziere, die den König 

besucht hatten, stark verwundert. Sie hatten wohl erwartet ein 
schmutziges Eingeborenendorf vorzufinden. 

Bensua beschleunigte ihre Schritte. Sie sank bis zu den 

Knöcheln in den tiefen Schlamm und brauchte viel Kraft, um 
vorwärts zu kommen. Das Kleid klebte an ihrem Körper. Sie 
spürte die verwunderten Blicke einiger Männer, die unter 
einem Palmdach standen und rauchten, und erinnerte sich 
daran, dass einige der jungen Frauen in diesem Viertel ihren 
Körper verkauften. Mit ihnen wollte sie auf keinen Fall 
verwechselt werden. Sie überquerte eine Kreuzung und 
erreichte die breite Straße, die zum Stadtrand und weiter nach 
Norden führte. Aber sie wandte sich in die andere Richtung. Es 
war keinem Bewohner von Kumase gestattet, die Stadt ohne 
Erlaubnis zu verlassen, und sie wollte nicht Gefahr laufen, von 
der Polizei aufgehalten zu werden. 

Als sie an einer Kreuzung stehen blieb um sich zu 

orientieren, entdeckte sie eine weißhaarige Frau, die geduckt 
durch den Regen schlich. Die Alte stapfte an den Lehmhäusern 
entlang, sorgsam darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden, 
und blieb alle paar Meter stehen und blickte sich um. Bensua 
versteckte sich nicht. Verwundert beobachtete sie, wie die Frau 
bei ihrem Anblick zusammenzuckte und in einer Seitengasse 
verschwand. 

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Bensua spürte, wie sich ihre Neugier regte. Sie folgte der 

Alten in die enge Gasse, sah gerade noch, wie sie um eine 
Hausecke bog. Es war einfach, ihrer frischen Spur 
nachzugehen. Ihre schmächtige Gestalt hob sich wie ein 
Schatten gegen den Regen ab und verschwand im Hof eines 
reichen Farmers. Bensua versteckte sich hinter einem 
Holzstapel und beobachtete verwundert, wie die Alte eine 
Ziege stahl und sie in die Gasse zog. An einem einfachen 
Strick zerrte sie das störrische Tier zurück auf die Hauptstraße. 
Niemand beachtete sie – außer Bensua, deren Neugier jetzt erst 
recht geweckt war. Sie folgte der weißhaarigen Frau bis zu der 
einfachen Hütte, in der sie wohnte, und schlich am Zaun 
entlang, bis ihr ein paar verschobene Latten auffielen. Dort 
kniete sie sich auf den Boden und spähte durch den Spalt. 

Was sie sah, ließ ihr das  Blut in den Adern gefrieren. Die 

Alte hatte die Ziege an einen Holzpflock gebunden und stand 
mit erhobenem Messer vor dem zitternden Tier. Ihr Gesicht 
war dem Himmel zugewandt und zuckte unter dem heftigen 
Regen. Sie schien ein Gebet zu sprechen, von dem Bensua nur 
wenig verstand, und murmelte eine Beschwörungsformel, wie 
sie nur Hexen anwandten. Die Worte erinnerten Bensua an 
eine junge Sklavin der Fante, die während der  Odwira  im 
letzten Jahr geopfert worden war und noch in ihrem 
Todeskampf die bösen Geister angerufen hatte. Das prunkvolle 
Fest, das zur Ernte der Jamswurzeln im späten August gefeiert 
wurde und die Begeisterung der Asante für ihren Staat stärken 
sollte, war eine willkommene Gelegenheit gewesen, die 
feindliche Hexe in ihre Schranken zu weisen und den Asante 
zu zeigen, dass ihre Götter stärker als die verderblichen Kräfte 
der Hexe waren. Aber auch bei ihrem Volk gab es Hexen. Sie 
wirkten hinter verschlossenen Türen. Der Zufall schien sie auf 
die Spur einer solchen Frau gebracht zu haben. 

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Bensua beobachtete, wie die weißhaarige Frau die Geister 

beschwor. Ihre knochigen Hände mit dem Messer ragten in den 
Regen und krümmten sich, als die letzten Worte der 
Beschwörung im Regen verklungen waren. Bensua 
unterdrückte mühsam einen Schrei, als die Alte  der Ziege mit 
einem schnellen Schnitt die Halsschlagader durchtrennte und 
ihre Hände in das spritzende Blut hielt. Das Tier sank röchelnd 
zu Boden und verendete. Der Blutstrom wurde schwächer und 
endete in einem Rinnsal. 

Die Hexe verschmierte das Blut auf  ihrem Gesicht und 

wiederholte einige der Beschwörungsformeln. Erschöpft ging 
sie in die Knie. Sie verharrte stumm und verschmolz mit ihren 
Gedanken. Bensua stahl sich leise davon. Sie wollte nichts mit 
der weißhaarigen Frau zu tun haben. Hexen wurden getötet. 
Sie brachten Unglück über das Volk und trieben es den bösen 
Geistern in die Arme. Wo sie waren, breiteten sich tödliche 
Krankheiten aus. Die Priester der Asante ließen Hexen töten, 
wenn sie das Haus eines Kranken betraten, und manchmal 
opferten sie auch junge Frauen, die sich in der Nähe einer 
Hexe aufgehalten hatten. 

Ängstlich kroch Bensua an dem Zaun entlang. Als sie die 

Gasse erreicht hatte, wurde sie von erstaunlich kräftigen 
Armen gepackt und in den Hof gezogen. Sie spürte ein Messer 
an ihrer Kehle. Der Regen wusch das frische Blut von der 
Klinge und trieb es über die Haut der jungen Frau. »Wer bist 
du?«, hörte sie die heisere Stimme der Alten. »Ich habe dich 
nie hier gesehen.« 

»Bensua«, nannte sie rasch ihren Namen, »die Tochter des 

tapferen Jägers, der im letzten Sommer einen Löwen getötet 
hat!« Die Antwort schien keinen Eindruck auf die Hexe zu 
machen. 

»Warum folgst du mir?« 

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Bensua war den Tränen nahe. »Ich weiß nicht. Ich wollte 

wissen, warum du die Ziege gestohlen hast. Ich habe es 
gesehen. Aber ich werde dich nicht verraten! Es ist mir egal, 
was du tust!« 

»Wenn du zur Polizei gehst, werde ich dich töten! Selbst 

wenn ich in Ketten liege, besitze ich die Kraft, dein Leben zu 
beenden!« 

»Ich sage nichts!«, beschwor Bensua die Hexe. 
Die Frau lockerte ihren Griff und nahm das Messer von ihrer 

Kehle. Bensua stolperte einige Schritte zurück. Sie griff sich 
an den Hals und atmete erleichtert auf, als sie keine Wunde 
spürte. Das wenige Blut, das an ihr klebte, stammte von der 
Ziege. Ungläubig starrte sie die Hexe an. Ihr faltiges Gesicht 
war mit Blut verschmiert und erinnerte Bensua an ein 
Ungeheuer, das in einer unheimlichen Geschichte ihres 
Großvaters vorgekommen war. Auch auf dem schäbigen Kleid 
der Hexe war Blut. Und doch wirkte sie verletzlich und gar 
nicht wie eine Frau, die mit den bösen Geistern spricht und 
Macht über andere Menschen hat. 

»Warum hast du das getan?«, fragte Bensua leise. Sie hatte 

keine Angst mehr, wollte nur wissen, warum es geschehen 
war. 

»Unserem Volk droht großes Unheil«, antwortete die Alte. 

»Es reicht nicht mehr, die Geister unserer Vorfahren anzurufen 
und zu Onyankopon Kwame zu beten. Sie sind hilflos, wenn es 
um die weißen Männer geht.« Sie ging einen Schritt auf 
Bensua zu und blickte sie beschwörend an. »Du darfst ihnen 
nicht glauben, mein Kind! Versprichst du mir das? Die 
Europäer lügen! Sie wollen unser Gold! Sie wollen unsere 
Menschen! Sie wollen starke Frauen wie dich, die sie an die 
reichen Farmer in den fernen Ländern verkaufen können! Ich 
habe von diesen Ländern gehört! Ich weiß, wie sehr unsere 
Brüder und Schwestern, die auf die großen Schiffe gestiegen 

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sind, in der Ferne leiden! Hüte dich vor den weißen Männern, 
mein Kind! Hüte dich vor ihnen!« 

Bensua wich einen Schritt zurück und hielt sich mit beiden 

Händen an dem Zaun fest. Die Worte der alten Frau wühlten 
sie mehr auf, als sie zugeben wollte. Auch ihre Unruhe ging 
auf die Furcht vor den weißen Männern zurück. Und sie spürte 
tief in ihrem Herzen, dass ihr Volk von einem großen Unheil 
bedroht wurde. War sie eine Hexe? Würde man sie während 
der nächsten Odwira töten und ihr Blut in die Löcher schütten, 
die nach der Ernte der Jamswurzeln in der Erde geblieben 
waren? »Du lügst!«, rief sie. Ihre Worte sollten die bösen 
Gedanken vertreiben. »Du bist eine Hexe! Du bist mit den 
bösen Geistern im Bunde! Unsere Krieger sind stark genug um 
es mit jedem Gegner aufzunehmen! Sie werden es nicht 
zulassen, dass unsere Männer und Frauen von den 
Sklavenhändlern verschleppt werden!« 

»Du wirst es sehen«, antwortete die Hexe betrübt. »Meine 

Kräfte reichen nicht mehr aus, das Unheil zu verhindern.« Sie 
wandte ihr Gesicht der toten Ziege zu. »Unser Volk wird im 
Blut liegen!« 

Bensua schüttelte den Kopf und ging rückwärts aus dem Hof. 

Die Alte hielt sie nicht zurück. »Das ist nicht wahr«, flüsterte 
das Mädchen entsetzt. »Du lügst! Du lügst!« Sie begann zu 
weinen und lief davon, zuerst langsam, dann immer schneller. 
Als sie zu Hause ankam, hatte der Regen die Tränen von ihrem 
Gesicht gewaschen. 

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Während der folgenden Tage blieb Bensua zu Hause. Sie 
versteckte sich im Halbdunkel der Hütte, erledigte 
Handarbeiten und setzte sich nur zu den Mahlzeiten an den 
Tisch. Ihre Großmutter nahm an, dass sie sich um Vater und 
Onkel sorgte, die mit den Kriegern gegen einen aufständischen 
Häuptling der Fante gezogen waren. Vor ihrem Aufbruch 
hatten sie geschworen, bis zum Beginn der Regenzeit zurück 
zu sein. Sie gehörten zu den tapfersten Männern des Landes, 
doch der Urwald war voller Gefahren. Die Geister konnten sie 
in eine Falle der Fante oder Engländer getrieben haben. Einige 
Häuptlinge des Küstenvolkes lehnten sich noch immer gegen 
die Asante auf und von den Engländern wusste man, dass sie 
jede Gelegenheit nützten, die Asante zu schwächen. Bald 
würde es zu einem großen Krieg kommen, das behauptete ihr 
Onkel seit vielen Monaten. 

Ihre Verwandten ahnten nichts von der weißhaarigen Hexe. 

Und Bensua hielt ihr Versprechen und hütete sich, die alte 
Frau zu verraten. Sie wollte nicht, dass die Hexe bestraft 
wurde. Stattdessen betete sie vor dem Einschlafen zu ihren 
Ahnen, die in einer anderen und besseren Welt lebten und 
täglich in das Angesicht des Schöpfers blickten. Sie sollten 
Onyankopon Kwame  bitten, seine schützende Hand über ihr 
Volk zu halten. Die Weissagung der Hexe durfte nicht in 
Erfüllung gehen. Wenn die weißen Männer kämen und sie als 
Sklaven verkauften, wären sie dem Untergang geweiht und sie 
würde als eine der Ersten an Bord eines Schiffes gehen. Die 
Sklavenhändler bevorzugten kräftige Frauen, mit denen sie 
sich unterwegs vergnügen konnten. 

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Bensua hatte nichts gegen die Sklaverei. Alle Völker der 

Goldküste versklavten ihre Gefangenen und ließen sie die 
schweren Arbeiten verrichten. Und wenn der Schöpfer ein 
Menschenopfer verlangte, wurde immer einem Sklaven der 
Kopf abgeschlagen. Aber die meisten Gefangenen wurden 
aufgenommen und durften beinahe gleichberechtigt neben den 
Asante leben. Die Weißen meinten etwas anderes mit 
Sklaverei. Sie verschifften Gefangene über das große Wasser, 
zu grausamen Herrschern in fremde Länder, und  demütigten 
und quälten sie während der langen Überfahrt. Einige Krieger 
behaupteten sogar, die Europäer würden einige Gefangene 
schlachten und aufessen. Ein schreckliche Gedanke, der sie 
selbst in der Hitze frösteln ließ. 

Bisher waren die Asante sicher vor den weißen 

Eindringlingen gewesen. Nur einige Krieger, die in die 
Gefangenschaft der Fante geraten und an einen Kaufmann 
verkauft worden waren, hatten die qualvolle Reise in eine 
ungewisse Zukunft angetreten. Ihr Volk war zu mächtig. Wenn 
ein Europäer mit wertvollen Handelsgütern gekommen war um 
Sklaven zu kaufen, hatte der König einen Kriegertrupp zu 
verfeindeten Völkern geschickt, um dort Gefangene zu 
machen. Der Mann, der behauptet hatte, der König der Asante 
würde auch Angehörige seines eigenen Volkes  als Sklaven 
verkaufen, war auf dem Marktplatz hingerichtet worden. 

»Du bist still, mein Kind«, sagte ihre Mutter, während sie das 

Abendessen zubereitete. Es gab einen schmackhaften Eintopf 
aus Ziegenfleisch, den sie mit arabischen Gewürzen 
verfeinerte. 

»Ich weiß«, antwortete Bensua. 
»Du sorgst dich um die Krieger, nicht wahr? Um deinen 

Vater und deinen Onkel.« Es klang mehr wie eine Feststellung. 
»Auch wir haben Angst um sie.« Ihr Blick ging zu den anderen 
Verwandten, die auf ihren Nachtlagern saßen und auf das 

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Abendessen warteten. Während der Regenzeit gab es wenig zu 
tun. 

»Sie werden die Fante besiegen«, erwiderte Bensua. Sie 

verriet ihrer Mutter nicht, welche Gedanken sie wirklich 
beschäftigten. »Sie haben sie immer besiegt. Die Fante sind 
schwach und feige! Sie werden Gefangene bringen und sie den 
Göttern opfern!« 

»So wird es sein«, sagte ihre Mutter. 
Die Fante gehörten zu den Erzfeinden der Asante. Sie lebten 

an der Küste, hatten vor allen anderen Völkern mit den 
Europäern gehandelt und waren zuerst in den Besitz von 
Feuerwaffen gekommen. Erst vor knapp dreißig Jahren, zu 
Beginn des 19. Jahrhunderts, hatten die Asante gesiegt. Ihre 
Streitmacht war zu groß für das kleine Küstenvolk, und der 
unbedingte Wille einen Zugang zur Küste zu haben um am 
lukrativen  Handel mit den Europäern teilzuhaben, hatte den 
Asante zusätzliche Kräfte verliehen. Nur noch wenige 
Häuptlinge lehnten sich gegen den König der Asante auf. Auch 
sie würden früher oder später ihre Waffen niederlegen. 

»Sie kommen wieder«, sagte die Großmutter während des 

Essens. »Der Schöpfer will nicht, dass ich beide Söhne 
verliere.« Ihr anderer Sohn war vor einigen Jahren im Kampf 
gegen die Fante gefallen, ein Unglück, von dem sie sich 
niemals erholt hatte. Sie schwieg meistens und hatte seitdem 
nicht mehr gelacht, nicht einmal während der ausgelassenen 
Feste zur Trockenzeit. Sie war zu einer verbitterten Frau 
geworden, die nur noch in ihren Träumen lebte. »Sie spricht 
mit den Geistern«, behauptete der Großvater. 

Doch diesmal schien sie sich geirrt zu haben. Zwei Monate 

später waren die Krieger noch immer nicht aufgetaucht und 
kaum jemand glaubte noch an ihre Rückkehr. Die heiligen 
Männer beteten und sangen den ganzen Tag und nachts 
dröhnte die Trommel eines Greises, der im Palast wohnte und 

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das Vorrecht genoss, für den König zu beten. Der Schöpfer gab 
keine Antwort. Auch als Osei Yaw einen Sklaven enthaupten 
ließ und das Blut des Toten vor dem Palast verteilte, geschah 
nichts. Bensua hätte gern gewusst, ob das Ausbleiben der 
Krieger etwas mit der Warnung der weißhaarigen Hexe zu tun 
hatte, wagte aber nicht zu der alten Frau zurückzukehren. Sie 
rief die Ahnen ihres Vaters und ihres Onkels an und bat sie, die 
Männer aufzuspüren und sicher nach Kumase 
zurückzugeleiten. Sie sang ein heiliges Lied, das sie von ihrem 
Onkel gelernt hatte, und trat jeden Morgen auf die Straße um 
nach den Kriegern Ausschau zu halten. 

Wenige Tage nach der Regenzeit wurden die Gebete der 

Asante erhört. Bensua gehörte zu den Frauen und Kindern, die 
an diesem schwülen Morgen auf der Straße standen und in den 
wabernden Dunst spähten, der von dem tiefen Morast aufstieg. 
Sie sah die dunklen Schatten in den Dunstwolken, blickte 
genauer hin und erkannte die Umrisse einiger Krieger. Stolze 
Männer, den Blick nach vorn gerichtet, die Speere in den 
Händen. »Die Krieger kommen! Die Krieger kommen!«, rief 
eine Frau und die frohe Kunde wanderte in Windeseile durch 
die ganze Stadt. 

Bensua brauchte ihre Verwandten nicht zu holen. Auch sie 

hatten die freudigen Rufe gehört und kamen auf die Straße 
geeilt. »Sie kommen wieder«, sagte ihre Großmutter. 

Ihre Brüder und Schwestern liefen die Hauptstraße hinunter, 

ihrem Vater und ihrem Onkel entgegen. Bensua ging nur ein 
paar Schritte. Über ihr Gesicht rannen Tränen, als die Männer 
mit ihren Waffen und Schilden an ihr vorbeikamen. »Wir 
haben gesiegt! Wir haben gesiegt!«, stimmte sie in den Jubel 
ein. Sie winkte ihrem Vater und ihrem Onkel zu, die beide 
unverletzt waren, und griff sich mit beiden Händen an die 
Brust.  Onyankopon Kwame  hatte ihre heiligen Lieder gehört. 
Die Männer waren nach Hause gekommen. 

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Tausende von Menschen begleiteten die Krieger zum Palast. 

Sie ließen die Männer hochleben und bespuckten die 
Gefangenen, die sie mitgebracht hatten. Armselige Gestalten, 
die Hände hinter dem Rücken gefesselt und kaum noch fähig, 
sich auf den Beinen zu halten. Die Fante waren nie zimperlich 
mit ihren Gefangenen umgegangen, die Asante zahlten es 
ihnen hundertfach zurück. Einige dieser Sklaven würden den 
Geistern geopfert werden, die anderen würden auf dem 
Marktplatz in der Sonne schmoren, bis sich die Asante ihrer 
erbarmten und sie als Sklaven annahmen. Sie würden in den 
Goldminen vor der Stadt arbeiten oder auf den Feldern 
schuften. Und wenn der König neue Waren von den Weißen 
kaufte, würde er mit Sklaven bezahlen. 

Bensua erreichte den Palast mit den Kriegern und drängelte 

sich ganz nach vorn. Sie wollte dabei sein, wenn der 
Asantehene  die heimgekehrten Männer begrüßte. Der König 
ließ sich Zeit. Es war noch früh und er schlief immer sehr 
lange. Das erzählten die Frauen, die für ihn kochten. Er würde 
ungefähr zwei Stunden brauchen um zu baden, seinen Körper 
mit Goldstaub einzureiben und seine besten Kleider mit dem 
kostbaren Goldschmuck anzulegen. Doch die vielen 
Schaulustigen warteten gern. Sie schwitzten in der feuchten 
Hitze, die dem Regen gefolgt war, und feierten die Krieger. 
Die Männer hatten kaum Verluste erlitten, waren auf dem 
Rückweg von der Regenzeit überrascht worden und hatten am 
Ufer eines überschwemmten Flusses gelagert, bis er wieder 
passierbar gewesen war. Es hatte keine Möglichkeit gegeben, 
die Bewohner von Kumase zu informieren. 

Ein wütender Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der 

Menschen auf einen der Gefangenen. Er war ungefähr so alt 
wie Bensua und in seinen dunklen Augen loderte der Zorn. 
»Die Fante  werden niemals untergehen!«, rief er in seiner 
Sprache, die von allen Asante verstanden wurde. »Wir sind die 

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wahren Herren der Goldküste!« Obwohl seine Hände auf dem 
Rücken gefesselt waren, griff er die Krieger an, mit gesenktem 
Kopf und fest entschlossen, sein Leben für das Ansehen seines 
Volkes zu opfern. Ein Asante schlug ihn mit dem 
Gewehrkolben bewusstlos. 

Schadenfrohes Gelächter begleitete den jungen Mann, der 

taumelte und der Länge nach in den Morast fiel. Der Vorfall 
war schnell vergessen. Es gab Wichtigeres als einen 
aufsässigen Gefangenen der Fante. Nur Bensua interessierte 
sich für den jungen Krieger. Sie bahnte sich einen Weg durch 
die Menge und blieb vor dem Bewusstlosen stehen. Sie 
scheuchte einige Kinder davon, die ihn mit Steinen bewarfen, 
und blickte in das leblose Gesicht des Fante-Kriegers. 

Es war etwas Besonderes an diesem Gefangenen. Er war so 

unansehnlich wie alle anderen Fante, die Stirn viel zu niedrig, 
die Lippen voll, der Körper eher gedrungen, und wirkte in 
seinem schmutzigen Lendenschurz wie ein Bettler aus dem 
ärmsten Viertel von Kumase. Aber sie hatte seine Augen 
gesehen, bevor er bewusstlos geworden war. Den 
ungebrochenen Stolz und den Mut, der eines tapferen Asante-
Kriegers würdig war. Der junge Fante hatte sein Leben riskiert 
und wäre lieber gestorben als gefesselt vor seinen Feinden zu 
knien. Selbst wenn der König ihn köpfen ließe, würde er als 
wagemutiger Krieger vor seinen Schöpfer treten. »Du bist ein 
mutiger Mann«, sagte Bensua leise. 

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht merkte, 

wie einer der älteren Krieger an ihre Seite trat. »Hast du dein 
Herz an diesen räudigen Hund verloren?«, fragte er spöttisch. 
»Er ist ein Fante, vergiss das nicht! Er wird uns als Sklave 
dienen oder einen langsamen und qualvollen Martertod 
sterben! Verschwende dein Mitleid nicht an diesen Bastard!« 

Bensua riss sich vom Anblick des bewusstlosen Mannes los 

und versuchte gleichgültig dreinzublicken. »Er war sehr 

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mutig«, sagte sie. »Ich dachte, die Fante sind feige und 
verstecken sich.« 

»Er war aufsässig und dumm«, widersprach der Asante, 

»sonst hätte er sich in sein Schicksal gefügt. Nur ein Narr 
widersetzt sich den mächtigen Asante!« Er spuckte auf den 
regungslosen Gefangenen. »Wenn er wirklich tapfer ist, 
verflucht er meinen Namen, wenn  ich ihm mein Messer durch 
die Wangen ramme!« 

Bensua wollte keinen Streit mit dem Krieger und ging zu den 

Frauen und Kindern zurück. Das spöttische Lachen des 
Kriegers verfolgte sie. Einige Asante, die gesehen hatten, wie 
mitleidig sie den Fante angeschaut hatte, fielen in das Lachen 
ein oder blickten sie verständnislos an. Sie zeigten kein Mitleid 
für die Gefangenen. Während des Krieges hatten die Fante ein 
Dorf mit Frauen und Kindern niedergebrannt und es gab 
keinen Grund, sie zu verschonen. Ihnen blieb nur die 
Unterwerfung oder ein grausamer Tod. Sie verdienten ihn, sie 
waren die Hauptfeinde der Asante. Nur den stärksten 
Gefangenen war es vergönnt, den Asante als Sklaven zu dienen 
und in den Goldminen zu arbeiten. 

Die Musiker des königlichen Palastes traten aus dem Tor. 

Stattliche Männer in farbenprächtigen Uniformen und blanken 
Schuhen. Elfenbeinhörner und die goldenen Blasinstrumente, 
die sie von den Holländern bekommen hatten, glänzten in der 
Sonne. Dumpfer Trommelrhythmus begleitete ihr Schritte. Sie 
traten auf den freien Platz vor dem Palast und stellten sich in 
Reih und Glied auf, wie die Soldaten, die vor einigen Wochen 
mit den englischen Besuchern gekommen waren. Der 
Kapellmeister hob den Taktstock und die Flötenspieler 
begannen mit dem Vorspiel zu einer feierlichen Hymne, die 
man ebenfalls von den Holländern übernommen hatte. Zum 
Rhythmus der Trommeln drang der schmetternde Klang der 

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europäischen Hörner über den Platz. Die Mauern des Palastes 
warfen ihn als Echo zurück. 

Bensua war ebenso beeindruckt wie die anderen Zuhörer und 

vergaß den jungen Krieger der Fante. Ihre Augen glänzten 
beim Anblick des feierlichen Prunks, den das königliche 
Orchester ausstrahlte. Im Auftreten ihres Königs zeigte sich 
die überlegene Macht der Asante. Kein anderes Volk der 
westafrikanischen Goldküste verfügt über ein so großes Reich 
und so viele Krieger. In keinem anderen Gebiet gibt es so viel 
Gold. Die Asante sind die Herren des Urwalds und selbst die 
Europäer verneigten sich vor dem mächtigen  Asantehene. 
Viele Jahre später würde Bensua in einem Buch lesen, wie 
beeindruckt die englischen Besucher gewesen waren. Vom 
prunkvollen Auftreten des Königs, dem vielen Gold und 
Silber, den künstlerischen Darbietungen am Hofe und den 
erlesenen Speisen, die ihnen von arabischen Bediensteten im 
Ballsaal des Palastes serviert wurden. 

Vier kräftige Männer trugen Osei Yaw in einer Sänfte auf 

den Platz. Ein Sklave hielt den violetten Schirm mit den 
goldenen Fransen, der sein Gesicht beschattete. Unter den 
Fanfarenklängen des Orchesters stellten sie die Sänfte auf 
einem Podest ab, das für die öffentlichen Auftritte des Königs 
gebaut worden war. Überall funkelte Gold, und als der 
Akondwa gebracht wurde, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch 
die Zuschauer. Der goldene Stuhl war das Symbol der 
politischen Macht, stand für die Überlegenheit der Asante und 
die Einheit ihres Reiches, für die Liebe seiner Menschen und 
den Sieg über alle Feinde. Okomfo Anokye, der legendäre 
Priester des Volkes, hatte ihn während eines heftigen Gewitters 
aus dem Himmel empfangen. Jeder Asante kannte die 
Geschichte dieses großen Wunders, das sich während der 
Herrschaft von Osei-Tutu um 1700 ereignet hatte. 

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»Geliebtes Volk«, begann der König mit seiner Ansprache, 

»tapfere Krieger der Asante, die ihr wieder einmal einen 
großen Sieg errungen habt! Wir haben den letzten Aufstand 
der Fante niedergeschlagen!« Osei Yaw war ein alter Mann. 
Wenn er seine Sänfte verließ, benutzte er einen mit goldenen 
Ornamenten verzierten Krückstock. Er trug einen Umhang aus 
feinster chinesischer Seide und einen Kopfschmuck aus den 
gefärbten Federn eines großen Vogels. Um seinen Hals hing 
eine schwere Kette aus reinem Gold und auch auf seiner Brust, 
seinen Armen und an den Ohren leuchteten goldene 
Schmuckstücke. In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten 
gegraben. Er war dem Tode nahe und doch wirkten seine 
Augen erstaunlich wach und lebhaft. Seine Stimme hatte einen 
entschlossenen Klang. »Der Weg zur Küste ist frei und 
niemand wird uns daran hindern, unser Reich bis zu den 
steinernen Forts der Europäer auszudehnen!« 

Bensua interessierte sich nicht für Politik. Sie hatte keine 

Ahnung, welche Ränkespiele der König der Asante benutzte, 
um an der Macht zu bleiben, und mit welchen Tricks er 
arbeitete, um das Reich der Asante zu vergrößern. Politik war 
Männersache. Sie bewunderte den König, weil er es verstand, 
ihrem Volk einen großen Wohlstand zu erhalten, und sie 
berauschte sich an dem geheimnisvollen Prunk, der seine 
Herrschaft umgab. Die Menschenopfer und sein unerbittliches 
Verhalten gegenüber allen Feinden zweifelte sie nicht an. Sie 
war eine Asante, die niemals an der Küste gewesen war und 
nie vom christlichen Glauben der weißen Männer gehört hatte. 
Die Härte war ein Teil ihres Lebens, so unerbittlich wie die 
Natur im unendlichen Regenwald. 

Auch an diesem Morgen zeigte Osei Yaw, dass er nicht 

gewillt war dem Aufbegehren der Fante tatenlos zuzusehen. 
Nachdem er über eine Stunde geredet, die eigenen Krieger 
gelobt und seine Feinde verdammt hatte, entschied er, einen 

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der Fante-Krieger zu opfern. Sein Tod sollte die Geister 
versöhnen. Er ließ sich von seinen Bediensteten aus der Sänfte 
helfen, bedeutete dem Sklaven ihm mit dem Schirm zu folgen 
und verscheuchte zwei Kinder, die seine flachen Schuhe mit 
Elefantenschwänzen säubern wollten. Sein Blick streifte über 
die entkräfteten Gefangenen. 

»Nimm diesen hier!«, rief der Asante, der Bensua verspottet 

hatte. Er deutete auf den jungen Fante, der gerade aus seiner 
Bewusstlosigkeit erwachte. »Er hat seinen Tod am ehesten 
verdient!« 

Bensua hielt den Atem an. Aus einem unerklärlichen Grund 

fühlte sie sich dem jungen Krieger verbunden. Er hatte einen 
Teil ihrer Seele berührt. Sie unterdrückte den Drang, um das 
Leben des Gefangenen zu betteln, und blickte rasch zur Seite 
um nicht in seine Augen sehen zu müssen. Es war gefährlich 
und manchmal sogar tödlich, sich gegen eine Entscheidung des 
Königs aufzulehnen. Das Blut des Kriegers, der vorgeschlagen 
hatte mit den Fante zu verhandeln, war längst in der Erde 
versickert. Auch Frauen und Mädchen wurden den Geistern 
geopfert. 

Als der Gefangene merkte, was die Asante mit ihm vorhatten, 

sprang er wütend auf. Er trat einem der Leibwächter des 
Königs gegen das Schienbein und rammte einem anderen den 
Kopf in die Magengrube. Erst der Knüppelschlag eines 
Polizisten brachte ihn zur Besinnung. Einer der 
Schwertmänner wollte ihm den Kopf abschlagen, aber Osei 
Yaw hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Auf seinem 
faltigen Gesicht stand ein Grinsen. 

»Nein, er soll leben!«, entschied der König zum Erstaunen 

aller Anwesenden. »Er ist mutiger  als die Schwächlinge, die 
dort im Schlamm liegen!« Er deutete verächtlich auf die 
anderen Gefangenen. »Die weißen Kaufleute werden teuer für 
ihn bezahlen!« 

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Sein Blick wanderte zu einem älteren Krieger, der vor 

Schwäche kaum noch atmen konnte. »Nehmt den da! Er soll 
sterben!« 

Bensua atmete erleichtert auf und barg ihr Gesicht in den 

Händen um ihre Gefühle nicht zu zeigen. Niemand sah die 
Tränen, die über ihre Wangen liefen, und niemand hörte ihr 
leises Dankgebet. 

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Der König befahl, die Gefangenen auf dem Marktplatz in der 
Sonne schmoren zu lassen. Mit den eisernen Ketten, die er von 
einem holländischen Kaufmann erworben hatte, ließ er die 
zwanzig Männer an hölzerne Pflöcke fesseln. Abseits des 
heiligen Kuma-Baumes mit seinen weit verzweigten Ästen 
waren sie der Hitze hilflos ausgeliefert. Der mächtige Baum 
markierte das Zentrum der Stadt und erinnerte die Asante 
daran, zum Himmel zu blicken und  Onyankopon Kwame  zu 
ehren. Sein Schatten wurde als kostbares Geschenk des 
Schöpfers betrachtet. Es war verboten, dort einen 
Verkaufsstand zu errichten, und nur dem  Asantehene  war es 
gestattet, an seinem Stamm längere Zeit zu verweilen. 

Der riesige Markt in Kumase versetzte sogar die arabischen 

Händler in anerkennendes Staunen. Er stand den Basaren im 
Norden des Kontinents in keiner Weise nach und überwältigte 
die Besucher mit einer Vielzahl von Verkaufsständen und 
Theaterbühnen. Die Händler saßen im Schatten von 
Palmendächern und bunten Schirmen, breiteten ihre Ware auf 
Tischen und bunt gemusterten Decken aus und lockten 
zahlungskräftige Kunden in runde Lehmhütten dahinter. Dort 
lagen die teuren Waren: goldene und silberne Schmuckstücke, 
farbenprächtige Textilien und kupfernen Haushaltswaren, die 
man bei einer gemeinsamen Tasse Tee oder einem Becher 
Rum anpries. Es gab Fleisch, Geflügel, Gemüse, arabische 
Gewürze, eine verwirrende Vielzahl von Früchten, europäische 
Stoffe, bunte Perlen, Lederwaren, Haarnadeln aus Elfenbein, 
Werkzeuge und Waffen. Es wurde getauscht oder mit 

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Goldstaub und Kauri-Muscheln bezahlt, einem weit 
verbreiteten Zahlungsmittel in West-Afrika. 

Unter den vielen Schaulustigen, die mit neugierigen Blicken 

verfolgten, wie die Gefangenen angekettet wurden, befand sich 
auch Bensua. Sie beobachtete den jungen Krieger, der sich 
gegen die Asante aufgelehnt hatte, und stellte bewundernd fest, 
dass er noch immer gegen sein Schicksal aufbegehrte. Er 
wehrte sich mit Händen und Füßen, als ihn die Asante an den 
Pflock ketteten, und verhöhnte sie mit derben Worten. Die 
Peitschenhiebe, die er dafür bekam, ertrug er mit einem 
spöttischen Lächeln. Als einziger Gefangener blieb er aufrecht 
in der Hitze sitzen, das Gesicht trotzig der Sonne zugewandt. 
In seinen dunklen Augen stand der ungebrochene Stolz, der ihn 
selbst dem drohenden Tod mit Verachtung entgegensehen ließ. 
»Er ist ein Fante, aber er ist sehr tapfer«, hörte Bensua einen 
Händler sagen. 

Sie wusste selbst nicht, warum sie sich zu dem aufsässigen 

Krieger hingezogen fühlte. Es schien eine seltsame 
Verwandtschaft zwischen ihnen zu bestehen, als wären sie sich 
in einem früheren Leben begegnet. Es war keine Zuneigung, 
auch kein Mitleid, eher ein unsichtbares Band, das der 
Schöpfer zwischen ihnen gespannt hatte. Es zwang die junge 
Frau, den Schatten eines Schirms zu verlassen und auf den 
Gefangenen zuzugehen. Sie war nicht allein. Zahlreiche 
Kinder waren bei den unglückseligen Männern und warfen mit 
Steinen und faulem Obst nach ihnen. Zwei beleibte Frauen, die 
schwere Lasten auf ihren Köpfen trugen, spuckten verächtlich 
aus, als sie an den Angeketteten vorbeikamen. Ein Händler, der 
unter seinem Schirm saß und aus einer Kokosnuss trank, 
verfluchte die gefangenen Männer. 

Bensua verscheuchte die Kinder und blieb vor dem Fante 

stehen. Sie wunderte sich selbst über ihren Mut. Auch wenn 
der Mann an einen Pflock gekettet war, konnte er sie 

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anspucken oder mit den Füßen nach ihr treten. »Wie heißt 
du?«, fragte sie. 

Der Krieger blickte sie verwundert an und hatte bereits einen 

derben Fluch auf den Lippen, als er den seltsamen Ausdruck in 
ihren Augen sah. Ihr sanfter Blick machte ihn unsicher und 
ließ ihn für einen Augenblick seinen Hass und seine 
Verzweiflung vergessen. Er deutete das Gefühl als Schwäche 
und schüttelte verächtlich den Kopf. »Was kümmert ein 
Mädchen der Asante mein Schicksal? Willst du dich über mich 
lustig machen?« 

»Ich habe gesehen, wie du dich gegen die Krieger unseres 

Volkes gewehrt hast«, antwortete sie. »Das war sehr mutig! 
Nur wenige Gefangene haben das jemals gewagt! Der letzte 
Sklave, der einen Asante angriff, starb unter dem Hieb unseres 
Scharfrichters! Du hast dein Leben riskiert!« 

»Eher sterbe ich als tapferer Krieger, als von euren Männern 

gedemütigt zu werden!«, erwiderte er mürrisch. »Alle Fante, 
die im Kampf sterben, leben als erfolgreiche Krieger in der 
Welt, die nach dem Tod kommt.« Er blickte an Bensua vorbei, 
seine Lippen wurden schmal und in seine Augen trat ein 
entschlossener Ausdruck. »Wären eure Männer nicht wie 
heimtückische Wildschweine über unser Dorf hergefallen, 
hätten wir gesiegt! Das nächste Mal werden die  Götter auf 
unserer Seite sein! Unsere Verwandten werden uns rächen!« 

Bensua fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt. »Die Asante sind 

ein mächtiges Volk«, widersprach sie. »Wir haben alle Krieger 
besiegt, die jemals den Boden unseres Landes betreten haben! 
Wenn du an der Ehre unserer Männer zweifelst, werde ich 
meinen Vater oder meinen Onkel bitten, dich zu einem Kampf 
auf Leben und Tod herauszufordern! Dann wirst du sehen, wie 
mutig sie sind!« 

»Du sprichst wie eine tapfere Frau«, sagte der Krieger. 

»Wenn du sie wirklich fragst, werde ich bereit sein! Kein 

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Fante hat sich jemals vor einem Asante versteckt! Euer Reich 
ist größer und ihr habt mehr Krieger, aber ihr seid deshalb 
keine besseren Menschen!« 

»Wir werden sehen«, erwiderte Bensua wütend. Sie ärgerte 

sich darüber, auf die Herausforderung des Kriegers 
eingegangen zu sein. Ein Fante verdiente es nicht, sich in 
einem Zweikampf mit den Asante zu messen. Einen solchen 
Kampf würde der König niemals zulassen. »Die Fante sind 
räudige Tiere«, würde er sagen, »sie sind geboren, vor uns im 
Staub zu kriechen!« 

Bensua bemerkte, wie einer der Krieger, die zur Bewachung 

der Gefangenen auf dem Marktplatz geblieben waren, auf sie 
aufmerksam wurde und langsam näher kam. »Ich  muss 
gehen«, erwiderte sie rasch. »Ich komme später wieder«, fügte 
sie hinzu. 

Sie drehte sich um und ging davon. Schon nach ein paar 

Schritten holte sie die Stimme des Gefangenen ein: »Ich heiße 
Ottobah!«, rief er, ohne auf die neugierigen Blicke seiner 
Leidensgenossen und die misstrauischen Krieger der Asante zu 
achten. 

»Ottobah«, wiederholte sie leise, als sie sich einen Weg durch 

die Menge bahnte. Auf dem Marktplatz wimmelte es von 
Menschen und zwischen den Ständen liefen Schweine, Ziegen 
und Hühner herum. Ein Hund kam bellend hinter ihr her und 
ließ erst von ihr ab, als sein Besitzer einen Stein nach ihm 
warf. »Ich habe feinen Stoff aus Europa!«, pries ein Händler 
seine Waren an. Bensua beachtete ihn kaum und beeilte sich, 
den Marktplatz zu verlassen. In einer Seitenstraße lehnte sie 
sich gegen eine Mauer und weinte. Einige Kinder betrachteten 
sie verwundert. 

Sie rieb die Tränen aus ihren Augen und lief weiter. Ihre 

Schritte wurden langsamer und ihre Panik wich einem 
verwirrenden Gefühl, das sie nicht zu deuten wusste. Warum 

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war sie zu dem Krieger gegangen? Warum hatte sie ihm 
versprochen wiederzukommen? Der Mann war ein Fante. Er 
gehörte zu dem Volk, das die Dörfer der Asante überfallen und 
Frauen und Kinder getötet hatte. Manche Häuptlinge 
behaupteten, dass sie mit den bösen Geistern im Bunde waren. 
Wie konnte sie mit einem solchen Menschen reden? Sie wusste 
es nicht. Noch ahnte sie nicht, dass  Onyankopon Kwame 
beschlossen hatte, sie beide auf einen gemeinsamen Weg zu 
schicken. Einem holprigen Pfad voller Hindernisse, der durch 
gefährliches Feindesland und in eine ungewisse Zukunft 
führte. 

Bensua lief ziellos durch die Straßen, bis sie wieder klar 

denken konnte, und kehrte dann nach Hause zurück. Sie 
umarmte ihren Vater und ihren Onkel und rief: »Ich freue 
mich, dass ihr gesund zurückgekommen seid. Die Asante sind 
tapferer als alle anderen Völker auf der Erde!« Während sie 
diese Worte sagte, musste sie an den gefangenen Fante denken, 
an seinen stolzen Blick und seinen unerschütterlichen Mut. Es 
gab auf beiden Seiten tapfere Männer, das vermutete sie schon 
seit langer Zeit, auch wenn der König das Gegenteil 
behauptete. Wollten die Götter, dass ein Volk das andere 
unterdrückte? Hatten Asante und Fante nicht dieselbe 
Hautfarbe? Wie wollte man gegen die Europäer siegen, wenn 
es wirklich zu einem großen Krieg käme? 

»Du kommst spät«, sagte ihre Mutter. In ihrer Stimme klang 

ein leichter Vorwurf mit. »Ich  musste das Essen allein 
zubereiten.« 

»Entschuldige, Mutter«, erwiderte Bensua schuldbewusst. 

»Ich habe eine Freundin auf dem Markt getroffen. Ihr Onkel 
wurde von den Fante erschossen und ich habe sie getröstet!« 
Sie schämte sich ihrer Lüge, wagte aber nicht die Wahrheit zu 
sagen. Niemand in ihrer Familie hätte verstanden, dass sie mit 

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einem Gefangenen gesprochen hatte und seinetwegen zu spät 
kam. 

»Wir haben fünf Krieger verloren«, bestätigte ihr Onkel 

wehmütig. Er war ein stolzer Krieger mit kantigen 
Gesichtszügen und einem stechenden Blick. »Ich musste zehn 
Feinde erschlagen, um ihren Seelen den Weg in die andere 
Welt zu ebnen!« Er bedauerte sein Vorgehen nicht und 
empfand auch kein Mitleid mit dem Jungen, den er vor den 
Augen seiner Mutter erschlagen hatte. Sein Leben war der 
Krieg und das Töten gehörte zum Alltag. Der Krieg war das 
Mittel um die Familien der Asante zu schützen. 

»Ich bin froh, dass wir zurück sind«, sagte ihr Vater während 

des Essens. Er war ein einfacher Mann, der den Kampf als 
notwendiges Übel betrachtete und dessen Gedanken auch in 
der Ferne um Jagd und Ernte kreisten. Obwohl er zu den 
wenigen Männern gehörte, die nur eine Frau genommen 
hatten, war er auf den guten Willen der Götter angewiesen. 
Nur wenn ihm das Jagdglück treu blieb, war das Überleben der 
Familie gesichert. Als Jäger war er für die Fleischvorräte 
verantwortlich. »Sobald der Boden wieder trocken ist, gehen 
wir auf Antilopenjagd«, entschied er. 

Bensua sprach wenig und war froh, dass niemand ihre 

Gedanken lesen konnte. Wie unter einem Zwang kehrten sie 
immer wieder zu dem gefangenen Krieger zurück. Ottobah 
hatte sie stärker beeindruckt, als sie wahrhaben wollte. Sie 
musste sich die Hänseleien ihrer jüngeren Brüder und 
Schwestern anhören, weil sie während des Essens in die Luft 
starrte und dreimal von ihrer Mutter gebeten werden  musste, 
die schmutzigen Töpfe zu säubern. Als sie in den Hof ging um 
Wasser aus der Zisterne zu holen, stolperte sie über eine Ziege 
und musste sich mit beiden Händen am Brunnen festhalten. 
»Bensua ist dumm! Bensua ist dumm!«, sang einer ihrer 
Brüder. »Bensua fällt in den Brunnen!« 

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Ihrer Mutter machte sie weis, dass sie ihre Tage hatte und 

deshalb so abwesend war. Ihr Vater und ihr Onkel waren 
unterwegs, besprachen mit einigen Männern, wann sie auf die 
Jagd gehen sollten. Einige der älteren Jäger, die während des 
Kriegszugs in Kumase geblieben waren, hatten von einem 
Leoparden berichtet, der bis in die Nähe der Stadt gekommen 
war und mehrere Antilopen gerissen hatte, und sie wollten ihn 
unbedingt töten. Wer einen Leoparden erlegte, gewann großes 
Ansehen und war berechtigt den Schwanz des erlegten Tieres 
am Oberarm zu tragen, wenn er das nächste Mal in den Krieg 
zog. Nach dem Abendessen erzählte der Großvater von einer 
gefährlichen Raubkatze, die vor etlichen Jahren zwei Kinder 
getötet hatte, und Bensua träumte davon, bis sie 
schweißüberströmt aufwachte. 

Sie brauchte einige Zeit um sich von dem Traum zu erholen. 

Sie  starrte in die Dunkelheit und lauschte den regelmäßigen 
Atemzügen ihrer Mütter und ihrer drei Schwestern, die im 
selben Raum schliefen. Aus dem Nachbarzimmer drang das 
Schnarchen der Männer. Sie waren spät nach Hause 
gekommen und hatten beim Aufschlagen ihres Nachtlagers 
gescherzt und gelallt. Bensuas Mutter hatte ihnen vorgeworfen, 
den Schnaps des weißen Mannes getrunken zu haben. Aber sie 
hatten nur gelacht. 

Bensua kannte das scharfe Wasser der Europäer. Sie hatte 

von der braunen Flüssigkeit gekostet, die sie »Rum« nannten, 
und sich beinahe übergeben. Der Schnaps brannte wie Feuer. 
Sie verstand nicht, warum einige Männer so begierig darauf 
waren, in den Besitz des Alkohols zu kommen. Sogar der 
König hatte einen Krug in seinem Schlafgemach stehen. So 
erzählten es die schwatzhaften Frauen des Palastes. Zum Essen 
trank er kostbare Weine aus Portugal und Frankreich, aber vor 
dem Schlafengehen gönnte er sich einen Schluck von dem 
Schnaps. 

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So leise, dass ihre Mutter und ihre Schwestern nicht 

aufwachten, verließ Bensua das Zimmer. Sie trat in den Hof, 
schöpfte eine Kelle aus dem Wassereimer und blickte 
nachdenklich zu den Sternen empor. Wie silberne 
Schmuckstücke funkelten sie am schwarzen Himmel. Der 
Mond war nur als schmale Sichel zu erkennen. Manchmal 
fragte sie sich, ob der Mond und die Sterne ziellos über den 
Himmel wanderten oder ein bestimmtes Ziel verfolgten. 
Forderten sie die Menschen auf ihnen zu folgen? Ihr Großvater 
war während des großen Krieges gegen die Fante an der Küste 
gewesen und erzählte, dass die europäischen Seefahrer ihre 
Schiffe nach den Sternen ausrichteten. Während eines 
Gewitters und wenn sich der Mond und die Sterne versteckten, 
irrten sie ziellos auf dem großen Wasser herum. Auch die 
weißen Männer waren nicht so klug, wie sie immer vorgaben. 

Obwohl es schon nach Mitternacht war, lag drückende 

Schwüle über der Stadt. Der Lehmboden speicherte die Hitze 
des Tages und gab sie nun ab. Einige Hühner gackerten. In der 
Luft summten Fliegen. Bensua goss sich Wasser über den 
Kopf und genoss die angenehme Kühle. Unwillkürlich 
wanderten ihre Gedanken zu Ottobah und sie fühlte sich auf 
einmal schuldig, weil er den ganzen Tag ohne einen Schluck 
Wasser in der Hitze geschmort hatte und bestimmt am Ende 
seiner Kräfte war. »Wer die Hitze nicht ertragen kann, hat es 
nicht verdient, ein Sklave der Asante zu sein«, behauptete der 
König. »Ihn lassen wir sterben!« 

Bensua wollte nicht, dass Ottobah starb. Ohne darüber 

nachzudenken, dass sie im Begriff war, einem gefangenen 
Todfeind zu helfen, goss sie frisches Wasser in einen Behälter. 
Sie zog ihr Kleid an und verließ das Haus. Indem sie die 
Hauptstraße umging und einen Umweg durch die schmalen 
Seitengassen nahm, vermied sie eine Begegnung mit den 
Polizisten. Die Männer in den bunten Uniformen, die als 

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Zeichen ihres Rangs lange Haare trugen, sorgten dafür, dass es 
ruhig in Kumase blieb. 

Sie brauchte eine halbe Stunde bis zum Marktplatz, verlor 

durch die Umwege viel Zeit. Schon nach wenigen Schritten 
erkannte sie, wie gefährlich es war, ein Gesetz der Asante zu 
brechen. Sie wäre am liebsten umgekehrt, doch eine 
geheimnisvolle Macht trieb sie vorwärts. Wer einem 
Gefangenen half oder einen Feind begünstigte, lief Gefahr, 
selbst versklavt zu werden, und wenn der König besonders 
wütend war, entschied er sogar einen solchen Verräter 
enthaupten zu lassen. Er machte keinen Unterschied zwischen 
Männern und Frauen, wenn es um das Wohl seines Volkes 
ging. Das wusste Bensua und dennoch ging sie weiter. Das 
Wasser schwappte unruhig in dem Messingkrug. 

Der Behälter gehörte ihrem Onkel und sie wagte gar nicht 

daran zu denken, was geschah, wenn er erfuhr, dass ein 
feindlicher Krieger daraus getrunken hatte. Er brächte es fertig 
und verriete seine eigene Nichte an die Polizei. Als 
überzeugter Krieger, der seine Feinde mit aller Macht 
bekämpfte, stellte er die Gesetze der Asante über das Wohl 
seiner Familie. Er würde sich selbst opfern, wenn er seinem 
Volk dadurch helfen könnte. Bensua dachte an seine strengen 
Gesichtszüge und begann zu zittern. 

Sie verharrte einige Zeit neben einer Mauer und huschte 

weiter durch die Nacht. Wenige Meter vor ihr öffnete sich die 
Straße zum Marktplatz. An den Mauern hingen Fackeln und 
verbreiteten flackerndes Licht. Sie schlich zu einem der leeren 
Verkaufsstände und blickte zu den Gefangenen hinüber. Die 
meisten schliefen, lagen auf der Seite und röchelten leise. Nur 
Ottobah war wach. Sie erkannte ihn selbst in dem unruhigen 
Halbdunkel. Der Feuerschein leuchtete in seinen dunklen 
Augen und ließ Schatten über seinen muskulösen Körper 

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tanzen. Er war nicht hässlich. Er war ein stolzer Krieger, der es 
verdient hatte, zu leben. 

Zwei gelangweilte Männer bewachten die Gefangenen. Sie 

besaßen Gewehre und hatten lange Schwerter an ihren Gürteln 
hängen. Kumase war sicher vor feindlichen Eindringlingen und 
kannte kaum Verbrechen. Die gefangenen Krieger waren mit 
Eisenketten an die Holzpflöcke gebunden. Es war 
ausgeschlossen, dass einer der Männer es schaffte, sich zu 
befreien, und entsprechend nachlässig benahmen sich die 
Asante-Krieger. Um nicht einzuschlafen, liefen sie über den 
Marktplatz und unterhielten sich flüsternd. Bensua konnte 
nicht verstehen, was sie sagten. 

Sie wartete, bis sie zwischen einigen Hütten verschwunden 

waren, und rannte zu Ottobah. Der junge Krieger verstand 
sofort und trank gierig, als Bensua ihm den Krug an die Lippen 
setzte. »Ich heiße Bensua«, sagte sie leise. »Du bist ein 
tapferer Mann. Du sollst nicht sterben!« Sie schüttete das 
restliche Wasser über seinen Kopf und schenkte ihm ein 
schüchternes Lächeln, bevor sie davoneilte. 

»Bensua«, wiederholte er flüsternd. Und seine Augen 

leuchteten wie bei einem Jäger, der einen starken Löwen 
besiegt hatte. 

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Ottobah gehörte zu den Sklaven, die in den Goldminen 
arbeiten mussten. Jeden Morgen zogen die Fante unter strenger 
Aufsicht aus der Stadt, stiegen in die Erdlöcher hinab und 
schufteten in der sengenden Hitze, bis sie vor Erschöpfung 
beinahe zusammenbrachen. Nur mittags, wenn die Sonne am 
höchsten stand und ihre Strahlen bis tief unter die Erde 
schickte, wurde eine Pause eingelegt. Die Männer bekamen 
etwas zu essen und durften sich mit dem Wasser aus der 
Zisterne erfrischen. Die Arbeit war anstrengend. In den Minen 
staute sich die Hitze und der Staub legte sich auf die Lungen 
und machte das Atmen schwer. Doch Ottobah war stark und 
ließ sich nicht unterkriegen. 

Schon während des erniedrigenden Marsches nach Kumase 

hatte ihn der Gedanke an eine baldige Flucht am Leben 
erhalten. Die Hoffnung, den Kriegern der Asante zu 
entkommen, ließ ihn gefesselt durch den Sumpf kriechen und 
das Ungeziefer essen, das ihnen die Asante vorwarfen. Wie ein 
Fels hatte er den tosenden Unwettern der Regenzeit getrotzt. 
Die feindlichen Krieger waren in der Überzahl und es hatte 
keine Möglichkeit zur Flucht gegeben. Aber er hatte nicht 
verzagt und wollte die erste Gelegenheit nutzen, in die Heimat 
zurückzukehren. Auch wenn die Asante viele Gefangene in ihr 
Volk aufnahmen  – er würde sich den Feinden niemals 
unterwerfen. Eher würde er sterben. 

Bensua hatte seine Pläne durchkreuzt. Die Asante hatte seine 

Seele berührt und ein Gefühl in ihm geweckt, das er bisher 
nicht gekannt hatte. Er mochte die junge Frau. Als sie mit dem 
Wasserkrug auf den Marktplatz gekommen war, hatte ihn ein 

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seltsames Gefühl der Wärme durchströmt, und der Wunsch, 
die Ketten abzustreifen und sie in die Arme zu nehmen, war 
beinahe übermächtig gewesen. In ihren Augen hatte er 
denselben Wunsch gesehen. Nachdem sie gegangen war, hatte 
er kein Auge zugetan und darüber nachgedacht, ob es eine 
Zukunft für sie geben konnte. Er wusste nicht, ob es einer 
Asante gestattet war, einen Sklaven zu heiraten. Bei den Fante 
wäre eine solche Ehe unmöglich gewesen. Man hätte die 
beiden den Göttern geopfert. 

Mit der morgendlichen Hitze kehrte die Ernüchterung zurück. 

Er machte sich etwas vor. Er hatte sich die Zuneigung der 
schönen  Asante nur eingebildet. Die junge Frau hatte Mitleid 
mit ihm. Sie hatte ein Gesetz gebrochen und einem 
Gefangenen geholfen, aber das bedeutete noch lange nicht, 
dass sie sich ihn verliebt hatte. Die Krieger des Clans 
bestimmten, welchen Mann eine Frau heiraten durfte. So war 
es bei den Fante und so würde es wohl auch bei den Asante 
sein. Selbst wenn sie ihn mochte, gab es keine Zukunft für sie. 
Er tat gut daran, an seinem ursprünglichen Plan festzuhalten. 
Entweder entkam er den Feinden und kehrte in die Heimat 
zurück oder er starb in einem heldenhaften Kampf. 

Bensua empfand die verwirrenden Gefühle, die fast jeden 

ihrer Gedanken bestimmten, als schwere Bürde. Ihr Leben 
hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Sie war 
gezwungen einer Bestimmung zu folgen, die sie nicht verstand, 
und  musste ihrer Familie etwas vormachen. Unter dem 
Vorwand, eine Freundin zu besuchen, ging sie fast jeden 
Abend aus dem Haus und schlich zu den schäbigen Hütten, in 
denen die Sklaven wohnten. Hinter einer Lehmmauer wartete 
sie auf die Rückkehr des Fante. In diesem Stadtteil waren 
besonders viele Polizisten unterwegs und sie wollte nicht 
entdeckt werden. Sobald die Gefangenen zu ihrem Volk 
gehörten, würde es leichter sein, Ottobah zu treffen. 

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Noch waren ihre Gefühle so widersprüchlich, dass sie nicht 

einmal an eine Heirat dachte. Sie hatte nie einen Mann geliebt 
und sich wie alle jungen Frauen der Asante darauf verlassen, 
dass die Krieger der  Abusua,  der mütterlichen Familie, einen 
Mann für sie aussuchten. So war es Brauch bei ihrem Volk. 
Die Zuneigung zu einem Mann entwickelte sich während einer 
Ehe, so war es schon bei ihren Eltern gewesen. »Hab Geduld«, 
antwortete ihre Mutter lachend, wenn Bensua nach ihrer 
Zukunft fragte, »auch  für dich wird es einen Mann geben, der 
dich versorgt.« Für eine Frau war es am wichtigsten, dass sie 
ihr Leben lang versorgt war. Deshalb ehelichten die meisten 
Krieger mehrere Frauen. Es gab mehr Frauen als Männer bei 
den Asante. 

Während ihrer heimlichen  Treffen sprachen Bensua und 

Ottobah nicht über solche heiklen Themen. Sie begegneten 
einander schüchtern und vorsichtig, vermieden es, den anderen 
zu berühren, und ergaben sich den vielfältigen Gedanken. 
Vorsichtig wägten sie jedes ihrer Worte ab. Ottobah  fürchtete 
sich davor, dass die junge Asante nur vom Mitleid geleitet 
wurde, und Bensua wollte gar nicht verstehen, warum sie jeden 
Abend das Haus verließ und den Krieger besuchte. Sie 
genossen den Augenblick und das Gefühl, im silbernen Schein 
des Mondes und der Sterne zu sitzen und der Welt entrückt zu 
sein. Es war beruhigend mit einem Menschen zu sprechen, den 
man mochte, und mehr über seine Heimat und seine Gedanken 
zu erfahren. 

»Du hast den Markt gesehen«, begann Bensua. »Ich habe 

diese Stadt nie verlassen, aber ich weiß, dass wir den größten 
Markt des ganzen Landes haben! Das sagen sogar die Araber, 
die durch die große Sandwüste zu uns kommen! Hast du von 
den Taschendieben des Königs gehört? Sie versuchen den 
Menschen ihre Waren oder die Muscheln zu entwenden, und 
wer sie dabei ertappt, darf sie so lange schlagen, wie er will! 

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Aber sie sind sehr gerissen und lassen sich kaum einmal 
erwischen.« 

Ottobah erzählte von seiner Ausbildung als Jäger und wie er 

zum ersten Mal vor einem mächtigen Löwen gestanden hatte. 
Er hatte die Raubkatze mit seinem Speer getötet und noch viele 
Tage später von dem Augenblick geträumt, als sie 
losgesprungen war. Urplötzlich hatte sich der Löwe aus seiner 
Erstarrung gelöst und war mit ein paar Sätzen bei ihm 
gewesen. Er hatte den  bedrohlichen Schatten der Raubkatze 
gespürt und ihre mächtigen Reißzähne gesehen. 

»Wenn meine Freunde nicht gekommen wären und mich 

gewarnt hätten, wäre ich verloren gewesen! Erst als ich ihre 
Schreie hörte, habe ich den Speer geworfen.« Er lächelte 
schwach. »Sein Fell hing in unserer Hütte.« 

Bensua fragte nicht nach den Verwandten des jungen 

Kriegers. Sie hatte Angst, dass die Asante sie getötet hatten, 
und wollte nicht, dass er daran erinnert wurde. Die magischen 
Augenblicke, die sie im Schatten der Lehmmauer erlebten, 
durften nicht gestört werden. Die Gegenwart des Fante war so 
angenehm, seine feste Stimme und der entschlossene Blick, die 
Fähigkeit, ihr zuzuhören, selbst wenn sie über belanglose 
Dinge sprach. Nach zwei Wochen waren sie so vertraut 
miteinander, dass sie unbewusst eine Hand auf seinen Arm 
legte und zufrieden lächelte, als er die Berührung erwiderte 
und ihre Wange streichelte. »Du bist zu einem Teil meines 
Lebens geworden«, sagte er. 

Jetzt ahnten sie, dass aus der Zuneigung aufrichtige Liebe 

werden konnte. Ein übermächtiges Gefühl, das jeden ihrer 
Gedanken bestimmte. Sie tauschten die ersten Zärtlichkeiten 
aus. Vorsichtige Berührungen und andere Zärtlichkeiten, die 
bald in leidenschaftliche Umarmungen übergingen und sie an 
den Rand der Leidenschaft trieben. Noch hatten sie Angst, 
über eine gemeinsame Zukunft zu reden, weil jeder von ihnen 

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wusste, wie abwegig eine Ehe zwischen einer Asante und 
einem Sklaven war, aber wenn sie in ihre Decken gehüllt 
nebeneinander lagen, träumten sie von einer besseren Welt, in 
der Asante und Fante gleichberechtigt und friedlich 
nebeneinander leben. Ein Traum, der niemals in Erfüllung 
gehen würde. Doch sie wollten so lange wie möglich daran 
festhalten und nur aufgeben, wenn die Götter sie im Stich 
ließen. 

Ihr Traum endete im Dezember, ausgerechnet dann, als die 

angenehme Jahreszeit begann und die ersten trockenen Winde 
aus der Wüste kamen und für ein besseres Klima sorgten. Ihr 
Onkel erwartete sie vor dem Haus und sagte: 

»Das Wetter hat umgeschlagen. Wir wollen ein paar Schritte 

gehen, mein Kind.« 

Seine Stimme klang ernst und die Art, wie er sie ansah, 

machte sie nervös. Sie ahnte, dass er ihr etwas Wichtiges 
mitteilen wollte. Nur mühsam unterdrückte sie ihre Angst. 
Wenn er herausbekommen hatte, dass sie sich heimlich mit 
einem Sklaven traf, würde sie eine empfindliche Strafe 
erhalten. Sie folgte ihm auf die Hauptstraße und ging langsam 
neben ihm her. Dabei vermied sie es, ihm in die Augen zu 
blicken. Obwohl es während der Nacht merklich abgekühlt 
hatte, waren ihre Hände schweißnass. 

»Ich erinnere mich an die Zeit, als du ein kleines Mädchen 

warst«, begann er. »Damals sind wir oft spazieren gegangen. 
Ich habe dir Geschichten erzählt und du bist mir weggelaufen 
und hast dich mit den Jungen im Schlamm gewälzt!« Er griff 
schmunzelnd nach ihrer Hand. »Seitdem sind viele Jahre 
vergangen. Unser Reich ist größer geworden. Unsere Krieger 
haben viele Siege errungen. Unsere Jäger haben starke Tiere 
erlegt.« Er ließ die Worte auf sie wirken und fügte hinzu: »Du 
bist erwachsen.« 

»Was willst du mir sagen, Onkel?«, fragte sie ungeduldig. 

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Er blieb unter einem Palmendach stehen und nahm lächelnd 

ihre andere Hand. »Du bist in dem Alter, in dem Mädchen 
heiraten. Wir haben einen Mann für dich gefunden, mein 
Kind!« 

Sie verstand die Worte nicht sofort. Erst als ihr Onkel den 

bedeutungsschweren Satz wiederholte, kapierte sie. Blankes 
Entsetzen lähmte ihre Gedanken. Sie starrte ihn mit leeren 
Augen an, als hätte er behauptet, die Welt würde in einer 
riesigen Feuersbrunst versinken und alle Asante mit sich 
reißen. Irgendwie war es auch so. Ihre Welt ging unter. Mit 
einem Satz hatte ihr Onkel die Zukunft vernichtet und ihr 
Leben bedeutungslos gemacht. 

»Hast du mich verstanden, mein Kind? Ich weiß, so eine 

Nachricht kommt immer etwas plötzlich. Das war bei deiner 
Mutter nicht anders. Als man ihr sagte, dass dein Vater sie 
heiraten werde, war sie sprachlos. Es dauerte lange, bis sie ihr 
Glück fasste. Dein Vater ist ein tapferer Krieger und ein großer 
Jäger.« 

»Ich weiß, Onkel. Ich weiß.« 
Sein Lächeln blieb. Er ahnte nicht, welchen Traum er zerstört 

hatte, und glaubte, dass der entsetzte Ausdruck in ihren Augen 
an der Aufregung lag, die jedes Mädchen empfand, wenn man 
ihr die baldige Heirat in Aussicht stellte. »Nun, willst du denn 
gar nicht wissen, wie der Mann heißt, der dich zur Frau 
bekommt?« 

»Wie heißt der Mann, Onkel?«, fragte sie tonlos. 
»Kwaku«, antwortete er, »ein junger Krieger des Oyoko-

Clans. Du hast ihn bei der Odurira gesehen. Er war einer der 
besten Tänzer und er ist im Begriff, ein großer Jäger zu 
werden. Er wird dir ein guter Ehemann sein, das hat er bei 
seiner Ehre versprochen! Du bist seine erste Frau. Er wird dich 
beschützen, mein Kind.« 

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»Kwaku«, wiederholte sie seinen Namen. Eigentlich hätte sie 

sich glücklich schätzen müssen. Aus dem Oyoko-Clan waren 
zahlreiche Könige hervorgegangen und seine Mitglieder 
gehörten zu den edelsten Kriegern der Asante. Es hatte 
sicherlich viel Überzeugungskraft gekostet, die Angehörigen 
eines königlichen Clans zur Ehe mit der Tochter eines 
einfachen Jägers und Farmers zu überreden. Auch wenn ihr 
Vater einen riesigen Löwen getötet und erfolgreich gegen die 
Fante gekämpft hatte, gab es angesehenere Männer bei den 
Asante. In ihr floss das Blut einer einfachen Frau, die den 
königlichen Palast niemals von innen gesehen hatte. Kwaku 
war der Nachfahre legendärer Herrscher und Krieger und 
würde einmal zur königlichen Wache gehören. 

»Kwaku«, sagte sie noch einmal. Sie bekämpfte das 

lähmende Gefühl, das ihren Körper ergriffen hatte, und 
versuchte sich gegen das drohende Schicksal aufzulehnen. 

»Ich bin eine einfache Frau. Wie kann ich einen Krieger des 

Oyoko-Clans heiraten?« 

Ihr Onkel lächelte stolz. »Kwaku hat dich gesehen und 

besteht darauf, dich zu seiner Frau zu nehmen. Er sagt, dass 
dich deine sanftmütigen Augen und deine schlanke Gestalt zu 
einer Prinzessin machen. Er wird dich mit Gold überschütten, 
mein Kind!« 

»Das hat er gesagt?« 
»Ist das nicht wunderbar?« 
Bensua löste sich von ihrem Onkel und ging einige Schritte. 

Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Tränen an. Noch vor 
wenigen Wochen wäre sie tief beeindruckt und geehrt 
gewesen, ein solches Angebot zu bekommen, doch jetzt waren 
ihre Gedanken bei Ottobah und sie zitterte beinahe vor 
Verzweiflung. Sie verschmähte einen königlichen Krieger und 
sehnte sich nach einem Sklaven, der jeden Morgen mit dem 
Tod rechnen musste. 

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Ihr Onkel deutete ihre Unruhe falsch und legte eine Hand auf 

ihre Schulter. »Du bist bewegt, das verstehe ich. Ich gebe dir 
besser Zeit, dich von dieser Überraschung zu erholen. Lauf, 
mein Kind! Wir sehen uns heute Abend und dann wollen wir 
darauf anstoßen. So feiern die Europäer eine freudige 
Nachricht. Ich habe noch etwas Rum und werde auf deine 
Zukunft trinken.« 

Bensua war froh, ihm auf diese Weise zu entkommen, und 

rannte hastig davon. Erst als ihr Herzschlag raste und sie kaum 
noch Luft bekam, blieb sie stehen. Sie sank gegen eine 
Hauswand und rutschte weinend daran hinunter. Tränen der 
Verzweiflung flossen über ihr Gesicht. Sie schluchzte, bis 
keine Tränen mehr kommen wollten, und beschimpfte die 
Götter, die sie im Stich gelassen hatten. Über eine Stunde blieb 
sie auf dem harten Boden sitzen. Der Wind, der aus der Wüste 
kam, trocknete ihre Tränen und brachte sie schließlich dazu, 
sich zu erheben und trotzig die Straße hinaufzublicken. Sie 
würde niemals auf Ottobah verzichten! Eher würde sie sterben, 
als den Krieger des Oyoko-Clans zu heiraten. 

Am Abend desselben Tages traf Bensua den Sklaven und 

berichtete zögernd von der Entscheidung ihres Onkels. Ottobah 
hörte mit steinernem Gesicht zu. Er hatte mit einer solchen 
Nachricht gerechnet, aber nicht erwartet, dass sie so bald kam. 

»Ich werde es nicht tun!«, entschied sie. »Ich werde ihn nicht 

heiraten! Wie kann ich ihm eine gute Frau sein, wenn ich 
ständig an dich denken  muss? Lass uns fliehen, Ottobah! 
Irgendwo muss es doch ein Land geben, in dem wir zusammen 
leben können!« 

Ottobah dachte über ihren Vorschlag nach. Er wollte ihr nicht 

wehtun und zögerte die  Antwort so lange wie möglich hinaus. 
Selbst wenn er allein floh, waren die Chancen gering, die 
Heimat der Fante zu erreichen. Mit einer Frau war es beinahe 
unmöglich. Die Asante würden nicht zulassen, dass ein 

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minderwertiger Sklave sie bloßstellte. Und sie würden auf 
keinen Fall hinnehmen, dass eine ihrer Frauen sich ihren 
Regeln widersetzte. Sie würden ihre erfahrensten Krieger 
losschicken um sie einzufangen und selbst ihr Onkel und ihr 
Vater würden an dieser Jagd teilnehmen. Wenn sie ihrer 
habhaft wurden, würde man sie auf den Marktplatz schleifen 
und öffentlich hinrichten. 

»Das ist gefährlich«, versuchte er Bensua umzustimmen. »Sie 

würden schon nach wenigen Stunden merken, dass wir 
geflohen sind. Wenn wir es überhaupt schaffen, an den 
Polizisten vorbei aus der Stadt zu kommen! Wir werden streng 
bewacht!« 

»Das weiß ich, Ottobah! Aber wir müssen es versuchen!« 
»Ich will nicht, dass du geköpft wirst!« 
»Und ich will nicht, dass sie dich hinrichten!«, flüsterte 

Bensua. »Ein gemeinsamer Tod ist mir lieber als ein leeres 
Leben!« 

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er. 
»Das ist gut«, stimmte sie zu. Sie umarmte ihn länger als 

sonst und blickte ihm tief in die Augen, bevor sie in die 
Dunkelheit verschwand. Sie war überzeugt davon, dass er sich 
auf eine gemeinsame Flucht einließ, wenn er länger darüber 
nachdachte, und beschloss die ganze Nacht zu ihren Vorfahren 
zu beten und sie zu bitten die Götter milde zu stimmen. Nur 
wenn sie auf ihrer Seite waren, konnten sie es schaffen. Sie 
zwang sich, nicht an die Risiken zu denken, und hielt einige 
Minuten in einer dunklen Gasse inne und reinigte ihre 
Gedanken, bevor sie zu ihrer Familie zurückkehrte. Sie durfte 
sich nichts anmerken lassen. 

Vor dem Haus blieb sie stehen. Die Stimme eines fremden 

Mannes drang aus der offenen Tür. Er sagte: »Ich freue mich, 
dass wir uns so schnell einig geworden sind, mein Freund! Ich 
weiß, dass es keine Krankheiten in eurer Familie gibt, und ihr 

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wisst, von welchem Blut wir sind. Bensua wird meinem 
Neffen gesunde Kinder gebären! Ich werde sie schon in 
wenigen Tagen in das Haus meiner Schwester holen, um sie an 
die Aufgaben in unserer Familie zu gewöhnen. Ihr habt doch 
nichts dagegen?« 

»Es ist uns eine große Ehre«, antwortete ihr Onkel für die 

ganze  Abusua.  Wenn es um die Zukunft eines Kindes ging, 
hatten die Brüder der Mutter mehr zu sagen als der Vater. 
»Wenn du willst, kannst du es ihr selbst mitteilen. Sie wird 
bald wieder hier sein.« 

»Dein Wort ist mir genug«, meinte der Besucher. »Sobald 

wir den Hochzeitstermin festgesetzt haben, sind wir für deine 
Tochter bereit. Es war mir eine Ehre, bei euch zu Gast zu 
sein!« Der königliche Besucher verabschiedete sich und 
verließ das Haus. 

Bensua schaffte es gerade noch, sich hinter einem Zaun zu 

verstecken. Sie beobachtete zitternd, wie der stattliche Krieger 
die Straße überquerte. Er trug einen Umhang aus kostbarem 
Stoff und eine Kopfbedeckung aus Leopardenfell. An seinem 
Gürtel hing ein goldverziertes Schwert. 

Zweifellos gehörte er zu den tapfersten und stattlichsten 

Kriegern des Königreichs. Er würde keinen Widerspruch 
dulden und bestimmt keine Gnade walten lassen, wenn er 
herausbekam, mit wem Bensua sich eingelassen hatte. 
»Onyankopon Kwame, hilf mir«, flüsterte sie. 

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Am Mittag des nächsten Tages herrschte große Unruhe in 
Kumase. Die Trommler eines benachbarten Dorfes meldeten 
die Ankunft eines bekannten Sklavenhändlers, der mit einer 
ganzen Karawane voller Handelswaren in die Hauptstadt 
unterwegs war. Willem van der Meyde war Holländer, ein 
gewichtiger Kaufmann, der vor über zwanzig Jahren nach 
Afrika gekommen war und in einem Fort an der Küste wohnte. 
Er scheite sich nicht um das Sklavenverbot, das Engländer und 
Dänen ausgesprochen hatten, tauschte minderwertige 
Handelswaren aus Europa gegen Schwarze ein und verkaufte 
sie an holländische und amerikanische Schiffseigentümer. Die 
Engländer und Dänen kassierten eine unrechtmäßige Steuer für 
jede Ladung und ließen ihn gewähren. 

Bensua hatte die Trommeln gehört und machte sich große 

Sorgen. Der Besuch des holländischen Händlers konnte nur 
bedeuten, dass er neue Sklaven kaufen wollte, und dann war 
Ottobah in großer Gefahr. Der Asantehene würde nicht zögern 
die gefangenen Fante an den Holländer zu verkaufen. Sie 
waren kräftig und gesund und würden einen guten Preis 
bringen. Und wenn den Asante die Arbeiter in den Goldminen 
ausgingen, würden sie noch einmal losziehen und ein Dorf 
überfallen. Es war einfach, ein solches Unternehmen als 
Strafaktion zu verkaufen. Es gab zahlreiche Häuptlinge, die 
ihre Leute gegen die Asante aufbrachten. 

Der Eintopf stand auf dem schweren Herd, den sie von einem 

englischen Händler bekommen hatten, und ihre Mutter hatte 
nichts dagegen, dass sie zum Palast ging. Bensua war nicht 
allein. Aus allen Teilen der Stadt kamen Schaulustige, um die 

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Ankunft des holländischen Händlers zu beobachten. Er war ein 
bedeutender Mann und sie hatten ihm viel zu verdanken. Im 
Laufe der Jahre hatte er sie mit begehrten Waren aus Europa 
versorgt, sogar Salzfässer durch den Urwald schaffen lassen. 
Etliche Krieger, darunter auch ihr Onkel und ihr Vater, waren 
begierig darauf, etwas von dem Rum zu erwischen, der nach 
seiner Ankunft verkauft wurde. Das größte Fass der Lieferung 
landete in den Gewölben des Palastes. Der Preis, den der 
König für die europäischen Waren zahlte, kümmerte die 
Asante nicht. Ihre Goldvorräte waren unerschöpflich, so 
glaubten sie, und als Sklaven wurden nur gefangene Krieger 
verfeindeter Völker verkauft. 

Die Trommeln wurden lauter und ließen auch den Herzschlag 

der jungen Asante schneller werden. Voller Furcht blickte sie 
dem holländischen Kaufmann entgegen, der mit seinem 
Gefolge die Hauptstraße heraufkam. Wie ein König thronte er 
in der Sänfte, die von vier kräftigen Sklaven getragen wurde. 
Zu Fuß schaffte es kaum ein Weißer durch den Urwald, auch 
nicht im Dezember und Januar, wenn die trockenen Winde aus 
der Sahara für ein angenehmeres Klima sorgten. Seine weißen 
Begleiter, ein Buchhalter und Sekretär und zwei erfahrene 
Jäger mit schweren Gewehren, saßen auf einfachen 
Tragbahren. Ihnen folgten die Schwarzen mit den 
Handelskisten und Rumfässern. 

Willem van der Meyde kletterte aus seiner Sänfte und 

wischte sich mit einem weißen Tuch den Schweiß von der 
Stirn. Seit seinem letzten Besuch war er noch schwerer 
geworden. Er schnaufte bei jeder Bewegung und griff gierig 
nach der Wasserflasche, die ein Sklave für ihn bereithielt. 
Seine Augen waren kaum zu sehen, dazu war sein Gesicht viel 
zu aufgedunsen, und die Hängebacken konnte auch sein 
Vollbart nicht verdecken. Seine untersetzte Gestalt und die 
langsamen Bewegungen täuschten darüber hinweg, wie 

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grausam und unnachgiebig er sein konnte, wenn es um seinen 
Profit ging. Er behandelte die Sklaven, die er als »Ware« 
bezeichnete, wie ungeliebte Tiere und ließ seine Jäger mit 
äußerster Härte vorgehen. Ihm waren alle Mittel, auch Mord 
und Totschlag, recht, um immer sein Ziel zu erreichen. 

Die Asante kümmerten sich nicht darum, welches Leid die 

Sklaven ertragen mussten. Sie waren ein starkes Volk und 
hielten sich für unbesiegbar. Die wenigen Krieger, die auf die 
Schiffe der Sklavenhändler gebracht wurden, waren selbst 
schuld gewesen. Solange die Asante nicht persönlich betroffen 
waren, hörten sie nicht auf die Gerüchte, die von der Küste in 
den Urwald drangen. Was kümmerte es sie, wenn die 
verhassten Fante geschlagen und ausgepeitscht wurden? Wen 
interessierte, dass unzählige Männer und Frauen der Nzima, 
Adangbe und Ga gebrandet und auf die Segelschiffe der 
Europäer gebracht worden waren? Den Asante konnte niemand 
etwas anhaben. Ihre Stärke, ihr Kampfgeist und der Urwald 
schützten sie gegen die weißen Männer. 

Auch Bensua hatte so gedacht. Sie war eine stolze Frau und 

hatte bisher fest daran geglaubt, dass die Asante allen anderen 
Völkern überlegen waren. Aber seit ihrer Begegnung mit der 
weißhaarigen Hexe dachte sie anders. Irgendwann würden 
auch die Asante zu schwach sein, um sich gegen die 
Übermacht der Europäer zu wehren. Dann würden sie einen 
Mann wie den holländischen Sklavenhändler nicht mehr 
willkommen heißen. Sie würden vor seinen Jägern in die 
Büsche fliehen, um der Sklaverei in einem fernen Land zu 
entgehen. Bensua konnte nicht ahnen, dass alles noch viel 
schlimmer kommen würde, und bereits der nächste Morgen ein 
neues Zeitalter einleitete. Sie fürchtete um den geliebten Fante, 
und wie sich schon bald herausstellte, war ihre Angst nur zu 
begründet. Nachdem Willem van der Meyde im Palast 
verschwunden war, erschien ein Schwertträger des Königs und 

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verkündete dem wartenden Volk, dass die Fante-Sklaven an 
den Holländer verkauft würden. Man werde den Handel mit 
einem großen Fest feiern. Nach Sonnenaufgang sollte einer der 
Sklaven den Göttern geopfert werden. 

Diese Ankündigung ließ Bensua noch niedergeschlagener 

werden. Um sich nicht zu verraten täuschte sie eine leichte 
Übelkeit vor und verzichtete auf den Eintopf, den sie selbst 
gewürzt hatte. »Ich brauche frische Luft«, sagte sie. 

»Ich glaube, dir haben die guten Nachrichten auf den Magen 

geschlagen«, antwortete ihr Onkel ahnungslos. 

Bensua ging nach draußen, blieb eine Weile im Schatten des 

hervorstehenden Palmendaches stehen und atmete die trockene 
Luft ein. Es tat gut, nach der langen Regenzeit die Wüste zu 
spüren. Sie arbeitete im Hof, säuberte die Ställe und blickte 
alle paar Minuten zum Himmel empor. Ungeduldig wartete sie 
auf den Abend. Sie  musste Ottobah warnen. Auch wenn der 
König ihn ein Mal verschont hatte, war es möglich, dass er nun 
geopfert wurde. Dem Holländer sollte ein grausames 
Schauspiel geboten werden. Er sah gern bei Hinrichtungen zu. 

Die Dunkelheit schien an diesem Tag besonders lange auf 

sich warten zu lassen. Der Himmel wölbte sich leuchtend blau 
über der Stadt. Bensua blickte wütend zur Sonne empor. Sie 
hatte das Gefühl, von ihr verhöhnt zu werden, empfand das 
strahlende Wetter als boshaftes Grinsen der bösen Geister, die 
nur darauf warteten, sie ins Unglück  zu schicken. Sie verließ 
den heimatlichen Hof und wanderte ziellos durch die Stadt. 
Die anderen Menschen beachtete sie kaum. Sie übersah sogar 
eine Freundin ihrer Mutter, die mit einem großen Gefäß auf 
dem Kopf von der Zisterne kam und ihr freundlich zulächelte. 
Bensua ging weiter ohne sie anzusehen, ließ sich auf dem 
Markt treiben, bis die Sonne unterging und dunkle Schatten auf 
die Häuser fielen. Bald würden die Sklaven aus den Minen 
kommen. 

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Bei den runden Lehmhütten, in denen die Sklaven 

untergebracht waren, erwartete sie eine unangenehme 
Überraschung. Der König hatte die Wachen vervierfacht und 
ließ alle Gefangenen in Ketten legen. Sie  musste zusehen, wie 
die Fante von den Kriegern ihres Volkes unsanft zu Boden 
gestoßen und misshandelt wurden. Der Asante, der sie 
ausgelacht hatte, schlug mit seiner Muskete auf einen jungen 
Sklaven ein und hätte ihn wohl umgebracht, wenn ihn ein 
anderer Asante nicht zurückgehalten hätte. Ottobah war nicht 
zu sehen. Im düsteren Schein der Fackeln waren die 
geschundenen Männer kaum zu erkennen. »Ottobah!«, 
flüsterte Bensua verzweifelt. »Wie sollen wir jetzt fliehen?« 

Ohne den Versuch gemacht zu haben, mit Ottobah zu 

sprechen, kehrte sie nach Hause zurück. Es wäre selbst für 
einen erfahrenen Krieger unmöglich gewesen, die Wachen zu 
überlisten. Betrübt rollte sie sich in ihre Decken. Ihre 
Verwandten glaubten immer noch, dass ihr übel war, und 
ließen sie gewähren. Ihr Onkel machte eine Bemerkung, die sie 
nicht verstand, und sie hörte, wie ihr Vater und ihre Mutter 
lachten. Anscheinend hatte er wiederholt, was er zu ihr gesagt 
hatte: dass ihr die guten Nachrichten schlecht bekommen 
waren. Sie wusste von jungen Frauen, die vor ihrer Hochzeit 
ohnmächtig geworden waren. Sie hatten die Aufregung nicht 
ertragen. Die Eheschließung war ein Fest, das selbst von 
einfachen Familien groß gefeiert wurde. 

Sie schlief schlecht und träumte von dem holländischen 

Sklavenhändler, wie er mit verzerrtem Gesicht über dem 
blutenden Ottobah stand und ihn mit seiner Peitsche marterte. 
Ottobah war an Armen  und Beinen gefesselt. Er gab keinen 
Laut von sich, aber das machte den Holländer nur noch 
wütender und er schlug noch heftiger auf den Krieger ein. Sie 
erwachte schweißüberströmt und starrte in die Dunkelheit. Es 
war mitten in der Nacht. Sie stieg von ihrem Nachtlager, 

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schlich auf den Hof hinaus und schöpfte frisches Wasser aus 
dem Brunnen. Es vertrieb die bösen Geister und verlangsamte 
ihren Herzschlag. Sie wartete, bis sich ihr Atem beruhigt hatte, 
und kehrte zu ihrem Lager zurück. Vergeblich versuchte sie 
wieder einzuschlafen. Mit weit geöffneten Augen lag sie 
stumm auf dem Rücken, bis die ersten hellen Streifen zum 
Fenster hereinfielen und die Sonne aufging. 

Noch vor ihrer Mutter stand sie auf. Sie wusch sich, bereitete 

heißen Tee und versuchte sich so normal wie möglich zu 
benehmen. Zusammen mit ihren Verwandten ging sie zum 
Palast. Der König hatte seine Untertanen gerufen und die 
Familien kamen geschlossen, um dem feierlichen Handel 
beizuwohnen. Erst vor dem Palast gelang es Bensua, sich von 
ihren Verwandten zu lösen und allein in der Menge 
unterzutauchen. Mit klopfendem Herzen bahnte sie sich einen 
Weg nach vorn. Ihre Augen flackerten vor Angst und ihre 
Beine drohten nachzugeben. Flüsternd betete sie zu den Ahnen 
und allen Göttern, die sie kannte. 

Die salbungsvollen Worte des  Asantehene, der in seiner 

königlichen Sänfte aus dem Palast getragen und von den 
Schwertträgern begleitet wurde, hörte sie kaum. Auch den 
holländischen Kaufmann, der unter einem goldverzierten 
Baldachin Platz nehmen durfte, beachtete sie nicht. Sie suchte 
verzweifelt nach den Kriegern, die Willem van der Meyde 
gekauft hatte und an die Küste mitnehmen würde. Und sie 
wartete auf den entscheidenden Augenblick, wenn einige 
Krieger ihres Volkes einen der Gefangenen über die 
Hauptstraße treiben und dem Henker übergeben würden. 
Welchen Mann hatte der König ausgesucht? Oder hatte er es 
dem Holländer überlassen ein Opfer auszuwählen? 

Dumpfes Trommeln und ein heftiger Fanfarenstoß der 

königlichen Trompeter kündigten den feierlichen Augenblick 
an. »Mein Freund!«, wandte sich der  Asantehene  an den 

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Holländer. »Du bist von weither gekommen, um mit dem 
mächtigen Herrscher der Asante zu speisen! Du hast uns die 
Waren gebracht, die du uns versprochen hattest! Du hast dich 
vor dem Akondwa verneigt und die Übermacht unseres Volkes 
anerkannt! Dafür wollen wir die Götter loben! Wir werden 
ihnen ein Opfer bringen, das sie günstig stimmt und dazu 
bringt, dich auf deinem langen Weg zu beschützen! Blicke 
nach Osten, mein Freund, und erfreue dich am Anblick des 
heimtückischen Fante, der für dich sterben wird!« 

Bensua kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht 

zusammen und atmete erleichtert auf. Der unglückselige 
Gefangene, der von zwei Asante an Lederseilen über die 
Hauptstraße gezogen wurde, war älter als Ottobah. Sie wusste 
seinen Namen nicht, erinnerte sich aber, in seine Augen 
geblickt zu haben. Er stolperte wie ein tödlich getroffenes 
Wild. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Durch 
seine Wangen war ein Jagdmesser gestoßen worden, damit er 
den König nicht verfluchen konnte. In seinem Rücken steckten 
kleinere Messer. Unter den Klängen des königlichen 
Orchesters trieben ihn die Asante vor den König, der ihn 
verächtlich musterte und vor den Augen seiner Untertanen und 
des Holländers an den Henker weitergab. 

Mit einem kräftigen Schwerthieb köpfte der Asante den 

verurteilten Sklaven. Der Fante ertrug sein Schicksal, ohne zu 
wimmern und um sein Leben zu flehen. Er starb lautlos. Die 
Asante zeigten kein Mitleid, jubelten sogar, als das Urteil 
vollstreckt war, und verneigten sich vor dem König und 
seinem hohen Gast. Sie empfanden eine Hinrichtung nicht als 
Mord, es war bloß eine Notwendigkeit, die Götter mit dem 
Blut unwürdiger Menschen zu versöhnen. Der grausame Tod 
der Gefangenen und manchmal sogar unschuldiger Asante war 
der Preis, den sie an  Onyankopon Kwame und seine Götter zu 

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zahlen hatten. Ohne die Menschenopfer würde sie der geballte 
Zorn der Götter vernichten. 

Die Überreste des geopferten Fante wurden weggebracht und 

das königliche Orchester sorgte mit einem heiteren Marsch für 
gelöste Stimmung. Der  Asantehene  wusste, was er seinem 
Volk schuldig war. Willem van der Meyde hatte keine Miene 
verzogen, als der Sklave gebracht worden war, und lächelte 
sogar, als der Scharfrichter seine blutige Arbeit erledigte. Ihm 
war der Tod eines Schwarzen gleichgültig und er machte kaum 
einen Unterschied zwischen einem Asante oder Fante. Für ihn 
waren die Schwarzen nichts weiter als primitive Tiere, 
minderwertige Wesen, die nur den einen Vorteil hatten, dass 
man sie Gewinn bringend in ferne Länder verkaufen konnte. Er 
hütete sich jedoch diese Gedanken einem anderen Menschen 
mitzuteilen. Er hofierte den Asantehene und verwöhnte ihn mit 
europäischen Handelswaren, weil er keinen anderen Mann 
kannte, der so viel Gold besaß. Und der es verstand, so viele 
Sklaven aufzutreiben. 

Vierzig Männer und Frauen und zwanzig Goldbarren hatte 

Willem van der Meyde für seine Waren verlangt. Sie hatten 
sich auf dreißig Sklaven und fünfzehn Goldbarren geeinigt und 
der Händler hatte versprochen bei seinem nächsten Besuch 
noch mehr Rum mitzubringen. Den scharfen Rum von den 
Westindischen Inseln trank der König am liebsten. Weil der 
Asantehene nur neunzehn gefangene Fante besaß, ließ er einige 
weibliche Sklaven und zwei Asante von seinen 
Schwertmännern festnehmen. Die Asante, zwei erwachsene 
Krieger, kamen aus dem Armenviertel und protestierten 
wütend gegen ihre Festnahme. Sie mussten gefesselt und 
geknebelt werden, sonst wären sie mit den bloßen Händen auf 
die Schwertmänner losgegangen. 

Unter den Schaulustigen entstand Unruhe, als die gefesselten 

Sklaven auf den Platz getrieben wurden. Die beiden Jäger, die 

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mit dem Holländer gekommen waren, hielten sie mit ihren 
Gewehren in Schach. Auch die Schwertmänner hatten ihre 
Waffen gezogen. Vielen Zuschauern  gefiel nicht, dass zwei 
Asante an den Holländer verkauft werden sollten. Es gab 
genug Fremde in der Stadt, die sie eher geopfert hätten. Sie 
ahnten nicht, dass Osei Yaw eine eigene Strategie verfolgte. Er 
wollte die Bewohner der Hauptstadt früh genug daran 
gewöhnen, eigene Opfer zu bringen. Wenn es zu einem Krieg 
gegen die Engländer kam, konnte er es sich nicht leisten, 
weiter gegen die Fante zu kämpfen, und war gezwungen, dem 
Holländer eigene Untertanen auszuliefern. Mit Gold allein gab 
sich der Händler nicht zufrieden und Osei Yaw wollte auch 
nicht auf den Rum und die kostbaren Waren verzichten. 

»Mein Volk«, rief er in die aufkommende Unruhe, »ich weiß, 

was eure Herzen bewegt! Warum sollen wir zwei Krieger der 
Asante opfern, wenn es noch genug Sklaven in unserer Stadt 
gibt? Ich sage euch warum, meine Freunde!« Seine Miene 
wurde grimmig und er deutete mit dem ausgestreckten Finger 
auf die beiden Unglücklichen. »Diese Krieger haben gegen 
unsere Gesetze verstoßen! Sie haben von dem Wasser 
getrunken, das für die Schwertmänner des Palastes bestimmt 
war, und was noch viel schlimmer ist, sie haben die Stadt 
verlassen und die Götter beschimpft! Eigentlich hätten sie 
einen grausamen Tod verdient, aber ich habe in meiner 
unermesslichen Güte beschlossen, sie meinem holländischen 
Freund zu verkaufen! Sie werden ihm viel Gold bringen! Ihr 
Verkauf wird die zornigen Götter versöhnen!« 

Jedes seiner Worte war gelogen. Wenn die beiden Krieger 

wirklich diese Verbrechen begangen hätten, wären sie auf der 
Stelle hingerichtet worden. Dann hätte sich der König auch 
nicht durch einen goldgierigen Händler umstimmen lassen. 
Aber außer wenigen Königstreuen wusste niemand, dass die 
Männer ihr Haus gar nicht verlassen hatten. Nun waren sie 

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geknebelt und konnten sich nicht wehren. »Ich bin der 
Asentehene«, beendete der König seine Ansprache, »ich bin 
der Herrscher eines Volkes, das niemals ein Unrecht dulden 
wird! Und jetzt  lasst uns feiern! Wir wollen dem Palmwein 
zusprechen, während unser holländischer Freund mit seiner 
Beute an die Küste zurückkehrt! Dies ist ein großer Tag für die 
Asante, denn wir haben ein Unrecht gesühnt und einen 
Menschen glücklich gemacht!« Kein Asante spürte die 
Verlogenheit dieser Worte. Am wenigsten Bensua, die tatenlos 
zusehen  musste, wie die mit Ketten gefesselten Sklaven über 
den Marktplatz und aus der Stadt getrieben wurden. Selbst ein 
entschlossener Krieger wie Ottobah war machtlos gegen diese 
Behandlung. Fluchend folgte er dem Sklavenhändler, ein 
Schicksal vor Augen, das grausamer als der Tod war. Sein 
verzweifelter Schrei tönte durch die Stadt und erreichte 
Bensua, die neben einer Hütte stehen blieb und weinend der 
Karawane nachblickte. Würde sie ihn jemals wieder sehen? 

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In ihrer Verzweiflung beschloss Bensua der Sklavenkarawane 
zu folgen. Ohne weiter zu überlegen rannte sie nach Hause 
zurück. Sie stopfte Lebensmittel in eine Umhängetasche und 
füllte eine Wasserflasche. Zögernd griff sie nach einem der 
Jagdmesser, das ihr Onkel geschliffen und auf den Tisch gelegt 
hatte. Sie fuhr mit dem Daumen über die scharfe Klinge und 
erschrak, als die Haut aufplatzte und Blut hervorsickerte. Sie 
verstaute das Messer in der Tasche und schlich aus dem Haus. 
Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich davon, dass ihre 
Verwandten noch nicht zurückkamen. Sie durfte ihnen auf 
keinen Fall begegnen. Geduckt tauchte sie in einer schmalen 
Gasse unter. Die meisten Bewohner waren noch beim Palast 
und jubelten dem König zu und sie begegnete kaum einem 
Menschen. Selbst Polizisten waren nicht zu sehen. Der 
ausgetretene Pfad, der von der Hauptstraße abzweigte und aus 
der Stadt führte, lag verlassen vor ihr. 

So schnell sie konnte, rannte sie davon. Wie eine Antilope, 

die vor einem Löwen flieht, sprang sie durch das hüfthohe 
Gras. Erst als sie den Waldrand erreicht hatte und ungefähr 
zwei Kilometer von der Stadt entfernt war, wurde ihr klar, was 
sie getan hatte. Sie blieb keuchend stehen und blickte zurück. 
Ihre Heimatstadt war hinter einem Hügel verschwunden. Es 
gab kein Zurück mehr. Niemals würde sie Kumase wieder 
sehen. Ihre Familie, ihre Freunde, es gab sie nicht mehr. 
Sobald sie herausfanden, was sie getan hatte, würde großes 
Wehklagen einsetzen, gefolgt von der unerträglichen Scham, 
eine Verräterin aufgezogen zu haben. Der königliche Krieger, 
der um sie geworben hatte, würde sein Schwert ziehen und sie 

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öffentlich verfluchen. Ihr Onkel würde der Familie verbieten 
ihren Namen auszusprechen. Und der König würde seine 
Schwertmänner losschicken um sie zurückzuholen. Nur ihre 
Hinrichtung würde die Götter versöhnen. 

Entschlossen rannte sie weiter. Wenige hundert Meter vor ihr 

bewegte sich die Sklavenkarawane durch den Urwald. Bensua 
war beweglicher als die Coffle, wie eine solche Karawane von 
den Weißen genannt wurde, und würde sie bald eingeholt 
haben. Was sie dann unternehmen sollte, wusste sie nicht. Ihr 
Verstand sagte ihr, dass es selbst für einen erfahrenen Krieger 
unmöglich gewesen wäre, einen Gefangenen zu befreien. 
Immer fünf Sklaven, darunter auch zwei Frauen, waren mit 
Ketten aneinander gefesselt und trugen schwere Balken auf 
den Schultern, die man mit Lederschnüren an ihren Hals 
gebunden hatte. Stabile Eisenringe umschlossen die 
Fußgelenke der Unglücklichen. Den Schlüssel zu den 
Vorhängeschlössern hatte Willem van der Meyde in seiner 
Tasche stecken. Seine Jäger waren mit Gewehren und 
Peitschen bewaffnet und auch die schwarzen Träger würden 
nicht zögern eine Befreiung der Sklaven zu verhindern. Sie 
wussten, dass sie selbst verkauft würden, wenn ein solcher 
Angriff gelang. Es musste einen anderen Weg für Bensua 
geben, Ottobah aus den Händen des Händlers zu befreien. 

Der holländische Händler würde ungefähr einen Monat 

brauchen um die Küste zu erreichen. Mehr als fünf Meilen an 
einem Tag schaffte eine  Coffle  nicht durch den Regenwald. 
Wie ein unüberwindbares Hindernis stemmte sich der 
Dschungel gegen die Eindringlinge. Über hundert Meter ragten 
die mächtigen Bäume empor, bildeten ein grünes Dach, das 
kaum Sonnenstrahlen durchließ. Das wenige Licht brach sich 
auf den feuchten Blättern und Blumen, ließ geheimnisvolle 
Schatten durch das Unterholz geistern und spiegelte sich auf 
dem silbernen Fell kleiner Affen. Farbenprächtige Blumen 

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rankten sich an dem Buschwerk empor, dürsteten nach den 
Regentropfen, die von den riesigen Farnen fielen. Bunte 
Schmetterlinge leuchteten in dem dichten Grün. Papageien 
krächzten, Vögel zwitscherten, Insekten summten. Das 
vielstimmige Konzert der vierbeinigen Bewohner begleitete 
die Menschen über den kaum sichtbaren Trampelpfad, ließ die 
weißen Männer nach wilden Tieren Ausschau halten und 
nervös zu den Waffen greifen. Ein Leopard fauchte. Sein 
geflecktes Fell blitzte zwischen den Bäumen auf. 

Für die weißen Männer war der Urwald eine grüne Hölle, ein 

undurchdringliches Hindernis, das  jeden Eindringling mit 
seinen Schlingpflanzen umfing und nicht mehr losließ. An der 
Küste wurde die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich ein 
paar Meter von seiner Karawane entfernt hatte und von einem 
Augenblick auf den anderen zu einem Gefangenen der Wildnis 
geworden war. Er wurde nie mehr gesehen. Nur ein paar 
hundert Meter von der rettenden Küste entfernt verirrte er sich 
in dem Gewirr aus Bäumen, Büschen und Schlingpflanzen, 
starb einsam im Dunkel des Waldes oder endete als Beute 
eines wilden Tieres, das ihn in sein Versteck schleifte. Im 
tropischen Regenwald warteten tödliche Geheimnisse, die 
jedem Weißen zum Verhängnis wurden, wenn er auf die Hilfe 
eines Schwarzen verzichtete. Nur die Bewohner des 
Dschungels kannten sich darin aus. 

Bensua hatte keine Angst. Obwohl sie in der größten Stadt 

des Asante-Reiches aufgewachsen war, hatte sie ihren Onkel 
und ihren Vater oft in den Urwald begleitet und war mit seinen 
Geheimnissen vertraut. Sie kannte die Tiere und Pflanzen, 
wusste die essbaren von den giftigen Früchten zu 
unterscheiden. Sie hatte gelernt, mit welchen Kräutern man 
eine Krankheit heilen konnte. Ihr Respekt vor den wilden 
Tieren und der mächtigen Pythonschlange war groß, aber sie 
ließ sich nicht einschüchtern und verließ sich auf ihren 

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angeborenen Instinkt, der sie sicher über den einsamen Pfad 
führte. Die Hitze, die sich auch unter dem grünen Dach des 
Regenwaldes staute, machte ihr kaum etwas aus. Und wenn es 
gefährlich wurde, hatte sie immer noch das Jagdmesser ihres 
Onkels um sich zu wehren. 

Sie blieb neben einem mächtigen Baumstamm stehen und 

lauschte angestrengt. Ihr Blick reichte keine fünf Meter weit, 
verlor sich in dem verwirrenden Grün des Waldes. Ihr blieb 
nur das Gehör um einen Feind auszumachen. Eine Raubkatze, 
eine Schlange, einen Krieger der Asante, der aus einem 
benachbarten Dorf kam und zufällig auf sie stieß. Sobald sie 
ihre Flucht bemerkten, würden auch die Schwertmänner auf 
ihrer Spur sein um sie nach Kumase zurückzuholen. Viel Zeit 
blieb ihr nicht. Die Krieger waren es gewohnt einen Feind 
durch den Dschungel zu verfolgen und würden sie einholen. 
Auch wenn es noch einige Zeit dauern würde, bis sie ihr 
Verschwinden bemerkten. Und gegen die besten Krieger des 
Königs war sie selbst mit einem Messer machtlos. Nur eine 
List konnte ihr helfen, den unerbittlichen Verfolgern zu 
entkommen. Und der Beistand der Götter, die sich vielleicht 
erweichen ließen und ihrer Liebe zu dem gefangenen Fante 
eine Chance gaben. 

Was sie unternehmen würde, falls es ihr wirklich gelang den 

Verfolgern zu entkommen, wusste sie nicht. Sie hatte keinen 
festen Plan, nicht mal eine vage Idee, wie sie Ottobah befreien 
konnte. An den Schlüssel würde sie niemals herankommen, 
nicht einmal nachts. Das schaffte nur ein Krieger wie ihr 
Onkel, der sich auch einem schlafenden Löwen bis auf wenige 
Schritte nähern konnte. Das Gold, das der Holländer für den 
Sklaven verlangen würde, besaß sie nicht. Wenn er ihn 
überhaupt verkaufte. Blieb nur die Möglichkeit, ihren Körper 
für die Freilassung anzubieten. Sie hatte von einer jungen Frau 
gehört, die ihren Körper an einen Sklavenhändler verkauft 

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hatte und für ihre Dienste mit Geschenken überhäuft wurde. 
Würde Ottobah sie zur Frau nehmen, wenn sie mit dem 
Holländer schlief? Sie konnte nicht ahnen, dass die junge Frau, 
von der sie gehört hatte, wenige Wochen später als Sklavin auf 
ein Segelschiff nach Brasilien verfrachtet worden war. 

Sie blieb am Rande eines ausgedehnten Mangrovensumpfes 

stehen und starrte in den nebligen Dunst, der wie feine Watte 
über dem dunklen Wasser hing. Ein Schwarm von Insekten 
bewegte sich in der feuchten Luft. Die weißen Männer 
fürchteten Gegenden wie diese. Sie wurden krank in der Hitze, 
bekamen hohes Fieber und starben. Es gab Schiffskapitäne, die 
sich nicht von Bord trauten und ungeduldig auf ihre Ladung 
warteten, weil sie fürchteten sich anzustecken. Willem van der 
Meyde war einer der wenigen Europäer, die viele Jahre an der 
westafrikanischen Küste lebten und nicht ein einziges Mal 
krank gewesen waren. Er besaß natürliche Abwehrkräfte gegen 
die verseuchte Luft. Bensua nahm an, dass die bösen Geister 
auf seiner Seite waren und ihn gegen das Fieber schützten. Er 
hatte sich mit ihnen verbündet. 

Das Mädchen ging zügig weiter. Es blieb ihr gar nichts 

anderes übrig, als nach Süden weiterzulaufen. Mit einem Gebet 
auf den Lippen marschierte sie durch den Urwald. Sie  musste 
den Göttern vertrauen. Wenn sie auf ihrer Seite waren, würden 
sie eine Möglichkeit finden, Ottobah zu befreien. In Gedanken 
sah sie einen feurigen Blitz, der aus dem Reich der Götter 
herabfuhr und den Sklavenhändler wie eine Fackel brennen 
ließ. Ein gewaltiger Donnerschlag löste die eisernen Fesseln 
von den Gefangenen und trieb Ottobah in ihre Arme. Sie 
würden zur Küste fliehen und weiter nach Norden, bis sie ein 
Land erreichten, in dem sie sicher vor den Schwertmännern 
des  Asantehene  waren. Sie würden ein Haus bauen und ein 
neues Volk gründen. 

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Hinter ihr ertönte ein ungewöhnliches Geräusch. Sie griff 

blitzschnell nach ihrem Messer und fuhr herum. Nur ein 
Stachelschwein, das im Gebüsch verschwand. Erleichtert ließ 
sie die Hand mit dem Messer sinken. Die ständige Gefahr, in 
der sie seit ihrer Flucht schwebte, hatte sie nervös gemacht. Sie 
rieb sich den Schweiß von der Stirn und marschierte weiter. Es 
würden noch einige Stunden vergehen, bis man Alarm schlug. 
Auch die Polizisten feierten auf dem Marktplatz, tranken 
Palmwein und scharfen Rum, und wenn sie Glück hatte, 
tanzten und tranken auch ihre Verwandten bis in die späte 
Nacht. Dann würde es früher Morgen werden, bis sich die 
Schwertmänner an eine Verfolgung machten. Sie schickte ein 
Gebet zum Himmel, bat  Onyankopon Kwame  die Krieger so 
lange aufzuhalten, bis sie einen ausreichenden Vorsprung 
hatte. Die Schwertmänner hatten bestimmt keine Lust, ihr bis 
zur Küste zu folgen. Wenn sie großes Glück hatte, brachen sie 
die Verfolgung ab und kehrten unverrichteter Dinge nach 
Kumase zurück. Sie konnten den König anlügen, ihm erzählen, 
dass sie von einem Leoparden getötet worden war. Aber sie 
vermutete vielmehr, dass sie nicht eher ruhen würden, bis sie 
für ihr Verbrechen bestraft worden wäre. 

Auf einer Lichtung holte Bensua die  Coffle ein. Sie blieb im 

Dunkel des Waldes stehen und beobachtete, wie die 
Sklavenkarawane über einen sumpfigen Hang zog. Durch die 
Öffnung in dem grünen Dach strahlte die Sonne herein, als 
wollte sie das Leid der bedauernswerten Sklaven durch ihr 
Licht besonders hervorheben. Von der Last der hölzernen 
Balken, die auf ihren Schultern lagen, nach unten gedrückt, 
stolperten sie durch das feuchte Gras. Die Spitze der Karawane 
bildete die Sänfte des holländischen Händlers, gefolgt von den 
schwarzen Lastenträgern und den gefesselten Sklaven. Die 
weißen Jäger trieben die Gefangenen mit Peitschenschlägen 
an. Das Gewimmer einiger Männer, die diese grausame 

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Marterung kaum noch aushielten, drang wie ein dumpfes Echo 
über die Lichtung. 

Bensua unterdrückte einen Schrei und suchte nach Ottobah. 

Er war leicht zu finden. Als einziger Sklave wehrte er sich 
lautstark gegen die unwürdige Behandlung. Er verfluchte seine 
Peiniger mit derben Flüchen, spuckte vor ihnen auf den Boden 
und schimpfte nur noch lauter, wenn ihm einer der Jäger die 
Peitsche über den nackten Rücken zog. Der Schmerz schien 
ihm nichts auszumachen. Das Blut, das aus seinen Wunden 
sickerte, beachtete er kaum.  »Schlagt mich, ihr räudigen 
Hunde!«, fauchte er die Männer an. »Ihr könnt mir das Fleisch 
zerfetzen und die Knochen brechen! Aber meine Seele könnt 
ihr niemals töten! Sie wird immer leben! Ich bin stark! Ich bin 
ein Krieger der Fante! Die bösen Geister werden euch holen 
und ins Verderben stürzen! Das Königreich, das uns nach dem 
Tod erwartet, werdet ihr niemals sehen. Ihr werdet an dem 
finsteren Ort schmoren, den ihr Hölle nennt! Dort werdet ihr 
eure gerechte Strafe finden!« 

Willem van der Meyde verstand als einziger Weißer, was der 

Krieger sagte. »Schlagt ihn!«, rief er seinen Männern auf 
Holländisch zu. »Schlagt ihn, bis er nicht mehr gerade stehen 
kann! Wenn ihn die anderen mitschleppen müssen, werden sie 
sich dreimal überlegen, ob sie dieses Geschrei noch länger 
dulden!« 

Bensua beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie die 

beiden Jäger den Befehl des Holländers ausführten. Sie hatte 
die Worte nicht verstanden, konnte sich aber denken, was er 
gemeint hatte. Über ihr Gesicht liefen Tränen, als die weißen 
Männer mit ihren Peitschen auf den armen Fante eindroschen 
und erst zufrieden waren, als er stöhnend zu Boden sank. »Du 
hast die längste Zeit auf unseren Herrn geschimpft«, 
triumphierte einer der Peiniger, »noch ein Wort und wir lassen 
dich für die wilden Tiere liegen!« Er wandte sich an die 

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Gefangenen, die an denselben Balken gefesselt waren, und 
herrschte sie an: »Tragt den verdammten Kerl! Habt ihr euch 
selber zuzuschreiben, wenn ihr ihn schleppen  müsst!« Er ließ 
die Peitsche knallen und grinste schadenfroh, als er sah, wie 
sich die Gefangenen mit Ottobah abmühten. 

Wie zu Stein erstarrt blieb Bensua am Rand der Lichtung 

stehen. Minutenlang war sie zu keiner Regung fähig. Ihre 
Tränen waren längst versiegt. Sie spürte ein Würgen im Hals, 
übergab sich in dem dichten Laubwerk und  musste sich an 
einem Baumstamm festhalten. Mühsam rang sie nach Luft. Sie 
griff nach ihrer Wasserflasche, trank einen großen Schluck und 
verschloss sie wieder. »Ottobah!«, wollte sie flüstern, aber es 
wurde nur ein heiseres Krächzen daraus. Sie fühlte mit dem 
Krieger, weil ihn die Weißen beinahe zu Tode gepeitscht 
hatten, und sie bewunderte ihn für seinen Mut, sich gegen 
diese Sklavenhändler zu wehren. Er war tapferer als alle 
anderen Krieger, die sie kannte. 

Bensua verstaute die Wasserflasche in ihrer Umhängetasche 

und folgte der Karawane. Sie blieb ungefähr zweihundert 
Schritte hinter der Coffle zurück, überlegte krampfhaft, wie sie 
Ottobah befreien konnte. Konnte sie es wagen, dem Holländer 
ihren Körper anzubieten? Waren die Götter damit 
einverstanden, wenn sie ein Tabu ihres Volkes verletzte um 
den geliebten Krieger zu retten? Oder würde der Holländer sie 
betrügen, sich nehmen, was sie ihm darbot, und sie ohne 
Proviant im Urwald zurücklassen? Sie beschloss die nächste 
Nacht im Dschungel abzuwarten und zu  Onyankopon Kwame 
zu beten. Er würde eine Antwort wissen. Er würde ihr verraten, 
ob es eine gemeinsame Zukunft für sie gab. 

Sie marschierte, bis der Holländer das Nachtlager 

aufschlagen ließ, und suchte  sich ein geschütztes Versteck 
zwischen einigen Büschen. Sie befanden sich auf einer weiten 
Lichtung, am Ufer eines größeren Sees, der rotgolden im Licht 

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der untergehenden Sonne schimmerte. Einige Elefanten 
standen im Wasser und suchten mit ihren Rüsseln nach 
Mineralien. Ein Bulle trompetete unwirsch, als er die 
Witterung der Menschen aufnahm, unternahm aber nichts. Ein 
Kranich schwebte über dem Ufer und ließ sich auf einem 
Baumstumpf nieder. Die Luft war frisch und würzig und auch 
Bensua war froh, dem schwülen Regenwald zumindest für eine 
Zeit entfliehen zu können. Aus ihrem Versteck beobachtete sie, 
wie die Gefangenen zu Boden gestoßen und mit etwas Brei 
und Wasser abgespeist wurden. 

Ottobah bekam gar nichts. Er war aus seiner Bewusstlosigkeit 

erwacht und saß trotzig zwischen den anderen Sklaven. In den 
Augen einiger Krieger erkannte Bensua Unwillen über den 
Widerstand ihres jungen Freundes. Sie hatten ihn den ganzen 
Nachmittag schleppen müssen. Für sie hatte es mehr 
Peitschenhiebe gegeben als für die anderen Männer. Sein 
Nachbar flüsterte ihm etwas zu, ermahnte ihn wohl, sich in 
sein Schicksal zu ergeben, und wurde von Ottobah mit einem 
wütenden Fluch zurechtgewiesen. Sofort knallte ein 
Peitschenhieb auf ihn nieder. Bevor er gegen den Jäger 
aufbegehren und etwas erwidern konnte, spürte er die Hand 
seines Nachbarn auf seinem Mund. 

Bensua blickte zu den beiden Frauen hinüber, die bei der 

Gruppe waren, und stellte erstaunt fest, dass man ihre Fesseln 
gelöst hatte. Einer der Jäger scherzte mit ihnen. Sie gingen auf 
das Spiel ein, hofften wohl, sich auf diese Weise einen Vorteil 
verschaffen zu können. »Lass den Unsinn!«, wies Willem van 
der Meyde den Mann zurecht. »Sagt ihnen lieber, dass sie was 
zu essen kochen sollen! Ich habe  Hunger, verdammt! Sie 
kochen bestimmt besser als ihr!« Er strafte die beiden Jäger 
und seinen Buchhalter mit einem wütenden Blick. »Was ist?«, 
schrie er seine schwarzen Diener an. »Stellt endlich das Zelt 
auf! Wie lange dauert das denn noch?« Der Sklavenhändler 

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verbrachte die Nacht in einem weißen Zelt, ließ sich das Essen, 
das die Sklavinnen über einem offenen Feuer zubereiteten, auf 
einem silbernen Tablett bringen und blieb lange mit den 
Frauen allein. 

Die weißen Jäger rollten ihre Decken unter freiem Himmel 

aus. Sie teilten mehrere schwarze Träger als Wachen ein und 
wechselten sich selbst mir der Beaufsichtigung der Sklaven ab. 
Nachts knallten die Peitschen seltener, man ließ die 
übermüdeten Schwarzen zu Kräften kommen. Nur gesunde 
Sklaven wurden auf die Schiffe gelassen. »Fasst sie hart an!«, 
hatte Willem van der Meyde seinen Männern gesagt. »Sie 
müssen lernen sich einem weißen Herrn unterzuordnen! Aber 
schlagt sie nicht tot! Für einen toten Sklaven bekomme ich 
nichts! Bevor wir die Küste erreichen, will  ich, dass ihr sie 
anständig füttert! Der Captain der  Hannibal  ist sehr 
wählerisch! Er zahlt nur für kräftige Sklaven!« 

»Aber vorher prügeln wir sie ordentlich durch!«, hatte der 

Jäger versprochen, der Ottobah geschlagen hatte. »Das 
schwarze Ungeziefer hat es nicht anders verdient! Diese Neger 
sind schlimmer als Affen! Ich bin froh, wenn ich dieses Pack 
nicht mehr sehe!« 

Bensua ahnte nichts von dieser Unterhaltung. Sie lag in ihrem 

Versteck, blickte zu den Sternen empor und bat die Götter in 
einem langen Gebet um Hilfe. Mit Tränen in den Augen 
schlief sie ein. In ihrer rechten Hand lag das Jagdmesser ihres 
Onkels. 

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Mitten in der Nacht schreckte Bensua aus dem Schlaf. Ein 
Geräusch, das nicht zum Konzert des nächtlichen Regenwalds 
gehörte, hatte sie geweckt. Ein Weißer hätte das leise Knacken 
der Zweige und das Rascheln der Schlingpflanzen niemals 
bemerkt. Der Urwald war voller Geräusche. Insekten zirpten, 
Papageien krächzten und die Pottos, den Faultieren ähnliche 
Halbaffen, ließen ihr nervöses Kreischen  ertönen, das einen 
Weißen, der diese Geräuschkulisse nicht gewohnt war, kaum 
Schlaf finden ließ. Aus der Dunkelheit drang das Fauchen 
eines Leoparden, der eine Beute gerissen hatte und einen 
Nebenbuhler vertrieb. Vertraute Geräusche für eine junge 
Asante,  die selbst im Schlaf merkte, wenn sich ein 
ungewohntes Geräusch darunter mischte. 

Ihre Verfolger waren in der Nähe. Die Schwertmänner des 

Königs hatten sie eingeholt und näherten sich dem Feuer der 
Sklavenkarawane. Vier oder fünf Männer, schätzte sie, mehr 
waren nicht nötig um eine junge Verräterin einzufangen. Sie 
waren keine hundert Schritte entfernt und mussten jeden 
Augenblick auf der Lichtung auftauchen. Auch Ottobah und 
einige andere Sklaven hatten ihre Schritte gehört und lauschten 
in die Dunkelheit. Der weiße Jäger, der mit dem Gewehr über 
den Knien auf einem umgestürzten Baumstamm saß, hörte 
nichts und sprang erschrocken auf, als die Asante-Krieger in 
den Feuerschein traten. 

Er riss sein Gewehr hoch und ließ es erleichtert wieder 

sinken. Die goldverzierten Schwerter der Asante waren 
einzigartig im Regenwald der Goldküste. Mit gedämpfter 
Stimme rief er nach dem Holländer und dem anderen weißen 

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Jäger. »Asante«, erklärte er, als sein Kumpan hochschreckte 
und Willem van der Meyde verschlafen aus seinem Zelt kroch. 
»Die Asante sind hier!« 

Der Holländer rieb sich die Augen und befahl seinem 

Buchhalter mit einer unwirschen Handbewegung ihm einen 
Becher Tee zu bringen. »Pfui Teufel, das Zeug ist ja eiskalt!«, 
schimpfte er, als er einen Schluck getrunken hatte. Er warf den 
Becher ins Gras und wandte sich an die Schwertmänner. »Was 
wollt ihr?« 

»Wir suchen eine junge Frau«, antwortete der Anführer in 

dem Kauderwelsch aus Englisch, Holländisch und Asante, in 
dem man sich an der Goldküste verständigte. »Ihr Name ist 
Bensua! Sie ist aus Kumase geflohen! Wir glauben, dass sie 
einen Sklaven befreien will! Ein Krieger hat gesehen, wie sie 
mit ihm gesprochen hat!« 

»Hier ist keine Frau, die so heißt«, erwiderte der Holländer 

unwirsch. Er mochte nicht, wenn man ihn in seiner Nachtruhe 
störte. »Und wenn es so wäre, hätten wir sie längst entdeckt.« 
Er bot den Kriegern nichts zu essen an, gönnte ihnen nicht mal 
den kalten Tee. »Seit wann verfolgen die Asante hilflose 
Frauen?« 

Der Anführer zuckte zusammen. Einen Krieger hätte er für 

diese Beleidigung geschlagen. »Diese Frau ist eine 
Verräterin«, sagte er stattdessen. Der König hatte ihm streng 
verboten sich mit dem Sklavenhändler anzulegen. Er war 
mächtiger als die weißen Häuptlinge, die in den steinernen 
Palästen regierten, und die Asante brauchten ihn. »Sie hat 
unsere Gesetze gebrochen! Sie hat sich mit einem Gefangenen 
getroffen! Dafür muss sie sterben! Vielleicht weiß der 
verdammte Fante, wo sie ist!« 

Ohne auf das Einverständnis des Holländers zu warten trat 

der Anführer vor Ottobah, der hilflos auf dem Boden lag. Ein 
heftiger Fußtritt des Asante ließ ihn nicht einmal mit den 

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Wimpern zucken. »Wo ist die Frau, die du mit deiner 
Berührung beschmutzt hast?«, fuhr er den Gefangenen an. 
»Wo steckt die feige Verräterin, die einen unserer 
angesehensten Krieger verlässt, um sich mit einem Stück 
Dreck wie dir zu vereinen? Sag es mir, niederträchtiger 
Sklave! Sag es mir oder ich bringe dich um!« 

Bensua griff nach ihrem Messer und war versucht, aus ihrem 

Versteck zu springen und dem Krieger zu Hilfe zu eilen. 
Gerade noch rechtzeitig erkannte sie ihren Leichtsinn. Wenn 
sie auf die Lichtung stürmte, würden die Schwertmänner sie 
töten. Sie erreichte mehr, wenn sie die Unaufmerksamkeit der 
Asante nützte und in den Urwald floh. Solange sie abgelenkt 
waren, entkam sie ihnen vielleicht. Sie war eine geschickte 
Jägerin, das hatte sogar ihr Onkel erkannt, und bewegte sich 
leiser als mancher Krieger. Abseits des Pfades gab es 
zahlreiche Verstecke. Dort konnte sie warten, bis die Männer 
nach Kumase zurückkehrten. 

Noch bevor der Holländer den Anführer zurechtwies und ihm 

befahl sich von seinen Sklaven fern zu halten, verließ Bensua 
ihr Versteck. Beinahe lautlos teilte sie die Büsche und 
verschwand im dichten Laubwerk. Schon nach wenigen 
Metern verblasste der Feuerschein und es wurde stockdunkel. 
Sie wand sich wie eine Raubkatze durch das Unterholz, wich 
instinktiv den gefährlichen Schlingpflanzen aus und erreichte 
einen schmalen Pfad, den ein größeres Tier durch den Urwald 
geschlagen hatte. Er endete nach wenigen Schritten und ließ 
ihr nur die Möglichkeit, sich einen Weg durch das Grün des 
Dschungels zu bahnen. 

Alle paar Meter blieb sie stehen und blickte sich nach den 

Verfolgern um. Sie waren nicht zu hören. Anscheinend waren 
sie in eine Auseinandersetzung mit dem Holländer verwickelt 
und hatten es versäumt auf ihre Umgebung zu achten. 
Erleichtert blieb sie stehen und atmete tief durch. Ein 

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zufriedenes Lächeln entspannte ihr Gesicht, als sie an Ottobah 
dachte. Der Fante hatte sich seinen Stolz bewahrt und selbst in 
seiner ausweglosen Lage gegen die weißen Jäger aufbegehrt. 
Und als die Asante erschienen waren und ihren Namen 
genannt hatten, war ein stolzes Glimmen in seine Augen 
getreten. Das hatte Bensua sogar aus der Ferne erkannt. Sie 
hatte den Fante gespürt! Sein Lächeln, seine sanften Hände, 
die Berührung seiner Lippen. Auch wenn er gefesselt auf dem 
Boden lag, war er ihr ganz nahe. Die Götter hatten ihre Seelen 
verbunden und es gab noch Hoffnung. 

Bensua verdrängte die Gedanken und besann sich auf ihre 

Flucht. Sie drang weiter durch den Urwald, war jetzt weit 
genug vom Lagerplatz entfernt, um sich nicht mehr durch ein 
Geräusch zu verraten. Den Kopf gesenkt, die Arme 
ausgestreckt kämpfte sie sich durch das Laubwerk. Das 
Kreischen der Pottos stand in der warmen Luft. Insekten 
schwirrten um ihren Kopf. Sie lief in westlicher Richtung, das 
wusste sie, auch ohne die Sterne und den Mond sehen zu 
können, behielt die Richtung bei, um am übernächsten Morgen 
wieder die Verfolgung aufnehmen zu können. So lange wollte 
sie in ihrem Versteck aushalten. Sie durfte sich nicht zu früh 
auf dem Pfad zeigen, wenn sie den Schwertmännern 
entkommen wollte. Notfalls musste sie nachts laufen. 

Der Urwald wurde lichter. Sie betrat einen weiteren Pfad, 

folgte ihm durch widerspenstiges Gestrüpp, das sie vermuten 
ließ, einen längst vergessenen Jagdweg entdeckt zu haben, und 
erreichte eine kleine Lichtung. Erleichtert blieb sie stehen. 
Hundert Meter  über ihr klaffte eine Öffnung in dem dichten 
Dschungel und ließ das blasse Licht des Mondes und der 
Sterne herein. Eine Nachricht der Götter, die ihr zeigen 
wollten, dass es noch Hoffnung gab? Sie sprach ein Dankgebet 
und trat in den Lichtschein. Der Anblick der funkelnden Sterne 
war ihr immer ein Trost gewesen, hatte ihr neue Kraft gegeben, 

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wenn sie von Problemen erdrückt wurde. Auch in dieser Nacht 
empfand sie ihren Anblick als wohltuend. Der Mond schien ihr 
sanft zuzulächeln. 

Es war ein falsches Lächeln, das merkte sie schon nach 

wenigen Schritten. Denn erst als sich ihre Augen an das 
ungewohnte Licht gewöhnt hatten, erkannte sie die Überreste 
eines kleinen Dorfes, das einige Familien vor langer Zeit 
errichtet hatten. Von den runden Lehmhütten waren nur noch 
die eingestürzten Wände zu sehen. Hüfthohe Farne wuchsen 
aus den Ruinen und hatten sie teilweise unter sich begraben. 
Die einzige Straße der Siedlung war kaum noch zu erkennen. 
Die schweren Unwetter, die während der Regenzeit 
niedergegangen waren, hatten sie überschwemmt und neues 
Gras wachsen lassen. 

An einigen Werkzeugen, die in den Trümmern lagen, 

erkannte Bensua, dass sie sich in einem verwüsteten Dorf der 
Asante befand. Verkohlte Balken versperrten ihren Weg. Sie 
kletterte über eine eingebrochene Mauer und fand sich in der 
Überresten einer Hütte wieder. Sie riss einige Pflanzen von 
dem eisernen Bettgestell, das wie ein Gerippe aus dem 
wuchernden Grün ragte, das Vermächtnis eines englischen 
Händlers, der auch nach Kumase gekommen war und seine 
Möbel  verkauft hatte. Die weißen Männer hatten seltsame 
Dinge in den Urwald gebracht. 

Sie setzte sich auf den Bettrand und schloss die Augen. Vor 

kurzer Zeit hätte sie noch gelacht, wenn ihr jemand verraten 
hätte, dass sie ihre Heimat und ihre Familie verlassen  würde, 
um einem Sklaven in eine ungewisse Zukunft zu folgen. Wie 
stark  musste ein Gefühl sein, wenn es sogar die Bindung zur 
Abusua zerschnitt, der Familie der Mutter! 

Sie hatte instinktiv gehandelt, war diesem neuen Gefühl 

gefolgt, ohne lange über die Folgen nachzudenken. Ihre 
Verwandten würden diesen Schritt niemals verstehen. Sie 

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verstand ihn selbst nicht ganz. Sie wusste nur, dass sie sich 
keinen Vorwurf zu machen brauchte. Sie war den Stimmen der 
Götter gefolgt, die ein unsichtbares Band zwischen Ottobah 
und ihr gespannt hatten. Dieses Band konnten nicht einmal die 
Schwertmänner des Königs zertrennen. 

Bensua öffnete die Augen und sah einen menschlichen 

Schädel im Mondlicht liegen. Sie bückte sich und hob ihn auf. 
Mit wachsendem Erschrecken betrachtete sie die menschlichen 
Überreste. Sie suchte weiter und fand die Knochen einer Ziege. 
In den anderen Hütten sah sie zwei weitere Schädel. Drei Tote 
in einem Dorf, das hundert Asante beherbergt haben  musste! 
Vielleicht ein paar mehr, wenn sie im Tageslicht suchte. Ein 
ungeheurer Verdacht beschlich sie. Die Fante waren niemals 
so weit nach Norden vorgedrungen. Während des Krieges 
hatten sie einige Dörfer im Süden überfallen, aber weiter 
waren sie nie gekommen. Auch die anderen Feinde der Asante 
hatten es niemals geschafft, bis auf wenige Meilen an die 
Hauptstadt heranzukommen. Doch wo waren die anderen 
Männer, Frauen und Kinder geblieben, wenn dieses Dorf dem 
Zorn der Götter zum Opfer gefallen war? Hatten sie Zeit 
gehabt zu fliehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, 
Flüchtlinge in Kumase gesehen zu haben. Und ein solches 
Unglück war niemals erwähnt worden. 

Sie setzte sich auf einen Mauerrest und versuchte die 

ungeheuerlichen Gedanken von sich zu schieben. So grausam 
war der  Asantehene  nicht. Niemals würde der  König eines 
seiner Dörfer überfallen lassen um die Bewohner in die 
Sklaverei zu verkaufen. Oder doch? Sie zermarterte ihr Hirn, 
suchte nach einer anderen Möglichkeit, das Verschwinden der 
Bewohner zu erklären. Es gab keine. Der Asantehene und seine 
Schwertmänner führten einen Krieg, der sich gegen das eigene 
Volk richtete. Sie überfielen ihre eigenen Leute und schickten 
sie in die Sklaverei um noch mehr Reichtum anzuhäufen. Der 

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Rum und die Waren, die sie aus Europa bekamen, waren ihnen 
nicht genug. Sie waren genauso habgierig wie die weißen 
Sklavenhändler. 

Es gab keine andere Erklärung. Sonst hätten die Götter sie 

nicht in dieses zerstörte Dorf geführt. Sie wollten, dass sie die 
Niedertracht mit eigenen Augen sah. Sie begann zu weinen 
und war so in ihrem Schmerz gefangen, dass sie die nahenden 
Verfolger überhörte. Erst als sie aus dem Urwald traten, 
erkannte sie, dass sie ihre Spur nicht verloren hatten und ihr 
weiter gefolgt waren. Sie griff nach ihrem Messer und duckte 
sich hinter die Mauerreste. Das Gras raschelte unter ihren 
Knien. Sie hörte, wie einer der Krieger etwas sagte und der 
Anführer antwortete. Fünf Männer betraten das 
niedergebrannte Dorf. Wie dunkle Todesboten hoben sie sich 
gegen das blasse Licht des Himmels ab. 

Bensua duckte sich noch tiefer. Es blieb keine Zeit mehr, sich 

nach einem besseren Versteck umzusehen. Ihre Trauer und 
Verzweiflung hatten sie in eine lebensbedrohliche Lage 
gebracht. Wenn die Schwertmänner die Hütten absuchten, 
würde sie ihnen nicht entkommen. Allein und nur mit einem 
Messer bewaffnet würde sie den Kriegern nicht lange 
standhalten können. Die Schwertmänner gehörten zu den 
besten Kriegern des Königs und waren wütend, weil sie ihre 
Nachtruhe für die Verfolgung einer Verräterin opfern mussten. 

Mit klopfendem Herzen wartete sie darauf, dass die Krieger 

sie entdeckten. Sie konnte bereits ihre Stimmen hören. Die 
Männer wussten, dass sie nur mit einem Jagdmesser bewaffnet 
war, und hatten keine Angst vor ihr. Sie war eine ungezogene 
Hexe, die einem räudigen Hund in den Dschungel gefolgt war 
und den Tod verdiente. »Du bist hier!«, hörte sie den Anführer 
rufen. »Ich spüre, dass du hier bist! Komm aus deinem 
Versteck und geh mit uns nach Kumase zurück! Sei eine 

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Asante und empfange das Urteil, das der mächtige Asantehene 
über dich verhängt!« 

Sie gab keine Antwort, blieb in ihrem Versteck und wagte 

nicht einmal zu atmen. Noch hatte sie diesen Kampf nicht 
verloren. 

»Oder bist du feige? Bist du eine Hexe, die so sterben will, 

wie die Asante in diesem Dorf gestorben sind? Sollen wir ein 
Feuer anzünden und deine Seele zu den bösen Geistern 
schicken?« 

Bensua ließ sich nicht herausfordern. Niemals würde sie mit 

den Schwertmännern nach Kumase zurückkehren! Sie wusste, 
welches Urteil sie erwartete. Eher würde sie in diesem 
verlassenen Dorf sterben, als gefesselt und mit einem Messer 
in den Wangen über die Hauptstraße zu wanken. Ihre 
Verwandten sollten diese Schande nicht erleben. Sie würde 
kämpfen. Auch wenn sie gegen die Schwertmänner keine 
Chance hatte. Sie würde sich so lange wehren, bis sie  einen 
ehrenvollen Tod fand. 

»Sie weiß, was hier geschehen ist«, hörte sie einen der 

Männer flüstern. Er war besorgt. »Wir dürfen sie nicht nach 
Kumase bringen! Wir müssen sie töten, sonst verrät sie unser 
Geheimnis!« 

»Ich schneide ihr die Zunge ab«, erwiderte der Anführer. 
Bensua beobachtete, wie die Männer in eine andere Hütte 

kletterten und laut fluchten, als sie niemand entdeckten. 
»Komm endlich raus, du Hexe!«, rief der Anführer wütend. 
»Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken! Du entkommst uns 
sowieso nicht!« 

Sie sah, dass die Männer in eine andere Richtung blickten, 

und ergriff ihre letzte Chance. So leise sie konnte, schlich sie 
aus ihrem Versteck. Wenn sie es bis in den Urwald schaffte, 
bestand die Möglichkeit, im dichten Dschungel 
unterzutauchen. Geduckt stieg sie über die Trümmer hinweg. 

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Sie wagte nicht sich zu den Kriegern umzudrehen. Jeden 
Augenblick erwartete sie eine Muskete krachen zu hören. Die 
Kugel würde in ihren Körper schlagen und ihr Leben beenden, 
bevor es richtig begonnen hatte. Oder ein tödlicher Pfeil 
schwirrte heran und bohrte sich in ihren Hals. Die 
Schwertmänner kannten kein Erbarmen. 

Sie schaffte es bis zu den Büschen neben der Hauptstraße. Sie 

war immer noch fünfzig Schritte vom rettenden Urwald 
entfernt, als die Krieger sie entdeckten. »Da ist sie!«, schrie 
einer der Männer. Bensua blickte sich um, stolperte über einen 
Lehmbrocken und fiel der Länge nach in den getrockneten 
Schlamm. Das Messer entglitt ihrer Hand. Sie sprang auf, 
stürzte erneut und griff nach der blitzenden Waffe. Verzweifelt 
kämpfte sie sich vom Boden hoch. Die Krieger waren bis auf 
wenige Meter heran. 

Todesmutig stellte sie sich den Männern entgegen. Mit einem 

verzweifelten Schrei warf sie sich auf den Angreifer. Die 
Klinge ihres Messers blitzte im Mondlicht. Sie holte aus und 
lief in einen wuchtigen Faustschlag des Mannes, der sie 
bewusstlos zu Boden sinken ließ, noch bevor ihr Messer seine 
Haut berührt hatte. Das verächtliche Lachen und den Spott der 
Schwertmänner hörte sie nicht mehr. Sie versank in tiefer 
Dunkelheit und glaubte sich bereits in einer anderen Welt, als 
sie erwachte und in die Augen des holländischen 
Sklavenhändlers blickte. Sie spürte einen heftigen Schmerz am 
Kopf und wollte sich an die Stirn greifen, aber sie war an 
Armen und Beinen gefesselt und zu kaum einer Bewegung 
fähig. Auf ihren Lippen klebte getrocknetes Blut. 

Dies war nicht das Jenseits. In der anderen Welt gab es keine 

Sklavenhändler und keine Schwertmänner und Schmerz 
existierte nur in der Erinnerung an das gefährliche Leben, das 
vor der Ewigkeit lag. Sie wandte stöhnend ihren Kopf, sah das 
Gesicht Ottobahs im flackernden Schein des Feuers und fühlte, 

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wie ihre Kraft zurückkehrte. Sie war nicht tot. Und solange sie 
nicht tot war, gab es Hoffnung. Eine sehr geringe Hoffnung, 
wie sich bald darauf herausstellte. »Sie ist ein kräftiges 
Mädchen«, hörte sie den Holländer sagen, »fast schon eine 
Frau! Ich hielte es für eine Vergeudung, sie nach Kumase zu 
bringen und ihren schönen Kopf vom Rumpf zu schlagen!« Er 
schmatzte mit den Lippen und lächelte hintergründig. »Ich 
glaube, ich habe eine bessere Verwendung für das hübsche 
Kind!« Er zwinkerte verschwörerisch. »Der König braucht ja 
nicht zu erfahren, dass ich sie mitgenommen habe. Sagt ihm, 
dass sie tot ist! Ein Leopard hat sie erwischt und in sein 
Versteck gezogen, nicht wahr?« 

»Sie hat gegen die Gesetze unseres Volkes verstoßen«, 

meinte der Anführer. »Sie ist eine Hexe! Eine Verräterin! Wir 
bringen sie zurück nach Kumase! Dort wird sie ihr gerechtes 
Urteil finden!« 

Doch das spöttische Lächeln des Holländers blieb. Er 

schnippte mit den Fingern und ließ seine Männer zwei große 
Fässer mit Rum und einen Beutel voller Kauri-Muscheln 
bringen. »Ich glaube nicht, dass ihr sie zurückbringt«, meinte 
er spöttisch. »Ich denke, ihr werdet meine großzügige 
Bezahlung annehmen und ohne sie nach Kumase 
zurückkehren! Oder wollt ihr, dass ich dem König erzähle, ihr 
hättet mir nachspioniert? Wollt ihr das wirklich?« 

»Wir gehen«, erwiderte der Anführer. 
Die Schwertmänner verschwanden mit den Fässern und den 

Muscheln und ließen Bensua bei dem Sklavenhändler zurück. 

»Das war ein guter Tausch«, sagte der Holländer und rieb 

sich zufrieden die Hände. 

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Bensua erlebte einen Albtraum. Die bösen Geister hatten sich 
mit den weißen Männern verbündet und trieben sie einem 
ungewissen Schicksal entgegen. Aus der jungen Asante, die 
von einem königlichen Krieger umworben wurde, war eine 
rechtlose Sklavin geworden. Eine Gefangene, die mit 
gefesselten Händen durch den Urwald gestoßen und von den 
weißen  Jägern mit derben Flüchen angetrieben wurde. Das 
Rasseln der Ketten, Stöhnen der Männer und Knallen der 
Peitschen, wenn die weißen Jäger die Geduld verloren, hingen 
wie eine ständige Drohung in der schwülen Luft und 
begleiteten sie auf dem langen Marsch durch den Regenwald. 
Aus der Erleichterung, ihr Leben gerettet zu haben und in der 
Nähe des geliebten Ottobah zu sein, war nackte Angst 
geworden. Für eine Sklavin der weißen Männer gab es kaum 
Hoffnung. 

Sie hatte genug über die Sklaventransporte gehört um zu 

wissen, welches Schicksal sie am großen Wasser erwartete. 
Die Küstenvölker berichteten von skrupellosen Weißen, die 
ihre schwarzen Gefangenen wie Vieh behandelten und mit 
knallenden Peitschen auf ihre Schiffe trieben. Sie hatte Bilder 
dieser riesigen Boote bei den arabischen Händlern gesehen. 
Wie gewaltige Vögel schwebten sie über das Meer, die weißen 
Tücher im Wind, den Bug von stürmischen Wellen umgeben. 
Wohin die unfreiwillige Reise ging, wusste niemand zu sagen. 
Es wurde von mächtigen Herrschern mit blasser Haut erzählt, 
wohlhabender und einflussreicher als der mächtige König der 
Asante. Sie herrschten über riesengroße Reiche und nutzten die 
Sklaven als kostenlose Arbeitskräfte aus. Skrupellose Aufseher 

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hinderten die unglückseligen Schwarzen daran, das  fremde 
Land zu verlassen. Ein Krieger der Fante, der auf einem der 
Schiffe gewesen und den Weißen im letzten Augenblick 
entkommen war, beschrieb einen dunklen Ort, an dem die 
bösen Geister regierten. Von dort gab es keine Rückkehr. 

Ottobah gab ihr die Kraft, dieses Schicksal zu ertragen. Wenn 

sie lagerten, trafen sich ihre Blicke und sie spürte, wie sich 
seine wilde Entschlossenheit auf sie übertrug. Das unsichtbare 
Band, das die Götter zwischen ihnen geknüpft hatten, war noch 
nicht zerrissen. Solange sie in seine Augen sehen konnte, gab 
es noch Hoffnung.  »Onyankopon Kwame«,  betete sie leise, 
wenn sie im feuchten Gras schlief, »hilf mir diese schwere Zeit 
zu überstehen! Beschütze den Krieger, der meine Seele berührt 
hat! Sei bei den Männern und Frauen, die mit mir in die 
Gefangenschaft wandern! Bleib in meiner Nähe, weil ohne 
dich werde ich in dem Land, das den weißen Männern gehört, 
nicht überleben! Halte das Band, das mich mit Ottobah 
verbindet, denn nur er ist stark genug, sich gegen die 
Herrschaft der Weißen zu wehren!« 

Über einen Monat brauchte die Sklavenkarawane bis zur 

Atlantikküste und jeder Tag brachte neue Schrecken und 
Gefahren. Die beiden Jäger des Holländers gingen hart und 
rücksichtslos gegen die Gefangenen vor. Sie ließen ihre 
Peitschen auf die nackten Rücken der gefesselten Männer 
knallen, schlugen ihnen die Gewehrkolben in die Kniekehlen 
und lachten schadenfroh, wenn ein Krieger stolperte und die 
Gefangenen, die an denselben Balken gebunden waren, mit zu 
Boden riss. »Steht auf, ihr verdammten  Heiden!«, brüllte der 
Jäger. »Ich hab keine Lust, das ganze Jahr in diesem 
Dschungel zu verbringen!« Die Augen der Weißen waren kalt 
und gnadenlos und ließen erkennen, wie sehr sie die schwarzen 
Krieger verachteten. »Elendes Pack!«, meinte ein Jäger zum 
anderen. »Ein Rinderherde wär mir lieber! Die stinkt nicht so!« 

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Und obwohl die weißen Jäger viel stärker unter der Hitze litten 
und sich am abendlichen Feuer wie Schweine benahmen, dem 
Rum zusprachen und schmutzige Witze über die Frauen 
machten, sagte einer: »Wenn es für die Bewachung dieses 
Heidenpacks kein Gold gäbe, würde ich die Dreckskerle 
abknallen und in den Sumpf werfen!« Er trat einem Krieger 
gegen die Knie. »Hab ich Recht, du schwarzer Teufel?« 

Willem van der Meyde ließ seine Männer gewähren, schritt 

nur ein, wenn sie dabei waren, einen Krieger bewusstlos zu 
schlagen. »Aufhören!«, rief er dann. »Oder wollt ihr, dass der 
Kerl stirbt? Für tote Neger bekommen wir nichts!« Sein 
Buchhalter, ein eher furchtsamer Mann, versteckte sich im 
Zelt, und tagsüber, wenn er auf seiner Tragbahre saß und die 
Peitschenschläge und das Rasseln der Ketten zu laut wurden, 
hielt er sich die Ohren zu. »Wir müssen sie hart anfassen«, 
erklärte ihm der Holländer, »in unserem Beruf kommt man nur 
mit eiserner Disziplin weiter! Sobald man die Zügel locker 
lässt, tanzen einem die Neger auf der Nase herum! Wenn Sie 
länger in Afrika sind, lernen Sie das noch. Aufsässige Neger 
können wir uns nicht leisten! Wir haben die Aufgabe, unsere 
Ware sicher zur Küste zu bringen und zu verladen. Jede 
Störung würde den Ablauf durcheinander bringen.« 

Die wenigen Frauen in der Sklavenkarawane hatten es etwas 

besser. Sie waren nur an den Händen gefesselt und durften sich 
frei bewegen. Die weißen Jäger hatten zu große Angst, sich mit 
einer unbekannten Krankheit anzustecken, um sich an ihnen zu 
vergreifen. Und der Holländer, der lange genug an der 
afrikanischen Küste lebte, um immun gegen das gefürchtete 
Fieber und andere Infektionen zu sein, interessierte sich nur für 
Bensua. Wenn er nach dem Essen vor sein Zelt trat und sich 
die fettigen Finger durch den Mund zog, wanderte sein Blick 
zu der jungen Frau und blieb an ihrem schlanken Körper 
hängen. Mit ihren sechzehn Jahren war die Asante bereits eine 

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erwachsene Frau. Andere Mädchen in ihrem Alter waren 
längst verheiratet und hatten Kinder geboren. Nur ihr 
träumerisches Wesen und ihr nachdenklicher Blick hatten viele 
Krieger davon abgehalten, ihr den Hof zu machen. Eine Frau, 
die träumte, arbeitete zu wenig. 

Dem Holländer war es egal, was in ihrem Kopf vorging. Für 

ihn war Bensua eine Frau, an der man sich abreagieren konnte. 
Ein schöner Körper, für den er bezahlt hatte. So wie er es mit 
den weißen Freudenmädchen im Hafen von Rotterdam getan 
hatte, bevor er nach Afrika gegangen war. »Komm zu mir!«, 
forderte er sie auf. In seinem selbstgefälligen Tonfall, der so 
falsch wie das Züngeln einer Schlange war, lag mehr 
Verachtung als in den lauten Beschimpfungen der Jäger. »Ich 
möchte dir was zeigen, schwarzer Engel!« Er blickte sie an 
und schmatzte mit den Lippen, eine Angewohnheit aus den 
Tagen, als er die Prostituierten im Hafen von Rotterdam 
aufgesucht hatte. 

Bensua ekelte sich vor dem Holländer und hätte ihm am 

liebsten ins Gesicht gespuckt. Von allen Weißen, die sie jemals 
gesehen hatte, war er der Schlimmste. Doch sie brauchte nur 
die beiden Jäger anzublicken um zu wissen, was ihr bei einer 
Weigerung drohte. Zögernd stemmte sie sich vom Boden hoch. 
Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper, als sie den 
spöttischen Blick des Holländers bemerkte. Allein der 
Gedanke, von seinen blassen Händen berührt zu werden, seine 
feuchten Lippen auf ihren Wangen zu spüren, trieben ihr den 
Ekel hoch. Ihr Gesicht verkrampfte sich. »Ich kann nicht«, 
flüsterte sie, »ich kann nicht!« 

Willem van der Meyde tat so, als hätte er sie nicht 

verstanden. Sein spöttisches Lächeln blieb. »Hast du gesagt, 
dass du dich auf mich freust? Habe ich richtig gehört, mein 
schwarzer Engel?« 

»Ich… ich…«, brachte sie hervor. 

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»Du kannst es gar nicht erwarten, stimmts? Mir kannst du 

nichts vormachen! Du bist gar nicht dem Nigger nachgelaufen! 
Du wolltest mich sehen! Du hast die ganze Zeit davon 
geträumt, das Lager mit mir zu teilen! Du willst, dass ich dir 
die Fesseln abnehme und dich mit den Köstlichkeiten 
verwöhne, die in meinem Zelt stehen. Gebratenes 
Antilopenfleisch, heißer Kakao, süßer Wein! Komm zu mir, 
schwarzer Engel! Ich warte auf dich!« 

Seine Jäger hüteten sich über seine Worte zu lachen. Der 

Holländer sagte seltsame Dinge, wenn er sich an einer Sklavin 
verging. Er war ein hässlicher Mann. Als Sklavenjäger wurde 
er sogar von den Menschen verachtet, die mit ihm Geschäfte 
machten. Alle weißen Frauen, denen er nachgestiegen war, 
hatten ihn abgewiesen. Sogar die bettelarme Tochter eines 
Hufschmieds, die er in Rotterdam aufgelesen hatte. Er  musste 
sich die Zuneigung einer Frau erkaufen, bei den Weißen und 
bei den Schwarzen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass 
keine Frau freiwillig zu ihm kommen und lustvoll in seine 
Arme sinken würde. Ihm blieb nur die Illusion, die er in 
Gedanken und durch Worte schuf. 

»Soll ich ein bisschen nachhelfen?«, fragte einer der Jäger. Er 

rollte seine Peitsche auf und zog sie durch das feuchte Gras. 
»Ich glaube, sie schämt sich vor den anderen Negern! Will 
nicht zugeben, dass sie es die ganze Zeit auf dich abgesehen 
hat!« 

Auch der andere Jäger war aufgestanden. Er ließ seine 

Peitsche knallen und sagte in dem Kauderwelsch, das auch die 
Sklaven verstanden: »Höchste Zeit, dass der Neger merkt, auf 
wen sie es wirklich abgesehen hat!« Dabei blickte er Ottobah 
an. 

Der Fante beherrschte seine Gefühle nicht länger. Voller 

Zorn sprang er auf, riss die vier anderen Sklaven mit, die an 
denselben Balken gekettet waren. Er tat ein paar Schritte, 

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wollte mit den gefesselten Händen auf den Jäger losgehen und 
lief in einen heftigen Peitschenhieb, der ihn und seine 
Leidensgenossen zu Boden fegte. Gezielte Schläge mit einem 
Knüppel trieben sie auf ihren Platz zurück. »Lasst sie in 
Ruhe!«, schrie Ottobah in seiner Sprache. »Sie hat euch nichts 
getan! Lasst sie in Ruhe!« 

Der Jäger lachte nur und schlug ihn bewusstlos. Zum 

Holländer sagte er: »Der bildet sich wohl ein, was Besseres zu 
sein! Wir sollten ihn den Löwen vorwerfen! Dann ist endlich 
Frieden!« 

»Und wer ersetzt mir den Profit?« Willem van der Meyde 

blickte seinen Angestellten vorwurfsvoll an. Das Lächeln war 
aus seinem Gesicht verschwunden. Er vergaß die zitternde 
Asante, ging zu dem Jäger und dem regungslos daliegenden 
Ottobah und blickte ohne die geringste Spur von Mitgefühl auf 
den blutenden Sklaven hinab. »Er ist der stärkste von allen! Er 
bringt hundert Gallonen besten Rum! Lasst ihn am Leben! 
Wenn er stirbt, streiche ich euch den Lohn für die nächsten 
drei Monate!« Ohne die schluchzende Asante eines Blickes zu 
würdigen, kehrte er in sein Zelt zurück. 

Bensua sank erleichtert zu Boden. Ottobah hatte sie gerettet, 

zumindest für den Augenblick. Sie blickte dankbar in seine 
Richtung, nahm ihn durch die Regenschleier nur schemenhaft 
wahr. Aus Angst vor den weißen Jägern, die beim Feuer 
standen und sich unterhielten, bewegte sie sich kaum. Wäre sie 
zu dem Fante gegangen, hätte sie die Peitsche zu spüren 
bekommen. Sie legte sich in das hüfthohe Gras und rollte sich 
wie ein Baby zusammen. Mit geschlossenen Augen dankte sie 
den Göttern, dass sie ihr geholfen hatten. Die Jäger würden 
Ottobah nicht töten, so viel hatte sie verstanden. Aber sie 
würden ihn weiter quälen und sich lustig über ihn machen, und 
sobald der Holländer wieder in Stimmung war, würde er sich 
nicht mehr daran hindern lassen, ihr Gewalt anzutun. Sie 

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würde viel Kraft brauchen um diese Erniedrigung zu 
überstehen. Die Küstenvölker wussten von jungen Frauen, die 
sich ins Meer gestürzt hatten, nachdem sie einem Mann wie 
Willem van der Meyde in die Hände gefallen waren. 

Sie würde sich nicht das Leben nehmen. Solange Ottobah in 

ihrer Nähe war, durfte sie nicht aufgeben. Die Hoffnung, eines 
Tages mit dem geliebten Krieger in Freiheit zu leben, war ein 
starker Lebensfunke, den selbst der holländische 
Sklavenhändler nicht auslöschen konnte. Hätte sie gewusst, 
wie lange und schrecklich die Zeit der Sklaverei sein würde, 
wären ihre Gedanken in eine andere Richtung gegangen. Dann 
hätte ihr nicht einmal der Glaube an eine gemeinsame Zukunft 
mit Ottobah mehr einen Halt gegeben.  Onyankopon Kwame 
ersparte ihr diese Bilder. Denn die Wahrheit hätte selbst den 
tapfersten Krieger der Asante entmutigt. Bensua wäre beim 
Anblick dieses Schreckens zerbrochen. 

Die Gegenwart war schlimm genug. Wenn Bensua sich später 

an den vierwöchigen Marsch zur Küste erinnerte, hatte sie 
immer das Knallen der Peitschen und das Rasseln der Ketten in 
den Ohren. Das verzweifelte Stöhnen der Männer, die 
schwächer als Ottobah waren und ihre Ehefrauen und Kinder 
in den Dörfern zurücklassen mussten. Die stumme 
Verzweiflung der Frauen, die beide ihre Männer und Kinder 
verloren hatten. Es gab keine Tränen mehr. Sie hatten mit 
ihrem Leben abgeschlossen und fügten sich stumm und hätten 
auch eine Vergewaltigung willenlos über sich ergehen lassen. 
Sie hatten keinen Ottobah, der ihnen Kraft geben konnte. Die 
Asante hatten sie ihrer Heimat und ihrer Familie beraubt und 
der Sklavenhändler trieb sie dem endgültigen Untergang 
entgegen. Sie ließen sich auch von Bensua nicht aufmuntern, 
die unterwegs versuchte ihnen neuen Lebensmut zu geben. 
»Die Asante haben unsere Familien getötet«, sagte eine Frau, 
»und jetzt töten die Weißen unsere Seelen.« 

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Bensua fühlte sich schuldig. Bis vor wenigen Wochen hatte 

sie geglaubt, dass die Fante keine Menschen, sondern »räudige 
Hunde« und »gemeine Diebe und Betrüger« waren. So hatte 
der  Asantehene  behauptet. Jetzt hatte sie erkannt, wie falsch 
diese Aussage war. Ottobah war genauso stattlich und tapfer 
wie ihr Onkel oder Vater, auch wenn er etwas kleiner 
gewachsen war, und die gefangenen Frauen waren nicht anders 
als die Frauen der Asante. Zum ersten Mal, seitdem sie 
Kumase verlassen hatte, dachte sie darüber nach, dass ihr Volk 
ein ähnliches Unrecht wie die weißen Männer begangen hatte. 
Ein Gedanke, der sie noch im hohen Alter quälen würde. Auch 
die Asante hatten schwächere Völker  überfallen und sie 
versklavt. Doch selbst der grausamste König, so räumte sie ein, 
war nicht so rücksichtslos und niederträchtig wie die Weißen 
gewesen. Die meisten Sklaven wurden von Familien 
aufgenommen und waren nach einiger Zeit genauso angesehen 
wie ein Asante. Das Reich des Bösen begann auf den Schiffen 
der Sklavenhändler, vor der Küste von Afrika. 

Noch einige Male versuchte Willem van der Meyde die junge 

Asante während des Marsches zur Küste auf sein Nachtlager 
zu zwingen und jedes Mal stand ihr das  Glück zur Seite. 
Einmal war ihr so übel, dass dem Händler bereits bei ihrem 
Anblick die Lust verging, ein anderes Mal sank sie schlafend 
zu Boden, weil sie besonders weit marschiert waren und sie 
sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Am Ende eines 
ungewöhnlich heißen Tages, in einem Tal des Pra-Flusses, der 
durch den Urwald nach Südwesten floss, ließen die Götter 
besonders lange auf sich warten. Der Holländer hatte seinen 
Jägern den Auftrag gegeben, ihm die Asante zu bringen, und 
ihr war nichts anderes übrig geblieben als zu gehorchen. Mit 
schadenfroher Miene stieß sie der größere der weißen Jäger ins 
Zelt des Sklavenhändlers. 

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Bensua stürzte zu Boden und blieb mit dem Gesicht nach 

unten liegen. Am liebsten hätte sie sich in die Erde gegraben, 
nur weg von diesem schwitzenden Europäer mit seiner blassen 
Haut und den schmatzenden Lippen. Zum Weinen hatte sie 
keine Kraft mehr und die Angst war der stummen Mutlosigkeit 
gewichen, dem Holländer nicht ewig entkommen zu können. 
Wie aus weiter Ferne hörte sie das wütende Stöhnen von 
Ottobah, der verzweifelt an seinen Ketten zog und versuchte 
ihr zu helfen. Die Jäger knüppelten ihn auf den Boden zurück. 
Seine unterdrückten Schmerzensschreie legten sich schwer auf 
ihre Seele. 

»Steh auf, mein schwarzer Engel!«, forderte Willem van der 

Meyde die junge Asante auf. »Mach es dir bequem! Wenn du 
mir versprichst keine Dummheiten zu machen, schneide ich 
dich los!« 

Bensua erhob sich und setzte sich mit eisiger Miene auf einen 

Klappstuhl. Sie verzog keine Miene, als der Holländer ihre 
Fesseln durchschnitt. Ihr Kopf blieb gesenkt und sie 
beobachtete nur aus den Augenwinkeln, wie er den Docht der 
Öllampe nach unten drehte. Er saß auf dem Rand seines Bettes, 
dessen Gestell vier Sklaven durch den Urwald schleppten. 
»Möchtest du was trinken?«, fragte er und goss ihr ohne eine 
Antwort abzuwarten ein Glas des süßen Weins ein. »Trink, 
meine Süße! Das macht es dir etwas leichter, dich dem 
Vergnügen hinzugeben! Ich kann mir denken, wie aufgeregt du 
sein musst, zum ersten Mal in deinem Leben mit einem weißen 
Mann zu nächtigen.« Er grinste sie scheinbar mitfühlend an. 
»Ich werde dir helfen deine Scheu zu überwinden! Glaube mir, 
du wirst diese Nacht nie vergessen!« 

Ihr blieb nichts anderes übrig als nach dem Weinglas zu 

greifen. Zitternd hielt sie sich daran fest. Als der Holländer mit 
ihr anstieß und sein Gesicht abermals zu seinem widerlichen 
Lächeln verzog, wurde ihr beinahe übel. Sie ließ das Glas 

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fallen und begann zu weinen. Auf einmal waren wieder Tränen 
da, verschleierten ihre Augen und rannen ihre Wangen 
hinunter. »Du musst nicht weinen!«, meinte der Holländer mit 
seiner verlogenen Stimme. »Komm in meine Arme, schwarzer 
Engel, dann tröste ich dich!« 

Bensua wusste, dass der entscheidende Augenblick 

gekommen war. Gleich würde der Händler nach ihr greifen 
und ihre Haut berühren. Voller Ekel sprang sie auf. Sie ging 
mit beiden Fäusten auf den Mann los und prügelte wütend auf 
ihn ein. Die Schläge prallten wirkungslos an seinem 
aufgedunsenen Körper ab. Sie ging in die Knie und blieb 
erschöpft auf den Fersen sitzen. 

Einen Augenblick dachte sie, der Sklavenhändler würde sie 

erschlagen. Dann lachte er plötzlich und rief: »Nun seht euch 
dieses Biest an! Wehrt sich mit Händen und Füßen gegen 
mich! Dafür sollte ich dir den Kopf abschlagen, schwarze 
Hexe! Das hätten deine Leute mit dir getan, weißt du das?« 
Sein Lachen wurde zu einem breiten Grinsen. »Aber ich will 
Gnade vor Recht ergehen lassen! Für eine widerspenstige Hexe 
wie dich bekomme ich vierzig Gallonen, vielleicht sogar 
fünfzig! Die setze ich nicht aufs Spiel.« Sein Gesicht wurde 
ernst und er rief nach einem seiner Männer. »Schafft die Hexe 
fort! Ich hab keine Lust, mir von diesem Biest die Augen 
auskratzen zu lassen! Legt sie in Ketten und schafft sie zu den 
Männern! Das wird sie lehren, sich gegen einen Master 
aufzulehnen! Beeilt euch, verdammt!« 

Der Jäger brachte sie nach draußen und sie war froh, die 

Ketten an ihren Handgelenken zu spüren. Alles war besser, als 
mit diesem weißen Ungeheuer das Nachtlager teilen zu 
müssen! 

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Am Ende des Urwalds wartete das Meer. Endlos wie die große 
Sahara im Norden und genauso trostlos und abweisend. Eine 
Wasserwüste mit wogenden Dünen, dunkel und schwer wie 
Regenwolken, die bis zum fernen Horizont reichte und sich in 
der leuchtenden Sonne verlor. Die Brandung bildete weiße 
Kämme und ergoss sich schäumend auf den weiten 
Sandstrand. Ein vertrauter Anblick für die weißen Männer und 
einige der Fante, eine Bedrohung für Bensua und die beiden 
Asante-Krieger, die im Regenwald aufgewachsen waren und 
das Meer noch niemals gesehen hatten. Sie blieben 
erschrocken stehen und starrten ungläubig auf das große 
Wasser. So hieß das Meer in den Geschichten und Liedern der 
Asante. Eine Untertreibung, wie sich jetzt herausstellte, denn 
dieses Wasser hatte kein jenseitiges Ufer und wälzte sich wie 
ein gewaltiges Lebewesen im Sand. 

Das Knallen der Peitschen trieb die Sklaven über den 

ausgetretenen Pfad zum Ufer hinab. Staunend blickte Bensua 
zu dem steinernen Fort empor, das sich wie eine 
mittelalterliche Burg auf einer steil  ansteigenden Anhöhe 
erhob. Wuchtige Wachttürme und eine meterhohe Mauer 
umgaben den Stützpunkt. Die Holländer hatten ihn vor zwei 
Jahrhunderten den Portugiesen geraubt. Er war größer als der 
Palast des  Asantehene,  wirkte wie die Heimat eines 
unheimlichen Riesen, der nur darauf wartete, seine Opfer zu 
verschleppen und in den Verliesen des Forts verrotten zu 
lassen. Über einem der Türme wehte eine bunte Fahne. 

Unterhalb des Forts lag die Faktorei. Eine Handelsstation, die 

aus mehreren Lehmhäusern und einem großen Gehege bestand, 

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das von einem stabilen Holzzaun umgeben war. In diesem 
Barracoon 

waren die Sklaven untergebracht. Über 

zweihundert Männer, Frauen und Kinder warteten in dem 
Pferch, als Bensua und ihre Leidensgenossen die Faktorei 
erreichten. Dunkle Gesichter am Zaun, von Enttäuschung und 
Hoffnungslosigkeit geprägt, von der Angst gepeinigt, in einem 
Segelschiff über das große Wasser gebracht zu werden. Die 
helle Baumwollkleidung der Aufseher strahlte in der heißen 
Sonne. Einige Palmen rauschten in der leichten Brise und 
spendeten etwas Schatten. Als sie am Zaun entlanggingen, 
erkannte Bensua die Umrisse eines langen Lehmhauses, das 
mitten in der Palisadenfestung stand und die Sklaven vor 
Unwettern schützen sollte. 

Einige Weiße traten aus den Häusern und  begrüßten den 

Holländer. In der Art, wie sie sich verneigten, erkannte 
Bensua, wie viel Respekt sie vor dem Sklavenjäger hatten. 
Willem van der Meyde war ein angesehener Mann. Und ein 
rücksichtsloser Befehlshaber, der seine Angestellten wie 
lästige Anhängsel behandelte. »Bringt mir Wasser und süßen 
Wein«, herrschte er einen seiner Männer an, »und schafft 
dieses Lumpenpack in den  Barracoon!  Ich habe mich lange 
genug damit herumgeschlagen!« Den Schwarzen, die seine 
Sänfte getragen hatten, befahl er vor seinem Büro zu warten. 
Sie sollten ihn zum Fort tragen, sobald er den neuen 
Frachtbrief ausgefüllt hatte. Er wollte sofort informiert werden, 
wenn die  Hannibal  sich der Küste näherte. Er hatte eine 
Abmachung mit dem Kapitän des amerikanischen Schiffes 
getroffen und hoffte, dass er pünktlich eintreffen werde. 

Bensua war froh, dem Holländer zu entkommen. Nachdem 

sie mit den Fäusten auf ihn losgegangen war, hatte sie 
befürchtet, dass er sie am nächsten Abend mit Gewalt nehmen 
würde. Aber er schien die Lust an ihr verloren zu haben. 
Während der letzten Tage hatte er sie kaum beachtet und sich 

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wie zum Trotz mit einer der älteren Frauen vergnügt. Die 
Fante hatte sich dem Sklavenjäger willenlos ergeben und nicht 
einmal geschrien. Fernab der Heimat und ohne ihren Mann und 
ihre Kinder brachte sie nicht die Kraft auf, sich gegen den 
Holländer aufzulehnen. Es war besser, sich seinem Willen zu 
unterwerfen. Er war ein skrupelloser König, der sich von 
keinem Menschen etwas sagen ließ. Vielleicht gelang es ihr, 
sich auf diese Weise einen Vorteil zu verschaffen. Sie hatte 
gehört, dass einige Sklaven in Afrika bleiben und den weißen 
Männern in den Faktoreien helfen durften. Dort bestand eine 
größere Chance, in ihr Dorf zurückzukehren. 

Die versteinerte Miene der Fante machte Bensua zu schaffen. 

Sie fühlte sich schuldig, machte ihre Auseinandersetzung mit 
dem Holländer für das Unglück dieser Frau verantwortlich. 
»Es kommt, wie es kommen muss«, sagte die Frau, als Bensua 
ihr eine Hand auf die Schultern legte. »Allein die Götter 
wissen,  welches Schicksal auf uns wartet! Ich habe meinen 
Mann und meine Kinder verloren! Was macht es für einen 
Unterschied, wenn der weiße Mann mich berührt? Vielleicht 
lässt er mich im Fort arbeiten! Lieber sterbe ich in der Heimat 
als auf dem Wasser, das kein Ufer hat!« 

Die weißen Jäger öffneten ein Gatter und stießen die 

Gefangenen in den Pferch. Sie scherzten mit den anderen 
Aufsehern und ließen ihre Peitschen knallen. Nachdem sie das 
Gatter mit einer Kette und einem großen Vorhängeschloss 
gesichert hatten, nahmen sie den Männern die Balken und die 
Handfesseln ab. Nur die Ketten an den Fußgelenken blieben. 
Damit wurden sie jeden Abend an die eisernen Ringe in dem 
langen Lehmhaus gefesselt. Den Frauen wurden alle Fesseln 
abgenommen. Sie durften sich frei bewegen, bekamen aber die 
Peitschen der Aufseher zu spüren, wenn sie den Männern zu 
nahe kamen. Vier Weiße, die mit Gewehren, Peitschen, 

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Schlagstöcken und Messern bewaffnet waren, bewachten die 
Sklaven in dem Barracoon. 

Bensua setzte sich in den Schatten einiger Palmen, die im 

südlichen Teil des Pferchs wuchsen. Voll Sehnsucht blickte sie 
zu Ottobah hinüber. Der Fante saß unter dem Palmendach des 
Lehmhauses und starrte mit leeren Augen in die 
Nachmittagssonne. Als sich ihre Blicke begegneten, huschte 
die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht. Er wirkte 
noch härter und unnachgiebiger als auf dem langen Marsch zur 
Küste und schien an dem Gedanken zu verzweifeln, dass es 
kein Entkommen gab. Die Sklavenjäger hatten an alles 
gedacht.  Gegen ihre Gewehre gab es kein Mittel. Und in 
diesem Pferch, mitten auf dem Strand und in Sichtweite des 
Forts, würde ihm nicht einmal eine List helfen. Sie wurden 
gezwungen die Nacht in dem langen Lehmhaus zu verbringen, 
und das hatte keine Fenster und nur eine Tür. Vor der einzigen 
Öffnung standen zwei bewaffnete Männer. 

»Ottobah«, sagte Bensua, obwohl er sie nicht verstehen 

konnte. »Wir dürfen nicht aufgeben! Wenn wir beten und die 
alten Lieder singen, wird es eine gemeinsame Zukunft für uns 
geben! Unser Glaube ist stärker als die Gewehre der weißen 
Männer!« Sie stimmte ein Lied an, das während der  Odwira 
gesungen wurde, und ließ sich auch durch einen Aufseher nicht 
einschüchtern, der drohend seine Peitsche erhob. Jetzt sangen 
auch die anderen Asante mit, ungefähr fünfzig Männer, Frauen 
und Kinder aus einem Dorf, das Bensua niemals gesehen hatte. 
Ihre Lieder schallten wie eine hoffnungsvolle Botschaft über 
den Strand. Auch Ottobah sang mit, lauter als die anderen, und 
Bensua erkannte an seiner Miene, dass er neuen Mut geschöpft 
hatte. Sie erwiderte sein entschlossenes Lächeln und ballte die 
Hände zu Fäusten. 

Der Aufseher, der die Peitsche erhoben hatte, nahm sie 

herunter und entfernte sich achselzuckend. »Sollen sie doch 

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singen«, meinte er abfällig zu einem der anderen Weißen. 
»Immer noch besser als den ganzen Tag ihr Gejammer zu 
hören! Wird höchste Zeit, dass das verdammte Schiff kommt! 
Ich will endlich mal wieder in der Sonne liegen und mich 
ordentlich besaufen!« 

Das Lied verklang in dem frischen Wind, der vom Meer 

herüberwehte. Es vertrieb die Schmerzen, die Bensua und die 
anderen Neuankömmlinge plagten, und gab ihnen wieder 
Kraft. Wenn der Glaube stark genug war, konnte selbst ein 
weißer Mann ihn nicht brechen. Nach dem Tod wartete eine 
neue und bessere Welt auf die Asante, ein Königreich, in dem 
es keine Weißen gab und das ein endloses Leben voller Glück 
und Frieden für sie bereithielt. Wer den Prüfungen, die 
diesseits des unsichtbaren Flusses auf die Menschen warteten, 
standgehalten hatte, würde sicher das andere Ufer erreichen. 
Wenn Bensua die Augen schloss, konnte sie deutlich sehen, 
wie Ottobah sie in die Arme nahm und ihre Stirn liebkoste. 
»Du bist meine Frau«, flüsterte er. »Es wird niemals eine 
andere für mich geben!« 

Sie öffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines 

Mädchens. Eine Asante, ungefähr zwei Jahre jünger als sie und 
von mehreren Brandwunden im Gesicht und an den Armen 
gezeichnet. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid und ein 
Kopftuch. »Ich bin Manu«, begann sie leise, »ich möchte deine 
Freundin sein.« 

Bensua zog die junge Asante zu sich herunter und blickte sie 

prüfend an. Ihr Gesicht war schmal und knochig, als hätte sie 
lange nichts mehr gegessen. In ihren Augen war eine 
erschreckende Leere. »Ich heiße Bensua. Ich komme aus 
Kumase. Die weißen Männer haben mich mitgenommen, weil 
ich Ottobah befreien wollte. So heißt der Krieger, mit dem ich 
leben möchte.« 

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Manu folgte ihrem Blick und zog die Augenbrauen hoch. »Er 

ist ein Fante. Du bist eine Asante. Wie kannst du ihm 
versprochen sein? Ist es in der Hauptstadt üblich, Gefangene 
zu heiraten?« 

»Ich war ihm nicht versprochen«, erwiderte Bensua. Sie 

berichtete, was vorgefallen war, und wich ihrem Blick aus. 
»Du wirst sagen, dass es dumm war, die Stadt wegen eines 
feindlichen Kriegers zu verlassen. Du wirst mir vorwerfen, 
dass ich die Gesetze der Asante gebrochen habe.« Sie 
schüttelte den Kopf und zwang sich, das Mädchen wieder 
anzusehen. »Ottobah hat meine Seele berührt! Die Götter 
wollen, dass ich diesen Weg gehe!« 

Manu starrte sie lange an. Sie verzog keine Miene und ließ 

nicht erkennen, was sie von Bensuas Entscheidung hielt. Ihr 
Gesicht war ausdruckslos, wirkte durch die Brandwunden auf 
ihrer linken Wange wie die Maske eines Tänzers, der die bösen 
Geister vertreiben wollte. »Ich komme aus Edwesu«, sagte sie. 

»Am Ofin-Fluss?«, fragte Bensua verwundert. »Das Dorf, 

das von den Mmoatia überfallen wurde?« Vor einigen Wochen 
hatte der  Asantehene  verbreiten lassen, dass die pfeifenden 
Zwerge des Waldes in die kleine Stadt im Norden des 
Königreiches  eingedrungen wären und alle Einwohner mit 
einer unheilbaren Krankheit angesteckt hätten. »Ich verbiete 
euch diese Stadt zu besuchen!«, hatte er gesagt. »Die Zwerge 
wollen uns alle töten!« 

Nach dem Glauben der Asante lebten die  Mmoatia  im 

Regenwald. Seltsame Wesen, die sich pfeifend verständigten 
und deren Füße in die andere Richtung zeigten. Bisher hatte sie 
diese Waldgeister immer für eigenwillige Kobolde gehalten, 
die einem Menschen etwas Böses antun, ihn aber niemals töten 
konnten. 

»Das hat der König behauptet?«, fragte Manu. Zum ersten 

Mal zeigte ihr Gesicht eine Regung, blitzte Unverständnis und 

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dann Zorn in ihren Augen auf. »Uns haben keine Zwerge 
überfallen«, sagte sie, »die Mmoatia habe ich nie gesehen. Die 
Schwertmänner des Königs waren in unserem Dorf! Sie haben 
die aufsässigen Krieger getötet und ungefähr hundert Männer, 
Frauen und Kinder mitgenommen! Alle Asante, die mit dir 
gesungen haben, kommen aus Edwesu! Der König hat uns an 
die weißen Sklavenhändler verkauft! Seine Schwertmänner 
haben uns weggetrieben und an die weißen Männer 
ausgeliefert!« Die Leere kehrte in ihre Augen zurück. »Sie 
haben meine Eltern umgebracht!« 

Die Worte des Mädchens waren so ungeheuerlich, dass 

Bensua einige Zeit brauchte um ihren Sinn zu verstehen. Sie 
erinnerte sich an die Schädel, die sie in dem niedergebrannten 
Dorf im Urwald gefunden hatte, und musterte die 
Brandwunden im Gesicht des Mädchens. »Ich wollte es nicht 
glauben«, sagte sie. »Ich wollte nicht wahrhaben, dass unser 
König zu so etwas fähig ist! Aber es ist wahr! Er  lässt die 
Menschen seines eigenen Volkes töten! Er verkauft sie an die 
weißen Sklavenhändler! Was ist geschehen, Manu? Warum 
haben die Götter uns verlassen?« 

»Ich weiß es nicht«, erwiderte das Mädchen, »meine Welt ist 

dunkel und leer! Die Verwandten, die ich geliebt habe, sind 
tot! Das Dorf, in dem ich zu Hause war, wurde niedergebrannt! 
Wem soll ich noch glauben? Mit wem soll ich reden? Die 
Menschen aus Edwesu sind mir fremd geworden. Ich habe 
keine Freunde mehr.« 

»Du hast mich«, meinte Bensua entschlossen. Sie blickte das 

Mädchen an und bekräftigte ihre Worte durch einen 
Händedruck. »Ich werde bei dir sein, wenn wir auf das 
Segelschiff gehen und über das große Wasser fahren! Ottobah 
und ich werden dich beschützen, wenn dir jemand wehtun will! 
Du bist nicht allein, Manu! Wir werden die bösen Geister 
gemeinsam vertreiben!« 

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Bensua hatte keine Ahnung, wie sie ihr Versprechen halten 

sollte. Sie wusste nicht einmal, ob Ottobah und sie diese 
Prüfung durchstehen würden. Die Hoffnung war eine 
schwache Flamme und ein Lied reichte nicht aus um die Götter 
umzustimmen. Sie würden viel Kraft brauchen um die 
nächsten Monate oder Jahre zu überleben. Sie legte einen Arm 
um Manu und zog sie liebevoll zu sich heran. »Zusammen sind 
wir stark«, sagte sie. »Wenn wir unsere Kräfte vereinen, 
können uns die Weißen nichts anhaben! Wir müssen an eine 
bessere Zukunft glauben! Wir müssen den Göttern vertrauen! 
Dann spüren wir nicht einmal die Peitschenhiebe der weißen 
Männer!« Sie hielt Manu fest umschlungen und fühlte, wie 
sich ihr Körper entspannte. Sie war eingeschlafen. »Ich bleibe 
bei dir«, versprach sie. 

Die Verantwortung für die jüngere Freundin und das Wissen, 

in der Nähe von Ottobah zu sein, stärkten die Widerstandskraft 
der Asante und nährten die Hoffnung, die nach dem 
überstandenen Marsch an die Küste von ihr Besitz ergriffen 
hatte. Ohne einen Menschen, zu dem sie sich hingezogen 
fühlte, wäre sie verloren gewesen. So wie die Frau, die ihr 
Kind erstickt und sich anschließend selbst umgebracht hatte. 
Ohne dass die weißen Männer es merkten, hatte sie ihr Baby 
erwürgt und sich dann eine Hand voll Sand in den Mund 
gestopft. Als die Männer ihr Röcheln gehört hatten, war es 
schon zu spät gewesen. »Verdammt!«, fluchte einer der weißen 
Aufseher und drehte den Docht der Öllampe höher.  »Sie sind 
beide tot!« Er brachte sein Gewehr in Anschlag und drehte sich 
nach den anderen Weißen um. »Kommt her, verdammt! Die 
Negerin hat sich umgebracht!« 

Sie trugen die beiden Leichen nach draußen und begruben sie 

im Sand. Als Willem van der Meyde am nächsten Morgen von 
dem Zwischenfall erfuhr, verurteilte er die Aufseher zu einem 
Strafdienst und strich ihnen einen Teil des Lohns. Seine 

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Angestellten hatten die strenge Anweisung, die Sklaven bis zur 
Ankunft des Schiffes besonders gut zu behandeln und sie 
ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen. 
Auspeitschungen und ähnlich drastische Strafmaßnahmen 
waren zu vermeiden. Die Schwarzen sollten im bestmöglichen 
Zustand an den Kapitän der  Hannibal  übergeben werden. 
Captain Alexander Whitcomb war bekannt dafür, dass er 
kranke und schwache Sklaven abwies und einen Rabatt für 
ausgepeitschte »Ware« verlangte. 

Die verzweifelte Tat der Mutter war kein Einzelfall. Auch auf 

dem langen Marsch von Edwesu zur Küste hatten sich einige 
Asante  umgebracht. Das erfuhr Bensua von ihrer jungen 
Freundin, die nicht einmal geweint hatte, als die Leichen der 
Frau und des Kindes aus dem Pferch getragen worden waren. 
Dazu hatte sie zu viel erlebt: erst den heimtückischen Überfall 
auf ihr Heimatdorf und dann den langen Marsch zur Küste. 
»Ich kannte die Frau«, sagte sie nur, »vor der Regenzeit hat sie 
gesungen und getanzt. Sie war mit einem tapferen Krieger 
verheiratet. Er wurde unterwegs von einem Löwen getötet. Er 
war gefesselt und konnte sich nicht wehren! Die weißen 
Männer wollten, dass er am Leben bleibe, weil er viel Geld 
gebracht hätte, aber sie konnten nichts tun. Sie haben viel zu 
spät geschossen!« 

Und dann erzählte sie von der Frau, die in den Ofin-Fluss 

gesprungen und nicht mehr aufgetaucht war. Sie hatte sich 
selbst ertränkt. Ein Krieger hatte sich nachts mit seinen 
eigenen Fesseln erstickt und eine Mutter hatte ihr Kind mit 
einem Stein erschlagen und war schreiend auf einen Elefanten 
zugelaufen, der am frühen Morgen vor ihrem Lager 
aufgetaucht war. Manus Augen waren ausdruckslos, als sie von 
dem schrecklichen Vorfall berichtete. »Ein einsamer Bulle. Er 
war sehr gereizt! Die Frau rannte, bis der Bulle auf sie 
aufmerksam wurde, und ließ sich von ihm niedertrampeln! Sie 

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wollte sterben! Die Weißen haben den Elefanten erschossen 
und seine Zähne mitgenommen! Sie lachten laut, als sie ihm 
das Elfenbein vom Körper schnitten!« 

Die wenigen Tage, die Bensua und ihre Leidensgenossen in 

dem  Barracoon  verbrachten, verliefen ohne einen weiteren 
Zwischenfall. Nach  dem Selbstmord der jungen Mutter waren 
die weißen Aufseher besonders gewissenhaft und hielten sich 
streng an die Befehle des Holländers. Sie ließen die Peitschen 
stecken, brachten den Gefangenen ausreichend Nahrung und 
Wasser und holten sogar einen Arzt, als eine der Fante-Frauen 
an Fieber erkrankte. Dr. John Meredith Stanton, ein 
amerikanischer Arzt, der seit einem Jahr in dem holländischen 
Fort arbeitete und es gar nicht erwarten konnte, wieder in seine 
Heimat zurückzukehren, nutzte die Gelegenheit, um einen 
Befehl von Willem van der Meyde auszuführen und alle 
Sklaven einer strengen Untersuchung zu unterziehen. »Seien 
Sie gründlich!«, schärfte ihm der Holländer ein. »Ich kann es 
mir nicht leisten, Ihre Landsleute mit schlechter Ware zu 
versorgen! Dieser Captain Whitcomb bringt es fertig und lässt 
den ganzen Handel platzen!« 

Dr. Stanton ließ einen Tisch in das lange Lehmhaus bringen 

und legte seine Instrumente darauf. »Die Leute sollen sich 
anstellen«, sagte er zu einem Aufseher. »Und sorgen Sie für 
Ruhe! Ich kann das Kindergeschrei nicht ertragen! Haben Sie 
gehört?« 

»Aye, Sir«, meinte der Mann lachend. Er ließ seine Peitsche 

knallen und wandte sich an die Sklaven. In dem Kauderwelsch, 
das alle verstanden, rief er: »Ihr habt es gehört! Einer nach 
dem anderen! Und haltet eure Kinder ruhig! Der Doktor 
verträgt kein Geschrei! Wenn ihr nicht gehorcht, bekommt ihr 
die Peitsche zu spüren!« 

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10 

 
 
 

Dr. Stanton hielt sich an den Befehl und untersuchte die 
Gefangenen sorgfältiger als die meisten seiner Kollegen. Er 
betrachtete den Wuchs jedes Einzelnen, seinen 
Gesichtsausdruck, schob ihre Lippen auseinander und 
begutachtete die Zähne, berührte ihre Glieder und Gelenke. 
Wie ein Viehdoktor schätzte er die verunsicherten Menschen 
ab. Er musterte ihre nackten Körper ohne jede Gefühlsregung, 
griff ihnen zwischen die Beine und brummte ungeduldig, wenn 
er mit seiner Untersuchung zufrieden war. 

Die Männer waren zuerst an der Reihe. Von den Aufsehern 

bewacht standen sie vor dem langen Lehmhaus und wurden 
einzeln zu dem Arzt gerufen. Ihre Handgelenke blieben 
gefesselt. Die meisten Krieger machten sich nicht viel aus der 
Untersuchung, ließen die Prozedur wortlos über sich ergehen 
und kehrten ohne eine sichtbare Regung auf ihre Plätze zurück. 
Nur Ottobah und zwei andere Männer, ein erfahrener Krieger 
und ein Jüngling, begehrten auf. Sie empfanden das Vorgehen 
des Arztes als Demütigung und fühlten sich in ihrem Stolz 
verletzt. Der Junge ging mit erhobenen Fäusten auf den Arzt 
los und wurde  von einem Aufseher mit dem Gewehrkolben 
niedergeschlagen. Der Krieger, ein Verwandter des 
Häuptlings, gab nach einem Wortgefecht und einem Schluck 
aus der Rumflasche klein bei. 

Ottobah sah, wie die Männer vor ihm berührt wurden, und 

explodierte wie ein Krieger, den man öffentlich beleidigt hatte. 
»Die weißen Männer behandeln uns wie Tiere!«, schrie er so 
laut, dass einige Kinder zu weinen anfingen. »Sie erniedrigen 
uns vor unseren Frauen und Kindern! Wehrt euch, meine 

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Brüder! Zeigt den Weißen, dass wir uns  nicht alles gefallen 
lassen! Wir sind Krieger! Wir sind keine Rinder, die auf den 
Markt getrieben werden!« Er zog einem Aufseher blitzschnell 
das Messer aus dem Gürtel und holte damit aus. Bevor er 
zustechen konnte, war ein anderer Weißer heran und schlug 
ihn mit einem Knüppel nieder. 

»Halt!«, schallte es durch den Pferch, als er weiter auf den 

benommenen Sklaven einschlagen wollte. Willem van der 
Meyde war aus dem Fort gekommen, um sich vom Zustand der 
Sklaven zu überzeugen, und hielt den Aufseher zurück.  »Das 
genügt! Er ist einer der kräftigsten Männer! Ich will den 
Höchstpreis für ihn!« 

»Er ist gefährlich«, wehrte sich der Mann. »Wenn wir nicht 

aufpassen, wiegelt er den ganzen Haufen auf! Er braucht 
Schläge!« 

»Lasst ihn am Leben!«, erwiderte der Sklavenhändler. Er 

blickte durch die offene Tür des Lehmhauses und lächelte 
falsch. »Den brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor! Der 
ist gesünder als alle anderen zusammen!« Ohne eine Antwort 
abzuwarten wandte er sich an den Aufseher. Jetzt war seine 
Miene ungewöhnlich streng. »Legt ihm die Fußketten an! Das 
wird ihn lehren, sich zu benehmen! Und ruft mich, wenn ihr 
mit dem Bränden beginnt! Wir nehmen uns diesen Burschen 
zuerst vor. Bevor er merkt, was gespielt wird, ist es vorbei! Ich 
will keinen Ärger, kapiert?« 

Bensua verstand die Worte des Holländers nicht, erkannte 

aber am Tonfall, dass er seinen Aufseher zurechtgewiesen 
hatte. Erleichtert beobachtete sie, wie man Ottobah die 
Fußfesseln anlegte und ihn hinter das Lehmhaus stieß. An 
einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte der 
Aufseher ihm den Schädel eingeschlagen. Ihre Verschiffung 
musste unmittelbar bevorstehen, sonst hätte er ihn bestimmt 
nicht verschont. Die Sklaven waren eine wertvolle Ware und 

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mussten in einem tadellosen Zustand sein, wenn der Holländer 
die volle Bezahlung erhalten wollte, das hatte sie längst 
erkannt. So wie man ein Schwein füttert, bevor man es auf den 
Markt bringt. Sie waren keine Menschen mehr. Sie waren 
Tiere, die man zum Schlachten führte. 

Einige Frauen glaubten tatsächlich, dass die weißen Männer 

sie auf dem Schiff schlachten wollten. Sie schrien erbärmlich 
und steckten sogar einige Männer mit ihrem Geschrei an, 
verstummten erst, als die Aufseher ihre Peitschen knallen 
ließen und ein älterer Krieger rief: »Sie wollen uns nicht 
aufessen! Ich weiß es! Sie bringen uns in ein fernes Land! Dort 
sollen wir für die Weißen arbeiten! Wir sind Sklaven des 
weißen Mannes!« 

»Stimmt das?«, fragte Manu ängstlich. Sie saß neben Bensua 

und hielt sich mit beiden Händen an ihr fest. Ihre 
Brandwunden leuchteten in der Sonne. »Müssen wir alle mit 
den Weißen gehen? Gibt es ein Land auf der anderen Seite des 
großen Wassers? Wie sieht dieses Land aus? Gibt es dort einen 
Urwald?« 

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua ehrlich. Sie verriet 

ihrer jungen Freundin nicht, was einige Asante erzählten, dass 
an dem fernen Ort die bösen Geister wohnten. Sie drückte eine 
Hand des Mädchens. »Du  musst stark sein, Manu! Ich weiß, 
was du durchgemacht hast. Die Schwertmänner haben deine 
Eltern getötet und dein Dorf  niedergebrannt! Auch ich habe 
großes Leid erfahren und meine Verwandten verloren. Selbst 
wenn ich nach Kumase zurückginge, würden sie mich nicht 
mehr ansehen! Aber wir dürfen nicht vor den Weißen in die 
Knie gehen! Die Götter werden uns beistehen, wenn wir über 
das große Wasser fahren! Wenn wir beten und singen, lassen 
sie uns nicht im Stich! Du musst an eine bessere Zukunft 
glauben, meine Freundin!« 

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Bensua zweifelte selbst an ihren Worten. Sie wusste, dass an 

den bösen Ahnungen vieler Gefangener, ihr Aufenthalt in dem 
Barracoon sei nur die Ruhe vor einem schweren Sturm, etwas 
Wahres dran sein  musste. Die Schwarzen, die in der Faktorei 
arbeiteten und jeden Abend zum Saubermachen in den Pferch 
kamen, wollten von skrupellosen Kapitänen gehört haben, die 
jeden  kranken Sklaven über Bord warfen und Ruhestörer 
gnadenlos auspeitschten. Ein Schwarzer behauptete sogar, nur 
die Hälfte aller Schwarzen würde das ferne Land erreichen. Er 
hatte etwas Holländisch gelernt und zwei weiße Männer 
belauscht. 

»Er lügt«, beruhigte ein Asante die aufgebrachten 

Gefangenen. »Warum sollten sie uns über Bord werfen? Tot 
sind wir nichts wert! Seht doch, wie sie uns in diesem Pferch 
behandeln! Wir leben hinter einem Zaun und viele von uns 
sind gefesselt. Das stimmt. Aber wir bekommen genug zu 
essen und zu trinken! Die Kinder weinen nicht mehr! Sie 
werden uns nicht töten!« 

»Der Asante hat Recht«, sagte Bensua zu ihrer jungen 

Freundin. Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. 
»Sie werden uns nichts tun! Und wenn wir für die weißen 
Männer gearbeitet haben, bauen wir ein neues Dorf und 
gründen einen neuen Clan. Ottobah wird unser Häuptling sein! 
Halte durch, Manu!« 

Einer der Aufseher forderte die Frauen und Kinder auf, sich 

vor dem Lehmhaus anzustellen. Bensua stellte sich so, dass sie 
Ottobah sehen konnte, und suchte den Blickkontakt. »Ich 
bewundere dich, mein tapferer Krieger!«, sagten ihre Augen. 
Und er antwortete: »Wir sind stark! Wir werden uns niemals 
unterwerfen!« 

Bensua gehörte zu den ersten Frauen, die von dem Arzt 

untersucht wurden. Scheinbar gleichgültig ertrug sie die 
Prozedur. Es war demütigend, sich von dem weißen Mann 

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zwischen die Beine greifen zu lassen, und es fiel ihr schwer, 
die Ruhe zu bewahren. Sie verstand die Frauen, die unter der 
Berührung zu zittern begannen oder weinend aus dem 
Lehmhaus liefen. Kein schwarzer Krieger beschämte seine 
Gefangenen auf diese Weise. Die weißen Männer mussten ihre 
Peitschen einsetzen um für Ruhe zu sorgen. »Ich bleibe bei 
ihr«, sagte Bensua zu dem Doktor, als Manu an der Reihe war. 
»Sie hat große Angst!« Dr. Stanton war froh ihre 
Unterstützung zu bekommen und nickte. »Meinetwegen.« 

Schon bald erkannte Bensua, wie klug es gewesen war, bei 

ihrer Freundin zu bleiben. Als der Doktor eine Salbe auf ihre 
Brandwunden schmierte, begann sie zu weinen, und als er ihr 
zwischen die Beine griff, schrie sie in panischer Angst auf. 
Bensua nahm sie schnell in die Arme und drückte sie fest. »Es 
ist nur zu deinem Besten!«, hörte sie den Arzt sagen. »Du 
musst gesund sein, wenn du an Bord gehst! Oder willst du das 
Schiffsfieber bekommen?« Er nahm einen Schluck von dem 
heißen Tee, den ihm ein Aufseher gebracht hatte, und blickte 
zur Tür. »Die Nächste! Und beeil dich ein bisschen! Ich habe 
keine Lust, die ganze Nacht in diesem Loch zu verbringen!« 
Das hatte er in  seiner Sprache gesagt, einer hässlichen und 
aufdringlichen Sprache, wie Bensua fand, obwohl sie kein 
Wort verstanden hatte. 

In der folgenden Nacht schlief sie sehr unruhig. Sie träumte 

von einem weißen Aufseher, der Manu das Baumwollkleid 
vom Körper riss und mit der Peitsche auf sie einschlug, bis sie 
blutete. Sie befanden sich auf einem Segelschiff. Rundherum 
war nur Wasser. Schäumende Wellen schlugen gegen das 
Schiff und spritzten bis zu ihnen herauf. Plötzlich tauchte ein 
hässliches Ungeheuer mit scharfen Zähnen aus dem Meer, 
schnappte sich die blutende Manu und zog sie in die Tiefe. 
Bensua schreckte aus dem Schlaf, sah Manu in ihren Armen 
liegen und beruhigte sich langsam. Auf ihrer Stirn stand kalter 

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Schweiß. Sie sah sich um und fing den Blick einer jungen Frau 
auf, die einen kleinen Jungen hielt und verzweifelt in die 
Dunkelheit starrte. Von der Stelle, wo die Männer nächtigten, 
drang lautes Schnarchen herüber. 
 
 
Der Morgen weckte sie mit den ersten Strahlen der Sonne und 
einer ungewohnten Unruhe. Aus der Festung kamen weiße 
Männer und schwarze Sklaven zum Strand gelaufen. Mehrere 
Ochsenwagen hielten auf dem felsigen Platz am Ufer. Die 
Hannibal  war gekommen und in  der Bucht vor Anker 
gegangen. Eine zweimastige Brigg mit leuchtenden Segeln und 
der amerikanischen Flagge am Hauptmast. Willem van der 
Meyde wartete am Strand, einen modischen Hut mit einer 
bunten Straußenfeder auf dem Kopf, und begrüßte den 
Kapitän, der von einigen Matrosen in einem Hafenboot an 
Land gerudert wurde. »Einen schönen guten Morgen, Captain 
Whitcomb«, wünschte der Holländer mit einer übertriebenen 
Verbeugung. »Ich freue mich, Euch in meinem kleinen Reich 
begrüßen zu dürfen! Ihr seid pünktlich, Captain!« 

Captain Alexander Whitcomb trug seine beste Uniform.  Er 

war schlank und drahtig und hatte ein kantiges Gesicht mit 
ausgeprägten Backenknochen. Seine Großmutter war eine 
Indianerin gewesen. Kalt und nüchtern war der Blick seiner 
blauen Augen. Er nahm seinen Dreispitz ab und nickte kurz. 
»Guten Morgen, van der Meyde! Ganz meinerseits! Aber 
halten wir uns nicht zu lange mit überflüssigen Floskeln auf. 
Ich will heute noch meine Ladung löschen und diese Küste 
sobald wie möglich verlassen! Nicht jeder Weiße ist so 
widerstandsfähig wie Ihr! Ich habe keine Lust, mich mit dem 
Fieber anzustecken! Und meine Männer auch nicht!« Er 
blickte zum Pferch hinüber. »Die Sklaven sind alle gesund, 

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oder? Ich darf nur Ware mit einer ärztlichen Bescheinigung 
mitnehmen!« 

»Das weiß ich doch«, erwiderte der Holländer mit einem 

spöttischen Lächeln. »Dr. John Meredith Stanton, übrigens ein 
Amerikaner wie Ihr, hat die Untersuchung gestern 
abgeschlossen. Aber wollen Sie nicht ins Haus kommen und 
einen Schluck trinken? Ich habe einen erstklassigen Tropfen in 
meinem Keller…« 

»Ich habe leider wenig Zeit«, winkte der Captain ab. 

»Versteht mich nicht falsch! Ich möchte auf keinen Fall 
unhöflich sein! Aber meine Auftraggeber sind sehr 
gewissenhaft und dulden keinen Aufschub! Mir wäre es lieb, 
wenn wir gleich zur Sache kämen.« 

»Also gut«, lenkte der Holländer ein, »aber Ihr habt doch 

nichts dagegen, wenn ich mir ein Gläschen gönne, während ich 
mir Eure Frachtpapiere ansehe? Ihr habt doch die Gewehre und 
den Rum dabei? Wir haben großen Bedarf an Feuerwaffen und 
diesem Getränk von den Westindischen Inseln…« Er 
schmatzte mit den Lippen. »Nun, ich habe schon Schlimmeres 
getrunken!« 

Whitcomb zog die Frachtliste aus seiner Jackentasche und 

strich sie glatt, bevor er darauf einging. Er war ein sehr 
korrekter und gewissenhafter Mann und hatte einige Jahre in 
der Schreibstube einer Werft gearbeitet, bevor er zur See 
gefahren war. »Musketen, Glasperlen, Eisenstangen, Rum, 
Brandy… alles da!« 

»Und ich habe zweihundertsechzig Sklaven für Euch«, 

meinte der Holländer. »Hundertfünfzig Männer, 
zweiundachtzig Frauen und achtundzwanzig Kinder. Alle bei 
bester Gesundheit und im Vollbesitz ihrer Kräfte! So gute 
Ware hatte ich lange nicht mehr!« 

Der Captain zeigte sich amüsiert. »Ich weiß, dass Ihr die 

armen Teufel mit Hirsebrei mästet und ihre Haut mit Palmöl 

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einschmiert, damit sie gesünder aussehen! Ich mache es 
genauso, bevor wir einen Hafen anlaufen! Und Ihr wisst, dass 
ich meinem Rum eine große Portion Rattengift beigemischt 
habe! Also machen wir uns nichts vor! Bringen wir den Handel 
hinter uns!« 

Die Verhandlung dauerte keine Stunde. Der Holländer und 

der Amerikaner kannten sich zu lange, um auf eine List des 
anderen hereinzufallen. Sie unterschrieben die Papiere und 
gaben ihren Männern den Befehl, die Ladung der Hannibal zu 
löschen. 

Die Gefangenen bekamen von den Verhandlungen nichts mit, 

sahen aber, wie Kisten und Fässer vom Segelschiff gebracht 
und auf die Ochsenwagen geladen wurden. Jetzt würde es nur 
noch einen oder zwei Tage dauern, bis sie ihre Heimat 
verlassen mussten. Die weißen Männer würden sie in die 
kleinen Boote treiben und durch die schäumenden Wellen zu 
dem großen Schiff rudern. Ein Gedanke, der vor allem den 
Schwarzen zu schaffen machte, die das Meer noch nicht 
kannten und panische Angst vor der Brandung hatten. Einige 
Frauen und Kinder hielten das Zischen für den Atem der bösen 
Geister, wichen in die hinterste Ecke des Pferchs zurück und 
weinten und schrien. Eine Frau schnitt sich die Pulsadern mit 
einem scharfen Stein auf. 

»Hab keine Angst!«, sagte Bensua zu ihrer Freundin, obwohl 

sie selbst nur mühsam ein Zittern unterdrückte. »Du hast 
gesehen, wie die weißen Männer an Land gekommen sind. Uns 
wird nichts passieren!« Sie blickte Ottobah an und sah das 
entschlossene Funkeln in seinen Augen. »Wir sind stark!«, rief 
er ohne die mürrischen Gesichter der Aufseher zu beachten. 
»Wir werden diese schwere Prüfung bestehen! Die Götter 
werden bei uns sein, wenn wir uns gegen die weißen Männer 
erheben!« Einige der Schwarzen, die für die Weißen in der 
Faktorei arbeiteten, verstanden seine Worte und sahen ihn 

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erschrocken an. Wenige Sklaven begehrten in diesem 
kritischen Augenblick gegen die Weißen auf. »Sei stark, 
Bensua! Meine Gedanken sind bei dir!« 

Keiner der Gefangenen ahnte, dass sie eine weitere 

Demütigung und großen Schmerz erdulden mussten, bevor sie 
an Bord gebracht wurden. Auch nicht Ottobah, der noch vor 
dem Morgengrauen mit einem Fußtritt geweckt und in Ketten 
gefesselt vor das Lehmhaus gezerrt wurde. Er war viel zu 
verwirrt, um sich erfolgreich gegen die Aufseher wehren zu 
können. Zwei Männer drückten ihn zu Boden und ein weiterer 
schob seinen Kopf nach unten. Aus den Augenwinkeln 
beobachtete Ottobah, wie ein kräftiger Weißer ein Brandeisen 
ins Feuer hielt. »Nein!«, schrie er so laut, dass alle Gefangenen 
aus dem Schlaf schreckten. »Nein!« 

Ein Mann schmierte Talg auf seinen Rücken. Nachdem er 

gefettetes Papier darüber gelegt hatte, gab er dem Mann am 
Feuer ein Zeichen und der drückte das glühende Brandeisen 
auf das Papier. Es zischte laut. Der Gestank verbrannter Haut 
stieg in die Luft. Ottobah schrie mehr aus verzweifelter Wut 
als vor Schmerz und zerrte gewaltsam an seinen Ketten, als ihn 
die Männer in den Sand stießen. Auf seinem geschundenen 
Rücken war das Zeichen der amerikanischen Handelsfirma zu 
erkennen, die Captain Whitcomb mit dem Transport der 
Sklaven beauftragt hatte. 

Sobald die anderen Gefangenen erkannten, dass alle Sklaven 

gebrandmarkt würden, setzte großes Wehklagen ein. Einige 
Frauen und Kinder wurden hysterisch und wieder konnte eine 
junge Fante nicht daran gehindert werden, sich umzubringen. 
Manu klammerte sich wie eine Ertrinkende an Bensua, weinte 
heftig in ihr Baumwollkleid und rief die Götter um Hilfe an. 

Bensua brach es beinahe das Herz, als sie mit ansehen 

musste, wie Manu gebrandet wurde. Ihr geschwächter Körper 
bäumte sich unter dem heißen Eisen auf und sackte zu Boden. 

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Dr. Stanton warf einen flüchtigen Blick auf die Wunde und 
nickte schwach. »Sie übersteht es. Ich schmiere etwas Salbe 
darauf.« 

»Manu!«, rief Bensua schluchzend. 
Sie wollte der weinenden Freundin zu Hilfe eilen und lief in 

die Arme eines Aufsehers. Der Mann drückte sie gefühllos 
nach unten und hielt sie fest, bis die dunklen Buchstaben auf 
ihrem Rücken brannten. Der Schmerz war so stark, dass ihr 
Tränen in die Augen schossen. Sie stolperte ein paar Schritte, 
hielt sich an der Hauswand fest und kämpfte wütend gegen 
eine drohende Ohnmacht an. Kaum hatte sie sich einigermaßen 
gefangen, kroch sie zu Manu und legte einen Arm auf ihre 
Schultern. Sie hatte das Bewusstsein verloren. »Du darfst nicht 
aufgeben«, sagte sie zu dem Mädchen. »Hörst du? Du darfst 
nicht aufgeben!« 

Sie zog Manu in den Schatten und nahm sie in den Arm, 

sorgsam darum bemüht, die Wunde nicht zu berühren. Ihren 
eigenen Schmerz verdrängte sie. Es war wichtiger, ihrer jungen 
Freundin zu helfen, sonst würde sie an der schweren Last, die 
ihnen die Götter aufbürdeten, zerbrechen. Ihre Augen suchten 
Ottobah und fanden ihn nicht. Er hatte sich vor lauter Scham 
hinter dem Haus versteckt. Die anderen Gefangenen lagen 
stöhnend im Sand, weinten, jammerten und fluchten. Der Arzt 
verteilte Wundsalbe und verzog angewidert das Gesicht, als 
ihm der Gestank der verbrannten Haut in die Nase stieg. 
»Ekelhafter Geruch!« 

Willem van der Meyde und der amerikanische Kapitän saßen 

im Büro, als ein Aufseher hereinkam und meldete, dass alle 
Sklaven gebrandet waren. »Dann kann es ja losgehen«, meinte 
Whitcomb geschäftig. »Bringt die Ware an Bord!« Er stand auf 
und blickte aus dem Fenster. »Dieses Gejammer kann einem 
ganz schön auf die Nerven gehen, mein Freund. Beeilt Euch, 
ja?« 

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ATLANTIK 

 
 
 

Ich dachte, ich müsste unter den Peitschenhieben des 

verfluchten Rohlings sterben. 

Ich kann meine Leiden nur mit den 

Qualen der Hölle vergleichen. 

 

Solomon Northup, ehemaliger Sklave 

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11 

 
 
 

Die Einschiffung der Sklaven dauerte den ganzen Tag. Unter 
den Peitschenschlägen und Knüppelhieben der Aufseher liefen 
sie zum Strand. Zitternd vor Angst bestiegen sie die 
Ruderboote. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass der Abschied 
von ihrer Heimat endgültig war. Sie verließen die Goldküste 
für immer. Die Männer und Frauen, die lebende Verwandte 
zurücklassen mussten, begannen laut zu wehklagen. Einige 
Frauen warfen sich schreiend zu Boden. Die Aufseher trieben 
sie mit Schlägen in die Boote. Auch die wenigen Männer, die 
aufbegehrten, bekamen ihren Zorn zu spüren. Ottobah ging 
brüllend auf die weißen Männer los und wurde erbarmungslos 
niedergeknüppelt. Zwei Aufseher zogen den Bewusstlosen an 
den Füßen zum Meer und warfen ihn wie ein Schlachtvieh ins 
kleine Boot. Nur weil der holländische Sklavenhändler seinen 
Männern eingeschärft hatte, aufsässige Sklaven auf keinen Fall 
zu töten, verzichteten sie darauf, ihm eine Kugel in den 
Schädel zu jagen. 

Bensua und Manu waren bei den letzten Frauen und Kindern, 

die aus dem  Barracoon  geholt wurden. Die Aufseher hatten 
längst die Geduld verloren und setzten ihre Peitschen noch 
rücksichtsloser ein. Sie hatten den Auftrag, das Schiff bis zum 
frühen Abend zu beladen, und mussten einen Lohnabzug in 
Kauf nehmen, wenn sie es nicht schafften. Die »Verladung der 
Ware«, wie die Verschiffung der Sklaven in den Büchern 
genannt wurde, gehörte zu ihren unangenehmsten Aufgaben. 
Wären sie nicht so gut bezahlt worden, hätten sie sich wohl 
längst nach einer anderen Arbeit umgesehen. Der Handel mit 
Elfenbein solle wesentlich einträglicher und einfacher sein. 

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»Höchste Zeit, dass wir das Pack in die Boote bringen!«, 
stöhnte ein Aufseher. »Ich kann dieses Gejammer nicht mehr 
hören! Die sollten froh sein, dass sie diese verdammte Küste 
endlich verlassen dürfen! Ich würde sonst was dafür geben, 
wenn ich endlich hier weg könnte!« 

Manu schrie laut auf, als die Peitsche einen blutigen Striemen 

über ihren Rücken zog. Sie stürzte in den Sand und sprang 
hastig auf, bevor sie ein zweites Mal getroffen werden konnte. 
In ihren Augen stand panische Angst. Sie torkelte blindlings 
nach vorn und wäre in den Peitschenhieb eines anderen 
Aufsehers geraten, wenn Bensua nicht ihre Hand ergriffen und 
sie zurückgezogen hätte. Weinend lief sie weiter. »Ich bin bei 
dir«, rief Bensua, »ich lasse nicht zu, dass dir diese Männer 
wehtun! Hast du gehört, Manu? Ich passe auf dich auf! Du 
brauchst keine Angst zu haben! Es wird alles gut! Die Götter 
wachen über uns!« 

Am Strand warteten einige Matrosen mit den Booten. 

»Vorwärts! Vorwärts!«, trieb der Zweite Maat die Sklaven an. 
Er hieß O’Reilly und war ein stämmiger Ire, der von einem 
englischen Sträflingsschiff geflohen und als Pirat vor den 
Westindischen Inseln gesegelt war. Seinen Vornamen 
verschwieg er beharrlich. Er schwang eine neunschwänzige 
Peitsche und wirkte noch ungeduldiger als die Aufseher. Das 
Knallen seiner Peitsche übertönte sogar das Rauschen der 
Brandung. »Macht, dass ihr in die Boote kommt, verdammt, 
oder ich werfe euch den Haien vor!« 

Bensua brauchte den untersetzten Mann in seiner 

zerschlissenen Leinenhose nicht zu verstehen. Seine aufgeregte 
Stimme und sein hochroter Kopf verrieten ihr genug. Eine 
falsche Bewegung, ein falsches Wort, schon ein kaum 
merkliches Zögern würde genügen, um diesen Mann in Rage 
zu bringen. Er schlug mit sichtlicher Freude auf die Frauen ein 
und schreckte auch nicht davor zurück, kleine Kinder mit 

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seiner Peitsche zu ängstigen. So stellte sie sich einen bösen 
Geist vor. Sein Grinsen ähnelte einer hässlichen Maske und in 
seiner Stimme schwang tiefe Verachtung für die Sklaven mit. 
Bensua konnte nicht wissen, dass auch O’Reilly ein 
Gefangener gewesen war und selbst unter der Willkür seiner 
Bewacher gelitten hatte. Er zahlte den Sklaven heim, was ihm 
die Engländer angetan hatten. 

In den Booten saßen die Schwarzen dicht gedrängt. Wie 

hilflose Tiere kauerten sie auf dem feuchten Boden. Einige 
Frauen und Kindern schrien, als die Matrosen durch die 
Brandung ruderten, sprangen in panischer Angst auf und 
wollten ins Meer springen und an Land schwimmen. Die 
Matrosen hielten sie mit ihren schussbereiten Pistolen zurück 
oder schlugen sie nieder. Ein Mann schloss die Augen und 
stöhnte verzweifelt. Die meisten Asante waren noch niemals 
auf dem Meer gewesen und fürchteten sich vor den Wellen. 
Sie blickten starr vor Entsetzen in die schäumende Gischt. 
Wasser schwappte über die Reling. Die Boote trieben 
scheinbar hilflos in der tosenden Brandung, stürzten von hohen 
Wellenkämmen in dunkle Täler und tauchten mit dem Bug in 
das brodelnde Wasser. Die Befehle des Zweiten Maats, der 
breitbeinig in einem der Boote stand und niemals das 
Gleichgewicht verlor, vermischten sich mit dem Rauschen der 
Wellen und den panischen Schreien der Gefangenen. 

Einer jungen Frau gelang es den Hieben der Matrosen zu 

entgehen und über Bord zu springen. Sie hielt ein Baby in den 
Armen. Bensua würde ihren Anblick niemals vergessen, ihre 
weit aufgerissenen Augen und das Schreien des Babys, das 
verstummte, als sie untertauchten, und zu einem verzweifelten 
Husten wurde, als sie von der Strömung noch einmal an die 
Oberfläche gezerrt wurden. Dann verschwanden sie endgültig. 
Eine andere Frau wollte ihr folgen und wurde im letzten 
Augenblick an ihrem Todessprung gehindert. Hysterisch rief 

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sie: »Die weißen Männer essen uns auf! Sie nehmen uns mit 
und dann essen sie uns auf! Seht ihr nicht? Sie wollen uns 
töten!« Sie versuchte sich aus dem Griff ihrer Schwester zu 
befreien, aber die hielt sie fest umklammert, bis sie die Kraft 
verlor und erschöpft aufgab. 

Unwillkürlich verstärkte Bensua ihren Griff. Sie hatte den 

rechten Arm um die Schultern ihrer jungen Freundin gelegt 
und spürte ihr heftiges Zittern. Sie fasste nach ihren Händen 
und sagte: »Beruhige dich! Sie wollen uns nicht aufessen! Das 
weiß ich von einem Krieger, der auf einem ihrer Schiffe war! 
Sie wollen, dass wir arbeiten! Sonst hätten sie uns schon längst 
getötet!« Sie drückte die Hände des furchtsamen Mädchens 
und versuchte ihr neuen Mut zu geben, obwohl sie selbst um 
ihr Leben fürchtete und ihre ganze Kraft aufbieten  musste um 
ihre Angst nicht zu zeigen. Der unbedingte Wille, der jungen 
Manu eine Zukunft zu zeigen, gab ihr den Mut, den Gefahren 
zu trotzen. Beinahe aufsässig hielt sie ihr Gesicht in die 
schäumende Gischt und den Wind. 

Nachdem sie die Brandung überwunden hatten, wurde das 

Meer  ruhiger. Der Lärm ließ nach und die Boote schaukelten 
kaum noch. Doch hinter den tosenden Wellen verschwand 
auch die Küste, und die Angst vieler Sklaven wurde noch 
größer. Sie hatten den festen Boden ihrer Heimat unter den 
Füßen verloren und befanden sich  auf dem schwankenden 
Untergrund des großen Wassers, das bis zum fernen Horizont 
reichte. Und sie hatten keine Ahnung, wie lange es dauern 
würde, bis sie wieder an Land gehen durften. Einige Sklaven 
befürchteten sogar, den Rest ihres Lebens auf dem Meer 
verbringen zu müssen. Mit leeren Augen starrten sie auf das 
große Schiff, das sich dunkel und mächtig aus dem Meer erhob 
und bedrohlicher als die steinerne Festung wirkte. Die 
Matrosen ruderten dicht an das Schiff heran. 

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»Hoch mit euch!«, befahl O’Reilly, als sie längsseits 

anlegten. Er ließ die Neunschwänzige knallen und trieb die 
verängstigten Gefangenen auf die Fallreepe. Unter den wüsten 
Beschimpfungen des Zweiten Maats und dem schadenfrohen 
Gelächter der Matrosen stiegen sie über die schwankenden 
Strickleitern zur Reling hinauf. Dort wurden sie von kräftigen 
Händen an Deck gezogen. Wer zögerte oder sich umdrehte, 
bekam die lange Peitsche zu spüren. »Sieh nach oben!«, 
ermahnte Bensua ihre junge Freundin. »Dreh dich nicht um!« 
Manu kletterte dicht über ihr, zog sich unsicher von einer 
Sprosse zur nächsten und war nahe daran, die Nerven zu 
verlieren. »Halte durch, Manu!«, rief Bensua ihr aufmunternd 
zu, obwohl sie selbst Angst hatte und sich über einem tiefen 
Abgrund glaubte, der geradewegs ins Reich der bösen Geister 
führte. »Wir haben es gleich geschafft!« 

Captain Alex Whitcomb stand unberührt von allem auf dem 

Achterdeck und gab seinem Bootsmann und einigen anderen 
Weißen die Anweisung, auch die »Weiber« und die 
»schreienden Kinder« unter Deck zu  verstauen. Einige 
Matrosen stießen sie mit Gewehrkolben und Knüppeln über 
einen steilen Niedergang unter Deck, von der hellen 
Nachmittagssonne in ein dunkles Zwischendeck, das von den 
Zimmerleuten in Amerika eingebaut worden war um möglichst 
viele Sklaven  unterbringen zu können. Gerade mal anderthalb 
Meter war das Deck hoch, sodass die meisten Männer und 
Frauen nur gebückt gehen konnten, und die Luft war schwüler 
und stickiger als in einem Urwald nach der Regenzeit. 

Im Gegensatz zu den Männern wurden die Frauen und Kinder 

nicht gefesselt. Sie durften sich in einem geschlossenen Raum 
im Bug des Schiffes frei bewegen. Man befahl ihnen, sich auf 
die gescheuerten Planken zu legen und sich still zu verhalten. 
Eingeschüchtert folgten sie der Aufforderung. Unter Deck war 
so wenig Platz, dass ein Körper den anderen berührte, wenn sie 

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sich niederlegten, und die Eimer für die Notdurft zwischen 
ihren Füßen standen. Ein Luftgitter mit breiten Streben, das in 
die Decke eingelassen war, war die einzige Verbindung zur 
Außenweit und ließ etwas Licht und Luft herein. Ein Durchlass 
in der zusätzlich eingezogenen Holzwand, die das Quartier der 
Frauen und Kinder von dem größeren Zwischendeck für die 
Männer trennte, führte zum Niedergang. Dort erschien der 
Bootsmann, eine Peitsche in der Hand, und rief: »Jetzt seid ihr 
endlich da, wo ihr hingehört! Ein falsches Wort und ihr 
bekommt meine Peitsche zu spüren, verstanden?« Er blickte in 
die starren Gesichter und schüttelte angewidert den Kopf, als 
einige der Kinder zu weinen anfingen. »Anscheinend muss ich 
noch deutlicher werden!«, hob er seine Stimme. Er ließ die 
Peitsche über den Köpfen der erschrockenen Frauen und 
Kinder knallen und lachte gehässig, als sie sich ängstlich 
duckten und vor ihm zurückwichen. 

Eingeschüchtert verzogen sich Bensua und Manu in den 

hintersten Teil des Raumes. Der Bootsmann, ein kräftiger 
Bursche mit dicken Armen und einer behaarten Brust, 
behandelte sie noch schlechter als der Zweite Maat und hatte 
nicht einmal Mitleid mit den Kindern. Während der ganzen 
Reise machte er sich einen Spaß daraus, sie zu erschrecke oder 
mit erhobener Peitsche über das Deck zu jagen. Er hieß Johnny 
Graham und hatte unter demselben Piratenkapitän wie der 
Zweite Maat gedient. Auf den Westindischen Inseln erzählten 
sich die Leute, dass er selbst weiblichen Gefangenen den Kopf 
abgeschlagen hatte. Auch wenn diese Schilderungen 
übertrieben waren, blieb noch genug Grausamkeit übrig, um 
ihn zu einem der gefährlichsten Männer auf der  Hannibal  zu 
machen. Nur Männer, die jegliches Mitgefühl verloren hatten, 
heuerten auf einem Sklavenschiff an. 

Am Abend ließ Captain Whitcomb den Anker lichten. Seine 

knappen Befehle hallten über das Deck und die Gefangenen 

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hörten die raschen Fußtritte der Matrosen, die seine 
Anweisungen ausführten. Die Geräusche, die durch die 
Dunkelheit nach unten drangen, waren unheimlich. 

Heisere Schreie, das Pfeifen eines Offiziers, die Rufe der 

Matrosen, die in die Masten aufstiegen, das Knarren des 
Segeltuchs, wenn sich die festen Leinensegel entfalteten. 
Ungeduldig wie ein Tier, das den Winter in einer Höhle 
verbracht hatte, erwachte die  Hannibal  zum Leben. Die 
Marssegel blähten sich geräuschvoll, die hölzernen Planken 
ächzten und die Wanten dehnten sich widerwillig unter der 
plötzlichen Anspannung. Das Schiff drehte sich gegen den 
Wind und segelte langsam auf das offene Meer hinaus. 

Unter den Frauen und Kindern, die gerade damit begonnen 

hatten, sich in ihr neues Schicksal zu fügen, entstand Unruhe. 
In der Dunkelheit wirkten die Geräusche des Schiffes doppelt 
unheimlich und Angst einflößend. Bensua blickte unruhig 
durch die Luftluke zum Himmel empor. Die massiven Streben 
teilten den halben Mond und ließen die Sterne noch ferner 
erscheinen. Für wenige Augenblicke waren die dunklen 
Umrisse einiger Matrosen zu erkennen. Ein kleines Licht 
flammte auf. Eine Laterne, wie sie annahm, die an einen der 
Masten gehängt wurde. Sie hörte einen knappen Befehl und 
erkannte die scharfe Stimme des Zweiten Maats. »Aye, Sir!«, 
riefen einige Matrosen. Wenige Augenblicke später war zu 
vernehmen, wie sich ein Segel entfaltete. 

Einige Frauen und Kinder weinten und Bensua tastete nach 

der Hand ihrer jungen Freundin. Es tat gut, ihre Nähe zu 
spüren. Sie hatten sich auf die Seite gedreht, um mehr Platz zu 
haben und nicht auf der schmerzenden Brandwunde liegen zu 
müssen, und blickten einander an. Manus Augen wirkten 
größer als sonst und leuchteten weiß. Das schwache 
Mondlicht, das durch die Luftluke ins Zwischendeck fiel, ließ 
ihr Gesicht noch verletzlicher erscheinen. Ihre Tränen waren 

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versiegt. Ihr Blick war starr und sie zuckte mit keinem Muskel, 
als ein verzweifelter Schrei von der anderen Seite des Raums 
zu ihnen herüberdrang. Sofort entstand Unruhe unter den 
Gefangenen. 

»Wer war das? Was ist passiert?«, riefen die Frauen wild 

durcheinander. 

Der Schrei hallte wie ein Echo durch den engen Raum, hing 

viel zu lange in der stickigen Luft. Alle anderen Laute auf dem 
Zwischendeck erstarben. Selbst das Knarren der Wanten und 
Planken schien für einen Augenblick aufzuhören. Die 
Anwesenheit des Todes war beinahe körperlich zu spüren. In 
die plötzliche Stille drang das Schluchzen der Frau. Sie weinte 
so heftig, dass sich ihre Stimme überschlug und zu einem 
hilflosen Würgen wurde. Bensua stützte sich auf die Ellbogen 
und blickte in die Richtung, aus der das Würgen kam. Sie 
erkannte die schattenhaften Umrisse der weinenden Frau und 
beobachtete, wie zwei andere Sklavinnen sich um sie 
kümmerten. »Ihr Baby ist erstickt!«, hörte Bensua eine Stimme 
flüstern. »Sie hat es selbst getötet! Sie wollte das arme Kind 
vor den bösen Geistern retten!« 

Das laute Schnalzen der neunschwänzigen Peitsche fegte 

jegliches Mitleid vom Zwischendeck. Die mächtige Gestalt des 
Zweiten Maats tauchte über der Luftluke auf. Sein Schatten 
fiel über die entsetzten Frauen und Kinder. »Ruhe!«, brüllte er 
so laut, dass sich einige Frauen die Ohren zuhielten. »Euer 
Gejammer ist ja nicht auszuhalten! Noch einmal und ich lasse 
eine von euch an den Mast binden und auspeitschen!« Die 
bedrohliche Stimme des Mannes ließ keinen Zweifel an der 
Bedeutung seiner  Worte. »Seid still!«, flehte eine Frau leise. 
»Sonst tötet er uns!« 

Bensua folgte dem Rat der älteren Sklavin und wagte kaum 

zu atmen. Erst als der Schatten des weißen Mannes mit der 
Nacht verschmolz, holte sie tief Luft. Einige Tränen rannen 

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über ihre Wangen. Die Nähe ihrer jungen Freundin hielt sie 
davon ab, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen. Sie hatte die 
Verantwortung für Manu übernommen. Sie hatte ihr 
versprochen, sie in eine bessere Zukunft zu führen. Und auch 
wenn sie nicht wusste, woher sie ihre Zuversicht nahm, würde 
sie versuchen dieses Versprechen zu erfüllen. Jedes 
Eingeständnis ihrer eigenen Verzweiflung hätte Manu 
entmutigt. »Die Mütter haben es schwerer«, flüsterte Bensua 
nach einer Weile. »Sie sorgen sich um ihre Kinder. Wir beide 
sind stark genug um diese Prüfung zu bestehen!« 

Manu seufzte leise und schob sich näher an sie heran. Der 

Mond war gewandert und von ihrem Gesicht war nur noch das 
Weiße in ihren Augen zu sehen. Langsam fielen ihr die Augen 
zu. Ihr Körper entspannte sich und ihr Atem wurde 
regelmäßig. 

»Schlaf«, flüsterte Bensua. Sie tastete nach der Wange ihrer 

Freundin und streichelte sie sanft. Im flackernden Licht einer 
Laterne, die ein Matrose über Deck trug, sah sie die roten 
Brandwunden. Der weiße Doktor hatte sie mit einer  übel 
riechenden Salbe beschmiert und sie hoffte, dass diese Medizin 
half. Die Wunde durfte sich nicht entzünden. Wenn sie in 
diesem Verlies krank wurden, gab es wenig Hoffnung für sie. 
Ihr Onkel hatte von einem Krieger der Asante erzählt, der in 
einem Gefängnis der Engländer gewesen war und keine drei 
Tage überlebt hatte. Er hatte sich mit einer Krankheit der 
Weißen angesteckt. 

Bensua schloss die Augen. »Ich brauche den Schlaf!«, 

schärfte sie sich ein, auch wenn sie versucht war am 
Nachtlager ihrer Freundin zu wachen. Selbst die Krieger 
schliefen lange, bevor sie in eine Schlacht zogen! »Nur im 
Schlaf finde ich die Kraft, die ich für den Kampf gegen die 
weißen Männer brauche!« Denn es würde ein Kampf werden. 
Jede Gefangenschaft war ein Kampf. Sobald man nicht  mehr 

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aufbegehrte, war man verloren. Die Sklaven, die sich willenlos 
in ihr Schicksal ergaben, kannten keine Vergangenheit und 
keine Zukunft, lebten gedankenlos wie Ziegen, bis sie 
geschlachtet wurden. Dann blieb der Selbstmord als einziger 
Ausweg. Sie durfte niemals aufgeben. Sie war kein Mann, der 
mit den Fäusten zuschlagen konnte, sobald er seine Fesseln los 
war. Sie war eine junge Frau, die es nur einer glücklichen 
Fügung des Schicksals zu verdanken hatte, dass der Holländer 
sich nicht an ihr vergriffen hatte. Jetzt war sie einem Mann wie 
O’Reilly hilflos ausgeliefert. Aber ihre Gedanken waren stark. 
Sie würde ihre Heimat niemals vergessen und immer an eine 
bessere Zukunft glauben. Das war sie Manu, Ottobah und sich 
selbst schuldig. 

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12 

 
 
 

Es war tief in der Nacht, als Bensua aufstand. Sie stieg geduckt 
über die schlafenden Gefangenen hinweg und benutzte einen 
der Eimer, die für ihre Notdurft bereitstanden. In dem 
schwachen Licht, das durch die Luftluke hereinfiel, nahm sie 
die halb nackten Körper ihrer Leidensgenossinnen als 
unheimliche Schatten wahr. Sie lagen wie Mehlsäcke auf den 
harten Schiffsplanken, eine neben der anderen und so dicht, 
dass man kaum den Boden sehen konnte. Selbst Rinder und 
Schweine wurden von den weißen Männern besser behandelt. 
Einige Frauen seufzten im Schlaf, wälzten sich nervös von 
einer Seite auf die andere und kämpften gegen ihre bösen 
Träume an. Ein kleiner Junge weinte leise und verstummte, als 
seine Mutter beruhigend auf ihn einredete. 

Bensua versuchte mühsam das Gleichgewicht zu halten. Das 

Schiff schwankte so stark, dass sie immer wieder den Boden 
unter den Füßen verlor. Der Eimer wackelte bedrohlich. Einige 
Behälter waren bereits umgefallen und der Inhalt hatte sich auf 
dem halben Deck ausgebreitet. Der Gestank war unerträglich. 
Nur weil sie direkt unter der Luftluke lag, hatte sie es 
einigermaßen ausgehalten. 

Die Sklavinnen und vor allem die Kinder, die weit vorn im 

Bug lagen, wagten kaum zu atmen. Ihr Jammern und Stöhnen 
vermischte sich mit dem Knarren der Planken und dem 
Klatschen des Hauptsegels, das sich über der Luftluke erhob. 
Die unheimlichen Geräusche ließen sie erschaudern. 

Vom Quartier der Männer drangen wütende Stimmen und das 

Rasseln schwerer Ketten über die Zwischenwand. Irgendwo 
hinter diesen Brettern lag Otttobah. Sie entfernte sich von dem 

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stinkenden Eimer und kroch auf allen vieren zwischen den 
Gefangenen hindurch. Am Niedergang, der mit einer massiven 
Holztür und einem eisernen Vorhängeschloss versperrt war, 
hing eine Öllampe. Ihr flackerndes Licht strahlte bis auf die 
Wand, die der Zimmermann zwischen den Quartieren der 
Männer und Frauen errichtet hatte. Sie war mit rostigen 
Eisennägeln gespickt um die Sklaven daran zu hindern, die 
Wand mit den Füßen zu treten. 

Bensua ließ sich nicht abschrecken. Sie bat zwei Frauen, die 

ihre Ehemänner auf der anderen Seite der Trennwand wussten, 
sie festzuhalten und spähte vorsichtig durch den Spalt 
zwischen Wand und Decke. Was sie im unruhigen Licht der 
wenigen Laternen sah, erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe 
das Gleichgewicht verlor. Eisige Kälte breitete sich in ihrem 
Körper aus. Die Männer lagen noch dichter beisammen auf 
dem Boden als die Kinder und Frauen. Viele Monate später 
erfuhr sie, dass jedem Sklaven auf einem Schiff ein Platz von 
nur 1,64 Meter Länge und 88 Zentimeter Breite gewährt 
wurde. So hatten es die Europäer in den Schreibstuben 
festgelegt. Die Männer wurden jeweils zu zweit angekettet und 
konnten sich nur gemeinsam bewegen, wenn sie einen Eimer 
für die Notdurft benutzen wollten. Weil die Bewegungen auf 
dem schwankenden Schiff viel zu umständlich und 
schmerzhaft waren, erleichterten sich die meisten auf ihren 
Pritschen. Im Quartier der Männer stank es noch erbärmlicher 
als bei den Frauen. 

Kaum einer der Sklaven schlief. Als Bensua ihren Kopf über 

die Trennwand schob, sah sie, wie sich die Männer bewegten, 
unter Schmerzen aufstöhnten, wenn sie auf ihre Wunden zu 
liegen kamen, oder wütend auf die Matrosen schimpften. Ein 
Bild des Jammers, das sich tief in ihr Bewusstsein brannte. 
»Was siehst du?«, rief eine der beiden Frauen von unten. 
»Geht es ihnen gut?« Bensua antwortete nicht. Sie hatte 

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Ottobah entdeckt. Er lag dicht an der Wand, die gelben 
Flecken des zitternden Laternenscheins auf dem Kopf und dem 
Rücken. Das Licht zeigte die blutigen Striemen, die sich bis zu 
dem Leinentuch zogen, das er um seine Hüften gewickelt 
hatte. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske. »Ottobah!«, 
wollte sie rufen, doch kaum hatte sie die erste Silbe 
ausgesprochen, ging die Holztür auf und der Bootsmann betrat 
das Zwischendeck. Er schlug mit der Neunschwänzigen quer 
über die liegenden Männer und schimpfte: »Gebt endlich 
Ruhe, verdammte Nigger! Wenn ich noch einen Laut höre, lass 
ich euch mit den Haien um die Wette schwimmen!« Er hielt 
seine Worte für einen guten Witz und lachte heiser. 

Noch dreimal knallte die Peitsche und jedes Mal hallten 

verzweifelte Schmerzensschreie über das Deck. Bensua 
bedeutete den beiden Frauen sie loszulassen und ließ sich auf 
alle viere nieder. Mit Tränen in den Augen versuchte sie das 
Gesehene zu verdauen. Die beiden Frauen, die sie mit Fragen 
bedrängten, beachtete sie nicht. Erst als eine zu schluchzen 
anfing und laut nach ihrem Mann rief, suchte sie ihre Gesichter 
in dem Halbdunkel und sagte: »Sie sind Krieger! Sie werden 
den Schmerz ertragen, den ihnen die weißen Männer zufügen! 
Seid tapfer, meine Schwestern! Wir müssen stark sein, wenn 
wir leben wollen!« 

Sie ließ die weinenden Frauen allein und kroch zu ihrer 

schlafenden Freundin zurück. Manu hatte sich breit gemacht 
und ließ ihr kaum noch Platz. Um sie nicht aufwecken zu 
müssen, blieb sie mit dem Rücken an die Schiffswand gelehnt 
sitzen. So unbequem hatte sie noch niemals geschlafen. Sie 
versank in einen quälenden Traum, der sie mehrmals 
aufstöhnen ließ, und erwachte mit den ersten Strahlen der 
Sonne, die durch die Luftluke hereinfielen. Sie öffnete die 
Augen und blickte Manu an. »Ich habe die Götter im Traum 

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gesehen«, log sie mit einem erzwungenen Lächeln. »Sie 
werden über uns wachen! Hab keine Angst!« 

In dem schweren Vorhängeschloss, das die Holztür zum 

Niedergang versperrte, drehte sich ein Schlüssel. Die Tür 
sprang auf und der Zweite Maat trat geduckt auf das 
Zwischendeck. Er knallte mit der Neunschwänzigen und rief: 
»Aufstehen, ihr verdammten Weiber! Kommt an Deck und 
zeigt uns, was ihr zu bieten habt! Die Frau mit den größten 
Brüsten darf in meiner Koje schlafen!« Er lachte schallend und 
trat der am nächsten liegenden Frau in die Rippen. »Worauf 
wartest du noch? Oder willst du den ganzen Tag in diesem 
Dreck hier liegen? Steh auf!« Er schwang erneut die Peitsche 
und scheuchte die verängstigten Frauen und Kinder den 
Niedergang hinauf. »Und spart euch das Gejammer für 
nachher auf, wenn Johnny Graham seinen Dienst antritt!« Er 
lachte wieder und stieß eine Frau auf die Treppe. 

Bensua erkannte am Lachen von O’Reilly, mit welchen 

Worten er die Frauen beleidigte, und hatte sich nur mühsam in 
der Gewalt. Am liebsten hätte sie sich schreiend auf den 
Zweiten Maat gestürzt. Das niedrige Zwischendeck und die 
Gewissheit, von dem Mann auf grausame Weise bestraft zu 
werden, vielleicht sogar das Nachtlager mit ihm teilen zu 
müssen, hielten sie davon ab. Man brauchte nicht die Fantasie 
der weißen Männer um sich vorzustellen, was die Matrosen 
mit den  jungen Gefangenen im Sinn hatten. Dennoch konnte 
sie nicht anders, als vor O’Reilly stehen zu bleiben und ihm 
verächtlich in die Augen zu blicken. Nur ihr Lebenswille 
hinderte sie daran, vor dem Mann auszuspucken. 

O’Reilly erwiderte den Blick und grinste unverhohlen. »He, 

du willst dich wohl mit mir anlegen?« Er griff ihr an die Brust 
und zeigte ihr mit seinem gierigen Blick, dass er schon lange 
keine Frau mehr gehabt hatte. Als sie sich wehrte, drückte er 
so fest zu, dass sie stöhnend in die Knie ging. Er  lachte 

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schallend. »Bei den Piraten haben wir schwarze Luder wie 
dich an den Mast gebunden und so lange geprügelt, bis sie 
gewinselt haben! Eine sprang freiwillig über Bord! Wollte 
lieber bei den Haien sein als mit den Männern in die 
Hängematte steigen! Dummes Ding!« 

Bensua verstand kein Wort und kletterte rasch den 

Niedergang hinauf. Oben angekommen zog sie ihre Freundin 
an Deck. Manu zitterte vor Angst und konnte sich kaum auf 
den Beinen halten. Sie schien erst jetzt zu erkennen, in welch 
bedrohlicher Lage sie sich befanden. »Was haben sie mit uns 
vor?«, fragte sie nervös. 

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua ehrlich. Auch sie 

hatte plötzlich Angst und schloss nicht mehr aus, dass die 
weißen Männer vorhatten sie umzubringen. Vielleicht brachten 
sie nur die Männer in das fremde Land und warfen die Frauen 
ins Meer! 

Das vermuteten auch die meisten anderen Sklavinnen. Kaum 

waren sie an Deck, drängten sie sich wie verängstigte Schafe 
während eines Gewitters zusammen und blickten furchtsam 
auf die weißen Männer, die fast alle Peitschen in den Händen 
hielten. Ein Mädchen stieß einen hysterischen Schrei aus, rief 
immer wieder »Sie wollen uns umbringen! Sie wollen uns 
umbringen!« und steckte die anderen Gefangenen mit ihrer 
Panik an. Bensua stand zwischen den klagenden Frauen und 
schaffte es kaum noch, ihre Freundin mit einem Händedruck 
zu ermutigen. 

Und das Vorgehen der weißen Männer war nicht dazu 

angetan, die Gefangenen zu beruhigen. Ein Matrose hielt einen 
brennenden Span an die Lunte des großen Feuerrohrs, das an 
der Reling stand, und hielt sich beide Ohren zu, als sich die 
Kanone mit einem ohrenbetäubenden Krachen entlud. Die 
Kugel klatschte in das aufgewühlte Meer. Ein verzweifelter 
Aufschrei ging durch die Frauen und Kinder. Einige Kinder 

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schrien vor Entsetzen. Die Matrosen lachten über den 
Schrecken, den sie ihren Gefangenen eingejagt hatten, und 
wuchteten das mächtige Feuerrohr herum. Jetzt zeigte die 
Mündung auf die Frauen und Kinder. Ihr Entsetzen 
verwandelte sich in wilde Panik und eine Frau wollte 
tatsächlich über die Reling springen, wurde aber von einem der 
Matrosen zurückgehalten. Sie wand sich schreiend in seinem 
festen Griff, bis Bensua rief: »Beruhigt euch doch! Sie wollen 
uns nur erschrecken! Seht doch! Sie zünden das große 
Feuerrohr nicht an!« 

Ein  knallender Peitschenhieb brachte die ängstlichen Frauen 

endgültig zur Besinnung. »Wollt ihr wohl still sein, ihr elenden 
Weiber!«, brüllte O’Reilly sie an. »Wir wollen euch nicht 
töten! Ganz im Gegenteil! Wir werden noch viel Vergnügen 
zusammen haben, wenn ihr euch benehmt!« Er unterstrich 
seine Worte mit einem Schmatzen, wie er es bei dem 
Holländer gesehen hatte. 

»Mister O’Reilly«, wies Captain Alex Whitcomb seinen 

Zweiten Maat zurecht. Er stand auf dem Achterdeck, die 
Hände auf dem Rücken, den blauen Dreispitz auf den 
spärlichen Haaren. »Das genügt! Wir sollten unsere Fracht 
pfleglich behandeln um einen größtmöglichen Gewinn in 
Charleston zu erzielen! Wenn wir die Neger in Panik 
versetzen, bekommen wir nur Ärger! Sie erinnern sich doch 
daran, was auf unserer letzten Fahrt geschehen ist?« 

»Aye, Captain! Ein halbes Dutzend der verdammten Weiber 

ist über Bord gesprungen und wir mussten den Rest mit Ketten 
an die Reling binden! Und in dem Sturm vor der kubanischen 
Küste sind uns nochmal welche verreckt! Aber das lag an 
diesem schwarzen Teufel, der sie gegen uns aufgehetzt hat! 
Wäre es nach mir gegangen, hätten wir uns mit den Weibern 
vergnügt und sie hätten uns bis Charleston aus der Hand 
gefressen!« 

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Der Kapitän bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick. 

Er hatte keinen Sinn für Humor, schon gar nicht für die derben 
Späße, die O’Reilly bevorzugte. »Ich habe nichts dagegen, 
wenn sie die Frauen für sich tanzen lassen«, erwiderte er 
streng. »Aber ich  muss Sie noch einmal eindringlich daran 
erinnern, wie gefährlich es ist, in körperlichen Kontakt mit 
diesen Wesen zu treten! Ich brauche Ihnen wohl nicht zu 
erzählen, welche Krankheiten in den Körpern unserer Ware 
lauern.« Er blickte den langhaarigen Mann an, der neben ihm 
auf dem Achterdeck stand und mürrisch auf die ängstlichen 
Frauen blickte. »Doktor Atkins! Berichten Sie der Mannschaft, 
was Sie auf Ihrem letzten Schiff erlebt haben!« 

Der Schiffsarzt, ein junger Mann, der ständig schwitzte, hatte 

zwei Jahre in einer Klinik in Savannah gearbeitet. Er war 
einem Geldanleger auf den Leim gegangen und vor seinen 
Gläubigern auf ein Sklavenschiff geflüchtet. Sein 
aufgeschwemmtes Gesicht verriet, dass er dem Alkohol nicht 
abgeneigt war. »Das war auf der  Voyager«,  sagte er. »Unter 
den Frauen, die wir an der Elfenbeinküste geladen hatten, 
waren einige Schönheiten, die es darauf angelegt hatten, das 
Lager mit unseren Offizieren zu teilen. Wir wussten nicht, dass 
sie unter einer seltenen Krankheit litten. Einer gefährlichen 
Hautkrankheit, die wir damals noch nicht kannten. Bevor  ich 
der Krankheit auf die Spur kam, hatten sich fünf Männer 
angesteckt, darunter auch der Erste Maat. Der Captain ließ die 
Männer und alle kranken Frauen ins Meer werfen! Er  musste 
es tun, sonst hätte die Versicherung seinen Verlust niemals 
ersetzt! Wir wissen nicht, ob es noch andere Krankheiten 
dieser Art gibt, und ich möchte Ihnen dringend raten, sich nicht 
mit den Negerinnen einzulassen! Das ist viel zu gefährlich!« 

»Ich bin immun gegen Schiffsfieber und dieses ganze Zeug«, 

erwiderte O’Reilly lachend. »Bei den Piraten haben wir es mit 
viel gefährlicheren Weibern zu tun gehabt und mir ist nie was 

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passiert!« Wie zur Bestätigung ließ er seine Muskeln spielen. 
Er warf den Frauen einen herausfordernden Blick zu und zog 
die neunschwänzige Peitsche über den Boden. »Und jetzt gebt 
ihnen endlich was zu essen«, trieb er die Matrosen an, »sonst 
brechen sie uns noch zusammen! Tot nützen sie uns noch viel 
weniger!« 

»Halten Sie sich zurück!«, warnte Captain Alex Whitcomb 

den Zweiten Maat noch einmal. »Auf meinem Schiff herrscht 
Ordnung! Wenn wir eine Ware übernehmen, liefern wir sie 
ordentlich und fristgerecht an ihrem Bestimmungshafen ab. Ich 
kann mir keine Verluste erlauben, sonst  muss ich Ihnen den 
Lohn kürzen!« Er nahm die Hände hinter dem Rücken hervor 
und warf einen strengen Blick auf den Arzt, der eine 
Rumflasche aus der Jackentasche zog und einen tiefen Schluck 
nahm. »Und lassen Sie die Neger ordentlich tanzen! Bewegung 
hält unsere Ware frisch!« 

Die Frauen hatten gesehen, wie der Kapitän seinen Zweiten 

Maat zurechtwies, und verloren allmählich ihre Todesangst. 
Und als einige Matrosen einen großen Topf mit Hirsebrei 
brachten und O’Reilly den Sklavinnen befahl eine Hand voll 
zu nehmen, waren sie endgültig überzeugt, dass sie am Leben 
bleiben durften. Sie waren sich  aber auch im Klaren darüber, 
dass die geringste Kleinigkeit genügen konnte um die Absicht 
der weißen Männer zu ändern. Die Kanone blieb auf sie 
gerichtet und daneben stand ein Matrose, der sofort die Lunte 
anzünden würde, wenn ein Vorgesetzter es befahl. Dann würde 
die Eisenkugel sie vom Schiff schleudern und ins Meer zu den 
Raubfischen werfen. 

Bensua schöpfte eine Hand voll Hirsebrei aus dem Topf und 

ermahnte Manu möglichst viel zu essen. »Ich weiß nicht, wie 
lange wir auf diesem Schiff sein werden. Du musst bei Kräften 
bleiben«, sagte sie eindringlich. Sie setzten sich an die Reling 
und aßen stumm. Manu brachte den zähen Brei kaum hinunter. 

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Die Furcht, von den weißen Männern erschossen oder über 
Bord geworfen zu werden, hatte sich tief in ihren Körper 
gegraben. Sie weinte leise und blickte immer wieder auf das 
Feuerrohr, das am Bug des Schiffes stand und mit seiner 
dunklen Öffnung auf sie zeigte. »Du musst alles aufessen!«, 
ermahnte Bensua das Mädchen noch einmal. 

Nach einer Weile beruhigte Manu sich und Bensua fand 

endlich Zeit, ihren Blick über das Schiff wandern zu lassen. 
Wie die riesigen Bäume im Regenwald ragten die beiden 
Masten aus dem Deck empor. Die weißen Segel knarrten in 
dem leichten Wind, der während des ersten Teils der Reise aus 
Südosten kam. »Südostpassat« nannten ihn die weißen 
Männer. Schwierig wurde es erst am Äquator, auf der Fahrt 
vom Südostpassat in den Nordostpassat, der sie nach Amerika 
bringen würde. Dort warteten gefährliche Flauten, die ein 
Schiff wochenlang festhalten konnten. Dann wurde es so heiß 
auf den Zwischendecks, dass viele Sklaven krank wurden und 
starben. Auf einem Schiff waren über hundert Gefangene 
gestorben, aber das wusste Bensua nicht. Sie freute sich über 
die frische Luft und den Wind, der den Gestank aus ihren 
Kleidern trieb und sie ein wenig belebte. 

Ihr Blick wanderte über die Reling und ging auf das weite 

Meer hinaus. Es war beängstigend, die scheinbar endlose 
Wasserfläche um sich zu sehen. Selbst in der Richtung, aus der 
sie kamen, war kein Land mehr auszumachen. Als hätte ein 
riesiges Ungeheuer alles Land verschluckt. Hier draußen sah 
man, wie mächtig  Onyankopon Kwame war. Das weite Meer 
und der Himmel, der wie eine mächtige Glocke über dem 
silbernen Wasser hing, zeugten von der gewaltigen Macht, 
über die der Schöpfer verfügte. Auf den großen 
Versammlungen hatte der Asantehene betont, dass der Gott der 
Asante mächtiger war als alle anderen Götter. Selbst dem Gott 
der Weißen sollte er überlegen sein. Bensua vermutete, dass es 

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nur einen Gott gibt, dem die weißen und die schwarzen 
Männer unterschiedliche Namen gegeben hatten. 

Die Ruhe währte nicht lange. Kaum hatten sie ihr Essen 

beendet, erinnerte sie der Zweite Maat mit einigen 
Peitschenhieben daran, dass sie unter seinem Befehl standen 
und von seiner Gnade abhängig waren. Auch wenn die 
Lederriemen seiner Neunschwänzigen nur die Planken 
berührten, war allen Frauen und selbst den Kindern klar, wie 
schnell sich die Behandlung durch die weißen Männer ändern 
konnte. Eine winzige Laune würde den Zweiten Maat und den 
Bootsmann dazu verleiten, die halb nackten Gefangenen mit 
ihrer Peitsche zu quälen, und welche Wunden eine solche 
Behandlung hinterließ, hatte Bensua auf dem langen Marsch 
zur Küste und bei Ottobah gesehen. 

Sie durften einen Becher von dem Wasser trinken, das aus 

den hölzernen Fässern kam, und wurden angehalten ihre 
Körper mit Salzwasser zu waschen, das mit Zitronensaft 
versetzt war, damit sich ihre Haut nicht entzündete. Die 
weißen Männer lachten, als die Frauen zögernd ihre Kleider 
auszogen, und machten keine Anstalten, sie allein zu lassen. 
Sie tauschten derbe Witze aus und zeigten den Sklavinnen mit 
obszönen Bewegungen, was sie beim Anblick ihrer Nacktheit 
empfanden. Auf der Hannibal war der Ton noch rauer als auf 
einem Piratenschiff. 

Bensua ermahnte ihre Freundin sich nicht um die Matrosen 

zu kümmern und bemühte sich jeden Blickkontakt mit ihnen 
zu meiden. Sie waren beide froh, als sie ihre Kleider wieder 
angezogen hatten und nach unten gehen durften. 

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13 

 
 
 

Der Zweite Maat trieb die Frauen und Kinder in den hinteren 
Teil des Schiffes und bedeutete ihnen mit der erhobenen 
Peitsche sich auf die Planken zu setzen. Die Gefangenen 
bemühten sich, nicht in die Nähe des großen Feuerrohres zu 
kommen, und zuckten unwillkürlich zusammen, als O’Reilly 
die neunschwänzige Peitsche knallen ließ. Seit mehreren 
Wochen hörten sie kaum etwas anderes als dieses Knallen und 
doch hatte sich kein einziger Sklave an dieses hässliche 
Geräusch gewöhnt. So sprachen die bösen Geister. Ein 
bösartiges Fauchen, wenn die weißen Männer ausholten, wie 
von einer aufgebrachten Wildkatze und dann dieses laute und 
eindringliche Knallen, wenn die Lederriemen den Boden oder 
die nackte Haut berührten. Selbst heftige Faustschläge waren 
leichter zu ertragen. 

Die Lautstärke der Peitschenhiebe schwoll an und ließ die 

Gefangenen erschrocken zum Niedergang blicken. Staunend 
beobachteten sie, wie O’Reilly und einige Matrosen die 
männlichen Sklaven nach oben trieben. Von derben Flüchen 
und harten Schlägen  begleitet kletterten die Krieger an Deck. 
Ihr Anblick war so schrecklich, dass lautes Wehklagen unter 
den Frauen und Kindern ausbrach. Einige Männer hatten 
bereits aufgegeben, erduldeten die Demütigungen wie 
willenlose Tiere und schrien kaum noch, wenn ein 
Peitschenhieb sie traf. Aufgeplatzte Wunden und blutige 
Striemen leuchteten in der Morgensonne. Die schweren 
Ketten, mit denen sie wie Sträflinge aneinander gekettet waren, 
klirrten bei jeder Bewegung. Die wenigen Krieger, die sich 
noch vor der Einschiffung gegen die Matrosen aufgelehnt 

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hatten, waren still geworden und man erkannte nur noch an 
ihren Blicken, dass sie an ein Überleben glaubten. 

Einige Frauen schrien auf und wollten sich den Männern 

nähern, wurden jedoch von den Matrosen zurückgehalten. 
Aufgelöst und voller Panik drängten sie sich vor den 
entsicherten Musketen und den erhobenen Entermessern. 
Bensua stand in vorderster Reihe, den Blick auf Ottobah 
gerichtet, der einen Schritt auf sie zu gelaufen und über seine 
eisernen Fesseln gestürzt war. »Ottobah!«, rief sie laut. »Du 
darfst dich nicht gegen sie auflehnen! Sie haben große 
Feuerrohre und Gewehre! Wir haben keine Chance gegen sie! 
Ich will nicht, dass sie dich töten!« 

»Ich bin ein Fante!«, antwortete Ottobah. »Ich bin ein 

tapferer Krieger! Ich  muss mich gegen diese Männer wehren, 
wenn ich vor den Nachkommen unseres Volkes bestehen 
will!« 

Bensua widerstand dem Drang, an den bewaffneten Matrosen 

vorbei zu Ottobah zu laufen, und ihren eigenen Tod zu 
riskieren. Ihr war plötzlich klar, dass der Fante auch gegen ihr 
eigenes Volk rebelliert hätte. Er wäre niemals ein Sklave der 
Asante geworden! Er hätte immer wieder versucht den 
Todfeinden seines Volkes zu entkommen und wäre lieber 
enthauptet worden, als im Haus einer Familie der Asante zu 
wohnen. Vor ein paar Monaten hätte sie es noch für undenkbar 
gehalten, ein Gefühl für einen solchen Krieger zu entwickeln. 
Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr vorstellen ohne ihn zu 
leben. Selbst in diesem Augenblick war ihr klar, dass eine 
Zukunft nur mit ihm möglich war. 

Sie spürte, wie Manu an ihrem rechten Arm zog, und gab 

dem Drängen nach. Ihre junge Freundin hatte Recht. Es wäre 
Selbstmord gewesen, sich den weißen Männern zu 
widersetzen. Die wahre Kunst des Widerstands bestand darin, 
sich seinen Glauben und seine geistige Stärke zu bewahren. Es 

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machte keinen Sinn, dem starken Gefühl der Sehnsucht 
nachzugeben und eine Dummheit zu begehen. O’Reilly wartete 
nur darauf, dass eine Frau die Nerven verlor. Dann besaß er 
endlich einen Grund, mit Gewalt gegen sie vorzugehen, und 
nicht einmal der Kapitän würde etwas dagegen haben, wenn er 
sie züchtigte. Der Zweite Maat war ein brutaler Mann, viel 
gefährlicher als der Bootsmann, den sie »Johnny« oder 
»Graham« nannten. Er hatte Freude daran, hilflose Frauen und 
Kinder zu peitschen. Er wollte Blut sehen, wie der Asantehene, 
wenn er seinen Feinden beweisen wollte, dass es kein 
mächtigeres Volk als die Asante gäbe. Was für ein 
Trugschluss! Bald würde auch er erkennen müssen, wie 
überlegen die weißen Männer den schwarzen Kriegern waren. 

Bensua schloss die Augen und sammelte neue Kraft. Sie 

konnte nicht ahnen, wie schlecht es den Männern auf dem 
Zwischendeck ergangen war. Die schweren Ketten, die sie 
gesehen hatte, waren an eisernen Ringen in der Schiffswand 
befestigt, die ihnen so wenig Spielraum gaben, dass sie kaum 
die Eimer für die Notdurft erreichten. Das Liegen wurde zur 
Qual, jede Bewegung verursachte höllischen Schmerz. Die 
kaum verheilten Brandzeichen und die offenen Wunden, die 
unter den Hieben der neunschwänzigen Peitsche aufgeplatzt 
waren, brannten wie das Gift, das die Asante aus einem Baum 
des Regenwaldes gewannen. Graham und O’Reilly 
behandelten die Männer grausamer als die Frauen und Kinder, 
fast jeder der Sklaven hatte bereits unter der Peitsche gelitten. 
Derbe Fußtritte und heftige Schläge mit Holzknüppeln waren 
an der Tagesordnung. Die meisten Matrosen hatten Spaß daran 
die Männer zu quälen. Sie wussten, wie man Menschen schlug 
ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Bis sie die 
amerikanische Küste erreichten, würden noch einige Wochen 
vergehen, da blieb genug Zeit, die »Ware« für den Verkauf 

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herauszuputzen und zu mästen. So wie es Bauern mit Rindern 
oder Schweinen taten, die sie zum Markt trieben. 

Beim Anblick der Kanone und der vielen Musketen, die jetzt 

auf die Männer gerichtet waren, zügelte sogar Ottobah seinen 
Zorn. Manchmal bedeutete Widerstand auch, den Geist und 
den Körper zu stärken und den richtigen Augenblick 
abzuwarten. Erst wenn der Feind eine Schwäche erkennen ließ, 
durfte man zuschlagen. Der Fante war entschlossen sich gegen 
die weißen Männer aufzulehnen, und schmiedete bereits Pläne, 
wie man den Matrosen am besten beikommen konnte. Es sah 
ganz so aus, als ob man sie täglich an Deck bringen würde. Sie 
durften nicht krank werden, wenn sie einen guten Preis bringen 
sollten, und brauchten frische Luft und Bewegung. An Deck 
musste es geschehen, hier hatten sie am meisten Platz. Sie 
würden sich Waffen beschaffen und die weißen Männer töten! 

Doch der Zweite Maat hatte es auf ihn abgesehen und 

verpasste keine Gelegenheit, ihn zu provozieren. O’Reilly fuhr 
seit einigen Jahren auf Sklavenschiffen und wusste schon nach 
der Verladung, welcher Schwarze ihm gefährlich werden 
konnte. Bei jeder Fracht war ein Mann dabei, der sich mit 
seinem Schicksal nicht abfinden wollte und nur darauf wartete, 
einen Aufstand anzuzetteln. Solche Unruhestifter musste man 
in ihre Schranken weisen, bevor ein Unglück geschah. Sobald 
sie nähere Bekanntschaft mit seiner neunschwänzigen Peitsche 
geschlossen hatten, wurden sie meist gefügig. Und wenn eine 
solche Bestrafung nicht ausreichte, gab es andere Mittel, sie 
zur Vernunft zu bringen! 

»Morgen knöpfe ich mir diesen kräftigen Nigger vor«, sagte 

O’Reilly, nachdem sie einige Tage auf See waren. Er hatte den 
Bootsmann geweckt, der die Nachtwache übernehmen sollte. 

»Ich weiß, wen du meinst«, antwortete Graham grinsend. 
»Hast du gesehen, wie er das schlanke Mädchen ansieht? Die 

mit den festen Brüsten? Die nehme ich mir mal vor! Wenn ich 

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der zwischen die Beine greife, dreht er durch, darauf kannst du 
wetten! Dann hat der Captain nichts mehr dagegen, dass ich 
ihn an den Mast binde und ihm eine ordentliche Abreibung 
verpasse!« 

»Schade, dass ich nicht zusehen kann«, meinte Graham. 
Bensua wusste nichts von dieser Unterhaltung, sonst wäre sie 

wohl mit bloßen Händen auf den Zweiten Maat losgegangen. 
Sie hatte beschlossen möglichst wenig aufzufallen und ihre 
ganze Energie darauf zu verwenden, ihrer jungen Freundin 
während der beschwerlichen Seereise beizustehen. Die 
Aufgabe lenkte sie von ihrer Sehnsucht nach Ottobah ab und 
half ihr die eigene Angst zu überwinden. Manu neigte zur 
Schwermut, weinte häufig und ihr Körper war so schwach, 
dass sie eine Krankheit des weißen Mannes niemals überleben 
würde. Es war ihre Pflicht, sie in der Hoffnung zu bestärken, 
dass sich die Götter bald an sie erinnern würden. Mehrmals am 
Tag beteten sie zusammen, und wenn kein Aufseher in der 
Nähe war, sangen sie leise die heiligen Lieder ihres Volkes. Es 
half, sich auf den Glauben der Asante zu besinnen, wenn die 
Zukunft dunkel und ungewiss schien. 

Doch gegen die Grausamkeit und Willkür der weißen Männer 

war auch Bensua machtlos. Jeden Morgen und jeden Abend, 
wenn die Sonne nicht so stark brannte, wurden sie von den 
Matrosen an Deck getrieben, um dort zu essen, sich die Beine 
zu vertreten und frische Luft zu atmen, eine Unterbrechung der 
qualvollen Tage und Nächte auf dem Zwischendeck, die 
Bensua wie ein Geschenk empfand. Natürlich ahnte sie, dass 
die weißen Männer ihnen damit keinen Gefallen erweisen 
wollten. Sie waren eine »Ware«, die bei der Ablieferung im 
besten Zustand sein musste. Das erfuhr sie spätestens in 
Charleston, wo sie an die Pflanzer der näheren Umgebung 
verkauft wurden. Einen Menschen, den man verkaufen wollte, 
ließ man nicht in der Dunkelheit sterben und den schlug man 

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nicht tot – auch wenn der Zweite Maat sich Mühe gab, ihnen 
das Gegenteil zu beweisen. 

Es geschah so plötzlich, dass Bensua keine Möglichkeit blieb 

sich zur Wehr zu setzen. Ihr Grauen war so groß, dass sie nicht 
einmal schrie. O’Reilly schien aus dem Nichts aufzutauchen 
und zerrte sie so heftig vom Boden hoch, dass ihr der 
lauwarme Hirsebrei aus der Hand fiel und auf die Planken 
klatschte. »Na, ist sie nicht ein Prachtstück?«, rief er den 
Matrosen zu. Alle außer dem Schiffsarzt, der mit betretener 
Miene auf dem Achterdeck stand, lachten schadenfroh. Einige 
der Männer waren schon mit dem Zweiten Maat gefahren und 
wussten, was jetzt kam. »Seht sie euch an! Schlank, kräftig 
und die weißesten Zähne, die ich jemals bei einem Weib 
gesehen habe!« Er griff Bensua lachend in den Mund. »Was 
meint ihr, wie viel wir für sie bekommen? Zwei Säcke Zucker? 
Drei? Vier? Einen Wagen voll Tabak?« Er warf einen Blick 
auf Ottobah und grinste zufrieden, als er bemerkte, dass sich 
der »Nigger« kaum noch beherrschen konnte. In wenigen 
Augenblicken würde er vollkommen die Nerven verlieren. 

»Oder sollen wir sie in ein Bordell stecken? Na, was meint 

ihr? Genug zu bieten hat die verdammte Niggerin ja!« Er fasste 
ihr an die Brüste und zwischen die Beine und wirbelte lachend 
herum, als Ottobah einen verzweifelten Schrei ausstieß, nach 
vorn stürmte und von den Ketten zu Boden gerissen wurde. Er 
versetzte dem Fante einen Tritt und befahl den Matrosen ihn 
loszumachen. Bensua stieß er achtlos wie eine Puppe zu 
Boden. 

Zwei weiße Männer befreiten den Schwarzen von seiner 

eisernen Fessel und schleiften ihn zu O’Reilly. Es waren genug 
Musketen auf Ottobah gerichtet, um ihn nicht auf dumme 
Gedanken kommen zu lassen. Die wütenden Schreie der 
anderen Schwarzen und das verzweifelte Schluchzen der 
Frauen und Kinder erstarben im Knallen der Peitschen. Bensua 

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klammerte sich an ihre Freundin, weinte hemmungslos und 
musste von mehreren Frauen festgehalten werden. Wäre sie 
aufgesprungen und auf den Zweiten Maat losgegangen, hätte 
es ein noch größeres Unglück gegeben. »Du hast gesagt, dass 
wir stark sein  müssen!«, flüsterte Manu atemlos. »Jetzt musst 
du das auch tun! Du darfst dich nicht wehren, sonst töten sie 
dich! Das sehe ich in ihren Augen!« 

Bensua erkannte, wie aussichtslos ihre Lage war, und 

versuchte sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht. Sie schnappte 
wie eine Ertrinkende nach Luft und grub ihre Hände in die 
Oberschenkel zweier Frauen, die  sie festhielten. Ihr Körper 
wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Durch die 
Tränenschleier vor ihren Augen konnte sie beobachten, wie 
Captain Alex Whitcomb an Deck erschien und seine nüchterne 
Stimme erhob: »Zweiter Maat! Was ist geschehen? Was hat 
dieser Neger verbrochen?« 

»Er wollte mich töten, Sir! Er fiel mich von hinten an und 

wollte mir die Gurgel zudrücken!« Er blickte abfällig auf den 
Fante hinab. »Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn ins Meer 
werfen!« 

Der Kapitän kam näher und schüttelte den Kopf. Der Anblick 

des gepeinigten Schwarzen schien ihn nicht zu berühren. »Er 
ist ein wertvoller Teil unserer Ware, O’Reilly. Das wissen Sie 
doch! Genauso gut könnten Sie einen Beutel voller Gold über 
Bord werfen!« Er gestattete sich ein leichtes Grinsen. »Aber 
ich sehe ein, dass wir eine solche Disziplinlosigkeit nicht 
durchgehen lassen dürfen. Geben Sie ihm zehn kräftige Hiebe 
und streuen Sie etwas Salz und Zitronensaft in die Wunden! 
Das wird ihn und die anderen lehren sich künftig an unsere 
Befehle zu halten.« 

»Aye, Captain.« 
»Schlagen Sie kräftig zu, Mister O’Reilly! Bis wir Charleston 

erreichen, hat er sich wieder erholt. Er ist ein Unruhestifter, 

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nicht wahr? Ich kenne diesen Typ. Auf der letzten Fahrt hatten 
wir einen ähnlichen Fall. Ein Neger wollte nicht einsehen, dass 
es nur zu seinem Besten war, wenn wir ihn nach Amerika 
brachten. Er stahl eine Muskete und erschoss einen Matrosen, 
bevor wir ihn dingfest machen konnten. Mein damaliger Maat 
wollte ihn über Bord werfen. Ich habe ihn an den Mast binden 
und auspeitschen lassen. Das half. Er brachte einen 
Spitzenpreis in Charleston!« 

»Aye, Sir.« 
»Tun sie Ihre Pflicht, O’Reilly! Und Sie…«Er wandte sich an 

den Schiffsarzt, der näher gekommen und sichtlich blass 
geworden war. »… und Sie achten darauf, dass der Neger am 
Leben bleibt!« 

»Captain! Ist es denn wirklich nötig…« 
»Ja, Doktor!«, schnitt Whitcomb ihm das Wort ab. »Ich habe 

den Auftrag, die Ware möglichst vollständig und gesund nach 
Charleston zu bringen. Und das geht nur, wenn wir uns an die 
Gesetze halten!« Er deutete auf Ottobah. »Worauf warten Sie 
noch, Mister O’Reilly? Zeigen Sie diesem Neger, was 
Disziplin heißt!« 

Auch ohne die Worte des Captains zu verstehen ahnte 

Bensua, welches schreckliche Schauspiel sie erwartete. Der 
Zweite Maat wollte seine Macht beweisen und dem 
gefährlichsten Sklaven zeigen, dass jeder Widerstand zwecklos 
war. Er ließ den armen Ottobah bäuchlings an den Mast binden 
und wies die Matrosen an mit ihren Musketen auf die anderen 
Sklaven zu zielen. »Schießt in die Luft, wenn sie Ärger 
machen«, sagte er. »Keiner vergreift sich ohne meinen Befehl 
an den Gefangenen!« 

Bensua kämpfte tapfer gegen den Schmerz und lächelte die 

Frauen, die sie hielten, an. Zu Manu meinte sie: »Sorg dich 
nicht um mich. Wenn Ottobah stark genug ist, die Schläge zu 
ertragen, will ich tapfer sein und nicht weinen!« 

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Doch schon der erste Schlag stellte sie auf eine harte Probe. 

O’Reilly, der ungefähr fünf Schritte vor dem hilflosen Krieger 
stand, holte weit aus und ließ die Lederschnüre der 
neunschwänzigen Peitsche mit voller Wucht auf seinen 
Rücken klatschen. Die Gefangenen schrien entsetzt auf. 
Bensua griff nach den Händen ihrer Freundinnen und drückte 
sie verzweifelt. Ein Kind lief schreiend seiner Mutter davon 
und wurde von einem Matrosen zurückgejagt. 

Die Frau riss es hastig in ihre Arme. Ein junges Mädchen 

übergab sich und begann hysterisch zu wimmern. 

Nur Ottobah beherrschte seinen Schmerz. Obwohl die 

Lederschnüre tief in seine Haut geschnitten hatten, kam 
lediglich ein unterdrücktes Stöhnen über seine Lippen. Auch 
beim zweiten und dritten Schlag schrie er nicht. Den vierten 
Schlag führte O’Reilly noch heftiger aus, aber wieder brachte 
Ottobah es fertig, den Zweiten Maat mit seiner Tapferkeit zu 
demütigen. Die harten Schläge trieben glühende Flammen 
durch seinen Körper und hätten jeden anderen Krieger 
schreiend zusammenbrechen lassen, doch sein Zorn auf den 
selbstgerechten Maat und seine lachenden Kumpane war 
genug, um ihn auch diesen Schmerz ertragen zu lassen. Ich bin 
stark!, flüsterte er in Gedanken. Ich werde überleben! Ich bin 
stärker als die Weißen! 

Bensua wagte kaum zu atmen, als ein Schlag nach dem 

anderen auf den Rücken des geliebten Mannes prasselte. Sie 
musste hinsehen, obwohl sie nicht wollte, und den Schmerz, 
ihn leiden zu sehen, hielt sie nur in den Armen der anderen 
Sklavinnen aus. Ihre Tränen waren versiegt und ihre Miene 
wurde hart und unnahbar. Warum taten diese Menschen so 
etwas? Jeder Sklave, der bei den Asante starb, bekam die 
Chance, sich zu wehren oder unter den Gebeten eines heiligen 
Mannes zu sterben. Diese Männer kannten keine Gnade und 
demütigten Ottobah. Er wehrte sich gegen eine drohende 

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Ohnmacht, weil er auch diese als Niederlage gesehen hätte, 
und ertrug den Schmerz wie ein Krieger, der unzählige 
Schlachten gegen tapfere Feinde geschlagen hatte. Seine 
Augen waren rot und aus seiner Nase und den tiefen Wunden 
auf seinem Rücken floss Blut, aber seine Gedanken waren 
stark und ließen ihn den unmenschlichen Schmerz ertragen. 
Ich bin stärker als die Weißen, wehrte er sich innerlich. 

Unter dem zehnten Schlag, der härter und gemeiner als die 

anderen war, sackte er benommen zusammen. Er brauchte 
seine ganze Kraft um bei Sinnen zu bleiben. Lediglich ein 
leises Seufzen kam aus seinem Mund, als ihn die Matrosen 
losbanden und auf die Planken warfen. Sie drehten ihn auf den 
Bauch und hielten ihn an Händen und Füßen fest. »Jetzt wollen 
wir doch mal sehen, ob er wirklich so hart ist, wie er tut«, 
meinte O’Reilly. Er schob die Peitsche hinter den Gürtel und 
befahl einem anderen Matrosen, eine Mischung aus Salzlake, 
Zitronensaft und gestoßenem Pfeffer in die offenen Wunden zu 
streuen. »Geh nicht zu sparsam damit um!« Grinsend führte 
der Mann den Befehl aus. 

Und so kapitulierte Ottobah doch noch vor den weißen 

Männern. Der Schmerz war so unerträglich, dass er sich wie 
ein angeschossenes Tier aufbäumte und verzweifelt mit dem 
Kopf auf die Planken schlug. Seine Schreie hatten nichts 
Menschliches an sich und ließen den anderen Gefangenen das 
Blut in den Adern gefrieren. Sie hallten weit über den grauen 
Ozean und verklangen in dem schwachen Dunst, der von 
Westen heraufzog. 

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14 

 
 
 

Ottobah erschien drei Tage nicht an Deck. Einige Männer 
gaben Bensua durch Zeichen zu verstehen, dass er auf seiner 
Pritsche lag und verzweifelt gegen das Fieber ankämpfte. Der 
Mann, der an ihn gekettet war, musste bei ihm bleiben und war 
dazu verdammt, dieselbe stickige Luft wie er zu atmen. 
Während der ganzen Zeit bekamen Ottobah und sein 
Leidensgenosse nichts zu essen. Sie mussten sich einen Becher 
des brackigen Wassers teilen, das einer der Matrosen ihnen 
reichte. »Es tut mir Leid«, sagte Ottobah zu dem Krieger, der 
seine Fesseln teilte. »Ich hätte ins Wasser springen und dir 
diesen Schmerz ersparen sollen!« 

»Du bist sehr tapfer«, meinte der Mann. Auch er war ein 

Fante, nur älter und ruhiger und nicht so ungestüm wie 
Ottobah. Sein letzter Kampf lag zwanzig Jahre zurück. Damals 
hatte er sich vergeblich gegen die Asante gewehrt. Gegen die 
Weißen hatten die Fante niemals gekämpft. »Du bist der 
Einzige, der es gewagt hat, gegen die Weißen vorzugehen! Du 
bist ein großer Krieger!« 

»Ein großer Krieger hätte auf eine günstige Gelegenheit 

gewartet«, erwiderte Ottobah. »Ich habe mich vom Zorn leiten 
lassen! Ich wollte nicht, dass der weiße Mann die Asante 
berührt!« 

»Du setzt dich für eine Asante ein?« 
»Sie ist die Frau, von der ich schon vor langer Zeit geträumt 

habe. Ich weiß, dass wir zusammengehören. Auf diesem Schiff 
gibt es keine Asante und keine Fante mehr. Wir sind ein Volk! 
Wir sind schwarz und unsere Feinde sind weiß! Wir werden 

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die weißen Männer nur besiegen, wenn wir eine Sprache 
sprechen!« 

»Du willst nicht aufgeben?« 
»Niemals«, erwiderte Ottobah entschlossen, »ich lasse mich 

nicht versklaven! Sobald sich eine Gelegenheit bietet, werden 
wir dieses Schiff in unsere Gewalt bringen! Dann werden wir 
die weißen Männer besiegen! Ich werde den Mann, der mich 
geschlagen hat, in kleine Stücke schneiden und ins Meer 
werfen!« 

»Aus dir spricht der Zorn. Hast du vergessen, dass wir 

schwere Ketten an den Füßen tragen? Wie sollen wir die 
Männer besiegen, wenn wir angebunden sind? Sie haben große 
Feuerrohre und Gewehre. Wir besitzen nicht mal ein Messer, 
mein Freund!« 

»Das wird sich ändern, alter Mann! Sobald der Tag 

gekommen ist, werde ich eine Waffe haben! Die Götter werden 
auf meiner Seite sein, wenn  ich die Krieger in den großen 
Kampf führe!« 

»Und wie willst du das Schiff steuern, wenn alle Weißen tot 

sind? Willst du dich selber ans Steuer stellen? Wir wissen 
nicht, wo wir sind! Hier gibt es kein Land. Wo ist das nächste 
Ufer?« 

»Am Tag der Entscheidung werden wir Antworten auf alle 

Fragen haben«, sagte Ottobah. »Wir werden den Rat der Götter 
erbitten und kühl und überlegt handeln. Auch die weißen 
Männer sind verwundbar! Ich weiß von Kriegern eines anderen 
Volkes, die auf einem ihrer Schiffe waren und ihnen 
entkommen sind!« 

»Zwei von vielen tausend. Wenn du auf einen alten Mann 

wie mich hörst, vergisst du diese kühnen Träume und ergibst 
dich in dein Schicksal! Die weißen Männer sind in der 
Überzahl. Selbst wenn dein Plan gelingen sollte, wirst du 

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anderen Weißen in die Hände fallen und ein noch schlimmeres 
Los erleiden!« 

»Ich werde immer an eine bessere Zukunft glauben«, sagte 

Ottobah. Er verdrängte den Schmerz, der sich in seinem 
Körper ausgebreitet hatte, und schloss die Augen, um etwas 
anderes als die Planken des Schiffes und das düstere Licht zu 
sehen. 

Bensua wartete jeden Morgen und jeden Abend, wenn sie das 

Zwischendeck verlassen durfte und mit den anderen Frauen an 
der Reling saß, geduldig, bis die Männer kamen. Verstohlen 
suchte sie nach Ottobah oder einem Zeichen der Männer, die 
wussten, wie es um ihn stand. Sie  musste unauffällig bleiben. 
Wenn sie sich ihre Verzweiflung anmerken ließ, machte sie 
den Zweiten Maat auf sich aufmerksam und der würde 
vielleicht noch einmal versuchen sie vor allen anderen 
Gefangenen zu demütigen. Sie hielt sich abseits, blieb an der 
Reling sitzen und sprach mit ihrer jungen Freundin. Manu war 
etwas selbstsicherer geworden und stolz darauf, einer beinahe 
Erwachsenen geholfen zu haben. Bensua hatte ein besonderes 
Gebet für  sie gesprochen, weil sie ihr während der 
Auspeitschung beigestanden hatte. Ihr Händedruck hatte sie 
vor einem großen Unglück bewahrt. 

Sie waren seit über einer Woche auf dem Meer und hatten 

sich an den Rhythmus an Bord gewöhnt. Die langen Stunden 
auf dem Zwischendeck waren eine einzige Qual, besonders für 
die älteren Frauen und die Kinder, und wäre ihnen nicht 
erlaubt worden, den frühen Morgen und späten Nachmittag an 
Deck zu verbringen, hätten viele aufgegeben. Sie bekamen 
erträgliche Kost, meist Hirsebrei, Maisbrei oder Süßkartoffeln, 
und durften Wasser mit Zitronensaft trinken, um gegen 
gefährliche Krankheiten wie den Skorbut gewappnet zu sein. 
Der Schiffsarzt untersuchte sie jeden zweiten Tag, auch die 
Männer, die mehr Schläge und härtere Strafen ertragen 

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mussten, wenn sie den oft sinnlosen Befehlen der Matrosen 
nicht gehorchten. Jeden Morgen verlangten die Aufseher, dass 
sie die Hände falteten und zum Gott des weißen Mannes 
beteten, obwohl sie kein Wort verstanden und nicht getauft 
waren, wie es die Missionare verlangt hatten. 

Am achten Tag ihrer langen Reise geschah etwas, das selbst 

den nüchternen Kapitän der Hannibal aus dem Gleichgewicht 
brachte. Am Horizont tauchte ein fremdes Segelschiff auf und 
kam stetig näher. Bensua spähte über die Reling und erkannte 
die gleiche Flagge, die über dem Quartier der englischen 
Abordnung befestigt war, die Kumase besucht hatte. »Ein 
englisches Schiff«, sagte sie zu Manu. »Vielleicht befreien sie 
uns! Die Engländer haben den Sklavenhandel verboten!« Sie 
verschwieg ihrer Freundin, dass auch die Weißen mit der 
Sternenflagge offiziell keinen Sklavenhandel mehr betrieben. 
Das hatte sie von ihrem Onkel erfahren, der sich damit 
auskannte. Aber kaum ein Amerikaner oder Engländer hielt 
sich an das Verbot! 

Captain Alex Whitcomb blickte durch sein Fernrohr und rief 

einige Befehle. Sofort machte O’Reilly sich daran, alle 
Gefangenen unter Deck zu treiben. Er ließ die 
Neunschwänzige knallen und rief: »Beeilt euch, verdammtes 
Pack! Ich hab keine Lust, mir von einem Nigger die Suppe 
versalzen zu lassen!« Bensua verstand den Zweiten Maat nicht, 
erkannte aber, dass er sie nicht auf dem Hauptdeck haben 
wollte, wenn das andere Schiff näher kam. Hastig floh sie mit 
den anderen Frauen auf das Zwischendeck und entging dabei 
den ungeduldigen Peitschenhieben von O’Reilly nur um 
Haaresbreite. 

Die Luke klappte zu und ließ das Geschrei des Zweiten 

Maats zu einem dumpfen Echo werden. Seine Schritte 
entfernten sich polternd. Wie verängstigte Tiere blieben die 
Gefangenen auf dem Boden sitzen. Das einzige Tageslicht fiel 

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durch die Gitterstäbe der Luftluke herein und zeichnete ein 
rechteckiges Muster auf ihre schwarzen Körper. Von oben 
waren die Befehle des Kapitäns zu hören. »Die weißen Männer 
haben Angst«, flüsterte Bensua. Sie legte einen Arm um die 
zitternden Schultern ihrer Freundin und achtete darauf, dass sie 
die Brandwunden nicht berührte. Sie vernarbten allmählich 
und schmerzten nur noch, wenn sie mit einem anderen Körper 
oder den Schiffsplanken in Berührung kamen. Nachts stöhnten 
zahlreiche Frauen und Kinder, weil sie unruhig schliefen und 
sich auf ihre Narben rollten. 

Bensua blickte durch die Gitterstäbe der Luftluke zum 

Himmel empor und lauschte den Stimmen der weißen Männer. 
Sie verstand kein Wort und war auch nicht in der Lage, den 
Sinn ihrer Worte zu erahnen. Außer den Beinen einiger 
Matrosen und tanzenden Schatten sah sie nichts. Sie nahm sich 
vor die seltsame Sprache der Männer zu lernen, falls sie länger 
in der Gewalt der Weißen bleiben würden. Wenn es stimmte, 
was sie gehört hatte, und sie auf den Feldern der Fremden 
arbeiten mussten, blieb ihr gar nichts anderes übrig. Es war 
besser, die Sprache des Feindes zu sprechen und seine 
Absichten genau zu kennen, bevor man daran ging, ihn zu 
bekämpfen und an Flucht zu denken. Viele Krieger der Asante 
verstanden, was die Fante und andere Nachbarn sagten, auch 
sie selbst, und mancher Angriff war nur geglückt, weil die 
Asante ihre Feinde am Feuer belauscht hatten. 

Captain Alex  Whitcomb blickte durch sein Fernrohr und 

beobachtete, wie der Kapitän des  englischen Schiffes ihm 
zuwinkte. Auch er hielt ein Fernglas. Whitcomb grüßte zurück 
und atmete erleichtert auf, als er bemerkte, wie der Engländer 
den Kurs änderte. Der Dreimaster segelte in angemessener 
Entfernung an ihnen vorbei und verschwand in dem nebligen 
Dunst, der an diesem Morgen über dem Atlantik hing. »Jagen 
Sie die Männer in die Wanten!«, rief er dem Zweiten Maat zu. 

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»Ich habe keine Lust, diesem Burschen noch einmal zu 
begegnen!« Er schob das Fernrohr zusammen und beobachtete 
zufrieden, wie die Matrosen zu den Rahen emporstiegen und 
die letzten Segel setzten. 

Die  Hannibal  war ein schnelles Schiff, wenn man mit ihr 

vertraut war und wusste, welche Segel man bei welchem 
Seegang setzen  musste. Sie würden Charleston in vier oder 
fünf Wochen erreichen, falls sie die Flauten am Äquator 
unbeschadet überstanden. Der Captain wollte seine Fracht so 
bald wie möglich loswerden. Seine Fahrt war illegal und er 
hatte keine Lust, von einem übereifrigen Kapitän des 
Sklavenhandels überführt zu werden. Nicht alle Kapitäne 
waren so großzügig wie der Engländer, der sie vor wenigen 
Minuten passiert hatte. Denn er war beinahe sicher, dass der 
Engländer erkannt hatte, mit welcher Fracht er nach Norden 
fuhr. Es wurde berichtet, dass man ein Sklavenschiff am 
Gestank erkannte. Wenn über hundert Menschen wie Tiere in 
niedrigen Pferchen gehalten wurden und sich auf die Planken 
entleerten, konnte man das riechen. Das wusste Whitcomb am 
besten. Auf jeder Fahrt beschloss er dem Sklavenhandel 
abzuschwören und jedes Mal widerrief er seine Absicht. Auf 
keine andere Weise ließ sich mehr Geld verdienen, nicht für 
einen Captain. Und der Gedanke, die lebende Fracht über Bord 
werfen zu müssen, nur weil man in Gefahr lief, von einem 
anderen Captain angezeigt zu werden, trieb ihm den Schweiß 
auf die Stirn. 

Whitcomb spürte, wie die  Hannibal  schneller wurde, und 

nickte dem Zweiten Maat und dem Steuermann zu. Er hatte 
eine gute Mannschaft, wenn man in Betracht zog, dass nicht 
jeder auf einem Sklavenschiff mitfahren wollte. Er war 
dagegen, seine  Männer zu schanghaien. Wer mit Alkohol 
betäubt wurde und auf offener See an Bord eines 
Sklavenschiffes aufwachte, konnte niemals ein guter Matrose 

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werden. Er brauchte tüchtige Männer, die freiwillig 
anmusterten. Deshalb bezahlte er einen besseren Lohn als  die 
meisten anderen Captains. Für ihn blieb immer noch genug 
übrig, solange die Geschäfte so gut liefen. Den Übereifer 
seines Zweiten Maats und des Bootsmanns nahm er 
widerwillig in Kauf. In ihrem Bemühen, die Schwarzen zu 
züchtigen, schossen sie oft über  das Ziel hinaus, aber 
andererseits sorgten sie auch dafür, dass es unterwegs kaum 
Ärger gab. Sie waren seit einigen Jahren bei ihm und noch 
niemals war eine Meuterei an Bord der  Hannibal  erfolgreich 
gewesen. Und solange er die Befehlsgewalt besaß, würde es 
auch so bleiben. 

Er stieg vom Achterdeck und trat neben das Luftgitter, das 

über dem Zwischendeck der Frauen und Kinder hing. 
Ungerührt blickte er in das Halbdunkel hinab. »Die Neger 
brauchen Bewegung«, sagte er zum Zweiten Maat. »Mit der 
Neunschwänzigen  allein halten wir sie nicht bei Laune.« Er 
gestattete sich ein spöttisches Lächeln. »Heute Abend will ich 
sie tanzen sehen! Das wird auch den Männern gefallen! Sorgen 
Sie dafür, dass die beiden Franzosen ihre Geigen mitbringen 
und halten Sie die Neunschwänzige ein wenig im Zaum! Ich 
kann nicht schlafen, wenn Sie die ganze Nacht damit 
herumknallen! Verstanden, O’Reilly?« 

»Aye, Sir!«, antwortete der Zweite Maat missmutig. Und 

brummte einen leisen Fluch, als der Kapitän zum Achterdeck 
zurückkehrte. 

Bensua sah, wie sich die Stiefel des Kapitäns entfernten, und 

legte ihren Kopf auf die harten Planken. Sie drückte sanft ihre 
Freundin. Das Meer war ruhig und die leichten Bewegungen 
des Schiffes machten ihr nichts aus. »Wir sind dem anderen 
Schiff davongefahren«, sagte sie. »Merkst du, wie schnell wir 
geworden sind? Sie haben neue Tücher an die langen Stämme 
gehängt.« In der Sprache der Asante gab es keine Wörter für 

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»Segel« und »Mast«. »Jetzt sind wir bald am Ziel! Dann 
arbeiten wir für die weißen Männer in dem fernen Land. 
Vielleicht behandeln sie uns besser als die Männer auf diesem 
Schiff. Du wirst sehen, die Götter werden uns beschützen!« 

Natürlich war, es nur die Hoffnung und der Wunsch, Manu 

mehr Selbstvertrauen zu geben, die Bensua diese Worte sagen 
ließ. Tatsächlich glaubte sie nicht daran, dass die Weißen in 
dem fremden Land besser waren. Alle Menschen mit blasser 
Hautfarbe waren gleich. Sie wollten den Schwarzen das Land 
und den Besitz wegnehmen und einen Teil der Menschen an 
andere Weiße verkaufen und irgendwo für sich arbeiten lassen. 
Daran gab es keinen Zweifel. Jeder Engländer und jeder 
Holländer, den sie getroffen hatte, war schlecht gewesen und 
die Männer, die unter der Flagge mit den Sternen fuhren, 
hatten alles getan um ihre Gefangenen zu peinigen und zu 
demütigen. 

Obwohl es heller Tag war, herrschte eine beinahe quälende 

Stille auf dem Zwischendeck. Das Gemurmel einiger Frauen 
und das Knarren der Planken waren die einzigen Geräusche, 
die zu hören waren. Der Zweite Maat hatte auf dem Hauptdeck 
zu tun und der Bootsmann schlief in seiner Koje. Und doch 
war diese Stille unheimlicher und Angst einflößender als das 
laute Knallen der Peitschen, wenn die Aufseher unter Deck 
waren und auf die Männer einschlugen. Aus den Quartieren 
der Krieger drang kaum ein Laut zu den Frauen herüber. Nach 
der Vertreibung vom Hauptdeck war jeder Gefangene mit 
seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Hoffnungsfunke, 
der mit der Ankunft des englischen Schiffes aufgeflackert war, 
hatte sich verflüchtigt und nur düstere Leere hinterlassen. Die 
meisten Gefangenen erkannten erst jetzt, wie endlos das große 
Wasser war und wie viele Wellentäler sich zwischen das Schiff 
und ihre Heimat geschoben hatten. 

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»Vermisst du deine Verwandten?«, fragte Manu vorsichtig. 

Ihr Kopf lag auf dem Arm der älteren Freundin und sie fühlte 
eine Wärme, wie sie seit der Ermordung ihrer Eltern nicht 
mehr durch ihre Adern geflossen war. »Fiel es dir schwer, sie 
zu verlassen?« 

Bensua ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich vermisse sie sehr. 

Besonders meine Mutter.« Sie spürte Tränen in den Augen, als 
sie sich an das Gesicht der Frau erinnerte, die bis zu ihrer 
überstürzten Flucht immer an ihrer Seite gewesen war. »Und 
ich weiß, dass sie mich vermissen. Auch wenn sie mich sofort 
an den  Asantehene  verraten würden, falls ich in Kumase 
auftauchen würde. Nach dem Gesetz unseres Volkes habe ich 
ein Unrecht begangen. Ich habe den Mann abgelehnt, den mein 
Onkel für mich ausgesucht hat. Und ich fühle für einen 
Krieger, der gegen meinen Onkel und meinen Vater gekämpft 
hat. Ein heiliger Mann würde mir den Kopf abschlagen, wenn 
ich nach Hause ginge!« 

»Dann kannst du nicht mehr zurück«, sagte Manu. Ihre 

dunklen Augen waren feucht. »Willst du in dem fremden Land 
bleiben, wenn  Onyankopon Kwame  die bösen Geister 
vertreibt?« 

»Ich will dort sein, wo Ottobah ist«, erwiderte sie. »Er wird 

mir die Wärme geben, die ich brauche! Zusammen sind wir 
stark genug um eine neues Leben zu beginnen!« Sie blickte der 
Freundin in die Augen. »Auch du wirst einen Mann finden!« 

Manu schloss die Augen und versank in einer Gedankenwelt 

voller Zweifel, bevor sie antwortete: »Ich weiß nicht, ob 
Onyankopon Kwame  stark genug ist, die bösen Geister zu 
verjagen. Ich glaube, die weißen Männer sind zu mächtig. Sie 
haben Gewehre und große Feuerrohre. Damit können sie auch 
die Götter töten!« 

»Die Götter sind unsterblich«, widersprach Bensua. »Sie sind 

mächtiger als alle Menschen, die auf der Erde leben. Sie sind 

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stärker als alle Tiere und Pflanzen! Onyankopon Kwame würde 
einen Löwen mit den bloßen Händen besiegen! Er würde sogar 
einen Elefanten in die Knie zwingen! Wenn er auf unserer 
Seite ist, kann uns nichts passieren! Dafür  musst du beten, 
Manu!« 

Sie beteten den ganzen Nachmittag und sangen leise die 

heiligen Lieder, bis erneut die Neunschwänzige knallte und die 
gefürchtete Stimme des Zweiten Maats erklang: »Hoch mit 
euch, ihr müden Weiber! Kommt an Deck! Die Männer warten 
schon! Wir wollen euch tanzen sehen! Verstanden? Wir 
möchten sehen, wie ihr eure fetten Hintern bewegt!« Er 
schwang lachend die Peitsche und trieb die verängstigten 
Frauen und Kinder an Deck. »Holt euch was zu essen und zu 
trinken und beeilt euch ein bisschen!« 

Alles war wie an den vergangenen Nachmittagen und Bensua 

war nicht darauf vorbereitet, was die weißen Männer als 
Nächstes für sie geplant hatten. Mit offenem Mund 
beobachtete sie, wie zwei Matrosen mit Musikinstrumenten 
aus ihren Quartieren kamen und sich im Schatten des großen 
Segels aufbauten. Sie entlockten ihren seltsamen Instrumenten 
sonderbare Töne, zu denen die anderen Weißen den Takt 
klatschten. Die fröhliche Melodie passte nicht zu ihrer 
schlimmen Lage und erschreckte die Frauen und Kinder, die an 
der Reling saßen und Hirsebrei aßen. Sie klang wie das 
höhnische Lachen eines bösen Geistes, der sich über sie lustig 
machte. So empfand Bensua, die nicht wissen konnte, dass der 
Kapitän den Befehl ausgegeben hatte, die Gefangenen 
»körperlich zu ertüchtigen«. So hatte er sich ausgedrückt und 
so würde er es in sein Logbuch schreiben. Nur wenn die 
Sklaven bei Kräften und körperlich gesund blieben, war mit 
ihnen ein anständiger Gewinn zu erzielen. 

»Tanzt nur, ihr Weiber! Tanzt!«, rief O’Reilly lachend. Und 

weil ihn die Frauen nicht verstanden, zerrte er ein Mädchen 

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vom Boden hoch und wirbelte mit ihr über das Deck. Er ließ 
sie los und tanzte allein  weiter, und als er seine Peitsche 
knallen ließ, standen auch die anderen Frauen langsam auf und 
bewegten sich zögernd zur Musik. 

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15 

 
 
 

Am Äquator warteten die bösen Geister. Das vermutete 
Bensua noch viele Jahre später, als sie längst den christlichen 
Glauben angenommen hatte. Sie vertrieben den Wind und 
lähmten die Bewegung jedes Schiffes, das diese unsichtbare 
Grenze überfuhr. Wie auf ein geheimes Signal verstummten 
alle Geräusche, das Rauschen des Windes, das Knistern der 
Segel  und das Knarren der Planken, und eine unmenschliche 
Hitze kroch auf die Zwischendecks und breitete sich wie eine 
ansteckende Krankheit aus. Jeder Luftzug erstarb und die 
Quartiere der Sklaven wurden zu einem Backofen, der kaum 
noch Luft zum Atmen ließ. Die Gefangenen griffen verzweifelt 
nach den Sonnenstrahlen, die durch die Luftluke hereinfielen, 
und verlangten stöhnend nach Wasser. Wie eine schwere 
Decke hielt die Hitze sie umfangen, eine feuchte und quälende 
Hitze, die tief in den Körper drang und jedes  Leben zu 
zerstören drohte. Das unterdrückte Stöhnen der gepeinigten 
Menschen hing in der heißen Luft. 

Bensua wehrte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen den 

heimtückischen Angriff der bösen Geister. Mit langen Gebeten 
und eindringlichen Gesängen, die nur als  heiseres Flüstern 
über ihre aufgesprungenen Lippen kamen, versuchte sie die 
bedrohliche Hitze zu vertreiben. Sie verdrängte das Schreien 
der Kinder und Jammern der Frauen aus ihrem Bewusstsein, 
konzentrierte ihre Energie auf Manu, die in der feuchten Luft 
zu schrumpfen schien und kaum noch die Kraft besaß, ihren 
Händedruck zu erwidern. Sie war schwach, trotz ihrer Jugend, 
und hatte während der letzten Wochen viel von ihrem 
Lebensmut verloren. Wäre Bensua nicht gewesen, hätte sie 

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ihrem Leben vielleicht ein Ende gesetzt. So wie die arme Frau, 
die aus dem Ruderboot gesprungen war. 

»Warum fahren wir nicht mehr?«, fragte Manu. Ihre Haut 

glänzte vor Schweiß und hatte eine seltsame Färbung 
angenommen, die Bensua erschreckte. Sie litt mehr unter der 
Hitze als alle anderen Frauen in ihrer Nähe. »Warum weht der 
Wind nicht mehr?« 

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua. Sie hatte niemals 

vom Äquator gehört und wusste auch nicht, dass die Windstille 
in dieser Gegend bei allen Seefahrern berüchtigt war. Manche 
Schiffe hingen wochenlang in der Flaute fest. Erst sehr viel 
später, auf der Plantage in Amerika, erfuhr sie von einem 
anderen Sklaven, dass es in den Kalmen des Äquators zu 
unbeschreiblichen Tragödien gekommen war. Zahlreiche 
Gefangene, besonders Frauen und Kinder, wurden in der Hitze 
krank und starben. »Wir müssen zu den Göttern beten, damit 
sie den Wind zurückbringen!« 

Manu atmete schwer. »Ich habe schon den ganzen Morgen 

gebetet und es hat sich nichts getan! Die Götter hören mich 
nicht!« 

»Wir müssen es weiter versuchen«, sagte Bensua. Auch sie 

wartete ungeduldig darauf, dass Onyankopon Kwame die bösen 
Geister vertrieb und neuen Wind über das große Wasser blies. 

Aber ihre Gebete verklangen ungehört in der drückenden 

Hitze. Die Flaute blieb und hielt das Schiff auf dem 
spiegelglatten Ozean fest. Scheinbar reglos lag es im Wasser. 
Die Segel hingen schlaff von den Rahen und nicht der leiseste 
Windhauch fing sich in dem schweren Tuch. Das Meer schien 
aus einer zähen Masse zu bestehen, die die  Hannibal  fest 
umklammert hielt. Glühend heiß brannte die Sonne vom 
Himmel. Die Hitze lag wie eine schwere Last auf dem Deck 
und erstickte alles Leben. 

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Captain Whitcomb achtete streng darauf, dass die 

Süßwasservorräte nicht geplündert wurden. Sein Zweiter Maat 
stand mit der Peitsche neben den Fässern und hätte auch auf 
einen Weißen eingeschlagen, wenn er sich näher als drei 
Schritte an sie herangewagt hätte. Dabei hätte er selber gern 
einen Schluck genommen. Obwohl er die Mittagssonne mied, 
hatte ihn die Hitze ausgelaugt und er  musste sich alle zwei 
Stunden mit dem Bootsmann abwechseln, um sich im Schatten 
der Segel auf dem Achterdeck auszuruhen. Halb schlief, halb 
döste er in den Nachmittag hinein, die Mütze über den Augen, 
um nicht in die glühende Sonne sehen zu müssen. Seine Laune 
wurde immer schlechter. Als ihn ein Matrose ansprach, 
herrschte er ihn unsanft an und schrie: »Lass mich in Ruhe, du 
verdammter Trottel!« 

Nur dem Kapitän war es zu verdanken, dass die Sklaven auch 

in dieser unerträglichen Hitze an Deck geholt  wurden. Ohne 
ihn hätten Männer wie O’Reilly und Graham niemals daran 
gedacht, die Gefangenen aus ihrem stinkenden Backofen zu 
holen. »Sollen sie doch verrecken, diese schwarzen Teufel!«, 
fluchte O’Reilly, wenn der Kapitän nicht in der Nähe war. Und 
Graham  gebrauchte noch ganz andere Worte, die selbst den 
hartgesottenen Matrosen das Blut in die Wangen trieben. Die 
Männer hatten nichts zu tun und lagen schwitzend auf dem 
Deck herum. 

»Holen Sie die Sklaven, Mister O’Reilly!«, befahl Captain 

Whitcomb, als die Sonne weit im Westen stand. »Die Männer, 
die Frauen und die Kinder! Wir lassen sie gleichzeitig an 
Deck. In dieser Hitze kommen sie sowieso nicht auf dumme 
Gedanken!« 

»Alle zusammen, Captain? Aber…« 
»Tun Sie, was ich Ihnen sage!«, erwiderte Whitcomb 

nüchtern. Er hatte lediglich den Dreispitz abgenommen und 
schien in seiner Uniform kaum zu schwitzen. Die Matrosen 

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schoben diesen Umstand auf die doppelte Süßwasserration, die 
er jeden Morgen bekam. »Geben Sie ihnen zu essen und zu 
trinken und sorgen Sie dafür, dass sie ihre Körper mit 
Salzwasser abwaschen! Drücken Sie ein paar Zitronen ins 
Trinkwasser, damit sie uns nicht krank werden! Sie wissen, 
wie sich eine solche Flaute auf Sklaven auswirken kann! Eine 
kranke Fracht bringt kein Geld!« 

»Aye, Sir!«, gehorchte der Zweite Maat. Er war nicht gerade 

begeistert vom Befehl seines Captains, hütete sich aber 
Whitcomb zu widersprechen. Er wusste, wie sehr dem Kapitän 
an dem Geschäft mit den Negersklaven gelegen war. Und 
wenn er ehrlich war, musste er ihm dankbar dafür sein. Die 
Höhe seines Lohns hing von dem Ertrag ab, den Whitcomb mit 
der Niggerfracht erwirtschaftete. Dennoch fügte er hinzu: »Ich 
lasse die Männer mit Musketen und Pistolen auf die Nigger 
zielen. Man weiß nie, was diese schwarzen Teufel im Schilde 
fuhren. Auf der vorletzten Fahrt haben sie eine Meuterei 
angezettelt und zwei Matrosen getötet, nur weil wir nicht 
genug Pistolen hatten…« 

»Das weiß ich, O’Reilly!«, unterbrach Whitcomb seinen 

Zweiten Maat scharf. »Ich war damals dabei, haben Sie das 
schon vergessen? Sie erinnern sich bestimmt, dass ich 
seinerzeit den Befehl gab, die Männer auch an Deck gefesselt 
zu lassen, oder?« 

»Natürlich, Sir! Ich wollte nicht – « 
»Führen Sie meine Befehle aus und wir kommen klar, Mister 

O’Reilly!«, sagte  Whitcomb ohne eine Miene zu verziehen. 
»Ich mag diese Neger genauso wenig wie Sie. Wenn es nach 
mir ginge, könnten Sie einen nach dem anderen den Haien 
vorwerfen! Aber diese Schwarzen sind unsere Fracht! Sie 
müssen gesund bleiben, damit wir sie Gewinn bringend 
verkaufen können.« 

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»Aye, Sir!«, erwiderte O’Reilly folgsam. Er hatte keine Lust, 

sich mit dem Kapitän anzulegen, und ließ seinen Ärger an zwei 
Matrosen aus, die er unsanft in den Niedergang zu den 
Zwischendecks stieß. »Voran, ihr faulen Säcke! Holt die 
Nigger an Deck! Wenn die schwarzen Teufel in der Hitze 
verrecken, mache ich euch persönlich dafür verantwortlich! 
Dann werfe ich euch mit den toten Niggern ins Meer, 
verstanden?« Er schüttelte sich, als ob er sich dadurch von der 
Hitze befreien könnte, und trieb seine Männer mit der Peitsche 
in den Niedergang. 

Beim Knall der Peitsche klammerte sich Manu zitternd an 

ihre ältere Freundin. Mit der Hitze war die Angst 
zurückgekommen und sie fürchtete nichts so sehr wie die 
neunschwänzige Katze des Zweiten Maats. »Er soll mich nicht 
schlagen, Bensua!«, flehte die junge Asante. »Sag ihm, dass er 
mich nicht schlagen soll!« 

»Hab keine Angst!«, beruhigte Bensua ihre Freundin. »Sie 

holen uns an Deck und dann bekommen wir zu trinken! Die 
weißen Männer wollen, dass wir gesund bleiben! Wir sollen 
auf ihren Feldern arbeiten, hast du das vergessen? Sie lassen 
uns nicht sterben!« 

»Mir… ist… so… schwindlig«, stammelte Manu, als Bensua 

ihr vom Boden aufhalf. »Du musst… mich… festhalten…« Sie 
klammerte sich mit beiden Händen an den linken Arm ihrer 
Freundin und blieb stehen, bis die schwärzen Schleier vor 
ihren Augen verschwanden. Ihre Beine drohten nachzugeben. 
Bensua stützte sie und schob sie hinter den anderen Sklaven 
zum Niedergang. 

Die Lederriemen der neunschwänzigen Peitsche zischten 

über ihre Köpfe hinweg. »Gleich ist es vorbei!«, flüsterte 
Bensua ihrer Freundin zu. »Er will uns nur erschrecken! Gleich 
sind wir an der frischen Luft, dann geht es dir besser! Im 
Urwald ist es heißer!« 

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Das war natürlich gelogen und sollte Manu nur beruhigen. 

Hoffnungsvoll kletterte sie vor ihrer Freundin den Niedergang 
hinauf. O’Reilly schwitzte viel zu sehr um ständig mit der 
Peitsche zu knallen und sie erreichten unbeschadet das Deck. 
Bensua fand sogar Zeit, einer jungen Asante und ihrem Kind 
zu helfen. Die Frau tat ihr Leid. In ihren Augen war eine 
aufkeimende Krankheit zu erkennen und auch ihre Tochter 
machte einen schwachen Eindruck. Sie würden nicht mehr 
lange durchhalten. 

Auf dem Hauptdeck war die Hitze weniger drückend und es 

stank nicht so fürchterlich wie im Sklavenquartier. Die Frauen 
und Kinder konnten wieder durchatmen. Benommen schlichen 
sie zu dem Matrosen, der das Wasser verteilte. Zitternd tranken 
sie aus dem Becher, eine nach der anderen, dann nahmen sie 
etwas von dem Hirsebrei und sanken im Schatten der Segel auf 
die Planken. Die Frauen lehnten sich erschöpft gegen die 
Reling und atmeten gierig die stickige Luft. Sie waren kaum 
noch fähig, den Kopf zu heben und über das Meer zu blicken. 
Nach der Backofenhitze auf den Zwischendecks war selbst die 
brennende Sonne eine Erholung, aber nach einer Weile wurde 
auch sie zur Qual und sie sehnten sich nach dem heimatlichen 
Regenwald. An diese Umgebung waren sie gewöhnt, dort litten 
nur Weiße. 

Bensua bettete den Kopf der erschöpften Freundin in ihren 

Schoß und redete beruhigend auf sie ein. »Ich spüre, dass die 
bösen Geister nicht mehr lange bleiben werden«, log sie. Manu 
schloss lächelnd die Augen. Sie schlief so fest, dass sie nicht 
einmal bemerkte, wie die männlichen Sklaven an Deck kamen 
und gierig nach den Wasserbechern griffen. O’Reilly ließ 
dreimal die Peitsche knallen ohne die erschöpften Männer zu 
berühren und beschränkte sich dann darauf, sie fluchend aus 
seinem Blickfeld zu verjagen. »Die Nigger stinken 
erbärmlich!«, stöhnte er. »So was hab ich nicht mal bei den 

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Piraten erlebt und da gab es einige Burschen, die haben sich 
nie gewaschen!« Er rief einige Matrosen herbei und befahl 
ihnen, Salzwasser über die erschöpften Sklaven zu gießen, 
auch über die Frauen und Kinder. 

Keiner der Gefangenen wehrte sich gegen diese Behandlung. 

Das Salzwasser brannte in den Augen und den offenen 
Wunden, aber diese Schmerzen waren immer noch besser als 
der quälende Schweiß und der Gestank, der sie wie dicker 
Nebel einhüllte.  Bensua schüttelte sich und bemühte sich den 
Matrosen nicht in die Augen zu blicken. Sie hatte längst 
bemerkt, dass ihre hoch gewachsene Gestalt und ihre vollen 
Lippen manchen Männer nur zu sehr gefielen. Die Matrosen 
hatten seit vielen Wochen keine Frau mehr gehabt und waren 
gierig danach, eine junge Frau wie sie in die Arme zu nehmen. 
Es war ihnen egal, ob sie schwarz oder weiß war. Sie wollten 
ihr Verlangen stillen und verschonten sie nur, weil sie Angst 
hatten, krank zu werden, und der Kapitän sie mit eiserner 
Gewalt davon abhielt. Sie wollte ihnen keinen Grund geben, 
sich zu vergessen. 

Unter dem Wasserschwall schreckte Manu aus dem Schlaf. 

Bensua wischte ihr das brennende Salz von den Wunden und 
nahm sie in den Arm, als sie weinte. »Wir müssen uns 
bewegen«, sagte Bensua, »sonst werden wir krank!« Sie stand 
auf und zog die Freundin hoch. Zusammen gingen sie an der 
Reling entlang, immer darum bemüht, den weißen Männern 
nicht in die Quere zu kommen. Vor dem Achterdeck, das sie 
nicht betreten durften, blieben sie stehen und blickten über das 
große Wasser. 

Das Meer war so still und glatt, als hätten geheimnisvolle 

Geister es mit einem Zauberfluch belegt. Wie funkelndes 
Metall glänzte es in der Sonne. Es gab keine Ufer und keine 
anderen Schiffe, nur die  Hannibal  im weiten und unendlichen 
Ozean. Die Zeit schien stillzustehen. Sie waren Gefangene 

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einer überirdischen Macht, die sie aus dem Leben vertrieben 
und im einsamen Niemandsland eingefroren hatte. Das Schiff 
lag so ruhig, als hätte man es an Land gezogen, und die Stille 
war so vollkommen, dass jedes Murmeln und jedes noch so 
leise Geräusch unnatürlich laut wirkte. Es sah nicht so aus, als 
würde sich der Wind jemals wieder in den Segeln fangen. Sie 
schienen dazu verdammt zu sein, für immer an diesem Ort zu 
verweilen. 

Das laute Knallen der Peitsche zerstörte die unheimliche 

Stille und ließ die Sklaven zusammenzucken. O’Reilly lachte 
dröhnend. »Bewegt euch, ihr verdammten Nigger!«, rief er. 
»Faulenzen könnt ihr auf dem Zwischendeck!« Er scheuchte 
die Schwarzen über das Deck und wandte sich an den 
langhaarigen Schiffsarzt. Dr. Atkins stand neben dem 
Besanmast, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und 
schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. »Was ist, Doktor? 
Ist Ihnen der Rum ausgegangen oder warum machen Sie so ein 
Gesicht? Sie haben doch selbst gesagt, dass die Nigger viel 
Bewegung brauchen!« 

»Das stimmt«, antwortete Dr. Atkins heiser. Auch er litt unter 

der unmenschlichen Hitze. »Ich mache mir Sorgen wegen der 
Unterbringung dieser Geschöpfe. Wenn die Flaute  anhält, 
sterben sie uns alle weg! Sehen Sie sie sich doch genauer an! 
Einige sind schon krank und in der Hitze werden es bestimmt 
mehr! Ich befürchte, dass wir bald einige von ihnen über Bord 
werfen müssen!« 

O’Reilly zog eine Grimasse. »Gewissensbisse?« 
»Nein«, antwortete der Arzt unbeeindruckt. »Aber meine 

Sorge ist, dass sich das Schiffsfieber ausbreitet! Ich bin an dem 
Erlös beteiligt, den wir mit dieser Fracht erzielen! Es wäre mir 
gar nicht recht, wenn wir Sklaven verlieren würden.« Er zuckte 
die Achseln. »Doch wenn die Flaute anhält, wird es wohl so 
kommen.« 

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Bensua merkte nicht, dass O’Reilly und der Schiffsarzt 

miteinander sprachen. Ihre Augen waren auf Ottobah gerichtet, 
der wieder aufrecht stand und die Schmerzen, die er immer 
noch haben musste, wie ein Mann ertrug. Sein Blick war härter 
geworden, und nur als er Bensua ansah, erschien ein sanftes 
Lächeln auf seinem Gesicht. In seinem Blick lag eine 
Zuneigung, die auch schwere Prüfungen überstehen würde, 
aber auch Entschlossenheit, sich den Weißen nicht kampflos 
zu ergeben. »Vertrau mir«, hörte Bensua ihn sagen. »Ich 
kämpfe für unsere gemeinsame Zukunft. Ich liebe dich, meine 
Freundin!« 

Unter Deck dachte sie lange über die Worte von Ottobah 

nach. Für ihn war eine Zukunft nur mit ihr denkbar. Er wollte 
mit ihr  zusammenleben, so wie sie mit ihm. Und sie hatte 
große Angst, dass er etwas Unüberlegtes tun könnte und von 
den weißen Männern getötet werden würde. Bisher hatte er 
Glück gehabt, aber irgendwann würden ihn die Götter 
verlassen und er müsste mit dem Leben für seinen Rachedurst 
bezahlen. Bensua war geduldiger, hielt es für besser, auf einen 
günstigen Augenblick zu warten um den Weißen zu 
entkommen. Vielleicht erst in dem fremden Land, denn auf 
dem offenen Meer war ihre Chance, die weißen Männer zu 
besiegen, äußerst gering. Die Krieger würden es niemals 
schaffen, ihre Ketten abzustreifen, und die Frauen wurden zu 
streng bewacht um ihnen zu helfen. Sie sprach ein langes 
Gebet und weinte, wenn Manu sie nicht beobachtete. 

Zum Leidwesen der Besatzung und der Gefangenen hielt die 

Flaute an. Wie ein Fluch hing sie über der Hannibal. Ein Tag 
nach dem anderen verging, ohne dass sich ein Windhauch 
regte oder eine gnädige Wolke die Sonne verdeckte. Die Hitze 
staute sich auf den Zwischendecks und klang selbst nachts 
kaum ab. Die Lage in den Sklavenquartieren wurde immer 
bedrohlicher. Die Männer stöhnten, viele Frauen jammerten 

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und die Kinder weinten, bis keine Tränen mehr kamen. 
Tagsüber durften die Sklaven jetzt länger an Deck bleiben, 
aber auch dort war die Hitze  kaum auszuhalten. Die weißen 
Männer wurden immer gereizter und nur ihre Erschöpfung 
hielt sie davon ab, ihre Verbitterung und ihre Verzweiflung an 
den Sklaven auszulassen. »Wenn diese verdammte Flaute noch 
länger anhält, lasse ich die Nigger ins Meer werfen und suche 
mir eine andere Arbeit«, fluchte O’Reilly. 

Bensua  widerstand der mörderischen Hitze. Ihre Angst galt 

den Frauen und Kindern, die am Fieber erkrankt waren und die 
ganze Nacht um Hilfe riefen. Auch Manu wirkte sehr schwach. 
Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Bensua ließ sie von 
ihrem Wasser trinken und teilte ihren Hirsebrei mit der 
Freundin um sie bei Kräften zu halten, doch auch sie konnte 
den bösen Geistern nicht ewig widerstehen. Die Götter 
mussten siegen und den kühlen Wind zurückbringen, wenn sie 
eine Katastrophe vermeiden wollten. Noch zwei oder drei Tage 
und es würde die ersten Toten geben. Daran konnte auch der 
Schiffsarzt nichts ändern, der sie jeden Tag widerwillig 
untersuchte. Er hatte ein weißes Tuch über seine Nase und 
seinen Mund gebunden, um die Krankheit nicht riechen zu 
müssen und sich nicht anzustecken. 

Als die Sklaven am Nachmittag des sechsten Tages auf die 

Zwischendecks getrieben wurden, deutete der Schiffsarzt auf 
die junge Frau und ihr Kind, denen Bensua im Niedergang 
geholfen hatte. Beide hatten starkes Fieber und waren kaum 
noch fähig Wasser und Nahrung aufzunehmen. Er wandte sich 
an den Kapitän. »Den beiden ist nicht mehr zu helfen«, sagte 
er. »Wir müssen sie loswerden, sonst stecken sie die anderen 
Sklaven an!« 

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Captain Whitcomb verzog mürrisch die Lippen, dachte wohl 

an seinen finanziellen Verlust, als er anordnete: »Werft sie ins 
Meer!« 

Dann wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und wandte 

sich zum Gehen. 

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16 

 
 
 

Die Todesschreie der jungen Frau und ihrer Tochter zerrissen 
die drückende Hitze und hallten wie der verzweifelte Aufschrei 
einer sterbenden Wildkatze durch das Schiff. Eisiges Entsetzen 
ließ die Gefangenen auf den Zwischendecks vor Schreck 
erstarren. Auch ohne die arme Frau und ihr Kind zu sehen, 
wussten sie, was geschehen war. Die weißen Männer hatten sie 
ins Meer geworfen und sich nicht einmal die Mühe gemacht, 
sie vorher zu töten. Sie standen an der Reling und 
beobachteten mit reglosen Gesichtern, wie die dreieckigen 
Flossen einiger Haie aus dem Wasser stachen und sich die 
Raubfische auf die todgeweihten Sklaven stürzten. Ihre Schreie 
verstummten und ihre zerfetzten Körper verschwanden in 
einem blutroten Strudel. 

Die Stille kehrte zurück und wurde zum unsichtbaren 

Leichentuch für die ermordete Frau und ihre Tochter. Nur das 
lähmende Entsetzen hinderte die Gefangenen daran, zu 
schreien und die weißen Männer zu verdammen. Selbst die 
Krieger weinten, eine Frau klammerte sich schluchzend an 
einen Balken, und durch das Heulen und Wimmern schnitt der 
erschütternde Schrei einer Frau, die mit der Ermordeten 
verwandt gewesen war. Sie schlug mit beiden Fäusten gegen 
die Planken, hatte Schaum vor den Lippen und lallte wirr, dann 
brach sie wie eine tödlich getroffene  Antilope zusammen und 
lag bewusstlos auf ihrem Lager. 

Bensua hielt ihre junge Freundin verzweifelt fest und 

flüsterte ein langes Gebet, das Manu davon abhielt, über den 
schrecklichen Mord nachzudenken. Dann sang sie ein heiliges 
Lied, das sie von ihrem Onkel gelernt hatte, ein rhythmisches 

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Gebet der Asante, das die Krieger in die Schlacht begleitete 
und ihnen die Kraft geben sollte ihre Feinde zu besiegen. Sie 
sang leise, dann immer lauter, und forderte die anderen 
Gefangenen auf ihren Gesang durch rhythmisches Klatschen 
zu unterstützen. Selbst die Fante und die schwachen Frauen, 
die ihr Wasser den Kindern gegeben hatten, machten mit. »Gib 
uns die Kraft, gib uns die Kraft!«, sangen die Frauen und 
Kinder und dann fielen auch die Männer ein und das ganze 
Schiff erbebte unter dem lauten Gesang der Sklaven. Das Lied 
wurde zum neuen Quell der Hoffnung und die weißen Männer 
waren klug genug, nichts gegen den Gesang zu unternehmen. 
Wenn die Sklaven sangen, waren sie beschäftigt und kamen 
nicht auf dumme Gedanken. 

Doch die Flaute blieb und die Lage der Gefangenen wurde 

immer verzweifelter. Am Morgen des nächsten Tages stieg der 
Schiffsarzt in die Sklavenquartiere hinab, begleitet vom 
Bootsmann, der seine Wache mit dem Zweiten Maat getauscht 
hatte, und stolperte mit verzerrtem Gesicht über die 
jammernden Frauen und Kinder hinweg. Johnny Graham hielt 
drohend die Peitsche erhoben und ließ seinen Frust über die 
lange Flaute und den fürchterlichen Gestank unter Deck an den 
hilflosen Schwarzen aus. Er stieg auf stöhnende Frauen, quälte 
sie mit harten Tritten und lachte höhnisch, wenn sie vor 
Schmerzen aufschrien. Er war noch rücksichtsloser als 
O’Reilly und fand einen großen Gefallen daran, die schwachen 
Gefangenen zu quälen. 

»Machen Sie schneller, Doktor!«, trieb er den Schiffsarzt an. 

»Sonst verrecken wir hier unten noch! Die verdammten Nigger 
stecken uns noch an!« 

Als der Doktor auf eine kranke Asante deutete und der 

Bootsmann die röchelnde Frau vom Boden hochzog und zum 
Niedergang trieb, wusste Bensua, was die Weißen vorhatten. 
Am verzweifelten Aufschrei der anderen Frauen erkannte sie, 

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dass auch sie den Doktor durchschauten. Er sortierte die 
Schwerkranken aus, damit Graham sie an Deck trieb und ins 
Meer warf. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, wie Dr. Atkins dem 
Kapitän erklärte, damit der wertvolle Teil der Fracht nicht 
angesteckt werde. Captain Whitcomb würde die Ermordung 
der kranken Sklaven als »Ballastabwurf« in seinen Papieren 
deklarieren und von der Versicherungsgesellschaft entschädigt 
werden. Blieben die Kranken an Bord, müsste er auf eine hohe 
Entschädigung verzichten. 

Den meisten Gefangenen fehlte die Kraft, gegen das 

Vorgehen der weißen Männer zu protestieren. Und sie hatten 
viel zu große Angst, selbst ein Opfer des Arztes und des 
Bootsmanns zu werden. Johnny Graham brachte es fertig, 
willkürlich eine Frau oder ein Kind nach oben zu zwingen und 
ins Meer zu werfen. Er war der einzige Weiße, der lauthals 
lachte, wenn die Haie kamen und sich auf ihre schwachen 
Opfer stürzten. »Wir dürfen den Glauben an die Götter nicht 
verlieren!«, flüsterte Bensua ihrer Freundin zu. »Ohne unseren 
Glauben bleibt uns nichts mehr!« 

Ottobah war der einzige Krieger, der sich gegen die Weißen 

wandte. Aber auch er war klug genug, nicht an seinen Ketten 
zu zerren und den Doktor und den Bootsmann zu verfluchen, 
als der einen jungen Asante in den Niedergang trieb. Erst 
nachdem die weißen Männer das Zwischendeck verlassen 
hatten, schimpfte er laut. Er wusste selbst, dass der Mann mit 
der Peitsche ihn sofort getötet hätte, wenn er aufgesprungen 
wäre. Es kostete ihn beinahe übermenschliche Kraft zu 
beobachten, wie der junge Krieger den Niedergang 
hinaufgestoßen wurde und wenige Augenblicke später sein 
Todesschrei durch die stickige Luft drang. 

Kaum war die Stille wieder zurückgekehrt, wandte Ottobah 

sich an die anderen Krieger. »Hört mich an!«, rief er. »Ich bin 
Ottobah, ein Krieger der Fante! Ich weiß, dass viele von euch 

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zu den Asante gehören, aber wenn wir diese schwere Prüfung 
überstehen wollen, darf es keine Unterschiede mehr geben! 
Wir sind schwarz! Wir gehören zu einem Volk! Nur wenn wir 
zusammenhalten, schaffen wir es, die Weißen zu besiegen!« 

»Du willst gegen die Weißen kämpfen?«, erwiderte ein 

kräftiger Asante. Die Narben auf seinem Oberkörper stammten 
von einem Fante, den er im Zweikampf besiegt hatte. »Wie 
willst du gegen die mächtigen Weißen bestehen, wenn du den 
Kampf gegen die Asante verloren hast? Du warst unser Sklave, 
nicht wahr? Der Holländer hat dich gekauft, sonst wärst du 
längst tot!« 

»Ihr habt uns wie feige Hyänen aufgelauert«, sagte Ottobah. 

Es fiel ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. »Ein Fante wäre 
seinen Feinden offen gegenübergetreten!« Er schlug mit der 
flachen Hand auf die Planken. »Aber selbst dieser Überfall 
darf jetzt nicht mehr zwischen uns stehen! Wir sind schwarz! 
Wir sind stark! Und wenn wir den alten Hass vergessen, sind 
wir mächtig genug die Weißen zu vertreiben!« 

Ein erwachsener Krieger, der unter der Öllampe am 

Niedergang lag, stimmte Ottobah zu. »Auch ich bin ein Asante 
und ich glaube dir.« Er hob die Hände, mit denen er an seinen 
Nachbarn gekettet war, und blickte den Fante fragend an. 
»Aber willst du so gegen die Weißen kämpfen? Mit 
gefesselten Händen und Füßen? Wir haben keine Waffen! 
Nicht mal Messer! Die Weißen besitzen Gewehre, Messer und 
große Feuerrohre! Sie werden  uns zerfetzen, bevor wir den 
ersten weißen Mann berührt haben!« 

»Es gibt einen Weg«, überraschte Ottobah den Asante. 
»Und wenn wir schnell genug sind, kann gelingen, was die 

meisten von euch für unmöglich halten! Es  muss im Freien 
geschehen, wenn sie uns Essen und Wasser geben. Habt ihr 
bemerkt, wie sorglos die Weißen dann sind? Wir nehmen 
ihnen die Pistolen und die Messer ab und haben die Hälfte der 

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Männer getötet, bevor sie das große Feuerrohr auf uns 
abschießen! Einige von uns werden sterben, das ist wahr. Aber 
wie viele Krieger werden sterben, wenn wir uns kampflos 
unserem Schicksal ergeben?« 

Unter den Kriegern entstand Unruhe. Einige Männer, die sich 

erfolgreich gegen die Hitze gewehrt hatten und nicht erkrankt 
waren, stimmten begeistert zu. Die Kranken und Schwachen 
äußerten ihren Unmut. »Wir werden alle sterben«, sagte ein 
älterer Mann. Er musste den Satz zweimal sagen um gehört zu 
werden. »Versteht mich nicht falsch! Ich habe keine Angst zu 
sterben. Ich würde es als Gnade empfinden, dieses Schiff 
verlassen zu können. Im Jenseits treffe ich meine Verwandten 
wieder. Warum sollte ich Angst vor dem Tod haben? Aber was 
ist mit den Männern, die jung und stark genug sind um noch 
eine Zukunft zu haben? Was ist mit dir, Ottobah? Selbst wenn 
wir den Mann mit der Peitsche und einige andere Weiße töten 
könnten, gäbe es noch genug andere Männer um uns alle 
umzubringen!« 

»Das stimmt«, meldete sich ein anderer Krieger zu Wort. 

»Warum überlassen wir unser Schicksal nicht den Göttern? 
Warum lassen wir sie nicht entscheiden, wer stark genug ist, in 
dem fremden Land für eine Zukunft zu kämpfen? Auf diesem 
Schiff haben wir keine Chance gegen die weißen Männer!« Er 
sank keuchend auf sein Lager zurück. »Du bist tapfer, 
Ottobah«, fügte er leise hinzu. »Aber diesen Kampf kannst du 
nicht gewinnen!« 

Ottobah richtete sich auf, bis er mit dem Kopf gegen die 

niedrige Decke stieß. In seinen Augen stand wilde 
Entschlossenheit. »Wir müssen uns wehren, falls wir vor den 
Göttern bestehen wollen!«, sagte er. »Nur wenn wir wie 
Krieger handeln, haben wir ein Recht, unseren Verwandten im 
Jenseits zu begegnen. Was sollen die Frauen und Kinder 
denken, wenn wir hilflos zusehen, wie die Kranken und 

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Schwachen ins Meer geworfen werden? Nein, meine Brüder! 
Lasst uns kämpfen! Ich habe von Kriegern gehört, die den 
weißen Männern entkommen und an Land geschwommen 
sind! Die Götter werden uns beistehen, wenn wir zu den 
Waffen greifen! Zieht mit mir in den Kampf, meine Brüder!« 

Die Zustimmung unter den Kriegern wurde stärker und 

Ottobah und der Asante, der sich zunächst gegen ihn gewandt 
hatte, schmiedeten einen Plan. Zusammen mit den zehn 
stärksten und gesündesten Männern wollten sie die Matrosen, 
die ihnen das Essen gaben, entwaffnen und umbringen, um 
dann auf den Zweiten Maat oder Bootsmann und den Kapitän 
loszugehen. Die anderen Krieger würden die Verwirrung 
nutzen und sich auf die restlichen Weißen  stürzen. Mit dem 
kleinen Schlüssel, den sowohl O’Reilly als auch Johnny 
Graham in der Tasche trugen, würden sie die Schlösser an den 
Ketten öffnen und sich dann auf die Männer unter Deck 
stürzen. Ein kühner Plan, der nur aufgehen konnte, wenn die 
Frauen, die nahe bei dem großen Feuerrohr standen, den 
Matrosen an der Lunte hinderten abzufeuern. 

»Bensua«, flüsterte Ottobah. Die Männer verstanden ihn 

nicht. »Ich kenne die Frau, die uns helfen wird«, fügte er lauter 
hinzu. »Heute Abend weihe ich sie in unseren Plan ein. 
Morgen früh schlagen wir zu!« Er blickte in die Gesichter der 
anderen Krieger und versuchte sie mit seiner Zuversicht 
anzustecken. Nicht alle Männer waren so selbstsicher wie er. 
Er hob eine geballte Faust. »Keine Angst, meine Brüder! Die 
Götter kämpfen mit uns!« 

Der scharfe Knall der neunschwänzigen Peitsche ließ selbst 

die Gesichter der tapfersten Krieger erstarren. »Was soll das 
Geschwätz?«, fragte der Bootsmann grimmig und ließ die 
Peitsche gleich wieder knallen. »Habt ihr noch nicht genug? 
Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich einen von euch 
schwarzen Teufeln an den Mast binde!« Er leckte mit der 

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Zunge über seine Lippen und trat einen Krieger unsanft 
zwischen die Beine. Als der Mann aufschrie, lachte er 
höhnisch. »Haltet den Mund, verstanden? Wer das nächste 
Wort sagt, fliegt ins Meer!« 

Am frühen Abend wurden zuerst die Frauen und Kinder und 

dann die Männer auf das Hauptdeck geholt. Johnny Graham 
hatte vorgehabt die Männer auf dem Zwischendeck zu lassen 
und auch die Matrosen, die den Hirsebrei und das Wasser 
ausgaben, waren nicht begierig darauf, die Sklaven zu 
bedienen. »Sollen sie doch unter Deck verrecken!«, rief einer 
gehässig. »Die stecken uns noch alle an mit ihren verdammten 
Krankheiten!« Nur dem Captain und dem Arzt hatten es die 
Schwarzen zu verdanken, dass sie auf das Hauptdeck durften. 
»Wenn wir sie unten lassen, wird alles nur noch viel 
schlimmer«, erklärte Dr. Atkins. »Sie brauchen  frische Luft, 
Nahrung und Wasser, sonst werden sie erst recht krank! Es ist 
nur zu eurem Besten, Leute!« 

Die Frauen und Kinder standen bereits an der Reling, als die 

Männer nach oben kamen. Bensua fiel sofort auf, wie 
verändert Ottobah war. In seinen Augen war ein neues Feuer, 
als hätten die Götter frischen Wind geschickt, und sein Körper 
wirkte straffer und gesünder als beim letzten Mal. Die 
Windstille schien bei ihm das Gegenteil bewirkt zu haben, 
hatte ihn stärker und widerstandsfähiger gemacht. Auch einige 
der anderen Krieger waren von neuem Mut beseelt. »Sie haben 
etwas vor«, flüsterte Bensua so leise, dass Manu es nicht hörte. 
»Sie wollen kämpfen!« 

Sie aß ihren Hirsebrei auf und wusch sich mit dem 

Salzwasser, das in Kübeln bereitstand. Die Brandwunden 
waren verheilt und das Salz brannte nicht mehr. Sie ging ein 
paar Schritte, bis sie neben Ottobah stand, und sagte: »Ich 
denke an dich, mein Freund!« Die Matrosen hatten nichts mehr 
dagegen, dass Männer und Frauen miteinander sprachen, 

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befolgten den Befehl des Kapitäns, der zu O’Reilly und 
Graham gemeint hatte: »Die Männer sollen mit den Frauen 
reden! Das hebt ihre Stimmung! Unzufriedene Sklaven 
machen Ärger, das sollten Sie langsam wissen.« 

»Sie wollen, dass sich die Nigger mit den Weibern 

vergnügen?«, fragte der Bootsmann entsetzt. Er strich über 
seine Peitsche. »Ich würde ihnen lieber die Neunschwänzige 
überziehen!« 

Captain Whitcomb verabscheute die derbe Sprache des 

Bootsmanns und blickte ihn missbilligend an. »Von 
Vergnügen habe ich nichts gesagt! Oder wollen Sie ihnen die 
Ketten abnehmen?« 

»Natürlich nicht, Sir!« 
»Befolgen Sie meine Befehle, Mister Graham, oder ich kürze 

Ihren Lohn! Ihr Hass gegen diese Schwarzen bringt uns nicht 
weiter. Wollen Sie die ganze Fracht ins Meer werfen und ohne 
einen einzigen Neger in Charleston ankommen? Ich habe keine 
Lust, diese Reise mit Verlust abzuschließen! Ist das klar?« 

»Aye, Sir!« 
Bensua wusste nichts vom Befehl des Kapitäns, hatte aber 

herausgefunden, dass die weißen Männer nicht mehr 
einschritten, wenn Männer und Frauen miteinander sprachen 
und ein Lächeln oder eine sanfte Berührung austauschten. An 
die obszönen Gesten und das hämische Lachen einiger 
Matrosen hatte sie sich längst gewöhnt. Dennoch rechnete sie 
jeden Augenblick damit, das Zischen der neunschwänzigen 
Peitsche zu hören, als sie mit Ottobah sprach. »Du hast etwas 
vor!«, sagte sie zu dem geliebten Krieger. »Du willst kämpfen. 
Ist es nicht so?« 

»Ja«, antwortete Ottobah leise, »und du musst mir helfen!« In 

wenigen Worten schilderte er Bensua, wie sein Plan aussah 
und was sie dabei zu tun hatte. »Sobald du meinen Schrei 
hörst, stößt du den Matrosen an dem großen Feuerrohr zur 

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Seite! Er darf auf keinen Fall die Lunte anzünden! Schaffst du 
das?« 

Bensua nickte. »Wenn du meinst, dass wir siegen werden, 

will ich es tun. Aber es ist gefährlich die Männer anzugreifen! 
Sie haben sich mit den bösen Geistern verbündet! Sie besitzen 
Gewehre und Pistolen! Wenn ihr es nicht schafft die Ketten zu 
öffnen, werdet ihr alle sterben! Warum warten wir nicht, 
Ottobah?« 

»Willst du zusehen, wie sie alle kranken Frauen und Kinder 

ins Meer werfen?«, fragte er. »Es bleibt uns keine Zeit mehr, 
Bensua! Morgen früh, wenn wir an Deck kommen, schlagen 
wir zu! Halte dich bereit! Und bete zu den Göttern, dass sie 
uns beistehen!« 

Bensua betete die ganze Nacht. Sie lag auf dem Rücken, hielt 

die Hand ihrer jungen Freundin und schickte Gebet nach Gebet 
zu dem Ort empor, an dem  Onyankopon Kwame  und die 
anderen Götter wohnten. Den anderen Frauen verriet sie nichts. 
Auch Manu ließ sie im Unklaren. Wenn alle Frauen von dem 
Plan der Männer erfuhren, bestand die Gefahr, dass einige in 
Panik gerieten und laut schrien oder weinten. Dann bekamen 
die weißen Männer vielleicht heraus, was die Krieger 
vorhatten. 

An Schlaf war in der drückenden Hitze kaum zu denken. Der 

Gestank war inzwischen unerträglich geworden und es schien 
nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Doktor die 
nächsten Frauen und Kinder abholte. Zu ihrem Entsetzen 
erkannte Bensua, dass auch Manu erkrankt war. Ihre Freundin 
lag erschöpft wie jemand, der von einem Giftpfeil getroffen 
worden war, auf den Planken und rang japsend nach Luft. Ihr 
Gesicht war eingefallen und ihre Augen lagen tief in den 
Höhlen. »Manu!«, flüsterte Bensua besorgt. »Warum sagst du 
nicht, dass du krank bist?« 

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Sie machte sich Vorwürfe. Vor lauter Beten und in der 

verzweifelten Angst vor dem Aufstand der Männer hatte sie 
übersehen, dass Manu an dem gefährlichen Schiffsfieber 
erkrankt war. So nannten die Weißen die Krankheit, die viele 
Sklaven und sogar Weiße auf der langen Reise befiel. In einer 
Flaute war die Gefahr, sich anzustecken, besonders groß. Nur 
frische Luft, feste Nahrung und frisches Wasser konnten den 
Kranken helfen. Aber durch den ungewollten Aufenthalt am 
Äquator waren die  Vorräte knapp geworden und Captain 
Whitcomb hatte die Rationen verkleinert. Wenn der Wind 
nicht bald zurückkehrte, war Manu verloren. Dann würde sie 
zu den bedauernswerten Frauen und Kindern gehören, die über 
Bord zu den Haien geworfen wurden. 

Bei dem Gedanken erschrak Bensua. Sie nahm einen Zipfel 

ihres Kleides und wischte ihrer Freundin den Schweiß vom 
Gesicht. »Halte durch!«, flüsterte sie. »Morgen bekommst du 
mein Wasser, dann schaffst du es! Du wirst wieder gesund, das 
verspreche ich dir!« 

»Ich… ich bin so… schwach…«, brachte Manu mühsam 

hervor. »Ich glaube… ich  muss… sterben… Lass mich 
sterben, Bensua!« 

»Niemals!«, schwor Bensua. Jetzt sehnte auch sie den 

Augenblick herbei, da Ottobah und seine Krieger die Weißen 
töten würden. Dann würde es genug Wasser für ihre Freundin 
geben. 

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17 

 
 
 

Polternde Schritte weckten Bensua und ihre Freundin, die 
beide kurz vor dem Morgengrauen eingeschlafen waren und 
von wirren Albträumen gequält wurden. Sie schreckten hoch 
und sahen Johnny Graham und den Doktor durch den 
Niedergang kommen. Die Peitsche knallte und der Bootsmann 
rief: »Aufwachen, ihr faulen Weiber! Wir brauchen neues 
Futter für die Haie!« Er lachte über seine Worte und trat einer 
Frau, die ihm im Weg lag, mit voller Wucht in die Hüfte. Die 
Sklavin stöhnte unterdrückt. Wenn der Kapitän nicht hinsah, 
ließ der Bootsmann seinem Hass auf die Gefangenen freien 
Lauf. »Wie wärs mit der alten Hexe hier?«, fragte er und 
deutete auf eine weißhaarige Frau. »Für die kriegen wir 
sowieso keinen Penny!« 

Doktor Atkins achtete nicht auf den Bootsmann und nahm die 

Öllampe vom Balken neben dem Niedergang. Gebückt stieg er 
über die schwitzenden Frauen und Kinder. Der Schein der 
Lampe geisterte über verzweifelte Gesichter und ließ panische 
Angst in den dunklen Augen aufleuchten. Einige Kranke 
hatten es nur der Abscheu des Doktors zu verdanken, dass sie 
an diesem Morgen nicht über Bord geworfen wurden. Um 
einen umgestürzten Eimer machte er einen weiten Bogen. 
»Lange halte ich das nicht mehr aus«, sagte er mehr zu sich 
selbst. »Wenn das so weitergeht, müssen wir die ganze Ladung 
ins Meer werfen!« Er wandte sich an den Bootsmann. »Lassen 
Sie uns umkehren, Mister Graham! Die Neger benötigen 
dringend frische Luft und etwas zu trinken, sonst brauchen wir 
gar nicht weiterzufahren!« 

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Bensua sah, wie der Bootsmann zögerte, und bat die Götter in 

einem stummen Gebet, die weißen Männer umkehren zu 
lassen. Doch Graham ließ sich nicht beirren. Seine Schritte 
wurden lauter, und obwohl die Sklavinnen längst wieder auf 
dem Rücken lagen um bloß nicht aufzufallen, spürten sie, wie 
sein bedrohlicher Schatten über sie fiel. Bensua presste die 
Hand ihrer Freundin in stummer Verzweiflung, hoffte 
inständig, dass der Bootsmann sie nicht auf das Hauptdeck 
mitnahm. Sie hatte ihrer Freundin den Schweiß vom Gesicht 
gerieben und ihr eingeschärft, sich die Schmerzen so wenig 
wie möglich anmerken zu lassen. Aber sie wusste, dass das 
Schiffsfieber in ihren Augen klar zu erkennen war. Der 
fiebrige Glanz brandmarkte sie genauso wie das Brandmal auf 
ihrem Rücken. 

Die Schritte verstummten und Bensua schloss die Augen, um 

die weißen Männer nicht ansehen zu müssen. Am Tonfall des 
Bootsmannes hörte sie, dass ihre Gebete vergeblich gewesen 
waren. »Und was ist mit der hier?«, fragte Johnny Graham. Er 
deutete mit der Peitsche auf die zitternde Manu. »Die ist fällig, 
wenn Sie mich fragen! Die hält doch keinen Tag mehr durch!« 

Bensua verstand den Bootsmann und schickte ein letztes 

Gebet zu den Göttern empor. Sie durfte nichts unversucht 
lassen, um ihre Freundin vor einem grausamen Tod zu retten. 
Der Gedanke, dass Manu von den Raubfischen zerrissen 
werden sollte, war zu schrecklich. Manu darf nicht sterben!, 
rief sie stumm. Sie ist jung und unschuldig! Lasst sie am 
Leben! Bitte! 

Diesmal wurde ihr Gebet erhört. Gerade als der Doktor 

antworten wollte, ging ein Knarren und Ächzen durch das 
Schiff und die Planken bewegten sich unter den Körpern der 
Sklaven. »Alle Mann an Deck!«, ertönte die schneidende 
Stimme des Captains. »Die Flaute ist vorbei! Mister Graham, 

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kommen Sie sofort herauf! Und wecken Sie Mister O’Reilly! 
Ich brauche jetzt jeden Mann!« 

Bensua öffnete vorsichtig die Augen und beobachtete, wie 

der Bootsmann und der Doktor im Niedergang verschwanden. 
Erleichtert beugte sie sich zu ihrer Freundin hinüber. »Jetzt ist 
es vorüber«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund! Die Götter 
haben den Wind zurückgebracht! Du wirst sehen, er wird das 
Schiffsfieber vertreiben!« 

Manu lächelte zaghaft, zum ersten Mal seit vielen Stunden. 

Zum Sprechen war sie zu schwach. In ihren Augen war immer 
noch das Entsetzen zu sehen, das sie beim Anblick der weißen 
Männer empfunden hatte. Sie hatte bereits mit dem Leben 
abgeschlossen und sich auf einen grausamen Tod vorbereitet. 
»Die Götter werden mich im Jenseits wie eine Königin 
empfangen«, hatte sie sich  einzureden versucht. »Ich werde 
meine Eltern wieder sehen und der Schmerz wird mich nicht 
mehr quälen!« 

Das Lächeln erstarb und Tränen quollen aus ihren Augen. 

Ungehemmt flossen sie über ihr Gesicht. Bensua nahm Manu 
fest in den Arm und sagte belanglose Worte wie »Es wird alles 
wieder gut!« und »Du brauchst keine Angst zu haben!«, 
obwohl sie genau wusste, dass sie nur einen Aufschub 
bekommen hatten. Wenn Manu nicht gesund wurde, musste sie 
sterben. 

Die  Hannibal  regte sich wie ein mächtiges Tier nach einem 

langen Winterschlaf. Stöhnend und beinahe widerwillig 
streckte sie sich in dem auffrischenden Wind. Plötzlich war 
wieder Leben in dem Schiff und die Segel blähten sich unter 
einem heftigen Windstoß, der aus dem Nichts zu kommen 
schien und rauschend über das Meer fegte. Die spiegelglatte 
Fläche bewegte sich und zerfiel in unruhige Wellen. »Na, 
endlich!«, rief O’Reilly, von dem jegliche Müdigkeit 
abgefallen war, nachdem Johnny Graham ihn aus dem Schlaf 

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gerissen hatte. »Viel länger hätte ich die verdammte Flaute 
auch nicht ausgehalten!« Er zog die Neunschwänzige über das 
Hauptdeck und brüllte die Männer an: »In die Wanten mit 
euch, ihr faulen Säcke! Setzt die Segel!« 

Mit einem leichten Lächeln beobachtete Captain Whitcomb, 

wie sich die Segel mit Wind füllten und die Hannibal auf Kurs 
ging. Endlich war die Flaute vorbei! Wenn er mit vollen 
Segeln fuhr, konnte er die amerikanische Küste in fünf bis 
sechs Wochen erreichen. Seine Brigg war nicht so schnell wie 
die wendigen Schoner mancher Sklavenhändler, doch wenn 
der Nordostpassat seine normale Stärke erreichte, war das Ziel 
nicht mehr fern. Jeder Tag bedeutete bares Geld. Er wollte die 
Sklaven so schnell wie möglich loswerden und sich dann in 
seinem kleinen Haus an der Küste erholen, bevor er zu einer 
weiteren Tour aufbrach. 

Der Sklavenhandel war ein schmutziges Geschäft und die 

meisten anderen Schiffe machten nicht umsonst einen großen 
Bogen um ihn. Der Gestank der Schwarzen war kaum zu 
ertragen. Doch kein anderes Unternehmen brachte so viel 
Geld. Noch zwei oder drei Fahrten und er konnte sich zur Ruhe 
setzen. 

Er wandte sich an den Schiffsarzt, der würgend an der Reling 

stand und sich mit beiden Händen daran festhielt. »Was ist, 
Doktor? Vertragen Sie den Wind nicht mehr?« Seine Lächeln 
wurde spöttisch. »Die Flaute hat Ihnen wohl zugesetzt?« 

»Es ist… der Gestank!«, antwortete Doktor Atkins heiser. Er 

deutete auf die Luftluke, die zum Zwischendeck der Frauen 
und Kinder führte. »Da unten ist es kaum auszuhalten! Wenn 
die Neger nicht bald frische Luft bekommen, müssen wir alle 
töten!« 

»Das möchte Mister Graham wohl gern«, meinte Whitcomb. 

»Ich denke nicht daran, die Ladung weiter zu dezimieren! 
Holen Sie die Sklaven nach oben! Heute bleiben sie den 

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ganzen Tag auf dem Hauptdeck! Pflegen Sie die Kranken 
gesund, verstanden? Bis Charleston will ich keinen einzigen 
Sklaven mehr verlieren! Das Geld der Versicherung deckt 
nicht mal den halben Verlust!« 

»Eine Extra-Ration Süßwasser würde helfen, Sir! Da unten 

staut sich die Hitze wie in einem Backofen! Die Latrinen-
Eimer sind umgefallen! Nicht mal ein Neger überlebt in 
diesem Dreck! Lassen Sie die Zwischendecks mit Salzwasser 
durchspülen! Ich habe weiß Gott kein Mitleid mit diesen 
Heiden, aber wenn wir nichts unternehmen, werden alle Neger 
krank und es bleibt für uns keine Zeit mehr, sich vor einer 
Krankheit zu schützen! Ich kann es nicht mehr verantworten, 
auf die Zwischendecks zu steigen!« 

»Sie wollen sich den Gestank wohl nicht mehr zumuten?« 

Whitcomb nickte widerwillig. »Also meinetwegen. Geben Sie 
ihnen das Wasser! Und drücken Sie ein paar Zitronen hinein! 
Skorbut ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können! Auf 
meiner vorigen Reise fielen zwanzig Negern die Zähne aus, 
nur weil wir nicht genug Zitronen an Bord hatten! Einen 
solchen Verlust kann ich mir nicht wieder leisten! Ich habe 
Verpflichtungen, Doktor!« 

»Aye, Sir«, erwiderte der Schiffsarzt erleichtert. Natürlich 

hatte er nur an sich gedacht, als er den Kapitän um Hilfe 
gebeten hatte. Die Schwarzen rührten ihn nicht, waren 
»primitive Heiden«, die sowieso alle gleich aussahen, und der 
Verdienst des Kapitäns war ihm genauso egal. Aber er kam 
täglich mit den Sklaven in Berührung und hatte keine Lust, so 
grausam wie sie zu enden. 

Die Befehle des Kapitäns hallten über das Deck. Bensua hatte 

sich einige Wörter gemerkt und ahnte, was sie bedeuteten. 
Gleich würde sich die Luke öffnen und O’Reilly oder der 
Bootsmann würden nach unten kommen und sie holen. 
»Fürchte dich nicht«, beruhigte sie ihre zitternde Freundin, als 

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die Luke geöffnet wurde, »sie bringen uns nach oben! Gleich 
bekommst du etwas zu essen und zu trinken! Du wirst wieder 
gesund, Manu!« 

Der frische Wind, der durch den offenen Niedergang auf das 

Zwischendeck fiel, weckte die Lebensgeister der erschöpften 
Frauen und Kinder. Als O’Reilly die Peitsche schwang und sie 
auf das Hauptdeck trieb verflog ihre Angst. Selbst die Frauen, 
die getroffen wurden, schrien nicht. Im Vergleich zu dem 
grausamen Schicksal, im Maul eines gierigen Raubfisches zu 
enden, war ein Hieb mit der Neunschwänzigen das 
geringfügigere Übel. Die Aussicht, nach mehr als einer Woche 
wieder frische Luft zu schnappen, linderte selbst die größten 
Schmerzen. Mit hoffnungsvollen Mienen kletterten die 
Gefangenen auf das Hauptdeck, den Blick auf die Matrosen 
beim Wasserfass gerichtet. Zu ihrer großen Überraschung 
durften sie diesmal zwei Becher trinken. Bensua gab ihren 
zweiten der Freundin und achtete nicht auf die Matrosen, die 
sich über ihre Großzügigkeit lustig machten. 

Als sie zur Reling gingen und ihr Blick auf das große 

Feuerrohr fuhr, wurde sie von Angst gepackt. In wenigen 
Augenblicken würden die Krieger an Deck kommen und sich 
auf die Matrosen  stürzen. Ausgerechnet jetzt, da die weißen 
Männer begonnen hatten sie etwas besser zu behandeln. War 
es klug, ein so großes Risiko einzugehen? Wenn der Aufstand 
fehlschlug, würden sich die weißen Männer auf blutige Weise 
rächen. Dann landeten noch mehr Sklaven bei den Haien. Sie 
blickte nervös zum Niedergang, wusste nicht, wie sie den 
Kriegern begegnen sollte. 

»Ich  muss… mich… setzen…«, drang Manu in ihre 

Gedanken. Der  Aufstieg zum Deck hatte ihr stark zugesetzt. 
»Ich fühle mich… so leer…« Sie rutschte an der Reling zu 
Boden und blieb erschöpft sitzen. Ihre Hand mit dem Hirsebrei 
sank in den Schoß. 

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Bensua beugte sich zu ihr hinunter. Sie schämte sich die 

Freundin vernachlässigt zu haben. »Manu!«, redete sie auf das 
Mädchen ein. »Du musst den Brei essen! Hast du gesehen? Sie 
haben den Saft der gelben Früchte in das Wasser gedrückt! Er 
wird dich gesund machen! Der Saft von frischen Früchten hilft, 
das weiß ich von einer Frau, die sich mit Krankheiten 
auskennt! Du musst essen und trinken, damit du wieder zu 
Kräften kommst! In ein paar Tagen bist du wieder so stark wie 
ich! Sieh doch, wie heftig der Wind jetzt wieder bläst!« 

Manu blickte zu den Segeln empor und lächelte schwach. 

Das weiße Leinentuch wölbte sich unter den Böen. Die hatte 
mächtig Fahrt aufgenommen und rauschte pfeilschnell durch 
das schäumende Wasser. Onyankopon Kwame  hatte die bösen 
Geister vertrieben und blies seinen heilenden Atem über das 
Deck, drang sogar in die Zwischendecks und verscheuchte den 
Gestank und die brütende Hitze. Das Höllentor, das sich vor 
den Gefangenen aufgetan hatte, schloss sich langsam, und 
unter den Frauen und Kindern machte sich neue Hoffnung 
breit. 

Die Krieger wussten nichts von der angeblichen 

Sinneswandlung der weißen Männer. Ottobah und seine 
Anhänger waren entschlossen so viele Feinde wie möglich zu 
töten, sobald sie an Deck geklettert waren. Die Peitschenhiebe 
des Bootsmanns, die wie Flammen auf ihren Rücken brannten, 
bestärkten sie nur in ihrer Absicht. »Wir warten, bis alle oben 
sind«, sagte Ottobah zu dem Asante, der ihn gestern noch 
beleidigt hatte. Jetzt war er sein bester Verbündeter. Auch er 
hatte erkannt, dass sie die Weißen nur gemeinsam besiegen 
konnten. »Du übernimmst den Mann beim Wasserfass! Ich töte 
den Mann mit der Peitsche!« Er drehte sich zu den anderen 
Männern um und nickte ihnen aufmunternd zu. Gleich würde 
sich ihr Schicksal entscheiden! Sie würden siegen oder als 
Helden untergehen! 

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Bensua sah, dass die Männer an Deck kamen, und rannte zu 

ihnen. Es war ihr egal, dass die Matrosen dachten, sie würde 
nach ihrem Liebsten rufen. »Ihr dürft es nicht tun!«, rief sie 
Ottobah zu. Sie hoffte, dass keiner der Matrosen ihre Sprache 
verstand. »Die weißen Männer geben uns mehr Wasser! Der 
Doktor kümmert sich um die Kranken! Sie wollen, dass wir 
gesund werden! Ihr dürft sie nicht umbringen! Tut es nicht, 
Ottobah!« 

Ottobah sah, dass Bensua die Wahrheit sprach. Der erste 

Krieger hatte bereits einen Becher geleert und durfte ihn noch 
einmal mit Wasser füllen. Obwohl der Hass auf die weißen 
Männer ihm fast den Verstand raubte und seine Nerven zum 
Zerreißen gespannt waren, sagte er: »Ihr hört, was sie erzählt 
hat. Die Weißen haben sich besonnen! Es wäre dumm, sie jetzt 
anzugreifen! Wir warten auf eine bessere Gelegenheit!« Er 
blickte den Asante an. »Der Doktor kümmert sich um die 
kranken Frauen und Kinder! Er gibt ihnen Wasser und 
Hirsebrei! Wir dürfen ihnen nicht die Zukunft verbauen!« 
Tatsächlich war der Schiffsarzt zu einer kranken Frau 
gegangen und hatte ihr Wasser gereicht. 

Der Asante wollte nicht glauben, dass die Weißen anders 

dachten. Er hatte die ganze Nacht neben seinem sterbenden 
Jungen gelegen und war voller Zorn. »Die Weißen ändern sich 
nicht!«, erwiderte er. »Wir müssen sie töten, wenn es eine 
Zukunft für unsere Völker geben soll! Gestern hast du ähnlich 
gesprochen!« 

»Ich weiß«, räumte Ottobah ein, »auch mein  Hass hat sich 

nicht gelegt! Aber ich denke an die Frauen und Kinder! Wenn 
die Weißen für sie sorgen, macht es keinen Sinn, sie 
anzugreifen!« 

Der Asante war nicht in der Lage, seinen Zorn zu bezähmen. 

Der Schmerz über den Verlust des Jungen war zu groß. Und er 
schien während der Flaute kaum Kraft verloren zu haben. »Ich 

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kann nicht anders!« So schnell, dass Ottobah nicht mehr 
eingreifen konnte, stürzte er sich auf den Bootsmann. Mit 
einem wütenden Aufschrei, der Weiße und Schwarze 
gleichermaßen entsetzte, ging er dem Bootsmann an die 
Gurgel. Der Krieger, der an ihn gekettet war, stürzte zu Boden 
und schrie um Hilfe. 

Der Zorn verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Mit dem 

freien Arm nahm er den Bootsmann in den Schwitzkasten und 
brach ihm das Genick. Er stieß einen triumphierenden 
Siegesschrei aus, wollte sich auf den nächsten Weißen stürzen 
und blieb an seinen eisernen Fesseln hängen. Ein Matrose 
schlug ihm den Kolben seiner Muskete auf den Kopf. »Bleibt, 
wo ihr seid, sonst müssen wir alle sterben!«, warnte Ottobah 
die anderen Krieger. Er hielt einen jungen Mann fest, der auf 
einen Weißen losgehen wollte. »Wir kämpfen, wenn die Götter 
auf unserer Seite sind!« 

Nur seine beherzte Warnung verhinderte ein Blutbad. »Nicht 

schießen!«, drang die schneidende Stimme des Kapitäns durch 
den Wind. Die Matrosen senkten die Waffen. »Mister 
O’Reilly! Erteilen Sie den Männern eine Lektion! Sie sollen 
wissen, dass es sich nicht lohnt, meine Mannschaft 
anzugreifen! Lassen Sie die Nigger die Peitsche spüren und 
dann sollen sie zusehen, wie wir den Mörder an der Rahe 
aufknüpfen! Aber keine weiteren Toten, haben Sie mich 
verstanden? Denken Sie an die Kosten!« 

Bensua legte ihrer schwachen Freundin einen Arm um die 

Schultern und verdeckte ihr mit einer Hand die Augen. Sie 
sollte das blutige Schauspiel nicht sehen. Auch Bensua ekelte 
davor, aber die Auspeitschung war besser als das Blutbad, das 
sonst gedroht hätte. Sie war Ottobah dankbar. Er hatte seinen 
Zorn unterdrückt und war dem Weg der Vernunft gefolgt. So 
wie die Weißen, die anscheinend nicht wollten, dass noch 
mehr Schwarze starben. Den Grund für diesen Sinneswandel 

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konnte sie nur ahnen, denn sie merkte, dass sich die 
Verachtung der Weißen nicht gelegt hatte. 

Das bewies auch die Gemeinheit, mit der O’Reilly auf die 

gefesselten Krieger losging. Der Zweite Maat war kein 
besonderer Freund des Bootsmanns gewesen und doch schlug 
er mit solcher Heftigkeit auf die Männer ein, dass sie schreiend 
zusammenbrachen und sich stöhnend auf den Planken wälzten. 
Einige jüngere Krieger übergaben sich. Ottobah blieb aufrecht 
stehen und ließ die Peitschenschläge wie die Hiebe eines 
Kindes an sich abprallen. Sein Blick war auf Bensua gerichtet, 
die ihn unverwandt anblickte und ihn mit ihrer Zuneigung 
stärkte. 

»Das ist genug!«, befahl der Kapitän nach einer  Weile. 

»Schütten Sie einen Eimer Wasser über die Männer und lassen 
Sie sie zusehen, wie wir den Mörder ins Jenseits schicken!« Er 
rief die Namen einiger Matrosen und befahl ihnen, den 
bewusstlosen Asante in die Wanten zu zerren und an einer 
Rahe aufzuhängen. 

Begeistert kamen die Männer dem Befehl nach. Sie hatten 

genug vom »sanften Kurs« ihres Kapitäns und waren froh, ihre 
Abscheu an einem der Sklaven auslassen zu können. Sie 
warfen eine Schlinge über die unterste Rahe und legten sie 
dem Krieger um den Hals. Als sie zuzogen, öffnete der Asante 
die Augen. 

»Fahr zur Hölle!«, rief ein Matrose und ließ ihn nach unten 

fallen. Noch während der Asante gegen das Ersticken kämpfte 
und die Frauen und Kinder an Deck sein Schicksal beweinten, 
trennte der Matrose den Strick mit seinem Entermesser durch 
und ließ den Krieger ins Meer  stürzen. Die Haie kamen von 
allen Seiten. 

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18 

 
 
 

Der Nordostpassat trieb die Hannibal über den Atlantik und an 
den Westindischen Inseln vorbei. Nach der tödlichen Flaute 
am Äquator blähten sich die Segel unter stetigen Böen, wich 
die zermürbende Stille den vertrauten Geräuschen der »Middle 
Passage« zwischen Afrika und Amerika. Die Stimmung der 
Mannschaft besserte sich und selbst der Kapitän gestattete sich 
ein zuversichtliches Lächeln, wenn er auf dem Achterdeck 
stand und den frischen Wind spürte. Über dem Meer wölbte 
sich ein blauer Himmel und Captain Whitcomb dankte dem 
lieben Gott dafür, dass sie vor den gefürchteten Herbststürmen 
verschont blieben. 

Auch auf den Zwischendecks wuchs wieder die  Zuversicht. 

Die Matrosen reinigten die Quartiere täglich mit Salzwasser 
und jeden Morgen, wenn die Sklaven an Deck kamen, verteilte 
Doktor Atkins ein stärkendes Pulver und beschmierte die 
offenen Wunden der Kranken mit Salbe. Die Schwarzen 
verstanden nicht, weshalb die Weißen sie plötzlich besser 
behandelten, hüteten sich aber sie durch unüberlegte 
Handlungen herauszufordern. Sogar Ottobah verhielt sich 
ruhig. Er hatte gesehen, wie schnell die Matrosen zu den 
Waffen griffen und wie schlecht es dem aufsässigen Asante 
ergangen war. Bensua hatte Recht. Es machte keinen Sinn die 
Weißen während der Überfahrt anzugreifen. In dem fremden 
Land, das sie bald sehen würden, bliebe genug Zeit, sich an 
ihnen zu rächen. Auf dem Schiff gefährdete er das Leben der 
Frauen und Kinder. »Haltet durch, meine Brüder!«, rief er 
seinen Mitgefangenen zu. »Die Weißen behandeln uns jetzt 
gut. Ich weiß nicht, ob sie uns nur in Sicherheit wiegen wollen 

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und was sie vorhaben, wenn wir das fremde Land erreichen. 
Aber es ist klüger, mit unserer Rache zu warten! Ihr kennt 
mich! Ihr wisst, wie sehr ich darauf brenne, mich an den 
weißen Männern zu rächen! Und ich verspreche euch, dieser 
Tag wird kommen!« 

Es fiel Ottobah schwer, sich ruhig zu verhalten. O’Reilly 

setzte immer noch seine neunschwänzige Peitsche ein und 
stieß zwei gefesselte Sklaven unsanft zu Boden, weil ihm ihre 
Gesichter nicht gefielen. Einem Jungen, der zu laut weinte, 
versetzte er eine schallende Ohrfeige, deren Spuren noch Tage 
später zu sehen waren. »Stinkendes Pack!«, brüllte er, wenn er 
den Kapitän nicht in der Nähe wusste. Aber das war eher die 
Wut über die doppelte Wache, die er seit der Ermordung des 
Bootsmanns schieben  musste. Wenn er allein in seiner Koje 
lag, dachte er an den Lohn, den er nach dem Verkauf der 
Sklaven erhalten, und die Frauen, die er für das viele Geld 
kaufen würde. Junge Weiber mit blauen Augen und blasser 
Haut, die Champagner mit ihm trinken und ihm alle Wünsche 
erfüllen würden. 

Bensua setzte ihre Gebete fort. Sie dankte den Göttern für das 

Ende der Windstille und die Behandlung durch den weißen 
Arzt. Und sie sang alle heiligen Lieder, die sie kannte, um die 
Gesundung ihrer Freundin zu beschleunigen. Manu ging es 
jeden Morgen besser. Der fiebrige Glanz verschwand aus ihren 
Augen und ihre Haut nahm wieder eine normale Farbe an. Die 
langen Aufenthalte an Deck halfen ihr freier zu atmen. Doch 
die Angst blieb. Jede Nacht, wenn sie die Augen schloss, sah 
sie ihre toten Verwandten, erlebte sie die demütigende 
Behandlung durch die weißen Männer, dachte sie daran, wie 
die kranke Frau und ihr Kind im Meer versanken und von den 
Haien zerrissen wurden. 

»Ich verstehe die weißen Männer nicht«, meinte sie, als sie 

an der Reling standen und über das endlose Meer blickten. 

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»Zuerst werfen sie kranke Frauen und Kinder ins Meer und 
jetzt geben sie uns zu essen und zu trinken und der Doktor 
versorgt unsere Wunden mit Wundersalbe. Warum tun sie das, 
Bensua?« 

Die ältere Freundin erinnerte sich an die lauten Befehle des 

Kapitäns und antwortete: »Der Mann mit dem dreieckigen Hut 
hat es befohlen. Ich glaube, er will uns an andere Weiße 
verkaufen. Wenn wir arbeiten sollen, müssen wir stark und 
gesund sein. Er will möglichst viel Gold für uns bekommen.« 
Sie blickte ihre Freundin an und bemerkte, dass  die 
Brandwunden kaum noch zu sehen waren. Nur das Brandmal 
leuchtete auf ihrem nackten Rücken. »Du bist wieder gesund! 
Das ist alles, was zählt! Du bist stark genug, um unserer neuen 
Zukunft in die Augen zu sehen!« 

»Ich kann wieder atmen, doch ich habe immer noch Angst«, 

erwiderte Manu unsicher. »Die Weißen schlagen und 
beschimpfen uns! Niemand weiß, was uns in dem fremden 
Land erwartet!« 

»Nein, das weiß keiner«,  musste Bensua einräumen. »Aber 

unsere Gebete sind stark genug um die bösen Geister zu 
vertreiben!  Onyankopon Kwame  hat den Wind gebracht und 
die weißen Männer gezwungen keine Gefangenen mehr zu 
töten. Auf dieser Fahrt stirbt niemand mehr! Wir werden leben, 
Manu!« 

Ihr Weissagung ging nicht in Erfüllung. Eine Frau starb, als 

sie ihr totes Kind gebar. Ein Mädchen träumte von den bösen 
Geistern und stürzte sich über die Reling. Zwei Jungen wurden 
von einem schweren Vorratsfass erschlagen, das sich aus 
seiner Verankerung gelöst hatte und auf sie gerollt war. Aber 
es gab keine gefährlichen Krankheiten mehr und der 
Schiffsarzt kümmerte sich sogar um die blutigen Striemen der 
Männer, die unter den Lederriemen der Peitsche gelitten 
hatten. Einer schwangeren Frau half er bei der Geburt  – ein 

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sinnloses Unterfangen, weil das Baby bereits nach wenigen 
Minuten starb. 

Captain  Whitcomb hielt sich von den Westindischen Inseln 

fern um möglichst wenigen Schiffen zu begegnen. Es gab 
immer noch Piraten, die Sklavenschiffe kaperten und die 
Fracht auf eigene Rechnung verkauften, und weltfremde 
Fanatiker, die sich gegen die Sklaverei wandten und nur darauf 
warteten, die Gefangenen eines Schiffes zu befreien. Selbst mit 
einer amerikanischen Flagge war man in diesen Gewässern 
nicht sicher. Offiziell hatte auch die amerikanische Regierung 
die Einfuhr neuer Sklaven aus Afrika verboten und unter dem 
Einfluss mancher religiöser Gruppen war der Präsident 
gezwungen regierungseigene Schiffe an der Küste 
patrouillieren zu lassen, um mögliche Sklaventransporte 
aufzuhalten. In den amerikanischen Häfen der Ostküste 
wurden die Papiere streng überprüft. Nur Sklaven aus den 
Vereinigten Staaten durften verschifft und verkauft werden. 

Natürlich gab es Mittel und Wege um dieses Verbot zu 

umgehen. Captain Alex Whitcomb verfügte über 
ausgezeichnete Verbindungen zu politischen Gruppen in den 
Südstaaten und hatte ein Abkommen mit dem Sohn eines 
einflussreichen Beamten getroffen, der ihm entsprechende 
Papiere ausstellte und dafür einen stattlichen Geldbetrag 
erhielt. Ein Fischer, der hoch verschuldet und von dem 
Beamten abhängig war, wartete vor der Küste von South 
Carolina auf die  Hannibal  und überbrachte Whitcomb ein 
unterschriebenes Formular, das er nach eigenem Gutdünken 
ausfüllen konnte. Die Sklaven mussten vor der Küste in ihren 
Quartieren bleiben, damit niemand sie sah, und bekamen nicht 
mit, wie  der Fischer mit seinem Schoner längsseits ging und 
dem Kapitän den Umschlag übergab. Wortlos nahm Whitcomb 
die Papiere entgegen. »Jagen Sie die Männer in die Wanten!«, 
rief er O’Reilly zu. »Bringen Sie uns nach Charleston!« 

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Nördlich der Westindischen Inseln war es kühler geworden 

und die Sklaven froren auf den nackten Planken. Die meisten 
trugen lediglich ein Tuch, das sie um ihre Lenden gewickelt 
hatten, nur einige Frauen wie Bensua und Manu hatten ein 
Kopftuch über ihre Haare gebunden. Die Erkenntnis, dass sie 
jetzt den ganzen Tag unter Deck bleiben mussten, erschreckte 
sie. Umso erstaunter waren sie, als die Matrosen neue 
Kleidung verteilten, einfache Hosen für die Männer und 
sackleinene Kleider für die Frauen, und  der Doktor noch 
einmal von einem zum anderen ging und eine genaue 
Untersuchung vornahm. Die Sklaven wurden mit Hirsebrei und 
Reis regelrecht gemästet und bekamen frisches Wasser zu 
trinken, das der Fischer von der Küste mitgebracht hatte. Es 
schmeckte angenehm und verlieh den Sklaven neuen 
Lebensmut. »Wir haben unser Ziel erreicht«, erkannte Bensua 
den Grund für diese Fürsorge. »Sie putzen uns für den Verkauf 
heraus! Jetzt kann es nicht mehr lange dauern!« 

Nur die aufgeregten Befehle des Zweiten Maats und das 

leiser werdende Knattern der Segel verriet den Gefangenen, 
dass sie sich dem fremden Hafen näherten. Durch die Luftluke 
war der wolkenverhangene Himmel zu sehen. Die  Hannibal 
erreichte ruhiges Wasser und verlangsamte ihre Fahrt. Das 
Geräusch der rasselnden Ankerkette ließ auch die Männer 
zusammenzucken und trieb einige Sklaven zu Angstschreien, 
weil sie glaubten das Schiff würde auseinander brechen. Durch 
die Luke drangen fremde Geräusche nach unten, das Wiehern 
von Pferden und das Rattern eines Wagens, der über 
Kopfsteinpflaster polterte. Seltsame Laute, die keiner der 
Schwarzen jemals gehört hatte. 

Bensua unterdrückte ihre Angst und flüsterte ihrer Freundin 

zu, dass jetzt für sie vielleicht bessere Tage kämen. Manu 
drückte dankbar ihre Hand. Sie saßen aufrecht auf dem harten 
Boden, warteten darauf, dass die Luke zum Niedergang 

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aufgestoßen wurde und der Mann mit der Peitsche erschien. 
Diesmal lächelte der Zweite Maat und er verzichtete sogar 
darauf, die Neunschwänzige einzusetzen. Die Zufriedenheit, 
endlich Charleston erreicht zu haben, und die Vorfreude auf 
den Lohn und die sinnlichen Genüsse, die er sich im Hafen 
leisten würde, ließen ihn kaum noch an die Sklaven denken. 
»Raus mit euch!«, brüllte er. »Ihr habt lange genug auf der 
faulen Haut gelegen! Jetzt wird gearbeitet, verdammt!« 

Die Gefangenen verstanden kein Wort und kletterten einer 

hinter dem anderen an Deck. Einige blieben erstaunt stehen, 
als sie den geschäftigen Hafen und die vielen Häuser 
erblickten, doch die Matrosen trieben sie unbarmherzig an. In 
Hafenbooten, die zwischen den Segelschiffen verschwindend 
klein aussahen, wurden sie an Land gebracht. Bensua und 
Manu drückten sich, überwältigt vom Anblick der Stadt, die 
aus einem endlosen Gewirr von Straßen und Gassen zu 
bestehen schien, eng aneinander. Kirchtürme ragten wie 
Speerspitzen aus dem Häusermeer. Kumase, die Hauptstadt 
des Asante-Reiches, war größer, aber es gab nicht so viele 
Menschen und Wagen wie in der Stadt der weißen Männer und 
die Straßen waren breiter und großzügiger. 

Über eine steinerne Treppe stiegen die Sklaven zum Hafen 

empor. Dort wurden sie von einigen Aufsehern erwartet, treuen 
Bediensteten des Beamten, der gemeinsame Sache mit Captain 
Whitcomb machte. Sie trugen Pistolen und knallten mit ihren 
Peitschen, ließen die Schwarzen auf diese Weise wissen, dass 
ihre Leidenszeit erst begonnen hatte und die einigermaßen gute 
Behandlung während des letzten Teils der Schiffsreise nur eine 
seltene Ausnahme gewesen war. »Stellt euch dort drüben auf! 
In Zweierreihen, verdammt!«, rief einer der Aufseher. Er 
benutzte dieselbe Sprache wie die Männer auf dem Schiff und 
unterstrich jedes seiner derben Worte mit einer eindringlichen 
Geste. 

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Bensua und ihre Freundin reihten sich ein, erschauderten 

unter den Blicken einiger Hafenarbeiter, die sie mit 
unverhohlener Gier anstarrten. Noch wussten sie nicht, dass 
ein weißer Mann, der ein schwarzes Mädchen vergewaltigte, 
straffrei ausging. Zögernd folgten sie den Aufsehern durch die 
Stadt. Über die mit Steinen bepflasterten Straßen zogen sie an 
bunten Häusern mit schmiedeeisernen Zäunen vorbei zu einem 
schmucklosen Gebäude, das hinter einer der zahlreichen 
Kirchen emporragte. Sie wurden durch ein gewölbtes Tor in 
einen geräumigen Hof getrieben und von den Aufsehern in 
willkürliche Gruppen zu je  zwanzig  oder dreißig Sklaven 
eingeteilt. Bensua  hielt ihre junge Freundin fest umschlungen 
und schaffte es, sie bei sich zu behalten. Auf der anderen Seite 
des Hofes stand Ottobah, von seinem Mitgefangenen getrennt, 
aber immer noch gefesselt und so weit entfernt, dass Bensua 
nicht in seine Augen sehen konnte. Sie erkannte ihn an seiner 
stolzen Haltung und den geballten Fäusten. 

Keiner der Sklaven wusste, aus welchem Grund sie in dem 

Hof bleiben mussten. Das Tor war verschlossen worden und 
die Fenster in den Wänden, die sie an vier Seiten bedrängten, 
blieben dunkel und leer. Eine nervöse Stille breitete sich aus, 
verfing sich wie unsichtbarer Nebel zwischen den 
Hauswänden. Die meisten Sklaven wähnten sich in einem 
Gefängnis, hatten sie doch schon an der Goldküste von 
Schwarzen gehört, die in den Forts der  Holländer und 
Engländer eingesperrt gewesen waren. Dort musste es ähnlich 
ausgesehen haben. In die Stille drangen das Weinen einiger 
Kinder und die beruhigenden Stimmen ihrer Mütter, die ihre 
Angst unterdrückten und versuchten, sie mit falschen Worten 
zu trösten. »Hört mir zu!«, rief Ottobah so laut über den Hof, 
dass es alle mitbekamen. »Sie haben uns nicht in dieses weit 
entfernte Land gebracht, um uns zu töten. Vielleicht wird es 
jetzt besser für uns!« 

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Seine Worte hingen noch als Echo zwischen den Wänden, als 

das Tor geöffnet wurde und Captain Alex Whitcomb erschien, 
gefolgt von den Aufsehern und einer ganzen Reihe von 
vornehm gekleideten Männern, die vor ein hölzernes Podium 
drängten, das in der Mitte des Hofes aufgebaut war. Die 
Aufseher trieben die erste Gruppe der Sklaven auf das Podium, 
Männer und Frauen, und der Kapitän der  Hannibal  hielt eine 
kurze Rede, deren Sinn die Sklaven erst errieten, als einer der 
Aufseher, ein kräftiger Mann mit einem kantigen Schädel, 
einen Schwarzen herbeizog. Er griff mit Mittelfinger und 
Daumen in seinen Mund und zeigte den vornehmen Männern 
die leuchtenden Zähne. »Sehen Sie ihn an!«, rief er wie ein 
Marktschreier. »Ist er nicht ein prächtiger Bursche? Der bringt 
Ihre Ernte ganz allein nach Hause, da gehe ich jede Wette ein, 
und ich würde sagen, dafür kann man schon mal vierhundert 
Dollar hinlegen, habe ich Recht?« 

»Vierhundert Dollar? Sind Sie verrückt? Dafür bekomme ich 

woanders zwei Männer!«, protestierte einer der vornehmen 
Kunden. 

»Dreihundertfünfzig«, rief ein anderer. 
»Dreihundertsechzig!«, trieb jemand den Preis nach oben. 
Bensua brauchte nicht lange, um das seltsame Gefeilsche der 

weißen Männer zu durchschauen. Sie stritten um den Preis, 
den sie für einen Sklaven bezahlen sollten, und wer am 
meisten bot, bekam den Zuschlag. Sie zog ihre Freundin enger 
zu sich heran. Mit großer Abscheu verfolgte sie, wie der 
Krieger vom Podium gestoßen und von einem der Aufseher 
zum Wagen des Käufers getrieben wurde. Die Pferdewagen 
parkten direkt vor dem Tor. 

»Und sehen Sie sich diesen kräftigen Kerl an«, tönte der 

Auktionator, »ein harter Arbeiter, möchte ich wetten, wenn ich 
mir seine schwieligen Hände ansehe. Wer bietet dreihundert 
Dollar? Höre ich dreihundert Dollar? Ah, der Herr dort 

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drüben!« Er blickte auf einen schlanken Mann mit Zylinder. 
»Mister Stockton, wenn ich mich nicht irre! Dreihundert 
Dollar! Dreihundertzehn? Höre ich dreihundertzehn? Treten 
Sie näher und berühren Sie seine Muskeln! Mit diesen Armen 
hat er wilde Löwen erwürgt!« 

So ging es den ganzen Nachmittag. Ein Sklave nach dem 

anderen wurde angepriesen, verkauft und zu einem der Wagen 
gebracht. Und als es dunkel wurde, flammten Laternen und 
Fackeln auf und das unwürdige Schauspiel ging weiter. Mit 
jedem Mann und jeder Frau, die wie Schlachtvieh auf das 
Podium gescheucht wurden, wurde Bensua unruhiger. Sie 
erkannte, wie groß die Gefahr war, dass sie von Manu und 
Ottobah getrennt wurde und beide niemals wieder sah. Nur bei 
kleinen Kindern machte Captain Whitcomb eine Ausnahme. 
Durch eine großzügige Geste gab er dem Auktionator zu 
verstehen, dass er nur einen geringen Aufpreis für einen Sohn 
oder eine Tochter verlangte, sofern sie noch Kinder und 
bedingt arbeitsfähig waren. 

Ehepaare durften zusammenbleiben, wenn der Käufer 

einverstanden war, aber es gab auch Härtefälle, die Mann und 
Frau für ewige Zeiten auseinander rissen. Bensua zersprang 
beinahe das Herz, als eine junge Fante verzweifelt den Namen 
ihres Mannes rief, der von zwei Aufsehern nach draußen 
gebracht wurde und wütend an seinen Ketten riss. Die Frau 
warf sich zu Boden, schrie und brach heulend zusammen, als 
er nach draußen verschwand. »Bleiben wir zusammen?«, 
fragte Manu leise. Bensua wusste nicht, was sie antworten 
sollte. Sie war selbst den Tränen nahe. Nicht nur weil sie 
Angst hatte, Manu zu verlieren. Aber was war mit Ottobah? 

Ein Aufseher stieß sie auf das Podium. Sie zog ihre Freundin 

mit hinauf und blieb zitternd vor dem Auktionator stehen. »Na, 
wen haben wir denn da?«, machte sich der weiße Mann über 
sie lustig. »Ihr beiden seid wohl unzertrennlich?« Er wandte 

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sich lachend an die Pflanzer. »Dreihundert Dollar für diese 
stattliche Negerin!«, rief er, nachdem er sich bei Captain 
Whitcomb über den Preis informiert hatte. »Und nur fünfzig 
Dollar für dieses hübsche Mädchen, das Ihnen unschätzbare 
Dienste im  Haushalt leisten wird! Schlagen Sie ein, meine 
Herren! So billig kommen Sie nirgendwo an kräftige Sklaven! 
Entscheiden Sie sich! Wer bietet mehr als dreihundertfünfzig 
Dollar für diese Negerinnen?« 

»Dreihundertsechzig«, rief Robert F. Stockton, einer der 

reichsten Pflanzer am Ashley River. Und als ein anderer 
Plantagenbesitzer um zehn Dollar erhöhte, hob er die rechte 
Hand und sagte laut: »Vierhundert! Und das ist mein letztes 
Gebot, werter Herr!« 

Bensua und Manu erkannten, dass sie zusammenbleiben 

würden, und stiegen erleichtert vom Podium. Es machte ihnen 
nichts aus, dass der Aufseher seine Peitsche einsetzte, um sie 
möglichst schnell in den Wagen zu verfrachten. Doch als 
Bensua sah, wie der Pflanzer ihnen folgte, wurde sie von Panik 
erfasst. »Ottobah!«, schrie sie mit verzerrtem Gesicht. »Ich 
will bei dir bleiben, Ottobah!« Sie riss sich los und rannte in 
einen schmerzhaften Peitschenhieb des Aufsehers, der sie zum 
Wagen trieb. Weinend stürzte sie zu Boden. Der Mann packte 
sie am Arm und stieß sie durch den Torbogen. »Auf den 
Wagen, schwarze Hexe!« 

Während sie zu den anderen Sklaven auf den Pritschenwagen 

kletterte, hörte sie Ottobah rufen: »Ich vergesse dich nicht, 
Bensua! Eines Tages werden wir frei sein! Wir werden uns 
finden und dann beginnen wir ein neues Leben!« 

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AMERIKA 

 
 

Die Sklaverei war die Hölle! 

Es ist schlimm, anderen Menschen zu gehören, 

die deine Seele und deinen Körper besitzen. 

 

Deilia Garlic, ehemalige Sklavin 

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19 

 
 
 

»Magnolia Hall« stand oberhalb des Flusses, ein 
eindrucksvolles Haus aus roten Backsteinen, umgeben von 
einem blühenden Garten und gepflegten Rasenflächen. Eine 
breite Eichenallee führte zum prachtvollen Eingangsportal, das 
von vier weißen Säulen getragen wurde und an einen 
griechischen Tempel erinnerte. Eine niedrige Ziegelmauer 
umfasste die kunstvoll angelegten Gartenanlagen und den 
Brunnen mit der Marmorstatue eines kindlichen Engels. Der 
rückwärtige Eingang führte durch einen Rosengarten zum 
Ashley River hinunter, an dessen Ufer sich auch das 
Küchenhaus und die Ställe und Schuppen befanden. 

Robert Frederick Stockton, ein englischer Arzt, war nach 

dem Unabhängigkeitskrieg mit seinen Eltern aus London nach 
South Carolina gekommen. Er betrieb eine Praxis in Savannah 
und hatte nach dem überraschenden Tod seiner Eltern, sie 
waren an Malaria gestorben, die Plantage übernommen. Die 
langen Sommer verbrachte er mit seiner Familie in einem 
herrschaftlichen Haus in Charleston. Elizabeth, seine Frau, war 
zehn Jahre jünger als er und stammte aus Boston. Edward, sein 
zwanzigjähriger Sohn, hatte sein Jurastudium abgebrochen und 
begnügte sich damit, seinen Vater auf »Magnolia Hall« zu 
vertreten und sich um die Rennpferde zu kümmern, die auf 
einem Gestüt außerhalb der Plantage untergebracht waren. In 
der High Society von Charleston munkelte man, dass er dem 
Glücksspiel verfallen war. Auch seine Vorliebe für Sklavinnen 
und leichte Mädchen trug nicht dazu bei, seinen Ruf in der 
Gesellschaft zu festigen. 

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Die Sklavenhäuser, fünf schmucklose Giebelhäuser aus 

verwitterten Ziegelsteinen, standen abseits der Eichenallee im 
Schatten einiger Zypressen. Der Sklave, der den Pferdewagen 
lenkte, hielt vor einem der Häuser und der Aufseher, der 
mitgefahren war, scheuchte die gekauften Schwarzen von der 
Pritsche: Bensua und Manu und zwei erwachsene Männer. Er 
hieß Jonathan Kelly, ein robuster Weißer mit einem 
wettergegerbten Gesicht, einer breiten Nase und zahlreichen 
Narben, die den ehemaligen Straßenkämpfer verrieten. Er war 
in Manchester aufgewachsen, der Bergwerksstadt im alten 
England, und war auf ein Auswandererschiff geflohen, als er 
wegen eines Diebstahls ins Gefängnis gebracht werden sollte. 
In New York hatte er sich als Straßenkämpfer über Wasser 
gehalten, bis er Robert F. Stockton begegnet war und aus 
kühler Berechnung einen Bettler bewusstlos geschlagen hatte, 
der dem Pflanzer zu nahe gekommen war. Die Schlagkraft 
hatte den Gentleman  aus dem Süden beeindruckt und das 
Angebot, auf das Kelly gehofft hatte, war sofort gekommen. Er 
war nach »Magnolia Hall« gegangen und hatte einen 
heißblütigen Deutschen als Oberaufseher abgelöst. 

Bensua brauchte nur in seine unnachgiebigen Augen zu sehen 

um zu wissen, was sie auf der Plantage erwartete. Der Mann, 
der sich Kelly nannte, war aus demselben Holz wie O’Reilly 
und Johnny Graham geschnitzt und der Lederriemen seiner 
schwarzen Peitsche hinterließ genauso schmerzhafte Striemen 
wie die Neunschwänzige der Männer auf dem Schiff. »Steht 
gefälligst gerade!«, fuhr er die neuen Sklaven an. Er zog die 
Peitsche über den Boden und lachte gehässig, als einer der 
Männer vor Schreck das Gleichgewicht verlor und zu Boden 
fiel. Er gehörte zu den Kriegern, die auf der  Hannibal  am 
meisten geschlagen worden waren. »Noch einmal und du 
verbringst die Nacht am Pfahl!«, herrschte Kelly ihn an und 
deutete auf den mächtigen Eichenstamm, der vor ihnen aus 

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dem Boden ragte. Ein eiserner Ring hing in Kopfhöhe an dem 
Holz. 

Die Kutsche des Pflanzers hielt auf der Eichenallee und 

Robert F. Stockton und seine Frau kamen in der Dämmerung 
über einen ausgetretenen Pfad zu den Sklavenhäusern. 

Kelly schlug mit der Peitsche zu und trieb den gefallenen 

Sklaven vom Boden hoch. »Da kommen eure neuen Herren! 
Master Robert F. Stockton und Mistress Elizabeth Stockton! 
Der Master und die Mistress«, betonte er die Anreden, die alle 
Sklaven auf der Plantage benutzen mussten. »Verbeugt euch 
gefälligst, ihr Taugenichtse!« Er unterstrich seine Worte mit 
einem Peitschenhieb, der die Schwarzen in die Knie gehen 
ließ. »Ich stecke sie zu Henry und Sarah in die Hütte«, sagte er 
zu dem Pflanzer. »Dort lebt sonst niemand!« 

Robert F. Stockton war selten auf der Plantage, weil er seine 

Praxis in Charleston nicht aufgeben wollte, und wartete das 
Einverständnis seiner Frau ab, bevor er erwiderte: »In 
Ordnung, Mister Kelly. Henry soll ihnen beibringen, was sie 
zu tun haben.« 

»Das Mädchen hätte ich gern im Haus«, meinte Elizabeth 

Stockton zu ihrem Mann. Sie hatte ihr blasses Gesicht stark 
gepudert und man sah ihr die vierzig Jahre nur an, wenn man 
direkt vor ihr stand. Ihr langer Mantel und der breitkrempige 
Hut entsprachen der neusten Mode. Ihre Stimme wirkte 
energischer, als man es ihr auf den ersten Blick zugemutet 
hätte. »Ich brauche ein Dienstmädchen, wenn ich den Haushalt 
schaffen soll. Wir wollen doch dieses Jahr eine große 
Neujahrsparty geben!« 

Ihr Mann legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Ich 

weiß, meine Liebe! Und du meinst, dass dieses Mädchen das 
richtige ist? Sie ist sehr dünn und spricht noch kein Englisch.« 

»Die paar Wörter, die sie für den Haushalt braucht, bringt 

Harriet ihr bei«, meinte die Mistress. Sie lächelte fröhlich. 

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»Harriet ist eine Perle, weißt du das? Ohne sie würde ich die 
Arbeit niemals schaffen! Sie hilft mir sogar im Garten, ist das 
nicht wunderbar?« 

»Natürlich, meine Liebe«, beendete Stockton die 

Unterhaltung, »aber jetzt müssen wir wirklich gehen!« Er 
wandte sich an den Aufseher. »Also gut, Mister Kelly! Bringen 
Sie die Kleine ins Haus! Sie kann heute Nacht bei Harriet 
schlafen!« Harriet war das Hausmädchen, eine fällige Frau mit 
fröhlichem Gesicht, die schon seit acht Jahren auf »Magnolia 
Hall« lebte. Robert F. Stockton hatte sie von einem 
befreundeten Pflanzer an der Küste von Virginia gekauft. »Der 
beste Kauf deines Lebens«, wie seine Frau immer betonte. 
»Sie ist die großartigste Köchin, die ich jemals hatte!« 

Bensua wehrte sich mit Händen und Füßen, als Kelly nach 

ihrer Freundin griff. Woher sollte sie auch wissen, dass Manu 
nur ein paar hundert Schritte von ihr entfernt im Haus arbeiten 
würde? Sie sah nur, dass der Aufseher sie von ihrer Freundin 
trennen wollte, und ging mit erhobenen Händen auf ihn los. Sie 
schrie vor lauter Wut, biss und kratzte, bis er sie mit seiner 
Faust niederschlug und sie benommen auf die Erde fiel. Wie 
aus weiter Ferne hörte sie das Schluchzen und die 
verzweifelten Hilferufe der Freundin. Sie verbarg ihr Gesicht 
in den Händen. »Manu!«, rief sie. »Du darfst nicht gehen, 
Manu!« 

Eine starke Hand berührte sie an der Schulter. »Nicht weinen, 

Missy! Sie bringen deine Freundin nicht weg! Im Gegenteil! 
Sie wird im Haus arbeiten! Das ist eine große Ehre, Missy! Sie 
bekommt bessere Kleider und darf in der Küche essen!« Der 
Schwarze, ein stämmiger Bursche mit einem bulligen Schädel 
und einem silbernen Ohrring in seinem rechten Ohr, stammte 
von der Elfenbeinküste und benutzte ein Kauderwelsch aus 
Englisch und mehreren Dialekten. Er unterstrich seine Worte 
mit übertriebenen Gesten, um sich noch besser verständlich zu 

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machen. »Komm ins Haus, Missy! Wir haben noch Haferbrei 
übrig!« 

»Wer bist du?«, fragte Bensua. Sie rieb die Tränen aus ihren 

Augen und blinzelte in das Licht der Öllampe, die der 
Schwarze hielt. Er trug einen Zylinder mit einer Eulenfeder. 
Später erfuhr sie, dass er ihn nur zum Schlafen abnahm. »Ich 
bin Bensua.« 

»Und ich bin Henry«, sagte der Schwarze. Er half der jungen 

Frau auf und führte sie ins Haus. »Du wohnst jetzt bei uns. Das 
ist Sarah, meine Frau.« Er stellte sie der Frau an der offenen 
Feuerstelle vor, einer kräftigen Schwarzen mit wachen Augen. 
Sie trug ein einfaches Kleid aus Sackleinen und hatte ein 
blaues Kopftuch über ihre Haare gebunden. »Hast du noch 
Haferbrei übrig, Sarah? Unsere Neuen haben sicher Hunger!« 

»Schon dabei«, antwortet die Frau in ihrer Sprache. »Die 

beiden Männer sind sehr stark! Sie werden uns bei der Arbeit 
gut helfen können!« 

Bensua setzte sich zu den beiden anderen Neuankömmlingen, 

beide Fante von der Goldküste, und nahm sich eine Hand voll 
von dem Haferbrei, den Sarah auf  den Tisch stellte. Erst jetzt 
merkte sie, wie groß ihr Hunger war. Sie aß und trank und zum 
ersten Mal seit langer Zeit wurde sie richtig satt. 

»Du schläfst da drüben«, sagte Henry. Er zeigte ihr das 

notdürftige Lager, das Sarah unter einem der kleinen Fenster 
ausgebreitet hatte. Ein einfacher Strohsack und eine 
zerschlissene Wolldecke, mehr als auf der langen Überfahrt. 
»Wir sind jetzt deine Verwandten, Bensua! Willst du deinen 
Namen behalten?« 

Sie blickte ihn fragend an. 
»Die meisten Feldarbeiter nehmen einen neuen Namen an, 

wenn sie getauft sind«, erklärte er. Er vermied das Wort 
»Sklaven«. »Einen amerikanischen Namen. So wie Henry oder 

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Sarah. Den können sich der Massah und die Mistress besser 
merken.« 

»Ich behalte meinen Namen«, erwiderte Bensua. »Und wenn 

ich getauft werde, tue ich nur so, als würde ich ihren Glauben 
annehmen!« Sie hatte von den heiligen Männern der Weißen 
gehört und dachte nicht daran, ihrem Gott zu dienen. Er hatte 
den weißen Männern geholfen die Schwarzen zu versklaven, 
sonst hätten sie bestimmt keine Häuser mit Kreuzen an der 
Küste gebaut. 

Bereits am nächsten Tag kam ein Mann in einer schwarzen 

Kutte und tauchte ihren Kopf in den kalten Fluss. Er legte ihr 
eine Hand auf den Kopf und sprach Worte, die sie nicht 
verstand. Von den Fante-Kriegern, die mit ihr gekommen 
waren, erfuhr sie, dass sie jetzt eine Christin war und vor dem 
Abbild des weißen Gottes niederknien musste. »Niemals werde 
ich unsere Götter vergessen«, gelobte sie heimlich. »Sie mögen 
jetzt schweigen, aber der Tag wird kommen, an dem sie uns 
befreien und in eine neue Zukunft führen werden!« Sie betete 
jeden Abend zu Onyankopon Kwame und beschwor ihn, seine 
schwarzen Kinder nicht zu vergessen. Und sie bat ihn aus 
tiefstem Herzen ihren geliebten Ottobah zu beschützen. 
»Ottobah darf nichts geschehen!«, flehte sie verzweifelt. »Ich 
will gerne sterben, wenn es eine Zukunft für ihn gibt, aber 
noch lieber möchte ich ihn zurückhaben!« 

Die ersten Tage auf »Magnolia Hall« ließen Bensua kaum 

Zeit zum Nachdenken. Sie wurden mit den ersten 
Sonnenstrahlen durch ein Hornsignal des Aufsehers geweckt, 
arbeiteten bis Sonnenuntergang und durften nur in der Arbeit 
innehalten, wenn der Aufseher es gestattete. Kelly prügelte 
gern, fand großen Gefallen daran, seine schwarze Peitsche zu 
schwingen und die Leute anzutreiben. Er arbeitete nicht als 
Aufseher um viel Geld zu verdienen – er wollte Macht ausüben 
und schwächeren Menschen seinen Willen aufzwingen. Er 

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machte keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, 
ließ beide dieselbe Arbeit verrichten  und bestrafte sie gleich 
brutal. Einer Frau, die einen Eimer mit Abfällen umgestoßen 
hatte, schlug er so hart ins Gesicht, dass sie blutend liegen 
blieb und längere Zeit benommen war. 

Bensua bekam ihre erste Strafe, als sie den Stall ausmistete 

und Elizabeth Stockton sie dabei erwischte, wie sie sich auf die 
Mistgabel stützte und ausruhte. Die Lady saß im Damensattel 
eines tänzelndes Reitpferdes, die Gerte in der linken Hand, und 
blickte hochmütig auf sie  herab: »Was fällt dir ein? Hat man 
dir nicht gesagt, dass du arbeiten sollst?« Sie schlug mit der 
Gerte nach ihr und verfehlte sie, als ihre Stute unruhig nach 
vorn sprang. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und wurde 
wütend. »Kelly! Kommen Sie sofort her!«, rief sie schrill. 
»Kelly! Wo stecken Sie denn? Diese Sklavin macht sich lustig 
über mich!« 

Der Aufseher war am Fluss gewesen, um die Männer beim 

Errichten eines neuen Damms zu beaufsichtigen, und kam 
hastig über einen Hügel gerannt. »Sie haben mich gerufen, 
Mistress?« 

»Geben Sie diesem ungezogenen Mädchen einen Hieb auf 

die Beine!«, verlangte sie aufgebracht. »Sie hat gefaulenzt und 
dann hat sie mich ausgelacht, weil… weil… nun machen Sie 
schon!« 

Kelly holte aus und schlug der Asante zwischen die Beine. 

Die Lederschnur ringelte sich um ihren rechten Oberschenkel 
und hinterließ einen blutigen Striemen. Bensua schrie auf und 
sank zu Boden. Ihre Haut war aufgeplatzt und Blut rann an 
ihrem Bein hinab. Die Wunde brannte, als ob man Salz 
hineingestreut hätte. 

»Das wird dich lehren, keine Pausen mehr einzulegen und 

dich nicht mehr über deine Herrin lustig zu machen«, sagte 
Elizabeth Stockton streng. Für sie war die Prügelstrafe ein 

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legitimes Mittel, auch junge Sklavinnen zur Ordnung zu rufen. 
Als Frau eines reichen Pflanzers und angesehenen Arztes 
konnte sie es nicht zulassen, dass man ihr auf der Nase 
herumtanzte. So drückte sie sich aus, wenn sie mit den anderen 
Damen der oberen Schicht über dieses Thema sprach. »Wenn 
ich dich noch einmal erwische, lasse ich dich eine Nacht im 
Schuppen einsperren!« Ihr Pferd hatte sich inzwischen 
beruhigt und sie trabte ohne ein weiteres Wort davon. 

Bensua spürte die Wunde noch Tage später. Jeden Abend 

schmierte Sarah eine fettige Salbe darauf, die sie von Harriet 
bekommen hatte, aber tagsüber platzte die Kruste wieder auf 
und die Wunde scheuerte bei jeder Bewegung. Erst nach einer 
Woche ließ der Schmerz nach. Kelly war ein starker Mann, 
viel kräftiger als die Aufseher auf dem langen Marsch zur 
Küste oder auf dem Schiff, und seine Schläge waren 
schmerzhafter. Sie nahm sich fest vor, ihm keinen Grund mehr 
zu geben sie zu züchtigen. 

Mit unbewegter Miene verrichtete Bensua ihre Arbeit. Der 

Anblick der schwarzen Peitsche war eine ständige Drohung, 
verfolgte sie bis in den Schlaf und in ihre Träume. Die meisten 
Schwarzen waren unter dieser Peitsche zerbrochen, wurden zu 
willenlosen Arbeitern, die schon zufrieden waren, wenn sie 
einen Tag ohne Züchtigung überstanden und von dem 
Aufseher nicht angebrüllt wurden. Sie schleppten sich von 
einem Tag zum anderen, lebten wie in einem Gefängnis, das an 
der Mauer, die »Magnolia Hall« an allen Seiten umgab, zu 
Ende war. Dahinter lag die verbotene Welt der Weißen, in der 
es keinen Platz für die Schwarzen gab. 

Nur ihrem unerschütterlichen Glauben an die Götter ihres 

Volkes und der Hoffnung auf ein Wiedersehen hatte Bensua es 
zu verdanken, dass sie nicht aufgab. Sie war stärker als die 
beiden Fante-Krieger, die  mit ihr gekommen waren und schon 
nach wenigen Tagen an den Pfahl gebunden wurden. Kelly 

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peitschte sie gnadenlos aus und ließ sie die ganze Nacht an 
dem eisernen Ring hängen. Sie wurden zu willenlosen 
Befehlsempfängern, verrichteten ihre Arbeit wie Ochsen,  die 
man vor einen Wagen gespannt hatte. »Nur wenn ihr euch den 
Weißen fügt, habt ihr eine Chance!«, erklärte Henry. Er hatte 
schon vor vielen Jahren aufgegeben und sich eine eigene Welt 
geschaffen. Er war zufrieden, solange seine geliebte Sarah bei 
ihm bleiben durfte. 

Die Arbeit war für Bensua ein willkommenes Mittel, ihre 

Ängste und Sehnsüchte zu verdrängen. Abends halfen ihr die 
Gebete und Lieder ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu 
bewahren. Henry beobachtete mit wachsender Sorge, wie sie in 
der Dunkelheit die Hütte verließ und irgendwo zwischen den 
Bäumen zu den Göttern sprach. Aber er sagte nichts. Sie 
braucht Zeit, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen, 
dachte er. Auch er hatte erst nach einigen Monaten seine 
innere Ruhe gefunden. Die Götter hatten entschieden, dass die 
Schwarzen den Weißen dienten, aus welchem Grund auch 
immer, und ihm blieb nichts anderes übrig, als diese 
Entscheidung zu erdulden. Als Vorarbeiter hatte er sich 
gewisse Vorrechte verdient, bessere Kleidung, mehr 
Lebensmittel, und ein gütiges Schicksal hatte ihm gestattet mit 
seiner Frau in einer Hütte zu leben. Bei seinem Volk hatte er 
ein schlechteres Leben geführt. Die Gefahr, von seinen 
Feinden versklavt oder umgebracht zu werden, war wesentlich 
größer gewesen. Er würde auf dieser Plantage bis zum Ende 
seines Lebens bleiben. 

Jeden Abend, bevor sie die Lampen löschten, brachte Henry 

seinen neuen Mitbewohnern englische Wörter und Sätze bei. 
Die Sprache der Weißen war kompliziert, weil sie eine ganz 
andere Aussprache verlangte, und nur weil die älteren Sklaven 
einige Wörter verändert hatten, kamen Bensua und die beiden 
Fante schnell voran. »Die Weißen machen sich über unsere 

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Aussprache lustig«, sagte Henry. »Sie nennen es ›Nigger-
Englisch‹, aber sie verstehen uns und das ist das Wichtigste. 
Also nochmal: Vielen Dank, Master!« heißt »Thank you very 
much, Master!« Er sprach das »Thank you« wie »Dank you« 
aus und lachte dabei. 

Der Winter verging und das Frühjahr meldete sich mit den 

ersten heißen Tagen. Dies war die Zeit, die Baumwolle zu 
pflanzen, und alle Sklaven arbeiteten von morgens bis abends 
auf den Feldern. Von dem Ertrag, den die Baumwolle 
einbrachte, hing das Wohl von »Magnolia Hall« ab. Bis zum 
Waldrand jenseits der Hügel erstreckten sich die Felder und 
Bensua dachte mit Schrecken daran, wie anstrengend die Ernte 
im späten Sommer sein werde, wenn die Hitze wie eine 
schwere Last auf das Land drücke. Die Sklaven, die bereits seit 
einigen Jahren auf »Magnolia Hall« arbeiteten, wussten von 
Tagen zu erzählen, die den Lebenswillen  so manches 
Schwarzen gebrochen hatten. Schon beim Säen schmerzte der 
Rücken und Bensua konnte sich gut vorstellen, wie es sein 
würde, wenn sie die Früchte der seltsamen Pflanze ernteten. 
Henry erzählte, dass die Fasern der Baumwolle aus den 
Pflanzen wucherten und zu Kleidungsstücken und Decken 
verarbeitet wurden. Er griff an den Kragen seiner braunen 
Weste. »Dies ist Baumwolle, mein Kind! Dein Kleid ist aus 
Baumwolle! Die Weißen verdienen viel Geld mit der 
Baumwolle!« 

Von Manu hatte sie seit ihrer Ankunft nichts mehr gehört, 

aber sie hatte ihre Freundin mehrere Male aus der Ferne 
gesehen. Meistens war sie bei Harriet gewesen, der dicken 
Haushälterin, die sie wie eine Glucke zu bemuttern schien. 
Manu trug ein sauberes Kleid und lachte, als sie durch den 
Garten ging. Bensua hütete sich sie zu rufen. Das hätte 
unweigerlich einen Peitschenhieb zur Folge gehabt. Es genügte 
ihr, die Freundin in guten Händen zu wissen. Was Henry 

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gesagt hatte, schien wahr zu sein. Sie hatte es besser getroffen 
als die anderen Sklaven und in Harriet eine neue Mutter 
gefunden. »Ob ich jemals wieder mit ihr sprechen kann?«, 
flüsterte sie auf dem Weg zu den Feldern. 

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20 

 
 
 

Der Sommer begann mit einem mörderischen Gewitter, das 
wie ein Fluch der Götter über »Magnolia Hall« tobte und den 
Ashley River über die Ufer treten ließ. Ein Damm brach und 
das Wasser stieg bis zu der Anhöhe, die das Kutschenhaus und 
die Schuppen schützten. Grelle Blitze schossen vom dunklen 
Himmel. Von heftigem Donnerschlag begleitet stürzte eine der 
moosbehangenen Eichen in den Uferschlamm. Die Pferde 
wieherten und schlugen mit den Hinterhufen gegen die 
Stallwand, im Zwinger bellten die Hunde und im Herrenhaus 
schrie Lady Stockton nach Harriet, sie möge die Fenster 
schließen und dafür sorgen, dass kein Wasser über die 
Schwelle dringe. Das Alleinsein hatte sie nervös gemacht und 
sie tobte beim geringsten Anlass, machte die Sklaven für 
jegliches Unheil verantwortlich, das ihr oder der Plantage 
widerfuhr. Harriet brachte ihr heißen Kräutertee und zuckte 
nicht einmal, als  die Mistress sie als »schwarze Hexe« 
beschimpfte. Sie war die Launen ihrer Herrin gewöhnt. Als ein 
Donnerschlag an den Fensterläden rüttelte, klammerte sich 
Elizabeth Stockton ängstlich an die Haushälterin und flehte sie 
an, bis zum Ende des Unwetters bei ihr zu verweilen. 

An diesem Tag durften sogar die Sklaven in ihren Häusern 

bleiben. Doch sie waren die Regenzeit aus dem Urwald 
gewohnt und hatten keine Angst vor dem Unwetter: Sie 
zuckten nur zusammen, wenn die Blitze vom Himmel 
flackerten und der Donner ein Geräusch verursachte, das sie an 
eine durchgehende Elefantenherde erinnerte. Bensua stand am 
Fenster und starrte in den strömenden Regen hinaus. Sie dachte 
an den Tag, an dem sie der angeblichen Hexe begegnet war. 

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Die Alte hatte eine Ziege getötet und  sich mit dem frischen 
Blut beschmiert. Sie hatte vor dem Unglück gewarnt, das über 
Kumase kommen werde. Sie hatte gewusst, was die Asante 
den Asante und die weißen Männer den Schwarzen antun 
würden. Das Blut, das sie gesehen hatte, war aus den Adern 
ihres Volkes geflossen. 

Damals war Bensua allein gewesen und ihre Angst hatte dem 

ganzen Volk gegolten. Jetzt war sie persönlich betroffen. 
Ottobah war ihre Zukunft und ihr Leben bekam nur einen Sinn, 
wenn sie mit ihm vereint war. In Kumase war ihre Zukunft 
vorgezeichnet gewesen, sie hätte niemals davon erfahren, dass 
der  Asantehene  kleine Dörfer von seinen Schwertmännern 
überfallen ließ und Angehörige seines eigenen Volkes an den 
holländischen Sklavenhändler verkaufte. Sie hätte den Krieger 
aus dem königlichen Viertel geheiratet und es wäre ihr kein 
Leid geschehen. Doch selbst jetzt hätte sie die Sicherheit einer 
ungewollten Ehe nicht gegen ihre Leidenszeit auf »Magnolia 
Hall« eingetauscht. Solange die Sterne am Himmel leuchteten, 
gab es noch Hoffnung. Immer wenn sie unter der alten Eiche 
saß und betete, blickte sie zu den Sternen empor und stellte 
sich vor, wie grenzenlos die Freiheit in der Unendlichkeit des 
dunklen Himmels sein  musste. Bei den Göttern gab es die 
Freiheit, von der die Menschen nur träumten. 

Dem  Regen folgte eine beinahe unerträgliche Schwüle, die 

tief aus der Erde zu kommen schien und feucht und schwer 
über der Plantage hing. Moskitos schwirrten über den 
Wasserlachen und am Flussufer. Der Wind war kaum noch zu 
spüren. Das Spanische Moos, das in silbernen Fäden von den 
Eichen hing, erstarrte und glänzte in der grellen Sonne. Die 
Felder dampften, hüllten die arbeitenden Sklaven in einen 
gläsernen Nebel, der sich schwer auf ihre Lungen legte und 
ihnen jede Bewegung zur Qual machte. Der Hochsommer hatte 
begonnen, die Jahreszeit, die man im Süden am meisten 

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fürchtete, denn die Natur machte keinen Unterschied zwischen 
Weiß und Schwarz. Selbst die Tiere kapitulierten vor der 
Hitze, die Pferde in den Ställen, die Hunde, die träge im 
Schatten lagen und die Nacht herbeisehnten. 

Der Master und die Mistress flohen in ihr Sommerhaus nach 

Charleston, wo die Gefahr, sich an gefährlichen Krankheiten 
wie der Malaria anzustecken, geringer war. Die Verantwortung 
über »Magnolia Hall« übertrugen sie ihrem Sohn, der 
widerwillig gehorchte, weil er seine finanziellen Zuwendungen 
nicht verlieren wollte. Edward Stockton wohnte während der 
Woche im Herrenhaus, terrorisierte Harriet mit seinen 
ausgefallenen Wünschen und fluchte laut, wenn er eine 
Entscheidung treffen  musste oder von Kelly und seinen 
Helfern auf die Felder gerufen wurde. Wie ein ungelenker 
Städter saß er im Sattel seiner weißen Stute, die Zügel in der 
linken und die Reitgerte in der rechten Hand. Er war ständig 
schlecht gelaunt, schimpfte, tobte und ließ seinen Unmut über 
die ungeliebte Arbeit an den Sklaven aus. Jeden Freitag 
verschwand er nach Savannah, wo er seinen Eltern nicht über 
den Weg laufen konnte, und vergnügte sich in den Spielsalons 
und Bordellen. Montags kehrte er verkatert auf »Magnolia 
Hall« zurück, den Puder eines leichten Mädchens in den 
Kleidern. 

Bensua bekam den jungen Master nur zu sehen, wenn er auf 

die Felder gerufen wurde und die Sklaven zu größerer Eile 
antrieb. Manchmal ließ er sich von Kelly die Peitsche reichen 
und schlug wahllos auf die arbeitenden Schwarzen ein. Seine 
Augen waren vom Alkohol und der Sonne gerötet und seine 
Hände zitterten, wenn er die Peitsche an den Aufseher 
zurückgab. Er war unberechenbar und deshalb gefährlicher als 
alle anderen weißen Männer auf der Plantage. Nicht  einmal 
sein Vater hatte gemerkt, dass er eine Flasche mit Laudanum 
aus dem Medizinschrank entwendet hatte und alle paar 

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Stunden davon trank. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er 
nach dem weißen Pulver griff, das ihm der Sohn eines 
Werftbesitzers in Savannah angeboten hatte. »Wenn du das 
nimmst, vergisst du den ganzen Ärger!«, hatte der junge Mann 
gesagt. »Ein wunderbares Zeug!« 

Im August ließ sich Robert F. Stockton nur einmal kurz auf 

der Plantage blicken. Zwei Stunden erduldete er die 
Nachmittagshitze, um auf den Feldern nach dem Rechten zu 
schauen. Er traute seinem Sohn nicht über den Weg und wollte 
sichergehen, dass die Sklaven mit der Baumwollernte 
begonnen hatten. »Die Neger sind seit einer Woche auf den 
Feldern«, meldete Jonathan Kelly, »und sie bekommen meine 
Peitsche zu spüren, wenn sie nicht rechtzeitig fertig werden!« 
Der Pflanzer wischte sich den Schweiß von der Stirn und 
nickte zufrieden. »Weiter so, Mister Kelly!« Er verschwand in 
seiner Kutsche und kehrte erst wieder nach »Magnolia Hall« 
zurück, als die letzte Baumwolle entkernt und in festen Ballen 
auf die am Ufer liegenden Schoner verladen war. 

Die Arbeit auf den Feldern war schwer und in der 

mörderischen Hitze kaum zu schaffen. Doch Kelly bestand 
darauf, dass die Männer und Frauen und alle Kinder über zehn 
Jahre bis zum Abend pflückten. Er ließ erbarmungslos seine 
Peitsche sprechen, wenn einer der Sklaven nicht gehorchen 
wollte oder vor Erschöpfung zusammenbrach. Die Sklaven 
arbeiteten in zwei Reihen, auf jeder Seite der Sträucher, und 
warfen die gepflückte Baumwolle in die Leinensäcke, die sie 
über den Schultern hängen hatten. Im Rhythmus des Liedes, 
das Henry angestimmt hatte, zupften sie die wertvolle 
Baumwolle. Der Mann mit dem Zylinder lachte, während er 
sang, wiegte sich im Rhythmus der fröhlichen Melodie, 
obwohl der Text von der verlorenen Heimat erzählte, die sie 
im fernen Afrika zurückgelassen hatten und niemals wieder 
sehen würden. Alle Lieder, die Bensua in ihrer neuen Heimat 

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lernte, waren so: Wer die Worte nicht verstand, glaubte sich in 
einem fröhlichen Singspiel. Wer den Text kannte, weinte vor 
Rührung und Mitgefühl. Kelly ließ die Schwarzen gewähren. 
Sie schienen schneller zu arbeiten, wenn sie sangen. 

Bensua gewöhnte sich an die harte Arbeit. Die Gebete, die sie 

auch nach einem anstrengenden Tag noch sprach, gaben ihr die 
Kraft, die Qualen zu ertragen. Die Arbeit war eintönig und 
ermüdend, und wer nicht schnell genug pflückte oder an die 
oberen Blüten nicht herankam, wurde dafür sofort vom 
Aufseher bestraft. Kelly saß im Sattel eines stämmigen 
Braunen, ritt hinter den arbeitenden Sklaven durch die tiefen 
Furchen und schlug fluchend mit seiner Peitsche zu, wenn 
einer der Schwarzen zauderte oder sich an den schmerzenden 
Rücken griff. Nur zwei Pausen zu jeweils einer Viertelstunde 
wurden den Pflückern gestattet und der Reis und das brackige 
Wasser, das sie bekamen, waren schlechter als die Verpflegung 
auf der Hannibal. Moskitos summten über den weißen Blüten 
und peinigten die Arbeiter, saugten ihnen die letzte Energie aus 
den schwachen Körpern. Bensua schien natürliche 
Abwehrkräfte gegen die Insekten zu besitzen und litt stärker 
unter dem Staub, der wie feiner Nebel über den Feldern hing 
und ihren Mund austrocknete. 

Waren die Tragetaschen voll, schütteten die Sklaven die 

gepflückte Baumwolle in große Körbe. Jeden Abend 
schleppten sie ihre Ernte zu dem Ziegelhaus, in dem die 
Baumwolle von einer Maschine entkernt wurde. Wer keine 
hundert Pfund auf die Waage brachte,  musste mit einer 
empfindlichen Strafe rechnen. Bensua beobachtete, wie ein 
kräftiger Fante einen Teil seiner Ernte hinter dem Rücken des 
Aufsehers in den Korb einer älteren Frau kippte. Er wollte ihr 
die Peitschenhiebe ersparen. Wie Bensua erst nach einigen 
Monaten erfuhr, litt die weißhaarige Frau an einer 
geheimnisvollen Krankheit, die ihre Knochen immer 

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schwächer werden ließ. Der Fante, ihr einziger Sohn, der die 
lange Überfahrt überlebt hatte, wollte ihr die wenigen Jahre, 
die sie noch zu leben hatte, so angenehm wie möglich machen. 
Er hatte seinen kriegerischen Stolz aufgegeben um sie zu 
schützen. 

Bensua hatte nicht aufgegeben. Der Gedanke an eine Flucht 

war ihr schon nach wenigen Tagen gekommen, aber sie war 
klug genug, nicht denselben Fehler wie zwei junge Krieger zu 
begehen, die Hals über Kopf geflohen waren und wenige 
Stunden später von zwei Sklavenjägern zurückgebracht 
wurden. Auf diese Weise erfuhr Bensua, dass es Männer wie 
diese beiden gab. Sie hatten Bluthunde dabei, die auf Sklaven 
abgerichtet waren, und lebten von der Belohnung, die sie von 
den Pflanzern bekamen, wenn sie einen flüchtigen Sklaven 
einfingen. Sie gingen nicht nur wegen des Geldes auf 
Sklavenjagd. Ihre gemeinen Gesichter ließen erkennen, dass 
sie Freude daran hatten, die flüchtigen Sklaven zu jagen und 
zurückzubringen. Bensua würde diese Gesichter niemals 
vergessen, die kalten Augen und das höhnische Lächeln um die 
Lippen. Einer der Männer trug einen schmalen Schnurrbart, 
der andere hatte lange Haare, die wohl die Narbe unter seinem 
rechten Ohr verdecken sollten. Bensua bekam sie kurz zu 
sehen, als er sich nach seinem Hund bückte. 

Das nervöse Bellen der Bluthunde und das Geschrei, das die 

Sklavenjäger veranstalteten, hatte alle Sklaven geweckt und 
auch den Aufseher aus dem Haus gelockt. Jonathan Kelly hatte 
sich einen Mantel über den Schlafanzug geworfen und seine 
Stiefel über die nackten Füße gezogen. Seinen breitkrempigen 
Hut und die schwarze Peitsche hatte er nicht vergessen. »Da 
sind die beiden ja«, triumphierte er, »ich wusste, dass sie nicht 
weit kommen würden! Wo habt ihr sie erwischt? Am 
Flussufer?« 

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»Eine Meile weiter«, antwortete einer der beiden 

Sklavenjäger. »Sie hatten sich wie zwei Karnickel in den 
Büschen versteckt! Die Hunde hätten sie in Stücke gerissen, 
wenn wir sie nicht zurückgehalten hätten! Aber ihr bezahlt ja 
nur für lebendige Nigger…« 

Kelly betrachtete die zerfetzten Hosen der Sklaven und ihre 

aufgeplatzten Gesichter. »Na, sanft seid ihr nicht gerade mit 
ihnen umgesprungen! Bindet sie an den Stamm, dann könnt ihr 
zusehen, wie ich ihnen den Rest gebe! Den Lohn bekommt ihr 
später!« Er wartete, bis die Sklaven mit gefesselten Händen 
und Füßen an dem Eisenring hingen und erhob seine Stimme: 
»Raus mit euch, ihr dreckigen Nigger! Ihr sollt sehen, was mit 
euch passiert, wenn ihr weglauft! Wo bleibt ihr denn, 
verdammt?« 

Widerwillig folgte Bensua den anderen Schwarzen vor die 

Tür. Obwohl sie schon einige Male gesehen hatte, wie Sklaven 
ausgepeitscht wurden, hatte sie noch immer Angst davor. Ihr 
machten nicht nur die Schläge und die Schreie der Männer zu 
schaffen. Eine Auspeitschung war demütigend. Einen 
verletzten Krieger zu schlagen, der am Ende seiner Kräfte war 
und hilflos an einem eisernen Ring hing, war so gemein, dass 
sie ihren Zorn am liebsten laut herausgeschrien hätte. Nur die 
Gewissheit, dass ihr dann dieselbe Strafe drohte, hielt sie 
zurück. Mit geballten Fäusten verfolgte sie, wie Kelly seine 
Peitsche schwang und laut mitzählte, wenn die Lederriemen 
auf die blutigen Rücken der Sklaven klatschten. Ihren Stolz 
hatten die  Männer längst verloren. Sie schrien so laut, dass 
einige Kinder zu weinen begannen, und sanken bewusstlos zu 
Boden, als der Aufseher fertig war und sie von dem Eisenring 
befreite. »Die machen uns keinen Ärger mehr!«, meinte Kelly 
zufrieden. Er wandte sich  an die Sklavenjäger. »Und jetzt 
kommt mit und holt euren Lohn! Ich habe keine Lust, die 
ganze Nacht bei dem Gesindel zu verbringen!« 

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Kaum einer der Schwarzen schlief in dieser Nacht. Es war 

grausam genug, das Knallen der Peitsche während der Arbeit 
zu hören, aber es war noch viel schlimmer, einer 
Auspeitschung beizuwohnen, wenn Kelly mit voller Wucht 
ausholte und die Lederriemen unbarmherzig auf die nackten 
Rücken knallen ließ. Bensua glaubte nicht, dass sie das 
hässliche Geräusch jemals vergessen würde. Selbst wenn 
dieser Albtraum vorüberging und sie ein normales Leben 
führen konnte, würde es in ihren Gedanken bleiben. Sie betete 
lange in dieser Nacht und war todmüde, als Kelly sie am 
frühen Morgen aus den Decken holte und die geschundenen 
Sklaven mit derben Fußtritten auf die Beine brachte. 

»In Zweierreihen antreten!«, brüllte er, ein Befehl, den alle 

Sklaven verstanden, und dann ging es im Gleichschritt auf die 
Baumwollfelder hinaus. Manchmal fragte Bensua sich, wie der 
Aufseher es schaffte, jeden Morgen so ausgeruht zu sein. 

Augenblicke der Besinnung und Muße waren selten. Die 

meisten Schwarzen schliefen sofort nach dem kargen 
Abendessen ein und am Sonntag mussten die Frauen und 
Mädchen kochen und waschen und den Küchengarten 
bestellen, den sie hinter den  Sklavenhäusern angelegt hatten. 
Das Gemüse und die Kräuter halfen ihnen den eintönigen 
Speiseplan etwas aufzubessern. Die Weißen gaben ihnen 
Hirsebrei, Reis und zerkochte Rüben, und seit Edward 
Stockton die Geschäfte auf der Plantage führte, waren die 
Rationen so knapp, dass sie kaum satt wurden. Einige 
Schwarze wurden krank, weil sie zu wenig Obst und Gemüse 
bekamen, und hätte Sarah keine Heilkräuter gepflanzt, wären 
einige von ihnen sogar gestorben. Die stämmige Frau von der 
Elfenbeinküste kannte sich mit Kräutern und Salben aus. 

Einmal im Monat kam ein Prediger zu den Sklaven und las 

aus dem Buch vor, das er »Bibel« nannte. Die Geschichten, die 
er erzählte, spielten in einem fernen Land und waren seltsam 

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anzuhören. Wenn er das Buch zugeklappt hatte, ereiferte er 
sich über die »Heiden« unter den »ungläubigen Negern«, die 
immer noch zu ihren eigenen Göttern beteten, und wenn einer 
der Sklaven sich weigerte, dem Gott der Weißen zu huldigen 
oder sich abwandte, bevor der Gottesdienst vorüber war, 
drohte er, den Aufseher zu rufen und dem »Ungläubigen« eine 
tödliche Strafe zu verpassen. »Gott will, dass ihr den weißen 
Herren dient!«, rief er salbungsvoll. »Er will, dass ihr betet und 
arbeitet und euch das ewige Himmelreich verdient!« Und 
Bensua fragte sich, ob ein Gott wirklich so grausam sein 
konnte, auf die schwarzen Menschen herabzublicken, nur weil 
sie eine andere Hautfarbe hatten. Wenn der Gott der Weißen 
das wirklich tat, war er ungerecht! 

An einem Sonntag im August, als der Prediger seine Bibel 

zuschlug und  erschöpft auf seinen Wagen stieg, entdeckte 
Bensua ihre Freundin zwischen den Bäumen. Sie erkannte das 
Mädchen nicht sofort. Manu trug die sauberen Kleider eines 
weißen Dienstmädchens und schien sich auch sonst verändert 
zu haben. Ihr Blick war irgendwie anders, das war selbst aus 
der Ferne zu erkennen. Sie stand neben Harriet, der 
freundlichen Haushälterin. Beiden war die Erleichterung 
anzusehen, den herrischen Sohn des Pflanzers für einige Zeit 
los zu sein. 

»Manu!«, flüsterte Bensua erfreut. Sie ging auf  die Freundin 

zu um sie zu umarmen und blieb erschrocken stehen, als sie 
den seltsamen Ausdruck in ihren Augen erkannte. Eine 
Mischung aus Wiedersehensfreude und Verachtung. Als wäre 
sie ein weißes Mädchen, das durch Zufall bei den Sklaven 
gelandet war. »Manu! Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin 
Bensua, deine Freundin! Freust du dich denn nicht, mich zu 
sehen?« 

Manus Lächeln wirkte gezwungen. Sie schien die Umarmung 

der Freundin nur widerwillig zu ertragen. Anscheinend hatte 

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sie Angst, sich an dem einfachen Kleid schmutzig zu machen. 
»Bensua!«, sagte sie. »Natürlich erkenne ich dich! Wie geht es 
dir?« 

Bensua tauschte einen raschen Blick mit Harriet. Die 

Haushälterin schien sie für das eigenartige Verhalten des 
Mädchens um Verständnis zu bitten. »Ich bin am Leben«, 
antwortete Bensua. »Die Arbeit ist anstrengend. Aber ich bete 
jeden Abend zu den Göttern. Das gibt mir Kraft!« Sie ließ die 
Freundin los und trat einen Schritt zurück. »Und du? Henry 
sagt, dass du Glück gehabt hast.« 

Manus Gesicht veränderte sich und zeigte jetzt ein 

aufrichtiges Lächeln. »Oh, es ist wundervoll, Bensua! Ich weiß 
gar nicht, warum wir solche Angst hatten! Ich darf schöne 
Kleider tragen und das Haus für die Herrschaften putzen! Es ist 
prächtiger als der Palast des Königs! Stell dir vor, der Boden 
ist aus Marmor, das ist ein kostbarer Stein, und auf den 
Schränken stehen Figuren aus weißem Porzellan! Harriet hat 
mir beigebracht, wie man kocht, und Massa Edward sagt, dass 
ich sehr hübsch bin…« 

»Wir müssen jetzt gehen, Manu«, unterbrach Harriet das 

Mädchen. Ihre Miene ließ nicht erkennen, was sie über den 
plötzlichen Gefühlsausbruch des Mädchens dachte. »Massa 
Edward wird bald zurück sein! Er will sicher was zu essen, 
wenn er kommt!« Während sie zwischen den Bäumen 
verschwanden, drehte sich Harriet noch einmal um, als wollte 
sie etwas sagen, dann ging sie weiter. Bensua blickte ihr 
verständnislos nach. 

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21 

 
 
 

Jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit gingen, staunte Bensua 
über die riesigen Baumwollfelder. Bis zu den Hügeln an der 
südlichen Flussbiegung zog sich das wogende Meer aus 
weißen Blüten. Ein unermesslicher Reichtum, der Robert F. 
Stockton zu einem wohlhabenden König gemacht hatte. 
»Weißes Gold« nannte er die Baumwolle. Selbst die 
Goldschätze des  Asantehene  waren nicht so wertvoll wie die 
Ernte, die der Pflanzer jeden Herbst im Hafen von Charleston 
verladen ließ. Der Kaufpreis eines Sklaven machte sich schon 
nach wenigen Wochen bezahlt und der Lohn seiner Aufseher 
fiel kaum ins Gewicht. Und sein Reichtum wurde jedes Jahr 
größer. Die Schwarzen, die auf der Plantage geboren wurden, 
wuchsen zu arbeitsfähigen Feldarbeitern heran und kosteten 
keinen Penny. Die Kleidung und die karge Verpflegung der 
Sklaven waren billiger als das Schweinefutter, das Harriet 
jeden Morgen in den Stall am Flussufer brachte. 

Schon am Vormittag brannte die Sonne unbarmherzig auf die 

Felder herab. Das Land wurde zu einen glühenden Backofen, 
aus dem es kein Entrinnen gab. Auf den Feldern wuchsen 
keine Bäume und die Kopfbedeckungen, zerschlissene Hüte 
und Lumpen, die einige Frauen wie Kopftücher gebunden 
hatten, schützten die Sklaven kaum vor den sengenden 
Strahlen. In den Ackerfurchen war es besonders schlimm. So 
heiß war es selbst im afrikanischen Urwald nicht gewesen. Die 
Hitze schien alles Leben aus den Schwarzen herauspressen zu 
wollen. Das lauwarme Wasser, das sie zu trinken bekamen, 
stillte den Durst nur für wenige Augenblicke. 

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Eine andere Plage waren die grünen Würmer, die aus den 

Pflanzen hervorkrochen und unvorsichtige Pflücker mit ihren 
haarigen Körpern berührten. Sie hinterließen einen brennenden 
Ausschlag, der erst einige Tage später verschwand und 
besonders den jungen Schwarzen zu schaffen machte. Sarah 
behandelte die Wunden mit zerkautem Fenchel, den sie abends 
auf den Ausschlag schmierte und mit einem Gebet des weißen 
Mannes beschwor. Sie glaubte, dass der Gott der Weißen in 
diesem Land mehr zu sagen hatte. Aber sie hatte nichts 
dagegen, wenn ihre Patienten die Götter ihres Volkes anriefen. 

Während der viertelstündigen Pause, die Kelly zur 

Mittagszeit gestattete, hörte Bensua zum ersten Mal von der 
»Underground Railroad«. Sie stand neben zwei Frauen, die 
sich leise unterhielten und auf einen jungen Mann deuteten, der 
ohne Kopfbedeckung neben einem Baumwollkorb saß und 
warmes Wasser aus einer Schale trank. Sein Blick erinnerte 
Bensua an Ottobah, wie er während seiner Gefangenschaft bei 
den Asante auf sie gewirkt hatte. Unerschrocken und mutig, 
jederzeit bereit, sich auf die Feinde zu stürzen und als Held zu 
sterben. Wie sie von den Frauen erfuhr, stammte er ebenfalls 
von der Goldküste, zwei Tagesmärsche von der Stelle entfernt, 
an der Bensua auf die  Hannibal  gegangen war. Die Weißen 
hatten ihn Abraham getauft. 

»Abraham will fliehen«, flüsterte die jüngere Frau, nach 

ihrem Aussehen die Schwester des Mannes. »Und ich soll mit 
ihm gehen! Wenn wir dem Nordstern folgen, erreichen wir ein 
Land, in dem wir frei sein dürfen! Dort gibt es keine Sklaverei! 
Dort leben wir wie die Weißen, und wenn wir arbeiten, werden 
wir bezahlt!« 

»Ein solches Land gibt es?«, fragte die ältere Frau. Kelly war 

zum Wagen gegangen um Wasser zu holen und konnte sie 
nicht hören. »Und was wollt ihr tun um nicht entdeckt zu 
werden? Hast du nicht gesehen, was mit den beiden Fante 

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geschehen ist? Die Sklavenjäger haben Hunde! Sie bringen 
jeden Flüchtling zurück! Ihre Hunde können uns riechen, hast 
du das gewusst?« 

»Abraham sagt, es gibt Menschen, die gegen die Sklaverei 

sind und uns helfen werden! Es sind sogar Weiße darunter! Sie 
verstecken uns, wenn wir den Fluss überquert haben! Jenseits 
des Flusses gibt es viele Menschen, die so denken! Sie geben 
uns zu essen und zu trinken und verstecken uns, wenn die 
Sklavenjäger kommen! Ihre Verstecke sind so dicht, dass uns 
nicht mal die Hunde riechen können! Wir dürfen in ihren 
Häusern schlafen! Wenn du bei einem dieser Menschen bist, 
sagt er dir, wie die nächste Station heißt. Sie sagen »Stationen« 
zu den Häusern. Und den Fluchtweg nennen sie »Underground 
Railroad«, obwohl es gar keine unterirdische Eisenbahn gibt. 
Es ist ein Deckname. Die Menschen helfen uns, bis wir das 
freie Land erreicht haben!« 

Die ältere Frau zweifelte an ihren Worten. »Woher weiß 

Abraham das alles? Glaubt er tatsächlich, es gibt Weiße, die 
gegen die Sklaverei sind? Warum sollten sie euch helfen? 

Wenn es solche Weiße gäbe, hätten die anderen sie längst 

umgebracht!« 

»Es gibt sie, Mutter! Seit einigen Jahren schon! Abraham 

weiß es von den Schwarzen, die vor zwei Sommern gekommen 
sind, und ich habe Harriet gefragt, als ich sie bei den Ställen 
getroffen habe. Sie hat genickt. Nicht alle Weißen sind 
schlecht! Im Norden gibt es Leute, die sich »Quäker« nennen, 
die wollen keinen Krieg und glauben, dass alle Menschen zu 
Brüdern werden können, egal welche Hautfarbe sie haben! Ist 
das nicht wunderbar?« 

»Underground Railroad«, wiederholte die ältere Frau 

ungläubig. »Ein seltsamer Name. Harriet hat mir erzählt, wie 
eine Eisenbahn, eine schnaubende Maschine, die Wagen über 

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Schienen zieht. Von einer unterirdischen Eisenbahn habe ich 
nie gehört.« 

»Das ist nur ein Deckname«, wiederholte ihre Tochter. »Und 

die Männer und Frauen, die auf den Stationen warten, heißen 
Stationsmeister. Es heißt, dass sie auf dich warten, wenn du 
den Sklavenjägern entkommen bist und den Fluss überquert 
hast!« 

»Aber zuerst musst du über den Fluss schwimmen«, gab die 

ältere Frau zu bedenken. »Wenn sie dich erwischen, wirst du 
ausgepeitscht oder getötet! Willst du es wirklich wagen, mein 
Kind?« 

»Ich bleibe bei Abraham«, sagte die andere entschieden. 
Bensua dachte lange über die Worte der beiden Frauen nach. 

Sie bewunderte den jungen Mann und seine Schwester, die 
nach Norden in eine ungewisse Zukunft fliehen wollten. Es 
gehörte viel Mut dazu, sich nach der brutalen Auspeitschung 
der beiden Fante auf das Wagnis einer Flucht einzulassen. 
Wenn sie erwischt wurden und Kelly mit derselben Wucht auf 
die junge Frau einschlug, würde sie sterben. Dann konnte auch 
Sarah mit ihrer Medizin nicht mehr helfen. Gegen die tiefen 
Wunden, die eine Peitsche verursachte, war kein Kraut 
gewachsen. Wenn Kelly die Nerven verlor, vergaß er die 
Worte des Pflanzers, der befohlen hatte die Arbeitskraft seiner 
Sklaven möglichst zu erhalten. Dieses »möglichst« ließ dem 
Aufseher den Spielraum, den er brauchte. Er konnte einen 
Schwarzen zu Tode quälen, ohne dass er eine Strafe befürchten 
musste. Und mit jedem Tag, den die Hitze anhielt, wurde er 
nervöser und wütender. 

In der folgenden Zeit weilte Bensua in Gedanken oft auf der 

anderen Seite des Flusses, während sie die Baumwollblüten 
von den Sträuchern zupfte. Bei den freundlichen Menschen, 
die den Flüchtlingen halfen das freie Land zu erreichen, das 
irgendwo im Norden lag. Wenn sie für einen Augenblick die 

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Augen schloss, sah sie sich in einem kleinen Haus. Sie hütete 
die Ziegen und Schweine und Ottobah war auf dem Feld und 
erntete Gemüse. Ein Traumbild, das wusste sie, und doch 
erreichbar, wenn die Worte der jungen Frau stimmten. Wenn 
es diese Underground Railroad gab, würde sie eines Tages zu 
den Passagieren gehören. Aber ihre Stunde war noch nicht 
gekommen. Sie musste wissen, was mit Ottobah geschehen 
war, bevor sie ernsthaft an Flucht denken konnte. Und sie 
brauchte einen festen Plan und zumindest eine Chance, den 
Sklavenjägern zu entkommen. Ob sie herausbekommen 
konnte, wo Ottobah war und wie es ihm ging, wusste sie nicht. 
Die Schwarzen, mit denen sie gesprochen hatte, konnten es ihr 
nicht sagen. Sie musste warten, bis der Schwarze, der den 
Pferdewagen fuhr, etwas über ihn erfuhr. Er hatte ihr 
versprochen, sich in Charleston nach Ottobah zu erkundigen. 

Am Abend dieses Tages blieb Bensua länger als gewöhnlich 

an ihrem Lieblingsplatz zwischen den Bäumen. Sie brauchte 
die Stille und den Anblick des sternenübersäten Himmels, um 
ihr Gleichgewicht und Kraft für den nächsten Tag zu finden. 
Ihre Gespräche mit den Göttern und die heiligen Lieder, die sie 
leise sang, entrückten sie dem eintönigen und harten Alltag, 
der nur aus Arbeit und Peitschenhieben bestand. Sie genoss das 
silberne Licht der Sterne wie eine Zaubergabe, die in ihren 
Körper floss und sie gegen die weißen Männer schützte. Wie 
ein Lebenselixier legte sich das funkelnde Licht auf ihre Seele, 
ließ sie Traumbilder sehen und weiter an eine gemeinsame 
Zukunft mit Otto bah glauben. »Warum sagst du mir nicht, wo 
er sich befindet?«, flehte sie verzweifelt. »Ist er am Leben? 
Denkt er noch an mich? Muss er genauso  hart arbeiten wie 
wir?« 

Auch die Götter wussten keine Antwort auf diese Fragen und 

sie  musste ihrer inneren Stimme vertrauen, die ihr sagte, dass 
Ottobah am Leben war und sie immer noch liebte. Er war ein 

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tapferer Krieger, der alles tun würde um wieder mit Bensua 
vereint zu sein. Sie brauchte nur zu warten. Wenn sie es nicht 
schaffte, ihm auf die Spur zu kommen, würde er einen Weg 
finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Sie durfte nicht 
die Geduld verlieren. Eine überstürzte Flucht brachte die 
Gefahr, ein ähnliches Schicksal wie die beiden Fante zu 
erleiden. Ihre Wunden würden lange brauchen um zu verheilen 
und auch dann wären die Striemen noch sehen. Wenn sie einen 
Fluchtversuch wagte und er ging schief, würde man sie in 
Ketten legen wie manche Männer und sie könnte Ottobah nie 
wieder sehen. 

Sie lächelte, als sie an Ottobah dachte. Sie fand es selbst 

erstaunlich, in welch kurzer Zeit er zu einem unverzichtbaren 
Teil ihres Lebens geworden war. Ihr ganzer Körper bebte, 
wenn sie sich vorstellte in seinen  starken Armen zu liegen. 
Selbst in ihrer Fantasie war dieses Gefühl so stark, dass es ihr 
unmöglich schien jemals einen anderen Mann zu lieben. Es 
war richtig gewesen, das Haus ihrer Familie zu verlassen. Sie 
wäre mit dem Krieger, den ihr Onkel ausgesucht hatte, niemals 
glücklich geworden. Manchmal verlangten die Götter, dass 
man Opfer brachte um das große Glück zu erlangen. Ihr Opfer 
war besonders groß, doch wenn am Ende eine gemeinsame 
Zukunft mit Ottobah stand, wollte sie diese Bürde gern auf 
sich nehmen. 

Ein leises Geräusch störte ihre Gedanken. Sie sprang auf und 

blickte in das Halbdunkel. Im Mondlicht, das wie Nebel 
zwischen den Bäumen hing, erkannte sie zwei dunkle Schatten. 
Ein Mann und eine Frau. Auch ohne ihre Gesichter zu 
erkennen ahnte sie, um wen es sich handelte. Der junge 
Krieger und seine Schwester! Sie hatten ihre Hütte verlassen 
und waren auf der Flucht. Der Mann hatte einen Beutel mit 
Vorräten dabei. Sie kamen auf die Lichtung gerannt und 

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erstarrten, als sie ihre dunkle Gestalt sahen. »Bensua!«, 
flüsterte der Mann erschrocken. »Und ich dachte schon…« 

»Ich bin jeden Abend hier«, beruhigte Bensua die 

Flüchtenden. »Hier bete ich zu unseren Göttern.« Sie blickte 
zu den Sklavenhäusern zurück, die sich dunkel gegen das Licht 
einiger Öllampen abhoben. »Es ist sehr gefährlich, heute Nacht 
zu fliehen!« 

»Es ist immer gefährlich«, erwiderte Abraham. »Warum 

kommst du nicht mit uns? Du siehst stark aus! Ich habe dich 
niemals weinen sehen. Wenn wir den Fluss überquert haben, 
sind wir gerettet! Dort warten Leute, die uns helfen wollen! 
Komm mit!« 

Bensua schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht bereit. Aber 

ich werde die Götter bitten, euch zu helfen und die 
Sklavenjäger mit ihren Hunden von euch abzuhalten! Viel 
Glück, meine Freunde!« 

Sie umarmten einander und Bensua beobachtete mit 

gerunzelter Stirn, wie sie in der Dunkelheit verschwanden. Ihre 
Schritte wurden von dem dicken Moosteppich gedämpft, der 
sich zwischen den Eichen ausbreitete. Nachdenklich kehrte 
Bensua in ihre Hütte zurück. Sie blieb am Fenster stehen und 
blickte in die Nacht hinaus. Eine Wolke hatte sich vor den 
Mond geschoben und auch die Sterne schienen nicht mehr so 
hell wie vor ihrer Begegnung mit dem Mann und seiner 
Schwester zu leuchten. 

»Was hast du, Missy?«, fragte Henry. Er sprach leise, um 

seine Frau und die beiden Fante nicht zu wecken. »Du warst 
länger weg als sonst! Warum siehst du aus dem Fenster?« Er 
stand auf und trat hinter die Asante. »Du hast etwas gesehen, 
nicht wahr?« 

»Abraham und seine Schwester sind geflohen«, antwortete 

sie flüsternd. »Sie wollen über den Fluss!« Sie drehte sich um 
und blickte den großen Schwarzen an. Ohne seinen Zylinder 

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sah er viel ernster und älter aus. »Ich habe ein schlechtes 
Gefühl, Henry! Ich habe sie gewarnt! Heute ist kein guter Tag 
um wegzulaufen!« 

»Sie werden es nicht schaffen«, meinte Henry grimmig. »Ich 

habe noch keinen gekannt, der es geschafft hat, und ich bin 
schon lange hier. Die Sklavenjäger sind überall! Ihre Hunde 
merken sofort, wenn jemand flieht. Du wirst sehen, sie sind 
bald zurück!« 

Sie blieben am Fenster stehen und blickten in die Dunkelheit, 

als wüssten sie, was als Nächstes geschehen würde. Ein innerer 
Zwang schien sie dazu zu bringen, jede Szene des grausamen 
Geschehens zu verfolgen. Sie brauchten nicht lange zu warten. 
Die nächtliche Stille wurde von aufgeregtem Hundegebell 
zerrissen, dann waren schrille Schreie zu hören und der Knall 
eines Schusses hallte wie ein bedrohliches Echo zu ihnen 
herüber. Wieder Schreie und noch ein Schuss und dann wieder 
Stille, eine tödliche und vollkommene Stille, wie Bensua sie 
nur während der Flaute auf hoher See erlebt hatte, und damals 
waren die bösen Geister auf dem Schiff gewesen. 

»Was war das?«, schrie Sarah in panischer Angst. »Ein 

Schuss! Ein Schuss!«, stieß einer der Fante hervor. Auch in 
den anderen Sklavenhütten schreckten die Schwarzen aus dem 
Schlaf. Sie öffneten die Türen und blickten angsterfüllt zur 
Straße hinüber. 

Henry griff nach seinem Zylinder und ging nach draußen. 

Bensua folgte ihm müde. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie 
ahnten beide, was geschehen war. Ihre Ahnung wurde zur 
bitteren Gewissheit, als Kelly zehn Minuten später mit einem 
Wagen vorfuhr und sie die beiden reglosen Gestalten auf der 
Pritsche liegen sahen. Abraham war tot, das erkannte sie auf 
den ersten Blick. Die Kugel hatte seine Kehle zerfetzt. Seine 
Schwester lebte noch. Sie blutete aus einer Wunde an der 

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Hüfte und war bewusstlos. Der Aufseher zog die Körper wie 
Mehlsäcke von der Ladefläche und ließ sie zu Boden fallen. 

Die Mutter des toten Mannes stieß einen verzweifelten Schrei 

aus. Sie rannte zu ihrem Sohn und brach weinend über ihm 
zusammen. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut, das 
aus dem Hals des jungen Kriegers floss, und sickerte in den 
feuchten Boden. Zwei andere Frauen eilten herbei und hielten 
sie fest, bevor sie eine Dummheit begehen konnte. 

Der Aufseher kümmerte sich nicht um sie. »Der verdammte 

Nigger ist tot!«, teilte er den Schwarzen mit. In seiner Stimme 
war kein Bedauern. »Die Frau lebt noch! Aber die macht es 
auch nicht mehr lange!« Er spuckte angewidert zu Boden und 
schlug mit der flachen Hand auf seine Peitsche. »Ich hätte gute 
Lust, ihr damit den Rest zu geben, doch ich denke, die spürt 
nichts mehr!« Er kletterte auf den Kutschbock zurück. »Wenn 
ich noch einen erwische, zünde ich euch die verdammten 
Häuser über den Köpfen an!« 

Bensua wartete, bis der Aufseher zwischen den Bäumen 

verschwunden war, und rannte zu der verletzten Frau. Der 
Anblick der blutenden Wunde erschreckte sie. »Sie lebt, 
Sarah!«, rief sie Henrys Frau zu. »Hilf ihr! Es muss doch eine 
Medizin geben, die sie wieder gesund macht!« Zu den beiden 
Fante aus ihrer Hütte sagte sie: »Worauf wartet ihr noch? 
Bringt sie rein!« 

Henry wandte sich an die anderen Sklaven. »Begrabt den 

Mann! Und kümmert euch um seine Mutter! Sobald wir ihre 
Tochter versorgt haben, erweisen wir dem Mann die letzte 
Ehre!« 

Sarah konnte nicht viel tun. Sie hielt die Blutung mit einigen 

Kräutern auf und band einen Lumpen, den sie im Flusswasser 
gewaschen hatte, um die Wunde. Ihre Beine umwickelte sie 
mit nassen Umschlägen um das Fieber zu senken. »Sie hat viel 
Blut verloren«, sagte sie zu ihrem Mann. »Jetzt können ihr nur 

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noch die Götter helfen! Oder der Gott des weißen Mannes! Ich 
werde für sie beten!« Sie kniete nieder und sprach das Gebet, 
das sie von dem Prediger gelernt hatte. Wenn ihr ein Wort 
nicht einfiel, erfand sie ein anderes. Bensua setzte sich neben 
sie und stimmte ein heiliges Lied der Asante an. Manchmal 
war es besser, alle Götter anzurufen, wenn man Unmögliches 
erreichen wollte. 

Nachdem einige Männer den toten Mann begraben hatten, 

versammelten sich die Schwarzen um sein Grab und beteten 
für ihn. Die beiden Frauen, die sich um die verzweifelte Mutter 
kümmerten, mussten sie an beiden Armen halten. Henry sprach 
ein Gebet und bat einen der Fante, ein heiliges Lied seines 
Volkes für den ermordeten Mann zu singen. Einer der Männer, 
die getauft waren und sich voll zum Christentum bekannten, 
sprach das Vaterunser und schlug ein Kreuz über dem frischen 
Grab. 

»Es hat keinen Sinn, sich den Weißen zu widersetzen«, 

meinte Henry zu den Schwarzen. »Diese Plantage ist unsere 
Welt. Wir wollen versuchen sie zu einer guten Welt zu 
machen. Wenn wir gehorchen, schlagen uns die weißen 
Männer nicht. Lasst uns arbeiten und ihnen zeigen, dass es 
auch ohne Gewalt geht!« 

Bensua war anderer Meinung, sagte aber nichts. Dies war 

nicht der Augenblick, um mit Henry zu streiten. Sie ging ins 
Haus zurück und wechselte sich mit Sarah am Krankenlager 
der jungen Frau ab. Ihr Zustand war unverändert. Sie war 
immer noch in Lebensgefahr und es sah nicht so aus, als würde 
sie den Tag überleben. »Sie ist schwer verletzt«, sagte Bensua, 
als Kelly auftauchte. »Sie kann nicht arbeiten. Sie  muss im 
Haus bleiben!« 

Der Aufseher sah ein, dass er die schwer kranke Frau nicht 

auf die Felder treiben konnte, und zuckte die Achseln. 
»Meinetwegen! Aber nur wenn ihr die Arbeit mitmacht! 

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Hundert Pfund mehr oder ihr bekommt alle meine Peitsche zu 
spüren, verstanden?« 

Die Sklaven fügten sich und stellten sich in Zweierreihen auf, 

noch bevor Kelly den Befehl gegeben hatte. Niedergeschlagen 
folgten sie dem Aufseher auf die Baumwollfelder. Über den 
Hügeln stieg das lodernde Feuer der morgendlichen Sonne 
empor. 

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22 

 
 
 

Sarah vertrieb die bösen Geister und rettete die kranke Frau 
vor dem drohenden Tod. Die Wunde war ein glatter 
Durchschuss und die Kugel der Sklavenjäger hatte keine 
lebenswichtigen Organe verletzt. Die Heilkräuter, die Sarah ihr 
täglich auf die Wunde strich, und ein geheimnisvoller 
Kräutertee ließen die Frau noch vor dem Ende der 
Baumwollernte gesund werden. Sie würde ihr Leben lang 
hinken und niemand konnte den Schmerz lindern, den der 
grausame Tod ihres Bruders verursacht hatte. Doch sie lebte 
und war wieder mit ihrer Mutter zusammen, die schon 
befürchtet hatte auch ihr zweites Kind zu verlieren. Jeden 
Abend standen sie gemeinsam am Grab des ermordeten 
Kriegers und baten die Götter seine Seele im Jenseits zu 
trösten. Ohne es zu merken hatten sie den Glauben ihres 
Volkes mit der christlichen Lehre vermischt. Sie stellten sich 
das Jenseits als blühenden Garten vor, in dem ihre Seelen von 
der Last der Sünde befreit waren. 

Jonathan Kelly kümmerte sich nicht um den Schmerz der 

Sklaven. Für ihn zählte nur die Baumwollernte. Sie musste so 
schnell wie möglich eingebracht werden, wenn er seinen 
Posten als Oberaufseher behalten wollte. Robert F. Stockton 
hatte eine gesellschaftliche Stellung zu verteidigen und konnte 
es sich nicht leisten, seine Baumwolle zu spät auf den Markt zu 
bringen. Er brauchte den Höchstpreis, wenn er seinen 
Lebensstandard beibehalten wollte. Die Gesellschaften in 
Charleston, die Investitionen in anderen Wirtschaftszweigen 
und die Spekulationen an der Börse verschlangen 
Riesensummen, ganz zu schweigen von den Zuwendungen, die 

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sein Sohn bekam. Und seine Frau verbrachte den größten Teil 
ihrer Freizeit damit, in den teuren Modegeschäften von 
Charleston und Savannah neue Kleider zu kaufen. 

Auf »Magnolia Hall« wollten sie Ergebnisse sehen. Der 

Pflanzer war wegen des Geldes im Baumwollgeschäft, nicht 
weil das Anpflanzen des »weißen Goldes« seine Berufung war. 
Und die Aufseher, allen voran Jonathan Kelly, waren dafür 
verantwortlich, dass die Sklaven so hart arbeiteten, wie es 
nötig war, um die Termine der Kaufleute einzuhalten. Die 
Männer verfolgten diese Aufgabe mit einer Verbissenheit, die 
keinen Raum für Gefühle ließ. Sie trieben die Sklaven mit 
äußerster Härte an, ließen immer häufiger die Peitschen 
knallen und waren nur zufrieden, wenn die Schwarzen  nach 
Sonnenuntergang erschöpft und dem Zusammenbruch nahe in 
ihre Hütten zurückkehrten. Besonders ungerecht behandelten 
sie die Frau, die gerade dem Tod entronnen war. Sie durfte 
sich keine Pause erlauben und musste für ihren toten Bruder 
mitarbeiten. Alle Schwarzen halfen ihr dabei. 

Am Sonntag ruhte die Feldarbeit. Der »Tag des Herrn«, wie 

die Weißen ihn nannten, war den Besuchen des Predigers und 
der Hausarbeit vorbehalten. Besonders die Wäsche machte viel 
Arbeit. Die Kleider mussten gesäubert und geflickt werden, 
damit man in der Baumwolle gegen die sengende Hitze und die 
Insekten geschützt war. Einige Männer halfen ihren Frauen im 
Küchengarten, reparierten das Haus oder beschäftigten die 
Kinder. Abends wurde ein Feuer entzündet und gefeiert. 
Robert F. Stockton hatte seinen Oberaufseher angewiesen, 
nicht gegen die musizierenden und tanzenden Schwarzen 
vorzugehen, um sie bei Laune zu halten. Die wöchentliche 
Feier, die manchmal auch am Samstagabend stattfand, lenkte 
von der Anstrengung ab, der sie unter der Woche ausgesetzt 
waren, und brachte sie zumindest für einen Abend auf andere 
Gedanken. Wenn Henry auf seinem Banjo spielte, einer 

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umgebauten  Mbanza  aus Afrika, zeigte sich auch auf den 
Gesichtern der Schwarzen ein fröhliches Lächeln. 

Zu einem dieser Feste, ungefähr eine Woche vor Beendigung 

der Baumwollernte, erschienen Harriet und Manu im 
Sklavencamp. Die rundliche Haushälterin war überall beliebt 
und tanzte ausgelassen mit den anderen Schwarzen. Manu trug 
ein sauberes Kleid mit weißem Kragen und ein dunkelrotes 
Kopftuch, das sie wie einen Turban gebunden hatte. Sie blieb 
abseits zwischen den Bäumen stehen und schüttelte den Kopf, 
als einer der Jungen sie auf den Tanzplatz ziehen wollte. 
Anscheinend bereute sie längst, auf Harriet gehört und sie auf 
das Fest begleitet zu haben. Die Banjo-Klänge beeindruckten 
sie nicht. 

Bensua erinnerte sich an ihr erstes Wiedersehen und zögerte 

Manu zu begrüßen. Sie spürte, dass sie ihr fremd geworden 
war. Dennoch ging sie auf ihre Freundin zu und zwang sich zu 
einem Lächeln. »Manu!«, rief sie in der Hoffnung, sich 
getäuscht zu haben. »Es tut gut, dich zu sehen! Endlich 
besuchst du uns wieder!« 

»Bensua«, erwiderte Manu. Ihre Freundlichkeit wirkte 

aufgesetzt, als wäre sie eine Weiße, die aus Versehen ins 
Schwarzenviertel geraten war und einer »Negerin« die Hand 
schüttelte. »Ich habe oft an dich gedacht! Massa Edward sagt, 
dass ihr auf den Feldern arbeitet und Baumwolle erntet. Also, 
ich könnte das nicht! Da draußen wäre es mir viel zu heiß! Ich 
muss nur in die Hitze, wenn ich die Eier aus dem Hühnerstall 
hole oder Wasser besorge oder zum Küchenhaus gehe. Wie 
haltet ihr das bloß aus?« 

Bensua wollte nicht wahrhaben, wie sehr sich ihre Freundin 

verändert hatte. Am liebsten hätte sie das Mädchen angefahren, 
ihr von den Peitschenhieben berichtet, die selbst Frauen und 
Kinder erleiden mussten. »Siehst du die Frau mit dem 
Verband?«, wollte sie ihr vorhalten. »Ein Sklavenjäger hat auf 

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sie geschossen, weil sie weggelaufen ist! Sie wäre beinahe 
gestorben! Ihr Bruder liegt unter dem Erdhügel da drüben! Sie 
haben ihn kaltblütig ermordet!« Aber sie bezwang ihren Zorn 
und meinte: »Die Aufseher gönne uns keine Pause! Sie prügeln 
auf uns ein, damit wir schneller arbeiten oder wenn wir einen 
Fehler machen!« Es klang wie eine nüchterne Feststellung, als 
würde sie etwas Selbstverständliches sagen. 

Manu schien keine Ahnung von den Quälereien zu haben. 

»Aber Massa Edward sagt, dass es euch gut geht! Mister Kelly 
würde nur die Schwarzen schlagen, die gegen seine Befehle 
verstoßen. Massa Edward ist ein  freundlicher Mann, Bensua! 
Ich weiß, er hat manchmal schlechte Laune und schreit im 
ganzen Haus herum. Harriet hat er mal eine Ohrfeige gegeben. 
Sie war selbst schuld! Sie hat das Essen anbrennen lassen.« 
Ihre ungläubige Miene wich einem Lächeln. »Aber zu  mir ist 
er immer freundlich, Bensua! Er sagt, dass ich meine Arbeit 
gut mache und mir eine Belohnung verdient habe! Letzte 
Woche hat er mir eine Zuckerstange mitgebracht und dann hat 
er mich gestreichelt! Er hat auch gemeint, dass ich wie ein 
schwarzer Engel aussehe.« 

»Ein schwarzer Engel?« Bensua dehnte jede Silbe der 

seltsamen Bemerkung. Ihr Misstrauen war geweckt. Willem 
van der Meyde der holländische Sklavenhändler hatte ihr 
denselben Namen gegeben. »Das hat er gesagt?« 

»Massa Edward ist anders als die  anderen Weißen!«, 

erwiderte Manu. »Er hat mich noch nie geschlagen und meint, 
dass ich hübscher als die weißen Mädchen bin!« Sie strahlte 
über das ganze Gesicht. »Stell dir vor, ich darf ihn in seinem 
Zimmer besuchen, wenn ich meine Arbeit gut mache! Was 
meinst du? Ob er mir süßen Tee anbietet wie den weißen 
Damen in der Stadt?« 

»Hat er noch was anderes gesagt?«, forschte Bensua. Sie 

hatte einen fürchterlichen Verdacht. »Hat er dich berührt?« Sie 

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zögerte einen Augenblick. »An Stellen, die sonst nur dir 
gehören? Sei ehrlich, Manu! Hat er etwas getan, das dir nicht 
gefallen hat?« Noch bevor ihre Freundin antwortete, fügte sie 
wütend hinzu: »Ich bringe ihn um, Manu! Wenn er das getan 
hat, bringe ich ihn um!« 

Manu blickte sie entsetzt an. »Wie kommst du denn darauf? 

So etwas würde er nie tun! Massa Edward ist ein guter Mann! 
Er würde mich nie an diesen Stellen berühren! Er ist doch viel 
älter als ich! Er hat mich nur gestreichelt… so wie früher mein 
Vater!« 

»Wo hat er dich gestreichelt?« Bensua sah ihr Misstrauen 

bestätigt. »Du darfst nicht zulassen, dass er dich streichelt! Das 
ist viel zu gefährlich! Weißt du denn nicht, dass es weiße 
Herren gibt, die ihre Sklavinnen so berühren, wie ich sage? Sie 
tun ihnen Gewalt an! Manchmal bekommen die Schwarzen 
sogar Kinder, halb weiß und halb schwarz! Das weiß ich von 
Sarah. Du darfst Massa Edward nicht nachgeben! Er ist ein 
schlechter Mann! Neulich war er auf dem Feld und hat ein 
Kind geschlagen!« 

»Du lügst!«, widersprach Manu so heftig, dass Bensua 

erschrocken zurückwich. »Massa Edward würde niemals ein 
Kind prügeln! Er ist besser als die anderen Weißen! Du bist 
nur neidisch! Du willst nicht, dass Massa Edward freundlich zu 
mir ist!« 

Bensua schüttelte den Kopf. »Ich will, dass es dir gut geht, 

Manu! Ich freue mich, dass du im Haus wohnst und nicht so 
schwer arbeiten  musst wie wir, das kannst du mir glauben! 
Aber den Weißen darfst du nicht trauen! Sie behandeln uns wie 
Tiere, auch der Sohn des Pflanzers! Ich habe selbst erlebt, wie 
er mit der Peitsche auf uns eingeschlagen hat! Er ist genauso 
schlecht wie Kelly und die Aufseher, die uns jeden Tag zur 
Arbeit treiben!« 

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»Du lügst!«, wiederholte Manu aufgeregt. »Das sagst du nur, 

weil du hier draußen leben musst! Du bist nicht mehr meine 
Freundin! Ich hasse dich!« Sie rannte zum  Haus zurück, ohne 
sich um die verwunderten Blicke der anderen Schwarzen zu 
kümmern. Harriet verließ die Tanzfläche und folgte ihr, so 
schnell es ihre Körperfülle und der lange Rock erlaubten. 

Bensua ging ins Haus zurück und warf sich auf ihr 

Nachtlager. Sie vergrub den Kopf in den Decken und weinte 
lange. Es tat weh, ihre junge Freundin auf diese Weise zu 
verlieren. Die bessere Behandlung, die allen Haussklaven 
zuteil wurde, und die leichtere Arbeit hatten Manu in den 
Glauben versetzt, ein wertvollerer Mensch zu sein. Und die 
Komplimente des weißen Mannes hatten ihr den Kopf 
verdreht. Er konnte es nicht ehrlich gemeint haben. Ein Mann 
wie Edward Stockton lobte ein schwarzes Mädchen nur, wenn 
er ihren Körper besitzen wollte. Warum kam er sonst auf die 
absurde Idee, sie in sein Zimmer einzuladen? Hatte man jemals 
von einem wohlhabenden Weißen gehört, der eine Schwarze 
wie einen gleichwertigen Menschen behandelte? Die weißen 
Männer respektierten nicht mal ihre eigenen Frauen. Von dem 
schwarzen Kutscher wusste sie, dass Edward Stockton eine 
weiße Frau mehrmals geschlagen hatte! 

Während der nächsten Woche sah und hörte Bensua nichts 

von ihrer Freundin. Ein Tag war wie der andere. Morgens 
gingen sie in die Baumwolle und abends kehrten sie zurück. 
Jonathan Kelly war  nervös, weil die entkernte Baumwolle in 
spätestens zehn Tagen bei einem Händler in Charleston liegen 
musste, und sorgte mit seiner schwarzen Peitsche dafür, dass 
die Arbeit noch schneller voranging als sonst. Jeden Mittag 
ließ sich Edward Stockton auf den Feldern blicken, wenn auch 
nur für eine halbe Stunde, weil ihm die Hitze zu stark zusetzte, 
und überzeugte sich persönlich vom Arbeitswillen der Sklaven. 
Auch er gebrauchte die Peitsche. Bensua duckte sich unter den 

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knallenden Lederschnüren und dachte sorgenvoll daran, wie 
sehr Manu sich in dem weißen Mann irrte. Er war genauso 
böse und grausam wie die anderen Weißen, die sie kennen 
gelernt hatte. Aber Manu sah den Sohn des Pflanzers nicht, 
wenn er auf die Schwarzen einschlug. Sie arbeitete hinter den 
festen Mauern des Hauses, das zu einer neuen Heimat für sie 
geworden war. 

Wenn Bensua von ihren nächtlichen Gebeten zurückkehrte 

und noch Licht im fernen Herrenhaus sah, musste sie 
unwillkürlich an ihre Freundin denken. Sie hatte Angst um 
Manu. Edward Stockton  war als Frauenheld bekannt und 
schreckte bestimmt nicht davor zurück, eine junge Schwarze 
zu vergewaltigen. Von den Gerichten drohte ihm keine Strafe. 
Die Sklavinnen waren sein Eigentum und er durfte mit ihnen 
anstellen, was er wollte. Niemand schrieb einem erwachsenen 
Mann vor, wie er mit seinem Besitz umzugehen hatte. Wenn es 
ihm gefiel, konnte er sein Haus zerfallen und seine Ernte 
verrotten lassen, sein Geld am Spieltisch oder in Bordellen 
verjubeln, seine männlichen Sklaven zu Tode prügeln und eine 
junge Sklavin dazu zwingen, das Nachtlager mit ihm zu teilen. 
So geschah es auf vielen Plantagen im amerikanischen Süden 
und kaum einer kümmerte sich darum. Nicht einmal die 
Ehefrau eines Pflanzers wagte es, aufzubegehren, wenn ihr 
Mann eine Sklavin in Besitz nahm und ein Kind mit ihr zeugte. 
Liebte ein Schwarzer ein weißes Mädchen, wurde er 
aufgehängt, selbst wenn die Weiße freiwillig zu ihm gegangen 
war. »Ich bete für dich, Manu!«, flüsterte Bensua. 

Doch weder die Götter aus dem fernen Afrika noch der Gott 

des weißen Mannes erhörten ihr Flehen. Eine Woche nachdem 
die Baumwolle in fest verschnürten Ballen nach Charleston 
geliefert worden war, drang ein verzweifelter Hilferuf durch 
das Herrenhaus und durch die offenen Fenster in den Garten 
hinaus. Aus den »liebevollen« Komplimenten und 

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»väterlichen« Berührungen von Edward Stockton war 
tatsächlich Ernst geworden und Manu wand sich schreiend 
unter seinem brutalen Griff. Sie schrie und stieß und biss und 
kratzte, bis der Sohn des Pflanzers fluchend zurückwich und 
sie freikam. Heulend und mit zerfetztem Kleid rannte sie aus 
dem Zimmer. »Na, warte, du verdammtes Biest!«, schrie 
Edward Stockton ihr nach. »Das hast du nicht umsonst getan! 
Ab sofort wohnst du bei den Feldsklaven und wehe, du 
arbeitest nicht doppelt so viel wie die anderen Nigger! Wenn 
ich dich beim Faulenzen erwische, setzt es zehn 
Peitschenhiebe und dann wollen wir doch mal sehen, ob du 
dich noch wehrst!« 

Bensua stand unter dem glitzernden Sternenhimmel und 

träumte von einer sorgenfreien und glücklichen Zukunft, als 
die panischen Schreie ihrer Freundin vom Herrenhaus 
herüberdrangen. Sie erstarrte. Sie brauchte keine große 
Fantasie um sich vorzustellen, was geschehen war. »Manu!«, 
flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Sie lief ein paar Schritte, 
blieb stehen und starrte in das bleiche Mondlicht, das wie 
bedrohlicher Nebel zwischen den Eichen hing und von dem 
Spanischen Moos zu tropfen schien. 

»Was ist denn passiert, Missy?«, hörte sie Henry rufen. Der 

Schwarze war ohne seinen Zylinder aus dem Haus gekommen 
und hielt einen Knüppel in der Hand. Hinter ihm erschienen 
Sarah und einige andere Schwarze. Der Schrei eines schwarzen 
Mädchens bedeutete großes Unglück, riss selbst Sklaven aus 
dem Schlaf, die schon jahrelang auf der Plantage arbeiteten 
und sich an die Grausamkeiten der weißen Männer gewöhnt 
hatten. »Das war doch Manu! Das war deine Freundin! Massa 
Edward hat sie…« 

Bensua nickte stumm. Sie hatte dem Schwarzen von ihrer 

Auseinandersetzung mit Manu berichtet. Der Schrei des 
Mädchens konnte nur bedeuten, dass Edward Stockton sich an 

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ihr vergriffen hatte. Sie trat zwischen die Bäume um mit ihrem 
Schmerz allein zu sein. Nach der Gluthitze des Tages war es 
immer noch schwül. Selbst der frische Wind brachte kaum 
Linderung. Sie lehnte sich gegen einen knorrigen Baumstamm 
und atmete die schwüle Nachtluft ein. Erschöpft rieb sie sich 
den Schweiß vom Gesicht. Sie machte sich Vorwürfe, nichts 
gegen das drohende Unglück unternommen zu haben. Doch sie 
war hilflos. Nicht einmal ein Mann hätte das Unglück 
verhindern können. Man hätte ihn zu Tode geprügelt oder am 
nächsten Ast aufgehängt, wenn er gegen den Sohn des 
Pflanzers vorgegangen wäre. Es war sinnlos. 

Sie verdrängte die quälenden Gedanken und wartete ängstlich 

darauf, dass etwas geschah. Sie wollte Gewissheit, auch wenn 
sie längst wusste, was passiert war. Sie brauchte nicht lange zu 
warten. Wenige Minuten, nachdem der Schrei ihrer Freundin 
die nächtliche Stille zerrissen hatte, tauchte Manu weinend 
zwischen den Bäumen auf. Ihr Gesicht war verheult und über 
ihre Lippen kam ein unverständliches Gestammel. Ihr Kleid 
hing in Fetzen vom Körper. In ihren Augen stand dasselbe 
Entsetzen, das Bensua bei der Frau gesehen hatte, die mit 
ihrem Baby ins Meer gesprungen war. Wie eine Betrunkene 
torkelte Manu zwischen den Bäumen hervor, sah Bensua im 
Mondlicht stehen und stammelte: »Bensua! Bensua! Massa… 
Massa Edward… hat mich…« Sie brach weinend zusammen. 
»Du … Du hattest… Recht, Bensua… Er wollte… er wollte 
mich… mit… mit Gewalt nehmen…« 

Bensua rief die anderen Schwarzen  um Hilfe. Gemeinsam 

trugen sie das Mädchen ins Haus. Sarah stellte erleichtert fest, 
dass Edward Stockton sein Ziel nicht erreicht und Manu außer 
ein paar Schürfwunden nichts abbekommen hatte. Sie kochte 
einen beruhigenden Kräutertee und versicherte den anderen, 
dass Manu schon am nächsten Morgen wieder gesund sein 
werde. Zumindest ihr Körper, denn niemand konnte sagen, was 

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der heimtückische Angriff in ihrem Kopf ausgelöst hatte. »Ich 
bin ihre Freundin! Ich kümmere mich um sie!«, erklärte 
Bensua. 

Sie trug ihr nichts nach. Nicht einmal sie konnte sagen, wie 

sie auf die gute Behandlung im Herrenhaus und die 
Komplimente des weißen Mannes reagiert hätte. Die 
Versuchung, nach einem rettenden Strohhalm zu greifen, war 
groß, und wenn einem Sklaven die Gelegenheit geboten wurde, 
das Leid hinter sich zu lassen, dachte er eben nur an sich. »Ich 
bin deine Freundin!«, sagte Bensua noch einmal, als Manu 
erwachte und sich tränenreich bei ihr entschuldigte. »Ich passe 
auf dich auf! Das habe ich dir in der alten Heimat versprochen, 
weißt du noch? Du wirst auch hier draußen überleben! So wie 
wir alle! Hab keine Angst!« 

Bereits nach wenigen Tagen erkannte Bensua, dass Manu 

nicht durchhalten würde. Sie war zu schwach. Nicht nur 
körperlich. Das schreckliche Erlebnis im Zimmer des weißen 
Mannes hatte Spuren hinterlassen. Sie träumte schlecht, weinte 
oft und zitterte, wenn sie dem Herrenhaus zu nahe kamen. 
Jedes Mal, wenn die Peitsche knallte, zuckte sie ängstlich 
zusammen. Sie wurde von der schweren Arbeit erdrückt, auf 
den Feldern, am Flussufer und in den Ställen, und Bensua 
musste doppelt so schwer schuften, damit keiner der Aufseher 
etwas merkte. Ihr graute vor dem Augenblick, wenn Edward 
Stockton aus dem Haus kommen und seine Wut an ihrer 
jungen Freundin auslassen würde. »Wir werden fliehen«, 
entschied sie an einem kühlen Herbstabend, als sie allein unter 
dem nächtlichen Sternenhimmel stand und betete. »Es ist 
besser, auf der Flucht zu sterben, als zu sehen, wie meine 
Freundin stirbt! Wir werden weglaufen!« Sie schickte ein 
Gebet zu den Göttern empor. 

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23 

 
 
 

Manu würde das nächste Frühjahr nicht überleben, davon 
waren alle Sklaven auf der Plantage überzeugt. Sie war zu 
schwach für die anstrengende Arbeit und brach fast jeden Tag 
zusammen. Bensua unterstützte sie, so gut es ging. Sie half ihr 
beim Tragen der schweren Lasten und nahm die Schuld auf 
sich, wenn sie einen Fehler beging. Wenn sie hungrig war, gab 
sie ihr etwas von ihren Rationen ab, obwohl jeder Sklavin der 
gleiche Anteil an Lebensmitteln zustand. Nach dem 
Abendessen betete sie mit ihr im Wald, versuchte ihr neue 
Hoffnung zu geben. 

Jonathan Kelly kannte kein Mitleid mit ihr. Er beschimpfte 

sie laut und versetzte ihr derbe Hiebe und Tritte. Seine 
schwarze Peitsche benutzte er nur zur Abschreckung. Er 
erkannte wohl selbst, dass die junge Schwarze eine solche 
Züchtigung nicht überleben würde. Edward Stockton war 
weniger zimperlich, er schlug mit seiner Reitgerte auf das 
Mädchen ein, als er ihr beim Stall begegnete. Nur weil sein 
Pferd scheute und er beide Hände brauchte, um  sich im Sattel 
zu halten, ließ er von der Sklavin ab. 

Bensua zögerte mit der Flucht. Solange sie keinen festen Plan 

hatte, wollte sie das Risiko nicht eingehen. Wenn sie von den 
Sklavenjägern erwischt und zu Edward Stockton gebracht 
wurden, würde er sie so lange auspeitschen lassen, bis sie tot 
war. Da war sie beinahe sicher. Als er ihre Freundin das letzte 
Mal geschlagen hatte, war ein Ausdruck in seinen Augen 
gewesen, der sie erschreckt hatte. Der Sohn des Pflanzers 
hasste das Mädchen. Er würde niemals verwinden, dass sie ihn 
zurückgewiesen hatte. Anscheinend war er zu stolz, sie mit 

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Gewalt zu nehmen. Die meisten weißen Männer verstanden 
nicht, dass es schwarze Frauen gab, die sich weigerten, sich 
ihnen freiwillig hinzugeben und die Füße zu küssen. 

»Massa  Edward bringt mich um«, jammerte Manu beinahe 

jeden Abend. »Das nächste Mal schlägt er mich tot! Hast du 
gesehen, wie er mich angeschaut hat? Er bindet mich an den 
Pfahl und peitscht mich so lange aus, bis ich nicht mehr atmen 
kann!« 

»Nein«, widersprach Bensua, »das wird nicht geschehen! Die 

Götter beschützen dich! Wenn der Tag kommt, werden wir 
fliehen! Wir werden weglaufen und eine bessere Zukunft 
finden!« 

»Wann ist dieser Tag? Wann?«, fragte Manu ungeduldig. 
Bensua wusste es selbst nicht. Sie vertraute ihren Gebeten 

und Liedern und hoffte darauf, dass die Götter ihr Hilfe 
schicken würden. An einem warmen Frühlingsabend war es so 
weit. Sie stand mit ihrer Freundin unter den Bäumen und 
betete, als einige Zweige raschelten und ein schmächtiger 
Schwarzer zwischen den Bäumen hervortrat. Er hatte ein 
kantiges Gesicht mit knochigen Wangen und trug eine dunkle 
Schirmmütze auf seinem kahl geschorenen Kopf. »Ich bin 
Hansen«, sagte er leise. 

Die Mädchen blickten den Schwarzen überrascht an. Bei 

näherem Hinsehen wirkte er stärker und muskulöser, als seine 
schmächtige Gestalt es glauben machte. Er schien nur aus 
Muskeln und Sehnen zu bestehen. »Was tust du hier?«, fragte 
Bensua. »Du bist kein Sklave! Ich habe dich hier noch nie 
gesehen!« 

»Ich bin ein freier Neger«, antwortete Hansen. »So nennen 

die Weißen einen Schwarzen, der kein Sklave mehr ist. Ich 
habe im Krieg für die Amerikaner gekämpft und meinem 
Herrn das Leben gerettet. Deshalb hat er mir die Freiheit 
geschenkt! Seht ihr?« Er zog ein Papier aus der Tasche und 

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zeigte es ihnen. »Das ist mein Ausweis. Darauf steht, dass ich 
frei bin.« Er steckte das Papier wieder ein und lächelte bitter. 
»Aber das heißt noch lange nicht, dass es mir gut geht! Wenn 
ein Weißer mich schlagen will, kann er das tun, und wenn ich 
einer weißen Frau zu nahe komme oder einen Apfel stehle, 
hängen sie mich auf! Wir werden niemals so frei sein wie die 
Weißen! Niemals! Nicht in Amerika!« 

»Warum kommst du zu uns?«, wollte Bensua wissen. »Wenn 

sie dich auf der Plantage erwischen, machen sie dich wieder 
zum Sklaven!« 

Er lächelte. »Du bist Bensua, nicht wahr?« 
»Ja, aber woher weißt du das?« 
»Du bist groß und schön und hast einen starken Willen! Und 

du hast den Glauben an die alten Götter nicht verloren!« Er 
deutete zu den hellen Sternen empor. »So hat dich Ottobah 
beschrieben!« 

»Ottobah!«, rief sie aufgeregt. »Du kommst von Ottobah?« 
Hansen legte einen Finger auf seine Lippen und blickte sich 

aufmerksam um. Dann lächelte er. »Ottobah hat mich 
geschickt. Ich sollte dich suchen. Ein Freund, der für einen 
Kaufmann im Hafen arbeitet, konnte sich an dich erinnern.« 
Sein Lächeln wurde stärker. »Ottobah hat viel Schönes über 
dich erzählt, weißt du?« 

»Wo ist er? Wie geht es ihm?«, fragte Bensua ungeduldig. 
»Leise!«, warnte Hansen. »Sonst hören uns die Aufseher!« Er 

ging in die Knie und forderte Bensua und Manu auf, dasselbe 
zu tun. »Ottobah ist auf einer Plantage in Virginia. Es geht ihm 
gut!« 

Bensua schloss die Augen und dankte den Göttern. »Warum 

habe ich das nie erfahren? Unser Kutscher hat in Charleston 
nach ihm gefragt. Niemand wusste, wohin sie Ottobah 
gebracht haben.« 

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»Er war bei einem Kaufmann an der Küste«, erklärte Hansen. 

»Ein gemeiner Bursche, der ihn in Ketten schlafen ließ und 
ihm kaum etwas zu essen gab. Selbst einige Weiße können 
diesen Mann nicht leiden. Seine Frau war noch schlimmer, 
drosch jeden Abend mit der Peitsche auf ihn ein, bis er am 
ganzen Körper blutete! Ottobah wollte fliehen, aber das war 
nicht möglich. Der Laden des Kaufmanns lag mitten in der 
Stadt und man hätte ihn sofort erwischt. Zum Glück gingen die 
Kaufleute Bankrott. Sie mussten Ottobah verkaufen und er 
landete auf einer Plantage in Clarksville. Das ist ein kleiner Ort 
in dem Land, das Virginia heißt. Dort arbeitet Ottobah als 
Feldsklave. Er ist fest entschlossen mit dir  nach Norden zu 
fliehen. Nach Philadelphia, einer Stadt in Pennsylvania. In 
diesem Land gibt es keine Sklaven.« Er schwieg einen 
Augenblick und lauschte dem Wind. »Ich habe keine Zeit, dir 
mehr darüber zu erzählen. Unterwegs wirst du alles erfahren.« 

Bensua brauchte eine Weile, um die vielen Informationen zu 

verarbeiten. Ottobah lebt! Er liebt mich immer noch! Und er 
will mit mir nach Norden fliehen! Die Nachrichten, die Hansen 
brachte, wirkten wie ein Zaubertrank, gaben ihr neue Kraft und 
neuen Lebensmut. »Hast du gehört?«, sagte sie zu ihrer 
Freundin. »Wir gehen mit Ottobah nach Norden! Bald sind wir 
frei! Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben! Dieser 
Mann wird uns helfen!« Sie blickte Hansen ängstlich an. »Du 
hilfst uns doch, Hansen?« 

Der Schwarze nickte. Er musterte aufmerksam seine 

Umgebung, bevor er fragte: »Du kennst die Underground 
Railroad?« 

»Ich habe davon gehört. Gehörst du dazu?« 
»Ich bin ein Schaffner«, erklärte er. »So nennen sie die Leute, 

die flüchtige Sklaven nach Norden führen. Ich bringe euch 
über den Fluss und zeige euch ein Versteck in den Sümpfen. 
Dort müsst ihr bleiben, bis die Sklavenjäger keine Lust mehr 

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haben, nach euch zu suchen! Es ist ein sicherer Ort vor den 
Bluthunden!« 

»Wie lange wird das sein?«, fragte Manu. In ihren Augen 

standen Angst und Verzweiflung. »Ein Junge hat gesagt, dass 
es dort Krokodile und Giftschlangen gibt! Wie können wir uns 
vor ihnen schützen?« 

Hansen berührte das Mädchen am linken Arm. »Ich habe ein 

Boot«, beruhigte er sie, »da können die Schlangen nicht rein! 
Und die Alligatoren haben mit den Krokodilen, wie es sie in 
unserer Heimat gibt, wenig zu tun! Sie sind viel kleiner und 
nicht so gefährlich! Ich kenne ein Versteck in den Sümpfen, 
einen ausgehöhlten Baumstamm. Da findet euch niemand! Ich 
nehme Vorräte und frisches Wasser mit. Eine Woche, zwei 
Wochen, dann könnt ihr weiterziehen! Ich sage euch, wohin 
ihr gehen müsst.« 

»Wann sollen wir fliehen?«, fragte Bensua nach einer Weile. 
»Am Samstag«, antwortete der Schwarze. »Ich habe gehört, 

dass euer Master ein großes Fest veranstalten will. Ihr wisst, 
wie die reichen Weißen feiern. Sie laden alle vornehmen 
Nachbarn ein, sogar aus Charleston und Savannah, es gibt zu 
essen und zu trinken und in dem großen Zimmer, das sie 
Ballsaal nennen, drehen sie sich zur Musik. Sie haben viel zu 
tun und sind nur mit sich selbst beschäftigt! Das ist die beste 
Zeit, um zu fliehen! Nicht mal die Aufseher kümmern sich um 
die Sklaven! Sie verstecken sich, rauchen Zigarren und trinken 
vom besten Wein, und wenn sie genug haben, stellen sie den 
weißen Mädchen nach!« 

»Wir haben von dem Fest gehört«, erinnerte sich Bensua, 

»der Kutscher hat es uns gesagt. Der Geburtstag der Mistress 
wird gefeiert. Sie wird ein langes grünes Kleid aus Seide 
tragen, das viele Dollar gekostet hat. Der Kutscher  musste es 
vom Schneider in Charleston abholen!« 

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Hansen lächelte flüchtig. »Die Weißen geben viel Geld für 

unnütze Dinge aus. Aber es ist gut, dass sie feiern. Geht, wenn 
der Mond über dem Herrenhaus steht! Erzählt keinem 
Menschen von eurer Flucht, nicht einmal den Schwarzen, die 
im selben Haus mit euch wohnen! Wir müssen jedes Risiko 
vermeiden. Wartet, bis eure Freunde auf dem Banjo spielen 
und tanzen, und stehlt euch heimlich davon! Ich warte am 
Flussufer auf euch! Abgemacht?« 

»Abgemacht!«, versicherte Bensua ohne ihre Freundin zu 

fragen. »Wir werden pünktlich sein! Du wartest bestimmt auf 
uns?« 

»Ich lasse euch nicht im Stich«, versprach Hansen feierlich. 

»Ich arbeite für die Underground Railroad! Ich habe 
geschworen jedem Schwarzen zu helfen, der aus der Sklaverei 
fliehen will!« 

Hansen verschwand und Bensua und Manu blieben noch eine 

ganze Weile auf der kleinen Lichtung sitzen. Sehnsüchtig 
blickten beide zum sternenübersäten Himmel empor. Dort 
oben leuchtete der Nordstern, er würde sie in die Freiheit 
führen. Manu klammerte sich ängstlich an ihre Freundin. Sie 
fürchtete sich vor der gefährlichen Flucht. Bensua lächelte. Sie 
würde kein Risiko scheuen, um ihren geliebten Ottobah wieder 
zu sehen. Er lebte! Und er würde fliehen um irgendwo auf sie 
zu warten! Sie dankte den Göttern mit einem leisen Gebet. Sie 
waren auf ihrer Seite! 

Die wenigen Tage bis zum Wochenende vergingen quälend 

langsam. Bensua und Manu mussten beim Säen auf den 
Feldern helfen und versuchten so wenig wie möglich 
aufzufallen. Als die Mistress auf einem ihrer stolzen 
Reitpferde erschien, um vier weitere Sklavinnen für den 
Hausdienst während des Festes auszuwählen, beteten sie 
stumm. Sie waren dankbar, nicht zu den Auserwählten zu 
gehören. Jede andere Sklavin wäre froh gewesen, die 

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anstrengende Feldarbeit mit dem Hausdienst tauschen zu 
dürfen, wenn auch nur für kurze Zeit. Wer während eines 
solchen Festes im Haus arbeitete, ließ die Sorgen in der heißen 
Luft zurück und konnte heimlich von den leckeren Sachen 
naschen, die im Küchenhaus zubereitet wurden. Für Bensua 
und Manu wäre es nur schwerer gewesen, von der Plantage zu 
entkommen. 

Mehrmals war Bensua versucht, sich Henry oder Sarah 

anzuvertrauen. Während der langen Zeit, die sie bei ihnen war, 
hatte sie Freundschaft mit ihnen geschlossen. Doch es war zu 
gefährlich, ihr Geheimnis zu verraten. Auch unter den 
Schwarzen gab es Verräter, die flüchtende Sklaven an die 
Aufseher verrieten, um dadurch Vorteile zu gewinnen. Es war 
besser, den Gedanken an die bevorstehende Flucht für sich zu 
behalten.  Die Schwarzen, die mit ihnen im selben Haus 
wohnten, würden bestraft werden, sobald ihre Flucht entdeckt 
wurde, und vielleicht würde man sie sogar auspeitschen um 
herauszubekommen, wohin sie geflohen waren, auch wenn sie 
es nicht wussten. Aber diese Schuld mussten sie auf sich 
nehmen. Wenn sie das freie Land im Norden erreichen 
wollten, mussten sie die Vergangenheit hinter sich lassen. 
»Kein Wort!«, warnte Bensua ihre Freundin. »Wenn du etwas 
sagst, werfen sie uns ins Gefängnis!« 

Am Samstagnachmittag begannen die letzten Vorbereitungen 

für das Fest. Über die lange Eichenallee rollten Pferdewagen 
mit Vorräten, und Robert F. Stockton erschien in seiner 
vornehmen Kutsche. Seine Frau und sein Sohn waren die 
ganze Woche auf »Magnolia Hall« gewesen. Es duftete nach 
den frischen Speisen, die im Küchenhaus zubereitet wurden, 
und aus dem Haus drangen die ersten Melodien der probenden 
Musiker herüber. Als die Dunkelheit hereinbrach, blitzten 
überall im Haus und sogar im Garten Fackeln und Lichter auf. 
Die ersten Kutschen mit Gästen rollten über die lange 

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Kiesanfahrt und parkten vor dem Haus. Auf der anderen Seite 
legten die Boote an, die über den Ashley River gekommen 
waren. »Der Massa und die Mistress haben allen Grund zum 
Feiern«, sagte Henry, der überraschend hinter  den Mädchen 
aufgetaucht war. Sie standen vor den Sklavenhütten und 
blickten durch die Bäume zum erleuchteten Herrenhaus 
hinüber. »Ihre Plantage gehört zu den reichsten am Ashley 
River.« 

Bensua hatte den Schwarzen nicht bemerkt und erschrak. 

»Weil sie genug Sklaven haben, die  für sie arbeiten«, erklärte 
sie. 

»Das ist wahr«, erwiderte er. Sein Blick schien ihr zu sagen, 

dass er von der bevorstehenden Flucht wusste. Aber das war 
unmöglich. Sie hatten mit niemandem darüber gesprochen. 
»Irgendwann werden wir alle frei sein, Missy! Dann ziehen wir 
in das gelobte Land, von dem der Prediger der Weißen spricht. 
Dort leben alle Menschen in Frieden miteinander, ganz egal 
welche Hautfarbe sie haben.« 

Henry vertraute dem Gott der weißen Männer. Seitdem er 

halbwegs lesen konnte, hatte er immer öfter in dem Heiligen 
Buch geblättert, das er von dem Prediger bekommen hatte. 
Dort stand, dass ein gewisser Moses das auserwählte Volk in 
die Freiheit geführt hatte. War Hansen ihr Moses? Würde er 
das große  Wasser teilen, um sie in das freie Land im Norden 
zu führen? 

Der Mond wanderte über das Herrenhaus und spiegelte sich 

auf den weißen Säulen vor dem Eingang. Das Signal für 
Bensua und Manu, das Sklavencamp zu verlassen. Jetzt kam 
ihnen zugute, dass sie jeden Abend zum Beten in den Wald 
gingen. Niemand wurde misstrauisch, als sie die Hütte 
verließen. Sarah stand an der Feuerstelle und kochte, die 
beiden Fante klimperten abwechselnd auf einem Banjo herum 
und Henry stand vor der Tür und rauchte. Bensua spürte seinen 

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forschenden Blick bis tief in den Wald. Selbst wenn er etwas 
weiß, verrät er uns nicht, glaubte sie sicher zu sein. Sie hatten 
keinen Proviant mitgenommen, besaßen nur die einfachen 
Kleider, die sie am Körper trugen. Sie wollten kein Aufsehen 
erregen. Ohne Proviant konnten sie sich herausreden, wenn sie 
auf der Plantage erwischt wurden. »Wir wollten sehen, wie die 
Weißen feiern«, würde sie sagen. Man würde sie bestrafen, 
aber nicht zu Tode peitschen. 

Durch den lichten Wald schlichen sie zu der Eichenallee. Sie 

mussten ganz sicher sein, dass keine verspätete Kutsche über 
den Kies gefahren kam. Als nichts zu hören war, rannten sie 
auf die andere Seite. Sie blieben zwischen den Bäumen stehen 
und blickten einander an. Manu zitterte vor Angst. Bensua 
drückte ihren Arm und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken, 
weiterzugehen. Sie wussten, welche Stelle am Flussufer der 
Schwarze meinte. Ungefähr eine Meile westlich vom 
Herrenhaus machte der Ashley River eine scharfe Biegung, 
dort war man relativ sicher. Hohes Schilf und moosbehangene 
Eichen versperrten die Sicht. 

Sie kamen rasch voran. Der weiche Waldboden dämpfte ihre 

Schritte und das Spanische Moos, das bis auf die Wurzeln 
hing, und die Dunkelheit schützten sie vor einer Entdeckung. 
An die Aufseher wagten sie nicht zu denken. Wer sagte ihnen, 
dass Kelly so war, wie Hansen es beschrieben hatte? Er sprach 
gerne dem Alkohol zu, das war allgemein bekannt, aber 
niemand wusste, ob er nur weißen Mädchen den Hof machte. 
Vielleicht wartete er nur darauf, dass ihm zwei flüchtige 
Sklavinnen ins Netz gingen. 

Nichts geschah. Bensua und Manu schlugen einen weiten 

Bogen um das Herrenhaus und schafften es, unbemerkt an den 
Ställen vorbeizukommen. Einige Schweine quiekten, als sie im 
Schatten eines Baumes verharrten. Sie wollten gerade 
weiterlaufen, als sie ein Geräusch hörten. Bensua drückte ihrer 

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Freundin eine Hand auf den Mund und beobachtete nervös, 
wie ein Mann und eine Frau hinter der Scheune auftauchten. 
Edward Stockton und eine junge Frau in einem blauen Kleid 
und mit einem verrutschten Strohhut. Er umarmte sie und 
küsste sie auf den Mund und sie kicherte unterdrückt, wehrte 
sich aber, als er sie gegen die Wand drücken wollte. »Nein, 
Edward! Bitte nicht!«, flehte sie und rannte davon. 

Bensua wartete, bis auch Edward verschwunden war, und zog 

ihre Freundin zum Fluss hinunter. Am Ufer entlang schlichen 
sie zu der Biegung. Sie bahnten sich einen Weg durch das hohe 
Schilf und atmeten erleichtert auf, als Hansen erschien. Er 
schob ein Boot ins Wasser und winkte Bensua und Manu 
heran. »Beeilt euch!«, raunte er. »Wir müssen über den Fluss, 
solange der Mond hinter den Wolken bleibt!« Er deutete zum 
Himmel. 

Sie kletterten ins Boot und kauerten sich auf den feuchten 

Boden. Hansen ergriff die Ruder. Im Schutz der Dunkelheit 
überquerten sie den ruhigen Fluss. In der Ferne waren die 
erleuchteten Fenster und die bunten Laternen im Garten zu 
sehen. Einige Fetzen der fröhlichen Musik klangen über das 
Wasser zu ihnen herüber. Jeder Ruderschlag brachte sie weiter 
von der Plantage weg, trieb sie dem nördlichen Ufer entgegen. 
Aber bis dahin hatten es Abraham und seine Schwester auch 
geschafft. Sicher waren sie erst, wenn sie das Land erreichten, 
das Pennsylvania genannt wurde. 

Sie sprangen an Land und versteckten das Boot im Schilf. Ein 

letztes Mal blickten Bensua und Manu zum Herrenhaus von 
»Magnolia Hall« hinüber, dann folgten sie Hansen. »Mir 
nach!«, flüsterte er. »Wir müssen so schnell wie möglich in die 
Sümpfe!« 

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24 

 
 
 

Erst als sie im Wald waren und vom anderen Ufer nicht mehr 
gesehen werden konnten, zündete Hansen die mitgebrachte 
Öllampe an. Im schwachen Lichtschein liefen sie über den 
unsichtbaren Pfad, den der Schwarze vor einigen Tagen 
ausgekundschaftet hatte. Zur Not hätte er sich auch im 
Dunkeln zurechtgefunden. Bensua trug den Proviantbeutel, den 
Hansen im Boot versteckt hatte. Zwei Scheiben Brot, etwas 
Schinken, einen zerbeulten Behälter mit Wasser, mehr hatte er 
nicht auftreiben können. Sie drehten sich nicht um, wollten so 
weit wie möglich von der Plantage entfernt sein, wenn ihr 
Verschwinden entdeckt wurde. Die meisten Flüchtlinge 
wurden noch auf der Plantage oder in der näheren Umgebung 
gestellt, so wie Abraham und seine Schwester. Wer unentdeckt 
blieb und die ersten drei Tage überlebte, hatte eine gute 
Chance, den Weißen zu entkommen. 

Bensua folgte dem flackernden Lichtschein ohne 

nachzudenken. Die Vergangenheit blieb wie ein bedrohliches 
Unwetter hinter ihr zurück. Noch war es finster, hingen die 
schweren Wolken der Sklaverei über ihr, rollte der Donner und 
zuckten Blitze. Nur wenn  sie dicht hinter Hansen blieben und 
so schnell wie möglich liefen, würden sie die bösen Geister 
hinter sich lassen. Wie in einem Traum folgten sie der 
unruhigen Flamme der Öllampe, von der Angst gelähmt und 
unfähig, etwas zu sagen oder den Schwarzen zu bitten 
langsamer zu laufen. Keuchend hielten sie Schritt, rannten sie 
vor den Weißen davon, die bald merken würden, dass sie 
geflohen waren. Wie eine Drohung tauchte das verzerrte 
Gesicht von Edward Stockton in ihren Gedanken auf, hörten 

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sie seine wilden Flüche und den wütenden Befehl, der 
Jonathan Kelly und die anderen Aufseher auf ihre Spur setzte. 
Und sahen die beiden Sklavenjäger, den mit dem schmalen 
Schnurrbart und den mit den langen Haaren und der Narbe 
unter dem rechten Ohr, die Abraham und seine Schwester 
gefangen hatten. 

Auf einer Lichtung legten sie eine kurze Verschnaufpause 

ein. Sie starrten in die unheimlichen Schatten, die hinter ihnen 
lagen, und warteten, bis sich ihr Atem beruhigte. Hansen 
schien die Anstrengung nichts auszumachen. Sein Körperbau 
täuschte darüber hinweg, wie ausdauernd und zäh er war. Er 
hatte zu den besten Kämpfern seines Volkes gehört und 
verdankte es seiner Kampfkraft und seinem tollkühnen Mut, 
dass er die Papiere eines freien Negers bekommen hatte. Nur 
ein Mann wie er brachte es fertig, sich auf eine Plantage zu 
schleichen und anderen Sklaven zur Flucht zu verhelfen. 
Bensua und Manu waren nicht die ersten. Über zwanzig 
Schwarze hatte er bereits in die Freiheit geführt. 

Sie lauschten angestrengt. Außer dem Rauschen des frischen 

Nachtwinds war nichts zu hören. Die Stille war unheimlich, 
schien die bösen Geister zu schützen, die sich jeden 
Augenblick auf sie stürzen konnten. Im heimischen Regenwald 
war es laut, fauchten Raubkatzen, grunzten Wildschweine, 
lärmten Papageien und andere Vögel. Selbst wenn der Mond 
am höchsten stand, kam der Dschungel nicht zur Ruhe. Hier 
regte sich kein Ast, schwiegen die Tiere, wenn es welche gab, 
als fürchteten auch sie, von den Weißen entdeckt zu werden. 
Wie der Atem eines lauernden Ungeheuers strich der Wind 
über die Lichtung. 

Hansen zeigte zum Himmel hinauf. Ein Meer von 

leuchtenden Sternen scharte sich um den halben Mond. Am 
Ende des Sternbilds, das die Weißen den »Großen Bären« 
nannten, leuchtete ein besonders heller Stern. »Der Nordstern«, 

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erklärte der Schwarze. »Ihm  müsst ihr folgen, wenn ihr in die 
Freiheit wollt! Er strahlt über dem Land, in dem es keine 
Sklaverei gibt und wir wie freie Menschen neben den Weißen 
leben dürfen!« 

»Wie lange werden wir unterwegs sein?«, fragte Bensua. 
Hansen blickte sie ernst an. »Das kann niemand sagen. Die 

Weißen sind so zahlreich wie das Laub an den Bäumen und 
viele warten nur darauf, dass ihr ihnen in die Falle geht. Ihr 
werdet euch oft verstecken müssen!« Er sah die erschrockene 
Miene des jüngeren Mädchens und fügte rasch hinzu: »Habt 
keine Angst! Es gibt andere Männer und Frauen wie mich, 
schwarze und weiße, die sich um euch kümmern werden! Ihr 
werdet es schaffen, Manu! So wie die anderen Schwarzen, die 
mit der Underground Railroad in die Freiheit gefahren sind!« 
Er lächelte amüsiert. »Seltsam, dass sie unsere Fluchtwege 
nach einer Eisenbahn benannt haben. Die meisten Schwarzen, 
die ich kenne, haben Angst vor der Eisenbahn! Und die 
meisten Weißen auch!« 

Bensua dachte an den Krieger, der dieselben Sterne wie sie 

sah. »Wo werde ich Ottobah treffen? Ist er schon geflohen? 
Wartet er in dem freien Land auf mich? Sag mir, was du 
weißt!« 

»Ich weiß wenig«, antwortete Hansen. »Ottobah wollte 

fliehen, sobald die Weißen auf seiner Plantage ein großes Fest 
feiern. So wie ihr. Und ich bin sicher, dass er sich nicht 
einfangen  lässt! Er ist der tapferste Krieger, den ich jemals 
getroffen habe! Er hat gesagt, dass er dich finden wird, egal wo 
du auch bist!« 

Sie liefen weiter durch den Wald. Zielsicher führte Hansen 

sie über den dunklen Pfad. Er war ein ausdauernder Läufer und 
legte ein schnelles Tempo vor. Die Mädchen konnten nicht 
wissen, dass er sonst doppelt so schnell war. Sein Atem war 
kaum zu hören. Er schien jeden Baum in dem unheimlichen 

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Wald zu kennen und flüsterte leise »Duckt euch!« oder »Dort 
entlang!«, wenn sie an ein Hindernis oder eine Kreuzung 
kamen. Als hätte er sein ganzes Leben in diesem Wald 
verbracht. Wie ein Krieger, der einem Wild im heimatlichen 
Urwald nachstellte. Hansen war schon  lange von Afrika weg, 
aber seine Instinkte waren noch lebendig. Auch in diesem 
Land würde er immer ein Jäger bleiben. 

Nach drei Stunden erreichten sie die andere Seite des Waldes. 

Sie blieben zwischen den Bäumen stehen und rangen nach 
Atem. Hansen nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche 
und reichte sie an die Mädchen weiter. Sein Blick glitt 
forschend über die hügelige Wiese, die zu einem schmalen 
Fluss abfiel, der wie ein silbernes Band in der Ferne 
verschwand. Rechts von ihnen, jenseits der Hügel, waren die 
schattenhafte Umrisse eines Hauses zu erkennen. »Dort 
wohnen weiße Farmer«, warnte Hansen, »ein Mann und eine 
Frau! Aber wir müssen hier entlang! Die anderen Wege sind zu 
gefährlich! Im Westen liegt eine Plantage, im Osten gibt es ein 
Dorf und eine breite Straße, auf der viele Pferdewagen fahren! 
Dort würden sie uns entdecken!« 

Bensua ließ das kühle Wasser lange in ihrem Mund, bevor sie 

schluckte. So hielt die Erfrischung länger an. Das hatte sie auf 
der qualvollen Überfahrt gelernt. Sie blickte zu dem Fluss 
hinunter. »Müssen wir über den Fluss, Hansen? Wo ist der 
Sumpf?« 

»Wir schwimmen den Fluss hinab«, erklärte der Schwarze 

zur Überraschung der Mädchen. »Das Wasser ist kalt, aber es 
geht nicht anders. Im Wasser können uns die Hunde nicht 
riechen. Dann müssen die Sklavenjäger umkehren! Auch wenn 
sie wissen sollten, dass wir in den Sumpf gehen, werden sie 
aufgeben! In den Sumpf gehen die Weißen nicht gern! Zu viele 
Alligatoren und Schlangen! Die Weißen haben niemals im 
Urwald gelebt.« 

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Hansen versteckte die Öllampe, die er bereits im Wald 

gelöscht hatte, im Unterholz. »Bleibt dicht hinter mir!«, 
schärfte er den Mädchen ein. »Wir dürfen kein Risiko 
eingehen! Hier hab ich noch nie einen Weißen gesehen, aber 
man kann nie wissen!« 

»Was ist, wenn der Farmer aufwacht?«, fragte Manu nervös. 
»Wenn wir unterhalb der Hügel bleiben, sieht er uns nicht«, 

beruhigte Hansen das Mädchen. »Außerdem schlafen die 
beiden fest! Einen Hund besitzen sie nicht. Nur eine 
altersschwache Katze und die würde ihn nicht mal wecken 
wenn das ganze Haus einstürzt!« Er blickte zum Himmel 
empor. »Wir warten, bis der Mond hinter der großen Wolke 
verschwindet! Seid ihr bereit?« 

Die Mädchen nickten schwach. Beide hatten große Angst, 

auch Bensua, und allein der Gedanke, von Sklavenjägern 
gefangen und zurück auf die Plantage gebracht zu werden, ließ 
sie erschaudern. Bensua erinnerte sich an ihre eigenen Worte. 
Sie würde niemals aufgeben, bis sie mit Ottobah vereint war 
und an eine neue Zukunft glauben durfte. Und sie hatte Manu 
versprochen wie eine Schwester auf sie aufzupassen. Die 
Freundin vertraute ihr und irgendwo im Norden wartete 
Ottobah. Wenn die Götter sie schützten, würde sie ihn bald in 
die Arme schließen. 

Sie schlichen geduckt über die Wiese. Wie drei Jäger, die ein 

Wild einkreisten. Nur dass sie die Gejagten waren. Irgendwann 
würde ein Aufseher ihre Flucht bemerken und dann würde man 
sie hetzen, solange eine Möglichkeit bestand, sie einzufangen. 
Sie mussten den Fluss erreichen. Besser konnte man seine 
Spuren nicht verwischen, wenn man von blutgierigen Hunden 
verfolgt wurde. Das hatte Hansen schon vor langer Zeit 
gelernt. Wenn er die Mädchen unbemerkt bis zu dem hohlen 
Baum im Sumpf brachte, hatten sie einen wertvollen 

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Vorsprung, und die Chance, dass die Sklavenjäger sie fanden, 
war gering. 

Am Flussufer blieb Hansen stehen. Er bedeutete den 

Mädchen, sich so still wie möglich zu verhalten, und lauschte 
in die Dunkelheit. Der Mond war nicht zu sehen. Die Sterne 
über dem Fluss verbreiteten das einzige Licht. Es war so still, 
dass selbst das leise Rauschen des Wassers zu hören war. 
»Binde dir den Vorratsbeutel auf den Rücken!«, forderte er 
Bensua leise auf. Er kramte eine Lederschnur aus seiner 
Tasche und reichte sie ihr. 

Schweigend stiegen sie in das Wasser. Der Grund fiel steil ab 

und sie mussten sofort schwimmen. Die Kälte ließ sie 
erschaudern. Erst als sie einige Meter zurückgelegt hatten, 
wurde es besser. Die Mädchen folgten Hansen auf die andere 
Seite und hielten sich dicht am Ufer, während sie sich von der 
Strömung nach Südosten treiben ließen. Gegen das dunkle 
Ufer und das dichte Schilf würde man sie nur erkennen, wenn 
man sie im Fluss vermutete und angestrengt nach ihnen suchte. 
Sie waren gute Schwimmer und glitten wie Treibholz den 
Fluss hinab. Nur Manu bewegte sich manchmal zu heftig. Die 
Sterne spiegelten sich wie flüssiges Silber in den schwachen 
Wellen und verschwanden in dem unruhigen Wasser, das über 
Felsbrocken schäumte. 

Hinter einer Biegung, ungefähr zwei Meilen flussabwärts, 

hielten sie sich an einem umgestürzten Baumstamm fest, der 
mit der verzweigten Wurzel ins Wasser ragte. Wie jedes Mal, 
wenn sie anhielten, blickten sie sich nach möglichen 
Verfolgern um. Außer dem Mond und den Sternen, die zitternd 
im Wasser schwammen, war nichts zu sehen. Wie stumme 
Wächter ragten einige Bäume am Ufer empor. Sie waren allein 
auf dem Fluss, meilenweit von jeder weißen Siedlung entfernt. 
In einer abgelegenen Wildnis, die selbst von weißen Jägern 
gemieden wurde. 

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Bensua schloss die Augen um besser hören zu können und 

strengte ihre Sinne an. Aus weiter Entfernung drangen 
bedrohliche Laute zu ihr. Das Bellen von Hunden, ganz leise 
nur, aber deutlich genug, um ihr einen Schauder über den 
Rücken zu treiben. Die Bluthunde der Sklavenjäger! 
»Niggerhunde«, wie die Weißen sie nannten. Speziell 
abgerichtete Bestien, die auf entlaufene Sklaven dressiert 
waren und so lange an einem hilflosen Schwarzen zerrten, bis 
die Sklavenjäger ihnen befahlen von ihrem Opfer abzulassen. 
Das taten die Männer aber nicht immer. 

Auch Hansen hörte das Bellen. »Wir müssen weiter!«, 

mahnte er. »Durch das Schilf, da finden sie unsere Spuren 
nicht! Bis zum Sumpf ist es nicht mehr weit! Dort habe ich ein 
Boot versteckt!« 

Der Schwarze watete durch das Schilf und stieg aus dem 

Wasser. Er half den Mädchen ans Ufer und deutete nach 
Norden. Im bleichen Mondlicht waren ein Acker und einige 
Bäume zu erkennen. Ungefähr hundert Schritte weiter lag der 
Sumpf. »Zu den Bäumen und dann am Acker entlang!«, 
flüsterte Hansen. »Im Sumpf sind wir sicher! Dorthin werden 
sie uns nicht folgen!« 

Sie rannten vom Ufer weg, spürten vor lauter Aufregung die 

Kälte nicht, die sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte. 
Das Bellen der Bluthunde, das mit dem Wind über den Fluss 
trieb, verlieh ihnen neue Kräfte. Sie blieben nur kurz unter den 
Bäumen stehen, blickten sich um und hetzten weiter. Bis zum 
Sumpf war es weiter, als Hansen in Erinnerung hatte. Sie 
atmeten schwer, als sie den Rand der feuchten Wildnis erreicht 
hatten. Selbst im schwachen Licht des Mondes und der Sterne 
war zu erkennen, dass eine schmale  Wasserstraße in den 
Sumpf führte und sich zwischen dunklen Bäumen und dichtem 
Buschwerk verlor. Spanisches Moos hing bis auf das Wasser 
herab. Nachdem sie zum Ufer hinabgestiegen waren, zog 

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Hansen ein Kanu aus dem Schilf, viel kleiner als das Boot, in 
dem sie über den Ashley River gerudert waren, und lange nicht 
so stabil. Er hielt es fest, während die Mädchen 
hineinkletterten, und griff nach dem Paddel. 

Das Bellen der Hunde war bedrohlich nahe, als Hansen in das 

Kanu stieg und sich mit dem Paddel abstieß.  Mit kräftigen 
Schlägen bewegte er das Boot in den Sumpf hinein. Der Mond 
und die Sterne blieben am Ufer zurück. Es wurde beinahe 
stockdunkel, und wäre der Schwarze während der vergangenen 
Monate nicht so oft über die verzweigten Wasserwege 
gefahren, hätte  er sich unweigerlich verirrt. Doch jetzt zog er 
das Paddel sicher durch das schwarze Wasser. Niemand sprach 
ein Wort. Es roch nach verfaultem Holz und verwesten Tieren 
und das Glucksen des Wassers und das Zirpen einiger Insekten 
waren die einzigen Geräusche in einer Wildnis, die Bensua und 
Manu an den Regenwald in Afrika erinnerte. Wollten ihnen die 
Götter sagen, dass sie den weißen Männern entkommen 
waren? Spiegelten sie ihnen ein Stück der alten Heimat vor, 
um in ihnen neue Hoffnung zu wecken? 

Die lauten  Stimmen der Verfolger und das Bellen der 

Bluthunde zeigten ihnen, dass sie noch lange nicht in 
Sicherheit waren. In der Dunkelheit, die wie zäher Nebel über 
dem sumpfigen Wasser lastete, hallten die Laute wie ein 
unheimliches Echo. Sie hatten sich nicht in die Irre führen 
lassen, hatten wohl vermutet, dass Hansen und die Mädchen in 
den Sumpf fliehen würden. »Irgendein Nigger  muss ihnen 
geholfen haben!«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart. »Auf 
den Trick mit dem Wasser wären sie bestimmt nicht selber 
gekommen!« Und der Mann mit der Narbe und den langen 
Haaren erwiderte: »Sie haben ein Boot! Anders kommen sie in 
diesem verdammten Sumpf nicht vom Fleck!« 

»Scott und Ballard!«, flüsterte Hansen. »Die haben uns 

gerade noch gefehlt! Schlimmere Sklavenjäger gibt es  nicht! 

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Wir müssen ganz vorsichtig sein, wenn wir ihnen entkommen 
wollen!« 

»Ich habe Angst!«, jammerte Manu leise. 
»Sei ruhig, sonst hören sie uns«, ermahnte Bensua ihre 

Freundin. »Solange Hansen bei uns ist, kann uns nichts 
passieren!« 

»Und wenn er uns verlässt?« 
Hansen bedeutete den Mädchen, sich still zu verhalten. Er 

steuerte das Boot mit beinahe lautlosen Paddelschlägen in 
einen Seitenarm und erreichte einen schmalen Wasserlauf, der 
sich scheinbar in dem dichten Buschwerk verlor. Doch 
nachdem er die Zweige geteilt hatte, erreichten sie einen 
weiteren Fluss und glitten über zahlreiche Seitenarme wie 
durch ein endloses Labyrinth. An einer Stelle war das Wasser 
so schmal, dass Hansen das Paddel senkrecht halten  musste. 
Wie ein dunkles Dach ragten die Büsche über das Boot. Sie 
sahen den Schatten eines Fisches, der aus dem Wasser sprang 
und zappelnd durch die Luft wirbelte, und fuhren an einem 
schlafenden Alligator vorbei, ohne ihn zu bemerken. Die 
Insekten schwirrten von allen Seiten heran. 

Als die Büsche immer weiter zurückwichen, hielten sie an. 

Die Stimmen der Verfolger waren nicht mehr zu hören. Das 
Bellen der Hunde war verstummt. »Wir sind ihnen 
entkommen«, flüsterte Manu erleichtert. 

Hansen blieb ernst. »Lasst euch nicht täuschen«, warnte er 

die  Mädchen. »Die haben bestimmt ein Boot gefunden! So 
leicht lassen sich Scott und Ballard nicht abhängen! Die geben 
erst auf, wenn ihr in Pennsylvania seid! Dazu sind sie viel zu 
geldgierig! Sie hassen alle Schwarzen! Am liebsten würden sie 
uns alle umbringen!« Als er die entsetzten Gesichter der 
Mädchen sah, meinte er: »Aber ich werde sie ablenken! Ich 
führe sie in die Irre, und wenn sie mich erwischen, sage ich 
ihnen, dass ihr zur Küste geflohen seid! Bis sie die Wahrheit 

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herausfinden, seid ihr in Sicherheit!« Er grinste. »Ich kann mit 
diesen Burschen umgehen!« 

Er lenkte das Kanu in einen breiten Wasserlauf und ließ die 

Mädchen zwischen einigen Mangroven aussteigen. Hier war 
der Boden fester und bei den großen Bäumen, die sich abseits 
des Wassers aus dem Boden erhoben, war der sumpfige Grund 
kaum noch zu spüren. Hansen führte sie zu einer mächtigen 
Eiche und deutete auf den Spalt, der auf der Rückseite klaffte. 
Er war in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Hier finden euch die 
Sklavenjäger nicht!«, sagte er. »Der Baum ist hohl! Er ist groß 
genug für euch beide. Das letzte Mal habe ich eine Frau und 
zwei Kinder darin versteckt!« Er verriet ihnen nicht, was aus 
den Flüchtlingen geworden war, und drängte sie in das 
Versteck. Zögernd krochen Bensua und Manu in den hohlen 
Baum hinein. 

»Ich nehme das Kanu mit«, flüsterte Hansen. »Ihr müsst den 

Rest des Weges schwimmen! Bis zum Rand des Sumpfes ist es 
höchstens eine Meile! Wartet drei Tage! Dann nehmt den 
breiten Wasserlauf und schwimmt nach Norden! Richtet euch 
nach dem Nordstern! Wenn ihr aus dem Sumpf kommt, seht 
ihr ein Dorf. Das Haus neben der Kirche hat zwei Kamine. 
Einer hat einen Ring aus weißen Backsteinen. Dort wohnt 
James Fairfield, der Reverend. Er wird euch helfen. Wartet, bis 
in allen Häusern die Lichter ausgehen, dann klopft dreimal und 
nach einer kurzen Pause noch zweimal an die weiße Holztür! 
Vertraut dem weißen Reverend! Er ist gegen die Sklaverei und 
kümmert sich um alle Flüchtlinge.« 

Bensua reichte dem Schwarzen die Hand. »Vielen Dank«, 

erwiderte sie leise. »Du hast uns sehr geholfen. Wir werden 
dich niemals vergessen!« Auch Manu bedankte sich. »Pass auf 
dich auf, Hansen! Lass dich nicht von den Sklavenjägern 
erwischen!« 

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»Unkraut vergeht nicht«, meinte der Schwarze grinsend und 

ging zum Kanu zurück. Die Mädchen blickten ihm besorgt 
nach. 

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25 

 
 
 

Die Mädchen krochen in den hohlen Baum. Sie tasteten den 
moosbedeckten Boden ab und fanden zwei Decken, die 
Hansen für die »Passagiere« der Underground Railroad 
zurückgelassen hatte. Das Versteck war groß genug für  sie 
beide, hatte schon einigen Familien als Unterschlupf gedient 
und war durch herabhängende Äste und verfaulte Moosfetzen 
getarnt. Einen Meter vom Eingang entfernt wuchs dichtes 
Gestrüpp. Nur ein erfahrener Spurenleser hätte sie bis zu dem 
Baum verfolgen können. Und die »Niggerhunde«, wenn sie die 
Mädchen witterten. 

Selbst Bensua konnte in dem hohlen Baum aufrecht stehen. 

Sie legte einen Arm um ihre Freundin und sagte: »Hier sind 
wir sicher! Hier kann uns nichts passieren!« Manu zitterte vor 
Angst. Der Sumpf mit seinen unbekannten Gefahren und die 
beinahe vollkommene Dunkelheit erinnerten sie an die bösen 
Träume, die sie nach ihrer Verbannung aus dem Herrenhaus 
gehabt hatte, und schnürten ihr die Kehle zu. Allein im 
heimatlichen Regenwald hätte sie keine Angst gehabt. Aber in 
dieser unwirklichen Umgebung glaubte sie sich im Reich der 
bösen Geister, die nur darauf warteten, sie umzubringen. »Hier 
finden uns die weißen Männer nicht!«, bekräftigte Bensua, als 
sie merkte, wie ängstlich ihre Freundin war. »Du wirst sehen, 
bald sind wir in Sicherheit!« 

Ihren Worten folgte das Krachen eines Schusses. 

Unerträglich laut und viel zu nahe hatten die bösen Geister 
zugeschlagen. Manu klammerte sich in panischer Angst an die 
ältere Freundin und begann leise zu weinen. Bensua starrte in 
die Dunkelheit hinaus ohne etwas zu sehen. Dann drangen die 

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Worte der Sklavenjäger an ihre Ohren. In der nächtlichen Stille 
waren sie deutlich zu verstehen. »Hast du ihn erwischt?«, 
fragte Scott. »Verdammt, der Kerl wäre uns beinahe durch die 
Lappen gegangen!« Und Ballard antwortete: »Ich habe ihn! 
Schau dir den Bastard an! Ich hab ihm das Hirn weggeblasen!« 
Einen Augenblick war nur das Plätschern des Wassers zu 
hören. »He, weißt du, wer das ist? Das ist dieser Hansen, der 
freie Nigger, den du neulich auf der Hauptstraße angehalten 
hast! Hab ich mir gleich gedacht, dass der ein Fluchthelfer ist! 
Wir hätten den Dreckskerl gleich umlegen sollen, dann hätten 
wir jetzt nicht solchen Ärger!« 

Bensua drückte ihre Freundin fest an sich; damit niemand ihr 

leises Schluchzen hörte, und hielt sich mit der freien Hand an 
dem knorrigen Baumstamm fest. »Sie haben Hansen 
erschossen!«, flüsterte sie entsetzt. »Sie haben ihn… 
umgebracht!« Jetzt musste auch sie weinen. Die Tränen rollten 
über ihre Wangen und tropften auf ihr schmutziges 
Leinenkleid. Obwohl sie den »freien Neger« kaum gekannt 
hatte, fühlte sie einen Schmerz, als ob sie einen nahen 
Verwandten verloren hätte. Sie kämpfte gegen die Tränen an 
und versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. 
Wenn  sie die Nerven verlor, drohte ihnen dasselbe Schicksal 
wie Hansen. Ein tapferer Krieger bewahrte immer die Ruhe. 

»Wir müssen ganz still sein«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. 

»Die Weißen wissen, dass wir in der Nähe sind! Hier hört man 
jeden Laut! Vielleicht haben wir Glück und sie ziehen weiter!« 

Aber sie glaubte nicht daran. Hansen hatte selbst gesagt, dass 

Scott und Ballard nur schwer von einer Verfolgung 
abzubringen waren. Sie würden erst verschwinden, wenn sie 
ganz sicher sein konnten, dass ihre Opfer nicht in der Nähe 
waren. Bensua erschauderte, als sie an die gefühllosen 
Gesichter der Männer dachte. Für sie war jeder Schwarze 
minderwertiges Ungeziefer, das man vernichten musste. Ein 

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Nigger oder eine Niggerin, die es nicht wert waren, am Leben 
zu bleiben. Sie würden nicht eher ruhen, bis der letzte 
Schwarze in Ketten lag oder für die Weißen arbeitete. Dabei 
waren sie selbst Sklaven. Sie verrichteten die Schmutzarbeit. 
So wie Kelly und die anderen Aufseher, die nicht einmal im 
Herrenhaus wohnen und essen durften. In den Augen des 
Masters und der Mistress waren sie fast so minderwertig wie 
Sklaven. Warum glaubten manche Menschen besser als andere 
zu sein? Auch bei ihrem Volk hatte es solche Unterschiede 
gegeben. Die Vertrauten des Königs und die Schwertmänner 
hatten sich den anderen Asante überlegen gefühlt. Wollten die 
Götter wirklich, dass ein Mensch wertvoller als ein anderer 
war? 

»Was machen wir mit dem Nigger?«, fragte Ballard. »Für 

den bekommen wir keinen einzigen Dollar! Ich hätte den 
Bastard am Leben lassen sollen, dann hätten wir ihn verkaufen 
können!« 

»Tot ist er mir lieber«, erwiderte Scott. »Ohne ihn erwischen 

wir die flüchtigen Nigger leichter!« Bensua hörte Wasser 
platschen, anscheinend tauchte einer der beiden Männer sein 
Paddel hinein. »Lass ihn liegen! Um den kümmern sich die 
Alligatoren! Lass uns lieber nach den Mädchen suchen! Auf 
die ist eine hohe Belohnung ausgesetzt, schon vergessen? 
Möchte wissen, warum der junge Stockton so versessen darauf 
ist, die Niggermädchen wieder einzufangen! Meinst du, er hat 
einen Narren an ihnen gefressen? Ich weiß, dass Edward 
keinen Rock auslässt! Aber diese halben Portionen? Eher lasse 
ich mich mit einer verdammten Rothaut ein!« 

»Er mag schwarzes Fleisch«, meinte Ballard abfällig. »Das 

hab ich von einem Hafenarbeiter in Savannah, der ihm mal 
eine junge Sklavin besorgt hat. Mann, die war noch ein halbes 
Kind! Zwölf oder dreizehn. Angeblich sollen sie früh 
erwachsen werden, diese Schwarzen! In Afrika heiraten sie als 

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Kinder, hast du das gewusst? Hab ich auch  von dem Mann in 
Hafen, der kennt sich mit so was aus! Mit zwölf kriegen 
manche schon Kinder!« 

»Mir egal«, erwiderte der Mann mit dem schmalen 

Schnurrbart. »Hauptsache, wir finden sie! Ich kann mir was 
Schöneres vorstellen als die ganze Nacht im Sumpf 
herumzupaddeln. Weit können sie nicht sein! Der Nigger kam 
von links. Los, paddle endlich! Da hinten war ‘ne Insel, da 
könnten sie sein! Wir lassen die Hunde los, die werden die 
Niggermädchen schon finden!« 

Den letzten Teil ihres Wortwechsels hatten die Mädchen 

kaum verstanden, dazu waren ihre Worte zu undeutlich 
gewesen. Aber sie konnten sich vorstellen, was die 
Sklavenjäger unternehmen würden. Sie ahnten, dass ihre Opfer 
in der Nähe waren, gingen irgendwo an Land und ließen die 
Hunde los. Es gab zahlreiche Landzungen und Inseln in den 
Sümpfen, dort war der Boden fest genug um einen Menschen 
zu tragen. Auf dem trockenen Land wuchsen Bäume wie die 
Eiche, in der sie sich versteckt hatten. 

Das Platschen der Paddel kam näher. Bensua war sicher, dass 

sie die weißen Männer sehen würde, wenn sie zum Wasser 
hinunterging. Sie waren nur ein paar hundert Schritte von 
ihrem Versteck entfernt. »Da drüben! Da gehen wir an Land!«, 
befahl Scott. »Zieh das Boot in den Sand, sonst sitzen wir 
fest!« Die Stimmen waren so nahe, dass  Bensua ängstlich 
zusammenzuckte. Als ständen die Sklavenjäger direkt vor 
ihrem Versteck. 

»Geh nach hinten!«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Roll 

dich in die Decken! Wenn sie uns finden, lenke ich sie ab!« Ihr 
war klar, wie aussichtslos dieses Unterfangen war. Immerhin 
wussten die Verfolger, dass sie zu zweit waren, und auf Manu 
war bestimmt eine höhere Belohnung ausgesetzt. Aber sie 
wollte ihr einen kleinen Hoffnungsschimmer lassen. Sie würde 

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sich den Sklavenjägern nicht kampflos ergeben und lieber bei 
dem Versuch, ihnen zu entkommen, sterben. Das war sicher. 
Sie würde niemals nach »Magnolia Hall« zurückgehen! 
Vielleicht konnte Manu entkommen, wenn sie die Männer in 
einen Kampf verwickelte. »Lauf weg und verstecke dich, falls 
es zu einer Schießerei kommt! Achte nicht auf mich! Nimm ihr 
Boot und fliehe!« 

»Ich gehe nicht ohne dich, Bensua!«, widersprach Manu 

jammernd. »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun sollte! Ohne 
dich…« 

»Still! Kein Wort!«, flüsterte Bensua. 
Die Männer paddelten nicht mehr. Sie mussten aus dem Boot 

gestiegen und an Land gegangen sein. »Lass die Hunde los!«, 
hörte Bensua den Mann mit dem Schnurrbart sagen. »Mach 
schon! Die riechen einen Nigger im Umkreis von vielen 
Meilen!« 

Bensua stellte sich vor, wie der Mann mit den langen Haaren 

die Leinen löste und die Hunde in die Dunkelheit scheuchte. 
Wenige Sekunden später war lautes Gebell zu hören. Jetzt ist 
alles aus, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hörte, wie das 
Strauchwerk vor ihrem Versteck knackte. Ihre Muskeln 
spannten sich. Sie würde sich bis zum letzten Atemzug gegen 
die Bluthunde verteidigen. Mit erhobenen Fäusten wartete sie. 

Vor der Baumöffnung tauchten Schatten auf. Die Hunde 

hatten sie entdeckt! Sie bahnten sich einen Weg durch das 
Gestrüpp und Bensua glaubte bereits ihren Atem riechen zu 
können. Da fiel ihr eine Geschichte ein, die ein weißhaariger 
Sklave auf der Plantage erzählt hatte. An einem Samstagabend 
hatte er von einem jungen Schwarzen berichtet, der den 
gefürchteten Bluthunden entkommen war, indem er ihnen 
seine letzten Vorräte gegeben hatte. Seine Zuhörer hatten ihn 
ausgelacht. »Woher willst du das wissen, wenn er entkommen 

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ist?«, fragte ein Mann. Und eine Frau spottete: »Ich glaube, 
das hast du erfunden, alter Mann!« 

Bensua griff hastig nach dem Vorratsbeutel. Mit zitternden 

Fingern kramte sie das Brot und den Schinken heraus. »Kein 
Laut!«, zischte sie ihre Freundin so heftig an, dass diese 
zusammenzuckte und sich die Decke über den Kopf zog. 
Bensua wartete, bis die Hunde heran waren, und warf ihnen die 
Vorräte hin. Mit einem stummen Stoßgebet bat sie die Götter 
ihr zu helfen. Sie wagte kaum den Blick zu senken und die 
Hunde anzusehen. 

Erstaunt stellte sie fest, dass die Geschichte des alten Mannes 

wahr gewesen sein musste. Die Bestien senkten die Köpfe und 
verschlangen die unerwartete Mahlzeit. Es war zu dunkel, um 
ihre funkelnden Augen und ihre scharfen Zähne zu sehen, und 
sie war froh darüber. Es reichte schon, dass sie ihr Schmatzen 
hörte. Kaum hatten sie den letzte Bissen hintergeschluckt, 
suchten sie das Weite. »Wir haben Glück! Sie sind weg!«, 
teilte sie ihrer Freundin mit. 

Mit angehaltenem Atem wartete Bensua, bis die Hunde 

verschwunden waren, dann atmete sie leise auf. Sie sah kurz 
den flackernden Lichtschein einer Laterne und hörte Ballard 
rufen: »Die Hunde kommen zurück! Sieht ganz so aus, als 
wären die Mädchen nicht hier!« Scott erwiderte: »Vielleicht 
hat er sie früher abgesetzt, der Bastard! Am besten, wir kehren 
um und suchen morgen weiter! In dem verdammten Sumpf 
finden wir sie nicht! Aber sie laufen uns nicht davon! Wir 
fangen sie morgen!« 

Die Stimmen entfernten sich und das Platschen des Wassers 

drang leise durch die Nacht. Die Sklavenjäger zogen sich 
zurück. »Sie sind weg«, sagte Bensua erleichtert, als sie ganz 
sicher war. »Es ist vorbei! Wir sind in Sicherheit!« Sie beugte 
sich zur Freundin hinab und schloss sie fest in die Arme. »Hast 

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du gehört? Sie sind weggefahren! Du brauchst keine Angst 
mehr zu haben!« 

Manu schien ihr nicht zu glauben. Sie weinte leise und ihr 

ganzer Körper war verkrampft. »Aber… aber die… Hunde!«, 
stammelte sie in panischer Angst. »Ich habe… die Hunde… 
gesehen!« 

»Sie sind weg, Manu! Sie können dir nichts mehr tun! Du 

brauchst nicht zu weinen, Manu! Die Männer sind zurück 
gefahren! Wir sind in Sicherheit!« 

Nur ganz allmählich beruhigte sich Manu. Bensua gab ihr 

von dem frischen Wasser, das Hansen ihnen gelassen hatte, 
und nahm selbst einen Schluck. Seltsamerweise hatte sie kaum 
noch Angst. Der Sieg über die »Niggerhunde« hatte sie stark 
gemacht. Sie war eine Kriegerin. Sie war mutig genug, um es 
mit den weißen Sklavenjägern aufzunehmen, und würde alles 
daran setzen, Ottobah und das freie Land im Norden zu 
erreichen. Manu würde bei ihr bleiben. Aus der hochmütigen 
Haussklavin, die glaubte etwas Besseres zu sein, war längst 
wieder ein hilfloses Mädchen geworden. Manu war zu 
schwach, um sich in dieser feindlichen Welt zu behaupten. 

Bensua hängte sich die Flasche über die Schultern. »Wir 

müssen weiter!«, entschied sie. »Wenn die Sonne aufgeht, 
müssen wir aus dem Sumpf draußen sein! Untertags finden uns 
die weißen Männer! Noch mal kann ich die Hunde nicht 
aufhalten!« 

»Aber es ist dunkel«, gab Manu zu bedenken. Sie war 

aufgestanden und blickte in die Nacht hinaus. Es roch nach 
vermodertem Holz. »Da draußen gibt es wilde Tiere  und 
Schlangen!« 

»Die hat es in unserer Heimat auch gegeben«, erwiderte 

Bensua. »Du hast doch gehört, was Hansen gesagt hat. Bis 
zum Rand des Sumpfs ist es höchstens eine Meile! Das ist 
nicht weit! So weit sind wir schon als Kinder geschwommen!« 

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»Aber Hansen hat auch gesagt, dass wir drei Tage warten 

sollen«, zögerte Manu noch immer. »Warum willst du jetzt 
schon gehen? In dem Baum sind wir sicher. Hier finden sie uns 
nicht!« 

»Die Bluthunde haben uns schon gefunden«, widersprach 

Bensua ungeduldig. »Komm endlich! Wir dürfen nicht mehr 
warten!« 

Sie verließen das Versteck und bahnten sich einen Weg durch 

das dichte Gestrüpp. Ein Waschbär huschte dicht vor ihren 
Füßen vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Am Ufer 
zögerten sie beide. Schwarz und feindselig lag das Wasser vor 
ihnen, wie eine zähe Masse, die sie bei der ersten Berührung 
verschlingen würde. Zwischen den Bäumen floss das 
Mondlicht hindurch und schmolz wie auf einem Spiegel. Auch 
in ihrer Heimat hatte es solche Gewässer gegeben. »Da 
wohnen die bösen Geister!«, hatten die Erwachsenen gesagt. 
Doch Bensua hatte Krieger gesehen, die ins Wasser gestiegen 
und geschwommen waren. 

»Onyankopon Kwame,  beschütze uns!«, schickte Bensua ein 

leises Gebet zum Himmel. Sie badete ihr Gesicht im Glanz des 
halben Mondes und entdeckte den Nordstern, der wie ein 
Wegweiser am Himmel stand. Er leuchtete stärker als die 
anderen Himmelskörper und schien ihr zuzurufen: »Hab keine 
Angst, Bensua! Folge meinem Licht und du wirst die Freiheit 
erreichen!« 

Entschlossen stieg Bensua in das kühle Wasser. Nach einigen 

Schwimmstößen hatte sie sich an die niedrige Temperatur 
gewöhnt. Die Flüsse in ihrer Heimat waren wesentlich wärmer. 
»So kalt ist es nicht!«, rief sie der Freundin aufmunternd zu. 
Manu folgte ihr und klapperte mit den Zähnen, aber das lag 
wohl mehr an der Angst vor der ungewohnten Umgebung und 
den geheimnisvollen Tieren, die irgendwo in der Dunkelheit 
lauern mussten. 

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Sie folgten dem breiten Fluss nach Norden, zogen ihre Arme 

durch das schmutzige Wasser. Im schwachen Mondlicht sahen 
sie silberne Fische springen. Dicht vor Bensua wand sich eine 
Schlange durch das Wasser, machte aber keine Anstalten, sie 
anzugreifen. Vor der Uferböschung waren die dunklen 
Schatten einiger Alligatoren zu erkennen. Einige dösten mit 
offenen Augen, schienen die Mädchen mit ihren Blicken zu 
verfolgen. Aber sie bewegten sich nicht vom Fleck. Als hätten 
die Götter allen Wesen im Sumpf befohlen die Mädchen 
unbehelligt zu lassen. 

Die Angst folgte ihnen dennoch, besonders Manu, die alle 

paar Meter auf der Stelle schwamm und sich nervös nach den 
leuchtenden Augen umsah. Bensua versuchte nicht daran zu 
denken, dass die Bestien sie angreifen könnten. Sie erinnerte 
sich an die Europäer, die durch den heimatlichen Urwald 
gekommen waren und große Angst vor Löwen und Elefanten 
hatten. Sie war überzeugt davon, dass selbst wilde Tiere nur 
einen Menschen angriffen, wenn sie sich bedroht fühlten. »Wir 
haben keine Musketen dabei«, sagte sie zu den Alligatoren, 
»wir wollen euch nichts tun!« Die Alligatoren schienen sie zu 
verstehen und blieben ruhig. 

Der Weg war länger, als sie gedacht hatten. In dem zähen 

Wasser kamen sie nur langsam voran und mussten immer 
wieder treibenden Schlingpflanzen oder Ästen ausweichen. 
Vor ihnen spiegelte sich der Nordstern im Wasser, wies ihnen 
mit seinem Licht den Weg nach Norden. Sie waren ganz allein 
in dem Sumpf, umgeben von dunklen Bäumen und Büschen 
und den forschenden Blicken seiner unsichtbaren Bewohner. 
»Wann sind wir da?«, fragte Manu alle paar Meter. »Siehst du 
schon was?« 

Nach zwei Stunden erreichten sie den Rand des Sumpfes. Sie 

stiegen aus dem Wasser und fielen erschöpft ins Gras. Die 
nassen Kleider klebten an ihren Körpern. Der Wind war 

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unangenehm kühl, aber sie waren zu müde und mussten erst 
mal wieder zu Kräften kommen, bevor sie wieder klar denken 
konnten. Bensua nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, 
reichte sie an ihre Freundin weiter und blickte auf das Dorf, 
von dem Hansen erzählt hatte. Die ersten Häuser lagen keine 
halbe Meile vom Sumpf entfernt an einem schmalen Fluss. Im 
Mondlicht erkannten sie die Hauptstraße, die über eine Brücke 
ins Dorf führte. 

Die Kirche war eines der ersten Gebäude. Der schlanke 

Giebelturm überragte alle anderen Häuser. Daneben erhob sich 
das Haus, das Hansen erwähnt hatte. Auch im schwachen 
Schein des halben Mondes war der Ring aus weißen 
Backsteinen an einem der beiden Kamine zu erkennen. Eine 
Besonderheit, die viele Einwohner des Dorfes noch gar nicht 
beachtet hatten oder für eine eigenwillige Zierde hielten. Die 
Eingangstür war dunkelbraun, aber eine schmale Tür an der 
Stirnseite leuchtete weiß und zeigte den Mädchen, wo sie 
klopfen mussten. 

»Da ist das Haus!«, erklärte Bensua. Vor Aufregung spürte 

sie die Nässe und die Kälte kaum. Manu dagegen zitterte am 
ganzen Körper. »Alles ist genau so, wie Hansen es uns gesagt 
hat. Gleich darfst du dich an einem Ofen wärmen!« 

Manu war viel zu erschöpft und müde um sich darüber freuen 

zu können. Ohne die ältere Freundin wäre sie in  dem hohlen 
Baum geblieben oder ans Ufer geschwommen und auf dem 
weichen Moos eingeschlafen. »Mir ist so kalt!«, jammerte sie 
leise. 

Sie warteten, bis sie sicher waren, dass niemand mehr wach 

war und sie beobachten konnte, dann liefen sie in das Dorf 
hinab. Vor der weißen Tür des Hauses, das sich neben der 
Kirche erhob, blieben sie stehen. Bensua klopfte dreimal und 
nach einer kurzen Pause zweimal. Als sich nichts rührte, 
wiederholte sie das Klopfen, nur lauter. Bald darauf erklangen 

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Schritte und die Tür wurde geöffnet. Ein weißer Mann in 
einem karierten Nachthemd erschien. Er streckte beide Hände 
aus und zog die Mädchen rasch ins Haus. »Jetzt seid ihr unter 
Freunden!«, empfing er sie leise und drückte die Tür vorsichtig 
wieder zu. 

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26 

 
 
 

Reverend James Fairfield gehörte zu den wenigen Männern, 
die in einem Nachthemd nicht albern wirkten. Wer ihn ansah, 
dessen Blick blieb ohnehin an seinem kantigen Schädel und 
dem weißen Bart hängen, der einen Großteil seines Gesichtes 
verbarg. Über seinen Augen hingen buschige Brauen. Sein 
dichtes Haar war kaum zu bändigen und passte irgendwie zu 
seiner direkten und überschwänglichen Art. »Ihr habt sicher 
Hunger und Durst!«, sagte er zu den Mädchen und rief 
gedämpft: »Margaret! Wir haben Besuch! Gib unseren Gästen 
was von der guten Suppe und heißen Tee!« Er führte die 
Mädchen in die Küche, verschloss die Fensterläden und 
zündete eine Öllampe an. »Ich  muss vorsichtig sein«, erklärte 
er lächelnd, »nicht alle Dorfbewohner denken so wie ich!« 

Die Frau des Predigers war so dick wie Harrtet und hatte 

einen Morgenmantel über ihr Nachthemd gezogen. Ihre weißen 
Haare waren sorgfältig nach hinten gekämmt, als wäre sie noch 
gar nicht im Bett gewesen, und ihre grauen Augen leuchteten 
voller Mitgefühl. »Gelobt sei der Name des Herrn!«, begrüßte 
sie die Mädchen. »Hansen hat schon erzählt, dass ihr kommt.« 
Sie erschrak, als sie die schmutzigen Kleider sah. »Aber wie 
seht ihr denn aus? James! Hol zwei von den Kleidern, die ich 
in meinem Schrank hängen habe! Und bring einen Eimer mit 
Wasser! Die Mädchen brauchen eine gründliche Wäsche, 
bevor wir ihnen ihr Nachtlager zeigen! Und sei leise, wenn du 
zum Brunnen gehst!« 

Außer einem zaghaften »Danke!« brachte Bensua kein Wort 

hervor. Nicht einmal im Traum hatte sie gedacht, dass es 
solche Weißen gab,  freundliche und mitfühlende Menschen, 

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die nur das Wohl ihrer unbekannten Gäste im Kopf zu haben 
schienen. Erst als sie gebadet und die sauberen Kleider 
angezogen hatten, sagte sie: »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Mr 
und Mrs Fairfield!« Und als sie vor der dampfenden Suppe 
saßen: »So gutes Essen haben wir schon lange nicht mehr 
gehabt, Mrs Fairfield! Auf der Plantage gab es nur Hirsebrei 
und Reis und alle paar Wochen eine fette Fleischbrühe. Jetzt 
habe ich wieder Hoffnung, dass wir es schaffen werden!« 

Natürlich wollten die Fairfields wissen, wie die bisherige 

Flucht der Mädchen verlaufen war, und Bensua berichtete von 
der Nacht im Sumpf und der Begegnung mit den Hunden. Als 
sie erzählte, wie Hansen ums Leben gekommen war, schüttelte 
Mrs Fairfield traurig den Kopf. Sie nickte ihrem Mann zu, 
dann falteten beide die Hände und der Reverend betete: »Herr, 
wir bitten dich, nimm den armen Hansen in deine Obhut! Er 
war ein guter Mensch! Er hat sein Leben für diese beiden 
Gotteskinder geopfert und verdient es, das ewige Himmelreich 
zu erleben! Kümmere dich um ihn, Herr, und strafe die 
Abgesandten des Teufels, die ihn ermordet haben!« Er 
räusperte sich. »Und wo wir schon dabei sind, Herr! Bereite 
der Sklaverei endlich ein Ende! Schütte deinen Zorn über die 
Menschen aus, die hilflose Schwarze in Ketten legen und wie 
Ochsen vor ihren Karren  spannen!« Seine Augenbrauen 
sträubten sich und auf seiner Stirn erschienen rote Flecken. 
»Gehe mit feurigen Schwertern gegen diese Unholde vor und 
treibe sie von ihrem Land, wie dein Sohn es mit den Pharisäern 
im Tempel getan hat! Diese Schurken leben nur für den Profit, 
und wenn du keine Zeit hast, werde ich zum Schwert…« 

»James!«, ermahnte Margaret Fairfield ihren Mann. 
»Amen!«, sagte der Reverend widerwillig. 
Nachdem die Mädchen gegessen hatten, führte Mrs Fairfield 

sie in ein kleines Zimmer. Im Licht des Mondes, der durch das 
Fenster schien und einen hellen Streifen auf den Boden warf, 

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sahen sie einen Schrank, eine Kommode aus dunklem Holz 
und ein einfaches Bett. Es war frisch bezogen. Die weiße Frau 
wartete, bis die Mädchen unter der Decke lagen, dann schloss 
sie die Fensterläden und sagte: »Ihr werdet bis morgen Abend 
bei uns bleiben! Ihr braucht Ruhe und  müsst euch erholen! 
Wenn ihr vor den Sklavenjägern sicher sein wollt, dürft ihr nur 
nachts reisen! Morgen Abend holt euch ein guter Freund aus 
Virginia ab! Aber jetzt schlaft erst mal! Bei uns seid ihr sicher! 
Gute Nacht, ihr beiden!« 

»Gute Nacht«, wünschte Bensua müde. »Mrs Fairfield?« 
»Ja, mein Kind?« 
»Warum tun Sie das alles? Warum helfen Sie uns?« 
»Wir sind Kinder desselben Gottes«, antwortete sie leise, 

»auch wenn ihr einen anderen Namen für diesen Gott habt. Es 
gibt nur einen Herrn und vor seinem Angesicht sind wir alle 
gleich! Aber genug damit! Ihr seid müde und braucht dringend 
euren Schlaf!« 

Margaret Fairfield ging und sie blieben allein in dem dunklen 

Zimmer zurück. Manu war bereits eingeschlafen, als Bensua 
einen Arm um sie legte und ebenfalls die Augen schloss. Es 
war ein herrliches Gefühl, in einem weichen Bett zu liegen und 
keine Angst mehr haben zu müssen. Fast schien es, als hätten 
sich die Götter ihres Volkes mit dem Gott der Weißen 
verbündet um ihnen zu helfen. Oder hatten die Fairfields einen 
eigenen Gott? 

Früh am nächsten Morgen wurden Bensua und Manu durch 

lautes Hundegebell geweckt. »Nun gedulden Sie sich doch! Ich 
komme ja schon!«, hörten sie Mrs Fairfields Stimme. Im 
nächsten Augenblick ging die Tür ihres Zimmers auf und der 
Reverend erschien. »Ihr  müsst sofort weg!«, sagte er leise zu 
den Mädchen. »Draußen stehen die Sklavenjäger Scott und 
Ballard! Sie müssen uns auf die Spur gekommen sein! Schnell! 
Zieht euch an!« 

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Die Namen der gefürchteten Männer vertrieben die letzte 

Müdigkeit aus den Körpern der Mädchen. Sofort sprangen sie 
aus dem Bett. Der Reverend schloss die Augen, als sie hastig 
ihre Kleider überzogen. Dann reichte er Bensua einen Beutel. 
»Meine Frau hat euch einige Vorräte eingepackt! Und die 
Wasserflasche habe ich auch gefüllt!« 

»Wo bleiben Sie denn?«, rief Scott von draußen. »Wir haben 

eine gerichtliche Verfügung, Ihr Haus durchsuchen zu dürfen!« 
Das war natürlich gelogen, aber wer kümmerte sich später 
schon darum? »Machen Sie auf, Mrs Fairfield! Wir wissen, 
dass Sie zwei Sklavinnen verstecken! Machen Sie sofort die 
Tür auf oder wir schlagen die Fenster ein! Die Polizei ist auf 
unserer Seite!« 

Der Reverend strich das Bett glatt und schob die Mädchen in 

den Gang. »Beeilt euch!«, flüsterte er. »Hier rein!« Er öffnete 
die Tür zum Kartoffelkeller und führte  sie eine steile Treppe 
hinunter. Im Keller war es stockdunkel. Fairfield tastete sich 
zur Wand vor, rückte einen Schrank zur Seite und öffnete eine 
verborgene Tür. Aus dem dunklen Gang dahinter wehte ihnen 
kühle Luft entgegen. »Der Gang führt zur Kirche!«, erklärte er 
den verängstigten Mädchen. »Lauft nach Norden! Nach 
ungefähr drei Stunden erreicht ihr einen See! Aber seid 
vorsichtig und bleibt abseits der Straße, damit euch niemand 
sieht! Am Ufer des Sees gibt es eine Menge großer Felsen! 
Auf einem von ihnen wächst ein einzelner Baum. Versteckt 
euch in der Höhle, die nahe diesem Felsen liegt! Wartet dort, 
bis ein Weißer kommt und nach seinem Sohn Benjamin ruft! 
Wenn ihr diesen Namen hört, wisst ihr, dass Ripley in der 
Nähe ist! Ein kräftiger Mann, der immer einen Strohhut trägt. 
Er wird euch nach Virginia bringen! Aber es kann zwei oder 
drei Tage dauern, bis er kommt! Zuerst müssen wir jemanden 
schicken, der ihm Bescheid sagt! Habt ihr verstanden?« 
Fairfield schob die Mädchen in den Gang. »So, und jetzt lauft! 

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Viel Glück, ihr beiden!« Er schloss die Tür und schob den 
schweren Schrank davor. Eilig stieg er die Kellertreppe wieder 
hinauf. 

Oben angekommen klopfte er sich den Staub aus den 

Kleidern und gab seiner Frau ein Zeichen. Margaret Fairfield 
öffnete die Haustür und ließ die wütenden Sklavenjäger herein. 
Die Bluthunde stürmten bellend an ihr vorbei. »Was fällt Ihnen 
ein, meine Herren?«, rief sie entrüstet. »Es ist Sonntagmorgen! 
Wie kommen Sie dazu, uns um diese Zeit zu stören? Ich war 
noch im Morgenmantel und mein Mann saß in seinem 
Arbeitszimmer und bereitete sich auf den Gottesdienst vor!« 
Sie schnaubte vor Wut. »Und was sollen diese lächerlichen 
Anklagen!« 

Die beiden Männer kümmerten sich nicht um die Proteste der 

Frau und schoben sie wie ein lästiges Hindernis zur Seite. »Sie 
sind doch vollständig angekleidet, Mr Reverend!«, forderte 
Scott ihren Mann heraus. »Warum haben Sie nicht 
aufgemacht? Wollten wohl erst den verdammten 
Niggermädchen zur Flucht verhelfen, was?« Er wandte sich an 
Ballard. »Sieh dich draußen um! Vielleicht sind sie aus dem 
Fenster gesprungen! Knall sie ab, wenn es nicht anders geht! 
Es hat niemand gesagt, dass wir sie lebend bringen sollen! Ich 
durchsuche das Haus. Mach schon, Ballard!« 

Der Mann mit der Narbe verschwand und Scott marschierte 

wie ein Polizist, der sicher ist, das Versteck eines gesuchten 
Verbrechers zu kennen, in die Küche. Er öffnete den 
Geschirrschrank und sah unter dem Tisch nach. »Wir haben 
Sie schon seit ein paar Tagen in Verdacht«, meinte er. »Die 
Hunde werden immer ganz nervös, wenn wir an Ihrem Haus 
vorbeikommen!« 

»Und deshalb haben Sie eine richterliche Verfügung 

bekommen?«, fragte Fairfield spöttisch. »Den Richter möchte 
ich sehen! Ich glaube fast, Sie leiden unter Verfolgungswahn! 

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Was treibt Sie dazu, wie die Wahnsinnigen hinter ein paar 
Sklaven herzulaufen? Ist es das Geld? Haben Sie keinen 
Beruf? Warum hüten Sie kein Vieh? Warum bestellen Sie 
keine Felder, Mr Scott?« 

»Sie kennen meinen Namen?« Der Sklavenjäger blickte 

Fairfield herausfordernd an. »Sie haben Angst vor mir, nicht 
wahr?« 

Der Reverend blieb ruhig. »Ich habe keine Angst vor Ihnen, 

Mr Scott. Eher Mitleid! Jawohl, ich habe Mitleid mit Ihnen! 
Mitleid mit einer irregeführten Kreatur, die ihren ganzen 
Lebensinhalt darin sieht, unschuldige Menschen zu quälen und 
einer ungerechten Strafe zuzuführen! Gott wird Sie für diese 
Sünde bestrafen, Mr Scott!« 

»Sie geben also zu, dass Sie auf der Seite dieser elenden 

Nigger stehen? Wir handeln nach dem Gesetz, Mr Reverend! 
Und das Gesetz sagt, dass jeder Sklave, der sich unerlaubt vom 
Besitz seines Herrn entfernt, unverzüglich zurückzubringen ist 
und eine empfindliche Strafe zu erwarten hat! Sklaven sind 
eine wertvolle Handelsware, Mr Reverend! Unsere 
Auftraggeber haben teuer dafür bezahlt und denken gar nicht 
daran,  diese ungezogenen Nigger einfach laufen zu lassen! 
Jeder Weiße, der einen Sklaven besitzt, hat das verdammte 
Recht, ihn zurückzuholen!« 

»Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht in diesem Haus 

zu fluchen, Mr Scott!«, erwiderte Fairfield. »Tun Sie, was Sie 
nicht lassen können, und verschwinden Sie wieder! Und achten 
Sie darauf, dass die Hunde nichts schmutzig machen! 
Verstanden?« 

Scott verschob seinen Mund zu einem gefährlichen Lächeln. 

»Sie fühlen sich wohl mächtig stark, Mr Reverend? Wollen 
mal sehen, was Sie sagen, wenn wir die Niggermädchen bei 
Ihnen finden! Dann nützt Ihnen Ihr Gott auch nicht mehr viel! 
Sie bekommen eine empfindliche Strafe und man wird Sie aus 

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dieser Gegend vertreiben! Für Sklavenfreunde ist im Süden 
kein Platz!« 

Er drückte den Reverend zur Seite und ging in das kleine 

Zimmer, in dem Bensua und Manu geschlafen hatten. Die 
Hunde blieben bellend vor dem Bett stehen. Scott grinste 
siegessicher. »Und wer hat in diesem Bett geschlafen?« Er 
legte eine Hand auf das Laken und spürte die Wärme  der 
Mädchen. »Ein Gespenst?« 

»Das war ich«, sagte Margaret Fairfield schnell. »Mir war 

heute Morgen nicht gut, deshalb hab ich mich noch mal 
hingelegt. Unsere Betten hatte ich schon gemacht.« Sie strich 
das Laken glatt und schob die Decke über die Stelle, die Scott 
berührt hatte. »Aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht! 
Verlassen Sie unser Haus, Mr Scott! Sie haben kein Recht, hier 
herumzuschnüffeln!« 

Scott ließ sich nicht beeindrucken. Sein Grinsen blieb, und 

nachdem er einen misstrauischen Blick auf das verschlossene 
Fenster geworfen hatte, ging er in den Flur und blieb vor der 
Kellertür stehen. »Wohin führt diese Tür, Mr Reverend?«, 
fragte er. 

»In den Kartoffelkeller. Warum?« 
»Geben Sie mir eine Lampe, Mr Reverend!« Er wartete 

ungeduldig, bis Fairfield seiner Aufforderung nachkam, und 
stieg dann in den Keller hinab. Nachdem er einen flüchtigen 
Blick auf die Kartoffeln und die Regale mit den Vorräten und 
der eingemachten Marmelade geworfen hatte, ging er zu dem 
Schrank. Er riss die Tür mit einem Ruck auf und konnte seine 
Enttäuschung kaum verbergen. In den Fächern des Schrankes 
lagen Gesangbücher und Bibeln. 

»Also gut, Mr Reverend! Heute haben Sie noch mal Glück 

gehabt! Aber dieses Glück hält nicht ewig! Beim nächsten Mal 
erwischen wir Sie und dann hilft Ihnen auch Gott nicht mehr!« 

»Amen«, sagte der Reverend. 

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Die Mädchen hatten bereits das Ende des unterirdischen 

Ganges erreicht, als der Sklavenjäger die Schranktür wieder 
schloss und vor dem Reverend und seiner Frau nach oben 
stieg. Sie hörten nur das Bellen der Hunde, als er das Haus 
verließ und nach Ballard rief. »He, Ballard! Hier ist nichts! 
Schon was gefunden?« 

»Das verdammte Dorf ist wie ausgestorben«, kam die 

Antwort. 

»Vielleicht sind sie im Schulhaus!« 
»Ich komme, Scott!« 

 
 
Bensua öffnete die Holztür am Ende des Geheimgangs und 
fand sich in einem fensterlosen Abstellraum wieder. Sie 
bedeutete der Freundin, ihr zu folgen und verschloss die Tür. 
Beide Mädchen erschraken, als sie die Stimmen der 
Sklavenjäger hörten. Die eine war gefährlich nahe. »Wo sind 
wir?«, fragte Manu. 

»Im Haus des weißen Gottes«, antwortete Bensua. 
Sie öffneten die andere Tür und betraten den großen Raum, in 

dem die Weißen beteten. Am Kopfende stand ein gedeckter 
Tisch mit Blumen, an der Wand darüber hing ein Kreuz. Die 
Geschichte vom Sohn des weißen Gottes, der für alle Weißen 
am Kreuz gestorben war, hatten sie schon von den Missionaren 
in der Heimat gehört. Ob die Weißen deshalb so grausam 
waren? Weil sie wussten, dass der Sohn ihres Gottes für ihre 
Sünden gebüßt hatte? Angeblich war er nach seinem Tod 
wieder auferstanden. 

»Ein seltsamer Gott, der seinen eigenen Sohn an ein Kreuz 

nageln  lässt«, sagte Bensua leise. Und doch beschlich sie das 
eigenartige Gefühl, dass dieser Gott auch auf ihrer Seite war. 
Der Reverend und seine Frau  waren vom Geist ihres Gottes 
beseelt und hatten ihnen geholfen! Sie setzten ihr Leben ein 

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um ihnen zu helfen und lockten die Sklavenjäger auf eine 
falsche Spur. 

Es fiel den Mädchen schwer, den Blick von dem Kreuz zu 

nehmen. Wie ein mächtiges Zeichen hing es an der Wand. 
Mahnend und tröstend zugleich. Der weiße Gott verlangte 
keine Opfer, weder von Tieren noch von Menschen. Er schien 
nachsichtiger zu sein als ihre eigenen Götter. Und doch ließ er 
zu, dass seine Gläubigen über Menschen mit anderer Hautfarbe 
bestimmten. 

»Weiter!«, drängte Bensua. Sie lief zur Stirnseite des Raumes 

und öffnete die Hintertür. Mit einem raschen Blick erkannte 
sie, dass niemand in der Nähe war. »Hinter das Gebüsch!« Sie 
rannten einen Hügel hinauf und versteckten sich. Durch die 
Zweige beobachteten sie die Hauptstraße, die unterhalb des 
Hügels nach Norden führte. Die Sklavenjäger waren am 
anderen Ende des Dorfes und klopften an die Tür des 
Schulhauses. Die Bluthunde bellten nervös. »Schnell! Zum 
Fluss!«, sagte Bensua. 

Sie überquerten den Hügel und rannten zu dem schmalen 

Fluss hinab. »Diesmal  muss der Trick klappen«, hoffte 
Bensua. »Wir laufen durch den Fluss, bis zu der Biegung 
hinter den Bäumen! Dort wittern uns die Hunde nicht! Wir 
bleiben im Schatten!« 

Ohne zu zögern stiegen sie in das kühle Wasser. Gegen die 

Strömung und dicht am anderen Ufer entlang, wo die Strahlen 
der Morgensonne nicht hinkamen, wateten sie nach Westen. 
Das Dorf entschwand ihren Blicken. Es war gefährlich, am 
Tag durch den Fluss zu laufen, denn selbst an einem 
Sonntagmorgen konnten sich Weiße an das Ufer verirren. 
Ungezogene Jungen, die sich vor dem Kirchgang drückten, ein 
Farmer und seine Frau, die auf dem Weg ins Dorf waren und 
eine kurze Rast einlegten. Oder ein Kanu mit jungen Männern, 
die angeln wollten. 

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Die Mädchen hatten Glück. Sie erreichten die Biegung ohne 

einem Menschen zu begegnen und stiegen hastig die 
Uferböschung empor. Sie tauchten in einem nahen Wald unter 
und wandten sich nach Westen, um die Sklavenjäger in die Irre 
zu führen. Dort suchten sie bestimmt nicht nach ihnen. Sie 
liefen, bis ihnen der Atem ausging, und ruhten sich auf einem 
umgestürzten Baumstamm aus. Bensua trank aus der 
Wasserflasche und gab sie an die Freundin weiter. Ohne ein 
Wort zu wechseln rannten sie weiter. Die Angst, von den 
Sklavenjägern und ihren »Niggerhunden« eingeholt zu werden, 
trieb sie zu größter Eile an. 

Nach einer Stunde erreichten sie eine kleine Lichtung. Sie 

sanken erschöpft ins Gras und rangen nach Luft. »Essen 
können wir später«, sagte Bensua, als Manu nach dem 
Vorratsbeutel griff. Sie blickte zur Sonne empor und wandte 
sich nach Norden. »Weiter, Manu! Weiter! In der Höhle 
können wir uns ausruhen!« 

Aber die Höhle lag über zwei Stunden von der Lichtung 

entfernt und es wurde ein anstrengenden Marsch für sie. Durch 
den Wald kamen sie schnell vorwärts, hier brauchten sie auch 
keine Angst zu haben, auf eine Siedlung zu treffen oder von 
einem Weißen entdeckt zu werden. Doch als sie den Waldrand 
erreicht hatten und über freies Farmland fliehen mussten, 
wurde es schwieriger. Zwischen den Feldern bestand immer 
die Möglichkeit, einem Weißen in die Arme zu laufen und von 
ihm gefangen und ins nächste Dorf gebracht zu werden. Aber 
sie hielten sich von den Straßen fern, liefen quer über die 
Felder und nützten jede Deckung aus, die sich ihnen bot: 
Bäume, Büsche und Felsen. 

Sie richteten sich nach der Sonne, die viel zu schnell am 

Himmel emporstieg, und erreichten den See um die 
Mittagszeit. Vor ihnen türmten sich die Felsen, von denen der 
Reverend gesprochen hatte. Auf einem der Steine wuchs ein 

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einzelner Baum. Sie suchten das Gebiet rings um den Felsen 
ab und fanden eine versteckte Höhle, deren Eingang zwischen 
einigen Büschen lag. Ohne den Hinweis des Reverends hätten 
sie das Versteck niemals gefunden. »Endlich!«, rief Bensua 
erleichtert. Sie verwischten ihre Spuren und betraten die 
Höhle. »Hier findet uns sicher keiner!« 

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27 

 
 
 

Zwei Tage verbrachten Bensua und Manu in der Höhle. Sie 
waren allein mit dem Wind, der immer stärker durch die 
Felsen blies und sich in dem Gestrüpp vor  dem Eingang 
verfing. Die Wirklichkeit lag jenseits der Hügel. Sie hörten 
keinen menschlichen Laut, keine wütenden Stimmen, und das 
Gebell der Bluthunde erklang nur in ihren bösen Träumen. Die 
Höhle führte ungefähr zehn Schritte in die Felsen hinein. 
Durch eine versteckte Öffnung im hinteren Teil zog kalte Luft 
und ließ sie erzittern. Sie schliefen eng umschlungen und 
wärmten einander mit ihren Körpern, wagten auch tagsüber 
nicht, ein Feuer zu entzünden. In dem Vorratsbeutel, den der 
Reverend ihnen mitgegeben hatte, lag eine Schachtel mit 
Schwefelhölzern. Sie hatten Angst, dass der Rauch aus der 
Höhle zog und sie verriet. Scott und Ballard waren erfahrene 
Jäger, die seit vielen Jahren flüchtige Sklaven einfingen, und 
sie durften nicht das geringste Risiko eingehen. 

Am ersten Morgen trat Bensua zögernd aus der Höhle und 

ließ ihren Blick über die Felsen und den großen See schweifen. 
Am Himmel waren dunkle Regenwolken aufgezogen und 
spiegelten sich in dem unruhigen Wasser. Das Wetter wurde 
schlechter. Der Wind blies noch stärker, strich über das dunkle 
Gras und bog die wenigen Bäume am Ufer. Es begann zu 
regnen. Bensua kehrte in die Höhle zurück und setzte sich zu 
der Freundin, die in einer Vertiefung der Felswand kauerte und 
mit beiden Armen ihren Körper umschlang. »Mir ist so kalt«, 
klagte sie. 

Bensua kniete nieder und massierte die Oberarme ihrer 

Freundin. »Der Regen verwischt unsere Spuren«, sagte sie, 

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»jetzt können uns die Hunde nicht mehr wittern! Etwas 
Besseres konnte uns nicht passieren!« Sie nahm Manu in den 
Arm und streichelte sie. Manu zitterte. »Bewege dich!«, 
mahnte Bensua. »Hüpf auf der Stelle und lauf in der Höhle 
herum, das treibt die Kälte aus deinem Körper! Wenn du ruhig 
bleibst, wirst du krank! Wir dürfen nicht krank werden! Hörst 
du?« 

»Ich kann nicht«, erwiderte Manu erschöpft, »ich bin so 

müde!« 

»Du  musst aber«, widersprach Bensua. »Komm, wir laufen 

um die Wette! Bis zur Wand und zurück! Dann frierst du nicht 
mehr!« 

Sie bewegten sich den ganzen Tag, liefen in der Höhle auf 

und ab und erzählten einander die alten Geschichten, um von 
der Kälte abgelenkt zu werden. Wenn Manu aufgeben wollte 
und zu Boden sank, zog Bensua sie hoch und redete auf sie 
ein: »Der Mann, der sich Ripley nennt, wird bald hier sein! 
Zwei oder drei Tage, hat der Reverend gesagt! Jetzt kann es 
nicht mehr lange dauern!« 

Abends kauerten die Mädchen an einer windgeschützten 

Stelle und wärmten sich gegenseitig. Bensua war froh, dass 
Manu zu ihr zurückgefunden hatte und jetzt an ihrer Seite war. 
Sie hatte von Sklaven gehört, die allein nach Norden geflohen 
waren. Wie einsam mussten sie sich gefühlt haben! Ohne einen 
vertrauten Menschen in einem einsamen Versteck, von bösen 
Geistern in dunklen Träumen verfolgt, konnte man den 
Verstand verloren. Der weißhaarige Schwarze aus dem 
Nachbarhaus hatte von einem Sklaven erzählt, der sein 
Versteck verlassen und freiwillig auf die Plantage 
zurückgekommen war. Er hatte die Hoffnung auf baldige 
Freiheit gegen zwanzig Peitschenhiebe eingetauscht und war 
einen Monat später an Verzweiflung gestorben. 

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In der zweiten Nacht wurde Bensua durch ein leises Geräusch 

geweckt. Sie schreckte aus dem Schlaf, löste sich vorsichtig 
von ihrer schlummernden Freundin und ging zum 
Höhleneingang. Es regnete in Strömen. Schwere Tropfen 
prasselten auf das Gebüsch und den felsigen Boden vor der 
Höhle. Ein schwacher Blitz erhellte den Himmel und ließ das 
Strauchwerk in einem geheimnisvollen Licht erscheinen. In der 
Ferne grollte Donner. Das  musste das Geräusch gewesen sein, 
das sie geweckt hatte. Sie atmete erleichtert auf und wollte zu 
ihrem Nachtlager zurückgehen, als ein anderes Geräusch an ihr 
Ohr klang. Hundegebell! Zuerst glaubte Bensua sich getäuscht 
zu haben, aber dann war das Bellen wieder zu hören und sie 
fluchte leise. Die Sklavenjäger hatten nicht aufgegeben! Sie 
ließen sich nicht einmal durch den Regen abschrecken und 
lagerten wohl irgendwo in der Nähe. Sie nahm an, dass die 
Hunde sich vor dem Gewitter ängstigten und den hellen Blitz 
angebellt hatten. Die Entfernung war schwer zu schätzen, auch 
für eine Schwarze, die in der Wildnis aufgewachsen war. Eine 
Meile, vielleicht zwei. In dem Unwetter war nicht zu erkennen, 
aus welcher Richtung das Bellen kam. 

Am nächsten Morgen wusste Bensua nicht zu sagen, ob sie 

das Bellen wirklich gehört oder nur geträumt hatte. Der 
Freundin verriet sie nichts. Aber sie redete so wenig wie 
möglich und versuchte so lautlos wie möglich zu sein. Keine 
Wettläufe und keine Geschichten mehr. Sie blieb neben Manu 
in der Felsvertiefung sitzen, wärmte den zitternden Körper 
ihrer Freundin und meinte: »Wir dürfen kein Risiko eingehen! 
Es ist zu gefährlich!« 

Am späten Vormittag ließ der Regen nach und der Wind war 

nicht mehr so kalt wie während des Unwetters. Bensua trat 
langsam aus der Höhle und atmete die würzige Luft ein. Von 
dem einsamen Baum auf dem Felsen und dem Büschen tropfte 
Wasser. Die Felsen glänzten im blassen Licht. Über dem See 

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lag eine feine Nebelschicht. Bensua spähte aufmerksam in die 
Ferne, voller Angst, die Sklavenjäger mit ihren Hunden zu 
entdecken, und duckte sich rasch, als ein Pferdewagen über 
einen der Hügel kam. Sie ging in die Höhle zurück und legte 
einen Finger auf den Mund. »Da kommt jemand!«, sagte sie. 

Sie blieben stehen und hörten mit klopfendem Herzen, wie 

der Wagen zwischen die Felsen gerollt kam. Dann verstummte 
das Mahlen der Räder und eine männliche Stimme rief: 
»Benjamin! Wo bist du, mein Sohn? Ich bin leider spät dran. 
Zeige dich, Benjamin! Wir haben einen weiten Weg vor uns! 
Komm raus, Benji!« 

Das verabredete Zeichen! Die Mädchen entspannten sich und 

verließen die Höhle. Zögernd näherten sie sich dem weißen 
Mann, der auf dem Kutschbock eines mit schweren 
Werkzeugen beladenen Wagens saß. Er war dürr wie eine 
Bohnenstange, trug einen dunkelblauen Overall und den 
zerfransten Strohhut, den der Reverend erwähnt hatte. Das 
Gesicht mit den kleinen Äuglein war von Wind und Wetter 
zerfurcht. »Gott sei Dank!«, rief er, als er die schwarzen 
Mädchen erblickte. »Ich hab schon gedacht, ich bin zu spät 
dran! Mit diesem Scott ist nicht zu spaßen!« 

Die Mädchen begrüßten den weißen Mann und nannten ihre 

Namen. »Ich heiße Ripley«, antwortete er, »meinen Vornamen 
hab ich vergessen!« Er kicherte heiser und sprang vom 
Kutschbock. Mit einem geübten Handgriff zog er an einem 
versteckten Hebel unter dem Wagen. Auf der Ladefläche 
zwischen den Werkzeugen öffnete sich eine Klappe. »Das 
sicherste Versteck, das man sich vorstellen kann«, meinte er 
fröhlich. »Etwas unbequem, das geb ich gerne zu, aber besser, 
als von diesen Sklavenjägern erwischt zu werden! Ich hab euch 
Decken reingelegt.« 

Bensua half ihrer Freundin in das geheime Versteck und 

kletterte hinterher. Unter dem doppelten Boden hatten sie 

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kaum Platz. Sie mussten flach liegen, wenn sie nicht mit dem 
Kopf anstoßen wollten, und schafften es nur mit großer Mühe, 
sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Noch schlimmer 
war es, als Ripley die Klappe verschlossen hatte und sie über 
die holprige Straße fuhren. Der Wagen war kaum gefedert und 
sie spürten jede noch so kleine Erschütterung. Als sie am 
selben Abend aus dem Wagen kletterten um in der Scheune 
eines Farmers zu übernachten, spürten sie jeden Körperteil. Sie 
ließen sich ins Stroh fallen und bedankten sich schüchtern, als 
die Frau des Farmers ihnen Brot, Schinken und Käse brachte 
und für jede ein Glas warme Milch. »Sie sind sehr gütig«, 
sagte Bensua, »ich wusste nicht, dass es so viele gute Weiße 
gibt!« 

»Wir glauben nicht, dass unser Herrgott einen Unterschied 

zwischen weißen und schwarzen Menschen macht!«, 
antwortete die Frau lächelnd. »Wusstet ihr, dass ein schwarzer 
Mann an seiner Wiege war und ihm ein Geschenk zu seiner 
Geburt brachte? Ich möchte wissen, was die Sklavenhalter 
sagen würden, wenn Jesus als schwarzer Mann auf die Erde 
zurückkäme!« Der Gedanke schien sie zu belustigen. »Gott 
segne euch, meine Kinder! In der Scheune seid ihr vor den 
Sklavenjägern sicher! Wir haben schon vielen Flüchtlingen 
geholfen!« 

Im Stroh war es angenehm warm und die Mädchen schliefen 

bis in den Morgen hinein. Nicht einmal der Hahn konnte sie 
wecken. Sie erwachten erst, als die Farmersfrau in den Hof 
kam um die Schweine zu futtern, und spritzten sich frisches 
Wasser aus dem Ziehbrunnen ins Gesicht. Da weit und breit 
kein Sklavenjäger zu sehen war, konnten sie im Haus 
frühstücken. Es gab frisch gebackenes Brot mit Spiegeleiern 
und heiße Milch.  Ripley verschlang einen Teller mit 
Bratkartoffeln und Speck. Er hatte riesigen Appetit. Auch auf 
den anderen Farmen, die sie auf ihrem Weg nach Virginia 

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besuchten, schaufelte er mächtige Portionen in sich hinein. 
»Warum bist du so dünn, wenn du so viel isst?«, wollte Manu 
wissen. Und Ripley antwortete grinsend: »Weil ich den ganzen 
Tag auf dem Wagen durchgeschüttelt werde! Da kannst du 
nicht dick werden! Sollte meine Schwester auch mal 
versuchen!« 

»Du hast eine Schwester?«, fragte Manu. 
Ripley nickte. »Sie  wohnt in Kanada, schon seit ein paar 

Jahren. Früher lebte sie in Virginia. Die Leute haben sie 
weggejagt, weil sie einem Schwarzen helfen wollte, einem 
entflohenen Sklaven! Er hatte ein paar Äpfel gestohlen und 
sollte aufgehängt werden!« 

»Und?«, erkundigte sich Manu. 
»Sie knüpften ihn an der Eiche vor dem Schulhaus auf! Vor 

den Kindern! Meine Schwester schlug mit einem Knüppel auf 
die Männer ein, aber sie konnte das Verbrechen nicht 
verhindern.« 

»Und seitdem bist du Schaffner?« 
»Das war ich schon früher«, antwortete er. 
Die nächsten Tage verliefen ohne einen Zwischenfall. Sie 

fuhren über Nebenstraßen nach Norden, begegneten einigen 
Weißen, die aber keinen Verdacht schöpften. Der Wagen bot 
eine perfekte Tarnung. Ripley wurde für einen Farmer 
gehalten, der mit defekten Werkzeugen und Geräten in die 
Stadt unterwegs war um sie dort reparieren zu lassen. In 
seinem Overall und dem zerfransten Strohhut sah er wie die 
meisten Männer aus, an denen sie vorbeifuhren. Die Mädchen 
konnten durch den schmalen Spalt zwischen den 
Wagenbrettern nach draußen blicken. Sie sahen blühende 
Wiesen und glitzernde Seen und atmeten tief die frische Luft 
des Frühlings ein. Es wurde immer wärmer. Nach dem 
Unwetter in den Felsen regnete es kaum noch und die Sonne 
strahlte von einem tiefblauen Himmel. Jetzt fuhren sie 

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tagsüber, weil ein Weißer, der nachts einen Wagen lenkte, 
Verdacht erregt hätte. Die Nächte verbrachten sie auf den 
»Stationen« der Underground Railroad, abgelegenen Farmen, 
Kirchen und Stadthäusern. Wie ein unsichtbares Netz 
überzogen diese »Stationen« das Land. 

Ripley hatte versprochen sie bis nach Virginia zu bringen. 

Seit seine Schwester nach Kanada gezogen war, lebte er allein. 
»Ich hab genug Zeit«, erzählte er. »Das bisschen Geld, das ich 
zum Leben brauche, verdiene ich mir zwischen den Fahrten.« 
Er lenkte den Wagen im Zickzackkurs durch North Carolina, 
schien jeden Schlupfwinkel zu kennen und fand immer wieder 
einen freundlichen Farmer, der ihm etwas Fleisch, ein Huhn 
oder einige Kartoffeln schenkte. Die Underground Railroad 
hatte mehr Mitarbeiter, als die Mädchen vermuteten. Jeden 
Abend, bevor sie einschliefen, dankten sie ihren Göttern dafür, 
dass es Weiße gab, die ein Herz für die schwarzen Sklaven 
hatten. Auch einige Schwarze waren unter den Helfern. Freie 
Neger mit gültigen Papieren oder Flüchtlinge, die 
zurückgekommen waren und im Verborgenen arbeiteten. Es 
gab keine feste Organisation, einer half dem anderen und 
keiner machte ein Geschäft mit der Flucht. 

Die Mädchen gewöhnten sich an ihr unbequemes Versteck 

und waren sogar froh, unter dem doppelten Boden des Wagens 
liegen zu dürfen. Das hatten sie Hansen und dem Reverend zu 
verdanken, die sich beide darum bemüht hatten, dass Ripley 
sie nach Virginia brachten. Hansen hatte sofort gesehen, dass 
Manu viel zu schwach war, um auf einem anderen Weg in die 
Freiheit zu gelangen. Die Flucht durch den Sumpf war 
anstrengend genug gewesen. Männliche Sklaven und sogar 
einige Frauen und Kinder mussten zu Fuß nach Norden 
fliehen, liefen von einer »Station« zur nächsten und waren nur 
nachts unterwegs. Gegen diese Strapazen hatten es die 
Mädchen noch gut. Aus Dankbarkeit nannten sie auch die 

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Namen von Hansen und dem Reverend, wenn sie beteten. Und 
Bensua fügte ein schüchternes »Amen!« hinzu, damit auch der 
Gott der Weißen ihre Worte hörte. 

Jetzt tauchte auch Ottobah wieder in Bensuas Träumen auf. 

Die Sehnsucht nach dem geliebten Mann hatte niemals 
nachgelassen, auch wenn die Angst vor den Sklavenjägern und 
die Sorge um die schwache Freundin ihre Liebe in den 
Hintergrund gerückt hatten. Wenn sie in Gefahr waren, 
brauchten sie ihre ganze Energie, um den Verfolgern zu 
entkommen. Selbst mutige Krieger starben im Kampf, wenn 
sie an ihre Frauen und Kinder dachten. Jede Ablenkung 
brachte Gefahr, darüber hatten die Männer in der alten Heimat 
oft gesprochen. Doch unter dem doppelten Boden war sie 
sicher und ihre Gedanken wanderten immer öfter zu dem 
Krieger, der irgendwo in Virginia zu ihnen stoßen sollte. 
Ottobah würde sie finden, da war sie ganz sicher. Sie zitterte 
vor Vorfreude, wenn sie daran dachte, den Krieger zum ersten 
Mal nach langer Zeit zu umarmen, doch in ihre Vorfreude 
mischte sich die Sorge, es könnte etwas dazwischenkommen. 
Auch Ottobah  musste fliehen und schwebte in ständiger 
Gefahr, von Sklavenjägern aufgegriffen und bestraft zu 
werden. 

Auf einer einsamen Straße nördlich von Salem, am Ufer 

eines lang gestreckten Sees, verwandelte sich die Vorfreude 
der Mädchen in eisige Furcht. Wie aus dem Nichts tauchten 
drei Reiter auf, drei Weiße auf wendigen Pferden, die nervös 
wieherten, als die Männer sie zügelten. »Kein Wort!«, zischte 
Bensua. Die Reiter waren auf ihrer Seite und sie konnte sie 
deutlich sehen. Scott und Ballard waren nicht dabei. Die 
Männer sahen aus, als wären sie schon einige Zeit unterwegs. 
Sie trugen lange Regenmäntel, obwohl seit Tagen die Sonne 
schien. Ihre Gesichter waren hart und wurden von kalten 
Augen beherrscht. 

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»Wen haben wir denn da?«, fragte einer der Männer, 

anscheinend der Anführer. Er trug einen Kinnbart. »Was tut 
ein Farmer in dieser gottverlassenen Gegend? Wollten Sie zu 
Hostetter?« 

»Hostetter? Kenne ich nicht«, antwortete Ripley gelangweilt. 

»Ich will nach Salem, die verdammten Geräte reparieren 
lassen.« 

»Salem liegt da hinten«, sagte der Mann und deutete nach 

Süden. »Scheinen sich nicht besonders gut auszukeimen in 
dieser Gegend. Sind Sie sicher, dass Sie nicht zur Miller Farm 
wollten?« 

Ripley ließ sich nicht einschüchtern. »Ich fahr um den See 

rum und dann erst nach Süden. Da ist die Straße nicht so 
holprig und ich kann in der Taverne vom alten Bill Zachary 
übernachten. Der brennt den besten Whiskey östlich der 
Smoky Mountains…« 

»Das stimmt«, rief einer der anderen Männer. »Einen 

besseren Whiskey gibts nicht mal in Tennessee und da brennen 
sie einen verdammt guten Stoff! Da sollten wir auch 
vorbeireiten, Ed!« 

»Halt die Klappe!«, befahl der Anführer. Er lenkte sein Pferd 

um den Wagen und schob einige Geräte zur Seite. Den 
Mädchen trat der Angstschweiß auf die Stirn. Sie waren nur 
durch ein paar Latten von dem Sklavenjäger getrennt. Seine 
Hände waren wenige Zentimeter von ihnen entfernt. Aber er 
fand die Klappe nicht und ritt zum Kutschbock zurück. »Und 
ich dachte, Sie sind einer dieser elenden Niggerfreunde, die 
Sklaven nach Norden karren! Miller hatte eine  Station, haben 
Sie das gewusst?« 

»Eine Station?«, fragte Ripley. »Ein Bahnhof?« 
Der Anführer grinste wieder. »So was Ähnliches. 

Underground Railroad, schon mal gehört? Ein Netz von 
verdammten Niggerfreunden, die Sklaven von einem Versteck 

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zum anderen bringen. Miller gehörte zu ihnen! Wir haben ihn 
gestern zum Sheriff gebracht! Jenkins, der Dicke auf dem 
weißen Pferd, wollte ihn aufhängen, aber es gab eine hübsche 
Belohnung für Miller und die wollte ich mir nicht entgehen 
lassen!« Er blickte Ripley forschend an. »Und Sie sind ganz 
sicher, dass Sie Miller nicht kennen?« 

»Ich kenn keinen Miller und mit Niggern will ich nichts zu 

tun haben!«, erwiderte Ripley scheinbar entrüstet. »Ich will 
meinen Kram nach Salem bringen, weiter nichts! Darf ich 
weiterfahren?« 

»Natürlich«, antwortete der Anführer. Er machte den Weg 

frei und wandte sich an seine Männer. »Hier ist nichts zu 
holen, Leute! Kommt, wir reiten nach Norden! Vielleicht 
fangen wir die beiden Niggermädchen ab, nach denen Scott 
und Ballard suchen. Auf die ist eine hohe Belohnung 
ausgesetzt!« Sie ritten in einer dichten Staubwolke davon und 
verschwanden hinter den Hügeln. 

Ripley wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte 

sich zu den Mädchen, die wie versteinert in ihrem Versteck 
lagen. »Zu Miller können  wir nicht mehr«, seufzte er. »Ist 
wohl besser, wir fahren die Nacht durch! Ich kenne einen 
Schleichweg durch die Berge!« Er schnalzte mit der Zunge 
und fuhr weiter an dem See entlang. Jenseits der Hügel bog er 
in eine schmale Seitenstraße ab. »Morgen sind  wir in 
Virginia!«, versprach er den Mädchen. »Ich bringe euch zu 
einem Farmer, da könnt ihr euch ausruhen! Die letzten Meilen 
bis zur Küste werdet ihr dann zu Fuß zurücklegen! Der Farmer 
sagt euch alles, was ihr wissen  müsst.« Die Mädchen 
antworteten nicht. Der Schrecken saß ihnen immer noch in 
allen Gliedern. 

Erst als sie in den Bergen waren und es wagen konnten, kurz 

aus ihrem Versteck aufzutauchen, rief Bensua dankbar: »Du 

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hast uns das Leben gerettet, Ripley! Du bist ein wahrer 
Freund!« 

Ripley zwinkerte  den Mädchen zu und ließ die Zügel 

schnalzen. Noch lag ein weiter Weg vor ihnen. 

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28 

 
 
 

Die Farm der  Weinheimers lag an einem kleinen Fluss, 
ungefähr zwanzig Meilen von der Grenze zu Delaware 
entfernt. So hieß der winzige Staat, der zwischen Virginia und 
dem freien Pennsylvania lag. Hans und Luise  Weinheimer 
waren deutsche Einwanderer, die aus Ulm  nach Amerika 
gekommen waren und zur »Gesellschaft der Freunde« 
gehörten, einer religiösen Gemeinschaft, die für die Gleichheit 
der Menschen eintraten. Der überwiegende Teil der Quäker, 
wie sie auch genannt wurden, war gegen die Sklaverei und 
versuchte sogar vor Gericht gegen das Unrecht im Süden 
vorzugehen. Immerhin stand in der amerikanischen 
Verfassung, dass alle Menschen gleich waren. Ein Grundsatz, 
an den sich  kaum ein Bürger hielt. William Penn, einer der 
bekanntesten Quäker, hatte Philadelphia gegründet, die »Stadt 
der Bruderliebe«. Sie war das Ziel von Bensua und Manu. 

Sie warteten abseits der Straße, bis die Sonne unterging. Im 

Schutz der Dunkelheit lenkte Ripley den Wagen auf den 
schmalen Weg, der zum Farmhaus führte, und hielt in sicherer 
Entfernung an. Er ließ fünfmal die Peitsche knallen. Nach 
einer Weile ging im Haus ein Licht an, erlosch und ging 
wieder an. Das verabredete Zeichen dieser Station. Ripley 
schnaufte erleichtert und fuhr den Wagen hinter einen 
Schuppen. Dort konnte er vom Hof nicht gesehen werden. Er 
kletterte vom Kutschbock, holte die Mädchen aus dem 
Versteck und lief mit ihnen zum Haus. Hans Weinheimer stand 
in der Tür und ließ sie ein. Er legte den Riegel vor und führte 
die Besucher in die Küche. Seine Frau war bereits damit 
beschäftigt, kalten Braten auf den Tisch zu stellen und einige 

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Scheiben von einem riesigen Brotlaib abzuschneiden. Sie 
begrüßte die Neuankömmlinge herzlich und nahm eine Kanne 
vom warmen Herd. »Der Tee wird euch gut tun«, meinte sie. 

»Sie haben Miller geschnappt, unten in den Carolinas«, sagte 

Ripley nach dem ersten Schluck. »Wir sind einigen 
Sklavenjägern begegnet, die ihm eine Falle gestellt haben. 
Einer von ihnen hieß Ed.« 

Der Farmer nickte. »Edward Garnett. Von dem haben wir 

auch schon gehört. Ein geldgieriger Bursche, der seine Mutter 
verkaufen würde, wenn sie eine Schwarze wäre! Hier haben sie 
sich noch nicht blicken lassen. Wir sind sehr vorsichtig, 
Bruder.« 

»Ich weiß«, erwiderte Ripley. »Aber ich glaube, es wäre 

besser für die Mädchen, schon heute Nacht aufzubrechen. 
Natürlich nur wenn sie sich stark genug fühlen.« Er warf einen 
Blick auf Manu. »Ich weiß nicht, ob die Kerle meine 
Geschichte geglaubt haben.« 

»Wie seid ihr den Männern entkommen?«, fragte 

Weinheimer. 

»Sie haben uns laufen lassen. Ich hab den Umweg über die 

Berge genommen, da haben sie uns bestimmt nicht gesucht. 
Aber es sieht ganz so aus, als wären sie einigen 
Stationsmeistern auf die Schliche gekommen! Hinter den 
Mädchen sind sie auch her! Auf die beiden ist eine hohe 
Belohnung ausgesetzt!« 

Weinheimer wandte sich Bensua und Manu zu und lächelte 

verständnisvoll. Er war ein untersetzter Mann mit einer 
Halbglatze und einem breiten Gesicht. »Ihr habt  sicher eine 
Menge mitgemacht! Wir haben von den Qualen gehört, die 
unsere schwarzen Brüder und Schwestern auf den Plantagen 
erleiden müssen. Leider erkennen viele Amerikaner nicht, dass 
Gottes inneres Licht in jedem Menschen wohnt. Gott macht 
keinen Unterschied zwischen einem König und einem Bettler. 

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Er liebt alle Menschen, egal welche Hautfarbe sie haben. Auch 
die Indianer. Aber habt keine Angst, auf unserer Farm seid ihr 
in Sicherheit! Wenn ihr wollt, könnt ihr bis morgen Abend 
bleiben, dann seid ihr ausgeruhter. Ich kann euch leider nicht 
fahren. Mit dem Wagen muss ich die Hauptstraße nehmen, das 
ist zu gefährlich! Ich habe keinen doppelten Boden und euch 
unter eine Decke zu verbergen ist zu riskant. Da werdet ihr 
bestimmt entdeckt!« 

Ripley hatte sein Brot dick mit Butter bestrichen und biss 

hungrig hinein. Auch nach der Begegnung mit den 
Sklavenjägern hatte er seinen Appetit nicht verloren. »Ich hab 
den Mädchen schon gesagt, dass Sie den Rest des Weges 
laufen müssen.« Er hob die linke Hand. »Wenns nach mir 
ginge, würde ich euch bis zur Küste fahren, aber ich  muss 
zurück! Ich bin schon viel zu lange unterwegs! Es gibt noch 
andere Flüchtlinge!« 

»Du hast mehr für uns getan, als wir gehofft haben«, 

erwiderte Bensua dankbar. »Den Rest des Weges schaffen wir 
allein!« Sie schluckte den Bissen hinunter und trank von ihrem 
Tee. »Jetzt sind wir in Virginia, nicht wahr?«, fragte sie. 
»Meinst du, Ottobah findet uns? Er weiß doch gar nicht, 
welchen Weg wir nehmen. Sollen wir hier auf ihn warten?« 

Ripley schüttelte den Kopf. »Kümmere dich nicht um ihn, 

auch wenn es dir schwer fällt! Sonst bringst du dich und deine 
Freundin noch in Gefahr! Ottobah ist ein tapferer Mann. 
Entweder er findet euch oder du siehst ihn in Philadelphia. 
Dort treffen sich alle Sklaven.« 

»Ex-Sklaven«, verbesserte der Farmer. »Die Stadt der 

Bruderliebe ist ein Treffpunkt für alle Menschen, die in 
Frieden miteinander leben wollen! Sklaven sind dort keine 
Sklaven mehr!« Er legte Bensua eine Hand auf den Arm. »Ihr 
werdet den Mann, den ihr Ottobah nennt, in Philadelphia 
finden. Da bin ich ganz sicher!« 

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Nach dem Essen verabschiedete sich Ripley. Auch er musste 

vorsichtig sein und wollte auf keinen Fall mit den 
Weinheimers gesehen werden. Die Underground Railroad 
funktionierte nur, wenn alles im Geheimen ablief. Er umarmte 
die Mädchen und wünschte ihnen viel Glück. »Irgendwann 
werden alle Menschen zur Vernunft kommen«, meinte er 
wehmütig. »Aber ich befürchte, das wird noch eine ganze 
Weile dauern.« Er stieg auf den Kutschbock, winkte noch 
einmal und lenkte den Wagen vom Hof. 

Luise Weinheimer zeigte den Mädchen, wo sie schlafen 

würden. Sie hatten sich entschieden, bis Mitternacht zu ruhen 
und dann die Farm zu verlassen. Am nächsten Morgen würden 
sie sich im Wald verstecken. Die Farmersfrau hatte ihnen einen 
Beutel mit Vorräten gefüllt und stellte eine Kanne mit heißem 
Tee daneben. »Seid vorsichtig!«, bat sie. »Versprecht ihr mir 
das, ja?« 

Die Mädchen gaben ihr Wort und legten sich auf die 

Matratze, die in einer ehemaligen Vorratskammer neben der 
Küche auf dem Boden lag. Manu war bald eingeschlafen, doch 
Bensua dachte in der Dunkelheit an Ottobah. Sie sehnte sie 
sich danach, den Krieger endlich in die Arme zu schließen. 
Auch wenn sie lange Zeit nichts von ihm gehört hatte, wusste 
sie, dass seine Liebe unverändert war. Die Götter hatten ein 
Feuer entzündet und ihre Seelen verschmolzen und nicht 
einmal die weißen Männer konnten sie auseinander bringen. 
Sie waren füreinander bestimmt und würden eine gemeinsame 
Zukunft erleben. Und Manu sollte in ihrer Nähe bleiben. 
Bensua würde alles daran setzen, um den Sklavenjägern auf 
den letzten Meilen nicht in die Hände zu fallen. 

Doch die Götter hielten eine schwere Prüfung für sie bereit. 

Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht krachte ein Schuss und 
riss die Mädchen unsanft aus dem Schlaf. Glas splitterte. Sie 
sprangen von der Matratze und öffneten vorsichtig die Tür. 

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Hans Weinheimer und seine Frau kamen in Nachthemden aus 
dem ersten Stock herunter. Luise Weinheimer stieß einen 
verzweifelten Schrei aus, als ein zweiter Schuss krachte, die 
Kugel das Küchenfenster durchschlug und sie in die Schulter 
traf. »Luise!«, stieß ihr Mann in panischer Angst hervor. Er 
sank neben ihr auf die Knie. »Mein Gott! Luise! Was ist 
passiert? Bist du getroffen?« 

»Nichts Ernstes! Nur ein Kratzer!«, antwortete sie keuchend. 

»Kümmere dich nicht um mich, Hans! Sag ihnen, sie sollen 
aufhören! Dieses Haus steht unter dem Schutz des Herrn! Wir 
tun… wir tun nichts… Unrechtes! Du… du  musst… sie 
aufhalten, Hans!« 

Der Farmer erhob sich und rannte in die Küche. »Was wollt 

ihr?«, rief er durch das zersplitterte Fenster. »Warum schießt 
ihr auf uns? Wir haben niemandem etwas getan!« 

»Hörst du das?«, erklang eine Stimme, die Bensua bekannt 

vorkam. »Der Niggerfreund sagt, dass sie nichts getan haben!« 
Er lachte höhnisch. »Ihr habt verdammten Niggern zur Flucht 
verholfen! Würde mich nicht wundern, wenn ihr auch jetzt 
wieder einen von diesem Pack unter eurem Dach habt! Na, was 
ist, Weinheimer?« 

»Scott! Das ist Scott!«, flüsterte Bensua. 
Manu starrte sie fassungslos an. 
»Wir haben nichts Unrechtes getan!«, rief der Farmer 

verzweifelt. »Was fällt euch ein, auf uns zu schießen? Meine 
Frau ist verletzt! Wo ist der Sheriff? Warum holt ihr nicht den 
Sheriff, wenn ihr uns was vorzuwerfen habt? Ihr seid 
Sklavenjäger, nicht wahr?« 

Scott lachte wieder. »Wir sind Männer, die auf der Seite des 

Rechts stehen, Weinheimer! Und wir dulden nicht, dass 
ausländische Niggerfreunde wie du mit einer Geldstrafe 
davonkommen! Komm raus, Weinheimer, damit wir dein Haus 

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anzünden können! Du sollst sehen, wie deine Niggerbleibe 
niederbrennt!« 

»Das dürft Ihr nicht!«, unternahm der Farmer den 

vergeblichen Versuch, die Männer von ihrem Vorhaben 
abzubringen. »Denkt an meine Frau! Sie ist verletzt! Sie kann 
nicht rauskommen!« 

»Dann müssen wir sie holen, Weinheimer!« 
»Nein! Nein! Wir… Wir kommen schon!« Der Farmer 

hastete zu seiner Frau zurück und beugte sich über sie. »Luise! 
Was ist mit dir? Sag doch was, Luise! Du… bist… doch 
nicht…« 

»Nur ein Streifschuss!«, beruhigte Bensua den Mann leise. 

Sie hatte die Frau hastig untersucht. »Aber sie ist bewusstlos.« 

Weinheimer zwang sich zur Ruhe. Er schob beide Arme 

unter den leblosen Körper seiner Frau und blickte Bensua mit 
Tränen in den Augen an. »Ihr  müsst hier weg!«, flüsterte er 
heiser. »Durch die Hintertür! Versteckt euch im Wald! Ihr 
dürft den Sklavenjägern nicht in die Hände fallen! Das sind 
Scott und Ballard, die fackeln nicht lange! Die bringen euch 
nach Süden zurück!« 

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Bensua ängstlich. 
»Macht euch um uns keine Sorgen!«, antwortete der Farmer 

leise. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Alten Leuten wie uns 
tun sie nichts! Wenn sie unser Haus niederbrennen, bauen wir 
ein neues! In Europa haben sie unser Haus auch 
niedergebrannt!« 

»Sie kommen ins Gefängnis!« 
»Wir bekommen eine Geldstrafe«, versicherte der Farmer. 

»Wir haben genug Geld! Ich hab es an einer geheimen Stelle 
vergraben! Das Haus ist wertlos! Sollen sie es doch 
niederbrennen!« 

»Was ist?«, erklang die ungeduldige Stimme des 

Sklavenjägers. »Kommt endlich raus oder wir zünden euch das 

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Dach über dem Kopf an! Ich hab keine Lust, ewig zu warten! 
Wo seid ihr?« 

»Wir kommen!«, rief der Farmer rasch. 
Bensua hängte sich den Vorratsbeutel um die Schultern und 

griff nach der Hand ihrer Freundin. So leise wie möglich liefen 
sie zur Hintertür. Als sie sich noch einmal umdrehten, sahen 
sie, wie eine Fackel durch das zersplitterte Küchenfenster fiel 
und die Vorhänge in Brand steckte. Im Schein der 
aufflackernden Flammen stolperte Weinheimer mit seiner Frau 
nach draußen. 

»Wurde auch Zeit!«, ließ sich Scott vernehmen, »sonst wärs 

verdammt heiß geworden!« Er wandte sich an Ballard und die 
anderen Männer, die mit ihm gekommen waren. »Fesselt die 
Niggerfreunde und werft sie auf den Wagen! Der Sheriff wird 
Augen machen, wenn wir ihm die verdammten Ausländer 
bringen!« 

Die Mädchen schlichen aus dem Haus und hetzten im Schutz 

der Hauswand und des aufsteigenden Rauches vom Hof und 
über die nächsten Hügel. Der Hund der Weinheimers, ein 
zottiger Jagdhund, bellte das Feuer an und verriet sie nicht. Sie 
rannten, bis sie keine Luft mehr bekamen, blieben erschöpft 
stehen und versuchten sich im schwachen Mondlicht 
zurechtzufinden. Der Himmel war bewölkt und die Sterne 
waren kaum zu sehen. 

»Hier entlang!«, rief eine Stimme  gedämpft. »Ich habe ein 

Pferd! Und ich kenne den Weg durch den Wald! Da findet uns 
niemand!« 

Bensua blieb erschrocken stehen und nahm  Manu in den 

Arm. Keine zehn Schritte vor ihr stand ein junger Schwarzer. 
Anscheinend hatte er beobachtet, wie sie geflohen waren. Ein 
»Schaffner« der Underground Railroad? Ein freier Neger? Ein 
Freund der Weinheimers, der im richtigen Augenblick 
gekommen war? 

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Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen. »Ich bin ein Freund! Ich 

habe gesehen, wie ihr geflohen seid! Schnell! Zu meinem 
Pferd!« 

Sie folgten dem Schwarzen zum Waldrand, wo er ihnen auf 

den Rücken eines dunklen Ackergauls half. »Ottobah!«, rief 
Bensua überrascht, als sie das Gesicht des Schwarzen so nahe 
vor sich sah. »Ottobah! Du bist gekommen!« Sie umarmte den 
geliebten Mann, berührte seine Wangen und blickte ihm in die 
Augen und lachte und weinte vor Glück. »Ottobah! Ich bin so 
froh, dass ich endlich wieder bei dir bin!« 

Der Krieger legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Bensua!«, 

flüsterte er und erwiderte ihre Umarmung. »Ich wusste, dass 
ich dich finden würde!« Er blickte Manu an und legte einen 
Arm um sie. »Bensua! Manu! Wir haben es fast geschafft! Ich 
weiß, wie wir nach Philadelphia kommen! Aber wir müssen 
sehr aufpassen! Die Sklavenjäger sind überall! Beinahe hätten 
sie mich erwischt!« 

Sie setzten sich zu dritt auf den Ackergaul und Ottobah 

lenkte ihn in den dunklen Wald hinein. Der Krieger war aus 
dieser Richtung gekommen und kannte einen Weg, der quer 
durch den Wald und nach Nordosten führte. Bensua saß vor 
Ottobah und genoss seine Nähe und die Wärme, die von 
seinem Körper ausging. Jetzt würden sie es schaffen! Sie 
würden die letzten Hindernisse überwinden und die »Stadt der 
Bruderliebe« erreichen. 

Obwohl sie in dieser Nacht nicht schliefen, spürten sie keine 

Müdigkeit. Die Rettung war nahe und sie kamen schnell voran. 
Unterwegs verriet Ottobah ihnen, dass sie auf ein Schiff gehen 
und über den Delaware River nach Philadelphia fahren 
würden, die sicherste Art, die Grenze nach Pennsylvania zu 
überschreiten. Ein »Schaffner« der Underground Railroad 
würde bei dem Schiff sein, ein vornehm gekleideter Mann, der 
sie als seine Diener ausgeben wollte. Sie würden ihn an seinem 

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Spazierstock mit dem silbernen Knauf erkennen. »Auf dem 
Stock sitzt ein silberner Adler«, sagte Ottobah.  »Dieser Mann 
wird uns nach Philadelphia bringen!« 

Sie erreichten New Castle in Delaware am frühen Morgen. 

Nachdem sie das Pferd unter einigen Bäumen zurückgelassen 
hatten, liefen sie am Flussufer entlang. Dort fielen sie am 
wenigsten auf. Zahlreiche Schwarze waren damit beschäftigt, 
ein Segelboot zu beladen, und auch auf dem Gelände einer 
nahen Werft arbeiteten vor allem Schwarze. Wie sie später 
erfuhren, meist »freie Neger«, die sich auf diese Weise ihren 
Lebensunterhalt verdienten. Sie mischten sich unter die 
Arbeiter und suchten nach dem Schiff, das sie in die »Stadt der 
Bruderliebe« bringen würde. Ottobah hatte Schreiben und 
Lesen gelernt und konnte den Schriftzug auf dem Bug eines 
stattlichen Schoners entziffern. »Freedom«, las er. »Das heißt 
»Freiheit«, habt ihr das gewusst?« 

Auf einer Tafel stand, dass das Schiff um neun Uhr ablegen 

würde. »Jetzt ist es sechs Uhr«, sagte Ottobah. Er deutete auf 
die große Uhr, die über dem Eingang eines Ladens hing. Zu 
früh, um tatenlos im Hafen herumzustehen. Wenn ein  weißer 
Mann auf sie aufmerksam wurde, liefen sie Gefahr, kurz vor 
dem Ziel entdeckt zu werden. Sie fanden einen Schuppen, in 
dem ein verwittertes Ruderboot lag, und versteckten sich darin. 
Ottobah umarmte Bensua und blickte ihr in die Augen. »Ich 
bin froh, dass ich dich habe«, meinte er. »Ohne den Glauben, 
dich wieder zu sehen, hätte ich es nicht geschafft!« Sie 
berührte seine Wange. »Ich auch nicht, Ottobah! Manu und ich 
haben jede Nacht gebetet, dass uns die Götter schützen und uns 
wieder zusammenführen!« 

»Manu«, sagte Ottobah und umarmte das Mädchen, um ihm 

zu zeigen, dass es zu ihnen gehörte. 

Als er die Tür des Schuppens einen Spalt öffnete um auf die 

Uhr zu sehen, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. »Die 

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Sklavenjäger!«, flüsterte er. »Das sind die Männer, die bei dem 
Farmer waren!« Bensua drängte sich neben ihn und spürte, wie 
ihre Beine schwach wurden. »Scott und Ballard! Sie verfolgen 
uns, seitdem wir weggelaufen sind! Sie sind sehr gefährlich! 
Sie wollen sich das Lösegeld verdienen, das der Pflanzer auf 
uns ausgesetzt hat!« 

Die Männer waren zu Fuß unterwegs, schlenderten scheinbar 

gelangweilt durch den Hafen und blieben bei einem Weißen 
stehen, der einige Schwarze anschrie, weil sie zu langsam 
arbeiteten. Die weißen Männer sprachen miteinander und 
lachten. 

»Sie suchen uns!«, flüsterte Bensua nervös. 
»Halb neun«, sagte Ottobah. 
Er ließ die Tür einen Spalt geöffnet und behielt die 

Sklavenjäger im Auge, bis sie in eine Seitenstraße einbogen. 
Die weißen Männer sprachen laut miteinander und waren wohl 
auch nach New Castle gekommen, um sich zu amüsieren. In 
der schmalen Gasse, in der sie verschwunden waren, gab es 
zahlreiche Kneipen und Spelunken. Ottobah blickte zum Schiff 
und sah, dass der Mann mit dem Spazierstock gekommen war. 

»Da ist der Mann, der uns helfen wird!«, raunte er den 

Mädchen zu. »Kommt, wir gehen! Lasst euch nichts 
anmerken!« Er öffnete die Tür und forderte sie mit einem 
Kopfnicken auf, ihm zu folgen. 

Mit klopfendem Herzen gingen sie über das 

Kopfsteinpflaster. Sie mussten sich zwingen nicht zu rennen. 
Als sie den Mann erreichten, sagte Ottobah: »Ich sehe den 
Adler! Wir sind Ihre Diener!« Die vereinbarte Losung. 
Flüsternd fügte er hinzu: »Bringen Sie uns auf das Schiff! Wir 
haben zwei Sklavenjäger gesehen!« 

Der Mann mit dem Spazierstock, ein älterer Herr mit grauen 

Schläfen, arbeitete seit vielen Jahren für die Underground 
Railroad. Er besaß vorgefertigte Papiere für »freie Neger« und 

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ein Dokument, das eine unbestimmte Zahl von Schwarzen als 
seine Diener auswies. Unbehelligt brachte er die drei 
Schwarzen an Bord. Ottobah, Bensua und Manu blieben in 
seiner Nähe, benahmen sich wie unterwürfige Sklaven, die 
ihrem weißen Master zu Diensten waren. Auch die anderen 
Passagiere kamen an Bord. Die Matrosen kletterten in die 
Wanten und setzten die Segel. 

Es schien unendlich lange zu dauern, bis die »Freedom« 

ablegte. Ottobah, Bensua und Manu standen an der Reling und 
hielten den Atem an, während die letzten Leinen von den 
Männern auf dem Kai an Bord geworfen wurden und das 
Segelschiff aus dem Hafen fuhr. Die Sklavenjäger waren nicht 
zu sehen. Noch konnten sie nicht glauben, dass sie wirklich in 
Sicherheit waren. 

Als der Hafen hinter ihnen immer kleiner wurde, griff Bensua 

nach der Hand ihrer Freundin und lächelte ihren Krieger an. 
»Endlich frei!«, sagte sie leise. 

Und Ottobah legte seine Arme um die beiden Mädchen und 

wiederholte: »Endlich frei.« 

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Nachwort 

 
 
 

Der vorliegende Roman hat einen historischen Hintergrund. 
Bensua erlebt ihre Abenteuer in einer Welt, die es tatsächlich 
gegeben hat. Die Asante in Afrika haben so gelebt, wie ich es 
geschildert habe. Die Sklavenkarawanen zur Küste und die 
berüchtigten Fahrten über die »Middle Passage« sind eine 
historische Tatsache. Die Bedingungen in der Gefangenschaft 
und auf dem Sklavenschiff habe ich nicht übertrieben. Dafür 
gibt es historische Belege und zahlreiche Aufzeichnungen. 
Bensua und Manu und die meisten anderen Personen in 
meinem Roman sind fiktiv, aber es hat Menschen wie sie 
gegeben. Es gab eine Plantage wie »Magnolia Hall«, und 
einige Häuser der »Underground Railroad« kann man heute 
noch besichtigen. Die historischen Herrenhäuser am Ashley 
River in South Carolina und die Ruinen der »Stationen« kann 
man noch heute besichtigen. In zahlreichen Museen, z. B. in 
Macon, Georgia, bleibt die Underground Railroad lebendig. 
Mehr über die Geschichte der Sklaverei in den nachfolgenden 
»Fakten«. 

Auch für diesen Roman habe ich wieder gründlich 

recherchiert. Ich war in Afrika und habe das neue 
Selbstbewusstsein der Afrikaner kennen gelernt und bin 
monatelang durch die amerikanischen Südstaaten gereist. Ich 
habe die Plantagen am Ashley River besucht, war auf dem 
ehemaligen Sklavenmarkt in Charleston und bin den Spuren 
der Underground Railroad nach Norden gefolgt. Ich 
recherchiere immer vor Ort, will den Schauplatz eines Romans 
mit allen Sinnen erfassen. Ich habe in historischen Archiven 
gestöbert, alte Tagebücher und Zeitungsberichte studiert und 

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zahlreiche Fachbücher gelesen, u. a. folgende Werke: »Bound 
for the North Star« von Dennis Brindell Fradin, »Get on Board 
– The Story of the Underground Railroad« von Jim Haskens, 
»Sklavenschiffe« von Eigel Wiese, »Geschichte der Sklaverei« 
von Susanne Everett, »Underground Railroad«, ein Handbuch 
des National Park Service, »The Underground Railroad« von 
Raymond Bial, »Vom Sklavenhandel zur Kolonialisierung« 
von Basil Davidson, »The Fall of the Asante Empire« von 
Robert B. Edgerton, »Asante« von Faustine Ama Boateng, 
»The Asante Kingdom« von Carol Thompson, »If You 
Travelled on the Underground Railroad« von Larry Johnson, 
»Life and Times of Frederick Douglass« von Frederick 
Douglass, »The Underground Railroad« von William Still, 
»Harriet Tubman, The Moses of Her People« von Sarah 
Bradford, »Family Life Among the Ashanti of West Africa« 
von Peter Herndon und »Ashanti« von R. S. Rattray. 
 
 
Wer mehr über meine Person und meine Arbeit wissen möchte, 
schreibt an: 
 
Thomas Jeier 
c/o Verlag Ueberreuter 
Alser Straße 24 
A 1091 Wien, Österreich 
 
oder schlägt meine Website im Internet auf: www.jeier.de 
 
Ich bitte um Verständnis, wenn meine Antwort etwas auf sich 
warten  lässt. Ich bin oft unterwegs um für neue Bücher zu 
recherchieren. 
 
Thomas Jeier 

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Fakten 

 
 
 
Die Geschichte der Sklaverei beginnt im Altertum. Bereits 
Aristoteles, einer der bekanntesten Philosophen im antiken 
Griechenland, schrieb: »Zur Stunde ihrer Geburt sind die einen 
zu Untertanen bestimmt, die anderen zu Herrschern.« 
Das Christentum des Mittelalters duldete die Sklaverei, berief 
sich auf ein Bibelzitat des Apostels Paulus, setzte sich 
allerdings für eine bessere Behandlung der Sklaven ein. Im 15. 
Jahrhundert begann der Handel mit afrikanischen Sklaven. Die 
Portugiesen handelten mit arabischen Sklavenhändlern, die 
schwarze Afrikaner aus dem Inneren des Kontinents entführten 
und durch die Sahara nach Norden brachten. Eine Gesellschaft, 
die den »Handel mit Negern« betrieb, verkaufte Sklaven auf 
dem Markt in Lissabon. 

In Afrika war die Sklaverei nicht unbekannt. In Algier, im 

Sudan und bei Volksgruppen wie den Asante und Fante 
wurden Angehörige verfeindeter Stämme versklavt, auf 
grausame Weise gefoltert und während religiöser Zeremonien 
den Göttern geopfert. Und doch kann man die Sklaverei, wie 
sie von den Afrikanern praktiziert wurde, nicht mit  dem 
grausamen Menschenhandel der Weißen vergleichen. Die 
afrikanischen Könige, die ihre Sklaven oder sogar Angehörige 
ihres eigenes Volkes an die Europäer verkauften, um an 
begehrte Handelsgüter und Alkohol zu kommen, waren eher 
die Ausnahme. Afrikanische Sklaven gerieten meist nach einer 
verlorenen Schlacht in die Gewalt des Feindes, waren 
Kriegsgefangene und wurden nach den Gesetzen des 
jeweiligen Volkes abgeurteilt. Einige wurden sogar in den 
Clan aufgenommen und zu vollwertigen Mitgliedern des 

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Stammes.  Anders als bei den Amerikanern war es 
Sklavenhaltern verboten, sexuell mit ihren weiblichen Sklaven 
zu verkehren. 

Die (Wieder-)Entdeckung Amerikas (1492) stand am Anfang 

einer neuen Epoche. Europäische Seemächte wie England, 
Spanien, Portugal, Frankreich und Holland dehnten ihre 
Besitztümer nach Afrika aus und gründeten die ersten 
Kolonien auf dem schwarzen Kontinent. Schwarze Sklaven 
wurden zu einem begehrten Handelsgut. Zwischen Europa, 
Afrika und Amerika entstand ein berüchtigter Dreieckshandel, 
der den  europäischen Herrschern einen unvorstellbaren 
Reichtum einbrachte. Die portugiesischen Sklavenhändler 
mussten sich verpflichten, den fünften Teil ihres Erlöses an die 
Krone abzuführen! Die Sklavenschiffe brachten Feuerwaffen, 
Alkohol und andere »Segnungen« der Zivilisation nach Afrika, 
tauschten die »Reichtümer« gegen Gold und Sklaven ein, 
brachten die Schwarzen über das mittlere Teilstück, deshalb 
auch »Middle Passage« genannt, auf die Westindischen Inseln 
(Karibik) und nach Amerika, und erhielten dort Baumwolle, 
Kaffee, Tabak und Zucker. Vor Beginn des industriellen 
Zeitalters war z. B. die europäische Textilindustrie nicht 
überlebensfähig, ein Grund dafür, dass auch die Regierungen 
den Sklavenhandel unterstützten und sogar finanzierten. 

Für Afrika bedeutete dieser frevelhafte Handel den Ruin. 

Über 50 Millionen Menschen wurden zwischen dem 15. und 
19. Jahrhundert über den Atlantik verschifft oder während der 
Todesmärsche zur Küste und auf den Schiffen auf grausame 
Weise getötet. Von diesem Verlust hat sich  der Kontinent bis 
heute nicht erholt. Die Europäer hatten schnell erkannt, dass 
sich die Indianer nur bedingt für die harte Arbeit in den 
Goldminen und auf den Plantagen eigneten. Der 
Sklavenhandel wurde zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit. 
Denn nur mit einem gewaltigen Heer an widerstandsfähigen 

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Arbeitskräften waren die Anforderungen in den europäischen 
Kolonien zu bewältigen. Auch zahlreiche Gesetze zur 
Abschaffung des Sklavenhandels, die von den europäischen 
Großmächten im 19. Jahrhundert erlassen wurden, konnten den 
Handel nicht aufhalten. Humanisten wie der englische 
Abgeordnete William Wilberforce und der deutsche Gelehrte 
Samuel Freiherr von Pufendorf, der die Sklaverei »als Übel, 
dem der Tod vorzuziehen sei« bezeichnete, waren einsame 
Mahner, die sich erst durchsetzen konnten, als die zunehmende 
Industrialisierung den Einsatz von Sklaven überflüssig machte. 

Die afrikanischen Männer, Frauen und Kinder, die nach 

Amerika und auf die Westindischen Inseln gebracht werden 
sollten, wurden in Ketten zur Küste getrieben und dort in 
umzäunte Gehege gesperrt, so genannte  Baracoons.  Bereits 
während des langen und beschwerlichen Marschs kamen 
zahlreiche Gefangene ums Leben. An der Küste wurden die 
Sklaven vom Schiffsarzt untersucht und mit glühenden Eisen 
gebrandet. Weil zahlreiche Schwarze befürchteten, dass sie als 
»Nahrung« mitgenommen würden, oder ihre Heimat und ihre 
Verwandten nicht verlassen wollten, begingen sie Selbstmord. 
Es wird von Müttern mit kleinen Kindern berichtet, die aus den 
Ruderbooten ins Meer sprangen und so lange unter Wasser 
blieben, bis sie ertrunken waren! »Ich hatte das Gefühl, in eine 
Welt der bösen Geister geraten zu sein«, schrieb der ehemalige 
Sklave Olauda Equiano später, »und ich hatte Angst, dass sie 
uns alle umbringen würden! Ihr Aussehen, das sich so sehr von 
unserem unterschied, die langen Haare und ihre Sprache 
bestärkten mich in dieser Ansicht.« 

Die »Middle Passage« zwischen der afrikanischen Küste und 

dem amerikanischen Kontinent wurde zum traumatischen 
Erlebnis für die bedauernswerten Sklaven. Zwischen drei 
Wochen und drei Monaten dauerte die Überfahrt. Die 
Gefangenen lagen auf den Zwischendecks, 

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zusammengepfercht wie Schlachtvieh und kaum fähig, 
aufrecht zu sitzen oder sich umzudrehen. Die hygienischen 
Verhältnisse waren katastrophal. Ein Chronist schrieb: »Die 
Decks waren mit dem Blut und dem Schleim der Menschen 
bedeckt und ähnelten einem Schlachthaus.« Die Männer waren 
zu zweit gefesselt und von den Frauen und Wänden durch 
stabile Holzwände getrennt, siechten in der fast vollkommenen 
Dunkelheit dahin und wurden von den Matrosen mit 
Peitschenhieben diszipliniert. Auf den meisten Schiffen 
durften die Gefangenen tagsüber an Deck, wurden gezwungen, 
zu tanzen und zu singen, »damit die Moral der Sklaven nicht 
nachließe«, und bekamen Nahrung und frisches Wasser. Der 
Kapitän musste interessiert daran sein, eine möglichst gesunde 
»Ware« abzuliefern. Dennoch war die Willkür groß: Die 
Matrosen gingen mit äußerster Härte gegen die Sklaven vor, 
peitschten sie aus und streuten Salz und Pfeffer in die offenen 
Wunden. Wer zu schwach für die Überfahrt war, wurde über 
Bord zu den Haien geworfen. 

Auf manchen Schiffen wehrten sich die Sklaven gegen diese 

unmenschliche Behandlung. Über 200 Meutereien sind in den 
Geschichtsbüchern dokumentiert. Am bekanntesten wurde die 
Meuterei auf dem spanischen Sklavenschiff »Amistad« (1839), 
die Steven Spielberg in seinem gleichnamigen Film 
dokumentierte. Das Schiff befand sich vor der Küste von 
Kuba, als 53 Afrikaner freikamen und blutige Rache an der 
Besatzung nahmen. Die Überlebenden sollten das Schiff 
zurück nach Afrika segeln. Stattdessen fuhren sie zur 
amerikanischen Küste. Die Schwarzen wurden in Connecticut 
vor Gericht gestellt und bekamen das Recht zugesprochen, in 
ihre afrikanische Heimat zurückzukehren  – ein einmaliger 
Vorgang in der amerikanischen Geschichte. 

In Amerika wurden die Schwarzen wie Vieh auf einem Markt 

versteigert. Olauda Equiano berichtete: »Nach einem Signal 

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rennen die Käufer in den Hof, auf dem die Sklaven eingesperrt 
sind, und suchen die aus, die ihnen am besten gefallen. Der 
Lärm, der dies begleitet, und der sichtbare Eifer im Angesicht 
der Käufer tragen dazu bei, die Schwarzen zu verängstigen.« 
Die Käufer tasteten die Muskeln der angepriesenen »Neger« 
ab, untersuchten ihre Zähne und ließen sich vom Auktionator 
die Vorzüge der »Ware« erläutern. Auf familiäre Bande nahm 
man kaum Rücksicht. Männer wurden von ihren Frauen und 
Mütter von ihren Kindern getrennt. Oft kam es zu 
herzergreifenden Abschiedsszenen. 

Die Pflanzer des amerikanischen Südens waren auf die 

Arbeitskräfte aus Afrika angewiesen. Zwischen 1815 und 1861 
stieg die Ausfuhr von Baumwolle von 160 auf über 2.300 
Millionen Pfund, und die Arbeit wäre ohne die Sklaven gar 
nicht zu bewältigen gewesen. Um 1850 gab es 3,2 Millionen 
Sklaven im amerikanischen Süden. »Cotton was king«, war 
»weißes Gold«. Den Tabakpflanzern und Reisfarmern ging es 
ähnlich. Nur mit den billigen Arbeitskräften aus Afrika war der 
gigantische Profit »zum Wohle des amerikanischen Südens« 
zu erwirtschaften. Die  Plantagenbesitzer betrachteten die 
Sklaverei als notwendiges Übel und wandten sich gegen 
»Yankees« wie Harriet Beecher Stowe, die in ihrem Bestseller 
»Uncle Tom’s Cabin« (Onkel Toms Hütte) die Sklaverei 
verurteilt hatte. Mary Chestnut, die Schwiegertochter eines 
reichen Pflanzers, schrieb: »Mrs Stowe und ihresgleichen 
leben in netten Anwesen in New England. Doch wir sind im 
Süden dazu verdammt, in Negerdörfern zu leben, deren 
Einwohner von Natur aus schlampig, schmutzig, faul und 
stinkend sind. Wir müssen wie die Missionare in Afrika 
inmitten von Schwarzen leben, dabei hassen wir die Sklaverei 
nicht weniger als Mrs Stowe.« Sie vergaß zu erwähnen, dass 
sie kaum mit den Schwarzen in Berührung kam, wie Scarlett 
O’Hara (»Vom Winde verweht«) in der künstlichen Welt ihres 

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Herrenhauses lebte, aufwändige Partys feierte und es den 
Aufsehern überließ, sich mit den Schwarzen abzugeben. Wie 
viele andere Südstaatler versteckte sie sich hinter der Fassade 
eines gesellschaftlichen Lebens, das christlichen Glauben, 
Ritterlichkeit und Gastfreundschaft als höchste Güter 
anerkannte, aber nur die herrschende Klasse der Weißen als 
wirkliche Menschen ansah. 

Das Leben der Sklaven war hart. Sie lebten in hölzernen 

Baracken und arbeiteten jeden Tag von Sonnenaufgang bis 
Sonnenuntergang auf den Feldern. Wenn sie nicht genug 
Baumwolle pflückten oder unerlaubt eine Pause einlegten, 
wurden sie von den Aufsehern gnadenlos ausgepeitscht. Selbst 
sechsjährige Kinder blieben nicht von der Feldarbeit verschont. 
Besser hatten es die »Haussklaven«, die als Kindermädchen 
oder Köchinnen im Haus arbeiten durften. Sklaven waren der 
Willkür ihres Masters und ihrer Mistress hilflos ausgesetzt, 
waren »materieller Besitz«, mit dem man anstellen durfte, was 
man wollte. Nicht einmal für Mord oder die Vergewaltigung 
einer Schwarzen musste sich ein Weißer verantworten. 
Schlimmstenfalls kam er mit einer geringen Geldstrafe davon. 
Sonntags bekamen die Sklaven von einem Prediger zu hören, 
dass sie in der Hölle schmoren würden, wenn sie ihrem Master 
davonliefen, und die Tanzfeste vor den Sklavenhütten wurden 
nur gestattet, weil man sich danach eine bessere Arbeitsmoral 
von den Schwarzen erhoffte. 

Die Underground Railroad wurde 1787 von  Isaac T. Hopper 

gegründet, einem liberalen Quäker, der flüchtenden Sklaven 
half und ein System erdachte, das es möglich machte, die 
Schwarzen sicher in die freien Staaten oder nach Kanada zu 
geleiten. Überzeugte Gegner der Sklaverei, so genannte 
Abolitionisten, liberale Bürger, freie Schwarze und Quäker 
stellten ihre Häuser als Verstecke zur Verfügung und 
versorgten die Flüchtlinge mit Proviant und Geld. Die Quäker, 

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auch »Gesellschaft der Freunde« genannt, sind eine religiöse 
Vereinigung, die keine Unterschiede zwischen Königen und 
Bettlern macht und alle Menschen gleich behandelt. Das 
Routennetz der Underground Railroad, wie sie in den 
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts genannt wurde, obwohl 
es gar keine Untergrundbahn gab, erstreckte sich über vierzehn 
Bundesstaaten der USA und Kanada. Auch die anderen 
Bezeichnungen waren der Eisenbahnersprache entlehnt: Die 
Häuser wurden als »Stationen«, ihre Besitzer als 
»Stationsmeister«, die Begleiter der Sklaven als »Schaffner« 
und die Flüchtlinge als »Fracht« bezeichnet. Geheime Signale 
halfen den Flüchtlingen eine »Station« zu erkennen. Die 
bekannteste Schaffnerin war Harriet Tubman, eine Schwarze, 
die neunzehn Reisen in den Süden unternahm und mindestens 
300 Menschen zur Freiheit verhalf. Auch das »Fugitive Slave 
Law« (1793), ein Gesetz, das eingefangene Sklaven als 
materiellen »Besitz« einstufte, konnte die Arbeit der 
Underground Railroad nicht verhindern. 

In den Geschichtsbüchern wird die Underground Railroad nur 

am Rande erwähnt. Erst im November 1990 ordnete das 
amerikanische Innenministerium eine ausführliche Studie über 
die tapferen Männer und Frauen an, die für die Underground 
Railroad gearbeitet hatten, und erst seit wenigen Jahren stehen 
historische »Stationen« wie der »Milton House Inn« in Milton, 
Wisconsin, unter Denkmalschutz. Denn auch Abraham 
Lincoln, der während des amerikanischen Bürgerkriegs (1861-
1865) die Freiheit der Sklaven als militärisches Ziel 
proklamierte, konnte die Diskriminierung der Schwarzen nicht 
beenden. »Ich habe einen Traum!«, rief Martin Luther King, 
der legendäre Anführer der Bürgerrechtsbewegung, noch in 
den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Und selbst 
heute noch werden Schwarze in den amerikanischen 
Südstaaten benachteiligt. Es bleibt die Hoffnung auf Freiheit 

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für alle Menschen und die Erinnerung an den Satz, den Harriet 
Tubman gesagt haben soll, nachdem sie ihrem Master 
entkommen war: »Ich betrachtete meine Hände, um zu sehen, 
ob ich als freier Mensch noch dieselbe Person war. Ich fühlte 
eine solche Freude… als wäre ich im Himmel!« 

 


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