Jeier, Thomas Hinter den Sternen wartet die Freiheit

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Thomas Jeier


Hinter den Sternen

wartet die Freiheit








UEBERREUTER

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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme

Jeier, Thomas:

Hinter den Sternen wartet die Freiheit / Thomas Jeier.

Wien: Ueberreuter, 2002

ISBN 3-8000-2966-9



Für Ingeborg Castell – die immer an mich geglaubt hat

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der

Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in
jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen

Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen

Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken,

ausdrücklich vorbehalten.

Umschlaggestaltung von Zembsch’ Werkstatt, München,

unter Verwendung einer Illustration von Marek Zawadzki

Karte Vor- und Nachsatz: Gestaltung und Reinzeichnung von

AG Media GmbH, www.agmedia.at

Copyright © 2002 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien

Druck: Ueberreuter Print

Ueberreuter im Internet: www.ueberreuter.at

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Afrika, 1829: Skrupellose Sklavenjäger bringen die
junge Bensua und den Krieger Ottobah nach
Amerika. Dort angekommen müssen sie auf
Baumwollplantagen arbeiten, den Grausamkeiten
der Aufseher ausgeliefert. Da hört Bensua von
Menschen, die Sklaven zur Flucht verhelfen.
Bensua fasst neuen Mut und folgt den Sternen in
eine ungewisse Zukunft.
Durch ihr ungebrochenes Vertrauen in die Zukunft
meistert die junge Frau in den düsteren Zeiten des
Sklavenhandels ihr Schicksal. Ein dramatischer
Roman und zugleich ein Aufruf gegen jede Art von
Unterdrückung.

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Es ist besser, tot zu sein,

als zu leben und nicht respektiert zu werden.

Sprichwort der Asante





Wir halten diese Wahrheiten für grundlegend,

dass alle Menschen gleich geboren sind…

Aus der amerikanischen Verfassung

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AFRIKA


O meine Mutter!

Meine Mutter, meine Schwestern, meine Brüder!

Werde ich euch niemals wieder sehen?

Mary Prince, ehemalige Sklavin

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1



Am siebten Tag des September erlosch die Sonne. Sie wurde
von den dunklen Wolken verdrängt, die den Beginn der
Regenzeit ankündigten, und ertrank in einem goldenen Meer
hinter dem Urwald. Der Himmel verfinsterte sich und
faustgroße Hagelkörner fielen aus dem grauen Dunst herab.
Sie trommelten auf die Palmdächer der Lehmhütten und gegen
die massiven Wände des Königspalastes, der sich wie eine
mächtige Festung im Zentrum von Kumase erhob. Die hundert
Meter breite Hauptstraße verwandelte sich in einen morastigen
Sumpf. Die Menschen verkrochen sich in ihren Hütten und
beteten zu den Göttern, und Osei Yaw, der greise König der
Asante, ließ die Türen seines Palastes verriegeln und rief nach
seinen beiden Lieblingsfrauen. Das Gebrüll eines einsamen
Leoparden, der sich in die Nähe der Hauptstadt verirrt hatte,
wurde vom dunklen Prasseln der Hagelkörner verschluckt.

Es war wie jedes Jahr im September und doch empfand

Bensua große Furcht. Sie war die jüngste Tochter eines
erfolgreichen Jägers, der im Sommer einen gefürchteten
Löwen getötet hatte und dafür vom König mit einer goldenen
Kette ausgezeichnet worden war. Eine Schönheit, von
schlankem Wuchs, die selbst die bewundernden Blicke
erwachsener Krieger auf sich zog. Ihre Stirn war hoch, der
Mund schmal, beides Schönheitsideale bei den Asante, und
ihre Haut leuchtete in einem tiefen Schwarz, wie man es auch
bei ihrem Volk nur selten sah. Ihre braunen Augen waren groß
und ausdrucksvoll und ein Spiegel ihrer Seele, die von einer
geheimnisvollen Kraft gespeist wurde.

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Im Schein der Kerzen, die auf dem Tisch im Wohnraum

brannten, wirkte Bensua noch stattlicher und schöner. Ihre
Gestalt war von einer Anmut, wie sie nur den beiden
Lieblingsfrauen des Königs nachgesagt wurde, und selbst ohne
goldene Halsketten und Armreifen erweckte sie den Eindruck
einer edlen Prinzessin, auch wenn sie nicht aus einer
vornehmen Familie stammte und bei ihren Eltern in einem
einfachen Lehmhaus wohnte. Der Kerzenschein zauberte
flackernde Schatten auf ihre weiche Haut.

Weder ihre Großmutter, die am Tisch saß und an einem

neuen Baumwollkleid nähte, noch ihre Brüder und Schwestern
spürten, wie angespannt sie war. Nur ihre Mutter bemerkte,
wie sich ihre Schultern verkrampften und ein leichtes Beben
durch ihren Körper lief. Sie brauchte nicht zu fragen um zu
wissen, was ihre Tochter bewegte. Sie fühlte die Unruhe selbst,
die leise Warnung, die im Prasseln des Regens zu hören war,
und den Hilferuf, der mit dem Wind aus der Hitze des Urwalds
zu kommen schien. Die feuchte Luft zog wie eine Drohung
zum Fenster herein und schien Bensua ersticken zu wollen.
Selbst als die Hagelkörner ausblieben und nur noch heftiger
Regen auf das Land prasselte, blieb dieses erdrückende Gefühl.
Sie schob es auf die Angst um ihren Vater und ihren Onkel, die
mit den anderen Kriegern in den Kampf gezogen waren, und
ahnte doch, dass die bösen Geister nach ihrer Seele griffen.
»Ich sehe nach den Ziegen«, sagte sie zu ihrer Mutter und
verließ das schützende Lehmhaus.

Sie blieb unter dem hervorstehenden Palmdach stehen und

atmete die schwüle Luft, die aus dem Urwald herüberwehte.
Während der zweimonatigen Regenzeit litten selbst die Asante
unter der Hitze, die in den endlosen Regenwäldern der
Goldküste das Land peinigte. Die Menschen hatten sich mit
der mächtigen Natur arrangiert, zogen sich ähnlich wie die
Tiere in ihre Behausungen zurück und lauschten den

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Geschichten, die Männer wie ihr Großvater erzählten. Sie
berichteten vom mächtigen Volk der Asante, das in den
Wäldern des westlichen Afrika lebte und seinen
Herrschaftsbereich bis zur Küste ausgedehnt hatte.

Osei Yaw war vom Schöpfer selbst zum ersten Asantehene

erklärt worden. So nannten die Asante ihren König. Er hatte
die mächtigen Denkyira besiegt und die ersten Pfade zur Küste
geschlagen. Dort gingen die Engländer, Schweden, Dänen und
Holländer mit ihren Segelschiffen vor Anker und brachten
wertvolle Handelswaren aus dem fernen Europa: Musketen,
Werkzeuge, Kleidung und Haushaltswaren, aber auch Kupfer
und Messing und Salz, das bei den afrikanischen Völkern
besonders begehrt war. Die Asante bezahlten mit Gold,
schöpften aus den unermesslichen Vorräten, die in ihren Minen
verborgen lagen und von Sklaven gefördert wurden. Die
weißen Männer hatten vergeblich versucht ins Landesinnere
vorzudringen, waren an der übermächtigen Natur und der
riesigen Streitmacht der Asante gescheitert und hatten sich
darauf beschränkt, steinerne Forts an der Küste zu errichten.
Sie waren auf das Gold der Asante aus, kauften und stahlen
aber auch Sklaven, obwohl die Engländer und Dänen den
Sklavenhandel zu Beginn des 19. Jahrhunderts als
»unmenschlich« verurteilt und verboten hatten.

Bensua hatte die weißen Männer nie gemocht. Sie ekelte sich

vor ihrer blassen Hautfarbe und verurteilte das arrogante
Gehabe ihrer Anführer. Sie hielten sich für etwas Besseres. Die
englischen Offiziere, die vor einigen Wochen in Kumase
gewesen waren, hatten Geschenke gebracht und den König mit
schönen Worten umworben, aber in ihren Augen hatte blanke
Gier gestanden. Sie dürsteten danach, die Asante zu töten und
in den prächtigen Palast zu ziehen, der sich innerhalb der
Hauptstadt erhob.

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Vor einigen Jahr hatten die Baumeister den letzten Stein

gelegt. Wie das größte Fort der weißen Männer überragte er
alle anderen Häuser, ein traumhaftes Schloss aus fest gefügten
Felsbrocken, das von den besten Kriegern und einer eigenen
Polizeitruppe bewacht wurde. Die Fenster und Türen waren
mit goldenen Beschlägen verziert und blitzten in der Sonne.
Hinter seinen Mauern lagen weitläufige Gemächer, die sich
mit den üppig ausgestatteten Räumen europäischer und
arabischer Herrscher messen konnten. Es gab eine Bibliothek,
die von einem arabischen Gelehrten betreut wurde, einen
Ballsaal, der für das königliche Orchester reserviert war, und
einen Weinkeller mit erlesenen Weinen und edlem
Champagner, auf den selbst der französische König neidisch
gewesen wäre, wenn er ihn jemals zu Gesicht bekommen hätte.
In den mehrfach gesicherten Kellergewölben lagerten die
unermesslichen Goldvorräte der Asante. Es gab so viel Gold,
dass der König seinen Körper zu offiziellen Anlässen mit
feinem Goldstaub puderte. Ein Zeichen seines Reichtums, der
auch die englischen Offiziere beeindruckt hatte.

Bensua ahnte, dass die Überlegenheit der Asante nicht ewig

dauern werde. Bisher genügte es den weißen Männern, ihre
Handelswaren gegen Goldbarren und schwarze Sklaven zu
tauschen, und solange es genug Gold gab und die Asante die
Gefangenen unterjochter Stämme verkaufen konnten, waren
beide Seiten zufrieden. Doch was geschieht, wenn das Gold
knapp wird? Wenn es keine Gefangenen mehr gibt?
Verbünden sich die Engländer dann mit den anderen
Europäern? Rücken sie mit ihren mächtigen Kanonen in den
Urwald vor? Rauben und versklaven sie dann die Männer,
Frauen und Kinder der Asante?

Die junge Frau spürte, dass ihre Bedrücktheit etwas mit

diesen Gedanken zu tun hatte, und trat in den Regen hinaus.
Vielleicht wusch das Wasser, das aus dem Himmel kam, ihre

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Sorgen hinweg. Sie grübelte länger als ihre Brüder und
Schwestern, das hatte ihr Onkel schon erkannt, als sie noch ein
Kind gewesen war. Sie dachte länger über Probleme nach als
andere Kinder, hielt sich von lauten Spielen fern und mochte
am liebsten, wenn ihr Onkel die Geschichten ihres Volkes
erzählte. Als Bruder ihrer Mutter war er mit für die Erziehung
verantwortlich. Die Familie der Asante orientiert sich nach der
Mutter, der leibliche Vater hat weniger zu sagen als alle
männlichen Verwandten der Mutter.

Bensua trug keine Kopfbedeckung. Der Regen prasselte auf

ihre kurzen Haare, durchdrang ihr dünnes Baumwollkleid und
hinterließ helle Striemen auf ihrer Haut. Sie war allein. Nicht
einmal die Ziegen und Hühner waren draußen. Die breite
Straße schien durch eine verlassene Stadt zu fuhren und in dem
milchigen Dunst zu enden, den der Regen über die Häuser
legte. Sie genoss den Regen, obwohl er schmerzte, rieb mit
beiden Händen über ihr Gesicht und blickte Hilfe suchend in
den verhangenen Himmel. Wo waren die Antworten auf die
vielen Fragen, die sie bedrückten?

Ohne es zu wollen verließ Bensua das Stadtviertel, in dem

ihre Angehörigen wohnten. Ziellos irrte sie durch den Regen,
über die breite Hauptstraße und die engen Gassen des
Stadtteils, in dem die ärmeren Asante lebten. Auch hier war
keine Spur von Leben. Nur der Rauch, der aus den
Schornsteinen drang, und der herbe Geruch von gekochtem
Wurzelgemüse erinnerten daran, dass Menschen in den
armseligen Hütten lebten. Bensua gehörte der Mittelschicht an.
Ihre Familie wohnte in einem der Stadtviertel, die zwischen
der vornehmen Gegend um den Königspalast und den
Armenvierteln lagen. Auch in Kumase gab es deutliche
Grenzen zwischen Arm und Reich, vielleicht noch stärkere als
in den fernen Städten der weißen Europäer.

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Als der Regen etwas nachließ, bereute Bensua, diesen Weg

eingeschlagen zu haben. Jetzt waren die notdürftigen Hütten
klarer zu erkennen und sie sah auch den Schmutz, der in den
besseren Vierteln undenkbar gewesen wäre. Kumase war eine
saubere Stadt. Die breiten Hauptstraßen wurden täglich
gereinigt, auch an einem Tag wie diesem, wenn der Regen sie
in eine Schlammwüste verwandelt hatte, und der Abfall wurde
außerhalb der Stadt verbrannt.

Auch das hatte die englischen Offiziere, die den König

besucht hatten, stark verwundert. Sie hatten wohl erwartet ein
schmutziges Eingeborenendorf vorzufinden.

Bensua beschleunigte ihre Schritte. Sie sank bis zu den

Knöcheln in den tiefen Schlamm und brauchte viel Kraft, um
vorwärts zu kommen. Das Kleid klebte an ihrem Körper. Sie
spürte die verwunderten Blicke einiger Männer, die unter
einem Palmdach standen und rauchten, und erinnerte sich
daran, dass einige der jungen Frauen in diesem Viertel ihren
Körper verkauften. Mit ihnen wollte sie auf keinen Fall
verwechselt werden. Sie überquerte eine Kreuzung und
erreichte die breite Straße, die zum Stadtrand und weiter nach
Norden führte. Aber sie wandte sich in die andere Richtung. Es
war keinem Bewohner von Kumase gestattet, die Stadt ohne
Erlaubnis zu verlassen, und sie wollte nicht Gefahr laufen, von
der Polizei aufgehalten zu werden.

Als sie an einer Kreuzung stehen blieb um sich zu

orientieren, entdeckte sie eine weißhaarige Frau, die geduckt
durch den Regen schlich. Die Alte stapfte an den Lehmhäusern
entlang, sorgsam darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden,
und blieb alle paar Meter stehen und blickte sich um. Bensua
versteckte sich nicht. Verwundert beobachtete sie, wie die Frau
bei ihrem Anblick zusammenzuckte und in einer Seitengasse
verschwand.

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Bensua spürte, wie sich ihre Neugier regte. Sie folgte der

Alten in die enge Gasse, sah gerade noch, wie sie um eine
Hausecke bog. Es war einfach, ihrer frischen Spur
nachzugehen. Ihre schmächtige Gestalt hob sich wie ein
Schatten gegen den Regen ab und verschwand im Hof eines
reichen Farmers. Bensua versteckte sich hinter einem
Holzstapel und beobachtete verwundert, wie die Alte eine
Ziege stahl und sie in die Gasse zog. An einem einfachen
Strick zerrte sie das störrische Tier zurück auf die Hauptstraße.
Niemand beachtete sie – außer Bensua, deren Neugier jetzt erst
recht geweckt war. Sie folgte der weißhaarigen Frau bis zu der
einfachen Hütte, in der sie wohnte, und schlich am Zaun
entlang, bis ihr ein paar verschobene Latten auffielen. Dort
kniete sie sich auf den Boden und spähte durch den Spalt.

Was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Die

Alte hatte die Ziege an einen Holzpflock gebunden und stand
mit erhobenem Messer vor dem zitternden Tier. Ihr Gesicht
war dem Himmel zugewandt und zuckte unter dem heftigen
Regen. Sie schien ein Gebet zu sprechen, von dem Bensua nur
wenig verstand, und murmelte eine Beschwörungsformel, wie
sie nur Hexen anwandten. Die Worte erinnerten Bensua an
eine junge Sklavin der Fante, die während der Odwira im
letzten Jahr geopfert worden war und noch in ihrem
Todeskampf die bösen Geister angerufen hatte. Das prunkvolle
Fest, das zur Ernte der Jamswurzeln im späten August gefeiert
wurde und die Begeisterung der Asante für ihren Staat stärken
sollte, war eine willkommene Gelegenheit gewesen, die
feindliche Hexe in ihre Schranken zu weisen und den Asante
zu zeigen, dass ihre Götter stärker als die verderblichen Kräfte
der Hexe waren. Aber auch bei ihrem Volk gab es Hexen. Sie
wirkten hinter verschlossenen Türen. Der Zufall schien sie auf
die Spur einer solchen Frau gebracht zu haben.

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Bensua beobachtete, wie die weißhaarige Frau die Geister

beschwor. Ihre knochigen Hände mit dem Messer ragten in den
Regen und krümmten sich, als die letzten Worte der
Beschwörung im Regen verklungen waren. Bensua
unterdrückte mühsam einen Schrei, als die Alte der Ziege mit
einem schnellen Schnitt die Halsschlagader durchtrennte und
ihre Hände in das spritzende Blut hielt. Das Tier sank röchelnd
zu Boden und verendete. Der Blutstrom wurde schwächer und
endete in einem Rinnsal.

Die Hexe verschmierte das Blut auf ihrem Gesicht und

wiederholte einige der Beschwörungsformeln. Erschöpft ging
sie in die Knie. Sie verharrte stumm und verschmolz mit ihren
Gedanken. Bensua stahl sich leise davon. Sie wollte nichts mit
der weißhaarigen Frau zu tun haben. Hexen wurden getötet.
Sie brachten Unglück über das Volk und trieben es den bösen
Geistern in die Arme. Wo sie waren, breiteten sich tödliche
Krankheiten aus. Die Priester der Asante ließen Hexen töten,
wenn sie das Haus eines Kranken betraten, und manchmal
opferten sie auch junge Frauen, die sich in der Nähe einer
Hexe aufgehalten hatten.

Ängstlich kroch Bensua an dem Zaun entlang. Als sie die

Gasse erreicht hatte, wurde sie von erstaunlich kräftigen
Armen gepackt und in den Hof gezogen. Sie spürte ein Messer
an ihrer Kehle. Der Regen wusch das frische Blut von der
Klinge und trieb es über die Haut der jungen Frau. »Wer bist
du?«, hörte sie die heisere Stimme der Alten. »Ich habe dich
nie hier gesehen.«

»Bensua«, nannte sie rasch ihren Namen, »die Tochter des

tapferen Jägers, der im letzten Sommer einen Löwen getötet
hat!« Die Antwort schien keinen Eindruck auf die Hexe zu
machen.

»Warum folgst du mir?«

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Bensua war den Tränen nahe. »Ich weiß nicht. Ich wollte

wissen, warum du die Ziege gestohlen hast. Ich habe es
gesehen. Aber ich werde dich nicht verraten! Es ist mir egal,
was du tust!«

»Wenn du zur Polizei gehst, werde ich dich töten! Selbst

wenn ich in Ketten liege, besitze ich die Kraft, dein Leben zu
beenden!«

»Ich sage nichts!«, beschwor Bensua die Hexe.
Die Frau lockerte ihren Griff und nahm das Messer von ihrer

Kehle. Bensua stolperte einige Schritte zurück. Sie griff sich
an den Hals und atmete erleichtert auf, als sie keine Wunde
spürte. Das wenige Blut, das an ihr klebte, stammte von der
Ziege. Ungläubig starrte sie die Hexe an. Ihr faltiges Gesicht
war mit Blut verschmiert und erinnerte Bensua an ein
Ungeheuer, das in einer unheimlichen Geschichte ihres
Großvaters vorgekommen war. Auch auf dem schäbigen Kleid
der Hexe war Blut. Und doch wirkte sie verletzlich und gar
nicht wie eine Frau, die mit den bösen Geistern spricht und
Macht über andere Menschen hat.

»Warum hast du das getan?«, fragte Bensua leise. Sie hatte

keine Angst mehr, wollte nur wissen, warum es geschehen
war.

»Unserem Volk droht großes Unheil«, antwortete die Alte.

»Es reicht nicht mehr, die Geister unserer Vorfahren anzurufen
und zu Onyankopon Kwame zu beten. Sie sind hilflos, wenn es
um die weißen Männer geht.« Sie ging einen Schritt auf
Bensua zu und blickte sie beschwörend an. »Du darfst ihnen
nicht glauben, mein Kind! Versprichst du mir das? Die
Europäer lügen! Sie wollen unser Gold! Sie wollen unsere
Menschen! Sie wollen starke Frauen wie dich, die sie an die
reichen Farmer in den fernen Ländern verkaufen können! Ich
habe von diesen Ländern gehört! Ich weiß, wie sehr unsere
Brüder und Schwestern, die auf die großen Schiffe gestiegen

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sind, in der Ferne leiden! Hüte dich vor den weißen Männern,
mein Kind! Hüte dich vor ihnen!«

Bensua wich einen Schritt zurück und hielt sich mit beiden

Händen an dem Zaun fest. Die Worte der alten Frau wühlten
sie mehr auf, als sie zugeben wollte. Auch ihre Unruhe ging
auf die Furcht vor den weißen Männern zurück. Und sie spürte
tief in ihrem Herzen, dass ihr Volk von einem großen Unheil
bedroht wurde. War sie eine Hexe? Würde man sie während
der nächsten Odwira töten und ihr Blut in die Löcher schütten,
die nach der Ernte der Jamswurzeln in der Erde geblieben
waren? »Du lügst!«, rief sie. Ihre Worte sollten die bösen
Gedanken vertreiben. »Du bist eine Hexe! Du bist mit den
bösen Geistern im Bunde! Unsere Krieger sind stark genug um
es mit jedem Gegner aufzunehmen! Sie werden es nicht
zulassen, dass unsere Männer und Frauen von den
Sklavenhändlern verschleppt werden!«

»Du wirst es sehen«, antwortete die Hexe betrübt. »Meine

Kräfte reichen nicht mehr aus, das Unheil zu verhindern.« Sie
wandte ihr Gesicht der toten Ziege zu. »Unser Volk wird im
Blut liegen!«

Bensua schüttelte den Kopf und ging rückwärts aus dem Hof.

Die Alte hielt sie nicht zurück. »Das ist nicht wahr«, flüsterte
das Mädchen entsetzt. »Du lügst! Du lügst!« Sie begann zu
weinen und lief davon, zuerst langsam, dann immer schneller.
Als sie zu Hause ankam, hatte der Regen die Tränen von ihrem
Gesicht gewaschen.

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2



Während der folgenden Tage blieb Bensua zu Hause. Sie
versteckte sich im Halbdunkel der Hütte, erledigte
Handarbeiten und setzte sich nur zu den Mahlzeiten an den
Tisch. Ihre Großmutter nahm an, dass sie sich um Vater und
Onkel sorgte, die mit den Kriegern gegen einen aufständischen
Häuptling der Fante gezogen waren. Vor ihrem Aufbruch
hatten sie geschworen, bis zum Beginn der Regenzeit zurück
zu sein. Sie gehörten zu den tapfersten Männern des Landes,
doch der Urwald war voller Gefahren. Die Geister konnten sie
in eine Falle der Fante oder Engländer getrieben haben. Einige
Häuptlinge des Küstenvolkes lehnten sich noch immer gegen
die Asante auf und von den Engländern wusste man, dass sie
jede Gelegenheit nützten, die Asante zu schwächen. Bald
würde es zu einem großen Krieg kommen, das behauptete ihr
Onkel seit vielen Monaten.

Ihre Verwandten ahnten nichts von der weißhaarigen Hexe.

Und Bensua hielt ihr Versprechen und hütete sich, die alte
Frau zu verraten. Sie wollte nicht, dass die Hexe bestraft
wurde. Stattdessen betete sie vor dem Einschlafen zu ihren
Ahnen, die in einer anderen und besseren Welt lebten und
täglich in das Angesicht des Schöpfers blickten. Sie sollten
Onyankopon Kwame bitten, seine schützende Hand über ihr
Volk zu halten. Die Weissagung der Hexe durfte nicht in
Erfüllung gehen. Wenn die weißen Männer kämen und sie als
Sklaven verkauften, wären sie dem Untergang geweiht und sie
würde als eine der Ersten an Bord eines Schiffes gehen. Die
Sklavenhändler bevorzugten kräftige Frauen, mit denen sie
sich unterwegs vergnügen konnten.

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Bensua hatte nichts gegen die Sklaverei. Alle Völker der

Goldküste versklavten ihre Gefangenen und ließen sie die
schweren Arbeiten verrichten. Und wenn der Schöpfer ein
Menschenopfer verlangte, wurde immer einem Sklaven der
Kopf abgeschlagen. Aber die meisten Gefangenen wurden
aufgenommen und durften beinahe gleichberechtigt neben den
Asante leben. Die Weißen meinten etwas anderes mit
Sklaverei. Sie verschifften Gefangene über das große Wasser,
zu grausamen Herrschern in fremde Länder, und demütigten
und quälten sie während der langen Überfahrt. Einige Krieger
behaupteten sogar, die Europäer würden einige Gefangene
schlachten und aufessen. Ein schreckliche Gedanke, der sie
selbst in der Hitze frösteln ließ.

Bisher waren die Asante sicher vor den weißen

Eindringlingen gewesen. Nur einige Krieger, die in die
Gefangenschaft der Fante geraten und an einen Kaufmann
verkauft worden waren, hatten die qualvolle Reise in eine
ungewisse Zukunft angetreten. Ihr Volk war zu mächtig. Wenn
ein Europäer mit wertvollen Handelsgütern gekommen war um
Sklaven zu kaufen, hatte der König einen Kriegertrupp zu
verfeindeten Völkern geschickt, um dort Gefangene zu
machen. Der Mann, der behauptet hatte, der König der Asante
würde auch Angehörige seines eigenen Volkes als Sklaven
verkaufen, war auf dem Marktplatz hingerichtet worden.

»Du bist still, mein Kind«, sagte ihre Mutter, während sie das

Abendessen zubereitete. Es gab einen schmackhaften Eintopf
aus Ziegenfleisch, den sie mit arabischen Gewürzen
verfeinerte.

»Ich weiß«, antwortete Bensua.
»Du sorgst dich um die Krieger, nicht wahr? Um deinen

Vater und deinen Onkel.« Es klang mehr wie eine Feststellung.
»Auch wir haben Angst um sie.« Ihr Blick ging zu den anderen
Verwandten, die auf ihren Nachtlagern saßen und auf das

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Abendessen warteten. Während der Regenzeit gab es wenig zu
tun.

»Sie werden die Fante besiegen«, erwiderte Bensua. Sie

verriet ihrer Mutter nicht, welche Gedanken sie wirklich
beschäftigten. »Sie haben sie immer besiegt. Die Fante sind
schwach und feige! Sie werden Gefangene bringen und sie den
Göttern opfern!«

»So wird es sein«, sagte ihre Mutter.
Die Fante gehörten zu den Erzfeinden der Asante. Sie lebten

an der Küste, hatten vor allen anderen Völkern mit den
Europäern gehandelt und waren zuerst in den Besitz von
Feuerwaffen gekommen. Erst vor knapp dreißig Jahren, zu
Beginn des 19. Jahrhunderts, hatten die Asante gesiegt. Ihre
Streitmacht war zu groß für das kleine Küstenvolk, und der
unbedingte Wille einen Zugang zur Küste zu haben um am
lukrativen Handel mit den Europäern teilzuhaben, hatte den
Asante zusätzliche Kräfte verliehen. Nur noch wenige
Häuptlinge lehnten sich gegen den König der Asante auf. Auch
sie würden früher oder später ihre Waffen niederlegen.

»Sie kommen wieder«, sagte die Großmutter während des

Essens. »Der Schöpfer will nicht, dass ich beide Söhne
verliere.« Ihr anderer Sohn war vor einigen Jahren im Kampf
gegen die Fante gefallen, ein Unglück, von dem sie sich
niemals erholt hatte. Sie schwieg meistens und hatte seitdem
nicht mehr gelacht, nicht einmal während der ausgelassenen
Feste zur Trockenzeit. Sie war zu einer verbitterten Frau
geworden, die nur noch in ihren Träumen lebte. »Sie spricht
mit den Geistern«, behauptete der Großvater.

Doch diesmal schien sie sich geirrt zu haben. Zwei Monate

später waren die Krieger noch immer nicht aufgetaucht und
kaum jemand glaubte noch an ihre Rückkehr. Die heiligen
Männer beteten und sangen den ganzen Tag und nachts
dröhnte die Trommel eines Greises, der im Palast wohnte und

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das Vorrecht genoss, für den König zu beten. Der Schöpfer gab
keine Antwort. Auch als Osei Yaw einen Sklaven enthaupten
ließ und das Blut des Toten vor dem Palast verteilte, geschah
nichts. Bensua hätte gern gewusst, ob das Ausbleiben der
Krieger etwas mit der Warnung der weißhaarigen Hexe zu tun
hatte, wagte aber nicht zu der alten Frau zurückzukehren. Sie
rief die Ahnen ihres Vaters und ihres Onkels an und bat sie, die
Männer aufzuspüren und sicher nach Kumase
zurückzugeleiten. Sie sang ein heiliges Lied, das sie von ihrem
Onkel gelernt hatte, und trat jeden Morgen auf die Straße um
nach den Kriegern Ausschau zu halten.

Wenige Tage nach der Regenzeit wurden die Gebete der

Asante erhört. Bensua gehörte zu den Frauen und Kindern, die
an diesem schwülen Morgen auf der Straße standen und in den
wabernden Dunst spähten, der von dem tiefen Morast aufstieg.
Sie sah die dunklen Schatten in den Dunstwolken, blickte
genauer hin und erkannte die Umrisse einiger Krieger. Stolze
Männer, den Blick nach vorn gerichtet, die Speere in den
Händen. »Die Krieger kommen! Die Krieger kommen!«, rief
eine Frau und die frohe Kunde wanderte in Windeseile durch
die ganze Stadt.

Bensua brauchte ihre Verwandten nicht zu holen. Auch sie

hatten die freudigen Rufe gehört und kamen auf die Straße
geeilt. »Sie kommen wieder«, sagte ihre Großmutter.

Ihre Brüder und Schwestern liefen die Hauptstraße hinunter,

ihrem Vater und ihrem Onkel entgegen. Bensua ging nur ein
paar Schritte. Über ihr Gesicht rannen Tränen, als die Männer
mit ihren Waffen und Schilden an ihr vorbeikamen. »Wir
haben gesiegt! Wir haben gesiegt!«, stimmte sie in den Jubel
ein. Sie winkte ihrem Vater und ihrem Onkel zu, die beide
unverletzt waren, und griff sich mit beiden Händen an die
Brust. Onyankopon Kwame hatte ihre heiligen Lieder gehört.
Die Männer waren nach Hause gekommen.

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Tausende von Menschen begleiteten die Krieger zum Palast.

Sie ließen die Männer hochleben und bespuckten die
Gefangenen, die sie mitgebracht hatten. Armselige Gestalten,
die Hände hinter dem Rücken gefesselt und kaum noch fähig,
sich auf den Beinen zu halten. Die Fante waren nie zimperlich
mit ihren Gefangenen umgegangen, die Asante zahlten es
ihnen hundertfach zurück. Einige dieser Sklaven würden den
Geistern geopfert werden, die anderen würden auf dem
Marktplatz in der Sonne schmoren, bis sich die Asante ihrer
erbarmten und sie als Sklaven annahmen. Sie würden in den
Goldminen vor der Stadt arbeiten oder auf den Feldern
schuften. Und wenn der König neue Waren von den Weißen
kaufte, würde er mit Sklaven bezahlen.

Bensua erreichte den Palast mit den Kriegern und drängelte

sich ganz nach vorn. Sie wollte dabei sein, wenn der
Asantehene die heimgekehrten Männer begrüßte. Der König
ließ sich Zeit. Es war noch früh und er schlief immer sehr
lange. Das erzählten die Frauen, die für ihn kochten. Er würde
ungefähr zwei Stunden brauchen um zu baden, seinen Körper
mit Goldstaub einzureiben und seine besten Kleider mit dem
kostbaren Goldschmuck anzulegen. Doch die vielen
Schaulustigen warteten gern. Sie schwitzten in der feuchten
Hitze, die dem Regen gefolgt war, und feierten die Krieger.
Die Männer hatten kaum Verluste erlitten, waren auf dem
Rückweg von der Regenzeit überrascht worden und hatten am
Ufer eines überschwemmten Flusses gelagert, bis er wieder
passierbar gewesen war. Es hatte keine Möglichkeit gegeben,
die Bewohner von Kumase zu informieren.

Ein wütender Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der

Menschen auf einen der Gefangenen. Er war ungefähr so alt
wie Bensua und in seinen dunklen Augen loderte der Zorn.
»Die Fante werden niemals untergehen!«, rief er in seiner
Sprache, die von allen Asante verstanden wurde. »Wir sind die

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wahren Herren der Goldküste!« Obwohl seine Hände auf dem
Rücken gefesselt waren, griff er die Krieger an, mit gesenktem
Kopf und fest entschlossen, sein Leben für das Ansehen seines
Volkes zu opfern. Ein Asante schlug ihn mit dem
Gewehrkolben bewusstlos.

Schadenfrohes Gelächter begleitete den jungen Mann, der

taumelte und der Länge nach in den Morast fiel. Der Vorfall
war schnell vergessen. Es gab Wichtigeres als einen
aufsässigen Gefangenen der Fante. Nur Bensua interessierte
sich für den jungen Krieger. Sie bahnte sich einen Weg durch
die Menge und blieb vor dem Bewusstlosen stehen. Sie
scheuchte einige Kinder davon, die ihn mit Steinen bewarfen,
und blickte in das leblose Gesicht des Fante-Kriegers.

Es war etwas Besonderes an diesem Gefangenen. Er war so

unansehnlich wie alle anderen Fante, die Stirn viel zu niedrig,
die Lippen voll, der Körper eher gedrungen, und wirkte in
seinem schmutzigen Lendenschurz wie ein Bettler aus dem
ärmsten Viertel von Kumase. Aber sie hatte seine Augen
gesehen, bevor er bewusstlos geworden war. Den
ungebrochenen Stolz und den Mut, der eines tapferen Asante-
Kriegers würdig war. Der junge Fante hatte sein Leben riskiert
und wäre lieber gestorben als gefesselt vor seinen Feinden zu
knien. Selbst wenn der König ihn köpfen ließe, würde er als
wagemutiger Krieger vor seinen Schöpfer treten. »Du bist ein
mutiger Mann«, sagte Bensua leise.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie gar nicht merkte,

wie einer der älteren Krieger an ihre Seite trat. »Hast du dein
Herz an diesen räudigen Hund verloren?«, fragte er spöttisch.
»Er ist ein Fante, vergiss das nicht! Er wird uns als Sklave
dienen oder einen langsamen und qualvollen Martertod
sterben! Verschwende dein Mitleid nicht an diesen Bastard!«

Bensua riss sich vom Anblick des bewusstlosen Mannes los

und versuchte gleichgültig dreinzublicken. »Er war sehr

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mutig«, sagte sie. »Ich dachte, die Fante sind feige und
verstecken sich.«

»Er war aufsässig und dumm«, widersprach der Asante,

»sonst hätte er sich in sein Schicksal gefügt. Nur ein Narr
widersetzt sich den mächtigen Asante!« Er spuckte auf den
regungslosen Gefangenen. »Wenn er wirklich tapfer ist,
verflucht er meinen Namen, wenn ich ihm mein Messer durch
die Wangen ramme!«

Bensua wollte keinen Streit mit dem Krieger und ging zu den

Frauen und Kindern zurück. Das spöttische Lachen des
Kriegers verfolgte sie. Einige Asante, die gesehen hatten, wie
mitleidig sie den Fante angeschaut hatte, fielen in das Lachen
ein oder blickten sie verständnislos an. Sie zeigten kein Mitleid
für die Gefangenen. Während des Krieges hatten die Fante ein
Dorf mit Frauen und Kindern niedergebrannt und es gab
keinen Grund, sie zu verschonen. Ihnen blieb nur die
Unterwerfung oder ein grausamer Tod. Sie verdienten ihn, sie
waren die Hauptfeinde der Asante. Nur den stärksten
Gefangenen war es vergönnt, den Asante als Sklaven zu dienen
und in den Goldminen zu arbeiten.

Die Musiker des königlichen Palastes traten aus dem Tor.

Stattliche Männer in farbenprächtigen Uniformen und blanken
Schuhen. Elfenbeinhörner und die goldenen Blasinstrumente,
die sie von den Holländern bekommen hatten, glänzten in der
Sonne. Dumpfer Trommelrhythmus begleitete ihr Schritte. Sie
traten auf den freien Platz vor dem Palast und stellten sich in
Reih und Glied auf, wie die Soldaten, die vor einigen Wochen
mit den englischen Besuchern gekommen waren. Der
Kapellmeister hob den Taktstock und die Flötenspieler
begannen mit dem Vorspiel zu einer feierlichen Hymne, die
man ebenfalls von den Holländern übernommen hatte. Zum
Rhythmus der Trommeln drang der schmetternde Klang der

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europäischen Hörner über den Platz. Die Mauern des Palastes
warfen ihn als Echo zurück.

Bensua war ebenso beeindruckt wie die anderen Zuhörer und

vergaß den jungen Krieger der Fante. Ihre Augen glänzten
beim Anblick des feierlichen Prunks, den das königliche
Orchester ausstrahlte. Im Auftreten ihres Königs zeigte sich
die überlegene Macht der Asante. Kein anderes Volk der
westafrikanischen Goldküste verfügt über ein so großes Reich
und so viele Krieger. In keinem anderen Gebiet gibt es so viel
Gold. Die Asante sind die Herren des Urwalds und selbst die
Europäer verneigten sich vor dem mächtigen Asantehene.
Viele Jahre später würde Bensua in einem Buch lesen, wie
beeindruckt die englischen Besucher gewesen waren. Vom
prunkvollen Auftreten des Königs, dem vielen Gold und
Silber, den künstlerischen Darbietungen am Hofe und den
erlesenen Speisen, die ihnen von arabischen Bediensteten im
Ballsaal des Palastes serviert wurden.

Vier kräftige Männer trugen Osei Yaw in einer Sänfte auf

den Platz. Ein Sklave hielt den violetten Schirm mit den
goldenen Fransen, der sein Gesicht beschattete. Unter den
Fanfarenklängen des Orchesters stellten sie die Sänfte auf
einem Podest ab, das für die öffentlichen Auftritte des Königs
gebaut worden war. Überall funkelte Gold, und als der
Akondwa gebracht wurde, ging ein ehrfürchtiges Raunen durch
die Zuschauer. Der goldene Stuhl war das Symbol der
politischen Macht, stand für die Überlegenheit der Asante und
die Einheit ihres Reiches, für die Liebe seiner Menschen und
den Sieg über alle Feinde. Okomfo Anokye, der legendäre
Priester des Volkes, hatte ihn während eines heftigen Gewitters
aus dem Himmel empfangen. Jeder Asante kannte die
Geschichte dieses großen Wunders, das sich während der
Herrschaft von Osei-Tutu um 1700 ereignet hatte.

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»Geliebtes Volk«, begann der König mit seiner Ansprache,

»tapfere Krieger der Asante, die ihr wieder einmal einen
großen Sieg errungen habt! Wir haben den letzten Aufstand
der Fante niedergeschlagen!« Osei Yaw war ein alter Mann.
Wenn er seine Sänfte verließ, benutzte er einen mit goldenen
Ornamenten verzierten Krückstock. Er trug einen Umhang aus
feinster chinesischer Seide und einen Kopfschmuck aus den
gefärbten Federn eines großen Vogels. Um seinen Hals hing
eine schwere Kette aus reinem Gold und auch auf seiner Brust,
seinen Armen und an den Ohren leuchteten goldene
Schmuckstücke. In sein Gesicht hatten sich tiefe Falten
gegraben. Er war dem Tode nahe und doch wirkten seine
Augen erstaunlich wach und lebhaft. Seine Stimme hatte einen
entschlossenen Klang. »Der Weg zur Küste ist frei und
niemand wird uns daran hindern, unser Reich bis zu den
steinernen Forts der Europäer auszudehnen!«

Bensua interessierte sich nicht für Politik. Sie hatte keine

Ahnung, welche Ränkespiele der König der Asante benutzte,
um an der Macht zu bleiben, und mit welchen Tricks er
arbeitete, um das Reich der Asante zu vergrößern. Politik war
Männersache. Sie bewunderte den König, weil er es verstand,
ihrem Volk einen großen Wohlstand zu erhalten, und sie
berauschte sich an dem geheimnisvollen Prunk, der seine
Herrschaft umgab. Die Menschenopfer und sein unerbittliches
Verhalten gegenüber allen Feinden zweifelte sie nicht an. Sie
war eine Asante, die niemals an der Küste gewesen war und
nie vom christlichen Glauben der weißen Männer gehört hatte.
Die Härte war ein Teil ihres Lebens, so unerbittlich wie die
Natur im unendlichen Regenwald.

Auch an diesem Morgen zeigte Osei Yaw, dass er nicht

gewillt war dem Aufbegehren der Fante tatenlos zuzusehen.
Nachdem er über eine Stunde geredet, die eigenen Krieger
gelobt und seine Feinde verdammt hatte, entschied er, einen

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der Fante-Krieger zu opfern. Sein Tod sollte die Geister
versöhnen. Er ließ sich von seinen Bediensteten aus der Sänfte
helfen, bedeutete dem Sklaven ihm mit dem Schirm zu folgen
und verscheuchte zwei Kinder, die seine flachen Schuhe mit
Elefantenschwänzen säubern wollten. Sein Blick streifte über
die entkräfteten Gefangenen.

»Nimm diesen hier!«, rief der Asante, der Bensua verspottet

hatte. Er deutete auf den jungen Fante, der gerade aus seiner
Bewusstlosigkeit erwachte. »Er hat seinen Tod am ehesten
verdient!«

Bensua hielt den Atem an. Aus einem unerklärlichen Grund

fühlte sie sich dem jungen Krieger verbunden. Er hatte einen
Teil ihrer Seele berührt. Sie unterdrückte den Drang, um das
Leben des Gefangenen zu betteln, und blickte rasch zur Seite
um nicht in seine Augen sehen zu müssen. Es war gefährlich
und manchmal sogar tödlich, sich gegen eine Entscheidung des
Königs aufzulehnen. Das Blut des Kriegers, der vorgeschlagen
hatte mit den Fante zu verhandeln, war längst in der Erde
versickert. Auch Frauen und Mädchen wurden den Geistern
geopfert.

Als der Gefangene merkte, was die Asante mit ihm vorhatten,

sprang er wütend auf. Er trat einem der Leibwächter des
Königs gegen das Schienbein und rammte einem anderen den
Kopf in die Magengrube. Erst der Knüppelschlag eines
Polizisten brachte ihn zur Besinnung. Einer der
Schwertmänner wollte ihm den Kopf abschlagen, aber Osei
Yaw hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Auf seinem
faltigen Gesicht stand ein Grinsen.

»Nein, er soll leben!«, entschied der König zum Erstaunen

aller Anwesenden. »Er ist mutiger als die Schwächlinge, die
dort im Schlamm liegen!« Er deutete verächtlich auf die
anderen Gefangenen. »Die weißen Kaufleute werden teuer für
ihn bezahlen!«

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Sein Blick wanderte zu einem älteren Krieger, der vor

Schwäche kaum noch atmen konnte. »Nehmt den da! Er soll
sterben!«

Bensua atmete erleichtert auf und barg ihr Gesicht in den

Händen um ihre Gefühle nicht zu zeigen. Niemand sah die
Tränen, die über ihre Wangen liefen, und niemand hörte ihr
leises Dankgebet.

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3



Der König befahl, die Gefangenen auf dem Marktplatz in der
Sonne schmoren zu lassen. Mit den eisernen Ketten, die er von
einem holländischen Kaufmann erworben hatte, ließ er die
zwanzig Männer an hölzerne Pflöcke fesseln. Abseits des
heiligen Kuma-Baumes mit seinen weit verzweigten Ästen
waren sie der Hitze hilflos ausgeliefert. Der mächtige Baum
markierte das Zentrum der Stadt und erinnerte die Asante
daran, zum Himmel zu blicken und Onyankopon Kwame zu
ehren. Sein Schatten wurde als kostbares Geschenk des
Schöpfers betrachtet. Es war verboten, dort einen
Verkaufsstand zu errichten, und nur dem Asantehene war es
gestattet, an seinem Stamm längere Zeit zu verweilen.

Der riesige Markt in Kumase versetzte sogar die arabischen

Händler in anerkennendes Staunen. Er stand den Basaren im
Norden des Kontinents in keiner Weise nach und überwältigte
die Besucher mit einer Vielzahl von Verkaufsständen und
Theaterbühnen. Die Händler saßen im Schatten von
Palmendächern und bunten Schirmen, breiteten ihre Ware auf
Tischen und bunt gemusterten Decken aus und lockten
zahlungskräftige Kunden in runde Lehmhütten dahinter. Dort
lagen die teuren Waren: goldene und silberne Schmuckstücke,
farbenprächtige Textilien und kupfernen Haushaltswaren, die
man bei einer gemeinsamen Tasse Tee oder einem Becher
Rum anpries. Es gab Fleisch, Geflügel, Gemüse, arabische
Gewürze, eine verwirrende Vielzahl von Früchten, europäische
Stoffe, bunte Perlen, Lederwaren, Haarnadeln aus Elfenbein,
Werkzeuge und Waffen. Es wurde getauscht oder mit

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Goldstaub und Kauri-Muscheln bezahlt, einem weit
verbreiteten Zahlungsmittel in West-Afrika.

Unter den vielen Schaulustigen, die mit neugierigen Blicken

verfolgten, wie die Gefangenen angekettet wurden, befand sich
auch Bensua. Sie beobachtete den jungen Krieger, der sich
gegen die Asante aufgelehnt hatte, und stellte bewundernd fest,
dass er noch immer gegen sein Schicksal aufbegehrte. Er
wehrte sich mit Händen und Füßen, als ihn die Asante an den
Pflock ketteten, und verhöhnte sie mit derben Worten. Die
Peitschenhiebe, die er dafür bekam, ertrug er mit einem
spöttischen Lächeln. Als einziger Gefangener blieb er aufrecht
in der Hitze sitzen, das Gesicht trotzig der Sonne zugewandt.
In seinen dunklen Augen stand der ungebrochene Stolz, der ihn
selbst dem drohenden Tod mit Verachtung entgegensehen ließ.
»Er ist ein Fante, aber er ist sehr tapfer«, hörte Bensua einen
Händler sagen.

Sie wusste selbst nicht, warum sie sich zu dem aufsässigen

Krieger hingezogen fühlte. Es schien eine seltsame
Verwandtschaft zwischen ihnen zu bestehen, als wären sie sich
in einem früheren Leben begegnet. Es war keine Zuneigung,
auch kein Mitleid, eher ein unsichtbares Band, das der
Schöpfer zwischen ihnen gespannt hatte. Es zwang die junge
Frau, den Schatten eines Schirms zu verlassen und auf den
Gefangenen zuzugehen. Sie war nicht allein. Zahlreiche
Kinder waren bei den unglückseligen Männern und warfen mit
Steinen und faulem Obst nach ihnen. Zwei beleibte Frauen, die
schwere Lasten auf ihren Köpfen trugen, spuckten verächtlich
aus, als sie an den Angeketteten vorbeikamen. Ein Händler, der
unter seinem Schirm saß und aus einer Kokosnuss trank,
verfluchte die gefangenen Männer.

Bensua verscheuchte die Kinder und blieb vor dem Fante

stehen. Sie wunderte sich selbst über ihren Mut. Auch wenn
der Mann an einen Pflock gekettet war, konnte er sie

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anspucken oder mit den Füßen nach ihr treten. »Wie heißt
du?«, fragte sie.

Der Krieger blickte sie verwundert an und hatte bereits einen

derben Fluch auf den Lippen, als er den seltsamen Ausdruck in
ihren Augen sah. Ihr sanfter Blick machte ihn unsicher und
ließ ihn für einen Augenblick seinen Hass und seine
Verzweiflung vergessen. Er deutete das Gefühl als Schwäche
und schüttelte verächtlich den Kopf. »Was kümmert ein
Mädchen der Asante mein Schicksal? Willst du dich über mich
lustig machen?«

»Ich habe gesehen, wie du dich gegen die Krieger unseres

Volkes gewehrt hast«, antwortete sie. »Das war sehr mutig!
Nur wenige Gefangene haben das jemals gewagt! Der letzte
Sklave, der einen Asante angriff, starb unter dem Hieb unseres
Scharfrichters! Du hast dein Leben riskiert!«

»Eher sterbe ich als tapferer Krieger, als von euren Männern

gedemütigt zu werden!«, erwiderte er mürrisch. »Alle Fante,
die im Kampf sterben, leben als erfolgreiche Krieger in der
Welt, die nach dem Tod kommt.« Er blickte an Bensua vorbei,
seine Lippen wurden schmal und in seine Augen trat ein
entschlossener Ausdruck. »Wären eure Männer nicht wie
heimtückische Wildschweine über unser Dorf hergefallen,
hätten wir gesiegt! Das nächste Mal werden die Götter auf
unserer Seite sein! Unsere Verwandten werden uns rächen!«

Bensua fühlte sich in ihrer Ehre gekränkt. »Die Asante sind

ein mächtiges Volk«, widersprach sie. »Wir haben alle Krieger
besiegt, die jemals den Boden unseres Landes betreten haben!
Wenn du an der Ehre unserer Männer zweifelst, werde ich
meinen Vater oder meinen Onkel bitten, dich zu einem Kampf
auf Leben und Tod herauszufordern! Dann wirst du sehen, wie
mutig sie sind!«

»Du sprichst wie eine tapfere Frau«, sagte der Krieger.

»Wenn du sie wirklich fragst, werde ich bereit sein! Kein

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Fante hat sich jemals vor einem Asante versteckt! Euer Reich
ist größer und ihr habt mehr Krieger, aber ihr seid deshalb
keine besseren Menschen!«

»Wir werden sehen«, erwiderte Bensua wütend. Sie ärgerte

sich darüber, auf die Herausforderung des Kriegers
eingegangen zu sein. Ein Fante verdiente es nicht, sich in
einem Zweikampf mit den Asante zu messen. Einen solchen
Kampf würde der König niemals zulassen. »Die Fante sind
räudige Tiere«, würde er sagen, »sie sind geboren, vor uns im
Staub zu kriechen!«

Bensua bemerkte, wie einer der Krieger, die zur Bewachung

der Gefangenen auf dem Marktplatz geblieben waren, auf sie
aufmerksam wurde und langsam näher kam. »Ich muss
gehen«, erwiderte sie rasch. »Ich komme später wieder«, fügte
sie hinzu.

Sie drehte sich um und ging davon. Schon nach ein paar

Schritten holte sie die Stimme des Gefangenen ein: »Ich heiße
Ottobah!«, rief er, ohne auf die neugierigen Blicke seiner
Leidensgenossen und die misstrauischen Krieger der Asante zu
achten.

»Ottobah«, wiederholte sie leise, als sie sich einen Weg durch

die Menge bahnte. Auf dem Marktplatz wimmelte es von
Menschen und zwischen den Ständen liefen Schweine, Ziegen
und Hühner herum. Ein Hund kam bellend hinter ihr her und
ließ erst von ihr ab, als sein Besitzer einen Stein nach ihm
warf. »Ich habe feinen Stoff aus Europa!«, pries ein Händler
seine Waren an. Bensua beachtete ihn kaum und beeilte sich,
den Marktplatz zu verlassen. In einer Seitenstraße lehnte sie
sich gegen eine Mauer und weinte. Einige Kinder betrachteten
sie verwundert.

Sie rieb die Tränen aus ihren Augen und lief weiter. Ihre

Schritte wurden langsamer und ihre Panik wich einem
verwirrenden Gefühl, das sie nicht zu deuten wusste. Warum

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war sie zu dem Krieger gegangen? Warum hatte sie ihm
versprochen wiederzukommen? Der Mann war ein Fante. Er
gehörte zu dem Volk, das die Dörfer der Asante überfallen und
Frauen und Kinder getötet hatte. Manche Häuptlinge
behaupteten, dass sie mit den bösen Geistern im Bunde waren.
Wie konnte sie mit einem solchen Menschen reden? Sie wusste
es nicht. Noch ahnte sie nicht, dass Onyankopon Kwame
beschlossen hatte, sie beide auf einen gemeinsamen Weg zu
schicken. Einem holprigen Pfad voller Hindernisse, der durch
gefährliches Feindesland und in eine ungewisse Zukunft
führte.

Bensua lief ziellos durch die Straßen, bis sie wieder klar

denken konnte, und kehrte dann nach Hause zurück. Sie
umarmte ihren Vater und ihren Onkel und rief: »Ich freue
mich, dass ihr gesund zurückgekommen seid. Die Asante sind
tapferer als alle anderen Völker auf der Erde!« Während sie
diese Worte sagte, musste sie an den gefangenen Fante denken,
an seinen stolzen Blick und seinen unerschütterlichen Mut. Es
gab auf beiden Seiten tapfere Männer, das vermutete sie schon
seit langer Zeit, auch wenn der König das Gegenteil
behauptete. Wollten die Götter, dass ein Volk das andere
unterdrückte? Hatten Asante und Fante nicht dieselbe
Hautfarbe? Wie wollte man gegen die Europäer siegen, wenn
es wirklich zu einem großen Krieg käme?

»Du kommst spät«, sagte ihre Mutter. In ihrer Stimme klang

ein leichter Vorwurf mit. »Ich musste das Essen allein
zubereiten.«

»Entschuldige, Mutter«, erwiderte Bensua schuldbewusst.

»Ich habe eine Freundin auf dem Markt getroffen. Ihr Onkel
wurde von den Fante erschossen und ich habe sie getröstet!«
Sie schämte sich ihrer Lüge, wagte aber nicht die Wahrheit zu
sagen. Niemand in ihrer Familie hätte verstanden, dass sie mit

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einem Gefangenen gesprochen hatte und seinetwegen zu spät
kam.

»Wir haben fünf Krieger verloren«, bestätigte ihr Onkel

wehmütig. Er war ein stolzer Krieger mit kantigen
Gesichtszügen und einem stechenden Blick. »Ich musste zehn
Feinde erschlagen, um ihren Seelen den Weg in die andere
Welt zu ebnen!« Er bedauerte sein Vorgehen nicht und
empfand auch kein Mitleid mit dem Jungen, den er vor den
Augen seiner Mutter erschlagen hatte. Sein Leben war der
Krieg und das Töten gehörte zum Alltag. Der Krieg war das
Mittel um die Familien der Asante zu schützen.

»Ich bin froh, dass wir zurück sind«, sagte ihr Vater während

des Essens. Er war ein einfacher Mann, der den Kampf als
notwendiges Übel betrachtete und dessen Gedanken auch in
der Ferne um Jagd und Ernte kreisten. Obwohl er zu den
wenigen Männern gehörte, die nur eine Frau genommen
hatten, war er auf den guten Willen der Götter angewiesen.
Nur wenn ihm das Jagdglück treu blieb, war das Überleben der
Familie gesichert. Als Jäger war er für die Fleischvorräte
verantwortlich. »Sobald der Boden wieder trocken ist, gehen
wir auf Antilopenjagd«, entschied er.

Bensua sprach wenig und war froh, dass niemand ihre

Gedanken lesen konnte. Wie unter einem Zwang kehrten sie
immer wieder zu dem gefangenen Krieger zurück. Ottobah
hatte sie stärker beeindruckt, als sie wahrhaben wollte. Sie
musste sich die Hänseleien ihrer jüngeren Brüder und
Schwestern anhören, weil sie während des Essens in die Luft
starrte und dreimal von ihrer Mutter gebeten werden musste,
die schmutzigen Töpfe zu säubern. Als sie in den Hof ging um
Wasser aus der Zisterne zu holen, stolperte sie über eine Ziege
und musste sich mit beiden Händen am Brunnen festhalten.
»Bensua ist dumm! Bensua ist dumm!«, sang einer ihrer
Brüder. »Bensua fällt in den Brunnen!«

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Ihrer Mutter machte sie weis, dass sie ihre Tage hatte und

deshalb so abwesend war. Ihr Vater und ihr Onkel waren
unterwegs, besprachen mit einigen Männern, wann sie auf die
Jagd gehen sollten. Einige der älteren Jäger, die während des
Kriegszugs in Kumase geblieben waren, hatten von einem
Leoparden berichtet, der bis in die Nähe der Stadt gekommen
war und mehrere Antilopen gerissen hatte, und sie wollten ihn
unbedingt töten. Wer einen Leoparden erlegte, gewann großes
Ansehen und war berechtigt den Schwanz des erlegten Tieres
am Oberarm zu tragen, wenn er das nächste Mal in den Krieg
zog. Nach dem Abendessen erzählte der Großvater von einer
gefährlichen Raubkatze, die vor etlichen Jahren zwei Kinder
getötet hatte, und Bensua träumte davon, bis sie
schweißüberströmt aufwachte.

Sie brauchte einige Zeit um sich von dem Traum zu erholen.

Sie starrte in die Dunkelheit und lauschte den regelmäßigen
Atemzügen ihrer Mütter und ihrer drei Schwestern, die im
selben Raum schliefen. Aus dem Nachbarzimmer drang das
Schnarchen der Männer. Sie waren spät nach Hause
gekommen und hatten beim Aufschlagen ihres Nachtlagers
gescherzt und gelallt. Bensuas Mutter hatte ihnen vorgeworfen,
den Schnaps des weißen Mannes getrunken zu haben. Aber sie
hatten nur gelacht.

Bensua kannte das scharfe Wasser der Europäer. Sie hatte

von der braunen Flüssigkeit gekostet, die sie »Rum« nannten,
und sich beinahe übergeben. Der Schnaps brannte wie Feuer.
Sie verstand nicht, warum einige Männer so begierig darauf
waren, in den Besitz des Alkohols zu kommen. Sogar der
König hatte einen Krug in seinem Schlafgemach stehen. So
erzählten es die schwatzhaften Frauen des Palastes. Zum Essen
trank er kostbare Weine aus Portugal und Frankreich, aber vor
dem Schlafengehen gönnte er sich einen Schluck von dem
Schnaps.

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So leise, dass ihre Mutter und ihre Schwestern nicht

aufwachten, verließ Bensua das Zimmer. Sie trat in den Hof,
schöpfte eine Kelle aus dem Wassereimer und blickte
nachdenklich zu den Sternen empor. Wie silberne
Schmuckstücke funkelten sie am schwarzen Himmel. Der
Mond war nur als schmale Sichel zu erkennen. Manchmal
fragte sie sich, ob der Mond und die Sterne ziellos über den
Himmel wanderten oder ein bestimmtes Ziel verfolgten.
Forderten sie die Menschen auf ihnen zu folgen? Ihr Großvater
war während des großen Krieges gegen die Fante an der Küste
gewesen und erzählte, dass die europäischen Seefahrer ihre
Schiffe nach den Sternen ausrichteten. Während eines
Gewitters und wenn sich der Mond und die Sterne versteckten,
irrten sie ziellos auf dem großen Wasser herum. Auch die
weißen Männer waren nicht so klug, wie sie immer vorgaben.

Obwohl es schon nach Mitternacht war, lag drückende

Schwüle über der Stadt. Der Lehmboden speicherte die Hitze
des Tages und gab sie nun ab. Einige Hühner gackerten. In der
Luft summten Fliegen. Bensua goss sich Wasser über den
Kopf und genoss die angenehme Kühle. Unwillkürlich
wanderten ihre Gedanken zu Ottobah und sie fühlte sich auf
einmal schuldig, weil er den ganzen Tag ohne einen Schluck
Wasser in der Hitze geschmort hatte und bestimmt am Ende
seiner Kräfte war. »Wer die Hitze nicht ertragen kann, hat es
nicht verdient, ein Sklave der Asante zu sein«, behauptete der
König. »Ihn lassen wir sterben!«

Bensua wollte nicht, dass Ottobah starb. Ohne darüber

nachzudenken, dass sie im Begriff war, einem gefangenen
Todfeind zu helfen, goss sie frisches Wasser in einen Behälter.
Sie zog ihr Kleid an und verließ das Haus. Indem sie die
Hauptstraße umging und einen Umweg durch die schmalen
Seitengassen nahm, vermied sie eine Begegnung mit den
Polizisten. Die Männer in den bunten Uniformen, die als

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Zeichen ihres Rangs lange Haare trugen, sorgten dafür, dass es
ruhig in Kumase blieb.

Sie brauchte eine halbe Stunde bis zum Marktplatz, verlor

durch die Umwege viel Zeit. Schon nach wenigen Schritten
erkannte sie, wie gefährlich es war, ein Gesetz der Asante zu
brechen. Sie wäre am liebsten umgekehrt, doch eine
geheimnisvolle Macht trieb sie vorwärts. Wer einem
Gefangenen half oder einen Feind begünstigte, lief Gefahr,
selbst versklavt zu werden, und wenn der König besonders
wütend war, entschied er sogar einen solchen Verräter
enthaupten zu lassen. Er machte keinen Unterschied zwischen
Männern und Frauen, wenn es um das Wohl seines Volkes
ging. Das wusste Bensua und dennoch ging sie weiter. Das
Wasser schwappte unruhig in dem Messingkrug.

Der Behälter gehörte ihrem Onkel und sie wagte gar nicht

daran zu denken, was geschah, wenn er erfuhr, dass ein
feindlicher Krieger daraus getrunken hatte. Er brächte es fertig
und verriete seine eigene Nichte an die Polizei. Als
überzeugter Krieger, der seine Feinde mit aller Macht
bekämpfte, stellte er die Gesetze der Asante über das Wohl
seiner Familie. Er würde sich selbst opfern, wenn er seinem
Volk dadurch helfen könnte. Bensua dachte an seine strengen
Gesichtszüge und begann zu zittern.

Sie verharrte einige Zeit neben einer Mauer und huschte

weiter durch die Nacht. Wenige Meter vor ihr öffnete sich die
Straße zum Marktplatz. An den Mauern hingen Fackeln und
verbreiteten flackerndes Licht. Sie schlich zu einem der leeren
Verkaufsstände und blickte zu den Gefangenen hinüber. Die
meisten schliefen, lagen auf der Seite und röchelten leise. Nur
Ottobah war wach. Sie erkannte ihn selbst in dem unruhigen
Halbdunkel. Der Feuerschein leuchtete in seinen dunklen
Augen und ließ Schatten über seinen muskulösen Körper

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tanzen. Er war nicht hässlich. Er war ein stolzer Krieger, der es
verdient hatte, zu leben.

Zwei gelangweilte Männer bewachten die Gefangenen. Sie

besaßen Gewehre und hatten lange Schwerter an ihren Gürteln
hängen. Kumase war sicher vor feindlichen Eindringlingen und
kannte kaum Verbrechen. Die gefangenen Krieger waren mit
Eisenketten an die Holzpflöcke gebunden. Es war
ausgeschlossen, dass einer der Männer es schaffte, sich zu
befreien, und entsprechend nachlässig benahmen sich die
Asante-Krieger. Um nicht einzuschlafen, liefen sie über den
Marktplatz und unterhielten sich flüsternd. Bensua konnte
nicht verstehen, was sie sagten.

Sie wartete, bis sie zwischen einigen Hütten verschwunden

waren, und rannte zu Ottobah. Der junge Krieger verstand
sofort und trank gierig, als Bensua ihm den Krug an die Lippen
setzte. »Ich heiße Bensua«, sagte sie leise. »Du bist ein
tapferer Mann. Du sollst nicht sterben!« Sie schüttete das
restliche Wasser über seinen Kopf und schenkte ihm ein
schüchternes Lächeln, bevor sie davoneilte.

»Bensua«, wiederholte er flüsternd. Und seine Augen

leuchteten wie bei einem Jäger, der einen starken Löwen
besiegt hatte.

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4



Ottobah gehörte zu den Sklaven, die in den Goldminen
arbeiten mussten. Jeden Morgen zogen die Fante unter strenger
Aufsicht aus der Stadt, stiegen in die Erdlöcher hinab und
schufteten in der sengenden Hitze, bis sie vor Erschöpfung
beinahe zusammenbrachen. Nur mittags, wenn die Sonne am
höchsten stand und ihre Strahlen bis tief unter die Erde
schickte, wurde eine Pause eingelegt. Die Männer bekamen
etwas zu essen und durften sich mit dem Wasser aus der
Zisterne erfrischen. Die Arbeit war anstrengend. In den Minen
staute sich die Hitze und der Staub legte sich auf die Lungen
und machte das Atmen schwer. Doch Ottobah war stark und
ließ sich nicht unterkriegen.

Schon während des erniedrigenden Marsches nach Kumase

hatte ihn der Gedanke an eine baldige Flucht am Leben
erhalten. Die Hoffnung, den Kriegern der Asante zu
entkommen, ließ ihn gefesselt durch den Sumpf kriechen und
das Ungeziefer essen, das ihnen die Asante vorwarfen. Wie ein
Fels hatte er den tosenden Unwettern der Regenzeit getrotzt.
Die feindlichen Krieger waren in der Überzahl und es hatte
keine Möglichkeit zur Flucht gegeben. Aber er hatte nicht
verzagt und wollte die erste Gelegenheit nutzen, in die Heimat
zurückzukehren. Auch wenn die Asante viele Gefangene in ihr
Volk aufnahmen – er würde sich den Feinden niemals
unterwerfen. Eher würde er sterben.

Bensua hatte seine Pläne durchkreuzt. Die Asante hatte seine

Seele berührt und ein Gefühl in ihm geweckt, das er bisher
nicht gekannt hatte. Er mochte die junge Frau. Als sie mit dem
Wasserkrug auf den Marktplatz gekommen war, hatte ihn ein

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seltsames Gefühl der Wärme durchströmt, und der Wunsch,
die Ketten abzustreifen und sie in die Arme zu nehmen, war
beinahe übermächtig gewesen. In ihren Augen hatte er
denselben Wunsch gesehen. Nachdem sie gegangen war, hatte
er kein Auge zugetan und darüber nachgedacht, ob es eine
Zukunft für sie geben konnte. Er wusste nicht, ob es einer
Asante gestattet war, einen Sklaven zu heiraten. Bei den Fante
wäre eine solche Ehe unmöglich gewesen. Man hätte die
beiden den Göttern geopfert.

Mit der morgendlichen Hitze kehrte die Ernüchterung zurück.

Er machte sich etwas vor. Er hatte sich die Zuneigung der
schönen Asante nur eingebildet. Die junge Frau hatte Mitleid
mit ihm. Sie hatte ein Gesetz gebrochen und einem
Gefangenen geholfen, aber das bedeutete noch lange nicht,
dass sie sich ihn verliebt hatte. Die Krieger des Clans
bestimmten, welchen Mann eine Frau heiraten durfte. So war
es bei den Fante und so würde es wohl auch bei den Asante
sein. Selbst wenn sie ihn mochte, gab es keine Zukunft für sie.
Er tat gut daran, an seinem ursprünglichen Plan festzuhalten.
Entweder entkam er den Feinden und kehrte in die Heimat
zurück oder er starb in einem heldenhaften Kampf.

Bensua empfand die verwirrenden Gefühle, die fast jeden

ihrer Gedanken bestimmten, als schwere Bürde. Ihr Leben
hatte sich von einem Tag auf den anderen verändert. Sie war
gezwungen einer Bestimmung zu folgen, die sie nicht verstand,
und musste ihrer Familie etwas vormachen. Unter dem
Vorwand, eine Freundin zu besuchen, ging sie fast jeden
Abend aus dem Haus und schlich zu den schäbigen Hütten, in
denen die Sklaven wohnten. Hinter einer Lehmmauer wartete
sie auf die Rückkehr des Fante. In diesem Stadtteil waren
besonders viele Polizisten unterwegs und sie wollte nicht
entdeckt werden. Sobald die Gefangenen zu ihrem Volk
gehörten, würde es leichter sein, Ottobah zu treffen.

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Noch waren ihre Gefühle so widersprüchlich, dass sie nicht

einmal an eine Heirat dachte. Sie hatte nie einen Mann geliebt
und sich wie alle jungen Frauen der Asante darauf verlassen,
dass die Krieger der Abusua, der mütterlichen Familie, einen
Mann für sie aussuchten. So war es Brauch bei ihrem Volk.
Die Zuneigung zu einem Mann entwickelte sich während einer
Ehe, so war es schon bei ihren Eltern gewesen. »Hab Geduld«,
antwortete ihre Mutter lachend, wenn Bensua nach ihrer
Zukunft fragte, »auch für dich wird es einen Mann geben, der
dich versorgt.« Für eine Frau war es am wichtigsten, dass sie
ihr Leben lang versorgt war. Deshalb ehelichten die meisten
Krieger mehrere Frauen. Es gab mehr Frauen als Männer bei
den Asante.

Während ihrer heimlichen Treffen sprachen Bensua und

Ottobah nicht über solche heiklen Themen. Sie begegneten
einander schüchtern und vorsichtig, vermieden es, den anderen
zu berühren, und ergaben sich den vielfältigen Gedanken.
Vorsichtig wägten sie jedes ihrer Worte ab. Ottobah fürchtete
sich davor, dass die junge Asante nur vom Mitleid geleitet
wurde, und Bensua wollte gar nicht verstehen, warum sie jeden
Abend das Haus verließ und den Krieger besuchte. Sie
genossen den Augenblick und das Gefühl, im silbernen Schein
des Mondes und der Sterne zu sitzen und der Welt entrückt zu
sein. Es war beruhigend mit einem Menschen zu sprechen, den
man mochte, und mehr über seine Heimat und seine Gedanken
zu erfahren.

»Du hast den Markt gesehen«, begann Bensua. »Ich habe

diese Stadt nie verlassen, aber ich weiß, dass wir den größten
Markt des ganzen Landes haben! Das sagen sogar die Araber,
die durch die große Sandwüste zu uns kommen! Hast du von
den Taschendieben des Königs gehört? Sie versuchen den
Menschen ihre Waren oder die Muscheln zu entwenden, und
wer sie dabei ertappt, darf sie so lange schlagen, wie er will!

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Aber sie sind sehr gerissen und lassen sich kaum einmal
erwischen.«

Ottobah erzählte von seiner Ausbildung als Jäger und wie er

zum ersten Mal vor einem mächtigen Löwen gestanden hatte.
Er hatte die Raubkatze mit seinem Speer getötet und noch viele
Tage später von dem Augenblick geträumt, als sie
losgesprungen war. Urplötzlich hatte sich der Löwe aus seiner
Erstarrung gelöst und war mit ein paar Sätzen bei ihm
gewesen. Er hatte den bedrohlichen Schatten der Raubkatze
gespürt und ihre mächtigen Reißzähne gesehen.

»Wenn meine Freunde nicht gekommen wären und mich

gewarnt hätten, wäre ich verloren gewesen! Erst als ich ihre
Schreie hörte, habe ich den Speer geworfen.« Er lächelte
schwach. »Sein Fell hing in unserer Hütte.«

Bensua fragte nicht nach den Verwandten des jungen

Kriegers. Sie hatte Angst, dass die Asante sie getötet hatten,
und wollte nicht, dass er daran erinnert wurde. Die magischen
Augenblicke, die sie im Schatten der Lehmmauer erlebten,
durften nicht gestört werden. Die Gegenwart des Fante war so
angenehm, seine feste Stimme und der entschlossene Blick, die
Fähigkeit, ihr zuzuhören, selbst wenn sie über belanglose
Dinge sprach. Nach zwei Wochen waren sie so vertraut
miteinander, dass sie unbewusst eine Hand auf seinen Arm
legte und zufrieden lächelte, als er die Berührung erwiderte
und ihre Wange streichelte. »Du bist zu einem Teil meines
Lebens geworden«, sagte er.

Jetzt ahnten sie, dass aus der Zuneigung aufrichtige Liebe

werden konnte. Ein übermächtiges Gefühl, das jeden ihrer
Gedanken bestimmte. Sie tauschten die ersten Zärtlichkeiten
aus. Vorsichtige Berührungen und andere Zärtlichkeiten, die
bald in leidenschaftliche Umarmungen übergingen und sie an
den Rand der Leidenschaft trieben. Noch hatten sie Angst,
über eine gemeinsame Zukunft zu reden, weil jeder von ihnen

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wusste, wie abwegig eine Ehe zwischen einer Asante und
einem Sklaven war, aber wenn sie in ihre Decken gehüllt
nebeneinander lagen, träumten sie von einer besseren Welt, in
der Asante und Fante gleichberechtigt und friedlich
nebeneinander leben. Ein Traum, der niemals in Erfüllung
gehen würde. Doch sie wollten so lange wie möglich daran
festhalten und nur aufgeben, wenn die Götter sie im Stich
ließen.

Ihr Traum endete im Dezember, ausgerechnet dann, als die

angenehme Jahreszeit begann und die ersten trockenen Winde
aus der Wüste kamen und für ein besseres Klima sorgten. Ihr
Onkel erwartete sie vor dem Haus und sagte:

»Das Wetter hat umgeschlagen. Wir wollen ein paar Schritte

gehen, mein Kind.«

Seine Stimme klang ernst und die Art, wie er sie ansah,

machte sie nervös. Sie ahnte, dass er ihr etwas Wichtiges
mitteilen wollte. Nur mühsam unterdrückte sie ihre Angst.
Wenn er herausbekommen hatte, dass sie sich heimlich mit
einem Sklaven traf, würde sie eine empfindliche Strafe
erhalten. Sie folgte ihm auf die Hauptstraße und ging langsam
neben ihm her. Dabei vermied sie es, ihm in die Augen zu
blicken. Obwohl es während der Nacht merklich abgekühlt
hatte, waren ihre Hände schweißnass.

»Ich erinnere mich an die Zeit, als du ein kleines Mädchen

warst«, begann er. »Damals sind wir oft spazieren gegangen.
Ich habe dir Geschichten erzählt und du bist mir weggelaufen
und hast dich mit den Jungen im Schlamm gewälzt!« Er griff
schmunzelnd nach ihrer Hand. »Seitdem sind viele Jahre
vergangen. Unser Reich ist größer geworden. Unsere Krieger
haben viele Siege errungen. Unsere Jäger haben starke Tiere
erlegt.« Er ließ die Worte auf sie wirken und fügte hinzu: »Du
bist erwachsen.«

»Was willst du mir sagen, Onkel?«, fragte sie ungeduldig.

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Er blieb unter einem Palmendach stehen und nahm lächelnd

ihre andere Hand. »Du bist in dem Alter, in dem Mädchen
heiraten. Wir haben einen Mann für dich gefunden, mein
Kind!«

Sie verstand die Worte nicht sofort. Erst als ihr Onkel den

bedeutungsschweren Satz wiederholte, kapierte sie. Blankes
Entsetzen lähmte ihre Gedanken. Sie starrte ihn mit leeren
Augen an, als hätte er behauptet, die Welt würde in einer
riesigen Feuersbrunst versinken und alle Asante mit sich
reißen. Irgendwie war es auch so. Ihre Welt ging unter. Mit
einem Satz hatte ihr Onkel die Zukunft vernichtet und ihr
Leben bedeutungslos gemacht.

»Hast du mich verstanden, mein Kind? Ich weiß, so eine

Nachricht kommt immer etwas plötzlich. Das war bei deiner
Mutter nicht anders. Als man ihr sagte, dass dein Vater sie
heiraten werde, war sie sprachlos. Es dauerte lange, bis sie ihr
Glück fasste. Dein Vater ist ein tapferer Krieger und ein großer
Jäger.«

»Ich weiß, Onkel. Ich weiß.«
Sein Lächeln blieb. Er ahnte nicht, welchen Traum er zerstört

hatte, und glaubte, dass der entsetzte Ausdruck in ihren Augen
an der Aufregung lag, die jedes Mädchen empfand, wenn man
ihr die baldige Heirat in Aussicht stellte. »Nun, willst du denn
gar nicht wissen, wie der Mann heißt, der dich zur Frau
bekommt?«

»Wie heißt der Mann, Onkel?«, fragte sie tonlos.
»Kwaku«, antwortete er, »ein junger Krieger des Oyoko-

Clans. Du hast ihn bei der Odurira gesehen. Er war einer der
besten Tänzer und er ist im Begriff, ein großer Jäger zu
werden. Er wird dir ein guter Ehemann sein, das hat er bei
seiner Ehre versprochen! Du bist seine erste Frau. Er wird dich
beschützen, mein Kind.«

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»Kwaku«, wiederholte sie seinen Namen. Eigentlich hätte sie

sich glücklich schätzen müssen. Aus dem Oyoko-Clan waren
zahlreiche Könige hervorgegangen und seine Mitglieder
gehörten zu den edelsten Kriegern der Asante. Es hatte
sicherlich viel Überzeugungskraft gekostet, die Angehörigen
eines königlichen Clans zur Ehe mit der Tochter eines
einfachen Jägers und Farmers zu überreden. Auch wenn ihr
Vater einen riesigen Löwen getötet und erfolgreich gegen die
Fante gekämpft hatte, gab es angesehenere Männer bei den
Asante. In ihr floss das Blut einer einfachen Frau, die den
königlichen Palast niemals von innen gesehen hatte. Kwaku
war der Nachfahre legendärer Herrscher und Krieger und
würde einmal zur königlichen Wache gehören.

»Kwaku«, sagte sie noch einmal. Sie bekämpfte das

lähmende Gefühl, das ihren Körper ergriffen hatte, und
versuchte sich gegen das drohende Schicksal aufzulehnen.

»Ich bin eine einfache Frau. Wie kann ich einen Krieger des

Oyoko-Clans heiraten?«

Ihr Onkel lächelte stolz. »Kwaku hat dich gesehen und

besteht darauf, dich zu seiner Frau zu nehmen. Er sagt, dass
dich deine sanftmütigen Augen und deine schlanke Gestalt zu
einer Prinzessin machen. Er wird dich mit Gold überschütten,
mein Kind!«

»Das hat er gesagt?«
»Ist das nicht wunderbar?«
Bensua löste sich von ihrem Onkel und ging einige Schritte.

Verzweifelt kämpfte sie gegen ihre Tränen an. Noch vor
wenigen Wochen wäre sie tief beeindruckt und geehrt
gewesen, ein solches Angebot zu bekommen, doch jetzt waren
ihre Gedanken bei Ottobah und sie zitterte beinahe vor
Verzweiflung. Sie verschmähte einen königlichen Krieger und
sehnte sich nach einem Sklaven, der jeden Morgen mit dem
Tod rechnen musste.

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Ihr Onkel deutete ihre Unruhe falsch und legte eine Hand auf

ihre Schulter. »Du bist bewegt, das verstehe ich. Ich gebe dir
besser Zeit, dich von dieser Überraschung zu erholen. Lauf,
mein Kind! Wir sehen uns heute Abend und dann wollen wir
darauf anstoßen. So feiern die Europäer eine freudige
Nachricht. Ich habe noch etwas Rum und werde auf deine
Zukunft trinken.«

Bensua war froh, ihm auf diese Weise zu entkommen, und

rannte hastig davon. Erst als ihr Herzschlag raste und sie kaum
noch Luft bekam, blieb sie stehen. Sie sank gegen eine
Hauswand und rutschte weinend daran hinunter. Tränen der
Verzweiflung flossen über ihr Gesicht. Sie schluchzte, bis
keine Tränen mehr kommen wollten, und beschimpfte die
Götter, die sie im Stich gelassen hatten. Über eine Stunde blieb
sie auf dem harten Boden sitzen. Der Wind, der aus der Wüste
kam, trocknete ihre Tränen und brachte sie schließlich dazu,
sich zu erheben und trotzig die Straße hinaufzublicken. Sie
würde niemals auf Ottobah verzichten! Eher würde sie sterben,
als den Krieger des Oyoko-Clans zu heiraten.

Am Abend desselben Tages traf Bensua den Sklaven und

berichtete zögernd von der Entscheidung ihres Onkels. Ottobah
hörte mit steinernem Gesicht zu. Er hatte mit einer solchen
Nachricht gerechnet, aber nicht erwartet, dass sie so bald kam.

»Ich werde es nicht tun!«, entschied sie. »Ich werde ihn nicht

heiraten! Wie kann ich ihm eine gute Frau sein, wenn ich
ständig an dich denken muss? Lass uns fliehen, Ottobah!
Irgendwo muss es doch ein Land geben, in dem wir zusammen
leben können!«

Ottobah dachte über ihren Vorschlag nach. Er wollte ihr nicht

wehtun und zögerte die Antwort so lange wie möglich hinaus.
Selbst wenn er allein floh, waren die Chancen gering, die
Heimat der Fante zu erreichen. Mit einer Frau war es beinahe
unmöglich. Die Asante würden nicht zulassen, dass ein

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minderwertiger Sklave sie bloßstellte. Und sie würden auf
keinen Fall hinnehmen, dass eine ihrer Frauen sich ihren
Regeln widersetzte. Sie würden ihre erfahrensten Krieger
losschicken um sie einzufangen und selbst ihr Onkel und ihr
Vater würden an dieser Jagd teilnehmen. Wenn sie ihrer
habhaft wurden, würde man sie auf den Marktplatz schleifen
und öffentlich hinrichten.

»Das ist gefährlich«, versuchte er Bensua umzustimmen. »Sie

würden schon nach wenigen Stunden merken, dass wir
geflohen sind. Wenn wir es überhaupt schaffen, an den
Polizisten vorbei aus der Stadt zu kommen! Wir werden streng
bewacht!«

»Das weiß ich, Ottobah! Aber wir müssen es versuchen!«
»Ich will nicht, dass du geköpft wirst!«
»Und ich will nicht, dass sie dich hinrichten!«, flüsterte

Bensua. »Ein gemeinsamer Tod ist mir lieber als ein leeres
Leben!«

»Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte er.
»Das ist gut«, stimmte sie zu. Sie umarmte ihn länger als

sonst und blickte ihm tief in die Augen, bevor sie in die
Dunkelheit verschwand. Sie war überzeugt davon, dass er sich
auf eine gemeinsame Flucht einließ, wenn er länger darüber
nachdachte, und beschloss die ganze Nacht zu ihren Vorfahren
zu beten und sie zu bitten die Götter milde zu stimmen. Nur
wenn sie auf ihrer Seite waren, konnten sie es schaffen. Sie
zwang sich, nicht an die Risiken zu denken, und hielt einige
Minuten in einer dunklen Gasse inne und reinigte ihre
Gedanken, bevor sie zu ihrer Familie zurückkehrte. Sie durfte
sich nichts anmerken lassen.

Vor dem Haus blieb sie stehen. Die Stimme eines fremden

Mannes drang aus der offenen Tür. Er sagte: »Ich freue mich,
dass wir uns so schnell einig geworden sind, mein Freund! Ich
weiß, dass es keine Krankheiten in eurer Familie gibt, und ihr

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wisst, von welchem Blut wir sind. Bensua wird meinem
Neffen gesunde Kinder gebären! Ich werde sie schon in
wenigen Tagen in das Haus meiner Schwester holen, um sie an
die Aufgaben in unserer Familie zu gewöhnen. Ihr habt doch
nichts dagegen?«

»Es ist uns eine große Ehre«, antwortete ihr Onkel für die

ganze Abusua. Wenn es um die Zukunft eines Kindes ging,
hatten die Brüder der Mutter mehr zu sagen als der Vater.
»Wenn du willst, kannst du es ihr selbst mitteilen. Sie wird
bald wieder hier sein.«

»Dein Wort ist mir genug«, meinte der Besucher. »Sobald

wir den Hochzeitstermin festgesetzt haben, sind wir für deine
Tochter bereit. Es war mir eine Ehre, bei euch zu Gast zu
sein!« Der königliche Besucher verabschiedete sich und
verließ das Haus.

Bensua schaffte es gerade noch, sich hinter einem Zaun zu

verstecken. Sie beobachtete zitternd, wie der stattliche Krieger
die Straße überquerte. Er trug einen Umhang aus kostbarem
Stoff und eine Kopfbedeckung aus Leopardenfell. An seinem
Gürtel hing ein goldverziertes Schwert.

Zweifellos gehörte er zu den tapfersten und stattlichsten

Kriegern des Königreichs. Er würde keinen Widerspruch
dulden und bestimmt keine Gnade walten lassen, wenn er
herausbekam, mit wem Bensua sich eingelassen hatte.
»Onyankopon Kwame, hilf mir«, flüsterte sie.

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5



Am Mittag des nächsten Tages herrschte große Unruhe in
Kumase. Die Trommler eines benachbarten Dorfes meldeten
die Ankunft eines bekannten Sklavenhändlers, der mit einer
ganzen Karawane voller Handelswaren in die Hauptstadt
unterwegs war. Willem van der Meyde war Holländer, ein
gewichtiger Kaufmann, der vor über zwanzig Jahren nach
Afrika gekommen war und in einem Fort an der Küste wohnte.
Er scheite sich nicht um das Sklavenverbot, das Engländer und
Dänen ausgesprochen hatten, tauschte minderwertige
Handelswaren aus Europa gegen Schwarze ein und verkaufte
sie an holländische und amerikanische Schiffseigentümer. Die
Engländer und Dänen kassierten eine unrechtmäßige Steuer für
jede Ladung und ließen ihn gewähren.

Bensua hatte die Trommeln gehört und machte sich große

Sorgen. Der Besuch des holländischen Händlers konnte nur
bedeuten, dass er neue Sklaven kaufen wollte, und dann war
Ottobah in großer Gefahr. Der Asantehene würde nicht zögern
die gefangenen Fante an den Holländer zu verkaufen. Sie
waren kräftig und gesund und würden einen guten Preis
bringen. Und wenn den Asante die Arbeiter in den Goldminen
ausgingen, würden sie noch einmal losziehen und ein Dorf
überfallen. Es war einfach, ein solches Unternehmen als
Strafaktion zu verkaufen. Es gab zahlreiche Häuptlinge, die
ihre Leute gegen die Asante aufbrachten.

Der Eintopf stand auf dem schweren Herd, den sie von einem

englischen Händler bekommen hatten, und ihre Mutter hatte
nichts dagegen, dass sie zum Palast ging. Bensua war nicht
allein. Aus allen Teilen der Stadt kamen Schaulustige, um die

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Ankunft des holländischen Händlers zu beobachten. Er war ein
bedeutender Mann und sie hatten ihm viel zu verdanken. Im
Laufe der Jahre hatte er sie mit begehrten Waren aus Europa
versorgt, sogar Salzfässer durch den Urwald schaffen lassen.
Etliche Krieger, darunter auch ihr Onkel und ihr Vater, waren
begierig darauf, etwas von dem Rum zu erwischen, der nach
seiner Ankunft verkauft wurde. Das größte Fass der Lieferung
landete in den Gewölben des Palastes. Der Preis, den der
König für die europäischen Waren zahlte, kümmerte die
Asante nicht. Ihre Goldvorräte waren unerschöpflich, so
glaubten sie, und als Sklaven wurden nur gefangene Krieger
verfeindeter Völker verkauft.

Die Trommeln wurden lauter und ließen auch den Herzschlag

der jungen Asante schneller werden. Voller Furcht blickte sie
dem holländischen Kaufmann entgegen, der mit seinem
Gefolge die Hauptstraße heraufkam. Wie ein König thronte er
in der Sänfte, die von vier kräftigen Sklaven getragen wurde.
Zu Fuß schaffte es kaum ein Weißer durch den Urwald, auch
nicht im Dezember und Januar, wenn die trockenen Winde aus
der Sahara für ein angenehmeres Klima sorgten. Seine weißen
Begleiter, ein Buchhalter und Sekretär und zwei erfahrene
Jäger mit schweren Gewehren, saßen auf einfachen
Tragbahren. Ihnen folgten die Schwarzen mit den
Handelskisten und Rumfässern.

Willem van der Meyde kletterte aus seiner Sänfte und

wischte sich mit einem weißen Tuch den Schweiß von der
Stirn. Seit seinem letzten Besuch war er noch schwerer
geworden. Er schnaufte bei jeder Bewegung und griff gierig
nach der Wasserflasche, die ein Sklave für ihn bereithielt.
Seine Augen waren kaum zu sehen, dazu war sein Gesicht viel
zu aufgedunsen, und die Hängebacken konnte auch sein
Vollbart nicht verdecken. Seine untersetzte Gestalt und die
langsamen Bewegungen täuschten darüber hinweg, wie

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grausam und unnachgiebig er sein konnte, wenn es um seinen
Profit ging. Er behandelte die Sklaven, die er als »Ware«
bezeichnete, wie ungeliebte Tiere und ließ seine Jäger mit
äußerster Härte vorgehen. Ihm waren alle Mittel, auch Mord
und Totschlag, recht, um immer sein Ziel zu erreichen.

Die Asante kümmerten sich nicht darum, welches Leid die

Sklaven ertragen mussten. Sie waren ein starkes Volk und
hielten sich für unbesiegbar. Die wenigen Krieger, die auf die
Schiffe der Sklavenhändler gebracht wurden, waren selbst
schuld gewesen. Solange die Asante nicht persönlich betroffen
waren, hörten sie nicht auf die Gerüchte, die von der Küste in
den Urwald drangen. Was kümmerte es sie, wenn die
verhassten Fante geschlagen und ausgepeitscht wurden? Wen
interessierte, dass unzählige Männer und Frauen der Nzima,
Adangbe und Ga gebrandet und auf die Segelschiffe der
Europäer gebracht worden waren? Den Asante konnte niemand
etwas anhaben. Ihre Stärke, ihr Kampfgeist und der Urwald
schützten sie gegen die weißen Männer.

Auch Bensua hatte so gedacht. Sie war eine stolze Frau und

hatte bisher fest daran geglaubt, dass die Asante allen anderen
Völkern überlegen waren. Aber seit ihrer Begegnung mit der
weißhaarigen Hexe dachte sie anders. Irgendwann würden
auch die Asante zu schwach sein, um sich gegen die
Übermacht der Europäer zu wehren. Dann würden sie einen
Mann wie den holländischen Sklavenhändler nicht mehr
willkommen heißen. Sie würden vor seinen Jägern in die
Büsche fliehen, um der Sklaverei in einem fernen Land zu
entgehen. Bensua konnte nicht ahnen, dass alles noch viel
schlimmer kommen würde, und bereits der nächste Morgen ein
neues Zeitalter einleitete. Sie fürchtete um den geliebten Fante,
und wie sich schon bald herausstellte, war ihre Angst nur zu
begründet. Nachdem Willem van der Meyde im Palast
verschwunden war, erschien ein Schwertträger des Königs und

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verkündete dem wartenden Volk, dass die Fante-Sklaven an
den Holländer verkauft würden. Man werde den Handel mit
einem großen Fest feiern. Nach Sonnenaufgang sollte einer der
Sklaven den Göttern geopfert werden.

Diese Ankündigung ließ Bensua noch niedergeschlagener

werden. Um sich nicht zu verraten täuschte sie eine leichte
Übelkeit vor und verzichtete auf den Eintopf, den sie selbst
gewürzt hatte. »Ich brauche frische Luft«, sagte sie.

»Ich glaube, dir haben die guten Nachrichten auf den Magen

geschlagen«, antwortete ihr Onkel ahnungslos.

Bensua ging nach draußen, blieb eine Weile im Schatten des

hervorstehenden Palmendaches stehen und atmete die trockene
Luft ein. Es tat gut, nach der langen Regenzeit die Wüste zu
spüren. Sie arbeitete im Hof, säuberte die Ställe und blickte
alle paar Minuten zum Himmel empor. Ungeduldig wartete sie
auf den Abend. Sie musste Ottobah warnen. Auch wenn der
König ihn ein Mal verschont hatte, war es möglich, dass er nun
geopfert wurde. Dem Holländer sollte ein grausames
Schauspiel geboten werden. Er sah gern bei Hinrichtungen zu.

Die Dunkelheit schien an diesem Tag besonders lange auf

sich warten zu lassen. Der Himmel wölbte sich leuchtend blau
über der Stadt. Bensua blickte wütend zur Sonne empor. Sie
hatte das Gefühl, von ihr verhöhnt zu werden, empfand das
strahlende Wetter als boshaftes Grinsen der bösen Geister, die
nur darauf warteten, sie ins Unglück zu schicken. Sie verließ
den heimatlichen Hof und wanderte ziellos durch die Stadt.
Die anderen Menschen beachtete sie kaum. Sie übersah sogar
eine Freundin ihrer Mutter, die mit einem großen Gefäß auf
dem Kopf von der Zisterne kam und ihr freundlich zulächelte.
Bensua ging weiter ohne sie anzusehen, ließ sich auf dem
Markt treiben, bis die Sonne unterging und dunkle Schatten auf
die Häuser fielen. Bald würden die Sklaven aus den Minen
kommen.

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Bei den runden Lehmhütten, in denen die Sklaven

untergebracht waren, erwartete sie eine unangenehme
Überraschung. Der König hatte die Wachen vervierfacht und
ließ alle Gefangenen in Ketten legen. Sie musste zusehen, wie
die Fante von den Kriegern ihres Volkes unsanft zu Boden
gestoßen und misshandelt wurden. Der Asante, der sie
ausgelacht hatte, schlug mit seiner Muskete auf einen jungen
Sklaven ein und hätte ihn wohl umgebracht, wenn ihn ein
anderer Asante nicht zurückgehalten hätte. Ottobah war nicht
zu sehen. Im düsteren Schein der Fackeln waren die
geschundenen Männer kaum zu erkennen. »Ottobah!«,
flüsterte Bensua verzweifelt. »Wie sollen wir jetzt fliehen?«

Ohne den Versuch gemacht zu haben, mit Ottobah zu

sprechen, kehrte sie nach Hause zurück. Es wäre selbst für
einen erfahrenen Krieger unmöglich gewesen, die Wachen zu
überlisten. Betrübt rollte sie sich in ihre Decken. Ihre
Verwandten glaubten immer noch, dass ihr übel war, und
ließen sie gewähren. Ihr Onkel machte eine Bemerkung, die sie
nicht verstand, und sie hörte, wie ihr Vater und ihre Mutter
lachten. Anscheinend hatte er wiederholt, was er zu ihr gesagt
hatte: dass ihr die guten Nachrichten schlecht bekommen
waren. Sie wusste von jungen Frauen, die vor ihrer Hochzeit
ohnmächtig geworden waren. Sie hatten die Aufregung nicht
ertragen. Die Eheschließung war ein Fest, das selbst von
einfachen Familien groß gefeiert wurde.

Sie schlief schlecht und träumte von dem holländischen

Sklavenhändler, wie er mit verzerrtem Gesicht über dem
blutenden Ottobah stand und ihn mit seiner Peitsche marterte.
Ottobah war an Armen und Beinen gefesselt. Er gab keinen
Laut von sich, aber das machte den Holländer nur noch
wütender und er schlug noch heftiger auf den Krieger ein. Sie
erwachte schweißüberströmt und starrte in die Dunkelheit. Es
war mitten in der Nacht. Sie stieg von ihrem Nachtlager,

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schlich auf den Hof hinaus und schöpfte frisches Wasser aus
dem Brunnen. Es vertrieb die bösen Geister und verlangsamte
ihren Herzschlag. Sie wartete, bis sich ihr Atem beruhigt hatte,
und kehrte zu ihrem Lager zurück. Vergeblich versuchte sie
wieder einzuschlafen. Mit weit geöffneten Augen lag sie
stumm auf dem Rücken, bis die ersten hellen Streifen zum
Fenster hereinfielen und die Sonne aufging.

Noch vor ihrer Mutter stand sie auf. Sie wusch sich, bereitete

heißen Tee und versuchte sich so normal wie möglich zu
benehmen. Zusammen mit ihren Verwandten ging sie zum
Palast. Der König hatte seine Untertanen gerufen und die
Familien kamen geschlossen, um dem feierlichen Handel
beizuwohnen. Erst vor dem Palast gelang es Bensua, sich von
ihren Verwandten zu lösen und allein in der Menge
unterzutauchen. Mit klopfendem Herzen bahnte sie sich einen
Weg nach vorn. Ihre Augen flackerten vor Angst und ihre
Beine drohten nachzugeben. Flüsternd betete sie zu den Ahnen
und allen Göttern, die sie kannte.

Die salbungsvollen Worte des Asantehene, der in seiner

königlichen Sänfte aus dem Palast getragen und von den
Schwertträgern begleitet wurde, hörte sie kaum. Auch den
holländischen Kaufmann, der unter einem goldverzierten
Baldachin Platz nehmen durfte, beachtete sie nicht. Sie suchte
verzweifelt nach den Kriegern, die Willem van der Meyde
gekauft hatte und an die Küste mitnehmen würde. Und sie
wartete auf den entscheidenden Augenblick, wenn einige
Krieger ihres Volkes einen der Gefangenen über die
Hauptstraße treiben und dem Henker übergeben würden.
Welchen Mann hatte der König ausgesucht? Oder hatte er es
dem Holländer überlassen ein Opfer auszuwählen?

Dumpfes Trommeln und ein heftiger Fanfarenstoß der

königlichen Trompeter kündigten den feierlichen Augenblick
an. »Mein Freund!«, wandte sich der Asantehene an den

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Holländer. »Du bist von weither gekommen, um mit dem
mächtigen Herrscher der Asante zu speisen! Du hast uns die
Waren gebracht, die du uns versprochen hattest! Du hast dich
vor dem Akondwa verneigt und die Übermacht unseres Volkes
anerkannt! Dafür wollen wir die Götter loben! Wir werden
ihnen ein Opfer bringen, das sie günstig stimmt und dazu
bringt, dich auf deinem langen Weg zu beschützen! Blicke
nach Osten, mein Freund, und erfreue dich am Anblick des
heimtückischen Fante, der für dich sterben wird!«

Bensua kniff die Augen gegen das grelle Sonnenlicht

zusammen und atmete erleichtert auf. Der unglückselige
Gefangene, der von zwei Asante an Lederseilen über die
Hauptstraße gezogen wurde, war älter als Ottobah. Sie wusste
seinen Namen nicht, erinnerte sich aber, in seine Augen
geblickt zu haben. Er stolperte wie ein tödlich getroffenes
Wild. Seine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Durch
seine Wangen war ein Jagdmesser gestoßen worden, damit er
den König nicht verfluchen konnte. In seinem Rücken steckten
kleinere Messer. Unter den Klängen des königlichen
Orchesters trieben ihn die Asante vor den König, der ihn
verächtlich musterte und vor den Augen seiner Untertanen und
des Holländers an den Henker weitergab.

Mit einem kräftigen Schwerthieb köpfte der Asante den

verurteilten Sklaven. Der Fante ertrug sein Schicksal, ohne zu
wimmern und um sein Leben zu flehen. Er starb lautlos. Die
Asante zeigten kein Mitleid, jubelten sogar, als das Urteil
vollstreckt war, und verneigten sich vor dem König und
seinem hohen Gast. Sie empfanden eine Hinrichtung nicht als
Mord, es war bloß eine Notwendigkeit, die Götter mit dem
Blut unwürdiger Menschen zu versöhnen. Der grausame Tod
der Gefangenen und manchmal sogar unschuldiger Asante war
der Preis, den sie an Onyankopon Kwame und seine Götter zu

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zahlen hatten. Ohne die Menschenopfer würde sie der geballte
Zorn der Götter vernichten.

Die Überreste des geopferten Fante wurden weggebracht und

das königliche Orchester sorgte mit einem heiteren Marsch für
gelöste Stimmung. Der Asantehene wusste, was er seinem
Volk schuldig war. Willem van der Meyde hatte keine Miene
verzogen, als der Sklave gebracht worden war, und lächelte
sogar, als der Scharfrichter seine blutige Arbeit erledigte. Ihm
war der Tod eines Schwarzen gleichgültig und er machte kaum
einen Unterschied zwischen einem Asante oder Fante. Für ihn
waren die Schwarzen nichts weiter als primitive Tiere,
minderwertige Wesen, die nur den einen Vorteil hatten, dass
man sie Gewinn bringend in ferne Länder verkaufen konnte. Er
hütete sich jedoch diese Gedanken einem anderen Menschen
mitzuteilen. Er hofierte den Asantehene und verwöhnte ihn mit
europäischen Handelswaren, weil er keinen anderen Mann
kannte, der so viel Gold besaß. Und der es verstand, so viele
Sklaven aufzutreiben.

Vierzig Männer und Frauen und zwanzig Goldbarren hatte

Willem van der Meyde für seine Waren verlangt. Sie hatten
sich auf dreißig Sklaven und fünfzehn Goldbarren geeinigt und
der Händler hatte versprochen bei seinem nächsten Besuch
noch mehr Rum mitzubringen. Den scharfen Rum von den
Westindischen Inseln trank der König am liebsten. Weil der
Asantehene nur neunzehn gefangene Fante besaß, ließ er einige
weibliche Sklaven und zwei Asante von seinen
Schwertmännern festnehmen. Die Asante, zwei erwachsene
Krieger, kamen aus dem Armenviertel und protestierten
wütend gegen ihre Festnahme. Sie mussten gefesselt und
geknebelt werden, sonst wären sie mit den bloßen Händen auf
die Schwertmänner losgegangen.

Unter den Schaulustigen entstand Unruhe, als die gefesselten

Sklaven auf den Platz getrieben wurden. Die beiden Jäger, die

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mit dem Holländer gekommen waren, hielten sie mit ihren
Gewehren in Schach. Auch die Schwertmänner hatten ihre
Waffen gezogen. Vielen Zuschauern gefiel nicht, dass zwei
Asante an den Holländer verkauft werden sollten. Es gab
genug Fremde in der Stadt, die sie eher geopfert hätten. Sie
ahnten nicht, dass Osei Yaw eine eigene Strategie verfolgte. Er
wollte die Bewohner der Hauptstadt früh genug daran
gewöhnen, eigene Opfer zu bringen. Wenn es zu einem Krieg
gegen die Engländer kam, konnte er es sich nicht leisten,
weiter gegen die Fante zu kämpfen, und war gezwungen, dem
Holländer eigene Untertanen auszuliefern. Mit Gold allein gab
sich der Händler nicht zufrieden und Osei Yaw wollte auch
nicht auf den Rum und die kostbaren Waren verzichten.

»Mein Volk«, rief er in die aufkommende Unruhe, »ich weiß,

was eure Herzen bewegt! Warum sollen wir zwei Krieger der
Asante opfern, wenn es noch genug Sklaven in unserer Stadt
gibt? Ich sage euch warum, meine Freunde!« Seine Miene
wurde grimmig und er deutete mit dem ausgestreckten Finger
auf die beiden Unglücklichen. »Diese Krieger haben gegen
unsere Gesetze verstoßen! Sie haben von dem Wasser
getrunken, das für die Schwertmänner des Palastes bestimmt
war, und was noch viel schlimmer ist, sie haben die Stadt
verlassen und die Götter beschimpft! Eigentlich hätten sie
einen grausamen Tod verdient, aber ich habe in meiner
unermesslichen Güte beschlossen, sie meinem holländischen
Freund zu verkaufen! Sie werden ihm viel Gold bringen! Ihr
Verkauf wird die zornigen Götter versöhnen!«

Jedes seiner Worte war gelogen. Wenn die beiden Krieger

wirklich diese Verbrechen begangen hätten, wären sie auf der
Stelle hingerichtet worden. Dann hätte sich der König auch
nicht durch einen goldgierigen Händler umstimmen lassen.
Aber außer wenigen Königstreuen wusste niemand, dass die
Männer ihr Haus gar nicht verlassen hatten. Nun waren sie

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geknebelt und konnten sich nicht wehren. »Ich bin der
Asentehene«, beendete der König seine Ansprache, »ich bin
der Herrscher eines Volkes, das niemals ein Unrecht dulden
wird! Und jetzt lasst uns feiern! Wir wollen dem Palmwein
zusprechen, während unser holländischer Freund mit seiner
Beute an die Küste zurückkehrt! Dies ist ein großer Tag für die
Asante, denn wir haben ein Unrecht gesühnt und einen
Menschen glücklich gemacht!« Kein Asante spürte die
Verlogenheit dieser Worte. Am wenigsten Bensua, die tatenlos
zusehen musste, wie die mit Ketten gefesselten Sklaven über
den Marktplatz und aus der Stadt getrieben wurden. Selbst ein
entschlossener Krieger wie Ottobah war machtlos gegen diese
Behandlung. Fluchend folgte er dem Sklavenhändler, ein
Schicksal vor Augen, das grausamer als der Tod war. Sein
verzweifelter Schrei tönte durch die Stadt und erreichte
Bensua, die neben einer Hütte stehen blieb und weinend der
Karawane nachblickte. Würde sie ihn jemals wieder sehen?

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6



In ihrer Verzweiflung beschloss Bensua der Sklavenkarawane
zu folgen. Ohne weiter zu überlegen rannte sie nach Hause
zurück. Sie stopfte Lebensmittel in eine Umhängetasche und
füllte eine Wasserflasche. Zögernd griff sie nach einem der
Jagdmesser, das ihr Onkel geschliffen und auf den Tisch gelegt
hatte. Sie fuhr mit dem Daumen über die scharfe Klinge und
erschrak, als die Haut aufplatzte und Blut hervorsickerte. Sie
verstaute das Messer in der Tasche und schlich aus dem Haus.
Mit einem raschen Blick überzeugte sie sich davon, dass ihre
Verwandten noch nicht zurückkamen. Sie durfte ihnen auf
keinen Fall begegnen. Geduckt tauchte sie in einer schmalen
Gasse unter. Die meisten Bewohner waren noch beim Palast
und jubelten dem König zu und sie begegnete kaum einem
Menschen. Selbst Polizisten waren nicht zu sehen. Der
ausgetretene Pfad, der von der Hauptstraße abzweigte und aus
der Stadt führte, lag verlassen vor ihr.

So schnell sie konnte, rannte sie davon. Wie eine Antilope,

die vor einem Löwen flieht, sprang sie durch das hüfthohe
Gras. Erst als sie den Waldrand erreicht hatte und ungefähr
zwei Kilometer von der Stadt entfernt war, wurde ihr klar, was
sie getan hatte. Sie blieb keuchend stehen und blickte zurück.
Ihre Heimatstadt war hinter einem Hügel verschwunden. Es
gab kein Zurück mehr. Niemals würde sie Kumase wieder
sehen. Ihre Familie, ihre Freunde, es gab sie nicht mehr.
Sobald sie herausfanden, was sie getan hatte, würde großes
Wehklagen einsetzen, gefolgt von der unerträglichen Scham,
eine Verräterin aufgezogen zu haben. Der königliche Krieger,
der um sie geworben hatte, würde sein Schwert ziehen und sie

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öffentlich verfluchen. Ihr Onkel würde der Familie verbieten
ihren Namen auszusprechen. Und der König würde seine
Schwertmänner losschicken um sie zurückzuholen. Nur ihre
Hinrichtung würde die Götter versöhnen.

Entschlossen rannte sie weiter. Wenige hundert Meter vor ihr

bewegte sich die Sklavenkarawane durch den Urwald. Bensua
war beweglicher als die Coffle, wie eine solche Karawane von
den Weißen genannt wurde, und würde sie bald eingeholt
haben. Was sie dann unternehmen sollte, wusste sie nicht. Ihr
Verstand sagte ihr, dass es selbst für einen erfahrenen Krieger
unmöglich gewesen wäre, einen Gefangenen zu befreien.
Immer fünf Sklaven, darunter auch zwei Frauen, waren mit
Ketten aneinander gefesselt und trugen schwere Balken auf
den Schultern, die man mit Lederschnüren an ihren Hals
gebunden hatte. Stabile Eisenringe umschlossen die
Fußgelenke der Unglücklichen. Den Schlüssel zu den
Vorhängeschlössern hatte Willem van der Meyde in seiner
Tasche stecken. Seine Jäger waren mit Gewehren und
Peitschen bewaffnet und auch die schwarzen Träger würden
nicht zögern eine Befreiung der Sklaven zu verhindern. Sie
wussten, dass sie selbst verkauft würden, wenn ein solcher
Angriff gelang. Es musste einen anderen Weg für Bensua
geben, Ottobah aus den Händen des Händlers zu befreien.

Der holländische Händler würde ungefähr einen Monat

brauchen um die Küste zu erreichen. Mehr als fünf Meilen an
einem Tag schaffte eine Coffle nicht durch den Regenwald.
Wie ein unüberwindbares Hindernis stemmte sich der
Dschungel gegen die Eindringlinge. Über hundert Meter ragten
die mächtigen Bäume empor, bildeten ein grünes Dach, das
kaum Sonnenstrahlen durchließ. Das wenige Licht brach sich
auf den feuchten Blättern und Blumen, ließ geheimnisvolle
Schatten durch das Unterholz geistern und spiegelte sich auf
dem silbernen Fell kleiner Affen. Farbenprächtige Blumen

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rankten sich an dem Buschwerk empor, dürsteten nach den
Regentropfen, die von den riesigen Farnen fielen. Bunte
Schmetterlinge leuchteten in dem dichten Grün. Papageien
krächzten, Vögel zwitscherten, Insekten summten. Das
vielstimmige Konzert der vierbeinigen Bewohner begleitete
die Menschen über den kaum sichtbaren Trampelpfad, ließ die
weißen Männer nach wilden Tieren Ausschau halten und
nervös zu den Waffen greifen. Ein Leopard fauchte. Sein
geflecktes Fell blitzte zwischen den Bäumen auf.

Für die weißen Männer war der Urwald eine grüne Hölle, ein

undurchdringliches Hindernis, das jeden Eindringling mit
seinen Schlingpflanzen umfing und nicht mehr losließ. An der
Küste wurde die Geschichte eines Mannes erzählt, der sich ein
paar Meter von seiner Karawane entfernt hatte und von einem
Augenblick auf den anderen zu einem Gefangenen der Wildnis
geworden war. Er wurde nie mehr gesehen. Nur ein paar
hundert Meter von der rettenden Küste entfernt verirrte er sich
in dem Gewirr aus Bäumen, Büschen und Schlingpflanzen,
starb einsam im Dunkel des Waldes oder endete als Beute
eines wilden Tieres, das ihn in sein Versteck schleifte. Im
tropischen Regenwald warteten tödliche Geheimnisse, die
jedem Weißen zum Verhängnis wurden, wenn er auf die Hilfe
eines Schwarzen verzichtete. Nur die Bewohner des
Dschungels kannten sich darin aus.

Bensua hatte keine Angst. Obwohl sie in der größten Stadt

des Asante-Reiches aufgewachsen war, hatte sie ihren Onkel
und ihren Vater oft in den Urwald begleitet und war mit seinen
Geheimnissen vertraut. Sie kannte die Tiere und Pflanzen,
wusste die essbaren von den giftigen Früchten zu
unterscheiden. Sie hatte gelernt, mit welchen Kräutern man
eine Krankheit heilen konnte. Ihr Respekt vor den wilden
Tieren und der mächtigen Pythonschlange war groß, aber sie
ließ sich nicht einschüchtern und verließ sich auf ihren

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angeborenen Instinkt, der sie sicher über den einsamen Pfad
führte. Die Hitze, die sich auch unter dem grünen Dach des
Regenwaldes staute, machte ihr kaum etwas aus. Und wenn es
gefährlich wurde, hatte sie immer noch das Jagdmesser ihres
Onkels um sich zu wehren.

Sie blieb neben einem mächtigen Baumstamm stehen und

lauschte angestrengt. Ihr Blick reichte keine fünf Meter weit,
verlor sich in dem verwirrenden Grün des Waldes. Ihr blieb
nur das Gehör um einen Feind auszumachen. Eine Raubkatze,
eine Schlange, einen Krieger der Asante, der aus einem
benachbarten Dorf kam und zufällig auf sie stieß. Sobald sie
ihre Flucht bemerkten, würden auch die Schwertmänner auf
ihrer Spur sein um sie nach Kumase zurückzuholen. Viel Zeit
blieb ihr nicht. Die Krieger waren es gewohnt einen Feind
durch den Dschungel zu verfolgen und würden sie einholen.
Auch wenn es noch einige Zeit dauern würde, bis sie ihr
Verschwinden bemerkten. Und gegen die besten Krieger des
Königs war sie selbst mit einem Messer machtlos. Nur eine
List konnte ihr helfen, den unerbittlichen Verfolgern zu
entkommen. Und der Beistand der Götter, die sich vielleicht
erweichen ließen und ihrer Liebe zu dem gefangenen Fante
eine Chance gaben.

Was sie unternehmen würde, falls es ihr wirklich gelang den

Verfolgern zu entkommen, wusste sie nicht. Sie hatte keinen
festen Plan, nicht mal eine vage Idee, wie sie Ottobah befreien
konnte. An den Schlüssel würde sie niemals herankommen,
nicht einmal nachts. Das schaffte nur ein Krieger wie ihr
Onkel, der sich auch einem schlafenden Löwen bis auf wenige
Schritte nähern konnte. Das Gold, das der Holländer für den
Sklaven verlangen würde, besaß sie nicht. Wenn er ihn
überhaupt verkaufte. Blieb nur die Möglichkeit, ihren Körper
für die Freilassung anzubieten. Sie hatte von einer jungen Frau
gehört, die ihren Körper an einen Sklavenhändler verkauft

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hatte und für ihre Dienste mit Geschenken überhäuft wurde.
Würde Ottobah sie zur Frau nehmen, wenn sie mit dem
Holländer schlief? Sie konnte nicht ahnen, dass die junge Frau,
von der sie gehört hatte, wenige Wochen später als Sklavin auf
ein Segelschiff nach Brasilien verfrachtet worden war.

Sie blieb am Rande eines ausgedehnten Mangrovensumpfes

stehen und starrte in den nebligen Dunst, der wie feine Watte
über dem dunklen Wasser hing. Ein Schwarm von Insekten
bewegte sich in der feuchten Luft. Die weißen Männer
fürchteten Gegenden wie diese. Sie wurden krank in der Hitze,
bekamen hohes Fieber und starben. Es gab Schiffskapitäne, die
sich nicht von Bord trauten und ungeduldig auf ihre Ladung
warteten, weil sie fürchteten sich anzustecken. Willem van der
Meyde war einer der wenigen Europäer, die viele Jahre an der
westafrikanischen Küste lebten und nicht ein einziges Mal
krank gewesen waren. Er besaß natürliche Abwehrkräfte gegen
die verseuchte Luft. Bensua nahm an, dass die bösen Geister
auf seiner Seite waren und ihn gegen das Fieber schützten. Er
hatte sich mit ihnen verbündet.

Das Mädchen ging zügig weiter. Es blieb ihr gar nichts

anderes übrig, als nach Süden weiterzulaufen. Mit einem Gebet
auf den Lippen marschierte sie durch den Urwald. Sie musste
den Göttern vertrauen. Wenn sie auf ihrer Seite waren, würden
sie eine Möglichkeit finden, Ottobah zu befreien. In Gedanken
sah sie einen feurigen Blitz, der aus dem Reich der Götter
herabfuhr und den Sklavenhändler wie eine Fackel brennen
ließ. Ein gewaltiger Donnerschlag löste die eisernen Fesseln
von den Gefangenen und trieb Ottobah in ihre Arme. Sie
würden zur Küste fliehen und weiter nach Norden, bis sie ein
Land erreichten, in dem sie sicher vor den Schwertmännern
des Asantehene waren. Sie würden ein Haus bauen und ein
neues Volk gründen.

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Hinter ihr ertönte ein ungewöhnliches Geräusch. Sie griff

blitzschnell nach ihrem Messer und fuhr herum. Nur ein
Stachelschwein, das im Gebüsch verschwand. Erleichtert ließ
sie die Hand mit dem Messer sinken. Die ständige Gefahr, in
der sie seit ihrer Flucht schwebte, hatte sie nervös gemacht. Sie
rieb sich den Schweiß von der Stirn und marschierte weiter. Es
würden noch einige Stunden vergehen, bis man Alarm schlug.
Auch die Polizisten feierten auf dem Marktplatz, tranken
Palmwein und scharfen Rum, und wenn sie Glück hatte,
tanzten und tranken auch ihre Verwandten bis in die späte
Nacht. Dann würde es früher Morgen werden, bis sich die
Schwertmänner an eine Verfolgung machten. Sie schickte ein
Gebet zum Himmel, bat Onyankopon Kwame die Krieger so
lange aufzuhalten, bis sie einen ausreichenden Vorsprung
hatte. Die Schwertmänner hatten bestimmt keine Lust, ihr bis
zur Küste zu folgen. Wenn sie großes Glück hatte, brachen sie
die Verfolgung ab und kehrten unverrichteter Dinge nach
Kumase zurück. Sie konnten den König anlügen, ihm erzählen,
dass sie von einem Leoparden getötet worden war. Aber sie
vermutete vielmehr, dass sie nicht eher ruhen würden, bis sie
für ihr Verbrechen bestraft worden wäre.

Auf einer Lichtung holte Bensua die Coffle ein. Sie blieb im

Dunkel des Waldes stehen und beobachtete, wie die
Sklavenkarawane über einen sumpfigen Hang zog. Durch die
Öffnung in dem grünen Dach strahlte die Sonne herein, als
wollte sie das Leid der bedauernswerten Sklaven durch ihr
Licht besonders hervorheben. Von der Last der hölzernen
Balken, die auf ihren Schultern lagen, nach unten gedrückt,
stolperten sie durch das feuchte Gras. Die Spitze der Karawane
bildete die Sänfte des holländischen Händlers, gefolgt von den
schwarzen Lastenträgern und den gefesselten Sklaven. Die
weißen Jäger trieben die Gefangenen mit Peitschenschlägen
an. Das Gewimmer einiger Männer, die diese grausame

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Marterung kaum noch aushielten, drang wie ein dumpfes Echo
über die Lichtung.

Bensua unterdrückte einen Schrei und suchte nach Ottobah.

Er war leicht zu finden. Als einziger Sklave wehrte er sich
lautstark gegen die unwürdige Behandlung. Er verfluchte seine
Peiniger mit derben Flüchen, spuckte vor ihnen auf den Boden
und schimpfte nur noch lauter, wenn ihm einer der Jäger die
Peitsche über den nackten Rücken zog. Der Schmerz schien
ihm nichts auszumachen. Das Blut, das aus seinen Wunden
sickerte, beachtete er kaum. »Schlagt mich, ihr räudigen
Hunde!«, fauchte er die Männer an. »Ihr könnt mir das Fleisch
zerfetzen und die Knochen brechen! Aber meine Seele könnt
ihr niemals töten! Sie wird immer leben! Ich bin stark! Ich bin
ein Krieger der Fante! Die bösen Geister werden euch holen
und ins Verderben stürzen! Das Königreich, das uns nach dem
Tod erwartet, werdet ihr niemals sehen. Ihr werdet an dem
finsteren Ort schmoren, den ihr Hölle nennt! Dort werdet ihr
eure gerechte Strafe finden!«

Willem van der Meyde verstand als einziger Weißer, was der

Krieger sagte. »Schlagt ihn!«, rief er seinen Männern auf
Holländisch zu. »Schlagt ihn, bis er nicht mehr gerade stehen
kann! Wenn ihn die anderen mitschleppen müssen, werden sie
sich dreimal überlegen, ob sie dieses Geschrei noch länger
dulden!«

Bensua beobachtete mit wachsendem Entsetzen, wie die

beiden Jäger den Befehl des Holländers ausführten. Sie hatte
die Worte nicht verstanden, konnte sich aber denken, was er
gemeint hatte. Über ihr Gesicht liefen Tränen, als die weißen
Männer mit ihren Peitschen auf den armen Fante eindroschen
und erst zufrieden waren, als er stöhnend zu Boden sank. »Du
hast die längste Zeit auf unseren Herrn geschimpft«,
triumphierte einer der Peiniger, »noch ein Wort und wir lassen
dich für die wilden Tiere liegen!« Er wandte sich an die

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Gefangenen, die an denselben Balken gefesselt waren, und
herrschte sie an: »Tragt den verdammten Kerl! Habt ihr euch
selber zuzuschreiben, wenn ihr ihn schleppen müsst!« Er ließ
die Peitsche knallen und grinste schadenfroh, als er sah, wie
sich die Gefangenen mit Ottobah abmühten.

Wie zu Stein erstarrt blieb Bensua am Rand der Lichtung

stehen. Minutenlang war sie zu keiner Regung fähig. Ihre
Tränen waren längst versiegt. Sie spürte ein Würgen im Hals,
übergab sich in dem dichten Laubwerk und musste sich an
einem Baumstamm festhalten. Mühsam rang sie nach Luft. Sie
griff nach ihrer Wasserflasche, trank einen großen Schluck und
verschloss sie wieder. »Ottobah!«, wollte sie flüstern, aber es
wurde nur ein heiseres Krächzen daraus. Sie fühlte mit dem
Krieger, weil ihn die Weißen beinahe zu Tode gepeitscht
hatten, und sie bewunderte ihn für seinen Mut, sich gegen
diese Sklavenhändler zu wehren. Er war tapferer als alle
anderen Krieger, die sie kannte.

Bensua verstaute die Wasserflasche in ihrer Umhängetasche

und folgte der Karawane. Sie blieb ungefähr zweihundert
Schritte hinter der Coffle zurück, überlegte krampfhaft, wie sie
Ottobah befreien konnte. Konnte sie es wagen, dem Holländer
ihren Körper anzubieten? Waren die Götter damit
einverstanden, wenn sie ein Tabu ihres Volkes verletzte um
den geliebten Krieger zu retten? Oder würde der Holländer sie
betrügen, sich nehmen, was sie ihm darbot, und sie ohne
Proviant im Urwald zurücklassen? Sie beschloss die nächste
Nacht im Dschungel abzuwarten und zu Onyankopon Kwame
zu beten. Er würde eine Antwort wissen. Er würde ihr verraten,
ob es eine gemeinsame Zukunft für sie gab.

Sie marschierte, bis der Holländer das Nachtlager

aufschlagen ließ, und suchte sich ein geschütztes Versteck
zwischen einigen Büschen. Sie befanden sich auf einer weiten
Lichtung, am Ufer eines größeren Sees, der rotgolden im Licht

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der untergehenden Sonne schimmerte. Einige Elefanten
standen im Wasser und suchten mit ihren Rüsseln nach
Mineralien. Ein Bulle trompetete unwirsch, als er die
Witterung der Menschen aufnahm, unternahm aber nichts. Ein
Kranich schwebte über dem Ufer und ließ sich auf einem
Baumstumpf nieder. Die Luft war frisch und würzig und auch
Bensua war froh, dem schwülen Regenwald zumindest für eine
Zeit entfliehen zu können. Aus ihrem Versteck beobachtete sie,
wie die Gefangenen zu Boden gestoßen und mit etwas Brei
und Wasser abgespeist wurden.

Ottobah bekam gar nichts. Er war aus seiner Bewusstlosigkeit

erwacht und saß trotzig zwischen den anderen Sklaven. In den
Augen einiger Krieger erkannte Bensua Unwillen über den
Widerstand ihres jungen Freundes. Sie hatten ihn den ganzen
Nachmittag schleppen müssen. Für sie hatte es mehr
Peitschenhiebe gegeben als für die anderen Männer. Sein
Nachbar flüsterte ihm etwas zu, ermahnte ihn wohl, sich in
sein Schicksal zu ergeben, und wurde von Ottobah mit einem
wütenden Fluch zurechtgewiesen. Sofort knallte ein
Peitschenhieb auf ihn nieder. Bevor er gegen den Jäger
aufbegehren und etwas erwidern konnte, spürte er die Hand
seines Nachbarn auf seinem Mund.

Bensua blickte zu den beiden Frauen hinüber, die bei der

Gruppe waren, und stellte erstaunt fest, dass man ihre Fesseln
gelöst hatte. Einer der Jäger scherzte mit ihnen. Sie gingen auf
das Spiel ein, hofften wohl, sich auf diese Weise einen Vorteil
verschaffen zu können. »Lass den Unsinn!«, wies Willem van
der Meyde den Mann zurecht. »Sagt ihnen lieber, dass sie was
zu essen kochen sollen! Ich habe Hunger, verdammt! Sie
kochen bestimmt besser als ihr!« Er strafte die beiden Jäger
und seinen Buchhalter mit einem wütenden Blick. »Was ist?«,
schrie er seine schwarzen Diener an. »Stellt endlich das Zelt
auf! Wie lange dauert das denn noch?« Der Sklavenhändler

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verbrachte die Nacht in einem weißen Zelt, ließ sich das Essen,
das die Sklavinnen über einem offenen Feuer zubereiteten, auf
einem silbernen Tablett bringen und blieb lange mit den
Frauen allein.

Die weißen Jäger rollten ihre Decken unter freiem Himmel

aus. Sie teilten mehrere schwarze Träger als Wachen ein und
wechselten sich selbst mir der Beaufsichtigung der Sklaven ab.
Nachts knallten die Peitschen seltener, man ließ die
übermüdeten Schwarzen zu Kräften kommen. Nur gesunde
Sklaven wurden auf die Schiffe gelassen. »Fasst sie hart an!«,
hatte Willem van der Meyde seinen Männern gesagt. »Sie
müssen lernen sich einem weißen Herrn unterzuordnen! Aber
schlagt sie nicht tot! Für einen toten Sklaven bekomme ich
nichts! Bevor wir die Küste erreichen, will ich, dass ihr sie
anständig füttert! Der Captain der Hannibal ist sehr
wählerisch! Er zahlt nur für kräftige Sklaven!«

»Aber vorher prügeln wir sie ordentlich durch!«, hatte der

Jäger versprochen, der Ottobah geschlagen hatte. »Das
schwarze Ungeziefer hat es nicht anders verdient! Diese Neger
sind schlimmer als Affen! Ich bin froh, wenn ich dieses Pack
nicht mehr sehe!«

Bensua ahnte nichts von dieser Unterhaltung. Sie lag in ihrem

Versteck, blickte zu den Sternen empor und bat die Götter in
einem langen Gebet um Hilfe. Mit Tränen in den Augen
schlief sie ein. In ihrer rechten Hand lag das Jagdmesser ihres
Onkels.

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7



Mitten in der Nacht schreckte Bensua aus dem Schlaf. Ein
Geräusch, das nicht zum Konzert des nächtlichen Regenwalds
gehörte, hatte sie geweckt. Ein Weißer hätte das leise Knacken
der Zweige und das Rascheln der Schlingpflanzen niemals
bemerkt. Der Urwald war voller Geräusche. Insekten zirpten,
Papageien krächzten und die Pottos, den Faultieren ähnliche
Halbaffen, ließen ihr nervöses Kreischen ertönen, das einen
Weißen, der diese Geräuschkulisse nicht gewohnt war, kaum
Schlaf finden ließ. Aus der Dunkelheit drang das Fauchen
eines Leoparden, der eine Beute gerissen hatte und einen
Nebenbuhler vertrieb. Vertraute Geräusche für eine junge
Asante, die selbst im Schlaf merkte, wenn sich ein
ungewohntes Geräusch darunter mischte.

Ihre Verfolger waren in der Nähe. Die Schwertmänner des

Königs hatten sie eingeholt und näherten sich dem Feuer der
Sklavenkarawane. Vier oder fünf Männer, schätzte sie, mehr
waren nicht nötig um eine junge Verräterin einzufangen. Sie
waren keine hundert Schritte entfernt und mussten jeden
Augenblick auf der Lichtung auftauchen. Auch Ottobah und
einige andere Sklaven hatten ihre Schritte gehört und lauschten
in die Dunkelheit. Der weiße Jäger, der mit dem Gewehr über
den Knien auf einem umgestürzten Baumstamm saß, hörte
nichts und sprang erschrocken auf, als die Asante-Krieger in
den Feuerschein traten.

Er riss sein Gewehr hoch und ließ es erleichtert wieder

sinken. Die goldverzierten Schwerter der Asante waren
einzigartig im Regenwald der Goldküste. Mit gedämpfter
Stimme rief er nach dem Holländer und dem anderen weißen

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Jäger. »Asante«, erklärte er, als sein Kumpan hochschreckte
und Willem van der Meyde verschlafen aus seinem Zelt kroch.
»Die Asante sind hier!«

Der Holländer rieb sich die Augen und befahl seinem

Buchhalter mit einer unwirschen Handbewegung ihm einen
Becher Tee zu bringen. »Pfui Teufel, das Zeug ist ja eiskalt!«,
schimpfte er, als er einen Schluck getrunken hatte. Er warf den
Becher ins Gras und wandte sich an die Schwertmänner. »Was
wollt ihr?«

»Wir suchen eine junge Frau«, antwortete der Anführer in

dem Kauderwelsch aus Englisch, Holländisch und Asante, in
dem man sich an der Goldküste verständigte. »Ihr Name ist
Bensua! Sie ist aus Kumase geflohen! Wir glauben, dass sie
einen Sklaven befreien will! Ein Krieger hat gesehen, wie sie
mit ihm gesprochen hat!«

»Hier ist keine Frau, die so heißt«, erwiderte der Holländer

unwirsch. Er mochte nicht, wenn man ihn in seiner Nachtruhe
störte. »Und wenn es so wäre, hätten wir sie längst entdeckt.«
Er bot den Kriegern nichts zu essen an, gönnte ihnen nicht mal
den kalten Tee. »Seit wann verfolgen die Asante hilflose
Frauen?«

Der Anführer zuckte zusammen. Einen Krieger hätte er für

diese Beleidigung geschlagen. »Diese Frau ist eine
Verräterin«, sagte er stattdessen. Der König hatte ihm streng
verboten sich mit dem Sklavenhändler anzulegen. Er war
mächtiger als die weißen Häuptlinge, die in den steinernen
Palästen regierten, und die Asante brauchten ihn. »Sie hat
unsere Gesetze gebrochen! Sie hat sich mit einem Gefangenen
getroffen! Dafür muss sie sterben! Vielleicht weiß der
verdammte Fante, wo sie ist!«

Ohne auf das Einverständnis des Holländers zu warten trat

der Anführer vor Ottobah, der hilflos auf dem Boden lag. Ein
heftiger Fußtritt des Asante ließ ihn nicht einmal mit den

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Wimpern zucken. »Wo ist die Frau, die du mit deiner
Berührung beschmutzt hast?«, fuhr er den Gefangenen an.
»Wo steckt die feige Verräterin, die einen unserer
angesehensten Krieger verlässt, um sich mit einem Stück
Dreck wie dir zu vereinen? Sag es mir, niederträchtiger
Sklave! Sag es mir oder ich bringe dich um!«

Bensua griff nach ihrem Messer und war versucht, aus ihrem

Versteck zu springen und dem Krieger zu Hilfe zu eilen.
Gerade noch rechtzeitig erkannte sie ihren Leichtsinn. Wenn
sie auf die Lichtung stürmte, würden die Schwertmänner sie
töten. Sie erreichte mehr, wenn sie die Unaufmerksamkeit der
Asante nützte und in den Urwald floh. Solange sie abgelenkt
waren, entkam sie ihnen vielleicht. Sie war eine geschickte
Jägerin, das hatte sogar ihr Onkel erkannt, und bewegte sich
leiser als mancher Krieger. Abseits des Pfades gab es
zahlreiche Verstecke. Dort konnte sie warten, bis die Männer
nach Kumase zurückkehrten.

Noch bevor der Holländer den Anführer zurechtwies und ihm

befahl sich von seinen Sklaven fern zu halten, verließ Bensua
ihr Versteck. Beinahe lautlos teilte sie die Büsche und
verschwand im dichten Laubwerk. Schon nach wenigen
Metern verblasste der Feuerschein und es wurde stockdunkel.
Sie wand sich wie eine Raubkatze durch das Unterholz, wich
instinktiv den gefährlichen Schlingpflanzen aus und erreichte
einen schmalen Pfad, den ein größeres Tier durch den Urwald
geschlagen hatte. Er endete nach wenigen Schritten und ließ
ihr nur die Möglichkeit, sich einen Weg durch das Grün des
Dschungels zu bahnen.

Alle paar Meter blieb sie stehen und blickte sich nach den

Verfolgern um. Sie waren nicht zu hören. Anscheinend waren
sie in eine Auseinandersetzung mit dem Holländer verwickelt
und hatten es versäumt auf ihre Umgebung zu achten.
Erleichtert blieb sie stehen und atmete tief durch. Ein

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zufriedenes Lächeln entspannte ihr Gesicht, als sie an Ottobah
dachte. Der Fante hatte sich seinen Stolz bewahrt und selbst in
seiner ausweglosen Lage gegen die weißen Jäger aufbegehrt.
Und als die Asante erschienen waren und ihren Namen
genannt hatten, war ein stolzes Glimmen in seine Augen
getreten. Das hatte Bensua sogar aus der Ferne erkannt. Sie
hatte den Fante gespürt! Sein Lächeln, seine sanften Hände,
die Berührung seiner Lippen. Auch wenn er gefesselt auf dem
Boden lag, war er ihr ganz nahe. Die Götter hatten ihre Seelen
verbunden und es gab noch Hoffnung.

Bensua verdrängte die Gedanken und besann sich auf ihre

Flucht. Sie drang weiter durch den Urwald, war jetzt weit
genug vom Lagerplatz entfernt, um sich nicht mehr durch ein
Geräusch zu verraten. Den Kopf gesenkt, die Arme
ausgestreckt kämpfte sie sich durch das Laubwerk. Das
Kreischen der Pottos stand in der warmen Luft. Insekten
schwirrten um ihren Kopf. Sie lief in westlicher Richtung, das
wusste sie, auch ohne die Sterne und den Mond sehen zu
können, behielt die Richtung bei, um am übernächsten Morgen
wieder die Verfolgung aufnehmen zu können. So lange wollte
sie in ihrem Versteck aushalten. Sie durfte sich nicht zu früh
auf dem Pfad zeigen, wenn sie den Schwertmännern
entkommen wollte. Notfalls musste sie nachts laufen.

Der Urwald wurde lichter. Sie betrat einen weiteren Pfad,

folgte ihm durch widerspenstiges Gestrüpp, das sie vermuten
ließ, einen längst vergessenen Jagdweg entdeckt zu haben, und
erreichte eine kleine Lichtung. Erleichtert blieb sie stehen.
Hundert Meter über ihr klaffte eine Öffnung in dem dichten
Dschungel und ließ das blasse Licht des Mondes und der
Sterne herein. Eine Nachricht der Götter, die ihr zeigen
wollten, dass es noch Hoffnung gab? Sie sprach ein Dankgebet
und trat in den Lichtschein. Der Anblick der funkelnden Sterne
war ihr immer ein Trost gewesen, hatte ihr neue Kraft gegeben,

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wenn sie von Problemen erdrückt wurde. Auch in dieser Nacht
empfand sie ihren Anblick als wohltuend. Der Mond schien ihr
sanft zuzulächeln.

Es war ein falsches Lächeln, das merkte sie schon nach

wenigen Schritten. Denn erst als sich ihre Augen an das
ungewohnte Licht gewöhnt hatten, erkannte sie die Überreste
eines kleinen Dorfes, das einige Familien vor langer Zeit
errichtet hatten. Von den runden Lehmhütten waren nur noch
die eingestürzten Wände zu sehen. Hüfthohe Farne wuchsen
aus den Ruinen und hatten sie teilweise unter sich begraben.
Die einzige Straße der Siedlung war kaum noch zu erkennen.
Die schweren Unwetter, die während der Regenzeit
niedergegangen waren, hatten sie überschwemmt und neues
Gras wachsen lassen.

An einigen Werkzeugen, die in den Trümmern lagen,

erkannte Bensua, dass sie sich in einem verwüsteten Dorf der
Asante befand. Verkohlte Balken versperrten ihren Weg. Sie
kletterte über eine eingebrochene Mauer und fand sich in der
Überresten einer Hütte wieder. Sie riss einige Pflanzen von
dem eisernen Bettgestell, das wie ein Gerippe aus dem
wuchernden Grün ragte, das Vermächtnis eines englischen
Händlers, der auch nach Kumase gekommen war und seine
Möbel verkauft hatte. Die weißen Männer hatten seltsame
Dinge in den Urwald gebracht.

Sie setzte sich auf den Bettrand und schloss die Augen. Vor

kurzer Zeit hätte sie noch gelacht, wenn ihr jemand verraten
hätte, dass sie ihre Heimat und ihre Familie verlassen würde,
um einem Sklaven in eine ungewisse Zukunft zu folgen. Wie
stark musste ein Gefühl sein, wenn es sogar die Bindung zur
Abusua zerschnitt, der Familie der Mutter!

Sie hatte instinktiv gehandelt, war diesem neuen Gefühl

gefolgt, ohne lange über die Folgen nachzudenken. Ihre
Verwandten würden diesen Schritt niemals verstehen. Sie

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verstand ihn selbst nicht ganz. Sie wusste nur, dass sie sich
keinen Vorwurf zu machen brauchte. Sie war den Stimmen der
Götter gefolgt, die ein unsichtbares Band zwischen Ottobah
und ihr gespannt hatten. Dieses Band konnten nicht einmal die
Schwertmänner des Königs zertrennen.

Bensua öffnete die Augen und sah einen menschlichen

Schädel im Mondlicht liegen. Sie bückte sich und hob ihn auf.
Mit wachsendem Erschrecken betrachtete sie die menschlichen
Überreste. Sie suchte weiter und fand die Knochen einer Ziege.
In den anderen Hütten sah sie zwei weitere Schädel. Drei Tote
in einem Dorf, das hundert Asante beherbergt haben musste!
Vielleicht ein paar mehr, wenn sie im Tageslicht suchte. Ein
ungeheurer Verdacht beschlich sie. Die Fante waren niemals
so weit nach Norden vorgedrungen. Während des Krieges
hatten sie einige Dörfer im Süden überfallen, aber weiter
waren sie nie gekommen. Auch die anderen Feinde der Asante
hatten es niemals geschafft, bis auf wenige Meilen an die
Hauptstadt heranzukommen. Doch wo waren die anderen
Männer, Frauen und Kinder geblieben, wenn dieses Dorf dem
Zorn der Götter zum Opfer gefallen war? Hatten sie Zeit
gehabt zu fliehen? Sie konnte sich nicht daran erinnern,
Flüchtlinge in Kumase gesehen zu haben. Und ein solches
Unglück war niemals erwähnt worden.

Sie setzte sich auf einen Mauerrest und versuchte die

ungeheuerlichen Gedanken von sich zu schieben. So grausam
war der Asantehene nicht. Niemals würde der König eines
seiner Dörfer überfallen lassen um die Bewohner in die
Sklaverei zu verkaufen. Oder doch? Sie zermarterte ihr Hirn,
suchte nach einer anderen Möglichkeit, das Verschwinden der
Bewohner zu erklären. Es gab keine. Der Asantehene und seine
Schwertmänner führten einen Krieg, der sich gegen das eigene
Volk richtete. Sie überfielen ihre eigenen Leute und schickten
sie in die Sklaverei um noch mehr Reichtum anzuhäufen. Der

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Rum und die Waren, die sie aus Europa bekamen, waren ihnen
nicht genug. Sie waren genauso habgierig wie die weißen
Sklavenhändler.

Es gab keine andere Erklärung. Sonst hätten die Götter sie

nicht in dieses zerstörte Dorf geführt. Sie wollten, dass sie die
Niedertracht mit eigenen Augen sah. Sie begann zu weinen
und war so in ihrem Schmerz gefangen, dass sie die nahenden
Verfolger überhörte. Erst als sie aus dem Urwald traten,
erkannte sie, dass sie ihre Spur nicht verloren hatten und ihr
weiter gefolgt waren. Sie griff nach ihrem Messer und duckte
sich hinter die Mauerreste. Das Gras raschelte unter ihren
Knien. Sie hörte, wie einer der Krieger etwas sagte und der
Anführer antwortete. Fünf Männer betraten das
niedergebrannte Dorf. Wie dunkle Todesboten hoben sie sich
gegen das blasse Licht des Himmels ab.

Bensua duckte sich noch tiefer. Es blieb keine Zeit mehr, sich

nach einem besseren Versteck umzusehen. Ihre Trauer und
Verzweiflung hatten sie in eine lebensbedrohliche Lage
gebracht. Wenn die Schwertmänner die Hütten absuchten,
würde sie ihnen nicht entkommen. Allein und nur mit einem
Messer bewaffnet würde sie den Kriegern nicht lange
standhalten können. Die Schwertmänner gehörten zu den
besten Kriegern des Königs und waren wütend, weil sie ihre
Nachtruhe für die Verfolgung einer Verräterin opfern mussten.

Mit klopfendem Herzen wartete sie darauf, dass die Krieger

sie entdeckten. Sie konnte bereits ihre Stimmen hören. Die
Männer wussten, dass sie nur mit einem Jagdmesser bewaffnet
war, und hatten keine Angst vor ihr. Sie war eine ungezogene
Hexe, die einem räudigen Hund in den Dschungel gefolgt war
und den Tod verdiente. »Du bist hier!«, hörte sie den Anführer
rufen. »Ich spüre, dass du hier bist! Komm aus deinem
Versteck und geh mit uns nach Kumase zurück! Sei eine

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Asante und empfange das Urteil, das der mächtige Asantehene
über dich verhängt!«

Sie gab keine Antwort, blieb in ihrem Versteck und wagte

nicht einmal zu atmen. Noch hatte sie diesen Kampf nicht
verloren.

»Oder bist du feige? Bist du eine Hexe, die so sterben will,

wie die Asante in diesem Dorf gestorben sind? Sollen wir ein
Feuer anzünden und deine Seele zu den bösen Geistern
schicken?«

Bensua ließ sich nicht herausfordern. Niemals würde sie mit

den Schwertmännern nach Kumase zurückkehren! Sie wusste,
welches Urteil sie erwartete. Eher würde sie in diesem
verlassenen Dorf sterben, als gefesselt und mit einem Messer
in den Wangen über die Hauptstraße zu wanken. Ihre
Verwandten sollten diese Schande nicht erleben. Sie würde
kämpfen. Auch wenn sie gegen die Schwertmänner keine
Chance hatte. Sie würde sich so lange wehren, bis sie einen
ehrenvollen Tod fand.

»Sie weiß, was hier geschehen ist«, hörte sie einen der

Männer flüstern. Er war besorgt. »Wir dürfen sie nicht nach
Kumase bringen! Wir müssen sie töten, sonst verrät sie unser
Geheimnis!«

»Ich schneide ihr die Zunge ab«, erwiderte der Anführer.
Bensua beobachtete, wie die Männer in eine andere Hütte

kletterten und laut fluchten, als sie niemand entdeckten.
»Komm endlich raus, du Hexe!«, rief der Anführer wütend.
»Es hat keinen Zweck, sich zu verstecken! Du entkommst uns
sowieso nicht!«

Sie sah, dass die Männer in eine andere Richtung blickten,

und ergriff ihre letzte Chance. So leise sie konnte, schlich sie
aus ihrem Versteck. Wenn sie es bis in den Urwald schaffte,
bestand die Möglichkeit, im dichten Dschungel
unterzutauchen. Geduckt stieg sie über die Trümmer hinweg.

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Sie wagte nicht sich zu den Kriegern umzudrehen. Jeden
Augenblick erwartete sie eine Muskete krachen zu hören. Die
Kugel würde in ihren Körper schlagen und ihr Leben beenden,
bevor es richtig begonnen hatte. Oder ein tödlicher Pfeil
schwirrte heran und bohrte sich in ihren Hals. Die
Schwertmänner kannten kein Erbarmen.

Sie schaffte es bis zu den Büschen neben der Hauptstraße. Sie

war immer noch fünfzig Schritte vom rettenden Urwald
entfernt, als die Krieger sie entdeckten. »Da ist sie!«, schrie
einer der Männer. Bensua blickte sich um, stolperte über einen
Lehmbrocken und fiel der Länge nach in den getrockneten
Schlamm. Das Messer entglitt ihrer Hand. Sie sprang auf,
stürzte erneut und griff nach der blitzenden Waffe. Verzweifelt
kämpfte sie sich vom Boden hoch. Die Krieger waren bis auf
wenige Meter heran.

Todesmutig stellte sie sich den Männern entgegen. Mit einem

verzweifelten Schrei warf sie sich auf den Angreifer. Die
Klinge ihres Messers blitzte im Mondlicht. Sie holte aus und
lief in einen wuchtigen Faustschlag des Mannes, der sie
bewusstlos zu Boden sinken ließ, noch bevor ihr Messer seine
Haut berührt hatte. Das verächtliche Lachen und den Spott der
Schwertmänner hörte sie nicht mehr. Sie versank in tiefer
Dunkelheit und glaubte sich bereits in einer anderen Welt, als
sie erwachte und in die Augen des holländischen
Sklavenhändlers blickte. Sie spürte einen heftigen Schmerz am
Kopf und wollte sich an die Stirn greifen, aber sie war an
Armen und Beinen gefesselt und zu kaum einer Bewegung
fähig. Auf ihren Lippen klebte getrocknetes Blut.

Dies war nicht das Jenseits. In der anderen Welt gab es keine

Sklavenhändler und keine Schwertmänner und Schmerz
existierte nur in der Erinnerung an das gefährliche Leben, das
vor der Ewigkeit lag. Sie wandte stöhnend ihren Kopf, sah das
Gesicht Ottobahs im flackernden Schein des Feuers und fühlte,

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wie ihre Kraft zurückkehrte. Sie war nicht tot. Und solange sie
nicht tot war, gab es Hoffnung. Eine sehr geringe Hoffnung,
wie sich bald darauf herausstellte. »Sie ist ein kräftiges
Mädchen«, hörte sie den Holländer sagen, »fast schon eine
Frau! Ich hielte es für eine Vergeudung, sie nach Kumase zu
bringen und ihren schönen Kopf vom Rumpf zu schlagen!« Er
schmatzte mit den Lippen und lächelte hintergründig. »Ich
glaube, ich habe eine bessere Verwendung für das hübsche
Kind!« Er zwinkerte verschwörerisch. »Der König braucht ja
nicht zu erfahren, dass ich sie mitgenommen habe. Sagt ihm,
dass sie tot ist! Ein Leopard hat sie erwischt und in sein
Versteck gezogen, nicht wahr?«

»Sie hat gegen die Gesetze unseres Volkes verstoßen«,

meinte der Anführer. »Sie ist eine Hexe! Eine Verräterin! Wir
bringen sie zurück nach Kumase! Dort wird sie ihr gerechtes
Urteil finden!«

Doch das spöttische Lächeln des Holländers blieb. Er

schnippte mit den Fingern und ließ seine Männer zwei große
Fässer mit Rum und einen Beutel voller Kauri-Muscheln
bringen. »Ich glaube nicht, dass ihr sie zurückbringt«, meinte
er spöttisch. »Ich denke, ihr werdet meine großzügige
Bezahlung annehmen und ohne sie nach Kumase
zurückkehren! Oder wollt ihr, dass ich dem König erzähle, ihr
hättet mir nachspioniert? Wollt ihr das wirklich?«

»Wir gehen«, erwiderte der Anführer.
Die Schwertmänner verschwanden mit den Fässern und den

Muscheln und ließen Bensua bei dem Sklavenhändler zurück.

»Das war ein guter Tausch«, sagte der Holländer und rieb

sich zufrieden die Hände.

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8



Bensua erlebte einen Albtraum. Die bösen Geister hatten sich
mit den weißen Männern verbündet und trieben sie einem
ungewissen Schicksal entgegen. Aus der jungen Asante, die
von einem königlichen Krieger umworben wurde, war eine
rechtlose Sklavin geworden. Eine Gefangene, die mit
gefesselten Händen durch den Urwald gestoßen und von den
weißen Jägern mit derben Flüchen angetrieben wurde. Das
Rasseln der Ketten, Stöhnen der Männer und Knallen der
Peitschen, wenn die weißen Jäger die Geduld verloren, hingen
wie eine ständige Drohung in der schwülen Luft und
begleiteten sie auf dem langen Marsch durch den Regenwald.
Aus der Erleichterung, ihr Leben gerettet zu haben und in der
Nähe des geliebten Ottobah zu sein, war nackte Angst
geworden. Für eine Sklavin der weißen Männer gab es kaum
Hoffnung.

Sie hatte genug über die Sklaventransporte gehört um zu

wissen, welches Schicksal sie am großen Wasser erwartete.
Die Küstenvölker berichteten von skrupellosen Weißen, die
ihre schwarzen Gefangenen wie Vieh behandelten und mit
knallenden Peitschen auf ihre Schiffe trieben. Sie hatte Bilder
dieser riesigen Boote bei den arabischen Händlern gesehen.
Wie gewaltige Vögel schwebten sie über das Meer, die weißen
Tücher im Wind, den Bug von stürmischen Wellen umgeben.
Wohin die unfreiwillige Reise ging, wusste niemand zu sagen.
Es wurde von mächtigen Herrschern mit blasser Haut erzählt,
wohlhabender und einflussreicher als der mächtige König der
Asante. Sie herrschten über riesengroße Reiche und nutzten die
Sklaven als kostenlose Arbeitskräfte aus. Skrupellose Aufseher

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hinderten die unglückseligen Schwarzen daran, das fremde
Land zu verlassen. Ein Krieger der Fante, der auf einem der
Schiffe gewesen und den Weißen im letzten Augenblick
entkommen war, beschrieb einen dunklen Ort, an dem die
bösen Geister regierten. Von dort gab es keine Rückkehr.

Ottobah gab ihr die Kraft, dieses Schicksal zu ertragen. Wenn

sie lagerten, trafen sich ihre Blicke und sie spürte, wie sich
seine wilde Entschlossenheit auf sie übertrug. Das unsichtbare
Band, das die Götter zwischen ihnen geknüpft hatten, war noch
nicht zerrissen. Solange sie in seine Augen sehen konnte, gab
es noch Hoffnung. »Onyankopon Kwame«, betete sie leise,
wenn sie im feuchten Gras schlief, »hilf mir diese schwere Zeit
zu überstehen! Beschütze den Krieger, der meine Seele berührt
hat! Sei bei den Männern und Frauen, die mit mir in die
Gefangenschaft wandern! Bleib in meiner Nähe, weil ohne
dich werde ich in dem Land, das den weißen Männern gehört,
nicht überleben! Halte das Band, das mich mit Ottobah
verbindet, denn nur er ist stark genug, sich gegen die
Herrschaft der Weißen zu wehren!«

Über einen Monat brauchte die Sklavenkarawane bis zur

Atlantikküste und jeder Tag brachte neue Schrecken und
Gefahren. Die beiden Jäger des Holländers gingen hart und
rücksichtslos gegen die Gefangenen vor. Sie ließen ihre
Peitschen auf die nackten Rücken der gefesselten Männer
knallen, schlugen ihnen die Gewehrkolben in die Kniekehlen
und lachten schadenfroh, wenn ein Krieger stolperte und die
Gefangenen, die an denselben Balken gebunden waren, mit zu
Boden riss. »Steht auf, ihr verdammten Heiden!«, brüllte der
Jäger. »Ich hab keine Lust, das ganze Jahr in diesem
Dschungel zu verbringen!« Die Augen der Weißen waren kalt
und gnadenlos und ließen erkennen, wie sehr sie die schwarzen
Krieger verachteten. »Elendes Pack!«, meinte ein Jäger zum
anderen. »Ein Rinderherde wär mir lieber! Die stinkt nicht so!«

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Und obwohl die weißen Jäger viel stärker unter der Hitze litten
und sich am abendlichen Feuer wie Schweine benahmen, dem
Rum zusprachen und schmutzige Witze über die Frauen
machten, sagte einer: »Wenn es für die Bewachung dieses
Heidenpacks kein Gold gäbe, würde ich die Dreckskerle
abknallen und in den Sumpf werfen!« Er trat einem Krieger
gegen die Knie. »Hab ich Recht, du schwarzer Teufel?«

Willem van der Meyde ließ seine Männer gewähren, schritt

nur ein, wenn sie dabei waren, einen Krieger bewusstlos zu
schlagen. »Aufhören!«, rief er dann. »Oder wollt ihr, dass der
Kerl stirbt? Für tote Neger bekommen wir nichts!« Sein
Buchhalter, ein eher furchtsamer Mann, versteckte sich im
Zelt, und tagsüber, wenn er auf seiner Tragbahre saß und die
Peitschenschläge und das Rasseln der Ketten zu laut wurden,
hielt er sich die Ohren zu. »Wir müssen sie hart anfassen«,
erklärte ihm der Holländer, »in unserem Beruf kommt man nur
mit eiserner Disziplin weiter! Sobald man die Zügel locker
lässt, tanzen einem die Neger auf der Nase herum! Wenn Sie
länger in Afrika sind, lernen Sie das noch. Aufsässige Neger
können wir uns nicht leisten! Wir haben die Aufgabe, unsere
Ware sicher zur Küste zu bringen und zu verladen. Jede
Störung würde den Ablauf durcheinander bringen.«

Die wenigen Frauen in der Sklavenkarawane hatten es etwas

besser. Sie waren nur an den Händen gefesselt und durften sich
frei bewegen. Die weißen Jäger hatten zu große Angst, sich mit
einer unbekannten Krankheit anzustecken, um sich an ihnen zu
vergreifen. Und der Holländer, der lange genug an der
afrikanischen Küste lebte, um immun gegen das gefürchtete
Fieber und andere Infektionen zu sein, interessierte sich nur für
Bensua. Wenn er nach dem Essen vor sein Zelt trat und sich
die fettigen Finger durch den Mund zog, wanderte sein Blick
zu der jungen Frau und blieb an ihrem schlanken Körper
hängen. Mit ihren sechzehn Jahren war die Asante bereits eine

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erwachsene Frau. Andere Mädchen in ihrem Alter waren
längst verheiratet und hatten Kinder geboren. Nur ihr
träumerisches Wesen und ihr nachdenklicher Blick hatten viele
Krieger davon abgehalten, ihr den Hof zu machen. Eine Frau,
die träumte, arbeitete zu wenig.

Dem Holländer war es egal, was in ihrem Kopf vorging. Für

ihn war Bensua eine Frau, an der man sich abreagieren konnte.
Ein schöner Körper, für den er bezahlt hatte. So wie er es mit
den weißen Freudenmädchen im Hafen von Rotterdam getan
hatte, bevor er nach Afrika gegangen war. »Komm zu mir!«,
forderte er sie auf. In seinem selbstgefälligen Tonfall, der so
falsch wie das Züngeln einer Schlange war, lag mehr
Verachtung als in den lauten Beschimpfungen der Jäger. »Ich
möchte dir was zeigen, schwarzer Engel!« Er blickte sie an
und schmatzte mit den Lippen, eine Angewohnheit aus den
Tagen, als er die Prostituierten im Hafen von Rotterdam
aufgesucht hatte.

Bensua ekelte sich vor dem Holländer und hätte ihm am

liebsten ins Gesicht gespuckt. Von allen Weißen, die sie jemals
gesehen hatte, war er der Schlimmste. Doch sie brauchte nur
die beiden Jäger anzublicken um zu wissen, was ihr bei einer
Weigerung drohte. Zögernd stemmte sie sich vom Boden hoch.
Ein leichtes Zittern lief durch ihren Körper, als sie den
spöttischen Blick des Holländers bemerkte. Allein der
Gedanke, von seinen blassen Händen berührt zu werden, seine
feuchten Lippen auf ihren Wangen zu spüren, trieben ihr den
Ekel hoch. Ihr Gesicht verkrampfte sich. »Ich kann nicht«,
flüsterte sie, »ich kann nicht!«

Willem van der Meyde tat so, als hätte er sie nicht

verstanden. Sein spöttisches Lächeln blieb. »Hast du gesagt,
dass du dich auf mich freust? Habe ich richtig gehört, mein
schwarzer Engel?«

»Ich… ich…«, brachte sie hervor.

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»Du kannst es gar nicht erwarten, stimmts? Mir kannst du

nichts vormachen! Du bist gar nicht dem Nigger nachgelaufen!
Du wolltest mich sehen! Du hast die ganze Zeit davon
geträumt, das Lager mit mir zu teilen! Du willst, dass ich dir
die Fesseln abnehme und dich mit den Köstlichkeiten
verwöhne, die in meinem Zelt stehen. Gebratenes
Antilopenfleisch, heißer Kakao, süßer Wein! Komm zu mir,
schwarzer Engel! Ich warte auf dich!«

Seine Jäger hüteten sich über seine Worte zu lachen. Der

Holländer sagte seltsame Dinge, wenn er sich an einer Sklavin
verging. Er war ein hässlicher Mann. Als Sklavenjäger wurde
er sogar von den Menschen verachtet, die mit ihm Geschäfte
machten. Alle weißen Frauen, denen er nachgestiegen war,
hatten ihn abgewiesen. Sogar die bettelarme Tochter eines
Hufschmieds, die er in Rotterdam aufgelesen hatte. Er musste
sich die Zuneigung einer Frau erkaufen, bei den Weißen und
bei den Schwarzen. Tief in seinem Inneren wusste er, dass
keine Frau freiwillig zu ihm kommen und lustvoll in seine
Arme sinken würde. Ihm blieb nur die Illusion, die er in
Gedanken und durch Worte schuf.

»Soll ich ein bisschen nachhelfen?«, fragte einer der Jäger. Er

rollte seine Peitsche auf und zog sie durch das feuchte Gras.
»Ich glaube, sie schämt sich vor den anderen Negern! Will
nicht zugeben, dass sie es die ganze Zeit auf dich abgesehen
hat!«

Auch der andere Jäger war aufgestanden. Er ließ seine

Peitsche knallen und sagte in dem Kauderwelsch, das auch die
Sklaven verstanden: »Höchste Zeit, dass der Neger merkt, auf
wen sie es wirklich abgesehen hat!« Dabei blickte er Ottobah
an.

Der Fante beherrschte seine Gefühle nicht länger. Voller

Zorn sprang er auf, riss die vier anderen Sklaven mit, die an
denselben Balken gekettet waren. Er tat ein paar Schritte,

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wollte mit den gefesselten Händen auf den Jäger losgehen und
lief in einen heftigen Peitschenhieb, der ihn und seine
Leidensgenossen zu Boden fegte. Gezielte Schläge mit einem
Knüppel trieben sie auf ihren Platz zurück. »Lasst sie in
Ruhe!«, schrie Ottobah in seiner Sprache. »Sie hat euch nichts
getan! Lasst sie in Ruhe!«

Der Jäger lachte nur und schlug ihn bewusstlos. Zum

Holländer sagte er: »Der bildet sich wohl ein, was Besseres zu
sein! Wir sollten ihn den Löwen vorwerfen! Dann ist endlich
Frieden!«

»Und wer ersetzt mir den Profit?« Willem van der Meyde

blickte seinen Angestellten vorwurfsvoll an. Das Lächeln war
aus seinem Gesicht verschwunden. Er vergaß die zitternde
Asante, ging zu dem Jäger und dem regungslos daliegenden
Ottobah und blickte ohne die geringste Spur von Mitgefühl auf
den blutenden Sklaven hinab. »Er ist der stärkste von allen! Er
bringt hundert Gallonen besten Rum! Lasst ihn am Leben!
Wenn er stirbt, streiche ich euch den Lohn für die nächsten
drei Monate!« Ohne die schluchzende Asante eines Blickes zu
würdigen, kehrte er in sein Zelt zurück.

Bensua sank erleichtert zu Boden. Ottobah hatte sie gerettet,

zumindest für den Augenblick. Sie blickte dankbar in seine
Richtung, nahm ihn durch die Regenschleier nur schemenhaft
wahr. Aus Angst vor den weißen Jägern, die beim Feuer
standen und sich unterhielten, bewegte sie sich kaum. Wäre sie
zu dem Fante gegangen, hätte sie die Peitsche zu spüren
bekommen. Sie legte sich in das hüfthohe Gras und rollte sich
wie ein Baby zusammen. Mit geschlossenen Augen dankte sie
den Göttern, dass sie ihr geholfen hatten. Die Jäger würden
Ottobah nicht töten, so viel hatte sie verstanden. Aber sie
würden ihn weiter quälen und sich lustig über ihn machen, und
sobald der Holländer wieder in Stimmung war, würde er sich
nicht mehr daran hindern lassen, ihr Gewalt anzutun. Sie

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würde viel Kraft brauchen um diese Erniedrigung zu
überstehen. Die Küstenvölker wussten von jungen Frauen, die
sich ins Meer gestürzt hatten, nachdem sie einem Mann wie
Willem van der Meyde in die Hände gefallen waren.

Sie würde sich nicht das Leben nehmen. Solange Ottobah in

ihrer Nähe war, durfte sie nicht aufgeben. Die Hoffnung, eines
Tages mit dem geliebten Krieger in Freiheit zu leben, war ein
starker Lebensfunke, den selbst der holländische
Sklavenhändler nicht auslöschen konnte. Hätte sie gewusst,
wie lange und schrecklich die Zeit der Sklaverei sein würde,
wären ihre Gedanken in eine andere Richtung gegangen. Dann
hätte ihr nicht einmal der Glaube an eine gemeinsame Zukunft
mit Ottobah mehr einen Halt gegeben. Onyankopon Kwame
ersparte ihr diese Bilder. Denn die Wahrheit hätte selbst den
tapfersten Krieger der Asante entmutigt. Bensua wäre beim
Anblick dieses Schreckens zerbrochen.

Die Gegenwart war schlimm genug. Wenn Bensua sich später

an den vierwöchigen Marsch zur Küste erinnerte, hatte sie
immer das Knallen der Peitschen und das Rasseln der Ketten in
den Ohren. Das verzweifelte Stöhnen der Männer, die
schwächer als Ottobah waren und ihre Ehefrauen und Kinder
in den Dörfern zurücklassen mussten. Die stumme
Verzweiflung der Frauen, die beide ihre Männer und Kinder
verloren hatten. Es gab keine Tränen mehr. Sie hatten mit
ihrem Leben abgeschlossen und fügten sich stumm und hätten
auch eine Vergewaltigung willenlos über sich ergehen lassen.
Sie hatten keinen Ottobah, der ihnen Kraft geben konnte. Die
Asante hatten sie ihrer Heimat und ihrer Familie beraubt und
der Sklavenhändler trieb sie dem endgültigen Untergang
entgegen. Sie ließen sich auch von Bensua nicht aufmuntern,
die unterwegs versuchte ihnen neuen Lebensmut zu geben.
»Die Asante haben unsere Familien getötet«, sagte eine Frau,
»und jetzt töten die Weißen unsere Seelen.«

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Bensua fühlte sich schuldig. Bis vor wenigen Wochen hatte

sie geglaubt, dass die Fante keine Menschen, sondern »räudige
Hunde« und »gemeine Diebe und Betrüger« waren. So hatte
der Asantehene behauptet. Jetzt hatte sie erkannt, wie falsch
diese Aussage war. Ottobah war genauso stattlich und tapfer
wie ihr Onkel oder Vater, auch wenn er etwas kleiner
gewachsen war, und die gefangenen Frauen waren nicht anders
als die Frauen der Asante. Zum ersten Mal, seitdem sie
Kumase verlassen hatte, dachte sie darüber nach, dass ihr Volk
ein ähnliches Unrecht wie die weißen Männer begangen hatte.
Ein Gedanke, der sie noch im hohen Alter quälen würde. Auch
die Asante hatten schwächere Völker überfallen und sie
versklavt. Doch selbst der grausamste König, so räumte sie ein,
war nicht so rücksichtslos und niederträchtig wie die Weißen
gewesen. Die meisten Sklaven wurden von Familien
aufgenommen und waren nach einiger Zeit genauso angesehen
wie ein Asante. Das Reich des Bösen begann auf den Schiffen
der Sklavenhändler, vor der Küste von Afrika.

Noch einige Male versuchte Willem van der Meyde die junge

Asante während des Marsches zur Küste auf sein Nachtlager
zu zwingen und jedes Mal stand ihr das Glück zur Seite.
Einmal war ihr so übel, dass dem Händler bereits bei ihrem
Anblick die Lust verging, ein anderes Mal sank sie schlafend
zu Boden, weil sie besonders weit marschiert waren und sie
sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Am Ende eines
ungewöhnlich heißen Tages, in einem Tal des Pra-Flusses, der
durch den Urwald nach Südwesten floss, ließen die Götter
besonders lange auf sich warten. Der Holländer hatte seinen
Jägern den Auftrag gegeben, ihm die Asante zu bringen, und
ihr war nichts anderes übrig geblieben als zu gehorchen. Mit
schadenfroher Miene stieß sie der größere der weißen Jäger ins
Zelt des Sklavenhändlers.

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Bensua stürzte zu Boden und blieb mit dem Gesicht nach

unten liegen. Am liebsten hätte sie sich in die Erde gegraben,
nur weg von diesem schwitzenden Europäer mit seiner blassen
Haut und den schmatzenden Lippen. Zum Weinen hatte sie
keine Kraft mehr und die Angst war der stummen Mutlosigkeit
gewichen, dem Holländer nicht ewig entkommen zu können.
Wie aus weiter Ferne hörte sie das wütende Stöhnen von
Ottobah, der verzweifelt an seinen Ketten zog und versuchte
ihr zu helfen. Die Jäger knüppelten ihn auf den Boden zurück.
Seine unterdrückten Schmerzensschreie legten sich schwer auf
ihre Seele.

»Steh auf, mein schwarzer Engel!«, forderte Willem van der

Meyde die junge Asante auf. »Mach es dir bequem! Wenn du
mir versprichst keine Dummheiten zu machen, schneide ich
dich los!«

Bensua erhob sich und setzte sich mit eisiger Miene auf einen

Klappstuhl. Sie verzog keine Miene, als der Holländer ihre
Fesseln durchschnitt. Ihr Kopf blieb gesenkt und sie
beobachtete nur aus den Augenwinkeln, wie er den Docht der
Öllampe nach unten drehte. Er saß auf dem Rand seines Bettes,
dessen Gestell vier Sklaven durch den Urwald schleppten.
»Möchtest du was trinken?«, fragte er und goss ihr ohne eine
Antwort abzuwarten ein Glas des süßen Weins ein. »Trink,
meine Süße! Das macht es dir etwas leichter, dich dem
Vergnügen hinzugeben! Ich kann mir denken, wie aufgeregt du
sein musst, zum ersten Mal in deinem Leben mit einem weißen
Mann zu nächtigen.« Er grinste sie scheinbar mitfühlend an.
»Ich werde dir helfen deine Scheu zu überwinden! Glaube mir,
du wirst diese Nacht nie vergessen!«

Ihr blieb nichts anderes übrig als nach dem Weinglas zu

greifen. Zitternd hielt sie sich daran fest. Als der Holländer mit
ihr anstieß und sein Gesicht abermals zu seinem widerlichen
Lächeln verzog, wurde ihr beinahe übel. Sie ließ das Glas

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fallen und begann zu weinen. Auf einmal waren wieder Tränen
da, verschleierten ihre Augen und rannen ihre Wangen
hinunter. »Du musst nicht weinen!«, meinte der Holländer mit
seiner verlogenen Stimme. »Komm in meine Arme, schwarzer
Engel, dann tröste ich dich!«

Bensua wusste, dass der entscheidende Augenblick

gekommen war. Gleich würde der Händler nach ihr greifen
und ihre Haut berühren. Voller Ekel sprang sie auf. Sie ging
mit beiden Fäusten auf den Mann los und prügelte wütend auf
ihn ein. Die Schläge prallten wirkungslos an seinem
aufgedunsenen Körper ab. Sie ging in die Knie und blieb
erschöpft auf den Fersen sitzen.

Einen Augenblick dachte sie, der Sklavenhändler würde sie

erschlagen. Dann lachte er plötzlich und rief: »Nun seht euch
dieses Biest an! Wehrt sich mit Händen und Füßen gegen
mich! Dafür sollte ich dir den Kopf abschlagen, schwarze
Hexe! Das hätten deine Leute mit dir getan, weißt du das?«
Sein Lachen wurde zu einem breiten Grinsen. »Aber ich will
Gnade vor Recht ergehen lassen! Für eine widerspenstige Hexe
wie dich bekomme ich vierzig Gallonen, vielleicht sogar
fünfzig! Die setze ich nicht aufs Spiel.« Sein Gesicht wurde
ernst und er rief nach einem seiner Männer. »Schafft die Hexe
fort! Ich hab keine Lust, mir von diesem Biest die Augen
auskratzen zu lassen! Legt sie in Ketten und schafft sie zu den
Männern! Das wird sie lehren, sich gegen einen Master
aufzulehnen! Beeilt euch, verdammt!«

Der Jäger brachte sie nach draußen und sie war froh, die

Ketten an ihren Handgelenken zu spüren. Alles war besser, als
mit diesem weißen Ungeheuer das Nachtlager teilen zu
müssen!

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9



Am Ende des Urwalds wartete das Meer. Endlos wie die große
Sahara im Norden und genauso trostlos und abweisend. Eine
Wasserwüste mit wogenden Dünen, dunkel und schwer wie
Regenwolken, die bis zum fernen Horizont reichte und sich in
der leuchtenden Sonne verlor. Die Brandung bildete weiße
Kämme und ergoss sich schäumend auf den weiten
Sandstrand. Ein vertrauter Anblick für die weißen Männer und
einige der Fante, eine Bedrohung für Bensua und die beiden
Asante-Krieger, die im Regenwald aufgewachsen waren und
das Meer noch niemals gesehen hatten. Sie blieben
erschrocken stehen und starrten ungläubig auf das große
Wasser. So hieß das Meer in den Geschichten und Liedern der
Asante. Eine Untertreibung, wie sich jetzt herausstellte, denn
dieses Wasser hatte kein jenseitiges Ufer und wälzte sich wie
ein gewaltiges Lebewesen im Sand.

Das Knallen der Peitschen trieb die Sklaven über den

ausgetretenen Pfad zum Ufer hinab. Staunend blickte Bensua
zu dem steinernen Fort empor, das sich wie eine
mittelalterliche Burg auf einer steil ansteigenden Anhöhe
erhob. Wuchtige Wachttürme und eine meterhohe Mauer
umgaben den Stützpunkt. Die Holländer hatten ihn vor zwei
Jahrhunderten den Portugiesen geraubt. Er war größer als der
Palast des Asantehene, wirkte wie die Heimat eines
unheimlichen Riesen, der nur darauf wartete, seine Opfer zu
verschleppen und in den Verliesen des Forts verrotten zu
lassen. Über einem der Türme wehte eine bunte Fahne.

Unterhalb des Forts lag die Faktorei. Eine Handelsstation, die

aus mehreren Lehmhäusern und einem großen Gehege bestand,

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das von einem stabilen Holzzaun umgeben war. In diesem
Barracoon

waren die Sklaven untergebracht. Über

zweihundert Männer, Frauen und Kinder warteten in dem
Pferch, als Bensua und ihre Leidensgenossen die Faktorei
erreichten. Dunkle Gesichter am Zaun, von Enttäuschung und
Hoffnungslosigkeit geprägt, von der Angst gepeinigt, in einem
Segelschiff über das große Wasser gebracht zu werden. Die
helle Baumwollkleidung der Aufseher strahlte in der heißen
Sonne. Einige Palmen rauschten in der leichten Brise und
spendeten etwas Schatten. Als sie am Zaun entlanggingen,
erkannte Bensua die Umrisse eines langen Lehmhauses, das
mitten in der Palisadenfestung stand und die Sklaven vor
Unwettern schützen sollte.

Einige Weiße traten aus den Häusern und begrüßten den

Holländer. In der Art, wie sie sich verneigten, erkannte
Bensua, wie viel Respekt sie vor dem Sklavenjäger hatten.
Willem van der Meyde war ein angesehener Mann. Und ein
rücksichtsloser Befehlshaber, der seine Angestellten wie
lästige Anhängsel behandelte. »Bringt mir Wasser und süßen
Wein«, herrschte er einen seiner Männer an, »und schafft
dieses Lumpenpack in den Barracoon! Ich habe mich lange
genug damit herumgeschlagen!« Den Schwarzen, die seine
Sänfte getragen hatten, befahl er vor seinem Büro zu warten.
Sie sollten ihn zum Fort tragen, sobald er den neuen
Frachtbrief ausgefüllt hatte. Er wollte sofort informiert werden,
wenn die Hannibal sich der Küste näherte. Er hatte eine
Abmachung mit dem Kapitän des amerikanischen Schiffes
getroffen und hoffte, dass er pünktlich eintreffen werde.

Bensua war froh, dem Holländer zu entkommen. Nachdem

sie mit den Fäusten auf ihn losgegangen war, hatte sie
befürchtet, dass er sie am nächsten Abend mit Gewalt nehmen
würde. Aber er schien die Lust an ihr verloren zu haben.
Während der letzten Tage hatte er sie kaum beachtet und sich

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wie zum Trotz mit einer der älteren Frauen vergnügt. Die
Fante hatte sich dem Sklavenjäger willenlos ergeben und nicht
einmal geschrien. Fernab der Heimat und ohne ihren Mann und
ihre Kinder brachte sie nicht die Kraft auf, sich gegen den
Holländer aufzulehnen. Es war besser, sich seinem Willen zu
unterwerfen. Er war ein skrupelloser König, der sich von
keinem Menschen etwas sagen ließ. Vielleicht gelang es ihr,
sich auf diese Weise einen Vorteil zu verschaffen. Sie hatte
gehört, dass einige Sklaven in Afrika bleiben und den weißen
Männern in den Faktoreien helfen durften. Dort bestand eine
größere Chance, in ihr Dorf zurückzukehren.

Die versteinerte Miene der Fante machte Bensua zu schaffen.

Sie fühlte sich schuldig, machte ihre Auseinandersetzung mit
dem Holländer für das Unglück dieser Frau verantwortlich.
»Es kommt, wie es kommen muss«, sagte die Frau, als Bensua
ihr eine Hand auf die Schultern legte. »Allein die Götter
wissen, welches Schicksal auf uns wartet! Ich habe meinen
Mann und meine Kinder verloren! Was macht es für einen
Unterschied, wenn der weiße Mann mich berührt? Vielleicht
lässt er mich im Fort arbeiten! Lieber sterbe ich in der Heimat
als auf dem Wasser, das kein Ufer hat!«

Die weißen Jäger öffneten ein Gatter und stießen die

Gefangenen in den Pferch. Sie scherzten mit den anderen
Aufsehern und ließen ihre Peitschen knallen. Nachdem sie das
Gatter mit einer Kette und einem großen Vorhängeschloss
gesichert hatten, nahmen sie den Männern die Balken und die
Handfesseln ab. Nur die Ketten an den Fußgelenken blieben.
Damit wurden sie jeden Abend an die eisernen Ringe in dem
langen Lehmhaus gefesselt. Den Frauen wurden alle Fesseln
abgenommen. Sie durften sich frei bewegen, bekamen aber die
Peitschen der Aufseher zu spüren, wenn sie den Männern zu
nahe kamen. Vier Weiße, die mit Gewehren, Peitschen,

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Schlagstöcken und Messern bewaffnet waren, bewachten die
Sklaven in dem Barracoon.

Bensua setzte sich in den Schatten einiger Palmen, die im

südlichen Teil des Pferchs wuchsen. Voll Sehnsucht blickte sie
zu Ottobah hinüber. Der Fante saß unter dem Palmendach des
Lehmhauses und starrte mit leeren Augen in die
Nachmittagssonne. Als sich ihre Blicke begegneten, huschte
die Andeutung eines Lächelns über sein Gesicht. Er wirkte
noch härter und unnachgiebiger als auf dem langen Marsch zur
Küste und schien an dem Gedanken zu verzweifeln, dass es
kein Entkommen gab. Die Sklavenjäger hatten an alles
gedacht. Gegen ihre Gewehre gab es kein Mittel. Und in
diesem Pferch, mitten auf dem Strand und in Sichtweite des
Forts, würde ihm nicht einmal eine List helfen. Sie wurden
gezwungen die Nacht in dem langen Lehmhaus zu verbringen,
und das hatte keine Fenster und nur eine Tür. Vor der einzigen
Öffnung standen zwei bewaffnete Männer.

»Ottobah«, sagte Bensua, obwohl er sie nicht verstehen

konnte. »Wir dürfen nicht aufgeben! Wenn wir beten und die
alten Lieder singen, wird es eine gemeinsame Zukunft für uns
geben! Unser Glaube ist stärker als die Gewehre der weißen
Männer!« Sie stimmte ein Lied an, das während der Odwira
gesungen wurde, und ließ sich auch durch einen Aufseher nicht
einschüchtern, der drohend seine Peitsche erhob. Jetzt sangen
auch die anderen Asante mit, ungefähr fünfzig Männer, Frauen
und Kinder aus einem Dorf, das Bensua niemals gesehen hatte.
Ihre Lieder schallten wie eine hoffnungsvolle Botschaft über
den Strand. Auch Ottobah sang mit, lauter als die anderen, und
Bensua erkannte an seiner Miene, dass er neuen Mut geschöpft
hatte. Sie erwiderte sein entschlossenes Lächeln und ballte die
Hände zu Fäusten.

Der Aufseher, der die Peitsche erhoben hatte, nahm sie

herunter und entfernte sich achselzuckend. »Sollen sie doch

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singen«, meinte er abfällig zu einem der anderen Weißen.
»Immer noch besser als den ganzen Tag ihr Gejammer zu
hören! Wird höchste Zeit, dass das verdammte Schiff kommt!
Ich will endlich mal wieder in der Sonne liegen und mich
ordentlich besaufen!«

Das Lied verklang in dem frischen Wind, der vom Meer

herüberwehte. Es vertrieb die Schmerzen, die Bensua und die
anderen Neuankömmlinge plagten, und gab ihnen wieder
Kraft. Wenn der Glaube stark genug war, konnte selbst ein
weißer Mann ihn nicht brechen. Nach dem Tod wartete eine
neue und bessere Welt auf die Asante, ein Königreich, in dem
es keine Weißen gab und das ein endloses Leben voller Glück
und Frieden für sie bereithielt. Wer den Prüfungen, die
diesseits des unsichtbaren Flusses auf die Menschen warteten,
standgehalten hatte, würde sicher das andere Ufer erreichen.
Wenn Bensua die Augen schloss, konnte sie deutlich sehen,
wie Ottobah sie in die Arme nahm und ihre Stirn liebkoste.
»Du bist meine Frau«, flüsterte er. »Es wird niemals eine
andere für mich geben!«

Sie öffnete die Augen und blickte in das Gesicht eines

Mädchens. Eine Asante, ungefähr zwei Jahre jünger als sie und
von mehreren Brandwunden im Gesicht und an den Armen
gezeichnet. Sie trug ein einfaches Baumwollkleid und ein
Kopftuch. »Ich bin Manu«, begann sie leise, »ich möchte deine
Freundin sein.«

Bensua zog die junge Asante zu sich herunter und blickte sie

prüfend an. Ihr Gesicht war schmal und knochig, als hätte sie
lange nichts mehr gegessen. In ihren Augen war eine
erschreckende Leere. »Ich heiße Bensua. Ich komme aus
Kumase. Die weißen Männer haben mich mitgenommen, weil
ich Ottobah befreien wollte. So heißt der Krieger, mit dem ich
leben möchte.«

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Manu folgte ihrem Blick und zog die Augenbrauen hoch. »Er

ist ein Fante. Du bist eine Asante. Wie kannst du ihm
versprochen sein? Ist es in der Hauptstadt üblich, Gefangene
zu heiraten?«

»Ich war ihm nicht versprochen«, erwiderte Bensua. Sie

berichtete, was vorgefallen war, und wich ihrem Blick aus.
»Du wirst sagen, dass es dumm war, die Stadt wegen eines
feindlichen Kriegers zu verlassen. Du wirst mir vorwerfen,
dass ich die Gesetze der Asante gebrochen habe.« Sie
schüttelte den Kopf und zwang sich, das Mädchen wieder
anzusehen. »Ottobah hat meine Seele berührt! Die Götter
wollen, dass ich diesen Weg gehe!«

Manu starrte sie lange an. Sie verzog keine Miene und ließ

nicht erkennen, was sie von Bensuas Entscheidung hielt. Ihr
Gesicht war ausdruckslos, wirkte durch die Brandwunden auf
ihrer linken Wange wie die Maske eines Tänzers, der die bösen
Geister vertreiben wollte. »Ich komme aus Edwesu«, sagte sie.

»Am Ofin-Fluss?«, fragte Bensua verwundert. »Das Dorf,

das von den Mmoatia überfallen wurde?« Vor einigen Wochen
hatte der Asantehene verbreiten lassen, dass die pfeifenden
Zwerge des Waldes in die kleine Stadt im Norden des
Königreiches eingedrungen wären und alle Einwohner mit
einer unheilbaren Krankheit angesteckt hätten. »Ich verbiete
euch diese Stadt zu besuchen!«, hatte er gesagt. »Die Zwerge
wollen uns alle töten!«

Nach dem Glauben der Asante lebten die Mmoatia im

Regenwald. Seltsame Wesen, die sich pfeifend verständigten
und deren Füße in die andere Richtung zeigten. Bisher hatte sie
diese Waldgeister immer für eigenwillige Kobolde gehalten,
die einem Menschen etwas Böses antun, ihn aber niemals töten
konnten.

»Das hat der König behauptet?«, fragte Manu. Zum ersten

Mal zeigte ihr Gesicht eine Regung, blitzte Unverständnis und

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dann Zorn in ihren Augen auf. »Uns haben keine Zwerge
überfallen«, sagte sie, »die Mmoatia habe ich nie gesehen. Die
Schwertmänner des Königs waren in unserem Dorf! Sie haben
die aufsässigen Krieger getötet und ungefähr hundert Männer,
Frauen und Kinder mitgenommen! Alle Asante, die mit dir
gesungen haben, kommen aus Edwesu! Der König hat uns an
die weißen Sklavenhändler verkauft! Seine Schwertmänner
haben uns weggetrieben und an die weißen Männer
ausgeliefert!« Die Leere kehrte in ihre Augen zurück. »Sie
haben meine Eltern umgebracht!«

Die Worte des Mädchens waren so ungeheuerlich, dass

Bensua einige Zeit brauchte um ihren Sinn zu verstehen. Sie
erinnerte sich an die Schädel, die sie in dem niedergebrannten
Dorf im Urwald gefunden hatte, und musterte die
Brandwunden im Gesicht des Mädchens. »Ich wollte es nicht
glauben«, sagte sie. »Ich wollte nicht wahrhaben, dass unser
König zu so etwas fähig ist! Aber es ist wahr! Er lässt die
Menschen seines eigenen Volkes töten! Er verkauft sie an die
weißen Sklavenhändler! Was ist geschehen, Manu? Warum
haben die Götter uns verlassen?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte das Mädchen, »meine Welt ist

dunkel und leer! Die Verwandten, die ich geliebt habe, sind
tot! Das Dorf, in dem ich zu Hause war, wurde niedergebrannt!
Wem soll ich noch glauben? Mit wem soll ich reden? Die
Menschen aus Edwesu sind mir fremd geworden. Ich habe
keine Freunde mehr.«

»Du hast mich«, meinte Bensua entschlossen. Sie blickte das

Mädchen an und bekräftigte ihre Worte durch einen
Händedruck. »Ich werde bei dir sein, wenn wir auf das
Segelschiff gehen und über das große Wasser fahren! Ottobah
und ich werden dich beschützen, wenn dir jemand wehtun will!
Du bist nicht allein, Manu! Wir werden die bösen Geister
gemeinsam vertreiben!«

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Bensua hatte keine Ahnung, wie sie ihr Versprechen halten

sollte. Sie wusste nicht einmal, ob Ottobah und sie diese
Prüfung durchstehen würden. Die Hoffnung war eine
schwache Flamme und ein Lied reichte nicht aus um die Götter
umzustimmen. Sie würden viel Kraft brauchen um die
nächsten Monate oder Jahre zu überleben. Sie legte einen Arm
um Manu und zog sie liebevoll zu sich heran. »Zusammen sind
wir stark«, sagte sie. »Wenn wir unsere Kräfte vereinen,
können uns die Weißen nichts anhaben! Wir müssen an eine
bessere Zukunft glauben! Wir müssen den Göttern vertrauen!
Dann spüren wir nicht einmal die Peitschenhiebe der weißen
Männer!« Sie hielt Manu fest umschlungen und fühlte, wie
sich ihr Körper entspannte. Sie war eingeschlafen. »Ich bleibe
bei dir«, versprach sie.

Die Verantwortung für die jüngere Freundin und das Wissen,

in der Nähe von Ottobah zu sein, stärkten die Widerstandskraft
der Asante und nährten die Hoffnung, die nach dem
überstandenen Marsch an die Küste von ihr Besitz ergriffen
hatte. Ohne einen Menschen, zu dem sie sich hingezogen
fühlte, wäre sie verloren gewesen. So wie die Frau, die ihr
Kind erstickt und sich anschließend selbst umgebracht hatte.
Ohne dass die weißen Männer es merkten, hatte sie ihr Baby
erwürgt und sich dann eine Hand voll Sand in den Mund
gestopft. Als die Männer ihr Röcheln gehört hatten, war es
schon zu spät gewesen. »Verdammt!«, fluchte einer der weißen
Aufseher und drehte den Docht der Öllampe höher. »Sie sind
beide tot!« Er brachte sein Gewehr in Anschlag und drehte sich
nach den anderen Weißen um. »Kommt her, verdammt! Die
Negerin hat sich umgebracht!«

Sie trugen die beiden Leichen nach draußen und begruben sie

im Sand. Als Willem van der Meyde am nächsten Morgen von
dem Zwischenfall erfuhr, verurteilte er die Aufseher zu einem
Strafdienst und strich ihnen einen Teil des Lohns. Seine

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Angestellten hatten die strenge Anweisung, die Sklaven bis zur
Ankunft des Schiffes besonders gut zu behandeln und sie
ausreichend mit Nahrung und Wasser zu versorgen.
Auspeitschungen und ähnlich drastische Strafmaßnahmen
waren zu vermeiden. Die Schwarzen sollten im bestmöglichen
Zustand an den Kapitän der Hannibal übergeben werden.
Captain Alexander Whitcomb war bekannt dafür, dass er
kranke und schwache Sklaven abwies und einen Rabatt für
ausgepeitschte »Ware« verlangte.

Die verzweifelte Tat der Mutter war kein Einzelfall. Auch auf

dem langen Marsch von Edwesu zur Küste hatten sich einige
Asante umgebracht. Das erfuhr Bensua von ihrer jungen
Freundin, die nicht einmal geweint hatte, als die Leichen der
Frau und des Kindes aus dem Pferch getragen worden waren.
Dazu hatte sie zu viel erlebt: erst den heimtückischen Überfall
auf ihr Heimatdorf und dann den langen Marsch zur Küste.
»Ich kannte die Frau«, sagte sie nur, »vor der Regenzeit hat sie
gesungen und getanzt. Sie war mit einem tapferen Krieger
verheiratet. Er wurde unterwegs von einem Löwen getötet. Er
war gefesselt und konnte sich nicht wehren! Die weißen
Männer wollten, dass er am Leben bleibe, weil er viel Geld
gebracht hätte, aber sie konnten nichts tun. Sie haben viel zu
spät geschossen!«

Und dann erzählte sie von der Frau, die in den Ofin-Fluss

gesprungen und nicht mehr aufgetaucht war. Sie hatte sich
selbst ertränkt. Ein Krieger hatte sich nachts mit seinen
eigenen Fesseln erstickt und eine Mutter hatte ihr Kind mit
einem Stein erschlagen und war schreiend auf einen Elefanten
zugelaufen, der am frühen Morgen vor ihrem Lager
aufgetaucht war. Manus Augen waren ausdruckslos, als sie von
dem schrecklichen Vorfall berichtete. »Ein einsamer Bulle. Er
war sehr gereizt! Die Frau rannte, bis der Bulle auf sie
aufmerksam wurde, und ließ sich von ihm niedertrampeln! Sie

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wollte sterben! Die Weißen haben den Elefanten erschossen
und seine Zähne mitgenommen! Sie lachten laut, als sie ihm
das Elfenbein vom Körper schnitten!«

Die wenigen Tage, die Bensua und ihre Leidensgenossen in

dem Barracoon verbrachten, verliefen ohne einen weiteren
Zwischenfall. Nach dem Selbstmord der jungen Mutter waren
die weißen Aufseher besonders gewissenhaft und hielten sich
streng an die Befehle des Holländers. Sie ließen die Peitschen
stecken, brachten den Gefangenen ausreichend Nahrung und
Wasser und holten sogar einen Arzt, als eine der Fante-Frauen
an Fieber erkrankte. Dr. John Meredith Stanton, ein
amerikanischer Arzt, der seit einem Jahr in dem holländischen
Fort arbeitete und es gar nicht erwarten konnte, wieder in seine
Heimat zurückzukehren, nutzte die Gelegenheit, um einen
Befehl von Willem van der Meyde auszuführen und alle
Sklaven einer strengen Untersuchung zu unterziehen. »Seien
Sie gründlich!«, schärfte ihm der Holländer ein. »Ich kann es
mir nicht leisten, Ihre Landsleute mit schlechter Ware zu
versorgen! Dieser Captain Whitcomb bringt es fertig und lässt
den ganzen Handel platzen!«

Dr. Stanton ließ einen Tisch in das lange Lehmhaus bringen

und legte seine Instrumente darauf. »Die Leute sollen sich
anstellen«, sagte er zu einem Aufseher. »Und sorgen Sie für
Ruhe! Ich kann das Kindergeschrei nicht ertragen! Haben Sie
gehört?«

»Aye, Sir«, meinte der Mann lachend. Er ließ seine Peitsche

knallen und wandte sich an die Sklaven. In dem Kauderwelsch,
das alle verstanden, rief er: »Ihr habt es gehört! Einer nach
dem anderen! Und haltet eure Kinder ruhig! Der Doktor
verträgt kein Geschrei! Wenn ihr nicht gehorcht, bekommt ihr
die Peitsche zu spüren!«

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10



Dr. Stanton hielt sich an den Befehl und untersuchte die
Gefangenen sorgfältiger als die meisten seiner Kollegen. Er
betrachtete den Wuchs jedes Einzelnen, seinen
Gesichtsausdruck, schob ihre Lippen auseinander und
begutachtete die Zähne, berührte ihre Glieder und Gelenke.
Wie ein Viehdoktor schätzte er die verunsicherten Menschen
ab. Er musterte ihre nackten Körper ohne jede Gefühlsregung,
griff ihnen zwischen die Beine und brummte ungeduldig, wenn
er mit seiner Untersuchung zufrieden war.

Die Männer waren zuerst an der Reihe. Von den Aufsehern

bewacht standen sie vor dem langen Lehmhaus und wurden
einzeln zu dem Arzt gerufen. Ihre Handgelenke blieben
gefesselt. Die meisten Krieger machten sich nicht viel aus der
Untersuchung, ließen die Prozedur wortlos über sich ergehen
und kehrten ohne eine sichtbare Regung auf ihre Plätze zurück.
Nur Ottobah und zwei andere Männer, ein erfahrener Krieger
und ein Jüngling, begehrten auf. Sie empfanden das Vorgehen
des Arztes als Demütigung und fühlten sich in ihrem Stolz
verletzt. Der Junge ging mit erhobenen Fäusten auf den Arzt
los und wurde von einem Aufseher mit dem Gewehrkolben
niedergeschlagen. Der Krieger, ein Verwandter des
Häuptlings, gab nach einem Wortgefecht und einem Schluck
aus der Rumflasche klein bei.

Ottobah sah, wie die Männer vor ihm berührt wurden, und

explodierte wie ein Krieger, den man öffentlich beleidigt hatte.
»Die weißen Männer behandeln uns wie Tiere!«, schrie er so
laut, dass einige Kinder zu weinen anfingen. »Sie erniedrigen
uns vor unseren Frauen und Kindern! Wehrt euch, meine

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Brüder! Zeigt den Weißen, dass wir uns nicht alles gefallen
lassen! Wir sind Krieger! Wir sind keine Rinder, die auf den
Markt getrieben werden!« Er zog einem Aufseher blitzschnell
das Messer aus dem Gürtel und holte damit aus. Bevor er
zustechen konnte, war ein anderer Weißer heran und schlug
ihn mit einem Knüppel nieder.

»Halt!«, schallte es durch den Pferch, als er weiter auf den

benommenen Sklaven einschlagen wollte. Willem van der
Meyde war aus dem Fort gekommen, um sich vom Zustand der
Sklaven zu überzeugen, und hielt den Aufseher zurück. »Das
genügt! Er ist einer der kräftigsten Männer! Ich will den
Höchstpreis für ihn!«

»Er ist gefährlich«, wehrte sich der Mann. »Wenn wir nicht

aufpassen, wiegelt er den ganzen Haufen auf! Er braucht
Schläge!«

»Lasst ihn am Leben!«, erwiderte der Sklavenhändler. Er

blickte durch die offene Tür des Lehmhauses und lächelte
falsch. »Den brauchen Sie nicht zu untersuchen, Doktor! Der
ist gesünder als alle anderen zusammen!« Ohne eine Antwort
abzuwarten wandte er sich an den Aufseher. Jetzt war seine
Miene ungewöhnlich streng. »Legt ihm die Fußketten an! Das
wird ihn lehren, sich zu benehmen! Und ruft mich, wenn ihr
mit dem Bränden beginnt! Wir nehmen uns diesen Burschen
zuerst vor. Bevor er merkt, was gespielt wird, ist es vorbei! Ich
will keinen Ärger, kapiert?«

Bensua verstand die Worte des Holländers nicht, erkannte

aber am Tonfall, dass er seinen Aufseher zurechtgewiesen
hatte. Erleichtert beobachtete sie, wie man Ottobah die
Fußfesseln anlegte und ihn hinter das Lehmhaus stieß. An
einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte der
Aufseher ihm den Schädel eingeschlagen. Ihre Verschiffung
musste unmittelbar bevorstehen, sonst hätte er ihn bestimmt
nicht verschont. Die Sklaven waren eine wertvolle Ware und

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mussten in einem tadellosen Zustand sein, wenn der Holländer
die volle Bezahlung erhalten wollte, das hatte sie längst
erkannt. So wie man ein Schwein füttert, bevor man es auf den
Markt bringt. Sie waren keine Menschen mehr. Sie waren
Tiere, die man zum Schlachten führte.

Einige Frauen glaubten tatsächlich, dass die weißen Männer

sie auf dem Schiff schlachten wollten. Sie schrien erbärmlich
und steckten sogar einige Männer mit ihrem Geschrei an,
verstummten erst, als die Aufseher ihre Peitschen knallen
ließen und ein älterer Krieger rief: »Sie wollen uns nicht
aufessen! Ich weiß es! Sie bringen uns in ein fernes Land! Dort
sollen wir für die Weißen arbeiten! Wir sind Sklaven des
weißen Mannes!«

»Stimmt das?«, fragte Manu ängstlich. Sie saß neben Bensua

und hielt sich mit beiden Händen an ihr fest. Ihre
Brandwunden leuchteten in der Sonne. »Müssen wir alle mit
den Weißen gehen? Gibt es ein Land auf der anderen Seite des
großen Wassers? Wie sieht dieses Land aus? Gibt es dort einen
Urwald?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua ehrlich. Sie verriet

ihrer jungen Freundin nicht, was einige Asante erzählten, dass
an dem fernen Ort die bösen Geister wohnten. Sie drückte eine
Hand des Mädchens. »Du musst stark sein, Manu! Ich weiß,
was du durchgemacht hast. Die Schwertmänner haben deine
Eltern getötet und dein Dorf niedergebrannt! Auch ich habe
großes Leid erfahren und meine Verwandten verloren. Selbst
wenn ich nach Kumase zurückginge, würden sie mich nicht
mehr ansehen! Aber wir dürfen nicht vor den Weißen in die
Knie gehen! Die Götter werden uns beistehen, wenn wir über
das große Wasser fahren! Wenn wir beten und singen, lassen
sie uns nicht im Stich! Du musst an eine bessere Zukunft
glauben, meine Freundin!«

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Bensua zweifelte selbst an ihren Worten. Sie wusste, dass an

den bösen Ahnungen vieler Gefangener, ihr Aufenthalt in dem
Barracoon sei nur die Ruhe vor einem schweren Sturm, etwas
Wahres dran sein musste. Die Schwarzen, die in der Faktorei
arbeiteten und jeden Abend zum Saubermachen in den Pferch
kamen, wollten von skrupellosen Kapitänen gehört haben, die
jeden kranken Sklaven über Bord warfen und Ruhestörer
gnadenlos auspeitschten. Ein Schwarzer behauptete sogar, nur
die Hälfte aller Schwarzen würde das ferne Land erreichen. Er
hatte etwas Holländisch gelernt und zwei weiße Männer
belauscht.

»Er lügt«, beruhigte ein Asante die aufgebrachten

Gefangenen. »Warum sollten sie uns über Bord werfen? Tot
sind wir nichts wert! Seht doch, wie sie uns in diesem Pferch
behandeln! Wir leben hinter einem Zaun und viele von uns
sind gefesselt. Das stimmt. Aber wir bekommen genug zu
essen und zu trinken! Die Kinder weinen nicht mehr! Sie
werden uns nicht töten!«

»Der Asante hat Recht«, sagte Bensua zu ihrer jungen

Freundin. Sie bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln.
»Sie werden uns nichts tun! Und wenn wir für die weißen
Männer gearbeitet haben, bauen wir ein neues Dorf und
gründen einen neuen Clan. Ottobah wird unser Häuptling sein!
Halte durch, Manu!«

Einer der Aufseher forderte die Frauen und Kinder auf, sich

vor dem Lehmhaus anzustellen. Bensua stellte sich so, dass sie
Ottobah sehen konnte, und suchte den Blickkontakt. »Ich
bewundere dich, mein tapferer Krieger!«, sagten ihre Augen.
Und er antwortete: »Wir sind stark! Wir werden uns niemals
unterwerfen!«

Bensua gehörte zu den ersten Frauen, die von dem Arzt

untersucht wurden. Scheinbar gleichgültig ertrug sie die
Prozedur. Es war demütigend, sich von dem weißen Mann

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zwischen die Beine greifen zu lassen, und es fiel ihr schwer,
die Ruhe zu bewahren. Sie verstand die Frauen, die unter der
Berührung zu zittern begannen oder weinend aus dem
Lehmhaus liefen. Kein schwarzer Krieger beschämte seine
Gefangenen auf diese Weise. Die weißen Männer mussten ihre
Peitschen einsetzen um für Ruhe zu sorgen. »Ich bleibe bei
ihr«, sagte Bensua zu dem Doktor, als Manu an der Reihe war.
»Sie hat große Angst!« Dr. Stanton war froh ihre
Unterstützung zu bekommen und nickte. »Meinetwegen.«

Schon bald erkannte Bensua, wie klug es gewesen war, bei

ihrer Freundin zu bleiben. Als der Doktor eine Salbe auf ihre
Brandwunden schmierte, begann sie zu weinen, und als er ihr
zwischen die Beine griff, schrie sie in panischer Angst auf.
Bensua nahm sie schnell in die Arme und drückte sie fest. »Es
ist nur zu deinem Besten!«, hörte sie den Arzt sagen. »Du
musst gesund sein, wenn du an Bord gehst! Oder willst du das
Schiffsfieber bekommen?« Er nahm einen Schluck von dem
heißen Tee, den ihm ein Aufseher gebracht hatte, und blickte
zur Tür. »Die Nächste! Und beeil dich ein bisschen! Ich habe
keine Lust, die ganze Nacht in diesem Loch zu verbringen!«
Das hatte er in seiner Sprache gesagt, einer hässlichen und
aufdringlichen Sprache, wie Bensua fand, obwohl sie kein
Wort verstanden hatte.

In der folgenden Nacht schlief sie sehr unruhig. Sie träumte

von einem weißen Aufseher, der Manu das Baumwollkleid
vom Körper riss und mit der Peitsche auf sie einschlug, bis sie
blutete. Sie befanden sich auf einem Segelschiff. Rundherum
war nur Wasser. Schäumende Wellen schlugen gegen das
Schiff und spritzten bis zu ihnen herauf. Plötzlich tauchte ein
hässliches Ungeheuer mit scharfen Zähnen aus dem Meer,
schnappte sich die blutende Manu und zog sie in die Tiefe.
Bensua schreckte aus dem Schlaf, sah Manu in ihren Armen
liegen und beruhigte sich langsam. Auf ihrer Stirn stand kalter

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Schweiß. Sie sah sich um und fing den Blick einer jungen Frau
auf, die einen kleinen Jungen hielt und verzweifelt in die
Dunkelheit starrte. Von der Stelle, wo die Männer nächtigten,
drang lautes Schnarchen herüber.


Der Morgen weckte sie mit den ersten Strahlen der Sonne und
einer ungewohnten Unruhe. Aus der Festung kamen weiße
Männer und schwarze Sklaven zum Strand gelaufen. Mehrere
Ochsenwagen hielten auf dem felsigen Platz am Ufer. Die
Hannibal war gekommen und in der Bucht vor Anker
gegangen. Eine zweimastige Brigg mit leuchtenden Segeln und
der amerikanischen Flagge am Hauptmast. Willem van der
Meyde wartete am Strand, einen modischen Hut mit einer
bunten Straußenfeder auf dem Kopf, und begrüßte den
Kapitän, der von einigen Matrosen in einem Hafenboot an
Land gerudert wurde. »Einen schönen guten Morgen, Captain
Whitcomb«, wünschte der Holländer mit einer übertriebenen
Verbeugung. »Ich freue mich, Euch in meinem kleinen Reich
begrüßen zu dürfen! Ihr seid pünktlich, Captain!«

Captain Alexander Whitcomb trug seine beste Uniform. Er

war schlank und drahtig und hatte ein kantiges Gesicht mit
ausgeprägten Backenknochen. Seine Großmutter war eine
Indianerin gewesen. Kalt und nüchtern war der Blick seiner
blauen Augen. Er nahm seinen Dreispitz ab und nickte kurz.
»Guten Morgen, van der Meyde! Ganz meinerseits! Aber
halten wir uns nicht zu lange mit überflüssigen Floskeln auf.
Ich will heute noch meine Ladung löschen und diese Küste
sobald wie möglich verlassen! Nicht jeder Weiße ist so
widerstandsfähig wie Ihr! Ich habe keine Lust, mich mit dem
Fieber anzustecken! Und meine Männer auch nicht!« Er
blickte zum Pferch hinüber. »Die Sklaven sind alle gesund,

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oder? Ich darf nur Ware mit einer ärztlichen Bescheinigung
mitnehmen!«

»Das weiß ich doch«, erwiderte der Holländer mit einem

spöttischen Lächeln. »Dr. John Meredith Stanton, übrigens ein
Amerikaner wie Ihr, hat die Untersuchung gestern
abgeschlossen. Aber wollen Sie nicht ins Haus kommen und
einen Schluck trinken? Ich habe einen erstklassigen Tropfen in
meinem Keller…«

»Ich habe leider wenig Zeit«, winkte der Captain ab.

»Versteht mich nicht falsch! Ich möchte auf keinen Fall
unhöflich sein! Aber meine Auftraggeber sind sehr
gewissenhaft und dulden keinen Aufschub! Mir wäre es lieb,
wenn wir gleich zur Sache kämen.«

»Also gut«, lenkte der Holländer ein, »aber Ihr habt doch

nichts dagegen, wenn ich mir ein Gläschen gönne, während ich
mir Eure Frachtpapiere ansehe? Ihr habt doch die Gewehre und
den Rum dabei? Wir haben großen Bedarf an Feuerwaffen und
diesem Getränk von den Westindischen Inseln…« Er
schmatzte mit den Lippen. »Nun, ich habe schon Schlimmeres
getrunken!«

Whitcomb zog die Frachtliste aus seiner Jackentasche und

strich sie glatt, bevor er darauf einging. Er war ein sehr
korrekter und gewissenhafter Mann und hatte einige Jahre in
der Schreibstube einer Werft gearbeitet, bevor er zur See
gefahren war. »Musketen, Glasperlen, Eisenstangen, Rum,
Brandy… alles da!«

»Und ich habe zweihundertsechzig Sklaven für Euch«,

meinte der Holländer. »Hundertfünfzig Männer,
zweiundachtzig Frauen und achtundzwanzig Kinder. Alle bei
bester Gesundheit und im Vollbesitz ihrer Kräfte! So gute
Ware hatte ich lange nicht mehr!«

Der Captain zeigte sich amüsiert. »Ich weiß, dass Ihr die

armen Teufel mit Hirsebrei mästet und ihre Haut mit Palmöl

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einschmiert, damit sie gesünder aussehen! Ich mache es
genauso, bevor wir einen Hafen anlaufen! Und Ihr wisst, dass
ich meinem Rum eine große Portion Rattengift beigemischt
habe! Also machen wir uns nichts vor! Bringen wir den Handel
hinter uns!«

Die Verhandlung dauerte keine Stunde. Der Holländer und

der Amerikaner kannten sich zu lange, um auf eine List des
anderen hereinzufallen. Sie unterschrieben die Papiere und
gaben ihren Männern den Befehl, die Ladung der Hannibal zu
löschen.

Die Gefangenen bekamen von den Verhandlungen nichts mit,

sahen aber, wie Kisten und Fässer vom Segelschiff gebracht
und auf die Ochsenwagen geladen wurden. Jetzt würde es nur
noch einen oder zwei Tage dauern, bis sie ihre Heimat
verlassen mussten. Die weißen Männer würden sie in die
kleinen Boote treiben und durch die schäumenden Wellen zu
dem großen Schiff rudern. Ein Gedanke, der vor allem den
Schwarzen zu schaffen machte, die das Meer noch nicht
kannten und panische Angst vor der Brandung hatten. Einige
Frauen und Kinder hielten das Zischen für den Atem der bösen
Geister, wichen in die hinterste Ecke des Pferchs zurück und
weinten und schrien. Eine Frau schnitt sich die Pulsadern mit
einem scharfen Stein auf.

»Hab keine Angst!«, sagte Bensua zu ihrer Freundin, obwohl

sie selbst nur mühsam ein Zittern unterdrückte. »Du hast
gesehen, wie die weißen Männer an Land gekommen sind. Uns
wird nichts passieren!« Sie blickte Ottobah an und sah das
entschlossene Funkeln in seinen Augen. »Wir sind stark!«, rief
er ohne die mürrischen Gesichter der Aufseher zu beachten.
»Wir werden diese schwere Prüfung bestehen! Die Götter
werden bei uns sein, wenn wir uns gegen die weißen Männer
erheben!« Einige der Schwarzen, die für die Weißen in der
Faktorei arbeiteten, verstanden seine Worte und sahen ihn

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erschrocken an. Wenige Sklaven begehrten in diesem
kritischen Augenblick gegen die Weißen auf. »Sei stark,
Bensua! Meine Gedanken sind bei dir!«

Keiner der Gefangenen ahnte, dass sie eine weitere

Demütigung und großen Schmerz erdulden mussten, bevor sie
an Bord gebracht wurden. Auch nicht Ottobah, der noch vor
dem Morgengrauen mit einem Fußtritt geweckt und in Ketten
gefesselt vor das Lehmhaus gezerrt wurde. Er war viel zu
verwirrt, um sich erfolgreich gegen die Aufseher wehren zu
können. Zwei Männer drückten ihn zu Boden und ein weiterer
schob seinen Kopf nach unten. Aus den Augenwinkeln
beobachtete Ottobah, wie ein kräftiger Weißer ein Brandeisen
ins Feuer hielt. »Nein!«, schrie er so laut, dass alle Gefangenen
aus dem Schlaf schreckten. »Nein!«

Ein Mann schmierte Talg auf seinen Rücken. Nachdem er

gefettetes Papier darüber gelegt hatte, gab er dem Mann am
Feuer ein Zeichen und der drückte das glühende Brandeisen
auf das Papier. Es zischte laut. Der Gestank verbrannter Haut
stieg in die Luft. Ottobah schrie mehr aus verzweifelter Wut
als vor Schmerz und zerrte gewaltsam an seinen Ketten, als ihn
die Männer in den Sand stießen. Auf seinem geschundenen
Rücken war das Zeichen der amerikanischen Handelsfirma zu
erkennen, die Captain Whitcomb mit dem Transport der
Sklaven beauftragt hatte.

Sobald die anderen Gefangenen erkannten, dass alle Sklaven

gebrandmarkt würden, setzte großes Wehklagen ein. Einige
Frauen und Kinder wurden hysterisch und wieder konnte eine
junge Fante nicht daran gehindert werden, sich umzubringen.
Manu klammerte sich wie eine Ertrinkende an Bensua, weinte
heftig in ihr Baumwollkleid und rief die Götter um Hilfe an.

Bensua brach es beinahe das Herz, als sie mit ansehen

musste, wie Manu gebrandet wurde. Ihr geschwächter Körper
bäumte sich unter dem heißen Eisen auf und sackte zu Boden.

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Dr. Stanton warf einen flüchtigen Blick auf die Wunde und
nickte schwach. »Sie übersteht es. Ich schmiere etwas Salbe
darauf.«

»Manu!«, rief Bensua schluchzend.
Sie wollte der weinenden Freundin zu Hilfe eilen und lief in

die Arme eines Aufsehers. Der Mann drückte sie gefühllos
nach unten und hielt sie fest, bis die dunklen Buchstaben auf
ihrem Rücken brannten. Der Schmerz war so stark, dass ihr
Tränen in die Augen schossen. Sie stolperte ein paar Schritte,
hielt sich an der Hauswand fest und kämpfte wütend gegen
eine drohende Ohnmacht an. Kaum hatte sie sich einigermaßen
gefangen, kroch sie zu Manu und legte einen Arm auf ihre
Schultern. Sie hatte das Bewusstsein verloren. »Du darfst nicht
aufgeben«, sagte sie zu dem Mädchen. »Hörst du? Du darfst
nicht aufgeben!«

Sie zog Manu in den Schatten und nahm sie in den Arm,

sorgsam darum bemüht, die Wunde nicht zu berühren. Ihren
eigenen Schmerz verdrängte sie. Es war wichtiger, ihrer jungen
Freundin zu helfen, sonst würde sie an der schweren Last, die
ihnen die Götter aufbürdeten, zerbrechen. Ihre Augen suchten
Ottobah und fanden ihn nicht. Er hatte sich vor lauter Scham
hinter dem Haus versteckt. Die anderen Gefangenen lagen
stöhnend im Sand, weinten, jammerten und fluchten. Der Arzt
verteilte Wundsalbe und verzog angewidert das Gesicht, als
ihm der Gestank der verbrannten Haut in die Nase stieg.
»Ekelhafter Geruch!«

Willem van der Meyde und der amerikanische Kapitän saßen

im Büro, als ein Aufseher hereinkam und meldete, dass alle
Sklaven gebrandet waren. »Dann kann es ja losgehen«, meinte
Whitcomb geschäftig. »Bringt die Ware an Bord!« Er stand auf
und blickte aus dem Fenster. »Dieses Gejammer kann einem
ganz schön auf die Nerven gehen, mein Freund. Beeilt Euch,
ja?«

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ATLANTIK



Ich dachte, ich müsste unter den Peitschenhieben des

verfluchten Rohlings sterben.

Ich kann meine Leiden nur mit den

Qualen der Hölle vergleichen.

Solomon Northup, ehemaliger Sklave

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11



Die Einschiffung der Sklaven dauerte den ganzen Tag. Unter
den Peitschenschlägen und Knüppelhieben der Aufseher liefen
sie zum Strand. Zitternd vor Angst bestiegen sie die
Ruderboote. Erst jetzt wurde ihnen bewusst, dass der Abschied
von ihrer Heimat endgültig war. Sie verließen die Goldküste
für immer. Die Männer und Frauen, die lebende Verwandte
zurücklassen mussten, begannen laut zu wehklagen. Einige
Frauen warfen sich schreiend zu Boden. Die Aufseher trieben
sie mit Schlägen in die Boote. Auch die wenigen Männer, die
aufbegehrten, bekamen ihren Zorn zu spüren. Ottobah ging
brüllend auf die weißen Männer los und wurde erbarmungslos
niedergeknüppelt. Zwei Aufseher zogen den Bewusstlosen an
den Füßen zum Meer und warfen ihn wie ein Schlachtvieh ins
kleine Boot. Nur weil der holländische Sklavenhändler seinen
Männern eingeschärft hatte, aufsässige Sklaven auf keinen Fall
zu töten, verzichteten sie darauf, ihm eine Kugel in den
Schädel zu jagen.

Bensua und Manu waren bei den letzten Frauen und Kindern,

die aus dem Barracoon geholt wurden. Die Aufseher hatten
längst die Geduld verloren und setzten ihre Peitschen noch
rücksichtsloser ein. Sie hatten den Auftrag, das Schiff bis zum
frühen Abend zu beladen, und mussten einen Lohnabzug in
Kauf nehmen, wenn sie es nicht schafften. Die »Verladung der
Ware«, wie die Verschiffung der Sklaven in den Büchern
genannt wurde, gehörte zu ihren unangenehmsten Aufgaben.
Wären sie nicht so gut bezahlt worden, hätten sie sich wohl
längst nach einer anderen Arbeit umgesehen. Der Handel mit
Elfenbein solle wesentlich einträglicher und einfacher sein.

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»Höchste Zeit, dass wir das Pack in die Boote bringen!«,
stöhnte ein Aufseher. »Ich kann dieses Gejammer nicht mehr
hören! Die sollten froh sein, dass sie diese verdammte Küste
endlich verlassen dürfen! Ich würde sonst was dafür geben,
wenn ich endlich hier weg könnte!«

Manu schrie laut auf, als die Peitsche einen blutigen Striemen

über ihren Rücken zog. Sie stürzte in den Sand und sprang
hastig auf, bevor sie ein zweites Mal getroffen werden konnte.
In ihren Augen stand panische Angst. Sie torkelte blindlings
nach vorn und wäre in den Peitschenhieb eines anderen
Aufsehers geraten, wenn Bensua nicht ihre Hand ergriffen und
sie zurückgezogen hätte. Weinend lief sie weiter. »Ich bin bei
dir«, rief Bensua, »ich lasse nicht zu, dass dir diese Männer
wehtun! Hast du gehört, Manu? Ich passe auf dich auf! Du
brauchst keine Angst zu haben! Es wird alles gut! Die Götter
wachen über uns!«

Am Strand warteten einige Matrosen mit den Booten.

»Vorwärts! Vorwärts!«, trieb der Zweite Maat die Sklaven an.
Er hieß O’Reilly und war ein stämmiger Ire, der von einem
englischen Sträflingsschiff geflohen und als Pirat vor den
Westindischen Inseln gesegelt war. Seinen Vornamen
verschwieg er beharrlich. Er schwang eine neunschwänzige
Peitsche und wirkte noch ungeduldiger als die Aufseher. Das
Knallen seiner Peitsche übertönte sogar das Rauschen der
Brandung. »Macht, dass ihr in die Boote kommt, verdammt,
oder ich werfe euch den Haien vor!«

Bensua brauchte den untersetzten Mann in seiner

zerschlissenen Leinenhose nicht zu verstehen. Seine aufgeregte
Stimme und sein hochroter Kopf verrieten ihr genug. Eine
falsche Bewegung, ein falsches Wort, schon ein kaum
merkliches Zögern würde genügen, um diesen Mann in Rage
zu bringen. Er schlug mit sichtlicher Freude auf die Frauen ein
und schreckte auch nicht davor zurück, kleine Kinder mit

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seiner Peitsche zu ängstigen. So stellte sie sich einen bösen
Geist vor. Sein Grinsen ähnelte einer hässlichen Maske und in
seiner Stimme schwang tiefe Verachtung für die Sklaven mit.
Bensua konnte nicht wissen, dass auch O’Reilly ein
Gefangener gewesen war und selbst unter der Willkür seiner
Bewacher gelitten hatte. Er zahlte den Sklaven heim, was ihm
die Engländer angetan hatten.

In den Booten saßen die Schwarzen dicht gedrängt. Wie

hilflose Tiere kauerten sie auf dem feuchten Boden. Einige
Frauen und Kindern schrien, als die Matrosen durch die
Brandung ruderten, sprangen in panischer Angst auf und
wollten ins Meer springen und an Land schwimmen. Die
Matrosen hielten sie mit ihren schussbereiten Pistolen zurück
oder schlugen sie nieder. Ein Mann schloss die Augen und
stöhnte verzweifelt. Die meisten Asante waren noch niemals
auf dem Meer gewesen und fürchteten sich vor den Wellen.
Sie blickten starr vor Entsetzen in die schäumende Gischt.
Wasser schwappte über die Reling. Die Boote trieben
scheinbar hilflos in der tosenden Brandung, stürzten von hohen
Wellenkämmen in dunkle Täler und tauchten mit dem Bug in
das brodelnde Wasser. Die Befehle des Zweiten Maats, der
breitbeinig in einem der Boote stand und niemals das
Gleichgewicht verlor, vermischten sich mit dem Rauschen der
Wellen und den panischen Schreien der Gefangenen.

Einer jungen Frau gelang es den Hieben der Matrosen zu

entgehen und über Bord zu springen. Sie hielt ein Baby in den
Armen. Bensua würde ihren Anblick niemals vergessen, ihre
weit aufgerissenen Augen und das Schreien des Babys, das
verstummte, als sie untertauchten, und zu einem verzweifelten
Husten wurde, als sie von der Strömung noch einmal an die
Oberfläche gezerrt wurden. Dann verschwanden sie endgültig.
Eine andere Frau wollte ihr folgen und wurde im letzten
Augenblick an ihrem Todessprung gehindert. Hysterisch rief

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sie: »Die weißen Männer essen uns auf! Sie nehmen uns mit
und dann essen sie uns auf! Seht ihr nicht? Sie wollen uns
töten!« Sie versuchte sich aus dem Griff ihrer Schwester zu
befreien, aber die hielt sie fest umklammert, bis sie die Kraft
verlor und erschöpft aufgab.

Unwillkürlich verstärkte Bensua ihren Griff. Sie hatte den

rechten Arm um die Schultern ihrer jungen Freundin gelegt
und spürte ihr heftiges Zittern. Sie fasste nach ihren Händen
und sagte: »Beruhige dich! Sie wollen uns nicht aufessen! Das
weiß ich von einem Krieger, der auf einem ihrer Schiffe war!
Sie wollen, dass wir arbeiten! Sonst hätten sie uns schon längst
getötet!« Sie drückte die Hände des furchtsamen Mädchens
und versuchte ihr neuen Mut zu geben, obwohl sie selbst um
ihr Leben fürchtete und ihre ganze Kraft aufbieten musste um
ihre Angst nicht zu zeigen. Der unbedingte Wille, der jungen
Manu eine Zukunft zu zeigen, gab ihr den Mut, den Gefahren
zu trotzen. Beinahe aufsässig hielt sie ihr Gesicht in die
schäumende Gischt und den Wind.

Nachdem sie die Brandung überwunden hatten, wurde das

Meer ruhiger. Der Lärm ließ nach und die Boote schaukelten
kaum noch. Doch hinter den tosenden Wellen verschwand
auch die Küste, und die Angst vieler Sklaven wurde noch
größer. Sie hatten den festen Boden ihrer Heimat unter den
Füßen verloren und befanden sich auf dem schwankenden
Untergrund des großen Wassers, das bis zum fernen Horizont
reichte. Und sie hatten keine Ahnung, wie lange es dauern
würde, bis sie wieder an Land gehen durften. Einige Sklaven
befürchteten sogar, den Rest ihres Lebens auf dem Meer
verbringen zu müssen. Mit leeren Augen starrten sie auf das
große Schiff, das sich dunkel und mächtig aus dem Meer erhob
und bedrohlicher als die steinerne Festung wirkte. Die
Matrosen ruderten dicht an das Schiff heran.

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»Hoch mit euch!«, befahl O’Reilly, als sie längsseits

anlegten. Er ließ die Neunschwänzige knallen und trieb die
verängstigten Gefangenen auf die Fallreepe. Unter den wüsten
Beschimpfungen des Zweiten Maats und dem schadenfrohen
Gelächter der Matrosen stiegen sie über die schwankenden
Strickleitern zur Reling hinauf. Dort wurden sie von kräftigen
Händen an Deck gezogen. Wer zögerte oder sich umdrehte,
bekam die lange Peitsche zu spüren. »Sieh nach oben!«,
ermahnte Bensua ihre junge Freundin. »Dreh dich nicht um!«
Manu kletterte dicht über ihr, zog sich unsicher von einer
Sprosse zur nächsten und war nahe daran, die Nerven zu
verlieren. »Halte durch, Manu!«, rief Bensua ihr aufmunternd
zu, obwohl sie selbst Angst hatte und sich über einem tiefen
Abgrund glaubte, der geradewegs ins Reich der bösen Geister
führte. »Wir haben es gleich geschafft!«

Captain Alex Whitcomb stand unberührt von allem auf dem

Achterdeck und gab seinem Bootsmann und einigen anderen
Weißen die Anweisung, auch die »Weiber« und die
»schreienden Kinder« unter Deck zu verstauen. Einige
Matrosen stießen sie mit Gewehrkolben und Knüppeln über
einen steilen Niedergang unter Deck, von der hellen
Nachmittagssonne in ein dunkles Zwischendeck, das von den
Zimmerleuten in Amerika eingebaut worden war um möglichst
viele Sklaven unterbringen zu können. Gerade mal anderthalb
Meter war das Deck hoch, sodass die meisten Männer und
Frauen nur gebückt gehen konnten, und die Luft war schwüler
und stickiger als in einem Urwald nach der Regenzeit.

Im Gegensatz zu den Männern wurden die Frauen und Kinder

nicht gefesselt. Sie durften sich in einem geschlossenen Raum
im Bug des Schiffes frei bewegen. Man befahl ihnen, sich auf
die gescheuerten Planken zu legen und sich still zu verhalten.
Eingeschüchtert folgten sie der Aufforderung. Unter Deck war
so wenig Platz, dass ein Körper den anderen berührte, wenn sie

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sich niederlegten, und die Eimer für die Notdurft zwischen
ihren Füßen standen. Ein Luftgitter mit breiten Streben, das in
die Decke eingelassen war, war die einzige Verbindung zur
Außenweit und ließ etwas Licht und Luft herein. Ein Durchlass
in der zusätzlich eingezogenen Holzwand, die das Quartier der
Frauen und Kinder von dem größeren Zwischendeck für die
Männer trennte, führte zum Niedergang. Dort erschien der
Bootsmann, eine Peitsche in der Hand, und rief: »Jetzt seid ihr
endlich da, wo ihr hingehört! Ein falsches Wort und ihr
bekommt meine Peitsche zu spüren, verstanden?« Er blickte in
die starren Gesichter und schüttelte angewidert den Kopf, als
einige der Kinder zu weinen anfingen. »Anscheinend muss ich
noch deutlicher werden!«, hob er seine Stimme. Er ließ die
Peitsche über den Köpfen der erschrockenen Frauen und
Kinder knallen und lachte gehässig, als sie sich ängstlich
duckten und vor ihm zurückwichen.

Eingeschüchtert verzogen sich Bensua und Manu in den

hintersten Teil des Raumes. Der Bootsmann, ein kräftiger
Bursche mit dicken Armen und einer behaarten Brust,
behandelte sie noch schlechter als der Zweite Maat und hatte
nicht einmal Mitleid mit den Kindern. Während der ganzen
Reise machte er sich einen Spaß daraus, sie zu erschrecke oder
mit erhobener Peitsche über das Deck zu jagen. Er hieß Johnny
Graham und hatte unter demselben Piratenkapitän wie der
Zweite Maat gedient. Auf den Westindischen Inseln erzählten
sich die Leute, dass er selbst weiblichen Gefangenen den Kopf
abgeschlagen hatte. Auch wenn diese Schilderungen
übertrieben waren, blieb noch genug Grausamkeit übrig, um
ihn zu einem der gefährlichsten Männer auf der Hannibal zu
machen. Nur Männer, die jegliches Mitgefühl verloren hatten,
heuerten auf einem Sklavenschiff an.

Am Abend ließ Captain Whitcomb den Anker lichten. Seine

knappen Befehle hallten über das Deck und die Gefangenen

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hörten die raschen Fußtritte der Matrosen, die seine
Anweisungen ausführten. Die Geräusche, die durch die
Dunkelheit nach unten drangen, waren unheimlich.

Heisere Schreie, das Pfeifen eines Offiziers, die Rufe der

Matrosen, die in die Masten aufstiegen, das Knarren des
Segeltuchs, wenn sich die festen Leinensegel entfalteten.
Ungeduldig wie ein Tier, das den Winter in einer Höhle
verbracht hatte, erwachte die Hannibal zum Leben. Die
Marssegel blähten sich geräuschvoll, die hölzernen Planken
ächzten und die Wanten dehnten sich widerwillig unter der
plötzlichen Anspannung. Das Schiff drehte sich gegen den
Wind und segelte langsam auf das offene Meer hinaus.

Unter den Frauen und Kindern, die gerade damit begonnen

hatten, sich in ihr neues Schicksal zu fügen, entstand Unruhe.
In der Dunkelheit wirkten die Geräusche des Schiffes doppelt
unheimlich und Angst einflößend. Bensua blickte unruhig
durch die Luftluke zum Himmel empor. Die massiven Streben
teilten den halben Mond und ließen die Sterne noch ferner
erscheinen. Für wenige Augenblicke waren die dunklen
Umrisse einiger Matrosen zu erkennen. Ein kleines Licht
flammte auf. Eine Laterne, wie sie annahm, die an einen der
Masten gehängt wurde. Sie hörte einen knappen Befehl und
erkannte die scharfe Stimme des Zweiten Maats. »Aye, Sir!«,
riefen einige Matrosen. Wenige Augenblicke später war zu
vernehmen, wie sich ein Segel entfaltete.

Einige Frauen und Kinder weinten und Bensua tastete nach

der Hand ihrer jungen Freundin. Es tat gut, ihre Nähe zu
spüren. Sie hatten sich auf die Seite gedreht, um mehr Platz zu
haben und nicht auf der schmerzenden Brandwunde liegen zu
müssen, und blickten einander an. Manus Augen wirkten
größer als sonst und leuchteten weiß. Das schwache
Mondlicht, das durch die Luftluke ins Zwischendeck fiel, ließ
ihr Gesicht noch verletzlicher erscheinen. Ihre Tränen waren

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versiegt. Ihr Blick war starr und sie zuckte mit keinem Muskel,
als ein verzweifelter Schrei von der anderen Seite des Raums
zu ihnen herüberdrang. Sofort entstand Unruhe unter den
Gefangenen.

»Wer war das? Was ist passiert?«, riefen die Frauen wild

durcheinander.

Der Schrei hallte wie ein Echo durch den engen Raum, hing

viel zu lange in der stickigen Luft. Alle anderen Laute auf dem
Zwischendeck erstarben. Selbst das Knarren der Wanten und
Planken schien für einen Augenblick aufzuhören. Die
Anwesenheit des Todes war beinahe körperlich zu spüren. In
die plötzliche Stille drang das Schluchzen der Frau. Sie weinte
so heftig, dass sich ihre Stimme überschlug und zu einem
hilflosen Würgen wurde. Bensua stützte sich auf die Ellbogen
und blickte in die Richtung, aus der das Würgen kam. Sie
erkannte die schattenhaften Umrisse der weinenden Frau und
beobachtete, wie zwei andere Sklavinnen sich um sie
kümmerten. »Ihr Baby ist erstickt!«, hörte Bensua eine Stimme
flüstern. »Sie hat es selbst getötet! Sie wollte das arme Kind
vor den bösen Geistern retten!«

Das laute Schnalzen der neunschwänzigen Peitsche fegte

jegliches Mitleid vom Zwischendeck. Die mächtige Gestalt des
Zweiten Maats tauchte über der Luftluke auf. Sein Schatten
fiel über die entsetzten Frauen und Kinder. »Ruhe!«, brüllte er
so laut, dass sich einige Frauen die Ohren zuhielten. »Euer
Gejammer ist ja nicht auszuhalten! Noch einmal und ich lasse
eine von euch an den Mast binden und auspeitschen!« Die
bedrohliche Stimme des Mannes ließ keinen Zweifel an der
Bedeutung seiner Worte. »Seid still!«, flehte eine Frau leise.
»Sonst tötet er uns!«

Bensua folgte dem Rat der älteren Sklavin und wagte kaum

zu atmen. Erst als der Schatten des weißen Mannes mit der
Nacht verschmolz, holte sie tief Luft. Einige Tränen rannen

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über ihre Wangen. Die Nähe ihrer jungen Freundin hielt sie
davon ab, ihrem Schmerz freien Lauf zu lassen. Sie hatte die
Verantwortung für Manu übernommen. Sie hatte ihr
versprochen, sie in eine bessere Zukunft zu führen. Und auch
wenn sie nicht wusste, woher sie ihre Zuversicht nahm, würde
sie versuchen dieses Versprechen zu erfüllen. Jedes
Eingeständnis ihrer eigenen Verzweiflung hätte Manu
entmutigt. »Die Mütter haben es schwerer«, flüsterte Bensua
nach einer Weile. »Sie sorgen sich um ihre Kinder. Wir beide
sind stark genug um diese Prüfung zu bestehen!«

Manu seufzte leise und schob sich näher an sie heran. Der

Mond war gewandert und von ihrem Gesicht war nur noch das
Weiße in ihren Augen zu sehen. Langsam fielen ihr die Augen
zu. Ihr Körper entspannte sich und ihr Atem wurde
regelmäßig.

»Schlaf«, flüsterte Bensua. Sie tastete nach der Wange ihrer

Freundin und streichelte sie sanft. Im flackernden Licht einer
Laterne, die ein Matrose über Deck trug, sah sie die roten
Brandwunden. Der weiße Doktor hatte sie mit einer übel
riechenden Salbe beschmiert und sie hoffte, dass diese Medizin
half. Die Wunde durfte sich nicht entzünden. Wenn sie in
diesem Verlies krank wurden, gab es wenig Hoffnung für sie.
Ihr Onkel hatte von einem Krieger der Asante erzählt, der in
einem Gefängnis der Engländer gewesen war und keine drei
Tage überlebt hatte. Er hatte sich mit einer Krankheit der
Weißen angesteckt.

Bensua schloss die Augen. »Ich brauche den Schlaf!«,

schärfte sie sich ein, auch wenn sie versucht war am
Nachtlager ihrer Freundin zu wachen. Selbst die Krieger
schliefen lange, bevor sie in eine Schlacht zogen! »Nur im
Schlaf finde ich die Kraft, die ich für den Kampf gegen die
weißen Männer brauche!« Denn es würde ein Kampf werden.
Jede Gefangenschaft war ein Kampf. Sobald man nicht mehr

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aufbegehrte, war man verloren. Die Sklaven, die sich willenlos
in ihr Schicksal ergaben, kannten keine Vergangenheit und
keine Zukunft, lebten gedankenlos wie Ziegen, bis sie
geschlachtet wurden. Dann blieb der Selbstmord als einziger
Ausweg. Sie durfte niemals aufgeben. Sie war kein Mann, der
mit den Fäusten zuschlagen konnte, sobald er seine Fesseln los
war. Sie war eine junge Frau, die es nur einer glücklichen
Fügung des Schicksals zu verdanken hatte, dass der Holländer
sich nicht an ihr vergriffen hatte. Jetzt war sie einem Mann wie
O’Reilly hilflos ausgeliefert. Aber ihre Gedanken waren stark.
Sie würde ihre Heimat niemals vergessen und immer an eine
bessere Zukunft glauben. Das war sie Manu, Ottobah und sich
selbst schuldig.

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12



Es war tief in der Nacht, als Bensua aufstand. Sie stieg geduckt
über die schlafenden Gefangenen hinweg und benutzte einen
der Eimer, die für ihre Notdurft bereitstanden. In dem
schwachen Licht, das durch die Luftluke hereinfiel, nahm sie
die halb nackten Körper ihrer Leidensgenossinnen als
unheimliche Schatten wahr. Sie lagen wie Mehlsäcke auf den
harten Schiffsplanken, eine neben der anderen und so dicht,
dass man kaum den Boden sehen konnte. Selbst Rinder und
Schweine wurden von den weißen Männern besser behandelt.
Einige Frauen seufzten im Schlaf, wälzten sich nervös von
einer Seite auf die andere und kämpften gegen ihre bösen
Träume an. Ein kleiner Junge weinte leise und verstummte, als
seine Mutter beruhigend auf ihn einredete.

Bensua versuchte mühsam das Gleichgewicht zu halten. Das

Schiff schwankte so stark, dass sie immer wieder den Boden
unter den Füßen verlor. Der Eimer wackelte bedrohlich. Einige
Behälter waren bereits umgefallen und der Inhalt hatte sich auf
dem halben Deck ausgebreitet. Der Gestank war unerträglich.
Nur weil sie direkt unter der Luftluke lag, hatte sie es
einigermaßen ausgehalten.

Die Sklavinnen und vor allem die Kinder, die weit vorn im

Bug lagen, wagten kaum zu atmen. Ihr Jammern und Stöhnen
vermischte sich mit dem Knarren der Planken und dem
Klatschen des Hauptsegels, das sich über der Luftluke erhob.
Die unheimlichen Geräusche ließen sie erschaudern.

Vom Quartier der Männer drangen wütende Stimmen und das

Rasseln schwerer Ketten über die Zwischenwand. Irgendwo
hinter diesen Brettern lag Otttobah. Sie entfernte sich von dem

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stinkenden Eimer und kroch auf allen vieren zwischen den
Gefangenen hindurch. Am Niedergang, der mit einer massiven
Holztür und einem eisernen Vorhängeschloss versperrt war,
hing eine Öllampe. Ihr flackerndes Licht strahlte bis auf die
Wand, die der Zimmermann zwischen den Quartieren der
Männer und Frauen errichtet hatte. Sie war mit rostigen
Eisennägeln gespickt um die Sklaven daran zu hindern, die
Wand mit den Füßen zu treten.

Bensua ließ sich nicht abschrecken. Sie bat zwei Frauen, die

ihre Ehemänner auf der anderen Seite der Trennwand wussten,
sie festzuhalten und spähte vorsichtig durch den Spalt
zwischen Wand und Decke. Was sie im unruhigen Licht der
wenigen Laternen sah, erschreckte sie so sehr, dass sie beinahe
das Gleichgewicht verlor. Eisige Kälte breitete sich in ihrem
Körper aus. Die Männer lagen noch dichter beisammen auf
dem Boden als die Kinder und Frauen. Viele Monate später
erfuhr sie, dass jedem Sklaven auf einem Schiff ein Platz von
nur 1,64 Meter Länge und 88 Zentimeter Breite gewährt
wurde. So hatten es die Europäer in den Schreibstuben
festgelegt. Die Männer wurden jeweils zu zweit angekettet und
konnten sich nur gemeinsam bewegen, wenn sie einen Eimer
für die Notdurft benutzen wollten. Weil die Bewegungen auf
dem schwankenden Schiff viel zu umständlich und
schmerzhaft waren, erleichterten sich die meisten auf ihren
Pritschen. Im Quartier der Männer stank es noch erbärmlicher
als bei den Frauen.

Kaum einer der Sklaven schlief. Als Bensua ihren Kopf über

die Trennwand schob, sah sie, wie sich die Männer bewegten,
unter Schmerzen aufstöhnten, wenn sie auf ihre Wunden zu
liegen kamen, oder wütend auf die Matrosen schimpften. Ein
Bild des Jammers, das sich tief in ihr Bewusstsein brannte.
»Was siehst du?«, rief eine der beiden Frauen von unten.
»Geht es ihnen gut?« Bensua antwortete nicht. Sie hatte

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Ottobah entdeckt. Er lag dicht an der Wand, die gelben
Flecken des zitternden Laternenscheins auf dem Kopf und dem
Rücken. Das Licht zeigte die blutigen Striemen, die sich bis zu
dem Leinentuch zogen, das er um seine Hüften gewickelt
hatte. Sein Gesicht glich einer steinernen Maske. »Ottobah!«,
wollte sie rufen, doch kaum hatte sie die erste Silbe
ausgesprochen, ging die Holztür auf und der Bootsmann betrat
das Zwischendeck. Er schlug mit der Neunschwänzigen quer
über die liegenden Männer und schimpfte: »Gebt endlich
Ruhe, verdammte Nigger! Wenn ich noch einen Laut höre, lass
ich euch mit den Haien um die Wette schwimmen!« Er hielt
seine Worte für einen guten Witz und lachte heiser.

Noch dreimal knallte die Peitsche und jedes Mal hallten

verzweifelte Schmerzensschreie über das Deck. Bensua
bedeutete den beiden Frauen sie loszulassen und ließ sich auf
alle viere nieder. Mit Tränen in den Augen versuchte sie das
Gesehene zu verdauen. Die beiden Frauen, die sie mit Fragen
bedrängten, beachtete sie nicht. Erst als eine zu schluchzen
anfing und laut nach ihrem Mann rief, suchte sie ihre Gesichter
in dem Halbdunkel und sagte: »Sie sind Krieger! Sie werden
den Schmerz ertragen, den ihnen die weißen Männer zufügen!
Seid tapfer, meine Schwestern! Wir müssen stark sein, wenn
wir leben wollen!«

Sie ließ die weinenden Frauen allein und kroch zu ihrer

schlafenden Freundin zurück. Manu hatte sich breit gemacht
und ließ ihr kaum noch Platz. Um sie nicht aufwecken zu
müssen, blieb sie mit dem Rücken an die Schiffswand gelehnt
sitzen. So unbequem hatte sie noch niemals geschlafen. Sie
versank in einen quälenden Traum, der sie mehrmals
aufstöhnen ließ, und erwachte mit den ersten Strahlen der
Sonne, die durch die Luftluke hereinfielen. Sie öffnete die
Augen und blickte Manu an. »Ich habe die Götter im Traum

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gesehen«, log sie mit einem erzwungenen Lächeln. »Sie
werden über uns wachen! Hab keine Angst!«

In dem schweren Vorhängeschloss, das die Holztür zum

Niedergang versperrte, drehte sich ein Schlüssel. Die Tür
sprang auf und der Zweite Maat trat geduckt auf das
Zwischendeck. Er knallte mit der Neunschwänzigen und rief:
»Aufstehen, ihr verdammten Weiber! Kommt an Deck und
zeigt uns, was ihr zu bieten habt! Die Frau mit den größten
Brüsten darf in meiner Koje schlafen!« Er lachte schallend und
trat der am nächsten liegenden Frau in die Rippen. »Worauf
wartest du noch? Oder willst du den ganzen Tag in diesem
Dreck hier liegen? Steh auf!« Er schwang erneut die Peitsche
und scheuchte die verängstigten Frauen und Kinder den
Niedergang hinauf. »Und spart euch das Gejammer für
nachher auf, wenn Johnny Graham seinen Dienst antritt!« Er
lachte wieder und stieß eine Frau auf die Treppe.

Bensua erkannte am Lachen von O’Reilly, mit welchen

Worten er die Frauen beleidigte, und hatte sich nur mühsam in
der Gewalt. Am liebsten hätte sie sich schreiend auf den
Zweiten Maat gestürzt. Das niedrige Zwischendeck und die
Gewissheit, von dem Mann auf grausame Weise bestraft zu
werden, vielleicht sogar das Nachtlager mit ihm teilen zu
müssen, hielten sie davon ab. Man brauchte nicht die Fantasie
der weißen Männer um sich vorzustellen, was die Matrosen
mit den jungen Gefangenen im Sinn hatten. Dennoch konnte
sie nicht anders, als vor O’Reilly stehen zu bleiben und ihm
verächtlich in die Augen zu blicken. Nur ihr Lebenswille
hinderte sie daran, vor dem Mann auszuspucken.

O’Reilly erwiderte den Blick und grinste unverhohlen. »He,

du willst dich wohl mit mir anlegen?« Er griff ihr an die Brust
und zeigte ihr mit seinem gierigen Blick, dass er schon lange
keine Frau mehr gehabt hatte. Als sie sich wehrte, drückte er
so fest zu, dass sie stöhnend in die Knie ging. Er lachte

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schallend. »Bei den Piraten haben wir schwarze Luder wie
dich an den Mast gebunden und so lange geprügelt, bis sie
gewinselt haben! Eine sprang freiwillig über Bord! Wollte
lieber bei den Haien sein als mit den Männern in die
Hängematte steigen! Dummes Ding!«

Bensua verstand kein Wort und kletterte rasch den

Niedergang hinauf. Oben angekommen zog sie ihre Freundin
an Deck. Manu zitterte vor Angst und konnte sich kaum auf
den Beinen halten. Sie schien erst jetzt zu erkennen, in welch
bedrohlicher Lage sie sich befanden. »Was haben sie mit uns
vor?«, fragte sie nervös.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua ehrlich. Auch sie

hatte plötzlich Angst und schloss nicht mehr aus, dass die
weißen Männer vorhatten sie umzubringen. Vielleicht brachten
sie nur die Männer in das fremde Land und warfen die Frauen
ins Meer!

Das vermuteten auch die meisten anderen Sklavinnen. Kaum

waren sie an Deck, drängten sie sich wie verängstigte Schafe
während eines Gewitters zusammen und blickten furchtsam
auf die weißen Männer, die fast alle Peitschen in den Händen
hielten. Ein Mädchen stieß einen hysterischen Schrei aus, rief
immer wieder »Sie wollen uns umbringen! Sie wollen uns
umbringen!« und steckte die anderen Gefangenen mit ihrer
Panik an. Bensua stand zwischen den klagenden Frauen und
schaffte es kaum noch, ihre Freundin mit einem Händedruck
zu ermutigen.

Und das Vorgehen der weißen Männer war nicht dazu

angetan, die Gefangenen zu beruhigen. Ein Matrose hielt einen
brennenden Span an die Lunte des großen Feuerrohrs, das an
der Reling stand, und hielt sich beide Ohren zu, als sich die
Kanone mit einem ohrenbetäubenden Krachen entlud. Die
Kugel klatschte in das aufgewühlte Meer. Ein verzweifelter
Aufschrei ging durch die Frauen und Kinder. Einige Kinder

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schrien vor Entsetzen. Die Matrosen lachten über den
Schrecken, den sie ihren Gefangenen eingejagt hatten, und
wuchteten das mächtige Feuerrohr herum. Jetzt zeigte die
Mündung auf die Frauen und Kinder. Ihr Entsetzen
verwandelte sich in wilde Panik und eine Frau wollte
tatsächlich über die Reling springen, wurde aber von einem der
Matrosen zurückgehalten. Sie wand sich schreiend in seinem
festen Griff, bis Bensua rief: »Beruhigt euch doch! Sie wollen
uns nur erschrecken! Seht doch! Sie zünden das große
Feuerrohr nicht an!«

Ein knallender Peitschenhieb brachte die ängstlichen Frauen

endgültig zur Besinnung. »Wollt ihr wohl still sein, ihr elenden
Weiber!«, brüllte O’Reilly sie an. »Wir wollen euch nicht
töten! Ganz im Gegenteil! Wir werden noch viel Vergnügen
zusammen haben, wenn ihr euch benehmt!« Er unterstrich
seine Worte mit einem Schmatzen, wie er es bei dem
Holländer gesehen hatte.

»Mister O’Reilly«, wies Captain Alex Whitcomb seinen

Zweiten Maat zurecht. Er stand auf dem Achterdeck, die
Hände auf dem Rücken, den blauen Dreispitz auf den
spärlichen Haaren. »Das genügt! Wir sollten unsere Fracht
pfleglich behandeln um einen größtmöglichen Gewinn in
Charleston zu erzielen! Wenn wir die Neger in Panik
versetzen, bekommen wir nur Ärger! Sie erinnern sich doch
daran, was auf unserer letzten Fahrt geschehen ist?«

»Aye, Captain! Ein halbes Dutzend der verdammten Weiber

ist über Bord gesprungen und wir mussten den Rest mit Ketten
an die Reling binden! Und in dem Sturm vor der kubanischen
Küste sind uns nochmal welche verreckt! Aber das lag an
diesem schwarzen Teufel, der sie gegen uns aufgehetzt hat!
Wäre es nach mir gegangen, hätten wir uns mit den Weibern
vergnügt und sie hätten uns bis Charleston aus der Hand
gefressen!«

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Der Kapitän bedachte ihn mit einem missbilligenden Blick.

Er hatte keinen Sinn für Humor, schon gar nicht für die derben
Späße, die O’Reilly bevorzugte. »Ich habe nichts dagegen,
wenn sie die Frauen für sich tanzen lassen«, erwiderte er
streng. »Aber ich muss Sie noch einmal eindringlich daran
erinnern, wie gefährlich es ist, in körperlichen Kontakt mit
diesen Wesen zu treten! Ich brauche Ihnen wohl nicht zu
erzählen, welche Krankheiten in den Körpern unserer Ware
lauern.« Er blickte den langhaarigen Mann an, der neben ihm
auf dem Achterdeck stand und mürrisch auf die ängstlichen
Frauen blickte. »Doktor Atkins! Berichten Sie der Mannschaft,
was Sie auf Ihrem letzten Schiff erlebt haben!«

Der Schiffsarzt, ein junger Mann, der ständig schwitzte, hatte

zwei Jahre in einer Klinik in Savannah gearbeitet. Er war
einem Geldanleger auf den Leim gegangen und vor seinen
Gläubigern auf ein Sklavenschiff geflüchtet. Sein
aufgeschwemmtes Gesicht verriet, dass er dem Alkohol nicht
abgeneigt war. »Das war auf der Voyager«, sagte er. »Unter
den Frauen, die wir an der Elfenbeinküste geladen hatten,
waren einige Schönheiten, die es darauf angelegt hatten, das
Lager mit unseren Offizieren zu teilen. Wir wussten nicht, dass
sie unter einer seltenen Krankheit litten. Einer gefährlichen
Hautkrankheit, die wir damals noch nicht kannten. Bevor ich
der Krankheit auf die Spur kam, hatten sich fünf Männer
angesteckt, darunter auch der Erste Maat. Der Captain ließ die
Männer und alle kranken Frauen ins Meer werfen! Er musste
es tun, sonst hätte die Versicherung seinen Verlust niemals
ersetzt! Wir wissen nicht, ob es noch andere Krankheiten
dieser Art gibt, und ich möchte Ihnen dringend raten, sich nicht
mit den Negerinnen einzulassen! Das ist viel zu gefährlich!«

»Ich bin immun gegen Schiffsfieber und dieses ganze Zeug«,

erwiderte O’Reilly lachend. »Bei den Piraten haben wir es mit
viel gefährlicheren Weibern zu tun gehabt und mir ist nie was

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passiert!« Wie zur Bestätigung ließ er seine Muskeln spielen.
Er warf den Frauen einen herausfordernden Blick zu und zog
die neunschwänzige Peitsche über den Boden. »Und jetzt gebt
ihnen endlich was zu essen«, trieb er die Matrosen an, »sonst
brechen sie uns noch zusammen! Tot nützen sie uns noch viel
weniger!«

»Halten Sie sich zurück!«, warnte Captain Alex Whitcomb

den Zweiten Maat noch einmal. »Auf meinem Schiff herrscht
Ordnung! Wenn wir eine Ware übernehmen, liefern wir sie
ordentlich und fristgerecht an ihrem Bestimmungshafen ab. Ich
kann mir keine Verluste erlauben, sonst muss ich Ihnen den
Lohn kürzen!« Er nahm die Hände hinter dem Rücken hervor
und warf einen strengen Blick auf den Arzt, der eine
Rumflasche aus der Jackentasche zog und einen tiefen Schluck
nahm. »Und lassen Sie die Neger ordentlich tanzen! Bewegung
hält unsere Ware frisch!«

Die Frauen hatten gesehen, wie der Kapitän seinen Zweiten

Maat zurechtwies, und verloren allmählich ihre Todesangst.
Und als einige Matrosen einen großen Topf mit Hirsebrei
brachten und O’Reilly den Sklavinnen befahl eine Hand voll
zu nehmen, waren sie endgültig überzeugt, dass sie am Leben
bleiben durften. Sie waren sich aber auch im Klaren darüber,
dass die geringste Kleinigkeit genügen konnte um die Absicht
der weißen Männer zu ändern. Die Kanone blieb auf sie
gerichtet und daneben stand ein Matrose, der sofort die Lunte
anzünden würde, wenn ein Vorgesetzter es befahl. Dann würde
die Eisenkugel sie vom Schiff schleudern und ins Meer zu den
Raubfischen werfen.

Bensua schöpfte eine Hand voll Hirsebrei aus dem Topf und

ermahnte Manu möglichst viel zu essen. »Ich weiß nicht, wie
lange wir auf diesem Schiff sein werden. Du musst bei Kräften
bleiben«, sagte sie eindringlich. Sie setzten sich an die Reling
und aßen stumm. Manu brachte den zähen Brei kaum hinunter.

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Die Furcht, von den weißen Männern erschossen oder über
Bord geworfen zu werden, hatte sich tief in ihren Körper
gegraben. Sie weinte leise und blickte immer wieder auf das
Feuerrohr, das am Bug des Schiffes stand und mit seiner
dunklen Öffnung auf sie zeigte. »Du musst alles aufessen!«,
ermahnte Bensua das Mädchen noch einmal.

Nach einer Weile beruhigte Manu sich und Bensua fand

endlich Zeit, ihren Blick über das Schiff wandern zu lassen.
Wie die riesigen Bäume im Regenwald ragten die beiden
Masten aus dem Deck empor. Die weißen Segel knarrten in
dem leichten Wind, der während des ersten Teils der Reise aus
Südosten kam. »Südostpassat« nannten ihn die weißen
Männer. Schwierig wurde es erst am Äquator, auf der Fahrt
vom Südostpassat in den Nordostpassat, der sie nach Amerika
bringen würde. Dort warteten gefährliche Flauten, die ein
Schiff wochenlang festhalten konnten. Dann wurde es so heiß
auf den Zwischendecks, dass viele Sklaven krank wurden und
starben. Auf einem Schiff waren über hundert Gefangene
gestorben, aber das wusste Bensua nicht. Sie freute sich über
die frische Luft und den Wind, der den Gestank aus ihren
Kleidern trieb und sie ein wenig belebte.

Ihr Blick wanderte über die Reling und ging auf das weite

Meer hinaus. Es war beängstigend, die scheinbar endlose
Wasserfläche um sich zu sehen. Selbst in der Richtung, aus der
sie kamen, war kein Land mehr auszumachen. Als hätte ein
riesiges Ungeheuer alles Land verschluckt. Hier draußen sah
man, wie mächtig Onyankopon Kwame war. Das weite Meer
und der Himmel, der wie eine mächtige Glocke über dem
silbernen Wasser hing, zeugten von der gewaltigen Macht,
über die der Schöpfer verfügte. Auf den großen
Versammlungen hatte der Asantehene betont, dass der Gott der
Asante mächtiger war als alle anderen Götter. Selbst dem Gott
der Weißen sollte er überlegen sein. Bensua vermutete, dass es

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nur einen Gott gibt, dem die weißen und die schwarzen
Männer unterschiedliche Namen gegeben hatten.

Die Ruhe währte nicht lange. Kaum hatten sie ihr Essen

beendet, erinnerte sie der Zweite Maat mit einigen
Peitschenhieben daran, dass sie unter seinem Befehl standen
und von seiner Gnade abhängig waren. Auch wenn die
Lederriemen seiner Neunschwänzigen nur die Planken
berührten, war allen Frauen und selbst den Kindern klar, wie
schnell sich die Behandlung durch die weißen Männer ändern
konnte. Eine winzige Laune würde den Zweiten Maat und den
Bootsmann dazu verleiten, die halb nackten Gefangenen mit
ihrer Peitsche zu quälen, und welche Wunden eine solche
Behandlung hinterließ, hatte Bensua auf dem langen Marsch
zur Küste und bei Ottobah gesehen.

Sie durften einen Becher von dem Wasser trinken, das aus

den hölzernen Fässern kam, und wurden angehalten ihre
Körper mit Salzwasser zu waschen, das mit Zitronensaft
versetzt war, damit sich ihre Haut nicht entzündete. Die
weißen Männer lachten, als die Frauen zögernd ihre Kleider
auszogen, und machten keine Anstalten, sie allein zu lassen.
Sie tauschten derbe Witze aus und zeigten den Sklavinnen mit
obszönen Bewegungen, was sie beim Anblick ihrer Nacktheit
empfanden. Auf der Hannibal war der Ton noch rauer als auf
einem Piratenschiff.

Bensua ermahnte ihre Freundin sich nicht um die Matrosen

zu kümmern und bemühte sich jeden Blickkontakt mit ihnen
zu meiden. Sie waren beide froh, als sie ihre Kleider wieder
angezogen hatten und nach unten gehen durften.

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13



Der Zweite Maat trieb die Frauen und Kinder in den hinteren
Teil des Schiffes und bedeutete ihnen mit der erhobenen
Peitsche sich auf die Planken zu setzen. Die Gefangenen
bemühten sich, nicht in die Nähe des großen Feuerrohres zu
kommen, und zuckten unwillkürlich zusammen, als O’Reilly
die neunschwänzige Peitsche knallen ließ. Seit mehreren
Wochen hörten sie kaum etwas anderes als dieses Knallen und
doch hatte sich kein einziger Sklave an dieses hässliche
Geräusch gewöhnt. So sprachen die bösen Geister. Ein
bösartiges Fauchen, wenn die weißen Männer ausholten, wie
von einer aufgebrachten Wildkatze und dann dieses laute und
eindringliche Knallen, wenn die Lederriemen den Boden oder
die nackte Haut berührten. Selbst heftige Faustschläge waren
leichter zu ertragen.

Die Lautstärke der Peitschenhiebe schwoll an und ließ die

Gefangenen erschrocken zum Niedergang blicken. Staunend
beobachteten sie, wie O’Reilly und einige Matrosen die
männlichen Sklaven nach oben trieben. Von derben Flüchen
und harten Schlägen begleitet kletterten die Krieger an Deck.
Ihr Anblick war so schrecklich, dass lautes Wehklagen unter
den Frauen und Kindern ausbrach. Einige Männer hatten
bereits aufgegeben, erduldeten die Demütigungen wie
willenlose Tiere und schrien kaum noch, wenn ein
Peitschenhieb sie traf. Aufgeplatzte Wunden und blutige
Striemen leuchteten in der Morgensonne. Die schweren
Ketten, mit denen sie wie Sträflinge aneinander gekettet waren,
klirrten bei jeder Bewegung. Die wenigen Krieger, die sich
noch vor der Einschiffung gegen die Matrosen aufgelehnt

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hatten, waren still geworden und man erkannte nur noch an
ihren Blicken, dass sie an ein Überleben glaubten.

Einige Frauen schrien auf und wollten sich den Männern

nähern, wurden jedoch von den Matrosen zurückgehalten.
Aufgelöst und voller Panik drängten sie sich vor den
entsicherten Musketen und den erhobenen Entermessern.
Bensua stand in vorderster Reihe, den Blick auf Ottobah
gerichtet, der einen Schritt auf sie zu gelaufen und über seine
eisernen Fesseln gestürzt war. »Ottobah!«, rief sie laut. »Du
darfst dich nicht gegen sie auflehnen! Sie haben große
Feuerrohre und Gewehre! Wir haben keine Chance gegen sie!
Ich will nicht, dass sie dich töten!«

»Ich bin ein Fante!«, antwortete Ottobah. »Ich bin ein

tapferer Krieger! Ich muss mich gegen diese Männer wehren,
wenn ich vor den Nachkommen unseres Volkes bestehen
will!«

Bensua widerstand dem Drang, an den bewaffneten Matrosen

vorbei zu Ottobah zu laufen, und ihren eigenen Tod zu
riskieren. Ihr war plötzlich klar, dass der Fante auch gegen ihr
eigenes Volk rebelliert hätte. Er wäre niemals ein Sklave der
Asante geworden! Er hätte immer wieder versucht den
Todfeinden seines Volkes zu entkommen und wäre lieber
enthauptet worden, als im Haus einer Familie der Asante zu
wohnen. Vor ein paar Monaten hätte sie es noch für undenkbar
gehalten, ein Gefühl für einen solchen Krieger zu entwickeln.
Doch jetzt konnte sie sich nicht mehr vorstellen ohne ihn zu
leben. Selbst in diesem Augenblick war ihr klar, dass eine
Zukunft nur mit ihm möglich war.

Sie spürte, wie Manu an ihrem rechten Arm zog, und gab

dem Drängen nach. Ihre junge Freundin hatte Recht. Es wäre
Selbstmord gewesen, sich den weißen Männern zu
widersetzen. Die wahre Kunst des Widerstands bestand darin,
sich seinen Glauben und seine geistige Stärke zu bewahren. Es

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machte keinen Sinn, dem starken Gefühl der Sehnsucht
nachzugeben und eine Dummheit zu begehen. O’Reilly wartete
nur darauf, dass eine Frau die Nerven verlor. Dann besaß er
endlich einen Grund, mit Gewalt gegen sie vorzugehen, und
nicht einmal der Kapitän würde etwas dagegen haben, wenn er
sie züchtigte. Der Zweite Maat war ein brutaler Mann, viel
gefährlicher als der Bootsmann, den sie »Johnny« oder
»Graham« nannten. Er hatte Freude daran, hilflose Frauen und
Kinder zu peitschen. Er wollte Blut sehen, wie der Asantehene,
wenn er seinen Feinden beweisen wollte, dass es kein
mächtigeres Volk als die Asante gäbe. Was für ein
Trugschluss! Bald würde auch er erkennen müssen, wie
überlegen die weißen Männer den schwarzen Kriegern waren.

Bensua schloss die Augen und sammelte neue Kraft. Sie

konnte nicht ahnen, wie schlecht es den Männern auf dem
Zwischendeck ergangen war. Die schweren Ketten, die sie
gesehen hatte, waren an eisernen Ringen in der Schiffswand
befestigt, die ihnen so wenig Spielraum gaben, dass sie kaum
die Eimer für die Notdurft erreichten. Das Liegen wurde zur
Qual, jede Bewegung verursachte höllischen Schmerz. Die
kaum verheilten Brandzeichen und die offenen Wunden, die
unter den Hieben der neunschwänzigen Peitsche aufgeplatzt
waren, brannten wie das Gift, das die Asante aus einem Baum
des Regenwaldes gewannen. Graham und O’Reilly
behandelten die Männer grausamer als die Frauen und Kinder,
fast jeder der Sklaven hatte bereits unter der Peitsche gelitten.
Derbe Fußtritte und heftige Schläge mit Holzknüppeln waren
an der Tagesordnung. Die meisten Matrosen hatten Spaß daran
die Männer zu quälen. Sie wussten, wie man Menschen schlug
ohne bleibende Schäden zu hinterlassen. Bis sie die
amerikanische Küste erreichten, würden noch einige Wochen
vergehen, da blieb genug Zeit, die »Ware« für den Verkauf

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herauszuputzen und zu mästen. So wie es Bauern mit Rindern
oder Schweinen taten, die sie zum Markt trieben.

Beim Anblick der Kanone und der vielen Musketen, die jetzt

auf die Männer gerichtet waren, zügelte sogar Ottobah seinen
Zorn. Manchmal bedeutete Widerstand auch, den Geist und
den Körper zu stärken und den richtigen Augenblick
abzuwarten. Erst wenn der Feind eine Schwäche erkennen ließ,
durfte man zuschlagen. Der Fante war entschlossen sich gegen
die weißen Männer aufzulehnen, und schmiedete bereits Pläne,
wie man den Matrosen am besten beikommen konnte. Es sah
ganz so aus, als ob man sie täglich an Deck bringen würde. Sie
durften nicht krank werden, wenn sie einen guten Preis bringen
sollten, und brauchten frische Luft und Bewegung. An Deck
musste es geschehen, hier hatten sie am meisten Platz. Sie
würden sich Waffen beschaffen und die weißen Männer töten!

Doch der Zweite Maat hatte es auf ihn abgesehen und

verpasste keine Gelegenheit, ihn zu provozieren. O’Reilly fuhr
seit einigen Jahren auf Sklavenschiffen und wusste schon nach
der Verladung, welcher Schwarze ihm gefährlich werden
konnte. Bei jeder Fracht war ein Mann dabei, der sich mit
seinem Schicksal nicht abfinden wollte und nur darauf wartete,
einen Aufstand anzuzetteln. Solche Unruhestifter musste man
in ihre Schranken weisen, bevor ein Unglück geschah. Sobald
sie nähere Bekanntschaft mit seiner neunschwänzigen Peitsche
geschlossen hatten, wurden sie meist gefügig. Und wenn eine
solche Bestrafung nicht ausreichte, gab es andere Mittel, sie
zur Vernunft zu bringen!

»Morgen knöpfe ich mir diesen kräftigen Nigger vor«, sagte

O’Reilly, nachdem sie einige Tage auf See waren. Er hatte den
Bootsmann geweckt, der die Nachtwache übernehmen sollte.

»Ich weiß, wen du meinst«, antwortete Graham grinsend.
»Hast du gesehen, wie er das schlanke Mädchen ansieht? Die

mit den festen Brüsten? Die nehme ich mir mal vor! Wenn ich

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der zwischen die Beine greife, dreht er durch, darauf kannst du
wetten! Dann hat der Captain nichts mehr dagegen, dass ich
ihn an den Mast binde und ihm eine ordentliche Abreibung
verpasse!«

»Schade, dass ich nicht zusehen kann«, meinte Graham.
Bensua wusste nichts von dieser Unterhaltung, sonst wäre sie

wohl mit bloßen Händen auf den Zweiten Maat losgegangen.
Sie hatte beschlossen möglichst wenig aufzufallen und ihre
ganze Energie darauf zu verwenden, ihrer jungen Freundin
während der beschwerlichen Seereise beizustehen. Die
Aufgabe lenkte sie von ihrer Sehnsucht nach Ottobah ab und
half ihr die eigene Angst zu überwinden. Manu neigte zur
Schwermut, weinte häufig und ihr Körper war so schwach,
dass sie eine Krankheit des weißen Mannes niemals überleben
würde. Es war ihre Pflicht, sie in der Hoffnung zu bestärken,
dass sich die Götter bald an sie erinnern würden. Mehrmals am
Tag beteten sie zusammen, und wenn kein Aufseher in der
Nähe war, sangen sie leise die heiligen Lieder ihres Volkes. Es
half, sich auf den Glauben der Asante zu besinnen, wenn die
Zukunft dunkel und ungewiss schien.

Doch gegen die Grausamkeit und Willkür der weißen Männer

war auch Bensua machtlos. Jeden Morgen und jeden Abend,
wenn die Sonne nicht so stark brannte, wurden sie von den
Matrosen an Deck getrieben, um dort zu essen, sich die Beine
zu vertreten und frische Luft zu atmen, eine Unterbrechung der
qualvollen Tage und Nächte auf dem Zwischendeck, die
Bensua wie ein Geschenk empfand. Natürlich ahnte sie, dass
die weißen Männer ihnen damit keinen Gefallen erweisen
wollten. Sie waren eine »Ware«, die bei der Ablieferung im
besten Zustand sein musste. Das erfuhr sie spätestens in
Charleston, wo sie an die Pflanzer der näheren Umgebung
verkauft wurden. Einen Menschen, den man verkaufen wollte,
ließ man nicht in der Dunkelheit sterben und den schlug man

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nicht tot – auch wenn der Zweite Maat sich Mühe gab, ihnen
das Gegenteil zu beweisen.

Es geschah so plötzlich, dass Bensua keine Möglichkeit blieb

sich zur Wehr zu setzen. Ihr Grauen war so groß, dass sie nicht
einmal schrie. O’Reilly schien aus dem Nichts aufzutauchen
und zerrte sie so heftig vom Boden hoch, dass ihr der
lauwarme Hirsebrei aus der Hand fiel und auf die Planken
klatschte. »Na, ist sie nicht ein Prachtstück?«, rief er den
Matrosen zu. Alle außer dem Schiffsarzt, der mit betretener
Miene auf dem Achterdeck stand, lachten schadenfroh. Einige
der Männer waren schon mit dem Zweiten Maat gefahren und
wussten, was jetzt kam. »Seht sie euch an! Schlank, kräftig
und die weißesten Zähne, die ich jemals bei einem Weib
gesehen habe!« Er griff Bensua lachend in den Mund. »Was
meint ihr, wie viel wir für sie bekommen? Zwei Säcke Zucker?
Drei? Vier? Einen Wagen voll Tabak?« Er warf einen Blick
auf Ottobah und grinste zufrieden, als er bemerkte, dass sich
der »Nigger« kaum noch beherrschen konnte. In wenigen
Augenblicken würde er vollkommen die Nerven verlieren.

»Oder sollen wir sie in ein Bordell stecken? Na, was meint

ihr? Genug zu bieten hat die verdammte Niggerin ja!« Er fasste
ihr an die Brüste und zwischen die Beine und wirbelte lachend
herum, als Ottobah einen verzweifelten Schrei ausstieß, nach
vorn stürmte und von den Ketten zu Boden gerissen wurde. Er
versetzte dem Fante einen Tritt und befahl den Matrosen ihn
loszumachen. Bensua stieß er achtlos wie eine Puppe zu
Boden.

Zwei weiße Männer befreiten den Schwarzen von seiner

eisernen Fessel und schleiften ihn zu O’Reilly. Es waren genug
Musketen auf Ottobah gerichtet, um ihn nicht auf dumme
Gedanken kommen zu lassen. Die wütenden Schreie der
anderen Schwarzen und das verzweifelte Schluchzen der
Frauen und Kinder erstarben im Knallen der Peitschen. Bensua

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klammerte sich an ihre Freundin, weinte hemmungslos und
musste von mehreren Frauen festgehalten werden. Wäre sie
aufgesprungen und auf den Zweiten Maat losgegangen, hätte
es ein noch größeres Unglück gegeben. »Du hast gesagt, dass
wir stark sein müssen!«, flüsterte Manu atemlos. »Jetzt musst
du das auch tun! Du darfst dich nicht wehren, sonst töten sie
dich! Das sehe ich in ihren Augen!«

Bensua erkannte, wie aussichtslos ihre Lage war, und

versuchte sich zu beruhigen. Es gelang ihr nicht. Sie schnappte
wie eine Ertrinkende nach Luft und grub ihre Hände in die
Oberschenkel zweier Frauen, die sie festhielten. Ihr Körper
wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Durch die
Tränenschleier vor ihren Augen konnte sie beobachten, wie
Captain Alex Whitcomb an Deck erschien und seine nüchterne
Stimme erhob: »Zweiter Maat! Was ist geschehen? Was hat
dieser Neger verbrochen?«

»Er wollte mich töten, Sir! Er fiel mich von hinten an und

wollte mir die Gurgel zudrücken!« Er blickte abfällig auf den
Fante hinab. »Wenn es nach mir ginge, würde ich ihn ins Meer
werfen!«

Der Kapitän kam näher und schüttelte den Kopf. Der Anblick

des gepeinigten Schwarzen schien ihn nicht zu berühren. »Er
ist ein wertvoller Teil unserer Ware, O’Reilly. Das wissen Sie
doch! Genauso gut könnten Sie einen Beutel voller Gold über
Bord werfen!« Er gestattete sich ein leichtes Grinsen. »Aber
ich sehe ein, dass wir eine solche Disziplinlosigkeit nicht
durchgehen lassen dürfen. Geben Sie ihm zehn kräftige Hiebe
und streuen Sie etwas Salz und Zitronensaft in die Wunden!
Das wird ihn und die anderen lehren sich künftig an unsere
Befehle zu halten.«

»Aye, Captain.«
»Schlagen Sie kräftig zu, Mister O’Reilly! Bis wir Charleston

erreichen, hat er sich wieder erholt. Er ist ein Unruhestifter,

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nicht wahr? Ich kenne diesen Typ. Auf der letzten Fahrt hatten
wir einen ähnlichen Fall. Ein Neger wollte nicht einsehen, dass
es nur zu seinem Besten war, wenn wir ihn nach Amerika
brachten. Er stahl eine Muskete und erschoss einen Matrosen,
bevor wir ihn dingfest machen konnten. Mein damaliger Maat
wollte ihn über Bord werfen. Ich habe ihn an den Mast binden
und auspeitschen lassen. Das half. Er brachte einen
Spitzenpreis in Charleston!«

»Aye, Sir.«
»Tun sie Ihre Pflicht, O’Reilly! Und Sie…«Er wandte sich an

den Schiffsarzt, der näher gekommen und sichtlich blass
geworden war. »… und Sie achten darauf, dass der Neger am
Leben bleibt!«

»Captain! Ist es denn wirklich nötig…«
»Ja, Doktor!«, schnitt Whitcomb ihm das Wort ab. »Ich habe

den Auftrag, die Ware möglichst vollständig und gesund nach
Charleston zu bringen. Und das geht nur, wenn wir uns an die
Gesetze halten!« Er deutete auf Ottobah. »Worauf warten Sie
noch, Mister O’Reilly? Zeigen Sie diesem Neger, was
Disziplin heißt!«

Auch ohne die Worte des Captains zu verstehen ahnte

Bensua, welches schreckliche Schauspiel sie erwartete. Der
Zweite Maat wollte seine Macht beweisen und dem
gefährlichsten Sklaven zeigen, dass jeder Widerstand zwecklos
war. Er ließ den armen Ottobah bäuchlings an den Mast binden
und wies die Matrosen an mit ihren Musketen auf die anderen
Sklaven zu zielen. »Schießt in die Luft, wenn sie Ärger
machen«, sagte er. »Keiner vergreift sich ohne meinen Befehl
an den Gefangenen!«

Bensua kämpfte tapfer gegen den Schmerz und lächelte die

Frauen, die sie hielten, an. Zu Manu meinte sie: »Sorg dich
nicht um mich. Wenn Ottobah stark genug ist, die Schläge zu
ertragen, will ich tapfer sein und nicht weinen!«

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Doch schon der erste Schlag stellte sie auf eine harte Probe.

O’Reilly, der ungefähr fünf Schritte vor dem hilflosen Krieger
stand, holte weit aus und ließ die Lederschnüre der
neunschwänzigen Peitsche mit voller Wucht auf seinen
Rücken klatschen. Die Gefangenen schrien entsetzt auf.
Bensua griff nach den Händen ihrer Freundinnen und drückte
sie verzweifelt. Ein Kind lief schreiend seiner Mutter davon
und wurde von einem Matrosen zurückgejagt.

Die Frau riss es hastig in ihre Arme. Ein junges Mädchen

übergab sich und begann hysterisch zu wimmern.

Nur Ottobah beherrschte seinen Schmerz. Obwohl die

Lederschnüre tief in seine Haut geschnitten hatten, kam
lediglich ein unterdrücktes Stöhnen über seine Lippen. Auch
beim zweiten und dritten Schlag schrie er nicht. Den vierten
Schlag führte O’Reilly noch heftiger aus, aber wieder brachte
Ottobah es fertig, den Zweiten Maat mit seiner Tapferkeit zu
demütigen. Die harten Schläge trieben glühende Flammen
durch seinen Körper und hätten jeden anderen Krieger
schreiend zusammenbrechen lassen, doch sein Zorn auf den
selbstgerechten Maat und seine lachenden Kumpane war
genug, um ihn auch diesen Schmerz ertragen zu lassen. Ich bin
stark!, flüsterte er in Gedanken. Ich werde überleben! Ich bin
stärker als die Weißen!

Bensua wagte kaum zu atmen, als ein Schlag nach dem

anderen auf den Rücken des geliebten Mannes prasselte. Sie
musste hinsehen, obwohl sie nicht wollte, und den Schmerz,
ihn leiden zu sehen, hielt sie nur in den Armen der anderen
Sklavinnen aus. Ihre Tränen waren versiegt und ihre Miene
wurde hart und unnahbar. Warum taten diese Menschen so
etwas? Jeder Sklave, der bei den Asante starb, bekam die
Chance, sich zu wehren oder unter den Gebeten eines heiligen
Mannes zu sterben. Diese Männer kannten keine Gnade und
demütigten Ottobah. Er wehrte sich gegen eine drohende

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Ohnmacht, weil er auch diese als Niederlage gesehen hätte,
und ertrug den Schmerz wie ein Krieger, der unzählige
Schlachten gegen tapfere Feinde geschlagen hatte. Seine
Augen waren rot und aus seiner Nase und den tiefen Wunden
auf seinem Rücken floss Blut, aber seine Gedanken waren
stark und ließen ihn den unmenschlichen Schmerz ertragen.
Ich bin stärker als die Weißen, wehrte er sich innerlich.

Unter dem zehnten Schlag, der härter und gemeiner als die

anderen war, sackte er benommen zusammen. Er brauchte
seine ganze Kraft um bei Sinnen zu bleiben. Lediglich ein
leises Seufzen kam aus seinem Mund, als ihn die Matrosen
losbanden und auf die Planken warfen. Sie drehten ihn auf den
Bauch und hielten ihn an Händen und Füßen fest. »Jetzt wollen
wir doch mal sehen, ob er wirklich so hart ist, wie er tut«,
meinte O’Reilly. Er schob die Peitsche hinter den Gürtel und
befahl einem anderen Matrosen, eine Mischung aus Salzlake,
Zitronensaft und gestoßenem Pfeffer in die offenen Wunden zu
streuen. »Geh nicht zu sparsam damit um!« Grinsend führte
der Mann den Befehl aus.

Und so kapitulierte Ottobah doch noch vor den weißen

Männern. Der Schmerz war so unerträglich, dass er sich wie
ein angeschossenes Tier aufbäumte und verzweifelt mit dem
Kopf auf die Planken schlug. Seine Schreie hatten nichts
Menschliches an sich und ließen den anderen Gefangenen das
Blut in den Adern gefrieren. Sie hallten weit über den grauen
Ozean und verklangen in dem schwachen Dunst, der von
Westen heraufzog.

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14



Ottobah erschien drei Tage nicht an Deck. Einige Männer
gaben Bensua durch Zeichen zu verstehen, dass er auf seiner
Pritsche lag und verzweifelt gegen das Fieber ankämpfte. Der
Mann, der an ihn gekettet war, musste bei ihm bleiben und war
dazu verdammt, dieselbe stickige Luft wie er zu atmen.
Während der ganzen Zeit bekamen Ottobah und sein
Leidensgenosse nichts zu essen. Sie mussten sich einen Becher
des brackigen Wassers teilen, das einer der Matrosen ihnen
reichte. »Es tut mir Leid«, sagte Ottobah zu dem Krieger, der
seine Fesseln teilte. »Ich hätte ins Wasser springen und dir
diesen Schmerz ersparen sollen!«

»Du bist sehr tapfer«, meinte der Mann. Auch er war ein

Fante, nur älter und ruhiger und nicht so ungestüm wie
Ottobah. Sein letzter Kampf lag zwanzig Jahre zurück. Damals
hatte er sich vergeblich gegen die Asante gewehrt. Gegen die
Weißen hatten die Fante niemals gekämpft. »Du bist der
Einzige, der es gewagt hat, gegen die Weißen vorzugehen! Du
bist ein großer Krieger!«

»Ein großer Krieger hätte auf eine günstige Gelegenheit

gewartet«, erwiderte Ottobah. »Ich habe mich vom Zorn leiten
lassen! Ich wollte nicht, dass der weiße Mann die Asante
berührt!«

»Du setzt dich für eine Asante ein?«
»Sie ist die Frau, von der ich schon vor langer Zeit geträumt

habe. Ich weiß, dass wir zusammengehören. Auf diesem Schiff
gibt es keine Asante und keine Fante mehr. Wir sind ein Volk!
Wir sind schwarz und unsere Feinde sind weiß! Wir werden

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die weißen Männer nur besiegen, wenn wir eine Sprache
sprechen!«

»Du willst nicht aufgeben?«
»Niemals«, erwiderte Ottobah entschlossen, »ich lasse mich

nicht versklaven! Sobald sich eine Gelegenheit bietet, werden
wir dieses Schiff in unsere Gewalt bringen! Dann werden wir
die weißen Männer besiegen! Ich werde den Mann, der mich
geschlagen hat, in kleine Stücke schneiden und ins Meer
werfen!«

»Aus dir spricht der Zorn. Hast du vergessen, dass wir

schwere Ketten an den Füßen tragen? Wie sollen wir die
Männer besiegen, wenn wir angebunden sind? Sie haben große
Feuerrohre und Gewehre. Wir besitzen nicht mal ein Messer,
mein Freund!«

»Das wird sich ändern, alter Mann! Sobald der Tag

gekommen ist, werde ich eine Waffe haben! Die Götter werden
auf meiner Seite sein, wenn ich die Krieger in den großen
Kampf führe!«

»Und wie willst du das Schiff steuern, wenn alle Weißen tot

sind? Willst du dich selber ans Steuer stellen? Wir wissen
nicht, wo wir sind! Hier gibt es kein Land. Wo ist das nächste
Ufer?«

»Am Tag der Entscheidung werden wir Antworten auf alle

Fragen haben«, sagte Ottobah. »Wir werden den Rat der Götter
erbitten und kühl und überlegt handeln. Auch die weißen
Männer sind verwundbar! Ich weiß von Kriegern eines anderen
Volkes, die auf einem ihrer Schiffe waren und ihnen
entkommen sind!«

»Zwei von vielen tausend. Wenn du auf einen alten Mann

wie mich hörst, vergisst du diese kühnen Träume und ergibst
dich in dein Schicksal! Die weißen Männer sind in der
Überzahl. Selbst wenn dein Plan gelingen sollte, wirst du

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anderen Weißen in die Hände fallen und ein noch schlimmeres
Los erleiden!«

»Ich werde immer an eine bessere Zukunft glauben«, sagte

Ottobah. Er verdrängte den Schmerz, der sich in seinem
Körper ausgebreitet hatte, und schloss die Augen, um etwas
anderes als die Planken des Schiffes und das düstere Licht zu
sehen.

Bensua wartete jeden Morgen und jeden Abend, wenn sie das

Zwischendeck verlassen durfte und mit den anderen Frauen an
der Reling saß, geduldig, bis die Männer kamen. Verstohlen
suchte sie nach Ottobah oder einem Zeichen der Männer, die
wussten, wie es um ihn stand. Sie musste unauffällig bleiben.
Wenn sie sich ihre Verzweiflung anmerken ließ, machte sie
den Zweiten Maat auf sich aufmerksam und der würde
vielleicht noch einmal versuchen sie vor allen anderen
Gefangenen zu demütigen. Sie hielt sich abseits, blieb an der
Reling sitzen und sprach mit ihrer jungen Freundin. Manu war
etwas selbstsicherer geworden und stolz darauf, einer beinahe
Erwachsenen geholfen zu haben. Bensua hatte ein besonderes
Gebet für sie gesprochen, weil sie ihr während der
Auspeitschung beigestanden hatte. Ihr Händedruck hatte sie
vor einem großen Unglück bewahrt.

Sie waren seit über einer Woche auf dem Meer und hatten

sich an den Rhythmus an Bord gewöhnt. Die langen Stunden
auf dem Zwischendeck waren eine einzige Qual, besonders für
die älteren Frauen und die Kinder, und wäre ihnen nicht
erlaubt worden, den frühen Morgen und späten Nachmittag an
Deck zu verbringen, hätten viele aufgegeben. Sie bekamen
erträgliche Kost, meist Hirsebrei, Maisbrei oder Süßkartoffeln,
und durften Wasser mit Zitronensaft trinken, um gegen
gefährliche Krankheiten wie den Skorbut gewappnet zu sein.
Der Schiffsarzt untersuchte sie jeden zweiten Tag, auch die
Männer, die mehr Schläge und härtere Strafen ertragen

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mussten, wenn sie den oft sinnlosen Befehlen der Matrosen
nicht gehorchten. Jeden Morgen verlangten die Aufseher, dass
sie die Hände falteten und zum Gott des weißen Mannes
beteten, obwohl sie kein Wort verstanden und nicht getauft
waren, wie es die Missionare verlangt hatten.

Am achten Tag ihrer langen Reise geschah etwas, das selbst

den nüchternen Kapitän der Hannibal aus dem Gleichgewicht
brachte. Am Horizont tauchte ein fremdes Segelschiff auf und
kam stetig näher. Bensua spähte über die Reling und erkannte
die gleiche Flagge, die über dem Quartier der englischen
Abordnung befestigt war, die Kumase besucht hatte. »Ein
englisches Schiff«, sagte sie zu Manu. »Vielleicht befreien sie
uns! Die Engländer haben den Sklavenhandel verboten!« Sie
verschwieg ihrer Freundin, dass auch die Weißen mit der
Sternenflagge offiziell keinen Sklavenhandel mehr betrieben.
Das hatte sie von ihrem Onkel erfahren, der sich damit
auskannte. Aber kaum ein Amerikaner oder Engländer hielt
sich an das Verbot!

Captain Alex Whitcomb blickte durch sein Fernrohr und rief

einige Befehle. Sofort machte O’Reilly sich daran, alle
Gefangenen unter Deck zu treiben. Er ließ die
Neunschwänzige knallen und rief: »Beeilt euch, verdammtes
Pack! Ich hab keine Lust, mir von einem Nigger die Suppe
versalzen zu lassen!« Bensua verstand den Zweiten Maat nicht,
erkannte aber, dass er sie nicht auf dem Hauptdeck haben
wollte, wenn das andere Schiff näher kam. Hastig floh sie mit
den anderen Frauen auf das Zwischendeck und entging dabei
den ungeduldigen Peitschenhieben von O’Reilly nur um
Haaresbreite.

Die Luke klappte zu und ließ das Geschrei des Zweiten

Maats zu einem dumpfen Echo werden. Seine Schritte
entfernten sich polternd. Wie verängstigte Tiere blieben die
Gefangenen auf dem Boden sitzen. Das einzige Tageslicht fiel

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durch die Gitterstäbe der Luftluke herein und zeichnete ein
rechteckiges Muster auf ihre schwarzen Körper. Von oben
waren die Befehle des Kapitäns zu hören. »Die weißen Männer
haben Angst«, flüsterte Bensua. Sie legte einen Arm um die
zitternden Schultern ihrer Freundin und achtete darauf, dass sie
die Brandwunden nicht berührte. Sie vernarbten allmählich
und schmerzten nur noch, wenn sie mit einem anderen Körper
oder den Schiffsplanken in Berührung kamen. Nachts stöhnten
zahlreiche Frauen und Kinder, weil sie unruhig schliefen und
sich auf ihre Narben rollten.

Bensua blickte durch die Gitterstäbe der Luftluke zum

Himmel empor und lauschte den Stimmen der weißen Männer.
Sie verstand kein Wort und war auch nicht in der Lage, den
Sinn ihrer Worte zu erahnen. Außer den Beinen einiger
Matrosen und tanzenden Schatten sah sie nichts. Sie nahm sich
vor die seltsame Sprache der Männer zu lernen, falls sie länger
in der Gewalt der Weißen bleiben würden. Wenn es stimmte,
was sie gehört hatte, und sie auf den Feldern der Fremden
arbeiten mussten, blieb ihr gar nichts anderes übrig. Es war
besser, die Sprache des Feindes zu sprechen und seine
Absichten genau zu kennen, bevor man daran ging, ihn zu
bekämpfen und an Flucht zu denken. Viele Krieger der Asante
verstanden, was die Fante und andere Nachbarn sagten, auch
sie selbst, und mancher Angriff war nur geglückt, weil die
Asante ihre Feinde am Feuer belauscht hatten.

Captain Alex Whitcomb blickte durch sein Fernrohr und

beobachtete, wie der Kapitän des englischen Schiffes ihm
zuwinkte. Auch er hielt ein Fernglas. Whitcomb grüßte zurück
und atmete erleichtert auf, als er bemerkte, wie der Engländer
den Kurs änderte. Der Dreimaster segelte in angemessener
Entfernung an ihnen vorbei und verschwand in dem nebligen
Dunst, der an diesem Morgen über dem Atlantik hing. »Jagen
Sie die Männer in die Wanten!«, rief er dem Zweiten Maat zu.

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»Ich habe keine Lust, diesem Burschen noch einmal zu
begegnen!« Er schob das Fernrohr zusammen und beobachtete
zufrieden, wie die Matrosen zu den Rahen emporstiegen und
die letzten Segel setzten.

Die Hannibal war ein schnelles Schiff, wenn man mit ihr

vertraut war und wusste, welche Segel man bei welchem
Seegang setzen musste. Sie würden Charleston in vier oder
fünf Wochen erreichen, falls sie die Flauten am Äquator
unbeschadet überstanden. Der Captain wollte seine Fracht so
bald wie möglich loswerden. Seine Fahrt war illegal und er
hatte keine Lust, von einem übereifrigen Kapitän des
Sklavenhandels überführt zu werden. Nicht alle Kapitäne
waren so großzügig wie der Engländer, der sie vor wenigen
Minuten passiert hatte. Denn er war beinahe sicher, dass der
Engländer erkannt hatte, mit welcher Fracht er nach Norden
fuhr. Es wurde berichtet, dass man ein Sklavenschiff am
Gestank erkannte. Wenn über hundert Menschen wie Tiere in
niedrigen Pferchen gehalten wurden und sich auf die Planken
entleerten, konnte man das riechen. Das wusste Whitcomb am
besten. Auf jeder Fahrt beschloss er dem Sklavenhandel
abzuschwören und jedes Mal widerrief er seine Absicht. Auf
keine andere Weise ließ sich mehr Geld verdienen, nicht für
einen Captain. Und der Gedanke, die lebende Fracht über Bord
werfen zu müssen, nur weil man in Gefahr lief, von einem
anderen Captain angezeigt zu werden, trieb ihm den Schweiß
auf die Stirn.

Whitcomb spürte, wie die Hannibal schneller wurde, und

nickte dem Zweiten Maat und dem Steuermann zu. Er hatte
eine gute Mannschaft, wenn man in Betracht zog, dass nicht
jeder auf einem Sklavenschiff mitfahren wollte. Er war
dagegen, seine Männer zu schanghaien. Wer mit Alkohol
betäubt wurde und auf offener See an Bord eines
Sklavenschiffes aufwachte, konnte niemals ein guter Matrose

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werden. Er brauchte tüchtige Männer, die freiwillig
anmusterten. Deshalb bezahlte er einen besseren Lohn als die
meisten anderen Captains. Für ihn blieb immer noch genug
übrig, solange die Geschäfte so gut liefen. Den Übereifer
seines Zweiten Maats und des Bootsmanns nahm er
widerwillig in Kauf. In ihrem Bemühen, die Schwarzen zu
züchtigen, schossen sie oft über das Ziel hinaus, aber
andererseits sorgten sie auch dafür, dass es unterwegs kaum
Ärger gab. Sie waren seit einigen Jahren bei ihm und noch
niemals war eine Meuterei an Bord der Hannibal erfolgreich
gewesen. Und solange er die Befehlsgewalt besaß, würde es
auch so bleiben.

Er stieg vom Achterdeck und trat neben das Luftgitter, das

über dem Zwischendeck der Frauen und Kinder hing.
Ungerührt blickte er in das Halbdunkel hinab. »Die Neger
brauchen Bewegung«, sagte er zum Zweiten Maat. »Mit der
Neunschwänzigen allein halten wir sie nicht bei Laune.« Er
gestattete sich ein spöttisches Lächeln. »Heute Abend will ich
sie tanzen sehen! Das wird auch den Männern gefallen! Sorgen
Sie dafür, dass die beiden Franzosen ihre Geigen mitbringen
und halten Sie die Neunschwänzige ein wenig im Zaum! Ich
kann nicht schlafen, wenn Sie die ganze Nacht damit
herumknallen! Verstanden, O’Reilly?«

»Aye, Sir!«, antwortete der Zweite Maat missmutig. Und

brummte einen leisen Fluch, als der Kapitän zum Achterdeck
zurückkehrte.

Bensua sah, wie sich die Stiefel des Kapitäns entfernten, und

legte ihren Kopf auf die harten Planken. Sie drückte sanft ihre
Freundin. Das Meer war ruhig und die leichten Bewegungen
des Schiffes machten ihr nichts aus. »Wir sind dem anderen
Schiff davongefahren«, sagte sie. »Merkst du, wie schnell wir
geworden sind? Sie haben neue Tücher an die langen Stämme
gehängt.« In der Sprache der Asante gab es keine Wörter für

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»Segel« und »Mast«. »Jetzt sind wir bald am Ziel! Dann
arbeiten wir für die weißen Männer in dem fernen Land.
Vielleicht behandeln sie uns besser als die Männer auf diesem
Schiff. Du wirst sehen, die Götter werden uns beschützen!«

Natürlich war, es nur die Hoffnung und der Wunsch, Manu

mehr Selbstvertrauen zu geben, die Bensua diese Worte sagen
ließ. Tatsächlich glaubte sie nicht daran, dass die Weißen in
dem fremden Land besser waren. Alle Menschen mit blasser
Hautfarbe waren gleich. Sie wollten den Schwarzen das Land
und den Besitz wegnehmen und einen Teil der Menschen an
andere Weiße verkaufen und irgendwo für sich arbeiten lassen.
Daran gab es keinen Zweifel. Jeder Engländer und jeder
Holländer, den sie getroffen hatte, war schlecht gewesen und
die Männer, die unter der Flagge mit den Sternen fuhren,
hatten alles getan um ihre Gefangenen zu peinigen und zu
demütigen.

Obwohl es heller Tag war, herrschte eine beinahe quälende

Stille auf dem Zwischendeck. Das Gemurmel einiger Frauen
und das Knarren der Planken waren die einzigen Geräusche,
die zu hören waren. Der Zweite Maat hatte auf dem Hauptdeck
zu tun und der Bootsmann schlief in seiner Koje. Und doch
war diese Stille unheimlicher und Angst einflößender als das
laute Knallen der Peitschen, wenn die Aufseher unter Deck
waren und auf die Männer einschlugen. Aus den Quartieren
der Krieger drang kaum ein Laut zu den Frauen herüber. Nach
der Vertreibung vom Hauptdeck war jeder Gefangene mit
seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Hoffnungsfunke,
der mit der Ankunft des englischen Schiffes aufgeflackert war,
hatte sich verflüchtigt und nur düstere Leere hinterlassen. Die
meisten Gefangenen erkannten erst jetzt, wie endlos das große
Wasser war und wie viele Wellentäler sich zwischen das Schiff
und ihre Heimat geschoben hatten.

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»Vermisst du deine Verwandten?«, fragte Manu vorsichtig.

Ihr Kopf lag auf dem Arm der älteren Freundin und sie fühlte
eine Wärme, wie sie seit der Ermordung ihrer Eltern nicht
mehr durch ihre Adern geflossen war. »Fiel es dir schwer, sie
zu verlassen?«

Bensua ließ sich Zeit mit der Antwort. »Ich vermisse sie sehr.

Besonders meine Mutter.« Sie spürte Tränen in den Augen, als
sie sich an das Gesicht der Frau erinnerte, die bis zu ihrer
überstürzten Flucht immer an ihrer Seite gewesen war. »Und
ich weiß, dass sie mich vermissen. Auch wenn sie mich sofort
an den Asantehene verraten würden, falls ich in Kumase
auftauchen würde. Nach dem Gesetz unseres Volkes habe ich
ein Unrecht begangen. Ich habe den Mann abgelehnt, den mein
Onkel für mich ausgesucht hat. Und ich fühle für einen
Krieger, der gegen meinen Onkel und meinen Vater gekämpft
hat. Ein heiliger Mann würde mir den Kopf abschlagen, wenn
ich nach Hause ginge!«

»Dann kannst du nicht mehr zurück«, sagte Manu. Ihre

dunklen Augen waren feucht. »Willst du in dem fremden Land
bleiben, wenn Onyankopon Kwame die bösen Geister
vertreibt?«

»Ich will dort sein, wo Ottobah ist«, erwiderte sie. »Er wird

mir die Wärme geben, die ich brauche! Zusammen sind wir
stark genug um eine neues Leben zu beginnen!« Sie blickte der
Freundin in die Augen. »Auch du wirst einen Mann finden!«

Manu schloss die Augen und versank in einer Gedankenwelt

voller Zweifel, bevor sie antwortete: »Ich weiß nicht, ob
Onyankopon Kwame stark genug ist, die bösen Geister zu
verjagen. Ich glaube, die weißen Männer sind zu mächtig. Sie
haben Gewehre und große Feuerrohre. Damit können sie auch
die Götter töten!«

»Die Götter sind unsterblich«, widersprach Bensua. »Sie sind

mächtiger als alle Menschen, die auf der Erde leben. Sie sind

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stärker als alle Tiere und Pflanzen! Onyankopon Kwame würde
einen Löwen mit den bloßen Händen besiegen! Er würde sogar
einen Elefanten in die Knie zwingen! Wenn er auf unserer
Seite ist, kann uns nichts passieren! Dafür musst du beten,
Manu!«

Sie beteten den ganzen Nachmittag und sangen leise die

heiligen Lieder, bis erneut die Neunschwänzige knallte und die
gefürchtete Stimme des Zweiten Maats erklang: »Hoch mit
euch, ihr müden Weiber! Kommt an Deck! Die Männer warten
schon! Wir wollen euch tanzen sehen! Verstanden? Wir
möchten sehen, wie ihr eure fetten Hintern bewegt!« Er
schwang lachend die Peitsche und trieb die verängstigten
Frauen und Kinder an Deck. »Holt euch was zu essen und zu
trinken und beeilt euch ein bisschen!«

Alles war wie an den vergangenen Nachmittagen und Bensua

war nicht darauf vorbereitet, was die weißen Männer als
Nächstes für sie geplant hatten. Mit offenem Mund
beobachtete sie, wie zwei Matrosen mit Musikinstrumenten
aus ihren Quartieren kamen und sich im Schatten des großen
Segels aufbauten. Sie entlockten ihren seltsamen Instrumenten
sonderbare Töne, zu denen die anderen Weißen den Takt
klatschten. Die fröhliche Melodie passte nicht zu ihrer
schlimmen Lage und erschreckte die Frauen und Kinder, die an
der Reling saßen und Hirsebrei aßen. Sie klang wie das
höhnische Lachen eines bösen Geistes, der sich über sie lustig
machte. So empfand Bensua, die nicht wissen konnte, dass der
Kapitän den Befehl ausgegeben hatte, die Gefangenen
»körperlich zu ertüchtigen«. So hatte er sich ausgedrückt und
so würde er es in sein Logbuch schreiben. Nur wenn die
Sklaven bei Kräften und körperlich gesund blieben, war mit
ihnen ein anständiger Gewinn zu erzielen.

»Tanzt nur, ihr Weiber! Tanzt!«, rief O’Reilly lachend. Und

weil ihn die Frauen nicht verstanden, zerrte er ein Mädchen

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vom Boden hoch und wirbelte mit ihr über das Deck. Er ließ
sie los und tanzte allein weiter, und als er seine Peitsche
knallen ließ, standen auch die anderen Frauen langsam auf und
bewegten sich zögernd zur Musik.

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15



Am Äquator warteten die bösen Geister. Das vermutete
Bensua noch viele Jahre später, als sie längst den christlichen
Glauben angenommen hatte. Sie vertrieben den Wind und
lähmten die Bewegung jedes Schiffes, das diese unsichtbare
Grenze überfuhr. Wie auf ein geheimes Signal verstummten
alle Geräusche, das Rauschen des Windes, das Knistern der
Segel und das Knarren der Planken, und eine unmenschliche
Hitze kroch auf die Zwischendecks und breitete sich wie eine
ansteckende Krankheit aus. Jeder Luftzug erstarb und die
Quartiere der Sklaven wurden zu einem Backofen, der kaum
noch Luft zum Atmen ließ. Die Gefangenen griffen verzweifelt
nach den Sonnenstrahlen, die durch die Luftluke hereinfielen,
und verlangten stöhnend nach Wasser. Wie eine schwere
Decke hielt die Hitze sie umfangen, eine feuchte und quälende
Hitze, die tief in den Körper drang und jedes Leben zu
zerstören drohte. Das unterdrückte Stöhnen der gepeinigten
Menschen hing in der heißen Luft.

Bensua wehrte sich mit ihrer ganzen Kraft gegen den

heimtückischen Angriff der bösen Geister. Mit langen Gebeten
und eindringlichen Gesängen, die nur als heiseres Flüstern
über ihre aufgesprungenen Lippen kamen, versuchte sie die
bedrohliche Hitze zu vertreiben. Sie verdrängte das Schreien
der Kinder und Jammern der Frauen aus ihrem Bewusstsein,
konzentrierte ihre Energie auf Manu, die in der feuchten Luft
zu schrumpfen schien und kaum noch die Kraft besaß, ihren
Händedruck zu erwidern. Sie war schwach, trotz ihrer Jugend,
und hatte während der letzten Wochen viel von ihrem
Lebensmut verloren. Wäre Bensua nicht gewesen, hätte sie

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ihrem Leben vielleicht ein Ende gesetzt. So wie die arme Frau,
die aus dem Ruderboot gesprungen war.

»Warum fahren wir nicht mehr?«, fragte Manu. Ihre Haut

glänzte vor Schweiß und hatte eine seltsame Färbung
angenommen, die Bensua erschreckte. Sie litt mehr unter der
Hitze als alle anderen Frauen in ihrer Nähe. »Warum weht der
Wind nicht mehr?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Bensua. Sie hatte niemals

vom Äquator gehört und wusste auch nicht, dass die Windstille
in dieser Gegend bei allen Seefahrern berüchtigt war. Manche
Schiffe hingen wochenlang in der Flaute fest. Erst sehr viel
später, auf der Plantage in Amerika, erfuhr sie von einem
anderen Sklaven, dass es in den Kalmen des Äquators zu
unbeschreiblichen Tragödien gekommen war. Zahlreiche
Gefangene, besonders Frauen und Kinder, wurden in der Hitze
krank und starben. »Wir müssen zu den Göttern beten, damit
sie den Wind zurückbringen!«

Manu atmete schwer. »Ich habe schon den ganzen Morgen

gebetet und es hat sich nichts getan! Die Götter hören mich
nicht!«

»Wir müssen es weiter versuchen«, sagte Bensua. Auch sie

wartete ungeduldig darauf, dass Onyankopon Kwame die bösen
Geister vertrieb und neuen Wind über das große Wasser blies.

Aber ihre Gebete verklangen ungehört in der drückenden

Hitze. Die Flaute blieb und hielt das Schiff auf dem
spiegelglatten Ozean fest. Scheinbar reglos lag es im Wasser.
Die Segel hingen schlaff von den Rahen und nicht der leiseste
Windhauch fing sich in dem schweren Tuch. Das Meer schien
aus einer zähen Masse zu bestehen, die die Hannibal fest
umklammert hielt. Glühend heiß brannte die Sonne vom
Himmel. Die Hitze lag wie eine schwere Last auf dem Deck
und erstickte alles Leben.

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Captain Whitcomb achtete streng darauf, dass die

Süßwasservorräte nicht geplündert wurden. Sein Zweiter Maat
stand mit der Peitsche neben den Fässern und hätte auch auf
einen Weißen eingeschlagen, wenn er sich näher als drei
Schritte an sie herangewagt hätte. Dabei hätte er selber gern
einen Schluck genommen. Obwohl er die Mittagssonne mied,
hatte ihn die Hitze ausgelaugt und er musste sich alle zwei
Stunden mit dem Bootsmann abwechseln, um sich im Schatten
der Segel auf dem Achterdeck auszuruhen. Halb schlief, halb
döste er in den Nachmittag hinein, die Mütze über den Augen,
um nicht in die glühende Sonne sehen zu müssen. Seine Laune
wurde immer schlechter. Als ihn ein Matrose ansprach,
herrschte er ihn unsanft an und schrie: »Lass mich in Ruhe, du
verdammter Trottel!«

Nur dem Kapitän war es zu verdanken, dass die Sklaven auch

in dieser unerträglichen Hitze an Deck geholt wurden. Ohne
ihn hätten Männer wie O’Reilly und Graham niemals daran
gedacht, die Gefangenen aus ihrem stinkenden Backofen zu
holen. »Sollen sie doch verrecken, diese schwarzen Teufel!«,
fluchte O’Reilly, wenn der Kapitän nicht in der Nähe war. Und
Graham gebrauchte noch ganz andere Worte, die selbst den
hartgesottenen Matrosen das Blut in die Wangen trieben. Die
Männer hatten nichts zu tun und lagen schwitzend auf dem
Deck herum.

»Holen Sie die Sklaven, Mister O’Reilly!«, befahl Captain

Whitcomb, als die Sonne weit im Westen stand. »Die Männer,
die Frauen und die Kinder! Wir lassen sie gleichzeitig an
Deck. In dieser Hitze kommen sie sowieso nicht auf dumme
Gedanken!«

»Alle zusammen, Captain? Aber…«
»Tun Sie, was ich Ihnen sage!«, erwiderte Whitcomb

nüchtern. Er hatte lediglich den Dreispitz abgenommen und
schien in seiner Uniform kaum zu schwitzen. Die Matrosen

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schoben diesen Umstand auf die doppelte Süßwasserration, die
er jeden Morgen bekam. »Geben Sie ihnen zu essen und zu
trinken und sorgen Sie dafür, dass sie ihre Körper mit
Salzwasser abwaschen! Drücken Sie ein paar Zitronen ins
Trinkwasser, damit sie uns nicht krank werden! Sie wissen,
wie sich eine solche Flaute auf Sklaven auswirken kann! Eine
kranke Fracht bringt kein Geld!«

»Aye, Sir!«, gehorchte der Zweite Maat. Er war nicht gerade

begeistert vom Befehl seines Captains, hütete sich aber
Whitcomb zu widersprechen. Er wusste, wie sehr dem Kapitän
an dem Geschäft mit den Negersklaven gelegen war. Und
wenn er ehrlich war, musste er ihm dankbar dafür sein. Die
Höhe seines Lohns hing von dem Ertrag ab, den Whitcomb mit
der Niggerfracht erwirtschaftete. Dennoch fügte er hinzu: »Ich
lasse die Männer mit Musketen und Pistolen auf die Nigger
zielen. Man weiß nie, was diese schwarzen Teufel im Schilde
fuhren. Auf der vorletzten Fahrt haben sie eine Meuterei
angezettelt und zwei Matrosen getötet, nur weil wir nicht
genug Pistolen hatten…«

»Das weiß ich, O’Reilly!«, unterbrach Whitcomb seinen

Zweiten Maat scharf. »Ich war damals dabei, haben Sie das
schon vergessen? Sie erinnern sich bestimmt, dass ich
seinerzeit den Befehl gab, die Männer auch an Deck gefesselt
zu lassen, oder?«

»Natürlich, Sir! Ich wollte nicht – «
»Führen Sie meine Befehle aus und wir kommen klar, Mister

O’Reilly!«, sagte Whitcomb ohne eine Miene zu verziehen.
»Ich mag diese Neger genauso wenig wie Sie. Wenn es nach
mir ginge, könnten Sie einen nach dem anderen den Haien
vorwerfen! Aber diese Schwarzen sind unsere Fracht! Sie
müssen gesund bleiben, damit wir sie Gewinn bringend
verkaufen können.«

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»Aye, Sir!«, erwiderte O’Reilly folgsam. Er hatte keine Lust,

sich mit dem Kapitän anzulegen, und ließ seinen Ärger an zwei
Matrosen aus, die er unsanft in den Niedergang zu den
Zwischendecks stieß. »Voran, ihr faulen Säcke! Holt die
Nigger an Deck! Wenn die schwarzen Teufel in der Hitze
verrecken, mache ich euch persönlich dafür verantwortlich!
Dann werfe ich euch mit den toten Niggern ins Meer,
verstanden?« Er schüttelte sich, als ob er sich dadurch von der
Hitze befreien könnte, und trieb seine Männer mit der Peitsche
in den Niedergang.

Beim Knall der Peitsche klammerte sich Manu zitternd an

ihre ältere Freundin. Mit der Hitze war die Angst
zurückgekommen und sie fürchtete nichts so sehr wie die
neunschwänzige Katze des Zweiten Maats. »Er soll mich nicht
schlagen, Bensua!«, flehte die junge Asante. »Sag ihm, dass er
mich nicht schlagen soll!«

»Hab keine Angst!«, beruhigte Bensua ihre Freundin. »Sie

holen uns an Deck und dann bekommen wir zu trinken! Die
weißen Männer wollen, dass wir gesund bleiben! Wir sollen
auf ihren Feldern arbeiten, hast du das vergessen? Sie lassen
uns nicht sterben!«

»Mir… ist… so… schwindlig«, stammelte Manu, als Bensua

ihr vom Boden aufhalf. »Du musst… mich… festhalten…« Sie
klammerte sich mit beiden Händen an den linken Arm ihrer
Freundin und blieb stehen, bis die schwärzen Schleier vor
ihren Augen verschwanden. Ihre Beine drohten nachzugeben.
Bensua stützte sie und schob sie hinter den anderen Sklaven
zum Niedergang.

Die Lederriemen der neunschwänzigen Peitsche zischten

über ihre Köpfe hinweg. »Gleich ist es vorbei!«, flüsterte
Bensua ihrer Freundin zu. »Er will uns nur erschrecken! Gleich
sind wir an der frischen Luft, dann geht es dir besser! Im
Urwald ist es heißer!«

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Das war natürlich gelogen und sollte Manu nur beruhigen.

Hoffnungsvoll kletterte sie vor ihrer Freundin den Niedergang
hinauf. O’Reilly schwitzte viel zu sehr um ständig mit der
Peitsche zu knallen und sie erreichten unbeschadet das Deck.
Bensua fand sogar Zeit, einer jungen Asante und ihrem Kind
zu helfen. Die Frau tat ihr Leid. In ihren Augen war eine
aufkeimende Krankheit zu erkennen und auch ihre Tochter
machte einen schwachen Eindruck. Sie würden nicht mehr
lange durchhalten.

Auf dem Hauptdeck war die Hitze weniger drückend und es

stank nicht so fürchterlich wie im Sklavenquartier. Die Frauen
und Kinder konnten wieder durchatmen. Benommen schlichen
sie zu dem Matrosen, der das Wasser verteilte. Zitternd tranken
sie aus dem Becher, eine nach der anderen, dann nahmen sie
etwas von dem Hirsebrei und sanken im Schatten der Segel auf
die Planken. Die Frauen lehnten sich erschöpft gegen die
Reling und atmeten gierig die stickige Luft. Sie waren kaum
noch fähig, den Kopf zu heben und über das Meer zu blicken.
Nach der Backofenhitze auf den Zwischendecks war selbst die
brennende Sonne eine Erholung, aber nach einer Weile wurde
auch sie zur Qual und sie sehnten sich nach dem heimatlichen
Regenwald. An diese Umgebung waren sie gewöhnt, dort litten
nur Weiße.

Bensua bettete den Kopf der erschöpften Freundin in ihren

Schoß und redete beruhigend auf sie ein. »Ich spüre, dass die
bösen Geister nicht mehr lange bleiben werden«, log sie. Manu
schloss lächelnd die Augen. Sie schlief so fest, dass sie nicht
einmal bemerkte, wie die männlichen Sklaven an Deck kamen
und gierig nach den Wasserbechern griffen. O’Reilly ließ
dreimal die Peitsche knallen ohne die erschöpften Männer zu
berühren und beschränkte sich dann darauf, sie fluchend aus
seinem Blickfeld zu verjagen. »Die Nigger stinken
erbärmlich!«, stöhnte er. »So was hab ich nicht mal bei den

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Piraten erlebt und da gab es einige Burschen, die haben sich
nie gewaschen!« Er rief einige Matrosen herbei und befahl
ihnen, Salzwasser über die erschöpften Sklaven zu gießen,
auch über die Frauen und Kinder.

Keiner der Gefangenen wehrte sich gegen diese Behandlung.

Das Salzwasser brannte in den Augen und den offenen
Wunden, aber diese Schmerzen waren immer noch besser als
der quälende Schweiß und der Gestank, der sie wie dicker
Nebel einhüllte. Bensua schüttelte sich und bemühte sich den
Matrosen nicht in die Augen zu blicken. Sie hatte längst
bemerkt, dass ihre hoch gewachsene Gestalt und ihre vollen
Lippen manchen Männer nur zu sehr gefielen. Die Matrosen
hatten seit vielen Wochen keine Frau mehr gehabt und waren
gierig danach, eine junge Frau wie sie in die Arme zu nehmen.
Es war ihnen egal, ob sie schwarz oder weiß war. Sie wollten
ihr Verlangen stillen und verschonten sie nur, weil sie Angst
hatten, krank zu werden, und der Kapitän sie mit eiserner
Gewalt davon abhielt. Sie wollte ihnen keinen Grund geben,
sich zu vergessen.

Unter dem Wasserschwall schreckte Manu aus dem Schlaf.

Bensua wischte ihr das brennende Salz von den Wunden und
nahm sie in den Arm, als sie weinte. »Wir müssen uns
bewegen«, sagte Bensua, »sonst werden wir krank!« Sie stand
auf und zog die Freundin hoch. Zusammen gingen sie an der
Reling entlang, immer darum bemüht, den weißen Männern
nicht in die Quere zu kommen. Vor dem Achterdeck, das sie
nicht betreten durften, blieben sie stehen und blickten über das
große Wasser.

Das Meer war so still und glatt, als hätten geheimnisvolle

Geister es mit einem Zauberfluch belegt. Wie funkelndes
Metall glänzte es in der Sonne. Es gab keine Ufer und keine
anderen Schiffe, nur die Hannibal im weiten und unendlichen
Ozean. Die Zeit schien stillzustehen. Sie waren Gefangene

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einer überirdischen Macht, die sie aus dem Leben vertrieben
und im einsamen Niemandsland eingefroren hatte. Das Schiff
lag so ruhig, als hätte man es an Land gezogen, und die Stille
war so vollkommen, dass jedes Murmeln und jedes noch so
leise Geräusch unnatürlich laut wirkte. Es sah nicht so aus, als
würde sich der Wind jemals wieder in den Segeln fangen. Sie
schienen dazu verdammt zu sein, für immer an diesem Ort zu
verweilen.

Das laute Knallen der Peitsche zerstörte die unheimliche

Stille und ließ die Sklaven zusammenzucken. O’Reilly lachte
dröhnend. »Bewegt euch, ihr verdammten Nigger!«, rief er.
»Faulenzen könnt ihr auf dem Zwischendeck!« Er scheuchte
die Schwarzen über das Deck und wandte sich an den
langhaarigen Schiffsarzt. Dr. Atkins stand neben dem
Besanmast, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, und
schien sich nicht besonders wohl zu fühlen. »Was ist, Doktor?
Ist Ihnen der Rum ausgegangen oder warum machen Sie so ein
Gesicht? Sie haben doch selbst gesagt, dass die Nigger viel
Bewegung brauchen!«

»Das stimmt«, antwortete Dr. Atkins heiser. Auch er litt unter

der unmenschlichen Hitze. »Ich mache mir Sorgen wegen der
Unterbringung dieser Geschöpfe. Wenn die Flaute anhält,
sterben sie uns alle weg! Sehen Sie sie sich doch genauer an!
Einige sind schon krank und in der Hitze werden es bestimmt
mehr! Ich befürchte, dass wir bald einige von ihnen über Bord
werfen müssen!«

O’Reilly zog eine Grimasse. »Gewissensbisse?«
»Nein«, antwortete der Arzt unbeeindruckt. »Aber meine

Sorge ist, dass sich das Schiffsfieber ausbreitet! Ich bin an dem
Erlös beteiligt, den wir mit dieser Fracht erzielen! Es wäre mir
gar nicht recht, wenn wir Sklaven verlieren würden.« Er zuckte
die Achseln. »Doch wenn die Flaute anhält, wird es wohl so
kommen.«

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Bensua merkte nicht, dass O’Reilly und der Schiffsarzt

miteinander sprachen. Ihre Augen waren auf Ottobah gerichtet,
der wieder aufrecht stand und die Schmerzen, die er immer
noch haben musste, wie ein Mann ertrug. Sein Blick war härter
geworden, und nur als er Bensua ansah, erschien ein sanftes
Lächeln auf seinem Gesicht. In seinem Blick lag eine
Zuneigung, die auch schwere Prüfungen überstehen würde,
aber auch Entschlossenheit, sich den Weißen nicht kampflos
zu ergeben. »Vertrau mir«, hörte Bensua ihn sagen. »Ich
kämpfe für unsere gemeinsame Zukunft. Ich liebe dich, meine
Freundin!«

Unter Deck dachte sie lange über die Worte von Ottobah

nach. Für ihn war eine Zukunft nur mit ihr denkbar. Er wollte
mit ihr zusammenleben, so wie sie mit ihm. Und sie hatte
große Angst, dass er etwas Unüberlegtes tun könnte und von
den weißen Männern getötet werden würde. Bisher hatte er
Glück gehabt, aber irgendwann würden ihn die Götter
verlassen und er müsste mit dem Leben für seinen Rachedurst
bezahlen. Bensua war geduldiger, hielt es für besser, auf einen
günstigen Augenblick zu warten um den Weißen zu
entkommen. Vielleicht erst in dem fremden Land, denn auf
dem offenen Meer war ihre Chance, die weißen Männer zu
besiegen, äußerst gering. Die Krieger würden es niemals
schaffen, ihre Ketten abzustreifen, und die Frauen wurden zu
streng bewacht um ihnen zu helfen. Sie sprach ein langes
Gebet und weinte, wenn Manu sie nicht beobachtete.

Zum Leidwesen der Besatzung und der Gefangenen hielt die

Flaute an. Wie ein Fluch hing sie über der Hannibal. Ein Tag
nach dem anderen verging, ohne dass sich ein Windhauch
regte oder eine gnädige Wolke die Sonne verdeckte. Die Hitze
staute sich auf den Zwischendecks und klang selbst nachts
kaum ab. Die Lage in den Sklavenquartieren wurde immer
bedrohlicher. Die Männer stöhnten, viele Frauen jammerten

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und die Kinder weinten, bis keine Tränen mehr kamen.
Tagsüber durften die Sklaven jetzt länger an Deck bleiben,
aber auch dort war die Hitze kaum auszuhalten. Die weißen
Männer wurden immer gereizter und nur ihre Erschöpfung
hielt sie davon ab, ihre Verbitterung und ihre Verzweiflung an
den Sklaven auszulassen. »Wenn diese verdammte Flaute noch
länger anhält, lasse ich die Nigger ins Meer werfen und suche
mir eine andere Arbeit«, fluchte O’Reilly.

Bensua widerstand der mörderischen Hitze. Ihre Angst galt

den Frauen und Kindern, die am Fieber erkrankt waren und die
ganze Nacht um Hilfe riefen. Auch Manu wirkte sehr schwach.
Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Bensua ließ sie von
ihrem Wasser trinken und teilte ihren Hirsebrei mit der
Freundin um sie bei Kräften zu halten, doch auch sie konnte
den bösen Geistern nicht ewig widerstehen. Die Götter
mussten siegen und den kühlen Wind zurückbringen, wenn sie
eine Katastrophe vermeiden wollten. Noch zwei oder drei Tage
und es würde die ersten Toten geben. Daran konnte auch der
Schiffsarzt nichts ändern, der sie jeden Tag widerwillig
untersuchte. Er hatte ein weißes Tuch über seine Nase und
seinen Mund gebunden, um die Krankheit nicht riechen zu
müssen und sich nicht anzustecken.

Als die Sklaven am Nachmittag des sechsten Tages auf die

Zwischendecks getrieben wurden, deutete der Schiffsarzt auf
die junge Frau und ihr Kind, denen Bensua im Niedergang
geholfen hatte. Beide hatten starkes Fieber und waren kaum
noch fähig Wasser und Nahrung aufzunehmen. Er wandte sich
an den Kapitän. »Den beiden ist nicht mehr zu helfen«, sagte
er. »Wir müssen sie loswerden, sonst stecken sie die anderen
Sklaven an!«

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Captain Whitcomb verzog mürrisch die Lippen, dachte wohl

an seinen finanziellen Verlust, als er anordnete: »Werft sie ins
Meer!«

Dann wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und wandte

sich zum Gehen.

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16



Die Todesschreie der jungen Frau und ihrer Tochter zerrissen
die drückende Hitze und hallten wie der verzweifelte Aufschrei
einer sterbenden Wildkatze durch das Schiff. Eisiges Entsetzen
ließ die Gefangenen auf den Zwischendecks vor Schreck
erstarren. Auch ohne die arme Frau und ihr Kind zu sehen,
wussten sie, was geschehen war. Die weißen Männer hatten sie
ins Meer geworfen und sich nicht einmal die Mühe gemacht,
sie vorher zu töten. Sie standen an der Reling und
beobachteten mit reglosen Gesichtern, wie die dreieckigen
Flossen einiger Haie aus dem Wasser stachen und sich die
Raubfische auf die todgeweihten Sklaven stürzten. Ihre Schreie
verstummten und ihre zerfetzten Körper verschwanden in
einem blutroten Strudel.

Die Stille kehrte zurück und wurde zum unsichtbaren

Leichentuch für die ermordete Frau und ihre Tochter. Nur das
lähmende Entsetzen hinderte die Gefangenen daran, zu
schreien und die weißen Männer zu verdammen. Selbst die
Krieger weinten, eine Frau klammerte sich schluchzend an
einen Balken, und durch das Heulen und Wimmern schnitt der
erschütternde Schrei einer Frau, die mit der Ermordeten
verwandt gewesen war. Sie schlug mit beiden Fäusten gegen
die Planken, hatte Schaum vor den Lippen und lallte wirr, dann
brach sie wie eine tödlich getroffene Antilope zusammen und
lag bewusstlos auf ihrem Lager.

Bensua hielt ihre junge Freundin verzweifelt fest und

flüsterte ein langes Gebet, das Manu davon abhielt, über den
schrecklichen Mord nachzudenken. Dann sang sie ein heiliges
Lied, das sie von ihrem Onkel gelernt hatte, ein rhythmisches

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Gebet der Asante, das die Krieger in die Schlacht begleitete
und ihnen die Kraft geben sollte ihre Feinde zu besiegen. Sie
sang leise, dann immer lauter, und forderte die anderen
Gefangenen auf ihren Gesang durch rhythmisches Klatschen
zu unterstützen. Selbst die Fante und die schwachen Frauen,
die ihr Wasser den Kindern gegeben hatten, machten mit. »Gib
uns die Kraft, gib uns die Kraft!«, sangen die Frauen und
Kinder und dann fielen auch die Männer ein und das ganze
Schiff erbebte unter dem lauten Gesang der Sklaven. Das Lied
wurde zum neuen Quell der Hoffnung und die weißen Männer
waren klug genug, nichts gegen den Gesang zu unternehmen.
Wenn die Sklaven sangen, waren sie beschäftigt und kamen
nicht auf dumme Gedanken.

Doch die Flaute blieb und die Lage der Gefangenen wurde

immer verzweifelter. Am Morgen des nächsten Tages stieg der
Schiffsarzt in die Sklavenquartiere hinab, begleitet vom
Bootsmann, der seine Wache mit dem Zweiten Maat getauscht
hatte, und stolperte mit verzerrtem Gesicht über die
jammernden Frauen und Kinder hinweg. Johnny Graham hielt
drohend die Peitsche erhoben und ließ seinen Frust über die
lange Flaute und den fürchterlichen Gestank unter Deck an den
hilflosen Schwarzen aus. Er stieg auf stöhnende Frauen, quälte
sie mit harten Tritten und lachte höhnisch, wenn sie vor
Schmerzen aufschrien. Er war noch rücksichtsloser als
O’Reilly und fand einen großen Gefallen daran, die schwachen
Gefangenen zu quälen.

»Machen Sie schneller, Doktor!«, trieb er den Schiffsarzt an.

»Sonst verrecken wir hier unten noch! Die verdammten Nigger
stecken uns noch an!«

Als der Doktor auf eine kranke Asante deutete und der

Bootsmann die röchelnde Frau vom Boden hochzog und zum
Niedergang trieb, wusste Bensua, was die Weißen vorhatten.
Am verzweifelten Aufschrei der anderen Frauen erkannte sie,

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dass auch sie den Doktor durchschauten. Er sortierte die
Schwerkranken aus, damit Graham sie an Deck trieb und ins
Meer warf. »Eine Vorsichtsmaßnahme«, wie Dr. Atkins dem
Kapitän erklärte, damit der wertvolle Teil der Fracht nicht
angesteckt werde. Captain Whitcomb würde die Ermordung
der kranken Sklaven als »Ballastabwurf« in seinen Papieren
deklarieren und von der Versicherungsgesellschaft entschädigt
werden. Blieben die Kranken an Bord, müsste er auf eine hohe
Entschädigung verzichten.

Den meisten Gefangenen fehlte die Kraft, gegen das

Vorgehen der weißen Männer zu protestieren. Und sie hatten
viel zu große Angst, selbst ein Opfer des Arztes und des
Bootsmanns zu werden. Johnny Graham brachte es fertig,
willkürlich eine Frau oder ein Kind nach oben zu zwingen und
ins Meer zu werfen. Er war der einzige Weiße, der lauthals
lachte, wenn die Haie kamen und sich auf ihre schwachen
Opfer stürzten. »Wir dürfen den Glauben an die Götter nicht
verlieren!«, flüsterte Bensua ihrer Freundin zu. »Ohne unseren
Glauben bleibt uns nichts mehr!«

Ottobah war der einzige Krieger, der sich gegen die Weißen

wandte. Aber auch er war klug genug, nicht an seinen Ketten
zu zerren und den Doktor und den Bootsmann zu verfluchen,
als der einen jungen Asante in den Niedergang trieb. Erst
nachdem die weißen Männer das Zwischendeck verlassen
hatten, schimpfte er laut. Er wusste selbst, dass der Mann mit
der Peitsche ihn sofort getötet hätte, wenn er aufgesprungen
wäre. Es kostete ihn beinahe übermenschliche Kraft zu
beobachten, wie der junge Krieger den Niedergang
hinaufgestoßen wurde und wenige Augenblicke später sein
Todesschrei durch die stickige Luft drang.

Kaum war die Stille wieder zurückgekehrt, wandte Ottobah

sich an die anderen Krieger. »Hört mich an!«, rief er. »Ich bin
Ottobah, ein Krieger der Fante! Ich weiß, dass viele von euch

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zu den Asante gehören, aber wenn wir diese schwere Prüfung
überstehen wollen, darf es keine Unterschiede mehr geben!
Wir sind schwarz! Wir gehören zu einem Volk! Nur wenn wir
zusammenhalten, schaffen wir es, die Weißen zu besiegen!«

»Du willst gegen die Weißen kämpfen?«, erwiderte ein

kräftiger Asante. Die Narben auf seinem Oberkörper stammten
von einem Fante, den er im Zweikampf besiegt hatte. »Wie
willst du gegen die mächtigen Weißen bestehen, wenn du den
Kampf gegen die Asante verloren hast? Du warst unser Sklave,
nicht wahr? Der Holländer hat dich gekauft, sonst wärst du
längst tot!«

»Ihr habt uns wie feige Hyänen aufgelauert«, sagte Ottobah.

Es fiel ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. »Ein Fante wäre
seinen Feinden offen gegenübergetreten!« Er schlug mit der
flachen Hand auf die Planken. »Aber selbst dieser Überfall
darf jetzt nicht mehr zwischen uns stehen! Wir sind schwarz!
Wir sind stark! Und wenn wir den alten Hass vergessen, sind
wir mächtig genug die Weißen zu vertreiben!«

Ein erwachsener Krieger, der unter der Öllampe am

Niedergang lag, stimmte Ottobah zu. »Auch ich bin ein Asante
und ich glaube dir.« Er hob die Hände, mit denen er an seinen
Nachbarn gekettet war, und blickte den Fante fragend an.
»Aber willst du so gegen die Weißen kämpfen? Mit
gefesselten Händen und Füßen? Wir haben keine Waffen!
Nicht mal Messer! Die Weißen besitzen Gewehre, Messer und
große Feuerrohre! Sie werden uns zerfetzen, bevor wir den
ersten weißen Mann berührt haben!«

»Es gibt einen Weg«, überraschte Ottobah den Asante.
»Und wenn wir schnell genug sind, kann gelingen, was die

meisten von euch für unmöglich halten! Es muss im Freien
geschehen, wenn sie uns Essen und Wasser geben. Habt ihr
bemerkt, wie sorglos die Weißen dann sind? Wir nehmen
ihnen die Pistolen und die Messer ab und haben die Hälfte der

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Männer getötet, bevor sie das große Feuerrohr auf uns
abschießen! Einige von uns werden sterben, das ist wahr. Aber
wie viele Krieger werden sterben, wenn wir uns kampflos
unserem Schicksal ergeben?«

Unter den Kriegern entstand Unruhe. Einige Männer, die sich

erfolgreich gegen die Hitze gewehrt hatten und nicht erkrankt
waren, stimmten begeistert zu. Die Kranken und Schwachen
äußerten ihren Unmut. »Wir werden alle sterben«, sagte ein
älterer Mann. Er musste den Satz zweimal sagen um gehört zu
werden. »Versteht mich nicht falsch! Ich habe keine Angst zu
sterben. Ich würde es als Gnade empfinden, dieses Schiff
verlassen zu können. Im Jenseits treffe ich meine Verwandten
wieder. Warum sollte ich Angst vor dem Tod haben? Aber was
ist mit den Männern, die jung und stark genug sind um noch
eine Zukunft zu haben? Was ist mit dir, Ottobah? Selbst wenn
wir den Mann mit der Peitsche und einige andere Weiße töten
könnten, gäbe es noch genug andere Männer um uns alle
umzubringen!«

»Das stimmt«, meldete sich ein anderer Krieger zu Wort.

»Warum überlassen wir unser Schicksal nicht den Göttern?
Warum lassen wir sie nicht entscheiden, wer stark genug ist, in
dem fremden Land für eine Zukunft zu kämpfen? Auf diesem
Schiff haben wir keine Chance gegen die weißen Männer!« Er
sank keuchend auf sein Lager zurück. »Du bist tapfer,
Ottobah«, fügte er leise hinzu. »Aber diesen Kampf kannst du
nicht gewinnen!«

Ottobah richtete sich auf, bis er mit dem Kopf gegen die

niedrige Decke stieß. In seinen Augen stand wilde
Entschlossenheit. »Wir müssen uns wehren, falls wir vor den
Göttern bestehen wollen!«, sagte er. »Nur wenn wir wie
Krieger handeln, haben wir ein Recht, unseren Verwandten im
Jenseits zu begegnen. Was sollen die Frauen und Kinder
denken, wenn wir hilflos zusehen, wie die Kranken und

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Schwachen ins Meer geworfen werden? Nein, meine Brüder!
Lasst uns kämpfen! Ich habe von Kriegern gehört, die den
weißen Männern entkommen und an Land geschwommen
sind! Die Götter werden uns beistehen, wenn wir zu den
Waffen greifen! Zieht mit mir in den Kampf, meine Brüder!«

Die Zustimmung unter den Kriegern wurde stärker und

Ottobah und der Asante, der sich zunächst gegen ihn gewandt
hatte, schmiedeten einen Plan. Zusammen mit den zehn
stärksten und gesündesten Männern wollten sie die Matrosen,
die ihnen das Essen gaben, entwaffnen und umbringen, um
dann auf den Zweiten Maat oder Bootsmann und den Kapitän
loszugehen. Die anderen Krieger würden die Verwirrung
nutzen und sich auf die restlichen Weißen stürzen. Mit dem
kleinen Schlüssel, den sowohl O’Reilly als auch Johnny
Graham in der Tasche trugen, würden sie die Schlösser an den
Ketten öffnen und sich dann auf die Männer unter Deck
stürzen. Ein kühner Plan, der nur aufgehen konnte, wenn die
Frauen, die nahe bei dem großen Feuerrohr standen, den
Matrosen an der Lunte hinderten abzufeuern.

»Bensua«, flüsterte Ottobah. Die Männer verstanden ihn

nicht. »Ich kenne die Frau, die uns helfen wird«, fügte er lauter
hinzu. »Heute Abend weihe ich sie in unseren Plan ein.
Morgen früh schlagen wir zu!« Er blickte in die Gesichter der
anderen Krieger und versuchte sie mit seiner Zuversicht
anzustecken. Nicht alle Männer waren so selbstsicher wie er.
Er hob eine geballte Faust. »Keine Angst, meine Brüder! Die
Götter kämpfen mit uns!«

Der scharfe Knall der neunschwänzigen Peitsche ließ selbst

die Gesichter der tapfersten Krieger erstarren. »Was soll das
Geschwätz?«, fragte der Bootsmann grimmig und ließ die
Peitsche gleich wieder knallen. »Habt ihr noch nicht genug?
Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass ich einen von euch
schwarzen Teufeln an den Mast binde!« Er leckte mit der

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Zunge über seine Lippen und trat einen Krieger unsanft
zwischen die Beine. Als der Mann aufschrie, lachte er
höhnisch. »Haltet den Mund, verstanden? Wer das nächste
Wort sagt, fliegt ins Meer!«

Am frühen Abend wurden zuerst die Frauen und Kinder und

dann die Männer auf das Hauptdeck geholt. Johnny Graham
hatte vorgehabt die Männer auf dem Zwischendeck zu lassen
und auch die Matrosen, die den Hirsebrei und das Wasser
ausgaben, waren nicht begierig darauf, die Sklaven zu
bedienen. »Sollen sie doch unter Deck verrecken!«, rief einer
gehässig. »Die stecken uns noch alle an mit ihren verdammten
Krankheiten!« Nur dem Captain und dem Arzt hatten es die
Schwarzen zu verdanken, dass sie auf das Hauptdeck durften.
»Wenn wir sie unten lassen, wird alles nur noch viel
schlimmer«, erklärte Dr. Atkins. »Sie brauchen frische Luft,
Nahrung und Wasser, sonst werden sie erst recht krank! Es ist
nur zu eurem Besten, Leute!«

Die Frauen und Kinder standen bereits an der Reling, als die

Männer nach oben kamen. Bensua fiel sofort auf, wie
verändert Ottobah war. In seinen Augen war ein neues Feuer,
als hätten die Götter frischen Wind geschickt, und sein Körper
wirkte straffer und gesünder als beim letzten Mal. Die
Windstille schien bei ihm das Gegenteil bewirkt zu haben,
hatte ihn stärker und widerstandsfähiger gemacht. Auch einige
der anderen Krieger waren von neuem Mut beseelt. »Sie haben
etwas vor«, flüsterte Bensua so leise, dass Manu es nicht hörte.
»Sie wollen kämpfen!«

Sie aß ihren Hirsebrei auf und wusch sich mit dem

Salzwasser, das in Kübeln bereitstand. Die Brandwunden
waren verheilt und das Salz brannte nicht mehr. Sie ging ein
paar Schritte, bis sie neben Ottobah stand, und sagte: »Ich
denke an dich, mein Freund!« Die Matrosen hatten nichts mehr
dagegen, dass Männer und Frauen miteinander sprachen,

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befolgten den Befehl des Kapitäns, der zu O’Reilly und
Graham gemeint hatte: »Die Männer sollen mit den Frauen
reden! Das hebt ihre Stimmung! Unzufriedene Sklaven
machen Ärger, das sollten Sie langsam wissen.«

»Sie wollen, dass sich die Nigger mit den Weibern

vergnügen?«, fragte der Bootsmann entsetzt. Er strich über
seine Peitsche. »Ich würde ihnen lieber die Neunschwänzige
überziehen!«

Captain Whitcomb verabscheute die derbe Sprache des

Bootsmanns und blickte ihn missbilligend an. »Von
Vergnügen habe ich nichts gesagt! Oder wollen Sie ihnen die
Ketten abnehmen?«

»Natürlich nicht, Sir!«
»Befolgen Sie meine Befehle, Mister Graham, oder ich kürze

Ihren Lohn! Ihr Hass gegen diese Schwarzen bringt uns nicht
weiter. Wollen Sie die ganze Fracht ins Meer werfen und ohne
einen einzigen Neger in Charleston ankommen? Ich habe keine
Lust, diese Reise mit Verlust abzuschließen! Ist das klar?«

»Aye, Sir!«
Bensua wusste nichts vom Befehl des Kapitäns, hatte aber

herausgefunden, dass die weißen Männer nicht mehr
einschritten, wenn Männer und Frauen miteinander sprachen
und ein Lächeln oder eine sanfte Berührung austauschten. An
die obszönen Gesten und das hämische Lachen einiger
Matrosen hatte sie sich längst gewöhnt. Dennoch rechnete sie
jeden Augenblick damit, das Zischen der neunschwänzigen
Peitsche zu hören, als sie mit Ottobah sprach. »Du hast etwas
vor!«, sagte sie zu dem geliebten Krieger. »Du willst kämpfen.
Ist es nicht so?«

»Ja«, antwortete Ottobah leise, »und du musst mir helfen!« In

wenigen Worten schilderte er Bensua, wie sein Plan aussah
und was sie dabei zu tun hatte. »Sobald du meinen Schrei
hörst, stößt du den Matrosen an dem großen Feuerrohr zur

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Seite! Er darf auf keinen Fall die Lunte anzünden! Schaffst du
das?«

Bensua nickte. »Wenn du meinst, dass wir siegen werden,

will ich es tun. Aber es ist gefährlich die Männer anzugreifen!
Sie haben sich mit den bösen Geistern verbündet! Sie besitzen
Gewehre und Pistolen! Wenn ihr es nicht schafft die Ketten zu
öffnen, werdet ihr alle sterben! Warum warten wir nicht,
Ottobah?«

»Willst du zusehen, wie sie alle kranken Frauen und Kinder

ins Meer werfen?«, fragte er. »Es bleibt uns keine Zeit mehr,
Bensua! Morgen früh, wenn wir an Deck kommen, schlagen
wir zu! Halte dich bereit! Und bete zu den Göttern, dass sie
uns beistehen!«

Bensua betete die ganze Nacht. Sie lag auf dem Rücken, hielt

die Hand ihrer jungen Freundin und schickte Gebet nach Gebet
zu dem Ort empor, an dem Onyankopon Kwame und die
anderen Götter wohnten. Den anderen Frauen verriet sie nichts.
Auch Manu ließ sie im Unklaren. Wenn alle Frauen von dem
Plan der Männer erfuhren, bestand die Gefahr, dass einige in
Panik gerieten und laut schrien oder weinten. Dann bekamen
die weißen Männer vielleicht heraus, was die Krieger
vorhatten.

An Schlaf war in der drückenden Hitze kaum zu denken. Der

Gestank war inzwischen unerträglich geworden und es schien
nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Doktor die
nächsten Frauen und Kinder abholte. Zu ihrem Entsetzen
erkannte Bensua, dass auch Manu erkrankt war. Ihre Freundin
lag erschöpft wie jemand, der von einem Giftpfeil getroffen
worden war, auf den Planken und rang japsend nach Luft. Ihr
Gesicht war eingefallen und ihre Augen lagen tief in den
Höhlen. »Manu!«, flüsterte Bensua besorgt. »Warum sagst du
nicht, dass du krank bist?«

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Sie machte sich Vorwürfe. Vor lauter Beten und in der

verzweifelten Angst vor dem Aufstand der Männer hatte sie
übersehen, dass Manu an dem gefährlichen Schiffsfieber
erkrankt war. So nannten die Weißen die Krankheit, die viele
Sklaven und sogar Weiße auf der langen Reise befiel. In einer
Flaute war die Gefahr, sich anzustecken, besonders groß. Nur
frische Luft, feste Nahrung und frisches Wasser konnten den
Kranken helfen. Aber durch den ungewollten Aufenthalt am
Äquator waren die Vorräte knapp geworden und Captain
Whitcomb hatte die Rationen verkleinert. Wenn der Wind
nicht bald zurückkehrte, war Manu verloren. Dann würde sie
zu den bedauernswerten Frauen und Kindern gehören, die über
Bord zu den Haien geworfen wurden.

Bei dem Gedanken erschrak Bensua. Sie nahm einen Zipfel

ihres Kleides und wischte ihrer Freundin den Schweiß vom
Gesicht. »Halte durch!«, flüsterte sie. »Morgen bekommst du
mein Wasser, dann schaffst du es! Du wirst wieder gesund, das
verspreche ich dir!«

»Ich… ich bin so… schwach…«, brachte Manu mühsam

hervor. »Ich glaube… ich muss… sterben… Lass mich
sterben, Bensua!«

»Niemals!«, schwor Bensua. Jetzt sehnte auch sie den

Augenblick herbei, da Ottobah und seine Krieger die Weißen
töten würden. Dann würde es genug Wasser für ihre Freundin
geben.

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17



Polternde Schritte weckten Bensua und ihre Freundin, die
beide kurz vor dem Morgengrauen eingeschlafen waren und
von wirren Albträumen gequält wurden. Sie schreckten hoch
und sahen Johnny Graham und den Doktor durch den
Niedergang kommen. Die Peitsche knallte und der Bootsmann
rief: »Aufwachen, ihr faulen Weiber! Wir brauchen neues
Futter für die Haie!« Er lachte über seine Worte und trat einer
Frau, die ihm im Weg lag, mit voller Wucht in die Hüfte. Die
Sklavin stöhnte unterdrückt. Wenn der Kapitän nicht hinsah,
ließ der Bootsmann seinem Hass auf die Gefangenen freien
Lauf. »Wie wärs mit der alten Hexe hier?«, fragte er und
deutete auf eine weißhaarige Frau. »Für die kriegen wir
sowieso keinen Penny!«

Doktor Atkins achtete nicht auf den Bootsmann und nahm die

Öllampe vom Balken neben dem Niedergang. Gebückt stieg er
über die schwitzenden Frauen und Kinder. Der Schein der
Lampe geisterte über verzweifelte Gesichter und ließ panische
Angst in den dunklen Augen aufleuchten. Einige Kranke
hatten es nur der Abscheu des Doktors zu verdanken, dass sie
an diesem Morgen nicht über Bord geworfen wurden. Um
einen umgestürzten Eimer machte er einen weiten Bogen.
»Lange halte ich das nicht mehr aus«, sagte er mehr zu sich
selbst. »Wenn das so weitergeht, müssen wir die ganze Ladung
ins Meer werfen!« Er wandte sich an den Bootsmann. »Lassen
Sie uns umkehren, Mister Graham! Die Neger benötigen
dringend frische Luft und etwas zu trinken, sonst brauchen wir
gar nicht weiterzufahren!«

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Bensua sah, wie der Bootsmann zögerte, und bat die Götter in

einem stummen Gebet, die weißen Männer umkehren zu
lassen. Doch Graham ließ sich nicht beirren. Seine Schritte
wurden lauter, und obwohl die Sklavinnen längst wieder auf
dem Rücken lagen um bloß nicht aufzufallen, spürten sie, wie
sein bedrohlicher Schatten über sie fiel. Bensua presste die
Hand ihrer Freundin in stummer Verzweiflung, hoffte
inständig, dass der Bootsmann sie nicht auf das Hauptdeck
mitnahm. Sie hatte ihrer Freundin den Schweiß vom Gesicht
gerieben und ihr eingeschärft, sich die Schmerzen so wenig
wie möglich anmerken zu lassen. Aber sie wusste, dass das
Schiffsfieber in ihren Augen klar zu erkennen war. Der
fiebrige Glanz brandmarkte sie genauso wie das Brandmal auf
ihrem Rücken.

Die Schritte verstummten und Bensua schloss die Augen, um

die weißen Männer nicht ansehen zu müssen. Am Tonfall des
Bootsmannes hörte sie, dass ihre Gebete vergeblich gewesen
waren. »Und was ist mit der hier?«, fragte Johnny Graham. Er
deutete mit der Peitsche auf die zitternde Manu. »Die ist fällig,
wenn Sie mich fragen! Die hält doch keinen Tag mehr durch!«

Bensua verstand den Bootsmann und schickte ein letztes

Gebet zu den Göttern empor. Sie durfte nichts unversucht
lassen, um ihre Freundin vor einem grausamen Tod zu retten.
Der Gedanke, dass Manu von den Raubfischen zerrissen
werden sollte, war zu schrecklich. Manu darf nicht sterben!,
rief sie stumm. Sie ist jung und unschuldig! Lasst sie am
Leben! Bitte!

Diesmal wurde ihr Gebet erhört. Gerade als der Doktor

antworten wollte, ging ein Knarren und Ächzen durch das
Schiff und die Planken bewegten sich unter den Körpern der
Sklaven. »Alle Mann an Deck!«, ertönte die schneidende
Stimme des Captains. »Die Flaute ist vorbei! Mister Graham,

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kommen Sie sofort herauf! Und wecken Sie Mister O’Reilly!
Ich brauche jetzt jeden Mann!«

Bensua öffnete vorsichtig die Augen und beobachtete, wie

der Bootsmann und der Doktor im Niedergang verschwanden.
Erleichtert beugte sie sich zu ihrer Freundin hinüber. »Jetzt ist
es vorüber«, sagte sie. »Du wirst wieder gesund! Die Götter
haben den Wind zurückgebracht! Du wirst sehen, er wird das
Schiffsfieber vertreiben!«

Manu lächelte zaghaft, zum ersten Mal seit vielen Stunden.

Zum Sprechen war sie zu schwach. In ihren Augen war immer
noch das Entsetzen zu sehen, das sie beim Anblick der weißen
Männer empfunden hatte. Sie hatte bereits mit dem Leben
abgeschlossen und sich auf einen grausamen Tod vorbereitet.
»Die Götter werden mich im Jenseits wie eine Königin
empfangen«, hatte sie sich einzureden versucht. »Ich werde
meine Eltern wieder sehen und der Schmerz wird mich nicht
mehr quälen!«

Das Lächeln erstarb und Tränen quollen aus ihren Augen.

Ungehemmt flossen sie über ihr Gesicht. Bensua nahm Manu
fest in den Arm und sagte belanglose Worte wie »Es wird alles
wieder gut!« und »Du brauchst keine Angst zu haben!«,
obwohl sie genau wusste, dass sie nur einen Aufschub
bekommen hatten. Wenn Manu nicht gesund wurde, musste sie
sterben.

Die Hannibal regte sich wie ein mächtiges Tier nach einem

langen Winterschlaf. Stöhnend und beinahe widerwillig
streckte sie sich in dem auffrischenden Wind. Plötzlich war
wieder Leben in dem Schiff und die Segel blähten sich unter
einem heftigen Windstoß, der aus dem Nichts zu kommen
schien und rauschend über das Meer fegte. Die spiegelglatte
Fläche bewegte sich und zerfiel in unruhige Wellen. »Na,
endlich!«, rief O’Reilly, von dem jegliche Müdigkeit
abgefallen war, nachdem Johnny Graham ihn aus dem Schlaf

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gerissen hatte. »Viel länger hätte ich die verdammte Flaute
auch nicht ausgehalten!« Er zog die Neunschwänzige über das
Hauptdeck und brüllte die Männer an: »In die Wanten mit
euch, ihr faulen Säcke! Setzt die Segel!«

Mit einem leichten Lächeln beobachtete Captain Whitcomb,

wie sich die Segel mit Wind füllten und die Hannibal auf Kurs
ging. Endlich war die Flaute vorbei! Wenn er mit vollen
Segeln fuhr, konnte er die amerikanische Küste in fünf bis
sechs Wochen erreichen. Seine Brigg war nicht so schnell wie
die wendigen Schoner mancher Sklavenhändler, doch wenn
der Nordostpassat seine normale Stärke erreichte, war das Ziel
nicht mehr fern. Jeder Tag bedeutete bares Geld. Er wollte die
Sklaven so schnell wie möglich loswerden und sich dann in
seinem kleinen Haus an der Küste erholen, bevor er zu einer
weiteren Tour aufbrach.

Der Sklavenhandel war ein schmutziges Geschäft und die

meisten anderen Schiffe machten nicht umsonst einen großen
Bogen um ihn. Der Gestank der Schwarzen war kaum zu
ertragen. Doch kein anderes Unternehmen brachte so viel
Geld. Noch zwei oder drei Fahrten und er konnte sich zur Ruhe
setzen.

Er wandte sich an den Schiffsarzt, der würgend an der Reling

stand und sich mit beiden Händen daran festhielt. »Was ist,
Doktor? Vertragen Sie den Wind nicht mehr?« Seine Lächeln
wurde spöttisch. »Die Flaute hat Ihnen wohl zugesetzt?«

»Es ist… der Gestank!«, antwortete Doktor Atkins heiser. Er

deutete auf die Luftluke, die zum Zwischendeck der Frauen
und Kinder führte. »Da unten ist es kaum auszuhalten! Wenn
die Neger nicht bald frische Luft bekommen, müssen wir alle
töten!«

»Das möchte Mister Graham wohl gern«, meinte Whitcomb.

»Ich denke nicht daran, die Ladung weiter zu dezimieren!
Holen Sie die Sklaven nach oben! Heute bleiben sie den

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ganzen Tag auf dem Hauptdeck! Pflegen Sie die Kranken
gesund, verstanden? Bis Charleston will ich keinen einzigen
Sklaven mehr verlieren! Das Geld der Versicherung deckt
nicht mal den halben Verlust!«

»Eine Extra-Ration Süßwasser würde helfen, Sir! Da unten

staut sich die Hitze wie in einem Backofen! Die Latrinen-
Eimer sind umgefallen! Nicht mal ein Neger überlebt in
diesem Dreck! Lassen Sie die Zwischendecks mit Salzwasser
durchspülen! Ich habe weiß Gott kein Mitleid mit diesen
Heiden, aber wenn wir nichts unternehmen, werden alle Neger
krank und es bleibt für uns keine Zeit mehr, sich vor einer
Krankheit zu schützen! Ich kann es nicht mehr verantworten,
auf die Zwischendecks zu steigen!«

»Sie wollen sich den Gestank wohl nicht mehr zumuten?«

Whitcomb nickte widerwillig. »Also meinetwegen. Geben Sie
ihnen das Wasser! Und drücken Sie ein paar Zitronen hinein!
Skorbut ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können! Auf
meiner vorigen Reise fielen zwanzig Negern die Zähne aus,
nur weil wir nicht genug Zitronen an Bord hatten! Einen
solchen Verlust kann ich mir nicht wieder leisten! Ich habe
Verpflichtungen, Doktor!«

»Aye, Sir«, erwiderte der Schiffsarzt erleichtert. Natürlich

hatte er nur an sich gedacht, als er den Kapitän um Hilfe
gebeten hatte. Die Schwarzen rührten ihn nicht, waren
»primitive Heiden«, die sowieso alle gleich aussahen, und der
Verdienst des Kapitäns war ihm genauso egal. Aber er kam
täglich mit den Sklaven in Berührung und hatte keine Lust, so
grausam wie sie zu enden.

Die Befehle des Kapitäns hallten über das Deck. Bensua hatte

sich einige Wörter gemerkt und ahnte, was sie bedeuteten.
Gleich würde sich die Luke öffnen und O’Reilly oder der
Bootsmann würden nach unten kommen und sie holen.
»Fürchte dich nicht«, beruhigte sie ihre zitternde Freundin, als

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die Luke geöffnet wurde, »sie bringen uns nach oben! Gleich
bekommst du etwas zu essen und zu trinken! Du wirst wieder
gesund, Manu!«

Der frische Wind, der durch den offenen Niedergang auf das

Zwischendeck fiel, weckte die Lebensgeister der erschöpften
Frauen und Kinder. Als O’Reilly die Peitsche schwang und sie
auf das Hauptdeck trieb verflog ihre Angst. Selbst die Frauen,
die getroffen wurden, schrien nicht. Im Vergleich zu dem
grausamen Schicksal, im Maul eines gierigen Raubfisches zu
enden, war ein Hieb mit der Neunschwänzigen das
geringfügigere Übel. Die Aussicht, nach mehr als einer Woche
wieder frische Luft zu schnappen, linderte selbst die größten
Schmerzen. Mit hoffnungsvollen Mienen kletterten die
Gefangenen auf das Hauptdeck, den Blick auf die Matrosen
beim Wasserfass gerichtet. Zu ihrer großen Überraschung
durften sie diesmal zwei Becher trinken. Bensua gab ihren
zweiten der Freundin und achtete nicht auf die Matrosen, die
sich über ihre Großzügigkeit lustig machten.

Als sie zur Reling gingen und ihr Blick auf das große

Feuerrohr fuhr, wurde sie von Angst gepackt. In wenigen
Augenblicken würden die Krieger an Deck kommen und sich
auf die Matrosen stürzen. Ausgerechnet jetzt, da die weißen
Männer begonnen hatten sie etwas besser zu behandeln. War
es klug, ein so großes Risiko einzugehen? Wenn der Aufstand
fehlschlug, würden sich die weißen Männer auf blutige Weise
rächen. Dann landeten noch mehr Sklaven bei den Haien. Sie
blickte nervös zum Niedergang, wusste nicht, wie sie den
Kriegern begegnen sollte.

»Ich muss… mich… setzen…«, drang Manu in ihre

Gedanken. Der Aufstieg zum Deck hatte ihr stark zugesetzt.
»Ich fühle mich… so leer…« Sie rutschte an der Reling zu
Boden und blieb erschöpft sitzen. Ihre Hand mit dem Hirsebrei
sank in den Schoß.

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Bensua beugte sich zu ihr hinunter. Sie schämte sich die

Freundin vernachlässigt zu haben. »Manu!«, redete sie auf das
Mädchen ein. »Du musst den Brei essen! Hast du gesehen? Sie
haben den Saft der gelben Früchte in das Wasser gedrückt! Er
wird dich gesund machen! Der Saft von frischen Früchten hilft,
das weiß ich von einer Frau, die sich mit Krankheiten
auskennt! Du musst essen und trinken, damit du wieder zu
Kräften kommst! In ein paar Tagen bist du wieder so stark wie
ich! Sieh doch, wie heftig der Wind jetzt wieder bläst!«

Manu blickte zu den Segeln empor und lächelte schwach.

Das weiße Leinentuch wölbte sich unter den Böen. Die hatte
mächtig Fahrt aufgenommen und rauschte pfeilschnell durch
das schäumende Wasser. Onyankopon Kwame hatte die bösen
Geister vertrieben und blies seinen heilenden Atem über das
Deck, drang sogar in die Zwischendecks und verscheuchte den
Gestank und die brütende Hitze. Das Höllentor, das sich vor
den Gefangenen aufgetan hatte, schloss sich langsam, und
unter den Frauen und Kindern machte sich neue Hoffnung
breit.

Die Krieger wussten nichts von der angeblichen

Sinneswandlung der weißen Männer. Ottobah und seine
Anhänger waren entschlossen so viele Feinde wie möglich zu
töten, sobald sie an Deck geklettert waren. Die Peitschenhiebe
des Bootsmanns, die wie Flammen auf ihren Rücken brannten,
bestärkten sie nur in ihrer Absicht. »Wir warten, bis alle oben
sind«, sagte Ottobah zu dem Asante, der ihn gestern noch
beleidigt hatte. Jetzt war er sein bester Verbündeter. Auch er
hatte erkannt, dass sie die Weißen nur gemeinsam besiegen
konnten. »Du übernimmst den Mann beim Wasserfass! Ich töte
den Mann mit der Peitsche!« Er drehte sich zu den anderen
Männern um und nickte ihnen aufmunternd zu. Gleich würde
sich ihr Schicksal entscheiden! Sie würden siegen oder als
Helden untergehen!

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Bensua sah, dass die Männer an Deck kamen, und rannte zu

ihnen. Es war ihr egal, dass die Matrosen dachten, sie würde
nach ihrem Liebsten rufen. »Ihr dürft es nicht tun!«, rief sie
Ottobah zu. Sie hoffte, dass keiner der Matrosen ihre Sprache
verstand. »Die weißen Männer geben uns mehr Wasser! Der
Doktor kümmert sich um die Kranken! Sie wollen, dass wir
gesund werden! Ihr dürft sie nicht umbringen! Tut es nicht,
Ottobah!«

Ottobah sah, dass Bensua die Wahrheit sprach. Der erste

Krieger hatte bereits einen Becher geleert und durfte ihn noch
einmal mit Wasser füllen. Obwohl der Hass auf die weißen
Männer ihm fast den Verstand raubte und seine Nerven zum
Zerreißen gespannt waren, sagte er: »Ihr hört, was sie erzählt
hat. Die Weißen haben sich besonnen! Es wäre dumm, sie jetzt
anzugreifen! Wir warten auf eine bessere Gelegenheit!« Er
blickte den Asante an. »Der Doktor kümmert sich um die
kranken Frauen und Kinder! Er gibt ihnen Wasser und
Hirsebrei! Wir dürfen ihnen nicht die Zukunft verbauen!«
Tatsächlich war der Schiffsarzt zu einer kranken Frau
gegangen und hatte ihr Wasser gereicht.

Der Asante wollte nicht glauben, dass die Weißen anders

dachten. Er hatte die ganze Nacht neben seinem sterbenden
Jungen gelegen und war voller Zorn. »Die Weißen ändern sich
nicht!«, erwiderte er. »Wir müssen sie töten, wenn es eine
Zukunft für unsere Völker geben soll! Gestern hast du ähnlich
gesprochen!«

»Ich weiß«, räumte Ottobah ein, »auch mein Hass hat sich

nicht gelegt! Aber ich denke an die Frauen und Kinder! Wenn
die Weißen für sie sorgen, macht es keinen Sinn, sie
anzugreifen!«

Der Asante war nicht in der Lage, seinen Zorn zu bezähmen.

Der Schmerz über den Verlust des Jungen war zu groß. Und er
schien während der Flaute kaum Kraft verloren zu haben. »Ich

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kann nicht anders!« So schnell, dass Ottobah nicht mehr
eingreifen konnte, stürzte er sich auf den Bootsmann. Mit
einem wütenden Aufschrei, der Weiße und Schwarze
gleichermaßen entsetzte, ging er dem Bootsmann an die
Gurgel. Der Krieger, der an ihn gekettet war, stürzte zu Boden
und schrie um Hilfe.

Der Zorn verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Mit dem

freien Arm nahm er den Bootsmann in den Schwitzkasten und
brach ihm das Genick. Er stieß einen triumphierenden
Siegesschrei aus, wollte sich auf den nächsten Weißen stürzen
und blieb an seinen eisernen Fesseln hängen. Ein Matrose
schlug ihm den Kolben seiner Muskete auf den Kopf. »Bleibt,
wo ihr seid, sonst müssen wir alle sterben!«, warnte Ottobah
die anderen Krieger. Er hielt einen jungen Mann fest, der auf
einen Weißen losgehen wollte. »Wir kämpfen, wenn die Götter
auf unserer Seite sind!«

Nur seine beherzte Warnung verhinderte ein Blutbad. »Nicht

schießen!«, drang die schneidende Stimme des Kapitäns durch
den Wind. Die Matrosen senkten die Waffen. »Mister
O’Reilly! Erteilen Sie den Männern eine Lektion! Sie sollen
wissen, dass es sich nicht lohnt, meine Mannschaft
anzugreifen! Lassen Sie die Nigger die Peitsche spüren und
dann sollen sie zusehen, wie wir den Mörder an der Rahe
aufknüpfen! Aber keine weiteren Toten, haben Sie mich
verstanden? Denken Sie an die Kosten!«

Bensua legte ihrer schwachen Freundin einen Arm um die

Schultern und verdeckte ihr mit einer Hand die Augen. Sie
sollte das blutige Schauspiel nicht sehen. Auch Bensua ekelte
davor, aber die Auspeitschung war besser als das Blutbad, das
sonst gedroht hätte. Sie war Ottobah dankbar. Er hatte seinen
Zorn unterdrückt und war dem Weg der Vernunft gefolgt. So
wie die Weißen, die anscheinend nicht wollten, dass noch
mehr Schwarze starben. Den Grund für diesen Sinneswandel

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konnte sie nur ahnen, denn sie merkte, dass sich die
Verachtung der Weißen nicht gelegt hatte.

Das bewies auch die Gemeinheit, mit der O’Reilly auf die

gefesselten Krieger losging. Der Zweite Maat war kein
besonderer Freund des Bootsmanns gewesen und doch schlug
er mit solcher Heftigkeit auf die Männer ein, dass sie schreiend
zusammenbrachen und sich stöhnend auf den Planken wälzten.
Einige jüngere Krieger übergaben sich. Ottobah blieb aufrecht
stehen und ließ die Peitschenschläge wie die Hiebe eines
Kindes an sich abprallen. Sein Blick war auf Bensua gerichtet,
die ihn unverwandt anblickte und ihn mit ihrer Zuneigung
stärkte.

»Das ist genug!«, befahl der Kapitän nach einer Weile.

»Schütten Sie einen Eimer Wasser über die Männer und lassen
Sie sie zusehen, wie wir den Mörder ins Jenseits schicken!« Er
rief die Namen einiger Matrosen und befahl ihnen, den
bewusstlosen Asante in die Wanten zu zerren und an einer
Rahe aufzuhängen.

Begeistert kamen die Männer dem Befehl nach. Sie hatten

genug vom »sanften Kurs« ihres Kapitäns und waren froh, ihre
Abscheu an einem der Sklaven auslassen zu können. Sie
warfen eine Schlinge über die unterste Rahe und legten sie
dem Krieger um den Hals. Als sie zuzogen, öffnete der Asante
die Augen.

»Fahr zur Hölle!«, rief ein Matrose und ließ ihn nach unten

fallen. Noch während der Asante gegen das Ersticken kämpfte
und die Frauen und Kinder an Deck sein Schicksal beweinten,
trennte der Matrose den Strick mit seinem Entermesser durch
und ließ den Krieger ins Meer stürzen. Die Haie kamen von
allen Seiten.

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18



Der Nordostpassat trieb die Hannibal über den Atlantik und an
den Westindischen Inseln vorbei. Nach der tödlichen Flaute
am Äquator blähten sich die Segel unter stetigen Böen, wich
die zermürbende Stille den vertrauten Geräuschen der »Middle
Passage« zwischen Afrika und Amerika. Die Stimmung der
Mannschaft besserte sich und selbst der Kapitän gestattete sich
ein zuversichtliches Lächeln, wenn er auf dem Achterdeck
stand und den frischen Wind spürte. Über dem Meer wölbte
sich ein blauer Himmel und Captain Whitcomb dankte dem
lieben Gott dafür, dass sie vor den gefürchteten Herbststürmen
verschont blieben.

Auch auf den Zwischendecks wuchs wieder die Zuversicht.

Die Matrosen reinigten die Quartiere täglich mit Salzwasser
und jeden Morgen, wenn die Sklaven an Deck kamen, verteilte
Doktor Atkins ein stärkendes Pulver und beschmierte die
offenen Wunden der Kranken mit Salbe. Die Schwarzen
verstanden nicht, weshalb die Weißen sie plötzlich besser
behandelten, hüteten sich aber sie durch unüberlegte
Handlungen herauszufordern. Sogar Ottobah verhielt sich
ruhig. Er hatte gesehen, wie schnell die Matrosen zu den
Waffen griffen und wie schlecht es dem aufsässigen Asante
ergangen war. Bensua hatte Recht. Es machte keinen Sinn die
Weißen während der Überfahrt anzugreifen. In dem fremden
Land, das sie bald sehen würden, bliebe genug Zeit, sich an
ihnen zu rächen. Auf dem Schiff gefährdete er das Leben der
Frauen und Kinder. »Haltet durch, meine Brüder!«, rief er
seinen Mitgefangenen zu. »Die Weißen behandeln uns jetzt
gut. Ich weiß nicht, ob sie uns nur in Sicherheit wiegen wollen

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und was sie vorhaben, wenn wir das fremde Land erreichen.
Aber es ist klüger, mit unserer Rache zu warten! Ihr kennt
mich! Ihr wisst, wie sehr ich darauf brenne, mich an den
weißen Männern zu rächen! Und ich verspreche euch, dieser
Tag wird kommen!«

Es fiel Ottobah schwer, sich ruhig zu verhalten. O’Reilly

setzte immer noch seine neunschwänzige Peitsche ein und
stieß zwei gefesselte Sklaven unsanft zu Boden, weil ihm ihre
Gesichter nicht gefielen. Einem Jungen, der zu laut weinte,
versetzte er eine schallende Ohrfeige, deren Spuren noch Tage
später zu sehen waren. »Stinkendes Pack!«, brüllte er, wenn er
den Kapitän nicht in der Nähe wusste. Aber das war eher die
Wut über die doppelte Wache, die er seit der Ermordung des
Bootsmanns schieben musste. Wenn er allein in seiner Koje
lag, dachte er an den Lohn, den er nach dem Verkauf der
Sklaven erhalten, und die Frauen, die er für das viele Geld
kaufen würde. Junge Weiber mit blauen Augen und blasser
Haut, die Champagner mit ihm trinken und ihm alle Wünsche
erfüllen würden.

Bensua setzte ihre Gebete fort. Sie dankte den Göttern für das

Ende der Windstille und die Behandlung durch den weißen
Arzt. Und sie sang alle heiligen Lieder, die sie kannte, um die
Gesundung ihrer Freundin zu beschleunigen. Manu ging es
jeden Morgen besser. Der fiebrige Glanz verschwand aus ihren
Augen und ihre Haut nahm wieder eine normale Farbe an. Die
langen Aufenthalte an Deck halfen ihr freier zu atmen. Doch
die Angst blieb. Jede Nacht, wenn sie die Augen schloss, sah
sie ihre toten Verwandten, erlebte sie die demütigende
Behandlung durch die weißen Männer, dachte sie daran, wie
die kranke Frau und ihr Kind im Meer versanken und von den
Haien zerrissen wurden.

»Ich verstehe die weißen Männer nicht«, meinte sie, als sie

an der Reling standen und über das endlose Meer blickten.

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»Zuerst werfen sie kranke Frauen und Kinder ins Meer und
jetzt geben sie uns zu essen und zu trinken und der Doktor
versorgt unsere Wunden mit Wundersalbe. Warum tun sie das,
Bensua?«

Die ältere Freundin erinnerte sich an die lauten Befehle des

Kapitäns und antwortete: »Der Mann mit dem dreieckigen Hut
hat es befohlen. Ich glaube, er will uns an andere Weiße
verkaufen. Wenn wir arbeiten sollen, müssen wir stark und
gesund sein. Er will möglichst viel Gold für uns bekommen.«
Sie blickte ihre Freundin an und bemerkte, dass die
Brandwunden kaum noch zu sehen waren. Nur das Brandmal
leuchtete auf ihrem nackten Rücken. »Du bist wieder gesund!
Das ist alles, was zählt! Du bist stark genug, um unserer neuen
Zukunft in die Augen zu sehen!«

»Ich kann wieder atmen, doch ich habe immer noch Angst«,

erwiderte Manu unsicher. »Die Weißen schlagen und
beschimpfen uns! Niemand weiß, was uns in dem fremden
Land erwartet!«

»Nein, das weiß keiner«, musste Bensua einräumen. »Aber

unsere Gebete sind stark genug um die bösen Geister zu
vertreiben! Onyankopon Kwame hat den Wind gebracht und
die weißen Männer gezwungen keine Gefangenen mehr zu
töten. Auf dieser Fahrt stirbt niemand mehr! Wir werden leben,
Manu!«

Ihr Weissagung ging nicht in Erfüllung. Eine Frau starb, als

sie ihr totes Kind gebar. Ein Mädchen träumte von den bösen
Geistern und stürzte sich über die Reling. Zwei Jungen wurden
von einem schweren Vorratsfass erschlagen, das sich aus
seiner Verankerung gelöst hatte und auf sie gerollt war. Aber
es gab keine gefährlichen Krankheiten mehr und der
Schiffsarzt kümmerte sich sogar um die blutigen Striemen der
Männer, die unter den Lederriemen der Peitsche gelitten
hatten. Einer schwangeren Frau half er bei der Geburt – ein

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sinnloses Unterfangen, weil das Baby bereits nach wenigen
Minuten starb.

Captain Whitcomb hielt sich von den Westindischen Inseln

fern um möglichst wenigen Schiffen zu begegnen. Es gab
immer noch Piraten, die Sklavenschiffe kaperten und die
Fracht auf eigene Rechnung verkauften, und weltfremde
Fanatiker, die sich gegen die Sklaverei wandten und nur darauf
warteten, die Gefangenen eines Schiffes zu befreien. Selbst mit
einer amerikanischen Flagge war man in diesen Gewässern
nicht sicher. Offiziell hatte auch die amerikanische Regierung
die Einfuhr neuer Sklaven aus Afrika verboten und unter dem
Einfluss mancher religiöser Gruppen war der Präsident
gezwungen regierungseigene Schiffe an der Küste
patrouillieren zu lassen, um mögliche Sklaventransporte
aufzuhalten. In den amerikanischen Häfen der Ostküste
wurden die Papiere streng überprüft. Nur Sklaven aus den
Vereinigten Staaten durften verschifft und verkauft werden.

Natürlich gab es Mittel und Wege um dieses Verbot zu

umgehen. Captain Alex Whitcomb verfügte über
ausgezeichnete Verbindungen zu politischen Gruppen in den
Südstaaten und hatte ein Abkommen mit dem Sohn eines
einflussreichen Beamten getroffen, der ihm entsprechende
Papiere ausstellte und dafür einen stattlichen Geldbetrag
erhielt. Ein Fischer, der hoch verschuldet und von dem
Beamten abhängig war, wartete vor der Küste von South
Carolina auf die Hannibal und überbrachte Whitcomb ein
unterschriebenes Formular, das er nach eigenem Gutdünken
ausfüllen konnte. Die Sklaven mussten vor der Küste in ihren
Quartieren bleiben, damit niemand sie sah, und bekamen nicht
mit, wie der Fischer mit seinem Schoner längsseits ging und
dem Kapitän den Umschlag übergab. Wortlos nahm Whitcomb
die Papiere entgegen. »Jagen Sie die Männer in die Wanten!«,
rief er O’Reilly zu. »Bringen Sie uns nach Charleston!«

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Nördlich der Westindischen Inseln war es kühler geworden

und die Sklaven froren auf den nackten Planken. Die meisten
trugen lediglich ein Tuch, das sie um ihre Lenden gewickelt
hatten, nur einige Frauen wie Bensua und Manu hatten ein
Kopftuch über ihre Haare gebunden. Die Erkenntnis, dass sie
jetzt den ganzen Tag unter Deck bleiben mussten, erschreckte
sie. Umso erstaunter waren sie, als die Matrosen neue
Kleidung verteilten, einfache Hosen für die Männer und
sackleinene Kleider für die Frauen, und der Doktor noch
einmal von einem zum anderen ging und eine genaue
Untersuchung vornahm. Die Sklaven wurden mit Hirsebrei und
Reis regelrecht gemästet und bekamen frisches Wasser zu
trinken, das der Fischer von der Küste mitgebracht hatte. Es
schmeckte angenehm und verlieh den Sklaven neuen
Lebensmut. »Wir haben unser Ziel erreicht«, erkannte Bensua
den Grund für diese Fürsorge. »Sie putzen uns für den Verkauf
heraus! Jetzt kann es nicht mehr lange dauern!«

Nur die aufgeregten Befehle des Zweiten Maats und das

leiser werdende Knattern der Segel verriet den Gefangenen,
dass sie sich dem fremden Hafen näherten. Durch die Luftluke
war der wolkenverhangene Himmel zu sehen. Die Hannibal
erreichte ruhiges Wasser und verlangsamte ihre Fahrt. Das
Geräusch der rasselnden Ankerkette ließ auch die Männer
zusammenzucken und trieb einige Sklaven zu Angstschreien,
weil sie glaubten das Schiff würde auseinander brechen. Durch
die Luke drangen fremde Geräusche nach unten, das Wiehern
von Pferden und das Rattern eines Wagens, der über
Kopfsteinpflaster polterte. Seltsame Laute, die keiner der
Schwarzen jemals gehört hatte.

Bensua unterdrückte ihre Angst und flüsterte ihrer Freundin

zu, dass jetzt für sie vielleicht bessere Tage kämen. Manu
drückte dankbar ihre Hand. Sie saßen aufrecht auf dem harten
Boden, warteten darauf, dass die Luke zum Niedergang

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aufgestoßen wurde und der Mann mit der Peitsche erschien.
Diesmal lächelte der Zweite Maat und er verzichtete sogar
darauf, die Neunschwänzige einzusetzen. Die Zufriedenheit,
endlich Charleston erreicht zu haben, und die Vorfreude auf
den Lohn und die sinnlichen Genüsse, die er sich im Hafen
leisten würde, ließen ihn kaum noch an die Sklaven denken.
»Raus mit euch!«, brüllte er. »Ihr habt lange genug auf der
faulen Haut gelegen! Jetzt wird gearbeitet, verdammt!«

Die Gefangenen verstanden kein Wort und kletterten einer

hinter dem anderen an Deck. Einige blieben erstaunt stehen,
als sie den geschäftigen Hafen und die vielen Häuser
erblickten, doch die Matrosen trieben sie unbarmherzig an. In
Hafenbooten, die zwischen den Segelschiffen verschwindend
klein aussahen, wurden sie an Land gebracht. Bensua und
Manu drückten sich, überwältigt vom Anblick der Stadt, die
aus einem endlosen Gewirr von Straßen und Gassen zu
bestehen schien, eng aneinander. Kirchtürme ragten wie
Speerspitzen aus dem Häusermeer. Kumase, die Hauptstadt
des Asante-Reiches, war größer, aber es gab nicht so viele
Menschen und Wagen wie in der Stadt der weißen Männer und
die Straßen waren breiter und großzügiger.

Über eine steinerne Treppe stiegen die Sklaven zum Hafen

empor. Dort wurden sie von einigen Aufsehern erwartet, treuen
Bediensteten des Beamten, der gemeinsame Sache mit Captain
Whitcomb machte. Sie trugen Pistolen und knallten mit ihren
Peitschen, ließen die Schwarzen auf diese Weise wissen, dass
ihre Leidenszeit erst begonnen hatte und die einigermaßen gute
Behandlung während des letzten Teils der Schiffsreise nur eine
seltene Ausnahme gewesen war. »Stellt euch dort drüben auf!
In Zweierreihen, verdammt!«, rief einer der Aufseher. Er
benutzte dieselbe Sprache wie die Männer auf dem Schiff und
unterstrich jedes seiner derben Worte mit einer eindringlichen
Geste.

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Bensua und ihre Freundin reihten sich ein, erschauderten

unter den Blicken einiger Hafenarbeiter, die sie mit
unverhohlener Gier anstarrten. Noch wussten sie nicht, dass
ein weißer Mann, der ein schwarzes Mädchen vergewaltigte,
straffrei ausging. Zögernd folgten sie den Aufsehern durch die
Stadt. Über die mit Steinen bepflasterten Straßen zogen sie an
bunten Häusern mit schmiedeeisernen Zäunen vorbei zu einem
schmucklosen Gebäude, das hinter einer der zahlreichen
Kirchen emporragte. Sie wurden durch ein gewölbtes Tor in
einen geräumigen Hof getrieben und von den Aufsehern in
willkürliche Gruppen zu je zwanzig oder dreißig Sklaven
eingeteilt. Bensua hielt ihre junge Freundin fest umschlungen
und schaffte es, sie bei sich zu behalten. Auf der anderen Seite
des Hofes stand Ottobah, von seinem Mitgefangenen getrennt,
aber immer noch gefesselt und so weit entfernt, dass Bensua
nicht in seine Augen sehen konnte. Sie erkannte ihn an seiner
stolzen Haltung und den geballten Fäusten.

Keiner der Sklaven wusste, aus welchem Grund sie in dem

Hof bleiben mussten. Das Tor war verschlossen worden und
die Fenster in den Wänden, die sie an vier Seiten bedrängten,
blieben dunkel und leer. Eine nervöse Stille breitete sich aus,
verfing sich wie unsichtbarer Nebel zwischen den
Hauswänden. Die meisten Sklaven wähnten sich in einem
Gefängnis, hatten sie doch schon an der Goldküste von
Schwarzen gehört, die in den Forts der Holländer und
Engländer eingesperrt gewesen waren. Dort musste es ähnlich
ausgesehen haben. In die Stille drangen das Weinen einiger
Kinder und die beruhigenden Stimmen ihrer Mütter, die ihre
Angst unterdrückten und versuchten, sie mit falschen Worten
zu trösten. »Hört mir zu!«, rief Ottobah so laut über den Hof,
dass es alle mitbekamen. »Sie haben uns nicht in dieses weit
entfernte Land gebracht, um uns zu töten. Vielleicht wird es
jetzt besser für uns!«

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Seine Worte hingen noch als Echo zwischen den Wänden, als

das Tor geöffnet wurde und Captain Alex Whitcomb erschien,
gefolgt von den Aufsehern und einer ganzen Reihe von
vornehm gekleideten Männern, die vor ein hölzernes Podium
drängten, das in der Mitte des Hofes aufgebaut war. Die
Aufseher trieben die erste Gruppe der Sklaven auf das Podium,
Männer und Frauen, und der Kapitän der Hannibal hielt eine
kurze Rede, deren Sinn die Sklaven erst errieten, als einer der
Aufseher, ein kräftiger Mann mit einem kantigen Schädel,
einen Schwarzen herbeizog. Er griff mit Mittelfinger und
Daumen in seinen Mund und zeigte den vornehmen Männern
die leuchtenden Zähne. »Sehen Sie ihn an!«, rief er wie ein
Marktschreier. »Ist er nicht ein prächtiger Bursche? Der bringt
Ihre Ernte ganz allein nach Hause, da gehe ich jede Wette ein,
und ich würde sagen, dafür kann man schon mal vierhundert
Dollar hinlegen, habe ich Recht?«

»Vierhundert Dollar? Sind Sie verrückt? Dafür bekomme ich

woanders zwei Männer!«, protestierte einer der vornehmen
Kunden.

»Dreihundertfünfzig«, rief ein anderer.
»Dreihundertsechzig!«, trieb jemand den Preis nach oben.
Bensua brauchte nicht lange, um das seltsame Gefeilsche der

weißen Männer zu durchschauen. Sie stritten um den Preis,
den sie für einen Sklaven bezahlen sollten, und wer am
meisten bot, bekam den Zuschlag. Sie zog ihre Freundin enger
zu sich heran. Mit großer Abscheu verfolgte sie, wie der
Krieger vom Podium gestoßen und von einem der Aufseher
zum Wagen des Käufers getrieben wurde. Die Pferdewagen
parkten direkt vor dem Tor.

»Und sehen Sie sich diesen kräftigen Kerl an«, tönte der

Auktionator, »ein harter Arbeiter, möchte ich wetten, wenn ich
mir seine schwieligen Hände ansehe. Wer bietet dreihundert
Dollar? Höre ich dreihundert Dollar? Ah, der Herr dort

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drüben!« Er blickte auf einen schlanken Mann mit Zylinder.
»Mister Stockton, wenn ich mich nicht irre! Dreihundert
Dollar! Dreihundertzehn? Höre ich dreihundertzehn? Treten
Sie näher und berühren Sie seine Muskeln! Mit diesen Armen
hat er wilde Löwen erwürgt!«

So ging es den ganzen Nachmittag. Ein Sklave nach dem

anderen wurde angepriesen, verkauft und zu einem der Wagen
gebracht. Und als es dunkel wurde, flammten Laternen und
Fackeln auf und das unwürdige Schauspiel ging weiter. Mit
jedem Mann und jeder Frau, die wie Schlachtvieh auf das
Podium gescheucht wurden, wurde Bensua unruhiger. Sie
erkannte, wie groß die Gefahr war, dass sie von Manu und
Ottobah getrennt wurde und beide niemals wieder sah. Nur bei
kleinen Kindern machte Captain Whitcomb eine Ausnahme.
Durch eine großzügige Geste gab er dem Auktionator zu
verstehen, dass er nur einen geringen Aufpreis für einen Sohn
oder eine Tochter verlangte, sofern sie noch Kinder und
bedingt arbeitsfähig waren.

Ehepaare durften zusammenbleiben, wenn der Käufer

einverstanden war, aber es gab auch Härtefälle, die Mann und
Frau für ewige Zeiten auseinander rissen. Bensua zersprang
beinahe das Herz, als eine junge Fante verzweifelt den Namen
ihres Mannes rief, der von zwei Aufsehern nach draußen
gebracht wurde und wütend an seinen Ketten riss. Die Frau
warf sich zu Boden, schrie und brach heulend zusammen, als
er nach draußen verschwand. »Bleiben wir zusammen?«,
fragte Manu leise. Bensua wusste nicht, was sie antworten
sollte. Sie war selbst den Tränen nahe. Nicht nur weil sie
Angst hatte, Manu zu verlieren. Aber was war mit Ottobah?

Ein Aufseher stieß sie auf das Podium. Sie zog ihre Freundin

mit hinauf und blieb zitternd vor dem Auktionator stehen. »Na,
wen haben wir denn da?«, machte sich der weiße Mann über
sie lustig. »Ihr beiden seid wohl unzertrennlich?« Er wandte

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sich lachend an die Pflanzer. »Dreihundert Dollar für diese
stattliche Negerin!«, rief er, nachdem er sich bei Captain
Whitcomb über den Preis informiert hatte. »Und nur fünfzig
Dollar für dieses hübsche Mädchen, das Ihnen unschätzbare
Dienste im Haushalt leisten wird! Schlagen Sie ein, meine
Herren! So billig kommen Sie nirgendwo an kräftige Sklaven!
Entscheiden Sie sich! Wer bietet mehr als dreihundertfünfzig
Dollar für diese Negerinnen?«

»Dreihundertsechzig«, rief Robert F. Stockton, einer der

reichsten Pflanzer am Ashley River. Und als ein anderer
Plantagenbesitzer um zehn Dollar erhöhte, hob er die rechte
Hand und sagte laut: »Vierhundert! Und das ist mein letztes
Gebot, werter Herr!«

Bensua und Manu erkannten, dass sie zusammenbleiben

würden, und stiegen erleichtert vom Podium. Es machte ihnen
nichts aus, dass der Aufseher seine Peitsche einsetzte, um sie
möglichst schnell in den Wagen zu verfrachten. Doch als
Bensua sah, wie der Pflanzer ihnen folgte, wurde sie von Panik
erfasst. »Ottobah!«, schrie sie mit verzerrtem Gesicht. »Ich
will bei dir bleiben, Ottobah!« Sie riss sich los und rannte in
einen schmerzhaften Peitschenhieb des Aufsehers, der sie zum
Wagen trieb. Weinend stürzte sie zu Boden. Der Mann packte
sie am Arm und stieß sie durch den Torbogen. »Auf den
Wagen, schwarze Hexe!«

Während sie zu den anderen Sklaven auf den Pritschenwagen

kletterte, hörte sie Ottobah rufen: »Ich vergesse dich nicht,
Bensua! Eines Tages werden wir frei sein! Wir werden uns
finden und dann beginnen wir ein neues Leben!«

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AMERIKA


Die Sklaverei war die Hölle!

Es ist schlimm, anderen Menschen zu gehören,

die deine Seele und deinen Körper besitzen.

Deilia Garlic, ehemalige Sklavin

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19



»Magnolia Hall« stand oberhalb des Flusses, ein
eindrucksvolles Haus aus roten Backsteinen, umgeben von
einem blühenden Garten und gepflegten Rasenflächen. Eine
breite Eichenallee führte zum prachtvollen Eingangsportal, das
von vier weißen Säulen getragen wurde und an einen
griechischen Tempel erinnerte. Eine niedrige Ziegelmauer
umfasste die kunstvoll angelegten Gartenanlagen und den
Brunnen mit der Marmorstatue eines kindlichen Engels. Der
rückwärtige Eingang führte durch einen Rosengarten zum
Ashley River hinunter, an dessen Ufer sich auch das
Küchenhaus und die Ställe und Schuppen befanden.

Robert Frederick Stockton, ein englischer Arzt, war nach

dem Unabhängigkeitskrieg mit seinen Eltern aus London nach
South Carolina gekommen. Er betrieb eine Praxis in Savannah
und hatte nach dem überraschenden Tod seiner Eltern, sie
waren an Malaria gestorben, die Plantage übernommen. Die
langen Sommer verbrachte er mit seiner Familie in einem
herrschaftlichen Haus in Charleston. Elizabeth, seine Frau, war
zehn Jahre jünger als er und stammte aus Boston. Edward, sein
zwanzigjähriger Sohn, hatte sein Jurastudium abgebrochen und
begnügte sich damit, seinen Vater auf »Magnolia Hall« zu
vertreten und sich um die Rennpferde zu kümmern, die auf
einem Gestüt außerhalb der Plantage untergebracht waren. In
der High Society von Charleston munkelte man, dass er dem
Glücksspiel verfallen war. Auch seine Vorliebe für Sklavinnen
und leichte Mädchen trug nicht dazu bei, seinen Ruf in der
Gesellschaft zu festigen.

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Die Sklavenhäuser, fünf schmucklose Giebelhäuser aus

verwitterten Ziegelsteinen, standen abseits der Eichenallee im
Schatten einiger Zypressen. Der Sklave, der den Pferdewagen
lenkte, hielt vor einem der Häuser und der Aufseher, der
mitgefahren war, scheuchte die gekauften Schwarzen von der
Pritsche: Bensua und Manu und zwei erwachsene Männer. Er
hieß Jonathan Kelly, ein robuster Weißer mit einem
wettergegerbten Gesicht, einer breiten Nase und zahlreichen
Narben, die den ehemaligen Straßenkämpfer verrieten. Er war
in Manchester aufgewachsen, der Bergwerksstadt im alten
England, und war auf ein Auswandererschiff geflohen, als er
wegen eines Diebstahls ins Gefängnis gebracht werden sollte.
In New York hatte er sich als Straßenkämpfer über Wasser
gehalten, bis er Robert F. Stockton begegnet war und aus
kühler Berechnung einen Bettler bewusstlos geschlagen hatte,
der dem Pflanzer zu nahe gekommen war. Die Schlagkraft
hatte den Gentleman aus dem Süden beeindruckt und das
Angebot, auf das Kelly gehofft hatte, war sofort gekommen. Er
war nach »Magnolia Hall« gegangen und hatte einen
heißblütigen Deutschen als Oberaufseher abgelöst.

Bensua brauchte nur in seine unnachgiebigen Augen zu sehen

um zu wissen, was sie auf der Plantage erwartete. Der Mann,
der sich Kelly nannte, war aus demselben Holz wie O’Reilly
und Johnny Graham geschnitzt und der Lederriemen seiner
schwarzen Peitsche hinterließ genauso schmerzhafte Striemen
wie die Neunschwänzige der Männer auf dem Schiff. »Steht
gefälligst gerade!«, fuhr er die neuen Sklaven an. Er zog die
Peitsche über den Boden und lachte gehässig, als einer der
Männer vor Schreck das Gleichgewicht verlor und zu Boden
fiel. Er gehörte zu den Kriegern, die auf der Hannibal am
meisten geschlagen worden waren. »Noch einmal und du
verbringst die Nacht am Pfahl!«, herrschte Kelly ihn an und
deutete auf den mächtigen Eichenstamm, der vor ihnen aus

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dem Boden ragte. Ein eiserner Ring hing in Kopfhöhe an dem
Holz.

Die Kutsche des Pflanzers hielt auf der Eichenallee und

Robert F. Stockton und seine Frau kamen in der Dämmerung
über einen ausgetretenen Pfad zu den Sklavenhäusern.

Kelly schlug mit der Peitsche zu und trieb den gefallenen

Sklaven vom Boden hoch. »Da kommen eure neuen Herren!
Master Robert F. Stockton und Mistress Elizabeth Stockton!
Der Master und die Mistress«, betonte er die Anreden, die alle
Sklaven auf der Plantage benutzen mussten. »Verbeugt euch
gefälligst, ihr Taugenichtse!« Er unterstrich seine Worte mit
einem Peitschenhieb, der die Schwarzen in die Knie gehen
ließ. »Ich stecke sie zu Henry und Sarah in die Hütte«, sagte er
zu dem Pflanzer. »Dort lebt sonst niemand!«

Robert F. Stockton war selten auf der Plantage, weil er seine

Praxis in Charleston nicht aufgeben wollte, und wartete das
Einverständnis seiner Frau ab, bevor er erwiderte: »In
Ordnung, Mister Kelly. Henry soll ihnen beibringen, was sie
zu tun haben.«

»Das Mädchen hätte ich gern im Haus«, meinte Elizabeth

Stockton zu ihrem Mann. Sie hatte ihr blasses Gesicht stark
gepudert und man sah ihr die vierzig Jahre nur an, wenn man
direkt vor ihr stand. Ihr langer Mantel und der breitkrempige
Hut entsprachen der neusten Mode. Ihre Stimme wirkte
energischer, als man es ihr auf den ersten Blick zugemutet
hätte. »Ich brauche ein Dienstmädchen, wenn ich den Haushalt
schaffen soll. Wir wollen doch dieses Jahr eine große
Neujahrsparty geben!«

Ihr Mann legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Ich

weiß, meine Liebe! Und du meinst, dass dieses Mädchen das
richtige ist? Sie ist sehr dünn und spricht noch kein Englisch.«

»Die paar Wörter, die sie für den Haushalt braucht, bringt

Harriet ihr bei«, meinte die Mistress. Sie lächelte fröhlich.

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»Harriet ist eine Perle, weißt du das? Ohne sie würde ich die
Arbeit niemals schaffen! Sie hilft mir sogar im Garten, ist das
nicht wunderbar?«

»Natürlich, meine Liebe«, beendete Stockton die

Unterhaltung, »aber jetzt müssen wir wirklich gehen!« Er
wandte sich an den Aufseher. »Also gut, Mister Kelly! Bringen
Sie die Kleine ins Haus! Sie kann heute Nacht bei Harriet
schlafen!« Harriet war das Hausmädchen, eine fällige Frau mit
fröhlichem Gesicht, die schon seit acht Jahren auf »Magnolia
Hall« lebte. Robert F. Stockton hatte sie von einem
befreundeten Pflanzer an der Küste von Virginia gekauft. »Der
beste Kauf deines Lebens«, wie seine Frau immer betonte.
»Sie ist die großartigste Köchin, die ich jemals hatte!«

Bensua wehrte sich mit Händen und Füßen, als Kelly nach

ihrer Freundin griff. Woher sollte sie auch wissen, dass Manu
nur ein paar hundert Schritte von ihr entfernt im Haus arbeiten
würde? Sie sah nur, dass der Aufseher sie von ihrer Freundin
trennen wollte, und ging mit erhobenen Händen auf ihn los. Sie
schrie vor lauter Wut, biss und kratzte, bis er sie mit seiner
Faust niederschlug und sie benommen auf die Erde fiel. Wie
aus weiter Ferne hörte sie das Schluchzen und die
verzweifelten Hilferufe der Freundin. Sie verbarg ihr Gesicht
in den Händen. »Manu!«, rief sie. »Du darfst nicht gehen,
Manu!«

Eine starke Hand berührte sie an der Schulter. »Nicht weinen,

Missy! Sie bringen deine Freundin nicht weg! Im Gegenteil!
Sie wird im Haus arbeiten! Das ist eine große Ehre, Missy! Sie
bekommt bessere Kleider und darf in der Küche essen!« Der
Schwarze, ein stämmiger Bursche mit einem bulligen Schädel
und einem silbernen Ohrring in seinem rechten Ohr, stammte
von der Elfenbeinküste und benutzte ein Kauderwelsch aus
Englisch und mehreren Dialekten. Er unterstrich seine Worte
mit übertriebenen Gesten, um sich noch besser verständlich zu

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machen. »Komm ins Haus, Missy! Wir haben noch Haferbrei
übrig!«

»Wer bist du?«, fragte Bensua. Sie rieb die Tränen aus ihren

Augen und blinzelte in das Licht der Öllampe, die der
Schwarze hielt. Er trug einen Zylinder mit einer Eulenfeder.
Später erfuhr sie, dass er ihn nur zum Schlafen abnahm. »Ich
bin Bensua.«

»Und ich bin Henry«, sagte der Schwarze. Er half der jungen

Frau auf und führte sie ins Haus. »Du wohnst jetzt bei uns. Das
ist Sarah, meine Frau.« Er stellte sie der Frau an der offenen
Feuerstelle vor, einer kräftigen Schwarzen mit wachen Augen.
Sie trug ein einfaches Kleid aus Sackleinen und hatte ein
blaues Kopftuch über ihre Haare gebunden. »Hast du noch
Haferbrei übrig, Sarah? Unsere Neuen haben sicher Hunger!«

»Schon dabei«, antwortet die Frau in ihrer Sprache. »Die

beiden Männer sind sehr stark! Sie werden uns bei der Arbeit
gut helfen können!«

Bensua setzte sich zu den beiden anderen Neuankömmlingen,

beide Fante von der Goldküste, und nahm sich eine Hand voll
von dem Haferbrei, den Sarah auf den Tisch stellte. Erst jetzt
merkte sie, wie groß ihr Hunger war. Sie aß und trank und zum
ersten Mal seit langer Zeit wurde sie richtig satt.

»Du schläfst da drüben«, sagte Henry. Er zeigte ihr das

notdürftige Lager, das Sarah unter einem der kleinen Fenster
ausgebreitet hatte. Ein einfacher Strohsack und eine
zerschlissene Wolldecke, mehr als auf der langen Überfahrt.
»Wir sind jetzt deine Verwandten, Bensua! Willst du deinen
Namen behalten?«

Sie blickte ihn fragend an.
»Die meisten Feldarbeiter nehmen einen neuen Namen an,

wenn sie getauft sind«, erklärte er. Er vermied das Wort
»Sklaven«. »Einen amerikanischen Namen. So wie Henry oder

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Sarah. Den können sich der Massah und die Mistress besser
merken.«

»Ich behalte meinen Namen«, erwiderte Bensua. »Und wenn

ich getauft werde, tue ich nur so, als würde ich ihren Glauben
annehmen!« Sie hatte von den heiligen Männern der Weißen
gehört und dachte nicht daran, ihrem Gott zu dienen. Er hatte
den weißen Männern geholfen die Schwarzen zu versklaven,
sonst hätten sie bestimmt keine Häuser mit Kreuzen an der
Küste gebaut.

Bereits am nächsten Tag kam ein Mann in einer schwarzen

Kutte und tauchte ihren Kopf in den kalten Fluss. Er legte ihr
eine Hand auf den Kopf und sprach Worte, die sie nicht
verstand. Von den Fante-Kriegern, die mit ihr gekommen
waren, erfuhr sie, dass sie jetzt eine Christin war und vor dem
Abbild des weißen Gottes niederknien musste. »Niemals werde
ich unsere Götter vergessen«, gelobte sie heimlich. »Sie mögen
jetzt schweigen, aber der Tag wird kommen, an dem sie uns
befreien und in eine neue Zukunft führen werden!« Sie betete
jeden Abend zu Onyankopon Kwame und beschwor ihn, seine
schwarzen Kinder nicht zu vergessen. Und sie bat ihn aus
tiefstem Herzen ihren geliebten Ottobah zu beschützen.
»Ottobah darf nichts geschehen!«, flehte sie verzweifelt. »Ich
will gerne sterben, wenn es eine Zukunft für ihn gibt, aber
noch lieber möchte ich ihn zurückhaben!«

Die ersten Tage auf »Magnolia Hall« ließen Bensua kaum

Zeit zum Nachdenken. Sie wurden mit den ersten
Sonnenstrahlen durch ein Hornsignal des Aufsehers geweckt,
arbeiteten bis Sonnenuntergang und durften nur in der Arbeit
innehalten, wenn der Aufseher es gestattete. Kelly prügelte
gern, fand großen Gefallen daran, seine schwarze Peitsche zu
schwingen und die Leute anzutreiben. Er arbeitete nicht als
Aufseher um viel Geld zu verdienen – er wollte Macht ausüben
und schwächeren Menschen seinen Willen aufzwingen. Er

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machte keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen,
ließ beide dieselbe Arbeit verrichten und bestrafte sie gleich
brutal. Einer Frau, die einen Eimer mit Abfällen umgestoßen
hatte, schlug er so hart ins Gesicht, dass sie blutend liegen
blieb und längere Zeit benommen war.

Bensua bekam ihre erste Strafe, als sie den Stall ausmistete

und Elizabeth Stockton sie dabei erwischte, wie sie sich auf die
Mistgabel stützte und ausruhte. Die Lady saß im Damensattel
eines tänzelndes Reitpferdes, die Gerte in der linken Hand, und
blickte hochmütig auf sie herab: »Was fällt dir ein? Hat man
dir nicht gesagt, dass du arbeiten sollst?« Sie schlug mit der
Gerte nach ihr und verfehlte sie, als ihre Stute unruhig nach
vorn sprang. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und wurde
wütend. »Kelly! Kommen Sie sofort her!«, rief sie schrill.
»Kelly! Wo stecken Sie denn? Diese Sklavin macht sich lustig
über mich!«

Der Aufseher war am Fluss gewesen, um die Männer beim

Errichten eines neuen Damms zu beaufsichtigen, und kam
hastig über einen Hügel gerannt. »Sie haben mich gerufen,
Mistress?«

»Geben Sie diesem ungezogenen Mädchen einen Hieb auf

die Beine!«, verlangte sie aufgebracht. »Sie hat gefaulenzt und
dann hat sie mich ausgelacht, weil… weil… nun machen Sie
schon!«

Kelly holte aus und schlug der Asante zwischen die Beine.

Die Lederschnur ringelte sich um ihren rechten Oberschenkel
und hinterließ einen blutigen Striemen. Bensua schrie auf und
sank zu Boden. Ihre Haut war aufgeplatzt und Blut rann an
ihrem Bein hinab. Die Wunde brannte, als ob man Salz
hineingestreut hätte.

»Das wird dich lehren, keine Pausen mehr einzulegen und

dich nicht mehr über deine Herrin lustig zu machen«, sagte
Elizabeth Stockton streng. Für sie war die Prügelstrafe ein

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legitimes Mittel, auch junge Sklavinnen zur Ordnung zu rufen.
Als Frau eines reichen Pflanzers und angesehenen Arztes
konnte sie es nicht zulassen, dass man ihr auf der Nase
herumtanzte. So drückte sie sich aus, wenn sie mit den anderen
Damen der oberen Schicht über dieses Thema sprach. »Wenn
ich dich noch einmal erwische, lasse ich dich eine Nacht im
Schuppen einsperren!« Ihr Pferd hatte sich inzwischen
beruhigt und sie trabte ohne ein weiteres Wort davon.

Bensua spürte die Wunde noch Tage später. Jeden Abend

schmierte Sarah eine fettige Salbe darauf, die sie von Harriet
bekommen hatte, aber tagsüber platzte die Kruste wieder auf
und die Wunde scheuerte bei jeder Bewegung. Erst nach einer
Woche ließ der Schmerz nach. Kelly war ein starker Mann,
viel kräftiger als die Aufseher auf dem langen Marsch zur
Küste oder auf dem Schiff, und seine Schläge waren
schmerzhafter. Sie nahm sich fest vor, ihm keinen Grund mehr
zu geben sie zu züchtigen.

Mit unbewegter Miene verrichtete Bensua ihre Arbeit. Der

Anblick der schwarzen Peitsche war eine ständige Drohung,
verfolgte sie bis in den Schlaf und in ihre Träume. Die meisten
Schwarzen waren unter dieser Peitsche zerbrochen, wurden zu
willenlosen Arbeitern, die schon zufrieden waren, wenn sie
einen Tag ohne Züchtigung überstanden und von dem
Aufseher nicht angebrüllt wurden. Sie schleppten sich von
einem Tag zum anderen, lebten wie in einem Gefängnis, das an
der Mauer, die »Magnolia Hall« an allen Seiten umgab, zu
Ende war. Dahinter lag die verbotene Welt der Weißen, in der
es keinen Platz für die Schwarzen gab.

Nur ihrem unerschütterlichen Glauben an die Götter ihres

Volkes und der Hoffnung auf ein Wiedersehen hatte Bensua es
zu verdanken, dass sie nicht aufgab. Sie war stärker als die
beiden Fante-Krieger, die mit ihr gekommen waren und schon
nach wenigen Tagen an den Pfahl gebunden wurden. Kelly

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peitschte sie gnadenlos aus und ließ sie die ganze Nacht an
dem eisernen Ring hängen. Sie wurden zu willenlosen
Befehlsempfängern, verrichteten ihre Arbeit wie Ochsen, die
man vor einen Wagen gespannt hatte. »Nur wenn ihr euch den
Weißen fügt, habt ihr eine Chance!«, erklärte Henry. Er hatte
schon vor vielen Jahren aufgegeben und sich eine eigene Welt
geschaffen. Er war zufrieden, solange seine geliebte Sarah bei
ihm bleiben durfte.

Die Arbeit war für Bensua ein willkommenes Mittel, ihre

Ängste und Sehnsüchte zu verdrängen. Abends halfen ihr die
Gebete und Lieder ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu
bewahren. Henry beobachtete mit wachsender Sorge, wie sie in
der Dunkelheit die Hütte verließ und irgendwo zwischen den
Bäumen zu den Göttern sprach. Aber er sagte nichts. Sie
braucht Zeit, um sich an ihre neue Umgebung zu gewöhnen,
dachte er. Auch er hatte erst nach einigen Monaten seine
innere Ruhe gefunden. Die Götter hatten entschieden, dass die
Schwarzen den Weißen dienten, aus welchem Grund auch
immer, und ihm blieb nichts anderes übrig, als diese
Entscheidung zu erdulden. Als Vorarbeiter hatte er sich
gewisse Vorrechte verdient, bessere Kleidung, mehr
Lebensmittel, und ein gütiges Schicksal hatte ihm gestattet mit
seiner Frau in einer Hütte zu leben. Bei seinem Volk hatte er
ein schlechteres Leben geführt. Die Gefahr, von seinen
Feinden versklavt oder umgebracht zu werden, war wesentlich
größer gewesen. Er würde auf dieser Plantage bis zum Ende
seines Lebens bleiben.

Jeden Abend, bevor sie die Lampen löschten, brachte Henry

seinen neuen Mitbewohnern englische Wörter und Sätze bei.
Die Sprache der Weißen war kompliziert, weil sie eine ganz
andere Aussprache verlangte, und nur weil die älteren Sklaven
einige Wörter verändert hatten, kamen Bensua und die beiden
Fante schnell voran. »Die Weißen machen sich über unsere

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Aussprache lustig«, sagte Henry. »Sie nennen es ›Nigger-
Englisch‹, aber sie verstehen uns und das ist das Wichtigste.
Also nochmal: Vielen Dank, Master!« heißt »Thank you very
much, Master!« Er sprach das »Thank you« wie »Dank you«
aus und lachte dabei.

Der Winter verging und das Frühjahr meldete sich mit den

ersten heißen Tagen. Dies war die Zeit, die Baumwolle zu
pflanzen, und alle Sklaven arbeiteten von morgens bis abends
auf den Feldern. Von dem Ertrag, den die Baumwolle
einbrachte, hing das Wohl von »Magnolia Hall« ab. Bis zum
Waldrand jenseits der Hügel erstreckten sich die Felder und
Bensua dachte mit Schrecken daran, wie anstrengend die Ernte
im späten Sommer sein werde, wenn die Hitze wie eine
schwere Last auf das Land drücke. Die Sklaven, die bereits seit
einigen Jahren auf »Magnolia Hall« arbeiteten, wussten von
Tagen zu erzählen, die den Lebenswillen so manches
Schwarzen gebrochen hatten. Schon beim Säen schmerzte der
Rücken und Bensua konnte sich gut vorstellen, wie es sein
würde, wenn sie die Früchte der seltsamen Pflanze ernteten.
Henry erzählte, dass die Fasern der Baumwolle aus den
Pflanzen wucherten und zu Kleidungsstücken und Decken
verarbeitet wurden. Er griff an den Kragen seiner braunen
Weste. »Dies ist Baumwolle, mein Kind! Dein Kleid ist aus
Baumwolle! Die Weißen verdienen viel Geld mit der
Baumwolle!«

Von Manu hatte sie seit ihrer Ankunft nichts mehr gehört,

aber sie hatte ihre Freundin mehrere Male aus der Ferne
gesehen. Meistens war sie bei Harriet gewesen, der dicken
Haushälterin, die sie wie eine Glucke zu bemuttern schien.
Manu trug ein sauberes Kleid und lachte, als sie durch den
Garten ging. Bensua hütete sich sie zu rufen. Das hätte
unweigerlich einen Peitschenhieb zur Folge gehabt. Es genügte
ihr, die Freundin in guten Händen zu wissen. Was Henry

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gesagt hatte, schien wahr zu sein. Sie hatte es besser getroffen
als die anderen Sklaven und in Harriet eine neue Mutter
gefunden. »Ob ich jemals wieder mit ihr sprechen kann?«,
flüsterte sie auf dem Weg zu den Feldern.

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20



Der Sommer begann mit einem mörderischen Gewitter, das
wie ein Fluch der Götter über »Magnolia Hall« tobte und den
Ashley River über die Ufer treten ließ. Ein Damm brach und
das Wasser stieg bis zu der Anhöhe, die das Kutschenhaus und
die Schuppen schützten. Grelle Blitze schossen vom dunklen
Himmel. Von heftigem Donnerschlag begleitet stürzte eine der
moosbehangenen Eichen in den Uferschlamm. Die Pferde
wieherten und schlugen mit den Hinterhufen gegen die
Stallwand, im Zwinger bellten die Hunde und im Herrenhaus
schrie Lady Stockton nach Harriet, sie möge die Fenster
schließen und dafür sorgen, dass kein Wasser über die
Schwelle dringe. Das Alleinsein hatte sie nervös gemacht und
sie tobte beim geringsten Anlass, machte die Sklaven für
jegliches Unheil verantwortlich, das ihr oder der Plantage
widerfuhr. Harriet brachte ihr heißen Kräutertee und zuckte
nicht einmal, als die Mistress sie als »schwarze Hexe«
beschimpfte. Sie war die Launen ihrer Herrin gewöhnt. Als ein
Donnerschlag an den Fensterläden rüttelte, klammerte sich
Elizabeth Stockton ängstlich an die Haushälterin und flehte sie
an, bis zum Ende des Unwetters bei ihr zu verweilen.

An diesem Tag durften sogar die Sklaven in ihren Häusern

bleiben. Doch sie waren die Regenzeit aus dem Urwald
gewohnt und hatten keine Angst vor dem Unwetter: Sie
zuckten nur zusammen, wenn die Blitze vom Himmel
flackerten und der Donner ein Geräusch verursachte, das sie an
eine durchgehende Elefantenherde erinnerte. Bensua stand am
Fenster und starrte in den strömenden Regen hinaus. Sie dachte
an den Tag, an dem sie der angeblichen Hexe begegnet war.

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Die Alte hatte eine Ziege getötet und sich mit dem frischen
Blut beschmiert. Sie hatte vor dem Unglück gewarnt, das über
Kumase kommen werde. Sie hatte gewusst, was die Asante
den Asante und die weißen Männer den Schwarzen antun
würden. Das Blut, das sie gesehen hatte, war aus den Adern
ihres Volkes geflossen.

Damals war Bensua allein gewesen und ihre Angst hatte dem

ganzen Volk gegolten. Jetzt war sie persönlich betroffen.
Ottobah war ihre Zukunft und ihr Leben bekam nur einen Sinn,
wenn sie mit ihm vereint war. In Kumase war ihre Zukunft
vorgezeichnet gewesen, sie hätte niemals davon erfahren, dass
der Asantehene kleine Dörfer von seinen Schwertmännern
überfallen ließ und Angehörige seines eigenen Volkes an den
holländischen Sklavenhändler verkaufte. Sie hätte den Krieger
aus dem königlichen Viertel geheiratet und es wäre ihr kein
Leid geschehen. Doch selbst jetzt hätte sie die Sicherheit einer
ungewollten Ehe nicht gegen ihre Leidenszeit auf »Magnolia
Hall« eingetauscht. Solange die Sterne am Himmel leuchteten,
gab es noch Hoffnung. Immer wenn sie unter der alten Eiche
saß und betete, blickte sie zu den Sternen empor und stellte
sich vor, wie grenzenlos die Freiheit in der Unendlichkeit des
dunklen Himmels sein musste. Bei den Göttern gab es die
Freiheit, von der die Menschen nur träumten.

Dem Regen folgte eine beinahe unerträgliche Schwüle, die

tief aus der Erde zu kommen schien und feucht und schwer
über der Plantage hing. Moskitos schwirrten über den
Wasserlachen und am Flussufer. Der Wind war kaum noch zu
spüren. Das Spanische Moos, das in silbernen Fäden von den
Eichen hing, erstarrte und glänzte in der grellen Sonne. Die
Felder dampften, hüllten die arbeitenden Sklaven in einen
gläsernen Nebel, der sich schwer auf ihre Lungen legte und
ihnen jede Bewegung zur Qual machte. Der Hochsommer hatte
begonnen, die Jahreszeit, die man im Süden am meisten

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fürchtete, denn die Natur machte keinen Unterschied zwischen
Weiß und Schwarz. Selbst die Tiere kapitulierten vor der
Hitze, die Pferde in den Ställen, die Hunde, die träge im
Schatten lagen und die Nacht herbeisehnten.

Der Master und die Mistress flohen in ihr Sommerhaus nach

Charleston, wo die Gefahr, sich an gefährlichen Krankheiten
wie der Malaria anzustecken, geringer war. Die Verantwortung
über »Magnolia Hall« übertrugen sie ihrem Sohn, der
widerwillig gehorchte, weil er seine finanziellen Zuwendungen
nicht verlieren wollte. Edward Stockton wohnte während der
Woche im Herrenhaus, terrorisierte Harriet mit seinen
ausgefallenen Wünschen und fluchte laut, wenn er eine
Entscheidung treffen musste oder von Kelly und seinen
Helfern auf die Felder gerufen wurde. Wie ein ungelenker
Städter saß er im Sattel seiner weißen Stute, die Zügel in der
linken und die Reitgerte in der rechten Hand. Er war ständig
schlecht gelaunt, schimpfte, tobte und ließ seinen Unmut über
die ungeliebte Arbeit an den Sklaven aus. Jeden Freitag
verschwand er nach Savannah, wo er seinen Eltern nicht über
den Weg laufen konnte, und vergnügte sich in den Spielsalons
und Bordellen. Montags kehrte er verkatert auf »Magnolia
Hall« zurück, den Puder eines leichten Mädchens in den
Kleidern.

Bensua bekam den jungen Master nur zu sehen, wenn er auf

die Felder gerufen wurde und die Sklaven zu größerer Eile
antrieb. Manchmal ließ er sich von Kelly die Peitsche reichen
und schlug wahllos auf die arbeitenden Schwarzen ein. Seine
Augen waren vom Alkohol und der Sonne gerötet und seine
Hände zitterten, wenn er die Peitsche an den Aufseher
zurückgab. Er war unberechenbar und deshalb gefährlicher als
alle anderen weißen Männer auf der Plantage. Nicht einmal
sein Vater hatte gemerkt, dass er eine Flasche mit Laudanum
aus dem Medizinschrank entwendet hatte und alle paar

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Stunden davon trank. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er
nach dem weißen Pulver griff, das ihm der Sohn eines
Werftbesitzers in Savannah angeboten hatte. »Wenn du das
nimmst, vergisst du den ganzen Ärger!«, hatte der junge Mann
gesagt. »Ein wunderbares Zeug!«

Im August ließ sich Robert F. Stockton nur einmal kurz auf

der Plantage blicken. Zwei Stunden erduldete er die
Nachmittagshitze, um auf den Feldern nach dem Rechten zu
schauen. Er traute seinem Sohn nicht über den Weg und wollte
sichergehen, dass die Sklaven mit der Baumwollernte
begonnen hatten. »Die Neger sind seit einer Woche auf den
Feldern«, meldete Jonathan Kelly, »und sie bekommen meine
Peitsche zu spüren, wenn sie nicht rechtzeitig fertig werden!«
Der Pflanzer wischte sich den Schweiß von der Stirn und
nickte zufrieden. »Weiter so, Mister Kelly!« Er verschwand in
seiner Kutsche und kehrte erst wieder nach »Magnolia Hall«
zurück, als die letzte Baumwolle entkernt und in festen Ballen
auf die am Ufer liegenden Schoner verladen war.

Die Arbeit auf den Feldern war schwer und in der

mörderischen Hitze kaum zu schaffen. Doch Kelly bestand
darauf, dass die Männer und Frauen und alle Kinder über zehn
Jahre bis zum Abend pflückten. Er ließ erbarmungslos seine
Peitsche sprechen, wenn einer der Sklaven nicht gehorchen
wollte oder vor Erschöpfung zusammenbrach. Die Sklaven
arbeiteten in zwei Reihen, auf jeder Seite der Sträucher, und
warfen die gepflückte Baumwolle in die Leinensäcke, die sie
über den Schultern hängen hatten. Im Rhythmus des Liedes,
das Henry angestimmt hatte, zupften sie die wertvolle
Baumwolle. Der Mann mit dem Zylinder lachte, während er
sang, wiegte sich im Rhythmus der fröhlichen Melodie,
obwohl der Text von der verlorenen Heimat erzählte, die sie
im fernen Afrika zurückgelassen hatten und niemals wieder
sehen würden. Alle Lieder, die Bensua in ihrer neuen Heimat

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lernte, waren so: Wer die Worte nicht verstand, glaubte sich in
einem fröhlichen Singspiel. Wer den Text kannte, weinte vor
Rührung und Mitgefühl. Kelly ließ die Schwarzen gewähren.
Sie schienen schneller zu arbeiten, wenn sie sangen.

Bensua gewöhnte sich an die harte Arbeit. Die Gebete, die sie

auch nach einem anstrengenden Tag noch sprach, gaben ihr die
Kraft, die Qualen zu ertragen. Die Arbeit war eintönig und
ermüdend, und wer nicht schnell genug pflückte oder an die
oberen Blüten nicht herankam, wurde dafür sofort vom
Aufseher bestraft. Kelly saß im Sattel eines stämmigen
Braunen, ritt hinter den arbeitenden Sklaven durch die tiefen
Furchen und schlug fluchend mit seiner Peitsche zu, wenn
einer der Schwarzen zauderte oder sich an den schmerzenden
Rücken griff. Nur zwei Pausen zu jeweils einer Viertelstunde
wurden den Pflückern gestattet und der Reis und das brackige
Wasser, das sie bekamen, waren schlechter als die Verpflegung
auf der Hannibal. Moskitos summten über den weißen Blüten
und peinigten die Arbeiter, saugten ihnen die letzte Energie aus
den schwachen Körpern. Bensua schien natürliche
Abwehrkräfte gegen die Insekten zu besitzen und litt stärker
unter dem Staub, der wie feiner Nebel über den Feldern hing
und ihren Mund austrocknete.

Waren die Tragetaschen voll, schütteten die Sklaven die

gepflückte Baumwolle in große Körbe. Jeden Abend
schleppten sie ihre Ernte zu dem Ziegelhaus, in dem die
Baumwolle von einer Maschine entkernt wurde. Wer keine
hundert Pfund auf die Waage brachte, musste mit einer
empfindlichen Strafe rechnen. Bensua beobachtete, wie ein
kräftiger Fante einen Teil seiner Ernte hinter dem Rücken des
Aufsehers in den Korb einer älteren Frau kippte. Er wollte ihr
die Peitschenhiebe ersparen. Wie Bensua erst nach einigen
Monaten erfuhr, litt die weißhaarige Frau an einer
geheimnisvollen Krankheit, die ihre Knochen immer

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schwächer werden ließ. Der Fante, ihr einziger Sohn, der die
lange Überfahrt überlebt hatte, wollte ihr die wenigen Jahre,
die sie noch zu leben hatte, so angenehm wie möglich machen.
Er hatte seinen kriegerischen Stolz aufgegeben um sie zu
schützen.

Bensua hatte nicht aufgegeben. Der Gedanke an eine Flucht

war ihr schon nach wenigen Tagen gekommen, aber sie war
klug genug, nicht denselben Fehler wie zwei junge Krieger zu
begehen, die Hals über Kopf geflohen waren und wenige
Stunden später von zwei Sklavenjägern zurückgebracht
wurden. Auf diese Weise erfuhr Bensua, dass es Männer wie
diese beiden gab. Sie hatten Bluthunde dabei, die auf Sklaven
abgerichtet waren, und lebten von der Belohnung, die sie von
den Pflanzern bekamen, wenn sie einen flüchtigen Sklaven
einfingen. Sie gingen nicht nur wegen des Geldes auf
Sklavenjagd. Ihre gemeinen Gesichter ließen erkennen, dass
sie Freude daran hatten, die flüchtigen Sklaven zu jagen und
zurückzubringen. Bensua würde diese Gesichter niemals
vergessen, die kalten Augen und das höhnische Lächeln um die
Lippen. Einer der Männer trug einen schmalen Schnurrbart,
der andere hatte lange Haare, die wohl die Narbe unter seinem
rechten Ohr verdecken sollten. Bensua bekam sie kurz zu
sehen, als er sich nach seinem Hund bückte.

Das nervöse Bellen der Bluthunde und das Geschrei, das die

Sklavenjäger veranstalteten, hatte alle Sklaven geweckt und
auch den Aufseher aus dem Haus gelockt. Jonathan Kelly hatte
sich einen Mantel über den Schlafanzug geworfen und seine
Stiefel über die nackten Füße gezogen. Seinen breitkrempigen
Hut und die schwarze Peitsche hatte er nicht vergessen. »Da
sind die beiden ja«, triumphierte er, »ich wusste, dass sie nicht
weit kommen würden! Wo habt ihr sie erwischt? Am
Flussufer?«

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»Eine Meile weiter«, antwortete einer der beiden

Sklavenjäger. »Sie hatten sich wie zwei Karnickel in den
Büschen versteckt! Die Hunde hätten sie in Stücke gerissen,
wenn wir sie nicht zurückgehalten hätten! Aber ihr bezahlt ja
nur für lebendige Nigger…«

Kelly betrachtete die zerfetzten Hosen der Sklaven und ihre

aufgeplatzten Gesichter. »Na, sanft seid ihr nicht gerade mit
ihnen umgesprungen! Bindet sie an den Stamm, dann könnt ihr
zusehen, wie ich ihnen den Rest gebe! Den Lohn bekommt ihr
später!« Er wartete, bis die Sklaven mit gefesselten Händen
und Füßen an dem Eisenring hingen und erhob seine Stimme:
»Raus mit euch, ihr dreckigen Nigger! Ihr sollt sehen, was mit
euch passiert, wenn ihr weglauft! Wo bleibt ihr denn,
verdammt?«

Widerwillig folgte Bensua den anderen Schwarzen vor die

Tür. Obwohl sie schon einige Male gesehen hatte, wie Sklaven
ausgepeitscht wurden, hatte sie noch immer Angst davor. Ihr
machten nicht nur die Schläge und die Schreie der Männer zu
schaffen. Eine Auspeitschung war demütigend. Einen
verletzten Krieger zu schlagen, der am Ende seiner Kräfte war
und hilflos an einem eisernen Ring hing, war so gemein, dass
sie ihren Zorn am liebsten laut herausgeschrien hätte. Nur die
Gewissheit, dass ihr dann dieselbe Strafe drohte, hielt sie
zurück. Mit geballten Fäusten verfolgte sie, wie Kelly seine
Peitsche schwang und laut mitzählte, wenn die Lederriemen
auf die blutigen Rücken der Sklaven klatschten. Ihren Stolz
hatten die Männer längst verloren. Sie schrien so laut, dass
einige Kinder zu weinen begannen, und sanken bewusstlos zu
Boden, als der Aufseher fertig war und sie von dem Eisenring
befreite. »Die machen uns keinen Ärger mehr!«, meinte Kelly
zufrieden. Er wandte sich an die Sklavenjäger. »Und jetzt
kommt mit und holt euren Lohn! Ich habe keine Lust, die
ganze Nacht bei dem Gesindel zu verbringen!«

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Kaum einer der Schwarzen schlief in dieser Nacht. Es war

grausam genug, das Knallen der Peitsche während der Arbeit
zu hören, aber es war noch viel schlimmer, einer
Auspeitschung beizuwohnen, wenn Kelly mit voller Wucht
ausholte und die Lederriemen unbarmherzig auf die nackten
Rücken knallen ließ. Bensua glaubte nicht, dass sie das
hässliche Geräusch jemals vergessen würde. Selbst wenn
dieser Albtraum vorüberging und sie ein normales Leben
führen konnte, würde es in ihren Gedanken bleiben. Sie betete
lange in dieser Nacht und war todmüde, als Kelly sie am
frühen Morgen aus den Decken holte und die geschundenen
Sklaven mit derben Fußtritten auf die Beine brachte.

»In Zweierreihen antreten!«, brüllte er, ein Befehl, den alle

Sklaven verstanden, und dann ging es im Gleichschritt auf die
Baumwollfelder hinaus. Manchmal fragte Bensua sich, wie der
Aufseher es schaffte, jeden Morgen so ausgeruht zu sein.

Augenblicke der Besinnung und Muße waren selten. Die

meisten Schwarzen schliefen sofort nach dem kargen
Abendessen ein und am Sonntag mussten die Frauen und
Mädchen kochen und waschen und den Küchengarten
bestellen, den sie hinter den Sklavenhäusern angelegt hatten.
Das Gemüse und die Kräuter halfen ihnen den eintönigen
Speiseplan etwas aufzubessern. Die Weißen gaben ihnen
Hirsebrei, Reis und zerkochte Rüben, und seit Edward
Stockton die Geschäfte auf der Plantage führte, waren die
Rationen so knapp, dass sie kaum satt wurden. Einige
Schwarze wurden krank, weil sie zu wenig Obst und Gemüse
bekamen, und hätte Sarah keine Heilkräuter gepflanzt, wären
einige von ihnen sogar gestorben. Die stämmige Frau von der
Elfenbeinküste kannte sich mit Kräutern und Salben aus.

Einmal im Monat kam ein Prediger zu den Sklaven und las

aus dem Buch vor, das er »Bibel« nannte. Die Geschichten, die
er erzählte, spielten in einem fernen Land und waren seltsam

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anzuhören. Wenn er das Buch zugeklappt hatte, ereiferte er
sich über die »Heiden« unter den »ungläubigen Negern«, die
immer noch zu ihren eigenen Göttern beteten, und wenn einer
der Sklaven sich weigerte, dem Gott der Weißen zu huldigen
oder sich abwandte, bevor der Gottesdienst vorüber war,
drohte er, den Aufseher zu rufen und dem »Ungläubigen« eine
tödliche Strafe zu verpassen. »Gott will, dass ihr den weißen
Herren dient!«, rief er salbungsvoll. »Er will, dass ihr betet und
arbeitet und euch das ewige Himmelreich verdient!« Und
Bensua fragte sich, ob ein Gott wirklich so grausam sein
konnte, auf die schwarzen Menschen herabzublicken, nur weil
sie eine andere Hautfarbe hatten. Wenn der Gott der Weißen
das wirklich tat, war er ungerecht!

An einem Sonntag im August, als der Prediger seine Bibel

zuschlug und erschöpft auf seinen Wagen stieg, entdeckte
Bensua ihre Freundin zwischen den Bäumen. Sie erkannte das
Mädchen nicht sofort. Manu trug die sauberen Kleider eines
weißen Dienstmädchens und schien sich auch sonst verändert
zu haben. Ihr Blick war irgendwie anders, das war selbst aus
der Ferne zu erkennen. Sie stand neben Harriet, der
freundlichen Haushälterin. Beiden war die Erleichterung
anzusehen, den herrischen Sohn des Pflanzers für einige Zeit
los zu sein.

»Manu!«, flüsterte Bensua erfreut. Sie ging auf die Freundin

zu um sie zu umarmen und blieb erschrocken stehen, als sie
den seltsamen Ausdruck in ihren Augen erkannte. Eine
Mischung aus Wiedersehensfreude und Verachtung. Als wäre
sie ein weißes Mädchen, das durch Zufall bei den Sklaven
gelandet war. »Manu! Erkennst du mich nicht mehr? Ich bin
Bensua, deine Freundin! Freust du dich denn nicht, mich zu
sehen?«

Manus Lächeln wirkte gezwungen. Sie schien die Umarmung

der Freundin nur widerwillig zu ertragen. Anscheinend hatte

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sie Angst, sich an dem einfachen Kleid schmutzig zu machen.
»Bensua!«, sagte sie. »Natürlich erkenne ich dich! Wie geht es
dir?«

Bensua tauschte einen raschen Blick mit Harriet. Die

Haushälterin schien sie für das eigenartige Verhalten des
Mädchens um Verständnis zu bitten. »Ich bin am Leben«,
antwortete Bensua. »Die Arbeit ist anstrengend. Aber ich bete
jeden Abend zu den Göttern. Das gibt mir Kraft!« Sie ließ die
Freundin los und trat einen Schritt zurück. »Und du? Henry
sagt, dass du Glück gehabt hast.«

Manus Gesicht veränderte sich und zeigte jetzt ein

aufrichtiges Lächeln. »Oh, es ist wundervoll, Bensua! Ich weiß
gar nicht, warum wir solche Angst hatten! Ich darf schöne
Kleider tragen und das Haus für die Herrschaften putzen! Es ist
prächtiger als der Palast des Königs! Stell dir vor, der Boden
ist aus Marmor, das ist ein kostbarer Stein, und auf den
Schränken stehen Figuren aus weißem Porzellan! Harriet hat
mir beigebracht, wie man kocht, und Massa Edward sagt, dass
ich sehr hübsch bin…«

»Wir müssen jetzt gehen, Manu«, unterbrach Harriet das

Mädchen. Ihre Miene ließ nicht erkennen, was sie über den
plötzlichen Gefühlsausbruch des Mädchens dachte. »Massa
Edward wird bald zurück sein! Er will sicher was zu essen,
wenn er kommt!« Während sie zwischen den Bäumen
verschwanden, drehte sich Harriet noch einmal um, als wollte
sie etwas sagen, dann ging sie weiter. Bensua blickte ihr
verständnislos nach.

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21



Jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit gingen, staunte Bensua
über die riesigen Baumwollfelder. Bis zu den Hügeln an der
südlichen Flussbiegung zog sich das wogende Meer aus
weißen Blüten. Ein unermesslicher Reichtum, der Robert F.
Stockton zu einem wohlhabenden König gemacht hatte.
»Weißes Gold« nannte er die Baumwolle. Selbst die
Goldschätze des Asantehene waren nicht so wertvoll wie die
Ernte, die der Pflanzer jeden Herbst im Hafen von Charleston
verladen ließ. Der Kaufpreis eines Sklaven machte sich schon
nach wenigen Wochen bezahlt und der Lohn seiner Aufseher
fiel kaum ins Gewicht. Und sein Reichtum wurde jedes Jahr
größer. Die Schwarzen, die auf der Plantage geboren wurden,
wuchsen zu arbeitsfähigen Feldarbeitern heran und kosteten
keinen Penny. Die Kleidung und die karge Verpflegung der
Sklaven waren billiger als das Schweinefutter, das Harriet
jeden Morgen in den Stall am Flussufer brachte.

Schon am Vormittag brannte die Sonne unbarmherzig auf die

Felder herab. Das Land wurde zu einen glühenden Backofen,
aus dem es kein Entrinnen gab. Auf den Feldern wuchsen
keine Bäume und die Kopfbedeckungen, zerschlissene Hüte
und Lumpen, die einige Frauen wie Kopftücher gebunden
hatten, schützten die Sklaven kaum vor den sengenden
Strahlen. In den Ackerfurchen war es besonders schlimm. So
heiß war es selbst im afrikanischen Urwald nicht gewesen. Die
Hitze schien alles Leben aus den Schwarzen herauspressen zu
wollen. Das lauwarme Wasser, das sie zu trinken bekamen,
stillte den Durst nur für wenige Augenblicke.

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Eine andere Plage waren die grünen Würmer, die aus den

Pflanzen hervorkrochen und unvorsichtige Pflücker mit ihren
haarigen Körpern berührten. Sie hinterließen einen brennenden
Ausschlag, der erst einige Tage später verschwand und
besonders den jungen Schwarzen zu schaffen machte. Sarah
behandelte die Wunden mit zerkautem Fenchel, den sie abends
auf den Ausschlag schmierte und mit einem Gebet des weißen
Mannes beschwor. Sie glaubte, dass der Gott der Weißen in
diesem Land mehr zu sagen hatte. Aber sie hatte nichts
dagegen, wenn ihre Patienten die Götter ihres Volkes anriefen.

Während der viertelstündigen Pause, die Kelly zur

Mittagszeit gestattete, hörte Bensua zum ersten Mal von der
»Underground Railroad«. Sie stand neben zwei Frauen, die
sich leise unterhielten und auf einen jungen Mann deuteten, der
ohne Kopfbedeckung neben einem Baumwollkorb saß und
warmes Wasser aus einer Schale trank. Sein Blick erinnerte
Bensua an Ottobah, wie er während seiner Gefangenschaft bei
den Asante auf sie gewirkt hatte. Unerschrocken und mutig,
jederzeit bereit, sich auf die Feinde zu stürzen und als Held zu
sterben. Wie sie von den Frauen erfuhr, stammte er ebenfalls
von der Goldküste, zwei Tagesmärsche von der Stelle entfernt,
an der Bensua auf die Hannibal gegangen war. Die Weißen
hatten ihn Abraham getauft.

»Abraham will fliehen«, flüsterte die jüngere Frau, nach

ihrem Aussehen die Schwester des Mannes. »Und ich soll mit
ihm gehen! Wenn wir dem Nordstern folgen, erreichen wir ein
Land, in dem wir frei sein dürfen! Dort gibt es keine Sklaverei!
Dort leben wir wie die Weißen, und wenn wir arbeiten, werden
wir bezahlt!«

»Ein solches Land gibt es?«, fragte die ältere Frau. Kelly war

zum Wagen gegangen um Wasser zu holen und konnte sie
nicht hören. »Und was wollt ihr tun um nicht entdeckt zu
werden? Hast du nicht gesehen, was mit den beiden Fante

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geschehen ist? Die Sklavenjäger haben Hunde! Sie bringen
jeden Flüchtling zurück! Ihre Hunde können uns riechen, hast
du das gewusst?«

»Abraham sagt, es gibt Menschen, die gegen die Sklaverei

sind und uns helfen werden! Es sind sogar Weiße darunter! Sie
verstecken uns, wenn wir den Fluss überquert haben! Jenseits
des Flusses gibt es viele Menschen, die so denken! Sie geben
uns zu essen und zu trinken und verstecken uns, wenn die
Sklavenjäger kommen! Ihre Verstecke sind so dicht, dass uns
nicht mal die Hunde riechen können! Wir dürfen in ihren
Häusern schlafen! Wenn du bei einem dieser Menschen bist,
sagt er dir, wie die nächste Station heißt. Sie sagen »Stationen«
zu den Häusern. Und den Fluchtweg nennen sie »Underground
Railroad«, obwohl es gar keine unterirdische Eisenbahn gibt.
Es ist ein Deckname. Die Menschen helfen uns, bis wir das
freie Land erreicht haben!«

Die ältere Frau zweifelte an ihren Worten. »Woher weiß

Abraham das alles? Glaubt er tatsächlich, es gibt Weiße, die
gegen die Sklaverei sind? Warum sollten sie euch helfen?

Wenn es solche Weiße gäbe, hätten die anderen sie längst

umgebracht!«

»Es gibt sie, Mutter! Seit einigen Jahren schon! Abraham

weiß es von den Schwarzen, die vor zwei Sommern gekommen
sind, und ich habe Harriet gefragt, als ich sie bei den Ställen
getroffen habe. Sie hat genickt. Nicht alle Weißen sind
schlecht! Im Norden gibt es Leute, die sich »Quäker« nennen,
die wollen keinen Krieg und glauben, dass alle Menschen zu
Brüdern werden können, egal welche Hautfarbe sie haben! Ist
das nicht wunderbar?«

»Underground Railroad«, wiederholte die ältere Frau

ungläubig. »Ein seltsamer Name. Harriet hat mir erzählt, wie
eine Eisenbahn, eine schnaubende Maschine, die Wagen über

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Schienen zieht. Von einer unterirdischen Eisenbahn habe ich
nie gehört.«

»Das ist nur ein Deckname«, wiederholte ihre Tochter. »Und

die Männer und Frauen, die auf den Stationen warten, heißen
Stationsmeister. Es heißt, dass sie auf dich warten, wenn du
den Sklavenjägern entkommen bist und den Fluss überquert
hast!«

»Aber zuerst musst du über den Fluss schwimmen«, gab die

ältere Frau zu bedenken. »Wenn sie dich erwischen, wirst du
ausgepeitscht oder getötet! Willst du es wirklich wagen, mein
Kind?«

»Ich bleibe bei Abraham«, sagte die andere entschieden.
Bensua dachte lange über die Worte der beiden Frauen nach.

Sie bewunderte den jungen Mann und seine Schwester, die
nach Norden in eine ungewisse Zukunft fliehen wollten. Es
gehörte viel Mut dazu, sich nach der brutalen Auspeitschung
der beiden Fante auf das Wagnis einer Flucht einzulassen.
Wenn sie erwischt wurden und Kelly mit derselben Wucht auf
die junge Frau einschlug, würde sie sterben. Dann konnte auch
Sarah mit ihrer Medizin nicht mehr helfen. Gegen die tiefen
Wunden, die eine Peitsche verursachte, war kein Kraut
gewachsen. Wenn Kelly die Nerven verlor, vergaß er die
Worte des Pflanzers, der befohlen hatte die Arbeitskraft seiner
Sklaven möglichst zu erhalten. Dieses »möglichst« ließ dem
Aufseher den Spielraum, den er brauchte. Er konnte einen
Schwarzen zu Tode quälen, ohne dass er eine Strafe befürchten
musste. Und mit jedem Tag, den die Hitze anhielt, wurde er
nervöser und wütender.

In der folgenden Zeit weilte Bensua in Gedanken oft auf der

anderen Seite des Flusses, während sie die Baumwollblüten
von den Sträuchern zupfte. Bei den freundlichen Menschen,
die den Flüchtlingen halfen das freie Land zu erreichen, das
irgendwo im Norden lag. Wenn sie für einen Augenblick die

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Augen schloss, sah sie sich in einem kleinen Haus. Sie hütete
die Ziegen und Schweine und Ottobah war auf dem Feld und
erntete Gemüse. Ein Traumbild, das wusste sie, und doch
erreichbar, wenn die Worte der jungen Frau stimmten. Wenn
es diese Underground Railroad gab, würde sie eines Tages zu
den Passagieren gehören. Aber ihre Stunde war noch nicht
gekommen. Sie musste wissen, was mit Ottobah geschehen
war, bevor sie ernsthaft an Flucht denken konnte. Und sie
brauchte einen festen Plan und zumindest eine Chance, den
Sklavenjägern zu entkommen. Ob sie herausbekommen
konnte, wo Ottobah war und wie es ihm ging, wusste sie nicht.
Die Schwarzen, mit denen sie gesprochen hatte, konnten es ihr
nicht sagen. Sie musste warten, bis der Schwarze, der den
Pferdewagen fuhr, etwas über ihn erfuhr. Er hatte ihr
versprochen, sich in Charleston nach Ottobah zu erkundigen.

Am Abend dieses Tages blieb Bensua länger als gewöhnlich

an ihrem Lieblingsplatz zwischen den Bäumen. Sie brauchte
die Stille und den Anblick des sternenübersäten Himmels, um
ihr Gleichgewicht und Kraft für den nächsten Tag zu finden.
Ihre Gespräche mit den Göttern und die heiligen Lieder, die sie
leise sang, entrückten sie dem eintönigen und harten Alltag,
der nur aus Arbeit und Peitschenhieben bestand. Sie genoss das
silberne Licht der Sterne wie eine Zaubergabe, die in ihren
Körper floss und sie gegen die weißen Männer schützte. Wie
ein Lebenselixier legte sich das funkelnde Licht auf ihre Seele,
ließ sie Traumbilder sehen und weiter an eine gemeinsame
Zukunft mit Otto bah glauben. »Warum sagst du mir nicht, wo
er sich befindet?«, flehte sie verzweifelt. »Ist er am Leben?
Denkt er noch an mich? Muss er genauso hart arbeiten wie
wir?«

Auch die Götter wussten keine Antwort auf diese Fragen und

sie musste ihrer inneren Stimme vertrauen, die ihr sagte, dass
Ottobah am Leben war und sie immer noch liebte. Er war ein

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tapferer Krieger, der alles tun würde um wieder mit Bensua
vereint zu sein. Sie brauchte nur zu warten. Wenn sie es nicht
schaffte, ihm auf die Spur zu kommen, würde er einen Weg
finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen. Sie durfte nicht
die Geduld verlieren. Eine überstürzte Flucht brachte die
Gefahr, ein ähnliches Schicksal wie die beiden Fante zu
erleiden. Ihre Wunden würden lange brauchen um zu verheilen
und auch dann wären die Striemen noch sehen. Wenn sie einen
Fluchtversuch wagte und er ging schief, würde man sie in
Ketten legen wie manche Männer und sie könnte Ottobah nie
wieder sehen.

Sie lächelte, als sie an Ottobah dachte. Sie fand es selbst

erstaunlich, in welch kurzer Zeit er zu einem unverzichtbaren
Teil ihres Lebens geworden war. Ihr ganzer Körper bebte,
wenn sie sich vorstellte in seinen starken Armen zu liegen.
Selbst in ihrer Fantasie war dieses Gefühl so stark, dass es ihr
unmöglich schien jemals einen anderen Mann zu lieben. Es
war richtig gewesen, das Haus ihrer Familie zu verlassen. Sie
wäre mit dem Krieger, den ihr Onkel ausgesucht hatte, niemals
glücklich geworden. Manchmal verlangten die Götter, dass
man Opfer brachte um das große Glück zu erlangen. Ihr Opfer
war besonders groß, doch wenn am Ende eine gemeinsame
Zukunft mit Ottobah stand, wollte sie diese Bürde gern auf
sich nehmen.

Ein leises Geräusch störte ihre Gedanken. Sie sprang auf und

blickte in das Halbdunkel. Im Mondlicht, das wie Nebel
zwischen den Bäumen hing, erkannte sie zwei dunkle Schatten.
Ein Mann und eine Frau. Auch ohne ihre Gesichter zu
erkennen ahnte sie, um wen es sich handelte. Der junge
Krieger und seine Schwester! Sie hatten ihre Hütte verlassen
und waren auf der Flucht. Der Mann hatte einen Beutel mit
Vorräten dabei. Sie kamen auf die Lichtung gerannt und

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erstarrten, als sie ihre dunkle Gestalt sahen. »Bensua!«,
flüsterte der Mann erschrocken. »Und ich dachte schon…«

»Ich bin jeden Abend hier«, beruhigte Bensua die

Flüchtenden. »Hier bete ich zu unseren Göttern.« Sie blickte
zu den Sklavenhäusern zurück, die sich dunkel gegen das Licht
einiger Öllampen abhoben. »Es ist sehr gefährlich, heute Nacht
zu fliehen!«

»Es ist immer gefährlich«, erwiderte Abraham. »Warum

kommst du nicht mit uns? Du siehst stark aus! Ich habe dich
niemals weinen sehen. Wenn wir den Fluss überquert haben,
sind wir gerettet! Dort warten Leute, die uns helfen wollen!
Komm mit!«

Bensua schüttelte den Kopf. »Ich bin noch nicht bereit. Aber

ich werde die Götter bitten, euch zu helfen und die
Sklavenjäger mit ihren Hunden von euch abzuhalten! Viel
Glück, meine Freunde!«

Sie umarmten einander und Bensua beobachtete mit

gerunzelter Stirn, wie sie in der Dunkelheit verschwanden. Ihre
Schritte wurden von dem dicken Moosteppich gedämpft, der
sich zwischen den Eichen ausbreitete. Nachdenklich kehrte
Bensua in ihre Hütte zurück. Sie blieb am Fenster stehen und
blickte in die Nacht hinaus. Eine Wolke hatte sich vor den
Mond geschoben und auch die Sterne schienen nicht mehr so
hell wie vor ihrer Begegnung mit dem Mann und seiner
Schwester zu leuchten.

»Was hast du, Missy?«, fragte Henry. Er sprach leise, um

seine Frau und die beiden Fante nicht zu wecken. »Du warst
länger weg als sonst! Warum siehst du aus dem Fenster?« Er
stand auf und trat hinter die Asante. »Du hast etwas gesehen,
nicht wahr?«

»Abraham und seine Schwester sind geflohen«, antwortete

sie flüsternd. »Sie wollen über den Fluss!« Sie drehte sich um
und blickte den großen Schwarzen an. Ohne seinen Zylinder

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sah er viel ernster und älter aus. »Ich habe ein schlechtes
Gefühl, Henry! Ich habe sie gewarnt! Heute ist kein guter Tag
um wegzulaufen!«

»Sie werden es nicht schaffen«, meinte Henry grimmig. »Ich

habe noch keinen gekannt, der es geschafft hat, und ich bin
schon lange hier. Die Sklavenjäger sind überall! Ihre Hunde
merken sofort, wenn jemand flieht. Du wirst sehen, sie sind
bald zurück!«

Sie blieben am Fenster stehen und blickten in die Dunkelheit,

als wüssten sie, was als Nächstes geschehen würde. Ein innerer
Zwang schien sie dazu zu bringen, jede Szene des grausamen
Geschehens zu verfolgen. Sie brauchten nicht lange zu warten.
Die nächtliche Stille wurde von aufgeregtem Hundegebell
zerrissen, dann waren schrille Schreie zu hören und der Knall
eines Schusses hallte wie ein bedrohliches Echo zu ihnen
herüber. Wieder Schreie und noch ein Schuss und dann wieder
Stille, eine tödliche und vollkommene Stille, wie Bensua sie
nur während der Flaute auf hoher See erlebt hatte, und damals
waren die bösen Geister auf dem Schiff gewesen.

»Was war das?«, schrie Sarah in panischer Angst. »Ein

Schuss! Ein Schuss!«, stieß einer der Fante hervor. Auch in
den anderen Sklavenhütten schreckten die Schwarzen aus dem
Schlaf. Sie öffneten die Türen und blickten angsterfüllt zur
Straße hinüber.

Henry griff nach seinem Zylinder und ging nach draußen.

Bensua folgte ihm müde. Sie hatte Tränen in den Augen. Sie
ahnten beide, was geschehen war. Ihre Ahnung wurde zur
bitteren Gewissheit, als Kelly zehn Minuten später mit einem
Wagen vorfuhr und sie die beiden reglosen Gestalten auf der
Pritsche liegen sahen. Abraham war tot, das erkannte sie auf
den ersten Blick. Die Kugel hatte seine Kehle zerfetzt. Seine
Schwester lebte noch. Sie blutete aus einer Wunde an der

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Hüfte und war bewusstlos. Der Aufseher zog die Körper wie
Mehlsäcke von der Ladefläche und ließ sie zu Boden fallen.

Die Mutter des toten Mannes stieß einen verzweifelten Schrei

aus. Sie rannte zu ihrem Sohn und brach weinend über ihm
zusammen. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut, das
aus dem Hals des jungen Kriegers floss, und sickerte in den
feuchten Boden. Zwei andere Frauen eilten herbei und hielten
sie fest, bevor sie eine Dummheit begehen konnte.

Der Aufseher kümmerte sich nicht um sie. »Der verdammte

Nigger ist tot!«, teilte er den Schwarzen mit. In seiner Stimme
war kein Bedauern. »Die Frau lebt noch! Aber die macht es
auch nicht mehr lange!« Er spuckte angewidert zu Boden und
schlug mit der flachen Hand auf seine Peitsche. »Ich hätte gute
Lust, ihr damit den Rest zu geben, doch ich denke, die spürt
nichts mehr!« Er kletterte auf den Kutschbock zurück. »Wenn
ich noch einen erwische, zünde ich euch die verdammten
Häuser über den Köpfen an!«

Bensua wartete, bis der Aufseher zwischen den Bäumen

verschwunden war, und rannte zu der verletzten Frau. Der
Anblick der blutenden Wunde erschreckte sie. »Sie lebt,
Sarah!«, rief sie Henrys Frau zu. »Hilf ihr! Es muss doch eine
Medizin geben, die sie wieder gesund macht!« Zu den beiden
Fante aus ihrer Hütte sagte sie: »Worauf wartet ihr noch?
Bringt sie rein!«

Henry wandte sich an die anderen Sklaven. »Begrabt den

Mann! Und kümmert euch um seine Mutter! Sobald wir ihre
Tochter versorgt haben, erweisen wir dem Mann die letzte
Ehre!«

Sarah konnte nicht viel tun. Sie hielt die Blutung mit einigen

Kräutern auf und band einen Lumpen, den sie im Flusswasser
gewaschen hatte, um die Wunde. Ihre Beine umwickelte sie
mit nassen Umschlägen um das Fieber zu senken. »Sie hat viel
Blut verloren«, sagte sie zu ihrem Mann. »Jetzt können ihr nur

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noch die Götter helfen! Oder der Gott des weißen Mannes! Ich
werde für sie beten!« Sie kniete nieder und sprach das Gebet,
das sie von dem Prediger gelernt hatte. Wenn ihr ein Wort
nicht einfiel, erfand sie ein anderes. Bensua setzte sich neben
sie und stimmte ein heiliges Lied der Asante an. Manchmal
war es besser, alle Götter anzurufen, wenn man Unmögliches
erreichen wollte.

Nachdem einige Männer den toten Mann begraben hatten,

versammelten sich die Schwarzen um sein Grab und beteten
für ihn. Die beiden Frauen, die sich um die verzweifelte Mutter
kümmerten, mussten sie an beiden Armen halten. Henry sprach
ein Gebet und bat einen der Fante, ein heiliges Lied seines
Volkes für den ermordeten Mann zu singen. Einer der Männer,
die getauft waren und sich voll zum Christentum bekannten,
sprach das Vaterunser und schlug ein Kreuz über dem frischen
Grab.

»Es hat keinen Sinn, sich den Weißen zu widersetzen«,

meinte Henry zu den Schwarzen. »Diese Plantage ist unsere
Welt. Wir wollen versuchen sie zu einer guten Welt zu
machen. Wenn wir gehorchen, schlagen uns die weißen
Männer nicht. Lasst uns arbeiten und ihnen zeigen, dass es
auch ohne Gewalt geht!«

Bensua war anderer Meinung, sagte aber nichts. Dies war

nicht der Augenblick, um mit Henry zu streiten. Sie ging ins
Haus zurück und wechselte sich mit Sarah am Krankenlager
der jungen Frau ab. Ihr Zustand war unverändert. Sie war
immer noch in Lebensgefahr und es sah nicht so aus, als würde
sie den Tag überleben. »Sie ist schwer verletzt«, sagte Bensua,
als Kelly auftauchte. »Sie kann nicht arbeiten. Sie muss im
Haus bleiben!«

Der Aufseher sah ein, dass er die schwer kranke Frau nicht

auf die Felder treiben konnte, und zuckte die Achseln.
»Meinetwegen! Aber nur wenn ihr die Arbeit mitmacht!

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Hundert Pfund mehr oder ihr bekommt alle meine Peitsche zu
spüren, verstanden?«

Die Sklaven fügten sich und stellten sich in Zweierreihen auf,

noch bevor Kelly den Befehl gegeben hatte. Niedergeschlagen
folgten sie dem Aufseher auf die Baumwollfelder. Über den
Hügeln stieg das lodernde Feuer der morgendlichen Sonne
empor.

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22



Sarah vertrieb die bösen Geister und rettete die kranke Frau
vor dem drohenden Tod. Die Wunde war ein glatter
Durchschuss und die Kugel der Sklavenjäger hatte keine
lebenswichtigen Organe verletzt. Die Heilkräuter, die Sarah ihr
täglich auf die Wunde strich, und ein geheimnisvoller
Kräutertee ließen die Frau noch vor dem Ende der
Baumwollernte gesund werden. Sie würde ihr Leben lang
hinken und niemand konnte den Schmerz lindern, den der
grausame Tod ihres Bruders verursacht hatte. Doch sie lebte
und war wieder mit ihrer Mutter zusammen, die schon
befürchtet hatte auch ihr zweites Kind zu verlieren. Jeden
Abend standen sie gemeinsam am Grab des ermordeten
Kriegers und baten die Götter seine Seele im Jenseits zu
trösten. Ohne es zu merken hatten sie den Glauben ihres
Volkes mit der christlichen Lehre vermischt. Sie stellten sich
das Jenseits als blühenden Garten vor, in dem ihre Seelen von
der Last der Sünde befreit waren.

Jonathan Kelly kümmerte sich nicht um den Schmerz der

Sklaven. Für ihn zählte nur die Baumwollernte. Sie musste so
schnell wie möglich eingebracht werden, wenn er seinen
Posten als Oberaufseher behalten wollte. Robert F. Stockton
hatte eine gesellschaftliche Stellung zu verteidigen und konnte
es sich nicht leisten, seine Baumwolle zu spät auf den Markt zu
bringen. Er brauchte den Höchstpreis, wenn er seinen
Lebensstandard beibehalten wollte. Die Gesellschaften in
Charleston, die Investitionen in anderen Wirtschaftszweigen
und die Spekulationen an der Börse verschlangen
Riesensummen, ganz zu schweigen von den Zuwendungen, die

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sein Sohn bekam. Und seine Frau verbrachte den größten Teil
ihrer Freizeit damit, in den teuren Modegeschäften von
Charleston und Savannah neue Kleider zu kaufen.

Auf »Magnolia Hall« wollten sie Ergebnisse sehen. Der

Pflanzer war wegen des Geldes im Baumwollgeschäft, nicht
weil das Anpflanzen des »weißen Goldes« seine Berufung war.
Und die Aufseher, allen voran Jonathan Kelly, waren dafür
verantwortlich, dass die Sklaven so hart arbeiteten, wie es
nötig war, um die Termine der Kaufleute einzuhalten. Die
Männer verfolgten diese Aufgabe mit einer Verbissenheit, die
keinen Raum für Gefühle ließ. Sie trieben die Sklaven mit
äußerster Härte an, ließen immer häufiger die Peitschen
knallen und waren nur zufrieden, wenn die Schwarzen nach
Sonnenuntergang erschöpft und dem Zusammenbruch nahe in
ihre Hütten zurückkehrten. Besonders ungerecht behandelten
sie die Frau, die gerade dem Tod entronnen war. Sie durfte
sich keine Pause erlauben und musste für ihren toten Bruder
mitarbeiten. Alle Schwarzen halfen ihr dabei.

Am Sonntag ruhte die Feldarbeit. Der »Tag des Herrn«, wie

die Weißen ihn nannten, war den Besuchen des Predigers und
der Hausarbeit vorbehalten. Besonders die Wäsche machte viel
Arbeit. Die Kleider mussten gesäubert und geflickt werden,
damit man in der Baumwolle gegen die sengende Hitze und die
Insekten geschützt war. Einige Männer halfen ihren Frauen im
Küchengarten, reparierten das Haus oder beschäftigten die
Kinder. Abends wurde ein Feuer entzündet und gefeiert.
Robert F. Stockton hatte seinen Oberaufseher angewiesen,
nicht gegen die musizierenden und tanzenden Schwarzen
vorzugehen, um sie bei Laune zu halten. Die wöchentliche
Feier, die manchmal auch am Samstagabend stattfand, lenkte
von der Anstrengung ab, der sie unter der Woche ausgesetzt
waren, und brachte sie zumindest für einen Abend auf andere
Gedanken. Wenn Henry auf seinem Banjo spielte, einer

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umgebauten Mbanza aus Afrika, zeigte sich auch auf den
Gesichtern der Schwarzen ein fröhliches Lächeln.

Zu einem dieser Feste, ungefähr eine Woche vor Beendigung

der Baumwollernte, erschienen Harriet und Manu im
Sklavencamp. Die rundliche Haushälterin war überall beliebt
und tanzte ausgelassen mit den anderen Schwarzen. Manu trug
ein sauberes Kleid mit weißem Kragen und ein dunkelrotes
Kopftuch, das sie wie einen Turban gebunden hatte. Sie blieb
abseits zwischen den Bäumen stehen und schüttelte den Kopf,
als einer der Jungen sie auf den Tanzplatz ziehen wollte.
Anscheinend bereute sie längst, auf Harriet gehört und sie auf
das Fest begleitet zu haben. Die Banjo-Klänge beeindruckten
sie nicht.

Bensua erinnerte sich an ihr erstes Wiedersehen und zögerte

Manu zu begrüßen. Sie spürte, dass sie ihr fremd geworden
war. Dennoch ging sie auf ihre Freundin zu und zwang sich zu
einem Lächeln. »Manu!«, rief sie in der Hoffnung, sich
getäuscht zu haben. »Es tut gut, dich zu sehen! Endlich
besuchst du uns wieder!«

»Bensua«, erwiderte Manu. Ihre Freundlichkeit wirkte

aufgesetzt, als wäre sie eine Weiße, die aus Versehen ins
Schwarzenviertel geraten war und einer »Negerin« die Hand
schüttelte. »Ich habe oft an dich gedacht! Massa Edward sagt,
dass ihr auf den Feldern arbeitet und Baumwolle erntet. Also,
ich könnte das nicht! Da draußen wäre es mir viel zu heiß! Ich
muss nur in die Hitze, wenn ich die Eier aus dem Hühnerstall
hole oder Wasser besorge oder zum Küchenhaus gehe. Wie
haltet ihr das bloß aus?«

Bensua wollte nicht wahrhaben, wie sehr sich ihre Freundin

verändert hatte. Am liebsten hätte sie das Mädchen angefahren,
ihr von den Peitschenhieben berichtet, die selbst Frauen und
Kinder erleiden mussten. »Siehst du die Frau mit dem
Verband?«, wollte sie ihr vorhalten. »Ein Sklavenjäger hat auf

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sie geschossen, weil sie weggelaufen ist! Sie wäre beinahe
gestorben! Ihr Bruder liegt unter dem Erdhügel da drüben! Sie
haben ihn kaltblütig ermordet!« Aber sie bezwang ihren Zorn
und meinte: »Die Aufseher gönne uns keine Pause! Sie prügeln
auf uns ein, damit wir schneller arbeiten oder wenn wir einen
Fehler machen!« Es klang wie eine nüchterne Feststellung, als
würde sie etwas Selbstverständliches sagen.

Manu schien keine Ahnung von den Quälereien zu haben.

»Aber Massa Edward sagt, dass es euch gut geht! Mister Kelly
würde nur die Schwarzen schlagen, die gegen seine Befehle
verstoßen. Massa Edward ist ein freundlicher Mann, Bensua!
Ich weiß, er hat manchmal schlechte Laune und schreit im
ganzen Haus herum. Harriet hat er mal eine Ohrfeige gegeben.
Sie war selbst schuld! Sie hat das Essen anbrennen lassen.«
Ihre ungläubige Miene wich einem Lächeln. »Aber zu mir ist
er immer freundlich, Bensua! Er sagt, dass ich meine Arbeit
gut mache und mir eine Belohnung verdient habe! Letzte
Woche hat er mir eine Zuckerstange mitgebracht und dann hat
er mich gestreichelt! Er hat auch gemeint, dass ich wie ein
schwarzer Engel aussehe.«

»Ein schwarzer Engel?« Bensua dehnte jede Silbe der

seltsamen Bemerkung. Ihr Misstrauen war geweckt. Willem
van der Meyde der holländische Sklavenhändler hatte ihr
denselben Namen gegeben. »Das hat er gesagt?«

»Massa Edward ist anders als die anderen Weißen!«,

erwiderte Manu. »Er hat mich noch nie geschlagen und meint,
dass ich hübscher als die weißen Mädchen bin!« Sie strahlte
über das ganze Gesicht. »Stell dir vor, ich darf ihn in seinem
Zimmer besuchen, wenn ich meine Arbeit gut mache! Was
meinst du? Ob er mir süßen Tee anbietet wie den weißen
Damen in der Stadt?«

»Hat er noch was anderes gesagt?«, forschte Bensua. Sie

hatte einen fürchterlichen Verdacht. »Hat er dich berührt?« Sie

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zögerte einen Augenblick. »An Stellen, die sonst nur dir
gehören? Sei ehrlich, Manu! Hat er etwas getan, das dir nicht
gefallen hat?« Noch bevor ihre Freundin antwortete, fügte sie
wütend hinzu: »Ich bringe ihn um, Manu! Wenn er das getan
hat, bringe ich ihn um!«

Manu blickte sie entsetzt an. »Wie kommst du denn darauf?

So etwas würde er nie tun! Massa Edward ist ein guter Mann!
Er würde mich nie an diesen Stellen berühren! Er ist doch viel
älter als ich! Er hat mich nur gestreichelt… so wie früher mein
Vater!«

»Wo hat er dich gestreichelt?« Bensua sah ihr Misstrauen

bestätigt. »Du darfst nicht zulassen, dass er dich streichelt! Das
ist viel zu gefährlich! Weißt du denn nicht, dass es weiße
Herren gibt, die ihre Sklavinnen so berühren, wie ich sage? Sie
tun ihnen Gewalt an! Manchmal bekommen die Schwarzen
sogar Kinder, halb weiß und halb schwarz! Das weiß ich von
Sarah. Du darfst Massa Edward nicht nachgeben! Er ist ein
schlechter Mann! Neulich war er auf dem Feld und hat ein
Kind geschlagen!«

»Du lügst!«, widersprach Manu so heftig, dass Bensua

erschrocken zurückwich. »Massa Edward würde niemals ein
Kind prügeln! Er ist besser als die anderen Weißen! Du bist
nur neidisch! Du willst nicht, dass Massa Edward freundlich zu
mir ist!«

Bensua schüttelte den Kopf. »Ich will, dass es dir gut geht,

Manu! Ich freue mich, dass du im Haus wohnst und nicht so
schwer arbeiten musst wie wir, das kannst du mir glauben!
Aber den Weißen darfst du nicht trauen! Sie behandeln uns wie
Tiere, auch der Sohn des Pflanzers! Ich habe selbst erlebt, wie
er mit der Peitsche auf uns eingeschlagen hat! Er ist genauso
schlecht wie Kelly und die Aufseher, die uns jeden Tag zur
Arbeit treiben!«

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»Du lügst!«, wiederholte Manu aufgeregt. »Das sagst du nur,

weil du hier draußen leben musst! Du bist nicht mehr meine
Freundin! Ich hasse dich!« Sie rannte zum Haus zurück, ohne
sich um die verwunderten Blicke der anderen Schwarzen zu
kümmern. Harriet verließ die Tanzfläche und folgte ihr, so
schnell es ihre Körperfülle und der lange Rock erlaubten.

Bensua ging ins Haus zurück und warf sich auf ihr

Nachtlager. Sie vergrub den Kopf in den Decken und weinte
lange. Es tat weh, ihre junge Freundin auf diese Weise zu
verlieren. Die bessere Behandlung, die allen Haussklaven
zuteil wurde, und die leichtere Arbeit hatten Manu in den
Glauben versetzt, ein wertvollerer Mensch zu sein. Und die
Komplimente des weißen Mannes hatten ihr den Kopf
verdreht. Er konnte es nicht ehrlich gemeint haben. Ein Mann
wie Edward Stockton lobte ein schwarzes Mädchen nur, wenn
er ihren Körper besitzen wollte. Warum kam er sonst auf die
absurde Idee, sie in sein Zimmer einzuladen? Hatte man jemals
von einem wohlhabenden Weißen gehört, der eine Schwarze
wie einen gleichwertigen Menschen behandelte? Die weißen
Männer respektierten nicht mal ihre eigenen Frauen. Von dem
schwarzen Kutscher wusste sie, dass Edward Stockton eine
weiße Frau mehrmals geschlagen hatte!

Während der nächsten Woche sah und hörte Bensua nichts

von ihrer Freundin. Ein Tag war wie der andere. Morgens
gingen sie in die Baumwolle und abends kehrten sie zurück.
Jonathan Kelly war nervös, weil die entkernte Baumwolle in
spätestens zehn Tagen bei einem Händler in Charleston liegen
musste, und sorgte mit seiner schwarzen Peitsche dafür, dass
die Arbeit noch schneller voranging als sonst. Jeden Mittag
ließ sich Edward Stockton auf den Feldern blicken, wenn auch
nur für eine halbe Stunde, weil ihm die Hitze zu stark zusetzte,
und überzeugte sich persönlich vom Arbeitswillen der Sklaven.
Auch er gebrauchte die Peitsche. Bensua duckte sich unter den

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knallenden Lederschnüren und dachte sorgenvoll daran, wie
sehr Manu sich in dem weißen Mann irrte. Er war genauso
böse und grausam wie die anderen Weißen, die sie kennen
gelernt hatte. Aber Manu sah den Sohn des Pflanzers nicht,
wenn er auf die Schwarzen einschlug. Sie arbeitete hinter den
festen Mauern des Hauses, das zu einer neuen Heimat für sie
geworden war.

Wenn Bensua von ihren nächtlichen Gebeten zurückkehrte

und noch Licht im fernen Herrenhaus sah, musste sie
unwillkürlich an ihre Freundin denken. Sie hatte Angst um
Manu. Edward Stockton war als Frauenheld bekannt und
schreckte bestimmt nicht davor zurück, eine junge Schwarze
zu vergewaltigen. Von den Gerichten drohte ihm keine Strafe.
Die Sklavinnen waren sein Eigentum und er durfte mit ihnen
anstellen, was er wollte. Niemand schrieb einem erwachsenen
Mann vor, wie er mit seinem Besitz umzugehen hatte. Wenn es
ihm gefiel, konnte er sein Haus zerfallen und seine Ernte
verrotten lassen, sein Geld am Spieltisch oder in Bordellen
verjubeln, seine männlichen Sklaven zu Tode prügeln und eine
junge Sklavin dazu zwingen, das Nachtlager mit ihm zu teilen.
So geschah es auf vielen Plantagen im amerikanischen Süden
und kaum einer kümmerte sich darum. Nicht einmal die
Ehefrau eines Pflanzers wagte es, aufzubegehren, wenn ihr
Mann eine Sklavin in Besitz nahm und ein Kind mit ihr zeugte.
Liebte ein Schwarzer ein weißes Mädchen, wurde er
aufgehängt, selbst wenn die Weiße freiwillig zu ihm gegangen
war. »Ich bete für dich, Manu!«, flüsterte Bensua.

Doch weder die Götter aus dem fernen Afrika noch der Gott

des weißen Mannes erhörten ihr Flehen. Eine Woche nachdem
die Baumwolle in fest verschnürten Ballen nach Charleston
geliefert worden war, drang ein verzweifelter Hilferuf durch
das Herrenhaus und durch die offenen Fenster in den Garten
hinaus. Aus den »liebevollen« Komplimenten und

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»väterlichen« Berührungen von Edward Stockton war
tatsächlich Ernst geworden und Manu wand sich schreiend
unter seinem brutalen Griff. Sie schrie und stieß und biss und
kratzte, bis der Sohn des Pflanzers fluchend zurückwich und
sie freikam. Heulend und mit zerfetztem Kleid rannte sie aus
dem Zimmer. »Na, warte, du verdammtes Biest!«, schrie
Edward Stockton ihr nach. »Das hast du nicht umsonst getan!
Ab sofort wohnst du bei den Feldsklaven und wehe, du
arbeitest nicht doppelt so viel wie die anderen Nigger! Wenn
ich dich beim Faulenzen erwische, setzt es zehn
Peitschenhiebe und dann wollen wir doch mal sehen, ob du
dich noch wehrst!«

Bensua stand unter dem glitzernden Sternenhimmel und

träumte von einer sorgenfreien und glücklichen Zukunft, als
die panischen Schreie ihrer Freundin vom Herrenhaus
herüberdrangen. Sie erstarrte. Sie brauchte keine große
Fantasie um sich vorzustellen, was geschehen war. »Manu!«,
flüsterte sie mit Tränen in den Augen. Sie lief ein paar Schritte,
blieb stehen und starrte in das bleiche Mondlicht, das wie
bedrohlicher Nebel zwischen den Eichen hing und von dem
Spanischen Moos zu tropfen schien.

»Was ist denn passiert, Missy?«, hörte sie Henry rufen. Der

Schwarze war ohne seinen Zylinder aus dem Haus gekommen
und hielt einen Knüppel in der Hand. Hinter ihm erschienen
Sarah und einige andere Schwarze. Der Schrei eines schwarzen
Mädchens bedeutete großes Unglück, riss selbst Sklaven aus
dem Schlaf, die schon jahrelang auf der Plantage arbeiteten
und sich an die Grausamkeiten der weißen Männer gewöhnt
hatten. »Das war doch Manu! Das war deine Freundin! Massa
Edward hat sie…«

Bensua nickte stumm. Sie hatte dem Schwarzen von ihrer

Auseinandersetzung mit Manu berichtet. Der Schrei des
Mädchens konnte nur bedeuten, dass Edward Stockton sich an

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ihr vergriffen hatte. Sie trat zwischen die Bäume um mit ihrem
Schmerz allein zu sein. Nach der Gluthitze des Tages war es
immer noch schwül. Selbst der frische Wind brachte kaum
Linderung. Sie lehnte sich gegen einen knorrigen Baumstamm
und atmete die schwüle Nachtluft ein. Erschöpft rieb sie sich
den Schweiß vom Gesicht. Sie machte sich Vorwürfe, nichts
gegen das drohende Unglück unternommen zu haben. Doch sie
war hilflos. Nicht einmal ein Mann hätte das Unglück
verhindern können. Man hätte ihn zu Tode geprügelt oder am
nächsten Ast aufgehängt, wenn er gegen den Sohn des
Pflanzers vorgegangen wäre. Es war sinnlos.

Sie verdrängte die quälenden Gedanken und wartete ängstlich

darauf, dass etwas geschah. Sie wollte Gewissheit, auch wenn
sie längst wusste, was passiert war. Sie brauchte nicht lange zu
warten. Wenige Minuten, nachdem der Schrei ihrer Freundin
die nächtliche Stille zerrissen hatte, tauchte Manu weinend
zwischen den Bäumen auf. Ihr Gesicht war verheult und über
ihre Lippen kam ein unverständliches Gestammel. Ihr Kleid
hing in Fetzen vom Körper. In ihren Augen stand dasselbe
Entsetzen, das Bensua bei der Frau gesehen hatte, die mit
ihrem Baby ins Meer gesprungen war. Wie eine Betrunkene
torkelte Manu zwischen den Bäumen hervor, sah Bensua im
Mondlicht stehen und stammelte: »Bensua! Bensua! Massa…
Massa Edward… hat mich…« Sie brach weinend zusammen.
»Du … Du hattest… Recht, Bensua… Er wollte… er wollte
mich… mit… mit Gewalt nehmen…«

Bensua rief die anderen Schwarzen um Hilfe. Gemeinsam

trugen sie das Mädchen ins Haus. Sarah stellte erleichtert fest,
dass Edward Stockton sein Ziel nicht erreicht und Manu außer
ein paar Schürfwunden nichts abbekommen hatte. Sie kochte
einen beruhigenden Kräutertee und versicherte den anderen,
dass Manu schon am nächsten Morgen wieder gesund sein
werde. Zumindest ihr Körper, denn niemand konnte sagen, was

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der heimtückische Angriff in ihrem Kopf ausgelöst hatte. »Ich
bin ihre Freundin! Ich kümmere mich um sie!«, erklärte
Bensua.

Sie trug ihr nichts nach. Nicht einmal sie konnte sagen, wie

sie auf die gute Behandlung im Herrenhaus und die
Komplimente des weißen Mannes reagiert hätte. Die
Versuchung, nach einem rettenden Strohhalm zu greifen, war
groß, und wenn einem Sklaven die Gelegenheit geboten wurde,
das Leid hinter sich zu lassen, dachte er eben nur an sich. »Ich
bin deine Freundin!«, sagte Bensua noch einmal, als Manu
erwachte und sich tränenreich bei ihr entschuldigte. »Ich passe
auf dich auf! Das habe ich dir in der alten Heimat versprochen,
weißt du noch? Du wirst auch hier draußen überleben! So wie
wir alle! Hab keine Angst!«

Bereits nach wenigen Tagen erkannte Bensua, dass Manu

nicht durchhalten würde. Sie war zu schwach. Nicht nur
körperlich. Das schreckliche Erlebnis im Zimmer des weißen
Mannes hatte Spuren hinterlassen. Sie träumte schlecht, weinte
oft und zitterte, wenn sie dem Herrenhaus zu nahe kamen.
Jedes Mal, wenn die Peitsche knallte, zuckte sie ängstlich
zusammen. Sie wurde von der schweren Arbeit erdrückt, auf
den Feldern, am Flussufer und in den Ställen, und Bensua
musste doppelt so schwer schuften, damit keiner der Aufseher
etwas merkte. Ihr graute vor dem Augenblick, wenn Edward
Stockton aus dem Haus kommen und seine Wut an ihrer
jungen Freundin auslassen würde. »Wir werden fliehen«,
entschied sie an einem kühlen Herbstabend, als sie allein unter
dem nächtlichen Sternenhimmel stand und betete. »Es ist
besser, auf der Flucht zu sterben, als zu sehen, wie meine
Freundin stirbt! Wir werden weglaufen!« Sie schickte ein
Gebet zu den Göttern empor.

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23



Manu würde das nächste Frühjahr nicht überleben, davon
waren alle Sklaven auf der Plantage überzeugt. Sie war zu
schwach für die anstrengende Arbeit und brach fast jeden Tag
zusammen. Bensua unterstützte sie, so gut es ging. Sie half ihr
beim Tragen der schweren Lasten und nahm die Schuld auf
sich, wenn sie einen Fehler beging. Wenn sie hungrig war, gab
sie ihr etwas von ihren Rationen ab, obwohl jeder Sklavin der
gleiche Anteil an Lebensmitteln zustand. Nach dem
Abendessen betete sie mit ihr im Wald, versuchte ihr neue
Hoffnung zu geben.

Jonathan Kelly kannte kein Mitleid mit ihr. Er beschimpfte

sie laut und versetzte ihr derbe Hiebe und Tritte. Seine
schwarze Peitsche benutzte er nur zur Abschreckung. Er
erkannte wohl selbst, dass die junge Schwarze eine solche
Züchtigung nicht überleben würde. Edward Stockton war
weniger zimperlich, er schlug mit seiner Reitgerte auf das
Mädchen ein, als er ihr beim Stall begegnete. Nur weil sein
Pferd scheute und er beide Hände brauchte, um sich im Sattel
zu halten, ließ er von der Sklavin ab.

Bensua zögerte mit der Flucht. Solange sie keinen festen Plan

hatte, wollte sie das Risiko nicht eingehen. Wenn sie von den
Sklavenjägern erwischt und zu Edward Stockton gebracht
wurden, würde er sie so lange auspeitschen lassen, bis sie tot
war. Da war sie beinahe sicher. Als er ihre Freundin das letzte
Mal geschlagen hatte, war ein Ausdruck in seinen Augen
gewesen, der sie erschreckt hatte. Der Sohn des Pflanzers
hasste das Mädchen. Er würde niemals verwinden, dass sie ihn
zurückgewiesen hatte. Anscheinend war er zu stolz, sie mit

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Gewalt zu nehmen. Die meisten weißen Männer verstanden
nicht, dass es schwarze Frauen gab, die sich weigerten, sich
ihnen freiwillig hinzugeben und die Füße zu küssen.

»Massa Edward bringt mich um«, jammerte Manu beinahe

jeden Abend. »Das nächste Mal schlägt er mich tot! Hast du
gesehen, wie er mich angeschaut hat? Er bindet mich an den
Pfahl und peitscht mich so lange aus, bis ich nicht mehr atmen
kann!«

»Nein«, widersprach Bensua, »das wird nicht geschehen! Die

Götter beschützen dich! Wenn der Tag kommt, werden wir
fliehen! Wir werden weglaufen und eine bessere Zukunft
finden!«

»Wann ist dieser Tag? Wann?«, fragte Manu ungeduldig.
Bensua wusste es selbst nicht. Sie vertraute ihren Gebeten

und Liedern und hoffte darauf, dass die Götter ihr Hilfe
schicken würden. An einem warmen Frühlingsabend war es so
weit. Sie stand mit ihrer Freundin unter den Bäumen und
betete, als einige Zweige raschelten und ein schmächtiger
Schwarzer zwischen den Bäumen hervortrat. Er hatte ein
kantiges Gesicht mit knochigen Wangen und trug eine dunkle
Schirmmütze auf seinem kahl geschorenen Kopf. »Ich bin
Hansen«, sagte er leise.

Die Mädchen blickten den Schwarzen überrascht an. Bei

näherem Hinsehen wirkte er stärker und muskulöser, als seine
schmächtige Gestalt es glauben machte. Er schien nur aus
Muskeln und Sehnen zu bestehen. »Was tust du hier?«, fragte
Bensua. »Du bist kein Sklave! Ich habe dich hier noch nie
gesehen!«

»Ich bin ein freier Neger«, antwortete Hansen. »So nennen

die Weißen einen Schwarzen, der kein Sklave mehr ist. Ich
habe im Krieg für die Amerikaner gekämpft und meinem
Herrn das Leben gerettet. Deshalb hat er mir die Freiheit
geschenkt! Seht ihr?« Er zog ein Papier aus der Tasche und

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zeigte es ihnen. »Das ist mein Ausweis. Darauf steht, dass ich
frei bin.« Er steckte das Papier wieder ein und lächelte bitter.
»Aber das heißt noch lange nicht, dass es mir gut geht! Wenn
ein Weißer mich schlagen will, kann er das tun, und wenn ich
einer weißen Frau zu nahe komme oder einen Apfel stehle,
hängen sie mich auf! Wir werden niemals so frei sein wie die
Weißen! Niemals! Nicht in Amerika!«

»Warum kommst du zu uns?«, wollte Bensua wissen. »Wenn

sie dich auf der Plantage erwischen, machen sie dich wieder
zum Sklaven!«

Er lächelte. »Du bist Bensua, nicht wahr?«
»Ja, aber woher weißt du das?«
»Du bist groß und schön und hast einen starken Willen! Und

du hast den Glauben an die alten Götter nicht verloren!« Er
deutete zu den hellen Sternen empor. »So hat dich Ottobah
beschrieben!«

»Ottobah!«, rief sie aufgeregt. »Du kommst von Ottobah?«
Hansen legte einen Finger auf seine Lippen und blickte sich

aufmerksam um. Dann lächelte er. »Ottobah hat mich
geschickt. Ich sollte dich suchen. Ein Freund, der für einen
Kaufmann im Hafen arbeitet, konnte sich an dich erinnern.«
Sein Lächeln wurde stärker. »Ottobah hat viel Schönes über
dich erzählt, weißt du?«

»Wo ist er? Wie geht es ihm?«, fragte Bensua ungeduldig.
»Leise!«, warnte Hansen. »Sonst hören uns die Aufseher!« Er

ging in die Knie und forderte Bensua und Manu auf, dasselbe
zu tun. »Ottobah ist auf einer Plantage in Virginia. Es geht ihm
gut!«

Bensua schloss die Augen und dankte den Göttern. »Warum

habe ich das nie erfahren? Unser Kutscher hat in Charleston
nach ihm gefragt. Niemand wusste, wohin sie Ottobah
gebracht haben.«

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»Er war bei einem Kaufmann an der Küste«, erklärte Hansen.

»Ein gemeiner Bursche, der ihn in Ketten schlafen ließ und
ihm kaum etwas zu essen gab. Selbst einige Weiße können
diesen Mann nicht leiden. Seine Frau war noch schlimmer,
drosch jeden Abend mit der Peitsche auf ihn ein, bis er am
ganzen Körper blutete! Ottobah wollte fliehen, aber das war
nicht möglich. Der Laden des Kaufmanns lag mitten in der
Stadt und man hätte ihn sofort erwischt. Zum Glück gingen die
Kaufleute Bankrott. Sie mussten Ottobah verkaufen und er
landete auf einer Plantage in Clarksville. Das ist ein kleiner Ort
in dem Land, das Virginia heißt. Dort arbeitet Ottobah als
Feldsklave. Er ist fest entschlossen mit dir nach Norden zu
fliehen. Nach Philadelphia, einer Stadt in Pennsylvania. In
diesem Land gibt es keine Sklaven.« Er schwieg einen
Augenblick und lauschte dem Wind. »Ich habe keine Zeit, dir
mehr darüber zu erzählen. Unterwegs wirst du alles erfahren.«

Bensua brauchte eine Weile, um die vielen Informationen zu

verarbeiten. Ottobah lebt! Er liebt mich immer noch! Und er
will mit mir nach Norden fliehen! Die Nachrichten, die Hansen
brachte, wirkten wie ein Zaubertrank, gaben ihr neue Kraft und
neuen Lebensmut. »Hast du gehört?«, sagte sie zu ihrer
Freundin. »Wir gehen mit Ottobah nach Norden! Bald sind wir
frei! Jetzt brauchst du keine Angst mehr zu haben! Dieser
Mann wird uns helfen!« Sie blickte Hansen ängstlich an. »Du
hilfst uns doch, Hansen?«

Der Schwarze nickte. Er musterte aufmerksam seine

Umgebung, bevor er fragte: »Du kennst die Underground
Railroad?«

»Ich habe davon gehört. Gehörst du dazu?«
»Ich bin ein Schaffner«, erklärte er. »So nennen sie die Leute,

die flüchtige Sklaven nach Norden führen. Ich bringe euch
über den Fluss und zeige euch ein Versteck in den Sümpfen.
Dort müsst ihr bleiben, bis die Sklavenjäger keine Lust mehr

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haben, nach euch zu suchen! Es ist ein sicherer Ort vor den
Bluthunden!«

»Wie lange wird das sein?«, fragte Manu. In ihren Augen

standen Angst und Verzweiflung. »Ein Junge hat gesagt, dass
es dort Krokodile und Giftschlangen gibt! Wie können wir uns
vor ihnen schützen?«

Hansen berührte das Mädchen am linken Arm. »Ich habe ein

Boot«, beruhigte er sie, »da können die Schlangen nicht rein!
Und die Alligatoren haben mit den Krokodilen, wie es sie in
unserer Heimat gibt, wenig zu tun! Sie sind viel kleiner und
nicht so gefährlich! Ich kenne ein Versteck in den Sümpfen,
einen ausgehöhlten Baumstamm. Da findet euch niemand! Ich
nehme Vorräte und frisches Wasser mit. Eine Woche, zwei
Wochen, dann könnt ihr weiterziehen! Ich sage euch, wohin
ihr gehen müsst.«

»Wann sollen wir fliehen?«, fragte Bensua nach einer Weile.
»Am Samstag«, antwortete der Schwarze. »Ich habe gehört,

dass euer Master ein großes Fest veranstalten will. Ihr wisst,
wie die reichen Weißen feiern. Sie laden alle vornehmen
Nachbarn ein, sogar aus Charleston und Savannah, es gibt zu
essen und zu trinken und in dem großen Zimmer, das sie
Ballsaal nennen, drehen sie sich zur Musik. Sie haben viel zu
tun und sind nur mit sich selbst beschäftigt! Das ist die beste
Zeit, um zu fliehen! Nicht mal die Aufseher kümmern sich um
die Sklaven! Sie verstecken sich, rauchen Zigarren und trinken
vom besten Wein, und wenn sie genug haben, stellen sie den
weißen Mädchen nach!«

»Wir haben von dem Fest gehört«, erinnerte sich Bensua,

»der Kutscher hat es uns gesagt. Der Geburtstag der Mistress
wird gefeiert. Sie wird ein langes grünes Kleid aus Seide
tragen, das viele Dollar gekostet hat. Der Kutscher musste es
vom Schneider in Charleston abholen!«

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Hansen lächelte flüchtig. »Die Weißen geben viel Geld für

unnütze Dinge aus. Aber es ist gut, dass sie feiern. Geht, wenn
der Mond über dem Herrenhaus steht! Erzählt keinem
Menschen von eurer Flucht, nicht einmal den Schwarzen, die
im selben Haus mit euch wohnen! Wir müssen jedes Risiko
vermeiden. Wartet, bis eure Freunde auf dem Banjo spielen
und tanzen, und stehlt euch heimlich davon! Ich warte am
Flussufer auf euch! Abgemacht?«

»Abgemacht!«, versicherte Bensua ohne ihre Freundin zu

fragen. »Wir werden pünktlich sein! Du wartest bestimmt auf
uns?«

»Ich lasse euch nicht im Stich«, versprach Hansen feierlich.

»Ich arbeite für die Underground Railroad! Ich habe
geschworen jedem Schwarzen zu helfen, der aus der Sklaverei
fliehen will!«

Hansen verschwand und Bensua und Manu blieben noch eine

ganze Weile auf der kleinen Lichtung sitzen. Sehnsüchtig
blickten beide zum sternenübersäten Himmel empor. Dort
oben leuchtete der Nordstern, er würde sie in die Freiheit
führen. Manu klammerte sich ängstlich an ihre Freundin. Sie
fürchtete sich vor der gefährlichen Flucht. Bensua lächelte. Sie
würde kein Risiko scheuen, um ihren geliebten Ottobah wieder
zu sehen. Er lebte! Und er würde fliehen um irgendwo auf sie
zu warten! Sie dankte den Göttern mit einem leisen Gebet. Sie
waren auf ihrer Seite!

Die wenigen Tage bis zum Wochenende vergingen quälend

langsam. Bensua und Manu mussten beim Säen auf den
Feldern helfen und versuchten so wenig wie möglich
aufzufallen. Als die Mistress auf einem ihrer stolzen
Reitpferde erschien, um vier weitere Sklavinnen für den
Hausdienst während des Festes auszuwählen, beteten sie
stumm. Sie waren dankbar, nicht zu den Auserwählten zu
gehören. Jede andere Sklavin wäre froh gewesen, die

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anstrengende Feldarbeit mit dem Hausdienst tauschen zu
dürfen, wenn auch nur für kurze Zeit. Wer während eines
solchen Festes im Haus arbeitete, ließ die Sorgen in der heißen
Luft zurück und konnte heimlich von den leckeren Sachen
naschen, die im Küchenhaus zubereitet wurden. Für Bensua
und Manu wäre es nur schwerer gewesen, von der Plantage zu
entkommen.

Mehrmals war Bensua versucht, sich Henry oder Sarah

anzuvertrauen. Während der langen Zeit, die sie bei ihnen war,
hatte sie Freundschaft mit ihnen geschlossen. Doch es war zu
gefährlich, ihr Geheimnis zu verraten. Auch unter den
Schwarzen gab es Verräter, die flüchtende Sklaven an die
Aufseher verrieten, um dadurch Vorteile zu gewinnen. Es war
besser, den Gedanken an die bevorstehende Flucht für sich zu
behalten. Die Schwarzen, die mit ihnen im selben Haus
wohnten, würden bestraft werden, sobald ihre Flucht entdeckt
wurde, und vielleicht würde man sie sogar auspeitschen um
herauszubekommen, wohin sie geflohen waren, auch wenn sie
es nicht wussten. Aber diese Schuld mussten sie auf sich
nehmen. Wenn sie das freie Land im Norden erreichen
wollten, mussten sie die Vergangenheit hinter sich lassen.
»Kein Wort!«, warnte Bensua ihre Freundin. »Wenn du etwas
sagst, werfen sie uns ins Gefängnis!«

Am Samstagnachmittag begannen die letzten Vorbereitungen

für das Fest. Über die lange Eichenallee rollten Pferdewagen
mit Vorräten, und Robert F. Stockton erschien in seiner
vornehmen Kutsche. Seine Frau und sein Sohn waren die
ganze Woche auf »Magnolia Hall« gewesen. Es duftete nach
den frischen Speisen, die im Küchenhaus zubereitet wurden,
und aus dem Haus drangen die ersten Melodien der probenden
Musiker herüber. Als die Dunkelheit hereinbrach, blitzten
überall im Haus und sogar im Garten Fackeln und Lichter auf.
Die ersten Kutschen mit Gästen rollten über die lange

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Kiesanfahrt und parkten vor dem Haus. Auf der anderen Seite
legten die Boote an, die über den Ashley River gekommen
waren. »Der Massa und die Mistress haben allen Grund zum
Feiern«, sagte Henry, der überraschend hinter den Mädchen
aufgetaucht war. Sie standen vor den Sklavenhütten und
blickten durch die Bäume zum erleuchteten Herrenhaus
hinüber. »Ihre Plantage gehört zu den reichsten am Ashley
River.«

Bensua hatte den Schwarzen nicht bemerkt und erschrak.

»Weil sie genug Sklaven haben, die für sie arbeiten«, erklärte
sie.

»Das ist wahr«, erwiderte er. Sein Blick schien ihr zu sagen,

dass er von der bevorstehenden Flucht wusste. Aber das war
unmöglich. Sie hatten mit niemandem darüber gesprochen.
»Irgendwann werden wir alle frei sein, Missy! Dann ziehen wir
in das gelobte Land, von dem der Prediger der Weißen spricht.
Dort leben alle Menschen in Frieden miteinander, ganz egal
welche Hautfarbe sie haben.«

Henry vertraute dem Gott der weißen Männer. Seitdem er

halbwegs lesen konnte, hatte er immer öfter in dem Heiligen
Buch geblättert, das er von dem Prediger bekommen hatte.
Dort stand, dass ein gewisser Moses das auserwählte Volk in
die Freiheit geführt hatte. War Hansen ihr Moses? Würde er
das große Wasser teilen, um sie in das freie Land im Norden
zu führen?

Der Mond wanderte über das Herrenhaus und spiegelte sich

auf den weißen Säulen vor dem Eingang. Das Signal für
Bensua und Manu, das Sklavencamp zu verlassen. Jetzt kam
ihnen zugute, dass sie jeden Abend zum Beten in den Wald
gingen. Niemand wurde misstrauisch, als sie die Hütte
verließen. Sarah stand an der Feuerstelle und kochte, die
beiden Fante klimperten abwechselnd auf einem Banjo herum
und Henry stand vor der Tür und rauchte. Bensua spürte seinen

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forschenden Blick bis tief in den Wald. Selbst wenn er etwas
weiß, verrät er uns nicht, glaubte sie sicher zu sein. Sie hatten
keinen Proviant mitgenommen, besaßen nur die einfachen
Kleider, die sie am Körper trugen. Sie wollten kein Aufsehen
erregen. Ohne Proviant konnten sie sich herausreden, wenn sie
auf der Plantage erwischt wurden. »Wir wollten sehen, wie die
Weißen feiern«, würde sie sagen. Man würde sie bestrafen,
aber nicht zu Tode peitschen.

Durch den lichten Wald schlichen sie zu der Eichenallee. Sie

mussten ganz sicher sein, dass keine verspätete Kutsche über
den Kies gefahren kam. Als nichts zu hören war, rannten sie
auf die andere Seite. Sie blieben zwischen den Bäumen stehen
und blickten einander an. Manu zitterte vor Angst. Bensua
drückte ihren Arm und bedeutete ihr mit einem Kopfnicken,
weiterzugehen. Sie wussten, welche Stelle am Flussufer der
Schwarze meinte. Ungefähr eine Meile westlich vom
Herrenhaus machte der Ashley River eine scharfe Biegung,
dort war man relativ sicher. Hohes Schilf und moosbehangene
Eichen versperrten die Sicht.

Sie kamen rasch voran. Der weiche Waldboden dämpfte ihre

Schritte und das Spanische Moos, das bis auf die Wurzeln
hing, und die Dunkelheit schützten sie vor einer Entdeckung.
An die Aufseher wagten sie nicht zu denken. Wer sagte ihnen,
dass Kelly so war, wie Hansen es beschrieben hatte? Er sprach
gerne dem Alkohol zu, das war allgemein bekannt, aber
niemand wusste, ob er nur weißen Mädchen den Hof machte.
Vielleicht wartete er nur darauf, dass ihm zwei flüchtige
Sklavinnen ins Netz gingen.

Nichts geschah. Bensua und Manu schlugen einen weiten

Bogen um das Herrenhaus und schafften es, unbemerkt an den
Ställen vorbeizukommen. Einige Schweine quiekten, als sie im
Schatten eines Baumes verharrten. Sie wollten gerade
weiterlaufen, als sie ein Geräusch hörten. Bensua drückte ihrer

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Freundin eine Hand auf den Mund und beobachtete nervös,
wie ein Mann und eine Frau hinter der Scheune auftauchten.
Edward Stockton und eine junge Frau in einem blauen Kleid
und mit einem verrutschten Strohhut. Er umarmte sie und
küsste sie auf den Mund und sie kicherte unterdrückt, wehrte
sich aber, als er sie gegen die Wand drücken wollte. »Nein,
Edward! Bitte nicht!«, flehte sie und rannte davon.

Bensua wartete, bis auch Edward verschwunden war, und zog

ihre Freundin zum Fluss hinunter. Am Ufer entlang schlichen
sie zu der Biegung. Sie bahnten sich einen Weg durch das hohe
Schilf und atmeten erleichtert auf, als Hansen erschien. Er
schob ein Boot ins Wasser und winkte Bensua und Manu
heran. »Beeilt euch!«, raunte er. »Wir müssen über den Fluss,
solange der Mond hinter den Wolken bleibt!« Er deutete zum
Himmel.

Sie kletterten ins Boot und kauerten sich auf den feuchten

Boden. Hansen ergriff die Ruder. Im Schutz der Dunkelheit
überquerten sie den ruhigen Fluss. In der Ferne waren die
erleuchteten Fenster und die bunten Laternen im Garten zu
sehen. Einige Fetzen der fröhlichen Musik klangen über das
Wasser zu ihnen herüber. Jeder Ruderschlag brachte sie weiter
von der Plantage weg, trieb sie dem nördlichen Ufer entgegen.
Aber bis dahin hatten es Abraham und seine Schwester auch
geschafft. Sicher waren sie erst, wenn sie das Land erreichten,
das Pennsylvania genannt wurde.

Sie sprangen an Land und versteckten das Boot im Schilf. Ein

letztes Mal blickten Bensua und Manu zum Herrenhaus von
»Magnolia Hall« hinüber, dann folgten sie Hansen. »Mir
nach!«, flüsterte er. »Wir müssen so schnell wie möglich in die
Sümpfe!«

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24



Erst als sie im Wald waren und vom anderen Ufer nicht mehr
gesehen werden konnten, zündete Hansen die mitgebrachte
Öllampe an. Im schwachen Lichtschein liefen sie über den
unsichtbaren Pfad, den der Schwarze vor einigen Tagen
ausgekundschaftet hatte. Zur Not hätte er sich auch im
Dunkeln zurechtgefunden. Bensua trug den Proviantbeutel, den
Hansen im Boot versteckt hatte. Zwei Scheiben Brot, etwas
Schinken, einen zerbeulten Behälter mit Wasser, mehr hatte er
nicht auftreiben können. Sie drehten sich nicht um, wollten so
weit wie möglich von der Plantage entfernt sein, wenn ihr
Verschwinden entdeckt wurde. Die meisten Flüchtlinge
wurden noch auf der Plantage oder in der näheren Umgebung
gestellt, so wie Abraham und seine Schwester. Wer unentdeckt
blieb und die ersten drei Tage überlebte, hatte eine gute
Chance, den Weißen zu entkommen.

Bensua folgte dem flackernden Lichtschein ohne

nachzudenken. Die Vergangenheit blieb wie ein bedrohliches
Unwetter hinter ihr zurück. Noch war es finster, hingen die
schweren Wolken der Sklaverei über ihr, rollte der Donner und
zuckten Blitze. Nur wenn sie dicht hinter Hansen blieben und
so schnell wie möglich liefen, würden sie die bösen Geister
hinter sich lassen. Wie in einem Traum folgten sie der
unruhigen Flamme der Öllampe, von der Angst gelähmt und
unfähig, etwas zu sagen oder den Schwarzen zu bitten
langsamer zu laufen. Keuchend hielten sie Schritt, rannten sie
vor den Weißen davon, die bald merken würden, dass sie
geflohen waren. Wie eine Drohung tauchte das verzerrte
Gesicht von Edward Stockton in ihren Gedanken auf, hörten

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sie seine wilden Flüche und den wütenden Befehl, der
Jonathan Kelly und die anderen Aufseher auf ihre Spur setzte.
Und sahen die beiden Sklavenjäger, den mit dem schmalen
Schnurrbart und den mit den langen Haaren und der Narbe
unter dem rechten Ohr, die Abraham und seine Schwester
gefangen hatten.

Auf einer Lichtung legten sie eine kurze Verschnaufpause

ein. Sie starrten in die unheimlichen Schatten, die hinter ihnen
lagen, und warteten, bis sich ihr Atem beruhigte. Hansen
schien die Anstrengung nichts auszumachen. Sein Körperbau
täuschte darüber hinweg, wie ausdauernd und zäh er war. Er
hatte zu den besten Kämpfern seines Volkes gehört und
verdankte es seiner Kampfkraft und seinem tollkühnen Mut,
dass er die Papiere eines freien Negers bekommen hatte. Nur
ein Mann wie er brachte es fertig, sich auf eine Plantage zu
schleichen und anderen Sklaven zur Flucht zu verhelfen.
Bensua und Manu waren nicht die ersten. Über zwanzig
Schwarze hatte er bereits in die Freiheit geführt.

Sie lauschten angestrengt. Außer dem Rauschen des frischen

Nachtwinds war nichts zu hören. Die Stille war unheimlich,
schien die bösen Geister zu schützen, die sich jeden
Augenblick auf sie stürzen konnten. Im heimischen Regenwald
war es laut, fauchten Raubkatzen, grunzten Wildschweine,
lärmten Papageien und andere Vögel. Selbst wenn der Mond
am höchsten stand, kam der Dschungel nicht zur Ruhe. Hier
regte sich kein Ast, schwiegen die Tiere, wenn es welche gab,
als fürchteten auch sie, von den Weißen entdeckt zu werden.
Wie der Atem eines lauernden Ungeheuers strich der Wind
über die Lichtung.

Hansen zeigte zum Himmel hinauf. Ein Meer von

leuchtenden Sternen scharte sich um den halben Mond. Am
Ende des Sternbilds, das die Weißen den »Großen Bären«
nannten, leuchtete ein besonders heller Stern. »Der Nordstern«,

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erklärte der Schwarze. »Ihm müsst ihr folgen, wenn ihr in die
Freiheit wollt! Er strahlt über dem Land, in dem es keine
Sklaverei gibt und wir wie freie Menschen neben den Weißen
leben dürfen!«

»Wie lange werden wir unterwegs sein?«, fragte Bensua.
Hansen blickte sie ernst an. »Das kann niemand sagen. Die

Weißen sind so zahlreich wie das Laub an den Bäumen und
viele warten nur darauf, dass ihr ihnen in die Falle geht. Ihr
werdet euch oft verstecken müssen!« Er sah die erschrockene
Miene des jüngeren Mädchens und fügte rasch hinzu: »Habt
keine Angst! Es gibt andere Männer und Frauen wie mich,
schwarze und weiße, die sich um euch kümmern werden! Ihr
werdet es schaffen, Manu! So wie die anderen Schwarzen, die
mit der Underground Railroad in die Freiheit gefahren sind!«
Er lächelte amüsiert. »Seltsam, dass sie unsere Fluchtwege
nach einer Eisenbahn benannt haben. Die meisten Schwarzen,
die ich kenne, haben Angst vor der Eisenbahn! Und die
meisten Weißen auch!«

Bensua dachte an den Krieger, der dieselben Sterne wie sie

sah. »Wo werde ich Ottobah treffen? Ist er schon geflohen?
Wartet er in dem freien Land auf mich? Sag mir, was du
weißt!«

»Ich weiß wenig«, antwortete Hansen. »Ottobah wollte

fliehen, sobald die Weißen auf seiner Plantage ein großes Fest
feiern. So wie ihr. Und ich bin sicher, dass er sich nicht
einfangen lässt! Er ist der tapferste Krieger, den ich jemals
getroffen habe! Er hat gesagt, dass er dich finden wird, egal wo
du auch bist!«

Sie liefen weiter durch den Wald. Zielsicher führte Hansen

sie über den dunklen Pfad. Er war ein ausdauernder Läufer und
legte ein schnelles Tempo vor. Die Mädchen konnten nicht
wissen, dass er sonst doppelt so schnell war. Sein Atem war
kaum zu hören. Er schien jeden Baum in dem unheimlichen

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Wald zu kennen und flüsterte leise »Duckt euch!« oder »Dort
entlang!«, wenn sie an ein Hindernis oder eine Kreuzung
kamen. Als hätte er sein ganzes Leben in diesem Wald
verbracht. Wie ein Krieger, der einem Wild im heimatlichen
Urwald nachstellte. Hansen war schon lange von Afrika weg,
aber seine Instinkte waren noch lebendig. Auch in diesem
Land würde er immer ein Jäger bleiben.

Nach drei Stunden erreichten sie die andere Seite des Waldes.

Sie blieben zwischen den Bäumen stehen und rangen nach
Atem. Hansen nahm einen Schluck aus seiner Wasserflasche
und reichte sie an die Mädchen weiter. Sein Blick glitt
forschend über die hügelige Wiese, die zu einem schmalen
Fluss abfiel, der wie ein silbernes Band in der Ferne
verschwand. Rechts von ihnen, jenseits der Hügel, waren die
schattenhafte Umrisse eines Hauses zu erkennen. »Dort
wohnen weiße Farmer«, warnte Hansen, »ein Mann und eine
Frau! Aber wir müssen hier entlang! Die anderen Wege sind zu
gefährlich! Im Westen liegt eine Plantage, im Osten gibt es ein
Dorf und eine breite Straße, auf der viele Pferdewagen fahren!
Dort würden sie uns entdecken!«

Bensua ließ das kühle Wasser lange in ihrem Mund, bevor sie

schluckte. So hielt die Erfrischung länger an. Das hatte sie auf
der qualvollen Überfahrt gelernt. Sie blickte zu dem Fluss
hinunter. »Müssen wir über den Fluss, Hansen? Wo ist der
Sumpf?«

»Wir schwimmen den Fluss hinab«, erklärte der Schwarze

zur Überraschung der Mädchen. »Das Wasser ist kalt, aber es
geht nicht anders. Im Wasser können uns die Hunde nicht
riechen. Dann müssen die Sklavenjäger umkehren! Auch wenn
sie wissen sollten, dass wir in den Sumpf gehen, werden sie
aufgeben! In den Sumpf gehen die Weißen nicht gern! Zu viele
Alligatoren und Schlangen! Die Weißen haben niemals im
Urwald gelebt.«

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Hansen versteckte die Öllampe, die er bereits im Wald

gelöscht hatte, im Unterholz. »Bleibt dicht hinter mir!«,
schärfte er den Mädchen ein. »Wir dürfen kein Risiko
eingehen! Hier hab ich noch nie einen Weißen gesehen, aber
man kann nie wissen!«

»Was ist, wenn der Farmer aufwacht?«, fragte Manu nervös.
»Wenn wir unterhalb der Hügel bleiben, sieht er uns nicht«,

beruhigte Hansen das Mädchen. »Außerdem schlafen die
beiden fest! Einen Hund besitzen sie nicht. Nur eine
altersschwache Katze und die würde ihn nicht mal wecken
wenn das ganze Haus einstürzt!« Er blickte zum Himmel
empor. »Wir warten, bis der Mond hinter der großen Wolke
verschwindet! Seid ihr bereit?«

Die Mädchen nickten schwach. Beide hatten große Angst,

auch Bensua, und allein der Gedanke, von Sklavenjägern
gefangen und zurück auf die Plantage gebracht zu werden, ließ
sie erschaudern. Bensua erinnerte sich an ihre eigenen Worte.
Sie würde niemals aufgeben, bis sie mit Ottobah vereint war
und an eine neue Zukunft glauben durfte. Und sie hatte Manu
versprochen wie eine Schwester auf sie aufzupassen. Die
Freundin vertraute ihr und irgendwo im Norden wartete
Ottobah. Wenn die Götter sie schützten, würde sie ihn bald in
die Arme schließen.

Sie schlichen geduckt über die Wiese. Wie drei Jäger, die ein

Wild einkreisten. Nur dass sie die Gejagten waren. Irgendwann
würde ein Aufseher ihre Flucht bemerken und dann würde man
sie hetzen, solange eine Möglichkeit bestand, sie einzufangen.
Sie mussten den Fluss erreichen. Besser konnte man seine
Spuren nicht verwischen, wenn man von blutgierigen Hunden
verfolgt wurde. Das hatte Hansen schon vor langer Zeit
gelernt. Wenn er die Mädchen unbemerkt bis zu dem hohlen
Baum im Sumpf brachte, hatten sie einen wertvollen

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Vorsprung, und die Chance, dass die Sklavenjäger sie fanden,
war gering.

Am Flussufer blieb Hansen stehen. Er bedeutete den

Mädchen, sich so still wie möglich zu verhalten, und lauschte
in die Dunkelheit. Der Mond war nicht zu sehen. Die Sterne
über dem Fluss verbreiteten das einzige Licht. Es war so still,
dass selbst das leise Rauschen des Wassers zu hören war.
»Binde dir den Vorratsbeutel auf den Rücken!«, forderte er
Bensua leise auf. Er kramte eine Lederschnur aus seiner
Tasche und reichte sie ihr.

Schweigend stiegen sie in das Wasser. Der Grund fiel steil ab

und sie mussten sofort schwimmen. Die Kälte ließ sie
erschaudern. Erst als sie einige Meter zurückgelegt hatten,
wurde es besser. Die Mädchen folgten Hansen auf die andere
Seite und hielten sich dicht am Ufer, während sie sich von der
Strömung nach Südosten treiben ließen. Gegen das dunkle
Ufer und das dichte Schilf würde man sie nur erkennen, wenn
man sie im Fluss vermutete und angestrengt nach ihnen suchte.
Sie waren gute Schwimmer und glitten wie Treibholz den
Fluss hinab. Nur Manu bewegte sich manchmal zu heftig. Die
Sterne spiegelten sich wie flüssiges Silber in den schwachen
Wellen und verschwanden in dem unruhigen Wasser, das über
Felsbrocken schäumte.

Hinter einer Biegung, ungefähr zwei Meilen flussabwärts,

hielten sie sich an einem umgestürzten Baumstamm fest, der
mit der verzweigten Wurzel ins Wasser ragte. Wie jedes Mal,
wenn sie anhielten, blickten sie sich nach möglichen
Verfolgern um. Außer dem Mond und den Sternen, die zitternd
im Wasser schwammen, war nichts zu sehen. Wie stumme
Wächter ragten einige Bäume am Ufer empor. Sie waren allein
auf dem Fluss, meilenweit von jeder weißen Siedlung entfernt.
In einer abgelegenen Wildnis, die selbst von weißen Jägern
gemieden wurde.

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Bensua schloss die Augen um besser hören zu können und

strengte ihre Sinne an. Aus weiter Entfernung drangen
bedrohliche Laute zu ihr. Das Bellen von Hunden, ganz leise
nur, aber deutlich genug, um ihr einen Schauder über den
Rücken zu treiben. Die Bluthunde der Sklavenjäger!
»Niggerhunde«, wie die Weißen sie nannten. Speziell
abgerichtete Bestien, die auf entlaufene Sklaven dressiert
waren und so lange an einem hilflosen Schwarzen zerrten, bis
die Sklavenjäger ihnen befahlen von ihrem Opfer abzulassen.
Das taten die Männer aber nicht immer.

Auch Hansen hörte das Bellen. »Wir müssen weiter!«,

mahnte er. »Durch das Schilf, da finden sie unsere Spuren
nicht! Bis zum Sumpf ist es nicht mehr weit! Dort habe ich ein
Boot versteckt!«

Der Schwarze watete durch das Schilf und stieg aus dem

Wasser. Er half den Mädchen ans Ufer und deutete nach
Norden. Im bleichen Mondlicht waren ein Acker und einige
Bäume zu erkennen. Ungefähr hundert Schritte weiter lag der
Sumpf. »Zu den Bäumen und dann am Acker entlang!«,
flüsterte Hansen. »Im Sumpf sind wir sicher! Dorthin werden
sie uns nicht folgen!«

Sie rannten vom Ufer weg, spürten vor lauter Aufregung die

Kälte nicht, die sich in ihrem ganzen Körper ausgebreitet hatte.
Das Bellen der Bluthunde, das mit dem Wind über den Fluss
trieb, verlieh ihnen neue Kräfte. Sie blieben nur kurz unter den
Bäumen stehen, blickten sich um und hetzten weiter. Bis zum
Sumpf war es weiter, als Hansen in Erinnerung hatte. Sie
atmeten schwer, als sie den Rand der feuchten Wildnis erreicht
hatten. Selbst im schwachen Licht des Mondes und der Sterne
war zu erkennen, dass eine schmale Wasserstraße in den
Sumpf führte und sich zwischen dunklen Bäumen und dichtem
Buschwerk verlor. Spanisches Moos hing bis auf das Wasser
herab. Nachdem sie zum Ufer hinabgestiegen waren, zog

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Hansen ein Kanu aus dem Schilf, viel kleiner als das Boot, in
dem sie über den Ashley River gerudert waren, und lange nicht
so stabil. Er hielt es fest, während die Mädchen
hineinkletterten, und griff nach dem Paddel.

Das Bellen der Hunde war bedrohlich nahe, als Hansen in das

Kanu stieg und sich mit dem Paddel abstieß. Mit kräftigen
Schlägen bewegte er das Boot in den Sumpf hinein. Der Mond
und die Sterne blieben am Ufer zurück. Es wurde beinahe
stockdunkel, und wäre der Schwarze während der vergangenen
Monate nicht so oft über die verzweigten Wasserwege
gefahren, hätte er sich unweigerlich verirrt. Doch jetzt zog er
das Paddel sicher durch das schwarze Wasser. Niemand sprach
ein Wort. Es roch nach verfaultem Holz und verwesten Tieren
und das Glucksen des Wassers und das Zirpen einiger Insekten
waren die einzigen Geräusche in einer Wildnis, die Bensua und
Manu an den Regenwald in Afrika erinnerte. Wollten ihnen die
Götter sagen, dass sie den weißen Männern entkommen
waren? Spiegelten sie ihnen ein Stück der alten Heimat vor,
um in ihnen neue Hoffnung zu wecken?

Die lauten Stimmen der Verfolger und das Bellen der

Bluthunde zeigten ihnen, dass sie noch lange nicht in
Sicherheit waren. In der Dunkelheit, die wie zäher Nebel über
dem sumpfigen Wasser lastete, hallten die Laute wie ein
unheimliches Echo. Sie hatten sich nicht in die Irre führen
lassen, hatten wohl vermutet, dass Hansen und die Mädchen in
den Sumpf fliehen würden. »Irgendein Nigger muss ihnen
geholfen haben!«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart. »Auf
den Trick mit dem Wasser wären sie bestimmt nicht selber
gekommen!« Und der Mann mit der Narbe und den langen
Haaren erwiderte: »Sie haben ein Boot! Anders kommen sie in
diesem verdammten Sumpf nicht vom Fleck!«

»Scott und Ballard!«, flüsterte Hansen. »Die haben uns

gerade noch gefehlt! Schlimmere Sklavenjäger gibt es nicht!

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Wir müssen ganz vorsichtig sein, wenn wir ihnen entkommen
wollen!«

»Ich habe Angst!«, jammerte Manu leise.
»Sei ruhig, sonst hören sie uns«, ermahnte Bensua ihre

Freundin. »Solange Hansen bei uns ist, kann uns nichts
passieren!«

»Und wenn er uns verlässt?«
Hansen bedeutete den Mädchen, sich still zu verhalten. Er

steuerte das Boot mit beinahe lautlosen Paddelschlägen in
einen Seitenarm und erreichte einen schmalen Wasserlauf, der
sich scheinbar in dem dichten Buschwerk verlor. Doch
nachdem er die Zweige geteilt hatte, erreichten sie einen
weiteren Fluss und glitten über zahlreiche Seitenarme wie
durch ein endloses Labyrinth. An einer Stelle war das Wasser
so schmal, dass Hansen das Paddel senkrecht halten musste.
Wie ein dunkles Dach ragten die Büsche über das Boot. Sie
sahen den Schatten eines Fisches, der aus dem Wasser sprang
und zappelnd durch die Luft wirbelte, und fuhren an einem
schlafenden Alligator vorbei, ohne ihn zu bemerken. Die
Insekten schwirrten von allen Seiten heran.

Als die Büsche immer weiter zurückwichen, hielten sie an.

Die Stimmen der Verfolger waren nicht mehr zu hören. Das
Bellen der Hunde war verstummt. »Wir sind ihnen
entkommen«, flüsterte Manu erleichtert.

Hansen blieb ernst. »Lasst euch nicht täuschen«, warnte er

die Mädchen. »Die haben bestimmt ein Boot gefunden! So
leicht lassen sich Scott und Ballard nicht abhängen! Die geben
erst auf, wenn ihr in Pennsylvania seid! Dazu sind sie viel zu
geldgierig! Sie hassen alle Schwarzen! Am liebsten würden sie
uns alle umbringen!« Als er die entsetzten Gesichter der
Mädchen sah, meinte er: »Aber ich werde sie ablenken! Ich
führe sie in die Irre, und wenn sie mich erwischen, sage ich
ihnen, dass ihr zur Küste geflohen seid! Bis sie die Wahrheit

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herausfinden, seid ihr in Sicherheit!« Er grinste. »Ich kann mit
diesen Burschen umgehen!«

Er lenkte das Kanu in einen breiten Wasserlauf und ließ die

Mädchen zwischen einigen Mangroven aussteigen. Hier war
der Boden fester und bei den großen Bäumen, die sich abseits
des Wassers aus dem Boden erhoben, war der sumpfige Grund
kaum noch zu spüren. Hansen führte sie zu einer mächtigen
Eiche und deutete auf den Spalt, der auf der Rückseite klaffte.
Er war in der Dunkelheit kaum zu sehen. »Hier finden euch die
Sklavenjäger nicht!«, sagte er. »Der Baum ist hohl! Er ist groß
genug für euch beide. Das letzte Mal habe ich eine Frau und
zwei Kinder darin versteckt!« Er verriet ihnen nicht, was aus
den Flüchtlingen geworden war, und drängte sie in das
Versteck. Zögernd krochen Bensua und Manu in den hohlen
Baum hinein.

»Ich nehme das Kanu mit«, flüsterte Hansen. »Ihr müsst den

Rest des Weges schwimmen! Bis zum Rand des Sumpfes ist es
höchstens eine Meile! Wartet drei Tage! Dann nehmt den
breiten Wasserlauf und schwimmt nach Norden! Richtet euch
nach dem Nordstern! Wenn ihr aus dem Sumpf kommt, seht
ihr ein Dorf. Das Haus neben der Kirche hat zwei Kamine.
Einer hat einen Ring aus weißen Backsteinen. Dort wohnt
James Fairfield, der Reverend. Er wird euch helfen. Wartet, bis
in allen Häusern die Lichter ausgehen, dann klopft dreimal und
nach einer kurzen Pause noch zweimal an die weiße Holztür!
Vertraut dem weißen Reverend! Er ist gegen die Sklaverei und
kümmert sich um alle Flüchtlinge.«

Bensua reichte dem Schwarzen die Hand. »Vielen Dank«,

erwiderte sie leise. »Du hast uns sehr geholfen. Wir werden
dich niemals vergessen!« Auch Manu bedankte sich. »Pass auf
dich auf, Hansen! Lass dich nicht von den Sklavenjägern
erwischen!«

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»Unkraut vergeht nicht«, meinte der Schwarze grinsend und

ging zum Kanu zurück. Die Mädchen blickten ihm besorgt
nach.

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25



Die Mädchen krochen in den hohlen Baum. Sie tasteten den
moosbedeckten Boden ab und fanden zwei Decken, die
Hansen für die »Passagiere« der Underground Railroad
zurückgelassen hatte. Das Versteck war groß genug für sie
beide, hatte schon einigen Familien als Unterschlupf gedient
und war durch herabhängende Äste und verfaulte Moosfetzen
getarnt. Einen Meter vom Eingang entfernt wuchs dichtes
Gestrüpp. Nur ein erfahrener Spurenleser hätte sie bis zu dem
Baum verfolgen können. Und die »Niggerhunde«, wenn sie die
Mädchen witterten.

Selbst Bensua konnte in dem hohlen Baum aufrecht stehen.

Sie legte einen Arm um ihre Freundin und sagte: »Hier sind
wir sicher! Hier kann uns nichts passieren!« Manu zitterte vor
Angst. Der Sumpf mit seinen unbekannten Gefahren und die
beinahe vollkommene Dunkelheit erinnerten sie an die bösen
Träume, die sie nach ihrer Verbannung aus dem Herrenhaus
gehabt hatte, und schnürten ihr die Kehle zu. Allein im
heimatlichen Regenwald hätte sie keine Angst gehabt. Aber in
dieser unwirklichen Umgebung glaubte sie sich im Reich der
bösen Geister, die nur darauf warteten, sie umzubringen. »Hier
finden uns die weißen Männer nicht!«, bekräftigte Bensua, als
sie merkte, wie ängstlich ihre Freundin war. »Du wirst sehen,
bald sind wir in Sicherheit!«

Ihren Worten folgte das Krachen eines Schusses.

Unerträglich laut und viel zu nahe hatten die bösen Geister
zugeschlagen. Manu klammerte sich in panischer Angst an die
ältere Freundin und begann leise zu weinen. Bensua starrte in
die Dunkelheit hinaus ohne etwas zu sehen. Dann drangen die

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Worte der Sklavenjäger an ihre Ohren. In der nächtlichen Stille
waren sie deutlich zu verstehen. »Hast du ihn erwischt?«,
fragte Scott. »Verdammt, der Kerl wäre uns beinahe durch die
Lappen gegangen!« Und Ballard antwortete: »Ich habe ihn!
Schau dir den Bastard an! Ich hab ihm das Hirn weggeblasen!«
Einen Augenblick war nur das Plätschern des Wassers zu
hören. »He, weißt du, wer das ist? Das ist dieser Hansen, der
freie Nigger, den du neulich auf der Hauptstraße angehalten
hast! Hab ich mir gleich gedacht, dass der ein Fluchthelfer ist!
Wir hätten den Dreckskerl gleich umlegen sollen, dann hätten
wir jetzt nicht solchen Ärger!«

Bensua drückte ihre Freundin fest an sich; damit niemand ihr

leises Schluchzen hörte, und hielt sich mit der freien Hand an
dem knorrigen Baumstamm fest. »Sie haben Hansen
erschossen!«, flüsterte sie entsetzt. »Sie haben ihn…
umgebracht!« Jetzt musste auch sie weinen. Die Tränen rollten
über ihre Wangen und tropften auf ihr schmutziges
Leinenkleid. Obwohl sie den »freien Neger« kaum gekannt
hatte, fühlte sie einen Schmerz, als ob sie einen nahen
Verwandten verloren hätte. Sie kämpfte gegen die Tränen an
und versuchte ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen.
Wenn sie die Nerven verlor, drohte ihnen dasselbe Schicksal
wie Hansen. Ein tapferer Krieger bewahrte immer die Ruhe.

»Wir müssen ganz still sein«, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

»Die Weißen wissen, dass wir in der Nähe sind! Hier hört man
jeden Laut! Vielleicht haben wir Glück und sie ziehen weiter!«

Aber sie glaubte nicht daran. Hansen hatte selbst gesagt, dass

Scott und Ballard nur schwer von einer Verfolgung
abzubringen waren. Sie würden erst verschwinden, wenn sie
ganz sicher sein konnten, dass ihre Opfer nicht in der Nähe
waren. Bensua erschauderte, als sie an die gefühllosen
Gesichter der Männer dachte. Für sie war jeder Schwarze
minderwertiges Ungeziefer, das man vernichten musste. Ein

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Nigger oder eine Niggerin, die es nicht wert waren, am Leben
zu bleiben. Sie würden nicht eher ruhen, bis der letzte
Schwarze in Ketten lag oder für die Weißen arbeitete. Dabei
waren sie selbst Sklaven. Sie verrichteten die Schmutzarbeit.
So wie Kelly und die anderen Aufseher, die nicht einmal im
Herrenhaus wohnen und essen durften. In den Augen des
Masters und der Mistress waren sie fast so minderwertig wie
Sklaven. Warum glaubten manche Menschen besser als andere
zu sein? Auch bei ihrem Volk hatte es solche Unterschiede
gegeben. Die Vertrauten des Königs und die Schwertmänner
hatten sich den anderen Asante überlegen gefühlt. Wollten die
Götter wirklich, dass ein Mensch wertvoller als ein anderer
war?

»Was machen wir mit dem Nigger?«, fragte Ballard. »Für

den bekommen wir keinen einzigen Dollar! Ich hätte den
Bastard am Leben lassen sollen, dann hätten wir ihn verkaufen
können!«

»Tot ist er mir lieber«, erwiderte Scott. »Ohne ihn erwischen

wir die flüchtigen Nigger leichter!« Bensua hörte Wasser
platschen, anscheinend tauchte einer der beiden Männer sein
Paddel hinein. »Lass ihn liegen! Um den kümmern sich die
Alligatoren! Lass uns lieber nach den Mädchen suchen! Auf
die ist eine hohe Belohnung ausgesetzt, schon vergessen?
Möchte wissen, warum der junge Stockton so versessen darauf
ist, die Niggermädchen wieder einzufangen! Meinst du, er hat
einen Narren an ihnen gefressen? Ich weiß, dass Edward
keinen Rock auslässt! Aber diese halben Portionen? Eher lasse
ich mich mit einer verdammten Rothaut ein!«

»Er mag schwarzes Fleisch«, meinte Ballard abfällig. »Das

hab ich von einem Hafenarbeiter in Savannah, der ihm mal
eine junge Sklavin besorgt hat. Mann, die war noch ein halbes
Kind! Zwölf oder dreizehn. Angeblich sollen sie früh
erwachsen werden, diese Schwarzen! In Afrika heiraten sie als

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Kinder, hast du das gewusst? Hab ich auch von dem Mann in
Hafen, der kennt sich mit so was aus! Mit zwölf kriegen
manche schon Kinder!«

»Mir egal«, erwiderte der Mann mit dem schmalen

Schnurrbart. »Hauptsache, wir finden sie! Ich kann mir was
Schöneres vorstellen als die ganze Nacht im Sumpf
herumzupaddeln. Weit können sie nicht sein! Der Nigger kam
von links. Los, paddle endlich! Da hinten war ‘ne Insel, da
könnten sie sein! Wir lassen die Hunde los, die werden die
Niggermädchen schon finden!«

Den letzten Teil ihres Wortwechsels hatten die Mädchen

kaum verstanden, dazu waren ihre Worte zu undeutlich
gewesen. Aber sie konnten sich vorstellen, was die
Sklavenjäger unternehmen würden. Sie ahnten, dass ihre Opfer
in der Nähe waren, gingen irgendwo an Land und ließen die
Hunde los. Es gab zahlreiche Landzungen und Inseln in den
Sümpfen, dort war der Boden fest genug um einen Menschen
zu tragen. Auf dem trockenen Land wuchsen Bäume wie die
Eiche, in der sie sich versteckt hatten.

Das Platschen der Paddel kam näher. Bensua war sicher, dass

sie die weißen Männer sehen würde, wenn sie zum Wasser
hinunterging. Sie waren nur ein paar hundert Schritte von
ihrem Versteck entfernt. »Da drüben! Da gehen wir an Land!«,
befahl Scott. »Zieh das Boot in den Sand, sonst sitzen wir
fest!« Die Stimmen waren so nahe, dass Bensua ängstlich
zusammenzuckte. Als ständen die Sklavenjäger direkt vor
ihrem Versteck.

»Geh nach hinten!«, flüsterte sie ihrer Freundin zu. »Roll

dich in die Decken! Wenn sie uns finden, lenke ich sie ab!« Ihr
war klar, wie aussichtslos dieses Unterfangen war. Immerhin
wussten die Verfolger, dass sie zu zweit waren, und auf Manu
war bestimmt eine höhere Belohnung ausgesetzt. Aber sie
wollte ihr einen kleinen Hoffnungsschimmer lassen. Sie würde

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sich den Sklavenjägern nicht kampflos ergeben und lieber bei
dem Versuch, ihnen zu entkommen, sterben. Das war sicher.
Sie würde niemals nach »Magnolia Hall« zurückgehen!
Vielleicht konnte Manu entkommen, wenn sie die Männer in
einen Kampf verwickelte. »Lauf weg und verstecke dich, falls
es zu einer Schießerei kommt! Achte nicht auf mich! Nimm ihr
Boot und fliehe!«

»Ich gehe nicht ohne dich, Bensua!«, widersprach Manu

jammernd. »Ich weiß doch gar nicht, was ich tun sollte! Ohne
dich…«

»Still! Kein Wort!«, flüsterte Bensua.
Die Männer paddelten nicht mehr. Sie mussten aus dem Boot

gestiegen und an Land gegangen sein. »Lass die Hunde los!«,
hörte Bensua den Mann mit dem Schnurrbart sagen. »Mach
schon! Die riechen einen Nigger im Umkreis von vielen
Meilen!«

Bensua stellte sich vor, wie der Mann mit den langen Haaren

die Leinen löste und die Hunde in die Dunkelheit scheuchte.
Wenige Sekunden später war lautes Gebell zu hören. Jetzt ist
alles aus, schoss es ihr durch den Kopf. Sie hörte, wie das
Strauchwerk vor ihrem Versteck knackte. Ihre Muskeln
spannten sich. Sie würde sich bis zum letzten Atemzug gegen
die Bluthunde verteidigen. Mit erhobenen Fäusten wartete sie.

Vor der Baumöffnung tauchten Schatten auf. Die Hunde

hatten sie entdeckt! Sie bahnten sich einen Weg durch das
Gestrüpp und Bensua glaubte bereits ihren Atem riechen zu
können. Da fiel ihr eine Geschichte ein, die ein weißhaariger
Sklave auf der Plantage erzählt hatte. An einem Samstagabend
hatte er von einem jungen Schwarzen berichtet, der den
gefürchteten Bluthunden entkommen war, indem er ihnen
seine letzten Vorräte gegeben hatte. Seine Zuhörer hatten ihn
ausgelacht. »Woher willst du das wissen, wenn er entkommen

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ist?«, fragte ein Mann. Und eine Frau spottete: »Ich glaube,
das hast du erfunden, alter Mann!«

Bensua griff hastig nach dem Vorratsbeutel. Mit zitternden

Fingern kramte sie das Brot und den Schinken heraus. »Kein
Laut!«, zischte sie ihre Freundin so heftig an, dass diese
zusammenzuckte und sich die Decke über den Kopf zog.
Bensua wartete, bis die Hunde heran waren, und warf ihnen die
Vorräte hin. Mit einem stummen Stoßgebet bat sie die Götter
ihr zu helfen. Sie wagte kaum den Blick zu senken und die
Hunde anzusehen.

Erstaunt stellte sie fest, dass die Geschichte des alten Mannes

wahr gewesen sein musste. Die Bestien senkten die Köpfe und
verschlangen die unerwartete Mahlzeit. Es war zu dunkel, um
ihre funkelnden Augen und ihre scharfen Zähne zu sehen, und
sie war froh darüber. Es reichte schon, dass sie ihr Schmatzen
hörte. Kaum hatten sie den letzte Bissen hintergeschluckt,
suchten sie das Weite. »Wir haben Glück! Sie sind weg!«,
teilte sie ihrer Freundin mit.

Mit angehaltenem Atem wartete Bensua, bis die Hunde

verschwunden waren, dann atmete sie leise auf. Sie sah kurz
den flackernden Lichtschein einer Laterne und hörte Ballard
rufen: »Die Hunde kommen zurück! Sieht ganz so aus, als
wären die Mädchen nicht hier!« Scott erwiderte: »Vielleicht
hat er sie früher abgesetzt, der Bastard! Am besten, wir kehren
um und suchen morgen weiter! In dem verdammten Sumpf
finden wir sie nicht! Aber sie laufen uns nicht davon! Wir
fangen sie morgen!«

Die Stimmen entfernten sich und das Platschen des Wassers

drang leise durch die Nacht. Die Sklavenjäger zogen sich
zurück. »Sie sind weg«, sagte Bensua erleichtert, als sie ganz
sicher war. »Es ist vorbei! Wir sind in Sicherheit!« Sie beugte
sich zur Freundin hinab und schloss sie fest in die Arme. »Hast

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du gehört? Sie sind weggefahren! Du brauchst keine Angst
mehr zu haben!«

Manu schien ihr nicht zu glauben. Sie weinte leise und ihr

ganzer Körper war verkrampft. »Aber… aber die… Hunde!«,
stammelte sie in panischer Angst. »Ich habe… die Hunde…
gesehen!«

»Sie sind weg, Manu! Sie können dir nichts mehr tun! Du

brauchst nicht zu weinen, Manu! Die Männer sind zurück
gefahren! Wir sind in Sicherheit!«

Nur ganz allmählich beruhigte sich Manu. Bensua gab ihr

von dem frischen Wasser, das Hansen ihnen gelassen hatte,
und nahm selbst einen Schluck. Seltsamerweise hatte sie kaum
noch Angst. Der Sieg über die »Niggerhunde« hatte sie stark
gemacht. Sie war eine Kriegerin. Sie war mutig genug, um es
mit den weißen Sklavenjägern aufzunehmen, und würde alles
daran setzen, Ottobah und das freie Land im Norden zu
erreichen. Manu würde bei ihr bleiben. Aus der hochmütigen
Haussklavin, die glaubte etwas Besseres zu sein, war längst
wieder ein hilfloses Mädchen geworden. Manu war zu
schwach, um sich in dieser feindlichen Welt zu behaupten.

Bensua hängte sich die Flasche über die Schultern. »Wir

müssen weiter!«, entschied sie. »Wenn die Sonne aufgeht,
müssen wir aus dem Sumpf draußen sein! Untertags finden uns
die weißen Männer! Noch mal kann ich die Hunde nicht
aufhalten!«

»Aber es ist dunkel«, gab Manu zu bedenken. Sie war

aufgestanden und blickte in die Nacht hinaus. Es roch nach
vermodertem Holz. »Da draußen gibt es wilde Tiere und
Schlangen!«

»Die hat es in unserer Heimat auch gegeben«, erwiderte

Bensua. »Du hast doch gehört, was Hansen gesagt hat. Bis
zum Rand des Sumpfs ist es höchstens eine Meile! Das ist
nicht weit! So weit sind wir schon als Kinder geschwommen!«

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»Aber Hansen hat auch gesagt, dass wir drei Tage warten

sollen«, zögerte Manu noch immer. »Warum willst du jetzt
schon gehen? In dem Baum sind wir sicher. Hier finden sie uns
nicht!«

»Die Bluthunde haben uns schon gefunden«, widersprach

Bensua ungeduldig. »Komm endlich! Wir dürfen nicht mehr
warten!«

Sie verließen das Versteck und bahnten sich einen Weg durch

das dichte Gestrüpp. Ein Waschbär huschte dicht vor ihren
Füßen vorbei und verschwand in der Dunkelheit. Am Ufer
zögerten sie beide. Schwarz und feindselig lag das Wasser vor
ihnen, wie eine zähe Masse, die sie bei der ersten Berührung
verschlingen würde. Zwischen den Bäumen floss das
Mondlicht hindurch und schmolz wie auf einem Spiegel. Auch
in ihrer Heimat hatte es solche Gewässer gegeben. »Da
wohnen die bösen Geister!«, hatten die Erwachsenen gesagt.
Doch Bensua hatte Krieger gesehen, die ins Wasser gestiegen
und geschwommen waren.

»Onyankopon Kwame, beschütze uns!«, schickte Bensua ein

leises Gebet zum Himmel. Sie badete ihr Gesicht im Glanz des
halben Mondes und entdeckte den Nordstern, der wie ein
Wegweiser am Himmel stand. Er leuchtete stärker als die
anderen Himmelskörper und schien ihr zuzurufen: »Hab keine
Angst, Bensua! Folge meinem Licht und du wirst die Freiheit
erreichen!«

Entschlossen stieg Bensua in das kühle Wasser. Nach einigen

Schwimmstößen hatte sie sich an die niedrige Temperatur
gewöhnt. Die Flüsse in ihrer Heimat waren wesentlich wärmer.
»So kalt ist es nicht!«, rief sie der Freundin aufmunternd zu.
Manu folgte ihr und klapperte mit den Zähnen, aber das lag
wohl mehr an der Angst vor der ungewohnten Umgebung und
den geheimnisvollen Tieren, die irgendwo in der Dunkelheit
lauern mussten.

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Sie folgten dem breiten Fluss nach Norden, zogen ihre Arme

durch das schmutzige Wasser. Im schwachen Mondlicht sahen
sie silberne Fische springen. Dicht vor Bensua wand sich eine
Schlange durch das Wasser, machte aber keine Anstalten, sie
anzugreifen. Vor der Uferböschung waren die dunklen
Schatten einiger Alligatoren zu erkennen. Einige dösten mit
offenen Augen, schienen die Mädchen mit ihren Blicken zu
verfolgen. Aber sie bewegten sich nicht vom Fleck. Als hätten
die Götter allen Wesen im Sumpf befohlen die Mädchen
unbehelligt zu lassen.

Die Angst folgte ihnen dennoch, besonders Manu, die alle

paar Meter auf der Stelle schwamm und sich nervös nach den
leuchtenden Augen umsah. Bensua versuchte nicht daran zu
denken, dass die Bestien sie angreifen könnten. Sie erinnerte
sich an die Europäer, die durch den heimatlichen Urwald
gekommen waren und große Angst vor Löwen und Elefanten
hatten. Sie war überzeugt davon, dass selbst wilde Tiere nur
einen Menschen angriffen, wenn sie sich bedroht fühlten. »Wir
haben keine Musketen dabei«, sagte sie zu den Alligatoren,
»wir wollen euch nichts tun!« Die Alligatoren schienen sie zu
verstehen und blieben ruhig.

Der Weg war länger, als sie gedacht hatten. In dem zähen

Wasser kamen sie nur langsam voran und mussten immer
wieder treibenden Schlingpflanzen oder Ästen ausweichen.
Vor ihnen spiegelte sich der Nordstern im Wasser, wies ihnen
mit seinem Licht den Weg nach Norden. Sie waren ganz allein
in dem Sumpf, umgeben von dunklen Bäumen und Büschen
und den forschenden Blicken seiner unsichtbaren Bewohner.
»Wann sind wir da?«, fragte Manu alle paar Meter. »Siehst du
schon was?«

Nach zwei Stunden erreichten sie den Rand des Sumpfes. Sie

stiegen aus dem Wasser und fielen erschöpft ins Gras. Die
nassen Kleider klebten an ihren Körpern. Der Wind war

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unangenehm kühl, aber sie waren zu müde und mussten erst
mal wieder zu Kräften kommen, bevor sie wieder klar denken
konnten. Bensua nahm einen Schluck aus der Wasserflasche,
reichte sie an ihre Freundin weiter und blickte auf das Dorf,
von dem Hansen erzählt hatte. Die ersten Häuser lagen keine
halbe Meile vom Sumpf entfernt an einem schmalen Fluss. Im
Mondlicht erkannten sie die Hauptstraße, die über eine Brücke
ins Dorf führte.

Die Kirche war eines der ersten Gebäude. Der schlanke

Giebelturm überragte alle anderen Häuser. Daneben erhob sich
das Haus, das Hansen erwähnt hatte. Auch im schwachen
Schein des halben Mondes war der Ring aus weißen
Backsteinen an einem der beiden Kamine zu erkennen. Eine
Besonderheit, die viele Einwohner des Dorfes noch gar nicht
beachtet hatten oder für eine eigenwillige Zierde hielten. Die
Eingangstür war dunkelbraun, aber eine schmale Tür an der
Stirnseite leuchtete weiß und zeigte den Mädchen, wo sie
klopfen mussten.

»Da ist das Haus!«, erklärte Bensua. Vor Aufregung spürte

sie die Nässe und die Kälte kaum. Manu dagegen zitterte am
ganzen Körper. »Alles ist genau so, wie Hansen es uns gesagt
hat. Gleich darfst du dich an einem Ofen wärmen!«

Manu war viel zu erschöpft und müde um sich darüber freuen

zu können. Ohne die ältere Freundin wäre sie in dem hohlen
Baum geblieben oder ans Ufer geschwommen und auf dem
weichen Moos eingeschlafen. »Mir ist so kalt!«, jammerte sie
leise.

Sie warteten, bis sie sicher waren, dass niemand mehr wach

war und sie beobachten konnte, dann liefen sie in das Dorf
hinab. Vor der weißen Tür des Hauses, das sich neben der
Kirche erhob, blieben sie stehen. Bensua klopfte dreimal und
nach einer kurzen Pause zweimal. Als sich nichts rührte,
wiederholte sie das Klopfen, nur lauter. Bald darauf erklangen

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Schritte und die Tür wurde geöffnet. Ein weißer Mann in
einem karierten Nachthemd erschien. Er streckte beide Hände
aus und zog die Mädchen rasch ins Haus. »Jetzt seid ihr unter
Freunden!«, empfing er sie leise und drückte die Tür vorsichtig
wieder zu.

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26



Reverend James Fairfield gehörte zu den wenigen Männern,
die in einem Nachthemd nicht albern wirkten. Wer ihn ansah,
dessen Blick blieb ohnehin an seinem kantigen Schädel und
dem weißen Bart hängen, der einen Großteil seines Gesichtes
verbarg. Über seinen Augen hingen buschige Brauen. Sein
dichtes Haar war kaum zu bändigen und passte irgendwie zu
seiner direkten und überschwänglichen Art. »Ihr habt sicher
Hunger und Durst!«, sagte er zu den Mädchen und rief
gedämpft: »Margaret! Wir haben Besuch! Gib unseren Gästen
was von der guten Suppe und heißen Tee!« Er führte die
Mädchen in die Küche, verschloss die Fensterläden und
zündete eine Öllampe an. »Ich muss vorsichtig sein«, erklärte
er lächelnd, »nicht alle Dorfbewohner denken so wie ich!«

Die Frau des Predigers war so dick wie Harrtet und hatte

einen Morgenmantel über ihr Nachthemd gezogen. Ihre weißen
Haare waren sorgfältig nach hinten gekämmt, als wäre sie noch
gar nicht im Bett gewesen, und ihre grauen Augen leuchteten
voller Mitgefühl. »Gelobt sei der Name des Herrn!«, begrüßte
sie die Mädchen. »Hansen hat schon erzählt, dass ihr kommt.«
Sie erschrak, als sie die schmutzigen Kleider sah. »Aber wie
seht ihr denn aus? James! Hol zwei von den Kleidern, die ich
in meinem Schrank hängen habe! Und bring einen Eimer mit
Wasser! Die Mädchen brauchen eine gründliche Wäsche,
bevor wir ihnen ihr Nachtlager zeigen! Und sei leise, wenn du
zum Brunnen gehst!«

Außer einem zaghaften »Danke!« brachte Bensua kein Wort

hervor. Nicht einmal im Traum hatte sie gedacht, dass es
solche Weißen gab, freundliche und mitfühlende Menschen,

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die nur das Wohl ihrer unbekannten Gäste im Kopf zu haben
schienen. Erst als sie gebadet und die sauberen Kleider
angezogen hatten, sagte sie: »Wir sind Ihnen sehr dankbar, Mr
und Mrs Fairfield!« Und als sie vor der dampfenden Suppe
saßen: »So gutes Essen haben wir schon lange nicht mehr
gehabt, Mrs Fairfield! Auf der Plantage gab es nur Hirsebrei
und Reis und alle paar Wochen eine fette Fleischbrühe. Jetzt
habe ich wieder Hoffnung, dass wir es schaffen werden!«

Natürlich wollten die Fairfields wissen, wie die bisherige

Flucht der Mädchen verlaufen war, und Bensua berichtete von
der Nacht im Sumpf und der Begegnung mit den Hunden. Als
sie erzählte, wie Hansen ums Leben gekommen war, schüttelte
Mrs Fairfield traurig den Kopf. Sie nickte ihrem Mann zu,
dann falteten beide die Hände und der Reverend betete: »Herr,
wir bitten dich, nimm den armen Hansen in deine Obhut! Er
war ein guter Mensch! Er hat sein Leben für diese beiden
Gotteskinder geopfert und verdient es, das ewige Himmelreich
zu erleben! Kümmere dich um ihn, Herr, und strafe die
Abgesandten des Teufels, die ihn ermordet haben!« Er
räusperte sich. »Und wo wir schon dabei sind, Herr! Bereite
der Sklaverei endlich ein Ende! Schütte deinen Zorn über die
Menschen aus, die hilflose Schwarze in Ketten legen und wie
Ochsen vor ihren Karren spannen!« Seine Augenbrauen
sträubten sich und auf seiner Stirn erschienen rote Flecken.
»Gehe mit feurigen Schwertern gegen diese Unholde vor und
treibe sie von ihrem Land, wie dein Sohn es mit den Pharisäern
im Tempel getan hat! Diese Schurken leben nur für den Profit,
und wenn du keine Zeit hast, werde ich zum Schwert…«

»James!«, ermahnte Margaret Fairfield ihren Mann.
»Amen!«, sagte der Reverend widerwillig.
Nachdem die Mädchen gegessen hatten, führte Mrs Fairfield

sie in ein kleines Zimmer. Im Licht des Mondes, der durch das
Fenster schien und einen hellen Streifen auf den Boden warf,

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sahen sie einen Schrank, eine Kommode aus dunklem Holz
und ein einfaches Bett. Es war frisch bezogen. Die weiße Frau
wartete, bis die Mädchen unter der Decke lagen, dann schloss
sie die Fensterläden und sagte: »Ihr werdet bis morgen Abend
bei uns bleiben! Ihr braucht Ruhe und müsst euch erholen!
Wenn ihr vor den Sklavenjägern sicher sein wollt, dürft ihr nur
nachts reisen! Morgen Abend holt euch ein guter Freund aus
Virginia ab! Aber jetzt schlaft erst mal! Bei uns seid ihr sicher!
Gute Nacht, ihr beiden!«

»Gute Nacht«, wünschte Bensua müde. »Mrs Fairfield?«
»Ja, mein Kind?«
»Warum tun Sie das alles? Warum helfen Sie uns?«
»Wir sind Kinder desselben Gottes«, antwortete sie leise,

»auch wenn ihr einen anderen Namen für diesen Gott habt. Es
gibt nur einen Herrn und vor seinem Angesicht sind wir alle
gleich! Aber genug damit! Ihr seid müde und braucht dringend
euren Schlaf!«

Margaret Fairfield ging und sie blieben allein in dem dunklen

Zimmer zurück. Manu war bereits eingeschlafen, als Bensua
einen Arm um sie legte und ebenfalls die Augen schloss. Es
war ein herrliches Gefühl, in einem weichen Bett zu liegen und
keine Angst mehr haben zu müssen. Fast schien es, als hätten
sich die Götter ihres Volkes mit dem Gott der Weißen
verbündet um ihnen zu helfen. Oder hatten die Fairfields einen
eigenen Gott?

Früh am nächsten Morgen wurden Bensua und Manu durch

lautes Hundegebell geweckt. »Nun gedulden Sie sich doch! Ich
komme ja schon!«, hörten sie Mrs Fairfields Stimme. Im
nächsten Augenblick ging die Tür ihres Zimmers auf und der
Reverend erschien. »Ihr müsst sofort weg!«, sagte er leise zu
den Mädchen. »Draußen stehen die Sklavenjäger Scott und
Ballard! Sie müssen uns auf die Spur gekommen sein! Schnell!
Zieht euch an!«

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Die Namen der gefürchteten Männer vertrieben die letzte

Müdigkeit aus den Körpern der Mädchen. Sofort sprangen sie
aus dem Bett. Der Reverend schloss die Augen, als sie hastig
ihre Kleider überzogen. Dann reichte er Bensua einen Beutel.
»Meine Frau hat euch einige Vorräte eingepackt! Und die
Wasserflasche habe ich auch gefüllt!«

»Wo bleiben Sie denn?«, rief Scott von draußen. »Wir haben

eine gerichtliche Verfügung, Ihr Haus durchsuchen zu dürfen!«
Das war natürlich gelogen, aber wer kümmerte sich später
schon darum? »Machen Sie auf, Mrs Fairfield! Wir wissen,
dass Sie zwei Sklavinnen verstecken! Machen Sie sofort die
Tür auf oder wir schlagen die Fenster ein! Die Polizei ist auf
unserer Seite!«

Der Reverend strich das Bett glatt und schob die Mädchen in

den Gang. »Beeilt euch!«, flüsterte er. »Hier rein!« Er öffnete
die Tür zum Kartoffelkeller und führte sie eine steile Treppe
hinunter. Im Keller war es stockdunkel. Fairfield tastete sich
zur Wand vor, rückte einen Schrank zur Seite und öffnete eine
verborgene Tür. Aus dem dunklen Gang dahinter wehte ihnen
kühle Luft entgegen. »Der Gang führt zur Kirche!«, erklärte er
den verängstigten Mädchen. »Lauft nach Norden! Nach
ungefähr drei Stunden erreicht ihr einen See! Aber seid
vorsichtig und bleibt abseits der Straße, damit euch niemand
sieht! Am Ufer des Sees gibt es eine Menge großer Felsen!
Auf einem von ihnen wächst ein einzelner Baum. Versteckt
euch in der Höhle, die nahe diesem Felsen liegt! Wartet dort,
bis ein Weißer kommt und nach seinem Sohn Benjamin ruft!
Wenn ihr diesen Namen hört, wisst ihr, dass Ripley in der
Nähe ist! Ein kräftiger Mann, der immer einen Strohhut trägt.
Er wird euch nach Virginia bringen! Aber es kann zwei oder
drei Tage dauern, bis er kommt! Zuerst müssen wir jemanden
schicken, der ihm Bescheid sagt! Habt ihr verstanden?«
Fairfield schob die Mädchen in den Gang. »So, und jetzt lauft!

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Viel Glück, ihr beiden!« Er schloss die Tür und schob den
schweren Schrank davor. Eilig stieg er die Kellertreppe wieder
hinauf.

Oben angekommen klopfte er sich den Staub aus den

Kleidern und gab seiner Frau ein Zeichen. Margaret Fairfield
öffnete die Haustür und ließ die wütenden Sklavenjäger herein.
Die Bluthunde stürmten bellend an ihr vorbei. »Was fällt Ihnen
ein, meine Herren?«, rief sie entrüstet. »Es ist Sonntagmorgen!
Wie kommen Sie dazu, uns um diese Zeit zu stören? Ich war
noch im Morgenmantel und mein Mann saß in seinem
Arbeitszimmer und bereitete sich auf den Gottesdienst vor!«
Sie schnaubte vor Wut. »Und was sollen diese lächerlichen
Anklagen!«

Die beiden Männer kümmerten sich nicht um die Proteste der

Frau und schoben sie wie ein lästiges Hindernis zur Seite. »Sie
sind doch vollständig angekleidet, Mr Reverend!«, forderte
Scott ihren Mann heraus. »Warum haben Sie nicht
aufgemacht? Wollten wohl erst den verdammten
Niggermädchen zur Flucht verhelfen, was?« Er wandte sich an
Ballard. »Sieh dich draußen um! Vielleicht sind sie aus dem
Fenster gesprungen! Knall sie ab, wenn es nicht anders geht!
Es hat niemand gesagt, dass wir sie lebend bringen sollen! Ich
durchsuche das Haus. Mach schon, Ballard!«

Der Mann mit der Narbe verschwand und Scott marschierte

wie ein Polizist, der sicher ist, das Versteck eines gesuchten
Verbrechers zu kennen, in die Küche. Er öffnete den
Geschirrschrank und sah unter dem Tisch nach. »Wir haben
Sie schon seit ein paar Tagen in Verdacht«, meinte er. »Die
Hunde werden immer ganz nervös, wenn wir an Ihrem Haus
vorbeikommen!«

»Und deshalb haben Sie eine richterliche Verfügung

bekommen?«, fragte Fairfield spöttisch. »Den Richter möchte
ich sehen! Ich glaube fast, Sie leiden unter Verfolgungswahn!

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Was treibt Sie dazu, wie die Wahnsinnigen hinter ein paar
Sklaven herzulaufen? Ist es das Geld? Haben Sie keinen
Beruf? Warum hüten Sie kein Vieh? Warum bestellen Sie
keine Felder, Mr Scott?«

»Sie kennen meinen Namen?« Der Sklavenjäger blickte

Fairfield herausfordernd an. »Sie haben Angst vor mir, nicht
wahr?«

Der Reverend blieb ruhig. »Ich habe keine Angst vor Ihnen,

Mr Scott. Eher Mitleid! Jawohl, ich habe Mitleid mit Ihnen!
Mitleid mit einer irregeführten Kreatur, die ihren ganzen
Lebensinhalt darin sieht, unschuldige Menschen zu quälen und
einer ungerechten Strafe zuzuführen! Gott wird Sie für diese
Sünde bestrafen, Mr Scott!«

»Sie geben also zu, dass Sie auf der Seite dieser elenden

Nigger stehen? Wir handeln nach dem Gesetz, Mr Reverend!
Und das Gesetz sagt, dass jeder Sklave, der sich unerlaubt vom
Besitz seines Herrn entfernt, unverzüglich zurückzubringen ist
und eine empfindliche Strafe zu erwarten hat! Sklaven sind
eine wertvolle Handelsware, Mr Reverend! Unsere
Auftraggeber haben teuer dafür bezahlt und denken gar nicht
daran, diese ungezogenen Nigger einfach laufen zu lassen!
Jeder Weiße, der einen Sklaven besitzt, hat das verdammte
Recht, ihn zurückzuholen!«

»Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht in diesem Haus

zu fluchen, Mr Scott!«, erwiderte Fairfield. »Tun Sie, was Sie
nicht lassen können, und verschwinden Sie wieder! Und achten
Sie darauf, dass die Hunde nichts schmutzig machen!
Verstanden?«

Scott verschob seinen Mund zu einem gefährlichen Lächeln.

»Sie fühlen sich wohl mächtig stark, Mr Reverend? Wollen
mal sehen, was Sie sagen, wenn wir die Niggermädchen bei
Ihnen finden! Dann nützt Ihnen Ihr Gott auch nicht mehr viel!
Sie bekommen eine empfindliche Strafe und man wird Sie aus

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dieser Gegend vertreiben! Für Sklavenfreunde ist im Süden
kein Platz!«

Er drückte den Reverend zur Seite und ging in das kleine

Zimmer, in dem Bensua und Manu geschlafen hatten. Die
Hunde blieben bellend vor dem Bett stehen. Scott grinste
siegessicher. »Und wer hat in diesem Bett geschlafen?« Er
legte eine Hand auf das Laken und spürte die Wärme der
Mädchen. »Ein Gespenst?«

»Das war ich«, sagte Margaret Fairfield schnell. »Mir war

heute Morgen nicht gut, deshalb hab ich mich noch mal
hingelegt. Unsere Betten hatte ich schon gemacht.« Sie strich
das Laken glatt und schob die Decke über die Stelle, die Scott
berührt hatte. »Aber ich wüsste nicht, was Sie das angeht!
Verlassen Sie unser Haus, Mr Scott! Sie haben kein Recht, hier
herumzuschnüffeln!«

Scott ließ sich nicht beeindrucken. Sein Grinsen blieb, und

nachdem er einen misstrauischen Blick auf das verschlossene
Fenster geworfen hatte, ging er in den Flur und blieb vor der
Kellertür stehen. »Wohin führt diese Tür, Mr Reverend?«,
fragte er.

»In den Kartoffelkeller. Warum?«
»Geben Sie mir eine Lampe, Mr Reverend!« Er wartete

ungeduldig, bis Fairfield seiner Aufforderung nachkam, und
stieg dann in den Keller hinab. Nachdem er einen flüchtigen
Blick auf die Kartoffeln und die Regale mit den Vorräten und
der eingemachten Marmelade geworfen hatte, ging er zu dem
Schrank. Er riss die Tür mit einem Ruck auf und konnte seine
Enttäuschung kaum verbergen. In den Fächern des Schrankes
lagen Gesangbücher und Bibeln.

»Also gut, Mr Reverend! Heute haben Sie noch mal Glück

gehabt! Aber dieses Glück hält nicht ewig! Beim nächsten Mal
erwischen wir Sie und dann hilft Ihnen auch Gott nicht mehr!«

»Amen«, sagte der Reverend.

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Die Mädchen hatten bereits das Ende des unterirdischen

Ganges erreicht, als der Sklavenjäger die Schranktür wieder
schloss und vor dem Reverend und seiner Frau nach oben
stieg. Sie hörten nur das Bellen der Hunde, als er das Haus
verließ und nach Ballard rief. »He, Ballard! Hier ist nichts!
Schon was gefunden?«

»Das verdammte Dorf ist wie ausgestorben«, kam die

Antwort.

»Vielleicht sind sie im Schulhaus!«
»Ich komme, Scott!«



Bensua öffnete die Holztür am Ende des Geheimgangs und
fand sich in einem fensterlosen Abstellraum wieder. Sie
bedeutete der Freundin, ihr zu folgen und verschloss die Tür.
Beide Mädchen erschraken, als sie die Stimmen der
Sklavenjäger hörten. Die eine war gefährlich nahe. »Wo sind
wir?«, fragte Manu.

»Im Haus des weißen Gottes«, antwortete Bensua.
Sie öffneten die andere Tür und betraten den großen Raum, in

dem die Weißen beteten. Am Kopfende stand ein gedeckter
Tisch mit Blumen, an der Wand darüber hing ein Kreuz. Die
Geschichte vom Sohn des weißen Gottes, der für alle Weißen
am Kreuz gestorben war, hatten sie schon von den Missionaren
in der Heimat gehört. Ob die Weißen deshalb so grausam
waren? Weil sie wussten, dass der Sohn ihres Gottes für ihre
Sünden gebüßt hatte? Angeblich war er nach seinem Tod
wieder auferstanden.

»Ein seltsamer Gott, der seinen eigenen Sohn an ein Kreuz

nageln lässt«, sagte Bensua leise. Und doch beschlich sie das
eigenartige Gefühl, dass dieser Gott auch auf ihrer Seite war.
Der Reverend und seine Frau waren vom Geist ihres Gottes
beseelt und hatten ihnen geholfen! Sie setzten ihr Leben ein

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um ihnen zu helfen und lockten die Sklavenjäger auf eine
falsche Spur.

Es fiel den Mädchen schwer, den Blick von dem Kreuz zu

nehmen. Wie ein mächtiges Zeichen hing es an der Wand.
Mahnend und tröstend zugleich. Der weiße Gott verlangte
keine Opfer, weder von Tieren noch von Menschen. Er schien
nachsichtiger zu sein als ihre eigenen Götter. Und doch ließ er
zu, dass seine Gläubigen über Menschen mit anderer Hautfarbe
bestimmten.

»Weiter!«, drängte Bensua. Sie lief zur Stirnseite des Raumes

und öffnete die Hintertür. Mit einem raschen Blick erkannte
sie, dass niemand in der Nähe war. »Hinter das Gebüsch!« Sie
rannten einen Hügel hinauf und versteckten sich. Durch die
Zweige beobachteten sie die Hauptstraße, die unterhalb des
Hügels nach Norden führte. Die Sklavenjäger waren am
anderen Ende des Dorfes und klopften an die Tür des
Schulhauses. Die Bluthunde bellten nervös. »Schnell! Zum
Fluss!«, sagte Bensua.

Sie überquerten den Hügel und rannten zu dem schmalen

Fluss hinab. »Diesmal muss der Trick klappen«, hoffte
Bensua. »Wir laufen durch den Fluss, bis zu der Biegung
hinter den Bäumen! Dort wittern uns die Hunde nicht! Wir
bleiben im Schatten!«

Ohne zu zögern stiegen sie in das kühle Wasser. Gegen die

Strömung und dicht am anderen Ufer entlang, wo die Strahlen
der Morgensonne nicht hinkamen, wateten sie nach Westen.
Das Dorf entschwand ihren Blicken. Es war gefährlich, am
Tag durch den Fluss zu laufen, denn selbst an einem
Sonntagmorgen konnten sich Weiße an das Ufer verirren.
Ungezogene Jungen, die sich vor dem Kirchgang drückten, ein
Farmer und seine Frau, die auf dem Weg ins Dorf waren und
eine kurze Rast einlegten. Oder ein Kanu mit jungen Männern,
die angeln wollten.

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Die Mädchen hatten Glück. Sie erreichten die Biegung ohne

einem Menschen zu begegnen und stiegen hastig die
Uferböschung empor. Sie tauchten in einem nahen Wald unter
und wandten sich nach Westen, um die Sklavenjäger in die Irre
zu führen. Dort suchten sie bestimmt nicht nach ihnen. Sie
liefen, bis ihnen der Atem ausging, und ruhten sich auf einem
umgestürzten Baumstamm aus. Bensua trank aus der
Wasserflasche und gab sie an die Freundin weiter. Ohne ein
Wort zu wechseln rannten sie weiter. Die Angst, von den
Sklavenjägern und ihren »Niggerhunden« eingeholt zu werden,
trieb sie zu größter Eile an.

Nach einer Stunde erreichten sie eine kleine Lichtung. Sie

sanken erschöpft ins Gras und rangen nach Luft. »Essen
können wir später«, sagte Bensua, als Manu nach dem
Vorratsbeutel griff. Sie blickte zur Sonne empor und wandte
sich nach Norden. »Weiter, Manu! Weiter! In der Höhle
können wir uns ausruhen!«

Aber die Höhle lag über zwei Stunden von der Lichtung

entfernt und es wurde ein anstrengenden Marsch für sie. Durch
den Wald kamen sie schnell vorwärts, hier brauchten sie auch
keine Angst zu haben, auf eine Siedlung zu treffen oder von
einem Weißen entdeckt zu werden. Doch als sie den Waldrand
erreicht hatten und über freies Farmland fliehen mussten,
wurde es schwieriger. Zwischen den Feldern bestand immer
die Möglichkeit, einem Weißen in die Arme zu laufen und von
ihm gefangen und ins nächste Dorf gebracht zu werden. Aber
sie hielten sich von den Straßen fern, liefen quer über die
Felder und nützten jede Deckung aus, die sich ihnen bot:
Bäume, Büsche und Felsen.

Sie richteten sich nach der Sonne, die viel zu schnell am

Himmel emporstieg, und erreichten den See um die
Mittagszeit. Vor ihnen türmten sich die Felsen, von denen der
Reverend gesprochen hatte. Auf einem der Steine wuchs ein

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einzelner Baum. Sie suchten das Gebiet rings um den Felsen
ab und fanden eine versteckte Höhle, deren Eingang zwischen
einigen Büschen lag. Ohne den Hinweis des Reverends hätten
sie das Versteck niemals gefunden. »Endlich!«, rief Bensua
erleichtert. Sie verwischten ihre Spuren und betraten die
Höhle. »Hier findet uns sicher keiner!«

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27



Zwei Tage verbrachten Bensua und Manu in der Höhle. Sie
waren allein mit dem Wind, der immer stärker durch die
Felsen blies und sich in dem Gestrüpp vor dem Eingang
verfing. Die Wirklichkeit lag jenseits der Hügel. Sie hörten
keinen menschlichen Laut, keine wütenden Stimmen, und das
Gebell der Bluthunde erklang nur in ihren bösen Träumen. Die
Höhle führte ungefähr zehn Schritte in die Felsen hinein.
Durch eine versteckte Öffnung im hinteren Teil zog kalte Luft
und ließ sie erzittern. Sie schliefen eng umschlungen und
wärmten einander mit ihren Körpern, wagten auch tagsüber
nicht, ein Feuer zu entzünden. In dem Vorratsbeutel, den der
Reverend ihnen mitgegeben hatte, lag eine Schachtel mit
Schwefelhölzern. Sie hatten Angst, dass der Rauch aus der
Höhle zog und sie verriet. Scott und Ballard waren erfahrene
Jäger, die seit vielen Jahren flüchtige Sklaven einfingen, und
sie durften nicht das geringste Risiko eingehen.

Am ersten Morgen trat Bensua zögernd aus der Höhle und

ließ ihren Blick über die Felsen und den großen See schweifen.
Am Himmel waren dunkle Regenwolken aufgezogen und
spiegelten sich in dem unruhigen Wasser. Das Wetter wurde
schlechter. Der Wind blies noch stärker, strich über das dunkle
Gras und bog die wenigen Bäume am Ufer. Es begann zu
regnen. Bensua kehrte in die Höhle zurück und setzte sich zu
der Freundin, die in einer Vertiefung der Felswand kauerte und
mit beiden Armen ihren Körper umschlang. »Mir ist so kalt«,
klagte sie.

Bensua kniete nieder und massierte die Oberarme ihrer

Freundin. »Der Regen verwischt unsere Spuren«, sagte sie,

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»jetzt können uns die Hunde nicht mehr wittern! Etwas
Besseres konnte uns nicht passieren!« Sie nahm Manu in den
Arm und streichelte sie. Manu zitterte. »Bewege dich!«,
mahnte Bensua. »Hüpf auf der Stelle und lauf in der Höhle
herum, das treibt die Kälte aus deinem Körper! Wenn du ruhig
bleibst, wirst du krank! Wir dürfen nicht krank werden! Hörst
du?«

»Ich kann nicht«, erwiderte Manu erschöpft, »ich bin so

müde!«

»Du musst aber«, widersprach Bensua. »Komm, wir laufen

um die Wette! Bis zur Wand und zurück! Dann frierst du nicht
mehr!«

Sie bewegten sich den ganzen Tag, liefen in der Höhle auf

und ab und erzählten einander die alten Geschichten, um von
der Kälte abgelenkt zu werden. Wenn Manu aufgeben wollte
und zu Boden sank, zog Bensua sie hoch und redete auf sie
ein: »Der Mann, der sich Ripley nennt, wird bald hier sein!
Zwei oder drei Tage, hat der Reverend gesagt! Jetzt kann es
nicht mehr lange dauern!«

Abends kauerten die Mädchen an einer windgeschützten

Stelle und wärmten sich gegenseitig. Bensua war froh, dass
Manu zu ihr zurückgefunden hatte und jetzt an ihrer Seite war.
Sie hatte von Sklaven gehört, die allein nach Norden geflohen
waren. Wie einsam mussten sie sich gefühlt haben! Ohne einen
vertrauten Menschen in einem einsamen Versteck, von bösen
Geistern in dunklen Träumen verfolgt, konnte man den
Verstand verloren. Der weißhaarige Schwarze aus dem
Nachbarhaus hatte von einem Sklaven erzählt, der sein
Versteck verlassen und freiwillig auf die Plantage
zurückgekommen war. Er hatte die Hoffnung auf baldige
Freiheit gegen zwanzig Peitschenhiebe eingetauscht und war
einen Monat später an Verzweiflung gestorben.

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In der zweiten Nacht wurde Bensua durch ein leises Geräusch

geweckt. Sie schreckte aus dem Schlaf, löste sich vorsichtig
von ihrer schlummernden Freundin und ging zum
Höhleneingang. Es regnete in Strömen. Schwere Tropfen
prasselten auf das Gebüsch und den felsigen Boden vor der
Höhle. Ein schwacher Blitz erhellte den Himmel und ließ das
Strauchwerk in einem geheimnisvollen Licht erscheinen. In der
Ferne grollte Donner. Das musste das Geräusch gewesen sein,
das sie geweckt hatte. Sie atmete erleichtert auf und wollte zu
ihrem Nachtlager zurückgehen, als ein anderes Geräusch an ihr
Ohr klang. Hundegebell! Zuerst glaubte Bensua sich getäuscht
zu haben, aber dann war das Bellen wieder zu hören und sie
fluchte leise. Die Sklavenjäger hatten nicht aufgegeben! Sie
ließen sich nicht einmal durch den Regen abschrecken und
lagerten wohl irgendwo in der Nähe. Sie nahm an, dass die
Hunde sich vor dem Gewitter ängstigten und den hellen Blitz
angebellt hatten. Die Entfernung war schwer zu schätzen, auch
für eine Schwarze, die in der Wildnis aufgewachsen war. Eine
Meile, vielleicht zwei. In dem Unwetter war nicht zu erkennen,
aus welcher Richtung das Bellen kam.

Am nächsten Morgen wusste Bensua nicht zu sagen, ob sie

das Bellen wirklich gehört oder nur geträumt hatte. Der
Freundin verriet sie nichts. Aber sie redete so wenig wie
möglich und versuchte so lautlos wie möglich zu sein. Keine
Wettläufe und keine Geschichten mehr. Sie blieb neben Manu
in der Felsvertiefung sitzen, wärmte den zitternden Körper
ihrer Freundin und meinte: »Wir dürfen kein Risiko eingehen!
Es ist zu gefährlich!«

Am späten Vormittag ließ der Regen nach und der Wind war

nicht mehr so kalt wie während des Unwetters. Bensua trat
langsam aus der Höhle und atmete die würzige Luft ein. Von
dem einsamen Baum auf dem Felsen und dem Büschen tropfte
Wasser. Die Felsen glänzten im blassen Licht. Über dem See

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lag eine feine Nebelschicht. Bensua spähte aufmerksam in die
Ferne, voller Angst, die Sklavenjäger mit ihren Hunden zu
entdecken, und duckte sich rasch, als ein Pferdewagen über
einen der Hügel kam. Sie ging in die Höhle zurück und legte
einen Finger auf den Mund. »Da kommt jemand!«, sagte sie.

Sie blieben stehen und hörten mit klopfendem Herzen, wie

der Wagen zwischen die Felsen gerollt kam. Dann verstummte
das Mahlen der Räder und eine männliche Stimme rief:
»Benjamin! Wo bist du, mein Sohn? Ich bin leider spät dran.
Zeige dich, Benjamin! Wir haben einen weiten Weg vor uns!
Komm raus, Benji!«

Das verabredete Zeichen! Die Mädchen entspannten sich und

verließen die Höhle. Zögernd näherten sie sich dem weißen
Mann, der auf dem Kutschbock eines mit schweren
Werkzeugen beladenen Wagens saß. Er war dürr wie eine
Bohnenstange, trug einen dunkelblauen Overall und den
zerfransten Strohhut, den der Reverend erwähnt hatte. Das
Gesicht mit den kleinen Äuglein war von Wind und Wetter
zerfurcht. »Gott sei Dank!«, rief er, als er die schwarzen
Mädchen erblickte. »Ich hab schon gedacht, ich bin zu spät
dran! Mit diesem Scott ist nicht zu spaßen!«

Die Mädchen begrüßten den weißen Mann und nannten ihre

Namen. »Ich heiße Ripley«, antwortete er, »meinen Vornamen
hab ich vergessen!« Er kicherte heiser und sprang vom
Kutschbock. Mit einem geübten Handgriff zog er an einem
versteckten Hebel unter dem Wagen. Auf der Ladefläche
zwischen den Werkzeugen öffnete sich eine Klappe. »Das
sicherste Versteck, das man sich vorstellen kann«, meinte er
fröhlich. »Etwas unbequem, das geb ich gerne zu, aber besser,
als von diesen Sklavenjägern erwischt zu werden! Ich hab euch
Decken reingelegt.«

Bensua half ihrer Freundin in das geheime Versteck und

kletterte hinterher. Unter dem doppelten Boden hatten sie

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kaum Platz. Sie mussten flach liegen, wenn sie nicht mit dem
Kopf anstoßen wollten, und schafften es nur mit großer Mühe,
sich von einer Seite auf die andere zu wälzen. Noch schlimmer
war es, als Ripley die Klappe verschlossen hatte und sie über
die holprige Straße fuhren. Der Wagen war kaum gefedert und
sie spürten jede noch so kleine Erschütterung. Als sie am
selben Abend aus dem Wagen kletterten um in der Scheune
eines Farmers zu übernachten, spürten sie jeden Körperteil. Sie
ließen sich ins Stroh fallen und bedankten sich schüchtern, als
die Frau des Farmers ihnen Brot, Schinken und Käse brachte
und für jede ein Glas warme Milch. »Sie sind sehr gütig«,
sagte Bensua, »ich wusste nicht, dass es so viele gute Weiße
gibt!«

»Wir glauben nicht, dass unser Herrgott einen Unterschied

zwischen weißen und schwarzen Menschen macht!«,
antwortete die Frau lächelnd. »Wusstet ihr, dass ein schwarzer
Mann an seiner Wiege war und ihm ein Geschenk zu seiner
Geburt brachte? Ich möchte wissen, was die Sklavenhalter
sagen würden, wenn Jesus als schwarzer Mann auf die Erde
zurückkäme!« Der Gedanke schien sie zu belustigen. »Gott
segne euch, meine Kinder! In der Scheune seid ihr vor den
Sklavenjägern sicher! Wir haben schon vielen Flüchtlingen
geholfen!«

Im Stroh war es angenehm warm und die Mädchen schliefen

bis in den Morgen hinein. Nicht einmal der Hahn konnte sie
wecken. Sie erwachten erst, als die Farmersfrau in den Hof
kam um die Schweine zu futtern, und spritzten sich frisches
Wasser aus dem Ziehbrunnen ins Gesicht. Da weit und breit
kein Sklavenjäger zu sehen war, konnten sie im Haus
frühstücken. Es gab frisch gebackenes Brot mit Spiegeleiern
und heiße Milch. Ripley verschlang einen Teller mit
Bratkartoffeln und Speck. Er hatte riesigen Appetit. Auch auf
den anderen Farmen, die sie auf ihrem Weg nach Virginia

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besuchten, schaufelte er mächtige Portionen in sich hinein.
»Warum bist du so dünn, wenn du so viel isst?«, wollte Manu
wissen. Und Ripley antwortete grinsend: »Weil ich den ganzen
Tag auf dem Wagen durchgeschüttelt werde! Da kannst du
nicht dick werden! Sollte meine Schwester auch mal
versuchen!«

»Du hast eine Schwester?«, fragte Manu.
Ripley nickte. »Sie wohnt in Kanada, schon seit ein paar

Jahren. Früher lebte sie in Virginia. Die Leute haben sie
weggejagt, weil sie einem Schwarzen helfen wollte, einem
entflohenen Sklaven! Er hatte ein paar Äpfel gestohlen und
sollte aufgehängt werden!«

»Und?«, erkundigte sich Manu.
»Sie knüpften ihn an der Eiche vor dem Schulhaus auf! Vor

den Kindern! Meine Schwester schlug mit einem Knüppel auf
die Männer ein, aber sie konnte das Verbrechen nicht
verhindern.«

»Und seitdem bist du Schaffner?«
»Das war ich schon früher«, antwortete er.
Die nächsten Tage verliefen ohne einen Zwischenfall. Sie

fuhren über Nebenstraßen nach Norden, begegneten einigen
Weißen, die aber keinen Verdacht schöpften. Der Wagen bot
eine perfekte Tarnung. Ripley wurde für einen Farmer
gehalten, der mit defekten Werkzeugen und Geräten in die
Stadt unterwegs war um sie dort reparieren zu lassen. In
seinem Overall und dem zerfransten Strohhut sah er wie die
meisten Männer aus, an denen sie vorbeifuhren. Die Mädchen
konnten durch den schmalen Spalt zwischen den
Wagenbrettern nach draußen blicken. Sie sahen blühende
Wiesen und glitzernde Seen und atmeten tief die frische Luft
des Frühlings ein. Es wurde immer wärmer. Nach dem
Unwetter in den Felsen regnete es kaum noch und die Sonne
strahlte von einem tiefblauen Himmel. Jetzt fuhren sie

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tagsüber, weil ein Weißer, der nachts einen Wagen lenkte,
Verdacht erregt hätte. Die Nächte verbrachten sie auf den
»Stationen« der Underground Railroad, abgelegenen Farmen,
Kirchen und Stadthäusern. Wie ein unsichtbares Netz
überzogen diese »Stationen« das Land.

Ripley hatte versprochen sie bis nach Virginia zu bringen.

Seit seine Schwester nach Kanada gezogen war, lebte er allein.
»Ich hab genug Zeit«, erzählte er. »Das bisschen Geld, das ich
zum Leben brauche, verdiene ich mir zwischen den Fahrten.«
Er lenkte den Wagen im Zickzackkurs durch North Carolina,
schien jeden Schlupfwinkel zu kennen und fand immer wieder
einen freundlichen Farmer, der ihm etwas Fleisch, ein Huhn
oder einige Kartoffeln schenkte. Die Underground Railroad
hatte mehr Mitarbeiter, als die Mädchen vermuteten. Jeden
Abend, bevor sie einschliefen, dankten sie ihren Göttern dafür,
dass es Weiße gab, die ein Herz für die schwarzen Sklaven
hatten. Auch einige Schwarze waren unter den Helfern. Freie
Neger mit gültigen Papieren oder Flüchtlinge, die
zurückgekommen waren und im Verborgenen arbeiteten. Es
gab keine feste Organisation, einer half dem anderen und
keiner machte ein Geschäft mit der Flucht.

Die Mädchen gewöhnten sich an ihr unbequemes Versteck

und waren sogar froh, unter dem doppelten Boden des Wagens
liegen zu dürfen. Das hatten sie Hansen und dem Reverend zu
verdanken, die sich beide darum bemüht hatten, dass Ripley
sie nach Virginia brachten. Hansen hatte sofort gesehen, dass
Manu viel zu schwach war, um auf einem anderen Weg in die
Freiheit zu gelangen. Die Flucht durch den Sumpf war
anstrengend genug gewesen. Männliche Sklaven und sogar
einige Frauen und Kinder mussten zu Fuß nach Norden
fliehen, liefen von einer »Station« zur nächsten und waren nur
nachts unterwegs. Gegen diese Strapazen hatten es die
Mädchen noch gut. Aus Dankbarkeit nannten sie auch die

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Namen von Hansen und dem Reverend, wenn sie beteten. Und
Bensua fügte ein schüchternes »Amen!« hinzu, damit auch der
Gott der Weißen ihre Worte hörte.

Jetzt tauchte auch Ottobah wieder in Bensuas Träumen auf.

Die Sehnsucht nach dem geliebten Mann hatte niemals
nachgelassen, auch wenn die Angst vor den Sklavenjägern und
die Sorge um die schwache Freundin ihre Liebe in den
Hintergrund gerückt hatten. Wenn sie in Gefahr waren,
brauchten sie ihre ganze Energie, um den Verfolgern zu
entkommen. Selbst mutige Krieger starben im Kampf, wenn
sie an ihre Frauen und Kinder dachten. Jede Ablenkung
brachte Gefahr, darüber hatten die Männer in der alten Heimat
oft gesprochen. Doch unter dem doppelten Boden war sie
sicher und ihre Gedanken wanderten immer öfter zu dem
Krieger, der irgendwo in Virginia zu ihnen stoßen sollte.
Ottobah würde sie finden, da war sie ganz sicher. Sie zitterte
vor Vorfreude, wenn sie daran dachte, den Krieger zum ersten
Mal nach langer Zeit zu umarmen, doch in ihre Vorfreude
mischte sich die Sorge, es könnte etwas dazwischenkommen.
Auch Ottobah musste fliehen und schwebte in ständiger
Gefahr, von Sklavenjägern aufgegriffen und bestraft zu
werden.

Auf einer einsamen Straße nördlich von Salem, am Ufer

eines lang gestreckten Sees, verwandelte sich die Vorfreude
der Mädchen in eisige Furcht. Wie aus dem Nichts tauchten
drei Reiter auf, drei Weiße auf wendigen Pferden, die nervös
wieherten, als die Männer sie zügelten. »Kein Wort!«, zischte
Bensua. Die Reiter waren auf ihrer Seite und sie konnte sie
deutlich sehen. Scott und Ballard waren nicht dabei. Die
Männer sahen aus, als wären sie schon einige Zeit unterwegs.
Sie trugen lange Regenmäntel, obwohl seit Tagen die Sonne
schien. Ihre Gesichter waren hart und wurden von kalten
Augen beherrscht.

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»Wen haben wir denn da?«, fragte einer der Männer,

anscheinend der Anführer. Er trug einen Kinnbart. »Was tut
ein Farmer in dieser gottverlassenen Gegend? Wollten Sie zu
Hostetter?«

»Hostetter? Kenne ich nicht«, antwortete Ripley gelangweilt.

»Ich will nach Salem, die verdammten Geräte reparieren
lassen.«

»Salem liegt da hinten«, sagte der Mann und deutete nach

Süden. »Scheinen sich nicht besonders gut auszukeimen in
dieser Gegend. Sind Sie sicher, dass Sie nicht zur Miller Farm
wollten?«

Ripley ließ sich nicht einschüchtern. »Ich fahr um den See

rum und dann erst nach Süden. Da ist die Straße nicht so
holprig und ich kann in der Taverne vom alten Bill Zachary
übernachten. Der brennt den besten Whiskey östlich der
Smoky Mountains…«

»Das stimmt«, rief einer der anderen Männer. »Einen

besseren Whiskey gibts nicht mal in Tennessee und da brennen
sie einen verdammt guten Stoff! Da sollten wir auch
vorbeireiten, Ed!«

»Halt die Klappe!«, befahl der Anführer. Er lenkte sein Pferd

um den Wagen und schob einige Geräte zur Seite. Den
Mädchen trat der Angstschweiß auf die Stirn. Sie waren nur
durch ein paar Latten von dem Sklavenjäger getrennt. Seine
Hände waren wenige Zentimeter von ihnen entfernt. Aber er
fand die Klappe nicht und ritt zum Kutschbock zurück. »Und
ich dachte, Sie sind einer dieser elenden Niggerfreunde, die
Sklaven nach Norden karren! Miller hatte eine Station, haben
Sie das gewusst?«

»Eine Station?«, fragte Ripley. »Ein Bahnhof?«
Der Anführer grinste wieder. »So was Ähnliches.

Underground Railroad, schon mal gehört? Ein Netz von
verdammten Niggerfreunden, die Sklaven von einem Versteck

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zum anderen bringen. Miller gehörte zu ihnen! Wir haben ihn
gestern zum Sheriff gebracht! Jenkins, der Dicke auf dem
weißen Pferd, wollte ihn aufhängen, aber es gab eine hübsche
Belohnung für Miller und die wollte ich mir nicht entgehen
lassen!« Er blickte Ripley forschend an. »Und Sie sind ganz
sicher, dass Sie Miller nicht kennen?«

»Ich kenn keinen Miller und mit Niggern will ich nichts zu

tun haben!«, erwiderte Ripley scheinbar entrüstet. »Ich will
meinen Kram nach Salem bringen, weiter nichts! Darf ich
weiterfahren?«

»Natürlich«, antwortete der Anführer. Er machte den Weg

frei und wandte sich an seine Männer. »Hier ist nichts zu
holen, Leute! Kommt, wir reiten nach Norden! Vielleicht
fangen wir die beiden Niggermädchen ab, nach denen Scott
und Ballard suchen. Auf die ist eine hohe Belohnung
ausgesetzt!« Sie ritten in einer dichten Staubwolke davon und
verschwanden hinter den Hügeln.

Ripley wischte sich den Schweiß von der Stirn und wandte

sich zu den Mädchen, die wie versteinert in ihrem Versteck
lagen. »Zu Miller können wir nicht mehr«, seufzte er. »Ist
wohl besser, wir fahren die Nacht durch! Ich kenne einen
Schleichweg durch die Berge!« Er schnalzte mit der Zunge
und fuhr weiter an dem See entlang. Jenseits der Hügel bog er
in eine schmale Seitenstraße ab. »Morgen sind wir in
Virginia!«, versprach er den Mädchen. »Ich bringe euch zu
einem Farmer, da könnt ihr euch ausruhen! Die letzten Meilen
bis zur Küste werdet ihr dann zu Fuß zurücklegen! Der Farmer
sagt euch alles, was ihr wissen müsst.« Die Mädchen
antworteten nicht. Der Schrecken saß ihnen immer noch in
allen Gliedern.

Erst als sie in den Bergen waren und es wagen konnten, kurz

aus ihrem Versteck aufzutauchen, rief Bensua dankbar: »Du

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hast uns das Leben gerettet, Ripley! Du bist ein wahrer
Freund!«

Ripley zwinkerte den Mädchen zu und ließ die Zügel

schnalzen. Noch lag ein weiter Weg vor ihnen.

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28



Die Farm der Weinheimers lag an einem kleinen Fluss,
ungefähr zwanzig Meilen von der Grenze zu Delaware
entfernt. So hieß der winzige Staat, der zwischen Virginia und
dem freien Pennsylvania lag. Hans und Luise Weinheimer
waren deutsche Einwanderer, die aus Ulm nach Amerika
gekommen waren und zur »Gesellschaft der Freunde«
gehörten, einer religiösen Gemeinschaft, die für die Gleichheit
der Menschen eintraten. Der überwiegende Teil der Quäker,
wie sie auch genannt wurden, war gegen die Sklaverei und
versuchte sogar vor Gericht gegen das Unrecht im Süden
vorzugehen. Immerhin stand in der amerikanischen
Verfassung, dass alle Menschen gleich waren. Ein Grundsatz,
an den sich kaum ein Bürger hielt. William Penn, einer der
bekanntesten Quäker, hatte Philadelphia gegründet, die »Stadt
der Bruderliebe«. Sie war das Ziel von Bensua und Manu.

Sie warteten abseits der Straße, bis die Sonne unterging. Im

Schutz der Dunkelheit lenkte Ripley den Wagen auf den
schmalen Weg, der zum Farmhaus führte, und hielt in sicherer
Entfernung an. Er ließ fünfmal die Peitsche knallen. Nach
einer Weile ging im Haus ein Licht an, erlosch und ging
wieder an. Das verabredete Zeichen dieser Station. Ripley
schnaufte erleichtert und fuhr den Wagen hinter einen
Schuppen. Dort konnte er vom Hof nicht gesehen werden. Er
kletterte vom Kutschbock, holte die Mädchen aus dem
Versteck und lief mit ihnen zum Haus. Hans Weinheimer stand
in der Tür und ließ sie ein. Er legte den Riegel vor und führte
die Besucher in die Küche. Seine Frau war bereits damit
beschäftigt, kalten Braten auf den Tisch zu stellen und einige

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Scheiben von einem riesigen Brotlaib abzuschneiden. Sie
begrüßte die Neuankömmlinge herzlich und nahm eine Kanne
vom warmen Herd. »Der Tee wird euch gut tun«, meinte sie.

»Sie haben Miller geschnappt, unten in den Carolinas«, sagte

Ripley nach dem ersten Schluck. »Wir sind einigen
Sklavenjägern begegnet, die ihm eine Falle gestellt haben.
Einer von ihnen hieß Ed.«

Der Farmer nickte. »Edward Garnett. Von dem haben wir

auch schon gehört. Ein geldgieriger Bursche, der seine Mutter
verkaufen würde, wenn sie eine Schwarze wäre! Hier haben sie
sich noch nicht blicken lassen. Wir sind sehr vorsichtig,
Bruder.«

»Ich weiß«, erwiderte Ripley. »Aber ich glaube, es wäre

besser für die Mädchen, schon heute Nacht aufzubrechen.
Natürlich nur wenn sie sich stark genug fühlen.« Er warf einen
Blick auf Manu. »Ich weiß nicht, ob die Kerle meine
Geschichte geglaubt haben.«

»Wie seid ihr den Männern entkommen?«, fragte

Weinheimer.

»Sie haben uns laufen lassen. Ich hab den Umweg über die

Berge genommen, da haben sie uns bestimmt nicht gesucht.
Aber es sieht ganz so aus, als wären sie einigen
Stationsmeistern auf die Schliche gekommen! Hinter den
Mädchen sind sie auch her! Auf die beiden ist eine hohe
Belohnung ausgesetzt!«

Weinheimer wandte sich Bensua und Manu zu und lächelte

verständnisvoll. Er war ein untersetzter Mann mit einer
Halbglatze und einem breiten Gesicht. »Ihr habt sicher eine
Menge mitgemacht! Wir haben von den Qualen gehört, die
unsere schwarzen Brüder und Schwestern auf den Plantagen
erleiden müssen. Leider erkennen viele Amerikaner nicht, dass
Gottes inneres Licht in jedem Menschen wohnt. Gott macht
keinen Unterschied zwischen einem König und einem Bettler.

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Er liebt alle Menschen, egal welche Hautfarbe sie haben. Auch
die Indianer. Aber habt keine Angst, auf unserer Farm seid ihr
in Sicherheit! Wenn ihr wollt, könnt ihr bis morgen Abend
bleiben, dann seid ihr ausgeruhter. Ich kann euch leider nicht
fahren. Mit dem Wagen muss ich die Hauptstraße nehmen, das
ist zu gefährlich! Ich habe keinen doppelten Boden und euch
unter eine Decke zu verbergen ist zu riskant. Da werdet ihr
bestimmt entdeckt!«

Ripley hatte sein Brot dick mit Butter bestrichen und biss

hungrig hinein. Auch nach der Begegnung mit den
Sklavenjägern hatte er seinen Appetit nicht verloren. »Ich hab
den Mädchen schon gesagt, dass Sie den Rest des Weges
laufen müssen.« Er hob die linke Hand. »Wenns nach mir
ginge, würde ich euch bis zur Küste fahren, aber ich muss
zurück! Ich bin schon viel zu lange unterwegs! Es gibt noch
andere Flüchtlinge!«

»Du hast mehr für uns getan, als wir gehofft haben«,

erwiderte Bensua dankbar. »Den Rest des Weges schaffen wir
allein!« Sie schluckte den Bissen hinunter und trank von ihrem
Tee. »Jetzt sind wir in Virginia, nicht wahr?«, fragte sie.
»Meinst du, Ottobah findet uns? Er weiß doch gar nicht,
welchen Weg wir nehmen. Sollen wir hier auf ihn warten?«

Ripley schüttelte den Kopf. »Kümmere dich nicht um ihn,

auch wenn es dir schwer fällt! Sonst bringst du dich und deine
Freundin noch in Gefahr! Ottobah ist ein tapferer Mann.
Entweder er findet euch oder du siehst ihn in Philadelphia.
Dort treffen sich alle Sklaven.«

»Ex-Sklaven«, verbesserte der Farmer. »Die Stadt der

Bruderliebe ist ein Treffpunkt für alle Menschen, die in
Frieden miteinander leben wollen! Sklaven sind dort keine
Sklaven mehr!« Er legte Bensua eine Hand auf den Arm. »Ihr
werdet den Mann, den ihr Ottobah nennt, in Philadelphia
finden. Da bin ich ganz sicher!«

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Nach dem Essen verabschiedete sich Ripley. Auch er musste

vorsichtig sein und wollte auf keinen Fall mit den
Weinheimers gesehen werden. Die Underground Railroad
funktionierte nur, wenn alles im Geheimen ablief. Er umarmte
die Mädchen und wünschte ihnen viel Glück. »Irgendwann
werden alle Menschen zur Vernunft kommen«, meinte er
wehmütig. »Aber ich befürchte, das wird noch eine ganze
Weile dauern.« Er stieg auf den Kutschbock, winkte noch
einmal und lenkte den Wagen vom Hof.

Luise Weinheimer zeigte den Mädchen, wo sie schlafen

würden. Sie hatten sich entschieden, bis Mitternacht zu ruhen
und dann die Farm zu verlassen. Am nächsten Morgen würden
sie sich im Wald verstecken. Die Farmersfrau hatte ihnen einen
Beutel mit Vorräten gefüllt und stellte eine Kanne mit heißem
Tee daneben. »Seid vorsichtig!«, bat sie. »Versprecht ihr mir
das, ja?«

Die Mädchen gaben ihr Wort und legten sich auf die

Matratze, die in einer ehemaligen Vorratskammer neben der
Küche auf dem Boden lag. Manu war bald eingeschlafen, doch
Bensua dachte in der Dunkelheit an Ottobah. Sie sehnte sie
sich danach, den Krieger endlich in die Arme zu schließen.
Auch wenn sie lange Zeit nichts von ihm gehört hatte, wusste
sie, dass seine Liebe unverändert war. Die Götter hatten ein
Feuer entzündet und ihre Seelen verschmolzen und nicht
einmal die weißen Männer konnten sie auseinander bringen.
Sie waren füreinander bestimmt und würden eine gemeinsame
Zukunft erleben. Und Manu sollte in ihrer Nähe bleiben.
Bensua würde alles daran setzen, um den Sklavenjägern auf
den letzten Meilen nicht in die Hände zu fallen.

Doch die Götter hielten eine schwere Prüfung für sie bereit.

Ungefähr eine Stunde vor Mitternacht krachte ein Schuss und
riss die Mädchen unsanft aus dem Schlaf. Glas splitterte. Sie
sprangen von der Matratze und öffneten vorsichtig die Tür.

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Hans Weinheimer und seine Frau kamen in Nachthemden aus
dem ersten Stock herunter. Luise Weinheimer stieß einen
verzweifelten Schrei aus, als ein zweiter Schuss krachte, die
Kugel das Küchenfenster durchschlug und sie in die Schulter
traf. »Luise!«, stieß ihr Mann in panischer Angst hervor. Er
sank neben ihr auf die Knie. »Mein Gott! Luise! Was ist
passiert? Bist du getroffen?«

»Nichts Ernstes! Nur ein Kratzer!«, antwortete sie keuchend.

»Kümmere dich nicht um mich, Hans! Sag ihnen, sie sollen
aufhören! Dieses Haus steht unter dem Schutz des Herrn! Wir
tun… wir tun nichts… Unrechtes! Du… du musst… sie
aufhalten, Hans!«

Der Farmer erhob sich und rannte in die Küche. »Was wollt

ihr?«, rief er durch das zersplitterte Fenster. »Warum schießt
ihr auf uns? Wir haben niemandem etwas getan!«

»Hörst du das?«, erklang eine Stimme, die Bensua bekannt

vorkam. »Der Niggerfreund sagt, dass sie nichts getan haben!«
Er lachte höhnisch. »Ihr habt verdammten Niggern zur Flucht
verholfen! Würde mich nicht wundern, wenn ihr auch jetzt
wieder einen von diesem Pack unter eurem Dach habt! Na, was
ist, Weinheimer?«

»Scott! Das ist Scott!«, flüsterte Bensua.
Manu starrte sie fassungslos an.
»Wir haben nichts Unrechtes getan!«, rief der Farmer

verzweifelt. »Was fällt euch ein, auf uns zu schießen? Meine
Frau ist verletzt! Wo ist der Sheriff? Warum holt ihr nicht den
Sheriff, wenn ihr uns was vorzuwerfen habt? Ihr seid
Sklavenjäger, nicht wahr?«

Scott lachte wieder. »Wir sind Männer, die auf der Seite des

Rechts stehen, Weinheimer! Und wir dulden nicht, dass
ausländische Niggerfreunde wie du mit einer Geldstrafe
davonkommen! Komm raus, Weinheimer, damit wir dein Haus

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anzünden können! Du sollst sehen, wie deine Niggerbleibe
niederbrennt!«

»Das dürft Ihr nicht!«, unternahm der Farmer den

vergeblichen Versuch, die Männer von ihrem Vorhaben
abzubringen. »Denkt an meine Frau! Sie ist verletzt! Sie kann
nicht rauskommen!«

»Dann müssen wir sie holen, Weinheimer!«
»Nein! Nein! Wir… Wir kommen schon!« Der Farmer

hastete zu seiner Frau zurück und beugte sich über sie. »Luise!
Was ist mit dir? Sag doch was, Luise! Du… bist… doch
nicht…«

»Nur ein Streifschuss!«, beruhigte Bensua den Mann leise.

Sie hatte die Frau hastig untersucht. »Aber sie ist bewusstlos.«

Weinheimer zwang sich zur Ruhe. Er schob beide Arme

unter den leblosen Körper seiner Frau und blickte Bensua mit
Tränen in den Augen an. »Ihr müsst hier weg!«, flüsterte er
heiser. »Durch die Hintertür! Versteckt euch im Wald! Ihr
dürft den Sklavenjägern nicht in die Hände fallen! Das sind
Scott und Ballard, die fackeln nicht lange! Die bringen euch
nach Süden zurück!«

»Was ist mit Ihnen?«, fragte Bensua ängstlich.
»Macht euch um uns keine Sorgen!«, antwortete der Farmer

leise. Er zwang sich zu einem Lächeln. »Alten Leuten wie uns
tun sie nichts! Wenn sie unser Haus niederbrennen, bauen wir
ein neues! In Europa haben sie unser Haus auch
niedergebrannt!«

»Sie kommen ins Gefängnis!«
»Wir bekommen eine Geldstrafe«, versicherte der Farmer.

»Wir haben genug Geld! Ich hab es an einer geheimen Stelle
vergraben! Das Haus ist wertlos! Sollen sie es doch
niederbrennen!«

»Was ist?«, erklang die ungeduldige Stimme des

Sklavenjägers. »Kommt endlich raus oder wir zünden euch das

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Dach über dem Kopf an! Ich hab keine Lust, ewig zu warten!
Wo seid ihr?«

»Wir kommen!«, rief der Farmer rasch.
Bensua hängte sich den Vorratsbeutel um die Schultern und

griff nach der Hand ihrer Freundin. So leise wie möglich liefen
sie zur Hintertür. Als sie sich noch einmal umdrehten, sahen
sie, wie eine Fackel durch das zersplitterte Küchenfenster fiel
und die Vorhänge in Brand steckte. Im Schein der
aufflackernden Flammen stolperte Weinheimer mit seiner Frau
nach draußen.

»Wurde auch Zeit!«, ließ sich Scott vernehmen, »sonst wärs

verdammt heiß geworden!« Er wandte sich an Ballard und die
anderen Männer, die mit ihm gekommen waren. »Fesselt die
Niggerfreunde und werft sie auf den Wagen! Der Sheriff wird
Augen machen, wenn wir ihm die verdammten Ausländer
bringen!«

Die Mädchen schlichen aus dem Haus und hetzten im Schutz

der Hauswand und des aufsteigenden Rauches vom Hof und
über die nächsten Hügel. Der Hund der Weinheimers, ein
zottiger Jagdhund, bellte das Feuer an und verriet sie nicht. Sie
rannten, bis sie keine Luft mehr bekamen, blieben erschöpft
stehen und versuchten sich im schwachen Mondlicht
zurechtzufinden. Der Himmel war bewölkt und die Sterne
waren kaum zu sehen.

»Hier entlang!«, rief eine Stimme gedämpft. »Ich habe ein

Pferd! Und ich kenne den Weg durch den Wald! Da findet uns
niemand!«

Bensua blieb erschrocken stehen und nahm Manu in den

Arm. Keine zehn Schritte vor ihr stand ein junger Schwarzer.
Anscheinend hatte er beobachtet, wie sie geflohen waren. Ein
»Schaffner« der Underground Railroad? Ein freier Neger? Ein
Freund der Weinheimers, der im richtigen Augenblick
gekommen war?

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Ihr blieb keine Zeit zum Überlegen. »Ich bin ein Freund! Ich

habe gesehen, wie ihr geflohen seid! Schnell! Zu meinem
Pferd!«

Sie folgten dem Schwarzen zum Waldrand, wo er ihnen auf

den Rücken eines dunklen Ackergauls half. »Ottobah!«, rief
Bensua überrascht, als sie das Gesicht des Schwarzen so nahe
vor sich sah. »Ottobah! Du bist gekommen!« Sie umarmte den
geliebten Mann, berührte seine Wangen und blickte ihm in die
Augen und lachte und weinte vor Glück. »Ottobah! Ich bin so
froh, dass ich endlich wieder bei dir bin!«

Der Krieger legte ihr einen Finger auf die Lippen. »Bensua!«,

flüsterte er und erwiderte ihre Umarmung. »Ich wusste, dass
ich dich finden würde!« Er blickte Manu an und legte einen
Arm um sie. »Bensua! Manu! Wir haben es fast geschafft! Ich
weiß, wie wir nach Philadelphia kommen! Aber wir müssen
sehr aufpassen! Die Sklavenjäger sind überall! Beinahe hätten
sie mich erwischt!«

Sie setzten sich zu dritt auf den Ackergaul und Ottobah

lenkte ihn in den dunklen Wald hinein. Der Krieger war aus
dieser Richtung gekommen und kannte einen Weg, der quer
durch den Wald und nach Nordosten führte. Bensua saß vor
Ottobah und genoss seine Nähe und die Wärme, die von
seinem Körper ausging. Jetzt würden sie es schaffen! Sie
würden die letzten Hindernisse überwinden und die »Stadt der
Bruderliebe« erreichen.

Obwohl sie in dieser Nacht nicht schliefen, spürten sie keine

Müdigkeit. Die Rettung war nahe und sie kamen schnell voran.
Unterwegs verriet Ottobah ihnen, dass sie auf ein Schiff gehen
und über den Delaware River nach Philadelphia fahren
würden, die sicherste Art, die Grenze nach Pennsylvania zu
überschreiten. Ein »Schaffner« der Underground Railroad
würde bei dem Schiff sein, ein vornehm gekleideter Mann, der
sie als seine Diener ausgeben wollte. Sie würden ihn an seinem

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Spazierstock mit dem silbernen Knauf erkennen. »Auf dem
Stock sitzt ein silberner Adler«, sagte Ottobah. »Dieser Mann
wird uns nach Philadelphia bringen!«

Sie erreichten New Castle in Delaware am frühen Morgen.

Nachdem sie das Pferd unter einigen Bäumen zurückgelassen
hatten, liefen sie am Flussufer entlang. Dort fielen sie am
wenigsten auf. Zahlreiche Schwarze waren damit beschäftigt,
ein Segelboot zu beladen, und auch auf dem Gelände einer
nahen Werft arbeiteten vor allem Schwarze. Wie sie später
erfuhren, meist »freie Neger«, die sich auf diese Weise ihren
Lebensunterhalt verdienten. Sie mischten sich unter die
Arbeiter und suchten nach dem Schiff, das sie in die »Stadt der
Bruderliebe« bringen würde. Ottobah hatte Schreiben und
Lesen gelernt und konnte den Schriftzug auf dem Bug eines
stattlichen Schoners entziffern. »Freedom«, las er. »Das heißt
»Freiheit«, habt ihr das gewusst?«

Auf einer Tafel stand, dass das Schiff um neun Uhr ablegen

würde. »Jetzt ist es sechs Uhr«, sagte Ottobah. Er deutete auf
die große Uhr, die über dem Eingang eines Ladens hing. Zu
früh, um tatenlos im Hafen herumzustehen. Wenn ein weißer
Mann auf sie aufmerksam wurde, liefen sie Gefahr, kurz vor
dem Ziel entdeckt zu werden. Sie fanden einen Schuppen, in
dem ein verwittertes Ruderboot lag, und versteckten sich darin.
Ottobah umarmte Bensua und blickte ihr in die Augen. »Ich
bin froh, dass ich dich habe«, meinte er. »Ohne den Glauben,
dich wieder zu sehen, hätte ich es nicht geschafft!« Sie
berührte seine Wange. »Ich auch nicht, Ottobah! Manu und ich
haben jede Nacht gebetet, dass uns die Götter schützen und uns
wieder zusammenführen!«

»Manu«, sagte Ottobah und umarmte das Mädchen, um ihm

zu zeigen, dass es zu ihnen gehörte.

Als er die Tür des Schuppens einen Spalt öffnete um auf die

Uhr zu sehen, durchfuhr ihn ein eisiger Schreck. »Die

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Sklavenjäger!«, flüsterte er. »Das sind die Männer, die bei dem
Farmer waren!« Bensua drängte sich neben ihn und spürte, wie
ihre Beine schwach wurden. »Scott und Ballard! Sie verfolgen
uns, seitdem wir weggelaufen sind! Sie sind sehr gefährlich!
Sie wollen sich das Lösegeld verdienen, das der Pflanzer auf
uns ausgesetzt hat!«

Die Männer waren zu Fuß unterwegs, schlenderten scheinbar

gelangweilt durch den Hafen und blieben bei einem Weißen
stehen, der einige Schwarze anschrie, weil sie zu langsam
arbeiteten. Die weißen Männer sprachen miteinander und
lachten.

»Sie suchen uns!«, flüsterte Bensua nervös.
»Halb neun«, sagte Ottobah.
Er ließ die Tür einen Spalt geöffnet und behielt die

Sklavenjäger im Auge, bis sie in eine Seitenstraße einbogen.
Die weißen Männer sprachen laut miteinander und waren wohl
auch nach New Castle gekommen, um sich zu amüsieren. In
der schmalen Gasse, in der sie verschwunden waren, gab es
zahlreiche Kneipen und Spelunken. Ottobah blickte zum Schiff
und sah, dass der Mann mit dem Spazierstock gekommen war.

»Da ist der Mann, der uns helfen wird!«, raunte er den

Mädchen zu. »Kommt, wir gehen! Lasst euch nichts
anmerken!« Er öffnete die Tür und forderte sie mit einem
Kopfnicken auf, ihm zu folgen.

Mit klopfendem Herzen gingen sie über das

Kopfsteinpflaster. Sie mussten sich zwingen nicht zu rennen.
Als sie den Mann erreichten, sagte Ottobah: »Ich sehe den
Adler! Wir sind Ihre Diener!« Die vereinbarte Losung.
Flüsternd fügte er hinzu: »Bringen Sie uns auf das Schiff! Wir
haben zwei Sklavenjäger gesehen!«

Der Mann mit dem Spazierstock, ein älterer Herr mit grauen

Schläfen, arbeitete seit vielen Jahren für die Underground
Railroad. Er besaß vorgefertigte Papiere für »freie Neger« und

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ein Dokument, das eine unbestimmte Zahl von Schwarzen als
seine Diener auswies. Unbehelligt brachte er die drei
Schwarzen an Bord. Ottobah, Bensua und Manu blieben in
seiner Nähe, benahmen sich wie unterwürfige Sklaven, die
ihrem weißen Master zu Diensten waren. Auch die anderen
Passagiere kamen an Bord. Die Matrosen kletterten in die
Wanten und setzten die Segel.

Es schien unendlich lange zu dauern, bis die »Freedom«

ablegte. Ottobah, Bensua und Manu standen an der Reling und
hielten den Atem an, während die letzten Leinen von den
Männern auf dem Kai an Bord geworfen wurden und das
Segelschiff aus dem Hafen fuhr. Die Sklavenjäger waren nicht
zu sehen. Noch konnten sie nicht glauben, dass sie wirklich in
Sicherheit waren.

Als der Hafen hinter ihnen immer kleiner wurde, griff Bensua

nach der Hand ihrer Freundin und lächelte ihren Krieger an.
»Endlich frei!«, sagte sie leise.

Und Ottobah legte seine Arme um die beiden Mädchen und

wiederholte: »Endlich frei.«

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Nachwort



Der vorliegende Roman hat einen historischen Hintergrund.
Bensua erlebt ihre Abenteuer in einer Welt, die es tatsächlich
gegeben hat. Die Asante in Afrika haben so gelebt, wie ich es
geschildert habe. Die Sklavenkarawanen zur Küste und die
berüchtigten Fahrten über die »Middle Passage« sind eine
historische Tatsache. Die Bedingungen in der Gefangenschaft
und auf dem Sklavenschiff habe ich nicht übertrieben. Dafür
gibt es historische Belege und zahlreiche Aufzeichnungen.
Bensua und Manu und die meisten anderen Personen in
meinem Roman sind fiktiv, aber es hat Menschen wie sie
gegeben. Es gab eine Plantage wie »Magnolia Hall«, und
einige Häuser der »Underground Railroad« kann man heute
noch besichtigen. Die historischen Herrenhäuser am Ashley
River in South Carolina und die Ruinen der »Stationen« kann
man noch heute besichtigen. In zahlreichen Museen, z. B. in
Macon, Georgia, bleibt die Underground Railroad lebendig.
Mehr über die Geschichte der Sklaverei in den nachfolgenden
»Fakten«.

Auch für diesen Roman habe ich wieder gründlich

recherchiert. Ich war in Afrika und habe das neue
Selbstbewusstsein der Afrikaner kennen gelernt und bin
monatelang durch die amerikanischen Südstaaten gereist. Ich
habe die Plantagen am Ashley River besucht, war auf dem
ehemaligen Sklavenmarkt in Charleston und bin den Spuren
der Underground Railroad nach Norden gefolgt. Ich
recherchiere immer vor Ort, will den Schauplatz eines Romans
mit allen Sinnen erfassen. Ich habe in historischen Archiven
gestöbert, alte Tagebücher und Zeitungsberichte studiert und

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zahlreiche Fachbücher gelesen, u. a. folgende Werke: »Bound
for the North Star« von Dennis Brindell Fradin, »Get on Board
– The Story of the Underground Railroad« von Jim Haskens,
»Sklavenschiffe« von Eigel Wiese, »Geschichte der Sklaverei«
von Susanne Everett, »Underground Railroad«, ein Handbuch
des National Park Service, »The Underground Railroad« von
Raymond Bial, »Vom Sklavenhandel zur Kolonialisierung«
von Basil Davidson, »The Fall of the Asante Empire« von
Robert B. Edgerton, »Asante« von Faustine Ama Boateng,
»The Asante Kingdom« von Carol Thompson, »If You
Travelled on the Underground Railroad« von Larry Johnson,
»Life and Times of Frederick Douglass« von Frederick
Douglass, »The Underground Railroad« von William Still,
»Harriet Tubman, The Moses of Her People« von Sarah
Bradford, »Family Life Among the Ashanti of West Africa«
von Peter Herndon und »Ashanti« von R. S. Rattray.


Wer mehr über meine Person und meine Arbeit wissen möchte,
schreibt an:

Thomas Jeier
c/o Verlag Ueberreuter
Alser Straße 24
A 1091 Wien, Österreich

oder schlägt meine Website im Internet auf: www.jeier.de

Ich bitte um Verständnis, wenn meine Antwort etwas auf sich
warten lässt. Ich bin oft unterwegs um für neue Bücher zu
recherchieren.

Thomas Jeier

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Fakten




Die Geschichte der Sklaverei beginnt im Altertum. Bereits
Aristoteles, einer der bekanntesten Philosophen im antiken
Griechenland, schrieb: »Zur Stunde ihrer Geburt sind die einen
zu Untertanen bestimmt, die anderen zu Herrschern.«
Das Christentum des Mittelalters duldete die Sklaverei, berief
sich auf ein Bibelzitat des Apostels Paulus, setzte sich
allerdings für eine bessere Behandlung der Sklaven ein. Im 15.
Jahrhundert begann der Handel mit afrikanischen Sklaven. Die
Portugiesen handelten mit arabischen Sklavenhändlern, die
schwarze Afrikaner aus dem Inneren des Kontinents entführten
und durch die Sahara nach Norden brachten. Eine Gesellschaft,
die den »Handel mit Negern« betrieb, verkaufte Sklaven auf
dem Markt in Lissabon.

In Afrika war die Sklaverei nicht unbekannt. In Algier, im

Sudan und bei Volksgruppen wie den Asante und Fante
wurden Angehörige verfeindeter Stämme versklavt, auf
grausame Weise gefoltert und während religiöser Zeremonien
den Göttern geopfert. Und doch kann man die Sklaverei, wie
sie von den Afrikanern praktiziert wurde, nicht mit dem
grausamen Menschenhandel der Weißen vergleichen. Die
afrikanischen Könige, die ihre Sklaven oder sogar Angehörige
ihres eigenes Volkes an die Europäer verkauften, um an
begehrte Handelsgüter und Alkohol zu kommen, waren eher
die Ausnahme. Afrikanische Sklaven gerieten meist nach einer
verlorenen Schlacht in die Gewalt des Feindes, waren
Kriegsgefangene und wurden nach den Gesetzen des
jeweiligen Volkes abgeurteilt. Einige wurden sogar in den
Clan aufgenommen und zu vollwertigen Mitgliedern des

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Stammes. Anders als bei den Amerikanern war es
Sklavenhaltern verboten, sexuell mit ihren weiblichen Sklaven
zu verkehren.

Die (Wieder-)Entdeckung Amerikas (1492) stand am Anfang

einer neuen Epoche. Europäische Seemächte wie England,
Spanien, Portugal, Frankreich und Holland dehnten ihre
Besitztümer nach Afrika aus und gründeten die ersten
Kolonien auf dem schwarzen Kontinent. Schwarze Sklaven
wurden zu einem begehrten Handelsgut. Zwischen Europa,
Afrika und Amerika entstand ein berüchtigter Dreieckshandel,
der den europäischen Herrschern einen unvorstellbaren
Reichtum einbrachte. Die portugiesischen Sklavenhändler
mussten sich verpflichten, den fünften Teil ihres Erlöses an die
Krone abzuführen! Die Sklavenschiffe brachten Feuerwaffen,
Alkohol und andere »Segnungen« der Zivilisation nach Afrika,
tauschten die »Reichtümer« gegen Gold und Sklaven ein,
brachten die Schwarzen über das mittlere Teilstück, deshalb
auch »Middle Passage« genannt, auf die Westindischen Inseln
(Karibik) und nach Amerika, und erhielten dort Baumwolle,
Kaffee, Tabak und Zucker. Vor Beginn des industriellen
Zeitalters war z. B. die europäische Textilindustrie nicht
überlebensfähig, ein Grund dafür, dass auch die Regierungen
den Sklavenhandel unterstützten und sogar finanzierten.

Für Afrika bedeutete dieser frevelhafte Handel den Ruin.

Über 50 Millionen Menschen wurden zwischen dem 15. und
19. Jahrhundert über den Atlantik verschifft oder während der
Todesmärsche zur Küste und auf den Schiffen auf grausame
Weise getötet. Von diesem Verlust hat sich der Kontinent bis
heute nicht erholt. Die Europäer hatten schnell erkannt, dass
sich die Indianer nur bedingt für die harte Arbeit in den
Goldminen und auf den Plantagen eigneten. Der
Sklavenhandel wurde zu einer wirtschaftlichen Notwendigkeit.
Denn nur mit einem gewaltigen Heer an widerstandsfähigen

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Arbeitskräften waren die Anforderungen in den europäischen
Kolonien zu bewältigen. Auch zahlreiche Gesetze zur
Abschaffung des Sklavenhandels, die von den europäischen
Großmächten im 19. Jahrhundert erlassen wurden, konnten den
Handel nicht aufhalten. Humanisten wie der englische
Abgeordnete William Wilberforce und der deutsche Gelehrte
Samuel Freiherr von Pufendorf, der die Sklaverei »als Übel,
dem der Tod vorzuziehen sei« bezeichnete, waren einsame
Mahner, die sich erst durchsetzen konnten, als die zunehmende
Industrialisierung den Einsatz von Sklaven überflüssig machte.

Die afrikanischen Männer, Frauen und Kinder, die nach

Amerika und auf die Westindischen Inseln gebracht werden
sollten, wurden in Ketten zur Küste getrieben und dort in
umzäunte Gehege gesperrt, so genannte Baracoons. Bereits
während des langen und beschwerlichen Marschs kamen
zahlreiche Gefangene ums Leben. An der Küste wurden die
Sklaven vom Schiffsarzt untersucht und mit glühenden Eisen
gebrandet. Weil zahlreiche Schwarze befürchteten, dass sie als
»Nahrung« mitgenommen würden, oder ihre Heimat und ihre
Verwandten nicht verlassen wollten, begingen sie Selbstmord.
Es wird von Müttern mit kleinen Kindern berichtet, die aus den
Ruderbooten ins Meer sprangen und so lange unter Wasser
blieben, bis sie ertrunken waren! »Ich hatte das Gefühl, in eine
Welt der bösen Geister geraten zu sein«, schrieb der ehemalige
Sklave Olauda Equiano später, »und ich hatte Angst, dass sie
uns alle umbringen würden! Ihr Aussehen, das sich so sehr von
unserem unterschied, die langen Haare und ihre Sprache
bestärkten mich in dieser Ansicht.«

Die »Middle Passage« zwischen der afrikanischen Küste und

dem amerikanischen Kontinent wurde zum traumatischen
Erlebnis für die bedauernswerten Sklaven. Zwischen drei
Wochen und drei Monaten dauerte die Überfahrt. Die
Gefangenen lagen auf den Zwischendecks,

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zusammengepfercht wie Schlachtvieh und kaum fähig,
aufrecht zu sitzen oder sich umzudrehen. Die hygienischen
Verhältnisse waren katastrophal. Ein Chronist schrieb: »Die
Decks waren mit dem Blut und dem Schleim der Menschen
bedeckt und ähnelten einem Schlachthaus.« Die Männer waren
zu zweit gefesselt und von den Frauen und Wänden durch
stabile Holzwände getrennt, siechten in der fast vollkommenen
Dunkelheit dahin und wurden von den Matrosen mit
Peitschenhieben diszipliniert. Auf den meisten Schiffen
durften die Gefangenen tagsüber an Deck, wurden gezwungen,
zu tanzen und zu singen, »damit die Moral der Sklaven nicht
nachließe«, und bekamen Nahrung und frisches Wasser. Der
Kapitän musste interessiert daran sein, eine möglichst gesunde
»Ware« abzuliefern. Dennoch war die Willkür groß: Die
Matrosen gingen mit äußerster Härte gegen die Sklaven vor,
peitschten sie aus und streuten Salz und Pfeffer in die offenen
Wunden. Wer zu schwach für die Überfahrt war, wurde über
Bord zu den Haien geworfen.

Auf manchen Schiffen wehrten sich die Sklaven gegen diese

unmenschliche Behandlung. Über 200 Meutereien sind in den
Geschichtsbüchern dokumentiert. Am bekanntesten wurde die
Meuterei auf dem spanischen Sklavenschiff »Amistad« (1839),
die Steven Spielberg in seinem gleichnamigen Film
dokumentierte. Das Schiff befand sich vor der Küste von
Kuba, als 53 Afrikaner freikamen und blutige Rache an der
Besatzung nahmen. Die Überlebenden sollten das Schiff
zurück nach Afrika segeln. Stattdessen fuhren sie zur
amerikanischen Küste. Die Schwarzen wurden in Connecticut
vor Gericht gestellt und bekamen das Recht zugesprochen, in
ihre afrikanische Heimat zurückzukehren – ein einmaliger
Vorgang in der amerikanischen Geschichte.

In Amerika wurden die Schwarzen wie Vieh auf einem Markt

versteigert. Olauda Equiano berichtete: »Nach einem Signal

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rennen die Käufer in den Hof, auf dem die Sklaven eingesperrt
sind, und suchen die aus, die ihnen am besten gefallen. Der
Lärm, der dies begleitet, und der sichtbare Eifer im Angesicht
der Käufer tragen dazu bei, die Schwarzen zu verängstigen.«
Die Käufer tasteten die Muskeln der angepriesenen »Neger«
ab, untersuchten ihre Zähne und ließen sich vom Auktionator
die Vorzüge der »Ware« erläutern. Auf familiäre Bande nahm
man kaum Rücksicht. Männer wurden von ihren Frauen und
Mütter von ihren Kindern getrennt. Oft kam es zu
herzergreifenden Abschiedsszenen.

Die Pflanzer des amerikanischen Südens waren auf die

Arbeitskräfte aus Afrika angewiesen. Zwischen 1815 und 1861
stieg die Ausfuhr von Baumwolle von 160 auf über 2.300
Millionen Pfund, und die Arbeit wäre ohne die Sklaven gar
nicht zu bewältigen gewesen. Um 1850 gab es 3,2 Millionen
Sklaven im amerikanischen Süden. »Cotton was king«, war
»weißes Gold«. Den Tabakpflanzern und Reisfarmern ging es
ähnlich. Nur mit den billigen Arbeitskräften aus Afrika war der
gigantische Profit »zum Wohle des amerikanischen Südens«
zu erwirtschaften. Die Plantagenbesitzer betrachteten die
Sklaverei als notwendiges Übel und wandten sich gegen
»Yankees« wie Harriet Beecher Stowe, die in ihrem Bestseller
»Uncle Tom’s Cabin« (Onkel Toms Hütte) die Sklaverei
verurteilt hatte. Mary Chestnut, die Schwiegertochter eines
reichen Pflanzers, schrieb: »Mrs Stowe und ihresgleichen
leben in netten Anwesen in New England. Doch wir sind im
Süden dazu verdammt, in Negerdörfern zu leben, deren
Einwohner von Natur aus schlampig, schmutzig, faul und
stinkend sind. Wir müssen wie die Missionare in Afrika
inmitten von Schwarzen leben, dabei hassen wir die Sklaverei
nicht weniger als Mrs Stowe.« Sie vergaß zu erwähnen, dass
sie kaum mit den Schwarzen in Berührung kam, wie Scarlett
O’Hara (»Vom Winde verweht«) in der künstlichen Welt ihres

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Herrenhauses lebte, aufwändige Partys feierte und es den
Aufsehern überließ, sich mit den Schwarzen abzugeben. Wie
viele andere Südstaatler versteckte sie sich hinter der Fassade
eines gesellschaftlichen Lebens, das christlichen Glauben,
Ritterlichkeit und Gastfreundschaft als höchste Güter
anerkannte, aber nur die herrschende Klasse der Weißen als
wirkliche Menschen ansah.

Das Leben der Sklaven war hart. Sie lebten in hölzernen

Baracken und arbeiteten jeden Tag von Sonnenaufgang bis
Sonnenuntergang auf den Feldern. Wenn sie nicht genug
Baumwolle pflückten oder unerlaubt eine Pause einlegten,
wurden sie von den Aufsehern gnadenlos ausgepeitscht. Selbst
sechsjährige Kinder blieben nicht von der Feldarbeit verschont.
Besser hatten es die »Haussklaven«, die als Kindermädchen
oder Köchinnen im Haus arbeiten durften. Sklaven waren der
Willkür ihres Masters und ihrer Mistress hilflos ausgesetzt,
waren »materieller Besitz«, mit dem man anstellen durfte, was
man wollte. Nicht einmal für Mord oder die Vergewaltigung
einer Schwarzen musste sich ein Weißer verantworten.
Schlimmstenfalls kam er mit einer geringen Geldstrafe davon.
Sonntags bekamen die Sklaven von einem Prediger zu hören,
dass sie in der Hölle schmoren würden, wenn sie ihrem Master
davonliefen, und die Tanzfeste vor den Sklavenhütten wurden
nur gestattet, weil man sich danach eine bessere Arbeitsmoral
von den Schwarzen erhoffte.

Die Underground Railroad wurde 1787 von Isaac T. Hopper

gegründet, einem liberalen Quäker, der flüchtenden Sklaven
half und ein System erdachte, das es möglich machte, die
Schwarzen sicher in die freien Staaten oder nach Kanada zu
geleiten. Überzeugte Gegner der Sklaverei, so genannte
Abolitionisten, liberale Bürger, freie Schwarze und Quäker
stellten ihre Häuser als Verstecke zur Verfügung und
versorgten die Flüchtlinge mit Proviant und Geld. Die Quäker,

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auch »Gesellschaft der Freunde« genannt, sind eine religiöse
Vereinigung, die keine Unterschiede zwischen Königen und
Bettlern macht und alle Menschen gleich behandelt. Das
Routennetz der Underground Railroad, wie sie in den
zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts genannt wurde, obwohl
es gar keine Untergrundbahn gab, erstreckte sich über vierzehn
Bundesstaaten der USA und Kanada. Auch die anderen
Bezeichnungen waren der Eisenbahnersprache entlehnt: Die
Häuser wurden als »Stationen«, ihre Besitzer als
»Stationsmeister«, die Begleiter der Sklaven als »Schaffner«
und die Flüchtlinge als »Fracht« bezeichnet. Geheime Signale
halfen den Flüchtlingen eine »Station« zu erkennen. Die
bekannteste Schaffnerin war Harriet Tubman, eine Schwarze,
die neunzehn Reisen in den Süden unternahm und mindestens
300 Menschen zur Freiheit verhalf. Auch das »Fugitive Slave
Law« (1793), ein Gesetz, das eingefangene Sklaven als
materiellen »Besitz« einstufte, konnte die Arbeit der
Underground Railroad nicht verhindern.

In den Geschichtsbüchern wird die Underground Railroad nur

am Rande erwähnt. Erst im November 1990 ordnete das
amerikanische Innenministerium eine ausführliche Studie über
die tapferen Männer und Frauen an, die für die Underground
Railroad gearbeitet hatten, und erst seit wenigen Jahren stehen
historische »Stationen« wie der »Milton House Inn« in Milton,
Wisconsin, unter Denkmalschutz. Denn auch Abraham
Lincoln, der während des amerikanischen Bürgerkriegs (1861-
1865) die Freiheit der Sklaven als militärisches Ziel
proklamierte, konnte die Diskriminierung der Schwarzen nicht
beenden. »Ich habe einen Traum!«, rief Martin Luther King,
der legendäre Anführer der Bürgerrechtsbewegung, noch in
den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Und selbst
heute noch werden Schwarze in den amerikanischen
Südstaaten benachteiligt. Es bleibt die Hoffnung auf Freiheit

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für alle Menschen und die Erinnerung an den Satz, den Harriet
Tubman gesagt haben soll, nachdem sie ihrem Master
entkommen war: »Ich betrachtete meine Hände, um zu sehen,
ob ich als freier Mensch noch dieselbe Person war. Ich fühlte
eine solche Freude… als wäre ich im Himmel!«


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